KLEINE
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KULTURKUNDLICHE
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OTTO ZIERER
DIE OLYMPISCHEN SPIEL...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
OTTO ZIERER
DIE OLYMPISCHEN SPIELE VON ATHEN BIS MELBOURNE
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU . MÜNCHEN • INNSBRUCK • ÖLTEN
Als im Jahre 1894, nach fast 1600 Jahren, der Gedanke an die Wiederbelebung der Olympischen Spiele des Altertums Wirklichkeit zu werden begann, war nicht nur an eine Erneuerung der alten Festspiele gedacht. Die Spiele der Griechen waren Wettbewerbe unter Griechen gewesen, und erst in der Spätzeit des Altertums waren auch Römer auf den erinnerungsreichen Kampfbahnen von Olympia zugelassen worden. Aber nie hätten die Tempelpriester der heiligen Stätte des Zeus daran gedacht, Einladungen zu dieser Begegnung der Wettkämpfer auch an Völker oder Menschen jenseits der Grenzen hinausgehen zu lassen. Erst Pierre de Coubertin, der große französische Sportsmann und Sporterzieher, hat der olympischen Idee jene Weite gegeben, die die Olympischen Spiele zu Festen aller Völker der Erde hat werden lassen. Und nicht mehr ein einziger Ort, Olympia, sollte Schauplatz der Kämpfe sein; jedes Land, das in der Lage war, die Veranstaltungen durchzuführen, sollte im Laufe der Zeit zum Mittelpunkt für die Sportler der Welt werden können. Daß Athen im Jahre 1S96 zum ersten Austragsort der modernen Spiele bestimmt wurde, war die Ehrenbezeugung der Neuzeit an die dreitausendjährige Hauptstadt jenes Landes, in dem einst zum ersten Male die olympische Flamme entzündet worden war. Die Geschichte der Olympischen Spiele der Neuzeit ist Folge glanzvoller Begegnungen der Wettkämpfer aus fast Kulturnationen der Erde gewesen. Die folgenden Seiten sollen kleine Chronik dieses großen Geschehens der letzten sechzig sein . . .
eine allen eine Jahre
Der Marathonlauf des griechischen Bauern Die Idee der völkerverbindenden Begegnungen erwacht in einer Zeit, in der völkerzerklüftende Kräfte weithin die Welt beunruhigen. Als Pierre de Coubertin am 16. Juni 1894 den ersten vorbereitenden Kongreß im Universitätsgebäude von Paris um sich versammelt,* fehlen neben anderen Ländervertretern auch die * Vgl. LUX-LESEBOGEN 218, „Olympia", in dem die Geschichte der Olympischen Spiele des Altertums bis zu ihrem Wiederaufleben am Ende des, 19. Jahrhunderts beschrieben ist. 2
Deutschen. Zu hart sind in dieser Z;it die Gegensätze zwischen Deutschland und Frankreich, als daß es nicht besonderer Mühe bedürfte, sie auf dem neutralen Feld3 des Sportlichen zusammenzuführen. Während man in den Ländern von Schweden bis USA bereits eifrige Vorbereitungen zur neuen Olympiade trifft, versucht der große Europäer und Weltbürger Baron de Coubertiu um die schmollenden Deutschen zu werben. Seine Briefe an den Vizepräsidenten des Berliner Unionclubs, General von Podbielski, bleiben unbeantwortet. Der französische Baron ist ein weitgereister Mann und kennt die Macht der Presse. So veröffentlicht er in der deutschen Zeitung „Spiel und S p o r t " Programm und Absicht des Internationalen Olympischen Komitees: der Vorsitzende der deutschen „Friedensgesellschaft'" — R. Feldhaus — wird zum Ehrenmitglied des nach Paris berufenen Kongresses ernannt. Aber die gute Absicht wird in den Hofkreisen Berlins völlig verkannt. Das Mißtrauen zwischen- den Völkern ist bei dieser gespannten Weltlage noch übergroß. Freilich gibt es auch genug vernünftige und überlegte Männer, die für die Erneuerung der Olympischen Spiele eintreten. Zu ihnen gehören der Reichskanzler von Hohenlohe-Schillingsfürst, der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin, Prinz Friedrich Karl von Hessen, der große Gelehrte Robert Wilhelm Bunsen, der Historiker Ranke und andere Leute mit Namen. Die eigentliche Organisationsleitung, der es zu danken ist, daß Deutschland doch noch zu den Athener Spielen geht, leistet der Gründer des „Deutschen Bundes für Sport, Spiel und T u r n e n " — Dr. Willibald Gebhardt. Unbeirrbar tritt er für den großen, völkerversöhnenden und erzieherischen Gedanken Coubcrtins ein, obwohl sich seiner Arbeit zahlreiche Widerstände entgegenstellen. Aber Dr. Gebhardt sammelt unerschrocken Gelder, interessiert Sportvereine und Athleten, leistet unentgeltlich die Arbeit eines Vorsitzenden des „Komitees für die Beteiligung Deutschlands an den Olympischen Spielen" und erreicht, daß im März 1896 eine kleine deutsche Abordnung die Fahrt nach Athen antreten kann.
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25. März 1896 . . . Das Stadion von Athen erstrahlt in schneeweißem pentelischem Marmor. Tagelang vor Beginn der „Ersten Internationalen Olympischen Spiele" hat der Himmel seine Schleusen geöffnet, kalte Winde fegten vom Hymettosgebirge herab. Seit dem Morgen dieses Tages aber leuchtet das klassische Azur vom reingefegten Firmament, die Sonne von Hellas zieht sieghaft herauf. Die treppenartigen Plätze der langen Ringmauer sind bis dicht unter den Mauerkranz von mehr als 70000 Zuschauern gefüllt. Ein einziges dunkles Meer von Menschen, untermischt mit dem bunten Farbenspiel der Uniformen und dem Weiß der Sommerkleidung der Athenerinnen, wogt lärmend über das Langrund der Kampfbahn. Selbst die hohe steinerne Mauer des Theaters, die den überragenden Abschluß des Stadions bildet, ist übersät mit Neugierigen. Bis hinaus in die bewaldeten Hänge des Ardettosgebirges zieht sich das Dunkel der Zuschauermassen hinauf. Mit großen Opfern hat das arme Griechenland diese prachtvolle, hufeisenförmige Stätte der ersten Olympischen Spiele erbaut. Wie vor 1800 Jahren von dem reichen griechischen Redner und römischen Statthalter Herodes Atticus an dieser Stelle, am linken Ufer des Ilissosbaches, aus eigenen Mitteln das alte Stadion des Lykurgos mit Marmor geschmückt worden war, so war auch diesmal ein großer Hellene erstanden, der den Großteil der Kosten übernommen hatte. Der Grieche Georgios Averoff aus Alexandria hatte eine Million Drachmen zum Bau gestiftet, der Rest war durch private Spenden und Mittel der Regierung aufgebracht worden. Aus demselben Marmorbruch von Pentele, aus dem auch die Antike ihre Steine geholt hatte, stammten die hellstrahlenden Platten, Blöcke und Säulen, mit denen das wundervolle Werk ausgestattet worden war. Das Stadion liegt in einer natürlichen Schlucht, deren bezaubernden Hintergrund die einzigartige Kulisse der alten Tempelburg von Athen, der Akropolis, bildet. Unter Trompetenstößen zieht die königliche Familie in ihre purpurüberdachte Loge an der Langseite, die Zehntausende erheben sich — unter dem Jubel der Massen ziehen die Abordnungen der Wettkampfnationen durch das Stadiontor. Voran die griechische Fahne, dann folgen zwölf Banner aus aller Welt und zwölf Gruppen von olympischen Kämpfern. 4
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Sie reihen sich vor der Königsloge auf, senken grüßend die Fahnen. Der König eröffnet mit einer Ansprache die Spiele. „Möge die Wiederbelebung der Olympischen Spiele die Bande der gegenseitigen Liebe stärken zwischen dem griechischen und den übrigen Völkern, deren Vertreter hier gastfreundlich zu empfangen wir uns glücklich schätzen. Möge sie die Leibesübungen und die moralische Gesinnung wieder zum Leben erwecken und beitragen zur Erziehung einer neuen griechischen Generation — würdig ihrer Vorfahren!"
* Der erste Tag bringt die Kämpfe in den Läufen, im Sprung und im Diskuswerfen. Obschon die Griechen, ihrer Vorfahren gedenkend, alles daran setzen, die Kränze zu gewinnen, obschon sie sich ausgezeichnet vorbereitet haben — gehen überraschend viele Siege an die Amerikaner, die nun als eine der ersten Sportnationen der Welt in Erscheinung treten. Sogar im klassischen Diskuswurf, in dem sich die Griechen ohne Konkurrenz glauben, siegen die Amerikaner. Der Grieche Pareskevopoulos wirft 28,295 m — also weiter, als der klassische Sieger Phaylles (28,17 m) je erreicht hat. Doch der amerikanische Student Garrett, der vorher noch nie einen Diskus geworfen hat, übertrifft ihn um 85,5 cm und gewinnt seiner Nation den Kranz. Den Höhepunkt der Spiele bildet am fünften Tag der Marathonlauf, der zur Erinnerung an den Todeslauf des Tages von Marathon erstmals durchgeführt wird. Schon am frühesten Morgen strömen die Einwohner Athens und die Fremden zum Stadion, die Laufstrecke ist bis weit ins Pentelische Gebirge von dichten Massen gesäumt. Die Innenstadt Athens ist verwaist. Griechenland hofft mit allen Fasern seines Herzens auf den Sieg in diesem Wettkampf, sein Wunderläufer Louis hat hart trainiert, jeder Hafeniunge am Piräus Diskuswerter bei der ,
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rechnet mit einem griechischen Iriumph. 5
Athener Olympiade von
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Am Tage vorher haben sich 25 Läufer aus zwölf Nationen nach 1 dem etwa 42 km entfernten Ort Marathon begeben. Hier, an der Ostküste der alten Landschaft Attika, haben im Jahre 490 v. Chr. die Athener unter ihrem Feldherrn Miltiades über die Perser ge- ; siegt, und von hier soll noch am gleichen Tage einer der Mitkämpfer nach Athen geeilt sein, um denen daheim den erfochtenen Sieg zu verkünden. Als er die Freudenbotschaft bekanntgegeben hatte, soll er tot zusammengebrochen sein. Die Sonne brennt heiß vom wolkenlosen Himmel. Nachmittags um zwei Uhr gibt Oberst Papadiamantopoulos den Startschuß, das Feld setzt sich in Bewegung. Zuerst führt die staubige und gewundene Straße den Berg nach Plothia hinauf; gleich zu Beginn haben sich der Australier Flack, der Franzose Lermusiaux und der Amerikaner Black an die Spitze gesetzt. Mit weitausgreifenden Schritten ziehen sie dem Griechen Louis davon, verschwinden bald im Schatten der pentelischen Wälder. Aber die Strecke ist weit — sie will Schritt um Schritt bewältigt sein. Noch mancher Berg, noch manches langgestreckte Tal erwartet die Läufer, ehe am dunstigen Horizont der Fels Lykabettos oder die schimmernde Götterburg der Akropolis auftauchen wird. Die griechischen Bauern am Wegrand sind bestürzt, als an der Spitze der Läuferreihe nicht ihr Landsmann erscheint; durch einige hundert Meter vom Feld der Spitzengruppe getrennt, läßt er die Favoriten entrinnen. Ohne den Lauf zu unterbrechen, ruft der Grieche den Bauern zu, sie sollten ohne Sarge sein — dieser Kampf werde bestimmt einen hellenischen Sieg bringen. Einmal nimmt er sogar bei einer Schenke ein Viertel Wein zu sich, erkundigt sich bei dem Wirt, der vor Aufregung den kostbaren Chios verschüttet, wie weit seine Konkurrenten voraus wären. Auch hier versichert er, daß er sie überholen werde. Mit eisernen Nerven, ganz Taktiker und Rechner, zieht er im gleichmäßigen Wolfstrott über die Straßen und Waldwege. Im Stadion herrscht um diese Zeit fieberhafte Erregung. So dicht drängen sich die Menschen, daß es den Ordnungsleuten nicht mehr gelingt, die Aufgänge freizuhalten, selbst der Zwischengang der Laufstrecken wogt von Zuschauern. Seit es 3 Uhr 45 ist, schauen die Athener immer wieder nach der Z?it, steigen auf die Bänke 6
und lassen sich von den auf Klippen und Mauern Stehenden sagen, ob noch nichts von den Läufern zu sehen wäre. Da erscheint gegen 4 Uhr 30 der deutsche Radfahrer Goederich und meldet dem König, daß immer noch der Australier Flack au der Spitze liege. Wie Lauffeuer verbreitet sich die Schreckensbotschaft unter den Griechen. Flack hat eben Kilometer 36 passiert, aber immerhin hat Louis bereits den Franzosen eingeholt und liegt dicht hinter dem Amerikaner. Bei Kilometer 37 tritt Louis zur Entscheidung an, er hat noch ungeahnte Reserven für den Spurt, langsam, aber sicher gewinnt er Boden, schon ist der Australier in Sichtweite, der Amerikaner fällt zurück. Flack versucht das Letzte, aber er ist erschöpft, taumelt nur noch und bricht bei Kilometer 38, kurz nachdem ihn Louis überholt hat, ohnmächtig zusammen. Der Amerikaner und der Franzose setzen nun ebenfalls zum Letzten an, der Kampf um den Sieg entbrennt. Im Stadion erscheint auf schäumendem Pferd Oberst Papadiamantopoulos und meldet dem König, daß Louis sich an die Spitze gekämpft habe. Der König wirft vor Freude die Uniformmütze in die Luft, schlagartig weiß das tosende Stadion, daß Griechenland führt. Ein Kanonenschuß meldet knapp vor fünf Uhr das Nahen der Läufer. Die Massen sind nicht mehr zu halten, alles steht winkend, schreiend, tobend auf den Bänken. Wieder wird ein Kanonenschuß gelöst: an der Einlaufstrecke tauchen mehr taumelnd als rennend die Läufer auf. Weit vorne pendelt, verhältnismäßig frisch, ein sonnverbrannter Mann mit weißer Tunika — das ist Louis, der Grieche. Schweißüberströmt mit wirrem, schwarzem Haar betritt er das Stadion, während der Jubelruf aus mehr als 70000 Kehlen ihn grüßt. Die griechischen Zuschauer ziehen die bisher verborgen gehaltenen blau-weißen Fähnchen hervor. Die Tribünen sind ein wogendes Meer der Begeisterung. Louis hat die Marathonstrecke in zwei Stunden, 55 Minuten, 20 Sekunden geschafft. Der Sieger wird mit Geschenken und Ehrungen überschüttet, ganz Griechenland hat sein Volksfest wie einst zu Olympia. W ä h -
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rend aber Athen das große Ereignis mit Fackelzügen und Illuminationen der Akropolis feiert, eilt der Bauer Louis in sein Heimatdorf Amarussi zurück, um — auch darin den antiken Olympiakämpfern gleichend — noch am selben Abend seiner Heimat den Sieg zu melden.
Sieg der fünf Ringe Schon auf dem Pariser Kongreß von 1894 war beschlossen worden, zu Ehren Baron de Coubertins die zweiten Spiele, die im Jahre 1900 stattfinden sollten, in Paris abzuhalten. Man versprach sich von der gleichzeitig stattfindenden Weltausstellung einen besonderen Zustrom, verrechnete sich jedoch; denn der gewaltige Festtrubel, die Überzahl von Veranstaltungen und die mangelhafte Vorbereitung bewirkten, daß diese Olympiade wie ein Ereignis am Rande eines größeren verlief. Die Spiele wurden zudem auf drei Monate ausgedehnt, was dem Interesse sehr abträglich war. Wieder waren die Amerikaner die hohen Favoriten und bewahrten den in Athen erworbenen Ruf. Im Schwimmen siegten die Engländer, im Fechten und Turnen die Franzosen. Das bedeutete vor allein für die Deutschen, die sich in diesen Disziplinen Hoffnungen gemacht hatten — im Turnen aber nur den 29. Platz erreichen konnten —, schwere Enttäuschungen. Der offizielle Abschlußbericht des deutschen Olympia-Komitees besagte : „Die übergroßen Erwartungen, die auf unsere Leute, zum großen Teil erstklassige, in Deutschland wohlbekannte Turner gesetzt wurden, haben sich nicht erfüllt. Damit ist der beste Beweis erbracht, daß man auch im Ausland — vor allem in Frankreich — zu turnen versteht." ' Bedeutend war die allgemeine Leistungssteigerung bai den Pariser Spielen. Sie batrug im Weitsprung ll,2o/o (von 6,34 m auf 7,025 m), 26o/0 beim Kugelstoßen (von 11,20 m auf 14,10 m) und 10 o/o für das 100-m-Laufen (von 12 auf 10,8 Sekunden).
» 1904 fanden die Olympischen Spiele in St. Louis statt und w u r den zu einer beinahe ausschließlich amerikanischen Angelegenheit. 8
Paavo Nurmi beim 1500-m-Lauf in Paris 19 2 4
Nur im Schwimmen und Turnen gelang es, einige deutsche Siege zu erringen. — Die Spiele von 1906 zu Athen wurden zur Feier des zehnjährigen Bestehens der erneuerten Olympischen Spiele veranstaltet. 903 Teilnehmer aus 20 Nationen traten an. Zum ersten Male erschien Italien mit je einem Sieg im Radfahren und Rudern unter den Siegern. Mit den Spielen von 1903, die in London abgehalten wurden, hatte sich die olympische Idee zu einem Weltereignis durchgerungen. 2666 Sportler aus 22 Nationen stritten um den Sieg. Vier Jahre später — 1912 in Stockholm — waren es bereits -1742 Teilnehmer aus 27 Nationen. Steil stiegen die Leistungen an, ungeahnte Rekorde fielen. Aber wieder waren es die Amerikaner, die sich Sieg um Sieg — schließlich 16 von 30 Disziplinen — holten. Zum ersten Male wurden zu Stockholm auch Architektur, Malerei, Bildhauerei, Literatur und Musik mit Preisen ausgezeichnet. In allen Ländern nahm das Sportleben einen gewaltigen Auf9
schwung, die versöhnende Idee Olympias knüpfte immer engere Bande unter den Völkern. Es wurde beschlossen, die folgenden, für 1916 geplanten Spiele nach Berlin zu vergeben — da kam der Weltkrieg von 1914/18 und zerstörte alles, was sich so hoffnungsfroh angebahnt hatte. Unter der Nachwirkung des Kriegsgeschehens wird ein Sportboykott über das besiegte Deutschland verhängt. Da auch andere Nationen fernbleiben, sind die Spiele von 1920 in Antwerpen nur ein Schatten der altolympischen Wettkämpfe. Die Sensation von Antwerpen 1920 aber ist das kleine Finnland, das mit neun Biegen in der Leichtathletik mit Amerika Punktgleichheit erreicht. Erstmals leuchtet der Name des Wunderläufers Nurmi auf. Doch noch mehr stehen die Spiele von 1924, die wieder in Paris — immer noch unter Ausschluß Deutschlands — stattfinden, im Zeichen finnischer Dberraschungen und insbesondere des großen Läufers Nurmi. Er geht über die 1500-m-Strecke und zwingt seine Hauptkonkurrenten Schärer-Schweiz und Stallard-England, das Letzte auszugeben. Wie eine taktmäßig vorangetriebene Maschine, fegt er die Bahn entlang — in einem Tempo, als laufe er auf Spurtstrecken. In 3:53,6 Minuten gewinnt er. Der Dritte hinter ihm ist Stallard, der an d;r Ziellinie ohnmächtig zusammenstürzt. 30 Minuten später finden die Endläufe für die 5000-m-Strecke statt. Es ist fast unglaublich, daß Nurmi — nach dem erschöpfenden Lauf über die 1503 m — auch zu dieser Ausscheidung antreten will. Als der StartschuX zu den 5013 m fällt, erwacht der ohnmächtige Stallard aus tiefer Bewußtlosigkeit, er sieht eben, wie sein Gegner von vorhin — der Finne Nurmi — seinen Landsleuten Wide und Ritola folgt. Mit erstaunlicher Gleichmäßigkeit läuft Nurmi dahin, alles an ihm ist locker und arbeitet maschinenmäßig. Ein Reporter schreibt über diesen erstaunlichen Mann: „Sein einziger Gegner ist die Z;it, die er unter seinen Füßen aufteilt; die Stoppuhr gibt ihm für seine Arbeit den Takt a n . " Nurmi gewinnt auch die 5033 m mit 14:31,2 Minuten. Ritola liegt knapp hinter ihm, Wide ist um 120 m abgehängt.
Tags darauf machen die Finnen durch Nurmi, Ritola und Katz auch das Mannschaftsrennen über 3033 m; Ritola holt die ,,Gol10
dene" über 10000 m und das Hindernisläufen über 3000 m. Nurmi ist für diese Läufe nicht freigegeben worden. Die 10000 m querfeldein hat der deutsche Berichterstatter Willy Meisl die „Sonnenschlacht von Colombes 5 ' getauft: denn unerbittlich brennt das glühende Gestirn über den Läufern. Nur elf Teilnehmer erreichen das Ziel, die anderen brechen, vom Hitzschlag getroffen, zusammen, andere taumeln wie versengte Schmetterlinge über die Bahn und verlieren Richtung und Ziel aus den Augen. Wieder überragt Nurmi die Konkurrenten. Als fühle er nichts von der verzehrenden Glut des Tages, zieht er unbeirrbar seine Bahn, trifft als Erster im Stadion ein und läuft die Ehrenrunde so frisch, als wäre er eben aufgebrochen. Lachend, elastisch und leicht stellt er sich den Bildberichterstattern, geht in seine Kabine, nimmt ein Bad und erscheint wieder im Stadion
Eine ähnliche Glanzleistung vollbringt sein Landsmann Stenroos, ein Holzfäller von 40 Jahren, der den Marathonlauf bestreitet. Die besten Langstreckenläufer der Welt — besonders die zähen und gut vorbereiteten Japaner — erstreben den Sieg. Wieder gibt es Zusammenbrüche, Wechsel in der Führung, Aufregungen und Sensationen — aber zuletzt läuft der 40jährige Finne an all seinen Gegnern vorbei und durchreißt nach zwei Stunden 41 Minuten und 22,6 Sekunden das Zielband. Während die übrigen Läufer des Feldes wie Erschöpfte ins Stadion taumeln, erscheint der Finne bereits gebadet, umgezogen und ganz frisch und schaut sich den Einlauf seiner Gegner an. Finnland ist durch diese überragenden Leistungen dicht an die führenden USA herangerückt und hat sich mit unsterblichem olympischem Ruhm bedeckt.
Es geht um den Mensdien Auf der olympischen Fahne sind fünf Ringe fest ineinandergefügt. Blau bedeutet Australien, schwarz Afrika, gelb Asien, rot Amerika und grün Europa — das weiße Feld zeigt an, daß sich die fünf Kontinente dieses Planeten in friedlichem Wettkampf vereinen. 11
Der Weltkrieg von 1914/18 hat diese Einheit der olympischen ' Idee gesprengt. Es ist das Verdienst des neutralen, friedlichen Holland, die fünf Ringe 1928 wieder zusammengefügt zu haben. Während auch zu den Spielen von Paris 1924 weder Deutschland, noch Rußlands Einladungen erhalten haben, wird dieser Zustand nun beendet. Nach 16 Jahren kann auch Deutschland wieder Vertreter zu den Olympischen Spielen entsenden. Sie finden in Amsterdam statt.
* Seit 1924 sind die Olympischen Spiele durch Winterspiele ergänzt, die jeweils ein halbes Jahr vor den Sommerspielen stattfinden und alle Arten von Wintersport umfassen. Der Sommer des Jahres 1928 ist da. Das riesige Langrund des Amsterdamer Stadions ist mit Sonnensegeln überspannt, schwarze Menschenmassen füllen die Tribünen. Einer spitzen, steinernen Nadel gleich, die eine kostbare Schale trägt, strebt gegenüber der Haupttribüne der olympische Turm empor, auf dem das Feuer der Spiele brennen soll, solange gekämpft wird. Am Haupttor des Stadions wird durch die feierlich gekleideten Herren des Internationalen Olympischen Komitees, des IOK, die Königin der Niederlande empfangen und unter den Klängen der Nationalhymne zur Ehrentribüne geleitet. Zehntausende erheben sich von den Sitzen. Dann folgt der Einmarsch der Nationen: Griechenlands Abordnungen im Gedenken an Olympias Ursprung voran, die übrigen in alphabetischer Folge, die Gastgebernation bildet den Abschluß. Wenn die Bannerträger und die verschiedenartig gekleideten Olympiateilnehmer an den Tribünen vorüberziehen, begrüßt sie stürmischer Reifall. Erstaunlich ist es, zu sehen, wie wenig Feindschaft wirklich unter den Völkern der Welt besteht: Franzosen jubeln den Deutschen zu, Deutsche begrüßen leidenschaftlich die französische oder englische Gruppe der zum friedlichen Wettstreit angetretenen Olympiakämpfer. Auf dem Felde Olympias gilt keine politische Spannung, hier ruht für wenige Wochen die Unrast der Welt. Es geht nur um den Menschen, den Menschen aller Rassen und Nationalitäten. Die Teilnehmer reihen sich mit gesenkten Fahnen vor der Königstribüne, ein Trompetensignal erfolgt, und der Prinzgemahl der 12
Niederlande erklärt die Spiele für eröffnet. Unter Kanonenschlägen geht die Fahne mit den fünf Ringen der Freundschaft am Mast hoch, begrüßt von den Völkern der Erde. Die Flamme in der Schale lodert empor, und zehntausend Brieftauben tragen die Botschaft von Olympia in die Welt. Chöre klingen auf, dem Spiel der Jugend jene Weihe zu geben, die dem Sinn des Festes entspricht. Der Holländer Harry Denis tritt zur Ehrentribüne vor, er hält in der Linken die Landesflagge, und während ihn die Bannerträger der Nationen umgeben, beginnt er den olympischen Eid zu sprechen. Er und die Vertreter der anderen Völker heben die Schwurhand: „ W i r schwören, daß wir uns bei den Olympischen Spielen als ehrenhafte Kämpfer zeigen und die für die Spiele geltenden Gesetze halten wollen. Unsere Teilnahme soll in ritterlichem Geiste zur Ehre unseres Vaterlandes und zum Ruhme des Sportes erfolgen.", Die Spiele sind eröffnet.
* Wieder sind es die Amerikaner, die sich an die Spitze d«r Sieger setzen, aber diesmal liefert vor allem Kanada die Überraschungen. Finnlands Läufer holen abermals gewaltige Erfolge. Die Deutschen — die so lange dem internationalen Sport ferngeblieben sind — schlagen sich gut. Eine Tabelle, die Franz Miller aus den Ergebnissen der reinen Athletikkämpfe von Amsterdam 1928 zusammengestellt hat, bringt folgende Reihenfolge: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
USA Finnland Deutschland Kanada Schweden England Frankreich Japan Südafrika Holland und Norwegen je 13
.
.
: 164 82 64 56 48 38 26 20 13 . 7
Punkte Punkte Punkte Punkte Punkte Punkte Punkte Punkte Punkte Punkte
Das Fest der Feste — Los Angeles
D
ie X. Olympischen Spiele 1932 im gluterfüllten Stadion von Los Angeles übertreffen in sonniger kalifornischer Schönheit alle vorangegangenen und steigen zu neuen sportlichen und organisatorischen Höhepunkten empor. Die vierzehn Kampftage bieten Eindrücke, Zahlen und Erlebnisse, die vordem unvorstellbar erschienen und all jene kaum den richtigen Gradmesser finden lassen, die nicht selbst dieses Los Angeles im Zeichen der fünf olympischen Ringe miterlebt und nicht selbst im Rausch dieser unvergleichlichen Kämpfe gestanden haben. Mehr als eineinhalb Millionen Menschen wohnen den Spielen bei, die von der Gastgebernation mustergültig vorbereitet und ohne Vergleich zu allen früheren olympischen Welttreffen geleitet worden sind. Erstmals leben die männlichen Teilnehmer aus allen Erdteilen und Völkern wochenlang in einem eigenen „Dorf" auf den Baldwin Hills unter den Flaggen der 40 Nationen in vorbildlicher Gemeinschaft und Freundschaft zusammen; unter besorgter Obhut und einem Höchstmaß an Gastfreundschaft hat man trotz ungewohnter klimatischer Verhältnisse alles so angenehm gestaltet, wie es unter Kaliforniens heißem, für den Fremdling ermüdendem und verzehrendem Gluthimmel nur irgend möglich ist. Mit dem Olympischen Dorf ist die uralte Überlieferung des antiken Griechenlands wieder aufgenommen und in eine neue Form gebracht: Die Wettkämpfer erleben eine gewisse Zeit vor den Spielen die letzte Vorbereitung gemeinsam und abgeschlossen vom Alltag und von der Öffentlichkeit, völlig hingegeben der großen olympischen Idee.
Riesenhaft und überwältigend wirkt das olympische Stadion. 40 Meter hoch wächst dieses Steinmassiv in den immer Maust! Himmel des amerikanischen Paradieses. An den großen Tagen umsäumt eine lebende Mauer von hunderttausend Zuschauern das weite Oval der mit allen erdenklichen, der technischen Entwicklung angepaßten Neuerungen durchzogenen Kampfbahn, an deren einem Ende über einer mächtigen Säulenhalle das olympische Feuer Tiochlodernd leuchtet. Die Amerikaner haben die organisatorischen Vorbereitungen in mustergültiger Weise getroffen. Selbst an das Kleinste, Unscheinbarste ist gedacht. Im Innenraum der herrlichen Kampfbahn sind 14
Auf dem „Fest der Feste": das gefüllte Stadion von Los Angeles
großartige technische Erfindungen erstmals dem Sport dienstbar gemacht. Auf einem hohen Stahlgerüst ist am Ziel eine automatisch auslösbare Zielkamera eingebaut, deren Aufnahmen wiederholt herangezogen werden müssen, um Entscheidungen des Zielgerichtes bei mit menschlichem Auge kaum feststellbaren knappen Abständen verbessern zu können. Die fehlerlos funktionierende elektrische Zeitmessung, von der Pistole des Starters ausgelöst, bildet eine willkommene Ergänzung der menschlichen Handzeitnahme. Neuartig ist die Verbindung von Zielaufnahme und elektrischer Zeitmessung auf dem gleichen Bildstreifen, so daß am Rande des Zielbildes gleichzeitig die erzielte Zeit abzulesen ist. In den Kurven und an den Geraden stehen Windmesser, mächtige Lautsprecher sorgen für lückenlose Untetrrichtung des Publikums: am Mikrophon spricht ein Mann, der sein Amt nicht nur mit viel Sachkenntnis, sondern auch mit gesundem Humor versieht. Glänzend eingespielt ist der Kontroll- und Gerätedienst, reibungslos und fast unauffällig fügt er sich in den Ablauf der Spiele. Die Weltpresse auf den Tribünen, durch Fernschreiber mit den Ereignissen auf allen weit auseinanderliegenden Kampfplätzen verbunden, ist bei ihrer nicht immer 15
leichten Arbeit im Trubel der olympischen Kämpfe zufriedep. Bitter empfinden es die Amerikaner, daß sie das Mißgeschick erleben müssen, im 3000-m-Hindernislauf eine Runde zuviel zurücklegen zu lassen: Für alle Zeiten wird in den Aufzeichnungen über den olympischen 3000-m-Hindernislauf der peinliche Zusatz erscheinen: „1932 in Los Angeles 3450 Meter — eine Runde zuviel — g e l a u f e n . . . ! " Diese Tatsache wird noch in der Chronik der Weltspiele verzeichnet stehen, wenn die mustergültige Organisation von Los Angeles selbst längst vergessen ist.
Der deutsche Sport entsendet wegen der gewaltigen Entfernung, zu der die vorhandenen Geldmittel in umgekehrtem Verhältnis stehen, nach Los Angeles eine zahlenmäßig weit schwächere Mannschaft als 1928 zu den Spielen in Amsterdam. Den 200 deutschen Wettkämpfern von damals stehen diesmal nur 82 Teilnehmer gegenüber, zu denen auf amerikanischem Boden noch fünf Deutsche aus den Vereinigten Staaten kommen. Die Überlegenheit der Vereinigten Staaten ist im eigenen Land verständlicherweise sehr hoch und zeigt sich in aller Deutlichkeit, wenn wir allein die Goldmedaillen (einschließlich der in Lake Placid ausgetragenen Winterspiele) zusammenzählen: Mit 50 olympischen Siegen liegt Amerika mit überragend weitem Vorsprung an der Spitze; zweiter ist zur Überraschung aller Sportler Frankreich mit zwölf Siegen. Dann folgen Schweden mit elf, Italien mit zehn, Japan mit sieben, Finnland und Ungarn mit je sechs, England mit fünf und Deutschland mit vier. Diese vier deutschen Goldmedaillen gehen auf das Konto der Berliner Ruderer im Vierer, des Ringers Brendel, des Gewichthebers Ismayr und schließlich noch des Notars Bauer für sein im Kunstwettbewerb ausgezeichnetes Buch „Der Kampf um den Himalaya".
* Es sind viele, die sagen, daß es im Sport keine Sensationell geben dürfe. Und doch war fast alles in Los Angeles Sensation. Ein Höhepunkt an Leistung folgte dem anderen; es kam zu Ergebnissen, die keiner erwartet hatte, wenngleich sie heute vielleicht schon wieder weit überholt sind. Man muß sie aber mit den Augen von damals werten. 16
Wer diese olympischen Ereignisse nochmals an sich vorbeiziehen läßt, ist einigermaßen in Verlegenheit, wenn er aus der verwirrenden Überfülle der sensationellen und überraschenden Eindrücke, Leistungen, Ergebnisse, Zahlen und Zeiten irgend etwas herausgreifen soll, um ihm die Krone zu geben. Fast unglaubliche Zeiten werden auf der schnellen Aschenbahn in Los Angeles gelaufen. Rekorde, Weltbestleistungen und olympische Höchstmarken konnten fast Tag um Tag festgehalten werden. Eddie Tolan, ein Neger, verhältnismäßig klein, aber ungewöhnlich kräftig, erweist sich als schnellster Läufer der Welt und wird, wie der Kanadier Williams vier Jahre zuvor in Amsterdam 1 , Doppelsieger über die beiden kurzen Strecken. Wundervoll [der neue Weltrekord des Kalifornien Carr über 400 Meter in 46,2 Sekunden, den man fast, im Vergleich mit den anderen Spitzenleistungen von damals, als überwältigend bezeichnen möchte. Nicht minder glänzend der neue 800-Meter-Weltrekord, den der englische Lehrer Tom Hampson, ein würdiger Nachfolger Howes, des Siegers von 1924 und 1928, mit 1:49,8 Min. aufstellen kann (daß heute die Leistungen schon wieder übertroffen sind, kann die Leistung von damals nicht schmälern). Finnische Niederlagen über 1500 Meter und 10000 Meter stellen alle Voraussagen auf den Kopf; über 1500 m siegt der Italiener Beccali und im 10000-mLauf ist es der Pole Kusoczinski, ein Läufer mit einem geradezu unvorstellbaren Stil, der den Finnen alle Berechnungen zunichte macht. Mit Mühe und Not rettet Lehtinnen über 5000 Meter den finnischen Langstreckler-Ruhm. Glanzvolle Weltrekorde schafft Amerika in den Staffeln, und man ist fast versucht, diesen beiden Mannschaftsleistungen die Krone in der Leichtathletik zuzuerkennen. Die 4 x 1 0 0 m und die 4X400 m werden in de~n kaum je für möglich gehaltenen Zeiten von 40 Sekunden bzw. 3:08,2 Min. gelaufen. In der kurzen Staffel durchrennt damit der einzelne Mann seine Strecke in der ,,Wunschtraum-Zeit" von zehn Sekunden, in der längeren ergibt sich für jeden nur wenig über 47 Sekunden! Das ist für den Fachmann die höchste „Sensation" der Spiele! Bei den Frauen beherrscht neben der Polin Stella Walsh das amerikanische Mädel Mildred Babe Didrickson, ein echtes TexasGirl, die Besten aus aller Welt. 17
Im Schwimmen bringt Japan die große Überraschung der Spiele, als es die bisherige Überlegenheit der Amerikaner bricht. Wenn die USA trotzdem noch in der offiziellen Gesamtwertung im Schwimmen.an der Spitze bleiben, so ist das allein das Verdienst der Frauen, gegen die der Hauptkonkurrent Holland in dieser Zeit noch nicht aufkommen kann.
* Unvergeßlich wird allen die erhebende Sehlußfeier von Losl Angeles bleiben. Frei von jeder Schaustellung zaubert sie eine von echter Herzlichkeit getragene Feierstimmung in das dichtbesetzte: Stadion. Hunderttausend Menschen lauschen den wehmutsvollen hawaiischen Abschiedsklängen, der wunderbaren, schwermütigen und sehnsüchtigen Melodie des Aloha-Liedes, des Abschieds- und Heimwehliedes des Pazifischen Ozeans, das von 1500 Sängern vorgetragen wird. Die Schlußfeier von Los Angeles ist nicht die in der olympischen Tradition niedergelegte Zeremonie, aber sie ist ein Ereignis, dessen ergreifender Gewalt sich keiner der Teilnehmer entziehen kann. Inmitten dieser Feierstimmung erhält Deutschland noch eine Goldmedaille, von allen wohl die beste: Den Brüdern Franz und Toni Schmid wird sie überreicht, als eine Anerkennung für eine Bergsteiger-Tat, die mutige Bezwingung der Matterhorn-Nordwand. Nur einer der beiden ist an diesem Tage noch am Leben, deazweite, Toni, ist inzwischen ein Opfer seiner geliebten Berge geworden. Die olympische Flagge mit den fünf ineinandergeschlungenen Ringen sinkt vom hohen Mast und wird, weit ausgebreitet, von amerikanischen Studenten über das Feld getragen, auf dem 14 Tage lang die Besten der Welt in Frieden gekämpft haben. Kaiionenschüsse künden weithin über die Millionenstadt den Schluß der Spiele. Das olympische Feuer ist schon im Verlöschen, als nochmals drei Fahnen langsam in die Höhe steigen und drei Hymnen erklingen: zuerst die griechische, zu Ehren jenes Landes, von dem die Olympischen Spiele der Antike und der Neuzeit ihren Ausgang genommen haben, dann die amerikanische im Gedenken an die eben beendeten Kämpfe, und endlich die deutsche, der Welt kündend, daß nun die XI. Olympiade folgen wird, die Deutschland übertragen ist. 18
1936 — in Beilin In bisher nie gekannten Ausmaßen nimmt Deutschland die Vorbereitungen für die nächsten Spiele 1935 auf. In Berlin und in Garmisch-Partenkirchen — für die Winterspiele — entstehen neue Kampfstätten. Der deutsche Sport ist sich der hohen Ehre und Aufgabe bewußt, olympischer Gastgeber zu sein. Im Sportgeist der Mitwirkenden und Zuschauer gilt die Freude der Hunderttausende dem Glanz der festlichen Tage, der Schönheit des märkischen Sommers; die unbefangene Begeisterung wendet sich allein der sportlichen Leistung zu, gleichgültig, welchem Volk und welcher Xation sie gelingt. Die deutsche Mannschaft steht in Ehren und Ritterlichkeit gegen die beste Jugend der Welt — und siegt! 33 goldene, 26 silberne und 30 bronzene Medaillen fallen an die deutschen Teilnehmer. Mit diesen Erfolgen hat sich Deutschland an die Spitze aller in Berlin vertretenen Länder und Nationen gekämpft. Wie groß der Erfolg ist, zeigt eine Gegenüberstellung der deutschen Erfolge bei den letzten Olympischen Spielen:
Amsterdam 1928 Los Angeles 1932 Berlin 1939
Gold
Silber
Bronze
10 4 33
7 13 26
14 4 30
Die Spiele 1932 in dem paradiesischen Los Angeles sind oft als das „Olympia der Rekorde" beze ; chnet worden, und es hat viele gegeben, die den Höchstleistungen von 1932 ein langes olympisches Leben vorausgesagt haben. Aber in Berlin wurden sie schon wieder überboten. So will es der olympische Kampf: Citius, altius, fortius! Immer schneller, höher, stärker! Unerreichbar scheinende Rekordmarken sind auch in Berlin ans Wanken gekommen und neuen sportlichen Höchstleistungen gewichen. Fast jedes Ergebnis hat frühere hinter sieh gelassen. Bezeichnend, daß beispielsweise der Weitsprung-Sieger von Los Angeles mit seinem Sprunge, der ihm die Goldmedaille geschenkt hat, in Berlin nicht einmal Sechster geworden wäre. 19
Die Wettkämpfe, angefeuert vom Jubel eines Kolosseums, in dem sich das Volk selber ein Schauspiel gibt, übertreffen alle Erwartungen. Die Spiele werden zu einem Zweikampf zwischen den bisher unübertroffenen Amerikanern und den Deutschen. Die USA gewinnen die 100-Meter-Staffel der Männer und unterbieten die sagenhafte Bestzeit von Los Angeles, indem sie die 4X100 Meter in 39,8 Sekunden schaffen. Die deutschen Staffelläuferinnen, die seit einiger Zeit in der 4 X 100-Meter-Staffel den Weltrekord mit 46,4 Sekunden halten, hoffen, der Goldmedaille der USA-Läufer die eigene Goldmedaille entgegenstellen zu können. Albus, Krauß, Dollinger und Dörfeid laufen für Deutschland. Mit dem Startschuß liegen die deutschen Mädchen in Führung. Dicht darauf folgen die USA. Von Wechsel zu Wechesl wächst der Abstand. Die Schlußläuferin Dörfeid hat gut zehn Meter Vorsprung vor der Amerikanerin Stephens, als sie in die Zielgerade einbiegt. Donnernd rast der Beifall der Massen. Da — ein einziger Aufschrei! Ilse Dörfeids Hand entfällt der Stab — die Goldmedaille, die schon sicher schien, ist dahin. Die Amerikanerinnen ziehen vorbei, Großbritannien geht vorbei, Kanada stößt vorüber. Deutschland hat einen Sieg verschenkt.
* Zäh kämpfen die Springer. Amerika ist mit dem Neger Jesse Owens angetreten. An der Anzeigetafel des Stadions erscheinen nach dem ersten Durchgang die erzielten Weiten: Owens 7,87 — Long (Deutschland) 7,84 — Tajima (Japan) 7,74 — Maffei (Italien) 7,73 — Clark (USA) 7,60. Es wird grabesstill, als die Springer zum entscheidenden Durchgang antreten. Zuerst springt der Deutsche Lutz Long. Als seine Weite an der Tafel erscheint, hält man im weiten Rund den Atem an: 7,87 — genau die Weite Jesse Owens'! Jetzt kommt alles darauf an, wie Owens springt. Federnd in seiinen langen, geschmeidigen Gliedern geht der Schwarze zum Ablauf. Er kauert sich wie ein Sprinter zum Start, fliegt panthergleich empor und jagt auf den Sprungbalken zu. Weit wirft er sich nach vorn und landet im stiebenden Sand der 20
Die Flamme von Olympia, von Griechenland aus unterwegs zum Ort der Spiele
Grube: 7,94 m. Das ist Weltrekord! Aber es soll noch besser komm e n : Im dritten und letzten Versuch, in dem Lutz Long und der Japaner Tajima die Linie des Sprungbalkens überschreiten und ausscheiden müssen, reißt es Owens wie eine Feder hoch, die Kampfrichter messen 8,05 m— die bisher für unmöglich gehaltene 8-Meter-Grenze ist übersprungen. Derselbe Jesse Owens schafft in den kurzen Strecken neue olympische Rekorde: für 100 m 10,3 Sekunden und für 200 m 20,7 Sekunden I Doch im Boxen, Turnen, Gewichtheben, Reiten und Rudern fallen die Medaillen wieder an Deutschland, noch immer ringen die USA und Deutschland um den Triumph. Im Schwimmen hält man allgemein die Japaner für die Favoriten. Das Schwimmstadion mit seinen ansteigenden Sitzplätzen ist zum Bersten gefüllt, als die 100-m-Freistil-Entscheidung der Männer auf dem Programm steht. Immer wieder ruft der Lautsprecher: „Silence. s'il vous plait! — Silence please! — Ruhe bitte!" Dann steigen die braungebrannten Männer auf die Startblöcke am Rande des Bassins: drei Japaner, zwei Amerikaner, ein Deutscher und ein Ungar. 21
Die sieben Bahnen sind durch Ssile geteilt. Mit dem Startschuß schnellen sich die sieben Männer ins aufspritzende Element. Fast Brust an Brust durchpflügen sie das Wasser. An der W ende hat der Japaner Yusa einen geringen Vorsprung, sein Landsmann Arai liegt dicht neben ihm. Der große Amerikaner Fick holt auf, er hat bereits einen der Japaner und den Deutschen Fischer hinter sich gelassen. Alles hat nur Augen für die drei Japaner und den Amerikaner, die bereits zum Endspurt ansetzen. Niemand beachtet zunächst den auf Bahn sieben schwimmenden Ungarn Csik, als plötzlich ein Aufschrei durch die Menge geht: Der Ungar schießt wie ein Torpedo vor, überholt 20 Meter vor dem Ziel den Japaner Taguchi, schwimmt gleich darauf an dem Deutschen Fischer und dem Amerikaner Fick vorbei. Jetzt ist er auf derselben Höhe mit Arai, passiert ihn und ist im Ziel gleichzeitig mit dem dritten Japaner Yusa. Doch das unbestechliche Auge der Zielkamera beweist, daß er auch noch Yusa geschlagen hat. Das kaum zu Glaubende ist eingetreten: Der Ungar hat die japanische Schwimmer-Elite besiegt. Unter Eljenrufen werfen die Ungarn ihre rot-weißen Hüte in die Luft. Csik ist der Held des Tages.
Groß sind die Leistungen der Deutschen im modernen Fünfkampf, im Pistolenschießen, phantastisch die Leistung des Norwegers Rögeberg, der im Kleinkaliberschießen von 300 möglichen Ringen auch 300 schießt! Herrlich die Reit- und Dressurprüfungen, die Ruder-, Segel- und Fechtkämpfe. Die Krone aller athletischen Übungen ist der Zehnkampf der Männer. Hier setzen sich drei Amerikaner an die Spitze: Morris mit 7900 Punkten, Clark mit 7601 Punkten und Parker mit 7277 Punkten. Die Gesamtwertung hat sich gegenüber früheren Zahlen weithin verschoben. Die USA liegen nicht mehr an der Spitze. Die Punkttabelle verzeichnet: 1. 2. 3. 4.
Deutschland USA Italien Finnland
181 124 47 39 22
Punkte Punkte Punkte Punkte
5. 6. 7. 8.
Frankreich Ungarn Schweden Japan
39 37 37 34
Punkte Punkte Punkte Punkte
„Ich rufe die Jugend der Welt" Als der sechzehnte olympische Tag zu Ende gegangen ist, strahlen an der Anzeigetafel die Worte Coubertins auf: „Möge die olympische Flamme leuchten durch alle Geschlechter, zum Wohle einer immer höher strebenden, mutigeren und reineren Menschheit!" Beethovens Opferlied erklingt unter dem Schweigen der Hunderttausend, Mädchen treten vor und schmücken die Banner der 52 Nationen mit jungem Eichenlaub. Dann sinkt die Fahne mit den fünf Ringen herab, sie wird langsam durchs Stadion getragen. Auf dem Marathontor erlischt die olympische Flamme. Tokio soll die Stätte der nächsten Spiele sein!
Drei Jahre später stehen sich die Völker wieder in Waffen gegenüber. Aus allen Nationen, die jemals um olympische Ehren gekämpft haben, verlieren junge Menschen ihr Leben. Die sich im friedlichen Wettstreit gemessen, müssen sich selbst zerstören, die Denkmäler ihrer Kultur und den hohen Gedanken der Brüderschaft aller Menschen. 1940 trifft sich die Jugend der Welt nicht in Tokio. Erst 1945 zieht die amerikanische Jugend in diese Stadt ein. Aber sie trägt Waffen und kommt als Sieger in das geschlagene Japan. Und Berlin — die Stadt der XI. Olympiade — ist zum großen Teil ein Trümmerfeld. Wieder war Krieg!
* 1948, drei Jahre nach dem Ende der Vernichtungsjahre, sollen die ersten Nachkricgsspiele stattfinden . . . 23
Es ist wieder ein Neubeginn nach grausamer Entzweiung. Die olympische Idee ist auch in dem zweiten Weltenbrand unseres Jahrhunderts nicht untergegangen. Bald schon nach Kriegsende gehen Wagemutige an die Wiederbelebung des olympischen Friedensgedankens und suchen nach einem geeigneten Land und der Stadt für die Austragung erster Spiele. Japan, das für 1940 den Auftrag übernommen hat, kommt nicht mehr in Betracht. Finnland, das 1940 statt des im Kriege mit China befindlichen Japan hatte in die Bresche springen wollen, ist unter dem Krieg so arm geworden, daß es verzichten muß. So finden die ersten Nachkriegsspiele 1948 in London statt. London ist zwar nur Torso; es sind nicht die Spiele der Welt. Viele Nationen, auch Deutschland, fehlen auf der olympischen Kampf bahn. Aber es ist ein erstes Hoffen. Schlicht und einfach, ohne übersteigerten Prunk verlaufen die Tage, die sich kaum im Straßenbild der riesigen Weltstadt widerspiegeln. Der Lebenswille der Jugend erweist sich als ungebrochen. Im Wimbledon-Stadion werden Leistungen gezeigt, die an die besten Sportzeiten anknüpfen. Ein echter, unbeschwerter amerikanischer Junge, der 17jährige Bob Mathias, wird olympischer Sieger im Zehnkampf und setzt mit seinen einmaligen Leistungen die Fachwelt in Erstaunen. Zatopek, die tschechische „Lokomotive", dieses Laufwunder mit dem unerhörten Stil, läuft die 10 000 Meter in der fast unbegreiflichen Zeit von 29 :56,6 Minuten. Gaston Reiff, der Brüsseler Tuchhändler, gewinnt die „Wasserschlacht" von Wembley über 5000 Meter in neuer olympischer Rekordzeit gegen den gleichen Zatopek, der sich nach einem verzweifelten Endspurt geschlagen geben muß. Aus Jamaika ist eine neue Läufergarde angerückt, die mit McKenley, Lloyd La Beach, Artur Wint und Rhoden olympische Geschichte macht. Im Marathonlauf ereignet sich, wie schon 40 Jahre zuvor auf Londoner Boden, eine Tragödie, die dem Belgier Etienne Gailly auf den letzten Metern eines mörderischen Rennens den Traum vom olympischen Gold entreißt. Von den Frauen gewinnt Fanny BlankersKoen, die holländische „fliegende Hausfrau", wie man sie in der ganzen Welt nennt, nicht weniger als vier Goldmedaillen und wird damit die erfolgreichste Frau aller olympischen Spiele. In London wird Finnland als nächstes Gastland für die olympischen Wettkämpfe bestimmt. 24
Im Land der tausend Seen Das kleine Finnland, dessen gesamte Einwohnerzahl von vier Millionen weit geringer ist als die Bevölkerungszahl vieler Weltstädte, geringer als die der früheren Olympiaorte Berlin und London, bietet, als die vier Jahre vorüber sind, der Welt ein Fest, das sich würdig den vergangenen olympischen Sportfeiertagen der größeren Länder anreiht. Vergessen scheint alles, was die Völker auf dem Gebiete des politischen Lebens entzweit. In den Sportarenen der Hauptstadt Suomis füllen Hunderttausende aus allen Nationen die Ränge, kennen im Jubel über die großartigen Leistungen der Athleten keine Unterschiede der Nationalität, freuen sich an der Gastlichkeit des Volkes und genießen die sommerliche Schönheit des Landes der tausend Seen, der unendlichen Wälder und der mitternächtlichen Sonne. Nicht, daß erneut Rekorde fallen, ist auch in Helsinki, wie bei allen früheren Olympischen Spielen, das Entscheidende, sondern daß wieder einmal alles Trennende von den Menschen abfällt und nur die Anstrengungen und Erfolge der Wettkämpfer und Mannschaften im Blickpunkt der Welt stehen.
Finnland ist verspätet zu der Ehre der Spiele gekommen. Aber es ist, als ob das lange Warten die Früchte zur vollen Reife gebracht hätte: Die XV. Olympiade übertrifft alle Vorstellungen. Selbst das „Fest der Feste", Los Angeles, wird überboten. Nicht nur olympische Rekorde purzeln, mehrfach werden auch Weltbestleistungen erreicht oder übertroffen. Ottmar Hassenberger hat errechnet, daß in Helsinki im Weitsprung der Frauen der Olympiarekord 30mal, beim Kugelstoß der Frauen 22mal, im 3000-m-Hindernislauf 16mal, im Hammerwurf 13mal, daß in allen leichtathletischen Konkurrenzen die bestehenden Olympiahöchstleistungen 186mal verbessert worden sind. Nicht nur Helsinki mit seinen architektonisch und anlagemäßig vorbildlich gebauten Sportanlagen ist in das große Geschehen einbezogen. Auch die Provinz hat ihre sportlichen Festtage. In Turka, Tampere, Lathi und Rotka verlaufen Vorrundenspiele, das romantische Städtchen Hänieenlinna sieht den großartig verlaufenden Fünfkampf mit Geländeritt, Degenfechten, Pistolenschießen, Frei25
Die Flamme von Olympia: Fackelweclisel beim Staffellauf auf dem Balkan
stilschwimmen und Querfeldeinlauf. In der Betonbahn von Kaepylae, nahe beim Olympischen Dorf, erlebt man die Konkurrenzen der Radler, und in der zaubervoll gelegenen Meeresbucht von Taiwallhali geht mit glanzvollen Regatten das „größte Ruderertreffen aller Zeiten" vor sich. Aus 69 Nationen der Welt sind insgesamt 5800 Wettkämpfer in Helsinki angetreten, darunter als stärkste Mannschaft die Russen, die allein 420 Sportler aufgeboten haben. Unter denen, die sich an den finnischen Sporttagen aus dem Dunkel des Unbekannten ins hellste Licht vorgearbeitet haben, ist der 28jährige amerikanische Polizist Horace Ashenfelder der glänzendste. Er läuft den 3000-m-Hindernislauf in neuer amtlich bestätigter Weltrekordzeit. In letzter Minute h a t sich dieser Läufer, der bis dahin nur in seiner Heimat hervorgetreten ist, die Fahrkarte nach Helsinki gesichert. Alle Chancen gibt man dem 26
großartigen Russen Kasantsew und dem Deutschen Gude, beide im internationalen Felde erfahrenste und bewährteste Kanonen. Der Endlauf dieses sensationellen Rennens wird durch Ashenfelder zu einem Kampf, der bis in die letzten hundert Meter alles in sich hat, was sich die Zuschauermassen nur wünschen können. Dicht bei dicht laufen und springen Kazantsew und Ashenfelder — Gude ist zurückgefallen — noch in der letzten Runde nebeneinander. Was Ashenfelder kann, das beweist er erst in der Zielgeraden, als er plötzlich den Körper zum Endspurt nach vorne wirft und bis zum Ziel seinen Konkurrenten um volle 30 Meter zurückläßt. Was selten geschieht: Die Zuschauer verlangten von dem Sieger eine Ehrenrunde um das Oval der Kampfbahn. Siebenmal ist in diesem Lauf die 9-Minuten-Marke unterboten worden. Ein Lauf, Körper an Körper, atemlos von den Siebzigtausend verfolgt, ist auch der 100-m-Lauf der Männer. Und auch hier wird ein Nichtfavorit, der 21jährige Student Lindy Remigino, USA, der Gewinner der Goldmedaille. Aber es ist bei ausgeglichenstem Feld ein Sieg um Elementarteilchen von Sekunden. Als der Lauf der Sprinter vorüber ist, bleibt minutenlang die Ergebnistafel leer. Die Ermittlung des Ersten in diesem Rennen um die 100 Meter ist eine der kritischsten Aufgaben, die den Unparteiischen während .der Spiele gestellt wird. Der ganze technische Apparat der Zielmessung muß eingesetzt werden, bis endlich der Name Lindy Remigino auf der Tafel erscheint. Daß ihm diese Ehrung zu Recht zusteht, beweist der Läufer wenige Tage später, als er bei einem nacholympischen Wettkampf in Oslo mit 10,2 Sek. den Weltrekord einstellt. Der 100-Meter-Lauf, die kürzeste Bahnstrecke für Männer, gehört in Helsinki zum Programm des ersten Tages. Am gleichen Tage gehen 32 Läufer an den Start der längsten Bahnstrecke, die das olympische Leichtathletik-Programm kennt: des 10000-m-Laufs. Hier ist der tschechische Rekordmanri, Emil Zatopek, der hundertprozentige Favorit der ganzen Sportwelt. Europameister und Titelhalter des Weltrekords, scheint diese Laufmaschine von niemand gefährdet werden zu können. In einem ausgeklügelten Haushalten mit den in ihm steckenden Kräften stampft er inmitten des Feldes der Zweiunddreißig über die Bahn. Und jeder erwartet den Augenblick, in dem sich dieser phantastische Läufer aus dem Rudel herauslösen wird, um in zügigem Vorstoß das Freie zu gewinnen Za2?
topek erfüllt, was man voraussieht. Als die Läuferschar die 6. Runde absolviert, spurtet Zatopek los, und Läufer um Läufer tröpfelt von ihm ab. Bis auf einen I Der Franzose Mimoun heftet sich zäh an die Fersen des Tschechen, und es gelingt ihm, während aus dem Stadion Zehntausende ihn anfeuern, Runde um Runde Anschluß zu halten. Aber alles ist Täuschung. Erst bei 7503 m hält Zatopek seine Stunde für gekommen. Das ist der Augenblick, da die Menschen von den Plätzen hochspringen. In ein paar Sätzen ist er seinem Mitläufer davongejagt. Immerhin hält der zähe Franzose den zweiten Platz — aber es sind doch 100 m, die zwischen ihm und dem Weltrekordmann liegen, als dieser das Zielband berührt. Es gibt bei diesem Rennen aller Rennen Konkurrenten, die von Zatopek und Mimoun mehr als zweimal überrundet werden.
Auf der marmornen Ehrentafel im Stadion Helsinkis, auf der nach Beendigung der XV. Spiele die sportlichen Großtaten dieses olympischen Festes eingetragen werden, liest man unter den an diesen Tagen errungenen Weltrekorden die Zahl: 3:03,9 Minuten für den 4x400-m-Staffellauf. Diese Zahl ist deshalb so bemerkenswert, weil die Bestleistung für diesen Wettbewerb mit 3:08,2 für nicht unterbietbar gehalten worden ist. Seit zwei Jahrzehnten ist sie in den Tabellen der Sportrekorde unverändert geblieben. Sechs Staffeln kämpfen im Endlauf um den Lorbeer. Es sind die Meisterläufer der USA, Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens, Jamaikas und Kanadas. In den Vorläufen sind Kanada und Deutschland ungewöhnliche Zeiten gelaufen; die Amerikaner und die Männer aus Jamaika gestehen später, daß sie in diesen Vorkämpfen ihre Kräfte geschont haben. Es ist ein bestechend schönes Bild, als die sechs Läufer auf den vorgezeichneten Bahnen ihren Kameraden zujagen, die vierhundert Meter entfernt zum Spurt in die zweite Teilstrecke bereitstehen. Die USA gewinnen die erste Etappe: Matson, USA, kann als erster den Stab übergeben. Auch die zweite Teilstrecke gehört den Amerikanern. Als Cole den Stab zur dritten Teilstrecke weitergibt, sind für die USA bereits zehn Meter gewonnen. Auf dieser vorletzten Teilstrecke abet hat Jamaika seinen Weltrekordmann McKenley im Rennen. Und McKenley vollbringt auf 400 Metern eine Tat, die fast un28
glaublich erscheint. Er holt nicht nur die verlorenen zehn Meter auf. Als er dem Staffelschlußmann seiner Mannschaft den Stab überreicht, liegt Jamaika sogar um einen Meter voraus. Und dieser Meter entscheidet dann den ganzen Lauf; denn der amerikanische und der jamaikanische Schlußmann legen auf den letzten 400 Metern genau das gleiche Tempo vor; beide schaffen diese Strecke in 45,2 sec. Und jeder läuft den Lauf seines Lsbsns; aber der eine Meter Vorsprung gibt den Ausschlag. Schlußläufer der JamaikaStaffel ist Rhoden. Ein Orkan des Beifalls schlägt ihm entgegen, als er die Ziellinie mit einer Schrittlänge Vorsprung als Erster erreicht.
* Am 24. Juli hatte Zatopek nach dem großartigsten 5000-in-Lauf, den je eine Kampfbahn erlebt hatte, die zweite Goldmedaille dieser Olympiade entgegennehmen können. Einmalig ist dieser , Langstreckenlauf deshalb gewesen, weil bis 103 Meter vor dem Ziel noch vier Läufer, der Deutsche Schade, der Franzose Mimoun, der Engländer Chataway und der Tscheche Zatopek, als Sieger in Frage gekommen sind. Auf diesen letzten 100 Metern hat Zatopeks unvergleichliche Spurtkraft das Rennen gemacht. Zatopeks Kraftreserven scheinen unerschöpflich zu sein. Als die Teilnehmerliste zum Marathonlauf über 42,2 Kilometer veröffentlicht wird, glauben selbst die Sachverständigen ihren Augen nicht trauen zu dürfen. Unter den Namen der 66 Landstraßenspezialisten, die sich zu dieser gewaltigen Kraftprobe gemeldet haben, befindet sich auch der Name Emil Zatopeks. Der 5000- und der 10000-mLauf haben den Tschechen also noch nicht ausgepumpt. Das ist die große Überraschung an diesem Tage. Die Marathonstrecke ist dem „eisernen Emil", wie man Zatopek nach den großen Erfolgen an den Vortagen nennt, an sich nicht geläufig; aber er ist gewohnt, täglich 20 bis 25 km über Land zu laufen und glaubt, daß dieses tägliche Training das beste Vorstudium dafür sei, auch die größere Ausdauerprüfung erfolgreich zu bestehen. Wenn Zatopek diese mühevollste Anforderung an einen olympischen Kämpfer erfüllen wird, ist der Tscheche das größte Langstreckenlaufgenie des Jahrhunderts. Als der Startschuß gefallen ist, setzt sich der barfuß laufende Pakistaner Havildar Aslam an die Spitze; als nach zwei Stunden 29
23 Minuten und 3,2 Sekunden der erste der Läuferreihe wieder aus dem Marathontor hervorkommt, rufen Zehntausende den Namen Emil Zatopek. Der „Neuling" im 42-km-Oberlandlauf hat unterwegs alle alterfahrenen Spezialisten zur Strecke gebracht. Durchsagen haben die im Stadion Ausharrenden laufend von den erregenden Vorgängen draußen unterrichtet: An der 10-km-Marke liegt Emil Zatopek an der 3. Stelle. Die Spitze hält der Engländer Peters. Bei 15 km liegen Zatopek und der Schwede Jansson auf gleicher Höhe. Dann bei 20 km bringen die Lautsprecher die Mitteilung, daß Zatopek sich an die Spitze begeben habe und daß der tapfere Jansson mehr und mehr zurückfalle. Niemand ist mehr da, der dem „Eisernen" auf dem Nachhauseweg auch nur im geringsten gefährlich werden könnte. Zatopek hält seinen Stil und nähert sich in gleichbleibender guter Verfassung Kilometer um Kilometer dem Stadion. Der Durchtrainierte, der als erster Mensch im Jahre 1951 in einer Stunde mehr als 20 km bewältigt hat, erntet bei diesem Lauf die Früchte härtester und ausdauerndster Körperzucht. !Und noch von einem soll berichtet werden, der in Helsinki eu den überragenden Gestalten des Sports zählt: von Bob Bruce Mathias, dem Sieger im olympischen Zehnkampf, dem Wettkampf, der die Teilnehmer 18 Stunden lang in fast unerträglicher Spannung gehalten hat. — 28 Zehnkämpfer sind angetreten. Von ihnen gibt allein der 18jährige Landsmann Campbell dem Weltrekordinhaber Mathias zu denken. Und tatsächlich: der 109-in-Lauf und der Weitsprurg gehen auf das Pluskonto des Hürdenspezialisten Campbell. Aber mit dem Kugelstoß holt Mathias auf. Als er auch den Stabhochsprung, den Speerwurf und den 1500-m-Lauf mit hervorragenden Ergebnissen hinter sich bringt, steht fest, daß ihm weder der olympische Sieg noch der Weltrekord zu nehmen ist. Mit 7887 Punkten geht dieser Sieg von Bob Mathias in die Chronik Her Olympischen Spiele ein. Von vielem anderen wäre noch zu erzählen: wie der 21jährige Student Walter Davis, der vom 8. bis zum 15. Lebensjahr gelähmt gewesen ist, im Hochsprung den olympischen Rekord unterbietet; wie 13 Stabhochspringer die 4,20-m-Höhe, vier die 4,40-m-Höhe halten und wie der 26jährige Pfarrer Bob Richards 4,55 m überspringt; wie durch den Brasilianer Adhemar Ferriarada Silva mit 16.22 m der Dreisprung-Weltrekord und durch den Ungarn Josef 30
Czermak mit 60,3-1 m der Hammerwurf-Weltrekord fällt. Auch von Frauen wäre Rühmliches zu sagen: von der Weltrekordleistung der Australierin Marjarie Jackson im 100-m-Lauf, dem Weltrekord der australischen Lehrerin Strickland de la Hounty im 80-mHürdenlauf, dem Weltrekord der 21jährigen Russin Zybina im Kugelstoßen und den Weltrekord-Staffelläufen der australischen und deutschen Frauen in der 4 x 100-m-Staffel.
* Am 3. August 1952 enden mit dem Erlöschen der olympischen Flamme, dem Niederholen der weißen Fahne mit den fünf bunten Ringen der Erdteile und unter dem Klang der olympischen Fanfare die XV. Olympischen Spiele der Neuzeit. Aus der Schlußansprache des Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, des Schweden Sigfrid Edström, bleiben allen Beteiligten die Worte in Erinnerung: „Manche Schwarzseher hatten ihrer Meinung Ausdruck gegeben, daß die Olympischen Spiele nur Uneinigkeit in die Jugend der Welt tragen würden. Ich hoffe, daß einige dieser Pessimisten hier anwesend waren und das warme, freundschaftliche Gefühl gespürt haben, das alle Teilnehmer verbunden hat. Die Olympischen Spiele haben erneut bewiesen, daß sie dem Frieden und dem Glück auf dieser Welt dienen'\ über die Abschlußfeier im Olympiastadion von Helsinki weht neben dem griechischen und dem finnischen Banner die Fahne des Australischen Bundes. Der ferne Kontinent und seine Hauptstadt Melbourne sind zum Schausplatz der XVI. Olympischen Sommerspiele erwählt worden . . . Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder: Ullstein, Schirner, Weltbild
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IM FALLE EINES FALLES...