Nr. 372
Odins Erbe Die Vertreibung der Göttersöhne von Kurt Mahr
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat sich auf Lo...
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Nr. 372
Odins Erbe Die Vertreibung der Göttersöhne von Kurt Mahr
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat sich auf Loors, dem Planeten der Bran geln, lange genug aufgehalten, um es Atlan zu ermöglichen, Spercos, des Tyrannen der Galaxis Wolcion, Gewaltherrschaft ein jähes Ende zu setzen und den unterdrück ten Völkern die verlorene Freiheit wiederzugeben. Inzwischen ist Pthor zu neuem Flug durch den Kosmos gestartet. Eingeleitet wurde der Start durch den »Ruf des Wächters«, der fast alle Lebewesen auf Pthor in tiefen Schlaf versinken ließ, und durch das Erscheinen des »schwarzen Kontrolleurs«. Um zu verhindern, daß Pthor wieder der Kontrolle der mysteriösen Beherrscher der Schwarzen Galaxis anheimfällt, macht sich Atlan, der dank dem Goldenen Vlies nicht in Tiefschlaf verfallen ist, auf den Weg zur »Seele« von Pthor. Doch es gelingt Atlan nicht, auf die Steuerung Einfluß zu nehmen. Statt dessen wird der Arkonide auf die »Dimensionsschleppe«, den Ableger Pthors, verschlagen, der eine kleine Welt für sich bildet. Während Atlan sich aus der Dimensionsschleppe den Weg zurück nach Pthor er kämpft, bahnen sich dort entscheidende Ereignisse an, die sich vor allem auf die FE STUNG konzentrieren. Nach und nach erwachen die Schläfer, und es kommt zum Kampf um ODINS ER BE …
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Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Arkonide übernimmt Odins Erbe.
Heimdall, Sigurd und Balduur - Die Odinssöhne erweisen sich als unwürdig.
Thalia - Sie kämpft gegen ihre Brüder.
Odin - Ein kleiner Mann hat seinen großen Auftritt.
Razamon und der Stumme - Zwei Reisende in Atlans Auftrag.
1. Das erste, was das wiedererwachende Be wußtsein empfand, war Schmerz. Bohrende Pein, die im Schädel wühlte. Die Art von Schmerz, die signalisierte, daß es noch viel schlimmer werden würde, wenn sich die Au gen öffneten. Er lag da, mit geschlossenen Augen, und dachte über das Geschehene nach. Zuviel Ungewöhnliches war in der letzten Zeit ge schehen, als daß er die Bruchstücke der Er innerung im Handumdrehen hätte zusam mensetzen können. Fetzen von Gedächtnis bildern tummelten sich in seinem Bewußt sein, und er hatte seine liebe Mühe, sie zu sortieren. Seine Söhne hatten ihn auf Pthor manife stiert. Die Manifestation war überraschend gekommen und dennoch planmäßig abgelau fen. Er war als der kleine, alte Mann mate rialisiert, der er in Wirklichkeit war, mit dem Herzen eines Hasen ausgestattet. Die Materialisierung hatte nicht auf Pthor selbst stattgefunden, sondern auf einer fremden Welt, auf der sich der Materiebrocken zu dieser Zeit aufhielt. Auf der fremden Welt, die Loors genannt wurde, war er einem Menschen begegnet, der sich Atlan nannte. Er hatte sich zu Atlan geschlagen und war von diesem infolge etlicher unerfreulicher Ereignisse mit dem Namen »Feigling« be legt worden. Gemeinsam hatten sie den Wölbmantel durchdrungen und waren schließlich zur FESTUNG gelangt, wo der zeit Balduur, Heimdall und Sigurd als Herr scher von Pthor fungierten. Als der kleine alte Mann an diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen war, be gann sich seine Erinnerung mit großer Ge
schwindigkeit zu verdichten. Er war hinzu gekommen, als Balduur, Heimdall und Si gurd, seine Söhne, im Begriff standen, ihre Schwester Thalia, seine Tochter, und den Menschen Atlan hinzurichten. Er hatte sich den Söhnen als der zu erkennen gegeben, der er wirklich war: Odin, ihr Vater. Danach enthielt sein Gedächtnis eine Sammlung wirrer Eindrücke. Seine Söhne hatten ihn eine Zeitlang geduldet, dann aber waren sie über ihn hergefallen, um ihn zu er morden. Seine kleine Gestalt und sein Man gel an Mut, hatten sie gesagt, sei Schande auf den Häuptern der Herrscher von Pthor. Es hatte ein großes Durcheinander stattge funden. Odin erinnerte sich an einen Saal, der von einer Kuppel überdacht wurde. Die Kuppel hatte an einer Stelle einen großen, gläsernen Einsatz, durch den Tageslicht von draußen hereinfiel. In der Mitte der Halle lag ein Trümmerhaufen: die Überreste der Bar rikade, hinter der sich Thalia gegen die Brü der verteidigt hatte. Vor diesem Trümmerhaufen hatten sich die drei Brüder versammelt, um ihren Vater zu richten! Die Erinnerung erfüllte Odin mit einem Entsetzen, das nicht wesentlich geringer war als jenes, das er im Augenblick der Tat emp funden hatte. Er öffnete unwillkürlich die Augen. Die Lichtimpulse, die in sein Gehirn drangen, verdoppelten die Intensität des Schmerzes. Er blinzelte eine Zeitlang, aber schließlich war er in der Lage, der Helligkeit standzuhalten. Mühselig richtete sich der kleine Mann auf. Seine Erinnerung war jetzt vollständig. Es hatte ein pfeifendes Geräusch gegeben, das Mauern und Wände durchdrang und die Menschen schwerfällig und müde machte. Odin erinnerte sich, daß er zuletzt kaum
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noch Kraft gehabt hatte, sich aufzubäumen, als er die tödliche Klinge auf sich zukom men sah. Er war eingeschlafen – in der Ge wißheit, daß er aus diesem Schlaf nie mehr erwachen werde. Aber den drei Mordlustigen war es ebenso ergangen. Sie waren nicht mehr dazu ge kommen, ihr entsetzliches Vorhaben auszu führen. Das Pfeifen hatte auch sie in den Schlaf versetzt. Odin horchte sich um. Der Pfeifton war nicht mehr zu hören. War er aufgewacht, weil das Pfeifen verstummt war? Das erschi en ihm wahrscheinlich. Augenblicklich er kannte er, welche Gefahr das für ihn bedeu tete. Wenn er erwacht war, dann würden in Kürze auch Balduur, Sigurd und Heimdall zu sich kommen! Sollte er sich von neuem von ihnen greifen lassen? Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Es hatte ihn Minuten vor seinen Söhnen erwa chen lassen. Er mußte diese Chance nützen, sich in Sicherheit zu bringen! Er wandte sich zur Flucht. Am einen Ende des Kuppelsaales führte eine steile Treppe in die Tiefe. Er eilte dorthin; aber noch hatte er den Beginn der Treppe nicht erreicht, da hörte er von seitwärts her ein Geräusch. Schreckerstarrt blieb er stehen.
* Thalias Erwachen war nicht weniger schmerzvoll als das ihres Vaters. Aber Tha lia, die einst auf dem Abschnitt der Straße der Mächtigen zwischen Zbahn und Orxeya den Odinssohn Honir verkörpert hatte, fand es leichter, sich an die jüngst zurückliegen den Ereignisse zu erinnern. Sie wußte, daß sie mit Atlan, Razamon und dem Fremden, der sich der Stumme nannte, in die große Pyramide, das Hauptge bäude der FESTUNG, geeilt war, um ihren Vater zu retten, der von seinen eigenen drei Söhnen umgebracht werden sollte. Kurz zu vor hatte der VONTHARA begonnen, ein infernalisches Pfeifen auszustoßen, und auf dem Hof der FESTUNG war eine Kuppel
aus dem Boden gewachsen, auf der ein glä sernes Gebilde stand, das ein Abbild von VONTHARA war und womöglich noch schriller als jener pfiff. Das Pfeifen war al len durch Mark und Knochen gegangen und hatte ihnen die Kräfte geraubt. Nacheinander waren Thalia, Razamon und der Stumme zu sammengebrochen. Lediglich Atlan war von der Wirkung des Pfeifens verschont geblie ben – wahrscheinlich, weil er das Goldene Vlies trug. Thalia sah sich um. In den Wänden staken Lampen, die Fackeln nachgebildet waren und ein ähnlich trübes Licht verbreiteten. Razamon und der Stumme waren ver schwunden. Von Atlan war ebenfalls keine Spur. Verwundert stellte Thalia fest, daß das Pfeifen aufgehört hatte. Der Vater kam ihr wieder in den Sinn. War es ihm und den Brüdern ebenso ergan gen? Waren sie ebenfalls eingeschlafen? Die Sorge um Odin half Thalia, den bohrenden Kopfschmerz zu überwinden. Sie eilte die Rampe hinan. Sie kam in einen Gang, der auf den Kuppelsaal mündete, in dem sie ge gen Sigurd, Heimdall und Balduur gekämpft hatte und nur wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen war. Durch die Mündung des Ganges sah sie die drei Brüder mit der Khylda. Von Odin aber war keine Spur. Thalia trat aus dem Gang hervor. Da erst gewahrte sie den klei nen Mann, der vor der Treppe stand, die zur Rechten in die Tiefe führte, und sie entsetzt anstarrte. Sie eilte auf ihn zu. »Vater …!« stieß sie hervor. Der Schreck wich aus seinem Gesicht. Ein Lächeln trat in Odins Miene. »Honir«, sagte er schwach. »Du bist der einzige unter meinen Söhnen, der mir die Treue bewahrt!« Thalia blitzte ihn an. »Ich bin Thalia, und so sehr es auch ge gen deinen verbohrten Stolz gehen mag: Ich bin deine Tochter!« Er hörte nicht auf zu lächeln. »Ich weiß, Mädchen«, antwortete er. »Mit der Verbohrtheit hast du recht. Ich muß zeit
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weise von Sinnen gewesen sein …« »Das kommt in dieser Familie öfters vor!« bemerkte Thalia sarkastisch. Odin wurde plötzlich ernst. »Auch da hast du recht«, bekannte er. »Nur du, meine Tochter, hast stets einen kühlen Verstand bewahrt.« Er wandte sich zur Seite und wies auf die drei Brüder. »Siehst du, was sie mit mir vorhatten?« fragte er. »Ich sehe es. Vergiß nicht, daß Atlan dich warnte!« »Atlan! Ja, er hat gewarnt! Ich war ver blendet und wollte ihm nicht glauben! Wo ist er?« »Ich weiß es nicht. Das Pfeifen konnte ihm nichts anhaben. Er blieb vor der Müdig keit verschont. Er mag überall sein.« Plötzlich war ein leises Stöhnen zu hören. Odin zuckte zusammen. »Was war das?« stieß er ängstlich hervor. »Heimdall!« antwortete Thalia. »Er kommt zu sich! Siehst du ihn sich bewegen? Wir müssen fort von hier!« Sie griff den Alten bei der Hand und zog ihn mit sich die Treppe hinab.
* Thalia und ihr Vater verließen die große Pyramide durch das nördliche Portal. Drau ßen war es düster. Der Himmel wirkte wie geschmolzenes Blei unmittelbar vor dem Er starren. Die Sonne war nirgendwo zu sehen. Thalia blickte sich um. Die große Pyrami de war von einem Sechseck umgeben, des sen Eckpunkte von kleineren Bauwerken, ebenfalls Pyramiden, markiert wurden. Die Fläche des Sechsecks bestand aus einer kah len, glatten Gußmasse, die an ein Gemisch aus Beton und Metall erinnerte. Jenseits der kleinen Pyramiden begann der einst paradie sische Garten der FESTUNG. Thalia ge wahrte die reglosen Gestalten einiger Dellos. Die Androiden hatten die Wirkung des Pfeiftons noch nicht überwunden. Das war gut so. Es sollte niemand erfahren, wo Tha
lia ihren Vater versteckte. Sie eilte über die kahle Hoffläche. Odin folgte ihr willig. Thalia hielt auf das nörd lichste Bauwerk zu. An einer Seitenwand der kleinen Pyramide machte sie sich zu schaffen, bis sich eine Öffnung auftat. Drin nen flammte ein Licht auf. Odin blickte in einen kahlen Raum, dessen Hintergrund eine Tür aufwies. »Warte hier auf mich!« bat die junge Frau den Vater. »Hier bist du sicher!« »Wo … wohin willst du gehen?« stotterte Odin ängstlich. »Deine Söhne zur Vernunft bringen!« ant wortete sie grimmig. »Ihr Wahnsinn hat ge nug Schaden angerichtet. Und wenn sie mir nicht folgen, dann schlage ich ihnen die Schädel gegeneinander, bis ihnen Hören und Sehen vergeht!« »Laß mich nicht allein!« flehte Odin. »Du bist hier sicher«, versuchte Thalia, ihn zu beruhigen. »Niemand außer Atlan und mir kennt diesen Eingang. Rühr dich nicht von der Stelle! Denn wenn die Dellos dich sehen, werden sie den Brüdern davon erzählen!« Thalia schlüpfte hinaus und beobachtete, wie sich der Eingang hinter ihr schloß. Die Dellos waren noch immer nicht erwacht. Thalia wandte sich zur Ostflanke der großen Pyramide. Es fiel ihr auf, daß die graue Kup pel, auf der das Abbild des VONTHARA gestanden hatte, verschwunden war. Sie mußte wieder im Boden versunken sein, aber es gab in dem glatten Gußbelag nicht die winzigste Fuge, die verriet, wo das ge schehen war. Durch einen Seiteneingang erreichte Tha lia die Rampe, auf der sie unter der Wirkung des Pfeiftons zusammengebrochen war. Sie ging jedoch nicht auf geradem Wege zum Kuppelsaal, sondern bog am Ende der Ram pe in einen Seitengang ein, der über mehrere Treppen und Absätze zu den Quartieren führte, in denen ihre Brüder hausten, wenn sie sich nicht in einer der großen Hallen der unteren Geschoßebenen aufhielten. Früher hatte auch sie hier gewohnt, und später, in
6 der Rolle Odins, war ihr die größte aller Wohnungen zugewiesen worden. Thalia erreichte ihr früheres Quartier ohne Zwischenfall. Sie durchquerte die freudlos eingerichteten Räume und gelangte schließ lich an eine Kammer, die mit allerlei Ge rümpel vollgestopft war. Sie kramte in dem Durcheinander umher und förderte Einzel teile einer Rüstung zutage: einen Helm, der mit einer Gesichtsmaske versehen war, die Öffnungen für die Augen und den Mund aufwies, einen Brustpanzer, einen Schild, ei ne Kugel, die mit einer eisernen Kette an ei nem massiven Griff befestigt war, ein aus Metallgeflecht verfertigtes Beinkleid, eiser ne Stiefel und ein Paar ebenfalls eiserner Gliederhandschuhe. Das waren einst die Waffen Honirs gewe sen. Nicht die Originalteile – die hätten Tha lia nicht mehr gepaßt, seit sie die Körper maske abgelegt hatte, mit der ihr das Ausse hen eines Recken verliehen worden war. Dies waren Gegenstände, die sie selbst her gestellt hatte, wenn wieder einmal, wie schon so oft, Streit zwischen ihr und den Brüdern ausgebrochen war. Mehr als einmal hatte sie versucht, sich Rechenschaft darüber zu geben, warum es sie beruhigte, an der Verfertigung von Waffen zu arbeiten, wa rum ihr das Herstellen einer Rüstung Freude bereitete. Jetzt, als sie die Rüstung anzulegen be gann, glaubte sie zu wissen, was ihr hinter gründiges Motiv gewesen war. Ihr Unterbe wußtsein hatte erkannt, daß es einst zur Aus einandersetzung mit den Brüdern kommen werde. Das Arbeiten an der Rüstung hatte ihr ein Gefühl der Sicherheit gegeben. Je fleißiger sie sich mit der Rüstung befaßte, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, daß sie unvorbereitet war, wenn es zum ent scheidenden Kampf kam. Sie schob sich den Helm über den Kopf, nachdem sie Beinkleid, Stiefel und Brust panzer angelegt hatte. Die massive Maske engte ihr Gesichtsfeld ein, aber daran war sie noch aus Honirs Tagen gewöhnt. Sie er griff den Schild und die Vars-Kugel. Sie
Kurt Mahr schwang die Kugel und vergewisserte sich, daß sie nicht verlernt hatte, wie man mit der fürchterlichen Waffe umging. Sie nahm sich Zeit, vor einem Spiegel ste henzubleiben und ihr Ebenbild zu betrach ten. Da stieg tiefe Traurigkeit in ihr auf. Sie hatte diesen Augenblick kommen sehen, aber sie hatte ihn nicht herbeigewünscht. Im Grunde ihres Herzens war sie kein Krieger. Sie tat diesen Gang, weil er getan werden mußte – um Odins willen, um ihrer selbst willen, für Pthor! Denn die Verwirrung der Brüder war bereits so akut, daß sie an Wahnsinn grenzte, und drei wahnsinnige Odinssöhne als Herrscher über Pthor würden das Land in eine Katastrophe stürzen, wie sie sich selbst die Herren der Schwarzen Ga laxis nicht grausiger ausdenken konnten. Thalia war gewappnet. Und gewappnet ging sie, um ihre Brüder vor dem Wahnsinn zu bewahren!
2. Odin hatte es sich in der leeren Kammer so bequem wie möglich gemacht. Er hockte auf dem Boden und lehnte den Rücken ge gen die metallene Wand. Die Beine hatte er an den Leib gezogen und die Knie mit den Händen umschlungen. Hier war es kühl und ruhig. Odins Furcht wich allmählich. Er war fest entschlossen, Thalias Weisungen zu fol gen. Er würde hier warten, bis sie ihn abhol te. Da aber hörte er plötzlich ein Geräusch. Voller Schreck und Staunen sah er, wie sich die Tür im Hintergrund des Raumes einen Spalt weit öffnete. Er sprang auf – bereit, beim geringsten Anzeichen von Gefahr nach draußen zu fliehen. Durch den Spalt schob sich ein Zwerg, ei ne humanoide Gestalt von weniger als einem Meter Größe. Das Geschöpf hatte einen im Vergleich zum Restkörper ungewöhnlich großen Schädel, fast wie ein Säugling, und eine tonnenförmig vorgewölbte Brust. »Du bist es …!« hauchte Odin erleichtert. »Was tust du hier?«
Odins Erbe »Ja, ich bin es!« verkündete der Zwerg mit hellem Klang: »Ich, die Stimme! Ich bin hier, um dich an deine Aufgabe zu erin nern!« »Wie kommst du hierher?« wollte Odin wissen. »Das spielt keine Rolle«, antwortete das Wesen. »Ich bin hier, das allein ist wichtig!« Odin war der »Stimme« zum ersten Mal begegnet, als er sich mit Atlan der FE STUNG näherte. Damals hatte der Zwerg vorgegeben, er sei ein Dello, den die Kelot ten von Aghmonth im Auftrag der Odins söhne eigens für den Zweck erschaffen hat ten, ein Sprecher für andere Dellos zu sein, die nicht mit Stimmwerkzeugen ausgestattet waren. Seit jener ersten Begegnung aber hat te Odin noch ein weiteres Mal von der Stim me gehört. Dann nämlich, als er sich aus lauter Angst von Atlan getrennt und in eine finstere Kammer verkrochen hatte. Plötzlich war die Stimme zu hören gewesen und machte ihm klar, daß es seine Aufgabe sei, Thalia aus den Händen ihrer mordgierigen Brüder zu retten und sich selbst als Odin zu erkennen zu geben. Die Stimme war bei jener zweiten Begeg nung nicht sichtbar geworden. Odin hatte seitdem den Verdacht, daß es mit dem Zwerg etwas ganz Besonderes auf sich hatte. Manchmal kam es ihm so vor, als brauche er nur in seinem Gedächtnis nachzusuchen, um irgendwo eine Erklärung für das geheimnis volle Gehabe des Dellos zu finden. »Was willst du von mir?« fragte Odin. »Was für eine Aufgabe ist es, von der du sprichst?« »Die Angst verdunkelt dir den Verstand!« wies der Zwerg ihn zurecht. »Wenn du dich fürchtest, schwindet dein Gedächtnis, und da du auf Pthor bisher wenig anderes getan hast, als dich zu fürchten, kannst du dich an nichts erinnern. Du bist Odin! Wo stand Odins Burg?« Der kleine Mann starrte vor sich hin. »An der Straße der Mächtigen, zwischen Zbahn und Zbohr«, murmelte er. »Unmittelbar über der Suhle der Bestien!«
7 »Das ist richtig«, bestätigte die Stimme. »Und wann gedenkst du, dorthin aufzubre chen?« »Dorthin?« rief Odin entsetzt. »Ich käme keine Dutzend Schritte weit, da hätten meine Söhne mich schon erschlagen!« »Thalia kümmert sich um ihre Brüder! Sie bieten dir keinen Vorwand. Du hast einen Auftrag auszuführen. Aber du wirst ihn nicht ausführen können, wenn du zuvor nicht Odins Burg aufsuchst.« Dunkel erinnerte sich Odin daran, daß al les, was die Stimme sagte, ihre Richtigkeit hatte. Es gab in der Tat einen wichtigen Auftrag, den er erledigen mußte, bevor es zu spät war. Einen Auftrag, den er sich selbst erteilt hatte, als er spürte, daß seine Söhne ihn zu manifestieren versuchten. Er riß sich zusammen. »Gut, du hast recht«, erklärte er. »Thalia hat mich gebeten, hier auf sie zu warten. Aber meine Aufgabe hat Vorrang. Da du dich in allem auskennst, hast du wahrschein lich auch schon einen Weg ersonnen, auf dem ich zur Burg gelange?« »Du darfst keine Zeit verlieren«, antwor tete die Stimme. »Ich habe ein paar Vorbe reitungen getroffen. Geh hinaus und wende dich nach Norden, in den Garten hinein. Et wa zweihundert Schritte entfernt findest du ein Gehölz. Im Innern ist eine Lichtung – gerade groß genug, um einem Zugor Platz zu bieten. In dem Zugor sitzt ein Dello na mens Sporlos. Er wird dich zur Burg brin gen.« »Was erwartet er dafür?« »Nichts. Ich habe ihm keine Belohnung versprochen.« »Weiß er, wer ich bin?« »Nein. Aber er wird es beizeiten erfah ren.« Odin nickte. Er wußte, wie die ominösen Worte gemeint waren. »Ich werde tun, was du sagst«, erklärte er.
* Odin öffnete den Ausgang und trat hin
8 aus. Als er erkannte, daß in der Zwischen zeit die meisten Dellos, die sich im Garten aufhielten, wieder zu sich gekommen waren, packte ihn die Furcht von neuem. Er wäre am liebsten wieder umgekehrt. Aber irgendwie scheute er sich vor dem schneidenden Ton der Stimme, wenn sie ihn der Feigheit bezichtigte. Sich in der Deckung der Büsche bewe gend, strebte er auf das Gehölz zu, das die Stimme ihm beschrieben hatte. Er drang zwischen die Bäume ein und fand die Lich tung mit dem Zugor. Von dem Dello, der hier hätte auf ihn warten sollen, war jedoch keine Spur zu sehen. Odin kletterte in das Fahrzeug. Er über legte, ob es ihm möglich sein werde, den Zugor selbst zu steuern. Dummerweise war er, als er mit Atlan flog, immer viel zu sehr mit seiner Angst beschäftigt gewesen, als daß er sich hätte darum kümmern können, wie Atlan die Kontrollen handhabte. Er rüttelte versuchsweise an einem der Hebel. Im selben Augenblick wuchtete jen seits des Fahrzeugrands eine hünenhafte, finstere Gestalt in die Höhe, und eine dröh nende Stimme ertönte: »Laß deine schmutzigen Finger von mei nem Zugor!« Odin erschrak so sehr, daß er den Halt verlor und sich wenig elegant auf den Boden des Zugors setzte. »Wer … wer bist du?« stotterte er voller Angst. »Was kümmert's dich? Du hast in meinem Fahrzeug nichts verloren!« Der Finstere war wenigstens sechs Fuß groß und untersetzt gebaut. Seine Körper kräfte mußten enorm sein. Das Gesicht war grob geschnitten, die Stirn niedrig. Der Hü ne trug ein ledernes Hemd, das auf der Brust offenstand und beachtlichen Haarwuchs se hen ließ. Das Beinkleid bestand ebenfalls aus Leder. »Dein Name ist nicht etwa Sporlos?« er kundigte sich Odin zaghaft. »Doch, ich bin Sporlos!« dröhnte der Fin stere. »Woher kennst du meinen Namen?«
Kurt Mahr »Die Stimme hat ihn mir genannt.« Spor los musterte den kleinen Mann mißtrauisch. »Du willst zur Straße der Mächtigen ge bracht werden?« fragte er. »Das ist richtig.« »Was willst du dort?« »Ich suche etwas. Wenn du willst, kannst du mir bei der Suche helfen.« Sporlos setzte mit einem Sprung über den Rand des Fahr zeugs. »Setz dich dort hinten hin und halte dich fest!« befahl der Dello seinem Fahrgast. »Wie soll ich dich nennen?« Die Frage kam für den kleinen Mann völ lig überraschend. Ohne daß er es wollte, ent fuhr es ihm: »Ich … ich bin Odin!« Sporlos wandte sich zu ihm um und hatte ein höhnisches Feixen auf dem breiten Ge sicht. »Bildest dir wohl viel auf dich ein, wie?« spottete er.
* Der Flug verlief ohne nennenswerte Er eignisse. Odin stellte fest, daß der Himmel immer der gleiche war: bleiern und niedrig. Es schien keine Sonne mehr zu geben, ob wohl auf dem Land noch genug Helligkeit lag, so daß man sich von dem Zugor aus ori entieren konnte. Sporlos erwies sich als ein mundfauler, ruppiger Geselle, der nur brummende Laute von sich gab, wenn Odin ihn etwas fragte. Odin konnte sich nicht vorstellen, daß der Kerl wirklich ein Dello sei. Sporlos steuerte den Zugor nördlich an Zbohr vorbei. Dann ging er scharf auf Süd kurs. Die Straße der Mächtigen tauchte auf, aber was war aus ihr geworden! Sie glich mehr einem Pfad, der an Dutzenden von Stellen plötzlich im Nichts endete, um hun dert Meter weiter wieder von neuem zu er stehen. Pflanzen aller Art hatten den ge bahnten Weg zu überwuchern begonnen. Dieses armselige Gebilde verdiente den stol zen Namen nicht mehr, den man ihm einst gegeben hatte.
Odins Erbe Die Küste kam in Sicht. Mit Odin war in den letzten Minuten eine seltsame Verwand lung vor sich gegangen. Je weiter die Fahrt ging, desto deutlicher glaubte er, sich erin nern zu können, all dies schon einmal gese hen zu haben. Er wußte natürlich, daß er ir gendwann in grauer Vergangenheit in Pthor gelebt hatte. Aber sein Gedächtnis hatte die Einzelheiten der Landschaft nicht aufbe wahrt. Pthor war für ihn eine fremde Welt. Er hätte sich aus eigener Kraft nicht darin zurechtgefunden. Als er jetzt die steil abfal lenden Küstenfelsen sah, erwartete er, da hinter die blaue Fläche der Bucht der Zwil linge zu erblicken. Nicht nur wußte er plötz lich, daß es diese Bucht gab. Er kannte sogar ihren Namen! Er wurde allerdings enttäuscht. Das strah lend blaue Wasser der Bucht bekam er nicht zu sehen. Unmittelbar jenseits der Felsen wallte dichter Nebel und versperrte die Aus sicht. Der Zugor schwebte jetzt genau über der Straße. Rechts voraus, in westnordwestlicher Richtung, lag die Ebene Kalmlech, in der früher die Ungeheuer der Nacht gehaust hat ten. Wenn Pthor, aus einem Dimensionstun nel kommend, auf einer fremden Welt lan dete, der die Herrscher der Schwarzen Gala xis Unheil und Vernichtung zugedacht hat ten, dann pflegten die Horden der Ungeheu er den kurzen Abschnitt der Straße zwischen Zbohr und Zbahn als Ausfallpforte zu benut zen. Über die Bucht der Zwillinge hinweg ergossen sie sich auf die ahnungslose Welt, um deren Bewohnern Tod und Verderben zu bringen. Zu Odins Zeiten, so meinte der kleine Mann, konnte das noch nicht so gewesen sein. Von seiner Burg aus hatte er den ge samten Straßenabschnitt übersehen und kon trolliert. Er war sicher, daß er eingegriffen hätte, sobald die Bestien die Straße zu über schwemmen drohten. Aber es konnte auch sein, daß er sich irrte. Es war erst ein winzi ges Bruchstück seiner Erinnerung an die ur alten Zeiten zurückgekehrt. Er mußte war ten, bis sein Gedächtnis sich weiter vervoll
9 ständigte. Es war Sporlos, der ihn schließlich aus seinen Gedanken aufschreckte. »Wohin soll ich dich bringen?« fragte er grob. »Kennst du den Felsen an der Suhle der Bestien?« »Ich kenne keinen Felsen und keine Suh le«, antwortete Sporlos. »Dann will ich dir die Richtung ansagen!« erbot sich Odin.
* Das Gelände wurde wilder, zerklüfteter. Die Straße wich ein Stück weit von der Kü ste zurück, als dort die Felsen allzu schroff aufragten. Alsbald aber begannen auch auf der dem Land zugewandten Seite der Straße Felsen in die Höhe zu wachsen. Die Straße führte durch eine enge, kahle Schlucht, die etwa einen Kilometer lang war. Am westlichen Ende der Schlucht erhob sich auf der Nordseite der Straße, als Ab schluß des Felsmassivs, ein gewaltiger Mo nolith, über dreihundert Meter hoch und von einer Plattform gekrönt, die quadratische Form und eine Seitenlänge von gewiß hun dert Metern besaß. Aus der Ferne wirkte die Plattform eben, wie abgeschliffen. Erst aus der Nähe wurden kleine Unebenheiten er kennbar. Beim Anblick des Monolithen stockte Odin das Herz. Es setzte einen Schlag aus. Er starrte den riesigen Felsen an, als erwarte er, daß er ihm in der nächsten Sekunde ein Wunder offenbare. Inzwischen hielt Sporlos auf den Mono lithen zu; denn das war der letzte Zielpunkt, den sein Fahrgast ihm bezeichnet hatte. In geringer Höhe schickte der Zugor sich an, über das steinerne Plateau hinwegzugleiten. Da jedoch wurde Odin plötzlich lebendig. »Halt an!« rief er. »Wozu?« knurrte Sporlos. »Das ist Ener gieverschwendung, wenn man mitten in der Luft anhält.« »Nicht in der Luft!« rief Odin aufgeregt.
10 »Lande!« Sporlos musterte den kleinen Mann mit einem verständnislosen Blick. Dann trat er von dem Steueraggregat fort und spähte über den Rand des Fahrzeugs in die Tiefe. Er brummte etwas Unverständliches. Aber er schien sich überzeugt zu haben, daß er auf der Plattform unbesorgt landen könne. Er setzte den Zugor ab. Hastig kletterte Odin aus dem Fahrzeug. Die Unebenheiten, die aus der ebenen Flä che des Plateaus hervorwuchsen, erwiesen sich bei näherem Hinsehen als die Überreste eines uralten Gebäudes. Eine Feuersbrunst mit unsäglicher Hitze mußte über diesen Felsen hinweggebraust sein. Denn die Mau erreste waren fest mit dem Boden ver schmolzen, die Fugen zwischen den einzel nen Steinen nicht mehr zu erkennen. Odin blieb bei den glasigen Mauerresten stehen. Unaussprechliches Weh füllte sein Herz beim Anblick der erbärmlichen Mauer stücke, die sich dort erhoben, wo einst Odins mächtige, strahlende Burg gestanden hatte. Wieviel Tausende von Jahren war das jetzt schon her! Traurig schritt er zum Westrand des Fel sens. Ohne jegliches Schwindelgefühl blick te er über die senkrecht abfallende Wand hinab in die Tiefe. Auch die Suhle der Besti en war nicht mehr. Die Wüste hatte das Wasser aufgesaugt. Wo sich einst die Suhle befunden hatte, da gab es jetzt nur noch eine flache, mit Sand gefüllte Senke. Sand auch sonst, so weit das Auge reich te. Von hier an in Richtung Zbahn war das Gelände, durch das die Straße führte, eine lange Strecke weit eben. Odin erinnerte sich, daß es hier früher rauschende Wälder gege ben hatte, in denen er der Jagd nachgegan gen war. Er wandte sich ab und starrte gedanken verloren über die Felsfläche. Er war hierher gekommen, um etwas zu finden. Was war es? Sporlos hockte auf dem Rand des Zu gors und beobachtete ihn ohne Interesse, mit stupidem Gesichtsausdruck. Odin ging ein paar Schritte. Da spürte er es unter seinen
Kurt Mahr Füßen knirschen. Er bemerkte mit Erstau nen, daß er in der scheinbar glasharten Flä che des Felsplateaus eine deutliche Spur hin terließ. Der erstarrte Fels war keineswegs von so stählerner Härte, wie es auf den er sten Blick den Anschein hatte. Wind und Wetter hatten ihm über die Jahrtausende hin weg zugesetzt, und die glatte Substanz hielt keiner ernsthaften Belastung mehr stand, oh ne zu zerbröckeln. Odin folgte einem Impuls. »Hast du ein Werkzeug in deinem Zugor?« rief er Sporlos zu. »Nur ein paar Stangen«, antwortete der Dello mürrisch. »Wozu brauchst du sie?« »Ich suche etwas!« Sporlos beugte sich ins Fahrzeuginnere und brachte eine etwa anderthalb Meter lan ge, kräftige Eisenstange zum Vorschein. Er warf sie Odin zu. »Du mußt deine Arbeit aber allein ma chen«, murrte der Dello. »Ich bin nur hier, um dich zu fahren.« Odin hörte ihn nicht. Mit wahrer Beses senheit schwang er die Stange. Er begann, parallele Furchen im Abstand von jeweils zwei Schritten über das Plateau zu ziehen. Und ehe er sich's versah, machte er seinen ersten Fund. Die Stange stieß gegen etwas Hartes. Odin bückte sich, ließ das Werkzeug achtlos fallen und machte sich daran, mit den Hän den ein Loch in den zerbröckelnden Fels zu graben. Kurze Zeit später bekam er den Ge genstand zu fassen, auf den die Stange ge stoßen war. Er zog ihn hervor. Das kostete Mühe, denn weiter unten wurde die Felssub stanz zäher und wollte nicht mehr hergeben, was sie einmal in sich aufgenommen hatte. Mit einem Ruck brachte Odin das Objekt schließlich vollends zum Vorschein. Erstaunt betrachtete er seinen Fund. Es war ein metallener Handschuh, aus einem leuchtenden, glänzenden Material gefertigt, dem die Jahrtausende nichts anzuhaben ver mocht hatten. Der Handschuh schien für einen Riesen gemacht. Der Daumen allein bot fast Platz genug für Odins schmächtige
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Hand. Dennoch konnte der kleine Mann der Ver suchung nicht widerstehen. Er schob die rechte Hand in das schimmernde Gebilde. Ein eigenartiges Prickeln entstand in seinen Muskeln, kroch den Arm hinauf und ver breitete sich von dort durch den Körper. Odin stand still und ließ es auf sich einwir ken. Es war ein angenehmes, wärmendes Gefühl. Eine kräftigende Wirkung ging von ihm aus. Der Handschuh war plötzlich nicht mehr so groß – im Gegenteil: Er umschloß Odins Hand mit leichtem Druck und verlieh ihr Stärke, indem er ihr gerade an den richti gen Stellen Halt bot. Odin sah auf. Da erblickte er Sporlos, der ihn entsetzt anstarrte. »Was ist mit dir geschehen, Mann?« frag te Odin. Der Klang der eigenen Stimme überrasch te ihn. Die Worte kamen ihm kräftig und klangvoll über die Lippen. Er spürte die Kraft, die in seiner Stimme lag. Er schritt auf den Zugor zu. Unter seinen Füßen knirschte der Boden. Er blickte nieder und erkannte, daß seine Spur jetzt doppelt so tief in den Fels eingegraben war wie zuvor. Ein Schauder durchlief ihn. Er wußte plötz lich, warum er hierhergekommen war: Es galt, den alten, den echten Odin wiedererste hen zu lassen. Sporlos wich vor ihm zurück, als er sich dem Fahrzeug näherte. »Nein, nicht …!« wimmerte er entsetzt. »Komm heraus, du Feigling!« donnerte Odin ihn an. »Es wartet Arbeit auf dich! Nimm die Stange dort und wühle den Boden auf! Es darf nicht eine Fläche von der Größe meiner Hand unberührt bleiben!« So eingeschüchtert war der Dello von dem plötzlich veränderten Odin, daß er ge horsam über den Fahrzeugrand sprang und sofort mit der Arbeit begann.
* Weit kam Sporlos allerdings nicht, denn es geschah etwas Unerwartetes.
Plötzlich war es, als senke sich der Him mel mit einem Ruck noch tiefer auf das öde Land herab. Es wurde finster, und ein stei fer, kalter Wind kam auf, der unten durch die Schlucht heulte und an den Kanten des Felsens ein hohles, durchdringendes Pfeifen erzeugte. Sporlos hielt unwillkürlich inne. Man sah ihm an, daß er sich fürchtete. Odin aber war aufmerksam geworden. Er hatte diese Ent wicklung nicht erwartet. Aber sie überrasch te ihn nicht. Jetzt, da er darüber nachdachte, war es ihm, als hätte er die ganze Zeit über wissen müssen, daß es so kommen werde. Er trat abermals auf den westlichen Rand der Felsplatte zu. Dabei kam er an dem Del lo vorbei. Sporlos kauerte auf dem Boden und hielt die Hände über dem Schädel gefal tet, als fürchte er, daß ihm der Himmel auf den Kopf fallen würde. Odin hörte ihn vor Angst wimmern. »Es wird dir nichts geschehen!« redete er ihm zu. »Der Sturm ist Odin untertan!« Eine solche Kraft besaß seine Stimme mit einemmal, daß Sporlos aufhörte zu wim mern. Kurze Zeit später nahm er sogar die Hände vom Kopf. Odin stand am Rand des Felsens und blickte auf die Wüste hinaus. Die Finsternis wurde von Augenblick zu Augenblick dich ter. Immer lauter heulte und pfiff der Sturm. Er kam von Osten, und der Staub, den er auf der Felsplatte aufwirbelte und mit sich riß, stach Odin in den Nacken wie Tausende winziger Nadeln. Es störte ihn nicht. Er empfand keine Angst – zum ersten Mal, seit seine Söhne ihn manifestiert hatten. Er kannte seine Be stimmung. Und er war bereit, ihr zu folgen. Er wartete, bis es völlig finster geworden war. Dann hob er die rechte Hand – die mit dem schimmernden Handschuh. Er streckte den Zeigefinger aus, so daß er nach oben wies, und sprach: »Höre, mein Sohn Sturm, der mir untertan ist! Hier steht Odin! Zeige mir, wo ich su chen muß!« In diesem Augenblick war der Sturm
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Kurt Mahr
schon so laut, daß jede normale Menschen stimme hilflos in dem Geheul ertrunken wä re. Odins Worte aber waren laut und deut lich über den Lärm hinweg zu hören. Der Sturm gehorchte. Mitten in der Finsternis entstand ein bläu lich leuchtender Blitz. Mit einem Krach, der das Weltall auseinanderzureißen drohte, fuhr er aus dem niedrig hängenden Himmel hinab in die Wüste. Drunten sprühte glühender Sand in die Höhe und bildete eine leuchtende Fontäne. Gleich darauf aber war es wieder finster, und nur noch der Sturm war zu hören. War die Finsternis aber wirklich vollkommen? Odin beugte sich ein wenig nach vorne, der Gefahr nicht achtend, die ihm von der senk recht abstürzenden Felsmauer drohte. Da sah er die leuchtenden Flächen im Sand der Wüste. Er sah sie klar und deutlich. Sie waren nah beieinander an einem Ort, der höchstens dreihundert Meter vom Fuß des Felsens entfernt war. Odin war befriedigt. Sein Sohn, der Sturm, hatte seinem Befehl gehorcht. Es ver lief alles so, wie er es seinerzeit eingerichtet hatte. Odin wandte sich um. Auf dem Weg zum Zugor mußte er gegen den Sturm an kämpfen. Das bereitete ihm jedoch keine Mühe. Abermals kam er an Sporlos vorbei. »Los! Die Fahrt geht weiter!« rief er ihm zu. Der Dello blickte mit bleichem Gesicht und großen Augen zu ihm auf. Er sagte et was, aber der Sturm riß ihm die Worte vom Mund. Da griff Odin einfach zu – mit der behandschuhten Hand. Er packte Sporlos am Nacken und trug ihn ohne Mühe bis zu dem Zugor. Mit kraftvollem Schwung hievte er den Stiernackigen über den Rand des Fahr zeugs.
* Plötzlich wußte Odin, wie man einen Zugor steuert. Eine magische Kraft schien von dem schimmernden Handschuh auszugehen.
Mit der Hand, die den Handschuh trug, konnte Odin keinen Fehlgriff tun. Wohin er immer griff, stets fand er den Hebel, den er für das nächste Manöver des Fahrzeugs brauchte. Unter normalen Umständen wäre der Zugor in einem Sturm wie diesem ein höchst unsicheres Fahrzeug gewesen. Jetzt aber, da Odin selbst am Steuer stand, hatte der Wind keine Macht mehr über das Fahrzeug. Die reißenden Luftströmungen teilten sich hinter ihm, während er langsam nach Westen steu erte, und prallten erst weit vor ihm wieder aufeinander. Dazwischen lag eine Zone ruhi ger Luft, durch die Odin den Zugor mit si cherer Hand manövrierte. Die Finsternis hielt an. Sie war Odins Führer, denn nur in der Dunkelheit ver mochte er das Leuchten zu erkennen, das von den Gegenständen ausging, die das Ziel seiner Suche waren. Und seltsam: Draußen in der Wüste hätte der Sturm den Sand auf wirbeln und die Luft mit Staub erfüllen müs sen, so daß der Blick keine Armeslänge weit mehr reichte. Aber die Luft unmittelbar über dem Wüstenboden war ebenso klar wie in der Höhe. Der Sturm reichte nicht bis auf die sandige Fläche hinab. Etwa zwanzig Me ter über dem Boden hörte er auf. Der Sand lag unberührt. Denn der Sturm war Odins Sohn und sein Diener! Mühelos erreichte Odin mit dem Zugor die Stätte, an der die leuchtenden Gegen stände lagen. Er wußte nicht, wie sie hier hergekommen waren. Jemand mußte sie von dem Burgfelsen herab in die Tiefe geschleu dert haben. Nur der Handschuh war oben ge blieben – der Handschuh der rechten Hand! Die leuchtenden Gegenstände waren Stücke einer mächtigen Rüstung. Der Glanz des Metalls, aus dem sie bestanden, war über die Jahrtausende hinweg erhalten ge blieben. Andere Einflüsse aber, die mächti ger als die Gewalten des Wetters und der Korrosion waren, hatten ihren Tribut gefor dert. Fast kein Teil der Rüstung war mehr unversehrt. Odin inspizierte eines nach dem
Odins Erbe anderen. Er stieß grauenhafte Verwünschun gen hervor, während er den Schaden muster te. Dann, aber packte er die schweren Me tallteile und begann, sie unmittelbar neben dem Zugor aufzuhäufen. Sporlos hatte inzwischen den ärgsten Schreck überwunden und wagte es, den Kopf über den Rand des Fahrzeugs zu strecken. »Was tust du da?« fragte er. »Das wirst du gleich sehen«, gab ihm Odin zur Antwort. Dann machte er sich daran, die Einzelteile der Rüstung anzulegen. Wer ihn bei dieser Tätigkeit betrachtete, der mußte unbedingt zu dem Schluß kommen, Odin habe den Verstand verloren. Denn die Rüstung war für einen Goliath gefertigt. Es war völlig un vorstellbar, daß der Zwerg Odin sich diesen Riesenpanzer anlegen könne – und daß er, wenn es ihm irgendwie doch gelänge, Kraft genug hätte, das mächtige Gewicht der Rü stung mit sich herumzutragen. Odin aber schlüpfte unverdrossen in das schwere, aus schimmerndem Metallgewebe gefertigte Beinkleid. Einen Atemzug lang sah es so aus, als werde er sich darin verlie ren. Dann jedoch erschien es dem bestürzt zuschauenden Sporlos, als wachse der Zwerg in die Höhe, je weiter er in das Ge spinst hineinschlüpfte. Eine zauberhafte Wirkung ging von der geheimnisvollen Rü stung aus. Odin war plötzlich kein Zwerg mehr. Er hatte jetzt bereits die Größe eines ausgewachsenen Mannes. Zur selben Zeit aber begann auch der Panzer selbst, sich zu verändern. Das silbrige Glitzern und Schim mern wurde intensiver, und das Metall be gann, einen lichtblauen Glanz auszustrahlen, der Odin wie eine Aura umgab. Fassungslos sah der Dello, wie Odin sich nach dem mächtigen Brustpanzer bückte und ihn so mühelos aufhob, als wiege er nur ein paar Unzen. Das Bruststück war vielfach durchlöchert, wie auch die ganze Rüstung an Dutzenden von Stellen beschädigt war, ohne deswegen jedoch ihren magischen, silbrigen Glanz verloren zu haben. Die Halterungen
13 des Brustpanzers, durch die er mit dem Beinkleid und später mit der Rückenplatte verbunden wurde, waren jedoch noch intakt. Als nächstes kamen die Armschienen, dann der Rückenpanzer. Odin fügte die Rüstung mit einer Geschicklichkeit zusammen, als habe er sein ganzes Leben über nichts ande res getan. Und mit jedem Stück, das er dem Panzer hinzufügte, wuchs seine Gestalt. Sporlos wußte nicht mehr, ob er träumte oder wachte. Odin war in die eisernen Stie fel geschlüpft. Er hatte den mächtigen Schild aufgenommen und ihn ein paarmal durch die Luft geschwenkt, um zu prüfen, wie er sich handhaben ließ. Er griff ein an derthalb Meter langes Schwert mit zerfresse nen Schneiden aus dem Sand und barg es in dem Gehänge, das er an der linken Hüfte be festigt hatte. Dann, als letztes, setzte er sich den Helm auf: ein halbkugelförmiges Gebil de mit einer metallenen Schleppe, die den Nacken deckte. Den Helm hatten früher zwei hornartige Auswüchse über der Stirn verziert. Jetzt jedoch war nur noch eines der Hörner vorhanden, an der Stelle des andern befand sich ein Loch. Odin aber war zum Riesen geworden. Er stand über zweieinhalb Meter hoch, ein wahrer Gigant, angetan mit einer Rüstung, deren silberner Schimmer das Auge blende te, und in eine lichtblaue Aura gehüllt. Sporlos war so entsetzt, daß er den Halt verlor und vom Rand des Zugors herab in den Sand kollerte. Er fürchtete sich. Denn er erinnerte sich, wie grob er zu Odin gewesen war, als dieser noch die Gestalt eines Zwer ges hatte. Er hatte Angst, daß der König der Helden ihn für seine Unfreundlichkeit be strafen werde. Odin aber hatte anderes im Sinn. Seine Stimme dröhnte mit weithin hallendem Klang in die Finsternis hinaus: »Wisse alle Welt: Odin ist zurückgekehrt! Odin, der König der Götter!« In diesem Augenblick erstarb der Sturm in der Höhe, und die Dunkelheit wich, so daß man weit ins Land hineinsehen konnte.
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Kurt Mahr
3. Thalia war voller Zorn und Bitterkeit. Aber sie wahrte die Überlegung. So sehr die Zeit und ihre Ungeduld drängten, so wußte sie doch, daß vorschnelles Handeln unwei gerlich zum Fehlschlag führen würde. Sie durfte es auf keinen Fall mit allen drei Brüdern gleichzeitig aufnehmen. Gewiß, sie war eine geübte Kämpferin. Aber die Brüder waren ihr überlegen. Sie mußte sie einzeln stellen, sonst würde sie, anstatt Odin zu ret ten, mit ihm zusammen getötet werden. Das Schicksal kam ihr zu Hilfe. Die Brü der hatten sich voneinander getrennt. Die seltsamen Vorgänge der letzten Zeit, Odins Verschwinden, der große Schlaf, hatten sie verwirrt. Sie vermochten sich nicht zu erklä ren, was mit ihnen geschah, und waren aus einandergegangen, damit jeder für sich sei nen Gedanken nachhängen könne. Ein jeder ging seines Weges. Balduur stapfte zu den tiefer gelegenen Geschoßebenen der Pyrami de hinab und gab sich alsbald seiner neue sten Lieblingsbeschäftigung hin: dem Trin ken. Thalia spürte ihn als ersten auf und überließ ihn zunächst sich selbst. Er würde diesen Ort so schnell nicht verlassen. Je mehr er trank, ein desto leichteres Opfer würde er sein. Sie schlich weiter und kam gerade zu recht, Sigurd in seine Gemächer treten zu se hen. Sie rief ihn an. Sigurd, noch immer in voller Rüstung, fuhr herum und starrte die Schwester fassungslos an. Thalia ließ ihm keine Zeit. »Ich bin gekommen, dich zur Vernunft zu bringen, mein Bruder Sigurd«, sagte sie, und in ihrer Stimme schwang ein drohender Un terton. »Ich nehme an, das wird sich ohne Gewalt nicht bewerkstelligen lassen. Also wehr dich!« Im selben Augenblick schwang sie die schwere Vars-Kugel und ließ sie sausen. Si gurd war völlig überrascht. Erst im letzten Augenblick riß er die Garpa in die Höhe und wehrte den Schlag mit dem Griff der halb
wie ein Schwert, halb wie eine Lanze wir kenden Waffe ab. Seine nächste Handlung war nicht mehr als ein Reflex. Er schwang die Garpa mit der scharfen Spitze nach vor ne und drang auf die Schwester ein. Thalia aber war darauf vorbereitet: Sie kannte die Kampfesweise ihrer Brüder. Sie fing die Garpa mit dem Schild auf. Sie achtete dar auf, daß die Spitze der Schwertlanze seitlich von der Oberfläche des Schildes abglitt. Si gurd, vom eigenen Schwung getragen, dreh te sich dabei halb zur Seite. Da schwang Thalia die Vars-Kugel zum zweiten Mal. Noch hatte Sigurd die Garpa nicht zurück reißen können. Die schwere Metallkugel schlug mit voller Wucht gegen seinen mäch tigen Helm. Ein Dröhnen wie von einer rie sigen Glocke schallte durch die Gänge und Hallen der Festung. Sigurd gab einen äch zenden Laut von sich und stürzte bewußtlos zu Boden. Thalia nahm ihm die schwersten Stücke der Rüstung ab. Dann fesselte sie ihn mit kräftigen Lederriemen und schleppte ihn in sein Quartier. In der hintersten Kammer leg te sie ihn nieder. Die Tür der Kammer ver riegelte sie sorgfältig von außen, so daß Si gurd selbst dann nicht würde entkommen können, wenn es ihm gelang, sich der Fes seln zu entledigen. Balduur war Thalias nächstes Opfer. Als sie sich ihm näherte, sah sie, daß er schon trunken war. Er schwankte auf den Beinen, und es dauerte eine Weile, bis er die Schwe ster erkannte. Dann aber stieß er ein wüten des Gebrüll aus und drang auf Thalia ein. Thalia ließ ihn bis auf zwei Schritte heran kommen, dann wich sie blitzschnell zur Sei te. Als Balduur, vom eigenen Schwung ge tragen, an ihr vorbeischoß, traf ihn die VarsKugel im Nacken. Er war auf der Stelle be wußtlos. Thalia fesselte auch ihn und brach te ihn an einen sicheren Ort. Damit aber schien ihr Glück erschöpft. Sie durchsuchte alle Räume, von denen sie wußte, daß sie hin und wieder von Heimdall aufgesucht wurden. Aber der älteste ihrer Brüder war verschwunden, als habe ihn der
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Erdboden verschlungen.
* Thalia ging nach unten in die große Halle. Sie schritt ein paar Meter weit die Rampe hinunter, die zum Nordtor führte. Durch das offene Tor sah sie eine Gruppe Dellos, die sich auf dem Hof zu schaffen machte. Es waren einfache Arbeiter – Androiden, die mit großer körperlicher Kraft, aber wenig Verstand ausgestattet waren. Thalia rief einen der Dellos zu sich. Für den einfältigen Androiden gehörten alle, die eine Rüstung trugen, zu den Herr schern von Pthor. »Was begehrst du, Herr?« fragte er unter würfig. »Ich suche den mächtigen Heimdall«, ant wortete Thalia mit düsterer Stimme. »Hast du ihn gesehen?« »Ja, Herr, ich sah ihn«, antwortete der Dello. »Vor nicht langer Zeit. Er ging hier durch das Tor und über den Hof.« »Wohin ging er?« »Das weiß ich nicht, Herr. Es kann aber sein, daß einer meiner Genossen ihn länger im Auge behalten hat als ich. Soll ich fra gen?« »Später, nicht jetzt«, entschied Thalia. »Ich will, daß du Heimdall eine Botschaft überbringst.« »Welche, Herr?« fragte der Dello. »Du hast Thalia gesehen!« Verwirrung spiegelte sich im Gesicht des Dellos. Er hatte Thalia nicht gesehen. Sei nem armen Verstand war die Gabe der Lüge nicht gegeben. Er verstand nicht, was der Gepanzerte von ihm wollte. »Ich habe Thalia nicht gesehen, oh Herr«, sagte er zaghaft. »Ich weiß«, antwortete Thalia. »Aber du wirst sie sehen und dann Heimdall davon berichten. Verstehst du das?« »Ja, ich verstehe, Herr. Wo werde ich Thalia sehen?« »Kennst du Thalia überhaupt?« »Ja, Herr. Ich habe sie oft gesehen. Ich
weiß, wie sie aussieht.« »Kennst du den Seiteneingang an der Ost seite der Pyramide?« Der Dello dachte eine Weile nach, dann erklärte er, er kenne den Eingang. »Geh dort hinein!« befahl ihm Thalia. »Du kommst auf eine Rampe, die allmählich in einen Korridor übergeht. Folge dem Kor ridor, bis du in einen runden Saal gelangst, der eine kuppelförmige Decke hat und in dessen Mitte eine Menge Trümmerstücke liegen. In diesem Saal wirst du Thalia fin den. Sieh sie dir an. Dann kehre auf demsel ben Weg zurück, finde Heimdall und richte ihm aus, was du gesehen hast!« Der Dello hatte aufmerksam zugehört. Seinem Gesicht war die Anstrengung anzu sehen, mit der er die Anweisungen verarbei tete. »Ich werde alles so tun, wie du mir befoh len hast, Herr!« erklärte er sodann. Er drehte sich um und lief zum Tor hin aus. Jenseits des Tores wandte er sich nach rechts, um zur Ostseite der Pyramide zu ge langen. »Jetzt aber schnell!« sagte Thalia zu sich selbst.
* Ihre Entscheidung hatte schnell getroffen werden müssen. Draußen im Freien konnte sie nicht mit Heimdall kämpfen. Es wäre ihr Untergang gewesen. Heimdall war von allen Brüdern der gefürchtetste Kämpfer. Sie hatte nur dann eine Chance, ihn zu besiegen, wenn sie den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite hatte. Dieser Vorteil war ihr ge nommen, wenn sie Heimdall im freien Feld angreifen mußte. Heimdall hatte die Pyramide verlassen. Das konnte nur bedeuten, daß er vermutete, Odin sei irgendwo außerhalb der FESTUNG in Deckung gegangen. Wenn es der Teufel wollte, würde er sogar das Versteck in der kleinen Pyramide finden! Ein Grund mehr, um Heimdall auf dem schnellsten Wege wieder ins Innere der Pyramide zurückzu
16 bringen. Thalias Weg zum Kuppelsaal war kürzer als der, auf den sie den Dello geschickt hat te. Trotzdem durfte sie keine Sekunde ver tun. Sie hastete die Treppe hinauf, die zum Saal führte. Unterwegs entledigte sie sich der Rüstung. Als sie auf die oberste Stufe trat, war sie Thalia, wie der Dello sie kannte. Sie schritt in den Saal hinaus und blieb vor den Trümmern jener Barrikade stehen, hinter der sie sich gegen die wütenden An griffe der Brüder verteidigt hatte, nachdem diese gewahr geworden waren, daß der, der sich als Odin ausgab, in Wirklichkeit nicht ihr Vater, sondern ihre maskierte Schwester war. Das hatte sich unmittelbar vor dem Auftritt des echten Odin, des kleinen alten Mannes, zugetragen. Damals hatte Thalia noch einen Teil jener magischen Kräfte be sessen, mit denen sie Copasallior, der Wel tenmagier aus der Großen Barriere von Oth, ausgestattet hatte. Sie hörte von links her Schritte. Sie wand te sich nicht um. Sie wußte, daß es der Dello war, der sich aus dem Korridor näherte. Die Schritte verstummten plötzlich. »Bei allen Söhnen Odins – es ist wirklich Thalia!« hörte sie den Androiden sagen. Der Dello wandte sich um und eilte da von. Thalia wartete, bis das Geräusch seiner Schritte verklungen war. Dann kehrte sie zur Treppe zurück. Sie sammelte die Einzelteile ihrer Rüstung von den Stufen auf und klei dete sich von neuem an. Es galt jetzt den entscheidenden Kampf. Wenn sie Heimdall besiegt hatte, dann war sie die Herrin der FESTUNG. Dann konnte sie versuchen, den drei Brüdern Vernunft beizubringen. Und wenn das nicht gelang, dann würde sie warten, bis Atlan zurück kehrte und ihr riet, was weiter zu tun sei. Sie wußte nicht, ob Heimdall über die Treppe oder die Rampe kommen würde, Sie mußte auf beides gefaßt sein. Sie kehrte in den Kuppelsaal zurück und suchte sich ein Versteck inmitten der Trümmerstücke. Es vergingen zehn Minuten, eine Viertel stunde. Thalia begann zu zweifeln, ob es
Kurt Mahr dem Dello gelungen sei, Heimdall ausfindig zu machen. Dann aber hörte sie klirrende Schritte. Sie kamen die Treppe herauf. Tha lia lugte aus ihrem Versteck hervor und sah Heimdalls mächtige Gestalt in der Treppen öffnung erscheinen. Er war voll gewappnet. Am oberen Ende der Treppe blieb er stehen und sah sich um. »Wenn der Dello zum Lügen nicht zu dumm wäre«, hörte Thalia ihn knurren, »würde ich glauben, daß er mich an der Na se herumgeführt hat.« Er trat ein paar Schritte auf die Mitte des Saales zu und rief: »Thalia …?« Seine dröhnende Stimme hallte von den kahlen Wänden wider. Heimdall schritt wei ter. Vor dem Trümmerhaufen blieb er ste hen. Unschlüssig stocherte er mit der Fuß spitze in den Trümmern herum. Schließlich brummte er: »Hat alles keinen Zweck! Wer weiß, was der Dello gesehen hat!« Er wandte sich ab. Das war der Augen blick, auf den Thalia gewartet hatte.
* Sie fuhr aus der Deckung in die Höhe und schrie: »Hier bin ich, du undankbarster aller Brü der! Steh und wehr dich!« Heimdall reagierte wie der geborene Kämpfer. Für ihn schien es kein Überra schungsmoment zu geben. Er hatte zu han deln begonnen, noch bevor Thalia das erste Wort zu Ende gesprochen hatte. Er kam mit vollem Schwung herum. Bei de Hände hielten die fürchterliche Khylda, die zweischneidige Streitaxt, umspannt. Der Schlag war in der Absicht geführt, den Geg ner beim ersten Zusammenprall vom Schä del bis zur Sohle in zwei Teile zu spalten. Aber wie bei Sigurd war Thalia auch in diesem Fall vorbereitet. Für Heimdall hatte sie sich eine besondere Taktik ausgedacht. Heimdalls Schlag war vorzüglich gezielt. Er hätte sie voll getroffen. Sie behielt ihren
Odins Erbe Stand, nur mit dem Oberkörper wich sie zur Seite, so weit sie konnte. Heimdall war si cher, daß sie die Khylda zunächst mit dem Schild abzuwehren versuchen würde. Thalia aber hatte anderes im Sinn. Sie schwang die Vars-Kugel. Das Manö ver war scheinbar sinnlos, wenigstens mußte es Heimdall so vorkommen. Aber Thalia hatte ihre Bewegung genau berechnet. Als die Streitaxt herabsauste, schlang sich die Kette der Vars-Kugel um den gefederten Schaft. Der Impuls der Kugel sorgte dafür, daß die Kette sich gleich mehrmals um den Griff wickelte. Thalia ließ sich einfach rückwärts fallen. Mit dem Gewicht ihres Körpers und dem der Rüstung zerrte sie an der in der Kette gefan genen Khylda. Heimdall war von Thalias ungewöhnlichem Manöver so überrascht, daß er für den Bruchteil einer Sekunde den Griff der Hände lockerte. Das war genug. Die Axt wurde ihm ent rissen. Sie segelte in hohem Bogen über Thalia hinweg, entwand sich den Schlingen der Kette und stürzte krachend inmitten des Trümmerhaufens auf den Boden. Sofort war Thalia wieder auf den Beinen. Heimdall war waffenlos. Er stand vornüber gebeugt, mit haßerfüllten Augen, die Arme leicht angewinkelt, als wolle er sich mit den bloßen Händen auf die Schwester stürzen. »Dein Anblick bereitet mir Schmerz!« sagte Thalia ernst. »Ich kann nicht glauben, daß du mein Bruder bist und solchen Haß gegen mich empfindest. Ich bin gekommen, um Sigurd, Balduur und dich einen nach dem andern zu besiegen und dadurch zur Vernunft zu bringen. Sigurd und Balduur sind mir bereits unterlegen. Soll ich auch dir die Vars-Kugel über den Schädel hauen, oder wirst du vernünftig werden, ohne daß es zum Schlag kommt?« Da richtete sich Heimdall aus seiner vorn übergebeugten Haltung auf. Das haßerfüllte Glitzern verschwand aus seinen Augen. Sein Blick wurde düster. »Ich hasse dich nicht, meine Schwester Thalia«, antwortete er. »Auch in mir ist
17 Schmerz. Ich kann nicht verstehen, warum Thalia ihren Brüdern den Vater Odin hat vortäuschen wollen. Aber es mag sein, daß du eine Erklärung dafür weißt, die meinen Schmerz besänftigt.« Thalia war überrascht. Sie hätte mißtrau isch sein sollen. Aber die Freude darüber, daß Heimdall einlenkte, überwog alle Be denken. Thalia schritt über die Trümmer hinweg auf ihren Bruder zu. »Du willst mich anhören?« fragte sie er regt. »Ich bin bereit, zu hören, was du zu dei ner Verteidigung zu sagen hast!« erklärte Heimdall.
* Thalia sah zu ihm auf. Der Bruder war um einen Kopf größer als sie. Sie studierte seine Miene in der Hoffnung, sie könne darin le sen, was ihn in diesem Augenblick bewegte. Aber die Mühe war vergebens. Heimdalls Gesicht war so undurchdringlich wie eh und je. »Ich will Ruhe und Frieden auf diese Welt bringen«, begann Thalia mit fester Stimme. »Mord und Raub, Totschlag und Diebstahl, Treulosigkeit und Verrat müssen aufhören! Ich will, daß auf Pthor glückliche Menschen leben. Dazu …« Weiter kam sie nicht. Heimdall hatte nur darauf gewartet, daß sie den Blick senkte. Im ersten Augenblick der Unachtsamkeit griff er an. Blitzschnell faßte er Thalias rechte Hand, die die Kette mit der VarsKugel hielt. Brutal riß er der Schwester den Arm in die Höhe und hebelte ihn seitwärts. Thalia schrie auf: Es war ein markerschüt ternder Schrei, in dem sich Schmerz, Enttäu schung und mörderischer Grimm mischten. Heimdall aber griff mit der linken Hand die Vars-Kugel und zog sie an sich, bis die Ket te sich über Thalias Kehle spannte und ihr die Luft abzuschnüren begann. Thalia war hilflos. Heimdall ließ ihr kei nen Spielraum. Er drückte ihr den Schild fest an den Körper, so daß sie den linken
18 Arm nicht bewegen konnte. Den rechten Arm hielt er ihr auf den Rücken gebogen, bis er fast aus dem Gelenk sprang. Die schwere Kette schlang sich um Thalias Hals und drohte, ihr den Kehlkopf einzudrücken. »Du hast genug gesprochen!« keuchte Heimdall. »Deine Verteidigung wird nicht angenommen. Du bist eine Unwürdige, eine Verräterin. Du hast den Tod verdient!« Thalia versuchte zu sprechen; aber mehr als ein heiseres Krächzen brachten ihre Stimmwerkzeuge nicht mehr zustande. Sie spürte, wie ihre Kräfte erlahmten. Sie bekam keine Luft mehr. In ihrem Kopf pochte es dröhnend, und vor den Augen sah sie bunte, feurige Ringe. Nur noch eine einzige Be wegkraft gab es, die Odins Tochter davor bewahrte, sich einfach aufzugeben: den Haß! Den mörderischen, atavistischen Haß, den sie gegen den verräterischen Bruder empfand. Der Gedanke, sie könne sterben, bevor sie sich an Heimdall für dessen Heim tücke gerächt hatte, war selbst ihrem halb benommenen Verstand unerträglich. Und er verlieh ihr Kräfte, die wahrhaft übermensch lich waren. Als ihr Körper plötzlich schlaff wurde, da glaubte Heimdall nicht anders, als daß das Urteil, das er selbst gesprochen hatte, bereits vollzogen sei. Er lockerte die Kette, um sich zu überzeugen. Da aber krümmte Thalia sich blitzschnell zusammen, und als Heimdall sich über sie beugte, schnellte sie sich mit verzweifelter Kraft in die Höhe und rammte ihm den Helm mit voller Wucht gegen das Kinn. Heimdall schrie wütend auf. Der Zusam menprall hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Er ließ die Vars-Kugel fahren. Thalia aber drehte sich um die eigene Achse. Dadurch erhielt ihr rechter Arm wieder eine natürliche Stellung. Noch hielt Heimdall ih re Hand. Aber die Vars-Kugel baumelte an der Kette haltlos herab. Mit aller Kraft, die ihr der aufgestaute Haß verlieh, gab Thalia der Kugel einen Tritt, und die gefährliche Waffe fuhr Heimdall mit voller Wucht in den Leib.
Kurt Mahr Heimdall stürzte zu Boden. Sofort stand Thalia neben ihm. Wütend schüttelte sie den Schild vom linken Arm. Gleichzeitig schwang sie die Vars-Kugel und ließ sie mit dröhnendem Krach auf Heimdalls Helm sau sen. Der Helm wurde Heimdall vom Kopf gerissen. Thalia, blind vor Haß, holte zum zweiten Schlag aus, der Heimdall unweiger lich hätte töten müssen, da es nichts mehr gab, womit die mörderische Wucht der Ku gel gebremst werden konnte. Da aber fuhr Thalia ein stechender Schmerz durch die Schulter. Heimdalls bru taler Hebelgriff war nicht ohne Nachwir kung geblieben. Stöhnend ging Thalia in die Knie. Die Vars-Kugel schlug krachend ne ben ihr zu Boden. Thalia kauerte neben dem bewußtlosen Bruder. Ihr Atem ging keuchend. Jetzt, da der Kampf beendet war, spürte sie die Schwäche in sich aufsteigen. Sie hatte Heimdall besiegt, weil sie im Augenblick tödlichen Hasses alle Kraftreserven ihres Körpers auf einmal mobilisiert hatte. Jetzt waren die Reserven erschöpft. Sie besaß kei ne Kraft mehr. Sie empfand ein fast unwi derstehliches Verlangen, sich neben Heim dall auf den Boden zu legen und einfach zu schlafen. Schließlich aber siegte die Vernunft. Wenn sie jetzt ihrer Schwäche nachgab, dann war all ihre Mühe vergebens gewesen. Dann konnte sie wieder von vorne anfangen. Aber beim nächsten Mal waren die Brüder gewarnt. Kniend ruhte Thalia sich aus, bis sich die keuchenden Lungen einigermaßen beruhigt hatten. Dann stand sie auf. Sie brauchte fast eine halbe Stunde, bis sie Heimdall so gefes selt hatte, daß er sich, wenn er wieder zu Be wußtsein kam, nicht rühren konnte. Sie öff nete eines der Gemächer, die an die Kuppel halle grenzten, und schleppte Heimdall dort hinein.
* Der Sieg enthielt keinen Triumph. Sie war
Odins Erbe die Herrin der FESTUNG, aber sie empfand darüber keinen Stolz. Im Augenblick der höchsten Gefahr hatte sie sich gesehen, wie sie wirklich war: tödlichen Hasses fähig, ge nau wie die Brüder, denen sie doch Vernunft hatte beibringen wollen. Worin unterschied sie sich von Heimdall, Sigurd und Balduur? In nichts. Sie schauderte bei dem Gedanken, daß sie Heimdall erschlagen hätte, wenn sie nicht durch eine gezerrte Sehne daran gehindert worden wäre. Niedergeschlagen entledigte sie sich der Rüstung. Sie brachte sie in ihr Quartier zu rück und verstaute sie unter dem Gerümpel in der Kammer. Dann ging sie, um nach dem Vater zu sehen. Sie verließ die Pyramide durch das Nordtor. Thalia schritt auf die nördliche kleine Py ramide zu, in der sie Odin versteckt hatte. Sie vergewisserte sich, daß niemand sie be obachtete. Dann aktivierte sie den Öffnungs mechanismus. Als sie die Kammer leer fand, erschrak sie. Sie eilte zu der Tür im Hinter grund des kahlen Raumes und öffnete sie. Dahinter lag ein Gang, der zu einem Ge mach führte, in dem sich ein Teil des Steuer manns befand, jenes geheimnisvollen We sens, von dem man annahm, daß es als Pthors Navigator fungierte, wenn der Mate riebrocken sich wie ein Fahrstuhl durch die Dimensionen bewegte. Die Tür zu jenem Gemach war noch von Atlan so sicher ver riegelt worden, daß niemand außer dem Ar koniden selbst dort eindringen konnte. Odin hätte sich, wenn er überhaupt noch hier war, in diesem Gang befinden müssen. Der Gang war aber leer. Da verließen Thalia endgültig die Kräfte. Sie brach zusammen. Sie lag auf dem Boden und schluchzte haltlos. Das gequälte Be wußtsein, von Schmerz gesättigt, nahm nichts mehr auf. Die Natur forderte ihren Tribut. Odins Tochter schlief ein. Inzwischen hatte sich draußen der Ein gang der kleinen Pyramide selbsttätig ge schlossen.
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4. Etwa um diese Zeit näherte sich von We sten her ein Zugor dem Gebiet der FE STUNG. Das Fahrzeug wurde gesteuert von Razamon. Sein einziger Fahrgast war der Fremde, den man bisher »den Stummen« ge nannt hatte, weil er angeblich des Sprechens nicht mächtig war. Der Stumme aber war niemand anders als Sinclair Marout Kennon, alias Lebo Axton – oder vielmehr sein Bewußtsein, eingebettet in den Körper eines Mannes, der den Namen Grizzard getragen hatte. Kennon hatte sich »der Stumme« nennen lassen, weil er Ptho ra, die Sprache des Landes, nicht beherrsch te. Er wollte sein Geheimnis vor Atlan wah ren, bis er sich dem Arkoniden auf Pthora zu erkennen geben konnte. Dieses Hindernis war inzwischen über wunden: Die Robotbürger von Wolterhaven hatten Kennon eine Art Hypnoschulung an gedeihen lassen, in deren Verlauf er die Sprache Pthors erlernte. Es wäre also jetzt an der Zeit gewesen, daß der Stumme sich seinem ehemaligen Befehlshaber und Kampfgefährten aus der USO zu erkennen gab. Dem stand jedoch ein anderes Hindernis im Wege: Atlan war verschwunden. Als der Stumme und Razamon aus dem Tiefschlaf erwachten, in den das schrille Pfeifen des VONTHARA sie versetzt hatte, war der Ar konide nirgendwo mehr zu sehen. Beide Männer erinnerten sich, daß Atlan die ein schläfernde Wirkung des Pfeiftons nicht empfunden hatte – wahrscheinlich, weil das Goldene Vlies ihn schützte. Sie hatten über all nach ihm gesucht, aber den Arkoniden schien der Erdboden verschlungen zu haben. Kennon und Razamon hatten inzwischen ihr eigenes Abenteuer in der Robotstadt Wolterhaven erlebt. In Wolterhaven war, nicht zuletzt dank ihrer Bemühungen, inzwi schen wieder Ruhe eingetreten. Da hielt es die beiden Männer nicht mehr im Westen des Landes. Sie wollten zur FESTUNG zu
20 rück, denn die FESTUNG war in mehr als einer Hinsicht das Zentrum von Pthor. »Meinst du, wir werden ihn bei der FE STUNG treffen?« fragte der Stumme. »Atlan?« meinte Razamon. »Das kann man nie wissen. Es hängt alles davon ab, was er angefangen hat, als der große Schlaf über das Land fiel.« Auf dem Gelände der FESTUNG war es auffallend ruhig. Normalerweise waren in dem riesigen Garten, der das Pyramiden sechseck umgab, Scharen von Dellos an der Arbeit. Heute dagegen ließ sich kein einzi ger blicken. Razamon drehte ein paar Run den über dem Garten. Erst dann nahm er Kurs auf die sechseckige Fläche, in deren Mitte sich die große Pyramide, das Kern stück der FESTUNG, erhob. »Irgend etwas stimmt hier nicht«, sagte er zu dem Stummen. »Die Dellos sind offenbar aus dem großen Schlaf erwacht, sonst lägen sie noch hier. Aber warum sind sie nicht an der Arbeit?« Er landete den Zugor unmittelbar vor dem Nordtor. Das Gefühl einer Drohung, die in der Luft lag, war so intensiv, daß er be schloß, sich und seinem Gefährten erst eine wirksame Waffe zu beschaffen, bevor er ir gend etwas anderes unternahm. Er wußte einen Lagerraum im Innern der Pyramide, der als Arsenal benützt wurde. Wenn die Odinssöhne ihn nicht inzwischen ausge räumt hatten, mußten dort Waggus zu finden sein – Lähmwaffen, die von den Technos im Süden des Landes hergestellt wurden. Er schritt die Rampe hinauf, die zum großen Saal im Erdgeschoß der Pyramide führte. Der Saal war leer. An den Wänden brannten Lampen, die Fackeln täuschend ähnlich nachgebildet waren. Razamon und sein Begleiter hielten sich hier nicht lange auf. Der Pthorer schlug die Richtung ein, die zum Arsenal führte. Dabei kamen sie an ei ner der kleineren Hallen vorbei, die von den Odinssöhnen gelegentlich für ihre Trinkge lage benützt wurde. Razamon warf einen Blick durch den torbogenförmigen Zugang und stutzte.
Kurt Mahr »Sieh dir das an!« sagte er zu dem Stum men. Auf dem Boden verstreut lagen Bestand teile einer Rüstung. Razamon betrachtete sie aus der Nähe. »Das ist Balduurs Panzer«, entschied er.
* Razamon untersuchte den Boden der Hal le. »Sieht so aus, als hätte hier ein Kampf stattgefunden«, analysierte er. »Unblutig. Aber Balduur hat sich gehörig den Schädel aufgeschlagen. Die Schramme dort stammt von seinem Helm.« Er deutete auf eine Kratzspur im Boden. Dann wandte er sich um und rief Balduurs Namen. Von irgendwoher antwortete ein dumpfes, mattes Geräusch. »Die Tür dort drüben!« rief der Stumme. »Es kam von dort!« Razamon eilte zu der Tür und öffnete sie. Sie führte auf einen leeren Gang. »Balduur …?« rief der Pthorer von neu em. »Hier!« tönte es von rechts her. Sie fanden Balduur in einem kleinen, dü steren Raum, der zur rechten Hand an den Gang grenzte. Er war gefesselt, und zwar so, daß er nicht einmal den Kopf bewegen konnte. Balduur war schwer mitgenommen, und seine Stimmung dementsprechend. Sein Ge sicht war so verquollen, daß er kaum sehen konnte. »Wer kommt da?« fragte er grob. Razamon gab sich zu erkennen. »Ah, der Hinkende!« stieß Balduur äch zend hervor. »Mach mich frei! Schnell!« »Das habe ich vor«, antwortete der Ptho rer, ohne jedoch übermäßigen Eifer an den Tag zu legen. »Was geht hier vor? Wer hat es gewagt, einen der Herrscher von Pthor zu überfallen?« »Was geht dich das an?« schäumte Baldu ur. »Mach mich los, sage ich!« Razamon wandte sich ungerührt an seinen
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Gefährten und bemerkte: »Ich sagte dir doch, er hat sich schwer den Schädel angeschlagen. Er behandelt mich mit der Höflichkeit eines Yasseltrei bers und erwartet dennoch, daß ich ihn los binde. Vielleicht ist es besser, wir suchen Heimdall oder Sigurd. Es könnte nämlich sein, daß dieser hier in seiner üblen Laune über uns herfällt, sobald er seine Fesseln los ist.« »Hör auf zu schwatzen!« knurrte Balduur. »Ich weiß nicht, wer mich überfallen hat. Der Schlag traf mich von hinten. Ich fürchte, Heimdall und Sigurd hat dasselbe Schicksal ereilt. Sonst wären sie schon längst gekom men, um mich zu befreien.« Razamon beugte sich nieder und entfernte die Fesseln. Balduur tat sich mit dem Auf stehen reichlich schwer. Die Fesselung hatte das Blut gestaut. Es dauerte eine Zeitlang, bis er den freien Gebrauch der Glieder wie dererlangte. Während dieser Zeit stieß er gräßliche Verwünschungen aus. »Deine Rüstung liegt draußen in der Hal le«, erklärte Razamon. »Wir sind gerne be reit, dir bei der Suche nach Sigurd und Heimdall zu helfen.« Aber Balduur wollte nichts davon hören. »Schert euch zum Teufel!« fuhr er Raza mon und seinen Gefährten an. »Ich brauche euch nicht. Die Sache geht nur mich und meine Brüder an!« Als die beiden Männer seiner Aufforde rung nicht rasch genug Folge leisteten, trat er drohend auf Razamon zu und brüllte: »Hast du gehört? Ihr sollt euch zum Teu fel scheren!« Razamon wich zurück. Er besaß keine brauchbare Waffe, und körperlich konnte er es mit dem Odinssohn nicht aufnehmen. »Komm mein Freund, wir gehen!« forder te er den Stummen auf. »Die Klugheit weicht der Grobheit.«
* Kaum war Razamon in den Gang hinaus geschritten, da hatte er es plötzlich eilig.
Durch den Zwischenfall war noch deutlicher geworden, daß er dringend eine verläßliche Waffe brauchte. »Was, glaubst du, ist wirklich vorgefal len?« fragte der Stumme, während sie sich beeilten, soviel Abstand wie möglich zwi schen sich und den übel aufgelegten Odins sohn zu legen. Razamon grinste spöttisch. »Soll das heißen, du glaubst ihm nicht, was er uns erzählt hat?« »Im Grunde genommen hat er nicht viel gesagt. Du hast recht: Ich glaube ihm nicht, daß er den Angreifer nicht kennt.« »Hm!« brummte der Pthorer. »Er ist von hinten niedergeschlagen worden, soviel steht fest. Das geschwollene Gesicht rührt daher, daß er mit der Nase voran zu Boden gegan gen ist, aber die eigentliche Beule sitzt im Nacken. In dieser Hinsicht hat er wahr scheinlich die Wahrheit gesagt. Aber zwei andere Dinge sind mir aufgefallen.« »Die Fesselung, nicht wahr?« fiel ihm der Stumme ins Wort. Razamon war überrascht. »Ja, die Fesselung«, gab er zu. »Man nimmt unwillkürlich an, daß einer, der den bärenstarken Balduur zu Boden schlägt, ein erfahrener Kämpfer sein muß. Die Stricke aber wurden angelegt von jemand, der in seinem Leben noch nicht mehr als zwei oder drei Leute gefesselt hat. Und noch etwas! Woher will Balduur mit solcher Sicherheit wissen, daß auch Sigurd und Heimdall von dem geheimnisvollen Gegner überfallen worden sind? Daß sie nicht gekommen sind, nach ihm zu sehen, kann andere Gründe ha ben. In Wirklichkeit liegt die Sache so, daß Balduur den Angreifer kennt und ganz ge nau weiß, daß er es nicht nur auf ihn, son dern auf alle drei Odinssöhne abgesehen hat.« Über eine abschüssige Rampe gelangten sie an ein stählernes Schott, hinter dem das Arsenal lag. Der Riegelmechanismus des Schottes hielt Razamons Manipulierkünsten nicht lange stand. Die beiden Männer traten in einen mäßig hell erleuchteten Raum, an
22 dessen Wänden Gestelle aufgereiht waren. Auf den Gestellen lagen Waffen. Das Inven tar reichte von primitiven Messern und Dol chen über Schwerte, Schilde, Helme und Skerzaals bis zur höchstentwickelten Waffe, die auf Pthor hergestellt wurde, der Waggu. Die Waggu war ein langläufiges Instrument, ausgestattet mit einem seltsam geformten Griff, in den Kerben eingearbeitet waren, die den Fingern Halt boten. Das vordere Ende des Laufes war aufgewölbt. Niemand wußte, auf welchem Prinzip die Wirkung der Wag gu beruhte. Der Lähmstrahl, den sie emit tierte, versenkte Menschen und Tiere augen blicklich in tiefe Bewußtlosigkeit, die je nach der Intensität des Beschusses eine hal be bis mehrere Stunden lang anhielt. Odins Söhne mußten sich, seitdem Raza mon zum letzten Mal hier gewesen war, an den Waffenvorräten zu schaffen gemacht haben. Die Gestelle waren halb leer. Vor al len Dingen war nur noch eine einzige Wag gu vorhanden. Razamon nahm sie an sich, richtete sie gegen die Decke des Raumes und betätigte den Auslöser. Ein helles Sum men ertönte. Der Pthorer schob die Waffe in den Gürtel. »Mein Freund, ich fürchte, du wirst dir et was anderes aussuchen müssen«, sagte er zu dem Stummen. Dieser sah sich um und fand schließlich ein mittellanges Schwert samt Gehänge. Er schnallte es sich um, prüfte den Sitz und nickte zufrieden. »Damit komme ich aus«, meinte er. Er deutete auf drei Skerzaals, die auf einem der Gestelle lagen, und erklärte: »Dinge mit Sehnen und Bolzen waren noch nie meine Sache. Ich klemme mir immer die Finger da bei ein.« Razamon feixte. Der Stumme aber fuhr fort: »Ich habe mir inzwischen Gedanken ge macht. Es kann sein, daß wir einen kapitalen Bock geschossen haben, als wir Balduur be freiten.« »Wie meinst du das?« fragte der Pthorer überrascht.
Kurt Mahr »Erinnere dich an die Lage, kurz bevor das Pfeifen uns in den Tiefschlaf versenkte. Odin sollte hingerichtet werden. Atlan und Thalia waren den Scharfrichtern im letzten Augenblick entgangen. Dann kam der Schlaf. Wir wissen, daß nicht alle Leute gleichzeitig aus dem Schlaf erwachten. Mancher kam früher, der andere später zu sich. Die drei Odinssöhne – wenn sie wirk lich alle überfallen wurden – müssen zu de nen gehört haben, die spät erwachten. Es gibt drei Leute, die ein handfestes Interesse daran hatten, Balduur, Heimdall und Sigurd auszuschalten, bevor sie weiteren Schaden anrichten konnten.« Razamon blickte düster vor sich hin. »Atlan, Thalia und Odin«, knurrte er. »Richtig! Ich nehme an, daß Atlan mehr vom Fesseln versteht, als wir an Balduur ge sehen haben. Dem Feigling Odin traue ich nicht zu, daß er sich auch nur an einen seiner Söhne heranwagt. Er würde lieber davonlau fen, so weit ihn die Beine tragen.« »Bleibt also Thalia!« ergänzte Razamon bitter. Plötzlich schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Wenn deine Vermutung richtig ist«, rief er zornig, »dann bin ich der hirnverbrannte ste Narr, den die Welt je gesehen hat. Thalia fängt ihre Brüder ein, und ich lasse sie unter der Hand wieder frei!« Er setzte sich in Bewegung. »Komm!« forderte er den Stummen auf. »Ich fürchte, ich habe an Thalia etwas gutz umachen.«
* Als Thalia wieder zu sich kam, wußte sie im ersten Augenblick nicht, wo sie war. Verwundert musterte sie ihre Umgebung. Erst allmählich kehrte ihre Erinnerung zu rück. Odin war verschwunden! Thalia raffte sich auf. Sie hatte keine Ah nung, wie lange sie hier gelegen hatte. Sie fühlte sich einigermaßen gekräftigt. Sie hatte
Odins Erbe Hunger. Weitaus intensiver aber als das Hungergefühl war die Sorge, was aus dem Vater geworden sein mochte. Sie öffnete den Ausgang der kleinen Pyra mide. Draußen war es still. Der bleierne Himmel hing nach wie vor niedrig über der Erde. Hin und wieder war wie aus weiter Ferne ein dumpfes Rumpeln zu hören – das Anzeichen, daß Pthor sich auf dem Weg durch die Dimensionen befand. Thalia eilte über die kahle Fläche, in de ren Mittelpunkt die große Pyramide stand. Unmittelbar vor dem Nordtor war ein Zugor geparkt. Der war, erinnerte sich Thalia, nicht dagewesen, als sie die Pyramide verlassen hatte, um nach Odin zu sehen. Ihr Herz schlug ein wenig schneller, als sie überlegte, ob womöglich Atlan mit diesem Fahrzeug gekommen sein könne. Sie eilte die Rampe hinauf und gelangte in den großen Saal. Er war leer. Im Innern des riesigen Bauwerks herrschte eine beängstigende Stille. Thalia rief den Namen des Arkoniden. Aber sie be kam keine Antwort. Sie versuchte, sich in Atlans Gedanken zu versetzen. Wohin wür de er als erstes gehen, wenn er zur FE STUNG zurückkehrte? Sie wußte, daß er um sie besorgt war. Wahrscheinlich war er zu erst die Rampe emporgeschritten, die vom östlichen Seiteneingang zum Kuppelsaal führte. Dort hatte er sie nicht gefunden. Hat te er sie in ihrem Quartier gesucht? War er geradewegs zum Kuppelsaal gegangen? Das kam ihr am wahrscheinlichsten vor. Sie eilte davon. Auf dem kürzesten Weg ge langte sie in das Stockwerk, von dem die steile Treppe hinauf in den Kuppelsaal führ te. Sie sprang die Treppe hinauf und blieb auf der obersten Stufe stehen. Der Saal war leer bis auf die Trümmer der Barrikade, die in der Mitte aufgehäuft wa ren. Durch die Glasfläche, die in die Wan dung der Kuppel eingelassen war, fiel düste res Licht. »Atlan …?« rief Thalia halblaut. Dann fiel ihr Blick auf den Ort, an dem sie mit Heimdall gekämpft hatte. Sie erin nerte sich, wie der Schlag der Vars-Kugel
23 Heimdall den Helm vom Kopf gerissen und davongeschleudert hatte. Sie wußte außer dem, daß sie dem Bruder die schwersten Teile der Rüstung abgenommen hatte, bevor sie ihn fesselte und in die Kammer schlepp te. Aber der Helm war nirgendwo zu sehen, und auch die Bestandteile des Panzers waren verschwunden! Da wußte Thalia, daß sie sich in Gefahr befand. Heimdall war nicht mehr gefangen. Irgendwie mußte er die Freiheit wiederer langt haben. Ohne sich umzuwenden, stieg sie vorsichtig die Stufen der Treppe wieder hinab. Sie kam nicht weit. Aus der Tiefe drang ein polterndes Geräusch und dann der Klang einer höhnischen Stimme: »Bleib, wo du bist, Schwester! Du stehst uns gerade recht!«
* Panik erfaßte Thalia. Sie hastete die Stu fen wieder hinauf. Sie rannte in den Kuppel saal. Ihr Blick suchte die Mündung des Kor ridors, der zu der Rampe führte, die an ei nem Seiteneingang in der Ostseite der Pyra mide mündete. Kaum hatte sie ihr Ziel er blickt, da sah sie dort Heimdalls mächtige Gestalt erscheinen. Sein Blick war finster und undurchdringlich. Er hatte die mächtige Streitaxt zum Schlag erhoben. Einen Atemzug lang zögerte Thalia, dann wandte sie sich nach rechts. Dort gab es mehrere Ausgänge. Sie wußte nicht, wohin sie führten. Aber das war im Augenblick wenig wichtig. Sie mußte fort von hier! Das allein zählte … Kaum aber hatte sie sich den Ausgängen um mehr als ein halbes Dutzend Schritte ge nähert, da tauchte aus einem der Gänge Si gurd auf, Odins jüngster Sohn. Er hielt die Garpa wie eine Lanze im Anschlag, und aus seinen Augen leuchtete der blanke Haß. Thalia blieb stehen. Sie wandte den Kopf zu einem Blick über die Schulter und sah, was sie erwartet hatte: über die Treppe war
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Kurt Mahr
Balduur heraufgekommen, auch er in voller Rüstung. Sie war von allen Seiten einge schlossen. Es gab kein Entkommen mehr. Sie war waffenlos. Sie blickte von Sigurd zu Balduur, und von Balduur zu Heimdall. In den Mienen der Brüder standen der Haß und der Wille zu töten geschrieben. Ein Appell an ihre Menschlichkeit wäre vergebens ge wesen. Eine fast unheimliche Ruhe senkte sich über Thalia. Sie hatte getan, was sie konnte. Das Schicksal hatte gegen sie entschieden. Sie war am Ende ihres Weges angelangt. Odins Kinder waren unsterblich, solange ih nen das Leben nicht mit Gewalt genommen wurde. Thalia machte sich darauf gefaßt, daß ihr Leben in wenigen Minuten abgelau fen sein werde. Sie ging auf die Knie. Sie legte die Hände in den Schoß und senkte den Kopf. Sie war fest entschlossen, bis zu ihrem Tod kein Wort mehr zu sprechen. Sie hörte die Schrit te der Brüder näherkommen. Heimdall rief hämisch: »Sie hat die Nutzlosigkeit des Widerstandes erkannt! Kommt – wir werden die Strafe vollstrecken!« Balduur und Sigurd verhielten sich schweigsam. Thalia hielt die Augen ge schlossen. Sie sah die Brüder nicht, aber sie spürte ihre Nähe. Sie hörte Heimdall fragen: »Wer soll das Urteil vollstrecken?« Er be kam keine Antwort. Da erklärte er düster: »So werde ich es tun!« Thalia hörte den sausenden Luftzug, der entstand, wenn die Khylda aufwärts ge schwungen wurde. Sie biß die Zähne aufein ander und erwartete den Schmerz, der dem Tod vorausgehen mußte. Da zerriß ein wilder Schrei die unheimli che Stille. »Haltet ein! Sonst seid ihr des Todes!«
* Es wäre Razamon schwergefallen, seine Drohung wahr zu machen. Die Worte dräng ten sich ihm einfach über die Lippen, als er
sah, daß Thalia sich in unmittelbarer Todes gefahr befand. Die Mündung der Waggu auf Heimdall gerichtet, schritt Razamon langsam von der Treppe her ins Innere des Saales. Heimdall war mitten in der Bewegung erstarrt, als er Razamons Stimme hörte. Er kannte die Waf fe der Technos. Er wußte, daß der Hinkende ihn den tödlichen Streich nicht würde aus führen lassen. Thalia kniete auf dem Boden. Sie schien in ihr Schicksal ergeben. Ihr Anblick mußte Rührung im Herzen eines jeden erwecken, dessen Seele nicht völlig verhärtet war. Razamon machte eine herrische Geste mit dem Lauf der Waggu. »Tretet zur Seite!« befahl er den Odins söhnen. »Und werft eure Waffen zu Bo den!« Sie befolgten den ersten Teil des Befehls. Aber Balduur murrte: »Wer kommt daher und will den Herrschern von Pthor sagen, was sie …« Weiter kam er nicht. Die Waggu summte hell. Der Lähmstrahl traf Balduurs Schulter. Balduur schrie schrill auf und packte die schmerzende Stelle mit der freien Hand. Von da an widersprach er nicht mehr. Die zweischneidige Streitaxt Heimdalls, Sigurds Garpa und Balduurs Schwert polter ten zu Boden. »Thalia!« rief Razamon. »Die Gefahr ist vorbei! Sie werden dir nichts antun!« Thalia richtete sich langsam auf. Ihr Ge sicht war bleich, die Augen unnatürlich weit. Sie bewegte sich wie eine Träumende und vermied es, die Brüder anzusehen. Über diese ergoß sich inzwischen Raza mons Zorn. »Ich weiß nicht, was ihr für Wesen seid!« stieß er keuchend hervor. »Menschen? Wohl kaum. Götter? Erst recht nicht. Bestien er scheint mir ein angemessener Ausdruck. Ihr seid eine Gefahr für alles, was in eurer Um gebung lebt, und als Herrscher von Pthor be droht ihr dieses Land. Ihr müßt unschädlich gemacht werden, bevor eure kranken Be wußtseine noch mehr Schaden anrichten
Odins Erbe können!« Odins Söhne standen stumm, nicht ge senkten Blicks, sondern erhobenen Hauptes. Ihre Blicke gingen ins Nichts. Razamon war sicher, daß es mehr als nur einiger grober Worte bedürfe, um diese drei Männer wie der zur Vernunft zu bringen. Sie waren unfä hig, das Unrecht ihres Denkens und Han delns zu erkennen. Razamon wandte sich an Thalia. Er wollte ihr erklären, daß er derjenige war, der Bal duur freigelassen hatte. Daß sie die schreck lichen Augenblicke der Todesangst ihm zu verdanken hatte, ihm und seiner Kurzsich tigkeit. Er wollte sie trösten. Bevor er jedoch dazu kam, wurde es plötzlich finster. Es war ein eigenartiger Vorgang. Das trü be Tageslicht, das durch die gläserne Wand drang, wich von einer Sekunde zur anderen der Dunkelheit. Gleichzeitig erloschen die fackelähnlichen Lampen, die an der Wand des Kuppelsaals angebracht waren. Das heißt: Sie erloschen nicht gänzlich, sondern brannten mit einem Bruchteil ihrer bisheri gen Helligkeit weiter. Und auch draußen war es nicht völlig finster geworden. Es schien vielmehr irgendwo in der Dunkelheit einen bläulichen Lichtschimmer zu geben, der durch die Glaswand hereindrang. Im In nern des Saales breitete sich ein unwirkli ches Zwielicht aus. Razamon wußte instinktiv, daß er sich um die drei Odinssöhne nicht zu kümmern brauchte. Die Unheimlichkeit des Vorgangs bannte sie ebenso wie ihn. Sie rührten sich nicht von der Stelle. Ihnen ebenso wie jedem anderen im weiten Rund des Saales war klar, daß ein unglaubliches Ereignis unmittelbar bevorstand. Da zerriß draußen ein strahlend heller Blitz die Finsternis. Ein dröhnender Donner schlag ließ die große Pyramide bis in ihre Grundfesten erzittern. Und dann ertönte eine Stimme – so laut, so mächtig, daß die Men schen von Furcht gepackt wurden und zu zittern begannen: »Wisse alle Welt: Odin ist zurückgekehrt!
25 Odin, der König der Götter!«
5. Heimdall stöhnte auf. »Odin …!« stieß er hervor. »Ich suche meine Kinder!« dröhnte drau ßen die mächtige Stimme. »Heimdall – Bal duur – Thalia – Sigurd, kommt hervor!« Heimdall setzte sich in Bewegung. Baldu ur und Sigurd folgten ihm, ohne auf Raza mon zu achten, der noch immer die Waggu auf sie gerichtet hielt. Der Pthorer ließ sie gewähren. Aber er blieb ihnen auf den Fer sen, begleitet von Thalia und dem Stummen. Odins Söhne eilten auf den Hof hinaus. Inzwischen hatte die Dunkelheit sich teil weise gelichtet. Razamon blieb am unteren Ende der Rampe stehen, die durch das Nord tor führte. Mit Erstaunen musterte er die rie sige Gestalt, die dort auf dem Hof stand. Sie war in eine silbern schimmernde Rü stung gekleidet. Die Rüstung war vielfach beschädigt, ihr Glanz aber war ungebrochen. Der Riese war von einer bläulich leuchtenden Aura umgeben. Er stand über zweiein halb Meter hoch. Der riesige Schild, den er lässig am herabhängenden linken Arm trug, war so groß, daß ein normal gewachsener Mensch sich leicht dahinter hätte verbergen können. Das anderthalb Meter lange Schwert mit den zerfressenen Schneiden hätte kaum ein menschliches Wesen aus ei gener Kraft zu schwingen vermocht. Der Riese aber handhabte es wie einen hölzernen Stock. Er richtete die Schwertspitze zu Bo den und bezeichnete damit den Ort, an dem er seine drei Söhne zu sehen wünschte. Razamon hatte plötzlich eine Vision. Er erinnerte sich an eine Nacht – eine der ersten Nächte, die er mit Atlan zusammen auf Pthor verbracht hatte, nachdem sie durch den Wölbmantel gedrungen waren. Sie be fanden sich auf dem Weg von Zbahn nach Zbohr, und am Tag zuvor war ihr Begleiter, der kleine Dieb Mäjesto, gestorben. Um Mitternacht waren sie mitten in der Wüste auf Bruchstücke einer gigantischen Rüstung
26 gestoßen. Es war ihnen seltsam vorgekom men, daß die Rüstung zwar stark beschädigt war, jedoch einen strahlenden Glanz auf wies, als sei sie eben erst unter dem Ham mer des Waffenschmieds hervorgekommen. Das, entschied Razamon, war dieselbe Rüstung, die der Gigant vor ihm trug. Der Abschnitt der Straße der Mächtigen zwi schen Zbahn und Zbohr war, so wollte es die Sage, einst von Odin beherrscht worden. Seine Burg hatte irgendwo entlang dieses Straßenabschnitts gestanden, über den sich die Ungeheuer der Nacht aus der Ebene Kalmlech ergossen, wenn Pthor auf einer fremden Welt landete. Es hatte alles seine Richtigkeit. Der Gi gant in der schimmernden Rüstung war Odin, wie ihn die Sage schilderte: riesig, von übermenschlicher Kraft, unbesiegbar. Was aber hatte er mit dem Schwächling zu tun, der mit Atlan zusammen von Loors nach Pthor gekommen war und sich eben falls Odin nannte? Heimdall, Balduur und Sigurd hatten sich inzwischen an den Ort begeben, den die Schwertspitze bezeichnete. Sie wirkten klein und bedeutungslos im Vergleich mit der Riesengestalt ihres Vaters. »Ihr Ungetreuen!« dröhnte seine Stimme über die Weite des Hofes. »Habe ich euch deswegen als meine Statthalter zurückgelas sen, daß ihr die Menschen knechtet, eurer Schwester nach dem Leben trachtet und selbst mich meucheln wollt, nur weil ich nicht dem Bild entspreche, das sich euer ge trübter Verstand von mir macht? Ihr Narren! Habt ihr wirklich geglaubt, daß es nur der Manifestierung eures Vaters bedarf, um die Schwierigkeiten zu beseitigen, in die ihr selbst euch manövriert habt? Wisset: Es war mir klar, daß einst euer Ruf ertönen würde. Ich hatte mich darauf vorbereitet. Ich be schloß, euch auf die Probe zu stellen. Wenn ihr mich rieft, würde ich als feiger Schwäch ling auf eurer Welt erscheinen. Ich würde mich euch zu erkennen geben und abwarten, ob es die Sohnesliebe ist, die euch an mich bindet, oder nur die Erinnerung an eine hel-
Kurt Mahr denhafte Vergangenheit. Ich wollte erfahren, ob ihr auch Odin, den Zwerg, zu achten be reit wart. Denn dann offenbart sich der wah re Charakter des Herrschers, ob er bereit ist, auch den Schwachen zu ehren!« Die drei Odinssöhne hatten die Köpfe ge senkt. Zu vernichtend war das Urteil des Va ters. Odin aber fuhr fort: »Ihr habt versagt! Ihr habt die Prüfung nicht bestanden. Mithin seid ihr nicht geeig net, über Pthor zu herrschen. Ich hätte nie geglaubt, daß solche Worte über meine Lip pen kommen könnten, und doch muß ich sie sagen: Eure Schwester Thalia gäbe eine hun dertmal bessere Herrscherin ab als einer von euch! Aber auch für Thalia ist der Thron von Pthor nicht bestimmt. Ich habe den Mann gefunden, der über dieses Land herrschen soll. Einen besseren, weiseren, stärkeren Herrscher hat Pthor nie gehabt als diesen Mann, der von einer fremden Welt zu uns gekommen ist und der sich des Schwäch lings Odin wortlos angenommen hat, ob wohl dieser treulos an ihm handelte. Atlan wird über dieses Land herrschen! Mein Vermächtnis an den neuen König ist der Auftrag, Frieden, Ruhe und Sicherheit über Pthor zu bringen, und den Schaden wiedergutzumachen, den finstere Mächte in diesem Land und auf vielen fremden Welten angerichtet haben.« Diese Worte hatte Odin hoch erhobenen Hauptes gesprochen, und soviel Macht lag in seiner Stimme, daß seine Botschaft weit über den Bannkreis der FESTUNG hinaus gehört wurde. Jetzt aber wandte er sich von neuem an seine Söhne und befahl ihnen: »Ihr drei hebt euch von hinnen, damit ihr meinen Zorn nicht weiter erregt. Ihr kehrt zu euren Burgen zurück, und dort werdet ihr dem neuen Herrscher dienen, den ich euch zum Herrn gebe: Atlan!«
* Wer die herrschsüchtigen, hoffärtigen Odinssöhne kannte, dem mußte die Szene wie
Odins Erbe ein Wunder erscheinen. Ohne ein einziges Widerwort folgten die drei ihrem Vater. Wie geprügelte Hunde schlichen sie sich davon, ein jeder in der Richtung, die zu seiner Burg führte. Als sie den Hof verlassen hatten und in der wuchernden Wildnis des Gartens ver schwunden waren, wich die Finsternis end gültig. Es wurde wieder hell, und man sah, daß der Himmel noch immer so bleiern wie zuvor dicht über der Erde hing. Odin wandte sich an Thalia, die neben Razamon und dem Stummen am Fuß der Rampe stand. »Ich habe dir unendlich viel abzubitten, meine Tochter«, sagte er mit einer Stimme, die fast sanft zu nennen war. »Ich habe dich geringgeschätzt, und doch bist du die einzi ge, die dem Vater die Ehre erwiesen hat, die ihm gebührt. Wir haben miteinander zu sprechen, nur wir beide. Vorerst aber möch te ich Atlan sehen, meinen Weggefährten, den neuen König von Pthor. Wo ist Atlan?« Bei den letzten Worten hatte seine Stim me wieder an Kraft gewonnen und hallte weit übers Land. Razamon trat vor: »Wir wissen nicht, wo Atlan ist«, antwor tete er. »Er war gegen den Schlaf immun, der alles übrige Leben mit seinem Bann be legte. Als wir zu uns kamen, war Atlan ver schwunden. Er ist seitdem nicht wieder auf getaucht.« »Er wird kommen!« sagte Odin. »Er wird zur FESTUNG zurückkehren, und ihr wer det ihm mein Vermächtnis übergeben.« »Wir werden in deinem Sinne handeln«, versprach Razamon. »Warum aber wartest du nicht, bis er zurückkommt?« »Weil mir nicht mehr viel Zeit bleibt«, antwortete Odin. »Ich bin nur eine Manife station. Ich werde dorthin zurückkehren, woher ich gekommen bin, und die Zeit ist nicht mehr lang.« Er schritt auf Thalia zu. »Komm, meine Tochter!« forderte er sie freundlich auf. »Es gibt eine Menge Dinge, worüber ich zu dir sprechen muß.« Er nahm Thalia bei der Hand und führte
27 sie die Rampe hinauf. Razamon und der Stumme sahen den beiden ungleichen Ge stalten nach, wie sie unter dem Eingang des großen Saales verschwanden.
* Der, von dem im Lauf der vergangenen halben Stunde so oft die Rede gewesen war, befand sich in diesem Augenblick in den Tiefen des kosmischen Materiebrockens Pthor, Hunderte von Metern unterhalb der großen Pyramide, unweit jenes geheimnis vollen Bezirks, den man als den Sitz der SEELE VON PTHOR bezeichnete. Atlan war mit seinen beiden Begleitern, von der Dimensionsschleppe kommend, im Innern von Pthor materialisiert. In seinem Besitz befand sich das kegelförmige Steuer element, das in die Anlagen der Seele einge baut werden mußte, damit die Seele und der in ihr aufgegangene La'Mghor Pthor unab hängig von den Befehlen der Herrscher der Schwarzen Galaxis steuern konnten. Dies stand natürlich im Einklang mit Atlans Plä nen, der Pthor von der Schwarzen Galaxis unabhängig machen und in ein Werkzeug des Friedens und der Wiedergutmachung verwandeln wollte. Das Steuerelement war den Pflanzenwe sen überlassen worden, die in La'Mghors Diensten standen. La'Mghor hatte auf telepa thischem Wege zu verstehen gegeben, daß das Element auf dem schnellsten Wege in stalliert werden würde. Danach hatten Atlan und seine Begleiter sich auf den Weg zur Oberwelt gemacht. Einer von Atlans Weggefährten wirkte nach außen hin wie ein Riese an Gestalt. Er trug die Rüstung, die einst dem mächtigen Porquetor gehört hatte, dessen Sitz die Feste Grool an der Westküste von Pthor gewesen war. Im Innern der Rüstung befand sich je doch in Wirklichkeit ein verwachsener, zwergenhafter Körper, der den Robotmecha nismus des Harnischs durch Dutzende ver schiedener Kontrollelement zu lenken ver mochte. Der Körper war der des einstigen
28 USO-Spezialisten Sinclair M. Kennon, al lein Kennons Bewußtsein befand sich nicht mehr in ihm. Der Zwergenkörper gehörte jetzt einem Wesen namens Grizzard. Griz zard wußte nicht, wer er war und woher er kam. Er erinnerte sich nur noch an seinen Namen und daran, daß er einst einen gesun den, ebenmäßigen Körper besessen hatte. Die Sehnsucht nach diesem Körper war es, die ihn seelisch aufrecht erhielt. Grizzard wollte seinen eigenen Körper wieder haben. Mit diesem Vorsatz durchstreifte er Pthor. Er war vor der einschläfernden Wirkung des pfeifenden VONTHARA verschont geblie ben. Als er in die schlafende Händlerstadt Orxeya eindrang, war er von den Robotern der Kodos eingefangen und zur Dimensions schleppe gebracht worden. Jetzt kehrte er nach Pthor zurück. Atlans zweiter Weggefährte war ein jun ges Mädchen, nicht älter als zwölf Jahre, mit dem Namen Pama. Auch sie stammte ur sprünglich von Pthor und war von den Ko dos zur Dimensionsschleppe entführt wor den. Pama war schwachsinnig. Man sah ihr das an. Aber sie besaß die seltene Gabe, Ma terie mit Hilfe psychischer Kräfte in Brand setzen zu können. Mit Hilfe dieser Gabe hat te sie auf der Dimensionsschleppe beträcht liche Verwirrung unter den Kodos erzeugt und damit nicht unwesentlich zur Befreiung Atlans, Grizzard und ihrer selbst beigetra gen. Manchmal, wenn Atlan mit Pama sprach hatte er den Eindruck, als sei sie längst nicht so geistesschwach, wie sie alle Welt glauben machen wollte. Sicher war er seiner Sache jedoch nicht. Der Arkonide und seine Begleiter befan den sich zu diesem Zeitpunkt in einem lang gestreckten Gang, der in leichter Neigung aufwärts führte. Hinter ihnen lag die Seele von Pthor, deren Anlagen ein stetiges, halb lautes Murmeln von sich gaben. Irgendwo vor ihnen war die Oberwelt. Atlan kannte diesen Gang nicht. Aber er war zuversicht lich, daß er, wenn er sich nur immer auf wärts bewegte, irgendwann die Oberfläche von Pthor erreichen würde.
Kurt Mahr Plötzlich horchte er auf und blieb stehen. »Was ist?« fragte Grizzard. Die Stille war vollkommen. »Das Murmeln hat aufgehört«, sagte Pama versonnen. Weder sie, noch Grizzard verstand, wa rum den Arkoniden die plötzliche Stille so sehr in Erregung versetzte. Atlan stieß her vor: »Bleibt hier und wartet auf mich!« Dann eilte er dorthin zurück, woher sie gekommen waren.
* Er wußte, daß irgend etwas Schlimmes geschehen war. Das Murmeln der Seele war ihm ein Beweis dafür gewesen, daß La'Mghor tätig war. Daß er versuchte, Pthor von dem verderbenbringenden Kurs abzu bringen, auf den der VONTHARA Pthor im Auftrag der Herrscher der Schwarzen Gala xis zu steuern versuchte. Daß das Murmeln verstummt war, konnte nur Schlechtes bedeuten. Atlan eilte durch den langen Gang zurück. Er kam an die Stel le, wo dieser auf einen runden, düster er leuchteten Platz mündete, von dem mehrere Korridore ausgingen. Er versuchte, sich zu erinnern, woher er mit den Gefährten ge kommen war, und entschied sich schließlich für einen Gang, der halbwegs zur rechten Hand weiter in die Tiefe führte. Er erkannte bald, daß er die richtige Wahl getroffen hatte. Der Gang wurde immer breiter, je weiter er vordrang. Die Helligkeit nahm ständig zu, weil in diesem Teil der un terirdischen Anlage mehr Lampen ange bracht waren als sonstwo. Atlan wußte, daß er jetzt nur noch eine kurze Strecke von der Schleuse entfernt war, hinter der der eigent liche Bereich der Seele von Pthor begann. Da hielt er plötzlich an. Vor ihm erhob sich ein schimmerndes, halb durchsichtiges Gebilde, das von einer Seite des Ganges bis zur anderen und von der Decke bis zum Boden reichte. Es wirkte wie ein seidener Vorhang, den jemand quer
Odins Erbe über den Korridor gespannt hatte. Atlan trug das Goldene Vlies, den Anzug der Vernich tung. Nach kurzem Überlegen trat er auf den Schleier zu. Als er ihn berührte, sprang ein greller Blitz von einer Seite des Ganges zur anderen hinüber. Knatternder Donner folgte. Atlan spürte ein Kribbeln auf der Haut. Hätte er das Goldene Vlies nicht getragen, wäre er in diesem Augenblick wahrscheinlich ein toter Mann gewesen. Das durchsichtige Gebilde, vor dem er stand, war ein Energieschirm. Er war durch sichtig, aber undurchdringlich. Undurch dringlich wahrscheinlich auch für Schall schwingungen. Damit war erklärt, warum das Murmeln der Seele nicht mehr zu hören war. Warum aber dies alles? Hatte La'Mghor den Schutzschirm errichtet? Welchen Grund hatte er dafür gehabt? Während Atlan noch dastand und ratlos den transparenten Energieschirm musterte, manifestierten sich telepathische Impulse in seinem Gehirn und formten sich zu Gedan ken. »Gefahr!« verstand Atlan. »Der Kurs ist nicht beeinflußbar.« Das war La'Mghor, der Wächter der See le, der auf telepathischem Wege zu ihm sprach. »Ich verstehe nicht«, signalisierte der Ar konide. »Wir haben das Steuerelement ge bracht!« »Es wurde eingebaut«, bestätigte La'Mghor. »Aber es ist nicht das richtige Steuerelement. Es besitzt eine ungewöhnli che Programmierung. Ich kann seine Funkti onsweise nicht beeinflussen.« Da begann Atlan zu verstehen, was ge schehen war. Die Kodos hatten ihn ge täuscht. Das Steuerelement, das ihm wäh rend seines Aufenthalts auf der Dimensions schleppe ein scheinbar glücklicher Zufall in die Hände gespielt hatte, war in Wirklichkeit ein präpariertes Gerät, das die Wesen aus der Schwarzen Galaxis ihm zugespielt hat ten, um seine Pläne zunichte zu machen.
29 Das umprogrammierte Steuerelement war nicht mehr beeinflußbar. Ohne Zweifel hatte es die Aufgabe, Pthor auf einen Kurs in Richtung Schwarze Galaxis zu bringen und diesen Kurs beizubehalten. Diese Gedanken schossen Atlan binnen weniger Sekunden durch den Kopf. Er signalisierte La'Mghor: »Ich kann dir nicht helfen! Die Seele von Pthor ist mit einem undurchdringlichen Energieschirm umgeben.« »Ich weiß«, antwortete der Wächter der Seele. »Auch dafür ist das falsche Steuerele ment verantwortlich.« »Es bleibt uns nicht mehr viel Hoffnung«, erklärte Atlan. »Es gibt überhaupt nur noch einen einzigen denkbaren Ausweg. Und von ihm weiß man nicht, ob er begehbar ist.« La'Mghors Mentalimpulse wurden plötz lich intensiver. Es lag große Dringlichkeit in seinen Gedanken, als er den Arkoniden mahnte: »Du mußt alles tun, was in deiner Kraft steht! Laß keine Chance ungenützt, sonst ist Pthor verloren!« »Ich weiß es«, sagte Atlan mutlos. Dann wandte er sich ab und eilte davon, hinter den Gefährten drein.
* Auf Wegen, die sie nie zuvor gegangen war, wurde Thalia von ihrem Vater in einen Raum geführt, der nach ihrer Schätzung im geometrischen Zentrum der großen Pyrami de lag. Der Raum hatte quadratischen Grundriß und eine Fläche von acht mal acht Metern im Geviert. Er war eingerichtet mit jener Art barbarischen Prunks, mit der sich die früheren Herrn der FESTUNG zu umge ben liebten. Odin ließ sich in einen mächti gen, thronähnlichen Sessel fallen und winkte Thalia, auf einem Stuhl zu seinen Füßen Platz zu nehmen. »Ich weiß nicht«, begann er mit schwerer Stimme, »welcher böse Geist mich dazu be wogen hat, in meiner Tochter ein weniger wertvolles Geschöpf zu sehen als in meinen Söhnen. Man hat mich einst den Weisen,
30 den Unfehlbaren genannt. In Wirklichkeit aber war ich nichts anderes als ein verblen deter Narr, der dem Schicksal nicht verzei hen konnte, daß es ihm anstelle von vier Söhnen deren drei und eine Tochter schenk te. Ich versuchte, die vermeintliche Schmach zu verdrängen, indem ich dich als meinen Sohn Honir aufziehen ließ. Sigurd wurde darum mein Lieblingssohn, weil er mich, nachdem du meinem eitlen Herzen soviel Enttäuschung bereitet hattest, halbwegs wie der mit dem Geschick versöhnte. Erst vor kurzem ist mir klar geworden, welch großen Unrechts ich mich schuldig gemacht habe. Ich zwang dich in eine Rolle, die dir widerstrebte. Infolge meiner Verblendung hast du großen Schmerz erlitten. Ich bitte dich um Nachsicht. Vielleicht findest du in deinem Herzen die Kraft, deinem Vater zu verzei hen.« Thalia sah zu ihm auf. Ihre großen Augen schimmerten. »Ich habe mich oft gefragt, was ich an dir getan hätte, daß du mich so bestraftest. Jetzt brauche ich mich nicht mehr zu fragen. Dei ne Worte wischen den Schmerz der langen Jahre hinweg. Es fällt mir nicht schwer, dir zu verzeihen.« Odin seufzte. »Ich danke dir, Thalia«, sagte er. Sie saßen eine Zeitlang schweigend. Tha lia war wie im Traum zumute. Seit eh und je hatte sie die Versuche der Brüder, den Vater zu manifestieren, als fruchtlose Zauberübun gen abgetan. Sie hatte nicht daran geglaubt, daß sie Odin jemals wiedersehen würde. Jetzt aber saß sie hier vor ihm. Die Ge genwart des Vaters wühlte sie in ihrem tief sten Innern auf. »Warum bleibst du nicht auf Pthor?« kam es ihr plötzlich über die Lippen. »Um diese Frage zu beantworten, brauche ich mehr Zeit, als mir auf diesem armseligen Materiebrocken noch bleibt«, antwortete Odin. »Laß mich versuchen, dir das Wesent liche zu erklären. Über Pthor lastet ein uralter Fluch, und al-
Kurt Mahr le, die auf Pthor leben, sind Verfluchte. Nur selten gelingt es einem, der auf dieser Welt lebt, sich dem Fluch zu entziehen. Hat er aber wirklich den Bann von sich abgestreift, dann steht es ihm frei, Pthor zu verlassen und sich an einem angenehmeren Ort anzu siedeln. Ganz frei wird er allerdings nie. Die finsteren Mächte des Schicksals können ihn unter gewissen Umständen wieder nach Pthor zurückrufen. Allerdings nur für kurze Zeit und nicht etwa den Unglücklichen selbst, sondern nur sein Abbild, dem aller dings das Bewußtsein des Zurückgerufenen innewohnt.« Thalia hatte der Schilderung mit atemlo ser Spannung gelauscht. »Ich verstehe!« stieß sie jetzt hervor. »Dir gelang es, dich von dem Fluch zu befreien. Aber Balduur, Heimdall und Sigurd riefen dich zurück, indem sie dich auf Pthor mani festierten!« »So ist es«, bestätigte Odin. »Ich weiß, daß sie oft versucht haben, mich zu manife stieren. Aber erst ihr letzter Versuch hatte Erfolg, denn die Verzweiflung verlieh ihnen die Kraft, die man braucht, um sich die dunklen Schicksalsmächte gefügig zu ma chen. Ich aber hatte inzwischen Zweifel am cha rakterlichen Wert meiner Söhne bekommen. Ich beschloß, sie auf die Probe zu stellen. Ich dachte mir eine Rolle aus, die dem Bild, das man sich auf Pthor von Odin macht, so unähnlich war wie nur irgend möglich: die Rolle des schwächlichen, kleinen Mannes, des Feiglings. Das heißt: So ganz aus der Luft gegriffen war diese Rolle nun auch wieder nicht. Doch davon später. Wenn ich nach Pthor ging, durfte mich nichts von meiner Rolle ablenken. Ich mußte wirklich der Feigling sein, der ich zu sein vorgab. Ich durfte mich nur noch an meinen Namen erinnern – und daran, daß ich vier Kinder hatte, an sonst nichts mehr. Die Erin nerung an Odins Ruhm mußte gelöscht wer den. Wie aber sollte ich mich auf Pthor meiner Aufgabe entledigen, wenn ich mich an
Odins Erbe nichts mehr erinnerte? Ich würde, als Feig ling, bei der ersten Bedrohung Hals über Kopf davonlaufen und niemals dazu kom men, meine Söhne auf die Probe zu stellen. Ich brauche einen Monitor – irgendein Ge schöpf, vielleicht auch eine Vorrichtung, die mich bei Gelegenheit daran erinnerte, daß ich nach Pthor gekommen war, um einen Auftrag auszuführen. Demjenigen, der von den finsteren Mäch ten nach Pthor zurückgerufen wird, stehen gewisse Vergünstigungen frei. Ich ersuchte darum, daß den Kelotten in Aghmonth der Auftrag gegeben werde, einen Androiden zu schaffen. Dieser Androide war mit besonde ren Gaben auszustatten. Vor allen Dingen sollte in seinem Bewußtsein verankert wer den, daß er Odins Monitor sein solle, sobald Odin sich auf Pthor manifestierte. Dieses Vorhaben ist mir trefflich gelun gen. Die finsteren Mächte erfüllten meinen Wunsch. Hätten sie es nicht getan, dann wä re ich wahrscheinlich vor lauter Furcht in ir gend eine Höhle gekrochen und hätte mich dort versteckt gehalten, bis es an der Zeit war, daß ich von Pthor wieder zurückkehren durfte.« Thalia musterte den Vater unsicher. »Ich verstehe nicht ganz«, sagte sie. »Dieser Monitor – wer ist er?« Odin schmunzelte. »Er hat gemeint, ich werde ihm womög lich noch einmal begegnen, bevor ich Pthor verlasse. Laß sehen, ob er recht gehabt hat. Stimme, bist du hier?« »Ich bin hier!« drang es hell und klar von der gegenüberliegenden Wand des Raumes. Der zwergenhafte Androide trat hinter ei nem kastenförmigen Möbelstück hervor. Thalia betrachtete ihn staunend. »Stimme«, sagte Odin: »Was wird mit dir geschehen, wenn ich gegangen bin?« »Ich fürchte, ich werde den Augenblick nicht allzu lange überleben«, antwortete der Zwerg. »Ich bin für einen bestimmten Zweck geschaffen, und wenn es den Zweck nicht mehr gibt, wird man mich beseitigen wollen. Ich weiß zuviel, verstehst du?«
31 »Wer wird dich beseitigen wollen?« frag te Odin grollend. »Das weiß man nicht. Die finsteren Mächte haben viele Hände, mit denen sie zugreifen können.« »Ich möchte nicht, daß dir etwas ge schieht!« erklärte Odin kategorisch. »Du hast mir treu gedient. Du verdienst Beloh nung, nicht den Tod.« »Ich bin dir dankbar für diese Worte, mächtiger Odin«, antwortete die Stimme. »Aber um vor den finsteren Mächten sicher zu sein, müßte ich entweder in einen ande ren Körper fahren oder mich in der Wildnis verkriechen.« »Verkriech dich!« befahl ihm Odin. »Sobald ich an meinen Wohnsitz zurückge kehrt bin, werde ich mich für dich einsetzen und bewirken, daß dir nichts angetan wird!« Die Stimme lächelte. »Das wolltest du wirklich für mich tun?« »Ich gebe dir mein Wort!« »Hab Dank, Herr!« jubelte der Androide. »Ich bin zwar nur ein künstliches Geschöpf, aber trotzdem hänge ich am Leben. Mit dei ner Erlaubnis mache ich mich sofort auf den Weg!« »Troll dich von hinnen!« lachte Odin. Sekunden später war der Zwerg ver schwunden. Odin wandte sich wieder Thalia zu. »Und jetzt«, sagte er, »laß dir den Rest meiner Geschichte erzählen!«
6. Grizzard und Pama warteten dort, wo sich Atlan von ihnen getrennt hatte. Er schilderte Grizzard mit knappen Worten, was gesche hen war. Pama hörte zu, aber sie schien nur wenig zu verstehen. »Soll ich ein Feuer machen?« fragte sie einfältig, nachdem der Arkonide geendet hatte. »Nein, Pama, tu das nicht!« bat Atlan. »Es würde uns nichts helfen.« »Das bedeutet, du wirst mir bei der Suche nach meinem Körper nicht helfen können,
32 nicht wahr?« drang es düster aus der Rü stung des Porquetor. Atlan senkte den Blick. »Ich kenne deine Sehnsucht nach dem Körper, den dir die Natur gegeben hat, Griz zard«, sagte er ernst. »Ich will dir bereitwil lig jegliche Hilfe angedeihen lassen, die ich beschaffen kann. Aber selbst kann ich mich an der Suche nicht beteiligen. Es geht um diese ganze Welt, verstehst du, Grizzard? Wenn wir Pthor nicht von dem gegenwärti gen Kurs abbringen, landen wir alle in der Schwarzen Galaxis!« »Ich verstehe«, antwortete es dumpf aus dem Innern der Rüstung. »Verstehst du auch mich, Atlan? Wenn ich meinen Körper nicht wiederfinde, ist es mir gleichgültig, ob ich mich in der Schwarzen Galaxis oder sonst wo befinde!« Atlan nickte. »Ja, das verstehe ich!« Sie schritten weiter. Nach ein paar Stun den bemerkte Atlan an der zunehmenden Feuchtigkeit der Luft, daß sie sich der Ober welt näherten. Tatsächlich gelangten sie kurz darauf in einen Gang, der in einem alten, halb zerfallenen Gemäuer mündete. At lan trat ins Freie und blickte sich um. Er sah die riesige Pyramide der FESTUNG in we niger als zehn Kilometern Entfernung lie gen. »Das ist ein ungewöhnlicher Weg«, be merkte er. »Die meisten Pfade, die von der Seele an die Oberfläche führen, münden un mittelbar in der FESTUNG.« Grizzard blickte angelegentlich auf das flache Land hinaus. »Ich wünsche dir Glück, Atlan«, sagte er plötzlich. Der Arkonide fuhr herum. »Heißt das, daß du nicht mit mir kommen willst?« fragte er. »Das heißt es«, antwortete Grizzard. »Ich habe mir die Sache ein paar Stunden lang durch den Kopf gehen lassen. Bliebe ich in deiner Nähe, dann würdest du mich im Lauf der Zeit davon überzeugen, daß es wichtiger ist, Pthor zu retten, als nach meinem Körper
Kurt Mahr zu suchen. Selbst wenn deine Ansicht richtig ist, möchte ich sie nicht zu der meinigen ma chen. Ich brauche die Gestalt, die die Natur gegeben hat, sonst gehe ich zugrunde.« Atlan erhob keinen Einwand. Die beiden Männer reichten einander die Hände, eine Hand aus Fleisch und Blut und eine andere aus Eisen. »Auch ich wünsche dir Glück, Grizzard«, sagte Atlan. Wortlos wandte der Mann in Porquetors Rüstung sich ab und stampfte davon. »Halt!« rief da Pama plötzlich. »Er darf nicht alleine gehen! Ich will bei ihm blei ben!« Grizzard war stehengeblieben. »Willst du wirklich mit mir kommen?« fragte er. »Ja, ja!« rief Pama aufgeregt. Atlan nickte ihr lächelnd zu. »Geh mit ihm, Pama!« forderte er das Mädchen auf. »Er ist ein einsamer Mann. Deine Gesellschaft kann ihm nicht scha den.« Er blieb noch lange Zeit an Ort und Stelle stehen und sah den beiden ungleichen Ge stalten nach, wie sie langsam im Dämmer licht verschwanden.
* »Der letzte und entscheidende Auftrag der Stimme«, berichtete Odin, »bestand darin, daß sie mich schließlich auf den Weg zur alten Odinsburg an der Straße der Mächtigen zwischen Zbahn und Zbohr brachte. Denn nachdem ich meine Söhne auf die Probe ge stellt hatte, brauchte ich zweierlei: erstens Mut, der mich in die Lage versetzte, Heim dall, Balduur und Sigurd gegenüberzutreten und ihnen zu erklären, daß sie die Prüfung nicht bestanden hatten. Und zweitens eine äußere Erscheinung, die meine Söhne dazu veranlassen würde, meinen Worten das nöti ge Gewicht beizumessen. Beides fand ich nahe den Trümmern der Burg. Meiner Rüstung wohnt eine Kraft in ne, die sich auf mich überträgt, sobald ich den Harnisch anlege. Die Rüstung war viel
Odins Erbe fach beschädigt, aber sie besaß die alte Wir kung noch. Ich sah das sofort an dem unge brochenen Silberglanz. Ich legte den Har nisch an, gürtete mich mit dem Schwert – und wurde zu dem Odin, an den sich diese Welt erinnert.« Ein eigenartiger Ausdruck hatte sich auf Odins Gesicht ausgebreitet, eine Mischung aus Heiterkeit und bedauern, die Thalia sich nicht zu deuten wußte. Odin allerdings spannte sie nicht lange auf die Folter. Er fuhr fort: »Es ist wichtig, daß die Erinnerung an den Recken Odin weiterlebt – für meine Söhne ebenso wie für ganz Pthor. Es nützte nie mand, wenn er die Wahrheit erführe.« »Die Wahrheit?« wiederholte Thalia er staunt. Odin stand auf. Seine furchtgebietende Gestalt reckte sich zu ihrer vollen Länge. »Ich sprach von der Kraft, die diesem Harnisch innewohnt«, begann er. »Diese Kraft wird erzeugt von einer ganzen Armee von Mikroinstrumenten, die an der Innen wand der Rüstung angebracht sind. Techni sche Geräte, hergestellt zu einer Zeit, da die Technos wirklich noch etwas von Technik verstanden, verleihen Odin das Aussehen ei nes Riesen und die Kraft eines Giganten! Die Welt verdankt das Bild des Hünen Odin einem wissenschaftlichen Taschenspieler trick!« Thalia war verwirrt. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. »Du meinst … in Wirklichkeit … du bist gar nicht …?« stammelte sie. »Ich sagte zuvor, ich hätte die Maske Feiglings nicht von Grund aus entwerfen müssen«, erklärte Odin. »Das lag daran, daß die Gestalt des kleinen Mannes schon vor handen war, nur seine erbärmliche Feigheit mußte dazuerfunden werden.« »Du … du siehst wirklich so aus wie der kleine Mann?« stieß Thalia hervor. »Der kleine Mann – das ist Odin!« bestä tigte ihr Vater. »Die Natur hat mich nicht mit einem Übermaß an Körpergröße und physischen Kräften ausgestattet. Bevor Odin
33 sich zum König der Götter aufschwingen konnte, mußte er die Wissenschaft zu Hilfe rufen, damit sie ihm gab, was die Natur ihm verweigert hatte!« Thalia war ein paar Schritte zurückgetre ten und musterte den Vater mit unbeschreib lichem Gesichtsausdruck. »Jetzt bist du enttäuscht, nicht wahr?« fragte er besorgt. Da lachte Thalia hell auf, und ein fröhli cher Glanz trat in ihre Augen. »Ich – enttäuscht? Oh Vater, wie schlecht kennst du deine Tochter. Ich mochte den kleinen Mann vom ersten Augenblick an gut leiden. Vor dem Riesen Odin kann man nichts anderes als Ehrfurcht empfinden. Den kleinen Mann aber kann man – lieb haben!« Da erschien auf dem Gesicht des mächti gen Odin ein Strahlen, wie man es nie zuvor gesehen hatte. Sein Mund zuckte. Er rang mit den Worten. Er wußte nicht, was er sa gen sollte. Schließlich brachte er hervor: »Du bringst Tränen in die Augen eines alten Mannes. Du machst mir den Abschied zugleich leicht und schwer. Ich danke dir.« Dann wandte er sich seitwärts, damit man ihm die Rührung nicht ansehen konnte. Mit halb erstickter Stimme sagte er: »Es bleiben mir nur noch wenige Minu ten. Ich spüre, wie die Kraft der Manifestati on nachläßt. Ich bitte dich, unternimm einen letzten Versuch, Atlan zu finden! Es wäre für uns alle besser, wenn er die wichtige Botschaft von mir selbst erhielte.«
* Der Arkonide hatte inzwischen keine Zeit vergeudet, sondern sich mit weit ausholen den Schritten der FESTUNG genähert. Über dem Garten und dem Pyramidensechseck lag noch immer dieselbe Stille, die vor ein paar Stunden Razamon so mißtrauisch ge macht hatte. Razamon selbst saß übrigens am Fuß der Rampe, die durch das Nordtor führte, und starrte vor sich hin. Wenige Meter entfernt stand der Zugor, mit dem er und der Stum
34 me aus Wolterhaven gekommen waren. Der Stumme hatte sich zu einem Rundgang auf gemacht. Ihn interessierten die kleinen Pyra miden, die die Eckpunkte des Sechsecks markierten und von denen Razamon behaup tet, sie seien einst Beiboote der großen Pyra mide gewesen, die ursprünglich ein Raum schiff war. Als er Atlan über den Hof kommen sah, sprang der Pthorer auf. »Alle lichten Geister seien gelobt!« rief er überschwenglich. »Wir fingen allmählich an, Sorge um dich zu haben!« Ein mattes Lächeln huschte über Atlans Gesicht. »Allmählich erst?« spottete er. »Es gab, weiß Gott, genug Anlaß dazu.« »Du warst in Gefahr?« »Davon später. Im Augenblick droht uns allen eine weit größere Gefahr.« »Uns allen?« »Dieser ganzen Welt, Pthor!« Razamon grinste. »Oh – Pthor befindet sich in guten Hän den, wie ich gehört habe. Seitdem man uns einen neuen König gegeben hat, brauchen wir uns vor nichts mehr zu fürchten.« Atlan war viel zu sehr mit seinen Gedan ken beschäftigt, als daß er den leisen Spott bemerkt hätte, der in Razamons Stimme schwang. »Einen neuen König?« fragte er über rascht. »Wer ist das?« »Das Geheimnis brennt mir auf der Zun ge, und ich würde es dir liebend gerne verra ten«, antwortete der Pthorer. »Solange aber noch dazu Gelegenheit ist, möchte ich lie ber, daß du es aus dem Mund eines Berufe neren erfährst.« »Mann, sprich nicht in Rätseln!« rief At lan ungeduldig. »Was geht hier vor?« In diesem Augenblick erschien Thalia am oberen Ende der Rampe. Razamon wies in ihre Richtung. »Von dort wird dir Aufklärung zuteil!« verkündete er feierlich. Der Arkonide eilte die Rampe hinauf. Er fand es eigenartig, daß Thalia nicht stehen-
Kurt Mahr blieb, um auf ihn zu warten, sondern sich umwandte und eilig davonschritt. Über die Schulter hinweg rief sie ihm zu: »Bitte, komm schnell! Es geht um Augen blicke!« Am Fuß der Rampe nahm Razamon seine Warteposition wieder ein. Nach ein paar Mi nuten kehrte der Stumme zurück. »Das war Atlan, nicht wahr?« fragte er. Und als Razamon nickte, fuhr er fort: »Ich sah ihn von dort drüben her. Er wirkte be sorgt.« Razamon ging auf die letzte Bemerkung nicht ein. »Was hast du jetzt vor?« fragte er. »Du sprichst Pthora. Wirst du dich zu erkennen geben oder wieder in die Rolle des Stummen verfallen?« »Den Stummen kann ich nicht mehr spie len«, bekam der Pthorer zur Antwort. »Es gibt zu viele Leute, die mich haben sprechen hören. Aber zu erkennen geben will ich mich auch nicht. Ich weiß …« »Warum nicht?« fiel ihm Razamon ins Wort. Der Stumme lächelte ein wenig verlegen. »Ich wußte, daß du das fragen würdest. Ich kenne die Antwort nicht. Ich bin ver wirrt. Ich befinde mich auf einer fremden Welt, in einem unbekannten Universum und in einem Körper, der nicht mir gehört. Ich muß erst ein paar Dinge auseinandersortie ren, um zu wissen, woran ich bin. Wenn es soweit ist, werde ich mich zu erkennen ge ben.« Razamon nickte. »Einverstanden. Wie aber willst du ge nannt werden?« »Mir gefällt mein bisheriger Name.« Der Pthorer zog die Brauen erstaunt in die Höhe. »Der Stumme? Ein Stummer, der spricht?« »Warum nicht? Während wir in Wolter haven waren, haben die Robotbürger mich geheilt. Was wäre daran so unglaublich?« Razamon dachte kurz darüber nach. Dann sagte er:
Odins Erbe
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»So soll es sein!«
* Unter dem Eingang des quadratischen Raumes blieb Atlan unwillkürlich stehen. Staunend musterte er die riesige Gestalt in dem großen Thronsessel. Er betrachtete auf merksam die silberne Rüstung, und wie zu vor sein Freund Razamon erinnerte sich auch er an jene Nacht an der Straße der Mächtigen, auf dem Wege von Zbahn nach Zbohr, kurz nach Mäjestos Tod, als er die Teile dieses Harnischs im Wüstensand hatte liegen sehen. Thalia hatte ihm den Vortritt gelassen. Er schritt auf den Hünen zu und lächelte dabei leise. »Ich grüße dich, Odin!« sagte er. »Es freut mich, zu sehen, daß es dem kleinen Mann zu guter Letzt doch noch gelungen ist, in das Bild des Königs der Götter zu schlüp fen.« Er hatte eine überraschte Reaktion erwar tet. Statt dessen aber begann Odin, dröhnend zu lachen. »Siehst du, meine Tochter«, rief er, »daß ich den richtigen Mann gewählt habe? Er durchschaut meine Maskierung mit dem er sten Blick.« »Sie ist beeindruckend genug«, erkannte der Arkonide an. »Ich hätte wahrscheinlich eine Zeitlang daran herumgerätselt, wenn nicht das da gewesen wäre.« Er deutete auf die lichtblaue Aura, die Odin umgab. »Was ist an der Aura falsch?« »Nichts. Nur weiß ich, wie sie erzeugt wird. In deinen Harnisch sind ein paar Dut zend Diffus-Laser eingearbeitet. Mikrobau weise selbstverständlich. Eine Technik, die man dort, wo ich herkomme, perfekt be herrscht und zum Erzeugen mannigfacher Effekte verwendet. Ich nehme an, daß deine Rüstung voll solcher kleiner Tricks steckt!« Odin wurde plötzlich ernst. »Du hast recht, Atlan«, antwortete er. »Odin, wie ihn die Sage kennt, ist das Pro
dukt technischer Zauberkunststücke. Soweit kann man darüber lachen. Weniger lächer lich aber ist, was ich mit dir zu bereden ha be.« »Sprich!« forderte der Arkonide den Hü nen auf. »Ich werde Pthor bald verlassen«, erklärte Odin. »Meine Zeit hier ist knapp bemessen. Thalia mag dir die Hintergründe auseinan dersetzen. Auf diese Welt kommen schwie rige Zeiten zu. Pthor braucht eine starke Hand, die für Ordnung sorgt, soweit sich Ordnung überhaupt aufrechterhalten läßt.« Atlan fiel ihm ins Wort. »Du weißt mehr, als deine Worte andeu ten. Was kommt auf Pthor zu? Was weißt du über das Geschick dieses Materiebrockens?« Aber Odin winkte ungeduldig ab. »Unterbrich mich nicht, mein Sohn. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich muß jede Se kunde nutzen. Pthor bracht eine starke Hand, das sagte ich bereits. Es gibt nur einen, der die Herrschaft über diese Welt übernehmen kann – und das bist du!« »Ich …?« entfuhr es Atlan unwillkürlich. »Ja, du! Du bist der neue König von Pthor. Meine Söhne werden dir untertan sein. Und in Thalia hast du eine Helferin und Ratgeberin, wie du sie dir besser nicht wünschen kannst. Sie wird außerdem deinen Worten Glaubwürdigkeit verleihen. Als erstes mußt du im Land verkünden lassen, daß du der neue Herrscher bist und daß man dir Botmäßigkeit schuldet. Ich habe für dich getan, was in meiner Macht lag: Der Dello Sporlos zieht landauf, landab und er zählt den Menschen von dem neuen König Atlan, den der mächtige Odin eingesetzt hat. Laß die Menschen nicht im Zweifel darüber, daß du deines Amtes walten wirst. Sage ih nen, was sie von dir zu erwarten haben! Gib ihnen das Gefühl, daß Pthor ein Ganzes ist! Auf diesem Land lastet ein Fluch. Diesem Fluch kann nur begegnet werden …« Weiter kam Odin nicht. Er hatte zuletzt mit zunehmender Hast gesprochen, weil er spürte, wie die Kraft der Manifestation zu Ende ging. Jetzt war sie vollends erschöpft.
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Kurt Mahr
Thalia und Atlan bot sich ein eigenartiger Anblick. Die lichtblaue Aura, die den Göt terkönig umgab, sank in sich zusammen. Der silberne Glanz des Harnischs wurde matt. Odins Umrisse verloren an Deutlich keit. Er wirkte plötzlich wie ein Bild, wie ei ne Projektion, der langsam das Licht abge dreht wurde. Sein Gesicht war steinern. Er starrte vor sich hin und schien seine Umge bung nicht mehr wahrzunehmen. Sekunden später erlosch das Bild völlig. Die Manifestation Odin war verschwunden. Thalia und Atlan befanden sich allein in dem quadratischen Raum. Atlan blickte nachdenklich vor sich hin. Eine Zeitlang hing er seinen Gedanken nach. Dann sagte er: »Es ist das beste, wenn wir uns an Odins Rat halten und uns gleichzeitig um die Din ge kümmern, die uns Sorge bereiten. Ich brauche deine Hilfe, Thalia, und ich brauche sie sofort. Wir dürfen keine Minute verlie ren!«
7. Zum zweiten Mal seit Ragnarök brachen ganze Heere von Dellos als Boten von der FESTUNG auf, um überall in Pthor die Nachricht zu verbreiten, daß der mächtige Odin selbst dem Land einen neuen König gegeben habe: Atlan von Arkon. Dies war aber die Botschaft des neuen Königs: Er wolle dem Land Ruhe und Frie den bringen. Er werde den Ehrlichen und den Friedliebenden belohnen, den Unruhe stifter und den Unehrlichen aber bestrafen. Er fordere Gehorsam von allen, aber seine Herrschaft werde nicht in Tyrannei ausarten. Er wolle dafür sorgen, daß alle Menschen sich als Bürger seines Reiches betrachteten und daß die Eigenbrötelei der Städte und Völker aufhörte. Tausende und Abertausende von Dellos brachen auf, um das Wort des neuen Königs unter die Menschen zu bringen, und unter je einem Hundert Androiden befand sich ein Läufer dessen Aufgabe es war, in regelmäßi-
gen Abständen zur FESTUNG zurückzukeh ren und Atlan über den Fortgang der Aufklä rungsaktion zu berichten. Die Dellos nahmen sich des Auftrags mit einem Eifer an, der Atlan erkennen ließ, daß zumindest die Androiden mit Odins Wahl einverstanden waren. Er rechnete nicht da mit, daß er überall im Land so rasch akzep tiert werden würde. Er erwartete Schwierig keiten von den negativen Magiern in der Großen Barriere von Oth, von den Stämmen des Blutdschungels und womöglich sogar von den Robotbürgern in Wolterhaven. Er war jedoch überzeugt, daß es ihm letztlich gelingen werde, sich durchzusetzen. Bei der Organisation der Botenscharen leisteten Thalia, Razamon und der Stumme wertvolle Hilfe. In der Tat war es vermutlich nicht zum geringen Teil Thalias Mitwirken, das die Dellos davon überzeugte, daß Atlan von Odin selbst zum König gekürt worden war. Der Umstand, daß der Arkonide keinen Augenblick zögerte, Odins Rat zu befolgen, und sich insgesamt zwei Tage lang mit dem Instruieren und Aussenden der Boten befaß te, wo es doch Dinge gab, um die er sich nach seiner Ansicht nach weitaus dringender hätte bekümmern sollen, bewies, welches Gewicht er Odins Worten beimaß. Atlan hatte sich inzwischen in einer Grup pe von Räumen einquartiert, die in einem der unteren Geschosse der FESTUNG, aber nicht weit von jener Halle entfernt lag, in der einst die Herren der FESTUNG, die En kel des Großen Oheims, gehaust hatten. Dort suchte ihn Razamon auf, als die letzte Bo tenschar verabschiedet war. »Jetzt müssen wir warten, wie Pthor deine Nachricht aufnimmt«, sagte er. Atlan war mit einer Reihe von Berech nungen beschäftigt. Er sah auf und musterte den Pthorer mit eigentümlichem Blick. »Es sieht dir kaum ähnlich, daß du hier hergekommen bist, nur um mir das zu sa gen«, bemerkte er. Razamon lächelte. »Die Schärfe deines Blicks hat nicht
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nachgelassen, Majestät!« spottete er. »Ich hatte tatsächlich eine Idee.« »Laß hören!« »Dellos als Boten auszusenden, ist eine gute Idee – solange die Menschen, die den Boten zuhören, verständig und vernünftig sind. Wenn aber deine Dellos in den Blutd schungel eindringen, um dort von dem neuen König zu berichten, dann wird man sie umbringen. Und aus den Behausungen ge wisser Magier in der Großen Barriere von Oth wird man sie über hohe Klippen zu To de stürzen. Es gibt einfach in diesem Land Bezirke, die von einer anderen Autorität als der ihrigen nichts wissen wollen. Den Leu ten, die dort wohnen, kommt man mit An droiden nicht bei.« Atlan nickte. »Mit anderen Worten …?« »Du brauchst einen Boten, auf den auch die Widerspenstigen und Hartnäckigen hö ren!« »Dich?« »Mich – und den Stummen. Wir sind be reit, in deinem Sinne tätig zu werden.« Atlan überlegte. Für das, was er als Näch stes vorhatte, brauchte er so gut wie keine Hilfe. Unter diesen Umständen fiel ihm die Entscheidung leicht. »Ich nehme euer Angebot an«, erklärte er. »Ich bin euch dankbar. Gleichzeitig bitte ich euch, vorsichtig zu Werk zu gehen und euch nicht unüberlegt in gefährliche Abenteuer einzulassen. Du und ich – wir sind gemein sam von Terra gekommen, und gemeinsam wollen wir eines Tages wieder nach Terra zurückkehren!« Die beiden Männer reichten einander die Hände. »Wir werden Kontakt halten!« versprach Razamon.
* Atlan und Thalia schritten auf die nörd lichste der sechs kleinen Pyramiden zu. At lan hatte Odins Tochter inzwischen die Lage erklärt und seinen Plan auseinandergesetzt:
Die Seele Pthors, der eigentliche Antriebs und Kontrollmechanismus, stand unter dem Einfluß eines Geräts, das von den Kodos der Dimensionsschleppe im Sinne der Herrscher der Schwarzen Galaxis programmiert war. La'Mghor war machtlos. Pthor trieb unbeirr bar auf die Schwarze Galaxis zu. In einer Lage wie dieser blieb als einzige Hoffnung der Steuermann, jenes geheimnis volle Wesen, das sich selbst ebenfalls als ein Geschöpf der Schwarzen Galaxis bezeichne te und durch Millionen sensitiver Fühler in nigen Kontakt mit den eigentlichen Steuer mechanismen hatte, die zum großen Teil in den sechs kleinen Pyramiden untergebracht waren. Der Steuermann, oder vielmehr eines sei ner wichtigsten Bestandteile, ein Organ klumpen von rund einem Meter Durchmes ser, war damals, unmittelbar nach Ragnarök, schwer beschädigt worden, als Thalia Atlan und Razamon von dem fremdartigen Gebil de bedroht glaubte und mit der Vars-Kugel auf den Klumpen eindrosch. Damals war der Steuermann vor Schmerz so außer Rand und Band geraten, daß er Pthor nicht mehr auf dem vorbestimmten Kurs hatte halten kön nen. Seinerzeit hatte man den Zwischenfall als eine Gnade des Schicksals empfinden müssen. Denn Pthor war damals, wie jetzt, auf dem Weg zur Schwarzen Galaxis gewe sen. Diesmal aber war der Steuermann nicht an der Navigation des kosmischen Materieb rockens beteiligt. Pthor wurde von der Seele aus gesteuert. Atlans Plan zielte darauf ab, den Steuermann durch sorgsame Pflege in einen Zustand zu versetzen, in dem er wie der beginnen konnte, Einfluß auf die Steue rung Pthor zu nehmen. Atlan hoffte, daß er den Steuermann beizeiten würde dazu über reden können, von dem Kurs auf die Schwarze Galaxis abzuweichen. Es war ein Plan, den die Verzweiflung ge boren hatte. Atlan rechnete sich nur eine mi nimale Aussicht auf Erfolg aus. Das hatte er gemeint, als er zu La'Mghor von dem einzi gen Ausweg sprach, von dem er nicht wisse,
38 ob er überhaupt begehbar sei. Aber es blieb ihm keine andere Möglich keit. Sein verzweifelter Plan hatte entweder Erfolg – oder Pthor landete in der Schwar zen Galaxis. Atlan öffnete den Zugang an der Seite der kleinen Pyramide. Dahinter lag der kleine, kahle Raum, in dem Thalia den Vater unter gebracht hatte, um ihn vor dem Zorn seiner Söhne zu verstecken. Ein Gang führte zu ei nem Schott, das Atlan seinerzeit mit einem Riegel versehen hatte, den nur er selbst zu bedienen wußte. Er öffnete und gelangte mit Thalia in einen großen Raum, der mit altmo disch wirkendem technischem Gerät vollge pfropft war. In der Mitte führte eine Leiter in die Höhe. Atlan kletterte zwei Decks hin auf. Er befand sich jetzt im ehemaligen Leit stand des Beiboots, das die kleine Pyramide darstellte. Hier war damals Thalia einge drungen, um dem Steuermann den Schlag zu versetzen, der ihn aus dem Konzept brachte. Der Organklumpen war noch vorhanden, aber er war kleiner geworden. Er hatte nur noch einen Durchmesser von einem halben Meter. Von dem Klumpen gingen Tausende winziger, bleicher Fäden aus, die nach allen Richtungen in die zerfallenen Überreste alter Gerätekästen hineinreichten. Der Organ klumpen hing, von den Fäden getragen, in der Luft. Auf dem Boden lag der Kasten, den Atlan und Razamon seinerzeit als Kommunikati onsgerät benützt hatten. Atlan hob ihn auf. Er sprach: »Steuermann – wir sind hier, um dir zu helfen. Kannst du uns hören?« Er mußte die Worte wiederholen, bevor er Antwort erhielt. Der Empfänger erwachte zum Leben, und eine schwache, mechanisch klingende Stimme sagen: »Dank euch! Ich brauche Hilfe. Ohne Hil fe muß ich sterben.« »Du mußt uns sagen, welche Art Hilfe du brauchst«, erklärte Atlan. »Wir sind bereit, alles für dich zu tun, was in unseren Kräften steht.« »Ich brauche das Gleichmaß der Ströme,
Kurt Mahr den stetig pulsierenden Fluß elektrischer Energie«, lautet die Antwort. »Wenn ihr mir dieses gebt, dann bin ich vor dem Tod si cher.« »Woher kommen die Ströme?« wollte At lan wissen. »Können sie hier erzeugt wer den?« »Ein Deck tiefer«, erklärte die Stimme des Steuermanns. »Dort gibt es Aggregate, die noch funktionieren. Ich werde euch er klären, wie man sie bedient.« »Warte noch ein wenig, Steuermann«, bat Atlan. »Du kannst uns beide wahrnehmen?« »Ich sehe euch beide – mit Augen, die nicht so geformt sind wie die eurigen.« »Gut. Du siehst meine Begleiterin. Sie wird dich pflegen. Ihr mußt du erklären, wie die Aggregate zu bedienen sind. Sie wird dich mit dem Gleichmaß der Ströme und dem stetig pulsierenden Fluß elektrischer Energie versorgen. Bist du damit einverstan den?« »Ich danke euch«, antwortete der Steuer mann schlicht.
* Die Vorstellung, allein im Innern der klei nen Pyramide zurückzubleiben, schien Tha lia nicht zu behagen. Man sah es ihr an. At lan warf ihr einen aufmunternden Blick zu und machte eine bedeutsame Geste in Rich tung des Kommunikationskastens, den er wieder zu Boden gelegt hatte. Thalia begriff. Sie machte die Geste der Zustimmung. Im nächsten Augenblick turnte der Arkonide die Leiter hinab. Er erinnerte sich, wie es unmittelbar nach dem Weltuntergang gewesen war. Das Fä dengespinst des Steuermanns war überall zu finden, in jeder der sechs kleinen Pyrami den. Es gab Anzeichen dafür, daß das Ge spinst sich auch in den Kabelsträngen einge nistet hatte, die die ehemaligen Beiboote un terirdisch miteinander verbanden. Aber einen Organklumpen von einem Meter Durchmesser hatte man nur in der nördli chen Pyramide gefunden. Wohlgemerkt: Es
Odins Erbe gab auch in den anderen Pyramiden Organ konzentrationen. Dabei aber handelte es sich um Klumpen, die nicht mehr als eine Hand spanne im Durchmesser besaßen. Als Atlan den auf einen halben Meter Durchmesser geschrumpften Klumpen des Steuermanns in der nördlichen Pyramide ge sehen hatte, war ihm ein Verdacht gekom men. Diesen zu ergründen, war er jetzt un terwegs. Sein Ziel war die Pyramide, die am nordwestlichen Ende des Sechsecks stand. In diese waren er und Razamon damals als erste eingedrungen. In ihrem Innern hatten sie zum ersten Mal den seltsamen Geruch wahrgenommen, der von der Organmaterie ausging, aus der der Steuermann bestand. Atlan drückte den halb verfallenen Ein gang beiseite. Die innere Aufteilung war bei allen sechs Pyramiden dieselbe. Der Arkoni de hangelte sich an der Leiter empor, stets bestrebt, die Sprossen nicht mehr als unbe dingt nötig zu belasten. Schließlich erreichte er das oberste Deck, auf dem der Komman dostand des Beiboots untergebracht war. Er sah auf den ersten Blick, daß sein Ver dacht berechtigt gewesen war. In diesem Raum hatte es früher eine Ansammlung technischer Geräte gegeben, die zwar bau fällig waren, im Vergleich zur Ausstattung der nördlichen Pyramide aber wohlerhalten wirkten. Diese Geräte waren unter einem wahren Dschungel blaßweißer Gespinstfä den verschwunden, und in der Mitte des Raumes schwebte, von den Fäden getragen, eine Organkugel, die ebenso wie die in der Nordpyramide einen Durchmesser von ei nem halben Meter hatte. Der Organklumpen und das Gespinst, das ihn von allen Seiten umgab, wirkten leblos – obwohl es noch nicht allzu lange her sein konnte, seit der Klumpen angefangen hatte, sich auszudehnen und seine Gespinsttentakel überallhin auszubreiten. Atlan folgte dem Verlauf einiger Fäden und fand einen alten Kabelstrang, dessen Isolierung sie durch drungen hatten, um an den impulsführenden Kabelstrang zu gelangen. Er packte zwei der Gespinstfäden und riß sie ab. Sie wirkten
39 spröde und leisteten kaum Widerstand. Frü her hatte der Steuermann, wenn er Schmerz empfand, telepathische Signale ausgestrahlt, die in Atlans Bewußtsein als Wehlaute ma terialisierten. Diesmal jedoch blieb es still im Menthaläther. Der Organklumpen emp fand keinen Schmerz mehr. Lag es wirklich daran? Es kam Atlan merkwürdig vor, daß der geschrumpfte Klumpen in der Nordpyramide lebendig und das Gebilde vor ihm, das an Größe um ein Vielfaches zugenommen hatte, tot sein soll te. Wenn man von der Annahme ausging, daß es unterirdische Verbindungen gab, durch die Bestandteile des Steuermanns den Kontakt miteinander aufrechterhielten, sollte man dann nicht meinen, daß der lebendige Knoten in der Nordpyramide in der Lage sein müsse, seinen Bruderelementen einiges von seiner Lebenskraft mitzuteilen? Plötzlich hörte der Arkonide ein halblau tes Summen. Während er sich noch um blickte, um die Ursache des Geräuschs zu erkunden, bemerkte er, daß Bewegung in den Organklumpen und das Gespinst geraten war. Der kugelförmige Klumpen hatte zu vi brieren begonnen. Die tausend Fäden des Gespinsts entwickelten mittlerweile ihr eige nes Leben. Sie gerieten in kriechende Bewe gung und gaben dabei ein charakteristisches Knistern von sich. Atlan sah die Enden der Gespinstfäden sich auf bisher unberührten Kabelstücken festsetzen. Sie sonderten an scheinend eine ätzende Chemikalie ab, unter deren Wirkung sich Isolierschichten zu dün nen Rauchfahnen auflösten. Die unerwartete Aktivität des Organklum pens war so plötzlich gekommen, daß Atlan sich fragte, ob sie durch das Abreißen der beiden Gespinstfäden stimuliert worden sei. Diese Vermutung hielt sich jedoch nicht lan ge. Unvermittelt ging Atlan auf, was wirk lich geschehen war. In der Nordpyramide hatte Thalia mit der Behandlung des Steuer manns begonnen! Das »Gleichmaß der Strö me und der stetig pulsierende Fluß elektri scher Energie« übten anscheinend einen un mittelbaren Einfluß auf den Organknoten in
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der Nordpyramide aus, und dieser zögerte nicht, seinen Brüdern einen Teil der heilen den Wirkung zukommen zu lassen. Atlan hatte genug gesehen. Er eilte davon und suchte der Reihe nach die vier übrigen Pyramiden auf. Überall bot sich ihm dassel be Bild: Organklumpen mit einem Durch messer von rund einem halben Meter, die es früher nicht gegeben hatte, und tausendfädi ge Gespinste, die vor kurzem erst wieder zum Leben erwacht waren und sich bemüh ten, ihre Substanz in Kontakt mit jedem si gnaltragenden Metallstück zu bringen. So fieberhaft war ihre Tätigkeit, daß sich Atlan der Verdacht aufdrängte, der Steuermann ar beite an einem wichtigen Vorhaben, das kei nen Aufschub duldete. Er kehrte zur Nordpyramide zurück. Tha lia hatte sich in einem Schaltraum auf dem mittleren Deck einquartiert. Neben ihr auf einem Pult stand das kleine Kommunikati onsgerät, durch das sie sich mit dem Steuer mann verständigte. Die Arbeit schien ihr Spaß zu machen. Mit großem Eifer drückte sie Tasten und Schalter und drehte an Stell knöpfen. Atlan wartete geduldig, bis Thalia eine Serie von Schaltungen zum Abschluß gebracht hatte. Dann sagte er: »Ich muß mit dir sprechen.« Thalia stand auf. Als sie auf den Ausgang zuging, kam aus dem Kommunikationska sten die aufgeregte Stimme des Steuer manns: »Laß mich nicht alleine!« »Ich bleibe nur kurze Zeit«, rief Thalia. »Ich verlasse dich nicht!«
* Atlan lächelte. »Wird anhänglich, der Bursche, nicht wahr?« Dann sprach er kein Wort mehr, bis sie die Pyramide verlassen hatten und etwa fünfzig Meter weit in den Garten hinaus ge wandert waren. Erst dann berichtete er von den Beobachtungen, die er in den anderen fünf Pyramiden gemacht hatte.
»Ich fürchte, der Steuermann meint es nicht ganz ehrlich mit uns«, schloß er. »Er hat irgend etwas vor. Er hat offenbar sechs autarke Zentren geschaffen, eines in jeder der kleinen Pyramiden. Die Zentren stehen zur Zeit noch miteinander in Verbindung, aber ich zweifle keinen Augenblick daran, daß die Verbindung jederzeit gelöst werden kann. Infolge der Autarkie der einzelnen Or ganklumpen hätten wir es dann mit sechs Steuermännern zu tun anstatt mit einem.« Thalia war ratlos. »Was kann er vorhaben?« fragte sie. »Wir müssen es herausfinden. Bist du be reit, bei ihm zu bleiben?« »Ich habe es vor. Die Behandlung ist er folgreich. Der Steuermann gewinnt rasch an Kraft. Aber das ist genau das, was wir errei chen wollten – oder nicht?« »Das war unsere Absicht, weil wir glaub ten, daß wir nur mit der Hilfe des Steuer manns Pthor von seinem gegenwärtigen Kurs würden abbringen können. Wenn er je doch seine eigenen Pläne verfolgt, dann müssen wir vorsichtig sein. Der Steuermann ist in diesem Augenblick unsere einzige Hoffnung. Wir dürfen nicht zulassen, daß er etwas unternimmt, wodurch diese Hoffnung zerstört wird. Glaubst du, du könntest ihn dazu bringen, daß er dir seine Pläne offen bart?« Thalia lächelte. »Er ist ein freundlicher und ziemlich eitler Geselle. Es hat fast den Anschein, als sei er mir dankbar für die Behandlung. Es er scheint mir nicht aussichtslos.« Sie vereinbarten, daß Thalia sich auf einen längeren Aufenthalt in der Nordpyra mide einrichtete. Atlan würde durch ein paar Dellos hinüberschaffen lassen, was sie für ihre Bequemlichkeit brauchte. Auch für Pro viant würde gesorgt werden. Während Thalia zu ihrem »Patienten« zu rückkehrte, schritt Atlan, in Gedanken ver sunken, auf die große Pyramide zu. Es war ihm, als müsse sich aus dem Umstand, daß der Steuermann sechs autarke Organklum pen gebildet hatte, auf seine Pläne schließen
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lassen. Aber die Logik, die zu diesem Schluß führte, spielte mit Atlan Versteck: Sie entschlüpfte ihm jedesmal, wenn er sie gerade gefaßt zu haben glaubte.
* Thalias Tätigkeit war physisch nicht son derlich anstrengend. Aber der Steuermann erwies sich mit der Zeit als ein überaus ge schwätziger Geselle. Er gab ihr ständig An weisungen, obwohl sie die Handgriffe, die zur Erzeugung des Gleichmaßes der Ströme und des stetig pulsierenden Flusses elektri scher Energie erforderlich waren, längst er lernt hatte. Zwischendurch erklärte er auch Dinge, an denen Thalia nicht im geringsten interessiert war. Das endlose Geschwätz ermüdete Thalia. Inzwischen waren mehrere Gruppen von Dellos erschienen und hatten ein primitives Lager aufgebaut und mit den antiquierten, aber unerschöpflichen Mitteln der FE STUNG eine Hygienezelle errichtet, die nor malen Ansprüchen vollauf genügte. Thalia, die inzwischen gelernt hatte, wie man die Schaltungen, die für die Behand lung des Steuermanns notwendig waren, au tomatisierte, erklärte schließlich: »Ich bin jetzt müde und werde ein paar Stunden schlafen.« Der Steuermann, gerade in einem langat migen Diskurs über die heilsame Wirkung elektrischer Ströme begriffen, war durch Thalias Bemerkung unterbrochen worden. Hörbar konsterniert erklärte er: »Du kannst mich doch jetzt nicht verlas sen!« »Ich verlasse dich nicht«, antwortete Tha lia müde. »Ich bleibe hier. Ich brauche Ru he, verstehst du?« »Nein, ich verstehe nicht«, antwortete der Steuermann. »Der Begriff Ruhe ist mir un bekannt. Wirst du aus dem Zustand, den du Ruhe nennst, beizeiten wieder zurückkeh ren?« »In ein paar Stunden«, wiederholte Tha lia.
»Dann ist alles in Ordnung«, beruhigte sich der Steuermann. »Geh zur Ruhe!« Thalia legte sich nieder und war wenige Sekunden später eingeschlafen. Sie hatte einen Traum. Sie sah den Schal traum vor sich. Er stak voller altmodischer Geräte, denen der Rost und die Verwitterung erheblich zugesetzt hatte. Daß der Steuer mann auch diesen Raum längst unter seiner Kontrolle hatte, merkte man auf den ersten Blick nicht. Erst, wenn man die Verkleidung der Schaltaggregate öffnete, sah man das zarte Gespinst blaßweißer Fäden, das sich auf jedem Kabelstrang angesiedelt hatte. Das war das erste Bild in Thalias Traum. Im zweiten Bild begann das Gespinst, sich plötzlich auszudehnen. Es sprengte die Ver kleidung der Kästen und überzog innerhalb weniger Augenblicke den gesamten Schal traum. Die Geräte verschwanden im Dschungel der Gespinstfäden. Nur in der Mitte des Raumes, wo Thalias Liege stand, blieben ein paar Quadratmeter ausgespart. In ihrem Traum sah Thalia sich auf der Liege ruhen, ringsum umgeben von einem un durchdringlichen Netz aus dünnen, blaßwei ßen Fäden. Das dritte Bild ihres Traums zeigte diesel be Szene, nur hatte inzwischen die Stimme des Steuermanns zu sprechen begonnen. Sie wiederholte unaufhörlich dieselbe Botschaft: »Du darfst mich nicht verlassen. Du und ich zusammen, wir werden in die Ewigkeit eingehen!« Die Worte wurden infolge der Wiederho lung schließlich so monoton, daß Thalia ih ren Traum vergaß und wieder auf eine tiefe re, traumlose Schlafebene hinabsank. Als sie erwachte, fühlte sie sich ausgeruht und gekräftigt. Sie räkelte sich eine Zeitlang auf der Liege und genoß mit geschlossenen Augen die Minuten, in denen der Schlaf sich zögernd davonschleicht, um der Wachheit Platz zu machen. Dann fuhr sie mit einem Ruck in die Höhe und öffnete die Augen. Was sie sah, war die Szene, die ihr der Traum vorgespielt hatte.
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Sie war ringsum von dem blassen Ge spinst des Steuermanns umgeben.
8. Die Ungewißheit ließ den Arkoniden nicht zur Ruhe kommen. Ihn plagte die Ah nung, daß der Steuermann Unheil plane und daß er nur seinen Verstand genug anstrengen müsse, um den Plan des Wesens aus der Schwarzen Galaxis zu durchschauen. Schließlich suchte er die Halle auf, in der früher die Lebenserhaltungsbehälter der Herren der FESTUNG gestanden hatten. Die Halle war das kontrolltechnische Zentrum des großen Raumschiffs, das die Pyramide einst gewesen war. Niemand hatte sich bis lang die Mühe gemacht, die Einzelheiten der technischen Ausstattung zu analysieren und zu ermitteln, welche Funktion die verschie denen Geräte versahen. Das heißt: Atlan hat te damit begonnen, aber schließlich waren Odins Söhne mißtrauisch geworden und hat ten ihm den Zugang zur Halle untersagt. Die sechs kleinen Pyramiden waren frü her Beiboote des Raumschiffs gewesen. An der Peripherie der großen Pyramide gab es mehrere Räume, die von der Größe her als Beiboot-Hangars hätten angesprochen wer den können. Ob sie diese Funktion jedoch wirklich versehen hatten, war unklar. Außer Hangars mußte es aber auch Kontrollmecha nismen geben, die den Start und die Lan dung bzw. Anbordnahme der Beiboote steu erten, und diese Mechanismen konnten, wenn nicht die Logik der Erbauer dieses Raumschiffs weltenweit von menschlicher Logik verschieden war, nur in der zentralen Halle zu finden sein. Atlan machte sich auf die Suche. Das war kein sehr befriedigendes Unterfangen, da er nicht wußte, wonach er Ausschau zu halten hatte. Manchmal drohte ihn die Müdigkeit zu übermannen. Aber er ließ nicht locker. Er bereute es jetzt, daß er Razamon und den Stummen hatte ziehen lassen. Sie hätten ihm bei der Suche helfen können. Er befreite ein Aggregat nach dem ande-
ren von seiner Verkleidung und versuchte, anhand der frei zutage liegenden Schaltun gen zu erkennen, welcher Funktion die ein zelnen Geräte dienten. Er fand dabei eine Vermutung bestätigt, die sich ihm früher schon aufgedrängt hatte: daß nämlich die Schalt- und Kontrolltechnik der fremden Zi vilisation, die dieses Fahrzeug erbaut hatte, sich auf einem Niveau befand, das etliche Jahrhunderte unter dem der terranischen Technologie lag. Der Transport von elektro nischen Impulsen wurde größtenteils noch mit klobigen Kabelsträngen bewerkstelligt. Gedruckte Schaltungen fand man nur selten, und die wenigen Transistoren, die Atlan zu sehen bekam, konnten den Minimikrochips, die die irdische Raumfahrt benützte, das Wasser nicht reichen. Der Arkonide gelangte schließlich an einen Kasten, der außer aufwendigem Ka belwerk einen kleinen, aber anscheinend lei stungsfähigen Sender-Empfänger enthielt. Das Gerät war wiederum mit einem anderen Aggregat gekuppelt, das Atlan vorläufig als Kleinrechner identifizierte. Der SenderEmpfänger verfügte über sein eigenes Kraft werk, einen Mikromeiler auf Fusionsbasis, der in den Sockel des Kastens eingearbeitet war. Verschiedene Anzeichen deuteten dar auf hin, daß der Meiler funktionsfähig war. Er brauchte nur eingeschaltet zu werden, um den Sender mit Energie zu versorgen. Ein Brennstofftank, kugelförmig und aus einer fremden Metallegierung bestehend, schien Wasserstoff unter hohem Druck zu enthal ten. Wenigstens deutete der Arkonide das seltsam flache Geräusch, das beim Beklop fen des Behälters entstand, in diesem Sinn. Atlan hatte das Gefühl, er sei auf der rich tigen Spur. Er untersuchte den großen Ka sten bis in den hintersten Winkel und wand te schließlich seine Aufmerksamkeit dem Rechner zu. Er verstand nichts von der Computertechnik der fremden Zivilisation und brauchte mehrere Stunden, um zu ermit teln, daß ein Satz von insgesamt achtzehn Drehknöpfen offenbar dazu benützt werden konnte, den Rechner zu programmieren. Die
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Knöpfe hatten je acht wählbare Positionen, so daß insgesamt 818 verschiedene Pro grammbefehle eingestellt werden konnten – eine Zahl, die nach Atlans überschlägiger Berechnung im Tausendbillionenbereich lie gen mußte. Er unternahm nicht den Versuch, die Pro grammierung des Rechners zu ändern. Statt dessen begann er, sich mit einem metallenen Kabelstollen zu befassen, der schräg von un ten her in den Kasten mündete und nicht be sonders viel Daseinsberechtigung zu besit zen schien, weil doch der Kasten über sein eigenes Kraftwerk verfügte. Er zerrte an den einzelnen Kabelsträngen, bis er einen zu fas sen bekam, der sich relativ leicht bewegen ließ. Da allerdings wurde ihm schnell Gewiß heit, daß er mit seinem Verdacht auf der richtigen Spur war. Er fand zwar nie heraus, für welchen Zweck der Kabelstollen ur sprünglich gedacht gewesen war. Aber als er den Strang etwa drei Meter weit hervorgezo gen hatte, da entdeckte er an seinem anderen Ende ein zartes Gespinst hauchdünner, blaß weißer Fäden. Er versuchte, das Gewebe weiter ans Licht zu zerren. Aber die Fäden besaßen weitaus mehr Widerstandskraft, als man ihrem unscheinbaren Äußeren zugetraut hatte. Atlan gab schließlich auf. Er hatte den Plan des Steuermanns noch immer nicht durchschaut. Aber er wußte jetzt, daß zur Verwirklichung des Plans die Kontrolle über dieses Aggregat erforderlich war, von dem aus die sechs Beiboote kon trolliert und gesteuert wurden.
* »Was soll das?« rief Thalia entsetzt. Irgendwoher aus dem Fädengestrüpp kam die Stimme des Steuermanns: »Ich sprach zu dir. Hast du meine Worte nicht gehört?« Thalia erinnerte sich an den Traum. »Welche Worte?« fragte sie. »Wir gehören zusammen«, wurde ihr
geantwortet, »du und ich. Die Mächtigen der Schwarzen Galaxis haben mich auf dieser Welt angesiedelt, damit ich ihren Kurs be stimme. Meine Position war eine solche, die Macht und Verantwortung in sich vereinigte. Man hat mir die Verantwortung genommen. Ich bin nicht mehr der Steuermann dieser Welt. Man hält mich auch für machtlos – aber da täuscht man sich!« »Man!« rief Thalia. »Wer ist man?« »Die dunklen Mächte des Geschicks«, antwortete der Steuermann ominös. »Aber so machtlos, wie sie meinen, bin ich nicht. Ich werde ihnen beweisen, daß ich mich nicht einfach verdrängen lasse. Auf dieser Welt ist meines Bleibens nicht mehr. Wir beide werden Pthor hinter uns lassen und an einem anderen Ort ein neues Leben begin nen: ich, der Mächtige, und du, meine Pfle gerin.« Verzweifelt sah Thalia sich um. Das Ge strüpp der bleichen Fäden schien undurch dringlich. Dennoch unternahm sie einen Versuch. Sie begann, das wuchernde Ge strüpp beiseite zu schieben und sich in Rich tung des Ausgangs vorwärtszuarbeiten. Sie kam zwei oder drei Schritte weit. Dann aber zogen sich die Fäden knisternd rings um sie zusammen und umspannen sie mit einem Kokon, der so dicht war, daß seine Wand sich anfühlte, als bestehe sie aus massiver Substanz. »Du darfst nicht hinausgehen«, sagte der Steuermann. »Draußen droht Gefahr. Nur hier bist du sicher.« Aus seinen Worten ging nicht hervor, ob er erkannt hatte, daß Thalia mit seinem Plan nicht einverstanden war. Thalia kehrte zu ih rer primitiven Liege zurück. Die Fäden wi chen bereitwillig beiseite, als der Steuer mann erkannte, daß sie sich in der richtigen Richtung bewegte. Thalia setzte sich auf das hölzerne Gestell. »Ich kann nicht mit dir gehen, Steuer mann«, sagte sie. »Ich gehöre auf diese Welt. Wenn du mich von hier fort nimmst, werde ich sterben. Ich bin nicht wie du. Ich brauche Nahrung …«
44 »Alle paar Stunden kommen Diener, die dir zu essen, zu trinken oder sonstwas brin gen«, fiel ihr der Steuermann ins Wort. »Wir werden ihnen befehlen, mehr zu bringen. Wir legen einen Vorrat an, der ausreicht, bis wir eine Welt gefunden haben, auf der du nicht sterben brauchst!« Thalia empfand tiefe Niedergeschlagen heit. Keines ihrer Argumente machte auch nur den geringsten Eindruck auf den Steuer mann. Sein Entschluß war gefaßt, und es schien, als könne nichts in der Welt ihn mehr davon abbringen. Sie besaß keinerlei Druckmittel. Noch vor ein paar Stunden hät te sie die Behandlung des Steuermanns ab brechen und ihm die Pflege verweigern kön nen, bis er seine Hartnäckigkeit aufgab. Aber bevor sie schlafen gegangen war, hatte sie alle Geräte auf Automatik geschaltet. Sie rechnete nicht damit, daß der Steuermann ihr den Zugang zu den Kontrollen gestatten würde. Immerhin unternahm sie den Ver such – und fand sich Augenblicke später in denselben Kokon eingesponnen, der ihr den Weg zum Ausgang verlegt hatte. Da wurde ihr klar, daß sie aus eigener Kraft nichts zu ihrer Rettung tun konnte. Hilfe konnte nur von außen kommen. Wie lange noch, bis Atlan wieder eine Abord nung Dellos von der großen Pyramide schickte, um sie mit Proviant und Kleidung zu versehen? Wenn es nur möglich wäre, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen! Wie würde der Steuermann die Dellos abfer tigen? Sicher ließ er sie nicht in diesen Raum. Sie würden draußen ihre Last abla den müssen. Vorsichtig löste Thalia den breiten Gürtel, der ihr loses Gewand zusammenhielt. Sie brauchte eine halbe Stunde, um eine der bei den Zacken aus der Schnalle zu entfernen. Mit der Spitze der Zacke begann sie, Zei chen in das weiche Leder zu kratzen. Sie hatte nicht viel Zeit. Die Nachricht mußte kurz sein. GEFANGEN! STEUERMANN WILL FLIEHEN! Das mußte reichen!
Kurt Mahr Etliche Minuten später hörte sie draußen das Geräusch von Schritten. Die Tür fuhr auf. Jemand, wahrscheinlich ein Dello, stieß einen halblauten Ruf des Staunens aus. Im gleichen Augenblick ertönte die Stimme des Steuermanns: »Bleib draußen stehen! Tritt nicht näher!« »Ich bringe Proviant und Kleider«, ant wortete der Dello durch das blasse Gespinst hindurch. »Was soll ich damit machen?« »Leg es auf den Boden und schiebe es vorwärts!« befahl der Steuermann. Thalia sah, wie das Gespinst eine halbe Handbreit angehoben wurde, so daß dicht über dem Boden eine von Hindernissen freie Zone entstand. Sofort war sie auf den Knien. Sie rollte den Gürtel zu einem festen Bündel zusammen, dann schleuderte sie ihn mit al ler Kraft in Richtung des Ausgangs. Sie konnte nicht sehen, ob ihre Sendung das Ziel erreichte. Ein paar Sekunden später kamen zwei flache Schüsseln über den glatten Bo den hereingeschlittert: eine kleinere mit Pro viant und eine Größere mit Kleidungs stücken. Kurze Zeit danach war das Ge räusch der sich schließenden Tür zu hören. Die Schritte des Dellos entfernten sich. Für Thalia begann die Zeit des ungewis sen Wartens.
* Atlan hatte sich zwei Stunden Ruhe ge gönnt. Er wartete mit Ungeduld auf die Rückkehr des Dellos, den er zur Nordpyra mide geschickt hatte. Der Androide trug einen Gürtel, der zu Thalias Ausstattung ge hört hatte. Atlan erschrak. »Was ist geschehen?« fragte er. Der Dello erstattete Bericht. Er schilderte, wie er den Raum, in dem Thalia sich übli cherweise aufhielt, von undurchdringlichem Gespinst erfüllt vorgefunden hatte. Er wie derholte wortgetreu die Befehle, die ihm von einer Stimme im Hintergrund gegeben wor den waren. »Und dann«, sagte er, »kam plötzlich die ser Gürtel angerutscht. Ich nahm ihn auf,
Odins Erbe weil ich dachte, daß er womöglich wichtig sei.« Atlan nahm ihn entgegen. Er untersuchte ihn von beiden Seiten und fand schließlich die Zeichen, die Thalia in das Leder gegra ben hatte: GEFANGEN! STEUERMANN WILL FLIEHEN! »Hast du Thalia gesehen oder mit ihr ge sprochen?« erkundigte sich der Arkoniden. »Nein, Herr«, lautete die entmutigende Antwort. Atlan zögerte nur eine Sekunde. »Bleib hier!« befahl er dem Dello. »Es kann sein, daß ich dich in Kürze noch ein mal zur Nordpyramide hinüberschicken muß.« Er eilte in den zentralen Kontrollraum. Das Aggregat, von dem aus die Beiboote ge steuert wurden, war noch immer von seiner Verkleidung befreit. Atlan sah, daß die Wu cherung des Gespinsts zugenommen hatte. Die Fäden begannen, den Sender-Empfänger und den daran gekoppelten Kleinrechner zu überziehen. Er wußte jetzt, daß die Wuche rung unmittelbar mit den Fluchtplänen des Steuermanns in Zusammenhang stand. Aber es war ihm noch unklar, was im einzelnen der Steuermann mit der Kontrollkonsole vorhatte. Er unternahm einen weiteren Ver such, die Gespinstfäden zu entfernen. Aber wie beim ersten Mal war er erfolglos. Da wandte er sich Dingen zu, die nach seiner Ansicht wichtiger waren. Der Steuermann hatte offenbar die Ab sicht, Thalia bei der Flucht mitzunehmen. Er brauchte sie, das stand für den Arkoniden fest, als Pflegerin. Würde er auch ohne Tha lia zu fliehen versuchen? Wahrscheinlich nicht. Diese Überlegung bildete die Voraus setzung für Atlans Plan. Er hieß den Dello, dessen Name Santrin war, eine Schüssel mit Proviant vorbereiten. Einen Teil des Proviants besorgte Atlan selbst: einen verschließbaren Becher mit Wein. In den Wein mischte er, ohne daß es jemand sah, ein lähmendes Mittel, das er den Vorräten entnahm, die Odins Söhne in der FESTUNG zurückgelassen hatten. Um
45 den Becher wickelte er einen Zettel, auf den er geschrieben hatte: »Trink und verzage nicht!« Vier Stunden später schickte er Santrin wieder auf den Weg zur Nordpyramide. Vom Tor aus beobachtete er den Dello, wie er den Hof überquerte. Vor der kleinen Pyra mide mußte Santrin eine Zeitlang warten. Fast wollte Atlan schon glauben, der Steuer mann verweigere ihm den Zutritt. Da aber öffnete sich der Eingang in der Seite des Bauwerks, und der Dello stieg hinein. Minuten später kam er wieder zum Vor schein. Während er über den Hof schritt, gab er mit erhobenem rechten Arm dem Arkoni den das vereinbarte Zeichen: Thalia hatte den Proviant erhalten.
* Thalia hatte mit wachsender Ungeduld auf ein Zeichen gewartet, daß Atlan ihre Nachricht bekommen und verstanden habe. Sie sagte sich, daß ein solches Zeichen frü hestens mit der nächsten Proviantsendung eintreffen könne, und versuchte, sich in Ge duld zu fassen. Zwischen ihr und dem Steu ermann fiel während der langen Stunden des Wartens kein einziges Wort. Thalia wußte nicht, wieviel Zeit verstri chen war, als sie abermals Schritte draußen hörte. Die Abfertigung des Dellos geschah wie beim ersten Mal, nur hatte Thalia dies mal keine Nachricht, die sie Atlan zukom men lassen wolle. Statt dessen schob sie die kleinere der beiden Schüsseln, die sie mit der ersten Sendung erhalten und inzwischen geleert hatte, zum Ausgang hin, so daß der Dello sie mitnehmen konnte. Voller Spannung untersuchte sie sofort den mit Speisen und Getränken gefüllten Behälter. Die Dinge, die ihr bedeutungslos erschienen, warf sie achtlos beiseite. Schließlich bekam sie den Becher zu fassen, der in einen Zettel gewickelt war. Sie nahm den Zettel auf und las Atlans Worte. Sie lös te den Verschluß des Bechers und trank den Wein bis zum letzten Tropfen, ohne auch
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Kurt Mahr
nur ein einziges Mal abzusetzen. Sie wußte, daß nun irgend etwas gesche hen würde. Sie hockte sich auf die Liege und wartete. Lange Zeit empfand sie nichts. Dann spürte sie mit einemmal ein Kribbeln in Armen und Beinen, nicht unähnlich dem Gefühl, das man empfindet, wenn einem ein Arm oder ein Bein eingeschlafen ist. Sie stand auf und ging ein paar kurze Schritte, soweit es ihr das Gespinst erlaubte. Das Kribbeln wurde stärker und unangenehmer. Es bereitete ihr Schmerzen und beraubte sie des freien Gebrauchs der Glieder. Sie torkelte auf ihr hölzernes Lager zu rück. Bein letzten Schritt knickte sie ein und stürzte haltlos zu Boden. Der Steuermann, seit Stunden schweigsam, hatte anscheinend jede ihrer Bewegungen verfolgt. Er erkun digte sich mit besorgter Stimme: »Was ist mit dir?« Thalia versuchte mit letzter Kraft, sich auf das Gestell der Liege hinaufzuziehen. Aber die Muskeln gehorchten ihr nicht mehr. Sie fiel immer wieder zurück. Ächzend antwor tete sie auf des Steuermanns Frage: »Ich glaube … ich bin am Sterben!«
* Atlan war, nachdem Santrin Bericht er stattet hatte, in den zentralen Kontrollraum zurückgeeilt. Er durfte sich nicht allein dar auf verlassen, daß der Steuermann seine Plä ne aufgeben würde, wenn er seine Pflegerin scheintot sah. Er mußte von seiner Seite aus alles, was in seiner Kraft stand, tun, um das geheimnisvolle Wesen aus der Schwarzen Galaxis an der Flucht von Pthor zu hindern. Der Anblick des Gespinsts, das inzwi schen nahezu von der gesamten Kontroll konsole Besitz ergriffen hatte, beunruhigte ihn. Er hatte bislang, aus Mangel an einer plausiblen Hypothese, geglaubt, daß der Steuermann als Vorsorgemaßnahme sich hatte vergewissern wollen, daß seine Flucht von dem zentralen Kontrollgerät nicht ver hindert werden könne. Aus Atlans Sicht war diese Maßnahme unnötig gewesen, da das
Aggregat nicht im Betrieb war. Das aber hätte mittlerweile auch der Steuermann er kennen müssen. Weshalb gab er sich solche Mühe, seine Gespinstfäden bis in den hinter sten Winkel des Kastens vordringen zu las sen? Atlan machte sich auf die Suche. Die Fä den ließen sich zwar nicht von dort verdrän gen, wo sie sich einmal niedergelassen hat ten. Aber sie ließen sich zur Seite biegen. Der Arkonide schob mit beiden Händen das Gestrüpp dort, wo es am dichtesten war, auseinander. Er wollte erfahren, auf welches Element des Kontrollaggregats sich die Ak tivität des Gespinsts konzentrierte. Er brauchte nicht lange zu suchen. Die Fäden wucherten dort am dichtesten, wo sich der Brennstofftank des kleinen Meilers befand. Um den kurzen, gedrungenen Stut zen, der den Tank mit dem eigentlichen Meilergehäuse verband, bildeten sie einen nahezu undurchdringlichen Pelz. Atlan war zuerst verblüfft. Er konnte sich nicht vorstellen, was die Fäden des Steuer manns ausgerechnet an diesem Ort ausrich ten wollten. Aber seine Ratlosigkeit währte nur ein paar Sekunden. Dann hatte er die Gefahr erkannt. Wenn die Magnetventile ge öffnet wurden, die den Brennstofftank mit dem Meiler verbanden, dann mußte der Mei ler automatisch in Tätigkeit treten. Die Kon trolle über die Ventile aber hatten die Ge spinstfäden des Steuermanns. Wenn sie dem Meiler mehr Brennstoff zufließen ließen, als dieser verdauen konnte, dann würde es zu einer Explosion kommen! Wasserstoffplas ma ist eine gefährliche Substanz. Atlan konnte die Möglichkeit nicht ausschließen, daß das Kontrollaggregat – und mit ihm die se Halle, vielleicht sogar die ganze Pyrami de – wie eine Fusionsbombe in die Luft ging. Er sprang auf und eilte davon. Im großen Saal auf der Erdgeschoßebene traf er auf Santrin, den Dello. »Das Gebäude muß sofort geräumt wer den!« stieß er hervor. »Eine Explosion droht.«
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Der Dello bewahrte seine Gelassenheit. »Ich weiß recht genau, Herr«, antwortete er, »daß sich in dieser Pyramide außer dir und mir kein weiteres Wesen befindet. Wenn es dir also recht ist, werden wir beide uns in Sicherheit begeben.« Sie eilten beide hinaus. Auf halbem Wege zwischen der großen Pyramide und dem kleineren Bauwerk, in dem sich Thalia be fand, hielt Atlan an. »Was tun wir hier, Herr?« erkundigte sich Santrin. »Wir warten«, antwortete Atlan. Er blick te zuerst in Richtung des Beiboots, dann zur großen Pyramide hinüber. »Die Antwort auf unsere Fragen wird entweder von hüben oder von drüben kommen.«
* Der Steuermann war vor eine äußerst schwierige Entscheidung gestellt. Er war nicht mehr, wie Atlan vermutet hatte, auf Thalia als seine Pflegerin angewiesen. Er hatte in der Tat das Aggregat, das die wohltuenden elektrischen Ströme erzeugte, mitt lerweile von sich aus abgeschaltet, da er kei ner weiteren Stärkung mehr bedurfte. Er hat te überdies die Verbindung zu seinen fünf wesensgleichen Brüdern in den anderen Bei booten gelöst. Das war notwendig, da die Fahrzeuge sich unabhängig voneinander würden bewegen können müssen, wenn sie Pthor verlassen hatten. Es war das Ziel des Steuermanns, mit allen sechs Beibooten auf irgendeiner weit entfernten, freundlichen Welt zu landen und dort mit seinen Brüdern wieder zu einer Einheit zu verschmelzen. Jetzt aber war er nicht mehr sicher, ob er diesen Plan werde durchführen können. Nicht Pflegebedürfnis war es, weswegen er Thalia brauchte, sondern die Furcht vor der Einsamkeit, die er im Laufe der Jahrtau sende eindringlich genug kennengelernt hat te. Wenn er mit seinen Brüdern eine andere Welt erreichte und sich auf ihr wieder mit ihnen vereinigte, wer würde ihm dann Ge sellschaft leisten?
Der Steuermann unternahm zahlreiche Versuche, Thalia aus der Starre zu er wecken. Er teilte ihr jede Einzelheit seines Planes mit, als bedürfe es nur seiner Worte, um die Reglose wieder zu sich zu bringen. Nachdem er auf diese Weise mehrere Stun den verbracht hatte, dämmerte ihm die Er kenntnis, daß Thalia ihn für immer verlassen hatte. Damit war sein Plan hinfällig. Er begehrte die Freiheit, aber noch stärker als dieses Be gehren war dir Furcht vor der Einsamkeit. Die Fäden des Gespinsts, das mittlerweile die gesamte Nordpyramide erfüllt hatte, wurden aktiv und transportierten das kasten förmige Kommunikationsgerät aus dem Mit teldeck hinunter auf das Unterdeck und von dort durch den Ausgang, der sich inzwi schen aufgetan hatte, ins Freie. Mit lauter Stimme verkündete der Steuer mann: »Trauer befällt den Mächtigen! Denn die Gefährtin seiner Einsamkeit ist nicht mehr! Sorgt um ihren Körper!«
* Mehr als eine Stunde lang hatte Atlan ne ben dem Dello auf der kahlen Fläche des Hofes gesessen, und seine Blicke waren zwischen der Nordpyramide und dem Zen trum der FESTUNG hin und her gewandert. Schließlich war es Santrin, der die entschei dende Entdeckung machte. »Sieh doch, Herr!« stieß er hervor. Sein Arm wies in Richtung der kleinen Pyramide. Atlan erkannte, daß der Einstieg an der Seite sich geöffnet hatte. Wabernde Gespinstfäden bugsierten einen Gegenstand durch die Öffnung, legten ihn im Freien nie der und zogen sich dann zurück. Sekunden später dröhnte die Stimme des Steuermanns über den Hof: »Trauer befällt den Mächtigen! Denn die Gefährtin seiner Einsamkeit ist nicht mehr! Sorgt um ihren Körper!« Der Arkonide sprang auf. »Wir haben gewonnen!« stieß er hervor.
48 An Santrin gewandt, fuhr er fort: »Bring vier oder fünf Dellos herbei. Sie sollen eine Tra ge anfertigen! Wir wollen Thalia aus der Py ramide holen.« Während Santrin davoneilte, um den Auf trag zu erledigen, hastete Atlan auf die Nordpyramide zu. Er fand die Räume des untersten Decks so, wie er sie in Erinnerung hatte. Keine Spur war mehr von dem allge genwärtigen Gespinst zu sehen, das die Sze ne noch vor wenigen Minuten beherrscht hatte. Auch auf dem Mitteldeck war von der Anwesenheit des Steuermanns nichts mehr zu bemerken – bis auf den eigenartigen Ge ruch, den seine Körpersubstanz ausströmte und der immer noch in der Luft hing. Thalia lag neben der hölzernen Liege. Ih re Haltung war verkrümmt. Sie hatte die Au gen halb offen. Atlan nahm sie behutsam auf. Mit großer Vorsicht brachte er sie über die Leiter hinab zum Unterdeck. Als er sie durch den Ausgang ins Freie hob, langten die Dellos an, die Santrin alarmiert hatte. Sie betteten Thalia auf die Trage und schafften sie in den großen Saal im Erdgeschoß der Zentralpyramide. Neben ihrem Lager wartete Atlan, bis sie zu sich kam. Das Erwachen bereitete ihr Mühe. Sie öff nete die Augen vollends, aber es dauerte ei ne Zeitlang, bis sie mit ihnen sehen konnte. Sie wandte den Kopf hin und her. Schließ lich fiel ihr Blick auf Atlan. »Du …?« hauchte sie. »Bist du … auch tot?« Atlan nahm ihre Hand. »Ich bin nicht tot, und du bist es auch nicht«, sagte er sanft. »Es ist alles so, wie es sein soll. Hast du meine Nachricht nicht ge lesen?« »Nachricht …?« wiederholte Thalia rat los. »Trink und verzage nicht!« Da huschte ein mattes Lächeln über ihre müden Züge. »Ja, ich habe sie gelesen. Aber … als die Lähmung kam, da war ich meiner Sache nicht mehr so sicher.« Ihre Erinnerung kehr-
Kurt Mahr te mit einem Schlag zurück. Sie fuhr ruckar tig in die Höhe. »Der Steuermann!« stieß sie hervor. »Was ist mit ihm?« Atlan drückte sie behutsam auf das Lager zurück. »Er hat seine Pläne aufgegeben«, antwor tete er. »Es scheint, er konnte sie ohne dich nicht ausführen.« »Er hatte Großes mit sich und mir vor«, lächelte Thalia. »Er brauchte dich als Pflegerin, nicht wahr?« »Oh nein«, hauchte Odins Tochter. »Die Geräte ließen sich auf Automatik schalten. Er brauchte mich seiner Einsamkeit wegen, als Gesellschafterin, verstehst du? Er wollte sich mit mir unterhalten können, nachdem er die Position der Macht errungen hatte, die ihm nach seiner Ansicht zustand. Während ich gelähmt dalag, sprach er zu mir und er läutere mir alle seine Pläne. Willst du davon hören?« »Später«, sagte der Arkonide. »Ich glau be, du brauchst die Ruhe jetzt nötiger als ir gend etwas sonst.« Thalia war eingeschlafen, noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte. Atlan rief Santrin und befahl ihm, über Odins Tochter zu wachen. Dann ging er in die Kontrollzentrale und stellte zu seiner Beru higung fest, daß das Fädengespinst des Steu ermanns aus dem Steuerkasten verschwun den war. Als er in den großen Saal zurückkehrte, wo Thalia noch immer in tiefem Schlaf lag, meldete Santrin: »Soeben ist ein Zugor draußen gelandet, Herr.« Atlan schritt durch das offene Portal hin aus. Razamon und der Stumme kamen ihm entgegen. »Willkommen, meine Freunde!« rief der Arkonide. »Ich hatte nicht erwartet, euch so bald wieder zu sehen.« Razamon trat auf ihn zu. Ein fröhliches Grinsen lag auf seinem Gesicht. »Wir haben ein paar Stämmen des Blutd schungels auf handgreifliche Art und Weise
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klar gemacht, daß das Wort des neuen Kö nigs von Pthor nicht leicht zu nehmen ist. Dadurch konnten wir etwa drei Dutzend dei ner Boten das Leben retten. Und in Orxeya trafen wir auf den Sänger Sporlos, der den Ruhm des neuen Herrschers in den höchsten Tönen singt. In der Großen Barriere von Oth aber konnten wir nichts ausrichten. Die Ma gier schlafen noch. Der Bann, mit dem der VONTHARA das Land geschlagen hat, ist dort noch nicht abgeklungen.« Atlan legte ihm den Arm um die Schulter. »Sei mir nochmals willkommen, Freund! Und erlaube, daß ich euch beide zu einem Trunk einlade!« Sie schritten zu dritt die Rampe hinauf,
die durch das nördliche Portal und in den großen Saal führte. Am oberen Ende der Rampe blieb Razamon stehen, drehte sich um und sah über den Hof hinweg in das Ge lände des Gartens hinaus. »Es ist so wundersam friedlich hier«, meinte er. »Ist das der Zauber, der von dem neuen König ausgeht?« »Mehr oder weniger«, antwortete Atlan und machte dabei ein undurchdringliches Gesicht.
E N D E
ENDE