OTTO ZIERER
BILD DER J A H R H U N D E R T E EINE WELTGESCHICHTE IN 19 EINZEL- UND 11 DOPPELBÄNDEN
Chaotisches Jahrhu...
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OTTO ZIERER
BILD DER J A H R H U N D E R T E EINE WELTGESCHICHTE IN 19 EINZEL- UND 11 DOPPELBÄNDEN
Chaotisches Jahrhundert Unter diesem Titel ist soeben der zehnte Band der neuartigen Weltgeschichte erschienen. Der Band behandelt das dritte nachchristliche Jahrhundert Alle Mächte „des Unheils scheinen entfesselt. Bürgerkriege, Soldaten- und Palastrevolutionen, Inflation, Mißernten, Erdbeben und Pest, von Germanen und Parthern überschwemmte Reichsgrenzen, Bettleraufstän^e in Gallien und Ägypten, Habgier der Besitzenden, Verzweiflung der Flüchtlingsströme und der Sklavenmassen: Wer vermöchte das Chaos zu bannen? Der große Diokletian bändigt noch einmal die Gewalten der Finsternis, aber er scheitert am Grundproblem derZeit, die äußerlich heidnisch, doch im Innern bereits weithin vom Geist des Christentums erfaßt ist.
Auch dieser Band ist in sich vollkommen abgeschlossen und enthält wiedei ausgezeichnete Kunstdrucktafeln und zuverlässige historische Karten. Er kostet in der herrlichen Ganzleinenausgabe mit Rot- und Goldprägung und farbigem Schutzumschlag DM 3.60. Mit dem Bezug des Gesamtwerkes kann in bequemen Monatslieferungen jederzeit begonnen werden. Auf Wunsch werden auch die bereits erschienenen Bücher geschlossen oder in einzelnen Bänden nachgeliefert. Erschienen ist seit Dezember 1950 monatlich ein Band. Prospekt kostenlos vom
VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU/MÜNCHEN Beachten Sie bitte die letzte Seite
KLEINE BIBLIOTHEK DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
H.
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
PLETICHA
2006 digitalisiert von Manni Hesse
VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU / MÜNCHEN
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Die Ruinenhügel am Tigris Unerträglich sind diese Sommertage des Jahres 1840. Die grausig eintönige Ebene am Oberlauf des Tigris ist verbrannt von der ewig herniedersengenden Glut. Die Europäer, die hierherkommen, weil die gewerbereiche Stadt Mosul mit ihren Metall-, Leder- und Baumwollbetrieben, ihren Karawansereien und Basaren guten Verdienst verspricht, ersehnen über Tag einzig das Herankommen der Abende. Dann kann es sein, daß aus dem kurdischen Hügelland im Norden ein kühlender Lufthauch herüberweht und Linderung bringt. Mancher Kaufmann oder Beamte des Westens schwingt sich zu solcher Stunde in den Sattel, um im schnellen abendlichen Erholungsritt den erquickenden Windhauch auszukosten. Paul Emile Botta, französischer Konsularagent in Mosul, nutzt diese Ausritte, um Land und Zustände des Strom- und Wüstenlandes zu erkunden. Der Stromlauf des Tigris, die mesopotamische Ebene bis zum Euphrat ist ihm auf diese Weise vertraut geworden. Er kennt die Bevölkerung und die Städte bis hinunter nach Bagdad, der sagenhaften Residenz Harun al Raschids, wo Euphrat und Tigris, die beiden Bruderflüsse, sich ganz nahe kommen. In diesem Sommer 1840 ist Paul Emile Bottas Aufmerksamkeit nicht mehr in erster Linie der Landschaft und ihren Bewohnern zugekehrt. Seltsame Hügel vor den Toren Mosuls, die nicht naturhaft gewachsen sein können, haben es ihm angetan.. Die Erhebungen sind von jeher von Geheimnissen umwittert, man erzählt sich, daß unter ihnen Ninive begraben liege, eine Zeitlang Hauptstadt des alten assyrischen Reiches und ganz Westasiens. 2
Botta ist nicht der erste, der sich um die unvermittelt aus der Ebene ragenden Anhöhen kümmert und allerlei darunter vermutet. Dies Verdienst gebührt einem unternehmungsfrohen schwäbischen Arzt und Naturforscher namens Rauwolf. Der Medicus hatte sich immerhin schon im Jahre 1575 von seiner Heimatstadt Augsburg bis hierher gewagt, um die weite Welt des alten Orients kennenzulernen. Bei dieser Gelegenheit war er nach gründlichem Studium der alten Schriftsteller und nach Befragung der Eingeborenen zu der Ansicht gekommen, daß hier in der Landschaft das aus der Bibel bekannte Ninive gelegen haben könne. Aber die Zeit der späten Renaissance stand noch zu sehr im Banne der großartigen Ausgrabungen und Funde auf römischem Boden, als daß sie für ein solch entlegenes und sagenhaftes Gelände Interesse bekundet hätte. So blieben die merkwürdigen Erhebungen unangetastet. Zweihundertfünfzig Jahre später erst erscheint ein Beamter der Ostindischen Kompanie, James Rieh aus Bagdad, und stöbert hier und da in den Sandhügeln herum; er findet einige Ziegel darin und kleine steinerne Gegenstände und schickt alles voll Stolz an das Britische Museum nach London. Aber die Funde werden kaum beachtet. Botta nimmt sich die Zeit, mit einer bedacht vorbereiteten Ausgrabung zu beginnen. Er will der Welt den Beweis liefern, daß die Hügel von Mosul aufschlußreiche Ruinenstätten sind, versandete Überreste einer längst vergangenen Kultur, die dem Gedächtnis der Menschheit entschwunden ist. Aber was nützt aller Aufwand und alle Grabungsfreude? — Botta müht sich vergebens. Der Riesenhügel nahe bei dem Dorfe Kujundschik, an dem er angefangen hat, scheint ohne Bedeutung zu sein. Von allen Seiten schneidet der Unermüdliche die Hänge an — nirgends eine Entdeckung von Wert. Die Arbeiter, die er mit hohen Kosten verpflichtet hat, kehren ihm enttäuscht den Rücken. Da rät ihm ein Eingeborener, bei dem in der Nähe liegenden Dorfe Khorsabad zu suchen, wo ähnliche Erdmassen zu Hügeln aufgeschichtet seien. Botta folgt nur zögernd dem Vorschlag des Bauern. Kaum aber hat er am neuen Grabungsplatz die ersten Erdschichten beseitigt, als ihm ein großartiger Fund gelingt. Eine Mauer mit zahlreichen Skulpturen kommt zum Vorschein, so seltsam und fremdartig, wie sie bisher nirgendwo entdeckt worden sind. „Ich glaube, daß ich der erste bin, der Bildwerke ausgegraben hat, die man mit Recht der Periode zuschreiben kann, da Ninive blühte", so schreibt Botta, und die gelehrte Welt horcht auf. Seit dem Untergang des assyrischen Weltreiches um das Jahr 600 v. Chr. ist hier zum erstenmale ein Bauwerk dieses Volkes ans Tageslicht gekommen. 3
IAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA; Karte Mesopotamiens, des Zweistromlandes
Was der Forscher hier im Dorfe Khorsabad dann in einer weiteren langwierigen Grabung zu Tage fördert, sind die Überreste eines herrlichen stadtartigen Palastes, Fundamente und aufstrebende Mauern der Residenz des Königs Sargon aus dem 8. Jahrhundert v. Chr.; Ninive ist es nicht, kann es nicht sein, denn ringsum zeigt sich keine weitere Spur von Gebäuden, und die flache Umgebung besteht nur aus gewachsenem Boden. Aber der angeschnittene Hügel ist so reich an großartigen Grabungsfunden, daß Enttäuschung nicht aufkommen kann. Von Frankreich kommen Archäologen und Ausgräber herüber, um die aufgerissenen Hügelflanken nach weiteren historischen Schätzen zu durchforschen. Zwei Jahre nach Bottas erster Unternehmung taucht auch ein junger scharfsinniger Engländer auf den Grabungsfeldern von Mosul auf. Es ist Sir Henry Layard, der, auf der Suche „nach der Geburtsstätte der Weisheit des Abendlandes", Kleinasien und Syrien durchwandert und sich dann in die" Zweistromlandschaft gewandt hatte, „welche Juden und Heiden als die Wiege ihres Stammes bezeichnen". Als er nach Erreichung des Tigrisufers die ungeheuren Erdhaufen in der sonnenverbrannten Wüste erblickt, weiß er, daß sie sein Schicksal sein werden. Mit Spaten und Sandsieb, Lupe und Spachtel und einer ursprünglichen Kombinationsgabe beginnt er zu graben. Der englische Gesandte am Bosporus stellt ihm die erforderlichen Gelder zur Verfügung.
Die Bibliothek der 33 OOO Tontafeln „Bottas glückliehe Erfolge hatten meine Begierde, die Ruinen Assyriens zu erforschen, vermehrt", so erzählt Henry Layard, dessen Ruhm als Ausgräber bald die Leistungen und Erfolge seines Vorgängers weit in den Schatten stellt. Layard hat Glück, denn schon der erste Hügel, an den er, einen Tagesritt von Mosul entfernt, mit Spaten und Spitzhacke herangeht, erweist sich als eine wahre Fundgrube assyrischer Altertümer. Zunächst ist es nur eine Wand mit Inschriften und Reliefbildern, dann ein Gemach mit einem herrlichen Figurenfries. Dann weitere Reliefs mit Bildern, die Szenen königlicher Jagden und Feldzüge darstellen. Nach der noch lebendigen Überlieferung der Eingeborenen soll hier der Palast des sagemhaften Königs Nimrod gestanden haben, jenes Nimrod, den das Alte Testament als den „gewaltigen Jäger vor dem Herrn" erwähnt. Die Beduinen, für die dieser Nimrod eine Schreckgestalt ist, stehen der Arbeit des Fremden nur mit Mißtrauen gegenüber. Seit alters fürchtet man die Wiederkehr dieses Riesen Nimrod, den Noah verflucht hat. Und tatsächlich geschieht das „Schreckliche"! Vom 5
Grabungsplatz am Nordwesthang des Palasthügels stürzen eines Morgens die an einem Suchgraben beschäftigten Arbeiter in das Zelt Sir Layards: „Eile o Bey, eile zu den Grabenden, denn sie haben Nimrod selbst gefunden". Als Layard die Ausgrabungsstätte erreicht, bietet sich ihm ein erstaunliches Bild: Aus der Erde ragt ein riesiger, vom Alter gebleichter Alabasterkopf, als wäre er eben aus der Unterwelt aufgetaucht. „Der Kopf war bewundernswert gut erhalten", schreibt Layard in seinem Bericht über den Fund, „der Ausdruck war ruhig, und der Umriß der Gesichtszüge zeigte eine Freiheit und Kenntnis der Kunst, die man an Werken einer so frühen Epoche wohl schwerlieh erwartet haben dürfte." Layard kümmert sich nicht um die aufgeregte Menge, die mit dem Ruf „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet" davonstürzt. Den abergläubischen Pascha, der die sofortige Einstellung der Erdarbeiten verlangt, weiß Layard zu beruhigen. Er ist bestrebt, mit seinen europäischen Gehilfen das ganze Steinbild zu bergen. Als sie es freigelegt haben, steht ein geflügeltes Ungeheuer, ein Fabeltier vor ihnen, wie es in dieser Größe und Schönheit noch nirgends gefunden worden ist. Das Bildwerk stellt einen majestätisch ausschreitenden Löwen mit Flügeln und einem menschlichen Kopf dar. Noch kann sich Layard nicht erklären, was das Ungeheuer bedeutet. „Stundenlang betrachtete ich dieses geheimnisvolle Sinnbild und dachte über seine Bedeutung und Geschichte nach. Welch edlere Formen hätte wohl das Volk in den Tempeln seiner Götter einführen können?" überlegt er. Aber es scheint, als ob jetzt die Zeit der geflügelten Löwen angebrochen wäre; denn immer neue, ähnlich gestaltete Riesenfiguren kommen zum Vorschein. Layard hat, wie sieh später herausstellt, am Hügel Nimrod eine machtvolle Residenz aufgefunden, deren Anfänge ins 2. Jahrtausend zurückreichen; es sind die Paläste von Kalchu, das um 870 v. Chr. unter König Assurnarsipal die Stadt Assur als Hauptstadt Assyriens abgelöst hatte. Auch in der Folge ist die Ausbeute an Kultbildern geflügelter Löwen, an Reliefs mit Darstellungen aus dem täglichen Leben der Assyrer, aus den Feldzügen und den Großwildjagden der Könige groß. Das meiste ist bewundernswert gut erhalten. Diese Schlachten- und Belagerungsreliefs, diese Jagdbilder mit fliehenden, tödlich getroffenen und erlegten Tieren sollten den Weltruhm der assyrischen Kunst begründen. Für Layard, der bisher nur seine Grabungen, die zeichnerische Aufnahme und Vermessungen der Kunststätten gekannt hat, erhebt sich die Frage, wie man die großartigen Schaustücke der zivilisierten Welt zugänglich machen kann. Wird es möglich sein, wenig6
stens einen der geflügelten Löwen aus der entlegenen Wüste Mesopotamiens nach Europa zu bringen? Layard, der bisher tausend Schwierigkeiten gemeistert hat, wird mit dieser Aufgabe fertig. Mit einem Massenaufgebot an Beduinen, werden zwei der freigelegten Löwenstandbilder auf schwere hölzerne Wagen verladen und zum Tigris gebracht. Von hier werden sie durch die Mosulschiffer bis ans Meer befördert. Es kostet Layard ein gutes Stück Geld, bis endlich alles an Bord gehievt ist und die Löwen auf Seeschiffen ihren Weg um Afrika herum nach London nehmen können. Die Löwen von INimrod-Kalehu sind 1851 Glanzstücke der Londoner Weltausstellung. Hier in den Ausstellungssälen beginnt für die Welt das erste Bekanntwerden mit der assyrischen Kultur. Für den Forscher aber endet damit die erste Ausgrabungsperiode in den Tigrishügeln. Die aufgeworfenen Gräben und Mulden werden wieder mit Erde zugeschüttet. Ninive, die aus der Bibel und den alten Schriftstellern her bekannte „Wunderstadt" des alten Orients, ist nicht gefunden. Layard verlegt seine Zeltstadt, um an anderer Stelle von neuem zu beginnen; er wendet sich einem der Hügel zu, der näher bei Mosul liegt, jener Schutthöhe von Kujundschik, an der Botta 1840/41 vergeblich seine erste Grabung versucht hatte; das Glück ist Layard geneigter als seinem Vorgänger. Schon nach kurzer Zeit stößt er auf einen Palast; es ist — ohne daß sich Layard der Tragweite seiner Entdeckungen noch voll bewußt wäre, — das erste Gebäude des alten Ninive, das aus tiefster Vergessenheit ans Licht tritt. Hier gelingt nun dem englischen Archäologen die wichtigste Entdeckung seines Lebens, die zugleich allen weiteren Bodenfunden an dieser Grabungsstätte erst ihr Gewicht gibt. Layard findet in dem Erd- und Backsteinschutt die älteste Bibliothek der Weltgeschichte. König Assurbanipal hat sie um 650 v. Chr. angelegt; sie besteht nicht etwa aus Büchern, sondern aus — Tontafeln und -täfeichen unterschiedlicher Größe, die zum Teil nur als Scherben und Scherbchen erhalten sind. Weiche Tonplatten waren das Schreibmaterial der Assyrer, 22 000 solcher Tafeln enthält die aufgefundene Sammlung, jede dicht mit Schriftzeichen besät. Aus Tausenden von Bruchstücken, aus der großen Zahl der wundervoll klar erhaltenen Ganztafeln gewinnt die Wissenschaft im Laufe der Zeit ein genaues Bild vom Leben in jener Zeit der ausklingenden Assyrerherrschaft. Da der König nicht nur die Urkunden und Schriftwerke des Hofes sammelte, sondern auch von einem Heer von Abschreibern überall im Lande interessante und wertvolle private und öffentliche Schriftstücke abschreiben und nach Ninive bringen ließ, — „die kostbaren Tafeln, die in Assyrien nicht vorhanden sind, bringt sie mir!" — 7
Keilschrifttontafel aus Ninive bietet diese tönerne Bibliothek einen Querschnitt durch das gesamte Leben eines bedeutenden Zeitalters. Da wird von Beutezügen erzählt, von Kriegsfahrten, Feldschlachten und Unterdrückung von Aufständen. Architekten erstatten Bericht über den Fortgang in den Bauarbeiten an Tempeln, Palästen, Straßen, Brücken. Viel hören wir von Jagden, von Forstarbeiten, von Maßnahmen zur Hebung der Viehund Weidewirtschaft, von Handel und Verkehr. Da liegen Briefe und Depeschen, Korrespondenzen mit Provinzbeamten, mit fremden Fürsten, Berichte aus den Feldlagern, aber auch viele Briefe treuer Untertanen, die den König oder einen beliebten Hofbeamten in Krankheiten beraten oder ihm Glückwünsche senden. Zahllos sind die Urkunden über Verkäufe, Pachtverträge und sonstige Rechtsgeschäfte. Man findet Bittschriften und Bettelbriefe, astrologische Voraussagen, ganze Traumbücher, mathematische Abhandlungen, Aufsätze aus der Heilkunde, Beschwörungsformeln, Gebetssammlungen und Anweisungen für den Gottesdienst. Manche herrliche Legende, i manches Epos hat sich dm Wortlaut erhalten, sie bieten oft weitreichende Rückblicke in die Vergangenheit des Zweistromlandes. Auch einige Lehrbücher kommen zum Vorschein, und für einige Abteilungen der Bibliothek sogar ein Bücherkatalog, in dem man heute noch nachlesen kann, was an Werken und Akten vorhanden war. Ja konnte man es wirklich lesen? Die assyrische Schrift kennt keine Bilder wie die ägyptische, die oft anschauliche Hin- j weise auf die Bedeutung der Zeichen bietet, sie besteht aus lauter kleinen fast gleichmäßigen Keilen, die in den Ton eingeritzt sind 8
und deren verschiedene Gruppierung die Wörter unterscheidet. Es war unsäglich mühevoll, diese Schrift zu enträtseln. Die endliche Entzifferung ist eine Großtat der Wissenschaft, die ebenbürtig neben den Leistungen der Ausgräber steht und der wir daher Beachtung schenken müssen.
Die Entzifferung der Keilschrift Überall im Vorderen Orient sind auf den steinernen oder tönernen Denkmälern der Vergangenheit die kleinen Keile zu finden. Und merkwürdig, diese Keilzeichen waren im Abendland früher bekannt, als die assyrischen Kunstaltertümer; schon im Jahre 1621 veröffentlichte der italienische Weltreisende und Sprachenforscher Pietro della Valle einige Zeichen, ein Jahrhundert später gaben dann die Franzosen die ersten vollständigen Inschriften bekannt. Aber kaum jemand glaubte an die Möglichkeit einer Entzifferung, denn gerade weil Keilschriftdenkmäler in allen Landschaften des Morgenlandes zu Tage traten, schien die Schrift Ausdruck für verschiedene Sprachen zu sein, die einstmals dort gesprochen worden waren; wie etwa, um einen modernen Vergleich zu gebrauchen, ein Großteil der so verschiedenen europäischen Sprachen sich der lateinischen Schrift bedient. Wie sollte man das Geheimnis der Keile entziffern, wenn man nicht einmal wußte, welche der orientalischen Sprachen sich hinter ihnen verbarg? Im Laufe der Zeit aber gelang dem deutschen Orientalisten Niebuhr, dem Vater des berühmten Geschichtsschreibers, bei der Überprüfung von Keilinschriften eine erste Feststellung, die vielleicht weiterführen konnte. Danach gab es nicht nur eine Keilschriftart, sondern drei verschiedene Schriftsysteme, die sich auf einer Tafel oder einem Monument meist zusammen, und zwar untereinandergesetzt, vorfanden. Das war zwar wenig für die Entzifferung, aber immerhin etwas; zumal wenn es Männer gab, die einmal aufgeworfene Gedanken auf geniale Art weiter verfolgen, entwickeln und zur Lösung führen können. Solch ein Mann war der junge Gymnasialprofessor Friedrich Grotefend in Göttingen, der zwar keine Kenntnis orientalischer Sprachen, aber die nötige Portion Scharfsinn besaß, um sich an das Werk zu wagen. Nachdem Grotefend sich eine Zeitlang in die merkwürdigen Zeichen vertieft hatte, sprach er die Vermutung aus, daß zu jedem der drei Keilschriftsysteme eine andere Sprache gehöre, wobei die Sprache des Landes, in dem die Inschrift gefunden wurde, gewiß au der Spitze der Schrifttafel stehen müsse. Grotefend arbeitete gerade an einer Tafel, die von 9
einem persischen ICönigspalast stammte. Er sagte sich, daß es sich um eine Ruhmesinschrift handeln müsse, die der König des Palastes zu seiner eigenen Verherrlichung hatte einmeißeln lassen; wahrscheinlich war der gleiche Text dreimal in den drei verschiedenen Keilschriften aufgeführt, um ihn auch den anderssprachigen Untertanen des Landes verständlich zu machen. Die erste Schriftgruppe hatte 40, die zweite 100, die dritte 300 Zeichen; also mußte die erste die einfachste sein. Und da darin gleiche Zeichen mehrmals wiederkehrten, war es aller Vermutung nach sogar eine Buchstabenschrift, in der jeder Buchstabe des Alphabetes immer mit den gleichen Schriftzeichen wiedergegeben wird — zum Unterschied von den Bilder- und Silbenschriften, in denen für jedes Wort oder auch für Silben immer ein neues Zeichen benötigt wird. Es war eigentlich selbstverständlich, daß sich in dem Text das Wort „König" befinden mußte, denn es war ja wohl der Herr des Palastes, der die Schrifttafel angebracht hatte. Nun galt es, andere Inschriften an Königspalästen nach einer Buchstabenfolge von der gleichen Länge und den gleichen Zeichen zu durchforschen. Tatsächlich fand man gleichangeordnete Zeichengruppen oftmals auf Keilschrifttafeln. Sie konnten also das Wort „König" bedeuten. Wo sich das Wort im gleichen Text unmittelbar hintereinander wiederholte, mußte es demnach „König der Könige" heißen. Nun suchte Grotefend alle aus den römischen und griechischen Schriftstellern und der Bibel her bekannten Eigennamen altorientalischer Könige zusammen und zählte die Buchstaben. Fand er nun auf einer Tafel vor dem Keilschriftwort „König" oder „König der Könige" ein Wort mit der Buchstabenzahl eines jener biblischen Herrschernamen, so konnte er mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß es sich um den betreffenden Königsnamen in Keilschrift handelte. So erkannte er die Königsnamen Darius, Hystaspes, und es gelang ihm auf diese Weise, zunächst einmal elf Buchstaben des Alphabets eindeutig zu entziffern. Der Anfang war gemacht, und wenn auch die mangelnden orientalischen Sprachkenntnisse Grotefends eine Weiterführung der Arbeiten verhinderten, so setzten andere Forscher das Werk fort; Buchslabe um Buchstabe gab sich zu erkennen, bis alle 42 Zeichen des Alphabets des ersten Keilsehriftsystems entziffert waren und ein großer Teil ihres Wortschatzes offen vor den Schriftforschern lag. Es war die Schrift und Sprache der Perser. Doch noch harrte das Bätsei der beiden anderen auf den Tafeln aufgeführten Keilschriften und Sprachen seiner Lösung. Da man angenommen hatte, und auch annehmen durfte, daß sie Übersetzungen des ersten Textes 10
Sumerische Bilderschrift (oben), babylonische Keiischriftentwicklung (unten) waren, die Zahl ihrer Zeichen aber viel größer war (100 bzw. 300), konnte es sich nicht mehr um Buchstabenschriften handeln, sondern um viel kompliziertere Schriftsysteme, nämlich Bilder- und Silbenschriften, für die man viel mehr Zeichen braucht. Die Verwirrung wurde behoben, als in Kujundschik Täfelchen gefunden wurden, die nach eingehender Prüfung nichts anderes darzustellen schienen, als „Lehrbücher" für die Anfänger in der Keilschrift; darin war versucht, dem Lernenden eine Gegenüberstellung von Silben- und Buchstabenschrift zu geben. Es war zwar ein etwas unsicherer Halt, an den sich hier die Gelehrten klammerten, aber immerhin genügte er, um auch die zweite Keilschrift zu entschlüsseln. Ihr lag eine Sprache zugrunde, die man in Susa, im Südosten Mesopotamiens, sprach. Der größte Erfolg aber war die Enträtselung der dritten Keilschriftart; sie war das älteste Sprachsystem Mesopotamiens überhaupt und war Ausdruck für die babylonisch-assyrische Sprache der Sumerer, des frühesten Einwanderervolkes Mesopotamiens. Die große Zeit der Entzifferung auch ältester Schriftdenkmäler konnte beginnen.
Die „ W u n d e r s t a d t " fljinive Die Tontäfelchen in der Bibliothek von Kujundschik erzählen lebendige Geschichte, erzählen die Geschichte des assyrischen Reiches und der Stadt Ninive. 11
Das erste Buch Moses berichtet, daß Nimrod einst nach Assyrien gezogen sei und Ninive gebaut habe. Nin, eine der Göttinnen des Zweistromlandes, gab der Stadt ihren Namen. Tausend Jahre lang, in den Großzeiten der assyrischen Geschichte, bleibt Ninive gegenüber Assur und spater Kalchu im Range einer Provinzstadt, um dann schließlich kometenhaft emporzusteigen. König Sanherib macht sie an Stelle des entthronten Kalchu um 700 v. Chr. zur assyrischen Reichsresidenz, zu einer Zeit also, da fern im Westen Rom gegründet ist, das einmal Herrin des Abendlandes und Erbe der orientalischen Reiche sein wird. Nur kurz ist die Glanzepoche Ninives, nur neunzig Jahre hat es seine beherrschende Stellung bewahren können. Aber diese neun Jahrzehnte reichten aus, um den Namen der Stadt mehr als zwei Jahrtausende hindurch lebendig zu erhalten. Und nur den Namen! Als Stadtgebilde war Ninive so vollständig vom Erdboden verschwunden, daß der Römer Lukian schreiben konnte: „Ninive ist so zerstört, daß man nicht einmal mehr sagen kann, wo es gestanden hat, keine Spur ist übriggeblieben von dieser Stadt als ihr Name." Doch wird der Name Ninives, wo er im Laufe der Zeit auftaucht, nicht mit Ehrfurcht genannt, — nur mit Schrecken und Abscheu, zur Mahnung und Warnung. Mord, Tod und Haß, Krieg und Elend sind mit der Glanzzeit der Stadt und ihrer Herrscher aufs engste verbunden. Voll Jähzorn, der sich bis zum Wahnsinn steigern kann, ist König Sanherib, dem man sonst hohe Begabung zusprechen muß. Seine Regierungszeit ist ausgefüllt mit furchtbaren Kriegen, bis nach Jerusalem ziehen seine Heere, aber die „hochgebaute Stadt" trotzt seiner Belagerungskunst.. Mehr Erfolg haben die Raub- und Eroberungszüge, die gegen die Küstenstaaten am Persischen Golf gerichtet sind. Völker und Länder seufzen unter der Last der Opfer, die auf des Königs Befehl der neuen Weltstadt Ninive gebracht werden müssen. „Ninive aber wurde eine große Stadt vor Gott, drei Tagereisen groß", so steht in der Geschichte vom Propheten Jonas, der ausgesandt war, die Bürger der Weltmetropole zur Buße zu bekehren. Gewaltig ist die Befestigung, mit der sich die Stadt umgürtet hat. „Vierzig Ziegel dick und hundert Ziegel hoch" ragt allein die erste Mauer empor. Winzig aber ist dieses Bauwerk gegenüber dem Palast, den sich der König errichten läßt. Rücksichtslos werden alle Stadtteile, die dem Residenzbau im Wege liegen, beseitigt. Dort, wo ödes Land ist, entstehen auf Befehl des Herrschers blühende Gärten. Und, damit der Ruhm Ninives ungeschmälert bleibt, muß auch die größte Stadt des Zweistromlandes und der Welt, das erhabene Babylon, weichen, das seit fa6t tausend Jahren 12
den Assyrern dienstbar ist. Kein Stein darf dort auf dem anderen bleiben; die Stadt, die Ninives Nebenbuhlerin werden könnte, muß ausgelöscht werden vom Antlitz der Erde. Aber auch Sanheribs Schicksal erfüllt sich, er fällt unter dem Mordstahl seiner eigenen Söhne. Sanheribs Nachfolger Assarhaddon führt nicht weniger Schreckenskrieige als sein Vorgänger; unter diesem „König der Könige" erreicht Assyrien die größte Ausdehnung seiner Macht, selbst das ferne Ägypten ist unterworfen. Zu höchster Blüte aber entfaltet sich die Hauptstadt erst unter Assurbanipal um das Jahr 650 v. Ch. und ihm, der nicht nur kriegerische Ziele verfolgt, sondern auch wissenschaftlich-literarische Aufgaben erfüllt, verdanken wir es, daß wir den assyrischen Kulturkreis so weithin und bis in Einzelheiten kennen. Die Keilschriftbibliothek, die Layard im Hügel von Kujundschik, auf dem Boden des alten Ninive fand, ist für immer mit den Königsnamen Assurbanipal verbunden. Mit Assurbanipals Regierung endet aber auch die Geschichte Ninives. Zwanzig Jahre nach seinem Tode vollzieht sich die Vernichtung durch die aus den persischen Bergen einbrechenden Meder.
Babylon — „Pforte des Herrn" Als Ninive gefallen ist, verlagert sich das Machtzentrum des Zweistromlandes wie von selber in die Mitte Mesopotamiens, die sich dem Zugriff der Meder hatte entziehen können. Während Assyrien zu einer bedeutungslosen Provinz eines neu sich bildenden Mederreiches herabsinkt, erhebt sich das zerstörte Babylon aus seinen noch rauchenden Ruinen. Im Schutz einer gigantischen Grenzmauer, die Babylonien vom Euphrat bis zum Tigris gegen die Meder abriegelt, erhebt Babylon stolzer und mächtiger als je sein Haupt. Es ist, als ob sich die Jahrtausende seiner wechselvollen Geschichte noch einmal in einer großen Epoche sammeln sollten. Bab-ilu, „Pforte des Herrn", so ist Babylons Name zu deuten. Wir lesen ihn erstmals im Buch der Bücher in dem Bericht vom Turmbau zu Babel, untrennbar ist er verbunden mit der Geschichte des Volkes Israel, ja mit der Geschichte der ganzen Menschheit. An der Stelle, an der um das Jahr 2700 einer der Kleinkönige des mittleren Euphrat eine Burg angelegt hat, dehnt sich gegen Ende des 3. Jahrtausends eine kleine Handelsniederlassung. Der Ansturm vieler Stämme zwingt die Händler zum Mauer- und Burgenbau, und aus der Faktorei wird eine stolze Stadt, die das Land ringsum in ihren Schutz nimmt, ihre Herrschaft immer weiter stromab bis 13
zum Persergolf ausbreitet und sich alle Kleinstaaten in einem Reiche, das man das babylonische Reich nennt, dienstbar macht. In Babylon sitzt die Verwaltung jenes großartigen Bewässerungssystems, das die Wassermassen des Euphrat in tausend Rinnsalen, Wassergräben und Kanälen über das Land verteilt. Riesendämme begleiten die Stromufer und schützen die Niederungen vor den alljährlichen Hochfluten, die aus den Schmelzwassern der nördlichen Gebirge gespeist werden. Solanige die Dämme halten, solange die Kanäle und Flutgräben entschlammt werden und Schöpfräder sich drehen, ist Babylonien fruchtbares Land, das zahlreiche kleine Städte ernährt. Auf den Feldern dieser Oase gedeihen Gerste und Weizen, Bmer und Mohrhirse, Hülsenfrüchte, die Ölfrucht Esam, Wein, Äpfel, Birnen, Feigen, Pistazien, Mandeln und Zitronen. Die Reichshauptstadt Babylon ist eine der „Ewigen Städte" des Altertums. Oft fällt Babel in Trümmer und Schutt — aber jedesmal erhebt es sich prächtiger, ausgedehnter aus dem Ruinenfeld. Hoch blühen Stadt und Land unter König Hammurabi um das Jahr 1700 v. Chr., einem Herrscher aus dem semitischen Geschlecht von Amurru, der ganz Babylonien mit einer wohlgeordneten Verwaltung überzog und allen Kreisen des Volkes seine Fürsorge zukommen ließ. Dieser König, „König von Babylon, König der vier Weltgegenden, Begründer des Landes, Günstling Gottes" gab seinem Reich ein Gesetzbuch, das mit seinen 282 Paragraphen eine Schöpfung hohen Rechtsgefühls ist. Auf einem zweieinhalbmeter hohen Dioritblock ist diese „Richtschnur, Satzung und Landesgesetzgebung" auf uns überkommen. Aber auf die Glanzzeit dieses zielbewußten Herrschers folgten Jahrhunderte, in denen es von mächtigen Völkerbewegungen brodelte. Völkergeschiebe folgte auf Völkergeschiebe, bis dann um die Mitte des 2. Jahrtausends die Assyrer Babylon für fast tausend Jahre unter ihre Oberherrschaft zwangen. Abschluß dieser tausendjährigen Knechtschaft war die Zerstörung durch den Assyrerkönig Sanherib, von der im letzten Kapitel bereits berichtet wurde. Als aber um das Jahr 600 das Assyrerreich und Ninive versunken sind, steigt der Stern Babylons wieder empor. Nebukadnezar II. erhöht Babel zur mächtigsten Stadt der Erde. Ein zweites HammurabiZeitalter bricht an. Aber wie auf die Blütezeit unter diesem großen König bald der Verfall in die assyrische Knechtschaft erfolgt war, so verlor auch das Babylon Nebukadnezars schon nach wenigen Jahrzehnten Unabhängigkeit und Weltrang. Im Jahre 539 erobern die aus dem Osten hereinbrechenden Perser unter König Kyros die Stadt. Doch bevor Babylon gänzlich entmachtet wird, erlebt es noch 14
einmal eine Zeit großen Glanzes als Hauptstadt des Weltreiches Alexanders des Großen und als Hauptstadt seiner Nachfolger, der Seleukidenkönige. Dann erst wird es zur Einöde. Wie die großen Trümmerhügel am Ufer des Euphrat niemals restlos vom Wüstensand verweht sind, so verliert sich Babylons Name nie ganz im Vergessen der Menschen. Aber die Erinnerung ist dicht übersponnen von den merkwürdigsten Sagen. Im Palast des Königs Nebukadnezar hausen Schlangen und Drachen, erzählt ein Reisender des Mittelalters, der sich in die Trümmer gewagt hat, und er warnt vor diesen Drachen. Die gleiche Drachengeschichte findet sich mehrmals in den alten Berichten über Babylon. Vor den Drachen warnt auch noch der Ritter Schiltenberger, den das Schicksal um 1400 als Kriegsgefangenen der Moslems in den Orient verschlägt. In seiner Reisechronik heißt es: „Der Turm ist in der großen Wüste von Arabia auf dem Weg, wan man gen Chaldea zeucht, und mag auch niemand dahin kommen vor Drachen und Schlangen und anderem bösen Gewürm." Auch sein Landsmann, der schon erwähnte Arzt Rauwolf, der 1575 die Ruinen besucht, weiß ähnliches zu melden. Aber es scheint doch, als ob in der Folgezeit die Drachen viel von ihrem Schrecken verloren hätten; denn im 18. Jahrhundert beginnen einige kühne Altertumsforscher mit den Ausgrabungen an der Stätte von Babel. Später finden wir au den Grabungsplätzen Babylons dann jene Gruppe von Archäologen, die schon in Ninive mit Erfolg den Spaten angesetzt hatten. Aber noch wurde planlos gearbeitet; erst den Anstrengungen eines späteren Forschers sollte es vergönnt sein, Babylon aus dem Schutt erstehen zu lassen. Es ist Robert Koldewey, ein Deutscher, der als 44jähriger im Jahre 1899 mit seinen großen Ausgrabungen beginnt, und dieser Mann sucht nicht Babylon schlechthin, sondern ein bestimmtes Babylon. Denn die Stadtbereiche, die im Laufe von zwei Jahrtausenden diesen Namen getragen hatten, waren nicht einander gleichzusetzen. Es gab die kleine Handelssiedlung der Frühzeit, es gab ein Babylon des Hammurabi, ein Babylon Nebukadnezars und es gab die Weltstadt Alexanders des Großen. Wie Heinrich Schliemann ein ganz bestimmtes Troja gesucht hatte, die Trojastadt Homers, so ging Koldewey darauf aus, das prächtige Babylon König Nebukadnezars auszugraben, wie es um 600 im zweiten goldenen Zeitalter der Stadtentwicklung ausgesehen und wie es noch zwei Jahrhunderte darauf der griechische „Weltreisende" Herodot geschildert hatte, das Babylon, das dem Verfasser des Buches „Daniel" vor Augen stand, als er von ihm sprach. 15
So beginnt unter der Leitung Koldeweys eine Ausgrabungstätigkeit, die ohne Unterbrechung bis in den ersten Weltkrieg fortgeführt wird. Heute ist man geneigt, Ausgrabungsergebnisse nach besonders auffälligen Funden zu werten, die das Interesse weitester Kreise erregen, wie es die Goldschätze aus den Gräbern von Mykenae waren oder die großartigen Funde im Grabe des Ägypterkönigs Tut-ench Amun. Leicht hatte es in dieser Hinsicht Layard, das Weltinteresse zu gewinnen, als seine seltsamen Kolossalfiguren in Assyrien ans Tageslicht kamen. Wie wenig wissen wir dagegen von der entsagungsvollen Arbeit Koldeweys, die sich tagaus, tagein unter der Glutsonne Mesopotamiens vollzog! Unmassen von Schutt mußten beseitigt werden, denn Koldeweys selbstgestellte Aufgabe hieß nicht, um jeden Preis an aufsehenerregende Einzelfunde heranzukommen, sondern eine ganze Stadt, ihre Straßen, Häuser, Tempel und Paläste so freizulegen, daß sich ein klares, städtebauliches Bild von ihr ergab. Bis zu 250 Arbeiter hatte Koldewey täglich angesetzt. Gegen kleinen Arbeitslohn beseitigten sie die 10 bis 20 Meter dicke Schuttschicht, die über der eigentlichen Mauer lag. Eintönig verliefen die Tage; nur die benachbarten Araber sorgten für einige Abwechslung. Nicht ohne Grund waren die Mauern des Expeditionshauses von ziemlicher Dicke, nicht umsonst hatte man das einzige Tor mit Bohlen und Eisenstangen gut gesichert; denn oftmals pfiffen den Forschern die Kugeln aufgebrachter Beduinen um die Köpfe. In neuerer Zeit hat sich dieser Zustand wesentlich gebessert, mit der „Romantik" des Ausgräberlebens ist es vorbei, Amerikaner und Engländer, die Koldeweys Erbe angetreten haben und heute noch fortsetzen, können ruhig ihrer Arbeit nachgehen. Was Koldewey vermutet hatte, erwies sich bald als richtig. Nebukadnezar hatte dem Babylon, das von Sanherib zerstört worden war und das er in neuer Pracht und veränderter Gestalt wiedererweckte, im wahrsten Sinne des Wortes seinen Stempel aufgeprägt. Das Werk dieses Königs war nicht zu verkennen, denn Millionen der beim Bau verwendeten Ziegel waren gestempelt und trugen den Namen des Königs; größere Platten wiesen deutliche Inschriften auf, wie „Ich bin Nebukadnezar, König von Babylon, Sohn Nabopolassars, des Königs von Babylon. Die Babelstraße habe ich für die Prozession des großen Gottes Marduk mit Steinplatten gepflastert. Marduk, Herr, schenke ewiges Leben!" — Wahrlich, die Herrscher Babylons verstanden, ihren Namen Unsterblichkeit zu verleihen!
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IIcrodot hat nicht übertrieben Um das Jahr 450 v. Chr. hat Herodot, ein Grieche aus Kleinasien, die damals bekannte Welt durchwandert; er kam auch in die Euphratebene und hinterließ der Nachwelt ein interessantes Buch über seine Reisen. Bei der Schilderung der Landschaften Vorderasiens berichtet er sehr eingehend auch über Babylon und weiß so viele seltsame Dinge von dieser Stadt, daß sie mehr als zwei Jahrtausende lang für starke Übertreibung gehalten worden sind und nicht minder kurios erschienen wie die Drachengeschichten, die das Mittelalter hervorgebracht hatte. Als Koldewey kurz vor der Jahrhundertwende zu graben begann, hatte sich die kritische Einstellung zu Herodots Erzählung noch nicht geändert, aber dann bestätigte sich Zug um Zug, was der griechische Gelehrte so farbig berichtet hatte. Zwar in der Länge der babylonischen Stadtmauer hatte Herodot sich geirrt, sie war, wie die moderne Vermessung ermittelte, „nur" 18 km lang. Aber zugleich hatte Herodot fast Unglaubliches von der Mächtigkeit und Breite der babylonischen Mauer zu berichten gewußt; sie sei oben so breit gewesen, schrieb er, daß ein Viergespann auf ihr ohne weiteres hätte wenden können. Koldewey findet einen dreifachen Mauergürtel, zuerst eine Grabenmauer von dreieinhalb Meter Dicke, dicht dahinter eine Mauer aus gebrannten Ziegeln von acht Meter Mächtigkeit, und zwölf Meter dahinter noch einmal eine sieben Meter dicke Lehmziegelmauer. Diese Zahlen geben vielleicht keinen rechten Begriff; aber wo gibt es im Altertum und im Mittelalter nochmals eine Stadtbefestigung von solchen Maßen — eine Bastion, die von der ersten Mauerkante bis zum äußersten Rand der letzten 30 Meter mißt? Da der Zwischenraum zwischen der zweiten und dritten Mauer bis obenhin mit Steinen angefüllt gewesen ist, konnte schon ein Viergespann wenden, ohne anzustoßen. Die Höhe dieses gewaltigen Mauerkranzes kennen wir nicht, denn den Archäologen gelang es nur, die Grundmauern auszugraben. Mit 200 Ellen gibt der Grieche ihre Höhe an, und so bewahrheitet sich das Wort Nebukadnezars: „Eine gewaltige Mauer erbaute ich.. . das Bollwerk befestigte ich kunstvoll und machte die Stadt Babylon so zur Festung." Doch der Mauerring war nicht die einzige Überraschung für die Ausgräber, prächtig und großartig waren auch die Gebäude und Tempel der Stadt, waren die Straßen, deren Pflaster nun freigegraben wurde vom Schutt. Über diese Steinplatten schritten einst Nebukadnezar und Daniel, der Prophet Jehovas. Als die, schönste Straße erwies sich die Prachtstraße der Pro17
Zessionen, die im Altertum so berühmt war, wie heute etwa der Broadway in New York oder die Champs Elysees in Paris. Vom Tempel Esagila, der dem Gott der Götter, dem großen Marduk, geweiht war, nahm die Straße ihren Ausgang; am Marduk-Tempe] begann auch alljährlich zum babylonischen Neujahrsfest die Prozession der Götterbilder. Am ersten Tage des Monats Nisam, der
Babylonischer Drachen mit dem Aussehen eines sagenhaften Vogels unserer Frühlingstag- und -nachtgleiche entspricht, eröffnete der Oberpriester des Tempels Esagila die -großen Feiern, die ihren Höhepunkt am elften Tage erreichten, an dem die Götter Babels erschienen, um dem Gottkönig Marduk zu huldigen. Die Neujahrsprozession bewegte sich vorbei an den Tempeln der Untergötter; zur Rechten lag das Heiligtum der Ninmach, in dem 300 Jahre nach Nebukadnezar Alexander der Große totkrank seine letzten Opfer den Göttern darbrachte. Zur Linken ragten steil die Mauern der Südburg empor, in deren Thronsaal Belsazar, der letzte König Babylons, Gott lästerte und von Daniel die drohende Mahnung des Herrn empfing. Die Prozession erreichte am Ischtartor den nördlichen Abschluß der Straße. Von zwei Türmen flankiert, ragte der Torbau 12 Meter empor. Die Stadt- u n d landwärts gelegenen Fassaden des Bauwerks waren mit leuchtendblau glasierten Ziegeln verkleidet und mit den Reliefbildern von Löwen, Stieren und Drachen geschmückt. Grausig vor allem waren die Drachen — deren Leiber Vögeln, Schlangen und Raubkatzen zugleich glichen. Der schreckenerregende Kopf bleckte die Zunge; schlangenförmig erhob sich der Hals über dem Körper, dessen Vorderseite mit Schuppen und dessen Rückseite mit Haaren bedeckt war. Die katzenartigen Pranken endeten in Raubvogelkrallen. Über 500 solcher Reliefs schmückten, nach Koldeweys Vermutung, das Tor, dem die Mondgöttin Ischtar den Namen gegeben hatte. Drachen waren in Babylon hochheilige Tiere, sie waren Gott Marduk geweiht. Ihre Abbilder 18
finden sich fast auf allen babylonischen Denkmälern jener Zeit, auf Ziegeln, Grenzsteinen und Siegelzylindern. Von diesen Drachen, die Babel und seine Könige schützten, sprachen wohl die alten Orientreisenden, wenn sie vor dem Betreten der Tempel- und Palastruinen warnten. Drachen hielten am Ischtartor Wache, und dieses Tor führte zur inneren Stadt, zum Palast des Königs, der nur wenige Schritte stadteinwärts im Schutze der Mauern und zugleich im Schutze der Tordrachen lag. Noch ein weiteres berühmtes Bauwerk fand Koldewey auf, eines, das zu den „Weltwundern" des Altertums zählte: die „hängenden Gärten" der Königin Semiramis. Koldewey hatte in Tontafelbeschreibungen von Babylon gelesen, daß die Gärten die einzige Stelle in der Stadt waren, an der man als Baumaterial Hausteine statt Ziegel verwendet Labe. Koldewey braviehte also nur nach einer solchen Stelle zu suchen und festzustellen, ob an diesem Punkt „hängende Gärten" mö
Der Turm von Babel Aber was sind Befestigungen, Tempel, Prachtstraßen, Paläste und Dachgärten gegen jenes eine gewaltige Bauwerk, das zum eigentlichen Wahrzeichen Babels werden sollte! „Und sie kamen vom Osten ihergezogen und fanden eine Ebene und ließen sich darin nieder. Und sie sprachen zueinander: Auf, laßt uns Luftziegel formen und Backsteine brennen . . . bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel!" — so steht es im ersten Buch der Bibel, in der Geschichte vom Turmbau zu Babel. Es gab in Babel einen solchen Turmbau. Wenn auch seine Spitze nicht bis in den Himmel reichte, so stand er den Pyramiden Ägyptens nur wenig nach. „Etemenanki" nannten die Babylonier diesen Stufenturm, „Haus der Fundamente des Himmels und der Erde". Er gehörte zu dem heiligen Tempelbereich Esagila des Gottes Marduk. Zwar ist der Turm der Bibel bei der Zerstörung der 19
Stadt durch die Assyrer in Trümmer gefallen, aber der Vater Nebukadnezars, König Nabopolassar, hatte „auf Befehl des Gottes Marduk" das himmelanstrebende Kulthaus wieder erneuert und Nebukadnezar den Neubau schließlich vollendet: „Weite Volksscharen aus allen Ländern und aus der Gesamtheit aller Nationen bot ieh auf zum Bau von Etemenanki", rühmt sich der König. Etemenanki war zwar der höchste, aber nicht der einzige vielgeschossige Turm im Reiche der Babylonier. Jede größere Stadt hatte solch einen Tempelturm, einen Ziggurat. Aber von allen Turmpyramiden des Zweistromlandes heben die Reiseschriftsteller der Antike und die Tontafel- und Keilschriftfunde immer wieder das Turmheiligtum der Stadt Babel hervor. Um so merkwürdiger ist es, daß von dieser riesigen Anhäufung und Auftürmung von Ziegelmassen nur kümmerliche Reste erhalten sind, viel weniger als von anderen weniger machtvollen Bauten Babyloniens, so als habe auch der Nachfolger des biblischen Turmes wieder in Schutt und Asche versinken sollen. Nicht einmal ein Schutthügel nennenswerten Umfangs ist übrig geblieben; was jedoch an Ziegelhaufen, Grabenführungen und Fundamenten noch vorhanden ist, reichte aus, den Forschern Anhaltspunkte zu bieten. So ließ sich aus den erhaltenen Fundamenten ermessen, daß jede Seite der quadratischen Grundfläche des Hochtempels von Babel 90 Meter lang war. Um dieses Geviert des Turmsockels breitete sich ein Gewirr von kleineren Gebäuden, Tempeln und Vorratsräumen, mit Tempelschulen und den Werkstätten der Keilschriftschreiber. „In der Mitte des Heiligtums erhebt sich ein fester Turm, ein Stadium lang und ein Stadium breit", berichtet Herodot. „Auf diesem Turm steht ein zweiter, auf diesem ein dritter und so fort bis zu acht Türmen. Auf die Zinne führt eine Treppe, die um all diese Türme außen herum geht. Auf dem letzten Turm aber steht ein großer Tempel.. ." Leuchtendblau, wie an den Wänden des Ischtartores, waren die Ziegel getönt und gebrannt, das Dach war mit reinem Golde gedeckt. Stolz erhob sich der Stufenbau mit seinen aufeinandergesetzten Pyramiden bis in die Höhe eines Domturmes, und sein Farbenspiel schimmerte weit über die Euphratauen.
Diplomaten. Zauberer und Gelehrte Die sorgfältige und unermüdliche Arbeit der Ausgräber, Ingenieure, Baukundigen, Münzforscher, Schrdftkundigen, Chemiker, Zeichner und Photographen hat auch die babylonische Geschichte Stück für Stück ins Licht gerückt. Wie in Assyrien gaben auch in Babylon 20
Innenhalle eines babylonischen Palastes Tausende von Tontäfelchen mit Keilschrifttexten am meisten Aufschluß, zumal die babylonische Sprache und Schrift eine Zeitlang die Diplomatensprache und -Schrift der Alten Welt war. Im Jahre 1888 fand man in Tel-el-Amarna in Ägypten das „Staatsarchiv", die Korrespondenz zweier Pharaonen, aus den Jahren 1370—50 v. Chr. Diese Korrespondenz, die Ägyptens enge Beziehungen zum Ausland, vor allem zu Palästina und dem Zweistromland erkennen ließ, war nicht etwa in der ägyptischen Bilderschrift, sondern durchweg in babylonischer Keilschrift abgefaßt. Daraus glaubt man sehließen zu dürfen, daß die babylonische Sprache in damaliger Zeit eine ähnliche Stellung im zwischenstaatlichen Verkehr eingenommen hat, wie in der Neuzeit die französische Sprache. Wie Schrift und Sprache Babylons sich über den ganzen Vorderen Orient verbreiteten, so übte auch ein anderes Erbteil Babels in der alten Welt seinen Einfluß aus, wirkte weithin ins Abendland und ist auch heute noch nicht erloschen. Gleich einem Fluche lastet dieses Erbe auf den Menschen des Orients und der westlichen Welt. Es ist der Hexenglaube, der Jahrhunderte lang im Abendland das Zusammenleben der Menschen vergiftet hat; es ist die Wahrsagerei in ihren vielfältigsten Äußerungen; es ist der Gestirnskult und die 21
törichte Sterndeuterei, die das Schicksal der Einzelmenschen und Völker an unendlich ferne Gestirne gebunden glaubt; es ist der Dämonenglaube, der sich die Welt- und Lebensangst vieler «u nutze macht. Aber zu diesem verderblichen Erbe kommt eine Kulturüberlieferung von bohem Wert, so daß man die Babylonier als die „geistigen Nährväter der Nachwelt" bezeichnet hat. Die Rechenkunst, deren wir uns bedienen, geht auf sie zurück; das Zahl-, Maß- und Gewichtssystem von heute ist voller Anklänge an ihre Verhältnisse. Auch ihre Jahres-, Monats- und Wochenteilung hat das Abendland übernommen. Babylon ist die Heimat der Astronomie, manche Rechtsgrundsätze haben dort ihren Ursprung. Ihm verdankt die Architektur den Bogen- und Gewölbebau, auch der Fortschritt in der Bearbeitung des Metalls ist von daher beeinflußt worden. Der Weg, über den diese Kultureinflüsse in Europa wirksam wurden, führt über Kleinasien, Palästina, Kreta, ins Griechentum und nach Rom. Die Erforschung Babylons wird für immer mit dem Namen Robert Koldeweys verknüpft bleiben, wie die Ausgrabungen in Ninive mit dem des Franzosen Layard. 18 Jabre lang war Koldewey in Babel tätig, erst mitten im ersten Weltkrieg, im Jahre 1917, sah sich der verdienstvolle Archäologe gezwungen, die Grabungsfelder am Euphrat zu verlassen. Es sollte ihm nicht vergönnt sein, nochmals an seine Wirkungsstätte, in die er in einer jahrzehntelangen Tätigkeit gleichsam Wurzeln geschlagen hatte, zurückzukehren. Andere Forscher nahmen sein Erbe auf. Deutsche, Engländer, Amerikaner und Franzosen sandten in der Zeit seit dem Kriege abwechselnd ihre Expeditionen in die Landschaft Babylons. Aber auch der neue Staat Irak besann sich auf seine große Vergangenheit; seine Altertumsverwaltung übernahm einen Teil der Aufgaben, die bis dahin von den ausländischen Forschergruppen geleistet worden waren. Doch die große Zeit der archäologischen Entdeckungen in Babylon ist mit Koldewey zu Ende. Wie sich um die Jahrhundertwende das Hauptforschungsinteresse vom Norden, von Kalchu-Nimrod, von Assur, das die Deutsche Orientgesellschaft ausgegraben hatte, und von Ninive nach der Mitte Mesopotamiens, in die Landschaft der viel älteren Kultur der Babylonier verlagert hatte, so verschob sich nun die Grabungstätigkeit ganz nach Süden, in einen noch älteren, vielleicht den ältesten Kulturbereich des Zweistromlandes, nach Chaldäa am Unterlauf des Doppelstromes und in die Nähe des Meeres. Auch in diese idritte große und aufschlußreiche Landschaft Mesopotamiens wollen wir nun den Forschern folgen.
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Die Heimat Abrahams Die Geschichte der archäologischen Entdeckungen ist voller Überraschungen. Schon manches Grabungsunternehmen wurde begonnen, enttäuschte, geriet in Vergessenheit, und gelangte Jahre später dann doch zu großer Bedeutung. Im Jahre 1849 hatte Sir Henry Rawlinson am unteren Euphrat, etwa 15 Kilometer westlich des heutigen Flußlaufes, auf halbem Wege zwischen Bagdad und dem Persergolf, einen Ruinenhügel entdeckt. Er ragte über eine ausgedörrte, einsame Landschaft. Wohin das Auge blickte, dehnte sich die öde Sandwüste, nur im Osten begrenzten den Horizont zwei dunkle Streifen — die Palmenhaine an beiden Euphratufern. Arme Araber waren in dieser Wüste die einzigen Bewohner und fristeten ein kärgliches Dasein. Rawlinson hatte einige Laufgräben gezogen und festgestellt, daß in dem künstlichen Hügel die Reste eines Ziggurats verborgen lagen, wie sie vielerorts im Lande ausgegraben worden waren. James E. Taylor hatte im Jahre 1854 die Arbeiten fortgesetzt und war bald schon auf Tonzylinder mit Inschriften gestoßen, die besagten, daß Nabonid, um 550 v. Chr. König von Babylon, diesen Turm hatte wiederherstellen lassen, der von Ur-Nammu und seinem Sohn Dungi erbaut worden sei. Aus alledem hatte sich ergeben, daß es sich um einen Turm der Stadt Ur handeln mußte: Ur in Chaldäa, nach der Bibel die Heimatstadt Abrahams. Offenbar hatte aber das schwierige Gelände den Forscher entmutigt, schon nach zwei Wintern waren die Ausgrabungen wieder eingestellt worden. $lehr als ein halbes Jahrhundert hatten dann die Arbeiten geruht; doch nach dem ersten Weltkrieg war man auf die Berichte über jene kurze Grabungsepisode aufmerksam geworden und wandte sich von neuem dem verlassenen Hügelgelände zu. Und nun setzte eine Folge von Entdeckungen ein, die inzwischen das bisher so vernachlässigte Ur ebenbürtig neben die berühmtesten Ausgrabungsstätten des Zweiistromlandes gestellt haben. Der englische Archäologe Leonhard Woolley übernahm die Leitung der Ausgrabungen, die heute noch andauern. Sie sind reich an Überraschungen, reicher vielleicht, als an den meisten anderen Grabungsfeldern Westasiens. Das erste Gebäude, »das ausgegraben wird, ist ein kleiner unbedeutender Tempel aus der jüngsten Epoche der Stadtgeschichte; er gehört in die Zeit des Perserkönigs Kyros. Woolley, der unter dem Boden dieses Baues noch einen anderen, älteren vermutet, läßt kurzerhand die eben erst freigelegten Platten des Tempelbodens abtragen. Die arabischen Arbeiter sind überzeugt, daß in der Erde ein Schatz verborgen sein müsse. Und das Schicksal will es, daß sie 23
recht behalten. Schon nach kurzem Schürfen stößt man tatsächlich auf Gold. Woolley deckt ein vergessenes Depot von Weihegeschenken auf, das Goldperlen, goldene Anhänger und Ringe enthält. Die Freude der Eingeborenen ist groß. Woolley aber hat etwas anderes erhofft. Gewiß macht sich ein solcher Goldschatz gut in den Vitrinen eines Museums, aber was trägt er zur geschichtlichen Erkenntnis bei? So wird für den Engländer eine kleine Kalkstedntafel, die er bald danach aus dem Boden hebt, zu einem viel glücklicheren Ereignis. Er kann die Inschrift entziffern; sie lautet: „A-anni-pad-da, König von Ur, Sohn des Mes-anni-pad-da, hat dieses Haus erbaut für seine Herrin Nin-charsag." A-anni-pad-da und Mes-anni-pad-da sind die Namen zweier Könige, die man bisher für Sagengestalten gehalten hat. Und nun folgt eine Entdeckung auf die andere. Sie entzünden die Phantasie; die Landschaft von Ur war ja die Heimat Abrahams, der vor 3600 Jahren gelebt hat, und eben aus dieser Zeit datiert eine Reihe von Funden. Sie gewähren zum erstenmale Einblick in den Alltag des biblischen Erzvaters, der auch den mohammedanischen Hilfsarbeitern Woolleys eine verehrungswürdige Gestalt ist. Sie nennen ihn Ibrahim Halil Abdurrahman — „Freund Gottes". In der Vorstellung des Abendländers lebt er mit seinen Zelten und Herden als ein echter Nomade. Die Ausgrabungen Woolleys ergeben aber, daß zu Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends, also zur Zeit Abrahams, Ur schon eine für die damaligen Verhältnisse bedeutende Stadt gewesen ist. Das Leben des Erzvaters wird sich also, bevor ihn die Stimme Gottes nach Haran und Kanaan rief und der „Auserwählte" mit seinen Herden in die Wüste hinauszog, nicht im Zelt, sondern in einem der Wohnhäuser abgespielt haben, wie sie der englische Forscher zahlreich nachweisen konnte. Vom väterlichen Haus aus ma,g der junge Abraham oft den Zins und die Opfergaben seiner Familie zu einem der Tempel gebracht haben, wo ihm die Priester eine Tontafel aushändigten, als Nachweis für das vollbrachte Opfer. Woolley hat im Tempel Dublalmach in Ur ein Archiv von mehreren hundert solcher Urkunden aufgefunden, Tontäfelchen mit Einnahme- und Ausgabebescheinigungen der Tempeldiener über die Tempelgaben. Und noch viel mehr fand sich in dem Erdreich: regelrechte und ausführliche Rechnungsabschlüsse von Werkstätten, die zum Tempelbereich gehörten, und in denen Arbeiterinnen Rohwolle verspannen und Tuche webten. Auf seinem Wege zum Tempel konnte Abraham zum Ziggurat von Ur aufblicken, dem Turm des Mondgottes, auf dessen Grundmauern Sir Henry Rawlinson um 1850 gestoßen war. Hier in Ur ist ja die eigentliche Heimat der Tempeltürme 24
Babyloniens zu suchen. Ist Etemenanki, der Turm von Babel, der berühmteste des alten Mesopotamien, so ist der Turm von Ur einer der ältesten und lehrreichsten. Wie in Babylon mußten auch auf der Ruinenstätte von Ur erst Tausende von Tonnen Schutt beseitigt werden, bevor die Reste des Ziggurats, der weit besser erhalten war als der babylonische, in den Umrissen zu erkennen waren. „Ziggurat" stammt aus dem Wortschatz der Sumerer, der frühesten Bewohner von Ur, und heißt „Hügel des Himmels" oder „Berg Gottes". Lange Zeit wußte man nicht, woher die Sumerer gekommen waren. Der Name „Hügel", „Berg Gottes", mit dem sie ihren Hochtempel benannten, läßt vermuten, daß die Urheimat der Sumerer ein Bergland war. Wahrscheinlich lebten sie in dunkler Vorzeit irgendwo in einem ostwärts gelegenen Gebirge, denn nur Gebirgsvölker pflegen ihre Götter auf Bergen zu verehren. Als die Sumerer dann in die Ebene des Zweistromlandes einwanderten, schufen sie sich für die alten Götterberge einen Ersatz in Gestalt der künstliehen Turmhöhen. Vielleicht können wir uns so die Entstehung der Tempeltürme erklären. Vom sumerischen Ur hat sich dann dieser Brauch über ganz Mesopotamien verbreitet. In der Zeit Abrahams machte der heilige Turm von Ur aber keineswegs den gleichen kahlen Eindruck, den er nach der Freilegung bot. In langwieriger archäologischer Kleinarbeit gewann man ein ziemlich sicheres Bild vom Äußeren dieses Turmbaues. Die Außenmauern zeigten zahlreiche schmale, längliche Schlitze, die nichts anderes sein konnten als Entwässerungsöffnungen. Sie waren nicht leicht zu deuten. Da fand Woolley eine Inschrift und darauf die Lösung des Rätsels. Ein König rühmt sich, er habe die Tempelanlage am Fuße des Ziggurats von „herabgefallenen Zweigen" gereinigt. Da die Anlage ringsum bebaut war, können keine Bäume dort gestanden haben, die Zweige müssen von oben, vom Turm, gekommen sein. Die Hochterrassen des Turmes waren nicht gepflastert, sondern, um den Natureindruck des „Götterberges" noch lebensvoller zu gestalten, mit Erde bedeckt und mit Bäumen bepflanzt, „hängende Gärten" also wie die Gärten der Semdramis! Die Abflußlöcher dienten demnach der Bewässerung des Buschwerkes, mit dem der Turm über und über bedeckt war.
Die Königsgrftber und die große Flut Als Woolley daran ging, auch die Friedhöfe der Sumerer auszugraben und zu erforschen, bot sich ihm eine Fülle weiterer Aufschlüsse über die Stadt, ihre Könige und Bewohner. Anfangs war die 25
Kleinerer Turmtempel (Ziggurat) am unteren Euphrat Durchforschung der Gräberfelder eine wenig ergiebige Arbeit, denn nur Privatgräber wurden gefunden, die sich in der Anlage kaum unterschieden. Über 1400 Gräber wurden geöffnet und untersucht, mehr als die Hälfte war im Laufe der Jahrtausende ausgeraubt worden. Es schien, als ob die Stätte der Toten ihre Geheimnisse wahren wollte; selbst die Königsgräber, die sich durch ihre Größe auszeichneten, waren entweder unergiebig oder ausgeraubt. Aber der Mann der Spatenwissenschaft darf sich durch Enttäuschungen nicht entmutigen lassen, immer von neuem muß er sich in die Tiefe graben, muß kombinieren, vergleichen — und auch Glück muß er haben. Das hatten auch Howard Charter und Lord Carnarvon bei der Entdeckung des Grabes von Tut-ench-Amun erkannt —, das sollte auch Woolley erfahren! Im Winter des Jahres 1927 machte er im Friedhof von Ur eine ungewöhnliche und grauenerregende Entdeckung. In einem flachen Graben lagen die Leichen von fünf Kriegern nebeneinander; darunter folgte eine Mattenablage, und erneut eine Gruppe von Toten, diesmal waren es zehn aufs schönste geschmückte Frauen, die man in zwei Reihen nebeneinander gebettet hatte. Am Ende der Reihe fanden sich goldgeschmückt die Überreste eines Harfenspielers, der sein wundervolles, kaum beschädigtes Instrument noch in den Armen hielt. Die Toten lagen am Eingang zu einem schräg nach unten führenden Schacht, hier fanden sich zahlreiche wertvolle Opfergäben und Geräte, und wieder zahlreiche Tote. Der Schacht mündete in die Grabkammer eines Königs, die ausgeraubt war; selbst 26
die Gebeine des Herrschers hatten die Räuber nicht geschont. Neben diesem ausgeraubten Grab lag ein zweites, das zum Glück unberührt war. Audi hier entdeckte man die gleiche Anordnung stummer Toter. Diese zweite Grabstätte war die Gruft einer Königin. Wie sie vor Jahrtausenden zur Ruhe gebettet worden war, lag sie ausgestreckt auf einer hölzernen Bahre. Von dem langen Mantel, mit dem sie einst bekleidet gewesen war, waren nur noch die Perlen erhalten, die das Gewand geziert hatten. Ein wundervoller, goldener Kopfputz schmückte das Haupt, ein anderer, ebenso schöner lag neben der Toten. Vor der Bahre kauerten zwei Dienerinnen, eine zu Häupten und eine zu Füßen der Herrscherin, deren Name „Schub-ad" man auf einem Tonzylinder in Keilschrift entziffern konnte. Mit diesen beiden Frauen wurden allein in der Gruft der Königin 52 Tote aufgefunden, 62 Tote hatte man in der Königsgruft geborgen, in einem später entdeckten „Todesschacht'' stieß man auf die Gebeine von weiteren 74 Toten. Wie waren diese Menschen gestorben? Wie den altägyptischen Pharaonen Freunde, Hofleute, Diener und Dienerinnen freiwillig oder gezwungen in den Tod folgten, so war es auch an den altsumerischen Königshöfen Brauch; die Gräber von Ur bezeugen es. Aber im Gegensatz zu manchen ägyptischen Grabfunden zeigt sich in den Gräbern von Ur keine Spur von Gewaltanwendung, kein Anzeichen deutet auf Todeskämpfe der Opfer hin. Die Haltung einzelner Toter, des Stallknechtes bei seinen Tieren, der Dienerinnen an der Bahre der Königin, des Harfenspielers ist so friedlich, daß man nur ahnen kann, was hier vor 5400 Jahren vor sich gegangen ist: Die Könige von Ur galten als Gottheiten, die nur für einige Zeit zur Erde herabgestiegen waren. Ein König starb nicht, er ging nach seinem Erdenwallen zu den Göttern zurück ins Jenseits. So konnte es für die Angehörigen seines Hofstaates nur eine Ehre und ein Glück sein, wenn sie dem Herrscher in das unterirdische Reich des Gottes folgen durften — manche vielleicht mit Zagen, ja mit Angst, andere mit Freude; sie waren im Diesseits seine Diener, sie wollten es auch im Totenreiche sein. So folgten sie noch lebend dem Herrscher in die Gruft. Hier wurde ihnen der Giftbecher oder der Schlaftrunk gereicht, sie leerten die Schalen — dann wurden die Körper der Bewußtlosen in die ehrfurchtgebende Haltung gebracht, in der man sie aufgefunden — Erde wurde in das Grab geschüttet, keiner erwachte mehr aus seiner Bewußtlosigkeit. „Nichts Rohes scheint in der Art ihres Todes gelegen zu haben", so schreibt Woolley. Uns jedoch graust es vor diesem Menschenopferkult. Die Gräber bargen neben den Toten eine Fülle von wertvollen 27
und kostbaren Dingen, darunter Goldgegenstände in reicher Zahl. Für die Erforschung einer der frühesten Menschheitskulturen sind diese Funde von hoher Bedeutung und aufschlußreich. All diese Gräber gehen in die Jahrhunderte zwischen 3500 und 3200 v. Chr. zurück, also in eine Zeit, als Ägypten, dessen Kultur früher als die älteste der Welt angesehen worden war, noch ein unbekanntes und unbedeutendes Barbarenland war! Die sumerische Kunst dieser Zeit ist bereits hoch entwickelt und reif; Kunstwerke von solcher Schönheit entstehen nicht aus dem Nichts, erst in vielen Stufen reift der schöpferische Mensch zu ihnen heran. So durfte mit Bestimmtheit erwartet werden, daß man in der Königsgräberschicht noch nicht einmal die letzte und früheste Kulturschicht dieses Landes erreicht hatte. Im Sommer 1929 räumten die Archäologen hier und da den Trümmerschutt beiseite, der unter den bisher gefundenen Gräbern lag. Woolley berichtet darüber: „. .. die Schächte gingen tiefer und plötzlich änderte sich der Charakter des Erdreiches. An Stelle der in Schichten gelagerten Töpferware und des Schuttes kamen wir in gänzlich reinen, durch und durch gleichförmigen Lehm, dessen Gefüge zeigte, daß er durch Wasser angeschwemmt worden war. Die Arbeiter erklärten, daß wir auf den untersten Boden gelangt seien, auf den Flußschlamm, aus dem das ursprüngliche Delta gebildet war. Anfangs war auch ich im Hinblick auf die Seitenwände des ausgegrabenen Schachtes geneigt, mich dieser Ansicht anzuschließen. Dann sah ich aber, daß wir dafür noch nicht tief genug gekommen waren. Nachdem ich die Vermessungen ausgearbeitet hatte, schickte ich die Leute wieder an die Arbeit, um die Grabung tiefer zu bringen. Der reine Lehm setzte sich unverändert fort. . . bis er eine Dicke von etwas über zweieinhalb Meter erreicht hatte. Dann hörte er ebenso plötzlich auf, wie er begonnen hatte, und wir kamen wieder in Schuttlagen mit Steingeräten. . . und Töpferwaren." Schachtarbeiten an anderer Stelle brachten das gleiche Ergebnis. Kein Fluß konnte auf einmal eine solche Ablagerung von Lehm herangeschwemmt haben, hier hatte ein Naturereignis eingewirkt, das in den Berichten der Völker des Zweistromlandes seine deutlichen Spuren hinterlassen hat: Es ist die große Flut, die auch in der Sage von Gilgamesch hineinspielt. Ob sie mit der großen Flut, der Sintflut der Bibel, in Zusammenhang steht, und mit ähnlichen Flutberichten in den Sagen von Natur- und Kulturvölkern der verschiedenen Erdteile, läßt sich nicht eindeutig beantworten. Die Zeitgenossen Abrahams haben die Wahrheit der alten OR
Sagen nie bezweifelt, schlicht und einfach berichten die Chronisten: „ . . . dann kam die Flut und nach der Flut stieg das Königtum abermals vom Himmel herunter."
An der Wiege der abendländischen Kultur In der Frühzeit des Zweistromlandes dehnte sich der Persische Golf viel weiter nach Norden, und zwar weit über die Stelle hinaus, an der sich die beiden Ströme heute vereinen. Der Euphrat war ein eigenes Flußgebiet, ebenso der Tigris. Ihre Ausmündungen in das Meer lagen weit voneinander entfernt. Die beiden mächtigen Stromläufe trugen alljährlich riesige Mengen Schlamm zu Tal, der sich im Mündungsdelta ablagerte und hier schon vor der Zeit der großen Bewässerungsanlagen über weite Landstriche hin fruchtbaren Boden schaffte. Was der Nil mit seinen Überschwemmungen für Ägypten bedeutete, das verdankte Südmesopotamien den schlammablagernden Hochwassern des Euphrat und des Tigris. Noch hatte die Sonne die Schlammerde des Deltas nicht ausgetrocknet. Damals ist zu irgendeiner Zeit, sicher schon im vierten Jahrtausend v. Chr., das Volk der Sumerer hier eingewandert. Vielleicht kamen sie über das Meer und gingen im Mündungsbereich der Flüsse an Land. Von dem Augenblick an, da die Sumerer den Boden Mesopotamiens betraten, läßt sich ihre Geschichte und Kultur verfolgen. Sie siedelten nicht in der Ebene wie später einwandernde Semitenstämme, die aus den Hochländern und Wüsten Arabiens kamen und sich nördlich der Sumerer niederließen, sondern suchten die Hügel und befestigten sie. Vielleicht waren sie gewarnt durch immer wiederkehrende Überflutungskatastrophen in ihrem Herkunftsland; so blieben, als die große Flut die Dörfer der semitischen Bewohner hinwegschwemmte, viele höhergelegene sumerische Siedlungen verschont und erhalten. Nach den bisherigen Grabungsergebnissen erfaßte die Flutkatastrophe das ganze untere Tal des Zweistromlandes; es war ein Gebiet von etwa 600 km Länge und 150 km Breite, für den Blickkreis der damaligen Menschen mußte die Überflutung ungeheuer erscheinen. Wie die riesige Lehmdecke über der ältesten Stadtanlage beweist, ist auch Ur dem Verhängnis zum Opfer gefallen. Nach der Flut erwacht eine neue Stadt. Ackerbau und Handel werden die Quellen des sumerischen Wohlstandes. Das Schwemmland wird durch ein großes Kanalsystem verbessert, damit es noch höhere Erträge hergibt. Dort, wo sich heute eine trocken glühende Wüste dehnt, wogen Getreidefelder. Aus dem überschüssigen Getreide wird Bier 29
gebraut, aus den Datteln und Trauben wird Wein gewonnen. Für Wolle sorgen zahlreiche Herden im ganzen Lande, die Verarbeitung übernehmen die uns schon bekannten Betriebe um die Tempel. Über allen Handlungen des täglichen Lebens steht das Gesetz. Im Jahre 1947 findet der junge Francis Steele vier Keilschriftfragmente, die Teile eines sumerischen Gesetzbuches enthalten, das aus der Zeit um 2300 stammt und um Jahrhunderte älter ist als das Werk Hammurabis. Die Sammlung ist in einer Zeit entstanden, da die Herrschaft der Sumerer schon ihrem Ende entgegen ging. Im Mittelpunkt der Gesetzgebung der sumerischen Könige von Ur steht der Schutz der Familie, die Einehe ist feststehende Regel. Die Trauungszeremonde vollzieht sich im Beschreiben und Siegeln des „Ehebriefes". Um allen Möglichkeiten vorzubeugen, sind in diesem Briefe gleich die Strafen für Untreue und die Bedingungen für die Ehescheidung im voraus festgelegt. Auch eine Art Standesamt besteht schon in Ur; der Ehekontrakt wird nicht etwa im Rahmen der Familie, sondern vor einer Behörde abgeschlossen. Es gibt auch eine Behörde, die nach Art unserer Eichämter Maße und Gewichte prüft, man hat Normalmaßstäbe, gestempelte Gewichtsteine und geeichte Hohlmaße gefunden. Den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens stellen die Tempel dar. Sie sind nicht nur die Stätten des Götterkultes, sie sind auch Gerichtshöfe und, wie die Klöster des Mittelalters, Mittelpunkte der Erziehung und des wissenschaftlichen Lebens. In ihnen werden die Schüler für ihre zukünftigen Berufe vorbereitet, hier lernt der einfache Schreiber und der künftige höchste Regierungsbeamte.* Tontäfelchen dieser Schulen sind erhalten, auf deren einer Seite einst der Lehrer einen Text aufzeichnete, während die ungelenke Hand des Schülers ihn auf der Rückseite nachschrieb. Die Sumerer sind die Erfinder der Keilschrift, deren Entzifferung so unsägliche Mühe bereitet hat. Von Sumer nahm die Keilschrift ihren Weg nach Babylon und von da nach Assyrien. Mit der Schrift und dem materiellen Kulturgut kamen auch manche Religionsbräuche nach dem Norden, unter anderem auch der Brauch der gemeinsamen Opfermahlzeiten der Priester und ihrer Tempelbediensteten, zu denen die Gläubigen die Opfergaben beisteuerten. Diese Gaben waren der Lohn für den Dienst der Priester als Verwalter des Tempelbesitzes, als Richter, als Lehrer, Opferpriester, Magier, Sternenkundige. Sie hielten durch ihr« Beschwörungen die bösen Geister von den Menschen fern, wußten magische Heilmittel bei Krankheiten und unterstützten die Ärzte, deren Amt in Ur nicht' leicht war. Für die ärztliche Tätigkeit war der Spruch Altbabyloniens 30
maßgebend, Auge um Auge, Zahn um Zahn: „Muß ein Arzt einen Menschen mit einer Kupferlanzette am Auge operieren und verliert dieser Mann sein Auge, so soll dem Arzt das Auge mit einer Kupferlanzette ausgestochen werden .. . und wenn er eine Wunde operiert und der Kranke stirbt, dann soll er seine Hand yerlieren.'" In diese Frühzeit von Ur reichen auch manche Göttergeschichten zurück, die später mit den religiösen Göttervorstellungen der semitischen Assyrer und Babylonier verschmolzen werden. Auch die gewaltigste Dichtung des alten Orients, das Lied vom gottmenschlichen Helden Gilgamesch, der vergebens das Ewige Leben suchte, ist aus den sumerischen Königshallen ausgegangen und hat von hier aus, ergänzt, verändert, umgedeutet, den ganzen mesopotamischen Kulturkreis erobert. Seine sumerische Fassung ist uns in Tontafeln der Tempelschreiber von Nippur, seine assyrische Fassung auf elf Tontafeln der Bibliothek von Ninive überliefert. So ist uns dank der unermüdlichen Arbeit der Archäologen die altorientalische Kultur heute in ihren Hauptzügen vertraut; unser Geschichtswissen ist um Jahrtausende erweitert worden. Die Altertumswissenschaftler forschen weiter. Dort, wo vor zwei Menschenaltern noch die Karawanen auf einsamen Wegen zum Euphrat oder zum Persergolf zogen, kann man, wenn man mit dem Flugzeug die Wüste und die Flußniederungen überquert, die Ausdehnung der riesigen, noch immer belebten Grabungsfelder von Ninive, Babylon und Ur erkennen. In den Museen stehen heute neben den griechischen Plastiken und den Kostbarkeiten aus dem Alten Reiche Ägyptens die großartigen Schaustücke aus Mesopotamien, die oft ein ganzes Jahrtausend älter sind. Das verdanken wir Männern wie Layard, Koldewey, Woolley und ihren zahllosen Mitarbeitern. Zwar hat der zweite Weltkrieg die Ausgrabungen im Zweistromland unterbrochen, heute aber wird an allen Ausgrabungsstätten, soweit es die Mittel zulassen, wieder gearbeitet. Jeder neue Fund und jede neue Veröffentlichung bringt weiteres Licht in die Geschichte der alten Völker Vorderasiens und damit auch in die Geschichte der abendländischen Menschheit, die in ihren Anfängen eng mit der Urlandschaft der Doppelströme Euphrat und Tigris verbunden war. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky L u x - L e s e b o g e n 110 ( G e s c h i c h t e ) H e f t p r e i s 2 5 P f g Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, MurnauMünchen — Druck: Buchdruckerei Mühlberger, Augsburg 31