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PARKER schockiert die Schausteller Roman von Curd H. Wendt Wie eine Rakete auf der Startrampe schoß der schwere Eisenbolzen in der Führungsschiene nach oben und prallte gegen das Anschlagblech. Bunte Glühlampen blinkten. Bravorufe ertönten. Lässig lehnte Lady Agatha den Vorschlaghammer gegen das grell bemalte Schild mit der Aufschrift »Haut den Lukas!« Huldvoll lächelnd nahm sie den Beifall der Menge entgegen und setzte mit Butler Parker den Bummel über den Festplatz fort. Zu dem Kirmesbesuch hatte sich Agatha Simpson spontan entschlossen, als Parker durch das festlich geschmückte Städtchen Turnhill fuhr. »Nur hereinspaziert!« rief gerade der Mann neben dem Kassenhäuschen der Geisterbahn. »Hier lernt der stärkste Mann das Fürchten! Hier fällt jede Frau in Ohnmacht! Das müssen Sie erlebt haben! Nur zwei Shilling!« Unschlüssig blieb die ältere Dame an den Stufen zum Eingang stehen. »Na, was ist, junge Frau?« stichelte der Ausrufer, dem Myladys Zögern nicht entgangen war. »Haben Sie Angst bekommen?« »Eine Lady Simpson kennt keine Angst, merken Sie sich das!« belehrte Agatha Simpson ihn. Die Hauptpersonen: Clint Gatwick ist Schausteller und schmiert nicht nur sein Karussell gut. Clive Sandfield gönnt ihm den Erfolg nicht und bereitet einem Konkurrenten ein übles Mixgetränk. Jeff Morgan ist der »lachende Dritte«, dem aber bald das Lachen vergeht. Philipp Rendall fungiert als Bürgermeister von Turnhill und erhält einen lebensgefährlichen Denkzettel. Lady Agatha Simpson weiß sich auch während einer Geisterbahnfahrt zu wehren und hütet ihren Pompadour wie einen Augapfel. Butler Parker scheut keine Mühe, um drei Ganoven unverhoffte Jahrmarktsfreuden zu bescheren.
»Einen ängstlichen Eindruck machen Sie wirklich nicht«, räumte der Mann ein, »Aber warum fahren Sie dann nicht mit?« »Das hat völlig andere Ursachen«, gab Mylady Auskunft. »Was mich abhält, sind lediglich Ihre unverschämten Eintrittspreise.« »Unverschämt?« »Jawohl, unverschämt!« behauptete die ältere Dame. »Ein Schilling wäre mehr als genug!« »Wenn es nach Gewicht ging, müßten Sie mindestens vier bezahlen«, erwiderte der Mann wütend. Er hatte keine Ahnung, wie empfindlich die Lady auf Beleidigungen reagierte. Ehe er seine Unhöflichkeit bereuen konnte, ließ ihn ein Schmerz an seiner Wange aufjaulen. Mylady hatte die Schmähung postwendend beantwortet: mit einer ihrer berüchtigten Ohrfeigen. »Diese kleine Lektion hat Ihnen hoffentlich gezeigt, daß man eine Lady Simpson nicht ungestraft beleidigt«, fauchte sie. Der völlig verdatterte Mann rieb wimmernd seine feuerrote Wange. »Damit ist der Fall für mich aber noch nicht erledigt. Wenn Sie noch einen Funken Anstand besitzen, händigen Sie mir auf der Stelle eine kostenlose Ehrenkarte aus.« »Okay, okay«, stöhnte der Mann. »Fahren Sie, so oft Sie wollen!« »Dann will ich ihr flegelhaftes Benehmen ausnahmsweise verzeihen«, verkündete Mylady großzügig und steuerte eins der Wägelchen an, in denen die Besucher durch das düstere Gruselkabinett kutschiert wurden. »Mister Parker, Sie dürfen mir beim Einsteigen behilflich sein.« Es kostete den Butler einige Mühe, bis er seine Herrin so auf der Sitzbank plaziert hatte, daß für ihn selbst auch noch eine bescheidene Ecke übrigblieb. Mit einem Ruck setzte sich das Wägelchen in Bewegung und wurde unter Rattern und Quietschen von einer Kette auf eine kleine Rampe hinaufgezogen. Dann rollte es in freiem Gefälle auf schmalen Schienen in die rabenschwarze Gespensterwelt. Ferner Glockenschlag war zu hören, dann ein unheimliches Jammern und Stöhnen, helles Rasseln von Ketten. Nicht mal Parkers scharfe Nachtvogelaugen ermochten, die Dunkelheit zu durchdringen. »Wenn das alles ist«, meinte Agatha Simpson gerade enttäuscht, als dicht neben ihr ein gellender Schrei erscholl. Im selben Moment tauchte ein weiß leuchtendes Skelett aus der Fins-
ternis. Schauerliches Gelächter ertönte, während der Knochenmann die Arme ausbreitete. In seinen Augenhöhlen zuckten bläuliche Lichter. Instinktiv hob die ältere Dame mit einer abwehrenden Geste die Hände, als der Wagen direkt auf das Skelett zuratterte, doch plötzlich schwenkte das Fahrzeug nach rechts, und der Spuk war verschwunden. Dafür wurde jetzt in blutigrotem Licht ein von Staub und Spinnweben bedeckter Sarg sichtbar. Unter gräßlichem Knarren und Quietschen hob sich der Deckel ein Stück. Aus dem schwarzen Spalt schob sich eine wächserne Hand, die den Vorbeifahrenden zuzuwinken schien. »Wie geschmacklos!« stellte Agatha Simpson indigniert fest. »Und wie langweilig! Wo sind denn nun die Gespenster?« »Hier!« knurrte eine Männerstimme. Im selben Moment blitzte eine Taschenlampe auf. Geblendet mußten Lady Agatha und Josuah Parker im grellen Licht die Augen schließen. Eine Hand griff nach Myladys Pompadour. Gleichzeitig verspürte der Butler einen dumpfen Schlag. Der Angreifer hatte gut gezielt und Parkers Kopf getroffen. Er hatte allerdings nicht mit der stählernen Panzerung gerechnet, die den Bowler des Butlers zu einem wirkungsvollen Schutzhelm machte. Auch der zweite Unbekannte, der es auf Myladys Handbeutel abgesehen hatte, stieß auf unerwarteten Widerstand. Die ältere Dame riß derart heftig an den Tragriemen, daß der Räuber fast unter die Räder des Wägelchens geriet und prompt seine Beute losließ. Das Licht verlöschte, und der Wagen rollte weiter, als wäre nichts geschehen. »Das geht aber entschieden zu weit«, grollte Agatha Simpson, während heulende Gespenster in wehenden Gewändern durch die Dunkelheit segelten. »Natürlich werde ich den Inhaber zur Rechenschaft ziehen.« »Darbietungen dieser Art dürften wohl kaum zum üblichen Angebot einer Geisterbahn gehören, falls man sich die Anmerkung erlauben darf«, gab Parker ihr recht. »Die Frage ist allerdings, ob es sich um einen gezielten Angriff handelte, oder ob Mylady nur zufällig überfallen wurden.« »Natürlich war das ein gezielter Angriff, Mister Parker«, entgegnete die passionierte Detektivin wütend. »Dafür kann nur der
unverschämte Kerl verantwortlich sein, der mich eben in so unflätiger Weise beleidigt hat.« * »Na, hat Ihnen die Fahrt gefallen?« wollte der Geisterbahnbesitzer wissen, als der Wagen mit Lady Agatha und Butler Parker wieder ans Tageslicht rollte. Doch das Grinsen, das er bei dieser Frage aufgesetzt hatte erstarb augenblicklich, als er Myladys grimmige Miene erblickte. »Leider sieht man sich gezwungen, Sie davon zu unterrichten, daß Mylady soeben Ziel eines Raubüberfalls wurde«, gab Parker in sachlichem Ton Auskunft. »Nein!« rief der Mann entsetzt aus. »Das ist nicht wahr! Sie wollen mich auf den Arm nehmen...« »Ein solches Bestreben liegt meiner Wenigkeit durchaus fern, falls der Hinweis gestattet ist«, entgegnete der Butler. »Tatsache ist, daß Unbekannte versucht haben, Mylady während der Fahrt die Handtasche zu entreißen und meine Wenigkeit durch einen Schlag auf den Kopf zu betäuben.« »Haben Sie die Kerle wenigstens erkannt?« wollte der Geisterbahnbesitzer wissen. Er war blaß geworden. Seine Stimme zitterte. »Die Sichtverhältnisse waren nicht gerade dazu angetan, eine exakte Personenbeschreibung zu ermöglichen«, erklärte Parker. »Deshalb dürfte sich auch eine Verfolgung der Täter, die inzwischen vermutlich das Weite gesucht haben, erübrigen.« »Jetzt spielen Sie nur nicht den Ahnungslosen«, keifte Lady Simpson dazwischen. Sie war immer noch damit beschäftigt, sich aus dem engen Gefährt zu zwängen. Das Grollen in ihrer Stimme kündigte Unheil an. »Sie wollen mir doch nicht etwa unterstellen...?« fragte der aus allen Wolken gefallene Geisterbahnbesitzer. »Niemand anderer als Sie kann für diesen dreisten Überfall verantwortlich sein«, gab die Detektivin barsch zurück. »Das liegt doch auf der Hand.« Die Menschen, die sich vor dem Eingang zur Geisterbahn drängten, horchten auf und schoben sich neugierig näher. Wie ein Lauf-
feuer machte das Wort »Überfall« die Runde. Die Schlange vor der Kasse löste sich auf. »Bitte, Mylady«, flehte der Geisterbahnbesitzer. »Nicht hier. Wenn Sie so freundlich wären, mir in meinen Wohnwagen zu folgen, können wir über alles reden.« »Ich wüßte nicht, was es in diesem Fall noch zu reden geben sollte«, entgegnete die ältere Dame kühl. Mit Parkers Hilfe hatte sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen und baute sich in drohender Haltung vor dem Butler auf. »Nach diesem Schreck haben Sie einen Schluck zu trinken? Das würde meinem Kreislauf guttun.« »Selbstverständlich!« versicherte der Geisterbahnbesitzer eilfertig. »Nach diesem Schreck haben sie wirklich ein Gläschen verdient.« Schon schüttelten einige aus der Menge drohend die Fäuste. »Ganove! Betrüger!« schrien sie dem vor Nervosität schwitzenden Mann zu. Mit vor Angst eingezogenem Kopf bahnte er sich einen Weg durch die wütenden Menschen und steuerte seinen Wohnwagen an, der am Rand des Festplatzes stand. Lady Agatha und der Butler folgten ihm auf dem Fuß. »Das kann kein Zufall gewesen sein«, begann der Mann, nachdem er seinen Gästen Plätze angeboten und eine halbvolle Whiskyflasche aus dem Wandschrank geholt hatte. »Da hat es jemand darauf abgesehen, mich fertig zumachen.« »Sie fertig zumachen?« fragte Agatha Simpson entrüstet. »Sie scheinen zu vergessen, daß ich es war, die überfallen wurde. Nur meiner energischen Gegenwehr ist es zu verdanken, daß die Täter unverrichteter Dinge fliehen mußten.« »Das ist richtig«, bestätigte der Geisterbahnbesitzer, der sich als Stan Owens vorstellte. »Sie waren das zufällige Opfer, Mylady. Aber in Wirklichkeit war der Anschlag gegen mich gerichtet. Irgend jemand will meine Kundschaft verschrecken und mich in den Ruin treiben.« »Das ist doch dummes Geschwätz!« fuhr Lady Agatha ihm über den Mund. »Sie wollen nur von sich ablenken. Aber da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Solche Manöver durchschaue ich sofort.« »Sie haben ja noch Glück gehabt, Mylady«, wandte Owens ein. »Letzte Woche, als wir in Stepford gastierten, passierte es zwei-
mal, daß Kunden während der Fahrt mit stinkendem Altöl übergossen wurden. Ich habe den Schaden natürlich sofort ersetzt, aber die Anschläge sprachen sich schnell herum, und für des Rest des Wochenendes konnte ich mein Geschäft zumachen.« »Die Neigung, sich Ihrer Geisterbahn anzuvertrauen, dürfte auch nach dem heutigen Zwischenfall nicht sehr groß sein, Mister Owens«, schaltete Parker sich in das Gespräch ein. »Darf man sich denn erkundigen, ob Sie einen konkreten Verdacht hegen, wer für diese geschäftsschädigenden Anschläge verantwortlich sein könnte?« »Keine Ahnung«, meinte Owens. »Am besten würde ich sofort die Polizei einschalten.« »Unsinn!« kommentierte Agatha Simpson, die inzwischen das dritte Glas geleert hatte. »Unsinn?« fragte Owens irritiert. »Was wollen sie damit sagen, Mylady?« »Daß es Unsinn wäre, die Polizei einzuschalten«, gab Agatha Simpson zurück. »Dieser Fall erfordert Fingerspitzengefühl, über das nur eine Detektivin meines Formats verfügt! Sie sollten sich glücklich schätzen, daß ich bereit bin, die Ermittlungen zu übernehmen.« »Sie sind Detektivin?« vergewisserte sich Owens. Er machte ein ungläubiges Gesicht. »In der Kriminalgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wird der Name Simpson einen hervorragenden Platz einnehmen«, verkündete Agatha Simpson selbstbewußt. Bescheidenheit war nun mal eine Tugend, die sie nur an ihren Mitmenschen schätzte. »Nichts liegt meiner bescheidenen Wenigkeit ferner, als Myladys Feststellungen anzuzweifeln«, versicherte Parker, als der Geisterbahnbesitzer ihn mit fragendem Blick von der Seite ansah. »Dann sind Sie vermutlich von Clint engagiert worden?« tippte Owens. »Oder halten Sie sich zufällig hier auf?« »Ich kam zufällig vorbei, aber ich spürte sofort, daß hier etwas nicht stimmt«, behauptete die Detektivin. »Mein kriminalistischer Instinkt ist nicht zu übertreffen.« »Darf man Sie um nähere Informationen über die genannte Person namens Clint ersuchen, Mister Owens?« ließ der Butler sich vernehmen. »Clint Gatwick betreibt das nostalgische Kettenkarussell, das Sie vielleicht beim Gang über den Platz bemerkt haben«, gab
Owens Auskunft. »Darüber hinaus ist er aber so etwas wie unser Manager. Er sucht die Gastspielorte aus und macht die Verträge mit den Städten, in denen wir auftreten.« »Demnach sollte man davon ausgehen, daß Mister Gatwick über die Anschläge informiert ist, die Ihr Geschäft ruinieren sollen?« vergewisserte sich Parker. »Natürlich«, bestätigte Owens. »Wir haben uns schon mehr als einmal die Köpfe darüber heißgeredet, wer hinter diesen Gemeinheiten stecken könnte. Schließlich bin ich nicht der einzige, der betroffen ist.« »Nicht der einzige?« fragte Agatha Simpson überrascht. »Der Streich, den sie Luke Miller von der Süßwarenbude gespielt haben, war ja noch harmlos«, berichtete Owens. »Erst als empörte Käufer reklamierten, merkte er, daß ihm jemand unbemerkt Salz statt Zucker in den Bottich geschüttet hatte, in dem er die Wiener Mandeln brennt.« »Pfui Teufel!« kommentierte Lady Agatha. »An dem Stand hätte ich nie wieder etwas gekauft.« »Das ist es wohl, was die Unbekannten bezwecken«, nickte Owens. »Zwei Tage später entdeckte Harry Lindner dann während einer Routinekontrolle, daß mehrere Schrauben an der Aufhängung seiner Schiffschaukel gelockert waren. Und schließlich öffneten Unbekannte heimlich die Käfiggitter von Ben Wellingmoores Wanderzoo. Zum Glück war sein Puma so vollgefressen, daß er keine Lust zu einem Spaziergang verspürte. Trotzdem brach auf dem überfüllten Platz eine Panik aus. Wir mußten noch am selben Tag abbauen und weiterziehen.« * »Herein!« rief Owens, als es an der Tür des Wohnwagens klopfte. Ein baumlanger Kerl in einem Jeansanzug schob sich in den Raum. Kritisch musterte er Lady Simpson und ihren Butler, bevor er nähertrat. »Clint«, begrüßte ihn der Geisterbahnbesitzer. »Gut, daß du kommst.« »Ich habe es schon gehört«, kam Clint Gatwick gleich zur Sache. »Diese verdammten Ganoven denken sich immer neue Tricks aus. Wenn das so weitergeht, können wir unseren Jahrmarkt bald
einmotten. Eben saßen schon zwei Journalisten bei mir, die von der Sache Wind bekommen hatten. Zum Glück konnte ich ihnen eine harmlose Erklärung auftischen. Das fehlte gerade, daß die Zeitungen einsteigen und uns noch die letzten Kunden vergraulen.« »Vielleicht haben wir diesmal mehr Glück und kriegen die Burschen zu fassen«, entgegnete Owens. »Bei ihrem Überfall hatten die Ganoven nämlich das Pech, ausgerechnet an eine Detektivin zu geraten.« »Eine Detektivin?« fragte Gatwick ungläubig. Sein Blick fiel auf Lady Agatha. »Sie sind Detektivin?« »Ich habe mich spontan bereit erklärt, in diesem Fall die Ermittlungen zu übernehmen«, bestätigte die ältere Dame und genoß den letzten Whisky in einem Zug. »Die Angelegenheit ist wirklich zu delikat, um sie der Polizei anzuvertrauen.« »Eigentlich keine schlechte Lösung«, stimmte Gatwick zu. »Ich habe mich bisher auch gescheut, die Polizei einzuschalten, weil ich jedes Aufsehen vermeiden wollte. Das schadet nur unserem Geschäft.« »Für einen jungen Mann sind Sie überraschend einsichtig«, lobte Agatha Simpson. »Sie werden es nicht bereuen, eine Detektivin meines Ranges eingeschaltet zu haben. Mein taktisches Konzept steht bereits. Wann ich Ihnen die Täter präsentieren werde, ist nur noch eine Frage der Zeit.« »Hoffentlich dauert es nicht zu lange«, meinte Gatwick und rieb sich eine Prise Schnupftabak unter die Nase. »Die ständigen Zwischenfälle sprechen sich allmählich herum. Als ich gestern mit dem Bürgermeister von Oakhill über einen Vertrag verhandelte, mußte ich mir schon mißtrauische Fragen anhören.« »Alle Umstände dieses Falles deuten darauf hin, daß der Drahtzieher der Anschläge Sie geschäftlich ruinieren will, Mister Patwick«, schloß die Lady messerscharf. »Gatwick«, verbesserte ihr Gegenüber. »Nichts anderes habe ich gesagt, Mister Sputnick«, behauptete Agatha Simpson. »Ich muß Sie schon bitten, mich nicht zu unterbrechen, wenn ich meine Theorie entwickle.« »Pardon«, gab Gatwick zurück. »Aber daß diese Anschläge nur das Ziel haben können, unseren Jahrmarkt zu ruinieren und uns aus dem Geschäft zu drängen, ist doch offensichtlich. Nur frage ich mich, wer dahinterstecken könnte.«
»Man darf vermutlich davon ausgehen, daß Sie nicht der einzige sind, der Jahrmärkte dieser Art veranstaltet, Mister Gatwick?« ließ Parker sich vernehmen. »Jahrmärkte im nostalgischen Gewand mit historischen Buden und Fahrgeschäften haben nur wir zu bieten«, entgegnete Gatwick mit gewissem Stolz. »Das ist das Geheimnis unseres Erfolges. Jedes Städtchen, das ein Jubiläum zu feiern hat, reißt sich geradezu um uns. Bisher jedenfalls.« »Natürlich haben wir Neider, die uns den Erfolg nicht gönnen«, warf Owens ein. »Aber wer zuerst kommt, mahlt zuerst«, stellte Gatwick fest, »Ich kann doch nicht dafür, daß alle Bürgermeister landauf, landab nur uns unter Vertrag nehmen wollen, und nicht die Konkurrenz.« »Man kann und muß also von der Annahme ausgehen, daß es auch andere Bewerber gab, die sich um ein Gastspiel hier in Turnhill bemühten?« wollte Parker wissen. »Keine Ahnung«, erwiderte Gatwick achselzuckend. »Da müssen Sie schon den Bürgermeister fragen.« »Ein Vorschlag, dem man zweifellos nähertreten sollte«, meinte der Butler. »Diesen Schritt wollte ich ohnehin gerade anordnen«, behauptete Agatha Simpson. Bevor sie aufstand und die Tür ansteuerte, vergewisserte sie sich mit raschem Blick, daß die Whiskyflasche wirklich den letzten Tropfen hergegeben hatte. »Sie hören von mir, sobald ich meine Ermittlungen abgeschlossen und die Täter dingfest gemacht habe«, kündigte sie an. »Mister Parker, Sie dürfen mich jetzt zum Wagen geleiten.« * Inzwischen brach die Dämmerung herein. Überall an den Buden und Karussells flammten bunte Lichter auf. Tausende von Menschen, die offenbar aus der ganzen Region nach Turnhill geströmt waren, schoben sich durch die engen Gassen, kauften Süßigkeiten, Eis und Spielwaren oder sahen dem Glasbläser und dem Silberschmied bei der Arbeit zu. Nur Stan Owens’ Geisterbahn lag verlassen in gespenstischem Dunkel. Der stärkste Andrang herrschte vor der hell erleuchteten Jahrmarktsbühne, wo Artisten
und Gaukler der staunenden Menge ihre Künste zeigten. Eine Kapelle in Landsknechtuniformen intonierte einen Tusch, und Beifall brandete auf, als eine zehnköpfige Akrobatenfamilie eine beeindruckende Menschenpyramide präsentierte. In diesem Augenblick rollten zwei kleine Metallzylinder über die Bühne. Weißer Qualm stieg auf und hüllte die Artisten ein. Krächzendes Husten wurde hörbar. In heilloser Panik versuchten die vier stämmigen Männer, die die Basis der Pyramide bildeten, dem beizenden Gas zu entkommen. Wie ein Kartenhaus stürzte die lebende Pyramide zusammen. Im Nu wehte der leichte Wind die beißenden Wolken über die Rampe ins Publikum. Schreie wurden von Hustenanfällen übertönt. Nach allen Richtungen rannten die Menschen auseinander. Sekunden später waren Bühne und Platz leergefegt. »Mit ziemlicher Sicherheit dürfte es sich um Tränengasgranaten handeln«, bemerkte Parker. Er hatte den Zwischenfall aus dem Augenwinkel mitbekommen, als er seiner Herrin gerade in den Wagen helfen wollte. Auch die beiden Gestalten, die im Schatten hinter den Buden davonliefen, waren ihm nicht entgangen. Eiliger, als es sonst seine Art war, schob er Mylady auf den Rücksitz, nahm seinen Platz am Steuer ein und startete den Motor. Die beiden Männer ließ Parker nicht aus den Augen. Sie sprangen hastig in einen dunklen Ford, der in einiger Entfernung am Straßenrand parkte. Als die Limousine mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen davonjagte, hatte der Butler schon die Verfolgung aufgenommen. »Was sagten Sie eben von Tränengas, Mister Parker?« fragte Lady Agatha irritiert, während das schwerfällig wirkende Fahrzeug die Sporen bekam. »Wo fahren Sie denn überhaupt hin? Ich habe mich doch entschlossen, dem Bürgermeister dieser Stadt die Ehre meines Besuches zu erweisen.« »Verzeihung, Mylady«, gab Parker höflich zurück. »Meine Wenigkeit war der Ansicht, Mylady wollten zunächst die Verfolgung der Männer aufnehmen, die soeben die Darbietung der Artisten durch Tränengasgranaten empfindlich störten und eine Panik unter den Zuschauern auslösten.« »Selbstverständlich werde ich zunächst diese Kerle verfolgen und zur Rede stellen, Mister Parker«, gab die Detektivin schlag-
fertig zurück. »In diesem Fall haben Sie meine Weisung, ausnahmsweise richtig verstanden. Der Besuch beim Bürgermeister hat noch Zeit.« Die Männer in dem Ford schienen es eilig zu haben. Doch Parker ließ sich nicht abschütteln. Sein hochbeiniges Monstrum wirkte zwar äußerlich wie ein braves, altgedientes Londoner Taxi, doch hatte der Butler den Wagen für seine Zwecke umbauen lassen. Seitdem titulierten Freund und Feind den schwarzen Kasten ehrfürchtig als »Trickkiste auf Rädern« Zu den Überraschungen, die sich unter der eckigen Karosserie verbargen gehörte ein PSstarkes Renntriebwerk, das dem sonst plump wirkenden Gefährt ungeahntes Temperament verlieh. Meter um Meter holte Parker auf. Näher kamen die Rücklichter des Ford. Bisher hatten die Männer offenbar nicht gemerkt, daß ihnen jemand auf den Fersen war. Doch jetzt machte Parker undeutlich aus, wie sich der Beifahrer umdrehte, den Fahrer anstieß und nach hinten deutete. Prompt versuchte der Fordfahrer, alles aus seinem Wagen herauszuholen, was in ihm steckte. Vorübergehend wurde der Abstand wieder größer, doch erneut schloß Parker auf. Die breit ausgebaute Landstraße führte direkt nach London. Schon war am dunklen Himmel der Widerschein der hell erleuchteten Millionenstadt zu erkennen, als Parker zum Überholen ansetzte. Doch der Fordfahrer hatte aufgepaßt. Sein Wagen geriet zwar in leichte Schlingerbewegung, als er ihn plötzlich nach rechts zog, um Parker den Weg zu versperren, doch das Manöver gelang. Parker mußte bremsen, um seine Herrin und sich selbst nicht zu gefährden. Seine Chance, kam nach weiteren zwei Meilen, und er nutzte sie eiskalt. Der Rastplatz, der sich als schmale Parallelstraße neben der breiten Asphaltpiste erstreckte, war um diese Zeit menschenleer. Die schwere Karosserie erbebte leise, als Parker das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat. Wie ein schwarzer Blitz schoß das hochbeinige Monstrum in die spitzwinklig angelegte Parkplatz-Zufahrt und raste an Tischen und Stühlen aus Beton vorbei, die neben den Parkstreifen aufgestellt waren.
Obwohl Büsche den Rastplatz zur Straße hin abschirmten, konnte der Butler mit Befriedigung registrieren, wie sein Fahrzeug sich an dem dahinrasenden Ford vorbei schob. Entsetzt trat der Fordfahrer auf die Bremse, als das schwarze Monstrum dicht vor ihm in die Fahrbahn schoß. Dann versuchte er mit waghalsigen Manövern, Parkers Wagen zu überholen, doch der Butler ließ ihm keine Chance. In sanftem Bogen führte die Straße an einem einzeln gelegenen Gehöft vorbei, als Parker einen der zahlreichen Kipphebel umlegte, die er am Armaturenbrett installiert hatte. Geräuschlos öffnete sich eine kleine Klappe am Heck des Wagens. Mit leisem Klirren rieselten ein Dutzend Krähenfüße auf die Fahrbahn. Wie die Zähne eines gierigen Raubfisches bissen sich die im Winkel verschweißten Nägel in den Pneus des Ford fest. Knallend und zischend entwich die Luft aus allen Reifen gleichzeitig. Verzweifelt kurbelte der Fordfahrer am Lenkrad und bemühte sich, den Wagen in der Spur zu halten. Doch er war überfordert. Holpernd und scheppernd schoß der schwere Wagen in der Kurve geradeaus, flog über den schmalen Straßengraben und durchbrach einen Weidezaun. Gras und Erdklumpen spritzten, als der Wagen auf den Felgen über einen schmalen Wiesenstreifen rutschte. Augenblicke später war das Bersten von Holz zu hören. Mit voller Wucht durchbrach der Ford das geschlossene Tor einer hölzernen Scheune und verschwand im Innern. Nur noch das aufgeregte Gackern eines Hühnervolks war zu hören, das sich durch das plötzlich herein schießende Fahrzeug in seiner Ruhe gestört fühlte. Belästigt fühlte sich auch der Farmer, der Sekunden später mit einer Mistgabel im Anschlag über den Hof rannte und in der Scheune verschwand. Seelenruhig ließ Parker sein schwarzes Monstrum am Straßenrand ausrollen und half Mylady beim Aussteigen. Bevor er seine Herrin zur Scheune geleitete, kickte er unauffällig mit der Fußspitze die noch auf der Fahrbahn liegenden Krähenfüße in den Straßengraben. *
»Verdammte Mistkerle!« hörten sie den aufgebrachten Farmer beim Näherkommen fluchen. »Euch werde ich’s zeigen… Sich auf diesem verdammten Jahrmarkt die Hucke vollsaufen und dann mein schönes Scheunentor zuschanden fahren!« Die beiden Männer fanden keine Gelegenheit, sich gegen diesen ungerechten Vorwurf zur Wehr zu setzten. Als Lady Simpson und ihr Butler die Scheune betrafen, wühlten sie sich gerade prustend und niesend aus einem gewaltigen Heuhaufen, in dem ihr Wagen fast vollständig verschwunden war. »Man kam gerade zufällig des Wegs und wurde Zeuge des bedauerlichen Unfalls«, erklärte Parker, während der Farmer überrascht herumfuhr und die Ankömmlinge mißtrauisch musterte. »Zufällig?« protestierte einer der Männer aus dem Ford, doch sein Kumpan brachte ihn mit einem heftigen Rippenstoß zum Schweigen. Offenbar war er nicht gerade erpicht darauf, daß ein Unbeteiligter von der wilden Verfolgung und ihrem Anlaß erfuhr. »Es tut uns furchtbar leid«, wandte er sich an den Farmer und setzte eine schuldbewußte Miene auf. »Natürlich werden wir Ihnen den Schaden ersetzten. Das Problem ist nur, daß wir sofort zu einer dringenden Verabredung nach London müssen.« »Das hat Zeit, bis ich die Polizei verständigt habe«, erklärte der Farmer unbeeindruckt. »Meint ihr, ich lasse euch so einfach entwischen?« »Ich könnte Sie sofort mit Bargeld entschädigen«, bot der ältere der beiden Männer an. »Würden tausend Pfund reichen?« »Tausend Pfund?« Der Farmer schien unschlüssig zu werden. Davon konnte er sich mindestens zwei neue Scheunentore kaufen. Ohne eine Antwort abzuwarten, griff der Mann in den Ausschnitt seiner Jacke, als wollte er die Brieftasche zücken. Doch Parker, der schon mit einer Zuspitzung der Diskussion gerechnet hatte, war schneller und durchkreuzte nachhaltig seine finsteren Absichten. Ehe der Unbekannte die Hand wieder herausgezogen hatte, ließ der Butler den altväterlich gebundenen Regenschirm vom angewinkelten Unterarm senkrecht in die Höhe steigen. Schon hatte er die Spitze in der schwarz behandschuhten Hand und tippte mit dem bleigefüllten Bambusgriff nachdrücklich gegen das Handgelenk des Mannes.
Der Unbekannte jaulte auf wie ein Hund, dem man den Schwanz in der Tür eingeklemmt hat. Der schwere Browning, den er gerade entsichern wollte, entglitt ihm und flog in hohem Bogen davon. Die Waffe landete mitten in der ohnehin schon aufgeregt gackernden Hühnerschar, die daraufhin mit lautem Gezeter auseinanderstob. Wimmernd rieb der verhinderte Pistolenheld sein schmerzendes Handgelenk und warf dem Butler einen haßerfüllten Blick zu. Während er noch unter Jammern sein schmerzendes Handgelenk massierte, warf sein Kumpan sich mit verwegenem Hechtsprung in Parkers Richtung. Doch der Butler war auch in diesem Fall um die entscheidenden Sekundenbruchteile schneller als sein Gegner. Als wolle er dem Angreifer seine Ehrerbietung erweisen, verneigte sich Josuah Parker tief in die Richtung, aus der der Mann auf ihn zugeflogen kam. Der Unbekannte stöhnte nur kurz auf, als sich die stählerne Halbkugel des Bowlers in seine Magengrube drückte. Dann fiel er in sich zusammen wie eine Gummipuppe, aus der man die Luft abgelassen hat. Wie ein nasser Sack blieb er regungslos auf Parkers Schulter hängen. »Unüberlegtes Handeln zeigt selten die erhofften Früchte«, stellte der Butler gelassen fest, während er den Bewußtlosen ins Heu plumpsen ließ. »Oder um es in der Sprache des Volkes auszudrücken: Übermut tut selten gut.« »Das hat meine Großmutter auch schon gesagt«, bestätigte der Bauer, der Parkers Aktionen fassungslos verfolgt hatte. Jetzt fiel sein Blick auf den älteren der beiden Männer, der noch immer am Heck seines Wagens stand, seine geschwollene Hand begutachtete und dabei mit einem Auge nach seiner Waffe schielte. »Verdammter Mistkerl!« schrie der Farmer und wollte sich mit gezückter Mistgabel auf ihn stürzen. Doch da kam plötzlich Bewegung in den Mann. Mit einem langen Satz versuchte er an Agatha Simpson vorbei durch das Scheunentor zu entkommen. Doch er hatte nicht mit der schnellen Reaktion der älteren Dame gerechnet. Als der Mann sich schon in Sicherheit glaubte, ereilte ihn das Unglück in Gestalt von Lady Agathas sogenanntem Glücksbringer doch noch. Mit diesem liebevollen Namen pflegte sie ein veritables Pferdehufeisen zu bezeichnen, das sie in eine dünne Lage Schaumstoff gewickelt und dann in ihren ledernen Pompadour gestopft hätte.
Der Mann machte einen Luftsprung, als hätte er eine Million in der Lotterie gewonnen, als sich der wohlgefüllte Beutel an seinen schon etwas kahlen Hinterkopf schmiegte. Er ruderte mit allen Vieren gleichzeitig, bevor er doch den Gesetzen der Schwerkraft folgte und sich mit vernehmlichem Platschen Mylady zu Füßen legte. Der Farmer hatte seine Mistgabel sinken lassen. Ungläubig starrte er die ältere Dame an und vergaß vor lauter Staunen, den Mund zu schließen. Er erwachte erst aus seiner Versenkung, als draußen auf der Straße ein Auto hielt. Türen klappten, Schritte kamen näher. Dann standen plötzlich zwei junge Polizisten in der Scheune und wünschten höflich einen guten Abend. »Wir kamen gerade auf Streife hier vorbei, Mister Ramsey«, sprach einer von ihnen den Farmer an. »Da fielen uns die Schleuderspuren und der kaputte Zaun auf. Deshalb wollten wir mal reinschauen, ob alles in Ordnung ist.« »Das trifft sich gut, da kann ich mir den Anruf sparen«, entgegnete der Farmer. »Wieso? Ist wirklich etwas passiert?« fragte der Beamte ahnungslos. Bis jetzt waren ihm weder der Ford unter dem Heuhaufen noch die bewußtlosen Ganoven am Boden aufgefallen. »Mylady und meine Wenigkeit wurden zufällig Zeugen, als der Wagen dieser beiden Herren von der Straße abkam und das Scheunentor durchbrach«, schaltete Parker sich ein. »Vermutlich dürfte der Fahrer die Gefährlichkeit der langgezogenen Kurve unterschätzt haben.« Zögernd traten die Polizisten näher. Mit etwas schüchternen Blicken nahmen sie das ins Heu gebettete Auto und seine reglosen Insassen in Augenschein. »Sind sie tot?« fragte einer von ihnen ängstlich. »Falls man sich nicht gründlich täuscht, dürfte es sich lediglich um eine kurze Bewußtlosigkeit handeln«, gab der Butler Auskunft. »Ernstliche Verletzungen scheinen die Herren nicht erlitten zu haben.« »Da können die Burschen ja noch von Glück reden«, meinte ein Polizist. »Der Wagen scheint nicht allzuviel abbekommen zu haben.« »Aber mein Scheunentor«, ließ der Farmer sich vernehmen, »das werden die Kerle mir ersetzen müssen.«
»Dafür sorgen wir schon, Mister Ramsey«, beruhigte der Polizist ihn. »Am besten nehmen wir die beiden gleich mit zur Wache und setzen ein Protokoll auf.« »Aber passen Sie auf, die Burschen sind gefährlich«, warnte Ramsey. »Wieso gefährlich?« wollten die Polizisten wissen. »Mister Ramsey meint, daß die Herren vermutlich in unverantwortlichem Maß dem Alkohol zugesprochen haben«, warf Parker ein, ehe der Farmer antworten konnte. »Betrunkene pflegen unberechenbar zu sein.« »Dann gehen wir besser auf Nummer sicher«, entschieden die Polizisten und legten den beiden Männern Handschellen an. Anschließend luden sie sich die immer noch Bewußtlosen auf die Schulter und verfrachteten sie in ihren Streifenwagen. * »Man wünscht noch einen ungestörten Abend, Mister Ramsey«, sagte Josuah Parker und lüftete seinen schwarzen Bowler ein wenig. Anschließend geleitete er Lady Agatha hinaus. »Bitte hinterlassen Sie bei Mister Ramsey ihre Anschrift«, rief ein Polizist aus dem Seitenfenster des abfahrenden Streifenwagens. »Es könnte sein, daß wir ihre Zeugenaussage brauchen.« Parker verspürte keine Neigung, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Er war schon erleichtert, die Polizisten davonfahren zu sehen, ohne daß Bauer Ramsey ihnen die Geschichte des Kampfes in der Scheune hatte auftischen können. Auf diese Art war man vor allzu neugierigen Fragen verschont geblieben. * »Da haben Sie aber Glück!« meinte die schon etwas angejahrte Vorzimmerdame, als Agatha Simpson und der Butler am nächsten Morgen im Rathaus von Turnhill vorsprachen. »Eigentlich ist Mister Rendall gar nicht im Dienst. Er ist nur kurz hereingekommen, um einige wichtige Unterschriften zu leisten.«
Wenig später kehrte sie mit der Nachricht zurück, Bürgermeister Philipp Rendall sei bereit, die Besucher zu einem kurzen Gespräch in seinem Dienstzimmer zu empfangen. »Sie sind doch nicht etwa im Skiurlaub gewesen?« wollte Agatha Simpson wissen, als sie das Stadtoberhaupt hinter seinem Schreibtisch erblickte. Philipp Rendall trug einen Verband um die Stirn, seine Nase war von einem überdimensionalen Heftpflaster bedeckt, und sein linker Arm war eingegipst. »Nein, ich hatte nur einen kleinen Autounfall«, gab der Ortsgewaltige in beiläufigem Ton Auskunft. »Was kann ich für Sie tun, Mylady?« »Ein Autounfall?« forschte die Detektivin neugierig. »Das wundert mich nicht! Auf den Straßen wimmelt es heutzutage von gewissenlosen Verkehrsrowdies.« »Das war es nicht mal«, entgegnete Rendall. »An meinem Dienstwagen versagten plötzlich die Bremsen. Zum Glück ging es glimpflich ab, weil mein Fahrer ein besonnener Mann ist.« »Man darf doch zweifellos davon ausgehen, daß Ihr Dienstwagen regelmäßig gepflegt und gewartet wird, Sir?« schaltete Parker sich ein. »Selbstverständlich«, bestätigte der Bürgermeister. »Warum fragen Sie?« »Bei regelmäßiger Wartung dürfte ein Totalausfall der Bremsen nahezu ausgeschlossen sein, zumal neuzeitliche Kraftfahrzeuge über ein Zweikreis-Bremssystem verfügen«, erklärte der Butler. »Sie haben vermutlich nach der Ursache des Defekts forschen lassen, falls diese Frage erlaubt ist, Sir?« »Es schien mir nicht so wichtig«, behauptete Rendall. »Mein neuer Dienstwagen war sowieso schon bestellt.« Parker entging nicht, wie der Bürgermeister nervös mit seinem vergoldeten Füllfederhalter spielte. Die Frage schien ihm peinlich zu sein. »Demnach müßte es möglich sein, das beschädigte Fahrzeug einer näheren Prüfung zu unterziehen«, meinte Parker. »Grundsätzlich schon«, stimmte Rendall zu. Er begann, unruhig auf seinem Stuhl hin- und herzurutschen. »Aber was interessiert Sie denn so an diesem Bagatellunfall?« »Möglicherweise haben Sie bereits in Betracht gezogen, Sir, daß der Ausfall der Bremsen auf Sabotage zurückzuführen sein könnte«, erklärte der Butler.
»Sabotage?« rief Rendall. »Das ist doch völlig aus der Luft gegriffen! Wie kommen Sie denn auf einen solchen Verdacht?« »Man darf wohl davon ausgehen, daß Ihnen von den Zwischenfällen auf dem Festplatz berichtet wurde, Sir«, meinte Parker und hielt sein Gegenüber scharf im Auge. »Dort war ebenfalls Sabotage im Spiel.« »Natürlich habe ich davon gehört«, bestätigte der Stadtchef. »Aber was habe ich damit zu tun?« »Ursache der unerfreulichen Zwischenfälle dürfte ein gnadenloser Wettbewerb zwischen konkurrierenden Schaustellern sein«, gab der Butler Auskunft. »Auf diesen Kampf können Sie als Bürgermeister entscheidenden Einfluß ausüben, indem Sie einem der Bewerber in den Vertragsverhandlungen den Vorzug geben, falls der Hinweis gestattet ist.« »Ich habe aber niemand vorgezogen«, behauptete Rendall, dem es offenbar immer unbehaglicher in seiner Haut wurde. »Demnach kann und muß man also davon ausgehen, Sir, daß Mister Gatwick der Einzige war, der sich um ein Gastspiel zum 600jährigen Bestehen von Turnhill bewarb?« bohrte Parker unbeirrt weiter. Rendall zögerte nur einen Augenblick, aber immerhin lange genug, um Parker zu zeigen, daß er auf der richtigen Spur war. »Ein gewisser Clive Sandfield zeigte ebenfalls Interesse«, räumte der Bürgermeister ein. »Aber die Vertragsverhandlungen waren noch nicht abgeschlossen, als Mister Gatwick auf den Plan trat. Mister Sandfield wich daraufhin nach Ilford aus.« »Demnach sollte man vermuten, daß Mister Gatwick Ihnen das bessere Angebot unterbreitete, Sir?« wollte der Butler wissen, und Rendall nickte. »Sein nostalgischer Jahrmarkt paßt einfach besser zu unserem historischen Fest als Mister Sandfields hochmoderne Fahrgeschäfte«, erklärte der Bürgermeister. »Zusätzlich war Mister Gatwick bereit, einen Preis zu zahlen, der weit über die übliche Platzmiete hinausging«, behauptete Parker. Er war sich des Risikos bewußt, das er mit dieser Unterstellung einging, aber Rendalls Reaktion zeigte ihm, daß er mitten ins Schwarze getroffen hatte. »Woher wissen…?« begann der Bürgermeister, brach aber mitten im Satz ab und biß sich vor Verlegenheit auf die Lippe. »Nun – warum soll ich ein Geheimnis daraus machen?« sagte er
schließlich. »Ich hatte ohnehin vor, das Geld für einen sozialen Zweck zu stiften. Persönliche Bereicherung liegt mir selbstverständlich fern.« »Nie würde meine bescheidene Wenigkeit Ihnen unehrenhafte Motive unterstellen, Sir«, behauptete der Butler. »Dennoch könnte sich Mister Sandfield benachteiligt gefühlt haben, als Mister Gatwick den Zuschlag erhielt.« »Das ist nicht mein Problem«, behauptete Rendall und erhob sich. »Ich denke, Sie entschuldigen mich jetzt. Der Arzt hat mir Ruhe verordnet.« »Darf man die Hoffnung äußern, daß die gewünschte Ruhe Ihnen auch tatsächlich beschieden ist, Sir?« ließ Parker sich vernehmen, während er seine Herrin zur Tür geleitete. »Allerdings würde man gern noch erfahren, welchem sozialen Zweck Sie die fünftausend Pfund von Mister Gatwick zuzuführen gedenken?« »Fünftausend?« protestierte Rendall. »Es waren doch nur drei! Da müssen Sie sich verhört haben.« »Eine solche Möglichkeit sollte man nie ausschließen, falls die Anmerkung erlaubt ist«, erklärte der Butler. »Meine Wenigkeit dankt für das informative Gespräch und wünscht weiterhin gute Genesung.« Bevor Parker seine Herrin nach Ilford chauffierte, um Gatwicks Konkurrent Clive Sandfield unter die Lupe zu nehmen, sah er sich noch kurz den kräftig demolierten Dienstwagen des Bürgermeisters an, der auf dem Hof des Rathauses abgestellt war. Nach kurzem Suchen fand er seinen Verdacht bestätigt. Alle vier Bremsleitungen, die vom Hauptbremszylinder zu den einzelnen Rädern führten, wiesen kleine, ausgefranste Löcher auf. Die nähere Umgebung dieser undichten Stellen war auffallend blank und zeigte bei näherem Hinsehen Schleifspuren. Offenbar hatten Unbekannte die Bremsleitungen so mit einer Feile bearbeitet, daß die dünnen Stellen beim ersten scharfen Bremsen platzen mußten. Für den Butler gab es keinen Zweifel mehr: Gatwicks zurückgesetzter Konkurrent hatte sich an Philipp Rendall rächen und ihm einen Denkzettel verpassen wollen. Daß er dabei Menschenleben aufs Spiel setzte, schien ihm gleichgültig zu sein.
* Während Parker sein hochbeiniges Monstrum am Festplatz vorbei auf die Landstraße rollen ließ, warf er noch einen kurzen Blick auf die bunte Budenstadt. Farbige Wimpel wehten, die meisten Geschäfte waren geöffnet, doch in den Gassen schlenderten nur vereinzelte Gäste. Eine halbe Stunde später hatte man Edmonton erreicht, und der Butler nahm die Abzweigung, die nach Ilford am östlichen Rand der Millionenstadt führte. Unterwegs überzog sich der Himmel, der in Turnhill noch blau gewesen war, mit einem bleiernen Grau. Als Parker sein Ziel erreichte und auf den Festplatz in Ilford einbog, regnete es in Strömen. Der Jahrmarkt bot einen trostlosen Anblick, obwohl die Attraktionen, die Sandfield auf seinem Platz zu bieten hatte, sich ungleich imposanter ausnahmen als Gatwicks nostalgische Kirmes in Turnhill. Vom Autoscooter über Mondraketen bis zu einer gigantischen Achterbahn war hier alles vertreten, was als neu und teuer gelten konnte. »Würden Sie wohl die Güte besitzen, Mylady und meiner Wenigkeit den Weg zu Mister Clive Sandfield zu weisen«, sprach Parker einen jungen Mann an, der eine Leiter geschultert hatte und mißmutig über den verlassenen Platz trabte. »Zu Sandfield wollen sie?« vergewisserte sich der Angesprochene. »Wahrscheinlich ist er in seinem Wohnwagen da drüben.« Er deutete auf eine Art rollenden Bungalow, der sich in Größe und Ausstattung deutlich von den Behausungen der »einfachen« Schausteller abhob. »Man dankt für die freundliche Auskunft«, ließ Parker sich vernehmen und steuerte seinen eckigen, schwarzen Kasten in die Nähe des bezeichneten Wohnwagens, um seiner Herrin den beschwerlichen Weg durch Pfützen und Unrat zu ersparen. Gerade wurde die Tür des Mobilheims geöffnet, und zwei Männer traten ins Freie. Einer von ihnen trug einen dunkelbraunen Filzhut und hatte zum Schutz gegen die unfreundliche Witterung den Kragen seines Wettermantels hochgeschlagen. Er verabschiedete sich per Handschlag von dem anderen Mann, der eine Art Jogging-Anzug trug und offenbar nicht die Absicht hatte, bei diesem Wetter vor die Tür zu gehen.
»Und Jeff kannst du bestellen, er soll sich endlich was Wirksames einfallen lassen«, hörte Parker den Mann im Jogging-Anzug sagen. »Sonst muß ich mich nach jemand anderem umsehen. Ich bin mit meiner Geduld am Ende.« Der Mann im Wettermantel warf einen neugierigen Blick herüber, als Parker seiner Herrin aus dem Fond des Wagens half. Dann schritt er rasch zu einem dunkelroten Austin, der in einiger Entfernung parkte. Der andere blieb auf den Eingangsstufen des Wohnwagens stehen und blickte den Ankömmlingen erwartungsvoll entgegen. »Man wünscht einen angenehmen Tag«, sagte Parker beim Näherkommen und lüftete höflich den schwarzen Bowler. »Darf man die Vermutung äußern, Mister Clive Sandfield gegenüberzustehen?« »Der bin ich«, bestätigte der Mann. »Aber angenehm ist der Tag ja wirklich nicht, wie Sie sehen. Kann ich etwas für Sie tun?« »Mylady hat sich persönlich herbemüht, um mit Ihnen über gewisse Vorfälle zu sprechen«, antwortete der Butler. »Man dankt in aller Form für die freundliche Aufforderung, eintreten zu dürfen.« Sandfield wollte protestieren, doch die Detektivin ließ ihm keine Gelegenheit dazu. Mit ihrer Körperfülle drängte sie sich derart dreist in die Tür, daß dem Schausteller nichts anderes übrig blieb, als ins Innere seines Wagens zurückzuweichen. »Was für Vorfälle denn?« wollte er wissen. »Wer sind Sie überhaupt?« »Darf man davon ausgehen, daß Sie sich momentan in Schwierigkeiten befinden, Sir?« erkundigte sich Parker, ohne auf Sandfields Fragen einzugehen. »Schwierigkeiten?« wiederholte sein Gegenüber gedehnt. »Was meinen Sie damit? Natürlich haben wir Schwierigkeiten bei diesem Sauwetter auf diesem gottverlassenen Platz.« »Rein zufällig vernahm meine Wenigkeit den Auftrag, den Sie dem Mann erteilten, der soeben mit dem roten Austin davongefahren ist«, wurde der Butler deutlicher. Eine kaum sichtbare Röte huschte über Sandfields blasses etwas aufgeschwemmt wirkendes Gesicht. Er hatte sich jedoch sofort wieder in der Gewalt. »Ach, das meinen sie!« antwortete er, um einen gelassenen Tonfall bemüht. »Dieser Jeff, von dem ich sprach, ist ein Zeltma-
cher, der dringend einige Planen flicken müßte. Unverschämt, daß er mich gerade bei diesem Wetter versetzt.« »Wirklich bedauerlich, falls man sich diese Anmerkung erlauben darf«, stimmte der Butler zu, während Mylady ächzend auf einer der gepolsterten Sitzbänke Platz nahm. »Auf Handwerker ist heutzutage ebensowenig Verlaß wie auf das Wetter.« »Da haben Sie recht«, bestätigte Sandfield. »Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wer Sie sind, und was Sie von mir wollen.« »Muß man von der Annahme ausgehen, daß Sie nicht nur mit dem Wetter und den Handwerkern, sondern auch mit dem Festplatz hier in Ilford unzufrieden sind, Sir?« bohrte Parker unbeirrt weiter. »Das Gelände ist alles andere als ideal«, stimmte sein Gegenüber zu. »Und große Umsätze sind hier auch nicht zu machen. Aber der Rubel muß rollen, wenn man mit hochmodernen und entsprechend teuren Fahrgeschäften arbeitet.« »Wirtschaftliche Zusammenhänge dieser Art sind meiner Wenigkeit durchaus geläufig«, erklärte der Butler. »Demnach hätten Sie es vermutlich vorgezogen, an einem anderen Ort zu gastieren?« »An einem anderen Ort?« »In Turnhill, wenn man dieses Beispiel einmal anführen darf«, sagte Parker in gleichgültigem Ton. Um Sandfields Mundwinkel zuckte es heftig. Er schluckte und wischte sich verstohlen einige Schweißperlen von der Stirn. »Wie kommen sie gerade auf Turnhill?« fragte er nach einer Pause. »Meiner Wenigkeit kam zu Ohren, daß Sie sich um ein Gastspiel zum 600jährigen Bestehen der Stadt bemühten, daß Ihnen aber ein gewisser Clint Gatwick zuvorkam«, ließ Parker ihn wissen. Urplötzlich war es mit Sandfields Beherrschung vorbei. »Daß Gatwick mir zuvorkam?« knurrte er. »Da sind Sie leider falsch informiert, Mister…?« »Meine Wenigkeit hört auf den Namen Parker«, holte der Butler die versäumte Vorstellung nach. »Josuah Parker. Butler in Diensten Lady Simpsons, die Ihnen im Moment die Ehre ihres Besuches erweist, Sir.« »Ob das eine Ehre für mich ist, darüber könnte man noch streiten«, gab Sandfield mißgelaunt zur Antwort. »Sie platzen einfach hier herein und stecken Ihre Nase in Angelegenheiten, die Sie
nichts angehen. Ich weiß gar nicht, warum ich mich überhaupt mit Ihnen unterhalte und Sie nicht schon längst vor die Tür gesetzt habe.« »In Gegenwart einer Dame sollten Sie sich eines höflichen Umgangstones befleißigen, junger Mann«, belehrte Mylady ihn. »Ich könnte mich sonst leicht beleidigt fühlen. Also, wie war das: Wollten Sie in Turnhill auftreten oder nicht?« »Natürlich wollte ich«, bestätigte Sandfield, dem seine ungebetenen Besucher allmählich unheimlich wurden. »Da Sie offenbar einen Teil der Wahrheit wissen, sollen Sie von mir auch die ganze Wahrheit erfahren.« »Das will ich hoffen, junger Mann«, stellte die Detektivin klar. »Und versuchen Sie nicht, mir mit Ausflüchten zu kommen. Das durchschaue ich sofort.« * »Sechs Jahre hintereinander waren wir jeden Sommer in Turnhill«, berichtete Clive Sandfield. »Deshalb hatte ich keinen Zweifel, daß der Bürgermeister uns auch dieses Jähr zum Stadtjubiläum den Zuschlag geben würde. Mündlich war schon alles abgesprochen.« »Über einen schriftlichen Vertrag verfügten Sie aber nicht, Sir, wie man Ihren Äußerungen wohl entnehmen darf?« unterbrach Parker ihn. »Damit habe ich mir Zeit gelassen, weil ich dachte, das wäre nur eine Formsache«, fuhr Sandfield fort. »Als ich dann eine Woche vor dem Fest ins Rathaus kam, um alles klar zu machen, erfuhr ich, daß dieser verdammte Rendall einen Vertrag mit Gatwick geschlossen hatte. Mir blieb nur die Möglichkeit, auf dieses gottverlassene Gelände auszuweichen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.« »Demnach muß man wohl von der Annahme ausgehen, daß Mister Gatwick der Stadt das attraktivere Angebot unterbreiten konnte«, meinte Parker. »In der Tat dürfte ein historischer Jahrmarkt besser in den Rahmen eines historischen Festes passen, falls diese Anmerkung erlaubt ist.«
»Unsinn«, reagierte Sandfield barsch. »Der Kerl hat den Bürgermeister geschmiert. Das steht für mich fest. Schließlich war Turnhill nicht der erste Ort, in dem er uns ausgetrickst hat.« »Damit dürften Sie auf Stepford anspielen, falls man sich nicht gründlich täuscht«, warf Parker ein, und Sandfield nickte heftig. »Sie sind ja bestens informiert«, räumte der Schausteller ein. »Dann müßten Sie auch wissen, was für ein raffinierter Halsabschneider dieser Gatwick ist.« »Vermutlich haben Sie die Polizei über Ihren Verdacht informiert, Sir?« wollte Parker wissen. »Die Polizei?« wiederholte Sandfield. »Nein, bisher nicht. Wie soll ich ihn anzeigen, wenn ich keine Beweise in der Hand habe?« »An Ihrer Stelle würde ich die Polizei auch aus dem Spiel lassen, Mister Sandwich«, schaltete Lady Simpson sich in das Gespräch ein. »Weshalb?« fragte Sandfield leicht irritiert. »Erstens sind die beamteten Schnüffelnasen doch zu nichts nutze«, gab die Detektivin Auskunft. »Zweites hätten Sie natürlich zu befürchten, daß man Ihnen auch auf die Schliche kommt.« »Mir?« fuhr Sandfield entrüstet auf. »Ich habe nichts zu verbergen.« »Und ob«, konterte Agatha Simpson. »Ich werde Ihnen das schon nachweisen.« Sandfield wurde zusehends nervöser. »Habe ich es denn nötig, mir Ihre haltlosen Verdächtigungen anzuhören?« fauchte er. »Was wollen sie mir denn überhaupt vorwerfen?« Verzweifelt kramte die Detektivin in ihrem Gedächtnis, das sie ausgerechnet in diesem entscheidenden Moment wieder mal völlig im Stich ließ. »Darüber wird mein Butler Sie informieren«, erklärte sie schließlich, glücklich über diesen rettenden Einfall. »Mylady plante, mit Ihnen über gewisse Vorfälle zu sprechen, die den Jahrmarktsbetrieb in Turnhill empfindlich gestört haben, wenn man es mal so formulieren darf«, gab der Butler Auskunft. »Unter anderem ergibt sich die Frage nach dem Auftraggeber zweier Männer, die gestern abend durch Tränengasgranaten für eine Panik sorgten und einen vorzeitigen Abbruch der Gauklervorstellung erzwangen.« Hilfesuchend blickte Sandfield sich um. Er saß in der Falle, doch noch gab er nicht auf. Blitzschnell sprang er vom Stuhl hoch,
wich in den hinteren Bereich seines Wohnwagens zurück und hatte im nächsten Moment ein schweres Wurfmesser in der Hand. »Beim Gebrauch derart gefährlicher Werkzeuge sollte man die allergrößte Vorsicht walten lassen«, mahnte Parker, doch Sandfield lachte hämisch. »Keine Sorge!« knurrte er zwischen zusammengepreßten Lippen. »Ich bin im Training. Meine Würfe sitzen hundertprozentig!« Parker zweifelte nicht an dieser Aussage. Schon während des Gesprächs war ihm das Foto an der Wand aufgefallen, das Sandfield als gefeierten Messerhelden einer Bühnenshow zeigte. Sein Wurf hätte auch wirklich gesessen, hätte der Butler sich nicht blitzschnell zur Seite geduckt, als der tödliche Stahl auf ihn zuflog. Die blitzende Klinge huschte knapp an seinem Ohr vorbei, bohrte sich in die hölzerne Schiebetür eines Wandschrankes und blieb zitternd dort stecken. Sandfield ließ sich durch diesen Fehlwurf nicht entmutigen. Schon hatte er das nächste Messer in der Hand. Wieder surrte eine blinkende Klinge durch die Luft. Sie hätte unweigerlich Mylady getroffen, hätte der Butler nicht reaktionsschnell seinen schwarzen, mit Stahlblech ausgefütterten Bowler vom Kopf gezogen und wie einen Schutzschild in die Flugbahn des Wurfgeschosses gehalten. Klirrend prallte das Messer von der undurchdringlichen Halbkugel ab und irrte als Querschläger durch den Raum. Im nächsten Moment blieb die Klinge dicht neben Sandfields Kopf in der Außenwand des Wohnwagens stecken. In ungläubigem Entsetzen starrte der Mann die Waffe an, die ihm um ein Haar zum Verhängnis geworden wäre. Sein Schock dauerte nur Sekundenbruchteile; dann langte er nach dem Griff und wollte das Messer aus der Wand reißen, um es erneut auf die Reise zu schicken. Doch Parker nutzte diese kurze Verwirrung eiskalt und durchkreuzte nachhaltig seine unfreundlichen Absichten. Mit einem Fußtritt beförderte er einen mitten im Raum stehenden Stuhl in Sandfields Richtung. Vergeblich versuchte der Messerwerfer, dem hölzernen Möbel auszuweichen. Dabei verhedderte er sich jedoch mit den Füßen in einer Wäscheleine, die zusammengerollt auf dem Boden lag. Er stolperte, verlor das Gleichgewicht und fiel über den Stuhl, der krachend unter ihm zusammenbrach. Ehe der Mann sich wie-
der aufrichten konnte, hatte Mylady schon in bewährter Weise in das Geschehen eingegriffen. Ihr Pompadour, der während des ganzen Gesprächs nervös an ihrem Handgelenk gewippt hatte, beschrieb einen weiten Bogen. Mit scharfem Zischen durchschnitten die ledernen Riemen die Luft, als sich der sogenannte Glücksbringer Sandfields Hinterkopf näherte. Ein dumpfes Klatschen wurde hörbar, und der lederne Beutel schmiegte sich an den Schädel des Mannes. Wie vom Stromschlag getroffen, fuhr Sandfield in die Höhe. Mit einem langen Schmerzenslaut faßte er an seinen Kopf, richtete sich halb auf und taumelte ziellos durch den Raum. Wie ein Betrunkener torkelte er schwerfällig gegen den Geschirrschrank, dessen Inhalt sich scheppernd und klirrend auf den Fußboden ergoß. Knöcheltief in den Scherben von Tellern, Tassen und Suppenschüsseln watend, warf Sandfield dem Butler und seiner Herrin einen wütenden Blick zu. Die Flüche, die er ausstoßen wollte, gingen allerdings in unverständlichem Gurgeln und Röcheln unter. Sandfield zitterte am ganzen Leib, als er in den Knien einknickte, noch ein paar ungeschickte Tanzschritte versuchte und plötzlich die Augen verdrehte. Erlöst seufzend ließ er sich schließlich zu Boden sinken und machte es sich vor Parkers Füßen zu einem Nickerchen bequem. »Innerhalb der nächsten zwanzig Minuten dürfte Mister Sandfield kaum in der Lage sein, weitere Auskünfte zu erteilen«, meinte der Butler und schlug der Herrin vor, aufzubrechen. Mylady willigte zögernd ein, nachdem sie schnell noch alle Wandschränke nach einem Stärkungsmittel für ihren sensiblen Kreislauf durchstöbert hatte. »Kein sehr gastlicher Mensch, dieser Mister Sandwich«, stellte sie mißbilligend fest. »Nicht mal einen Begrüßungsschluck hat er mir angeboten.« Inzwischen hatte der Regen nachgelassen. Der Himmel über Ilford war aber immer noch grau verhangen. Als Parker gerade mit seinem hochbeinigen Monstrum vom Platz kurven wollte, wurde er auf einen etwa fünfzigjährigen Mann in blauem Monteursanzug aufmerksam, der damit beschäftigt war, einen Riß in der Abdeckung einer Raupenbahn zu flicken. Verdutzt blickte der Mann auf, als Parkers schwarzer Kasten neben ihm hielt und der Butler sich aus dem Fenster lehnte.
»So ein verdammtes Sauwetter!« fluchte er. »Man hat immer nur Arbeit, aber Kundschaft läßt sich keine blicken.« Aufmerksam musterte er den Butler, der ihn an ein Bild aus längst vergangenen Zeiten erinnerte. »Waren Sie bei Mister Sandfield?« fragte er mit unverhohlener Neugier. »Ihre Vermutung ist absolut zutreffend, wenn man es so formulieren darf«, gab Parker zur Antwort. »Ging es um ein Engagement?« wollte der Mann wissen und trat an das offene Wagenfenster. »So wie Sie aussehen, würde ich Sie vielleicht für einen Zauberer halten, stimmt’s?« »Nicht immer läßt der äußere Schein zutreffende Rückschlüsse zu«, gab Parker ausweichend zur Antwort. »Sie müssen mir’s ja nicht verraten«, meinte der Unbekannte in vertraulichem Tom. »Aber wenn sie einen Tip von einem Kollegen hören wollen: Lassen Sie die Finger davon! Sandfield verspricht Ihnen das Blaue vom Himmel, aber halten kann er nichts. Die Geschäfte gehen seit einiger Zeit schlecht.« »Man dankt für diesen wertvollen Hinweis«, erklärte Josuah Parker höflich. »Darf man davon ausgehen, daß sie der Zeltmacher Jeff sind, den Mister Sandfield schon ungeduldig erwartet hat?« »Ich – Zeltmacher?« fragte der Mann lachend. »Mir gehört die Bahn hier. Bei uns repariert jeder seine Sachen selber. Natürlich hilft man sich gegenseitig. Da brauchen wir keinen Zeltmacher.« »Man dankt für die freundliche Auskunft«, sagte Parker und lüftete seinen schwarzen Bowler ein wenig. »Meine Wenigkeit hätte aber noch eine Frage, deren Beantwortung für Sie nur eine geringe Mühe bedeuten dürfte.« »Fragen Sie nur!« ermunterte der Mann ihn. »Der alte Benson weiß über alles hier Bescheid und hat schon manchen guten Tip gegeben.« »Man ist auf der Suche nach zwei Kollegen, aus früheren Zeiten«, behauptete der Butler. »Widrige Zeitläufe verhinderten bisher das lang ersehnte Wiedersehen. Könnte es zutreffen, daß Ihnen die Herren bekannt sind?« Ausführlich beschrieb Parker die beiden Männer, die am Abend zuvor in Turnhill die Tränengasgranaten geworfen hatten. Mit gerunzelter Stirn hörte der alte Benson zu. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Wie heißen die beiden denn?« erkundigte er sich.
»Bedauerlicherweise sind meiner Wenigkeit die Namen im Moment entfallen«, wich Parker aus. »Wenn man erst mal in die Jahre kommt, ist das Gedächtnis nicht mehr das beste.« »Mein’s klappt zum Glück noch ausgezeichnet«, freute sich sein Gesprächspartner. »Deshalb kann ich mit Sicherheit sagen, daß seit Jahren niemand bei Sandfield gearbeitet hat, auf den die Beschreibung zutrifft. Am besten erkundigen Sie sich anderswo.« »Man dankt verbindlich und wünscht noch einen angenehmen Tag«, sagte Parker und kurbelte das Wagenfenster hoch. Der alte Benson schaute noch eine Weile hinterher, als der schwerfällig wirkende Kasten vom Platz rollte und dann rasch auf der Durchgangsstraße entschwand. * Agatha Simpson hatte sich gerade am Teetisch niedergelassen und begutachtete wohlwollend die köstliche Sachertorte, die Parker unterwegs erstanden hatte, als es an der Haustür läutete. »Wenn das McWarden ist, schicken Sie ihn weg, Mister Parker«, befahl sie. »Immer kommt er zu den unpassendsten Zeiten und zieht mit seinen gierigen Blicken förmlich die Bissen vom Teller.« »Selbstverständlich wird man bemüht sein, streng nach Myladys Anweisung zu handeln«, versicherte Parker mit einer knappen Verbeugung, bevor er hinausging. Es war tatsächlich McWarden, der Einlaß begehrte. Höflich, aber bestimmt informierte Parker ihn über die Weisung, die seine Herrin ihm erteilt hatte. »Ich muß aber mit Lady Simpson sprechen«, beharrte McWarden. »Und zwar gleich. Die Sache duldet keinen Aufschub.« »Man wird Mylady von ihren Ausführungen in Kenntnis setzen, Sir«, versprach Parker. Anschließend schloß er die Tür vor McWardens Nase und kehrte in die Wohnhalle zurück, um seiner Herrin Bericht zu erstatten. »Wenn er es wirklich so eilig hat, dann lassen Sie ihn in Gottes Namen herein, Mister Parker«, gestattete die Hausherrin gnädig und schob sich hastig noch ein Stück Torte in den Mund. »Aber schließen Sie vorher den Sherry weg.« Josuah Parker tat, wie ihm geheißen, bevor er zur Haustür schritt, um den Chief-Superintendent einzulassen.
Man sah dem etwa 55jährigen, untersetzten McWarden nicht an, welchen Rang er bei Scotland Yard bekleidete. Nach der Einschätzung seiner Kollegen war er jedoch ein begabter Kriminalist, dem man nicht ohne Grund eine Sonderabteilung unterstellt hatte, die sich die Bekämpfung des organisierten Verbrechens widmete. Lady Agatha hielt weniger von seinen Fähigkeiten. Überdies wurde sie den Verdacht nicht los, daß McWardens gelegentliche Besuche nur dem Zweck dienten, sich an ihrem feinen Sherry schadlos zu halten. Dennoch sah sie seine Besuche nicht ungern. Gaben sie ihr doch Gelegenheit zu boshaften Sticheleien, die den ChiefSuperintendent regelmäßig aus der Fassung brachten. Zum Glück war McWarden nicht nachtragend und vergaß die Kränkungen schnell. »Ich hoffe, Sie befinden sich wohl, mein lieber McWarden«, begrüßte Mylady ihren Gast mit dem liebenswürdigsten Lächeln, das ihr zu Gebote stand. »Wenn nur der dauernde Streß nicht wäre«, entgegnete der Yard-Beamte und ließ sich in einen Sessel fallen. »Heute wurde ich schon wieder in aller Frühe aus dem Bett geklingelt.« »Dann haben Sie sicher einen brisanten Fall aufzuklären?« forschte die Hausherrin mit unverhohlener Neugier. »Eigentlich nicht«, gab McWarden zurück. »Eigentlich bin ich nur gekommen, um zu fragen, ob Sie in einem brisanten Fall ermitteln, Mylady.« »Ich?« tat die Hausherrin ahnungslos. »Sie wissen doch, daß ich in letzter Zeit verstärkt an meinem Drehbuch arbeite. Da bleibt mir für die aktuelle Arbeit kaum noch Zeit.« »Merkwürdig«, meinte McWarden gedehnt und schüttelte den Kopf. »Wirklich merkwürdig! Ich hätte schwören können…« »Was ist merkwürdig?« wollte die Hausherrin wissen. »Was hätten Sie schwören können?« »Nun«, druckste McWarden herum. »Ich hätte schwören können, daß Sie gestern abend in der Nähe von Turnhill mit zwei hochkarätigen Ganoven aneinandergeraten sind, Mylady.« »Gestern abend wurden nach einem Verkehrsunfall in der Nähe von Turnhill zwei Männer festgenommen«, berichtete der ChiefSuperintendent. »Bei der Überprüfung ihrer Personalien auf der
Wache stellte sich heraus, daß es sich um Greg Malcolm und Jerry Pinter handelte, zwei hartgesottene Gangster, die dem Umfeld eines gewissen Jeff Morgan zugerechnet werden.« »Sie sprechen in Rätseln, McWarden«, entgegnete Lady Agatha stirnrunzelnd. »Diesem Jeff Morgan sind wir schon seit längerer Zeit auf der Spur«, fuhr McWarden fort. »Der Bursche kontrolliert eine große Zahl von Spielsalons und anderen zwielichtigen Etablissements. Dabei soll er mit eiserner Härte vorgehen. Allerdings ist er so raffiniert, daß wir ihm bisher nichts nachweisen konnten.« »Wie bedauerlich für Sie«, stellte die Hausherrin mit hämischem Grinsen fest. »Vielleicht sollten Sie mal kritisch ihre Ermittlungsmethoden überprüfen.« »Wir werden ihm schon auf die Schliche kommen«, meinte der Chief-Superintendent optimistisch. »Jeder Verbrecher macht Fehler.« »Eine Feststellung, der man sich nur in vollem Umfang anschließen kann, Sir«, schaltete Parker sich in das Gespräch ein »Ihr Ausspruch ist so treffend, McWarden, daß er fast von mir stammen könnte«, pflichtete auch die Hausherrin ihm bei. »Aber warum erzählen Sie mir das alles? Soll ich diesen Morgan für Sie zur Strecke bringen?« »Um Himmels willen, nein!« rief der Chief-Superintendent. »Vor dem Mann kann ich Sie nur warnen, und das ist auch der eigentliche Grund meines Besuches.« »Auf Ihre Warnung pfeife ich, McWarden«, gab Mylady mit einer lässigen Geste zurück. »Sie wissen doch, daß eine Lady Simpson keine Angst kennt.« »Ich weiß«, räumte McWarden ein. »Aber manchmal ist es besser, wenn man vorher informiert ist, mit wem man es zu tun hat. Und daß Sie diesem Jeff Morgan auf der Spur sind, daran gibt es für mich keinen Zweifel.« »Würden Sie mir bitte in aller Deutlichkeit erklären, wie sie zu dieser abenteuerlichen Behauptung kommen, Mister McWarden?« erkundigte sich Lady Agatha. Ihre Stimme hatte einen eisigen Klang bekommen. »Die Beamten, die den Unfall bearbeiteten, haben von zwei Zeugen berichtet, die offensichtlich vergaßen, ihre Anschrift zu hinterlassen«, gab McWarden Auskunft und bemühte sich dabei,
so ruhig wie möglich zu bleiben. »Die Beschreibung paßte haargenau auf Sie und Mister Parker…« »Unglaublich!« empörte sich Mylady. »Das ist völlig ausgeschlossen!« »Ausgeschlossen?« »Ausgeschlossen, McWarden!« beharrte die Detektivin. »Sollten Sie weiter bei dieser Behauptung bleiben, müßte ich das als Beleidigung auffassen. Welchen Grund sollte ich gehabt haben, mich davonzustehlen, ohne meine Anschrift zu hinterlassen?« »Vielleicht wollten Sie verhindern, daß die Polizei von Ihren Ermittlungen erfährt«, gab der Chief-Superintendent zurück. Allmählich fiel es ihm schwer, höflich zu bleiben. Sein Gesicht hatte schon die Farbe einer vollreifen Tomate angenommen. Seine ohnehin etwas vorstehenden Basedow-Augen traten noch weiter aus den Höhlen und verliehen ihm das Aussehen einer gereizten Bulldogge. »Ich habe Ihnen ausdrücklich erklärt, daß ich zu sehr mit meinem Drehbuch beschäftigt bin, um mich irgendwelchen Ermittlungen widmen zu können, McWarden«, fauchte Mylady. »Wenn Sie mich weiterhin der Lüge bezichtigen wollen, verlassen Sie am besten mein Haus.« »So war’s ja gar nicht gemeint, Mylady«, versuchte McWarden die aufgebrachte Dame zu besänftigen, doch sie würdigte ihn keines Blickes mehr. »Mister Parker, Mister McWarden möchte zur Tür geleitet werden«, ordnete sie in frostigem Ton an. »Es hat mich sehr gefreut, Mister McWarden.« »Die Freude war ganz auf meiner Seite, Mylady«, entgegnete McWarden zähneknirschend und erhob sich. »Aber denken Sie an meine Worte! Ich habe Sie gewarnt vor Jeff Morgan!« * »Haben Sie gemerkt, Mister Parker, wie raffiniert ich ihm seinen Verdacht ausgeredet habe?« fragte Agatha Simpson händereibend, nachdem der Butler den Gast hinausgeleitet hatte. »Mylady sind in vieler Hinsicht einfach unübertrefflich«, gab Parker höflich, aber vieldeutig zur Antwort.
»Das haben Sie richtig festgestellt, Mister Parker«, bestätigte die Hausherrin ohne falsche Bescheidenheit. »Dieser McWarden kann mir ja wirklich nicht das Wasser reichen.« »Nur ein Narr würde Myladys Feststellung widersprechen«, sagte der Butler mit tiefer Verbeugung. »Immerhin hat Mister McWarden aber unbeabsichtigt eine Information preisgegeben, die langwierige Nachforschungen ersparen dürften, falls der Hinweis erlaubt ist.« »Was für eine Information?« fragte die ältere Dame begriffsstutzig. »Zweifelsfrei werden Mylady registriert haben, daß Mister McWarden nicht nur den Namen der beiden Herren nannte, die gestern in Turnhill einen Anschlag mit Tränengasgranaten verübten«, half Parker dem störrischen Gedächtnis seiner Herrin auf die Sprünge. »Sie meinen diesen Mister Morning?« vergewisserte sich Lady Agatha. »Natürlich habe ich mir den Namen sofort gemerkt.« »Mister McWarden sprach von einem gewissen Jeff Morgan, falls meine bescheidene Wenigkeit sich nicht gründlich täuscht«, korrigierte der Butler in seiner höflichen Art. Doch Mylady empfand selbst das noch als unhöflich. »Nichts anderes habe ich gesagt, Mister Parker!« grollte die Hausherrin. »Leider habe ich in letzter Zeit das Gefühl, daß Sie außerordentlich schlecht hören. Dabei sollte das Gehalt, das ich Ihnen zahle, eigentlich die Konsultation eines Ohrenarztes erlauben.« »Selbstverständlich wird man Myladys wohlmeinenden Ratschlägen die gebührende Beachtung zuteilwerden lassen«, versicherte Parker und schritt zum Wandschrank, um den feinen, alten Sherry herauszuholen, den er vor McWardens Eintreten weisungsgemäß dort eingeschlossen hatte. »Manchmal ist eben so ein Mensch wie McWarden zu etwas nutze«, meinte Agatha Simpson in versöhnlichem Tonfall, während Parker ihr das Glas vollschenkte. »Weil er sich verplappert hat, brauche ich nur noch zuzuschlagen. Natürlich ist dieser Mister Morning der gesuchte Konkurrent von Mister Sputnick. Können Sie mir auch folgen, Mister Parker?« »Myladys Ausführungen sind von einer Klarheit, die ihresgleichen sucht«, antwortete der Butler. »Möglicherweise würde es
sich aber dennoch empfehlen, vorher einige Erkundigungen über Mister Morgan einzuziehen.« »Sehen Sie denn nicht, daß das völlig überflüssig ist, Mister Parker?« belehrte Agatha Simpson ihn. »Die Männer, die gestern die Lachgasbomben auf die Gauklerbühne warfen, handelten im Auftrag von Mister Morning. Oder wollen Sie das etwa bezweifeln?« »Keineswegs, Mylady«, versicherte Parker. »Dennoch sollte man auch damit rechnen, daß Mister Morgan nicht der Auftraggeber ist, sondern der Auftragnehmer, falls diese Anmerkung erlaubt ist.« »Was wollen Sie damit sagen, Mister Parker?« »Meiner Wenigkeit ist bisher kein Fall zu Ohren gekommen, in dem ein prominentes Mitglied der Londoner Unterwelt als Schausteller auf Jahrmärkten aufgetreten wäre«, erklärte der Butler umständlich. »Möglicherweise wird davon auszugehen sein, daß Mister Morgan die Anschläge im Auftrag von Mister Clive Sandfield verüben ließ.« »Das ist genau die Theorie, von der ich auch ausgehe«, behauptete die Detektivin. »Deshalb werde ich noch heute diesen Mister Morning festnehmen. Wenn ich ihn nur intensiv genug verhöre, wird er mir seinen Auftraggeber schon verraten.« »Myladys Vernehmungsmethoden sind von geradezu durchschlagender Wirksamkeit, falls meiner bescheidenen Wenigkeit diese Feststellung erlaubt ist«, bestätigte der Butler und schenkte das Glas erneut bis zum Rand voll. »Eigentlich könnten Sie sofort den Wagen startklar machen, Mister Parker«, ordnete die Detektivin tatendurstig an. »Wo wohnt dieser Kerl eigentlich?« »Ohne gewisse Nachforschungen dürfte meine Wenigkeit kaum imstande sein, Mister Morgans Anschrift zu nennen«, bedauerte Parker. »Mister McWardens Freundlichkeit ging leider nicht so weit, auch diese Information preiszugeben.« »Dann erkundigen Sie sich gefälligst, Mister Parker«, grollte die Detektivin. »Nichts anderes hatte meine Wenigkeit im Sinn«, erklärte Parker. »Man wird den ehrenwerten Mister Pickett bitten, Erkundigungen über Mister Jeff Morgan einzuziehen.«
Formvollendet verneigte er sich vor seiner Herrin und schenkte ihr noch mal randvoll ein, ehe er in die Diele schritt, um zu telefonieren. * »Mister Pickett versprach, sein Möglichstes zu tun«, meldete Parker, als er zu seiner Herrin in die weitläufige Wohnhalle zurückkehrte. »Bitte erinnern Sie mich bei Gelegenheit daran, daß ich ihn zum Tee einlade, Mister Parker«, erklärte Agatha Simpson. »Der gute Mister Pickett ist immer so hilfsbereit.« Picketts Hilfsbereitschaft kannte in der. Tat keine Grenzen, wann immer der Butler ihn um einen Gefallen bat. Das hatte seinen Grund darin, daß Parker ihm mal in einer unverschuldeten Notlage das Leben gerettet hatte. Damals war Pickett noch der ungekrönte König der Londoner Taschendiebe gewesen. Seit Parkers Eingreifen war er jedoch auf die Seite des Gesetzes übergewechselt und bestritt seinen Lebensunterhalt auf redliche Weise. Seine Beziehungen zur Unterwelt der Millionenstadt waren aber immer noch hervorragend und hatten sich schon oft als nützlich erwiesen. Es dauerte keine zwanzig Minuten, da klingelte das Telefon, und der Eigentums-Umverteiler, wie er sich früher zu nennen pflegte, meldete sich mit ersten Informationen zurück. »Jeff Morgan ist in der Tat kein Unbekannter in der Londoner Szene«, teilte Pickett mit. »Er scheint einen großen Teil der Bars im Eastend fest in seiner Hand zu haben. Außerdem heißt es, daß er in weiten Bereichen die Prostitution kontrolliert und dabei nicht gerade zimperlich zu Werke geht.« »Insofern haben Ihre Nachforschungen die Korrektheit der Informationen bestätigt, die Mister McWarden preiszugeben geruhte, Mister Pickett«, unterbrach Parker ihn. »Kann und darf man davon ausgehen, daß Sie darüber hinaus weitere Einzelheiten eruieren konnten?« »Gerüchteweise heißt es, daß Morgan seine Finger auch ganz tief im Kokain-Geschäft haben soll«, berichtete Pickett weiter. »Aber mit Schaustellergeschäften und Jahrmärkten hat er noch
nie etwas zu tun gehabt. Keiner meiner Informanten konnte sich so etwas vorstellen.« »Demnach dürfte als sicher gelten, daß Mister Morgan seine Leute gegen Bezahlung oder aus Gefälligkeit in fremdem Auftrag eingesetzt hat«, stellte Parker fest, und Pickett stimmte ihm zu. »Morgan beschäftigt eine Reihe Schläger und Revolverhelden«, wußte er mitzuteilen. »Das ergibt sich schon aus seinem Gewerbe. In der Unterwelt ist aber auch bekannt, daß er Leibwächter oder ganze Terrorkommandos manchmal ausleiht – gegen harte Münze, versteht sich.« »Zweifellos konnten Sie auch herausfinden, wo Mister Morgan sich zur Zeit aufhält?« ließ Parker sich vernehmen. »Seine Adresse ist durchaus standesgemäß für einen Mann mit seiner Macht und seinen Einkünften«, gab Pickett zur Antwort. »Er bewohnt eine luxuriöse Villa in Kensington, an der Abingdon Road No. 45.« »Man dankt verbindlich für die freundliche Mitarbeit, Mister Pickett«, sagte der Butler. »Mylady wird zweifellos hochzufrieden sein.« * Eine Stunde später ließ Parker sein schwarzes Monstrum über die stark befahrene Brompton Road in Richtung Kensington rollen. Mylady saß im Fond des Wagens und widmete sich dem Inhalt einer Pralinenschachtel, die sie als Wegzehrung mitgenommen hatte. »Die Londoner Gangster sind auch nicht mehr das, was sie einst waren«, maulte sie gelangweilt und schob sich eine Praline in den Mund. »Früher kam es wenigstens noch hin und wieder vor, daß ich Verfolger abwehren mußte.« »Bedauerlicherweise war meine Wenigkeit bisher nicht in der Lage, ein verdächtiges Fahrzeug auszumachen«, meldete Parker, nachdem er sich noch mal im Rückspiegel vergewissert hatte, daß ihnen niemand folgte. »Dieser unerfreuliche Zustand dürfte sich jedoch nach dem Besuch bei Mister Morgan grundlegend ändern, sofern man sich nicht völlig täuscht.«
»Das will ich hoffen«, bekräftigte Mylady und wurde gleich etwas munterer. »Mister Morning wird ja Augen machen, wenn ich vor ihm stehe!« »Dieser Einschätzung würde sich auch meine Wenigkeit anschließen, falls es gestattet ist«, sagte Parker in seiner höflichen Art. Er schaltete herunter und bog in gemächlichem Tempo in die Abingdon Road ein. Das Haus Nummer 45 lag etwas von der Straße zurück. Das großzügig bemessene Grundstück, das einem kleinen, aber sorgfältig gepflegten Park glich, war von einer mehr als mannshohen Mauer aus gelbem Backstein umgeben. Soweit Parker vom Wagen aus erkennen konnte, gab es nur zwei Öffnungen in dieser Mauer. Eine mit einem Rollgitter verschlossene Rampe führte in die Garagen unter dem Haus. Außerdem gab es ein schmiedeeisernes Tor, von dem aus ein gepflasterter Weg zur Haustür führte. Unmittelbar vor dem Eingang ließ der Butler sein hochbeiniges Monstrum am Straßenrand ausrollen. Anschließend half er diskret seiner Herrin, die einige Mühe hatte, ihre wogende Fülle durch die Wagentür ins Freie zu zwängen. Liebevoll streichelte Agatha Simpson den mit gußeisernen Perlen verzierten Pompadour, der unternehmungslustig an ihrem Handgelenk schaukelte, während sie zu dem kleinen Tor schritt. Es war verschlossen, hatte aber einen einfachen Mechanismus, wie Parker mit einem Blick feststellte. Dennoch ließ er sein bewährtes Universalbesteck in der Tasche. »Möglicherweise planten Mylady, Mister Morgan offiziell und in aller Form ihre Aufwartung zu machen«, schlug er vor. »Für einen überraschenden Auftritt dürfte es ohnehin zu spät sein. Myladys Ankunft scheint bereits registriert, falls meine Wenigkeit sich nicht täuscht.« Parker hatte sich nicht getäuscht. Im selben Moment, als er auf den Klingelknopf drückte, ertönte ein Summton, und das schmiedeeiserne Tor ließ sich mühelos aufdrücken. Die Haustür wurde erst geöffnet als die ältere Dame und ihr Butler unmittelbar davorstanden. Die hünenhafte Gestalt, die erschien, füllte den Türrahmen fast vollständig aus. Der Mann mochte um die Vierzig sein, hatte eine ausgeprägte Stirnglatze und trug einen schwarzen Lederanzug.
Als er seine wulstigen Lippen zu einem Grinsen verzog, wurde eine schwarze Lücke in seinen Schneidezähnen sichtbar. Man sah dem Mann an, daß er die Intelligenz nicht gerade mit Schaumlöffeln gegessen hatte. Ungläubig starrte er das skurrile Paar an, das Einlaß begehrte. »Ihr wollt wohl für die Heilsarmee sammeln«, kicherte er. »Unser Chef gibt aber nichts.« Er brach in polterndes Lachen aus und wollte die Tür wieder zuschlagen, doch Parker hatte schon die bleigefüllte Spitze seines Universal-Regenschirmes dazwischen. »Lady Simpson hat sich persönlich herbemüht, um mit Mister Morgan ein Gespräch zu führen«, teilte der Butler mit. »Man darf doch wohl von der Annahme ausgehen, daß der Herr zu Hause ist?« »Der Chef empfängt keine Besucher… Und solche wie euch schon gar nicht!« knurrte der Mann und versuchte vergeblich, mit dem Fuß die Schirmspitze wegzuschieben, um die Tür schließen zu können. »Eine derartige Dreistigkeit ist mir noch nie begegnet«, protestierte Lady Agatha. »Eine Dame von der Tür zu weisen! Warum unternehmen Sie nicht endlich etwas, Mister Parker?« »Mister Morgans Personal verfügt in der Tat über denkbar schlechte Umgangsformen, falls diese kritische Bemerkung erlaubt ist«, pflichtete der Butler ihr bei. »Was soll das heißen?« fauchte der Türwärter. »Wenn ihr nicht sofort verschwindet, mache ich euch Beine.« Sein Gesicht nahm allmählich die Farbe eines gekochten Krebses an. Unvorsichtigerweise öffnete er die Tür ein Stück weiter, so daß Parker mit der Schirmspitze auf die Kappe seines linken Schuhs tippen konnte. Der Mann schien unter Hühneraugen zu leiden, denn die Wirkung dieser kleinen Zurechtweisung war beträchtlich. Jeff Morgans Leibwächter heulte auf und griff nach dem schmerzenden Fuß, was ihm aber wegen seines störenden Bauches nur unter Schwierigkeiten gelang. Jammernd hüpfte er auf dem rechten Bein hin und her und hielt dabei seinen linken Fuß mit beiden Händen umklammert. Plötzlich besann er sich jedoch und holte blitzschnell mit der Faust aus. Parker, der mit derartigen Unfreundlichkeiten gerech-
net hatte, trat einen Schritt zur Seite, so daß der Stoß ins Leere ging. Für den Angreifer hatte dieser Fehltreffer fatale Folgen. Er verlor das Gleichgewicht, drehte eine nicht ganz formvollendete Pirouette auf dem rechten Bein und kippte dann, mit den Armen rudernd, in einen Rosenbusch. Sehr bequem schien dieses Lager nicht zu sein, denn der Mann jaulte noch lauter und wollte sich sofort wieder aufraffen. Lady Agatha sorgte jedoch mit einer flinken Handbewegung dafür, daß er das begonnene Vorhaben wieder abbrechen mußte. Mit leisem Pfeifen beschrieb ihr perlenbestickter Pompadour einen Halbkreis. Ein dumpfes Geräusch folgte, als sich der Glücksbringer mit der Zärtlichkeit einer Dampfwalze an den Hinterkopf des Mannes schmiegte. Er stöhnte, schnappte nach Luft und machte es sich dann doch zwischen den Rosenzweigen bequem. Jetzt schienen ihn auch die Dornen nicht mehr zu stören. * »Was ist denn hier los?« fragte eine ausgesprochen unwirsche Stimme. Als Parker und die ältere Dame sich zur offenen Haustür wandten, blickten sie auf den kalten Stahl eines großkalibrigen Revolvers mit aufgesetztem Schalldämpfer. Die kleinen schwarzen Augen des Mannes, der die Waffe im Anschlag hielt, blitzten zornig. »Was habt ihr mit Ron gemacht?« wollte er wissen, während er sich breitbeinig in der Türöffnung aufbaute. Parker schätzte ihn auf höchstens Vierzig. Seine drahtige Gestalt steckte in einem modisch geschneiderten Anzug. Vorstehende Backenknochen, buschige Augenbrauen und ein schwarzes Oberlippenbärtchen gaben seinem Gesicht einen verwegenen Zug. »Leider sah man sich gezwungen, den Herrn mit einem gewissen Nachdruck auf nicht gerade salonfähige Umgangsformen hinzuweisen«, gab der Butler seelenruhig Auskunft. »Er hat mich beleidigt«, ergänzte Lady Agatha wutschnaubend. »Da mußte ich ihm einfach eine Lektion erteilen, damit er zeitlebens daran denkt, wie man sich einer Dame gegenüber zu benehmen hat.«
»Was Sie nicht sagen!« gab der Unbekannte zurück und schielte argwöhnisch zu Ron hinüber, der gerade wieder erste Lebenszeichen von sich gab und seinem dornigen Lager zu entrinnen versuchte. »Ihre Umgangsformen sind aber auch nicht gerade vorbildlich, wie mir scheint.« »Mylady ist es nicht gewohnt, von Dienstboten herablassend an der Haustür abgefertigt zu werden«, entgegnete Parker. »Deshalb waren gewisse Schritte nicht zu vermeiden. Darf man übrigens die Vermutung äußern, Mister Jeff Morgan gegenüberzustehen?« »Könnte schon sein«, meinte der Unbekannte ausweichend. »Bist du wieder okay, Ron?« Ron, der sich endlich aus dem Gesträuch befreit hatte, nickte stumm. Mit finsterer Miene griff er in einen Jackenausschnitt und zog eine handliche Pistole heraus. »Alles klar, Chef!« meldete er. »Dann erst mal rein ins Haus!« kommandierte der Mann, der offensichtlich Jeff Morgan war. Zwischen zwei Pistolenmündungen blieb Parker und seiner Herrin keine andere Wahl, als der Aufförderung, Folge zu leisten. Sie mußten in zwei Sesseln Platz nehmen, während Morgan sich hinter einen monströsen Schreibtisch zurückzog. Ron blieb an der Tür stehen und hielt die Pistole weiterhin auf Mylady und den Butler gerichtet. »Was verschafft mir eigentlich die Ehre Ihres Besuches?« erkundigte sich Morgan unter hämischem Grinsen und polierte mit seidenem Taschentuch den Lauf seines Revolvers. »Mylady hat sich in der Absicht herbemüht, um mit Ihnen über gewisse Vorfälle zu sprechen«, gab Parker Auskunft. »Was für Vorfälle?« fragte sein Gegenüber lauernd. »Während eines Jahrmarktes in Turnhill kam es zu einigen unliebsamen Vorfällen, die das geschäftliche Ergebnis der Schausteller eindeutig negativ beeinflußt haben dürften«, führte der Butler aus. »Unter anderem wurde der Verlauf der Darbietung nachhaltig durch den Einsatz von Tränengas gestört.« In Morgans Augenwinkeln zuckte es kaum merklich. Er hatte sich in der Gewalt. Aber vor Parkers durchdringendem Blick gelang es ihm doch nicht, den Ahnungslosen zu spielen. »Warum erzählen Sie mir das?« fragte er. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß ich damit etwas zu tun hätte?«
»Dem Vernehmen nach sollen es Mitarbeiter von Ihnen gewesen sein, die den Anschlag verübten«, erklärte Parker und entlockte Morgan damit ein meckerndes Lachen. »Meine Mitarbeiter? Wer hat Ihnen denn dieses Märchen erzählt?« »Die Herren Greg Malcom und Jerry Pinter persönlich«, behauptete Parker und hielt sein Gegenüber dabei konzentriert im Auge. Dieses Mal hatte Morgan schon etwas mehr Mühe, seine glatte Fassade zu wahren. »Greg Malcom und Jerry Pinter?« fragte er. Seine Stimme klang leicht unsicher. Mißtrauisch musterten seine kleinen schwarzen Augen den Butler. »Die Namen sagen mir nichts. Da muß es sich um eine Verwechslung handeln.« »Weichen Sie nicht aus, junger Mann!« schaltete Mylady sich überraschend mit Donnerstimme ein. »Alle Ihre Ausflüchte werden Ihnen nichts nützen. Ich erwarte, daß Sie auf der Stelle ein umfassendes Geständnis ablegen. Andernfalls könnte ich ausgesprochen ungemütlich werden!« »Diese Feststellung kann meine Wenigkeit aus Erfahrung nur mit dem allergrößten Nachdruck unterstreichen«, ergänzte Parker; doch Morgan ließ sich dadurch natürlich nicht beeindrucken. »Ein Geständnis?« fragte er spöttisch. »Sie scheinen Ihre Möglichkeiten völlig falsch einzuschätzen, Mylady.« »Die Vernehmungen, die ich leite, enden grundsätzlich mit einem Geständnis«, rühmte sich die Detektivin, die den Ernst ihrer gegenwärtigen Lage anscheinend wirklich nicht begriffen hatte. »Einer Lady Simpson entgeht man nicht.« »Moment mal«, unterbrach Morgan. »Sie sind Lady Simpson, die Detektivin?« »Es wundert mich nicht, daß die Kunde meiner Taten selbst bis zu Ihnen gedrungen ist, junger Mann«, gab die ältere Dame selbstbewußt zur Antwort. »Dann sind Sie vermutlich Mister Parker?« wandte Morgan sich an den Butler. »Von Ihnen erzählt man sich ja die reinsten Wunderdinge! Sie sollen allerhand Tricks auf Lager haben.« »Man ist selbstverständlich stets bemüht, aus jeder Situation das Beste zu machen, soweit es die bescheidenen Kräfte und Fähigkeiten erlauben«, erwiderte Parker. »Aber heute haben Sie eindeutig die schlechteren Karten, Parker«, freute sich sein Gegenüber. »Heute stelle ich die Fragen!
Also raus mit der Sprache! Wo haben sie Greg und Jerry versteckt?« »Leider sieht meine Wenigkeit sich nicht in der Lage, eine solche Frage in der gewünschten Eindeutigkeit zu beantworten, Mister Morgan«, entgegnete der Butler durchaus wahrheitsgemäß. »Das können Sie mir nicht erzählen!« herrschte Morgan ihn an. »Entweder Sie packen aus, oder ich lasse Sie einer Behandlung unterziehen, die Sie garantiert zum Sprechen bringt!« »Drohungen sollten Sie grundsätzlich unterlassen, Mister Morning«, belehrte die ältere Dame ihn. »Darauf reagiere ich ausgesprochen empfindlich.« »Wie bitte?« fragte Morgan irritiert. »Falls Sie sich nicht umgehend eines gesitteten Gesprächstons befleißigen, sehe ich mich gezwungen, auch Ihnen eine Lektion zu erteilen, die Sie Ihr Leben lang nicht vergessen werden, Mister Morning!« tat Mylady mit Grollen in der Stimme kund. »Kannst du dieser alten Spinatwachtel nicht endlich das Maul stopfen, Ron?« schimpfte Morgan, den Myladys Dreistigkeit allmählich aus der Fassung brachte. »Ich höre mir das Geschwafel der abgetakelten Fregatte nicht länger an!« Parker ahnte, was jetzt unweigerlich kam. »Könnte es zutreffen, Mister Parker, daß dieser junge Mann mich soeben in abscheulicher Weise beleidigt hat?« erkundigte die ältere Dame sich mit eisiger Stimme. »Niemand sonst als Mylady könnte den juristischen Sachverhalt derart präzise in Worte fassen«, gab der Butler ihr recht. Dieser Bestätigung hätte es aber keineswegs bedurft, denn Parker hatte seinen Satz noch nicht vollendet, als Agatha Simpson schon ihrem Pompadour auf die Reise schickte. Morgan duckte sich zwar, als der lederne Beutel wie ein Schatten auf seine Schläfe huschte, doch die Reaktion kam um Sekundenbruchteile zu spät. Völlig verdattert ließ er seine Waffe auf die Schreibtischplatte fallen und faßte sich mit den Händen an den Kopf. Mit fassungslos aufgerissenen Augen starrte er die Detektivin an und japste nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sein Mund schien Worte zu formen, doch außer einem unverständlichen Blubbern brachte Morgan nichts heraus.
Sekundenlang schwankte sein Oberkörper von links nach rechts. Dann verdrehte er in grotesker Weise die Augen, sackte in sich zusammen und blieb teilnahmslos im Schreibtischsessel hängen. Parker hatte sich inzwischen dem bulligen Leibwächter zugewandt, der vor lauter Schreck die entsicherte Pistole in der Hand vergessen hatte. Entsetzt starrte er seinen Chef an, dem Lady Agathas Glücksbringer alles andere als Glück gebracht hatte. »Man bittet höflich um Nachsicht wegen dieser leider unvermeidlichen Maßnahme«, sagte Parker und pochte mit dem bleigefüllten Bambusgriff seines Universal-Regenschirmes auf Rons rechte Hand. Jammernd ließ der Leibwächter die Pistole auf den luxuriösen Teppichboden fallen und hatte nur noch Augen für sein anschwellendes Handgelenk. Der Schmerz trieb ihm die Schweißtropfen auf die Stirn und die Tränen in die Augen. Im nächsten Augenblick warf er sich jedoch mit einem gewagten Satz in Parkers Richtung. Doch der Butler trat gelassen einen Schritt zur Seite und ließ die bleigefüllte Bambuskrücke seines Universal-Regenschirmes einen Halbkreis dicht über dem Boden beschreiben. Unwiderstehlich legte sich der gebogene Griff um Rons Fußgelenk und riß ihm förmlich die Beine unter dem gewichtigen Leib weg. Einen Moment schien er waagerecht in der Luft zu hängen, dann legte er sich mit dumpfem Laut auf den Teppich. »Ich denke, damit habe ich hinreichend verdeutlicht, daß es nicht ratsam ist, eine Lady Simpson zu beleidigen«, stellte die Detektivin zufrieden fest. »Treffen Sie bitte die notwendigen Vorkehrungen, damit ich endlich mit der Vernehmung beginnen kann, Mister Parker.« * Mit zielsicherem Griff förderte der Butler aus einer der unergründlichen Innentaschen seines steifen, schwarzen Covercoats eine Rolle mit selbstklebendem Paketband zutage. Damit umwickelte er die beiden Männer mit der ihm eigenen Gründlichkeit, ehe er ein Fläschchen mit Riechsalz zückte und es dem unruhig schlummernden Morgan unter die Nase hielt.
»Der geplanten Vernehmung dürfte nun nichts mehr im Weg stehen, Mylady«, meldete Parker, als sein Patient kurz darauf verwirrt die Augen öffnete. Als wäre er aus tiefem Traum erwacht, blickte Morgan sich um. Erst als er sich verwundert die Augen reiben wollte, fiel ihm auf, daß seine Bewegungsfreiheit merklich eingeschränkt war. Mit wütendem Ruck versuchte er, aus dem Sessel zu springen, doch das Paketband hielt und setzte seinem Bemühen ein klägliches Ende. Stöhnend sackte er in den Sitz zurück und schien große Mühe zu haben, den plötzlichen Wandel der Situation zu begreifen. »Was ist geschehen?« stammelte er fassungslos. »Was soll schon geschehen sein, junger Mann«, meinte Mylady frostig. »Sie haben sich trotz meiner ausdrücklichen Warnung ungezogen benommen, und deshalb mußte ich Ihnen einen Denkzettel erteilen.« »Mein Kopf!« stöhnte Morgan. »Was haben Sie bloß mit meinem Kopf gemacht?« »Ich hätte nicht gedacht, daß ein erwachsener Mann derart wehleidig sein kann«, spottete die Detektivin. »Um so schneller werden wir zu einem Geständnis kommen. Wenn Sie noch einen guten Rat von einer erfahrenen Kriminalistin annehmen wollen: Bleiben Sie streng bei der Wahrheit, Mister Morning! Sonst sehe ich mich gezwungen, eine deutlichere Sprache zu sprechen.« »Bloß nicht!« jammerte ihr Gegenüber. »Ihr sogenannter Denkzettel war deutlich genug.« Jetzt erst bemerkte er seinen Leibwächter, den der Butler, säuberlich verschnürt, auf einem Stuhl neben der Tür plaziert und sicherheitshalber noch an der Lehne festgebunden hatte, so daß er nicht von der Sitzfläche rutschen konnte. »Sie geben also zu, daß es ihre Männer waren, die den Anschlag auf den Jahrmarkt verübten«, begann Agatha Simpson siegessicher ihr Verhör. »Greg und Jerry arbeiten für mich«, räumte Morgan ein. »Aber falls sie wirklich diese verdammte Bombe geworfen haben sollten, ist das nicht in meinem Auftrag geschehen.« »Versuchen Sie nicht, sich herauszureden, junger Mann!« grollte die Detektivin. Der Pompadour an ihrem Handgelenk wippte bedrohlich. »Es ist, wie ich sage«, beharrte ihr Gegenüber. »Greg und Jerry sind bei mir als Fahrer beschäftigt. Aber falls sie auf der Kirmes in
Turnhill, oder wie das Nest heißt, irgend etwas angestellt haben, war das ihre Privatsache.« »Demnach handelten die Herren auch im eigenen Ermessen, als sie Mylady während einer Geisterbahnfahrt die Handtasche zu entreißen und meine Wenigkeit durch einen Schlag auf den Kopf zu betäuben versuchten?« warf Parker ein. »Sie können mir viel erzählen«, gab Morgan zurück. »Ich weiß von all diesen Geschichten nichts. Ich habe mich nur gewundert, daß Greg und Jerry heute morgen nicht erschienen sind.« »Unter den gegebenen Umständen dürfte es auch noch eine gewisse Zeit dauern, bis die Herren sich wieder zum Dienst zurückmelden«, entgegnete der Butler. »Das wissen Sie vermutlich besser als ich, Parker«, räumte Morgan ein. »Wenn Sie die Burschen in der Hand haben, werden Sie Ihnen ja auch gesagt haben, daß sie von mir keinen Auftrag zu irgendwelchen Aktionen auf irgendwelchen Jahrmärkten hatten.« »Die Herren beriefen sich während ihrer Vernehmung aber ausdrücklich auf Sie, Mister Morgan«, schwindelte Parker. »Stimmt, das habe ich ebenfalls genau gehört«, behauptete die Detektivin. »Also hören Sie endlich mit Ihrem vergeblichen Leugnen auf, sonst muß ich Ihnen einen weiteren Denkzettel verpassen.« »Okay, okay«, sagte Morgan, der argwöhnisch den gereizt wippenden Pompadour im Auge behielt. »Jetzt fällt mir auch ein, weshalb die beiden nach Turnhill gefahren sind. Greg und Jerry haben früher mal bei einem gewissen Gatwick gearbeitet, der den Markt dort veranstaltet. Als sie sich auszahlen ließen, hat der Kerl sie in gemeiner Weise übers Ohr gehauen. Das wollten sie ihm heimzahlen.« »Eine Erklärung, die auf den ersten Blick durchaus plausibel klingt, falls diese Anmerkung erlaubt ist«, kommentierte Parker. »Nicht wahr?« Morgan nickte eifrig zur Bekräftigung. »Genau so war es.« »Ihre Erklärung klingt zwar plausibel, Sir«, begann der Butler seinen Satz noch mal. »Sie entspricht aber dennoch nicht der Wahrheit, falls diese Anmerkung gestattet ist.« »Wenn Sie’s nicht glauben wollen, ist das Ihr Problem!« gab Morgan ärgerlich zurück.
»In diesem Fall scheinen Sie einem bedauerlichen Irrtum zu unterliegen, Sir«, erwiderte Parker ungerührt. »Ob man Ihnen Ihre Version glaubt oder nicht, dürfte sich höchstens für Sie als Problem erweisen.« »Was sollte ich denn für ein Interesse an dieser verdammten Kirmes haben?« wandte Morgan ein. »Ich kenne Gatwick ja nicht mal.« »Ihr Interesse an den Anschlägen müßte ja nicht unbedingt auf persönlichen Rachegelüsten beruhen, falls dieser Hinweis erlaubt ist«, entgegnete der Butler. »Immerhin könnte meine Wenigkeit sich auch den Fall vorstellen, daß Sie Ihre Mitarbeiter im Auftrag eines Dritten einsetzten, Mister Morgan.« - Jeff Morgan war blaß geworden, aber er gab sich noch nicht verloren. »Okay, Parker«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Sie sind ein intelligenter Bursche. Das habe ich gleich gemerkt. Deshalb möchte ich Ihnen ein faires Geschäft unter Männern vorschlagen: Ich nenne Ihnen den Auftraggeber, den Sie suchen, und Sie lassen meine Jungs frei.« »Die Freilassung von Mister Malcolm und Mister Pinter zu verfügen, überschreitet bedauerlicherweise die Kompetenz meiner bescheidenen Wenigkeit«, erklärte der Butler durchaus wahrheitsgemäß. »Man könnte allerdings eine Anschrift nennen, unter der Verbindliches über den derzeitigen Aufenthaltsort der beiden Herren zu erfahren wäre.« »Ist mir auch recht«, behauptete Morgan. »Also abgemacht.« »Dann darf man zunächst um eine Auskunft darüber bitten, in wessen Auftrag Sie Ihre Mitarbeiter nach Turnhill entsandten, Mister Morgan«, verlangte Parker. »Okay, ich halte Wort. Hoffentlich tun Sie’s auch«, meinte Morgan. »Ich habe einen alten Freund, der schon seit Jahren mit seiner Kirmes durch die Lande zieht. Er hat sich bei mir beklagt, daß Gatwick ihm mit miesen Methoden das Geschäft kaputt macht. Da habe ich Greg und Jerry vorbeigeschickt, damit sie dem Halunken einen Denkzettel verpassen. Das war ein reiner Freundschaftsdienst und eine einmalige Sache.« »Darf man sich auch nach dem Namen Ihres Freundes erkundigen, Sir?« Morgan zögerte einen Moment, bevor er Auskunft gab. »Er heißt Geoffrey Carlisle«, sagte er schließlich.
»Mister Geoffrey Carlisle«, wiederholte der Butler. »Darf man vermuten, daß sich Ihr Freund zur Zeit außerhalb von London aufhält?« »Natürlich«, bestätigte Morgan. »Er ist mit seinem Jahrmarkt auf Tour. Und ziemlich weit weg sogar. Wenn ich mich nicht irre, gastiert er in dieser Woche in Inverness, weil der verfluchte Gatwick ihm alle Plätze in der näheren Umgebung weggeschnappt hat.« »Man sähe sich also gezwungen, eine längere Reise anzutreten, um Ihre Angaben überprüfen zu können, Mister Morgan«, erklärte der Butler. »Das wird Ihnen nicht erspart bleiben, Parker«, entgegnete Morgan und verzog den Mund zu einem Grinsen. »Und wo stecken Greg und Jerry?« »Falls Sie detaillierte Auskünfte über den derzeitigen Aufenthalt ihrer Mitarbeiter wünschen, sollten Sie sich vertrauensvoll an Chief-Superintendent McWarden von Scotland Yard wenden«, gab Parker Auskunft. »Scotland Yard?« Morgans Mund blieb offen stehen. »Sie haben richtig gehört, Mister Morgan«, bestätigte der Butler und geleitete seine Herrin zur Tür. »Man wünscht noch einen angenehmen Abend!« * Die Heimfahrt nach Shepherd’s Market verlief ohne Zwischenfälle zur Enttäuschung der älteren Dame, die sich gern noch etwas Bewegung verschafft hätte. Auch in der stillen Straße vor Myladys repräsentativem, zweistöckigem Fachwerkhaus war nichts Verdächtiges auszumachen. Bei dem einzigen Auto, das dort parkte, handelte es sich um Mike Randers Austin, wie der Butler schon von weitem feststellte. Gemächlich ließ Parker sein hochbeiniges Monstrum in die Einfahrt rollen und half seiner Herrin beim Aussteigen. Inzwischen verließen auch der Anwalt und Myladys attraktive Gesellschafterin Kathy Porter ihren Wagen und kamen aufs Haus zu. Die Begrüßung fiel herzlich aus, und Lady Agatha lud die beiden gleich zu einem Abendimbiß ein. Sie konnte es nicht erwarten,
den Kindern wie sie Mike und Kathy nannte, von ihren aktuellen Ermittlungen zu berichten. Mike Rander und Kathy Porter waren aber eher gute Freunde des Hauses. Der sportliche Rander, der mit seinem männlichen Charme an einen beliebten James-Bond-Darsteller erinnerte, hatte mit Parker ereignisreiche Jahre in den USA verbracht. Als der Butler dann nach London zurückkehrte und in Lady Simpsons Dienste trat, war auch Rander bald gefolgt und hatte in der City eine Kanzlei eröffnet. Seine Hauptbeschäftigung bestand jedoch darin, Myladys schwer zu bezifferndes Vermögen zu verwalten. Im Hause Simpson, wo Parker ihn eingeführt hatte, war Rander auch mit der hübschen Kathy zusammengetroffen, die Gesellschafterin war und gelegentlich anfallende Schreibarbeiten für die ältere Dame erledigte. Mit ihrem dunklen, kastanienbraun schimmernden Haar und ihrem leicht exotisch geschnittenen Gesicht war die etwa 30jährige Kathy eine bezaubernde Erscheinung. Sie konnte sich jedoch in eine Wildkatze verwandeln, sobald sie angegriffen wurde. Zu gern hätte Mylady zwischen den beiden Menschen einen Bund fürs Leben gestiftet, doch Mike Rander und Kathy Porter hatten offensichtlich andere Vorstellungen von einer Partnerschaft. »Stellt euch vor«, begann die Detektivin eifrig, während Parker rasch den Tisch in der geräumigen Wohnhalle deckte, »soeben habe ich einem der gefährlichsten Gangster von London einen Denkzettel verpaßt, den er in seinem Leben nicht vergessen wird. Durch mein Auftreten habe ich den Burschen derart eingeschüchtert, daß er es nicht mal wagte, mir Verfolger hinterherzuschicken.« »Das hört sich ja atemberaubend an, Mylady«, kommentierte Rander. »Warum haben Sie den Kerl denn nicht gleich festgenommen?« »Festgenommen?« wiederholte die Detektivin gedehnt. Sie schien angestrengt nachzudenken. »Da haben Sie durchaus recht, mein lieber Junge.« Energisch winkte sie den Butler heran, der gerade das Feuer im Kamin anfachte. »Mister Parker, warum habe ich diesen Burschen eigentlich nicht gleich festgenommen?« wollte sie wissen.
»Vermutlich haben Mylady sich aus taktischen Gründen entschlossen, mit der Festnahme noch zu warten«, meinte Parker. »Genau so war es«, bestätigte die Hausherrin. »Mein taktisches Konzept sah für den heutigen Tag noch keine Festnahme vor.« »Dann sind Ihre Ermittlungen also noch nicht ganz abgeschlossen?« mutmaßte Kathy Porter. »Um was für einen Fall handelt es sich denn überhaupt? Das müssen Sie uns unbedingt erzählen, Mylady.« »Mister Parker wird die Ergebnisse meiner Ermittlungen zusammenfassen«, entschied die Detektivin. »Sie wissen doch, Kindchen, daß ich mich um Details nicht kümmern kann. Außerdem muß ich mich nach diesem anstrengenden Tag erst mal stärken.« Das tat Agatha Simpson auch ausgiebig, während der Butler Bericht erstattete. In knappen Sätzen schilderte Josuah Parker Myladys Fahrt in der Geisterbahn, kam dann auf den TränengasAnschlag und schließlich auf die Festnahme von Greg Malcolm und Jerry Pinter zu sprechen. »Offenbar hat Gatwick einen Gegner, der ihm das Geschäft kaputtmachen will«, warf Rander ein. »Möglicherweise ein Konkurrent.« »Nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen dürfte diese Theorie einen außerordentlichen Grad von Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen«, bestätigte Parker. »Ein Konkurrent ist in der Person von Mister Clive Sandfield zweifellos vorhanden. Hinzukommt, daß Mister Sandfield offensichtlich von Mister Gatwick durch unlautere Methoden aus dem Geschäft gedrängt wurde, falls dieser Hinweis erlaubt ist. Dennoch scheint der genannte Mister Sandfield nicht unmittelbar in die Anschläge verwickelt zu sein.« »Sie meinen, daß Sandfield jemand anderen hat, der das schmutzige Geschäft für ihn erledigt?« fragte der Anwalt weiter. »Mister Jeff Morgan dürfte hinreichend verdächtig sein, seine Mitarbeiter für die Interessen von Mister Sandfield eingesetzt zu haben«, gab der Butler Auskunft. »Aber er bestreitet das?« wollte Rander wissen. »Haben Sie denn keine anderen Erkenntnisse, die auf eine Verbindung zwischen den beiden hinweisen?« »Bedauerlicherweise nicht in der wünschenswerten Eindeutigkeit, Sir«, gab Parker zur Antwort. »Man wurde zwar zufällig Zeu-
ge, wie Mister Sandfield einen Boten zu einem Mann namens Jeff schickte, doch ist dieser Vorname nicht gerade selten, falls man sich die Anmerkung erlauben darf.« »Stimmt, Parker«, räumte der Anwalt ein. »Was sagt denn Morgan dazu? Dem haben Sie doch auch einen Besuch abgestattet, oder nicht?« »Mister Morgan fand sich lediglich zu einem Teilgeständnis bereit«, berichtete Parker. »Er räumte zwar ein, daß die Tränengasgranaten von seinen Mitarbeitern Malcolm und Pinter geworfen wurden, behauptete aber gleichzeitig, dabei habe es sich um eine einmalige Gefälligkeit für einen Freund gehandelt, der sich zur Zeit in Schottland aufhalte.« »Mit den anderen Zwischenfällen will er nichts zu tun haben, Parker?« »So ist es, Sir«, bestätigte der Butler. »Allerdings neigt meine bescheidene Wenigkeit zu der Annahme, daß es sich bei Mister Morgans Aussage um ein recht plumpes Ablenkungsmanöver handelte, falls diese Anmerkung erlaubt ist.« »Er hätte sich eine bessere Ausrede einfallen lassen sollen«, meinte auch Rander. »Glauben Sie eigentlich, daß dieser Terror noch weitergeht, Parker? Dann wäre es doch das Günstigste, wenn man sich auf die Lauer legen und die Burschen auf frischer Tat erwischen würde.« »Damit ist nicht zu rechnen«, antwortete Mylady an Parkers Stelle. Sie hatte ihre Mahlzeit beendet und hielt es für angebracht, sich wieder ins Gespräch einzuschalten. »Wie ich schon erwähnte, wurde Mister Morning durch meinen Besuch derart eingeschüchtert, daß er es nicht mal wagte, Verfolger auf mich anzusetzen. Noch viel weniger wird er sich trauen, weitere Anschläge zu verüben.« »Daß Mister Morgan von einer Verfolgung Myladys absah, dürfte auch damit zusammenhängen, daß er sich zunächst von seinen Fesseln befreien mußte, ehe er irgendwelche telefonischen Anordnungen treffen konnte«, wandte Parker ein, doch die ältere Dame war anderer Ansicht. »Das ist doch Unsinn, Mister Parker!« konstatierte sie mürrisch. »Der Mann war einfach von mir beeindruckt! Sie werden erleben, daß ich recht habe – wie immer. Mister Morning wird keine Anschläge mehr verüben, bis er glaubt, daß ich ihn aus den Augen
verloren habe. Manchmal muß man eben auch als Detektivin viel Geduld und einen langen Atem aufbringen.« »Beides sind zweifellos Fähigkeiten, über die Mylady in ganz besonderem Maß verfügt«, lenkte der Butler ein. »Mylady gedenken also im Moment keine konkreten Schritte in dieser Sache anzuordnen?« »Wenn ich Weisungen habe, Mister Parker, werde ich das schon rechtzeitig mitteilen«, antwortete die Detektivin. »Im Moment ist es wichtiger, daß ich mich zu einer intensiven Meditation zurückziehe und mein taktisches Konzept unter langfristigen Gesichtspunkten überdenke.« Mylady wünschte den »Kindern« noch eine gute Nacht. Dann steuerte sie die Treppe an, die zu ihren privaten Gemächern im Obergeschoß führte. »Mister Parker, vergessen Sie nicht, mir noch eine kleine Stärkung zu bringen«, ordnete sie an, ehe sie in Richtung Studio verschwand. »Selbstverständlich wird man sich beeilen, Myladys Wünschen unverzüglich Folge zu leisten«, versicherte der Butler. Mit einem silbernen Tablett, auf dem eine Kognakflasche und ein Glas standen, folgte er seiner Herrin. »Vielleicht meditiert Mylady heute wirklich«, meinte Kathy Porter mit schelmischem Lächeln, als Parker kurz darauf wieder in die Wohnhalle zurückkehrte. »Das wäre aber das erste Mal, seit ich sie kenne«, antwortete Mike Rander lachend, und er sollte recht behalten. Als kurz darauf im Obergeschoß der Fernseher plärrte, waren alle Zweifel daran beseitigt, was Mylady heute unter »Meditation« verstand. Es war spät geworden. Kathy Porter und Mike Rander dachten an Aufbruch. Parker geleitete die Gäste in den Flur. Bevor er jedoch die Haustür öffnete, schaltete er mit routinierten Handgriffen die hauseigene Videoanlage ein, die in einem kleinen Wandschrank untergebracht war. Als Sekunden später ein kristallklares Bild auf dem kleinen Monitor aufleuchtete, fand der Butler seine instinktive Ahnung bestätigt. *
»Donnerwetter«, staunte Mike Rander und trat näher an den Bildschirm heran. »Mir scheint, Mister Morgan hat sich doch nicht so einschüchtern lassen, wie Mylady uns glauben machen wollte.« Gleich gegenüber der Einfahrt parkte eine weiße VolvoLimousine, in der offensichtlich drei Männer saßen und um die Wette rauchten. In dicken Schwaden quoll der Tabakqualm aus dem halb geöffneten Seitenfenster. Ein vierter Mann hatte sich von außen lässig gegen die Fahrertür gelehnt. Er hatte eine Maschinenpistole umgehängt und schien sich mit den Insassen des Wagens zu unterhalten. »Da wären wir fast in eine böse Falle getappt«, kommentierte Kathy Porter. »Der Bursche mit der Maschinenpistole sieht nicht so aus, als ob er viele Umstände machen würde.« »Dennoch sollte man nicht davon ausgehen, daß die Herren den Auftrag haben, von ihren Feuerwaffen wirklich Gebrauch zu machen«, meinte Parker. »Da wäre ich nicht so sicher«, gab die junge Frau zurück. »Auch meine Wenigkeit würde Ihnen nicht raten, die Probe aufs Exempel zu machen, Miß Porter«, sagte der Butler. »Dennoch lassen sich gewisse Rückschlüsse aus der Tatsache ziehen, daß die Herren nicht den geringsten Wert darauf legen, unentdeckt zu bleiben.« »Sie meinen, das ganze Manöver soll nur zur Abschreckung dienen, Parker?« erkundigte sich Rander. »Diese Vermutung dürfte in der Tat naheliegen, Sir«, gab der Butler ihm recht. »Die Anwesenheit dieser Herren dürfte nur den einen Zweck haben, Mylady und meine Wenigkeit am Verlassen des Hauses zu hindern.« »Wenn es wirklich Morgans Leute sind – was könnte er für einen Grund haben?« überlegte Kathy Porter. »Vermutlich hat er Aktionen vor, bei denen er von Mister Parker nicht gern gestört werden möchte«, spekulierte der Anwalt. »Dieser Einschätzung würde auch meine bescheidene Wenigkeit zuneigen, falls der Hinweis erlaubt ist«, ließ der Butler sich vernehmen. »Und wie ich Sie kenne, Parker, werden Sie nicht zögern, Morgans Pläne zu durchkreuzen«, meinte Rander. »Zu dumm, daß Ihr Wagen vor dem Haus steht. Sonst könnten Sie den Burschen durch die hintere Ausfahrt entwischen.«
»Deshalb wird man die Herren bitten müssen, ihre Aufmerksamkeit für eine Weile anderen Dingen zuzuwenden«, entgegnete Parker seelenruhig. »Wenn sie sich noch einen Moment gedulden und in der Wohnhalle Platz nehmen könnten, würde man unverzüglich das Erforderliche veranlassen.« »Soll ich Sie nicht begleiten, Parker?« bot Rander an, doch der Butler lehnte dankend ab. »Möglicherweise könnte es sich als nützlich erweisen, wenn Sie meine Wenigkeit später nach Turnhill begleiten würden, Sir«? erklärte er. »Einstweilen dürfte Ihre Hilfe nicht vonnöten sein.« »Dann werde ich die Zeit nutzen, um mich von Kathy zu verabschieden«, schmunzelte der Anwalt. »Wir können Ihre Aktionen ja am Bildschirm verfolgen. Eigentlich schade, daß hier im Flur kein bequemes Sofa steht.« »Falls Sie es wünschen, Sir, würde man selbstverständlich unverzüglich bequeme Sitzgelegenheiten heranschaffen«, erbot sich Parker. »Die Angelegenheit dürfte jedoch in wenigen Minuten erledigt sein, sofern man sich nicht gründlich täuscht.« Gemessenen Schrittes begab sich der Butler ins Souterrain des Hauses, wo er neben seinen Privaträumen ein kleines Labor besaß, in dem er den größten Teil seiner freien Stunden verbrachte. Dort steckte er noch rasch eine Dose mit Lackspray zu sich, die er kürzlich erworben hatte, um eine Schramme an seinem hochbeinigen Monstrum auszubessern. Bevor er durch den Hintereingang das Haus verließ, zog er sich noch dicke Wollsocken über die schwarzen Lacklederschuhe. Geräuschlos wie ein Schatten glitt Parker durch die Dunkelheit und nahm dabei einen kleinen Umweg in Kauf, um den weißen Volvo von hinten zu erreichen. Schritt für Schritt näherte er sich dem Wagen und hielt dabei konzentriert den Mann mit der Maschinenpistole im Auge, der immer noch an der Fahrertür lehnte, gelangweilt zum Haus hinübersah und an seiner Zigarette paffte. Geschmeidig wie eine Katze legte der Butler die letzten Meter bis zum Heck des Volvo zurück und zog dabei behutsam ein Plastikröhrchen aus der Tasche, das auf den ersten Blick an einen Kugelschreiber erinnerte. Im Gehen verdrehte er die beiden Hälften des Röhrchens gegeneinander und ließ seinen Gruß an die Gangster dann durch das geöffnete Seitenfenster in den Wagen fallen.
Als drinnen ein mitleiderregendes Krächzen und Husten zu vernehmen war, wollte sich der Mann mit der Maschinenpistole zu seinen Spießgesellen umwenden, doch soweit brachte er es nicht mehr. Parker hatte schon seinen altväterlich gebundenen UniversalRegenschirm entsprechend gefaßt und pochte mit dem bleigefütterten Bambusgriff dezent, aber unüberhörbar auf die Schädeldecke des Bewaffneten. Der Mann schaffte es nicht mal mehr, die Arme hochzureißen und instinktiv nach der schmerzenden Stelle zu greifen. Mitten in der Bewegung hielt er wie vom Blitz getroffen inne. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er gab blubbernde Geräusche von sich, die auch nicht entfernt an menschliche Laute erinnerten. Anschließend sackte er im Zeitlupentempo in sich zusammen. Zentimeter für Zentimeter glitt der Rücken des Mannes an der Autotür nach unten, bis er endlich eine bequeme Stellung für seinen gewichtigen Körper und seine Waffe gefunden hatte. Dadurch nahm’ er dem Fahrer des Volvo die Möglichkeit, die Tür aufzustoßen und durch einen Sprung ins Freie dem beizenden Gas zu entkommen, das dem kleinen Plastikröhrchen entströmt war. Die beiden übrigen Insassen hatten gar nicht Versucht, ihre bequemen Plätze zu verlassen. Sicherheitshalber wartete Parker zehn Sekunden, bis das Röcheln in friedliche Schnarchgeräusche übergegangen war. Als er die Wagentüren öffnete, hatten sich die drei Männer behaglich in ihren Polstern zurückgelehnt. Sie atmeten tief und ruhig. Ab und zu lächelte sogar einer von ihnen, als hätte er einen überaus angenehmen Traum. Mit zielsicheren Griffen entwaffnete Parker alle Vier nacheinander und förderte dabei zwei Pistolen, drei Revolver, einen beträchtlichen Munitionsvorrat und zwei Stilette ins Freie. Zusammen mit der Maschinenpistole deponierte er alles am Fuß eines Baumes. Anschließend packte er den Mann, der immer noch, an die Fahrertür gelehnt, auf der Erde saß. Parker beförderte ihn behutsam auf den noch freien Sitz im Fond des Wagens. Anschließend zog er den Zündschlüssel ab und ließ ihn in seine Tasche gleiten. Ehe der Butler, bepackt mit Waffen, den Rückweg zum Haus antrat, zog er noch die schwarze Spraydose heraus. Es dauerte keine Minute, da waren alle Scheiben des Volvo von einem undurch-
sichtigen Film überzogen, der im leichten Nachtwind rasch trocknete. Selbst wenn die Gangster es schaffen sollten, ihren Volvo durch Kurzschluß zum Starten zu bringen, würden sie eine gewisse Zeit brauchen, um die schwarzlackierten Scheiben einigermaßen freizukratzen. Einen Augenblick blieb Parker sinnend stehen. Dann entschloß er sich, doch noch die Motorhaube zu öffnen. Mit geübtem Griff nahm er den Verteilerdeckel ab und steckte den Verteilerfinger zu sich. Es konnte nicht schaden, die Bewacher noch länger aufzuhalten. * Mike Rander und Kathy Porter, die das Geschehen vom Flur aus am Fernsehmonitor verfolgt hatten, öffneten dem Butler die Tür und halfen ihm die Waffenladung in einem dafür bestimmten Wandschrank zu verstauen. »Wenn man Sie im Einsatz sieht, Parker, hat man wirklich nicht das Gefühl, daß Sie älter geworden wären«, meinte der Anwalt anerkennend. »Dabei kennen wir uns doch wirklich schon ein Weilchen.« »Die Formulierung ›ein Weilchen‹ dürfte der tatsächlichen Zahl der Jahre kaum gerecht werden, falls man diese kritische Anmerkung sich erlauben darf, Sir«, gab Parker zurück. »Man dankt im übrigen verbindlich für das Lob, das allerdings völlig unverdient ist.« »Unverdient?« rief Kathy Porter. »Ich fand, Sie waren fabelhaft, Mister Parker!« »Wie Ihnen nicht entgangen sein dürfte, Miß Porter, leisteten die Herren nicht mal Widerstand«, gab Parker bescheiden zurück. »Das haben Sie ihnen ja auch schnell ausgeredet, Sie alter Fuchs!« lachte Mike Rander. »Und jetzt geht es ab nach Turnhill?« »Das ist exakt der Vorschlag, den meine bescheidene Wenigkeit soeben zu unterbreiten dachte«, bestätigte der Butler. »Ich bin startbereit«, erwiderte Rander. »Kathy hat versprochen, hier zu bleiben und Mylady das Frühstück zu machen, falls wir nicht rechtzeitig zurück sind.«
»Man dankt verbindlich für das freundliche Entgegenkommen, Miß Porter«, sagte Parker mit einer tiefen Verbeugung. »Vermutlich werden Sie eine ungestörte Nachtruhe haben, da Mylady im Anschluß an ihre Meditation erfahrungsgemäß tief und ruhig schläft.« Kathy Porter winkte den Männern noch zu, als sie zum Wagen schritten. Sekunden später rollte Parkers schwarzes Monstrum vom Hof und nahm Kurs auf Turnhill. Sobald sie die breite Ausfallstraße nach Norden erreicht hatten, ließ der Butler das Hochleistungstriebwerk unter der eckigen Haube seines schwerfällig wirkenden Gefährts aufröhren. Mit singenden Reifen durchschnitt das Fahrzeug wie ein schwarzes Geschoß die Nacht, und in weniger als einer Stunde hatte man das Ziel erreicht. In einer markierten Parkbucht auf dem Marktplatz von Turnhill brachte der Butler seinen Privatwagen zum Stehen. Den Weg zum Festplatz, der nur einen Steinwurf entfernt außerhalb der Stadtmauer lag, legten die beiden Männer zu Fuß zurück. »Ich bin wirklich gespannt, ob Morgan die Dreistigkeit besitzt, noch mal zuzuschlagen, obwohl er weiß, daß Sie ihm auf der Fährte sind«, flüsterte Rander, während sie das Stadttor durchschritten. »Aber Sie scheinen davon ja fest überzeugt zu sein, Parker. Und ich kann mich nicht entsinnen, daß Sie sich jemals getäuscht hätten.« »Wie jeder Mensch, ist auch meine Wenigkeit der ständigen Gefahr des Irrtums ausgesetzt, Sir«, entgegnete der Butler bescheiden. Doch wenig später sollte sich zeigen, daß er sich auch dieses Mal nicht getäuscht hatte. * Der Kirmesplatz lag in tiefer Dunkelheit. Zu dieser Nachtzeit waren alle bunten Lampen ausgeschaltet. Auch in den Wohnwagen am Rand des Platzes brannte kein Licht mehr. Die letzten Gäste hatten das Gelände vermutlich schon vor Stunden verlassen. Vorsichtig nach allen Seiten spähend, tasteten sich Josuah Parker und Mike Rander von Bude zu Bude. Immer wieder blieben sie lauschend stehen, doch außer einem leisen, schabenden Geräusch war nichts zu vernehmen.
Behutsam schritten sie in der Richtung weiter, aus der das kaum wahrnehmbare Kratzen zu kommen schien. Bald hatten die Männer die Hälfte des Platzes durchquert und dabei in alle Seitengassen gehorcht, ohne ein lebendes Wesen auszumachen, wenn man von einer Rattenfamilie absah, die sich an Weggeworfenem labte. Allmählich kamen die mächtigen Umrisse des historischen Kettenkarussells näher, das Clint Gatwick gehörte. Das schabende Geräusch war wesentlich deutlicher geworden. »Hört sich fast wie eine Eisensäge an«, flüsterte der Anwalt, und Parker nickte. Langsam schob der Butler sich bis ans Ende der nächsten Bude vor und spähte um die Ecke. Der freie Platz, den das Karussell beanspruchte, lag in tiefer Finsternis. Rander konnte kaum die Hand vor Augen sehen, doch Parkers scharfe Nachtvogelaugen hatten schon etwas entdeckt. Aus der mit bunten Kitschbildchen bemalten Mittelsäule des Karussells, in der sich bei Tag die stählerne Achse drehte, drang schwacher Lichtschein nach draußen. Erst als Parker in die Richtung deutete, nahm auch der Anwalt ihn wahr. Jetzt war auch das schabende, manchmal quietschende Geräusch deutlich zu hören. Es schien aus dem Innern der hölzernen Säule zu kommen, von dort, wo auch das verräterische Licht durch die Ritzen sickerte. »Da scheint sich etwas abzuspielen, was wir unbedingt verhindern sollten«, flüsterte Rander. »Was schlagen Sie vor, Parker?« »Die Pfoten hoch! Das ist mein Vorschlag!« knurrte plötzlich eine nicht gerade vertrauenerweckende Stimme in der Dunkelheit. Im nächsten Moment blitzte hinter Parkers und Randers Rücken eine Taschenlampe auf. »Keine falsche Bewegung!« kommandierte der Unbekannte. »Wer mir mit Tricks zu kommen sucht, hat sofort eine Ladung Blei im Leib.« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, daß er seine Ankündigung ohne Skrupel in die Tat umsetzen würde. »Jetzt langsam Schritt für Schritt in Richtung Karussell!« befahl er. »Und kein Aufsehen, wenn ich bitten darf. Die Leute in den Wohnwagen sollen doch nicht gestört werden.« »Da Ihnen die Nachtruhe der Schausteller am Herzen zu liegen scheint, sollten Sie vernünftigerweise auch auf den Gebrauch ih-
rer Schußwaffe verzichten«, schlug Parker vor, leistete aber sicherheitshalber der Anordnung des Unsichtbaren Folge. »Weil ich so ein rücksichtsvoller Mensch bin, dem die Nachtruhe anderer über alles geht, arbeite ich grundsätzlich nur mit den modernsten Schalldämpfern«, sagte die Stimme in Parkers Rücken. »Aber jetzt Schluß mit dem Geschwafel! Weiter zum Karussell!« Schritt für Schritt gingen der Butler und der Anwalt vorwärts. Wenige Meter hinter ihnen folgten die knirschenden Schritte ihres Gegners im Schotter. »Bob! Sean!« rief der Unsichtbare mit gedämpfter Stimme, als sie das Karussell fast erreicht hatten. »Kommt mal raus und seht euch an, wen ich mitgebracht habe…« Das kratzende Geräusch im Innern der Mittelsäule brach ab. Das Licht verlosch. Sekunden später öffnete sich eine kleine Tür, die in das technische Herz des Karussells führte, und zwei Männer in Monteuranzügen kletterten heraus. Im selben Augenblick gab Parker einem Karussellsitz, der an seinen Halteketten unmittelbar neben der rechten Hand des Butlers schwebte, einen heftigen Stoß. Der eiserne Korb schwang nach hinten, genau in die Richtung, in der Parkers unbestechliche Ohren den unbekannten Bewacher geortet hatten. Das schwere Pendel traf den Mann genau unter dem Kinn. Mit einem unterdrückten Aufschrei warf er die Arme in die Höhe. Daß er dabei sowohl die Taschenlampe, als auch die Pistole fallen ließ, schien ihn nicht mehr zu interessieren. Stöhnend knickte er in den Knien ein und bettete sich auf den unbequemen Schotterboden. »Was ist denn los?« riefen seine Kumpane, deren Augen sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Man bedauert außerordentlich, die Herren bei ihrer gewiß wichtigen Tätigkeit stören zu müssen«, ließ Parker sich vernehmen. »Aber eine Vollendung des Werkes dürfte ohnehin nicht mehr in Frage kommen, falls meine Wenigkeit sich nicht gründlich täuscht.« »Was ist los?« fragten beide wie aus einem Mund. Sie schienen die Situation nicht im mindesten begriffen zu haben. Vorsichtig tappten sie näher, ohne Parker und Rander in der Dunkelheit zu erkennen.
»Wo steckst du denn, Jack?« fragte einer von ihnen. »Du willst uns wohl auf den Arm nehmen… Wir haben keine Zeit für deine neckischen Spielchen.« Er wollte sich schon umwenden und wieder an die Arbeit zurückkehren, als sich der bleigefütterte Bambusgriff von Parkers schwarzem Universal-Regenschirm auf seine Schädeldecke senkte. Mit einem röchelnden Laut taumelte der Mann zur Seite und verhedderte sich dabei in den überall herabhängenden Halteketten. Vergeblich versuchte er, sich an einer der Ketten festzuklammern, doch seine Hände versagten den Dienst. Auch die Beine schienen nicht mehr bereit, das Gewicht des Körpers zu tragen. Stöhnend brach der Mann zusammen. Inzwischen hatte Mike Rander sich mit Erfolg dem zweiten Handwerker gewidmet und ihn mit einem präzise plazierten linken Haken auf die Bretter geschickt. »Noch jemand ohne Fahrschein?« fragte der Anwalt scherzhaft und blickte sich suchend um. Doch niemand meldete sich. »Vielleicht sollte man zunächst mal die Gelegenheit nehmen, die Arbeit der Herren zu begutachten, Sir«, schlug der Butler vor, und Rander stimmte sofort zu. Sie vergewisserten sich, daß alle drei Ganoven in tiefen Träumen schwebten und kletterten dann durch die Tür ins Innere der Holzkonstruktion. Langsam ließ Parker den scharf gebündelten Lichtstrahl seiner Bleistiftlampe über den fleckigen Stahl der armdicken Achse gleiten. »Da!« unterbrach Rander ihn. »Da haben die Halunken angefangen!« Er deutete auf eine hell glänzende Kerbe, die sich gleich über dem Antriebsrad an der Achse befand. Die Umgebung war mit stählernen Sägespänen übersät, die im Lampenlicht wie Schneekristalle glitzerten. Am Boden lag eine kräftige Metallsäge. »Da sind wir ja noch rechtzeitig gekommen«, stellte der Anwalt fest. »Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie ihr Werk vollendet hätten.« »Man muß wohl davon ausgehen, daß die Herren den Stahl zur Hälfte durchsägen wollten«, mutmaßte Parker. »Zumindest ergäbe das den größten Effekt, weil die Achse erst bei voller Belastung brechen würde.« »So, wie sie ist, hält sie aber noch einiges aus«, meinte Rander und nahm die Kerbe näher in Augenschein. Offenbar hatten die
Männer noch nicht lange gearbeitet. Der Schnitt war kaum einen Zentimeter tief. »Eine Karussellfahrt dürfte mit keinerlei ernsten Risiken verknüpft sein, falls die Bemerkung gestattet ist«, stimmte der Butler ihm zu. »Dennoch sollte man zur Sicherheit eine Probefahrt unternehmen.« »Wie?« staunte Rander. »Sie wollen doch nicht etwa Karussell fahren? Und das mitten in der Nacht?« »Man müßte es wohl als unschicklich bezeichnen, wenn meine Wenigkeit sich derlei Vergnügungen hingäbe«, beruhigte der Butler ihn. »Allerdings sollte man den Herren, die sich so außerordentlich viel Arbeit mit dem Karussell gemacht haben, eine Belohnung in Form einer Freifahrt nicht vorenthalten.« »Sie haben’s ja wieder faustdick hinter den Ohren, Parker!« meinte Rander grinsend. Der Vorschlag gefiel ihm. Die beiden Handwerker zeigten noch keine Neigung, aus ihrem Schlummer zu erwachen. Doch der Wächter mit der Pistole wälzte sich schon unruhig hin und her. Als Parker ihm die Handschellen aus Spezialstahl anlegte, schlug er zum ersten Mal wieder die Augen auf und blinzelte irritiert in das Licht der Taschenlampe, die Rander auf sein Gesicht gerichtet hatte. »Los, raus mit der Sprache!« herrschte der Anwalt ihn an. »Wenn du nicht sofort ausspuckst, wer dein Auftraggeber ist, verpasse ich dir eiskalt eine Kugel!« Um seine Drohung zu unterstreichen, hielt er dem Mann die Pistole entgegen, die er vom Boden aufgehoben hätte. In besinnungsloser Wut wollte Jack sich aufbäumen, doch die Handschellen setzten seinem Bemühen ein klägliches Ende. Jammernd sank er wieder zurück und schloß die Augen. »Ich warte nicht mehr lange«, drängte Rander. »Deine Kumpel haben sowieso schon gesungen. Ich will nur noch die Bestätigung haben.« »So ein mieser Trick«, stöhnte Jack. »Darauf fall’ ich doch nicht herein. Wenn die Jungs wirklich ausgepackt haben, wissen Sie ja den Namen.« »Natürlich weiß ich, wer euch geschickt hat«, behauptete der Anwalt. »Jeff Morgan!« Jack stöhnte. »Stimmt’s?« wollte der Anwalt wissen.
»Ja, es stimmt«, preßte der Mann hervor. »Dann werde ich ja auch noch erfahren, warum euer Chef Clint Gatwick eins auswischen will«, meinte Rander und hielt Jack den Pistolenlauf unter die Nase. »Will er ja gar nicht«, behauptete der Mann. »Dann dürfte vermutlich davon auszugehen sein, daß Mister Morgan Sie hier eingesetzt hat, um einem Dritten eine Gefälligkeit zu erweisen«, schaltete Parker sich ein. »Gefälligkeit?« wiederholte Jack. »Von wegen Gefälligkeit! Der Chef sahnt dick ab dabei, und unsereiner hat die Dreckarbeit am Hals.« »Darf man erwarten, daß Sie darüber informiert sind, wer Mister Morgan für diese Auftragsarbeiten bezahlt?« erkundigte sich der Butler in seiner höflichen Art. »Ich hab’ den Typen nie zu Gesicht bekommen«, brummte Jack. »Aber soviel ich weiß, soll er Sandfield oder so ähnlich heißen.« »Man dankt verbindlich für die bereitwillige und erschöpfende Auskunft«, sagte der Butler und zog ein weißes Sprayfläschchen aus der Tasche. Seelenruhig richtete er die Düse auf Jacks Nase und drückte auf den Auslöseknopf. Ein gelöstes Lächeln glitt über das Gesicht des Mannes. Seine verkrampften Züge entspannten sich innerhalb von Sekunden. Mit dankbarem Seufzen ließ er sich in Morpheus’ Arme gleiten. Auch den beiden anderen Männern gewährte der Butler dieselbe Behandlung. »Man hat die Dosis knapp genug bemessen, damit die Herren rechtzeitig erwachen, um ihre Fahrt noch genießen zu können, Sir«, erklärte er Mike Rander. Dann begann das schwerste Stück Arbeit. Gemeinsam hievten der Butler und der Anwalt die Ganoven einen nach dem anderen in benachbarte Karussellsitze. Gewissenhaft schlossen sie die eisernen Sicherheitsbügel, damit die Männer während der Fahrt nicht von ihren Sitzen rutschen konnten. »Alles klar!« meldete Rander, während der Butler schon zum Schaltkasten schritt. Der schwere Elektromotor gab ein sanftes Brummen von sich, als Parker den Fahrthebel umlegte. Knirschend und ächzend setzte sich das Karussell in Bewegung. »Jetzt fehlt nur noch die Festbeleuchtung«, stellte Rander fest, der etwas zurückgetreten war.
»Man wird bemüht sein, das Versäumte unverzüglich nachzuholen«, versprach Parker, während das Karussell allmählich raschere Fahrt aufnahm. Sekunden später flammten farbige Glühbirnen auf. Fast gleichzeitig schlugen die Männer, die in ihren luftigen Sitzen bei ständig steigendem Tempo schon etliche Runden gedreht hatten, die Augen auf. Fast gleichzeitig stießen sie Schreie des Entsetzens aus. »Die nur geringfügig beschädigte Achse dürfte der Belastung durch drei Personen ohne weiteres gewachsen sein«, versuchte Parker das jammernde Trio zu beruhigen. Doch die Männer hatten keine Augen und Ohren für ihn. In panischer Angst hockten sie zusammengekauert in den Sitzen, die jetzt schon fast waagerecht durch die Nachtluft segelten. »Möglicherweise empfiehlt es sich, die Heimfahrt anzutreten«, schlug Parker vor. »Bei dem Geschrei, das die Herren veranstalten, dürfte es nicht lange währen, bis die ersten Schausteller aus ihrer Nachtruhe erwachen.« * Als Parker und Rander wieder in Shepherd’s Market eintrafen, war es heller Morgen. Der weiße Volvo mit den schwarz lackierten Scheiben stand immer noch an der Straße. Die Insassen hatten allerdings, inzwischen das Weite gesucht. »Im Morgengrauen wurde ich wach, als die Gangster endlos den Anlasser laufen ließen«, berichtete Kathy Porter, die den beiden Männern die Tür öffnete. »Anschließend haben sie sich dann zu Fuß auf den Weg gemacht.« Parker begab sich sofort in die Küche, während die junge Frau in der weitläufigen Wohnhalle den Tisch deckte. Wenig später erschien auch die Hausherrin auf der Treppe und sog begierig den Duft der Köstlichkeiten ein, die der Butler in Windeseile zubereitet hatte. »Das habe ich ja gleich gewußt«, schwindelte die Detektivin unbekümmert, nachdem Parker und Rander von ihren nächtlichen Erlebnissen berichtet hatten. »Deshalb habe ich Ihnen ja auch ausdrücklich den Befehl erteilt, nach Turnhill zu fahren, Mister Parker!«
Der Butler und der Anwalt blickten sich fragend an. Keiner von beiden konnte sich erinnern, daß Mylady einen derartigen Auftrag erteilt hätte – im Gegenteil. »Hoffentlich sind sie nicht enttäuscht, Mylady, daß wir allein gefahren sind«, meinte Mike Rander. »Aber wir haben es nicht gewagt, Sie in Ihrer Meditation zu stören.« »Das war ganz in meinem Sinn, lieber Junge«, versicherte die Detektivin und widmete sich den geräucherten Forellenfilets mit Meerrettich-Sahne, die der Butler ihr vorlegte. »Bei diesen Gestalten auf dem Kirmesplatz handelt es sich ohnehin nur um Randfiguren, mit denen ich mich gar nicht persönlich befassen kann.« »Sie meinen, das sind Details, die in die alleinige Zuständigkeit von Mister Parker fallen?« vergewisserte sich Kathy Porter und zwinkerte Rander dabei zu. »Ganz recht, Kindchen«, bestätigte die Hausherrin. »Aber heute schlägt meine große Stunde. In einem Überraschungsschlag werde ich sowohl Mister Morning als auch Mister Sandwich dingfest machen und zu einem umfassenden Geständnis zwingen.« »Zweifellos meinen Mylady Mister Morgan und Mister Sandneid, falls dieser Hinweis erlaubt ist«, korrigierte Parker vorsichtig. »Namen sind doch Schall und Rauch, Mister Parker. Ich muß sie wirklich bitten, mich künftig nicht mehr mit Lappalien zu belästigen.« »Hoffentlich verzeihen Mylady das ungehörige Verhalten meiner Wenigkeit«, entgegnete der Butler. »Man wird sich in Zukunft verstärkt bemühen, streng nach Myladys Anweisungen zu handeln.« »Das will ich in Ihrem Interesse hoffen, Mister Parker. Andernfalls müßte ich mich nach neuem Personal umsehen«, beschied Agatha Simpson ihn. »Einen Butler wie Mister Parker werden Sie aber in ganz London nicht finden, Mylady«, unternahm Kathy Porter den Versuch einer Verteidigung, doch die ältere Dame brachte sie rasch zum Schweigen. »Eine Herrin wie mich wird Mister Parker auch nicht mehr finden«, stellte sie selbstbewußt klar. »Nicht im Traum würde es meiner Wenigkeit einfallen, Mylady zu widersprechen«, versicherte der Butler wahrheitsgemäß und legte seiner Herrin eine ansehnliche Portion getrüffelter Gänseleberpastete vor.
»Ich kann es ja noch mal mit Ihnen versuchen, Mister Parker«, lenkte die Detektivin ein. »Welches waren übrigens die Schritte, die ich als nächste geplant hatte?« »Falls meine bescheidene Wenigkeit sich recht erinnert, äußerten Mylady die Absicht, unmittelbar nach dem Frühstück Mister Morgan und Mister Sandfield festzunehmen«, half der Butler dem lückenhaften Gedächtnis seiner Herrin nach. »Mylady hatten allerdings noch nicht entschieden, in welcher Reihenfolge die Festnahme vonstatten gehen sollen, falls der Hinweis erlaubt ist.« »Das sind Details, um die ich mich bei der Last meiner Verantwortung auf keinen Fall kümmern kann«, erwiderte die ältere Dame kauend. »Das überlasse ich Ihnen, Mister Parker.« In diesem Moment klingelte das Telefon, und der Butler begab sich gemessenen Schrittes in die Diele. »Guten Morgen, Mister Parker!« war Picketts Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören. »Ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie noch hinter diesem Jeff Morgan her sind.« »Ihre Frage dürfte kaum anders als mit einem eindeutigen Ja zu beantworten sein, Mister Pickett«, gab der Butler Auskunft. »Soeben hat Mylady entschieden, noch heute zur Festnahme zu schreiten.« »Das trifft sich gut«, antwortete Pickett. »Da kann ich Ihnen einem vergeblichen Besuch in Kensington ersparen.« »Kann und muß man aus Ihrer Äußerung schließen, daß Mister Morgan sich gegenwärtig nicht in seinem Haus an der Abingdon Road aufhält, Mister Pickett?« vergewisserte sich Parker. »So ist es, Mister Parker«, bestätigte der einstige EigentumsUmverteiler. »Ich wußte ja nicht, ob Sie an dem Fall noch interessiert sind, aber vorsichtshalber habe ich ein paar Freunde gebeten, ab und zu einen Blick auf Mister Morgans Anwesen zu werfen.« »Mylady wird hocherfreut sein über Ihre uneigennützige Hilfsbereitschaft, Mister Pickett«, kommentierte der Butler. »Immerhin stehe ich tief in Ihrer Schuld, Mister Parker«, erinnerte Pickett an den Vorfall vor vielen Jahren, den er ohne die Hilfe des Butlers nicht lebend überstanden hätte. »Darf man denn davon ausgehen, daß Ihre Freunde auch Auskunft über Mister Morgans Verbleib geben können?« erkundigte sich Parker.
»Was meine Freunde tun, das tun sie gründlich«, versicherte Pickett lachend. »Sie sind Morgan unauffällig gefolgt und haben mich vor fünf Minuten aus Ilford angerufen.« »Demnach könnte man zu der Vermutung kommen, daß Mister Morgans Ziel der dortige Festplatz war«, erklärte Josuah Parker. »Sie wissen schon?« fragte Pickett verdutzt. »Irgendwie muß dieser Ganove also doch seine Finger im Schaustellergeschäft haben.« »Diese Schlußfolgerung scheint auch meiner Wenigkeit unausweichlich«, bestätigte der Butler. »Falls Mylady keine anderen Anordnungen zu treffen gedenkt, wird man unmittelbar nach dem Frühstück dorthin aufbrechen.« »Hoffentlich erwischen Sie den Kerl noch rechtzeitig«, meinte Pickett. »Aber seien Sie vorsichtig, Mister Parker! Morgan hat zwei bis an die Zähne bewaffnete Leibwächter mitgenommen.« »Die Erfahrungen, die meine Wenigkeit bisher mit Mister Morgans Leibwächtern machen durfte, sprechen nicht gerade für die Gefährlichkeit dieser Leute«, entgegnete Parker. »Aber man dankt für den Hinweis und wird natürlich entsprechend auf der Hut sein.« »Davon gehe ich bei Ihnen grundsätzlich aus, Mister Parker«, bestätigte Pickett, bevor er sich verabschiedete. »Aber falls Sie doch Hilfe brauchen sollten – einige meiner Leute werden sich unauffällig in der Nähe aufhalten.« »Da kann ich ja zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen«, freute sich die Detektivin, als Parker vom Telefon zurückkehrte und Bericht erstattete. Rasch schob sie sich die letzten Käsewürfel in den Mund und wuchtete ächzend ihre Körperfülle aus dem Sofa. »Ist mein Wagen auch startbereit, Mister Parker?« fragte sie unternehmungslustig. * Gleich nach dem Frühstück hatten die »Kinder« sich verabschiedet, und Mylady war in Parkers Monstrum gestiegen, um ihre Ermittlungen mit der Festnahme der beiden Hauptschuldigen erfolgreich abzuschließen.
Schon bei der Abfahrt in Shepherd’s Market hatte sich der Himmel verfinstert. Als man wenig später Ilford erreichte, fielen die ersten dicken Tropfen. Der Festplatz machte einen ähnlich verlassenen Eindruck wie am Vortag. Die meisten Buden und Fahrgeschäfte waren geschlossen. Der alte Benson flickte noch immer an der grünen Plane seiner Raupenbahn. Diesmal parkte der Butler sein Gefährt nicht vor Sandfields Wohnwagen, sondern ließ seine Herrin bereits am Eingang des Festplatzes aussteigen. »Man sollte die Aufmerksamkeit von Mister Morgans Leibwächtern nicht früher als unbedingt notwendig erregen, falls der Hinweis erlaubt ist«, erklärte er, als seine Herrin sich über den holprigen, mit Pfützen bedeckten Weg beklagte. Schon von weitem hatte er die beiden Männer bemerkt, die lässig am Eingang zu Sandfields Wohnwagen lehnten und kaugummikauend ihre Blicke über den Platz schweifen ließen. Schweigend führte Parker seine Herrin in einem Bogen am Rand des Festplatzes entlang, bis sie unbemerkt die Rückseite des komfortablen Heimes auf Rädern erreichten. Eines der Fenster war gekippt. Erregte Stimmen drangen nach draußen. Clive Sandfield und Jeff Morgan schienen Meinungsverschiedenheiten zu haben. »Du denkst immer nur ans Kassieren, Jeff«, knurrte Sandfield gerade. »Wo ich das verdammte Geld hernehmen soll, darüber machst du dir keine Gedanken.« »Ist auch nicht mein Problem«, erwiderte Morgan barsch. »Ich habe deine Aufträge ausgeführt und will endlich die vereinbarte Kohle sehen.« »Okay«, räumte Sandfield ein. »Deine Leute haben Gatwick ein paar hübsche Streiche gespielt. Aber was hat das genutzt? Nichts!« »Hübsche Streiche ist ja wohl untertrieben«, protestierte Morgan und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Soll ich dir aufzählen, was meine Leute alles gemacht haben? Denkst du noch an die Duschen mit Altöl, die die Jungs einigen Geisterbahnfahrern schon in Stephill verpaßt haben? Dann die versalzenen Mandeln, die lockeren Schrauben an der Schiffschaukel und die niedliche, kleine Panik, die entstand, als plötzlich die Käfige des Wanderzoos offen standen?« »Ich weiß«, wehrte Sandfield ab.
»Der Überfall in der Geisterbahn in Turnhill, die Tränengasgranaten auf der Gauklerbühne und letzte Nacht Gatwicks Karussell! Ist das etwa nichts?« fuhr Morgan mit seiner Aufzählung fort. »Schließlich haben wir noch dem Bürgermeister einen Denkzettel verpaßt, der sich von Gatwick schmieren ließ.« »Ich kenne die Liste, Jeff«, entgegnete Sandfield mürrisch. »Aber alles, was deine Leute gemacht haben, ist für die Katz’! Das Engagement in Oakhill hat dieser verdammte Gatwick mir nämlich auch vor der Nase weggeschnappt.« »Wieso?« wunderte sich Morgan. »Du warst doch so sicher, daß dir nie wieder etwas Ähnliches wie in Turnhill passieren würde.« »War ich auch«, bestätigte Sandfield. »In Oakhill bin ich Gatwick zuvorgekommen und habe meinerseits den Bürgermeister mit ein paar Scheinen gefügig gemacht.« »Ja und?« forschte Morgan. »Hattest du nicht schon den Vertrag in der Hand?« »Natürlich hatte ich den Vertrag«, bekräftigte Sandfield. »Aber irgendwie muß Gatwick Wind davon bekommen haben, daß ich den Bürgermeister bestochen habe. Daraufhin ist er in Oakhill aufgekreuzt und hat gedroht, alles der Presse zu berichten. Da hat der Trottel im Rathaus gleich enge Hosen gekriegt.« »Aber ein Vertrag ist ein Vertrag«, stellte Morgan fest. »Dachte ich auch«, pflichtete Sandfield ihm bei. »Aber der Bürgermeister hat mir das Geld zurückgeschickt und geschrieben, daß aus dem Gastspiel nichts wird. Wenn ich mich ungerecht behandelt fühlte, könnte ich ja vor einem Gericht klagen.« »Verdammter Mist!« fluchte Morgan. »Weißt du, wie lange so eine Klage vor dem Gericht dauert?« jammerte Sandfield. »Bis dahin ist der Jahrmarkt in Oakhill längst vorbei!« »Kann ja sein«, wich Morgan aus, »aber das ist wirklich dein Problem, Clive. Meine Leute haben die vereinbarte Arbeit geleistet und ich will jetzt endlich Bares sehen. Ich warne dich: Treib es nicht so weit, bis ich ungemütlich werde! Du weißt, daß es mir auf eine Kugel mehr oder weniger nicht ankommt!« »Worauf kommt es ihm nicht an, Mister Parker?« wollte Lady Agatha wissen, die Morgans letzten Satz nicht mitbekommen hatte. Doch der Butler legte den Finger auf den Mund und bedeutete ihr, daß es im Moment besser wäre zu schweigen.
An der Seite des Wohnwagens näherten sich Schritte. Einer der Leibwächter hatte seinen Posten an der Tür verlassen. Offenbar plagte ihn ein dringendes Bedürfnis, denn er schritt achtlos an der Ecke vorbei, hinter der Mylady und der Butler standen. Wenige Meter weiter stellte er sich breitbeinig hin. »Unglaublich!« entrüstete sich die Detektivin. »Und so etwas in Gegenwart einer Dame!« Blitzartig fuhr der Mann herum und starrte überrascht das seltsame Pärchen an, das unter dem halb geöffneten Fenster des Wohnwagens stand. »Mister Parker!« stellte er grinsend fest. »Der Chef hat uns nicht umsonst vor Ihnen gewarnt. Aber jetzt ist Schluß mit Ihren verdämmten Tricks!« Im nächsten Moment griff er in den Ausschnitt seiner schwarzen Lederjacke, doch der Butler kam den unfreundlichen Absichten des Mannes zuvor und durchkreuzte sie nachhaltig. Ehe der Leibwächter seine Waffe ziehen konnte, huschte der bleigefütterte Bambusgriff von Parkers schwarzem UniversalRegenschirm durch die Luft und suchte sein Ziel. Stöhnend warf der Mann die Arme in die Luft, als die Krücke nachdrücklich seine Schädeldecke berührte. Der Revolver, den er bereits in der Hand hatte, flog zur Seite und landete in einer Pfütze. Wutschnaubend versuchte der Leibwächter ein paar Schritte in Parkers Richtung, um ihn mit bloßen Händen anzugreifen. Doch die Nebel vor seinen Augen waren schon so dicht, daß er wie ein Blinder durch die Luft tastete. Auf halbem Weg verließen ihn endgültig die Kräfte, und er knickte in den Knien ein. Mit leisem Pfeifen entwich die Luft aus seinen Lungen, ehe er sich zu Parkers Füßen auf den Boden legte und das Interesse an einer weiteren Auseinandersetzung verlor. »Ein derart schamloser Mensch ist mir noch nie begegnet«, stellte Mylady grimmig fest. »Er scheint die Ungehörigkeit seines Benehmens nicht mal eingesehen zu haben.« Wütend zog sie eine der imposanten Hutnadeln aus dem undefinierbaren Gebilde, das sie auf dem Kopf trug. Mit voller Wucht rammte sie das bratspießähnliche Gerät dem am Boden liegenden Mann ins Gesäß. Der Leibwächter zuckte kurz zusammen und stöhnte, als die Spitze durch den Hosenboden in sein Sitzfleisch drang. Dann
streckte er sich noch etwas bequemer aus, und ein zufriedenes Lächeln glitt über sein Gesicht. Sein regelmäßiger Atem ließ auf einen ruhigen und entspannten Schlaf schließen. Das aus pflanzlichen Essenzen hergestellte Betäubungsmittel, mit dem Parker die Spitze präpariert hatte, wirkte schnell und zuverlässig. »Falls meine Wenigkeit sich nicht täuscht, dürfte in Kürze auch der zweite Leibwächter hier auftauchen und nach seinem vermißten Kollegen suchen«, meinte Parker. »Falls Mylady keine Einwände erheben, würde man den Herrn ebenfalls einer entsprechenden Behandlung unterziehen.« »Den überlassen Sie aber gefälligst mir, Mister Parker«, entschied die Detektivin. »Sie gönnen mir auch nicht die kleinste Freude.« »Meine Wenigkeit wäre untröstlich, falls ein solcher Eindruck bei Mylady entstanden sein sollte«, versicherte der Butler und trat gehorsam beiseite. Die ältere Dame brauchte nicht lange zu warten. Schon näherten sich wieder Schritte an der Seite des Wohnwagens. »He, Bill!« rief der Mann, »Wo steckst du denn? Hast du dir die Blase erkältet?« Schritt für Schritt kam er näher und spähte argwöhnisch um die Ecke. Blitzschnell wollte er seinen Kopf zurückziehen, als er Lady Agathas stämmige Gestalt erblickte, doch seine Schrecksekunde dauerte etwas zu lang. Mit energischer Handbewegung schickte die Detektivin ihren Pompadour auf die Reise. Verzweifelt schnappte der Mann nach Luft, als sich Myladys Handbeutel auf seinen akkurat gezogenen Scheitel senkte. Tränen traten in seine Augen, als sich das Muster der gußeisernen Perlen in seine Kopfhaut prägte. Er krümmte sich, wimmerte und stolperte mit weichen Knien an Mylady vorbei, ehe er sich zu einem Nickerchen niederlegte. Da Agatha Simpson nun richtig in Fahrt war, zückte sie auch noch die zweite Hutnadel und ließ dem Mann dieselbe Behandlung zuteilwerden wie seinem Kollegen. Gerade blickte Josuah Parker suchend in die Runde, um nach einem sichtgeschützten Lagerplatz für die schlummernden Wächter Ausschau zu halten, da kamen zwei Sanitäter mit einer Krankentrage.
»Mister Pickett läßt Ihnen herzliche Grüße ausrichten, Mister Parker«, raunte einer der Sanitäter. »Vermutlich haben Sie nichts dagegen, wenn wir uns um die Burschen kümmern, solange Sie beschäftigt sind?« »Hier wären die Herren im Moment nur hinderlich«, stimmte der Butler zu. »Bitte, richten Sie Mister Pickett aus, daß Mylady und meine Wenigkeit die freundliche Hilfe dankend annehmen.« Mit geübten Griffen luden die Sanitäter den ersten Leibwächter auf die Trage, trabten davon und verstauten ihn in dem Krankenwagen, der am Rand des Festplatzes geparkt hatte, als Parker und Mylady eintrafen. Eine Minute später waren sie zurück und schafften auch den zweiten Mann in den Wagen. Gleich darauf rollte das weiß lackierte Fahrzeug mit den großen, roten Kreuzen auf den Türen davon. * Inzwischen war der Streit zwischen Morgan und Sandfield mit unverminderter Härte weitergegangen. »Entweder rückst du sofort die Kohle raus, oder ich mache kurzen Prozeß!« drohte Morgan gerade, als Parker seine Aufmerksamkeit wieder dem halb geöffneten Fenster zuwandte. »Und wenn du dich auf den Kopf stellst, Jeff, ich hab’ das Geld nicht«, gab Sandfield wütend zurück. »Du weißt genau, wie schlecht die Geschäfte gehen, seit dieser verdammte Gatwick mir ständig in die Quere kommt.« »Dann wirst du mir eben zu den fünfundzwanzig Prozent, die ich sowieso schon habe, weitere fünfzig Prozent deines Geschäftes überschreiben«, entschied Morgan. »Fünfzig Prozent?« rief Sandfield. »Dann habe ich ja selber nur noch fünfundzwanzig.« »Rechnen kannst du wenigstens noch«, spottete Morgan. »Aber fünfundzwanzig Prozent sind immer noch besser, als den Fischen in der Themse zum Fraß vorgeworfen zu werden. Daran siehst du, was für ein mildtätiger und langmütiger Mensch ich bin.« »Okay«, lenkte Sandfield ein. »Laß uns in Ruhe über die Sache reden, Jeff. Ich schenke uns erstmal einen ein.« »Was will er einschenken, Mister Parker?« wollte Lady Simpson wissen. Sandfields Angebot hatte sie hellhörig gemacht.
»Mit einiger Wahrscheinlichkeit dürfte es sich um Kognak handeln, Mylady«, meldete der Butler, nachdem er einen vorsichtigen Blick durch das Fenster riskiert hatte. »Das wird er mir büßen«, schwor die Detektivin. »Mich läßt er ohne einen Tropfen gehen, und diesem Ganoven tischt er Kognak auf…« »Das Getränk dürfte kaum geeignet sein, Mister Morgans Wohlbefinden zu heben«, behauptete Parker, der einen Taschenspiegel dazu benutzte, um unbemerkt in den Raum spähen zu können. Während Morgan weiter vorn im Wohnraum saß und von hier aus nicht zu sehen war, stand Sandfield mit dem Rücken zum Fenster und hantierte am Kühlschrank. Er schüttet zwei Wassergläser fast randvoll. Dann öffnete er lautlos einen Wandschrank und holte ein Röhrchen mit Tabletten heraus. Er warf einen vorsichtigen Blick in Morgans Richtung, ehe er drei Tabletten aus dem Röhrchen nahm, sie in der Hand zerdrückte und die Krümel in ein Glas fallen ließ. »nimrodnaP«, las der Butler, als er seinen kleinen Taschenspiegel so drehte, daß er die Aufschrift auf der Tablettenpackung entziffern konnte. Sandfield verstaute das Mittel wieder im Wandschrank und machte sich mit den beiden Gläsern auf den Weg nach vorn. »Warum dürfte der Kognak kaum geeignet sein, Mister Mornings Wohlbefinden zu heben?« fragte Agatha Simpson erstaunt. »Bei mir wirkt sich schon der kleinste Schluck ausgesprochen segensreich aus.« »Mister Sandfield hat seinem Gast soeben ein Mixgetränk bereitet, dessen Wirkung alles andere als belebend sein dürfte, falls man sich nicht gründlich täuscht«, gab der Butler Auskunft und berichtete seiner Herrin von den Tabletten. »Der Name des Präparates, ›Pandormin‹, weist eindeutig auf ein Schlafmittel hin, falls diese Anmerkung erlaubt ist.« »Er will ihn vergiften«, stellte die Detektivin entgeistert fest. »Das muß ich verhindern, Mister Parker. Zuerst muß mir der Kerl für ein Verhör zur Verfügung stehen.« Ohne auf ihren Butler zu achten, stürmte Mylady zur Vorderfront des Wohnwagens, stapfte die hölzernen Stufen hinauf und stieß die Eingangstür auf. »Halt!« donnerte sie in den Raum. »Finger weg von diesem Getränk!«
Doch Morgan und Sandfield hatten ihre Gläser bereits geleert. »Was soll das heißen?« schrie Morgan und sprang vom Stuhl. »Daß der Kognak vergiftet ist«, behauptete die ältere Dame. »Vergiftet?« Morgans Gesicht nahm die Farbe einer frisch gekalkten Wand an. »Clive, du Schurke!« brüllte er. »Der Geschmack kam mir gleich verdächtig vor. Aber wenn ich ins Gras beißen muß, dann bist du noch vor mir dran!« Im nächsten Moment blinkte der bläuliche Stahl einer langläufigen Pistole in seiner Hand. Parker, der gleich nach seiner Herrin den Wohnwagen betreten hatte, verhütete das Schlimmste. Rasch zog er seinen schwarzen Bowler vom Kopf und faßte ihn an der mit Stahlblech gefütterten Krempe. Im nächsten Augenblick segelte die Kopfbedeckung wie eine Frisbee-Scheibe durch den Raum. Morgan jaulte auf wie ein getretener Hund, als sein Handgelenk Bekanntschaft mit der Kante des Bowlers machte. Stöhnend ließ er seine Waffe zu Boden fallen und wandte sich schwerfällig zu Parker um. »Das war ihr letzter Streich, Parker!« preßte er mit schmerzverzerrtem Gesicht zwischen den Zähnen hervor und wollte auf den Butler losgehen. Doch allmählich entfalteten Sandfields Schlaftabletten ihre Wirkung. Mit verschleiertem Blick tappte Morgan auf Parker zu. Man sah ihm förmlich an, daß seine Glieder schwer wie Blei wurden. Schwankend wie ein junger Baum im Wind blieb er stehen und sah den Butler gedankenverloren an. Seine Angriffslust war wie weggeblasen. Kopfschüttelnd machte er wieder kehrt, steuerte mit unsicheren Schritten auf einen Sessel zu und ließ sich mit einem Seufzer fallen. Morgan gähnte herzhaft, ehe er behaglich die Beine ausstreckte und den Kopf auf die gepolsterte Lehne bettete. * Clive Sandfield sah seine Chance und nutzte sie, so gut er konnte.
Mit eindrucksvollem Hechtsprung warf er sich gegen das halb geöffnete Küchenfenster. Laut knallend barst der durchsichtige Kunststoff. Splitter flogen, die Einrichtung der Küche geriet ins Wanken, aber Sandfield hatte den Sprung in die Freiheit geschafft. Parker sorgte jedoch dafür, daß diese Freiheit nicht länger als ein paar Sekunden dauerte. Gelassen trat er zur Tür des Wohnwagens. Sandfield war schon an der Seitenwand entlang gespurtet und rannte in heilloser Panik über den fast menschenleeren Platz. Seelenruhig stellte Parker die Spitze seines altväterlich gebundenen Universal-Regenschirmes nach unten und hob ihn dann wie ein Gewehr ans Auge. Die Mündung des hohlen Schaftes wies genau auf den Flüchtenden. Im nächsten Moment schwirrte ein gefiederter Pfeil aus dem Rohr und suchte sich unbeirrbar seinen Weg. Fast hatte Sandfield es geschafft, um die Ecke einer Jahrmarktsbude zu entkommen, doch in diesem Moment hatte ihn der Blasrohrpfeil schon erreicht. Unwiderstehlich bohrte sich die Spitze durch das Hosenbein des Mannes und blieb in seiner Wade stecken. Sandfield zuckte zusammen, als hätte er ein Hochspannungskabel berührt. Wie angewurzelt blieb er stehen und wandte sich zurück, um nach der Ursache des überraschenden Schmerzes zu sehen. Entsetzt schrie er auf, als er das gefiederte Geschoß entdeckte. Hastig riß er den Pfeil aus dem Bein und wollte die überstürzte Flucht fortsetzen. Doch das Betäubungsmittel, mit dem Parker die Spitze bestrichen hatte, kreiste schon in seinem Körper und entfaltete prompt seine Wirkung. Sandfield begann zu taumeln, faßte sich an den Kopf und schleppte sich schwerfällig weiter. Stolpernd verschwand er hinter der Ecke der Bude. Im selben Augenblick quietschten die Bremsen eines Autos. Ein nervöses Hupkonzert drang an Parkers Ohr. Würdevoll und steif, als hätte er einen Ladestock verschluckt, schritt der Butler auf die Bude zu, hinter der Sandfield verschwunden war.
»Das ist doch die Höhe! Schon am hellen Mittag sturzbetrunken!« hörte er eine ihm wohlbekannte Stimme, noch ehe er die Ecke erreicht hatte. Es war Chief-Superintendent McWarden, der in seiner Dienstlimousine auf den Platz gefahren war und den taumelnden Clive Sandfield um ein Haar überrollt hätte. Er war aus dem Wagen gesprungen und starrte mit zornrotem Gesicht auf den am Boden liegenden Mann. »Darf man höflich darauf aufmerksam machen, daß Mister Sandfield keineswegs betrunken ist?« ließ Parker sich vernehmen. McWardens vorstehende Basedow-Augen quollen noch ein Stück weiter heraus, als er den Butler erblickte. »Sie, Mister Parker?« fragte er entgeistert. »Was tun Sie denn hier?« »Man war so frei, Mister Sandfield eine kleine Ruhepause vorzuschlagen«, gab der Butler mit unbewegter Miene Auskunft. »Sandfield?« vergewisserte sich der Chief-Superintendent, »Sind Sie sicher, daß es sich bei diesem Kerl um Clive Sandfield handelt?« »Aber klar. Ich kenne ihn doch, Sir«, gab der alte Benson an Parkers Stelle Auskunft. Er hatte seine Arbeit im Stich gelassen und war neugierig herbeigeeilt. »Was ist mit ihm?« erkundigte er sich besorgt. »Mister Sandfield wurde von einem bedauerlichen Unwohlsein befallen, das aber nur kurze Zeit anhalten dürfte, falls man sich nicht gründlich täuscht«, beruhigte Parker ihn. »Dann ist wohl anzunehmen, daß Sie für dieses Unwohlsein gesorgt haben, Mister Parker«, vermutete McWarden. »Da haben Sie mir ja eine Menge Arbeit erspart.« Inzwischen war ein zweites Polizeifahrzeug hinter McWardens Limousine herangefahren. Mit ungeduldiger Handbewegung bedeutete der Chief-Superintendent den herausspringenden Polizisten, sich um Sandfield zu kümmern. »Wir erhielten einen Hinweis, daß sich der gefährliche Jeff Morgan hier aufhalten könnte«, erklärte McWarden, an Parker gewandt. »Deshalb der Einsatz.« »Einen Hinweis, Sir?« wiederholte der Butler. »Ja, heute morgen gelang es meinen Leuten, drei Männer dingfest zu machen, die zu Morgans engsten Mitarbeitern zählen«, tat
der Beamte geheimnisvoll. »Und ich habe sie zum Auspacken gebracht.« »Könnte es zutreffen, daß die genannten Herren widerrechtlich und ohne Bezahlung ein Kettenkarussell benutzten, bevor sie festgenommen wurden?« erkündigte sich der Butler. »Hab’ ich mir’s doch gedacht«, rief McWarden und brach in schallendes Gelächter aus. »Hinter der Sache konnten nur Sie stecken, Mister Parker. Das war eindeutig Ihre Handschrift.« »Da Sie gerade hier sind, Sir, könnten Sie auch die Gelegenheit nutzen, Mister Jeff Morgan festzunehmen«, schlug Parker vor. »Er erwartet Sie in Mister Sandfields Wohnwagen, falls dieser Hinweis gestattet ist.« »Was sagen Sie dazu, McWarden?« empfing Mylady den YardBeamten an der Tür des Wohnwagens. »Wieder mal hat Lady Simpson für Sie die Kastanien aus dem Feuer geholt.« »Ich bin beeindruckt, Mylady«, versicherte der ChiefSuperintendent und versuchte ein Lächeln. Doch seine Stimme klang leicht gekränkt. »Zugegeben, Sie hatten die Nase wieder vorn, Mylady. Aber ein paar Minuten später hätten meine Leute auch zugeschlagen.« »Das ist nun nicht mehr nötig«, erklärte die Detektivin. Sie stand mit vor Stolz wogendem Busen auf der obersten Stufe der Treppe und blickte grinsend auf McWarden herab. »Darauf sollten Sie mit mir anstoßen«, schlug sie vor. »Nein, danke«, lehnte McWarden mürrisch ab. »Ich trinke nicht im Dienst, Mylady.« »Ich auch nicht, mein lieber McWarden«, versicherte die Detektivin. »Aber mein Dienst ist für heute beendet.« Während Parkers Abwesenheit hatte sie ganz gegen ihre Gewohnheit zur Selbstbedienung gegriffen, die Flasche aus der Küche geholt und sich eingeschenkt. Gerade wollte die Detektivin das Glas an die Lippen setzen, da hielt sie plötzlich inne und musterte kritisch den Inhalt. »Sind Sie sicher, daß der Kognak in der Flasche kein Schlafmittel enthält, Mister Parker?« wollte sie wissen. »Die Wahrscheinlichkeit dürfte außerordentlich gering sein«, drückte sich der Butler vorsichtig aus. »Machen sie es doch wie die Kaiser im alten Rom, Mylady«, schlug McWarden vor. »Die ließen ihre Sklaven immer erst probieren, um vor Vergiftungen sicher zu sein.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage, Mister McWarden«, lehnte Agatha Simpson dies ab. »Mein Personal trinkt nicht im Dienst!« Rasch leerte sie das volle Glas in einem Zug.
ENDE Nächste Woche erscheint Butler Parker Band 326 Günter Dönges
PARKER jagt die Hundefänger Sie haben sich auf Hunde und Katzen spezialisiert und arbeiten blitzschnell. Sie scheuen nicht davor zurück, Besitzer dieser Vierbeiner zu überfallen oder brutale Einbrüche durchzuführen. Es geht ihnen nicht nur um prämiierte Tiere, die sie gegen »Lösegeld« wieder zurückgeben, nein, sie beliefern auch Laboratorien oder schaffen die Vierbeiner ins Ausland. Diese Hundefänger sind bestens organisiert und nutzen die Tierliebe gekonnt aus. Bis sie an eine Lady Agatha geraten, die im Hyde Park einen preisgekrönten Terrier ausführt. Als die Hundefänger sich dieses Tier unter den Nagel reißen wollen, erleben sie eine peinliche Überraschung. Butler Parker sieht sich gezwungen, wieder mal Schaden von der älteren Dame abzuwenden und gerät damit prompt in den Strudel wilder Abenteuer, die ihn fast das Leben kosten. Günter Dönges legt einen neuen Parker-Krimi vor mit Hochspannung und Humor! Wer Krimis dieser Art liebt, wird voll auf seine Kosten kommen!