Fredrika Gers
Netzjagd
Wird die Redaktion von 'Happy Power Play' den Virus des neuen Computerspiels knacken können? Wird das abgedrehte Redationsteam den Übeltäter Timothy Hamburger, der als 'McDonald' im Internet unterwegs ist, aufspüren? Die Jagd im Cyberspace beginnt. Stationen: Die 'Schweinebox' des Redaktionsferkels Dödel, aufregende CybersexAbenteuer, heiße Redaktions-Flirts und erbitterte MUD-Kämpfe. Virtuelle und reale Welt vermischen sich auf verblüffende Weise - und sorgen für eine überraschende Wende am Schluß ISBN: 3-8155-0235-7 Sybex Verlag Erscheinungsdatum: 1996
Da ich die Rechte vom Verlag zurückerhalten habe, kann ich den kompletten Roman jetzt kostenlos im Netz zur Verfügung zu stellen. Hier ist er. Ich habe alles so gelassen, wie es war, auch das Vorwort. Die Konvertierung in HTML hat Winword'97 gemacht. Alle Rechte an diesem Text sind Eigentum von Fredrika Gers. Jegliche Vervielfältigung und jegliche kommerzielle Nutzung sind untersagt. Wer das Buch trotzdem lieber als Buch haben möchte. z.B. zum Verschenken, mailt an
[email protected]. Dann gibt's auch 'ne persönliche Widmung. Fredrika Gers, 3.6.1998
Entermessage Guten Tag. Sind die bei Sybex eigentlich komplett übergeschnappt? »Netzjagd« ist schließlich ein Roman und Sybex ein Verlag für Fachbücher. Zugegeben, es ist ein Experiment. Aber ich bin ziemlich zuversichtlich, daß wir damit richtig liegen. Der Grund: Viele Leser meines Erstlings »Lange Leitung« haben mir gemailt, daß sie das Buch zuerst in der Computerabteilung gesucht hätten. Da war es nur logisch, »Netzjagd« in diesem Dunstkreis anzusiedeln. Grundsätzlich möchte ich mich bei allen LL-Lesern bedanken, die mir gemailt haben. Ihr habt mich zu diesem zweiten Roman motiviert. Für Ansporn und Inspiration zu »Netzjagd« bedanke ich mich außerdem bei den Cube-Usern und bei #Muenster. Ein besonderes Dankeschön geht an meinen UNIX-Lehrer Prof. Jürgen Plate für verschiedenes ;- ) und an Lizard für praktische Hinweise zum Thema MUDs. Hier noch eine kurze Gebrauchsanweisung: Manchen Leuten waren in meinem ersten Roman zu viele technische Erklärungen drin. Darum habe ich es diesmal anders gemacht. Im Buch kommen nur dann Erklärungen, wenn sie für die Handlung unbedingt notwendig sind. Dafür findet Ihr hinten ein Glossar mit einigen häufig vorkommenden Wörtern. Wörter, die weder dort noch im Wörterbuch stehen, sind entweder unwichtig, oder ich habe sie vergessen ;-) Selbstverständlich freue ich mich auch diesmal wieder über jede Mail, egal ob positiv oder negativ. Unter
[email protected] könnt Ihr es mir geben. Donnerstag, 18. April 1996 Fredrika Gers PS: Ich hasse Zensur! -3-
»Du wohnst in L.A., sie wohnt in Cincinnati. Innerhalb der ersten Stunde eurer Bekanntschaft hat sie dich geschlagen, du hast sie aufgeschlitzt, sie hat dich mit Schlamm beworfen, und du hast sie leidenschaftlich geküßt. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.« Aus der Werbung eines Anbieters von Online-Spielen.
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1. Kapitel Wer Journalisten auf eine Pressekonferenz locken will, muß heutzutage einiges bieten. Warme Mahlzeiten stehen höher im Kurs als alkoholische Getränke, einen noch größeren Andrang verursacht die Aussicht auf ein kostenloses Produkt. Am allerbesten ist es, wenn dieses Produkt noch gar nicht im Handel ist. Dann ist die Beute gleichzeitig Prestigeobjekt, mit dem der Journalist beweisen kann, daß er wichtig ist. Kein Wunder also, daß an diesem schmuddeligen Montag morgen im Münchner Park Hilton gewaltiger Andrang herrscht. Der amerikanische Hersteller Gemstone Games hat schon im Vorfeld einen Riesenwirbel um das neue Computerspiel gemacht. Die Einladung zur Pressekonferenz war dreistufig: Zuerst kam eine aufblasbare Gummipuppe in der Redaktion an, mit der Aufschrift »That’s life«. Eine Woche später kam ein riesiger Kalender, zehn Jahre gültig, vom 1. Januar 1995 bis zum 31. Dezember 2005. Und letzte Woche schließlich kam die Einladung zu dieser Pressekonferenz. Darin stand, daß Gemstone eine ganz neue Spiele-Kategorie erfunden habe, ein sogenanntes Live-Adventure. Was man sich darunter vorzustellen hat, wurde aber noch im Dunkeln gelassen. Heute wird die Welt es erfahren. Ulrike ist erst seit drei Monaten bei der Happy PowerPlayer, und sie fühlt sich eigentlich immer noch nicht als richtige Journalistin. Vorher hat sie Elektrotechnik studiert, an der Fachhochschule. Da war der Frauenanteil noch geringer als in diesem Moment in der Lobby des Nobelhotels. Dies ist Ulrikes erste Pressekonferenz, und so sieht sie sich neugierig um. Rund hundert Journalisten von Computer-, Spieleund Computerspielezeitschriften wuseln durcheinander. Ein Teil strömt in den großen Saal hinein, um einen guten Platz zu ergattern, eine Gegenbewegung drängt heraus, weil drinnen noch nichts los ist. Andere belagern die Anmeldung, wo es die -5-
Pressemappe gibt, und eine Anzahl unverbesserlicher Optimisten sucht vergeblich das Buffet, das noch gar nicht aufgebaut ist. Wäre ja noch schöner, sich den Bauch vollschlagen, Pressemappe greifen und ab durch die Mitte. Dafür hat Gemstone nicht den großen Saal und das teure Vorführungsequipment gemietet. Ulrike stellt sich in die Schlange, an deren Ende Visitenkarten gegen Pressemappe getauscht werden, und findet das Ganze albern. Pure Erpressung. Hörst du dir meinen Vortrag an, gebe ich dir ein Frühstück. Komische Branche das. Naja, ihr Fehler. Hätte sie der Happy PowerPlayer nicht dauernd Tips und Tricks zu irgendwelchen Spielen geschickt, hätte Lulu ihr keinen Job angeboten. Keine Ahnung wieso, aber sie hat ein begnadetes Talent für klassische Adventure games wie Leisure Suit Larry, Monkey Island, Day of the Tentacle oder Sam and Max Hit the Road. Offensichtlich kann sie genauso schräg denken wie die Erfinder dieser Spiele. Das hat sie jetzt davon: Redakteurin für das Ressort Adventures. Seitdem bekommt sie die eigenartigsten Anrufe von verzweifelten Lesern: »Ich will auf diesen YetiKongress, aber der Türsteher-Yeti läßt mich nicht rein. Der, der sich dauernd den Rücken kratzt. Was soll ich bloß tun?« Bei solchen Fragen ist Ulrike in ihrem Element: »Schon klar. Du mußt zurück zur Autobahnraststätte. Da gehst du aufs Klo und klaust die Klobürste. Die gibst du dem Yeti, damit er sich besser den Rücken kratzen kann. Dann ist er dir so dankbar, daß er dich reinläßt. Natürlich nur, wenn du dich vorher als Yeti verkleidest.« So macht man Leser glücklich. Neulich hat ihr sogar einer eine Klobürste geschickt. Endlich wird Ulrike ihre Visitenkarte los und erhält dafür eine Pressemappe. Sie sucht sich im Saal einen Platz, von dem sie gut sehen kann. Auf der Bühne steht ein langer Tisch. Die Namensschilder identifizieren einen geschniegelten Menschen als Pressesprecher von Gemstone Games und einen schwitzenden Dicken als deutschen Distributor. Rechts ist noch -6-
ein Platz frei, aber dort steht kein Schild. Zum Schluß schleicht noch ein Typ in abgerissenen Klamotten mit wilder Frisur auf die Bühne. Er blickt sich suchend um, scheint geistig abwesend zu sein. Trägt eine abgenagte Aktentasche und einen Anzug, der vielleicht vor zehn Jahren in gewissen Holzfällerdörfern in Nordkalifornien modern war. Schließlich setzt er sich auf den einzigen freien Stuhl auf der Bühne. Wahrscheinlich irgendein abgedrehter Programmierer, den sie nur wegen der Exotik mitschleppen. Während noch die letzten Journalisten unter viel Stuhlgeschiebe ihre Plätze einnehmen, eröffnet der Pressesprecher die Konferenz. Natürlich spricht er englisch, und natürlich will er der Menge einen Rückblick auf die glorreiche Geschichte von Gemstone Games nicht vorenthalten: In zehn Jahren vom kleinsten zum größten, blablabla... Ulrikes Gedanken schweifen nach zwei Minuten ab, und die Journalistenschar stimmt ein leicht murrendes Murmeln an. Vielleicht ist es aber auch Magenknurren. In Erwartung des kostenlosen Buffets hat natürlich kein Mensch gefrühstückt. Dann macht der Pressesprecher auch noch Anstalten, irgendwelche Dias mit Umsatzzahlen vorzuführen. Wann zum Geier kommt der endlich zu dem neuen Spiel? Da räuspert sich der angenagte Mann auf der Bühne und wirft dem Presseheini einen vernichtenden Blick zu. Sofort ist Schluß mit dem glorreichen Rückblick. Der Pressesprecher kommt endlich zum Punkt: »Unser neues Spiel heißt Life. Es ist ein Spiel des Lebens. Der Spielverlauf entspricht einem Menschenleben, von der Geburt bis zum Tod. Das Spielziel ist es, in diesem Leben möglichst viel Spaß zu haben. Dabei führen oft verschiedene Strategien zur gleichen Punktzahl. Wenn Sie zum Beispiel Ihren Spinat nicht essen wollen, können Sie ihn in die Gardinen spucken. Dabei richtet sich die Punktzahl nach dem -7-
künstlerischen Rang des Spinatmusters. Meistens kommen sie jedoch mit Knobeln und Kombinieren weiter. Zum Beispiel, wenn Sie die im Haus versteckten Weihnachtsgeschenke suchen, oder wenn Sie ohne Ausweis in die Disco wollen. Auch Arcade-Fans kommen nicht zu kurz: Sie können sich in angetrunkenem Zustand Autorennen mit der Polizei liefern, an Fassaden hochklettern, um in das Zimmer ihres Girlfriends oder Boyfriends zu gelangen, und vieles andere mehr. Apropos, natürlich läßt das Spiel Ihnen die freie Wahl des Geschlechts. Sie können sich vor der Geburt entscheiden, ob Sie Mädchen oder Junge werden wollen. Und entsprechend ändern sich dann auch einige Spielteile. Viele Spieler werden daher das Spiel einmal als Mann und einmal als Frau durchspielen wollen. Übrigens können Sie auch Ihre sexuelle Orientierung frei wählen, auch da gibt’s wieder eine breite Vielfalt an Variationsmöglichkeiten. Ich zeige Ihnen jetzt einige Dias mit Screenshots.« Das tut er denn auch, und das Spiel ist wirklich schön gemacht. Die Hauptperson ist als Cartoon realisiert, damit wird das Problem der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit mit dem Spieler umgangen. Die Umgebung und alle anderen Menschen hingegen sind ganz naturalistisch. Alles ist aufwendigst mit Schauspielern gestellt und dann abfotografiert. »Sie sehen, ein wahrhaft einzigartiges Spiel von einem einzigartigen Spielehersteller. Gemstone Games hat wieder mal die Nase vorn. Andere werden folgen, aber sie werden uns niemals einholen. Ich danke Ihnen. Ach ja, ich bitte Sie dringend, das in der Pressemappe angegebene Sperrdatum zu beachten: Keine Veröffentlichung vor dem ersten Februar. Wir stehen Ihnen jetzt für Fragen zur Verfügung.« Die Journalistenschar ist inzwischen aufgewacht. Ist ja doch noch ganz interessant geworden. Jetzt fangen sie an zu tuscheln. Tenor: »Wann gibt’s denn nun die Spiele?« Tja, das ist die Frage. Lulu hat gesagt, sie soll unbedingt eins -8-
ergattern. Und mit dem ersten Februar, das würde prima hinkommen, dann könnten sie den Test gerade noch in der Zwei bringen und wären damit die ersten. Die Leute bei der Happy PowerPlayer halten nichts von der Unsitte, ihre Hefte immer schon in der Mitte des Vormonats erscheinen zu lassen. Schließlich rafft sich einer der Zuhörer auf, die Frage laut an den eloquenten Pressesprecher zu richten: »Wie sieht es mit Testexemplaren aus?« Antwort: »Jeder, der seine Visitenkarte am Eingang abgegeben hat, erhält in der nächsten Woche von unserem Distributor ein Exemplar zugesandt. Heute können wir noch nichts rausgeben, und wir haben auch gar keine Produkte dabei.« Die Pressekonferenz ist zu Ende. Etwas enttäuscht drängen die Journalisten zum Ausgang, zu Sekt und Häppchen in der Halle. Doch Ulrike schiebt sich in die andere Richtung, nach vorn zur Bühne, wo der Pressemensch und seine Beisitzer noch ihre Unterlagen zusammen sammeln. Sie spricht den Pressemann an: »Hören Sie, ich brauche unbedingt diese Woche noch ein Testspiel. Mir reicht auch eine Beta ohne Handbuch. Ich bin von der Happy PowerPlayer, und wenn wir ‚Life’ diese Woche nicht mehr testen können, dann kriegen wir es erst im März rein.« »Es tut mir wirklich...« »Hier«, der undefinierte Mann mit dem wilden Haar greift in seine abgeschabte Aktentasche und streckt Ulrike einen Satz Disketten entgegen. Sie greift schnell zu: »Oh, vielen Dank.« »Nichts zu danken«, antwortet er mit starkem amerikanischen Akzent. »Danke. Sehr nett von Ihnen.« Der Typ nickt ihr freundlich zu, greift seine Tasche und -9-
verschwindet nach hinten durch einen Notausgang. Der Pressesprecher guckt etwas konsterniert. Ulrike zieht glücklich mit ihrer Beute ab. Sie fragt den Pressesprecher noch nicht mal, wer das eigentlich war. Die Redaktion liegt im Schlachthofviertel, in einem schäbigen, mit Mülltonnen zugestellten Hinterhof. Die Räume befinden sich im ersten Stock in einer ehemaligen Produktionshalle. So mancher Kurierfahrer hat hier vorzeitig umgedreht, weil er spätestens bei der ersten Ratte an der Richtigkeit der Adresse zweifelte. Hier würde man eher einen Antiquitätenhehler oder eine Falschgeldpresse vermuten. Aber die Redakteure fühlen sich wohl, besonders, seit die Halle in lauter kleine Hamsterkäfige für die einzelnen Leute aufgeteilt wurde. Ulrike kommt genau richtig zur Redaktionskonferenz. Im Konfi hängen bereits Stevie und Dödel herum. Stevie ist Experte für Rollenspiele wie »Ultima Underworld« und Strategiespiele wie »Civilization«. Auch Lemminge und Küchenschaben sind bei ihm in den besten Händen. Dödel ist der Held der Ballerspiele. Er liebt Simulationen à la »Strike Commander« und Actionspiele wie Rebel Assault oder das wegen Schlächterei indizierte Doom. Auch Sportspiele landen regelmäßig bei ihm. Die mag sonst eh keiner in der Redaktion. Ulrike ist es völlig unverständlich, was man daran finden kann, Golf oder Fußball am Bildschirm zu spielen. Bei Dödel zählt übrigens auch Sex zur Kategorie »Sport«. Alle Spielecover, auf denen auch nur im Entferntesten nackte Menschen auszumachen sind, reißt er sich sofort unter den Nagel. Dödel raucht wie ein Schlot, und Ulrike reißt erstmal das Fenster auf. »Damit wir nicht ersticken.« Als militanter Nichtraucherin sind ihr fünf Grad minus lieber als fünf Rauchpartikel pro Kubikmeter Raumluft. »Aber höchstens drei Minuten«, protestiert Dödel, »sonst -10-
friert mir was ab.« »Das möchten wir natürlich auf keinen Fall riskieren«, mischt Lulu sich ein, die gerade hereingekommen ist. Sie ist die Chefredakteurin der Happy PowerPlayer und leitet die Redaktionskonferenz. Dann kommt sie zur Sache: »Ihr wißt, für das nächste Heft haben wir den Schwerpunkt ‚Netzspiele’ vorgesehen. Und wenn ich Schwerpunkt sage, dann meine ich schwer. Ich möchte, daß wir alle Arten von Netzspielen vorstellen, die es zur Zeit gibt. Dazu gehören also Spiele für lokale Netzwerke, Spiele, die man per Modem spielen kann...« »...und MUDs.« murmelt Stevie. »Genau. Willst du den MUD-Artikel schreiben?« Stevie nickt abwesend. »Und was ist mit Cybersex?«, fragt Dödel. Das ist nämlich das einzige, was ihn am Cyberspace interessiert. »Cybersex ist doch kein Spiel«, widerspricht Ulrike. »Wohl noch nie was von Sexspielen gehört.« »Schon, aber nicht in einer Spielezeitschrift.« »Nur die Ruhe«, mahnt Lulu. »Also Dödel, wie hast du dir das denn vorgestellt mit dem Cybersex?« »Ach, da kann ich mir so einiges vorstellen.« »Ja, das wissen wir, aber mal im Ernst, meinst du, daß das passen würde? Und über was für Anwendungen wü rdest du denn da berichten?« »Naja, es gibt da alles mögliche. Vom elektronischen Flirtkurs über Bumsanleitungen auf CD-ROM bis zu den Sachen, die unter ‚Teledildonics’ laufen, wo man sich so Sensoren umschnürt und sich damit an den Computer anschließt.« »Örks«, macht Ulrike. -11-
Stevie verzieht keine Miene, Sex ist nicht sein Thema. Für ihn ist der Cyberspace eine ganz ernste Angelegenheit. Und es stört ihn, daß die Leute von Cyberspace immer sofort auf Cybersex kommen. Redaktionsassistentin Tina hingegen reiß t bewundernd die Augen auf. Jeder weiß, daß sie Dödel anhimmelt, aber keiner weiß warum. Lulu bleibt sachlich: »Naja, mit Netzen hat natürlich nur das Letzte was zu tun.« »Aber wenn ich schon dabei bin, könnte ich doch auch gleich eine allgemeine Einführung über Cybersex schreiben und die anderen Sachen kurz erwähnen. Und über Teledildonics mache ich dann einen ausführlichen Produkttest. Ich bestelle bei allen Herstellern Testgeräte, auch aus USA und Japan.« »Von mir aus. Aber die werden gar nicht alle rechtzeitig liefern. Wir haben schließlich in vier Wochen Redaktionsschluß für das März-Heft.« »Ist doch egal, ich bestelle alles, was es gibt. Wenn später noch interessante Sachen kommen, dann können wir daraus ja eine kleine Serie machen: ‚Cybersex aktuell’ oder so.« »Also gut, du kümmerst dich darum. Vielleicht gibt dieses Zeug ja eine ganz gute Titelseite ab.« »Klar, die Leute werden das Heft kaufen wie vergiftet, wenn da so eine knackige, vollverkabelte Maus drauf ist.« Tina guckt, als wolle sie sich Dödel sofort freiwillig zur Verkabelung zur Verfügung stellen. Lulu kämpft mit sich. Es ist unbestreitbar, Sex sells. Aber will sie sowas wirklich auf dem Titel ihrer Zeitschrift haben? Andererseits: Die Happy PowerPlayer ist kürzlich inklusive der gesamten Mannschaft an einen anderen Verlag verkauft worden. Und der neue Publisher denkt sowieso nur ans Geld. Wenn sie jetzt ein paar Hefte macht, die sich einfach supergut verkaufen, -12-
dann wird er nicht mehr dauernd versuchen, in die redaktionelle Arbeit hineinzureden. »Über den Titel können wir ja nächste Woche nochmal reden, das müssen wir ja jetzt nicht entscheiden.« »Und was ist mit dieser komischen Story, die uns Herr Hoffart gefaxt hat?«, will Ulrike wissen. Da ist es wieder, Lulus Magengeschwür in Person. »Ich glaube wirklich nicht, daß wir das machen sollten.« »Stimmt, das ist ‚ne reißerische und völlig unqualifizierte Story. Außerdem törnt sie total ab.« »Worum geht ’s eigentlich?« fragt Dödel. »Ach, es geht um diese Geschichte, daß man vom NintendoSpielen blind und blöd wird oder so ähnlich,« klärt ihn Ulrike auf. »Wieso, das stimmt doch.« »Nein, Nintendo-Spieler sind von Natur aus blind und blöd.« »Also, auf jeden Fall würde ich eine solche Geschichte nur äußerst ungern auf unsere armen Leser loslassen. Wir sind zwar eine PC-Zeitschrift, aber immerhin werden wir von Leuten gekauft, die gern spielen. Und die wollen doch nicht hören, daß irgendwelche Spiele gesundheitschädlich sind.« »Ganz im Gegensatz zu Cybersex übrigens«, behauptet Dödel. »Ja wir wissen, Cyb ersex ist das einzige, was dich aufrecht hält«, gibt Ulrike zurück und erhält dafür einen bösen Blick von Tina. Plötzlich erfüllt lautes Schnarchen den kleinen Konferenzraum. Das ist Stan, der unterm Tisch liegt. Er ist nicht besoffen, er ist der ältliche Schäferhund von Dödel. Beide sind sich in Liebe zugetan, und Dödel hätte den Job bei der Happy PowerPlayer niemals angenommen, wenn Lulu ihm nicht gestattet hätte, Stan mit zur Arbeit zu bringen. -13-
»Also gut, wer kümmert sich um die Netzwerk-Spiele?« fragt Lulu. »Den Artikel kann ich schreiben«, meldet sich Ulrike, »aber wir müßten wohl ein paar gemeinsame Testsessions einlegen. Ich kann schließlich schlecht an mehreren Rechnern gleichzeitig gegen mich selbst spielen und dann beurteilen, wieviel Spaß mir das macht.« »Klar, das machen wir. Aber du solltest so bald wie möglich zusammenstellen, welche Produkte wir testen wollen und Tina die Liste geben, damit sie die Testexemplare dann bestellen kann.« »Klar, mach’ ich.« »O.k., dann bleiben für mich die Modem-Spiele, das ist sowieso das Langweiligste. Außerdem werde ich noch ein nettes Editorial über den Cyberspace schreiben und, wenn ich es hinkriege, vielleicht ein paar Cyperpunk-Autoren interviewen.« »Wen denn?« fragt Stevie. »Ich habe an William Gibson und Bruce Sterling gedacht.« »Sterling ist kein Problem, den erreichst du per E-Mail. Aber Gibson hat mit Computern in Wirklichkeit gar nichts am Hut. Das wird schwierig. Nimm doch lieber Neal Stephenson, der ist sowieso lustiger.« »Mal sehn. So, was steht jetzt noch an?« »Nächsten Samstag kommen die Leser«, liest Tina aus ihrem Kalender vor. »Können wir die nicht nach /dev/null pipen?« fragt Stevie, aber keiner achtet auf ihn. Jeder weiß, daß Stevie auf fremde Menschen nicht besonders wild ist. Der Tag der offene n Tür ist schon lange geplant, das alljährliche Ereignis hat bereits Tradition. Sowas erhöht die Leser-Blatt-Bindung. Aber diesmal hat Lulu noch einen Hintergedanken bei der Sache. Sie hat Herrn Hoffart, den neuen -14-
Publisher, für Samstag eingeladen und will ihm zeigen, wie die Leser der Happy PowerPlayer wirklich sind: jung, wild, schräg, chaotisch. So soll auch ihre Zeitschrift sein und, und eine andere Zeitschrift möchte Lulu im Leben nicht machen. »Haben wir das alles im Griff, mit Limo, heißen Würstchen und so weiter?« fragt sie. »Ist alles bestellt.« Bestellen ist die Spezialität von Tina. Manche sagen sogar, es sei das einzige, was sie kann. Hier in der Redaktion kann sie dieses Talent erstmals nutzbringend anwenden. Sie kriegt Geld dafür, anstatt etwas bezahlen zu müssen. Mehrere Computerzeitschriften haben schon versucht, Tina abzuwerben, weil die Bestellung der Testgeräte und das Hinterher telefonieren, wenn etwas nicht kommt, überall ungeliebte und dennoch extrem wichtige Arbeiten sind. Aber natürlich bleibt Tina der Happy PowerPlayer treu. »Prima, dann haben wir’s wohl. Ach ja, Ulrike warst du erfolgreich, auf der Gemstone-PK?« »Ja, ich habe ein Spiel gekriegt. Als einzige.« »Gut gemacht«, lobt Lulu, »wenn du es installiert hast, gucke ich es mir bei Gelegenheit auf deinem Rechner an.« »Ja gut« »O.k., also an die Arbeit.« Die Konferenz ist zu Ende, der kleine Besprechungsraum leert sich. Auch Schäferhund Stan steht kommentarlos auf und folgt seinem Herrchen Dödel in dessen Büro. Was heißt Büro, der Raum sieht aus, als wäre gerade eingebrochen und alles durchwühlt worden. Jeder Quadratzentimeter des Fußbodens ist doppelt bis zehnfach belegt. Und verglichen mit dem Schreibtisch ist der Fußboden leer. Auf dem Tisch stapeln sich Manuskripte, Leserbriefe, Spieleschachteln, Disketten, CDROMs, Ein-, Aus- und Untergangskörbe, Computerkabel, -15-
Grafik- und Soundkarten nebst zugehörigen Manuals sowie alles, was Dödel seit heute morgen gegessen und getrunken bzw. noch nicht ganz gegessen und getrunken hat. Natürlich gibt’s auch einen PC und einen Laserdrucker, aber das versteht sich ja von selbst. Stan legt sich in die Ecke des Zimmers, die während der letzten Tage von seinem Besitzer am seltensten umgegraben wurde. In dieser Hinsicht arbeitet Stan nach dem LRUVerfahren. Aber er weiß es nicht. Dödel setzt sich an seinen Schreibtisch und drückt eine Taste. Die Stripperin, die er als Screensaver installiert hat, räumt den Bildschirm, und der Windows-Desktop erscheint. Als WindowsHintergrund ist selbstverständlich ein Aktbild von Claudia Schiffer geladen. Wo hat er nochmal die Messages über die Cybersex-Geräte gespeichert? Dödels Festplatte ist genauso ein Chaos wie sein Büro. Ach, da sind sie ja. Schon seit Monaten sammelt Dödel alles, was er über Cybersex in den Netzen finden kann. Immer in der Hoffnung, daß das Thema bald mal für die Happy PowerPlayer aktuell wird. Jetzt endlich kann er alle Produkte kostenlos bestellen und ausprobieren. Mit wachsender Begeisterung schickt er Produkt- und Firmennamen sowie Anschriften per E-Mail über das lokale Netzwerk an Tina. Stevie ist nach der Konferenz erstmal in der Kaffeeküche verschwunden. Er hat sich eine heiße Schokolade gekocht und bei der Gelegenheit für die andern die Kaffeemaschine neu geladen. Ohne heiße Schokolade kann Stevie nicht leben. Ohne Computer natürlich auch nicht. Er balanciert den großen Kakaobecher in sein Büro. Es ist genauso groß wie das von Dödel, sieht aber dreimal größer aus. Stevie ist ordentlich. Alle Papiere befinden sich in den dafür vorgesehenen und entsprechend beschrifteten Kästen. Auch in den Regalen an der Wand hat alles seinen festen Platz, und der Fußboden ist frei zugänglich. Im Zimmer befinden sich nur Dinge, die Stevie wirklich braucht. Fertig getestete Spiele -16-
verschenkt er postwendend weiter, Hardware erhält Tina, ordentlich mit Begleitzettel, zum Zurückschicken. Stevies Screensaver stellt wunderschöne Fraktale auf dem Bildschirm dar. Als die auf Tastendruck verschwinden, erscheint ein nacktes DOS-Eingabezeichen. Das ist das einzig Nackte auf seinem Rechner. Auch von grafischen Oberflächen wie Windows mit viel Klickiklickibuntibunti hält er überhaupt nichts. Stevie ist Programmierer und kein Fensterputzer. Er überlegt, wo er mit der »Arbeit« anfangen soll. Er braucht keine Testexemplare zu bestellen, MUDs, die Spiele im Internet, sind jederzeit für jeden zugänglich. Das heißt für jeden, der Internet-Zugang hat - Zugang zum Cyberspace. Lulu wartet, bis Stevies ausgezeichneter Kaffee durchgelaufen ist, und holt sich dann eine große Tasse. Sie ist froh, daß Ulrike ihr diese Pressekonferenz abgenommen hat. Schlimm genug, daß sie morgen mit dem allerobersten Boß von Gemstone Games essen gehen muß. Die Einladung läßt sich schlecht delegieren, und es wäre auch ziemlich unhöflich gewesen, sie abzulehnen. Immerhin ist es eine Auszeichnung, daß Gemstone die Einladung ausgerechnet an sie ausgesprochen hat. Die Chefredakteure der anderen Spielezeitschriften würden sich alle Finger danach lecken, den Alleininhaber einer der größten Computerspielefirmen der Welt persönlich kennenzulernen. Egal, was der neue Publisher denkt, die Happy PowerPlayer scheint doch einen ziemlich guten Ruf im Markt zu haben; nicht nur bei den Lesern, sondern auch bei den Anzeigenkunden. Nach dem Mittagessen macht Ulrike als erstes eine Kopie von den wertvollen Disketten. Dann installiert sie ‚Life’ auf ihrem Rechner. Nicht auf dem Server, ist ja schließlich noch ein bißchen geheim. Das Spiel scheint zu laufen. Auch der Sound funktioniert. Sprache gibt’s natürlich nicht, ist ja nicht die CDVersion. Sie guckt sich gerade das Intro an, da steckt Dödel den Kopf zur offenen Tür herein: »Hallo was hast du denn da Schönes?« -17-
»Das neue Adventure von Gemstone. Heißt Life.« »Hm. Wenn du Lust hast, komm doch nachher rüber, wir haben da ein kleines zwanghaftes Zusammensein.« »Ja gut, mal sehen.« Dödels Kopf verschwindet, und Ulrike guckt sich die Einleitung von Life an. Ein Typ, der sie an irgend jemand erinnert, erklärt ihr auf dem Bildschirm, worum es geht: »Leb dein Leben. Versuche, dabei soviel Spaß zu haben wie nur irgend möglich. Laß dich nicht ärgern.« Als erstes muß sie sich die richtigen Eltern aussuchen. Drei Mütter und drei Väter stehen zur Wahl. Alle sechs stellen sich in einer kurzen Animation selbst vor. Ulrike entscheidet sich für zwei Durchschnittstypen, die so aussehen, als würden sie einem Kind nicht allzuviel Ärger machen. Dann befindet sie sich im Mutterleib. Das Spiel beginnt wirklich ganz am Anfang. Bereits in diesem Stadium gilt es, seine Eltern richtig zu erziehen. Als ihre Mama plötzlich anfängt, Schreibmaschine zu schreiben, trommelt Ulrike von innen gegen die Bauchwand. Prompt hört das nervende Geräusch auf. Die Geburt gestaltet sich dann etwas unrealistisch arkademäßig, so ähnlich wie die Szene in Leisure Suit Larry 3, als er diesen Fluß entlang paddelt und immer den Baumstämmen ausweichen muß. Selbstverständlich schafft Ulrike es bereits im ersten Anlauf, gut rauszukommen. Sofort fängt sie an zu schreien, bevor dieser Arzt mit den großen Händen auf die Idee kommt, ihr eine Ohrfeige zu verpassen. Plötzlich ertönt mächtiges Gegröle aus der groben Richtung von Dödels Zimmer. Und neugierig, wie Journalisten nun mal zu sein haben - auch wenn sie E- Techniker sind - geht Ulrike dem Geräusch nach. Dödels Zimmer ist so verräuchert, daß Ulrike sich nur bis zur Schwelle wagt. Natürlich, Dackel ist zu Besuch. Dackel ist ein freier Autor, der öfters für die Happy PowerPlayer schreibt. Besonders für Dödel. Beide teilen die Vorliebe für -18-
Schweinkram, sowas verbindet. Die beiden Helden hänge n vor Dödels Rechner. Wahrscheinlich hat Dödel wieder auf Kosten der Redaktion eine Ladung GIF-Bilder von einem Rechner in Schweden oder Australien geholt. Und die muß man natürlich jetzt unbedingt gemeinsam begutachten. »Zwei Ferkel in einem Stall«, kommentiert Ulrike und macht die beiden damit auf sich aufmerksam. »Komm doch rein.« »Nö, dann viel Spaß noch.« »Was, willst du schon wieder gehen?« »Meint ihr, ich will mir eure langweiligen Schweinebilder angucken und dabei einen Erstickungsanfall riskieren?« »Wir machen das Fenster auf.« »Wir haben auch nackte Männer da.« »Wir haben sogar Grappa.« Dackel holt eine obskure Flasche aus einer schmuddeligen Plastiktüte. »Die nackten Männer könnt ihr behalten, aber vielleicht lasse ich mich zu einem Schluck überreden, wenn ihr ein sauberes Glas auftreibt.« Dödel verschwindet Richtung Kaffeeküche, Dackel macht das Fenster auf. Ulrike setzt sich auf den großen Postscriptdrucker, der auf dem Fußboden steht, und legt die Füße auf einen Stapel Leserbriefe. »Und, kann ma n als freier Autor leben?« fragt sie Dackel. »Naja, es geht so. Beim MAD nehmen sie mich ja nicht.« »Was?« »Naja, oder BND.« Ulrike würde auch niemandem Geheimnisse anvertrauen, der weiße Cowboystiefel trägt. Dödel kommt mit drei frisch abgewaschenen Gläsern zurück und schenkt drei kräftige Schlucke ein. Schon erscheint der -19-
nächste Gast im Türrahmen: Tina. »Darf ich reinkommen?« »Klar, setz dich, nimm dir ‚n Keks. Aber das Glas mußt du dir selber holen, ich lauf’ jetzt nicht nochmal.« Allen ist klar, daß Tina weniger Wert auf Grappa als auf Dödels Nähe legt. Aber Tina ist nicht klar, daß es allen klar ist. Und komisch, Tina scheint die einzige Frau auf der Erde zu sein, die für Dödel Luft ist. Jetzt erscheint Stevie im Türrahmen: »Was macht ihr denn da?« »Schweinkram, komm rein«, lädt Dödel ihn ein. Stevie setzt sich auf eine Ecke des Schreibtisches und legt die Beine ins Regal. »Wenn noch jemand kommt, müssen wir uns komprimieren«, meint er. »Oder swappen«, grinst Dödel. »Ich bin für stacken«, meldet sich Dackel. »Oder wir vergrößern die Partition bis auf den Flur«, trägt Ulrike bei. Schließlich, gegen neun, erscheint auch Lulu. Als sie Dackel sieht, zögert sie, denn sie hat gerade eine ziemlich mittelmäßige Affäre mit ihm hinter sich. Aber dann beschließt sie, daß der Typ zu unwichtig ist, um sich an ihm zu stören, und tritt ein beziehungsweise auf eine billige 8-Bit-Soundkarte. Macht nichts, die wurde schon vor drei Monaten getestet. »Bist du im Streß?« fragt Dödel. »Naja, kein Arbeitsstreß, aber dieses ganze Trara mit dem Verkauf und dem neuen Publisher, das geht mir ganz schön auf die Nerven. Ihr kriegt davon ja nicht so viel mit, aber ich habe dauernd diese Memos auf dem Tisch: Wir müssen seriös sein, wir müssen aktuell sein, wir müssen Kurzmeldungen bringen, wir brauchen objektive Testkriterien, wir brauchen dies, wir -20-
brauchen das. Und dann versuch du mal, denen klarzumachen, daß wir eine Spielzeitschrift sind, for fun, und nicht die ‚Computer gewöhnlich’.« »Na, wenn der Herr Hoffart am Samstag unsere Leser sieht, dann kriegt er ja vielleicht einen heilsamen Schock.« Am Samstag ist Tag der offenen Tür. »Hoffen wir’s. Vielleicht kapiert er dann, was wir hier eigentlich machen.« »Saufen. Prost.«
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2. Kapitel Das Dasein eines Redakteurs ist unglaublich aufrege nd. Tagtäglich werden unschuldige Textverarbeitungen mißbraucht, um Pressemitteilungen durch den Wolf zu drehen, und arglose Pressesprecher mit hinterlistigen investigativen Fragen überrumpelt. Wie zum Beispiel: »Wann kommt Ihr neues Produkt raus?« Auch das lustige Inden-Hinterntreten von freien Autoren ist bei Redakteuren allseits beliebt. Für einen solchen Tag braucht man eine solide Grundlage. Doch zum Frühstücken muß man aufstehen. Hier liegt ein Problem, denn der Journalist im Redakteur möchte nicht aufstehen. So liefern sich jeden Morgen der Journalist und der pflichtbewußte Angestellte einen Kampf bis aufs Messer. Bei Dödel wird der pflichtbewußte Angestellte allerdings durch Schäferhund Stan unterstützt, der Gassi gehen möchte. Während sich also Stevie ungefähr um neun mit geschlossenen Augen die erste heiße Schokolade des Tages zubereitet, wird Dödel von seinem debilen Hund um den Block gezerrt. So kommt es, daß Stevie sich normalerweise kurz nach zehn dem Redaktionsbüro mit einem Kakaobart nähert, während Dödel zur gleichen Zeit mit Stan und einer Tüte Käsesemmeln vom Bäcker anrückt. Auch Lulu ist keine Frühaufsteherin, aber sie schafft trotzdem meist eine 60-Stunden-Woche, das respektieren die andern. Sie erscheint in der Redaktion oft mit einem Stapel Presseerklärungen, die sie abends im Bett und auf dem Arbeitsweg in der U-Bahn durchgesehen hat. Nur Ulrike hat keine Probleme mit dem Aufstehen, aber sie ist ja auch keine richtige Journalistin, sondern eine halbe ETechnikerin. Und sie ist es von kle in auf gewöhnt, in aller Herrgottsfrühe auf Berge oder zum Angeln gezerrt zu werden. Im Sommer schafft sie es bei schönem Wetter sogar, morgens gut gelaunt mit dem Rennrad in der Redaktion angezischt zu kommen. -22-
Am Dienstag ist Ulrike wie üblich die erste in der Redaktion. Vor der Tür liegt ein Päckchen im geschmacksneutralen Umschlag. Es ist an Dödel adressiert. Na klar, wahrscheinlich CDs mit irgendwelchem Schweinkram. Ulrike nimmt das Päckchen mit rein und legt es in Dödels Büro irgendwo auf den großen Haufen, unter dem angeblich sein Schreibtisch ist. Dann wirft sie die Kaffeemaschine an und setzt sich vor ihren Rechner. Die Redakteure haben Anweisung, jeden Morgen als erstes ihre E-Mail zu checken. Ulrike hat fünfzig neue Nachrichten, das ist normal. Alles Leser, die bei irgendeinem Spiel nicht weiterkommen. Wenn sie allen antworten würde, wäre sie bis mittags beschäftigt. Also kurze Sortierung im Schnelldurchlauf: Alles, was keine sinnvolle Betreffzeile hat, wird sofort gelöscht. Die anderen Briefe speic hert sie nach Spielen geordnet, als Anregungen für die Tips und Tricks im nächsten Heft. Dann bleiben noch zwei Fanbriefe übrig. Die druckt sie aus, kann man vielleicht als Leserbrief abdrucken. Oder Lulu zeigen, wenn es in drei Monaten um eine Gehaltserhö hung geht. So, was kommt jetzt als nächstes? Der Life-Artikel. Moment mal. Die Originaldisketten lagen doch gestern abend hier auf dem Tisch! Komisch, so besoffen war sie doch gar nicht nach dem Grappa-Gelage. Sie ist sogar als erste gegangen, weil es ihr zu verqualmt war in Dödels Rauchfang. Also mal ganz ruhig. Sie hat die Kopien gemacht und in ihren Schreibtisch getan. Richtig, da sind sie. Dann hat sie von den Originalen das Spiel installiert. Eigentlich falsch rum, aber egal, daran kann sie sich genau erinnern. Und was hat sie dann mit den Originalen gemacht? Sie hat sie einfach hier liegenlassen. Sie hatte noch gedacht, daß Lulu die vielleicht haben will, um Life bei sich zu Hause zu installieren. Lulu interessiert sich für alle Spiele, bei denen es -23-
nicht um Mord und Totschlag geht. Ulrike sucht ihr Zimmer ab. Hier sind die Dinger jedenfalls nicht. Und Stan, der debile Redaktionshund, wird sie auch nicht gefressen haben. Der apportiert zwar schon mal eine Maus und reißt dabei das Kabel aus dem Rechner - aber Disketten? Ulrike überlegt, ob sie Lulu von der Sache erzählen soll. Der Redaktion ist zwar keinVerlust entstanden, das Spiel steht ja nach wie vor zum Testen zur Verfügung. Aber andererseits ist es ziemlich schlecht, wenn in einer Redaktion hochgehe ime Dinge verschwinden. Ihr wird klar, daß sie selbst schuld ist, wenn es wirklich Diebstahl war. Wozu schützt man seinen Rechner mit einem Paßwort vor unbefugtem Zugriff, wenn man direkt daneben die Disketten liegen läßt? Da wird sie sich aber einen sauberen Rüffel einfangen. Ulrike beschließt, den Vorgang erstmal ein bißchen einwirken zu lassen, und startet das Spiel. Inzwischen ist es in der Redaktion lebendig geworden. Stevie hackt in seinem Zimmer wild in die Tasten, und Dödel beschäftigt sich mit den beiden Mailboxen, die er auf seinem Rechner betreibt. Er hat freiwillig die Aufgabe des Sysops der Redaktionsmailbox übernommen, unter der Bedingung, daß er auf dem Rechner auch seine Privatbox betreiben darf. Lulu hat ihm das zugestanden, weil sie weiß, daß die »Powerbox«, nur davon profitieren kann, wenn sie von einem Sysop aus Leidenschaft administriert wird. Damals hat sie allerdings noch nicht gewußt, wie Dödels Privatbox heißen wird: Die »Schweinebox«. Dödel ist das offiziell anerkannte Redaktionsferkel. Und er genießt das, nach dem Motto: »Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert.« Die Schweinebox ist eine geschlossene Mailbox, nur eingetragene Benutzer dürfen an die Dateien heran. Gäste können sich lediglich anmelden oder mit dem Sysop chatten. Die User sind also mehr oder weniger identisch -24-
mit Dödels Bekanntenkreis. Die Schweinebox dient in erster Linie als Fotoarchiv. Die Schweinebilder, die Dödel in aller Welt saugt, stellt er hier seinen Kumpels zur Verfügung. Zwei Gigabyte Speicher belegen sie mittlerweile. Zum Glück gibt es immer wieder Festplattenhersteller, die der Happy PowerPlayer aus Versehen Testplatten schicken und dann auch noch vergessen, sie zurückzufordern. Natürlich gibt es auch ein paar schwarze Bretter. Da können die User auf Wunsch sogar anonym schreiben, wenn ihnen der Mut fehlt. Dödel als Sysop kann natürlich trotzdem sehen, wer es war. Aber seine Kumpels wissen, daß sie sich mindestens in einer Hinsicht auf ihn verlassen können: Er würde nie verraten, wer nun diese anonyme Anfrage bezüglich der Popostöpsel gepostet hat. Ein Brett ist für Kontaktanzeigen vorgesehen. Die sind allerdings logischerweise nicht sehr erfolgreich und mehr als Gag gedacht. Manche von Dödels Usern machen sich einen Spaß daraus, sich möglichst dämliche oder schweinische Anzeigen auszudenken. Dödel liest seine Mails, natürlich zuerst in der Schweinebox. Ah, Senior hat ihm geschrieben: Hi Dödel, vielen Dank für die Disketten, mal sehen, wie ich klarkomme. Nächste Woche fängt ja das Semester an. Life is beautiful. Peace on you. Senior Dödel liest noch seine Mails in der Powerbox, der offiziellen Redaktionsmailbox. Alles unwichtig. Dann öffnet er das geschmacksneutrale Päckchen, das Ulrike ihm freundlicherweise hingelegt hat. In dem Paket befindet sich das neueste Erzeugnis einer Kieler Unternehmerin: P.C. L.O.V.E. Eifrig macht Dödel sich ans Testen. Der Test besteht darin, daß er die CD-ROM ins Laufwerk schiebt, und nacheinander alle Optionen aufruft. Man -25-
kann anklicken, über welche Körperteile man Bescheid wissen will. Er probiert das natürlich zuerst bei der Frau aus. Er arbeitet sich vom Mund über den Busen nach unten. Das Programm ist von der Technik her ziemlich dürftig. Zu sehen gibt’s Fotos und sekundenkurze, briefmarkengroße Animationen. Dazu als Sound den allseits beliebten Bolero - und nicht etwa lustvolles Gestöhne. Dann gibt’s noch jede Menge belehrenden Text, der vom Fachlichen ganz o.k. ist, wie Dödel meint, beurteilen zu können. Aber die ganze Sache törnt kein bißchen an, und daß in jedem Satz mindestens zwei nützliche Werkzeuge aus dem Hause Beate Uhse propagiert werden, wird auch schnell lästig. Ulrike ist jetzt im Krabbelalter und fegt wie ein Staubsauger über den Teppich, bemüht, möglichst jeden Krümel auf ihrem Weg aufzupicken. Sicherheitshalber hat sie vorher gespeichert, wer weiß, welche Gemeinheiten die Gemstone-Leute da eingebaut haben. Vielleicht stirbt sie, wenn sie was Falsches ißt. Wie zum Beispiel dieses weiße Pulver hier in der Küche. Ist das Zucker oder Ameisenpulver? Ulrike sucht in der Icon- Leiste nach einer Option, mit der sie das Pulver näher untersuchen kann. Aha, da kommt schon ihre Mutter kreischend angefegt und hebt sie hoch. War wohl doch besser, das Zeug liegenzulassen. Zur Belohnung für soviel Intelligenz kann sie nach dieser Episode laufen. Und schon kommt der nächste Aufgabenkomplex auf sie zu: Weihnachten. Es gilt, die Verwandten richtig abzuzocken, indem man ihnen bei ihren Besuchen passende nette Sachen sagt. Man kann allerdings keine eigenen Sätze erfinden, sondern nur die vorgegebenen anklicken. Der Tante muß man anbieten, ihren Mops auszuführen, der Onkel will nach seinem blöden Auto gefragt werden. Auch die Eltern kaufen Geschenke und verstecken sie irgendwo im Haus. Die muß man dann finden. Ulrike zieht gerade einen Teddy hinter den Sommerreifen in der Garage hervor, da klingelt das Telefon. Das echte, auf ihrem -26-
Schreibtisch. Lulu ist dran: »Na, Life schon angespielt? Was meinst du, wieviel Platz wir dafür vorsehen sollen?« »Ich find’s genial. Mindestens vier Seiten.« Und dann entschließt sie sich, es Lulu zu sagen: »Hm, ich wollte sowieso gerade mal zu dir rüberkommen. Hast du kurz Zeit?« »Ja klar. See you.« Ulrike geht rüber und erzählt Lulu von den verschwundenen Disketten. Die Chefredakteurin regt sich mehr auf, als Ulrike gedacht hat: »Es geht ja nicht darum, daß irgendwas geklaut worden ist. In jeder Firma verschwindet mal Geld oder irgendwas anderes. Es geht darum, daß wir eine Redaktion sind, und daß uns die Hersteller vertrauen müssen. Wenn rauskommt, daß geheime Produkte bei uns nicht sicher sind, können wir einpacken. Dann kriegen wir in Zukunft nur noch Sachen, die schon seit Monaten auf dem Markt sind.« »Ich verstehe auch gar nicht, wie das passieren konnte. Die Putzfrau kommt doch montags nicht, und wir waren alle ziemlich lange in der Redaktion.« Lulu guckt Ulrike komisch an: »Mädel, es ist ziemlich klar, daß es einer aus der Red war.« »Aber jemand aus der Redaktion wäre doch nicht so blöd, die Disks einfach wegzunehmen. Der würde sie kopieren und wieder hinlegen. Dann hätte ich überhaupt nichts gemerkt.« »Naja, vielleicht wurde er gestört. Auf jeden Fall: Wenn du dir die Sache nicht einbildest und ich es nicht war, dann bleiben noch genau drei Leute übrig. Ich will, daß das geklärt wird. Alle sollen mal kurz in den Konfi kommen. Ich bin in fünf Minuten da.« Ulrike sagt den anderen Bescheid, aber nicht, was los ist. -27-
Dann stellt sie ihr Telefon auf den Konfi um, weil sie von zwölf bis zwei Leserdienst hat. Lulu überlegt kurz, was sie machen soll. Soll sie dem Dieb eine Chance geben, sich schadlos aus der Affäre zu ziehen? Sie hat zwar einen Verdacht, aber den wird sie nicht äußern. Sie geht rüber in den Besprechungsraum und ergreift das Wort: »Ich will euch nicht lange von der Arbeit abhalten. Aber irgendwann zwischen gestern abend und heute morgen ist von Ulrikes Schreibtisch ein Satz Disketten verschwunden. Wer war’s?« Schweigen. Das Telefon klingelt, Ulrike geht ran: »Happy PowerPlayer, Ulrike.« »Hallo Ulrike, hier ist Martin. Du, ich komme bei ‚Day of the Tentacle’ nicht weiter.« »Wieso, dem Spiel liegt doch ein komplettes Hintbook bei«, den Hinweis kann Ulrike sich nicht verkneifen. »Das hab’ ich äh verloren. Ja, und jetzt sagt Ben, das Wetter sei zu gut für das Experiment mit dem Drachen.« »Tja, da muß du Murphy zu Hilfe nehmen. Wasch einfach den Wagen. Dann fängt es kurze Zeit später an zu regnen.« »Danke, vielen Dank, du bist die Größte!« Sowas hört man doch immer gern. »Na, wieder einen Leser glücklich gemacht?« fragt Dödel. Und Lulu fährt in ihrer Ansprache fort: »Hört zu, auf den Disketten war das neue Adventure von Gemstone, das noch unter Disclosure ist. Wenn jemand von euch die Disketten mitgenommen hat, um das Spiel bei sich zu Hause zu installieren, dann kann ich das ja notfalls noch verstehen. Ich möchte aber, daß derjenige sich jetzt umgehend meldet, damit wir ausschließen können, daß es jemand Fremdes war. Das wäre nämlich ziemlich peinlich, und ich müßte die Polizei -28-
einschalten. Es geht nicht an, daß hier Redaktionsgeheimnisse rausspazieren.« Immer noch Schweigen. »Also gut, wenn die Disketten morgen früh wieder da sind, lasse ich die Sache auf sich beruhen. Dann weiß ich, daß sie innerhalb der Redaktion geblieben sind.« »Kann ich jetzt wieder auf den anderen Task?« fragt Stevie. »Ja, das war’s schon. Ich hoffe wirklich, daß sich die Dinger bis morgen wieder materialisieren. Ab an die Arbeit.« Ulrike ist die Einzige in der Redaktion, die richtig gern Leserdienst macht. Die Leser sind immer so dankbar. Mit Lob und Anerkennung kann man bei Ulrike überhaupt alles erreichen. Das ist mit ein Grund, warum sie nicht nein sagen konnte, als Lulu ihr unter Lobeshymnen auf ihre Tips und Tricks diesen Job anbot. Der nächste Anrufer klingt noch etwas piepsig: »Hallo, kannst du mir sagen, wie ich hier weiterkomme? Ich habe den Clown gekillt, den Maskenball gewonnen und die Katze angemalt. Jetzt sitzt sie auf dem Dach und leckt sich den Buckel, und ich weiß nicht, wofür ich die Zigarre brauche. »Die Zigarre steckst du Georgiboy in den Mund.« »Ah, das ist gut. Und wie komme ich an die Feder? Ich hab’ auch einen Baum angemalt, den der alte Georg Washington dann gefällt hat. Die Plastikkotze hab ich nicht mehr. Und die Gummimaus noch nicht. Denn die Katze läßt sich nicht lange genug von der quietschenden Matratze ablenken.« »Wow, mach mal langsam, du hast ja alles auf einmal gemacht.« »Ja, sicher. Ich hab’ ja auch schon ein paar Stunden gespielt. Ich habe auch den Zaun angemalt - mit TippEX -, unter dem die Katze hervorgekrochen kommt.« »Am besten machst du erst die Vergangenheit fertig. Dann -29-
wirst du schon sehen.« »Ah gut, vielen Dank!« Lulu hat die Einladung von Gemstone für heute abend auf ihrem Schreibtisch liegen. Es soll ein Dreier werden, mit ihr, dem Pressesprecher und dem Inhaber. Daniel Trumm heißt der Typ, wahrscheinlich so ein mittelalterlicher fetter Ami im schlechtsitzenden Anzug mit Schweißrändern. Es wird bestimmt ganz furchtbar. Das fängt schon damit an, daß die eine Limousine schicken wollen, um sie abzuholen. Wenn das nicht dekadent ist. Und das Essen soll im Tantris stattfinden, diesem gräßlichen Laden mit den orangen Fusselteppichen an der Decke. Den kennt Lulu natürlich nur von Pressekonferenzen, normalerweise verkehrt sie nicht in Dreisterne-Restaurants. Na gut. Es ist jetzt halb sechs, und Lulu hätte noch für ungefähr fünf Stunden zu tun. Aber um sechs wird sie abgeholt, und darum muß sie sich jetzt als Chefredakteurin verkleiden. Ein oder zwei Sakkos hat sie natürlich immer in der Redaktion hängen. Diesmal hat sie sich auch noch eine Seidenbluse und eine feine Hose von zu Hause mitgebracht. Sie strippt in ihrem Büro, und natürlich kommt in genau diesem Moment Dödel an ihrer Tür vorbei. »Kann ich helfen?«, fragt er. »Sag mal, wie machst du das, kannst du es riechen, wenn sich irgendwo im Umkreis von zwei Kilometern eine Frau auszieht?« »Klar, das gehört zur Grundausbildung.« »Grundausbildung für was?« »Grundausbildung für Sysops«, grinst Dödel und schaut ungeniert weiter zu, wie Lulu sich die Bluse zuknöpft. »Wenn du schon mal da bist, kannst du mir sagen, ob ich die Happy PowerPlayer in dieser Form anständig repräsentiere.« »Doch, ist alles dran«, meint Dödel, »laß mal sehen, ob auch hinten die Kleinanzeigen gut kommen. « -30-
Lulu dreht sich um. »Wenn du noch das Schild hinten in die Hose stecken würdest, wär’s o.k. So plump muß man die Anzeigenpreise ja nun auch nicht promoten.« Lulu fällt drauf rein und dreht sich um die eigene Achse. Aber natürlich guckt überhaupt nichts raus. »Jetzt mach, daß du weiterkommst«, scheucht sie ihn aus dem Zimmer. Punkt sechs klingelt es. Lulu guckt aus dem Fenster. Das darf nicht wahr sein, die haben ihr so eine amerikanische Langlimousine geschickt, die kaum in die enge Einfahrt paßt. Sie nimmt ihren Mantel über den Arm und geht runter. Vor dem Wagen steht der Chauffeur in Hab-Acht-Stellung. Er reißt ihr die hintere Tür auf. Der Fond, in dem eine halbe Fußballmannschaft Platz hätte, gehört ihr ganz allein. Der Fahrer klemmt sich hinters Steuer und fragt: »Sie werden im Tantris erwartet, ist das richtig?« »Ja stimmt«, seufzt Lulu. Was die Kiste wohl verbraucht, so eine Verschwendung. Überhaupt ein Affenzirkus, das Ganze. Lulus Abneigung gegen alles, was mit Protz zu tun hat, führt sie selbst auf ein Kindheitstrauma zurück. Ihre Eltern hatten es ziemlich dicke, und sie gaben ihr Geld immer für die falschen Dinge aus. Die Tochter kriegte zum Beispiel ein Pferd, obwohl sie viel lieber eine Katze gehabt hätte. Aber Katzen stinken ja angeblich, und Pferde kann man im Stall einfach wegsperren. Vor dem Tantris in Schwabing steigt der Chauffeur aus, geht gemessenen Schrittes um das Auto herum und hält ihr wieder die Tür auf. Als nächstes wird ihr die Tür des Restaurants aufgehalten. Das sind drei aufgehaltene Türen innerhalb einer halben Stunde. Der Oberkellner führt Lulu quer durch das Lokal an einen -31-
Zweipersonentisch. Komisch, sie sollten doch zu dritt sein. Die zweite Person sitzt bereits dort und steht jetzt auf. Ein dunkelhaariger Mann mit Dreitagebart. Nicht so ein modischer Dreitagebart, wie ihn der Friseur mit viel Mühe hinrasiert, sondern offensichtlich durch einfaches Nichtrasieren entstanden. Wenn das ein Pressesprecher ist, dann hat sie noch nie einen gesehen. Und wenn das ein millionenschwerer Spielehersteller ist, dann... »Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Daniel«, sagt der Bart mit amerikanischem Akzent, »Daniel Trumm.« »Lulu of Happy PowerPlayer«, antwortet sie mechanisch und reicht ihm die Hand. Klingt irgendwie blöd. »I hoffe, wir können english sprechen, mein deutsch ist sehr schlecht.« »Oh ja, of course.« Sie fragt ihn, wo denn der Pressesprecher ist, ob der noch kommt. Nein, der hat sich auf dem Flug von L.A. nach München eine Grippe einfangen und liegt im Hotel im Bett. Zum Glück bringt der Kellner die Karte, und enthebt Lulu damit der Sorge, was sie als nächstes sagen soll. Verstohlen linst sie über den Rand der kleinen aber feinen Menükarte. Einen Haarschnitt könnte der auch mal gebrauchen. Vielleicht sollte man ihn allerdings zu diesem Zweck lieber in einen Hundesalon schicken, denn solches Haar hat sie bisher nur bei irischen Wolfshunden gesehen. Es ist wellig, nicht lockig. Und es ist viel. So einen Haufen Haar hat Lulu noch nie auf einem einzelnen Schädel gesehen. Und es steht so militant nach allen Seiten ab, daß jede Haarbürste bei dem Anblick vor Schreck alle Borsten einziehen muß. Die Haare fallen weit ins Gesicht, die Augen sind nur knapp darunter und ebenfalls dunkel. Das müßte normalerweise ziemlich finster aussehen, tut es aber nicht. Noch weiter unten kommt eine schmale, gerade Nase und dann ein -32-
intelligenter, ewas spöttischer Mund. Komischerweise hat dieser dunkle Typ lauter Sommersprossen. Und bei genauem Hinsehen entdeckt Lulu, daß sein Bart keineswegs einheitlich die Farbe der Haare aufnimmt. Der Bart ist schwarzrot kariert! Bei dieser Entdeckung muß Lulu sich schnell wieder in ihre Karte versenken, damit sie nicht irgendwelche unangebrachten Geräusche von sich gibt. Bald hat sie sich ihr Menü zusammengesucht. Auch Daniel legt die Karte weg, und schon ist der gutgeschulte Kellner da. Lulu bestellt, und dann ist die Reihe an Daniel. Der fragt den Kellner einfach, was er empfiehlt und sagt dann schlicht: »O.k., ich nehme das. What about wine?« Der Kellner schlägt wieder etwas vor, und Daniel akzeptiert. Dann ordert er noch eine große Flasche Wasser. »Das haben wir geschafft«, sagt er plötzlich auf deutsch, »ich habe mich nicht blamiert, nein?« Wozu macht der sich Gedanken, ob er sich blamiert? Er könnte den Laden kaufen, wenn er wollte. »Nein, Sie machen das sehr gut«, antwortet sie etwas irritiert. »So, wie gefällt dir das Spiel, Life?« fragt er. »Mein Pressemann hat gesagt, ich soll das fragen.« »Sprechen Sie ruhig wieder englisch«, antwortet Lulu, die durch das plötzliche Du etwas irritiert ist. »Ich habe wirklich kein Problem damit.« Dann muß sie gestehen, daß sie sich das Spiel noch gar nicht angesehen hat. »Aber der Redakteurin, die auf Ihrer Pressekonferenz war, gefällt es sehr gut. Und es war sehr nett von Ihnen, daß Sie ihr schon ein Exemplar mitgegeben haben.« »No problem. Ich hasse Pressekonferenzen, ich sage nie etwas dort. Aber immer soll ich mitkommen. Der Pressemann ist auch schuld, daß ich mit Ihnen ausgehen muß.« -33-
Er schmunzelt. Lulu müßte jetzt eigentlich beleidigt sein, aber da sie ebenfalls aus reinem Pflichtgefühl zu diesem Essen gegangen ist, kann sie ihn nur allzu gut verstehen. »Na gut, lassen wir es uns schmecken. Die Presseabteilung von Gemstone Games bezahlt uns dafür«, grinst er. »Wer hat Life eigentlich entwickelt?« fragt sie, mehr aus Pflichtgefühl als aus Interesse. »Life ist mein Baby. Deshalb mache ich auch diesen ganzen Rummel mit. Sonst drücke ich mich immer. Aber Life liegt mir wirklich am Herzen, und ich möchte alles tun, damit es ein Knaller wird. Die Idee ist von mir, und ganz viele Details sind auch von mir. Natürlich habe ich nicht den Code geschrieben, irgendwas müssen die Programmierer ja auch zu tun haben. Sonst werden sie unzufrieden und gehen zur Konkurrenz.« Er zögert, als wenn ihn das Gesagte an etwas Unangenehmes erinnert. Lulu beschließt, sich das Spiel gleich morgen früh auf Ulrikes Rechner anzusehen. Vielleicht installiert sie es auch bei sich zu Hause. Das Essen ist natürlich ausgezeichnet, und nach dem zweiten Glas Wein fragt Lulu: »Wie wird man eigentlich Spielehersteller?« »Indem man Spiele herstellt«, antwortet Daniel. Und als Lulu über diese dumme Antwort die Stirn runzelt, fügt er hinzu: »Natürlich ist es so. Ich habe ein Spiel erfunden. Mit sechzehn. Ich bin im Silicon Valley aufgewachsen, da drehte sich alles nur um Computer. Neben uns wohnten die Wozniaks, etwas weiter die Jobs’s. Meine Schule hatte die beste Computerausrüstung, die man sich vorstellen kann. Die Firmen im Silicon Valley waren sehr großzügig, zu der Zeit. Ich habe mir also dieses Spiel ausgedacht. Dann habe ich es meinen Freunden erzählt. Die fanden die Idee toll und wollten das Spiel spielen. Aber es war ja noch gar nicht da. Also haben die beiden besten Programmierer in meiner Klasse mich geschnappt und -34-
alles aufgeschrieben, was ich gesagt habe. Dann haben sie es programmiert, mein erstes Adventure. Wir haben es in der Schule verkauft und von dem Geld Hardware angeschafft. Und ich habe mir mehr Spiele ausgedacht. Irgendwann hatte ich dann keine Schule mehr und dafür eine Spielefirma. Ich habe nichts gelernt. Ich kann nur das. Deshalb muß ich es weiter machen.« Also eine dieser Geschichten, über die schon so viele Bücher geschrieben wurden, daß sie einem zum Hals raushängen. Lulu wundert sich, warum sie ausgerechnet diese Geschichte noch nie gehört hat. »Da waren Sie doch siche r auch schon in G.Q. und in der Times und wo sonst immer diese Erfolgsgeschichten aus dem Silicon Valley drinstehen.« »Nein, niemals.« »Komisch, die Reporter sind doch hinter Leuten wie Ihnen her wie der Teufel hinter der armen Seele.« »Mich haben sie aber noch niemals gekriegt.« Nicht schlecht. Wenn Daniel Trumm ihr erlauben würde, seine Geschichte im Heft zu bringen, dann hätte sie weltexklusiv eine Superstory. Das wären mindestens 10 Pluspunkte beim Verleger. Soll sie ihn einfach plump danach fragen? »Darf ich dann vielleicht einen Artikel über Sie schreiben?« »Oh«, Daniels Miene verfinstert sich, das Gespräch stockt. Unter journalistischen Gesichtspunkten ist der Mann eine Katastrophe. Aber wenn sie nicht wüßte, daß er reich ist, würde sie ihn ausgesprochen sympathisch finden. Sie betrachtet sein ehemals teures, heute unmodisches Jacket. Vielleicht sollte sie ihm vom Verschwinden der Disketten erzählen, um ihn auf ein anderes Thema zu bringen. Wenn das Spiel »sein Baby« ist, wie er sagt, müßte ihn das doch interessieren. Aber vielleicht reißt er ihr dann auch den Kopf ab. Andererseits wäre das auch ein guter Härtetest. Und wenn er sauer wird, braucht sie wenigstens ihrer Abneigung gegen reiche Männer nicht untreu zu werden. -35-
»Irgend jemand bei uns in der Redaktion scheint sich sehr für Life zu interessieren.« »Irgend jemand?« »Naja, die Redakteurin, die auf der Pressekonferenz war, hat die Originaldisketten auf ihrem Schreibtisch liegenlassen, nachdem sie das Spiel installiert hat. Und am nächsten Morgen waren sie weg.« »Oh. Ist es sicher, daß es jemand aus der Redaktion war?« »Naja, ziemlich. Es war nichts aufgebrochen.« »Hoffentlich war es nur ein Redakteur, der das Spiel zu Hause installieren wollte. Es wäre schlecht, wenn jetzt schon eine gecrackte Versio n in Umlauf kommen würde.« »Ja, sicher. Das ist mir klar.« »Sie wissen ja, wie es mit Spielen ist. Man kann sie nur ein halbes Jahr lang verkaufen, danach hat sie einfach jeder.« »Ja, ich weiß. Der Kopierschutz wird oft schon geknackt, bevor das Spiel überhaupt im Laden zu haben ist.« »Eben. Und die Verteilung der Raubkopien läuft mindestens genauso schnell wie der reguläre Vertrieb.« »Vermutlich machen sich Spielehersteller eine Menge Gedanken über Kopierschutz. Oder?« »Sagen wir mal so: Wir versuchen, den Crackergruppen wenigstens jedesmal eine neue Herausforderung zu bieten. Aber die Leute sind genauso gut wie meine Programmierer. Und sehr dedicated.« »Das heißt, der perfekte Kopierschutz wurde noch nicht erfunden.« »Jedenfalls nicht als Software. Und so ist das Rennen offen. Es macht ja auch nichts. Solange ich meine Leute bezahlen kann und genug Geld für die Entwicklung neuer Spiele habe, ist es in Ordnung. Es gibt genug ehrliche Leute, die für die Spiele bezahlen. Ein Problem wird es erst, wenn die Moral umkippt. -36-
Wenn jeder das Spiel umsonst haben will, funktioniert es nicht mehr. Dann muß Gemstone schließen. Dann werde ich Cracker.« Er lacht. »Es ist ja nicht so, daß wir Spielehersteller die Cracker nicht auch bewundern. Ein Konkurrent von uns hat neulich sogar auf die Mithilfe einer Crackergruppe zurückgegriffen.« »Wie das?« »Naja, Accolade hatte dieses Spiel ‚Star Control II’ auf Disketten, natürlich mit Kopierschutz. Dann wollten sie es auf CD-ROM herausbringen, und da braucht man den Kopierschutz ja nicht. Nun war ihnen aber der Sourcecode verloren gegangen, und so haben sie auf die CD-ROM tatsächlich eine gecrackte Version gepresst. Im Startprogramms steht die Meldung ‘Cracked by Russ Mellon, hacked from the crack made by Law & Order Party’. Das ist eine Crackergruppe.« »Lustig. Tja, ich hoffe, daß ich die Geschichte mit den Disketten aufklären kann. Wenn einer von meinen Redakteuren mit einer Crackerbande zusammenarbeitet, schmeiße ich ihn raus.« »Aber nur, wenn es wirklich bewiesen ist, bitte.« »Ja, natürlich.« Sie reden noch über dies und jenes und über Katzen. Es stellt sich heraus, daß Daniel mit seinem Schnurrer die gleichen Probleme hat wie Lulu mit ihrem Exemplar. Beide Viecher wollen am liebsten mit ins Büro. Irgendwann fragt Daniel: »Auf englisch sagt man ‚you’ und auf deutsch gibt es entweder ‚Sie’ oder ‚du’. Würden wir auf deutsch jetzt ‚du’ oder ‚Sie’ sagen?« Soll das vielleicht ein Annäherungsversuch sein? Lulu überlegt. »Naja, auf deutsch sagt man zu fremden Leuten eigentlich immer erstmal ‚Sie’. Wenn man sich sympathisch -37-
findet, geht man dann zum ‚Du’ über.« »Oh. Und woher weiß man, wann das jetzt angebracht ist?« »Naja, früher trank man Brüderschaft, aber das ist inzwischen ziemlich aus der Mode gekommen.« »Und wenn ich jetzt du sagen wü rde, hättest du etwas dagegen?« »Nein, eigentlich nicht.« Lulu fühlt sich etwas in der Defensive, aber die Auskunft ist ehrlich. Schließlich läßt Daniel die Rechnung kommen. »Wie lange bist du eigentlich noch in Deutschland?« fragt Lulu. »Ich fliege morgen nachmittag zurück.« »Verstehe.« Daniel sieht von der schäbigen Aktentasche hoch, aus deren Tiefen er die Brieftasche hervorgekramt hat, und sagt auf deutsch: »Es war ein angenehmer Abend. Sagt man so?« »Ja, aber es klingt etwas antiquiert.« »Also dann: Es war ein überraschend angenehmer Abend.« Lulu muß unwillkürlich grinsen. »Ja, das finde ich auch.« An der Garderobe hilft er ihr in den Mantel und einen Moment lang befürchtet sie, daß er versuchen wird, sie zu küssen. Aber auf die Idee scheint er gar nicht zu kommen. Sie bestellen zwei Taxen und stehen schweigend nebeneinander in der kühlen Luft, bis die Wagen eintreffen. Dann machen sich auf die jeweiligen Heimwege. »Wenn ich die Einladung nicht angenommen hätte«, denkt Lulu beim Zähneputzen, »dann hätte ich mich um einen sehr interessanten Abend gebracht.« Mittwoch morgen. Lulu sitzt mit einem großen Kaffee am Schreibtisch und liest ihre Mail. Da kommt Dödel hereinspaziert: »Störe ich?« -38-
»Nicht mehr als sonst. Was gibt’s?« Dödel druckst herum: »Ich hm, ich muß dir was sagen.« Lulu weiß sofort, um was es geht: »Du hast die Disks genommen.« »Naja.« »Und, wo sind sie jetzt?« »Die Disks sind bei mir.« »Und?« »Ich hab’ sie jemand kopiert.« Lulus Miene verfinstert sich: »Na das ist ja reizend. Dir ist natürlich klar, daß das ein Kündigungsgrund ist.« »Ja, aber der Typ hat mir dafür ein anderes Spiel versprochen, das noch nicht auf dem Markt ist und das wir auch noch nicht haben. Und wir sollen doch immer nach neuen Spielen Ausschau halten.« »Aber ihr sollt keine Redaktionsgeheimnisse in der Gegend verteilen, verdammt nochmal.« »Ja, ich weiß. Deshalb hätte ich es dir ja normalerweise auch nicht gesagt.« »Reizend. Und warum reitet dich jetzt das schlechte Gewissen?« »Naja, bei dem Versuch, den Kopierschutz zu knacken, hat der Typ etwas herausgefunden. Das könnte vielleicht eine Sensation werden.« »Ach, und was?« »Er sagt, in Life ist Code drin, der da garantiert nicht rein gehört.« »Was soll das denn heißen.« »Naja, es könnte ein neuer Virus sein oder sonstwas. Stell dir vor, Gemstone verkauft die Spiele, und dann wird bei allen Käufern die Festplatte gelöscht.« -39-
Lulu ist sofort klar, was das bedeutet: Wenn Life mit eingebautem Virus ausgeliefert wird, dann kann Gemstone dichtmachen. Und Daniel kann sich sofort nach Brasilien absetzen. Beim amerikanischen Produkthaftungsgesetz gibt’s kein Pardon. Jeder einzelne Käufer würde ihn wegen der verlorenen Daten auf Schadenersatz verklagen. Sie wird blaß. »Mein Kumpel sagt allerdings, für einen Virus ist es ziemlich lang. Könnte auch was ganz anderes sein«, fügt Dödel hinzu. Lulu überlegt. »Also gut. Dein Kumpel soll unter allen Umständen versuchen herauszufinden, was da in dem Spiel drin ist. Und du, du gehst jetzt nach Hause. Du bist suspendiert. Du schreibst deine Artikel zu Hause fertig, und zwar als freier Autor, unter Pseudonym. Kein Ruhm, keine Ehre, kein kostenloser Kaffee. Verstanden?« »Ja. Aber darf ich dann später die Sensationsstory schreiben?« Lulu sieht ihn so durchdringend an, daß er nicht weiter nachfragt und mit gesenktem Kopf abzieht. Sie muß Daniel anrufen, so unangenehm es auch sein mag. Doch als sie sich mit dem Gedanken vertraut macht, stellt sie fest, daß er so unangenehm gar nicht ist. Hoffentlich ist Daniel im Hotel. Sie läßt sich das Zimmer von Herrn Trumm geben. »Hello?« »Hallo Daniel, hier ist Lulu von der Happy PowerPlayer.« »Oh hallo.« »Ich muß dir etwas Wichtiges sagen, wegen Life. Das Spiel ist infiziert.« »Oh mein Gott, ich wußte es.« »Du wußtest es?« »Hör zu, willst du nicht herkommen, zum Lunch? Du erzählst mir, was du weißt, und ich erzähle dir, was ich weiß. O.k.?« -40-
»Ja gut, ich bin um eins da.« Eine Stunde später sitzen Lulu und Daniel in einer Ecke des Hotel- Restaurants. »Du fängst an«, sagt Lulu. »O.k. Da war also dieser Programmierer bei Gemstone. Ein ganz ausgeklinkter Typ. Super Programmierer, aber das hat ihm nicht gereicht. Er wollte Spiele entwickeln. Na gut, habe ich gesagt, was sind deine Ideen. Und dann kam er mit einer Splatter-Story, das kannst du dir nicht vorstellen. Heraushängende Gedärme und blutspritzende Todesarten, das war das wichtigste bei seinem Spiel. Ich habe gesagt, das können wir nicht machen. Wir sind für lustige Spiele bekannt, wir können sowas nicht verkaufen. Das paßt nicht zu unserem Image, und wir können sogar Ärger bekommen. Unsere Kunden sind zum großen Teil Minderjährige. Ich konnte das nicht aufs Spiel setzen. Er war wütend und hat wochenlang nicht gearbeitet. Wir haben ihn in Ruhe gelassen und gedacht, er wird sich schon wieder beruhigen. Aber es wurde immer schlimmer. Er fing an, auch die anderen Programmierer von der Arbeit abzuhalten, die gerade an Life arbeiteten. Er nervte alle mit seinen Spielideen, die niemand hören wollte. Drei Monate habe ich mir das angesehen. Dann habe ich ihn entlassen. Er hat mir Rache geschworen. Ja, seitdem habe ich fast auf so was gewartet.« Lulu hat ganz still zugehört. »Der Alptraum eines jeden Softwareherstellers.« »Ja, er kann alles in das Spiel eingebaut haben. Einen Virus, der sich an andere Dateien anhängt, eine logische Bombe, die an einem bestimmten Tag das System zerstört, einen Wurm, der sich über Netzwerke weiterverbreitet...« »Ich verstehe nur eins nicht. Wieso habt ihr den Code nicht gecheckt?« »Haben wir ja gemacht. Aber wir sind nicht das Pentagon. -41-
Offensichtlich ist er an die Masterdiskette herangekommen, nachdem wir sie gecheckt haben.« »Vielleicht sind ja auch nicht alle Kopien betroffen.« »Richtig, die Disketten, die ich euch gegeben habe, sind ja aus einer Vorserie. Aber selbst, wenn der Virus sich nur in einigen Raubkopien befinden würde, wäre es noch schlimm für uns. Man würde den Schaden trotzdem mit Gemstone in Verbindung bringen.« »Hast du eine Ahnung, wo dieser Programmierer jetzt ist?« »Keinen Schimmer.« »Hm, wenn wir ihn finden würden, könnten man vielleicht aus ihm herausbekommen, was er gemacht hat, und wie man seinen Code unschädlich machen kann.« »Ich glaube nicht, daß man ihn finden kann. Wir haben keine Meldepflicht in Amerika.« »Hm, vielleicht fällt uns was ein. Sag einfach mal alles, was du von ihm weißt.« »Well, er heißt Timothy Hamburger, und bis vor einem halben Jahr lebte er in San Francisco.« »Und sonst? Wo könnte er sein, hat er mal von Freunden oder Verwandten gesprochen?« »Nicht daß ich wüßte.« »Dann erzähl doch mal: Was ist dieser Hamburger für ein Typ?« »Hochintelligent und manchmal sogar ganz umgänglich. Konnte sogar charmant sein. Und witzig.« »Hört sich an wie dein Zwillingsbruder.« Tatsächlich, Lulu flirtet. »Was? Aber andererseits ist er auch völlig asozial. Ich glaube, Menschen bedeuten ihm nicht viel. Zwillingsbruder, also darauf bin ich noch nicht gekommen. Aber vielleicht hast du sogar -42-
Recht. Das würde erklären, warum ich mir das so lange angeguckt habe.« »Eben. Und weiter?« »Naja, manchmal ist er völlig ausgeflippt. Wegen Kleinigkeiten. Einmal hat er sogar mit ‚ner Schere nach mir geworfen.« »Warum das denn?« »Ich habe es gewagt, an seinen Rechner zu gehen. In der Firma wohlgemerkt. Also an einen Rechner, der eigentlich mir gehört.« »Und da ist er ausgerastet?« »Ja, ich weiß auch nicht wieso.« »Ich würde sagen, entweder der Typ hatte eine traurige Kindheit, oder er hatte was auf dem Rechner, was du nicht sehen solltest.« »Vermutlich beides. Aber wie kommst du auf traurige Kindheit?« »Naja, vielleicht mußte er als Kind auch immer seinen Kram verteidigen.« Lulu spielt gern Hobbypsychologin. »Das kann gut sein, ich glaube, er kommt aus der Bronx oder so. Aber das ist doch kein Grund, seinen Chef zu erstechen.« »Eine Frage der Perspektive. Sag doch mal, in was für einer Welt spielte denn das Spiel, daß er sich ausgedacht hat?« »Das war so eine Endzeitwelt.« »Also Cyberpunk.« »Ja, ‚Neuromancer’ ist seine Bibel.« »Ah, vielleicht hilft uns das weiter. Dann ist er doch sicher im Netz.« »Im Internet? Keine Ahnung. Wahrscheinlich. Aber da kann man sowieso niemand finden, der nicht gefunden werden will.« »Wer weiß. Ich denke auf jeden Fall mal drüber nach. -43-
Vielleicht fällt ja auch den anderen Redakteuren was dazu ein. Aber was machst du jetzt mit dem Spiel?« »Naja, wenn wir nicht in zwei Wochen wissen, was das für ein Code ist, dann können wir nicht ausliefern. Wir müßten die Pakete aufmachen und alle Disketten austauschen. Das Problem dabei ist, daß die Pakete für Europa alle schon auf dem Schiffsweg sind« »Und ob die Händler so eine Umtauschaktion überhaupt ausführen, ist natürlich fraglich.« »Ja, die werden mir was husten.« »Und selbst dann hätten wir die Kopien, die schon irgendwie in Umlauf geraten sind, wie jetzt bei euch, noch gar nicht erwischt. Wir müßten auf jeden Fall ein Gegengift entwickeln und in allen Mailboxen verteilen, damit die Leute sich schützen können.« »Verrückt, jetzt mußt du dir auch noch darüber Sorgen machen, daß die Raubkopierer keinen Virus bekommen.« »Natürlich, jeder würde denken, daß wir das mit Absicht gemacht haben. Die Wirkung in der Presse kannst du dir vorstellen.« Lulu seufzt, das kann sie. »Es wäre wirklich am besten, wenn wir diesen Timothy Hamburger finden würden, damit er uns verrät, wie man die Bombe entschärft.« »Well, versucht es. Aber ich habe nicht viel Hoffnung. Leider muß ich jetzt zum Flughafen.« »Ach ja, du fliegst ja heute zurück.« »Wir bleiben in Verbindung«, grinst Daniel, »sagt man so?« »Ja, das ist so eine Floskel.« »Ich meine es aber nicht als Floskel.« Wieder in der Redaktion, beruft Lulu sofort ein Meeting ein. -44-
Da sie Dödel nach Hause geschickt hat, erscheinen nur Ulrike, Stevie und Tina. Lulu gibt einen kurzen Bericht: daß in dem Spiel Life undefinierbarer Code drin ist, den vermutlich ein ehemaliger Gemstone-Programmierer hinein geschmuggelt hat. »Ich vermute, daß er im Internet ist. Glaubt ihr, daß es möglich ist, den Typen da ausfindig zu machen?« »Es wäre jedenfalls eine Super-Story«, meint Ulrike, »und es würde auch ideal zu unserem aktuellen Schwerpunkt passen.« Genau das hat Lulu sich auch schon gedacht. Stevie meldet sich zu Wort: »Du sagst, er ist ein Cyberpunk?« »Ja, das ist soziemlich das einzige, was wir wissen.« »Na, da gäbe es doch ein paar einschlägige Newsgroups. alt.cyberpunk, alt.cyberpunk.tech, alt.cyberspace und so weiter. Die sollte man auf jeden Fall mal scannen.« »Stimmt, Hacker geben doch immer gern mit ihren Heldentaten an«, unterstützt ihn Ulrike. »Für Hacker gibt’s auch noch andere Newsgroups. alt.hackers...« »Uff, nicht das ganze Usenet runterbeten, bitte. Sonst noch Vorschläge?« »Wenn er an Spielen interessiert ist, sollte man auch die Spielegruppen abgrasen«, steuert Ulrike bei. »Stimmt. Was würde denn da für einen Cyberpunk in Frage kommen?« »Na, es gibt zum Beispiel einige Rollenspiele, die in Cyberpunk-Welten angesiedelt sind.« »Aber ob der Rollenspiele spielt... dafür ist er doch eigentlich zu alt oder? Das machen doch eher Teenies.« »Wenn er so ein Wilder ist, spielt er vielleicht LiveRollenspiele. Wo man die Leute richtig jagt, anstatt nur zu würfeln und zu quatschen.« Dieser Einwurf kam von der Tür. Dort steht Dödel. -45-
»Ja, oder sowas wie Gotcha«, nimmt Ulrike den Faden auf. »Igitt, Gotcha«, macht Lulu. »Da fällt mir noch was ein«, meint Stevie, »MUDs.« »MUDs? Sind die nicht mehr so mittelalterlich?« fragt Ulrike. »Nein, es gibt auch Cyberpunk-MUDs. Da müßte man sich mal eine Liste besorgen und einen kurzen Suchlauf machen.« »Gute Idee. Was noch?« »Der IRC«, schlägt Ulrike vor, »wenn er angeben will, macht er das vielleicht da.« »Hm, mehr fällt mir im Moment nicht ein«, meint Stevie. »Mir auch nicht.« »O.k., also seht euch um, soweit es geht. Aber ich will nicht, daß das Heft darunter leidet.« »Darf ich reinkommen?« fragt Dödel aus dem Türrahmen. »Irgendwelche Neuigkeiten?«, fragt Lulu statt einer Antwort zurück. »Der überflüssige Code scheint verschlüsselt zu sein. Man kann ihn jedenfalls nicht so einfach disassemblieren, sagt mein Kumpel.« »Hm, schlecht.« »Und, bin ich wieder eingestellt?« »Ja, von mir aus, an die Arbeit. Aber reiß dich zusammen.« »Moment!« ruft Stevie. »Wir sollten doch wohl zumindest sicherstellen, daß wir den Virus nicht hier in der Redaktion freisetzen. Ulrike, du hast das Programm doch installiert oder?« »Ja, aber nur auf meinem Rechner nicht im Netz.« »Na, dann ist es ja halb so wild. Läßt du regelmäßig einen Virenscanner laufen?« »Ja, sicher. Bin ja nicht lebensmüde.« »Gut, dann laß den doch mal gucken, ob sich bei dir -46-
irgendwelche Dateien verändert haben.« »Gute Idee. Mach ich gleich.« »Und eigentlich solltest du das Spiel löschen.« »Hm, stimmt.« Ulrike hat noch gar nicht dran gedacht, daß der geheimnisvolle Code ja auch hier in der Redaktion seine unbekannte Wirkung entfalten könnte. In ihrem Büro angekommen, läßt sie den neuesten Vscan von McAfee laufen. Der findet keine bekannten Viren und auc h keine Veränderungen in den ausführbaren Dateien. Wenigstens etwas. Stevie sitzt an seinem aufgeräumten Schreibtisch. Er überlegt. Die meisten MUDs sind im Mittelalter oder in Fantasy-Welten angesiedelt. Barbaren und Druiden gibt’s da, nichts für Cyberpunks. Aber es soll auch ein paar MUDs geben, die im Weltraum spielen oder in einer Welt nach dem Atomkrieg. Wenn er also jetzt für seinen Artikel nach den besten MUDs Ausschau hält, kann er bei der Gelegenheit auch gleich in der entsprechenden Newsgroup nach Cyberpunk-MUDs gucken. Newsgroups sind die elektronischen Nachrichtenbretter im weltweiten Internet. Und unter den 4.000 oder 5.000 Newsgroups gibt es selbstverständlich auch welche mit den neuesten Nachrichten über MUDs. Stevie wählt sich in die B.O.X. ein, eine Mailbox , die alle Internet-Newsgroups für ihre Kunden bereithält. Jetzt kann er von seinem Schreibtisch aus Nachrichten lesen, die InternetBenutzer aus aller Welt in den letzten zwei Tagen verfaßt haben. Das sind 80 Megabyte, rund 40.000 Schreib maschinenseiten. Die B.O.X. holt sich die News mehrmals am Tag von einem noch größeren Rechner ab. Und die News, die die Benutzer hier schreiben, werden auf umgekehrtem Weg in den weltweiten Datenstrom eingeleitet und auf sechs Kontinente verteilt. Bis in die Antarktis. Stevie ruft die Newsgroup alt.games.mud.announce auf. Dort -47-
stehen Nachrichten über neue MUDs drin, und auch die Gods älterer MUDs preisen hier ihre Welten an, wenn sie unter Spielermangel leiden. Die Gruppe enthält nur 10 Nachrichten über mittelmäßige MUDs, die Stevie dem Namen nach alle kennt. Keine Nachricht über ein Cyberpunk-MUD. Und wenn er die weltbesten MUDs finden will, muß er auch woanders suchen. Lulu hat jetzt endlich ein bißchen Zeit, sich Life live anzusehen. Sie geht rüber zu Ulrike und holt sich die Disketten. Die Spezialistin gibt ihr noch ein paar Tips für die ersten Lebensjahre mit auf den Weg: »Das wichtigste ist, daß du deine Eltern in Schach hältst. Wenn du zu lange nichts anstellst, dann stecken sie dich ins Sonntagskleid und zerren dich durch eine öde Fußgängerzone.« Natürlich installiert Lulu das Spiel nicht auf ihrem Arbeitsrechner, wer weiß, was der Virus mit ihren Daten macht. Statt dessen nimmt sie einen herrenlosen PC aus dem Labor und schließt den an ihren großen Monitor an. Einer Eingebung folgend, wählt sie am Anfang des Spiels bei der Frage nach dem Geschlecht »männlich«. Drei Stunden später hat sie die ersten Lebensjahre hinter sich. Im Kindergarten muß sie eine herumspringende Katze mit dem Gartenschlauch treffen und einen Regenwurm in möglichst viele Einzelteile zerlegen. Dann geht es zum Einschulungstest. Schnell hat sie heraus, daß man dabei nicht zu gut abschneiden darf. Wenn sie nämlich alle Fragen richtig beantwortet, kommt sie gleich in die zweite Klasse. Das ist ziemlich ungünstig, weil sie dann die Kleinste ist und alle anderen Kinder sie an den Haaren ziehen, in ihre Schulhefte malen und sie auf dem Heimweg überfallen. Einmal ist sie sogar gestorben, weil die anderen sie die Schultreppe hinuntergeschubst haben. Zum Glück hatte sie vorher gespeichert. Lulu fragt sich, wieviele Begebenheiten aus Daniels Kindheit -48-
wohl in das Spiel eingeflossen hat. Er ist der Designer, er muß einfach seine Spuren hinterlassen haben. Ja, bestimmt war er so ein Überfliegerkind und wurde gleich in die zweite Klasse eingeschult. Nach dem Spielverlauf zu urteilen, muß es die Hölle gewesen sein. Lulu geht zurück zu dem Spielstand vor dem Schultest und versucht, die richtige Prozentzahl falscher Antworten zu geben. Aber die Fragen, die die Psychologin ihr stellt, lauten jedesmal anders. Und sie haben anscheinend ein unterschiedliches Gewicht. Klar, daß sie nicht zugeben darf, daß sie schon bis tausend zählen kann. Aber wie ist es mit Tiernamen? Schließlich schafft sie es, in die erste Schulklasse aufgenommen zu werden. Zur Belohnung erhält sie 50 Punkte und eine Schultüte. Komisch, sie dachte immer, das wäre ein deutscher Brauch. In der Schule ist es eine Weile ganz einfach. Sie sucht sich eine nette Banknachbarin aus und klaut ihr gleich in der ersten Stunde den roten Filzstift. Das gibt zwar nur 3 Punkte, aber Kleinvieh macht auch Mist. In der Frühstückspause muß man dann schon wieder aufpassen, sonst klaut einem so ein Rüpel die Milchtüte. Lulu gibt ihrer Banknachbarin den Filzstift zurück und schließt mit ihr ein Bündnis gegen die bösen Bengel. Aha, dazu brauchte sie also den Filzstift. Wenn sie ihn vorher nicht geklaut hätte, hätte sie ihn jetzt nicht zurückgeben können. Ein paarmal ruft Lulu bei Ulrike an, um sich Tips zu holen. Schließlich hat sie auch noch was anderes zu tun, als hier herum zu spielen. Mit vereinten Kräften schafft sie es bis zur HighSchool, bevor sie das Spiel verläßt, um sich wieder ihren Pflichten als Chefredakteurin zu widmen. Dödel hat keine Lust, lange den Zerknirschten zu spielen. Darum will er die Delle, die seine Reputation bei Lulu bekommen hat, möglichst schnell ausbeulen. Aber wie? Wenn er diesen Ex-Programmierer fangen würde, wäre das natürlich ideal. Aber wo soll man da anfangen? Der einzige Hinweis besteht doch darin, daß dieser Typ ein Cyberpunk ist. Also -49-
könnte er einfach mal die Cyberpunk-Newsgroups durchsehen. Wer weiß, vielleicht steht da ja was über die bevorzugten Hangouts der Cyberpunks im Internet. Ein Cyberpunk läßt sich am schnellsten über seine bevorzugte Literatur definieren. Er hat die Bücher von William Gibson und Bruce Sterling komplett im Bücherschrank, dazu wahrscheinlich Bücher von Rudy Rucker und John Shirley. Allen CyberpunkStories ist gemeinsam, daß sie in einer Zukunft spielen, in der die Welt von irgendwelchen »Systemen« oder mächtigen »Syndikaten« beherrscht wird. Eine große Rolle spielt die fortgeschrittene Technologie. Gehirn-Implantate sind gang und gäbe, ebenso der Ersatz von Körperteilen durch leistungsfähigere Teile aus der Roboterfabrik. Oft werden Menschen Teil einer Maschine, zum Beispiel, wenn sie sich per Kopfbuchse direkt an das weltweite Informationsnetz anstöpseln. In der Newsgroup alt.cyberpunk ist der sogenannte Linenoise ziemlich hoch. Das heißt, dort stehen viele Nachrichten, die niemand interessieren. Nachrichten von irgendwelchen Newcomern, die noch nicht wissen, um was es hier überhaupt geht. Wie die Typen, die dauernd nach der E-Mail- Adresse von William Gibson fragen. Oder welche Frisur man als Cyberpunk trägt. Die gestandenen Benutzer dieser Newsgroup unterhalten sich hauptsächlich über Cyberpunk-Literatur und -Filme. Manchmal gibt es auch Aufrufe, das Establishment zu stürzen und Diskussionen über Zensur oder Kryptografie. Die Gruppe enthält 80 neue Nachrichten, von denen sich allein zwölf mit dem amerikanischen Waffengesetz beschäftigen. Dödel guckt den ganzen Unfug sorgfältig durch. Ziemlich anstrengend, denn das ist nicht seine Welt. Dödel ist kein Punk, weder Cyber noch sonstwie. Normalerweise liest er nur Newsgroups, die mit alt.sex. anfangen. Da gibt’s nämlich sehr interessante Sachen: alt.sex.stories enthält erotische Stories, in alt.sex.pictures findet man entsprechende Bilder, und die -50-
verschiedenen Diskussionsgruppen wie alt.sex.bizarre oder alt.sex.bondage findet zumindest Dödel auch ganz interessant. Außerdem gibt’ s dann noch ein paar Gruppen, die als Gag extra für den Staatsanwalt angelegt wurden, wie zum Beispiel alt.sex.aluminium.baseball.bat, alt.sex.lizards oder alt.sex.bestiality.hamster.ducttape. Im Internet gilt grundsätzlich: Wer eine Newsgroup liest, ist selber schuld. Gruppen zu lesen, nur um sich hinterher über ihren Inhalt aufzuregen, ist absolut verpönt. Das Problem ist, daß Dödel gar nicht weiß, wonach er sucht. Dieser übergeschnappte Programmierer wird hier wohl kaum unter seinem richtigen Namen posten. Und Gott weiß, was für ein Pseudonym er benutzt. Dödel heißt im Netz zum Beispiel Sexmonster. Na gut, dann versucht er wenigstens herauszubekommen, was denn nun dieser geheimnisvolle Code bewirkt, den der Mensch in das Spiel hineingeschmuggelt hat. Dödel geht in seine PrivatMailbox, die Schweinebox, und mailt an Senior, den Cracker, dem er die Dateien gegeben hat. Wieweit er denn ist, ob man schon was sagen kann. Kurze Zeit später loggt Senior sich in die Schweinebox ein, und Dödel sieht, daß er seinen Brief liest. Danach fordert Dödel Senior zum Dialog auf, zu einer Online-Unterhaltung: Senior: Hi, ich weiß noch nichts, aber ich Senior: bleib dran. Sexmonster: Es wäre wirklich gut, wenn du Sexmonster: rauskriegen würdest, was Sexmonster: da drin ist Senior: Der Code ist verschlüsselt, ich Senior: habe echte Schwierigkeiten, da Senior: Sinn rein zu bringen. Aber -51-
Senior: vielleicht weiß ich bis Samstag Senior: mehr. Nächste Woche habe ich ja Senior: sowieso nicht mehr so viel Zeit. Sexmonster: Sehen wir uns Samstag? Senior: Ja, ich wollte eigentlich Senior: vorbeikommen. Sexmonster: Gut, vielleicht können wir Sexmonster: dann in einer ruhigen Ecke Sexmonster: kurz reden. Senior: O.k., also bis dann. *** Senior hat sich ausgeloggt *** Mehr kann Dödel da im Moment nicht tun, er selbst ist als Programmierer eine ziemliche Niete und sicher nicht in der Lage, einen fremden Code zu disassemblieren und zu analysieren. Schon gar nicht, wenn dieser Code auch noch verschlüsselt ist. Also beschließt er, jetzt ein braver Redakteur zu sein und an seinen Artikeln zu arbeiten. Naja, vielleicht kann er heute Abend wenigstens ein bißchen mit dem neuen Programm für die Schweinebox spielen.
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3. Kapitel Es ist Donnerstag, halb elf. Ulrike und Dödel arbeiten an ihren Artikeln, Lulu sitzt mit ihrem ersten Kaffee vor dem Rechner und liest ihre Mail. Stevie wurde heute noch nicht gesichtet. Da klingelt Lulus Telefon: Stevie ist im Bad ausgerutscht und hat sich sämtliche Bänder gezerrt. Der Notarzt war da und hat strikte Bettruhe verordnet. Stevie verspricht, zu Hause an seinem MUD-Artikel zu arbeiten. Lulu wünscht ihm gute Besserung und legt kopfschüttelnd den Hörer auf. Das ist mal wieder typisch Stevie. Hochintelligent, begnadeter Programmierer, aber zu blöd, um aus der Dusche zu steigen. Vor einem Jahr hat er sich in der Redaktion das Schlüsselbein gebrochen, als er aus irgendeinem Grund rückwärts über den Flur ging und dabei über eine Kiste stolperte. Jetzt reicht es aber mit den Zwischenfällen für diese Woche, sonst wird es eng mit der nächsten Ausgabe. Der nächste Samstag fällt als Pufferzeit auch flach, da kommen ja die Leser. Stevie liegt mit seinem Notebook auf dem Sofa. Sein Knöchel ist doppelt so dick, wie er sein sollte, und tut ziemlich weh. Warum muß ausgerechnet ihm immer sowas passieren? Im einen Moment hat er noch unter der Dusche gestanden und sich die Wassertropfen abgestreift. Dabei ist ihm eine Idee zur Optimierung seines Corewar-Programms gekommen. Dann hat er nach dem Handtuch gelangt, rekursiv auf die Wassertropfen zugegriffen, ist mit der Nase an der Wand runtergeschrammt, hat mit dem Fuß nach Halt gesucht und sich den Knöchel verstaucht. In der Schleife muß irgendwo ein Bug drin gewesen sein. Er hat gerade einen Grundlagenartikel über MUDs begonnen. Dazu braucht er nicht zu recherchieren, das hat er im Kopf. Gut, wenn man sein bis dato völlig nutzloses Wissen doch einmal anwenden kann. MUD steht für Multi- User-Dungeon. Das ist im Prinzip ein Text-Adventure, genau wie die ganz alten Spiele für -53-
den PC, wie Hitchhiker’s Guide oder Leather Goddesses of Phoboss. Aber der Vergleich hinkt ungefähr so wie der zwischen einem Ruderboot und der Titanic. Erstens ist es größer und zweitens sind mehr Leute drauf, wie der Name schon andeutet. Und drittens befindet sich dieses Spiel nicht auf dem Rechner, an dem man gerade sitzt, sondern irgendwo auf der Welt, auf einem Rechner, der ans Internet angeschlossen ist. Auf diesem entfernten Rechner kann man Befehle eingeben, als würde man dort direkt an der Konsole sitzen. Und Mitspieler aus aller Welt machen zur gleichen Zeit dasselbe. Die Mitspieler sind wichtig im MUD. Sie können einem helfen oder einen vernichten. Das kommt darauf an, ob sie gerade gute oder schlechte Laune haben und ob sie besser oder schlechter ausgerüstet sind als man selbst. Wenn der Andere sich im Spiel bereits zum mächtigen Zauberer hochgearbeitet hat, dann sollte man besser freundlich zu ihm sein und hoffen, daß man ihm nicht im Weg steht. Sonst wird man mit einem Feuerball plattgemacht. Außer den anderen Spielern gibt es im MUD auch noch NPCs, Non-Player-Characters. Das sind meistens Monster mit den verschiedensten ekelhaften Angewohnheiten. Sie schleimen einen voll, klauen die Ausrüstung, die man mühsam zusammen gesammelt hat, wollen gestreichelt oder gefüttert werden, speien Feuer oder fressen einen. Wer ein Monster besiegt, erhält dafür Punkte. Auch für das Lösen von Aufgaben, den sogenannten Quests, bekommt man Punkte. Die Aufgaben könne n darin bestehen, Prinzessinen aus den Klauen von Monstern zu befreien, wertvolle Waffen in seinen Besitz zu bringen oder einen in den Tiefen des Labyrinths verborgenen Gegenstand zu finden. Dabei besteht natürlich immer die Gefahr, daß man stirbt und wieder von vorn anfangen muß. Das Ziel eines jeden sterblichen Spielers ist es daher, zum unsterblichen Zauberer aufzusteigen, ein Wizard zu werden. Ein Wizard kann fast alles. Er kann sogar neues Terrain im Spiel anlegen und sich neue Rätsel für die -54-
anderen Spieler ausdenken. In manchen MUDs dürfen die Spieler sich auch gegenseitig killen. Da ist es dann lebenswichtig, den mächtigen Zauberer nicht zu verärgern oder Allianzen mit Gleichgesinnten zu schmieden, um das Terrain sicher durchstreifen zu können. Der Artikel fließt nur so aus Stevies Fingern heraus, inklusive zahlreicher Tippfehler, wie sie bei den kleinen LaptopTastaturen unvermeidlich sind. Stevie hat zwar keine Schlachterfinger, aber auf diesen Minitasten könnte selbst eine Schlangenfrau nicht fehle rfrei tippen. Er erinnert sich an die Zeit seiner MUD-Sucht. Er hatte sich in das MUD geflüchtet, weil in der wirklichen Welt einfach nichts los war. Nichts Erfreuliches jedenfalls. Nichts, was ihm Spaß machte, keine Freunde. Das war die Zeit nach dem Abitur gewesen. Davor hatte er drei Jahre im Internat verbracht, weil seine Eltern andere Sachen zu tun hatten, als einem Sohn durch die Pubertät zu helfen. Die Internatszeit war ziemlich übel. Die Mitschüler beschäftigten sich vorzugsweise damit, jeden Monat ein neues Opfer für ihre blöden Streiche auszuwählen und das dann nach Kräften zu piesacken. Mehrmals war er dran. Da wurde auf sein Kopfkissen gepinkelt, und aus seinen Schuhen krochen Maden. Stevie haßt Maden, wie überhaupt alles Gekrabbel. Und er ist ein sehr friedfertiger Mensch, der sich schlecht gegen Grobheit verteidigen kann. Außer im MUD natürlich, mit einem Powersword in der einen und einer Pickaxe in der anderen Hand, ein Zauberamulett gegen Verletzungen um den Hals und mächtige Zaubersprüche im Rucksack. Im MUD war er zum Schluß ein allmächtiger Wizard. Er half oft neuen Spielern, die ihre ersten Schritte im MUD unternahmen, und zeigte ihnen, wie man am schnellsten zu Experience-Points kam, und welche Waffen und Rüstungen am stärksten waren. Wenigstens hatten sie im Internat gute Computer. Dort hat er die Grundzüge gelernt. Nur die Grundzüge, alles andere hat er sich selbst beigebracht, wie jeder anständige Hacker. Computern -55-
lernt man nicht von anderen, sondern durch Ausprobieren. Trial and error. Genauso, wie man sich einen Stadtplan nicht aufsagen lassen kann. Als er sein Abitur endlich in der Tasche hatte und wieder nach Hause durfte, installierte er in seinem Zimmer ein UNIX-System mit Internet-Anschluß. Und dann brachte er mehrere Monate praktisch nur in diesem einen MUD zu, das auf einem Unirechner in Seattle installiert war. Er lebte von Red Bull und Flying Horse, von Vitamintabletten und Calla-Pizza. Und war durchschnittlich 18 Stunden am Tag online. Seine Eltern kümmerten sich nicht darum, was ihr erwachsener Sprößling in seinem Kinderzimmer trieb, und bezahlten klaglos und ohne nachzufragen die hohen Telefonrechnungen. Wäre Stevie damals schon fest angestellt gewesen, hätte er garantiert seinen Job verloren. Und wenn Lulu die Geschichte kennen würde, hätte sie ihm sicher nicht den MUD-Test übertragen. Warum MUDs so zeitfressend sein können, ist leicht zu erklären. Je länger man am Stück online ist, desto mehr erreicht man. Denn um erfolgreich zu sein, braucht man eine möglichst gute Ausrüstung. Man braucht Waffen, um Monster zu killen, eine Rüstung, um sich zu schützen und eventuell noch alle möglichen Amulette und Zaubertränke. Das Problem liegt darin, daß man die Ausrüstung bei jedem Verlassen des Spiels verliert und sie beim nächsten Login erst wieder mühsam zusammensuchen muß. Es kann leicht eine Stunde dauern, bis die Spielfigur überhaupt ausgehfertig ist. Hinzu kommt: Während man selber den Schätzen und Zaubersprüchen nachjagt, machen die andern das gleiche. Setzt man einen Tag aus, ist der blöde Mitspieler, der einen schon die ganze Zeit geärgert hat, am nächsten Tag im Vorteil. Da spielt man dann eben jeden Tag 18 Stunden. Oder auch mal 36. Wizard kann man nur werden, wenn man verrückt genug ist, mehrere Wochen oder sogar Monate seines Lebens nichts anders zu tun als zu -56-
mudden. Dann, von einem Tag auf den anderen, hatte er damals beschlossen, mit der Mudderei Schluß zu machen und in die wirkliche Welt zurückzukehren. Anlaß dazu war ein Erlebnis im MUD. Dort hatte er eine schöne Kriegerin kennengelernt, mit der er in den folgenden Wochen so manchen Streifzug unternahm. Wenn ein starker und ein schwacher Krieger als Team losziehen, ist das die beste Möglichkeit für den Schwachen, schnell zu Exps, Experience Points, zu kommen. Denn bei Kämpfen mit starken Monstern werden die Punkte zwischen den Mitgliedern des Teams aufgeteilt. Nun, er hatte mit der schönen Kriegerin vorsichtig geflirtet. Sie war Amerikanerin aus San Diego, und daher hatte er sich sicher gefühlt und seinen humorvollerotischen Bemerkungen freien Lauf gelassen. Aber dann plötzlich hatte sie ihm eröffnet, ihre Eltern hätten ihr zum Schulabschluß eine Europareise spendiert, und sie wolle bei ihm vorbeikommen. Das war ein regelrechter Schock für Stevie. Was, wenn sie ihn nicht leid en mochte? Und überhaupt, er hatte ihr so viel von sich erzählt, es würde furchtbar peinlich werden, jemand zu begegnen, der so viel über ihn wußte. Er war nicht bereit, die Beziehung, die im Cyberspace zwischen ihnen entstanden war, dem Realitätstest zu unterziehen. Alles würde durch die Realität zerstört werden. Darum erzählte er ihr, daß er in der Woche, für die sie ihren Deutschlandstop geplant hatte, auf Urlaub sein würde, so daß sie sich verpassen würden, leider leider. Daraufhin disponierte die Kriegerin komplett um und richtete ihre ganze Reiseroute nach seinen vorgeblichen Terminen aus. Und Stevie wußte sich nicht anders zu helfen, als ihr eine falsche Telefonnummer und eine falsche Adresse zu geben. Und sich nach ihrer Abreise nach Europa nie wieder im MUD sehen zu lassen. Wochenlang saß er danach in seinem Zimmer und ärgerte sich über sich selbst. Und schrieb nebenbei einige seiner besten Programme. Dann faßte er den Entschluß, raus zu gehen und ein -57-
Mädchen kennenzulernen. Das gab dann ein paar Systemabstürze in den umliegenden Diskos und auch ein paar Testroutinen, die allerdings nur wenige Schleifen lang durchhielten, bevor Stevie sie abbrach. Irgendwie ist er dann bei der Happy PowerPlayer gelandet, hat die elterliche Wohnung verlassen und sich ein kleines Appartement gemietet. Seit zwei Jahren arbeitet er jetzt als Redakteur. Und es ist eine ziemlich gute Zeit gewesen. Eine Freundin hat er zwar immer noch nicht, aber die Kollegen sind nett und behandeln ihn nicht wie einen Außenseiter. Besonders Lulu ist super, er verehrt sie. Dödel, naja, der ist ein lustiger Typ, bißchen angeberisch vielleicht, und sein ganzes Sex-Getue geht Stevie ziemlich auf die Nerven. Aber wenn Stevie mal ein Terminproblem mit einem Artikel hat, dann weiß er genau: Wenn es irgend möglich ist, wird Dödel ihm helfen. Und wenn er für einen Artikel Informationen braucht und nicht weiß, wen er anrufen soll, dann kann er auch zu Dödel gehen, und der sucht notfalls eine halbe Stunde lang seinen ganzen chaotischen Schreibtisch durch, um die Visitenkarte zu finden, auf der genau die Telefonnummer steht, die Stevie braucht. Ja, Dödel ist schon in Ordnung. Nur mit Ulrike weiß Stevie noch nicht viel anzufangen, die ist ja erst seit drei Monaten in der Redaktion. Sie ist lustig, meistens guter Laune, und spielemäßig hat sie wirklich was drauf. Daß es da auch noch Tina gibt, fällt Stevie bei seinen Betrachtungen gar nicht ein. Die ist für ihn mehr so eine Art Versandbriefkasten. Man gibt ihr eine Soundkarte, und sie schickt sie an den Hersteller zurück. Nach zwei Stunden ist der Artikel fertig. Er Artikel sollte ursprünglich nur ungefähr eine Seite füllen, danach sollten dann vier Seiten Tests kommen und Beschreibungen verschiedener MUD-Systeme. Doch unversehens ist Stevie die Einleitung zu einer ausführlichen Psychologie der MUD-Spieler geraten. Sein Bein ist noch dicker geworden. Der Notarzt hat gesagt, er soll nach drei Stunden den Verband wechseln und neue -58-
Medizin drauf tun. Na gut, das kann er ja mal machen. Stevie humpelt ins Bad. Soweit, so gut. Er rollt den Verband ab, träufelt irgendwelches alkoholhaltiges Zeug auf den Fuß und rollt alles wieder ein. Natürlich hat sich inzwischen die Klammer selbständig gemacht, die den Verband zusammenhalten soll. Stevie klebt ein Pflaster über den unordentlichen Knödel, den er jetzt am Bein hat, und humpelt zum Sofa zurück. Bald darauf ist er eingeschlafen. Ulrike geht heute pünktlich nach Hause. Sie ist nicht besonders gut drauf. Als sie in ihren Kühlschrank guckt, sinkt die Stimmung noch weiter. Dort befindet sich lediglich eine halbe Dose verschimmelter Mascarpone. Das einzig Eßbare in der ganzen Wohnung sind Spaghetti Miracoli. Im Prinzip ist das der Normalzustand, denn Ulrike haßt alles, was irgendwie mit hausfraulichen Tätigkeiten zu tun hat. Einkaufen, putzen und kochen ist ihr zuwider. Schon als Kind hat sie niemals ihrer Mutter im Haushalt geholfen, sondern ist lieber mit den Nachbarjungen auf Bäume geklettert. Einmal hat sie in einem halsbrecherischen Akt den Wetterhahn vom Schuldach abgeschraubt und drei Tage Schulverbot gekriegt. Wahrscheinlich hätte sie besser ein Mann werden sollen. Na gut, wenigstens ist noch eine halbe Flasche Rotwein da. Ulrike setzt Wasser für die Miracoli auf, das schafft sie gerade noch. Dann überlegt sie, womit sich der Abend herumbringen läßt, ohne aus dem Haus gehen zu müssen. Sie hat zwar normalerweise kein Problem damit, alleine auszugehen, aber heute muß das nicht sein. Sie hätte die Life-Disketten mitnehmen sollen. Man könnte ja meinen, daß eine Studentin der E-Technik jede Menge Männer kennenlernt. Das stimmt auch. Aber irgendwie waren die Typen in der Fachhochschule alle nicht Ulrikes Fall. Das ist übrigens ein weiterer Grund, warum sie sich von Lulu überreden ließ, die Branche zu wechseln. Die E-Techniker waren zwar nicht blöd - eine wichtige Voraussetzung, um -59-
Ulrikes Aufmerksamkeit zu erregen - aber gefunkt hat es auch nie. Vielleicht liegt es daran, daß sie gern den Kasper spielt. Sowas irritiert Männer. Also, was tun? Klar, wenn sie nicht raus geht, muß die Welt zu ihr kommen. Sie schaltet ihren Baby-PC an, der in einer Ecke auf dem Eßtisch steht. Der kostenlose Internet-Anschluß ist ein echter Vorteil des Journalistendaseins. Jeder Redakteur der Happy PowerPlayer hat einen eigenen Internet-Account, mit dem er oder sie sich weltweit als Netzwerk-Surfer betätigen kann. Ohne diese unschätzbare Informationsquelle ist eine Technikorientierte Redaktion heutzutage überhaupt nicht mehr konkurrenzfähig. Wenn man für Computerfreaks schreibt, gilt das natürlich besonders. Daß die Redakteure den Zugang auch für private Spielereien nutzen, ist klar. Aber allzu oft stoßen sie gerade dabei rein zufällig auf interessante Informationen für die nächste Ausgabe der Happy PowerPlayer. Schon hat Ulrike ihr Wohnzimmer auf elektronischem Weg an die ganze Welt angeschlossen. Sie befindet sich im IRC, dem Internet-Relay-Chat. Das ist eine Online-Konferenz, die nicht auf einem bestimmten Rechner, sondern gleichzeitig im ganzen Netz stattfindet. Genauso, wie man in manchen Mailboxen mit anderen Usern chatten kann, chatten hier in diesem Moment 2.000 Leute aus aller Welt. Sie verteilen sich auf 800 Kanäle, auf denen die verschiedensten Themen abgehandelt werden, von Politik bis Sex. Manche Kanäle sind allerdings privat, so daß man sie nur auf Einladung besuchen kann. Ulrike wählt zunächst einen öffentlichen, deutschen Kanal namens #Muenster. Sie begrüßt die Anwesenden und wird ihrerseits begrüßt. Wohlweislich lautet Ulrikes Online-Name Uli und ist damit geschlechtsneutral. Sonst würde sie nämlich innerhalb von Minuten mit Flüstermeldungen eingedeckt werden. Die anderen unterhalten sich gerade über Startrek The Next Generation. Ulrike ist Picard zu alt, und die anderen Männer in der Serie sind auch keine Schönheiten. Sie überläßt -60-
den Chat sich selbst, geht in die Küche, wirft die Spaghetti ins kochende Wasser und setzt die ominöse Kräutersoße auf. Als Stevie aufwacht, ist es sieben Uhr abends. Eigentlich könnte er jetzt ein bißchen chatten. Natürlich nicht in der B.O.X., wo um diese Zeit die Schulkinder regieren, sondern im IRC, wo jetzt die Computerfreaks von der Ostküste ihre Lunchpause beim Chatten verbringen. Stevie geht in den Kanal, der einfach #Chat heißt. Dort laufen jedoch im Moment nur endlose Begrüßungsorgien ab. Nichts als Hello, bye bye, cu soon, brb und so weiter. Er guckt, wieviele Leute in den Channels sind, die sich mit seinen bevorzugten Computerthemen beschäftigen. Auf #Linux sind 15 Leute, auf #Pentium acht, auf #Emacs zwei und auf #C++ zwölf. Stevie geht auf #C++. Aber weit davon entfernt, sich um ernsthafte Programmierprobleme zu kümmern, hänseln die Chatteilnehmer sich gegenseitig und werfen sich Schimpfwörter an den Kopf. Stevie will den Kanal gerade verlassen, da erhält er die Mitteilung: *** Signon by Uli detected Sieh an, Ulrike ist auch im IRC. Er guckt nach, in welchem Kanal sie sich befindet. Aha, sie bleibt dem Deutschen treu, ist in #Muenster. Er schickt ihr einen Blitz: /msg Uli Huhu, auch da? Naja, offensichtlich. Stevie beschließt, seiner Flüstermeldung nachzufolgen, und begibt sich in den Kanal #Muenster, dessen Thema ausgewiesen ist mit »The friendly german channel«. Da sind die üblichen Chaoten versammelt. Ein paar Studenten, zwei vom CCC und Ulrike. Als Stevie sich in den Kanal einschaltet, wird er gleich von Ulrike begrüßt: ‹Uli› hi stevie, wie geht’s deinem fuss? Ulrike hat sich gerade die fertigen Spaghetti aus der Küche geholt und sitzt mampfend vor dem Rechner. ‹Escrom› Uli du redest Unsinn ‹Alf› Kennt ihr euch? -61-
‹Escrom› Hi Stevie ‹Willi› r u all german? ‹Uli› alf: ja, wir sind kollegen. ‹Stevie› Uli: Der Fuss ist so dick wie +alle MSVC++ Manuals zusammen :-( ‹Uli› beileid, wie lange musst du denn zu +hause bleiben? ‹Stevie› weiss noch nicht, morgen wohl +noch. Dann komme ich Montag wieder. Zum +Glück ist es nicht der Prozessor, deshalb +kann ich auch hier arbeiten. ‹Uli› streber :-) ‹Stevie› naja, ich will euch ja nicht +haengen lassen. Aber keine Angst, ich +übernehme mich schon nicht :-) ‹Uli› na hoffentlich ‹Stevie› ich habe zum Beispiel den ganzen +Nachmittag verpennt ‹Uli› dann gibt’s ja noch Hoffnung fuer +dich ‹Alf› escrom: kann ich nachher noch auf +deine Kiste kommen? ‹Stevie› Uli: wie meinst du das denn? ‹Escrom› Alf: klar junge, ich mach hier +bald dicht, dann kannst du kommen. ‹Uli› ste: naja, ich weiss nicht, du bist +immer so still und arbeitsam :-) ‹Stevie› soll ich nicht? -62-
‹Uli› ste: ich dachte nur, mann sollte +auch mal was anderes machen als +arbeiten ‹Alf› Escrom: Wann kann ich kommen? ‹Willi› uli: and what do you prefer? :-) ‹Stevie› ich mach ja auch noch was +anderes: programmieren, essen, schlafen.. ‹Uli› klingt nicht sehr spannend Das hört sich ja mitleiderregend gräßlich an. So kann man doch nicht leben. ‹Stevie› zugegeben, ist es auch nicht :-( ‹Escrom› in ner stunde oder so ‹Alf› ok ‹Uli› ste: bißchen mehr action wuerde dir +vielleicht ganz gut tun ‹Stevie› ach, und an was hast du da so +gedacht? ‹Uli› weiss nicht, was machst du denn +gerne? ‹Stevie› weiss nicht Ulrike fällt ein, daß sie ja auch nicht gerade die außergewöhnlichen Hobbys zu bieten hat. Wie kommt sie eigentlich dazu, ihrem kranken Kollegen Tips zu geben, die sie selbst nicht befolgt? Wie kommt sie überhaupt dazu, ihm Tips zu geben? Naja, sie beantwortet ja auch gerne Leserfragen. Wahrscheinlich ist einfach eine Briefkastentante an ihr verloren gegangen. ‹Uli› ste: hm, vielleicht sollten wir uns +erstmal an die kategorien +rantasten: -63-
+sport, kultur, natur, bildung, allein, +mit vielen, mit tieren? ‹Willi› MIT TIEREN????? ‹Uli› willi: du sei ruhig, du +nachgemachter ami. Sonst machen wir einen +privaten channel auf. ‹Uli› ste: also? Stevie überlegt, wie er Ulrikes Frage nach den HobbyKategorien beantworten soll. Nicht, weil sie gefragt hat, sondern weil es ja wirklich mal ganz interessant wäre. Was würde er gern tun, wenn er sich dazu überwinden könnte, es zu tun? Sein Bauch ist schon ganz warm von dem Notebook. Er antwortet ganz bedacht: ‹Stevie› Sport: hm. Höchstens radeln. +Kultur: Museen sind langweilig. Höchstens +mal Kabarett. Fällt das unter Kultur? +Natur: Ist o.k., solange sie flach ist +und man nicht raufsteigen muß. Bildung: +ich weiß eh schon zuviel. Allein: bin +ich immer. Mit vielen: Igitt. Ich hasse +Menschenansammlungen. Tiere: sind nett, +man kann mit ihnen reden. Aber sie +antworten nicht :-( Vier Minuten tippt niemand etwas. Ulrike liest Stevies lange Antwort mehrmals durch und überlegt, ganz Briefkastentante, was sie daraus machen soll. ‹Uli› Ableitung: Radeln in der flachen +Natur zu zweit müßte dir Spaß machen. +Beim Kabarett wäre noch zu klären, ob -64-
das +Publikum unter Menschenansammlung fällt. ‹Stevie› Radeln zu zweit wäre o.k., wenn +der Zweite o.k. ist. Publikum ist keine +Ansammlung, weil es auf die Bühne guckt +und nicht auf mich. ‹Uli› Siehst du, da hätten wir schon zwei +Sachen, die du machen könntest. Ist zwar +nicht besonders abenteuerlich, aber +immerhin. Und bestimmt finden wir noch +mehr. ‹Stevie› Aber radeln geht im Winter +sowieso nicht :-( Und ins Kabarett würde +ich allein auch nicht gehen. *** Signoff: Stevie Nanu, wundert sich Ulrike. Ganz plötzlich ist er weg. Sieht fast aus, als ob er aufgelegt hat. Oder aus Versehen den Telefonstecker raus gezogen. Dabei sind sie doch mitten in der Unterhaltung gewesen. Ob ihm das Diskussionsthema nicht gepaßt hat? Schlagartig wird Ulrike klar, daß sie selber genauso reagiert hätte. Schließlich hat sie auch nicht viele Freunde, die Kollegen von der Happy PowerPlayer sind in letzter Zeit sowas wie ihre Familie geworden. Allerdings hat sie mit ihnen eigentlich noch nie über solche Privatangelegenheiten geredet. Schon gar nicht mit Stevie, in der Redaktion hätte sie sicher nie damit angefangen. Aber wenn man so allein zu Hause sitzt, dann projeziert man wohl sehr leicht seine eigenen Gednaken und Probleme in das virtuelle Gegenüber hinein. Ulrike tut es leid, daß sie Stevie möglicherweise durch ihr unsensible Art verletzt hat. Unsensibel, wie sie nunmal ist. Das war wieder mal typisch für sie, verdammt. -65-
In #Muenster ist jetzt nicht mehr viel los, und Ulrike sucht nach einem interessanteren Kanal. Sie landet in #Hottub, einem stark besetzten Channel, in dem sich alle seit Jahren zu kennen scheinen. Hier sind nur Amerikaner drin. Dreißig Leute in einem Whirlpool. Einer tippt, daß er ein bißchen zur Seite rückt, damit Uli sich setzen kann. Sie bedankt sich höflich und fragt in die Runde, um welches Thema es gerade geht. Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus, denn es werden ungefähr zehn Themen gleichzeitig diskutiert: Der Verschlüsselungschip mit der Hintertür fürs FBI, der Internet-Mißbrauch eines gewissen Anwaltbüros, die Heirat eines amerikanischen TV-Moderators, das Liebesleben von Bill Clinton, der Krieg im ehemaligen Jugoslavien, die Schwangerschaft einer Chat-Genossin, die zukünftigen Pläne der Star-Trek-Macher, Urlaub auf Hawaii und noch einige andere. Ulrike guckt der Unterhaltung zu. Sie kann sowieso nicht gleichzeitig tippen und Spaghetti auf die Gabel wickeln. Dann kommt das Gespräch auf das explosionsartige Wachstum des Internet mit seinen Vor- und Nachteilen. Man spricht zur Zeit von einem Wachstum von 15 Prozent monatlich. Und einige Experten haben ausgerechnet, daß , wenn die Wachstumsrate anhält, im Jahre 2001 jeder Mensch auf der Erde ans Internet angeschlossen sein wird. Das ist natürlich Unfug. Vor kurzer Zeit haben einige der etablierten kommerziellen Online-Dienste in den USA für ihre Kunden Übergänge zum Internet geschaffen. Die Folge war, daß das Netz von sogenannten »Newbies« nur so überschwemmt wurde. Diese ahnungslosen Anfänger posteten oft in die falschen Gruppen oder ließen leere Nachrichten los, weil sie mit ihren Programmen nicht umgehen konnten oder regten sich über die Sex-Gruppen auf. Daraufhin versuchten zahlreiche alteingesessene Internetler, die Newbies mit schriftlichen Beleidigungen, sogenannten Flames, wieder aus dem Netz zu vertreiben. Und in vielen Fällen gelang ihnen das auch. Die -66-
Newbies kriegten Angst und verzogen sich. Die Leute in der #Hottub argumentieren jedoch ganz vernünftig: Je mehr Leute ins Internet kommen, desto mächtiger wird die Netzgemeinde, und desto besser kann man sich gegen Restriktionsversuche der Regierungen zur Wehr setzen. Wie war das noch, als Kanada einen Informationsstop über den HomolkaMordprozeß verhängte? Klar, die Kanadier versorgten sich im Internet mit Informationen. Die amerikanische Freak-Zeitschrift Wired, die auch in Kanada erhältlich ist, berichtete über den Bann und wurde daraufhin selbst gebannt. Worauf Wired die Artikel eben im Internet zur Verfügung stellte. Die Contra-Partei argumentiert, daß eine größere Netzgemeinde auch eher ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückt und bei den Regierungen Restriktionswünsche weckt. Ulrike diskutiert ein bißchen mit, aber eigentlich ist sie mit ihren Gedanken woanders. Sie wechselt noch einmal in den Kanal #Muenster, in der Hoffnung, daß sich dort inzwischen ein paar interessante Männer angefunden haben, die weniger als 8.000 Kilometer weit weg sind. Aber Fehlanzeige. Und so trinkt sie ihren Rotwein aus und geht dann bald ins Bett. Stevie hat tatsächlich aufgelegt. Ihm ist schlagartig klargeworden, daß das Problem beim Radeln zu zweit im »zu zweit« besteht. Er hat niemand, mit dem er radeln könnte. Und das konnte er einfach nicht hintippen, weil es einfach zu schlimm ist. Schlimm genug, daß es ihm jetzt mal wieder so richtig klar geworden ist. Die Tage in der Redaktion lassen ihn vergessen, daß er außerhalb der Arbeit praktisch keine Kontakte hat. Naja, außer zu ein paar Computerfreaks, die man online so kennt und mit denen man mal Programmroutinen austauscht oder über die Bugs der verschiedenen Microsoft-Programme lästert. Er muß sich ablenken. Zum erstenmal seit zwei Jahren baut er übers Internet wieder die Telnet-Verbindung zu dem Rechner in -67-
Seattle auf. Tatsächlich, das MUD »Trouble in Treasureland« läuft noch. Und sogar sein Wizard-Character besteht noch. Die Gods haben ihn nicht gelöscht. Stevie hat allerdings im Moment keine Lust, sich als allmächtiger Wizard zu betätigen. Zum Glück können Wizards sich bei Bedarf als Mortals ausgeben, und so erfindet er aus dem Stand den MUD-Anfänger Axe. Er läuft durch das Labyrinth, um zu sehen, ob er sich noch auskennt. In einem MUD bewegt man sich durch einfache Himmelsrichtungsangaben - n, w, e, s - von Raum zu Raum. Wenn man einen Raum betritt, wird dessen verbale Beschreibung angezeigt. Ein Raum kann natürlich auch eine Straße sein, und manchmal geht es auch rauf und runter oder diagonal. Den Arbeitsplatz eines Mudders erkennt man an den ausgedehnten Gebietskarten auf der Schreibtischunterlage. Aber die wirklich guten Spieler haben die Wege im Kopf. Ja, Stevie weiß sogar nach zwei Jahren noch alle Wege auswendig. Niemals stößt er gegen eine Mauer, selbst wenn er schnell hintereinander lange Richtungs-Sequenzen eingibt. Vom Schloßhof aus s s s w ne w n down n. Stimmt, hier ist die Quelle mit der Nymphe. Wenn ma n aus der Quelle trinkt, wird man stärker, ganz ohne Kampf. Gewußt wie. Stevie sucht sich ein paar Waffen zusammen. Nichts Tolles, eine Peitsche und einen Powerstone. Dann braucht er noch eine Rüstung oder wenigstens ein Amulett. Wo waren denn noch die Sachen, an die man als Anfänger herankommt? Ach ja, oben im Burgturm war doch so ein Skelett, das noch seinen rostigen Helm aufhat. Also nicht wie hin: s up s e sw n n e e e up up up s. Richtig, da liegt das Skelett. Dummerweise ist der Helm weg. Diese Runde läuft wohl schon eine Weile, und der Helm hat bereits einen Liebhaber gefunden. Stevie sieht sich den Status des MUDs an. Ja, es sind schon so viele Objekte bewegt und so viele Monster geschlachtet worden, daß wohl bald ein Reset erfolgen wird. Das passiert ungefähr einmal am Tag, und dann sind alle Sachen -68-
wieder in Ausgangsposition. Naja, da kann man nichts machen. Stevie guckt, wieviele Spieler im Moment gerade da sind, und ob er noch jemand von denen kennt. Zwanzig Leute sind im Lande Treasureland unterwegs. Aber nur ein Name kommt ihm bekannt vor: Werewolf, das ist ein alter Kampfgenosse. Sie haben sich kennengelernt, als sie beide ungefähr gleich stark waren, so im neunten oder zehnten Level, Mittelklassespieler also. Sie sind damals öfters zusammen losgezogen, um sich ein paar der stärkeren Monster gemeinsam vorzunehmen. Außerdem macht das Mudden gemeinsam mehr Spaß. Wer Treasureland allein erforscht, dürfte Wochen brauchen, bis er sich einigermaßen auskennt und effizient vorgehen kann. Stevie schickt Werewolf eine Message: Hi Wolfi, rate mal, wer hier ist! Sofort wird Stevies Spielfigur Axe in die Luft gehoben und in eine geheime Wizard-Teestube versetzt. Werewolf ist inzwischen auch Wizard geworden und kann daher sehen, daß der kleine Axe in Wirklichkeit sein Freund und Wizard-Kollege Fafnir ist. In der Teestube können sie sich unterhalten, ohne vor jeder Nachricht den Befehl say eingeben zu müssen. Die Unterhaltung läuft natürlich auf englisch ab, denn Werewolf ist Chemiestudent an der Midwestern University. ›Mensch, Fafnir, läßt Du Dich auch mal wieder sehen! ›Ja, war lange nicht da. ›Und, wie ist es Dir so ergangen? ›Naja, geht so. Ich habe jetzt ‚nen ganz netten Job, aber privat geht’s nicht so gut. ›Das tut mir leid. ›Wird schon wieder. Und du, studierst du noch? -69-
›Ja, bin aber bald fertig. ›Schon einen Job in Aussicht? ›Ja, aber keinen der Spaß macht. Pharmaindustrie. ›I c. Und was läuft so in Treasureland? Gibt’s neue Quests, neues Terrain, oder sonst was Neues? ›Ja, wir haben schon noch einiges eingebaut. Besonders, um mehr Anfänger her zu locken. Sonst haben wir eines Tages nur noch Wizards und keine Mortals mehr. ›Gut, was habt ihr denn in der Richtung gemacht? ›Wir haben ein paar Gegenden, die für stärkere Spieler gesperrt sind, mit Minimonstern, die wirklich jeder erledigen kann. Ratten, Käfer, Krähen, Schmetterlinge... ›Haha, Schmetterlinge. ›Ein Schmetterling bringt immerhin 2 Exps, hehe. ›ROTFL Jeder weiß, daß »ROTFL« für »Rolling On The Floor Laughing« steht. ›Tja, und sonst waren wir letztens eine Woche down. ›Warum, Ärger mit der Uni? MUDs sind auf vielen Unirechnern nicht gern gesehen. Monster schlachten hat in den Augen mancher Ignoranten nichts mit wissenschaftlicher Arbeit zu tun. Und wenn das MUD dann immer mehr Ressourcen verbraucht, weil immer mehr Spieler -70-
online sind, dann kann es schon mal passieren, daß der oberste Systemadministrator das MUD dicht macht. ›Nein, die Uni macht keine Probleme. Sogar der Dekan spielt manchmal. Aber wir hatten Ärger mit einem Spieler, und das ist dann ziemlich eskaliert. ›Wieso, was hat der denn gemacht? ›Zunächst hat er sich einigermaßen friedlich hochgespielt bis zum Wizard. Und dann hat er angefangen, den Mortals üble Streiche zu spielen. Am Anfang haben wir gar nicht mitgekiegt, was lief. Nur, daß die Bevölkerung immer unzufriedener wurde. ›Was denn für Streiche? ›Er hat zum Beispiel die einfachen Monster geschlachtet und dann ein gefährliches an die gleiche Stelle teleportiert. Die Anfänger haben das natürlich nicht gepeilt. Sie wußten, daß an der Stelle normalerweise ein relativ schwaches Monster ist, und haben nicht so genau hingeguckt. Und wenn sie das Teil dann angegriffen haben, hat das einmal mit der Pranke draufgehauen, und sie waren weg. ›Haha, guter Trick. ›Naja, einmal kann man das vielleicht als Gag durchgehen lassen. Aber der hat das systematisch gemacht. Wir haben fast alle Spieler unter Level 7 verloren, bevor wir gemerkt hatten, was los war. ›Hm, das ist übel. Und was habt ihr gemacht? ›Die Spieler wollten natürlich, daß ihre -71-
Character wieder hergestellt werden, mit allen Exps und allen Spells und so weiter. Das war eine ziemliche Arbeit. Und viele waren so frustriert, daß sie gar nicht mehr wiedergekommen sind. Die haben wir dann angemailt. ›Und was habt ihr mit diesem Psychopathen gemacht? Ihr habt ihn doch sicher gebannt? ›Ja, sicher. Niemand mit dieser Adresse und niemand mit dem Namen McDonald kommt mehr rein. In Stevies Kopf macht es »Ping«. ›Moment mal. McDonald hieß der? ›Ja, blöder Name. In Stevies Kopf summt es, während die Datenbankabfrage läuft. Und dann macht es »Ping ping ping!« Die Abfrage hat zwar etwas gedauert, aber sie war erfolgreich: (Hamburger == McDonald) = TRUE! Ja, es muß einfach stimmen. Alles paßt: Psychopath, blutrünstig, Spieler und dann dieser Name! Allerdings, wie war das noch, der Typ soll doch ein Cyberpunk sein. Warum hat er dann in einem Fantasy-MUD gespielt? Naja, auf jeden Fall sollte man sich den Namen merken. Morgen wird er Lulu davon erzählen. ›Sag mal, weißt du noch irgendwas von dem Typ? Von wo er sich eingeloggt hat oder so? ›Warum willst du denn das wissen? Stevie erzählt so kurz wie möglich die Geschichte von dem Spiel Life und dem Programmierer Timothy Hamburger. Jetzt ist auch Werewolf Feuer und Flamme: ›Mensch, könnte wirklich sein, daß der das ist! -72-
›Jetzt muß ich ihn nur noch finden. Also, von wo kam der? ›Der hing mit seinem Privatrechner direkt am Internet. Nach der IP-Adresse zu urteilen irgendwo an der Westküste, wahrscheinlich Californien. ›Mann, das paßt! Der Typ ist aus San Francisco! ›Naja, aus der Gegend kommen natürlich sowieso die meisten. ›Aber es ist ein Hinweis. ›Stimmt. Kann ich noch irgendwas tun, um euch bei der Suche zu helfen? ›Hm, ich glaube nicht. Außer die Augen nach Duftmarken von McDonald offenhalten. ›Igitt. Hör zu, ich muß jetzt hier mal weitermachen, wollte eigentlich nur ‚ne kurze Pause einlegen. ›Hast du bald Prüfungen? ›Ja, jede Menge. ›Na dann viel Glück. ›Danke, und guck mal wieder rein. Ich will doch wissen, wie die Sache ausgeht. Du kannst mir auch mailen. ›O.k., ich halte dich auf dem laufenden. Stevie bzw. Axe wird aus der Teestube heraus teleportiert und findet sich im Schloßhof wieder. Er läuft noch etwas herum und guckt sich die neuen Anfängerregionen an. Um zwölf loggt er sich aus und humpelt ins Bett.
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4. Kapitel Am Freitag morgen ruft Stevie Lulu in der Redaktion an: »Hallo, ich habe ultrainteressante Meganeuigkeiten.« »Ja? Offensichtlich besteht die Neuigkeit nicht darin, daß du wieder laufen kannst.« »Nein, viel besser. Ich weiß wahrscheinlich den Namen, unter dem dieser Programmierer online ist.« »Was?« »Ja, er nennt sich McDonald.« Stevie erzählt Lulu, wie er das herausgefunden hat. »Natürlich ist es nicht absolut sicher. Aber es besteht doch eine ziemliche Wahrscheinlichkeit.« »Na super, dann wissen wir ja wenigstens, wonach wir suchen können.« »Genau. While not McDonald: weitersuchen.« »Und wann kommst du wieder?« »Montag ganz bestimmt.« »Na hoffentlich. Dann werde ich jetzt mal die Mannschaft zusammentrommeln.« »Und ich mache hier mit dem MUD-Artikel weiter.« »Brav. Also dann bis Montag.« »Servus.« Lulu ruft Ulrike und Dödel in ihr Zimmer und verkündet: »Leute, wir haben einen ersten Anhaltspunkt bei unserer Suche nach dem Programmierer, der dieses Life verwanzt hat.« »Wirklich?« »Was für eine?« »Er nennt sich wahrscheinlich im Internet McDonald.« »Igitt«, grunzt Ulrike. -74-
»Und woher weißt du das?« fragt Dödel. »Stevie hat’s rausgefunden. Da hat jemand in einem MUD unter diesem Namen die wilde Sau gespielt und sich genauso aufgeführt, wie es dieser Hamburger vermutlich tun würde.« »Na, wenn einer wilde Sau spielt, ist das doch noch kein Verdachtsmoment.« »Nein, aber wenn er dann auch noch diesen Namen hat und eine IP-Adresse in Californien.« »Naja.« »Auf jeden Fall sollten wir die Augen nach dem Account offenhalten. Besonders natürlich in den Newsgroups, die mit Cyberpunk oder mit MUDs oder anderen Spielen zu tun haben.« »Vielleicht spielt er ja jetzt ein anderes MUD«, meint Ulrike. »Stimmt, das könnte gut sein. Also schaut euch um.« »Ist das eine offizielle Erlaubnis, sich während der Arbeitszeit im Internet herumzutreiben?« will Dödel wissen. »Im Prinzip ja. Aber daß mir das Heft nicht darunter leidet. Die Arbeit hat immer noch Vorrang.« »Hab’ ich mir fast gedacht. Dann gehe ich jetzt den elektronischen Flirtkurs testen.« »Ich habe gehört, der soll ziemlich schlecht sein. Ich weiß nicht, ob wir den Quatsch bringen sollen.« »Das sage ich dir, wenn ich ihn getestet habe.« »Von mir aus. Und Ulrike, was machst du gerade?« »Ich habe inzwischen drei LAN-Spiele zusammen, die werde ich heute vormittag installieren und schon mal ein bißchen angucken. Dann können wir vielleicht heute Nachmittag noch eine Proberunde einlegen, wenn es euch paßt. Oder sonst Montag.« »Ja gut, schaun wir mal. Als die beiden Redakteure ihr Bü ro verlassen haben, überlegt -75-
Lulu, daß die Neuigkeiten von der Programmiererjagd eigentlich ein Grund wären, Daniel Trumm anzurufen. Aber nein, ein Überseegespräch hat sowas Dringendes, und schließlich hat sie noch keine Ergebnisse zu melden. Das würde möglicherweise so aussehen, als ob sie nach einer Ausrede gesucht hätte, ihn anzurufen. Also wird sie ihm eine Mail schreiben, dann ist er genau so schnell informiert. Eine Mail kann man immer und an jeden schreiben. Komischerweise haben die meisten Leute vie l weniger Hemmungen, eine elektronische Mitteilung abzuschicken als einen herkömmlichen Brief. Auch die Happy PowerPlayer erhält mittlerweile mehr elektronische Post als Snail-Mail. Vielleicht liegt es daran, daß es so einfach geht. Aber das allein kann’s nicht sein, wahrscheinlich ist es eher die unverbindliche Form. Eine E-Mail hat nichts Endgültiges, sie ist flüchtig, nur ein Haufen von Elektronen, die sich in einem bestimmten Moment in einem bestimmten Zustand befinden. Mit einer flappsigen Formulierung oder einem Rechtschreibfehler in einer Mail blamiert man sich nicht so leicht wie mit einem mißlungenen Brief aus Papier, der vielleicht Jahre lang aufbewahrt wird. Lulu schreibt: Hi Daniel, wir haben vielleicht eine erste Spur. Möglicherweise ist Timothy Hamburger unter dem Account »McDonald« im Internet unterwegs. Ein Spieler, der sich ähnlich aufführt wie Dein Programmierer, wurde unter diesem Namen in einem MUD gesichtet. Leider ist er inzwischen nicht mehr dort, er wurde gebannt. Wir bleiben dran! Lulu PS: Wie geht’s sonst? -76-
Es gibt zwei Klassen von Menschen: Die einen haben eine Internet-Adresse, die anderen haben keine. Lulus Mail wird innerhalb von Minuten den Atlantik überqueren und spätestens in einer halben Stunde im elektronischen Briefkasten von Daniel Trumm sein. Das Netzwerk von Gemstone Games hängt nämlich direkt an einem der großen Knotenrechner, genauso wie die heimische B.O.X. auf dieser Seite des großen Teiches. Dödel hat die CD mit dem elektronischen Flirtkurs ins Laufwerk geschoben. Er startet das Programm, das sofort zur Sache kommt: Auf dem Bildschirm läuft ein Videofilmchen ab, das angeblich eine der Standard-Flirtsituationen zeigt. Zwei Leute, offensichtlich abgebrochene Schauspielschüler, sitzen in einem Café. Er starrt zu ihr rüber. Sie starrt zurück. Sie schlürft an ihrem Kaffee. Er starrt. Sie holt eine Zigarrette raus. Er stürzt mit seinem Feuerzeug rüber. Schon ist es passiert. So ein Quatsch. Selbst Dödel erkennt, daß die Anmache in den 90er Jahren so einfach nicht sein kann. O.k., nächste Lektion. Hier soll er lernen, bei seinem Flirtobjekt Aufmerksamkeit zu erregen. Das Programm schlägt verschiedene Methoden vor: Ein Musikinstrument mit sich führen oder alternativ das neueste Kultbuch. Das sind ja Tips, da könnte er selbst noch bessere Vorschläge machen. Dödel weiß zum Beispiel, daß Stan immer ganz gut ankommt. Ein Hund ist garantiert besser als jedes Buch. Der Hund wird einfach wortlos gestreichelt, und wenn man will, kann man dann ein Gespräch anknüpfen. Aber ein Buch? Er stellt sich vor, wie er mit »Gödel Escher Bach« im Biergarten sitzt, und dann eine Frau auf ihn zugestürzt kommt: »Ach, toll daß du das liest. Habe ich selbst schon dreimal gelesen. Was hältst du von der Sache mit den Labyrinthen? Gehen wir zu mir oder zu dir, um das auszudiskutieren?« Selten so gelacht. Naja, einmal hat er mit ‚nem Comic Erfolg gehabt. Er saß abends in der Kneipe und las Timm und Struppi. Es war ziemlich voll, und eine ganz nette Frau setzte sich zu ihm an den Tisch. Da hat der sie dann -77-
gefragt, ob sie nicht mitlesen will. Sie waren danach einige Wochen zusammen gewesen. Naja. Dödel überlegt kurz, ob er nicht selber einen Flirtkurs schreiben soll. Aber er weiß ja ganz genau, daß er längst nicht so erfolgreich und erfahren ist, wie er immer tut. Viel Fassade. Und die Frauen, bei denen er in seinem nicht allzu langen Leben bisher gelandet ist, sind alle nicht so der Volltreffer gewesen. Das Niveau war, ehrlich gesagt, sogar meist ziemlich unterirdisch. Das scheint irgendwie sein Schicksal zu sein, immer nur an blöde Frauen zu geraten. Diese Tina aus der Redaktion ist das typische Beispiel. Die könnte man ihm auf den Bauch binden, aber sie ist hinter ihm her wie der Teufel. Warum mögen ihn bloß keine Frauen mit Niveau? Im Moment hat er überhaupt keine Freundin, aber das darf natürlich niemand wissen. Den anderen erzählt er immer die tollsten Geschichten. Was soll er jetzt mit diesem albernen Kurs machen? Wenn wenigstens ein brauchbarer Tip dabei wäre, dann könnte er den mal kurz an Ulrike ausprobieren und anschließend über den Erfolg schreiben. Also, was haben die noch auf Lager: Sachen fallen lassen, Sachen vergessen, die Sache mit der Kinokarte, Pannenhilfe, Schwamm drüber. Also gut, dann wird das eben eine Satire. Dödel nimmt eine Soundkarte in die eine, ein C++-Buch in die andere Hand und geht damit zu Ulrike rüber. Er fragt die militante Nichtraucherin: »Brauchst du Feuer?«, läßt, als sie verneint, alles fallen und geht wieder. Kaum sitzt er wieder an seinem Schreibtisch, da segelt die Soundkarte gefährlich dicht an seinem Ohr vorbei, verfehlt knapp den 21-Zoll- Monitor und knallt gegen die Fensterscheibe. Das C++-Buch folgt der gleichen Flugbahn, trifft jedoch den Monitor und landet zerfleddert auf dem Tisch. »Soll ich in Haar anrufen oder dich gle ich an Ort und Stelle -78-
zerlegen?« fragt Ulrike von der Tür her. »Nein, ich recherchiere für einen Artikel.« »Das wird garantiert der Artikel des Jahrzehnts. Leider wirst du deinen Ruhm nicht mehr genießen können, falls du nicht über die Fähigkeiten eines T1000 verfügst, deine Einzelteile wieder zusammenzusammeln. Was zum Geier sollte die Aktion gerade?« »Ich habe nur den elektronischen Flirtkurs getestet.« »Das erklärt natürlich alles. Danke, daß du nicht Stan zu mir geschickt hast, damit er auf den Teppich scheißt.« Damit macht sie auf dem Absatz kehrt. Jetzt hat Dödel zwar seine Satire, aber ganz so drastisch hat er sie sich gar nicht vorgestellt. Dieser Dödel hat ja wohl ‚ne kalte Lötstelle, denkt der vielleicht, daß er mit seinen schweinischen Witzen und idiotischen Scherzen bei ihr landen kann? Ulrike hat nichts gegen schweinische Witze, nur gegen die Art, wie bestimmte Männer sie erzählen. Und sie ist extrem empfindlich gegen das Gefühl, verarscht zu werden. Hängt vermutlich mit mangelndem Selbstbewußtsein zusammen. Hinter Aggressivität kann man das ganz gut verbergen, aber eben nicht vor sich selbst. Sie installiert SpacewardHo auf dem Server und geht dann alleine mittagessen, in der Pizzeria zwei Blocks weiter. Lulu hat sich Sushi kommen lassen und ißt im Büro. Dabei spielt sie Life. Sie ist jetzt in der dritten Klasse und versucht gerade verzweifelt, ihrem Lehrer ein falsches Entschuldigungsschreiben unterzujubeln. Da klingelt das Telefon. »Mir geht es gut, wie geht es dir?« tönt es mit amerikanischem Akzent aus dem Hörer. »Ich bin gerade ins Büro gekommen und habe deine Mail gefunden.« Stimmt, die sind ja neun Stunden zurück an der Westküste. -79-
»Hallo Daniel, das ist aber nett, daß du anrufst.« Lulu ist total überrascht. Sie hat nicht angerufen, weil sie das aufdringlich fand, und jetzt ruft er an. Naja, von USA aus sind Telefongespräche auch viel billiger. Wahrscheinlich hat er sich gar nichts dabei gedacht. »Ich freue mich, daß ich eine Ausrede habe, dich anzurufen. Also was ist das für eine Geschichte mit McDonald?« Lulu erzählt ihm alles, was sie von Stevie gehört hat. »Das könnte er wirklich sein. Und wie soll man den jetzt finden?« »Naja, wir werden die Augen offen halten, in den Newsgroups und in verschiedenen MUDs. Wir bringen sowieso in der nächsten Ausgabe einen großen Artikel über MUDs, da schauen wir uns einfach um, ob irgendwo ein McDonald auftaucht. Dann kann man entweder mit ihm reden oder vielleicht über die Internet-Adresse, die er benutzt, seine richtige Adresse herausfinden.« »Nein, das kann man sicher nicht. Privacy wird großgeschrieben in USA. Dazu müßten wir die Polizei einschalten, und bis wir denen erklärt haben, um was es geht, ist ein Jahr vergangen.« »Das weißt du sicher besser als ich. Aber wenn wir ihn einmal haben, dann können wir ihn vielleicht davon überzeugen, uns zu sagen, was er in dem Spiel versteckt hat.« »I doubt that.« »Wir versuchen es jedenfalls.« »Gut, und jetzt, du hast mir noch nicht gesagt, wie es dir geht.« »Naja, ganz gut, viel Arbeit.« »Und privat?« »Geht so.« Geht das diesen Menschen überhaupt etwas an? »Gut, ich gebe mich mit dieser Auskunft zufrieden.« -80-
»Hattest du etwa einen ausführlichen Bericht erwartet?« »Nun, ich weiß nicht.« »Du weißt nicht?« »Well, ich gebe zu, daß ich im Flugzeug an dich gedacht habe.« »Hoffentlich nur Gutes.« »Nur Gutes, natürlich.« »Na, da bin ich ja beruhigt.« »Kommst du eigentlich manchmal nach USA?« »Ich war schon ein paarmal da, aber im Moment habe ich nichts geplant.« »Schade, ich würde dir gern einmal San Francisco zeigen. So, wie es Touristen nicht kennen.« Das ist eins der reizvollsten Angebote, die Lulu seit langer Zeit bekommen hat. Sie war schon ein paarmal in Californien, aber nur als Touristin oder Computermessebesucherin. Sie könnte sich sogar vorstellen, da zu leben. Vielleicht als Redakteurin von Wired, der hippsten Zeitschrift der USA. Wired berichtet über alles, was mit dem Internet, mit Cyberpunk, mit neuen Medien und Kults zu tun hat. Mit guten Autoren und schrillem Layout. Und mit massenhaft Anzeigen von Online-Diensten, Spiele- und Computerherstellern und andern Firmen, die der Post-Yuppie-Infoelite ihre neuesten Gadgets verkaufen wollen. Jetzt soll es ja auch ‚ne deutsche Wired geben. »Vielleicht komme ich nächstes Jahr mal wieder hin.« »Nächstes Jahr? Wir haben Januar!« »San Francisco läuft ja nicht weg.« »The Big One is still to come.« Das stimmt, und die Erdbebengefahr ist auch das einzige, was einem die Gegend verleiden kann. »Also, ich gehe mal davon -81-
aus, daß San Francisco auch nächstes Jahr noch steht.« »Ja, ich auch, aber ich würde unsere Unterhaltung trotzdem gern früher fortsetzen. Weißt du, ich treffe nicht oft Menschen, mit denen ich mich wirklich gern unterhalte.« »Danke.« Lulu weiß gar nicht, was sie dazu sagen soll. Für eine Journalistin ist es natürlich äußerst praktisch, wenn die Leute sich gern mit ihr unterhalten. Besonders, wenn es sich dabei um interviewscheue VIPs handelt. Normalerweise müßte sie das Angebot enthusiastisch annehmen und den Knaben dann nach Strich und Faden ausquetschen. Aber irgendwie klemmt ihr Journalistenmechanismus. »Na gut, du kannst ja nochmal darüber nachdenken. Und halte mich wegen McDonald auf dem Laufenden, ja?« »O.k.« »Also bis dann. See you. Bye.« »Bye.« Nachdenklich schiebt Lulu sich die restlichen Sushis rein. Die einsame Pizza liegt Ulrike so schwer im Magen, daß sie gar nicht an Arbeit denken mag. Sie loggt sich in die B.O.X. ein, um ein bißchen im IRC zu chatten. Ihr fällt ein, daß dieser McDonald sich theoretisch ja auch da rumtreiben könnte. Also schreibt sie notify McDonald in die Startdatei. Falls ein McDonald sich im IRC blicken läßt, während sie auch online ist, wird sie also umgehend darüber informiert werden. Am frühen Nachmittag ist im IRC wenig los. Lustlos tastet Ulrike sich durch ein paar Channels: #Chat, 10 Leute. #Hottub, 5 Leute. #Doom, 2 Leute. #Germany, 4 Leute, #Muenster, 4 Leute. Und alles Usernamen, die sie noch nie gesehen hat. Um auf andere Gedanken zu kommen, muß man mit den richtigen Leuten chatten. Tina ruft an: »Alle sollen mal kurz in den Konfi kommen, wegen morgen.« -82-
»Ist gut.« Ulrike loggt sich aus, holt sich zur Sicherheit einen Kaffee und latscht in den Konfi. »Ihr wißt, worum es geht, morgen am Samstag kommen die Leser und wir auch. Das heißt also, alle klauträchtigen Sachen, die ihr auch Montag noch braucht, müssen weggeschlossen werden. Das gilt besonders für Spiele. Und ganz besonders für Spiele, die noch nicht auf dem Markt sind.« Dabei guckt Lulu Dödel finster an, und der schaut pflichtschuldig zerknirscht zu Boden. »Müssen wir uns irge ndwie verkleiden, als Redakteure oder so?«, fragt Ulrike, die letztes Jahr noch nicht dabei war. »Nein, du kannst deine Pappnase zu Hause lassen und das kleine Schwarze auch. Komm einfach so wie immer.« »Und wann geht’s los?« »Um zwölf kommen die Leser, also wär’s gut, wenn ihr ein paar Minuten früher da wärt.« »Und Stevie drückt sich, oder wie seh ich das?«, meint Dödel. Erst die fliegende Soundkarte und dann noch Lulus Bemerkung über unveröffentlichte Spiele, jetzt will er mal jemand anders als Watschenmann ins Gespräch bringen. »Stevie ist krank und außerdem der einzige, der morgen arbeitet«, weist Lulu ihn zurecht. Dödel zieht einen Flunsch und dann eine Fluppe raus. »Kannst du nicht in deinem Zimmer rauchen?« muffelt Ulrike ihn an. Das reicht, Dödel verläßt den Raum. »Wie läuft die ganze Veranstaltung denn nun ab?« fragt Ulrike. »Ganz einfach: Um zwölf machen wir die Tür auf, fremde Leute, die behaupten, unsere Leser zu sein, stürmen die Redaktion, essen die Würstchen, trinken Red Bull und Cola, fragen uns Löcher in den Bauch und verwüsten alles.« -83-
»Klingt ja grauenerregend.« »Naja, ganz so schlimm ist es nicht. Jeder muß halt in seinem eigenen Zimmer aufpassen, daß nichts passiert. Und wenn sich irgend jemand aufführt, dann kannst du ihn gerne rausschmeißen oder um Hilfe rufen. Es kommen ja noch ein paar zivilisierte Freunde der Redaktion, die helfen auch notfalls als Bodyguards aus.« »Das wird ja immer gräßlicher!« »Ach was, du wirst schon sehen. Du redest doch auch sonst so gern mit den Lesern. Jetzt hast du sie mal Live.« »Du meinst also, ich kann die Dose mit dem Tränengas zu Hause lassen?« Lulu grinst. »Also dann bis morgen. Von mir aus könnt ihr heute früher Schluß machen.« Dödel steht in seinem Chaoszimmer und blickt auf den Berg, unter dem sein Schreibtisch vermutet werden darf. Er ist sowieso schon geladen, und jetzt muß er hier auch noch aufräumen. Wie soll er das bloß schaffen? In die Regale und in die Schubladen geht nichts mehr rein, die sind schon alle bis zum Rand zugestopft. Einfach alles wegschmeißen geht auch nicht, irgendwo da drunter ist mindestens sein Scheckbuch, wenn nicht noch Wichtigeres. Trotzdem bleiben als Ausweg nur Müllsäcke. Dödel holt vier Stück aus der Putzfrauenkammer, befördert sie zu Aufbewahrungsmöbeln und fegt mit ausladenden Handbewegungen den ganzen Schlamassel da rein. Dann stellt er die Säcke möglichst dekorativ in die Zimmerecke. Befriedigt betrachtet er sein Werk. Fast wie bei Christo zu Hause. Draußen hat es angefangen zu schneien, aber die Straßen und Bürgersteige sind zu warm, der Schnee bleibt nicht liegen. So springen die Fußgänger von Pfütze zu Pfütze, in dem vergeblichen Bemühen, trockenen Fußes zur U-Bahn zu gelangen. Ulrike macht sich diese Mühe nicht, da sie das -84-
Vergebliche einer solchen Handlungsweise sofort erkannt hat. Sie stapft durch den Schneematsch, daß es nur so spritzt, und einige Leute schauen ihr giftig nach, obwohl sie sowieso schon von oben bis unten besprenkelt sind. Ulrikes kleine Wohnung liegt in Neuhausen, im Dachgeschoß eines etwas heruntergekommenen Altbaus. Schon seit Jahren rechnet sie damit, daß das Haus verkauft und bis zur Unerschwinglichkeit renoviert wird. Aber bis jetzt hat sie Glück gehabt. Um zwanzig nach sechs saust sie aus der U-Bahn am Rotkreuzplatz und rein in die Lebensmittelabteilung vom Kaufhof. Wann soll sie auch sonst fürs Wochenende einkaufen. Zu Hause im fünften Stock angekommen, verstaut sie als erstes die Vorräte in der Küche. Dann dreht sie den Wasserhahn an der Badewanne auf. Die braucht zwölf Minuten, bis sie voll ist. Genug Zeit, um sich ins Internet einzuloggen und von der WWW-Seite des »Spiegel« ein paar Artikel zu ziehen, die erst am nächsten Montag im Blatt stehen werden. Sie druckt die Seiten auf ihrem HP-Laserjet aus und taucht damit für eine Dreiviertelstunde in die Fluten. Kurz vor dem Aussteigen dröselt sie ihren Pferdeschwanz auf und wäscht sich mit dem letzten warmen Wasser die Haare. Ob die langen Spaghettihaare nicht doch besser runter sollten? Aber nein, im Sommer beim Radfahren ist es doch ganz praktisch, wenn man die Mücken mit einem Schwanzwedeln vertreiben kann. Wie eine Kuh, äh wie ein Pferd. Außerdem, wenn die Haare kurz sind, dann hängt der Pony immer so ins Gesicht, das nervt. Schließlich steigt sie aus der Wanne, cremt sich ein und drückt vor dem Badezimmerspiegel noch ein paar Pickel aus. Überhaupt fummelt sie eigentlich dauernd in ihrem Gesicht herum. Das muß so eine Art nervöser Tick sein. Dabei weiß sie mit ihrem IQ von 135 natürlich ganz genau, daß Pickel am ehesten verschwinden, wenn man sie in Ruhe läßt. Der Geist ist schlau, aber das Fleisch ist schwachsinnig. Apropos Fleisch, jetzt könnte man sich mal eine Gulaschsuppe auftauen. -85-
In ihren ominösen Wohnsack gehüllt, löffelt sie die Gulaschsuppe und guckt dabei auf den Bildschirm, auf dem die Konversation des IRC-Kanals #Muenster vorbeiscrollt. Es sprechen und spielen: Ein Berliner Hacker, ein selbstmordgefährdeter Computerfreak aus Hamburg, ein Werbegrafiker aus München, ein amerikanischer Deutschstudent aus Wisconsin und noch ein paar »Lurker«, die sich mehr oder weniger mit Zuschauerrollen begnügen. *** Stevie has entered Channel #Muenster Aha, ihr behinderter Kollege ist auch wieder da. ‹Uli› Hi Stevie, wie geht’s? ‹Stevie› Der Fuss ist schon viel besser. ‹Uli› Und sonst? ‹Stevie› Naja. ‹Uli› Du warst gestern so ploetzlich weg. ‹Stevie› Stimmt :-( ‹Uli› Hast du das Kabel rausgerissen :-)? ‹Stevie› So aehnlich. ‹Uli›??? Pause. ‹Uli› Du bist so wortkarg. ‹Stevie› Was soll ich auch sagen. ‹Uli› Hm, das Krankfeiern scheint dir +nicht zu bekommen. ‹Stevie› Stimmt, da kommt man viel zu viel +zum Nachdenken. ‹Uli› Ic ‹Uli› O.k., dann versuche ich jetzt, dich -86-
+aufzuheitern. ‹Stevie› Ich kann mir nicht vorstellen, +wie du das schaffen willst. ‹Uli› Also, ich beschreibe dir jetzt, wie +es hier bei mir aussieht: Ich sitze im +Wohnzimmer an meinem wackligen IKEA+Eßtisch. ‹Stevie› Zum Totlachen. ‹Uli› Schon gut. Also auf dem Tisch steht +der Monitor, und da drauf stehen ungefähr +20 Figuren aus Kinderüberraschungseiern. ‹Stevie› Die esse ich auch immer: Was zum +Naschen, was zum Spielen und ‚ne +Überraschung :-) ‹Uli› Ja genau :-) Und kannst du dich auch +nie überwinden, den Plastikkram +wegzuwerfen? Ulrike hat bisher gedacht, daß sie der einzige Mensch über 12 ist, der sich selbst Kinderüberraschung kauft. Geschweige denn die mehr oder weniger mühsam zusammengesteckten Plastikspielzeuge aufhebt! ‹Stevie› Nein, ich bewahre das Zeug ewig +auf, bis es kaputtgeht. Die Krokodile +habe ich im Badezimmer auf der +Waschmaschine. Die hopsen immer beim +Schleudern :-) ‹Uli› Siehst du, es wirkt schon :-) ‹Uli› Also weiter im Text: Die Tastatur -87-
+ist voller Spaghettisoße, von den +Miracoli, weil ich immer beim Essen +chatte. ‹Stevie› Das kenne ich vom Mudden, die +Tastatur ißt mit :-) ‹Uli› Tja, meine könnte man glatt +auskochen und ‚ne Tomatensuppe draus +machen :-) ‹Stevie› Hehe und weiter? ‹Uli› Der Tower steht unterm Tisch und +darauf das Modem. ‹Stevie› Wie schnell? ‹Uli› 28.800, was hast du denn gedacht :) ‹Stevie› Cool, aber ich hab’ ISDN :-) Da hat Stevie ihr was voraus. Ulrike hat auch schon überlegt, ob sie sich einen ISDN-Anschluß zulegen soll. Aber das kostet um die 70 DM Grundgebühr und ist auch nur doppelt so schnell wie ihr Modem. Außerdem, wenn sie wirklich mal große Dateien saugen will, kann sie das ja in der Firma tun. Aber für Männer ist der ISDN-Anschluß ja eher sowas wie ein Potenzmerkmal: »Ich kann schneller.« Der Manta des Kommunikationszeitalters. Mit ISDN kann man auch viel besser Mädels aufreißen, das heißt, Pornobilder saugen. Falls es mit der Potenz eben mal nicht so hinhaut. Insofern wäre der ISDNAnschluß ein Indiz dafür, daß Stevie über eine wie auch immer geartete Libido verfügt. ‹Uli› Tja, und dann steht hier noch mein +ultrageiler computergesteuerter Toaster +:-) ‹Stevie› Hä? -88-
‹Uli› Den habe ich mal als Praktikum +gemacht. Der Toaster ist über die +serielle Schnittstelle an den PC +angeschlossen und dazwischen +befindet +sich natürlich eine hübsche kleine +Schaltung. Jetzt kann ich am PC +verschiedene Brotsorten und die +gewünschte Bräunungsstufe +wählen. Je +nach Empfindlichkeit des gewählten Brotes +wird das dann +mit Hilfe eines +Temperaturfühlers auf den Punkt genau +geröstet. ‹Stevie› Ach ja, du hast ja E-Technik +studiert. ‹Uli› Nicht ganz zu Ende. Lulu hat mich +vorher abgeworben :-) ‹Stevie› :-) ‹Uli› Juhuu, er lächelt wieder! ‹Stevie› Du bist ja auch komisch :-) ‹Uli› Willst du noch mehr von meiner +Wohnung wissen? ‹Stevie› Gibt es denn noch mehr +Interessantes? ‹Uli› Naja, vielleicht würdest du es +erheiternd finden, wie ich hier sitze. ‹Stevie› Wieso? ‹Uli› Tja, ich habe nichts an außer einem +sogenannten Wohnsack. -89-
‹Stevie› Was ist DAS denn! ‹Uli› Das ist so eine Wolldecke mit +Druckknöpfen und Reissverschluss. Man +kann die Decke um sich wickeln und dann +vorne zumachen. Es sieht ziemlich +bescheuert aus. ‹Stevie› Das glaube ich :-) Wird sowas +nicht auf diesen Kaffeefahrten verkauft? ‹Uli› Ja, ich glaube. ‹Stevie› Gib’s zu, du machst in deiner +Freizeit Kaffeefahrten :-) ‹Uli› Ja klar, mit freigestellter +Verkaufsvorführung. Da nehme ich dann +natürlich immer teil und kaufe den ganzen +schrott :-) ‹Stevie› Dann möchte ich nicht sehen, wie +deine restliche Wohnung +eingerichtet ist +;-) ‹Uli› Hm schade, ich erschrecke gern die +Leute mit meiner 70erJahre+Sonnenuntergangstapete ;-) ‹Stevie› Na für mich besteht da ja keine +Gefahr. ‹Uli› Wieso? ‹Stevie› Na, es besteht keine Gefahr, daß +ich in deine Wohnung komme. ‹Uli› Heißt das, du würdest nicht kommen, -90-
+wenn ich dich einladen +würde? ‹Stevie› Nein, das heißt, daß du mich +nicht einladen würdest. ‹Uli› Hm. ‹Stevie› Sag mal, hast du wirklich so eine +Sonnenuntergangstapete? Sehr durchsichtiges Ablenkungsmanöver. Ulrike wird plötzlich klar, daß Stevie sehr einsam und sehr schüchtern ist. Komisch, tagsüber in der Redaktion ist ihr das nie aufgefallen. Kein Wunder, daß er gestern so Knall auf Fall aus dem Chat verschwunden ist. Irgendwie macht ihn das sehr sympathisch. ‹Uli› Wofür hältst du mich, würdest du mir +wirklich so eine Tapete zutrauen? ‹Stevie› Ich weiß nicht, ich kenne dich ja +eigentlich kaum. Das stimmt. ‹Uli› Also, damit du es weißt: Ich habe +KEINE Sonnenuntergangstapete. Und ich +bin jederzeit bereit, den Beweis +anzutreten. ‹Stevie› Hm. ‹Uli› Wenn du wieder laufen kannst, kannst +du ja mal vorbeikommen. Ich koche auch +Miracoli :-) ‹Stevie› Hm. Stevie haßt es, Mitleid zu erwecken. Darum haßt er es auch, -91-
über seine Gemütslage zu reden. Und jetzt will ihn diese Ulrike aus purem Mitleid zum Spaghettiessen einladen. Nur, weil er sich versehentlich hat durchschauen lassen. Das kann ja eine gräßliche Veranstaltung werden. ‹Uli› Also was ist? Nächste Woche? ‹Stevie› Mal sehen, nächste Woche ist +ziemlich viel in der Red zu tun. ‹Uli› Ach was, das kriegen wir schon hin +:-) ‹Stevie› Also bis Montag, ich muß jetzt +Schluß machen. ‹Uli› Bis Montag, und gute Besserung für +deinen Fuß! ***Signoff by Stevie (Nacht allerseits) In einem Anfall von Selbsterkenntnis stellt Ulrike fest, daß sie anfängt, sich für Stevie zu interessieren. Immerhin scheint er nicht nur am Fuß empfindsam zu sein. Aber wahrscheinlich hält er sie für einen ausgewachsenen Klotz. Naja, nur so ein mittelwichtiger Gedanke, der als Hintergrundtask neben der Routine von Computerausschalten, Geschirrindie-Küchebringen, und Zähneputzen herläuft. Samstag fünf vor zwölf. Die Redaktion ist - bis auf Stevie vollzählig angetreten. Die Räume sind so aufgeräumt wie nie. Im Konfi prangen Getränke und Würstchen. Keine Weißwürste, die kriegt man nur mit Bier runter. Und Bier gibt’s nicht. Ulrike guckt aus dem Fenster zum Hof und erstattet Bericht: »Da haben sich schon mindestens fünfzig Leser zusammengerottet.« »Das ist normal«, beruhigt Lulu sie. Dödel fährt sicherheitshalber den Server runter und schließt ihn ab. Dann geht er nach unten zur Haustür, läßt den ersten -92-
Schwung herein und klemmt die Haustür mit einem Keil in geöffneter Stellung fest. Die Redaktionstür bleibt von allein offen stehen. Die Leser sind zwischen zwölf und siebzehn, mit einigen Abweichungen nach unten und oben. Sie stürzen sich als erstes auf die Würstchen und dann auf die Redakteure. Sie wissen, daß Ulrike diejenige ist, die alle Lösungen für alle Adventure-Spiele kennt. Innerhalb von Minuten findet sie sich in ihrem kleinen Büro von ungefähr zwanzig Kids umringt. Sie stehen, sitzen, liegen und hängen auf Tisch, Drucker, Regal und Fußboden. Während sie drei Fragen nach drei verschiedenen Spielen gleichzeitig beantwortet, wehrt sie mit der linken Hand einen Angriff auf ihre Schreibtischschubladen und mit der rechten eine Attacke auf ihre Tastatur ab. Als der erste Ansturm nach einer halben Stunde etwas abflaut, schiebt sie die verbleibenden drei Fans sachte zur Tür raus und schließt hinter sich ab. Sie braucht jetzt dringend ein Würstchen und eine Cola. Auf dem Flur begegnet ihr Dackel, der mißratene freie Autor: »Hallo, Superstimmung, was?« meint er. »Naja, wer’s mag«, antwortet sie. »Ich find’s toll, wenn man so angeschwärmt wird« strahlt er, obwohl es nicht so aussieht, als ob sich irgend jemand speziell für ihn interessiert. »Übrigens, wie fandst du meinen letzten Artikel über die LSL-Serie?« fragt er etwas zu laut. Anscheinend will er damit den vorbeistreichenden Lesern zu verstehen geben, wer und wie interessant er ist. »Naja, es war ja eher eine Statistik darüber, wie oft in den bisher erschienenen Folgen gebumst wird«, gibt Ulrike zurück. »Ja, fandst du das nicht genial?« »Es geht so.« »Naja, egal. Sag mal, soll ich vielleicht die Stellung in deinem -93-
Zimmer übernehmen?« Das ist Ulrike ausgesprochen recht, sie hatte schon ein schlechtes Gewissen, ihre Position so schnell aufgegeben zu haben. »Ja gerne«, sie gibt ihm ihren Zimmerschlüssel, »ruf im Konfi an, wenn du nicht mehr kannst oder tot bist.« »O.k.« Im Konfi schlagen sich 15 Leser um die letztenWürstchen, die Tina gerade eben nochmal dekorativ aufgeschichtet hat. Ulrike wühlt sich durch die Menge und entdeckt hinten am Fenster Dödel und Professor Joachim Paulsen. Paulsen ist Professor an der Fachhochschule, sie kennt ihn vom Studium. Er sieht nicht aus wie ein Professor, eher wie ein unfähiger Student, der den Abschluß schon ein paar Semester zu lange hinausgezögert hat. Sie weiß, daß dieser Eindruck täuscht; Paulsen ist alles andere als blöd. Aber sie wußte nicht, daß auch Dödel ihn kennt. Die beiden unterbrechen ihre leise Unterhaltung, als Ulrike zu ihnen stößt. »Hallo«, grüßt sie zurückhaltend. Schließlich hat sie gestern noch Soundkarten nach Dödel geworfen und weiß nicht, wie er auf sie zu sprechen ist. »Achtung Joachim, volle Deckung, das ist unsere neue Redakteurin. Sie hätte mir gestern fast den Kopf abrasiert.« Na, er scheint es ja einigermaßen verkraftet zu haben. »Wir kennen uns«, klärt Paulsen ihn auf. »Hallo Frau Dichter.« »Oha, Sie wissen meinen Namen noch?« »Ja sicher, die paar Frauen pro Semester kann ich mir gerade noch merken.« »Müßt ihr euch sie zen«, fährt Dödel dazwischen, »ich halte es nicht aus, wenn sich zwei Leute siezen, die ich beide duze. Wie soll man sich da unterhalten.« -94-
Ulrike guckt Paulsen an, er guckt zurück. Für ein paar Sekunden sieht es nach der blöden Situation aus, in der keiner sich berechtigt fühlt, dem andern das Du anzubieten, obwohl beide es wollen. Völlig idiotisch. »Ja, das kenne ich«, meint Paulsen. »Also ihr duzt euch jetzt«, entscheidet Dödel. »Er heißt Joachim und sie heißt Ulrike. O.k.?« »O.k.« »O.k.« »Und, hast du es schon bereut, das Studium aufgegeben zu haben?« »Ach eigentlich nicht. Nur, daß ich jetzt nicht in den Genuß deines UNIX-Kurses komme. Der ist ja erst ab achtes Semester.« »Wenn du Lust hast, kannst du dich gerne reinsetzen. Nächsten Dienstag geht’s los. 13.15 Uhr, Raum 101.« »Hm, das wär’ vielleicht was. Wenn Lulu mir dafür freigibt, heißt das.« »Also gut, abgemacht. Da du keine Studentin mehr bist, kriegst du auch in der Pause Kaffee im Professorenzimmer.« »Oha, so privilegiert war ich ja noch nie, das ist ja eine echte Verlockung.« »Hallo, ist das auch ein Leser?« fragt Lulu, die unbemerkt eingetreten ist. »Das hoffe ich doch«, meint Dödel und grinst Paulsen an. »Wenn ich mir das so ansehe, treibe ich den Altersdurchschnitt gewaltig in die Höhe«, grinst der Professor. »Das ist Joachim Paulsen, ein Kumpel von mir«, stellt Dödel vor, »und das ist Lulu, unsere Chefredakteurin.« »Er ist Professor an der Fachhochschule«, fügt Ulrike hinzu. »Oha, welch Glanz in unseren schäbigen Hallen.« -95-
»Bei mir glänzt höchstens die Nase«, meint Paulsen. »Trotzdem, willkommen.« »Danke.« »Und? Hast du die Leser auch nicht zu sehr erschreckt?« fragt Lulu Dödel. »Ich glaube nicht, es sind sehr unerschrockene Leser.« »Ich hoffe, du hast ihnen keinen Schweinkram erzählt.« »Neinein, und ich habe ihnen auch nicht die Schweinebox gezeigt. Nur die Powerbox.« »Na, da bin ich ja beruhigt. Und Ulrike, wie ist es dir ergangen?« »Also, ich bin nach einer Stunde schon ziemlich erschlagen. Ich habe die Verteidigung meines Terrains erstmal Dackel überlassen.« »Dackel? Naja, von mir aus. Solange er den Lesern nicht wieder erzählt, daß er eigentlich zum Geheimdienst will und die ihn nur deswegen nicht nehmen, weil er kein Abitur hat...« Lulu nimmt sich ein Würstchen und eine Cola, Ulrike ebenso. Als sie sich mit ihrer Beute wieder zu Dödel und Paulsen stellen, sagt Dödel zu Lulu: »Wir haben gerade beschlossen, daß du es wissen darfst.« »Aha. Wie nett. Was denn?« »Naja, der Typ, dem ich Life gegeben habe, der...«, Dödel guckt sich um, ob kein Leser mithört, »...der Cracker, das ist er.« Joachim Paulsen versucht, unbeteiligt zu gucken. »Na, da bin ich ja beruhigt, daß unsere Redaktionsgeheimnisse wenigstens von einem echten Hochschulprofessor geklaut werden.« »Ich würde das Spiel ja nie weitergeben«, meldet dieser sich zu Wort, »es geht mir nur um die Mechanik.« -96-
»Er crackt Spiele zum Zeitvertreib, so wie andere Leute Spiele spielen«, erklärt Dödel. »Ja, so ungefähr. Außerdem überlege ich gerade, ob es Sinn macht, zu diesem Thema eine Diplomarbeit zu vergeben. Da muß ich schließlich wissen, womit ich meine Studenten konfrontiere.« »Soso«, macht Lulu und guckt den Professor zweifelnd an. Als würde sie überlegen, ob man ihn als harmlosen Spinner oder als gefährlichen Irren einstufen soll. Dann fragt sie: »Aber was da in dem Spiel drin ist, haben Sie noch nicht rausgekriegt?« »Nein, leider, der Code scheint mehrfach verschlüsselt zu sein. Und selbstmutierend. Eine echte Führungsaufgabe. Und schließlich muß ich mich auch noch ein bißchen aufs neue Semester vorbereiten.« »Hm, ich nehme an, Dödel hat Ihnen die Situation erklärt.« »Ja, er erzählte etwas von einem amoklaufenden Programmierer.« »Genau. Und da wäre es natürlich extrem wichtig herauszubekommen, was der Mensch da für eine Zeitbombe in dem Spiel untergebracht hat.« »Das ist mir schon klar. Wenn der Hersteller die Spiele mit einer logischen Bombe ausliefert, dann können die Verantwortlichen sich gleich aufhängen.« Lulu zuckt bei diesen Worten zusammen. »Darum frage ich mich auch, warum die Auslieferung nicht einfach verschoben wird. Neue Diskettensätze herstellen und fertig.« Lulu kennt die Antwort: »Erstens würde das natürlich einen Haufen Geld kosten. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Das Problem liegt darin, daß die Spiele zum großen Teil schon in alle Welt ausgeliefert sind oder sich gerade auf dem -97-
Schiffsweg befinden. Wenn man jetzt den Händlern sagt, sie sollen die Spiele zurückschicken, dann muß man denen nicht nur eine Entschädigung für diese Arbeit zahlen, man kann auch keineswegs sicher sein, daß die das auch wirklich machen. Und drittens, wenn noch mehr Spiele bereits zu Crackern nach draußen gelangt sind, dann sind die sowieso außer Reichweite. Und was so ein gecracktes Spiel an Schaden anrichtet, wird auch letzten Endes auf Gemstone Games zurückfallen. Man könnte sogar denken, daß der Hersteller das mit Absicht gemacht hat, um den Raubkopierern eins auszuwischen. Und wie die Presse dann über Gemstone herfällt, das können Sie sich ja denken.« »Hm. Das Problem ist, daß ich es wahrscheinlich einfach nicht so schnell herauskriegen kann.« »Also werden wir weiter nach McDonald suchen.« »Ja, Dödel hat mir davon erzählt.« »So, ich muß mich jetzt wieder um die lieben Leser kümmern. Ich bin in meinem Büro, wenn irgendwas ist.« Damit verläßt Lulu den Konfi. »Ich glaube, ich muß dann auch Dackel ablösen«, meint Ulrike und macht sich frisch gestärkt auf den Weg. In ihrem Zimmer sitzt Dackel mit stolzgeschwellter Brust am Schreibtisch. Als sie eintritt, nimmt er schnell die blankgeputzten Cowboystiefel von der Tastatur und klappt den Mund zu. Wer weiß, was er den gebannt lauschenden Lesern für Unfug erzählt hat. »O.k, du kannst dich jetzt woanders profilieren gehen«, entläßt Ulrike ihn. »Schade, ich war gerade so schön in Fahrt«, grinst Dackel und reitet auf den Flur hinaus. Zum Glück folgen ihm einige Leser auf dem Fuße. Wie hat er das bloß gemacht? Im Konfi stehen Dödel und Joachim immer noch beieinander. »Wenn ich nur wüßte, wo sich dieser McDonald im Internet -98-
rumtreibt«, sinniert Dödel. »Sag doch nochmal kurz, was ihr von ihm wißt.« »Mordlustig, Cyberpunk. Ach ja, und MUD-Spieler.« »Ha!« »Was ha?« »Ha, da habe ich einen Tip für dich.« »Echt?« »Ja, es gibt ein ganz neues Cyberpunk-MUD. Ich habe es mir nicht angesehen, ich habe keine Ahnung von MUDs. Aber ich habe gehört, daß es das absolut größte auf diesem Gebiet sein soll. Mit ganz neuen Möglichkeiten und unglaublich vielen Räumen. Ich schätze, jeder, der sich für Cyberpunk-MUDs interessiert, wird sich früher oder später da einfinden.« »Das ist ja geil. Super! Ich habe zwar auch keine Ahnung von MUDs, aber um mit /who zu gucken, welche anderen Spieler drin sind, reicht’s gerade noch. Weißt du zufällig, wo dieses MUD läuft?« »Ich glaube, irgendwo in Schweden. Aber die Netzadresse weiß ich nicht. Nur den Namen des MUDs: Es heißt ‚NeuroWar’« »Na, da muß ich dann mal in der entsprechenden Newsgroup nachfragen. Wenn es so toll ist, wie du sagst, dann werden es ja ein paar Leute kennen.« »Sicher. Aber wie gesagt, es ist ganz neu. Läuft erst seit einer Woche oder so.« »Na toll. Dann kann ich ja gleich mal eine Anfrage starten.« »Gut, ich muß sowieso jetzt gehen, mal gucken, ob an der FH noch alles steht.« »Was, am Samstag?« »Sicher, am Montag ist ja schon Vorlesung. Da muß ich wenigstens vorher gucken, ob die Rechner im Labor mich noch -99-
mögen. »Also bis dann. Ich halte dich auf dem laufenden.« »Ja gut, und ich versuche, ob ich nicht doch noch was über den Code rauskriege.« Joachim verläßt die gastliche Stätte, Dödel schließt sein Zimmer wieder auf und setzt sich an seinen Rechner. Sofort hängen ihm zehn Leser über die Schulter. Na gut, dann wird das halt eine Vorführung. »Ich zeige euch jetzt, wie man eine Nachricht in eine Newsgroup im Internet schreibt«, brabbelt Dödel. Er loggt sich in die B.O.X. ein und guckt, welche Newsgroups mit dem Wort mud im Namen es gibt. Aha, rec.games.mud.general dürfte die richtige Gruppe für seine Anfrage sein. Er schreibt, natürlich auf englisch: Hi all, wer kann mir die Adresse von dem neuen Cyberpunk-MUD NeuroWar sagen? Bitte um kurze Mail. Thx. Sexmonster Dann schickt er das Ganze unter dem Header Where is NeuroWar? ab und erklärt den Lesern: »Diese Nachricht erscheint jetzt überall auf der Welt auf jedem Rechner, der die Gruppe rec.games.mud.general abonniert hat. Das heißt, jeder, der am Internet hängt und sich für MUDs interessiert, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb der nächsten ein bis zwei Tage meine Anfrage lesen. Und wer die Antwort weiß, kann entweder in der Gruppe antworten, indem er seine Nachricht an meine anhängt, oder mir eine Mail schicken. Ich hoffe, daß mir wenigstens einer per Mail antwortet, weil ich nicht sicher sein kann, daß ich die Nachrichten in der Gruppe auch alle bekomme. Manchmal gehen welche verloren, oder ich vergesse, rechtzeitig nachzusehen, und dann sind sie schon wieder gelöscht. Die B.O.X., die Mailbox, in der ich die Newsgroups -100-
lese, bewahrt die neuen Nachrichten immer nur zwei Tage lang auf, sonst würde die Platte überlaufen.« Die Leser staunen ihn an. Nur ein Schlaumeier fragt: »Und warum hat die Redaktion keinen Direktanschluß ans Internet? Dann müßtet ihr nicht über die B.O.X. gehen.« »Tja, natürlich werden wir irgendwann eine eigene Site kriegen. Wahrscheinlich schon dieses Jahr. Dann werden auch die Artikel aus den zurückliegenden Heften elektronisch abrufbar sein. Aber bisher sind wir einfach noch nicht dazu gekommen, und der ISDN-Anschluß fehlt auch noch.« Gegen vier macht Lulu unten die Tür zu, und die andern versuchen, die verbleibenden Leser möglichst höflich in Richtung Ausgang zu drängen. Dann kehrt Ruhe ein. Die drei Redakteure genehmigen sich noch einen Kaffee. »Ist doch ganz gut gelaufen«, meint Lulu, »wieder was für die Leser-Blatt-Bindung getan, wie Herr Hoffart sagen würde.« »Außer, daß mir jemand Cola in den Laserdrucker geschüttet hat«, meint Ulrike. »Und daß drei CDs aus meinem Schreibtisch verschwunden sind«, fügt Dödel hinzu. »Warum hast du den Tisch auch nicht abgeschlossen«, rügt Lulu. »Naja, ich hatte ihn abgeschlossen, aber dann wollte ich meine Zigaretten rausholen und habe vergessen, wieder zuzusperren.« »Ich kann mir schon denken, was für CDs das waren, um die ist es sowieso nicht schade«, grantelt Ulrike. »Wieso, das waren die besten Schweine-GIFs, die zur Zeit auf dem Markt sind«, grummelt Dödel, »und ich hatte sie mir noch nichtmal angeguckt.« »Du tust uns ja so leid«, grinst Lulu. »Auf jeden Fall gehe ich jetzt nach Hause.« -101-
»Ich nehme an, da hast du noch mehr CDs«, vermutet Ulrike. »Sicher, was denkst du denn. Und die gucke ich mir jetzt den ganzen Abend an.« Dödel ist manchmal durchaus in der Lage, sich selbst auf den Arm zu nehmen. In manchen Dingen ist er sowieso der Lockerste der ganzen Redaktion. »Ach, übrigens war Herr Hoffart jetzt eigentlich da?« fragt Ulrike. »Ich habe ihn gar nicht gesehen.« »Ja, der war kurz da. Er muß sowas wie einen Kulturschock bekommen haben und ist praktisch gleich rückwärts wieder rausgetaumelt.« »Dann weiß er jetzt wenigstens, daß mit seiner sogenannten Seriosität bei unseren Lesern kein Blumentopf zu gewinnen ist.« »Naja, ich hoff’s. Ich mache mich dann auf den Weg.« Lulu erhebt sich. »Ich bleibe noch ein bißchen da, das Wetter ist gerade so schlecht«, meint Ulrike. »Gut, vergiß nicht, beide Türen abzuschließen.« »O.k.«
-102-
5. Kapitel Ulrike geht in ihr Zimmer und loggt sich in den IRC, den Internet Chat, ein. Da, was ist das: *** Signon by McDonald detected McDonald ist da! Schnell, in welchem Kanal ist er? Ulrike gibt ein: /whois McDonald. Und sie erhält als Antwort: *** No such nick/channel *** Signoff by McDonald detected Verdammt, er ist weg! Sie versucht noch schnell /whowas McDonald, aber inzwischen ist zuviel Zeit vergangen, dieser Befehl, mit dem man kürzlich ausgeloggten Personen auf die Spur kommen kann, gibt auch nichts mehr her: *** No such nick/channel Immerhin weiß sie jetzt, daß McDonald sich im IRC herumtreibt! Vielleicht wird sie ihn ja in den nächsten Tagen dort mal erwischen. *** Signon by Stevie detected Aha, da kommt der humpelnde Kollege mit der kranken Seele. Sie schickt ihm gleich eine Begrüßung: /msg Stevie Huhu, welchen Channel haettest +du denn gern? *Stevie* Wie du magst. /msg Stevie Wir koennen ja einen +aufmachen. *Stevie* o.k. Also macht Ulrike einen neuen Kanal auf, extra für sich und Stevie. Und wie soll er heißen, na gut, Redtalk. Sie eröffnet den -103-
Kanal und schickt Stevie eine Meldung: /msg Stevie join Redtalk! *** Stevie (
[email protected]) has joined +channel #Redtalk ‹Uli› Hallo Stevie, wie geht’s dem Fuss? ‹Stevie› Schon viel besser, ich hab’ schon +ueberlegt, ob ich heute in die Red zum +Lesertag kommen soll. ‹Uli› Lieber erstmal auskurieren. ‹Stevie›Hab ich mir dann auch gesagt. ‹Uli› Du, rate mal, wen ich eben im IRC +gesehen habe. ‹Stevie› Keine Ahnung. Wen denn? ‹Uli› McDonald!!! ‹Stevie› Ist ja ‚n Ding. Und, hast du mit +ihm gechattet? ‹Uli› Nein, leider ist er gerade +rausgegangen. Er war wohl schon weg, als +ich die Signon-Meldung gekriegt habe. +Dauert ja immer ‚nen +Moment, bis die +ankommt. ‹Stevie› Konntest du wenigstens noch seine +Adresse sehen? ‹Uli› Ich hab’s mit /whowas versucht, aber +es kam nichts :-( ‹Stevie› sehr schade. -104-
‹Uli› Ja. Pause. ‹Uli› Und, was machst du morgen? ‹Stevie› Nicht viel, zum Glueck habe ich +meinen Fuss als Ausrede. ‹Uli› Ich koennte vorbeikommen und dir +eine Geschichte vorlesen :-) ‹Stevie› Waaaa ‹Uli› also nicht? :-) ‹Stevie› Nein! ‹Uli› Wie bist du eigentlich Redakteur +geworden? ‹Stevie› Ich habe nichts anderes gelernt. +Ich hab schon waehrend der Schulzeit +manchmal fuer diese Murks&Graesslich +Bladeln geschrieben. Und irgendwann haben +die mir dann einen Arbeitsvertrag +angeboten. ‹Uli› ic ‹Stevie› Ja, das war auch ganz gut so, +damals. ‹Uli› Wieso? ‹Stevie› Naja, ich war damals ziemlich +fertig. Es war gut, dass ich was zu tun +gekriegt habe, wo ich regelmaessig +hingehen musste. ‹Uli› Was war denn los, damals? Stevie erzählt ihr von seiner üblen Zeit -105-
im Internat und von der MUD-Phase danach, der Zeit, in der er 20 Stunden am Tag vor dem Rechner hing. ‹Uli› Klingt doch eigentlich lustig :-) So +ganz eintauchen in die virtuelle Welt... ‹Stevie› Naja, das ist vielleicht lustig, +wenn man jederzeit aufhoeren kann, so als +Abwechslung. Aber glaub mir, ich hatte +damals nicht die leisteste Lust, ins RL +zurueckzukehren. Und wer weiss, +vielleicht waere ich in der VR +dringeblieben, wenn es noch etwas laenger +gedauert haette. ‹Uli› Hm, meinst du? Ulrike weiß natürlich, daß »RL« für »Real Life« steht und »VR« »Virtual Reality« heißt. ‹Stevie› Glaub schon. Und da war es ganz +gut, dass ich auf einmal einen +regelmaessigen Job hatte. Ein halbes Jahr +spaeter haette ich das vielleicht gar +nicht mehr gepackt. ‹Uli› Hm. ‹Stevie› Jetzt hab ich dir so viel +erzaehlt, du musst mich ja fuer einen +kompletten Idioten halten. ‹Uli› Wie kommst du denn da drauf? So ein -106-
+Unsinn! ‹Stevie› Naja, weil ich so +lebensuntuechtig bin. ‹Uli› Jetzt hoer aber auf! ‹Stevie› Ist doch wahr. ‹Uli› Du bist hochintelligent, ein guter +Redakteur, ein guter Programmierer... ‹Stevie› Und ein Idiot. ‹Uli› U r fishing 4 compliments my dear +:-) Du willst ja nur, dass ich dir sage, +was fuer ein toller Kerl du bist. ‹Stevie› Das wuerde ich dir nichtmal +glauben, wenn du es dreimal sagen +wuerdest :-( ‹Uli› In der Redaktion hast du nie so +einen deprimierten Eindruck gemacht. +Deshalb kann ich es jetzt gar nicht +glauben. ‹Stevie› In der Redaktion komme ich auch +nicht so zum Nachdenken. Ausserdem macht +es da ja auch Spass, ich bin mit Leuten +zusammen... ‹Uli› Ja und? Was willst du denn noch +mehr? Was meinst du, wieviele Leute sich +nach so einem Leben und so einem Job alle +zwanzig Finger lecken wuerden! ‹Stevie› Der Job ist ja auch o.k. Nur das +Privatleben nicht. -107-
‹Uli› Mein Privatleben ist auch nicht viel +interessanter als deins. ‹Stevie› Ach nein? Dann muesstest du nur +eine Handvoll Hackerinnen und +Programmiererinnen kennen und sonst +niemand. ‹Uli› Hehe. Fast :-) In Ulrikes Bekanntenkreis gibt es nur zwei Männer auf die sie stehen würde, aber die sind schon vergeben. Und die restlichen sind für Gut-Freund-Freundschaften noch nicht abgeklärt genug. Dann bleiben eigentlich nur noch zwei Frauen aus Schulzeiten. Aber die sind in Hannover, wo Ulrike aufgewachsen ist. Die kommen höchstens einmal im Jahr zu Besuch und bieten als Gegenleistung Absteigemöglichkeiten zu Cebit-Zeiten. Das ist es dann auch schon. ‹Stevie› Siehst du! Du kennst jede Menge +Maenner, aber ich kenne ueberhaupt keine +Frauen! ‹Uli› Das macht praktisch keinen +Unterschied, wenn die Maenner alle +untauglich sind. ‹Stevie› Sind sie??? ‹Uli› Naja. Auf jeden Fall hast du keinen +Grund, so deprimiert zu sein. Sonst +muesste ich es naemlich auch sein. ‹Stevie› Ich weiss nicht. Ulrike versucht, sich eine Beziehung mit Stevie auszumalen. Das ist etwas schwierig, sie hat Mühe, sich Stevie in einschlägigen Situationen vorzustellen. Obwohl, eigentlich sieht er ja gar nicht schlecht aus, auf jeden Fall hat er ein nettes -108-
Gesicht. Die Frisur ist allerdings verbesserungsbedürftig, mit diesem Kochtopfschnitt würde sogar Tom Cruise aussehen wie ein Mönch in »Der Name der Rose«. Etwas zu fett ist er wohl auch, aber bei der Größe fällt das nicht so auf. Wenn er nur nicht immer solche spießigen und beuteligen Hosen tragen würde. ‹Uli› Sollen wir unsere Unterhaltung nicht +in real fortsetzen? Oder am Telefon? ‹Stevie› Nein. ‹Uli› Warum denn nicht? ‹Stevie› Ich habe dir schon viel zu viel +erzaehlt. Bye. ‹Uli› Bye? *** Signoff: Stevie (Der Unfaehige geht +jetzt ins Bett) Weg ist er. Kann der sich nicht anständig verabschieden, wie andere Leute auch? Am Sonntagmorgen loggt Dödel sich von zu Hause aus als normaler User in die Schweinebox ein. Er will ein neues Programm ausprobieren, das er in einer Mailbox am anderen Ende der Welt gefunden hat. Es handelt sich um ein sogenanntes AI-Programm, das so ähnlich funktioniert wie die berühmte Eliza: Es gibt vor, eine lebendige Person zu sein und chattet mit Usern, indem es in scheinbar sinnvoller Weise auf deren Kommentare reagiert. So kann man den Usern vorgaukeln, daß sie sich mit dem Sysop unterhalten, während dieser in Wirklichkeit weiter seinen wichtigen Beschäftigungen nachgeht, wie zum Beispiel im anderen Fenster Schweine-GIFs anzugucken. Er hat das Programm gestern in der Schweinebox installiert und jetzt will er testen, wie stabil es ist. Er tippt den Befehl, den viele Sysops am liebsten abschaffen würden, den Befehl -109-
nämlich, mit dem man den Sysop zum Chat auffordert. Ha, es funktioniert. Der nachgemachte »Sysop« meldet sich: Sysop: Hallo Sexmonster wie gehts Prima, die Antwort kommt zögernd genug, um von einem legasthenischen Halbwüchsigen stammen zu können. Und daß diverse Satzzeichen fehlen, ist natürlich auch Ab sicht. Sexmonster: Mir geht’s gut. Und dir? Sysop: Je mehr Sex desto besser. Sexmonster: Ja, das sage ich auch immer. Sexmonster: Genauer gesagt, das sagst du, Sexmonster: weil ich dir gesagt habe, dass Sexmonster: du es sagen sollst. Man kann das Programm so konfigurieren, daß es bestimmte Themen von sich aus anschneidet. Das hat Dödel natürlich gemacht. Sysop: Fasse dich kurz, was war das gerade Sysop: fuer ein Geschwafel? Sexmonster: Ich sagte, du bist kein Mensch. Sysop: Hast du Probleme damit, dass ich Sysop: kein Mensch bin? Sexmonster: Nein, das ist ja gerade der Sexmonster: Witz. Sysop: Ich liebe dreckige Witze. Soll ich Sysop: dir einen erzaehlen? Sexmonster: Nein, lass mal, die kenne ich Sysop: alle schon. Sysop: erzaehlst du mir einen dreckigen Sysop: Witz? -110-
Das Programm hat einen Lernmodus. Wenn Dödel jetzt einen Witz loslassen würde, dann würde das Programm ihn postwendend dem nächsten Anrufer erzählen. Natürlich komplett mit allen Rechtschreibfehlern. Sysop: Tippe am besten »Witzanfang« am Sysop: Anfang des Witzes. Ich bin naemlich Sysop: bloed weisst du. Sexmonster: Ja, ich weiss. Sysop: Willst du mich beleidigen? Sexmonster: Ja. Sysop: Ich wette, du hattest noch nie SEX. Sexmonster: Ich hatte schon oft Sex. Im Sexmonster: Gegensatz zu dir. Sysop: Erzaehl mir von deinem Sex. Sexmonster: Es ist meine bevorzugte Sexmonster: Freizeitbeschaeftigung. Sysop: Was meinst du mit bevorzugte Sysop: Freizeitbeschaeftigung? Sexmonster: Das mache ich am liebsten. Sysop: Beschreibe mir die Stellung am Sysop: liebsten Spätestens an dieser Stelle müßte auch der DAU, der dümmste anzunehmende User, gemerkt haben, daß es sich um ein Programm handelt. Trotzdem fühlt sich sogar Dödel, der das Programm installiert hat, gedrängt, auf die Frage zu antworten. Sexmonster: Also die Frau liegt auf dem Sexmonster: Küchentisch und putzt Gemüse. Sexmonster: Der Mann springt von der -111-
Sexmonster: Expressomaschine, schnappt Sexmonster: sich mit dem Mund den Sexmonster: Lauchstengel, landet auf der Sexmonster: Frau und übergibt ihr den Sexmonster: Stengel von Mund zu Mund. Sysop: klingt geil. Dödel lacht. Sexmonster: Also vielen Dank, dass du mit Sexmonster: mir gesprochen hast. Sysop: ich danke dir. Hm, daran muß er noch arbeiten, das klingt viel zu brav. Sexmonster: fuck you. Sysop: Wie bitte? Sexmonster: Du mich auch. Sysop: Gern geschehen. Sexmonster: Bye. Sysop: Bye Naja, funktioniert schon ganz gut. Was passiert, wenn ein echter User auf das Programm trifft, wird er erst Montag in der Redaktion erfahren, wenn er dem Programm am Terminal über die Schulter gucken kann. Und was kommt jetzt? Vielleicht sollte er sich erstmal anziehen und dann irgendwo frühstücken. Dödel haßt es, allein zu frühstücken. Aber andererseits ißt er auch gern. Ein Bayer braucht einfach seine Kalorien. Dödel wiegt 85 Kilo bei einer Größe von 1,78. Das heißt, daß er ganz schön stämmig ist. Aber er findet, daß die Statur zu ihm paßt, und macht sich darüber keine Gedanken. Wenn er sich schick anzieht, sieht er besser aus als die meisten Bohnenstangen. Und das tut er meistens. Dödels Kleiderschrank ist das genaue Gegenteil von seinem -112-
Schreibtisch. Hier hängen die Sakkos und Hosen ordentlich nebeneinander, die Krawatten haben einen eigenen Aufhänger, von dem sie einträchtig herunter baumeln, und mindestens zehn Oberhe mden liegen frisch und wäschereigebügelt exakt aufeinander. Sogar die Schuhe sind geputzt. Das einzige, was Dödel an sich selbst stört, ist seine Raucherei. Aber nicht wegen der Gesundheit, sondern mehr aus ästhetischen Erwägungen. Er hat schon alles mögliche ausprobiert, um seine Zähne weiß und seinen Atem kußfrisch zu kriegen, aber ohne großen Erfolg. Um so mehr ärgert es ihn, wenn diese militanten Nichtraucher auf ihn losgehen. Er würde es ja selbst gern aufgeben, wenn er nur könnte! Aber das kann er natürlich nicht zugeben. Er schiebt Stans Schnauze von seinem nackten Knie herunter und zieht sich eine topmodische Unterhose über den Hintern. Lulu hat sich gestern Life mit nach Hause genommen und es risikofreudig auf ihrem alten PC installiert. Da ist sowieso nicht viel Wichtiges drauf, was ein Virus vernichten könnte. Wenn sie Arbeit aus der Redaktion mit nach Hause nimmt, dann hat sie die Daten immer auf ihrem Laptop. Sie spielt an der Stelle weiter, an der sie am Freitag aufgehört hat. Sie ist jetzt in der Highschool und zehn Jahre alt. Die nächsten Rätsel drehen sich ums Abschreiben in der Schule. Um weiterzukommen, sind ausgefallene Tricks gefragt. Erst, als sie sich die Lösungen der Aufgaben auf die Waden unter den Kniestrümpfen schreibt, schafft sie die erforderliche Note. Dann geht es um Football. Jeder normale amerikanische Junge möchte gern in das Football- Team seiner Schule aufgenommen werden. Aber als die Rede von »stinkenden Umkleidekabinen« ist, vermutet Lulu schnell, daß bei Life andere Qualitäten gefragt sind. Daniel Trumm sieht schließlich nicht wie ein begeisterter Sportler aus. Sie schafft es erfolgreich, sich vor dem Spielen zu drücken. -113-
Aber als sie zwölf Jahre alt ist, sagen ihr einige Hinweise, daß es trotzdem erstrebenswert wäre, zu den Auswärtsspielen mitfahren zu dürfen. Schließlich bekommt sie einen Job als Souvernirverkäufer; sie muß nur lange genug herumfragen und den Sportlehrer und den Rektor nerven. In dieser Position darf sie zwar das eingenommene Geld nicht behalten, aber sie findet eine Möglichkeit, nebenbei mit verbotenen Dingen wie Bierdosen und Dope zu handeln. Dabei verdient sie ziemlich gut und kann schon bald zu Radio Shack gehen und ein Computerteil nach dem anderen erwerben. So also ist Daniel zu seinem ersten Computer gekommen. Natürlich muß sie furchtbar aufpassen, daß ihr geheimes Warenlager nicht entdeckt wird, und einmal fällt ihr direkt vor dem Klassenlehrer eine Bierdose aus der Tasche. Doch zum Glück kann sie den Lehrer davon abhalten, ihre ganze Sporttasche zu durchsuchen, und so erhält sie nur einen Verweis wegen verbotenen Alkoholkonsums. Als nächstes kommt eine Puzzleaufgabe: Sie muß die Computerteile, die sie inzwischen gekauft hat, zusammensetzen. Hierbei sind einschlägige Erfahrungen aus dem Real Life äußerst nützlich, doch auch eine Prise Wagemut ist gefragt. Die Festplatte funktioniert nämlich nicht, und ihre Spielfigur hat den Beleg von Radio Shack verloren. Lulu speichert und probiert etwas aus: Sie haut die Platte kurz auf die Tischkante, wie man das damals mit den alten Seagate-Platten machen mußte, wenn sich der Schreib-/Lesekopf verklemmt hatte. Und siehe da, es funktioniert, die Platte läuft jetzt wie geschmiert. Schade, daß man im richtigen Leben nicht speichern und zurückgehen kann. Und niemand kann einem den richtigen Weg durchs Labyrinth verraten. Gegen drei am Sonntag räumt Ulrike die Reste vom Frühstück in die Küche. Sie guckt aus dem Fenster: Immer noch Schmuddelwetter, also eine gute Ausrede, online zu gehen. Kein McDonald weit und breit, aber auf #Muenster gerät sie in eine -114-
wilde Diskussion über Cybersex. ‹Kack› Cook: Ich glaube nicht, dass man +jemand mit einem Computer betruegen kann. ‹Cook› Und mit den Leuten, die am Computer +haengen? ‹Myra› Ein Freund von mir meint »if you +don’t put it in, it ain’t cheating.« ‹Cook› Kack: mit den Leuten schon, aber +nur im RL ‹Kack› Und wenn ich jetzt mit Myra in ‚nen +Privatchat gehe und mit ihr dort eine +# abziehe? ‹Myra› Kack: Zum Glueck werde ich ja +vorher gefragt :-) ‹Cook› K: Nach meiner Meinung ist das o.k. ‹Kack› C: So wie traeumen oder so? Oder +Pornofilme angucken? ‹Cook› K: So aehnlich ‹Shooter› Gebt mir Sex! Egal, mit wem! ‹Myra› Aber wenn man das noetig hat, dann +zeigt das doch, dass die Beziehung nicht +stimmt. ‹Kack› Ach was, kleine Anregung fuer +daheim :-) ‹Cook› Shoot: meinst du das ernst? -115-
‹Uli› Interessant wird es erst, wenn auch +die taktilen Gefuehle durch die Leitung +kommen ‹Kack› Uli: Hmmmmmmmmmm ‹Cook› Uli: Du meinst, wenn man so mit +Gurten an den Compi angeschlossen wird, +und wenn der andere dann mit der Maus auf +irgendwelche Koerperteile klickt, kriegt +man entsprechende Stromstoesse? ‹Kack› Panik! ‹Myra› Das ist pervers. ‹Uli› C: Ja, so etwa. ‹Shoot› Wird lustig, wenn dann in so einem +Moment der Boss reinkommt :-) ‹Cook› Groel ‹Kack› Oder ohne »Gegner« am anderen Ende. +Man startet einfach ein Programm, und das +macht dann das, was du schon immer +wolltest, und was deine Freundin nie +machen wollte. ‹Cook› Du meinst, in dem Fall wuerdest du +ihr das Fremdgehen ersparen. ‹Kack› Genau. ‹Uli› Etechnisch ist das alles ueberhaupt +kein Problem. ‹Kack› Du bist E-Techniker? -116-
‹Uli› Jo. Wohlweislich verbessert sie ihn nicht, auf das »in« am Schluß kann Ulrike gut verzichten. ‹Cook› Aber wo zieht man dann die Grenze? +Cybersex ist ja noch o.k. (wer’s mag), +aber was ist mit Cyber-Massenmord, Cyber+Vergewaltigung und so weiter? ‹Kack› Wieso, es schadet doch niemand. +Besser, die Leute leben sich am Computer +aus als in real. ‹Myra› Und morgen sitzen Schulkinder vor +dem Compi und spielen Vergewaltigung. ‹Kack› Hm. ‹Cook› Genau. Nicht alles, was geht, +sollte auch gemacht werden. ‹Uli› Stimmt. Aber verbieten kann man es +auch nicht. ‹Cook› Wieso? ‹Uli› C: Das sieht man doch heute schon. +Wenn jemand was übers Internet verteilt, +dann kann man den Typ zwar eventuell +festnageln, wenn er sich sehr blöd +anstellt. Aber es gibt keine Chance, das +Programm, das er verteilt hat, wieder +komplett einzusammeln. Das wird der +Underground-Renner der Saison. ‹Shoot› Genau das ist ja das Gute am +Internet. Information wants to be free! ‹Kack› Also gut, hier ist also die -117-
+Verantwortung des Einzelnen gefragt. ‹Cook› Die es nicht gibt... ‹Uli› Eine Technologie, die fuer Sex +benutzt werden kann, setzt sich +jedenfalls schneller durch. ‹Cook› Uli: Beweise? ‹Uli› Denk doch nur mal an den Service 190 +in Deutschland. Wenn du schon mal nach +Mitternacht Privatsender geguckt hast, +weißt du, was ich meine. Die machen GELD, +sonst koennten sie diese ganzen TV-Spots +gar nicht bezahlen. ‹Cook› Hm, ein eindrucksvolles Beispiel +:-) ‹Kack› Aber Btx hat jahrelang vor sich hin +geduempelt, trotz dieser schwachsinnigen +Sex-Angebote. ‹Uli› Ja, weil es schlechter Sex war :-) ‹Shoot› Mit dem Compi koennte man auch +Gruppensex machen. ‹Kack› Stimmt, in der MCSB, der Multiline+Cyber-Sex-Box :-) ‹Cook› Da gibt’s dann auch eine +Eroeffnungbibliothek wie bei Schach ‹Myra› Hihi *** Stevie (
[email protected]) has joined +channel #Muenster ‹Shoot› Und einen automatischen -118-
+Vorspieler, har har! ‹Uli› Und verschiedene Level :-) ‹Cook› Genau, Level 1 ist +Missionarsstellung, und bei Level 10 +kommt der Sprung vom Schrank :-) ‹Uli› Hi Stevie! ‹Stevie› Hi, was macht ihr denn hier? ‹Shoot› Schweinkram, was hast du gedacht +:-) ‹Stevie› Hi Uli. * Stevie ist nicht nach Schweinkram *** Signoff: Stevie (Viel Spass noch :-( ) Na sowas. Plötzlich hat Ulrike auch keine Lust mehr zum Chatten. Eigentlich müßte sie Stevie anrufen und ihn fragen, was diese plötzlichen Abgänge dauernd sollen. ‹Uli› He Leute, ihr muesst jetzt ohne mich +weiterferkeln. ‹Kack› Uli: oooooch, bleib doch noch. ‹Cook›Uli: Warum? Bist du gerade ertappt +worden? :-) ‹Shoot› Uli: He, bleib da! ‹Myra› cu Uli. Ulrike loggt sich aus und beschließt, trotz des schlechten Wetters etwas an die Luft zu gehen. Insgeheim ist Stevie in der Ho ffnung online gegangen, ein bißchen mit Ulrike chatten zu können. Und daß er sie dann mitten in einer Sexdiskussion mit wildfremden Leuten fand, hat ihn etwas geschockt. Deshalb hat er sich gleich wieder -119-
ausgeloggt und sitzt jetzt mit einem Buch über C++ und einer heißen Schokolade auf dem Sofa. Sein Fuß ist schon wieder viel besser, nur noch etwas zu dick. Morgen wird er wieder in die Redaktion humpeln. Dieser schmuddelige Sonntagnachmittag wäre genau richtig, um in einem MUD verdaddelt zu werden. Dödel ho fft, daß ihm endlich jemand die Adresse gemailt hat. Um das festzustellen, muß er lediglich eine angebissene Pizza von der Tastatur entfernen und den Haufen stinkender Klamotten vom Stuhl schubsen. Sofort greift Stan sich eine modische Unterhose und fängt an, genüßlich darauf herumzukauen. Aber an diesen Schwund hat Dödel sich längst gewöhnt. Er loggt sich in die B.O.X. ein, und sieh da, neue Mail ist angekommen. Jemand aus Neuseeland teilt ihm die genaue Internet-Adresse von NeuroWar mit. Seine Nachricht ist innerhalb von wenigen Stunden von Rechner zu Rechner um die halbe Erde gereist. Und die Antwort zurück. Prima, jetzt ist er den anderen eine Nasenlänge voraus! Wenn er es tatsächlich schafft, McDonald in dem MUD aufzuspüren, ist er der Held des Jahres. Er wird dann bei Lulu eine feste Kolumne beantragen, die natürlich auch bekommen, lauter brillante Sachen schreiben und massenweise Fanpost von knackigen Mädels kriegen. Dödel tippt: telnet 130.111.238.4 24. Telnet ist ein Programm, mit dem man interaktiv einen entfernten Rechner steuern kann. Wenn der schwedische Rechner sich tatsächlich meldet und ihn reinläßt, dann kann er ihm Befehle erteilen, genau wie dem PC, vor dem er gerade sitzt. Und da ist er schon: Beware! You are now entering the dangerous world of NN NN EEEEEEE UU UU RRRRRR OOO WW WW AA RRRRRR -120-
NNN NN EE E UU UU RR RR OO OO WW WW AAAA RR RR NNNN NN EE E UU UU RR RR OO OO WW WW AA AA RR RR NN NNNN EEEE UU UU RRRRR OO OO WW W WW AA AA RRRRR NN NNN EE E UU UU RR RR OO OO WWWWWWW AAAAAA RR RR NN NN EE E UU UU RR RR OO OO WWW WWW AA AA RR RR NN NN EEEEEEE UUUUUU RRR RR OOO WW WW AA AA RRR RR Please enter your name or type »guest«: Jetzt muß Dödel sich im Spiel anmelden. Er kann entweder gleich einen Spielnamen wählen oder sich zunächst als Gast ein wenig umsehen. Er beschließt, erstmal als Gast zu gehen. Sonst wird er womöglich gleich umgebracht, und das muß ja nicht sein. Nachdem er gut reingekommen ist, versucht er als erstes, sich die Spielerliste anzeigen zu lassen. Doch dummerweise ist diese Option für Gäste nicht zugänglich. Er kann nur sehen, wer zur Zeit gerade online ist, aber nicht die komplette Liste aller Spieler. Rund fünfzig Leute sind online, ganz schön viel. Der Eingangsraum des Spiels ist eine Clone-Fabrik. Anscheinend werden hier getötete Spieler wieder neu zusammengesetzt. Gleich nebenan ist ein Touristenbüro. Dort kann der Neuling einen Führer mieten um sich ein bißchen herumführen lassen. Was soll’s, da er schonmal hier ist, kann er auch gleich eine Tour machen. Dödel betätigt eine imaginäre Klingel und kurze Zeit später erscheint sein Führer, ein gewisser Lipstick. Der übergibt ihm als erstes einen Gast-Sticker und einige Broschüren: die Geschichte von NeuroWar, das Gesetzbuch und eine Karte der nächsten Umgebung. -121-
Anscheinend ist man hier sehr um neue Mitspieler bemüht. Lipstick erklärt Dödel, daß sie jetzt ein Team bilden. Das heißt, Guest, also Dödel, wird Lipstick automatisch auf allen Wegen folgen, ohne daß Dödel irgendwelche Befehle einzugeben braucht. Und schon geht ’s los. Sie treten hinaus auf die Straße, und die Beschreibung suggeriert, daß hier noch vor kurzem ein Krieg stattgefunden haben muß. Zerstörte Gebäude und Bombenkrater bestimmen das Bild. Nicht sehr anheimelnd. Sie kommen in einen Laden, und Lipstick fordert den DödelGast auf, seinen Gast-Sticker zu verkaufen. So erhält er sein erstes Geld in diesem Spiel. Im Laden erfährt er auch, daß Neulinge sich ein Zubrot verdienen können, indem sie die leeren Flaschen aufsammeln, die überall im Spiel herumliegen, und sie im Laden zurückgeben. Als nächstes kommen sie zu einem großen Schulhaus. In jedem Raum tummeln sich mehrere namentlich aufgeführte Schüler, die als welbehaved pupils beschrieben werden. Lipstick erklärt Dödel, daß dies eine Newbie area ist. Die Monster sind also schwach genug, um von Anfängern gekillt zu werden. Dödel realisiert, daß diese Monster die Schüler sind. Das heißt, um Punkte zu machen, muß man Schüler umbringen. Dödel hat sich nie für besonders zart besaitet gehalten. Aber wohlerzogene Schüler umzubringen ist doch etwas jenseits seiner Vorstellung von einer anregenden Freizeitbeschäftigung. Lipstick gibt Dödel einen Knüppel als Waffe und eine Schwimmweste als Rüstung. Er fordert ihn auf, die Weste anzulegen und den Knüppel in die Hand zu nehmen. Das kriegt er gerade noch hin, mit wear vest und wield stick. Dann fordert sein Führer ihn auf, es mal mit den Monstern zu versuchen. Dödel tippt ein: kill Monster. Aber nichts passiert. Lipstick erklärt ihm, daß er den genauen Namen des zu erledigenden Monsters eingeben muß. Dödel tippt: kill David. Und schon ist -122-
er in einen Kampf auf Leben und Tod mit dem Schüler David verwickelt. Auf seinem Bildschirm sieht der Kampf so aus: You hit David with your Stick. David scratched you. You missed. David missed you. You hit David with your Stick. David scratched you. You wounded David with your Stick. David missed you. You missed David. David wounded you. You wounded David with your Stick. David hit you. You wounded David with your Stick. David missed you. You wounded David serverely with your +Stick. David scratched you. David died. Dödel hat einen Schüler umgebracht. Lipstick erkundigt sich nach seinen HPs, den Hitpoints. Die drücken aus, wieviel Prozent Lebenskraft man noch hat. Dödel läßt sich seine Punktzahlen anzeigen. Seine Erfahrungspunkte sind gestiegen, aber seine Gesundheit ist runter auf 20 Prozent. Lipstick gibt ihm ein Bier. Das heilt. Schon ist die Gesundheit wieder besser. Sie gehen weiter. Lipstick zeigt ihm noch den Friedhof und bringt ihn dann zurück ins Touristenbüro. Hier kann Dödel jetzt die Tour auf einer Skala von 1 bis 4 bewerten und so seinem Guide die Chance geben, Gästeführer des Monats zu werden. Er -123-
gibt Lipstick eine Zwei und macht sich daran, die ganzen Pamphlete durchzulesen, die er am Anfang erhalten hat. Das heißt, er liest sie nicht, sondern blättert sie nur schnell durch. Dadurch hat er sie im Speicher auf seinem eigenen Rechner und kann alles später in Ruhe offline lesen. Schließlich muß er wissen, was in NeuroWar überhaupt Sache ist. Welche Möglichkeiten und Gefahren es gibt, ob zum Beispiel das Killen von Spielern erlaubt ist. Allein die Story, wie es zu dem desolaten Zustand der Stadt gekommen ist, hat einen Umfang von 30 Seiten. Als er alle Pamphlete durchgeblättert hat. loggt er sich aus und versucht, seine Tour mit Lipstick nachzuvollziehen. Also seine Bewegungen mit der Karte zu vergleichen, die er erhalten hat. Die scheint jedoch nicht ganz zu stimmen. Außerdem braucht er sowieso mehr Platz, um nach und nach das ganze Labyrinth von NeuroWar aufzuzeichnen. Und so reißt er neun Blätter von einen Karoblock ab und klebt sie im Quadrat aneinander. Auf diesem Areal beginnt er dann mit der Aufzeichnung des Grundrisses von NeuroWar-Stadt. Als er zum drittenmal zum Tipp-Ex greift, ahnt Dödel, daß die Sache in Arbeit ausarten könnte. Ein Grund, ins Bett zu gehen.
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6. Kapitel Am Montagmorgen verzichtet Stevie bei der Ankunft in der Redaktion auf sein übliches Schokoladenritual. Möglichst leise humpelt er an Ulrikes Zimmer vorbei in sein eigenes. Aber Ulrike denkt nicht so kompliziert wie er. »Hallo Stevie«, stoppt sie ihn, »warum bist du denn gestern so schnell wieder verschwunden?« Gott, ist das peinlich. Was soll er dazu sagen? »Ach nichts, ich war nur schlecht drauf.« Damit humpelt er weiter, und Ulrike läßt ihn ziehen. Bevor Dödel an diesem Morgen an die Arbeit geht, muß er unbedingt gucken, wie andere User auf seinen automatischen Sysop reagieren. Gut, die Schweinebox läuft noch. Er schaltet sie auf den Bildschirm und guckt, was passiert. Nach kurzer Zeit loggt sich jemand ein, ein Gast. Der benennt sich um in Burgerking und klingelt nach dem Sysop. Sofort startet das Sysop-Programm. Moment mal: Burgerking? Das ist ja genau wie McDonald! Wie kann das sein, weiß McDonald etwa, daß sie ihm auf den Fersen sind und macht sich einen Spaß mit ihnen? Burgerking unterhält sich jetzt mit dem AI-Programm. Aber der spricht ja deutsch, ob McDonald ein Deutscher ist? Oder ein deutschstämmiger Ami? Oder will ihn da nur jemand auf den Arm nehmen? Aber vielleicht ist das auch seine Chance, den Bösewicht zu fangen. Dödel will ihn fragen, von wo er anruft und ihm einen kostenlosen Account anbieten. Da gibt’s nur ein kleines Problem: Der automatische Sysop läßt sich nicht so ohne weiteres abbrechen. Der echte Sysop kann nicht mit dem Gast chatten, weil ein Programm seine Aufgabe übernommen hat. Wenn er das Programm stoppt, fliegt der Gast raus. Und kommt vielleicht nie wieder. Also bleibt Dödel nichts anderes übrig, als aufmerksam mitzulesen und mitzuloggen. -125-
Der andere hat natürlich inzwischen gemerkt, daß er mit einem Programm spricht und versucht, es aus dem Konzept zu bringen. Schließlich gibt das Programm auf und sagt: Sysop: Geh zur Hoelle und hol mir ein Sysop: Bier. Da legt der Anrufer auf. Um 11.30 ist Redaktionskonferenz, wie jeden Montag. Es geht um die Fortschritte des nächsten Heftes und erste Ideen für das übernächste Heft. »Vergessen wir jetzt mal kurz unseren Jagdtrieb, schließlich soll das Heft ja nicht unter der Geschichte leiden«, leitet Lulu das Meeting ein. »Ich finde, wir sollten einen Beitrag über Crackertechniken bringen«, meint Dödel, lässig auf der Fensterbank hängend. »Dann wird postwendend der Vertrieb gestoppt«, erklärt Lulu ihm. »Das wäre doch mal eine gute Publicity«. »Darauf kann ich wirklich verzichten. Danke.« »Aber etwas Spektakuläres wäre schon gut«, findet Ulrike. »Vielleicht haben wir ja bis dahin die Geschichte, wie wir McDonald gefangen haben«, hofft Stevie. Er sitzt am Konferenztisch in der größtmöglichen Entfernung von Ulrike. »Ha, bei mir in der Schweinebox war gerade ein Burgerking«, platzt Dödel heraus, der sich diese tolle Neuigkeit eigentlich als Knalleffekt bis zum Schluß der Konferenz aufsparen wollte. »Und?« fragt Lulu. »Tja, ich weiß nicht, vielleicht war es McDonald. Ich weiß nur nicht, woher er wissen sollte, daß wir ihm auf der Spur sind.« »Wahrscheinlich war es nur einer von deinen verferkelten Freunden, der dich auf den Arm nehmen wollte«, mutmaßt -126-
Ulrike. »Ich habe aber niemand von der Sache erzählt, außer natürlich Joachim.« »Dann war es halt dein sauberer Professor«, vermutet Lulu, die über das hackende Studentenvorbild noch nicht ganz hinweg ist. »Nein, der würde solche albernen Scherze nicht machen«, verteidigt Ulrike ihr Ex-Lehrkörperteil. »Was hat er denn gesagt? Hast du versucht, ihn auszufragen?« fragt Stevie. »Naja, er hat deutsch gesprochen. Aber mehr weiß ich nicht, er hat sich halt mit meinem automatischen Sysop unterhalten. Und versucht, ihn zum Absturz zu bringen.« »Deinem was?« fragt Lulu entgeistert. »Auf jeden Fall hilft uns das nicht weiter. Also zurück zum Heft. Ich dachte, wir könnten mal eine Debatte über die Indizierung von Spielen bringen.« »Das ist gut«, meint Ulrike. »Habt ihr eine Idee, wen man da debattieren lassen könnte?« »Wieso Debatte, wir könnten doch einfach ein paar indizierte Spiele testen und den Lesern das Urteil überlassen. Castle Wolfenstein, Doom...« »Ist mir klar, daß du das machen würdest«, grantelt Ulrike. »Wahrscheinlich würdest du auch Screenshots abbilden, mit den ganzen Hakenkreuzen und diesen wunderhübsch naturgetreu von einer Kettensäge zerlegten Leichen. Möglichst noch auf dem Titel.« »Natürlich, wieso nicht.« »Ich würde nicht gerade indizierte Bilder auf den Titel bringen, aber ein Aufmacher wie ‚Doom, Segen oder Fluch?’ wäre doch nicht schlecht«, meint Lulu. »In USA ist es total in, eigene Doom-Level herauszubringen«, -127-
erzählt Dödel. »Mit dem Level-Editor kann man ja eigene Szenarios basteln. Und da hat der Stiff- Verlag einen DoomLevel herausgegeben, der angeblich eine gena ue Nachbildung von deren Bürogebäude sein soll. Die Redakteure haben sie durch Mutanten ersetzt, die kann man jetzt abballern. Geil.« »Nun, das machen wir garantiert nicht«, erklärt Lulu kategorisch. »Aber so eine Debatte könnte ich mir schon vorstellen. Wen lassen wir denn da diskutieren?« »Bitte nicht schon wieder den Ritter von Schnarchenbroich«, fleht Dödel. »Nein, das müßten Spieler sein«, meint Stevie, »oder Spielautoren. Am besten wäre: der Autor von Doom gegen den Autor von Myst. Oder so.« »Das ist genial!« ruft Ulrike. »Ich schätze, daß die beide im Netz sind«, vermutet Stevie. Und wenn er von »dem Netz« spricht, meint er natürlich das Internet. »Ich könnte wahrscheinlich ihre Mailadressen rauskriegen und sie dann per Mail befragen. Oder im IRC.« »Gute Idee, so machen wir’s. Ach ja, wo wir gerade bei umstrittenen Spielen sind: Ich hoffe, ihr habt euch alle notiert, daß wir morgen ins Laserdrome gehen?« »Muß das wirklich sein?« fragt Stevie. »Ja klar«, ruft Ulrike, »ich freu mich schon. Wird bestimmt lustig. Ich komme dann nach dem UNIX-Kurs direkt dort hin.« »Schade, daß man nicht seine eigenen Waffen mitbringen darf«, meint Dödel. »Wieso, deine Lieblingswaffe hast du doch immer dabei«, frotzelt Ulrike. »Das ist keine Waffe, das ist mein Alleinstellungsmerkmal«, gibt Dödel zurück. »Ich weiß wirklich nicht, was daran so toll sein soll, mit einer -128-
Laserpistole auf Leute zu schießen«, beharrt Stevie. »Genau um das rauszufinden gehen wir ja hin«, erklärt Lulu, »du kannst gern hinterher eine Kolumne über deine persönlichen Eindrücke schreiben.« »Schon wieder einen Job gewonnen«, grinst Ulrike und sieht Stevie an. »Und mit Computerspielen hat es auch nichts zu tun.« Stevie scheint wirklich was gegen den Laserdrome zu haben. »Aber die Auswertung wird mit dem Computer gemacht, und die Trefferlisten, die die Spieler hinterher kriegen, sind auf Computerpapier gedruckt,« verteidigt Dödel die Relevanz dieser kollektiven Recherche. »Wie auch immer, wir gehen morgen da hin. Ulrike, du solltest dann um halb sieben am Eingang sein.« »O.k.« »Ach ja, und Dödel, du behältst diesen Burgerking im Auge.« »Ja gut, ich habe schon eingestellt, daß mein Rechner piept, wenn der das nächste Mal online kommt.« »Also dann, an die Arbeit.« Und so stürzen, schlurfen, schleichen und flitzen sie aus dem Konfi. Da Stevie schleicht und Ulrike flitzt, sind sie gleichzeitig an der Tür und stoßen fast zusammen. Aber Stevie fährt zurück, als sei Ulrike eine heiße Herdplatte. Lulu liest ihre Lesermails und überlegt, ob sie Daniel von Burgerking ma ilen soll. Aber das ist wohl doch eher ein Scherz, den sich einer von Dödels zweifelhaften Freunden erlaubt hat. Wer weiß, wem Dödel am Wochenende im Suff alles von der Sache erzählt hat. Da heute Montag ist, schaut Lulu routinemäßig alle Newsgroups durch, die sich mit Spielen befassen. Es ist immer ganz interessant, über welche Spiele sich die Leute unterhalten, man bekommt ein Gefühl dafür, wohin weltweit die Spieletrends -129-
gehen. Um alle Nachrichten in allen vierzig Gruppen durchzulesen, die mit rec.games. anfangen, würde sie allerdings den ganzen Tag brauchen. Deshalb geht sie nur schnell die Betreffzeilen der Postings durch. rec.games.frp.marketplace ist eine von mehreren Newsgroups für Rollenspiele - das heißt klassische Rollenspiele, ohne Computer. Hier kann man Materialien und Module für die verschiedenen Spiele kaufen und verkaufen. Für Fans ist diese Gruppe eine wahre Fundgrube. Rollenspieler bleiben ihrem Lieblingsspiel meist über Jahre hinaus treu. Sie spielen immer den gleichen Character und identifizieren sich mit ihm. Um das Spiel über so lange Zeit hinweg interessant zu gestalten, muß der Master, der Spielleiter, sich entweder selbst immer neue Abenteuer für seine Spieler ausdenken, oder er greift auf sogenannte Module zurück, auf vorgegebene Storylines, die zur Welt und zum Regelwerk des betreffendenSpiels passen. recgames.frp.marketplace ist die ideale Quelle für solche Module, die im Laden nicht mehr erhältlich sind. Die Gruppe enthält nur drei neue Nachrichten. Lulu läßt sie sich anzeigen. Und da steht der Name: Eine Anfrage ist unterschrieben mit McDonald! McDonald fragt nach einem vergriffenen Modul für ein uraltes Cyberpunk-Rollenspiel. Leider hat er einen AnonymServer benutzt, so daß keine Absenderangabe erscheint. Lulu speichert die Anfrage ab. Dann geht sie den Flur entlang und steckt kurz den Kopf in jedes Zimmer: »Ich lade heute mittag alle zu Pizza ein. Abmarsch in fünf Minuten.« Sofort läßt die Belegschaft alles fallen und vermummelt sich wintergerecht in die entsprechenden Mäntel, Parkas und Lederjacken. Die Pizzeria um die Ecke ist praktisch eine Exklave der Redaktion. So oft, wie das Quartett hier schon gesessen und -130-
beim Mampfen über die nächste Ausgabe diskutiert hat, müßte der Kellner eigentlich bald selbst eine Computerspielezeitschrift aufmachen können. Lulu bestellt eine Pizza Quattro Stagioni, Dödel will Pizza con Tutti, Stevie nimmt Pizza Hawai und Ulrike eine Pizza Vegetariana mit Thunfisch und Schinken. Dann kommt Lulu zur Sache: »Leute, ich habe gerade ein Posting von McDonald gesehen. In rec.games.frp.marketplace.« »Was sucht er?« fragt Stevie sofort. Er bringt Namen und Zweck der meisten von 4.000 Newsgroups auf Anhieb zusammen. »Ein uraltes Modul für Shadowrun.« »Und seine Mailadresse?« fragt Ulrike. »Anonym.« »Das war klar«, meint Stevie. »Shadowrun hab’ ich auch mal gespielt«, meldet sich Dödel. »Stimmt, du bist ja Rollenspieler«, erinnert sich Lulu. »Vielleicht hast du ja sogar das Modul, das McDonald sucht.« »Und wenn nicht, könnten wir trotzdem behaupten, daß wir es haben, damit er seine Reallife-Adresse rausrückt«, schlägt Ulrike skrupellos vor. »Gute Idee«, meint Lulu. »Das heißt also, daß ich ihm auf jeden Fall maile.« »Klar, sag ihm, daß du es hast, und er soll seine Surfaceaddress raustun«, insistiert Ulrike, »dann werden wir ja sehen, was passiert.« »Gut. Damit können wir eventuell verifizieren, daß es sich bei McDonald wirklich um diesen Timothy Hamburger handelt. Aber natürlich hilft uns das in keiner Weise, ihn irgendwie unter Druck zu setzen oder zu überführen.« »Ach was, Hauptsache, wir haben ihn erstmal an der Angel.« -131-
»Naja, es ist besser als nichts. Jedenfalls, wenn man bedenkt, daß zwischen 25 und 35 Millionen Leute im Internet sind.« Stevie nickt, und Dödel mampft zustimmend. Wieder in der Redaktion, schreibt Lulu also eine Mail an McDonald unter dem anonymen Account. Sie schreibt, daß sie das Modul hat und daß sie 30 Dollar dafür will. Wo sie es denn hinschicken soll. Die Benutzer des finnischen Anonym-Servers können sich ihre Antworten dort nach Eingabe eines Paßwortes abholen. Die Anonymität bleibt dabei komplett gewahrt. Am Nachmittag will Ulrike zusammen mit den andern das Netzwerkspiel SpacewardHo! testen. Angeblich soll es so spannend sein, daß es - einmal installiert - mühelos ganze Firmen tagelang lahmlegt. Mal sehn, ob das stimmt. Sie bereitet alles vor, legt eine kleine Galaxie mit vierzig Planeten an und bestimmt die Anzahl der Spieler. Dann ruft sie die Kollegen an: »Leute, die Weltraumschlacht geht los.« Alle loggen sich von ihrem eigenen Rechner aus in das Spiel ein. Jeder beginnt auf einem anderen Heimatplaneten mit jeweils zwei Scoutschiffen. Auf dem Bildschirm sieht Ulrike ihren Planeten und seine nächste Umgebung. Sie überlegt. Wohin soll sie zuerst fliegen? Sie sendet die beiden Schiffe zu zwei Nachbarplaneten, die in Richtung des Zentrums der Galaxis liegen. Pro Runde macht jeder Spieler einen Zug. Erst wenn alle Züge im stillen Kämmerlein abgegeben sind, erfahren alle gleichzeitig die Konsequenzen. Ulrike hat Glück. Beide Planeten sind bewohnbar. Das heißt, sie kann dort im nächsten Zug eine neue Kolonie aufmachen. Sogar reichlich Rohstoffe gibt’s, die man zum Bau von Raumschiffen verwenden kann. In der nächsten Runde landet sie mit beiden Scoutschiffen auf unbewohnbaren Planeten. Das ist natürlich Mist, die nützen ihr gar nichts. Doch schon bald hat sie ein paar lukrative Minen, und während die Scouts weiter zu unbekannten Planeten vorstoßen, baut die einheimische Bevölkerung brav an neuen Raumschiffen. -132-
Ulrike überlegt, ob sie lieber auf Qualität oder auf Quantität setzen soll. Ein paar schnelle Langstreckenschiffe wären schon gut, falls sie mal aus einer unvorhergesehenen Ecke angegriffen wird. Also zahlt sie den Arbeitern mehr Geld und erhöht damit den sogenannten Tech-Level. Langsam kommen sich die Spieler ins Gehege, es ist schließlich nur eine kleine Galaxis. Die ersten Grenzscharmützel beginnen, und schon bald tönt es aus Dödels Kabuff: »Du Arsch!« Aus Ulrikes Zimmer kommt postwendend die Antwort: »Woher soll ich wissen, daß du auf diesem Planeten bist?« Der Besitzstatus eines Planeten wird für jeden Spieler erst dann sichtbar, wenn er darauf gelandet ist. Hat ein anderer Spieler dort bereits Leute stationiert, so ist ein Kampf unvermeidlich. Und natürlich gewinnt der Spieler, der mehr Leute, Schiffe oder die höherentwickelte Technologie auf dem Planeten hat. Ulrike grinst in sich hinein. Als gewiefte Strategien hat sie selbstverständlich bereits vermutet, daß Dödel auf diesem Planeten sitzt. Aber das muß sie ja nicht zugeben. Auf ihrem Bildschirm erscheint eine Hyperraum-Nachricht von Lulu. Sie möchte, daß Ulrike den Planeten Walter im Südosten in Ruhe läßt. Für geheime Allianzen ist die eingebaute Mail-Funktion ideal. Aber meistens paßt Brüllen einfach besser. Und Dödel hat in der nächsten Stunde noch zahlreiche Anlässe dazu. Irgendwie sind seine Truppen immer zur falschen Zeit am falschen Ort. Und schließlich zieht Ulrike ihm gnadenlos seinen letzten Planeten unter dem Hintern weg. Er ist draußen. Ulrike hat jetzt 19 von vierzig Planeten. Stevie ist auch ganz gut bestückt, und gemeinsam nehmen sie Lulu in die Zange, die sich verzweifelt aber vergeblich wehrt. Sie wird buchstäblich aufgerieben, und eine halbe Stunde später -133-
ist sie weg vom Fenster. Die Galaxie ist jetzt aufgeteilt zwischen Stevie und Ulrike. Stevie sitzt ruhig und konzentriert vor seinem Bildschirm. Er besitzt mehrere Raumschiffe der Hai-Klasse, das sind bisher die besten Schiffe im ganzen Spiel. Strategiespiele liegen ihm, nur mit der menschlichen Komponente hat er Schwierigkeiten - er kann nicht so gut einschätzen, wie sich die anderen Spieler verhalten. Darum hat er zwar die schnelleren und größeren Raumschiffe, aber weniger Planeten als Ulrike. Nach einigen Grenzscharmützeln merkt Stevie, daß er wesentlich mehr Feuerkraft hat als sie. Wenn er es einigermaßen geschickt anfängt, kann er ihr einen Planeten nach dem anderen wegnehmen. Aber irgendwie widerstrebt ihm das. Er greift absichtlich mit zu schwachen Truppen an und läßt sich von Ulrikes Verteidigern zurückschlagen. Doch da erklingt ein Gebrüll: »Was soll das, spielen wir hier oder was?« Ja, spielen wir hier oder was? Stevie erkennt, daß er Ulrike nur beleidigt, wenn er sie gewinnen läßt. Eigentlich könnten sie sowieso aufhören, denn das Spiel ist ja nun ausgiebig getestet, und es warten schließlich noch ein paar irdische Aufgaben auf die beiden Weltraumkämpfer. Kaum hat Stevie das gedacht, da brüllt sie: »Frieden?« »O.k.!« brüllt er zurück. Als wäre das Telefon noch nicht erfunden. »Aber wer gewinnt, darf einem Planeten seinen Namen geben.« »O.k., schlachte mich ab, dann kriegst du den Planeten.« »Gebongt.« Und so läßt Stevie sich zügig abmurksen, indem er bewußt dumme Züge macht. Eine Viertelstunde später ist Ulrike Herrscherin der Galaxis und darf einen Planeten benenne n. Der -134-
wird dann in zukünftigen Spielen immer wieder auftauchen. Sie nennt den Planeten Stevie. Aber das verrät sie ihm nicht. Als Lulu bei Spaceward Ho! ihren letzten Planeten verloren und wieder Hirnkapazität frei hat, fällt ihr ein, daß sie Daniel Trumm die neueste Entwicklung mitteilen sollte. Sie schreibt ihm eine Mail und endet mit Liebe Grüße, Lulu. Lulu ist wahrscheinlich der einzige Mensch, der es schafft, am Computer im Zehnfingersystem zu schreiben und dabei gleichzeitig an einem Bleistift zu kauen. Um acht Uhr abends sitzt Lulu vor dem Fernseher und guckt Tagesschau. Das heißt, der Fernseher sendet Tagesschau und Lulu liest Süddeutsche Zeitung. Das ist nicht sehr effizient, da Lulu auf diese Weise weder vom einen noch vom anderen genug mitbekommt. Aber es täuscht Betriebsamkeit vor und läßt Feierabendlangeweile nicht so leicht aufkommen. Dazu trägt auch Lilly bei, Lulus anspruchsvolle Katze. Sie ist beleidigt, weil sie in letzter Zeit nie mehr mit in die Redaktion darf, und verlangt von Lulu ständ ig Zeichen der Liebe und Aufmerksamkeit. Lulu hat es aufgegeben, Lilly mit in die Redaktion zu nehmen, weil diese eine unzumutbare psychische Belastung für Stan darstellt. Lilly pflegte sich in der Redaktion einen warmen, gemütlichen Ort zu suchen, zum Beispiel das Fax oder einen Drucker. Darauf lag sie dann scheinbar friedlich, nur von gelegentlichen Faxund Druckversuchen der Redaktionsmitglieder unterbrochen. Betonung auf »scheinbar«, denn sowie Stan angelegentlich vorbeikam, um mal zu gucken, ob vielleicht ein Fax für Dödel da war, wachte die friedliche Lilly schlagartig auf, holte aus und verabreichte dem arglosen Hund eine saftige Backpfeife. Das kann selbst der friedfertigste Köter nicht auf sich sitzenlassen, und so entspann sich dann jedesmal eine wilde Jagd durch die ganze Redaktion, die selbstverständlich die Katze gewann. Lilly ist einfach geländegängiger als der grenzdebile Schäferhund. Das Ganze endete dann regelmäßig mit einer triumphierenden Lilly auf -135-
einem hohen Regal, einem verzweifelt jappenden Stan davor und einen anklagenden Dödel in Lulus Büro. »Wenn Stan geht, dann gehe ich auch«, gab Dödel schließlich unmißverständlich zu Protokoll. Und da der stämmige Sexologe trotz aller Macken doch eine zuverlässige Stütze der Happy PowerPlayer ist, was man von Lilly nicht behaupten kann, entschied Lulu sich für Dödel und Stan und gegen Lilly. Weshalb diese sich neuerdings auf das Zerkratzen von Sofas spezialisiert hat und damit Lulus Wohnung zu einem ganz besonderen Sperrmüllflair verhilft. Kurz nach der Tagesschau klingelt das Telefon. Daniel ist dran. »Was, du schon wieder«, entfährt es Lulu verblüfft. »Du schreibst mir immer so interessante Mails«, grinst er über den Atlantik. »Ja, tolle Sache, was? McDonald, der Rollenspieler.« »Paßt zu ihm, ich glaube wirklich, daß er es ist.« »Ja, weil dieses Rollenspiel im Cyberpunk-Genre angesiedelt ist. Die meisten spielen ja eher in irgendwelchen Zauberwelten.« »Eben. Lulu, ich wollte dich übrigens noch etwas anderes fragen.« »Was denn?« »Wann kommst du denn nun das nächste Mal nach Amerika?« »Was? Hatten wir das Thema nicht schonmal?« »Ja, ich dachte, vielleicht hat sich etwas geändert.« »Nein, nach wie vor ist keine Reise geplant.« »Und wenn ich dich einlade?« »Das hat mir gerade noch gefehlt«, platzt Lulu heraus. So drastisch wollte sie das eigentlich nicht ausdrücken. Außerdem ist es auch falsch. -136-
»Du magst mich also nicht.« »Was hat denn das damit zu tun? Ich kann doch nicht einfach irgendwelche Einladungen annehmen.« »Warum nicht?« »Erstens brauche ich das überhaupt nicht zu begründen, zweitens kann ich sowieso nicht weg, drittens sitzt mir der neue Publisher mit seinen albernen Ideen im Nacken, und viertens kann ich mich doch nicht so einfach einladen lassen.« Lulu würde rasend gern nach San Francisco fliegen, das ist ja wohl klar. Aber erstens gibt es tatsächlich gewisse Sachzwänge, und zweitens wäre das doch irgendwie ein Eingeständnis von irgend etwas oder? »Schade.« »Übrigens wird dieses Gespräch schon wieder irrsinnig teuer für dich, ich hoffe, du mußt das nicht privat bezahlen.« »Nein, zahlt alles die Firma.« Er lacht. »Deinen Flug übrigens auch.« »Vergessen wir’s, o.k.?« »Dann muß ich wohl erst ein neues Produkt ankündigen und eine große Veranstaltung für alle Chefredakteure dieser Welt in Las Vegas inszenieren, nur, um dich nach Amerika zu locken.« »Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung.« »I see. Na gut, dann schlaf schön, bei euch ist es schon spät oder?« »Wir sind euch neun Stunden voraus. Rein zeitlich natürlich.« »Yeah, in Computern leider nicht«, grinst er. »Also bis dann.« »See you, Lulu.« »Bye Daniel.« Am Dienstag ächzt der Paketbote vormittags unter einem großen Postversandgut die Treppe zur Redaktion hinauf. Die -137-
Kiste ist für Dödel, und der Absender sitzt in Köln. Sofort läßt Dödel alles stehen und stürzt sich auf die Kiste wie ein Hamster auf ein gentechnisch verändertes Riesenkorn. Das Paket enthält nämlich den endgültigen Durchbruch im Cybersex. Dagegen sind Strip-Poker am Bildschirm, Telefonsex oder sogar MUDSex nur müde Versuche, sich für den Spätkrimi wachzuhalten. Es geht nicht mehr um Rubbeln vor dem Bildschirm, sondern um Gefühle direkt aus dem Computer. Dödel packt ein beeindruckendes, allerdings auch etwas beängstigendes Arsenal aus. Gummimanschetten und Gummiknüppelartige Schläuche kommen zum Vorschein, dazu Handschuhe, ein Kopfmikrofon und jede Menge schwarze Drähte mit Steckern an beiden Enden. Ganz unten liegt noch eine CD-ROM. Dödel stutzt. Fehlt da nicht was? In diesem Moment kommt Ulrike mit einem Kaffee an seiner Tür vorbei. »Was zum Geier hast du denn da? Ist das ein Einmannfluggerät für Rebel Assault oder eher was zum Kanalreinigen?« Dödel blickt vom seinem Schatz auf: »Nein, das ist die neueste Errungenschaft im Cybersex.« »Sieht eher aus wie irgendwas, das Raumfahrerinnen zum Pinkeln brauchen. Oder wie die SM-Ausrüstung für Heimwerker.« »Fast. Soll ich’s dir jetzt erklären, oder willst du mich nur verarschen?« »Erklär schon.« Bei Ulrike siegt grundsätzlich die technische Neugier. »Also paß auf. Dieses Zeug schnallt man sich um, stöpselt alles zusammen und schließt sich dann an die serielle Schnittstelle vom PC an. Das heißt, wenn man in diesem Chaos den richtigen Stecker gefunden hat.« Ulrike wirft einen fachmännischen Blick auf den ganzen Haufen und meint: »Wenn dieser Kram das tut, was ich -138-
vermute, dann braucht das Zeug Strom. Das heißt, ein weiterer Stecker geht in die Steckdose. Herzlichen Glückwunsch.« Dödel schluckt. Daran hat er noch gar nicht gedacht. Ulrike hat vermutlich recht, und der Gedanke, Mr. 220 Volt zu werden, behagt ihm gar nicht. »Jetzt erzähl weiter, wie das funktionieren soll«, fordert Ulrike ihn auf, »Ist das ganze Programm auf der CD?« »Nein, das ist nur das Frontend. Ich wähle mich über eine ISDN-Leitung in das Computerlabor der Kunsthochschule in Köln ein. Da sitzt dann meine Partnerin.« »Und weiter?« »Also auf der CD sind wohl im Wesentlichen Körperteile drauf. Da kann ich mir meinen Körper zusammensuchen. Den kriege ich dann hier am Bildschirm dargestellt. Und sie drüben in Köln auch. Und sie macht umgekehrt das Gleiche. Ihren Körper kriege ich dann hier auf den Bildschirm.« »Klingt blöd«, meint Ulrike. »Naja, jetzt kommt’s ja erst.« »Das bezweifle ich stark, daß da irgend jemand kommt.« »Also hör zu: Ich habe natürlich dann dieses ganze Zeug hier angelegt, das nennt man übrigens Data Suit.« Ulrike hat Mühe, ernst zu bleiben. Dödel ist ja bekleidet noch gerade zu ertragen, aber nackt und mit diesem Zeug am Leib wird er vermutlich aussehen wie Unkerich auf dem Mars. »Und wenn sie dann in Köln mit der Maus am Bildschirm irgendwelche Körperteile von mir berührt, dann schickt ihr Rechner den entsprechenden Code an meinen Rechner. Und mein Rechner schickt über die serielle Schnittstelle den entsprechenden Code an meinen Data-Suit.« »Und dann kriegst du einen elektrischen Schlag auf den Schwanz?« fragt Ulrike interessiert. »Schlag ist nicht ganz das richtige Wort. Mehr so eine -139-
Vibration - hoffe ich jedenfalls.« »Aha.« »Ja, das Ganze ist natürlich noch im Versuchsstadium. Später wollen die mal eine Mailbox betreiben, wo dann jeder User so ein Frontend hat. Geht natürlich nur mit ISDN.« »ISDN hat aber doch kaum ein Mensch zu Hause. Das haben doch praktisch nur Firmen.« »Naja, aber das kommt ja jetzt.« »Ich stelle mir gerade vor, wie so ein mittlerer Angestellter bei der Allianz in der Mittagspause seine Klamotten fallen läßt und sich den Data Suit überstreift. Und dann kommt sein Chef rein.« Dödel grinst: »Oder die Chefin. Du kannst übrigens gerne zugucken.« Ulrike kämpft mit sich. Forscherdrang gegen Ekel. »Ja o.k., du kannst mich ja rufen, wenn du den Kram an hast. Ich muß dir doch nicht beim Ausziehen zugucken oder?« »Ja gut. Die Leute aus Köln haben gesagt, ich soll zwei Stunden vorher anrufen, dann machen sie auch an ihrem Ende alles bereit. Das heißt, es geht sowieso erst gegen Mittag los. Wo ist denn die Anleitung, ah, hier. Ich werde jetzt also diesen Kram mal sortieren, und wenn ich weiß, was wo hin gehört, sage ich denen Bescheid, daß es bald losgehen kann. Dann steige ich in den Data Suit und rufe dich.« »O.k., bis dann.« Doch kaum sitzt Ulrike wieder an ihrem Schreibtisch, da ertönt ein schriller Schrei, der entfernt an Dödels Stimme erinnert. Wahrscheinlich hat er sich was eingeklemmt. Doch nein, Dödel erscheint vollständig bekleidet im Türrahmen. »So ein Mist, sie haben mir den Data Suit für Frauen geschickt!« »Das ist Pech. Was hat du jetzt vor -140-
Geschlechtsumwandlung?« »Nein, ich brauche natürlich ein Versuchskaninchen.« »Meinst du, daß die Manschetten an so einem kleinen Kaninchen halten werden?« »Quatsch nicht, ich wollte dich fragen, ob du nicht Lust hast.« »Lust? Auf sowas? Frag doch Tina, die zieht sich bestimmt gern für dich aus.« »Naja, aber qualifiziertes Fachpersonal wäre mir schon lieber.« Innerlich muß Ulrike zugeben, daß die Sache sie schon reizt. Aus rein wissenschaftlichen Gründen natürlich. »Ich weiß nicht, ich traue dem Zeug nicht über den Weg. Auf jeden Fall würde ich vorher ein paar Leitungen durchmessen. Um sicherzugehen, daß wenigstens das Netzteil keinen Mist macht.« »Ja klar, gute Idee. Das kannst du ja machen.« Ulrike zieht ein Meßgerät aus der untersten Schublade ihres Schreibtisches und schreitet zur Tat. Währenddessen installiert Dödel das zugehörige Programm von der CD-ROM. Das Netzteil des Data Suit scheint ordentlich zu funktionieren. »Also, stärkere Stromschläge kriegt man wohl nicht«, meint Ulrike. »Du kannst jetzt die Kölner anrufen, daß sie sich bereit machen sollen, Aber ich will einen Mann am anderen Ende, verstanden?« »Ja, klar.« »Und dann verschwindest du hier so lange aus dem Zimmer, bis ich dich rufe.« »Bist du sicher, daß du es allein anlegen kannst?« Ulrike wirft Dödel einen unmißverständlichen Blick zu, und er verzieht sich. Sie guckt noch kurz in die Gebrauchsanweisung des Data Suits. Dann zieht sie sich aus. Klar, daß man den Anzug nicht über der normalen Kleidung tragen kann. Und spätestens beim Anlegen der diversen Vibratoren muß auch der -141-
Slip fallen. Schließlich steht sie vollverkabelt da. Alle Teile, die man normalerweise für die Öffentlichkeit unzugänglich aufbewahrt, sind wieder bedeckt. Und zwar von schwarzem Gummi, in dem jede Menge Sensoren, Stimulatoren und Vibratoren untergebracht sind. Sie sieht aus wie die Inkarnation einer Cyberpunk-Domina. Aber fühlen tut sie sich eher wie beim Internisten, der unbedingt ein EKG machen will, und beim Frauenarzt gleichzeitig. Ihre Klamotten hat sie auf den Laserdrucker gestapelt. Sie ruft nach Dödel. So schnell, wie der wieder in seinem Zimmer erscheint, hat er garantiert die ganze Zeit durchs Schlüsselloch geguckt. »O.k., es kann losgehen. Wo steht das Klavier?« »Gut, dann starten wir jetzt das Programm und loggen uns in Köln ein.« Als die Verbindung steht, darf Ulrike sich einen Körper zusammensetzen. Ohne lange zu überlegen wählt sie aus dem Angebot: braune Haare, das am wenigsten dümmliche Gesicht, kleinen Busen, flachen Bauch, normal behaarte Muschi, knackigen Hintern und lange Stelzen. Ihr Cyber-Ich erscheint auf dem Monitor. Kurze Zeit später erscheint daneben ein weiteres Bild, ein großer blonder Mann mit einem Riesenpimmel. »Du mußt jetzt mit der Maus bei ihm rumklicken«, erklärt Dödel, der ihr über die Schulter sieht. Also fährt Ulrike mit der Maus über den männlichen Bildschirmkörper. Plötzlich klingt es aus dem Lautsprecher: »Ja, da, mehr!« Die Originalstimme ihres Sexpartners! Das Mikrofon hat Ulrike ganz vergessen. »Da muß ein Perverser am anderen Ende sitzen«, meint sie. »Das ist wahrscheinlich einer der Entwickler«, erklärt Dödel -142-
ihr. »Unser Mikro schalten wir lieber nicht ein«, meint Ulrike. »Und, fühlst du schon was?« »Ein leichtes Kribbeln am Bauch. Als wenn man eine Spinne unter der Bluse hat. Aber völlig unerotisch.« »Hm.« »He! Dein dümmlicher Köter ißt meinen Slip!« »Stan! Aus, pfui!« Beleidigt läßt Stan den zerkauten Damenslip auf den Teppich fallen. Währenddessen erwacht Ulrikes Data-Suit langsam zum Leben. Er surrt und rappelt. »Die Geräusche törnen total ab«, meint sie. »Jetzt wackelt es weiter unten. Als würde man auf einer Waschmaschine sitzen.« »Und, ist es gut?« »Nö. Ich stehe nicht auf Waschmaschinen.« In diesem Moment öffnet sich die Tür zu Dödels Zimmer, und jemand fragt: »Dödel, hast du vielleicht die Grafikkarte von...« Stevie. Wie angewurzelt steht er da. Zwei Sekunden guckt er, als würde er an seinem Verstand zweifeln. Dann macht er auf dem Absatz kehrt und knallt die Tür zu. »Wohl noch nie jemand beim Cybersex zugesehen«, meint Dödel. Ulrike ist die Sache etwas peinlich. »Also, wie lange soll ich das hier noch machen? Eine Testmeinung kannst du jetzt schon haben.« »Und?« »Törnt nicht. Höchstens für Perverse geeignet. Das einzig Positive, was man darüber sagen kann, ist, daß man kein Aids davon kriegt. Aber das kriegt man von Abwaschen auch nicht.« »Echt, so langweilig?« Dödel ist schwer enttäuscht. -143-
»Ich glaube, ich werde mir den Männeranzug auch noch kommen lassen. Dann kann ich es selber testen.« »Mach, was du willst, aber jetzt geh erstmal raus, damit ich mich wieder anziehen kann.« Ulrike streift die Manschetten ab und ploppt die anderen Gummiteile raus. Stevie hat unglaublich entsetzt ausgesehen. Was er jetzt wohl von ihr denkt? Vielleicht sollte sie mit ihm zum Mittagessen gehen. Es ist sowieso schon Eins. Ulrike geht rüber in Stevies Zimmer. Er sitzt ganz erstarrt vor seinem Bildschirm und bewegt sich auch nicht, als sie eintritt. »Hey, es war ein wissenschaftliches Experiment, was ist so schlimm daran?« versucht sie, die Sache aufzuklären. Langsam wendet Stevie ihr den Kopf zu: »Es sah so - so widerlich aus.« »Naja, Dödel wollte unbedingt dieses Cybersex-Equipment testen. Und dann haben sie ihm den falschen Anzug geschickt. Einen für Frauen.« »Und dann mit Dödel...« »Ich hab’s nicht mit Dödel getrieben, sondern mit einem Typ in Köln, wenn du es genau wissen willst. Was ist, gehen wir jetzt mittagessen?« Stevie starrt sie an. Dann steht er auf. Ulrike holt ihren Mantel, und Stevie folgt ihr mit seiner Daunenjacke. »Wo gehen wir hin?« fragt er. »Ich weiß es noch nicht. Was Leichtes oder was Handfestes, was ist dir lieber?« »Ich bin da nicht festgelegt.« Schweigend laufen sie los. Die Sonne ist rausgekommen. Nach einer Viertelstunde landen sie im Café Camus. »Neulich hat die Tira Misu hier nach Knoblauch -144-
geschmeckt«, bemerkt Ulrike. »Wahrscheinlich haben die nur ein Messer in der Küche, das sie für alle Tasks hernehmen.« »Ja, aber sons t isses ganz o.k.« Im Café bleiben sie zunächst vor der ausgehängten Tageskarte stehen, um sie zu studieren. Dann suchen sie sich einen der abgelegensten Tische aus, obwohl das Café fast leer ist. Ulrike flätzt sich in einen Korbstuhl. Manche Leute würden Lounge Chair dazu sagen, aber bei diesem abgefressenen Exemplar wäre das Hochstapelei. Stevie sitzt unbequem auf einem dieser Metallstühlchen mit der geraden Rückenlehne. Sie bestellen, und dann sieht Ulrike Stevie an, als würde sie von ihm eine Eröffnung erwarten. Aber der guckt angelegentlich im Lokal herum. In einer Ecke sitzt ein mittelalter mitteldicker Mann mit Brille, der Ulrike an ihren Vater erinnert. Als Stevie ihn erspäht, fallen ihm fast die Augen raus. Fast so wie vorhin, als sie den Cyberdreß an hatte. Ulrike beugt sich vor, damit Stevie ihr zuflüstern kann, was er gesehen hat. »Das ist Schnarchenbroich«, wispert er. Ulrike hat sich schon lange gefragt, wie der Typ wohl aussieht, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, Computerkids wegen Kopiervergehen bis ans Ende der Sandkiste zu jagen. Als Schnarchenbroich bemerkt, welche Aufmerksamkeit sie ihm schenken, steht er auf und geht. So wirkt es jedenfalls. »Hier treffen sich öfters irgendwelche Hacker«, erklärt Stevie, »vielleicht wollte er die ausspähen.« »Hm, glaubst du?« Dieser Schwachkopf hat sie beide ganz von ihrem Thema abgebracht. Welches war es doch gleich? »Du bist vorhin so schnell wieder verschwunden«, meint sie. »Naja...« -145-
»Ich sah wohl etwas abschreckend aus.« »Ja, du und Dödel...« »Also, mit ihm hab ich nun wirklich nichts gemacht. Oder glaubst du das?« »Eigentlich nicht.« »Aber?« »Ich weiß nicht.« »Hast du William Gibson gelesen?« »Natürlich.« »Naja, dieser Data Suit geht in die Richtung. Eingestöpselt und dann Gefühle direkt aus dem Computer. Beziehungsweise, Gefühle von Menschen, durch den Computer gefiltert. Fast wie bei diesen Simstims. Nur, daß es nicht funktioniert hat.« »Kann ich mir auch nicht vorstellen.« »Wieso, du bist doch so ein toller Programmierer.« »Ja und?« »Und wenn so eine Cyber-Zukunft kommt?« »Nicht gut.« »Aber du würdest doch bestimmt zu den begehrtesten Konsolencowboys gehören, zu denen, die auf der Matrix reiten wie auf einem gezähmten Mustang.« Stevie schaut auf seinen Teller und murmelt: »Das ist doch kein Leben.« »Naja, lassen wir das. Ich wollte nur, daß du wegen der kleinen Einlage vorhin nicht schlecht von mir denkst.« »Tue ich doch gar nicht.« »Hat aber so ausgesehen.« Stevie sagt nichts mehr. Na gut, Ulrike läßt es dabei bewenden. Sie mag ihn und will ihn nicht schon wieder in die Enge treiben, wie letztens im IRC. Sie hat eine Schwäche für -146-
Stevie. Eine Schwäche für schwache Männer. Da ist es leichter, sich stark zu fühlen. Sie latschen zurück zur Redaktion, und dann muß Ulrike sich auch schon auf den Weg machen zu diesem UNIX-Kurs. Sie fährt mit der U-Bahn zur Infanteriestraße, dem Ableger der FH, in dem die E-Techniker untergebracht sind. Sie überlegt, ob sie ins Professorenzimmer schauen soll. Aber dann entscheidet sie sich, wie eine ganz normale Studentin direkt zum Raum 101 zu gehen, in dem der Kurs stattfindet. Über seine neuesten Erkenntnise zum Thema Life-Crack kann sie den hoffnungsvollen Professor nachher immer noch befragen. UNIX ist für E-Techniker im Prinzip genauso interessant wie für Schuhverkäufer. Trotzdem wird dieser Kurs Schuhverkäufern vorenthalten und darf sogar nur von ETechnikern besucht werden, die schon mindestens acht Semester durchgehalten haben. Als Belohnung sozusagen. Darum sitzt hier auch nicht Al Bundy, sondern eine Reihe äußerst braver Studenten, die genauso langweilig aussehen, wie Ulrike ETechniker in Erinnerung hat. Sie verzieht sich in die hinterste Reihe. Zehn Minuten nach dem offiziellen Beginn erscheint Joachim Paulsen und in seinem Gefolge ein gutaussehender Assistent, der unter dem Stapel kopierter Skripte fast zusammenbricht. Daß er beim Zusammenbrechen immer noch gut aussieht, ist besonders bemerkenswert. Die Skripte werden ausgeteilt, und Paulsen legt los, nicht ohne Ulrike kurz zuzunicken. Gleich zu Anfang bringt er einige Tricks, die eher für Hacker geeignet sind als für zukünftige Systemadministratoren. Wie man zum Beispiel durch die Änderung weniger Befehle erreicht, daß der arme User nach fünf Minuten aus dem System herausgeworfen wird und nicht weiß, warum. Natürlich kann man argumentieren, daß Administratoren diese Dinge wissen müssen, um böse Scherze verhindern zu können. Aber Ulrike hat den Eindruck, daß -147-
Paulsen die bösen Scherze viel mehr Spaß machen als - sagen wir - das Dateisystem. Immerhin, wenn er diesen Kurs an der FH nicht eingeführt hätte, würden die E-Techniker am Ende ihres Studiums von UNIX genauso wenig verstehen wie Al Bundy. Paulsen bemüht sich, den Stoff möglichst lebendig zu bringen. Aber seine Fragen ans Publikum bleiben fast immer ohne Resonanz. Daraufhin verlegt er sich auf Witze. Die kommen schon besser an. Ulrike hat allerdings den Eindruck, daß die Typen mehr darüber lachen, daß Paulsen Witze macht, als über die Witze selbst. Es sind übrigens alles YChromosomträger. Kein einziges weibliches Wesen außer Ulrike scheint sich für Betriebssysteme zu interessieren. Irgendwie kommt Paulsen vom Dateisystem auf die Datenübertragung. Natürlich nur, um wieder einen Witz anzubringen: »Wenn Sie einem Bernhardiner drei große Festplatten um den Hals hängen, und ihn damit rüberschicken in die Abteistraße, dann sind die Daten schneller drüben als übers Netzwerk. Der Hund überträgt eben parallel und das Kabel seriell.« Vor der Pause kündigt der Professor noch an, daß Ende Januar in der FH eine große 25-Jahre-UNIX-Party stattfinden wird. Nach anderthalb Stunden Frontalunterricht lechzt Ulrike nach dem versprochenen Kaffee. Sie wartet, bis die Studenten sich einigermaßen verzogen haben und Paulsen den Unterrichtsraum verlassen kann. Doch einige Studenten lauern ihm auf dem Flur auf und hängen sich wie Kletten an ihn, sowie er hinaustritt. Er schafft es kaum, Ulrike die Hand zu schütteln. So trottet sie einfach hinter der Traube her. Als sie vor der Tür des Professorenzimmers ankommen, kann Joachim endlich den größten Teil seiner Anhänger abschütteln. Nur zwei Diplomanten schaffen es, sich mit durch die Tür zu quetschen. Der Professor setzt eigenhändig Kaffee auf und bedeutet -148-
Ulrike, sich irgendwo hinzusetzen. Bevor er sich ihr endlich widmen kann, muß er noch irgendwelche Schaltungen angucken, die ihm ein langhaariges Subjekt unter die Nase hält, und ein obskures C-Programm begutachten. Dann räumen auch die Diplomanten das Feld. »Und, wieweit bist du mit Life?« kann Ulrike endlich fragen. »Es könnte ein Plan fü r ein Atom-U-Boot sein oder ein Virus, der alle Programmbefehle ins Deutsche übersetzt. Keine Ahnung.« »Das hat Microsoft mit dem Word-Basic doch auch gemacht. Ganz ohne Virus.« »Stimmt, aber das ist was anderes, das ist ein MarketingGag.« »Hm. Also du weißt noch nichts. Dafür haben wir vielleicht eine Spur, der Typ hat nämlich in einer Newsgroup gepostet.« »Nicht anonym?« »Doch, natürlich, aber wir hoffen, daß wir trotzdem seine Adresse rauskriegen, wir haben ihm nämlich geantwortet.« »Ah gut.« »Und was ich noch fragen wollte: Was ist denn das mit dieser UNIX-Party?« »Ja, die findet hier in der FH statt, im großen Saal. Ich habe die Sache schon lange geplant. Auch ein paar Gurus werden da sein. Wird vielleicht ganz lustig.« »Was denn für Gurus?« »Das wird noch nicht verraten.« »Und, gibt’s auch Terminals?« »Klar, eine Party ohne Internetanschluß ist doch keine Party.« »Soso.« Ulrike fragt sich, ob Joachim eine Freundin hat. »Ja, und einen Programmierwettbewerb wird’s geben, live on stage. Und alles, was Programmierer gern haben: Jolt Cola, -149-
Pizza Hawaii...« »Und Virginia-Zigaretten der Marke Death nehme ich an.« »Ja, für Nichtraucher wird’s ‚ne harte Party, das fürchte ich auch. Ach ja, die ganze Redaktion ist natürlich herzlich eingeladen. Ich werde das auch nochmal an Dödel mailen.« Dann ist die Kaffeepause zu Ende. Ulrike hat Herzklopfen, nicht weil Paulsen so aufregend ist, sondern weil sein Kaffee so stark ist. Die nächsten anderthalb Stunden übersteht sie dennoch nur mit Mühe. Sie ist dieses Zuhören gar nicht mehr gewohnt. Zum Glück hat Paulsen ja ein exzessives Skript verteilt, in dem hoffentlich alles drin steht, was er so von sich gibt. Bis auf die Witze natürlich. Aber ab nächster Woche ist dann nach der Pause Praktikum angesagt, also Rechner quälen im Labor. Das wird bestimmt lustiger. Lulu sitzt in ihrem Zimmer und kaut an einem Bleistift. Manchmal hält sie sich für eine erfolgreiche Frau. Manchmal überhaupt nicht. Denn sie weiß, was sie antreibt. Die anderen denken immer nur »Toll, diese Lulu, wie die das alles macht, in ihrem Alter schon Chefredakteurin, die hat so viel Drive, die arbeitet so viel, ich könnte das nicht«. Aber in Wirklichkeit ist es so, daß sie nicht anders kann. Sie hat diesen Drang, immer mehr zu erreichen, diese Unruhe, die ihr Stillstand und eben auch stilles Genießen verbietet. Sie ist nicht in der Lage innezuhalten, um das Erreichte zu genießen, immer muß sie nach neuen Zielen suchen, immer wieder entdeckt sie neue Hindernisse, die auch noch überwunden werden müssen. Und dann wieder neue. Manchmal hat sie das Gefühl, daß sie Hindernisse anzieht. Und manchmal denkt sie, daß es umgekehrt ist. Lulu weiß sogar, woher das kommt. Es ist ihre Nase, die schiefe. Die kommt von einem Reitunfall. So eine Schnapsidee ihrer Eltern, daß die bessere Tochter unbedingt ein Pferd brauchte. Lulu fiel auf die Nase mußte drei Wochen ins -150-
Krankenhaus. Seitdem hat ihre Nase leichte Schlagseite. Und Lulu muß der Nase zeigen, daß sie sich von ihr nicht aufhalten läßt. Daß sie auch mit ihr Anerkennung finden kann. Beruflich. Und privat. Die Eroberung junger hübscher Männer war bisher ihr Programm. Hat auch ganz gut geklappt. Und jetzt das. Daniel ist interessant, aber sicher nicht schön. Und älter als sie. Nicht viel, aber immerhin. Und dann auch noch erfolgreicher. Neben so einem kann sie doch nicht glänzen. Was also tut dieser zerknautschte Ami in ihrem Kopf? Als sie genug an ihrem Bleistift gekaut hat, loggt Lulu sich in die Box ein, um nochmal nach Mail zu gucken. Und siehe da, endlich ist die Antwort von McDonald gekommen. So ein Mist! Der Kerl gibt seine Adresse nicht preis. Er will, daß sie ihm das Modul postlagernd schickt. An ein Postfach in Los Angeles. Da hat er sich ja die kleinste Stadt ausgesucht. Er will ihr den Betrag in bar per Post schicken, und sowie sein Brief angekommen ist, soll sie das Paket losschicken. Immerhin, so viel Vertrauen scheint er zu ihr zu haben. Vielleicht ist das ja ausbaufähig. Andererseits gibt es für ihn ja auch kaum eine andere Möglichkeit, das Geschäft abzuwickeln und dabei anonym zu bleiben. Lulu mailt zurück, daß es doch einfacher wäre, wenn sie das Paket per UPS direkt zu ihm nach Hause schicken würde. Auch viel sicherer für ihn. Und er hätte es in zwei Tagen da. Mal sehn. Bisher hat die Mailerei sie jedenfalls kaum weitergebracht. Zur gleichen Zeit ist auch Dödel mit seiner McDonaldJagdstrategie beschäftigt. Er hat inzwischen alle Dokumente durchgelesen, die er bei seinem ersten Besuch in NeuroWar von seinem Fremdenführer erhalten hat. Er kennt das Gesetz der Cyberstadt und ihre Geschichte. Er weiß, daß es in der Stadt vier Gangs gibt, von denen man sich einer anschließen sollte. Die Mitglieder der verschiedenen Gangs scheinen verschiedene Fähigkeiten zu erwerben, mit deren Hilfe sie im Spiel besser -151-
zurechtkommen. Da gibt’s zum Beispiel die »Fighters of Tenno«, die können Karate. Und die Hacker haben besondere Computerhilfsmittel. Dödel kann sich allerdings nicht vorstellen, wie solche Gadgets in einem MUD realisiert sein könnten. Er hat ja überhaupt wenig Ahnung von MUDs. Dann hat er noch was von »Playerkilling« gelesen. Das ist in NeuroWar normalerweise nicht erlaubt. Wer es doch tut, wird automatisch ein »Outlaw«. Die Outlaws wiederum dürfen sich untereinander umbringen, so viel sie wollen. Was passiert, wenn ein Outlaw einen harmlosen Hacker erledigt, ist in den Gesetzen nicht genau geregelt. Dort ist nur von »schweren Bestrafungen« die Rede. Na gut, packen wir es an. Dödel beschleicht fast so etwas wie Furcht, als er sich wieder in diese gefährliche Welt einloggt, diesmal, um ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu werden. Einen Namen hat er sich schon ausgedacht: Slavemaster. Der Character wird sofort generiert, und Dödel findet sich als Slavemaster in der Clone-Fabrik, wo er auch als Gast gestartet ist. Als erstes versucht er, eine Liste aller Spieler aufzurufen. Doch irgendwie funktioniert das nicht. Dafür kann er sich die momentan spielenden Figuren ansehen. Es sind ungefähr dreißig Leute. Sie haben Namen wie Yppiz, Neuromancer, Suggar, Tornado, Lonewolf, Falstaff, Fluffy oder Striker. McDonald ist nicht dabei. Natürlich kann es auch sein, daß dieser Timothy Hamburger nicht unter seinem normalen Online-Namen muddet. Die meisten Spieler denken sich einen Namen aus, der zum Setting des MUDs paßt. Aber Stevie hat ja erzählt, daß es ein McDonald war, der sich in seinem alten MUD so aufgeführt hat. Wenn der auch noch dauernd seinen Namen ändern würde, wäre es sowieso hoffnungslos, und sie könnten die Jagd gleich aufgeben. An irgendwas muß man sich ja halten. Unschlüssig, was er jetzt tun soll, tritt Slavemaster erstmal auf die Straße. Er wird vor saurem Regen gewarnt, aber was soll’s. -152-
Wenn er jetzt stirbt, ist es ja noch nicht schlimm. Er hat keine Punkte, die er verlieren könnte. Slavemaster läuft ein Stück die Straße entlang und kommt zu der Schule, wo ihn sein Führer am Wochenende in die Kunst des Kämpfens eingeweiht hat. Dödel betritt die Lehranstalt und findet auch gleich ein paar Schulkinder. Soll er die wirklich umbringen? Er tippt: kill Alan. Sofort geht Sla vemaster auf Alan los: You hit Alan with your fist. Stimmt, er hat ja noch keine Waffe. Er muß sich erst eine Waffe und eine Rüstung besorgen. Bloß, wo kriegt man die her, als Neuling? Erstmal den Rückzug antreten. Dödel verläßt den Raum, in dem er den Kerl angegriffen hat, und schon ist er in Sicherheit. Alan ist zu blöd, um ihn zu verfolgen. Jetzt wird es wohl Zeit, um Hilfe zu rufen. Bloß wie? Dödel betrachtet seine kärglichen Ausrüstungsgegenstände, die im Wesentlichen aus irgendwelchen Pamphleten und einem Newbie Button bestehen. Aha, da ist ja auch ein Commradio. Dödel tippt: look at commradio. Und schon wird die Gebrauchsanweisung angezeigt. Den Transmitter kann man auf verschiedene Kanäle einstellen, und dann mit allen Leuten sprechen, die auch auf diesem Kanal sind. Und mit scan kann man feststellen, wer welchen Kanal eingestellt hat. Dödel stellt den meistbesuchten Kanal ein und tippt dann: transmit Hi, where can a Newbie get weapons? Sofort erhält er hilfreiche Antworten. Die Leute fragen ihn verwundert, ob sein Guide ihm nicht gesagt hat, daß auf dem Friedhof ein Waffenautomat steht. Extra für Anfänger. Er soll seinen Newbie Button im Shop verkaufen und mit dem Geld zum Waffenautomaten gehen. Na gut, macht er sich eben auf den Weg. In dem Laden war er ja schon mal, den hat er auf der Karte. Slavemaster-Dödel erhält zehn Dollar für seinen Button und macht sich damit auf die Suche nach dem Friedhof. Nördlich von der Clone-Fabrik haben die andern gesagt. Und tatsächlich, da ist sie. Für drei Dollar erhält er eine Peitsche und für zwei Dollar einen Helm. Ausgesprochen preiswert, wenn -153-
man bedenkt, daß die besseren Waffen im Laden bis zu 6.000 Dollar kosten. Aber mit billigen Waffen darf man sich natürlich auch nur an billige Monster heranwagen. Da die anderen Spieler ihm gesagt haben, daß der Friedhof eine Newbie Area ist, beschließt er , sich erstmal dort umzusehen. Schon bald stößt er auf einen Schmetterling und macht ihn nieder. Das scheint das schwächste Monster im ganzen Spiel zu sein, der bringt nur zwei Punkte. Etwas weiter östlich stößt Dödel auf einen sogenannten Nightbreeder. Er hat keine Ahnung, was das für ein Wesen ist, auf jeden Fall ist es kein Spieler und damit ein Monster. Stimmt, das bestätigt auch sein Monsterchecker. Dieses hilfreiche Gerät hat ebenfalls jeder Spieler von Anfang an dabei. Dödel tippt: check nightbreeder und erhält die Meldung: Nightbreeder may take a little work but is killable. Also: Mit etwas Mühe wird Slavemaster den Nightbreeder schon schaffen. Dödel vergewissert sich, daß er den Feiglingmodus eingestellt hat. Ja, wimpy is on. Das bedeutet, daß seine Figur von selbst davonrennt, wenn es allzu gefährlich wird. Dann tippt er: kill nightbreeder. Der Kampf geht los und wogt hin und her. Mal zieht Slavemaster dem Nightbreeder mit der Peitsche eins über, mal erwischt der ihn mit seiner Schaufel. Der ist nicht so ein Weichling wie diese Schulkinder. Erschrocken sieht Dödel zu, wie seine Gesundheitspunkte in den Keller gehen. Noch 40 % , noch 30, noch 20. Da nimmt die Spielfigur von selbst die Beine in die Hand und rennt in irgendeine Richtung davon. Ein Glück, daß er den wimpy mode eingestellt hatte! Von dem Schreck muß er sich jetzt erstmal erholen. Im Moment kann er sowieso nicht viel machen, Slavemaster muß erstmal heilen, also warten, bis die Gesundheitspunkte langsam wieder nach oben gehen. Da, plötzlich ist Dödel hellwach. Auf seinem Bildschirm erscheint die Meldung: McDonald the Great Hacker has joined the game. Schon die ganze Zeit sind Meldungen dieser Art über -154-
den Bildschirm gezogen. Wer das Spiel betritt und wer es verläßt. Aber keine Meldung mit diesem Namen! McDonald ist tatsächlich da! Hier, auf einem Rechner mit Dödel! Er hat ihn! Vor lauter Begeisterung haut Dödel mit der Faust auf den Schreibtisch, so laut er kann. Das ist ziemlich leise, da das viele Papier den Schlag abfedert. Dann folgt die Ernüchterung. Er weiß überhaupt nicht, was er jetzt tun soll. Dödel guckt, auf welchen Kanal McDonald seinen Kommunikator eingestellt hat. Aber der hat ihn anscheinend überhaupt nicht eingeschaltet. Das heißt, Slavemaster kann nur mit McDonald sprechen, wenn sie sich im gleichen Raum befinden. Oder er kann schreien. Dann hört ihn jeder Spieler im ganzen MUD. Natürlich kann er McDonald auch eine Notiz schreiben, NeuroWar hat ein eigenes Postamt für MUDinterne Briefwechsel. Aber was soll er schreiben? Vielleicht: »Guten Tag, könntest Du mir bitte sagen, ob Du dieser Irre bist, dieser Timothy Hamburger? Der den Virus in das neue Spiel von Gemstone geschmuggelt hat?« Dödel merkt, daß er irgendwie nicht weit genug gedacht hat. Immerhin, er hat McDonald gefunden. Und das ist die Hauptsache. Soll er jetzt die andern holen und sich bewundern lassen? Ihnen McDonald auf dem Bildschirm zeigen? Wenn er who eingibt, kann er ihn sehen: McDonald the Great Hacker. Dödel guckt, ob sein Rechner auch wirklich alles mitspeichert. Dann kann er bei Bedarf den anderen seinen Fund dokumentieren. Doch wie soll er nun weiter vorgehen? Die Sache mit den Gangs fällt ihm ein. McDonald ist doch bestimmt Mitglied der Hackergang, das würde zu ihm passen. Vielleicht wäre es gut, da auch Mitglied zu werden. Auf diese Weise würde er ihm schonmal näherkommen. Vielleicht könnte er ihn dann im Hacker-Hauptquartier abpassen und eine Unterhaltung mit ihm anfangen. Dödel tippt wieder eine Frage in den Kanal 100: How can I become a member of the hackers? Er erfährt, daß man überhaupt erst Mitglied einer Gang -155-
werden kann, wenn man Level zwei erreicht hat. Das heißt, er muß einfach noch ein paar Monster schlachten, bis er genug Punkte hat. Danach wird dann wahrscheinlich sowieso alles einfacher. Aber das kann noch Stunden dauern, so viel hat er schon mitgekriegt. Da er mit dem Nightbreeder noch nicht so richtig klar kam, macht Dödel sich auf den Weg zur Schule, um ein paar Schüler zu killen. Nein, den andern wird er noch nichts sagen. Erst, wenn er allein gar nicht mehr weiterkommt. Gegen Sechs macht Lulu sich daran, ihre Herde zusammenzutrommeln. Zeit fürs Laserdrome. Als sie den Kopf in Dödels Zimmer steckt, dreht der sich ganz erschrocken rum. »Na, wieder Schweinebildchen angucken?« fragt sie ihn. Dödel tut schuldbewußt. Wenn sie wüßte!
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7. Kapitel Das Laserdrome liegt im Norden der Stadt, in einem Industriegebiet. Von außen sieht das Gebäude ausgesprochen häßlich aus, ein Industriebau der siebziger Jahre. »Laßt uns reingehen und Menschen abschlachten«, fordert Stevie die anderen auf. »Ist ja gut, wir kennen deine Meinung inzwischen«, grummelt Dödel, »aber nun wart’s doch erstmal ab.« Auch Ulrike ist inzwischen angekommen. »Also gut, laßt uns reingehen«, sagt Lulu. Sie betreten den Eingangsbereich und sehen sich um. Es sieht aus wie in einem dieser modernen, aufgemotzten Kinos, nur recht klein. Einige Typen in Lederjacken hängen herum. Lulu geht zur Kasse und fragt nach vier Karten. »Die nächste Runde wird erst freigegeben, wenn pro Partei mindestens sechs Leute da sind«, erklärt die Kartenverkäuferin. »Und wieviele sind jetzt da?« »Mit Ihnen neun. Wollen Sie alle in eine Mannschaft?« »Ja, natürlich.« »Wenn Sie meinen, aber so natürlich ist das gar nicht. Viele Leute kommen gemeinsam her, um dann aufeinander zu schießen.« »Ahm.« Lulu kommt mit den Karten zu ihrem Trupp zurück. »Es kann noch eine halbe Stunde dauern, bis es losgeht. Die haben noch nicht genug Leute zusammen.« »Na gut, dann spielen wir«, schlägt Dödel vor und steuert auf ein Gerät zu, das aussieht wie das herausgesägte Cockpit eines Flugzeugs. »Hier, das ist eins der modernsten VR-Spiele aus Amerika!« ruft er. »Aus Japan«, berichtigt Stevie ihn. Er hat sofort gesehen, daß -157-
es sich bei der Kapsel um eine Sega R360 handelt. Die gleichen Dinger stehen in großen Vergnügungsparks. Dödel steigt ein, und bald beginnt das ganze Ding zu wummern und zu vibrieren. Es wirkt wie die Mischung aus einem Fahrzeug für Kinder, wie sie in Supermärkten herumstehen, und einem Flugsimulator zur Pilotenausbildung. Nach fünf Minuten ist Dödel wieder draußen. »Ich bin unbegabt für sowas«, klagt er. »Du solltest halt Doom nicht mit Cheats spielen, sondern lieber mal richtig üben«, meint Ulrike. Jetzt steigt sie in den Sessel und schnallt sich fest. Vor ihr befindet sich ein großer Bildschirm, auf dem nach Münzeinwurf der Weltraum erscheint. Unendliche Weiten. Sie ergreift die beiden Knüppel vor sich. Die sind zum Steuern und zum Schießen. Scho n geht’ s los. Vogonen von rechts, Klingonen von links. Ulrike ballert und wendet und fliegt, der Bildschirm vor ihr zeigt das entsprechende Bild, ihr Stuhl macht die entsprechenden Bewegungen, und wenn sie getroffen wird, wackelt und dröhnt die ganze Kabine. Selbstverständlich ist sie besser als der reaktionsschwache Dödel. Sie ist ja auch im wirklichen Leben immer auf 180, immer kampf- und fluchtbereit. Das Spiel hört gar nicht mehr auf, irgendwo am Rand wird ihre Punktzahl in unwahrscheinlicher Geschwind igkeit hochgezählt. Fast zwanzig Minuten bleibt sie in dem Gerät. Dann hat sie sämtliche Rekorde geschlagen, das Ding gratuliert ihr, die Vogonen stehen stramm, Luke Skywalker überreicht ihr eine Plakette, und ihr Sessel scheint sie gar nicht mehr gehen lassen zu wollen. Aber da ruft schon Lulu von draußen: »Leute, es geht los!« Zusammen mit einigen zweifelhaften Gestalten und einem schüchternen Pärchen stellen sie sich an, um ihre Rüstung und ihre Waffen in Empfang zu nehmen. Die Rüstung ist eigentlich -158-
genau das Gegenteil. Es handelt sich um eine Art Weste mit Sensoren und Sender. Nur Treffer auf die gekennzeichneten Flächen an Bauch und Rücken bringen Punkte. Die Treffer werden elektronisch registriert, genau wie beim Fechten. Außerdem sieht man an den farbigen Leuchtstreifen auf der Weste, zu welcher Gruppe der Träger gehört. Sie streifen sich die Gurte über, und der Kontrolleur guckt, ob alles richtig sitzt. Beim Reingehen drückt er jedem eine Laserpistole in die Hand. Dann geht es auf das Schlachtfeld. Die Arena ist eine ehemalige Montagehalle. Sie ist nur schwach erleuchtet. An der Decke hängt Diskozubehör, und auf dem Boden stehen einige große Pflanztröge. Aber das ist auch schon alles an Nahkampfatmosphäre, was das Laserdrome zu bieten hat. Als alle drin sind, ertönen über einen Lautsprecher noch ein paar Anweisungen. Man soll mit den Pistolen schießen und nicht hauen. Und die Pflanzen in Ruhe lassen. Dann wird die Tür geschlossen, das Licht noch mehr gedämpft. Technoklänge ertönen. »Ich hasse Techno«, mosert Ulrike. Die Redaktion steht immer noch in einer Gruppe zusammen. Doch schon bewegen die ersten Angreifer sich vorsichtig auf sie zu. Beim ersten feindlichen Schuß dreht Dödel sich um und gibt wilde Lichtblitze von sich. Dann taucht er und krabbelt um einen Blumentopf herum in die Dunkelheit. Von der anderen Seite wird Lulu angegriffen. Schon leuchtet die Lampe an ihrer Rüstung auf. Das bedeutet, sie ist für drei Minuten tot und kann solange nicht schießen. Ihr unbekannter Mörder läßt einen gedämpften Jubelschrei los. Jetzt ist Lulu sauer. Sie beschließt, sich eine möglichst gute Ausgangsposition für ihren Wiedereintritt ins Spiel zu suchen, und schleicht davon. Ulrike würde Lulus Tod gern rächen, aber sie kann keinen -159-
Gegner entdecken. Durch Pflanzen gedeckt, wie sie hofft, schleicht sie in die Mitte der Halle. Sie wird beschossen und gibt das Feuer zurück. Da, ein Treffer, der Gegner ist fürs erste lahmgelegt. Sie schleicht weiter. Hinten an der Wand steht ein Typ. Warum duckt der sich nicht? Der Typ steht mit dem Rücken zur Wand und hat die Arme vor der Brust gekreuzt. So eine Frechheit, der hat eine Jacke mit weiten Fledermausärmeln an, so daß sein gesamter Zielbereich verdeckt ist. Er ist unangreifbar. Aber wenn er auf Ulrike schießen will, muß er mindestens eine Hand hochnehmen. Sie geht hinter einem Kübel in Deckung, und versucht, darüber hinweg zu schießen wie John Wayne über eine umgekippte Pferdekutsche. Es klappt, der Kerl fühlt sich provoziert, zielt, und in dem Moment erwischt sie ihn. Schon zwei Treffer. Sie klopft sich in Gedanken auf die Schulter und beschließt, es ihrem Gegner nachzutun und fortan an der Wand zu bleiben. Dann ist sie wenigstens von einer Seite sicher. Auf diese Weise schleicht sie einmal um die ganze Halle herum, wieder zum Ausgang zurück. Wer steht denn da ganz unbeweglich neben der Tür? Einer von ihrer Gruppe. Stevie. Er hat sich anscheinend während der ganzen Runde noch keinen Schritt bewegt. Ulrike gleitet auf ihn zu. »Hey«, flüstert sie. Stevie zuckt zusammen, aber er rührt sich nicht. Sie ist nicht mal sicher, ob er sie erkannt hat. Sie legt ihm die Hand auf die Schulter. »Stevie, ich bin’s.« Sie fühlt, wie er zittert. Oh Gott, das hier scheint wirklich nichts für ihn zu sein. Sie hätten ihn nicht unter Druck setzen dürfen mitzukommen. »Stevielein, ich bleibe bei dir, o.k.?« flüstert sie. »Ich beschütze dich. Bleib einfach da stehen, ich stelle mich vor dich.« Und das macht sie dann auch. Sie stellt sich ganz dicht vor -160-
ihn. Stevie ist zwar einen ganzen Kopf größer als sie, aber seine Sensoren kann sie komplett verdecken. In der linken Hand hat sie die Waffe, mit der rechten tastet sie nach hinten. Stevies Pfote ist feucht und eiskalt. Und wo ist seine Pistole? Sie drückt seine Hand und fühlt, wie sein Kopf von hinten auf ihre Schulter sinkt. Ohne noch weiter Rücksicht auf etwaige Treffer zu nehmen, dreht sie sich zu ihm um. Sie drückt ihn, so fest sie kann. Und bleibt einfach so stehen. Er fühlt sich durchgeschwitzt an, obwohl er sich überhaupt nicht bewegt hat. Von hinten ballern irgendwelche Idioten auf sie. Ihre Rüstung zeigt an, daß sie tot ist. Na und, macht ja nichts. Sie drückt Stevie an sich und fühlt, wie sein Zittern langsam nachläßt. Schön. »Es ist bald zu Ende«, flüstert sie. »So bleiben«, flüstert es kaum hörbar an ihrem Ohr. Sie sieht hoch. Stevie hat einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Eine Mischung aus Trauer, Staunen, Zweifel, Schreck und Freude. Sie langt hoch, umfaßt seinen Kopf mit beiden Händen zieht ihn runter und küßt ihn. Damit vergrößert sie zwar sein Staunen, aber zum Glück nicht seinen Schreck. Kaum zeigt Ulrikes Rüstung an, daß sie wieder kampfbereit ist, wird sie erneut abgeschossen. Aber was macht das schon, es ist ein guter Moment zum Sterben. Und dann ist die Runde zu Ende, das Licht wird wieder etwas heller, die Türen neben Ulrike und Stevie öffnen sich. Alle Kampfteilnehmer stolpern an ihnen vorbei - Ulrikes Opfer, ihre Mörder und ihre Kollegen. Alle dampfen und haben riesige Schweißränder auf ihren Klamotten, als kämen sie aus einem richtigen Dschungelkampf. Ulrike und Stevie verlassen das Schlachtfeld als letzte. Die anderen haben draußen schon ihre Ausrüstung zurückgegeben und stehen jetzt Schlange, um die Ergebnisse in Empfang zu nehmen. Jeder Teilnehmer erhält eine Computerauswertung mit -161-
erschöpfenden Auskünften: persönliche Trefferzahl, Zahl der gestorbenen Tode, Abschneiden der eigenen Gruppe und persönlicher Rang unter allen Spielern. Am besten hat Dödel abgeschnitten. Und das, obwohl er so eine breite Zielscheibe abgibt. Naja, die Westen sind ja für alle gleich breit. Ulrike und Stevie wissen nicht, was sie sagen sollen. Die andern allerdings auch nicht. Sie haben die beiden natürlich gesehen, sie standen ja genau neben dem Ausgang. Schließlich fragt Dödel: »Sollen wir jetzt Pizza essen gehen?« »Gute Idee«, meint Lulu. Ulrike und Stevie nicken. Am Kartentelefon beim Eingang bestellt Lulu ein Taxi. Sie lassen Dödel vorne sitzen, weil er der Dickste ist. Aber trotzdem wird es hinten recht eng und Ulrike läßt sich halb auf Stevie drauf rutschen. Der legt seinen Arm um sie, und sie hat den Eindruck, daß seine Lebensgeister dabei sind zurückzukehren. Mal sehn, was die zu der Sache sagen. Beim Italiener überlassen die Andern Ulrike und Stevie kommentarlos die Bank, so daß sie wieder nebeneinander sitzen. Ulrike hofft, daß Dödel die Gelegenheit zu einer dreckigen Bemerkung ausnahmsweise verstreichen läßt. Sie versucht geradezu, ihn zu hypnotisieren. Es scheint zu wirken, alle vertiefen sich friedlich in die Speisekarte. Ulrike sieht Stevie an. Der ist etwas rot im Gesicht. Wenn sie es nicht schafft, heute noch irgendwann mit ihm allein zu reden, wird er morgen vermutlich aus lauter Schüchternheit so tun, als sei überhaupt nichts gewesen. »Wie war es eigentlich im UNIX-Kurs?« fragt Lulu in Ulrik es Gedanken hinein. »Ganz gut, ich glaube, daß es Sinn hat, wenn ich die nächsten paar Monate da hingehe. Dann kann ich im Sommer vielleicht ein UNIX-System in der Redaktion installieren.« »Dann könnten wir einen WWW-Server einrichten«, überlegt -162-
Lulu, »mit Screenshots von Spielen und Demos...« »Wieso, das haben wir doch jetzt schon in der Powerbox«, mischt Dödel sich ein, weil er seine Fälle davonschwimmen sieht. »Klar, aber World Wide Web ist doch viel imageträchtiger. Grafik, Mausbedienung, und man sieht und hört sofort alles, was man anklickt. Das ist einfach der Stand der Technik«, meint Ulrike. »Immer dieses Klickiklickibuntibunti.« »Jetzt reg dich nicht auf, wenn das System mal läuft, kannst du ja die Betreuung übernehmen, ich will das gar nicht machen.« Das scheint Dödel zufriedenzustellen. »Ach ja, Paulsen hat noch was von einer Party gesagt.« »Party?« fragt Lulu. »Ja, es soll eine 25-Jahre-UNIX-Party geben, in zwei Wochen. Dazu ist die ganze Redaktion eingeladen.« »Prima«, freut sich Dödel. Dann kommen die Pizzas und die ganze Redaktion mampft einträchtig vor sich hin. Dann fragt Lulu: »Und, wer schreibt jetzt den Bericht über das Laserdrome? Oder die Glosse oder das Editorial oder was immer?« »Stevie, du wolltest doch«, erinnert ihn Dödel kauend. Stevie sieht zu Boden. »Ich mach das«, erbietet Ulrike sich schnell. »Und, bist du dafür oder dagegen?« fragt Dödel mit einem mühsam kontrollierten Grinsen. Ulrike ist ihm dankbar, daß er wenigstens versucht, sich zu beherrschen. »Das wirst du dann schon lesen«, gibt sie zurück. Lulu merkt die Anspannung am Tisch, und sie weiß, wie sie -163-
die Mannschaft auf andere Gedanken bringen kann. »Habe ich euch eigentlich schon erzählt, daß ich Mail von McDonald habe?« Dödels Gabel bleibt in der Luft stehen. Er sieht schon wieder irgendwelche Felle schwimmen. Leise fragt er: »Und? Hast du seine Adresse?« »Leider nicht. Die Mailerei hat uns bisher im Prinzip nicht weiter gebracht.« Dödel atmet hörbar aus und schiebt sich befriedigt ein riesiges Stück Pizza in den Schlund. Das Interesse von Ulrike und Stevie an irgendwelchen wildfremden Hackklopsen hält sich vorübergehend in Grenzen. Gegen elf verlangt Lulu die Rechnung. Ulrike überlegt fieberhaft, was sie machen soll. Vor den andern kann sie nicht mit Stevie reden. Aber sie muß die Sache jetzt festklopfen. Jetzt oder nie. Sie muß ihm klarmachen, daß die Aktion im Laserdrome kein Versehen war. Lulu wäre nicht Lulu, wenn sie nicht merken würde, was in Ulrikes Kopf vorgeht. Wahrscheinlich weiß sie sogar, was in Stevies Kopf vorge ht. Und so fragt sie: »Sollen wir uns vielleicht auf zwei Taxis aufteilen, dann kommen wir schneller nach Hause.« »Gute Idee«, antwortet Ulrike wie aus der Pistole geschossen, »ich fahre mit Stevie.« »Was denkst du gerade?« fragt Ulrike, als sie mit Stevie im Taxi sitzt. Aber so einfach ist das natürlich nicht. Er guckt sie nur komisch an. »Willst du wissen, was ich denke?« »Ja.« »Ich denke, du bist süß.« Stevie guckt geradeaus. Sie versucht es von der anderen Seite: »Apropos süß, willst du -164-
bei mir noch einen Kaffee trinken?« Stevie rutscht eine Spur näher an sie heran und fragt: »Gibt es das wirklich? Ich habe immer geglaubt, das sei ein Klischee.« »Und?« »Ich weiß nicht.« »Also gut, vergiß den Kaffee. Aber wenn du morgen früh in der Redaktion mit deiner he ißen Schokolade an meiner Tür vorbei schleichst ohne rein zu gucken, dann komme ich rüber und lege dich über den Schreibtisch. Ist das klar?« Stevie guckt sie mit großen, dunklen Augen an. Seine Augen sind in den letzten Minuten wesentlich größer geworden. »Ja.« Sie macht eine Bewegung auf ihn zu, und er legt den Arm um sie. Aber da sind sie auch schon vor Ulrikes Haus angekommen, und es reicht nur noch für ein kurzes Bussi. Als Ulrike zu Hause ankommt, ist sie viel zu aufgewühlt, um ins Bett zu gehen. Sie hat sich in Stevie verliebt, soviel ist klar. Aber was weiter? Ist ihm so ein Monster wie sie überhaupt zuzumuten? Ulrike zieht ihr Schlaf-Sweatshirt und Skisocken an und setzt sich vor den Rechner im Wohnzimmer. Ohne nachzudenken ist sie zwei Minuten später im IRC. Und zwanzig Sekunden später ist Stevie auch da. ‹Uli› ich wollte dir nur gute Nacht sagen. ‹Stevie › Ja, ich dir auch. ‹Uli› Also schlaf schön. Bussi. ‹Stevie › Ich glaube nicht, daß ich +schlafen kann. ‹Uli› Dann träum schön. ‹Stevie ›Ja. ‹Uli› Und morgen reden wir weiter. ‹Stevie › Bussi. Natürlich kann Stevie die ganze Nacht nicht schlafen. Er liegt -165-
mit geschlossenen Augen wach und hat Streß. Morgen früh muß er sich irgendwie verhalten. Aber wie? Um Dödels dumme Bemerkungen wird er so oder so nicht herumkommen - egal, wie es weitergeht. Aber was, wenn ihn Ulrike nur auf den Arm genommen hat? Im Bauch fühlt er, daß das nicht sein kann. Aber seinen Kopf kann er davon noch nicht so richtig überzeugen. Schließlich schläft er ein. In einem gräßlichen Alptraum erscheint Ulrike ihm als Roboter. Er träumt nicht in Bildern, sondern in Texten. Sie rollen vor seinem Auge vorbei wie beim Mudden. Am Mittwoch morgen ist Ulrike die erste, wie meistens. Als nächstes kommt Dödel und verzieht sich sofort an seinen Rechner. Ulrike drückt die Tasten, die sie drücken muß, um ihre Mail zu lesen, aber was da steht, kriegt sie nicht mit. Dann endlich erscheint Stevie. In jeder Hand einen dampfenden Becher fragt er: »Guten Morgen, darf ich reinkommen?« »Hallo.« »Ich dachte, du willst vielleicht auch mal eine«, sagt er und stellt die Becher mit heißer Schokolade auf ihrem Schreibtisch ab. »Oh danke. Setz dich doch.« Stevie drückt sich auf die Fensterbank. Ulrike fragt sich, was sie jetzt sagen soll. Sie weiß ja selbst noch nic ht, was daraus werden soll. Und wenn sie irgendwie das Wort »Beziehung« fallen läßt, kriegt der Kleine möglicherweise gleich wieder ‚nen Schock. Genau das findet sie ja so niedlich an ihm. Sie steht auf, geht rüber und legt den Arm um seinen Nacken. Jetzt muß sie nur noch was Passendes sagen. Doch da ergreift überraschend Stevie die Initiative. Indem er tief Luft holt. Stevie hat sich nämlich über Nacht etwas vorgenommen. Genauer gesagt, er hat einen Satz auswendig gelernt. Denn preßt er jetzt mühsam mit geschlossenen Augen raus: »Ich glaube, ich hab’ dich lieb.« -166-
Ziemlich altmodisch für die neunziger Jahre. Aber was soll man auch sonst sagen? Sie umarmen sich und bleiben einfach so stehen beziehungsweise sitzen. Die heiße Schokolade hat sich längst in eine lauwarme Schokolade verwandelt, als sie endlich getrunken wird. Lulu liest gerade eine Pressemitteilung über das Spiel »Princess Maker«. Auf den ersten Blick scheint es so ähnlich angelegt zu sein wie Life. Man adoptiert ein zehnjähriges Mädchen und muß dann sehen, daß man sie anständig groß kriegt. Man muß sie gesund ernähren, sonst kriegt sie Diabetes. Wenn man sich zu wenig um sie kümmert, wird sie kriminell, und wenn man sie zuviel Schularbeiten machen läßt, stirbt sie an Streß. Man kann ihr verschiedene Jobs beschaffen und sie bei Überarbeitung ins Sanatorium schicken. Der Hersteller wirbt tatsächlich damit, daß eine virtuelle Tochter weniger kostet als eine echte. Auf sowas können auch nur Japaner kommen. Kopfschüttelnd legt Lulu das Papier weg. Ihr Telefon klingelt. »Hallo, hier ist Burgerking.« Die Stimme kennt sie. Dackel, der Idiot. Klar, der war am letzten Samstag da, und hat bei der Gelegenheit wohl die ganze Geschichte mitgekriegt. Vielleicht hat er gelauscht, als sie sich im Konfi mit Paulsen unterhalten haben. Oder Dödel hat es ihm erzählt. »Du bist und bleibst ein Schwachkopf«, sagt sie zu ihm. »Willst du sonst noch was?« »Ich wollte fragen, ob ihr ein paar Jobs für mich habt.« »Erst, wenn du der letzte freie Autor auf diesem Planeten bist«, giftet sie und weiß, daß es nicht stimmt. Denn Dackel ist zwar ein Idiot, aber er macht den Job schon so lange, daß sogar er ein paar Grundregeln begriffen hat. »Ich melde mich, wenn ich was habe. Servus.« Damit legt sie auf und fegt schnurstracks in Dödels Büro. Schon auf dem Flur beginnt sie die Unterhaltung: »Dödel, -167-
deinen Burgerking kannst du dir an die Backe kleben! Es war dein sauberer Freund...« Als sie mit ihrer Tirade zur Tür hereinkommt, versucht Dödel gerade hektisch, ein riesiges Blatt Papier verschwinden zu lassen. »...Dackel, und das hättest du dir eigentlich denken können.« Jetzt ist sie direkt neben Dödels Stuhl angekommen. Schnell stopft er das sperrige Riesenblatt in den Papierkorb und blickt panisch hoch. Die Telnet-Verbindung steht noch, auf dem Schirm scrollen die MUD-Botschaften. Er muß Lulu unbedingt davon abhalten, auf den Bildschirm zu sehen. »Ach Dackel«, sagt er, »hattest du nicht mal was mit dem?« Lulu guckt, als hätte sie in einen Hundehaufen getreten. »Sogar ich mache Fehler. Aber du machst mehr Fehler.« »Hat er seine Cowboystiefel wenigstens im Bett ausgezogen?« »Jetzt reicht es aber. Versuchst du, mich von irgendwas abzulenken? Was treibst du hier eigentlich die ganze Zeit? Und was hast du da in den Papierkorb gestopft? Und was ist das da auf deinem Bildschirm?« »Äh...« Lulu zieht das Blatt aus dem Papierkorb. »’Schule ’, ‚Friedhof’, ‚Clone-Fabrik ’, was ist das denn?« »Das ist der Lageplan von NeuroWar.« »Und warum zum Geier muddest du hier während der Arbeitszeit? Noch dazu, wo Stevie den MUD-Artikel schreibt und nicht du?« Dödel beschließt, die Flucht nach vorn anzutreten. »Das ist das MUD, in dem McDonald spielt, wenn du es genau wissen willst.« »Toll, und warum hast du uns das nicht erzählt?« -168-
»Ich wollte ihn allein schnappen.« »Du wolltest als der große Held dastehen.« »Natürlich. Wer will das nicht? Besonders, wo du wegen Life so sauer auf mich warst.« »Und, wie hast du dir das jetzt vorgestellt? Wie wolltest du weiter vorgehen?« »Ich weiß nicht, mit McDonald im MUD sprechen. Das habe ich aber noch nicht geschafft. Ich muß erst einen Level höher sein, damit ich in seine Gang rein kann.« »Ich dachte immer, du hättest keine Ahnung von MUDs.« »Das kann man ja lernen.« »Auf jeden Fall werden wir jetzt mal ein Brainstorming machen. Über das weitere Vorgehen. Hol mal die Anderen in den Konfi. Ich bin in fünf Minuten da.« Stevie und Ulrike hocken immer noch in Ulrikes Zimmer und trinken lauwarme Schokolade. Als Dödel sie holen kommt, machen sie sich gleich auf den Weg. Im Konfi ergreift Lulu das Wort: »Unser lieber Dödel hat euch was zu sagen.« »Ja, ich habe McDonald gefunden. Joachim Paulsen hat mir von einem neuen Cyberpunk-MUD erzählt, das erst seit zwei Wochen läuft: NeuroWar. Und da habe ich ihn gefunden. Ich habe dort die letzten zwei Tage gespielt. Aber ich weiß noch nicht, wie uns das weiterbringen soll.« Alle sind platt. »Hast du mit ihm gesprochen?« fragt Stevie. »Nein, er hat die Talkline immer abgestellt, und ich habe es noch nicht geschafft, gleichzeitig mit ihm in einem Raum zu sein. Und shouten wollte ich nicht.« »’Shouten’, da geht die deutschen Sprache hin«, meint Lulu. »Was für ein MUD ist es denn überhaupt?« fragt Stevie. -169-
Er will wissen, zu welcher MUD-Familie NeuroWar gehört. Da gibt es nämlich verschiedene Zweige, die auf verschiedenen Libraries, gemeinsam genutzten Programmroutinen, basieren. Diese Libraries bestimmen die grundsätzlichen Aktionsmöglichkeiten in einem MUD. Sie werden von den Wizards und Gods bei der Programmierung neuer Räume und Monster genutzt. »Keine Ahnung. Mit Waffen und Quests halt.« Stevie lacht. »Das sagt mir natürlich alles.« Dödel wird langsam sauer. »Was interessiert dich das überhaupt? Das ist meine Baustelle.« »Du weißt ja noch nicht mal, was für eine Art MUD das ist. Wie willst du da irgendwas reißen? Hör zu: Ich werde in das MUD einsteigen.« Alle starren ihn verwundert an. So einen Ton ist man von dem sanften Stevie überhaupt nicht gewohnt. Nach einer Schrecksekunde brüllt Dödel: »Jetzt reicht’s mir aber! Kaum hast du es geschafft, eine Kollegin umzulegen, schon führst du dich auf wie Mad Max! Dir ist wohl der Saft zu Kopf gestiegen! Was willst du denn da drin erreichen, was ich nicht kann?« Stevie ist bei Dödels Ausbruch dunkelrot angelaufen. Für Lulu wird es Zeit zum Eingreifen. »Schluß mit dem Unfug. Mal im Ernst: Stevie, was könnte es bringen, wenn du deine kostbare Arbeitszeit in diesem MUD verbringst?« »Das kann ich erst sagen, wenn ich es mir angeguckt habe. Es kommt drauf an, was für ein MUD das ist. Vielleicht kann man mit McDonald Kontakt aufnehmen, vielleicht kann man irgendwelche Bugs im Spiel ausnutzen, vielleicht müßte man auch mit den Gods reden.« »Mit wem?« »Na mit den Erbauern der Welt.« -170-
»In NeuroWar heißen die aber Scientists«, gibt Dödel grantig sein frisch erworbenes Wissen zum Besten. »Hm, und wie lange würde es dauern, bis du sagen kannst, ob uns dieses MUD irgendwie weiterbringt?« »Schwer zu sagen.« »Also gut. Von mir aus guck es dir an. Aber ich will nicht, daß das Heft darunter leidet.« »O.k.« »Und falls du irgendwelche eiligen Jobs hast, die die andern nicht übernehmen können, übergib sie von mir aus dem Schwachkopf Dackel. Aber möglichst in der Mittagspause, wenn ich nicht da bin.« »Und ich?« fragt Dödel. »Du gehst wieder an die Arbeit, ganz einfach. Meinst du, ich kann von vier Redakteuren zwei entbehren? Also ab.« »He, aber ich habe McDonald entdeckt. Ist das vielleicht nichts?« »Anfängerglück«, meint Ulrike bissig, die Dödels Angriff auf Stevie gar nicht lustig fand. »Und jetzt soll ich Stevie wahrscheinlich auch noch meine Aufzeichnungen und Captures geben.« »Wäre nicht schlecht. Aber ich komme auch ohne klar.« »Komm halt mit, Superhero.« Kurze Zeit später hat Stevie Dödels Unterlagen überflogen. Auch die überdimensionale Karte, die bereits im Papierkorb gelandet war, hat er, so gut es ging, entknittert und vor sich auf dem Tisch ausgebreitet. Die wird er allerdings nur die erste halbe Stunde brauchen. Auch ein räumliches Vorstellungsvermögen kann manchmal zu etwas nütze sein. Anstatt Dödels Spielfigur zu übernehmen, beginnt Stevie ganz von vorn. Was MUD-Anfänger Dödel in zwei Tagen erreicht -171-
hat, wird er in zwei Stunden schaffen. Er gibt seiner Spielfigur den Namen Revenger und tritt aus der Clone-Fabrik auf die Straße. Er geht in die Schule, wie Dödel es ihm gesagt hat. Doch dann ist er erstmal geschockt. Die Monster hier sind keine Drachen und bösen Bergriesen, sondern Menschen! Hoffentlich wird es in den oberen Leveln besser, sowas wie kill child kann er einfach nicht tippen. Stevie begibt sich auf den Friedhof, holt sich eine Ausrüstung aus dem Automaten und macht sich daran, die Nightbreeder auszurotten. Er hat keine Ahnung, was Nightbreeder sein sollen, wahrscheinlich so eine Art Zombies. Hauptsache, keine Menschen. Zunächst hat er wenig Erfolg, doch dann findet er in einem Grab ein Amulett und legt es sofort um. Das scheint eine ganz gute Schutzwirkung zu haben, die Schläge der Monster haben nicht mehr so eine verheerende Wirkung und er muß nicht mehr so schnell flüchten. In zwei Anläufen schafft er den ersten Nightbreeder. Dann bringt er eine Krähe, eine Taube und noch einen Nightbreeder um die Ecke. Zwei Stunden später ist er bereit für Level 2. Stevie sieht, daß sich McDonald inzwischen eingeloggt hat. Wie stark der wohl ist? Und von wo er anruft? Stevie geht zu dem Gildehaus, wo man seinen Level erhöhen kann. Kaum ist er Level 2, da tippt er wieder who. Und siehe da, jetzt kann er nicht nur die Namen, sondern auch die Level der anderen Spieler sehen. McDonald ist einer der höchsten: McDonald the Computer Science Engineer, Level 14. Und er ist tatsächlich ein Mitglied der Hacker-Gang. Stevie macht sich auf den Weg zum Hackerhauptquartier. Dort muß Revenger irgendwas unterschreiben, und schon läßt der Türsteher-Roboter ihn ein. Er sieht sich um. Im Hauptquartier gibt’s eine Waffenkammer, sehr praktisch. Und einen Pub. Die Sachen, die man da kaufen kann, beschleunigen die Heilung nach einem Kampf. Stevie nimmt sich die besten Sachen aus der Waffenkammer, die seine schwache Spielfigur tragen kann: eine -172-
Laserpistole und eine Cyberweste. Das ist schonmal Klassen besser als der lächerliche Plastikhut und die Eisenstange, die der Automat für ihn ausgespuckt hat. Jetzt ist es an der Zeit, die Gegend zu erkunden. Eine Methode zu finden, möglichst schnell seine Punktzahl zu erhöhen. Dödel sitzt stinkesauer an seinem Chaosschreibtisch. Den Inhalt der Müllsäcke hat er längst wieder gleichmäßig im Zimmer verteilt. Er beschließt, sich abzureagieren, ruft Dackel an und macht ihn zur Sau. Das hilft etwas. Aber noch nicht ganz. Er überle gt, wen er noch dumm anreden könnte. Stimmt, da ist dieser komische Pressesprecher, der sich immer so ziert, wenn es um Testspiele geht. Jetzt ist die Firma in Schwierigkeiten. er könnte sich nach den Übernahmegerüchten erkundigen und den Knaben fragen, wie es um sein Weihnachtsgeld steht. Leider ist der Typ nicht da. Also holt Dödel sich seinen Anteil an der heutigen Snail-Mail. Vielleicht ist da was Aufheiterndes dabei. Jeden Tag schleppt der Postbote schwitzend einen Riesenberg Pressemitteilungen und Testspiele die Treppe zur Redaktion hinauf. Der Haufen wird von Tina grob vorsortiert, und die Redakteure holen sich ihren Stapel im Laufe des Tages bei ihr ab. Dödels Anteil ist heute ungefähr dreißig Zentimeter hoch. Da man das Zeug sowieso nicht alles lesen kann, hat er schon vor längerer Zeit ein komplexes Auswahlverfahren entwickelt. Während er an geraden Tagen alle Pressemitteilungen wegwirft, die nichts mit Sex zu tun haben, entledigt er sich an ungeraden Tagen aller Pakete, die leichter als hundert Gramm sind. Während er noch in dem holzvernichtenden Hochglanzstapel nach einer Aufheiterung sucht, klingelt irgendwo das Telefon. Sein Telefon. Irgendwo unter dem Papier, den leeren Hamburgertüten und dem völlig undefinierbaren Müll muß es sein. Vielleicht hätte er es in Sicherheit bringen sollen, bevor er die Müllsäcke auf den Schreibtisch entleerte. Da gibt’s nur eins: Dödel geht zur Wanddose und verfolgt von da das Telefonkabel. -173-
Wie befürchtet, führt es mitten in den Biberbau auf seinem Schreibtisch hinein. Ein Ruck - und er hat das Kabel in der Hand. O.k., ein Wink des Schicksals. Heute wird nicht mehr gearbeitet. Dödel beginnt das ehrgeizige Projekt, sich bis zum Feierabend durch sämtliche pornografischen Newsgroups zu lesen. Gegen eins steckt Ulrike den Kopf in Stevies Zimmer. »Wie ist es, gehen wir mittag essen?« »Das ist jetzt schlecht«, antwortet er abwesend. Ulrike guckt ihm über die Schulter. Sie registriert, wie elegant seine Finger über die Tasten fliegen. Überraschend schmale, lange Finger. Ähnlich wie die von Harald Schmidt. 23 Uhr ist die Zeit, wo sie oft den Fernseher anschaltet. Aber der Schmidt ist ja ein Computerphobiker, der läßt sich sogar seine Mails ausdrucken zum Lesen. Stevies Hände tippen rasend schnell, konzentriert und präzise. Rachmaninow. Am Bildschirm scrollt eine Kampfszene vorbei. Ein gewisser Revenger kämpft mit einem Mutanten. Er schafft ihn aber nicht in einem Anlauf und muß bei 10% Gesundheit Reißaus nehmen, um sich zu heilen. Revenger trinkt schnell hintereinander mehrere Flaschen Bier, die er wohl genau zu diesem Zweck vor der Monsterhöhle deponiert hat. Als er wieder voll fit ist, geht er zurück in den Gulli, in dem der Mutant sitzt. Stevie tippt: look at mutant, und das Spiel meldet beruhigend: Mutant is in very bad shape. Das heißt, daß das Monster von dem vorangegangenen Kampf stark mitgenommen ist. Zum Glück haben die NPCs kein heilendes Bier zur Verfügung. Stevie stürzt sich wieder in den Kampf. Und tatsächlich, kurze Zeit später erscheint auf dem Bildschirm die Meldung: Mutant has died. You killed Mutant. »Und? Hast du schon was rausgefunden?« »Nur, daß es ein Lp-MUD ist.« »Und was bedeutet das?« »Hm.« Stevie ist voll in Anspruch genommen. -174-
»Und, wann gehen wir essen?« »Hm, kannst du mir nicht was mitbringen? Ich bin gerade so gut in Fahrt und habe gerade gute Waffen. Wenn Revenger länger als eine halbe Stunde nichts macht, wird er rausgeworfen und verliert alles.« »O.k., was willst du denn haben?« »Pizza Thunfisch.« »O.k., bringe ich dir.« Etwas traurig zieht Ulrike ab und geht mit den andern zum Italiener. Auch Dödel läßt sich grummelig überreden. Prompt kommt dann, was kommen muß. Dödel fragt: »Wie darf man das verstehen, bist du jetzt mit Stevie zusammen?« Wenigstens hat er nicht gleich nach dem Stand der Intimitäten gefragt. »Wozu mußt du das wissen? « »Naja, damit ich nichts falsch mache.« »Du hast doch schon genug falsch gemacht.« »Hm, tut mir leid. Aber nur wegen dir, nicht wegen ihm.« »Auf solche Entschuldigungen kann ich verzichten.« »Dann halt nicht.« Als Ulrike Stevie seine Pizza bringt, ist er bereits Level 3. »Und? McDonald schon gesichtet?« fragt sie ihn. »Ja, er ist online, hier.« Er macht who und zeigt ihr die entsprechende Zeile. »Hm, der ist ja schon Level 14.« »Ja, aber vielleicht kann ich ihn einholen.« »Wie das denn?« »Also früher hatten die Libraries von Lp-MUD mal Bugs drin. Die habe ich vor ungefähr drei Jahren entdeckt.« »Ja und?« »Wenn man bestimmte Sachen tat, kriegte man ganz einfach -175-
Punkte. Und vielleicht sind diese Bugs auch hier noch drin.« »Und wie kannst du das rausfinden?« »Ich muß eine Stelle finden, wo die betreffenden Routinen eingesetzt werden.« »Hm, da kannst du ja lange suchen.« »Wozu soll das überhaupt gut sein?« »Weiß ich noch nicht.« »Jetzt iß erstmal deine Pizza.« »Ja gleich, ich schlachte noch diesen Schleimbeutel hier und esse die Pizza, während ich heile. Das heißt, während mein Character auch eine Pizza ißt.« Stevie hat sich inzwischen einen Teleporter zugelegt. Mit ihm kann er sich von jedem Punkt im MUD direkt ins Hackerhauptquartier teleportieren. Der Teleporter gehört zu den Ausrüstungsgegenständen, die nur Hacker erwerben können. Im Gegensatz zu den normalen Gegenständen im MUD, die man findet oder irgendwelchen Monstern abnimmt, bleiben diese Sachen der Spielfigur auch bei einem Reset erhalten. Ein Reset bringt alle Gegenstände im Spiel wieder in Ausgangsposition, es erfolgt ungefähr alle 36 Stunden. Stevie killt noch schnell einen mutierten Discjockey, nimmt ihm seine Plattensammlung ab und teleportiert sich ins Hauptquartier. Dort begibt er sich in den Pub und läßt Revenger eine Pizza bestellen. Dann macht er sich an seine eigene. Er speist gemeinsam mit seiner virtuellen Repräsentation. »Ich hatte dir vor ein paar Tagen im IRC mal einen Tee angeboten«, beginnt Ulrike. »Stimmt, da wollte ich nicht.« »Und, meinst du nicht, daß es jetzt an der Zeit wäre, das Angebot anzunehmen?« »Ja.« so eine Art zögerndes Strahlen breitet sich auf Stevies Gesicht aus. -176-
»Gehen wir nachher zusammen zu mir?« »Ja gut, dann sehe ich zu, daß ich hier jetzt noch eine Ecke weiterkomme.« Und damit schickt er Revenger wieder hinaus in die feindliche Welt. Ulrike gibt ihm noch ein Bussi auf die Wange. »Bis später dann.« Sie geht in ihr Zimmer und macht sich daran, noch ein paar Netzwerkspiele zu installieren. Sie fragt sich, was dieser McDonald für ein Typ ist. Was man wohl machen müßte, um sein Vertrauen zu gewinnen? Ulrike arbeitet den ganzen Nachmittag wie besessen. Sie schreibt die Tips und Tricks für die nächste Ausgabe und sortiert zu diesem Zweck Leserbriefe und mails. Daraus zu schließen, gibt es immer noch Leute, die sich mit Myst abmühen. Lulu sitzt über ihrem Editorial. Sie fragt sich, was sie über den Cyberspace schreiben soll. Da gibt’s so viel, aber sie muß ja über die Spieleecke kommen. Außerdem wurde das meiste schon tausendmal gesagt und geschrieben. Alle möglichen Zeitschriften machen sich seit Jahren ein Hobby daraus, das Internet zu promoten. Immer noch tobt der Kampf zwischen Anarchie und Kommerz. Lulu hofft, daß es am Ende Platz für beides geben wird. Ja, das ist vielleicht der Aufhänger: Ohne Spaß und Spiel keine Kunden und kein Kommerz. Denn zum Glück kann kein Mensch gezwungen werden, sich irgendwelche stinklangweiligen WWW-Seiten mit häßlichen Anzeigen anzusehen. WWW, das World Wide Web, ist die Erfindung, die das Internet bunt und laut macht. Mit einem entpsrechenden Frontend, wie zum Beispiel Netscape, kann man sich nicht nur Texte übers Netz holen, sondern auch Bilder, Sounds und sogar Filme sofort angucken und anhören. Viele Firmen stellen heute bereits Informationen auf solchen WWW-Seiten zur Verfügung. Der Computerhersteller Sun war Vorreiter und profiliert sich seit Jahren mit den Ergebnissen von Olympiaden und -177-
Fußballmeisterschaften. Das habe sich schon 1994 rund 50.000 Leute am Tag angeguckt. Der Playboy bietet - na was wohl. Da gehen die täglichen Abfragen schon locker in die Millionen. Lulu selbst holt sich öfters Filmkritiken, Informationen über Urlaubsländer, Wettervorhersagen oder Zeitschriftenartikel aus dem WWW. Aber blöde Anzeigen? Keine Chance. Um sechs geht Ulrike rüber zu Stevie. Die ganze Zeit hat man nichts aus seinem Zimmer gehört. »Na, wie ist es?« Stevie hackt wild in die Tasten. »Moment.« Er ist erst sieben Stunden am Stück online, das ist fast nichts. »Wir könnten zum Griechen gehen und dann bei mir Tee trinken.« »Hm.« Noch mehr Gehacke. »Hast du keinen Hunger?« »Was?« Stevie ist gerade ganz woanders. In einem unterirdischen Gängesystem, wo hinter jeder Ecke ein übelriechender Zombie lauern kann. Er muß höllisch aufpassen, denn er hat den Wimpy-Modus abgestellt. Ulrike sieht ein, daß hier im Moment nichts zu wollen ist. »O.k., ich mach’ noch ein bißchen mit meinem Artikel weiter und gucke dann in einer Stunde wieder rein. O.k.?« »Hm? Ja.« Etwas frustiert tritt sie den Rückzug an. Da hat man mal eine Beziehungskiste, und dann kriegt man den Deckel nicht zu. Ulrike hat überhaupt keine Lust mehr zu arbeiten. Sie will jetzt mit Stevie kuscheln. Wofür sonst das ganze Theater? Aber die Mudderei ist immerhin ein offizieller Arbeitsauftrag von Lulu. Überhaupt, eigentlich ist Lulu schuld. Ulrike begibt sich ins Büro der Chefredakteurin. Nicht, um sich zu beschweren, sondern, um sich zu unterhalten. -178-
»Na, wie geht ’s?« fragt Lulu. »Ich weiß nicht so genau.« Lulu weiß, was Ulrike damit meint. »Stevie ist ein lieber Kerl«, antwortet sie. »Ja.« »Muddet er noch?« »Leider.« In diesem Moment klingelt das Telefon. Lulu nimmt ab. »Ah, du bist es.« Ulrike bemerkt, daß in Lulus Gesicht die Farbsättigung hochgedreht wird. Dann redet sie auc h noch englisch. »Was soll ich? Nein, das geht doch nicht. Also wirklich. Ja, es ist wirklich nett von dir. Nein, es ist nicht unverschämt. Aber ich kann nicht. Wirklich nicht. Gegenfrage: Wann kommst du denn mal wieder nach Deutschland? Hm. Ja gut. Ich me lde mich. Bye bye.« »Aufdringliche Millionäre sind ja nun wirklich das Letzte«, grinst Ulrike, als Lulu aufgelegt hat. »Hör bloß auf.« »Na gut, dann gehe ich jetzt mal gucken, ob ich Stevie nicht zurück aus der Zukunft holen kann.« »Aber er ist doch im Auftrag des Herrn unterwegs.« »Egal, jetzt ist Feierabend.« »Hallo Stevie, jetzt hör doch mal auf.« War was? Ah ja, Ulrike. »Ja gleich.« Stevie hat inzwischen eine wichtige Entdeckung gemacht. Er hat einen Bug gefunden. Und zwar einen sehr vorteilhaften. Er hat zwar von Anfang an gewußt, daß es diese fehlerhafte Routine in den Lp-Libraries gibt. Aber dieses Wissen war solange nutzlos, bis er eine Stelle im Spiel fand, wo sie von den Programmierern verwendet wurde. Diese Stelle hat er jetzt -179-
entdeckt. Es ist ein Brunnen, tief unten in den Katakomben unter der Stadt. Wenn man aus dem Brunnen trinkt, heilen die Wunden schneller. Das ist sein offizieller Nutzen. Aber Stevie kennt den Zweitnutzen: Wenn man oft genug hintereinander aus dem Brunnen trinkt, bekommt man dafür Punkte. Einfach so, ohne Kampf. Dieser Trick klappt in jedem Level genau einmal. Und jedesmal erhält man ungefähr 50 Prozent der Punkte, die man braucht, um in den nächsten Level aufzusteigen. Das bedeutet, mit dem Brunnen kann Stevie ungefähr die Hälfte der Spielzeit einsparen. Er ist jetzt Level 5. Morgen abend kann er Level 10 sein. Und übermorgen stärker als McDonald. Natürlich nur theoretisch. Denn der wird ja nicht gerade auf ihn warten. »Jetzt gib mir erstmal einen Kuß«, fordert Ulrike. Den kriegt sie. Etwas feucht. »Und? Gehen wir jetzt was essen oder gleich zu mir? Wir könnten uns auch was bestellen, Döner oder Sushi oder so.« »Laß mich erstmal mein Geld auf der Bank einzahlen und die Waffen in die Waffenkammer bringen.« »O.k.« Stevie geht zum Shop und verkauft die Wertgegenstände, die er unterwegs aufgesammelt oder diversen Monstern abgenommen hat. Dann zahlt er die Dollars auf sein virtuelles Bankkonto ein. Davon kann er im Notfall Waffen kaufen, wenn in der Hacker-Waffenkammer mal nichts vorrätig ist. Zum Schluß gibt er seine Waffen in der Waffenkammer ab und loggt sich aus. Theoretisch hätte er die Waffen auch verkaufen können, aber das wird in diesem MUD als schlechter Stil betrachtet. Dann fahren sie mit der U-Bahn zu Ulrike. Die Fahrt dauert nur eine Viertelstunde, und bald stapfen sie die Treppen in dem Altbau hoch. Ihre Wohnung liegt unterm Dach, die Schrägen geben der Behausung etwas Gemütliches, obwohl sie nicht sehr gemütlich eingerichtet ist. Im Wohnzimmer dominiert der große -180-
Schreib-Eß-Computertisch. »Gefällt mir«, meint Stevie, wortkarg wie immer. »Da bin ich aber froh. Willst du Tee?« »Ja, gerne.« Ulrike geht in die kleine Küche, wo ein großer Haufen unabgewaschenen Geschirrs herumsteht. Stevie folgt ihr. Sie fragt: »Sag mal, du hat dich jetzt einen ganzen Tag in diesem MUD rumgetrieben. Hast du inzwischen eine Strategie?« »Naja, nicht so richtig. Ich habe mir gedacht, ich werde mich mal hochspielen. So hoch wie McDonald.« »Und was soll das nutzen?« »Ich weiß noch nicht, aber vielleicht kann ich dann mit ihm reden. Von gleich zu gleich sozusagen. Vielleicht nimmt er mich dann zur Kenntnis.« »Ich weiß nicht. Außerdem: McDonald ist doch Profi. Der ist doch schon Supermegaseniorkämpfer oder sowas. Kann das nicht Wochen dauern, bis du ihn eingeholt hast?« »Nein, ich nutze ja diesen Bug aus. Ich kann es in ein oder zwei Tagen schaffen.« »Hm, aber in der gleichen Zeit spielt McDonald doch auch weiter.« »Das stimmt schon, ich hoffe, es ist trotzdem keine Endlosschleife.« »Hm.« Ulrike hat eine Erleuchtung. »Mit mir würde er bestimmt viel eher reden. » »Wieso?« »Naja, wenn ich als Female spiele...« »Du meinst, du willst...« »Klar, ich gehe als Sexy-Amazone ins MUD und bitte den großen, starken McDonald um Hilfe. Wenn er nicht schwul ist, -181-
fällt er drauf rein. Vielleicht kann ich ihn ein bißchen aushorchen. Und außerdem: Während er mit mir quatscht, kann er keine Monster schlachten. Und du kannst besser aufholen.« »Hm.« »Jeder Typ fällt online auf Frauen rein. Sogar auf nachgemachte.« Stimmt, von Fakes hat sogar Stevie schon gehört. Die Geschichten sind allgemein bekannt. In seinem Buch »Virtuelle Gemeinschaft« kolportiert Howard Rheingold die Geschichte von dem MUD-Spieler, der sich in eine Mitspielerin verliebte. Auch zu einigen anderen Spielern hatte Sue engen Kontakt. Sie gab ihnen ihre Adresse, weit weg in einem anderen Staat. Sie schrieb den Mitspielern lange Briefe, nicht Mails, sondern richtig auf Papier. Sie legte Fotos von sich bei. Der Verliebte schickte ihr Rosen. Sie bedankte sich. Er machte ihr einen Heiratsantrag. Sie lehnte ab. Und eines Tages verschwand sie spurlos aus dem MUD. Daraufhin fuhr eine Abordnung von MUD-Spielern zu der angegebenen Adresse, über zweitausend Kilometer. Als sie an der Haustür klingelten, öffnete ihnen eine Frau. Sie sagten: »Hallo, wir wollen Sue besuchen.« Und die Frau sagte: »Der Name von Sue ist leider Steve. Und der sitzt im Moment wegen Unterschlagung im Knast. Ich bin seine Frau.« So was passiert im Cyberspace alle Tage. »Meinst du, das bringt was?« fragt Stevie zurückhaltend. »Natürlich, wie sollst du ihn einholen, wenn er spielt wie ein Wahnsinniger? Ich werde ihn aufhalten. Für dich. Hm, unsere Beziehung fängt irgendwie komisch an.« »Ist es denn eine Beziehung?« »Das will ich doch hoffen. Aber gleich am ersten Tag läßt du mich für irgendwelche Monster stehen, und ich biete dir an, mich einem fremden Mann an den Hals zu schmeißen. Der Tee ist fertig. Nimm mal die Tassen.« Nebenbei fragt Ulrike sich, ob Stevie wohl nackt besser -182-
aussieht als in seinen beuteligen Klamotten. Vielleicht wird sie demnächst mal mit ihm einkaufen gehen. Sie setzen sich auf das kleine Zweiersofa mit der etwas schmuddligen Patchworkdecke, das in der hintersten Ecke in Ulrikes Wohnzimmer steht. Das Teegeschirr kommt auf die naheste Ecke des großen Tisches. »Erinnerst du dich an unsere IRC-Chats?«, fragt Ulrike. »Sicher.« »Du hast mir von deiner Flucht aus dem Real Life erzählt.« »Ja, ins MUD.« »Hast du keine Angst, daß du jetzt wieder mudsüchtig wirst?« »Nein.« »Hm. Ich würde dich auch zurückholen.« »Eben.« »Und zwar so.« Sie kitzelt ihn an den Rippen. Er kreischt. Das ist gut. Ulrike mag kitzelige Männer. »Sag bloß, du bist kitzelig.« »Neinein«, keucht er, »kein bißchen.« »Gut, dann kann ich ja auch das machen.« Und damit krabbelt sie unter seinen Achseln. Stevie quietscht, windet sich und fällt vom Sofa. Ulrike legt sich dazu. »Ich ergebe mich«, jappst Stevie. »Prima«, meint Ulrike und beginnt, ihn auszuziehen. Kurze Zeit später hat sie ihren Wissensdrang bezüglich Stevies Aussehens befriedigt und scheuert sich auf dem Teppichboden die Knie wund. Stevie macht keine Anstalten, sie davon abzuhalten. Im Gegenteil. Dann liegen sie nebeneinander unterm Tisch. »War das jetzt besser als MUD-Sex?« fragt Ulrike. -183-
»Keine Ahnung.« »Wie?« »Naja, im MUD habe ich immer nur geflirtet.« Ulrike guckt ihn ungläubig an. Geflirtet? Stevie? Sie hat gedacht, der wüßte überhaupt nicht, was das ist. »Ahja, du teilst dir das also auf. Flirten im MUD und...« »So habe ich das noch gar nicht betrachtet.« »Auf jeden Fall gefällt mir die Aufteilung so besser als umgekehrt.« »Dann ist ja gut.« Beide lachen. Ulrike beginnt, ihre Klamotten zusammenzusuchen. Der Schweiß ist verdampft, und ihr ist kalt. »Und was machen wir jetzt?« fragt sie. »Mmmmmmm.« Stevie wirkt noch etwas mitgenommen und kriegt die Augen nicht richtig auf. Er sieht aus wie ein freundlicher Mehlwurm in einem Disneyfilm: weiß, ohne Muskeln, aber irgendwie niedlich. »Sollen wir online gehen?« »Wieso?« »Du könntest mir die wichtigsten Sachen in NeuroWar zeigen. Aber erstmal bestell’ ich uns Pizza.« »Au ja.« Als Hacker ist er solche kalorienzehrenden Beschäftigungen nicht gewohnt, und sein Magen knurrt. Als der Pizzamann kommt, liegt Stevie immer noch nackt unterm Tisch. Während Ulrike ihr Geld rauskramt, hofft sie, daß der Lieferant ihn von der Tür aus für ein Eisbärfell hält. »Hey Schmatzipuffer, Pizza ist da.« »SchmatziWAS?« »Egal, es gibt jetzt Pizza.« -184-
Stevie steigt wieder mehr oder weniger in seine Klamotten, und sie machen sich über die Kalorienbomben her. Dann schaltet Ulrike ihren Rechner an und sie richten Ulrike einen Account in NeuroWar ein. »Wie willst du den heißen?« fragt Stevie. Im MUD kann sie sich natürlich nicht »Uli« nennen, da muß schon was Schmissigeres her. Ein weiblicher Name, den jeder Cyberpunk kennt. »Hm, entweder Molly oder 3Jane. Ich glaube Molly ist mir lieber, ich mag keine Kopie sein.« Stevie zeigt ihr, wie sich Newbies aus dem Automaten mit Waffen versorgen können, und hilft ihr, schnell in Level 2 zu kommen, damit sie in die Hackergilde eintreten kann. Naja, was heißt schnell, als sie den Rechner ausschalten, ist es drei Uhr nachts. Dafür weiß sie jetzt fast alles über Lp-MUDs im allgemeinen und NeuroWar im Besonderen.
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8. Kapitel Daß Ulrike und Stevie am Donnerstagmorgen gemeinsam in der Redaktion auftauchen, kommt ungefähr so unauffällig wie die Love Parade. Und das liegt nicht nur daran, daß die beiden erst gegen elf dort aufschlagen. »Fröhliches Mudden«, wünscht Ulrike Stevie und verabschiedet ihn mit einem Kuß vor ihrem Zimmer. »Jetzt ist es ja wohl offiziell«, meint Dödel, der - natürlich rein zufällig - gerade aus seiner Tür rausguckt. Tina, die gerade auf dem Gang Pakete packt, guckt den beiden sehnsüchtig nach und läßt dann einen tiefen Seufzer in Richtung Dödel los. Sogar Lulu meint: »Ich dachte immer, daß Stevie nur seinen Computer liebt.« »Und ich dachte immer, daß Ulrike nur ihren Lötkolben liebt«, gibt Dödel zurück. Lulu sieht ihn mißbilligend an und verschwindet wieder in ihrem Büro. Die anderen beiden sind eh schon an die Arbeit gegangen. Sie haben verabredet, daß sie nie gleichzeitig in NeuroWar auftauchen wollen, sondern immer in unauffälligem Abstand. Außerdem muß Ulrike heute auch noch ein bißchen arbeiten, während Stevie ja offiziell zum Mudden freigestellt ist. Kurze Zeit später ruft Stevie aus seinem Zimmer bei Ulrike an: »McDonald hat sich gerade eingeloggt.« »O.k., dann habe ich jetzt meinen großen Auftritt.« Ulrike schreibt noch den Satz zu Ende, dann loggt sie sich ein. Sie hofft, daß McDonald ab und an mal einen Blick auf die Spielerliste wirft. Oder soll sie einfach laut um Hilfe rufen? Da es in Amerika noch früh am Tag ist, sind insgesamt nur zwanzig Spieler online. Davon sieben Hacker, und einer davon ist Revenger. Stevie hat ihr gezeigt, mit welchem Befehl sie einen Schrei loslassen kann, den nur die anwesenden Hacker hören. -186-
Also tippt sie: lshout Hi hackers, who would show me around? Und schon erhält sie lauter Angebote auf der Hacker-Line: [Hackers] Pumpkin says: Molly, team with me in the HQ. [Hackers] Sniper says: Molly, I’in in the pub, have a beer with me. [Hackers] Gandalf says: Molly, tune to 486 MHz for a little chat. Nur der sture McDonald rührt sich nicht. Na gut, dann wird sie eben über Bande spielen. Sie sucht sich den stärksten der zuvorkommenden Hacker aus, Pumpkin. Der ist immerhin Level 13. Sie tippt ihm, daß sie im Hauptquartier auf ihn wartet. Pumpkin erscheint sofort. Offensichtlich hat er einen Teleporter. Sie tippt: say hi Pumpkin. Und dann: look at Pumpkin. Während sie noch tippt, erhält sie die Meldung: Pumpkin looks at you. Bei ihr gibt’s noch nicht viel zu sehen, nur die paar Sachen, die sie mit sich herumträgt. Aber Pumpkin wird als groß und stark beschrieben, mit blonden Haaren und blauen Augen. So eine Art Wikinger. Außerdem steht da, daß er sehr intelligent zu sein scheint. Das heißt vermutlich, daß er bereits alle Quests im Spiel gelöst hat. Pumpkin fragt sie, ob er ihr zu Exps verhelfen soll, damit sie schnell ein bißchen stärker wird. Das wäre natürlich nicht schlecht, und vielleicht kann sie ihn bei der Gelegenheit über McDonald ausfragen. Als erstes gibt er ihr aus der Hacker-Waffenkammer eine Maschinenpistole und eine imaging vest. Er erklärt, daß das so ziemlich die beste Ausrüstung ist, die man hier haben kann. Sie zieht die Weste an und nimmt die MP in beide Hände. Es ist eine beidhändige Waffe. Dann bilden sie ein Team, indem Pumpkin team Molly eingibt und Ulrike team Pumpkin. Dann marschiert Pumpkin los, und Molly folgt ihm automatisch. Unterwegs fragt sie ihn, wer der stärkste Hacker im MUD ist. Etwas neidisch gibt Pumpkin zu, daß das eindeutig McDonald -187-
ist. Sie fragt, wie lange der schon spielt. Pumpkin antwortet, daß McDonald wohl schon seit dem ersten Tag dabei ist. Und daß er sehr schweigsam ist. Er spricht fast nie mit den anderen Spielern. Sie fragt, ob McDonald auch nicht mit Frauen spricht. Das weiß Pumpkin nicht, da es sehr wenige Frauen in NeuroWar gibt. Kein Wunder, das Spiel scheint ja mehr was für Leute mit Testosteron-Überschuß zu sein. Oder mit Hackenschuß. Pumpkin führt Ulrike vor den Eingang eines interessant aussehenden Hauses. Davor steht ein Bodyguard. Ulrikes Monsterchecker zeigt an: Bodyguard is extremely deadly. Aber Pumpkin greift den Kerl unerschrocken mit seinem Superstriker an. Auf seine Anweisung hin tippt auch Ulrike: kill bodyguard. Gemeinsam schaffen sie das Monster, und die Punkte werden gerecht geteilt. Gerecht heißt, daß Pumpkin wesentlich mehr kriegt, weil er als der Stärkere auch mehr Anteil an dem Sieg hatte. »Wir können auch versuchen, dir den nächsten Kill allein zu geben«, erklärt er ihr. »Dann müssen wir das Team aufheben, und du greifst erst an, wenn das Monster schon fast am Boden ist. Ich gehe dann raus, und du hast den Kill. Das ist allerdings ziemlich gefährlich, sogar mit Wimpy Modus.« »O.k., versuchen wir’s«, antwortet Ulrike per Tastatur. Ihr ist es Wurst, ob sie stirbt, da sie sowieso keinen Ehrgeiz hat, hier irgendwas zu werden. Und so kommt es, daß sie bald genug Punkte hat, um die nächsten zwei Level zu überspringen. »Du bist die schnellste Frau im Universum«, meint Pumpkin. Auch Stevie hat mitgekriegt, was läuft. Schließlich kann er mit who sehen, daß sie bereits Level 4 ist. Er ruft sie im Real Life an und meint: »Du hast wohl einen Gönner gefunden.« »Leider noch nicht den richtigen«, gibt sie zurück. Plötzlich erhalten beide die Meldung: [Hacker-Info] McDonald stashes all his Stuff. -188-
Das heißt, daß er alle seine Waffen im Hauptquartier abgibt, weil er vorhat, das Spiel zu verlassen. »Schnell, bring mich ins Hauptquartier«, bittet Molly ihren Beschützer. Pumpkin ist ein echter Kavalier, er benutzt seinen Teleporter, und da Molly mit ihm im Team ist, wird sie gleich mit teleportiert. The Hacker’s Headquarter. Pumpkin and McDonald are here. Ulrike tippt: say Hi McDonald, how’s it going? Auf ihrem Bildschirm erscheint: You say: Hi McDonald, how’s it going? McDonald says: fine, thx. nice pace, btw. McDonald hat also mitgekriegt, daß sie gerade ihren Level dreimal hintereinander erhöht hat. Thx, tippt sie, I would like to learn from the best hacker in town. McDonald says: You would like to go with me? You say: Sure. McDonald says: Well, hv to run rite now, but can do tomorrow. You say: Great! When? McDonald says: 10 a.in. WST 10 Uhr Western Standard Time, das ist 7 Uhr abends, doch, das paßt gut. You say: u mean on friday? McDonald says: no, Thursday, this evening. You say: Great, I’ll be there. cu! McDonald says: bibi Molly verabschiedet sich gebührend von Pumpkin, der schon ganz neidisch ist, dann loggt sie sich aus und rennt zu Stevie -189-
rüber. »Wir haben’s geschafft!« ruft sie. »Was, wieso?« »Ich bin heut abend mit McDonald verabredet. Dann wickel’ ich ihn dermaßen ein, daß er nicht mehr weiß, wo vorn und hinten ist. Jetzt scheint er erstmal irgendwas zu tun zu haben.« »Vielleicht will er auch nur ins Bett, bei dem ist es jetzt ja morgens halb fünf.« »Stimmt auch wieder. Und was ist mit uns? Gehen wir jetzt essen?« »Nein, ich mache lieber weiter.« »Also wieder Thunfischpizza to go?« »Ja, bitte.« Ulrike guckt bei Dödel rein, ob der vielleicht mit zum Essen kommt. Die Geschichte mit dem flirtkurs ist längst zu den Akten gelegt, weder Ulrike noch Dödel sind nachtragend. Aber auch er ist gerade schwer beschäftigt. Er testet ein Spiel, das er soeben übers Internet direkt vom Autor aus Amerika bekommen hat. Das Spielziel besteht darin, einen animierten bunten Penis durch ein Labyrinth zu steuern. Dabei gilt es, Ex-Ehefrauen und ElvisDarsteller zu umschiffen, Männlichkeitssymbole wie automatische Waffen und Dollarscheine aufzusammeln und selbstverständlich - die Sexobjekte zielsicher zu penetrieren. Einige davon sind sogar Frauen, aber zumindest in diesem Spiel sind die anderen Objekte viel interessanter. Zum Beispiel das Ferkel, das so niedlich quiekt. Gute Spieler erhalten Bonuspenisse, das gibt’s sonst auch nirgends. »Willst du auch mal?« fragt Dödel, als Ulrike neugierig auf seinen Bildschirm guckt. »Danke, ich hab’ schon, ich wollte eigentlich essen gehen.« Das macht ihn für einen Moment sprachlos, doch dann rafft er sich auf. Da Lulus Tür geschlossen ist, ein Zeichen für »Bitte -190-
nicht stören«, gehen sie zu zweit zum Italiener um die Ecke, der eigentlich zum Redaktionsbüro ehrenhalber ernannt werden müßte. Lulu telefoniert mit Daniel. Sie hat ihm erzählt, daß es mit Riesenschritten vorwärts geht, daß sie den bevorzugten Hangout von McDonald gefunden haben. Doch Daniel benimmt sich, als sei es ihm völlig egal, was mit seiner Firma passiert. Es ist, als hätte er Lulus Ressentiment gegenüber Millionären mitbekommen und würde jetzt alles daransetzen, die seinen in den Sand zu setzen. »Vergiß McDonald, komm mich lieber besuchen. Wir fahren zusammen nach Disney World.« »Ausgerechnet.« »Oder ich komme rüber, und wir fahren nach Eurodisney.« »Hm.« »Dieses Wochenende.« »Also wirklich.« »Also abgemacht.« »Was heißt abgemacht, ich weiß nicht.« »Wir treffen uns morgen nachmittag am Flughafen München. Oder ich komme dich in der Redaktion abholen.« Lulu gibt auf. Könnte doch ein ganz nettes Wochenende werden. Und einen Bericht über Eurodisney kann sie für das übernächste Heft auch ganz gut gebrauchen. Das Heft wird also nicht unter ihrem ausflug leiden, im Gegenteil. »Also gut, sag mir, wann die Maschine nach Paris geht.« »Die Maschine geht um 16 Uhr, wir treffen uns um 15 Uhr am Air France Schalter. Die Tickets habe ich schon hier.« »Du scheinst ja ganz schön von dir überzeugt zu sein.« »Nein, ich kann sie zurückgeben.« »Also bis morgen, ich freue mich.« -191-
»Ich freue mich noch viel freuer.« Lulu seufzt. Auf was hat sie sich da eingelassen? Aber wenn sie es nicht gemacht hätte, würde sie es vielleicht ewig bereuen. Manchmal muß man auch spontan sein. Und nett wird’s bestimmt. Als Ulrike Stevie seine Thunfisch-Pizza bringt, quittiert er sie lediglich mit einem Nicken und hackt dabei weiter in die Tasten. Zeit zum Essenfassen ist eben nur in den Kampfpausen. Ulrike verzieht sich. Sie hat am Nachmittag Leserdienst. Wie immer macht sie ratlose Adventure-Spieler glücklich, indem sie sie an ihrem profunden Wissen teilhaben läßt. »Ich habe schon fünf Frauen befriedigt, aber jetzt komme ich nicht weiter, weil Larry keine Badehose hat.« »Hast du die Sonnenbrille?« »Ja.« »Dann guck nochmal in das Etui. Da ist ein Putztuch drin.« »Ja, hab’ ich.« »Gut. Hast du schon die Zahnseide geklaut?« »Klar.« »Dann klickst du einfach die Zahnseide auf das Putztuch. Larry näht sich dann eine Badehose.« »Super, danke!« Von Stevie hört und sieht sie den ganzen Nachmittag nichts. Auch Lulu scheint in ihrem Zimmer schwer beschäftigt zu sein. Nur aus Dödels Chaoshöhle tönen ab und zu Schreie des Triumphs oder Klagelaute der Niederlage. Das sind die Momente, in denen er Schwierigkeiten hat, seinen Spielzeugpenis zu steuern. Um sechs geht Ulrike rüber zu Stevie, um nach ihm zu sehen. »Hallo«, sagt sie leise von der Tür her, um ihn nicht zu erschrecken. -192-
Stevie ist völlig ins Spiel vertieft. Revenger ist mittlerweile ein Experienced Hacker der Stufe 8 und steht in Kontakt mit einigen anderen Spielern, die seine Fortschritte bewundernd verfolgen. Den Trick mit dem Brunnen hat er ihnen natürlich nicht verraten, wäre ja schlecht, wenn das McDonald zu Ohren käme. Aber bestimmt hat mindestens einer der Scientists sowieso mitgekriegt, was er da treibt. Wer weiß, vielleicht ist sogar schon jemand dabei, den willkommenen Bug zu beheben. Also sollte er ihn ausnutzen, solange es diese Möglichkeit gibt. »Geht’s gut?« fragt Ulrike. »Hm? Ja.« »Wie lange willst du denn heute spielen?« »Hm? Weiß nicht. Lange.« »Mein Held.« Sie gibt ihm einen Spaßkuß auf die Wange. »Hmmm.« »Ich sehe schon, ich bin hier überflüssig. Happy gaming.« »Nein, warte!« »Was denn?« »Nicht böse sein, ich mach’ das hier doch für die Firma. Wenn es vorbei ist, küssen wir uns zwei Wochen lang. O.k.?« »O.k.« Wieder in ihrem Zimmer, überlegt Ulrike, ob sie nach Hause gehen soll oder nicht. Wenn sie ihre Verabredung mit McDonald hier in der Firma wahrnimmt, ist sie näher bei Stevie und kann sich außerdem besser mit ihm abstimmen. Das sind zwei Punkte fürs Office. Also bleibt sie da. Zu tun gibt’s schließlich genug. Um sieben loggt sie sich in NeuroWar ein. McDonald ist noch nicht da. Molly begibt sich zum Hacker-Hauptquartier und wartet. Aus Langeweile liest sie sich einige der Notizen durch, die die Hacker dort ans schwarze Brett gehängt haben. Doch die sind mehr oder weniger uninteressant, es geht um neue -193-
Gegenden, die es zu erforschen gilt, und um ein Angebot zur Zusammenarbeit von der Gang der Inquisitors. Zehn Minuten später kommt die Meldung: [Hacker-Info] McDonald has just logged in. Und da ist er schon. Ganz höflich entschuldigt sich McDonald, daß er sie warten ließ. »Das macht doch nichts«, antwortet Molly. »Und, was machen wir jetzt? Brauchst du Exps?« »Nein, das hat keine Eile.« Wäre ja noch schöner, wenn sie ihn zum Kämpfen anstacheln würde. Sie will schließlich genau das Gegenteil erreichen. »Du könntest mir die interessantesten Plätze im Spiel zeigen. Oder mir einfach ein bißchen was erzählen.« »Ja gut. Aber nur, wenn du mir auch was von dir erzählst. Zum Beispiel, wie alt du bist.« Das ist immer die erste Frage bei Online-Konversationen. Nein, die zweite. Die erste ist normalerweise MORF, also »Male Or Female?«. »Ich bin 27 und du?« »30« »Und was machst du?« »Ich bin Programmierer. Und du? Studierst du?« Programmierer kommt hin. Ulrike entschließt sich, ihre Identität etwas zu verändern. »Ja, ich studiere Elektrotechnik.« »Aber du bist sicher, daß du ein Mädchen bist?« »Mehr oder weniger.« »Also gehen wir.« McDonald führt Molly zunächst in ein Haus nahe dem Stadtzentrum. Hier hausen irgendwelche Teufel, die offensichtlich die Macht haben, den Raum zu krümmen. Wenn -194-
man einmal nach Süden und gleich wieder nach Norden geht, ist man keineswegs da, wo man vor zwei Zügen war. Sondern ganz woanders und meistens genau vor dem Schlund eines ekligen Ungeheuers. Es ist richtig unheimlich, obwohl Ulrike in Wirklichkeit gemütlich in ihrem Büro sitzt und die Teufel nur verbale Beschreibungen am Bildschirm sind. Und sie außerdem in absoluter Sicherheit ist, weil McDonald sie beschützt. Aber das allein ist vielleicht schon unheimlich genug. Die einzelnen Teufel bringen nicht viele Punkte, aber wenn man sie alle schafft und dann wieder aus dem Labyrinth herausfindet, gibt es Extrapunkte. Damit hat man nämlich einen Quest gelöst, in diesem Fall die Aufgabe, irgendeinen armen Mann zu rächen, dessen Familie von den Teufeln verschleppt wurde. McDonald zeigt Ulrike die Tricks, wie man sich in dem nichtlinearen Labyrinth zurechtfindet. Aber sie sagt, sie werde es später versuchen, wenn sie noch etwas stärker sei. Das hätte sie besser nicht gesagt. Als nächstes führt McDonald sie zu einem Hubschrauberlandeplatz. Der Hubschrauber bringt sie in den fernen Osten der Stadt. Hier stehen keine Ruinen wie im Zentrum, sondern hübsche Einfamilienhäuser, anscheinend nach dem Krieg gebaut. »Wer hat diese Gegend gebaut?«, fragt Ulrike. »Irgendwelche Scientists. In diesem MUD heißen die Wizards Scientists.« »Und was gibt’s hier Besonderes?« Doch in dem Moment sieht sie es auch schon: Nach der Beschreibung zu urteilen, ist es eine Art Godzilla, ein Riesenmonster, das durch die Straßen geht und alles platt macht, was ihm in den Weg kommt. Uberzork heißt das Monster. »Das Vieh legen wir jetzt zusammen um«, erklärt McDonald ihr, »das bringt 30.000 Exps.« Hm, schlecht, genau sowas sollte sie ja verhindern. -195-
»Ich möchte lieber nicht«, tippt sie, »können wir nicht etwas Gemütlicheres machen? Gibt’s hier keinen Ort, wo man sich nur in Ruhe unterhalten kann?« »Das ist doch langweilig, dafür bin ich nicht hier.« »Ich erzähle dir auch alles, was du über mich wissen willst.« »Und du meinst, das ist interessanter als 30.000 Exps.?« »Auf jeden Fall.« »Gut, dann gehen wir ins Hotel.« »In welches Hotel?« »Es gibt nur ein Hotel in NeuroWar. Da kann man Zimmer mieten. Zu zweit.« Ulrike hat schon davon gehört, daß es in vielen MUDs irgendwelche Hinterzimmer gibt, in denen zwei Spieler allein sein können. Und daß das, was sie da treiben, der Fertigkeit im Einhandtippen ungeheuer förderlich ist. Ulrike denkt an Stevie im Nebenzimmer und an die Diskussion neulich im IRC. Stevie hätte bestimmt was dagegen, wenn er wüßte, was sie alles anstellt, um McDonald vom Punktesammeln abzuhalten. »Hm, gibt’s da auch Sekt?« tippt sie. »Wir können uns im Pub was kaufen«, antwortet McDonald. Also gehen sie mit Umweg über den Pub ins Hotel. Dort gibt es fünf Zimmer. Zwei sind besetzt. Die Zimmer sind ziemlich teuer, aber McDonald hat reichlich Geld dabei; er fragt nach dem besten Zimmer im Haus. Der chinesische HotelinhaberRoboter an der Rezeption empfiehlt Suite Nummer 4, nimmt das Geld entgegen und händigt ihrem Begleiter einen Schlüssel aus. »Rauchen im Zimmer verboten«, ermahnt er die beiden noch. Sie gehen durch einen Flur und die Treppe hoch. McDonald schließt das Zimmer mit der Nummer 4 auf. Die Zimmerbeschreibung enthält alles, was man braucht, um es sich gemütlich zu machen: einen Kamin mit leise knackendem Feuer, eine kleine Sofaecke mit weichen Kissen, Holztäfelung und -196-
chinesische Leuchter an den Wänden, eine Flasche Champagner in einem Kühler... Interessant, das bedeutet, ihr Kavalier war vorher noch nie in diesem Hotel. Sonst hätte er gewußt, daß es auf den Zimmern Sekt gibt. McDonald schenkt die bereitstehenden Gläser voll und reicht eins an Molly weiter. Sie tippt: drink champagne, und auf dem Bildschirm erscheint die Meldung: You feel the champagne in your veins and in your brain. You get into that flirtatious mood... Naja, wenn der Computer das sagt.... Also fragt sie McDonald, ob er eine Freundin hat. »Nein.« »Warum nicht?« »Ich bin häufig umgezogen in letzter Zeit.« Darauf würde Ulrike wetten. »Es liegt also nicht an deinem Aussehen?« »Mein Aussehen ist o.k., und wie siehst du aus? Ulrike beschreibt sich wahrheitsgemäß: dunkelblond, Pferdeschwanz, 1,72, 60 kg, blaue Augen. »Ich sehe dich,« behauptet er. »Und du, wie siehst du aus?« McDonald says: Like your average american neighborhood maniac. Also wie der durchschnittliche amerikanische Wahnsinnige aus der Nachbarschaft. Klingt eigentlich gut. »Sounds good. Und was machen wir jetzt?« »Ich hab’ keine Lust, mich weiter über mich zu unterhalten. Du hast die Wahl. Wir können uns über dich unterhalten, oder wir können Sex machen.« »Ich habe das noch nie gemacht. Im MUD meine ich.« »Es ist ganz einfach. Wir machen das Licht aus, und dann -197-
sehen wir nur noch, was wir tippen. Wir können machen, was wir wollen.« Ulrike versteht. Normalerweise kann man sich im MUD zum Beispiel nicht nackt ausziehen. Wenn jemand look at Molly eingibt, sieht er immer eine angezogene Molly. Aber im dunklen Zimmer wird genau das zur Wahrheit, was sie selbst über sich tippt. »Also gut. Gehen wir ins Bett.« Molly setzt sich auf das Bett und McDonald knipst das Licht aus. Er setzt sich neben sie und zieht am Reißverschluß ihres Overalls. Er kennt natürlich das Buch Neuromancer und weiß, wie Molly angezogen ist. Sie fragt ihn, was er an hat. Er erklärt ihr, daß er eine schußfeste Kevlar-Weste und eine passende Hose trägt. Typische Cyberpuncklamotten. »Und darunter?« fragt sie ihn. »Darunter nichts.« »Scheuert der grobe Stoff nicht ganz gewaltig an deinen Weichteilen?« Er zieht seine Weste aus und behauptet, daß darunter ein völlig unbehaarter, muskulöser Oberkörper zum Vorschein kommt. Ulrike steht auf unbehaarte Männer. Und ein paar mehr Muskeln als Stevie wäre ja nun auch nicht verkehrt. Sie stellt sich seinen Body vor. Wie Mel Gibson vielleicht? Dann hat er auch einen knackigen Arsch. »Zieh die Hose aus, ich will deinen Hintern sehen«, tippt sie. McDonald tut ’s. Er steht jetzt nackt vor ihr. Sie tippt: »Du siehst aus wie Mel Gibson.« »Magst du Mel Gibson?« »Ja.« Sie steht vom Bett auf und geht zum Angriff über. McDonald says: Horny bitch! -198-
Dann läßt er sich nach hinten auf das Bett fallen. Molly entledigt sich ihres Overalls. McDonald lutscht an ihrem Busen. Sie küßt ihn. Ulrike fühlt sich inzwischen so beschwipst, als hätte sie den Schampus wirklich ge trunken. Sie tippt, daß sie nach unten guckt, und stellt sich vor, wie wohl der Schwanz von Mel Gibson aussieht. Eine angenehme Vorstellung. Ihr wird ganz warm um die Mitte rum, und das teilt sie McDonald mit. Sie Sache mit dem Einhandtippen kann sie inzwischen gut nachvollziehen. Aber sie beschließt, doch lieber beide Hände auf der Tastatur zu lassen. Schließlich kann jeden Moment Stevie ins Zimmer kommen. McDonald taucht mit dem Kopf zwischen ihre Beine ab und beschreibt, was er dort treibt. »Wie fühlt sich das an?« fragt er. You say: Gooood. McDonald says: You want the real thing now? You say: Yeah, give it to me. Sie bumst also mit McDonald in ihrem Büro. Ein Glück, daß sie so viele englische Bücher liest. Hier braucht man Wörter, die man nicht in der Schule lernt. Ulrike stellt fest, daß Männer im MUD so oft können, wie sie wollen. Dann liegen sie nebeneinander auf dem Bett und er fragt: »War es gut für dich?« Fast wie im richtigen Leben. Sie fragt sich, ob er einhändig getippt hat. Dann fragt sie ihn. McDonald asks: What do you think? You say: I think yes :-) McDonald says: U r right :-) Ulrike guckt auf die Uhr. Schon halb zehn. Sie läßt Molly das Licht im virtuellen Hotelzimmer anknipsen, damit Meldungen von außen wieder durchkommen. Dann guckt sie nach, ob Revenger noch online ist. Ja natürlich, da ist er. Nach dem MUD-Abenteuer mit einem Unbekannten, der möglicherweise -199-
aussieht wie Mel Gibson, hat sie Stevie gegenüber jetzt fast ein schlechtes Gewissen. Sie muß an die Diskussion neulich im IRC denken. Wie war das, »If you don’t put it in, it ain’t cheating«. Aber damit ist im Prinzip die Frage noch nicht beantwortet. Zählt virtuelles - äh dings - nun mit oder nicht? »He, was machst du da? Das Licht blendet mich.« »Ich habe Hunger«, antwortet sie, »gibt’s hier irgendwo was zu essen?« »Ja, da gibt’s das Restaurant am Ende des Universums.« »Was?« »Naja, am Rande der Stadt. Aber es heißt so.« Kein Wunder, das ist wahrscheinlich der bekannteste Restaurantname der Hacker-Welt. »Gut, gehen wir essen.« Sie verlassen das Hotel, nicht ohne den Schlüssel wieder abzugeben, und machen sich auf den Weg zum Restaurant am Ende des Universums. Die Esserei ist nicht sehr spannend; man kann nur bestellen, das Zeug angucken und es essen. Dann ist es weg. Auf einen Bissen. »Von wo bist du online?« fragt sie McDonald. »Bist du von der Polizei?« »Wieso, wirst du gesucht?« »Wie kommst du denn darauf?« »Beantwortest du jede Frage mit einer Gegenfrage?« »Sagte ich nicht, daß ich Jude bin?« »Wie lange wollen wir das noch weiter treiben?« »Woher soll ich das wissen?« »Also gut, nochmal von vorn. Ich bin nicht von der Polizei.« »Und ich werde nicht gesucht.« »Also wo bist du?« -200-
»In Berlin.« »Berlin welcher Staat?« Ulrike hat keine Ahnung, wieviele Berlins es in den USA gibt. Ob eins davon in der Nähe von L.A. liegt? »O.k., andere Frage, hast du auch schon in anderen MUDs gespielt?« »Ja, vor einiger Zeit in einem Fantasy-MUD, aber es hat mich angeödet.« »Und was hast du dann gemacht?« »Ich habe ein bißchen Schwung in die Bude gebracht.« So nennt man das also, wenn man unschuldige Mitspieler in die ewigen Jagdgründe schickt. Ungefähr so wie Arnold Schwarzenegger, wenn er in True Lies den auf der Rakete seines Harrier-Jets sitzenden Gangster abschickt, mit den Worten: »Du bist gefeuert.« »Aha.« »Willst du noch eine Pizza?« »Nein, danke. Ach ja, was hast du eigentlich für einen Job?« »Ich sagte doch schon, ich bin Programmierer.« »Ja, aber bei was für einer Firma?« »Ist doch egal.« »Es interessiert mich aber.« »Also gut, zuletzt war ich bei einer Spielefirma.« Oh Göttin, jetzt ist sie wirklich auf der richtigen Spur. Naja, dafür mußte sie auch mit dem Verdächtigen ins Bett gehen, wie eine echte Spionin. Einen Moment überlegt Ulrike, ob sie ihr Cover aufgeben und ihn gerade heraus fragen soll, was er in das Spiel von Gemstone Games eingebaut hat. Aber nein, das hätte keinerlei Aussicht auf Erfolg. Und sie würde Stevies Mission gefährden. »Und warum bist du jetzt nicht mehr dort?« -201-
»Weil es Arschlöcher sind.« »Haben sie dich rausgeschmissen?« »Nein, ich bin gegangen, weil sie keinen Sinn für Kreativität hatten.« Etwas geschönt, aber warum sollte er auch ehrlich zu ihr sein. »Und jetzt mag ich nicht mehr über mich reden.« »Gut, reden wir über mich. Was willst du wissen?« »Hast du einen Boyfriend?« »Ich dachte, ich hätte einen. Aber er ist MUDsüchtig.« Das ist natürlich gelogen, aber damit hat sie McDonald zu verstehen gegeben, daß allzu intensives Mudden sich negativ auf ihre Sympathie auswirkt. »Oh i c. Spielt er hier in NeuroWar?« »Nein. Dann wäre ich nicht hier.« Kleine Notlügen erhalten die Deckung. »Gehen wir noch ein wenig spazieren?« »Ja gut, was möchtest du denn sehen?« »Ich weiß nicht, vielleicht eine Gegend, in der es nicht so blutrünstig zugeht.« »NeuroWar ist ein blutrünstiges MUD. Deshalb spiele ich ja hier.« »Hast du soviel Frust, den du abreagieren mußt?« »Vielleicht.« »Dann zeig mir die gefährlichsten Ecken. Aber ohne Kampf.« Und unter McDonalds Schutz spaziert Ulrike an den gefährlichsten Monstern der Stadt vorbei. Sie lernt den grünen Punk kennen, die mutierten Muskelprotze im Fitneßzentrum und die schleimigen Kraken in der Kanalisation. Sie fragt McDonald nach den besten Kampftechniken gegen die jeweiligen Gegner aus. Und natürlich speichert sie alles mit. Für Stevie. Ulrike ist eine gute Spionin. Und geil ist es obendrein. -202-
Ihr Telefon im wirklichen Leben klingelt. Stevie ist dran: »Du scheinst ja gut klarzukommen mit McDonald.« »Ja, er zeigt mir gerade die besten Monster. Du kannst nachher die Files haben.« »Super. Ich will jetzt langsam Schluß machen. Mir tun schon die Handgelenke weh.« Stimmt, Stevie muddet jetzt ja seit - wieviel Stunden? Es ist halb zwölf. Also über dreizehn Stunden. »O.k., ich verabschiede mich nur noch von McDonald. Kommst du wieder mit zu mir?« »Klar, gerne, wenn ich darf.« »Sicher.« Ulrike sagt McDonald, daß sie gehen muß. »Macht der Computerraum zu?« Ach ja, er denkt natürlich, daß sie in einer amerikanischen Uni sitzt und nicht in einer deutschen Redaktion. »Ja, leider. Bis morgen.« »C u.« Ulrike loggt sich aus und schaltet den Computer ab. Während sie ihren Mantel anzieht, überlegt sie sich, wieviel sie Stevie von ihrem virtuellen Ausflug erzählen soll. Nein, von dem Hotel wird er nichts erfahren. Sie weiß ja, wie Stevie über Cybersex denkt. Für ihn besteht kein Unterschied zwischen RL und VR. Warum sollte sie ihn beunruhigen. Schließlich ist ihr klar, daß sie mit einem Typen wie McDonald im Real Life garantiert nicht klarkommen würde. Naja, zumindest nicht lange. Zu stark, zu frei. Es ist wie mit den Filmen vo n Arnold Schwarzenegger: Ulrike kennt sie alle und guckt sie immer wieder an. Aber nicht, weil sie auf den heldischen Arnie steht. Sondern weil sie gern so wäre wie er. Vermutlich der gleiche Grund, aus dem Männer in die Filme rennen. Und aus dem die meisten Frauen da nicht so drauf stehen. Bei Ulrike angekommen, machen sie sich Spiegeleier mit -203-
Ketchup. Und dann fragt Stevie, ob er noch ein bißchen online gehen darf. Das Ganze endet damit, daß Ulrike um eins allein ins Bett geht, während Stevie die Nacht im MUD verbringt. Wenn er in den Cyberspace eintaucht, dann ist für die wirkliche Welt kein Platz mehr in seinem Kopf. Die wird völlig ausgeblendet. Er spürt keinen Hunger und keinen Durst. Auch das Zeitgefühl kommt ihm abhanden. Sogar das Gefühl für Ulrike. Er ist jetzt Revenger, Bewohner von NeuroWar-City, Rächer und Hacker. Als um acht Ulrikes Wecker klingelt, schreckt Stevie hoch. Er muß wohl doch ein paar Minuten eingenickt sein. Typischer Fall von Headcrash. Er ist noch online, und Revenger befindet sich im Hacker-Haupquartier. Na ein Glück. Wenn er draußen in irgendeinem Monstergebiet eingeschlafen wäre, hätte das böse enden können. Verschlafen taucht Ulrike auf: »Mein Gott, hast du durchgemuddet?« »Ja, mehr oder weniger.« »Und, bist du schon Wizard?« »Nein, aber immerhin Level 12.« »Na gut, dann sag Bescheid, wenn du bei 69 angekommen bist.« »Was?« »Man kann auch nicht behaupten, daß ich besonders viel von dir habe.« »Tut mir leid.« Stevie guckt schuldbewußt. »Sag mal, es kann nicht zufällig sein, daß du einen Rückfall in deine MUD-Sucht hast?« »Nein, ich kann jederzeit aufhören.«
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9. Kapitel Der Tag in der Redaktion verläuft nach dem bewährten Schema: Stevie muddet, Ulrike arbeitet, und Dödel macht Schweinkram. Daß Lulu heute morgen extra früh und in Begleitung eines Koffers gekommen ist, haben die Redakteure nicht mitgekriegt. Lulu arbeitet den ganzen Vormittag wie besessen. Innerhalb von sechs Stunden testet sie fünf CD- ROM-Spiele. Die gehen schneller als normale Spiele, weil nicht so viel installiert werden muß. Außerdem sind darunter drei CD-Umsetzungen von Spielen, die sie schon kennt. Neu ist nur, daß die Figuren jetzt sprechen und daß Musik und Geräusche besser klingen. Um zwei muß sie weg, das hat sie ihrem Team noch gar nicht gesagt. Das Gespöttel kann sie sich gut und gern bis zum Schluß aufheben. Schließlich speichert sie ihre Artikel auf dem Server und schaltet Rechner und Monitor aus. Dann macht sie eine Runde durch die Redaktion, um sich bis Montag zu verabschieden. Ausgerechnet Lulu verschwindet frühzeitig ins Wochenende? Das war ja noch nie da. Die drei Zurückbleibenden brauchen höchstens fünfzig Prozent ihrer Redakteursneugier zu aktivieren, um, von dem Wunsch beseelt, der Sache auf den Grund zu gehen, aus ihren Zimmern zu krabbeln. »Da, ein Koffer«, entdeckt Dödel. »Wo sie wohl hin will?« sinniert Ulrike. »Vielleicht nach Amerika?« vermutet sogar Stevie, der sonst nie was mitkriegt. »Ich fliege nach Paris, wenn ihr es unbedingt wissen müßt. Also macht ’s gut.« »Ganz allein?« fragt Ulrike unschuldig. »Fast allein. Und jetzt gebt Ruhe. Servus.« -205-
Damit ist sie verschwunden. »Ich möchte auch mal von einem Mann nach Paris eingeladen werden«, verlangt Ulrike. »Dann tausch’ den Redakteur gegen ‚nen Millionär«, schlägt Dödel vor. »Tja, dem Redakteur ist das zu schwör«, stimmt Stevie zu. »Mein Redakteur ist doch mehr ein MUDör. Und im MUD gibt’s jede Menge Schätze zu finden.« »Gut, dann lade ich dich auf eine Reise nach NeuroWar-City ein.« »Da war ich schon, schönen Dank.« Stevie macht sich wieder an seine Kämpfe mit Zombies, Radioansagern und Parkwächtern. Er ist extrem gut ausgerüstet und hat auch mehrere Flaschen Absolut Vodka zum Heilen dabei. Der Vodka wirkt stärker als Bier oder Wein, aber auch nur stärkere Figuren können ihn vertragen. Die unteren Level spucken ihn gleich wieder aus und haben ihr Geld umsonst ausgegeben. McDonald hat er inzwischen fast ganz aus dem Blick verloren. Er will nur noch Punkte machen. Er lechzt nach dem nächsten Level. Als Lulu am Air-France-Schalter ankommt, ist Daniel schon da und hält hektisch nach ihr Ausschau. Er weiß wohl nicht recht, wie er sie begrüßen soll, und so verrutscht sein Kuß auf die Wange bis knapp hinters Ohr. Offensichtlich hat er sich ausnahmsweise um ein ordentliches Outfit bemüht, und nun sieht er ein bißchen aus, als hätte seine Mami ihn fein gemacht. Bis auf die Haare, die sind so widerspenstig wie immer und stehen in alle Richtungen von Kopf ab. Eine Herausforderung für jeden Starfriseur. Lulu freut sich inzwischen richtig auf das Wochenende. Endlich mal raus, mal was anderes. Dann klappt auch noch alles wie am Schnürchen, pünktlich sitzen sie im Flugzeug, pünktlich hebt es ab, kurze Zeit später -206-
haben sie beide ein Glas Sekt in der Hand, und als sie eine gute Stunde später die Lichter von Paris unt er sich sehen, hat Lulu die Aufregungen der vergangenen zwei Wochen komplett vergessen. Stevie ist gerade im Hackerhauptquartier, um neuen Vodka zu kaufen, als er die Meldung erhält, daß McDonald sich eingeloggt hat. Immerhin erinnert er sich, daß er in diesem Fall Ulrike Bescheid geben wollte. Er ruft sie an: »McDonald ist da.« »O.k., ich schreibe nur noch den Absatz zu Ende.« »Ja, wär sonst vielleicht auch zu auffällig.« Zehn Minuten später loggt Ulrike sich in NeuroWar ein. McDonald hat wie immer alle Quasselkanäle abgeschaltet, und so muß sie hoffen, daß er sich bei ihr meldet. Sie könnte höchstens ins Postamt gehen und ihm eine Mail schreiben. Aber der Typ wird sich ja wohl nach den Ereignissen des gestrigen Abends noch ein kleines bißchen für sie interessieren, oder nicht? Und die Meldung, daß sie gekommen ist, muß er gesehen haben, die geht ja an alle. Sie läuft ein bißchen auf der Hauptstraße herum und guckt in die Geschäfte hinein. Da gibt’s zum Beispiel einen Blumenladen mit Versandservice. Man kann anderen Spielern virtuelle Rosen in verschiedenen Farben schicken lassen. Mit Kärtchen. Die kommen dann vermutlich sofort an. Der Laden hat auch Verlobungsringe. Ulrike fragt sich, ob die permanent sind oder bei jedem Reset wieder verschwinden. Das wäre allerdings nicht sehr sinnvoll. Im nächsten Laden gibt’s Munition für die verschiedenen Schußwaffen. Es ist nämlich nicht so, daß jede Munition mit jeder Waffe funktioniert. Das Kaliber muß genau stimmen. Und wenn das Magazin leer ist, kann man nicht mehr schießen, wie im richtigen Leben. Dann kann man die Waffe nur noch als Schlagwerkzeug benutzen, aber das ist natürlich nicht so -207-
effizient. Obwohl, wer möchte schon eine Uzi an den Kopf bekommen. Ulrike fragt sich, was McDonald wohl im Moment treibt. Warum geht er nicht auf ihre Frequenz und chattet sie an? Also gut, dann muß sie eben nachhelfen. Sie zählt ihr Geld. Die paar Dollar reichen nicht einmal für eine Rose. Sie ruft Stevie an: »Du, ich brauch’ ein bißchen Geld, um McDonald eine Rose schicken zu können. Der Typ ignoriert mich.« »O.k., wir treffen uns vor dem Postamt. Das ist ‚s, s, s, w’ vom Blumenladen. Dann gebe ich dir Geld.« »O.k., danke.« Eine Minute später treffen sich Molly und Revenger auf der Christopher Street vor dem Postamt. Stevie tippt: give 500 dollars to molly. Und schon erhält Ulrikes Molly die Meldung: Revenger gives 500 dollars to you. Sie tippt: say danke und Stevie sieht: Molly says: danke. Er tippt: say gern geschehen und macht sich wieder an die Aufräumarbeiten unter den Monstern. Molly geht in den Blumenladen und guckt sich die Hilfe an. Sie darf sich die Farbe der Rose aussuchen und ein Kärtchen dazu schreiben. Damit das Ganze abgeschickt wird, muß sie der Blumenverkäuferin, 200 Dollar geben. Hier sitzt natürlich kein Spieler den ganzen Tag im Blumenladen, sondern die Verkäuferin ist ein NPC. Also gut. Sie sucht sich eine rosa Rose aus und schreibt: Hi McDonald, don’t you like me any more? Let’s have a little chat at the Pub. cu there. Dann gibt sie der Blumenverkäuferin das Geld und macht sich auf den Weg zum Pub. Noch auf dem Weg dorthin erhält sie eine Mitteilung von McDonald: Hi Darling, wait for me, I’in coming soon. Er hat also sein Funkgerät auf ihre Frequenz eingestellt, das ist ja immerhin etwas. -208-
Ulrike bewegt Molly in den Pub. An einem der Tische sitzt ein anderer Character, Mudpie. Der muß sich wohl gerade von einem Kampf erholen und seine Wunden mit Bier heilen. Molly spricht ihn an und fragt, wie lange er schon NeuroWar spielt. Erst ein paar Tage. Ob er schon andere Spieler kennengelernt hat? Ja einige, sie sind sehr hilfreich zu neuen Spielern hier. Alle sehr nett, auch die Scientists. Erstaunlich. Das Spiel selbst ist ja so menschenfeindlich und unwirtlich, wie man es sich nur vorstellen kann. Und diese Gegend soll vo n lauter hilfsbereiten Philantropen bevölkert sein? Nun, sie kennt zumindest einen Spieler, dem man das bisher nicht nachgesagt hat. Da kommt er auch schon. McDonald enters the Pub. Sofort steht Mudpie auf und geht. »Der hat wohl Angst vor dir«, meint Ulrike. »Ich weiß nicht. Hallo erstmal.« »Hallo, wie geht ’s? »Not too bad.« »Hast du den anderen Spielern schon mal was getan?« »Wie kommst du denn darauf?« »Mudpie hat mir gerade erzählt, daß die anderen Spieler hier alle so nett sind. Aber als du gekommen bist, ist er sofort gegangen.« »Naja, vielleicht gab es da mal ein paar kleine Unstimmigkeiten.« »Hast du schon mal Spieler gekillt?« »Äh, vielen Dank für die Rose übrigens.« Durchsichtiges Ausweichmanöver. »Bitte. Muß ich auch Angst vor dir haben?« »Nein.« »Warum spielst du hier überhaupt? Um dich abzureagieren?« »Was soll denn die ganze Fragerei, was geht dich das an!« -209-
»Vielleicht finde ich dich ja interessant :-)« Das stimmt sogar. Ulrike hat ein Faible für undurchsichtige Charaktere und ein Talent, sie aus der Reserve zu locken. Siehe Stevie. Verdammt, irgendwie würde sie diesen Kerl schon gern mal im wirklichen Leben treffen. Allerdings, äußerlich wäre es wahrscheinlich eine Enttäuschung, in ihrer Fantasie spukt er ja als Mel-GibsonVerschnitt. »Hm.« »Also warum spielst du NeuroWar?« »Weil es hier so aussieht wie bei mir zu Hause.« »Was?« »Kaputte Häuser, Schießereien auf der Straße, gefährliche Monster hinter jeder Ecke, das kenne ich alles von zu Hause. Nur, hier kann ich alle besiegen.« »Muß ja ‚ne nette Gegend sein, wo du aufgewachsen bist.« »Yeah.« »Wo war denn das?« »Bronx.« »Aber jetzt lebst du doch an der Westküste oder?« »Yeah.« »Du hast dich am eigenen Zopf aus der Scheiße gezogen.« »Was?« »I mean, you did some bootstrapping.« Hoppla, jetzt hätte sie sich beinahe verraten, Amis kennen Münchhausen wohl nicht. In diesem Moment klingelt ihr Telefon - das echte. »Hallo, bist du bei McDonald?« »Ja, wir sind im Pub.« »Ah gut. Dann werde ich da mal vorbeikommen.« »Was willst du machen?« »Ich komme als Rächer der Enterbten und stelle ihn vor die -210-
Wahl: Entweder er verrät sein Geheimnis, oder ich verhelfe ihm mit meinem Super Striker zu einen sauberen Headcrash. Ich bin jetzt stark genug dazu.« Ulrike ist mal wieder total verblüfft, wie militant der virtuelle Stevie sein kann. »Du willst also mit der Tür ins Haus fallen.« »Was anderes fällt mir nicht ein.« »O.k., bis gleich.« Stevie hat sich inzwischen genau einen Level über McDonald gearbeitet. Wenn der sich auf einen Kampf einläßt, wird Revenger ihn mit etwas Glück schnell zu einem Häuflein Elend reduzieren. Vorausgesetzt natürlich, daß Stevie mindestens genau so gut spielt wie McDonald. »Warum interessierst du dich so für mich?« hat McDonald gerade getippt. »Naja, man will doch wissen, mit wem man schläft :-)« »Wenn du meinst :-)« Revenger enters the Pub. McDonald kisses you passionately. Da Stevie den Pub einige Sekunden vor dem Kuß betreten hat, sieht auch er auf seinem Bildschirm: McDonald kisses Molly passionately. Er fühlt einen Stich in der Magengegend und tippt ohne nachzudenken: »He, was machst du da mit meinem Mädchen!« »Wieso dein Mädchen?« »Sie ist meine Freundin.« »Molly: stimmt das?« fragt McDonald. Ulrike überlegt. Wenn sie nichts unternimmt, wird Stevies emotionale Reaktion ihre ganze Deckung auffliegen lassen. »Ich habe ihn vor ein paar Tagen hier im MUD kennengelernt, aber er ist ein Langweiler«, tippt sie, »ich will -211-
nichts mehr mit ihm zu tun haben.« Gleichzeitig greift sie zum Telefonhörer und ruft Stevie an: »He, du wirst noch alles kaputtmachen.« »Tschuldigung, ich habe mich hinreißen lassen. Als ich das mit dem Kuß sah...« »Schön, aber jetzt spiel wenigstens mit, daß wir uns nur hier aus dem MUD kennen o.k.?« »Ja, gut. Vielleicht ist es ja sogar eine gute Gelegenheit. Ich werde ihn provozieren, bis er mich angreift. Das ist illegal, weil ich kein Outlaw bin. Und das wiederum bedeutet, daß ich mir hinterher einiges erlauben kann, ohne daß ich Ärger mit den Scientists kriege.« »Uff, das hast du dir alles in den letzten dreißig Sekunden ausgedacht?« »Fast.« »Du läßt sofort meine Freundin in Ruhe«, tippt Stevie. »Ich denke gar nicht daran. Verschwinde.« »Ich bleibe hier, solange ich will.« »Dann friß das!« Und damit feuert McDonald sein Maschinengewehr auf Revenger ab. Stevie sieht sich seinen Gegner an: You look at McDonald. McDonald is in good shape. McDonald is carrying: A heavy ammunition belt (worn). A silverstream machinegun (ready). Das Maschinengewehr ist eine beidhändige Waffe, während Stevie in der einen Hand einen Superstriker und in der anderen eine Pistole hat. Seine Waffen sind also von der Durchschlagskraft her schwächer, aber dafür kann er auch mehr Schläge beziehungsweise Schüsse austeilen. Das Problem an der -212-
Sache stellt sich schnell heraus: Revengers Rüstung ist zu schwach. Während er fünfmal auf McDonald feuern kann, ohne großen Schaden anzurichten, wird er von fast jedem Schuß, den McDonald abfeuert, verletzt. also erstmal eine Zigarette anstecken. In diesem Spiel hat rauchen nämlich eine heilende Wirkung: You take a cigarette from a packet. You smoke a lucky strike. You grazed McDonald with your striker. McDonald wounded you with his machinegun. You fire your H & K. You wounded McDonald with your gun. You hit McDonald with your striker. You missed McDonald. McDonald wounded you with his machinegun. You missed McDonald. McDonald missed you. You fire a lethal gun. You scratched McDonald with your gun. You wounded McDonald with your striker. You missed McDonald. McDonald grazed you with his machinegun. You missed. HIT 85%: You missed McDonald. You grazed McDonald with your striker. McDonald fires a round from the silverstream machine gun. McDonald hit you extremely hard with his machine gun. You fire your H & K. You missed McDonald. -213-
McDonald scratched you with his machinegun. You decimated McDonald in a frenzied attack with gun. You missed. You fire your H & K. The gun is overheated. HIT 75%: You missed McDonald. McDonald hit you hard with his machinegun. You grazed McDonald with your H & K. You missed. You fire your H & K. You smashed McDonald with a bone crushing sound your gun. McDonald scratched you with his machinegun. You scratched McDonald with your gun. You missed. You hit McDonald hard with your striker. McDonald hit you with his machinegun. You missed. HIT 65%: You grazed McDonald with your gun. You missed McDonald. McDonald missed You. You fire your H & K. You fire your H & K. You hit McDonald hard with your H & K. You smoke your cigarette. You missed McDonald. You grazed McDonald with your striker. McDonald hit you very hard with his machine gun. -214-
your
with
You grazed McDonald with your gun. You hit McDonald with your striker. McDonald hit you very hard with his machine gun. You grazed McDonald with your H & K. You missed. You fire your H & K. You struck McDonald with brutal force with your H & K. You fire your H & K. McDonald hit you hard with his machinegun. You wounded McDonald with your H & K. You wounded McDonald with your striker. McDonald grazed you with his machinegun. HIT 45%: You missed McDonald. You missed McDonald. McDonald hit You with his machine gun. You fire your H & K. You fire your H & K. You hit McDonald extremely hard with your gun. You wounded McDonald with your H & K. The gun is overheated. HIT 40%: The gun is overheated. You fire your H & K You pummeled McDonald with formidable strength with your gun. Das war jetzt ein »Lag«, eine Verzögerung im Netz. Stevie hat noch fire getippt, als die Waffe bereits überhitzt war. Da konnte er McDonald nur noch damit pieken. Jetzt wird’s langsam ernst. Stevies Hitpoints schwinden viel zu schnell. Seine Pistole ist auch schon fast leer. -215-
Dann wirft McDonald seine - vermutlich leere Maschinenpistole weg. Revengers Chance? Doch nein, blitzschnell holt sein Gegner eine Pickaxe hervor, die er vorher in einer Tasche verborgen hatte. Diese Axt ist genauso gefährlich wie eine Schußwaffe, das muß Stevie schnell schmerzlich erfahren. McDonald hit you hard with his pickaxe. McDonald hit you very hard with his machine gun. You grazed McDonald with your striker. McDonald hit you with his pickaxe. Stevie tippt: reload gun, weil seine Munition zu Ende geht. You scratched McDonald with your gun. You missed. Click!! You now got 30 rounds in the H & K. HIT 25%: You grazed McDonald with your gun. Nur noch 25 % Hitpoints, das kann ja heiter werden. Mal sehen, wie es McDonald geht, also look at McDonald: You look at McDonald. McDonald ist in bad shape. Schön, dem geht ’s also auch nicht allzu gut. Aber Stevie muß jetzt höllisch aufpassen. Er spielt im brave mode, das heißt, daß seine Spielfigur nicht automatisch bei 20% wegrennt. You wounded McDonald with your striker. You missed McDonald. McDonald hit you with his machinegun. You missed McDonald. You wounded McDonald with your striker. McDonald hit you with his Pickaxe. Hit 18% -216-
McDonald hit you hard with his machinegun. Hit 10% Verdammt! Stevie flüchtet. 10% Hitpoints, das war wirklich höchste Eisenbahn. Eine Pleite auf der ganzen Linie. McDonald ist wirklich ein sauguter Kämpfer. »Toller Kampf«, sagt Molly zu McDonald. »Danke.« »Frag ihn wie weit er runter ist«, bittet Stevie Ulrike am Telefon. You whisper to McDonald: How many HP? McDonald whispers to you: 15 % :-) »15 Prozent«, sagt Ulrike ins Telefon. »Also nicht viel besser als ich. Da bin ich ja beruhigt.« »Irgendwie hab’ ich um euch beide gezittert.« »Na das ist ja reizend.« »Ich habe schließlich noch nie einem Kampf um Leben und Tod zugesehen. Schon gar nicht einem, bei dem es um mich ging. Kam mir vor wie im Mittelalter.« »Dabei war’s die Zukunft.« »Ich hoffe wirklich, daß das nicht die Zukunft ist. Gehen wir jetzt heim?« »O.k.« Ulrike verabschiedet sich so schnell, wie es unauffällig möglich ist, von McDonald und loggt sich aus. Stevie trinkt noch ein paar Vodkas, zwecks Heilung. Er ist ganz verschwitzt. Kurz, bevor er geht, sieht er noch, daß McDonald sich auch ausloggt. Gut, dann kriegt er nicht mit, daß Revenger und Molly fast zum gleichen Zeitpunkt verschwinden. »Eigentlich ist es komisch, daß McDonald auch immer am frühen Abend online ist«, meint Stevie zu Ulrike. »Da ist bei denen doch hellichter Mittag. Keine Zeit für Computerfreaks.« -217-
»Vielleicht hat er neuerdings 'nen Abendjob. Kellner oder so.« »Hm, das kann natürlich sein.« »Ist auch egal, gib mir lieber erstmal einen Kuß.« Sie gehen essen, im Steakhaus, weil Freitag ist. In Ulrikes Wohnung will Stevie sich am liebsten gleich wieder einloggen, aber Ulrike ist dagegen. »McDonald ist doch auch weggegangen, hast du selbst gesagt.« »Ja, aber es wäre ganz gut, wenn ich wenigstens noch einen Level gutmachen könnte.« »Nichts gibt’s, wir gehen jetzt ins Bett.« »Wenn du meinst...« Das ist genau der Enthusiasmus, den Ulrike sich von einem Liebhaber wünscht. Als sie am Samstag morgen - naja spätmorgen - aufwacht, sitzt Stevie in Unterhose vor ihrem Rechner. »McDonald ist auch schon wieder da«, verteidigt er sich, als Ulrike ihn anklagend ansieht. »Und?« »Der Kerl braucht anscheinend überhaupt keinen Schlaf. Als ich kam, war er schon einen Level höher als gestern.« »Ich kann ja auch nicht Tag und Nacht um ihn herumscharwenzeln, um ihn aufzuhalten.« »Nein, wir müssen jetzt andere Seiten aufziehen.« »Können wir nicht zusammen gegen ihn kämpfen? Als Team sind wir doch stärker.« »Hm, ich glaube nicht, daß es gut ist, wenn du deine Deckung aufgibst. Erstens ist es besser, wenn er dir vertraut, und zweitens bist du viel zu schwach. Wenn er sauer auf dich ist, und ich bin nicht da, dann kann er dich mit einem Schlag erledigen.« -218-
Obwohl es nur um ihre Spielfigur geht, fühlt Ulrike bei dem Gedanken einen ekligen Druck im Kopf. Sie ist überhaupt nie sonderlich begeistert, wenn ihre Spielfiguren sterben. Schon damals bei dem recht primitiven Jumpandrun-Spiel »Prince of Persia«, hat sich jedesmal ihr Magen zusammengezogen, wenn der arme Prinz in die Kreissäge geriet und mit diesem ekligen urx-Geräusch zusammensackte. »Hm. Und wie stehst du im Moment da?« »Ich bin inzwischen auch einen Level höher, also immer noch etwas besser als McDonald.« »Dann konfrontiere ihn doch einfach mal mit unseren Vorwürfen. Mal sehen, was er dazu sagt.« »Na gut.« Ulrike holt sich einen Stuhl und setzt sich neben Stevie vor den Bildschirm. Revenger befindet sich auf dem Gelände der Universität von NeuroWar-City. Da er McDonald nicht anders erreichen kann, läßt er mit shout einen Ruf durchs ganze MUD los: »McDonald, komm her, wenn du dich traust! Parkplatz der Universität.« Sie warten. Nach fünf Minuten erscheint tatsächlich McDonald und fragt: »Hast du noch nicht genug von gestern?« »Noch lange nicht. Ich bin nämlich als Rächer unterwegs.« »Rächer von wem?« »Rächer von Gemstone Games.« »Was hast du mit denen zu tun?« »Gib zu, daß du in das Spiel Life einen Virus eingebaut hast.« »Hahahaha!« »Aber du gibst zu, daß du Timothy Hamburger bist?« »Ich gebe gar nichts zu. Und jetzt stirb!« McDonald greift Revenger mit einem Striker an. -219-
»Das ist die beste Waffe im ganzen MUD«, erklärt Stevie Ulrike, während er wie wild in die Tasten hämmert, um sich zu verteidigen. »Aber ich habe inzwischen ein bißchen mit den Schußwaffen geübt. Man muß ein Gefühl dafür entwickeln, wie oft man hintereinander feuern kann, ohne sie zu überhitzen.« Am Anfang läuft es gut, McDonald wird öfter getroffen als er. Auf dem Bildschirm werden mehr und mehr Treffer angezeigt. Da: McDonald flüchtet Richtung Osten. Stevie besitzt noch 30% Lebenspunkte und setzt sofort hinterher. Im Osten ist der Swimming Pool. Sie kämpfen am Rand des Beckens. McDonald springt in den Pool. Revenger hinterher. Sie kämpfen im Wasser. Plötzlich versucht McDonald, Revenger zu ertränken. Der hat natürlich jetzt keine Zeit, sich die besonderen Befehle anzusehen, die man im Pool anwenden kann. Verdammt! Stevie schafft es, heil wieder aus dem Wasser herauszukommen. Da ist auch schon McDonald wieder draußen. Beide feuern. Dann verschwindet McDonald durch den Ausgang. McDonald ist geflüchtet! Stevie brüllt durch das ganze MUD: »McDonald! Ich werde dich solange jagen und so oft killen, bis du ein Nichts bist!« »Da wirst du aber mächtig Ärger mit den Scientists bekommen!« brüllt der zurück. »Da hat er recht.« meint Ulrike zu Stevie. »Nicht ganz. Wenn ich nämlich den Scientists erzähle, was ich alles über ihn weiß, dann hat er schlechte Karten. Dann lassen die hier bald keinen McDonald mehr rein.« »Na und? Dann spielt er halt unter einem anderen Namen. Warum sollte ihn das jucken?« »Na, seinen Usernamen gibt man nicht so gern auf. Dann kennt einen ja keiner mehr. Der Name ist schließlich das einzige Erkennungszeichen im Netz. Und McDonald hängt bestimmt besonders an seinem Namen.« »Wie kommst du darauf?« -220-
»Na, normalerweise nimmt man ja im MUD ja nicht den normalen Online-Namen, sondern einen speziellen MUDNamen, der zum Ambiente des MUDs paßt.« Stimmt, Ulrike heißt hier ja auch nicht Uli, sondern Molly. Wie die Molly in Neuromancer. Und Stevie hat sich Revenger genannt. »Verstehe. Und da McDonald sich hier auch McDonald nennt, gehst du davon aus, daß er besonders auf den Namen steht.« »Richtig. Da fällt mir übrigens noch ‚ne viel bessere Drohung gegen ihn ein.« »Und?« »Abwarten. Jetzt will ich erstmal Revanche.« »Blutrünstiger Kerl. Und wie geht ’s jetzt weiter?« »Ich muß ihn verfolgen und sofort wieder zum Kampf zwingen.« »Jetzt warte erstmal. Ich glaube, wir müssen uns genau überlegen, wie wir weitermachen. Das kann ja sonst ewig dauern.« »Wenn ich ihn einmal gekillt habe, dann ist das schon die halbe Miete. Dann ist er nach der Reinkarnation schwächer als vorher.« »Jaja, und dann liest du ihm seine Rechte vor, und er kapituliert. So ist es doch nicht! Du kannst schließlich nicht 24 Stunden am Tag online sein. Dann kommt er einfach, wenn du nicht da bist, und arbeitet sich wieder hoch. Dann sind wir in Monaten noch hier. Und in einer Woche soll Life ausgeliefert werden.« »Wenn ich ihn einmal gekillt habe, wird er zahm werden. Glaub mir.« »Sag mal, kann man die Reinkarnation nicht irgendwie verhindern?« »Nicht, daß ich wüßte.« -221-
»Was ist denn, wenn man die Leiche verschwinden läßt?« »Wie meinst du das?« »Also, ich bin gestern mal über den Friedhof gegangen. Da lag so ein toter Nightbreeder mit einer Schaufel. Ich wollte die Schaufel nehmen und plötzlich hatte ich auch den Toten in meinem Gepäck.« »Ja, und?« »Wenn man nun nach dem Kill die Leiche versteckt?« »Das nützt gar nichts. Für die Reinkarnation ist der Corpse nicht notwendig. Glaub mir, ich kenne die Libraries.« »Hm, Mist. Aber als Killer hast du jetzt erstmal Sendepause. Darum würde ich sagen, wir gehen jetzt frühstücken.« Sie gehen ins Café Wiener Platz, und bestellen jeder ein Schweizer Frühstück. »Du verblüffst mich immer wieder«, meint Ulrike über ihr Müsli hinweg. »Wieso?« »Naja, im wirklichen Leben bist du doch eher kein Macho.« »Nö, hoffentlich nicht.« »Und im MUD, da schießt du nur so um dich, killst Leute und Monster, ohne mit der Wimper zu zucken.« »Naja, nicht ganz. Dieses NeuroWar ist schon besonders herb. Da gibt’s ‚ne Schule, wo man Kid s abschlachten kann, und sogar ‚nen Kindergarten. Die Kleinkinder fahren einem mit ihren Dreirädern an die Beine, und wenn man sich nicht wehrt, bringen sie einen um.« »Haha.« Ulrike hat mit Kindern nichts am Hut. »Auf jeden Fall, da hört’s eigentlich bei mir auf, wenn man richtige Menschen als Gegner hat. Aber wenn mich einer angreift, dann hab’ ich auch kein Problem, zurückzuschlagen.« »Aber nur im MUD. Wenn ich da an das Laserdrome -222-
denke...« Stevie wird tatsächlich rot. »Ja, das war nichts für mich.« Ulrike beugt sich über den Tisch und gibt ihm einen Kuß. Dabei schmeißt sie ihren Orangensaft runter. Aber der war schon fast leer. Sie zahlen. Stevie fährt mit der U-Bahn zur Redaktion, weil bei Ulrike nicht beide gleichzeitig online sein können. Sie jedoch will ihren Samstag nicht im Büro verbringen und sich lieber von zu Hause einloggen. Bei Bedarf können sie ja telefonieren. Lulu und Daniel wohnen selbstverständlich im Disneyland Hotel, dem Zuckerbäckerpalast, der den Eingang zu Eurodisney bildet. Die Nacht haben sie sehr angenehm verbracht, das kann man nicht anders sagen. Lulu sitzt in der Badewanne und stellt diverse mit Disneyfiguren bedruckte Plastikfläschchen und Tiegelchen in einer Reihe auf. Draußen klopft der Etagenkellner an die Zimmertür. Daniel steckt seinen verstrubbelten Kopf ins Badezimmer und greift sich ein Handtuch, um den Mann nicht allzu sehr zu erschrecken. Sie haben einfach alles bestellt, was ihnen auf der Karte attraktiv erschien. Mit dem Erfolg, daß die angelieferten Speisen jetzt mengenmäßig jeden Rahmen sprengen, insbesondere den des kleinen runden Tisches, an dem sie essen sollen. Natürlich hätten sie auch unten im Restaurant zusammen mit den Disneyfiguren speisen können. Aber soweit ist es denn doch nicht. Lulu plantscht noch ein bißchen; der Kaffee ist ja bestimmt in Thermoskannen. Bis jetzt ist der Ausflug ein voller Erfolg. Es ist toll, an einem ganz normalen Wochenende mal so richtig rauszukommen. Und Daniel ist einfach niedlich. Seine Menschenscheu auf der einen Seite geht einher mit einer totalen Unbekümmertheit auf der anderen Seite. Er ist nicht schüchtern, sondern die meisten Menschen sind ihm einfach Wurst. Es ist -223-
ihm Wurst, was sie von ihm denken. Deswegen läuft er rum, wie es ihm paßt, sagt, was ihm einfällt und tut, was ihm Spaß macht. Man könnte ihn fast als asozial bezeichnen, wenn er nicht so komisch wäre. Daniel kann sich nämlich auch fabelhaft selbst auf den Arm nehmen. Heute morgen hat er ihr den Unterhosentanz von John Cleese aus »Ein Fisch namens Wanda« dargeboten. Den Themenpark könnten sie sich von ihr aus schenken, bis auf zwei Achterbahnen vielleicht. Lieber den ganzen Tag mit Daniel im Hotelzimmer bleiben. Als Stevie sich einloggt, ist McDonald immer noch da. Der Rächer beschließt, ihn erstmal eine Weile zu ignorieren und sich mit Hilfe seiner Spezialmethode noch ein Stückchen hochzuarbeiten. Damit sollte er die beim Frühstück vertane Zeit schnell wieder eingeholt haben. Besonders, weil Ulrike ja auch gleich kommen müßte, um den Finsterling von der Punktejagd abzulenken. Ulrike nimmt an ihrem Eßtisch Platz. Der Rechner ist noch von vorhin an. Allmählich geht ihr ihre Rolle bei der ganzen Aktion auf den Keks. Dieses MUD geht ihr auf den Keks. Da hat sie nun einen Boyfriend, und was macht er? Leute umbringen. 20 Stunden am Tag. Und sie soll diesen McDonald vom Killen abhalten, damit Stevie nachher ihn besser killen kann. Zu diesem Zweck soll sie mit McDonald flirten. Nicht, weil ihr das eventuell Spaß machen könnte, sondern aus purer Loyalität. Das Problem dabei ist, daß es ihr Spaß macht. Und genau deshalb macht es ihr keinen Spaß. Sie beschließt, ein letztes Mal ihren nicht vorhandenen Charme spielen zu lassen, um die Sache ein- für allemal zu beenden. Als sie das Spiel betritt, wechselt McDonald auf ihren Kanal. Das ist gut. Sie fragt ihn, ob er ein bißchen Zeit hat. »Ja, für dich immer. Treffen wir uns im Hotel.« Ulrike geht zum Hotel. Als sie ankommt, ist McDonald schon da. Klar, er kennt sich viel besser in der Stadt aus als sie. -224-
Während Ulrike erst in ihrer provisorischen Karte nachsehen muß und sich dann noch dreimal verfranst, läuft er in Maximalgeschwindigkeit einfach los. Oder er ruft einfach ein Makro auf. Wieder nimmt er ein Zimmer für sie beide, das gleiche wie vor ein paar Tagen. Ulrike setzt sich auf die Bettkante und sagt: »Dieser Revenger ist vielleicht ein Angeber. Er behauptet, er würde dich jagen, weil du irgendwelche Viren verbreitest.« »Das hat er gesagt?« »Ja. Er sagt, du hast einen Virus in ein Spiel eingebaut, bei deinem ehemaligen Arbeitgeber.« »Ach, und woher will er das wissen?« »Keine Ahnung. Stimmt es denn? Daß du bei einem Spielehersteller arbeitest, hast du mir ja mal gesagt. Irgendwas muß also dran sein.« »Nichts ist dran.« »Wahrscheinlich bist du gar kein so guter Programmierer. Du hättest nichts in das Spiel einbauen können, selbst, wenn du gewollt hättest.« »Hör zu, ich kann alles programmieren, was ich will. Es ist das Einzige, was ich kann.« »Das glaube ich nicht.« »Glaub es lieber.« »Das heißt, du hast_ irgendwas gemacht?« »Ich finde es jedenfalls sehr lustig, wie die sich jetzt in die Hose machen.« »Aber wenn in dem Spiel ein Virus ist, kann der einen unglaublichen Schaden anrichten. Und die Firma kann zumachen.« »Ach was, Viren sind doch sowas von out, die kann doch heute jeder Vorschüler programmieren. -225-
»Aber gibst du zu, daß du an dem Code rumgebastelt hast.« »Ein bißchen.« »Und was?« »Überraschung!« »Ich will es aber _jetzt_ wissen. Sonst rede ich kein Wort mehr mit dir.« »Reicht es dir, wenn ich sage, daß es nichts Schlimmes ist?« »Nein. Aber schwöre.« »Was soll ich schwören?« »Daß deine Bastelarbeit keine Daten zerstört und nichts Gefährliches macht.« »Ich schwöre, daß meine kleine Addition zu dem Life-Code keine Software und keine Hardware und keine Daten zerstört und auch die laufende Arbeit des Prozessors nicht beeinträchtigt.« »Und sich auch nicht vermehrt?« »Und sich auch nicht vermehrt und nicht herumkriecht.« »Hm, was bleibt da noch?« »Wart’s ab, du wirst schon SEHEN :-)« Sie glaubt ihm. Sie weiß nicht warum, aber sie ist sicher, daß er ihr wahrheitsgemäß geantwortet hat. Allerdings hat sie vielleicht auch nicht die richtigen Fragen gestellt. »Und was machen wir jetzt?« fragt er. »Wir könnten ein bißchen herummachen«, antwortet sie. Kurze Zeit später sitzt Ulrike mit gerötetem Gesicht im Schneidersitz vor ihrem Rechner.
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10. Kapitel In der Redaktion sitzt Stevie und spielt. Er braucht nur zwei Stunden, um sich einen weiteren Level zu holen und weitere zwei Stunden, um seine Kampfstärke, Kondition und Kraft auf Maximum zu bringen. Kraft braucht man, um Waffen tragen zu können. Je mehr Kraft, desto mehr Munition und heilendenVodka kann man mitschleppen. Als er soweit ist, sieht er sich nach dem Feind um. McDonald ist immer noch online. Gut, jetzt muß er ihn nur noch finden. Oder er fordert ihn per shout heraus. Stevie überlegt sich eine Kampftaktik. Er sollte eine Gegend wählen, in der er sich gut auskennt, klar. Aber sonst? Da McDonald anscheinend gern schwere Waffen benutzt, braucht Revenger eine besonders gute Rüstung. Und wie gehabt sollte er in die eine Hand eine starke Schlagwaffe nehmen, die automatisch funktioniert. Den Superstriker oder die Pickaxe. Dann kann er sich ganz auf die Faustfeuerwaffe in der anderen Hand konzentrieren. Ja, und wenn er es richtig ernst meint, dann sollte er sich ein Terrain aussuchen, auf dem McDonald nicht entkommen kann. Oder wo man den Ausgang irgendwie blockieren kann. Hm, vielleicht einen Raum, den man per Fahrstuhl erreicht? Wenn der Fahrstuhl nicht da ist, muß man erst push button machen und dann erst get in. Bis dahin kann er leicht noch ein- zweimal feuern. Oder das Flugzeug, das einen über die Sümpfe zur Stadt im Osten bringt. Nein, das bringt nichts, aus dem Flugzeug kann man jederzeit aussteigen. Ein MUD ist eben kein AdventureGame. Also vielleicht das Hochhaus südlich der Hauptstraße. Und vielleicht sollte er für absolute Notfälle doch noch Verstärkung anfordern. Der einzige, der in Frage kommt, ist allerdings Dödel mit seinem laschen Slavemaster. Level 2 oder so. Da ist ja sogar Ulrike noch stärker. Aber die soll ja offiziell nichts mit der Sache zu tun haben. Stevie ruft Dödel an: »Hallo, hier ist Stevie. Hast du Lust, mir -227-
in NeuroWar etwas unter die Arme zu greifen?« Wahrscheinlich wird Dödel jetzt am anderen Ende ungefähr fünf Zentimeter größer. Aber er ziert sich: »Erst bringt ihr mich um meinen Jagderfolg, und dann soll ich plötzlich wieder mitmachen.« »Ja, wär echt nett. Wahrscheinlich mußt du auch gar nichts machen. Nur, wenn ich es dir sage.« »Na gut, ich komme.« Stevie beschreibt ihm den Weg zum Hochhaus. »Und dann fährst du einfach mit dem Fahrstuhl ins oberste Stockwerk.« »Ja, ich weiß schon. Und unterwegs nicht von Monstern ansprechen lassen.« »Ja, und stell dein Telefon am besten auf freisprechen. Ich mach das auch. Und wenn ich ‚Hilfe’ schreie, machst du ‚rescue revenger’. O.k.?« »Right.« Dann ruft Stevie Ulrike an. »Es gibt wahrscheinlich gleich den entscheidenden Fight. Willst du zugucken?« »Nein, lieber nicht, du kannst es ja capturen, dann guck’ ich es mir später an.« Kurze Zeit später tritt Slavemaster aus dem Fahrstuhl. Slavemaster says: Hallo, ich bin Dödel. You say: Gut, dann geh s, s, w und warte da. Slavemaster says: Ich weiß nicht, warum ich mich neuerdings von dir rumschicken lasse. Aber gut. Slavemaster leaves south. Na dann los. Stevie tippt: shout McDonald Revanche? Come to Business Building, South Central. Und fast sofort kommt die Meldung zurück: McDonald shouts: Hold it right there. Stevie kontrolliert schnell nochmal sein Waffen. Ja, die -228-
Pistole ist geladen und feuerbereit. Alle Bestandteile seiner Rüstung hat er angezogen, mit dem Befehl wear, und die beiden Waffen hat er feuerbereit in die Hände genommen, mit wield. Zwei Minuten später betritt McDonald den Raum und beginnt sofort, mit seiner Uzi zu feuern. Doch Stevie ist vorbereitet. Der erste Feuerbefehl wartete schon darauf, mit ‹return› abgeschickt zu werden. Der Kampf wogt hin und her. Ein Glück, daß Stevie noch ein bißchen an sich gearbeitet hat. McDonald kennt wirklich alle Tricks. Er benutzt alle Skills die er auf seinem Level benutzen kann, wie sweep, jumpkick und headbut. Beide Spieler werden ungefähr gleich oft und gleich stark getroffen. Bald ist Stevie bei 70 %. Und er schätzt, daß McDonald ähnlich dastehen dürfte. Dann ist anscheinend McDonalds Uzi leer, er verläßt plötzlich den Raum, vermutlich, um einen neuen Patronengürtel einzulegen. Ein Gürtel reicht für 30 Feuerrunden. Er nützt die Zeit, um seine Pistole nachzuladen und zusätzlich noch einen Vodka zu trinken. Das bringt ihn wieder 5 % nach oben. Dann setzt er McDonald nach und greift sofort wieder an. Ein Glück, daß die B.O.X. so eine schnelle Internetverbindung hat. Wenn er zwischen den Befehlen immer zehn Sekunden lang im Dunkeln tappen würde, wäre er aufgeschmissen. Viele Spieler klage n über sogenannte Lags, die entstehen, weil die Daten einfach nicht schnell genug von ihnen zum MUD-Rechner und zurück kommen. Aber auch McDonald scheint eine gute Verbindung zu haben. Sonst könnte er nicht so präzise mit seiner Uzi umgehen. Er feuert haargenau an der Grenze zur Überhitzung. Wenn das Ding plötzlich klemmen würde, wäre er hilflos. Aber darauf kann Revenger nicht zählen. 60 %. 50 %. Zwischen zwei Feuerstößen und zwei jumpkicks fragt Stevie schnell McDonalds Zustand ab. McDonald is in bad shape. Diese Meldung bedeutet ungefähr zwischen 40 % und 60 % Hitpoints. Das hätte er sich auch so denken können. Und schon hat -229-
McDonald ihn wieder erwischt. So ein Mist. Und nochmal. 40 %. Jetzt wird’s ernst. Stevie überlegt, ob er kurz flüchten soll, um zwei Vodka zu trinken. Aber wenn McDonald ihm dann folgt, hat er in jedem Fall einen Schuß Vorsprung. Wenn er nur genau wüßte, wie sein Gegner dasteht! Stevie entscheidet, bis 30 % weiterzumachen und dann nach nebenan zu gehen, um blitzschnell drei Vodkas runterzustürzen. Dafür hat er sich zum Glück schon ein Makro angelegt. Noch ein hit, ein scratch, ein severe blow, dann ist es soweit. Stevie tritt den Rückzug an. Er tippt gleich zwei Ortswechsel hintereinander, damit McDonald nicht sofort weiß, wo er ist: s und nochmal s. Schnell die Vodkas kippen. Mist, was ist mit dem Makro los, es funktioniert nicht! Er muß die Befehle einzeln eingeben: drnik Vodka. Verdammt, falsch! Stevie wird jetzt nervös. Und da ist auch schon McDonald mit seiner Uzi. Er feuert. Ist das das Ende? Stevie feuert zurück, aber er muß auch einstecken. 20 %. Im wimpy mode würde man jetzt automatisch weglaufen. Aber natürlich hat er brave mode an, wimpy ist für Anfänger. Verzweifelt feuert Stevie zurück, so schnell er kann. Wenn die Pistole in fünf Runden klemmt, ist es egal. Dann ist der Kampf zu Ende. So oder so. 10 %. Nur weiterfeuern. 5 %. 3 %. »Hilfe!« brüllt Stevie. Slavemaster protects you with his own body. You hit McDonald with your Superstriker. McDonald shoots Slavemaster with his Uzi. Slavemaster has died. McDonald has died. You have won. Dödel hat schon eine halbe Sekunde vor Stevies Schrei gehandelt. Er muß plötzlich eine Eingebung gehabt haben. Mit dem Befehl rescue revenger hat sich der kleine, schwache Slavemaster vor den aus dem letzten Loch pfeifenden Superkämpfer Revenger geworfen. Nach einem Schuß von -230-
McDonald war er zwar hin, aber das war genau der entscheidende Schuß Unterschied. Stevies Puls ist ungefähr auf 160. Er muß sich erstmal erholen. Sie haben McDonald geschafft! Der wird sich ärgern. Sterben kostet rund 10 % aller bisher erworbenen Punkte. Als sein Puls wieder einigermaßen im Normbereich liegt, geht er zum Postamt der MUD-Stadt und schreibt einen Brief an den Toten. Da drin steht: McDonald. If you want to live, mail me what you know about Life. Else I take care no MUD in the whole world will let you in.
[email protected] (Revenger) Danach loggt er sich aus und ruft Dödel an. »Du hast mir das Leben gerettet.« »Keine Ursache.« »Doch, das war Klasse. McDonald ist jetzt erstmal tot. Mal sehn, vielleicht bringt ihn das ja zur Vernunft.« »Hast du schonmal einen vernünftigen Toten gesehen?« »Hm.« »Und was machst du jetzt? Fährst du zu Ulrike?« »Ich weiß nicht. Sollen wir nicht zu dritt heute abend ins Kino gehen? Ich lade dich ein.« »Ach nein, das ist mir zu frustrierend.« Von der Seite hat Stevie es noch gar nicht betrachtet. Stimmt, plötzlich hat er ja Dödel auf dessen Spezialgebiet etwas voraus. Stevie verabschiedet sich von Dödel und ruft Ulrike an: »Hallo, ich habe gewonnen.« »Na toll.« »Aber nur, weil Dödel mir das Leben gerettet hat.« »Ausgerechnet der?« -231-
»Ja. Er war super. Genau in der richtigen Sekunde hat er sich vor mich geschmissen. Es war nanoknapp. » »Da hat wohl ausnahmsweise bei ihm mal das richtige Relais angezogen. Und nun? Kommst du zu mir, oder soll ich zu dir kommen oder wie oder was? Ich fühle mich ja schon als Strohwitwe.« »Am liebsten würde ich erstmal zu mir fahren und mich in die Badewanne legen. Ich bin völlig fertig. Und wenn du dann später zu mir kommen würdest, wäre das natürlich ganz, ganz nett.« »Ja gut. Ich hab’ dann vielleicht auch noch was zu erzählen.« »Von McDonald?« »Sicher.« Ulrike in Stevies Wohnung, das ist eine Premiere. Bisher haben sie sich ja immer bei ihr getroffen. Ulrike ist verblüfft, wie sauber und aufgeräumt es hier ist. »Nur schlechte Programmierer sind Chaoten«, behauptet Stevie. »Wenn ich meine Klamotten wild über den Boden verteilen würde, dann würde ich wahrscheinlich als nächstes anfangen, Patches wild über meine Programme zu verteilen.« »Wenn’s für dich funktioniert, isses ja prima. Aber ich kenne ein paar ziemlich chaotische Programmierer, die auch nicht schlecht sind.« »Es kann ja sein, daß die Programme ganz toll funktionieren. Aber der Code ist garantiert völlig unverständlich und schlecht zu warten.« »Hm, da könnte was dran sein. Apropos Programmierer, ich wollte dir ja von McDonald erzählen.« »Von der Leiche, hehe.« »Äh ja, bevor du hin hingemetzelt hast, hat er mir erzählt, daß in Life nichts Gefährliches drin ist.« »Ach, also hat er zugegeben, daß er was reingetan hat?« -232-
»Ja. Aber er sagt, es ist kein Virus, nichts, was irgendwelchen Schaden anrichtet.« »Der kann ja viel erzählen.« »Ich glaube ihm. Warum sollte er lügen?« »Na um seinen Hals zu retten.« »Aber dann hätte er gar nichts zugegeben. Das ist es ja gerade. Wenn er sich rauslügen wollte, dann hätte er einen geheimnisvollen Unbekannten erfunden oder sonstwas. Aber nicht zugegeben, daß tatsächlich er es war, der an dem Code rumgepfuscht hat.« »Da ist was dran. Naja, wir werden ja sehen, ob er sich bei mir meldet, wenn er wieder lebt. Oder ob ich ihn noch dreimal zu Boden schicken muß, bevor er was merkt.« »Ach, und warum soll er auf einmal reagieren?« »Ich habe ihm in NeuroWar eine Mail geschickt, daß er mir sagen soll, was er über Life weiß. Und daß ich sonst dafür sorge, daß er in kein MUD auf der ganzen Welt mehr reinkommt.« »Ist das nicht ‚ne leere Drohung? Wie willst du denn das anstellen?« »Ganz einfach. Ich poste in rec.games.mud.general.« »Das ist wahr«, meint Ulrike, »wenn wir da posten, daß ein gewisser McDonald ein ganz übler Playerkiller ist, dann kommt er in kein MUD mehr rein. Ist ja die kleinste Übung, jeden, der sich mit diesem Namen einloggt, automatisch wieder rauszuschmeißen.« »Eben.« »Und wenn wir seine Schandtaten unter dem allgemeinen Redaktions-Account posten, dann wird man uns auch glauben.« »Genau.« Dann steht da nämlich als Absender: Happy PowerPlayer. The Leading German -233-
Magazine for PC Games. »Es ist wirklich verblüffend, wie brutal du sein kannst. Sonst so ein sanfter Typ, sanft und schüchtern, kann keiner Fliege was tun, und dann ziehst du im MUD plötzlich so eine Macho-Show ab.« »Das ist alles nur virtuell.« »Aber irgendwie muß es doch mit verborgenen Wünschen zu tun haben. Aufgestaute Aggressionen, die du im richtigen Leben nicht rauslassen kannst. Oder?« »Ich weiß nicht. Am Anfang war ich schockiert von NeuroWar. Daß da die Monster alle Menschen sind, daß man also auf Menschen schießen muß, nicht auf böse Drachen oder so. Ich würde so ein MUD auch normalerweise nicht betreten. Es gibt ja genug freundlichere unter den 2.000 MUDs da draußen.« »Meinst du, daß solche Killerorgien verrohend wirken?« »Na, auf mich sicher nicht, ich kriege eher Alpträume. Bei irgendwelchen Möchtegern-Rambos vielleicht schon, keine Ahnung. Aber ich glaube eher, das die Leute nur das rauslassen, was schon vorher in ihnen drin war. Letzten Endes kann doch überall nur das rauskommen, was vorher drin war.« Sie beschließen, Tee zu trinken und ein bißchen Abalone zu spielen. Doch Stevie gewinnt drei Spiele hintereinander, weil Ulrike viel zu aggressiv spielt. Es ist Sonntagmittag. Lulu hat bereits genug vom Schlangestehen in eisiger Kälte, und die Attraktionen, für die man im Warmen anstehen kann, haben sie gestern schon abgehakt. Zum Glück hat man in Eurodisney eher eine Chance, was Anständiges zu essen zu bekommen als im monströsen Pendant in Florida. Während ihre brühendheiße Zwiebelsuppe abkühlt, erzählt Lulu Daniel von ihren Problemen mit dem neuen Publisher. -234-
»Der versteht überhaupt nicht, was der Punkt bei einer Spielzeitschrift ist. Er will genau das Gegenteil von dem, was wir machen. Eine Art Bildzeitung für Computer-User.« »Verstehe ich nicht.« »Naja, er meint, daß es egal ist, was wir über die Spiele schreiben. Hauptsache, es hört sich sensationell an. Aber das ist es eben nicht. Die Leser merken sehr genau, ob unsere Artikel auf eingehenden Tests beruhen oder nicht. Wenn sie sich nicht mehr auf unsere Informationen verlassen können, dann suchen sie sich eine andere Zeitschrift.« »Ja, das glaube ich auch.« »Aber das Schlimmste ist, das er auch noch will, daß wir die oberflächlichen Informationen seriös verpacken. Also keine Witze und Kalauer mehr in den Artikeln, keine Meldungen, die einfach nur lustig sind. Wie zum Beispiel die, daß manche Firmen eigene Doom- Level herausgeben, mit einer Nachbildung ihrer Büroräume. Dabei haben Spiele schließlich was mit Unterhaltung zu tun.« »Oh, da habt ihr wirklich Probleme.« »Tja.« »Hm, ich habe eine Idee. I will buy Happy PowerPlayer.« »Was?« »Ich kaufe den Laden. Und dann gebe ich dir freie Hand.« »Das wäre ja noch schöner.« »Wieso?« »Hast du wirklich noch nicht gemerkt, welche Probleme ich damit habe, daß du reich bist? Wenn dir jetzt auch noch die ganze Redaktion gehören würde, dann hättest du mich praktisch gekauft.« »Aber so wäre es nicht.« »Es ist völlig egal, was du darüber denkst. Es ist unmöglich. -235-
Vergiß es.« »O.k. Aber es würde alle deine Probleme lösen.« »Ich will aber nicht, daß Probleme so gelöst werden.« »Gut, dann ge he ich jetzt pleite. Wenn McDonald’s Virus released wird, dann bin ich ja sowieso pleite.« So reden sie noch eine Weile hin und her. Lulu kriegt ihre Sichtweise einfach nicht in Daniels Schädel rein. Aber vielleicht ist es ja auch egal. Am Sonntagnachmittag hat Stevie Mail von McDonald. Er lebt also wieder. Und er ist offensichtlich sauer: Rev: Wenn du es wagst, mich noch einmal zu killen, beschwere ich mich bei den Scientists. Dann fliegst du raus und nicht ich. McDonald Stevie quotet die Mail und tippt darunter: Kapier es endlich! Ich weiß, was du in Treasureland gemacht hast. Wenn du an die Scientists mailst, dann sage ich nicht nur denen alles über dich, sondern ich poste es auch in rec.games.mud.general. Du kannst dir vorstellen, was dann passiert. Deinen Namen kannst du einmotten. Gib endlich zu, was du mit Life gemacht hast, dann lasse ich Gnade vor Recht ergehen. Stevie, the Revenger Von McDonald ist nichts zu sehen und zu hören. Ulrike und er holen sich Kuchen und veranstalten eine TeeundTortenschlacht. Zwischendurch guckt Stevie immer wieder in NeuroWar rein, ob McDonald nochmal geantwortet hat. Aber nein, der rührt sich nicht mehr. »Jetzt hast du keinen Grund mehr zum Mudden«, sagt Ulrike. -236-
»Stimmt.« »Und, kannst du so einfach wieder aufhören?« »Wenn du mir hilfst, sicher.« Er grinst. Aber Ulrike hat das Gefühl, daß er gar nicht so sicher ist. Immerhin kann sie verhindern, daß er sich an diesem Sonntag nochmal einloggt. Am Montagmorgen ist natürlich erstmal ein Meeting angesagt. Lulu wird über die ne uesten Entwicklungen hinsichtlich McDonald ins Bild gesetzt, wobei Dödel an jeder passenden und unpassenden Stelle betont, daß er Stevie das Leben gerettet hat. »Schön und gut, aber rausgefunden habt ihr nichts, die ganze Arie hat nichts gebracht außer mehreren völlig vertanen Tagen.« »Tja, er stellt sich stur«, bestätigt Stevie. »Das würde ich nicht sagen«, wirft Ulrike ein. »Immerhin hat er mir gesagt, daß es nichts Schlimmes ist.« »Der kann doch viel erzählen«, wirft Dödel ein. »Wie bitte, was hat er gesagt?« fragt Lulu. »Er sagte, Viren kann heute jedes Kind programmieren, das sei öde.« »Na bravo, dann ist es halt ein Wurm, ein Word-Makro oder sonstwas.« Ulrike möchte nur ungern darauf eingehen, warum sie so sicher ist, daß McDonald ihr die Wahrheit gesagt hat. Deshalb sagt sie nur: »Warum sollte er lügen? Ich habe das schon mit Stevie durchgesprochen. Ich meine, wir sollten es glauben.« »Also, was soll ich Daniel empfehlen? Soll er die Auslieferung von Life absagen oder nicht?« »Nicht absagen«, votiert Ulrike. »Absagen bringt’s ja auch nicht«, meint Dödel in der stillen Hoffnung auf eine hübsche Katastrophe. -237-
»Ich enthalte mich«, erklärt Stevie. »Feigling«, meint Dödel. Lulu denkt daran, wie Daniel ihr so freizügig angeboten hat, Pleite zu gehen. »Also unentschieden. Vielleicht bekommt ja auch dieser komische Professor bis zur Auslieferung noch irgendwas heraus. Dödel, hast du am Wochenende was von ihm gehört?« »Er meint nur, daß das Teil ziemlich groß ist und daß er viel zu tun hat.« »Sehr eigenartig. Also gut, ich werde Daniel informieren, dann muß er selber wissen, was er macht.« Sie geht raus. »Mit anderen Worten: dismissed«, meint Dödel und erhebt sich. »Toller militärischer Ausdruck«, feixt Ulrike, »und so englisch.« »Dumme Zicke.« Da mischt Stevie sic h ein: »Halt dich mal zurück, Dödel.« »Was, du Pfeife willst mir den Mund verbieten? Das hat’s ja noch nie gegeben. Ich hab’ dir schließlich das Leben gerettet.« »Aber nur, weil ich dir erklärt habe, wie das geht. Und wenn du nochmal irgendwelche Kollegen als Zicken bezeichnest, dann gibt’s Ärger.« »Und wenn ich dich als Idioten bezeichne?« »Dann gibt’s auf die Augen.« Ulrike steht und staunt. »Komm doch her, wenn du dich traust«, gibt Dödel zurück. Er ist absolut sicher, daß der sanfte Stevie keine Prügelei anfangen wird. »Idiot! Zicke! Idiot und Zicke!« Da benutzt Stevie seinen Füller wie ein Wurfmesser und schleudert ihn nach Dödel. Der Stift bleibt neben Dödels Schulter in der Leichtbauwand stecken und schaukelt hin und -238-
her. Fassunglos starrt Dödel erst auf den Stift und dann auf die Tintenspritzer auf seinem weißen Hemd. »Revenger sprayed Dödel with deadly poison«, kommentiert Stevie trocken. Dödel stampft aus dem Zimmer zur Herrentoilette. »Wow Stevie, die Mudderei scheint dir ja echt gut zu tun«, meint Ulrike. »Unter diesem Aspekt könnte ich mich direkt damit abfinden, daß du ab und an eine Nacht im Cyberspace verschwindest.« Sie gibt ihm einen knallenden Kurzkuß. »Revenger befreit die Prinzessin und wird reich belohnt«, antwortet er. Lulu ruft Daniel an, schneidet ihm seinen Flirt mitten im Wort ab und setzt ihn ins Bild. »Gut, dann liefern wir aus.« »Aber sage hinterher nicht, daß ich dich nicht gewarnt habe.« »Sage ich nicht. Küßchen.« »Küßchen.« Die Auslieferung ist in genau einer Woche, nächsten Montag. Da wird man also bald wissen, wo der Hammer hängt. In der Redaktion kehrt endlich wieder der Arbeitsalltag ein. Vier betriebsame Redakteure und eine angemalte Redaktionsassistentin setzen alles daran, die verlorene Zeit aufzuholen. Auch Stevie kümmert sich endlich wieder um seine Arbeit. Den Montag abend verbringen Stevie und Ulrike völlig unspektakulär vor dem Fernseher. Am Dienstag schwänzt Ulrike sogar den kaum angefangenen UNIX-Kurs bei Professor Paulsen, um endlich ihren Artikel über die Netzspiele fertig zu machen. Am Abend will Stevie zum Hackerstammtisch. Paulsen wird auch dort sein. Ulrike hat keine Lust, sich von den militanten Nikotinsüchtigen dort einräuchern zu lassen, und so geht er allein. Sie gammelt -239-
zunächst ein bißchen zu Hause herum, dann loggt sie sich in den IRC ein. *** signon of McDonald detected Was, wieso? Ach ja, sie hat ja immer noch notify McDonald eingestellt. Ihr fällt ein, daß es für ihn ziemlich verdächtig gewesen sein muß, daß sie sich seit dem letzten Kampf nicht mehr in NeuroWar hat sehen lassen. Überhaupt hat sie sich ihm gegenüber ja ziemlich unfair verhalten. Sie guckt, auf welchem Kanal er ist. Natürlich: #Doom. ‹Uli› Hi Mac, this is Molly. ‹McDonald› So what? ‹Uli› Wie geht es dir? ‹McDonald› Wie soll’s schon gehen. ‹Uli› Weisst du, ich mag NeuroWar nicht +mehr. ‹McDonald› Offensichtlich. ‹Uli› Aber das geht nicht gegen dich. ‹McDonald› Wenigstens triffst du dann auch +nicht mehr diesen schlappschwaenzigen +Revenger. ‹Uli› Der hat dich immerhin auf die Matte +gelegt. ‹McDonald› Ha, mit der Hilfe von einem +Level-3-Character. Und danach ist er nie +mehr aufgetaucht, weil er genau weiss, +dass er es nicht nochmal schafft. Es ist zwar lächerlich, aber das kann Ulrike irgendwie nicht auf Stevie sitzen lassen. ‹Uli› Du willst eben nicht einsehen, daß +auch im MUD die Guten gewinnen. Revenger -240-
+ist in Ordnung. Und er hat mehr Ahnung +von MUDs als du. Und mehr Mumm. ‹McDonald› Danke. Sehr nett von dir. +Uebrigens, hast du Life inzwischen mal +zu Ende gespielt? ‹Uli› Nein, ich hab im Moment wichtigers +zu tun. ‹McDonald› Schade fuer dich. *** Signoff: McDonald (pissed) So ein Idiot. Ulrike ertappt sich bei dem Gedanken, daß sie es McDonald übelnimmt, wie gleichgültig er über ihre Cyberabenteuer hinweggeht. Irgendwie ist der Typ doch ziemlich faszinierend. Egal, ob er nun in ihr Beuteschema paßt oder nicht. Was für Feiertage, aber nicht für Alltags. Im Gegensatz zu Stevie. Der Unterschied zwischen Abenteuer und Alltag. Am Mittwoch kommt Lulu zum erstenmal wieder zum Luftholen. Beziehungseise zum Life-Spielen. Ihr Spielkind, dieser virtuelle Daniel Trump, ist inzwischen mitten in der Pubertät und hat schon die eine oder andere Lektion erhalten. Doch eigentlich wird es jetzt erst interessant. Jedenfalls für Lulu. Der hoffnungsvolle Teenager begibt sich nämlich auf die Suche nach einer Freundin. Das heißt, eigentlich sucht er nicht, er wird gesucht. Mehrere Frauen tauchen auf und versuchen, das Kerlchen von seinem Rechner wegzulocken, den er doch erst so mühsam zusammengedealt und gebaut hat. Lulu ist sich zunächst nicht klar darüber, welche Spielstrategie jetzt gefragt ist. So gibt sie der ersten Frau einfach nach und folgt ihr, aus dem Zimmer, aus der Wohnung, ins Auto, auf den Rücksitz. Doch das endet in einer Katastrophe. Die Frau löst mit dem Fuß im Eifer des Gefechts aus Versehen die Handbremse, beide rollen einen Abhang hinunter, hinaus auf -241-
einen Anleger, und versinken dann mit Pauken und Trompeten im Meer. Beim nächsten Annäherungsversuch ist Lulu vorsichtiger. Sie drückt immer wieder das Dialog-Symbol, so daß ihr Computerfreak das Mädel mit allen möglichen Ausreden abwimmelt. Doch das scheint auch falsch zu sein. Kurze Zeit später erleidet die Cartoonfigur beim Wichsen Verbrennungen dritten Grades und wird unter peinlichen Umständen ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte eröffnen ihm, daß amputiert werden muß. Dieses Detail ist offensichtlich Daniels Phantasie entsprungen und beruht nicht auf Tatsachen. Da kommt Ulrike ins Zimmer. »Hallo, störe ich? Ah du spielst Life. Darüber hab’ ich nämlich gerade nachgedacht.« »Wieso, was gibt’s?« »Eigentlich nichts, nur, gestern abend war McDonald wieder im IRC.« »Na und?« »Er hat mich gefragt, ob ich Life schon zu Ende gespielt hätte.« »Nochmal ‚na und?’« »Als ich sagte nein, meinte er, das sei schade. Und tja, heute morgen unter der Dusche fiel mir ein, vielleicht wollte er damit was andeuten. Daraufhin hab’ ich mir gerade eben nochmal die Logfiles aus NeuroWar angeguckt, was er da gesagt hat. Ich hab’ ihn ja gelöchert, was er denn nun mit dem Spiel gemacht hätte, und er sagte wörtlich ‚Du wirst schon SEHEN’. Mit ‚sehen’ in Versalien.« »Hm. Du meinst also, daß sein übler Scherz zutage tritt, wenn man an einer bestimmten Stelle in dem Spiel angekommen ist?« »Sowas muß es sein. Ich denke schon.« »Na, das ist ja eine gute Entschuldigung, jetzt sofort weiterzuspielen. Ich schätze, ich bin inzwischen sowieso am -242-
weitesten von uns.« »O.k. Und sag Bescheid, sowie dir was komisch vorkommt.« »Aber sicher doch.« Ulrike geht wieder in ihr Zimmer. Und Lulu unternimmt den dritten Anlauf, der Spielfigur eine Frau zu besorgen. Eine weitere Schönheit nähert sich Daniel, wie Lulu die namenlose Spielfigur insgeheim getauft hat, und seinem Computer. Lulu klickt auf das »Nehmen«-Symbol und gibt der Frau den Computer. Zack, das war’s! Die Frau setzt sich vor den Computer und beginnt zu tippen. Als sie fertig ist, sieht Daniel, daß sie einen Liebesbrief an ihn geschrieben hat. Die beiden gehen zusammen weg, und auf dem Bildschirm erscheint ein Feuerwerk von Sternchen und Herzchen. Leider kommt genau in diesem Moment der komische Dödel herein und legt Lulu den Ausdruck seines neuesten SoftwareTests auf den Schreibtisch. »Und? Was für ein Schweinkram ist das wieder?« fragt sie, um sich zu wappnen. »Das ist der Kanzler-Porno«, erklärt Dödel. »Im Prinzip normale Bumsszenen, nur, daß sie den Kopf des Kanzlers und seiner diversen Assistentinnen draufmontiert haben.« »Mir wird schlecht.« »Das ist in Ordnung. Trotzdem sollten wir die Besprechung unbedingt in der nächsten Nummer bringen. Weil die Software bestimmt ziemlich zügig verboten wird.« »Ich begreife nicht, wie man sowas auf den Markt bringen kann. Ist doch ein Verlust-Geschäft, wenn die CD verboten wird.« »Erstens ist es keine CD. Alles auf Disketten. Und zweitens munkelt man, daß hinter dem Unternehmen die KanzlerKonkurrenz steckt. Nicht die anderen Parteien, sondern die Jungen, die auch mal drankommen wollen.« -243-
»Komische Methode. Naja, mir soll’s recht sein.« Und so geht alles seinen sozialistischen Gang. Am Nachmittag halten Anrufe und Besucher Lulu vom Spielen ab. Zwei PR-Fuzzis haben sich angesagt, um ihre neuesten Errungenschaften vorzuführen. Der eine hat so eine Art tragbaren Pilotensitz dabei, im Prinzip ein Super-Joystick zum Reinsetzen. Eigentlich was für Ulrike oder Dödel, aber die Firma ist ein wichtiger Anzeigenkunde und der Mensch extra aus dem hohen Norden angereist. Also läßt Lulu sich herab und setzt sich mit dem Knaben in den Konferenzraum. Kaum eine halbe Stunde später hat er sein Gadget auch schon zum Laufen gebracht. Doch als Lulu fünf Knöpfe gleichzeitig drückt und gleichzeitig die Fußpedale betätigt, ist Schluß der Vorstellung. Schnittstelle abgestürzt. Der PR-Mensch stammelt etwas von Vorführeffekt und demontiert linkisch seine Abschußkanzel. Der nächste Besucher ist ein alter Bekannter. Schon vor 10 Jahren rannte Marko Döries mit seinen Basic-Programmen bei den Redaktionen von Tür zu Tür, und die Happy PowerPlayer hat damals sein erstes Spiel veröffentlicht. Heute ist er Inhaber des einzigen deutschen Spiele-Imperiums und größter Anzeigenkunde der Zeitschrift. Danach ist redigieren angesagt, bis abends um acht liest Lulu Artikel von freien Mitarbeitern. Dann kommt auch noch Stevie mit seinem MUD-Artikel. Lulu legt eine Spätschicht ein, schließlich soll das Heft ja nicht leiden. Und Lulu zweifelt eigentlich sowieso an Ulrikes These. Erst am Donnerstag steigt Lulu wieder in Life ein. Sie ist gespannt, wie es weitergeht, wenn die Spielfigur älter ist als Daniel. Wenn die Figur sein alter ego ist, dann müßte sich hier seine ganze Lebensplanung offenbaren. Komisches Gefühl. Das Leben ein Comic, und sie mittendrin. Wenn sie was falsch macht, steuert sie ihren Daniel mitten in eine Katastrophe. Allerdings kann man hier immer neu anfangen. Und -244-
zwischendurch abspeichern. Leben verkehrt gelebt? Nochmal zurück bis vor diesen Zeitpunkt und was neues versucht. Tatsächlich zieht das Cartoonmännchen mit der computererfahrenen Frau zusammen. Einige Jahre - und zwei Spielstunden - später ziehen sie von der kleinen Wohnung in ein eigenes Haus um. Dieser Umzug ist mit einigen Rätseln verbunden. Lulu muß sich merken, welche Sachen sie in welche Kisten verpackt hat, das Ganze in der richtigen Reihenfolge in den Umzugswagen stauen und am anderen Ende in den richtigen Räumen wieder auspacken. Sonst gibt’s Scherben. Oder es kippt gleich der ganze Möbelwagen um. Oder der Computer steht plötzlich in der Badewanne, was ihm gar nicht bekommt. Nach glücklich vollzogenem Umzug sitzen die beiden Figuren abends vor dem Kamin, und alles, worum es noch geht, ist, das Feuer in Gang zu halten, ohne das Haus abzufackeln. So konventionell stellt der unkonventionelle Daniel sich also sein ferneres Leben vor. Ganz gemütlich und 08/15. Ohne große Aufregungen alt werden. Es kann auch nicht mehr viel kommen. Lulu hat ihre Erfahrungswerte, wie lange so ein Spiel dauern kann. 12 Disketten sind zwar eine Menge, aber schließlich hat sie ihr Männchen auch schon in sehr vielen verschiedenen Räumen und Animationen gesehen. Sie fragt sich, warum Life eigent lich nicht auf CD-ROM ausgeliefert wird. Und sie hat den leisen Verdacht, daß es mit Daniels Herz für Raubkopierer zusammenhängt. Sie drückt auf die Pausetaste und holt sich einen Tee aus der Redaktionsküche. Dann geht ’s weiter. Hoffentlich kommen bald wieder ein paar spannendere Szenen. Die Musik dudelt, das Feuer knackt, Cartoon-Daniel sitzt im Lehnstuhl und liest. Doch was ist das? Plötzlich geht ein dämonisches Grinsen über sein Gesicht. Die ganze Bildanmutung verändert sich. Die sanften, warmen Farben verschwinden, auf einmal ist alles schrill und laut. Und -245-
aus dem typischen Spiele-Gedudel wird ein kreischendes Gitarrenriff. Dann steht die Spielfigur auf und verläßt das Haus. Jetzt wird’s wenigstens wieder spannend. Daniel steigt in sein Auto und fährt los. Die Musik steigert sich. Das Auto rast los, man sieht Daniels Gesicht closeup hinter dem Steuerrad. Moment - das ist ja plötzlich wirklich Daniels Gesicht - die wirren Haare, der Mund... Soso, die ganze Zeit dieses anonyme Cartoonmännchen, und jetzt gibt er plötzlich zu, daß es seine Geschichte ist. Aber warum ist er dann so unsympathischbösartig verzerrt? Das Auto hält, und Daniel steigt aus. Eine Straße mit grellen Neonschildern. Alles schreiendschrill. Rotlichtviertel aus einem Cyberpunk-Film. Cyberpunk! Daniel geht in einen Laden auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Einen Moment lang wird der Bildschirm dunkel. Dann ein Tusch, mehr ein Kreischen, Lulus kleine Lautsprecher ächzen. Der Monitor gibt ein Klacken und Blitzen von sich, als wenn der Grafikmodus gewechselt wird. Lulu greift zum Telefonhörer. Ulirke hat recht gehabt. Und dann: Eine Vollbildbumsszene in Super-VGA mit 256 Farben. Und zwar Hardcore. In den verschiedensten Rosatönen leuchten Lulu männliche und weibliche Geschlechtsteile entge gen. Ihr fällt glatt der Telefonhörer aus der Hand. Einen Augenblick ist Lulu starr vor Staunen. Dann drückt sie auf die Pause-Taste. McDonald hat also den ganzen Schluß des Spiels mit diesem Bild überspielt. Und er hat noch nichtmal gelogen, als er sagte, sein Code würde sich nicht vermehren und keinen Schaden an Hard- und Software anrichten. Lulu ruft die andern zu sich rein. »Hier werft mal einen Blick auf meinen Bildschirm.« »Nett«, meint Dödel, »aber sowas hab’ ich schon tausendmal gesehen.« »That’s Life.« -246-
»Wie bitte?« fragt Dödel. »Oh Scheiße«, bemerkt Ulrike. »Ja, das ist das Geheimnis von McDonald.« »Genial«, sagt Stevie und meint damit die Verschlüsselung, die wochenlang verhindern konnte, daß das Bild als solches erkannt wurde. »Das heißt also Index«, stellt Ulrike fest. Klar, mit so einem Bild drin wird das Spiel natürlich indiziert und darf nicht mehr offen in Spieleläden verkauft werden. Doch vorher werden sich noch sämtliche Verbraucher- und Kinderschutzverbände der westlichen Welt auf Daniel Trumm stürzen. »Ich glaube, wir gehen erstmal essen«, meint Lulu, »und dann überlegen wir, was wir jetzt machen.« Die Crew konferiert bei ihrem Stammitaliener. Der serviert heute mit knallroten Ohren, weil die vier dauernd Wörter wie »Porno«, »Bumsszene« und »Hardcore« benutzen. »Am besten wäre, wenn man das Bild wieder rausnehmen würde«, überlegt Stevie laut. »Das ist ja nun ein bahnbrechender Vorschlag, darauf wäre sonst bestimmt niemand gekommen. Du weißt doch, daß es dafür zu spät ist.« »Ich meine, wenn man das wieder rausnehmen würde, ohne daß es jemand merkt.« »Was meinst du damit?« »Also«, Stevie denkt, während er kaut, »es gibt doch für viele Spiele Cheats. Irgendwelche Patches, mit denen man mehr Leben hat oder die irgendwas anderes im Spiel verändern, damit man leichter spielen kann. Wenn man jetzt sowas schreiben und so schnell wie möglich verteilen würde...« »...und dieser Patch würde gleichzeitig heimlich den Porno ausbauen...« assistiert Ulrike. -247-
»Genau.« »Hm, die Idee ist nicht blöd«, meint Lulu. »Aber erstens: Kann man das überhaupt so schnell hinkriegen? Und zweitens: Was sollte dieser Patch machen? Es müßte ja so attraktiv sein, daß ihn auch wirklich jeder installiert. Mehr Leben geht nicht, das bringt ’s nur bei Jumpandrun-Spielen, nicht bei so einem Adventure, wo man jederzeit speichern kann.« »Laß und doch gleich nochmal den ganzen Schluß angucken. Vielleicht fällt uns dann was ein.« »O.k.« Jeder vertilgt grübelnd seine Pizza. Die Ohren des Kellners klingen langsam ab. Zurück in der Redaktion versammeln sie sich wieder vor Lulus Computer. Sie restauriert den letzten Spielstand, den sie abgespeichert hat. Sobald sie in dem gemütlichen Wohnzimmer den Kamin anzündet, beginnt die bösartige Animation. »Seht ihr, plötzlich sieht das Männchen aus wie Daniel Trumm.« »Tatsächlich, der unwichtige Mann!« ruft Ulrike, die Daniel Trumm ja erst einmal unbekannterweise auf der Pressekonferenz gesehen hat. »Also, mir gefält das Ambiente so eigentlich vie besser«, meint Dödel. »Fehlt nur noch, daß ich da jetzt me inen Kopf einsetzen könnte. Wie in dieser Software mit dem montierten Kanzlerkopf.« »Das ist es!« brüllt Ulrike. »Genau, das ist die Idee für den Patch«, stimmt Stevie zu. »Wir könnten einen Patch schreiben, mit dem sich jeder Spieler selbst in das Spiel montieren kann.« »Wie stellst du dir denn das vor?« fragt Lulu. Ulrike erklärt: »Das Männchen, das da durch die Szenen hopst, wird ja nicht jedesmal von Grund auf neu gezeichnet. Das -248-
existiert nur ein paarmal auf der Platte, in den paar benötigten Körperhaltungen. Und von da wird das jeweils benötigte Exemplar dann aufgerufen. Das bedeutet, es ist wahrscheinlich kein großer Aufwand, das Erscheinungsbild des Männchens zu verändern.« »Ja, man müßte nur eine Eingabeschnittstelle schreiben, wo der User eingibt, welche Datei für den Kopf verwendet werden soll. Das müßte ein Bitmap-Format sein und dann vom Programm vielleicht noch ein wenig zurechtgestutzt werden. Trivial ist es nicht, aber auf jeden Fall hinzukriegen.« »Verstehe. Besonders, wenn dieser Patch von den Leuten geschrieben wird, die auch das Spiel programmiert haben.« »Hm, stimmt.« Stevie hätte den Patch natürlich am liebsten selbst programmiert. Aber er sieht ein, daß die Gemstone-Leute da einfach die besseren Voraussetzungen haben: den Sourcecode des Originalspiels. »Genau. Und wir drucken natürlich einen Artikel über diesen absolut genialen Zusatz, wo drinsteht, daß sich den absolut jeder besorgen muß. Wir können ihn auch in der Redaktionsmailbox anbieten.« »Und in den Netzen posten wir das natürlich auch.« »Und in CompuServe.« »Das erste Spiel, in dem man sich selbst spielt!« »Und dann heißt es auch noch Life!« Alle sind plötzlich ganz aufgeregt. »O.k., dann rufe ich jetzt Daniel an, und sage ihm, daß er seine besten Programmierer am Sessel festbinden soll. Schließlich sind nur noch wenige Tage Zeit bis zur Auslieferung am Montag.« Daniel ist fast erleichtert, als er erfährt, wie ihm in Life mitgespielt wird. »Indizierung ist immer noch besser als Schadenersatz«, meint -249-
er sehr richtig. »Und auch das werden wir verhindern.« »Ja, eure Idee ist super. Ich bin neidisch, daß wir nicht schon lange darauf gekommen sind. Es macht das Spiel erst richtig zum Live-Spiel. In die Fortsetzung werden wir das von Anfang an einbauen.« »Jetzt müssen wir nur noch dafür sorgen, daß auch wirklich jeder, der ein verseuchtes Spiel haben könnte, sich den Patch besorgt. Habt ihr inzwischen festgestellt, an welcher Stelle McDonald in die Produktion eingegriffen hat?« »Ja, es ist zumindest wahrscheinlich, daß er nur die deutschsprachige Version erwischt hat.« »Das heißt, ihr habt gar kein Exemplar der veränderten Version da?« »Nein, du müßtest mir eures schicken.« »Gut, ich packe die Disketten und schicke dir das Ganze über CompuServe.« »O.k. Aber zur Sicherheit könntest du die Disketten selbst auch noch schicken. Vielleicht ist da ja doch noch irgendwas drauf, was sich nicht so einfach kopieren läßt. Mit DHL haben wir die dann morgen da.« »Gut, mache ich.« »Dann kriegen wir die Sache in den Griff.«
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11. Kapitel Am Freitag informiert Daniel Trumm Lulu, daß seine Programmierer glauben, den Patch übers Wochenende hinkriegen zu können. »Prima, wir hier tun alles dafür, daß der dann auch bis ins letzte Ende der Republik verbreitet wird. Den entsprechenden Artikel schreibe ich selber, und natürlich posten wir es auch in allen Netzen. Und sogar in den Mailboxen der Konkurrenz.« Mehr können sie im Moment nicht tun. Mittags, beim Italiener, wendet sich das Gespräch der morgigen UNIX-Party zu. »Paulsen hat gesagt, aufdonnern ist verboten«, erzählt Ulrike. »Hatte ich auch nicht vor«, antwortet Lulu. »So, wie ich aussehe, kann ich sowieso überall kommen«, behauptet Dödel. »Schon, aber darum geht’s nicht«, gibt Ulrike zurück. »Wann geht ’s überhaupt los?« fragt Stevie, der bei Parties informations mäßig meistens etwas hinterherhinkt. »Morgen, Samstag, um acht«, erklärt Ulrike ihm. »Ich hol’ dich dann ab. Vorher habe ich sowieso keine Zeit, muß mal wieder meine Wohnung umgraben.« »Aha. Ja gut, ich wollte mittags sowieso noch in die Schillerstraße.« Heute gehen alle pünktlich nach Hause. Dödel behauptet sogar, ein Date zu haben. »Hast dich wohl mit dem AI-Modus deiner Mailbox verabredet«, stichelt Ulrike. »Fast«, antwortet er nur knapp. Am Samstag abend um sieben kreuzt Ulrike bei Stevie auf. Ihre Beziehung ist inzwischen ziemlich eingespielt. Meist -251-
verstehensie sich ohneWorte, nur bei Äußerlichkeiten ist Stevie ziemlich schwer von Begriff. Gerade steht er ratlos vor seinem Kleiderschrank. »Was soll ich anziehen?« Ulrike tritt näher und mustert die Beutelhosensammlung. »Welche Hose sitzt am knappsten?« »Ich mag keine engen Hosen.« »Du hast mich gefragt.« »Also gut, diese hier.« »Schön, dann zieh die an und sieh zu, welcher Pulli dazu paßt. Aber zieh kein Hemd drunter, das sieht extrem spießig aus.« »Wieso, das tragen doch alle, jetzt im Winter.« »Alle sind ja auch Spießer.« »Und was du an hast ist nicht spießig?« Ulrike hat Jeans und ein Holzfällerhemd an. »Das war’s vielleicht vor zwei Jahren. Heute ist es nur noch unmodern.« Stevie versteht die Logik nicht, aber er zieht brav die zu heiß gewaschene Hose an. Vor der Fachhochschule ist noch nicht viel los, es sind sogar noch Parkplätze frei. »Wir sind viel zu früh dran«, meint Stevie. »Ist doch in Ordnung, dann können wir in Ruhe gucken, wer kommt.« Am Eingang sitzt ein Roboter. Das heißt, ganz echt ist der nicht, etwas zu pappig. Ein in diverse mit Silberpapier beklebte Pappkartons verpackter Student mit Antennen auf dem Kopf. »Dafür mußt du aber mindestens ‚ne Zwei in der Mündlichen kriegen«, sagt Ulrike zu ihm, und der Roboter lächelt. Wahrscheinlich hat er’s nötig. Sie bezahlen jeder zehn Mark und dürfen hinein. »Wahnsinn«, entfährt es Ulrike, als sie den großen Saal betreten. -252-
»Tolle Deko«, bestätigt Stevie. Der Saal ist nach dem Schönheitsideal eines ausgeklinkten Computerfreaks geschmückt. Von den Wänden und von der Decke hängen Coaxialkabel und Telefondrähte in allen Farben. Im Halbdunkel flimmern unzählige Monitore. Als Sitzgelegenheiten stehen große Kartons herum, die Aufschriften tragen wie »NEC LC970+« oder »HP Laserjet 12P« oder »Peacock« und sogar »Sun« oder gar »SGI«. »Da hinten scheint die Bar zu sein«, deutet Ulrike. »Da können wir uns ja niederlassen und in Ruhe gucken, wer kommt.« Sie müssen sich erstmal ans Halbdunkel gewöhnen, viele Einzelheiten bleiben zunächst verborgen. Auf jeden Fall ist es noch ziemlich leer. An der Bar lehnt jedoch schon eine einsame Gestalt. Weiße Cowboystiefel leuchten im Dunkeln. Das kann nur Dackel sein, und er ist es auch. »Hi Leute, coole Action hier, was geht?« faselt der sofort los. »Gibt’s hier auch Cola?« fragt Stevie ihn, während Ulrike geflissentlich die Bar mustert. Die ist auf jeden Fall interessanter als Dackel. Der Tresen besteht aus Computerkartons, wie sie auch sonst überall im Raum herumstehen. Obendrauf liegt eine mit Folie bezogene Sperrholzplatte. Ulrike hofft, daß das Ganze irgendwie innerlich verbunden ist. Sonst wird der erste Besoffene das Kunstwerk einreißen. Auf dem Tresen stehen zehn Joysticks. Was soll man mit denen denn steuern? Ah ja, an der Rückwand, zwischen den Flaschen, stehen zehn Monitore. Auf allen flackert das Intro eines Primitiv-Multiuserspiels. Auch bei 1,3 Promille noch zu begreifen. Kampfspiele für Kampftrinker. »Was habt ihr denn?« fragt Ulrike den Barstudenten. »Cola classic, Cola light, Cherrycola, Jolt Cola, Flying Horse, Red Bull, Kaffee...« »Ich dachte eigentlich mehr an Alkohol.« -253-
»Bier.« »Gut, Bier.« Mit der Bierflasche in der Hand dreht Ulrike sich zum Saal um. Inzwischen kann sie schon mehr erkennen: Jede Sitzgruppe aus Pappkartons scheint ein eigenes Terminal zu haben. Und da, ziemlich in der Mitte des Saales befindet sich eine Art Insel, ein ganzer Cluster von Computerarbeitsplätzen. »Bleibst du hier?« fragt sie Stevie. »Ich seh mich mal ein bißchen um.« »O.k.« Ulrike steuert auf die Insel zu. Sie besteht aus neun kleinen Arbeitstischen, wie sie überall in der FH stehen. Auf jedem der acht äußeren Tische steht ein Monitor mit einer Tastatur davor. Mit einem Blick erkennt Ulrike, daß alle Terminals im IRC eingeloggt sind. Die Organisatoren der Party haben einen eigenen Channel eingerichtet, mit dem Namen 25-YearsofUNIX-Party. In dem Kanal ist allerdings überhaupt nichts los, denn die Terminals hier im Raum sind ja noch unbesetzt, und in den USA ist hellichter Nachmittag. Sie guckt sich die Liste der Channel-Teilnehmer an. Es sind genau acht, für jedes Terminal einer. Partyguest1 bis Partyguest8. Doch da betritt ein Fremder die Konferenz. Er nennt sich Daniel. Ulrike ändert ihren Namen in Uli und tippt: Hi Stranger. Und der andere tippt zurück: Bist du auf der UNIX-Party in Munich? Uli: Ja. Daniel: Dann vielleicht bin ich gar kein +Stranger. Uli: Wieso? Daniel: Bist du die Uli von der Happy +PowerPlayer? -254-
Ulrike ist platt. Woher kann der das wissen, wo sie noch nichtmal ihren vollen Namen verwendet hat? Uli: Darf ich fragen, wer du bist? Daniel: Daniel Trumm. Ha! Lulus angeschwärmter Spielhersteller! Dann ist auch klar, woher er ihren Online-Namen kennt und von dieser Party weiß. Uli: Ich lach mich tot! Lulu war ja ganz +aufgekratzt nach eurem Wochenende in +Paris. Schade, daß du nicht hier sein +kannst. Daniel: Jaja seeeeeehr schade ;-) aber +jetzt muß ich gehen Was soll das nun wieder heißen? Warum zwinkert er dabei? Uli: Gut, cu. Ulrike verläßt das Terminal und sieht sich um. Da vorne ist auch schon Lulu. »Du hast gerade deinen Daniel verpaßt«, erzählt sie ihr. »Was, hier?« »Nein, er war im IRC, die Terminals da hinten haben InternetAnschluß.« »Ach so. Ja, ich hab ihm von der Party erzählt.« »Stevie steht übrigens da hinten mit Dackel an der Bar, der Arme.« »Fehlt nur noch Dödel.« »Der muß sich wohl erstmal von seinem gestrigen Date erholen.« »Ja, hoffentlich war’s ein Erfolg.« »Stimmt, vielleicht wird er etwas erträglicher, wenn er ‚ne Freundin hat.« Langsam füllt sich der Saal. -255-
»Sollen wir mal eine Runde drehen?« fragt Lulu. »Ja, gut.« Rundherum an den Wänden sind allerhand Attraktionen aufgebaut. Als erstes kommen sie zu einem kleinen Stand, an dem man sich für fünf Mark seine Internet-Adresse auf einen Autoaufkleber drucken lassen kann. »Das wollte ich schon immer«, meint Ulrike und kramt sofort ihr Geld raus. »Uli at B.O.X.net. Uli mit einem ‚l’, ‚B.O.X.’ groß und ‚net’ klein.« Der Typ hinter dem Stand tippt was in sein Terminal und legt einen Aufkleber in den Einzelblatteinzug des Laserdruckers. »Das wird jetzt spiegelverkehrt gedruckt, dann kannst du es von innen an der Scheibe anbringen«, erklärt er Ulrike. Sonst wäre das wohl auch mit einem Laserdrucker nicht zu machen. Ulrike rollt den Aufkleber zusammen und steckt ihn in die Hemdtasche. Als nächstes kommen sie zu der einzigen Installation im Saal, die nicht computerisiert ist. Trotzdem hat sich hier bereits eine richtige Menschentraube angefunden. Es handelt sich um eine Wurfbude: Wer Bill Gates mit drei Würfen vom Sockel holt, kriegt eine Linux-CD. »Der Typ, der die CDs verteilt, kommt mir irgendwie bekannt vor«, meint Ulrike. »Hm, keine Ahnung. Auf jeden Fall ist das wohl die billigste Art, zu einem kompletten UNIX zu kommen.« Linux ist das einzige UNIX-Betriebssystem, das im Prinzip kostenlos ist. Trotzdem kostet so eine CD-ROM normalerweise um die 60 Mark. Dafür spart man sich das Downloaden aus dem Internet. »Ich glaube, ich muß mal nach Stevie sehen«, meint Ulrike und steuert auf die Bar zu. Doch die ist inzwische n von lauter wildfremden Gestalten umlagert, die wie wild die Joysticks traktieren. Statt Stevie löst sich Dödel aus der Menge. Er schwenkt in jeder Hand eine Bierflasche. -256-
»Ich soll sagen, die andern sind woanders«, bringt er heraus. »Ist ja schön, und wo bist du?« fragt Lulu mißbilligend. »Ich bin am Arsch«, bekennt Dödel. Mit dem Rendezvous gestern scheint irgendwas schiefgelaufen zu sein. »Hey Junge, laß dich nicht so hängen’«, versucht Ulrike, ihn aufzumuntern. So deprimiert mag sie niemanden sehen. »Komm, wir setzen uns ein bißchen hin.« Plötzlich japst Lulu: »Ich werd wahnsinnig, da hinten ist Herr Hoffart, stellt euch vor mich!« Und tatsächlich, da hinten sticht ein Typ in Krawatte und Bürstenschnitt durch die Menge. Die Leute machen freiwillig Platz, als wollten sie sich nicht an seinem Aussehen anstecken. »Komm mit, wir setzen uns da drüben hin, dann kannst du ihm den Rücken zudrehen.« Sie nehmen eine der nach dem Chaos-Prinzip im Raum verteilten »Sitzgruppen« in Beschlag. Das zugehörige Terminal steht auf einem riesigen Laserdrucker-Karton. Ulrike guckt sich die Sache an. Aha, die Terminals bei den Sitzgruppen sind nicht ans Internet angeschlossen. Aber man kann trotzdem einige interessante Sachen damit machen. Zum Beispiel gucken, wie der Getränkevorrat aussieht. Zu diesem Zweck wurden offensichtlich mehrere digitale Kameras installiert. Drei blicken auf die Getränkekisten im Nebenraum, und eine kontrolliert den Füllstand der Kaffeemaschine. Jede Kamera macht einmal in der Minute ein Bild, das dann für jeden abrufbar auf dem Server gespeichert wird. Da beugt sich jemand von hinten über ihre Schulter. »Ursprünglich war geplant, die Leute auch per Computer Drinks bestellen zu lassen«, sagt der Mensch, »aber die Idee scheiterte wegen des akuten Mangels an kostenlosen Kellnern, um den Stoff auszuliefern.« Paulsen, der Urheber des ganzen Rummels. »Amüsiert ihr euch?« fragt er. »Ja, super«, ertönt es unisono. Er geht weiter, und Ulrike -257-
entdeckt den zweiten und für die meisten Besucher noch viel interessanteren Zweck des Terminals: Man kann nämlich von Tisch zu Tisch chatten, eine Art Weiterentwicklung des Tischtelefons von einst. Man braucht nicht aufzustehen, nicht gegen den Lärm anzuschreien und sich notfalls noch nicht einmal zu erkennen geben. Ideal für Schüchterne, Schwerhörige und digitale Lebensformen. Also für fast alle, die da sind. Ulrike guckt, wer da chattet. Zwölf Partygäste befinden sich in dem lokalen Chat. Hier gibt’s nur einen Kanal, ohne große Raffinessen. Keine Privatchats. Immerhin kann man seinen Namen frei wählen. Da ist ja auch Stevie. Ulrike erinnert sich an ihren ersten Chat mit Stevie. Vor zwei Wochen oder so, als sie ihn noch kaum kannte. Das scheint jetzt schon ewig her zu sein. Uli: Hallo Leute wie gefällt euch denn die +Party bis jetzt? Nomad: Keine harten Drinks :-( Partyguest2: Ganz gut. Stevie: Hi Uli, wo bist du denn? Partyguest5: Wie ändert man denn seinen Namen? Uli: Ich sitze in dem Cluster neben der +Gates-Wurfbude, und wo bist du Uli: abgeblieben? Stevie: Auf der anderen Seite, in der Nähe +der Internet-Terminals. *** Partyguest8 is now known as McDonald *** Uli: Stevie: das ist garantiert wieder +Dackel. Uli: He Dackel, sehr komisch. Idiot. Stevie: Nein, Dackel sitzt neben mir und +quatscht mir ins Bier. -258-
Wer könnte das sonst sein? Lulu ist in Sichtweite, die hat kein Terminal. Außerdem ist sie viel zu distinguiert für solche Scherze. Käme nur noch Paulsen in Frage. Sie wendet sich zu Lulu um: »Du, McDonald ist hier.« »Schönen Gruß an Dackel.« »Nein, der ist es nicht.« »Welcher Idiot ist es dann?« McDonald: Looking for Lulu. Das gibt’s nicht. »Du Lulu, McDonald fragt nach dir.« »Sag ihm, er soll herkommen.« Uli: Come over. McDonald: On my way. *** McDonald is now known as Partyguest8 *** »Jetzt bin ich mal gespannt«, meint Ulrike und peilt rundum. Sie braucht nicht lange zu warten, da schält sich jemand aus dem Halbdunkel. Er hat wirre Haare und trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »Life«. Er nähert sich Lulu von hinten und küßt sie in den Nacken. Die kreischt und fährt hoch. »Was machst du denn hier zum Geier?« »Kein Geier. Daniel Trumm, mein Name.« »Sieh an, Lulus Lieblingsspielehersteller. Wie kommst du denn hierher, vorhin warst du doch noch von deinem Office aus im IRC?« fragt Ulrike. »Im IRC ja, in meinem Office nein. Ich war vom Hotel aus online.« »Und warum hast du dich gerade eben hier auf dem lokalen Rechner mit ‚McDonald ’ gemeldet?« »Der Name kam zu Gehirn.« »Man soll seinen Männern eben nicht erzählen, auf welche Parties man geht«, meint Ulrike noch, bevor sie die beiden ihren Knutschereien überläßt. Dödel ist inzwischen unbemerkt -259-
verschwunden. Vielleicht geht sie mal rüber zu Stevie. Dödel ist auf eine Frau gestoßen, die entfernt an Tina erinnert, nur ohne Schminke. Er überlegt, ob diese optische Täuschung etwas mit seinem Bierpegel zu tun haben könnte. Doch da hängt die Frau sich bei ihm ein und säuselt: »Ich habe gelesen, daß jetzt der Naturlook in ist.« Verblüffend, wozu Frauenzeitschriften manchmal gut sein können. Jetzt tut sich etwas auf der provisorischen Bühne, die im Wesentlichen aus zwei Gabelstaplern besteht. Ein Scheinwerfer wird angeknipst, und Professor Paulsen erscheint. Er begrüßt die Gäste und freut sich ganz besonders, einen Ehrengast vorstellen zu dürfen. »Ich rufe Linus Thorvalds auf die Bühne!« Alle applaudieren wie blöd. Linus ist der Student, der Linux ins Leben gerufen hat. Er hat es nicht allein entwickelt, aber er war und ist die treibende Kraft. Ohne ihn würde es kein UNIX für lau geben. Ein schmächtiger blaßblonder Typ mit langen Haaren und einer Bierflasche betritt die Bühne. Jetzt weiß Ulrike, warum ihr der Typ in der Wurfbude so bekannt vorkam. Linus persönlich war es, der die glücklichen Werfer mit LinuxCDs belohnt hat. Jetzt weiß er anscheinend nicht so recht, was er sagen soll. So sagt er einfach: »Skå l«, und erntet dafür orkanartigen Beifall. Paulsen weist nochmal auf die verschiedenen Attraktionen im Saal hin, dann wird die Bühne wieder abgedunkelt. Ulrike macht sich auf die Suche nach Stevie. Sie hat ihn ja wohl bisher etwas vernachlässigt. Außerdem muß sie ihn aus den Fängen von Dackel retten, allein ist er wahrscheinlich nicht in der Lage, sich zu befreien. Sie findet Stevie allein vor einem Terminal. »Das ist eine Partie und kein Praktikum«, sagt sie zu ihm. -260-
»Ja und?« »Komm, wir laufen ein bißchen rum und gucken, wer alles da ist.« »Na gut.« Inzwischen hat irgend jemand die Techno-Musik voll aufgedreht. »Grausig«, findet Ulrike. »Bloß, weil es ‚Techno’ heißt, bedeutet das doch nicht, daß es Musik für Technik-Freaks ist.« »Vielleicht für Heizungstechniker.« Sie kommen zu einer Art Messestand, einer großen, aufwendigen Installation. Hier ist der Ganzköpereintritt in den Cyberspace möglich. Natürlich gesponsert von einem Zigarettenkonzern. Sie gucken zu, wie sich ein Aspirant verdrahten läßt. Dann kriegt er noch einen Visor auf, und los geht’s. Der Typ eiert unbeholfen herum, hebt den Arm, dreht den Kopf und greift nach virtuellen Gegenständen. Vermutlich sieht er irgendeinen langweiligen Raum mit ein paar Gegenständen vor sich. »Willst du das nicht mal ausprobieren?« fragt Ulrike. »Nö, das ist mir zu blöd. Und dann hier, vor allen Leuten.« Sie machen noch einen Abstecher zur Bar, wo bereits die Hälfte der Joysticks in Fetzen liegen, und hocken sich schließlich wieder in eine Pappecke. Ulrike spielt am Terminal herum und kontrolliert den Getränkevorrat. »Bier auf 50 %, Jolt Cola 0 %«, meldet sie. Stevie nickt und nippt an seiner Cola Classic. Dödel und Tina taumeln vorbei und Dödel lallt irgendwas von intelligenten Toiletten. »Das muß ich mir angucken«, meint Stevie und verschwindet. Tatsächlich, die Herrentoiletten sind verkabelt. Ein dezentes Schild informiert ihn, daß hier der erste Prototyp der sogenannten »Smart Toiletts« aus Japan installiert ist. Am Gebrauch ändert sich zunächst nichts, man pinkelt ganz normal -261-
in die Rinne. Doch dann ertönt neben dem gewohnten Gurgeln das unverkennbare Geräusch eines spritzwassergeschützten 24Nadeldruckers. Aus einer Art Briefschlitz entnimmt der interessierte Pinkler sein Ergebnis: die aktuellen Harnwerte, komplett mit Diätvorschlägen und Promilleangabe. Stevie hat 0,1 Promille. Komischer Wert für einen, der nur Cola trinkt. Ulrike hockt immer noch vor dem Terminal. Sie hat sich wieder in den saalinternen Chat eingeloggt. Und schon wieder nennt sich jemand McDonald. Uli: Hey, McDonald, wie kommst du auf den +Namen? McDonald: Uli: It’s mine. Uli: Kannst du nicht deutsch reden? McDonald: nope Na gut, wenn der Unbekannte das Spielchen unbedingt weiterspielen will, dann tippt sie eben auf englisch weiter. Uli: an welchem Terminal bist du? McDonald: guess. Hm. Es gibt zwölf Terminals, und alle sind besetzt. Aber vielleicht kann sie diesen falschen McDonald durch ein Ausschlußverfahren einkreisen, in dem sie die Standorte der anderen Teilnehmer erfragt? Nein, das würde er ja mitkriegen. Bleibt nur, möglichst schnell alle Locations abzuklappern und den Leuten, die gerade am Terminal hocken, über die Schulter zu sehen. Aber wenn dieser nachgemachte Typ merkt, daß sie hier nicht mehr tippt, dann könnte er Verdacht schöpfen und sich dünne machen. Hm, ob Dödel noch in der Lage ist, hier für kurze Zeit die Uli zu geben? »Dödel, komm her, du mußt für mich weitertippen.« »Was muß ich?« -262-
»Hier, deine letzte Chance, ein Held zu sein. Tipp einfach irgendwelchen Unfug. Du bist Uli. Alles klar?« »Jaaa gut«, nuschelt Dödel, hakt sich von Tina los und plumpst auf den freigewordenen Karton. »Aber bring mir ein Bier mit.« »Gut, gut, nur schön tippen.« »Geht klar.« Schnell berechnet Ulrike den kürzesten Weg, der sie an allen Terminals im Saal vorbeiführt. Das alte Vertreterproblem. Bloß, daß die Vertreter sich nicht durch Menschenmassen durchwühlen müssen. Gut, die ersten drei Terminals hat sie schnell abgehakt, da sind irgendwelche pickligen Jünglinge unter Partyguest7, Bastard und Partyguest3 online. Am vierten Terminal liegt ein Individuum auf den Tasten und schläft. Headcrash. Die fünfte Station wird von einem langhaarigen Mädel gehalten, das sich Claudia nennt. Um das sechste Terminal ist gerade ein Streit zwischen drei Kids ausgebrochen. Ulrike erhascht einen Blick auf den Bildschirm und darf miterleben, wie Uli - also sie selbst - gerade Alles Ijoten von sich gibt. Das siebte Terminal ist das in der allerhintersten Ecke. Hier ist es nicht so voll wie vorn. Ein Typ sitzt mit dem Rücken zum Geschehen vor dem Monitor. Der Kerl sieht muskulös aus, nicht wie diese anderen schlabbrigen Computerfritzen. Er hat schon drei bis vier graue Haare. Sie tritt näher und sieht ihm über die Schulter. Er tippt als McDonald. »Hi«, sagt sie. Kaum erstaunt dreht er sich um und mustert sie von oben bis unten. Sie sieht nur noch blitzende blaue Augen. »Ich bin Molly.« »McDonald.« Langsam steht er auf. »Ja, ich weiß.« »Ich habe mir dich ganz anders vorgestellt.« -263-
»Du siehst genau so aus wie im MUD.« »Wie kann ich aussehen wie im MUD?« »Du weißt doch, im Hotel, du hast dich beschrieben...« »Yeah.« Komischerweise kommt es Ulrike nicht in den Sinn, daß sie hier mit dem Typen redet, der die ganze Aufregung der letzten Wochen verursacht hat. Mit demjenigen, den sie verfolgt, bekämpft und gekillt haben. Andererseits ist ihr sehr wohl bewußt, daß sie schon zweimal mit ihm geschlafen hat - virtuell und für einen höheren Zweck. »Gehen wir ein Bier trinken?« »Sure.« Sie kämpfen sich durch die inzwischen ziemlich aufgeheizten Studenten und sonstigen Massen zur Bar. Der Biervorrat ist inzwischen wahrscheinlich bei 30 % angekommen. Ulrike zahlt die zwei Bier, weil sie nicht will, daß McDonalds amerikanische Bestellung Aufsehen erregt. Apropos: »Nennst du dich im wirklichen Leben auch McDonald?« »Ganz wenige Leute sagen Tim zu mir. Und wie heißt du richtig?« »Ulrike.« »Prost Ulrike.« »Prost Tim. Sag mal, wie kommst du eigentlich hierher?« »Die Party war in einigen Newsgroups angekündigt.« »Du bist doch nicht extra deswegen nach Deutschland geflogen?« »Nein, ich bin schon länger hier. Habe einen Freund besucht.« »Ach deswegen warst du immer zu so eigenartigen Stunden online, zu denen Amis eigentlich im Bett liegen oder arbeiten.« »Yeah.« Plötzlich plagt sie das Gewissen. »Ich muß dir etwas sagen. -264-
Ich arbeite auch bei der Zeitschrift, bei der Revenger arbeitet. Der Typ, der dich gekillt hat, wegen Life.« »Das habe ich mir schon gedacht.« »Was? Wieso?« »Nachdem dieser Revenger aufgetaucht war, habe ich nachgedacht. War doch sehr praktisch für ihn, daß du mich abgelenkt hast. Und manchmal ist dein English auch nicht zu amerikanisch.« »Und du hast trotzdem...« »Im MUD warst du Molly. Man muß das auseinanderhalten, Real Life und Cyberspace.« »Muß man das?« Ulrike wäre jetzt lieber Molly. »Übrigens, wir haben inzwischen herausbekommen, was du in das Spiel eingebaut hast. Nicht sehr nett, der arme Daniel Trumm.« Tim bricht in dröhnendes Gelächter aus. »Ja, jetzt wird sein schönes Spiel wohl indiziert werden. Der mit seinen Kinderspielen. Er wollte nicht einsehen, daß die Welt für Erwachsene gemacht ist. Das Leben ist ab 18. Hardcore. Aber es wird ihm nicht viel ausmachen, wenn er ein paar Millionen weniger verdient.« »Danach kannst du ihn gleich selbst fragen.« Ulrike sieht, wie Daniel und Lulu auf die Bar zusteuern. »Da kommt dein ehemaliger Arbeitgeber mit meiner Chefredakteurin. Sollen wir abhauen?« »Ich würde deine Chefredakteurin gern kennenlernen.« Und so kann Ulrike zwanzig Sekunden später zu Lulu sagen: »Darf ich vorstellen: Lulu, das ist McDonald, Tim, das ist Lulu, meine Chefredakteurin.« Lulu will gerade ihre Zweifel an der Richtigkeit dieser Behauptung zum Ausdruck bringen, als sie den Blick von Daniel sieht. »Hi Timothy«, begrüßt der ungerührt seinen ehemaligen -265-
Programmierer, »how are you?« »Fine«, grinst Tim. »Moment mal, ich glaube das alles nicht. Ist das wirklich der Typ, den wir drei Wochen lang im ganzen Internet gejagt haben? Wie kommt der hierher? Und was hast du mit dem zu tun?« fragt Lulu Ulrike. Doch die kann das jetzt auf die Schnelle und überhaupt gar nicht mal so gut erklären. »Es hat mich sehr gefreut«, sagt schließlich Tim auf deutsch und zieht Ulrike mit sich weg. »Schade, daß es hier kein Hotel gibt«, meint sie beiläufig. Tim guckt sie von der Seite an. »Brauchen wir ein Hotel?« »Komm, gehen wir ein bißchen raus.« Sie lassen sich am Eingang des Saals abstempeln und gehen dann statt zum Portal einen dunklen, muffig riechenden Flur entlang. An der dunkelsten Stelle bleibt Ulrike stehen und zieht seinen Kopf energisch mit beiden Händen auf Kußhöhe herunter. Sie muß nicht lange ziehen. Sie küssen sich wie zwei verliebte Terrier. Im Eifer des Gefechts stößt Ulrike mit dem Ellbogen die Tür hinter sich auf. Beide purzeln in einen kleinen, engen, komplett mit Computerkartons vollgestopften Raum. Sie fallen in den Kartonstapel hinein, und automatisch entsteht eine Art Brunstkuhle. Vielleicht ist es auch ein Loch im Raum- ZeitKontinuum - genau an der Stelle entstanden, wo virtuelle und reale Welt zusammenstoßen. Kleidungsstücke wirbeln durch die Luft, die nie ein Mensch mehr sehen wird. Oder höchstens der Hausmeister beim nächsten Sperrmüll. Da sie am Lichtschalter vorbeigefallen sind, ohne ihn zu treffen, ist es hier genauso dunkel wie in dem virtuellen Hotelzimmer. Aber es gibt ja auch noch andere Sinne, mit denen man sich beim Bumsen orientieren kann, oder? Es ist zwei Uhr morgens, als zwei ziemlich staubige Gestalten mit drei Socken und einer Unterhose aus der Abstellkammer -266-
krabbeln. In den für das jeweilige Geschlecht vorgesehenen Toiletten machen sie sich wenigstens Gesicht und Hände sauber. Tim braucht länger als Ulrike. Dafür steht von diesem Zeitpunkt an auf dem Zettel, den die Smart Toilett ausspuckt, auch nicht mehr »Sie haben x,xx Promille«, sondern »Ihre Potenz ist um xx,x Prozent herabgesetzt.« Sie gehen zurück in den Saal. Eigentlich möchte Ulrike Tim gerne Stevie vorstellen. Und umgekehrt. Andererseits, wenn Stevie sie beide so sieht, dann könnte es Unfrieden geben. »Wie lange bist du noch hier?« fragt sie Tim. »Nicht mehr lange.« »Und, höre ich von dir?« »Sure.« »Komm, wir gehen mal zu der Wurfbude. Ich will ein Linux haben.« »O.k.« Ulrike wirft dreimal voll daneben, Bill Gates steht unverrückbar auf seinem Sockel. Sie dreht sich um. »Du, ich glaube...« Aber McDonald ist verschwunden. Ulrike fühlt einen Kloß im Hals und will sich noch ein Bier holen. Bier ist bei 0 %. Alles, was es noch gibt, ist Cola Light. Sie läßt sich auf den nächstbesten Pappkarton fallen. »Nicht stürzen« steht darauf. Irgendwann findet Stevie sie und fragt: »Warum siehst du denn so traurig aus?« »Ach nichts, ich bin besoffen. Fährst du mich nach Hause?« Stevie sieht sie an, als ob er alles weiß. Natürlich, wenn er die andern getroffen hat, werden die ihm ja die Sensation des Abends erzählt haben. Und sie hat keine Socken mehr. Und wenn irgend jemand weiß, wie Cyberlife und Real Life ineinandergreifen, dann ist er es. Aber er sagt nur: »Klar, also -267-
fahren wir.« Zu Hause geht Ulrike erstmal unter die Dusche. Vom Abenteuer also zurück zum Alltag. Nichts tut ihr leid. Weder das Abenteuer noch daß es jetzt zu Ende ist. Stevie, schüchtern, liebevoll, intelligent, ist alles, was sie zum täglichen Leben braucht. Cyberpunks sind nur im Cyberspace auf Dauer lebensfähig. Als sie wieder trocken ist, fragt sie Stevie: »Kann ich nochmal kurz in den IRC, bevor wir ins Bett gehen?« »Schönen Gruß.« Er weiß es. Sie loggt sich ein. ‹Uli› Gute Nacht, Tim. ‹McDonald› Gute Nacht, Molly. Gruß an +Revenger.
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Epilog Gleichzeitig mit der Auslieferung von Life setzt der Run auf den Patch ein. Fast niemand spielt Life, ohne der Hauptfigur sein eigenes Gesicht zu verpassen. Die Berichte der paar Leutchen, die das Pornobild angezeigt bekommen, nimmt kein Mensch ernst. Es wird seltener gesichtet als das Ungeheuer von Loch Ness und bald ganz ins Reich der Fabel verbannt. Einige Wochen später bekommt Herr Hoffart, ein äußerst lukratives Angebot aus USA. Er wird »Assistent Vice President für noch zu definierende Aufgaben« bei Gemstone Games, und die Happy PowerPlayer bekommt einen neuen Publisher. Genauer gesagt, sie bekommt ihren alten Publisher zurück, den guten alten Boris Beutel. In einigen Leserbriefen wird angedeutet, daß die Happy PowerPlayer eventuell nicht ganz objektiv sei, was die Spiele von Gemstone Games angeht. Lulu gibt mal wieder die Parole aus, Gemstone-Spiele ab sofort besonders streng zu testen. Damit das Heft nicht leidet. Daniel ist das Wurst. Dödel macht mit dem Bestseller »Cybersex für Cyberlaien« einen Haufen Geld und hängt seinen Redakteursjob an den Nagel. Ulrike bekommt von Zeit zu Zeit Mails aus den entlegensten Ecken des Cyberspace, von den obskursten Sites im Internet. Dann ist sie immer für ein paar Stunden ganz nachdenklich. Und wenn Stevie sie fragt, was sie hat, sagt sie: »Nichts weiter.« Stevie versteht das.
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Glossar Adventure -Spiel Computerspiel, bei dem der Spieler in die Rolle der Spielfigur schlüpft und verschiedene, oft sehr verzwickte Aufgaben lösen muß, um Schritt für Schritt ans Ziel zu kommen, z.B. die Erde zu befreien oder einen verschwundenen Yeti zu finden. Ballerspiel Computerspiel, bei dem es hauptsächlich darauf ankommt, möglichst viele Gegner möglichst schnell zu erschießen oder anderweitig um die Ecke zu bringen. Die Handlung ist hier nebensächlich. Capture Datei, die man durch -› mitloggen erhält. Channel Einzelne -› Online-Konferenz im -› IRC. Jeder Teilnehmer kann einen eigenen Channel aufmachen. Oft sind mehrere tausend Channels mit je 1 bis 40 Personen gleichzeitig aktiv. Chat Elektronische Unterhaltung in Echtzeit. Was ein Te ilnehmer tippt, können alle anderen lesen. Chats gibt’s sowohl in Mailboxen mit mehreren Telefonleitungen als auch im Internet (-› IRC). Corewar Computerspiel für Programmierer. Mehrere CorewarProgramme werden auf dem gleichen Computer gestartet. Gewonnen hat, wessen Programm die anderen vernichtet. E-Mail Elektronische Post. einloggen Einen Computer oder eine Mailbox »betreten«. Meist ist dazu die Identifizierung durch Benutzerkennung und Paßwort -270-
erforderlich. GIF Grafikformat für hochauflösende Fotos. Wird gern für Schweinebildchen verwendet. Internet Das Internet ist der Verbund aller Computer, die auf Basis des Internet-Protokolls miteinander kommunizieren. Egal, ob dies über die Telefonleitung, im lokalen Netz oder über schnelle Datenleitungen geschieht. Am Internet hingen Anfang 1995 rund 3 Millionen Computer mit mindestens 25 Millionen Benutzern auf sechs Kontinenten. Wie zum Beispiel mein PC im Büro, viele lokale Mailboxen, die meisten Uni-Großrechner oder auch CompuServe, die größte Mailbox der Welt, mit allein 3 Millionen Benutzern. Internet-Adresse Auch IP-Adresse. Jeder Rechner am Internet besitzt eine eindeutige Adresse. Für eine E-Mail an einen bestimmten Benutzer dieses Rechners benötigt man zusätzlich dessen Benutzerkennung. IRC Internet Relay Chat. Dieser -› Chat, läuft nicht auf einem einzelnen Rechner, sondern praktisch im ganzen Internet. Hier chatten zu jeder Tages- und Nachtzeit viele tausend Menschen aus der ganzen Welt. Damit das nicht unübersichtlich wird, gibt es -› Channels. Linux Unterart von -› UNIX, die ursprünglich von dem schwedischen Studenten Linus Thorwald entwickelt wurde. Mittlerweile wird es von Programmieren in aller Welt ständig weiterentwickelt. Im Gegensatz zu anderen UNIX-Systemen ist Linux kostenlos. Login siehe -› einloggen. mitloggen mitspeichern, z.B. einer -271-
› Online-Konferenz, auf dem eigenen Rechner. Modem Das wichtigste Gerät überhaupt. Damit kann man nämlich Computer per Telefon miteinander verbinden. Mosaic Ein Programm, mit dem man besonders komfortabel auf verschiedene Dienste im Internet zugreifen kann. Newsgroup Elektronische, themenbezogene Nachrichtenbretter, die übers -› Usenet verteilt werden (das in weiten Teilen, aber nicht ganz, mit dem -› Internet identisch ist). Es gibt rund 5.000 verschiedene Gruppen, für alle denkbaren Themen von Aquaristik über alle Arten von Computerthemen bis zu Zombies und Zeitmaschinen. In die meisten Gruppen kann jedermann hineinschreiben. Die Namen der Newsgroups sind nach folgendem Muster aufgebaut: »oberbegriff.worum.geht.es.im.einzelnen«. online Wer online ist, ist über seinen eigenen Computer mit einem entfernten Computer verbunden. Online -Konferenz siehe -›Chat. offline Gegenteil von -› online. Man sagt z.B. »Ich gehe offline«, wenn man eine Mailbox verläßt. Server Zentraler, leistungsstarker Computer, der für viele kleinere Computer verschiedene Dienste bereitstellt. Snail-Mail Schneckenpost. Herkömmliche Briefpost. Signoff Gegenteil von -› Signon. -272-
Signon Das Gleiche wie -› Login. Site Einzelner Rechner im -› Internet. Sysop System Operator. Betreiber einer Mailbox. telnet UNIX-Programm, mit dem man sich über’s -› Internet auf entfernten Rechnern -› einloggen und dort arbeiten kann. Text-Adventure Veraltete Form des Computerspiels, bei der die Spielhandlung lediglich als Text am Bildschirm erscheint. Die Steuerung des Spiels erfolgt mit der Tastatur durch Tippen von einfachen Sätzen wie »open door« oder »go west«. UNIX Leistungsstarkes und äußerst flexibles Betriebssystem für Computer aller Art. Das Lieblingssystem der Freaks, weil es so schön schwierig zu bedienen ist. Usenet Die Gesamtheit aller Computer, die -› Newsgroups untereinander austauschen. Nicht zu verwechseln mit dem Internet, obwohl das eigentlich völlig Wurst ist. Wer Internet und Usenet gleichsetzt, outet sich jedoch als Neuling. User Eingetragener Benutzer einer Mailbox oder eines anderen Online-Dienstes. Windows Beliebte und gleichzeitig gehaßte graphische Benutzeroberfläche. Manche behaupten, Windows eigne sich nur dazu, den Rechner zu bremsen. -273-