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»Sie hatte sich auf der Seite ausgestreckt. Mit ange winkelten Beinen lag sie da, zusammengekauert wie in ihrem Bett, als müßte sie nur noch einschlafen und träumen. Sie hörte ihren Vater wieder etwas zu ihr sagen, liebevoll, über den Fußboden gebeugt. Dann hörte sie einen Schuß, und das Geräusch eines Fensters, das in tausend Stücke ging.«
Klappentext: Der Krieg ist vorbei. Auf einem einsamen Bauernhof üben vier Männer blutige Rache: Ein Mann wird umgebracht, wie ne benbei erwischt es auch den kleinen Sohn, der dem Vater zu Hilfe kommen wollte. Nur die Tochter überlebt, die Manuel Roca vor der Schießerei in einem Kellerloch versteckt hat. Zwar wird sie dort vom jüngsten der Killer entdeckt, doch er verrät sie nicht. Jahrzehnte später treffen die beiden sich wieder, nicht zufällig. Aus dem Kind von damals ist eine schöne, alte Frau geworden. Gemeinsam setzen sie im Ge spräch die Vergangenheit zusammen: wie Nina gerettet wurde, wie sie adoptiert wurde von einem Mann, der sie dann beim Kartenspiel an einen anderen verlor, wie sie zwei Söhne bekam und irgendwann für verrückt erklärt wurde. Und wie die drei anderen, die an dem Massaker beteiligt waren, alle eines unnatürlichen Todes gestorben sind. Sie hatten, so scheint es, gerechte Vergeltung geübt, denn während des Krieges hatte Manuel Roca Furchtbares getan, anderer Männer, Frauen und Kinder getötet. Aber Nina hat ihn geliebt, für sie ist er ein guter Vater gewesen. Baricco erzählt eine dramatische, bis zum letzten Satz spannende Geschichte von Bluttaten und Vergel tung, die von beunruhigender Aktualität ist. Wann ist ein Krieg wirklich zu Ende? Kann ein Ideal die Gewalt rechtfertigen? Wer ist Opfer, wer Täter in einer extremen Situation? So parabelhaft einfach die Geschichte wirken mag, ist die Bot schaft doch so komplex wie das menschliche Herz. Alessandro Baricco, geboren 1958 in Turin, studierte Philoso phie und unterrichtet Schreiben an der von ihm gegründeten Scuola Holden. Er schrieb vier Romane, die weltweit übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden, Theater stücke und Essays. Auf deutsch erschienen u. a. der Roman Seide (1997) und die Erzählung Novecento (1999), die beide verfilmt wurden, sowie im Hanser Verlag City (Roman, 2000). Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Motivs von Lucrecia Olano
Alessandro Baricco
OHNE BLUT
Aus dem Italienischen von
Anja Nattefort
Non-profit ebook by tg
September 2004
Kein Verkauf!
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Titel Senza sangue beim Verlag Rizzoli in Mailand.
Vorbemerkung Die Ereignisse und die Personen in dieser Geschichte sind fiktiv und haben keinerlei Bezug zu einer realen Situation. Die Entscheidung für die vielen hispanischen Namen basiert lediglich auf klanglichen Gründen und soll das Erzählte weder zeitlich noch geographisch einordnen.
ISBN 3-446-20347-8
© 2002 Alessandro Baricco
All rights reserved
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München Wien 2003
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
EINS
Der alte Bauernhof Mato Rujo lag dunkel in der Landschaft, hob sich schwarz ab vor dem Licht des Abends. Der einzige Fleck auf dem verlassenen Profil der Ebene. Die vier Männer kamen in einem alten Mercedes. Die Straße war holprig und ausgetrocknet – eine armselige Landstraße. Aus dem Bauernhaus sah Manuel Roca die Männer kommen. Er trat an das Fenster. Erst sah er die Staubsäule über dem Mais aufsteigen. Dann hörte er das Ge räusch des Motors. In dieser Gegend hatte keiner mehr ein Auto. Manuel Roca wußte das. Der Merce des tauchte in der Ferne auf und verschwand wieder hinter einer Reihe von Eichen. Dann sah Manuel Roca nicht mehr hin. Er ging zurück zum Tisch und strich seiner Toch ter über den Kopf. Steh auf, sagte er zu ihr. Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche, legte ihn auf den Tisch und nickte seinem Sohn zu. Sofort, sagte der Sohn. Sie waren Kinder, zwei Kinder. An der Kreuzung am Bach bog der Mercedes nicht in die Straße zum Bauernhof ein, sondern fuhr Rich tung Alvarez, als wollte er sich entfernen. Die vier Männer schwiegen. Der Mann am Steuer trug eine Art Uniform. Der, der vorne neben ihm saß, trug einen cremefarbenen Anzug. Frisch gebügelt. Er rauchte eine französische Zigarette. Fahr langsamer, sagte er.
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Manuel Roca hörte, daß sich das Motorengeräusch in Richtung Alvarez entfernte. Wen wollen sie damit zum Narren halten? dachte er. Er sah seinen Sohn ins Zimmer zurückkommen, mit einem Gewehr in der Hand und einem anderen unter dem Arm. Leg sie dorthin, sagte er. Dann wandte er sich seiner Tochter zu. Komm, Nina. Hab keine Angst. Komm her. Der elegant gekleidete Mann drückte die Zigarette auf dem Armaturenbrett des Mercedes aus, dann ließ er den, der fuhr, anhalten. Hier ist gut, sagte er. Und stell diesen Krach ab. Das Geräusch der Handbrem se ertönte, wie eine Kette, die in einen Brunnen fällt. Dann nichts mehr. Die Landschaft schien von einer unheilbaren Stille verschluckt. Wir wären besser gleich zu ihm gefahren, sagte einer der beiden, die hinten saßen. Jetzt hat er genü gend Zeit abzuhauen, sagte er. In der Hand hielt er eine Pistole. Er war noch ein Junge. Sie nannten ihn Tito. Er haut nicht ab, sagte der elegant gekleidete Mann. Davon hat er die Schnauze voll. Gehen wir. Manuel Roca schob die mit Obst gefüllten Körbe beiseite, bückte sich, öffnete eine versteckte Falltür und warf einen Blick hinunter. Es war kaum mehr als eine große, in die Erde gegrabene Mulde. Es sah aus wie die Höhle eines Tiers. »Hör zu, Nina. Gleich kommen Leute, und ich möchte nicht, daß sie dich sehen. Du mußt dich hier drin verstecken, am besten versteckst du dich hier und wartest, bis sie wieder weg sind. Hast du mich verstanden?« 8
»Ja.« »Du mußt nur hier unten bleiben und ganz leise sein.« »…« »Was auch geschieht, du darfst nicht herauskom men und dich nicht rühren, du mußt leise sein und warten.« »…« »Alles wird gut.« »Ja.« »Hör zu. Vielleicht muß ich mit diesen Herren fortgehen. Du kommst nicht eher raus, bis dein Bruder dich holt, verstanden? Oder bis du hörst, daß niemand mehr da ist und alles vorbei ist.« »Ja.« »Du mußt warten, bis niemand mehr da ist.« »…« »Keine Angst, Nina, dir kann nichts passieren. In Ordnung?« »Ja.« »Gib mir einen Kuß.« Das Mädchen berührte mit den Lippen die Stirn ihres Vaters. Der Vater fuhr ihr mit der Hand durch das Haar. »Alles wird gut, Nina.« Dann stand er da, als müßte er noch etwas sagen oder tun. »Das habe ich nicht gewollt.« Sagte er. »Denk immer daran, daß ich das nicht gewollt ha be.« Das Mädchen suchte in den Augen des Vaters in stinktiv etwas, das ihr helfen würde zu verstehen. Sie sah nichts. Der Vater beugte sich zu ihr hinunter 9
und küßte sie auf die Lippen. »Komm, Nina. Jetzt klettere hinein.« Das Mädchen ließ sich in die Mulde fallen. Die Erde war hart, trocken. Sie legte sich hin. »Warte, nimm die hier.« Der Vater reichte ihr eine Decke. Sie breitete sie auf der Erde aus, dann legte sie sich wieder hin. Sie hörte den Vater etwas zu ihr sagen, dann senk te sich die Falltür. Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder. Durch die Bodendielen sickerten Licht strahlen. Sie hörte die Stimme ihres Vaters, der immer noch redete. Sie hörte das Geräusch der Obstkörbe, die über den Boden geschleift wurden. Es wurde dunkler dort unten. Ihr Vater fragte sie etwas. Sie antwortete. Sie hatte sich auf der Seite ausgestreckt. Mit angewinkelten Beinen lag sie da, zusammengekauert wie in ihrem Bett, als müßte sie nur noch einschlafen und träumen. Sie hörte ihren Vater wieder etwas zu ihr sagen, liebevoll, über den Fußboden gebeugt. Dann hörte sie einen Schuß und das Geräusch eines Fensters, das in tausend Stücke ging. »ROCA! … KOMM RAUS, ROCA … MACH KEINEN UNSINN, UND KOMM RAUS.« Manuel Roca sah seinen Sohn an. Er kroch zu ihm, immer darauf achtend, in Deckung zu bleiben. Er streckte sich nach dem Gewehr auf dem Tisch. »Mach, daß du hier wegkommst. Versteck dich im Holzschuppen. Komm nicht raus, mach dich nicht bemerkbar, mach gar nichts. Nimm das Gewehr mit, und sorg dafür, daß es geladen ist.« Der Junge starrte ihn an, ohne sich zu rühren. »Geh schon. Tu, was ich dir sage.« Doch der Junge machte einen Schritt auf ihn zu. 10
Nina hörte einen Kugelhagel oben durch das Haus fegen. Glassplitter und Staub rieselten durch die Bodenritzen. Sie rührte sich nicht. Draußen hörte sie eine Stimme brüllen. »ALSO, ROCA. MÜSSEN WIR DICH HOLEN KOMMEN …? ICH REDE MIT DIR, ROCA. MUSS ICH DICH HOLEN KOMMEN?« Der Junge stand immer noch da, ohne Deckung. Er hatte sein Gewehr genommen, doch er richtete es auf den Boden. Er hielt es in einer Hand und ließ es hin- und herbaumeln. »Weg da«, sagte der Vater. »Hörst du nicht? Du sollst da weggehen.« Der Junge kam auf ihn zu. Er dachte daran, sich hinzuknien und von seinem Vater umarmen zu lassen. So etwas in der Art stellte er sich vor. Der Vater zielte mit dem Gewehr auf ihn. Er sprach mit leiser, aber zorniger Stimme. »Hau ab, oder ich bringe dich eigenhändig um.« Nina hörte wieder diese Stimme. »LETZTE WARNUNG, ROCA.« Ein Feuerstoß tobte durch das Haus, vor und zu rück wie ein Pendel, es schien gar nicht zu enden, vor und zurück wie der Lichtkegel eines Leucht turms auf dem Bitumen des schwarzen, geduldigen Meers. Nina schloß die Augen. Sie legte sich flach auf die Decke, kauerte sich dann noch mehr zusammen und zog die Knie an die Brust. Es gefiel ihr, so dazulie gen. Sie spürte die kühle Erde unter ihrer Hüfte, die sie schützte – sie würde sie nicht verraten. Und sie spürte ihren eigenen gekrümmten Körper, eingerollt wie eine Muschel – das gefiel ihr –, sie war Schale und Tier, ihr eigener Unterschlupf, alles, sie war sich 11
selbst alles, nichts konnte ihr etwas anhaben, solange sie in dieser Position verharrte – sie schlug die Au gen wieder auf und dachte: Nicht bewegen, du bist glücklich. Manuel Roca sah seinen Sohn durch die Tür ver schwinden. Dann richtete er sich gerade soviel auf, daß er einen Blick aus dem Fenster werfen konnte. Gut, dachte er. Er wechselte zu dem anderen Fen ster, stand auf, zielte kurz und schoß. Der Mann in dem cremefarbenen Anzug warf sich fluchend auf den Boden. So ein Hurensohn, sagte er. Er schüttelte den Kopf. So ein Arschloch. Er hörte noch zwei Schüsse aus dem Bauernhaus. Dann hörte er die Stimme von Manuel Roca. »DU KANNST MICH MAL, SALINAS.« Der Mann in dem cremefarbenen Anzug spuckte auf den Boden. Du mich auch, Hurensohn, sagte er. Er blickte nach rechts und sah El Gurre grinsen, der sich hinter einem Holzstapel versteckte. Er bedeutete ihm zu schießen. El Gurre grinste immer noch. In der Rechten hielt er die Maschinenpistole, mit der Linken kramte er in seiner Tasche nach einer Ziga rette. Er schien es nicht eilig zu haben. Er war klein und mager, auf dem Kopf trug er einen dreckigen Hut und an den Füßen zwei riesige Bergstiefel. Er sah Salinas an. Er fand die Zigarette. Er steckte sie sich zwischen die Lippen. Alle nannten ihn El Gur re. Er stand auf und begann zu schießen. Nina hörte den Feuerstoß durch das Haus oben fegen. Dann Stille. Und gleich darauf noch eine längere Salve. Ihre Augen waren geöffnet. Sie be trachtete die Bodenritzen. Sie betrachtete das Licht, den Staub, der von dort kam. Ein paarmal sah sie einen Schatten vorbeihuschen, das war ihr Vater. 12
Salinas kroch zu El Gurre hinter den Holzstapel. »Wie lange braucht Tito, um hineinzukommen?« El Gurre zuckte mit den Schultern. Er grinste im mer noch. Salinas sah zu dem Bauernhaus. »Von dieser Seite kommen wir nie rein, wenn er es nicht schafft, sitzen wir in der Scheiße.« El Gurre zündete die Zigarette an. Dann sagte er, das sei ein aufgewecktes Kerlchen, er würde es schaffen. Er sagte, er könne kriechen wie eine Schlange, man müsse ihm vertrauen. Dann sagte er: Jetzt machen wir mal ein bißchen Krach. Manuel Roca sah El Gurre hinter dem Holzstoß auftauchen und warf sich auf den Boden. Der Feuer stoß war lang und präzise. Ich muß hier weg, dachte er. Die Munition. Erst die Munition, dann in die Küche kriechen und von dort über die Felder. Ob sie hinter dem Haus auch jemanden stehen haben? El Gurre ist nicht blöd, hinten wird auch jemand ste hen. Aber von da schießt keiner. Wenn da jemand wäre, würde er schießen. Vielleicht hat nicht El Gurre das Kommando. Sondern Salinas, dieser Feigling. Wenn der das Kommando hat, habe ich eine Chance. Salinas kapiert gar nichts. Du solltest an deinem Schreibtisch bleiben, Salinas, da gehörst du hin. Leck mich am Arsch. Erst die Munition. El Gurre schoß. Die Munition. Und das Geld. Vielleicht schaffe ich es sogar, das Geld mitzunehmen. Ich hätte gleich abhauen sollen. So eine Drecksau. Ich muß sofort weg hier, wenn der nur einen Moment lang aufhören würde, woher hat er bloß die Maschinenpistole, sie haben ein Auto und eine Maschinenpistole. Zuviel des Guten, Salinas. 13
Die Munition. Das Geld, jetzt. El Gurre schoß. Nina hörte die Fenster unter den Kugeln der Ma schinenpistole zu Staub zerfallen. Dann Momente schneidender Stille zwischen einer Salve und der nächsten. In der Stille der Schatten ihres Vaters, der durch die Glasscherben kroch. Mit einer Hand zog sie sich den Rock zurecht. Wie ein Handwerker, der letzte Hand an seine Arbeit legt. Sie lag zusammen gekauert auf der Seite und fing an, die Ungenauig keiten eine nach der anderen zu beseitigen. Sie legte die Füße so aufeinander, daß ein Bein perfekt auf dem anderen ruhte, die Schenkel sich weich anein anderschmiegten, die Knie in der Balance wie zwei aufeinandergestellte Tassen, die Knöchel von einem Nichts getrennt. Sie kontrollierte die Symmetrie ihrer Schuhe, die Seite an Seite lagen wie in einem Schaufenster, nur schräg, man hätte meinen können, ausgestreckt, vor Müdigkeit. Sie mochte diese Ord nung. Wenn du eine Muschel bist, ist Ordnung unentbehrlich. Wenn du Schale und Tier bist, muß alles perfekt sein. Die Genauigkeit wird dich retten. Sie hörte das Knattern eines endlos langen Feuer stoßes verebben. Und gleich darauf die Stimme eines Jungen. »Runter mit dem Gewehr, Roca.« Manuel Roca drehte den Kopf. Er sah Tito, der wenige Meter vor ihm stand. Er zielte mit einer Pistole auf ihn. »Keine Bewegung, und laß das Gewehr fallen.« Draußen brach eine neue Salve los. Doch der Jun ge rührte sich nicht, er blieb mit der Pistole in der Hand stehen und zielte. Die beiden bewegten sich nicht, standen wie angewurzelt im Kugelhagel und 14
starrten sich an, wie ein einziges Tier, das aufgehört hat zu atmen. Manuel Roca, halb auf dem Boden liegend, blickte dem Jungen in die Augen, der ohne Deckung vor ihm stand. Er versuchte zu verstehen, ob er ein Kind oder ein Kämpfer war, ob es das tausendste oder das erste Mal war und ob diese Pistole an einem Gehirn hing oder nur an einem blinden Instinkt. Er sah den Lauf der Pistole un merklich zittern, als würde sie einen winzigen Schnörkel in die Luft malen. »Ruhig, Junge«, sagte er. Er legte das Gewehr vorsichtig auf den Boden. Mit einem Fußtritt kickte er es in die Mitte des Zimmers. »Alles in Ordnung, Junge«, sagte er. Tito ließ ihn nicht aus den Augen. »Sei still, Roca. Und keine Bewegung.« Ein weiterer Feuerstoß entlud sich. El Gurre arbei tete mit Methode. Der Junge wartete, bis er vorbei war, ohne die Pistole oder den Blick zu senken. Als es wieder still wurde, warf er einen Blick zum Fenster. »SALINAS! ICH HAB IHN, HÖRT AUF, ICH HAB IHN.« Und einen Moment später: »ICH BIN’S: TITO. ICH HAB IHN.« »Verdammt, er hat’s geschafft«, sagte Salinas. El Gurre verzog den Mund zu einer Art Lächeln, ohne sich umzuwenden. Er betrachtete den Lauf seiner Maschinenpistole, als hätte er ihn in seinen müßigen Stunden eigenhändig aus dem Zweig einer Esche geschnitzt. Tito suchte sie im Licht des Fensters. Manuel Roca richtete sich gerade so weit auf, daß er seinen Rücken gegen die Wand lehnen konnte. Er 15
dachte an die Pistole, die in seinem Hosenbund steckte und gegen seine Hüfte drückte. Er versuchte sich zu erinnern, ob sie geladen war. Er berührte sie mit einer Hand. Der Junge merkte nichts. Gehen wir, sagte Salinas. Sie kamen hinter dem Holzstoß hervor und gingen geradewegs auf das Bauernhaus zu. Salinas ging leicht gebeugt, wie er es im Film gesehen hatte. Er war lächerlich wie alle kämpfenden Männer: ohne es zu merken. Als sie die Tenne überquerten, fiel drinnen ein Pistolenschuß. El Gurre rannte los, kam an die Tür des Bauern hauses und stieß sie mit einem Fußtritt auf. Mit einem Fußtritt hatte er, drei Jahre zuvor, die Stalltür aufgestoßen, dann war er eingetreten und hatte seine Frau an der Decke baumeln sehen und seine beiden Töchter mit kahlgeschorenen Köpfen und blutverschmierten Schenkeln. Er stieß die Tür mit einem Fußtritt auf, trat ein und sah Tito dastehen, die Pistole in eine Zimmerek ke gerichtet. »Ich konnte nicht anders. Er hat eine Pistole«, sagte der Junge. El Gurre sah in die Ecke. Roca lag auf dem Rük ken. Sein Arm blutete. »Ich glaube, er hat eine Pistole«, sagte der Junge noch. »Irgendwo versteckt«, fügte er hinzu. El Gurre trat zu Manuel Roca. Er sah sich den verletzten Arm an. Dann sah er dem Mann ins Gesicht. »Ich grüße dich, Roca«, sagte er. Er stellte einen Fuß auf Rocas verletzten Arm und trat zu. Roca brüllte und krümmte sich vor Schmerz. Die Pistole fiel aus seinem Hosenbund. El Gurre bückte sich, um sie aufzuheben. 16
»Du bist auf Draht, Kleiner«, sagte er. Tito nickte. Er merkte, daß er den Arm immer noch ausstreckte, mit der auf Roca gerichteten Pistole in der Hand. Er ließ sie sinken. Er spürte, wie sich seine Finger um den Pistolengriff lockerten. Seine ganze Hand tat weh, als hätte er auf eine Wand eingeboxt. Ganz ruhig, dachte er. Nina kam dieses Lied in den Sinn, das mit den Worten begann: Zähl die Wolken, die Zeit wird kommen. Dann kam etwas mit einem Adler. Und es endete mit den Zahlen von eins bis zehn, alle nach einander. Aber man konnte auch bis hundert oder tausend zählen. Einmal hatte sie bis zweihundert dreiundvierzig gezählt. Sie dachte, gleich würde sie aufstehen, um nachzuschauen, wer diese Männer waren und was sie wollten. Sie wollte das Lied einmal ganz singen, und dann würde sie aufstehen. Wenn sie die Falltür nicht aufbekam, würde sie rufen, und ihr Vater würde sie holen kommen. Doch sie blieb so liegen, auf der Seite, die Knie an die Brust gezogen, die Schuhe aufeinander balancierend, an der Wange spürte sie die kühle Erde unter der rauhen Wolldecke. Sie begann dieses Lied zu sin gen, mit zarter Stimme. Zähl die Wolken, die Zeit wird kommen. »So sieht man sich wieder, Doktor«, sagte Salinas. Manuel Roca sah ihn schweigend an. Er preßte einen Lappen auf seine Wunde. Sie hatten ihn in die Mitte des Zimmers gesetzt, auf eine Holzkiste. El Gurre stand irgendwo hinter ihm, mit seiner Ma schinenpistole in der Hand. Den Jungen hatten sie an der Tür postiert: Er paßte auf, daß draußen niemand kam, hin und wieder drehte er sich um und sah nach, 17
was in dem Zimmer vor sich ging. Salinas ging auf und ab. Zwischen den Fingern eine brennende Ziga rette. Eine französische. »Weißt du, daß du mich eine Menge Zeit gekostet hast?« sagte er. Manuel Roca sah zu ihm auf. »Du bist verrückt, Salinas.« »Dreihundert Kilometer bin ich gefahren, um dich hier aufzuspüren. Das ist eine ganz schöne Strecke.« »Sag mir, was du willst, und dann hau ab.« »Was ich will?« »Was willst du, Salinas?« Salinas lachte auf. »Ich will dich, Doktor.« »Du bist verrückt. Der Krieg ist vorbei.« »Was hast du gesagt?« »Der Krieg ist vorbei.« Salinas beugte sich über Manuel Roca. »Wann ein Krieg vorbei ist, entscheidet der Sie ger.« Manuel Roca schüttelte den Kopf. »Du liest zu viele Romane, Salinas. Der Krieg ist ein für allemal vorbei, wann kapierst du das end lich?« »Nicht für dich. Nicht für mich, Doktor.« Da schrie Manuel Roca los, sie dürften ihm kein Haar krümmen, sie kämen alle ins Gefängnis, man würde sie schnappen, und dann könnten sie den Rest ihres Lebens im Knast verrotten. Er schrie den Jun gen an, ob ihm die Vorstellung gefalle, hinter Git tern alt zu werden, ob er seine Zeit damit verbringen wolle, die Stunden zu zählen und irgendeinem wi derlichen Mörder den Schwanz zu lutschen. Der Junge blickte ihn an, ohne zu antworten. Da schrie 18
Manuel Roca, er sei ein Trottel, sie würden ihn verarschen, ihm das Leben versauen. Doch der Junge sagte nichts. Salinas lachte. Er sah El Gurre an und lachte. Er schien sich zu amüsieren. Dann wurde er wieder ernst, stellte sich vor Manuel Roca auf und befahl ihm, endlich still zu sein. Er schob eine Hand in seine Jacke und zog eine Pistole hervor. Dann sagte er zu Roca, um sie brauche er sich keine Sor gen zu machen, niemand würde je etwas erfahren. »Du wirst im Nichts verschwinden, und man wird kein Wort mehr darüber verlieren. Deine Freunde haben dich verlassen, Roca. Und meine sind sehr beschäftigt. Wenn wir dich umbringen, tun wir allen einen großen Gefallen. Du bist erledigt, Doktor.« »Ihr seid verrückt.« »Was hast du gesagt?« »Ihr seid verrückt.« »Sag das noch mal, Doktor. Ich mag es, wenn du über Verrückte redest.« »Leck mich am Arsch, Salinas.« Salinas ließ die Sicherung der Pistole aufspringen. »Hör zu, Doktor. Weißt du, wie oft ich in den vier Jahren des Krieges geschossen habe? Zweimal. Ich schieße nicht gern, ich mag keine Waffen, ich wollte nie welche tragen, es macht mir keinen Spaß zu töten, ich habe diesen Krieg vom Schreibtisch aus gekämpft, Salinas die Ratte, weißt du noch?, so nannten mich deine Freunde, ich habe sie einen nach dem anderen erledigt, ich entzifferte ihre verschlüs selten Botschaften und hetzte ihnen meine Spione auf die Fersen, sie haben mich verachtet, und ich habe sie erledigt, so ging das vier Jahre lang, doch die Wahrheit ist, daß ich nur zweimal geschossen habe, einmal in der Nacht, da habe ich in die Dun 19
kelheit geschossen, ohne auf jemanden zu zielen, und das zweitemal am letzten Tag des Krieges, da habe ich auf meinen Bruder geschossen hör mir gut zu, wir kamen in dieses Krankenhaus, weil wir euch allesamt umbringen wollten, bevor die Armee auf tauchte, aber wir fanden euch nicht mehr vor, ihr hattet das Weite gesucht, stimmt’s?, ihr habt Lunte gerochen, habt die Folterkittel abgelegt, seid ab gehauen und habt alles zurückgelassen, wie es war, überall Betten, sogar auf den Fluren, überall Kranke, doch ich erinnere mich gut, man hörte kein Klagen, kein Geräusch, nichts, das werde ich nie vergessen, es herrschte absolute Stille, mein Leben lang werde ich sie nachts hören, diese absolute Stille, das waren unsere Freunde, die da in den Betten lagen, wir waren gekommen, um sie zu befreien, wir wollten sie retten, doch sie empfingen uns schweigend, weil sie nicht mal mehr die Kraft hatten, sich zu bekla gen, und um ganz ehrlich zu sein, sie hatten keine Lust mehr zu leben, sie wollten nicht gerettet wer den, das ist die Wahrheit, ihr hattet sie so übel zuge richtet, daß sie nur noch sterben wollten, so bald wie möglich, sie wollten nicht gerettet, sie wollten getö tet werden ich fand meinen Bruder in einem der vielen Betten, unten in der Kapelle, er sah mich an, als wäre ich eine ferne Sinnestäuschung, ich ver suchte mit ihm zu reden, doch er antwortete nicht, ich war nicht sicher, ob er mich erkannte, ich beugte mich über ihn und flehte ihn an, mir eine Antwort zu geben, ich bat ihn, mir irgendwas zu sagen, seine 20
Augen waren weit aufgerissen, und sein Atem ging schleppend, wie in einer endlosen Agonie, ich beug te mich über ihn, als ich seine Stimme hörte, die sagte: Ich bitte dich, ganz langsam, mit übermensch licher Anstrengung, eine Stimme, die aus der Hölle zu kommen schien, mit seiner Stimme hatte das nichts zu tun, mein Bruder hatte eine helle Stimme, wenn er redete, klang es, als würde er lachen, und diese Stimme war ganz anders, sie sagte langsam: Ich bitte dich, und erst eine Weile später sagte sie: Töte mich, seine Augen waren vollkommen aus druckslos, es waren die Augen eines anderen, und sein Körper war regungslos, nur dieser schleppende Atem, ein und aus ich sagte, ich wolle ihn weg bringen, alles sei vorbei, von nun an würde ich mich um ihn kümmern, doch er war wieder in der Hölle versunken, aus der er kam, er hatte gesagt, was er sagen wollte, dann war er wieder in seinen Alptraum zurückgekehrt, was sollte ich tun?, ich überlegte, wie ich ihn dort wegschaffen konnte, ich sah mich hilfesuchend um, ich wollte ihn dort wegschaffen, das stand fest, doch ich konnte mich nicht bewegen, ich konnte mich nicht mehr bewegen, ich weiß nicht, wieviel Zeit verging, ich erinnere mich nur, daß ich mich irgendwann umdrehte, ein paar Meter von mir entfernt sah ich El Blanco, er stand neben einem Bett, mit der Maschinenpistole über der Schulter, und er drückte dem Jungen, der in diesem Bett lag, ein Kissen aufs Gesicht El Blanco weinte und preßte das Kissen nieder, in der Stille der Kapelle 21
war nur sein Schluchzen zu hören, der Junge rührte sich nicht, er gab kein Geräusch von sich, er ging stumm, doch El Blanco schluchzte wie ein Kind, nahm dann das Kissen weg und schloß dem Jungen die Augen, dann sah er mich an, ich sah ihn an und er mich, ich wollte sagen: Was tust du?, doch ich brachte keinen Laut hervor, in diesem Moment kam jemand herein und sagte, die Armee sei gleich da, wir müßten uns aus dem Staub machen, ich fühlte mich verloren, ich wollte nicht, daß man mich dort antraf, ich hörte die anderen über die Flure rennen, da zog ich, ganz behutsam, das Kissen unter dem Kopf meines Bruders hervor, betrachtete einen Moment diese schrecklichen Augen, legte das Kis sen auf sein Gesicht und begann zu drücken, über meinen Bruder gebeugt, drückte mit beiden Händen auf das Kissen, und darunter spürte ich die Gesichts knochen meines Bruders, unter meinen Händen, man kann von niemandem verlangen, so etwas zu tun, das konnte keiner von mir verlangen, ich versuchte durchzuhalten, doch irgendwann konnte ich nicht mehr, ich nahm das Kissen weg, mein Bruder atmete noch, doch er schien die Luft aus den Tiefen der Hölle zu holen, es war entsetzlich, die reglosen Au gen und dieses Röcheln, ich sah ihn an und merkte, daß ich schrie, ich hörte meine Stimme schreien, doch wie von weit her, ein monotones und müdes Klagen, ich hatte keine Gewalt darüber, es geschah einfach, ich schrie noch, als ich El Blanco neben mir sah, er sagte nichts, aber er hielt mir eine Pistole hin, wäh rend ich schrie, und alle machten sich auf und davon, wir zwei da drinnen, er reichte mir die Pistole, ich nahm sie, legte den Lauf an die Stirn meines Bruders, immer noch schreiend, und drückte ab. 22
Sieh mich an, Roca. Du sollst mich ansehen. Während des ganzen Krieges habe ich zweimal geschossen, das erstemal nachts und auf niemanden, das zweitemal aus näch ster Nähe auf meinen Bruder. Und ich will dir etwas verraten. Ich werde noch ein letztes Mal schießen. Da begann Roca wieder zu schreien. »ICH HAB DAMIT NICHTS ZU TUN.« »Du hast damit nichts zu tun?« »MIT DEM KRANKENHAUS HAB ICH NICHTS ZU TUN.« »WAS ERZÄHLST DU DA FÜR EINEN BLÖDSINN?« »ICH HAB NUR GETAN, WAS MIR BEFOHLEN WURDE.« »DU …« »ICH WAR NICHT DABEI, ALS …«
»WAS FÜR EINEN MIST ERZÄHLST DU DA
…« »ICH SCHWÖR ES, ICH …« »DAS WAR DEIN KRANKENHAUS, DU SCHEISSKERL.« »MEIN KRANKENHAUS?« »DAS WAR DEIN KRANKENHAUS, DU WARST DER ARZT, DU HAST DICH UM SIE GEKÜMMERT, DU HAST SIE ERMORDET, DU HAST SIE MASSAKRIERT, DIE HABEN SIE DIR GESCHICKT, UND DU HAST SIE MASSAKRIERT …« »ICH HAB NIE …« »SEI STILL!« »ICH SCHWÖR ES, SALINAS …« 23
»SEI STILL!« »ICH HABE …« »SEI STILL!« Salinas setzte den Lauf der Pistole auf eins von Rocas Knien. Dann drückte er ab. Das Knie zer platzte wie eine faulige Frucht. Roca fiel hintenüber und krümmte sich auf dem Boden, brüllend vor Schmerz. Salinas stand über ihm, zielte mit der Pistole auf ihn und schrie noch immer. »ICH MACH DICH KALT, VERSTEHST DU? ICH MACH DICH KALT, DU SCHEISSKERL, ICH MACH DICH KALT.« El Gurre tat einen Schritt nach vorn. Der Junge stand an der Tür und sah zu, schweigend. Salinas schrie, sein cremefarbener Anzug war mit Blut bespritzt, er schrie mit einer seltsam schrillen Stim me, es hörte sich an, als weinte er. Oder als bekäme er keine Luft mehr. Er schrie, er würde ihn kaltma chen. Dann hörten alle eine unglaubliche Stimme, die leise etwas sagte. »Geht weg.« Sie drehten sich um und sahen einen kleinen Jun gen in der anderen Ecke des Zimmers stehen. Er hatte ein Gewehr in der Hand und zielte auf sie. Dann sagte er noch einmal leise: »Geht weg.« Nina hörte die rauhe Stimme ihres Vaters, der vor Schmerz keuchte, und dann hörte sie die Stimme ihres Bruders. Sobald sie da wieder raus war, wollte sie ihm sagen, daß er eine wunderschöne Stimme hatte, denn sie schien ihr wirklich wunderschön, so rein und unendlich kindlich, die Stimme, die sie hatte flüstern hören: »Geht weg.« 24
»WER ZUM TEUFEL …« »Das ist der Sohn, Salinas.« »WAS ERZÄHLST DU DA?« »Das ist der Sohn von Roca«, sagte El Gurre. Salinas stieß einen Fluch aus, er schrie, hier sollte niemand sonst sein, HIER SOLLTE NIEMAND SONST SEIN, WAS HAT DAS ZU BEDEUTEN, IHR HABT DOCH GESAGT, HIER IST SONST NIEMAND, schrie er und wußte nicht, wohin mit dem Lauf seiner Pistole, er schaute zu El Gurre, dann zu Tito, dann schaute er schließlich zu dem Jungen mit dem Gewehr und brüllte ihn an, er sei ein elender Dummkopf, er würde dort nicht wieder lebend herauskommen, wenn er nicht sofort das verdammte Gewehr fallen ließ. Der Junge schwieg und ließ das Gewehr nicht sin ken. Salinas hörte auf zu schreien. Er sprach mit ruhi ger und böser Stimme weiter. Er sagte zu dem Jun gen, nun wisse er ja, was für ein Mensch sein Vater sei, nun wisse er, daß er ein Mörder sei, daß er Dut zende von Menschen umgebracht habe, manche habe er nach und nach mit seinen Medikamenten vergiftet, den anderen habe er die Brust aufgeschlitzt und sie dann einfach so sterben lassen. Er sagte zu dem Jungen, er habe mit eigenen Augen gesehen, wie Kinder mit zerstörtem Gehirn aus dem Kran kenhaus kamen, die kaum noch laufen und nicht mehr sprechen konnten, wie schwachsinnige Kinder. Er sagte zu ihm, sein Vater werde die Hyäne ge nannt, seine eigenen Freunde würden ihn die Hyäne nennen und darüber lachen. Roca lag stöhnend auf dem Boden. Er begann leise, Hilfe zu murmeln, wie aus der Ferne – Hilfe, Hilfe, Hilfe –, eine Litanei. Er 25
spürte, daß der Tod näher kam. Salinas sah nicht einmal hin. Er redete weiter auf den Jungen ein. Der Junge hörte ihm zu, regungslos. Zum Schluß sagte Salinas, so sähen die Dinge nun aus, und es sei zu spät, um noch irgend etwas zu tun, auch um nach dem Gewehr zu greifen. Er sah ihm in die Augen, unendlich müde, und fragte, ob er verstanden habe, wer dieser Mann sei, ob er es wirklich verstanden habe. Mit einer Hand zeigte er auf Roca. Er wollte wissen, ob der Junge verstanden hatte, wer er war. Der Junge kratzte alles zusammen, was er wußte und was er vom Leben verstanden hatte. Er antwor tete: »Er ist mein Vater.« Dann drückte er ab. Nur ein Schuß. Ins Leere. El Gurre reagierte instinktiv. Der Feuerstoß hob das Kind vom Boden und schleuderte es gegen die Wand, in einem Gemisch aus Blei, Knochen und Blut. Wie ein im Flug getroffener Vogel, dachte Tito. Salinas warf sich auf den Boden. Er landete neben Roca. Einen Augenblick sahen die beiden Männer sich in die Augen. Aus Rocas Kehle drang ein un verständlicher, gräßlicher Schrei. Salinas kroch ein Stück von ihm weg. Er rollte sich auf den Rücken, um Rocas Blick zu entgehen. Er fing an, am ganzen Leib zu zittern. Ringsum herrschte eine große Stille. Nur dieser gräßliche Schrei. Salinas stützte sich auf die Ellbogen und sah in den hinteren Teil des Zim mers. Der Körper des Jungen lehnte an der Wand, zerfetzt von den Kugeln der Maschinenpistole, von Wunden aufgerissen. Das Gewehr war in eine Ecke geflogen. Salinas sah, daß der Kopf des Kindes verdreht herunter hing, und in dem offenen Mund 26
sah er die weißen Zähnchen, gleichmäßig und weiß. Da ließ er sich nach hinten fallen, auf den Rücken. Seine Augen blickten auf die Deckenbalken. Dunk les Holz. Alt. Er zitterte am ganzen Leib. Er konnte die Hände, die Beine nicht ruhig halten, gar nichts. Tito tat ein paar Schritte auf ihn zu. El Gurre bedeutete ihm, stehenzubleiben. Roca schrie einen schmutzigen Schrei, den Schrei eines Toten. Salinas sagte leise: »Mach, daß er aufhört.« Als er das sagte, versuchte er, die Zähne zusam menzubeißen, die wie verrückt klapperten. El Gurre suchte Salinas’ Blick, um herauszufin den, was er meinte. Salinas starrte an die Decke. Eine Reihe Balken aus dunklem Holz. Alt. »Mach, daß er aufhört«, wiederholte er. El Gurre tat einen Schritt nach vorn. Roca lag in seinem Blut und schrie, mit gräßlich aufgerissenem Mund. El Gurre steckte ihm den Lauf seiner Maschinen pistole in den Hals. Roca schrie immer noch, auch mit dem heißen Ei sen des Laufes im Mund. El Gurre drückte ab. Eine kurze Salve. Trocken. Die letzte seines Krieges. »Mach, daß er aufhört«, sagte Salinas noch ein mal. Nina hörte eine beängstigende Stille. Da faltete sie die Hände und schob sie zwischen ihre Beine. Sie kauerte sich noch mehr zusammen und zog die Knie fast an den Kopf. Sie dachte, nun sei alles vorbei. Gleich käme ihr Vater sie holen, und dann würden 27
sie zu Abend essen. Sie dachte, sie würden nicht mehr über diese Geschichte reden und sie bald ver gessen haben. Das dachte sie, weil sie ein kleines Mädchen war und es noch nicht wissen konnte. »Das Mädchen«, sagte El Gurre. Er faßte Salinas am Arm, damit er nicht hinfiel. Er sagte leise zu ihm: »Das Mädchen.« Salinas hatte einen schrecklichen, leeren Blick. »Welches Mädchen?« »Rocas Tochter. Wenn der Kleine hier war, ist sie vielleicht auch da.« Salinas brummte etwas. Dann schubste er El Gur re fort. Er stützte sich auf den Tisch, weil er sonst hingefallen wäre. Seine Schuhe standen in Rocas Blut. El Gurre machte Tito ein Zeichen, dann ging er zur Küche. Als er an dem Kleinen vorbeikam, bück te er sich kurz und schloß ihm die Lider. Nicht wie ein Vater. Wie jemand, der das Licht ausmacht, bevor er ein Zimmer verläßt. Tito dachte an die Augen seines Vaters. Eines Ta ges hatten sie an die Haustür geklopft. Tito hatte sie nie zuvor gesehen. Doch sie sagten, sie hätten eine Nachricht für ihn. Dann reichten sie ihm einen klei nen Stoffbeutel. Er hatte ihn geöffnet, und darin lagen die Augen seines Vaters. Entscheide dich, auf welcher Seite du stehst, Junge, hatten sie ihm gesagt. Dann waren sie gegangen. Tito sah einen zugezogenen Vorhang im hinteren Teil des Raums. Er entsicherte seine Pistole und ging darauf zu. Er zog den Vorhang auf. Er betrat den Raum dahinter. Hier herrschte große Unord nung. Umgestürzte Stühle, Koffer, Arbeitsgeräte und 28
Körbe mit halbverdorbenem Obst. Es roch stark verfault. Und moderig. Der Staub auf dem Fußboden sah merkwürdig aus: als hätte jemand seine Füße darüber schleifen lassen. Oder etwas anderes. Im anderen Teil des Hauses klopfte El Gurre die Wände mit der Maschinenpistole nach Geheimtüren ab. Salinas war wohl immer noch nebenan und stützte sich zitternd auf den Tisch. Tito schob einen Obstkorb beiseite. Er sah die Umrisse einer Falltür. Er stampfte mit einem Stiefel darauf, um zu hören, was für ein Geräusch das machte. Er schob noch zwei Körbe beiseite. Da war eine kleine Falltür, sorgfältig ausgesägt. Tito schaute auf. Durch ein Fensterchen sah er die Dunkelheit draußen. Er hatte gar nicht gemerkt, daß es schon Nacht war. Er dach te, es sei an der Zeit, von hier wegzugehen. Dann kniete er sich auf den Boden und öffnete die Falltür. Darunter lag ein kleines Mädchen, auf der Seite zusammengekauert, die Hände zwischen den Schen keln versteckt und den Kopf leicht nach vorn ge neigt, zu den Knien. Es hatte die Augen offen. Tito richtete seine Pistole auf das Mädchen. »SALINAS!« schrie er. Das Mädchen drehte den Kopf und sah ihn an. Ih re Augen waren dunkel und seltsam geschnitten. Sie sah ihn völlig ausdruckslos an. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und sie atmete ruhig. Sie war ein Tier in seiner Höhle. Tito überkam jenes Gefühl, das er auf der Suche nach genau dieser Position tausend fach verspürt hatte, zwischen lauwarmen Laken oder als Kind unter der nachmittäglichen Sonne. Die Knie angewinkelt, die Hände zwischen den Beinen, die Füße aufeinander. Der leicht nach vorn geneigte Kopf schloß den Kreis. Gott, war das schön, dachte 29
er. Die Haut des Mädchens war weiß, und die Kon turen ihrer Lippen vollkommen. Die Beine schauten unter einem roten Röckchen hervor, es sah aus wie auf einer Zeichnung. Alles war so ordentlich. Alles war so vollendet. So genau. Die Kleine wandte wieder den Kopf ab, in die ur sprüngliche Position. Sie neigte ihn ein wenig, um den Kreis zu schließen. Tito stellte fest, daß ihm niemand geantwortet hatte von der anderen Seite des Vorhangs. Ein Moment war wohl vergangen, doch niemand hatte geantwortet. El Gurre klopfte mit seiner Maschinenpistole die Hauswände ab. Ein dumpfes, pedantisches Geräusch. Draußen war es dunkel. Er schloß die Falltür. Langsam. Er blieb kurz daneben hocken und sah nach, ob man das Kind durch die Bodenritzen sehen konnte. Er hätte gern nachgedacht. Doch es gelang ihm nicht. Manchmal ist man zu müde, um nachzudenken. Er stand auf. Rückte die Körbe wieder an ihren Platz. Er spürte sein Herz in den Schläfen pochen. Wie Betrunkene traten sie hinaus in die Nacht. El Gurre stützte Salinas und schleppte ihn voran. Tito ging hinter ihnen. Irgendwo wartete der alte Merce des auf sie. Sie gingen ein paar Dutzend Meter, ohne ein Wort zu wechseln. Dann sagte Salinas etwas zu El Gurre, und El Gurre ging zurück zu dem Bauern haus. Er wirkte nicht besonders überzeugt, doch er ging zurück. Salinas stützte sich auf Tito und sagte ihm, er solle weitergehen. Sie kamen an dem Holz stapel vorbei, verließen die Straße und nahmen einen Weg, der über die Felder führte. Ringsum herrschte eine große Stille, und auch deshalb schaffte es Tito nicht, den Satz zu sagen, der ihm durch den Kopf 30
ging und den er sagen wollte. Da ist noch ein Mäd chen drin. Er war müde, und die Stille war zu groß. Salinas blieb stehen. Er zitterte, und das Gehen fiel ihm sehr schwer. Tito sagte leise etwas zu ihm, dann drehte er sich um und blickte zurück zum Bauern hof. Er sah El Gurre auf sie zu rennen. Und er sah, daß hinter ihm das Bauernhaus die Dunkelheit zer riß, in Brand gesteckt von einem Feuer, das es ver schlang. Überall schossen Flammen empor, und eine schwarze Rauchwolke erhob sich langsam in die Nacht. Tito rückte von Salinas ab, stand wie verstei nert da und sah zu. El Gurre holte sie ein, und ohne anzuhalten, sagte er: Gehen wir, Junge. Doch Tito rührte sich nicht. »Was zum Teufel hast du getan?« fragte er. El Gurre versuchte Salinas weiterzuziehen. Er wiederholte, sie müßten gehen. Da packte Tito ihn am Kragen und schrie ihm ins Gesicht: WAS ZUM TEUFEL HAST DU GETAN? »Ruhig, Junge«, sagte El Gurre. Doch Tito hörte nicht auf, er schrie immer lauter, WAS ZUM TEUFEL HAST DU GETAN?, er schüttelte El Gurre wie eine Puppe, WAS ZUM TEUFEL HAST DU GETAN?, er hatte ihn vom Boden hochgehoben und schüttelte ihn die ganze Zeit, WAS ZUM TEUFEL HAST DU GETAN?, bis auch Salinas zu schreien begann, DAS REICHT, JUNGE, sie führten sich auf wie drei Verrückte, die man auf einer unbeleuchteten Bühne vergessen hatte, GENUG JETZT! In einem verfallenen Theater. Schließlich zerrten sie Tito mit Gewalt weiter. Der Feuerschein erhellte die Nacht. Sie überquerten ein Feld und liefen zur Straße hinunter, immer der Spur 31
des alten Baches folgend. Als sie den Mercedes erblickten, legte El Gurre dem Jungen eine Hand auf die Schulter und sagte leise, er sei auf Draht und nun sei alles vorbei. Doch der hörte nicht mehr auf, diesen Satz zu wiederholen. Er schrie nicht. Er sprach ihn leise, mit der Stimme eines Kindes. Was zum Teufel haben wir getan. Was zum Teufel haben wir getan. Was zum Teufel haben wir getan. Der alte Bauernhof Mato Rujo lag stumm in der Landschaft, hob sich feuerrot ab vor dem Dunkel der Nacht. Der einzige Fleck auf dem verlassenen Profil der Ebene.
Drei Tage später kam ein Mann auf einem Pferd zum Bauernhof Mato Rujo. Er trug Lumpen und war ganz dreckig. Das Pferd war ein alter Gaul, nur noch Haut und Knochen. Es hatte etwas an den Augen, deshalb kreisten die Fliegen um die gelbliche Flüs sigkeit, die ihm aufs Maul hinunterlief. Der Mann betrachtete die Mauern des Bauernhau ses, die geschwärzt und nutzlos aus einer riesigen erloschenen Kohlenpfanne emporragten. Sie sahen aus wie die letzten Zähne im Mund eines Greises. Das Feuer hatte sich auch eine große Eiche geholt, die viele Jahre lang ihren Schatten auf das Haus geworfen hatte. Eine schwarze Kralle, die nach Unheil roch. Der Mann blieb im Sattel sitzen. Er drehte eine halbe Runde um das Haus, im Schrittempo. Dann ging er zum Brunnen, band den Eimer los, ohne vom Pferd zu steigen, und ließ ihn hinunterfallen. Das Blech landete klatschend auf dem Wasser. Der 32
Mann hob den Blick zu dem Bauernhaus. An die Überreste der Wand gelehnt, hockte ein Mädchen auf der Erde. Es beobachtete ihn, mit reglosen Au gen, die in einem rußverschmierten Gesicht glänz ten. Sie trug ein rotes Röckchen. Sie hatte überall Schrammen. Oder Wunden. Der Mann zog den Eimer aus dem Brunnen. Das Wasser war ganz schwarz. Er rührte ein bißchen mit dem Zinnlöffel darin, doch die schwärzliche Farbe ging nicht weg. Er füllte den Löffel, hob ihn an die Lippen und nahm einen ausgiebigen Schluck. Er betrachtete wieder das Wasser in dem Eimer. Er spuckte hinein. Dann stellte er ihn auf den Brunnen rand und stieß dem Pferd die Hacken in den Bauch. Er ritt hinüber zu dem Mädchen. Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen. Anscheinend hatte sie nichts zu sagen. Der Mann musterte sie eine Weile. Die Augen, die Lippen, das Haar. Dann streckte er ihr eine Hand hin. Sie stand auf, nahm die Hand des Mannes und ließ sich hinter ihn auf den Rücken des Pferdes ziehen. Der alte Gaul hob zweimal den Kopf in die Höhe und trabte los. Der Mann gab einen merkwürdigen Laut von sich, und das Pferd beruhig te sich. Während sie sich von dem Bauernhof entfernten, im Schrittempo, unter einer glühendheißen Sonne, ließ das Mädchen seinen Kopf nach vorn sinken, legte die Stirn an den schmutzigen Rücken des Mannes und schlief ein.
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ZWEI
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Die Ampel sprang auf Grün, und die Frau über querte die Straße. Sie sah auf den Boden, denn es hatte gerade zu regnen aufgehört, und die Wasserla chen in den Senken des Asphalts erinnerten noch an den vorfrühlingshaften Regenschauer. Sie hatte einen eleganten Gang, eingeschränkt von dem schmalen Rock eines schwarzen Kostüms. Sie sah die Pfützen und wich ihnen aus. Als sie auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig angekommen war, blieb sie stehen. Die Leute gingen an ihr vorüber, bevölkerten den späten Nachmittag mit Schritten nach Hause oder auf Geratewohl. Die Frau mochte es, wenn die Stadt an ihr hinunter tropfte, also blieb sie einen Moment so mitten auf dem Bürgersteig stehen, rätselhaft wie eine Frau, die dort von ihrem Geliebten verlassen worden war, ganz plötzlich. Und es nicht begreifen konnte. Dann entschied sie sich für den Weg nach rechts und schloß sich in dieser Richtung dem kollektiven Fluß an. Sie schlenderte an den Schaufenstern ent lang, einen Schal an die Brust gedrückt. Trotz ihres Alters ging sie aufrecht und sicheren Schrittes, die jugendliche Haltung verlieh ihrem weißen Haar Würde. Sie trug es im Nacken zusammengebunden, mit einem dunklen Kamm, wie ein Mädchen. Vor einem Geschäft für Elektrogeräte blieb sie stehen und starrte eine Weile auf die Wand von Fernsehern, die ein und denselben Nachrichtenspre cher sinnlos reproduzierte. Aber in verschiedenen Farbschattierungen, die sie neugierig machten. Dann 35
kamen Bilder über irgendeine Stadt, in der Krieg herrschte, und sie ging weiter. Sie überquerte die Calle Medina und dann den kleinen Platz des Göttli chen Beistands. Als sie vor der Florencia-Galerie ankam, drehte sie sich um und betrachtete die lange Flucht von Lichtern, die sich im Innern des Gebäu des aneinanderreihten, bis sie auf der anderen Seite, in der Avenida 24. Juli, wieder heraustraten. Sie blieb stehen, richtete den Blick nach oben und such te etwas auf dem eisernen Torbogen des breiten Portals. Doch sie fand nichts. Sie machte ein paar Schritte ins Innere der Galerie, dann wandte sie sich an einen Mann. Sie entschuldigte sich und fragte ihn, wie dieser Ort heiße. Der Mann sagte es ihr. Da bedankte sie sich und teilte ihm mit, er werde noch einen wunderschönen Abend haben. Der Mann lächelte. Sie ging also die Florencia-Galerie entlang, und irgendwann sah sie, etwa zwanzig Meter von sich entfernt, eine kleine Bude, die aus der linken Wand hervorragte und das glatte Profil der Galerie einen Moment lang kräuselte. Es war eine dieser Buden, an denen Lotterielose verkauft werden. Sie ging noch ein bißchen weiter, doch ein paar Schritte vor der Bude blieb sie stehen. Sie sah den Losverkäufer in der Bude sitzen und Zeitung lesen. Er hatte sie auf irgendeine Unterlage gelegt und las darin. Alle Wände der Bude waren aus Glas, nur die Rückseite nicht. Drinnen sah man den Losverkäufer und eine Menge bunte Streifen, die von oben herunterbaumel ten. Vorne gab es ein kleines Fenster, das war die Luke, durch die der Losverkäufer mit den Leuten sprach. Die Frau strich eine Haarsträhne nach hinten, die 36
ihr in die Augen gefallen war. Sie drehte sich um und beobachtete einen Moment lang eine junge Frau, die einen Kinderwagen aus einem Geschäft schob. Dann sah sie wieder zu der Bude. Der Losverkäufer las. Die Frau näherte sich und beugte sich zu der Luke hinunter. »Guten Abend«, sagte sie. Der Mann blickte von seiner Zeitung auf. Er woll te etwas sagen, doch als er das Gesicht der Frau sah, hielt er inne und ließ es sein. Er sah nur das Gesicht an. »Ich möchte ein Los kaufen.« Der Mann nickte. Doch dann sagte er etwas, was damit nichts zu tun hatte. »Warten Sie schon lange?« »Nein, warum?« Der Mann schüttelte den Kopf, starrte sie weiter an. »Schon gut, Entschuldigung«, sagte er. »Ich möchte ein Los«, sagte sie. Der Mann wandte sich um und fuhr mit der Hand über die Lose, die hinter ihm hingen. Die Frau zeigte auf einen Streifen, der länger war als die anderen. »Der da … Können Sie ein Los von diesem Strei fen nehmen?« »Von diesem?« »Ja.« Der Mann riß das Los ab. Er warf einen Blick auf die Nummer und nickte anerkennend. Er legte es auf die Holzkonsole zwischen sich und der Frau. »Eine gute Nummer.« »Was sagen Sie?« 37
Der Mann gab keine Antwort, denn er musterte das Gesicht der Frau, so als suchte er darin etwas. »Sagten Sie ›eine gute Nummer‹?« Der Mann sah hinunter auf das Los: »Ja, die Zahl hat zwei Achten an symmetrischer Stelle und gleiche Summen.« »Was heißt das?« »Wenn Sie mittendurch einen Strich ziehen, ist die Summe der rechten Zahlen genauso groß wie die der linken. Normalerweise bringt das Glück.« »Woher wissen Sie das?« »Das ist mein Beruf.« Die Frau lächelte. »Sie haben recht.« Sie legte das Geld auf die Konsole. »Sie sind nicht blind«, sagte sie. »Wie bitte?« »Sie sind nicht blind, oder?« Der Mann begann zu lachen. »Nein, das bin ich nicht.« »Merkwürdig …« »Warum sollte ich blind sein?« »Na ja, das sind Losverkäufer doch immer.« »Wirklich?« »Vielleicht nicht immer, aber häufig … Ich glau be, die Leuten mögen es, wenn sie blind sind.« »Und warum?« »Keine Ahnung, ich vermute, es hat etwas damit zu tun, daß das Glück blind ist.« Sagte die Frau und begann dann zu lachen. Sie hatte ein schönes Lachen, völlig frei von Müdigkeit. »Gewöhnlich sind sie sehr alt und blicken sich um wie exotische Vögel im Schaufenster einer Tier handlung.« 38
Das sagte sie mit großer Selbstsicherheit. Dann fügte sie hinzu: »Sie sind anders.« Der Mann sagte, blind sei er keineswegs. Aber alt schon. »Wie alt sind Sie?« fragte die Frau. »Zweiundsiebzig«, sagte der Mann. Dann fügte er hinzu: »Ich mache diese Arbeit gern, ich habe damit kein Problem, es ist eine gute Arbeit.« Er sagte es leise. Ruhig. Die Frau lächelte. »Sicher. Das wollte ich damit nicht sagen …« »Die Arbeit gefällt mir.« »Davon bin ich überzeugt.« Sie nahm das Los und steckte es in eine elegante schwarze Tasche. Dann sah sie sich kurz um, als wollte sie etwas kontrollieren oder sehen, ob hinter ihr andere Leute warteten. Statt sich zu verabschie den und zu gehen, sagte sie schließlich etwas. »Ich habe mich gefragt, ob Sie wohl Lust hätten, mit mir etwas trinken zu gehen?« Der Mann hatte eben das Geld in die Kasse gelegt. Seine Hand verharrte in der Luft. »Ich?« »Ja.« »Ich … kann nicht.« Die Frau sah ihn an. »Ich muß in der Bude bleiben, ich kann jetzt nicht gehen, ich habe hier niemanden, der … ich …« »Nur auf ein Glas.« »Tut mir leid … Das geht wirklich nicht.« Die Frau nickte, als hätte sie verstanden. Doch dann beugte sie sich ein wenig zu dem Mann vor 39
und sagte: »Kommen Sie mit.« Der Mann sagte noch: »Ich bitte Sie.« Doch sie wiederholte: »Kommen Sie mit.« Es war seltsam. Der Mann faltete die Zeitung zu sammen und erhob sich von seinem Hocker. Er nahm die Brille ab und steckte sie in ein graues Stoffetui. Dann begann er die Bude zu schließen, mit großer Sorgfalt. Er reihte eine Geste an die nächste, ganz langsam, schweigend, als wäre dies ein Abend wie jeder andere. Die Frau stand ruhig da und warte te, als ginge sie das nichts an. Ab und zu kam je mand vorbei und drehte sich nach ihr um. Denn sie schien allein zu sein, und sie war schön. Denn sie war nicht jung, und sie schien allein zu sein. Der Mann löschte das Licht. Er zog den kleinen Rolladen herunter und befestigte ihn mit einem Vorhänge schloß am Boden. Er hatte einen leichten Mantel übergezogen, der ein wenig über seine Schultern hing. Er ging zu der Frau. »Ich bin soweit.« Die Frau lächelte ihm zu. »Haben Sie eine Idee, wo wir hingehen könnten?« »Hier lang. Da gibt es ein Café, in dem man unge stört ist.« Sie betraten das Lokal, fanden einen kleinen Tisch in einer Ecke und setzten sich einander gegenüber. Sie bestellten zwei Gläser Wein. Die Frau fragte den Kellner, ob er Zigaretten habe. Dann rauchten sie. Sie sprachen über alles mögliche, auch über die Leute, die in der Lotterie gewannen. Der Mann sagte, meist könnten sie das Geheimnis nicht für sich 40
behalten, und das Komische sei, daß die erste Per son, der sie es verrieten, immer ein Kind sei. Wahr scheinlich habe all dies etwas zu bedeuten, doch er habe nie verstanden, was. Die Frau sagte etwas über Geschichten, die etwas zu bedeuten hätten, und solche, die nichts zu bedeuten hätten. So unterhielten sie sich noch eine Weile. Dann sagte er, er wisse, wer sie sei und warum sie gekommen sei. Die Frau sagte nichts. Sie wartete. Also fuhr der Mann fort. »Vor vielen Jahren haben Sie zugesehen, wie drei Männer Ihren Vater kaltblütig ermordeten. Ich bin der einzige von den dreien, der noch lebt.« Die Frau sah ihn aufmerksam an. Doch man konn te nicht erraten, was sie dachte. »Sie sind bis hierhergekommen, um nach mir zu suchen.« Er sprach ruhig. Er war nicht nervös, gar nicht. »Jetzt haben Sie mich gefunden.« Dann schwie gen sie eine Weile, denn er hatte nichts mehr zu sagen, und sie sagte nichts.
»Als ich ein Mädchen war, hieß ich Nina. Doch all das war mit jenem Tag vorbei. Niemand hat mich je wieder so genannt.« »…« »Nina gefiel mir.« »…« »Nun habe ich viele Namen. Das ist etwas ande res.«
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»Ganz am Anfang erinnere ich mich an eine Art Waisenhaus. Sonst nichts. Dann kam ein Mann namens Ricardo Uribe und nahm mich mit. Er war Apotheker in einem kleinen Dorf auf dem Land. Er hatte weder eine Frau noch Verwandte, nichts. Er erzählte allen, ich sei seine Tochter. Er war erst seit wenigen Monaten dort. Die Leute glaubten ihm. Tagsüber mußte ich im Hinterraum der Apotheke bleiben. Wenn keine Kunden da waren, gab er mir Unterricht. Ich weiß nicht, warum er nicht wollte, daß ich allein unterwegs war. Was du lernen mußt, kannst du auch von mir lernen, sagte er immer. Ich war elf. Abends setzte er sich auf das Sofa, und ich mußte mich neben ihn legen. Ich legte meinen Kopf auf seinen Schoß und hörte ihm zu. Er erzählte seltsame Geschichten aus dem Krieg. Seine Finger streichelten mir über das Haar, vor und zurück, ganz langsam. Ich spürte sein Geschlecht unter dem Stoff seiner Hose. Dann küßte er mich auf die Stirn, und ich durfte schlafen gehen. Ich hatte ein Zimmer ganz für mich allein. Ich half ihm, die Apotheke und das Haus in Ordnung zu halten. Ich wusch die Kleider und kochte. Er schien ein anständiger Mensch zu sein. Er hatte große Angst, doch ich weiß nicht, vor was. … Eines Abends beugte er sich über mich und küßte mich auf den Mund. Während er mich weiter so küßte, steckte er die Hände unter meinen Rock und überallhin. Ich machte gar nichts. Und dann rückte er ganz plötzlich von mir ab, begann zu weinen und bat mich um Verzeihung. Er sah auf einmal ganz erschrocken aus. Ich verstand nichts. Einige Tage später sagte er, er habe einen Bräutigam für mich 42
gefunden. Einen Jungen aus Rio Galvan, einem Nachbardorf. Er war Maurer. Ich sollte ihn heiraten, sobald ich alt genug war. Am Sonntag darauf traf ich ihn auf der Straße. Er war ein schöner Bursche, groß und dünn, sehr dünn. Er bewegte sich langsam, vielleicht war er ja krank oder so was in der Art. Wir grüßten uns, dann ging ich wieder nach Hause. … Eine Geschichte wie jede andere. Warum wollen Sie die hören?«
Der Mann fand ihre Art zu sprechen merkwürdig. Als wäre sie nicht daran gewöhnt. Oder als wäre dies nicht ihre Sprache. Sie starrte ins Leere, wäh rend sie nach Worten suchte. »Ein paar Monate später, an einem Winterabend, verließ Uribe das Haus, um ins Riviera zu gehen. Das war eine Taverne, in der man sich zum Glücks spiel traf. Uribe ging jede Woche dorthin, immer an dem gleichen Tag, Freitag. An jenem Abend spielte er lange. Dann hatte er auf einmal vier Buben in der Hand, und im Pot war mehr Geld, als er in einem Jahr zu sehen bekam. Das war eine Angelegenheit zwischen ihm und dem Grafen von Torrelavid. Die anderen hatten ein bißchen mitgeboten, dann waren sie ausgestiegen. Doch der Graf hatte nicht lockerge lassen. Er erhöhte immer weiter. Uribe war sich seines Blattes sicher und hielt mit. Sie erreichten jenen Punkt, wo die Spieler den Sinn für die Realität verlieren. So kam es, daß der Graf seine fazenda Belsito in den Pot legte. Da hielt jeder in der Taver ne den Atem an. Mögen Sie Glücksspiele?« 43
»Nein«, sagte der Mann. »Ich glaube, dann können Sie das nicht verste hen.« »Versuchen Sie es.« »Sie werden es nicht verstehen.« »Das macht nichts.« »Jeder hielt den Atem an. Und es herrschte eine Stille, die Sie nicht verstehen werden.«
Die Frau erklärte, die fazenda Belsito sei die schön ste fazenda in der ganzen Gegend gewesen. Eine Allee von Orangenbäumen führte den Hügel hinauf, und vom Haus aus konnte man den Ozean sehen. »Uribe sagte, er besitze nichts, was so wertvoll sei wie Belsito. Und er legte seine Karten auf den Tisch. Da sagte der Graf, er könne ja immer noch um seine Apotheke spielen, und dann begann er wie ein Ver rückter zu lachen, und einige der Männer ringsum begannen mit ihm zu lachen. Uribe lächelte. Er hatte noch eine Hand auf den Karten liegen. Wie zum Abschied. Der Graf wurde wieder ernst, lehnte sich vor, über den Tisch, sah Uribe in die Augen und sagte: ›Du hast doch eine hübsche Tochter.‹ Uribe verstand nicht sofort. Er spürte alle Blicke auf sich und konnte keinen Gedanken fassen. Der Graf machte es ihm einfach. ›Belsito gegen deine Tochter, Uribe. Ein faires Angebot.‹ Und er legte seine fünf Karten verdeckt auf den Tisch, genau unter Uribes Nase. Uribe heftete den Blick darauf, ohne sie anzurüh 44
ren. Er murmelte etwas, doch niemand konnte mir sa gen, was. Dann schob er seine Karten über den Tisch, auf den Grafen zu. Der Graf holte mich noch in derselben Nacht zu sich. Er tat etwas Unvorhersehbares. Er wartete sechzehn Monate, und als ich vierzehn wurde, heira tete er mich. Ich habe ihm drei Kinder geschenkt. … Männer sind schwer zu verstehen. Vor dieser Nacht hatte der Graf mich nur ein einziges Mal gesehen. Er saß im Café, und ich ging über den Platz. Er fragte jemanden: ›Wer ist das Mädchen?‹ Und sie sagten es ihm.«
Draußen hatte es wieder angefangen zu regnen, so daß das Café nun voller Menschen war. Man mußte laut reden, wenn man sich verstehen wollte. Oder zusammenrücken. Der Mann sagte zu der Frau, sie habe eine merkwürdige Art zu erzählen: als erzähle sie das Leben einer anderen. »Was meinen Sie damit?« »Es scheint Sie gar nicht zu berühren.« Die Frau sagte, im Gegenteil, alles berühre sie viel zu sehr. Sie sagte, sie habe Sehnsucht nach jeder Kleinigkeit, die sie erlebt habe. Doch sie sagte es mit harter Stimme, ohne Melancholie. Da schwieg der Mann einen Moment und betrachtete die Leute ringsum. Er dachte an Salinas. Eines Morgens hatten sie ihn 45
tot in seinem Bett gefunden, zwei Jahre nach der Geschichte mit Roca. Etwas mit dem Herzen, hieß es. Dann ging das Gerücht, sein Arzt habe ihn ver giftet, nach und nach, monatelang, jeden Tag ein bißchen. Eine lange Agonie. Qualvoll. Man ermittel te in der Angelegenheit, doch man fand nichts her aus. Der Arzt hieß Astarte. Im Krieg hatte er ein bißchen Geld gemacht, mit einem Mittel gegen Fieber und Entzündungen. Das hatte er erfunden, gemeinsam mit einem Apotheker. Das Mittel hieß Botran. Der Apotheker hieß Ricardo Uribe. Zu der Zeit, als sie das Medikament erfanden, arbeitete er in der Hauptstadt. Nach dem Krieg bekam er Ärger mit der Polizei. Erst fand man seinen Namen auf der Lieferantenliste des Krankenhauses der Hyäne, dann tauchte jemand auf, der behauptete, er habe ihn dort arbeiten sehen. Doch es gab auch viele, die sagten, er sei ein anständiger Mann. Er wurde vernommen, erklärte alles, und als sie ihn laufenließen, packte er seine Sachen und ging aufs Land, in eine abgelegene Kleinstadt im Süden. Er kaufte eine Apotheke und nahm seinen Beruf wieder auf. Er lebte allein, mit einer kleinen Tochter namens Dulce. Er behauptete, ihre Mutter sei Jahre zuvor verstorben. Alle glaubten ihm. So versteckte er Manuel Rocas Tochter Nina, die überlebt hatte. Der Mann schaute um sich, ohne etwas zu sehen. Er war in Gedanken. Die Grausamkeit der Kinder, dachte er. Wir haben die Erde so brutal umgegraben, daß die Grausamkeit der Kinder wiedererwacht ist. Er wandte sich erneut der Frau zu. Sie sah ihn an. Er hörte ihre Stimme fragen: 46
»Stimmt es, daß man Sie Tito nannte?« Der Mann nickte. »Haben Sie meinen Vater vorher gekannt?« »…« »…« »Ich wußte, wer er war.« »Stimmt es, daß Sie als erster auf ihn geschossen haben?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Was bedeutet das schon …« »Sie waren zwanzig. Sie waren der Jüngste. Sie kämpften erst seit einem Jahr. El Gurre behandelte Sie wie einen Sohn.« Dann fragte ihn die Frau, ob er sich daran erinnere. Der Mann schaute sie immer noch an. Und erst in diesem Moment sah er in ihrem Gesicht endlich das Gesicht des Mädchens wieder, das dort unten gele gen hatte, makellos und richtig, vollkommen. Er erkannte ihre Augen in diesen wieder und ihre uner hörte Kraft in der Ruhe dieser ermatteten Schönheit. Das Mädchen: es hatte sich umgedreht und ihn angesehen. Das Mädchen: jetzt war es hier. Wie schwindelerregend die Zeit sein kann. Wo bin ich? fragte sich der Mann. Im Jetzt oder im Damals? Habe ich je in einem anderen Augenblick als diesem existiert? Der Mann sagte, er erinnere sich. Jahrelang habe er nichts anderes getan, als sich an all das zu erin nern.
»Jahrelang habe ich mich gefragt, was ich tun sollte. Doch die Wahrheit ist, daß ich es letztlich nie ge 47
schafft habe, jemandem davon zu erzählen. Ich habe nie jemandem erzählt, daß sie dort unten war, an jenem Abend. Sie glauben das vielleicht nicht, aber es ist wahr. Anfangs redete ich natürlich nicht dar über, weil ich Angst hatte. Doch dann verging etwas Zeit, und die Dinge änderten sich. Niemand küm merte sich mehr um den Krieg, die Leute wollten nach vorn blicken, was geschehen war, interessierte sie nicht mehr. Alles schien endgültig vorbei. Schließlich hielt ich es für das Beste, alles zu ver gessen. Die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Doch dann kursierte das Gerücht, Rocas Tochter sei am Leben und werde in irgendeinem Dorf im Süden versteckt. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Es schien mir unwahrscheinlich, daß sie diese Hölle überlebt hatte, aber bei Kindern weiß man ja nie. Schließlich begegnete ihr irgendwer und schwor, daß sie es wirklich war. Da begriff ich, daß diese Geschichte mich nie mehr in Ruhe lassen würde. Weder mich noch die anderen. Selbstver ständlich fragte ich mich, was sie an jenem Abend auf dem Bauernhof wohl gesehen und gehört hatte. Und ob sie sich an mein Gesicht erinnerte. Ich konn te auch schwer einschätzen, was so eine Sache im Kopf eines Kindes anstellt. Erwachsene haben ein Gedächtnis, sie haben einen Gerechtigkeitssinn, und oft hegen sie Rachegelüste. Aber ein kleines Mäd chen? Eine Zeitlang sagte ich mir, daß nichts passie ren würde. Doch dann starb Salinas. Auf diese selt same Art.« Die Frau hörte ihm zu, regungslos. Er fragte sie, ob er weiterreden solle. »Reden Sie weiter«, sagte sie. »Es stellte sich heraus, daß Uribe etwas damit zu 48
tun hatte.« Die Frau sah ihn ausdruckslos an. Ihr Mund war leicht geöffnet. »Vielleicht war es auch Zufall, aber eigenartig war es schon. Allmählich waren alle der Überzeu gung, daß dieses Mädchen etwas wußte. Heute ist das schwer nachzuvollziehen, doch das waren merkwürdige Zeiten damals. Nach dem Krieg ging es mit dem Land voran, in unglaublichem Tempo, und alles wurde vergessen. Doch viele hatten den Krieg nie hinter sich gelassen und konnten nicht richtig Fuß fassen in diesem glücklichen Land. Ich gehörte auch dazu. Wir alle gehörten dazu. Für uns war noch nichts vorbei. Und das Mädchen stellte eine Gefahr dar. Wir diskutierten lange darüber. Tatsache ist, daß Salinas’ Tod uns allen zu schaffen machte. Also wurde beschlossen, daß man das Mäd chen irgendwie beseitigen mußte. Ich weiß, wie verrückt sich das anhört, doch in Wirklichkeit war alles sehr logisch: schrecklich und logisch. Sie be schlossen, das Kind zu beseitigen, und gaben dem Grafen von Torrelavid den Auftrag, es zu tun.« Der Mann schwieg einen Moment. Er betrachtete seine Hände. Er schien seine Erinnerungen zu sortie ren. »Das war jemand, der den ganzen Krieg über ein doppeltes Spiel gespielt hatte. Er arbeitete für die anderen, war aber unser Mann. Er ging zu Uribe und fragte ihn, ob er es vorziehe, für den Mord an Sali nas in den Knast zu wandern oder zu verschwinden und ihm seine Tochter zu überlassen. Uribe war ein Feigling. Er hätte nur den Mund halten müssen, kein Gericht hätte ihn einsperren können. Doch er hatte Angst und verschwand. Er überließ das Mädchen 49
dem Grafen und verschwand. Er starb zehn Jahre später, in einem abgelegenen Dorf hinter der Grenze. Er hinterließ einen Brief, in dem er schrieb, er habe nichts getan und Gott werde seine Feinde bis in die Hölle verfolgen.« Die Frau wandte sich ab, um ein Mädchen anzuse hen, das an der Theke des Cafés lehnte und laut lachte. Dann nahm sie den Schal, der über ihrer Stuhl lehne hing, und legte ihn sich über die Schultern. »Reden Sie weiter«, sagte sie. Der Mann redete weiter. »Alle warteten darauf, daß der Graf sie ver schwinden ließ. Doch das tat er nicht. Er nahm sie bei sich auf. Sie gaben ihm zu verstehen, daß er sie umbringen müsse. Doch er unternahm nichts und versteckte sie weiterhin in seinem Haus. Irgendwann sagte er: Wegen des Mädchens braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Und heiratete sie. Monate lang sprach man in der Gegend von nichts anderem. Doch dann machten die Leute sich keine Gedanken mehr darüber. Das Mädchen wuchs heran und schenkte dem Grafen drei Kinder. Niemand bekam sie je zu Gesicht. Sie nannten sie Donna Sol, das war der Name, den der Graf ihr gegeben hatte. Man erzählte sich eine seltsame Geschichte über sie. Sie würde nicht sprechen. Sie habe nie ein Wort gespro chen. Seit der Zeit bei Uribe habe niemand sie spre chen hören. Vielleicht war es eine Krankheit. Viel leicht war sie einfach so. Ohne zu wissen, warum, fürchteten sich die Leute vor ihr.« Die Frau lächelte. Sie strich sich das Haar nach hinten, mit der Geste eines kleinen Mädchens.
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Da es inzwischen spät geworden war, kam der Kell ner zu ihnen und fragte, ob sie etwas essen wollten. In einer Ecke des Cafés hatten sich drei Typen hin gestellt und machten Musik. Sie spielten Tanzmusik. Der Mann sagte, er habe keinen Hunger. »Ich lade Sie ein«, sagte die Frau mit einem Lä cheln. Der Mann fand das alles absurd. Doch die Frau insistierte. Sie sagte, sie könnten ja ein Dessert essen. »Möchten Sie ein Dessert?« Der Mann nickte. »Gut, ein Dessert also. Wir hätten gern ein Des sert.« Der Kellner sagte, das sei eine gute Idee. Er fügte hinzu, sie könnten so lange bleiben, wie sie wollten. Sie bräuchten sich keine Gedanken zu machen. Er war ein junger Mann und sprach mit einem komi schen Akzent. Sie sahen, wie er zur Theke zurück ging und die Bestellung jemandem zurief, den sie nicht sehen konnten. »Kommen Sie oft hierher?« fragte die Frau. »Nein.« »Es ist schön hier.« Der Mann schaute sich um. Er sagte, ja, das sei es. »Haben Sie alle diese Geschichten von Ihren Freunden gehört?« »Ja.« »Und glauben Sie ihnen?« »Ja.« Die Frau murmelte etwas. Dann bat sie den Mann, ihr den Rest zu erzählen. »Wozu soll das gut sein?« »Tun Sie es, bitte.« 51
»Es ist nicht meine Geschichte, sondern Ihre. Sie kennen sie besser als ich.« »Nicht unbedingt.« Der Mann schüttelte den Kopf. Er betrachtete wieder seine Hände. »Eines Tages stieg ich in den Zug und fuhr nach Belsito. Inzwischen waren viele Jahre vergangen. Ich konnte nachts wieder schlafen, und ich war von Menschen umgeben, die mich nicht Tito nannten. Ich dachte, ich hätte es geschafft, der Krieg sei wirklich vorbei und es gebe nur noch eine Sache zu erledigen. Ich stieg in den Zug und fuhr nach Belsi to, um dem Grafen die Geschichte mit der Falltür und dem Mädchen zu erzählen. Er wußte, wer ich war. Er war sehr höflich, er führte mich in die Bi bliothek, bot mir etwas zu trinken an und fragte mich, wie er mir helfen könne. Ich sagte: ›Erinnern Sie sich an die Nacht, damals in Mato Rujo?‹ Und er sagte: ›Nein.‹ ›Die Nacht von Manuel Roca …‹ ›Ich weiß nicht, wovon Sie reden.‹ Er sagte das sehr ruhig, sanft sogar. Er war sich seiner Sache sicher. Er hatte keinen Zweifel. Ich verstand. Wir unterhielten uns noch eine Wei le über die Arbeit und sogar über Politik, dann stand ich auf und ging. Er ließ mich von einem Jungen zum Bahnhof bringen. Ich erinnere mich an ihn, weil er etwa vierzehn war, aber schon Auto fahren konn te, und sie ließen ihn.« »Carlos«, sagte die Frau. »Ich weiß nicht mehr, wie er hieß.« »Das ist mein ältester Sohn. Carlos.« 52
Der Mann wollte etwas sagen, doch der Kellner kam mit den Desserts. Er brachte auch eine neue Flasche Wein. Er sagte, vielleicht hätten sie Lust, ihn zu probieren, er würde sehr gut zu dem Dessert passen. Dann machte er einen Witz über seine Che fin. Die Frau lachte, mit einer Kopfbewegung, die Jahre zuvor unwiderstehlich gewesen wäre. Doch der Mann nahm sie kaum wahr, er folgte seinen Erinnerungen. Als der Kellner wieder fort war, sprach er weiter. »Bevor ich Belsito an jenem Tag verließ, ging ich diesen langen Flur entlang, mit all den verschlosse nen Türen, und dachte, daß sie irgendwo in diesem Haus war. Ich hätte sie gern gesehen. Ich hatte ihr nichts zu sagen, aber ich hätte gern ihr Gesicht wiedergesehen, nach so vielen Jahren, ein letztes Mal. Genau das dachte ich, als ich diesen Flur ent langging. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Auf einmal öffnete sich eine der Türen. Einen Mo ment lang war ich absolut sicher, daß sie darin er scheinen und neben mich treten würde, ohne ein Wort zu sagen.« Der Mann schüttelte leicht den Kopf. »Doch nichts passierte, dem Leben fehlt immer etwas zur Vollkommenheit.« Die Frau hielt den Löffel in der Hand und betrach tete das Dessert auf ihrem Teller, als suchte sie nach einem Schloß, um es zu öffnen.
Hin und wieder kam jemand an ihrem Tisch vorbei und warf einen Blick auf die beiden. Es war ein seltsames Paar. Ihre Gesten waren nicht die von 53
Menschen, die sich kannten. Doch sie sprachen sehr vertraut miteinander. Sie war so gekleidet, als wollte sie ihm gefallen. Keiner von ihnen trug einen Ring. Man hätte meinen können, ein Liebespaar, aber vielleicht Jahre zuvor. Oder Geschwister, wer weiß. »Was wissen Sie noch über mich?« fragte die Frau. Der Mann kam auf den Gedanken, ihr dieselbe Frage zu stellen. Doch nun hatte er angefangen zu erzählen, und ihm wurde bewußt, daß er es gern tat, vielleicht hatte er seit Jahren darauf gewartet, end lich alles zu erzählen, in einem schummrigen Café mit drei Musikern in der Ecke, die den Dreiviertel takt auswendig gelernter Lieder skandierten. »Zehn Jahre später kam der Graf bei einen Auto unfall ums Leben. Sie war allein mit den drei Kin dern, Belsito und all dem. Doch das gefiel den Ver wandten nicht. Sie behaupteten, sie sei verrückt, man könne sie nicht mit den drei Kindern allein lassen. Schließlich brachten sie die Angelegenheit vor Gericht, und der Richter beschloß, daß sie recht hatten. Man vertrieb sie aus Belsito und übergab sie den Ärzten, in einer Heilanstalt in Santander. Rich tig?« »Reden Sie weiter.« »Angeblich haben ihre Kinder gegen sie ausge sagt.« Die Frau spielte mit ihrem Löffel. Sie klimperte damit gegen den Tellerrand. Der Mann fuhr fort. »Ein paar Jahre später lief sie weg und ver schwand spurlos. Es hieß, Freunde hätten ihr zur Flucht verholfen und würden sie nun irgendwo verstecken. Aber Leute, die sie kannten, sagten, sie hätte gar keine Freunde. Eine Zeitlang suchte man 54
sie. Dann gab man es auf. Man sprach nicht mehr darüber. Viele glaubten, sie sei tot. Es gibt viele Verrückte, die spurlos verschwinden.« Die Frau sah von ihrem Teller auf. »Haben Sie Kinder?« fragte sie. »Nein.« »Warum nicht?« Der Mann antwortete, man müsse Vertrauen in die Welt haben, um Kinder zu zeugen.
»Damals arbeitete ich noch in der Fabrik. Oben im Norden. Ich hörte diese Geschichte über sie, über die Anstalt und daß sie dort weggelaufen sei. Es hieß, inzwischen liege sie wahrscheinlich irgendwo auf dem Grund eines Flusses oder am Fuße einer Bö schung, wo sie früher oder später ein Landstreicher finden würde. Es hieß, alles sei vorbei. Ich dachte gar nichts. Ich war bestürzt, als ich hörte, sie hätte den Verstand verloren, ich weiß noch, daß ich mich fragte, an welcher Art Verrücktheit sie wohl er krankt war: ob sie kreischend durchs Haus rannte oder einfach nur still in einer Ecke hockte und die Bodendielen zählte, mit einer Schnur in der Hand oder dem Kopf eines Rotkehlchens. Komisch, was für eine Vorstellung man von Verrückten hat, wenn man sie nicht kennt.« Dann machte er eine lange Pause. Nach der Pause sagte er: »Vier Jahre später starb El Gurre.« Er schwieg wieder eine Weile. Das Erzählen schien ihm plötzlich furchtbar schwerzufallen. »Sie fanden ihn mit einer Kugel im Rücken, das 55
Gesicht im Kuhmist vor seinem Stall.« Er blickte zu der Frau auf. »In seiner Tasche fand man einen Zettel. Auf dem Zettel stand der Name einer Frau. Ihr Name.« Er malte ein Zeichen in die Luft. »Donna Sol.« Er ließ seine Hand auf den Tisch zurücksinken. »Es war wirklich seine Schrift. Diesen Namen hatte er selbst geschrieben. Donna Sol.« Die drei Musiker dort hinten stimmten eine Art Walzer an, sie schummelten beim Takt und spielten leise. »Seit diesem Tag habe ich auf sie gewartet.« Die Frau hatte den Kopf gehoben und starrte ihn an. »Ich begriff, daß nichts sie aufhalten konnte und daß sie eines Tages auch zu mir kommen würde. Ich habe nie daran geglaubt, daß sie mich hinterrücks erschießen oder irgendwen zu mir schicken würde, der mich nicht einmal kannte. Ich wußte, sie würde kommen, sie würde mir ins Gesicht sehen, und sie würde vorher mit mir sprechen. Denn ich war derje nige, der an jenem Abend die Falltür aufgemacht hatte und dann wieder zu. Das hätte sie nicht verges sen.« Der Mann zögerte noch einen Augenblick, dann sagte er das einzige, was er noch sagen wollte. »Ich habe dieses Geheimnis mein Leben lang mit mir herumgeschleppt wie eine Krankheit. Ich habe es verdient, hier mit ihr zu sitzen.« Dann schwieg der Mann. Er spürte sein Herz ra sen, bis in die Fingerspitzen und die Schläfen. Er dachte, daß er in einem Café saß, Auge in Auge mit einer verrückten alten Dame, die jeden Moment 56
aufstehen konnte, um ihn zu töten. Er wußte, daß er sie nicht daran hindern würde. Der Krieg ist vorbei, dachte er.
Die Frau schaute sich um und warf hin und wieder einen Blick auf ihren leeren Teller. Sie redete nicht, und seit der Mann nicht mehr erzählte, sah sie ihn nicht mehr an. Man hätte meinen können, sie säße allein am Tisch und wartete auf jemanden. Der Mann lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er wirkte jetzt kleiner und müde. Wie aus der Ferne beobachtete er den Blick der Frau, der durch das Café und über den Tisch wanderte: Er verweilte überall, nur nicht bei ihm. Der Mann stellte fest, daß er seinen Mantel immer noch anhatte, und vergrub seine Hände in den Taschen. Der Kragen schnürte ihm den Nacken ein, als hätte er sich zwei Steine in die Taschen gesteckt. Er dachte an die Leute rings um und fand es komisch, daß niemand mitbekam, was hier in diesem Moment geschah. Wenn man zwei ältere Herrschaften so an einem Tisch sitzen sieht, kommt man wohl kaum auf die Idee, daß sie genau in diesem Moment zu allem fähig wären. Doch so war es. Denn sie war ein Gespenst und er ein Mann, dessen Leben seit langer Zeit vorbei war. Wenn diese Leute das wüßten, dachte er, hätten sie jetzt Angst. Dann sah er, daß die Augen der Frau glänzten. Wer weiß, wohin ihre Gedanken sie führen, fragte er sich. Das Gesicht war unbewegt, ausdruckslos. Nur die Augen waren an diesem Punkt. 57
War das Weinen? Er dachte noch, daß er nicht gern an diesem Ort sterben würde, mit so vielen Zuschauern. Dann begann die Frau zu reden, und was die bei den sich sagten, war dies: »Uribe hob die Karten des Grafen vom Tisch auf, ließ sie langsam durch seine Finger gleiten und deckte eine nach der anderen auf. Ich glaube nicht, daß er in diesem Augenblick daran dachte, was er verlor. Bestimmt dachte er daran, was er nicht ge wann. Ich bedeutete ihm nicht viel. Er stand auf und verabschiedete sich höflich von der Gesellschaft. Keiner lachte, keiner hatte den Mut, etwas zu sagen. Solche Karten hatten sie dort noch nie gesehen. Nun sagen Sie mir: Warum sollte diese Geschichte weni ger wahr sein als die, die Sie mir erzählt haben?« »…« »…« »…« »Mein Vater war ein wunderbarer Vater. Das glauben Sie nicht? Und warum nicht? Warum sollte diese Geschichte weniger wahr sein als die Ihre?« »…« »Wir können uns noch so sehr anstrengen, nur ein Leben zu leben, die anderen werden dennoch tau send andere darin entdecken, und deshalb ist es unvermeidlich, daß wir einander weh tun.« »…« »Wissen Sie, daß ich alles über jenen Abend weiß, mich aber an fast nichts erinnern kann? Ich war da unten, ich konnte nichts sehen, aber ich hörte etwas, und was ich hörte, war so absurd, daß es mir wie ein Traum schien. In diesem Feuer löste sich alles in Luft auf. Kinder besitzen ein besonderes Talent zu 58
vergessen. Aber dann erzählte man mir davon, daher weiß ich alles. Haben sie mich angelogen? Ich weiß es nicht. Diese Frage konnte ich mir nie stellen. Sie kamen mit den anderen ins Haus, Sie haben auf ihn geschossen, dann hat Salinas auf ihn geschossen, und am Ende steckte El Gurre ihm den Lauf seiner Maschinenpistole in den Hals und ließ seinen Kopf mit einer kurzen, trockenen Salve explodieren. Woher ich das weiß? Er hat es erzählt. Er erzählte gern davon. Er war eine Bestie. Ihr wart alle Bestien. Das seid ihr Männer immer im Krieg, wie soll Gott euch das verzeihen?« »Hören Sie auf.« »Schauen Sie sich doch an, Sie sehen aus wie ein ganz normaler Mensch, mit Ihrem abgetragenen Mantel, und wenn Sie die Brille abnehmen, stecken Sie sie ordentlich in ihr graues Etui. Sie wischen sich mit der Serviette über den Mund, bevor Sie trinken, die Fenster Ihrer Lotteriebude sind geputzt, und wenn Sie über die Straße gehen, schauen Sie gründlich nach rechts und links, Sie sind ein ganz normaler Mensch. Und doch haben Sie zugesehen, wie mein Bruder ohne Grund starb, nur ein Kind mit einem Gewehr in der Hand, ein Feuerstoß und aus, Sie waren dabei, und Sie haben nichts getan, Herr gott, Sie waren zwanzig, kein kaputter alter Mann, Sie waren ein junger Mann von zwanzig Jahren, und Sie haben nichts unternommen, tun Sie mir einen Gefallen?, können Sie mir erklären, wie all das möglich ist?, können Sie mir irgendwie erklären, wie so etwas geschehen kann, das ist nicht der Alptraum eines Kranken, das ist tatsächlich geschehen, sagen Sie mir, wie ist das möglich?« »Wir waren Soldaten.« 59
»Was soll das heißen?« »Wir befanden uns im Krieg.« »In welchem Krieg? Der Krieg war vorbei.« »Nicht für uns.« »Nicht für Sie?« »Sie wissen nicht das geringste.« »Dann sagen Sie mir, was ich nicht weiß.« »Wir glaubten an eine bessere Welt.« »Was soll das heißen?« »…« »Was soll das heißen?« »Wir konnten nicht mehr zurück, wenn die Leute anfangen, sich gegenseitig umzubringen, kann man nicht mehr zurück. Wir wollten nicht, daß es soweit kommt, die anderen haben angefangen, und dann konnte man nichts mehr dran ändern.« »Was heißt das, ›eine bessere Welt‹?« »Eine gerechte Welt, in der die Schwachen nicht unter der Bosheit der anderen leiden müssen und in der jeder das Recht hat, glücklich zu sein.« »Und daran haben Sie geglaubt?« »Natürlich habe ich daran geglaubt, wir haben alle daran geglaubt, das war möglich, und wir wußten auch, wie.« »Das wußten Sie?« »Das finden Sie so merkwürdig?« »Ja.« »Wir wußten es trotzdem. Und wir haben dafür gekämpft, wir wollten das Richtige tun.« »Indem Sie Kinder erschossen?« »Ja, wenn es sein mußte.« »Was reden Sie denn da?« »Sie können das nicht verstehen.« »Doch, das kann ich, erklären Sie es mir, dann 60
werde ich es verstehen.« »Das ist wie mit der Erde.« »…« »…« »…« »Bevor man etwas säen kann, muß man pflügen. Erst muß man die Erde umgraben.« »…« »Man mußte durch den Schmerz gehen, verstehen Sie?« »Nein.« »Bevor wir das errichten konnten, was wir an strebten, mußten wir erst eine Menge zerstören, es ging nicht anders, wir mußten Schmerzen ertragen und zufügen können, wer am meisten Schmerz aushielt, war der Sieger, man kann nicht von einer besseren Welt träumen und erwarten, daß sie sie dir geben, bloß weil du es willst, die hätten nie klein beigegeben, man mußte darum kämpfen, und wenn man das erst einmal begriffen hatte, machte es kei nen Unterschied mehr, ob es Alte waren oder Kin der, Freunde oder Feinde, man grub die Erde um, da war nichts zu machen, ohne Leiden ging es nicht. Und wenn alles zu entsetzlich schien, hatten wir immer noch unseren Traum, der uns rettete, wir wußten, wie hoch auch immer der Preis sein würde, die Belohnung würde unermeßlich sein, denn wir kämpften nicht um eine Handvoll Geld oder ein Stück Ackerland oder eine Fahne, sondern für eine bessere Welt, verstehen Sie, was das heißt? Wir verhalfen Millionen von Menschen wieder zu einem anständigen Leben, sie sollten glücklich sein und in Würde leben und sterben können, ohne mit Füßen getreten oder ausgelacht zu werden, wir waren 61
nichts, sie waren alles, Millionen von Menschen, für sie waren wir da, was bedeutet schon ein Kind, das vor einer Wand stirbt, oder zehn Kinder oder hun dert, die Erde mußte umgegraben werden, und wir haben es getan, Millionen anderer Kinder warteten darauf, daß wir es taten, und wir taten es, vielleicht sollten Sie –« »Glauben Sie das wirklich?« »Natürlich glaube ich das.« »Nach all den Jahren glauben Sie das immer noch?« »Warum sollte ich das nicht?« »Den Krieg habt ihr gewonnen. Halten Sie das hier für eine bessere Welt?« »Die Frage habe ich mir nie gestellt.« »Das stimmt nicht. Diese Frage haben Sie sich tausendmal gestellt, Sie haben nur Angst, sie zu beantworten. Genauso, wie Sie sich tausendmal die Frage gestellt haben, was Sie damals auf Mato Rujo zu suchen hatten, warum Sie weiterkämpften, ob wohl der Krieg schon längst vorbei war, warum Sie einen Mann, den Sie nie zuvor gesehen hatten, kalt blütig ermordeten, ohne ihm das Recht auf eine Gerichtsverhandlung zuzugestehen, ihn einfach ermordeten, nur weil Sie einmal mit dem Töten angefangen hatten und nicht mehr aufhören konnten. In all den Jahren haben Sie sich tausendmal gefragt, warum Sie in diesem Krieg gekämpft haben, und die ganze Zeit schwirrte Ihnen Ihre bessere Welt durch den Kopf, nur damit Sie nicht an jenen Tag denken mußten, als man Ihnen die Augen Ihres Vaters über brachte, und um all die anderen Ermordeten nicht wiedersehen zu müssen, die heute wie damals Ihr Gedächtnis bevölkern, eine unerträgliche Erinnerung 62
und der einzige wahre Grund, warum Sie kämpften, warum Sie nichts anderes im Sinn hatten, als sich zu rächen, mittlerweile müßten Sie das Wort Rache aussprechen können, Sie mordeten aus Rache, ihr alle habt aus Rache gemordet, kein Grund, sich zu schämen, es ist das einzige Heilmittel gegen den Schmerz, das einzige, das man gefunden hat, um nicht verrückt zu werden, mit dieser Droge wappnen sie uns für den Kampf, doch ihr seid nicht mehr davon losgekommen, sie hat euer ganzes Leben zerstört, es mit Gespenstern angefüllt, ihr habt euer ganzes Leben zerstört, um vier Jahre Krieg zu über stehen, und jetzt wißt ihr nicht einmal mehr –« »Das stimmt nicht.« »Jetzt erinnert ihr euch nicht einmal mehr, was das Leben überhaupt ist.« »Was wissen Sie schon davon?« »Ja, was weiß ich schon, ich bin nur eine verrück te Alte, stimmt’s?, ich kann das nicht verstehen, ich war damals nur ein kleines Mädchen, was weiß ich schon?, ich kann Ihnen sagen, was ich weiß, ich lag in einem Loch in der Erde, dann kamen drei Männer, nahmen meinen Vater, und dann –« »Hören Sie auf.« »Gefällt Ihnen die Geschichte nicht?« »Ich bereue nichts, man mußte kämpfen, und wir haben gekämpft, wir haben nicht zu Hause hinter verschlossenen Fenstern darauf gewartet, daß es vorübergeht, wir sind aus unseren Erdlöchern gekro chen und haben getan, was wir tun mußten, das ist die Wahrheit, alles andere können Sie jetzt sagen, Sie können so viele Gründe suchen, wie Sie wollen, aber jetzt ist das etwas anderes, man muß dabeige wesen sein, um zu verstehen, Sie waren nicht dabei, 63
Sie waren ein kleines Mädchen, Sie können nichts dafür, daß Sie es nicht verstehen.« »Erklären Sie es mir, damit ich es verstehe.« »Jetzt bin ich müde.« »Wir haben alle Zeit der Welt, erklären Sie, ich höre Ihnen zu.« »Bitte, lassen Sie mich in Ruhe.« »Warum?« »Tun Sie, was Sie tun müssen, aber lassen Sie mich in Ruhe.« »Wovor haben Sie Angst?« »Ich habe keine Angst.« »Was ist es dann?« »Ich bin müde.« »Wovon?« »…« »…« »Bitte …« »…« »…« »…« »Bitte.« Die Frau senkte den Blick. Dann rückte sie vom Tisch ab und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Sie blickte sich um, als merkte sie erst jetzt, ganz plötz lich, wo sie war. Der Mann saß da: Er rang die Hände und malträtierte seine Finger, doch das war das einzige, was sich in ihm rührte. Im hinteren Teil des Cafés spielten die drei Män ner Lieder aus früheren Zeiten. Es wurde getanzt. Eine Weile saßen sie so da, schweigend. Dann sagte die Frau etwas über ein Fest viele Jah re zuvor, auf dem ein berühmter Sänger sie zum Tanz aufgefordert hatte. Sie erzählte mit leiser 64
Stimme, er sei schon alt gewesen, habe sich jedoch mit großer Leichtigkeit bewegt, und bevor die Musik endete, erklärte er ihr, das Schicksal einer Frau sei eingeschrieben in ihrer Art zu tanzen. Dann sagte er zu ihr, sie tanze, als ob es eine Sünde wäre. Die Frau lachte und blickte sich wieder um. Dann erzählte sie noch etwas. Über den Abend auf Mato Rujo. Sie sagte, sie habe keine Angst gehabt, als die Falltür aufging. Sie habe sich umgedreht, um das Gesicht dieses Jungen zu sehen, und alles sei ihr ganz natürlich vorgekommen, sogar selbstverständ lich. Sie sagte, auf eine gewisse Weise habe ihr gefallen, was geschah. Dann habe er die Falltür wieder geschlossen, und da habe sie schon Angst bekommen, so große Angst habe sie in ihrem ganzen Leben nie mehr gehabt. Die erneute Dunkelheit, das Geräusch der Körbe, die wieder über ihrem Kopf zurechtgeschoben wurden, die Schritte des Jungen, die sich entfernten. Sie habe sich für verloren gehal ten. Und diese Angst habe sie nie mehr verlassen. Sie schwieg einen Augenblick, dann fügte sie hinzu, der Verstand eines Kindes sei eigenartig. Ich glaube, in diesem Moment hatte ich nur einen Wunsch, sagte sie: daß der Junge mich mitnahm. Dann sagte sie noch andere Dinge, über Kinder und über die Angst, die der Mann jedoch nicht hörte, denn er suchte nach den passenden Worten für et was, was er der Frau gern erzählen wollte. Er wollte ihr sagen, als er sie an jenem Abend in ihrem Loch zusammengekauert liegen sah, so ordentlich und rein – so rein –, da habe er eine Art Frieden empfunden, wie er es später nie wieder erlebt habe, oder nur selten, angesichts einer Landschaft oder wenn er einem Tier in die Augen sah. Er hätte ihr dieses 65
Gefühl gern ganz genau geschildert, doch er wußte, daß das Wort Frieden nicht ausreichte, um zu be schreiben, was er erlebt hatte, allerdings fiel ihm nichts anderes ein, außer vielleicht der Gedanke, etwas vor sich zu haben, das unendlich vollkommen war. Wie so oft in der Vergangenheit spürte er, wie schwer es war, all das, was ihm im Krieg widerfah ren war, beim Namen zu nennen, als gäbe es einen Zauber, der bewirkte, daß jene, die gelebt hatten, nicht erzählen konnten, und es denen, die erzählen konnten, nicht bestimmt gewesen war zu leben. Er schaute zu der Frau auf und sah sie reden, doch er schaffte es nicht, ihr zuzuhören, denn seine Gedan ken trugen ihn wieder fort, und er war zu müde, um sich dagegen zu wehren. Also blieb er einfach so sitzen, nach hinten gelehnt, und tat nichts weiter, bis er zu weinen anfing, ohne sich dafür zu schämen, ohne auch nur das Gesicht in den Händen zu ver stecken, er versuchte auch nicht, seine Gesichtszüge zu beherrschen, die sich zu einer pathetischen Gri masse verzogen, während die Tränen in seinen Hemdkragen rollten, seinen Hals hinunterflossen, der weiß war und schlecht rasiert, wie bei allen alten Männern dieser Welt. Die Frau hielt inne. Sie hatte nicht gleich bemerkt, daß er angefangen hatte zu weinen, und nun wußte sie nicht recht, was sie tun sollte. Sie lehnte sich leicht über den Tisch und murmelte etwas, ganz leise. Dann drehte sie sich intuitiv zu den anderen Tischen um und sah, daß zwei Jungen, die in der Nähe saßen, den Mann ansahen, und einer von ihnen lachte. Da rief sie ihm etwas zu, und als der Junge sich zu ihr umwandte, sah sie ihm in die Augen und sagte laut: 66
»Arschloch.« Dann füllte sie das Glas des Mannes mit Wein und schob es zu ihm. Sie sagte nichts mehr. Sie lehnte sich wieder zurück. Der Mann weinte immer noch. Hin und wieder warf sie den anderen böse Blicke zu, wie ein Weibchen vor einer Höhle mit Jungtieren.
»Wer sind die beiden?« fragte die Frau hinter dem Tresen. Der Kellner begriff, daß sie die beiden Alten dort meinte. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Kennst du sie?« »Nein.« »Der Alte hat vorhin geweint.« »Ich weiß.« »Die sind doch nicht betrunken …?« »Nein, ist schon in Ordnung.« »Aber müssen sie denn ausgerechnet hier …« Der Kellner fand nichts Schlimmes daran, in ei nem Café zu weinen. Doch er sagte nichts. Es war der junge Mann mit dem komischen Akzent. Er stellte drei leere Gläser auf den Tresen und ging wieder zu den Tischen. Die Frau wandte sich den beiden Alten zu und be trachtete sie eine Weile. »Sie muß mal eine schöne Frau gewesen sein …« Sie sagte das laut, obwohl ihr niemand zuhörte. Als sie jung war, hatte sie davon geträumt, Film schauspielerin zu werden. Alle sagten, sie sei so ein flottes Mädchen, und sie sang und tanzte gern. Sie besaß eine schöne Stimme, recht alltäglich, aber 67
schön. Dann lernte sie einen Kosmetikvertreter kennen, der sie mit in die Hauptstadt nahm, um Fotos für eine Nachtcreme zu machen. Sie hatte die Fotos gefaltet, in einen Umschlag gesteckt und, zusammen mit etwas Geld, nach Hause geschickt. Ein paar Monate lang versuchte sie es mit Singen, doch das kam nicht richtig in Gang. Mit den Fotos hatte sie mehr Glück. Nagellack, Lippenstift und einmal eine Art Tropfen gegen gerötete Augen. Das Kino hatte sie aufgegeben. Angeblich mußte man mit jedem ins Bett gehen, und das wollte sie nicht. Eines Tages erfuhr sie, daß Ansagerinnen für das Fernsehen gesucht wurden. Sie ging zu den Probe aufnahmen. Da sie flott war und eine schöne, alltäg liche Stimme hatte, bestand sie die ersten drei Run den und landete am Ende auf Platz zwei. Sie sagten, sie könne warten, vielleicht würde der Posten ja frei. Sie wartete. Zwei Monate darauf wurde sie Rund funkansagerin, im ersten staatlichen Sender. Eines Tages ging sie zurück nach Hause. Sie hatte vorteilhaft geheiratet. Nun besaß sie ein Café in der Innenstadt. Die Frau – die am Tisch – beugte sich ein wenig vor. Der Mann hatte vor einer Weile aufgehört zu weinen. Er hatte ein großes Taschentuch aus der Tasche gezogen und seine Tränen getrocknet. Er hatte gesagt: »Verzeihen Sie.« Dann hatten sie nicht mehr gesprochen. Es schien tatsächlich, als gäbe es für die beiden nichts mehr zu verstehen, miteinander. Und doch beugte sich die Frau irgendwann zu dem Mann vor und sagte: »Ich muß Ihnen eine etwas dumme Frage stellen.« 68
Der Mann schaute zu ihr auf. Die Frau sah völlig ernst aus. »Würden Sie mit mir schlafen?« Der Mann schaute sie nach wie vor an, regungslos und stumm. Die Frau fürchtete einen Moment, sie habe gar nichts gesagt, sondern nur daran gedacht, diese Frage zu stellen, es dann aber doch nicht geschafft. Also wiederholte sie sie langsam. »Würden Sie mit mir schlafen?« Der Mann lächelte. »Ich bin alt«, sagte er. »Ich auch.« »…« »…« »Tut mir leid, aber wir sind alt«, sagte der Mann dann. Die Frau merkte, daß sie daran gar nicht gedacht hatte und zu diesem Thema nichts sagen konnte. Da kam ihr etwas anderes in den Sinn, und sie sagte: »Ich bin nicht verrückt.« »Es ist egal, ob Sie verrückt sind. Wirklich. Mir ist das egal. Das ist es nicht.« Die Frau überlegte kurz, dann sagte sie: »Machen Sie sich keine Sorgen, wir können in ein Hotel gehen, suchen Sie eins aus. Ein Hotel, das niemand kennt.« Da glaubte der Mann zu begreifen. »Sie möchten, daß wir in ein Hotel gehen?« fragte er. »Ja. Das würde ich gern. Bringen Sie mich in ein Hotel.« Er sagte langsam: »Ein Hotelzimmer.« 69
Er sagte es, als könnte er sich das Zimmer besser vorstellen, es besser sehen, wenn er es beim Namen nannte, und so herausfinden, ob er gern dort sterben würde. Die Frau sagte, er brauche keine Angst zu haben. »Ich habe keine Angst«, sagte er. Ich werde nie mehr Angst haben, dachte er. Die Frau lächelte, denn er schwieg, und das schien ihr eine Art, ja zu sagen. Sie suchte etwas in ihrer Tasche, dann zog sie eine Geldbörse hervor und schob sie ihm über den Tisch. »Zahlen Sie hiermit. Ich mag es nicht, wenn Frauen im Café zahlen, wissen Sie, aber Sie waren mein Gast, darauf bestehe ich. Nehmen Sie mein Porte monnaie. Und geben Sie es mir zurück, wenn wir draußen sind.« Der Mann nahm die Geldbörse. Er dachte an einen alten Mann, der mit einem Portemonnaie aus schwarzem Atlasstoff zahlte.
Sie durchquerten die Stadt in einem Taxi, das neu aussah und noch Zellophanhüllen über den Sitzen hatte. Die Frau schaute die ganze Zeit aus dem Fenster. Diese Straßen hatte sie noch nie gesehen. Vor einem Hotel mit dem Namen California stie gen sie aus. Der vertikale Schriftzug erstreckte sich über alle vier Stockwerke des Gebäudes. Er bestand aus großen roten Lettern, die nacheinander aufleuch teten. Wenn der Name vollständig war, blinkte er einen Moment, dann erlosch er und begann wieder bei dem ersten Buchstaben. C. Ca. Cal. Cali. Calif. Califo. Califor. Californ. Californi. California. Cali 70
fornia. California. California. California. Dunkel. Eine Weile blieben sie Seite an Seite draußen ste hen und betrachteten das Hotel. Dann sagte die Frau: Gehen wir und ging auf den Eingang zu. Der Mann folgte ihr. Der Typ an der Rezeption sah sich ihre Papiere an und fragte, ob sie ein Doppelzimmer wünschten. Seiner Stimme war nichts anzumerken. »Was gerade frei ist«, antwortete die Frau. Sie nahmen ein Zimmer, das auf die Straße hi nausging, im dritten Stock. Der Typ von der Rezep tion entschuldigte sich, daß es keinen Aufzug gab, und bot sich an, ihr Gepäck hinaufzutragen. »Wir haben kein Gepäck. Es ist verlorengegan gen«, sagte die Frau. Der Typ lächelte. Er war ein anständiger Kerl. Als sie auf der Treppe verschwanden, blickte er ihnen nach, ohne schlecht über sie zu denken. Sie betraten das Zimmer, und keiner von beiden schaltete das Licht an. Von draußen warf die Leucht reklame einen trägen roten Schein auf Wände und Dinge. Die Frau stellte ihre Handtasche auf einen Stuhl und trat ans Fenster. Sie schob die durchsichti gen Vorhänge beiseite und sah eine Weile auf die Straße hinunter. Hin und wieder fuhr ein Auto vor bei, ohne Eile. Auf der Wand des Hauses gegenüber erzählten die erleuchteten Fenster von den trauten Abenden dieser kleinen Welt, fröhlich oder tragisch – wie gewohnt. Sie drehte sich um, zog ihren Schal aus und legte ihn auf einen kleinen Tisch. Der Mann stand in der Mitte des Zimmers und wartete. Er fragte sich, ob er sich auf das Bett setzen oder vielleicht irgend etwas über diesen Ort sagen sollte, zum Beispiel, daß er gar nicht so übel sei. Die Frau 71
sah ihn in seinem Mantel dastehen, er kam ihr ein sam und gehetzt vor, wie der Held in einem Film. Sie ging zu ihm, knöpfte seinen Mantel auf, ließ ihn über seine Schultern gleiten und zu Boden fallen. Sie waren einander so nah. Sie sahen sich in die Augen, und es war das zweitemal in ihrem Leben. Dann beugte er sich ganz langsam zu ihr, denn er hatte beschlossen, sie auf den Mund zu küssen. Sie rührte sich nicht und sagte leise: Machen Sie sich nicht lächerlich. Der Mann hielt inne und blieb so stehen, leicht nach vorn gebeugt, mit dem präzisen Gefühl im Herzen, daß alles zu Ende ging. Doch die Frau hob langsam ihre Arme, machte einen Schritt nach vorn und umarmte ihn, erst sanft, dann klammerte sie sich mit verzweifelter Kraft an ihn, den Kopf an seine Schulter gelehnt, und ihr ganzer Körper streck te sich dem seinen suchend entgegen. Die Augen des Mannes waren offen. Vor sich sah er das Fenster blinken. Er spürte den Körper der Frau, die ihn an sich drückte, und ihre leichten Hände in seinem Haar. Er schloß die Augen. Nahm die Frau in seine Arme. Und drückte sie mit der ganzen Kraft eines alten Mannes an sich. Als sie sich auszuziehen begann, sagte sie lä chelnd: »Erwarten Sie bitte nicht zuviel.« Als er sich auf sie legte, sagte er lächelnd: »Sie sind wunderschön.«
Aus einem benachbarten Zimmer drangen die Klän ge eines Radios, kaum hörbar. Der Mann lag, völlig nackt, auf dem Rücken in dem großen Bett, starrte 72
an die Decke und fragte sich, ob sich sein Kopf vor Müdigkeit drehte oder ob daran der Wein schuld war, den er getrunken hatte. Die Frau lag regungslos neben ihm, mit geschlossenen Augen, ihm zuge wandt, den Kopf auf dem Kissen. Sie hielten sich an der Hand. Der Mann hätte sie gern noch reden ge hört, doch er wußte, daß es nichts mehr zu sagen gab, daß in diesem Moment jedes Wort lächerlich gewesen wäre. Deshalb schwieg er, die Schläfrigkeit ließ seine Gedanken verschwimmen und sandte ihm eine vage Erinnerung an das, was an diesem Abend passiert war. Die Nacht draußen war rätselhaft, und die Zeit, in der er sich verlor, unermeßlich. Er dach te, er müsse der Frau dankbar sein, daß sie ihn an der Hand genommen und hierhergeführt hatte, Schritt für Schritt, wie eine Mutter ihr Kind. Sie hatte es mit Weisheit getan und ohne Eile. Nun würde das, was noch zu tun blieb, nicht schwierig sein. Er drückte die Hand der Frau in der seinen, und sie erwiderte seinen Händedruck. Er hätte sich gern umgewandt und sie angesehen, doch statt dessen ließ er ihre Hand los, drehte sich auf die Seite und kehrte ihr den Rücken zu. Ihm schien, als sei es das, was sie von ihm erwartete. Eine Geste, die ihr die Frei heit zum Nachdenken ließ und ihr gewissermaßen die Einsamkeit schenkte, um über den letzten Schritt zu entscheiden. Er spürte, wie der Schlaf ihn fort trug. Ihm kam noch in den Sinn, daß es ihm leid tat, nackt zu sein, denn so würde man ihn finden, und alle würden ihn ansehen. Doch er hatte nicht den Mut, das der Frau zu sagen. Also drehte er den Kopf ein wenig zu ihr, nicht genug, um sie sehen zu kön nen, und sagte: »Ich möchte, daß Sie meinen Namen wissen. Ich 73
heiße Pedro Cantos.« Die Frau wiederholte ihn langsam. »Pedro Cantos.« Der Mann sagte: »Ja.« Dann legte er seinen Kopf zurück auf das Kissen und schloß die Augen. In Gedanken wiederholte Nina den Namen ein paarmal. Er kullerte davon, wie eine glatte Glas murmel. Auf einem schiefen Tablett. Sie drehte sich um und blickte zu ihrer Tasche, die auf einem Stuhl an der Tür stand. Sie dachte daran, sie zu holen, doch sie tat es nicht und blieb im Bett liegen. Sie dachte an die Lotteriebude, an den Kell ner im Café, an das Taxi mit den zellophanverpack ten Sitzen. Sie sah den weinenden Pedro Cantos vor sich, die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben. Sie sah ihn, wie er sie streichelte, und dabei nicht zu atmen wagte. Diesen Tag werde ich nie vergessen, dachte sie. Dann drehte sie sich um, rückte näher an Pedro Cantos und tat das, wofür sie gelebt hatte. Sie kauer te sich hinter ihm zusammen: zog die Knie an ihre Brust, legte die Füße so aufeinander, daß ein Bein perfekt auf dem anderen ruhte, die Schenkel sich sanft aneinanderschmiegten, die Knie in der Balance wie zwei aufeinandergestellte Tassen, die Knöchel von einem Nichts getrennt; sie beugte die Schultern ein wenig vor und schob die gefalteten Hände zwi schen ihre Beine. Sie betrachtete sich. Sie sah ein altes Mädchen. Sie lächelte. Schale und Tier. Dann dachte sie, so unbegreiflich das Leben auch ist, daß wir es wahrscheinlich mit dem einen Wunsch durchschreiten, zu der Hölle zurückzukeh 74
ren, die uns hervorgebracht hat, um dort Seite an Seite zu weilen mit dem, der uns einmal aus dieser Hölle gerettet hat. Sie fragte sich, wo diese absurde Treue zum Schrecken herrührte, mußte jedoch fest stellen, daß sie keine Antwort darauf hatte. Sie wußte nur, daß nichts so stark ist wie der Instinkt, dorthin zurückzukehren, wo wir vernichtet wurden, und diesen Moment jahrelang zu wiederholen. Nur weil wir denken, wer uns einmal gerettet hat, könne es für immer tun. Eine ewige Hölle, identisch mit jener, aus der wir kommen. Doch auf einmal gütig. Und ohne Blut. Das Schild draußen betete seinen Rosenkranz aus roten Lichtern. Es sah aus wie der Feuerschein eines brennenden Hauses. Nina legte die Stirn an Pedro Cantos’ Rücken. Sie schloß die Augen und schlief ein.
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DANKSAGUNG Ich begann dieses Buch zu schreiben, als ich Gast im Isabella Stewart Gardner Museum in Boston war. Das ist ein seltsamer Ort. Eine Art venezianisches Patrizierhaus. Nur ohne Venedig. Das existierte nur in der Phantasie der Gründerin, einer amerikani schen Sammlerin, die in diesen Räumen einen riesi gen Schatz von Kunstwerken anhäufte und ihren Nachkommen unter einer einzigen Bedingung ver machte: daß sie nichts umstellten. Daher ist alles so geblieben, wie sie es wollte. Es ist, als besuchte man eine milliardenschwere Tante in Amerika. Das ist eine Reise wert, wie man so schön sagt. Ich möchte an dieser Stelle Pieranna Cavalchini und mit ihr alle Mitarbeiter des Museums erwähnen, die in jenen Tagen mit bostonianischer Diskretion in meiner Nähe weilten. Ihnen verdanke ich die Stille, ohne die keine Geschichte beginnen kann. A. B.
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