Dario Vandis & Christian Montillon
7 � Professor Zamorra Hardcover � Band 9 �
ZAUBERMOND VERLAG
Im Jahre 1538 öffnet Robert de Digue, der Sohn der Zigeunerin Elena und des Fürsten der Finsternis, das Grab seines Urgroßvaters Romano de Digue, um daraus das Goldsäckchen zu entwenden, das Asmodis ihm einst schenkte. In ihm vermehren sich die Münzen wie von selbst, und dem Besitzer ist unendlicher Reichtum garantiert. Aber Asmodis hat andere Pläne mit seinem Sohn. Robert de Digue soll nicht von geschenktem Geld leben, sondern die Sünden und Schwächen der Menschen erfahren, um sie später für sich ausnutzen zu können. Dafür muss er aber erst einmal seine eigenen Schwächen kennen lernen … Asmodis schickt seinen Sohn durch eine jahrhundertelange Prüfung, in deren Mittelpunkt die sieben Todsünden stehen. Habgier, Hochmut, Neid, Maßlosigkeit, Zorn, Wollust und Trägheit sind die Achillesfersen der Menschen – und Robert de Digue lernt am eigenen Leib spüren, dass jede von ihnen den Tod bedeuten kann …
Vorwort � Als ich Anfang der 80er Jahre des frisch dahingegangenen Jahrhunderts »Robert Tendyke« erfand, sollte er eigentlich der Held einer ganz anderen Serie sein. Aber dann gefiel dem Verlag der Name nicht; er sei unaussprechlich, hieß es. Alternativvorschläge wurden abgelehnt, bis schließlich »Roy deVoss« daraus wurde, »DER MAGIER«. Heute bin ich froh darüber, dass es so und nicht anders kam. Denn auch wenn »Roy, der Fuchs« ein recht pfiffiges Kerlchen war, hatte er doch nie die Chance, das zu werden, was Robert Tendyke bei »PROFESSOR ZAMORRA« wurde. Die Serie um den Magier deVoss wurde nach knapp über 30 Bänden eingestellt. Unaussprechlicher Name? PZ-Leser wissen's besser und haben Rob Tendyke in ihr Herz geschlossen, der sich im Laufe vieler Romane und vieler Jahre immer weiter entwickelte und längst noch nicht seinen Höhepunkt erreicht hat. Der Sohn des Teufels, dem Unsterblichkeit gewährt wurde; der Mann, der immer wieder erfolglos versuchte, sich vom Erbe seines dämonischen Vaters zu distanzieren. Seit fünf Jahrhunderten ist er unter wechselnden Namen auf der Erde aktiv, hat von seinen Zigeuner-Vorfahren die Unrast geerbt, die ihn immer wieder von Ort zu Ort treibt, um Abenteuer zu erleben, und der Mann, der zum cleveren Geschäftsmann wurde, weil er sich als zerlumpter und bettelnder Zigeunerjunge schwor, nie wieder arm sein zu wollen. Noch längst ist nicht alles ausgelotet und beschrieben, was er in all den Jahrhunderten erlebte und was ihn formte. Tendyke ist ein Mann voller Geheimnisse. Eines seiner Geheimnisse haben sich die Autoren Dario Vandis und Christian Montillon nun angenommen. Beide gehören zum festen Stamm des PZ-Autorenteams, aber beide sind auch als Autoren von Romanen zur Serie um den Dämonenkiller »DORIAN HUN-
TER« bekannt. Zwei Experten also, die sich mit allen Spielarten der mystischen und magischen Abenteuer bestens auskennen. Uns interessiert, wie euch dieser Roman gefällt. Schreibt oder mailt an den Zaubermond-Verlag, Postfach 1402, D-21233 Buchholz, http://www.zaubermond.de oder
[email protected]. Übrigens: die bisher erschienenen PZ-Bücher sind – noch – erhältlich. Exklusiv und ausschließlich beim Zaubermond-Verlag! Und jetzt bleibt mir nur noch, pures Lesevergnügen zu wünschen! Tschüss bis demnächst – Ihr und euer Werner K. Giesa Altenstadt, im August 2004
Prolog � Die Geschichte begann im Jahre 1538 an einem geöffneten Grab. Die gebleichten Knochen lagen wie auf einem Abfallhaufen zwischen den Erdkrumen auf dem Grund des Sarges. Ich stand nachdenklich vor dem Grab, denn etwas an dem Anblick störte mich. Ich vermisste etwas, von dem ich eigentlich erwartet hätte, es hier zu finden. Der alte Mann, dem die Knochen gehörten, war erst vor wenigen Wochen gestorben. Wie ich erfahren hatte, war sein Leib nach dem Tod auf der Stelle verwest. So ist das, wenn man von geborgter Zeit gelebt hat, und der alte Romano deDigue hatte sich viel Zeit geborgt. Fast die Hälfte seiner Lebensspanne, die mit hundert Jahren unwürdig lang war für einen Menschen dieser Epoche, selbst für einen Zigeuner. Gerade für einen Zigeuner. Ich verspürte Unruhe und Zorn. Der Zorn überwog. Es kam nicht oft vor, dass ich überrascht war, aber nicht das erste Mal in letzter Zeit. Jemand war vor mir an diesem Grab gewesen, jemand hatte es geöffnet und die Knochen des alten deDigue wieder ans Licht gezerrt. Ich hegte eine Vermutung, wer es gewesen sein könnte. Er hatte etwas an sich gebracht, das ihm nicht gehörte. Es war ein Geschenk, das ich einst deDigue überlassen hatte, damit er es an seine Tochter weitergab. Der Zigeuner zog es vor, es selbst zu behalten, und ich hatte diese Entscheidung toleriert. Es kostete mich nur eine knappe Geste, das Grab wieder zu schließen. Erdschollen setzten sich in Bewegung, verschütteten die Grube, der Stein darüber wurde wie von unsichtbaren Händen zurechtgerückt. Ich verließ den Friedhof, mit dem unbestimmten Gefühl der Sorge, die den Zorn abgelöst hatte. Denn es war nicht mehr der Diebstahl, der meine Gedanken vereinnahmte, sondern die Person des Diebes.
Ich dachte daran, dass die Geschichte eigentlich schon viel früher begonnen hatte, vor über 67 Jahren. 67 Jahre, die verschleudert waren. Vergeudet. Unwiederbringlich verloren. Gemessen an den Zeitspannen, in denen ich plante, war das nicht viel. Aber selbst ich durfte meine Ziele nicht aus den Augen verlieren. Der Dieb, der Romano deDigue noch im Tode bestohlen hatte, genoss schon viel zu lange die Freiheiten, die ich ihm gelassen hatte. Damit sollte es jetzt vorbei sein. Für immer.
Noch in der Nacht erreichte ich die Dorfschänke. Ich sondierte das Gasthaus, aber die Person, die ich suchte, war nicht mehr dort. Das überraschte mich nicht. Zu sonderbar war die Streitrede gewesen, die sie am Vorvortage gegen mich geführt hatte – zu peinlich wäre die Enthüllung ihrer Hochstapelei gewesen. Im angrenzenden Stallgebäude fand ich das Pferd. Einen Rappen, wie es ihn nur ein einziges Mal gab. Sein Fell glänzte schwarz, und in seinen Augen glühte ein Feuer, das der Hölle selbst entsprungen zu sein schien. Als er mich witterte, senkte er demütig den Kopf. Er kannte seinen Herrn. Ich reimte mir zusammen, was geschehen sein mochte. Die Person, die ich suchte, war mir am Grab Romano deDigues zuvor gekommen. Sie hatte den Sarg geöffnet und gestohlen, was mir gehörte. Ich spreizte Daumen sowie Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand vor meinem Gesicht, so dass sie ein Dreieck bildeten. Ein Bild entstand. Es zeigte die Schankstube eines anderen Gasthauses, fast einen Tagesritt von hier im Süden. An einem Tisch saß derjenige, den ich suchte. Er war nicht allein. Vier ungepflegte Männer in schmutziger Kleidung saßen um ihn herum. Ich sah, dass sie lachten und den Würfelbecher kreisen ließen. Der Mann, den ich suchte, ragte auf den ersten Blick aus seiner Umgebung heraus. Seine Kleidung war ebenso erbärmlich wie die
der anderen, aber sein Blick war klar, fast tollkühn, und seine Gesichtszüge scharf geschnitten. Nackenlanges, braunes Haar umrahmte ein Gesicht von männlich-markanter Schönheit. Den groben Gestalten um ihn herum war nicht bewusst, was einem feinfühligeren Geist kaum entgangen wäre: Dass der Mann ein Geheimnis besaß. Seine Geselligkeit war nichts als eine Maskerade, die er allerdings gut beherrschte. Ich beendete die Drei-Finger-Schau und setzte den Rappen in Bewegung. Seine Nüstern blähten sich, und wir legten die Strecke, für die ein Mensch zehn Stunden gebraucht hätte, in Windeseile zurück. Noch bevor der Morgen graute, hatte ich das Gasthaus erreicht. Es besaß ein Dach aus fauligem Reet und schmutzige, angelaufene Fenster. Aus einem angrenzenden Stallgebäude drangen unterdrückte Geräusche. Ich vernahm das Rascheln von Stroh und stoßweises, heftiges Atmen mehrerer Gestalten. Ich betrat den Stall. Zwischen den Heuballen im hinteren Teil entdeckte ich sie. Die Wirtin und zwei Männer. Die Kleider lagen ringsum verstreut. Die Frau hielt die Augen geschlossen, während die Kerle ihr abwechselnd Lust bereiteten. Ihre großen Brüste wogten im Rhythmus. Ihr Haar war lang und strähnig und an den Schläfen längst ergraut. Ich bemerkte, dass ihre Lymphknoten stark geschwollen waren. Bei den Männern handelte es sich vermutlich um Knechte des Hauses: breitschultrig, stark und ausdauernd. Aber sie waren vor allem dumm, weil sie sich mit einer Frau vergnügten, in der man schon von weitem die Luetikerin* erkannte. Meine Zeit war begrenzt, und so unterbrach ich ihr Liebesspiel. Eine Handbewegung genügte, und die beiden Männer stürzten bewusstlos zu Boden. Die Frau fuhr mit einem Aufschrei herum, als sie meiner gewahr wurde. »Nicht so laut«, sagte ich spöttisch, »oder willst du riskieren, dass dein Mann von deinem Stelldichein erfährt?« Ihr Blick huschte zu den Knechten und wieder zu mir zurück. Sie machte keine Anstalten, ihre Blößen zu bedecken. »Wie habt Ihr das gemacht …?«, fragte sie mit ehrlichem Interesse. *an der Syphilis Erkrankte
»Das willst du überhaupt nicht wissen«, winkte ich beiläufig ab und ließ keinen Zweifel daran, dass ich Wichtigeres zu tun hatte. »Verrate mir nur, wie viele Gäste sich in deinem Haus befinden, dann lasse ich dich in Ruhe.« Sie reckte mir ihre schlaffen Brüste entgegen. »Vielleicht will ich gar nicht, dass Ihr mich in Ruhe lasst …«, gurrte sie. Ihre Schamlosigkeit wirkte alles andere als anziehend auf mich. Ich packte sie an den Handgelenken und riss sie auf die Beine. Ihr Schmerzensschrei brach abrupt ab, als sie in mein Gesicht sah. Ihre Wangen wurden fahl, und ihre Haare schütter. Ich stahl ihr fünf Jahre ihres Lebens, dann fragte ich sie erneut. »Sieben Gäste …«, sagte sie mit brüchiger Stimme. Ihre Haut war jetzt grau und mit Knoten übersät. Sie war vom Tod gezeichnet. »Wie viele Knechte?« »Nur diese beiden hier …« »Eine Magd?« »Sie hilft in der Schankstube aus.« Ich nickte und wandte mich ab. Sie krallte sich in meine Kleider. »Ihr seid ein Fürst, Herr. Ich will Euch dienen. Ihr könnt alles von mir haben!« Es gab nichts, was sie mir bieten konnte. »Aber Ihr seid der Leibhaftige!«, haspelte sie. Der Wahnsinn stand in ihrem Blick. »Ich diene Euch schon lange! Nehmt mich mit Euch, Herr!« Ich forschte in ihren Gedanken, soweit es mir möglich war. Tatsächlich, sie hatte bereits einigen Schwarzen Messen beigewohnt und war auf einem Reisigbesen um die Dorfkirche geritten. Ärgerlich brach ich den Gedankenkontakt ab. Ich hatte keine Zeit für solchen Mummenschanz. Sie schrie auf, als ich zur Tür ging. »Ihr dürft mich nicht zurücklassen! Ihr habt mich gezeichnet.« »Nein«, sagte ich, »das hast du selbst getan.« In einem Anfall von Mitleid raubte ich ihr weitere fünf Jahre. Die Knoten wurden größer, Haare und Zähne fielen aus. Ihr Kopf sank mit einem Seufzer auf die Seite.
Als ich die Schankstube betrat, umfing mich der Geruch von Alkohol und kaltem Tabakqualm. Am Würfeltisch ertönte jedes Mal raues Gelächter, wenn ein neuer Wurf geglückt war. Neben den fünf Spielern waren tatsächlich nur vier weitere Gestalten anwesend: Zwei Gäste, die einen Tisch weiter saßen und sich von der lauten Runde offenbar gestört fühlten. Sie trugen einfache Kleidung, aber ihr dünkelhaftes Gehabe verriet, dass sie zumindest bürgerlich waren, wahrscheinlich Kaufleute. Einer von ihnen war groß und hager, der andere untersetzt und mondgesichtig. Auf seinen breiten Schenkeln saß die Wirtstochter, deren Oberteil so eng geschnürt war, dass die fleischigen Brüste dem Dicken förmlich ins Gesicht sprangen. Sie kam ganz nach ihrer Mutter. Ich konnte mir vorstellen, dass der Wirt sich mit dieser Tochter den einen oder anderen Taler dazuverdiente. Der Besitzer des Wirtshauses war ein fettleibiger Kerl, dessen Schürze nach ranzigem Öl stank. Bei meinem Anblick nahm er eine fast demütige Haltung an. Die reine Seide meines Oberhemdes und die goldenen Schnallen an meinen Stiefelschäften waren ihm offenbar nicht entgangen. Geschäftstüchtig fragte er mich nach meinen Wünschen. Er trug keine Anzeichen der Syphilis, und ich schloss daraus, dass er die Wirtin schon lange nicht mehr berührt hatte – kein Wunder bei den Blicken, mit denen er seine eigene Tochter verschlang. Ich bestellte einen Krug Wein, um den Kerl loszuwerden. Dann ließ ich mich an einem der Tische nieder und beobachtete die Würfelrunde. Die Spieler schienen mein Eintreten nicht bemerkt zu haben. Nur einer von ihnen war unmerklich zusammengezuckt, was mir nicht entgangen war. Ich beobachtete aus den Augenwinkeln, wie er mich feindselig musterte. Offenbar hatte er den Spaß am Spiel verloren, als er mich erkannte. »He, was ist mit dir, deBlanc!«, rief einer seiner Kameraden. »Du bist an der Reihe. Zeig uns, was ein guter Wurf ist! Der alte Wagner soll Augen machen.« Der ›alte Wagner‹ war einer der Spieler, der aus schwarz umränderten Augen mürrisch auf das winzige Häuflein Kupfermünzen
starrte, das vor ihm auf dem Tisch lag. Er sah alles andere als glücklich aus. Offenbar war er der Verlierer der Runde. Tiefe Furchen hatten sich in seine Stirn gegraben. DeBlanc nahm den Würfelbecher, schüttelte ihn und ließ die Würfel über den Tisch rollen. Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Teufelskerl!«, fluchte der alte Wagner und schob eine Münze hinüber. »Der Kerl ist ein elender Betrüger!« Da sprang deBlanc auf und packte sein Gegenüber. Sein Griff war fester als sein Stand; ich sah, dass er dem Alkohol bereits über Gebühr zugesprochen hatte. »Wie hast du mich genannt, Wagner?« »Lass ihn!«, rief ein Dritter. »Er verliert am laufenden Band, und das macht ihm Kummer. Ständig beschimpft er die anderen, Betrüger zu sein.« Aber deBlanc ließ sich nicht bremsen. »Pah, Betrüger! Darum geht es mir nicht. Ich habe nichts mit dem Teufel zu schaffen! Wer etwas anderes sagt, dem stoße ich das Messer ins Herz – auf der Stelle!« Die anderen vier schwiegen betroffen. Endlich hob der alte Wagner die Hände. »Es tut mir Leid, deBlanc. Ich wollte Euch nicht beleidigen …« DeBlancs Hände krallten sich in den Kragen, so dass seine Knöchel weiß hervortraten. Die anderen wurden unmutig. »Nehmt die Entschuldigung an, Robert«, rief einer, »damit wir endlich weiterspielen können.« DeBlanc ließ den alten Wagner los und wandte sich an den Sprecher. »Ihr denkt wohl, hier geht es nur um ein Spiel. Aber da täuscht Ihr Euch. Es geht um viel mehr. Ich bin ein verdammt guter Spieler!« »Das hat auch niemand bezweifelt …« Robert deBlanc schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. Er schob seinen Kupfermünzenstapel in die Mitte. »Das Doppelte von dem, was Ihr hier vor Euch seht, Wagner, gegen Euern mickrigen Stapel!« Atemlos starrten die vier auf die Münzen. In den Augen des alten Wagner spiegelte sich die Gier. »So viel
Geld habt Ihr nicht«, murmelte er heiser. »Was kümmert's Euch, da Ihr sowieso verlieren werdet?« »Nimm das Spiel an, Wagner!«, flüsterte einer der Spielgenossen. Der Wirt brachte mir den Wein. Ich zahlte mit einer Goldmünze. Das war das Hundertfache von dem, was er zu bekommen hatte, aber was kümmerte es mich. Ich jagte ihn mit einem Wink davon, als er vor mir katzbuckelte. Am Würfeltisch spitzte sich die Situation zu. »In Ordnung«, sagte der alte Wagner gerade. »Zwei Würfel. Wer die höhere Zahl hat, gewinnt!« »Einverstanden«, erwiderte deBlanc. Ich schüttelte innerlich den Kopf über soviel Dummheit. Ich wusste, dass deBlanc Geld im Überfluss hatte. Der Verlust würde ihn nicht scheren. Natürlich wollte er mich provozieren, mir zeigen, dass er von dem Vermögen, das ich ihm geschenkt hatte, nicht abhängig war. Es war der Streich eines ungehorsamen Jungen, der mich jedoch nicht sonderlich berührte. Er beobachte mich genau, und meine Gleichgültigkeit ärgerte ihn mehr, als Zorn es vermocht hätte. Als der alte Wagner den Würfelbecher ergriff, schrie deBlanc: »Ich setze das Vierfache!« Wagner erstarrte. »Das Doppelte war ausgemacht. Ich habe nichts mehr, was ich setzen kann.« »Das Vierfache!«, wiederholte deBlanc triumphierend, »gegen Eure paar Münzen. Ihr braucht den Einsatz nicht zu erhöhen.« »Ihr seid wahnsinnig!«, sagte Wagner. Nein, deBlanc war nicht wahnsinnig. Er war nur dumm. Ich fragte mich, wie es nur so weit hatte kommen können. »Abgemacht«, sagte der alte Wagner. »Die anderen sind Zeugen.« Drei Köpfe nickten stumm. Wagner schüttelte den Becher. Die Würfel rollten über den Tisch. Fünf und Sechs. Das war kaum zu schlagen. »Da habt Ihr's!«, schrie Wagner. »Meine Pechsträhne ist zu Ende. Jetzt seid Ihr verloren, deBlanc!« Robert deBlanc sammelte die Würfel auf und steckte sie zurück in
den Becher. Er schien völlig gelassen zu sein. »Freut Euch nicht zu früh, Wagner«, sagte er leise. Er schüttelte den Becher. Und schüttelte. »Traut Ihr Euch etwa nicht, deBlanc?«, höhnte einer der Zuschauer. Der Angesprochene neigte den Becher, so dass einer der Würfel heraus fiel. Er rollte quer über den Tisch und blieb vor dem alten Wagner liegen. Dieser wurde blass. Eine Sechs. »Verflucht, deBlanc, Ihr seid mit dem …« »Was immer Ihr sagen wollt, Wagner, behaltet es für Euch«, sagte deBlanc scharf. Er neigte den Becher weiter. Der zweite Würfel kam zum Vorschein, kippte über die Kante. Fiel. Mit einem vernehmlichen Klappern blieb er schließlich liegen. Eine Zwei. DeBlanc blinzelte. Offenbar war er tatsächlich überrascht. Wagner sprang auf und machte seiner Erleichterung Luft. »Da habt Ihr's, da habt Ihr's! Hochmut kommt vor dem Fall, deBlanc. Jetzt müsst Ihr zahlen!« Er hüpfte auf und nieder und raffte mit vollen Händen den Münzhaufen zu sich heran. »Wo ist der Rest, deBlanc? Ich will die anderen drei Viertel sehen!« »Es gibt keinen Rest«, sagte Robert deBlanc ruhig. »Diese Münzen sind alles, was ich habe.« Wagners Arme sanken herab. »Wollt Ihr mich etwa zum Narren halten?« Er blickte sich Hilfe suchend um. »Ihr anderen habt es doch gehört. Das Vierfache, hat er gesagt. Das Vierfache!«, wiederholte er hysterisch. Die anderen nickten. »Ihr müsst zahlen.« »Ich kann den Betrag nicht zahlen«, sagte deBlanc. »Dann seid Ihr ein Betrüger!«, schrie Wagner und sprang auf. Mit einer Bewegung, die man seinem alten Körper gar nicht zugetraut hätte, zog er ein Messer und richtete es auf deBlanc. »Ihr habt es gehört – alle, die in diesem Raum anwesend sind. Robert deBlanc
schuldet mir den vierfachen Betrag dessen, was vor mir auf dem Tisch liegt. Entweder er zahlt – oder er stirbt!« Die Kaufleute blickten auf, und auch die dralle Wirtstochter schaute irritiert drein. »Fort mit dem Messer!«, rief der Wirt. »In meinem Haus wird nicht gemordet. Tragt's draußen auf dem Platz aus, wenn Ihr wollt!« »Nun, wie ist es, deBlanc?«, fragte der alte Wagner angriffslustig und wandte sich an seine Kumpanen. »Jeder von euch bekommt ein Zehntel ab, wenn ihr mir helft, diesen Schurken zu bekehren!« Ich verstand deBlanc nicht. Wieso bezahlte er nicht einfach und verschwand? »Ich habe das Geld nicht«, beharrte deBlanc. »Fragt den da, ob er es Euch geben kann!« Sein ausgestreckter Zeigefinger deutete zu mir herüber. Alle Blicke richteten sich auf mich. »Was hat dieser Gast mit Euch zu schaffen, deBlanc? Kennt Ihr ihn etwa?« Misstrauen lag in der Stimme Wagners. »Er wird für mich bezahlen.« »Ihr macht Euch einen Spaß, deBlanc«, lachte ich. »Wieso sollte ich für die Schulden eines dahergelaufenen Hochstaplers aufkommen?« Was bezweckte er mit dieser Scharade? Der alte Wagner musterte meine Kleidung. Er schien zu dem Schluss zu kommen, dass bei mir mehr zu holen sei als bei ihrem armen Spielkameraden. »Wie ist Euer Name, Fremder?« »Nennt mich d'Assimo«, erwiderte ich freimütig. Langsam fand ich Gefallen an diesem Spiel. »Kennt Ihr diesen deBlanc, mein Herr?« »Ich bin ihm hin und wieder begegnet.« »Also werdet Ihr für ihn zahlen?« »Nein.« Robert deBlanc lachte. »Ich habe es nicht anders erwartet. Fürst ›d'Assimo‹ versteht nicht viel von Nächstenliebe.« »Ihr solltet meine Geduld nicht überstrapazieren, Robert. Bezahlt Eure Schulden, und dann lasst uns gehen.« Robert stand auf und leerte seine Taschen nach außen. »Seht her,
Fürst, das ist alles, was ich habe. Ihr müsst schon für mich einstehen, wenn Ihr mein Leben retten wollt.« Er starrte mich herausfordernd an. Wagner blickte zwischen Robert und mir hin und her. »Ist mir gleich, wer von Euch beiden zahlt. Doch einen wird es treffen.« »Trollt Euch, Wagner«, sagte ich, des Disputierens überdrüssig, »und lebt in Frieden weiter.« Er plusterte sich vor mir auf. »Wollt Ihr mir drohen, d'Assimo?« »Da sei der Teufel vor«, erwiderte ich. Im nächsten Augenblick flog ihm das Messer aus der Hand. Mit großen Augen sah er zu, wie es sich in der Luft herumdrehte, bis die Spitze auf seine Brust zeigte. Schneller als menschliche Augen es verfolgen konnten, stach es zu und durchbohrte sein Herz. Der alte Wagner schnappte nach Luft. Seine Knie knickten ein. Als er auf dem Boden aufschlug, war er bereits tot. Die Wirtstochter schrie auf, und Wagners Kameraden waren aufgesprungen. »Ein Hexer«, schrie einer der Kaufleute und wollte zum Ausgang flüchten. »Er ist der Teufel! Fort von hier!« Ich war mit einer bestimmten Absicht in diese Gegend gekommen und konnte mir kein Gerede erlauben. Außerdem war ich in der rechten Stimmung, um Robert seine Grenzen aufzuzeigen. Er hatte den Bogen überspannt. Aus den Wänden schlugen Stichflammen empor, ebenso aus den Körpern von Wagners Kameraden und den beiden Kaufleuten. Wie lebende Fackeln taumelten sie durch den Raum und schlugen um sich, doch sie konnten das Feuer nicht ersticken. Um den Wirt war es ebenfalls nicht schade, nur die Wirtstochter hätte mir sicherlich ein paar schöne Stunden schenken können. Ich stand inmitten der Flammenhölle und betrachtete mein Werk ohne die geringste Genugtuung. Robert deBlancs Gesicht war vor Wut verzerrt. Einzig um ihn machten die Flammen einen Bogen. Als er auf mich zukam, wichen die Lohen regelrecht vor ihm zur Seite.
»Du bist wahnsinnig!«, schrie er. »Diese Menschen haben dir nichts getan!« »Es war ein unwürdiges Spiel, was du veranstaltetest, Robert.« »Das war kein Spiel! Ich hatte nichts, um zu bezahlen!« Ich packte ihn und zerrte ihn nach draußen. Das Feuer leuchtete weithin und würde bald den Dachstuhl aufgezehrt haben. In den Gassen erhob sich bereits Geschrei. Auf meinen Pfiff erschien der Rappe. Ich stieg auf. Robert lachte. »Fürst d'Assimo flieht vor dem Mob!« Offenbar hatte ich einen Dummkopf zum Sohn. Aber noch schlimmer war, dass er seine Lektionen nicht lernen wollte. »Du wirst länger leben als jeder Mensch vor dir, und du wirst Dinge sehen, die andere nicht sehen können. Doch das ist gleichzeitig Geschenk und Bürde, mein Sohn.« »Du bist nicht mein Vater!«, presste er hervor. Er reckte sich, und auf einmal wirkte er groß und kraftvoll – so wie ich ihn immer haben wollte. Blut von meinem Blute, dachte ich zufrieden. »Ich bin kein Mörder!«, sagte er bestimmt. »Nein«, spottete ich, »du bist ein Wohltäter des Volkes. Der alte Wagner könnte es bezeugen.« »Ich werde niemals auf deiner Seite sein!« »So ist es gut«, sage ich lächelnd. »Hass ist die Triebfeder, die alles menschliche Handeln bestimmt. Du solltest sie verstehen lernen. Du solltest die Menschen verstehen lernen.« So wie er dastand, strotzte er vor Kraft. Und wirkte doch verletzlich und allein. Seine Mutter war längst tot. Sein Urgroßvater war tot. Jetzt war nur noch ich da, ihn zu leiten. Ein ungeschliffener Diamant, voller Kraft und Energie, aber gleichzeitig unbeherrscht und von falschen Wünschen geleitet. Ich würde ihn formen für seine große Aufgabe. Ohne dass er es bemerkte. Ich ließ den Rappen antraben. »Im Stall liegen zwei Knechte. Vielleicht bist du wenigstens imstande, sie zu retten.« Ohne mich noch einmal umzudrehen, ritt ich die Gasse hinunter. Ich wollte das Dorf verlassen und auch das Land.
Bisher war Robert nicht mehr als ein störrisches Kind gewesen. Jetzt wurde es Zeit, aus ihm einen Erwachsenen zu machen. Dafür würde ich weitere Jahre und Jahrzehnte benötigen – weitaus mehr Zeit, als ich zunächst veranschlagt hatte. Aber ich war nicht bereit, weitere Kompromisse zu machen. Zu wichtig war die Aufgabe, für die ich Robert ausersehen hatte. Um sie zu erfüllen, musste er über die Träume der Menschen Bescheid wissen – ebenso wie über ihre Albträume. Er musste ihre Vorzüge genauso kennen wie ihre Sünden. Besonders ihre Sünden. Ich würde ihm zeigen, wie die Menschen wirklich sind.
1. Maßlosigkeit � In den Wochen nach dem erneuten Zusammentreffen mit seinem Erzeuger schlief Robert deBlanc alias Robert deDigue nicht besonders gut – und auch nicht besonders bequem. Er, der frühere Inhaber einer Reederei und reiche Handelskaufmann, hatte durch seinen Leichtsinn und sein Vertrauen in betrügerische Geschäftspartner sein gesamtes Vermögen verloren. Als er das Grab seines Urgroßvaters öffnete und das Goldsäckchen vor sich sah, das diesem einst vom Teufel geschenkt worden war, hatte er zunächst an eine Wende zum Besseren geglaubt. Aber dann war das Säckchen plötzlich fort gewesen – von einem Augenblick zum anderen. Robert erwachte blinzelnd, wie aus einem Sekundenschlaf, und sah nur noch die blanken Knochen Romano deDigues vor sich. Er konnte sich vorstellen, wer bei diesem erneuten Streich seine Hände im Spiel hatte. Sein Erzeuger gönnte ihm den leichten Erfolg vermutlich nicht. Dabei hatte er, Robert, sich bisher immer alles erkämpfen müssen. Es wäre nur gerecht gewesen, wenn ihm auch einmal das Glück hold gewesen wäre. Er verließ den Friedhof und nächtigte in einem Nachbardorf, wo er ein paar Spielkameraden fand, die ihn aufs Würfeln einluden. Er fand nichts dabei. Seine Taschen waren nahezu leer, und so konnte er nur gewinnen. Vielleicht gelang es ihm ja auf diese Weise, sein Leben in den Griff zu bekommen, wenn alle ehrlichen Anstrengungen nicht halfen – durch Spiel und Glück. Als sein Erzeuger, der sich Fremden gegenüber des Öfteren als Fürst d'Assimo vorstellte, das Gasthaus betrat, wusste Robert gleich, dass der Abend kein gutes Ende nehmen würde. Er verfluchte sein Schicksal, er verfluchte sich doppelt, als Sohn des Teufels und einer armen Zigeunerin geboren worden zu sein. Und im Überschwang der Gefühle beschloss er, Asmodis auf die Probe zu stellen. Wenn
dem Fürst so viel an seinem Schicksal gelegen war, dass er erneut seinen Weg kreuzte, würde er ihn schon aus der heiklen Situation retten! Narr, der er gewesen war. Seinetwegen waren der Besitzer des Schankhauses und seine Gäste jetzt tot. Einzig die beiden Knechte hatte Robert noch aus den Flammen retten können, was ihm von den Bürgern des Ortes jedoch nicht gedankt wurde. Man sah ihn, den Fremden, als Brandstifter an. Robert gelang die Flucht, bevor ein Lynchgericht zusammentreten und ihn aufknüpfen konnte. Seitdem besaß er nur noch das, was er auf dem Leib trug. Er verfluchte seinen Vater. Aber in stillen Stunden sagte er sich, dass er nicht alles auf seine unglückliche Herkunft schieben konnte. Schon seiner Großmutter war prophezeit worden, dass er länger leben würde als jeder andere Mensch vor ihm. Das schien sich inzwischen zu bewahrheiten, da er sein dreiundfünfzigstes Lebensjahr vollendet hatte und noch immer kräftig wie ein Dreißigjähriger wirkte. Sollte er etwa nicht imstande sein, aus diesem unfasslichen Geschenk mehr zu ziehen als ein ewiges Leben in Ungewissheit und Armut? Ich will nie wieder arm sein, hatte er sich vor Jahren geschworen, als seine Mutter gestorben war, und schon bald hatte er erste Teilziele seines großen Plans verwirklicht. Mit einer Mischung aus Fleiß, Geschick und Dreistigkeit war es ihm gelungen, dem Elend zu entkommen. Noch vor wenigen Jahren hatte er mehr Geld besessen, als ein einzelner Mensch in seinem Leben ausgeben konnte. Aber dann waren die Blutsauger gekommen, die Neider und falschen Freunde. Er hatte ihnen sein Vermögen anvertraut, er hatte es auf ihr Anraten in neue Schiffsprojekte investiert, und als er schließlich selbst von einer der geschäftlich notwendigen Überfahrten zurückkehrte, hatten sich seine Treuhänder mit seinem Geld davongemacht.
Jetzt stand er wieder am Anfang. Aber diesmal hatte er einen Entschluss gefasst. Wenn die Welt ihm die Früchte seiner harten Arbeit nicht gönnte, würde er es eben auf anderem Wege versuchen. Mit weniger harter Arbeit. Und er hatte auch schon einen neuen Plan.
Südlicher Schwarzwald, in der Nähe von Hasel, 1543 � Es war das Jahr, in dem Nikolaus Kopernikus starb. Das Jahr, in dem Karl V. mit dem Venloer Vertrag seinen Herrschaftsbereich auf einen Großteil der Niederlande ausdehnte. Es war die Zeit des Aufbruchs, in der die Macht der katholischen Kirche durch Türkenangriffe und Reformation herausgefordert und unwiderruflich beschnitten wurde. Und es war das Jahr, in dem Robert deBlanc erkannte, dass die Menschen noch nicht reif für die Veränderungen waren. Er befand sich auf dem Weg nach Basel inmitten einer bewaldeten Berglandschaft. Der Weg führte durch eine Klamm, und das Wasser schoss in Strudeln das Bachbett hinunter. Robert war müde, doch er hielt sich wacker auf seinem Pferd – einem alten Kutschgaul, den er heute Morgen gestohlen hatte und der bei jedem Schritt verdrossen schnaubte. Die kühle, feuchte Luft belebte ihn ein wenig. Er blickte auf, als er wenige Meter vor sich, auf einem moosbewachsenen Felsvorsprung, eine Bewegung wahrnahm. Es war eine junge Frau mit einem schmalen Gesicht und kohlschwarzen Augen, die auf dem Felsen kauerte und ihm interessiert entgegenblickte. Ihr ansehnlicher Körper steckte in Lumpenkleidern, die jedoch nur knapp verdeckten, worauf ein Junggeselle wie Robert deBlanc unwillkürlich seine Blicke richtete. Er zügelte das Pferd und musterte die Schöne. »Seid gegrüßt, Fremde. Es empfiehlt sich nicht für eine Dame, allein im Wald umherzustreifen. Benötigt Ihr etwa Hilfe?«
Sie lachte schallend auf und schüttelte den Kopf, dass ihre verfilzten, braunen Haare flogen. »Auf meinem Pferd ist Platz für zwei«, sagte Robert. »Ich könnte Euch ein Stück weit mitnehmen, vielleicht ins nächste Dorf …?« Er fuhr herum, als es hinter ihm im Gebüsch raschelte. Die Zweige eines Strauches teilten sich, und ein kleiner, drahtiger Mann trat zwischen ihnen hervor, dessen Kleider mindestens ebenso zerlumpt waren wie die der Frau. Um seine Hüfte hatte er einen ledernen Gürtel geschlungen, in dem ein Messer und zwei Steinschlosspistolen steckten. »Ein edler Helfer in dieser einsamen Gegend«, spottete er. »Wie ist Euer Name, Fremder?« Robert runzelte die Stirn. »Es dünkt mich, dass Ihr es seid, der mir die Aufwartung zu machen hat, Kerl. Ich war gerade in ein Gespräch vertieft, als Ihr …« »Spart Euch Eure Reden. Wir wollen nur das Pferd.« Robert beschloss, den Ahnungslosen zu spielen. »Wir? Wen meint Ihr damit?« »Nicht zu vergessen Eure Kleider, Eure Waffen und Eure Habe. Sobald Ihr uns alles überlassen habt, könnt Ihr Euch davonmachen.« »Mir scheint, ich soll das Opfer eines gewöhnlichen Raubüberfalls werden«, meinte Robert wenig beeindruckt. »Da habt ihr euch den Falschen ausgesucht. Ich habe nichts.« »Und wie steht es mit dem Rappen, der euch durch diese wilde Landschaft trägt?« »Der Rappe …?«, prustete Robert – doch ihm blieb das Lachen im Halse stecken. Als er nach unten blickte, erblickte er nicht mehr den alten Kutschgaul, den er eben noch geritten hatte, sondern einen rassigen schwarzen Hengst, den er nur zu gut kannte. Viel besser sogar, als ihm lieb war … »Verdammtes Teufelswerk!«, rief er. »Spart Euch die Ausreden«, rief der Hagere. »Wir sind Euch seit geraumer Zeit gefolgt. So ein prächtiges Tier habe ich noch nie gesehen …« Robert stieg ab. »Ihr könnt es haben. Nehmt es und werdet glück-
lich damit.« Der Hagere kniff die Augen zusammen. »Wollt Ihr uns etwa auf den Arm nehmen, Freundchen?« Er legte die Finger an die Lippen und stieß einen Pfiff aus. Abermals raschelte es im Gebüsch, und etwa zehn weitere verwegen aussehende Kerle tauchten auf. Einer von ihnen zerrte einen schmächtigen Mann mit sich, dessen rundes Gesicht von einem schwarzen, fein geschnittenen Vollbart beherrscht wurde. Die Kleidung verriet ihn als Bürgerlichen. Es war auf den ersten Blick zu sehen, dass er nicht zu den Räubern zählte – denn sie hatten ihn geknebelt und ihm die Hände auf den Rücken gebunden. »Was soll das werden, wenn's fertig ist?«, brummte Robert. »Wollt ihr euch etwa alle zwölf auf meinen Gaul setzen und mit ihm davon reiten?« Der Hagere, ohne Zweifel der Anführer der Truppe, lachte. »Ihr habt Humor, mein Freund. Doch was wir mit dem Rappen anstellen, lasst ruhig unsere Sorge sein. Einstweilen reicht es, wenn Ihr Euch davonmacht – aber hurtig, versteht sich.« Robert nickte. »Das ist auch in meinem Sinn.« Er machte Anstalten aufzusitzen. »Wollt Ihr mich foppen?«, schrie der Hagere. »Weg von dem Rappen, Kerl!« Robert zog blitzschnell seine Pistole. »Noch einen Schritt, und Ihr seid tot.« Der Hagere war tatsächlich perplex. »Ihr seid verrückt. Wenn Ihr schießt, werden meine Leute Euch dafür in Stücke reißen.« »… was Euch allerdings nicht mehr allzu viel nützen würde, Bürschchen. Ich mache Euch einen Vorschlag. Ihr bekommt den Rappen und könnt mit ihm davon reiten. Ihr könnt sogar Eure holde Maid mitnehmen, die dort vorne auf dem Vorsprung auf Euch wartet …« Das Lumpenmädchen machte eine Grimasse und streckte ihm die Zunge heraus. »… und im Gegenzug lasst Ihr mich und Euren Gefangenen dort frei und gewährt uns freien Abzug.«
Der Geknebelte riss überrascht die Augen auf. Bisher hatte er den Wortwechsel mit Desinteresse verfolgt. Nun aber schien ihn zu interessieren, welcher Fremde sich da für ihn stark machte und in Lebensgefahr begab. »Ihr seid ein wahrer Menschenfreund«, sagte der Hagere. »Wie ist Euer Name?« »Nennt mich Robert deBlanc.« »Nun gut, Robert. Ich muss Euch leider mitteilen, dass ich Euer Angebot ablehnen werde.« »Seid nicht dumm. Ihr habt diesem Mann und mir alles gestohlen, was wir besitzen. Lasst uns gehen!« Der Hagere deutete auf den Fremden. »Dieser Mann ist ein gesuchter Ketzer. Der Erzbischof zahlt mit barer Münze, wenn wir ihn lebendig abliefern.« »Was hat er getan?« »Er hat in den Dörfern Heilmittel verkauft, die nicht wirken. Und er hat die Kühe verhext, dass sie Blut statt Milch geben.« »Habt ihr die verhexten Kühe mit eigenen Augen gesehen?« »Jawohl, ich sah sie.« Stolz warf er sich in die Brust. »Der Bauer hat sie mir gezeigt.« Robert lachte auf. »Der Bauer hätte Gesindel wie Euch von seinem Hof gejagt. Wie auch immer, dieser Gefangene sieht mir nicht wie ein mächtiger Hexer aus – sonst hätte er sich wohl auch kaum von Euch gefangen nehmen lassen.« »Wir haben ihn flussaufwärts in seiner Kutsche abgefangen«, widersprach der Hagere trotzig. »Mein Angebot steht. Lasst diesen Mann und mich gehen, oder Ihr werdet den Rappen nie bekommen.« Ein hämisches Grinsen schlich sich auf das Gesicht des Fremden. »Ihr wollt es also darauf ankommen lassen, deBlanc. Nun gut, also werdet Ihr sterben, und dann nehme ich mir Euren Ra …« DeBlanc war mit einem Satz wieder auf dem Pferd. Er wusste, dass ihm lediglich das Überraschungsmoment blieb. Er sprengte auf den Hageren zu, der entsetzt zur Seite auswich, und weiter zu dem Kerl, der den Gefangenen im Griff hielt.
Ein Schlag mit der Pistole gegen den Kopf, und der Mann stürzte zu Boden, wo er reglos liegen blieb. Während die Räuber starr vor Schreck waren, zog Robert den Gefangenen zu sich aufs Pferd, zückte das Messer und schnitt ihm die Riemen durch. »Könnt Ihr Euch festhalten?«, fragte er hastig. Der Mann nickte ängstlich. »Dann los!« Hinter ihnen erhob sich Geschrei. Erst jetzt lösten sich die Kerle aus ihrer Erstarrung. »Hinterher!«, schrie der Hagere aufgebracht. »Lasst ihn nicht entkommen!« Robert jagte den Rappen den Weg zurück, den er gekommen war. Er hoffte nur, dass sein Erzeuger ihn wenigstens diesmal nicht im Stich ließ und den Zauber etwa wieder rückgängig machte. Denn mit dem alten Kutschgaul unter dem Hintern konnte er den Räubern wohl kaum entkommen. Nach fünf Minuten zügelte er das Pferd und lauschte. Es war nichts mehr zu hören. Er sprang vom Pferd und löste den Knebel des Gefangenen. »Danke«, rief dieser und atmete tief durch. »Ich danke Euch vielmals für Eure Hilfe …!« »Wie heißt Ihr?« »Mein Name ist Friedrich Thurneisser.« »Sind diese Kerle beritten, Friedrich Thurneisser?« »Nein.« »Dann brauchen wir uns also nicht mehr zu beeilen.« »Halt. So einfach ist das nicht. Wir müssen noch einmal zurück – ich bitte Euch!« Robert glaubte sich verhört zu haben. »Diese Leute haben meine Kutsche überfallen«, sagte der Mann mit beschwörender Stimme. »Sie haben eine Leine über die Straße gespannt, die den Pferden die Beine weggerissen hat. Dann haben sie den Kutscher getötet und mich herausgezerrt.« »Grund genug, diese Gegend für die nächste Zeit zu meiden …« »Ihr versteht nicht, Herr deBlanc! Ich habe wertvolle Aufzeichnun-
gen in der Kutsche. Sie bedeuten mir mehr als mein eigenes Leben, doch diese tumben Kerle erkannten ihren Wert nicht und ließen sie liegen. Ich muss sie unbedingt zurückhaben!« Robert deBlanc musterte Thurneisser misstrauisch. »Wo ist die Kutsche?« »Nicht weit von hier. Euer Pferd ist schnell. In zwanzig Minuten wären wir da.« »Worum handelt es sich bei diesen Aufzeichnungen?« Thurneisser schlug die Augen nieder. »Das kann ich Euch nicht sagen. Dennoch bitte ich Euch, mir zu helfen und mir Vertrauen zu schenken. Ich verspreche Euch, dass ich Euch reich belohnen werde.« »Ihr seid doch nicht etwa wirklich ein Hexer?« »O nein. Das waren Verleumdungen. Ich bin Arzt und Naturforscher. Ich bin ein gebildeter Mann, Herr deBlanc! Ich komme aus Basel, dort könnt Ihr Euch von meinem Leumund überzeugen.« Etwas an der Art, wie er antwortete, wollte Robert nicht gefallen. »Schön. Ich wollte ohnehin nach Basel. Reiten wir also zurück und holen Eure Aufzeichnungen.«
Sie fanden die Kutsche so vor, wie Friedrich Thurneisser es beschrieben hatte. Den Pferden, die sich beim Sturz die Beine gebrochen hatten, hatten die Räuber die Schädel eingeschlagen. Dazwischen lag der Kutscher, die Brust von einer Schrotladung zerrissen. Die Kutsche war auf die Seite gefallen. Die zersplitterte Tür war aufgeklappt und pendelte im Wind. »Macht schnell«, sagte Robert. Zwar hatte er die Umgebung abgesucht und keinen Hinweis auf die Diebe entdecken können. Dennoch zweifelte er nicht daran, dass sie zurückkehren würden. Er wusste, dass Thurneisser ihm nicht die volle Wahrheit gesagt hatte. Die Kutsche beherbergte irgendetwas Wertvolles, und vielleicht wussten das auch die Schurken. Der Naturforscher kletterte flink in das Innere der Kutsche und förderte eine Holzkiste zutage, die eine Kantenlänge von anderthalb
Ellen besaß. »Die ist zu schwer«, sagte Robert. »Wir können sie nicht transportieren.« »Aber ich brauche die Kiste!«, beharrte Thurneisser. »Sagt mir, was drin ist. Dann überlege ich es mir vielleicht.« Als Thurneisser nicht antwortete, sprang Robert vom Pferd und machte sich an dem Schloss zu schaffen. »Was soll das, deBlanc? Dazu habt Ihr kein Recht!« Robert klappte den Deckel auf und runzelte gleich darauf die Stirn. »Bücher!« Es waren dicke Folianten, die in schwarzes, fettiges Leder eingebunden waren. Die Seiten waren von Hand beschrieben. Beim Durchblättern fand Robert anatomische Zeichnungen von Tieren, Menschen und Menschengliedern. »Was wollt Ihr mit diesem nutzlosen Geschreibsel, Thurneisser?« »Ich benötige es für meine Forschungen«, sagte Thurneisser mürrisch. »Was ist – wollt Ihr mich etwa auch bestehlen? Und ich dachte, Ihr hättet mir aus Freundlichkeit geholfen. Wie sehr habe ich mich in Euch getäuscht.« Robert warf die Bücher in die Kiste zurück. »Behaltet sie getrost.« »Diese Texte sind das Leben, deBlanc! Ich werde es Euch beweisen.« »Tut das und überzeugt mich davon.« Robert nickte. »Aber nicht hier. Reiten wir zuerst nach Basel. Dort will ich vor allem meine Belohnung sehen, von der Ihr gesprochen habt.« Er schnürte die Kiste am Sattel fest, wo sie notdürftig Halt fand, und ließ Thurneisser aufsitzen. Im Trab lenkte er den Rappen zurück durch den Wald, Richtung Basel. Das Augenpaar, das sie die ganze Zeit über aus einem Strauchversteck beobachtet hatte, bemerkte er nicht.
Robert deBlanc hatte sich die Stadt eindrucksvoller vorgestellt. Eingegrenzt durch einen Mauergürtel, der sie wie ein ängstliches Tier an die Rheinkrümmung presste, wirkte die Stadt wie ein Tier, das
im Schlaf überrascht und gefesselt worden war. Doch Basel war hellwach, wie Robert feststellte, als sie die Stadtgrenze überquerten. Die alten Häuser, die engen Gassen und Höfe waren nur Fassade – die neue Zeit der Reformation hatte auch in Basel Einzug erhalten. 1543, vierzig Jahre nach der verheerenden Pestepidemie, zählte die Stadt gerade einmal 9000 Einwohner. Es gab Platz genug für jeden, das Leben hatte sich nach dem Sieg über den Schwarzen Tod so weit normalisiert, dass gesellschaftliche Änderungen in den Vordergrund rückten. Das Regiment der fünfzehn Zünfte verdrängte die alteingesessenen Adelsfamilien in die Bedeutungslosigkeit. Die neuen Herrscher von Basel waren Handwerker, Landbesitzer und Kaufleute, die sich untereinander mit Rat und Tat zur Seite standen, weshalb aus ihnen eine Art neue Kaste hervorging, die, glaubte man den bösen Zungen der niederen Gesellschaft, zwar weniger vornehm als der Adel, dafür aber umso geldgieriger war. »Basel ist ein Zentrum der humanistischen Bildung«, erklärte Thurneisser begeistert, »wenngleich man vor den Häschern der Kirche auch hier nicht gefeit ist. Sie verfolgen die Jünger der Wissenschaft mit eiserner Hand, und der Papst belohnt sie reich für jeden so genannten Ketzer, den sie auf den Scheiterhaufen zerren.« Damit erzählte er Robert nichts Neues. Die katholische Kirche bangte um ihre Pfründe, seit Nikolaus Kopernikus und Martin Luther ihr schwere Schläge versetzt hatten. Die Türkenangriffe brachten sie zusätzlich in Bedrängnis. Das letzte, was die Kirche jetzt gebrauchen konnte, war eine Revolution der Wissenschaften, die womöglich die Theologie als deren Königin verdrängen könnte. Thurneisser führte deBlanc zu einem der schmalen Häuschen in der Nähe eines Marktes. Es war klein und dunkel und besaß einen Keller, der durch eine schwere, verriegelte Tür gesichert war. »In diesem Keller führe ich meine Forschungen durch«, erklärte Thurneisser, während er den Riegel zurückzog. »Ich habe ihn bisher niemandem gezeigt. Aber weil Ihr mir das Leben gerettet habt, Robert, sollt Ihr erfahren, was die Naturforschung in der modernen Zeit zu leisten vermag …« Er ging die Treppe hinunter, und deBlanc folgte ihm. Sie betraten
ein Labor, in dem allerlei seltsame Geräte herumstanden. Er erblickte merkwürdig geformte Glasröhrchen, Flaschen, Zylinder und ein Gerät, das Robert an einen überdimensionierten Ofen erinnerte. Die Regale waren voll gestopft mit Büchern, die genauso alt und dick waren wie jene, die Thurneisser aus der Kutsche gerettet hatte. »Weshalb zeigt Ihr mir das alles?«, fragte Robert misstrauisch. »Wenn ich euch bei der Inquisition anzeige …« »Ach, der Inquisitor Trauthmann ist ein Dummkopf, der keine Gefahr für mich darstellt. Während er harmlosen Kräuterweibern hinterher spürt und sie auf den Scheiterhaufen schleppt, arbeite ich daran, mein Lebenswerk zu vollenden – die Transformation!« »Transformation?«, echote Robert. »Die Verwandlung von unreinem Metall in Gold. Man benötigt dafür den Stein der Weisen …« »Und Ihr habt ihn gefunden?« Robert war skeptisch, doch nach den letzten Sätzen Thurneissers war sein Interesse geweckt worden. Thurneisser zog ein trauriges Gesicht. »Leider noch nicht. Aber ich bin kurz davor. Die Finanzierung meiner Forschungen hingegen ist eine andere Schwierigkeit, die mir ebenfalls großes Kopfzerbrechen bereitet.« Robert lachte auf. »Jetzt weiß ich, weshalb Ihr mich hierher gelockt habt. Ich soll Euern Mäzen spielen. Aber da habt Ihr Euch in mir getäuscht. Ich bin bettelarm – und wenn ich Euch daran erinnern darf, wart Ihr derjenige, der mir eine Belohung versprochen hat …« »Sorgt Euch nicht, deBlanc.« Er öffnete eine Schatulle, nahm einen Beutel heraus und zog ein Goldstück heraus. »Wie viel wollt Ihr? Zwei? Drei?« »Woher habt Ihr dieses Gold?« Thurneisser kicherte in sich hinein. »Ihr gefallt mir, Robert deBlanc. Ihr seid zwar arm, aber geschäftstüchtig. Ihr könnt mehr als zwei oder drei Goldstücke von mir haben …« Er schwieg einen Moment und ergänzte dann listig: »… wenn Ihr etwas für mich tut.« »Erklärt Euch genauer!«, forderte Robert. Thurneisser öffnete einen Schrank, in dem mehrere nebeneinander
aufgereihte Schalen standen. Er nahm eine von ihnen heraus und zog den Deckel ab. Ein süßlicher Geruch stieg Robert in die Nase. Der Zigeunersohn blickte auf eine weißliche, fettige Substanz, die im Licht der Kerze wie geschlagene Butter glitzerte. »Das ist mein Geschäft«, sagte Thurneisser. »Eine Heilsalbe, die, mehrmals täglich aufgetragen, Euch von den schlimmsten Gebrechen heilt. Sie strafft die Haut und lässt Euch jünger erscheinen, sie heilt Wunden und dringt sogar in den Leib ein, wo sie Knochen wieder zusammenfügt. Diese Salbe ist das Leben, deBlanc!« Was für ein Unsinn, dachte Robert. Aber er konnte sich vorstellen, dass Thurneisser mit dieser Quacksalberei das Geschäft seines Lebens machte. »Wie viel bekommt Ihr für eine Schale?« »Genug, um Euch zu bezahlen, Robert. Mein Problem sind nicht die Käufer. Die stehen Schlange. Sie alle wollen die heilende Salbe des angesehenen Arztes und Naturforschers Friedrich Thurneisser kaufen. So viele sogar, dass ich leider nicht mehr nachkomme mit der Produktion.« »Woraus macht ihr diese Salbe, Thurneisser?« Der Naturforscher grinste. »Das Rezept ist geheim. Es sind verschiedene Kräuter und natürliche Substanzen. Das wichtigste aber ist die Konsistenz. Die Salbe muss fettreich sein, damit sie auf der Haut haftet. Ich verwende ein spezielles Fett, das ihre Wirkung erhöht. Es stammt von menschlichen Leichen …« Robert ahnte, wovon Thurneisser sprach. »Ihr wollt, dass ich Euch dieses Fett beschaffe … oder noch besser, die Körper, aus denen Ihr es extrahiert.« »Ich sehe, wir verstehen uns!« »Das kann ich unmöglich tun.« Thurneisser zog ein langes Gesicht. »Ich werde Euch gut bezahlen, deBlanc. Ich zahle mit klingender Münze. Ihr könnt sogar mein Teilhaber werden.« »Ich werde für Euch nicht zum Leichenschänder.« Der Alchimist winkte ab. »Pah, die Toten stört es nicht, wenn ich mich Ihrer bediene. Und die Lebenden werden davon nichts bemerken. Ihr schüttet die Gräber wieder zu, als ob nichts gewesen wäre
… Versteht Ihr, deBlanc, ich brauche Euch! Allein bin ich zu schwach, die Arbeit zu bewerkstelligen. Außerdem kostet sie zu viel Zeit, die ich doch für meine Forschungen verwenden muss!« »Wie viel würdet Ihr mir zahlen?« »So viel Ihr wollt. Ich verspreche Euch, dass …« »Wie viel?« Thurneisser machte ihm einen Vorschlag. Robert dachte daran, dass er schon einmal versucht hatte, als redlicher Kaufmann ein Vermögen zu verdienen und dieses prompt an missgünstige Gesellschafter verloren hatte. Er dachte an seinen Erzeuger, den es vermutlich schockieren würde, wenn er erfuhr, dass sein Sohn als Handlanger eines einfachen Betrügers arbeitete. Welch eine Erniedrigung für den Fürsten! Das gefiel Robert, und dieser Gedanke war es letzten Endes, der ihn zustimmen ließ. Was hatte er dabei schon zu verlieren? Die Toten stört es nicht, wenn wir uns ihrer bedienen. »In Ordnung«, sagte Robert. »Ich schlage ein.« Dass er damit genau die Entscheidung traf, die sein Erzeuger für ihn vorgesehen hatte, konnte er nicht ahnen.
Am nächsten Tag verkaufte er als erstes den Rappen an einen Bauern am Stadtrand, der das wunderschöne Tier mit fachmännischem Blick musterte, leise etwas in seinen Bart murmelte und deBlanc anschließend dreist einen ganzen Taler als Kaufpreis bot. »Das Tier ist mehr wert, und das wisst Ihr sehr genau«, sagte Robert. Der fettleibige Bauer zuckte die Achseln. »Wenn Ihr dieser Ansicht seid, versucht es doch bei einem anderen Händler. Ihr werdet keinen besseren Preis bekommen.« Robert sah die Gier, die in den Augen des Bauern loderte. Er hätte jeden Preis geboten, um diesen Rappen zu bekommen, den er anschließend teuer an die reichen Herrschaften von Basel verkaufen konnte.
»Ich nehme Euer Angebot an«, sagte er. »Gebt mir den Taler, und das Pferd gehört Euch.« »Da habt Ihr ein gutes Geschäft gemacht, junger Freund.« Aber die mitleidigen Blicke, mit denen er Robert betrachtete, sagten etwas anderes. Robert verließ den Hof mit dem erleichternden Gefühl, den dunklen Schatten des Fürsten ein weiteres Mal – diesmal endgültig? – abgeschüttelt zu haben. In den folgenden Wochen widmete er sich mit vollem Eifer der Salbenherstellung im Hause Thurneissers, was bedeutete, dass er genau der Arbeit nachging, die der Forscher für ihn vorgesehen hatte. Das Geschäft lief gut, denn Thurneisser war in Wirklichkeit viel weniger ein »Naturforscher«, denn ein begnadeter Verkäufer. Die Alten und die Jungen kamen zu ihm, um sich von echten und eingebildeten Leiden kurieren zu lassen: Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, Reiche und Arme (wobei Thurneisser letzteren gnädigerweise einen Sonderrabatt einräumte, der seine und Robert deBlancs Gewinnspanne um ein Drittel verminderte). Robert deBlanc, der anfangs Hemmungen gehabt hatte, Thurneisser zu unterstützen, fand Gefallen an der Bequemlichkeit, die das Geschäft mit ihm bot. Während er die Friedhöfe der Stadt plünderte, vermehrten sich die Goldmünzen in seinem Säckchen ganz von allein. Sein anfänglicher Verdacht, dass Thurneisser seinen »Teilhaber« mit weniger als dem verdienten Anteil abzuspeisen versuchen würde, bestätigte sich nicht. Vielmehr war der Naturforscher von seinem eigenen Geschäftssinn so begeistert, dass er deBlanc jeden Abend vorrechnete, was sie tagsüber eingenommen hatten. Robert deBlanc fragte sich, wie er so dumm hatte sein können, sein Glück jemals auf ehrliche Weise zu versuchen. Als Kaufmann hatte er ein Vermögen investiert – und verloren. Als Leichenräuber dagegen benötigte er lediglich die Kraft seiner Arme, eine Schaufel und einen Sack, in dem er die Leichen nach ihrer »Bearbeitung« durch Thurneisser verschwinden ließ. Der Rückführung der Leichen an ihre ursprüngliche Ruhestätte er-
forderte weniger Kraft, da sie durch Thurneissers Behandlung stets einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Körpermasse verloren hatten. Insbesondere wenn ein reicher Kaufmann starb und jemand aus der Verwaltung, hatte der Doktor alle Hände voll zu tun, das überschüssige Rohmaterial zu verarbeiten. Er tat es und freute sich wie ein Kind über die zusätzlichen Einnahmen. Aber die Ruhe währte nicht lange, denn die Heilwirkung der Salben Thurneissers sprach sich schnell herum. In ganz Basel raunte man sich die Gerüchte zu, woraus diese wirkungsvollste aller Medizinen bestehen möge. Dem Inquisitor Trauthmann, einem beleibten älteren Herren, den Thurneisser nur zu gern unter das Messer genommen hätte, kam der Verdacht zu Ohren, dass die Wirkung der Salbe auf Hexerei zurückzuführen sei. Thurneisser konnte diese Nachricht nicht aus der Ruhe bringen. »Früher oder später mussten wir damit rechnen«, versuchte er deBlanc zu beruhigen. »Ich werde den Inquisitor zu besänftigen wissen.« So kam es, dass er seinen Gehilfen Robert deBlanc schickte, um Trauthmann, der selbst ein guter Kunde Thurneissers war, eine persönliche Aufwartung zu machen. Robert brachte ihm zwei Salbentöpfe als Geschenk mit. Der Inquisitor nahm es wohlwollend zur Kenntnis, vergaß aber nicht, deBlanc darauf aufmerksam zu machen, dass er gezwungen sei, den Gerüchten über seinen Herrn und Meister nachzugehen, falls sich die Hinweise eines Tages verdichten sollten. Robert deBlanc nahm die Ermahnung ohne Wimpernzucken hin und bekräftigte, dass es sich um üble Nachrede erfolgloser Konkurrenten handelte. Ja, Thurneisser und er verabscheuten Hexerei darüber hinaus zutiefst. Und ja, sie stimmten Trauthmann durchaus zu, dass mit dem Teufel und seiner Macht nicht zu spaßen sei. Er verließ den Inquisitor mit der Gewissheit, dem drohenden Unheil konsequent entgegengewirkt zu haben. Robert war jung, und deshalb unterschätzte er die Gier und Maßlosigkeit, die ein Mensch entwickeln konnte, wenn er einmal Blut geleckt hatte. Er schaffte es nicht einmal zurück bis in Thurneissers
Haus.
»Was soll das?«, rief deBlanc, als zwei Stadtbüttel ihm den Weg versperrten und ihre Speere auf ihn richteten. Das Haus, in dem Thurneisser vermutlich gerade mit dem neuen Rohmaterial hantierte, das Robert ihm über Nacht beschafft hatte, befand sich nur eine Straßenecke weiter. »Wir haben Befehl, Euch festzunehmen, Robert deBlanc«, schnarrte einer der Büttel, ein Kerl von kräftiger Gestalt, der einen drohenden Blick auf Robert warf. »Wir sollen Euch zum Inquisitor bringen. Leistet Ihr Widerstand, sind wir befugt, Euch Gewalt anzutun, deBlanc.« Robert lachte auf. »Das muss wohl ein Irrtum sein, meine Herren. Ich war gerade bei dem Inquisitor. Wir haben uns gut unterhalten und sind in aller Freundschaft auseinander gegangen.« »Wollt Ihr Euch dem Befehl widersetzen?«, fragte der Breitschultrige stirnrunzelnd. Robert fuhr herum, als er in seinem Rücken ein Geräusch vernahm. Vier weitere Büttel, die Gesichter ebenso finster wie bei den ersten. Er zweifelte nicht länger, dass er das Opfer eines üblen Intrigenspiels wurde. Trauthmann spielte ein falsches Spiel mit ihm. Ob Thurneisser mittlerweile ebenfalls von Stadtbütteln aufgesucht worden war? Er hat es auf die Salbe abgesehen, dachte Robert deBlanc. Natürlich, wo man zwei Schälcben kostenlos erhält, da gibt es auch noch mehr zu erpressen. Und Thurneisser hatte geglaubt, das Geschenk würde den Inquisitor gnädig stimmen. Sie waren beide Narren gewesen! Als die Büttel ihn beim Stadthaus ablieferten, erwartete ihn ein breit grinsender Inquisitor Trauthmann – und eine zweite unangenehme Überraschung, die Robert deBlanc schlagartig klar machte, dass es um ihn noch weitaus schlimmer bestellt war, als er bisher gedacht hatte. »DeBlanc! Da seid Ihr ja wieder. Ich hoffe, meine Büttel haben
Euch nicht allzu rau behandelt …!« Trauthmann sprach in unverbindlichem Tonfall, als rede er über die Regenperiode, die Basel seit einigen Tagen im Griff hielt. »Euer Ehren, ich muss mich über die Behandlung, die mir zuteil wurde, beschweren! Zweifellos hätte es genügt, mir eine förmliche Einladung zukommen zu lassen …« Es entging ihm nicht, dass die beiden Büttel, die ihn begleitet hatten, den Raum nicht etwa verließen, sondern sich an der Tür postierten. Es gab keinen Zweifel, dass er von diesem Augenblick an gefangen war. »Beschweren wollt Ihr Euch, deBlanc?«, wiederholte Trauthmann missmutig und strich sich über die Stirn, als müsse er über diese Ungeheuerlichkeit erst einmal nachdenken. »Mein lieber deBlanc, Ihr verkennt offenbar die Lage, in der Ihr Euch befindet. Während Eurer Abwesenheit hat sich eine neue Faktenlage ergeben. Ich sprach ja bereits davon, dass die Situation für Euch gefährlich werden könnte.« »Herr Thurneisser und ich haben nichts zu verbergen«, sagte Robert bestimmt. »Ich bin überzeugt, dass er Euch über die Herstellung seiner Salbe Rede und Antwort stehen wird, wenn Ihr ihn darum bittet. Ihr werdet verstehen, dass ich selbst dazu nicht in der Lage bin. Ich bin nur sein Helfer und verstehe von der Naturforschung längst nicht so viel wie er.« »Das dünkt mich ebenso, deBlanc«, erwiderte Trauthmann und grinste schmierig. »Weshalb ich mich in der Tat entschlossen habe, Euren Herrn und Meister zu befragen. Ich habe wahrhaft interessante Antworten erhalten …« Er gab den Wachen einen Wink, und sie öffneten die Tür. DeBlancs Augen wurden groß, als Friedrich Thurneisser hereingeführt wurde. Seine Hände lagen in Ketten, und sein Gesicht war bleich und schweißbedeckt. Sein Hemd war zerrissen und der Oberkörper von blutigen Striemen entstellt. Aus seinen Augen sprachen die unsäglichen Qualen, die er während der letzten Stunden ausgestanden hatte. Robert begriff mit einem Schlag, dass Trauthmanns Einladung nur ein Ablenkungsmanöver gewesen war. Während er hier oben mit
dem Inquisitor geplaudert hatte, ließ dieser unten in seinen Kellern den Naturforscher foltern und verhören. DeBlanc wurde übel vor soviel Skrupellosigkeit. »Ich hatte Euch beide schon länger im Verdacht, gegen die Kirche und den Glauben zu freveln, deBlanc. Ein Geheimagent des Vatikans war auf Euch angesetzt. Er verriet mir, dass Ihr bereits in mehreren Dörfern wegen Eurer Machenschaften enttarnt wurdet und fliehen musstet.« »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Trauthmann …« »Spart Euch das Lügen. Dieser so genannte Naturforscher hat mir bereits alles gestanden, was ich wissen wollte. Ich werde Euer gesamtes Vermögen und Eigentum beschlagnahmen und der Kirche zuführen, der Ihr durch Euer Wirken solchen Schaden zugefügt habt. Ihr dagegen, Thurneisser und deBlanc, werdet nach einer weiteren Befragung dem gerechten Urteilsspruch entgegensehen.« »Das ist eine Ungeheuerlichkeit«, rief deBlanc. »Wir haben nichts getan, was …« »Schweigt!«, fuhr Trauthmann ihn an. »Wir haben Beweise genug. Euch bleibt nur noch die Möglichkeit, die Tatsachen zu bestätigen und damit Euren Tod etwas angenehmer zu gestalten.« Wieder gab er den Wachen einen Wink. »Führt die beiden ab.« »Von welchem Geheimagenten sprecht Ihr? Ich will ihn sehen!« »Ihr werdet ihn früh genug sehen, deBlanc. Morgen schon, dann nämlich, wenn Euer letztes Stündlein geschlagen hat … Fort mit ihnen, habe ich gesagt! Und geht mir nur nicht zu schonend mit ihnen um. Sie sollen nicht glauben, dass ich mich von Verrätern der Kirche zum Narren halten lasse.« Er sprach mit solcher Überzeugungskraft, dass Robert sich unwillkürlich fragte, ob Trauthmann tatsächlich glaubte, was er sagte. Robert und Thurneisser wurden in ein Verlies unterhalb des Stadthauses geschleift, wo man sie in schwere Eisenketten schlug. Friedrich Thurneisser leistete keinen Widerstand und ließ apathisch alles mit sich geschehen. Er wirkte, als hätten die vergangenen Stunden all seinen Lebenswillen gebrochen. Als sie allein waren, fragte Robert deBlanc: »Was für ein Spiel ist das, Thurneisser? Der Inquisitor sprach von anderen Provinzen, in
denen Ihr gesucht würdet. In welche Verbrechereien habt Ihr mich da hineingezogen?« Friedrich Thurneisser antwortete nicht, und so erfuhr deBlanc erst am nächsten Morgen, welchen Streich ihm das Schicksal erneut gespielt hatte.
Es wurde die längste Nacht in Roberts bisherigem Leben. An Schlaf war nicht zu denken, und so dämmerte er in dem finsteren Verlies vor sich hin, während die Minuten quälend langsam verstrichen und der Tod mit jedem dumpfen, entfernten Glockenschlag, der aus der Welt jenseits der Gitter zu ihnen hereindrang, näher rückte. Robert deBlanc fand in dieser Nacht Zeit zum Nachdenken. Es war ein Fehler gewesen, sich mit Thurneisser einzulassen. Er war vom Weg abgekommen, und dafür zahlte er jetzt die Strafe. All das Gold, der Reichtum, den er durch den Betrug erlangt hatte, war nichts wert. Er war bei Gott kein Waisenknabe gewesen in den letzten Jahrzehnten (höchstens in wörtlichem Sinne, wie er mit bitterem Spott bemerkte). Das Zigeunerblut in seinen Adern hatte ihn zum Aussätzigen gemacht. Er war ein Paria der Gesellschaft, und er hatte sich immer mit besonderen Mitteln und besonderem Durchsetzungsvermögen zum Erfolg verhelfen müssen. Aber jetzt hatte er eine Grenze überschritten und einen Weg eingeschlagen, den sein Erzeuger mit größtem Wohlwollen zur Kenntnis nehmen würde. Und er hatte gedacht, er könnte den Fürsten ärgern, indem er sich als kleiner Gauner verdingte! Dabei war er nur zum Verbrecher an seinem eigenen, ganz persönlichen Glauben geworden, der da hieß, dass der Fürst der Finsternis von jetzt an keine Macht mehr über ihn haben sollte. Er würde gestehen. Er würde alles sagen, was Trauthmann wissen wollte. Er würde Thurneisser und sich selbst anklagen und berichten, wie er die Leichen auf Anweisung des Naturforschers vom Friedhof ge-
stohlen und nach der Behandlung wieder zurückgebracht hatte. Und er würde die Strafe dafür lächelnd annehmen. Büßen für das, was er getan hatte. Denn die Hauptsache war, dass der Fürst dieses Spiel nicht gewann! Robert schloss die Augen. Er fühlte sich erleichtert, als er diesen Entschluss gefasst hatte. Draußen schlug die Uhr die dritte Morgenstunde. Es würde nicht mehr lange dauern. Als er die Augen wieder öffnete, erblickte er neben Thurneisser im Dunkeln eine Gestalt. Sie war leuchtend weiß und durchsichtig, und sie glich Thurneisser, als wäre sie ihm aus dem Gesicht geschnitten. Der Naturforscher war in einen unruhigen Schlaf gefallen, doch selbst wenn er wach gewesen wäre, hätte er sie nicht sehen können. Es handelte sich um einen Geist. Den Geist Friedrich Thurneissers. Da wusste Robert deBlanc endgültig, was sie am nächsten Tag, im Morgengrauen, erwarten würde. Die Anhörung der beiden Sünder vor dem gaffenden Publikum erwies sich als genau die Farce, die Robert deBlanc von Anfang an vermutet hatte. Er hatte über die Machenschaften und Methoden der Inquisition viele Gerüchte gehört, doch nun erlebte er sie am eigenen Leib. Der Inquisitor Trauthmann empfing sie in einem großen Saal vor einer Richterbank, auf der neben ihm selbst noch einige andere hohe Herrschaften Platz genommen hatten. Ein Schreiber führte mit verkniffenem Blick das Protokoll. An den Fenstern und zu den Seiten des Saales hatte sich der Mob zusammengefunden, mindestens zweihundert Menschen, die von einem großen Prozess gehört hatten, der eröffnet werden sollte und den sie nicht versäumen wollten. Wie groß war das Raunen, als der angesehene Arzt Thurneisser hereingeführt wurde! Einige schauten betroffen drein, andere dagegen lächelten wissend, als hätten sie schon immer geahnt, dass es bei dem Erfolg dieser ominösen Salbe nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Doch die meisten von ih-
nen hatten selbst schon eine Krankheit oder kleinere Blessur damit behandelt. Der Inquisitor stand auf und sorgte mit einer knappen Handbewegung dafür, dass das Getuschel abrupt endete. »Wir haben uns an diesem Tag hier versammelt, um zwei Frevler schuldig zu sprechen, die in den vergangenen Monaten ihren Schabernack in der Stadt veranstaltet und mit der Gutgläubigkeit anderer Menschen Schindluder getrieben haben – schlimmer noch, sie haben sich der Hexerei schuldig gemacht, wofür wir sogleich ausreichende Beweise vorlegen werden, die keinen anderen Urteilsschluss als den Tod zulassen.« Er gab das Zeichen, einen der Seitenflügel zu öffnen. Ein fettleibiger Mann wurde hereingeführt, den Robert deBlanc sofort als den Bauern wieder erkannte, dem er vor Monaten den schwarzen Rappen verkauft hatte. »Nennt Euren Namen«, sprach Trauthmann den Zeugen an, »und erklärt, wie übel Euch einer der Angeklagten mitgespielt hat.« Der Bauer stellte sich vor und richtete seinen hasserfüllten Blick sogleich auf Robert deBlanc. »Dieser da hat mir vor einigen Monaten ein Pferd verkauft. Einen Rappen, so prächtig und stark, wie ich noch keinen zuvor gesehen hatte. Ich ließ mich von der Schönheit des Tieres blenden und bot deBlanc zehn Goldstücke, wenn er mir nur den Rappen lassen würde. Er aber war gierig und handelte mich auf zwanzig Goldstücke herauf.« Die Menge flüsterte und starrte deBlanc halb bewundernd, halb verächtlich an. Zwanzig Goldstücke, welch ein Vermögen! »Das ist eine Lüge!«, rief deBlanc. »Er bot mir einen einzigen Taler – viel zu wenig für das Tier. Ich aber habe das Angebot angenommen und ihm den Rappen überlas …« Der Schlag eines Büttels ließ deBlanc zu Boden gehen. Sein Kopf schmerzte, als er von kräftigen Händen brutal wieder auf die Beine gerissen wurde. »Das wird Euch lehren, nur zu sprechen, wenn ich es Euch befehle!«, rief der Inquisitor empört. Und an den Zeugen gewandt, sprach er: »Fahrt fort mit Eurer Rede, ehrenwerter Mann!«
»Nachdem deBlanc also mittels Hexenkraft meine Sinne getrübt und mir für ein höchstens mittelmäßiges Pferd ein Vermögen aus der Tasche gezogen hatte, machte er sich davon. Ich führte den Rappen in den Stall, wo ich ihn anband und ihm zu fressen gab. Dann zog ich mich in meine Unterkunft zurück …« »Weiter, weiter«, sagte Trauthmann lächelnd und vollführte eine hektische Handbewegung. »Das Schlimmste kommt ja noch …« »Als ich am nächsten Tag in den Stall zurückkehrte, traf mich fast der Schlag. Das Pferd lag auf dem Boden. Es war tot. Aber schlimmer noch – es war kein schwarzer Rappe mehr, sondern es hatte sich über Nacht in einen einfachen Kutschgaul verwandelt, dessen Rücken rau von Peitschenhieben war und für den ich auf dem Markt keinen Pfifferling bekommen hätte!« »Ist es möglich, dass ein Fremder des Nachts Zutritt zu Eurem Stall erlangen und die Pferde vertauschen konnte?«, warf Trauthmann eine Zwischenfrage ein, von der Robert überzeugt war, dass sie mit dem Bauern abgesprochen war. »Das ist nicht möglich, Euer Ehren. Die Ställe sind gesichert, und ich habe einen Hund im Haus, der auf jeden Fremden anschlägt. Außerdem waren die Schlösser unversehrt, als ich am Morgen zurückkehrte.« Trauthmann nickte zufrieden, als habe er damit alle möglichen Bedenken ausgeräumt. »Damit ist bewiesen, dass Robert deBlanc sich in diesem einzelnen Fall der Hexerei schuldig gemacht hat. Aber sein Sündenregister ist damit noch nicht zu Ende. Man hole die nächste Zeugin herbei!« Eine schlanke Frau mit langen, braunen Haaren erschien. Auch sie kannte Robert deBlanc – es war die Gespielin des Räuberhauptmanns, die ihn im Schwarzwald in einen Hinterhalt gelockt hatte. »Wie ist Euer Name, und was habt Ihr gegen Robert deBlanc vorzubringen?« »Ich heiße Angelina d'Assima. Ich begegnete Robert deBlanc vor einigen Monaten, als er im Schwarzwald auf einem prächtigen Rappen daherritt.« »Schildert genau, was geschehen ist, Fräulein d'Assima. Wir müssen jede Einzelheit wissen!«, forderte Trauthmann eifrig.
»Als Robert deBlanc mich sah, bedrängte er mich. Ich war nicht sehr aufreizend gekleidet an jenem Tag, doch das hielt ihn nicht ab, was für seine Wildheit und geschlechtliche Gier spricht. Er versuchte mir die Kleider vom Leib zu reißen, aber meine Freunde kamen mir gerade noch rechtzeitig zur Hilfe.« »Sag ihm doch, welche Freunde das sind, Fräulein d'Assima!«, rief deBlanc höhnisch dazwischen. »Ein Räuberhauptmann und seine Spießgesellen, die mir auflauerten, um mich meiner Habe zu berauben …« »Schweige Er endlich!«, schrie Trauthmann. »Oder wir werden dafür sorgen, dass man Ihm die Zunge herausschneidet!« Und an das so genannte Fräulein d'Assima gerichtet: »Berichtet weiter!« »DeBlanc bekam Angst, als er meine Freunde erblickte. Sie hatten gesehen, was er mit mir anstellen wollte, also konnte er sich auch nicht mit einer Lüge herausreden. Da sprang er rasch auf seinen Rappen und galoppierte davon.« »Erzählt genauer, wie er davon galoppiert ist!« »Nun … Er ritt hoch durch die Luft, als ob sein Pferd vom Teufel besessen sei. Ehrlich gesagt, Euer Ehren, kam ich sofort zu der Überzeugung, dass Robert deBlanc entweder nur ein Spuk war, den ich mir eingebildet hatte, oder dass er ein großer Hexer sein müsse, dem der Teufel seine Macht geliehen hatte. Dass ich ihn heute hier wieder sehe, beweist, dass er kein Spuk gewesen sein kann.« Diese Argumentation überzeugte sowohl Trauthmann als auch die Anwesenden. Ein heftiges Raunen ging durch die Menge der Zuschauer. Robert deBlanc glaubte sich in einen Alptraum versetzt. Noch heute Morgen war er der Gehilfe eines angesehen Arztes gewesen, hatte jeden Tag mehr Geld verdient, als er in einem Monat ausgeben konnte – nicht etwa mit üblen Verbrechen, sondern mit einem kleinen, harmlosen Schwindel wohlgemerkt! –, und jetzt wurde ihm Hexerei und Buhlen mit dem Teufel vorgeworfen, und zwar in einer Weise, die nur seine Hinrichtung zur Folge haben konnte. Die Zuhörer waren von den Berichten der Zeugen bereits vollkommen überzeugt. Trauthmann betrachtete Robert deBlanc mit hämischem Grinsen.
»Ihr seid entlarvt, Robert deBlanc. Ihr habt Euch der Hexerei schuldig gemacht und Menschen geschadet. Dafür werdet Ihr zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Da man davon ausgehen muss, dass der Naturforscher Friedrich Thurneisser ohne sein Wissen von Euch beeinflusst wurde, wird seine Strafe geringer ausfallen, wenn er vollständig gesteht. Wir müssen alles über das unheilvolle Wirken dieses Quacksalbers erfahren. Die Befragung findet in den nächsten Stunden statt. Die Hinrichtung Robert deBlancs dagegen wird noch für heute Abend angesetzt. Wir wollen uns dieses Frevlers so schnell wie möglich entledigen.« Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Robert deBlanc und Friedrich Thurneisser wurden abgeführt. DeBlanc machte sich keine Illusionen darüber, was Thurneisser seinen Folterknechten erzählen würde. Er würde sämtliche Schuld auf ihn schieben und damit seinen Kopf noch einmal aus der Schlinge ziehen. Um ihn, Robert, war es ja ohnehin geschehen. Was schadete es, wenn man einen zum Tode Verurteilten belastete? Robert wurde zurück in die Zelle geführt. Friedrich Thurneisser dagegen brachte man zum hochnotpeinlichen Verhör. Robert wurde angekettet und in der Finsternis der Zelle zurückgelassen. Die Gewissheit, dass sein Leben hier und heute enden würde, machte ihn seltsamerweise nicht im Mindesten ängstlich. Vielleicht war es sogar besser so. Sein Leben war ein einziger Kampf gegen seinen Blutfluch gewesen – gegen den Fluch, als Sohn des Teufels geboren worden zu sein. Er konnte diesen Kampf nicht gewinnen, also war es vielleicht besser, wenn er starb. Auf diese Weise würde auch sein Erzeuger eine empfindliche Niederlage erleiden. Robert lachte verzweifelt auf. Dieser Gedanke gefiel ihm sogar. Er würde ihm das Sterben erleichtern. Doch dann kehrte die Furcht vor dem Augenblick des Todes, vor den Schmerzen des Flammentodes zurück. Sollte es wirklich keinen Ausweg geben? Er versank für die nächsten Stunden in dumpfes Brüten.
Immer wieder irrten seine Gedanken zu dem Bauern und der so genannten d'Assima zurück. Trauthmann hatte weiter von einem Geheimagenten des Papstes gesprochen, den er aber gar nicht als Zeugen aufgerufen hatte. Robert konnte sich denken, wer dahinter steckte. Wer diese ganze Intrige gegen ihn ausgeheckt hatte. Aber etwas stimmte nicht. Es ging ihm nicht aus dem Kopf, seit der Inquisitor Trauthmann seinen Urteilsspruch verkündet hatte. Wieso sollte er, Robert, sterben und nicht Thurneisser – wenn es doch dessen Geist war, den er in der vergangenen Nacht gesehen hatte …? Der Folterknecht, ein untersetzter, glatzköpfiger Kerl in zerlumpten, stinkenden Kleidern, hatte seine wahre Freude an Thurneissers Qualen. Er hatte den Leib des Naturforschers auf eine Streckbank gespannt und das Rad Stück um Stück vorgedreht, während sich auf dem Gesicht Thurneissers zunächst Sorge, dann Angst und schließlich qualvoller Schmerz abzeichneten. »Nun, will Er mir nun meine Frage beantworten?«, fragte der Knecht kichernd. »War es Robert deBlanc, der euch zum Verbrechen anstiftete?« Thurneissers Gesicht verzerrte sich. »Ich sagte doch schon, dass Robert nicht weniger schuldig ist als ich. Warum foltert Ihr mich, da Ihr mein Geständnis doch längst bekommen habt?« Der Folterknecht zog das Rad weiter an. »Weil es Seiner Exzellenz so beliebt, Thurneisser. Er soll nicht glauben, dass Er uns so billig davonkommen kann …!« Billig?, dachte Thurneisser, und eine Welle des Zorns schwemmte für Bruchteile von Sekunden den Schmerz hinweg. Ich habe meine Existenz verloren, außerdem meine Bleibe und meinen guten Ruf. Ich werde der hochnotpeinlichen Befragung unterzogen, und danach droht mir der Tod. Was könnte noch schlimmer sein …? Hätte er doch niemals diese verrückte Idee mit der Salbe gehabt. Und wäre er doch niemals Robert deBlanc begegnet, der es ihm erst ermöglicht hatte, das Geschäft derart zu vergrößern, dass es über kurz oder lang den Verdacht der Inquisition erregen musste.
»Er macht sich keine Vorstellung davon, was Wir mit einem menschlichen Körper anzustellen vermögen«, sagte der Folterknecht grinsend, als hätte er Thurneissers Gedanken gelesen. »Er sollte Uns seine Antworten geben, bevor Wir sie ihm gewaltsam entreißen …« »Aber ich weiß doch nichts!«, schrie Thurneisser. Der Folterknecht drehte das Rad unerbittlich weiter. »Erzählt uns über Robert deBlanc. Was ist er für ein Mensch? Ist er überhaupt ein Mensch? Woher kommt er?« »Das hat er mir nicht gesagt …« Thurneissers Worte gingen in ein Schreien über, als der speckbäuchige Kerl die Spannung erhöhte. Der Naturforscher hatte das Gefühl, ihm würden die Arme aus den Schultergelenken gerissen. Noch war es nur das Gefühl… »Er soll reden!«, fauchte der Dicke. Da öffnete sich die Tür der Folterkammer, und eine in Schwarz gekleidete Gestalt trat ein. »Euer Exzellenz, ich darf Euch sagen …« Das Grinsen auf dem Gesicht des Folterknechtes erstarb. Der Ankömmling war nicht der Inquisitor. Es war ein Fremder. Er trug ein teures Gewand aus Seide und einen großen Hut mit einer schwarzen Feder daran. Die Krempe des Hutes war so breit, dass das Gesicht des Fremden vollständig im Schatten lag. Er wirkte wie ein schwarzer Schleier, der das flackernde Licht der Wandfackeln vollständig absorbierte. »Wer seid Ihr?«, fragte der Folterknecht nervös. »Der Zutritt zu diesen Kammern ist nur Seiner Exzellenz gestattet …« »Der Inquisitor wird Verständnis dafür haben, wenn du mit mir eine Ausnahme machst«, erklang die Stimme des Fremden. »Ich bin ein Gesandter der kath …« Der Fremde stockte. »… einer bestimmten Einrichtung in Rom, welche berechtigt ist, dem Inquisitor Weisungen zu erteilen.« Die Respektlosigkeit, mit der der Fremde von ›dem Inquisitor‹ sprach, verwirrte den Folterknecht – und sie ängstigte ihn. In der Gegenwart dieses Fremden fühlte er sich nicht wohl. Etwas … Unheimliches ging von ihm aus.
»Was wollt Ihr?«, fragte er mit zitternder Stimme. »Ich will, dass Ihr den Naturforscher Thurneisser frei lasst«, sagte der Fremde, und seine Stimme duldete keinen Widerspruch. »A-aber d-das ist vollkommen unmöglich, Herr! Ich habe die Anweisung …« »Die Anweisung hat sich geändert. Ihr werdet Thurneisser nicht töten, weil ich ihn noch brauche!« Der Folterknecht war zu verwirrt, um zu fragen, was der Fremde damit meinte. Die Folterkammern waren hervorragend bewacht. Wenn der Fremde Zutritt bekommen hatte, dann konnte das nur mit der Erlaubnis Seiner Exzellenz geschehen sein. Er hatte also zu gehorchen … »Binde den Mann los!«, befahl der Schwarzgekleidete. Der Folterknecht gehorchte. Wenige Minuten später war Thurneisser frei, doch er krümmte sich auf dem Brett und war nicht fähig, sich aufzurichten. Als der Fremde seine Schulter berührte, zuckte Thurneisser zusammen und wimmerte vor Schmerzen. »Sagt dem Inquisitor, dass Thurneisser ihm nicht entgehen wird«, sagte der Fremde. »Jetzt aber ist es noch zu früh, ihn zu richten …« »Ich verstehe nicht …« »Das müsst Ihr auch nicht«, sagte der Schwarzgekleidete barsch und machte eine knappe Handbewegung. Der Folterknecht spürte, wie ihn eine bleierne Müdigkeit überkam. Er stemmte sich mit aller Kraft dagegen, doch seine Augenlider sanken immer weiter herab. Er musste sich an die Streckbank klammern, um nicht zu Boden zu stürzen. Dann, plötzlich, war der Anfall vorüber. Er schlug die Augen auf, wie aus einem seltsamen Traum erwachend. Der schwarz gekleidete Fremde war verschwunden – und mit ihm der Naturforscher Thurneisser.
Als Robert deBlanc am nächsten Tag zum Scheiterhaufen geführt wurde, war es ihm, als ob sein Geist, sein Bewusstsein sich von sei-
nem Körper gelöst hätte und von außen auf ihn herabschaute. Seltsam teilnahmslos registrierte er die geifernden, ekstatischen Gesichter in der Menschenmenge, die den Delinquentenzug vom Stadthaus zum Marktplatz von Basel begleiteten. Dieselben Leute, die Thurneisser noch vor Tagen für seine Medizin vergöttert hatten, bespuckten jetzt seinen Gehilfen und forderten deBlancs Tod. Sie waren vernarrt in das Spektakel, und der Inquisitor Trauthmann hatte offenbar nicht die Absicht, sie zu enttäuschen. Robert deBlanc kümmerte all das nicht. Es war, als wäre sein Körper taub. Er verspürte keine Sorge, geschweige denn Furcht. Wenn er sterben sollte, mochte es eben so sein. Dann wäre der Plan seines Erzeugers endgültig dahin. Allein, glauben konnte er nicht daran. Er wartete förmlich darauf, dass etwas Entscheidendes geschah, irgendein scheinbar zufälliges Ereignis, das ihn im letzten Moment vor dem Scheiterhaufen rettete. Es hätte zu seinem Erzeuger gepasst. Aber seine Erwartung – dass es eine Hoffnung war, wollte deBlanc sich nicht eingestehen – erfüllte sich nicht. Der Fürst der Finsternis erschien nicht, und er schickte auch keinen der tausenden Lakaien, die ihm sicherlich zur Verfügung standen. Er sah zu, wie sein Sohn sterben würde. Verflucht seist du – Vater! Robert deBlanc legte all seinen Hass in diesen Gedanken – und das war nicht besonders viel. Nicht allein die Gefangenschaft, sondern auch die vergangenen Jahre hatten ihn mürbe gemacht. Er wusste heute, dass sein jugendliches Aufbegehren gegen seinen Erzeuger sinnlos gewesen war. Er hatte sich eingebildet, dem Fürsten widerstehen zu können. Lächerlich. Daran waren schon ganz andere Menschen gescheitert. Und auch Robert war nur ein Mensch, trotz der wahrhaft teuflischen Abstammung, die sein Leben wie ein allgegenwärtiges Stigma überschattete. In seinen Adern floss Zigeunerblut. Er war ein Ausgestoßener, ein Außenseiter. Aber er war ein sterblicher Mensch. Diese Gewissheit war das letzte, was ihm geblieben war. Der Inquisitor erwartete ihn bereits, ebenso eine johlende Menge.
In der Mitte des Marktplatzes war ein Scheiterhaufen errichtet, mit einem Pfahl in der Mitte. Davor standen zwei Henkersknechte, deren massige, breitschultrige Körper die Menge auf Distanz hielten. Über den Köpfen trugen sie schwarze Masken, durch deren Augenschlitze Robert deBlanc eiskalte, mitleidlose Blicke trafen. Der Holzwagen stoppte in der Mitte des Platzes. Die Knechte öffneten die Tür und zerrten Robert heraus. Er wehrte sich nicht. Er ließ die Schmähungen, die Rufe der Menge über sich ergehen. Die Knechte zerrten ihn zum Scheiterhaufen und ketteten ihn erbarmungslos an den Pfahl. In einem Trog steckten zwei Pechfackeln, die sie herausnahmen und entzündeten. Der Inquisitor Trauthmann trat vor den Scheiterhaufen. Mit weithin hörbarer Stimme verlas er die Anklagepunkte, die samt und sonders an Lächerlichkeit nicht zu überbieten waren. Hexerei, Schadenszauber, der übliche Unsinn … Robert lächelte bitter. Wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, hätte er sich als erstes von diesem verdammten Pfahl losgehext. Aber dieser einfachste aller logischen Schlüsse schien die Zuschauer bereits zu überfordern. Und der Inquisitor, der zweifellos um die Scharade wusste, der sie ja überhaupt erst initiiert hatte, schwieg wohlweislich. Ihm mochte an allem gelegen sein, doch nicht an der Wahrheit. »So frage ich Ihn ein letztes Mal – nun, da Seine Schuld bewiesen ist«, beendete der Inquisitor seine Rede. »Ist Er, Robert deBlanc, gewillt, den bösen Geistern und dem Teufel abzuschwören, auf dass Er wenigstens im Jenseits ein reines, schuldenfreies Leben führe …?« Die Blicke der Zuschauer richteten sich erwartungsvoll auf Robert. Er grinste schwach. »Wie soll ich dem Teufel denn abschwören«, sagte er. »Ich bin schließlich sein Sohn …« Ein Raunen ging durch die Menge, und einige spitze Schreie des Entsetzens ertönten. Selbst Trauthmann wurde blass, da er mit einer solchen Antwort
gewiss nicht gerechnet hatte. »Die Schlechtigkeit deBlancs ist ohnegleichen!«, schrie er. »Noch im Angesicht des Todes verspottet er den Herrn. Dafür ist ihm die höchste aller Strafen, das Schmoren im ewigen Feuer der Hölle, gewiss!« Trauthmann schien ehrlich zornig zu sein, denn mit hochrotem Kopf entriss er einem der Knechte die Fackel und warf sie persönlich auf den Scheiterhaufen. »Das Autodafé wird den Sünder richten!«, hallte seine Stimme über den Platz. Er ist tatsächlich erbost, stellte Robert nicht ohne Genugtuung fest. Er kann es nicht ertragen, wenn man ihn verspottet … Er fragte sich, warum er immer noch so gelassen war – selbst jetzt, als ihn der erste glühende Hauch streifte. Die Flammen fraßen sich gnadenlos zur Mitte des Scheiterhaufens durch. Er erinnerte sich an das Schiffsunglück, bei dem er beinahe ertrunken wäre – wenn sein Erzeuger ihn nicht im letzten Augenblick gerettet hätte. Was hier und jetzt geschah, war unlogisch. Warum sollte der Fürst ihn jetzt sterben lassen? Komm schon, dachte deBlanc, zeige dich, verdammter Kerl, damit ich dir vor allen sichtbar die Maske herunter reißen kann … Aber der Fürst erschien nicht. Die Hitze wurde jetzt stärker. Robert spürte, wie die Eisenketten sich erwärmten. Na und, die waren sein geringstes Problem. Bis sie zu glühen anfingen, war er längst tot … Zeige dich …! Sag mir, was du im Schilde führst! Die Lohen nahmen ihm bereits den Atem. Seine Lunge schien von innen zu glühen, als er die heiße Luft einatmete. Stück für Stück fraßen sich die Flammen zu ihm vor. In wenigen Sekunden würden sie Roberts Schuhspitzen berühren. Er begann sich damit abzufinden, dass es zu Ende war. Da erschien auf einmal ein Bild vor seinem inneren Auge. Eine Insel, eine grüne, von Bäumen und Sträuchern bewachsene Landschaft, ein schillernder, schwarzer See … Er hatte diese Landschaft noch nie gesehen, hatte noch nie einen Fuß auf sie gesetzt. Trotzdem vermochte er das Gefühl nicht abzuschütteln, dass sie eine Art Heimat für ihn war. Ein Ort, an den er gehen konnte, wenn alles andere vorbei war … endgültig vorbei war … Seine eigenen Gedanken verwirrten ihn. Es war, als hätte jemand
anders die Kontrolle über sein Denken übernommen. Sein Erzeuger …? Nein, der machte sich normalerweise auf andere Art bemerkbar. Robert deBlanc achtete nicht mehr auf die Flammen, auf die grölende Menge, deren Gesichter hinter den aufsteigenden Hitzeschwaden verschwammen. Die begrünten Flächen, die stille, geheimnisvoll wirkende Oberfläche des Sees. Avalon. Ein Name, der von einem Augenblick zum anderen durch seinen Kopf geisterte. Ein Name, den er nie zuvor gehört hatte – und dennoch wusste er, dass er zu der Landschaft gehörte, deren Bild er vor sich sah. Die Wälder, die Sträucher und der See … das war Avalon. Aber das erklärte nichts, gar nichts. Ich werde sterben, dachte Robert. Vielleicht bin ich tatsächlich verrückt. Eine Schutzreaktion des Körpers … um die Schmerzen zu ertragen … Aber es war keine Schutzreaktion. Avalon war echt. Und etwas sprach zu ihm. Etwas war plötzlich in ihm. Wissen. Macht. Eine unfassbare Macht. Er konzentrierte sich auf sie. Er konzentrierte sich auf den Schlüssel…
Der Inquisitor Trauthmann starrte fassungslos auf den brennenden Scheiterhaufen, auf die leeren Ketten, die nutzlos um den Pfahl hingen und gerade unter der Hitzeeinwirkung zu glühen begannen. Die Augen schienen Trauthmann aus den Höhlen zu quellen. Er hatte es gesehen, und doch konnte er es nicht glauben. Der Delinquent Robert deBlanc hatte sich vor seinen Augen in Luft aufgelöst! Wo ist er hin, zum Teufel …? Teufel, das war das Stichwort. In der Menge, die zunächst ebenso geschockt und atemlos auf den leeren Scheiterhaufen gestarrt hatte, regte es sich. Gemurmel kam auf. Erste Rufe. »Der Teufel hat ihn geholt …!«
»Er hat gesagt, dass er der Sohn des Teufels ist!« »Da habt ihr den Beweis. Robert deBlanc war ein Hexer …!« Trauthmanns Hände krallten sich in das Schriftstück, von dem er die Anklage verlesen hatte. Ein nutzloses Stück Papier. Ein nutzloses Urteil. Ein nutzloses Autodafé. Der Verurteilte war durch Zauberei geflohen! Trauthmann fasste sich endlich. »Treibt die Leute auseinander!«, schrie er die Wachen an. »Und löscht das Feuer. Untersucht die Ketten! Ich will wissen, durch welchen Trick deBlanc entkommen ist!« Dabei ahnte er bereits, dass die Männer nichts finden würden. Zauberei … Er hatte immer gewusst, dass sie existierte. Der ›Hexenhammer‹ sprach davon, in der Bulle des Papstes stand es geschrieben … aber nun hatte er den Beweis! Zum ersten Mal in seiner Laufbahn als Inquisitor, die für viele Menschen den Tod auf dem Scheiterhaufen oder in den Folterzellen bedeutet hatte. Er hetzte zwischen den Wachen hindurch, die die Schaulustigen laut rufend zurückdrängten. Hier und da gab es ein Handgemenge, ein, zwei Menschen wurden verletzt, aber das kümmerte Trauthmann nicht. Atemlos erreichte er sein Zimmer im Stadthaus und riss die Bücher aus dem Regal, in denen über das Treiben von Hexen und über Teufelszauber geschrieben wurde. Er hatte von allen möglichen Schadenszaubern gehört, aber nicht davon, dass sich ein Mensch in Luft auflösen konnte. War er soeben Zeuge eines neuartigen Zaubers geworden? Er würde deBlanc finden, auch wenn er dafür weitere Männer und weiteres Geld der Kirche aufbringen musste. Er würde seine Spur finden, und beim nächsten Mal würde er besser vorbereitet sein. Er sollte ihm kein zweites Mal entkommen. Trauthmann fuhr sich über die schweißnasse Stirn. Als nächstes würde er Thurneisser befragen. Noch härter, noch gnadenloser. Dieser Quacksalber wusste etwas, und diesmal würde er dem Folterknecht nichts verschweigen können … Und er würde Thurneissers Haus auf den Kopf stellen lassen, sein Vermögen konfiszieren, seine Aufzeichnungen untersuchen lassen …
»Das werdet Ihr nicht tun, Euer Exzellenz.« Kalt hallte die Stimme durch den Raum. Trauthmann fuhr mit einem Schrei zurück. Er hatte die schwarz gekleidete Gestalt zuvor nicht bemerkt, die sich auf einem Stuhl in der Ecke des Zimmers niedergelassen hatte und ihn amüsiert musterte. Sie trug einen breitkrempigen Hut, der ihr Gesicht vollends verdeckte, und trotzdem konnte Trauthmann spüren, dass sie lachte. Ihn verspottete. »Ihr …?«, krächzte er. »Wie seid Ihr hier … Ich dachte … Ich hatte gehört, Ihr seid längst wieder abgereist …« Trauthmann war fassungslos. Der Fremde kicherte. »Die Gesandten des … nun, Ihr wisst schon, von wem … haben ihre Augen und Ohren überall. Ich hörte, was Euch auf dem Marktplatz widerfahren ist …« »Was wisst Ihr darüber?«, fragte Trauthmann, begierig darauf, Näheres zu erfahren. »So wenig wie Ihr«, versicherte der Fremde, der sich Trauthmann vor wenigen Stunden als Gesandter des Vatikans vorgestellt hatte. Seine Hinweise waren es überhaupt erst gewesen, die das Verfahren gegen den Naturforscher Thurneisser und seinen Gehilfen in Gang gebracht hatten. Wie durch Zauberei hatte er auch gleich die Zeugen mitgeliefert, die Trauthmann brauchte, um Robert deBlanc zu verurteilen: den Bauern, dem deBlanc den schwarzen Rappen verkauft hatte, und die Dame d'Assima, die von ihm überfallen worden war. Wie durch Zauberei … Trauthmann musste sich eingestehen, dass ihm dieser Gesandte nicht geheuer war. Wohl hatte er gehört, dass der Papst geheime Leute damit beauftragt hatte, Hexen und Hexenmeister im Lande zu enttarnen … Jäger, die im Verborgenen agierten und nicht so berechenbar waren wie die Inquisition. Natürlich hatte der Fremde ihm nicht seinen Namen verraten können. Was nützte schon ein geheimer Jäger, dessen Identität jeder Inquisitor kannte …? All das leuchtete Trauthmann ein, trotzdem konnte er sich in der Gegenwart des Gesandten eines unguten Gefühls nicht erwehren. »Ihr werdet Thurneissers Vermögen nicht beschlagnahmen«, stellte der Fremde klar.
Trauthmann schaute betroffen drein. Er hatte bereits eine Bestandsaufnahme machen lassen, die ihm die Freudentränen in die Augen getrieben hatte. Natürlich wäre das Thurneissersche Vermögen nicht etwa an die Betrogenen zurückgeflossen, sondern an die Inquisition – und ein nicht unbedeutender Teil an den Inquisitor höchstpersönlich. Selbstverständlich hätte auch die Kirche ihren Anteil erhalten … »Ich verstehe nicht …«, murmelte Trauthmann. »Ich werde das Vermögen Thurneissers konfiszieren, Euer Exzellenz«, sagte der Fremde süffisant. »Dies ist ein besonderer Fall, der besondere Maßnahmen erfordert. Willigt ein, und Ihr werdet für Euer Entgegenkommen reich belohnt werden, mein Freund …« Das klang so, als ob Trauthmann eine Wahl hätte. Dabei wusste er sehr genau, dass er nicht ablehnen konnte. Er sah die Goldstücke aus dem Thurneisser-Vermögen, wie sie vor seinem geistigen Auge zu Sand zerrannen. Wut packte ihn. Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, seine steinerne Miene zu bewahren. »Wie Ihr wünscht, mein Freund«, presste er hervor. »Gut«, sagte der Fremde zufrieden. »Ihr werdet dafür sorgen, dass niemand mehr zu dem Thurneisser-Haus Zutritt erhält. Um alles andere braucht Ihr Euch nicht zu kümmern …« »Und Thurneisser selbst …?« »Für den ist bereits gesorgt. Zerbrecht Euch nicht den Kopf über ihn. Ich verspreche Euch, dass Ihr ihm noch einmal begegnen werdet, und dann werde ich mich nicht noch einmal vor ihn stellen.« Der Fremde wirkte äußerst zufrieden. Der Inquisitor verstand nicht, was hier gespielt wurde, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als gute Miene zu machen. Und so verschwand der Gesandte des Papstes wenige Stunden später aus Basel und nahm all die Aufzeichnungen und das Vermögen Thurneissers mit sich. Weder er noch der Naturforscher noch Robert deBlanc wurden jemals wieder in der Stadt gesehen. Trauthmann schlief schlecht in den nächsten Wochen. Er träumte davon, wie der Gesandte seinen Hut lüftete und ihm sein Gesicht enthüllte. Der Moment, in dem Trauthmann das Gesicht sehen
konnte, schien sich in diesem Traum zu einer Ewigkeit zu dehnen. Er sah in die dämonische Fratze eines teuflischen Ungetüms. Trauthmann beschloss, seinen Amtsbereich auszudehnen und in Zukunft mit noch größerer Härte gegen das Hexengezücht vorzugehen. Er würde das Übel aufstöbern und ausbrennen, er würde keine Gnade walten lassen. Denn jetzt hatte er die Auswirkungen der Hexerei am eigenen Leib erfahren. Und eines Tages, das hatte der Gesandte versprochen, würden ihm auch Thurneisser und deBlanc in das Netz gehen …
Ich spreizte Daumen, Zeige- und Mittelfinger und verfolgte, wie sich zwischen den Endpunkten des Dreiecks ein Bild zu formen begann. Ein Bild, das den Inquisitor Trauthmann zeigte, wie er in seinem Zimmer im Stadthaus von Basel rastlos auf und ab schritt. Ich lächelte. Er konnte nicht wissen, ja nicht einmal ahnen, was an diesem Tag wirklich geschehen war. Ein Geheimagent aus Rom … Er hatte diesen Unsinn geschluckt, weil er ihn schlucken wollte. So waren die Menschen. Sie glaubten eben alles, was sie nur glauben wollten. Trauthmann war nichts weiter als eine Schachfigur für mich, die ich später noch einmal gut gebrauchen konnte. Nur deswegen ließ ich sie am Leben. Das Bild wechselte und zeigte Friedrich Thurneisser, den selbst ernannten Naturforscher und Alchimisten, der nur ein kleiner Gauner war, der die Leute mit seinen ›Heilrezepten‹ zum Narren hielt. Er befand sich in diesem Augenblick in einem Waldstück zwei Tagesritte nördlich von hier. Ich hatte ihn dort versteckt, wo ihn niemand finden konnte. Er würde erwachen und nichts weiter besitzen als die Kleider, die er auf dem Leib trug. Auch ihn benötigte ich für eine weitere Prüfung. Ich würde seinen Weg verfolgen, denn ich ging davon aus, dass er sich durch neue Betrügereien rasch wieder zu Geld und Ansehen verhelfen würde. Thurneisser war ein Mensch ganz nach meinem Geschmack.
Ich ließ das Bild in sich zusammenfallen und betrachtete den Mann, der, nur von einigen halb angekohlten Lumpen umhüllt, vor mir auf der Erde lag. Er war bewusstlos, da sein halbmenschlicher Geist nicht in der Lage war, die Dinge zu verarbeiten, die zuletzt auf ihn eingestürmt waren. Nun, vielleicht war er einfach noch nicht in der Lage dazu … »Robert deBlanc alias Robert deDigue«, flüsterte ich. »Was ist nur aus dir geworden. Ein erfolgreicher Kaufmann hattest du werden wollen, ein edler und gesetzestreuer Bürger, der in Freiheit lebt und dem niemals wieder ein anderer vorschreiben kann, wie er zu leben hat … Siehst du nun, was die Gier und die Maßlosigkeit aus einem Menschen machen können?« Es hatte ihm nicht gereicht, sich mit ein paar Gaunereien ein Auskommen zu ›erwirtschaften‹. Er hatte gesehen, dass mit Thurneissers Heilsalbe Geld zu machen war. Viel Geld. Zunächst hatte er Skrupel gehabt, aber dann hatte er dafür gesorgt, dass Thurneisser immer mehr und mehr Leichenfett zu Salbe verarbeitet hatte. Robert hatte nicht gemordet, doch vom sittlichen Standpunkt aus gesehen fehlte ihm zu einem Mörder nicht mehr viel. Fast hätte ich aufgelacht. Robert, der Aufsässige. Robert, der Widerspenstige. Er war eben doch nur ein Mensch. Und er musste noch so viel lernen. Diesmal hatte ich das Experiment beendet, doch wenn ich es nicht getan hätte, wären andere gekommen. Seine Maßlosigkeit hatte ihn ins Verderben geführt. Ich war gespannt, was er daraus lernen würde. Viel Zeit blieb ihm nicht, denn ich bereitete schon eine neue Herausforderung für ihn vor. Der Sohn des Teufels zu sein, war kein Honigschlecken. Es bedeutete Anstrengung, Aufopferung … und Veränderung. Robert würde sich verändern. Er würde sich selbst nicht mehr wieder erkennen, wenn seine Ausbildung erst abgeschlossen war. Sechs Schritte blieben noch zu tun, bis ich mein Ziel erreicht hatte.
2. Zorn � Venedig, 1558 Der Mann mit den sorgfältig zurückgekämmten braunen Haaren strich beiläufig über sein makellos weißes Seidenhemd und ließ den Blick stirnrunzelnd über den Campo dei Fiori schweifen. Die Zeiten waren hektischer geworden, und wenn ihm die Geschäfte einmal Zeit zum Verweilen ließen, dachte der Mann, dass das Zentrum Venedigs die Schwelle vom Reichtum zur Dekadenz längst überschritten hatte. Eine Kutsche holperte vorbei, aus deren Innerem der Duft von Parfümöl herüberwehte und sich mit dem Gestank der Abfälle in den Wasserstraßen vermischte. Venedig starb, und das war vor allem die Schuld eines Mannes, der weltweit als Heinrich der Seefahrer bekannt war, obwohl er selbst nie ein Schiff bestiegen, nie den sicheren Grund der iberischen Halbinsel verlassen hatte. Heinrich war König von Portugal gewesen – in einer Zeit, als die Menschen hinter der Westzunge Afrikas noch das Ende der Welt vermuteten. Es war erst hundert Jahre her, doch die Veränderungen waren seither mit der Gewalt eines Sturmes über die Menschen gekommen. Heinrich hatte Weitblick bewiesen und viel Geld in die Entwicklung von Schiffen und Navigationsgeräten investiert. Er war überzeugt davon, dass die Seewege die Lebensadern kommender Herrschernationen bildeten. Doch er lebte zu früh, um den Beweis seiner These noch zu erleben. Portugal gelang der Aufschwung zur Seefahrernation. Die Portugiesen umsegelten das Kap von Afrika und entdeckten die Handelswege nach Asien und Indien, wo die Gewürze, Stoffe und Haus-
haltsgüter hergestellt wurden, die man in Europa so dringend benötigte. Der Seeweg war schneller und billiger als die bisherige Landroute über Osteuropa, die in Venedig mündete und die Italiener zu reichen Handelsherren gemacht hatte. So kam es, dass mit der Entdeckung des Seewegs die paradiesische Zeit für die italienischen Stadtstaaten zu Ende ging. Das Ende jener Epoche, die später einmal als die Renaissance, als die Neugeburt des Interesses an der antiken Kultur und Wissenschaftlichkeit, in die Geschichtsbücher eingehen sollte, hatte begonnen. Der Mann, der seine Geschäfte in Venedig unter dem Namen Robert deBlanc betrieb, spürte von diesem schleichenden Untergang nichts – noch nicht. Er hatte sich einem Geschäftsfeld verschrieben, das erst mit dem aufkommenden Reichtum der Venezianer zu voller Blüte gelangt war, einer Art von Handel, der erst begann, wenn die Dukaten aus den Gewürzgeschäften flossen und die Grundbedürfnisse der Menschen gestillt waren, und das deshalb auch noch weiterlebte, als die Grundlage seiner Existenz eigentlich längst vernichtet und abgestorben war. Der Kunsthandel. Robert deBlanc verkaufte nicht nur fertige Kunstwerke, die er zumeist günstig aus dem Besitz bankrotter Kaufleute und neureicher Parvenüs aufgekauft hatte – er betätigte sich darüber hinaus als Agent und vermittelte Künstler an ebendiese Klientel oder an die Kirche, die ihre Bauwerke in den letzten Jahrzehnten gar nicht teuer genug hatte ausstatten können. Robert deBlanc lebte dadurch wie die Made im Speck, und seine Geschäftserfolge ließen ihn die eigene dornenreiche Vergangenheit schnell vergessen. Venedig, du stirbst, dachte er besorgt, während er das Treiben auf dem Campo dei Fiori verfolgte. Die Marktschreier, Mägde und Kaufleute, die über den Platz drängten, wussten es vielleicht noch nicht, aber der Stern des Stadtstaats sank unaufhörlich. Robert deBlanc hatte nicht die Absicht, in diesen Sog hineinzugeraten. Er würde dahin gehen, wo der Erfolg war. Wo die neue Zeit das Leben beherrschte und die Wirtschaft ankurbelte, nach Lissabon oder Amsterdam. Seine Geschäfte hatte er bereits geordnet, sein
Vermögen in Sicherheit gebracht. Aber etwas gab es noch zu klären. Etwas, das so gar nicht zu dem gefühlskalten, berechnenden Geschäftsmann Robert deBlanc zu passen schien. Er setzte sich langsam in Bewegung, strebte über den Platz in Richtung Süden. Sein Ziel war ein windschiefes Haus in einer der Gassen, die abseits vom Markt lagen – jener Gassen, in denen sich bei Nacht und bei Tag das Gesindel herumtrieb und die zu betreten ein Robert deBlanc für gewöhnlich nicht nötig hatte. Jene Gassen, in die er zeitlebens gehört und aus denen er sich mühsam nach oben gekämpft hatte.
Das Gasthaus la cordia war erfüllt von einem Gemisch aus Schweißgeruch, Tabakqualm und dem grölenden Lachen einfacher Arbeiter, Bauern und Gondolieri, die hier, abseits der teuren Straßen Venedigs, etwas Freude in ihren harten und arbeitsreichen Alltag zu bringen versuchten. An mehreren Tischen wurde gespielt, und je lauter das Geschrei wurde, desto wahrscheinlicher war es, dass mit den Würfeln auch Becher und Fäuste flogen. Dralle Mädchen mit freizügigen Ausschnitten saßen auf den Schenkeln der Männer, lachten und scherzten, während Kerle ihnen im Vorbeigehen an den Hintern oder die Brüste grapschten. Der fettleibige Wirt, der das Geschehen vom Ausschank her betrachtete, war zufrieden. Solange die Gäste zahlten, durften sie mit den Weibern anstellen, was sie wollten – was auch bedeutete, dass sie, solange die Weiber da waren, zahlten … Robert deBlanc trug ausgeblichene, weite Stoffhosen und ungewienerte, glanzlose Stiefel. Die Geldbörse, die mehr Dukaten enthielt, als die meisten der Anwesenden in einem Jahr verdienten, hielt er unter dem zerlumpt aussehenden, löchrigen Hemd verborgen. »Setz dich, Robert!«, rief ihm ein breitschultriger Mann entgegen,
der an einem der Tische saß und ihn hatte eintreten sehen. Sein Gesicht wurde von einem dichten Vollbart bedeckt, und seine gerötete, vom Wetter gegerbte Haut wies ihn als Seemann aus, der sich vom Hafen herauf in die inneren Wasserstraßen verirrt hatte. »Du kannst die Finger wohl nicht von Madeleine lassen, wie?« Er lachte grölend, während seine Hand sich um einen Krug Wein klammerte, den er schon fast bis auf den Grund geleert hatte. Robert setzte sich. »Wo ist sie, Julio?« »Trink erst einmal etwas mit mir. Auf die alte Freundschaft, die niemals rosten möge!« Robert seufzte, denn so alt war die Freundschaft zwischen ihm und Julio gar nicht. Sie hatten sich vor ein paar Wochen kennen gelernt, als er zum ersten Mal im la cordia gewesen war. Er hatte zusammen mit Julio ein paar Becher Wein geleert, bis sein Blick auf eine der Frauen gefallen war, die der Wirt zur Unterhaltung seiner Gäste beschäftigte. Sie hatte lange, schwarze Haare und ein blasses, ebenmäßiges Gesicht. Immer wieder warf sie Robert schüchterne Blicke zu. Diese Frau war nicht wie die anderen Frauen des la cordia. Robert hatte sich sofort zu ihr hingezogen gefühlt. Er hatte dem Wirt ein paar Dukaten in die Hand gedrückt und das raue Lachen Julios ignoriert, während er mit der Schwarzhaarigen die schmalen Stiege hinaufgestiegen war, die zu den Zimmern über dem Schankraum des la cordia führte … Sie hieß Madeleine. Eine Französin. Und sie weckte eine Leidenschaft in Robert, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Er wollte niemals mehr ohne sie sein, und er wollte sie aus dem la cordia herausholen – diesem Loch, in das sie durch eine Reihe unglücklicher Umstände geraten war. Julio grinste. »Ich kann auf deiner Stirn lesen, was in dir vorgeht. Du bist verliebt bis über beide Ohren – und sie wird dir alsbald Hörner aufsetzen und dich zum Narren machen, mein Freund.« »Das lass nur meine Sorge sein«, erwiderte Robert kühl. Heute war ein ganz besonderer Tag. Es war das letzte Mal, dass er das la cordia aufsuchte. Er würde Venedig verlassen, und Madeleine sollte ihn begleiten. Er würde sie beim Wirt auslösen, ganz gleich,
was dieser für sie verlangte. Julio hob den Becher und prostete ihm zu. »Sie hat dir den Verstand geraubt, Robert. Glaub mir, ich habe schon viele Männer gesehen, die wegen einer Frau den Kopf verloren haben. Aber niemanden hat es bisher so schlimm erwischt wie dich.« »Du kennst sie nicht«, sagte Robert, in Gedanken bereits bei Madeleine. Julio lachte. »Genau das haben die anderen auch gesagt. ›Du kennst sie nicht.‹ Als würde das alles erklären.« Er nahm einen tiefen Schluck und wischte sich den Wein mit dem Handrücken aus dem Vollbart. »Ich bin ein Seemann, Robert. Ich kenne die Frauen. Ich habe …« »Du bist ein abgehalfterter Matrose, Julio, den irgendein Provinzkahn in Venedig abgesetzt hat. Wir sind hier nicht in Amsterdam oder Marseille! Wann siehst du endlich der Wahrheit ins Auge?« Julio kniff die Augen zusammen. Für einen Augenblick sah es so aus, als wolle er Robert an die Kehle gehen. Doch dann entspannte er sich wieder und sagte nur: »Sie ist oben auf dem Zimmer. Sie erwartet dich bereits.« Robert grinste. »Trink noch ein, zwei Becher, dann kehrt deine gute Laune zurück, mein Freund. Es gibt genug andere Frauen. Nimm dir eine für die Nacht, und am Morgen sieht der Tag wieder anders aus.« Er stand auf und ging zum Ausschank, wo er dem Wirt zwei Dukaten in die Hand drückte. Danach ging er zur Stiege. Julio sah dem so genannten Freund nach, bis er im oberen Stockwerk verschwunden war. Seine Augenbrauen hatten sich zusammengezogen, während er unterdrückt zischte: »Warte nur, Robert deBlanc. Du glaubst, ich habe dich nicht durchschaut. Aber ich weiß alles über dich. Du kannst mich nicht beleidigen! Nicht mehr lange, und du wirst für dein Schandmaul bezahlen, deBlanc …«
Robert fand Madeleine in einem rustikal eingerichteten Zimmer, in dessen Strohmatratze sich allerlei winziges Gezücht niedergelassen hatte. Das la cordia war nicht gerade für seine Sauberkeit bekannt,
aber das kümmerte die Herrschaften, die sich stundenweise auf diesen Zimmern aufhielten, normalerweise recht wenig. Auch Robert deBlanc war Schlimmeres gewohnt. Der Anblick Madeleines entschädigte für die achtbeinigen Mitbewohner und den muffigen Schimmelgeruch, der aus den feuchten Wänden quoll. Madeleine hatte ihr Korsett abgelegt und trug lediglich ihre Unterwäsche und einen leichten Überwurf, unter dem sich die Spitzen ihrer kleinen Brüste abzeichneten. Sie saß vor einem Spiegel und kämmte sich gedankenverloren ihr Haar. Er trat von hinten an sie heran und umfasste ihren Oberkörper. Wie gut ihm diese Berührung tat! Madeleine war der erste Mensch seit langem, der ihm etwas bedeutete – seit seine Mutter vor über fünfzig Jahren gestorben war. »Ihr seid abwesend, Robert«, sagte Madeleine und blickte ihn mit einem herausfordernden Augenaufschlag an. »Ihr habt mich nicht einmal begrüßt …« Er blinzelte und schien aus einem Traum zu erwachen. »Entschuldige, Madeleine«, sagte er langsam. »Ich war einen Augenblick nicht ganz bei mir.« Das war eine grandiose Untertreibung. Er hatte für einen Augenblick das Gefühl gehabt, sein Herz würde stehen bleiben. Eine eisige Hand hatte sich um seine Brust gekrampft und ihm die Luft abgedrückt. Es war nicht Madeleine, deren Anblick ihn geschockt hatte. Es war die Gestalt, die er einen Herzschlag lang direkt neben Madeleine erblickt hatte und die genauso schlank und schwarzhaarig und zierlich gewesen war wie Madeleine. Sie hatte sogar dieselben Kleider getragen wie Madeleine. Er hatte ihren Geist gesehen …
Nein! Er schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Versuchte sich einzureden, dass er einer Täuschung aufgesessen war. Einem Streich seiner eigenen Einbildungskraft, einer harmlosen Illusion. Aber er wusste, dass das nicht stimmte.
Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er Geister sah. Er hatte seine Mutter gesehen, mehrmals sogar – bevor sie starb. Er war entsetzt, denn er sah immer nur die Geistererscheinungen jener Menschen, deren Ableben unmittelbar bevorstand. Diese Gabe – dieser Fluch! – überwältigte ihn immer wieder, ohne dass Robert sich erklären konnte, was dahinter steckte. Die Geistererscheinungen waren zu einem Teil seines Lebens geworden. Sie jagten ihm weder Angst ein, noch empfand er es als Erleuchtung, wenn er sie erblickte. Doch ihr Erscheinen bedeutete eine Bürde, denn sie ließen ihn in die Zukunft blicken. Er sah den Tod eines Menschen voraus, ohne dass er der Welt sein Wissen mitteilen durfte. Nein, das stimmt nicht. Denn einmal war es anders gewesen. Denn Friedrich Thurneisser, dessen Geist er damals im Verlies in Basel erblickt hatte, war nicht gestorben. Er klammerte sich an diesen Gedanken wie an einen Strohhalm, denn es war eine letzte Hoffnung. Madeleine würde nicht sterben. Sie durfte nicht sterben. »Robert, was ist mit Euch?« Er sah ihren besorgten Blick auf sich ruhen. »Nichts«, sagte er leichthin. »Es ist nur … etwas Geschäftliches. Es war ein anstrengender Tag, meine Liebe …« Ihre liebenswürdige Miene verriet nicht, ob sie die Ausrede geschluckt hatte. Sie stand auf und schmiegte sich an ihn. »Ich habe mir so gewünscht, dass Ihr kommt, Robert.« Er wusste auf einmal nicht mehr, ob er es ihr sagen konnte. Dass er fortgehen würde. Dass er sie mit sich nehmen wollte. Er hatte Angst vor ihrer Antwort. Sie blickte ihn an. »Irgendetwas stimmt nicht mit Euch, Robert. Ihr seid heute so anders …« »Ich muss dir etwas sagen, Madeleine. Es hat mit dem Leben zu tun, das ich führe …« »Ihr habt mir nie viel von Euch erzählt, Robert.« Sie lachte, und das erfrischte sein Herz. »Ihr seid ein richtiger Geheimniskrämer.« Er drehte sich von ihr weg. »Es gibt keine Geheimnisse in meinem
Leben.« Doch in Wirklichkeit bestand sein Leben aus einer einzigen Aneinanderreihung von Geheimnissen. Du würdest es allerdings nicht verstehen … »Sagt mir, was Euch bedrückt!« »Ich werde Venedig verlassen, Madeleine. Und ich möchte, dass du mit mir kommst.« Sie strahlte ihn an. »Ihr wollt mich mitnehmen?« »Ja!« Sein Gesicht glühte auf einmal. Blieb die befürchtete Ablehnung etwa aus? War sie tatsächlich bereit, der Stadt zusammen mit ihm den Rücken zu kehren? »Wohin wollt Ihr denn verreisen, Robert?«, fragte sie mit beinahe kindlicher Naivität. »Nicht verreisen. Ich werde gehen und nicht mehr nach Venedig zurückkehren. Ich werde mich in Amsterdam niederlassen. Ich besitze dort einige Verbindungen … Willst du mich begleiten?« Jetzt war es heraus, und er zitterte vor der Antwort. »Von Herzen gern!« Sie wirkte mehr als nur glücklich über dieses Angebot. Er drückte Madeleine an sich und schloss die Augen. Er konnte immer noch nicht glauben, dass sie mit ihm kommen wollte. Irgendetwas sagte ihm, dass alles nicht so einfach war, wie es schien. Mühsam verdrängte er den Gedanken an ihren Geist, den er gesehen hatte … »Ich liebe dich, Madeleine …« Er drückte sie noch fester an sich. Da ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Im selben Augenblick flog die Tür des Zimmers aus den Angeln.
Ein Offizier der Garde stand im Türrahmen, den Fuß noch vom Tritt erhoben. Hinter ihm erschienen weitere Soldaten, die ihre Steinschlosspistolen auf Robert richteten. »Haben wir Ihn endlich!«, schrie der Offizier, ein grobschlächtiger Kerl mit Triefaugen, dem der Gürtel um den Leib spannte. »Ergebe
Er sich, deBlanc!« Madeleine war mit einem Aufschrei zurückgewichen. Robert hatte sich jedoch sofort wieder unter Kontrolle. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was hier gespielt wurde. Dennoch blickte er den Männern furchtlos entgegen. »Ihr seid einem Irrtum aufgesessen, Signore«, sagte er ruhig. »Zweifellos verwechselt Ihr mich, denn ich bin mir keinerlei Schuld bewusst.« »So?«, erklang eine raue Stimme auf dem Gang. »Da habe ich etwas anderes gehört …« Der Kerl, der sich zwischen den Soldaten hervordrängelte und Robert hämisch angrinste, war niemand anderes als Julio, sein vermeintlicher Kamerad. »Was soll das, Julio?«, fuhr Robert ihn an. »Das sollte ich wohl besser dich fragen, deBlanc. Warum hast du dich mir gegenüber als Kaufmann ausgegeben und verschwiegen, dass du ein dahergelaufener Betrüger bist?« »Weil das eine üble Verleumdung ist«, sagte Robert kalt. »Dieser Kerl lügt, meine Herren. Ich bin ein angesehener Bürger Venedigs. Ich werde beim Rat Protest gegen Eure Behandlung einlegen!« Der Offizier trat vor und knurrte: »Das darf Er gern versuchen – nachdem wir Ihn mitgenommen und eingesperrt haben. Im Kerker wird Er Seiner gerechten Strafe entgegensehen …« »Strafe? Wofür?« Robert wich unmerklich zurück. »Das Spiel ist aus, mein Freund Robert!«, kicherte Julio. »Wir haben lange gebraucht, um dich zu finden. Und dann mussten wir genügend Beweise sammeln, dass du tatsächlich jener verurteilte Betrüger deBlanc bist. Deshalb habe ich versucht, dein Vertrauen zu gewinnen … Es ist mir trefflich gelungen, wie mir scheint!« »Ihr irrt Euch, Signore!«, sagte Robert an den Offizier gewandt. »Dieser Kerl namens Julio ist der Betrüger, den Ihr sucht.« »Unsinn!«, schnarrte der Offizier. In seiner Stimme lag etwas Bestimmendes, und als Robert in die Triefaugen des Kerls sah, glaubte er zu ahnen, dass er diesen Mann nicht überzeugen konnte. Etwas Unheimliches ging von dem Kerl aus … so, als ob er nicht Herr seines Willens wäre. Ja, er musste beeinflusst sein!
Aber wer wäre in der Lage, den Offizier zu lenken? Julio? Der Kerl war vielleicht ein hinterhältiger Lügner, aber gewiss kein Dämon. Jemand anderes musste seine Hände im Spiel haben … Roberts Blick fiel beiläufig auf seine Oberkleidung, die er vor dem Bett abgelegt hatte. Darunter befand sich auch der Gürtel mit der Pistole. Aber es war zwecklos. Bevor er die Waffe hervor holen und scharf machen könnte, wären diese Kerle längst über ihn hergefallen. »Leistet ja keinen Widerstand!«, mahnte der Offizier, als hätte er Roberts Gedanken gelesen. »Ja«, kicherte Julio. »Wer Widerstand leistet, bekommt Pulver zu schmecken …« Unvermittelt stellte sich Madeleine vor Robert. »Signore, ich flehe Euch an. Hier muss ein schrecklicher Irrtum vorliegen. Dieser Mann ist unschuldig, das beschwöre ich bei meinem Leben!« »Ha, eine Hure!«, rief Julio verächtlich. »Wer wird deinem Urteil wohl Glauben schenken!« Robert schob Madeleine zur Seite und bedachte sie mit einem kurzen, dankbaren Blick voller Wehmut. »Ich komme mit Euch – unter einer Bedingung. Ich will, dass Ihr Madeleine gehen lasst. Außerdem verlange ich einen ordentlichen Prozess!« »Verdammter Kerl!«, zischte Julio. »Was hast du schon zu verlangen. Schießt ihn über den Haufen, sage ich!« Automatisch ruckten die Waffenläufe nach oben. Da begriff Robert endgültig, dass er ausgespielt hatte. Diese Strolche wollten ihm ans Leben. An einem ehrlichen Prozess waren sie überhaupt nicht interessiert. Er würde einen Fluchtversuch wagen, sobald sie das Haus verlassen hatten. Hier drin waren ihm wegen Madeleine die Hände gebunden. Er durfte sie nicht in Gefahr bringen. »Hab keine Angst«, sagte er zu ihr. »Ich werde bestimmt wiederkommen.« »Darauf würde ich nicht wetten, deBlanc«, lachte Julio. Robert griff nach seinen Kleidern. »Vorsicht«, schrie Julio, »er hat eine Waffe!«
Verdammt, genau darauf hatte der Kerl doch nur gewartet. Robert schalt sich einen Narren. Er hob rasch die Hände, zum Zeichen, dass er nicht an Gegenwehr dachte, aber die Männer standen anscheinend unter großer Anspannung. Noch bevor die Steinschlosspistolen krachten, wusste Robert, dass es zu spät war … »Nein!« Madeleine warf sich schützend vor ihn, schlang die Arme um seine Schultern. Es blitzte auf, und der Pulverdonner fuhr Robert durch Mark und Bein. Die Steinschlosspistolen waren so unzuverlässig, dass einer der Männer es selbst auf diese kurze Entfernung fertig brachte, vorbei zu schießen. Robert spürte den Luftzug an seiner Wange. Die Kugel hackte hinter ihm in die Holzwand und riss einen fingerlangen Splitter heraus. Die anderen beiden Kugeln aber trafen Madeleine in den Rücken. Sie taumelte zurück, das Gesicht bleich vor Schreck. Ihr Mund stand offen, aber kein Laut drang hervor. Dann stürzte sie röchelnd zu Boden. Eine dunkle Lache breitete sich um sie herum aus. Die Offiziere starrten auf die Sterbende. Niemand bewegte sich. Nur Julio hatte seine Geistesgegenwart nicht verloren. »Ladet die Waffen nach«, schrie er. »Er darf uns nicht entkommen!« Es waren diese Worte, die Robert zurück in die Wirklichkeit holten. Mit aller Gewalt riss er sich von dem Anblick Madeleines los. Er hatte gesehen, wie ihr Kopf mit einem letzten Seufzer zurücksank. Ihr Blick war gebrochen. Eine unbändige Wut erfüllte Robert. Er warf sich auf Julio, der ängstlich zurückwich, aber dem Angriff nicht mehr entgehen konnte. Robert packte ihn und schleuderte ihn zur Seite, wo er gegen den Offizier und einen seiner Männer prallte, die wie Holzkegel zu Boden gingen. Robert hatte freie Bahn. Der dritte Soldat war viel zu perplex, um ihn aufzuhalten. DeBlanc sprang zur Tür, die immer noch lose in den Angeln pendelte, und rannte über den Korridor zur Stiege. Mit
drei Sprüngen hatte er den Gastraum erreicht. Er hörte noch, wie oben im Zimmer Schreie Laut wurden, aber das störte hier unten niemanden. Im la cordia war man es gewöhnt, dass es auf den Zimmern etwas rauer zuging. Robert fühlte die Blicke der Gäste in seinem Nacken, während er zur Tür stürmte. Gelächter brandete auf. Ein Kerl, der in Unterwäsche auf die Straße stürmte! »Ob er wohl vor der Leidenschaft der Mädchen Reißaus nimmt?«, rief ein bulliger Mann lachend. Aber Robert kümmerte sich nicht darum. Vor seinem geistigen Auge sah er Madeleines Gesicht, den Schrecken und den Schmerz, der sie in den letzten Sekunden ihres Lebens überkommen hatte. Sie hatte sich für ihn geopfert! Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er rannte durch die Gassen und wechselte an jeder Kreuzung die Richtung, bis er sicher war, dass Julio und die Soldaten seine Spur verloren hatten. Aber er wusste, dass er sie damit keineswegs endgültig abgeschüttelt hatte. Der Name Robert deBlanc war in der Stadt bekannt. Jeder wusste, wo er seine Geschäftsräume und seinen privaten Wohnsitz hatte. An einer der Wasserstraßen angekommen, sprang er in eine Gondel, die einsam am Ufer lag. »He!«, schrie der Gondoliere. »Willst du wohl verschwinden, Kerl!« Er hatte ganz Recht, misstrauisch zu sein, denn neben seiner Waffe und seiner Oberkleidung hatte Robert auch seine Münzen im la cordia zurücklassen müssen. Er schlug dem Gondoliere an die Schulter, so dass dieser mit rudernden Armen ins Wasser stürzte. Danach stieß er sich mit dem Stab ab und setzte die Gondel in Bewegung. Ihm blieb höchstens eine halbe Stunde, das wusste er. Keuchend trieb er die Gondel mit jedem Stoß weiter voran.
Das letzte Stück des Weges musste er wiederum zu Fuß zurücklegen. Als er sein Zuhause erreichte, erblickte er schon von weitem die berittene Garde, die den Eingang abschirmte. Julio und seine Hinter-
männer hatten also Nägel mit Köpfen gemacht! Gewiss hatten sie ihn bereits den ganzen Weg zum la cordia über beschatten lassen. Roberts Hände ballten sich zu Fäusten. Er wechselte in die Parallelgasse und betrat das Haus über einen Hinterhof. Leise zog er die Tür hinter sich ins Schloss. Gerade hörte er seinen Diener Sandro mit einem anderen Mann streiten. »Ihr seid nicht befugt, hier einzudringen«, sagte Sandro empört. »Mein Herr wird sich beim Rat über Euch beschweren.« Ein höhnisches Lachen erklang. »Der Rat wurde über die Machenschaften deines Herrn bestens informiert. Er hat selbst den Befehl zur Festnahme gegeben.« »Robert deBlanc ist ein ehrenwerter Herr!« »Das mag sein, aber früher hat er ganz andere Geschäfte getätigt, der ehrenwerte Herr!« Robert hörte, wie der Mann, offenbar ein Offizier der Garde, seinen Untergebenen Befehle erteilte. Schritte erklangen, dann hetzte jemand die Stufen in den ersten Stock hinauf. Robert lugte um die Ecke und sah, dass der Vorraum frei war. Sandro stand wie ein begossener Pudel an der Tür und blickte die Treppe hinauf. Als Robert sich aus seinem Versteck löste, zuckte der Diener zusammen. »Still, Sandro – kein Wort!«, flüsterte deBlanc. Und als er sich versichert hatte, dass sie unbeobachtet waren: »Wie viele sind es?« »Acht oder zehn Männer. Signor, ich verstehe das nicht … Warum …?« »Ich benötige etwas zum Anziehen und Geld. Und eine Waffe.« Sandro zögerte. »Es kann sich doch nur um einen Irrtum …« »Das ist kein Irrtum, Sandro. Jemand ist hinter mir her. Ich weiß nicht, wer es ist, aber anscheinend geht es um lange zurückliegende Dinge. Ich kann dir das jetzt nicht erklären.« Er sagte Sandro, dass die Kleidung unauffällig beschaffen sein sollte. Eine zweite Pistole und Munition für mehrere Schüsse befand sich in einem Schrank in seinem Geschäftszimmer. Er ging niemals ohne Waffe aus dem Haus. Er fühlte sich nackt ohne Waffe, und Schuld daran war seine
eigene, ganz persönliche achtzigjährige Erfahrung. »Suche alles Geld zusammen, das du finden kannst. Und Schuldscheine. Vielleicht kann ich sie brauchen. Aber beeile dich. Sie werden wahrscheinlich längst danach suchen.« »Wo …?« »Ich bleibe im Hinterhof«, unterbrach Robert die Frage seines Dieners. »Ich werde dich sehen, wenn du aus der Tür kommst.« Im selben Moment wurden oben Stimmen laut. Schritte näherten sich. Robert deBlanc huschte zurück zur Hintertür und schloss sie leise hinter sich. Er zermarterte sich den Kopf, welcher Feind ihm wohl im Nacken sitzen mochte. Wer war so erpicht darauf, ihn zur Strecke zu bringen, dass er dafür selbst einen Mord in Kauf nahm? Es musste sich um einen Dämon handeln … Aber weder Julio noch die Soldaten waren Höllenwesen. Das hätte er bemerkt. Sie waren ganz normale Menschen, die durch irgendeine Magie beeinflusst worden waren. In seine Überlegungen verirrte sich immer wieder ein Name, ein Gesicht. Madeleine … Die Erinnerung an sie schnürte ihm die Luft ab. Er musste sich konzentrieren, durfte sich jetzt keine Sentimentalitäten leisten! Während der treue Diener Kleidung und Geld für ihn zusammensuchte, sinnierte Robert darüber nach, was er jetzt tun sollte. Kopflos fliehen, ohne ein Ziel vor Augen zu haben? Das wäre das Schlechteste. Den Rat aufsuchen? Er wäre ein schöner Dummkopf gewesen, wenn er das getan hätte. Er dachte an seine Dependancen in Lissabon und Amsterdam. War er etwa abermals von seinen Teilhabern verraten worden? Er würde es herausfinden! Sein nächstes Ziel war Amsterdam – selbst wenn die Häscher dort bereits auf ihn warten sollten …
Er legte die Strecke in weniger als drei Wochen zurück.
Es war Sommer, so dass die Passage über die Alpen keine Probleme bereitete. Er hatte sich bei einem Pferdehändler in Venedig eine Stute gekauft, die ihresgleichen suchte. Sie trug ihn klaglos über viele Tage hinweg und gehorchte jedem seiner Zügelgriffe. Er dachte, dass es wohl nur ein einziges Pferd gab, das dieser Stute an Schnelligkeit und Ausdauer überlegen gewesen wäre – aber um Nichts in der Welt hätte er sich gewünscht, den schwarzen Rappen, den sein Erzeuger ihm überlassen hatte, noch einmal zwischen die Schenkel zu nehmen. Als er Amsterdam erreichte, wehte eine angenehme Brise vom Meer herüber. Das Städtchen ertrank in Geschäftigkeit, und das Kaufmannsleben war hier noch ausgeprägter als in Venedig. Allerdings waren die Bauten weniger beeindruckend. Alles schien eine Spur kleiner und nüchterner angelegt zu sein, als wollten die Holländer beweisen, dass sie die besseren Kaufleute waren, die ihr Geld nicht für im Grunde unnütze Details verschwendeten. Und genau das waren sie wahrscheinlich auch. Robert spürte eine Aufbruchstimmung in der Stadt, die ihn vom ersten Augenblick an gefangen nahm. Es war fünf Jahre her, dass er zum letzten Mal in Amsterdam gewesen war, und seitdem hatte sich vieles geändert. Keine Spur jener Atmosphäre von Lähmung und Dekadenz, in der die italienischen Stadtstaaten gefangen waren. Er suchte das Haus auf, das er vor fünf Jahren gekauft und zum Sitz seiner holländischen Stellvertretung gemacht hatte. Die meisten Kaufleute waren dem nationalstaatlichen oder sogar fürstentümlichen Denken verhaftet – je nachdem, wo und in welcher Branche sie sich betätigten. Robert deBlanc hatte schon früh begriffen, dass er, um wirklich erfolgreich zu werden, über die Grenzen der Nationalstaaten hinausschauen musste. In die Neue Welt zum Beispiel. Oder nach Portugal, das soeben seine wirtschaftliche Hochzeit erlebte, indem es fremde Reiche bis aufs Blut auspresste oder dem Erdbogen gleichmachte. Die meisten Menschen begriffen nicht, was um sie herum vorging. Sie wurden Zeugen einer Neuen Zeit. Amerika war entdeckt worden. Asien war durch den Seeweg neu entdeckt worden. Da geschah es nur zwangsläufig, dass sich auch
die Grenzen der möglichen Geschäftsfelder erweiterten … Robert deBlanc hatte damals das Gefühl gehabt, in Jan van Maarten einen fleißigen und ehrlichen Geschäftspartner gewonnen zu haben. Der bekannte Kaufmann, der viel für die Malerei übrig hatte und ein großer Kenner der europäischen Kunst war, hatte sich über Amsterdam hinaus einen Namen gemacht. Doch ihm fehlte das nötige Kleingeld, um im ganz großen Kunsthandel eine Rolle zu spielen. DeBlanc hatte es ihm verschafft. Und van Maarten hatte eingewilligt, sein eigenständiges Geschäft aufzugeben und fortan für deBlanc zu arbeiten. Die Nachrichten und Zahlen, die Robert seitdem regelmäßig aus Amsterdam erreichten, waren hoch erfreulich gewesen. Trotzdem konnte er sich eines bedrückenden Gefühls nicht erwehren, als er nun das Haus in der Kalberstraat erreichte. Auf den ersten Blick ließ sich nichts Besonderes erkennen. Die Fensterläden der unteren Etagen waren geschlossen. Das war nicht ungewöhnlich, da van Maarten hin und wieder Künstlern Gelegenheit gab, ihre Werke dort auszustellen, und die meisten Farben waren lichtempfindlich. Robert saß ab und machte die Stute vor dem Haus fest. Leider war Sandro nicht schnell genug gewesen, um die Schlüssel und Papiere für das holländische Grundstück vor den Häschern in Sicherheit zu bringen. Es würde also nur ein kurzer Aufenthalt für deBlanc werden. Er machte sich keine Illusionen: Er war noch immer auf der Flucht. Auf sein Klopfen hin ertönten schlurfende Schritte. Langsam öffnete sich die Tür, und van Maartens Gestalt erschien im Rahmen. Er war Mitte dreißig, aber noch tadellos gesund. Doch die braunen Haare begannen an den Stirnseiten bereits zurückzuweichen, und in sein schlankes Gesicht hatten sich scharfe, lange Falten eingegraben. Van Maarten war kein herzlicher Mensch. Das einzige, worüber er sich freuen konnte, waren gute Geschäfte. Hätte es einen besseren Stellvertreter für deBlanc geben können? Falls van Maarten überrascht war, seinen Herrn zu sehen, ließ er es nicht erkennen. »Tretet ein, Mijnheer deBlanc.« Robert war das kurze Zögern nicht entgangen. »Habt Ihr mich er-
wartet, van Maarten?« Der Kunsthändler wiegte den Kopf. »Ich erwartete Euch nicht heute und nicht morgen, aber die Entwicklung der Geschäfte in Venedig gibt Anlass zur Sorge, wie ich hörte. Ich dachte mir, dass Ihr über kurz oder lang vorbeikommen würdet.« Robert legte seinen Reisemantel ab, und van Maarten gab einem Hausdiener den Befehl, die Stute zu versorgen. »Wartet!«, rief deBlanc den Diener zurück. »Das erledige ich später selbst.« Es war nur so ein Gefühl – aber ihm war wohler, wenn sich das Tier vor dem Haus befand, wo er es jederzeit erreichen konnte … An van Maarten gewandt, sagte er: »Die Geschäfte interessieren mich nicht – jedenfalls nicht im Moment. Es stehen große Veränderungen bevor. Ich werde Amsterdam verlassen, mein Freund.« Van Maartens Augen wurden groß. »Ihr meint … für immer verlassen …? Ihr wollt Euer Geschäft auf Venedig und Lissabon beschränken?« »Nein, ich werde es aufgeben. In Venedig habe ich bereits alles geregelt. Ihr habt Euch unter meiner Führung ein ansehnliches Vermögen verdient, van Maarten. Wollt ihr nicht Eure Selbstständigkeit zurückhaben? Wenn Ihr wollt, verkaufe ich Euch das Haus und alles, was darin ist. Ich brauche es nicht mehr, denn ich werde nicht sobald zurückkehren.« »Was ist geschehen?« »Zuviel, um es jetzt zu erzählen. Nehmt Euch Zeit und denkt nach, van Maarten. Aber nicht zu lange. In spätestens zwei Tagen werde ich Amsterdam den Rücken kehren.« Robert würdigte die Gemälde, die im Erdgeschoss ausgestellt waren, keines Blickes, sondern stieg die schmale, gewundene Treppe in den ersten Stock herauf, wo sich die Geschäftsräume befanden. Van Maarten eilte an ihm vorüber. »Ihr solltet nicht da hinaufgehen, Mijnheer …« Robert kniff die Augen zusammen. »Was meint Ihr damit? Heraus mit der Sprache!« »Es ist nur so, dass …«
Robert sah den Schatten am oberen Treppenabsatz zu spät. Ein Pulverblitz blendete ihn, und gleichzeitig hallte der Schuss wie Kanonendonner zwischen den Wänden wider. Van Maarten brach vor seinen Augen zusammen. Ein dünner Blutfaden trat aus seiner Brust. »Dieser verdammte Kerl – ich wusste doch, dass Er den Mund nicht halten kann.« Robert war es, als hätte jemand seinen Kopf in Eiswasser getaucht. Diese Stimme … Er hatte sie annähernd fünfzehn Jahre nicht mehr gehört. »Ganz recht, Robert deBlanc!«, kicherte der Mann am Treppenabsatz. »Ich habe lange Zeit gebraucht, um Ihn zu finden. Und diesmal kommt Er mir nicht mehr so einfach davon, deBlanc …« »Ich hätte es mir gleich denken können, dass Ihr dahinter steckt, Trauthmann«, sagte Robert kalt. Der Inquisitor hob eine zweite Steinschlosspistole. »Er rede mich gefälligst mit ›Euer Exzellenz‹ an«, zischte er. Robert dachte überhaupt nicht daran. »Warum habt Ihr van Maarten erschossen? Er hatte nichts mit meinen Geschäften in Basel zu tun.« »Er war der Handlanger des Teufels, und dafür habe ich ihn bestraft. Hinauf mit Ihm!« Trauthmann schwenkte die Pistole. Robert gehorchte und stieg die Stufen hinauf. Als sie das Geschäftszimmer betraten, sah Robert den Inquisitor zum ersten Mal im Hellen. Trauthmann hatte sich im Gegensatz zu ihm selbst verändert in den letzten fünfzehn Jahren. Er war alt geworden und verhärmt. Die Haare hingen ihm schlohweiß auf die Schultern, und in seinen Augen leuchtete ein bösartiges Feuer – fanatischer und selbstzerstörerischer noch als jenes, das ihn damals dazu veranlasst hatte, Robert zum Tod auf dem Scheiterhaufen zu verurteilen. DeBlanc ahnte, dass dieser von seinem Hass besessene Trauthmann nicht mehr der Inquisitor von einst war. Wahrscheinlich hatte die Inquisition ihn längst von seinen Pflichten entbunden, doch seine Sturheit und sein Hexenwahn hatten ihn nicht ruhen lassen, be-
vor er seinem Erzfeind auf die Schliche gekommen war … »Er hat Recht«, sagte Trauthmann mit einem höhnischen Grinsen, das seinen eitrigen Kiefer entblößte, in dem nur noch vereinzelte Zahnreste steckten. »Der Inquisitor Trauthmann ist Vergangenheit. Ich habe mich mit der Kirche überworfen, weil diese meine … nun, etwas zu erfolgreichen Praktiken nicht hinnehmen wollte.« »Ihr wollt sagen, Ihr habt es selbst für die Hetzer im Vatikan zu arg getrieben.« »Denke Er, was er will! Ich habe nur das Rechte getan. Fünfzehn Jahre lang habe ich Seine Spur verfolgt, nachdem er durch schwarzmagische Kräfte von dem Scheiterhaufen verschwand. Will Er denn gar nicht wissen, wie ich Ihm auf die Spur gekommen bin …?« »Ihr werdet es mir bestimmt gleich sagen.« »Ein alter Freund hat es mir gesagt.« Trauthmann ging um den massigen Schreibtisch herum und griff nach einem schwarzen Tuch, das über einer Erhöhung lag. Robert war das Tuch sofort beim Eintreten aufgefallen. Es gehörte ihm nicht; Trauthmann musste es hier abgelegt haben. »Seht, was ich Ihm mitgebracht habe …« Der frühere Inquisitor lüftete das Tuch wie ein Scharlatan, der ein Bühnenkunststück vollführt. Darunter kam das starre, aufgequollene Gesicht eines Mannes zum Vorschein. Augen und Mund waren im Tode aufgerissen, die Haare standen struppig vom Kopf ab. Der Halsstumpf endete in einer blutigen Wunde. »Thurneisser …«, flüsterte Robert. Er hatte den Naturforscher sofort erkannt. »Ich stöberte ihn in Köln auf, wo ich ihn der gerechten Strafe zuführte. Bevor er starb, verriet er mir noch, dass ein gewisser Robert deBlanc in Amsterdam und Venedig von sich reden machte … Ich hätte Ihm gern den ganzen Körper mitgebracht. Doch die Last war zu groß, so dass Er mit dem Kopf vorlieb nehmen muss …« »Ihr seid ein Monstrum!«, flüsterte Robert fassungslos. »Nein!«, zischte Trauthmann. »Ihr seid das Monstrum, deBlanc. Ihr seid der Teufel, und um Euch den Garaus zu machen, sollte einem ehrenhaften Christen jedes Mittel recht sein!«
»Was habt Ihr jetzt vor?«, fragte Robert kalt. »Ich habe bereits alles in die Wege geleitet. Euer Vermögen wird, sobald Euer Tod einwandfrei festgestellt wurde, mir überschrieben werden. Der Arm der Kirche reicht weit. Es ist nicht mehr als eine kleine Gefälligkeit, die mir zusteht, da ich mich doch im Kampf für die Kirche aufgeopfert habe. Euren Körper wird man in unheiliger Erde verscharren, wie es sich für einen Ketzer gehört. Und diesmal werde ich dafür sorgen, dass Ihr tot bleibt, deBlanc!« Er legte die Waffe an. »Sagt der Welt Lebewohl, deBlanc. Sie wird Euch nicht vermissen …« »Ihr seid der größte Halunke, der mir je untergekommen ist«, knurrte Robert. Er schätzte die Chancen ab, Trauthmann zuvor zu kommen. Die Steinschlosspistole war gewiss nicht sehr zuverlässig, und mit etwas Glück … Aber Trauthmann war auf der Hut. Er mochte ein alter Mann geworden sein, aber der Hass auf deBlanc schien ihm zusätzliche Kräfte zu verleihen. Robert ahnte, dass er es nicht schaffen würde. Im Angesicht des Todes kehrten seine Gedanken zu jenem Augenblick vor fünfzehn Jahren zurück, als er seinen eigenen Tod bereits einmal überlebt hatte. Kein Zweifel, er war auf dem Scheiterhaufen gestorben. Dennoch hatte er sich einige Zeit später in einem einsamen Waldstück wieder gefunden … ohne Erinnerung daran, was geschehen war. Alles, was er wusste, war, dass er Schmerzen gehabt hatte. Große Schmerzen, die nicht allein von der Flammenhitze herrührten. Es war schrecklich gewesen zu sterben. Er wollte dieses Gefühl nie wieder erleben … Doch er spürte, dass es jetzt wieder so weit war. Würde wieder ein Wunder geschehen, so wie es damals gewesen war? Er wusste bis heute nicht, wer ihm vor fünfzehn Jahren auf dem Scheiterhaufen geholfen hatte. War es Gott gewesen … oder letzten Endes vielleicht doch nur Asmodis, der seinen Sohn nicht sterben lassen wollte? Vielleicht würde es diesmal schief gehen, und Trauthmann hatte mit seiner Prophezeiung tatsächlich Recht … Mehr aus Instinkt, denn aus vernünftiger Überlegung konzentrier-
te sich Robert deBlanc auf die damaligen Empfindungen. Avalon … Er wusste nicht, was er mit dieser sagenumwobenen Insel zu schaffen hatte. Aber der Gedanke daran gab ihm Kraft … Die Steinschlosspistole donnerte auf. Robert deBlanc wurde zurückgerissen. Im selben Augenblick wusste er, dass die Kugel ihn mitten ins Leben getroffen hatte. Ein seltsamer Schmerz in seiner Brust, eine Taubheit … Noch bevor er auf dem Boden aufschlug, blieb sein Herz stehen. Robert deBlanc schnappte nach Luft. Über sich erblickte er sein gesamtes Gesichtsfeld einnehmend das höhnische Grinsen des greisen Trauthmann. »Jetzt ist mein Lebenswerk vollbracht!«, flüsterte der Inquisitor. Avalon…. dachte Robert. Und starb.
Ich gebe zu, dass mich das erneute Versagen Roberts ein wenig betrübte. Ich hatte mehr von ihm erwartet. Ich hatte gehofft, dass er schon weiter war. Als man den Inquisitor Trauthmann zwei Tage später mit gebrochenem Genick auf den Stufen der deBlanc-Galerie fand, hatte ich bereits alles Notwendige in die Wege geleitet. Roberts Vermögen war in Sicherheit gebracht. Ich sagte mir, dass ich es für ihn verwahren würde – vielleicht. Ob er es einst zurückerhielt oder nicht, wollte ich davon abhängig machen, ob er sich wenigstens bei den folgenden Prüfungen als würdig erwies. Trauthmanns Tod wurde nie geklärt. Man sagte sich schließlich, dass es ein Unfall gewesen sein mochte. Das erklärte zwar nicht den Kopf einer unbekannten Männerleiche, die man auf dem Schreibtisch im Geschäftszimmer deBlancs gefunden hatte. Doch es erschien den Bürgern von Amsterdam wie eine vernünftige Erklärung – eine Erklärung, die kein weiteres Aufhebens nach sich ziehen würde und an die man deswegen glauben wollte. Robert deBlanc verschwand spurlos. Er wurde in Amsterdam nie wieder gesehen.
Nun ja, fürs erste jedenfalls nicht. Ich sagte ja schon, dass noch eine Menge Arbeit auf Robert wartete. Am Zorn Trauthmanns war er grandios gescheitert. Ich war gespannt, wie er im Folgenden der Trägheit begegnete …
3. Trägheit � Er atmete tief aus. Er lebte, das war seine erste Empfindung. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Hauswand und sank daran hinunter. Der Boden war ein wenig feucht, und langsam aber unaufhaltsam durchnässte seine Kleidung. Er beachtete es nicht. Der Schuss aus der Steinschlosspistole des Inquisitors Trauthmann hatte ihn getötet, doch wieder war es ihm gelungen, nach Avalon zu gehen – was auch immer das konkret bedeuten mochte – und ein neues Leben zu erhalten. Alles war zunichte gemacht. Holland bot keine Zukunft mehr für ihn. Das wurde ihm mit erschreckender Klarheit deutlich, als sich seine Gedanken beruhigten. Trauthmann hatte triumphiert. Robert deBlanc dagegen war ruiniert, und für die Welt war er tot. Er hatte alles verloren. Oder fast alles. Denn das Leben hatte er behalten. Und er wusste, was zu tun war. Nur wenig Wehmut lag in seinen Gedanken, als ein merklicher Ruck durch seinen Körper ging. Er stand auf und zog entschlossen seine Kleidung glatt. Es war Zeit zu gehen. Denn wer sagte, dass er hier bleiben musste? Andere Städte, Länder, ja sogar Kontinente lagen vor ihm. Orte, an die die Macht und Intrigen Trauthmanns nicht reichten, an denen man weder von ihm noch von einem Robert deBlanc je gehört hatte. Mit nichts weiter als den Kleidern an seinem Leib setzte er unverzagt einen Fuß vor den anderen. Denn er war noch nicht besiegt. Noch lange nicht. Bald hatte er die dunkle Gasse hinter sich gelassen, in der er seine
Lage überdacht hatte. Das Leben ging weiter. Gerade für ihn, der sich von allen anderen Menschen abhob und dem das Leben mehr zu bieten hatte als fünfzig oder wenig mehr Jahre. Er näherte sich dem Hafen. Noch einmal versetzte es ihm einen Stich, als er an alles dachte, was er in dieser Stadt erlebt hatte. Es waren nicht nur schlechte Dinge gewesen. Trauthmann warf einen dunklen Schatten über die Erinnerungen, doch auch andere Bilder stiegen in seiner Erinnerung hoch. Robert schloss die Augen und ließ es zu, dass die Gedanken ihn hinweg trugen. Gesichter zogen vor ihm vorüber. Menschen, denen er begegnet war und die mehr oder weniger stark Einfluss auf sein Leben genommen hatten. Doch dann zog er einen Schlussstrich. »Neues wartet auf dich«, flüsterte er sich selbst zu. Ohne zu wissen, was kommen würde, lenkte er seine Schritte auf ein Schiff zu, das ihn wie magisch anzuziehen schien. Die gewaltigen Segelmasten nahmen seinen Blick gefangen. Das war ein guter Ort, um Amsterdam hinter sich zu lassen. Es war nicht einfach gewesen, sich bis hierher durchzufragen. »Der Kapitän ist ein viel beschäftigter Mann, doch das geht wohl über deinen Verstand«, hatte er sich anhören müssen. »Mach, dass du davonkommst!«, war ihm entgegen geschleudert worden. Einmal war er sogar ausgelacht worden, bevor er rabiat zur Seite gestoßen wurde. Doch er war beharrlich gewesen und hatte den in ihm aufsteigenden Zorn unterdrückt. Und schon wieder verspottete ihn ein Matrose, über dessen Wange eine handspannengroße Narbe verlief. DeBlanc schwieg auf die Anfeindungen hin, denn er hörte schwere sich nähernde Schritte. Über die Schulter des Matrosen sah er einen großen Mann auf sich zukommen. Langes verfilztes Haar hing ihm wirr über die Schultern.
Von der ersten Sekunde an ahnte Robert, wen er hier vor sich hatte. Die Ausstrahlung des Mannes war pure Befehlsgewohnheit. »Lass den Kerl in Ruhe und mach dich an die Arbeit!«, dröhnte der Ankömmling missmutig. Der Matrose senkte eilig den Kopf und verlor augenblicklich seine goßspurige Art. Nichts war mehr übrig von der Überlegenheit, die er Robert gegenüber an den Tag gelegt hatte. »Aye, Kapitän«, haspelte er rasch und tat, wie ihm geheißen worden war. Robert sah ihm triumphierend nach. Das Gesicht des Kapitäns dieses Schiffes war allein durch seine pure Größe Respekt gebietend. Robert vermutete, dass die ungebändigten Haare es noch gewaltiger erscheinen ließen, als es ohnehin war. Die Nase war breit und wulstig, und die Augen schienen zu glühen. »Du bist beharrlich«, richtete der Kapitän das Wort nun an Robert. »Das gefällt mir.« Er hielt ihm eine fleischige Pranke hin. Robert ergriff sie ohne zu zögern. »Ihr wisst, was ich im Sinn habe«, antwortete er. Alles andere hätte geheißen, an der Intelligenz des Schiffsführers zu zweifeln, und das wäre Torheit gewesen. »Folge mir.« Ohne weitere Worte und ohne eine Reaktion abzuwarten drehte der Kapitän sich um und entfernte sich wieder in die Richtung, aus der er gekommen war. Robert lief augenblicklich hinterher. Er wusste, dass er die erste kleine Schlacht gewonnen hatte. Er besaß die Aufmerksamkeit des Kapitäns. Jetzt erst machte er sich nähere Gedanken, was er erzählen sollte. Die Wahrheit kam nicht in Frage. Doch da hatten sie die Kajüte des Kapitäns bereits erreicht. Also würde er improvisieren müssen. Die Aussicht darauf bereitete ihm keine Probleme. »Ich kann beharrliche Männer gebrauchen, die wissen, was sie zu tun haben und die ihre Aufgaben zuverlässig erledigen«, griff der Kapitän den Faden seiner ersten Bemerkung wieder auf. »Dann werde ich Euch gute Dienste leisten«, versicherte Robert. Ein raues Lachen drang aus der Kehle des massigen Mannes. Er-
staunt bemerkte Robert, dass auch seine Zähne den Eindruck schierer Größe vervollständigten. Ein erstaunlicher Mensch. »Du willst weg aus Amsterdam«, sagte der Hüne ihm auf den Kopf zu. Die Erkenntnisgabe des Kapitäns war Robert beinahe unheimlich, doch er sagte sich, dass sie wohl nur aus den Erfahrungen langer Jahre entstanden war. Also beschloss er, so nahe wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben, um sein Gegenüber nicht misstrauisch werden zu lassen. »Es gab gewisse Schwierigkeiten«, bestätigte er. »Was du getan hast, spielt keine Rolle.« Der Kapitän winkte ab. »Ich verlange nur zwei Dinge von dir: du tust deine Arbeit und du wirst mir gehorchen. Ob du in Amsterdam jemanden getötet hast oder einen Raub begangen hast, ist mir gleichgültig.« Sezierend starrte er Robert an. Jetzt erkannte er, wodurch der Eindruck entstand, dass die Augen des Kapitäns zu glühen schienen. Sie lagen tief in den Höhlen, und das schwarze Haar dominierte den Gesamteindruck der Mimik derart stark, dass das Weiß der Augen ungewöhnlich stark heraus stach. Darüber hinaus hatte der Kapitän eine außergewöhnlich klare, eisblaue Augenfarbe, die ihr Übriges dazu tat. »Diesen Bedingungen stimme ich zu«, meinte Robert bestimmt. »Du wirst die Fahrt nicht bezahlen müssen, doch du musst hart arbeiten. Ich werde dir jemanden schicken, der dir deine Ecke in der Mannschaftsunterkunft zeigt und dir deine Aufgaben erklärt. Irgendwelche Fragen?« Einige Sekunden des Schweigens folgten, denn deBlanc war klar, dass Fragen nicht erwünscht waren. »Dann geh.« »Ich danke Euch«, sagte Robert. Ein bärbeißiges Lachen folgte. »Danke mir nicht zu früh.« Robert wandte sich zum Gehen. »Eines noch«, hielt der Kapitän ihn auf. »Nenne mir deinen Namen.« »Robert«, sagte er aus einem plötzlichen Gedanken heraus. »Und weiter?« »Nichts weiter.« Er drehte sich um und sah seinem Kapitän in die
eisblauen Augen. Es war eine unüberlegte spontane Eingebung, sich selbst einen mysteriösen Anstrich zu geben. Die Mundwinkel seines Gegenübers hoben sich. Da wusste Robert, dass es wieder einmal gut gewesen war, seinen Intuitionen zu folgen. »Du gefällst mir«, sagte der Kapitän. »Ich glaube fast, du kannst lange hier bleiben.« »Wir werden sehen«, antwortete er, denn er hatte keine Ahnung, was ihm die Zukunft bringen würde.
»Ein Schwächling bist du, das habe ich gleich gesehen«, spottete der weißblonde Matrose, dessen Oberkörper muskulöser war, als Robert es jemals zuvor gesehen hatte. Verbissen wuchtete er sich das Fass auf den Rücken und schleppte es aus dem Raum. Der Muskelmann folgte ihm auf dem Fuß. Robert wankte die Stufen nach oben. Er ließ sich nicht anmerken, dass er tatsächlich am Ende seiner Kräfte angelangt war. Trotzig setzte er einen Fuß vor den anderen und hoffte, dass das Zittern seiner Knie verborgen blieb. Er verdankte es wohl nur seiner zähen Entschlossenheit, dass das Fass an seinen bestimmten Ort gelangte. »Und wie geht es nun weiter?«, fragte er grinsend, als er seine Last losgeworden war. »Pah«, winkte der Matrose ab, der seine neue Lebensaufgabe offensichtlich darin gefunden hatte, Robert deBlanc zu schinden. »Du hast wohl nicht zugehört, oder was? Oder bist du zu dumm, um zu begreifen, was ich dir auftrage?« Robert biss die Zähne zusammen und fragte sich, worauf der Widerling aus war. »Das Fass soll in den zweiten Lagerraum, du Schwachkopf!« »Ich …« Robert brach ab und verbiss sich den Fluch, der ihm auf den Zähnen lag. Er war sich sicher, dass die Anweisung anders gelautet hatte. Doch jetzt war nicht die Zeit, dagegen aufzubegehren. Also hob er mit Todesverachtung die Last erneut auf seinen schmer-
zenden Rücken. »Weiter so, dann wird vielleicht eines fernen Tages noch etwas Vernünftiges aus dir«, höhnte der Hellblonde. »Ich werde dich jetzt leider alleine lassen, denn ich habe Wichtigeres zu tun.« Und dann, nach einer kurzen Pause: »Im Gegensatz zu dir.« Ein dröhnendes Lachen folgte. Wenn er auch nur geahnt hätte, wie deBlancs Leben verlaufen war und welche wirklich bedeutenden Geschäfte und Existenzen er im Gegensatz zu ihm bereits aufgebaut hatte, wäre ihm das Lachen im Hals stecken geblieben. Mit diesem Gedanken vertröstete sich Robert und sagte sich, dass auch wieder bessere Zeiten kommen würden. Wenn es nach ihm ging, schon sehr bald … Als endlich die Zeit für eine Pause gekommen war, taten ihm alle Knochen im Leib weh. Seit zwei Tagen befanden sie sich schon auf dem offenen Meer, und außer scheinbar völlig unnützem Hin- und Herräumen von Dingen, denen nur ihr extremes Gewicht gemeinsam war, hatte Robert noch nichts gesehen. Wie er auf diese Weise der Schiffsführung nützlich sein sollte, war ihm ein Rätsel. Mehr noch als die Gehässigkeit des Matrosen, der ihn nach dem Befehl des Kapitäns in die Arbeit auf dem Schiff einweisen sollte, machte ihm die Tatsache zu schaffen, dass er keinen sinnvollen Zweck erfüllte. Sein scharfer Verstand arbeitete unablässig und entdeckte Mängel in dem gesamten Tagesablauf der Matrosen, doch er konnte nichts daran ändern. Sein Wort hatte keinerlei Gewicht, und auch der Kapitän hatte ihm seit dem ersten Gespräch kein weiteres Treffen mehr gestattet. Ärgerlich lief er zur Reling und starrte ins offene Meer. Weißbekränzte Wellenberge wühlten es auf, denn es ging ein rauer Wind. Die Segel blähten sich weit, und das Schiff kam rasch voran. Mehr als einmal ächzte das Holz des Rumpfes gefährlich laut, und Robert fragte sich, ob er mit diesem Schiff tatsächlich eine gute Wahl getroffen hatte. »So nachdenklich?«, tönte es plötzlich hinter ihm.
Robert drehte sich um und sah sich einem der Fahrgäste gegenüber. Nur wenige Reisende zahlten die Überfahrt nach Portugal, denn in erster Linie transportierte das Schiff Güter. Der Kapitän machte jedoch nur allzu bereitwillig Ausnahmen, wenn zahlungskräftige Reisewillige auf ihn zukamen. Und dieser Mann ihm gegenüber stank förmlich nach Geld. »Es ist nicht das Schlechteste, über sein Leben auch einmal nachzudenken«, antwortete Robert unverbindlich. »Jan Huygen van Linschoten«, stellte sich der Reisende vor und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich wusste, dass ich mich in Euch nicht getäuscht habe, mein Freund. Ihr passt nicht zu den anderen, die hier die Arbeit erledigen.« »So?«, fragte Robert misstrauisch. Wusste van Linschoten von seinem Werdegang in Amsterdam? »Ich beobachte Euch schon länger, und unwillkürlich drängte sich mir die Frage auf, welches Schicksal Euch wohl hierher verschlagen hat.« »Vielleicht hat Gott mich hierher geschickt«, orakelte Robert und lachte innerlich über die böse Ironie seiner Worte, die van Linschoten unmöglich erkennen konnte. »Spart Euch den Spott und tut lieber der Höflichkeit genüge.« Robert verstand die unausgesprochene Aufforderung und nannte, wie schon zuvor dem Kapitän gegenüber, dennoch nur seinen Vornamen. »Ich sehe schon, dass ich mich damit begnügen muss«, schmunzelte der Holländer. »Sie finden mich nicht überrascht, denn ich habe im Verlauf meiner Reisen einige interessante Menschen kennen gelernt und bin zu der Überzeugung gekommen, dass man ihnen ihre Geheimnisse lassen muss, wenn sie sie nicht freiwillig lüften.« »So? Sie sind wohl weit herumgekommen?« »Weiter als jeder andere auf diesem Schiff, möchte ich vermuten. Möglicherweise mit Ausnahme des Kapitäns und … ja, und vielleicht Euch selbst.« Die beinahe schwarzen Augen schienen Robert bis auf den Grund seiner Seele zu blicken. »Viele Reisende erzählen gerne von ihren Heldentaten.« Robert
hielt dem bohrenden Blick mühelos stand. Die meisten Menschen wären dazu nicht in der Lage gewesen. »Als Jüngling schiffte ich nach Portugiesisch-Indien, doch schon vor langen Jahren kehrte ich nach einigen Widrigkeiten zunächst in meine Heimatstadt Enkhuizen zurück.« Jan Huygen van Linschoten lachte plötzlich auf. »Ihr habt mich erwischt, Robert! Tatsächlich gebe ich gerne von meinen Erfahrungen weiter. Es ist irgendwie … erbauend.« Robert, der zunächst über die Störung ärgerlich gewesen war, fand Gefallen an der Entwicklung dieses Gesprächs. »Auf welche Widrigkeiten trafen Sie denn?« Die Frage entstammte echtem Interesse an dem charismatischen Holländer. »Kaperei, Gefangenschaft und derlei.« Van Linschoten machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nichts Besonderes also«, ging Robert auf das Spiel ein. »Das Übliche, wenn man unterwegs ist.« Jetzt lachte von Linschoten laut auf. »Ihr sagt es!« Und, plötzlich ernster, fügte er hinzu: »Auch für Euch dürfte derlei nichts Neues sein.« »Was brachten Sie aus Portugiesisch-Indien mit?«, lenkte Robert ab. Er war noch nicht bereit, über sein eigenes Leben zu sprechen. »Haben Sie je vom Itinerario gehört?« Etwas Lauerndes lag in der Stimme des Holländers. Robert schluckte hart. »Deswegen kam mir Euer Name so bekannt vor!« Der Itinerario war ein umfassender Orientierungsquell für Reisende. Karten und Beschreibungen von Seewegen, fremden Küsten und eine Fülle von Details aus fernen Ländern fanden sich darin. »Ich freue mich auf eine interessante Reise und sehe spannenden Tagen entgegen«, sagte van Linschoten erfreut. »Wer mein Manuskript kennt und – das sehe ich Euren Augen an – schon selbst in der Hand hielt, um Neues zu erfahren, der ist mein Freund.« »Ihr könnt unmöglich überall gewesen sein. Alle Orte zu besuchen, die dort erwähnt werden, ist einfach nicht möglich!« Nicht in der Lebenszeit eines Menschen zumindest … doch er selbst war der Beweis dafür, dass man diese Grenzen durchaus sprengen konnte.
Dieser beunruhigende Gedanke, der Robert unwillkürlich kam und ihm zu denken gab, erwies sich rasch als Trugschluss. »Man sollte nicht alles zu exakt nehmen«, schmunzelte der Holländer. »Hier und da habe ich meine Phantasie spielen lassen. Niemand weiß jedoch, an welchen Stellen. Niemand außer mir selbst.« »Und es hat einmal jemand gesagt, dass man anderen ihre Geheimnisse lassen muss, wenn sie sie nicht freiwillig lüften«, wiederholte Robert deBlanc die Worte, die van Linschoten vor wenigen Minuten an ihn gerichtet hatte. »Jetzt seid Ihr mir eindeutig der liebste Begleiter für diese Überfahrt geworden, mein Freund!« Van Linschoten schlug ihm hart auf die Schulter. »Wer einen so pfiffigen Verstand hat, sollte nicht seine Zeit mit Alltagsarbeit verschwenden, und schon gar nicht damit, irgendwelches Transportgut von einer Ecke in die andere zu schleppen, wo es offensichtlich gar nicht hingehört!« Und ehe Robert deBlanc es sich versah, stand er mit Jan Huygen van Linschoten zusammen vor dem staunenden Kapitän und sah zu, wie dieser einige Münzen erhielt, die ihn, Robert, für den Rest der Reise vom untersten Matrosen zum zahlenden Passagier und von einer schmutzigen kleinen Ecke im Mannschaftsquartier in eine eigene Kabine beförderten.
»Wieso seid Ihr auf diesem Schiff? Was wolltet Ihr in Portugal?«, fragte Robert. »Ihr sagtet, Ihr habt dort bereits viele Jahre Eurer Jugend zugebracht.« Van Linschoten schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht, warum ich mich Euch anvertraue, wo Ihr doch nichts von Euch Preis gebt. Ihr habt etwas an Euch, das mich …« Er brach ab, die letzten Worte waren bereits kaum verständlich gewesen. Er schüttelte den Kopf, offenbar über sich selbst erstaunt. »Es geht um die portugiesischen Seerouten nach Ostindien«, sagte er dann unvermittelt. »Mein … mein Land schickt mich, um mehr darüber zu erfahren.« »Um sie auszuspionieren«, verbesserte Robert erstaunt. »Ihr seid ein holländischer Agent?«
»Nun redet nicht noch lauter, Robert! Es braucht ja nicht jeder zu wissen.« »Wieso erzählt Ihr mir davon?« »Ich sagte es bereits. Ihr gebt mir Rätsel auf, mein Freund. Ich weiß es selbst nicht. Ein wenig könnte es allerdings daran liegen, dass ich auf dem portugiesischen Schiff, das ich nach unserer Ankunft in Porto betreten will, herausfordernde Gesellschaft und anregende Gespräche gebrauchen könnte.« Das war ein eindeutiges Angebot. »Ich werde darüber nachdenken.« »Ihr habt Zeit genug zum Denken.« Der Holländer atmete geräuschvoll aus und machte eine umfassende Bewegung. Was soll man auch sonst auf diesem Schiff tun?, schien er damit auszudrücken. »Nicht mehr allzu viel Zeit allerdings. In zwei Tagen erreichen wir Portugal.« Als Robert am Abend in seiner Koje lag – eine bemerkenswerte Verbesserung gegenüber dem Rattenloch, in dem er zuvor geschlafen hatte – ging ihm seine ungewöhnliche Bekanntschaft nicht mehr aus dem Sinn. Sollte er sich tatsächlich mit dem Agenten auf eine Abenteuerreise begeben? Einiges an dieser Vorstellung widerstrebte ihm, doch bislang bot sich keine wirkliche Alternative. Und tief in seinem Inneren spürte er die Verlockung des Unbekannten. »Nun kommt schon! Raus mit der Sprache!« Van Linschoten packte den zerbeulten Becher und schüttete den billigen Wein in sich hinein. Robert deBlanc tat es ihm gleich. Ihm schwindelte, denn das war beileibe nicht der erste Alkohol, der heute seine Kehle hinunter rann. Irgendwann, als der Holländer – sein Freund, der Geheimagent, durchzuckte es ihn – die dritte Flasche aus einem Winkel des Raumes hervorgeholt hatte, den es vorher noch nicht gegeben zu haben schien, hatte er aufgehört zu zählen. »Robert – muss genügen«, lallte er mit schwerer Zunge. »Ach verdammt«, beschwerte sich van Linschoten und ging un-
vermittelt zum Du über. »Ich zahle deine Überfahrt, hast du das vergessen?« Nur mit Mühe gelang es Robert, sich an derlei nebensächliche Details zu erinnern. »Und ich bin hier und begleite dich«, erwiderte er. »Weitere Bedingungen gab es nicht.« Oder? Er war sich nicht wirklich sicher, was sich in seinem Gedächtnis hinter der Wand aus alkoholgeschwängerten Nebeln wohl noch verbergen mochte … »Natürlich nicht!« Aha. »Aber ich habe hier im Gegensatz zu dir das Recht auf Geheimnisse! Denn ich bin der Agent, nicht du.« Robert trank das Glas leer und verschluckte sich, was einen Hustenreiz zur Folge hatte, den van Linschoten offensichtlich missdeutete. »Nein«, stieß der Holländer aus, völlig falsche Schlüsse aus Roberts Verhalten ziehend, »das kann doch nicht wahr sein!« Robert verstand trotz seines umnebelten Verstandes sofort, was van Linschoten meinte. »Du täuschst dich«, versicherte er. »Es gibt da ein Geheimnis«, und zwar ein ganz gewaltiges, das deine Vorstellungskraft sprengen würde, »aber ich bin ganz bestimmt keiner deiner Sorte.« Wortlos stand van Linschoten auf. »Das hätte ich dir auch nicht wirklich geglaubt.« Er wandte sich ab und torkelte auf Deck hinaus. Robert war es gleichgültig. Er bedachte die vollständig geleerte Flasche, die wievielte es auch immer sein mochte, mit einem langen Blick und ließ sich dann nach hinten fallen. Noch ehe er eine bequeme Position einnehmen konnte, schlief er bereits. Als er mit schmerzenden Gliedern wieder aufwachte, fiel licht durch das kleine Bullauge. Und wie jeden Morgen fragte er sich, ob er richtig gehandelt hatte, als er sich van Linschoten in Portugal angeschlossen hatte. Doch der Reiz einer Abenteuerfahrt nach Ostindien war übermächtig gewesen. Zumal sein neuer Freund jede Frage nach Geld abgetan hatte. »Ich zahle für dich«, war seine eindeutige Aussage gewesen, die keinen Widerspruch duldete. Nicht dass Robert hätte widersprechen können.
Im Lauf der drei Tage auf diesem neuen Schiff hatte sich eine merkliche Spannung zwischen Ihnen aufgebaut, weil Robert mit keinem Wort auf seine Identität einging. Van Linschoten hatte sehr offenherzig über sich und seine Pläne gesprochen. Er brauchte jemanden, mit dem er darüber reden konnte, das war eindeutig. Auch Robert hätte sich gerne offenbart – von seinem Vater gesprochen, Asmodis, dem leibhaftigen Fürsten der Finsternis … von seiner Begegnung mit ihm und von seinem Fluch. Doch van Linschoten war dafür eindeutig nicht der Richtige. Ein Mann, der im Intrigenspiel der Mächtigen mitmischte und diese Überfahrt nur machte, um geheime Reiserouten auszuspionieren, war nicht derjenige, dem Robert das Geheimnis seines Lebens anvertrauen wollte. Überhaupt wunderte er sich, wie sehr ihm die zwielichtigen Umtriebe des Holländers zu schaffen machten. Er fand keinen Frieden bei der Vorstellung, welchen Schaden van Linschoten anrichten konnte. Welchen ungerechten Vorteil Holland dadurch erringen konnte und welchen Verlust hingegen Portugal, dem die Vorteile der eigenen Entdeckung eigentlich zustanden. Denn die wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Geheimmission waren gewaltig. Die guten Vorsätze, die er gefasst hatte, gingen Robert deBlanc nicht mehr aus dem Sinn. Alleine der Gedanke daran, den Handlungsweisen seines Erzeugers zu widersprechen und sich selbst durch entgegengesetzte Taten auszuzeichnen, trieb ihn an. Die Vorstellung, den Plänen Asmodis auf diese Weise entgegenzulaufen, nach anderen Maßstäben zu leben als sein ungeliebter Vater, gefiel ihm. Doch andererseits widerstrebte es ihm, van Linschoten zu hintergehen. Immerhin hatte er sich als Gönner erwiesen. Er ging nach draußen, um sich von der eiskalten Morgenluft die trüben Gedanken und die einander widerstrebenden Überlegungen vertreiben zu lassen. Er begegnete dem Kapitän, der ihn knapp grüßte. Robert nickte ihm in Gedanken versunken zu und genoss den
Wind, der ihm mit erstaunlicher Kraft ins Gesicht peitschte. Damit hatte er nicht gerechnet, doch es belebte ihn, und bald konnte er wieder klarer denken. Die ruhigen Tage auf See hatten ihn eingelullt und träge gemacht. Jetzt fragte er sich, wie er seine einmal gefassten Vorsätze so bald wieder hatte verwerfen können. Er sah klar. Keinesfalls durfte er van Linschoten gewähren lassen. Spätestens heute Abend musste er ihm ins Gewissen reden. Der Diebstahl von eminent wichtigen Geheiminformationen war kein Kavaliersdelikt. Die Portugiesen hatten eine neue und rasche Seeroute nach Indien entdeckt, und ihnen stand es zu, die Früchte dieser Entdeckung zu ernten. Entschlossen wandte er sich um und begann mit der Suche nach van Linschoten. Denn warum sollte er bis heute Abend warten? Er konnte den Holländer genausogut jetzt schon suchen und ihn zur Rede stellen. Das Schiff war nicht so groß, dass er lange Zeit für die Suche veranschlagen musste. Als er an der Kajüte des Kapitäns vorbeikam, stutzte er. Es war ein schleifendes Geräusch aus der Kajüte gedrungen. Und er war dem Kapitän eben erst begegnet. Er konnte unmöglich dort drin sein. Das bedeutete, dass sich jemand Zutritt verschafft hatte. Dabei konnte es sich nur um einen einzigen Mann handeln. Roberts Suche war also noch rascher beendet, als er zu hoffen gewagt hatte. Er öffnete die Tür … »Wusste ich es doch«, raunte er van Linschoten zu. »Robert«, stieß dieser erleichtert hervor. »Hast du mir einen Schreck eingejagt. Ich war mir sicher, dass der Kapitän nicht zurückkehren würde. Er hat wichtige Dinge zu erledigen, die seine Aufmerksamkeit mindestens für zwei Stunden in Beschlag nehmen werden.« »Was tust du hier?«
»Kannst du dir das nicht denken? Ich nutzte die Gelegenheit, einige Seekarten zu kopieren.« Die Selbstverständlichkeit, mit der der Holländer diese Information weitergab, berührte Robert eigentümlich. »Es ist nicht richtig«, sagte er lahm und ärgerte sich, dass seine Worte jede Überzeugungskraft vermissen ließen. »Lass uns von hier verschwinden«, lenkte van Linschoten ab. Und Robert beschloss, dass es jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für eine Diskussion war. Doch nach van Linschotens Auffassung gab es diesen richtigen Zeitpunkt offenbar niemals. Denn er weigerte sich rigoros, über die ethischen Konsequenzen seines Tuns zu reden. »Was fällt dir ein, mir in den Rücken zu fallen?«, beschwerte er sich, als Robert die Sprache darauf brachte. Und: »Verstehst du denn nicht, was ich hier tue? Holland wird eine Weltmacht werden!« Alles in allem konnte van Linschoten nicht einmal nachvollziehen, worauf Robert hinauswollte. Es war zwecklos. Und da fasste Robert einen verhängnisvollen Entschluss.
»Kapitän, ich muss mit Euch reden«, forderte Robert. »Meine Zeit ist knapp bemessen«, sagte dieser misstrauisch. »Es geht um van Linschoten.« Interesse blitzte in den listigen kleinen Schweinsäuglein des Kapitäns auf. »Ich habe mir über ihn einige Gedanken gemacht, doch ich glaube nicht, dass ich sie mit seinem Begleiter teilen möchte.« »Ich stehe ihm nicht so nahe, wie Ihr offensichtlich denkt.« »So?« Seine Zweifel waren offenkundig. Alles andere wäre höchst leichtsinnig und damit ein fataler Fehler gewesen. »Van Linschoten ist kein gewöhnlicher Mitreisender.« Diese Aussage hatte ein kurzes Auflachen zur Folge. »Was Ihr nicht sagt! Wofür haltet Ihr mich? Für einen stumpfsinnigen Bastard? Er befindet sich seit vier Tagen auf meinem Schiff, und da denkt Ihr, ich habe nicht bemerkt, dass er auf der Flucht vor irgen-
detwas oder besser irgendjemandem ist?« »Nichts steht mir ferner, als Eure Klugheit zu unterschätzen«, versicherte Robert hastig. »Aber van Linschoten ist vor niemandem auf der Flucht.« Noch nicht, fügte er in Gedanken hinzu. »Und Ihr demzufolge auch nicht«, knurrte der Kapitän. »Doch ich habe an Eurem Gerede und Euren Geschichten kein Interesse! Ich bringe Euch nach Portugal, denn Ihr habt bezahlt! Alles, was darüber hinausgeht, interessiert mich nicht!« »Es muss Euch interessieren! Eine politische Intrige ist im Gange, die Portugal zerstören könnte!« Robert sprach eindringlich auf den Kapitän ein. »Ihr überschätzt Euch!« Verächtlich blickte der Kapitän Robert in die Augen. »Und leider auch die Wichtigkeit meiner Person, wie ich eingestehen muss.« »Ihr täuscht Euch! Ihr oder besser diese Reise ist sehr wohl …« »Haltet den Mund und verlasst meine Kabine!«, forderte der Kapitän ungehalten. »Ich habe schon lange bereut, Euch an Bord gelassen zu haben, und ich rate Euch, mich nicht dazu zu zwingen, meine Entscheidung rückgängig zu machen.« »Nun, wir sind nun einmal hier, und …« »Das Meer ist groß«, wurde er scharf unterbrochen. Und ehe Robert es sich versah, hatte der Kapitän ihn aus seiner Kajüte geworfen. Er schloss die Augen und unterdrückte die aufwallenden Gefühle. Im ersten Moment wollte er zurückgehen und dem Kapitän direkt ins Gesicht sagen, dass van Linschoten seine Reiseroute kopiert hatte. Doch dann beschloss er, dass das warten musste, denn jetzt würde er auf taube Ohren stoßen, was immer er auch vorbrachte. Der Zorn des Kapitäns musste erst einmal verrauchen. Morgen war ein neuer Tag, und damit eine neue Gelegenheit. In der Nacht rüttelte van Linschoten an seiner Schulter. »Robert, wach auf!« »Was?«, stammelte er, aus einem Traum gerissen, in dem er immer noch in Amsterdam weilte und seinen erfolgreichen Geschäften nachging. Nur mühsam fand er in die Realität.
»Ich habe über deine Worte nachgedacht. Sie sind einer eingehenderen Überlegung Wert.« Robert war gleichermaßen erstaunt wie erfreut. »Wie hast du dich zu dieser Einsicht durchgerungen?«, fragte er, immer noch schlaftrunken. »Ich erzähle dir alles, doch freue dich nicht zu früh. Ich bin mir noch keineswegs sicher, wie ich handeln werde. Ich habe Verpflichtungen gegenüber meinem Land.« Nach einer Sekunde des Schweigens fügte er hinzu: »Aber lass uns erst einmal nach draußen gehen. Die kühle Nachtluft wird den Schlaf aus deinen Gedanken vertreiben.« »Draußen ist kein guter Ort, über derlei Dinge zu reden«, widersprach Robert. »Niemandes Ohren sollten davon Kenntnis bekommen.« »Nahezu alle schlafen«, antwortete van Linschoten und verließ den Raum, ohne Robert die Gelegenheit zu geben, erneut zu widersprechen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Der Holländer stand an der Reling. Wind zerzauste sein Haar. Als Robert auf ihn zuging, merkte er, dass leichter Nieselregen fiel. Ein Schauer lief über seinen Rücken. Vielleicht wären ein paar weitere Stunden in der Koje doch besser gewesen … Die Aussicht auf ein Gespräch, das van Linschoten möglicherweise von seinen Plänen abhalten konnte, gab ihm allerdings Auftrieb. »Nun rede schon«, sagte er und stellte sich neben ihn an die Reling. In der Dunkelheit waren nur die weißen Schaumkronen der Wellen zu erahnen, das Wasser selbst konnte er nicht wahrnehmen, obwohl er sich nur wenige Meter über der Wasseroberfläche befand. »Es gibt im Grunde nur eines, das ich dir mitteilen will«, sagte van Linschoten, wirbelte plötzlich herum und stieß seine Hand vor. Robert sah etwas aufblitzen. Jeder Gedanke an Ausweichen oder gar Gegenwehr war lächerlich. Das Messer bohrte sich in seine Brust. Alles, was er wahrnahm, waren Schmerzen.
»Du hättest nicht mit dem Kapitän reden sollen«, zischte van Linschoten ihm zu. Hände griffen nach ihm und wuchteten ihn hoch. Sein Brustkorb stand in Flammen, und auch das eiskalte Wasser des offenen Meeres konnte dieses innere Feuer nicht löschen. Alles war so rasch gegangen, dass der Gedanke an den Schlüssel viel zu spät kam. Er konnte sich nicht vorbereiten, denn die notwendige Zeit fehlte. Der Weg nach Avalon, der Weg zurück ins Leben, war ihm deswegen verwehrt. Mit einem Messer bis zum Griff in seinem Brustkorb versank Robert deBlanc in den Fluten des unendlichen Ozeans.
Das Summen war melodisch und wirkte beruhigend. Die Schwärze wich, und die getragene Melodie spülte ihn aus der tiefen Nacht in das angenehme Halbdunkel. Es dauerte eine Zeit, bis er verstand, dass er den Tönen schon lange lauschte. Ob es Minuten, Stunde oder Tagen waren, wusste er nicht zu sagen. Einen Moment lang fühlte sich sein Herz seltsam taub an, und gleichzeitig ging eine alles verschlingende Leere von seinem Magen aus. Er schien im Nichts zu versinken, bodenlos zu fallen. Das war der Moment, in dem er seine Überlegung konsequent fortführte und sich fragte, ob er möglicherweise bereits Jahre zuhörte. Doch der Moment verging, und dann öffnete er endlich die Augen vollständig. Er konnte sehen. Nun, das war eigentlich nicht erwähnenswert, aber für jemanden, der tot war, stellte diese Erkenntnis etwas ganz und gar Erstaunliches dar. Denn es gab keinen Zweifel daran, dass Robert deBlanc tot war. Niemand erhielt einen Stich in den Brustkorb, niemand spürte, wie kalter Stahl sein Herz durchbohrte, niemand fiel danach in die
ewigen Fluten des Meeres und sank immer tiefer, während Wasser seine Lungen überflutete – niemand erlebte all dies und war danach nicht tot. Nicht einmal er. Nicht einmal Robert deBlanc. Und so fragte er sich, ob das Wesen ein Engel oder ein Dämon war. Kein Dämon, stellte er für sich selbst fest. Nichts, das so … schön war, konnte ein Dämon sein. Oder? Hieß es nicht, dass selbst LUZIFER sich in der Maske des reinen Engels näherte? Dennoch – kein Dämon. Also ein Engel. Doch wie konnte er, Robert deBlanc, nach seinem Tod einem Engel gegenüberstehen? Das war ebenso unmöglich. Nicht bei diesem Vater. Nicht bei dem, was er getan hatte. Andererseits waren seine Motive am Ende des Lebens … Die fruchtlosen Gedanken verloren sich, als das Wesen auf ihn zukam. Sich über ihn beugte. Kein Dämon, beschied er erneut. Allerdings auch kein Engel. Sondern, auch wenn es unmöglich war, ein Mensch. Eine Frau. Schwarze Haare streiften für einen Moment über seine Wangen. Ein Schauer ging von der Stelle aus, an der sie ihn berührten, und lief über seinen Rücken. »Du bist wach«, hörte er die Stimme. Weich war sie, weich und volltönend, und obwohl sie nicht sang, erkannte er, dass sie es war, die die Melodie geformt hatte, seit Minuten, Stunden, Tagen oder Jahren. »Ja«, wollte er sagen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Denn er beging einen Fehler. Die Freude darüber, wieder unter den Lebenden zu sein – war er das wirklich? – brachte ihn dazu, übermütig zu werden. Er wollte sich aufsetzen, doch die Bewegung war zuviel
für ihn. Die Schwärze kam zurück, und wieder versank er in ihr. Doch sie war nicht ganz so dunkel wie zuvor.
Als er erneut erwachte, plagten ihn derlei Zweifel nicht mehr. Ebensowenig wie eine körperliche Schwäche. »Wo bin ich?«, fragte er. Die Frau eilte heran. Und sie war sosehr Mensch, sosehr Frau, wie sie es nur sein konnte. »Wir fanden dich am Strand«, sagte sie, ohne auf seinen Wissensdurst einzugehen. »Alle hielten dich für tot, doch dann sah ich, dass Leben in dir steckte.« Robert spürte, dass etwas nicht stimmen konnte, doch er konnte nicht erfassen, worum es sich dabei handelte. Also verdrängte er dieses beunruhigende Gefühl in einen Winkel seiner Seele, wo es ihn nicht belästigen konnte. »Woher nahmst du das Wissen?« »Ich spürte es an deinem Hals«, sagte sie und legte Zeige- und Mittelfinger an seine Schlagader. Robert sah die Ebenmäßigkeit und schlanke Eleganz ihrer wunderbar dunkel gefärbten Hand. Die hellen Fingernägel leuchteten förmlich. Was war es nur, das hier nicht real war? »Dann transportierten wir dich hierher und ich beanspruchte dich, weil ich das Leben in dir entdeckte.« Robert verschlug es die Sprache, als er es erkannte. »Ich pflege dich seit sieben Tagen, und heute ist ein Tag der Freude, weil du zurückgekehrt bist!« Ihre Worte! Er konnte sie verstehen … Doch es gab keinen Zweifel daran, dass Robert diese Sprache nie zuvor in seinem Leben hörte. Was für ihn sinnlose Laute hätten sein müssen, fügte sich ohne jede Anstrengung zu Bedeutungen, Sätzen, Mitteilungen. Ehe er darüber nachdenken konnte, wurde die Tür – wurde das Gebilde aus Pflanzenfasern, die kunstvoll ineinander verschlungen waren, verbesserte er sich – beiseite geschoben. Die Geräusche, die mit den Menschen zusammen zu ihm drangen, ließen keinen Zweifel.
Er befand sich nahe am Meer. � Und er verstand einen Dialekt, den er eigentlich nicht verstehen � konnte. Alle, die herein kamen, waren dunkelhäutig. Mädchen und erwachsene Männer standen neben Greisen, älter, als Robert jemals zuvor einen Menschen gesehen hatte. Doch ihre Augen blickten wach. Mindestens sechs Menschen – Afrikaner, durchzuckte es ihn, ich bin in Afrika – redeten wild gestikulierend durcheinander, und alle berührten ihn. Ein muskulöser Mann packte ihn unter den Achseln und zwang seinen Oberkörper in die Senkrechte. Die leichte Decke, die über ihm gelegen hatte, rutschte nach unten. Er trug nichts am Leib, doch das störte ihn nicht einmal, als der Mann ihn auf die Füße zog und er nackt mitten im Zimmer stand. Denn etwas lenkte seine Gedanken ab. Seine Brust. Die Wunde war restlos verheilt. Nein, verbesserte er sich. Es schien, als sei sie nie vorhanden gewesen. Denn nicht einmal eine Narbe war zu sehen. Seine Hände fassten an die Stelle, die eine Woche nach einer so schwerwiegenden Verletzung noch furchtbar hätte schmerzen müssen. Die eine einzige, notdürftig verheilte Wunde hätte sein müssen. Nichts. Wieder kam er nicht zum Überlegen, denn mit einem Mal war er der Mittelpunkt eines Festes. Sie alle sangen, Männer, Frauen, Kinder, Junge, Alte. Wo kamen all die Gesichter her? Da erst wurde ihm bewusst, dass sie ihn aus der Hütte, in der er erwacht war, hinausgeschoben hatten. Man brachte ihm Früchte. Er biss zu, und der Saft berauschte ihn wie Wein. Seine Zunge brannte, und etwas rann an seinem Kinn herab. Seine Gedanken rasten. Irgendwann wurde ein Feuer angezündet, und sie tanzten. Als er
selbst mitmachen wollte, versuchte die Frau, die ihn gepflegt hatte, der Engel, ihn davon abzuhalten. »Du musst dich schonen«, sagte sie. Doch er schüttelte den Kopf, denn er fühlte sich stark. Er tanzte mit allen anderen, begrüßte das Leben, und die Fragen verschwanden, während die körperliche Kraft zunahm. Heute waren die Fragen nicht wichtig. Nicht heute, wo der Engel so nahe bei ihm war, wo er ihren Atem spürte, an seinem Gesicht, an seinem Hals. Wo das Feuer verschwand, wo alle anderen Gesichter plötzlich nicht mehr da waren, kein Himmel mehr, sondern das Bett, in dem er erwacht war. Nur das Bett und der Engel. Und ihr Atem. An seinem Hals. An seinem Mund. Überall.
Ihr wirklicher Name war für ihn unaussprechlich, und darum nannte er sie Boga. Das war das, was den ersten Silben ihres Namens am Nächsten kam. Sie fand sich bald damit ab, bereitete es ihr umgekehrt doch große Mühe, seinen Namen auszusprechen. Sie brauchte lange, das R am Anfang zu artikulieren. Beinahe einen Monat lang nannte sie ihn Kou-bert, und erst als er sich damit abfand, wurde es langsam besser. Von Monat zu Monat erschien sie ihm mehr wie ein Engel. Er konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Lieblicheres als sie gesehen zu haben. »Ich kenne nichts, das so schön ist wie du«, sagte er zu ihr, und sie lachte. Er konnte sich nicht sattsehen an diesem Lachen. Ihre Zähne leuchteten in herrlichem Weiß und strahlten förmlich aus dem dunklen Gesicht heraus. Wieder küsste er sie, und wieder war es, als sei es das erste Mal. So war es immer wieder aufs Neue. Als er ihre Brüste sah, fragte er sich, wieso es jedes Mal wie eine
Offenbarung war. Sie war wundervoll, und er wollte nie wieder weg von ihr. Mittlerweile kannte er jeden in dem kleinen Dorf. Und jeder kannte ihn. Vor allem die Kinder liebten ihn, denn sie wussten, dass es weiße Menschen gab, aber die meisten von ihnen hatten niemals zuvor einen gesehen. So war er für sie etwas Exotisches, wie alles um ihn herum für ihn exotisch war. Doch dieses Gefühl verging mit der Zeit. Als Robert zwei Jahre hier war, war es, als sei er nie woanders gewesen. Als habe es Amsterdam nie gegeben, keinen Trauthmann, keinen van Linschoten – und schon gar keinen Fürsten der Finsternis, dessen Sohn er war und der immer wieder sein Leben kreuzte. Damit war es nun vorbei. Denn hier war Robert abseits von allem, was für seinen Erzeuger wichtig war. Hier konnte er ein ruhiges Leben führen, unbehelligt von allem. Fast musste er lachen, wenn er daran dachte, wie sehr etwas derart Unwesentliches wie Geld sein Leben bestimmt hatte. Hier gab es kein Geld. Man brauchte es nicht. Man kannte es, aber es hatte seine verderbliche Macht noch nicht bis hierher ausgestreckt. Es störte das Leben, das wirkliche Leben, ungemein. Eines Tages kam eine andere Frau, eigentlich ein Mädchen von nicht mehr als achtzehn Jahren, zu ihm. Er wollte sie wegschicken, als Boga kam und ihn auffordernd ansah. Da erst, nach vier Jahren, begriff er, warum sie ihn manchmal so verwundert angesehen hatte. Sicher, er hatte es bei anderen beobachtet, aber aus irgendeinem Grund hatte er es nicht auf sich bezogen. Boga lachte ihr wundervolles Lachen und ging wieder. Robert wusste, was sie von ihm erwartete. Alles andere wäre für sie nicht normal gewesen. Also legte er seine Konventionen ab, und es fiel ihm schwerer als erwartet. Denn die ganze Zeit über sah er Bogas Gesicht vor sich. Das Mädchen verschwand nach einigen Stunden, und sie war glück-
lich. Doch Robert war erst wirklich zufrieden, als Boga zurückkam und er mit ihr reden konnte. Alles ging seinen gewohnten Gang. Robert war schon lange in die täglichen Arbeiten des Dorfes einbezogen. Er jagte, und er baute Hütten und Boote. Ein erstaunliches Geschick bewies er in der Fertigung von alltäglich benötigten Werkzeugen. Nach weiteren Jahren wurde Boga in zunehmendem Maße unruhig an seiner Seite. Er ahnte, warum. »Was ist mit dir?«, fragte er dennoch. »Nichts.« Sie fuhr mit den Händen, die Robert nach wie vor faszinierten, über seine Wangen. »Du denkst schon lange über etwas nach«, forderte er sie auf. »Ich weiß bis heute nicht, wie du überlebtest, damals.« Erschrocken senkte sie den Blick. Robert sah ihr an, dass sie es nicht hatte sagen wollen, aber von ihren Gefühlen überwältigt worden war. Er schwieg, denn er wusste, dass diese Frage nur die Spitze des Eisbergs war. »Es war kein Schiff zu sehen, nicht einmal in weiter Ferne. Du musstest seit Stunden oder Tagen im Meer gelegen haben.« »Ich …«, begann er, doch er kam nicht dazu, das zu sagen, was er sich seit vielen Monaten schon zurecht gelegt hatte. »Und jetzt sehe ich, dass die Farbe meiner Haare schwächer wird und dass mein Gesicht …« Er bedeutete ihr zu schweigen und nahm ihre rechte Hand in die seine. »Ich scheine nicht älter zu werden«, sagte er. Sie nickte, und eine Träne sammelte sich in ihrem Augenwinkel. »Im Gegensatz zu mir.« »Nimm es hin«, sagte Robert. Zu seinem Erstaunen tat sie genau das. Es war, als habe dieser Moment nie stattgefunden. Sie sprach nie mehr davon. Und niemals forderte sie ihn auf, ihr Kinder zu schenken, obwohl alle Frauen um sie herum schon mehrfach geboren hatten. Sie ist ein Engel, dachte Robert. Am nächsten Tag ging er wieder auf die Jagd.
So blieb alles beim Alten. Es war wundervoll. Zwei Jahrzehnte lang. Dann änderte sich alles. Es begann damit, dass Robert ein Geräusch hörte, das ihm fremd geworden war. Ein Pferd näherte sich dem Dorf. Darauf saß ein schwarzer Reiter. Robert zog sich in seine Hütte zurück, doch er hörte die Stimme des Reiters genau. Er wusste, wer gekommen war. Und sosehr er es auch zu verhindern versuchte, der Name, den der Reiter nannte, drang an seine Ohren. D'Assimo.
»Dafür habe ich dich nicht gerettet«, spottete d'Assimo. »Verschwinde von hier!« Robert unterdrückte mühsam den Impuls, den schwarzen Reiter anzugreifen. Natürlich hatte es keine Möglichkeit gegeben, eine Begegnung zu vermeiden, nachdem er erst einmal ins Dorf gekommen war, und deshalb hatte Robert es erst gar nicht versucht. Er sah sich um, und als er sicher war, dass niemand, nicht einmal Boga, ihn hören konnte, fügte er ärgerlich hinzu: »Ich habe nichts mehr mit dir zu schaffen, Fürst der Finsternis!« D'Assimo lachte. »Ob du dieser Meinung bist oder nicht, tut nichts zur Sache. Du bist mein Sohn, und deshalb werden wir immer aneinandergekettet sein!« Er verschränkte die Finger seiner muskulösen Hände ineinander. »Ich erkenne dich aber nicht als meinen Vater an!«, spuckte Robert aus. »Was kümmert es die Sonne, ob die Erde sie anerkennt?« D'Assimo näherte sein Gesicht dem Roberts. »Ich rettete dich und gab dir die Gabe, diese Menschen hier zu verstehen – und was machst du aus meinen Geschenken? Du hättest dich zu ihrem Herrscher aufschwingen können, und sie alle wären dir willige Diener gewesen. Aber nein! Stattdessen bist du träge geworden. Und deine Trägheit
machte alle Möglichkeiten zunichte!« »Sprich nicht von Möglichkeiten! Das alles hättest du getan, aber ich nicht! Denn was du denkst, ist mir gleichgültig! Deine Vorstellungen und Absichten sind für mich nicht wichtig!« »Doch, das sind sie, du willst es nur nicht sehen, mein Sohn.« Die selbstgefällige Arroganz d'Assimos machte Robert wütender als alles andere. »Ich bin nicht mehr dein Sohn, und jetzt verschwinde von hier! Ich habe mein Glück hier gefunden, und du wirst es mir nicht nehmen.« Roberts Augen funkelten den ungebetenen Gast an. Dieser zeigte sich von den Worten nicht beeindruckt. »Glück ist meist von kurzer Dauer«, sagte er und lächelte geheimnisvoll. Dann deutete er eine Verbeugung an, und soviel Hohn lag in dieser Bewegung, dass Robert mit den Zähnen knirschte. »Doch ich werde gehen, wenn du es wünschst«, fügte d'Assimo hinzu. »Ich glaube, ich habe meine Wünsche mehr als deutlich gemacht. Verschwinde aus meinem Leben und komm nie wieder zurück.« Robert verschränkte seine Arme und wandte d'Assimo demonstrativ den Rücken zu. »Doch bevor ich deiner Aufforderung entspreche, möchte ich dir noch etwas übergeben. Nimm es als ein Geschenk an.« Seine Hand griff unter seinen Umhang. »Das Geschenk eines Vaters an seinen Sohn«, fügte er unnötigerweise hinzu. »Was immer du dort unten versteckt hast, ich will es nicht.« »Er ist nicht so unerschöpflich wie derjenige, den einst dein Urgroßvater Romano besaß«, sagte der Fürst der Finsternis unbeeindruckt und legte einen Beutel auf den Tisch. Es klirrte in seinem Inneren, und Robert wusste sofort, worum es sich handelte. Er hatte in all den Jahren dieses Geräusch nicht vergessen. »Ich brauche deine Gold nicht!« »Denk doch nur daran, was du kaufen kannst. Und wenn schon nicht für dich, dann doch wenigstens für diese unbeutende Frau, die dein Denken bestimmt.« »Lass sie aus dem Spiel«, zischte Robert verärgert. »Nimm deine Klauen von ihr und …«
»Ich habe meine Hände hier, oder zweifelst du daran?« Demonstrativ hob er sie in die Höhe. Ohne ein weiteres Wort verließ er danach den Raum. Sekunden später ertönte wieder das Klappern der Pferdehufe, und d'Assimo war ebenso rasch verschwunden, wie er gekommen war. Doch Robert bezweifelte, dass sein Besuch nur eine Episode bleiben würde. Boga, sein Engel, trat ein. »Was wollte der Mann von dir?«, fragte sie. Dann sah sie den braunen Lederbeutel auf dem Tisch und nahm ihn prüfend in die Hand. »Was ist das?«, fragte sie. Robert wollte es ihr einem ersten Impuls folgend aus der Hand reißen, doch dann sagte er matt: »Ein Geschenk des Fremden.« »Ein Fremder? Es kam mir so vor, als würde er dich kennen«, sagte sie. »Ich kannte ihn früher einmal.« Robert nickte. »Doch er ist mir fremder geworden als jemals zuvor.« Boga öffnete den Beutel und blickte staunend auf die Goldmünzen.
Die Reise in die nächste größere Ansiedlung dauerte einen kompletten Tag. Sie waren zu viert unterwegs, und sie kauften vieles. Es gab dort eine kleine Handelsstation, die Waren beinahe jeder Art führte. Viele nützliche Dinge, die dem gesamten Dorf das Leben erleichtern würden. Werkzeuge, die außer ihm noch keiner der Einwohner gesehen hatte. Getrocknete Nahrungsmittel, die länger genießbar waren als alles, was sie kannten. Dennoch blickte Robert deBlanc unbehaglich auf die Menge der restlichen Münzen, denn er hatte nur ein Zehntel dessen ausgegeben, was d'Assimo zurück gelassen hatte. Es gefiel ihm nicht, dass die tägliche Arbeit und das Leben so vieler Menschen aufgrund eines Geschenks seines Erzeugers vereinfacht werden sollte. Denn der Fürst der Finsternis konnte nichts Gutes hinterlassen. Oder war es doch möglich, etwas Gutes daraus zu machen?
Doch während er sich noch fragte, ob er den Beutel mitsamt dem Inhalt nicht mit auf ein Boot hätte nehmen und ins Meer werfen sollen, kam das Unheil von ganz anderer Stelle. Sie passierten das Nachbardorf. Von hier waren es nur noch wenige Minuten nach Hause. Ein Junge rannte aufgeregt auf sie zu. »Kobert«, rief er. Wie allen Einwohnern fiel es auch ihm nach all den Jahren immer noch schwer, seinen Namen auszusprechen. Er kannte den Jungen seit seiner Geburt. »Was gibt es denn?«, rief er fröhlich, doch ein Blick in sein Gesicht ließ ihn schlagartig verstummen. »Komm schnell«, rief der Junge, »sie ist krank!« Robert begann zu rennen, ließ seine Begleiter und die Waren zurück, kümmerte sich nicht um die Münzen. Der Junge konnte nur eine meinen. Atemlos kam er bei seiner Geliebten an. »Bora!«, rief er. »Ich bin hier!« Sie sah ihn an, und ihre wunderschönen Augen glänzten im Fieber. Sie streckte ihm die rechte Hand entgegen. Robert ergriff sie, obwohl er sah, dass sich ein großer, hässlicher Fleck darauf abzeichnete. Das Weiß ihrer Fingernägel war stumpf geworden. »Ich bin ja da«, sagte er tonlos, während das Grauen ihm den Magen zuschnürte, denn er erkannte sofort, woran sein Engel erkrankt war. »Ich freue mich«, sagte sie, und ein Hustenkrampf trieb ihr Tränen in die Augen. »Ich freue mich so.« »Ich werde dich gesund pflegen«, sagte er. Doch er wusste, dass er log. Denn weder er noch sie hatten irgendeine Möglichkeit, die Pest zu besiegen.
Als er wusste, dass er weit genug vom Dorf entfernt war, so dass niemand ihn hören konnte, schrie er. »D'Assimo!« Wütend brüllte er den verhassten Namen. Und, ob-
wohl er nie gedacht hätte, dieses Wort in den Mund zu nehmen: »Vater!« Doch er erhielt keine Antwort. Wie hätte es auch anders sein können? Obwohl Robert keinen Beweis dafür hatte, stand es für ihn fest, dass Bora nicht zufällig nur wenige Tage nach dem Besuch des schwarzen Reiters erkrankt war. »Was willst du?«, schrie er in die Nacht hinaus, in der niemand ihn hörte und niemand ihm antworten konnte. »Lass sie in Frieden!« Hatte er diese Worte nicht auch d'Assimo gegenüber gebraucht? Und hatte er ihm damit gezeigt, wie wichtig sie ihm war? War alles seine eigene Schuld? Er trat gegen einen Baum, und er hob einen Ast auf, den er wieder und wieder gegen den Stamm schlug, bis er nur noch einen zerbrochenen und zersplitterten Rest in den Händen hielt. Dann, endlich, ging er zurück ins Dorf. Zurück in die Hütte, in der sein Schicksal auf ihn wartete. Bora ging es schlecht. Ihr Körper glühte vor innerer Hitze, und sie fand keine Position, die sie einnehmen konnte, ohne dass Schmerzen sie marterten. Robert brachte ihr klares Wasser, das einzige, das sie zu sich nehmen konnte, ohne sich zu übergeben. Es bereitete ihm unsägliche Pein, sie schwächer und schwächer werden zu sehen. Er legte ihr die Hand auf die Wangen, als sie schrie, und er legte sich neben sie, als sie fror. Zitternd schlief sie in seinen Armen ein, während er an die Decke starrte und sein Herz zu Eis wurde. Am Tag, als sie endlich starb – denn Robert hatte es an ihren Augen gesehen, dass sie nicht mehr leben und die Schmerzen ertragen wollte; und nur er war es gewesen, der sie nicht gehen lassen wollte – kam der Junge auf ihn zu, der ihm die schlechte Nachricht überbracht hatte. Robert hatte sich bereits gefragt, wann es soweit sein würde. Der Junge konnte sich nur mit äußerster Mühe aufrecht halten. »Ich – ich bin so schwach«, sagte er. Seine Augen glänzten. »Was
wird aus mir?« Er hob seinen Arm und drehte ihn, so dass Robert auf die Unterseite sehen konnte. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, denn die Pest verbreitete sich rasch. Bald waren alle um ihn herum krank. Nur er nicht. Von Tag zu Tag starben Menschen um ihn herum, und als irgendjemand im Dorf sagte: »Warum bekommt er es nicht?«, da verbreitete sich diese Frage wie ein Lauffeuer. Als die Hälfte des Dorfes tot war, und Robert nicht mehr mit dem Begraben der Toten nachkam, fiel zum ersten Mal das Wort »Schamane«. Als nur noch wenige lebten, kamen Abgesandte aus den Nachbardörfern und bezichtigten ihn, mit dem Teufel im Bund zu stehen und das ganze Unheil erst heraufbeschworen zu haben. Die Worte, die er zu seiner Verteidigung vorbrachte, waren mehr als schwach. Denn wenn er die Augen schloss, sah er ein Pferd vor sich, und darauf einen schwarzen Reiter. »Sie brauchen mich!«, rief er und deutete auf die wenigen Überlebenden, die zu schwach waren, sich selbst zu versorgen. »Wir erledigen das«, stellten die Abgesandten klar. So viel Aggressivität lag in ihren Stimmen, dass Robert sich umwandte und floh. Denn er wollte nicht kämpfen. Im Nachbardorf erkannte man ihn schon von weitem und verwehrte ihm den Zutritt. Also lief er weiter. Weiter, immer weiter. Als er die Nähe der kleinen Handelsstadt erreicht hatte, in der er die ersten Goldmünzen ausgegeben hatte, starrte er sinnierend auf das Meer. Wellen brandeten heran. Die letzten schwachen Ausläufer überspülten seine Füße. Das Meer lockte ihn. Denn in wenigen Minuten konnte er einen Hafen erreichen …
Zeige-, Mittelfinger und Daumen bildeten abermals ein Dreieck. Ich sah darin, wie Robert deBlanc das Schiff bestieg, das ihn zurück in die »zivilisierte Welt« brachte. Ich lächelte zufrieden. Es war höchste Zeit geworden, denn ich hätte es nicht länger mit ansehen können, wie mein Sohn träge geworden sein Dasein fristete. Mein kleiner Besuch hat Wunder gewirkt, dachte ich süffisant, und, nunja, mit etwas … »Mit etwas Schwund muss man rechnen, nicht wahr?«, fragte in diesem Moment die mir nur allzu bekannte Stimme. »Merlin!«, rief ich überrascht. »Hast du dir wirklich gut überlegt, was du da tust, dunkler Bruder?« Merlins Augen musterten mich, und wie immer schien ihnen nicht das kleinste und noch so gut verborgene Detail zu entgehen. »Nicht einmal du vermagst mir auf den Grund meiner Seele zu sehen«, winkte ich ab. »Und um auf deine Frage zu antworten: Bedenke, dass ich mit Robert noch lange nicht fertig bin. Die Entwicklung meines Sohnes wird noch einen langen Zeitraum in Anspruch nehmen.« »Du bist also entschlossen, ihn die sieben Lektionen zu lehren, was es auch kosten mag?« Merlin trat einen Schritt näher. Ich konnte seinen Atem spüren. »Du bist wie immer gut informiert.« »War es je anders? Und fragst du dich nicht manchmal, ob ich aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Informationen nicht die bessere Entscheidung getroffen habe?« Ich verzog mein Gesicht. »Immer wieder das alte Thema, mein Bruder?« Ich schüttelte den Kopf. »Es scheint mir eher so zu sein, dass du derjenige bist, der seinen Weg anzweifelt!« »Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu streiten. Vielleicht wird eines Tages der Zeitpunkt kommen, doch heute ist es nicht.« »Du solltest keine großen Pläne schmieden, Merlin«, sagte ich herablassend. »Es ist noch nicht lange her, da hattest du große Pläne mit diesem jämmerlichen Artus und seiner zweiten Tafelrunde.«
Merlin zog tief die Luft ein. »Du kannst es nicht anders, nicht wahr? Wenn du die Möglichkeit siehst, zu verletzen, dann tust du es. Doch meine Pläne sind noch lange nicht vorbei. Glaube mir, die dritte Tafelrunde wird kommen, und sie wird die Entscheidung bringen.« »Siehst du«, meinte ich, »du denkst langfristig, und es wird dich freuen, dass ich dir darin nacheifere. Auch ich denke langfristig, was Robert betrifft. Er muss einiges lernen, und die Schule, die ich ihm bereite, ist nicht leicht.« »Und was ist das Ziel deiner Bemühungen?«, spottete Merlin. »Ihn nach deinem Ebenbild zu formen?« Ich grinste. »Für gutes Personal finde ich immer Verwendung … Außerdem ist seit deinem Abgang ja immer noch ein Plätzchen frei …«
4. Wollust � 1618, � während anderswo der Dämon des Krieges zu toben begann � Die ungewöhnlich zarten Finger umfassten den Henkel der feinen Kanne. Der weibisch anmutende Mann goss die beiden Tassen voll. Die goldgelbe Flüssigkeit dampfte. »Zucker?« »Tee zu trinken ist eine ungewöhnliche Angewohnheit hierzulande«, meinte Robert deNoir. »Ich habe sie aus England mit hierher nach Amsterdam gebracht«, antwortete David Jan Reyersz. »Zucker?«, wiederholte er dann. »Wer könnte zu einer solch erlesenen Köstlichkeit nein sagen?« Während er zusah, wie sich der Zuckerkristall langsam im heißen Tee auflöste, kostete Robert seinen Triumph aus. Er hatte es geschafft. Er saß einem der einflussreichsten Geschäftsmänner Amsterdams gegenüber, obwohl er nichts vorweisen konnte außer seinem Wissen. »Robert deNoir«, sprach Reyersz den Namen sinnierend aus. »Woher kenne ich den Namen nur? Ich habe ihn schon einmal gehört, da bin ich mir sicher.« Robert hatte sich auf dem Schiff, das ihn von Afrika hierher brachte, entschlossen, diesen Namen wieder anzunehmen. Es war hundert Jahre her, dass er ihn zuletzt führte. Niemand konnte auf die Idee kommen, einen Zusammenhang zu sehen. »Oh, dasselbe sagten schon einige zu mir, die sich wirklich auskennen.« »So?«, meinte der Geschäftsmann geschmeichelt und fuhr sich durch sein feines Haar. »Nur diejenigen, die wissen, dass man von den Vorbildern der Geschichte lernen kann und einige Stadien hinter sich haben, kennen einen Mann mit Namen Robert deNoir. Er tätigte seine Geschäfte
vor hundert Jahren in Orleans.« »Aber natürlich«, sagte David Jan Reyersz und tat so, als erinnere er sich. Dabei war sich Robert sicher, dass diese windige Gestalt ihm gegenüber sich einen Dreck um die Vergangenheit scherte. Er war reich, doch er war es nicht aufgrund eigener Fähigkeiten, sondern weil seine Eltern ihm ein Imperium hinterlassen hatten, das er nicht schnell genug zugrunde richten konnte, um Zeit seines erbärmlichen Lebens arm zu werden. »Doch wir beide kennen ihn«, sagte Robert listig, »und das ist ein guter Ausgangspunkt für eine lange und fruchtbare Geschäftsbeziehung.« Ein gieriges Glitzern trat in Reyersz' Augen. »Obwohl ich gestehen muss, dass Ihr mir überaus sympathisch seid, Robert – ich darf doch Robert zu Euch sagen? – bin ich doch ein wenig verwundert. Ihr taucht vor zwei Tagen aus dem Nichts auf, und schon sitzt Ihr hier an meinem Tisch. Was übrigens nicht der Fall wäre, wenn Ihr nicht einige überaus kluge bemerkenswerte Bemerkungen hättet fallen lassen.« Er lachte gekünstelt, »Bemerkenswerte Bemerkungen. Nein so etwas! Herrlich, nicht wahr?« Robert fragte sich, wie lange Reyersz an diesem sehr schwachen Scherz gearbeitet hatte, doch er lachte pflichtschuldig und brachte das Gespräch auf ein anderes Thema, das ihn brennend interessierte. »Alles, was Ihr wissen müsst, könnt Ihr später erfahren, David.« Ihm rann ein Schauer über den Rücken, als er den Namen aussprach. Doch der Erfolg gab ihm Recht, denn die Lippen seines Gegenübers verzogen sich zu einem Lächeln, das ihm bei einer Frau durchaus gefallen hätte. »Erzählt mir zuerst von van Linschoten.« »Pah, was interessiert Ihr Euch für den?« Reyersz verzog angewidert das Gesicht. »Ich hörte viel von ihm«, deutete Robert an. Tatsächlich war ihm bald nach seiner Ankunft zu seiner Überraschung zu Ohren gekommen, dass van Linschoten noch lebte und offenbar zu großem Reichtum gekommen war. »Sein ganzer Erfolg gründet sich darauf, dass der Rat der Siebzehn ihn protegierte.«
Etwas, das dir verwehrt geblieben ist, dachte Robert. Laut sagte er: »Warum?«, obwohl er es bereits ahnte. »Vor zwanzig Jahren brachte er geheime Seerouten aus Portugal.« Robert schloss kurz die Augen. Van Linschoten hatte es also tatsächlich geschafft. Nur das konnte auch erklären, wieso das portugiesische Seereich in Bedeutungslosigkeit versunken und Holland zur Weltmacht aufgestiegen war, während Robert in Afrika (»bei meinem Engel«, durchzuckte es ihn, und es tat furchtbar weh) weilte. Schon auf der Reise hierher war immer deutlicher geworden, dass Amsterdam zur wichtigsten Stadt der Welt aufgestiegen war. »Er wurde dafür reich belohnt und konnte seinen Reichtum während des Tulpenwahns vertausendfachen«, fuhr David Jan Reyersz fort. »Doch reden wir nicht von ihm.« »Es tut mir Leid«, meinte Robert. »Bevor wir nähere Einzelheiten unseres Geschäftes besprechen …« »Von dem ich übrigens immer noch nicht einmal weiß, worum es sich handeln soll!« »… muss ich van Linschoten aufsuchen.« Robert erhob sich, wie unter einem inneren Zwang. »Ihr werdet das Geschäft doch nicht mit diesem Bastard machen wollen, Robert!« Reyers schien wirklich erbost zu sein. Es sah beinahe amüsant aus, wie die Zornesader in seinem fein geschnittenen Gesicht anschwoll. »Keinesfalls«, beruhigte ihn Robert. »Ich habe lediglich eine alte Rechnung mit ihm offen, das ist alles.«
»Ich kann Euch nicht durchlassen.« Der breitschultrige Diener sah nicht so aus, als würde er eine Ausnahme machen, nur weil ein ihm vollkommen unbekannter Mann vor der Tür stand, der sich darüber hinaus mit dem vollkommen unbekannten Namen Robert deNoir vorgestellt hatte. »Ich versichere Ihm, dass van Linschoten mich sehen möchte, wenn er nur wüsste, dass ich hier bin.« Robert wurde leicht ärgerlich, denn er hatte keine Lust auf langwierige und fruchtlose Diskus-
sionen. »Das bezweifle ich«, wurde ihm rigoros geantwortet. Der Diener schloss das kleine Sichtfensterchen. »Ich habe genaue Anweisungen«, sagte er noch dabei. »Er wird sehr erbost sein, wenn er erfährt, dass ich nicht eingelassen wurde«, rief Robert durch die geschlossene Tür. »Sein Betragen wird Ihm gar nicht gut bekommen!« Ärgerlich wandte er sich um und machte sich auf eine lange Wartezeit gefasst, bis van Linschoten wieder das Haus verließ und er ihm dann auf der Straße gegenübertreten konnte. Wofür hielt sich dieser Bastard – das Wort Reyersz' befand er mit einem Mal für äußerst passend –, dass er sich abschirmen ließ wie ein Mitglied der Stadtherrschaft? Doch hinter ihm quietschte es leise, als er die wenigen Treppenstufen herab ging, die zurück zur Straße führten. Er drehte sich erneut um und fand das Fensterchen geöffnet. »Ich werde fragen«, sagte der Diener mit zerknirschtem Gesicht und verletztem Stolz. »Wartet hier.« »Sage Er van Linschoten, ich hätte Nachricht von Robert deBlanc«, sagte Robert deNoir und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er war sich sicher, dass er in wenigen Minuten van Linschoten gegenüberstehen würde. Dem Mann, der für einige Tage sein Gönner und so etwas wie sein Freund gewesen war. Dem Mann, der ihm dann ein Messer in die Brust gestoßen und ihn so plötzlich getötet hatte, dass jeder Versuch, nach Avalon zu gehen, vergeblich gewesen war. Tatsächlich ging es schneller als erwartet. Robert hörte hastige Schritte die Stufen hinter der geschlossenen Tür herabeilen. Ein Schlüssel drehte sich, und dann bat der Diener ihn herein. »Sie werden erwartet«, sagte er indigniert. Robert sah Prunk um sich herum, der jenen im Haus des David Jan Reyersz noch übertraf. Mit kundigem Auge erkannte er, dass einige der geschliffenen Kristalle in dem protzigen Kronleuchter zweifelsohne wertvoll waren. »Hier herein bitte«, sagte der Diener, und Robert nahm auf einem Stuhl aus edelstem Holz Platz, dessen Sitzfläche mit teurem dunkel-
rotem Samt überzogen und dessen Lehne mit aufwändigen Schnitzereien verziert war. Gib mir noch eine Robe und ein Zepter, und ich bin ein König, dachte er. Sekunden später öffnete sich die Tür des Raumes erneut. Jan Huygen van Linschoten trat ein. Robert erkannte ihn sofort wieder. Natürlich war er älter geworden, sein Haar war grauer und lichter als damals. Aber Robert hätte diese Gesichtszüge überall erkannt. Selbst ein Mann wie er stand nicht jedem Tag seinem Mörder gegenüber. »Ihr sagtet, Ihr hättet eine Nachricht für mich …«, sagte van Linschoten und trat näher heran. Jetzt erst wandte Robert ihm voll das Gesicht zu. »Ich grüße dich, Jan Huygen«, sagte er kühl. Der Holländer erstarrte. »Das – das ist doch …« Alle Farbe wich urplötzlich aus seinem Gesicht. »Du bist …« »Ich bin nicht tot«, stellte Robert das Offensichtliche fest. »Aber …«, ihm verschlug es im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache. »Du siehst aus wie damals, und …« »Vergiss alles, was dir durch den Kopf schießt«, sagte Robert mitleidslos. »Ich bin weder Robert deBlancs Sohn noch sein jüngerer Bruder noch sonst irgendjemand.« Er erhob sich. »Ich bin genau derjenige, dem du das Messer in die Brust gestoßen hast!« »Selbst wenn du überlebt hättest, wärst du alt!« Van Linschoten wich vor ihm zurück wie vor einem Dämon. Genau das musste er in seinen Augen auch sein. Ein lebender Toter, aus dem nassen Grab zurückgekehrt nach all den Jahren, um seine Rache zu vollziehen. »Doch ich bin jung, genau wie damals. Damals, als du den Grundstock legtest für dein Vermögen, das auf Verrat und Intrige basiert!« Robert gefiel sich in der Rolle des Richters. Van Linschoten wirbelte erstaunlich rasch herum. »Wie kommst du aus meinen dunklen Nachtträumen hierher?«, hauchte er. Grauen schüttelte ihn. Er legte die zwei Schritte zu der Tür zurück und riss sie auf. »Wache!«, rief er.
Robert zuckte zusammen. Das konnte unangenehm werden. Er hatte nicht damit gerechnet, dass van Linschoten so rasch Gegenmaßnahmen traf. Doch sein letzter Satz gab ihm zu denken. Offenbar war der Geschäftsmann die Erinnerung an ihn und an den Mord, den er begangen hatte, nie losgeworden. Rasch eilten zwei bewaffnete Männer herbei. Sie stürmten in den Raum und stellten sich schützend vor ihren Herren, sichtlich verwirrt darüber, ihn nicht bedroht vorzufinden. Der Gast im Raum schien harmlos zu sein. Plötzlich sahen sich die beiden Wachen mit weit aufgerissenen Augen an. Ihre Pupillen verschleierten sich für einen unmerklich kurzen Moment. Beide Männer durchlief ein Zittern, dann traten sie plötzlich auf Robert zu und – schützten ihn mit ihrem Körper. »Was ist geschehen, Herr?«, fragte einer von ihnen. Van Linschoten starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Haltet diesen Mann in Schach!«, befahl er ihnen. Sie zeigten keinerlei Reaktion. »Sollen wir diesen Mann von hier entfernen?« Er wandte leicht den Blick und sah Robert fragend an. Jetzt registrierte Robert, was geschehen war. Was das seltsame Verhalten der Wachen erklärte. »Kennt ihr diesen Mann?«, fragte er. »Es ist van Linschoten, Euer Gegenspieler.« Der Wächter schien sich über diese Frage zu wundern. »Was soll das heißen?« Van Linschoten war völlig außer sich. Die Wachen entspannten sich merklich. Sie hatten wohl verstanden, dass keinerlei körperliche Auseinandersetzung bevorstand. Der alte van Linschoten wäre auch kein ernst zu nehmender Gegner für sie gewesen. »Ihr dürft euch entfernen«, sagte Robert gönnerhaft. Er hatte sich blitzschnell auf die neue Situation eingestellt. Die Wachen sahen in ihm ihren Herren … »Ich komme schon alleine zurecht.« Sie taten, wie ihnen geheißen wurde. »Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu«, sagte van Linschoten fassungslos. »Was ist geschehen?« Doch darauf hatte Robert keine Antwort.
»Du wirst dich damit abfinden, dass ich wieder hier bin und dass sich die Dinge geändert haben.« Robert deutete auf einen Stuhl. »Du bist ein Hexer«, stammelte der Holländer. »Du stehst mit dem Teufel im Bunde.« »Warum sagen das nur immer alle«, fluchte Robert deNoir, der Sohn des Teufels, der kein Sohn des Teufels sein wollte. »Es ist unmöglich, dass du noch lebst. Unmöglich, dass du nicht gealtert bist.« »Du gebrauchst starke Worte, mein alter Freund und Mörder«, sagte Robert. »Doch ist das, was du sagst, denn unwahrscheinlicher als das, was du vor wenigen Minuten mit eigenen Augen gesehen hast?« »Du hast meine Wachen bestochen. Was hast du ihnen angeboten? Wie viel Geld war nötig, um sie zu diesem verfluchten Schauspiel zu bringen?« »Du suchst nach Erklärungen, wo es keine gibt!« Er wies auf sein Gesicht. »Sieh mich an! Ich habe deine Wächter nie zuvor gesehen, nicht einmal an sie gedacht, als ich hierher kam.« Was ein Fehler gewesen war. Dieser Leichtsinn hätte ihn in starke Bedrängnis bringen können. »Ich glaube dir nicht! Du willst mich in den Wahnsinn treiben, wegen dem, was ich dir antat.« Van Linschotens Welt war aus den Fugen geraten. »Ein Gedanke, der es wert wäre, näher darüber nachzudenken«, beschied Robert und dachte an das Messer in seiner Brust, »aber du täuschst dich. Nenne mir die Namen einiger deiner Geschäftspartner.« Als er sie erfahren hatte, öffnete er die Tür und rief einige Boten zu sich. Er trug ihnen auf, diese Geschäftspartner hierher zu bringen. »Was hast du vor?«, fragte van Linschoten. »Wenn sie erst einmal hier sind, wird dein verrücktes Theater auffliegen. Sie können keinen Grund haben, mitzuspielen. Meine Wächter magst du bestochen haben, doch sie haben das bisschen Geld, das du möglicherweise
aufbringen kannst, nicht nötig.« »Du klammerst dich an das, was dir als die wirkliche Welt erscheint, und bist nicht bereit, zu akzeptieren, was du erlebst. Ist es dir denn nicht Beweis genug, dass ich lebend vor dir stehe?« »Wir werden sehen«, flüsterte van Linschoten. »Wenn sie erst einmal hier sind, dann entlarven sie dich als den Scharlatan, der du bist.« Das war wirklich nicht vollständig auszuschließen. Robert wusste nicht mit absoluter Sicherheit, wie die Geschäftspartner reagieren würden. Erstreckte sich der eigenartige Zauber auch auf sie? Sorgte sein Erzeuger, denn niemand anders als er konnte dafür verantwortlich sein, umfassend dafür, dass er van Linschotens Rolle übernehmen konnte? Und was sollte er mit dem Mann tun, der ihn vor zwanzig Jahren tötete … oder getötet hätte, wenn der Fürst der Finsternis nicht zur Stelle gewesen wäre? Diese Frage stellte sich Robert, seit er im Haus Reyersz' von dem eigenartigen Drang erfüllt worden war, hierher zu kommen. Er wurde wenig später aus seinen Gedanken gerissen. Zwei der Herbeigerufenen kamen gleichzeitig. »Ihr wünschtet uns zu sprechen, deNoir?«, fragte ein unauffälliger gut gekleideter Mann, der etwa 40 Jahre alt war, und zog seinen Hut. »Ich – rief euch hierher«, sagte van Linschoten. Die Stirn des Geschäftsmanns legte sich in Falten. »Wer seid ihr?«, fragte er verwundert. »Klärt uns doch über Euren Gast auf, deNoir.« Gehetzt blickte van Linschoten sich um. »Was soll das?« Er rüttelte den zweiten Eingetretenen an der Schulter. »Ich weiß alles über unsere Geschäfte!« Schweißperlen standen auf seine Stirn. »Entweder lügt Ihr«, sagte der Angesprochene und schob die Hand van Linschotens von sich, »oder unser guter deNoir gibt zu viele Geschäftsgeheimnisse Preis.« Er lachte kurz. »Was ich mir nach zwanzig Jahren erfolgreicher Zusammenarbeit allerdings nicht vorstellen kann.« Van Linschoten schrie auf und wich in eine Zimmerecke zurück. »Weicht von mir!«, rief er. »Welche Dämonen hast du auf mich ge-
hetzt, Robert?«, sagte er klagend. Doch ehe er eine Antwort erhalten konnte, eilte er unvermittelt zu dem breiten Fenster und öffnete einen der Flügel. »Ihr bekommt mich nicht!«, rief er. »Ich bin schuldig geworden, aber die Dämonen werden mich nicht in ihre Krallen bekommen!« Robert versuchte es zu verhindern, doch van Linschoten war schneller. Wieder einmal. Er stürzte sich aus dem Fenster. Kein Schrei ertönte, doch Robert vermeinte, einen Aufprall zu hören. Als er Sekunden später nach unten sah, erschrak er darüber, wie hoch das Fenster lag. Einen Sturz aus dieser Höhe zu überleben, war unmöglich. Er sah verrenkte Glieder und eine sich ausbreitende Blutlache um van Linschotens Kopf. »Wer war das, deNoir?«, fragte der gut gekleidete Geschäftspartner sichtlich schockiert über die Szene, deren Zeuge er geworden war. »Ein sehr alter Bekannter.« Robert fielen die Worte schwer. »Er war nicht mehr richtig im Kopf, seit er einmal einen großen Fehler beging«, fuhr er fort. »Du kannst froh sein, dass wir hier waren. Wir werden bestätigen, dass er sich selbst tötete.« »Es tut mir Leid um ihn.« Robert schüttelte leicht den Kopf. »Er hat ein solches Ende nicht verdient.« Trotz der Klinge, die vor zwanzig Jahren mein Herz entzwei schnitt.
In den folgenden Wochen und Monaten bereitete es Robert einige Mühe, die Geschäfte van Linschotens zu übernehmen und fortzuführen. Denn im Gegensatz zu den Geschäftspartnern, die der festen Überzeugung waren, schon lange mit ihm, mit Robert deNoir, zusammenzuarbeiten, wusste er umgekehrt nichts über sie. Es war sein Glück, dass van Linschoten ein sehr ordnungslieben-
der Mensch gewesen war. Über jede Münze, die er eingenommen und ausgegeben hatte, fand sich Rechenschaft in seinen Büchern. Jeden Handel und jedes Geschäft konnte Robert nachvollziehen. Er lebte sich ein, und er genoss das Privatvermögen, das van Linschoten in Form von Goldmünzen in einem mehrfach gesicherten Raum seines Hauses aufbewahrt hatte. Goldmünzen … immer wieder schienen sie in seinem Leben eine herausragende Rolle zu spielen. Der Gedanke an den schwarzen Reiter d'Assimo, der sich ihm notgedrungen aufdrängte, beunruhigte ihn zutiefst, denn er führte ihm vor Augen, wer letztendlich für seine neue herausragende Stellung verantwortlich war. Doch obwohl es ihm nicht gefiel, sein neues Leben auf einem Zauber seines Erzeugers aufzubauen, genoss er die Möglichkeiten, die es ihm bot. Die Regierung Amsterdams, der Rat der Siebzehn, pries ihn als denjenigen, der ihrer Stadt zu gewaltigem Ruhm verholfen und sie zum bedeutendsten Handelszentrum der Welt gemacht hatte. Ein Ruhm, der van Linschoten zustand, und der auf genau dem Verrat basierte, den Robert hatte verhindern wollen und der ihn beinahe getötet hatte. Eine Ironie sondergleichen. Und sie war eng verknüpft mit einem Gedanken, der Robert seit vielen Jahren umtrieb. Was war damals wirklich geschehen? War er … tot gewesen? Hatte der Messerstich sein Leben geraubt? Er wusste, er hatte den Schlüssel nicht mehr anwenden können, war also nicht auf der Feeninsel Avalon gewesen. Was hatte sein Erzeuger getan? Ihn im letzten Augenblick gerettet – oder ihn ins Leben zurückgeholt, nachdem er gestorben war? Wie lange konnte er nach van Linschotens Angriff noch gelebt haben? Sekunden oder Minuten? Er hatte noch das eiskalte Wasser gespürt, wie es in seinen Mund eindrang … Und wie stets, wenn er in diese Grübeleien versunken war, sah er Boga vor sich, seinen Engel, mit dem er zwanzig Jahre seines Lebens geteilt hatte.
Von Jahr zu Jahr wurde Robert im Folgenden unruhiger. Das Leben in Amsterdam und seine Geschäfte forderten ihn nicht mehr heraus, verlangten ihm nicht mehr das Äußerste ab. Ihm fehlte der Reiz des Neuen. Und mit einem Mal musste er sich widerwillig eingestehen, dass d'Assimo etwas Wahres gesagt hatte, damals, bevor die Pest gekommen war. Denn das Leben in Amsterdam machte ihn träge. Und die Trägheit nahm die Würze aus seinem Leben. Wochenlang suchte er, ohne zu wissen, wonach er suchte. Er irrte durch die Straßen Amsterdams und fand keine Ruhe. Wenn er nach Stunden des Umherwanderns müde war, sehnte er sich nach seinem Bett, doch kaum war er zuhause, fühlte er sich eingeengt und spürte das Verlangen nach Dingen, die er nicht benennen konnte. Dann sagte eines Tages einer seiner Geschäftspartner etwas, das ihn aufhorchen ließ. »Sie werden die Ostküste Amerikas besiedeln, deNoir. Man hört von großen geschäftlichen Möglichkeiten, vor allem der Pelzhandel ist in aller Munde. Ich denke, wir sollten in das Unternehmen investieren. Das Land dort bietet Möglichkeiten, die viele Menschen anziehen werden. Neu-Amsterdam wird …« Den Rest hörte Robert schon nicht mehr. Er dachte über die Besiedelung neuen Landes nach. Über eine abenteuerliche Überfahrt, die Errichtung einer Siedlung, die Urbarmachung neuen Landes, tausende Gefahren, denen er gegenüber stehen konnte … »Das verspricht ein rechtes Abenteuer zu werden«, sagte er und unterbrach damit den Redeschwall seines Partners. Dieser sah ihn verwirrt an. »Was redest du da?« Doch da war es für Robert deNoir bereits beschlossene Sache. Wenige Wochen später stand fest, dass er in Kürze als der kaufmännisch Verantwortliche des gesamten Unternehmens unterwegs nach Amerika sein würde. Mehrere hundert Männer, Frauen und Kinder reisten in etlichen Schiffen an die unbekannte Küste Amerikas. Robert als Oberkaufmann stand dabei noch über dem Kapitän der Flotte. Eine Position, die ihm angemessen war, wie er fand. »Ich
bin ganz oben, und dort gefällt es mir«, sagte er. Da er wusste, dass er voraussichtlich mehrere Jahre, wenn nicht Jahrzehnte unterwegs sein würde, überschrieb er sein komplettes Vermögen für den Fall seines Todes einem gewissen Robert deDigue – der Existenz, in die er nach seiner Rückkehr schlüpfen wollte. Erst als die Schiffe aus dem Hafen ausliefen, kam er wirklich zu innerer Ruhe. Endlich war es soweit. Er wusste nicht, was ihn erwartete. Wie sehr hatte er dieses Gefühl vermisst. Er unterstützte den Kapitän dabei, seine Männer mit eiserner Hand zu führen, denn die Überfahrt dauerte ein Vierteljahr und barg zahlreiche Gefahren, die nur durch strenge Disziplin und erbarmungslose Arbeit gemeistert werden konnten. Alles in allem war Robert glücklich. Doch auf den Piratenangriff hätte er verzichten können. Als die Klinge auf ihn zuraste, sah er einen irrsinnigen Moment lang, wie sie in seinen Brustkorb drang. Die Dinge wiederholten sich. Er sah, wie sein Herz durchbohrt wurde und er von der Piratengestalt über Bord gewoffen wurde, und wie er starb – nur war diesmal kein Fürst der Finsternis zur Stelle, um ihn zu retten. Doch der Moment konnte nicht länger gedauert haben als ein Lidschlag, denn all das geschah nicht. Roberts Tritt erwischte die Messerhand, bevor er verletzt werden konnte. Der Dolch flog zur Seite, und sowohl Robert als auch sein Gegner hechteten darauf zu. Robert war schneller. Und der Pirat erlitt das Schicksal, das er Robert zugedacht hatte. Robert kostete die gewisse Befriedigung, die der Sieg ihm brachte, nur kurz aus. Es blieb ihm keine andere Wahl, denn überall um ihn herum tobten wilde Kämpfe. Eines ihrer Schiffe war leck gegangen und versank in den Fluten, während niemand helfen konnte. Schreie ertönten überall, und Menschen starben. Robert sah, wie eine blonde junge Frau in die Enge getrieben wor-
den war und einer der Angreifer mit lüsternem Blick vor ihr stand. Auf seinen Oberarm war ein schwarzer Totenkopf tätowiert. »Dich nehme ich mit«, hörte Robert den Langhaarigen sagen. Und obwohl es nur ein Tropfen auf dem heißen Stein war, rettete er wenigstens diese Frau vor einem schrecklichen Schicksal, indem er dem toten Piraten vor seinen Füßen den Dolch aus der erstarrten Hand nahm und ihn zielgenau in den Nacken ihres Bedrängers schleuderte. Die Blonde wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, doch er konnte ihr nicht weiter beistehen, denn es schien, als würden die Piraten langsam die Überhand gewinnen. Mit einem dermaßen starken Widerstand hatten sie wohl nicht gerechnet. Denn lange war der Kampf ausgeglichen gewesen. Plötzlich standen ihm drei Gestalten gegenüber. Robert sah sofort, dass es keinen Ausweg geben konnte und dachte schon an den Schlüssel, als ihn etwas am Kopf traf und es schwarz um ihn wurde. Er hörte irgendwo weit weg einen Aufprall, doch er wusste nicht, dass es sein Kopf gewesen war, der auf den Bohlen des Schiffes aufschlug. Dann wurde es dunkel. Als er wieder zu sich kam, war es still. Nur das ewige Rauschen der Wellen war zu hören, und das leise Knarren der Schiffsbohlen. Es schien keinen einzigen Knochen in seinem Körper zu geben, der nicht schmerzte. Das sprach dafür, dass er diesmal nicht … gestorben war. »Eine einfache Ohnmacht«, murmelte er sarkastisch. Sofort beugte sich ein Gesicht über ihn, das ihm bekannt vorkam. »Sie sind wieder wach«, hörte er eine erleichterte Frauenstimme. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Er erinnerte sich. Es war die junge Frau, die er vor dem Angriff des Piraten gerettet hatte. Sie war hübsch, stellte er beiläufig fest: lange blonde Haare und ein ausdrucksstarkes Gesicht. »Was ist in der Zwischenzeit geschehen?«, fragte er. »Wir wissen nicht, was aus den anderen geworden ist«, sagte die
Blonde. »Als wir die Piraten auf unserem Schiff besiegt hatten, waren die anderen Schiffe verschwunden. Wir sahen sie noch weit von uns entfernt, doch eine Verfolgung war unmöglich.« Ein Matrose war auf ihn zugetreten und erstattete ihm Bericht. »113 Personen haben überlebt.« Die Zahl erschreckte ihn, denn sie bedeutete den Tod vieler Menschen. Wie viele waren sie gewesen, als sie in Amsterdam ausliefen? 200? Oder mehr? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. »Doch wir werden noch einige wenige weitere verlieren. Fünf von uns sind schwer verletzt. Nicht alle werden überleben.« Mit dieser Prognose behielt der Matrose Recht. Drei dieser fünf Menschen, zwei Frauen und ein Mann, starben, noch ehe sie wenige Tage später die Hudson Bay erreichten. Vor fünfzehn Jahren war Henry Hudson der erste Seefahrer gewesen, der diese Insel entdeckte; er hatte sie nach sich benannt. Dann betrat Robert deNoir erstmals amerikanischen Boden. Die Sonne strahlte vom Himmel, die Luft war angenehm lau – es schien ein perfekter Augenblick zu sein, der Situation angemessen. Augenblicklich war er fasziniert von der wilden Schönheit des Ortes und erkannte die gewaltigen Möglichkeiten, die das einsame, abgelegene Land bot. Sie errichteten eine Siedlung und nannten sie Neu-Amsterdam*, auf einem Gebiet, das nach einem Indianerwort Mannahata, die Insel der Berge, genannt wurde. Robert besah sich die Insel genau und beanspruchte schließlich *Neu-Amsterdam, gegründet von holländischen Seefahrern im Februar 1624, wurde erst über hundert Jahre später von den Engländern eingenommen und in New York umbenannt. Denn tatsächlich war Amsterdam damals die wohl wichtigste Stadt der Welt, und tatsächlich führte ein Holländer namens Jan Huygen van Linschoten (1563-1611) ein abenteuerliches Leben. Nur sein Aufeinandertreffen mit Robert deBlanc/de Noir ist leider in keinerlei Dokumenten auf uns gekommen, was den Autoren die Freiheit ließ, ihm ein paar Jahre Lebenszeit mehr zu geben, als ihm in Wirklichkeit gegönnt waren.
das Land an der Südspitze der Insel für sich. Denn er war sich sicher, dass dieses Stückchen Erde sich als sehr wertvoll erweisen würde. Die nächsten Jahre entwickelten sich für ihn aufregend und abwechslungsreich. Die Siedlung wuchs, und schon bald vermehrte sich die Schar der Siedler. Robert liebte sowohl das Babygeschrei, zumindest solange es in anderen Häusern ertönte, als auch das hektische Treiben und Bauen um ihn her. Sein eigenes Haus war eines der ersten, die fertig gestellt wurden. Für viele war es eine Ehre, dem Oberkaufmann behilflich zu sein; und neben der Ehre erhofften sie wohl, sich seine Gunst zu erarbeiten. Womit sie nicht falsch lagen. Gleichzeitig trafen weitere Siedler ein, und mit ihnen kamen Huren, Diebe und Tagelöhner, die für eine Mahlzeit und ein Dach über dem Kopf jedwede nur mögliche Arbeit annahmen. Alkohol floss in immer größeren Mengen, und bald ging die Rede davon, dass »manna-hata« nicht etwa wie bisher gedacht »Insel der Berge« bedeuten konnte, sondern vielmehr »Ort der Trunkenheit«. Robert hatte nicht viel Geld mit auf die Reise genommen, denn er wollte herausfinden, ob es ihm wieder gelingen würde, aus eigener Kraft Reichtum zu erlangen. Nach wie vor war es wie ein Stachel in seinem Fleisch, dass es der Zauber seines Erzeugers gewesen war, der ihm das Vermögen und die Stellung van Linschotens eingebracht hatte. Bald wurde auf seinem Land an der südlichen Inselspitze ein Hafen errichtet, wie er es nicht anders erwartet hatte. Die natürlichen Gegebenheiten dafür waren ideal. Es gab zähe Verhandlungen, und letztlich verschaffte ihm dieser Hafen Geld im Überfluss. Denn er verkaufte das Land nicht nur teuer, sondern verlangte für die Dauer von fünf Jahren eine Abgabe von jedem Schiff, das dort einlief. Wie man es schon vor Beginn des Unternehmens vermutet hatte, blühte der Pelzhandel, und nicht umsonst zierte ein Biber das offizielle Siegel der Siedlung. Neue Siedlungen entstanden in unmittelbarer Nähe, zuerst Breuckelen.
Auch hier war Robert derjenige, der den Anstoß der Entwicklung gab. Doch mit den Jahren kehrte Routine ein, und wieder wuchs die Unruhe in ihm. Seine Geschäfte blühten, sein Geld vermehrte sich – doch er war nicht zufrieden mit dem, was das Leben ihm zu bieten hatte. Das war die Zeit, als er erstmals Ausflüge ins Landesinnere machte. Anfangs für die Dauer eines Tages, doch bald zog er sich für immer längere Zeiträume zurück.
Es war leicht gewesen, sich mit ihnen anzufreunden. Er hatte schon vorher, seit seiner Rückkehr nach Amsterdam 1618, von ihnen gehört. Wilde Geschichten waren über sie im Umlauf, von eher tier- als menschenartigen Gestalten mit roter Haut und barbarischen Ritualen. Sie sollten angeblich die Herzen ihrer besiegten Feinde noch körperwarm verspeisen und einem unmenschlichen Kriegerkult frönen. Angeblich seien ihre Ohren furchtbar missgebildet, und ihre Arme sollten beim Laufen auf dem Boden schleifen. Keines der Vorurteile fand er bestätigt. Sie nahmen ihn freundlich auf, und bald konnte sich Robert fließend mit ihnen in ihrer Sprache verständigen. Vor allem die Frauen erwiesen sich ihm gegenüber als geduldige Lehrerinnen. »Du bist der einzige, der zu uns kommt«, sagte eine etwa achtzehnjährige Frau zu ihm, deren lange schwarze Haare zu einem Zopf geflochten waren. »Und ich danke euch, dass ihr mich aufnehmt.« Das Thema war Robert unangenehm, und er hoffte, auf diese Art weiteren Fragen ausweichen zu können. Eine Schar Kinder rannte lachend an ihnen vorbei, die Gesichter mit verschiedenen Farben verschmiert. Eine ältere Frau schimpfte wütend mit ihnen, sie sollten sich doch nicht an Dingen vergreifen, die nur den Erwachsenen und auch unter ihnen nur den Kriegern vorbehalten waren.
»Wieso will niemand bei uns sein von deinen Freunden?« »Sie sind nicht meine Freunde«, wiegelte Robert diplomatisch ab, denn die Antwort auf diese Frage war ihm unangenehm. Denn es gab keinen Grund dafür, dass die Siedler sich den Indianern gegenüber abweisend und sogar feindlich verhielten, außer dem, dass sie anders waren. Und das war Robert nicht bereit zu akzeptieren. »Du kamst mit ihnen, und du lebst bei ihnen«, argumentierte das Mädchen zwingend logisch und sah ihm herausfordernd direkt in die Augen. Robert lachte. »Doch mehr als die Hälfte meiner Zeit lebe ich inzwischen bei euch.« Da stimmte sie in sein Lachen mit ein. Silberhell hallte es über den Platz, und schon bald gesellten sich weitere der Frauen zu ihnen. Robert fühlte sich in ihrer Mitte sehr wohl, zumal ihre Bekleidung den herrschenden Temperaturen angepasst mehr als nur knapp war. Was bei den älteren Frauen zu nicht immer angenehmen Ansichten führte, bei den jüngeren jedoch Roberts Herz höher schlagen ließ. Als die Zeit zum Essen gekommen war, durfte er wie immer bleiben, ohne eine Gegenleistung zu erbringen. »Du gehörst zu uns«, sagten sie. Immer öfter trieb es ihn zu den Ureinwohnern. Das einfache und naturverbundene Leben, das sie führten, erinnerte ihn an seine Zeit in Madagaskar. Oft träumte er, wenn er bei ihnen war, von den beiden Jahrzehnten, die er mit seinem Engel in Afrika verbracht hatte. Er merkte, dass er nur widerwillig daran dachte, irgendwann nach Europa, nach Amsterdam, zurückkehren zu müssen. Die von sich selbst so sehr überzeugte so genannte zivilisierte Welt stieß ihn immer mehr ab. Vielleicht wäre es nie zu einer Rückkehr gekommen, wenn NeuAmsterdam nicht nach einiger Zeit von einem neuen Generalgouverneur regiert worden wäre. Peter Stuyvesant war geschickt worden, um den Sündenpfuhl, zu dem sich Neu-Amsterdam rasch entwickelt hatte, zu säubern. Er regierte mit harter Hand, und die Erfolge blieben nicht aus. Doch er war mit einer zweiten Aufgabe betraut worden, denn die Profite aus dem Pelzhandel nahmen rapide ab. Also beschloss Peter Stuyvesant, ein lukratives Geschäft zu eröffnen
und den Sklavenhandel einzuführen. Alles in Robert sträubte sich dagegen, Menschen als Ware und Eigentum zu betrachten, und als er zum ersten Mal sah, wie ein Indianer verkauft wurde, begann er damit, Gleichgesinnte um sich zu scharen. Es kam zu einem regelrechten Aufruhr, und bald standen sich in Neu-Amsterdam zwei Gruppen gegenüber. Es gärte in der Luft, und jeder wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis die aufgestauten Emotionen sich mit Gewalt Bahn brachen. Robert deNoir galt bald als der Kopf der Bewegung der Sklavereigegner, der sich nicht davor scheute, auf den Straßen Reden zu halten und die Bürger Neu-Amsterdams aufzurütteln. Gemeinhin bewunderte man seine flammende Redekunst und die Ausstrahlung, die er verbreitete. Doch man nahm ihn nicht wirklich ernst und dachte kopfschüttelnd daran, dass dieser Mann, der offensichtlich jeden Bezug zur Realität verloren hatte, seit er immer öfter bei den Wilden lebte, einst vom Rat der Siebzehn hoch dekoriert worden war. Die Bürger bewunderten das grandiose Schauspiel, das seine Auftritte darstellten und genossen die Ablenkung, die sie ihnen boten. Doch die wenigsten nahmen ihn Ernst, denn wie konnte man abstreiten, dass Sklaven etwas ganz und gar Nützliches waren? Peter Stuyvesant hingegen, Roberts großer Gegenspieler, trat kaum offiziell in Erscheinung. Er hatte es nicht nötig, denn sein Amt gab ihm alle Macht, die er benötigte. Sein Wort war Gesetz, und er beabsichtigte nicht, sich von einem Verrückten in seine Geschäfte pfuschen zu lassen. Er hatte in einer Seeschlacht das rechte Bein verloren, und er schien entschlossen, den Zorn darüber an Robert deNoir abzuarbeiten. Roberts Anhängerschar wuchs nach anfänglichen Erfolgen nicht weiter, und bald sah er, dass er einen verlorenen Kampf kämpfte. Doch er wollte nicht aufgeben, denn das lag nicht in seinem Wesen. Dann kam der Tag, an dem er nicht mehr aufgeben konnte.
Es war der letzte Besuch, der ihm gestattet worden war, und das nur deswegen, weil er auf seine Henkersmahlzeit verzichtet hatte. Entweder – oder, hatte man ihm gesagt. Seitdem er auf offener Straße bei einer Kundgebung überwältigt worden war, waren nicht mehr als fünf Tage vergangen. Doch für Peter Stuyvesant hätten auch fünf Minuten genügt, das Urteil zu fällen – und das lautete Tod. »Man hat dich enteignet«, sagte der letzte seiner Vertrauten mit bitterer Ironie. Er war von Stuyvesant als derart unbedeutend eingeschätzt worden, dass er ihn nicht in Gewahrsam hatte nehmen lassen. »Es war nicht anders zu erwarten, Jan«, antwortete Robert. »Wir müssen dich befreien!«, ereiferte sich Jan. »Ich werde nicht zulassen, dass sie dich hängen.« Robert deNoir presste die Lippen zusammen. »Ich danke dir für deine Treue, doch du kannst nichts tun, um mich hier herauszuholen.« »Doch, das kann ich!« Allerdings schaute Jan nach diesen Worten betreten unter sich. Offensichtlich hatte er keinerlei Vorstellung davon, welche Möglichkeiten ihm zur Verfügung stehen könnten. Und das war nicht verwunderlich, denn es gab tatsächlich keine. »Ich habe keine Angst vor dem Tod«, sagte Robert, und dachte daran, dass er diese Worte leicht aussprechen konnte. Denn der Tod war nicht das, was ihm Sorgen bereitete. Wenn er auf dem Galgen stand, hatte er ausreichend Zeit zur Verfügung, den Weg nach Avalon vorzubereiten. Er zweifelte mittlerweile nicht mehr daran, dass ihm diese Möglichkeit immer zur Verfügung stand, wenn er sie benötigte. Nein, wovor er wirklich Angst hatte, war nicht der Tod, sondern das Sterben. Denn der Schmerz und der Augenblick, in dem das Leben endete, konnten auch ihm nicht erspart bleiben. »Wir werden deinen Tod in Erinnerung halten«, sagte Jan, und die Worte klangen schal. »Alle sollen wissen, wofür du gestorben bist.« Die Tür öffnete sich, und ein brutal wirkender Wächter schnauzte
sie an. »Der Besuch ist beendet! Du hast lange genug geredet, deNoir!« Robert nickte Jan zu und reichte ihm die Hand. Die Nacht war für ihn eine Qual, und am nächsten Morgen schritt Robert deNoir zu seiner Hinrichtung. Trotz der Worte, die er an Jan gerichtet hatte, konnte er ein leichtes Zittern seiner Knie nicht verbergen. Viele rechtschaffene Bürger Neu-Amsterdams hatten sich versammelt, um seinem Tod beizuwohnen. Niemand, der etwas auf sich hielt, durfte sich dieses Ereignis entgehen lassen. Doch Robert konnte keine letzte Botschaft an sie richten, denn Stuyvesant hatte ihm, in weiser Voraussicht, einen Knebel anlegen lassen. DeNoir schritt die wenigen Stufen nach oben und stellte sich auf die geschlossene Falltür. Der Henker trat heran und stülpte ihm eine schwarze Kapuze über. »Robert deNoir wurde des aufrührerischen Verhaltens für schuldig befunden«, hörte er die Stimme des Mannes, der seine Anklage vorlas. Doch er hörte nicht weiter zu. Avalon, dachte er, und die Worte, die sein Leben besiegelten und nach dem Willen Stuyvesants die letzten seines Lebens sein sollten, diejenigen, die er mit in den Tod nahm, verschwammen zu einem Rauschen ohne jeden Sinn. Dann hörte Robert die Schritte des Henkers und ein leises Quietschen, als dieser die Verriegelung der Falltür löste.
Doch es geschah nicht das, was er erwartete. Denn das Quietschen wiederholte sich, und Robert stürzte nicht. Pfeifend stieß er die Luft aus, die er instinktiv angehalten hatte, und entspannte seine Schultermuskulatur, die er in Erwartung des tödlichen Rucks verkrampft hatte. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und es dauerte einige Zeit, bis sich seine Sinne wieder klärten. Die Kapuze wurde ihm vom Kopf gerissen, und das erste, das er sah, war die wütend verzerrte Fratze
des verhinderten Henkers. »Du hast Glück, verdammter Hurensohn«, zischte er Robert entgegen, und ihm wurde von dem fauligen Atem übel. Robert drehte den Kopf und atmete die frische Luft ein wie das Kostbarste, das er je genossen hatte – denn in diesem Leben wäre sie ihm eigentlich seit wenigen Sekunden verwehrt worden. »Was ist geschehen?«, fragte er. Die Antwort bestand darin, dass der Henker ihm vor die Füße spuckte. »Mitkommen! Ich bringe dich zurück in deine Zelle.« Verwundert und tief in seinem Herzen dankbar ließ Robert sich willig führen. Die Menge johlte und pfiff, und er hörte allerorten Raunen. Doch er wurde von einigen Beamten abgeschirmt, so dass er nicht nahe genug herankam, um etwas zu verstehen. Der Weg war nicht weit, und nach weniger als einer Minute, in der Robert deNoir der Blick in den weiten Himmel wie eine Offenbarung erschien, wurde er mit einem kräftigen Stoß in dieselbe Zelle geführt, die er als Todgeweihter verlassen hatte. Er taumelte bis an die gegenüberliegende Wand, was nicht weiter als zwei Schritte war, und hörte, wie die schwere Tür zugeschmettert wurde. Was blieb, war die alles beherrschende Frage, was geschehen war. Doch er hatte keinerlei Ansatzpunkt, Näheres herauszufinden. Er wünschte sich, er hätte wenigstens irgendeine Mutmaßung aus dem Kreis der Zuschauer gehört, denn dann könnte er jetzt über etwas nachdenken. Wenigstens über irgendetwas. Die Qual der Ungewissheit währte nicht lange. Dann wurde die Tür wieder geöffnet, und ein Schwarzgekleideter trat ein, der mit einer beiläufigen, aber nichtsdestoweniger zwingenden Handbewegung den Wächter wegschickte, der augenblicklich gehorchte. »Mein Sohn«, sagte d'Assimo, »ich habe keine Lust mehr, den Aufpasser für dich zu spielen!« Das letzte, das Robert in diesem Moment empfand, war Dankbarkeit. »Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten!« »So? Du scheinst aber auch gar nichts zu lernen! Ist dir dein Leben
denn kein Lehre?« »Ich tat nichts Falsches!«, fauchte Robert erbost. »Natürlich.« D'Assimo blieb kühl und unbewegt. »Deswegen sitzt du auch hier in der Todeszelle und würdest jetzt am Galgen baumeln, wenn ich nicht hier wäre.« Und würde wahrscheinlich jetzt schon an einem anderen Ort die Augen aufschlagen, dachte Robert, doch er schwieg. »Dein Urteil wurde in eine Bannstrafe geändert. Du hast bis morgen Neu-Amsterdam zu verlassen.« D'Assimo blickte ihn sezierend an. »Und wie der Zufall es will, betrete ich morgen bei Sonnenaufgang ein Schiff, das mich nach Amsterdam bringen wird.« Robert schloss die Augen. »Ich werde schon einen Platz für dich finden, mein Sohn.« Das einzige, das Robert tun konnte, war, seinem Erzeuger nicht den Triumph zu gönnen, auf seine Eröffnungen wütend zu reagieren. Den restlichen Tag verbrachte Robert alleine in der Zelle, und noch vor Sonnenaufgang kam d'Assimo zurück und brachte ihn zu dem genannten Schiff. Sie wechselten keine zwei Worte, ohne in Streitigkeiten auszubrechen. Und ganz Ähnliches, wie es vor kurzem in der kompletten Stadt gewesen war, spielte sich nun im Kleinen zwischen Robert deNoir und d'Assimo ab: Es war nur eine Frage der Zeit, bis es zu einer Eskalation kam. »Du fasst es als einen Fluch auf, mein Sohn zu sein, doch du siehst nicht die Möglichkeiten! Lerne!«, forderte der Fürst der Finsternis. Robert schwieg, und er spürte, wie sich alles in ihm verkrampfte. »Wie oft soll ich dich noch retten?«, sagte d'Assimo – und das war der Moment, in dem Robert die Kontrolle verlor. Er wirbelte blitzartig herum und schlug seinem Erzeuger die Faust ins Gesicht. Dessen Reaktion musste wohl eher unbewusst sein, denn er sprach ein Wort, und Robert wurde mit Macht von ihm weggeschleudert. Er hörte ein Bersten und das Geräusch splitternden Holzes genau in dem Moment, als ein furchtbarer Schmerz seinen Rücken durchfuhr.
In einem Regen aus Holzsplittern und geborstenen Teilen der Schiffswandung stürzte Robert deNoir in die Fluten des Meeres. Einer dieser Splitter hatte seinen Unterarm durchbohrt, und noch während er den Schock des eiskalten Wassers verdaute und instinktive Schwimmbewegungen machte, um nicht unterzugehen, zog er den Splitter mit zusammengebissenen Zähnen aus seinem Körper. Er meinte, vor Schmerz ohnmächtig zu werden, und nur die Gewissheit, dann ertrinken zu müssen, bewahrte ihn davor. Doch es wäre wohl das gnädigere Schicksal gewesen. Denn das Blut, das aus seiner Wunde schoss, lockte Haie an. Robert versuchte noch, die Aufmerksamkeit der Matrosen auf dem Schiff zu erwecken, als er bereits die erste Rückenflosse sah, die auf ihn zuschoss. Aus, dachte er und schrie um Hilfe. Für einen Moment fragte er sich sogar, warum d'Assimo nicht eingriff. Sekunden später war er von Haien umzingelt, und wie auf ein unhörbares Kommando griffen sie alle gleichzeitig an. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Schlüssel.
Er schlug die Augen auf. Und war maßlos verblüfft, als er seine Umgebung erkannte. Er befand sich in der kleinen Kajüte, die er sich mit d'Assimo teilte, auf dem Schiff, das sie nach Amsterdam bringen sollte. Was war geschehen? Hatte er den Eklat mit d'Assimo nur geträumt? War es nicht Wirklichkeit gewesen? Doch die Erinnerung an den Schmerz, an die Haie, war derart lebendig, dass er das nicht glauben konnte. Er sah an sich herab. Sein Körper wies keinerlei Verletzung auf, doch das bewies nichts, denn es wäre in beiden Fällen so gewesen. Sowohl bei einem Traum, als auch bei einem Tod und dem anschließenden Gang nach Avalon. Er schwang die Beine mühevoll aus der Koje und beschloss, d'Assimo zu suchen, denn nur dieser konnte ihm seine Fragen beantwor-
ten. Als er die Kajüte verließ, sprach ihn ein schmächtiger Matrose an, und nach Roberts eigener Erfahrung in diesem Metier fragte er sich, wie dieser Mann die Anstrengungen seiner täglichen Arbeit körperlich bewältigen konnte. »Ich sehe, dass es Ihnen besser geht, Mijnheer deNoir«, sagte der Matrose erfreut. Besser? Was meinte er damit? »Ich dachte mir, frische Luft könne mir nicht schaden«, meinte Robert unverbindlich. »Der Kapitän wird sich freuen zu hören, dass Ihr Fieber gewichen ist.« Fieber? »Ich … es wird Sie wundern«, stammelte Robert, »aber können Sie mir sagen, welcher Tag heute ist? Ich – nunja, das Fieber hat mein ganzes Zeitgefühl durcheinander gebracht.« Was Robert nun erfuhr, beseitigte seine letzten Zweifel. Denn sein letzter Tod im Rachen der Haie lag mittlerweile vier Tage zurück, an die er keinerlei Erinnerung hatte … Weitere Nachfragen ergaben, dass jedermann auf dem Schiff sich genau erinnerte, wie Robert deNoir vor vier Tagen plötzlich eine Krankheit erwischte, die von heftigen Fieberschüben begleitet war. Seitdem befand er sich unter loser Beobachtung eines weiteren Mitreisenden, der über grundlegende medizinische Kenntnisse verfügte. »Wo befindet sich mein Begleiter?«, fragte Robert abschließend. »Ihr Begleiter? Was meinen Sie?« Der schmächtige Matrose war sichtlich verwirrt. Also beschrieb Robert seinen Erzeuger d'Assimo, doch keinerlei Erkennen trat in die Mimik des Schmächtigen. »Sie reisen alleine«, sagte der Matrose schließlich und bedachte Robert mit einem zweifelnden Blick. »Und Sie bewohnen Ihre Kajüte seit unserem Aufbruch alleine.« Hastig entschuldigte sich Robert mit der Bemerkung, dass er sich wohl doch zu viel zugemutet habe. »Ich muss mich hinlegen«, murmelte er noch und zog sich zurück. Weitere vorsichtige Nachfragen zu späterer Stunde ergaben, dass sich niemand auf dem Schiff an d'Assimo erinnern konnte. Robert
kam das nicht ungelegen, er freute sich im Gegenteil darüber, seinen Erzeuger abgeschüttelt zu haben. Er hoffte, ihm für lange Zeit nicht mehr gegenüberzutreten zu müssen. Als sie nach weiteren ereignislosen Wochen Amsterdam erreichten, gab er sich als Robert deDigue aus, jenem Mann, dem er vor seiner Abreise nach Amerika vor dreißig Jahren sein gesamtes Vermögen überschrieben hatte. Dieses hatte sich weiter vermehrt, und so zog Robert deDigue mit einer großen Menge Goldmünzen im Gepäck weiter, denn nichts hielt ihn in Amsterdam. Die Unruhe, die nach der Beendigung seiner selbst gewählten Aufgabe, den Sklavenhandel in Neu-Amsterdam zu beenden, in den ruhigen Tagen auf See wieder zugenommen hatte, trieb ihn aus der Stadt. Er bereiste die ganze bekannte Welt, und erst zwei Jahrzehnte später gab es eine erneute Wende in seinem Leben. Man schrieb mittlerweile das Jahr 1670, und Robert traf auf die beiden Menschen, die ihn dazu brachten, sich am Hofe des Sonnenkönigs in Frankreich niederzulassen. Die Comtesse de Vour, eine wunderschöne Frau, deren Wesen und Anmut ihn bei ihrer ersten Begegnung augenblicklich gefangen nahm. Doch auch Don Cristofero Fuego del Zamora y Montego, einen seiner Abstammung nach spanischen Edelmann, der zwar wie Robert am Hof des Sonnenkönigs aus- und einging, aber seinen Stammsitz eigentlich in Frankreich auf einem kleinen Schlösschen an der Loire hatte: Château Montagne.
»Ihr verfügt also nicht über einen eigenen Stammsitz?«, fragte der rundliche Edelmann mit tiefer Stimme, in der leichter Spott aufklang. »Wenn ich das täte«, antworte Robert, und seine instinktive Abscheu gegen Don Cristofero wuchs in diesem Moment noch weiter, »wodurch würdet Ihr Euch dann von mir abheben?« Ihm wurde mit einem dröhnenden Lachen geantwortet, doch die braunen Augen über der breiten roten Säufernase wurden von die-
sem Lachen nicht erreicht. Don Cristofero bedachte ihn mit nachdenklichen Blicken, und Robert wusste, dass jetzt das zur Sprache kommen würde, was seit ihrer ersten Begegnung zwischen ihnen schwelte. »Ihr solltet besser die Finger von der Comtesse de Vour lassen, deDigue, oder Ihr werdet sie Euch kräftig verbrennen.« Don Cristofero tippte sich beiläufig an seinen schwarzen Hut und bedachte dann seinen Degen mit einem Blick, der gerade so lange währte, dass Robert ihn unmöglich übersehen konnte. Robert war selbstverständlich nicht entgangen, wie Don Cristofero die Comtesse umschwärmte. Diese allerdings war von dem Edelmann, der nicht gerade eine stattliche Erscheinung war, wenig angetan. Fast sein gesamtes Gesicht war von einem wild wuchernden verfilzten rötlichen Vollbart bedeckt, und auch seine rundliche Statur war alles andere als ansehnlich. Seine Vorzüge lagen auf anderem Gebiet, und darauf spielte Don Cristofero mit seiner nächsten Bemerkung an, als Robert es vorzog, sich in Schweigen zu hüllen. »So sagt mir, deDigue, auf welchem Gebiet liegen Eure Kenntnisse und Interessen?« Robert wusste, wie viel sich Don Cristofero auf seine Gelehrtheit einbildete. Doch er war sich sicher, dass er dem Edelmann aufgrund seiner Erlebnisse und am eigenen Leib gemachten Erfahrungen auch hier überlegen war. In zwei Jahren würde Robert auf genau 200 Jahre Lebenszeit zurückblicken können … »Auch wenn es Euch überraschen wird, ich bin an allem interessiert und kenne mich auf allen Gebieten aus.« »Starke Worte, deDigue, die ich allerdings ebenso stark anzweifeln möchte.« Offenbar sah Don Cristofero jetzt seine Möglichkeit, seinem Widersacher im gelehrten Schlagabtausch eine Niederlage beizubringen. »Dann testet mich«, forderte Robert unverzagt auf. Don Cristofero überlegte einen Moment. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »So sagt mir, was Ihr von der Camera obscura haltet.« Robert triumphierte, denn – aller Wahrscheinlichkeit nach im Gegensatz zu Don Cristofero – er hatte eine solche bereits in Händen gehalten. »Der Bildwerfer ist eine erstaunliche Erfindung«, konterte
er, »von der ich überzeugt bin, dass sie noch einen großen Siegeszug antreten wird. Wann hattet ihr zuletzt einen vor Euch?« Don Cristofero rümpfte die Nase. »Ich las von ihm.« »Wartet ab, bis Ihr, irgendwann einmal, einen seht. Er wird Euch in Erstaunen versetzen. Die Berichte in den Zeitschriften werden ihm nicht wirklich gerecht.« So ging es einige Zeit hin und her, und stets bewies Robert, dass sein Wissen dem Don Cristoferos mindestens ebenbürtig war. Und besonders als die Sprache auf verschiedene Reiseberichte kam, gewann Robert die Überhand, denn er hatte wohl alle Orte, von denen Cristofero gelesen hatte, bereits mit eigenen Augen gesehen. Verschiedene Erinnerungen überkamen ihn dabei mit aller Macht, und diese waren das einzige, das ihm während des Disputs Schwierigkeiten bereitete. »Nun denn, deDigue«, schloss der Edelmann nach weit mehr als einer Stunde, »ich rate Euch, mit Eurem Wissen nicht zu versuchen, das zu beeindrucken, was mir gehört.« Seine Stimme hatte an Schärfe zugenommen, und die Drohung darin war unüberhörbar. »Ich danke Euch für Euren Rat«, schoss Robert seine Erwiderung ab, sofort verstehend, worauf Cristofero hinaus wollte, »doch ich bezweifle, dass die Comtesse sich als Euer Eigentum betrachtet.« Don Cristofero sah ihn mit blitzenden Augen an und wandte sich ab. Erfüllt von Wut über die Anmaßung seines Widersachers beschloss er, die Comtesse de Vour aufzusuchen. Bislang war er nie auf solch direktem Wege bis zu ihr vorgedrungen. Sie bedachte ihn mit einem nicht weniger erfreuten als erstaunten Blick, als er klopfte und sie die Tür öffnete. »Ich darf hereinkommen?«, fragte Robert höflich. »Ich bitte darum.« Sie trat zurück und ließ ihn in ihre Gemächer ein. Der Sonnenkönig hatte ihm selbst ein überaus großzügiges Zimmer am Hof zugewiesen, doch die Pracht, in der die Comtesse lebte, verschlug ihm einen Moment lang den Atem. »Gefällt es Euch hier?« Die Comtesse trat näher und machte eine umfassende Handbewegung. Sie lächelte, und die roten Lippen zer-
schmolzen zum Zentrum seiner Existenz. »Es ist auserlesen«, meinte er, »doch es verblasst unter Eurem Glanz.« Er deutete eine Verbeugung an. Die Comtesse fuhr sich durch ihre langen Haare, die seidig glänzten. »Ihr müsst entschuldigen, aber Euer Besuch kam für mich überraschend.« Aber nicht ungelegen, sagten ihre Augen. »Ich konnte mich nicht richten.« Sie trat an den großen Spiegel an der Wand und betrachtete sich darin. »Jede Minute, die Ihr damit verbringt, Euch noch schöner machen zu wollen, ist vergeudete Zeit.« Robert kam einen Schritt näher auf sie zu. »Denn was könnte die Vollkommenheit noch vollkommener machen?« Sie wandte sich um. »Ihr versteht Euch auf Worte«, sagte sie. Sie trug ein locker fallendes Kleid aus teurer Seide, das ihre Konturen umschmeichelte und Roberts Blick lange verweilen ließ. »Doch das tut Euer Widersacher auch.« Er sah sie verblüfft an. »Wen meint Ihr damit, Comtesse?« »Mir ist Euer Streit, den Ihr seit Eurem Eintreffen mit Don Cristofero führt, nicht entgangen.« »Ich bewundere Euren Scharfsinn.« Robert war verwundert, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass andere auf seinen Zwist mit dem Edelmann aufmerksam geworden waren, der bislang hinter verschlossenen Türen abgelaufen war. Die Comtesse nickte ihm zu und sagte plötzlich voller Leidenschaft: »Cristofero ist ein hässlicher Zwerg, und Ihr könnt mir keinen größeren Gefallen tun, als ihn dazu zu bringen, mich in Ruhe zu lassen.« Die Worte waren Labsal für ihn, doch er fragte sich, ob die Comtesse ihn durch sie möglicherweise nur auf die Probe stellen wollte. »Er ist ein gebildeter Mann«, sagte Robert deshalb ausweichend. »Und er verehrt Euch schon lange.« »Doch er ist ebenso ein Speichellecker, der sich im Schatten der wirklich Mächtigen sonnt.« Robert zweifelte nicht länger, dass sie aus echter Bewegtheit heraus sprach. »Er warnte mich, Euch zu nahe zu treten«, sagte Robert
aus einer spontanen Eingebung heraus und hatte danach keinen Grund, seine Worte zu bereuen. Sie lachte, und Robert meinte, nie ein lieblicheres Geräusch gehört zu haben. Zumindest schon viele Jahre nicht mehr … »Das überrascht mich nicht, und noch weniger erstaunt bin ich, dass Ihr dennoch den Weg zu mir gefunden habt.« »Er kann mich nicht abhalten. Wisst Ihr, ich mache mir keinerlei Gedanken darüber, einen Feind mehr oder weniger zu haben.« »Doch unterschätzt Cristofero nicht, Robert«, sagte sie. »Er ist beharrlich, und er könnte sich durchaus bald als Euer – Erzfeind erweisen.« Von ihrer Gegenwart berauscht, sagte er: »Lieber einen Erzfeind, als Eure Nähe nie wieder genießen zu können.« Noch an diesem Abend wurde diese Nähe enger, als Robert zu hoffen gewagt hatte. Denn die Comtesse erwies sich als Frau, die gewartet zu haben schien. »Gewartet auf deine Nähe«, sagte sie, bevor ihr Kleid zu Boden rutschte.
»Ja, ich bin mir sicher«, sagte der Mann im Schatten und machte keinen Hehl aus seiner Verärgerung darüber, dass seine Vertrauenswürdigkeit angezweifelt wurde. Ein seltsames Verhalten für einen Menschen, der Rechenschaft über einen Spionageauftrag ablegte und dafür eine nicht unerhebliche Summe erhielt. »Er hat es tatsächlich gewagt«, zischte eine tiefe Stimme zurück. »Mehr als das.« Der verletzte Stolz brachte den Spion dazu, sich weiter aus dem Fenster zu lehnen, als es seiner Situation angemessen war. Denn er achtete nicht auf jedes seiner Worte und wiederholte sich. »Sie hat ihn erhört, und er hat die ganze Nacht bei ihr verbracht.« »Sage es noch einmal, und dein Kopf wird rollen!« »Ich bin mir sicher, dies entstammt Eurem Zorn, und deshalb werde ich es Euch nicht übel nehmen.«
»Wie kannst du dir so sicher sein? Niemand weiß von unserem Treffen, und mir erscheint es …« »Ich habe zwei Freunden Nachricht hinterlassen«, unterbrach der Spion, »und sie werden keinen Augenblick zögern, dem Namen Don Cristofero Fuego del Zamora y Montego«, er ließ jede Silbe auf seiner Zunge vergehen wie eine unendliche Kostbarkeit, »weithin zu zweifelhaftem Ruhm zu verhelfen, wenn ich nicht in zwei Stunden bei ihnen bin.« Ein kurzer Moment des Schweigens folgte. Dann wurden einige Goldmünzen auf den Tisch geworfen. Eine davon rollte bis an den Tischrand, doch eine rasche Hand fing sie, bevor sie zu Boden fallen konnte. »Hier ist dein restlicher Lohn, und nun verschwinde aus meinen Augen!«
»Es ist schön, Euch einmal wieder zu sehen«, höhnte Robert. »Die Freude liegt ganz auf meiner Seite.« Don Cristofero trank den letzten Schluck Wein leer, und einige Tropfen rannen in seinen wuchernden Vollbart. »Ich meine, Wut in Eurem Gesicht zu lesen, und ich frage mich, woher sie wohl kommen mag.« Robert setzte sich seinem Widersacher gegenüber und schenkte ihm nach, bevor er ein Glas für sich selbst füllte. Nur noch eine weitere Person befand sich im Saal, und diese erhob sich, nachdem Robert eingetreten war. Als sie alleine waren, donnerte Don Cristoferos Faust auf den Tisch, dass die Gläser klirrten. »Lassen wir die Spiele, deDigue! Sie haben gewonnen, doch ich werde nicht zulassen, dass Sie über mich triumphieren. Wir haben uns heute nicht zum letzten Mal gesehen, und …« »Und ich werde jedes Mal wieder gewinnen«, unterbrach Robert. Don Cristoferos Hand schleuderte das gefüllte Weinglas zur Seite. Es fiel zu Boden und zerbrach. »Am Ende, deDigue, am Ende werde ich derjenige sein, der triumphiert.«
In Gedanken daran, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach noch immer im besten Alter sein würde, wenn Don Cristofero ein tattriger Greis geworden war, sagte Robert: »Das Ende ist noch lange nicht erreicht.« Beide intrigierten am Hof des Sonnenkönigs monatelang gegeneinander, und Robert genoss die stürmische und leidenschaftliche Affäre mit der Comtesse. Wenn sie nicht zusammen waren, sah er ihr Bild vor sich, dachte an die Stunden inniger Nähe. Don Cristoferos Zorn hingegen wuchs, und er entwickelte sich zu dem größten Todfeind, dem Robert je ins Auge hatte sehen müssen. Dennoch kam es nie zu einem Austausch nackter Gewalt. Ihre Konflikte liefen unter der Oberfläche ab und zielten darauf, dem Ansehen und dem Gemüt des Anderen Schaden zuzufügen. Robert fand Ablenkung und Heilung in den Armen der Comtesse, doch Don Cristofero wurde zunehmend verbitterter und hasserfüllter, wenn er deDigue begegnete. Wieder einmal lag Unheil in der Luft, und wieder einmal kam es zu einer Eskalation. »Ihr seid ein hässlicher Verlierer, und Euer lächerlicher Stammsitz ist eine Ruine!«, schmetterte Robert seinem Feind eines Tages entgegen. Doch im Unterschied zu anderen Gelegenheiten, waren bei dieser Beleidigung Zeugen anwesend, und wutentbrannt forderte Don Cristofero ihn zum Duell. »Seid nicht albern, denn Ihr hättet keine Chance gegen mich, Speichellecker«, sagte Robert herablassend, und ein Raunen ging durch die Menge der Zuhörer. »Das werden wir sehen, deDigue!« »Im Morgengrauen treffen wir uns.« Robert hatte keine Angst vor dem Tod, denn er stellte für ihn nichts Endgültiges dar. Sollte er auf diese Weise jedoch den äußerst lästig gewordenen Don Cristofero loswerden können, war es ihm Recht. »So sei es!« Das Unangenehmste bei dem Gedanken an das bevorstehende Duell war, dass er seiner Geliebten davon berichten musste. Bald klopfte er an ihre Tür, und freudig erregt ließ sie ihn ein.
Doch als er ihr von dem Vorfall erzählte, wurde sie bleich. »Robert, das kannst du nicht tun!« Erschrocken sah sie ihn an. »Doch, denn letztlich geht es um dich, und ich werde dir meine Liebe beweisen!« Ärgerlich sah sie ihn an. »Es geht nicht um mich, sondern einzig und allein um euren Stolz!« »Du irrst dich, denn Cristofero …« »Ich habe kein gutes Gefühl bei dem, was du sagst«, meinte sie, und eine Träne rann ihr die Wange herab. Dieser Anblick brachte eine Saite in ihm zu schwingen, die ihn verletzlich machte. »Du brauchst keine Angst um mich zu haben«, sagte er beruhigend. »Es ist keine Angst«, erwiderte sie, »es ist – eine Vorahnung. Ich weiß, dass ein Unheil geschehen wird.« »Der Tod Cristoferos wird eine Erlösung sein, und kein Unheil.« Sie widersprach heftig. »Doch das ist es nicht, was ich fühle.« Um das Gespräch auf eine andere Bahn zu lenken, machte Robert einen Vorschlag. »Es dunkelt erst in einer Stunde. Lass uns eine kleine Kutschfahrt unternehmen. Das wird dich …«, er stockte und verbesserte sich, »… wird uns auf andere Gedanken bringen.« Sie seufzte, stimmte jedoch zu. Während die Kutsche gerichtet wurde, liebten sie sich innig und heißblütig, als sei es das letzte Mal, dass ihnen dazu Gelegenheit gegeben wurde. Später saßen sie in der kleinen Kabine der prächtigen Kutsche. Der Kutscher legte ein langsames Tempo vor, und an dem kleinen Fenster zog die Landschaft gemächlich vorüber. Die Luft war lau, und es hätte ein perfekter Ausflug sein können, wenn nicht der nächste Morgen bereits seine Schatten voraus geworfen hätte. »Deine Verbissenheit macht mich nachdenklich«, sagte sie zu Robert. »Wenn es nötig ist, um dich zu kämpfen, dann werde ich das tun.« »Aber du scheinst so verändert, wenn es um Don Cristofero geht. So … hartherzig.« »Ich gebe ihm nur das zurück, was er an mir beweist.«
»Doch ist das richtig? Willst du so skrupellos sein wie er es ist?« »Um dich zu behalten, werde ich …« Er sprach den Satz niemals zu Ende, denn in diesem Moment ertönte ein Schrei, und die Kutsche wurde geschüttelt. Die Pferde wieherten, und von einer Sekunde auf die andere galoppierten sie ungestüm los. Erschrocken sah Robert aus dem kleinen Fenster der Kutsche. »Was ist geschehen?«, rief die Comtesse ängstlich. Robert sah gerade noch den Kutscher am Wegrand liegen. »Nein!«, schrie er. Sie waren führerlos, und die Pferde rannten in Panik blind vorwärts. »Ich muss nach vorne!« Er öffnete die Tür der Kabine und versuchte sich auf den Kutschbock zu schwingen. Mit einiger Mühe gelang es ihm sogar, doch er kam zu spät. Die Pferde rasten auf eine Baumgruppe zu. Robert ergriff die Zügel, während die Stämme vor ihm größer und größer wurden. Instinktiv wichen die Pferde in letzter Sekunde aus, bäumten die Vorderbeine auf und preschten zur Seite. Dabei stürzte eines der beiden Tiere, was zur Folge hatte, dass die Räder der Kutsche auf dessen Leib rasten. Die Kutsche stürzte zur Seite, das zweite Pferd stieß ein schrilles Geräusch aus – und alles um Robert herum versank im Chaos. Holz barst, die Pferde gaben entsetzliche Schmerzenslaute von sich, Robert selbst wurde weit durch die Luft geschleudert. Doch eines durchdrang den ohrenbetäubenden Lärm und den Schrecken, der ihn durchzuckte. Der Schrei seiner Geliebten. Entsetzt beobachtete Robert, wie die Kutsche einen Abhang hinunter rutschte, die wild zuckenden Pferde hinter sich herziehend. Er kam auf die Beine und rannte hinterher, nur einen Gedanken hegend. Was war mit seiner Geliebten? Bald kam die Kutsche zur Ruhe, nur eines der Pferde stieß wild mit den Vorderläufen. Das andere war tot, sein Kopf hing in einem
unmöglichen Winkel zum Körper. Doch die Stille aus der Kabine der Kutsche entsetzte ihn. Mit heftig schlagendem Herzen riss er die eine freiliegende Tür auf. Was er sah, traf ihn im Innersten. Die Comtesse war blutüberströmt. Ihre Beine lagen unter den zerfetzten Resten der Sitzbank. Ihr Mund stand halb offen, die Augen starrten nach oben. Doch sie sahen nichts. Und würden nie wieder etwas sehen. Denn aus ihrer Brust ragte ein zersplittertes Stück Holz.
Ich sah den Unfall aus der Ferne. Ich wusste genau, dass meinem Sohn in diesem Moment das Herz gebrochen wurde. Was ich beobachtete, erfüllte mich nicht mit Freude, doch jegliches Mideid war unangebracht. Robert war in Wollust für diese Sterbliche entbrannt gewesen, und nur wenn er am eigenen Leib erfuhr, wohin das führen konnte, war er fähig, die neue Lektion zu verstehen. Ich war seit Wochen unerkannt in seiner Nähe gewesen und hatte sehen müssen, wie sein Verstand immer mehr beeinträchtigt wurde. Er war nicht mehr fähig gewesen, klare und nüchterne Entscheidungen zu treffen. Die Comtesse de Vour und die Gedanken an die intimen Stunden mit ihr hatten sein ganzes Denken bestimmt. In diesen Momenten erfuhr er, was die Wollust aus einem Menschen machen konnte. Doch seine Schule war damit noch nicht beendet. Sein Aufeinandertreffen mit Don Cristofero, von dem ich instinktiv spürte, dass ihm ein außergewöhnliches Schicksal bevorstand, schien bereits die Wege gebahnt zu haben für einen weiteren Schritt. Denn Neid war eine nicht minder gefährliche und trugreiche Falle für das Herz der Menschen, ob man ihn selbst entwickelte oder wegen ihm das Opfer eines anderen wurde.
5. Neid � Das Duell zwischen Don Cristofero und Robert deDigue fand nicht statt. Natürlich nicht, denn der Tod der Comtesse de Vour lähmte sie beide. Don Cristofero zog sich sofort am nächsten Tag auf seinen Stammsitz an die Loire zurück, und Robert begegnete ihm vorher nicht mehr. Es zerriss ihm das Herz, als der Sarg, der die sterblichen Überreste seiner Geliebten enthielt, in ihr Grab gehoben wurde. Wie betäubt hörte er die Lieder, die dabei gesungen wurden, doch er nahm keine einzige Zeile des Textes wahr. Immerzu sah er ihr Gesicht vor sich, immer wieder dachte er an die letzten Worte, die er aus ihrem Mund gehört hatte. Es ließ ihm keinen Frieden, dass es Worte des Zwistes gewesen waren, vom Streit, den er mit Don Cristofero führte, geprägt. Sie hatte ihm vorgeworfen, kaltherzig und skrupellos zu sein … … und sie hatte Recht. Tief in seinem Inneren begann, von Tag zu Tag mehr, die Gewissheit zu schwelen, dass Don Cristofero der eigentlich Schuldige an ihrem Tod war. Denn wäre er nicht am Hofe gewesen, hätte er ihn nicht zu einem Duell herausgefordert, dann hätten sie niemals die verhängnisvolle Kutschfahrt unternommen und die Comtesse würde immer noch leben. Ja, es gab keinerlei Zweifel. Don Cristofero Fuego del Zamora y Montego war der Mörder der Comtesse de Vour.
Es gab keinerlei Zweifel. Robert deDigue war der Mörder der Com-
tesse de Vour. Denn wäre er nicht am Hofe gewesen, hätte er sie nicht zu der verhängnisvollen Kutschfahrt mitgenommen, dann wären die Pferde niemals durchgegangen und die Comtesse würde immer noch leben. Und die letzten Umstände ihres Todes waren nach wie vor ungeklärt. In Don Cristofero entwickelte sich ein Gedanke. Womöglich hatte deDigue sie eigenhändig getötet, um dem Duell mit ihm zu entgehen. Anfangs wollte er nicht so recht an diese Möglichkeit glauben, doch je länger er nachdachte, umso wahrscheinlicher erschien sie ihm. Er musste Gewissheit erlangen. Der Kutscher gab vor, keinerlei Erinnerung an den Vorfall zu haben. Er habe sich mit einem Mal am Boden vorgefunden, mit schmerzenden Gliedern, wie er unnötigerweise völlig unangebracht betonte, und gesehen, wie die Pferde durchgingen. Jede Anklage, er sei eingeschlafen und deshalb vom Kutschbock gefallen, wies er weit von sich. Doch selbst wenn man der Aussage des Kutschers Glauben schenkte – war es nicht äußerst unwahrscheinlich, dass deDigue unverletzt überlebte, die Comtesse aber von einem Bruchstück der Sitzfläche durchbohrt wurde? Also lud Don Cristofero Robert deDigue offiziell auf seinen Stammsitz ein. Er schickte einen Boten an den Hof des Sonnenkönigs. Hier in Castillo Montego würde Cristofero die Wahrheit herausfinden und danach deDigue einem Gericht übergeben, das ihn mit absoluter Sicherheit zum Tode verurteilen musste. Bereits zwei Tage später traf sein Widersacher ein. Wie ein ahnungsloses dummes Tier ging er in die Falle, näherte sich vertrauensselig wie ein Lamm seiner Schlachtbank. »Wieso haltet Ihr so nachhaltig an der spanischen Bezeichnung Eures Schlosses fest?«, fragte deDigue, als er ihm gegenüber stand. »Wir befinden uns in Frankreich, also nennt es doch bei seinem französischen Namen. Oder schämt Ihr Euch Eures Landes so?«
»Ich hörte schon verschiedentlich die Bezeichnung ›Château Montagne‹, doch der letzte Montagne ist gestorben, und ich entstamme der spanischen Linie der Besitzer, also …« Die Antwort war automatisch über seine Lippen geflossen, doch er brach ärgerlich ab. »Habt Ihr nichts Wichtigeres zu sagen als derlei Spitzfindigkeiten?« »Ich wüsste in der Tat nicht, was ich Euch zu sagen habe«, erwiderte Robert kalt. »Wie wäre es mit Erklärungen? Dem Versuch einer Rechtfertigung?« »Ihr fragt nach einer Rechtfertigung? Gerade Ihr?«, giftete deDigue wutentbrannt. »Ich werde die Wahrheit ans Licht bringen!«, spuckte Don Cristofero voller Hass aus. »Nichts ist mir lieber«, zischte Robert deDigue zurück. »Ich weine Euch keine Träne nach, wenn Ihr Euch selbst ans Messer liefert!« Dann bezichtigten sie sich gegenseitig des Mordes an der Comtesse. »Ihr seid wahnsinnig«, behauptete Don Cristofero. »Ich werde mir das nicht länger anhören«, beschied Robert und wandte sich zum Gehen. »Jede Minute, die ich für den Weg hierher geopfert habe, war vergebens. Ich hätte es wissen müssen.« »Ja, geht nur! Doch ich werde nicht eher ruhen, bis ich Euch zur Rechenschaft gezogen habe!« Auf dem Weg zurück an den Hof des Sonnenkönigs fragte sich Robert, ob die Zeit gekommen war, wieder alles hinter sich zu lassen und Frankreich den Rücken zuzukehren. Nur eines hielt ihn zurück. Die Wut auf Don Cristofero. Denn als er am Hofe ankam, wurde er bei weitem nicht so freundlich empfangen wie sonst. Man verhielt sich gegen ihn bemüht höflich und distanziert. In einigen Augen las Robert Misstrauen und noch etwas weiteres, das er zuerst nicht bestimmen konnte. Es wurde ihm bewusst, als die Mutter eines Jungen, dem er gerade ein verlorenes Spielzeug zurückgab, herbei rannte, ihren Sohn an
der Hand nahm und ihn eilig hinwegzerrte. Es war Angst. Die Menschen hatten Angst vor ihm. Dafür gab es nur eine Erklärung. Man hielt ihn für den Mörder der Comtesse de Vour – und das konnte nur eine Ursache haben. Don Cristofero hatte eine böse Saat gesät. »Er tat so, als liebe er sie, doch als er ihrer überdrüssig wurde, da entledigte er sich ihrer.« Dieser Satz, von einem ihm völlig unbekannten Günstling des Sonnenkönigs gesprochen, führte dazu, dass Robert deDigue einen Entschluss fasste. Don Cristofero musste bezahlen für das, was seine ausgestreuten Intrigen und Verleumdungen bewirkten. Denn nach wie vor liebte Robert die Comtesse, und es schmerzte ihn fast so sehr wie ihr Tod, dass er als ihr Mörder angesehen wurde. Also brachte er seine Version der Geschichte in Umlauf. Er glaubte längst nicht mehr daran, dass Don Cristofero Schuld trug an dem tragischen Unfall, denn als der erste Schmerz vergangen war, hatten sich seine Gedanken wieder geklärt. Ihm stand nicht mehr der Sinn nach Rache für den vermeintlichen Mörder Don Cristofero. Doch er wollte dem Intriganten Don Cristofero mit gleicher Münze heimzahlen, was er tat. »Don Cristofero liebte die Comtess, und als er sie an den armen deDigue verlor, da tötete er sie aus dem Schmerz unerfüllter Liebe heraus«, war jetzt am Hofe zu erfahren. »DeDigue selbst entging dem Anschlag nur mit äußerster Mühe.« »Außerdem soll er ihr vor ihrem Tod Geld gestohlen haben«, hieß es. Und: »Cristofero hat deDigue das Herz gebrochen, doch dieser trägt sein Schicksal mit bewundernswerter Stärke.« Es dauerte nicht lang, da konnte man weitere Einzelheiten erfahren, denn ein Gerücht, das einmal in die Welt gesetzt war, neigte dazu, sich selbst von Tag zu Tag zu übertreffen. »Er ermordete sie, weil er ihr eine Menge Geld schuldete.« »Ihre Familie hat bereits Rache geschworen.«
»Ja, und selbst sein Schloss steht ihm nicht wirklich zu, denn es heißt«, die Stimme der Frau senkte sich ein wenig, doch nur ein klein wenig, sonst hätte man sie ja möglicherweise nicht hören können, »er sei nicht der wirkliche Besitzer.« Und ehe die Woche sich wendete, wusste jedermann, dass ein spanischer Adliger auf einem französischen Château nichts zu suchen hatte. So redeten die Menschen, redete das Volk, und Unmut machte sich breit. Eine andere Intrige, diesmal von Robert deDigue persönlich angezettelt, nachdem er erfreut verfolgt hatte, was aus seinen ursprünglichen, im Schatten ausgesprochenen Anschuldigungen geworden war, tat ihr Übriges. Don Cristofero wurde nachdrücklich und endgültig vom Hofe des Sonnenkönigs entfernt und Castillo Montego, das wieder seinen ordentlichen Namen Château Montagne erhielt, wurde ihm abgesprochen. Das Beteuern seiner Unschuld und der verzweifelte Ruf, doch schließlich der Berater des Königs zu sein, verhallten ungehört. Er wusste, wem er dieses zu verdanken hatte, und er schwor Rache. Alle seine diesbezüglichen Pläne wurden aber dadurch unterbunden, dass er das Land zu verlassen hatte. Er wurde nach Amerika verbannt. Robert blieb nur noch einige Wochen auf dem Hofe des Sonnenkönigs. Dann zog er wieder weiter. Denn die Ferne rief nach ihm.
Über fünfzig Jahre später, 1725, New York, ehemals Neu-Amsterdam Schweißgebadet wachte Ron Dark auf. Der Name war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, und nur anfangs war es eigenartig gewesen, nicht mehr Robert als Vorname zu führen. Er hatte einen dieser Träume gehabt, die ihn von Zeit zu Zeit über-
fielen. In ihnen erlebte er die Tode, die er durchlitten hatte, wieder und wieder. Er hatte die Kugel Trauthmanns gespürt, die Klinge van Linschotens, die Zähne der Haie, hatte Rapa-Nui vor sich gesehen und erneut den Tod des Reeders Robert vanDyke durchlebt … eigenartigerweise war er diesmal sogar auf der Klappe des Galgens in Neu-Amsterdam gestanden, die sich letztendlich doch nicht geöffnet hatte. Das Vermögen, das er sich als Robert deDigue erarbeitet und erschlichen hatte, ermöglichte ihm nach wie vor ein sorgenfreies Leben. Als Ron Dark hatte er wieder einmal die Welt durchwandert, bis er schließlich beschloss, New York aufzusuchen. Es war ein eigenartiges Gefühl, wieder hier zu sein. Er selbst war ursächlich an der Gründung der Stadt beteiligt gewesen. Neu-Amsterdam … die Engländer hatten die Stadt vor nicht allzu langer Zeit eingenommen und sie umbenannt. Und wie sehr hatte sie sich verändert, seit er zuletzt hier gewesen war. Sie war ins Riesenhafte gewachsen, und Ron hätte nie gedacht, dass es ein solches Ungetüm geben konnte. Es herrschte eine vollkommen andere Stimmung als in jeder anderen Stadt, die er bislang besucht hatte. Jetzt schüttelte er die Bilder des Traumes ab, stieg in seine Kleider und verließ sein Haus. Immer wieder gerne kehrte er an einen Platz zurück, an dem er vor vielen Jahren bereits gewesen war: den großen Hafen, dessen Bau damals ein einträgliches Geschäft für ihn gewesen war. Hier traf er auch zum ersten Mal auf Annabella. Es war früher Abend, und ein frischer Wind wehte ihm vom Meer her kommend ins Gesicht, als sie auf ihn zu trat und ihn ansprach. »Ich sehe Euch an, dass Ihr genauso gerne wie ich hier steht und auf das Meer hinaus seht, wenn die Sonne versinkt.« »Tatsächlich«, stimmte Robert beiläufig zu. Er hatte keinerlei Interesse an einem Gespräch und beschloss, die Frau nicht weiter zu be-
achten. »Ihr scheint ein sehr unhöflicher Mensch zu sein, wenn Ihr nicht einmal Zeit findet, den Kopf zu drehen und mich anzusehen.« Sie sprach mit einer rauchigen Stimme, deren Timbre ihm ein Schauer über den Rücken jagte. Er war wie vor den Kopf gestoßen. Die Hartnäckigkeit und Unverschämtheit dieser Worte imponierten ihm. Also wandte er sich der Unbekannten zu. »Annabella«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Ron Dark.« Er ergriff ihre Hand und drückte sie ein wenig fester, als er es normalerweise getan hätte. Die Haut ihrer Hände war hell, beinahe weiß, und die Finger waren länger als man es erwarten konnte. Eine unendliche Eleganz und Zerbrechlichkeit ging von ihnen aus. »Annabella … ein italienischer oder spanischer Name.« »Spanisch.« Sie nickte und lächelte, dass ihre strahlend weißen Zähne blitzten. »Doch ich wurde schon hier geboren.« »Man hört es. Ihr sprecht ohne jeden Akzent.« Die hohen Wangenknochen und der sinnlich geschwungene Mund fesselten seine Aufmerksamkeit. Sie genoss seine Blicke sichtlich. »Ihr seid ein aufmerksamer Zuhörer.« »Tatsächlich zählt das zu meinen besten Eigenschaften. Mir entgeht selten ein Detail, und sei es auch noch so unbedeutend. So frage ich mich zum Beispiel, wie wohl Euer Nachname lautet, Annabella, und warum Ihr ihn mir verschwiegen habt.« Wieder waren ihre Zähne zu sehen. »Annabella ist doch ausreichend, findet Ihr nicht, Ron?« »Nicht wenn ich Euch wieder ausfindig machen will …« »Ich habe Euch diesmal gefunden, und ich werde wieder vor Euch stehen, wenn es so sein soll.« Für eine Sekunde war ihre Zungenspitze zu sehen, wie sie über ihre Lippen huschte. Es war eine derart rasche Bewegung, dass Ron sich unwillkürlich fragte, ob sie überhaupt geschehen war. Doch die Lippen glänzten ein wenig feuchter als zuvor. »Ich liebe den salzigen Geschmack, den der Wind am Meer auf den Lippen hinterlässt.«
»Bevor wir über unser nächstes Treffen reden, sollten wir erst einmal unsere erste Begegnung genießen«, meinte Ron und wies mit der ausgestreckten Hand auf das Meer. »Ihr liebt diesen Anblick also ebenso sehr wie ich.« Er hörte neben sich das leiser werdende Geräusch sich entfernender Schritte. Als er sich umdrehte, war die geheimnisvolle Annabella bereits verschwunden. Noch lange sah er ihre tiefschwarzen Haare und die Züge ihres Gesichts vor sich …. ich werde wieder vor Euch stehen, wenn es so sein soll, hatte sie gesagt. Ron hoffte darauf.
Es war unmöglich, in einer Stadt wie New York eine Frau ausfindig zu machen, von der man nur den Vornamen kannte. Das musste Ron Dark mit einer gewissen Verbitterung feststellen. Denn die Begegnung am Hafen lag mittlerweile sechs Tage zurück, und seitdem dachte er an kaum etwas anderes als an die Unbekannte. Wieder einmal war es soweit – eine Frau beherrschte all sein Denken. Es war eigenartig, wie die Erinnerungen an früher schwächer wurden, wenn eine neue Frau in sein Leben trat. Nur noch selten dachte er an die Comtesse de Vour, und kaum noch rückte Boga, sein Engel, in sein Gedächtnis. Lag es daran, dass die Zeit ihn vergessen ließ? Oder einfach nur daran, dass die Gegenwart stärker war als die Vergangenheit? Er wusste es nicht. Und er konnte niemanden fragen, denn niemand teilte die Gnade und den Fluch mit ihm, seit dreihundert Jahren zu leben. Zumindest niemand, dem er bislang begegnet war. … ich werde wieder vor Euch stehen, wenn es so sein soll. Dieser Satz verfolgte ihn bis in seine Träume. Anfangs hatte er ihm Hoffnung gemacht, doch jetzt schuf er Verbitterung in ihm. Denn ohne ihn hätte er Annabella möglicherweise vergessen können. Möglicherweise.
Auch jetzt fragte er sich, ob sie diesen Satz, der ein leitendes Schicksal nahe zu legen schien, überhaupt im Bewusstsein ausgesprochen hatte, wie sehr er in ihm arbeiten würde. Oder legte er zu viel Bedeutung in eine gedankenlos hin gesprochene Aussage? Wieder suchte er den Hafen auf. Zwei Schiffe beanspruchten offensichtlich denselben Anlegeplatz, der Wind trug Fetzen eines wütenden Streitgesprächs zu ihm herüber, deren Sinn er nicht verstehen konnte. »Sagte ich es nicht, Ron?«, hörte er ihre Stimme, und sein Herz übersprang einen Schlag. »Ich wusste, dass wir uns wieder treffen.« »Und ich hoffte es.« Wie aus dem Boden gewachsen stand sie neben ihm. Sie war noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Wie hatte er die perfekte Ebenmäßigkeit ihres Gesichtes vergessen können, die unvergleichliche Eleganz ihrer ganzen Erscheinung? »Ich sah Euch bereits gestern hier stehen, Ron, doch ich dachte, die Zeit sei noch nicht reif.« Geheimnisvoll lächelte sie ihn an. Bereits gestern? Wie viele Stunden der Qual hätte sie ihm ersparen können … »Ich wartete mit einer gewissen Ungeduld auf Euch«, sagte er, und es war die größte Untertreibung, die er seit vielen Jahren ausgesprochen hatte. »Ich weiß.« Sie trat dichter an ihn heran, stützte ihre Hände direkt neben ihm an das absperrende Geländer, auf dem auch seine Hände ruhten. »Erzählt mir mehr von Euch.« »Haben wir nicht alle unsere Geheimnisse?« fragte sie, und Ron lief es eiskalt den Rücken herunter. Es musste Zufall sein, was sie sagte, doch es berührte ihn eigentümlich. »Ihr könnt in meinem Gesicht alles sehen, was Ihr wissen müsst.« Ron dachte einen Moment über diese Aussage nach. Was sollte er erwidern? »Ich sehe dort, dass wir …« »Treffen wir uns morgen wieder«, unterbrach sie. »Geht nicht, Annabella, nicht jetzt schon!« »Ich muss, Ron, denn ich habe keine andere Wahl«, gab sie sich geheimnisvoll. »Wir werden uns morgen wieder sehen. Kommt hierher, um diese Zeit, und ich werde da sein.«
»Wer seid Ihr, Annabella? Warum …« »Ich werde wieder vor Euch stehen, wenn es so sein soll«, wiederholte sie den Satz, den er nicht vergessen konnte. »Sagte ich Euch das nicht bereits bei unserer ersten Begegnung?« Dann eilte sie davon, und Ron unterdrückte den Impuls, sie zu verfolgen. Er hatte nicht das Recht dazu. Sicher hatte sie ihre Gründe, sich so zu verhalten. Die Zeit verging quälend langsam, und das Verrichten seiner Tagesgeschäfte geschah ohne Konzentration. Er irrte ziellos durch die Straßen, kehrte in einigen Wirtschaften ein und schlug sich die Zeit tot. Er wusste, dass nur die Aussicht, sie heute Abend wieder zu treffen, ihn davon abhielt, sich sinnlos zu betrinken. Als es endlich so weit war, versank alles um ihn herum in Bedeutungslosigkeit. Nur noch sie schien zu existieren. »Komm mit mir«, sagte sie zu ihm. »Wohin?« Er war bereit, ihr überall hin zu folgen. »Es gibt etwas, das ich dir zeigen möchte.« »Welches Geheimnis umgibt dich, Annabella?«, fragte er, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. »Du wirst es erfahren, Ron.« Sie ergriff seine Hand und ließ ihren Daumen über seinen Handrücken gleiten. »Noch heute.« »Wieso redest du von Schicksal und Bestimmung?« Nur mühevoll konnte er sich der Magie ihrer Berührung entziehen. »Du redest davon, nicht ich.« Und zwei Minuten später erfuhr er, was es bedeutete, als sie sagte »ich werde wieder vor Euch stehen, wenn es so sein soll«. Denn in der Tat hatte es so sein sollen. Sie bogen um eine Ecke, und ein Schlag traf Rons Hinterkopf, ehe er zu irgendeiner Reaktion fähig gewesen wäre. Er spürte Blut an seinem Nacken herab laufen, dann sackte er ohnmächtig in sich zusammen. Es hatte so sein sollen – doch nicht vom Schicksal bestimmt, sondern vom Willen eines anderen. Dem Willen des Don Cristofero Fuego del Zamora y Montego.
Als die Ohnmacht nachließ, befand er sich im Dunkeln. Das erste, das ihm bewusst wurde, war, dass Annabella ihn in eine Falle gelockt hatte. Und dieses Wissen schmerzte, mehr noch als die kleine Platzwunde, die der Schlag auf seinen Kopf zurück gelassen hatte. Denn sie war damit für ihn nicht nur unwiederbringlich verloren – es bedeutete auch, dass er blind gewesen war und sich von ihr wie ein Anfänger hatte hereinlegen lassen. All seine Lebenserfahrung, die er in so vielen Existenzen über Jahrhunderte sammelte, hatte ihn davor nicht bewahren können. Seine Hände waren straff auf dem Rücken gefesselt. Es bereitete ihm einige Mühe, sich aufzusetzen, doch es gelang ihm. Die Dunkelheit war nicht vollkommen, so dass er sein Gefängnis in Augenschein nehmen konnte. Es handelte sich um einen etwa drei auf drei Meter großen völlig leeren Raum. Die Wände und auch der Boden waren aus nacktem Stein gemauert. In zwei Metern Höhe befand sich ein winziges Fenster, eher eine Scharte, durch das ein wenig Licht herein fiel. Eine schwere Tür verschloss die winzige Zelle. Ron versuchte seine Hände zu befreien. Die Fesseln schnitten ihm in die Haut und unterbanden die Blutzufuhr. Seine Entführer waren sehr gründlich vorgegangen, er hatte keine Chance, die Fesseln zu lösen. Unwillkürlich fragte er sich, warum Annabella es getan hatte. Er glaubte nicht, dass sie aus eigenem Antrieb handelte. Sicher war sie von jemandem beauftragt worden, doch von wem? Wen hatte sich Ron Dark zum Feind gemacht? Die Liste der Menschen, die ein begründetes Interesse daran hatten, ihn aus dem Weg zu räumen, war lang. Doch die meisten von ihnen waren längst tot und zu Staub zerfallen. Ja, Robert deBlanc hatte in seinen beiden Existenzen Feinde gehabt, auch Robert deNoir und Robert deDigue, und Robert vanDyke ebenfalls … aber als Ron Dark führte er ein eher unauffälliges Leben, das bislang zu wenig ernsthaften Konflikten geführt hatte.
Wer also stand hinter seiner Entführung? Er fand keine Erklärung. An einer Unebenheit der Wand hinter sich versuchte er, seine Fesseln aufzuscheuern, doch auch diese Bemühung blieb erfolglos. Schließlich öffnete sich die Tür seines Gefängnisses. Zwei Indianer traten ein. »Was wollt ihr von mir?«, fragte Ron. Doch sie beachteten ihn nicht. Einer der Männer schlug ihm die Faust in die Magengrube, dass er sich zusammenkrümmte. Als er sich wieder aufrichtete, sah er mit Entsetzen in den Augen die Peitsche in der Hand des anderen, deren Lederschnüre mit kleinen Knoten versehen waren. Als die Schnüre das erste Mal auf ihn zuschossen, schloss er die Augen. Seine Kleidung zerriss sofort. Der Schmerz war furchtbar, und der Indianer schlug mit unbewegter Miene wieder und wieder zu. Schließlich wand sich Ron in Agonie auf dem Boden. »Wir kommen wieder«, waren die ersten Worte, die Ron nach seinem Erwachen hörte, und auf diese hätte er verzichten können. Als sie wiederkamen, hatten sie speziell gebogene, scharf geschliffene Dolche dabei.
Er war nackt, und die beiden Indianer zerrten ihn gefesselt aus seiner Zelle heraus. Unsägliche Schmerzen plagten ihn, und er wünschte sich nichts so sehr, wie endlich sterben zu können, um eine neue Existenz zu beginnen. Als sie die Dolche angesetzt hatten, hatte er den Weg nach Avalon gehen wollen, doch der Tod war ihm noch nicht gegönnt worden. Er hatte seine Skalpierung überlebt … Die grässliche Wunde war in den letzten Tagen – oder Wochen? er hatte jegliches Zeitgefühl verloren – bereits weitgehend verheilt, über dem Schädelknochen hatte sich eine ganz dünne Hautschicht gebildet. In all den endlosen Tagen war sein Bart wild gewuchert.
Schließlich stießen ihn seine beiden Peiniger in ein prunkvoll ausgestattetes Zimmer. Er fiel kraftlos vor einem Mann zu Boden. Zuerst erkannte er den Alten nicht, der schwankend, auf einen goldverzierten Gehstock gestützt, vor einem Sessel stand. Sein Körper war ausgemergelt, aber in edle Kleidung gehüllt. Die dürren, gichtigen Finger umklammerten den Knauf des Stocks. Der Mann schien fast blind zu sein. Seine wenigen Haare waren schlohweiß. Er war älter als jeder andere Mensch, dem Ron Dark bislang begegnet war. Da schoss die Erkenntnis durch Rons gemartertes Gehirn. Es war Don Cristofero! Der Spanier musste mittlerweile hundert Jahre alt sein … Ron versuchte sich zu erheben. Aber Cristofero hob den Gehstock und drückte ihn kurz auf Rons blanken Schädel. Schmerz durchzuckte ihn, und er sank stöhnend wieder zusammen. Doch er beschloss, seinem alten Todfeind den Triumph zu verweigern. Mit einer unmenschlichen Kraftanstrengung kam er wenigstens auf die Knie. Zorn durchfuhr ihn, und ungebrochener Stolz bemächtigte sich seiner. Er würde vor Cristofero nicht kapitulieren! »So sieht man sich wieder«, sagte Don Cristofero heiser. Ron schwieg. Für einen kurzen Moment meinte er, einen weißgekleideten Fremden im hinteren Bereich des Raumes zu sehen, doch der Eindruck verging, und Ron vergaß es wieder. »Damit hast du wohl nicht gerechnet, du Lump«, krächzte sein alter Todfeind, dem er bei einer ihrer Begegnungen gesagt hatte: Ich bin dein Alptraum, du entgehst mir nie, wohin du dich auch wendest. Das hatte sich nun umgekehrt, denn Don Cristofero hatte ihn in den letzten Wochen durch mehr als nur einen Alptraum gejagt. Das Sprechen bereitete Cristofero Mühe, doch seine Stimme wurde zunehmend fester. »Dass ausgerechnet ich dir diese Falle gestellt habe. Du hast wohl nicht mehr damit gerechnet, dass ich noch lebe. Verdammt jung siehst du aus für dein Alter. Aber ich erkenne dich wieder. Ich würde dich noch in tausend Jahren wieder erkennen. So einen Schweinehund wie dich vergisst man nicht, Robert deDigue.«
»Ihr verwechselt mich«, presste Ron heraus. »Mein Name ist Ron Dark.« Das veranlasste Don Cristofero zu kichern. »Und ich bin Michealangelo Caravaggio. Oder vielleicht auch William Shakespeare? Carolus Magnus? Wer weiß. Fest steht, dass ich deinen Umtrieben jetzt ein Ende machen werde, du Hund.« »Versuche es. Nehmt mir die Fesseln ab und versucht mich umzubringen. Aber dazu seid Ihr zu feige.« »Zu vorsichtig, und zu alt. Ihr seht, was aus mir geworden ist, während Ihr die ewige Jugend gepachtet habt. Ihr seid mit dem Teufel im Bunde, nicht wahr? Ihr wart es schon immer, schon vor fünfzig, sechzig Jahren … so lange ist es her …« Cristofero schien einen Moment lang in Erinnerungen versunken. »So lange her«, wiederholte er dann. »Und doch lebe ich noch, um mich zu rächen für alles, was du Satansbruder mir angetan hast. Immer wieder und wieder. Jetzt werde ich dich töten.« Ron schwieg, denn der Tod und damit der Beginn einer neuen Existenz bedeutete für ihn keinen Schrecken, sondern nur Erlösung. »Was bringt es Euch ein, mich zu ermorden?«, fragte er dann doch noch, um Cristofero zu verwirren und seinen Triumph zu schmälern. »Ich sag's Euch nochmals, Ihr verwechselt mich.« Don Cristofero ließ sich nicht beirren. Er lachte spöttisch und streckte die linke Hand aus. Einer der Indianer legte einen Dolch hinein. »Es bringt mir Zufriedenheit, Erleichterung. Die Gewissheit, endlich nie wieder von deinen Umtrieben behindert und gestört zu werden.« Im Moment, als er den Dolch und die Entschlossenheit in den Augen Don Cristoferos sah, konzentrierte sich Ron auf den Schlüssel. Er spürte die Klinge an seinem Hals. Das letzte, das er sah, war die beinahe spielerische Bewegung, mit der Don Cristofero sie durch seinen Kehlkopf führte.
Ich beschloss, meinem Sohn erst einmal eine Ruhepause zu gönnen. Es hatte mich selbst in Erstaunen versetzt, dass Don Cristofero zuletzt doch noch seine Rache bekommen hatte.
Der spanische Edelmann war ein erstaunlicher Mensch. Fast kam es mir so vor, als habe er sein ungewöhnlich hohes Alter aus schierer Willenskraft erreicht, nur um noch über seinen Erzfeind Robert deDigue triumphieren zu können. Fast bedauerte ich, dass all sein Hass und all die unauslotbare Tiefe seiner ungebändigten Emotionen ihm keinen endgültigen Sieg bescherten, denn natürlich ging mein Sohn nach Avalon und überlebte. Und ein unbestimmbares Gefühl beschlich mich, dass Don Cristofero seinem Feind nicht das letzte Mal begegnet war. Doch natürlich war das unmöglich, denn selbst er musste in den nächsten Monaten den Weg der Sterblichen gehen. Doch die Zeit spielte manchmal eigenartige Spiele … und es gibt Schicksale, die die Zeit besiegen und ihren Ablauf verändern können. Ich tat den Gedanken ab und widmete mich anderen, wichtigeren Dingen. Einiges war in Unordnung geraten, und ich spürte, dass ich die Dämonen schärfer unter Kontrolle halten musste. Auf weiten Teilen der Erde begann der Siegeszug dessen, was die Menschen »reine Vernunft« nannten, und ihr altes Glaubenssystem brach in sich zusammen. Das hatte nicht geringe Auswirkungen auf die Hölle und die Heerscharen meiner Diener, und musste letztlich auch mich zum Umdenken zwingen. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten beobachtete ich meinen Sohn immer wieder. Ich musste feststellen, dass er keineswegs bereits in einem ausreichenden Maß gelernt hatte. Er beging immer wieder dieselben alten Fehler, und deswegen beschloss ich, ihm die beiden letzten Lektionen zu erteilen. Man schrieb auf der Erde mittlerweile das Jahr 1880, und als Robert sich wieder einmal in New York aufhielt, sah ich den Zeitpunkt für gekommen, ihm die Habsucht und ihre verderbliche Macht vor Augen zu führen.
6. Habsucht � Robert von Tannhausen stand an der Reling des Passagierdampfers, der sich, eine dunkle Schlotwolke hinter sich her ziehend, durch die Hudson Bay wälzte. Er träumte. Er träumte von jener Stadt, die er in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder aufgesucht hatte und die nichts mehr gemein hatte mit jenem Moloch aus aufragenden Wolkenkratzern, Brücken und Eisenbahntrassen, der auf der Insel Manhattan zusammengestaucht war. Manna-hatta gab es nicht mehr. Das New York des achtzehnten Jahrhunderts – verschwunden im Dunkel der Geschichte. Die Stadt hatte sich auf die anliegenden Inseln ausgebreitet. Robert hatte Rückkehrer noch in Europa von Stadtteilen wie der Bronx und Brooklyn schwärmen hören, deren Bezeichnungen nur noch entfernt an die niederländischen Namensgeber erinnerten. Er war neugierig auf dieses neue New York, das in wirtschaftlicher Hinsicht längst zur wichtigsten Stadt des Erdballs geworden war. Sobald der Passagierdampfer angelegt hatte, betrat Robert den Hafen. Er konnte es kaum erwarten. Die Einwanderungskontrollen blieben ihm erspart, denn er hatte Geld. Und Geld bedeutete alles im New York dieser Tage. Er begab sich zunächst in ein Hotel und anschließend zur Wall Street, die gerade einmal vor sieben Jahren ihre bis dahin erschütterndsten Stunden erlebt hatte. Doch der Börsencrash von 1873 hatte die New Yorker nicht nachhaltig beeindruckt. In den Straßen dröhnte es von den Baugerüsten herunter, während nebenan zwanzig Jahre alte Gebäude eingerissen wurden. Alles veränderte sich. Robert betrat ein Geschäftshaus und wurde von einem hageren Diener empfangen, dessen schwarze, angelegte Haare glänzten, als
wären sie mit Schuhfett eingerieben. Seine Finger waren so dürr, dass man damit ein Türschloss hätte öffnen können. Er musterte Robert von oben bis unten und schien zu dem Schluss zu kommen, dass es sich nur um einen Irrtum handeln könne. Robert stellte sich rasch vor. »Der Hausherr erwartet mich.« Noch einmal schweifte der Blick des Dieners über Roberts Kleider. Unverhohlen rümpfte er die Nase. Robert tat, als bemerke er es nicht. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, seine Garderobe zu wechseln. Zu wichtig war ihm das Anliegen, das ihn in dieses Haus führte, und er wusste, dass er schnell sein musste. Schneller als alle anderen. Der Diener verschwand und kehrte wenige Minuten später zurück. »Mister Morgan empfängt Sie«, näselte er stirnrunzelnd, als stelle diese Tatsache für ihn die größte Überraschung seines Lebens dar. »Folgen Sie mir bitte, Mister Tannhausen.« Der Finanzier und Banker John Pierpont Morgan empfing ihn in einem Büro, dessen Fenster einen erstklassigen Blick über die Hudson Bay boten. Morgan saß hinter seinem Schreibtisch und blickte dem Besucher kühl-herablassend entgegen. Ein breiter, gezwirbelter Schnurrbart verlieh seinem Gesicht etwas Bärbeißiges. Seine Nase war von Acne Rosecea entstellt. Mit seinem massigen Körper schien Morgan den ganzen Raum auszufüllen, und Robert konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass dieser Eindruck kalkuliert war. »Guten Morgen, Mister von Tannhausen!«, begrüßte der Banker ihn mit einer Stimme, die vermutlich selbst die Fundamente des Empire State Building zum Zittern gebracht hätte. Er stand auf und gab Robert die Hand. »Sie sind Deutscher?« »Ich habe lange dort gelebt«, wich Robert aus. »Ich mag die Deutschen nicht. Aber vielleicht habe ich trotzdem Zeit für Sie. Fangen wir besser an, denn meine Zeit ist begrenzt.« Welch tiefer Sinn hinter diesen unbedachten Worten lag … Roberts Zeit war buchstäblich weniger knapp bemessen. Trotzdem beschloss er, die Geduld Morgans nicht über Gebühr zu strapazie-
ren. Schließlich brauchte er ihn noch … »Die Geschäftsidee, die ich Ihnen vortragen möchte …« »Ideen habe ich selber genug«, fuhr Morgan dazwischen. »Was ich von Ihnen hören will, ist, wie Sie sie umsetzen wollen!« Guter Mann, dachte Robert. »Sagt Ihnen der Name Thomas Alva Edison etwas?« Morgan schaute auf seine Taschenuhr. »Soll das vielleicht eine Quizstunde werden, Mister von Tannhausen?« »Entschuldigen Sie, Mister Morgan. Thomas Alva Edison ist Techniker und Erfinder. Einige sehr interessante Konstruktionen gehen auf ihn zurück, die …« »Warum ist er nicht hier, wenn es anscheinend nur um ihn geht?« »Nun ja, er ist … wie soll ich sagen, kein Geschäftsmann. Ich kümmere mich um seine finanziellen Angelegenheiten.« »Kommen Sie zur Sache!« Und Robert kam zur Sache. Eine halbe Stunde später hatte John Pierpont Morgan seine restlichen Termine vergessen. Er war von Roberts Vorschlag begeistert.
Drei Stunden später betrat Robert eine alte Kaschemme im Armenviertel Five Points. Zigarettenqualm schlug ihm entgegen und der Geruch von Branntwein und Erbrochenem. Die Kneipe war bis auf den letzten Platz gefüllt. An der Theke drängelten sich abgemagerte Gestalten in lumpigen Anzügen. Die Nähe zur Wall Street und den Geschäftsbezirken Manhattans war in Five Points nicht spürbar. Hier trafen sich die Verlierer des Wirtschaftsbooms, die Einwanderer und Arbeitslosen, die durch das Raster gefallen waren. Sie verbrachten den Tag in Kneipen oder auf der Straße, wo sie Banden gründeten und ihre Mitbürger terrorisierten. Five Points war das Ende einer Einbahnstraße. Wer einmal hier gelandet war, kam niemals wieder heraus. Robert ließ den Blick über die Menge schweifen und entdeckte eine blonde Schönheit, die es sich gerade auf dem Schoß eines breit-
schultrigen Kerls bequem machen wollte. Als sie ihn erblickte, sprang sie auf und lief ihm entgegen. »Robert!« Sie drückte ihn an sich und gab ihm einen Kuss. Dann zog sie ihn zur Treppe, die in den ersten Stock führte. Das Grölen und Pfeifen der Tischrunde, die sie im Stich ließ, verfolgte sie bis nach oben. »Ich hatte schon gedacht, du kommst nicht mehr«, sagte sie, nachdem sie die Tür ihres Zimmers hinter sich geschlossen hatte. Er blickte sich um. »Du lebst nicht gerade sehr vornehm, Susan.« Das Zimmer besaß ein Bett, einen Tisch und Stühle sowie eine Schminkkommode mit einem großen Spiegel, der an die Garderobe einer Künstlerin erinnerte. Susan war alles andere als das. Eine Schauspielerin war sie allerdings. Jedenfalls in weiterem Sinne, dachte Robert. »Ich nehme, was kommt. Das Leben in New York ist kein Zuckerschlecken, mein Freund.« Sie streifte ihm liebevoll die Jacke und das Oberhemd vom Leib. »Du riechst etwas streng«, kicherte sie. »Hast du auf dem Dampfer als Kohlenschlepper angeheuert?« »Ich sollte mich waschen«, sagte er. Das Zimmer besaß keine Dusche. Er raffte seine Kleider zusammen und verschwand auf dem Flur. Zehn Minuten später kam er zurück. Seine Kleider rochen immer noch nach Schweiß, Qualm und Salzwasser, aber wenigstens fühlte er sich jetzt wieder halbwegs sauber. »Ich glaube, ich habe Morgan rumgekriegt«, sagte er. Sie umarmte ihn. »Tom wird dich dafür küssen wollen, Robert!« Er schob sie sanft zurück. »Du weißt, dass ich meinen Anteil an dem Geschäft verlange.« »Das ist nicht mein Problem. Sag mir lieber, was du von mir verlangst.« Er musterte sie von oben bis unten. Sie war noch schöner geworden in den zehn Jahren, die sie sich nicht gesehen hatten. Und sie hatte sich kaum verändert. Das lange, blonde Haar fiel ihr in Strähnen über die Schultern. Noch immer wurde ihr Gesicht von jenem
einnehmenden Lachen beherrscht, das ihn schon bei ihrer ersten Begegnung verzaubert hatte. »Alles, was du willst«, sagte er. Sie ergriff seine Hand und zog ihn zum Bett. »Dann lass uns gleich damit anfangen«, sagte sie.
Eine Stunde später lehnte Robert sich erschöpft an das Bettgestell. Susan schlüpfte in ihre Kleider und legte neue Schminke auf. »Ich muss runter. Jones vermisst mich wahrscheinlich schon.« »Du solltest das nicht tun«, sagte Robert. »Du hast Besseres verdient.« Sie lachte auf. »Man merkt, dass du noch nicht lange hier bist, Robert. Hier gibt es nichts Besseres. Diese Stadt ist ein Sumpf. Sie zieht jeden hinab, der sich zu lange hier aufhält.« »Ich werde dir das Gegenteil beweisen. Das Geschäft mit Morgan wird uns alle voranbringen. Dich und Thomas am allermeisten.« Sie drehte sich um. »Du wirst ihm doch nichts von uns beiden erzählen, oder?« Robert schüttelte den Kopf. »Verlass dich nur auf mich. Das Geschäft hat absoluten Vorrang.« Sie legte den Kopf schräg. »So, wie du das sagst, müsste ich eigentlich wütend sein. Aber ich bin's nicht.« Er hätte ihr auch sagen können, weshalb. Weil sie ebenfalls scharf auf das Geld war. Sie gestand es sich nur nicht ein. Genau das war der Grund, weshalb er sich damals nicht in Susan verliebt hatte. Sie wäre niemals offen gewesen – weder gegen ihn noch gegen sich selbst. Als sie sich fertig geschminkt hatte, ging sie zur Tür. »Du siehst bezaubernd aus«, sagte Robert. »Ich habe in drei Stunden Feierabend. Wartest du auf mich, Robert?« Er räkelte sich auf dem Bett. »Schon seit mehr als zehn Jahren, Susan.«
Er hatte sie im Jahre 1870 in Deutschland kennen gelernt. Damals hatte sie noch Susanne Stiegler geheißen und war ein junges, aber eigenwilliges Mädchen gewesen. Ihr Vater, der einen gepachteten Flecken Erde in der Eiffel bewirtschaftete, war ein Säufer gewesen. Statt das Feld zu bestellen, hatte er sich in der Wirtschaft herumgetrieben und die Frauen beglückt – solange, bis sie ihn verstießen, weil er kein Geld mehr hatte. Susannes Mutter hatte ihren Frust an ihrer Tochter ausgelassen. Sie schlug sie und kommandierte sie herum, bis Susanne mit siebzehn die Nase voll hatte und davonlief. Ihre Eltern hatten vermutlich nicht einmal den Versuch gemacht, sie zurückzuhalten. Zunächst war sie nach Bremen gegangen, dann nach Amsterdam. Sie hatte sich einige Zeit als Dirne verdingt, bis sie genug Geld für die Überfahrt nach Amerika zusammen hatte. Die USA waren für sie das Land der Hoffnung. Man hörte unglaubliche Geschichten von dort, und jeder, der zurückkam, hatte die Taschen voller Geld. Am Vorabend ihrer Überfahrt traf sie Robert von Tannhausen. Es wurde eine heiße Nacht. Er erzählte ihr, dass er einige Handelsgeschäfte besaß und demnächst in die Neue Welt überfahren wollte. Er ahnte, dass sie ihn durchschaute, aber sie sagte nichts. Die Wahrheit war, dass Robert zu diesem Zeitpunkt am Ende war – wieder einmal. Hundertfünfzig Jahre war es her, seit sein Erzfeind Don Cristofero ihn getötet hatte. Er dachte nur ungern an sein Leben als Ron Dark zurück. Es war eine Zeit voller vergebener Chancen gewesen. Seitdem hatte er das Gefühl, wie ein Hamster im Rad dem eigenen Erfolg hinterherzurennen. Wie lange war es bereits her, dass er sich geschworen hatte, nie wieder arm sein zu wollen? Jahrhunderte. Es kam ihm wie Jahrtausende vor. In den vergangenen fünfzehn Dekaden hatte er sich hier und da als Kaufmann oder Händler versucht und war sogar die meiste Zeit ehrlich über die Runden gekommen. Ein Vermögen anzuhäufen, war ihm jedoch aus unerklärlichen Gründen nicht gelungen. Vielleicht weil ihm die Unterstützung seines Erzeugers fehlte …
Er hatte den Fürsten d'Assimo schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wieviele Söhne zeugt ein Teufel wohl in seinem Leben? Es war ein haarsträubender Gedanke: Vielleicht hatte d'Assimo ihn endlich aufgegeben. Vielleicht hatte er eingesehen, dass sein Sohn unwiderruflich aus der Art geschlagen war und ein neues »Experiment« gestartet. Umso besser. Sollte der Kerl bleiben, wo der Pfeffer wächst. Robert war nicht gerade darauf erpicht, ihn noch einmal zu Gesicht zu bekommen. Aber das war nur die halbe Wahrheit. Es ärgerte Robert maßlos, dass er offenbar nicht aus eigener Kraft auf die Beine kam. Immer hatte sein Erzeuger eingegriffen, wenn es brenzlig wurde. Er hatte Robert das Leben gerettet, hatte ihm die Goldmünzen geschenkt, die ihm den Weg zurück nach Amsterdam eröffneten. Boga, die Comtesse de Vour, Annabella … Die Gesichter der Frauen, die er in seinem Leben gehabt hatte, huschten vor seinem inneren Auge vorüber. Sie waren so schrecklich weit fort. An einige von ihnen konnte er sich vermutlich schon gar nicht mehr erinnern. Und jetzt Susanne. Sie bedeutete ihm nichts, doch fünf Jahre nach ihrer Ankunft in Amerika erreichte ihn plötzlich ein Brief von ihr. Sie hatte einen Erfinder namens Thomas Edison kennengelernt. Offenbar liebten sie sich, doch um eine Familie zu gründen, fehlte Edison das Geld. Er war ein Tüftler, aber nicht gerade ein Finanzgenie. Robert hatte nicht geantwortet. Eine einzige Nacht – was bedeutete das schon? Aber Susanne – oder Susan, wie sie sich jetzt nannte – hatte nicht locker gelassen. Offenbar hatte sie sein Gewäsch damals wirklich geglaubt und hielt ihn für einen erfolgreichen Kaufmann, dem das Geld nur so aus den Taschen quoll. Wir brauchen deine Hilfe. Thomas hat eine hervorragende Idee. Warum brauchten sie seine Hilfe? Amerika war das Land der Ideen, das Land der Aufsteiger, in dem man über Nacht zum Millionär werden konnte.
Er saß über Susans Briefen und fragte sich, ob er noch bei Verstand war, dass er wirklich überlegte, ihrem Ruf Folge zu leisten. Aber was hätte ihn aufhalten sollen? Europa war ein Rattenloch. Gerade hatten Deutschland und Frankreich wieder einmal eine kriegerische Auseinandersetzung hinter sich gebracht, und obwohl mit dem Deutschen Bismarck ein Mann am Ruder war, der eine intelligente Friedenspolitik verfolgte, war es nach Roberts Meinung nur eine Frage der Zeit, bis die nächste Schlacht folgte. Und mit jedem Mal wurden die Waffen besser, größer und wirkungsvoller. Das deutsche Heer lechzte danach, sich zu beweisen. Also traf er eine Entscheidung. Er kam Susannes Wunsch nach. Fünf Jahre, nachdem sie ihm das erste Mal geschrieben hatte, machte er sich auf den Weg nach New York. Sein gesamtes Vermögen bestand aus einer kleinen Barschaft, die er in seinen Anzug eingenäht mit auf die Reise nahm, sowie einem großen Koffer, in dem er seine Kleider verstaute. Er wusste noch immer nicht genau, was Susanne von ihm wollte. Aber er wusste, dass er Europa für lange Zeit den Rücken kehren würde. Vielleicht für immer.
John Pierpont Morgan war der entscheidende Mann an der Wall Street – der Finanzier, über den alle großen Geschäfte liefen. Ihm war es zu verdanken, dass die Chaosjahre, die auf den Börsencrash folgten, langsam ihr Ende nahmen. Er kaufte kleine Firmen auf und machte sie groß. Und er kaufte große Firmen und machte sie noch größer. Ob im Ölgeschäft oder bei der Eisenbahn – überall, wo es Geld zu verdienen gab, war Morgan dabei. Aber das machte die Zusammenarbeit mit ihm gleichzeitig zu einem großen Risiko, dem Robert frühzeitig zu begegnen gedachte. Allerdings hätte er wirklich damit rechnen müssen, dass Edison und Susan auf ähnliche Gedanken kamen … Einen Monat, nachdem er Morgan aufgesucht hatte, begab sich Robert abermals nach Five Points. Er hatte gleich ein schlechtes Gefühl, als er das Etablissement betrat. Jones, der Wirt, empfing ihn
mit einem höhnischen Grinsen und deutete auf die Treppe in den ersten Stock. Als Robert an Susans Tür klopfte, ertönte eine Männerstimme. »Herein.« Es war Thomas Edison. Ein vergeistigter, nachlässig gekleideter Mann mit feingliedrigen Händen und unübersehbarem Ansatz zu Geheimratsecken. Er war Mitte dreißig, sah aber zehn Jahre älter aus. Ein lebendes Beispiel dafür, dass diese Stadt ihren Bewohnern Lebenskraft entzog. Susan saß auf dem Bett und blickte Robert schuldbewusst an. »Was soll das?«, fragte Robert stirnrunzelnd. Edison ging auf ihn los. »Was das soll, fragen Sie? Sie verdammter Hurensohn! Ich habe gleich gewusst, dass zwischen meiner Frau und Ihnen etwas läuft!« »Sie täuschen sich, Mister Edison«, sagte Robert kühl. Susan schlug die Augen nieder. »Ich habe ihm alles gesagt, Robert.« Edisons Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich sollte dich umbringen, Kerl!«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Es geht euch doch ums Geschäft, oder?«, fragte Robert. »Was soll das heißen? Dass Sie ungestört meine Frau vögeln dürfen?« »Sie ist nicht Ihre Frau«, stellte Robert nüchtern fest. Edison war kurz davor zu explodieren. Aber Robert hatte keine Angst. Edison war ein Zwerg. Normalerweise konnte er wahrscheinlich keiner Fliege was zuleide tun. Er echauffierte sich ein bisschen. Wer hätte das nicht getan? Das würde sich wieder geben. »Denken Sie an das Geld, Edison«, mahnte Robert. »Ich pfeife auf das Geld!«, schrie Edison. »Für mich ist die Zusammenarbeit beendet!« Susan sprang auf. »Thomas – das kannst du nicht tun.« »Lass mich los, du Flittchen!« Robert packte Edison und drückte ihn auf die Bettkante. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, mein Lieber. Glauben Sie etwa, ich bin extra
wegen der Nummer mit Ihrer Geliebten nach Amerika gekommen? Ich habe bei Morgan meine Hand für Sie ins Feuer gelegt. Ohne mich hätten Sie keinen Cent, um Ihre Erfindung zu verwirklichen …« »Dann suche ich mir eben andere Partner«, sagte Edison trotzig. Robert hielt die Hand auf. »Schön. Wenn Sie wollen. Dann geben Sie mir auf der Stelle mein Geld zurück.« Susan legte Edison die Arme um den Hals. »Liebling – du solltest das alles noch mal überdenken. Was zwischen Robert und mir war, ist unwichtig. Er bedeutet mir nichts …« Edison kniff die Lippen zusammen. Dieses Flittchen wickelt ihn glatt um den Finger, dachte Robert. Aber ihm sollte es recht sein. Wenn Thomas Edison auf diese Weise nur wieder zu Verstand kam. »Sie sind ein technisches Genie«, sagte Robert, »aber Sie lassen sich zu sehr von Ihren Gefühlen leiten.« »Halten Sie den Mund«, fauchte Edison. »Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihre Frau nicht mehr anfassen werde.« Susan drehte sich um. »Was zwischen uns war, ist vorbei, Robert. Glaub bloß nicht, dass ich ein zweites Mal auf dich hereingefallen wäre!« Robert beschloss, das Theater mitzuspielen. Verdammt, dieser Edison war eine Goldgrube. Er wusste es nur nicht. Robert sah, wie Edisons Kieferknochen mahlten. »Die ganze Sache ist verrückt«, knurrte Edison. »Vollkommen verrückt.« Da hat er Recht. Ich muss wahnsinnig sein, mich mit den beiden abzugeben. Edison sprang auf. »Warum tun Sie das, Mister Tannhausen? Warum setzen Sie sich für uns ein? Schließlich ist es Morgans Geld, nicht Ihres.« Susan blickte Robert abfällig an. »Er wird schon dafür sorgen, dass ein anständiger Brocken für ihn übrig bleibt.« »Aber was ist, wenn Morgan uns alle aufs Kreuz legt?«, fragte Edi-
son. »Er ist ein verdammter Banker. Die sind alle gleich. Hundert Mal habe ich versucht, von denen Geld zu bekommen. Die geben nichts, wenn sie nicht die Gewissheit haben, ihren Kunden dabei über den Tisch ziehen zu können.« Der Kerl ist gar nicht so dumm, wie ich dachte. »Lassen Sie das nur meine Sorge sein«, sagte Robert. Edison kniff die Augen zusammen. »Haben Sie etwa einen Plan, von dem Sie uns nichts erzählt haben?« Genau so ist es. Und d'Assimo soll mich holen, wenn ich es jetzt tue. »Wir sollten einander vertrauen. Ich regle das Finanzielle, und Sie entwickeln die Anlage.« Edison blickte Robert an. »Schwören Sie, dass Sie Susan in Ruhe lassen.« »Sie können sich auf mich verlassen.« Der Erfinder atmete tief durch. »Also gut. Dann werden wir weitermachen.« »Ich gratuliere«, sagte Robert erleichtert. »Wie lange werden Sie noch brauchen.« »Sechs Monate höchstens.« Robert grinste. »Dann machen Sie sich endlich wieder an die Arbeit.«
Zwei Tage später betrat Robert abermals Five Points, aber diesmal war nicht Susan sein Ziel. Er hatte die Absicht, das Versprechen zu halten, das er Edison gegeben hatte. Gleichzeitig war ihm klar, dass der Erfinder den sensiblen Punkt des Projektes angesprochen hatte. J. P. Morgan. Er hatte diesen Teil des Plans schon viel zu lange vor sich her geschoben. Er suchte eine Kneipe auf, die nur eine Querstraße von Susans Etablissement entfernt lag. Sofort entdeckte er den markanten Schädel des Hageren unter den Gästen. Morgans Diener hatte sich um legere Kleidung bemüht, aber seine Steifheit würde er wohl bis zum Tod nicht mehr ablegen können. Unter den finsteren Gestalten um sich
herum fiel er auf wie ein Pinguin im afrikanischen Dschungel. Robert ließ sich an dem Tisch nieder. Der Hagere blickte sich verstohlen um. »Es versteht sich von selbst, dass wir uns nie getroffen haben, Mister Tannhausen.« Seine Finger spielten nervös mit den Dokumenten, die er aus einer schwarzen Ledertasche gezogen hatte. »Wie Sie schon sagten – es versteht sich«, erwiderte Robert. Er bestellte ein Bier und wartete, bis der Wirt wieder verschwunden war. Diese Kneipe war nicht so heruntergekommen wie das Loch, in dem Susan arbeitete. Nun ja, bald würde sie ja genug zum Leben haben. Der Hagere schob die Dokumente herüber. Im Gegenzug wechselte ein Bündel Banknoten den Besitzer. Sechshundert Dollar. Das war alles, was ihm von Morgans Geld geblieben war – plus seine eigenen kargen Ersparnisse. Ich muss verrückt sein, dachte er, während er die Dokumente durchsah. Ich lege mein Schicksal in die Hände eines völlig Fremden … Der Hagere grinste. »Ich habe Zugang zu allen Unterlagen Morgans. Er vertraut mir. Und doch behandelt er mich wie Dreck. Ich habe schon lange auf eine Gelegenheit gewartet, dem Alten eins auszuwischen.« »Das dürfte Ihnen in diesem Augenblick zweifellos gelungen sein«, sagte Robert zufrieden. Der Hagere hatte das Dokument nur an wenigen Stellen abgeändert. Aber diese Stellen würden Roberts Leben verändern. Für immer. Er schob die Seiten zurück. »Bringen Sie sie wieder an Ihren Platz.« Er blickte den Diener durchdringend an. »Und lassen Sie sich ja nicht einfallen, mich zu hintergehen.« »Sechshundert Dollar sind ein gewichtiges Argument, Mister Tannhausen.« Die würde der Hagere auch brauchen. Sobald Morgan feststellte, dass die Dokumente nachträglich geändert worden waren, war er vermutlich seines Lebens nicht mehr sicher. »Möchten Sie auch ein Bier?«, fragte Robert leutselig. »Ich trinke niemals«, sagte der Hagere, stand auf und entfernte
sich mit langen Schritten. �
In den nächsten Wochen flossen abermals Tausende Dollar, die Thomas Edison dazu nutzte, seine Erfindung zu perfektionieren. Das Projekt verschlang Summen, bei denen Robert schwindlig wurde, wenn er zu lange darüber nachdachte. Aber er spürte, dass für ihn jetzt der Zeitpunkt der Entscheidung gekommen war. Er hatte sich von seinem Erzeuger losgesagt und die Vergangenheit abgeschüttelt. Er hatte nichts mehr zu tun mit den deBlancs, deDigues und Ron Darks, die sich in einen winzigen, unbedeutenden Winkel seiner Erinnerung verkrochen hatten. Sie waren nicht länger Teil seiner Selbst. Er war Robert von Tannhausen, und als dieser war er zu einem neuen Menschen geworden. Am 15. August 1882 war es soweit. Robert besuchte Edison im Herzstück seiner Erfindung – einem mehrstöckigen Gebäude im Norden der Stadt, von dem aus sich schwere Leitungen in einem unterirdischen Netzwerk über Manhattan verbreiteten. Leitungen, über die Edison die ›Zukunft in die Stadt bringen würde‹, wie er häufig genug sagte. »Die Hauptarbeiten sind abgeschlossen«, sagte Edison strahlend. »Meine Leute arbeiten Tag und Nacht, um die letzten Vorbereitungen für den großen Tag zu treffen.« »Wie lange werden sie brauchen?«, fragte Robert, der sich nie für die technischen Details interessiert hatte. »Am 4. September werden wir starten. Dann wird ganz New York in einem …« »Ich bin überzeugt, dass es klappen wird«, sagte Robert. »Leider habe ich wenig Zeit, da Morgan mich zu einer Besprechung erwartet. Er wird hoch zufrieden sein, wenn er erfährt, dass Sie kurz vor dem Abschluss stehen.« Robert schüttelte Edisons Hand und verabschiedete sich. Bevor er ging, drehte er noch einmal den Kopf. »Ach ja, wie geht es eigentlich Susan?« Edison zuckte schuldbewusst zusammen. »Ich weiß nicht«, sagte er kleinlaut. »Wir hatten seit Wochen kaum noch Zeit, miteinander
zu sprechen …«
Robert war vor dem Treffen mit John Pierpont Morgan keineswegs so selbstbewusst, wie er sich gab. Er ahnte, weshalb der Banker ihn zu sprechen wünschte. Also war er hinter die kleine Manipulation gekommen. Das war ärgerlich, weil Robert darauf spekuliert hatte, dass Morgan vor dem großen Tag keinen Blick mehr in die Verträge werfen würde. Aber nun ließ es sich nicht mehr ändern. Der Hagere begrüßte ihn steif und führte ihn in das Büro des Finanziers. Morgan saß hinter seinem Schreibtisch. Sein Gesicht war gerötet, der Schnurrbart zitterte. In der Hand hielt er den Vertrag, den er mit Robert geschlossen hatte. Wütend schleuderte er ihm die Papiere entgegen. »Was soll das sein, Mister von Tannhausen?«, rief er. Robert sammelte die Blätter ein und gab sie Morgan scheinbar ahnungslos zurück. »Es ist der Vertrag, den wir beide unterschrieben haben, nehme ich an.« Morgan sprang auf. Die Zigarre in seinem Mundwinkel wippte auf und ab, so dass die Asche auf den Schreibtisch fiel, wo sie die Blätter versengte. »Diesen Unsinn habe ich im Leben nicht unterschrieben!« Robert beugte sich vor. »Es steht Ihr Name drauf, Sir.« Morgan spuckte ihm die Worte förmlich entgegen. »Ich weiß nicht, wie Sie das gemacht haben, Tannhausen, aber eins verspreche ich Ihnen. Ich werde das nicht auf mir sitzen lassen. Wir sehen uns vor Gericht!« »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, erwiderte Robert kühl. »Aber auch der Richter wird nicht umhinkommen, die Fakten zu berücksichtigen. Und die Fakten sprechen von …« Als Morgan die Zahl hörte, explodierte er endgültig. »Zwanzig Prozent!«, schrie er. »Niemals hätte ich mein Geld in ein Projekt gesteckt, das mir später lediglich zwanzig Prozent des Gewinns garantiert. Sie waren es, der zwanzig Prozent bekommen sollte. Zusam-
men mit Edison und den anderen.« Robert war blass geworden. Er versuchte, seine Überraschung vor Morgan zu verbergen … Achtzig Prozent! Er hatte dem Hageren gesagt, dass er den Betrag auf vierzig Prozent erhöhen sollte. Morgan war ein Blutsauger, und vierzig Prozent wären unter den gegebenen Umständen nur fair gewesen. Niemals hatte er etwas von achtzig Prozent gesagt …! Robert versuchte, sein Erstaunen hinter einem unverbindlichen Lächeln zu verstecken. »Sie werden einsehen, dass wir uns mit zwanzig Prozent niemals zufrieden gegeben hätten. Diese Zahl ist utopisch. Immerhin hat Edison Ihnen die Erfindung nicht verkauft. Er hat sie mir verkauft.« Bloß dass Edison das nicht weiß … Aber das war der zweite Teil des Streiches, und Robert würde sich eher die Zunge abbeißen, als Morgan davon zu erzählen. Edison würde es noch früh genug erfahren. »Sie sind ein Schurke, von Tannhausen. Sie stehen mit dem Teufel im Bunde, aber ich werde Ihnen die Flausen austreiben!« »Was wollen Sie tun, Mister Morgan? Mich verklagen?« John Pierpont Morgan kniff die Augen zusammen. »Meinen Sie etwa, es gibt nur die Möglichkeit der Gerichtsbarkeit? Glauben Sie wirklich, ich wäre so erfolgreich geworden, wenn ich immer den Weg des Gesetzes gegangen wäre? Sie haben sich mit dem Falschen angelegt, Mister von Tannhausen. Dies ist ein freies Land. Hier pflegt man die Probleme zu regeln, wie es einem in den Sinn passt. Und niemandem würde es in den Sinn kommen, deswegen Fragen zu stellen …« Die Röte verschwand aus Morgans Gesicht. Plötzlich atmete er wieder ruhig. »Verschwinden Sie, Tannhausen. Ich verspreche Ihnen: Sie werden mich noch darum anbetteln, mir meine wohlverdienten sechzig Prozent zurückgeben zu dürfen.«
Zwei Wochen später fand man die Leiche des Dieners im Hudson. Ein Unfall, wie die Polizei feststellte. Der Mann war hochgradig betrunken gewesen und vermutlich während der Nacht auf das Gerüst der Brooklyn Bridge geklettert,
die im nächsten Jahr eröffnet werden sollte. Ich trinke niemals, hörte Robert den Hageren im Geiste sagen, während er den Bericht in der Zeitung las. Also hatte Morgan herausgefunden, wie der Betrug zustandegekommen war und den Schuldigen bestraft. Einen der Schuldigen jedenfalls. Robert zweifelte nicht daran, dass es ein Signal war. Und er hatte verstanden. Aber wenn Morgan dachte, dass er sich der Gewalt beugen würde, hatte er sich getäuscht. Er hatte längst Vorkehrungen getroffen. Nur noch eine Woche, bis Edison seine Erfindung präsentierte. Sobald die Investoren Schlange standen, würde Robert die Geschäfte einem Stellvertreter übertragen und verschwinden. Eine Weile untertauchen. Bis Gras über die Sache gewachsen war. Nur noch eine Woche! Er schlenderte durch die Straßen in Richtung Süden und dachte daran, dass der Hagere seinetwegen gestorben war. Das hatte er nicht gewollt. Aber der Diener hatte das Risiko gekannt. Das Geld war ihm wichtiger gewesen. Ein Menschenleben zählt weniger als sechshundert Dollar. Sein Erzeuger hätte seine Freude an dieser Feststellung gehabt. Robert schreckte aus einen Grübeleien auf und stellte erstaunt fest, dass er Five Points erreicht hatte. Er hatte gar nicht die Absicht gehabt, so weit nach Süden zu gehen. Aus einer Laune heraus suchte er das Etablissement auf, in dem Susan arbeitete. Die Hure, die zur Millionärin wurde! Wenn Edisons Projekt erfolgreich war, war dies die nächste Story, auf die sich die Reporter stürzen würden. Als er Jones nach Susan fragte, schüttelte dieser den Kopf. »Die arbeitet nicht mehr hier.« Er verzog das Gesicht. »Ist weggezogen, weil sie sich für was Besseres hält.« »Wo wohnt sie jetzt?« »Irgendwo in Brooklyn. Mir doch egal.« In Brooklyn lebten vierhunderttausend Menschen. Vielen Dank für die Auskunft.
Robert trat zurück auf die Straße und blinzelte. Die Sonne erschien ihm wie das Leuchten am Ende des Tunnels, das Licht, das den Weg in Paradies aufzeigte. Das kann nur ein Irrtum sein. Das Paradies steht Mördern nicht offen. Da hab ich als Sohn des Teufels wohl einfach die falsche Abzweigung gewählt.
Der vierte September begann, wie der dritte geendet hatte. Im Dauerregen. Der Himmel war von schmutzigem Grau, und Manhattan drohte in den sintflutartigen Strudeln, die sich über den Kanallöchern bildeten, zu ertrinken. Aber am Nachmittag klarte der Himmel auf, und gegen sechs Uhr hatten sich die Wolken entgültig verzogen. Robert machte einen Spaziergang durch den Central Park. Er genoss die Stille. Die Blätter der Bäume glitzerten im Licht der Abendsonne. Er nahm eine Droschke und ließ sich zu Edison fahren. Robert hatte schon den ganzen Tag über ein ungutes Gefühl gehabt – so als würde irgendetwas schief gehen und den endgültigen Triumph im letzten Augenblick verhindern. Als Robert das Backsteinhaus betrat, lief Edison ihm entgegen. »Komm mit!«, sagte er nur. Robert folgte ihm in einen abgeschlossenen Raum, in dem ein von Papieren und Skizzenzeichnungen überhäufter Schreibtisch stand. Edisons Arbeitsplatz. »J. P. Morgan hat mich über alles informiert«, sagte Edison. »Und, was willst du jetzt tun?« »Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass du uns übers Ohr hauen würdest. Susan wollte mich beschwichtigen, aber ich hab eine Nase für so was. Und ich hab's gleich gerochen.« Du hast eine Nase für technische Dinge und sonst für gar nichts. Wenn es anders wäre, hättest du das Geschäft mit Morgan selbst gemacht. »Susan hat mich gebeten zu kommen. Sie hat mich förmlich angebettelt, während ich in Amsterdam war.«
»Morgan hat mir die Verträge gezeigt. Ich habe dir vertraut, aber du speist uns mit einem Taschengeld ab. Du bist es, der an meiner Arbeit verdient und niemand sonst. Selbst Morgan hast du übers Ohr gehauen.« »Er hat es nicht besser verdient.« »Die Verträge werden gerade von Anwälten geprüft. Ich habe Morgan meine volle Unterstützung zugesagt. Sollten wir Recht bekommen, wird der Vertrag für nichtig erklärt. Du hast etwas verkauft, was dir gar nicht gehört, und noch dazu betrügerisch gehandelt. Du kannst froh sein, wenn du dafür nicht aufgeknüpft wirst.« Robert war selbst erstaunt darüber, wie gelassen er die Vorwürfe aufnahm. »Die Verträge sind wasserdicht. Ihr bekommt, was euch zusteht. Ich hatte überlegt, euch mehr zu lassen, aber nach diesem Auftritt von dir spricht nicht mehr sehr viel dafür.« »Geschwätz!«, entfuhr es Edison. »Ich muss zurück an meine Arbeit. Von jetzt an sind wir geschiedene Leute, Robert!« »Wann beginnt die Vorstellung?« »Um acht Uhr. Komm bloß nicht auf die Idee, ihr beiwohnen zu wollen.« Robert grinste. »Keine Sorge. Mir reicht es, wenn ich meinen Anteil bekomme.« Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Büro.
Du bist deinem Erzeuger näher, als du denkst. Es war dieser hässliche Satz, der Robert während der nächsten Stunden nicht aus dem Kopf ging. Er schlenderte durch den Central Park, während die große Stunde näher rückte. Gegen halb acht hielt er es nicht mehr aus und näherte sich dem Backsteinhaus, das Edison als Electricitätskraftwerk bezeichnete. Ein Dutzend Reporter hatten sich dort versammelt. Sie standen auf ihre zusammengeklappten Stative gestützt und diskutierten lautstark, während sie auf Einlass warteten. Außerdem hatten sich zahllose Schaulustige eingefunden. Ein paar Polizisten sicherten das Gelän-
de. Edison machte es spannend, das musste man ihm lassen. Viertel vor acht öffnete der Erfinder das Tor. Die Meute stürmte herein – jedenfalls die, die zuvor von Edison einen Passierschein bekommen hatten. Ein Raunen ging durch die Menge, als eine Droschke vorfuhr, aus der John Pierpont Morgan stieg. Reporter knipsten ihn auf dem Weg zum Eingang. In diesem Augenblick fühlte Robert eine schreckliche Einsamkeit. Und er fühlte Neid. Nicht auf die Blitzlichter, nicht auf das öffentliche Interesse, das Edison ohne Zweifel entgegenschlagen würde. Es war Neid auf die Sterblichen. Die ihr Leben als selbstverständlich empfanden, während er, Robert, immer ein Außenseiter bleiben würde. Es gab niemanden, der ihn verstehen würde, niemanden, dem er sich offenbaren konnte. Eine Bewegung zu beiden Seiten ließ ihn zusammenzucken. Zwei Kerle hatten sich neben ihn geschlichen, groß wie Schränke und in Anzüge gepresst, in denen sie so grotesk aussahen wie Gorillas, denen man Hemd und Hose übergestreift hatte. »Hier seid ihr falsch«, sagte Robert, »da drüben spielt die Musik.« Er deutete auf das Eingangstor des Electricitätskraftwerks. Im nächsten Augenblick fühlte er einen Widerstand im Rücken. Hart wie Metall. Ein Revolver. Morgans Leute!, schoss es ihm durch den Kopf. »Wenn Sie uns bitte folgen würden, Mister von Tannhausen«, sagte der Linke. Er lachte nervös. »Warum denn? Mir gefällt's hier ganz gut …« Der Druck wurde stärker. »Keine Mätzchen bitte.« Robert seufzte. »Was wollt ihr? Mich umbringen?« Die beiden Kleiderschränke schubsten ihn vor sich her, bis sie die andere Straßenseite erreichten, die fast vollständig von der Dunkelheit verschluckt wurde. Es waren nur wenige Gaslaternen entzündet worden. Eine Anweisung von John Pierpont Morgan, der damit ohne Zweifel ein Gespür für Theatralik bewies. »Und jetzt?«, fragte Robert ungehalten. »Gehen wir noch ein Stück. Schön ruhig bleiben, Mister von Tann-
hausen. Sie möchten schließlich keine Kugel im Leib haben, oder?« »Macht euch nicht lächerlich. Da drüben wimmelt es von Reportern. Den Schuss hört man meilenweit …« »Zerbrechen Sie sich nicht unseren Kopf, Mister. Und weiter!« Sie betraten eine Querstraße. Hinter einigen Fenstern brannten Öllampen. Es war eine düstere Gegend, in der man lieber nicht den Kopf aus der Tür steckte, wenn draußen ein Schuss fiel. Schon klar, dachte Robert. Hier werden sie mich also umnieten. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Morgan so weit gehen würde. »Stehenbleiben, Mister!« Robert hielt inne und drehte sich langsam um. Einer der Kleiderschränke stand zwei Meter vor ihm. Sein Revolver zielte auf Roberts Unterleib. »Wollen Sie mich etwa zeugensunfähig machen?« Der Revolver ruckte nach oben. »Deine Scherze werden dir noch im Hals stecken bleiben, mein Freund.« In diesem Augenblick öffnete sich eine Haustür. Das Gesicht eines Mädchens erschien. Als es die drei Männer und die Revolver erblickte, blieb es erschrocken stehen. »Zurück mit dir ins Haus!«, herrschte einer der Kleiderschränke die Kleine an. Der Lauf seiner Waffe schwenkte ein wenig nach links. Jetzt oder nie, dachte Robert. Er schnellte auf den Kerl zu und prellte ihm mit einem Schlag den Revolver aus der Hand. Der andere Kerl wurde durch die Attacke völlig überrascht. Reflexartig drückte er ab. Die Kugel fuhr dorthin, wo Robert eben noch gestanden hatte. Zwanzig Meter weiter streifte sie eine Hauswand und heulte als Querschläger davon. Ein Tritt, und auch der zweite Revolver flog durch die Luft. Dann war das Überraschungsmoment vorbei. Robert wusste, dass er gegen die beiden Kerle im Nahkampf nichts ausrichten konnte. Im Augenwinkel erkannte er noch, wie das Mädchen hastig die Tür schloss. Meine Lebensretterin. Er wandte sich zur Flucht. Die beiden Kerle hinter ihm fluchten. Offenbar suchten sie nach ih-
ren Waffen. Nach zwanzig Schritten blickte er sich um und sah, dass sie die Verfolgung aufnahmen. Mit ihren massigen Körpern waren sie hoffentlich keine guten Läufer … Robert rannte die Straße hinunter und wandte sich an der Kreuzung nach rechts. Die Typen blieben ihm auf den Fersen. Einer war so dämlich und schoss. Die Kugel riss meterweit von Robert entfernt ein Loch in einen Gartenzaun. Robert hetzte weiter. Er spürte, wie seine Lungen zu brennen begannen. Sich in einem Hauseingang zu verstecken, wagte er nicht. Immer weiter! Die Kerle hatten mehr Luft, als er gedacht hatte. Jedes Mal, wenn er sich umdrehte, sah er ihre Schatten hinter sich. Und sie holten beständig auf. Nach vier Häuserblocks spürte Robert, wie ihn die Kräfte verließen. Er sprang über einen Zaun und flüchtete sich in einen Hinterhof. Entweder hatte er Glück, oder … Der Hof wurde durch eine Mauer geteilt. Zwei Meter hoch. Robert sprang, zog sich hinauf und ließ sich auf der anderen Seite herunterfallen. Eine Kugel fetzte den Verputz aus der Kante. Er fand einen Ausgang, der ihn in die Parallelstraße führte. Hinter ihm mühten sich die beiden Schränke, die Mauer zu erklimmen. Wenn er jetzt schnell war … Er hetzte auf die Straße. Ein paar Droschken waren unterwegs. Er schlüpfte zwischen ihnen hindurch und verschwand im nächsten Hauseingang. Der Hinterhof war kleiner und besaß ebenfalls eine Mauer. Sie war drei Meter hoch. Seine gehetzten Blicke suchten nach einem Strauch, einem Stuhl oder ein paar losen Steinen … irgendetwas, auf das er sich stellen konnte. Nichts. Die Mauer erschien ihm plötzlich riesengroß. Er wandte sich um und wollte zum Eingang zurückhetzen, als dort die Schatten der Verfolger erschienen. Sie erblickten ihn und senkten automatisch das Tempo. »Haben wir dich, Kerl!«
Robert starrte auf die Revolver. Ein zweites Mal würden sich die beiden nicht übertölpeln lassen. Er wollte etwas erwidern – und stockte. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl gehabt, nicht zwei Verfolger zu erblicken, sondern – vier. Geister. Die beiden werden sterben. Sollte ihm das etwa neue Hoffnung vermitteln? Wer sagte ihm, dass ihr Tod nicht ebenso den seinen bedeutete? Der Eindruck verwischte. Die Geisterscheinungen waren verschwunden. Einer der beiden Kleiderschränke blickte sich um. Alle Fenster waren geschlossen. Nur in der zweiten Etage war hinter zwei Scheiben der blasse Schimmer eines Lichts zu erkennen. Der Kleiderschrank nickte befriedigt. »Los, mit dem Rücken an die Mauer!« »Was soll der Blödsinn … Wir können doch reden …« »Dazu hattest du genug Gelegenheit. Aber du wolltest ja lieber dein eigenes Spiel spielen …« Robert drehte den Kopf. »Das hat doch keinen Sinn. Wenn ich tot bin, bekommt Morgan sein Geld trotzdem nicht. Edison wird die Anteile einfach für sich behalten …« Er stockte und lachte auf. »Morgan hat euch gar nicht geschickt, nicht wahr? Es war Edison …« »Halt's Maul. Das hat dich nicht zu interessieren.« »Ich fasse es nicht. Der alte Hund. Was immer er euch bezahlt, ich biete das Doppelte. Unsinn, das Vierfache …« Robert spürte, wie sich ein Waffenlauf zwischen seine Schulterblätter bohrte. »Woher sollen wir wissen, dass du uns nicht über Tisch ziehen willst, he? Schließlich hast du das mit Edison auch schon gemacht …« Der Hahn knackte. »Einen schönen Gruß von Susan sollen wir dir ausrichten …« Er schloss die Augen. Wenngleich der Übergang nach Avalon selbst ihm so fremd geblieben war wie eh und je, war ihm die Kon-
zentration auf den Schlüssel in solchen Augenblick jedoch in Fleisch und Blut übergegangen. Der Übergang war stets von Schmerzen begleitet, weshalb Robert tunlichst versuchte, ihn zu umgehen und gar nicht erst in solche Situationen zu geraten. Aber er schien den Tod förmlich anzuziehen. Es war wie ein Fluch, dem er nicht entgehen konnte. Er fokussierte seine Gedanken auf die Insel, konzentrierte sich auf den Schlüssel. Nur noch ein paar Sekunden, und er hatte es geschafft. Wenn die Kerle nur vorher nicht … »Holla, was geht denn hier vor sich, wenn ich fragen darf?« Die Stimme riss ihn aus seinen Gedanken und machte alles zunichte. Eine Gestalt war im Hauseingang aufgetaucht und näherte sich den Dreien. Robert schloss die Augen. Der Schlüssel – fort. Avalon schien ihm so weit entfernt wie nie zu vor. Einer der Kleiderschränke baute sich vor dem Fremden auf. »Wer bist du denn, Freundchen?« »Nennt mich d'Assimo. Das ist ein Name, den ich seit langer Zeit führe.« Der Schläger fuchtelte mit dem Revolver herum. »Verschwinde. Das hier geht dich nichts an.« Der Fremde ging unerschrocken auf den Kleiderschrank zu. »Mich deucht, dass es mich sehr wohl etwas angeht. Schließlich ist dieses bemitleidenswerte Geschöpf dort mein Sohn. Ein missratener zwar, das gebe ich zu, aber man kann seine Familienbande deshalb ja nicht einfach verleugnen. Ich kann es unmöglich zulassen, dass ihr euch an ihm vergreift.« Der Kleiderschrank starrte den Fremden aus großen Augen an. Er schien der Ansicht zu sein, einen Verrückten vor sich zu haben. Klar, der Kerl war lebensmüde. »Der da soll dein Sohn sein?« Er bog sich vor Lachen. »Der ist doch fast genauso alt wie du.« »Der Schein trügt«, erwiderte der Fremde, »aber das hat euch nicht zu interessieren. Ich möchte lediglich, dass ihr mir eure Waffen übergebt und verschwindet. Andernfalls würdet ihr es bitter bereuen.« »Lass sie am Leben«, sagte Robert, »bitte!«
D'Assimo grinste. »Sie sind ohnehin verloren. Abschaum, Schläger, gedungene Mörder. Ihre Seelen habe ich längst in meinen Klauen.« Jetzt hob auch der zweite die Waffe. »Was soll dieses Geschwätz. Entweder kratzt du augenblicklich die Kurve, oder wir füttern dich mit Blei, Freundchen.« »Ihr solltet auf ihn hören«, sagte Robert. »Du bist still«, giftete der Schläger, »sonst …« Er konnte nicht weitersprechen. D'Assimo hatte eine knappe Handbewegung ausgeführt. Die beiden Mörder schrien auf. Die Waffen in ihrer Hand erhitzten sich binnen Sekunden. Flüssiges Metall tropfte zwischen ihren Händen hervor. »Verdammt, was …« Einer der Kerle wurde gegen die Mauer geschleudert. Robert hörte, wie seine Knochen brachen. Er sackte zu Boden, wo er zuckend liegenblieb. Ein Blutfaden rann aus seinem Mund. »Ich hatte eigentlich noch gar keine Verwendung für euch«, sagte d'Assimo ungerührt. »Aber ihr konntet ja nicht früh genug zu mir kommen …« Der zweite starrte geschockt auf seinen Kameraden. Die Verbrennungen an seiner Hand schienen vergessen. Den Tod vor Augen, wollte er sich davonmachen, aber Asmodis vollführte eine weitere Bewegung. Das Genick des Kerls brach wie ein trockener Ast. Sein Blick brach, und der Leib schlug neben dem des anderen Mörders hin.
»Du verdammter Mörder!«, schrie Robert. »Aber, aber«, sagte ich ruhig. »Wie mir zu Ohren gekommen ist, bist du selbst in solchen Dingen mittlerweile nicht mehr ganz unbefleckt. Das ist gut so, aber du hast es offenbar immer noch nicht gelernt, heikle Situationen wie diese zu vermeiden.« »Ich habe niemanden umgebracht!« Ich lächelte nachsichtig. »Und was ist mit dem hageren Diener Morgans? Wurde er nicht tot im Hafen gefunden? Auch die Comtes-
se de Vour würde sich über deine Worte wundern. Ihre Seele ist mir übrigens entgangen, mein Sohn. Sie war ganz und gar frei von Sünde. Welch eine Verschwendung!« »Das war ein Unfall!« »Don Cristofero war vermutlich anderer Meinung. Warum hätte er dich sonst ein Leben lang verfolgen sollen?« Ich baute mich so nah vor Robert auf, dass unsere Nasenspitzen einander fast berührten. »Warum nimmst du nicht endlich dein Schicksal an? Du kannst deine Herkunft nicht verleugnen. Siehst du nicht, dass dein Treiben nur Unglück über deine Mitmenschen bringt …?« »Verschwinde«, presste Robert hervor. »Ich brauche dich nicht.« »Mir scheint, du brauchst vor allem eines – eine letzte Lektion. Die bisherigen waren wohl nicht ausreichend, um dir die Augen über die Menschheit zu öffnen. Hast du nicht gesehen, wohin Habgier, Wollust, Maßlosigkeit, Trägheit, Zorn und Neid führen? Das Ergebnis ist immer der Tod. Du kannst es nicht ändern. Die Menschen sind schlecht. Ich gebe ihnen nur, was sie sich aus tiefstem Herzen wünschen …« »Diese beiden Männer haben sich wohl kaum den Tod gewünscht!« Ich blickte mitleidlos auf die beiden Leichen. »Sie haben ihr Leben schon vor Jahren verwirkt. Du würdest blass werden, wenn du wüsstest, was sie alles auf dem Kerbholz haben. Nicht mal Edison wusste es, der sie über einen Mittelsmann anheuerte. Übrigens, Edison – er ist ein weiteres Beispiel für die Schlechtigkeit der Welt …« »Er wollte sich nur Gerechtigkeit verschaffen.« »Die Habgier hat ihn übermannt. So ist das mit den Menschen …« Ich zog eine Taschenuhr aus meiner Kutte. »Eine Minute vor acht. Gehen wir auf die Straße, damit wir das grandiose Ereignis nicht versäumen.« Robert folgte mir widerstrebend. »Du solltest für eine Weile aus New York verschwinden«, fuhr ich fort, »solange, bis Gras über die Ereignisse gewachsen ist. Ich werde dein Vermögen verwalten …« »Ich will deine Hilfe nicht!«
Ich lachte. »Immer noch der sture Kindskopf von einst! Du weißt gar nichts, Robert. In diesem Augenblick arbeitet ein Heer von Anwälten im Namen von John Pierpont Morgan an einer Klage gegen dich. Selbst wenn du Recht bekommst, bleibt Morgan in den Augen der New Yorker Bürger ein Ehrenmann. Er besitzt Kontakte zu Presse und Politik und wird dafür sorgen, dass kein Mensch mehr ein Geschäft mit dir machen will.« »Es ist mir gleich, was mit dem Geld passiert. Ich will es nicht mehr.« »Wenigstens etwas, in dem du dich geändert hast. Am Grab deines Urgroßvaters hast du solch edle Gedanken vermissen lassen.« »Ich habe das Goldsäckchen nicht gestohlen!« Ich kniff die Augen zusammen. Robert war widerspenstig und verblendet, aber ein Lügner war er nicht. Da kam er ganz nach mir. Aber wenn er das Goldsäckchen damals nicht gestohlen hatte, wer war es dann gewesen? Wahrscheinlich spielte es längst keine Rolle mehr, aber es beunruhigte mich, in dieser Sache im dunkeln zu tappen, auch wenn es eine Belanglosigkeit war.* »Noch zehn Sekunden, Robert. Was meinst du – hat Edison Erfolg, oder wird sein Projekt in einer gigantischen Pleite enden?« Inzwischen hatten die Leute ihre Häuser verlassen. Sie standen in Trauben auf der Straße, diskutierten aufgeregt und warteten darauf, Zeuge des Übergangs in ein neues Zeitalter zu werden. »Drei, zwei, eins …«, flüsterte ich, »… und der Teufel sagte, es werde Licht …« Von einem Augenblick zum anderen schien die Sonne über der Stadt aufzugehen. Das diffuse Licht der Gaslampen wurde überstrahlt von einem hellen, blendenden Schein, der von jenen Säulen ausging, die Edison von seinen Männern während der letzten Monate in reicher Zahl in den Straßen Manhattans hatte aufrichten lassen. *Asmodis selbst war es, der das Goldsäckchen an sich nahm. Das geschah jedoch erst, als er über hundert Jahre später zusammen mit Zamorra in die Vergangenheit reiste – er kann es zu diesem Zeitpunkt also noch nicht wissen. Geschildert wird diese Zeitreise in PZHeft 541: »Der Sohn des Höllenfürsten«
Rufe und Jubel wurden laut. Die Leute zeigten ehrfürchtig auf die neuen Laternen. »Der Mensch ist doch ein erstaunliches Tier«, sagte ich zu Robert. »Moralisch so tief gesunken wie nie zuvor, ist er in technischen Dingen zu immer neuen Höchstleistungen fähig.« Es war tatsächlich ein bedeutendes Ereignis, dessen wir soeben Zeuge geworden waren. Der Mensch vertrieb für alle Zeiten die Dunkelheit, das Metier der Dämonen. Vampire würden es in Zukunft schwerer haben, sich ihre Opfer zu suchen. Nachtalbe und Ghouls würden sich an die Helligkeit gewöhnen müssen. Ich ahnte, dass diese technische Neuerung in den sieben Kreisen der Hölle zu einigen Diskussionen führen würde. Vielleicht hätte ich Angst haben sollen, doch ich lächelte nur still in mich hinein. Um die Moral des Menschen würde es auch weiterhin schlecht bestellt sein. Es gab also keinen Grund, sich Sorgen zu machen.
7. Hochmut � Robert entschied tatsächlich, den Wunsch seines Erzeugers zu beherzigen. Er beschloss, für einige Jahre aus New York zu verschwinden und übertrug aus diesem Grund seine geschäftlichen Vollmachten einem Phantom namens Robert Tendyke. Diesen Namen hatte er in den vergangenen Jahrhunderten nur geführt, wenn er auf einem Fleckchen Land in Florida weilte, das er 1680 günstig erworben und auf den Namen Tendyke's Home getauft hatte. Bisher war es kein Problem gewesen, in New York oder Europa als von Tannhausen oder deDigue zu agieren und sich bei Ankunft auf Tendyke's Home in den Farmer und Müßiggänger Robert Tendyke zu verwandeln. Doch die Zeiten änderten sich. Die Telegraphie ließ die Welt zusammenwachsen. Informationen benötigten jetzt nur noch wenige Minuten, um einmal um den Erdball zu gelangen. Robert ahnte, dass er besser daran tat, Widersprüche zwischen seinen verschiedenen Lebensläufen auszumerzen. Damit niemand auf die Idee kam, dass Robert Tendyke und Robert von Tannhausen eine Person waren, musste letzterer offiziell sterben. Thomas Edisons Mordanschlag kam da wie gelegen. Zusammen mit seinem Erzeuger ließ er die Leichen der Mörder verschwinden und brachte anschließend das Gerücht in Umlauf, Robert Tannhausen sei einem Unfall zum Opfer gefallen. Natürlich versuchte Edison sofort, sich das ergaunerte Vermögen unter den Nagel zu reißen. Aber Robert hatte Vorkehrungen getroffen. Als Robert von Tannhausen hatte er einen angesehenen Anwalt namens Brandon Gillespie damit beauftragt, seine geschäftlichen Interessen selbst über den Tod hinaus zu vertreten. Als Erben seines Vermögens hatte er einen Mann namens Robert Tendyke junior eingesetzt, den Sohn eines Landbesitzers in Florida, der dort vor annähernd zwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen worden war. Niemand wusste etwas über diesen Robert Tendyke, der den
Hauptanteil an dem neuen New Yorker Electricitätskraftwerk besaß. Die Presse vermutete, dass er vielleicht überhaupt nicht existierte, aber nachdem der Anwalt Gillespie solche Spekulationen mit Verleumdungsklagen zu beantworten pflegte, wurden Tendykes Gegner vorsichtiger. Allen voran versuchten Thomas Edison und John Pierpont Morgan, die Anteile zurückzuerhalten, um die sie sich betrogen sahen. Doch die Verträge waren wasserfest. Robert verfolgte die Angelegenheit aus der Ferne. Gillespie machte seine Arbeit hervorragend. Hin und wieder meldete sich Robert fernmündlich bei ihm – unter dem Namen Robert Tendyke. Gillespie fragte regelmäßig, wann er endlich nach New York kommen würde, damit sie ein persönliches Treffen vereinbaren könnten. Robert vertröstete ihn immer wieder aufs Neue, da er spürte, dass die Zeit noch nicht reif war. Drei Jahre lang ging dieses Spiel, bis es Robert zu langweilig wurde. Was interessierten ihn die Vermögenswerte in New York, wenn sie doch gleichzeitig auf dem Mond hätten warten können? Sie waren unerreichbar für ihn, jedenfalls für die nächsten zwanzig Jahre. Seine Anrufe bei dem alternden Gillespie wurden seltener, und schließlich riss der Kontakt ab. Robert trieb es in den Westen – dorthin, wo gerade die letzten unerforschten Flächen von Siedlern in Besitz genommen wurden. Der Anteil Zigeunerblut in seinen Adern hatte wieder einmal die Oberhand gewonnen. Er nannte sich Royce Bane und streunte fast zwei Jahrzehnte durch den Westen. In dieser Zeit gestattete er sich keine Begleiter. Er suchte die Einsamkeit, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Die letzte Lektion. Deutlich erinnerte er sich der Worte seines Erzeugers. Sie hatten ihm ins Bewusstsein gerufen, dass er ein Leben lebte, das ein anderer ihm vorgezeichnet hatte. Nie hatte er das Gefühl gehabt, ein Erfüller von d'Assimos Plänen gewesen zu sein, aber der Teufel war geschickt in seinen Intrigen. War es nicht d'Assimo gewesen, der seinem Gaunerleben in Basel ein abruptes Ende gesetzt hatte? Hatte nicht d'Assimo dafür gesorgt, dass Trauthmann ihn bis zum Ende seines Lebens verfolgte und dass Boga starb, als sie d'Assimos Pläne zu gefährden begann? Der Fürst hatte ein ganzes Dorf
ausgerottet, um Robert zurück nach Europa zu zwingen. Das Leben als Royce Bane war ein Versuch, diese Bande abzuschütteln … und er scheiterte kläglich. Auf die Spur eines Werwolfs gestoßen, versuchte Robert sich als Dämonenjäger. Einen Angriff des Monstrums überlebte er nur knapp und mit schweren Verletzungen. Damit war er selbst zum Werwolf geworden, wie er erschrocken feststellte. Menschen starben, weil Royce Bane sich in Vollmondnächten in eine mörderische Bestie verwandelte. Er beschloss, diesem Leben ein Ende zu setzen, auch wenn es den erneuten Gang nach Avalon bedeutete.* Diesmal war es ein reinigender Prozess. Es gelang ihm, den dämonischen Anteil in sich abzuschütteln. Der Mann, der zurückkehrte, war nicht länger mit dem Wolfsfluch behaftet. Ein neuer Abschnitt begann, für dessen Vorbereitung sich Robert acht volle Jahre Zeit nahm. In dieser Zeit suchte er Europa auf, das vom schlimmsten Krieg aller Zeiten erschüttert wurde. Millionen Menschen starben in Schützengräben, unter Gasangriffen oder als zivile Opfer – ein Ausmaß, welches das Begriffsvermögen eines jeden zivilisierten Menschen übersteigen musste. Und die Waffen, mit denen sich die Völker gegenseitig auslöschten, wurden immer größer, forderten ständig eine größere Anzahl von Opfern. Die Kriegsindustrie profitierte, und Metallwarenhersteller verdienten so viel wie noch nie. Moralisch so tief gesunken wie nie zuvor, ist er in technischen Dingen zu immer neuen Höchstleistungen fähig. Asmodis alias d'Assimo hatte also wieder einmal Recht behalten. Robert fragte sich, inwieweit der Fürst selbst zum Ausbruch des Krieges beigetragen hatte. Labte er sich an der Anzahl der Toten? Wohl kaum, denn für Asmodis bedeutete jeder Leichnam eine verlorene Seele, einen Menschen weniger, den er zur Schlechtigkeit verführen konnte. Doch selbst diese üble Zeit fand eines Tages ein Ende. Mit verein*siehe PZ-Heft 749: »Hort der Wölfe« von Timothy Stahl
ten Kräften gelang es den Aliierten, den Gegner in die Knie zu zwingen. Als endlich die Nachricht von Frieden die Ufer des Hudson hinauflief, erwachte auch in New York sogleich der Geist einer neuen Zeit. Die Hotels der Stadt waren ausgebucht. Menschen standen auf den Straßen und jubelten, dass endlich Frieden eingekehrt war. Vielleicht gibt es doch noch so etwas wie Hoffnung, dachte Robert Tendyke, als er im Frühling 1919 in der Central Station von Manhattan den Zug verließ und offiziell zum ersten Mal in seinem Leben New Yorker Boden betrat.
»Ich freue mich aufrichtig, Sie begrüßen zu dürfen, Mister Tendyke.« Der Mann, der das sagte, war Mitte zwanzig und trotz seiner jungen Jahre leicht untersetzt. Er trug einen tadellos geschneiderten Anzug und eine schwarze Krawatte. Die Brille mit den dicken Gläsern ließ ihn harmlos erscheinen, doch Robert Tendyke fühlte den scharfen Blick, mit dem er von oben bis unten gemustert wurde, beinahe körperlich. »Es freut mich ebenfalls, Sie zu sehen, Mister Gillespie.« Der junge Anwalt führte ihn in sein Büro und bot ihm einen Platz an. »Scotch? Kaffee? Wasser?« »Danke. Ich würde es vorziehen, das Geschäftliche zu regeln.« Gillespie lächelte. »Sie sind tatsächlich so schüchtern, wie mein Vater Sie geschildert hat. Er hat immer gehofft, Sie noch einmal kennen zu lernen.« »Darf ich erfahren, wie er gestorben ist?« »Ein Unfall mit einem dieser neuen Automobile.« Gillespie schürzte die Lippen. »Er hat sich stets für alles Technische begeistert. Ich habe ihn immer vor diesen Maschinen gewarnt.« Robert hatte bei seiner Rückkehr festgestellt, dass sich New York in der Zwischenzeit wieder einmal selbst neu erfunden hatte. Nicht nur, dass fast keines der Häuser mehr stand, die im Jahre 1882 die Straßen von Lower Manhattan gesäumt hatten. Auch wurden die Wege selbst jetzt von Automobilen beherrscht,
die inzwischen zahlreicher verkehrten als Droschken und diese an Geschwindigkeit und Effizienz weit übertrafen. Gillespie öffnete eine Mappe, in der er die wichtigsten Unterlagen über Tendykes Besitz zusammengefasst hatte. »Mein Vater hat Ihr Vermögen immer wieder umgeschichtet, um Wertverluste und fremde Einflussnahmen zu vermeiden. Der reale Geldwert ist dadurch in den vergangenen zwanzig Jahren ungefähr verdreifacht worden.« Tendyke lächelte. »Ihr Vater war ein fähiger Mann. Deshalb hat Mister von Tannhausen ihn für diese Aufgabe ausgesucht.« »Das Lob gebührt ausschließlich den Börsenkennern, die wir für diese Aufgabe engagiert haben.« Gillespie tippte sich nervös gegen die Schneidezähne; eine unbewusste Geste, die er alle paar Minuten wiederholte. »Ich bin nicht darüber informiert, inwieweit Sie Mister von Tannhausen kannten …« Eine plumpe Frage. »Wir haben gemeinsame Bekannte«, wich Robert aus. »Wie Sie wissen, hatte Robert von Tannhausen keine Kinder. Mit der Überschreibung des Vermögens auf mich kam er einer Verpflichtung nach, die er einem alten Freund gegeben hatte. Meinem Vater.« Gillespie nickte lächelnd. »Selbstverständlich, Mister Tendyke.« Er schob ihm einige Papiere hinüber. »Diese Urkunden müssen Sie unterzeichnen, um das Erbe des Tannhausen-Vermögens antreten zu können.« Robert unterzeichnete die Papiere. »Mister Tannhausen hatte übrigens einige Geschäftspartner …« »Sie sind ebenfalls tot«, sagte Gillespie in einem Tonfall, als müsste Robert darüber erleichtert sein. »Der Erfinder Thomas Edison erlag 1898 einem Herzinfarkt. Er starb hoch verschuldet, da er der Spielsucht erlegen war. J. P. Morgan dagegen war bis zu seinem Tod einer der reichsten und bekanntesten Männer Amerikas. Die Auseinandersetzung mit Mister Tannhausen hat ihm in finanzieller Hinsicht gewiss nur unwesentlich geschadet. Er starb 1913 in Rom.« »Sie sind gut informiert«, sagte Robert. »Dafür werde ich bezahlt«, erwiderte Gillespie lapidar.
»Ich würde gern noch mehr erfahren. Thomas Edison hatte eine Geliebte namens Susan Stiegler …« »Bedaure, über eine Frau dieses Namens ist mir nicht bekannt.« Ob Susan und Edison sich zwischenzeitlich getrennt hatten? Vielleicht hatte die Spielsucht, die Edison getötet hatte, auch ihre Liaison beendet. Er würde es wohl niemals erfahren. Robert stand auf. »Ich werde nicht oft in New York sein. Ich möchte, dass Sie auch weiterhin die Verwaltung der Gelder übernehmen.« »Es wird mir eine Ehre sein«, sagte Gillespie.
Robert hatte sich ein Zimmer im Pennsylvania Hotel in der Seventh Avenue genommen. Das Hotel war gerade erst eröffnet worden – ein riesiger Kasten, der erneut die Gigantomanie der New Yorker Architektur widerspiegelte. Auf dem Rückweg ins Hotel kaufte er sich ein paar Zeitungen und registrierte befriedigt, dass sein Auftauchen der Presse keine einzige Zeile wert gewesen war. Der gewonnene Krieg bestimmte die Nachrichten. Was bedeutete da schon das vererbte Vermögen eines deutschen Sonderlings, der irgendwann vor dreißig Jahren einem Unfall zum Opfer gefallen war … Der Name Tannhausen war heute nur noch einigen eingefleischten Finanzjongleuren an der Wall Street bekannt. An der Rezeption ließ Robert sich die Schlüssel geben. »Ein Brief für Sie, Mister Tendyke.« Kein Absender. Robert nahm den Lift, schloss seine Zimmertür hinter sich und öffnete den Brief. Hotel Commodore, 42nd Street. Acht Uhr. Seien Sie pünktlich. Die Handschrift gehörte einer Frau. Robert zerknüllte den Brief und warf ihn in den Papierkorb. Nach einer Dusche und einem Mittagessen im Hotelrestaurant fühlte er sich wieder wie ein Mensch. Die Anzüge, die Gillespie auf sein Hotelzimmer beordert hatte, gefielen ihm nicht sonderlich. Er beschloss, sich neue Kleider zu kaufen. Am besten ein paar Lederanzüge und passende Stiefel. Damit wirkte er an der geschäftigen Ost-
küste zwar wie ein Operetten-Cowboy, aber das wäre das erste Mal gewesen, dass er sich um das Urteil anderer Menschen geschert hätte. Er war Robert Tendyke. Er war kein Zigeunersohn mehr, dem man vorschreiben konnte, was sich zu tragen schickte und was nicht. Aus einer Laune heraus suchte er am Abend tatsächlich das Hotel Commodore auf. Er war wenig überrascht, Susan an einem Tische im Restaurant sitzen zu sehen. Als sie ihn erblickte, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Er griff mit einer formvollendeten Verbeugung nach ihrer Hand. »Madam …« »Stiegler …«, hauchte sie und starrte ihn an. »Robert …! I-ich meine, Mister Tendyke, ich …« Fast vierzig Jahre war es her, dass sie sich zuletzt gesehen hatten. Susan war zu einer alten Frau geworden. Sie trug das schlohweiße Haar kurz und unter einem breitkrempigen, federbesetzten Hut verborgen. Ihr Gesicht war von tiefen Falten durchzogen. Die Perlenkette, die sie um den Hals trug, war ebenso falsch wie die Silberohrringe und das Kettchen, das an ihrem Handgelenk klimperte. »Kennen wir uns, Mrs. Stiegler?« »I-ich weiß nicht. Ich kannte Mister von Tannhausen. Er war Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten!« »Robert von Tannhausen ist seit siebenunddreißig Jahren tot, Madam.« Sie nickte verlegen. »Ja, das stimmt. Ich bitte um Entschuldigung, Mister Tendyke.« »Was kann ich für Sie tun, Mrs. Stiegler?« »Sie sind doch Mister Tendyke, der Erbe des Tannhausen-Vermögens?« Robert lächelte. »Sagen Sie mir, was Sie bedrückt. Waren Sie mit Robert von Tannhausen befreundet?« »Das kann man so sagen. Ach, Mister Tendyke, es ist alles so kompliziert. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Sie werden mich für eine Lügerin halten.« »Lassen Sie es einfach drauf ankommen.«
»Mister von Tannhausen machte Geschäfte mit meinem Mann, Thomas Edison. Sie haben sicher von ihm gehört. Er sorgte dafür, dass Lower Manhattan vor annähernd vierzig Jahren eine elektrische Straßenbeleuchtung erhielt. Es war …« »… das Projekt, dem ich meinen Reichtum verdanke«, stellte Tendyke fest. Sie nickte. »Tannhausen war ein Betrüger.« »Sie haben sicherlich Beweise für diese Behauptung.« Sie sah ihn an. »Sie sind ihm tatsächlich so ähnlich. Sie könnten er sein, wenn ich Sie mir so ansehe … Entschuldigen Sie, Mister Tendyke, es war ein Fehler, Sie zu belästigen. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen.« Sie drehte sich um und ging zur Tür. »Warten Sie, Mrs. Stiegler.« Aber da schloss sie bereits die Tür hinter sich. Robert war drauf und dran, ihr nachzueilen, aber er mahnte sich zur Ruhe. Er durfte sich nicht verdächtig machen. Jeder weitere Kontakt mit ihr war ein Risiko. Wenn sie ihn durchschaute, würde sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihm sein Vermögen wieder abzujagen.
William Gillespie leistete gute Arbeit. In den folgenden acht Jahren wuchs das Tendyke-Vermögen auf über zehn Millionen Dollar – eine für damalige Verhältnisse unfassbare Summe. Die Presse bekam von seinen zahlreichen Geschäften kaum etwas mit, aber Eingeweihte nannten den Namen Tendyke in einem Satz mit der Morgan-Bank, dem Ölmagnaten Rockefeller und anderen Millionären, die für den unaufhaltsamen Aufstieg New Yorks zur Weltstadt Nummer eins standen. Tendyke besaß Anteile an verschiedenen Eisenbahngesellschaften und Schiffswerften. Kein Wolkenkratzer wurde in Manhattan geplant, ohne dass eines von Tendykes Architekturbüros einen Entwurf eingebracht hatte – und nicht selten gewann dieser. Selbst im aufstrebenden Filmgeschäft mischte Tendyke mit. Als im Herbst 1927 in New York der erste Tonfilm der Kinogeschichte, The Jazz Singer, aufgeführt wurde, saß
Tendyke zusammen mit einigen anderen Finanziers in der ersten Reihe. In all dieser Zeit schien es für ihn immer weiter bergauf zu gehen. Seine alten Rivalen waren tot, und auch von Susan Stiegler hatte er nichts mehr gehört. Er vermutete, dass sie ebenfalls gestorben war, vielleicht sogar wenige Tage nach ihrem Aufeinandertreffen im Jahr 1919. Es passte nicht zu ihr, sich sang- und klanglos davonzumachen – zumal sie siebzig Jahre davon gelebt hatte, sich von betuchten Herrschaften aushalten zu lassen. Es war eben dieser Herbst 1927, der den Höhepunkt in Tendykes bisherigem Leben darstellte – und der gleichzeitig den Beginn seines erneuten Absturzes markierte. Es war die Habgier, die in New York Einzug erhielt und das Leben der Großstadt gründlich auf den Kopf stellte. In den folgenden zwei Jahren erlebte die Börse an der Wall Street einen Höhenflug nach dem anderen. Monat für Monat wurden neue Rekorde gebrochen, so dass auch einfache Leute von der Spekulationslust erfasst wurden und ihr geringes Vermögen in Firmenanteile investierten, die beim genaueren Hinsehen kaum das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben standen. Vor einigen Jahren hatten die Analysten ihren Augen nicht getraut, als zum ersten Mal zwei Millionen Aktien an einem Tag gehandelt wurden. Jetzt waren es Tag für Tag fünf Millionen. New York steuerte auf die Katastrophe zu, und niemand sah sie kommen. Die Wall Street war die Hölle, schrieb ein Beobachter namens Philip Gibb. Die Makler draußen, die Freiverkehrsmakler, überboten sich gegenseitig für Aktien, die gar nicht an der New Yorker Börse notiert waren. Ihre lauten Rufe vermischten sich zu einem heiseren Chor. Ich stand vor einem Irrenhaus und starrte auf lauter Irre. Das war gewiss ein Irrenhaus, umgeben von anderen Anstalten für unheilbare Geisteskranke… Andere Anleger wie John Jacob Raskob, der bereits zahlreiche Millionäre zu Milliardären gemacht hatte, verkündeten einen verwegenen Plan: Jeder sollte in Zukunft ein Vermögen verdienen können. Aktien sollten auf Kredit gekauft werden. Die Schulden würden sich durch die steigenden Kurse in Luft auflösen. 1929 war es üblich, dass zwei Drittel eines Aktienkaufs auf Pump
erfolgten. 8,5 Milliarden Dollar an Krediten waren vergeben worden – eine Summe, die größer war als das gesamte in den USA im Umlauf befindliche Bargeld. Einige Analysten begannen zu warnen. Das Wachstum könne nicht bis ins Unendliche weitergehen. Aber das Umfeld war euphorisch. Niemand beachtete die Kassandra-Stimmen. Auf diesem Höhepunkt des Kaufrauschs machte William Gillespie seinen ersten und zugleich entscheidenden Fehler.
27. August 1929 Robert Tendyke schaute von den Papieren, die Gillespie ihm herübergeschoben hatte, auf. »Sind Sie nicht der Ansicht, dass dieses Geschäft ein wenig riskant ist?« »American Oil ist die größte Ölfirma der Welt, Mister Tendyke. Sozusagen der Mount Everest unter den Giganten der Wall Street. Wenn Sie diesen Berg erklimmen, sind Sie der Größte …« »Wer sagt Ihnen, dass ich der Größte sein will?« Gillespie grinste. »Sie bezahlen mich nicht dafür, dass ich Ihre Sparbücher bewache. Dafür reichte ein einfacher Tresor …« »Was haben Sie vor, Gillespie?« »Es steht alles da drauf. Sie müssen nur …« »Ich will es genau wissen. Nicht dieser Analystenkram hier.« Gillespie zuckte die Achseln. »Wir stoßen Ihre Schiffs- und Eisenbahnbeteiligungen ab. Ein paar zusätzliche Hunderttausend aus dem Filmgeschäft sowie sämtliche Anlagen in Übersee. Dann haben wir genügend Geld in der Kriegskasse, um American Oil mit einer feindlichen Übernahme zu überraschen.« »Sie setzen also alles auf eine Karte?« »Das sehen Sie falsch, Mister Tendyke. American Oil kann nicht pleite gehen. AO ist das Ölgeschäft. Das wäre so, als wollten Sie den Mississippi trockenlegen.« Robert seufzte. »Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Ich wür-
de es mir gern einige Tage überlegen.« »Drei Tage, Mister Tendyke. Keine Sekunde länger. Wenn man bei American Oil den Braten riecht, wird man versuchen, die Kurse weiter hochzutreiben. Damit wird das Unternehmen unerschwinglich.« Robert schob die Unterlagen zurück und blickte aus dem Fenster. War es das, was er gewollt hatte? Sicherlich, finanzielle Unabhängigkeit war ihm wichtig. Sie erlaubte ihm, tun und lassen zu können, was er wollte. Aber bedeutete sie wirklich alles? Es kam ihm in den Sinn, dass er womöglich einem Phantom nachlief. Oder vielmehr davonlief. Er wollte nicht so sein wie sein Erzeuger. Und er wollte vor allem nicht abhängig sein von seinem Erzeuger. Doch mit jeder Firma, die er aufkaufte, mit jedem Tausender, um den sein Vermögen wuchs, wurde er Asmodis ähnlicher. Er musste eine Entscheidung treffen. Und er traf sie. »In Ordnung, Gillespie, machen Sie diesen Deal. Aber vorher möchte ich, dass Sie etwas für mich tun.« »Ich bin ganz Ohr, Mister Tendyke.« »Sie sollen etwas über eine Dame namens Susan Stiegler herausfinden. Sie müsste jetzt etwa achtzig Jahre alt sein. Ich möchte wissen, ob sie noch lebt – und wenn ja, ob sie sich in der Stadt aufhält.« »Gibt es eine bekannte Adresse?« Robert schüttelte den Kopf. »Ich habe Mrs. Stiegler vor langer Zeit aus den Augen verloren. Ich möchte, dass Sie für einiges Leid, das sie erdulden musste, entschädigt wird. Wenn Sie die Beteiligungen verkaufen, zweigen Sie ein wenig Geld ab, das Sie für Mrs. Stiegler zurücklegen.« »Aber Sir, wir werden wahrscheinlich jeden Cent für die Operation benötigen …« »Sie haben mich verstanden, Gillespie.« Der Anwalt nickte. »Selbstverständlich, Mister Tendyke.«
Die nächsten Tage über war Robert Tendyke von einer merkwürdigen Spannung erfüllt. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut – als
kündige sich ein verheerendes Unheil an, das er bei umsichtiger Handlungsweise hätte verhindern können. Hatte es mit dem Kauf von American Oil zu tun? Gillespie beschäftigte erstklassige Leute, die bisher immer richtig gelegen hatten. Am Mittwoch, den 16. Oktober, erreichte ihn der Anruf Gillespies. »Wir haben nahezu alle Vorbereitungen getroffen, Mister Tendyke. Das Unternehmen AO kann beginnen. Es wird übrigens nicht allzu lange dauern, da sich die Aktien zu neunzig Prozent in der Hand größerer Unternehmen befinden.« »Wie können Sie so sicher sein, die alle auf Ihre Seite zu bekommen?« »Jeder ist käuflich, wenn ich mir diese Platitüde erlauben darf – und zwar gerade in der jetzigen Zeit.« »Haben Sie sich nach Susan Stiegler erkundigt?« »Die Dame lebte bis vor einiger Zeit in Brooklyn, musste dann aber umziehen. Das Haus wurde zwangsversteigert.« »Wo wohnt sie jetzt?« »Ich habe einen Privatdetektiv auf sie angesetzt. Er wird innerhalb der nächsten Tage Ergebnisse liefern.« »Ich möchte, dass Mrs. Stiegler eine nicht unbeträchtliche Schenkung erhält.« »Sir, wir …« »Das ist mir wichtiger als die Übernahme von American Oil!« Robert wusste selbst nicht, was er sich davon versprach. Susan Stiegler war achtzig Jahre alt. Vielleicht war sie todkrank oder so hinfällig, dass sie gar keine Verwendung mehr für das Geld hatte. Wollte er sich mit dieser Schenkung ein gutes Gewissen erkaufen? Du wirst deinem Erzeuger immer ähnlicher, Robert … Eigentlich hätte Susan Stiegler jetzt an seiner Stelle sein sollen. Es war Edisons Verdienst gewesen, die Lichtversorgung entwickelt zu haben. Robert hatte sich das Verfahren patentieren lassen und sich an den Beleuchtungsnetzen, die während der nächsten Jahre in verschiedenen amerikanischen Großstädten installiert worden waren, dumm und dämlich verdient. Geraubtes Geld …
Das stimmte nicht. Er hatte einfach klug verhandelt und zur richtigen Zeit auf das richtige Pferd gesetzt. Edison ist tot … Ihr Haus wurde zwangsversteigert … »Wir hätten da zwei kleinere Anlagen, Mister Tendyke. Ihr Land in Florida sowie eine kleine Ölfirma in El Paso. Tendyke Oil. Sie ist nicht besonders profitabel, aber eine solide Wertanlage. Ich hatte eigentlich die Absicht, sie American Oil einzuverleiben.« Tendyke's Home… Er hatte dieses Fleckchen Erde 1680 gekauft. Es war ihm zur Heimat geworden – zur einzigen, die er trotz seines langen Lebens kennengelernt hatte. »Ich will, dass Susan Stiegler zur Inhaberin von Tendyke Oil gemacht wird«, sagte Robert. »Auch das Land in Florida soll sie erhalten.« Es herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. »Wie Sie wünschen, Mister Tendyke«, sagte Gillespie endlich. »Ich werde alles Nötige veranlassen. Sobald der Privatdetektiv Mrs. Stiegler gefunden hat, werde ich Sie informieren.« Robert legte auf und horchte in sich hinein. Er wartete auf eine innere Stimme, die ihm sagte, dass er das Richtige getan hatte. Oder andersherum – dass er einen schlimmen Fehler begangen hatte. Aber in seinem Inneren war nur Schweigen.
Eine Woche später läutete das Telefon auf Tendykes Zimmer. Es war die Rezeption. Er hatte sich immer noch nicht dazu entschließen können, sich ein Haus in New York zu kaufen. Die Stadt war ihm trotz aller wirtschaftlichen Erfolge, die er hier erlebte, fremd geblieben. Vielleicht sollte er den Verkauf von Tendyke's Home in Florida zum Anlass nehmen, endlich ein Grundstück in Manhattan zu erwerben … »Was gibt es?« »Eine Frau möchte Sie sprechen, Mister Tendyke.« »Eine Frau? Wer?« »Sie hat ihren Namen nicht gesagt. Wir haben Sie zu Ihnen hinaufgeschickt.«
»Sie haben was?« Robert holte zu einer Schimpftirade aus, wurde aber von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Er knallte die Sprechmuschel und den Hörer zurück auf die Gabel. Mit dem Kerl von der Rezeption würde er sich später beschäftigen. Er öffnete die Tür – und fuhr zurück. »Damit hast du nicht gerechnet, was, Robert?« Es war Susan Stiegler, und sie hielt einen Revolver auf ihn gerichtet. »Mrs. Stiegler … Ich verstehe nicht …« »Papperlapapp – hinein mit dir!« Er war so überrascht, dass er gehorchte. Sie schloss die Tür hinter sich und trieb ihn in die Mitte des Zimmer. »Schön hast du's hier. Wirklich nobel.« Sarkasmus troff aus ihren Worten. »Wie es sich für einen erfolgreichen Geschäftsmann gehört.« »Susan … ich meine, Mrs. Stiegler … Würden Sie die Güte haben, mir zu sagen, was dieser Auftritt zu bedeuten hat?« »Neun Jahre. Neun ganze Jahre habe ich gebraucht, um alle Puzzleteile zusammenzusetzen. Ich habe Privatdetektive angesetzt, die die ganze Ostküste für mich beackert haben. Ich habe Politiker und Beamte bestochen. Urkunden überprüft, Unterschriften verglichen … Am Ende musste ich sogar mein Haus verkaufen, weil ich bis über die Ohren verschuldet war. Aber ich habe mir Gewissheit verschafft …« »Gewissheit, Mrs. Stiegler? Worüber?« »Du kannst ruhig beim vertraulichen ›Susan‹ bleiben, Robert. Aber eins musst du mir wirklich erklären. Wie hast du es geschafft, über all die Jahre so jung zu bleiben? Das ist ein verdammtes Wunder!« Sie schwenkte die Waffe. »Aber selbst wenn du einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hättest, gegen eine Revolverkugel kommt wahrscheinlich selbst der nicht an.« »Du machst einen Fehler, Susan … Robert von Tannhausen ist seit fünfzig Jahren tot.« Sie lachte. »Das habe ich anfangs auch gedacht. Aber dann kamen
mir Zweifel. Und je länger ich forschte, desto größer wurde die Gewissheit. Robert von Tannhausen hat jene fragliche Nacht im Jahre 1882 überlebt und danach New York in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen. Gleichzeitig wurde die Geburt eines Mannes namens Robert Tendyke überhaupt nicht registriert. Du hättest sorgfältiger vorgehen müssen, Robert.« »Was willst du jetzt tun?« »Du hast mich verraten. Mich und Thomas. Du hast uns um unser Vermögen betrogen.« »Du täuschst dich. Ich habe nichts Unrechtes getan. Thomas Edison wollte mich umbringen lassen.« »Schade, dass er es nicht geschafft hat.« »Hör zu, Susan, ich bedaure, was damals geschehen ist. Aber wenn du mich umbringst, wird das nichts ändern. Ich habe bereits veranlasst, dass du eine Entschädigung erhältst. Mein Anwalt Gillespie wird sich darum kümmern.« »Du willst dir dein Leben erkaufen, Robert? Das ist erbärmlich.« Er kam sich schäbig vor. Es war ihm, als spräche ein anderer mit seiner Stimme: »Du wirst reich sein, Susan. Ich habe ein Stück Land, das …« »Ich bin 76 Jahre alt, Robert. Ich will nur noch eines – Gerechtigkeit!« Er ließ die Arme hängen. »Was willst du jetzt tun, Susan?« »Dich töten«, sagte sie und drückte ab.
Die Kugel schleuderte Robert nach hinten. Er stürzte über einen Stuhl und prallte zu Boden. Der Schlüssel … Sie hat tatsächlich geschossen … Es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen. Er versuchte den Arm zu bewegen, aber in seiner Brust schmerzte es ganz entsetzlich. Er keuchte. Susans Gesicht tauchte über ihm auf. In ihrem Blick spiegelte sich nicht Triumph, sondern Entsetzen. »Robert – was habe ich getan …« Er war ihr nicht einmal böse. Sie hatte das Recht dazu gehabt. Er
hatte ihr Leben zerstört, jetzt versuchte sie dasselbe mit dem seinen. Er wollte sich auf den Schüssel konzentrieren, aber seine Gedanken zerfaserten, kehrten immer wieder zu Susans Gesicht zurück. Er sah sie vor sich, fünfzig Jahre jünger. Sie war Anfang zwanzig gewesen, als sie sich in Amsterdam zum ersten Mal getroffen hatten. Nein, er konnte ihr nicht böse sein. Er war der Sohn des Teufels. Er war schuld an dem, was geschehen war. Die Hand mit dem Revolver zitterte. »Das wollte ich nicht, Robert … Es tut mir so Leid …« Er schloss die Augen. Das muss es nicht. Er wollte es ihr sagen, aber er brachte keinen Ton hervor. Ein zweiter Schuss ertönte. Etwas Feuchtes spritzte über sein Gesicht. Er schmeckte Blut und wusste im selben Augenblick, dass es nicht sein eigenes war. Als er die Augen öffnete, sah er Susan auf sich zustürzen. Der Revolver war ihrer Hand entglitten. Ein Pfeifen entwich seiner Lunge, als ihr Leib auf dem seinen zu liegen kam. Sie regte sich nicht mehr. Susan … Er konnte nicht mehr sprechen. Er hörte, wie Stimmen auf dem Flur aufklangen. Jemand rief etwas. Schritte. Dann warf sich jemand gegen die Tür. Beim dritten Mal sprang sie auf. Robert sah nicht mehr, wer hereingestürzt kam.
Er fand sich in einem Krankenbett wieder. Seine Brust war mit Binden umwickelt. Es schmerzte beim Atmen. Erschöpft blickte er sich um. Die Umgebung, in der er sich befand, kam ihm sonderbar vor. Keine weißen Wände, sondern holzgetäfelte Verkleidungen, von der Decke hing ein schwerer, goldglänzender Lüster. Der Raum, der viel zu groß war für ein Krankenzimmer, besaß eine Fensterfront, durch die Robert auf die Skyline von Lower Manhattan blickte. Aber etwas stimmte nicht. Das Fenster war zerbrochen. Ein gelbes Absperrband klebte über dem Durchbruch.
Überhaupt – alle Wände in dem Zimmer waren mit gelbem Band abgesperrt. »Wo bin ich …?« Seine Kehle war rau, als hätte er seit Tagen nicht mehr gesprochen. War er in Avalon gewesen? Hatte er es geschafft, sich auf den Schlüssel zu konzentrieren? Ein entscheidendes Merkmal des Übergangs nach Avalon war es stets gewesen, dass er sich hinterher nicht mehr genau an die Einzelheiten erinnern konnte. Trotzdem wusste er, dass diesmal etwas anders gewesen war. Irgendetwas sagte ihm, dass er die Schussverletzung überlebt hatte. Wirklich überlebt hatte. Zum Beispiel die Schmerzen in seiner Brust. Wenn er wirklich nach Avalon gegangen wäre, hätte die Verletzung verschwunden sein müssen. »Nimm den Verband ab«, sagte eine Stimme an seiner Seite. »Dann wirst du sehen, dass du tatsächlich gesund bist.« Er fuhr herum. Er war nicht allein! Dabei hätte er es eigentlich wissen müssen. Verschwinde, wollte er sagen, aber er war zu schwach. Nur ein kläglicher Laut des Abscheus kam über seine Lippen.
»Steh auf«, sagte ich, als Robert sich immer noch nicht rührte. »Ich habe dafür gesorgt, dass die Verletzung verheilt ist. Warum musst du es nur immer wieder drauf anlegen, Robert? Diesmal hätte dich nicht mal mehr der Schlüssel retten können …« »Was willst du von mir?« Ich seufzte. Langsam ging mir die Geduld aus. Ja, er war immer noch ein Junge – selbst jetzt, nach über vierhundert Jahren. War mein Experiment etwa gescheitert? Ich erlaubte es mir nicht, länger darüber nachzudenken. Selbst meine Zeit war begrenzt, und ich hatte keine Lust, noch einmal vierhundert Jahre zu investieren. »Die Frage ist doch, was du willst«, sagte ich missgestimmt. »Wie die Menschen dem Phantom von Glück und Geld hinterher jagen,
bis dich eine Revolverkugel trifft – oder dich endlich den wirklich wichtigen Dingen zuwenden.« Robert blickte sich abermals um. Endlich schien er zu erkennen, wo er sich befand. »Gillespies Kanzlei …!« Ich nickte. »Sie haben sie gestern geschlossen, am 30. Oktober, nachdem William Gillespie sich in den Tod gestürzt hat.« »Warum hat er das getan?« »Du hast ein paar der interessantesten Tage dieses jungen Jahrhunderts verschlafen, Robert. William Gillespie hat den American Oil-Deal über die Bühne gebracht. Ein leicht erhöhtes Angebot reichte aus, und noch ehe American Oil reagieren konnte, hatte er 75 Prozent der Aktien in deinen Besitz gebracht. Der Vorstand von American Oil war außer sich, und die Presse spekulierte, was du mit diesem Handel eigentlich bezwecken willst.« »Ich wollte …« Robert stockte. Er war offenbar immer noch nicht wieder ganz auf der Höhe. Ich grinste. »Vielleicht gereicht es dir zum Trost, dass William Gillespie nicht der einzige war, den die Börseneuphorie erfasst hat. Auch andere Firmen hat es in die Pleite getrieben …« »Pleite …?« Robert verstand augenscheinlich immer noch nicht. »Drei Tage nachdem du American Oil hattest, geriet die Börse ins Trudeln. Es war der 25. Oktober, der als Schwarzer Freitag in die Annalen eingehen wird. Einige Spekulanten bekamen kalte Füße und versuchten ihre Papiere abzustoßen. Der Mensch ist ein Herdentier, Robert. Binnen Stunden brach Panik aus, und die Kurse fielen ins Bodenlose.« Er schlug die Decke zur Seite und hob die Beine aus dem Bett. »Nur Mut«, sagte ich. »Was ist dann geschehen?« »Der Freitag war nicht mal der schlimmste Tag. Am Ende stabilisierten sich die Kurse wieder, aber schon am Montag gab es die nächste Hiobsbotschaft. Die Banken zogen ihr Kapitel zurück – dabei hatte man bis zuletzt gehofft, dass sie die Kurse durch Aufkäufe stützen würden. Am Ende der Woche belief sich der Verlust auf über 30 Milliarden. Ist das nicht amüsant, Robert? Das ist mehr
Geld, als die Regierung für den Weltkrieg aufgewendet hat.« Robert tappte zum Fenster. Vor dem Absperrband blieb er stehen. »Warum hat Gillespie das getan?« »American Oil traf es am schlimmsten. Der Kurs ist um mehr als 90% gefallen. Er kaufte auf Kredit weitere Aktien, um den Kurs zu stützen, aber das machte es nur noch schlimmer. Das Vertrauen war fort, und mit ihm schwand auch das Geld. Jetzt übertreffen die Schulden deine Firmenwerte bei weitem.« »Ich bin also mittellos«, stellte Robert fest. Es schien ihm nicht sonderlich viel auszumachen. Ich lachte auf. »Nein, wenn du mittellos wärest, würde jeder Dollar, den du von jetzt an verdienst, dir gehören. Aber du hast Schulden. Mehr, als du in einem Menschenleben tilgen könntest. Robert Tendyke ist am Ende. Er kann sich nirgendwo mehr sehen lassen. All die Millionen haben sich innerhalb weniger Tage in Luft aufgelöst.« Robert drehte sich um. »Dahinter steckst du doch! Du hast den Crash initiiert!« »Du bist der Habgier erlegen, Robert – und dem Hochmut. Siehst du, was daraus entstehen kann? Du hast Menschen in den Tod getrieben, Arbeitsplätze vernichtet und Schulden angehäuft, so hoch wie das Empire State Building. Eigentlich müsste ich beeindruckt sein.« »Deinen Spott kannst du dir sparen!« Ich packte ihn am Arm. »Ich spotte keineswegs. Du solltest endlich anfangen, erwachsen zu werden. Dies war deine letzte Prüfung. Du bist jetzt frei, Robert. Lass mich sehen, dass du deine Lektionen gelernt hast!« Er spuckte aus. »Frei! Wie könnte ich jemals von dir frei sein? Du bist eine Plage, ein Fluch, der auf meinem Leben lastet. Du hast Gillespie und Susan getötet!« »Mach dich nicht lächerlich, Robert. Du selbst warst es, der sie in den Tod getrieben hat. Du solltest deine Augen nicht vor der Wahrheit verschließen.« Er blickte mich herausfordernd an. »Wie soll ich denn in Zukunft
vorgehen, Asmodis oder d'Assimo oder wie auch immer du dich gerade nennst? Ich besitze nichts. Jeder Mensch in den Vereinigten Staaten kennt mein Gesicht!« »Die Zeit heilt alle Wunden, Robert, und sie wird auch die Leute vergessen lassen. Vielleicht solltest du für eine Weile verschwinden.« »Ach ja«, höhnte er, »und wohin, wenn ich fragen darf? Du hast ja dafür gesorgt, dass mir nichts mehr bleibt.« »Es ist nicht alles verloren. Denk an Tendyke's Home und diese kleine Firma in El Paso. Gillespie hat sie auf deine Anweisung aus dem Firmenvermögen herausgelöst – gerade noch rechtzeitig, bevor sie ebenfalls in den Untergang gerissen werden konnte.« Ich fasste ihn an den Schultern. »Ich habe immer noch Pläne mit dir. Ich darf dir zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu viel darüber verraten. Es wird Veränderungen in der Hölle geben. Irgendwann in der Zukunft, vielleicht erst in fünfzig oder hundert Jahren. Dann wird unsere Stunde schlagen, mein Sohn …« Robert machte sich los. »Ich hasse dich!« »Das ist gut«, sagte ich und drehte mich einmal um die eigene Achse. »Das ist die beste Voraussetzung für eine künftige Zusammenarbeit …« Ich stampfte drei Mal mit dem Fuß auf, drehte mich, ›sprach‹ lautlos die uralten Zauberformeln – und Robert und der Kanzleiraum verschwanden vor meinen Augen. Ich kehrte in die Schwefelklüfte zurück. Es war an der Zeit, meinen Sohn in die selbst gewählte Freiheit zu entlassen. Irgendwann würde er zu mir zurückkehren. Wahrscheinlich sogar eher früher als später. Ob er wollte oder nicht.