Sir Arthur Conan Doyle
PROFESSOR CHALLENGER
UND DAS ENDE DER WELT
Das Ende der Welt (The Poison Belt)
I Die Lin...
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Sir Arthur Conan Doyle
PROFESSOR CHALLENGER
UND DAS ENDE DER WELT
Das Ende der Welt (The Poison Belt)
I Die Linien verblassen
Jetzt, da die ungeheuren Ereignisse meiner Erinnerung noch klar verhaftet sind, ist es unerläßlich geworden, sie niederzuschreiben, bevor die Zeit sie verblassen läßt. Noch während ich dies tue, bin ich von dem Wunder der Tatsache überwältigt, daß es ausgerechnet unserer kleinen Gruppe von der »Vergessenen Welt« – Professor Challenger, Professor Summerlee, Lord John Roxton und mir – vergönnt war, diese verblüffenden Erfahrungen durchzumachen. Als ich vor ein paar Jahren in der Daily Gazette den aufsehenerregenden Bericht über unsere Südamerikareise veröffentlichte, wäre mir nicht im Traum eingefallen, daß das Schicksal mich dazu ausersehen würde, über ein noch ungewöhnlicheres Ereignis zu berichten – ein Ereignis, das in der Menschheitsgeschichte nicht nur einmalig war, sondern alle anderen, so spektakulär sie auch gewesen sein mögen, weit in den Schatten stellte. Das Ereignis selbst wird für mich immer wundersam bleiben, aber die Umstände, die dazu führten, daß ausgerechnet wir vier beim Eintreffen dieser außergewöhnlichen Episode wieder beisammen waren, erfolgte aus absolut banalen, aber folgerichtigen Beweggründen heraus. Ich will alles, was zu unserem erneuten Zusammentreffen führte, so kurz und knapp wie möglich erzählen, obwohl ich mir natürlich dessen bewußt bin, daß ein detaillierterer Bericht dem Leser mehr geben würde; schließlich ist die Neugier des Publikums heutzutage ebenso unersättlich, wie sie früher gewesen ist.
Am Freitag, dem 27. August – einem Datum, das die Welt so schnell nicht wieder vergessen wird – begab ich mich hinunter in die Redaktion meiner Zeitung und bat Mr. McArdle, der immer noch die Nachrichtenabteilung regierte, mir einen dreitägigen Urlaub zu gewähren. Der nette, alte Schotte schüttelte den Kopf, kratzte seinen immer schütterer werdenden rötlichen Haarkranz und kleidete seine Ablehnung schließlich in Worte. »Ich glaube, Mr. Malone, daß wir Sie ausgerechnet jetzt am dringendsten benötigen. Ich glaube, wir haben da eine Geschichte, die nur ein Mann wie Sie in die richtigen Proportionen bringen kann.« »Wie schade«, sagte ich und versuchte meine Mißstimmung zu verbergen. »Wenn man mich braucht, sieht die Sache natürlich anders aus. Aber meine Verabredung ist ziemlich wichtiger privater Natur. Wenn Sie mir vielleicht doch freigeben könnten…« »Leider weiß ich nicht, wie ich das bewerkstelligen sollte.« Es war natürlich bitter für mich, aber ich mußte das Beste daraus machen. Immerhin hatte ich einen großen Fehler begangen, denn damals hätte ich natürlich schon wissen sollen, daß man als Journalist nicht das Recht hat, eigene Pläne zu verfolgen. »Nun, ich werde die Sache dann wohl besser vergessen«, sagte ich mit soviel Freundlichkeit, wie man einer kurzen Abfuhr gegenüber aufbringen konnte. »Welchen Auftrag soll ich übernehmen?« »Nun, Sie brauchen bloß diesen entsetzlichen Querkopf in Rotherfield zu interviewen.« »Sie meinen doch nicht etwa Professor Challenger?« rief ich aus. »Doch, doch, genau den meine ich. Er hat den jungen Alec Simpson vom Courier vergangene Woche an Hinterteil und
Kragen eine Meile weit die Hauptstraße hinuntergeschleppt. Möglicherweise haben Sie davon im Polizeibericht gelesen. Unsere Jungs wollen nun alle lieber einen ausgebrochenen Alligator aus dem Zoo interviewen. Aber Sie, denke ich, könnten es schaffen. Immerhin sind Sie seit langer Zeit mit ihm befreundet.« »Aber natürlich«, sagte ich erleichtert. »Nichts einfacher als das. Zufällig war Professor Challenger nämlich der Grund, weswegen ich Sie um Urlaub bat. Es ist nämlich so, daß wir heute den dritten Jahrestag unseres großen Abenteuers in Südamerika feiern wollen. Er hat uns alle in sein Haus eingeladen, um das Ereignis gebührend zu feiern.« »Prächtig!« schrie McArdle. Er rieb sich die Hände und strahlte mich durch seine Brillengläser an. »Dann werden Sie es auch schaffen, ihn nach seiner Meinung zu befragen. Bei jedem anderen Mann würde ich sagen, daß man Perlen vor die Säue wirft, aber der Bursche hat einmal eine überragende Tat vollbracht, und man kann nie wissen, wann er die nächste vorbereitet!« »Nach was soll ich ihn fragen?« fragte ich. »Was hat er denn getan?« »Haben Sie in der heutigen Times seinen Brief zur Rubrik Wissenschaftliche Möglichkeiten nicht gesehen?« »Nein«. McArdle bückte sich und hob die Zeitung vom Boden auf. »Lesen Sie es mir vor«, sagte er und deutete mit dem Finger auf eine bestimmte Spalte. »Ich würde es gerne noch einmal hören, denn ich bin immer noch nicht sicher, ob ich den Mann richtig verstanden habe.« Der Brief, den ich dem Nachrichtenchef der Gazette vorlas, hatte folgenden Wortlaut: WISSENSCHAFTLICHE MÖGLICHKEITEN
Mein Herr, mit ziemlicher Amüsiertheit und auch weniger schmeichelhaften Emotionen habe ich den selbstzufriedenen, gänzlich närrischen Brief des James Wilson MacPhail gelesen, der letztlich zum Thema »Das Verblassen der Fraunhoferschen Linien in den Spektren von Planeten und Fixsternen« in Ihrer Zeitung abgedruckt wurde. Mr. MacPhail mißt diesen Erscheinungen wenig Bedeutung bei. Einer ausgeprägteren Intelligenz wird dies jedoch als von allergrößter Wichtigkeit erscheinen müssen und sollte demgemäß die absolute Aufmerksamkeit jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes dieses Planeten hervorrufen. Da ich kaum zu hoffen wage – und schon gar nicht durch die Verwendung der wissenschaftlichen Sprache –, jene Dilettanten zum Nachdenken zu bewegen, die ihre Ideen aus den Spalten von Tageszeitungen beziehen, will ich mich bemühen, mich dazu herabzulassen, ihre Begrenzungen hinzunehmen und die Situation anhand eines kleinen Beispiels erläutern, das die Intelligenz Ihrer Leser nicht überbeanspruchen wird. »Mann, der Kerl ist ein Wunder – ein lebendes Wunder!« sagte McArdle und schüttelte sinnierend den Kopf. »Er würde sogar eine Quäkerversammlung zu Gewalttaten treiben. Kein Wunder, daß ihm in London der Boden zu heiß geworden ist. Es ist ein Jammer, Mr. Malone – ein Mann mit solchen Geistesgaben! Aber kommen wir nun zu seinem Beispiel.« »Nehmen wir an«, las ich weiter, »daß man während einer Atlantiküberquerung ein kleines Bündel miteinander verbundener Korken ins Wasser geworfen hat. Den sie umgebenden Bedingungen gemäß werden sie Tag für Tag langsam vor sich hintreiben. Wären die Korken mit Intelligenz versehen, könnte man sich vorstellen, daß sie der Meinung huldigen müßten, die Umstände, unter denen sie existieren, seien beständig und unveränderlich. Wir aber, mit unserem
überlegenen Wissen, wissen, daß viel geschehen kann, das die Korken überraschen müßte. Sie können vielleicht gegen eine Schiffswand treiben – oder gegen einen schlafenden Wal; sie können sich aber ebenso gut in Seetang verstricken. In jedem Fall würde ihre Reise aber möglicherweise damit enden, daß die Elemente sie gegen die Felsenküste von Labrador werfen. Aber wie sollen sie sich so etwas vorstellen können, wenn sie Tag für Tag von einem Ozean, den sie für grenzenlos und allgegenwärtig halten, sanft getragen werden? Ihre Leser werden möglicherweise einsehen, daß der in dieser Parabel erwähnte Atlantik die Stelle jenes mächtigen Ozeans einnimmt, den wir als Weltenraum kennen und die kleinen Korken nichts anderes darstellen, als das winzige und obskure Planetensystem, zu dem wir gehören: Eine Sonne drittrangiger Größe und eine Ansammlung belangloser Satelliten, die unter den gleichen täglichen Bedingungen einem unbekannten Ende entgegenschweben, einer elenden Katastrophe, die uns im Ultimaten Grenzgebiet des Weltraums erwartet, wo wir über einen ätherischen Niagarafall gespült oder an ein unvorstellbares Labrador geworfen werden. Ich sehe keinen Grund für den seichten und unwissenden Optimismus Ihres Korrespondenten Mr. James Wilson MacPhail, aber ich sehe viele Gründe, warum wir sehr genau und interessiert unsere Aufmerksamkeit allen Anzeichen des Wechsels schenken sollten, die in dem uns umgebenden Kosmos sichtbar werden und von denen letztendlich vielleicht unser Schicksal abhängt.« »Mensch, er wäre der ideale Prediger geworden«, sagte McArdle. »Er hört sich an wie eine Orgel. Aber nun zu der Sache, die ihm Sorgen bereitet.« »Das allgemeine Verblassen und die Verschiebungen der Fraunhoferschen Linien im Spektrum deuten meines Erachtens
auf eine ausgedehnte kosmische Veränderung subtiler und einmaliger Art hin. Das Licht eines Planeten ist das reflektierte Licht der Sonne. Das Licht eines Sternes hingegen ist selbst erzeugt. Aber die Spektren von Planeten und Sternen sind in diesem Fall dem gleichen Wechsel unterworfen. Heißt das also, daß die Sterne und Planeten sich verändert haben? Eine solche Vorstellung ist für mich undenkbar. Welche plötzliche Veränderung könnte gleichzeitig sowohl über Sterne als auch Planeten hereinbrechen? Haben wir es mit einem Wechsel in unserer Atmosphäre zu tun? Es ist zwar möglich, aber im höchsten Grade unwahrscheinlich, da wir um uns herum keinerlei Anzeichen dafür erblicken können und selbst chemische Analysen keine Ergebnisse gebracht haben. Worin besteht also die dritte Möglichkeit? Kann es sein, daß eine Veränderung im Leitungsmedium am Verblassen der Fraunhoferschen Linien schuld ist? Daß der unendlich feine Äther, der sich von Stern zu Stern erstreckt und sich über das ganze Universum ausbreitet, sich verändert hat? Inmitten dieses tiefen Ozeans treiben wir auf einer trägen Welle dahin. Könnte diese Welle uns nicht in einen Bereich verschlagen, in dem ungewöhnliche Zustände herrschen und der über Eigenschaften verfügt, von denen wir noch nie gehört haben? Die Möglichkeit besteht. Die Störungen, denen das Spektrum unterliegt, beweisen es. Es kann ein Wechsel zum Guten hin sein, aber auch zum Bösen. Ebenso kann sich die Veränderung als neutral erweisen. Wir wissen es nicht. Oberflächliche Beobachter mögen der Meinung sein, daß man die Sache mit einem Schulterzucken abtun kann, aber ein Mensch wie ich, der über die höhere Intelligenz des wahren Denkers verfügt, muß einsehen, daß die Möglichkeiten des Universums unkalkulierbar sind und sich derjenige, der sich für weise hält,
besser auf das Unbekannte vorbereitet. Um ein offensichtliches Beispiel heranzuziehen: Wer würde zu behaupten wagen, daß die unter den Eingeborenenrassen Sumatras wütenden Epidemien, die in der Morgenausgabe Ihrer Zeitung verzeichnet sind, etwas mit der Veränderung des Kosmos zu tun haben? Vielleicht reagieren die Eingeborenen auf diese Veränderung nur schneller als die Völker Europas? Mit diesem Gedanken sollten Sie sich beschäftigen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre die Verteidigung dieser Idee sicher ebenso unprofitabel wie ihre Ablehnung, aber wer nicht erkennt, daß sie sich innerhalb der von der wissenschaftlichen Möglichkeit gesetzten Grenze befindet, kann nur schwer von Begriff und ein phantasieloser Gimpel sein, Hochachtungsvoll, GEORGE EDWARD CHALLENGER, The Briars, Rotherfield.« »Ein netter, zum Nachdenken anregender Brief ist das«, sagte McArdle nachdenklich und steckte eine Zigarette in die lange Glasröhre, die ihm als Spitze diente. »Was halten Sie davon, Mr. Malone?« Mir blieb nichts anderes übrig, als demütigst einzugestehen, daß ich mit dem hier angesprochenen Thema nicht das geringste anfangen konnte. Was, zum Beispiel, waren Fraunhofersche Linien? Da McArdle diese Angelegenheit bereits mit einem seinem Büro zur Verfügung stehenden Fachmann geklärt hatte, zeigte er mir zwei auf der Platte seines Schreibtisches liegende Spektralstreifen. Sie hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit den Hutbändern, die die Mitglieder junger und ambitionierter Cricket-Klubs tragen. Er machte mir klar, daß sich zwischen den einzelnen Farbabstufungen – sie waren Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo und Violett – schwarze Querbalken befanden, die die Ränder der Farben überlagerten.
»Die dunklen Streifen sind die Fraunhoferschen Linien«, sagte McArdle. »Die Farben selbst sind nichts anderes als Licht. Wenn Sie Licht mittels eines Prismas in seine Wellenbestandteile zerlegen, weist es keine Farbe mehr auf. Sie können ihm nichts mehr entnehmen. Es sind die Linien, die zählen, da sie sich der jeweiligen Lichtquelle anpassen. Aber anstatt fest zu bleiben, zeigen sie seit einer Woche Auflösungserscheinungen, und nun fragen die Astronomen natürlich nach der Ursache. Hier ist ein Photo der verblassenden Linien für die morgige Ausgabe. Bisher hat das Publikum noch kein Interesse an dieser Angelegenheit gezeigt, aber Challengers Brief in der Times wird es sicher aufrütteln, nehme ich an.« »Und was hat seine Bemerkung über Sumatra zu bedeuten?« »Nun, es erscheint mir zwar ein wenig an den Haaren herbeigezogen, irgendwelche Verbindungen zwischen den verblassenden Linien des Spektrums und einem kranken Nigger auf Sumatra zu ziehen, aber der alte Fuchs hat uns bereits einmal gezeigt, daß er weiß, wovon er redet. Irgendeine komische Epidemie ist dort unten ausgebrochen, das steht außer Zweifel. Heute hat uns ein Kabel aus Singapur erreicht, das besagt, daß die Leuchttürme in der Sundasee ausgefallen und daraufhin zwei Schiffe auf Grund gelaufen sind. Auf alle Fälle wäre es nicht übel, wenn Sie Challenger in dieser Hinsicht ausfragen würden. Wenn Sie etwas handfestes bekommen, hätten wir den Artikel gerne für die Montagsausgabe.« Ich kam gerade aus dem Büro des Nachrichtenchefs und dachte noch über den Auftrag nach, als ich hörte, daß unter mir im Wartezimmer jemand meinen Namen rief. Es war der Telegrammbote, den man mir von meiner Wohnung in Streatham nachgeschickt hatte. Die Botschaft, die er mir
überbrachte, stammte von dem Mann, über den wir gerade gesprochen hatten, und lautete folgendermaßen: Mahne, Hill Street 17, Streatham. Sauerstoff mitbringen. Challenger. »Sauerstoff mitbringen!« Der Professor hatte, wie ich mich erinnerte, einen derben Humor, der zu den ungeschicktesten und schwerfälligsten Purzelbäumen fähig war. War dies einer von jenen Scherzen, die ihn zu einem brüllenden Gelächter veranlassen konnten, wobei seine Augen sich schlossen, und er nur noch aus einem weitaufgerissenen Mund und einem gesträubten Bart bestand, wobei er alle Ernsthaftigkeit um sich herum vergaß? Ich las seine Botschaft noch einmal, aber es war mir nicht im entferntesten möglich, irgendeinen Ulk aus ihr herauszulesen. Also mußte es sich um eine lapidare Anweisung handeln – wenn auch um eine äußerst seltsame. Er war der letzte Mensch auf der Welt, dessen wohlüberlegte Anweisungen ich in den Wind geschlagen hätte. Möglicherweise bereitete er ein chemisches Experiment vor; vielleicht… Nun, es konnte mir egal sein, wozu er den Sauerstoff brauchte. Ich mußte ihn besorgen. Ich hatte noch eine gute Stunde Zeit, bis der Zug von der Victoria-Station abfuhr. Ich nahm mir, nachdem ich die entsprechende Adresse aus dem Telefonbuch herausgesucht hatte, ein Taxi und fuhr zur Oxygen Tube Supply Company in der Oxford Street. Als ich den Hof meines Ziels erreichte, erschienen im Eingang des Gebäudes zwei junge Männer, die einen eisernen Zylinder hinausschleppten und ihn mit sichtlicher Anstrengung in einem wartenden Auto verstauten. Ein älterer Mann folgte
ihnen keifend auf dem Fuße und gab ihnen mit quäkender, sardonischer Stimme Anweisungen. Dann wandte er sich mir zu. Es gab keinen Zweifel: Die asketischen Gesichtszüge und der Ziegenbart gehörten niemand anderem als meinem stets übelgelaunten Geführten Professor Summerlee. »Was!« rief er aus. »Nun sagen Sie bloß nicht, daß Sie auch eines dieser hirnverbrannten, nach Sauerstoff schreienden Telegramme erhalten haben!« Ich mußte es zugeben. »So, so! Ich erhielt auch eines und habe mich, wie Sie sehen, ganz im Gegensatz zu meiner Laune, danach verhalten. Unser guter Freund benimmt sich mal wieder unmöglich. Nicht einmal das Verlangen nach Sauerstoff kann so dringend sein, daß man den üblichen Weg der Versorgung außer acht läßt und die Zeit derjenigen mißbraucht, die mehr zu tun haben, als man selbst. Warum hat er es nicht direkt bestellt?« Ich konnte nur annehmen, daß er es vielleicht sofort haben wollte. »Oder er bildet es sich jedenfalls ein, aber das, ist wieder eine andere Sache. Jetzt dürfte es allerdings überflüssig sein, daß Sie sich auch noch mit einem Tank belasten. Ich habe meine Ladung ja schon gekauft.« »Aber trotzdem… Aus irgendeinem Grunde scheint er zu wünschen, daß ich auch einen Tank mitbringe. Es wird sicherer sein, wenn ich genau das tue, was er von mir verlangt.« Ungeachtet des Gebrummels und der Einwände Summerlees bestellte ich noch einen zusätzlichen Tank, der zusammen mit dem ersten in seinem Wagen verstaut wurde, da er mir angeboten hatte, mich zum Bahnhof mitzunehmen. Ich begab mich zu meinem Taxi, um zu zahlen. Was das Fahrgeld anbelangte, so entpuppte sich der Fahrer als ziemlich streitsüchtig und beleidigend. Als ich zu Professor Summerlee
zurückkehrte, hatte dieser gerade einen wütenden Wortwechsel mit den Männern, die den Sauerstoff hinausgetragen hatten, und sein kleiner weißer Ziegenbart hüpfte vor Entrüstung auf und nieder. Wie ich mich erinnere, nannte einer der Männer ihn einen »bescheuerten alten Kakadu«, was Summerlees Chauffeur so in Rage brachte, daß er aus dem Wagen sprang und die Stelle seines beleidigten Herrn einnahm und uns nichts anderes mehr übrigblieb, als ihn daran zu hindern, einen Auflauf zu verursachen. Die Beschreibungen dieser Kleinigkeiten mögen trivial erscheinen – und als sie stattfanden, dachten wir uns auch nichts dabei. Erst jetzt, wo ich mich darauf zurückbesinne, sehe ich, daß sie mit der Geschichte, die ich erzählen will, in einem ursächlichen Zusammenhang standen. Ich hatte den Eindruck, daß der Chauffeur entweder ein Anfänger in seinem Beruf sein müsse oder aufgrund des Zwischenfalls stark erregt war, denn als er uns zum Bahnhof fuhr, erwiesen sich seine Fahrkünste als ziemlich schlecht. Wir wären beinahe zweimal mit anderen, sich auf eine ähnliche Weise konfus bewegender Fahrzeuge zusammengestoßen, und ich erinnere mich daran, Summerlee gegenüber erwähnt zu haben, daß die Moral der Londoner Autofahrer ziemlich heruntergekommen sei. Einmal jagten wir haarscharf am Rande einer Menschenmenge vorbei, die einen Sportplatz umringte. Die Leute, die das offenbar sehr verdroß, erregten sich daraufhin in höchstem Maße, und es kam sogar so weit, daß einer der Zuschauer auf das Trittbrett sprang und uns mit einem Knüppel bedrohte. Ich stieß ihn herunter, aber wir waren ziemlich froh, als wir ihn endlich los waren und der Park hinter uns lag. All diese kleinen Zwischenfälle, die mir jetzt nach und nach wieder einfallen, setzten meinen Nerven
zu, und ich erkannte, daß auch meinem Gefährten allmählich der Kragen zu platzen drohte. Unsere gute Laune kehrte allerdings zurück, als wir auf dem Bahnsteig auf Lord John Roxton stießen, der uns bereits erwartete. Seine hochgewachsene Gestalt war in einen beigen Jagdanzug aus Tweed gekleidet, und sein lebhaftes Gesicht und seine unvergeßlichen Augen, die gleichzeitig streng und humorvoll blicken konnten, leuchteten freudig auf, als er uns sah. In seinem rötlichen Haar zeigten sich ein paar graue Strähnen und die letzten Jahre hatten seine Stirnfalten ein wenig vertieft – alles in allem war er aber immer noch der gleiche Mann, der in der Vergangenheit unser Kamerad gewesen war. »Hallo, Herr Professor! Hallo, junger Freund!« rief er, als er auf uns zukam. Er brüllte vor Vergnügen, als er die beiden Sauerstofftanks auf dem Wägelchen des uns begleitenden Dienstmannes gewahrte. »Sie haben also auch welche mitgebracht!« rief er aus. »Meiner ist schon im Gepäckwagen. Was, um Himmels willen, hat der alte Bär vor?« »Haben Sie seinen Brief in der Times gelesen?« fragte ich. »Um was ging es denn?« »Um dummes Zeug!« grunzte Summerlee. »Nun, ich nehme an, daß es irgend etwas mit dem Sauerstoff zu tun hat«, sagte ich. »Dummes Zeug!« rief Summerlee erneut, aber diesmal etwas wütender. Als wir uns in das Raucherabteil der Ersten Klasse setzten, hatte er sich bereits die kleine, stummelige Bruyerepfeife angezündet, die die Spitze seiner langen, aggressiv vorgereckten Nase anzusengen drohte.
»Freund Challenger ist ein gerissener Bursche«, sagte er vehement. »Das kann niemand abstreiten. Wer das tut, ist ein Narr. Sehen Sie sich nur seinen Hut an. Er enthält ein Gehirn von sechzig Unzen Gewicht – eine große Maschine, die sanft vor sich hinschnurrt und saubere Arbeitsergebnisse produziert. Zeigen Sie mir das Maschinenhaus, und ich sage Ihnen, wie groß die Maschine ist, die sich darin befindet. Aber er ist ein geborener Scharlatan, das habe ich ihn, wie Sie selbst wissen, offen ins Gesicht gesagt; ein geborener Scharlatan, der dem kindischen Zwang verhaftet ist, im Rampenlicht stehen zu müssen. Es ist wieder einmal Sauregurkenzeit; da sieht Freund Challenger natürlich wieder einmal die Möglichkeit, ganz groß von sich reden zu machen. Sie nehmen doch nicht im Ernst an, daß er wirklich an diesen Unsinn von der Veränderung des Weltraums und einer darauf fußenden möglichen Gefahr für die Menschheit glaubt? Einen solchen Schwachsinn halbe ich ja noch nie gehört!« Er saß da wie ein alter weißer Rabe und wurde von einem krächzenden Gelächter geschüttelt. Ich wurde von einer Welle des Ärgers erfaßt, als ich Summerlee zuhörte. Es schickte sich einfach nicht, so über einen Mann zu sprechen, der nicht nur unser Führer gewesen war, sondern uns auch den Ruhm hatte zuteil werden lassen, mit dem man uns nach unserem bemerkenswerten Abenteuer in Südamerika überschüttete. Ich hatte gerade den Mund geöffnet, um ihm eine passende Antwort zu geben, als Lord John mir zuvorkam. »Sie haben sich schon einmal mit Challenger auf einen Streit eingelassen«, sagte er finster, »und ich erinnere mich, daß er Sie in weniger als zehn Sekunden am Boden hatte. Mir scheint, Professor Summerlee, daß er Sie um Klassen überragt. Das Beste, was Sie tun könnten, wäre, daß Sie schnell eine gewisse
Entfernung zwischen sich und ihn brächten und ihn im übrigen in Ruhe ließen.« »Davon abgesehen«, sagte ich, »ist er für uns alle stets ein guter Freund gewesen. Was immer er auch für Fehler haben mag, er ist aufrichtig wie kein zweiter, und ich zweifle stark daran, daß er hinter unseren Rücken je in ähnlicher Weise über einen von uns sprechen würde.« »Gut gesagt, junger Freund«, sagte Lord John Roxton. »Sie sind ein aufrechter Bursche.« Dann klopfte er Professor Summerlee mit einem freundlichen Lächeln auf die Schulter. »Na, kommen Sie, Herr Professor. Wir wollen uns doch den schönen Tag nicht mit Streitereien vergällen. Wir haben zusammen einfach zuviel erlebt. Aber mäßigen Sie sich, wenn das Thema auf Challenger kommt, denn dieser junge Mann und ich haben eine Schwäche für den alten Knaben.« Aber Summerlee war nicht in der Stimmung, die Goldene Brücke zu beschreiten, die Lord John ihm baute. Sein Gesicht zeigte deutliche Mißbilligung. Sogar seine Pfeife stieß drohende Rauchwolken aus. »Was Sie anbetrifft, Lord John Roxton«, quäkte er, »so haben Ihre Ansichten über eine wissenschaftliche Angelegenheit in meinen Augen den gleichen Stellenwert, wie meine Meinung über ein neuentwickeltes Schießgewehr in den Ihren. Ich besitze eine eigene Urteilsfähigkeit, Sir, und ich setze sie nach eigenem Gutdünken ein. Und wenn ich auch einmal geirrt habe – ist das ein Grund, fortan mit meinen Ansichten hinter dem Berg zu bleiben? Muß ich selbst dort schweigen, wo ein Mann den hanebüchensten Unsinn als wissenschaftliche Erkenntnis verkauft? Haben wir etwa einen Wissenschaftspapst, der seine Ansichten ex cathedra niederlegt und das gemeine Volk dieselben widerspruchslos hinzunehmen hat? Ich versichere Ihnen, Sir, daß auch ich ein Gehirn besitze. Und ich käme mir
wie ein Snob oder ein Sklave vor, würde ich es nicht auch benutzen. Wenn es Ihnen Spaß macht, an das Gewäsch über den Weltraum und die Fraunhoferschen Linien zu glauben, dann sei Ihnen das unbenommen, aber verlangen Sie nicht, daß jemand, der Sie an Alter und Weisheit überragt, bei dieser Torheit mitzieht. Ist es denn nicht offensichtlich, daß die Resultate auch an uns sichtbar sein müßten, wenn Challengers Behauptungen in dem Maße zuträfen, wie er es sich wünscht?« An dieser Stelle mußte er über seine eigene Argumentation laut lachen. »Jawohl, Sir, auch wir müßten die Auswirkungen längst zu spüren bekommen haben, und anstatt gemütlich in diesem Zug zu sitzen und wissenschaftliche Probleme zu diskutieren, sollten wir längst die Symptome einer Vergiftung zeigen. Wo aber sehen wir sie? Darauf verlange ich eine Antwort, Sir! Und kommen Sie mir bloß nicht mit Ausflüchten! Ich nagle Sie auf eine Antwort fest!« Ich fühlte, daß ich immer wütender wurde. In Summerlees Verhalten zeigte sich etwas Aggressives und Irritierendes. »Ich glaube, daß Sie weniger sicher in Ihrer Meinung wären, wenn Sie mehr über die Tatsachen wüßten«, sagte ich. Summerlee nahm die Pfeife aus dem Mund und musterte mich mit einem unbeweglichen Blick. »Darf ich Sie vielleicht fragen, was Sie mit dieser offenbar dreisten Bemerkung bezwecken, Sir?« »Ich meine damit, daß mir unser Nachrichtenchef, bevor ich sein Büro verließ, erzählte, daß er ein Telegramm erhalten hat, das ihn davon in Kenntnis setzte, daß unter den Eingeborenen Sumatras eine allgemeine Epidemie ausgebrochen sei und daß darüber hinaus in der Sundasee die Leuchttürme nicht funktionieren.« »Es sollte wirklich so etwas wie Grenzen menschlicher Torheit geben!« schrie Summerlee in entschiedener Rage.
»Kann Ihnen denn wirklich entgangen sein, daß die Luft – nehmen wir einmal Challengers alberne Behauptung als gegeben an – auf dieser Seite der Erde die gleiche ist, wie die auf der anderen? Glauben Sie vielleicht auch, daß die Luft von Kent der von Surrey – durch die uns dieser Zug gerade befördert – in gewisser Weise überlegen ist? Es gibt doch wirklich nichts, was die Leichtgläubigkeit und Unwissenheit eines Durchschnittslaien noch übertreffen könnte. Kann man wirklich ernsthaft annehmen, daß die Luft Sumatras dermaßen tödlich ist, daß sie völlige Abstumpfung hervorruft, während sie zur gleichen Zeit auf uns hier nicht die geringsten Auswirkungen hat? Von mir kann ich jedenfalls behaupten, daß ich mich körperlich und geistig nie wohler gefühlt habe, als gerade jetzt.« »Das mag ja sein. Ich behaupte ja auch gar nicht, ein Mann der Wissenschaft zu sein«, sagte ich, »aber ich habe irgendwann einmal gehört, daß die Wissenschaft der ersten Generation von der zweiten meist schon widerlegt werden kann. Aber es erfordert nicht einmal besonders viel gesunden Menschenverstand, um die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß es nach dem wenigen, was wir wirklich über die Luft wissen, sein kann, daß sie in den verschiedenen Teilen der Welt den örtlichen Gegebenheiten unterworfen sein kann und bestimmte Auswirkungen erst anderswo hervorruft.« »Mit ›kann‹ und ›könnte‹ können Sie alles beweisen«, rief Summerlee wütend aus. »Schweine könnten vielleicht fliegen. Ja, Sir, sie könnten es vielleicht, aber sie tun es nicht. Es ist sinnlos, mit Ihnen zu argumentieren. Challenger hat Sie mit diesem Unsinn vollgestopft. Sie sind beide keiner vernünftigen Argumentation gewachsen. Ich hingegen hatte meine Einwände bereits vorgebracht, bevor dieser Zug auch nur zum erstenmal federte.«
»Ich muß sagen, Professor Summerlee«, sagte Lord John mit einem strengen Blick, »daß sich Ihr Benehmen nicht sonderlich gebessert hat, seit ich das erste Mal das Vergnügen hatte, Sie zu sehen.« »Ihr Krautjunker seid sowieso nicht daran gewöhnt, der Wahrheit ins Auge zu blicken«, antwortete Summerlee mit einem bitteren Lächeln. »Es muß Ihnen sicher wie ein Schock erscheinen, wenn Sie feststellen, daß Sie ungeachtet Ihres Titels nichts weiter sind als ein ungebildeter Mensch, stimmte?« »Ich gebe Ihnen mein Wort, Sir«, sagte Lord John ernst und ungehalten, »wenn Sie jünger wären, würden Sie es nicht wagen, mich in einer solch ungebührlichen Weise anzureden.« Summerlee streckte sein Kinn vor. Sein Ziegenbärtchen sträubte sich. »Ich will Ihnen sagen, Sir, daß es in meinem Leben noch niemals eine Zeit gegeben hat – egal ob ich jung oder alt war –, in der ich Angst davor gehabt hätte, meine Meinung gegenüber einem unwissenden Laffen auszusprechen. Jawohl, Sir, einem unwissenden Laffen gegenüber; selbst wenn Sie über so viele Titel verfügten, wie Sklaven erfinden und Narren sich verleihen könnten.« Einen Augenblick lang schienen Lord Johns Augen Funken zu versprühen. Dann jedoch meisterte er mit einer bemerkenswerten Anstrengung seinen Ärger, lehnte sich in seinen Sitz zurück, verschränkte die Arme und produzierte ein verbittertes Lächeln. Mir erschien die ganze Situation zugleich bedrohlich und bejammernswert. Wie eine Woge wurde ich von der Erinnerung an die gute Kameradschaft der Vergangenheit und die glücklichen Tage voller Abenteuer überspült, die wir gemeinsam überstanden hatten. Ich erinnerte mich an alles, was wir erlitten und wofür wir gearbeitet hatten. Der Sieg war schließlich unser gewesen. Daß es so weit hatte
kommen können – zu Beleidigungen und Schmähungen! Plötzlich schluchzte ich. Ich schluchzte und schluckte, und zwar in einem solchen Maße, daß es unmöglich war, meine Tränen zu verbergen. Meine Gefährten sahen mich überrascht an, und ich bedeckte das Gesicht mit meinen Händen. »Es ist schon in Ordnung«, sagte ich. »Es ist nur… so schade!« »Sie sind krank, junger Freund, das ist es«, sagte Lord John. »Schon als ich Sie sah, kamen Sie mir komisch vor.« »Ihr Gesundheitszustand, Sir, hat sich in den drei Jahren offensichtlich nicht gebessert«, sagte Summerlee kopfschüttelnd. »Auch mir ist nicht verborgen geblieben, daß Sie sich seltsam benahmen, als wir uns das erste Mal trafen. Sie brauchen Ihr Mitgefühl nicht zu verschwenden, Lord John. Diese Tränen sind die Folgen zu großen Alkoholgenusses. Der Mann hat getrunken. Nebenbei gesagt, Lord John, nannte ich Sie eben einen Laffen. Das war möglicherweise ein wenig übertrieben. Aber irgendwie erinnert mich dieses Wort an eine kleine Fähigkeit, die ich – es ist zwar trivial, aber amüsant – einmal besaß. Sie kennen mich ausschließlich als einen ernsthaften Mann der Wissenschaft. Können Sie sich vorstellen, daß ich einst in verschiedenen Kindergärten den Ruf eines ausgezeichneten Tierstimmenimitators besaß? Vielleicht kann ich dazu beitragen, uns die Langeweile ein wenig zu verkürzen. Würde es Ihnen Spaß machen, meinen Hahnenschrei zu hören?« »Nein, Sir«, sagte Lord John, der immer noch sichtlich beleidigt war. »Das würde mir keinen Spaß machen.« »Nun, auch meine Nachahmung einer Henne, die gerade ein Ei gelegt hat, wurde von der Kritik stets als eher über dem Durchschnitt stehend bezeichnet. Darf ich es wagen?« »Nein, Sir – auf keinen Fall!«
Aber trotz des ernsthaft geäußerten Verbots legte Professor Summerlee seine Pfeife beiseite und unterhielt uns – beziehungsweise glaubte uns zu unterhalten – für den Rest der Reise mit fortwährenden Vogel- und anderen Tierschreien, die mir so absurd erschienen, daß mein Weinen in ein stürmisches Gelächter überging und ich nahe an der Grenze zur Hysterie war. Ich saß dem ernsthaft agierenden Professor gegenüber und sah – oder vielmehr hörte – ihn in der Rolle eines aufgeregten Hahnes oder als Welpe, dem man gerade auf den Schwanz getreten hat. Einmal reichte Lord John mir eine Zeitung, auf deren Rand er mit Bleistift »Der arme Teufel! Jetzt ist er wirklich übergeschnappt!« geschrieben hatte. Ohne Zweifel war Summerlees Darbietung etwas ungewöhnlich; trotzdem kam sie mir sowohl amüsant als auch herausragend vor. Während der Professor weiterhin sein Rolle spielte, beugte sich Lord John vor und erzählte mir eine endlose Geschichte von einem Büffel und einem indischen Radschah, die weder einen Anfang noch ein Ende zu haben schien. Professor Summerlee hatte gerade angefangen, das Zirpen eines Kanarienvogels nachzuahmen, als Lord John sich dem Höhepunkt seiner Erzählung näherte und der Zug in den Bahnhof von Jarvis Brook einfuhr. Wenn wir nach Rotherfield wollten, mußten wir hier aussteigen. Challenger war bereits da, um uns abzuholen. Seine Erscheinung war überwältigend. Alle Truthähne der Welt zusammengenommen konnten nicht soviel steifbeinige Würde ausstrahlen wie er, als er vor dem Bahnhofsgebäude auf und ab schritt. Das gutmütige Lächeln herablassender Ermutigung, dessen er sich befleißigte, galt niemandem und jedem. Wenn er sich seit den alten Zeiten überhaupt verändert hatte, dann nur insofern, daß seine Eigenarten noch ausgeprägter geworden waren. Der große Schädel und die breite Fläche seiner Stirn
erschienen mir, wie auch das darauf ruhende Haarbüschel, noch größer als zuvor. Sein schwarzer Bart stand vor wie eine beeindruckende Kaskade, und die klaren, grauen Augen mit den anmaßend und sardonisch wirkenden Lidern, schauten noch herrischer in die Welt als früher. Er schüttelte mir freudig die Hand, schenkte mir – wie ein Meister seinem Lehrjungen – ein gönnerhaftes Lächeln und verfrachtete uns, nachdem er den anderen beim Einladen des Gepäcks geholfen und die Sauerstofftanks verstaut hatte, in einen großen Kraftwagen, der von dem gleichen wortkargen Austin gesteuert wurde, den ich bei meinem ersten, ereignisreichen Besuch bei Challenger in der Rolle eines Butlers erlebt hatte. Unsere Reise führte uns über eine Serpentine auf einen Hügel und dann durch ein herrliches Land. Ich saß vorne beim Chauffeur und hatte den Eindruck, daß meine Gefährten hinter mir alle gleichzeitig redeten. Lord John kämpfte immer noch, soweit ich das beurteilen konnte, mit seiner Büffelgeschichte. Gleichzeitig hörte ich die wohlvertraute, brummige Stimme Challengers und das keifende Gerede von Summerlee, die sich wieder einmal in eine wissenschaftliche Diskussion verbissen hatten. Austin wandte mir plötzlich sein mahagonifarbenes Gesicht zu, ohne den Blick vom Steuer zu nehmen. »Ich bin entlassen worden«, sagte er. »Großer Himmel!« sagte ich. An diesem Tag kam mir alles komisch vor. Jedermann sagte seltsame, unerwartete Dinge. Es war wie in einem Traum. »Zum siebenundvierzigstenmal«, sagte Austin nachdenklich. »Und wann gehen Sie?« fragte ich, um einen besseren Überblick zu gewinnen. »Ich gehe gar nicht«, sagte Austin. Damit schien die Unterhaltung beendet zu sein, aber plötzlich fing er von neuem an.
»Wer würde denn, wenn ich wirklich ginge, nach ihm sehen?« Er deutete mit dem Kopf auf seinen Herrn. »Wer würde ihm schon dienen wollen?« »Na, irgendjemand«, erwiderte ich lahm. »Glaub ich nicht. Niemand würde länger als eine Woche bleiben. Wenn ich gehen würde, ginge bei ihm bald alles drunter und drüber. Ich erzähle Ihnen das, weil Sie mit ihm befreundet sind und Sie es deswegen wissen sollten. Wenn ich ihn beim Wort nehmen würde – na ja, aber er hat es bestimmt nicht so gemeint. Er und die Herrin wären dann nicht mehr als zwei ausgesetzte Kinder. Ich mache alles für ihn. Und dann geht er her und wirft mich raus.« »Und warum würde kein anderer bleiben?« fragte ich. »Nun, weil sie bei ihm – wie ich – nichts verdienen würden. Der Herr ist ein sehr gescheiter Mann; so gescheit, daß er sich manchmal wie ein Bekloppter aufführt. Was glauben Sie, was er heute morgen angestellt hat?« »Was hat er denn angestellt?« Austin beugte sich zu mir herüber. »Er hat die Haushälterin gebissen«, flüsterte er. »Er hat sie gebissen?« »Jawohl, Sir. Er hat sie ins Bein gebissen. Ich hab mit meinen eigenen Augen gesehen, wie sie von der Halle aus zu einem Marathonlauf angesetzt hat.« »Herrjemineh!« »Das kann man wohl sagen, Sir, wenn man so etwas mitangesehen hat. Die Nachbarn hat er sich auch nicht gerade zu Freunden gemacht. Es gibt sogar ein paar Leute, die sagen, er sei bei den Ungeheuern, über die Sie geschrieben haben, in allerbester Gesellschaft gewesen. Wohlgemerkt, das sagen sie. Aber ich habe ihm zehn Jahre gedient, und ich mag ihn. Wenn man seinen Anweisungen nachkommt, Sir, ist er, wenn ich das mal so sagen darf, ein großartiger Mensch. Es ist eine Ehre,
ihm zu dienen, auch wenn er manchmal unausstehlich ist. Und nun sehen Sie sich das mal an, Sir. Kann man das noch mit der guten, altmodischen Gastfreundschaft gleichsetzen? Lesen Sie selbst.« Der Wagen hätte seine Fahrt nun verlangsamt und fuhr einen steilen Abhang hinauf. Ich sah eine wohlgeschnittene Hecke. Darüber prangte an einem Pfahl ein Schild. Wie Austin gesagt hatte, war es nicht schwierig zu lesen, denn auf dem Schild standen nur wenige Worte, und die waren deutlich: WARNUNG
Besucher, Presseleute und Bettler
sind hier nicht erwünscht.
G. E. CHALLENGER »Nein, als herzlich kann man ihn wirklich nicht bezeichnen«, sagte Austin kopfschüttelnd und warf ebenfalls einen Blick auf das bedauerliche Schild. »So etwas würde auch auf einer Weihnachtskarte nicht gut wirken. Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir, aber soviel wie heute hab ich schon seit einem Jahr nicht mehr gesprochen. Es mußte einfach mal aus mir heraus. Er kann mich so oft rauswerfen, bis er schwarz wird, aber ich gehe einfach nicht, punktum. Ich bin sein Diener, und er ist mein Herr, und so wird es auch bleiben, bis zum Ende aller Zeiten.« Wir passierten weiße Türpfosten, drehten eine Kurve und fuhren an einigen Rhododendronbüschen vorbei. Dahinter erhob sich ein niedriges Ziegelgebäude mit weißgestrichenen Holzarbeiten, das hübsch und gemütlich wirkte. Mrs. Challenger, eine kleine zarte, lächelnde Gestalt, stand in der offenen Tür, um uns willkommen zu heißen. »Nun, meine Liebe«, sagte Challenger, der geschäftig aus dem Wagen kletterte, »da hast du unseren Besuch. Es ist etwas
neu für uns, Besuch zu haben, nicht wahr? Die Zuneigung unserer Nachbarn haben wir nicht eben errungen, wie? Ich wette, daß sie Rattengift in unseren Brotkorb schütten würden, wenn sie welches hätten.« »Es ist entsetzlich – entsetzlich!« rief seine Frau zwischen Lachen und Weinen. »George hat ständig mit irgend jemandem Streit. Wir haben hier nicht einen einzigen Freund.« »Deswegen bin ich auch in der Lage, meine gesamte Aufmerksamkeit meiner unvergleichlichen Gattin zu widmen«, sagte Challenger und legte seinen kurzen, dicken Arm um ihre Taille. Stellen Sie sich einen Gorilla und eine Gazelle vor, dann wissen Sie, wie die beiden aussehen. »Komm, komm, die Herren sind müde von der Reise und sollten schnellstens verköstigt werden. Ist Sarah zurückgekehrt?« Mrs. Challenger schüttelte bekümmert das Haupt. Der Professor lachte laut und strich sich mit meisterhafter Eleganz über seinen Bart. »Austin«, rief er, »wenn Sie den Wagen gewaschen haben, helfen Sie Ihrer Herrin bitte beim Mittagessen. Und Sie, Gentlemen, kommen bitte mit in mein Arbeitszimmer, da ich Sie gerne über die eine oder andere Angelegenheit in Kenntnis setzen möchte.«
II Die Gezeiten des Todes
Als wir durch die Halle schritten, klingelte das Telefon, und wir wurden zu unfreiwilligen Zeugen des folgenden Dialogs. Ich sage »wir«, aber in Wirklichkeit kann natürlich auch keinem anderen im Umkreis von hundert Yards die dröhnende Stimme entgangen sein, die durch das ganze Haus schallte. Die Antworten Professor Challengers sind mir wie eingebrannt. »Ja, ja, natürlich, ich bin es… Ja, gewiß, der Professor Challenger; der berühmte Professor, wer denn sonst? Natürlich, jedes Wort, sonst hätte ich es doch nicht geschrieben… Es würde mich nicht überraschen… Alle Hinweise deuten darauf hin… Spätestens in einem Tag… Nun, ich kann Ihnen leider auch nicht helfen, verstehen Sie? Das ist sehr betrüblich, ohne Zweifel, aber ich könnte mir vorstellen, daß es wichtigere Leute als Sie betrifft. Es ist sinnlos, jetzt herumzujammern… Nein, könnte ich möglicherweise nicht… Jetzt reicht’s mir aber, Sir! Unsinn! Ich habe Wichtigeres zu tun, als solchem Geschwätz zuzuhören!« Er legte den Hörer mit einem Schlag auf und führte uns über die Treppe in einen großen, luftigen Raum, der offenbar sein Arbeitszimmer war. Auf einem Schreibtisch lagen sieben oder acht ungeöffnete Telegramme. »Ich glaube wirklich«, sagte er, als er sie in die Hand nahm, »daß meine Korrespondenten eine Menge Geld sparen würden, wenn ich eine Telegrammadresse besäße. Möglicherweise würde ›Noah, Rotherfield‹ den Kern der Dinge am besten treffen.«
Wie immer, wenn er einen unverständlichen Witz machte, stützte er sich auf die Tischplatte und wurde von einem bellenden Lachanfall geschüttelt. Seine Hände zitterten so, daß er kaum fähig war, die Umschläge zu öffnen. »Noah! Noah!« keuchte er, während sein Gesicht die Farbe einer Runkelrübe annahm, Lord John und ich ein solidarisches Lächeln produzierten und Summerlee wie ein magenkranker Ziegenbock mit sardonischer Mißbilligung den Kopf schüttelte. Schließlich fing Challenger, immer noch am ganzen Leibe vor Heiterkeit zitternd an, die Telegramme zu öffnen. Wir drei standen derweil am Erkerfenster und beschäftigten uns damit, die herrliche Aussicht zu bewundern. Sie war es gewiß wert, daß man sie beachtete. Die sanftgeschwungene, kurvenreiche Straße hatte uns auf eine bemerkenswerte Erhebung gebracht – sie maß siebenhundert Fuß, wie wir später herausfanden. Challengers Haus stand hart am Rande des Hügels, und von der Südseite aus – wo sich das Fenster seines Arbeitszimmers befand – konnte man über das weitgedehnte Band des Weald sehen, auf dem die sanften Linien der südlichen Downs einen welligen Horizont formten. Zwischen den Hügeln zeigte uns eine Rauchwolke den Standort von Lewes. Direkt vor unseren Füßen wogte das Heidekraut; dazwischen lagen die hellgrünen Streifen des Golfgeländes von Crowborough, auf dem zahlreiche Spieler zu sehen waren. Etwas im Süden, zwischen den Wäldern, konnten wir einen Teil der Hauptstrecke von London nach Brighton ausmachen. Direkt vor uns, genau unter unseren Nasen, lag ein kleiner eingezäunter Garten, in dem auch der Wagen stand, der uns vom Bahnhof abgeholt hatte. Ein Aufschrei Challengers führte dazu, daß wir uns herumdrehten. Er hatte die Telegramme inzwischen gelesen und sie auf dem Schreibtisch zu einem ordentlichen Stapel angehäuft. Sein breites, verkniffenes Gesicht – oder soviel, wie
davon durch den struppigen Bart zu sehen war – war immer noch tiefgerötet. Allem Anschein nach hatte ihn eine starke Aufregung gepackt. »Nun, Gentlemen«, sagte er in einem Tonfall, als spräche er auf einer öffentlichen Veranstaltung, »dies ist in der Tat ein interessantes Wiedersehen, und es findet unter außergewöhnlichen – ich bin fast geneigt zu sagen beispiellosen – Umständen statt. Darf ich Ihnen die Frage stellen, ob Ihnen während der Reise hierher irgend etwas aufgefallen ist?« »Das einzige, was mir auffiel«, sagte Summerlee mit einem säuerlichen Lächeln, »war, daß unser junger Freund hier sich während der vergangenen Jahre nicht gebessert hat. Es tut mir leid, darauf hinweisen zu müssen, aber ich mußte mich wegen seines Betragens während der Eisenbahnfahrt ernstlich über ihn beschweren. Es würde mir zudem an Offenheit mangeln, würde ich nicht noch darauf hinweisen, daß er in mir einen äußerst unerfreulichen Eindruck hinterlassen hat.« »Aber, ich bitte Sie«, sagte Lord John. »Hin und wieder kann doch jeder mal entgleisen. Der junge Mann hat es sicher nicht so gemeint. Sie sollten bedenken, daß er ein Internationalist ist. Und solche Leute brauchen nun mal eine halbe Stunde, um ein Fußballspiel zu beschreiben. Sie sollten ihn mit anderen Augen sehen.« »Eine halbe Stunde, um ein Fußballspiel zu beschreiben!« schrie ich empört. »Sie waren es doch, der mir eine halbe Stunde lang mit dieser endlosen Büffelgeschichte zugesetzt hat. Professor Summerlee wird das bestätigen.« »Ich vermag kaum zu sagen, wer von Ihnen beiden der Unerträglichere war«, erwiderte Summerlee. »Aber eines kann ich Ihnen sagen, Challenger: Ich will in meinem ganzen Leben nie wieder etwas von Büffeln oder Fußballspielen hören.«
»Aber ich habe nicht einmal ein Wort über Fußball verloren«, protestierte ich. Lord John stieß einen schrillen Pfiff aus. Summerlee schüttelte betrübt den Kopf. »Und dann noch so früh am Morgen«, sagte er. »Wie erbärmlich. Während ich dort in gehaltvollem, aber nachdenklichem Schweigen saß…« »Schweigen?« schrie Lord John. »Sie haben sich aufgeführt, wie jemand aus einem Variete – oder noch besser, wie ein entlaufenes Grammophon! Jedenfalls nicht wie ein Mann!« Summerlee riß sich in bitterem Protest zusammen. »Sie kommen sich wohl sehr spaßig vor, Lord John«, knurrte er mit einem Essiggesicht. »Verdammt noch mal, das ist doch schierer Wahnsinn!« rief Lord John aus. »Jeder von uns scheint zu wissen, was die anderen getan haben, aber keiner von uns weiß, was er selber getan hat. Lassen Sie uns ganz vorne anfangen. Wir gingen in das Raucherabteil der Ersten Klasse, stimmte? Dann fingen wir an, über Freund Challengers Brief in der Times zu streiten.« »Oh, das haben Sie tatsächlich getan?« brummte unser Gastgeber, während seine Lider sich zu senken begannen. »Sie, Summerlee, haben gesagt, daß seine Feststellung jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt.« »O, je!« sagte Challenger, streckte die Brust heraus und kraulte seinen Bart. »Jeder wissenschaftlichen Grundlage? Mir scheint, diese Worte habe ich doch schon einmal gehört. Darf ich vielleicht fragen, mit welchen Argumenten sich der große und berühmte Professor Summerlee erlaubt hat, die Ansichten des niederen Individuums, das es gewagt hat, im Zusammenhang mit den Möglichkeiten der Wissenschaft eine Meinung zu äußern, zerpflückte? Ob er vielleicht – bevor er dieses unwürdige Nichts zerschmettert hat – geruhen wird, uns an seiner gegensätzlichen Auffassung teilhaben zu lassen?«
Er verbeugte sich, zuckte die Achseln und breitete, während er diese Worte aussprach, mit vollendetem Sarkasmus die Arme aus. »Meine Beweggründe waren ganz einfacher Natur«, sagte Summerlee störrisch. »Ich wies darauf hin, daß es ziemlich unwahrscheinlich ist, daß die uns umgebende Lufthülle überall die gleiche ist, und es demzufolge kaum möglich ist, daß sie hier dermaßen giftig sein kann, daß sie gefährliche Symptome hervorruft, während wir in der Eisenbahn von ihren Auswirkungen nichts zu spüren bekamen.« Challenger quittierte diese Erklärung lediglich mit einem brüllenden Gelächter. Er lachte, bis der ganze Raum zu erzittern schien. »Unser ehrenwerter Professor Summerlee«, sagte er schließlich und wischte sich über die schweißbedeckte Stirn, »ist – und das nicht zum erstenmal – ein bißchen unvertraut mit den Fakten der gegenwärtigen Lage. Die beste Möglichkeit, Ihnen meinen Standpunkt nahezubringen, meine Herren, besteht darin, daß ich Ihnen erzähle, was ich heute morgen getan habe. Sie werden sich ihre eigene Geistesverwirrung sicher leichter verzeihen können, wenn Sie sich bewußt machen, daß sogar ich gewisse Momente hatte, in denen mein Gleichgewicht einer Störung unterworfen war. Wir beschäftigen seit einigen Jahren eine Haushälterin – eine gewisse Sarah, mit deren Nachnamen ich mein Gedächtnis nie zu belasten wagte. Sie ist in jeder Hinsicht eine unfreundliche, förmliche und spröde Person, von gefühllosem Charakter und hat nach unseren Erfahrungen nie auch nur ein Anzeichen einer Emotion gezeigt. Als ich allein am Frühstückstisch saß – Mrs. Challenger pflegt das Frühstück in ihrem Zimmer einzunehmen –, kam mir plötzlich der Gedanke, daß es doch ganz unterhaltsam und lehrreich sein könnte, wenn es mir gelänge, die Grenzen der Unerschütterlichkeit dieser Frau
herauszufinden. Nachdem ich eine kleine Blumenvase umgekippt hatte, die auf der Tischdecke stand, klingelte ich nach ihr und schlüpfte unter den Tisch. Sie trat ein, sah, daß der Raum leer war und vermutete mich in meinem Arbeitszimmer. Wie ich es erwartet hatte, kam sie näher und beugte sich über den Tisch, um die Vase wieder aufzurichten. Ich sah nur einen Baumwollstrumpf und einen Zugstiefel vor mir. Indem ich meinen Kopf vorstreckte, versenkte ich meine Zähne in den Schenkel ihres Beines. Das Experiment verlief unerwartet erfolgreich. Einen Augenblick lang stand sie wie gelähmt da und starrte auf meinen Kopf. Dann riß sie sich mit einem Schrei los und rannte hinaus. Ich lief hinter ihr her, weil ich ihr meine Beweggründe erklären wollte, aber sie jagte bereits die Straße hinunter, und ein paar Minuten später konnte ich sie, als ich sie endlich mit meinem Feldstecher ausfindig machte, sehr schnell in südwestlicher Richtung verschwinden sehen. So und nicht anders hat es sich abgespielt. Und jetzt ziehen Sie aus dieser Anekdote Ihre eigenen Schlußfolgerungen. Wird Ihr Inneres jetzt erleuchtet? Setzt Sie in Ihren Gehirnen etwas in Bewegung? Was halten Sie davon, Lord John?« Lord John schüttelte ernst den Kopf. »Sie werden dieser Tage noch in ernsthafte Schwierigkeiten kommen, wenn Sie nicht lernen, sich zu beherrschen«, sagte er. »Vielleicht ist Ihnen dabei etwas aufgefallen, Summerlee?« »Sie sollten sofort Ihre Arbeit unterbrechen, Challenger, und sich ein paar Wochen in ein deutsches Bad zurückziehen, Challenger«, empfahl Summerlee. »Welch tiefschürfende Leistung!« rief Challenger aus. »Und nun Sie, mein junger Freund. Ob es möglich ist, daß Sie mit der Weisheit gesegnet sind, an denen es ihren Senioren gebricht?«
Ich war es. Ich sage es in aller Bescheidenheit, aber ich war es wirklich. Natürlich mag es Ihnen, die Sie nun wissen, was damals geschah, all das offensichtlich erscheinen, aber damals, als die Sache noch neu für uns war, war sie uns keinesfalls klar. Ganz plötzlich und mit der vollen Kraft der Überzeugung wußte ich Bescheid. »Gift!« schrie ich. Und im gleichen Moment, als ich das Wort aussprach, wurde mir bewußt, was alles an diesem Morgen geschehen war: Ich dachte an Lord John und seinen Büffel, an meine eigenen, hysterischen Tränen, an das unverschämte Verhalten Professor Summerlees, an die merkwürdigen Ereignisse in London, die Menschen am Sportplatz, das Fahrverhalten des Chauffeurs – und den Streit vor der Sauerstoffhandlung. Es paßte alles absolut zusammen. »Natürlich«, rief ich erneut. »Es ist Gift! Man hat uns alle vergiftet!« »Genau«, sagte Professor Challenger und rieb sich die Hände. »Wir sind alle vergiftet. Unser Planet ist in einen Giftstrom eingedrungen und nähert sich mit mehreren Millionen Meilen pro Minute seinem Zentrum. Unser junger Freund hat die Ursache all dieser Ärgernisse und Verwirrungen in einem einzigen Wort zusammengefaßt.« In verblüffender Stille sahen wir einander an. Es schien in diesem Moment keinen Kommentar zu geben, der die Situation wirklich getroffen hätte. »Es gibt eine mentale Barriere, mit der man die Symptome entdecken und unter Kontrolle halten kann«, sagte Challenger. »Ich kann zwar nicht erwarten, daß Sie in Ihnen ebenso entwickelt ist wie in mir, da ich glaube, daß die Stärke der unterschiedlichen Geisteskräfte die Stärke dieser Barriere bestimmt. Aber sie ist zweifellos fühlbar, sogar bei unserem jungen Freund hier. Nach dem kleinen Gefühlsausbruch, der meine Haushälterin so verschreckte, setzte ich mich hin und
versuchte, mit mir ins reine zu kommen. Ich machte mir klar, daß ich noch nie zuvor das Verlangen gespürt hatte, jemanden, der in meinem Haushalt beschäftigt ist, zu beißen. Also mußte der Impuls, der mich überkommen hatte, anomaler Natur sein. Augenblicklich erkannte ich die Wahrheit. Während ich zu der Erkenntnis gelangte, schlug mein Puls zehn Schläge mehr als gewöhnlich; ebenso waren meine Reflexe schneller geworden. Daraufhin rief ich mein höheres und gesunderes Ich, den wirklichen G. E. C, an, der gelassen und unerschütterlich hinter jeder molekularen Störung sitzen mußte. Ich befahl ihm, alle närrischen Verhaltensweisen, zu denen das Gift mich zwingen würde, genau zu beobachten, Ich stellte fest, daß ich in der Tat noch Herr meiner Sinne war. Ich konnte einen verwirrten Geist erkennen und kontrollieren. Es war eine bemerkenswerte Zurschaustellung des Sieges des Geistes über die Materie, denn es war ein Sieg über jene bestimmte Form der Materie, die dem Bewußtsein am innigsten verhaftet ist. Ich könnte durchaus sagen, daß der Geist ein Defekt ist und eine Persönlichkeit ihn kontrollieren kann. Als meine Gattin schließlich herunterkam, und ich in mir das Verlangen spürte, mich hinter einer Tür zu verstecken und sie beim Eintreten mit einem wilden Schrei zu erschrecken, war ich auch schon in der Lage, diesen Impuls zu unterdrücken und sie mit Würde und Zurückhaltung zu begrüßen. Dem überwältigenden Verlangen, wie eine Ente zu quaken, trat ich in der gleichen Weise entgegen, und so schaffte ich es, auch diesen Impuls zu meistern. Später, als ich hinunterging, um den Wagen vorfahren zu lassen, und Austin dabei vorfand, wie er sich – mit einer kleinen Reparatur beschäftigt – über ihn beugte, brachte ich meine bereits erhobene Hand ebenso unter Kontrolle und bewahrte ihn so vor einer Erfahrung, die ihn möglicherweise dazu veranlaßt hätte, die gleichen Schritte wie unsere Haushälterin zu unternehmen. Statt dessen berührte ich
ihn an der Schulter und trug ihm auf, den Wagen pünktlich vorzufahren, damit wir Sie vom Bahnhof abholen könnten. Gegenwärtig fühle ich mich dem Zwang unterworfen, Professor Summerlee an seinem albernen alten Bart zu packen und seinen Kopf anständig hin und her zu schütteln. Trotzdem vermag ich, wie Sie selbst sehen, dieses Verlangen zu unterdrücken. Ich hoffe, Sie nehmen sich an meinem Verhalten ein Beispiel.« »Ich werde besser nach diesem Büffel Ausschau halten«, sagte Lord John. »Und ich nach einem Fußballplatz.« »Es mag ja sein, daß Sie recht haben, Challenger«, sagte Summerlee in einem etwas gemäßigteren Tonfall. »Ich bin bereit, zuzugeben, daß mein Sinneswandel eher kritischer als konstruktiver Natur ist, da ich nicht dazu neige, neue Theorien schnell anzuerkennen – besonders dann nicht, wenn sie so ungewöhnlich und phantastisch klingen wie diese. Wenn ich allerdings an die Ereignisse des heutigen Morgens zurückdenke und mir das törichte Verhalten meiner Geführten vor Augen halte, kann ich mir schon vorstellen, daß irgendein erregendes Gift für ihren Zustand verantwortlich gewesen sein muß.« Challenger klopfte seinem Kollegen leutselig auf die Schulter. »Wir machen Fortschritte«, sagte er. »Wir machen ganz offensichtlich Fortschritte.« »Würden Sie uns bitte sagen, Sir«, sagte Summerlee kleinlaut, »was Sie von der gegenwärtigen Lage halten?« »Mit Ihrer Erlaubnis werde ich ein paar Worte zu dieser Angelegenheit sagen.« Challenger nahm auf der Tischplatte Platz und ließ seine kurzen Stummelbeine hin und her baumeln. »Wir werden Zeugen eines schrecklichen und gräßlichen Ereignisses werden, das meines Erachtens nur das Ende der Welt sein kann.«
Das Ende der Welt! Unsere Augen wandten sich dem großen Erkerfenster zu, und wir betrachteten die sommerliche Schönheit der Landschaft, die sich dahinziehenden, mit Heidekraut bewachsenen Abhänge, die großen Landhäuser, die gemütlichen Farmen und die sich über die Hügel dahinbewegenden Spaziergänger. Das Ende der Welt! Diese Worte hatten wir oft gehört, aber der Gedanke, daß es sich dabei nicht um ein der reinen Phantasie verhaftetes Datum handeln sollte, erschütterte uns zutiefst. Wir wurden alle von großer Ernsthaftigkeit ergriffen und warteten darauf, daß Challenger fortfuhr. Seine allesüberragende Gegenwart und seine Erscheinung verliehen seinen Worten ein solches Gewicht, daß wir auf der Stelle alle Eigenarten und Absurditäten, die der Mann ausstrahlte, vergaßen, und er uns wie ein majestätisches Etwas erschien, das weit mehr war als ein gewöhnlicher Mensch. Und dann fiel mir wieder ein, daß er, seit wir diesen Raum betreten hatten, zweimal ein donnerndes Gelächter ausgestoßen hatte. Eventuell, dachte ich, sind der geistigen Objektivität Grenzen gesetzt. Wenn man die Sache so sieht, kann die Krise wohl doch nicht so schlimm sein. »Stellen Sie sich ein Traubenbündel vor«, sagte Challenger, »das von winzig kleinen, aber schädlichen Bakterien bedeckt ist. Der Gärtner geht gegen sie mit einem Desinfektionsmittel vor. Das kann daran, liegen, daß er seine Trauben gerne sauberer hätte, aber auch daran, daß er Raum für eine andere Bakterienart schaffen will, und zwar für eine solche, die weniger giftig ist als die vorherige. Er taucht die Trauben in ein Gift – und weg sind sie. Ich habe den Eindruck, daß unser Gärtner gerade im Begriff ist, das Sonnensystem zu desinfizieren und den menschlichen Bazillus, den sterblichen kleinen Winzling, der sich über die Erdkruste dahinbewegt, in
einem einzigen Augenblick zu sterilisieren und auszuradieren.« Erneut verfielen wir in ein Schweigen, das kurz darauf vom hellen Klingeln des Telefons unterbrochen wurde. »Eine unserer Mitbakterien bittet um Hilfe«, sagte Challenger mit einem grimmigen Lächeln. »Sie beginnen allmählich zu verstehen, daß ihre fortgesetzte Existenz nicht zu den wirklichen Bedürfnissen des Universums gehört.« Für eine oder zwei Minuten verließ er den Raum. Ich erinnere mich daran, daß während seiner Abwesenheit keiner von uns sprach. Die Situation schien uns für Kommentare nicht die richtige zu sein. »Es war die Brightoner Gesundheitsbehörde«, sagte er, als er zurückkehrte. »Aus irgendwelchen Gründen entwickeln sich die Dinge an der Meeresküste schneller als anderswo. Da wir uns in einer Höhe von siebenhundert Fuß befinden, sind wir also im Vorteil. Die Leute scheinen begriffen zu haben, daß ich in dieser Angelegenheit die höchste Autorität bin. Ich zweifle nicht daran, daß mein Brief in der Times sie zu dieser Ansicht geführt hat. Der Mann, mit dem ich sprach, als wir das Haus betraten, war der Bürgermeister irgendeiner Provinzstadt. Vielleicht haben Sie gehört, als ich mit ihm telefonierte. Ich hatte den Eindruck, daß er die Wichtigkeit seiner Existenz maßlos überschätzte und habe ihm dabei geholfen, seine Gedanken ein wenig zu ordnen.« Summerlee war aufgestanden und stand am Fenster. Seine knochigen, kleinen Hände zitterten vor Erregung. »Challenger«, sagte er mit ruhiger Stimme, »diese Angelegenheit ist zu ernst, als daß man derart oberflächlich über sie sprechen sollte. Glauben Sie bitte nicht, daß ich Sie mit den Fragen, die ich Ihnen vielleicht stellen werde, aus dem Konzept bringen will. Aber ich überlasse es Ihnen, sich darüber klar zu werden, ob Sie nicht aufgrund von
Fehlinformationen oder Fehlschlüssen einem Irrtum unterlegen sind. Die Sonne da draußen scheint wie immer und der Himmel ist blau. Da sind das Heidekraut, die Blumen und die Vögel. Da sind die Leute, die ihren Spaß auf dem Golfplatz haben und die Arbeiter, die das Korn schneiden. Sie haben gesagt, daß sie und wir am Rande der Vernichtung stehen sollen – daß dieser sonnige Tag der Tag des Untergangs der Menschheit sein kann. Soweit wir wissen, sind Sie aufgrund von folgendem zu diesem Schluß gekommen: Sie berufen sich auf eine Veränderung der Fraunhoferschen Linien, ein paar Gerüchte aus Sumatra und auf die seltsame, körperliche Erregtheit, die wir aneinander beobachtet haben. Das letzte Symptom scheint keine so große Rolle zu spielen, da wir es – mit einiger Anstrengung – unter Kontrolle halten können. Sie brauchen uns gegenüber keinerlei Zeremoniell, Challenger. Es ist nicht das erste Mal, daß wir gemeinsam dem Tode ins Auge schauen. Seien Sie offen, lassen Sie uns genau wissen, wie es um uns bestellt ist. Und sagen Sie uns, wie Ihrer Meinung nach unsere Aussichten für die Zukunft sind.« Eine gute und tapfere Rede; eine Rede, die voller Vertrauen und aufrechtem Geist war und uns alle Steifheit und Launenhaftigkeit des alten Zoologen vergessen ließ, Lord John stand auf und schüttelte Summerlee die Hand. »Verzeihen Sie meine Grobheit«, sagte er. »Und nun, Challenger, sind Sie an der Reihe. Sagen Sie uns, wie es steht. Wie Sie wissen, gehören wir nicht zu den nervösen Charakteren, aber wenn man einen Wochenendbesuch macht und plötzlich herausfindet, daß man unverhofft dem Jüngsten Tag gegenübersteht, bedarf das, meine ich, einiger Erklärungen. Worin besteht die Gefahr, wie groß ist sie überhaupt, und wie sollen wir uns ihr gegenüber verhalten?« Er stand, groß und stark wie er war, vor dem sonnenbeschienenen Fenster und hatte seine gebräunte Hand
auf der Schulter Summerlees. Ich saß zurückgelehnt in einem Armsessel, hatte eine erloschene Zigarette zwischen den Lippen und befand mich in jenem halbbetäubten Zustand, in dem man alle Eindrücke äußerst deutlich aufnimmt. Vielleicht war es sogar ein neues Stadium der Vergiftung, aber die an Trunkenheit erinnernden Eingebungen hatten mich vollends verlassen. Ich wurde von einer starken Gleichgültigkeit überschwemmt und nahm zur gleichen Zeit alles, was um mich herum vorging, mit überraschender Klarheit wahr. Ich fühlte mich wie ein Beobachter und hatte nicht den geringsten Eindruck, daß ich persönlich betroffen sei. Aber vor mir standen drei Männer, die eine große Krise durchliefen, und es war faszinierend, sie dabei zu beobachten. Bevor er antwortete, streichelte Challenger seinen Bart und runzelte die Stirn. Man konnte deutlich sehen, daß er bemüht war, seine Worte sorgsam abzuwägen. »Was war die letzte Neuigkeit, als Sie London verließen?« fragte er. »Ich war etwa gegen zehn Uhr in der Redaktion der Gazette«, sagte ich. »Von Reuter kam eine Meldung herein, daß ganz Sumatra von der Epidemie ergriffen sei und man deswegen nicht fähig gewesen sei, die Leuchttürme zu aktivieren.« »Seitdem sind die Ereignisse ziemlich schnell fortgeschritten«, sagte Challenger und hob die Telegramme auf. »Ich bin sowohl mit den Autoritäten als auch mit der Presse in Verbindung, so daß ich Nachrichten aus allen Teilen der Erde erhalte. Es gibt in der Tat ein allgemeines und sehr beharrendes Verlangen, daß ich nach London kommen soll, aber ich sehe keinen Nutzen darin. Nach meinen Unterlagen fangen die Vergiftungserscheinungen mit geistiger Erregung an; es heißt, daß die heute morgen in Paris ausgebrochenen Straßenkämpfe ziemlich gewalttätig waren. Auch die walisischen Bergleute haben einen Aufruhr angezettelt. Soweit
ich den übermittelten Nachrichten trauen kann, wird dieses Stadium der Erregung, das von Volk zu Volk und von Individuum zu Individuum verschieden ist, von einer gewissen Verzückung und einer Erhöhung der Sinnesschärfe begleitet – wovon ich auch einige Anzeichen in unserem jungen Freund hier wahrzunehmen glaube –, was nach einem fühlbaren Intervall zu einem Koma führt und dann schnell den Tod zur Folge hat. Soweit ich meinen Kenntnissen in der Toxikologie trauen darf, gibt es, glaube ich, einige pflanzliche Nervengifte…« »Daturo«, half Summerlee ihm aus. »Ausgezeichnet!« rief Challenger aus. »Es spricht nur für die wissenschaftliche Präzision, wenn wir unserem toxischen Gift auch einen Namen geben. Wir nennen es Datura. Ihnen, mein lieber Summerlee, gebührt die Ehre – leider nur posthum, aber nichtsdestoweniger einzigartig –, dem universellen Zerstörer, dem Desinfektionsmittel des Großen Gärtners, einen Namen gegeben zu haben. Die Symptome des Daturons sind also jene, die ich beschrieben habe. Daß es sich über die ganze Welt ausbreiten und jegliches Leben vernichten wird, scheint mir sicher zu sein, denn die Atmosphäre ist ein universeller Träger. Bis jetzt ist es in seinen Auswirkungen an den Plätzen, wo es zugeschlagen hat, eher wechselhaft gewesen, aber der Unterschied basiert lediglich auf ein paar Stunden Zeit. Wir haben es mit einer Art heranrollender Flutwelle zu tun, die einen Strand nach dem anderen überschwemmt und in unregelmäßigen Abständen hin und her fließt, bis sie schließlich alles unter sich begraben hat. Im Zusammenhang mit der Vorgehensweise und der Verbreitung des Daturons sind Gesetze an der Arbeit, die von größtem Interesse gewesen wären, hätte die uns zur Verfügung stehende Zeit gelangt, sie zu studieren. Soweit ich sie verfolgen kann«, – er warf erneut einen Blick auf die Telegramme – »haben die weniger
entwickelten Rassen ihren Einfluß als erste zu spüren bekommen. In Afrika ist es zu bedauernswerten Vorfällen gekommen, und was die australischen Ureinwohner angeht, so scheinen sie bereits völlig ausgerottet zu sein. Die nordischen Völker haben größere Widerstandskraft gezeigt als die südlicher lebenden. Dieses Telegramm hier – es wurde um neun Uhr fünfundvierzig in Marseille abgesandt – will ich Ihnen wörtlich vorlesen: ›während der ganzen Nacht rauschähnliche Erregung in der Provence. Winzertumulte bei Nimes. Sozialistischer Umsturz in Toulon. Plötzliche Epidemie mit komaähnlichen Begleiterscheinungen ergriff heute morgen die Bevölkerung. Pestefoudroyant. Viele Tote auf den Straßen. Lähmung der Wirtschaft und allgemeines Chaos.‹ Eine Stunde später kam dieses, aus der gleichen Quelle: ›Wir sind vom Aussterben bedroht. Die Kathedralen und Kirchen quellen über von Menschen. Wir haben bereits mehr Tote als Lebende. Es ist unvorstellbar und entsetzlich. Der Tod scheint schmerzlos zu sein, aber er kommt schnell, und es gibt keine Gegenwehr.‹ Es gibt ein ähnliches Telegramm aus Paris, wo die Entwicklung noch nicht so weit fortgeschritten ist. Indien und Persien scheinen völlig entvölkert zu sein. Der slawische Teil der österreichischen Bevölkerung ringt mit dem Tode, während der germanische von den Auswirkungen bisher kaum berührt wurde. Allgemein gesprochen scheinen – wenn meine bescheidenen Informationen stimmen – die Bewohner der Tiefebenen und Küstenregionen die Auswirkungen der Epidemie stärker zu spüren als jene, die im Inland oder bergigen Gegenden leben. Sogar kleinste Anhöhen rufen spürbare Unterschiede hervor. Wenn es einen Überlebenden der menschlichen Rasse geben sollte, wird man ihn sicherlich erneut auf der Spitze eines Berges Ararat finden. Selbst unser kleiner Hügel könnte gegenwärtig eine zeitweilige Insel
inmitten des aufgewühlten Meeres bilden. Aber nach dem gegenwärtigen Zustand der Welt zu urteilen, kann er uns lediglich ein paar kurze Stunden vor der Flutwelle schützen.« Lord John strich sich über die Stirn. »Was ich nicht verstehe«, sagte er, »ist, wie Sie hier in aller Gemütsruhe sitzen und lachen können, wo Sie diesen Telegrammstapel in der Hand halten. Ich habe dem Tod ebensooft gegenübergestanden, wie die meisten Menschen; aber ein Tod, der uns allen gewiß ist – das ist gräßlich!« »Was mein Lachen angeht«, sagte Challenger, »so sollten Sie daran denken, daß auch ich nicht gegen den stimulierenden zerebralen Effekt des ätherischen Gifts gefeit bin. Aber was den Schrecken anbetrifft, den der allgemeine Tod in Ihnen hervorruft, so möchte ich zu bedenken geben, daß dies ein wenig übertrieben ist. Würde man Sie in einem offenen Boot auf dem Meer aussetzen, ohne daß Sie wüßten, in welche Richtung Sie sich wenden sollten, würde aller Mut Sie verlassen. Die Isolation und die Ungewißheit würden Sie niederschmettern. Aber würden Sie die gleiche Fahrt in einem gut ausgerüsteten Schiff, auf dem sich alle Ihre Verwandten und Freunde befänden, unternehmen. Sie würden – egal wie ungewiß Ihr Ziel auch sein mag – zumindest eine gemeinsame und gleichzeitige Erfahrung machen, die Sie bis zum Ende mit den anderen in der gleichen, engen Verbindung belassen würde. Ein einsamer Tod mag schrecklich sein, aber ein universeller – so schmerzlos er auch kommen mag – ist in meinen Augen kein Grund zur Furcht. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß das Grauen ganz allein auf der Seite desjenigen ist, der feststellt, als einziger überlebt zu haben, während alle Gelehrten, Berühmten und Höhergestellten gegangen sind.« »Was schlagen Sie also vor?« fragte Summerlee, der zum erstenmal genickt und damit seine Einwilligung zur
Schlußfolgerung seines wissenschaftlichen Kollegen gegeben hatte. »Daß wir jetzt etwas essen«, sagte Challenger, denn im gleichen Moment dröhnte der Schlag eines Gongs durch das Haus. »Die Omeletts, die unsere Köchin zubereitet, werden nur noch von ihren Koteletts übertroffen. Jedenfalls können wir darauf vertrauen, daß die Auswirkungen des kosmischen Gifts ihre beruflichen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt haben. Des weiteren sollten wir, soweit unsere ernsthaften und vereinigten Anstrengungen dazu in der Lage sind, meinen 69er Schatzburger vor dem bewahren, was ich nur als Verschwendung eines ausgezeichneten Jahrganges bezeichnen kann.« Er wuchtete seinen massigen Leib von der Schreibtischkante, auf der er, während er uns vom bevorstehenden Weltuntergang informiert hatte, gesessen hatte und sagte: »Kommen Sie, wenn es uns schon vergönnt ist, noch ein bißchen Zeit zu haben, sollten wir sie dazu nutzen, sie in nüchterner und berechtigter Freude zu verbringen.« Und in der Tat, die Mahlzeit erwies sich als äußerst heiter. Es stimmt aber, daß wir unsere gräßliche Lage trotzdem nicht vergessen konnten, denn der volle Ernst der Lage verdüsterte, unser Unterbewußtsein und dämpfte unsere Gedanken. Aber sicherlich ist es die Seele, die dem Tod nie ins Gesicht gesehen hat, die gegen Ende am stärksten vor ihm zurückschreckt. Für uns Männer war der Tod während eines großen Zeitabschnittes unseres Lebens ein ständiger Weggefährte gewesen. Was Mrs. Challenger anging, so verließ sie sich völlig auf die starke Führungsrolle ihres bedeutenden Gatten. Sie würde dorthin gehen, wohin sein Pfad ihn führte. Die Zukunft bestand aus Schicksal. Die Gegenwart hatten wir selbst zu verantworten. Wir verbrachten sie in bester Kameradschaft und freundlicher Heiterkeit. Und wie ich bereits erwähnte, war ein jeder von uns äußerst scharfsinnig. Selbst ich schlug hin und wieder Funken.
Was Challenger anbetraf, so war er einfach wundervoll. Nie zuvor habe ich die geistige Größe dieses Mannes dermaßen stark empfunden, nie ist die Kraft seines Wissens mir mitreißender erschienen. Summerlee zog ihn ein bißchen mit seiner üblichen, ätzenden Kritik auf, und Lord John und ich lachten dabei um die Wette. Mrs. Challenger, die eine Hand auf den Arm ihres Gatten gelegt hatte, versuchte derweil das Gebell des Philosophen unter Kontrolle zu halten. Leben, Tod, Schicksal, die Bestimmung des Menschen – dies waren die gewaltigen Themen dieser denkwürdigen Stunde, die dadurch am Leben gehalten wurde, daß mit zunehmender Zeit mein Bewußtsein in einen Zustand plötzlicher Verzückung verfiel und mir anhand eines Gliederprickelns zeigte, daß sich die unsichtbare Todeswoge langsam und sanft um uns herum erhob. Einmal stellte ich fest, daß Lord John plötzlich die Hand über die Augen legte, dann fiel Summerlee für einen Augenblick in seinem Sessel zusammen. Jeder Atemzug, den wir machten, war mit seltsamen Kräften geladen. Und dennoch fühlten wir uns wohl und glücklich. Schließlich legte Austin Zigaretten auf den Tisch und machte Anstalten, sich zurückzuziehen. »Austin!« sagte sein Herr. »Ja, Sir?« »Ich danke Ihnen für Ihre treuen Dienste.« Ein Lächeln huschte über das knorrige Gesicht des Dieners. »Ich habe stets nur meine Pflicht getan, Sir.« »Ich erwarte für heute das Ende der Welt, Austin.« »Jawohl, Sir. Um welche Zeit?« »Das vermag ich nicht zu sagen, Austin. Aber noch vor Einbruch der Dunkelheit.« »Sehr wohl, Sir.« Der wortkarge Austin verabschiedete sich und ging hinaus. Challenger zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich mit dem
Kopf zu seiner Gattin hinüber und nahm ihre Hand in die seine. »Du weißt, wie die Dinge stehen, meine Liebe«, sagte er. »Ich habe es dir ebenso erklärt, wie unseren Freunden hier. Du hast doch keine Angst, nicht wahr?« »Es wird doch nicht weh tun, George?« »Nicht mehr, als das Lachgas beim Zahnarzt. Jedesmal, wenn er dich damit behandelte, bist du praktisch gestorben.« »Es war stets eine erfreuliche Erfahrung.« »Auch der Tod kann so sein. Der abgenutzte Körper wird gar nichts davon spüren; statt dessen fühlen wir das geistige Entzücken, das in einem Traum oder im Zustand der Trance liegt. Vielleicht baut die Natur für uns eine hübsche Tür, die mit einem hauchdünnen, schimmernden Vorhang bedeckt ist, um so für unsere erstaunten Seelen einen Eingang für eine andere Ebene der Existenz bereitzuhalten. Während meiner Untersuchungen des Bestehenden bin ich, wenn ich mich dem Kern meiner Forschungen näherte, immer wieder auf Weisheit und Freundlichkeit gestoßen. Wenn ein verängstigter Sterblicher je der Zartheit bedurft hat, dann in jenem Moment, in dem er seine riskante Reise von einem Leben ins andere unternimmt. Nein, Summerlee, verschonen Sie mich jetzt mit Ihrem Materialismus, denn zumindest ich bin ein zu großes Ding, als daß ich lediglich in Form einiger physikalischer Bestandteile – etwa einer Tüte Salz und ein paar Eimern Wasser – enden könnte. Hier… hier…«, – und er schlug sich mit seiner großen, behaarten Faust gegen den bulligen Schädel – »da sitzt etwas, das sich zwar der Materie bedient, aber nicht aus ihr besteht; etwas, das den Tod vielleicht besiegen könnte, das der Tod selbst aber niemals zerstören kann.« »Da wir gerade vom Tod sprechen«, sagte Lord John. »Ich bin zwar irgendwie ein Christ, aber mir scheint, daß in unseren Ahnen ein gewaltiger Naturtrieb am Werke war, als sie sich
zusammen mit ihren Äxten, Pfeilen und Bögen beerdigen ließen. Es war irgendwie, als würden sie nach dem Tode anderswo weiterleben. Ich frage mich«, fügte er hinzu und schaute ein wenig verschämt in die Runde, »ob ich mich nicht besser fühlen würde, wenn man mich mit meiner alten 450er, der kurzläufigen Vogelflinte mit dem gepolsterten Kolben und einem oder zwei Patronengurten zur letzten Ruhe bettete. Mag sein, daß dies nur die Vorstellung eines Narren ist, aber ich empfinde nun einmal so. Was halten Sie davon, Herr Professor?« »Nun«, sagte Summerlee, »wenn Sie mich schon um meine Meinung fragen: Ich kann nicht ableugnen, daß mir dies wie ein Rückfall in die Steinzeit oder noch frühere Epochen vorkommt. Ich bin ein Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts und möchte wie ein vernünftiger und zivilisierter Mensch sterben. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß ich größere Angst vor dem Tode habe als Sie, denn ich bin ein alter Mann und hätte – was immer auch kommen mag – sowieso nicht mehr lange zu leben, aber es ist nun mal gegen meine Natur, einfach dazusitzen und wie ein Schaf vor dem Metzger kampflos auf ihn zu warten. Sind Sie eigentlich ganz sicher, Challenger, daß es nichts gibt, was wir tun könnten?« »Um uns zu retten?« sagte Challenger. »Nichts. Aber es steht möglicherweise in meiner Macht, unser Leben um ein paar Stunden zu verlängern, damit wir Zeuge der Entwicklung dieser schrecklichen Tragödie werden können, bevor das Schicksal auch uns ereilt. Ich habe gewisse Schritte unternommen, um…« »Deswegen also die Sauerstofftanks?« »Genau deswegen.« »Aber was kann ein bißchen Sauerstoff angesichts der atmosphärischen Vergiftung schon ausrichten? Könnten wir uns denn nicht genauso gut mit Ziegelsteinen gegen unser
Schicksal zur Wehr setzen? Wir haben es hier doch mit unterschiedlichen Ebenen der Materie zu tun, die nicht aufeinander übergreifen können. Kommen Sie, Challenger, das können Sie doch unmöglich ernst meinen.« »Mein lieber Summerlee, dieses ätherische Gift wird mit hoher Wahrscheinlichkeit von materiellen Wirkstoffen beeinflußt. Das sehen wir schon an der Methodik und Verbreitung des Ausbruchs: Wir sollten das zwar nicht a priori erwartet haben, aber es ist zweifellos eine Tatsache. Ich bin der festen Überzeugung, daß ein Gas wie Sauerstoff, das die Lebens- und Widerstandskraft des Körpers stärkt, in extremer Weise die Auswirkungen dessen, was Sie glücklicherweise Daturon getauft haben, verzögern müßte. Es mag sein, daß ich mich irre, aber ich bin, was die Korrektheit meiner Schlußfolgerung anbelangt, absolut zuversichtlich.« »Nun«, sagte Lord John, »wenn Sie damit meinen, daß wir uns hinsetzen und an diesen Flaschen saugen sollen wie kleine Babys, werde ich daran nicht teilnehmen.« »Dazu gibt es keinen Anlaß«, antwortete Challenger. »Wir haben Vorkehrungen getroffen – und das verdanken wir meiner Gattin –, nach denen ihr Boudoir so luftdicht wie möglich gemacht werden soll. Mit Türvorlegern und gefirnißtem Papier…« »Gütiger Himmel, Challenger, Sie glauben doch nicht etwa, daß Sie die Luft mit gefirnißtem Papier draußen halten könnten?« »Sie haben wirklich ein geradezu perverses Talent, Ihre Zeit mit den falschen Schlußfolgerungen zu verplempern, mein wackerer Freund. Wir haben uns diese ganze Arbeit nicht gemacht, um die Luft draußen zu halten, sondern um den Sauerstoff am entweichen zu hindern. Ich bin sicher, daß wir – wenn es uns gelingt, eine etwas sauerstoffreichere Luft als üblich zu erzeugen – unsere Sinne zusammenhalten können.
Ich hatte bereits zwei Sauerstofftanks, und Sie haben drei weitere mitgebracht. Es ist zwar nicht viel, aber immerhin etwas.« »Wie lange werden sie reichen?« »Ich habe keine Ahnung. Wir werden sie erst öffnen, wenn die Symptome nicht mehr zu ertragen sind. Dann lassen wir das Gas ausströmen, wie wir es benötigen. Vielleicht gewinnen wir dadurch ein paar Stunden, möglicherweise sogar ein paar Tage, in denen wir die untergegangene Welt beschauen können. Unser Schicksal hängt davon ab, wie lange der Sauerstoff reicht. Wir allein – wir fünf – werden aller Wahrscheinlichkeit nach die Erfahrung machen, wie es ist, der gesamten menschlichen Rasse auf ihrem Weg ins Unbekannte als Nachhut zu dienen. Vielleicht sind Sie nun so freundlich und gestatten mir, daß ich mich ein wenig um die Tanks kümmere. Mir scheint, die Atmosphäre wird bereits ein wenig drückend.«
III Vom Gift umgeben
Der Raum, der dazu dienen sollte, den Aussichtspunkt dieser unvergeßlichen Erfahrung abzugeben, war ein entzückend feminin eingerichteter Salon, der vierzehn oder sechzehn Quadratfuß groß war. An ihn schloß sich, getrennt durch einen Vorhang aus rotem Samt, ein Kämmerchen an, das Professor Challenger als Ankleideraum diente. Dieses wiederum öffnete sich in ein großes Schlafzimmer. Der Vorhang war an seinem Platz belassen worden, aber das Boudoir und der Ankleideraum konnten für die Zwecke unseres Versuchs als ein Zimmer betrachtet werden. Eine Tür und der Fensterrahmen waren mit gefirnißtem Papier abgedichtet worden und waren somit praktisch versiegelt. Über der anderen Tür, die in einen Korridor mündete, befand sich ein Ventilator, den man, sollte eine Luftzufuhr sich als unumgänglich erweisen, mit einer Kordel in Bewegung versetzen konnte. In den einzelnen Zimmerecken standen Pflanzen in großen Bodenvasen. »Die Frage, wie wir uns des durch das Ausatmen entstehenden Stickstoffs entledigen, ohne die Sauerstofftanks über Gebühr zu beanspruchen, ist lebenswichtig«, sagte Challenger und sah sich um, nachdem er die Sauerstoffflaschen nebeneinander vor die Wand gelegt hatte. »Mit etwas mehr Vorbereitungszeit hätte ich die ganze Kraft meiner Intelligenz diesem Problem widmen können, aber jetzt können wir nicht mehr tun, als uns möglich ist. Die Pflanzen werden uns nur wenig dienlich sein. Zwei der Sauerstofftanks sind so weit vorbereitet, daß wir sie in einem
Augenblick aktivieren können. Damit sind wir auch gegen Überraschungen gewappnet. Wir sollten uns allerdings nicht allzu weit von diesem Raum entfernen, da die Krise ganz plötzlich und schnell eintreten kann.« Es gab ein breites, niedriges Fenster, das sich zu einem Balkon hin öffnete. Der Ausblick, den wir von hier aus hatten, war identisch mit dem, den wir bereits von seinem Arbeitszimmer aus genossen hatten. Als ich hinaussah, konnte ich keinerlei Anzeichen irgendwelcher Unordnung erkennen. Direkt unter meinen Augen zog sich die Serpentinenstraße hügelabwärts. Eine Pferdedroschke vom Bahnhof, eines jener prähistorischen Überbleibsel, wie man sie nur noch in Dörfern auf dem Lande finden kann, bahnte sich langsam einen Weg nach oben. Etwas weiter unten sah ich ein Hausmädchen, das einen Kinderwagen vor sich herschob und ein zweites Kind an der Hand führte. Die blauen Rauchfahnen aus den Schornsteinen der Landhäuser verliehen der gesamten, weitgedehnten Landschaft einen Hauch von Ordnung und heimeliger Gemütlichkeit. Nirgendwo im blauen Himmel oder auf der sonnenbeschienenen Erde waren die Vorboten einer Katastrophe zu erblicken. Die Landarbeiter waren auf die Felder zurückgekehrt, und die Golfspieler waren immer noch damit beschäftigt, paarweise oder zu vieren die Hügel zu umrunden. In meinem Kopf fand allerdings ein dermaßen starker Tumult statt, daß er mich im Zusammenhang mit meinen überstrapazierten Nerven in all diesen Leuten etwas Erstaunliches sehen ließ. »Die Burschen da unten scheinen nicht die geringsten Krankheitssymptome zu spüren«, sagte ich und deutete auf die Hügel. »Haben Sie je Golf gespielt?« frage Lord John. »Nein, noch nicht.«
»Nun, mein junger Freund, wenn Sie es getan hätten, würden Sie wissen, daß das einzige, was echte Golfer davon abhalten kann, ihre Partie zu unterbrechen, der Weltuntergang ist. Hallo! Das Telefon klingelt schon wieder!« Seit dem Essen und danach hatte das helle Schrillen der Telefonklingel unentwegt nach dem Professor gerufen. Nachdem er die Nachrichten entgegengenommen hatte, informierte er uns mit ein paar kurzen Sätzen. Noch nie zuvor hatte man auf der Welt dermaßen schreckliche Dinge registriert. Der große Schatten kroch von Süden nach Norden wie eine riesige Springflut. Ägypten hatte das Delirium bereits hinter sich und lag im Koma. Spanien und Portugal waren nun, nach einem wilden Kampf, in dem die Klerikalen und Anarchisten sich ein verzweifeltes Gefecht geliefert hatten, in Schweigen verfallen. Aus Südamerika kamen keine Kabel mehr durch. In Nordamerika hatten sich die Südstaaten nach einem schrecklichen Rassenkrieg dem Gift ergeben. Nördlich von Maryland waren die Auswirkungen noch nicht zum Höhepunkt gekommen, in Kanada waren sie kaum wahrnehmbar. Belgien, Holland und Dänemark waren nacheinander angesteckt worden. Aus jedem Winkel wurden verzweifelte Botschaften an die Zentren der Wissenschaft ausgesandt, die sowohl die Chemiker als auch die weltweit bekannten Ärzte um Hilfe anflehten. Die Astronomen wurden ebenfalls mit Anfragen überhäuft. Aber man konnte nichts tun. Die Angelegenheit war nun nicht nur weltweit bekannt geworden, sondern lag auch außerhalb jeglicher menschlichen Kontrolle und jeden Wissens. Es war der Tod – schmerzlos, aber unausweichlich –, der Tod für jung und alt, schwach und stark, reich und arm, und es gab keine Hoffnung, ihm zu entgehen. So sahen die Nachrichten aus, die das Telefon uns tröpfchenweise und in konfusen Botschaften überbrachte. Die Großstädte kannten ihr Schicksal und bereiteten sich, soweit
wir wußten, mit Würde und Resignation darauf vor. Trotzdem waren da draußen noch immer die Golfspieler und Landarbeiter, die sich – unter dem Schatten des Schlachtermessers – immer noch aufführten wie herumtollende Lämmer. Es verwunderte mich. Aber schließlich – woher sollten sie es wissen? Selbst auf uns war all dies mit einem einzigen Schritt zugekommen. Hatte in der Morgenzeitung etwas gestanden, was sie hätte in Alarmstimmung versetzen können? Jetzt war es fast drei Uhr nachmittags. Noch während wir zu ihnen hinaussahen, schien sich unter den Schnittern ein Gerücht zu verbreiten, denn wir stellten plötzlich fest, daß sie von den Feldern eilten. Auch einige der Golfspieler kehrten zu ihrem Klubhaus zurück. Sie rannten, als suchten sie wegen eines Regenschauers Unterschlupf. Die kleinen Caddies eilten ihnen hinterher. Andere jedoch spielten weiter. Das Hausmädchen hatte sich umgewandt und schob den Kinderwagen nun wieder bergauf. Ich bemerkte, daß sie eine Hand an die Stirn legte. Die Droschke hatte angehalten, und der müde Gaul ruhte sich mit hängendem Kopf aus. Über allem lag ein perfekter Sommerhimmel – eine sich in alle Richtungen erstreckende Masse ungebrochenen Blaus, in dem sich lediglich über den fernen Hügeln ein paar Schäfchenwolken zeigten. Wenn die Menschheit an diesem Tag sterben mußte, hatte sie wenigstens ein schönes Totenbett. Trotzdem machte die freundliche Lieblichkeit der Natur diese schreckliche und allumfassende Vernichtung nur noch bedauerlicher und gräßlicher. Es war einfach unglaublich, daß man uns aus dieser schönen Welt so mitleidslos und schnell vertrieb! Aber wie ich bereits sagte, hatte das Telefon schon wieder geklingelt. Plötzlich hörte ich Challengers dröhnende Stimme aus der Halle. »Malone!« rief er. »Es ist für Sie.«
Ich eilte nach unten. Es war McArdle, der aus London anrief. »Sind Sie’s, Malone?« schrie seine mir bekannte Stimme. »Mr. Malone, in London ist die Hölle los. Fragen Sie Professor Challenger um Gottes willen, ob er weiß, was man dagegen unternehmen kann.« »Er weiß auch nichts, Sir«, antwortete ich. »Seiner Meinung nach ist diese Krise ebenso universeller wie unausweichlicher Natur. Wir haben ein wenig Sauerstoff hier, aber das wird uns auch nur für ein paar Stunden vor unserem Schicksal bewahren.« »Sauerstoff!« brüllte die mit dem Tode ringende Stimme. »Es ist keine Zeit mehr, welchen zu besorgen. Seit Sie heute morgen gegangen sind, ist aus der Redaktion ein perfektes Tollhaus geworden. Die Hälfte des Stabes ist bereits ohne Bewußtsein. Auch ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Durch das Fenster kann ich sehen, daß der ganze Boden der Fleet Street mit Menschen bedeckt ist. Der gesamte Verkehr ist zum Erliegen gekommen. Nach den letzten Meldungen zu urteilen, ist die ganze Welt…« Seine Stimme war leiser geworden, plötzlich brach sie ab. Einen Augenblick später vernahm ich durch das Telefon einen gedämpften Schlag, als sei er mit dem Kopf auf die Schreibtischplatte gefallen. »Mr. McArdle!« schrie ich. »Mr. McArdle!« Es kam keine Antwort. Als ich den Hörer auf die Gabel hängte, wußte ich, daß ich seine Stimme nie wieder hören würde. Im gleichen Moment, als ich meinen Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, um nach oben zurückzukehren, ging es los. Ich hatte den Eindruck eines Schwimmenden, der sich bis zu den Schultern im Wasser befindet und plötzlich von einer rollenden Woge überspült wird. Eine unsichtbare Hand schien sich leise um meinen Hals gelegt zu haben und drückte sanft
das Leben aus mir heraus. Ich bemerkte einen immensen Druck, der sich auf meine Brust legte, fühlte eine Enge in meinem Kopf, ein lautes Singen in den Ohren und hatte helle Lichtblitze vor den Augen. Ich taumelte auf das Treppengeländer zu. Im gleichen Augenblick jagte keuchend und schnaufend wie ein verwundeter Büffel Challenger an mir vorbei. Es war die schreckliche Vision eines purpurroten Gesichts, vorgewölbter Augen und gesträubtem Haar. Er hatte sich seine kleine Frau, die allem Anschein nach ohne Bewußtsein war, über die Schulter geworfen und stolperte mit donnernden Schritten, taumelnd und doch flink, die Treppe hinauf, wobei er sich selbst nur durch reine Willensanstrengung auf den Beinen hielt. Um uns war die Pest – dort oben hingegen die Sicherheit. Nachdem ich seine große Leistung verinnerlicht hatte, eilte ich ihm nach, klammerte mich an das Geländer und hielt mich daran fest, bis ich halb besinnungslos mit dem Gesicht auf den oberen Treppenabsatz fiel. Lord Johns eisenharte Finger packten den Kragen meines Jacketts, und ein paar Augenblicke später lag ich – unfähig zu sprechen oder eine Bewegung zu tun – mit dem Rücken auf dem Schlafzimmerteppich. Die Frau lag neben mir, während Summerlee in einem am Fenster stehenden Sessel hockte, wobei sein Kopf beinahe seine Knie berührte. Wie in einem Traum sah ich Challenger wie einen monströsen Käfer langsam über den Boden kriechen, und kurz darauf hörte ich das sanfte Zischen ausströmenden Sauerstoffs. Challenger atmete zwei- oder dreimal tief ein. Seine Lungen dröhnten, als er das lebensspendende Gas einsaugte. »Es funktioniert!« schrie er triumphierend. »Meine Folgerung hat sich als richtig erwiesen!« Und schon war er wieder auf den Beinen, munter und stark. Mit einem Schlauch, den er in der Hand hielt, eilte er zu seiner Gattin und hielt ihn vor ihr Gesicht. Ein paar Sekunden später stöhnte sie, bewegte sich
und setzte sich hin. Dann wandte er sich mir zu, und ich fühlte, wie das Leben allmählich wieder durch meine Adern pulste. Die Vernunft sagte mir, daß dies nicht mehr als ein kleiner Aufschub sei, aber dennoch, egal welchen Wert wir ihr auch damals beimaßen, erschien mir jede weitere Stunde der Existenz als äußerst erstrebenswert. Nie zuvor hatte ich eine solch sinnliche Freude erfahren, wie ausgerechnet in diesem Augenblick, als mir der Quell des Lebens zuteil wurde. Das Gewicht, das auf meinen Lungen lastete, verschwand; das Band, das sich um meine Stirn gelegt hatte, löste sich; ich fühlte nichts anderes mehr als Frieden, und war von sanfter, gleichgültiger Bequemlichkeit erfüllt. Während man Summerlee mit den gleichen Mitteln wieder zu sich brachte, lag ich da und sah zu. Schließlich war Lord John wieder zur Stelle. Er sprang auf, reichte mir die Hand und half mir auf die Beine, während Challenger seine Gattin aufhob und auf ein kleines Sofa verfrachtete. »Oh, George, wie schade, daß du mich wieder zurückgeholt hast«, sagte sie, während sie seine Hand hielt. »Das Tor des Todes ist wirklich, wie du sagtest, mit hübschen, schimmernden Vorhängen versehen. Nachdem das Gefühl, daß ich husten müsse, vorbei war, war alles unvorstellbar friedlich und schön. Warum hast du mich nicht dort gelassen?« »Weil ich möchte, daß wir die Reise gemeinsam machen. Wir sind so viele Jahre zusammen gewesen. Es wäre doch traurig, wenn wir uns im letzten Moment noch trennen würden.« Einen kurzen Augenblick lang erkannte ich in seiner zärtlichen Stimme einen ganz neuen Challenger; einen Mann, der weit von dem polternden, arroganten Burschen, der abwechselnd seine Generation erstaunte und beleidigte, entfernt war. Hier, im Schatten des Todes, sah ich den wirklichen Challenger, jenen Menschen, der die Liebe einer
Frau errungen und behalten hatte. Plötzlich änderte sich seine Stimmung, und er war wieder unser starker Kapitän. »Ich allein habe diese Katastrophe kommen sehen und vorausgesagt«, sagte er mit einem hellen Frohlocken und wissenschaftlichem Triumph in der Stimme. »Was Sie angeht, mein guter Summerlee, so glaube ich, daß Ihre letzten Zweifel, was das Verblassen der Fraunhoferschen Linien angeht, nun beseitigt sind und Sie nun nicht mehr länger behaupten, daß der Inhalt meines Briefes in der Times auf einem Trugschluß basierte.« Zum ersten Mal stellte sich unser ansonsten kampflustiger Kollege einer Herausforderung gegenüber taub. Summerlee konnte nichts anderes tun, als keuchend dazusitzen und die langen, dürren Glieder zu strecken. Möglicherweise wollte er sich damit bestätigen, daß er noch immer am Leben war. Challenger ging zu der Sauerstofflasche hinüber, und das laute Zischen veränderte sich kurz darauf zu einem feinen Säuseln. »Wir müssen sparsam damit umgehen«, sagte er. »Die Atmosphäre dieses Raumes enthält jetzt zuviel Sauerstoff, weswegen ich annehme, daß keiner von uns sich über Gebühr erschöpft fühlt. Wir können lediglich durch einige Experimente herausfinden, welche Sauerstoffmenge genügt, um das Gift zu neutralisieren. Warten wir erst einmal ab, ob die jetzige Einstellung für uns ausreicht.« Fünf Minuten oder mehr saßen wir in nervöser Anspannung und ohne eine Wort zu sagen da. Ich war gerade zu dem Entschluß gekommen, daß die gegenwärtige Sauerstoffmenge nicht ausreichte, um die Beklemmung, denen meine Schläfen jetzt wieder unterlagen, verschwinden zu lassen, als Mrs. Challenger vom Sofa her bemerkte, daß sie im Begriff sei, die Besinnung zu verlieren. Challenger erhöhte die Sauerstoffmenge sofort.
»In prä-wissenschaftlichen Zeiten«, sagte er, »nahm man weiße Mäuse mit in die Unterseeboote, da deren schwächlicherer Körperbau Veränderungen in der Atmosphäre eher zur Kenntnis nahm als der der Seeleute. Du, meine Liebe, wirst also unsere weiße Maus sein. Ich habe den Sauerstoffgehalt jetzt erhöht. Geht es dir besser?« »Ja, jetzt geht es mir besser.« »Vielleicht haben wir jetzt die richtige Mischung getroffen. Sobald wir herausgefunden haben, wieviel uns tatsächlich langt, können wir ausrechnen, wie lange wir es überstehen werden. Leider haben wir bei den Wiederbelebungsversuchen eine ansehnliche Menge aus der ersten Flasche verbraucht.« »Macht das etwas aus?« fragte Lord John, der – mit den Händen in der Tasche – am Fenster stand. »Wenn wir eh schon gehen müssen, warum sollen wir es dann noch hinauszögern? Sie nehmen doch nicht etwa an, daß wir noch eine Chance haben?« Challenger schüttelte lächelnd den Kopf. »Nun, meinen Sie dann nicht, es hätte mehr Würde, wenn wir uns einfach hinausstürzten, als so lange hier zu warten, bis wir hinausgeworfen werden? Wenn es schon sein muß, wäre ich dafür, ein Gebet zu sprechen, den Sauerstoff abzudrehen und das Fenster aufzumachen.« »Ja, warum nicht?« fragte Mrs. Challenger tapfer. »Lord John hat sicher recht, George. Es wäre besser so.« »Dagegen muß ich schärfstens protestieren«, rief Summerlee mit nörgelnder Stimme dazwischen. »Wenn wir sterben müssen, dann sollen wir meinetwegen sterben; aber den Tod vorsätzlich herbeizuführen, scheint mir doch eine närrische und unverantwortliche Tat zu sein.« »Und was meint unser junger Freund dazu?« fragte Challenger. »Ich meine, wir sollten es bis zum Ende durchstehen.«
»Ich bin absolut der gleichen Ansicht«, sagte er. »Wenn du auch dieser Meinung bist, George«, rief Mrs. Challenger aus, »schließe ich mich dir an.« »Nun, ja, es war halt nur ein Argument«, sagte Lord John. »Wenn Sie alle bis zum Ende ausharren wollen, bin ich natürlich dabei. Es gibt natürlich keinen Zweifel, daß die Sache mächtig interessant werden kann. Das Leben hat mir ebenso viele Abenteuer und Spannungen beschert wie den meisten Menschen, nun aber werde ich auf einem Logenplatz enden.« »Der für einige Zeit die Fortdauer des Lebens garantiert«, sagte Challenger. »Welch herrlicher Trost!« rief Summerlee aus. Challenger musterte ihn in stummem Tadel. »Der uns für einige Zeit die Fortdauer des Lebens garantiert«, wiederholte er im belehrendsten Tonfall, zu dem er fähig war. »Niemand von uns mag vorherzusagen, ob wir von der Ebene aus, die ich die spirituelle nennen möchte, im Gegensatz zur jetzigen materiellen, noch Möglichkeiten zur Beobachtung haben werden. Es sollte selbst dem Dümmsten klar sein«, (an dieser Stelle warf er Summerlee einen Blick zu), »daß wir nur so lange, wie wir existieren, die beste Gewähr dafür bieten, die Dinge zu beobachten und über die materiellen Dinge ein Urteil abzugeben. Nur wenn wir noch für ein paar Stunden am Leben bleiben, können wir die Hoffnung hegen, in eine mögliche zukünftige Existenz die klare Vorstellung des ungeheuerlichsten Ereignisses mitzunehmen, das die Welt und – soweit wir wissen – das Universum je heimgesucht hat. Mir käme es jämmerlich vor, wenn wir versuchten, diesen Weg auf irgendeine Art zu verkürzen und so auch nur eine Minute dieser wundervollen Erfahrung verpassen würden.« »Ich bin absolut der gleichen Meinung«, rief Summerlee aus.
»Also aushalten bis zum Ende«, sagte Lord John. »Bei George, der arme Teufel von Chauffeur da unten im Garten hat seine letzte Reise bereits gemacht. Ob es Sinn hat, einen Ausfall zu machen und ihn hereinzuholen?« »Das wäre absoluter Wahnsinn!« schrie Summerlee. »Möglicherweise haben Sie recht«, sagte Lord John. »Es würde ihm nicht helfen. Und selbst, wenn es uns gelänge, ihn wieder ins Leben zurückzurufen, würden wir nur den ganzen Sauerstoff im Haus versprühen. Aber sehen Sie sich die kleinen Vögel unter den Bäumen an!« Wir schoben vier Sessel vor das breite, niedrige Fenster. Mrs. Challenger lag immer noch mit geschlossenen Augen auf dem kleinen Sofa. Ich erinnere mich, daß mir plötzlich der groteske Gedanke durch den Kopf schoß – möglicherweise wurde die Illusion noch durch die schwere Luft, die wir atmeten, verstärkt – daß wir uns auf vier Sperrsitzen befanden und den letzten Akt des Dramas der Welt beobachteten. Direkt vor uns, geradewegs unter unseren Augen, lag der kleine Hof, auf dem der erst zur Hälfte gewaschene Kraftwagen stand. Austin, der Chauffeur, hatte nun doch seine letzte Kündigung erhalten, denn er lag ausgestreckt neben dem Rad und hatte eine große, schwarze Schramme auf der Stirn. Er schien auf die Treppenstufe oder den Fußabstreifer gefallen zu sein. In der Hand hielt er immer noch die Schlauchdüse, mit der er den Wagen gewaschen hatte. In einer Ecke des Gartens standen ein paar kleine Platanen, unter denen mehrere mitleiderweckende Federbälle lagen, die die winzigen Beine in die Luft reckten. Der Rundschlag der tödlichen Sense hatte alles getroffen, was in ihrer Reichweite gewesen war. Über die Hofmauer hinweg schauten wir auf die sich dahinschlängelnde Straße hinunter, die an der Eisenbahnstation endete. Die Schnitter, die wir von den Feldern hatten flüchten sehen, lagen verstreut auf dem Asphalt, wobei sich ihre
Glieder und Körper kreuzten. Weiter oben lag das Hausmädchen mit dem Kopf und den Schultern in der Böschung des Randstreifens. Sie hatte das Baby aus dem Kinderwagen genommen und hielt es wie ein bewegungsloses Bündel in den Armen. Ein kurzes Stück von ihr entfernt zeigte ein dunkler Fleck auf der Straße den Platz an, auf dem der kleine Junge hingefallen war. Etwas näher zu uns lag das tote Kutschpferd zwischen seinen Deichseln. Der alte Kutscher hing wie eine grotesk aussehende Vogelscheuche über dem Spritzbrett. Seine Arme baumelten absurd in der Luft herum. Durch das Fenster konnten wir verschwommen einen jungen Mann erkennen, der im Inneren der Droschke saß. Die Tür war aufgegangen, und seine Hand hielt die Klinke gepackt, als hätte er den Versuch unternommen, im letzten Moment abzuspringen. In mittlerer Entfernung befanden sich die Hügel des Golfplatzes. Zwischen ihnen waren zwar immer noch die dunklen Gestalten der Spieler zu erkennen, nur bewegten sie sich diesmal nicht, sondern lagen starr im Gras oder dem den Platz umgebenden Heidekraut. An einer Stelle zählten wir acht gefallene Körper auf einmal. Offenbar hatten die vier Spieler mit ihren Caddies bis zum Letzten ausgeharrt. Kein Vogel zeigte sich mehr am zur Gruft gewordenen blauen Himmel; auf dem weitgedehnten Landstreifen, der sich vor uns dahinzog, bewegte sich weder Mensch noch Tier. Die Abendsonne schickte ihre friedlichen Strahlen aus, aber alles, was sie ausbrütete, war die Stille und das Schweigen des universellen Todes – des Todes, den wir nur allzu bald würden teilen müssen. Jetzt schloß uns noch die Scheibe aus zerbrechlichem Glas, die unseren zusätzlichen Sauerstoff am Entweichen hinderte und sich dem vergifteten Äther in den Weg stellte, von dem Schicksal ab, das alle anderen bereits ereilt hatte. Ein paar kurze Stunden lang würde das Wissen und die Voraussicht eines Menschen dazu in der Lage sein, unsere
kleine Oase des Lebens vor der ausgedehnten Wüste des Todes zu schützen und uns davor bewahren, ebenfalls Opfer der allgemeinen Katastrophe zu werden. Irgendwann würde dann der Sauerstoff knapp werden und auch wir nach Luft ringend auf dem kirschfarbenen Teppich liegen. Dann würde das Schicksal der menschlichen Rasse und allen irdischen Lebens besiegelt sein. In einer Stimmung, die zu ernst war, als daß wir sie mit Worten hätten kommentieren können, sahen wir lange Zeit auf die Welt hinaus. »Da brennt ein Haus«, sagte Challenger schließlich und deutete auf eine Rauchsäule, die sich über den Bäumen erhob. »Ich nehme an, daß es noch viele solcher Feuersbrünste geben wird und ihnen möglicherweise ganze Städte zum Opfer fallen, denn man kann davon ausgehen, daß viele Leute mit Feuer in der Hand umgefallen sind. Daß es überhaupt brennt, zeigt uns, daß der Sauerstoffgehalt der Luft normal ist und mit dem Weltraum etwas nicht stimmt. Ah, da sehen wir schon die nächste Flamme, auf dem Crowborough Hill. Wenn ich mich nicht irre, handelt es sich um das Klubhaus des Golfvereins. Ich höre Kirchenglocken, die die Zeit vermelden. Es würde unsere Philosophen sicher interessieren, daß die Technik die Rasse, die sie erschaffen hat, überlebt.« »Bei George!« rief Lord John aus und sprang nervös auf. »Was ist das denn für eine Rauchwolke? Es ist ein Zug!« Wir hörten ein Brüllen, und dann kam er plötzlich in Sicht und hatte eine Geschwindigkeit, die man nur noch als ungeheuerlich bezeichnen kann. Woher er kam und aus welcher Entfernung, konnten wir nicht abschätzen. Nur unter Ausnutzung eines geradezu wunderbaren Glücks konnte er überhaupt eine Entfernung hinter sich gebracht haben. Aber nun sahen wir das schreckliche Ende seiner Existenz, denn auf dem Gleis stand bewegungslos ein mit Kohlen beladener Güterzug. Als wir sahen, daß der Schnellzug über das gleiche
Gleis donnerte, hielten wir den Atem an. Der Zusammenstoß war grauenhaft. Die Lok und die Anhänger türmten sich zu einem Hügel splitternden Holzes und verbogenen Eisens auf. Rote Funken stoben aus dem Wrack und verschwanden erst, als alles in hellen Flammen stand. Eine halbe Stunde saßen wir da und wagten kaum zu sprechen. Der schauerliche Anblick hatte uns gelähmt. »Die armen, armen Menschen!« rief Mrs. Challenger schließlich aus und klammerte sich schluchzend an den Arm ihres Mannes. »Die Fahrgäste dieses Zuges waren ebenso wenig am Leben wie die Kohlen, mit denen sie zusammenstießen oder der Kohlenstoff, zu dem sie nun geworden sind, meine Liebe«, sagte Challenger und streichelte besänftigend ihre Hand. »Es war ein Zug der Lebenden, als er den Victoria-Bahnhof verließ, aber lange bevor ihn sein Schicksal ereilte, hat er nur noch Tote befördert.« »Auf der ganzen Welt muß jetzt das gleiche geschehen«, sagte ich, während sich vor meinem inneren Auge seltsame Ereignisse abspielten. »Denken Sie nur an die Schiffe auf dem Meer! Sie werden steuerlos vor sich hinfahren, bis entweder die Feuer in ihren Kesseln erloschen oder sie irgendwo auf Grund laufen. Das gleiche gilt für die Segler – sie werden hin und her treiben, beladen mit toten Seeleuten, bis ihre Planken verrotten, ihre Außenwände lecken und sie nacheinander sinken. Vielleicht wird der Atlantik noch in einem Jahrhundert mit den alten, umhertreibenden Relikten der Gegenwart spielen.« »Und erst die Leute in den Kohlengruben«, sagte Summerlee mit einem düster klingenden Glucksen. »Sollte es aus irgendeinem Zufall einmal dazu kommen, daß auf der Erde wieder Geologen leben, werden sie bestimmt seltsame
Theorien darüber aufstellen, wie der Mensch in kohlehaltigen Schichten existieren konnte.« »Ich gebe ja nicht vor, über solche Dinge Bescheid zu wissen«, warf Lord John ein, »aber mir scheint, daß die Erde nach diesem Ereignis höchstens noch ein Schild tragen wird, auf dem ›Leerstehend, zu Vermieten‹ steht. Wenn die menschliche Rasse einmal ausradiert ist, wie kann sie die Erde dann ein zweitesmal bevölkern?« »Die Welt war auch leer, bevor es uns gab«, antwortete Challenger ernst. »Sie entwickelte Leben aufgrund von Bedingungen, deren Anfänge jenseits unseres Wissens liegen. Warum sollte sich ein solcher Prozeß nicht wiederholen?« »Mein lieber Challenger, das meinen Sie doch wohl nicht im Ernst.« »Professor Summerlee, ich bin nicht in der Stimmung, Dinge zu sagen, die ich nicht meine. Ihre Bemerkung ist trivial.« »Nun«, sagte Summerlee säuerlich, »Sie haben Ihr ganzes Leben als starrsinniger Dogmatiker verbracht, warum sollten Sie nicht auch so sterben?« »Und Sie, Sir, haben das ganze Leben in einem Zustand verstopfter Phantasielosigkeit verbracht, und man kann annehmen, daß dies sich niemals ändern wird.« »Daß es Ihnen an Phantasie gebracht, können nicht einmal Ihre ärgsten Kritiker behaupten«, konterte Summerlee. »Auf mein Wort!« sagte Lord John. »Es sähe Ihnen wirklich ähnlich, wenn Sie den letzten Atemzug noch dazu verwendeten, einander zu schmähen. Wen interessiert es schon, ob es auf der Erde jemals wieder Leben geben wird oder nicht? Wir werden es auf jeden Fall nicht mehr erleben.« »Mit dieser Bemerkung, Sir, stellen Sie Ihr Licht wahrlich unter den Scheffel«, sagte Challenger streng. »Ein wahrer wissenschaftlicher Geist kann sich doch nicht solchen Begrenzungen wie Raum und Zeit unterwerfen. Vielmehr baut
er sich selbst einen Beobachtungsstand an der Grenze der Gegenwart, die die vollendete Vergangenheit von der vollendeten Zukunft trennt. Von diesem sicheren Posten aus macht er sowohl zum Anfang als auch zum Ende aller Dinge seine Ausfälle. Was den Tod angeht, so stirbt der wissenschaftliche Geist so, indem er auf seinem Posten bleibt und auf normale und methodische Weise bis zum Ende arbeitet: Er ignoriert Dinge wie seine eigene körperliche Liquidation ebenso wie alle anderen Begrenzungen der materiellen Existenz. Habe ich damit Recht, Professor Summerlee?« Summerlee brummelte etwas Unverständliches in seinen Bart. »Mit gewissen Einschränkungen bin ich Ihrer Meinung«, sagte er. »Der ideale wissenschaftliche Geist«, fuhr Challenger fort, » – ich spreche in der dritten Person, um nicht allzu überheblich zu erscheinen – der ideale wissenschaftliche Geist sollte dazu fähig sein, noch abstrakt denken zu können, wenn sein Träger aus einem Ballonkorb fällt und auf die Erde hinabstürzt. Männer dieses Kalibers werden gebraucht, da sie die Eroberer der Natur und die Leibgarde der Wahrheit stellen.« »Mir scheint, daß diesmal die Natur die Oberhand hat«, sagte Lord John und schaute aus dem Fenster. »Ich habe ein paar meinungsbildende Artikel darüber gelesen, daß Gentlemen wie Sie, sie angeblich zu kontrollieren verstünden, aber sie scheint ein wenig von ihrer Bewegungsfreiheit zurückgewonnen zu haben.« »Es ist nur ein zeitweiliger Rückfall«, sagte Challenger mit Überzeugung. »Was sind schon ein paar Millionen Jahre im großen Zyklus der Zeit? Die Pflanzenwelt hat, wie Sie sehen, überlebt. Schauen Sie sich die Blätter jener Platane dort an.
Die Vögel sind tot, aber die Pflanzen wachsen weiter. Aus diesem Pflanzenleben, ob es sich nun in einem Teich oder im Marschland befindet, werden sich irgendwann mikroskopisch kleine Schnecken entwickeln, die die Pioniere jener gewaltigen Lebensarmee sein werden, der wir fünf im Moment die außergewöhnliche Ehre haben, als Nachhut zu dienen. Wenn sich erst einmal die niedrigste Form des Lebens etabliert hat, ist die Ankunft des Menschen so sicher, wie sich aus einer Eichel ein Baum entwickelt. Und der alte Zyklus beginnt von neuem.« »Aber das Gift«, fragte ich. »Wird es das Leben nicht im Keim ersticken?« »Das Gift könnte lediglich eine Schicht oder Ablagerung im Weltraum sein – ein pestähnlicher Golfstrom, der den mächtigen Ozean durchquert, über den wir dahinschwimmen. Vielleicht ist es auch möglich, Abwehrstoffe zu entwickeln; das Leben könnte sich den neuen Bedingungen anpassen. Allein die Tatsache, daß wir uns mit Hilfe einer etwas größeren Sauerstoffmenge in unserem Blut halten können, bedeutet, daß es nicht einmal besonders großer Veränderungen bedarf, um das animalische Leben das Gift ertragen zu lassen.« Das hinter den Bäumen liegende, qualmende Haus stand nun in Flammen. Wir konnten sehen, wie die Feuerzungen hoch in den Himmel schossen. »Ziemlich abscheulich«, murmelte Lord John stärker beeindruckt als je zuvor. »Nun, aber was kümmerts uns?« bemerkte ich. »Die Welt ist tot. Und das Krematorium ist sicherlich die sauberste Art der Bestattung.« »Es würde unser Leben ziemlich verkürzen, wenn auch dieses Haus in Flammen aufginge.«
»Ich habe diese Gefahr vorausgesehen«, sagte Challenger, »und bat meine Frau, deswegen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.« »Es ist alles in bester Ordnung, Schatz. Aber mein Kopf beginnt schon wieder zu schmerzen. Welch eine bedrohliche Atmosphäre!« »Wir werden sie ändern«, sagte Challenger und beugte sich über den Sauerstofftank. »Er ist fast leer«, sagte er. »Immerhin hat er fast dreieinhalb Stunden gereicht. Es ist jetzt fast acht Uhr. Wir werden also bequem durch die Nacht kommen. Ich nehme an, daß der Sauerstoff bis morgen früh um neun reichen wird. Wir werden also den Sonnenaufgang zu sehen bekommen, auch wenn er diesmal für uns ganz alleine kommt.« Er aktivierte den zweiten Tank und öffnete für eine halbe Minute den Ventilationsschacht über der Tür. Die Luft wurde fühlbar besser, aber als die Symptome sich wieder an uns zeigten, schloß er ihn wieder. »Nebenbei bemerkt«, sagte er, »lebt der Mensch nicht von Sauerstoff allein. Die Zeit fürs Dinner ist bereits vorbei. Ich versichere Ihnen, Gentlemen, als ich Sie in mein Haus einlud, um das zu feiern, was ich mir als ein freudiges Wiedersehen vorstellte, hatte ich die Absicht, meine Küche für sich selbst sprechen zu lassen. Jetzt müssen wir uns allerdings mit dem zufriedengeben, was wir haben. Ich nehme an, Sie sind mit mir einer Meinung, daß es eine Torheit wäre, unseren Sauerstoff dadurch zu verschwenden, daß wir den Ölofen anzünden. Ich habe einige Mäppchen Bratenfleisch, Brot und Essiggurken vorbereitet, die uns mit ein paar Flaschen Bordeaux die Zeit ein wenig versüßen können. Vielen Dank, meine Liebe – wie immer bist du auch jetzt die Königin aller Hausfrauen.« Es war in der Tat bewundernswert, wie seine mit der Selbstachtung und Geschicklichkeit einer britischen Hausfrau
ausgestattete Gattin den Tisch mit einer schneeweißen Decke und Servietten versah und uns das einfache Mahl auftischte, das wir in zivilisiertem Rahmen – auf dem Tisch stand sogar eine elektrische Lampe – einnahmen. Bewundernswert war allerdings auch, daß sich unser Appetit als wahrer Heißhunger entpuppte. »Daran können wir unsere Emotionen abmessen«, sagte Challenger in der herablassenden Art, die er stets anwandte, wenn sein wissenschaftlicher Geist sich dazu erniedrigte, unwichtige Tatsachen zu erklären. »Wir haben eine große Krise durchlaufen, und das hat unsere Moleküle natürlich in Unordnung gebracht. Was wiederum bedeutet, daß wir sie wieder in einen Normalzustand versetzen müssen. Große Sorgen oder große Freude müßten auch einen übermäßigen Hunger erzeugen – nicht jedoch Appetitlosigkeit, wie uns die Romanschreiber glauben machen wollen.« »Deswegen macht die Landbevölkerung aus Beerdigungen wohl auch immer große Feste«, vermutete ich. »Genau. Unser junger Freund hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Nehmen Sie doch noch eine Scheibe Wurst.« »Das gleiche gilt für die Wilden«, sagte Lord John und schnitt sich ein Stück Fleisch ab. »Ich sah ihnen einmal zu, als sie am Aruwimi River einen Häuptling bestatteten. Danach aßen sie ein Flußpferd, das bestimmt nicht weniger wog als der ganze Stamm. Es gibt auch einige Stämme unten in NeuGuinea, die aus Gründen der Sauberkeit gleich denjenigen, den sie kurz zuvor noch beklagt haben, selbst aufessen. Nun, von allen Beerdigungsfeierlichkeiten, die die Welt je gesehen hat, ist unsere, wie ich annehme, sicher die komischste.« »Das Seltsame ist«, sagte Mrs. Challenger, »daß ich nicht dazu in der Lage bin, für die, die von uns gegangen sind, Trauer zu empfinden. Da sind zum Beispiel mein Vater und meine Mutter in Bedford. Ich weiß, daß sie tot sind, und doch
kann ich in dieser universellen Tragödie keine Trauer für Einzelne spüren, nicht einmal für sie.« »Und meine alte Mutter in ihrem Landhaus in Irland«, sagte ich. »Ich sehe sie genau vor mir, mit ihrem Schal und dem Spitzenhäubchen, wie sie mit geschlossenen Augen in ihrem alten Lehnstuhl am Fenster sitzt, während neben ihr ein Buch und ihre Brille liegen. Warum sollte ich sie beweinen? Sie ist vergangen, und ich werde vergehen, und vielleicht bin ich ihr in einem anderen Leben näher als England Irland. Aber ich verspüre einen leisen Kummer, wenn ich daran denke, daß sie körperlich zu existieren aufgehört hat.« »Was den Körper angeht«, bemerkte Challenger, »so wehklagen wir weder deswegen, wenn wir uns die Nägel schneiden, noch wenn unser Haar von einigen Locken entblößt wird. Ebenso wenig sehnt sich ein Einbeiniger nach seinem verlorenen Glied. Der physische Körper ist doch für uns eher eine Quelle des Schmerzes und der Strapazen gewesen. Er ist der konstante Behälter unserer Begrenzungen. Warum also Sollten wir uns darüber sorgen, wenn er von unserem psychischen Ich abgetrennt wird?« »Wenn man sie überhaupt voneinander trennen kann«, brummte Summerlee, »jedenfalls stellt der universelle Tod eine Bedrohung dar.« »Wie ich bereits erklärt habe«, sagte Challenger, »muß ein universeller Tod von weitaus weniger schrecklicher Natur sein als ein isolierter.« »Genau so ist es während einer Schlacht«, bemerkte Lord John. »Wenn Sie einen einzelnen Mann mit zerfetzter Brust und einem Kopfschuß daliegen sehen, wird Ihnen schlecht. Aber im Sudan habe ich Tausende so daliegen sehen, ohne daß mich ein solches Gefühl überkam. Denn wenn man Geschichte macht, zählt das Leben eines Einzelnen zu wenig, als daß man sich um ihn Sorgen machen könnte. Wenn das Schicksal
tausend Millionen am gleichen Tag ereilt, sieht man den Einzelnen in der Menge nicht mehr.« »Ich wünschte, es wäre schon vorbei«, sagte Mrs. Challenger sehnsüchtig. »O, George, ich habe solche Angst.« »Wenn die Zeit kommt, wirst du die tapferste von uns sein, meine Liebe. Ich bin stets ein streitsüchtiger Hammel gewesen, mein Schatz, aber bitte behalte in Erinnerung, daß G. E. C. sich nur so verhalten hat, wie es seinem Charakter entsprach und er nichts dafür konnte. Hättest du trotzdem gerne einen anderen gehabt?« »Nicht um alles in der Welt, Lieber«, sagte sie und umschlang seinen massigen Hals mit den Armen. Wir drei begaben uns zum Fenster und blieben erstaunt stehen, als wir sahen, welcher Blick sich uns bot. Die Finsternis hatte sich herabgesenkt und die Welt in Schwärze erstarren lassen. Aber am südlichen Horizont befand sich ein langer, leuchtender, scharlachfarbener Streifen, der in hellen Farben das Pulsieren eines Lebens zeigte, das plötzlich einem feuerroten Höhepunkt entgegensprang und sich dann als tosende Feuerlinie entpuppte. »Lewes steht in Flammen!« rief ich aus. »Nein, es ist Brighton, das brennt«, sagte Challenger und stand auf, um sich zu uns zu gesellen. »Sehen Sie, wie sich die gekurvte Linie der Hügel gegen das Leuchten abhebt? Das Feuer liegt Meilen weiter auf der anderen Seite. Die ganze Stadt muß in Flammen stehen.« Es glühte an unterschiedlichen Orten, und auch der große Schrotthaufen auf dem Eisenbahngleis schmorte noch in der Dunkelheit vor sich hin, aber gegen die Feuersbrunst, die hinter den Hügeln wütete, kamen mir alle anderen Brände nur so vor, als hätte jemand ein Streichholz angezündet. Welch ein Aufmacher wäre das für die Gazette gewesen! Hatte es je für einen Journalisten einen solchen Aufmacher gegeben, ohne
daß er die Möglichkeit besessen hatte, ihn auch zu bringen? Die größte Schlagzeile aller Zeiten – ohne daß jemand da war, der sie zu würdigen wußte? Und dann, ganz plötzlich, erwachte in mir der alte Instinkt des Berichterstatters. Wenn diese Männer der Wissenschaft ihrer Lebensaufgabe bis zum bitteren Ende treu bleiben konnten, warum sollte ich mich dann nicht als ebenso standhaft erweisen? Kein menschliches Auge würde das zu sehen bekommen, was ich sehen würde. Da ich zudem die lange Nacht auf irgendeine Weise würde verbringen müssen – und Schlaf, jedenfalls für mich, nicht in Frage kam –, würden mir meine Aufzeichnungen dabei helfen, die Stunden der Müdigkeit zu überwinden und meine Gedanken zu beschäftigen. Deswegen habe ich jetzt vor mir auf den Knien das Notizbuch mit den bekritzelten Seiten, die ich im matten Schein unserer einzigen elektrischen Lampe in aufgeregter Stimmung beschrieb. Besäße ich schriftstellerisches Talent, wären sie des Anlasses sicher würdig gewesen. So wie sie jetzt sind, vermögen sie anderen lediglich die Gefühle und das Zagen jener schrecklichen Nacht wiederzugeben.
IV Das Tagebuch des Todes
Wie seltsam die Worte aussehen, die ich an den Anfang meines leeren Notizbuches gesetzt habe! Wie seltsamer noch aber ist es, daß ich, Edward Malone, es war, der sie geschrieben hat; ich, der erst vor zwölf Stunden seine Wohnung in Streatham verlassen hat, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, welche Unfaßlichkeiten dieser Tag mit sich bringen würde! Ich denke zurück an die Kette der Ereignisse, an mein Gespräch mit McArdle, Challengers erste alarmierende Meldung in der Times, die absurde Eisenbahnfahrt, das, in Heiterkeit verlaufene Mittagessen, die Katastrophe und an die Gegenwart – daß wir auf einem leeren Planeten zurückbleiben und unser Schicksal so gewiß ist, daß ich diese Zeilen, die ich in einem mechanischen professionellen Habitus niedergeschrieben habe und niemals von menschlichen Augen gelesen werden, als die Worte eines bereits Toten ansehen kann, denn so nahe ist er bereits dem schattigen Grenzland gekommen, über das der kleine Kreis seiner auswärtigen Freunde gegangen ist. Ich spüre, wie weise und wahr Challengers Worte waren, als er sagte, daß die wirkliche Tragödie jene wäre, wenn wir feststellen müßten, daß wir allein zurückgeblieben sind, wenn alles Edle, Gute und Schöne vergangen ist. Aber diese Gefahr besteht für uns nicht. Schon jetzt ist der Inhalt unserer zweiten Sauerstoffflasche beinahe erschöpft. Wir können den kümmerlichen Rest Leben, der uns noch verbleibt, beinahe auf die Minute ausrechnen.
Challenger hat uns gerade einen Vortrag gehalten, der gut eine Stunde gedauert und aufgrund der Aufregung des Vortragenden, der schließlich immer lauter wurde und mit den Armen ruderte, in mir den Eindruck erweckt hat, als spreche er vor einer Versammlung wissenschaftlicher Skeptiker in der Queens Hall. Es war gewiß ein seltsames Publikum, dem er ins Gewissen redete: seine Frau, die sich absolut fügsam gebärdete und dennoch nichts von dem verstand, was er redete; Summerlee, auf einem Sessel im Schatten sitzend, mürrisch und kritisch, aber keinesfalls uninteressiert; Lord John, der sich wegen des Gesamtverlaufs ein wenig gelangweilt in einer Ecke rekelte, und ich, am Fenster stehend und die ganze Szene gewissermaßen mit unvoreingenommener Aufmerksamkeit beobachtend, als befände ich mich in einem Traum, an dem ich nicht das geringste persönliche Interesse hätte. Challenger saß an dem die Raummitte einnehmenden Tisch, während das elektrische Licht den unter dem Mikroskop liegenden Objektträger beleuchtete, den er aus dem Ankleideraum geholt hatte. Der kleine Kreis hellweißen Lichts, den der Spiegel zurückwarf, setzte die Hälfte seines zerfurchten, bärtigen Gesichts einem strahlenden Leuchten aus, während die andere in tiefster Dunkelheit blieb. Wie es aussieht, hat er in letzter Zeit an den niedrigsten Formen des Lebens gearbeitet, und was ihn gegenwärtig erregt, ist die Tatsache, daß die sich seit dem gestrigen Tag auf dem Objektträger befindende Amöbe immer noch lebt. »Sie sehen es selbst«, wiederholt er mit großer Erregung. »Summerlee, wollen Sie herüberkommen und sich selbst davon überzeugen? Malone, wollen Sie freundlicherweise das, was ich sage, beglaubigen? Die kleinen, spindelähnlichen Dinger in der Mitte sind Diatome und können ignoriert werden, da sie möglicherweise eher pflanzlicher als animalischer Natur sind. Aber rechter Hand werden Sie
unzweifelhaft eine Amöbe erblicken, die sich langsam auf dem Objektträger bewegt. Die obere Schraube dient der Feineinstellung. Schauen Sie es sich selbst an.« Summerlee tat wie ihm geheißen und fügte sich. Ich tat das gleiche und erblickte ein kleines Geschöpf, das aussah, als bestehe es aus Milchglas. Es bewegte sich linkisch auf dem erhellten Kreis. Lord John schien Challenger auch ohne näheres Hinsehen zu glauben. »Ich werde mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob es lebt oder tot ist«, sagte er. »Soweit ich weiß, kennen wir uns nicht einmal vom Sehen her, weswegen also sollte ich es mir zu Herzen nehmen? Jedenfalls nehme ich nicht an, daß dieses Ding sich über unseren Gesundheitszustand Gedanken macht.« Darüber mußte ich lachen, woraufhin Challenger mich mit dem kältesten und hochnäsigsten Blick bedachte, zu dem er fähig war. Es war eine äußerst unangenehme Erfahrung. »Die Respektlosigkeit der Halbgebildeten hat auf die Wissenschaft einen größeren Störeffekt als die Dummheit des Ignoranten«, sagte er. »Wenn Lord John Roxton vielleicht geruhen würde…« »Mein lieber George, sei doch nicht immer so ein Heißsporn«, sagte seine Gattin und legte eine Hand auf sein Haar, unter dem das Mikroskop beinahe verschwand. »Was hat es schon zu bedeuten, ob diese Amöbe lebt oder nicht?« »Es hat eine große Bedeutung«, sagte Challenger bärbeißig. »Nun, dann erzählen Sie es uns«, sagte Lord John mit einem humorigen Lächeln. »Darüber können wir ebenso gut reden wie über etwas anderes. Wenn Sie der Meinung sind, ich hätte mich diesem Ding gegenüber ein wenig zu burschikos aufgeführt oder auf irgendeine Weise seine Gefühle verletzt, bitte ich um Entschuldigung.« »Was mich betrifft«, sagte Summerlee in seinem quäkenden, nörgelnden Tonfall, »so vermag ich nicht einzusehen, warum
Sie der Tatsache, daß das Ding lebt, eine solche Bedeutung zumessen. EA hält sich in der gleichen Atmosphäre auf wie wir, deswegen ist es doch nur natürlich, daß das Gift keine Auswirkungen auf es hat. Befände es sich außerhalb dieses Raumes, wäre es so tot wie jedes andere tierische Leben auch.« »Ihre Bemerkungen, mein lieber Summerlee«, sagte Challenger mit, äußerster Ruhe (Oh, könnte ich dieses anmaßende, arrogante Gesicht im hellen Schein des respektierenden Mikroskopspiegels doch nur malen!), » – Ihre Bemerkungen zeigen einmal wieder, wie mangelhaft Sie dazu in der Lage sind, die Situation einzuschätzen. Ich habe dieses Spezimen gestern aufgezogen, und seitdem ist es hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen. Unser Sauerstoff kann es nicht erreichen. Aber die Luft hat es durchdrungen, wie jeden anderen Punkt im Universum. Also hat es das Gift überlebt. Wir können also annehmen, daß alle Amöben, die sich außerhalb dieses Raumes befinden, die Katastrophe überlebt haben und nicht – wie Sie fälschlicherweise behaupten, tot sind.« »Nun, auch jetzt fühle ich mich noch nicht dazu veranlaßt, darüber in Hurrarufe auszubrechen«, sagte Lord John. »Denn was hat das schon zu sagen?« »Es hat nichts anderes zu sagen, als das, daß die Welt nicht tot ist, sondern lebt. Besäßen Sie wissenschaftliche Vorstellungskraft, würden Sie von nun an einen Blick in die Zukunft werfen und sehen, daß in ein paar Millionen Jahren – was schließlich nach kosmischen Maßstäben nur eine verschwindend geringe Zeitspanne ist – die ganze Welt nur so von tierischem und menschlichem Leben wimmeln wird. Und all das verdanken wir diesem winzigen Keim. Sie haben doch schon ein Präriefeuer gesehen, bei dem die Flammen jedes Grasbüschel vom Erdboden gefressen und nichts als eine
pechschwarze Wüste hinterlassen haben. Man müßte annehmen, daß der Boden von nun an für immer so bliebe. Aber die Wurzeln der Gewächse sind zurückgeblieben, und wenn Sie ein paar Jahre später noch einmal an diesen Ort zurückkehren, werden Sie nicht einmal mehr die Narben sehen, die sich vorher dort befanden. In dieser kleinen Kreatur hier befinden sich die Wurzeln tierischen Lebens, und da sie nun einmal einer Entwicklung und der Evolution unterworfen ist, wird sie im Laufe der Zeit auch gewiß jede Spur der unvergleichlichen Krise, die wir gerade durchlaufen, zu tilgen verstehen.« »Wie beruhigend!« sagte Lord John, rappelte sich auf und warf einen Blick durch das Mikroskop. »Ein lustiger kleiner Bursche, dem da das Porträt Nummer eins in der Ahnengalerie gebührt. Wir sollten ihm direkt einen Orden verleihen.« »Der dunkle Punkt ist sein Zellkern«, sagte Challenger wie ein Kindermädchen, das einem Baby Zahlen beizubringen versucht. »Nun, dann brauchen wir uns ja nicht einsam zu fühlen«, sagte Lord John lachend. »Immerhin gibt es außer uns noch jemanden, der auf der Erde lebt.« »Sie scheinen davon auszugehen, Challenger«, sagte Summerlee, »daß der Grund, aus dem diese Welt erschaffen wurde, darin besteht, menschliches Leben zu erzeugen und zu tragen.« »Nun, Sir, welche Art von Lebewesen schlagen Sie denn vor?« fragte Challenger kratzbürstig, da er einen erneuten Anflug von Widerspruch zu wittern schien. »Manchmal glaube ich, es ist nur ein ungeheurer Dünkel, der die Menschen glauben macht, diese Bühne sei nur dazu errichtet worden, daß sie darauf herumstolzieren können.« »Nun, wir wollen nicht dogmatisch werden, aber wenn wir das, was Sie ungeheuren Dünkel zu nennen belieben, einmal
beiseite lassen, können wir doch mit Sicherheit behaupten, das höchste Geschöpf der Natur zu sein.« »Das höchste, von dem wir Kenntnis haben.« »Das, Sir, versteht sich von selbst.« »Denken Sie nur an all die Millionen – vielleicht sogar Milliarden -Jahre, in denen die Erde leer durch den Weltraum gezogen ist – oder wenn sie nicht leer war, hat es auf ihr zumindest kein Anzeichen oder keinen Gedanken der menschlichen Rasse gegeben. Stellen Sie sich das vor. Sie schwebt durch das All, wird vom Regen ausgewaschen, von der Sonne ausgedörrt und von den Winden zernarbt – und das ungezählte Jahre lang. Wenn man die geologische Zeit nimmt, ist der Mensch praktisch erst gestern auf ihr erschienen. Weswegen sollte man also annehmen, daß all diese aufwendigen Vorbereitungen nur für ihn gemacht wurden?« »Für wen denn sonst – oder für was?« Summerlee zuckte die Achseln. »Wie sollen wir das wissen? Vielleicht wurde all das aus einem Grund geschaffen, den wir nicht einmal begreifen können? Vielleicht ist der Mensch lediglich ein Zufallsprodukt? Eine unbeabsichtigte Nebenwirkung, die im Verlauf des Prozesses entstanden ist? Mir kommt es so vor, als würde das Treibholz auf dem Ozean der Meinung sein, die Meere seien nur dazu geschaffen worden, um es hervorzubringen und zu erhalten oder wenn eine Maus glauben würde, daß die Kathedrale, in der sie lebt, nur dazu bestimmt sei, ihren Unterschlupf abzugeben.« Ich habe mir die Worte ihres Streitgesprächs ziemlich schnell notiert, aber jetzt verkommt ihre Diskussion zu einem lärmenden Gezänk, das von beiden Seiten nur noch in vielsilbigem Fachjargon geführt wird. Es ist zweifellos ein Privileg, zwei solche Koryphäen die großen Fragen des Lebens diskutieren zu hören, aber da sie sich in fortwährender
Nichtübereinstimmung befinden, können einfache Menschen wie Lord John und ich ihrer Zurschaustellung nichts positives mehr abgewinnen. Sie widerlegen einander ununterbrochen, und am Ende wissen wir genauso wenig wie am Anfang. Jetzt ist der Wirrwarr verstummt, und Summerlee hat sich in seinen Sessel zusammengerollt, während Challenger, der immer noch an den Einstellschrauben seines Mikroskops herumfingert, ein fortgesetztes, tiefes und unverständliches Donnern von sich gibt, wie die See nach einem Sturm. Lord John kommt zu mir herüber, und wir sehen zusammen in die Nacht hinaus. Da ist der bleiche Neumond – der letzte Mond, den menschliche Augen je erblicken werden –, und die Sterne glänzen in kalter Pracht. Nicht einmal auf dem klaren Plateau in Südamerika sind sie mir heller erschienen. Vielleicht hat die Veränderung der Luft auch Auswirkungen auf das Licht. Das Begräbnisfeuer Brightons lodert immer noch, und am westlichen Himmel ist in der Ferne ein roter Fleck zu sehen, was bedeutet, daß es auch bei Arundel oder Chichester, vielleicht sogar bei Portsmouth, soweit ist. Ich sitze, grüble und schreibe hin und wieder etwas auf. Jugend, Schönheit, Ritterlichkeit und Liebe – ist das nun alles vorbei? Die sternenbeschienene Erde sieht aus wie ein Traumland sanften Friedens. Wer könnte sie sich als ein schreckliches Golgatha vorstellen, in dem die Leichen der Menschheit überall verstreut liegen? Ich stellte plötzlich fest, daß ich lachte. »Hallo, junger Freund«, sagt Lord John, der mich überrascht anstarrt. »In diesen schlechten Zeiten wäre ein Witz nicht das Schlechteste. Über welchen lachten Sie denn gerade?« »Ich dachte an all die großen, ungelösten Fragen«, antwortete ich. »An jene Fragen, an die wir soviel Arbeit und Gedankenkraft verschwendet haben. Denken Sie beispielsweise an Englisch-Deutschen Konkurrenzkampf – oder den Persischen Golf, auf den mein alter Chef so versessen
war. Wer hätte, während wir uns darüber die Köpfe heiß redeten, vermutet, auf welche Weise diese Fragen schließlich gelöst werden würden?« Wir schweigen wieder. Ich stelle mir vor, daß jeder von uns nun an seine verstorbenen Freunde denkt. Mrs. Challenger schluchzt still vor sich hin, und ihr Gatte flüstert ihr etwas zu. Ich denke an alle möglichen Leute und sehe sie starr und bleich vor mir liegen, so wie den armen Austin unten im Garten. Da ist zum Beispiel McArdle. Ich weiß genau, wo er ist, wie er daliegt, mit dem Gesicht auf der Schreibtischplatte, während seine Hand das Telefon umklammert hält, mit dem ich ihn umfallen hörte. Ich denke auch an Beaumont, den Redakteur. Ich nehme an, daß er auf dem blauroten, türkischen Teppich liegt, der sein Allerheiligstes schmückt. Und die Burschen im Reporterzimmer – Macdonna, Murray und Bond. Sicher sind sie mitten in der Arbeit gestorben, die Notizbücher, die voller glänzender Eindrücke und seltsamer Ereignisse sind, in den Händen haltend. Ich kann mir sogar vorstellen, wie der eine zu den Ärzten gerast ist, der andere nach Westminster und der dritte zur St. Pauls-Kathedrale, Welch herrliche Schlagzeilen müssen sie als letzte Vision vor Augen gehabt haben – und keine davon war im Druck erschienen! Ich konnte Macdonna zwischen den Ärzten sehen: »Hoffnung in der Harley Street!« Mac hatte immer eine Schwäche für Stabreime gehabt. »Interview mit Mr. Soley Wilson.« – »Berühmter Spezialist sagt: ›Nicht verzweifeln!‹« – »Unser Sonderkorrespondent traf den bekannten Wissenschaftler auf dem Dach seines Hauses sitzend an, wohin er sich, um den verschreckten Patientenmassen zu entgehen, die sein Heim überschwemmen, zurückgezogen hat. In einer Weise, die deutlich machte, daß er die immense Wichtigkeit der Ereignisse keineswegs unterschätzt, weigerte sich der gefeierte Arzt zuzugeben, daß alle Wege der Hoffnung in
Einbahnstraßen enden müssen.« So würde Mac anfangen. Dann war da noch Bond; er würde möglicherweise die St. Pauls-Kathedrale aufsuchen. Bond pflegte ebenfalls seinen eigenen Stil. Auf mein Wort, das war genau das richtige Thema für ihn! »Ich stehe auf der kleinen Galerie im Inneren des Domes und schaue auf die eng zusammenstehende Menge verzweifelter Menschen hinab, die sich im letzten Moment vor einer Macht auf die Knie werfen, die sie bisher hartnäckig ignoriert haben. Plötzlich fangen meine Sinne ein von der schwankenden Menge ausgestoßenes Stöhnen auf, das so voller Grauen und Flehen und einen solch haarsträubenden Hilfeschrei an das Unbekannte ist, daß…« Und so weiter. Ja, es mußte ein großartiges Ende für einen Reporter sein, wenngleich er – wie auch ich – würde sterben müssen, ohne seine Kenntnisse verwerten zu können. Was würde Bond, dieser arme Kerl, nicht dafür geben, am Ende einer solchen Kolumne seine Initialen lesen zu können? Aber welchen Unsinn ich hier schreibe! Es ist nur ein Versuch, die Müdigkeit zu vertreiben. Mrs. Challenger ist durch den Ankleideraum verschwunden, und der Professor sagt, daß sie schläft. Er macht sich Notizen und konsultiert, als wäre er mit seiner üblichen Arbeit beschäftigt, einige Bücher, die vor ihm auf dem Tisch liegen. Er schreibt mit einer Feder, die ziemlich laut kratzt und in mir den Eindruck erweckt, als würde sie jeden ankreischen, der nicht mit ihm einer Meinung ist. Summerlee ist in seinem Sessel zusammengesunken und gibt von Zeit zu Zeit ein besonders provozierendes Schnarchen von sich. Lord John liegt auf dem Rücken. Er hat die Hände in den Hosentaschen und hält die Augen geschlossen. Wie Menschen unter solchen Bedingungen schlafen können, ist mir ein Rätsel. Es ist jetzt drei Uhr dreißig. Ich bin gerade mit einem ziemlichen Schreck aufgewacht. Um fünf Minuten nach elf
habe ich meine letzte Eintragung gemacht. Ich erinnere mich daran, meine Uhr aufgezogen und die Zeit notiert zu haben. Ich habe also fast fünf Stunden der geringen Zeitspanne, die uns noch verbleibt, verschwendet. Wer hätte das für möglich gehalten? Aber ich fühle mich wieder erfrischt und bin bereit, mich meinem Schicksal zu stellen – zumindest rede ich mir das ein. Und doch – je besser ein Mensch sich fühlt und je weiter er sich vom Alter entfernt befindet, desto mehr schreckt er vor dem Tod zurück. Wie weise und gnadenvoll ist doch diese Einrichtung der Natur, die den irdischen Anker kaum wahrnehmbar löst, bis der Mensch sein Bewußtsein verliert und er aus dem Hafen in die große See des Jenseits hinaustreibt. Mrs. Challenger ist immer noch im Ankleideraum. Challenger ist in seinem Sessel eingeschlafen. Welch ein Bild! Seine gewaltige Gestalt lehnt sich nach hinten, seine großen, haarigen Hände liegen gefaltet auf seiner Weste, und sein Kopf ist dermaßen gekippt, daß ich oberhalb seines Kragens nichts anderes zu sehen vermag, als seinen leuchtenden, gesträubten Bart. Er bewegt sich langsam im Rhythmus seines Schnarchens, und Summerlee fügt Challengers sonorem Baß seinen helleren Tenor hinzu. Lord John schläft ebenfalls, seine hochgewachsene Gestalt liegt zusammengekrümmt in einem Korbsessel. Das erste, kalte Licht des Tages stiehlt sich langsam in das Zimmer. Alles wirkt grau und jämmerlich. Ich sehe mir den Sonnenaufgang an – jenen schicksalhaften Sonnenaufgang, der sich über einer entvölkerten Welt erhebt. Die menschliche Rasse ist nicht mehr, sie ist an einem einzigen Tag vergangen, aber die Planeten ziehen noch immer ihre Bahn. Ebbe und Flut funktionieren wie zuvor, der Wind wispert, und die Natur nimmt ihren Verlauf und konzentriert sich, wie mir scheint, nun auf die Amöbe, ohne daß es ein Anzeichen dafür gibt, daß der, der sich selbst den Herrn der
Schöpfung nennt, das Universum je mit seiner Gegenwart gesegnet oder verflucht hat. Unten im Garten liegt Austin. Er hat die Arme und Beine von, sich gestreckt, und die Schlauchdüse lugt immer noch, zwischen seinen leblosen Fingern hervor. Seine beinahe komisch wirkende, bemitleidenswerte Gestalt, die so hilflos neben dem Fahrzeug liegt, das seiner Aufsicht unterstand, symbolisiert die ganze Menschheit. Hier enden die Aufzeichnungen, die ich zu jener Zeit machte. Die folgenden Ereignisse kamen zu rasch und waren zu ergreifend, als daß ich die Zeit gehabt hätte, sie auf der Stelle niederzuschreiben, aber dennoch sind sie meinem Gedächtnis zu eng verhaftet, als daß ich sie vergessen könnte. Irgendeine Trockenheit in der Kehle führte dazu, daß ich nach den Sauerstofftanks sah, und was ich erblickte, überraschte mich zutiefst. Die Zeit, die uns noch blieb, war sehr gering. Irgendwann in der Nacht hatte Challenger den vierten Tank aktiviert, und mir war sofort klar, daß auch dieser bereits erschöpft war. Schon spürte ich das grauenhafte Gefühl des Erstickens. Ich eilte auf den fünften Tank zu, öffnete das Ventil und brach damit unseren Restvorrat an. Im gleichen Moment plagte mich auch schon mein Gewissen, denn es hatte mich bei dem Gedanken ertappt, daß die anderen vielleicht nicht mehr aufwachen würden, zöge ich meine Hand zurück. Der Gedanke verschwand jedoch sofort wieder, als die Stimme Mrs. Challengers aus dem inneren Raum rief: »George, George, ich ersticke!« »Es ist schon in Ordnung, Mrs. Challenger«, antwortete ich, während die anderen aufstanden. »Ich habe gerade einen neuen Tank aufgemacht.« Selbst in einem Augenblick wie diesem kam ich nicht umhin, Challenger zuzulächeln, der sich mit seinen haarigen Fäusten die Augen rieb und mich an ein Riesenbaby denken ließ, das
gerade aus dem Schlaf erwacht war. Summerlee zitterte, als litte er an Schüttelfrost. Es war das erste Mal, daß er sich über die Gelassenheit eines Mannes der Wissenschaft hinwegsetzte und menschliche Angst zeigte. Lord John war allerdings gelassen wie immer und benahm sich, als würde er gleich zu einer Jagdpartie aufbrechen. »Die fünfte und letzte«, sagte er, während er dem Tank einen kurzen Blick zuwarf. »Sagen Sie bloß nicht, Sie wären die ganze Nacht wachgeblieben und hätten Ihre Eindrücke zu Papier gebracht, junger Freund.« »Ich habe mir nur ein paar Notizen gemacht, um die Zeit totzuschlagen.« »Nun, normalerweise würde ich das niemandem glauben, aber ein Ire sollte dazu wohl fähig sein. Ich nehme allerdings an, daß Sie so lange warten müssen, bis unser kleiner Amöbenbruder erwachsen ist, bevor Sie einen Leser finden. Auf das, was im Moment vor sich geht, scheint er ja keinen großen Wert zu legen. Nun, Herr Professor, wie steht’s?« Challenger sah sich die großen Nebelbänke an, die der Morgen über die Landschaft treiben ließ. Hier und da erhoben sich bewaldete Hügel wie konische Inseln aus dämmeriger See. »Man fühlt sich wie beschwipst«, sagte Mrs. Challenger, die nun, mit einem Morgenmantel bekleidet, zu uns trat. »Dein Lied, George, ›Abschied vom alten, begrüß das neue‹, das war prophetisch. Aber Sie zittern ja, meine armen Freunde. Ich habe die ganze Nacht unter einer warmen Decke verbracht, während Sie frierend in Sesseln saßen. Aber gleich werden Sie sich besser fühlen.« Die tapfere, kleine Frau eilte hinaus, und kurz darauf vernahmen wir das Pfeifen eines Wasserkessels. Bald darauf war sie zurück und servierte uns auf einem Tablett fünf dampfende Tassen Kakao.
»Trinken Sie das«, sagte sie, »dann wird es Ihnen besser gehen.« Und das taten wir. Summerlee fragte, ob er seine Pfeife anzünden dürfe und wir anderen rauchten Zigaretten. Das beruhigte zwar, glaube ich, unsere Nerven, war aber dennoch ein Fehler, denn der Rauch schuf in dem stickigen Raum eine noch schlechtere Atmosphäre. Challenger ließ den Ventilator laufen. »Wie lange noch, Challenger?« fragte Lord John. »Vielleicht drei Stunden«, antwortete Challenger schulterzuckend. »Ich hatte zwar Angst«, sagte seine Frau, »aber je näher wir dem Ende kommen, desto leichter ist der Gedanke zu ertragen. Meinst du nicht, daß wir ein Gebet sprechen sollten, George?« »Wenn du willst, kannst du ruhig beten«, antwortete der große Mann mit freundlicher Stimme. »Jeder von uns betet auf seine eigene Art. Meine Art zu beten besteht darin, alles hinzunehmen, was das Schicksal mir auferlegt, und zwar hoffnungsvoll. Die höchste Religion und die höchste Wissenschaft scheinen sich hier zu vereinigen.« »Wenn ich ehrlich bin«, sagte Summerlee grummelnd, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, »bin ich nicht dazu in der Lage, meine geistige Einstellung als hinnahmebereit zu bezeichnen – und schon gar nicht als hoffnungsvoll, Ich ergebe mich dem Schicksal nur, weil ich keine andere Wahl habe und gebe offen zu, daß es mir gefallen hätte, noch ein Jahr mehr zu haben, um meine Klassifikation der Kalkfossilien zu beenden.« »Ihr unvollendetes Werk ist eine Kleinigkeit«, sagte Challenger großsprecherisch, »wenn man es gegen die Tatsache abwägt, daß mein eigenes magnum opus, ›Die Lebensleiter‹, sich immer noch in den ersten Stadien befindet. Mein Wissen, meine Belesenheit, meine Erfahrung – genaugenommen meine gesamte Einmaligkeit – wären in
diesen aufsehenerregenden Band mit eingeflossen. Und dennoch bin ich, wie ich bereits sagte, voller Hinnahmebereitschaft.« »Ich nehme an, daß wir alle irgend etwas Unvollendetes hinter uns zurücklassen«, sagte Lord John. »Was ist es bei Ihnen, junger Freund?« »Ich arbeitete gerade an einem Gedichtband«, antwortete ich. »Nun, jedenfalls ist der Welt das erspart geblieben«, sagte Lord John. »Irgendwie kommt es immer zu einem Ausgleich, wenn man im Ungewissen herumtappt.« »Und was ist mit Ihnen?« fragte ich. »Nun, ich hatte zufälligerweise schon alle Brücken hinter mir abgebrochen. Ich hatte Merivale versprochen, im Frühling nach Tibet zu gehen und einen Schneeleoparden zu erlegen. Aber Sie muß es doch besonders treffen, Mrs. Challenger, wo Sie sich gerade ein solch hübsches Heim eingerichtet haben.« »Mein Heim ist da, wo George ist. Aber, oh, was würde ich nicht dafür geben, noch einmal am frühen Morgen zwischen den Hügeln spazieren zu gehen!« Unsere Herzen warfen ihre Worte zurück. Die Sonne hatte inzwischen den sie verhüllenden, hauchdünnen Nebel durchdrungen und badete den gesamten Wald in goldenem Licht. Für uns, die wir in dieser finsteren und stickigen Atmosphäre saßen, war die herrliche, saubere, windumwobene Landschaft ein Traum reiner Schönheit. Mrs. Challenger streckte verlangend die Hand aus. Wir schoben die Sessel vor uns her und nahmen in einem Halbkreis am Fenster Platz. Die Luft war kaum noch zum aushalten, und mir schien, daß die Schatten des Todes sich immer enger um uns – die letzten unserer Rasse – drängten. Es war, als seien wir auf allen Seiten von eisernen Vorhängen umgeben. »Der Tank wird es nicht mehr allzu lange machen«, sagte Lord John und atmete tief ein.
»Die Tanks sind nicht alle gleich voll«, sagte Challenger. »Es kommt immer darauf an, mit welchem Druck und welcher Sorgfalt man sie füllt. Ich bin allerdings geneigt, Ihnen zuzustimmen, Roxton, dieser hier ist möglicherweise schadhaft.« »Somit werden wir noch in den letzten Stunden unseres Lebens bemogelt«, bemerkte Summerlee bitter. »Dies illustriert, meine ich, vortrefflich die Verderbtheit des Zeitalters, in dem wir lebten. Aber nun, Challenger, ist es an Ihnen, wenn Sie die subjektiven Phänomene der physischen Liquidation noch studieren wollen.« »Setz dich auf den Schemel zu meinen Füßen und gib mir die Hand«, sagte Challenger zu seiner Gattin. »Ich bin der Meinung, meine Freunde, daß ein noch längeres Verbleiben in dieser unerträglichen Atmosphäre kaum ratsam ist. Meinst du nicht auch, mein Schatz?« Mrs. Challenger stieß einen leisen Schrei aus und lehnte den Kopf gegen sein Knie. »Ich habe die Leute während des Winters im Schlangensee baden sehen«, sagte Lord John. »Wenn nur einer oder zwei draußen bleiben, kann man sie trotz ihres Zitterns diejenigen beneiden sehen, die den Sprung gewagt haben. Es sind die, die draußen bleiben, die die Kälte in all ihren Auswirkungen zu spüren bekommen. Ich bin mit allem fertig und stimme für einen Kopfsprung.« »Sie würden das Fenster öffnen und sich der Luft stellen?« »Besser vergiftet als erstickt.« Summerlee gab mit einem zögernden Nicken sein Einverständnis und deutete mit seiner mageren Hand auf Challenger. »Wir haben uns zeitweilig des öfteren in den Haaren gelegen«, sagte er, »aber das ist nun vorbei. Wir waren gute
Freunde, und im Innersten meines Herzens habe ich jeden von Ihnen stets respektiert. Leben Sie wohl!« »Leben Sie wohl, junger Freund!« sagte Lord John. »Aber das Fenster ist zugeklebt. Man kann es nicht öffnen.« Challenger stand auf, zog seine Frau an sich, preßte sie an seine Brust, und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. »Geben Sie mir den Feldstecher, Malone«, sagte er mit ernster Stimme. Ich gab ihn ihm. »In die Hände, die uns geschaffen haben, geben wir uns wieder zurück!« rief Challenger mit seiner Donnerstimme, und als die Worte verklungen waren, warf er den Feldstecher durch die Scheibe. Noch bevor das Klirren des letzten fallenden Glassplitters verklungen war, blies der Wind in unsere geröteten Gesichter – und er schmeckte süß. Ich weiß nicht, wie lange wir in verwunderter Stille dastanden. Dann, wie in einem Traum, vernahm ich erneut Challengers Stimme. »Es herrschen wieder normale Zustände«, rief er aus. »Die Welt hat sich des Giftes entledigt, aber wir sind die einzigen Menschen, die übriggeblieben sind!«
V Die tote Welt
Ich erinnere mich daran, daß wir alle nach Luft ringend in unseren Sesseln saßen, während die herrliche, feuchte, aus dem Südwesten kommende Brise leise die Musselinvorhänge bewegte und unsere erhitzten Gesichter kühlte. Ich frage mich, wie lange wir wohl so dort saßen! Hinterher konnten wir uns auf keine bestimmte Zeit einigen. Wir waren durcheinander, fühlten uns wie gelähmt und halb besinnungslos. Jeder von uns hatte seinen ganzen Mut zusammengenommen, um dem Tod ins Gesicht zu sehen, aber diese erschreckende und plötzliche neue Lage – daß wir weiterleben mußten, nachdem wir die Rasse überlebt hatten, zu der wir gehörten – traf uns mit einem solchen physischen Schock, daß wir gebrochen waren. Dann begannen die unterbrochenen Mechanismen allmählich wieder zu arbeiten; die Erinnerungen überkamen uns; in unseren Köpfen begannen die Gedanken wieder Formen anzunehmen. Mit heller, gnadenloser Klarheit sahen wir die Beziehungen zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft – dem Leben, das wir geführt hatten und dem Leben, das wir nun führen mußten. In schweigendem Entsetzen sahen wir einander an und fanden in den Augen unserer Gegenüber doch nichts als Fragen. Anstatt von Freude überwältigt zu sein, wie es sich gehört, wenn man gerade noch einmal davongekommen ist, wurden wir von einer schrecklichen Welle tiefster Niedergeschlagenheit überspült. Alles, was wir auf Erden geliebt hatten, war in einen riesigen, unendlichen, unbekannten Ozean hinausgeschwemmt worden, während wir uns wie
Schiffbrüchige auf einer Inselwelt fühlten, ohne Gefährten, Hoffnungen oder Erwartungen. Ein paar Jahre lang konnten wir noch wie Schakale zwischen den Gräbern der menschlichen Rasse umherstreifen, dann würde auch unser verspätetes, einsames Ende nahen. »Es ist schrecklich, George, schrecklich!« rief Mrs. Challenger aus, während sie von einem starken Schluchzen geschüttelt wurde. »Wären wir doch nur mit den anderen gestorben! Oh, warum hat man uns verschont? Ich fühle mich, als seien wir tot und um uns herum alles am Leben.« Als Challenger seine haarige Pranke auf die ausgestreckte Hand seiner Gattin legte, zogen seine Brauen sich in nachdenklicher Konzentration zusammen. Mir war aufgefallen, daß sie ihm stets, wenn Schwierigkeiten nahten, die Hände hinhielt wie ein Kind gegenüber seiner Mutter. »Ohne ein Fatalist zu sein, der Widerstand so und so für zwecklos hält«, sagte Challenger, »habe ich stets gemeint, daß die größte Weisheit darin liegt, sich mit dem Bestehenden abzufinden.« Er sprach langsam, und in seiner sonoren Stimme klang ein Anflug von Gefühl mit. »Ich nehme nichts hin«, sagte Summerlee förmlich. »Ich vermag nicht festzustellen, daß es den Teufel schert, ob Sie etwas hinnehmen wollen oder nicht«, bemerkte Lord John. »Sie werden es hinnehmen müssen, egal wie Sie sich auch drehen und wenden. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß jemand Ihre Einwilligung eingeholt hat, bevor all dies begann, und ebenso wenig wird Sie jetzt jemand darum bitten. Ist es nicht völlig gleich, wie wir darüber denken?« »Ungefähr so gleich wie der Unterschied zwischen Zufriedenheit und Unzufriedenheit«, sagte Challenger mit nachdenklichem Gesicht und tätschelte die Hand seiner Frau. »Sie können mit den Gezeiten schwimmen und in Seele und Geist Frieden empfinden, Sie können es aber auch gegen die
Gezeiten wagen und dabei müde werden und Schrammen davontragen. Was hier vorgegangen ist, entzieht sich unserem Einfluß, also sollten wir es akzeptieren und nicht weiter darüber sprechen.« »Aber was, um alles in der Welt, sollen wir nun anfangen?« fragte ich und rief verzweifelt den leeren, blauen Himmel an. »Was, zum Beispiel, soll ich nun tun? Es gibt keine Zeitungen mehr – das ist das Ende meines Berufes.« »Und da es weder etwas zu erlegen noch zu bekämpfen gibt, ist auch für mich nichts mehr zu tun«, sagte Lord John. »Und da es auch keine Studenten mehr gibt, bin auch ich ohne Beschäftigung«, rief Summerlee. »Aber ich habe meinen Gatten und mein Haus, deswegen kann ich dem Himmel danken, daß man mich noch braucht«, sagte Mrs. Challenger. »Was mich angeht«, sagte Challenger, »so sehe ich nicht, wieso ich mich nicht weiter beschäftigen könnte. Schließlich ist die Wissenschaft nicht gestorben, und die Erforschung der Katastrophe wird uns ein breites Betätigungsfeld liefern.« Er hatte jetzt die Fenster geöffnet, und wir blickten hinaus auf die schweigende, bewegungslose Landschaft. »Lassen Sie mich nachdenken«, sagte er. »Es war etwa drei Uhr nachmittags, als die Welt gestern in den Giftstrom eintauchte. Jetzt ist es neun Uhr. Die Frage ist: Um welche Zeit haben wir den Giftstrom verlassen?« »Bei Tagesanbruch war die Luft noch sehr schlecht«, sagte ich. »Und später auch noch«, sagte Mrs. Challenger. »Gegen acht Uhr früh spürte ich das Gefühl des Hustenmüssens, wie am Anfang, besonders stark.« »Dann wollen wir annehmen, daß die Erde den Giftstrom kurz nach acht Uhr verließ. Die Welt hat sich also siebzehn Stunden lang darin aufgehalten. In dieser Zeit hat der Große
Gärtner das Menschengeschlecht, das sich auf der Schale seiner Frucht befindet, sterilisiert. Ob es möglich ist, daß er sein Tagwerk nur unzureichend verrichtet hat – und außer uns noch andere überlebt haben?« »Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Lord John. »Warum sollten wir die einzigen Kiesel sein, die den Strand bevölkern?« »Es ist absurd, anzunehmen, daß außer uns möglicherweise noch andere überlebt haben«, sagte Summerlee mit Überzeugung. »Denken Sie daran, daß das Gift so stark war, daß selbst ein Mann wie Malone, der stark ist wie ein Ochse und so gut wie keine Nerven hat, kaum die Treppe hinaufgehen konnte, bevor er das Bewußtsein verlor. Ist es da nicht ziemlich unwahrscheinlich, daß jemand dies siebzehn Minuten ertragen haben kann – geschweige denn Stunden?« »Außer, jemand hat es kommen sehen und die gleichen Vorbereitungen getroffen wie unser alter Freund Challenger.« »Das ist, glaube ich, ziemlich unwahrscheinlich«, sagte Challenger, schob das Kinn vor und schloß die Augen. »Eine derartige Kombination von Scharfsinn, Handlungsfreudigkeit und vorausschauender Vorstellungskraft, die mich diese Gefahr erkennen ließ, kann man in einer Generation kaum zweimal erwarten.« »Dann lautet Ihre Schlußfolgerung, daß mit Bestimmtheit alle anderen tot sind?« »Man kann es kaum bezweifeln. Wir sollten uns allerdings ins Gedächtnis zurückrufen, daß das Gift sich von unten nach oben voranarbeitete und in höherliegenden atmosphärischen Schichten möglicherweise weniger tödliche Auswirkungen hatte. Es ist in der Tat nur schwer verständlich, daß dies so gewesen sein soll, aber das gibt uns die Möglichkeit, seine Eigenschaften für die Zukunft zu einem faszinierenden Studienfeld zu machen. Es ist deswegen vorstellbar, daß man,
wenn man sich auf die Suche nach weiteren Überlebenden begibt, den Blick am hoffnungsvollsten und mit der größten Erfolgschance auf ein tibetanisches Dorf oder einen Bauernhof in den Alpen richtet, der mehrere tausend Fuß über dem Meeresspiegel liegt.« »Nun, unter dem Gesichtspunkt, daß es weder Eisenbahnen noch Dampfschiffe gibt«, sagte Lord John, »könnten wir uns ebenso gut über etwaige Überlebende auf dem Mond unterhalten. Aber was ich mich frage, ist, ob wir es nun wirklich hinter uns haben oder nur die Halbzeit erleben.« Summerlee reckte den Hals, um den Horizont abzusuchen. »Alles sieht klar und schön aus«, sagte er in einem ziemlich unentschlossenen Tonfall. »Aber so war es gestern auch. Ich bin auf keinen Fall davon überzeugt, daß nun alles vorbei ist.« Challenger zuckte die Achseln. »Wir sollten noch einmal auf unseren Fatalismus zu sprechen kommen«, sagte er. »Wenn die Welt dieses Ereignis schon einmal durchlebt hat – was nicht auszuschließen ist –, muß dies schon sehr lange her sein. Deswegen können wir auch mit wohlbegründeter Hoffnung davon ausgehen, daß es so schnell nicht wieder eintritt.« »Das hört sich alles sehr gut an«, sagte Lord John, »aber wenn Sie den ersten Schock eines Erdstoßes überwunden haben, können Sie ziemlich sicher davon ausgehen, daß der zweite sofort darauf erfolgt. Ich glaube, wir sollten so weise sein und uns die Beine vertreten und ein bißchen Frischluft atmen, solange wir die Möglichkeit dazu haben. Und da unser Sauerstoff sowieso zu Ende ist, spielt es keine Rolle mehr, ob es uns drinnen oder draußen erwischt.« Die tiefe Lethargie, die uns erfaßt hatte, war zwar seltsam, aber als Reaktion auf die starken Emotionen der letzten vierundzwanzig Stunden verständlich. Die Erschöpfung war sowohl körperlicher als auch geistiger Natur und bestand aus
dem tief in uns verwurzelten Gefühl, daß all das uns nicht mehr betraf und alles nur aus sinnloser Anstrengung bestand und Müdigkeit erzeugte. Selbst Challenger hatte diesem Gefühl nachgegeben und blieb, den mächtigen Schädel auf die Hand gestützt und die Gedanken durch die Ferne schweifen lassend, in seinem Sessel sitzen, bis Lord John und ich ihn an den Armen Packten, einigermaßen auf die Beine stellten – und dafür den Blick und das Knurren eines wütenden Bullenbeißers ernteten. Als wir jedoch den beengten Hafen unseres Refugiums verlassen hatten und in die geräumigere Atmosphäre des täglichen Lebens hinausgeschritten waren, kehrte die altvertraute Energie schließlich wieder in unsere Körper zurück. Was aber sollten wir auf diesem irdischen Friedhof als erstes tun? Ob je ein Mensch seit dem Anbeginn der Zeiten mit dieser Frage konfrontiert worden ist? Zwar entsprach es der Wahrheit, daß unsere körperlichen Bedürfnisse für die Zukunft gesichert waren – schließlich brauchten wir uns nur in den Warenhäusern, Weinkellern und Schatzkammern zu bedienen –, aber was sollten wir tun? Einige Dinge erledigten wir sofort, zumal sie uns direkt ins Auge stachen. Wir gingen in die Küche hinunter und legten die beiden Domestiken in ihre Betten. Sie schienen gestorben zu sein, ohne gelitten zu haben: die eine auf einem Stuhl neben dem Feuer, die andere auf dem Boden der Spülküche. Dann holten wir den armen Austin ins Haus. Seine Muskeln waren hart wie Drahtseile und übertrafen eine gewöhnliche Leichenstarre um ein Vielfaches. Seine Gesichtsmuskulatur war so verzerrt, daß er sardonisch vor sich hinzugrinsen schien. Dieses Symptom zeigte sich an allen Menschen, die an dem Gift gestorben waren. Wohin wir auch gingen, überall sahen wir uns mit diesen grinsenden Gesichtern konfrontiert, die unsere bedauerliche Lage zu verspotten schienen. Alle
lächelten grimmig und still über das Schicksal der letzten überlebenden ihrer eigenen Rasse. »Schauen Sie«, sagte Lord John, der im Speisezimmer unruhig auf und ab ging, während wir etwas aßen, »ich habe keine Ahnung, wie Sie darüber denken, aber was mich angeht, so kann ich nicht einfach hier herumsitzen und nichts tun.« »Vielleicht«, antwortete Challenger, »könnten Sie die Freundlichkeit haben und uns sagen, was wir nach Ihrer Meinung tun sollten.« »Wir sollten uns auf den Weg machen und nachsehen, was passiert ist.« »Genau das hätte ich auch vorgeschlagen.« »Aber nicht in diesem kleinen Bauerndorf. Was dort geschehen ist, können wir auch vorn Fenster aus erkennen.« »Wohin sollten wir also Ihrer Meinung nach gehen?« »Nach London!« »Das hört sich ja alles recht gut an«, brummte Summerlee. »Und möglicherweise macht Ihnen ein Spaziergang von vierzig Meilen nichts aus. Aber was Challenger und seine Stummelbeine angeht, bin ich mir da nicht so sicher, und was mich betrifft, habe ich nicht den geringsten Zweifel.« Challenger war äußerst verletzt. »Wenn Sie in der Lage wären, sich selbst eingehend zu betrachten, Sir«, rief er aus, »würden Sie recht schnell merken, daß Ihre körperliche Verfassung genügend Grund zum Kommentieren bietet.« »Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu beleidigen, mein lieber Challenger«, rief unser taktloser Freund. »Denn schließlich kann man Sie ja nicht für Ihr Aussehen verantwortlich machen. Wenn die Natur Sie mit einer untersetzten Gestalt ausgestattet hat, kann man eben nichts daran ändern, wenn man Stummelbeine besitzt.«
Challenger war zu wütend, um darauf antworten zu können. Statt dessen ging er darüber hinweg, brummte und fletschte die Zähne. Lord John beeilte sich, in das Gespräch einzugreifen, bevor die Diskussion in Gewalttätigkeiten ausartete. »Sie sprechen vom Gehen. Warum sollten wir das überhaupt?« fragte er. »Schlagen Sie vor, daß wir den Zug nehmen?« gab Challenger, der noch immer kochte, zurück. »Was ist denn mit dem Wagen? Warum sollten wir ihn nicht nehmen?« »Ich bin kein Experte«, sagte Challenger nachdenklich und strich sich über den Bart, »aber Sie haben natürlich vollkommen recht, wenn Sie meinen, daß der menschliche Geist in seinen höheren Stadien absolut dazu in der Lage ist, auch solche kleinen Hindernisse zu überwinden. Ihre Idee ist ausgezeichnet, Lord John. Ich selbst werde Sie alle nach London fahren.« »Das werden Sie auf keinen Fall tun«, sagte Summerlee entschieden. »Nein, George, das wirst du nicht tun!« rief Mrs. Challenger aus. »Das hast du schon einmal versucht. Erinnerst du dich nicht daran, daß du dabei durch die Garagentür gefahren bist?« »Das war nur ein zeitweiliger Mangel an Konzentration«, sagte Challenger überheblich. »Du kannst diese Angelegenheit als abgeschlossen ansehen. Natürlich werde ich euch alle nach London fahren.« Es war Lord John, der die Situation entspannte. »Was für ein Fabrikat haben Sie?« fragte er. »Einen Humber, zwanzig PS.« »Na so was – einen solchen Wagen habe ich doch jahrelang selbst gefahren«, erwiderte Lord John. »Bei George!« fügte er dann hinzu. »Ich hätte mir nie träumen lassen, einmal die ganze Menschheit in einem Auto herumzukutschieren. Soweit
ich mich erinnern kann, bietet er Platz für fünf Personen. Machen Sie sich fertig, um zehn Uhr stehe ich vor der Tür.« Pünktlich auf die Minute fuhr der Wagen mit Lord John am Steuer schnurrend und hustend vor. Ich nahm neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz, während Mrs. Challenger sich – wie ein uns allen dienlicher Prellbock – zwischen die beiden hinten sitzenden Streithähne quetschte. Lord John löste die Bremsen, schaltete in kurzer Zeit vom ersten auf den dritten Gang, und wir fuhren los. Es war die seltsamste Fahrt, die ein Mensch seit dem Anbeginn der Zeit unternommen hatte. Man muß sich die Lieblichkeit der Natur an diesem Augusttag, die Frische der Morgenluft, das goldene Leuchten des Sommersonnenscheins, den wolkenlosen Himmel, das herrliche Grün der Wälder von Sussex und das tiefe Purpur der heidekrautbedeckten Downs nur einmal vorstellen. Wenn man auf die vielfarbige Schönheit der Umgebung hinabsah, mußte einem einfach jeder Gedanke an die große Katastrophe aus dem Bewußtsein schwinden – wäre nicht die bedrohliche, feierliche, alles umfassende Stille gewesen. Das behäbige Pulsieren des Lebens, das einem dichtbevölkerten Landstrich nicht nur zu eigen, sondern auch so tief und beständig ist, daß man es wie ein Küstenbewohner, der an das Wellengemurmel gewöhnt ist, gar nicht mehr wahrnimmt; das Vogelgezwitscher, das Summen der Insekten, das Blöken der Rinder, das ferne Gebell von Hunden, das Schnaufen der Züge und das Rumpeln von Wagen – all diese Geräusche formen eine leise, kaum merkbare Kulisse, die auf das Ohr einwirkt. Jetzt vermißten wir sie. Die tödliche Stille war schrecklich, Sie war so ernst und beeindruckend, daß uns das Gebrumm und Gerappel unseres Fahrzeuges wie eine unverantwortliche Störung, eine ungebührliche Geringschätzung dieser ehrfurchtgebietenden Stille erschien, die sich wie ein Leichentuch über die Ruinen der Menschlichkeit legte. Es
waren die grauenhafte Stille und die großen Rauchwolken, die hier und da über den noch schwelenden Landhäusern schwebten, die einen Keil der Niedergeschlagenheit in unsere Herzen trieb, als wir das herrliche Panorama des Weald musterten. Und dann die Toten! Zuerst erfüllten uns die endlosen Ansammlungen der verzerrt grinsenden Gesichter mit einem Grauen, das uns schüttelte. Die Eindrücke, die ich empfing, waren so klar und ätzend, daß ich mir noch genau vorzustellen vermag, wie wir den kleinen Abhang des Station Hill hinabfuhren, an dem Hausmädchen und den beiden kleinen Kindern vorbeikamen und uns den alten Gaul ansahen, der immer noch zwischen den Deichseln lag, während der Kutscher verdreht auf seinem Sitz hockte und der junge Fahrgast den Türknauf festhielt, als hätte er abzuspringen versucht. Weiter unten stießen wir auf sechs Schnitter, die in einem wirren Haufen neben- und übereinander lagen und mit toten, geöffneten Augen in den hellen Himmel starrten. Ich sehe diese Dinge vor mir wie auf einer Fotografie. Aber bald weigerten sich dank der gnadenvollen Umsicht der Natur unsere überreizten Nerven, darauf zu reagieren. Die Allgegenwärtigkeit des Grauens verlor jeden individuellen Schrecken. Der Einzelne verschwamm in der Gruppe, die Gruppen verschmolzen zu Massen, und aus den Massen wurde ein universelles Phänomen, das man bald als unausweichliches Detail der Gesamtheit akzeptierte. Nur hin und wieder, wo ein besonders brutaler oder grotesker Anblick unsere Aufmerksamkeit erregte, reagierte das Bewußtsein des Einzelnen mit einem plötzlichen Schock. Am meisten nahmen uns die Schicksale der Kinder mit. Ich erinnere mich daran, daß wir das ihre als besonders ungerecht empfanden. Wir hätten in Tränen ausbrechen können – was Mrs. Challenger auch tat –, als wir an der großen Dorfschule
vorbeikamen und eine lange Reihe kleiner Gestalten auf der Straße liegen sahen, die von ihr wegführte. Sie waren von ihren entsetzten Lehrern allein gelassen worden und hatten sich, als das Gift sie überfallen hatte, auf dem Heimweg befunden. Sehr viele Leute hingen aus den offenen Fenstern ihrer Häuser. In Tunbridge Wells fanden wir so gut wie niemanden, der nicht dieses starr lächelnde Gesicht aufwies. Im letzten Augenblick schien das fordernde Verlangen nach Sauerstoff, das einzig und allein wir hatten befriedigen können, die Menschen zu den Fenstern getrieben zu haben. Auch die Bürgersteige waren mit barhäuptigen Männern und Frauen bedeckt, die es, in den Häusern nicht mehr ausgehalten hatten. Viele davon lagen auf den Straßen, und wir konnten es uns als Glück anrechnen, daß wir in Lord John einen Fahrer gefunden hatten, der mit der Schwierigkeit, einen befahrbaren Weg zu finden, bewundernswert fertig wurde. Während wir die Dörfer und kleinen Städte durchquerten, konnten wir natürlich nur im Schrittempo fahren, und einmal, daran erinnere ich mich, mußten wir gegenüber der Schule von Tonbridge anhalten, um die Leichen wegzuräumen, die uns den Weg versperrten. Ein paar kleine, bestimmte Bilder dieses Todespanoramas der Hauptverkehrsstraßen von Sussex und Kent sind mir besonders deutlich im Gedächtnis haften geblieben. Eines davon ist das eines großen, blitzenden Kraftwagens, der vor einem Lokal in dem Dörfchen Southborough stand. In seinem Inneren hielten sich einige Leute auf, die, wie ich vermute, von einer Vergnügungsreise aus Brighton oder Eastbourne zurückgekehrt waren. Ich sah drei farbenfroh gekleidete, ausnahmslos junge und hübsche Frauen, von denen eine auf ihrem Schoß einen Pekinesen festhielt. In ihrer Gesellschaft befanden sich ein verlebt aussehender älterer Mann und ein junger Aristokrat, dem nicht einmal das Monokel aus dem Auge gefallen war und der zwischen den Fingern seiner
behandschuhten Rechten eine heruntergebrannte Zigarette hielt. Der Tod mußte sie in dem Moment ereilt haben, als sie Platz genommen hatten. Wenn man außer acht ließ, daß der ältere Mann bei dem Versuch, mehr Luft zu bekommen, seinen Kragen aufgerissen hatte, konnte man sie für Schlafende halten. Neben dem Wagen, nahe der Treppe, die zum Lokal hinaufführte, lag ein Kellner zwischen zerbrochenen Gläsern und einem Tablett. Auf der anderen Seite entdeckte ich zwei abgerissene Landstreicher, einen Mann und eine Frau, die dort lagen, wo sie hingefallen waren. Der Mann streckte einen Arm aus, als wolle er, wie in seinem ganzen Leben zuvor, jemanden um ein Almosen bitten. Ein einziger zeitlicher Moment hatte genügt, um aus Aristokrat, Kellner, Landstreicher und Hund das gleiche zu machen: inaktives, zerfallenes Protoplasma. Ich erinnere mich aber noch an ein zweites Bild. Es war auf der London zugewandten Seite von Sevenoaks. Dort befindet sich linkerhand ein großes Nonnenkloster, vor dem sich ein langer, grüner Abhang nach unten zieht. Auf diesem Abhang hatte sich eine große Anzahl von Schulkindern versammelt, die auf den Knien hockten und beteten. Vor ihnen, in gleicher Haltung, eine Reihe von Nonnen und etwas über ihnen eine einzelne Gestalt, von der wir annahmen, sie sei die Oberin. Im Gegensatz zu den Ausflüglern in dem Wagen schienen diese Leute vor die auf sie zukommende Gefahr vorbereitet gewesen und einträchtig miteinander gestorben zu sein. Lehrer und Schüler hatten sich gemeinsam zu ihrer letzten Lektion zusammengefunden. Noch immer ist mein Geist von dieser schrecklichen Erfahrung wie gelähmt, und ich suche verzweifelt nach einer Ausdrucksmöglichkeit, um die Gefühle aufzuzeigen, die uns damals bewegten. Vielleicht aber ist es am besten und weisesten, dies gar nicht erst zu versuchen und statt dessen die Fakten für sich sprechen zu lassen. Selbst Summerlee und
Challenger waren zutiefst getroffen, und abgesehen von einem gelegentlichen Weinen unserer einzigen Dame, hörten wir von unseren hinter uns sitzenden Geführten keinen Laut. Was Lord John anging, so war er zu stark mit der Steuerung und dem Ausschauhalten nach befahrbaren Wegen beschäftigt, als daß er Zeit gehabt hätte, sich an einem Gespräch zu beteiligen. Eine bestimmte Phrase, die er mit blutstauender Monotonie unablässig wiederholte, ist mir im Gedächtnis haften geblieben und brachte mich – als Kommentar zum Tag des Untergangs – sogar zum Lachen. »Maßarbeit, was?« Das war sein Stoßgebet bei jeder neuen Kombination von Tod und Desaster, die sich vor uns ausbreitete. »Maßarbeit, was?« rief er aus, als wir den Station Hill bei Rotherfield hinabfuhren, und es war immer noch »Maßarbeit, was?« als wir uns einen Weg durch die Wildnis des Todes in der High Street von Lewisham und der Old Kent Road bahnten. Hier war es übrigens, wo wir alle von einem plötzlichen, verwirrenden Schock heimgesucht wurden. Aus dem Fenster eines niedrigen Eckhauses streckte sich nämlich ein langer, magerer Arm hervor und winkte mit einem Taschentuch. Nicht einmal der Anblick des allgegenwärtigen Todes hatte unsere Herzen dermaßen zum Anhalten gebracht und dann so wild losschlagen lassen wie dieser unerwartete Hinweis auf Leben. Lord John fuhr den Wagen an den Bordstein, und kurz darauf eilten wir durch die offene Haustür eine Treppe hinauf ins zweite Stockwerk, aus dem das Signal gekommen war. Am offenen Fenster saß eine sehr alte Dame in einem Sessel. Neben ihr, auf einem zweiten, befand sich eine Sauerstoffflasche, die zwar kleiner war, aber die gleichen Formen aufwies wie jene, die auch unser Leben gerettet hatten. Als wir uns im Eingang versammelten, wandte sie uns ihr mageres, gezeichnetes Gesicht zu. Sie trug eine Brille.
»Ich fürchtete schon, man hätte mich ganz allein hier zurückgelassen«, sagte sie. »Ich bin nämlich Invalide und kann mich nicht rühren.« »Nun, Madam«, sagte Challenger, »man kann wohl von Glück sagen, daß wir gerade des Weges kamen.« »Ich möchte Ihnen eine hochnotwichtige Frage stellen«, sagte die alte Dame. »Und bitte, Gentlemen, seien Sie offen zu mir. Welche Auswirkungen haben diese Ereignisse auf London und die Aktien der North-Western-Railways?« Hätte sie nicht mit einer solch tragischen Ungeduld auf eine Antwort gewartet – es wäre zum Lachen gewesen. Mrs. Burston – so lautete ihr Name – war eine alte Witwe, deren Einkommen ganz und gar von ein paar Eisenbahnaktien abhing. Ihr Leben war vom Anstieg und Fall der Dividende bestimmt worden, und so vermochte sie sich nicht vorzustellen, wovon sie leben sollte, wenn die Kurse ins Wanken gerieten. Vergebens erklärten wir ihr, daß sie nun über alles Geld in der Welt verfügen könne und es ihr trotzdem nichts nütze, wenn sie es nähme. Ihr alter Geist konnte sich jedoch an diesen neuen Gedanken nicht mehr gewöhnen, und so beweinte sie laut den Verlust ihrer Papiere. »Es war alles, was ich hatte«, klagte sie. »Wenn ich das nicht mehr habe, will ich auch nicht mehr leben.« Während sie vor sich hinweinte, fanden wir heraus, wie dieses alte Pflänzchen gelebt hatte, während rings um sie herum der Wald abgeholzt worden war. Sie war eine anerkannte Invalidin und Asthmatikerin. Da sie zum Leben Sauerstoff benötigte, hatte sich zum Zeitpunkt der Krise natürlich auch ein Tank in ihrem Zimmer befunden. Als sie die Atembeschwerden gefühlt hatte, war sie – wie üblich – zum Inhalieren übergegangen. Das hatte ihr Linderung verschafft, und da sie mit dem Inhalt der Flasche sparsam umgegangen war, hatte sie die Nacht überlebt. Schließlich war sie eingeschlafen. Der Motor unseres Wagens hatte sie
geweckt. Da es keine Möglichkeit gab, sie mitzunehmen, und wir feststellten, daß sie mit allem versehen war, was sie zum Leben brauchte, versprachen wir ihr, allerspätestens in ein paar Tagen zurückzukehren. Während sie immer noch bitterlich über ihre nun wertlosen Aktien weinte, verließen wir sie. Als wir die Themse erreichten, wurden die Straßenblockaden immer dichter und die Hindernisse immer verwirrender. Nur unter allergrößten Schwierigkeiten gelang es uns, die London Bridge zu überqueren. Die Zufahrtsstraßen auf der MiddlesexSeite waren vom Anfang bis zum Ende mit Verkehrsmitteln verstopft und machten jeden weiteren Vorstoß in diese Richtung unmöglich. An den in Brückennähe gelegenen Piers brannte ein Schiff. Die Luft war voll von umhertreibenden Rußflocken und dem ätzenden Geruch von Verbranntem. Irgendwo in der Nähe des Parlamentsgebäudes schwebte eine dichte Rauchwolke, aber es gelang uns nicht herauszufinden, was da in Flammen aufgegangen war. »Ich weiß nicht, wie Sie es sehen«, bemerkte Lord John, »aber mir scheint, daß es auf dem Land wesentlich zuversichtlicher aussieht als hier. Das tote London drückt mir auf die Nerven. Ich schlage vor, daß wir uns nur kurz umsehen und dann nach Rotherfield zurückkehren.« »Ich muß zugeben, daß ich auch nicht verstehe, was wir uns hier noch erhoffen können«, sagte Professor Summerlee. »Und dennoch«, sagte Challenger, dessen dröhnende Stimme in der herrschenden Stille ganz verändert klang, »vermag man sich kaum vorzustellen, daß es von sieben Millionen Menschen nur dieser einen alten Frau gelungen sein soll, aufgrund ihrer körperlichen Andersartigkeit diese Katastrophe zu überleben.« »Falls es noch andere geben sollte – wie können wir sie dann finden, George?« fragte seine Gattin. »Ich bin ganz deiner Meinung, daß wir erst dann zurückkehren sollen, nachdem wir es zumindest versucht haben.«
Wir stiegen aus, ließen den Wagen am Bordstein zurück und bewegten uns unter großen Schwierigkeiten über das Straßenpflaster der mit Menschen vollgestopften King William Street hinweg, bis wir durch eine offene Tür ein großes Versicherungsbüro betraten. Da dieses in einem Eckhaus lag, nutzten wir die Chance, uns in jeder Richtung umzusehen. Wir gingen eine Treppe hinauf und durchquerten ein Zimmer, von dem ich annehme, daß es sich um einen Sitzungsraum handelte, da in seinem Mittelpunkt acht ältere Männer um einen langen Tisch herum saßen. Da die Balkontür geöffnet war, begaben wir uns hinaus. Von hier aus konnten wir die in alle Himmelsrichtungen führenden, vollgestopften Straßen überblicken. Die Straße, die direkt unter uns lag, war von einem Ende zum anderen schwarz, und das lag an den Dächern der bewegungslos dastehenden Taxen. Alle – oder beinahe alle – hatten ihre Schnauzen nach auswärts gerichtet und zeigten uns, daß die verschreckten Stadtmenschen im letzten Moment den verzweifelten Versuch unternommen hatten, zu ihren Familien in den Vororten oder auf dem Land zurückzukehren. Inmitten der einfachen Taxen konnte man hier und da den großen, chromglänzenden Wagen eines wohlhabenden Magnaten erkennen, den der Strom des schließlich doch zum Erliegen gekommenen Verkehrs eingekeilt hatte. Eines dieser großen, luxuriösen Fahrzeuge stand genau unter uns. Sein Besitzer, ein fetter, alter Mann, lehnte halb aus dem Fenster, während seine feiste, von funkelnden Diamanten verzierte Hand nach vorne zeigte, als sei er im Begriff, seinen Chauffeur zu drängen, einen letzten Versuch zu unternehmen, aus der Blechlawine auszubrechen. Ein Dutzend Busse erhoben sich wie Inseln aus dieser Fahrzeugflut. Die Fahrgäste, die die Plattformen bevölkerten, lagen wild durcheinander und wirkten wie Spielzeugpuppen, die jemand achtlos verstreut hatte. Auf einem inmitten der
Straße liegenden Lampensockel stand ein vierschrötig aussehender Polizist, der in solch natürlicher Weise mit dem Rücken an dem Laternenpfahl lehnte, daß man sich kaum vorstellen konnte, daß er nicht lebte. Vor seinen Füßen lag ein in Lumpen gekleideter Zeitungsjunge, von Blättern umgeben. Ein Reklameaufsteller, der inmitten der Menge stand, verkündete in großen roten Lettern auf gelbem Untergrund »Skandal im House of Lords. Länderspiel abgebrochen«. Das mußte die Frühausgabe gewesen sein, denn andere Aufsteller trugen die Schlagzeile »Ist dies das Ende? Ein großer Wissenschaftler warnt«. Auf einem anderen stand: »Ist Challenger rehabilitiert? Unheilverkündende Gerüchte.« Den letzten Aufsteller, der sich wie ein Banner über all die anderen erhob, zeigte Challenger seiner Gattin. Als er ihn ansah, stellte ich fest, daß er sich in die Brust warf und seinen Bart kraulte. Es schmeichelte und freute diesen komplexen Geist, daß London im Gedanken an ihn und seine Worte untergegangen war. Seine Gefühle waren so offensichtlich, daß sie auf der Stelle einen sardonischen Kommentar seines Kollegen hervorriefen. »Bis zum letzten Moment im Rampenlicht, Challenger«, bemerkte Summerlee. »Es hat fast den Anschein«, antwortete Challenger selbstgefällig. »Nun«, fügte er hinzu, während er einen langen Blick auf die vollgestopften, stillen und vom Tode gezeichneten Straßen warf, »ich glaube wirklich, daß es niemandem mehr dienlich sein kann, wenn wir noch länger in London bleiben. Ich schlage vor, daß wir auf der Stelle nach Rotherfleld zurückfahren und darüber beratschlagen, wie wir die Jahre, die nun vor uns liegen, auf die profitabelste Weise verbringen wollen.« Ich will nur noch ein Beispiel von dem geben, was wir in unseren Gedanken aus der toten Stadt mit uns zurücknahmen.
Es handelt sich um einen Blick, den wir in das Innere der alten Kirche von St. Mary warfen, die genau an der Stelle steht, wo wir unseren Wagen geparkt hatten. Wir suchten uns einen Weg durch die auf den Treppenstufen hingestreckten Gestalten, drückten die Schwingtür auf und traten ein. Der Anblick, der sich uns bot, war überwältigend. Die Kirche war voller kniender Gestalten, die jede nur mögliche Haltung der Demut einnahmen. Im letzten, bedrohlichen Moment, bei der plötzlichen Gegenüberstellung mit den Realitäten des Lebens – jenen entsetzlichen Realitäten, die sogar über uns hängen, während wir den Schatten folgen – waren die verschreckten Menschen in die alten Stadtkirchen geeilt, die derartige Ansammlungen wohl seit Generationen nicht mehr gesehen hatten. Hier kauerten sie sich nieder und knieten dichtgedrängt nebeneinander. Viele der Anwesenden hatten in der Aufregung vergessen, sich ihrer Kopfbedeckungen zu entledigen. Über ihnen, in der Kanzel, lag ein Mann in der Kleidung eines Laienpredigers, der in dem Augenblick, als das Schicksal sie alle ereilt hatte, offensichtlich auf die Menge eingeredet hatte. Wie eine Kasperlepuppe hing er vornübergebeugt über den Kanzelrand, seine Arme baumelten leblos herunter. Die graue, staubige Kirche war für uns ein Alptraum, und dazu kamen noch die Reihen der erstarrten Gestalten und die überall herrschende Stille. Wir bewegten uns auf Zehenspitzen und vermochten uns nur im Flüsterton zu unterhalten. Und dann hatte ich plötzlich eine Idee. In einer Ecke der Kirche, nahe der Tür, befand sich ein altes Weihwasserbecken, und dahinter – in einer Nische – gewahrte ich die Seile, mit denen man die Glocken in Bewegung versetzte. Warum sollten wir nicht eine Botschaft durch London schicken, die die Aufmerksamkeit eines jeden erwecken mußte, der noch am Leben war? Ich durchquerte den Raum, zog an einem von einer Webkante umhüllten Seil und stellte mit Verwunderung
fest, daß es ziemlich schwer war, die Glocken zum Läuten zu bringen. Lord John war mir gefolgt. »Bei George, junger Freund«, sagte er und entledigte sich seines Jacketts. »Ihre Idee ist wirklich vortrefflich. Lassen Sie mich Ihnen helfen, dann wird es leichter gehen.« Aber auch mit seiner Unterstützung erwies sich die Glocke noch als so schwer, daß wir die zusätzliche Hilfe von Challenger und Summerlee in Anspruch nehmen mußten, bis über uns das donnernde Scheppern erklang, das uns davon in Kenntnis setzte, daß wir endlich Erfolg gehabt hatten. Weit über London hinweg erscholl unsere kameradschaftliche Botschaft, die jedem Überlebenden Hoffnung geben mußte. Der laute, metallische Klang ließ unsere Herzen frohlocken, woraufhin wir unsere Arbeit noch ernster nahmen. Jedesmal, wenn das Glockenseil nach oben schwang, wurden wir zwei Fuß in die Luft gehoben, machten uns schwer, um wieder nach unten zu kommen, und Challenger, der kleinste von uns, widmete sich dieser Tätigkeit mit seinem ganzen Gewicht, hüpfte auf und nieder wie ein riesiger Ochsenfrosch und stieß jedesmal ein Krächzen aus. Es war der richtige Augenblick für einen Künstler, ein Bild von vier Abenteurern zu machen. Wir waren Gefährten, die viele gemeinsame Gefahren überstanden hatten und nun vom Schicksal dazu auserwählt worden waren, eine noch überwältigendere Erfahrung zu machen. Eine halbe Stunde lang arbeiteten wir ununterbrochen vor uns hin, bis uns der Schweiß in Bächen von der Stirn lief, und unsere Rücken und Arme vor Anstrengungen schmerzten. Dann begaben wir uns in den Säulengang der Kirche hinaus und suchten mit unseren Blicken erwartungsvoll die schweigenden, mit Toten gepflasterten Straßen ab. Aber unsere Mühen wurden weder durch ein Geräusch noch eine Bewegung belohnt. »Es hat keinen Zweck. Es ist niemand übriggeblieben«, rief ich aus.
»Mehr können wir nicht tun«, sagte Challenger. »Laß uns um Himmels willen nach Rotherfield zurückkehren, George. Wenn ich noch eine Stunde in dieser schweigenden, schrecklichen Stadt verbringe, werde ich wahnsinnig.« Ohne ein weiteres Wort bestiegen wir unseren Wagen. Lord John wendete und hielt dann nach Süden zu. Für uns war dieses Kapitel beendet – und von dem, das noch auf uns zukommen sollte, wußten wir so gut wie nichts.
VI Das große Erwachen
Und nun komme ich zum Ende dieses, außergewöhnlichen Ereignisses, dessen Gewicht nicht nur unser eigenes kleines, individuelles Leben, sondern auch die allgemeine Geschichte der menschlichen Rasse überschattet. Wie ich bereits zu Anfang meiner. Erzählung bemerkte, wird dieser Zwischenfall, wenn er in die Historie eingeht, alle anderen um Längen überragen. Es war unserer Generation vorbehalten, dieses unvermeidliche Ereignis zu erleben, da das Schicksal sie dazu auserwählt hat, eine wundersame Erfahrung zu machen. Wie lange die Auswirkungen noch zu spüren sein werden – wie lange die Menschheit die Bescheidenheit und Ehrfurcht widerspiegeln wird, die der große Schock in ihr erzeugte, kann nur die Zukunft erweisen. Ich glaube aber, man kann sagen, daß die Dinge nie wieder so sein werden wie früher. Man wird sich seiner Machtlosigkeit und Unwissenheit erst dann bewußt, wenn man erfährt, wie schnell man von einer ungesehenen Hand in seine Schranken verwiesen werden kann, wenn sie sich ballt und zum Schlage ausholt. Wir sind dem Tode ziemlich nahe gewesen und wissen, daß er jederzeit erneut zuschlagen kann. Seine grimmige Gegenwart überschattet unser Dasein. Wer aber könnte leugnen, daß in seinem Schatten Pflichtbewußtsein, Nüchternheit, die Würdigung der gewichtigen Dinge des Lebens und das ernsthafte Streben nach Selbstvervollkommnung und Besserung in uns wuchs und sich dermaßen verdichtet hat, daß sie in jeder Faser unserer Gesellschaft spürbar ist? Wir sind über Engstirnigkeiten und
Dogmen hinausgewachsen. Unsere Perspektive hat sich gewandelt, und uns ist klar geworden, daß wir nicht mehr sind, als bedeutungslose und vergängliche Kreaturen, die der Gnade des erstbesten kalten Windes aus dem Unbekannten ausgeliefert sind. Aber wenngleich die Welt aufgrund dieses Wissens ein wenig ernster geworden ist, scheint sie mir deswegen nicht gleichzeitig auch ein schwermütigerer Ort geworden zu sein. Gewiß stimmen wir darin überein, daß die nüchternen und maßvollen Freuden der Gegenwart sowohl tiefergehenderer als auch reiferer Natur sind, als jene närrischen, lauten Gedränge, die in den alten Zeiten so oft als Vergnügen empfunden wurden. Die alte Zeit ist kaum vergangen – und doch scheint sie uns so fern. Das alte, leere Dasein, das wir in ziellosen Besuchen und Gegenbesuchen vergeudeten, wobei unsere ganze Sorge unnötig aufwendigen Haushalten und der Zubereitung und dem Arrangement ausgeklügelter, langwieriger Mahlzeiten galt, ist nun einer gesunden Entspannung gewichen, die sich mit Literatur und Musik und freundlich-familiärer Kommunikation beschäftigt und unsere Zeit besser und einfacher nutzt. Wir sind gesunder als zuvor und genießen die Freuden des Lebens herzlicher; deswegen sind wir auch reicher als früher, selbst nachdem wir für die Anhebung dieser Lebensqualität einen hohen Preis in eine gemeinsame Kasse zahlen mußten. Was die genaue Stunde des großen Erwachens angeht, so ist man hier nicht einer Meinung. Allgemein geht man jedoch davon aus, daß – abgesehen von den einzelnen Zeitzonen – möglicherweise die örtlichen Gegebenheiten das Zurückweichen des Giftes beeinflußten. In jedem einzelnen Landstrich fand die Wiedererweckung praktisch zur gleichen Stunde statt. Es gibt zahlreiche Zeugen, die aussagten, daß Big Ben in diesem Moment zehn Minuten nach sechs zeigte. Der Astronom Royal hat die Zeit auf zwölf Minuten nach sechs
(Greenwich) festgelegt. Andererseits nennt Laird Johnson, ein sehr tüchtiger Beobachter aus East Anglia, als Zeitpunkt des Erwachens sechs Uhr zwanzig. Auf den Hebriden soll es sieben Uhr gewesen sein. In unserem eigenen Fall kann es allerdings keinerlei Zweifel geben, da ich in diesem Augenblick in Challengers Arbeitszimmer saß und sich seine peinlich genau eingestellte Uhr genau vor mir befand. Es war viertel nach sechs. Eine enorme Niedergeschlagenheit lastete auf meinem Geist. Der kumulative Effekt all jener schrecklichen Dinge, die wir während unserer Reise gesehen hatten, bedrückte mich seelisch sehr stark. Da ich von nahezu strotzender Gesundheit war und über große körperliche Kräfte verfügte, kam es ziemlich selten vor, daß mich eine solche Stimmung überfiel. Zudem verfügte ich über die typisch irische Gabe, noch in der finstersten Dunkelheit einen Funken von Humor zu erkennen. Nun aber war die Dunkelheit furchtbar und schien nicht mehr enden zu wollen. Die anderen hielten sich unten auf und machten Pläne für die Zukunft. Ich saß am offenen Fenster, hatte das Kinn auf meine Hand gestützt und war bewußtseinsmäßig ganz vom Elend unserer Situation gefangen. Konnten wir einfach so weiterleben? Das war die Frage, die ich mir zu stellen begonnen hatte. War es überhaupt möglich, auf einer toten Welt zu existieren? So wie sich in der Physik der größere Körper auf den kleineren zubewegt – würden wir uns nicht mit überwältigender Kraft zu jenem gewaltigen Körper der Menschheit hingezogen fühlen, der bereits den Weg ins Unbekannte angetreten hatte? Wie würde unser Ende sein? Würden wir sterben, indem das Gift zurückkehrte? Oder würde sich die Erde aufgrund der erstickenden Produkte universeller Verwesung als unbewohnbar erweisen? Und schließlich: Konnte unsere gräßliche Lage dazu führen, daß wir den Verstand verloren? Eine Gruppe Wahnsinniger auf einer toten
Welt! Ich war noch ganz von diesem Gedanken gefangen, als ein leises Geräusch mich dazu veranlaßte, auf die unter mir liegende Straße hinabzuschauen. Das alte Kutschpferd kam den Hügel hinauf! Im gleichen Moment hörte ich das Zwitschern von Vögeln, das Husten eines sich unter mir im Garten aufhaltenden Menschen und nahm irgendwo vor mir in der Landschaft eine Bewegung wahr. Ich erinnere mich daran, daß es hauptsächlich dieser absurde, abgemagerte und überalterte Klepper war, der meinen Blick gefangenhielt. Langsam keuchend erklomm er den Hügel. Dann wanderte mein Blick zu dem Kutscher, der zusammengekrümmt auf dem Kutschbock saß – und schlußendlich zu dem jungen Mann, der sich ein wenig überrascht aus dem Wagenfenster lehnte und irgendeine Anweisung rief. Sie waren ganz offensichtlich am Leben und kein bißchen geschwächt! Alle Menschen lebten wieder! War alles nur eine Täuschung gewesen? Bestand die Möglichkeit, daß alles, was wir erlebt hatten, nur auf einer Halluzination beruhte? Einen Moment lang war mein verwirrter Geist wirklich bereit, dies zu glauben, aber dann schaute ich nach unten und gewahrte die große Blase, die ich mir beim Ziehen der Glockenseile zugezogen hatte. Es war also alles Wirklichkeit gewesen. Und trotzdem erwachte die Welt wieder zum Leben – von einer Sekunde zur anderen wurde der ganzen Welt die Existenz zurückgegeben. Und dann, als mein Blick über die weitgedehnte Landschaft wanderte, sah ich es überall. Die Welt bewegte sich wieder – und zu meinem Erstaunen mit der gleichen Geschwindigkeit, in der sie zum Stillstand gekommen war. Da waren die Golfspieler. War es möglich, daß sie in ihrem Spiel fortfuhren? Ja, denn schon verließ einer der Spieler den Abschlagplatz, und die Gruppe, die sich auf der Wiese aufhielt, begab sich zum nächsten Loch. Die Schnitter kehrten
langsam an ihre Arbeit zurück. Das Hausmädchen versetzte einem ihrer Schützlinge einen Klaps und schob den Kinderwagen weiter bergauf. Jedermann ging der Tätigkeit nach, bei der er unterbrochen worden war. Ich jagte die Treppe hinunter, aber die Hallentür war offen, und ich hörte die lauten und überraschten Stimmen meiner Kollegen, die im Garten standen und sich gegenseitig beglückwünschten. Wir schüttelten einander lachend die Hände, und Mrs. Challenger war vor Freude so durcheinander, daß sie uns der Reihe nach küßte und sich erst dann in die Arme ihres Gatten warf! »Aber es ist unmöglich, daß sie alle nur geschlafen haben!« rief Lord John aus. »Verflixt, Challenger, Sie können doch nicht im Ernst annehmen, daß die Leute alle nur bewußtlos waren, nachdem Sie ihre glasigen Augen, ihre steifen Glieder und das abscheuliche Totengrinsen in ihren Gesichtern gesehen haben!« »Sie können sich nur in einem Zustand befunden haben, den man als Katatonie, als Starrkrampf bezeichnet«, sagte Challenger. »Man hat in der Vergangenheit nur wenige Erfahrungen mit diesem Phänomen gesammelt, deswegen wurde es oft mit dem Tod gleichgesetzt. Beim Starrkrampf sinkt die Temperatur, verschwindet die Respiration und ist ein Herzschlag kaum nachweisbar. Genaugenommen ist dies der Tod – mit der Ausnahme, daß er nicht anhält. Selbst der verständnisvollste Geist«, – an dieser Stelle schloß er die Augen und lächelte feinsinnig – »könnte sich eine Starrkrampf-Epidemie solchen Ausmaßes kaum vorstellen.« »Von mir aus können Sie es Starrkrampf nennen«, bemerkte Summerlee, »aber schließlich ist auch das nur eine Bezeichnung für eine Sache, von der wir ebenso wenig wissen, wie von der Ursache der Vergiftung. Das äußerste, das wir
sagen können, ist, daß die verunreinigte Luft einen zeitweiligen Tod hervorgerufen hat.« Austin saß ziemlich verwirrt auf dem Trittbrett des Wagens. Er war es gewesen, den ich von unten hatte husten hören. Er hatte die ganze Zeit über geschwiegen, aber jetzt murmelte er etwas vor sich hin und musterte den Wagen. »Dieser nichtsnutzige Klotzkopf«, brummte er. »Man muß seine Augen wirklich überall haben.« »Was ist denn, Austin?« »Der Ölhahn ist offen, Sir. Jemand hat an dem Wagen herumgespielt. Ich nehme an, es war der Gärtnerjunge, Sir.« Lord John sah plötzlich sehr schuldig aus. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, fuhr Austin fort und kam taumelnd auf die Beine. »Ich glaube, mir ist schwindlig geworden, als ich den Wagen waschen wollte. Ich kann mich noch daran erinnern, über die Treppenstufen gestolpert zu sein. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich den Ölhahn auf keinen Fall offengelassen habe.« Mit knappen Worten erklärten wir dem verdutzten Austin, was mit ihm und der Welt passiert war. Ebenso setzte man ihn über das Rätsel des tropfenden Ölhahns in Kenntnis. Mit zutiefst mißtrauischem Gesicht hörte er zu, als wir ihm erklärten, daß der Wagen von einem Amateur gesteuert worden war. Die wenigen Sätze, mit denen wir ihn über unsere Erfahrungen in der schlafenden Stadt informierten, schienen jedoch sein Interesse zu erwecken. Als wir schließlich fertig waren, gab er einen Kommentar ab, an den ich mich noch genau erinnere. »Waren Sie auch an der Bank von England, Sir?« »Ja, Austin.« »Und die Millionen waren alle da drin und die ganze Stadt schlief?« »So war es.«
»Und ich war nicht dabei!« stöhnte er, wandte sich enttäuscht von uns ab und fing erneut an, den Wagen zu waschen. Plötzlich hörten wir das Knirschen von Rädern auf dem Kies. Die alte Droschke hatte tatsächlich vor Challengers Tür gehalten. Ich sah, wie der junge Fahrgast ausstieg. Kurz darauf tauchte das zutiefst verstörte Hausmädchen auf, das aussah, als sei es ganz plötzlich aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden und überbrachte Challenger auf einem kleinen Tablett eine Visitenkarte. Challenger stieß ein urweltliches Schnauben aus, als er die Karte sah. Sein Bart schien vor Zorn Funken zu sprühen. »Ein Pressemensch!« grunzte er. Und dann, mit einem widerwilligen Lächeln: »Aber schließlich ist es nur allzu natürlich, daß die ganze Welt sich jetzt zu erfahren beeilt, was ich von einer solchen Episode halte.« »Das kann an sich kaum der Auftrag dieses Mannes gewesen sein«, warf Summerlee ein. »Schließlich war er schon mit der Droschke nach hier unterwegs, bevor die Krise einsetzte.« Ich warf einen Blick auf die Karte: »James Baxter, Londoner Korrespondent des New York Monitor.« »Wollen Sie ihn empfangen?« fragte ich. »Aber nicht im Traum.« »Aber George! Du solltest wirklich etwas freundlicher und zuvorkommender anderen gegenüber sein. Sicher hast auch du etwas aus dem, was wir zu ertragen hatten, gelernt.« Challenger machte »Dz, dz!« und schüttelte den massigen, eigensinnigen Kopf. »Gegenüber diesem Natterngezücht? Was meinen Sie, Malone? Sind diese Leute nicht die schlimmste Plage der modernen Zivilisation, die willigen Werkzeuge der Quacksalber und die Mauern im Wege des mit Selbstrespekt ausgestatteten Menschen? Haben sie je auch nur ein gutes Wort für mich übrig gehabt?«
»Wann haben Sie je ein gutes Wort für die Presse übrig gehabt?« antwortete ich. »Kommen Sie, Sir, der Mann ist ein Fremder, der eine Reise gemacht hat, nur um Sie zu sehen. Ich bin sicher, daß Sie sich ihm gegenüber nicht als rüde erweisen werden.« »Nun gut«, brummelte Challenger. »Aber Sie kommen mit mir und übernehmen das Gerede. Ich protestiere schon einmal im voraus gegen dieses gewalttätige Eindringen in mein Privatleben.« Murmelnd und brummelnd, wie ein wütender und gereizter Bullenbeißer watschelte er hinter mir her. Der gutaussehende junge Amerikaner zückte sein Notizbuch und kam sofort zur Sache. »Ich bin hier heruntergekommen, Sir«, sagte er, »weil unsere amerikanischen Leser sehr gerne etwas über diese Gefahr erfahren möchten, die die Welt Ihrer Meinung nach bedroht.« »Ich weiß von keiner Gefahr, die die Welt im Augenblick bedroht«, antwortete Challenger muffig. Der Journalist musterte ihn in mildem Erstaunen. »Ich meine damit die Möglichkeit, daß die Welt in einen Giftstrom eintauchen könnte, Sir.« »Ich sehe momentan keine solche Gefahr«, sagte Challenger. Jetzt sah der Journalist noch erstaunter drein. »Sie sind doch Professor Challenger, oder nicht?« fragte er. »Ja, Sir. Das ist mein Name.« »Dann verstehe ich nicht, wie Sie sagen können, daß eine solche Gefahr nicht besteht. Ich beziehe mich auf den Brief, der unter Ihrem Namen heute morgen in der Londoner Times veröffentlicht wurde.« Jetzt war Challenger an der Reihe, überrascht aufzuschauen. »Heute morgen?« sagte er. »Heute morgen ist doch gar keine Ausgabe der Times erschienen.« »Sie werden gewiß zugeben, Sir«, sagte der Amerikaner mit sanftem Protest, »daß die Londoner Times eine Tageszeitung
ist.« Er entnahm die Ausgabe der Innentasche seines Jacketts. »Hier ist der Brief, den ich meine.« Challenger rieb sich kichernd die Hände. »Ich beginne zu verstehen«, sagte er. »Sie haben diesen Brief also heute morgen gelesen?« »Ja, Sir.« »Und Sie sind sofort losgefahren, um mich zu interviewen?« »Ja, Sir.« »Ist Ihnen während der Reise irgend etwas Besonderes aufgefallen?« »Nun, um die Wahrheit zu sagen, mir erschienen die Engländer lebhafter und allgemein menschlicher als je zuvor. Der Gepäckschaffner erzählte mir sogar einen Witz, und das ist in diesem Land für mich eine neue Erfahrung.« »Sonst nichts?« »Aber nein, Sir, nichts, an das ich mich erinnern könnte.« »Und wann haben Sie den Victoria-Bahnhof verlassen?« Der Amerikaner lächelte. »Ich bin gekommen, um Sie zu interviewen, Herr Professor, aber dies scheint mir doch auf ein ›Fischt-dieser-Nigger-oder niggert-dieser-Fisch‹-Spiel herauszulaufen. Jedenfalls tun Sie den größten Teil der Arbeit.« »Nun, zufälligerweise interessiert es mich. Erinnern Sie sich an die Zeit?« »Sicher. Es war halb eins.« »Und wann kamen Sie hier an?« »Gegen viertel nach zwei.« »Und dann mieteten Sie eine Droschke?« »So war es.« »Wie weit, glauben Sie, ist der Bahnhof von hier entfernt?« »Nun, ich schätze gut zwei Meilen.« »Was glauben Sie, wie lange Sie dafür gebraucht haben?«
»Nun, vielleicht eine halbe Stunde. Mit diesem asthmatischen Gaul…« »Dann müßte es jetzt etwa drei Uhr sein?« »Ja, oder ein bißchen später.« »Sehen Sie auf Ihre Uhr.« Der Amerikaner tat wie ihm geheißen. Anschließend starrte er uns verwirrt an. »Na so was!« rief er aus. »Das gibt es doch nicht. Das Pferd müßte ja jeden Rekord gebrochen haben. Wenn ich mir die Sonne so ansehe, steht sie ziemlich tief. Irgend etwas ist hier vorgegangen, das ich nicht verstehe.« »Können Sie sich nicht an irgend etwas Bemerkenswertes erinnern, das geschah, als die Kutsche den Berg hinauffuhr?« »Ja, ich glaube mich daran zu erinnern, daß ich plötzlich ausgesprochen schläfrig wurde. Ich weiß noch, daß ich dem Kutscher irgend etwas sagen wollte. Er nahm mich aber gar nicht zur Kenntnis. Ich nehme an, es lag an der Hitze, aber einen Augenblick lang wurde mir schwindlig. Das ist alles.« »So ist es der ganzen Menschheit ergangen«, sagte Challenger zu mir. »Sie haben sich alle einen Augenblick lang schwindlig gefühlt. Niemand hat auch nur die geringste Vorstellung von dem, was passiert ist. Sie werden mit der unterbrochenen Arbeit dort fortfahren, wo sie aufgehört haben – so wie Austin jetzt den Wagen wäscht und die Golfer ihr Spiel zu Ende führen. Wenn Ihr Chefredakteur, Malone, heute die neue Ausgabe zusammenstellt, wird er ziemlich erstaunt reagieren, wenn ihm bewußt wird, daß eine Nummer nicht erschienen ist. Ja, mein junger Freund«, fügte er hinzu und wandte sich an den amerikanischen Reporter, wobei er sich in allerbester Gönnerlaune zeigte, »es wird Sie vielleicht interessieren, daß die Welt die giftige Strömung, die den Weltraum durchzieht wie der Golfstrom den Ozean, sicher passiert hat. Und damit Sie auch persönlich wieder beruhigt
sind, will ich Ihnen sagen, daß heute nicht Freitag der achtundzwanzigste, sondern Samstag der neunundzwanzigste August ist und Sie die letzten achtundzwanzig Stunden besinnungslos in Ihrer Droschke auf dem Rotherfield Hill zugebracht haben.« Und genau hier endet meine Geschichte. Sie ist, wie Sie möglicherweise erkennen, nichts anderes als eine längere und detailreichere Version des Artikels, der in der Montagsausgabe der Daily Gazette erschien, als die größte Exklusivstory aller Zeiten bezeichnet wurde und nicht weniger als dreieinhalb Millionen Exemplare verkaufte. Ich habe mir die grandiosen Schlagzeilen einrahmen lassen und an die Wand meines Büros gehängt: DIE WELT FÜR ACHTUNDZWANZIG STUNDEN IM KOMA BEISPIELLOSES ERLEBNIS CHALLENGER REHABILITIERT UNSER KORRESPONDENT WAR DABEI FESSELNDE BERICHTERSTATTUNG DAS SAUERSTOFFZIMMER UNGLAUBLICHE AUTOREISE IM TOTEN LONDON GROSSBRÄNDE UND VERLUSTE AN MENSCHENLEBEN WIRD DAS GIFT WIEDERKEHREN? Unter dieser majestätischen Auflistung folgt ein neuneinhalbspaltiger Bericht, die erste, letzte und einzige Wiedergabe jener historischen Ereignisse, die ein Beobachter während eines langen Tages im Leben eines Planeten aufzuschreiben vermochte. Challenger und Summerlee haben die Angelegenheit in einem gemeinsam verfaßten wissenschaftlichen Papier behandelt und mir die populäre Seite überlassen. Natürlich kann ich nun »Nunc Dimittis« singen,
denn nach diesem Erlebnis kann das Leben eines Journalisten nur noch aus einem Antiklimax bestehen! Aber lassen Sie mich nicht nur mit sensationellen Schlagzeilen und einem lediglich persönlichen Triumph enden. Viel lieber möchte ich einige wohltuende Passagen zitieren, mit der die größte aller Tageszeitungen ihren Aufmacher zu diesem Thema beendete – einen Aufmacher, den jeder, der etwas auf sich hält, verwahren sollte, um sich daran zu erbauen. »Es ist eine altbekannte Binsenweisheit«, sagte die Times, »daß die menschliche Rasse im Gegensatz zu den unermeßlichen, verborgenen Kräften, die uns umgeben, aus einem eher schwachen Völkchen besteht. Sowohl die Propheten der Vergangenheit als auch die Philosophen der Moderne haben darauf hingewiesen und ihre Warnung ausgesprochen. Aber wie alle ständig wiederholten Wahrheiten hat auch diese im Laufe der Zeit etwas von ihrer Wahrhaftigkeit und Beweiskraft eingebüßt. Es bedurfte einer Lehre und der tatsächlichen Erfahrung, uns dies erneut bewußt zu machen. Es ist auf die schreckliche aber begrüßenswerte Prüfung zurückzuführen, die uns auferlegt wurde, daß unser Bewußtsein von der Plötzlichkeit dieses Anschlages gelähmt ist und wir uns unserer Grenzen und unseres Unvermögens bewußt geworden sind. Die Welt hat für diese Erfahrung einen furchtbaren Preis zahlen müssen. Und doch haben wir – abgesehen von den Großbränden, die New York, New Orleans und Brighton zerstörten und schon für sich die größte Tragödie in der Geschichte der Menschheit widerspiegeln – kaum Kenntnis von den wirklichen Ausmaßen der Katastrophe. Wenn die Bestandsaufnahmen der Eisenbahn- und Schiffsunglücke abgeschlossen sind, wird es kein Frohlocken geben, obwohl man absehen kann, daß es den meisten Verantwortlichen auf Dampfern und Lokomotiven gelungen
ist, die Maschinen abzuschalten, bevor das Gift sie niederstreckte. Aber die materiellen Schäden, egal wie viele Leben und Waren sie auch gekostet haben, sollten uns heute nicht über Gebühr beschäftigen. All diese Wunden wird die Zeit heilen. Was allerdings nicht der Vergessenheit anheimfallen und uns weiterhin beschäftigen sollte, sind die Offenbarungen, über welche Möglichkeiten das Universum verfügt, der Abbau unserer eitlen Selbstgefälligkeit und die Zurschaustellung der Tatsache, daß der Pfad unserer materiellen Existenz schmal und an beiden Seiten von tiefen Abgründen umgeben ist. Von heute an sollten Ernsthaftigkeit und Bescheidenheit die Grundpfeiler all unserer Emotionen sein. Sie könnten das Fundament bilden, auf dem eine gewissenhaftere und ehrfurchtsvollere Rasse einen würdigen Tempel errichten könnte.«
Als die Erde schrie
(When the World Screamed)
Ich konnte mich zwar noch vage daran erinnern, daß mir mein Freund Edward Malone von der Gazette einst erzählt hatte, er sei mit Professor Challenger in einige bemerkenswerte Abenteuer verwickelt gewesen, aber da mich mein Beruf ziemlich stark in Anspruch nimmt und meine Firma mit Aufträgen mehr als ausgelastet ist, bin ich über meine eigenen Interessen hinaus über das, was sonst in der Welt vor sich geht, nur unvollkommen im Bilde. Ich konnte mich auch daran erinnern, daß Challenger als unberechenbares Genie galt und man ihm einen gewalttätigen und intoleranten Charakter nachsagte; deswegen war ich auch gelinde erstaunt, von ihm einen Geschäftsbrief zu erhalten, der sich folgenden Wortlauts befleißigte: kal 4 (b) Enmore Gardens Kensington Sir, ich sehe mich dazu veranlaßt, die Dienste eines Spezialisten für artesische Bohrungen in Anspruch zu nehmen. Ich will aber keinesfalls verhehlen, daß ich jeglichem Spezialistentum gegenüber keine sonderlich hohe Meinung habe, zumal ich aufgrund von Erfahrungen weiß, daß ein Mensch, der – wie ich – über ein gutfunktionierendes Gehirn verfügt, ein gründlicher arbeitendes und breiteres Gesichtsfeld besitzt als jemand, der sich auf ein bestimmtes Gebiet konzentriert, einen gewöhnlichen Beruf ausübt, und deswegen in seiner Weitsicht begrenzt ist. Nichtsdestoweniger bin ich bereit, mit Ihnen einen Versuch zu wagen. Als ich eine Liste artesischer Experten studierte, erweckte ein bestimmter Umstand (beinahe hätte ich »eine bestimmte Absurdität« geschrieben) in Ihrem Namen mein Interesse, und spätere Nachforschungen ergaben, daß mein junger Freund, Mr. Mahne, mit Ihnen bekannt ist. Mein Schreiben dient dazu,
Ihnen mitzuteilen, daß ich mich glücklich schätzen würde, ein Gespräch mit Ihnen zu führen, und daß ich, vorausgesetzt, Sie entsprechen meinen (sicherlich nicht geringen) Erwartungen, eventuell bereit wäre, eine Angelegenheit von allergrößter Wichtigkeit in Ihre Hände zu legen. Da besagte Angelegenheit größte Geheimhaltung erfordert, kann ich gegenwärtig nicht mehr sagen. Weitere Instruktionen können ausschließlich mündlich erfolgen. Ich bitte Sie deswegen, allen Verpflichtungen, denen Sie möglicherweise gerade nachgehen, zu kündigen, und mich am kommenden Freitag um 10.30 Uhr an der o. a. Adresse aufzusuchen. Wir besitzen sowohl einen Schmutzabstreifer als auch eine Fußmatte, und Mrs. Challenger ist in dieser Hinsicht äußerst penibel. Ich verbleibe, Sir, wie ich begann, George Edward Challenger. Ich übergab den Brief zur Beantwortung an meinen Bürovorsteher, der Professor Challenger davon in Kenntnis setzte, daß Mr. Peerless Jones sich geehrt fühlen würde, zu der vorgeschlagenen Verabredung zu erscheinen. Der Antwortbrief war ein perfektes bürokratisches Schreiben, das mit der Phrase »Ihren (undatierten) Brief haben wir erhalten« begann. Dies brachte uns eine zweite Epistel des Professors ein. Sir, (schrieb er, und seine Handschrift sah plötzlich aus wie eine Rolle Stacheldraht), ich stelle fest, daß Sie sich über meinen undatierten Brief mokieren. Darf ich Ihre geschätzte Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, daß unsere Regierung, um uns für die monströse Besteuerung zu entschädigen, die sie uns angedeihen läßt, die Eigenart entwickelt hat, auf der Außenseite von Briefumschlägen einen kleinen, runden Stempel anzubringen, der über das Absendedatum Auskunft gibt? Sollte dieses Zeichen fehlen oder
unleserlich sein, müßte sich Ihr Einspruch an das örtliche Postamt richten. Bis dahin möchte ich Sie bitten, Ihre Aufmerksamkeit den Geschäften zu widmen, wegen derer ich Sie zu konsultieren beabsichtige und Kommentare über die Form, die meine Briefe möglicherweise einnehmen, zu unterlassen. Mir war klar, daß ich es hier mit einem Irren zu tun hatte, deswegen überlegte ich mir gut, was ich tun sollte, bevor ich weiter in die Sache hineingezogen wurde und suchte meinen alten Freund Malone auf, den ich noch aus jenen alten Tagen kannte, in denen wir noch für Richmond Rugby gespielt hatten. Er war immer noch der gleiche heitere Ire wie zuvor und amüsierte sich königlich über meinen ersten Zusammenstoß mit Challenger. »Das ist noch gar nichts, alter Junge«, sagte er. »Wenn du erst einmal fünf Minuten mit ihm allein gewesen bist, wirst du dich fühlen wie jemand, dem man bei lebendigem Leibe das Fell über die Ohren gezogen hat. Es gibt niemanden, der seinen Angriffen gewachsen ist.« »Aber warum sollte sich überhaupt jemand dieser Gefahr aussetzen?« »Das tut ja niemand. Wenn du alle Kräche, Beleidigungsklagen und Verurteilungen zusammenzählen würdest, denen er…« »Verurteilungen!« »Glaube mir, er würde sich nicht das geringste dabei denken, dich die Treppe hinunterzuwerfen, wenn du anderer Meinung wärst als er. Er ist ein Höhlenmensch im Frack. Ich sehe ihn vor mir, wie er in der einen Hand eine Keule und in der anderen ein Steinbeil hält. Manche Menschen werden einfach nicht in das ihnen zugehörige Jahrhundert hineingeboren, aber
Challenger gehört nicht einmal in dieses Jahrtausend. Er paßt besser ins frühe Neolithikum.« »Das ist ja gerade das Unglaubliche! Er ist der klügste Kopf von ganz Europa, und er wird von einer solch starken Kraft angetrieben, daß er alle seine Träume in Wirklichkeit verwandeln kann. Man tut zwar alles, um ihn nicht hochkommen zu lassen, denn seine Kollegen hassen ihn wie die Pest – aber ebenso könnte eine Schlepperflotte versuchen die Berengaria am Auslaufen zu hindern. Er ignoriert sie einfach und dampft an ihnen vorbei.« »Nun«, meinte ich, »eines ist zumindest klar. Ich will nichts mit ihm zu tun haben. Ich werde unsere Verabredung absagen.« »Das wirst du keinesfalls. Du wirst pünktlich auf die Minute bei ihm erscheinen – und du solltest nicht vergessen, wirklich auf die Minute dort zu sein, sonst wirst du es bereuen.« »Warum sollte ich?« »Nun, ich werde es dir sagen. Zunächst einmal würde ich das, was ich über den alten Challenger gesagt habe, nicht so wörtlich nehmen. Jeder, der ihn näher kennenlernt, lernt ihn auch zu lieben. Der alte Bär stellt keine wirkliche Gefahr dar. Ja, ich erinnere mich sogar, daß er über hundert Meilen weit ein an Blattern erkranktes indisches Baby auf dem Rücken trug und es aus dem Hinterland zum Madeira River hinuntertrug. Er ist in jeder Beziehung ein großer Mann. Wenn du begreifst, wie man am besten mit ihm umgeht, wird er dir auch nichts antun.« »Ich will es aber gar nicht erst darauf ankommen lassen.« »Du wärst ein Narr, wenn du es nicht tätest. Hast du je vom Hengist-Down-Rätsel gehört, dem geheimnisvollen Schacht an der Südküste?« »Irgendeine geheime Minenexpedition, nehme ich an.«
»Nun, du kannst es sehen, wie du willst. Verstehe bitte, daß ich das Vertrauen dieses alten Mannes genieße und dir deswegen leider erst reinen Wein einschenken kann, wenn er es mir gestattet. Aber ich kann dir zumindest das erzählen, was in der Presse gestanden hat: Ein Mann namens Betterton, der sein Vermögen mit Gummi gemacht hat, hat Challenger vor einigen Jahren mit der Bedingung, es im Interesse der Wissenschaft zu verwenden, seine gesamte Hinterlassenschaft vermacht. Es stellte sich heraus, daß es sich bei seinem Erbe um eine ziemlich bedeutende Summe handelte – mehrere Millionen. Challenger kaufte sich daraufhin einen Besitz bei Hengist Down in Sussex. Da das Land wertlos ist – es liegt an der Nordseite des Kalkgebietes – konnte er einen ziemlich großen Landstrich kaufen und zäunte ihn ein. In der Mitte des Gebietes befindet sich eine tiefe Senke, die er auszuheben begann. Er gab bekannt«, – an dieser Stelle zwinkerte Malone mir zu – »daß es in England Öl gäbe und er dies beweisen würde. Er baute eine kleine Mustersiedlung für eine Gruppe gutbezahlter Arbeiter und verpflichtete sie zum Schweigen. Das Gebiet um die Senke ist ebenso hermetisch abgeriegelt wie der Rest des Besitzes, und die gesamte Umgebung wird von Bluthunden bewacht. Ein paar Presseleute sind beinahe dabei ums Leben gekommen – gar nicht zu reden von ihren Hosen –, als sie diese Bestien zu umgehen versuchten. Es ist ein großes Unternehmen, das er dort betreibt, und Sir Thomas Mordens Firma, die ebenfalls zum Schweigen verpflichtet ist, geht ihm dabei zur Hand. Jetzt ist offenbar der Zeitpunkt gekommen, an dem man die Unterstützung eines artesischen Spezialisten benötigt. Wärst du nicht ein Narr, wenn du einen solchen Auftrag, der nicht nur interessant ist, sondern dir auch eine Menge neuer Erfahrungen und einen fetten Scheck einbringt, ablehnen würdest? Ganz zu schweigen davon, daß
die Möglichkeit besteht, daß dir der wundervollste Mensch, der dir je begegnet ist, auf die Schulter klopft?« Malones Argumente waren überzeugend, deswegen begab ich mich am Freitagmorgen nach Enmore Gardens. Ich bereitete mich so sorgfältig auf ein pünktliches Erscheinen vor, daß ich mich plötzlich zwanzig Minuten zu früh vor der Tür des Professors wiederfand. Während ich auf der Straße wartete, entdeckte ich plötzlich auf dem Bürgersteig einen abgestellten Rolls-Royce mit einem silbernen Pfeilmaskottchen. Der Wagen konnte nur Jack Devonshire, dem Juniorgesellschafter der Firma Morden gehören. Da ich Jack stets als einen äußerst liebenswürdigen Menschen kennengelernt hatte, war ich natürlich ziemlich schockiert, als er plötzlich aus dem Haus kam, draußen vor der Tür stehenblieb, beide Arme in die Luft streckte und mit großer Inbrunst hervorstieß: »Verdammt soll er sein! Oh, er soll verdammt sein!« »Was ist denn los, Jack? Du scheinst ja heute morgen ziemlich gereizt zu sein.« »Hallo, Peerless! Hast du auch mit ihm zu tun?« »Es sieht ganz so aus.« »Nun, du wirst es kaum zum Aushalten finden.« »Kaum mehr als du, nehme ich an.« »Nun, das kann man wohl behaupten. Die Nachricht, die mir der Butler gab, hörte sich folgendermaßen an: ›Der Herr Professor hat mir aufgetragen, Ihnen mitzuteilen, daß er gerade damit beschäftigt ist, ein Ei zu verzehren, Sir, und daß er sich, wenn es Ihnen beliebt, zu einer weniger störenden Zeit zu erscheinen, freuen würde, Sie zu empfangen.‹ Diese Botschaft ließ er mir von einem Domestiken übermitteln! Ich darf vielleicht noch hinzufügen, daß ich hergekommen bin, um die zwanzigtausend Pfund einzutreiben, die er uns noch schuldet.« Ich stieß einen Pfiff aus.
»Zahlt er nicht?« »Aber sicher, in dieser Beziehung ist er völlig in Ordnung. Ich muß dem alten Gorilla sogar bestätigen, daß er eine ziemlich großzügige Zahlungsart praktiziert. Aber er zahlt eben nur, wenn und wie er Lust dazu hat und schert sich dabei um niemanden. Aber vielleicht gehst du jetzt besser hinein, versuchst dein Glück und findest selber heraus, wie er dir gefällt.« Damit schwang er sich hinter das Steuer und fuhr davon. Hin und wieder einen Blick auf meine Uhr werfend, wartete ich darauf, daß sich die richtige Zeit einstellte. Ich bin, wenn ich das einmal anmerken darf, ein ziemlich stämmiges Individuum und außerdem Anwärter auf die Mittelgewichtsklasse im Belsize-Boxverein, aber dennoch habe ich nie zuvor mit dermaßener Verzagtheit einem Gespräch wie diesem entgegengeblickt. Es war keine körperliche Furcht, denn ich war davon überzeugt, daß ich mir diesen seltsamen Irren, sollte er mich angreifen, durchaus vom Halse halten konnte. Was sich an Gefühlen in mir die Waage hielt, war eher die Furcht vor einem öffentlichen Skandal und die Möglichkeit, einen lukrativen Auftrag zu verlieren. Die Dinge sind allerdings leichter zu verkraften, wenn man die Phantasie außer acht läßt und zur Aktion schreitet. Deswegen schloß ich den Deckel meiner Uhr und begab mich zur Tür. Sie wurde von einem alten, holzgesichtigen Butler geöffnet, dessen Gesichtsausdruck so leer war, daß er in mir den Eindruck hervorrief, an jeden Schock der Welt gewöhnt zu sein und von nichts mehr überrascht werden zu können. »Sie haben eine Verabredung, Sir?« fragte er. »Gewiß.« Er warf einen Blick auf die Liste, die er in der Hand hielt. »Ihr Name, Sir? Aber gewiß… Mr. Peerless Jones… Um zehn Uhr dreißig. Es ist alles in Ordnung. Wir müssen etwas
vorsichtig sein, Mr. Jones, weil wir ständig von Journalisten belästigt werden. Der Herr Professor hält, wie Sie vielleicht wissen, nicht sonderlich viel von der Presse. Hierher, Sir. Professor Challenger wird Sie gleich empfangen.« Und schon im nächsten Moment fand ich mich in seiner Gegenwart wieder. Da ich glaube, daß mein Freund Ted Malone ihn in seinem Buch Die vergessene Welt besser beschrieben hat, als ich dies je zu tun vermag, will ich es auch dabei belassen. Alles, was ich sah, war ein Riesenkerl von einem Mann, der hinter einem Mahagonischreibtisch saß, einen großen spatenförmigen Bart hatte und zwei große, graue Augen sein eigen nannte, die zur Hälfte mit schweren Lidern bedeckt waren. Sein großer Schädel fuhr zurück, sein Bart sträubte sich nach vorn, und seine ganze Erscheinung war eine einzige Impression arroganter Intoleranz. »Was, zum Teufel, wollen denn Sie hier?« stand deutlich auf seiner Stirn geschrieben. Ich legte meine Karte auf den Tisch. »Ach ja«, sagte er, nahm die Karte an sich und hielt sie so zwischen den Fingern, als ginge von ihr ein übler Geruch aus. »Natürlich. Sie sind der Experte – der sogenannte. Mr. Jones – Mr. Peerless Jones. Danken Sie Ihrem Taufpaten, Mr. Jones, denn es war Ihre drollige Namensvorsilbe, die mich auf Sie aufmerksam machte.« »Ich bin wegen eines geschäftlichen Gesprächs zu Ihnen gekommen, Professor Challenger«, sagte ich mit aller Würde, zu der ich fähig war, »aber nicht, um mit Ihnen über meinen Vornamen zu diskutieren.« »Herrjeh, Sie scheinen aber wirklich empfindlich zu sein, Mr. Jones. Mit Ihren Nerven sieht es wohl nicht zum Besten aus? Ich werde also, um mit Ihnen Einigkeit zu erzielen, ganz langsam vorgehen. Ich habe übrigens Ihre kleine Broschüre über die Landgewinnung auf der Sinai-Halbinsel gelesen, Mr. Jones. Haben Sie sie selbst verfaßt?«
»Aber natürlich, Sir. Immerhin trägt sie meinen Namen.« »Aber gewiß, aber gewiß. Aber deswegen muß es doch nicht stimmen, oder? Wie dem auch sei, ich bin bereit, Ihre Behauptung zu akzeptieren. Das Büchlein ist nicht ganz ohne Wert. Unter dem langatmigen Stil verbirgt sich tatsächlich hin und wieder eine brauchbare Idee, Ab und zu entdeckt man sogar den Ansatz eines Gedankens. Sind Sie verheiratet?« »Nein, Sir, das bin ich nicht.« »Dann besteht vielleicht die Chance, daß Sie ein Geheimnis für sich behalten können.« »Wenn ich ein Versprechen gebe, pflege ich es auch zu halten.« »Was Sie nicht sagen. Mein junger Freund Malone«, – Challenger drückte sich aus, als sei Ted erst zehn Jahre alt – »hat eine gute Meinung von Ihnen. Er sagt, ich könne Ihnen vertrauen. Das Vertrauen, daß ich in Sie setze, ist sehr groß, denn ich bin momentan mit einem der größten Experimente aller Zeiten beschäftigt – ich möchte sogar sagen, daß es sich um das größte Experiment aller Zeiten handelt. Ich bitte Sie, daran teilzunehmen.« »Ich würde mich geehrt fühlen.« »Es ist in der Tat eine Ehre. Ich muß gestehen, daß ich niemandem einen Einblick in meine Arbeit gestattet hätte, wenn die gewaltige Größe dieses Unternehmens nicht geradezu nach den modernsten technischen Errungenschaften schreien würde. Und nun, Mr. Jones, nachdem Sie mir das Versprechen gegeben haben, das Geheimnis unter allen Umständen zu wahren, komme ich zum Kern der Sache: Hier ist er: Die Welt, auf der wir leben, ist ein mit einem Kreislauf, einer Respiration und einem eigenen Nervensystem ausgestatteter lebendiger Organismus.« Ganz klar: Der Mann war ein Irrer.
»Ich nehme an«, fuhr Professor Challenger fort, »daß sich Ihr Gehirn weigert, diese Tatsache anzuerkennen. Es wird sich aber an diesen Gedanken gewöhnen. Ihnen ist doch sicher schon aufgefallen, wie stark ein Mohr oder ein Heide einem haarigen Tier ähnelt. Eine bestimmte Analogie durchläuft die gesamte Natur. Des weiteren werden Sie zur Kenntnis genommen haben, daß es hier und da zu Landverschiebungen kommt, was eine langsame Respiration dieser Kreatur voraussetzt. Schließlich und endlich werden Sie auch Kenntnis von dem Gezappel und Gezucke erhalten haben, das unserem zwergenhaften Wahrnehmungssinn wie ein Erdbeben erscheint.« »Und was ist mit den Vulkanen?« fragte ich. »Dz, dz! Sie entsprechen natürlich den Hitzepöckchen eines menschlichen Körpers.« Als ich den Versuch unternahm, Antworten auf diese monströsen Enthüllungen zu finden, wurde ich von Schwindel erfaßt. »Die Temperatur!« rief ich aus. »Ist es nicht eine Tatsache, daß sie, wenn man in die Erde hinabsteigt, immer mehr zunimmt und am Erdmittelpunkt aus flüssiger Lava besteht?« Er wischte meinen Einwand beiseite. »Auch Ihnen, Sir, müßte, seit man in diesem Lande Volksschulen betreibt, bekannt geworden sein, daß die Erde an den Polen abgeflacht ist. Dies bedeutet, daß die Pole dem Erdmittelpunkt näher sind als jeder andere Punkt und deswegen aufgrund der Hitze, von der Sie sprachen, höchst unangenehm berührt werden. Es ist ja auch überall bekannt, daß die Lebensbedingungen an den Polen geradezu tropisch sind, nicht wahr?« »Die ganze Idee ist absolut neu für mich.« »Natürlich ist sie das, Es ist das Privileg des originellen Denkers, Ideen zu entwickeln, die neu und deswegen in der
Regel beim Pöbel unwillkommen sind. Und was, Sir, glauben Sie, ist dies?« Er hielt einen kleinen Gegenstand hoch, den er vom Tisch aufgenommen hatte. »Ich würde sagen, es ist ein Seeigel.« »Vortrefflich!« sagte er in einem dermaßen übertriebenen Tonfall, daß ich mir vorkam wie ein Kleinkind, dem es zum erstenmal im Leben gelungen war, etwas Bedeutendes zu tun. »Es ist ein Seeigel – ein gewöhnlicher Echinus. Die Natur wiederholt sich in vielen Formen, ungeachtet der Größe. Dieser Echinus ist ein Modell, ein Prototyp der Welt. Sie werden erkennen, daß er nur im Groben kreisförmig und an den Polen abgeflacht ist. Sehen wir die Welt also als einen Echinus. Welche Einwände haben Sie?« Mein Haupteinwand bestand darin, daß ich diesen lächerlichen kleinen Seeigel als Argument nicht gelten lassen wollte, aber ich hütete mich, das zu sagen. Statt dessen suchte ich verzweifelt nach einer weitergehenden Erklärung. »Eine lebendige Kreatur braucht Nahrung«, sagte ich. »Wie erklären Sie sich den Leibesumfang der Erde?« »Ein exzellenter Einwand, wirklich überragend!« sagte der Professor in einem großmütigen Anflug von Väterlichkeit. »Sie haben ein flinkes Auge für das Offensichtliche, aber dafür entgehen Ihnen die etwas subtileren Implikationen. Wie also kommt die Welt zu ihrer Nahrung! Wenden wir uns nochmals unserem kleinen Freund Echinus zu. Das Wasser, in dem er lebt, fließt durch seine Adern und versorgt ihn mit Nahrung.« »Dann glauben Sie, daß das Wasser…« »Nein, Sir, die Luft. Die Erde bewegt sich auf einem kreisförmigen Pfad durch den Weltenraum, und während sie sich bewegt, ist sie ununterbrochen von Luft umgeben, die sie mit Lebenskraft versorgt. Eine ganze Reihe anderer Welten
Echini tut das gleiche: Venus, Mars und der Rest. Jeder von ihnen verfügt über eine eigene Weide, die er abgrasen kann.« Der Mann war offensichtlich übergeschnappt, aber ich wollte mich mit ihm auf keinen Streit einlassen. Da er mein Schweigen offenbar für Zustimmung hielt, lächelte er mich in der denkbar liebenswürdigsten Weise an. »Wir kommen, glaube ich, langsam voran«, sagte er. »Es wird allmählich heller in Ihrem Kopf. All das ist für den Anfang zweifellos ein wenig verwirrend, aber bald werden wir uns daran gewöhnen. Schenken Sie mir bitte Ihre Aufmerksamkeit, denn ich habe noch eine oder zwei weitere Beobachtungen gemacht, die dieses kleine Geschöpf auf meiner Hand betreffen. Angenommen, auf dieser harten Außenhaut würde es von einer großen Zahl krabbelnder Insekten wimmeln. Würde sich der Echinus ihrer Gegenwart überhaupt bewußt werden?« »Ich würde sagen, nein.« »Dann können Sie sich auch sicher gut vorstellen, daß auch die Erde nicht im geringsten weiß, daß sie von der menschlichen Rasse nutzbar gemacht worden ist. Sie ist sich der Tatsache, daß sie mit Vegetation bedeckt ist und sich auf ihr mikroskopisch kleine Lebewesen entwickelt haben, die sie während ihrer Reise um die Sonne wie ein Schiff, an dessen Rumpf sich Muscheln festsetzen, trägt, gar nicht bewußt. Dies ist der gegenwärtige Zustand, den zu ändern ich mich entschlossen habe.« Ich starre ihn verdutzt an. »Sie haben vor, diesen Zustand zu verändern?« »Ich habe vor, die Erde wissen zu lassen, daß es zumindest einen Menschen gibt – nämlich Georg Edward Challenger –, der ihre Aufmerksamkeit erheischt – der sie sogar verlangt. Es ist bestimmt die erste Annäherung dieser Art, die ihr zuteil wird.«
»Und wie, Sir, wollen Sie das erreichen?« »Ah, und jetzt kommen wir wieder zum geschäftlichen Teil. Sie sind genau auf den Punkt gekommen. Ich möchte erneut Ihre Aufmerksamkeit auf diese interessante kleine Kreatur richten, die ich in der Hand halte. Unter ihrer Schutzhaut besteht sie ausschließlich aus Nerven und Empfindungen. Wenn eine parasitäre Mikrobe auf sich aufmerksam machen wollte, wäre es dann nicht am naheliegendsten, sie ginge in der Form vor, daß sie ein Loch in die Haut bohren und so das Nervensystem berühren würde?« »Gewiß.« »Oder… Wenden wir uns dem Beispiel einer heimatlosen Fliege oder eines Moskitos zu, der die Oberfläche eines menschlichen Körpers erforscht. Es ist möglich, daß wir seine Gegenwart nicht sofort bemerken. Aber plötzlich, wenn er seinen Rüssel in unsere Haut bohrt – die ja in gewisser Beziehung auch eine Schale ist –, werden wir schlagartig daran erinnert, daß wir nicht allein sind. Meine Pläne dürften Ihnen nun kein Geheimnis mehr sein. Jetzt sehen Sie alles in strahlend hellem Licht.« »Gütiger Himmel! Sie haben vor, ein Loch durch die Erdkruste zu bohren?« Mit unglaublicher Selbstgefälligkeit schloß Professor Challenger die Augen. »Vor sich«, sagte er, »sehen Sie den ersten Menschen, der diese harte Haut je durchdringen wird. Ich könnte es sogar in der vollendeten Vergangenheit ausdrücken und sagen: der sie durchdrungen hat.« »Sie haben es schon getan?« »Mit der äußerst wirkungsvollen Hilfe der Firma Morden & Co. sollte man vielleicht hinzufügen. Mehrere Jahre harter Arbeit bei Tag und Nacht und unter Ausnutzung aller möglichen technischen Errungenschaften haben uns endlich an unser Ziel gebracht.«
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie die Erdkruste durchbohrt haben?« »Wenn Ihre Rede Verwirrung signalisieren soll, bin ich bereit, sie hinzunehmen; sollte sie jedoch Unglauben…« »Nein, Sir, nichts dergleichen.« »Dann nehmen Sie meine Feststellung gefälligst ohne Widerspruch hin: Wir haben die Kruste durchbohrt. Sie war ganze vierzehntausendvierhundertundzweiundvierzig Yards dick – oder knapp acht Meilen. Es wird Sie vielleicht interessieren, daß wir während der Bohrarbeiten auf ein Kohleflöz gestoßen sind, das möglicherweise auf lange Sicht die Kosten des Unternehmens wieder hereinbringen wird. Unser Hauptproblem waren die vielen Quellen in den tieferen Kalk- und Hastingsandablagerungen, aber auch die gelang es uns zu überwinden. Nun haben wir das letzte Stadium erreicht – und dies erfordert niemand anderen als Mr. Peerless Jones. Sie, Sir, werden der Moskito sein, während Ihr artesischer Bohrer die Stelle des Stachels einnimmt. Der Geist hat sein Werk getan. Nun ist die Mechanik an der Reihe; der unvergleichliche Mr. Jones mit seinem metallenen Stachel. Können Sie mir folgen?« »Aber acht Meilen!« rief ich aus. »Sind Sie sich darüber im klaren, Sir, daß das Limit für artesische Bohrungen bei fünftausend Fuß liegt? Sicher, in Oberschlesien hat man einmal auch bei sechstausendzweihundert Fuß Erfolg gehabt, aber das war ein Einzelfall und wird noch heute als Wunder angesehen.« »Sie mißverstehen mich, Mr. Peerless. Entweder ist mit meinen Erklärungen etwas nicht in Ordnung oder mit Ihrem Gehirn; aber ich will jetzt nicht noch mehr Zeit vergeuden, um diese Frage eingehend zu klären. Ich bin mir natürlich sehr wohl der Tatsache bewußt, daß artesische Bohrungen Begrenzungen unterliegen. Ich hätte aber wohl kaum mehrere
Millionen Pfund ausgegeben, um einen kolossalen Tunnel zu graben, wenn eine Sechs-Zoll-Bohrung meine Bedürfnisse erfüllt hätte. Ich bitte Sie lediglich darum, einen Bohrer bereitzuhalten, der so spitz wie möglich ist, von einem Elektromotor angetrieben wird und nicht mehr als hundert Fuß mißt. Ein gewöhnlicher Schlagbohrer mit einem ausreichenden Gewicht dürfte alle Anforderungen erfüllen.« »Warum ein Elektromotor?« »Meine Aufgabe besteht darin, Mr. Jones, Anweisungen zu geben, nicht Begründungen. Wenn wir zum Angriff blasen, könnte es sein – es könnte sein, sage ich –, daß nicht weniger als Ihr Leben davon abhängt, daß der Bohrer aus einer gewissen Entfernung elektrisch bedient wird. Ich nehme an, daß sich das bewerkstelligen läßt?« »Aber gewiß.« »Dann bereiten Sie sich darauf vor, genau dies zu tun. Die Angelegenheit ist noch nicht weit genug entwickelt, um Ihre persönliche Anwesenheit jetzt schon erforderlich zu machen, aber vorbereiten können Sie sich schon einmal… Mehr habe ich im Moment dazu nicht zu sagen.« »Es ist aber von allergrößter Wichtigkeit«, erklärte ich, »daß Sie mich wissen lassen, was der Bohrer durchdringen soll. Sand? Lehm? Kalk? Jede dieser Schichten würde eine andere Behandlung verlangen.« »Nehmen wir an, es handelt sich um Sülze«, sagte Challenger. »Ja, lassen wir uns für den Moment annehmen, Sie würden Sülze durchbohren. Und jetzt, Mr. Jones, harren Angelegenheiten von großer Wichtigkeit meiner Aufmerksamkeit; deswegen muß ich Ihnen einen Guten Morgen wünschen. Den Arbeitsvertrag, in den Sie auch Ihr Honorar eintragen, können Sie bei meinem Betriebsleiter unterzeichnen.«
Ich verbeugte mich und wandte mich um, aber bevor ich die Tür erreichte, siegte wieder meine Neugier. Professor Challenger kritzelte mit einem Federkiel über ein Blatt Papier und sah mich ob der Unterbrechung mißbilligend an. »Ist noch etwas, Sir? Ich hatte gehofft, Sie seien bereits gegangen.« »Ich wollte Sie nur noch fragen, Sir, welcher Anlaß ein solch außergewöhnliches Experiment rechtfertigen könnte.« »Hinaus, Sir, hinaus!« rief er ärgerlich. »Vergessen Sie die rein kaufmännischen Aspekte und das rein kommerzielle Nützlichkeitsdenken Ihres Bewußtseins! Entledigen Sie sich Ihres schnöden Geschäftsmannsgeistes! Die Wissenschaft sucht nach dem Wissen. Selbst wenn wir alles erfahren haben, was wir wissen wollen – wir werden ewig weitersuchen. Endlich einmal zu wissen, was wir sind, warum wir sind und wo wir sind – ist das nicht der Sinn allen menschlichen Strebens? Hinaus, Sir, hinaus!« Sein gewaltiger, dunkelhaariger Schädel beugte sich erneut über die Papiere, und sein Gesicht verschwand vollends hinter dem Bart. Der Federkiel kratzte schriller als zuvor. Mit dem schwindelerregenden Gedanken, daß ich nun doch sein Partner geworden war, verließ ich diesen sonderbaren Mann. Als ich in mein Büro zurückkehrte, fand ich dort Ted Malone vor, der in Erwartung des Resultats meiner Unterredung breit grinste. »Oha!« rief er aus. »Du lebst noch? Er hat dich weder angefallen noch sonst irgendwie bedroht? Du mußt ihn ja ziemlich taktvoll behandelt haben. Nun, was hältst du von dem alten Knaben?« »Er ist der widerlichste, unverschämteste, intoleranteste, eingebildetste Mensch, der mir je begegnet ist, aber…« »Siehst du?« rief Malone aus. »Wir alle haben schließlich mit diesem ›Aber‹ geendet. Natürlich ist er alles, was du sagst. Er
ist sogar noch eine Menge mehr, aber trotzdem fühlt man, daß man einen Mann wie ihn nicht anhand der üblichen Standards messen darf. Was man von einem Sterblichen nicht ertragen würde, bei ihm nimmt man es hin, stimmt’s?« »Nun, ich kenne ihn noch nicht gut genug, um das bestätigen zu können, aber wenn er kein unhöflicher Größenwahnsinniger ist und seine Worte wahr sind, muß man schon zugeben, daß er eine Klasse für sich ist. Die Frage ist nur: Sind seine Worte wahr?« »Natürlich sind sie das. Challenger ist immer für eine Überraschung gut. Aber welche Stellung nimmst du in dieser Angelegenheit nun ein? Hat er dir von Hengist Down erzählt?« »Ja, in gewisser Weise schon.« »Nun, du kannst nur glauben, daß die ganze Sache etwas Kolossales hat. Sie ist sowohl kolossal in der Konzeption wie auch in der Durchführung. Obwohl er Presseleute haßt, genieße ich sein Vertrauen, weil er genau weiß, daß ich nicht mehr veröffentliche, als er mir gestattet. Deswegen bin ich auch in seine Pläne eingeweiht – das heißt, zumindest in einige. Aber Challenger ist ein dermaßen schlauer Fuchs, daß man sich nie sicher sein kann, ob man ihnen auch vollends auf den Grund gekommen ist. Ich weiß jedenfalls genug, um dir versichern zu können, daß Hengist Down eine runde Sache darstellt und die Arbeiten dort fast zum Abschluß gekommen sind. Ich rate dir, einfach auf das zu warten, was auf dich zukommt. Du wirst bald von mir oder von ihm Näheres dazu hören.« Als es schließlich soweit war, war es Malone, der mich informierte. Ein paar Wochen später kam er in aller Herrgottsfrühe in mein Büro und übergab mir eine schriftliche Nachricht. »Ich komme gerade von Challenger«, sagte er. »Du kommst mir vor wie der Pilotfisch eines Haies.«
»Nun, es erfüllt mich mit Stolz, daß ich ihm etwas bedeute. Es ist wirklich ein Wunder. Er hat es geschafft. Jetzt bist du an der Reihe; dann wird er bereit sein, den Vorhang beiseite zu ziehen.« »Obwohl ich es einsehe, fällt es mir noch immer schwer, die ganze Sache zu glauben. Auf alle Fälle habe ich aber meine Ausrüstung auf den Laster geladen und kann jeden Moment aufbrechen.« »Dann mach dich sofort auf den Weg. Ich habe dich ihm als energiegeladenen und äußerst pünktlichen Menschen geschildert, laß mich also nicht hängen. Wir können ja mit der Eisenbahn fahren, dann kann ich dich über deine Arbeit besser in Szene setzen.« Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen – der 22. Mai, um genau zu sein –, als wir zu jener schicksalsträchtigen Reise, die mich zu einem Schauplatz brachte, dessen Bestimmung es war, in die Geschichte einzugehen, aufbrachen. Unterwegs händigte mir Malone die schriftliche Notiz Challengers aus, die meine Instruktionen enthielt. Sir, (hieß es da) nachdem Sie Hengist Down erreicht haben, werden Sie sich bei Mr. Barforth, dem Chefingenieur, melden, der über meine Pläne informiert ist Mein junger Freund Malone, der Ihnen diese Nachricht überbracht hat, steht ebenfalls mit mir in Verbindung und wird mich vor jeder persönlichen Kontaktaufnahme abschirmen. Wir sind unterhalb der 14000-Fuß-Grenze auf ein Phänomen gestoßen, das meine Ansichten über die Natur des planetaren Körpers voll bestätigt, aber es bedarf noch einiger sorgfältiger Untersuchungen, bevor ich darauf hoffen darf, die träge Intelligenz der modernen wissenschaftlichen Welt zu beeindrucken. Es obliegt Ihnen, die Untersuchungen vorzunehmen und die Wissenschaft zum Zeugen unseres
Unternehmens werden zu lassen. Wenn Sie mit dem Aufzug in die Grube einfahren, werden Sie beobachten – vorausgesetzt, die seltene Gabe der Beobachtung ist Ihnen zu eigen – daß Sie während des Abstiegs an allerlei Kalkschichten, Kohlenflözen, einigen devonischen und kambrischen Überbleibseln und Granitablagerungen vorbeikommen, die sich über den größten Teil des Schachtes erstrecken. Was den Boden der Grube angeht, so ist er mit einer Persenning bedeckt, die ich Ihnen nicht zu betreten rate, da jede sorglose Behandlung des darunter befindlichen Erdoberhäutchens möglicherweise eine vorschnelle Reaktion hervorrufen würde. Man hat nach meinen Anweisungen zwanzig Fuß über dem Grubenboden zwei Balken angebracht, die durch einen Zwischenraum voneinander getrennt sind. Dieser Zwischenraum soll dazu dienen, Ihren artesischen Bohrer wie eine Klammer festzuhalten. Fünfzig Fuß Bohrlänge dürften ausreichen; Sie sollten den Bohrer so ausrichten, daß er von den Balken aus zwanzig Fuß tief auf die Persenning zielt. Wenn Ihnen das heben lieb ist, achten Sie darauf, daß er nicht tiefer geht. Wenn dreißig Fuß der Bohrnadel in den Schacht hinaufragen und Sie den Bohrer aktivieren, können wir davon ausgehen, daß er sich nicht weniger als vierzig Fuß tief in die Erdsubstanz hineinbohrt. Da diese Substanz gehr weich ist, nehme ich an, daß Sie nicht einmal Antriebsenergie benötigen werden, sondern ein einfaches Ausklinken der Nadel dazu führt, daß sie sich – angetrieben von ihrem Eigengewicht – in jene Stelle bohrt, die wir ausgegraben haben. Diese Anweisungen dürften an sich für jede normalbegabte Intelligenz ausreichend sein, weswegen ich kaum daran zweifle, daß Sie noch mehr benötigen. Andernfalls lassen Sie mich dies bitte durch unseren jungen Freund Mahne wissen. GEORGE EDWARD CHALLENGER
Man kann sich sicher vorstellen, daß ich mich in einem Zustand äußerster nervlicher Anspannung befand, als wir den am nördlichen Fuß der Südhänge gelegenen Bahnhof Storrington erreichten. Eine von Wind und Wetter mitgenommene Vauxhall 30 Landaulette erwartete uns und brachte uns sechs oder sieben Meilen weit über Landstraßen und Trampelwege, die trotz ihrer Abgeschiedenheit tief ausgefahren waren und alle Anzeichen schwerer Benutzung aufwiesen, unserem Ziel entgegen. Ein zerbrochenes Lastfahrzeug, das am Wegesrand lag, deutete an, daß es anderen nicht unbedingt besser ergangen war als uns. Einmal entdeckte ich Teile einer Maschine, die mich an die Ventile und Kolben einer hydraulischen Pumpe erinnerten. Sie waren rostig und ragten aus einem Gewirr von Stechginster hervor. »Das war Challengers Werk«, sagte Malone grinsend. »Er sagte, die Konstruktion wiche um ein Zehntel von seinen Zeichnungen ab. Deswegen hat er sie in den Straßengraben geworfen.« »Und den Hersteller verklagt, nehme ich an.« »Verklagt? Mein lieber Freund, wir könnten über einen eigenen Gerichtshof verfügen. Wir führen so viele Prozesse, daß wir einen Richter für ein ganzes Jahr mit Arbeit versorgen könnten – einschließlich die Regierung. Der alte Teufel schert sich um niemanden. Rex gegen George Challenger, George Challenger gegen Rex. Die beiden führen von einem Gerichtshof zum anderen einen hübschen Teufelstanz auf. Ah, jetzt sind wir da. Lassen Sie uns herein, Jenkins!« Ein breitschultriger Mann mit einem ansehnlichen Blumenkohlohr sah in den Wagen hinein. Sein ganzes Gesicht drückte Mißtrauen aus. Als er meinen Begleiter erkannte, entspannte er sich und salutierte. »In Ordnung, Mr. Malone. Ich dachte schon, es seien wieder diese Reporter von der Associated Press.«
»Oh, treiben die sich tatsächlich schon wieder hier herum?« »Heute die und gestern die von der Times. Oh, sie schwirren unablässig hier herum. Sehen Sie mal.« Er deutete auf einen entfernten Punkt am Horizont. »Sehen Sie das Funkeln? Das ist das Fernrohr der Chicago Daily News. Ja, sie sind ganz hübsch hinter uns her. Ich habe sie in Massen gesehen; sie sind wie ein Krähenschwarm an der Umzäunung entlanggeschlichen.« »Die arme Pressemeute!« sagte Malone, als wir das Tor durchquerten und den Stacheldrahtzaun hinter uns ließen. »Ich kann sie ja so gut verstehen, schließlich gehöre ich ja selbst dazu.« In diesem Augenblick ertönte hinter uns ein klägliches Blöken. »Malone! Ted Malone!« Der Schrei wurde von einem fetten kleinen Mann ausgestoßen, der gerade mit einem Motorrad angekommen war und nun im Griff des herkulischen Torwächters zappelte. »Lassen Sie mich los!« stieß er hervor. »Nehmen Sie die Hände weg! Malone, rufen Sie Ihren Gorilla zurück!« »Lassen Sie ihn los, Jenkins, er ist ein Freund von mir«, rief Malone. »Nun, alter Junge, was hast du auf dem Herzen? Hinter was bist du in dieser Gegend her? Normalerweise ist doch die Fleet Street dein Jagdrevier – und nicht die Wildnis von Sussex.« »Du weißt ganz genau, wohinter ich her bin«, sagte unser Besucher. »Ich habe Anweisung, eine Story über Hengist Down zu schreiben. Ohne den Text kann ich mich zu Hause nicht mehr sehen lassen.« »Tut mir leid, Roy, aber hier wirst du zu keiner Story kommen. Du wirst auf der anderen Seite des Stacheldrahts bleiben müssen. Wenn du mehr willst, mußt du dich schon zu
Professor Challenger bemühen und ihn um seinen Segen bitten.« »Da bin ich ja schon gewesen«, sagte der Journalist grimmig. »Und zwar heute morgen.« »Na, und was hat er gesagt?« »Er sagte, er würde mich aus dem Fenster werfen.« Malone lachte. »Und was hast du darauf erwidert?« »Ich fragte ihn, ob mit seiner Tür etwas nicht in Ordnung sei und benutzte sie zum Hinausgehen, um ihm zu zeigen, daß sie wirklich völlig in Ordnung ist. Es war einfach nicht die richtige Zeit für eine Auseinandersetzung. Ich bin einfach abgehauen. Wenn ich so an diesen bärtigen assyrischen Bullen in London und diesen Meuchler hier, der meinen Film ruiniert hat, denke, muß ich schon sagen, daß du dich in ziemlich seltsamer Gesellschaft aufhältst, Malone.« »Ich kann dir nicht helfen, Roy, so gern ich es auch täte. In der Fleet Street sagt man, du seist noch niemals zum Aufgeben zu bewegen gewesen, aber diesmal wirst du den Kürzeren ziehen. Geh in dein Büro zurück. Wenn du ein paar Tage wartest, gebe ich dir, sobald der Alte es erlaubt, eine Nachricht.« »Keine Chance, so reinzukommen?« »Keine jedenfalls von dieser Welt.« »Geld ist keine Frage?« »Du solltest mich besser kennen.« »Man sagt, man arbeitet hier an einer Abkürzung nach Neuseeland.« »Es wird sich als Abkürzung ins Krankenhaus erweisen, wenn du hier eindringst, Roy. Aber jetzt auf Wiedersehen. Wir haben noch einiges zu erledigen.« Als wir das Lager durchschritten, sagte Malone: »Das war Roy Perkins, der Kriegsberichterstatter. Wir haben seinen
Rekord gebrochen, denn bisher hat man ihn für unschlagbar gehalten. Es liegt an seinem kleinen, fetten, unschuldigen Gesicht, daß er überall hereinkommt. Wir waren mal in der gleichen Redaktion.« Er deutete auf eine Ansammlung recht ansehnlicher, rotbedachter Bungalows. »Das hier sind die Unterkünfte der Arbeiter. Es handelt sich um ausgewählte Prachtexemplare, die weit über dem Durchschnitt bezahlt werden, und sie sind ausnahmslos Junggesellen und Abstinenzler. Challenger hat sie auf sich eingeschworen, und ich glaube nicht, daß es bisher eine undichte Stelle gegeben hat. Dieses Feld da ist ihr Fußballplatz, und in dem freistehenden Gebäude dort befindet sich ihre Bibliothek nebst einem Entspannungsraum. Der Alte ist ein guter Organisator, das kann ich dir versichern. Und dies ist Mr. Barforth, der leitende Chefingenieur.« Ein langer, dünner melancholisch blickender Mann, in dessen Gesicht sich tiefe, von Besorgnis zeugende Linien eingegraben hatten, kam auf uns zu. »Ich nehme an, Sie sind der Bohrspezialist«, sagte er mit dunkler Stimme. »Ich habe den Auftrag, Sie in Empfang zu nehmen. Ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind, denn ich muß Ihnen offen gestehen, daß die Verpflichtungen, die ich übernommen habe, allmählich an meinen Nerven zerren. Wir arbeiten rund um die Uhr, aber ich weiß nie, ob das nächste, worauf wir stoßen, Grundwasser, ein Kohleflöz, eine Erdölquelle oder das Höllenfeuer ist. Das Letztere ist uns zwar bisher erspart geblieben, aber nach allem, was ich weiß, sind Sie sicher der richtige Mann, um die entsprechende Verbindung dazu herzustellen.« »Ist es so heiß dort unten?« »Nun, das kann man wohl sagen. Jedenfalls wird es niemand abstreiten. Zum Glück ist es nicht heißer, als der barometrische Druck und der enge Raum es zuläßt. Die Ventilation ist
natürlich abscheulich. Wir pumpen zwar Luft nach unten, aber die Männer können nie länger als zwei Stunden arbeiten. Und das, obwohl sie ihr Bestes geben. Der Professor ist gestern unten gewesen und war mit allem sehr zufrieden. Vielleicht ist es am besten, Sie essen mit uns erst einmal zu Mittag. Anschließend können Sie sich alles selbst ansehen.« Nach einem eilig eingenommenen schlichten Mahl erklärte man uns mit liebenswürdiger Gefälligkeit die Funktionsweise des Maschinenhauses und machte uns mit den verschiedenen, aus ausrangierten Gerätschaften bestehenden Schrotthaufen bekannt, die einen Teil des Graslandes bedeckten. Ich sah eine große, demontierte Arrol-Hydraulikschaufel, die für die ersten Grabungen zu Hilfe genommen worden war. Daneben stand eine Maschine, die ein fortlaufendes Stahlseil antrieb, an der wiederum Loren befestigt waren, die – auf Plattformen stehend – den Erdaushub vom Boden der Grube hinaufbeförderten. In der Kraftstation stießen wir auf einige Escher-Wyss-Turbinen, die pro Minute einhundertvierzig Umdrehungen machten und hydraulische Akkumulatoren steuerten, die pro Quadratzoll einen Druck von eintausendvierhundert Pfund entwickelten, der durch Drei-Zoll-Röhren in den Schacht geleitet wurde, und vier Gesteinsbohrer mit Hohlschneidern vom Typ Brandt betrieben. Neben dem Maschinenhaus befand sich ein kleines Elektrizitätswerk, das den Strom für das ausgedehnte Lichtnetz erzeugte, und direkt daneben stand eine 200 PS starke Extraturbine, die einen Zehn-Fuß-Ventilator antrieb, der wiederum Luft durch eine Zwölf-Zoll-Röhre auf den Grund des Schachtes hinab pumpte. Alle diese Wunder wurden uns – versehen mit vielen technischen Erläuterungen – von einem stolzen Techniker nahegebracht, der sich die gleiche Mühe gab, mich vor Langeweile einschlafen zu lassen, wie ich meinen Lesern. Es kam allerdings zu einer hochwillkommenen Unterbrechung, als ich das Quietschen von Reifen hörte und
erfreut meinen Leyland-Dreitonner über die Wiese hüpfen sah. Er war vollgeladen mit Werkzeugen, den Teilen eines Rohrsystems, meinem Vorarbeiter Peters und einem grimmig wirkenden Helfer, den ich auf dem Beifahrersitz gewahrte. Die beiden fingen sofort an, meine Sachen abzuladen und wegzutragen. Sie ihrer Arbeit überlassend, begaben Barforth, Malone und ich uns an den Schacht. Es war ein wundersamer Ort und sehr viel größer, als ich eigentlich erwartet hatte. Man hatte die vielen tausend Tonnen Erdaushub hufeisenförmig um die Schachtanlage verteilt und so einen großen Hügel geschaffen. Im Mittelpunkt dieses aus Kalk, Lehm, Kohle und Granit bestehenden Hufeisens erhoben sich die Gestänge eiserner Säulen und die Räder, die die Pumpen und Aufzüge in Betrieb hielten. Sie waren mit dem Ziegelbau der Kraftstation, der die Lücke der U-förmigen Anlage füllte, verbunden. Dahinter lag der offene Abgrund der Grube, eine klaffende Höhle, die dreißig bis vierzig Fuß durchmaß und an den Rändern mit Zement eingefaßt war. Als ich meinen Hals reckte und über den Rand in den furchterregenden Abgrund starrte, von dem ich wußte, daß er acht Meilen tief war, begann mir beim Gedanken an das, was er darstellte, zu schwindeln. Da das Sonnenlicht schräg in das Loch fiel, konnte ich noch mehrere hundert Yards unter mir schmutzigweiße Kalkwände erblicken, die die Männer dort, wo sie ihnen zu brüchig erschienen waren, mit Ziegelsteinen verstärkt hatten. Als ich in die Tiefe starrte, konnte ich weit unter mir in der Finsternis einen kleinen Lichtpunkt sehen, der sich – so winzig er auch war – klar und deutlich von dem tintenschwarzen Hintergrund abhob. »Was ist das für ein Licht?« fragte ich. Malone beugte sich neben mir über das Geländer. »Ein Aufzugkäfig, der heraufkommt«, sagte er. »Ist das nicht wundervoll? Er ist weiter als eine Meile von uns entfernt, und
das Licht stammt von einer starken Bogenlampe. Er bewegt sich schnell und wird in ein paar Minuten hier sein.« Ohne Zweifel wurde der Lichtpunkt größer und größer. Schließlich erleuchtete er den Schacht mit seiner silbernen Helligkeit dermaßen stark, daß ich den Blick abwenden mußte. Kurz darauf krachte der eiserne Käfig gegen die Halterung. Vier Männer stiegen aus und begaben sich zum Ausgang. »Das war’s«, sagte Malone. »Es ist wirklich kein Vergnügen, in dieser Tiefe eine zweistündige Schicht durchzustehen. Nun, ein Teil deiner Ausrüstung dürfte jetzt soweit sein. Ich glaube, es wäre das beste, wenn wir uns vorher ein wenig dort unten umsähen. Dann kannst du die Situation gleich richtig einschätzen.« Das Maschinenhaus, zu dem er mich führte, besaß einen Anbau. Dort hingen an einer Wand mehrere leichte Grubenanzüge. Malones Beispiel folgend, entledigte ich mich meiner Kleidung und zog einen dieser Anzüge sowie ein paar gummibesohlter Schuhe an. Malone, der eher fertig war als ich, verließ den Umkleideraum. Kurz darauf drang ein Lärm an mein Ohr, wie ihn zehn kämpfende Hunde nicht schlimmer erzeugen können. Als ich hinauseilte, sah ich meinen Freund über den Boden rollend mit einem Arbeiter ringen, der gerade damit beschäftigt war, meinen artesischen Bohrer abzuladen. Er war verzweifelt bemüht, dem anderen etwas zu entreißen, an das dieser sich mit aller Macht klammerte. Aber Malone war zu stark für seinen Gegner, er entriß den bewußten Gegenstand dessen Griff und trampelte darauf herum, bis er in Stücke brach. Erst dann erkannte ich, daß es ein Fotoapparat gewesen war. Mein grimmiggesichtiger Handwerker machte ein jammervolles Gesicht und stand auf. »Verdammt noch mal, Ted Malone!« sagt er. »Das war ein nagelneuer Apparat, der mich zehn Guineen gekostet hat!«
»Tut mir leid, Roy. Als ich sah, daß du eine Aufnahme machtest, konnte ich nicht mehr anders.« »Wie zum Henker, ist es Ihnen gelungen, sich unter meine Ausrüstung zu schmuggeln?« fragte ich mit berechtigter Empörung. Der Schurke grinste mich augenzwinkernd an. »Es gibt immer Mittel und Wege«, erklärte er. »Aber nehmen Sie die Sache Ihrem Vorarbeiter nicht allzu übel. Er hat die ganze Angelegenheit für einen Jux gehalten. Ich habe mit seinem Beifahrer die Kleider getauscht, und so bin ich eben hereingekommen.« »Und genau so wirst du auch wieder gehen«, sagte Malone. »Es ist sinnlos, Roy, keine Diskussion. Wäre Challenger hier, er würde dich den Hunden vorwerfen. Da ich selbst der Presse angehöre, will ich noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen. Aber ich bin hier nun einmal als Wachhund angestellt, und ich kann nicht nur bellen, sondern auch beißen. Und nun sieh zu, daß du fortkommst!« Und so wurde unser gewitzter Besucher von zwei grinsenden Arbeitern aus dem Lager geleitet. Vielleicht wird das Publikum nun verstehen, wie es zu jenem vierspaltigen Artikel mit der Überschrift TRAUM EINES VERRÜCKTEN WISSENSCHAFTLERS kam, der mit dem Untertitel EINE ABKÜRZUNG NACH AUSTRALIEN versehen war, ein paar Tage später im Adviser erschien, Professor Challenger einem Schlaganfall nahebrachte und den Chefredakteur dieser Zeitung mit dem unverständlichsten und gefährlichsten Anruf seines Lebens konfrontierte. Der Artikel schilderte in malerischer Form und ziemlich übertriebener Weise die Abenteuer »unseres erfahrenen Kriegsberichterstatters« Roy Perkins und enthielt einige farbenfrohe Beschreibungen wie »dieser struppige Kerl aus Enmore Gardens«, sprach von einem »stacheldrahtumzäunten Grundstück, das von
Schlägertrupps und Bluthunden bewacht wird« und besagte »Ich wurde von zwei Raufbolden vom Rande des anglo australischen Tunnels weggezerrt, wobei der brutalere der beiden mir vom Sehen her als Fisch in allen Wässern und Randfigur des Journalismus bekannt ist, während der andere, eine bedrohlich wirkende Erscheinung in seltsamer, tropischer Tracht, sich als Bohringenieur ausgab, obwohl er aufgrund seiner Physiognomie viel eher nach Whitechapel paßt.« Nachdem er uns diesermaßen auf die Palme gebracht hatte, hatte der Halunke seinen Lesern noch eine sorgfältige Beschreibung jener nichtvorhandenen Eisenbahnschienen mitgeliefert, die angeblich direkt in die Grube hineinführen sollten. Der einzig praktische Effekt, den der Artikel erzeugte, war, daß die Scharen der Herumtreiber, die auf den südlichen Hügeln saßen und darauf warteten, daß etwas passierte, noch größer wurden. Und dann kam es schließlich zu jenem Tag, an dem etwas geschah, und sie sich alle sonstwohin wünschten. Mein Vorarbeiter und sein falscher Helfer hatten den ganzen Platz mit meinen Apparaturen bedeckt, aber obwohl der Bohrer, das Gestänge, der Hahnenfuß und das Druckgewicht überall verstreut lagen, bestand Malone darauf, es erst einmal liegen zu lassen und uns auf den Grund des Schachtes hinabzubegeben. Um dieses Ziel zu erreichen, betraten wir den mit Eisengitterwänden versehenen Aufzugkäfig und jagten in der Gesellschaft des Chefingenieurs in die Erde hinein. Der Schacht war mit mehreren Aufzügen ausgestattet, von denen jeder über eine eigene Antriebsstation verfügte. Obwohl jeder der einzelnen Lifts mit großer Schnelligkeit fuhr, machte ich die Erfahrung, daß die Reise eher einer vertikal vonstatten gehenden Eisenbahnfahrt glich als dem behutsamen Sinken, das man von englischen Aufzügen her kennt. Da der Käfig vergittert und hell erleuchtet war, hatten wir, als wir die einzelnen Erdschichten passierten, eine klare Sicht, und
ich konnte alles genau erkennen. Da waren fahlblasse Kalk-, kaffeebraune Hastings- und hellere Ashburnham-Schichten, kohlehaltige Lehmablagerungen und schließlich, sichtbar im Schein der elektrischen Lampen, unzählige Flöze nachtschwarzer, dunkelnder Kohle, die sich hier und da mit Lehmschichten abwechselten. An einigen Punkten hatte man Ziegel in die Schachtwand gesetzt, aber im großen und ganzen trugen die Wände sich selbst, und man konnte sich vor dem technischen Genius, der dieses Wunderwerk vollbracht hatte, nur anerkennend verbeugen. Unter den Kohleflözen sah ich vermischte Schichten, die wie Zement wirkten, und als wir uns durch das Gebiet des reinen Granits bewegten, leuchteten überall funkelnde Quarzkristalle, als seien die Wände von Diamantenstaub durchzogen. Weiter und weiter fuhren wir in die Tiefe hinab – tiefer als je ein Sterblicher zuvor. Die archaischen Felsen variierten wunderbar in ihren Farben, und ich werde niemals den Glanz des breiten Gürtels aus rotem Ton vergessen, der im Schein unserer Lampen in überirdischer Schönheit erstrahlte. Wir betraten Sohle nach Sohle und Lift nach Lift, und die Luft wurde immer drückender, bis uns selbst die leichte Kleidung unerträglich wurde. Endlich, als ich schon dachte, ich würde es nicht mehr aushalten können, hielt der letzte Lift an, und wir betraten eine kreisförmige, in den Fels hineingemeißelte Plattform. Als wir ausstiegen, bemerkte ich, daß Malone die Schachtwände mit einem mißtrauischen Blick bedachte. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß er zu den Tapfersten gehört – in diesem Moment hätte ich glauben müssen, er sei ausgesprochen ängstlich. »Sieht komisch aus«, sagte der Chefingenieur und legte seine Hand auf die nächste Felsmassierung. Er hielt sie ans Licht und zeigte uns, daß sie mit einem seltsamen schleimigen Sud bedeckt war. »Es hat leichte Beben und etwas Bewegung hier unten gegeben, aber fragen Sie mich nicht, woran das liegt.
Der Professor scheint ziemlich zufrieden zu sein, aber was mich, angeht, so habe ich so etwas noch nie gesehen.« »Es ist wohl meine Pflicht, dich darauf hinzuweisen, daß die Schachtwand sich bewegt hat, als ich das letzte Mal hier unten war«, sagte Malone. »Das war, als wir die beiden Balken anbrachten, die deinem Bohrer als Halterung dienen sollen. Als wir Löcher in den Fels bohrten, um sie zu befestigen, zuckte die Wand wie unter einem elektrischen Schlag zusammen. Möglicherweise hört sich die Theorie des Alten in London absurd an, aber hier, acht Meilen unter der Oberfläche, können einem wirklich Zweifel kommen.« »Wenn Sie das gesehen hätten, was sich unter der Persenning dort befindet, würden Sie noch weniger zweifeln«, sagte der Ingenieur. »Die Felswände sind hier unten so weich wie Käse, und als wir sie durchstießen, fanden wir eine Substanz, die auf der Erde ihresgleichen sucht. ›Deckt es zu! Nicht berühren!‹ sagte der Professor. Deswegen auch die Plane. Wir folgten seinen Anweisungen und ließen sie hier liegen.« »Könnte ich es mir einmal ansehen?« Die tieftraurige Miene des Ingenieurs zeigte nun einen beinahe furchtsamen Ausdruck. »Man sollte dem Professor gegenüber besser keinen Ungehorsam zeigen«, sagte er. »Er ist so verdammt gerissen, daß man niemals wissen kann, ob er einen nicht einer Prüfung aussetzt. Aber ich glaube doch, daß wir kurz einen Blick darauf werfen können.« Er drehte unsere Hohlspiegellampe so weit herunter, daß das Licht auf die schwarze Persenning traf. Dann bückte er sich, griff nach einem Seil, das mit einer Ecke der Plane verbunden war und legte ein halbes Dutzend Quadratyards der darunter liegenden Fläche frei. Es war ein höchst ungewöhnlicher und erschreckender Anblick, der sich uns bot. Der Gruftboden bestand aus einem
gräulichen Material, das wie glasiert glänzte und sich langsam pochend senkte und hob. Es war nicht direkt ein Herzschlag, aber die Bewegungen, derer ich ansichtig wurde, erzeugten in mir den Eindruck eines gleichmäßigen Wogens, und der Rhythmus schien über die ganze Fläche zu verlaufen. Sie war nicht homogen, denn darunter konnte man wie durch Milchglas gesehen – vage, weißliche Flecken oder Hohlräume erkennen, deren Umfang und Größe sich fortwährend veränderte. Wie gelähmt standen wir da und starrten auf diesen außergewöhnlichen Anblick. »Es sieht aus wie ein mit Haut bedecktes Tier«, sagte Malone mit gedämpfter Stimme. »So unrecht scheint der Alte mit seinem verdammten Echinus ja nicht gehabt zu haben.« »Guter Gott!« rief ich aus. »Und ich soll dieser Bestie eine Harpune in den Leib jagen!« »Das ist dein Privileg, mein Sohn«, erwiderte Malone. »Und… Es ist traurig, aber wahr: Wenn ich mich nicht anderweitig unentbehrlich machen kann, werde ich, wenn es soweit ist, an deiner Seite stehen müssen.« »Na, ich aber nicht«, sagte der Ingenieur entschieden. »Mir ist nie im Leben etwas klarer bewußt gewesen als das. Wenn der Alte darauf bestehen sollte, werde ich meinen Hut nehmen. Gütiger Gott, sehen Sie sich das an!« Die graue Fläche bewegte sich plötzlich sprungartig nach oben und wogte auf uns zu wie eine Welle, die man von der Mole aus beobachtet. Dann versank sie wieder, und das dumpfe Pochen und Pulsieren erklang wieder wie zuvor. Barforth ließ das Seil fallen, und die Persenning bedeckte wieder den Boden. »Sieht fast so aus, als wüßte es, daß wir hier sind«, sagte er. »Aber warum sollte es sich uns in dieser Manier nähern? Ich nehme an, daß das Licht irgendeinen Effekt darauf gehabt hat.«
»Was soll ich denn tun?« fragte ich. Mr. Barforth deutete auf die beiden Balken, die unterhalb der Liftstation über dem Grubenboden hingen. Der Abstand zwischen ihnen betrug neun Zoll. »Das war die Idee des Alten«, sagte er. »Ich glaube, ich hätte sie besser befestigen können, aber ebenso gut kann man versuchen, mit einem verrückten Büffel zu diskutieren. Es ist leichter und sicherer, das zu tun, was er einem aufträgt. Er meint, Sie sollten einen Sechs-Zoll-Bohrer nehmen und ihn irgendwie zwischen den beiden Stützen befestigen.« »Ich glaube nicht, daß das sehr schwierig ist«, antwortete ich. »Von heute an stehe ich Ihnen für die Arbeit zur Verfügung.« Wie man sich vorstellen kann, war dieser Auftrag die seltsamste Erfahrung in meinem sicher nicht eintönig verlaufenen Leben, einschließlich der Brunnenbohrungen auf jedem Kontinent der Erde. Da Professor Challenger jedoch vehement darauf bestand, daß das Unternehmen aus einer gewissen Entfernung vorgenommen wurde und ich keine Unvernunft hinter dieser Absicht erkennen konnte, mußte ich mir hinsichtlich der elektrischen Anlagen etwas einfallen lassen. Aber auch das war kein großes Problem, zumal der Schacht vom Boden bis zum Einstieg bereits verkabelt war. Mit unendlicher Sorgfalt brachten mein Vorarbeiter Peters und ich das Gestänge nach unten und stapelten es auf den Felssims. Dann zogen wir uns, um ein wenig Platz zu schaffen, auf die unterste Aufzugsstation zurück. Da wir beabsichtigten, nach dem Tastensystem vorzugehen, da wir dabei von der Schwerkraft unabhängiger wurden, hängten wir unser HundertPfund-Gewicht an einen unterhalb des Lifts angebrachten Flaschenzug, und darunter bauten wir das mit einem V förmigen Abschluß versehene Gestänge auf. Das Seil, das das Gewicht hielt, wurde schließlich dermaßen an der Schachtwand befestigt, daß eine elektrische Entladung es lösen
würde. Es war eine schwierige Arbeit in mehr als tropischer Hitze, und dazu kam noch das allgegenwärtige Gefühl, daß ein kleiner Ausrutscher mit dem Fuß oder das Fallenlassen eines Werkzeugs auf die Persenning unter uns irgendeine unvorstellbare Katastrophe hervorrufen konnte. Zudem jagte uns auch die Umgebung Entsetzen ein, denn hin und wieder sah ich, wie die Wände des Schachtes von einem seltsamen Zittern und Zucken geschüttelt wurden oder fühlte ein leises Pulsieren, wenn ich sie mit den Händen berührte. Weder Peters noch ich vermochten unsere Erleichterung zu verhehlen, als wir den letzten Handschlag getan hatten und das Signal gaben, daß wir bereit seien, zum letzten Mal an die Oberfläche zurückzukehren, um Mr. Barforth zu berichten, daß Professor Challenger sein Experiment starten könne, wann immer er wolle. Wir brauchten nicht lange darauf zu warten. Nur drei Tage nach unserem letzten Arbeitstag traf ein Brief von ihm ein. Es handelte sich um eine gewöhnliche Einladungskarte jener Art, die man verschickt, wenn man Gäste zu einer Gesellschaft zu sich nach Hause einlädt. Sie trug folgenden Text: PROFESSOR GEORGE EDWARD CHALLENGER F.R.S. M.D. D.Sc. etc. (Ehemaliger Präsident des Zoologischen Instituts und Inhaber derart vieler Titel und Ehrungen, daß ihre Aufzählung den Rahmen dieser Karte sprengen würde) ersucht um die Anwesenheit von Mr. JONES (ohne Damenbegleitung) in Hengist Down, Sussex, um 11.30 Uhr, am Dienstag, dem 21. Juni, um Zeuge eines bemerkenswerten Triumphs des Geistes über die Materie zu werden. Sonderzug vom Bahnhof Victoria ab 10.05 Uhr. Die Passagiere haben ihr Fahrgeld selbst zu entrichten. Ein Imbiß
wird im Anschluß an das Experiment gereicht – oder auch nicht (was auf die Umstände ankommt). Haltestation: Storrington. U. A. w. g. (und zwar sofort und in Druckschrift) an
14 (b) Enmore Gardens, S. W
Ich erfuhr, daß Malone eine ähnliche Botschaft erhalten hatte und sich köstlich darüber amüsierte. »Es ist natürlich nur ein Jux, daß er uns so etwas zusendet«, meinte er. »Was sagte doch gleich der Henker zum Mörder: ›Egal was auch passiert, wir beide werden unter allen Umständen dabei sein!‹ Aber eines sage ich dir: Dies wird ganz London in Aufregung versetzen. Der Alte kommt genau dahin, wo er hinmöchte, denn von nun an werden sich alle Scheinwerfer auf seinen haarigen, alten Schädel richten.« Der große Tag war endlich gekommen. Ich persönlich spielte mit dem Gedanken, noch in der gleichen Nacht aufzubrechen, um sicherzugehen, daß noch alles in Ordnung war. Der Bohrer war in Position gesetzt, das Gewicht auf ihn abgestimmt, und der Strom konnte leicht eingeschaltet werden, und was meinen Anteil an diesem Unternehmen anging, so konnte ich mit Zufriedenheit feststellen, daß ich ihn ohne Verzögerung ausführen konnte. Die elektrischen Schaltungen würden von einem Punkt aus bedient werden, der fünfhundert Yards von der Schachtmündung entfernt lag, um jede persönliche Gefährdung auf ein Minimum zu reduzieren. Als der schicksalsträchtige Morgen – es war ein idealer englischer Sommertag – anbrach und ich zuversichtlich über das Gelände schritt, begab ich mich ein Stück die Hügelkuppe hinauf, um einen generellen Überblick zu gewinnen. Die ganze Welt schien nach Hengist Down unterwegs zu sein. So weit das Auge reichte, waren die Straßen voller Menschen. Kraftfahrzeuge rumpelten schwankend über die
Feldwege und setzten ihre Passagiere am Lagereingang ab. Dort wurden sie von einer kräftigen Pförtnergruppe in Empfang genommen, die weder auf Versprechungen noch auf Bestechungsversuche hereinfielen, und nur diejenigen hineinließen, die eine gedruckte Einladungskarte vorweisen konnten. Jene, die das Versuchsgelände nicht betreten durften, zerstreuten sich schließlich und gesellten sich zur großen Masse der Beobachter, die die umliegenden Hügel bevölkerten. Die gesamte Umgebung wimmelte dermaßen von Menschen, daß man den Eindruck gewinnen konnte, hier fände ein Derby statt. Hinter der Umzäunung hatte man das Gelände in verschiedene Abschnitte eingeteilt, die dazu dienten, die Besucher nach ihrem Stand aufzunehmen. So gab es einen Abschnitt für die Peers, einen für die Abgeordneten des Unterhauses, einen für die Mitglieder wissenschaftlicher Vereinigungen, und einen für die prominentesten Vertreter der modernen Wissenschaft, zu denen unter anderen Le Pellier von der Sorbonne und Dr. Driesinger von der Akademie Berlin gehörten. Ein speziell reserviertes Gehege, das mit Sandsäcken umgeben und mit einem Wellblechdach ausgestattet war, hatte man für die drei Mitglieder der königlichen Familie bereitgestellt. Um Viertel nach elf holte eine Anzahl von Chars-à-bancs die höchstgestellten Gäste von der Eisenbahnstation ab und brachte sie zum Lager. Ich verließ die Hügelkuppe und gesellte mich zu den anderen, um ihnen beim Empfang der Besucher zu assistieren. Professor Challenger hielt sich auf dem Abschnitt der Auserwählten auf. Er trug einen Gehrock, eine weiße Weste, einen polierten Zylinder, und sein Gesichtsausdruck spiegelte eine Mischung aus Übermut, Wohlwollen und beinahe übermäßiger Selbstsicherheit wider. Einer seiner Kritiker hatte ihn als »offensichtliches Opfer eines Gott-Komplexes« beschrieben. Er unterstützte seine Leute
dabei, die Gäste an die für sie reservierten Plätze zu führen und trieb sie hin und wieder auch an. Schließlich, nachdem sich die Elite der Gesellschaft um ihn versammelt hatte, begab er sich, um nur auch ja von allen wahrgenommen zu werden, auf einen günstig gelegenen kleinen Hügel und sah sich mit einem Blick um, als sei er ein Aufsichtsratsvorsitzender, der darauf wartet, mit einem Willkommensapplaus empfangen zu werden. Da dieser jedoch nicht geäußert wurde, leitete er sofort zu seinem Thema über, wobei seine donnernde Stimme bis in die letzten Winkel der Absperrung drang. »Gentlemen!« brüllte er. »Dieses Ereignis läßt die Anwesenheit von Damen nicht zu! Wenn ich davon abgesehen habe, Sie zusammen mit Ihren Damen hierherzubitten, so kann ich Ihnen versichern, daß das nicht etwa an mangelnder Wertschätzung liegt, denn ich kann von mir behaupten«, – an dieser Stelle drückte sein Tonfall einen elefantenhaften Humor und spöttische Bescheidenheit aus – »daß die Beziehungen zwischen den Damen und mir stets ausgezeichnet und meistens sogar innig gewesen sind. Der wirkliche Grund, weshalb ich Sie allein zu mir gebeten habe, liegt darin, daß unser Experiment ein bißchen gefährlich werden kann – allerdings nicht so gefährlich, um den Ausdruck des Erschreckens zu rechtfertigen, den ich auf Ihren Gesichtern wahrnehme. Es wird die Herren von der Presse möglicherweise interessieren, daß ich für sie auf den uns umgebenden Hügeln ganz besondere Plätze habe reservieren lassen, damit sie während des Versuchs den besten Überblick haben. Obwohl Sie gelegentlich ein dermaßen starkes Interesse an meiner Arbeit gezeigt haben, daß es manchmal von Impertinenz nicht mehr zu unterscheiden war, möchte ich mir nicht nachsagen lassen, ich wüßte Ihre Anwesenheit nicht zu schätzen. Sollte sich das Experiment als Fehlschlag erweisen, was ja immerhin möglich ist, kann ich wenigstens behaupten, mein Bestes für Sie getan
zu haben. Sollte das Experiment gelingen, werden Sie, wenn Sie sich ihm gewachsen zeigen sollten, eine unschätzbare Erfahrung machen, über die Sie dann belichten können. Wie Sie sicherlich wissen, ist es für einen Mann der Wissenschaft nicht ganz einfach, seine Handlungen und Beweggründe zu erläutern, wenn er nicht unter sein Niveau gehen und zur breiten Masse hinabsteigen will. Ich höre jedoch einige ungebührliche Zwischenrufe, und möchte den Gentleman mit der Hornbrille bitten, das Gewinke mit seinem Regenschirm einzustellen.« (Zwischenruf. »Die Art, in der Sie Ihre Gäste ansprechen, Sir, ist äußerst beleidigend!«) »Es liegt möglicherweise an der von mir benutzten Phrase ›breite Masse‹, daß dieser Herr sich so aufplustert. Nun gut, ich will hinzufügen, daß meine Zuhörer eine höchst ungewöhnliche Menschenmasse darstellen. Ich habe keine Lust, mich über dererlei Phrasen zu streiten. Bevor mich diese freche Bemerkung unterbrach, war ich gerade im Begriff zu sagen, daß ich diese Angelegenheit demnächst ausführlich in meiner nächsten Veröffentlichung diskutieren werde, die ich, in aller Bescheidenheit, als eines der epochemachendsten Bücher aller Zeiten bezeichnen darf.« (Lautes Gemurmel und Zwischenrufe wie: »Kommen Sie endlich zur Sache!« – »Weswegen sind wir überhaupt hier?« – »Soll das ein Witz sein?«) »Wie gesagt, ich war also gerade im Begriff, Ihnen die Sache auseinanderzulegen, aber wenn man mich noch einmal unterbricht, werde ich mich gezwungen sehen, andere Mittel zu ergreifen, um die Ruhe und Ordnung herzustellen, an der es dieser Versammlung offenbar gebracht. Die Lage sieht folgendermaßen aus: Ich habe einen Schacht durch die Erdkruste bohren lassen und bin im Begriff, den Versuch zu wagen, die empfindliche Rinde der Erde mit Nachdruck zu reizen. Es handelt sich dabei um eine schwierige Operation, die Mr. Peerless Jones, einer meiner Untergebenen, ausführen
wird. Mr. Jones ist Experte für artesische Bohrungen. Der zweite im Bunde ist Mr. Edward Malone, der während dieses Ereignisses meine Stelle einnimmt. Die von uns freigelegte, empfindliche Substanz wird also gestochen werden, und die daraus resultierende Reaktion kann man nur vermuten. Wenn Sie nun bitte freundlicherweise Ihre Plätze einnehmen wollen, werden diese beiden Gentlemen in die Grube einfahren und die letzten Justierungen vornehmen. Wenn ich den auf diesem Tisch befindlichen Schalter umlege, wird das Experiment seinen Anfang nehmen.« Nach dieser geschwollenen Rede Challengers hätte sich jedes Publikum fühlen müssen, wie die Erde selbst; seiner schützenden Epidermis beraubt und mit freigelegten Nervenbahnen. Auch die gegenwärtige Versammlung war in dieser Hinsicht keine Ausnahme: Kritisch vor sich hinmurmelnd und Vorbehalte äußernd, kehrten die Anwesenden auf ihre Plätze zurück. Challenger nahm allein neben einem kleinen Tisch am Schachteingang Platz. Seine Mähne und sein Bart, die beide vor Erregung gesträubt waren, verliehen ihm das Aussehen eines finsteren Fabelwesens. Leider hatten Malone und ich keine Gelegenheit, diese Szene noch ein wenig länger zu genießen, denn wir eilten auf der Stelle los, um unseren Auftrag zu erfüllen. Zwanzig Minuten später hielten wir uns auf dem Grubenboden auf und zogen die Persenning beiseite. Das, was da vor uns lag, bot einen erstaunlichen Anblick. Aufgrund irgendeines unerklärlichen telepathischen Sinnes schien der alte Planet zu ahnen, daß ihm ein Anschlag auf seine bisher durch nichts gestörte Ruhe drohte. Die Oberfläche seiner Haut ähnelte kochendem Wasser. Große, graue Blasen bildeten sich und platzten mit einem lauten Knall. Die darunter liegenden Hohlräume teilten sich und wuchsen in, aufgeregter Aktivität wieder zusammen. Der Rhythmus der sich
kräuselnden Wogen war stärker und schneller als je zuvor. Eine dunkle Flüssigkeit pulsierte durch die sich hin und herschlängelnden Aderkanäle. Die Masse pulsierte ununterbrochen. Ein schwerer Geruch machte die Luft für menschliche Lungen kaum noch atembar. Ich starrte noch auf dieses Spektakel, als Malone meinen Ellbogen packte und aufgeregt nach Luft schnappte. »Mein Gott, Jones!« rief er aus. »Sieh dir das an!« Ich folgte seinem Blick, und im nächsten Moment ließ ich die Stromleitung fahren und sprang in den Aufzugkäfig zurück. »Nun komm schon!« schrie ich. »Das kann zu einem Rennen auf Leben und Tod werden!« Das, was wir gesehen hatten, war in der Tat ausgesprochen alarmierend. Es schien, als entwickele der Schacht an seiner tiefsten Stelle plötzlich eine beängstigende Aktivität, denn unter uns hatten seine Wände nun das herzschlagähnliche Pulsieren aufgenommen. Die Bodenbewegung blieb natürlich nicht ohne Auswirkung auf die Löcher, in denen die Balken ruhten. Uns war sofort klar, daß die Wände sich nur um wenige Zoll zu verschieben brauchten, um die Balken abstürzen zu lassen. Wenn dies geschah, würde das spitze Ende meiner Bohrnadel den Boden natürlich unabhängig von der Stromzufuhr durchstoßen. Bevor dies zur Tatsache wurde, war es für Malone und mich lebenswichtig, aus dem Schacht herauszukommen. Wenn man sich acht Meilen unter der Erde aufhält und die Gefahr besteht, daß über einem im nächsten Augenblick alles zusammenfällt, ist das natürlich eine schreckliche Aussicht. In Panik versetzt, jagten wir nach oben zurück. Ob wir diese alptraumhafte Flucht jemals vergessen werden? Die Aufzugseile knirschten und knarrten; die Minuten schienen sich zu Stunden auszudehnen. Jedesmal, wenn wir eine neue Station erreicht hatten, sprangen wir in den nächsten
Aufzug, lösten seine Sperre und flogen weiter der Erdoberfläche entgegen. Durch das vergitterte Aufzugdach konnten wir hoch über uns den kleinen Lichtpunkt erkennen, der den Grubeneingang darstellte. Er wurde größer und größer, veränderte sich bald zu einem Kreis, und schließlich erblickten unsere erfreuten Augen die Ziegelsteinumrandung. Aufwärts jagten wir, aufwärts – und dann, endlich, sprangen wir in einem Augenblick trunkenen Glücks voller Dankbarkeit aus unserem Gefängnis und eilten mit den Füßen über grünes Gras. Die Berührung war allerdings nur kurz, denn wir hatten kaum eine Entfernung von dreißig Schritten zwischen uns und den Schacht gebracht, als sich tief unter uns mein eiserner Pfeil in das Nervensystem der alten Mutter Erde bohrte und der große Augenblick endlich gekommen war. Was in diesem Augenblick geschah? Weder Malone noch ich waren in der Lage, dies zu beurteilen, da wir beide plötzlich von einem Wirbelsturm ergriffen, von den Beinen gerissen und wie zwei Pucks auf einer Eisfläche herumgeschleudert wurden. Gleichzeitig drang der entsetzlichste Aufschrei an unsere Ohren, den wir je gehört hatten. Ob es unter den Hunderten von Anwesenden auch nur einen gegeben hat, der auch nur einen ähnlichen Schrei vernommen hat und ihn beschreiben kann? Es war ein Schmerzensschrei, ein Wutgeheul, ein Haßgesang. In diesem entsetzlichen Aufschrei lag der ganze Zorn ihrer Majestät der Natur. Er dauerte eine ganze Minute lang, war wie das Geheul von tausend Sirenen. Er lähmte die große Menge der Anwesenden mit unbändigem Nachdruck, pflanzte sich durch die reglose Sommerluft so weit fort, bis er an der Südküste ein Echo warf und sogar unsere französischen Nachbarn auf der anderen Kanalseite erreichte. Es gibt kein Geräusch in der Geschichte der Menschheit, das dem Schrei der gequälten Erde jemals entsprochen hätte.
Obwohl Malone und ich benommen und nahezu taub waren, drang der schockierende Schrei dennoch zu uns durch, aber erst später gelang es uns, aufgrund der Erzählungen anderer Beteiligter, Einzelheiten über das, was sich um uns abspielte, zu erfahren. Das erste, was die gepeinigte Erde ausspuckte, waren die Aufzugkäfige. Die restlichen Apparaturen verblieben, soweit sie an den Wänden befestigt gewesen waren, im Inneren des Schachtes, aber die Aufzüge mit ihren festen Böden wurden voll von der aufwärts rasenden Druckwelle erfaßt. Wie Kügelchen in einem Blasrohr, jagten sie unabhängig voneinander durch den Schacht nach oben und flogen nacheinander durch die Luft, wobei jeder der Käfige hinter seinem Vorgänger herzischte. Sie beschrieben einen weiten Kreis. Einer der Käfige landete am Worthing-Pier, ein anderer auf einem Feld bei Chichester. Diejenigen, die sie sahen, mußten zugeben, daß von allen ungewöhnlichen Sichtungen der der vierzehn durch den blauen Himmel segelnden Aufzugkäfige für sie der ungewöhnlichste gewesen sei. Dann kam die Fontäne. Sie bestand aus einem gewaltigen Strahl von ekelhafter Substanz, die Teer zu enthalten schien und schätzungsweise tausend Fuß hoch in den Himmel schoß. Ein Beobachtungsflugzeug, das über der Szenerie geschwebt hatte, wurde von der übelriechenden Flüssigkeit getroffen und mußte notlanden, wobei sowohl die Maschine als auch der Pilot im Schmutz versanken. Die abscheuliche Substanz scheint das Lebensblut des Planeten gewesen zu sein, wie Dr. Driesinger und die Berliner Schule meinen, aber es spricht auch etwas dafür, daß es sich um eine Schutzflüssigkeit handelte, die die gleiche Funktion wie die Stinkdrüse eines Skunks erfüllt und dazu dient, der alten Mutter Erde allzu eifrige Forscher vom Leibe zu halten. Glücklicherweise entkam der Hauptübeltäter, der auf dem bereits erwähnten
Hügelchen auf seinem Thron saß, dem Gegenschlag der Erde weitgehend unbehelligt, aber die unglücklichen Pressevertreter wurden dermaßen in Mitleidenschaft gezogen, daß sie sich während der folgenden Wochen in menschlicher Gesellschaft nicht mehr blicken lassen konnten. Die abscheuliche Flüssigkeit wurde vom Wind nach Süden getrieben und rieselte dort auf die pechbehaftete Menschenmenge herab, die so lange und geduldig auf den Hügelkuppen gewartet hatte, um zu sehen, was hier überhaupt vor sich ging. Es gab zwar weder Verletzte noch Sachschäden zu beklagen, aber viele der in nächster Nähe liegenden Häuser waren unbewohnbar geworden. Noch heute erinnern sie jeden, der sie betritt, allein durch den ihnen anhaftenden Geruch an das große Ereignis. Und dann kam der Einsturz der Grube. Wie die Natur eine Wunde langsam von unten her schließt, so entledigte sich auch die Erde mit extremer Schnelligkeit der Fremdkörper, die für sie zu einer lebensgefährlichen Bedrohung geworden waren. Aus den tiefsten Tiefen des Schachtes erklang ein langanhaltendes, schrilles Kreischen, stieg höher und höher und brachte schlußendlich mit einem ohrenbetäubenden Knall die Ziegelsteinumrandung des Schachtes zum Zerspringen. Ein Vibrieren, das beinahe ein kleines Erdbeben war, verwüstete die die Anlage umgebenden Erdhügel. Dort, wo sich einst der Schachteinstieg befunden hatte, erhob sich nun ein fünfzig Fuß hoher Schrotthaufen aus Eisengestänge. Professor Challengers Experiment war damit nicht nur beendet, sondern dem menschlichen Blick auch auf ewig entzogen. Wäre nicht der von der Königlichen Gesellschaft aufgestellte Obelisk – man müßte daran zweifeln, ob unsere Kindeskinder den Ort dieses bemerkenswerten Geschehens überhaupt wiederfänden. Und dann kam das große Finale. Als die Menschen endlich wieder klar zu denken vermochten und sich über das Geschehene einen ersten Überblick zu verschaffen versuchten,
herrschte eine Zeitlang Bewegungslosigkeit und Stillschweigen. Und dann brach mit einem mächtigen Ruck, der ihre Vorstellungskraft rasend schnell beflügelte, ihr Bewußtsein auf und ließ sie die Genialität, und Wunderbarkeit des Experiments erkennen. Wie ein Mann wandte die Menge sich Challenger zu. Aus jedem Winkel des Geländes kamen bewundernde Rufe, und Challenger, der immer noch auf seinem Hügelchen stand, konnte von dort oben auf ein Meer ihm zugewandter Gesichter sehen, deren Linie nur noch von zahllosen geschwenkten Taschentüchern unterbrochen wurde. Wenn ich mich so zurückerinnere, sehe ich ihn in diesem Augenblick am klarsten. Er erhob sich mit halbgeschlossenen Augen von seinem Stuhl. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen und zeigte an, wie wohl er diese Ehrung zu schätzen wußte. Challenger hatte die linke Hand auf die Hüfte gestützt und die rechte im Brustausschnitt seines Gehrockes vergraben. Ich weiß, daß ich diesen Anblick nie vergessen werde, ebenso wenig das nun einsetzende Klicken der Fotoapparate, die eine Geräuschkulisse erzeugten, die man nur mit dem einer Horde Grillen vergleichen kann. Die Junisonne beleuchtete ihn mit goldenen Strahlen, als er sich mit ernster Miene umwandte und in alle Himmelsrichtungen verbeugte. Challenger, der Superwissenschaftler; Challenger, der Überpionier; Challenger – der allererste Mensch, den die Mutter Erde schlußendlich wahrgenommen hat. Zum Abschluß noch ein paar Worte. Mittlerweile weiß man natürlich, daß die Effekte, die das Experiment hervorrief, überall wahrgenommen werden konnten. Es entspricht zwar der Wahrheit, daß der verletzte Planet lediglich am Ort des Geschehens selbst aufschrie, aber der Beweis ist nun erbracht, daß er wirklich überall zugegen ist. Die Erde gab ihrem Unmut durch jeden Spalt und jeden Vulkan Ausdruck. Der Hekla
brüllte, bis die Isländer den Weltuntergang befürchteten. Der Vesuv sprengte sich den eigenen Kopf ab. Der Ätna spuckte eine solche Menge Lava aus, daß die italienische Regierung Professor Challenger aufgrund der Beschädigungen in den heimatlichen Weinbergen auf eine halbe Million Schadensersatz verklagte. Sogar in Mexiko und im zentralamerikanischen Gürtel waren die Anzeichen plutokratischer Gereiztheit zu spüren. Das Gedonner des Stromboli erfüllte den ganzen Mittelmeerraum. Es ist zwar bisher eine durchaus menschliche Verhaltensweise gewesen, die ganze Welt über ein bestimmtes Thema reden zu lassen – aber sie zum Schreien zu bringen, ist einzig und allein das Verdienst Challengers.
Die Desintegrationsmaschine (The Desintegration Machine)
Professor Challenger befand sich in denkbar schlechter Stimmung. Als ich – die Hand bereits am Türgriff und den Fuß auf der Matte – vor der Tür seines Arbeitszimmers stand, wurde ich Zeuge eines Monolog, dessen Worte im ganzen Hause dröhnten und widerhallten. »Das war nun schon der zweite falsche Anruf. Der zweite am gleichen Morgen. Man stelle sich das einmal vor. Ein Mann der Wissenschaft wird durch die fortwährende Störung irgendeines Idioten am anderen Ende der Leitung von wichtiger Arbeit abgehalten. Ich dulde das nicht. Geben Sie augenblicklich Ihrem Amtsleiter davon Kenntnis! Ach, mit dem spreche ich schon? Nun, und warum unternehmen Sie nichts dagegen? O, doch, was Sie mit Sicherheit unternommen haben, ist, mich von einer Arbeit abzulenken, deren Wichtigkeit Ihr Begriffsvermögen wohl um etliches übersteigt. Ich verlange, unverzüglich Ihren Vorgesetzten zu sprechen! Er ist nicht da? Das dachte ich mir. Wenn sich diese Anrufe wiederholen, sehen wir uns vor Gericht wieder. Man hat schon krähende Hähne zur Rechenschaft gezogen. Warum also nicht auch ein gellendes Telefongeklingel? Der Fall liegt eindeutig. Eine schriftliche Entschuldigung? Sehr gut! Ich werde es mir überlegen. Guten Morgen!« An diesem Punkt des Monologs wagte ich einzutreten. Es war ein unglücklich gewählter Augenblick. Ich trat ihm entgegen, als er sich gerade vom Telefon wegdrehte, ein Löwe in seinem Zorn. Sein gewaltiger, schwarzer Bart sträubte sich, die mächtige Brust hob sich vor Entrüstung und die grauen, hochmütigen Augen fuhren auf und nieder, wobei die letzten Reste seiner Wut sich gegen mich entluden. »Infernalische, idiotische, überbezahlte Schurken!« dröhnte er. »Ich hörte sie lachen, als ich meine gerechtfertigte
Beschwerde vortrug. Da ist eine Verschwörung am Werk, mit dem Ziel, meine Arbeit zu sabotieren. Und nun, Malone, erscheinen auch noch Sie auf der Bildfläche, um diesen Vormittag vollends zu einem Desaster zu machen. Sind Sie, möchte ich einmal fragen, aus eigenem Antrieb hier, oder hat Ihr Käseblatt Sie wegen eines Interviews geschickt? Als Freund genießen Sie zwar Vorrechte – als Journalist verschwenden Sie jedoch nur Ihre Zeit.« Ich suchte noch in der Jackentasche nach McArdles Brief, als ihm plötzlich ein neues Ärgernis in den Sinn kam. Seine großen, haarigen Hände durchwühlten die Papiere auf dem Schreibtisch und zogen endlich einen Zeitungsausschnitt hervor. »Sie waren so freundlich, in einer Ihrer letzten gelehrten Arbeiten auf mich anzuspielen«, sagte er und schwenkte das Stück Papier wild in der Luft vor mir her. »Und zwar im Verlauf Ihrer, nun ja, albernen Bemerkungen, die die kürzlich entdeckten Saurierüberreste in Solenhofen betreffen. Sie begannen dort einen Abschnitt mit den Worten: ›Professor Challenger, einer unserer größten lebenden Wissenschaftler‹ – « »Na und?« fragte ich. »Warum diese verhaßten Einschränkungen und Begrenzungen? Vielleicht nennen Sie einmal die anderen, so bedeutenden Wissenschaftler, denen Sie Gleichheit, womöglich sogar Überlegenheit bescheinigen?« »Es war falsch ausgedrückt. Natürlich hätte es ›Unser größter lebender Wissenschaftler‹ heißen müssen«, gab ich zu. Und so wie ich es sagte, meinte ich es auch. Meine Worte verwandelten die frostige Atmosphäre in strahlenden Sonnenschein. »Mein lieber, junger Freund, glauben Sie nicht, daß ich Ungebührliches verlange, aber umgeben von streitsüchtigen
und törichten Kollegen bin ich nun mal gezwungen, mich um jeden Preis zu behaupten. Selbstüberschätzung ist meinem Wesen fremd, doch habe ich den anderen gegenüber einen Ruf zu bewahren. Aber treten Sie doch näher! Nehmen Sie Platz! Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?« Ich mußte äußerst behutsam vorgehen, denn es war mir klar, wie wenig es bedurfte, den Löwen wieder zum Brüllen zu bringen. Ich öffnete McArdles Brief. »Sie erlauben, daß ich ihn vorlese? Er ist von McArdle, meinem Redakteur.« »Ich erinnere mich an ihn. Auf seine Weise ist er kein übler Kerl.« »Er hegt große Bewunderung für Sie. Er hat sich stets an Sie gewandt, wenn eine Nachforschung hohe Qualität erforderte. Das ist auch nun wieder der Fall.« »Was hat er denn auf dem Herzen?« Challenger plusterte sich unter dem Einfluß dieser Schmeichelei wie ein ungelenker Vogel auf. Er nahm wieder Platz, die Ellbogen auf dem Schreibtisch, die Gorillapranken ineinander verschränkt, den Bart nach vorn gesträubt, und die großen, grauen Augen halb unter buschigen Lidern verborgen, richteten sich gütig auf mich. Er besaß Größe in allem und sein Wohlwollen war noch überwältigender als seine Heftigkeit. »Ich lese Ihnen den Brief einmal vor. Er lautet: Bitte setzen Sie sich mit unserem hochgeschätzten Freund, Professor Challenger, in Verbindung und bitten in nachfolgender Angelegenheit um seine Mitarbeit. In White Friars, Hamstead, wohnt ein lettischer Gentleman namens Theodore Nemor, der behauptet, eine Maschine der außergewöhnlichsten Art erfunden zu haben, die jeden Gegenstand in ihrer Reichweite verschwinden lassen kann. Der Gegenstand löst sich auf und kehrt in seinen molekularen oder atomaren Zustand zurück. Bei der Umkehrung dieses Verfahrens nimmt er dagegen die
ursprüngliche Gestalt wieder an. Diese Behauptung erscheint außergewöhnlich, und doch existieren sichere Anzeichen für die Richtigkeit. Es sieht so aus, als sei dieser Mann über eine bemerkenswerte Erfindung gestolpert. Ich muß Ihnen wohl kaum den revolutionären Gehalt einer solchen Erfindung vor Augen halten, einmal abgesehen von ihrer extremen Bedeutung als potentielle Kriegswaffe. Eine Macht, die ein Kriegsschiff verschwinden lassen oder ein Bataillon – und sei es auch nur für kurze Zeit – in seine Atome auflösen kann, würde die Welt beherrschen. Der sozialen und politischen Bedeutung wegen sollte dieser Nachricht unverzüglich auf den Grund gegangen werden. Der Erfinder wirbt um Öffentlichkeit, um die Maschine verkaufen zu können. Es wird keine Schwierigkeiten geben, an ihn heranzutreten. Die beigefügte Karte gewährt Einlaß in sein Haus. Meine Bitte geht dahin, daß Sie und Professor Challenger ihn aufsuchen, die Erfindung in Augenschein nehmen und für die Gazette einen Bericht über den Wert der Erfindung schreiben. Ich hoffe, heute abend von Ihnen zu hören. – R. McArdle. So lauten die Anweisungen, Professor«, fügte ich hinzu, während ich den Brief wieder zusammenfaltete. »Ich hoffe inständig, daß Sie mich begleiten, denn wie soll ich mit meinen begrenzten Fähigkeiten, die Angelegenheit allein beurteilen?« »Wahrhaftig, Malone! Wahrhaftig!« schnurrte der große Mann. »Obwohl Sie ohne jeden Zweifel mit natürlicher Intelligenz gesegnet sind, stimme ich mit Ihnen überein, daß Sie in einer derartigen Angelegenheit überfordert sind. Da diese unaussprechlichen Menschen am Telefon mir bereits die Arbeit dieses Morgens ruiniert haben, kommt es jetzt auch nicht mehr darauf an. Ich arbeite gerade an der Entgegnung auf diesen italienischen Possenreißer Mazotti, dessen Ansichten über die larvale Entwicklung tropischer Termiten meinen
Hohn und meine Verachtung herausforderten, doch kann ich die vollständige Entlarvung dieses Scharlatans bis zum Abend aufschieben. Bis dahin stehe ich Ihnen zu Diensten.« Und so kam es, daß ich an diesem Oktobermorgen mit dem Professor in der U-Bahn dem Norden Londons entgegeneilte, wo ich eine der eigenartigsten Erfahrungen meines an Überraschungen nicht armen Lebens machen sollte. Bevor wir Enmore Gardens verließen, hatte ich mich mit Hilfe des vielgeschmähten Telefons vergewissert, daß unser Mann zu Hause und unser Kommen angekündigt war. Er bewohnte ein gepflegtes Haus in Hampstead. Fast eine halbe Stunde ließ er uns im Salon warten, während er in lebhaftem Gespräch mit einer Besuchergruppe vertieft war, deren Stimmen sie beim Abschied als Russen auswiesen. Ich konnte durch die halb geöffnete Tür einen Blick auf sie werfen und hatte den flüchtigen Eindruck von gutsituierten und intelligenten Männern mit Pelzkragen auf den Mänteln und schimmernden Zylindern, die den Eindruck bourgeoiser Wohlanständigkeit ausstrahlten, die erfolgreichen Kommunisten so rasch zueigen ist. Dann schloß sich die Türe hinter ihnen, und im nächsten Augenblick betrat Theodore Nemor den Salon. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er dort im Sonnenlicht stand, seine langen, schmalen Hände aneinanderrieb und uns mit einem breiten Lächeln aus schlauen, gelben Augen ansah. Er war ein kleiner, dicker Mann, der den Eindruck von Unförmigkeit erweckte, ohne erkennen zu lassen, worin er begründet war. Man konnte meinen, er sei ein Buckliger ohne Buckel. Sein großes, schwammiges Gesicht wirkte wie ein roher Kloß, dessen Farbe und feuchte Beschaffenheit es auch aufwies, und die sein Gesicht zierenden Pickel und Pusteln hoben sich noch stärker von diesem teigigen Hintergrund ab. Seine Augen waren die einer Katze, und katzenhaft war auch der lange, dünne Schnurrbart über dem schlaffen, feuchten
Mund. Alles an ihm schien unfertig und abstoßend, bis hinauf zu den strohblonden Augenbrauen. Darüber jedoch erhob sich ein solch außergewöhnlicher Schädel, wie ich ihn selten gesehen habe. Selbst Challengers Hut hätte auf diesen gewaltigen Kopf gepaßt. Ohne diese Stirn glich Theodore Nemor einem gemeinen, kriecherischen Verschwörer, doch sein Schädel konnte es mit den größten Denkern und Philosophen aufnehmen. »Nun, meine Herren«, sagte er mit samtener Stimme, in der nur flüchtige Spuren eines fremden Akzentes mitschwangen, »wenn ich aufgrund unseres kurzen Telefonates richtig sehe, sind Sie gekommen, um mehr über den Nemor-Desintegrator zu erfahren.« »Sie haben völlig recht.« »Darf ich fragen, ob Sie die britische Regierung repräsentieren?« »Aber überhaupt nicht. Ich bin Korrespondent der Gazette, und dies ist Professor Challenger.« »Ein ehrenwerter Name – von europäischem Rang.« Seine gelben Fänge leuchteten geradezu in unterwürfiger Liebenswürdigkeit. »Ich gedachte, Ihnen gerade zu erläutern, daß die britische Regierung ihre Chance verspielt hat. Was darüber hinaus für Konsequenzen entstehen, mag sich später erweisen. Vielleicht hat sie gar das Empire verspielt. Ich bin bereit, meine Erfindung an die erste Regierung zu verkaufen, die meinen Preis akzeptiert, und wenn die Erfindung nun in – wie Sie sicherlich meinen – falsche Hände fällt, so haben Sie sich selbst die Schuld zu geben.« »Dann haben Sie Ihr Geheimnis bereits verkauft?« »Zu meinem Preis.« »Und der Besitzer wird das Monopol darauf haben?« »Das wird er, ohne jeden Zweifel.« »Aber dann kennen andere das Geheimnis ebenso wie Sie.«
»Oh, nein.« Er strich über die gewaltige Stirn. »Hier befindet sich der Safe, in dem das Geheimnis sicher bewahrt ist – sicherer als in einem Safe aus Stahl. Mag einigen dieses, anderen jenes bekannt sein, niemand außer mir kennt das ganze Geheimnis.« »Und die Herren, an die Sie verkauft haben.« »Aber nein. Ich bin keineswegs so töricht, mein Wissen zu offenbaren, bevor der vereinbarte Preis entrichtet ist. Eigentlich bin ich das Kaufobjekt, und die Käufer bedienen sich des wertvollen Inhalts dieses Safes« – er tippte wieder an die Braue – »soweit Sie es wünschen. Mein Teil des Abkommens ist dann erfüllt – gewissenhaft, bis zum letzten erfüllt. Danach wird die Geschichte entschieden.« Er rieb sich die Hände, und das künstliche Lächeln auf seinem Gesicht fiel zu einer Grimasse zusammen. »Sie werden entschuldigen«, dröhnte Challenger, der bis dahin schweigend verharrt und mit seinem ausdrucksstarken Gesicht Theodore Nemor mit größter Mißbilligung beobachtet hatte »bevor wir in eine Diskussion eintreten, möchte ich mich davon überzeugen, daß überhaupt etwas zu diskutieren ist. Wir haben noch nicht den Fall vergessen, in dem ein Italiener behauptete, er könne aus der Entfernung Minen explodieren lassen. Bei eingehender Untersuchung erwies er sich als ausgesprochener Betrüger. Die Geschichte könnte sich hier wiederholen. Sie verstehen gewiß, daß ich einen Ruf als Wissenschaftler zu verlieren habe – einen Ruf, der in Europa einiges gilt, und wie ich annehmen kann, auch in Amerika nicht wenig von Gewicht ist. Vorsicht ist ein Attribut der Wissenschaft, und Sie müssen uns Ihre Beweise schon vorlegen, wenn wir Ihre Behauptungen ernsthaft erörtern wollen.«
Nemor warf einen besonders bösartigen Blick aus seinen gelben Augen auf meinen Begleiter, dann jedoch erhellte das Lächeln der Genialität wieder sein Gesicht. »Sie werden Ihrem Ruf gerecht, Professor. Ich habe immer gehört, Sie seien der letzte, der auf einen Betrug hereinfiele. Ich bin durchaus darauf vorbereitet, Ihnen eine einwandfreie, überzeugende Demonstration darzubieten, doch zuvor muß ich einige Worte zum grundsätzlichen Prinzip verlieren. Ihnen ist sicherlich klar, daß dies experimentelle Pflänzchen hier nur ein verkleinertes Modell darstellt, doch innerhalb seiner Möglichkeiten Erstaunliches leistet. Sie, meine Herren, aufzulösen und wieder erscheinen zu lassen, bereitet mir keinerlei Schwierigkeiten. Für derlei Zwecke zahlt jedoch eine mächtige Regierung kaum einen Preis, der in die Millionen geht. Mein Modell ist lediglich ein bescheidenes wissenschaftliches Spielzeug. Wenn jedoch die gleiche Kraft in größerem Ausmaß angewandt wird, können gewaltige, praktische Resultate erzielt werden.« »Können wir das Modell sehen?« »Sie werden es nicht nur sehen, Professor Challenger, Sie werden die beweiskräftigste Vorführung erleben, die möglich ist – falls Sie dazu den Mut aufbringen.« »Falls?« brüllte der Löwe. »Ihr ›falls‹, mein Herr, ist in höchstem Maße beleidigend.« »Ich wollte Ihren Mut nicht in Zweifel ziehen, Ich meinte lediglich, daß ich Ihnen eine Gelegenheit biete, ihn unter Beweis zu stellen. Doch zunächst einige Worte von grundsätzlicher Bedeutung. Werden bestimmte Kristalle – Salz oder Zucker – mit Wasser in Berührung gebracht, lösen sie sich auf und verschwinden. Man glaubt kaum, daß sie jemals existiert haben. Doch verringert man die Wassermenge durch Verdunstung oder dergleichen, siehe da, die Kristalle erscheinen wieder, sind
wieder sichtbar wie zuvor. Können Sie sich einen Prozeß denken, durch den Sie, ein organisches Lebewesen, sich auf die gleiche Weise im Kosmos auflösen und durch eine subtile Umkehrung der Bedingungen wieder zur ursprünglichen Gestalt zusammensetzen?« »Die Analogie ist falsch«, rief Challenger dazwischen. »Selbst wenn ich eine so monströse Annahme akzeptierte, Moleküle könnten sich aufgrund einer wie auch immer gearteten Kraft zerstreuen, aus welchem Grund sollten sie sich in der gleichen Weise wie zuvor zusammensetzen?« »Der Einwand ist einleuchtend, doch kann ich darauf nur antworten, daß es sich bis zum letzten Atom der Struktur so verhält. Dahinter steht ein unsichtbares System, in dem jeder Baustein seinen Platz hat. Sie mögen jetzt lächeln, Professor, aber Ihrer Skepsis und Ihrem Lächeln wird bald ein anderes Gefühl folgen.« Challenger zuckte die Schultern. »Ich bin bereit, mich Ihrem Experiment zu unterziehen.« »Da gibt es noch etwas, das ich Ihnen nahebringen möchte und das Ihnen helfen wird, zu verstehen. Aus der östlichen Magie und dem westlichen Okkultismus ist Ihnen sicher das Phänomen der Teleportation geläufig, daß ein Ding aus der Ferne an einen anderen Ort versetzt werden kann. Wie sollte dergleichen geschehen, wenn nicht durch Auflösung der Moleküle, deren Bewegung auf einer Ätherwelle und ihrer endlichen Zusammensetzung durch eine unfaßbare Kraft an einem neuen Ort. Dies stellt eine genaue Analogie zur Leistung meiner Maschine dar.« »Sie können eine unglaubwürdige Sache nicht durch eine andere erklären«, sagte Challenger. »Ich glaube weder an Wunder, noch glaube ich an Ihre Maschine. Meine Zeit ist begrenzt, und sollten Sie noch mit einer Demonstration dienen
können, würde ich einen Beginn ohne weitere Zeremonie begrüßen.« »Wenn Sie hier dann bitte folgen wollen«, sagte der Erfinder. Er führte uns die Treppe des Hauses hinunter und durch den dahinterliegenden, kleinen Garten. Dort befand sich ein unübersehbares Gebäude, das er umständlich aufschloß. Wir traten ein. Das Innere bestand aus einem großen, weißgekalkten Raum mit unzähligen, von der Decke reichenden Kupferschnüren und einem großen, auf einem Podest ruhenden Magneten. Davor befand sich – drei Fuß lang und einen Fuß im Durchmesser – eine Art Glasprisma. Rechts davon, auf einer Plattform aus Zinn, stand ein Sessel, über dem eine Haube aus poliertem Kupfer hing. An dieser Haube – wie auch am Sessel – waren Metalldrähte befestigt. An der Seite des Sessels befand sich eine Art Trommel mit zahlreichen Rastern und einem Griff aus Gummi, der augenblicklich in Nullstellung stand. »Nemors Desintegrator«, rief der merkwürdige Mann, und wies mit theatralischer Geste auf die Maschine. »Das ist das Modell, dem es bestimmt ist, in die Geschichte einzugehen. Sie wird das Gleichgewicht der Kräfte unter den Nationen von Grund auf verändern. Wer sie sein eigen nennt, beherrscht die Welt. Nun, Professor Challenger, Sie haben mich – wenn ich einmal so sagen darf – in dieser Sache mit wenig Höflichkeit und Rücksichtnahme behandelt. Würden Sie sich bitte auf den Sessel setzen und mir erlauben, Ihnen am eigenen Leibe die Fähigkeiten der von mir entdeckten Kraft zu demonstrieren?« Challenger besaß den Mut eines Löwen, und etwas in der Art dieser Herausforderung brachte ihn im Nu in Raserei. Er stürzte auf die Maschine zu, aber ich ergriff seinen Arm und hielt ihn zurück. »Gehen Sie nicht!« sagte ich. »Ihr Leben ist zu wertvoll. Das Ganze ist ungeheuerlich. Welche Sicherheitsgarantien haben
Sie denn? Dieser Apparat sieht aus wie der elektrische Stuhl in Sing-Sing.« »Die Garantie meiner Sicherheit«, sagte Challenger, »sind Sie als Zeuge und die Tatsache, daß dieser Herr – sollte mir etwas zustoßen – des Totschlags angeklagt würde.« »Es wäre ein harter Schlag für die Wissenschaft, wenn Ihre einzigartige Arbeit unvollendet bliebe. Lassen Sie es mich zuerst versuchen. Wenn das Experiment sich als harmlos erweist, folgen Sie mir.« Eine Gefahr für Leib und Leben hätte Challenger nie von seinem Vorhaben abgebracht, doch die Vorstellung, seine wissenschaftliche Arbeit könne nicht zu Ende geführt werden, traf ihn hart. Er zögerte, doch bevor er zu einer Entscheidung kam, stürmte ich vorwärts und sprang auf den Sitz. Ich sah, wie die Hand des Erfinders sich auf den Griff legte und bemerkte ein leichtes Klicken. Dann herrschte vor meinen Augen für einen Moment völliges Chaos, und Nebel legte sich darüber. Als er sich langsam wieder verzog, stand der Erfinder mit seinem verhaßten Grinsen vor mir, und Challenger, dem das Blut in die Wangen geschossen war, starrte über dessen Schulter. »Nun machen Sie schon!« sagte ich. »Es ist bereits vorbei. Sie haben bewundernswert reagiert«, antwortete Nemor. »Stehen Sie nun auf, Professor Challenger wird zweifellos Ihren Platz einnehmen.« Ich hatte meinen alten Freund nie so erregt gesehen. Seine stählernen Nerven hatten ihn für einen Moment völlig verlassen. Mit zitternder Hand ergriff er meinen Arm. »Mein Gott, Malone, es ist wahr«, sagte er. »Sie waren verschwunden. Kein Zweifel ist möglich. Ein Nebel entstand, und dann gab es nur noch Leere.« »Wie lange war ich fort?«
»Zwei oder drei Minuten. Ich war – muß ich zugeben – sehr erschreckt. Eine Rückkehr konnte ich mir nicht vorstellen. Dann schob er den Hebel – sofern es überhaupt einer ist – in eine andere Stellung und Sie saßen wieder auf dem Sitz. Sie sahen ein wenig verstört, aber ansonsten wie immer aus. Ich dankte dem Himmel, als ich Sie wieder erblickte.« Er trocknete sich mit einem großen, roten Taschentuch die Stirn. »Nun los!« sagte der Erfinder. »Oder haben Ihre Nerven Sie verlassen?« Challenger straffte sich sichtbar. Dann schob er meine protestierende Hand zur Seite und setzte sich auf den Sitz. Der Hebel rastete in Stellung drei. Er war verschwunden. Ich war zu Tode erschreckt, nicht zuletzt wegen der Kaltblütigkeit des Erfinders. »Ein interessanter Vorgang, nicht wahr?« bemerkte er. »Hält man sich die geradezu verblüffende Persönlichkeit des Professors vor Augen, ist es schon seltsam, sich ihn als eine durch dieses Haus schwebende molekulare Wolke vorzustellen. Selbstredend befindet er sich nun völlig in meiner Gewalt. Keine Macht der Welt kann mich daran hindern.« »Ich würde schon Mittel und Wege gegen Sie finden.« Das Lächeln wurde wieder zur Grimasse. »Sie nehmen doch wohl nicht an, daß mir je solch ein Gedanke käme. Es wäre unvorstellbar: Professor Challenger für immer in seine Bestandteile aufgelöst – in den Kosmos entschwunden, ohne Spuren zu hinterlassen. Schrecklich! Schrecklich! Doch andererseits, er war nicht so höflich, wie er hätte sein sollen. Glauben Sie nicht, daß eine kleine Lektion…?« »Nein! Das glaube ich keineswegs.« »Betrachten wir es als eine neugierige Demonstration, um Ihren Artikel etwas interessanter zu gestalten. Zum Beispiel habe ich herausgefunden, daß das Haar auf völlig andere
Vibrationen anspricht und bewußt in den Prozeß einbezogen werden kann. Es wäre doch einmal interessant, den Bären ohne Fell zu sehen. Schauen Sie sich ihn an!« Ein Klicken des Schalters. Sekunden später saß Challenger wieder auf dem Sitz. Aber was für ein Challenger! Wie ein gestutzter Löwe! Wütend, wie ich ob des grotesken Scherzes war, konnte ich doch nur mühsam ein Lachen unterdrücken. Der gewaltige Kopf war kahl wie der eines Babys, seine Haut rein und unbefleckt wie die eines jungen Mädchens. Der untere Teil seines Gesichtes war seiner gewaltigen Mähne beraubt, während seine ganze Erscheinung mit den Fängen einer Bulldogge über dem massiven Kinn den Eindruck eines mitgenommenen und abgekämpften Gladiators erweckte. Auf unseren Gesichtern muß ein gewisser Ausdruck gelegen haben – ich hegte nicht den geringsten Zweifel, daß das teuflische Grinsen des Erfinders sich ob dieses Anblicks noch vertiefte – aber, wie dem auch sei: Challengers Hand flog an seinen Kopf, und er wurde seines Zustandes gewahr. Im nächsten Augenblick war er aus dem Sitz gesprungen, ging dem Erfinder an die Kehle und warf ihn zu Boden. Da ich Challengers übermenschliche Kraft kannte, fürchtete ich um das Leben seines Opfers. »Um Himmels willen, seien Sie vorsichtig. Wenn Sie ihn umbringen, werden wir dem Rätsel nie auf die Spur kommen«, schrie ich. Das Argument wirkte. Selbst in Augenblicken größter Raserei war Challenger für Vernunftgründe offen. Er sprang vom Boden auf und zog den zitternden Erfinder mit sich. »Ich gebe Ihnen fünf Minuten«, stieß er voller Zorn hervor. »Habe ich in dieser Zeit meine alte Gestalt nicht wieder, werde ich das Leben aus Ihrer Gnomengestalt herausprügeln.« Mit einem zornigen Challenger war nicht zu spaßen. Selbst die Mutigsten würden vor ihm zusammenschrumpfen, und es sprach nichts
dafür, daß Theodore Nemor zu ihnen gehörte. Im Gegenteil, die Pickel und Warzen in seinem Gesicht wurden, als sein ohnehin schon kalkweißes Gesicht die Farbe eines Fischbauches annahm, noch deutlicher sichtbar. Seine Lippen zuckten. Er war kaum in der Lage zu sprechen. »Aber mein lieber Professor«, brabbelte er und faßte sich an die Kehle, »diese Gewalttätigkeit ist völlig unnötig. Es war doch nur ein harmloser Scherz unter Freunden. Ich wollte lediglich die Macht der Maschine demonstrieren. Sie wollten es doch so. Nichts für ungut. Ich gedachte keinesfalls Ihre Ehre anzutasten, Herr Professor, um nichts in der Welt!« Wortlos kletterte Challenger zurück auf den Sitz. »Behalten Sie ihn im Auge, Malone! Erlauben Sie ihm keine Frechheiten!« »Ich werde bestimmt darauf achten.« »Also dann, bringen Sie die Sache ins reine, oder tragen Sie die Konsequenzen.« Der erschreckte Nemor eilte zu der Maschine. Die zusammensetzende Kraftkomponente war auf volle Leistung eingestellt. Einen Augenblick später erschien der alte Löwe wieder mit wehender Mähne. Liebevoll strich er mit den Händen durch seinen Bart und ließ sie dann zur Stirn wandern, um sich der gänzlichen Wiederherstellung zu versichern. Dann stieg er mit ernster Miene vom Thron herab. »Sie haben sich da eine Frechheit herausgenommen, die ernste Konsequenzen für Sie hätte haben können. Aber wie dem auch sei, ich akzeptiere die Entschuldigung, daß es lediglich zum Zwecke der Demonstration geschah. Darf ich Ihnen nun einige direkte Fragen hinsichtlich dieser bemerkenswerten Kraft stellen, deren Entdeckung Sie sich rühmen können?«
»Ich bin gerne bereit, alle Fragen – ausgenommen solcher nach der Herkunft der Kraft – zu beantworten. Das bleibt mein Geheimnis.« »Und niemand außer Ihnen weiß davon?« »Niemand hat die leiseste Ahnung.« »Keine Assistenten?« »Nein, mein Herr. Ich arbeite stets allein.« »Ach, das ist alles sehr interessant. Ich zweifle nun nicht mehr an der Wirkung der Kraft, doch ermesse ich die praktische Anwendung noch nicht.« »Ich erklärte bereits, daß es sich hier lediglich um ein Modell handelt. Doch könnte ohne weiteres eine Herstellung in großem Ausmaß erfolgen. Das Modell wirkt vertikal. Gewisse Ströme über und unter Ihnen erzeugen Schwingungen, die entweder auflösen oder zusammenfügen. Doch kann dieser Prozeß ebenso horizontal durchgeführt werden. Die Wirkung würde einen weitaus größeren Bereich einbeziehen.« »Geben Sie uns ein Beispiel.« »Nehmen wir an, daß sich ein Pol in einem kleinen Boot und der andere sich in einem zweiten befindet. Befände sich ein Schlachtschiff zwischen ihnen, löste es sich in seine Moleküle auf. Das gleiche geschähe mit einer ganzen Truppe.« »Und Sie haben diese Erfindung als Monopol an eine einzige europäische Regierung verkauft?« »Ja, das habe ich. Ist der Preis erst einmal entrichtet, wird diese Nation über eine Macht verfügen wie keine andere zuvor. Sie haben keine Vorstellung davon, was eine solche Waffe in den richtigen Händen auszurichten vermag, wenn man nicht davor zurückschreckt sie anzuwenden.« Ein hämisches Grinsen glitt über das teuflische Gesicht. »Stellen Sie sich die Maschine in einem Stadtteil Londons vor. Denken Sie an die Auswirkungen. Oder« – an dieser Stelle brach er in schallendes
Gelächter aus – »das ganze Themsetal würde ausgelöscht, und kein Mann, Frau oder Kind überlebt.« Die Worte erfüllten mich mit Schrecken, aber mehr noch das hämische Frohlocken, das aus ihnen sprach. Auf meinen Freund übten sie jedoch scheinbar eine andere Wirkung aus. Zu meiner Überraschung brach er in sein geniales Lachen aus und streckte dem Erfinder die Hand entgegen. »Nun, mein lieber Nemor, wir haben Ihnen zu gratulieren«, sagte er. »Zweifellos haben Sie der Natur eine bemerkenswerte Entdeckung abgerungen und sie zum Wohle der Menschheit nutzbar gemacht. Daß dieser Nutzen für die menschliche Rasse auch manchmal schädlich ist, erscheint mir zwar beklagenswert, doch kennt die Wissenschaft keine Sentimentalität, sondern dient dem Wissen, wo immer sie es findet. Abgesehen von dem grundsätzlichen Prinzip der Maschine, vermute ich, erheben Sie wohl keine Einwände gegen die Untersuchung Ihrer Konstruktion?« »Aber ich bitte Sie. Die Maschine stellt schließlich nur den Körper dar. Der Seele, dem dahinterstehenden Prinzip, werden Sie das Geheimnis nicht entreißen.« »So ist es. Doch schon der bloße Mechanismus ist ein Abbild eines außergewöhnlichen Scharfsinns.« Eine Zeitlang schritt er um die Maschine herum und befingerte verschiedene Teile. Dann zog er seine ungefüge Körpermasse auf den isolierten Sitz hinauf. »Sie wünschen einen erneuten Ausflug in den Kosmos?« fragte der Erfinder. »Später vielleicht, später! Aber gerade stelle ich zweifellos ein Schwanken der Elektrizität fest. Ich spüre ein leichtes Prickeln in meinem Körper.« »Unmöglich! Die Maschine ist völlig isoliert.« »Aber ich versichere Ihnen, ich fühle es noch immer.« Er schwang sich vom Sitz herunter.
Der Erfinder hastete auf den Sitz. »Ich spüre nichts.« »Spüren Sie nicht das Prickeln, das an Ihrem Rückgrat herunter läuft?« »Nein, nichts dergleichen.« Plötzlich gab es eine scharfes Klicken, und der Mann war verschwunden. Entsetzt starrte ich Challenger an. »Großer Gott! Haben Sie die Maschine versehentlich berührt, Professor?« Mit einem Anflug milder Überraschung lächelte er mich sanft an. »Du lieber Himmel, habe ich doch versehentlich den Hebel berührt«, rief er aus. »Derartige peinliche Zwischenfälle geschehen oft bei solch unfertigen Modellen. Der Hebel hier sollte auch vor Fehlgriffen geschützt sein.« »Er befindet sich in der Stellung ›drei‹. Das ist die Stellung, die eine Auflösung bewirkt. Ich bemerkte es, als Sie an dem Experiment teilnahmen. Aber ich war so aufgeregt, als er Sie wieder erscheinen ließ, daß ich die Stellung für die Umkehrung der Auflösung nicht wahrnahm. Haben Sie es bemerkt?« »Mag sein, daß dem so ist, mein lieber Malone, doch ziehe ich es vor, meinen Verstand nicht mit derartigen Kleinigkeiten zu belasten. Es gibt viele Hebelstellungen an der Maschine, und wir kennen keine ihrer Bedeutungen. Spielen wir leichtfertig mit dem Unbekannten, werden wir nur die schlimmsten Erfahrungen machen. Wir lassen vielleicht die Dinge besser so, wie sie sind.« »Und Sie würden – « »Genau das. Es ist besser so. Die überaus interessante Persönlichkeit Herrn Theodore Nemors hat sich selbst im Kosmos aufgelöst, die Maschine erweist sich so als wertlos, und eine gewisse ausländische Regierung sieht sich einer Erfindung beraubt, die viel Leid über die Menschheit gebracht hätte. Kein schlechtes Tagwerk, lieber Malone. In Ihrem Blatt wird zweifellos ein Artikel kurz nach dem Besuch Ihres
eigenen Sonderkorrespondenten erscheinen. Ich habe die heutige Erfahrung genossen. Das sind die lichten Augenblicke im trüben Alltag des Studiums. Aber das Leben hält Vergnügungen wie Pflichten bereit, und so kehre ich also zu dem Italiener Mazzotti und dessen grotesken Ansichten über die larvale Entwicklung der tropischen Termiten zurück.« Als ich noch einen Blick zurückwarf, schien ein leichter ätherischer Nebel über dem Sessel zu schweben. »Aber eigentlich…« wandte ich ein. »Morde zu verhindern ist die erste Bürgerpflicht«, sagte Professor Challenger. »Ich habe danach gehandelt. Genug, Malone, genug! Keine Diskussionen mehr über das Thema. Es hat meine Gedanken schon zu lange von wichtigeren Dingen abgelenkt.«