Robert de Vries Die Abenteurer Band 02
Prophet des Unheils
Die Abenteurer lassen nichts unversucht, dem Tor zur Schwar...
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Robert de Vries Die Abenteurer Band 02
Prophet des Unheils
Die Abenteurer lassen nichts unversucht, dem Tor zur Schwarzen Stadt seine Geheimnisse zu entreißen. Da erreicht sie durch die Jahrhunderte hinweg eine verschlüsselte Warnung des berühmten Weissagers Nostradamus. Anno 1555 schrieb er 1000 Prophezeiungen, von denen 58 nie erschienen und bis heute verschollen sind - und das nicht ohne Grund. Denn darin scheint es genau um die Gefahr zu gehen, die der Erde aus der Vergangenheit droht. Werden die Abenteurer die Botschaft rechtzeitig entschlüsselt können? Oder haben sie den verhängnisvollen Fehler, vor dem sie gewarnt werden sollen, womöglich längst begangen? ISBN 3-931407-35-7 2000 Zaubermond-Verlag Titelbild: Royo, Agentur Norma Umschlaggestaltung: Dennis Ehrhardt
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
DIE ABENTEURER-Serie umfaßt derzeit fünf Taschenbücher und zwei Hardcover-Bände. Daher kann nicht bei jeder Erwähnung früherer Geschehnisse auf sämtliche für die weitere Handlung womöglich relevanten Aspekte eingegangen werden. Um dem geneigten Alt- oder Neuleser die Orientierung im Abenteuer-Universum zu erleichtern und die Möglichkeit zu geben, entsprechende Passagen im Original nachzulesen, dient dieses Titelverzeichnis. Der erste Zyklus der Abenteurer-Serie wurde vom Bastei Lübbe-Verlag komplett in folgenden Taschenbüchern veröffentlicht: Band 1: "AUF DEN SPUREN VON ATLANTIS" Bastei-TB 13765 DM 12,00 Band 2: "DAS TOR NACH ATLANTIS" Bastei-TB 13912 DM 15,00 Band 3: "GEFAHR AUS DER VERGANGENHEIT" BasteiTB 14203 DM 15,00 Band 4: "DER HEILIGE GRAL" Bastei-TB 14228 DM 14,00 Band 5: "DIE SCHWARZE PYRAMIDE" Bastei- TB 14325 DM 15,00 Anmerkung: Diese Auflistung stellt kein Verzeichnis noch lieferbarer Titel dar. Diese können bei Verfügbarkeitjedoch kurzfristig über jede Buchhandlung bestellt werden. Der zweite Zyklus der Abenteurer-Serie ist mit folgenden Bänden im Zaubermond-Verlag angelaufen. Weitere Titel sind in Planung. Zaubermond-HC 1: "ERBE DER VERGANGENHEIT" Gebundene Ausgabe DM 19,80 ISBN 3-931407-34-9 Zaubermond-HC 2: "PROPHET DES UNHEILS" Gebundene Ausgabe DM 29,80 ISBN 3-931407-35-7
Buch Nostradamus - wen ließe dieser Name unberührt? Anno 1555 verfaßte der berühmte Zukunftsseher 1000 Prophezeiungen, die die Welt bis heute in Atem halten. Doch 58 dieser Texte gelten seit jeher als verschollen. Oft wird sogar behauptet, es hätte sie nie gegeben. Kein Wunder, daß die Abenteurer Thomas Ericson und Gudrun Heber alle Hebel in Bewegung setzen, als sie überraschend auf die Spur geheimer Nostradamus-Manuskripte stoßen. Dabei wird eines bald zur Gewißheit: Der Prophet hatte schon damals Kenntnis von jenen uralten Mächten, die ihre Krallenhände nun erneut nach der Gegenwart austrecken... Das große Abenteuer geht weiter die exklusive Fortsetzung der Kultserie, in der nur eines sicher ist: Unsere Vergangenheit ist keineswegs so, wie sie bisher zu sein schien! Uralte Geheimnisse, exotische Ausgrabungsstätten und mystische Artefakte... Die abenteurer - das ist Science Fiction, Krimi, Fantasy und Grusel, vermischt mit einem exquisit ausgearbeiteten archäologischen Background: eine fesselnde, unvergleichliche Buchserie aus der Feder des Stammautorenteams um Robert deVries und "Perry Rhodan"-Autor Hubert Haensel.
Autor Der Autor dieses Romans: Robert deVries, geboren 1960 in Venlo an der deutschholländischen Grenze, lebt in Norddeutschland und ist als freier Publizist tätig. Als Gastautor schrieb er unter anderem für die Bastei- Reihe "Vampira". Bei den Abenteurern ist er maßgeblich für den spekulativarchäologischen Hintergrund verantwortlich.
Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel Auf dem Abstellgleis.......................................... 7 2. Kapitel Leichte Turbulenzen......................................... 27 3. Kapitel Heimkehr .......................................................... 63 4. Kapitel Irgendwo im Himalaya I ................................ 124 5. Kapitel Konferenz....................................................... 135 6. Kapitel Irgendwo im Himalaya II ............................... 176 7. Kapitel Geheimnisse ................................................... 188 8. Kapitel Nachtschicht ................................................... 210 9. Kapitel Der Morgen danach........................................ 240 10. Kapitel Happy Birthday, Tante!................................ 248 11. Kapitel Im Angesicht des Dämons ........................... 282 Epilog.............................................................................. 317
"Das schönste, was es in dieser Welt zu entdecken gibt, ist das Geheimnisvolle."
Albert Einstein
1. Kapitel Auf dem Abstellgleis Amanda Wyss blieb unsicher an der Haltestelle stehen, an der sie der Überlandbus inmitten der endlosen Ländereien Norfolks am Rande einer Landstraße ausgespieen hatte. Mit unsicheren Blicken sah sich die junge, rothaarige Ärztin um. Das einzig Bedeutende, das weit und breit zu entdecken war, war eine kleine, nahegelegene Ansammlung von trostlosen rostroten Gemäuern, zu denen ein kleiner gepflasterter Weg führte. Er schien ebenso wie die Gebäude an seinem Ende noch aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen. Das einzige, was eindeutig neueren Datums war, waren die hohen Mauern und der Elektrozaun, die das Anwesen umgaben; und die gab es nicht ohne Grund. Wer hier einmal eingeliefert worden war, hatte nur wenig Aussichten, diesen Ort jemals wieder zu verlassen. Hierher kamen nur diejenigen Fälle, denen in anderen Instituten und Einrichtungen nicht mehr geholfen werden konnte und für die meist nur noch ein Ausweg übriglieb: sie für den Rest ihres Lebens wegzusperren und den Rest der Menschheit vor ihnen zu bewahren. Endstation! dachte Amanda Wyss trübe. Das war also das Ende der Sackgasse, die ihr Leben darstellte. Irgendwie hatte sie schon immer vermutet, dass sie an einem Ort wie diesem enden würde und dabei spielte es für sie kaum eine Rolle, dass sie keineswegs als Patientin, sondern als betreuende Ärztin hierher kam. Denn ebenso wie für die Insassen hatte es auch für sie äußerst wenig Alternativen gegeben, wenn sie weiterhin in ihrem Beruf arbeiten wollte. Blofeld Health Center war der Name dieser staatlichen Einrichtung - benannt nach ihrem Gründer, der bereits vor einigen Jahrzehnten bei einem Hubschrauberunglück auf einem stillgelegten Fabrikgelände ums Leben gekommen war. -7-
Gesundheitszentrum - in Amandas Augen war das eine beinahe zynische Bezeichnung für einen Ort wie diesen, an dem die gefährlichsten kranken Geister Englands versammelt waren. Vielleicht lag es genau an dieser kritischen Einstellung, dass sie nun hier mitten in der Walachei stand und nicht wusste, ob sie einfach nur weinen oder aber hemmungslos heulen sollte. Nun gut, vielleicht war ihre Einstellung nicht der einzige Grund für ihre Versetzung hierher. Immerhin hatte man ihr bei ihrem letzten Arbeitsplatz ein paar Unregelmäßigkeiten nachgewiesen - allerdings nur deshalb, weil die Rezeptblöcke nicht weggeschlossen gewesen waren, ihr Ex-Freund unbedingt Geld gebraucht und er darüber hinaus zufällig einen Hehler gekannt hatte, der Rezeptblocks in bares Geld zu verwandeln wusste. Natürlich sollte das nur solange gehen, bis ihr Freund wieder eine Arbeit fand. Ha, dachte Amanda verbittert, als sie daran zurückdachte. Wie hatte sie ihm so etwas nur glauben können? Wie auch immer, nicht zuletzt deshalb war ihr Freund seit damals längst Vergangenheit, doch das änderte nichts daran, dass man ihr vor der Ärztekammer deutlich vor Augen geführt hatte, was die beiden Alternativen waren, die ihr noch verblieben: Entweder sie verdingte sich bei einem Institut wie diesem, wohin niemand freiwillig ging oder aber sie verlor ihre Zulassung. Dass sie nun hier stand, bewies, wie sie sich entschieden hatte. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie auch glücklich darüber gewesen wäre. Im Gegenteil! Wenn sie sich hier so umsah, war ringsherum nichts anderes als menschenle ere Einöde zu entdecken. Was für die Insassen des Institutes galt niemals wieder Kontakt zu normalen Menschen haben zu dürfen -, schien ebenso für die Bediensteten zu gelten. Jedenfalls sofern sie, wie es bei Amanda der Fall war, über keinen eigenen Wage n verfügten. Sie hatte zwar keinen Zweifel daran, dass ihr kleines Appartement in dem Wohntrakt des Institutes so komfortabel sein würde, wie es in den Ausschreibungen gestanden hatte. -8-
Aber was sollte man hier bitteschön nach Feierabend unternehmen? Im Umkreis von etlichen Meilen gab es wahrscheinlich nicht einmal einen Kiosk, an dem man sich eine Flasche Bier hätte kaufen können - von anderen Vergnügungsmöglichkeiten ganz zu schweigen! Amanda Wyss seufzte tief. Vielleicht hätte sie sich doch besser anders entscheiden und nach einem neuen Beruf umsehen sollen. Aber was half s? Sie nahm ihre beiden Koffer und begab sich auf den Weg zum Institut. Dort hatte man ihre Ankunft bereits bemerkt und ein paar Kollegen eilten ihr auf dem gepflasterten Weg entgegen, um sie zu begrüßen. Unwillkürlich hatte Amanda das Gefühl, es mit einer Horde Zombies zu tun zu haben, die mit gierig ausgestreckten Armen auf sie zustapften, um ihr das Fleisch von den Knochen zu reißen. Als die Leute - immerhin ihre künftigen Kollegen, wie Amanda sich ermahnte - sie erreicht hatten, hatte sie Mühe, sich zusammenzureißen und sich ihre düsteren Gedanken nicht anmerken zu lassen. Was war nur mit ihr los? Irgendwie kam es ihr so vor, als seien die düsteren Gemäuer der Anstalt der Grund dafür. Sie schienen eine dunkle, unheilvolle Aura auszustrahlen, die sich wie Mehltau auf ihren Geist legte und jeden heiteren Gedanken erstickte. "Mrs. Wyss!" Ein kahlköpfiger Fünfzigjähriger mit Spitzbart und Brille nahm sie in Empfang. "Im Namen aller Kollegen herzlich willkommen! Ich bin der Institutsleiter hier. Dr. Obman. Und ich darf Ihnen versichern: Wir freuen uns, hier eine so kompetente Kollegin wie Sie begrüßen zu können. Schön, dass Sie sich für uns entschieden haben. " Amanda Wyss wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Sicherlich kannte er ihre Personalakte. "Miss Wyss", korrigierte sie. Auch die anderen Angestellten begrüßten sie herzlich. -9-
"Ich weiß, so auf Anhieb werden Sie sich kaum alle unsere Namen merken können", munterte Dr. Obman sie auf. "Aber bald werden Sie sich hier wie zuhause fühlen. Sie werden sehen: Hier ist es gar nicht so schlimm, wie es immer gemacht wird und wie es auf den ersten Blick vielleicht auch aussieht." Man nahm ihr das Gepäck ab und führte sie zu dem Gebäude. Als sie durch das gesicherte Anstaltstor traten, kam es Amanda so vor, als spaziere sie geradewegs in das dunkle, bedrohliche Maul eines riesigen Ungetüms. Nachdem Amanda die ersten Wochen hinter sich gebracht hatte, musste sie sich zugestehen, dass Dr. Obman recht gehabt hatte. Ganz so schlimm, wie sie gedacht hatte, war es hier nicht. Sicherlich, das Institut lag am Ende der Welt, aber immerhin war ihr Appartement hübsch und gemütlich und auch die Kolleginnen und Kollegen, die in den anderen Einheiten wohnten - etwa ein Dutzend - waren sehr nett und hilfsbereit. Nach Feierabend saß man meist noch in verschiedenen Grüppchen plaudernd zusammen und so kam der Gedanke an Einsamkeit erst gar nicht auf. Nachdem Dr. Obman sich sicher war, dass seine neue Mitarbeiterin ihren Pflichten genau nachkam, lud er sie nach Dienstschluss in sein Büro ein. "Ich kann Ihnen sagen, dass ich außerordentlich zufrieden mit Ihnen bin", begann er. "Daher denke ich, dass es langsam an der Zeit ist, Sie mit dem Bereich vertraut zu machen, in dem Sie zukünftig arbeiten sollen. Sie haben sicherlich schon gehört, dass er unter dem Kollegen meist nur der Kerker genannt wird." Amanda Wyss nickte. Wie sie wusste, handelte es sich dabei um den Hochsicherheitstrakt dieses Institutes, in dem nicht mehr als ein knappes Dutzend Patienten untergebracht war. Und jeder von ihnen war so gefährlich, dass er eigentlich ein eigenes Gefängnis benötigt hätte. "Sie wissen sicherlich, dass Sie der Ersatz für Mrs. Greatfoot -10-
sein sollen, die vor ein paar Wochen pensioniert wurde", fuhr Dr. Obman fort. "Und, ehrlich gesagt, ich bin froh, wenn ich für diesen Bereich endlich eine zusätzliche Mitarbeiterin bekomme. Dann kann ich den anderen die Überstunden ersparen, die sie seit Mrs. Greatfoots Abschied schieben müssen." "Wann wollen Sie mich in den..." Amanda Wyss zögerte. Fast hätte sie ebenfalls Kerker gesagt, aber sie wollte sich den Gebrauch des Wortes erst gar nicht angewöhnen. Irgendwie erschien ihr das unangemessen gegenüber den dortigen Insassen. Sie waren schließlich keine mittelalterlichen Gefangenen, "...den Hochsicherheitsbereich einführen? " Dr. Obman lächelte einnehmend. "Wie wäre es mit jetzt gleich? Ich habe Zeit. Wie steht es mit Ihnen? Oder haben Sie heute Abend schon etwas anderes vor?" Amanda hätte beinahe aufgelacht. Was hätte sie an einem Ort wie diesen schon vorhaben sollen? "Nein, habe ich nicht." "Na gut, dann lassen Sie uns gleich hinübergehen. " Sie verließen sein Büro und er führte sie zum Kerker. Entgegen der Vermutung, die man aufgrund des Namens hätte haben können, handelte es sich dabei um eines der wenigen neueren Gebäude auf dem Gelände - ebenso wie beispielsweise die Appartementanlagen. Es war ein zweigeschossiger betongrauer Kasten, der von eigenen Sicherheitszäunen umgeben war. Man musste an einem Wachhaus eine Personenkontrolle durchlaufen, ehe man überhaupt ins Haus hineinkam. "Das ist Mr. Bradshaw", stellte Dr. Obman vor, als sie an dem Wachhaus vorbeikamen. Der Wachmann streckte Amanda seine große Pranke entgegen. "Freut mich! Nennen Sie mich einfach Sam. Tun hier fast alle." Sein Seitenblick zu Dr. Obman bewies, wer eine dieser Ausnahmen war. Amanda lächelte. Der Wachmann war ihr mit seiner -11-
unkomplizierten Art auf Anhieb sympathisch. "Also gut, Sam." "Mr. Bradley macht meistens die Abend- und Nachtschicht", erklärte Dr. Obmann. "Seine Kollegen von der Tagschicht werden Sie sicherlich später noch kennen lernen. " Amanda warf beeindruckt einen Blick in die Wachkabine, deren Wände mit Monitoren geradezu übersät waren. Es schien, als hätte man von hier aus jeden Winkel des Gebäudes im Auge. "Das soll auch so sein", erklärte der Institutsleiter auf ihre Nachfrage hin. "Stets eine höchstmögliche Sicherheit zu garantieren, steht bei uns an oberster Stelle. Jeder Fehler, jede Nachlässigkeit kann ungeahnte Folgen haben. Glauben Sie mir ein jeder hier drinnen wartet nur darauf, dass wir einen solchen Fehler begehen." Er hielt einen Moment lang inne. "Und sollten wir es je tun und einem von ihnen gelingt es, ihn auszunutzen, dann gnade uns Gott!" Er schien bei dem Gedanken selbst zu erschaudern. Auch Amanda fühlte bei diesen Worten ein seltsames Kribbeln. Ihr Herz begann bei dem Gedanken, gleich selbst in die Höhle des Löwen vorzustoßen, schneller zu schlagen. Doch das war, wie sie überrascht feststellte, keineswegs unangenehm. Im Gegenteil, fast schon fühlte sie sich wie vor einer Achterbahnfahrt, von der man zwar wusste, dass sie einen an die Grenzen des Erträglichen brachte, die man aber trotzdem unter keinen Umständen verpassen wollte. Sie gingen in den Innenbereich des Gebäudes. Ein weiterer großer Überwachungsraum mit Pulten und Monitoren erwartete sie. Davor saß ein Arzt mit weißem Kittel, die Füße auf das Pult gelegt. Als sie hereinkamen, blickte er von seiner Lektüre auf. Es handelte sich um eine Sportzeitschrift. "Das ist Dr. Jeffries", sagte Dr. Obman. "Er hat hier die Oberaufsicht und momentan eine Achtzig-Stunden-Woche. Also nehmen Sie ihm seine scheinbar laxe Haltung nicht übel. " Amanda war weit entfernt davon. Ganz im Gegenteil. Endlich -12-
mal jemand, der der Ansicht war, dass man seinen Dienst auch dann korrekt erledigen konnte, wenn man mal nicht ganz gerade auf seinem Stuhl saß. Sie begrüßten sich. "Dr. Jeffries wird derjenige sein, der Sie in den nächsten Wochen in alles Erforderliche einarbeiten wird", sagte Dr. Obman. "Natürlich in der Hoffnung, dass Sie ihm so schnell wie möglich ein paar Schichten abnehmen können. " "Yeah", meinte Dr. Jeffries zustimmend. "Meine Frau und Kinder freuen sich schon darauf, mich ein wenig öfter zu sehen." Frau und Kinder? In Amanda zerplatzte eine Hoffnung, noch ehe sie recht aufgestiegen war. Was soll's? sagte sie sich. Nicht jeder, der einigermaßen locker drauf war, musste auch gleich zu haben sein. "Von hier aus erfolgt die Überwachung des Innenbereichs", erklärte Dr. Obman weiter. "Das meiste geschieht völlig automatisch. Nur die Essensausgabe muss manuell erledigt werden. Sowie ein paar andere Versorgungsdinge. Und natürlich eventuell notwendige medizinische Untersuchungen. Aber die sind ein Sonderfall und es ist Vorschrift, dann mindestens ein halbes Dutzend bewaffneter Sicherheitsbeamter dabei zu haben. Was meinen Sie, was sich unsere Freunde hier alles einfallen lassen, um herauszukommen! Vor einem Jahr hat sich einer glatt den ganzen Unterschenkel abgeschnitten und das ohne jede Betäubung und nur mit einem aus einem Teelöffel selbstgefeilten Messer. Er dachte, er hätte bessere Fluchtchancen, wenn er auf die Krankenstation verlegt wird." Amanda Wyss erschauderte bei der Vorstellung. Dr. Obman räusperte sich. "Äh, ich denke, für diese Anekdoten ist auch später noch Zeit." -13-
Jeffries nickte. Aufmunternd meinte er zu Amanda: "Aber keine Angst. Normalerweise ist es hier recht ruhig." "Und was ist mit einer psychologischen Betreuung?" fragte Amanda Wyss. "Oder mit Resozialisierungsmaßnahmen? " "Wie bitte?" fragte Dr. Obman, als hätte er sich verhört. "Glauben Sie mir, wenn jemand hier für irgendeine Form von Resozialisierung noch empfänglich wäre, dann wäre er überhaupt nicht hier! Das ist sozusagen ein Widerspruch in sich selbst. Daran sollten Sie stets denken, wenn Sie hier arbeiten. Diesen Leuten kann man nicht helfen. Man kann die Menschheit nur vor ihnen schützen. " Amanda wollte sich nicht so einfach geschlagen geben. "Warum bringt man diese Leute dann nicht besser gleich einfach um, anstatt Sie hier so vor sich hin vegetieren zu lassen?" Kaum hatte sie es ausgesprochen, wusste sie, wie unsinnig ihre Bemerkung war. Entgegen ihrer Erwartung nahm Dr. Obman ihr diesen Einwand nicht übel. Er nickte. "Eine sehr gute Frage. Aber die dürfen Sie nicht mir stellen, sondern müssen Sie an zwei andere Adressaten richten. Zum einen an unsere Regierung, die gegen die Todesstrafe für solche Individuen ist. Und zum anderen..." Er machte eine kurze Pause, "...sollten Sie vie lleicht die Insassen selbst fragen, warum sie glauben, sich an keinerlei Moralvorstellungen gebunden fühlen zu müssen. Jedenfalls nicht an solche, wie wir sie verstehen. Aber ich kann Ihnen davon nur abraten. Was Sie hören würden, würde nicht viel Sinn ergeben. Vergessen Sie nicht, hier handelt es sich um extrem kranke Geister. Beten Sie dafür, keinem von ihnen jemals in die Hände zu fallen!" Sein Tonfall war so überzeugend, dass Amanda abermals fühlte, wie ihr ein Schauder den Rücken hinabrann. "Verlieren Sie das nie aus dem Gedächtnis", mahnte Dr. Obman weiter. "Jeder noch so kleine Fehler kann hier zu einer -14-
Katastrophe führen. " "Was ist, wenn die Überwachungsanlagen ausfallen sollten?" fragte Amanda bange. "Das könnte höchstens bei einem totalen Stromausfall passieren", beruhigte Dr. Jeffries sie. "Aber selbst dann bleiben die Zellen sicher. Und mit ein paar wenigen Handgriffen lassen sich die Notstromaggregate zuschalten. Sie sehen, wir sind auf jede Eventualität vorbereitet." Er hantierte demonstrierend auf dem Pult herum. "Hier, so einfach geht das. Ist gar nicht weiter schwierig." Amanda Wyss nickte zurückhaltend. Glaubte er wirklich, sie hätte das auf die Schnelle mitbekommen? Dr. Obman deutete mit dem Daumen hinter sich auf den Eingang zu dem eigentlichen Zellentrakt. "Ist momentan alles klar? Können wir hinein? " "Alles klar, Chef", bestätigte Dr. Jeffries. "Die haben ihr Essen vor einer Stunde bekommen und bereiten sich jetzt darauf vor, bubu zu machen. " "Gut, dann öffnen Sie die Schleuse!" Der Institutsleiter streckte Amanda einladend seinen Arm hin. "Kommen Sie! Lassen Sie uns die Höhle des Löwen betreten. " Das ABENTEURER-Team lan Sutherland - Der schottische Schloßherr und Earl of Oake Dun ist der Gründer und Finanzier der Forschungsgruppe A.I.M.. Hat er Geldnöte? Tom Ericson - Der amerikanische Archäologe und ehemalige Dozent an der Yale University kämpft zumeist an vorderster Front Gudrun Heber - Die deutsche Anthropologin reist an Toms Seite und scheint manchmal über eine Art sechsten Sinn zu verfügen. Valerie Gideon - Die israelische Ex- Top-Agentin arbeitete einst als Archäologin getarnt für den Mossad und nun für A.I.M. -15-
Pierre Leroy - Der französische Lebemann verbrachte lange Jahre als Glochard und verfügt noch heute übergroße Fingerfertigkeit. Elwood - Der rätselhafte Mann in Schwarz wurde A.I.M. zur Seite gestellt und sucht seither das Rätsel seiner Identität zu ergründen. Connor - Der schottische Butler von Oake Dun ist nicht nur Computerspezialist, sondern auch ein überaus fähiger Kämpfer. Geoffrey Barnington - Der junge englische Ausgrabungsleiter hat in Burma womöglich die Entdeckung seines Lebens gemacht. Mortimer - Der greise Hausdiener von Oake Dun sorgt nach besten Kräften dafür, daß alles auf dem Schloß seine richtige Ordnung hat. Das ABENTEURER-Universum Seit einigen Jahren sind die Mitarbeiter der privaten Forschungsgruppe A.I.M. mysteriösen Artefakten auf der Spur, die eines zur Gewißheit haben werden lassen: Atlantis ist weitaus mehr als ein Mythos! Einst war es ein großes, mächtiges Reich mit erstaunlichen Errungenschaften, bis es dann in der Sintflut während eines einzigen schlimmen Tages und einer einzigen schlimmen Nacht versank. Doch noch immer existieren im Verborgenen zahlreiche Artefakte und Ruinen aus atlantischer Zeit, denen zum Teil fast magisch anmutende Kräfte innewohnen. Sie könnten das Bild über das untergegangene, prähistorische Reich weiter erhellen. Doch die Nachforschungen bleiben nicht ohne Folgen. Uralte Kräfte Erwachen wieder zum Leben. Und schon bald stellt sich die Frage, ob diese Dinge nicht besser ewig im Dunkel der Geschichte geblieben wären. Denn unversehens finden sich die Abenteurer in einem undurchsichtigen Spiel geheimnisvoller Kräfte und Mächte wieder, die direkt aus den Tiefen der Vergangenheit -16-
hervorgestiegen zu sein scheinen. Dabei wird eines immer klarer: Der Untergang von Atlantis war keine Naturkatastrophe, sondern Folge eines Krieges gegen eine unbekannte Macht - in Gestalt von aufrecht gehenden Echsen, die über eine schier unglaubliche Technologie verfügten. Und diese Macht scheint ihre Krallenhände nun abermals nach der Menschheit auszustrecken... Sie gingen auf eine Tür aus hochwertigem Stahl mit einem kleinen Blickfenster aus Panzerglas zu. Dr. Jeffries betätigte ein paar Schalter und der Schließmechanismus öffnete sich. Dr. Obman zog die schwere Tür auf und schloss sie sorgsam wieder, als sie hereingegangen waren. Noch ein kurzes bestätigendes Zeichen durch das kleine Fenster zu Dr. Jeffries, dann drangen sie tiefer in den Gang ein. Amanda hatte erwartet, irgendwelche schaurigen Laute zu hören - ein Ächzen, Stöhnen, Schreien, Kichern oder etwas anderes in dieser Richtung. Aber nichts dergleichen ließ sich vernehmen. Hier herrschte eine schon geradezu unnatürliche Stille - fast so wie in einem Mausoleum. Ganz unpassend erschien Amanda der Vergleich nicht, denn für die Welt da draußen waren die Insassen hier im Grunde bereits tot. Keiner von ihnen würde sie je wiedersehen. Nur zu atmen aufgehört hatten sie noch nicht. Dr. Obman erklärte, dass die Zellen in einem gewissen Abstand voneinander lägen, damit die Insassen sich nicht untereinander verständigen und irgend etwas aushecken könnten. Die Zellen selbst waren nicht gerade klein, wie Amanda feststellte, als sie die erste erreichten, die nicht belegt war. Zum Gang hin war sie komplett mit Panzerglas versehen, so dass man von hier aus ständig überblicken konnte, was drinnen vor sich ging. In dem Glas gab es einige gerade einmal scheckkartengroße Schlitze, durch die man sich unterhalten konnte. Eine andere Möglichkeit dazu bot eine Gegensprechanlage, die von außen zu bedienen war. Die Zelle -17-
ließ sich ausschließlich durch eine seitliche Tür betreten, die doppelt gesichert war. "Die beiden Schlüssel dazu befinden sich jeweils in den Händen verschiedener Ärzte, die hier tätig sind", erläuterte Dr. Obman. "Es sind also immer zwei Personen erforderlich, um eine der Türen zu öffnen. " "Aber... Dr. Jeffries war doch gerade allein?" "Gut beobachtet. Aber ich habe auch davon geredet, was sein sollte und nicht, was ist. Die Personalknappheit lässt uns leider keine andere Wahl. Aber Dr. Jeffries ist vertrauenswürdig genug, um für beide Schlüssel verantwortlich zu sein." Dr. Obman seufzte. "Ich hoffe, Sie verstehen, warum wir alle so froh sind, endlich eine zusätzliche Kraft in diesem Bereich zu haben. " Amanda entdeckte in der Zelle, seitlich in der Wand angebracht, auch einen Fernseher und sprach den Institutsleiter darauf an. "Irgendeine Unterhaltung müssen die Insassen schließlich auch haben", antwortete er. "Sie sehen, solche Unmenschen sind wir gar nicht. Natürlich befinden sich die Fernseher ebenfalls hinter Panzerglas, damit die Patienten nicht herankommen und irgendeinen Unsinn anstellen. Aber sie haben eine Fernbedienung, mit der sie die Geräte selbständig bedienen können. Kommen Sie. Wenden wir uns den Insassen zu. " Sie gingen zu den belegten Zellen und nach und nach machte Dr. Obmann Amanda mit den verschiedenen Kranken bekannt. Der erste von ihnen machte einen eher unscheinbaren Eindruck: ein hagerer 70jähriger Greis, der so aussah, als gehöre er viel eher in ein Altersheim denn an einen Platz wie diesen. Durch das Glas grinste er sie beide aus seinem zahnlosen Mund debil an. -18-
"Machen Sie nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen", warnte Dr. Obman, der Amandas Gedanken zu erraten schien. "Er ist erst seit zwei Jahren hier und in den fünf fahren davor hat er eine Reihe von Menschen mit bloßen Händen ermordet und verstümmelt. Man hätte damals nie gedacht, dass ein derart greisenhafter Mann in der Lage sei, solche Taten zu begehen, deshalb hat es auch so lange gedauert, ihn zu fassen. Man hatte ihn mehrfach im Verdacht, aber immer wieder laufen lassen, weil er aussieht, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun. Tut er normalerweise auch nicht. Aber in unregelmäßigen Abständen dreht er durch und wird zu einem wahren Berserker. Sie hätten sehen sollen, wie seine Zelle nach dem letzten Mal aussah! " "Wieso bekommt er diese Anfälle?" "Man könnte fast sagen - eine alte Kriegverletzung. Er wurde als Jugendlicher bei einem der V 2-Angriffe auf London schwer am Kopf verletzt. Wahrscheinlich sogar ein offener Schädel. Den hat man mit einer Metallplatte geflickt. Das hat fünfzig Jahre auch ganz gut funktioniert, aber nach ein paar Hirnwucherungen drückt sie auf andere Stellen und das führt zu diesen Anfällen. " "Kann man die Platte nicht wieder entfernen? " Dr. Obman schüttelte den Kopf. "Haben wir untersucht. Aber dabei würden wir ihn wohl töten. Deshalb muss er den Rest seines Lebens so fristen. " "Haben Sie kein Geld für ein Gebiss?" fragte sie in Anbetracht seines zahnlosen Grinsens. "Er will keine Zähne", antwortete der Institutsleiter. "Im Gegenteil, bei einem seiner Anfälle hat er sie sich sogar eigenhändig ausgerissen. Er wolle sie sich mehr haben, wenn er hier eingesperrt sei." Amanda runzelte die Stirn. "Wieso das? Was besteht da für ein Zusammenhang? " -19-
"Ach, hatte ich vergessen zu erwähnen, dass er seinen Opfern bei lebendigem Leib Nasen, Ohren, Finger und gewisse... äh andere Körperteile abgebissen hat?" Amanda schluckte. Sie konnte das Grinsen des Greises plötzlich nicht mehr ertragen. Dr. Obman war feinfühlig genug, sie zur nächsten Zelle zu bringen. Der Insasse dort war ein grobschlächtiger, aufgedunsen wirkender Mann, der aufgeregt in seiner Zelle hin und her lief. Dabei öffneten und schlössen sich seine Prankenhände unentwegt, als wolle er etwas zerdrücken oder zerbrechen. Als sie vor seine Zelle traten, beachtete er sie überhaupt nicht. "Dorian Chesterfield", erklärte Dr. Obman. "Er wurde vor Jahren bei einem Bergbauunglück für mehrere Wochen verschüttet. Seitdem leidet er unter unkontrollierbaren Aggressionsschüben, bei denen er versucht, andere Menschen zu ersticken." ; Es ging weiter mit einem unheilbaren Kranken, der sich seit der Nachricht von seinem bevorstehenden Tod tief in einen blindwütigen Welthass hineingesteigert hatte. Davon hatte ihn selbst die Nachricht, dass es sich um eine Fehldiagnose gehandelt hatte, nicht wieder abbringen können. Denn mittlerweile hatte er seinen ersten Menschen ermordet und Gefallen daran gefunden. In der nächsten Zelle befand sich ein Hippie, der nach dem Experimentieren mit exotischen Drogen nicht mehr auf diese Welt zurückgekehrt war und andere Menschen, zur Not auch mit Gewalt, davon zu überzeugen versuchte, dass sie fliegen konnten - indem er sie von Hochhäusern oder in Schluchten warf. Dass seine Opfer dabei ums Leben gekommen waren, lag seiner Meinung nach ausschließlich daran, dass sie ihm nicht richtig zugehört und sich keine rechte Mühe gegeben hätten, wirklich zu fliegen. Was könne er dafür, wenn sie da abstürzten? Wenn Vögel aufhören würden zu fliegen, würden sie schließlich -20-
auch abstürzen. Aber Vögel wären viel zu schlau dazu, so etwas zu tun. Ganz im Gegensatz zu seinen uneinsichtigen "Schülern". Es folgte eine Frau, die, nachdem sie von ihrem Mann verlassen worden war, diesen umgebracht hatte und anschließend auch alle weiteren Männer, die ihr über den Weg gelaufen waren und sie an ihn erinnert hatten. Danach folgte ein hagerer Mann, der während desselben Gewitters dreimal vom Blitz getroffen worden war, vier Jahre im Koma gelegen hatte und anschließend unter dem Einfluss von Handy-Funkwellen oder anderem Elektrosmog ausflippte. "Dies hier ist einer der interessantesten Fälle." Dr. Obman war vor der nächsten Zelle stehen geblieben und deutete auf den glatzköpfigen Mann darin, dessen Arme von oben bis unten tätowiert waren. "Ron Blatusky. Was Sie hier sehen, ist nicht nur ein Mörder, sondern gleich drei." "Wie das?" wunderte Amanda sich. "Es handelt sich bei ihm um eine multiple Persönlichkeit. Mehrere Bewusstseine, die sich einen Körper teilen und ihn jeweils zeitweise übernehmen. In seinem Innern sind gleich drei verbrecherische Personen zusammengekommen. Außer Ron selbst, der gerne sozial Schwächere und Obdachlose zu Tode prügelt, gibt es noch Clark. Der vergeht sich gerne an kleinen Jungs. Und Preston hält es mehr mit gewaltsamen Raubüberfällen. " Amanda nickte beeindruckt. Das war eine wahrhaft unheilvolle Allianz. Sie sah, daß der Insasse sie fast sezierend in Augenschein nahm und fragte sich, welcher der drei es wohl gerade war, der sie derart anstarrte. "Es gibt noch zwei andere Persönlichkeiten in ihm. Ein kleiner Junge namens Peter, der behauptet, er stamme aus einer anderen Welt, wo immer Musik in der Luft läge und ihm die Vögel schöne Lieder sängen. Und dann noch ein jüdischer -21-
Rabbiner. Aber beide sind zu schwach, um sich gegen die gewalttätigen Bewusstseine durchzusetzen. " Es ging weiter mit jemandem, der glaubte, von einem UFO entführt worden zu sein und seitdem glaubte, jedermann überreden zu müssen, Selbstmord zu begehen, um anschließend als Seele mit dem Raumschiff in die Weiten der Galaxie zu fliegen. Natürlich nur solange es noch unsichtbar irgendwo dort oben herumschwirrte. Und in mehreren Fällen war es ihm auch gelungen. "Das ist sozusagen unsere Exotenabteilung", erklärte Dr. Obman. "Wir haben hier noch einen, der glaubt, die Reinkarnation von Attila und Jack the Ripper zu sein. Und ein anderer ist der festen Meinung, die gesamte Menschheit sei von reptilköpfigen Fremden unterwandert, die uns ins Unglück führen würden. Nur leider könnten sie sich perfekt tarnen und natürlich sei nur er in der Lage, sie zu erkennen. Na ja, die klassische Verschwörungstheorie. Er behauptet, sogar hier in der Klinik gäbe es ein paar davon." Er lachte. "Wer weiß, vielleicht reden Sie ja gerade mit einem Reptil." Amanda vermochte sich dem Lachen nicht recht anzuschließen. In dieser Umgebung war ihr einfach nicht danach zumute. Aber wahrscheinlich hatte die lange Praxis den Institutsleiter bereits abgehärtet. Ihr Herz hingegen schlug noch immer schneller und sie fühlte eine Mischung aus Faszination und Abscheu. Zum Abschluß schließlich erreichten sie eine Zelle, die sich innen grundsätzlich von den anderen unterschied. Die anderen waren trotz allem "Komfort" karge Unterkünfte gewesen. Diese hingegen machte einen regelrecht wohnlichen Eindruck. Es stand eine Staffelei darin und an den Wänden hingen selbstgemalte Bilder. Sie alle zeigten irgendein Schloß in sturmumtoster, zerklüfteter La ndschaft aus wechselnden Perspektiven. Ein Hauch von Wärme schien aus den Fensters -22-
des Schlosses hervorzudringen, so lebensecht wirkten die Bilder. Der Insasse wandte sich ihnen interessiert zu, als sie vor das Panzerglas traten. Er war vielleicht Mitte Vierzig, hatte hellblondes, schütteres Haar und wache, interessierte Augen. Und diese schienen sich besonders für Amanda zu interessieren. "Ah, Dr. Obman", sagte er mit leiser, fast angenehm weicher Stimme. "Welch überraschender Besuch um diese späte Stunde! Was verschafft mir die Ehre, Sie hier begrüßen zu dürfen? Sie und... Wie war doch gleich der Name Ihrer bezaubernden neuen Kollegin, die Sie sicher mit ihrer neuen Dienststelle vertraut machen möchten? " Dr. Obman senkte unwillig die Augenbrauen. "Woher wissen Sie davon? " Der Insasse breitete unschuldig die Arme auf. "Geben Sie nicht mir die Schuld. Nur weil ich in diesem Glaskasten sitze, muß ich doch nicht weghören, wenn geredet wird. Und für den, der wirklich zu hören vermag, gibt es hier viele sprechende Münder." Dr. Obman wirkte nicht, als verstünde er die Antwort. "Nun gut, dann stelle ich mich eben selbst vor", sagte der Mann. Er sah Amanda freundlich an. "Mein Name ist Bentley. George Bentley. " Amanda nickte distanziert. "Meiner ist Wyss." Das Lächeln das Mannes verstärkte sich. "Aber Sie dürfen mich natürlich George nennen. " Um Amandas Lippen spielte ein dünnes Lächeln.; "Und Sie dürfen mich Dr. Wyss nennen!" Bentley lachte. "Eins zu Null für Sie. Wie wäre es, wenn Sie mir demnächst Gelegenheit für ein kleines Rückspiel geben? " "Lassen Sie sich auf nichts ein", riet Dr. Obman. Er hatte die Szene mit mißtrauischen Augen verfolgt. "Er versucht nur, Sie -23-
um den Finger zu wickeln. " "Aber natürlich versuche ich das", bekannte Bentley ganz offen. "Wissen Sie, auch wenn es hier viele plappernde und nie verstummende Münder gibt - Sie ahnen ja gar nicht, wie schwierig es ist, einen wirklich amüsanten Gesprächspartner zu bekommen. " "Amüsant", meinte Dr. Obman. "Soso." "Weshalb ist er hier?" fragte Amanda ihn. Dieser winkte dem Mann hinter der Glasscheibe auffordernd zu. "Los! Warum erzählen Sie es ihr nicht selbst? Wo wir gerade schon bei amüsanten Themen sind." Bentley neigte den Kopf. Er wirkte fast geschmeichelt. "Ach, das ist eine lange Geschichte!" "Dann bela ssen wir's heute Abend bei der Kurzfassung", entschied Dr. Obman. "Wir beide müssen noch weiter." "Nun gut." Bentley dachte kurz nach. "Wie jeder aufrechte Künstler kann ich da nur meine Kritiker zitieren. So sagt man, ich hätte vierzehn Menschen ermordet und wie sich der Staatsanwalt ausdrückte, sei ich dabei mit einer unfaßbaren Brutalität vorgegangen. " "Gut, das reicht." "Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen gerne mehr Einzelheiten", bot Bentley Amanda an. "Sie werden sehen, ich habe nichts vergessen, nicht die kleinste Kleinigkeit. Ich habe jedes einzelne Detail noch genau im Kopf. " "Kommen Sie", sagte Dr. Obman, ehe Amanda etwas antworten konnte. "Lassen Sie uns weitergehen!" Sie machen sich auf den Weg. "Was ist?" rief Bentley ihnen hinterher. "Sie haben mir noch keine Antwort gegeben. Warum kommen Sie nicht einmal auf einen Kaffee vorbei?" -24-
Amanda Wyss blieb stehen und wandte sich um. "Das könnte Ihnen so gefallen!" "Ach, ich bitte Sie! Ich erwarte doch nicht, daß Sie zu mir hereinkommen. Aber vor der Scheibe können Sie es sich ebenfalls bequem machen. Bringen Sie sich einfach einen Stuhl... und natürlich einen Kaffee mit. Also, was ist?" Amanda überlegte kurz. "Wir werden sehen", sagte sie dann. Sie ließen die Zelle hinter sich. "Wie kann ein solch gepflegt wirkender Mann vierzehn Menschen ermorden?" flüsterte Amanda. "Die Gutachten darüber finden Sie in seinen Akten. " "Die werde ich mir gelegentlich mal vornehmen. Und auch die der anderen Insassen. " "Machen Sie sich auf etwas gefaßt!" Amanda nickte. Ja, davon hatte sie einen ersten Eindruck bekommen. Sie war froh, als vor ihnen schließlich wieder die gesicherte Eingangspforte auftauchte. Dr. Obman gab seinem Kollegen draußen abermals ein Zeichen und die Verschlüsse öffneten sich. "Sagen Sie", fragte Amanda. "Was ist das eigentlich für ein Schloß auf all diesen Bildern? " "Seitdem man ihm die Staffelei gegeben hat, malt er nichts anderes", antwortete der Institutsleiter. "Soweit ich weiß, existiert das Schloß wirklich. Irgend etwas mit Oake oder so. Ganz oben in Schottland." "Und was verbindet ihn damit?" "Er hat aus irgendeinem Grund den fixen Gedanken, dorthin zu gehen und alle umzubringen, die sich dort aufhalten. Soweit ich weiß, hat er seine früheren Morde nur als eine Art Vorbereitung darauf verstanden. Glücklicherweise hat man ihn rechtzeitig gefaßt, bevor er seine dunklen Pläne in die Tat umsetzen konnte. Aber deshalb gilt er auch als extrem -25-
ausbruchsgefährdet. Nehmen Sie sich vor ihm in acht. Er macht nichts ohne Grund und so freundlich er Ihnen auch erscheinen mag, in Wahrheit ist er eine Bestie." Amanda Wyss atmete tief durch. "Ich werde daran denken. " "Na, wie war die Führung?" rief Dr. Jeffries ihr fröhlich zu. "Haben Sie sich einen ersten Eindruck verschafft?" "Ja, habe ich. Aber - ehrlich gesagt - ich habe Ihren Einbeinigen vermißt." "Er ist nicht mehr hier. Nachdem er aus dem Krankenbereich entlassen wurde und er einsehen mußte, daß ihm die ganze Aktion nichts gebracht hatte außer einem Bein weniger, hat er sich umgebracht." Dr. Jeffries sah sie an. "Soll ich Ihnen erzählen, wie?" Amanda schüttelte den Kopf. "Nein, heute nicht. Ich glaube, fürs Erste ist mein Bedarf an solchen Erzählungen gedeckt."
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2. Kapitel Leichte Turbulenzen "...begrüßen unsere neu zugestiegenen Passagiere recht herzlich an Bord des Fluges 242", scholl es aus den Lautsprechern, als die Linienmaschine aus Bangkok nach ihrem kurzen, planmäßigen Zwischenstop in den Vereinigten Arabischen Emiraten wieder die normale Flughöhe erreicht hatte. "Unsere voraussichtliche Ankunftszeit in London wird in sechs Stunden sein. Damit wünschen wir Ihnen noch einen angenehmen Flug. " Valerie Gideon löste ihre Gurte, als die Fasten SeatBellsAnzeige erlosch und lehnte sich zurück. Langsam, ganz langsam neigte sich die lange Reise dem Ende entgegen. Noch sechs Stunden bis London, überschlug die blonde Israelin in Gedanken. Und von dort aus mit dem letzten Anschlußflug des Tages weiter bis nach Glasgow, wo hoffentlich bereits ein A.I.M.-Mitarbeiter wartete, um sie abzuholen. So war es zumindest vereinbart. Alles in allem noch zehn Stunden, ehe sie Oake Dun endlich erreichen würde. Der Wohnsitz des schottischen Gründers des Analytic Institute for Mysteries Diele zugleich als Hauptquartier einer kleinen, aber erlesenen privaten Forscherschar, zu der seit einigen Jahren auch Valerie gehörte. Sie konnte nicht umhin, so etwas wie heimatliche Gefühle zu empfinden, als sie an das trutzige, oft sturmumtoste Schloß im äußersten Norden Schottlands dachte. Obwohl sie - wie man ihrem leicht dunklen Teint anmerkte - in südlichen Gefilden aufgewachsen war und sich dort noch immer am wohlsten fühlte, war dies doch der einzige Ort, mit dem sie derzeit einen Begriff wie Heimat verband. Allerdings bereitete ihr dieser Gedanke auch Unbehagen - ein nagendes, bohrendes Unbehagen, von dem sie zwar wußte, daß -27-
es unbegründet war, gegen das sie sich aber trotzdem nicht zu wehren vermochte. Denn diese negativen Gefühle hatten nichts mit Oake Dun selbst zu tun, sondern einzig und allein mit ihr selbst. Genauer gesagt, mit ihrer Vergangenheit. Denn in ihren Jahren als Top-Agentin des israelischen Geheimdienstes Mossad war sie so lange darauf gedrillt worden, sich an keinem Ort der Welt heimisch zu fühlen, bis es ihr in Fleisch und Blut übergegangen war - wie so vieles anderes auch. Stets auf Abruf leben, allem und jedem mißtrauen, keine Bindungen aufbauen, keine persönlichen Spuren hinterlassen... Das alles war für jemanden wie sie überlebenswichtig gewesen und hatte damals auch seinen Sinn gemacht. Vor einigen Jahren jedoch war sie im Zusammenhang mit dem Tode ihres Vaters aus dem Geheimdienstgeschäft ausgestiegen und nun für A.I.M. tätig. Ihre frühere Tarnung als Archäologin und entsprechende Fachkenntnisse, unter anderem ein echter Studienabschluß, kamen ihr dabei zugute. So leicht es für sie gewesen war, ein neues Betätigungsfeld zu finden, so schwer fiel es ihr, ihre alten Verhaltensmuster zu überwinden. Denn es war eine Sache, sich ihrer bewußt zu werden, aber eine vollkommen andere, sich aus ihrem Griff zu befreien. Bisweilen zweifelte Valerie daran, daß es ihr je gelingen würde. Je länger man bestimmten Mustern folgte welchen auch immer -, desto mehr wurden sie zu einem festen Bestandteil der Persönlichkeit, bis man schließlich untrennbar mit ihnen verbunden war. Ob man es nun wo llte oder nicht. Das war einer der Preise, die jeder an das Leben, das er führte, zu zahlen hatte. Und Valerie zahlte - was diese Dinge anging - nicht wenig. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie unter den anderen Mitarbeitern von A.I.M. noch niemanden gefunden hatte, den sie als ihren Freund bezeichnet hätte. Jemand wie sie war nicht für Freundschaften gemacht - oder sollte es besser -28-
heißen: gedrillt worden? Zu den meisten Menschen hatte sie ein eher distanziertes Verhältnis. Es war beileibe nicht so, daß sie sich nicht mit ihnen verstanden hätte; mit dem einen mehr, mit dem anderen weniger. Eines jedoch hatten sie in ihren Augen allesamt gemein. Sie waren Experten auf ihrem Gebiet und als solche respektierte Valerie sie. Und bei jemandem wie ihr hieß das schon viel. Sie liebte es, mit Profis umzugehen. Anfänger in jeder Form waren ihr zuwider. Die einzige Ausnahme im Team bildete lan Sutherland, der Gründer, Finanzier und Chef von A.I.M.. Nicht etwa, daß er ein Anfänger gewesen wäre. Nein, ganz im Gegenteil, selbst wenn viele Außenstehende in dem hageren, ergrauten Schotten nur einen vergnügungssüchtigen Playboy sahen, der in den besseren Kreisen verkehrte. Was Valeries Verhältnis zu ihm betraf: Ihn respektierte sie nicht nur, ihn schätzte sie. Sie war froh, wenn er verständnisvoll Nachsicht walten ließ und schwieg, wenn sie einmal wieder einmal etwas übers Ziel hinausschoß. Schließlich wußte er um ihre Vergangenheit und er wußte auch: Ihre ärgste Kritikerin war sie selbst. Schon immer gewesen und so würde es wohl auch immer bleiben. Bisweilen haßte Valerie sich dafür, wie sie war, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ, sondern es zumeist hinter einer ebenso fröhlichen wie unnahbaren Maske versteckte. Ihre Vergangenheit war ihre eigene Hölle und dieser zu entkommen oder sich mit ihr zu arrangieren, war ihre Lebensaufgabe, vor der sie nicht weglaufen konnte. Eine Stimme aus dem Sitz neben ihr riß sie aus ihren Gedanken. "Ich kann es kaum erwarten, endlich deinem Chef gegenüberzustehen. " Valerie wandte müde den Kopf. Sie hatte gehofft, daß Geoffrey Barnington endlich eingeschlafen wäre. Schließlich -29-
hatte der hagere, knapp 30jährige Engländer seit dem Zwischenstopp in den Emiraten keinen Ton mehr gesagt. Aber das hatte, wie sie gerade feststellte, wohl nur mit seiner Flugangst zu tun gehabt, die besonders bei Starts und Landungen zutage trat. Hatte er zuvor stets darin Zuflucht gesucht, sich mit nervösem, inhaltsleerem Geplapper abzulenken - "Sag mal, Valerie, bist du sicher, daß mit dem Fahrwerk wirklich alles in Ordnung ist? Hör doch mal, das klingt doch irgendwie komisch, findest du nicht?" oder ähnlich erbauende Gedanken -, so hatte er sich diesmal für die mannhaftere Variante entschieden. Heroisch schweigend, hatte er sich mit beiden Händen an die Lehnen seines Sitzes geklammert, das Gesicht kalkweiß und den Blick starr geradeaus gerichtet. Nur nicht aus dem Fenster sehen, nein, nicht einmal in die Richtung blinzeln. Valerie fragte sich, warum er trotzdem darauf bestanden hatte, den Fensterplatz zu nehmen. Sie war froh, daß die Sitze der Business-Class, in der sie saßen, über einen genügend großen Seitenabstand und jeweils eigene Lehnen verfügten. In der Economy-Class wäre Geoffrey womöglich noch auf die Idee gekommen, sich an ihr festzuklammern. Doch nun hatte er die Lehnen wieder losgelassen und sein Herzschlag beruhigte sich langsam. "Ich weiß", sagte sie seufzend. "Schließlich redest seit unserem Start in Bangkok von nichts anderem. " Barningtons Gesicht, in das allmählich wieder Farbe kam, nahm einen betroffenen Ausdruck an. "Entschuldige, Valerie! Ich weiß. Das ist eine Schwäche von mir. Manchmal rede ich vielleicht etwas viel. " Manchmal? Valerie behielt ihre Gedanken bei sich. Und vielleicht? "Aber das... das ist nur meine Aufregung", fügte er zur -30-
Erklärung hinzu. "Was du nicht sagst." Geoffrey Barnington sah sie zweifelnd an und wußte nicht, ob er sich auf den Arm genommen fühlen sollte oder nicht. Eines der Gläser seiner Brille wies einen großen sternförmigen Sprung auf. Es war ein Andenken an eine mehrwöchige Gefangenschaft in einem Dschungellager. Er hatte in Burma einige Jahre lang eine archäologische Ausgrabung geleitet, bis ihm dafür die finanziellen Mittel entzogen worden waren. Eine Zeitlang hatte er auf eigene Faust weitergemacht, ohne viel Erfolg und dann war er einer örtlichen Miliz in die Hände gefallen. Valerie hatte ihn vor zwei Tagen daraus befreit. Von Burma aus hatte ihr Weg in zwei kurzen Flugetappen über die nordthailändische Provinzhauptstadt Chiang Mai bis nach Bangkok geführt. Dort war es nicht einfach gewesen, Barnington mit neuen Papieren auszustatten, doch ein Mitarbeiter des britischen Konsulats hatte sich schließlich persönlich seines Falles angenommen und ihnen relativ unbürokratisch mit einem vorläufig gültigen Ersatzpapier weitergeholfen. Neidisch dachte Valerie daran, daß Barnington immerhin ein paar Stunden Schlaf bekommen hatte, zusammengerollt auf einem Sofa im Vorzimmer des Konsulats, während sie damit beschäftigt gewesen war, alle Formalitäten zu erledigen und die Rückkehr nach Schottland zu organisieren. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihn während dieser Zeit wach zu halten. Dann hätte er jetzt womöglich weniger geredet. Valerie war ohnehin erstaunt, wo er nach seiner langen Gefangenschaft überhaupt die Kraft dafür hernahm. Sie hatte geschätzt - und gehofft -, daß er, längst von der Erschöpfung überwältigt worden wäre. Aber er überzeugte sie eines besseren. In seinem schlaksigen Körper schien mehr Zähigkeit zu stecken, als sie es ihm zugetraut hätte. Außerdem hielt ihn die Erwartung wach, ihren Chef zu treffen. -31-
"Rund zehn Stunden", gab sie Auskunft. "Und dann werde ich endlich alle meine Antworten bekommen? " Er war wie ein kleines Kind, das ein Geschenk versprochen bekommen hatte und nun kaum an sich halten konnte, bis es dieses endlich erhielt. "Nicht alle Antworten", schränkte Valerie ein. "Aber einige." Er nickte zufrieden. "Aber ich warne dich", fügte sie nachdrücklich hinzu. "Es mag sein, daß diese Antworten ganz und gar nicht so ausfallen, wie du es erwartest." "Das ist auch der Grund, weshalb du dich so bedeckt hältst?" "Genau. Viele dieser Antworten werden eine Menge weiterer Fragen aufwerfen - Fragen, die wir zuvor nicht einmal für möglich gehalten hätten. Und auf die wir bis jetzt noch keine Antworten wissen. Ich kann mir vorstellen, daß es dir ganz genauso ergehen wird." Jedenfalls soweit Sutherland bereit ist, dich in die Geheimnisse einzuweihen, an denen wir seit ein paar Jahren rühren, fügte Valerie in Gedanken hinzu. Die Entscheidung darüber wollte sie ga nz ihrem Chef überlassen. Barnington nickte abermals. In seinen Augen glänzte es voller Vorfreude. Es war sein Forscherherz, das daraus sprach. Ganz gleich, wie flugängstlich oder ansonsten wenig abenteuertauglich der junge Engländer war, in seinem Herzen glomm der gleiche Funke wie auch in den Mitarbeitern von A.I.M.. "Ich weiß. Gerade das macht es ja so spannend." "Geoffrey!" "Was denn? " "Ich bitte dich! Das hier ist kein Spiel!" Sie dämpfte die Stimme, als drei Passagiere neben ihr durch den Mittelgang -32-
nach vorne gingen, wo sich der Crew-Bereich und die ServiceEinrichtungen für die Business-Class befanden. Dahinter ging es weiter zum Cockpit. Anscheinend konnten es die drei Männer nicht abwarten, bis die Stewardessen nach dem Zwischenstart wieder ausschwärmten, um die Fluggäste zu bewirten. "Mach dich auf einiges bereit. Es könnte sogar sein, daß dein komplettes Weltbild ins Wanken gerät." "Mein Weltbild?" Er verzog die Mundwinkel. "Ja! Meines jedenfalls ist es gehörig, seitdem ich für A.I.M. arbeite. Und glaub mir, ich war bei meinem ehemaligem Job seit jeher darauf angewiesen, mein Weltbild möglichst flexibel zu gestalten. " Barnington war sich darüber im klaren, worauf sie anspielte. Er wußte um ihre Vergangenheit als Mossad-Agentin. Als solche hatte er sie nämlich kennen gelernt. Aus Zufall. Fast zehn Jahre war das nun her. Er war ein junger Student der Kunstgeschichte gewesen und hatte sich im Rahmen eines Kulturaustauschprogramms im kambodschanischen Angkor Wat aufgehalten, als sie sich begegnet waren. Valerie hatte damals in einem verdeckten Einsatz mehrere Kriegsgefangene befreit, die es offiziell eigentlich gar nicht gegeben hatte. Er hatte ihr dabei geholfen, sie außer Landes zu schmuggeln. Ohne seine Hilfe hätte sie es nicht geschafft. Aus Dankbarkeit hatte sie ihm die Möglichkeit eröffnet, sie jederzeit über Geheimdienstkanäle zu Hilfe zu rufen. Das hatte er vor einigen Tagen getan und sie hatte ihn wie versprochen aus dem Schlamassel geholt. Seit damals war es das erste Mal, daß sie sich wiedertrafen und irgendwie war es für sie beide, als ob kaum ein Tag vergangen wäre. Mit einem Unterschied: Für Valerie war Geoffrey Barnington noch immer derselbe schüchterne, schlaksige Junge wie früher, während für ihn aus der jungen, unerfahrenen Agentin, in die er damals so verknallt gewesen war, eine selbstbewusste, eigenständige Frau geworden war. Auf irgendeine unglückliche Art fühlte er sich ihr noch immer -33-
schrecklich unterlegen. So unterlegen, daß er niemals ein Sterbenswörtchen darüber verlieren würde, wie lange er nach ihrer damaligen Begegnung noch an sie gedacht hatte. Er hatte insgeheim oft erwägt, wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen oder es zumindest zu versuchen. Doch ein Gedanke hatte ihn immer wieder davon abgehalten: Was hätte jemand wie er einer Frau wie ihr schon zu bieten gehabt? Mit der Zeit waren seine Gedanken an sie verblasst bis er jetzt gezwungen worden war, sie zu Hilfe zu rufen. "Jaja, mein Weltbild", meinte er bitter. "Glaub mir, mein Weltbild ist in den letzten Tagen schon mehr aus den Fugen geraten, als ich es für möglich gehalten hätte." Valerie sah ihn misstrauisch an. Dieser Tonfall an ihm war ihr völlig fremd. "Wie meinst du das?" "Kannst du dir das nicht denken? " Valerie war über seine plötzliche Angriffslustigkeit irritiert. War es ihre Müdigkeit, die sie abhielt, die richtigen Schlüsse zu ziehen? Sie wurde kurz abgelenkt, als vorne im Servicebereich ärgerliche Stimmen erklangen. Offenbar gehörten sie zu den durstigen Passagieren, die es nach Nachschub gelüstete. Irgend etwas daran machte Valerie stutzig, aber sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Barnington. Er sah sie durch seine Brille mit weit aufgerissenen Augen an und machte eine aufgeregte Handbewegung. "Ein Tor aus... aus... einer Art flüssigem Gestein, Valerie und wir beide sind hindurchgegangen! Da zerbreche ich mir Jahre den Kopf, was mit dem Torweg gemeint sein könnte, der sich in der Anlage verbirgt, aber so etwas hätte ich nie für möglich gehalten. Das Tor hat uns schwupps! - geradewegs an einen anderen Ort gebracht." Valerie fühlte sich beruhigt. Einen kurzen Moment hatte sie gedacht, es wäre etwas Persönlicheres zwischen ihr und Barnington. -34-
"Ein Tor, das jetzt leider wieder verschlossen ist", dämpfte sie seinen Enthusiasmus. "Und beschädigt." Er ließ sich nicht beirren. "Was einmal offen war, muß sich auch ein weiteres Mal öffnen lassen! Wir müssen unbedingt herausfinden, wo sich die andere Seite befindet!" "Jaja", meinte Valerie matt. "Das müssen wir!" Sie war ja derselben Meinung wie er - aber sie sah nicht den geringsten Nutzen darin, das pausenlos zu wiederholen. "Und dann erst diese schwarze Maschine, die wir..." "Das brauchst du mir nicht zu erzählen. Ich war schließlich selbst dabei. " Er stutzte. "Richtig. Weißt du, ich habe mir in den letzten Stunden sehr viele Gedanken dazu gemacht. Besonders zu dieser seltsamen Maschine. Willst du hören, was..." "Geoffrey, bitte!" "Was denn? " Sie holte tief Luft. Merkte er es wirklich nicht? Sie versuchte es noch einmal auf die verständnisvolle Tour. "Weißt du, ich bin jetzt seit fast achtzig Stunden ununterbrochen auf den Beinen. Nur zu deiner Erinnerung: Ich bin illegal in Burma eingereist, habe dich gesucht, bin dabei entführt worden, habe dich gefunden und befreit, bin eine ganze Nacht lang mit dir durch den Dschungel marschiert, habe dich außer Landes gebracht, den ganzen Rückreisekram erledigt..." Sie machte eine kurze dramatische Pause und hob die Stimme. "Und bei all dem habe ich bis jetzt noch keine einzige Minute Schlaf gehabt. Ich finde, das reicht, zumal meine Ta ge davor auch nicht gerade leicht waren." Sie dachte kurz an ihren Besuch bei ihrem Bruder in Frankfurt zurück. Dabei hatte sie eine Diebesbande gestellt, die eine Festgesellschaft überfallen hatte. Die blauen Flecke und geprellten Rippen, die sie dabei zurückbehalten hatte, spürte sie -35-
jetzt noch. "Meine Energiereserven sind nicht unerschöpflich und ich wäre froh, wenn ich endlich etwas Schlaf bekäme. Die sechs Stunden bis nach London kämen mir da gerade recht." Barnington sah sie erstaunt an und machte eine verständnislose Geste. "Ja, aber... warum schläfst du dann nicht?" Valerie verdrehte die Augen und spürte, daß sie dicht davor stand zu explodieren. "Weil du ununterbrochen redest!" rief sie ungehalten und funkelte ihn wütend an. "Wie soll ein Mensch da schlafen können?" Er riß die Augen auf. "Valerie, glaub mir, das wäre wirklich das letzte, was ich wollte. Ich habe doch nur versucht, dir zu erklären, daß ich, was das Tor angeht..." "Nein!" Valerie schüttelte ärgerlich den Kopf. Es reichte. Es hatte keinen Sinn. Sie erhob sich aus ihrem Sitz. "Was hast du vor? Wo willst du hin? " "Mir nur kurz mal die Beine vertreten. " "Gute Idee!" meinte er schnell. "Warte, ich komme mit." Er wollte aufstehen, ohne daran zu denken, daß er noch immer angeschnallt war. So geriet sein Versuch zu einer recht albern aussehenden Nummer. "Nein, Geoffrey! Du bleibst hier. Bitte hör auf, mir andauernd nachzulaufen wie ein fehlgeprägtes Gänseküken! Wenigstens für einen Augenblick." Damit ließ sie ihn einfach sitzen, ohne sich um sein unglückliches Gesicht zu kümmern. Sie ging zu dem Servicebereich für die Crew, der nur ein paar Meter entfernt war. Der Durchgang dazu war mit einem schwarzen Vorhang abgedeckt. Unschlüssig blieb Valerie davor stehen. Die bleierne Müdigkeit der letzten Stunden zerrte wie mit Gewichten an ihr. -36-
Vielleicht sollte sie sich ein Glas Wasser geben lassen, um wenigstens einen Anlass zu haben, hier ein wenig herumzustehen. Sie konnte nicht umhin, sich kurz zu Barnington umzuwenden, der wie ein Häuflein Elend und noch immer angeschnallt auf seinem Sitz saß und sie mit großen, um/, Entschuldigung heischenden Augen ansah. Manchmal benahm er sich wirklich wie ein kleiner Schuljunge. . Als Valerie hörte, wie hinter ihr der Vorhang beiseitegeschoben wurde, bedeutete sie dem Engländer mit einer knappen, ungeduldigen Geste, doch bitte mal etwas anderes zu tun, als sie derart anzustarren. Das wurde selbst einer hartgesottenen Person wie ihr langsam peinlich. Valeries Versuch, ihn zur Ordnung zu rufen, war wenig erfolgreich. Anstatt sich dezenter zu benehmen, riß Barnington seine Augen nur noch weiter auf und fuchtelte zusätzlich mit den Händen fahrig in der Luft herum, als wolle er seine Erzählungen nun auf diesem Wege fortführen. Erst als Valerie bemerkte, daß plötzlich auch alle anderen Passagiere in der spärlich besetzten Business-Class in ihre Richtung starrten - zum Teil überrascht, die meisten aber erschrocken oder entsetzt -, begriff sie, daß irgend etwas nicht stimmte. Und zwar irgend etwas direkt hinter ihr ! Zu mehr blieb ihr keine Zeit. Jemand packte sie von hinten. Ein kräftiger Männerarm legte sich um ihren Hals und zog sie zu sich heran. Im gleichen Moment zielte der zweite dazugehörige Arm mit einer Maschinenpistole an ihr vorbei auf die Passagiere. "Alle behalten Ruhe!" kreischte eine harte Männerstimme mit unverkennbar arabischem Akzent direkt neben ihrem Ohr, so -37-
laut, daß sie unwillkürlich zusammenzuckte. Der Arm mit der MP schwenkte drohend umher. "Dann passiert nichts." Niemand versuchte Einspruch zu erheben. Die Angst, die plötzlich in der Kabine herrschte, war fast körperlich zu spüren. Von überall her starrten ängstliche Augenpaare zu ihnen. "Der Flugplan hat sich geändert", rief der Mann weiter. "Wir sind nun ein neues Ziel!" Wieder schwenkte sein Arm umher, als wolle er auf der Stelle jeden erschießen, der auch nur den Eindruck erweckte, dagegen aufbegehren zu wollen. Aber das wagte niemand. "Haben", flüsterte Valerie. "Was?" schrie er sie an und zehrte grob an ihr herum, ohne ihren Hals loszulassen. "Was hast du gesagt?" "Es heißt haben", keuchte Valerie und tat, als würde sie nicht genügend Luft bekommen. Der kurze Augenblick hatte ausgereicht, um den Mann hinter ihr kurz ins Auge zu fassen. "Wir haben nun ein neues Ziel! Nicht: Wir sind nun ein neues Ziel." So zähflüssig ihre Gedanken vor Augenblicken gewesen waren - nun, von einer Sekunde auf die andere, beschleunigte das Adrenalin sie auf die gewohnte Höchstgeschwindigkeit. Aus der müden, erschöpften Valerie wurde übergangslos eine kaltblütig berechnende Kämpferin, deren Verstand auf Hochtouren arbeitete und die sich binnen weniger Momente alles vergegenwärtigte, was von irgendeiner Wichtigkeit sein konnte: die Waffenmarke der Maschinenpistole, das aufgeregte Zittern der Hand, die sie hielt, die Größe des Mannes, der hinter ihr war, mit welcher Kraft er an ihr herumgezerrt hatte und vieles, vieles mehr, wie es nur jemand wie sie in einer derartigen Geschwindigkeit wahrnehmen, verarbeiten, und ihre Taktik danach ausrichten konnte. Von all dem spürte der Mann, der sie festhielt, nichts. Für ihn war sie lediglich die erstbeste Passagierin gewesen, die er -38-
benutzte, um seine Forderungen zu unter- ,, streichen. Dass eine Gefahr von der jungen, blonden Frau in den verwaschenen Jeans und dem ärmellosen T-Shirt ausgehen könnte - außer daß sie vielleicht in Panik geriet -, konnte er sich nicht vorstellen. Er stutzte kurz, dann lockerte sich sein Griff wieder. "Meinetwegen auch das!" brummte er und laut rief er in die Runde: "Wir haben ein neues Ziel. London ist weg!" Valerie verzichtete darauf, ihn erneut berichtigen zu wollen. Sie hatte bereits gesehen, was sie hatte sehen wollen. "Wohin wollen Sie uns bringen?" wagte einer der Passagiere leise zu fragen. Sofort zielte die Waffe des Mannes auf ihn. "Das werdet ihr noch früh genug erfahren! Und jetzt Ruhe!" Es reichte aus, um den Passagier zum Schweigen zu bringen. Der kurze Augenblick, da Valerie den Mann angesehen hatte, hatte genügt, ihn seinem Akzent entsprechend als Araber zu identifizieren. Was ihr jedoch viel wichtiger gewesen war, war, daß sie außer seiner MP als Bewaffnung noch eine Pistole in einem Schulterhalfter sowie eine Handgranate an seinem Gürtel entdeckt hatte. Keine Frage, da hatte jemand bei den Personenkontrollen am Flughafen ganz gehörig geschlampt! "Was ist los?" erscholl da eine andere Stimme aus dem Servicebereich hinter dem Vorhang- auf Arabisch. Valerie hatte keine Probleme damit. Sie verstand es so gut wie ihre Muttersprache. Die meiste Zeit ihrer früheren Agententätigkeit war sie auf arabische m Gebiet tätig gewesen. "Alles in Ordnung bei dir? Hast du alles unter Kontrolle?" "Alles klar", erwiderte der Mann hinter Valerie selbstgefällig. "Die sind alle so brav wie Lämmchen. Bleibt ihnen auch nichts anderes übrig." "Dann sorg dafür, daß es so bleibt!" "Keine Sorge. Seht ihr beide lieber zu, daß ihr vorne klarkommt." -39-
Das bestätigte Valerie, wovon sie ohnehin ausgegangen war, daß sie es mit drei Entführern zu tun hatte mit allen drei Männern, die nach vorne gegangen waren. Einer war hier draußen bei ihr, der zweite, der sich gerade gemeldet hatte, müsste die Crew in Schach halten und der dritte sich im Cockpit befinden. Die Passagiere in der Economy-Class dürften bis jetzt noch nicht einmal bemerkt haben, daß sie soeben in eine Flugzeugentführung geraten waren. Der Mann hinter Valerie wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Passagieren zu und fuchtelte so amateurhaft mit seiner Waffe umher, daß es Valerie fast ein geringschätziges Lächeln entlockt hätte. "Ihr habt gehört, was ihr zu tun habt", rief er aufgebracht. "Seid alle brav wie Lämmer und gebt keinen Mucks von euch! Sonst..." Er mußte es erst gar nicht aussprechen. Seine Drohung wirkte auch so. Alle Passagiere saßen mit totenbleichen Gesichtern da und wurden sich allmählich bewusst, in was für eine Lage sie geraten waren. Mit einem Schlag waren ihre schlimmsten Alpträume wahr geworden. Valerie blickte kurz zu Geoffrey Barnington. Der Engländer saß kreidebleich in seinem Sitz, noch immer angeschnallt. Die Angst schien ihn regelrecht zu lahmen. Eine große Hilfe war er wahrlich nicht. Doch das hatte Valerie auch keinen einzigen Augenblick ernsthaft in Erwägung gezogen. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder ganz auf den Entführer, der sie noch immer im Griff hielt und glaubte, die Situation zu beherrschen. Auch wenn er bewaffnet war, so hatte Valerie ihm gegenüber doch einen gewichtigen Vorteil: Im Gegensatz zu ihm wusste sie, daß er und seine Kumpanen schon jetzt mehrere große Fehler begangen hatten. , Den ersten, als sie sich ausgerechnet diesen Flug für die Entführung ausgesucht hatten - mit ihr an Bord. -40-
Den zweiten, als der Mann hinter ihr dann auch ausgerechnet sie als Geisel genommen hatte. Und der dritte war, daß das alles geschah, während sie ohnehin müde, genervt und recht wenig kompromissbereit war. In ihren Augen erschien ein gefährliches Funkeln. Ein Funkeln, das Goldstein, ihr ehemaliger Ausbilder und Agentenführer, stets an ihr bemängelt hatte - bot es einem geübten Gegner doch Gelegenheit zu erkennen, wann sie angriff. Doch erstens stand der Mann hinter ihr, konnte es also ohnehin nicht sehen und zweitens hielt Valerie ihn kaum für einen geübten Kämpfer. Sie holte unmerklich Luft, spannte die Muskeln, dann handelte sie - so blitzschnell, daß der Entführer hinter ihr keine Chance hatte. Er war viel zu überrascht, als das vermeintliche Lämmchen in seinem Griff unvermittelt sein Lammfell abwarf und sich als böser Wolf entpuppte. Valeries Hände zuckten vor zu seiner MP und umklammerten sie so, daß der Anzug blockiert war. Sie hatte das mehr als tausendmal trainiert, ebenso wie das, was dann folgte. Eine kurze, heftige Drehbewegung und der Entführer war gezwungen, die Waffe sofort loszulassen, wenn er nicht wollte, daß ihm der Zeigefinger gebrochen wurde. Er hatte überhaupt keine Zeit zum Überlege n, sondern reagierte rein reflexartig. Überrascht wollte er aufschreien. "Aaaar... gggffnnn!" Sein Schmerzensschrei erstarb, noch ehe er sich richtig aus seinem Mund hatte lösen können und mündete in einem erstickten Keuchen, mit dem er die letzte Luft aus seinen Lungen verlor. Valeries linker Ellbogen war zurückgezuckt und hatte ihn genau auf den Solar Plexus getroffen. Nicht übermäßig hart, -41-
dafür aber um so treffsicherer. Sofort löste sich der Griff um ihren Hals und nur eine Millisekunde später landete auch ihr zweiter Ellbogen geringfügig tiefer in seiner Magengrube. Der Mann krümmte sich und öffnete den Mund, um nach Luft zu schnappen. Doch Valerie wirbelte herum und griff ebenso blitzschnell wie kurz nach seinem Kehlkopf. Dann trat sie einen halben Schritt zurück. Im Grunde war die Angelegenheit damit bereits erledigt, auch wenn das dem Mann selbst vielleicht noch gar nicht bewusst geworden war. Er war viel zu sehr damit bemüht, nach Atem zu ringen. Doch so sehr er sich auch bemühte, es kam nichts davon in seiner Lunge an. Und er hatte auch keine Luft mehr zum Schreien. Obwohl sein Mund weit aufgerissen war, kam kein Laut daraus hervor. Verzweifelt griff er sich mit den Händen an den Hals, ohne etwas daran ändern zu können. Valerie machte dem Spiel ein Ende, indem sie den gekrümmt dastehenden Mann mit beiden Händen an seinem schwarzen, buschigen Haar packte und ihm ihr Knie unter das Kinn rammte. Sofort wich sämtliches Leben aus ihm. Valerie ließ ihn sanft zu Boden gleiten, damit er keinen unnötigen Krach machte. Sein kurzer erstickter Aufschrei schien bei dem Fluglärm im Hintergrund ungehört geblieben zu sein vor allem jenseits des Vorhanges. Valerie signalisierte den Passagieren mit vor den Mund gelegtem Zeigefinger und strengem Blick, sich vollkommen ruhig zu verhalten. Sie sah, daß einige von ihnen den Mund weit aufgerissen hatten, als wollten sie einen Jubelschrei anstimmen. Keinen Laut! befahlen ihre Augen - so intensiv, daß es keinen Übersetzer benötigte, um sich verständlich zu machen. Nicht daß die Leute ihr durch ihre Unvorsichtigkeit noch den Überraschungseffekt zunichte machten. Noch ist die Sache nicht vorbei! Die Passagiere rissen sich am Riemen und blieben still. -42-
Valeries nächster Blick galt Barnington persönlich. Er sah aus, als müsse er trotzdem etwas loswerden. Und das gilt besonders für dich! Mit einem geübten Griff renkte sie dem Bewusstlosen den Kehlkopf wieder ein. Dann nahm sie seine Pistole an sich und sah nachdenklich darauf. Eine russische Stetchkin APS und dazu noch ein ziemlich großes Kaliber, bei dem die Kugel einen getroffenen Körper glatt durchschlug und unkontrolliert weiterflog. Für einen Kampf am Boden vielleicht ganz nützlich, an Bord eines Fliegersjedoch war es ein großes Risiko, eine solche Waffe überhaupt zu benutzen - selbst für eine geübte Schützin wie sie. Leicht konnte ein Fehlschuss eine lebenswichtige Anlage treffen. Auch die MP schied wegen der hohen Durchschlagskraft aus. Entweder waren die Entführer wenig fachkundig oder ausgemachte Selbstmordkandidaten. Vermutlich beides. Noch immer in der Hocke hielt Valerie inne. Es mußte einen anderen Weg geben, die beiden restlichen Entführer auszuschalten. Kurz dachte sie an die kleine Plastikpistole mit der Spezialmunition, die sich in ihrem Handgepäck befand und jeder Röntge nkontrolle widerstand. Sie wäre die richtige Waffe gewesen, aber es hätte zu lange gedauert, sie hervorzukramen. Dafür hatte Valerie eine bessere Idee. Sie warf Barnington die für sie nutzlose Pistole zu, nur für den Notfall. Als sie sah, wie ungeschickt er sie auffing - fast so, als handle es sich dabei um eine giftige Spinne, von der er nicht richtig wusste, wie er sie anfassen sollte, ohne gebissen zu werden -, hoffte sie inständig, dieser Notfall würde nie eintreten. Dann griff sie entschlossen nach der Handgranate. Was um Gottes Willen hast du damit vor? stand auf Barningtons Gesicht geschrieben, der seinen Kampf mit der -43-
Waffe langsam zu seinen Gunsten entschieden hatte. Sein Blick wanderte entsetzt zwischen der Handgranate und Valerie hin und her, die ganz den Anschein erweckte, als wolle sie diese allen Ernstes einsetzen. "He, was ist los bei dir?" erscholl da die Stimme des zweiten Entführers abermals durch den Vorhang. "Noch immer alles in Ordnung? " Überall im Passagierraum wurden erschrockene Blicke gewechselt. Auch wenn kaum jemand das Arabisch des Mannes verstand, so wusste doch jedermann, daß der ausgeschaltete Dritte keine Antwort mehr geben konnte. Und damit würde ihr Befreiungsversuch binnen weniger Sekunden entdeckt werden. Valerie hatte nicht vor, diese kurze Frist ungenutzt verstreichen zu lassen. Sie erhob sich geschmeidig, wog die Granate kurz in der Hand und zog dann entschlossen, den Vorhang beiseite. "Nein, tun Sie das nicht!" rief jemand hinter ihr in panischer Angst vor dem, was sie doch unmöglich vorhaben konnte, doch Valerie beachtete es nicht. Um umzukehren oder es sich anders zu überlegen, war es ohnehin zu spät. Sie entdeckte den zweiten Entführer etwa zehn Meter von ihr entfernt am anderen Ende des schlauchförmigen Ganges, der durch den Crewbereich mit der Bordküche und den seitlich eingebauten Lagerschränken führte und gerade so breit war, daß ein Servierwagen hindurchpasste. Auch dieser Mann war mit einer Pistole bewaffnet, mit der er einen männlichen Flugbegleiter und die Stewardessen in Schach hielt. Sie alle starrten Valerie an, als sei ihnen soeben ein Gespenst begegnet. Von dem dritten Entführer war nichts zu sehen. Er mußte sich weiter vorne im Cockpit befinden. Zum Glück war die Tür dorthin geschlossen. Gut, dachte Valerie. Das machte die Sache einfach. So hatte sie es nicht mit zwei Gegnern auf einmal zu -44-
tun. Sie sah den Entführer an und schenkte ihm ein scheinbar freundliches Lächeln. "Schöne Grüße von deinem Kumpel", meinte sie in akzentfreiem, bestem Arabisch und im Plauderton. "Er ist momentan gerade etwas verhindert, aber er lässt dir ausrichten, daß bei ihm alles in bester Ordnung ist!" Der Entführer war so verwirrt, daß Valerie ihm gut und gern eine ganze Pistolensalve in den Körper hätte jagen können. Aber daran war ihr nicht gelegen. An unnötigem Blutvergießen war sie nicht interessiert. Sie wollte die Sache lieber so sauber wie möglich erledigen. Wozu war schließlich soviel Geld in ihre Ausbildung gesteckt worden? Sie ließ dem Mann gerade soviel Zeit, bis er anfing zu begreifen, daß irgend etwas absolut nicht in Ordnung war. Er wollte seine Pistole zu ihr herumreißen, doch sie kam der Aktion zuvor. Die scheinbare Freundlichkeit war längst aus ihrem Gesicht verschwunden. Mit einem "Viel Spaß in der Hölle!" warf sie die Handgranate wie beiläufig nach vorne. Sie warf sie nicht einmal besonders weit. Schon nach drei, vier Metern prallte sie zu Boden und rollte auf dem engen Gang holpernd weiter - direkt auf den Entführer zu, der sofort vergessen hatte, was er gerade noch vorgehabt hatte. Entsetzt schrieen der Flugbegleiter und die Stewardessen auf. In dem engen Bereich gab es keinen Platz, wo man sich vor der Explosion hätte in Sicherheit bringen können. Nur der Entführer schrie nicht. Er stand wie erstarrt da, unfähig sic h zu bewegen, den Blick seiner weit aufgerissenen Augen auf den kleinen eiförmigen Körper geheftet, der unmittelbar vor seinen Schuhspitzen zum Halten gekommen war. -45-
Ein, zwei, drei Sekunden vergingen. Die Explosion jedoch blieb aus. Erst als der Mann verwirrt bemerkte, daß der Sicherungsstift sich noch immer an der Granate befand, begriff er plötzlich auch, warum! Doch da war es für ihn abermals zu spät. Valerie hatte die Distanz zwischen ihnen mit ein paar leichtfüßigen Schritten überwunden, wirbelte kurz vor dem Mann halb um die eigene Achse und rammte ihm dann die Ferse unter das Kinn - so stark, daß sie ihm fast den Kiefer brach und sein Kopf nach hinten geschleudert wurde, wo er hart gegen einen der Schränke krachte. Sofort verdrehte er die Augen, bis nur noch das Weiße darin zu sehen war. Haltlos wie ein Sandsack plumpste er zu Boden. Valerie machte sich gar nicht erst die Mühe, ihn aufzufangen. Das Geschrei der Crew war viel lauter als sein Aufprall gewesen. Entweder hatte man es im Cockpit vernommen oder nicht. Sobald sie die Tür dazu öffnete, würde sie es wissen. Schon jetzt behielt sie diese vorsorglich im Auge, für den Fall, daß der dritte Entführer daraus hervorkam, um hier nach dem Rechten zu sehen. Sie schenkte dem Flugbegleiter einen kurzen Blick und deutete mit dem Daumen zum Cockpit. "Ist der dritte da?" Der Mann nickte stumm. Um zu sprechen, schien ihm noch die Körperkontrolle zu fehlen. Erst die Entführung, dann die Sache mit der Handgranate. Gerade hatte er noch geglaubt, sein letztes Stündlein hätte geschlagen und nun... Valerie griff nach der Waffe des zweiten Entführers eine ebenso großkalibrige Pistole - und warf sie dem Flugbegleiter zu. "Hier, nehmen Sie die und sorgen Sie damit in der Economy-Class für Ruhe!" -46-
Er hatte Mühe, die Waffe mit seinen zittrigen Fingern aufzufangen und starrte Valerie mit weit aufgerissenen Augen an. "War'n Scherz", beruhigte ihn sie und wandte sich der Cockpittür zu. "Warten Sie!" rief eine der Stewardessen. "Wer um Gottes willen sind Sie?" Valerie bedachte die junge Frau mit einem abschätzigen Blick. Für dumme Fragen zur falschen Zeit hatte sie noch nie sehr viel übrig gehabt. "Die gute Fee, wer sonst?" Dann gab sie der Crew mit einem Handzeichen zu verstehen, nun zu schweigen. Einen kurzen Augenblick vergegenwärtigte sie sich, wie das Cockpit in diesem Maschinentyp beschaffen war und welche Möglichkeiten es für den letzten Entführer gab, es zu beherrschen. Dann riss sie die Tür mit einem Ruck auf. Diese erste Sekunde, die sie brauchte, um sich zu orientieren, war die gefährlichste. Und Valerie vertrödelte sie nicht damit, im Durchgang stehen zu bleiben, sondern sie sprang gleich ins Cockpit hinein. Wenn sie schon ein Ziel bildete, wollte sie wenigstens ein schnell bewegliches sein. Sie hatte Glück. Der dritte Entführer, der im Sitz des Bordingenieurs schräg hinter dem Piloten Platz genommen hatte und diesem seine Pistole an den Kopf hielt, hatte von dem Geschrei im Crewbereich offenbar nichts mitbekommen. Als Valerie ins Cockpit sprang, war er vollkommen überrascht. Aber er reagierte schnell, fast schon zu schnell. Er machte Valerie sofort als gefährlichen Gegner aus und schien zu allem entschlossen. Blitzschnell riss er seine Waffe herum, bis sie auf Valeries Kopf deutete und sein Zeigefinger krümmte sich. -47-
Valeries rechter Fuß zuckte vor. Sie schaffte es nicht mehr zu verhindern, daß er abdrückte - dafür kam sie eine Millisekunde zu spät -, aber sie schaffte es, die Hand des Entführers zu treffen, so daß der Schuss über sie hinwegging und irgendwo hinter ihr einschlug. Der Tritt hatte ihm die Waffe halb aus den Fingern geprellt und durch den Rückstoß des Schusses flog sie ihm endgültig aus der Hand. Der Mann bewies seine Fähigkeiten abermals, in dem er erst gar keinen Versuch machte, nach der herabfallenden Waffe zu fingern, sondern sofort aus dem Sitz schnellte, um sich auf die Israelin zu stürzen. Keine Frage, das war jemand, der im Gegensatz zu seinen Kollegen im Kampf geschult war. Wie ein Stier, der sie auf die Hörner nehmen wollte, schnellte er mit gesenktem Kopf voran, rammte ihn ihr in den Magen und warf sie grob gegen die Instrumententafel. Schmerzhaft bohrten sich die vorstehenden Schalter und kleinen Hebel in ihren Rücken. Valerie verlor die MP aus der Hand, die Luft aus den Lungen und für den Bruchteil einer Sekunde auch die Übersicht. Als sie diese wieder hatte, sah sie die kräftige Faust des Mannes auf ihr Gesicht zuschnellen. Sie wollte wegtauchen. Zu spät. Der Schlag erwischte sie voll, warf sie halb herum und ließ rote Schleier vor ihren Augen tanzen. Sie konnte mehr ahnen, als wissen, was er als nächstes tat, aber ihre Ahnung erwies sich als richtig. Während er versuchte, ihr mit ausgestreckten Händen an den Hals zu gehen, erwischte ihn ihr Tritt zwischen den Beinen. Mit einem Schrei krümmte er sich zusammen und sie nutzte die Chance, indem sie sich nach unten abrollte und ihm mit einem geübten Tritt die Füße wegschlug. Er landete mit den Knien auf dem Boden und der Stirn auf dem Instrumentenpult, das Valerie gerade noch im Rücken -48-
gehabt hatte. Ein Ächzen löste sich aus seinem Mund und Blut schoss aus einer Platzwunde an der Stirn, während er herumzuckte, um sich abermals der Israelin zuzuwenden, die hinter ihm wieder auf die Beine gekommen war. Seinen nächsten Schlag sah sie diesmal rechtzeitig kommen und tauchte unter ihm hinweg. Dann landete ihre Handkante an seiner Schläfe und ließ ihn taumeln. Es war der Anfang vom Ende. Wieder ein kräftiger Schwinger. Wieder daneben. Valeries Knie landete in seiner Magengrube. Ächzend krümmte er sich. Er wollte sie packen, aber sie wechselte so schnell den Standort, daß seine Arme ins Leere griffen. Dafür erwischte ihn ein Tritt am Kinn, der ihn fast ins Reich der Träume schickte. Mit letzter Kraft hielt er sich noch einen Moment aufrecht, ehe ihm die Knie weich wurden. Valerie packte ihm am Kragen, verhinderte, daß er stürzen konnte und zog ihn an sich heran, bis sich ihr feuriger Blick direkt in seine nur noch halbklaren Augen bohrte. "Pass mal auf!" zischte sie. " Ich weiß zwar nicht, wohin ihr wolltet..." Sie wartete kurz, bis sie sicher war, daß sich der Sinn ihrer Worte in sein Gehirn vorgearbeitet hatte. "Aber dafür weiß ich um so genauer, wo ich hin will. Und zwar nirgendwo anders als dorthin, wohin ich auch bezahlt habe!" Sie wusste nicht recht, ob er ihr folgen konnte, aber es war ihr auch egal. Diese Worte waren ihr einfach ein inneres Bedürfnis. "Falls du es noch nicht weißt", fuhr sie fort, "der Kunde ist König und der Kunde bin in diesem Fall ich. Also, wenn ihr wieder mal ein Flugzeug entführen wollt - ich denke, frühestens so in zwanzig Jahren, wenn ihr aus dem Knast kommt-, dann vergewissert euch erst, daß ich nicht an Bord bin. Ich kenne -49-
nämlich meine Rechte als Kunde. Verstanden?" Aus dem Mund des Entführers löste sich ein ersticktes Gurgeln. Valerie beschloss, es als Zustimmung zuwerten, nickte zufrieden und schickte den Mann mit einem weiteren Handkantenschlag endgültig ins Reich der Träume. Schlaff fiel er zu Boden. Pilot und Co-Pilot hatten die Szene fassungslos mirverfolgt. Nun, da sie begriffen, daß die Entführung beendet war, kam auf einen Schlag wieder Leben in sie. "Der Schuss", rief der Pilot besorgt. "Sieh nach, wo die Kugel eingeschlagen ist!" "Keine Bange", beruhigte ihn sein Kollege. "Keine ernsthaften Beschädigungen. " Nun atmete auch Valerie erleichtert auf und die Spannung fiel von ihr ab. Sie sah sich im Cockpit um und hob die Schultern. Fast blickte sie etwas verloren drein. "Tja, wenn ich sonst noch bei irgend etwas behilflich sein kann - Routen berechnen, Tankinhalt prüfen... Ich meine, wo ich schon mal hier bin." Pilot und Co-Pilot tauschten einen Blick wie die Stewardessen Augenblicke zuvor. Langsam wagten sich diese ins Cockpit vor. Erleichterung machte sich breit. "Sie... Sie haben es tatsächlich geschafft", meinte der Flugbegleiter atemlos und wischte sich mit der Hand den Angstschweiß von der Stirn. Noch immer hielt er die Pistole des zweiten Entführers darin. "Wir sind gerettet." "Ja", stimmte Valerie ihm kühl zu, "und wenn Sie aufhören, mit der Waffe umherzufuchteln, haben wir eine reelle Chance, daß es auch so bleibt." Erschrocken sah er auf die Pistole, die er gar nicht mehr wahrgenommen zu haben schien und legte sie schnell irgendwo ab. "Ich würde empfehlen, nicht zu lange zu warten, um die -50-
Entführer zu fesseln und bis zur Landung sicher zu verwahren", riet Valerie. Musste sie eigentlich alles erklären? "Ewig werden sie sicherlich nicht bewusstlos bleiben. " Man kam ihrer Anweisung nach und die Passagiere der Business-Class wurden informiert, daß der Zwischenfall beendet wäre. Man kam überein, den übrigen Fluggäste gar nicht erst mitzuteilen, was genau geschehen war, um sie nicht unnötig zu beunruhigen. Sie würden nach ihrer Rückkehr noch früh genug spätestens in den Machrichten - erfahren, in welcher Gefahr sie geschwebt hatten. "Wer um alles in der Welt sind Sie?" stürmte man auf Valerie ein, die sich noch immer vorne im Crewbereich aufhielt. "Ja, erzählen Sie! Ohne Sie wären wir verloren gewesen. " "Genau! Nur Ihnen haben wir unser Leben zu verdanken. " "Halb so dramatisch." Sie hob abwehrend die Hände, als sei ihr der ganze Zirkus mehr als unangenehm. "Und was die Frage betrifft, wer ich bin... Wie ich es gesagt habe - ganz einfach nur ein Passagier, der dort ankommen möchte, wohin er gebucht hat. Und der es wenig liebt, wenn er irgendwelche Umwege in Kauf nehmen muss." Ihre Erklärung stieß auf Ratlosigkeit. Ihr war es egal. "Ach ja", fügte sie hinzu. "Und tun Sie mir einen Gefallen. Wenn Sie den Zwischenfall melden, erwähnen Sie meinen Beitrag bitte nicht übermäßig." "Wie bitte?" rief der Pilot. "Und was sollen wir bitteschön sagen, wie die Entführung beendet wurde?" "Hm, sagen Sie meinetwegen, die Entführer seien über ihre eigenen Füße gestolpert und hätten sich dabei versehentlich selbst ausgeschaltet." Der Pilot starrte Valerie ungläubig an. "Das ist nicht Ihr Ernst..." "Oder erzählen Sie irgend etwas anderes. Hauptsache, , ich -51-
spiele dabei keine große Rolle." "Wieso? Haben Sie etwas zu verbergen? " "Nein. Wissen Sie, es ist einfach nur so, daß ich wenig Lust auf den ganzen Bü rokram habe, der daraus folgt. Ich habe gern geholfen, aber dabei sollte es auch bleiben. Das allerletzte, was ich will, ist, von der Presse als große Retterin gefeiert zu werden. " Das erschien verständlich. Man versprach, ihren Wünschen Rücksicht zu zollen. "Das einzige, was ich jetzt noch will", fügte Valerie hinzu, "ist was ganz anderes." "Und das wäre?" Sie ließ die Schultern hängen und erlaubte es ihrer Erschöpfung, sich in aller Stärke auf ihrem Gesicht zu zeigen. "Schlafen", meinte sie sehnsüchtig. "Einfach nur schlafen." Sie deutete in den Crewbereich. "Sind das da drüben eigentlich die Schlafsessel, die für die Crew bestimmt sind? Ich meine..." Sie wagte kaum, es laut auszusprechen. "Wo man sich hinlegen kann, ohne daß jemand der Passagiere herkommt und stört?" "Ja, warum fragen Sie?" In Valeries Miene erschien ein wenig Zuversicht. "Und könnte es wohl möglich sein, einen davon für den Rest der Reise zu benutzen? " Wer hätte ihr diese Bitte abschlagen können? Kurz darauf war Valerie zurück bei Barnington. Sie hatte Mühe, die Glückwünsche der übrigen Business-Class-Besucher abzuwehren und sich auf ihn zu konzentrieren. "Also..." Der junge Engländer schüttelte ungläubig den Kopf. "Wenn ich das gerade nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte..." "Was dann? " Er ließ sich durch ihre gespielte Naivität nicht beeindrucken. -52-
Schließlich hatte er gerade erlebt, zu was sie fähig war. "Sag mal, sieht eigentlich jeder Tag bei dir so aus?" "Nicht jeder", erwiderte sie leichthin, während sie ihre Reisetasche aus dem Gepäckfach hervorkramte. "Ab und an passiert auch mal was richtig Aufregendes." Erstaunt sah er, daß sie ihre Tasche nahm und wieder gehen wollte. "Wo willst du hin?" "Tut mit leid, Geoffrey. Wie du dir vorstellen kannst, ist nach so einer Entführung noch viel Papierkram zu erledigen. Die ganze Koordination mit den Behörden und so weiter. Ich muß nach vorne. Warte bitte nicht auf mich, sondern entspann dich einfach. Am besten, du versuchst, ein wenig zu schlafen." Und genau das werde ich gleich auch tun, klang es verheißungsvoll in ihren Gedanken. Sie hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei, Geoffrey etwas vorzuflunkern. "Schafen?" rief er entsetzt. "Jetzt? Nach so einer Entführung? Wie sollte ich da schlafen können?" Mund zu, Augen zu, Kopf zu! lagen Valerie drei gute Ratschläge auf der Zunge. Sie behielt sie dort. Statt dessen zwinkerte sie Barnington aufmunternd zu. "Beruhige dich! Das war doch nun schon deine zweite Entführung binnen weniger Tage. Ich meine... gewöhnst du dich nicht langsam ein wenig daran? " Er starrte sie nur an. Sie nutzte es als Chance, ihn alleine zu lassen und ging nach vorne in den Crewbereich. Fast glücklich sah sie sich um. "Welchen der Sitze, sagten Sie, kann ich benutzen, um in Ruhe zu schlafen? " Aus Valeries Wunsch, bis London durchzuschlafen, wurde nichts. Zweimal war sie dicht davor einzuschlafen, als der Jet plötzlich in ein Luftloch sackte. Es reichte aus, sie von einem Moment auf den anderen hellwach werden zu lassen und -53-
entsprechend lange dauerte es, ehe sich ihr Pulsschlag wieder beruhigte. Dann purzelte einer der Stewardessen ein Besteckteil aus der Hand, kaum daß Valerie ein paar Minuten geschlafen hatte und das helle Klirren riss sie wieder hoch. Ein weiteres Mal war es der Flugbegleiter, der sie vorsichtig weckte und meldete, daß alle anderen Passagiere nun ihr Abendessen bekamen. Ob sie auch etwas haben wollte? Valerie blickte ihn nur kurz aus schlafverquollenen Augen an, bedankte sich mit einem unwirschen Grummeln für die Störung, drehte sich zu anderen Seite und hoffte, daß er ihre Antwort verstanden hatte. Offenbar ja, denn er störte sie nicht weiter. Letztendlich waren es immerhin zwei Stunden Halbschlaf, die sie bekam, ehe der Jet in London-Heathrow zur Landung ansetzte. Es reichte aus, um sie sich zumindest ein wenig erholter fühlen zu lassen. Dafür wurde dieses kleine Hochgefühl durch die bohrenden Kopfschmerzen, die ihr die Faustschläge des dritten Entführers beschert hatten, mehr als ausgeglichen. Aber Valerie hatte schon weitaus Schlimmeres durchgestanden. Also würde sie auch dieses bohrende Stechen und Pochen in ihren Schläfen überstehen. Hauptsache, es marterten sie in nächster Zeit keine allzu lauten Geräusche! Langsam begab sie sich zum Ausstieg, durch den auch die anderen Passagiere der Business-Class strömten. Der Pilot hatte sich bei ihr nach der Landung nicht nur im Namen der gesamten Crew bedankt, sondern ihr auch ausgerichtet, daß sie erst den Sicherheitsbehörden Rede und Antwort stehen mußte, ehe sie das Flughafengebäude verlassen durfte. Valerie hatte nichts anderes erwartet. Die gescheiterten Entführer waren vor dem Ausstieg der Passagiere schon durch spezielle Sicherheitskräfte des Flughafens von Bord gebracht worden - ohne daß die anderen Passagiere davon etwas mitbekommen hatten. Die meisten wussten noch nicht einmal, in welcher Gefahr sie sich zwischendurch befunden hatten. Das einzige, was sie überraschte, war, daß sie die Maschine über eine Gangway ins -54-
Freie verlassen mussten, statt über die üblichen andockbaren Verbindungsschläuche direkt ins Flughafengebäude zu gelangen. Der Jet war in eine an-: dere Landeposition dirigiert worden, um die Entführer problemlos abtransportieren zu können. "Valerie!" erscholl da eine laute Stimme. Sie verzog schmerzhaft das Gesicht. Sie hatte gewusst, daß es zu der Begegnung kommen würde, nur hatte sie gehofft, sie würde etwas weniger lautstark vonstatten ge hen. "Hier! Hier!" klang es aufgeregt an ihre Ohren. "Hier bin ich!" Wie hätte sie das überhören können! Beherrscht wandte sie den Kopf und sah jemanden aufgeregt winken. "Geoffrey!" Sie tat überrascht. "Da bist du ja!" "Ja, bin ich", meinte er atemlos. "Ich hatte schon befürchtet, dich zu verpassen. Ich meine, wer weiß, was die da vorne mit dir anstellen! " "Die da vorne?" Bitte nicht so komplizierte Denkaufgaben so kurz nach dem Aufwachen! "Äh, was sollten sie denn? " "Na, du weißt schon... die tausend Fragen, mit denen man dich gelöchert hat. Die Befragung schien ja äußerst langwierig gewesen zu sein. " Befragung? Dann erinnerte Valerie sich daran, was sie ihm erzählt hatte. Er hatte ihr das offenbar tatsächlich abgenommen! Sie beschloss, ihn in diesem Glauben zu belassen. "Ach ja, die Befragung... Das war wirklich ziemlich verzwickt. Fragen über Fragen. Sei froh, daß du nicht dabei gewesen bist!" Sie traten auf die Gangway hinaus und begannen im Strom der übrigen Passagiere die Treppe hinunterzusteigen. Die ebenso kühle wie feuchte englische Abendluft, die sie empfing, ließ -55-
Valerie frösteln. Mit ihrer Jeans und dem ärmelfreien T-Shirt war sie nicht gerade dem Wetter entsprechend gekleidet. Wärmer als fünfzehn Grad war es nicht mehr und feiner nebliger Dunst lag in der Luft. Und so etwas nennt sich in diesen Breiten nun Spätsommer! überlegte Valerie. Die Franzosen hatten irgendwie schon recht, wenn sie über die Briten sagten, daß deren Sommer nichts anderes seien als grün angestrichene Winter. "Du Arme!" zeigte Geoffrey sein Mitleid. "So etwas habe ich mir schon gedacht. Da rettest du uns allen das Leben und das ist dann der Dank. Ich habe vor Sorge kein Auge zubekommen und die ganze Zeit nur darauf gewartet, daß du zurückkommst. Aber auf meine Nachfragen hat man mir nur gesagt, daß du zu beschäftigt wärst." "Glaub mir, das war ich auch. " Zum Glück ließ er es dabei bewenden - zumindest was dieses Thema anging. Valerie glaubte schon, damit einen Moment Ruhe zu haben, doch er hatte sofort ein neues gefunden. "Was ist nur mit deiner Unterlippe geschehen? " "Meiner... was?" "Ja, hier, sieh nur." Er streckte während des Treppensteigens die Finger aus. "Das ist ja total geschwollen. " "Au!" Valerie verzog schmerzhaft das Gesicht, als seine Finger darauf tippten und wich ein Stück zurück. Vorsichtig tastete sie über ihre Lippen. Die rechte Seite war geschwollen und ein kleiner Riss bereits verschorft. Ein Andenken des dritten Entführers. Er war wirklich nicht schlecht gewesen - zumindest ein paar Momente lang. "Sind das die Entführer gewesen? " "Ja. Stell dir vor, einer von ihnen hat sich doch tatsächlich erdreistet, Gegenwehr zu leisten. " -56-
"Und erst da..." Er streckte seine Finger nach ihrem Auge aus. "Da hast du ein richtig tiefblaues Veilchen. " "He!" rief Valerie genervt und wich abermals einen Schritt zurück. Womöglich kam er noch auf die Idee, ihr aus Versehen ins Auge zu stechen. "Finger weg! Kein Grund, auch noch daran herumzudrücken. " Er streckte seine Hand nur noch weiter aus. "Aber ich will doch nur..." "Nein! Lass mich in Ru..." Weiter kam sie nicht. Ihr erneuter kurzer Ausfallschritt ließ sie die nächste Stufe der Treppe nicht ganz genau erwischen. Der feuchte Nebel hatte die Treppe rutschig gemacht und so glitt ihre Sohle ab. Valerie verlor das Gleichgewicht. Ihr Versuch, sich am Geländer festzuhalten, misslang.Ehe sie sich's versah, purzelte sie haltlos die Treppenstufen hinab und stürzte in die Tiefe. Sie hatte dabei in zweierlei Hinsicht Glück. Zum einen hatten Barnington und sie schon die Hälfte der Treppe hinter sich gebracht und zum anderen waren sie während ihres Wortwechsels so langsam geworden, daß die meisten anderen Passagiere vor ihnen die Treppe bereits verlassen hatte. Einzig eine etwas dickere Frau mühte sich noch mit ihrer Reisetasche die Stufen hinunter. Ein anderer an Valeries Stelle hätte sich bei dem Sturz vermutlich ein halbes Dutzend Knochen gebrochen. Doch ihre Reflexe waren so gut, daß sie den Sturz einigermaßen unter Kontrolle hielt, selbst wenn sie sich dabei mehrfach überschlug. Sie schaffte es sogar noch geistesgegenwärtig, der dicken Frau und deren Tasche auszuweichen, um sie nicht mit sich in die Tiefe zu reißen. Erstaunt wandte die Frau den Kopf, als Valerie so unvermittelt dicht an ihr vorbei purzelte. Kurz darauf landete die Israelin auf dem Betonboden ziemlich hart, mit dem Gesicht voran und genau in einer der -57-
wenigen Pfützen, die sich dort befanden. Ein, zwei Sekunden blieb sie regungslos liegen und die Gefühle in ihr lieferten sich einen Wettstreit: Benommenheit, Fassungslosigkeit, Ärger - über sich selbst und ihre Ungeschicklichkeit, vor allem aber über... Sie schob den Gedanken daran zurück und tastete prüfend über ihre Nase. Diese war zwar lädiert, aber immerhin nicht gebrochen. Und ähnlich sah es mit ihrem restlichen Körper aus. Sie hatte fast überall schmerzlich Bekanntschaft mit den metallenen Kanten der Stufen und des Geländers gemacht. Irgendwie hatte sie das Gefühl, im falschen Film zu sein. "Valerie! Valerie!" Geoffrey Barningtons aufgeregte Stimme drang an ihre Ohren und ließ ihren Kopf wie eine Glocke dröhnen. "O Gott! Ist dir etwas passiert?" Valerie spürte sofort wieder ihren Arger. Was hatte sie in den letzten Tagen nicht alles überstanden? Frankfurter Diebesbanden, thailändische Straßenräuber, burmesische Dschungelkämpfer, arabische Flugzeugentführer - sie alle hatten ihr nichts anzuhaben vermocht. Was ihnen nicht gelungen war, Barnington schaffte es wie nebenher. Wenn er so weitermachte, war sie in ein paar Tagen entweder tot oder aber reif für ein Sanatorium. Er hatte sie erreicht und beugte sich besorgt zu ihr herab. "Was ist los mit dir? Warum sagst du nichts?" Valerie schluckte ihren Ärger herunter. Ächzend stemmte sie sich aus der Pfütze hoch. "Was soll schon sein?" meinte sie wenig begeistert und wischte sich den Dreck vom Mund. "Ich hab' nur 'ne Runde Turbo-Papst gespielt! Mach' ich immer so, wenn ich irgendwo ankomme." Er starrte sie verunsichert an, mit einer ratlosen Furche zwischen den Augenbrauen. Valerie war nicht in der Stimmung, ihn aufzuklären. Sie kam -58-
vollends in die Höhe. "Warte, ich helfe dir!" "Nein!" rief sie entsetzt und wehrte seine Hände ab, die nach ihr greifen wollten. Alles, nur nicht das! Dabei rutschte sie auf den nassen Boden erneut aus, verlor fast das Gleichgewicht und konnte gerade noch verhindern, daß sie mit dem Hosenboden erneut in der Pfütze landete. Barnington zuckte unter Valeries vorwurfsvollem Blick zusammen und schien um ein paar Zentimeter zu schrumpfen. "Es war doch nur gut gemeint", murmelte er schuldbewusst. Valerie kniff die Lippen zusammen und erinnerte sich an ein überaus zutreffendes Sprichwort: Das Gegenteil von "gut" ist "gut gemeint"! Nur offenbar hatte Barnington davon noch nie etwas gehört. Ein paar andere Passagiere, darunter auch die dicke Frau von der Gangway, kamen herbei und erkundigten sich, ob alles in Ordnung wäre. Valerie beruhigte sie. Kaum waren sie weitergegangen, blickte sie unglücklich an sich herab. Von wegen alles in Ordnung! Sie hätte glatt bei einer Miss Wet T-Shirt-Wahl mitmachen können. Überdeutlich zeichneten sich ihre festen, nicht allzu üppigen Brüste unter dem nassen Stoff ab und die kalten Abendtemperaturen ließen ihre Brustwarzen hervortreten. Gerade das schien Barnington auch gerade zu bemerken, wie seine größer werdenden Augen bewiesen. Valerie verzog die Mundwinkel. Klar! Wegen ihm brach sie sich fast den Hals, landete im Dreck und er durfte auch noch seinen Spaß daran haben. Manchmal konnte das Leben wirklich ungerecht sein. Um ihm den Spaß ein wenig zu nehmen und weil sie auf die Schnelle nichts Besseres für ihre schmutzigen Finger fand, wischte sie sich diese an dem feuchten Stoff ab. "Los!" meinte sie. "Wir müssen ins Gebäude. Auf uns wartet -59-
noch Papierkram." Sie lief ein paar Meter in die betreffende Richtung, als sie sich besann, daß ihre kleine Reisetasche, die sie beim Sturz verloren hatte, noch irgendwo hier sein musste. Auf dem Absatz machte sie kehrt, entdeckte die Tasche ein paar Meter weiter und kam ins Taumeln, als sie sich danach bückte. Vor ihren Augen tanzte einen Moment lang ein grauer Schleier, ehe sie sich wieder gefangen hatte. Ihr Kreislauf meldete langsam, aber sicher seine Proteste an. "Soll ich dich nicht doch besser stützen?" bot Barnington an. "Nein!" Abermals sah sie ihn scharf an und ihre erhobenen Augenbrauen warnten ihn. "Ganz bestimmt nicht! Glaub' mir, das ist ganz und gar nicht nötig. " Kleinlaut folgte er ihr. Am Eingang zum Flughafengebäude nahm sie ein Sicherheitsbeamter in Empfang. "Ich soll Sie für Ihre Aussage in unser Büro führen. " Valerie nickte. "Tun sie das." Er bedachte ihr ramponiertes Äußeres und ihre verschmutzte Kleidung mit einem mitfühlenden Blick. "Waren das die Entführer?" "Zum Teil. Das meiste aber..." Sie hielt inne, als sie Barningtons flehenden Blick bemerkte. Sie seufzte. "Sie sagen es - die Entführer!" Damit folgten sie dem Beamten ins Gebäudeinnere, wo er sie zu den Sicherheitsbüros führte. Keiner von ihnen bemerkte die knochige, recht resolut aussehende englische Lady, die unauffällig unweit des Einganges stand. Mit ihrem grauen Mantel und so verloren, wie sie dastand, wirkte sie wie eine zufällige Besucherin - eine hilflose ältere Dame, die nicht so recht wusste, wo sie hin sollte. Dennoch hatte sie Geoffrey Barnington und Valerie Gideon keine Sekunde lang aus den Augen gelassen und sie sorgfältig -60-
beobachtet, seitdem sie aus dem Flugzeug gesüegen waren. Kaum waren sie im Sicherheitsbereich verschwunden, hob sie ein Handy an ihr Ohr. Die Verbindung zu ihrem Gesprächspartner mußte sie erst gar nicht herstellen, er war die ganze Zeit in der Leitung gewesen. "Hören Sie", sagte die alte Dame leise. "Ich bin mir jetzt ganz sicher." "Kein Zweifel möglich? " "Nein. Die Zielperson ist in London eingetroffen. Ganz, wie unser Mittelsmann in Bangkok es avisiert hat." "Natürlich", antwortete die männliche beherrschte Stimme am anderen Ende der Leitung. "Wir können uns auf unsere Leute verlassen, wo auch immer in der Welt sie sitzen. " "Ich weiß", erwiderte die ältere Lady schnell und überlegte, ob sie irgendwelche Zweifel daran hatte anklingen lassen. Das war ganz und gar nicht ihre Absicht gewesen. Diesbezügliche Zweifel konnten schnell unangenehme Folgen nach sich ziehen. "Ich, äh..." "Sie hätten uns sonst erst gar nicht verständigt", sprach der Mann am anderen Ende weiter. "Es ist erstaunlich, daß uns der Fisch nach so vielen Jahren ausgerechnet jetzt an die Angel geht." Die Lady straffte sich. "Wie lauten Ihre Anweisungen? " "Es bleibt bei dem, was wir besprochen haben. Bleiben Sie an der Zielperson dran. " "Verstanden. " "Und sorgen Sie für eine Markierung. Unsere Leute werden dann ab Glasgow den Rest besorgen. " "Aber..." Die Lady stockte. "Die Zielperson ist nicht alleine, sondern in Begleitung. " -61-
"Darauf können wir keine Rücksicht nehmen", lautete die harte Antwort. "Es bleibt alles wie besprochen. Oder haben Sie etwa plötzlich Probleme damit?" Die alte Dame erschauderte. "Ich? Nein. Natürlich nicht", beeilte sie sich zu versichern. "Gut. Dann erledigen Sie Ihren Job und melden Sie sich wieder mit der Vollzugsmeldung! " "Sie können sich voll und ganz auf mich verlassen", bestätigte die Lady. Doch da hatte der Gesprächspartner am anderen Ende bereits aufgelegt.
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3. Kapitel Heimkehr Die Befragung durch die Flughafenbehörden dauerte nicht übermäßig lange. Schließlich waren sie beide in den nächsten Tagen jederzeit auf Oake Dun erreichbar. Valerie hatte sogar Gelegenheit gehabt, sich den Dreck abzuwaschen und ihr nasses T-Shirt gegen ein trockenes aus ihrer Reisetasche zu tauschen. Trotz der unkomplizierten Abwicklung hätten sie den Anschlußflug nach Glasgow nicht bekommen, wenn er nicht extra für sie eine Viertelstunde zurückgehalten worden wäre. Das war einer der Vorzüge, wenn man soeben eine Flugzeugentführung verhindert hatte. In der Maschine waren die Sitze in zwei Dreierreihen angeordnet. So kam es, daß neben Barnington und Valerie noch eine dürre, recht resolut aussehende englische Lady saß, die Barnington immer wieder mit kaum verhohlenem Abscheu musterte. Es verunsicherte ihn sichtlich, aber er ging nicht näher darauf ein, sondern versuchte, es zu ignorieren. Auch Valerie wunderte sich ein wenig über das seltsame Gebaren, hatte aber keine Lust sich weiter darum zu kümmern. Der Start erforderte wieder einmal Geoffrey Barningtons gesamten Mut. Erneut klammerte er sich mit kreidebleichem Gesicht an den Lehnen fest. Dann war es endlich geschafft. Erleichtert löste er die Gurte. Das war der Moment, in dem die Lady nicht länger an sich halten konnte. "Sagen Sie!" rie f sie. "Schämen Sie sich eigentlich gar nicht?" Sie hatte ihre Stimme so laut erhoben, daß die nächstgelegenen Sitzreihen zwangsläufig mithörten - ob sie nun wollten oder nicht. Geoffrey blickte sich verwundert um, konnte aber niemanden -63-
außer sich selbst entdecken, dem die so offene kundig feindseligen Blicke der Frau galten. "Ja, Sie! Sie meine ich!" fauchte sie. "Sie haben mich schon ganz recht verstanden. Tun Sie nicht so unschuldig!" "Ich?" machte Geoffrey hilflos. "Aber was...?" "Na, das ist ja wohl offensichtlich! Oder glauben Sie etwa, ich hätte keine Augen im Kopf? Oder ich könne nicht mehr so gut sehen, nur weil ich vielleicht etwas älter bin als Ihre Freundin?" Sie deutete mit dem Kopf kurz auf Valerie. "Meine... was?" Er stocherte mit dem Zeigefinger korrigierend in der Luft herum. "Aber das ist doch gar nicht..." ' "Versuchen Sie nicht, sich herausreden zu wollen! Mir können Sie nichts vormachen. " Geoffrey Barnington warf einen hilfesuchenden Blick zu Valerie, die aus den Worten der Frau ebenfalls noch nicht klug geworden war. Da sich deren Zorn aber nicht gegen sie richtete, hielt sie sich einstweilen interessiert zurück. Offenbar schien die Frau sie beide für ein Pärchen zu halten. Valerie überlegte, ob sie sich beleidigt oder belustigt fühlen sollte. Sie entschied sich für letzteres. "Und versuchen Sie nicht, Ihre Freundin irgendwie zu beeinflussen! Denken Sie, ich hätte Ihren Blick gerade nicht bemerkt? Das hat jetzt ein Ende!" Barnington sah mehr als unglücklich drein. Er versuchte es diplomatisch. "Wie kommen Sie überhaupt darauf, daß sie meine Freundin ist?" Die dürre Lady schnaufte abfällig. "Na, das ist ja wohl offensichtlich! Wenn Sie verheiratet wären, würden Sie beide ja einen Ehering tragen!" Valerie unterdrückte ein Schmunzeln. Gegen diese Art der Logik ließ sich nichts sagen. Es war das, was man landläufig -64-
"weibliche Logik" nannte. Sie war froh, davon schon immer weitestgehend frei gewesen zu sein. "Ich bitte Sie!" versuchte Barnington aufzuklären. "Das ist gar nicht meine Freundin." Er hielt kurz inne. "Ich meine, irgendwie schon, aber..." "Das sieht Männern Ihres Schlages ähnlich. Verprügeln können Sie sie, aber sich in der Öffentlichkeit zu ihr zu bekennen, das bringen Sie nicht zustande. Oh, wie mir Kerle wie Sie zuwider sind!" "Verprü... was?" rief Barnington entsetzt. Valerie horchte auf. Langsam wurde ihr klar, worauf die Frau hinauswollte. "Wollen Sie es etwa abstreiten?" rief die Frau anklagend und sah sich beifallsheischend um. Überall wurde zustimmend genickt. "Sie sollten sich ihre Freundin nur mal ansehen. Richtig erbärmlich sieht sie aus!" Endlich mal jemand, der das merkt, dachte Valerie. Barnington öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch die Frau ließ ihn gar nicht erst zu Wrort kommen. "Glauben Sie etwa, das sieht keiner, nur weil sich niemand traut, Sie darauf anzusprechen? Aber da sind Sie bei mir genau an die Falsche geraten! " Davon war Barnington mittlerweile ebenfalls überzeugt. "Ich bitte Sie!" Er hob beschwörend die Hände. "Hören Sie - das war doch gar nicht ich!" ' "Ach!" machte die Lady anklagend und ihre strenge Miene stellte klar, daß sie jetzt eine verdammt gute Erklärung erwartete. "Und wer soll es sonst gewesen sein?" "Luftpiraten! " "Wie bitte - Luftpiraten? " "Ja, so war es. Auf unserem vorigen Flug nach London gab es -65-
einen Entführungsversuch und da..." "Luftpiraten!" rief die Frau, als würde dieses eine Wort bereits alles sagen. Sie schüttelte den Kopf und sah bedeutungsschwer in die Runde. "Eine dümmere Ausrede fällt Ihnen wohl nicht ein!" "Aber... es ist die Wahrheit!" "Die Wahrheit! Was verstehen sie denn schon davon? " Von überall her kam zustimmendes Gemurmel. "Nein, es stimmt!" rief er verzweifelt. "Es waren drei Entführer und meine Freundin... ich meine... Valerie hat sich Ihnen entgegengestellt und dabei... dabei..." Er brach ab. "Soso", meinte die Lady süffisant. "Drei Entführer und Ihre Freundin hat sich ihnen todesmutig in den Weg gestellt... Und das allein!" "Ja, genau. So war es." "Natürlich ohne daß Sie Ihr also zu Hilfe gekommen wären? " Barnington stutzte. Das hatte er noch gar nicht erwogen. "Nun ja, äh..." "Ach, hören Sie auf! Sie glauben wohl, Sie könnten uns jeden Bären aufbinden!" "Sie müssen mir glauben. Es stimmt. Wissen Sie, Sie, war früher mal eine Geheimagentin und deshalb..." "Geheimage ntin!" Die Lady schüttelte den Kopf. "Erst Luftpiraten und jetzt Geheimagenten. Das ist ja wohl die Höhe!" Barnington sah hilflos drein. Er schien zu ahnen, daß er alleine nicht mehr aus dieser bösen Falle kam. Er sah hilfesuchend zu Valerie. "Sag doch auc h mal was! Sag ihr, daß ich recht habe!" Valerie reagierte nicht sofort. Sie dachte daran, wie oft sie Barnington in den letzten Stunden ähnlich dringend um etwas -66-
gebeten hatte - zum Beispiel darum, sie schlafen zu lassen oder nicht unbedingt dort zu betasten, wo ihr irgend etwas weh tat. Und was war daraus geworden? Sie spürte es noch überdeutlich in ihren Knochen und ihrer Nase. Die Frau deutete das Zögern falsch. "Hören Sie auf, Ihre Freundin beeinflussen zu wollen! " fauchte sie Barnington an. "Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt." Valerie unterdrückte ihren Unwillen über die nervige Frau und beschloss, Barnington eine kleine Lektion zu erteilen. Sie senkte den Kopf. "Es stimmt schon", gab sie scheinbar kleinlaut zu. "Manchmal schlägt er mich vielleicht ein wenig oft!" Barnington riss vollkommen entsetzt die Augen auf. "Valerie! Wie kannst du so etwas sagen! " Er streckte die Hände nach ihr aus, doch sofort packte ihn die Frau an der Schulter und hielt ihn zurück. Das war nun auch Valerie zuviel. In Hand greiflichkeiten wollte sie Geoffrey nun doch nicht verwickeln. Sie hob sie Hände. "Schon gut, schon gut", rief sie so laut, daß auch die ringsum Sitzenden es hören konnten. "Das war nur ein kleiner Scherz. " Misstrauische Blicke musterten sie. "Wirklich", versicherte sie. "Mein Begleiter hier ist ein herzensguter und lieber Mensch. " Sie stutzte. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Die resolute Lady zog ihre Hände wieder von Barningtons Schulter zurück. "Und wieso ist dann ihr Gesicht so zugerichtet?" Valerie sah die Frau direkt an und zwischen ihren Augenbrauen erschien eine unwillige Falte. -67-
"Es geht Sie zwar nichts an, aber ich will es ihnen trotzdem sagen. Das sind nur die Spuren eines kleinen Sturzes vorhin von der Gangway. Das ist alles. Und wenn Sie uns bitte jetzt in Ruhe lassen würden? " Die alte Dame reagierte pikiert. Ein paar Augenblicke sah es so aus, als wüsste sie nicht, was sie sagen sollte,l dann stieß sie ein unwilliges "Und ob ich das werde!" aus und erhob sich aus dem Sitz. Lautstark verlangte sie bei einer Stewardess einen neuen Sitzplatz. Die Maschine war zum Glück nicht voll besetzt und so gab es keine Probleme, sie woanders unterzubringen. Valerie schüttelte den Kopf. Seltsame Menschen gab es! Auch Geoffrey Barnington wirkte, als sei er gerade einem Gespenst begegnet. "Also wirklich! Ich und dich schlagen. Was für eine seltsame Schachtel." Er stutzte und horchte in sich hinein. "Obwohl..." "Was hast du? " "Hm, jetzt wo ich darüber nachdenke, kommt es so vor, als wäre ich ihr schon einmal begegnet. Nur früher, schon vor Jahren. " "Und an so eine Person erinnerst du dich nicht mehr?" meinte Valerie spöttisch. "So eine Begegnung müsste doch ein Leben lang im Gedächtnis bleiben. " "Nein. Damals war sie nicht so." Er dachte noch einen Moment angestrengt nach, dann schüttelte er den Kopf. "Nein, wahrscheinlich täusche ich mich. " "Wie du meinst." Valerie suchte sich eine bequemere Sitzhaltung. "Und jetzt versuch ein wenig zu schlafen. " Nur wenig später als im Flugplan vorgesehen, landeten Valerie Gideon und Geoffrey Barnington in Glasgow. Nach dem Auschecken ging es durch die Flughafenhalle dem Ausgang entgegen. Draußen auf dem Parkplatz vor dem Eingang entdeckte -68-
Valerie erleichtert einen schwarzen Rover, der Sutherland gehörte. Es war einer der Wagen aus seinem kleinen, aber erlesenen privaten Fuhrpark. Sie lenkte Barnington darauf zu. Neben dem Wagen stand eine Gestalt, die auf den ersten Blick kaum auszumachen war: ein großer hagerer Mann, der nahezu ganz in Schwarz gekleidet war: Schuhe, Hose, Anzug, Krawatte und Hut. Die einzige Ausnahme bildete ein blütenweißes Hemd. Trotz der Dunkelheit, die längst über Glasgow hereingebrochen war, trug er eine Sonnenbrille. Obwohl die Gläser so stark getönt waren, daß ein normaler Mensch kaum hindurchzusehen vermocht hätte, schien es ihn nicht zu stören oder in der Wahrnehmung zu behindern. Stocksteif wie eine Fahnenstange stand er da und wandte erst dann leicht den Kopf, als Valerie und Barnington ihn so gut wie erreicht hatten. Dennoch hatte der Engländer das Gefühl, als hätte der schwarzgekleidete Mann sie bereits die ganze Zeit über gesehen. "Elwood!" rief Valerie erfreut. "Miss Gideon", entgegnete der Angesprochene unver-| bindlich, ohne daß sich in seinem Gesicht - abgesehen vom Mund - auch nur ein einziger anderer Muskel regte. Der Ausdruck seiner Augen blieb hinter der Sonnen- brille verborgen. Dennoch hatte Geoffrey Barnington das Gefühl, daß diese bestimmt ähnlich starr und ausdruckslos waren. Unwillkürlich war er froh, sie nicht sehen zu müssen. Mit einem Mal war sein Arger über Valerie - und darüber, daß sie ihn offensichtlich nicht ernstnahm - vergessen. Er spürte, wie sich seine Nackenhärchen aufrichteten. Dieser Mann erzeugte in ihm ein Gefühl der Beunruhigung - aber auch der Unwirklichkeit. Obwohl er keinerlei Anzeichen von Abneigung, Feindseligkeit oder gar Aggression zeigte, wusste Barnington sofort, daß er jemandem wie ihm nur äußerst ungern allein im Dunkeln begegnet wäre. -69-
Jetzt jedoch war Valerie bei ihm und sie schien dem Mann gegenüber in keinster Weise ähnliche Gefühle zu hegen. Im Gegenteil, sie begrüßte ihn nahezu herzlich. Es war eine Herzlichkeit, auf die Barnington fast eifersüchtig gewesen wäre, wenn ihn die Rätselhaftigkeit des Mannes nicht derart gefangengenommen hätte. "Sie wissen ja ga r nicht, wie sehr ich mich freue, Sie zu sehen!" rief sie. Nach dem Pech der letzten Stunden hatte sie fast damit gerechnet, daß niemand kommen würde, um sie abzuholen. "Sie haben recht", bestätigte Elwood ausdruckslos. "Das tue ich nicht." "Elwood!" meinte sie mit sanftem Vorwurf. "Richtig, das ist mein Name. Damit benennen Sie mich schon zum zweiten Male kurz hintereinander." Er hob eine Augenbraue. "Aber ansonsten vermag ich die inhaltliche Relevanz dieses Einwandes nicht recht zu beurteilen. " "Kommen Sie schon!" Sie machte eine auffordernde Handbewegung. "So schwer kann das doch nicht sein." "Ich darf Ihnen versichern, meine Angaben sind korrekt. Andererseits verstehe ich schon, daß Sie eine bestimmte, imperative Erwartung an diese wiederholte Nennung me ines Namens knüpfen. Nur vermag ich diese nicht nachzuvollziehen. Denn erstens ist es Ihre Freude, mich zu sehen und nicht meine und zweitens bin ich nicht in der Lage, solch ein Gefühl unter den variablen Parametern einer anderen Person nachzuvollziehen. " Valerie seufzte. Sie hatte sich Elwood betreffend wohl ein wenig zu viele Hoffnungen gemacht. Dieser hielt inne und schien einen Augenblick lang in sich hineinzulauschen. Dann nickte er. "Ich denke, nach einer erneuten Analyse verstehe ich. Es -70-
handelt sich hierbei offenbar um ein Angebot zum Austausch beiderseitiger, formaler Höflichkeitsphrasen mit dem Zweck, nach einer Phase der vorübergehenden räumlichen Trennung eine gegenseitige Versicherung der Verbundenheit zu demonstrieren. " "Na also", meinte Valerie zufrieden. "Es geht doch. " "Ja", bestätigte Elwood. "Und ich versichere Ihnen, daß ich mich sicher ebenso freuen würde, Sie wiederzusehen vorausgesetzt, ich wäre in der Lage, so etwas wie Gefühle zu empfinden. " Valerie lächelte. Ein kleiner Triumph ze ichnete sich in ihren eisgrauen Augen ab. Der Triumph erstarb, als Elwood fortfuhr. "Aber leider bin ich dazu nicht in der Lage." Er hielt wiederum kurz inne. "Bitte streichen Sie das Wort leider. Sein Gebrauch könnte einen gefühlsmäßigen Grund implizieren, für den es aufgrund meiner Funktions- und gegebenenfalls Persönlichkeitsstruktur keinerlei Grundlagen geben dürfte. Jedenfalls keine außer unlogischer Funktions- oder Persönlichkeitsstörungen, die sich zusammenfassen lassen als..." "Schon gut, schon gut", rief Valerie schnell. "Ich weiß genau, was Sie meinen!" Barnington wünschte sich, er täte es auch. Er kam sich seltsam verloren vor. Der Fremde hatte bislang keinerlei Notiz von ihm genommen - und ebenso wenig Valerie, seitdem sie mit ihm sprach. "Ja?" fragte Elwood fast hoffnungsvoll. "Darf ich Sie dann fragen, was..." "Später! Dafür ist später noch Zeit!" "Später." Elwood nickte. "Verstehe." Valerie deutete auf ihren Begleiter. "Das hier ist übrigens Geoffrey Barnington. Mein Begleiter, dessen Kommen ic h -71-
angekündigt habe." Elwoods Kopf ruckte abrupt in Barningtons Richtung. Mehr tat sich nicht. Valeries Hand richtete sich auf den Schwarzgekleideten. "Und das hier ist, wie du sicher schon gehört hast..." Sie zögerte kurz, dann sagte sie, als wäre es Erklärung genug: "Elwood!" Keine Reaktion bei dem Genannten. "Ja, ähm...", meinte Geoffrey etwas verloren. Er wisch- te sich seine rechte Hand, die feucht geworden war, am Hosenbein ab und streckte sie Elwood entgegen. "Freut mich!" Der Mann in Schwarz schien durch seine dunkle Son nenbrille darauf herabzusehen. "Ich verstehe nicht ganz", bekannte er. "Was freut Sie? Dass ich Elwood bin?" "Nein, ahm... ich freue mich, Sie kennen zu lernen!" "Darf ich fragen, aufgrund welcher Parameter? Haben Sie denn bereits von mir gehört?" Barnington war verwirrt. "Nein, äh... das nicht. Valerie hat nur gesagt, daß uns ein Mitarbeiter von A.I.M. hier abholt. Und das sind ja wohl Sie." "Wieso freuen Sie sich dann, mich kennen zu lernen? Wie können Sie das, wenn Sie doch nichts über mich wissen?" Barnington sah hilfesuchend zu Valerie. Sie lächelte hintergründig. Da musst du schon alleine durch, sagte ihr Blick. Na toll! dachte er. Was für eine Hilfe! "Nun, das sagt man eben so zur Begrüßung", erklärte er laut. "Das ist ganz normal." "Sagt man so. Ganz normal. Verstehe." Es klang keinerlei Anklage daraus. "Unter diesen Parametern betrachtet, freut es -72-
mich auch." Elwood wischte sich die rechte Hand ebenfalls am Hosenbein seiner schwarzen Hose ab - und Barnington vermeinte darin die genaue Kopie seiner eigenen Bewegung von vor ein paar Sekunden zu erkennen -, dann streckte er sie ihm ebenfalls entgegen. Genauso - das war das Seltsame daran. Elwood ergriff die Hand des Engländers nicht etwa, wie man es hätte erwarten können. Nein, seine Fingerspitzen blieben dicht davor hängen. Das alles machte Barnington nicht gerade klüger. Was um alles in der Wrelt wollte der Fremde ihm damit zeigen? Ratlos blickte er auf die ihm so seltsam entgegengestreckte Hand. Sollte er sie nun ergreifen? Sein Gegenüber hingegen schien sich keiner Ungewöhnlichkeit bewusst zu sein. "Elwood!" rief Valerie. "Jetzt mal nicht so steif! Geoffrey ist ein Freund!" Barnington atmete auf. Endlich ergriff sie Partei für ihn. Elwood hob eine Augenbraue. "Ein Freund?" "Ja, ein Freund", bestätigte Valerie. "Ein sehr guter sogar. Sie wissen schon, was ich meine!" "Ich weiß, aber Sir lan hat mir aufgetragen, von dieser Form der Begrüßung Abstand zu..." "Elwood. Es gibt immer Ausnahmen. " "Immer Ausnahmen. Verstehe." Im nächsten Moment hatte Elwood Barningtons Hand ergriffen, so schnell und ansatzlos, daß dieser gar keine Chance hatte, sich dagegen wehren. "Na, du alte Schwuchtel!" rief er dem jungen Engländer zu. "Wie geht's?" Barnington erstarrte. Er benötigte eine Schrecksekunde, dann zog er seine Hand schnell zurück. Fassungslos sah er den schwarzgekleideten Mann an. "Äh...", -73-
machte er hilflos. Ein Schmunzeln flog über Valeries Lippen. Es funktionierte also doch noch! Sie konnte sich schon vorstellen, daß lan Sutherland über diese Form der Begrüßung, die Elwood sich anfangs irrtümlicherweise angeeignet hatte, nicht sehr glücklich war. Andererseits - es sorgte schon für den ein oder anderen amüsanten Moment. Valerie wurde übergangslos wieder ernst, als sie merkte, wie Barningtons Blick sie traf.! ".Äh, ist er etwa..." "Ist er... was?" stellte sie sich ahnungslos. "Ja", schloss Elwood sich wissbegierig an. "Was bin ich? " Barnington machte eine hilflose Handbewegung. "Du weißt schon, was ich meine. Äh, nicht etwa, daß ich etwas dagege n hätte, nur..." "Was hätten Sie gegen mich?" fragte Elwood. "Nichts, nichts, gar nichts", versicherte Barnington schnell. Er sah wieder Valerie an. "Was ist nun?" "Ich kann dich beruhigen. Ist er nicht!" Barnington atmete erleichtert durch. Elwood hingegen wirkte ratlos - soweit man das bei seinem starren Gesicht zu sagen vermochte. "Bin ich nicht?" "Nein, Elwood!" Valerie lächelte. "Sind Sie wirklich nicht. Was Sie sind, weiß ich zwar auch nicht genau. Aber das nicht." Ehe Elwood weiter nachfragen konnte, drängte sie zum Aufbruch. "Alles andere können wir auf der Fahrt besprechen. " Elwood ging zur Fahrertür und wollte gerade einsteigen, als Valeries Ruf ihn zurückhielt. "Ach ja, Elwood, eine klitzekleine Frage noch!" Er hielt inne und sah sie an. "Können Fragen denn unterschiedlich groß sein?" -74-
Valerie hob die Schultern. "Ich denke schon. " Er dachte kurz nach. "Steht die Größe einer Frage dabei in irgendeinem Verhältnis zu ihrer Länge?" "Nein. Das hat nichts miteinander zu tun. " "Verstehe. Und was war Ihre klitzekleine Frage?" "Können Sie überhaupt Auto fahren? " Barnington, der der Unterhaltung der beiden mehr oder weniger ratlos gefolgt war, zuckte zusammen. Was war das denn für eine Frage? Seine Blicke zuckten unruhig zwischen den beiden hin und her. "Nicht nur das. Ich darf es sogar. Dank Sir lans Verbindungen habe ich in den letzten Wochen die Führerscheinprüfung gemacht und bin im Besitz entsprechender amtlicher Dokumente, die mich berechtigen, verschiedenste Fahrzeuge zu führen. " "Gratuliere. Davon habe ich gar nichts mitbekommen. " "Es geschah in der Woche Ihres Urlaubs." Urlaub! Valerie seufzte innerlich. Sie wünschte, es wäre wirklich einer gewesen. Statt dessen war sie um die halbe Welt gejagt und fühlte sich todmüde und zerschunden. Seltsam, irgendwie schien ihr das immer so zu gehen. "Wie bitte?" mischte sich da Barnington ein. "Sie haben Ihren Führerschein in nur einer Woche gemacht?" "Ja." "Wie viel Fahrstunden haben Sie denn gehabt?" "Zwei", antwortete Elwood. "Darin wurden alle vorgeschriebenen Elemente abgehandelt." "Und das soll ich Ihnen glauben?" Die Worte waren heraus, ehe Barnington sie zurückhalten konnte. Er fürchtete fast, er könne den Mann dadurch beleidigt haben, doch dieser reagierte vollkommen neutral. -75-
"Seltsam", sagte er. "Ähnlich reagieren viele Menschen, wenn ich es erzähle. Aber nach einem ausführlichem Studium verschiedenster Bücher waren mir die Funktionsweisen der Parameter Fahrzeug, Physik, Verkehr sowie Straßenverkehrsordnung schnell klar. Schließlich sind sie überaus schlüssig, was angesichts des Rahmens verschiedenster menschlicher Funktionsweisen ansonsten eher weniger der Fall ist." Barnington brauchte einen Moment um diesen Satz zu verarbeiten. Dass der Mann auf seine letzte Frage so sachlich reagiert hatte, ermunterte ihn, noch eine nachzuschießen. "Sie wollen sagen, Sie haben die Prüfung vor allem aufgrund des Studiums von Büchern geschafft?" "Ja. Habe ich das nicht soeben gesagt?" Barnington blickte unglücklich drein. "Falls Ihre Fragen Zweifel bezüglich meiner Fahrtauglichkeit ausdrücken sollen", sprach Elwood weiter, "so darf ich versichern, daß sowohl der Fahrlehrer als auch der Prüfer übereinstimmend gesagt haben, zuvor noch niemals jemanden erlebt zu haben, der sich ähnlich korrekt an sämtliche Verkehrsvorschriften ge halten hat." "Das kann ich mir lebhaft vorstellen", meinte Valerie. Sie zog fröstelnd die Arme um ihre bloßen Oberarme. "Und nun lass uns endlich losfahren. " Elwood nahm hinter dem Lenkrad Platz und bevor Valerie hinter ihm einsteigen konnte, hatte Barnington sich unmerklich dicht neben sie geschoben. "Valerie!" flüsterte er. "Was um alles in der Welt ist das für ein seltsamer Mann? " "Das ist Elwood", gab sie ebenso leise zurück. "Sagte ich das nicht schon? " Barnington öffnete den Mund zu einer scharfen Erwiderung. -76-
Musste sie ihn immer abkanzeln wie einen kleinen Schuljungen? "Das sagten Sie, Miss Gideon", bestätigte Elwood vom Fahrersitz. "Sogar mehrere Male. Das erste Mal, als..." "Schon gut, Elwood, so genau brauchen wir das jetzt nicht zu wissen. " "Aber wieso fragten Sie dann, ob..." "Später, Elwood!" "Später. Verstehe." Barnington runzelte nachdenklich die Stirn. Er war l sich absolut sicher gewesen, daß Valeries Antwort so leise gewesen war, daß sie niemand außer ihm hätte vernehmen dürfen. Dieser Elwood schien trotzdem keine Schwierigkeiten damit gehabt zu haben. Obwohl er keinerlei Hehl daraus machte, ließ es ihn in Barningtons Augen ein weiteres Stück mysteriöser erscheinen. Überhaupt - als sie sich kurz die Hand gereicht hatten, war die des Mannes regelrecht kalt gewesen. Nicht ganz so kalt wie die kühle Abendluft hier in Schottland, aber bei weitem nicht so warm wie eine menschliche Hand. Als er wieder daran dachte, war er sich plötzlich jedoch nicht a mehr sicher, ob er sich das nicht nur eingebildet hatte. "Wieso hast du so zweifelnd gefragt, ob er überhaupt fahren kann?" fragte er dennoch nach und es war ihm egal, ob der Mann es hörte oder nicht. Bei dem Gedanken, daß dieser womöglich ebenso seltsam fahren würde, wie er sich sonst benahm, erschien ihm Valeries Frage mittlerweile überaus angebracht. "Keine Bange", versicherte Valerie. "Wenn Elwood sagt, er kann fahren, dann kann er es auch. Ich kann dir versichern, er kann sogar noch ganz andere Dinge." "Was für andere Dinge?" Valerie sah vor ihren geistigen Auge schon, wie Elwood auf -77-
dem Fahrersitz den Mund öffnete und schnell, um ihm zuvor zu kommen, sagte sie: "Dinge, die du ihm auf den ersten Blick kaum zutrauen würdest." Sie verzichtete darauf zu erklären, daß der rätselhafte Mann in Schwarz erst vor ein paar Monaten sogar eine gigantische schwarze Pyramide geflogen hatte - ein jahrtausendealtes Bauwerk mit schier unglaublichen technischen Möglichkeiten. Vor seiner Vernichtung hatte es ihrem einstigen Gegenspieler Kar als Hauptquartier gedient, das sich letzten Endes sogar als ein noch immer funktionsfähiges Raumschiff erwiesen hatte. Allem Anschein nach handelte es sich um die Hinterlassenschaft einer außerirdischen Spezies in Form von aufrecht gehenden Echsen. Sie mussten irgendwann in prähistorischer Zeit die Erde besucht haben - und zwar zur Zeit des sagenumwobenen, längst untergegangenen Reiches Atlantis. Mehr noch, sie schienen sich im Krieg befunden zu haben und waren womöglich sogar für dessen Untergang verantwortlich. Kar hatte bezüglich der Echsen und Atlantis von zwei Seiten ein und derselben Medaille gesprochen. Was sie davon zu halten hatten, war bis heute unklar geblieben. Danach fragen konnten sie ihn nicht mehr, denn er war tot. Warum Elwood die Pyramide hatte fliegen können, war rätselhaft geblieben - wie so vieles an ihm. Er selbst gab an, es schon einmal getan zu haben. Aber wann und wo, daran besaß er keine Erinnerung mehr. Diese umfasste lediglich die Zeit des letzten Jahres - seitdem er auf höhere Weisung A.I.M. zur Seite gestellt worden war. Darüber wer sein Auftraggeber war, vermochte er außer dem Namen - Cahuna - ebenso wenig zu sagen wie darüber, welchem Zweck er und die anderen geheimnisvollen Männer in Schwarz dienten, die immer wieder in die Geschicke der Menschheit einzugreifen schienen. Er wusste nicht einmal zu sagen, ob er überhaupt ein Mensch war. Einige seiner Fähigkeiten schienen dagegen zu sprechen, andererseits gab es auch keine stichhaltigen Gründe, es -78-
rundherum zu verneinen. Auf jeden Fall war genau dies die Frage, die Elwood am meisten interessierte, mehr noch, es schien sogar die einzige Frage zu sein, die ihn überhaupt interessierte. Und dazu versuchte er soviel wie möglich über die Menschen zu lernen, in der Hoffnung, es möge ihm bei der Beantwortung dieser Frage helfen. Ansonsten beschränkte er sich im Wesentlichen darauf, den ihm gegebenen Anweisungen zu folgen, selbst wenn er vieles noch viel zu wörtlich nahm. Valerie behielt ihre Gedankengänge für sich. Sie wollte es ganz Sutherland überlassen, wie viel er Barnington über diese Zusammenhänge verraten wollte. Der junge Engländer war mit seinen Ausgrabungen in Burma - freilich ohne es bislang zu wissen - auf Überreste der atlantischen wie auch der Echsenkultur gestoßen. Beides noch dazu an einem Ort -, das war mehr, als die Abenteurer noch vor Wochen zu hoffen gewagt hatten. "Und das ist alles, was du zu sagen hast?" fragte Barnington. Valerie nickte. "Du hast es erraten." Damit stieg sie ein. Barnington wollte sich zu ihr auf die Rücksitzbank setzen, doch Valerie winkte ab und verwies ihn auf den Beifahrersitz. "Nein. Nimm lieber vorne Platz!" "Wieso das?" "Dann könnt ihr euch auf der Fahrt nach Oake Dun ein wenig anfreunden. " Skepsis stand in dicken, großen Buchstaben auf Barningtons Gesicht geschrieben. "Du meinst... ich und..." Er ließ den Rest offen. "Warum nicht? So unähnlich seid ihr euch in manchen Dingen gar nicht." Vor allem in Sachen Umständlichkeit, fügte sie in Gedanken hinzu. "Wie bitte? Was meinst du damit?" "fetzt nimm nicht gleich alles persönlich! Außerdem gehört er -79-
zum Team und du warst doch so gespannt darauf, uns alle kennen zu lernen. Jetzt hast du die Chance dazu. Also bitte, fang an!" Damit schlug sie die hintere Tür zu. Geoffrey Barnington stand einen Moment lang unschlüssig da. In seinem Innern machte sich Unmut breit. Hätte Valerie ihm nicht kurz zuvor das Leben gerettet und wäre er, seitdem er sie wiedergesehen hatte, nicht wieder so sehr in sie... Er machte eine unwirsche Handbewegung. Ach was! Er steigerte sich da nur in etwas herein. Er gab sich einen Ruck und stieg vorne ein. Während sie losfuhren, streckte Valerie die Beine wohlig auf der Rückbank aus und machte es sich bequem. Eigentlich war dies der Grund gewesen, warum sie allein hatte hinten sitzen wollen. Und natürlich der, Barningtons endlosen Fragen zu entgehen, die sie vorerst ohnehin unbeantwortet gelassen hätte. Sollte er lieber zusehen, wie er mit Elwood klarkam! Genau darum bemühte Barnington sich gerade. Er räusperte sich. "Sie sind also Elwood?" fragte er steif. "Ja", bestätigte dieser. "Aber wenn ich mich recht erinnere, wurde diese Tatsache bereits ausführlich erörtert. Darf ich Sie fragen, wieso dieser Fakt Ihnen derartige Verarbeitungsprobleme bereitet?" "Nun, weil... äh... Ich hab' das schon verstanden, wer Sie sind." "Das ist unlogisch. Warum fragen Sie dann? " "Nur... so. Zur Vergewisserung. " "Zur Vergewisserung. Verstehe. Sind Sie sich denn jetzt I sicherer als zuvor, daß ich Elwood bin?" Barnington seufzte. "Nicht direkt." "Also indirekt?" "Nein, das auch nicht." -80-
Eine kurze Pause. "Ich muß bekennen, daß ich Schwierigkeiten habe, ihrer Argumentation zu folgen", sagte Elwood. Barnington mußte zugeben, daß es ihm kaum anders ging. "Würde es vielleicht helfen, dieses Faktum, daß ich Elwood heiße, noch weiter zu wiederholen?" bot Elwood an. "Ich wäre gerne bereit, Ihnen zu helfen. Wie viele Wiederholungen wären Ihrer Meinung nach nötig, bis Sie sich genügend vergewissert haben, daß ich..." Barnington hob abwehrend die Hände. "Nein, schon" gut. Ich glaube ja, daß Sie Elwood sind." "Sie glauben es nur? Demnach sind Sie sich immer; noch nicht sicher?" "Nein, nein. Schon gut. Sie sind Elwood. Ich hab's kapiert." "Das ist korrekt", sagte dieser. Schweigen. "Elwood... gut." Barnington hob die Schultern. "Und wie weiter?" "Wie weiter?" "Ja." Elwood zögerte kurz, dann deutete er mit der Hand in Fahrtrichtung. "Für die nächsten 48,7 Kilometer weiter auf dieser Straße bis nach Tarbet. Dort biegen wir dann rechts ab, in Richtung Crianlarich. Dort verlassen wir die Straße in Richtung Tyndrum, von dort aus weiter nach Ballachulish und Onich und nach Spean Bridge. Von dort am Ufer von Loch Ness weiter in nördliche Richtung, bis wir bei Inverness..." Barnington lauschte der minutenlangen, ausführlichen Erklärung des Mannes mit gemischten Gefühlen. Er überlegte, ob er sich auf den Arm genommen fühlen sollte, so wie er es bei Valerie öfter empfand. Aber nein, der Mann in Schwarz sah vollkommen ernsthaft aus, während er das erklärte. Wie immer. -81-
"Nein", korrigierte Barnington, als Elwood endlich geendet hatte. "Ich meine... wie heißen Sie weiter?" "Ah, verstehe", sagte Elwood ohne jedes Anzeichen, daß er erbost wäre, so lange umsonst geredet zu haben. Wie sehr sie sich doch glichen, dachte Valerie auf der Rückbank schläfrig. "Mein Name ist Blues. Elwood Blues." Barnington verzog das Gesicht. Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein! Er warf einen prüfenden Blick neben sich. Aber andererseits... ein wenig wirkte der Mann in der Tat so, als entstamme er geradewegs dem berühmten Blues Brothers-Film. Barnington hatte ihn in seiner Jugend selbst begeistert gesehen. "Ach", meinte er respektlos. "Und haben Sie zufällig auch einen Bruder namens Jake?" Ehvoods Kopf ruckte zu ihm herum und er hob eine Augenbraue. "In der Tat. Den habe ich. Aber darf ich Sie fragen, wieso Sie darüber informiert sind, wenn Sie doch gesagt haben, zuvor nichts über mich gehört zu haben? " "All..." Barnington wandte den Kopf und warf Valerie einen hilfesuchenden Blick zu. Die Israelin beugte sich vor, doch sie hatte etwas ganz anderes im Sinn als Barningtons Einwand. Seit ein paar Minuten hatten sie Glasgows Stadtgrenzen hinter sich gelassen. Seitdem wurden sie immer wieder von Autos mit aufgeblendeten Lichtern oder sogar hupend überholt. "Sagen Sie, Elwood, wenn wir so weiterfahren, sind wir ja ewig unterwegs. Können Sie nicht etwas schneller fahren? " "Kann ich. " Sekunden tropften zähflüssig dahin, ohne daß sich etwas tat. -82-
"Und?" rief Valerie. Wieder zog ein Wagen von hinten an ihnen vorbei. "Warum tun Sie es dann nicht?" "Weil es der Straßenverkehrsordnung widersprechen würde." "Kommen Sie, Elwood", meinte Valerie. "Merken Sie nicht, daß alle anderen viel schneller und wir die einzigen sind, die so lahm unterwegs sind? Also los, passen Sie sich schon an! Oder sind Sie nicht in der Lage, diese gewohnheitsmäßigen Gesetze zu erfassen? " "Doch, bin ich. Aber ich bin trotzdem nicht in der Lage, mich dieser Dehnung der Vorschriften anzupassen. " "Aber - wieso denn? " "Weil Sir lan mir aufgetragen hat, mich strikt an die allgemeinen Vorschriften zu halten, wenn ich einen seiner Wagen fahre. Und ich habe es ihm ausdrücklich zur gesagt." Erneut überholte sie ein wütend hupender Wagen. Valerie sah ein, daß es sinnlos war und ließ sich wieder in die Polster zurücksinken. Blieb nur zu hoffen, daß sie nie in die Notlage geraten würde, mit Elwood am Steuer eine Verfolgungsjagd machen zu müssen. Selbst wenn er den schnellsten Wagen gehabt hätte, hätte ein hochfrisiertes Mofa allemal ausgereicht, ihn abzuhängen. Träge sanken Valeries Augenlider nach unten. Sie bemerkte, wie Barnington erneut versuchte, mit Elwood ins Gespräch zu kommen. Aber was daraus wurde, bekam sie nicht mehr mit. Der Schlaf hatte sie übermannt. Valerie wachte auf, als Geoffrey Barnington sie leicht an der Schulter berührte. "Valerie! Komm zu dir." Sie hob träge den Kopf und blickte sich schlaftrunken um. Sie sah, daß der junge Engländer sich zu ihr umgedreht hatte. "Was gibt's?" -83-
"Probleme! Guck mal nach hinten." Barnington deutete an ihr vorbei zur Heckscheibe. Valerie drehte sich um und war sofort hellwach, als sie das Blaulicht eines Polizeiwagens sah, der hinter ihnen fuhr und zu ihnen aufschloss. Zweifelsohne hatte er es auf sie abgesehen. "Was ist los, Elwood?" fragte sie. "Haben Sie irgend etwas Verkehrswidriges getan?" "Nein. Jedenfalls nichts, was mir bewusst wäre. Ich habe mich an sämtliche Verkehrsvorschriften gehalten. " "Das wird's sein", meinte Valerie ironisch. "Sie haben sich so penibel daran gehalten, daß uns allein das schon verdächtig gemacht hat." "Das verstehe ci h nicht", bekannte Elwood. "Welchen Sinn haben dann solche Vorschriften? " Valerie seufzte. "Das werde ich Ihnen ein andermal erklären. " Der Polizeiwagen hatte zu ihnen aufgeschlossen und als er an dem Rover vorbeifuhr, kam aus dem Beifahrerfenster das eindeutige Zeichen, an den Straßenrand zu fahren. "Ich hoffe, Sie wissen, wie Sie sich in einer derartigen Situation zu verhalten haben?" fragte Valerie. Unbehaglich dachte sie daran zurück, wie Elwood sich verhalten l hatte, als er kurz nach seinem ersten Eintreffen auf Oake Dun in eine Verkehrskontrolle geraten war. Damals war I er mit Connor und Pierre unterwegs gewesen und da die beiden nach einer Wirtshauskeilerei nicht mehr in der Lage gewesen waren, selbst zu fahren, war er in die Verlegenheit gekommen, das zu tun mit dem Ergebnis, daß sie alle drei über Nacht in einer Polizeizelle gelandet waren. Valerie hoffte, daß dieses Abenteuer nicht ähnlich enden würde. Dafür sehnte sie sich zu sehr nach ihrem Bett in Oake Dun. "Und Ihre Papiere haben Sie doch auch dabei?" vergewisserte sie sich vorsorglich. -84-
"Aber selbstverständlich. " Auch Barnington blickte plötzlich unsicher drein. Er schien Valeries Zweifel zu spüren. "Was ist los?" Valerie hob unschuldig die Achseln. "Nichts. Einfach locker bleiben. " Der Polizeiwagen vor ihnen wurde beständig langsamer, bis schließlich beide Autos am Straßenrand zum Stehen kamen. Elwood drehte die Zündung aus und schaltete das Warnblinklicht ein, während vorne zwei uniformierte Beamte ausstiegen und gemächlich zu ihnen kamen. ,Valerie blickte sich um. Sie hatten mitten auf einer einsamen Landstraße im gebirgigen Land gehalten. "Wo sind wir hier überhaupt?" "Zirka dreißig Kilometer nördlich von Loch Ness", antwortete Geoffrey. "Ungewöhnlich, daß uns ausgerechnet in dieser Einöde jemand anhält", murmelte Valerie. "Der Polizeiwagen ist bereits seit Loch Ness hinter uns", erklärte Elwood. "Aber das Blaulicht hat er erst vor kurzem eingeschaltet." "Das erklärt einiges", meinte Valerie. "Vermutlich wollten sie nicht glauben, daß es wirklich jemanden gibt, der die ganze Zeit über so vorschriftsmäßig fährt." Einer der Beamten trat neben die Fahrertür und bedeutete Elwood, die Scheibe zu öffnen. Elwood ließ sie herabgleiten. "Guten Abend." Der Beamte tippte sich grüßend an die Dienstmütze. "Darf ich bitte Ihre Papiere sehen? " Elwood gab sie ihm. Der Beamte musterte die Papiere mit skeptischem Blick, während sein Kollege nur ein paar Schritte entfernt so stand, daß er alle Fahrzeuginsassen im Auge hatte. Valerie bemerkte, daß -85-
er dabei seine Hand vorsorglich an den Lauf seiner Dienstwaffe gelegt hatte. Noch irgend etwas anderes fiel ihr auf - irgend etwas, das sie stutzig machte -, aber sie vermochte es nicht zu benennen. Noch immer musterte der andere Beamte die Papiere. "Stimmt irgend etwas nicht?" fragte Valerie vom Rücksitz aus. Der Beamte sah sie nur kurz an und wandte sich dann wieder an Elwood. "Darf ich fragen, wohin Sie unterwegs l sind?" "Ja", erlaubte Elwood ihm. "Wir kommen aus Glasgow", sprang Valerie Elwood helfend zur Seite. "Und sind auf dem Weg nach Thurso ganz im Norden. Einen Bekannten besuchen. " Der Beamte sah sie unwillig an. "Ich kann mich nicht erinnern, Sie gefragt zu haben. " "Das dürfte daran liegen, daß Sie das auch nicht ge- I tan haben", versuchte Elwood ihm auszuhelfen. Der Beamte hatte keinen Sinn dafür. "Los", sagte er mit barscher Stimme. "Steigen Sie bitte alle aus dem Wagen! " "Aber wieso denn das?" protestierte Valerie. "Ja", pflichtete Geoffrey Barnington ihr bei. "Wir haben doch überhaupt nichts getan. " "Das wird sich dann ja herausstellen", beschied der Beamte. "Auf jeden Fall möchte ich eine Personenüberprüfung. Also, raus aus dem Wagen. " Valerie kam die Sache zunehmend seltsamer vor. Aber sie fügte sich. Vielleicht klärte sich die Sache ja schnell wieder auf. Kurze Zeit später standen sie alle draußen neben dem Rover. Der Beamte nickte Geoffrey und Valerie knapp zu. "Also, wenn ich dann um Ihre Papiere bitten darf! " "Ich muß Sie darauf aufmerksam machen", sagte Geoffrey -86-
Barnington, "daß ich derzeit nur über einen vorläufigen Ersatzausweis verfüge. Ausgestellt vom eng- lischen Konsultat in Bangkok. Dort... äh... sind mir nämlieh meine Papiere abhanden gekommen. " Der Beamte sah erst Barnington durchdringend an dann wechselte er mit seinem Kollegen einen bezeichnenden Blick, der so viel zu besagen schien wie: Na, hab ich's nicht gesagt ! "Los, geben Sie schon her. Sehen wir uns das Ding einmal an." Er wandte sich Valerie zu. "Und was ist mit Ihren Papieren? " "Die sind ganz normal." Die Israelin deutete hinter sich. "Aber ich habe sie in der Reisetasche auf der Rücksitzbank." Das Gesicht des Beamten wurde misstrauisch. "Wirklich", versicherte Valerie. "Das ist kein Trick." Der Mann dachte kurz nach. "Also gut, holen Sie die Tasche langsam hervor. Und zwar so, daß ich ihre Hände jederzeit sehen kann! " Valerie verzog das Gesicht. "Sehe ich aus, als ob ich jemandem etwas zuleide tun könnte?" Ihr Lächeln traf auf eine frostige Mauer. Der Beamte legte seine Hand an die Waffe und gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, daß sie die Tasche aus dem Wagen holen sollte. Wieder kam Valerie etwas äußerst seltsam vor. Aber sie kam nicht darauf, was. Sie wollte der Anweisung gerade Folge leisten, als sie das Scheinwerferlicht eines Wagens traf, der langsam von hinten an sie heranrollte. Eine größere Limousine. Und dem Auspuffgeräusch, das an ihre Ohren drang, nach zu urteilen, eine nicht schlecht motorisierte. Etwa dreißig Meter hinter ihnen kam der Wagen zum Stillstand und der Motor erstarb. Aufgrund des grellen Scheinwerferlichtes konnte man nicht erkennen, wer darin saß. Aber es waren die Silhouetten von mindestens zwei Personen zu erkennen. -87-
Valerie runzelte fragend die Stirn und drehte sich um. Den beiden Beamten schien das Auftauchen des zweiten Wagens keineswegs merkwürdig vorzukommen. Im Gegenteil, es wirkte fast, als hätten sie damit gerechnet. "Kollegen von Ihnen?" fragte Valerie. "Das geht Sie nichts an." Der Polizist zog seine Waffe hervor und fuchtelte ungeduldig damit herum. "Los jetzt! Holen Sie die Tasche!" Barnington machte große Augen, als er das sah. Sein Vertrauen in das britische Rechtssystem schien mit einem Male einen großen Knacks bekommen zu haben. "Na, hören Sie mal", protestierte er. "Sie können uns doch nicht einfach so mit der Waffe bedrohen. Wir sind doch hier nicht in... in... in Burma", sagte er in Erman- gelung eines besseren Vergleichs. "Schnauze!" fuhr ihn der zweite Beamte an. Wie Valerie erkannte, hatte mittlerweile auch er seine Pistole gezogen, hielt sie aber noch gen Boden gerich- tet. Und plötzlich wurde Valerie Gideon mit schlagartiger Klarheit bewusst, was sie die ganze Zeit an diesen beiden Verkehrspolizisten gestört hatte: Sie trugen keine Dienst- waffen der englischen Polizei. Das waren amerikanische Pistolen. "Wird's bald?" wurde Valerie aufgefordert. Sie nickte willig, als ob sie nichts bemerkt hätte und öffnete langsam die hintere Wagentür. Aber hinter ihrer Stirn wirbelten die Gedanken. Wer waren diese angebli- | chen Polizisten? Und was wollten sie von ihnen? Vor sich sah sie ihre Reisetasche und streckte langsam die Hände danach aus. Der Bewaffnete beobachtete sie sorgsam. Sie hatte nicht gelogen. Darin befanden sich ihre Ausweispapiere. Aber - wie sie keine Sekunde vergessen hatte - auch ihre kleine Plastikpistole aus -88-
alten Geheimdienst- beständen. Wenn es ihr gelänge, unauffällig an sie heranzukommen... Nur rechnete der falsche Polizist leider genau mit so etwas und würde es ihr kaum gestatten. "Was ist?" erscholl da eine männliche Stimme vom zweiten Wagen her, der großen Limousine. "Seid ihr bald fertig? " "Gleich", rief der Mann hinter Valerie zurück. "Geduldet euch noch einen Moment." "Das sind gar keine Polizisten", flüsterte Valerie leise - aber hoffentlich laut genug, damit der neben ihr stehende Barnington es verstand. Der junge Engländer machte noch immer einen ebenso verwirrten wie empörten Eindruck und schien nicht recht zu wissen, was er von der ganzen Situation zu halten hatte. Leider zerstörte er Valeries Hoffnung, sich kurz zu verständigen, sofort. Er sah sie fragend an. "Was hast du gesagt?" Valerie verdrehte die Augen. Nein, er hatte sie nicht verstanden. "He!" rief der Bewaffnete. "Kein Gerede! Und jetzt endlich raus mit der Tasche! Oder soll ich dir Beine machen? " Ihr blieb nichts anderes übrig, als der Anweisung Folge zu leisten. Langsam zog sie die Tasche an die Tür heran. "Sagen Sie", ließ Elwood sich da vernehmen. "Sind Sie überhaupt von der Polizei?" Valerie hielt erstaunt inne. Natürlich - der Mann in Schwarz hatte sie gehört, gleichgültig wie leise sie auch gesprochen hatte. Die beiden Männer richteten ihre Aufmerksamkeit auf ihn. "Sag mal, bist du blind? Siehst du nicht die Uniformen? " "Das ist noch kein Beweis, daß Sie tatsächlich Polizisten sind", korrigierte Elwood in seiner beharrlichen Art. "Ach!" stieß der zweite Mann hervor. "Und wer sollten wir sonst sein?" "Das weiß ich nicht", bekannte Elwood. "Aber ich werde es -89-
wissen, wenn Sie mir Ihre Dienstausweise zeigen. " Valerie hob anerkennend die Augenbrauen. Elwood schien im Fahrunterricht wirklich gut aufgepasst zu haben. "Los, Bill!" meinte der Mann hinter Valerie zu seinem Kollegen. "Zeig ihm, was er sehen will." Der Angesprochene trat drohend auf Elwood zu und blieb dicht vor ihm stehen. "So, du willst also unsere Dienstausweise sehen?" Elwood wirkte unmerklich irritiert. "Ja, habe ich das nicht klar und deutlich gesagt?" "Sieh an, ein kleiner Spaßvogel! Dann will ich dir mal meinen Dienstausweis zeigen." Er hob seine Waffe vor Elwoods Gesicht. "Hier, ist das Dienstausweis genug? " Elwood hob fragend eine Augenbraue. "Immer noch nicht kapiert, Freundchen?" fauchte der Uniformierte. "Dann will ich dir's noch mal deutlicher zeigen. " Damit schlug er ihm mit dem Handrücken quer über das Gesicht. "So, nun kapiert?" Barnington machte ein entsetztes Gesicht. Allmählich schien ihm zu dämmern, daß das hier alles andere war als eine normale Polizeikontrolle. Elwood hingegen hatte den Schlag mit unbewegter Miene hingenommen. Wieder hob er eine Augenbraue. "Freundchen?" fragte er. "Ja, ganz genau", bestätigte der Mann feist grinsend. Er war etwas irritiert über Elwood Ausdruckslosigkeit, hielt diese aber fälschlicherweise für ein Zeichen von Hilflosigkeit. Und irgendwie war sie das auch, wenn auch gänzlich anders, als er sich das vorstellte. In Valerie stieg plötzlich eine vage Hoffnung auf. Sie hatte -90-
nicht damit gerechnet, ausgerechnet Elwood in dieser Situation als Verbündeten zu haben. Wieder bewegte sie flüsternd ihre Lippen und diesmal sprach sie so leise, daß nur Elwood es hören konnte. "Ja, Freundchen", bestätigte sie. "Sie wissen doch, was das zu bedeuten hat." "Was was zu bedeuten hat?" fragte Elwood vollkommen ungeniert und in normaler Lautstärke. Der Mann vor ihm sah ihn verwirrt an. "Wie bitte? Was hast du gesagt." "Nun los", drängte Valerie hauchdünn. "Seien Sie nicht so schwer von Begriff. Denken Sie ans Dead Dog's End. Und wie Sie dort Freunde gewonnen haben. " Die Kneipenschlägerei war damals wochenlang Thema in ganz Thurso gewesen und so hatte Valerie ganz genau erfahren, was damals geschehen war, auch wenn sie selbst nicht dabei gewesen war. Wie man ihr jedoch allseits versichert hatte, soll es die schönste Kneipenschlägerei gewesen sein, die das Dead Dog's End seit langen, langen Jahren erlebt hatte. Darin waren sich sämtliche Einheimischen einig, die damals selbst anwesend gewesen waren. Elwood überlegte. "He!" erscholl da wieder die zweite männliche Stimme von der dunklen Limousine herüber. "Wie lange dauert's bei euch noch. Kommt ihr bald?" "Aber klar", sagte Elwood. "Jetzt verstehe ich. " Na endlich! dachte Valerie und bereitete sich innerlich vor. Nur einen Augenblick später machte Elwood genau das, worauf Valerie gehofft hatte. Ansatzlos holte er aus und knallte dem Uniformierten seine Faust ins Gesicht. Der Schlag kam viel zu schnell und unvermittelt, als daß er ihn überhaupt hätte kommen sehen und -91-
er traf ihn so hart, daß er mehrere Meter nach hinten geworfen wur-, de und rücklings auf dem Asphalt landete. Die Waffe löste sich aus seiner Hand und schlitterte meterweit dar von. Der zweite Uniformierte starrte Elwood fassungslos an. Niemals hätte er dem hageren Mann eine solche Kraft zugetraut. "Richtig?" fragte Elwood in Valeries Richtung. "Richtig", bestätigte sie und als der Mann hinter ihr gerade auf die Idee kommen wollte, auf Elwood anzulegen, rammte sie ihm den Fuß in den Unterleib. Sie hatte bei weitem nicht soviel Kraft wie Elwood und vermochte den Mann nicht zurückzuschleudern, aber es reichte aus, ihn sich zusammenkrümmen zu lassen. Sofort wirbelte die Israelin herum und kickte ihm die Waffe aus den Fingern. Während diese noch davonflog, traf ihn ein zweiter Kick unter dem Kinn. Der Mann ächzte kurz auf, dann sank er in sich zusammen. Geoffrey Barnington hatte das Geschehen mit aufgerissenen Augen mit angesehen. "Aber... aber...", stotterte er. "Das waren ja gar keine Polizisten! " "Du Blitzmerker!" gratulierte Valerie ihm. "Was glaubst du, wovon Elwood und ich die ganze Zeit geredet haben? " "Die ganze Zeit?" protestierte er. "Aber ich habe gar nicht gehört, was ihr..." "He!" erscholl da wieder eine Stimme vom zweiten Wagen. "Was ist da los?" Valerie hatte erst gar nicht vor, darauf zu antworten. Erst recht nicht, als bei der Limousine die Türen aufgerissen wurden und links und rechts zwei Gestalten ins Freie traten. "Los!" rief Valerie. "In den Wagen! Und zwar schnell. Wir müssen weg von hier." Elwood reagierte praktisch ohne jede Reaktionszeit und -92-
sprang sofort wieder auf den Wagensitz. Barnington hingegen stand noch unschlüssig da. Ihn schienen die Ereignisse leicht zu überfordern. Ein leibhaftiger Abenteurer war er Weißgott nicht. "Nicht so schnell", gab er zu bedenken. "Wir wissen doch noch gar nicht, wer die beiden..." "Wir wissen, daß sie uns kaum freundlich gesonnen sind. Und ich finde, das reicht! Und jetzt beweg dich! " Er lief endlich zur Beifahrertür. "Stehengeblieben!" kam da eine strikte Anweisung vom anderen Wagen. "Sonst..." "Nun reden Sie nicht soviel", unterbrach ihn da eine ältere Frauenstimme rigoros. "Schießen Sie schon! Sie dürfen uns nicht entkommen! " "Nein, nicht!" riefen die beiden Uniformierten, die sich langsam wieder aufrappelten, entsetzt. "Spinnt ihr? Wir sind auch noch hier!" Beim Klang der Frauenstimme waren Geoffrey Barnington und Valerie unwillkürlich in der Bewegung verharrt und starrten sich trotz der unverhohlenen Drohung einen kurzen Moment an. Sie beide hatten die Frauenstimme sofort erkannt. Jeder Irrtum war ausgeschlossen. Es war die Stimme der resoluten älteren Frau, die auf dem Flug nach Glasgow neben Barnington gesessen hat- te! Doch verständlicherweise hatten sie keine Muße, sich jetzt Gedanken darüber zu machen, was ausgerechnet sie hier suchte. Sie sprangen in den Wagen, Geoffrey auf den Beifahrersitz und Valerie auf die Rückbank und schlugen die Türen zu. Elwood hatte den Motor bereits angelassen. "Los, Elwood, drücken Sie aufs Gas!" rief Valerie. Sie sah, wie draußen die beiden Uniformierten nach ihren verlorengegangenen Waffen suchten. Und es konnte nur noch wenige Augenblicke dauern, bis sie sie wieder gefunden hatten. -93-
Schon bückte sich einer von ihnen, um sie aufzuheben. Elwood stutzte. "Was für ein Gas? Und wie soll ich..." "Verflucht! Fahren Sie schon los. Sofort. Und so schnell wie möglich!" "Verstanden. " Der eine Uniformierte wandte sich gerade wieder dem Wagen zu, als der Mann in Schwarz das Gaspedal tief durchdrückte und der Rover mit der geballten Kraft seiner gewiss nicht ärmlichen Motorisierung nach vorne schoss. Barnington und Valerie wurden in die Sitzpolster zurückgeworfen. Mit quietschenden Reifen lenkte Elwood haarscharf am Polizeiwagen vorbei und jagte auf die Landstraße hinaus. "Gut gemacht!" lobte Valerie und blickte zum Heckfenster hinaus. Im Scheinwerferlicht der parkenden Limousine zu erkennen, daß auch der zweite Uniformierte seine Waffe wiedergefunden hatte. Und kurz darauf flammten mehrere Mündungsblitze auf. Ein paar Kugeln gingen am Rover vorbei, doch eine schlug ins Heck ein und eine zweite zerfetzte klirrend den rechten Außenspiegel. Sofort ging Valerie auf der Rücksitzbank auf Tauchstation und auch Barnington zog den Kopf ein. Nur Elwood für mit stoischer Ruhe weiter. Ein weiterer Schuss schrammte am Dach vorbei. Dann hatte Elwood endlich die nächste Kurve erreicht und einen Moment später waren sie den Blicken der Schützen entschwunden. Doch Valerie gab sich nicht der Hoffnung hin, daß sie damit bereits entkommen wären. Die beiden anderen Wagen hatten ebenfalls nicht wenig PS unter der Haube. "Die Frau!" stieß Geoffrey Barnington aufgeregt hervor. "Das war die Frau aus dem Flugzeug!" "Ganz recht", bestätigte Valerie mit grimmigem Unterton in der Stimme. In ihren stahlgrauen Augen blitzte es auf und in -94-
ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. "Aber warum verfolgt sie uns? Und wer sind die anderen Leute?" Das hätte Valerie auch gerne gewusst. Eines stand jedoch fest: Die ältere Frau schien die Befehlsgeberin der kleinen Gruppe gewesen zu sein. "Auf jeden Fall keine echten Polizisten", sagte sie laut. "Soviel steht fest. Aber darüber können wir uns später noch Gedanken machen. Jetzt kommt es erst einmal darauf an, soviel Abstand wie möglich zu gewinnen. Vielleicht schaffen wir es ja, sie abzuhängen. " Kaum hatte sie das gesagt, nahm Elwood den Fuß vom Gaspedal - nicht völlig, doch zumindest soweit, daß der Rover mit konstanter Geschwindigkeit weiterfuhr. "Was ist?" fragte Valerie. "Warum hören Sie auf zu beschleunigen? " "Auf Landstraßen außerhalb geschlossener Ortschaften gilt eine Geschwindigkeitsbegrenzung von neunzig Stundenkilometern", erklärte Elwood. "Und daran halte ich mich." Valerie fühlte, wie ihr Alptraum, den sie kurz nach Fahrtantritt gehabt hatte - nämlich mit Elwood am Steuer in eine Verfolgungsjagd zu geraten - wahr wurde. Sie verfluchte sich in Gedanken dafür, sich gerade nicht selbst. hinter das Lenkrad gesetzt zu haben. Doch dafür war alles viel zu schnell gegangen und jetzt war es für einen Fahrerwechsel zu spät. "Ich bezweifle nur, daß sich unsere Verfolger auch daran halten werden", drängte sie. "Dann werden sie in Kauf nehmen müssen, dafür dem Entzug ihrer Fahrerlaubnis bestraft zu werden. Valerie hätte beinahe aufgelacht, wenn die Situation, nicht so ernst gewesen wäre. "Nur glaube ich leider kaum, daß sie sich -95-
davon abschrecken lassen werden. Wer auf andere schießt, hält sich auch an keine Verkehrsregeln. Wägen Sie das doch mal bitte gegeneinander ab." Valerie Gideon sah erneut nach hinten. Irgendwo dort waren in der Nacht bereits die Streulichter der Scheinwerfer ihrer Verfolger zu erkennen. Und diese kamen beständig näher. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie sie eingeholt hatten. "Und vor allem - wägen Sie schneller!" "Ich darf Sie daran erinnern, daß ich Sir lan meine ausdrückliche Zusage gegeben habe, mich unter allen Umständen an die gültigen Verkehrsregeln zu halten. " Barnington sah entsetzt zu Elwood. Nein, er hatte sich nicht verhört. "Das hier ist aber ganz und gar keine normale Situation." Sein Kopf ruckte nach hinten, wo bereits die Scheinwerferlichter der beiden Verfolgerautos auftauchten. Und sie jagten näher heran. "Das Versprechen lautete: unter allen Umständen", erklärte Elwood. "Also auch einem wie diesem. " "Kommen Sie", meinte Valerie nervös, während sie mit den Händen vorsorglich nach der kleinen Plastikpistole tastete und sie hervorzog. "Das kann doch nicht alles sein, was Sie dazu zu sagen haben. Denken Sie doch mal daran, warum Sir Ian Ihnen dieses Verspreche n abgenommen hat." "Das hat er mir bedauerlicherweise nicht gesagt." Die Verfolgerautos schlössen schnell zu ihnen auf. Die beiden Wagen waren nun fast schon direkt hinter ihnen - und so rasant, wie sie über die kurvenreiche Landstraße durch die Highlands jagten, verstanden beide Fahrer ihr Handwerk. "Na", half Valerie ihm auf die Sprünge, "doch sicherlich deshalb, weil er in Sorge ist, daß Sie anderenfalls eine seiner wertvollen Limousinen beschädigen könnten. " -96-
"Das klingt logisch. " "Na also! Aber - wenn Sie jetzt nicht schnell davonfahren und sich über diese Zusage hinwegsetzen, dann wird genau das passieren. Sie haben doch gemerkt, daß sie sogar auf den Wagen geschossen haben. Ahm, mal ganz abgesehen von uns." Elwood verharrte nachdenklich. "Das ist eine schwierige Entscheidung. Die Situation ist so... paradox. " Da hatte sie der erste Wagen bereits erreicht und tauchte rechts von ihnen auf, wobei der Fahrer seine Geschwindigkeit anpasste. Es handelte sich um den Polizeiwagen. Diesmal hatte man darauf verzichtet, das Blaulicht einzuschalten. Es war nicht mehr nöüg, die Scharade weiter aufrecht zu erhalten. Verwundert bemerkte Valerie, daß man nicht erneut auf sie geschossen hatte. Wahrscheinlich war man viel zu verblüfft darüber, sie hier mit gemächlicher Geschwindigkeit vor sich hintuckeln zu sehen, statt daß sie sich in rasender Flucht davonmachten. Und was die beiden Uniformierten erkannten, als sie sich neben ihrem Wagen befanden, dürfte sie auch nicht viel klüger machen. Hinter dem Fahrersitz sahen sie einen Elwood, der trotz der Nacht seine Sonnenbrille trug und mit stoischer Ruhe weiterfuhr. Er nahm sich während seiner Überlegungen lediglich die Zeit, kurz den Kopf zu ihnen zu wenden und den beiden ein knappes, beinahe freundlich wirkendes Nicken zu schenken insbesondere demjenigen, der Freundchen zu ihm gesagt hatte. Der Beifahrer drüben drehte die Seitenscheibe herunter, fuchtelte mit der Waffe umher und gab ihnen nachdrücklich zu verstehen, daß sie augenblicklich anhalten sollten. Seine Geste mit der Waffe war eindeutig. Der zweite Wagen, die große schwarze Limousine, fuhr derweil fast Stoßstange an Stoßstange hinter ihnen. Die Scheinwerfer waren voll aufgeblendet und erleuchteten das Wageninnere trotz der getönten Scheiben fast taghell. Valerie -97-
legte ihre eine Hand verstohlen auf den Knopf des elektrischen Fensterhebers, mit der anderen umklammerte sie ihre kleine Pistole. "Was ist nun Elwood? Fertig überlegt? Jetzt wäre ein 106 richtig passender Moment dafür!" "Anhalten!" brüllte der Uniformierte im Wagen neben ihnen und wirkte zu allem entschlossen. "Sofort anhalten!" "Ich weiß nicht...", begann Elwood. "Ich gebe euch noch drei Sekunden", brüllte der Mann. "Eins..." "Sagen Sie Sir lan meinetwegen, ich hätte es Ihnen erlaubt!" "Wirklich?" "Zwei..." Ein winziges Zögern, dann nickte Elwood. "Also gut." Der Mann neben ihnen hob entschlossen die Waffe. "Und dre..." Er kam nicht mehr dazu, auszusprechen, geschweige denn auf irgend jemanden anzulegen, denn im selben Augenblick drückte Elwood das Gaspedal bis zum Anschlag herab. Der Rover schoss wie von der Sehne geschnellt nach vorne, hatte sofort ein Dutzend Meter Abstand gewonnen und dort, wohin der Mann hatte schießen wollen, befand sich im nächsten Moment nur noch die leere Landstraße. Verblüfft hielt er einen Moment inne, dann wedelte er mit den Armen umher. "Los", raunte er seinem Kumpan zu. "Hinterher!" Der ließ sich das nicht zweimal sagen und setzte sofort zur Verfolgung an. Nur wenige Momente später reagierte auch der Fahrer der schwarzen Limousine und folgte dichtauf. Trotzdem hatte Elwood bereits ein paar hundert Meter Vorsprung gewonnen. "Bravo!" meinte Valerie. "Das ist die richtige Entscheidung -98-
gewesen. " "Aber Sie übernehmen die Verantwortung", stellte Elwood klar. Irgend etwas gefiel Valerie daran nicht, aber sie schob es beiseite. Das hatte Zeit bis später - wenn Sie lan Sutherland wiedersah. Nein, korrigierte sie sich in Gedanken. Falls sie ihn wiedersah. Noch waren sie nicht in Sicherheit. "Ja, tue ich", sagte sie. Geoffrey Barnington riss entsetzt die Augen auf und deutete nach vorne. Valerie sah es im gleichen Augenblick. Viel zu schnell rasten sie auf die nächste Haarnadelkurve zu und noch immer nahm Elwood nicht den Fuß vom Gas. "Halt! Halt!" schrie Barnington auf. Erst scheinbar viel, viel zu spät trat Elwood die Bremse, dafür aber um so kräftiger. Valerie und Barnington wurden nach vorne geworfen. Valerie prallte gegen die vorderen Sitze und Barningtons Stirn machte unliebsame Bekanntschaft mit der Frontscheibe. Schlitternd, quietschend und sich halb quer stellend, raste der Rover durch die Kurve und noch bevor Valerie und Barnington sich nieder richtig aufgerappelt hatten, lag die Kurve schon hinter ihnen und Elwood drückte erneut aufs Gas. Valerie und Barnington wurden wieder nach hinten gedrückt. Nur langsam kehrte die Farbe in das Gesicht desjungen Engländers zurück. Er rieb sich die schmerzende Stelle an seiner Stirn. Irgendwie empfand Valerie eine Millisekunde Befriedigung bei dem Gedanken, daß es ihn zur Abwechslung auch mal getroffen hatte. "Mein Gott!" stieß Barnington hervor. "Ich hätte nie gedacht, daß wir heil durch die Kurve kommen. " "Ich weiß, was du meinst." Valerie nickte. Selbst ihr wäre ein solches Meisterstück nicht geglückt. Ein kurzer Blick zurück -99-
durch die Heckscheibe zeigte ihr, daß ihre Verfolger weitaus mehr Mühe hatten, die Kurve zu nehmen und einer der Wagen wäre dabei beinahe über die Böschung hinausgeschossen. Ihr Vorsprung hatte sich rapide vergrößert. "Kein Problem", sagte Elwood ausdruckslos. "Das ist alles nur eine Sache verschiedener physikalischer Parameter. Masse, Geschwindigkeit, Rollwiderstand, Fahrbahnbeschaffenheit, Lenk..." "Schon gut, schon gut", unterbrach Valerie, als sie vorne die nächsten Kurven auf sich zukommen sah. "Wir sollten uns besser anschnallen." Das war in Barningtons Richtung gemeint gewesen. "Gute Idee", meinte dieser und wollte gerade den Gurt zuziehen, als er plötzlich zusammenzuckte und innehielt. "Was ist?" fragte Valerie. "Keine Ahnung. Fühlt sich an, als hätte mich irgend etwas gestochen. Er griff über sein rechtes Schulterblatt an seinen Rücken und tastete umher. "Nanu, was ist denn das?" murmelte er. Valerie beugte sich interessiert vor. "Was meinst du? " Er zog einen winzigen Gegenstand hervor, der an seiner Jacke gehangen hatte, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger vor seine Augen und musterte ihn ratlos. "Hm. Noch nie gesehen. Sieht aus wie ein elektronisches Bauteil. Mit einer spitzen Nadel dran." "Zeig mal her!" Valerie griff danach und sah es sich selbst an. Dann atmete sie tief ein. "Du weißt, was das ist", deutete Barnington ihre ernste Miene richtig. Sie nickte. "Ja. Das ist nicht nur ein Bauteil, sondern ein komplettes Gerät. Ein Peilsender!" Geoffrey Barnington runzelte die Stirn. "Aber wie... ich -100-
meine, wer... und vor allem, wann..." Valerie ließ die letzten Stunden kurz vor ihrem inneren Auge Revue passieren. "Die Frau im Flugzeug!" sagte sie dann mit sicherer Stimme. "Sie hat dir den Sender angehängt." Barnington rief sich die Szene ebenfalls ins Gedächtnis zurück. Dann nickte er zustimmend. "Richtig. Das muß passiert sein, als sie mich an der Schulter gepackt hat. Sie hat das genau da getan, wo der Sender gehangen hat." Er schüttelte den Kopf. "Aber warum?" "Glaub mir, das wüsste ich auch gerne. Aber immerhin erklärt es, warum sie derart aufdringlich gewesen ist. Und wie sie uns die ganze Zeit hatte folgen können. " Barnington breitete hilflos die Hände aus. "Aber wa..." Er unterbrach sich, als er merkte, daß er im Begriff stand, sich zu wiederholen. Noch ein gutes Ze ichen, dachte Valerie nebenher. Die nächsten Kurven. Wieder lenkte Elwood den Rover in einer solch halsbrecherischen Geschwindigkeit hindurch, daß Valerie neben Anerkennung fast auch so etwas wie Neid empfand. Der Mann in Schwarz erwies sich als ein Fahrer, bei dem selbst sie noch etwas lernen konnte. Nein, das war nicht ganz die richtige Bezeichnung. Lernen konnte man von ihm gar nichts. Man hätte vermutlich schon so sein müssen wie er, um ebenfalls so etwas zustande zu bringen. Valerie fragte sich unwillkürlich, über welch ein gigantisches Reaktionsvermögen der Mann in Schwarz wohl verfügen musste. Ihr Vorsprung zu den Verfolgern erhöhte sich weiter. Bald blieben die Scheinwerfer der beiden Wagen hinter ihnen in der Nacht zurück. Aber das Streulicht zeigte, daß sie die Verfolgung immer noch nicht aufgegeben hatten. Valerie konnte sich vorstellen, wie frustriert die Leute hinter ihnen sein -101-
mussten. Mit einem Fahrer wie Elwood hatten sie nicht gerechnet. Und wenn Valerie sich selbst gegenüber ehrlich war, mußte sie zugeben: sie selbst auch nicht. Aus einem scheinbaren Nachteil war mit einem Schlag ihr größter Vorteil geworden. Jetzt, da sie fast schon in Sicherheit waren, spürte Valerie Lust darauf, sich nicht so einfach mit einer Flucht zu begnügen. Dazu interessierte es sie viel zu sehr, wer ihre geheimnisvollen Verfolger waren. Und sie begann mit dem Gedanken zu spielen, wie man ihnen eine Falle stellen konnten. Doch das würde nicht einfach sein. Das einzige, was sie als Waffe vorzuweisen hatte, war ihre Plastikpistole und die war nur auf kurze Distanz effektiv. Der Gedanke daran, den Spieß umzudrehen, entschwand, als sie die nächste Kurve passierten und vor ihnen Lichter auftauchten. Ein paar Autos standen auf der Straße und vor ihnen befand sich ein beschrankter Bahnübergang. Und die Schranke war geschlossen. Elwood verringerte das Tempo und hielt hinter den bereits stehenden Wagen an. Drei Autos waren es, die auf diese Seite standen und noch einmal zwei auf der anderen. "Was soll ich jetzt tun?" fragte Elwood. Valerie war unschlüssig. Jetzt war guter Rat teuer. Stehen bleiben kam wohl nicht in Frage. Wer wüsste, wie lange es noch dauern würde, bis der Zug kam. Also umdrehen und den Verfolgern entgegenfahren sozusagen als Überraschungseffekt? Da tauchten die beiden Wagen bereits hinter ihnen auf und näherten sich schnell. "Also gut." Valerie atmete tief ein und deutete auf die Schranke. "Es hilft nichts. Wir müssen da durch." "Aber das wird den Wagen beschädigen", warf Elwood ein. "Darauf können wir jetzt keine Rücksicht nehmen. Denken -102-
Sie daran, ich trage die Verantwortung. Also los und..." Sie stockte, als sie von rechts plötzlich den Zug näherkommen sah. Eine alte Diesellok, die mehrere Dutzend Güterwaggons zog und direkt auf den Übergang zurollte. "Und beeilen Sie sich!" "In Ordnung. " Elwood war etwas zu dicht auf den letzten Wagen aufgefahren, deshalb mußte er erst ein Stück zurücksetzen. In ihrem Rücken näherten sich die beiden Verfolgerwagen. Sie mussten in weniger Sekunden hier sein. Barnington blickte mit geweiteten Augen auf den bedrohlich schnell näherkommenden Zug. "Du willst doch nicht, daß wir... daß wir...", stotterte er. "Elwood?" fragte Valerie knapp. "Schaffen wir das?" "Wenn wir in den nächsten 3,4 Sekunden losfahren, dann ja!" "Dann will ich's!" Elwood gab Vollgas. Wie von der Sehne geschnellt, schossen sie auf den Bahnübergang zu, während die Front der Diesellok bedrohlich rechts von ihnen aufwuchs. Dann war die Schranke heran und die Kühlerhaube des Rovers durchbrach das Hindernis mit Leichtigkeit. Kurz darauf ein zweites Krachen und sie waren über den Bahnübergang hinweg. Im nächsten Moment krachte es ein drittes Mal und diesmal wurden sie leicht nach vorne geschleudert. Valerie wandte den Kopf. Der Polizeiwagen der Verfolger war nur kurz nach ihnen über den Bahnübergang gejagt und ihnen aufgrund seines Geschwindigkeitsüberschusses ins Heck gefahren. Der Fahrer der schwarzen Limousine, die dem Polizeiwagen dichtauf folgte, war so wahnsinnig, es ebenfalls noch versuchen zu wollen. Doch für ihn reichte der Platz nicht mehr aus. -103-
Kaum hatten seine Vorderreifen die Schienen berührt, erfasste ihn auch schon die Front der Diesellok und hämmerte ihn mit brachialer Gewalt aus der Bahn. Scheiben klirrten, Blech kreischte, Reifen platzten, als der Wagen unbarmherzig von dem Zug mitgeschleift wurde. Nur Sekunden nach dem Aufprall war er nicht mehr als ein bizarr verbeulter Haufen Blech und dann explodierte der Tank. Valerie zuckte zusammen, als hinter ihnen vor der Lok ein großer Feuerball in den Himmel stieg. Und sie dachte daran, daß es der Wagen gewesen war, in dem die alte Frau gesessen hatte. Nun würden sie womöglich nie erfahren, was sie mit der ganzen Sache zu tun hatte. Doch für diese Gedanken war jetzt keine Zeit. Noch immer war der Polizeiwagen dicht hinter ihnen und folgte ihnen beharrlich. "Elwood!" meinte Valerie knapp. "Zeit, mal wieder Ihre Fahrkünste spielen zu lassen. Los, zeigen Sie's den beiden Möchtegernpolizisten hinter uns mal. " "Verstanden", bestätigte der Mann in Schwarz und gab wiederum Vollgas. Die Straße verlief eine Zeitlang weitgehend geradeaus und war zwar wellig, aber nicht besonders kurvig. So entschied allein die Motorstärke und da stand der Polizeiwagen dem Rover kaum nach. Wie eine Klette hing er an ihrem Heck. Nun beugte sich auch noch der Beifahrer aus dem Fenster und eröffnete trotz der rasenden Fahrt das Feuer auf sie. Wieder zischten Kugeln an dem Rover vorbei. Eine schlug in den Kofferraum ein, eine andere zerfetzte die Rückscheibe. Sofort war der Fahrgastraum von dem heulenden Fahrtwind erfüllt. "Verdammt, Elwood!" Valeries Haare wirbelten wild umher. "Machen Sie schneller!" Wieder zischten ein paar Kugeln an ihrem Wagen vorbei. -104-
Valerie wandte sich um und feuerte zwei Schüsse ab. Ohne viel Erfolg. Die Kugeln drangen nicht mal in die Karosserie ein, sondern stoben als Querschläger davon. Sie kniff die Lippen zusammen. Das hatte nicht viel Sinn. Außer, sie schaffte es vielleicht, die Frontscheibe des anderen Wagens zu zertrümmern. Doch da wurde die Landstraße abrupt wieder kurviger und machte ein genaues Zielen unmöglich. Allerdings galt das auch für ihre Verfolger. Und Elwood schaffte es, ein wenig mehr Vorsprung herauszuholen. Barnington wurde abermals ganz bleich, als er sah, wie dicht sie an einer abschüssigen Böschung vorbeirasten, die bestimmt gute dreißig, vierzig Meter in die Tiefe führte. Die Straße blieb kurvig und das war ihre Chance, sich wieder ein wenig mehr abzusetzen. Doch der andere Fahrer gab sein Bestes. Und sein Kumpan hatte offenbar gerade ein neues Magazin eingelegt und feuerte wieder. Plötzlich gab es einen großen Knall und der Rover geriet übergangslos ins Schlingern. Elwood kurbelte wie wild am Lenkrad und schaffte es, den Wagen trotzdem in der Spur zu halten. Jemand anders hätte das wohl kaum gescha fft. "Was ist los?" schrie Geoffrey Barnington. "Man hat unseren rechten hinteren Reifen getroffen", sagte Elwood mit ausdrucksloser Stimme, während er weiterhin das Lenkrad hin und her riss. Sie verloren abrupt an Fahrt und der Rover war sofort dicht hinter ihnen. "Soll ich anhalten?" fragte Elwood. "Etwa für einen Reifenwechsel?" meinte Valerie. "Nein, fahren Sie weiter, so gut es geht. Solange wir in Fahrt sind, können sie nicht vernünftig zielen. " -105-
Sie selbst allerdings auch nicht. Dafür schlingerte der Wagen viel zu sehr. Wieder krachte ihnen der Polizeiwagen ins Heck und schleuderte sie ein Stück nach vorne. Elwood schaffte es gerade noch, den Wagen auf der Straße zu halten. Den beiden Uniformierten ging es nun anscheinend nicht mehr länger darum, sie gefangen zu nehmen, sondern sie wollten sie einfach nur aus dem Weg räumen. Und da kam ihnen dieser Straßenabschnitt gerade recht. "Elwood!" rief Valerie. "Können Sie nicht irgend etwas unternehmen? " "Ich fahre so schnell wie möglich. " "Das meine ich nicht. Machen Sie irgend etwas anderes. Etwas, womit die da hinten nicht rechnen. " Elwood hob eine Augenbraue. Er schien nachzudenken. Wieder nahm der Polizeiwagen hinter ihnen Schwung, um sie mit einem weiteren kräftigen Stoß von der Landstraße zu rammen. 115 "Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen", sagte Elwood. Der Polizeiwagen war fast heran. Doch kurz bevor er sie erneut ins Heck traf, riss Elwood plötzlich das Lenkrad stark herum und zog gleichzeitig mit der anderen Hand die Handbremse an. Sofort schleuderte der Rover halb um seine eigene Achse und der Polizeiwagen schoss an ihnen vorbei ins Leere. Alles ging furchtbar schnell. Wieder und wieder wirbelte der Rover um die eigene Achse, bis er schließlich mitten auf der Landstraße zum Stillstand kam. Ihre Verfolger hatte es weitaus schlimmer erwischt. In der Erwartung des Aufpralls hatte der Fahrer noch einmal richtig Vollgas gegeben und das wurde ihm jetzt zum Verhängnis. In rasender Fahrt näherten sie sich der Kurve mit dem Abhang, in den sie eigentlich die Abenteurer hatten befördern wollen. -106-
Der Fahrer versuchte noch, das Unvermeidliche zu verhindern, doch es war bereits zu spät. Vom eigenen Schwung getragen, brach der Wagen über die Böschung hinweg und stürzte den Abhang hinunter. Einen Lidschlag später war er aus dem Blickfeld der Abenteurer verschwunden. Als sie aus dem Wagen stiegen, hörten sie bereits das dumpfe Krachen des Aufschlags und kurz darauf stieg ein weiterer Feuerball in der Nacht. Als sie die Kurve erreichten und den Abhang hinunterblickten, sahen sie tief unten nur noch das brennende Wrack des Polizeiwagens. Keine Frage, keiner der beiden Insassen konnte das überlebt haben. Valerie verspürte Erleichterung und Enttäuschung zugleich. Erleichterung, weil sie mit dem Leben davongekommen waren und Enttäuschung, weil damit die Chance dahin war, von ihren Verfolgern zu erfahren, wer sie beauftragt hatte. "Wir sollten die Polizei verständigen", sagte Valerie. "Aber diesmal die echte." Sie taten das über das Autotelefon im Rover. Es dauerte nicht lange, bis ein paar Einsatzfahrzeuge vor Ort waren. Man hatte sie bereits zu dem Bahnübergang gerufen, wo der erste Unfall passiert war. Valerie und Barnington mussten ausführlich zu Protokoll geben, was passiert war, während ein paar Bergungsleute den Abhang hinunterstiegen und alsbald signalisierten, daß unten niemand mehr am Leben geblieben war. Elwood war derweil damit beschäftigt, den Ersatzreifen aufzuziehen. Es dauerte ewig lange, bis sie endlich ihren Weg fortsetzen konnten. Sutherland war über das Telefon mittlerweile ebenfalls in groben Zügen über das Geschehene informiert und wußte, daß sie später eintreffen würden. "Machen Sie sich keine Sorgen", hatte der Schlossherr in -107-
seiner besonnenen Art geantwortet. "Wir sind hier noch alle wach und warten auf Sie. Hauptsache, Sie sind mit dem Leben davongekommen. " Durch die zerborstene Heckscheibe drang auf der Weiterfahrt kalter Nachtwind in den Wagen, aber Valerie schaffte es trotzdem, noch mal einzunicken. Sie wachte auf, als der Wagen hielt und der Motor erstarb. Als sie sich aufrichtete und mit schlaftrunkenen Augen umsah, erkannte sie draußen die trutzigen, dunklen Mauern von Oake Dun, die in den Nachthimmel ragten. Sturmwolken peitschten über das Firmament und ein beständiger Nieselregen schlug gegen die Scheiben des Wagens. Valerie nickte. Ja, genau das verstand man hier in der Gegend unter einer warmen, lauschigen Sommernacht. Der Gedanke an das behagliche, gemütliche Innere des Schlosses versöhnte sie. Zum Glück hatte Elwood den Wagen direkt vor dem Haupteingang geparkt. Aus dem Gästezimmer im ersten Stock, das sie bewohnte, vermeinte sie schon ihr Bett rufen zu hören. Mehr automatisch denn bewußt erhob sie sich und stieg zusammen mit den anderen aus. Die stürmische, kalte Luft ließ sie mit einem Schlag wieder hellwach werden. Barnington war neben ihr und neigte den Kopf in Elwoods Richtung. "Wirklich ein außergewöhnlicher Fahrer. Ich habe noch niemanden gesehen, der einen Wagen so gut beherrscht!" "Und - was hältst du sonst von ihm?" "Ich weiß nicht recht. Aber ich denke, du bist mir ihn bezüglich noch ein paar gute Erklärungen schuldig." Barnington senkte die Stimme. "Auf jeden Fall ist er ganz bestimmt der mit Abstand seltsamste Mensch, dem ich je begegnet bin. Wenn er überhaupt ein Mensch ist." Sein erneuter Versuch, so leise zu sprechen, daß Elwood, der -108-
ein paar Schritte vorausgegangen war, ihn nicht hören konnte, schlug auch diesmal fehl. Der Mann in Schwarz blieb stehen und wandte sich um. "Kein Mensch?" Hätte er Emotionen ausdrücken können, es hätte fast enttäuscht geklungen. Barnington blieb überrascht stehen. "Pass auf, was du sagst", riet Valerie. "Genau das ist sein wunder Punkt." "Was du nicht sagst. Er hat mich die ganze Zeit über kaum etwas anderes gefragt." "Schätz dich glücklich! Dann scheint er offenbar viel von deiner Meinung zu halten. " "Und?" fragte Elwood. "Bin ich nun ein Mensch oder nicht?" Barnington hob die Schultern. "Ich weiß es nicht", bekannte er. "Ich auch nicht", bestätigte Elwood, drehte sich um und ging weiter auf das Schloß zu. Am Eingang erwartete sie Mortimer, der greise Schlossdiener. Trotz der fortgeschrittenen Stunde ließ er es sich nicht nehmen, sie persönlich zu empfangen. Er verneigte sich, so weit es seiner alten Knochen zuließen. "Mr. Blues. Miss Gideon. Und Mr..." "Barnington", erklärte Valerie laut. Mortimer runzelte die Stirn und sah sie fragend an. "Bei was ist er nicht vorn? " "Barnington", wiederholte der junge Engländer und streckte seine Hand zum Gruß aus. "Geoffrey Barnington. " Mortimer sah darauf, dann nickte er verstehend. Er griff mit der linken Hand an sein rechtes Handgelenk und schüttelte es. "Das hatte ich auch mal. Unangenehme Sache. Aber seit einiges Jahren geht es wieder. Dank eines alten Hausrezeptes. Kann ich Ihnen wärmstens empfehlen. " -109-
"Mortimer!" rief Valerie. "Geoffrey Barnington ist der Gast, den ich angekündigt habe!" Der Diener lauschte angestrengt und dachte kurz nach. "Schade, er hätte ihn ruhig mitbringen können. Dann hätte ich eben ein Gästezimmer mehr hergerichtet." Er sah Barnington an. "Das nächste Mal sagen Sie ihm aber bitte ruhig Bescheid." "Ah... wem? " "Na, Ihrem Gast. Aber das nächste Mal ist dafü rja noch immer Zeit. Ich würde vorschlagen, kommen Sie erst einmal herein. Sir lan erwartet Sie bereits im Kaminzimmer." Er streckte fordernd die Hand nach Valeries kleiner Reisetasche aus. Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen, sie dem gebrechlich wirkenden Diener in die Hand zu drücken, tat es aber doch. Mortimer war, was die Erledigung seiner Pflichten anging, ebenso eigen wie eifrig. Während er sie zum Kaminzimmer führte, sah Valerie sich kurz um und atmete tief ein. Ein Gefühl wie "Endlich zuhause!" machte sich in ihr breit. "Sag mal!" Wieder hatte Barnington sich neben sie geschoben. "Sind alle von A.I.M. so... seltsam? " Valerie mußte schmunzeln. Meinte er damit nun nur Elwood und Mortimer oder auch sie? Aber sie war selbstreflektierend genug, um zu wissen, daß sie nicht ganz normal und alltäglich war. "Tja, weißt du", meinte sie, "auf den ersten Blick kommt dir das vielleicht so vor. Aber warte mal ab, bis du Sir lan und die anderen kennen gelernt hast. Ich versichere dir, auf den zweiten Blick sieht das alles ganz anders aus." "Da bin ich ja beruhigt." "Ja, auf den zweiten Blick sind wir alle noch viel abgedrehter und verschrobener, als du es dir vorstellen kannst!" Er blieb abrupt stehen. "Wie bitte?" -110-
Sie lachte und stupste ihn in die Seite. "Entspann dich, war'n Scherz. Und nun komm!" Sie stellte fest, dass ihre Laune, seitdem sie das Schloss betreten hatten, spürbar gestiegen war. Sie betraten das gemütlich eingerichtete Kaminzimmer mit den schweren Ledersesseln. Hier hatten sie schon so manches Unternehmen vorbereitet und so manchen Plan ausgeknobelt. lan Sutherland empfing sie dort. Der achtund vierzigjährige schottische Lord war l ,90 Meter groß und schlank, fast schon hager. Mit seiner hohen Stirn, dem ergrauten Haar und seinem dünnen Oberlippenbart wirkte er wie die ideale Verkörperung eines distinguierten Adligen. Sein Blick war aufmerksam und wach. Neben ihm stand Connor, sein persönlicher Butler und Vertrauter. Der kräftige, rothaarige Nachkomme ehemaliger Highland-Krieger war zugleich noch weit mehr. Er beherrschte verschiedene Kampfsportarten und war ein herausragender Computerspezialist. Auch für die vielen Analysegeräte in Sutherlands kleinem Privaüabor war er zuständig. "Mr. Blues ist zusammen mit Miss Gideon und ihrem Begleiter vom Flughafen zurückgekehrt", meldete Mortimer die Besucher. "Dessen Gast hat leider nicht mitkommen können, aber ich bin sicher, dass es das nächste Mal schon klappen wird." "Wie bitte?" wunderte lan Sutherland sich. Seine hohe Stirn legte sich in Falten. "Was für ein Gast?" Valerie winkte erklärend ab. "Ach, nur das Übliche..." Sutherland verstand. "Schön dass Sie beide heil davongekommen sind." Er eilte auf den jungen Engländer zu. "Sie sind also Valeries Kampfgefährte aus alten Zeiten. " Derweil begrüßten Connor und Valerie sich mit einem kurzen Blick und Nicken. Mehr war zwischen den beiden zur -111-
Verständigung nicht nötig. "Kampfgefährte ist weit übertrieben. Ich habe ihr vor etlichen Jahren mal geholfen, als ich noch Student war. Und dafür hat sie sich nun revanchiert und mich gerettet." "Ja, so ist sie nun mal", sagte Sutherland und seinem Gesicht war nicht anzusehen, wie er es meinte. "Sie hat mich bereits telefonisch aus Bangkok in groben Zügen unterrichtet. Und nach allem, was ich gehört habe, kann ich nur sagen: Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. " "Die Freude ist ganz meinerseits." Sie schüttelten sich die Hände. "Wie ich gehört habe, sind Sie auf Dinge gestoßen, die für uns von außerordentlichem Interesse sein könnten", sagte Sutherland. "Ja", konterte Barnington. "Und wie ich hörte, wissen Sie darüber einiges mehr, was für mich von außerordentlichem Interesse sein könnte!" lan Sutherland lächelte anerkennend. "Ich denke, wir werden uns mit Sicherheit einiges zu erzählen haben. Darf ich Ihnen erst einmal Connor, einen meiner engsten Mitarbeiter, vorstellen? " Er deutete auf seinen persönlichen Diener, der Barnington mit Handschlag und einem offenen Blick in die Augen begrüßte. Währenddessen trat lan Sutherland auf Valerie zu und nahm sie für einen kurzen Moment stumm in den Arm. Sie schloss ebenso lange die Augen und nickte ihm dankbar zu, als sie sich wieder lösten. Sie wusste, was er damit ausdrücken wollte. Vor einiger Zeit, als sie durch einen Parasiten in ihrem Kopf zu einer willenlosen Marionette ihres Gegenspielers Kar gemacht worden war, hatte sie ihn nicht nur an-, sondern beinahe auch erschossen. Sie hatte direkt auf seinen Kopf angelegt ge habt und auch abgedrückt und dass er heute trotzdem noch lebte, war einzig und allein der Tatsache zu verdanken gewesen, dass sie ihren Revolver zuvor leergeschossen hatte. Etwas, das ihr -112-
damaliger Lenker Kar übersehen hatte. Sutherland trug ihr diese dunk le Episode nicht nach und sie war ihm dankbar dafür. Im Gegenteil, durch diese Begebenheit und die lange Sorge darüber, ob sie je wieder von dem Parasiten befreit werden könnte, schien ihr Verhältnis sogar noch an Verbundenheit gewonnen zu haben. Sie war froh, dass er es ihr auch nicht übelgenommen hatte, dass sie sich nach der Befreiung von dem Parasiten und ihrer Genesung entgegen seines Wunsches vom A.I.M.-Team getrennt und auf eigene Faust nach Kar gesucht hatte. So war es gekommen, dass sie sich im ent scheidenden Moment in seiner Pyramide wiedergetroffen hatten. Der Earl of Oake Dun wandte sich wieder Barnington zu. "Ich habe Mortimer bereits ein Gästezimmer herrichten lassen. Ich denke, dass Sie nach der langen Reise und dieser mysteriösen Verfolgungsjagd sicherlich müde sind." "Sie sprechen mir aus dem Her...", begann Valerie. "Aber wieso denn das?" unterbrach Barnington sie. "Ich könnte jetzt ohnehin nicht schlafen. Dazu war ich viel zu gespannt darauf, Sie endlich kennen zu lernen. " "Aber es ist scho n weit nach Mitternacht", gab Connor vorsichtig zu bedenken. "Wir haben ja keine Eile." "Ich weiß. Natürlich können wir heute nicht alles besprechen. Das habe ich auch gar nicht vor. Aber ich bitte Sie: Ein paar, wenigstens ein paar wenige Antworten möchte ich doch haben. " lan Sutherland überlegte kurz. "Also gut. Ihre letzten Tage waren anstrengend, nicht meine. Wenn Sie unbedingt wollen. " Barnington nickte eifrig. "Danke." Sutherland deutete auf die Sitzgruppe. "Machen Sie es sich schon mal bequem. Ich werde Mortimer bitten, uns allen einen -113-
stärkenden Tee zu machen. " Während der greise Diener verschwand, wandte Ian Sutherland sich an Connor. "Wo ist eigenüich Mr. Leroy? " "Pierre ist auf dem Schloss?" fragte Valerie erstaunt. Mit dem Franzosen hatte sie gemeinsam schon so manches Abenteuer durchgestanden. Dabei hatten sie sich langsam schätzen gelernt, obwohl sie sich anfänglich gar nicht hatten leiden können. "Ja. Er ist vor ein paar Tagen von erfolglosen Recherchen in Frankreich zurückgekehrt." An Sutherland gewandt, fügte Connor hinzu: "Aber wo er sich im Moment aufhält, weiß ich nicht. Vielleicht ist es ihm zu spät geworden und er ist bereits zu Bett gegangen. " "Sehen Sie bitte nach, Connor. Ich denke, ihn wird das hier ebenso interessieren wie uns." Der schottische Butler nickte und machte sich auf den Weg. Sutherland zog Valerie auf den Ausgang zu. "Ah, auf ein kurzes Wort. Sie entschuldigen uns doch einen Moment, Mr. Barnington? " Der Angesprochene, der fast völlig in dem tiefen Ledersessel verschwand, nickte. Nachdem sie draußen auf dem Korridor waren, wollte lan Sutherland natürlich sofort mehr über die rätselhaften Verfolger wissen. Doch Valerie war in dieser Hinsicht genauso ratlos wie er. Man würde erst abwarten müssen, was die Untersuchungsergebnisse der Polizei ergaben. Vielleicht konnte man über die Nummernschilder oder andere Dinge Näheres in Erfahrung bringen. Aber sie beide waren da nicht sehr optimistisch. Dann wechselte lan Sutherland das Thema. "Was haben Sie ihm gesagt?" fragte er und es war klar, dass er Geoffrey Barnington meinte. "Ich meine, über uns und den Rest?" "So gut wie nichts. Ich dachte, Sie entscheiden, inwieweit Sie ihn einweihen. " -114-
Sutherland nickte zufrieden. Nichts anderes schien er erwartet zu haben. "Und? Welchen Eindruck haben Sie von ihm? Ist er vertrauenswürdig? " "Vergessen Sie nicht, ich sehe ihn nach fast zehn Jahren gerade zum zweiten Mal." "Und? Haben Sie deshalb Ihre Menschenkenntnis verloren?" Valerie dachte kurz nach. "Ja, ich denke, er ist vertrauenswürdig. Er redet etwas viel, ist starrköpfig und sicherlich alles andere als ein Held. Aber ich glaube, er ist ein anständiger Kerl und außerdem Forscher mit Leib und Seele." Sutherland nahm es erstaunt zur Kenntnis. Aus Valeries Mund war das schon ein großes Lob. "Gut. Ich werde es berücksichtigen. " "Und Sie haben sicherlich nichts dagegen, wenn ich mich kurz etwas frisch mache. Im Gegensatz zu Geoffrey kann ich meine Augen kaum mehr offen halten. " "Nein, gehen Sie nur. Wir treffen uns dann nachher gleich wieder." Valerie setzte sich in Bewegung. "Ach ja, eine Frage noch!" hielt Sutherlands Stimme sie zurück. Sie wandte sich um. "Ja?" "Sagen Sie, was haben Sie eigentlich mit ihrem Haar angestellt?" "Meinem Haar?" Erst als sie sich dorthin griff, verstand sie, was er meinte. Ihre schulterlange Löwenmähne war verschwunden und hatte einer vergleichsweise kurzen Pagenfrisur Platz gemacht. "Ach so", meinte sie unglücklich. "Das ist eine Erinnerung an den Besuch bei meinem Bruder in Frankfurt. Er hat darauf bestanden, dass ich mich für einen gesellschaftlichen Empfang etwas feinmache und ich bin so dumm gewesen, mich darauf einzulassen." Sie seufzte. "Aber in -115-
einem halben Jahr dürften auch die letzten Spuren davon verschwunden sein. " "Machen Sie sich deswegen keine große Gedanken", versicherte er und lächelte ihr aufmunternd zu. "Sie machen mit jeder Frisur eine gute Figur." Sie verstand, dass er ihr damit sein Mitgefühl zeigen wollte. Und wie es schien, tat er es aus weitaus ehrlicheren Motiven als ihre ehemaligen Geheimdienstführer. Sie hatte keinerlei Grund, ihm zu misstrauen. Trotzdem, ein Rest Zweifel blieb. Valerie verfluchte sich selbst dafür, derart zu denken. "Sorgen machen wegen meiner Haare? Da schätzen Sie mich falsch ein. Aber Sie können nicht verlangen, dass ich darüber besonders froh bin. " "Sonst alles in Ordnung?" Sein Blick besagte, dass er damit die lädierten Stellen in ihrem Gesicht meinte. Sie betastete vorsichtig ihre Nase und fuhr mit der Zungenspitze von innen prüfend über die geschwollene Lippe. "Äh, das waren alles die Entführer." Ihr fiel ein, dass Sutherland davon noch gar nichts wissen konnte. Das letzte Mal hatte sie vor dem Abflug in Bangkok mit ihm telefoniert. "Äh, ich meine nicht die im Dschungel, sondern die im Flugzeug. " Er hob fragend seine ergrauten Augenbrauen. "Erzähle ich Ihnen alles später", sagte sie. Damit ging sie hinauf in ihr Zimmer. Als sie Minuten später nur mäßig erfrischt wieder herunterkam, erwartete sie Connor vor der Tür zum Kaminzimmer. Auch Sutherland kam weder herbei - unter dem Arm ein paar Unterlagen, die für das Gespräch mit Barnington bestimmt waren. "Ich habe Pierre Leroy nirgendwo finden können", bekannte der Butler. "In seinem Zimmer ist er nicht. Aber ich habe in der Kürze der Zeit nicht überall nachsehen können. " -116-
"Hm", machte Sutherland nachdenklich. "Wo sollte er sich um diese späte Zeit noch rumtreiben? " "Das wüsste ich auch gerne." "Na, egal. Die Besprechung mit Mr. Barnington hat Vorrang. " "Der Tee ist fertig", meldete Morümer und kam mit einem Tablett herbei, auf dem mehrere dampfende Tassen standen. "Gut, dann lassen Sie uns hineingehen. " Als sie das Kaminzimmer betraten, erwartete sie eine Überraschung. Geoffrey Barnington schlummerte in dem Ledersessel tief und fest vor sich bin. Ihr Hereinkommen bemerkte er gar nicht. "Mr. Barnington!" Connor beugte sich über den jungen Engländer. "Hören Sie mich? " Barnington hörte nicht. "Mr. Barnington!" wiederholte Connor etwas lauter. "Wachen Sie auf!" Dieser grunzte nur leise etwas Unverständliches, drehte sich zur anderen Seite und schlief weiter. Connor rüttelte ihn an der Schulter. Vergebens. "Lassen Sie's gut sein, Connor", sagte Sutherland. "Lassen wir ihn schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag. " "Tja", meinte Valerie und deutete auf den jungen Engländer. "Das ist also Barnington. Wie er leibt und... äh... schläft." "Was ist nun mit dem Tee?" fragte Mortimer hilflos. "Stellen Sie ihn einfach hin." Sutherland deutete auf den Tisch inmitten der Sitzgruppe. "Ein Schluck wird uns gut tun, bevor wir zu Bett gehen. " Mortimer tat, wie ihm geheißen. Alle Blicke richteten sich auf Elwood, der wie unbeteiligt im Hintergrund des Raumes stand. Er war der einzige, der die ganze Zeit hier gewesen war. -117-
"Sagen Sie, Elwood", meinte Sutherland, "wie hat es passieren können, dass Barnington eingeschlafen ist?" "Das vermag ich nicht genau zu beantworten. Sie wissen, wie schwer es für mich ist, mich in die Psyche und Verhaltensabläufe eines Menschen hineinzuversetzen. Die Zusammenfassung der objektiven Beobachtung lautet: Er hat dort gesessen, dann schlössen sich seine Augen, sein Körper sank in sich zusammen und irgendwann begann er zu schlafen. " "Das können wir uns schon denken", meinte Connor. "Aber wieso haben Sie ihn nicht wachgehalten? Warvim haben Sie ihm zum Beispiel nichts erzählt?" Elwood wirkte ratlos. "Warum hätte ich sollen? Er hat mich nach nichts gefragt." Gegen diese Logik ließ sich nichts vorbringen. Vor allern nicht bei Elwood. "Da wir jetzt sozusagen unter uns sind", fragte Connor und sah Valerie an, "darf ich Sie etwas fragen? " "Nur zu!" "Was ist mit Ihren Haaren passiert?" Valerie verzog das Gesicht. Ihr lag etwas auf der Zunge wie: "Das geht Sie überhaupt nichts an!" Doch sie hielt sich zurück. Schließlich konnte Connor nichts dafür, dass sie diese Frage so nervte. "Ihrem Haar?" wunderte Mortimer sich und musterte Valerie forschend. "War es denn vorher irgendwie anders?" Valerie sah ihn nahezu dankbar an. "Ach, Mortimer! Sie sind süß! Manchmal könnte ich Sie regelrecht knutschen! " Mortimer blickte erstaunt, aber nicht ganz unglücklieh drein. Er rieb sich über seine eingefallenen Wagen. "Nun, wenn sie meinen. " Valerie sprang auf und drückte ihm einen dicken kuss auf die Wange. "Hier. Das haben Sie sich verdient." -118-
"Also, ich weiß zwar nicht, womit, aber ich muss sagen, dass es mir nicht unangenehm ist." Er blickte in die Runde. "Wenn Sie meine Dienste nun nicht mehr benötigen, würde ich mich mit diesem erfreulichen Tagesabschluss gerne in meine privaten Gemächer zurückziehen. " "Gehen Sie ruhig, Mortimer", sagte lan Sutherland. Er trank des Rest seines Tees aus. "Und ich denke, für uns wird es auch langsam Zeit." "Es gibt da noch ein paar Dinge, die ich nicht verste- 129 he", meldete Elwood sich zu Wort. Er sah Valerie an. "Wie kann Mortimer Ihrer Einschätzung nach süß sein? Haben Sie ihn denn probiert? Und widerspricht Kannibalismus, selbst wenn er womöglich Stückchenweise ausgeführt wird, nicht Ihrem ethischen Selbstverständnis?" "Elwood, das verstehen Sie vollkommen falsch! " "Tue ich? " "Ja! Denn, wissen Sie, manchmal können auch Sie richtig süß sein!" "Ich?" "Ja und das auch ohne dass ich Sie probiert hätte!" "Wie ist das möglich?" wunderte er sich. "Das erkläre ich Ihnen ein anderes Mal. " "Ein anderes Mal. Gut. Das verstehe ich sehr gut. Dann hätte ich noch eine andere Frage." Valerie seufzte. Schade, dass der Mann in Schwarz nicht wusste, was Müdigkeit, Genervtheit und Erschöpfung bedeuteten. "Und die wäre?" "Es betrifft Ihr Haar. Es ist im Vergleich zu Ihrem letzten Aufenthalt hier auf Oake Dun tatsächlich um einiges kürzer geworden. Und auch die Form hat sich verändert." -119-
"Danke, Elwood", meinte Valerie. "Sie sind wirklich überaus höflich und dezent." Er hob eine Augenbraue. "Bin ich? Dessen war ich mir gar nicht bewusst. Es lag mir nur daran, objektive Fakten zu benennen, über die offenbar ein subjektiver Dissens herrscht. Darf ich fragen, worin dieser genau besteht?" "Wie war's, wenn Sie ihn fragen?" Valerie deutete auf Connor. "Er wird Ihnen das schon beantworten können!" Elwoods Blick richtete sich auf den Butler. "Können Sie?" Connor seufzte. "Später, Elwood, später." "Später, verstehe." "Und was mich angeht", meinte Valerie. "Mein Bett ruft. Ich hoffe, es kommt niemand auf die Idee, mich vor morgen Mittag zu wecken." Sie wartete noch eine Sekunde, um zu sehen, ob jemand Einwände dagegen hatte. Niemand hatte. "Schlafen Sie sich ruhig aus", meinte Sutherland wohlwollend. Er sah zu Barnington. "Die Frage ist nur, wie wir ihn ins Bett bekommen. " "Lassen Sie das bitte meine Sorge sein", erbot sich Connor. "Ich werde ihn schon ins Bett bekommen. " Er bemühte sich ein paar Mal, den Engländer wachzubekommen. Vergeblich. Barnington schlief so tief und fest, dass er vermutlich sogar den Weltuntergang verpasst hätte. Connor winkte Elwood herbei. "Helfen Sie mir! Wir bringen ihn in das Gästezimmer, das Mortimer vorbereitet hat." Zusammen trugen sie ihn hinaus, ohne dass er aufwachte. Valerie schüttelte den Kopf. Hätte Geoffrey es geschafft, vorher ein wenig zu schlafen, hätte er sich diese Peinlichkeit ersparen können. Zusammen mit Sutherland verließ auch sie das Kaminzimmer und wandte sich zur Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Dort oben befanden sich die privaten Wohnräume -120-
und Gästezimmer von Oake Dun. Sie waren beide überrascht, als sich plötzlich eine Seitentür öffnete, die zu den ausgedehnten Kelleräumen des Schlosses führte. Dort unten befanden sich die Laborräume sowie Sutherlands sogenannte "Rumpelkammer", in der die verschiedenartigsten Artefakte lagerten, die er in den letzten Jahrzehnten zusammengetragen hatte. Manche harrten noch immer einer ausgiebigen Untersuchung. Sutherland wünschte sich, er hätte die Möglichkeiten gehabt, noch mehr Mitarbeiter zu beschäftigen, um alles aufzuarbeiten, was in den letzten Jahren liegengeblieben und darüber fast in Vergessenheit geraten war. Seit einiger Zeit schon beschäftigte er sich damit, wie er die Wirkungskreise von A.I.M. erweitern und effektiver gestalten konnte. Die Zusammenarbeit mit einen größeren archäologischen Institut wäre eine Möglichkeit gewesen. Aber er hatte Bedenken, damit seine Unabhängigkeit zu verlieren und diese war ihm stets das Wichtigste gewesen. Pierre Leroy trat aus der Tür hervor. Der drahtige, schwarzhaarige Franzose mit dem dünnen Oberlippenbart zuckte zusammen, als er den Schlossherrn erblickte. Etwas ungeschickt versuchte er eine halbvolle Flasche Wasser hinter seinem Rücken zu verbergen. Wie immer trug er dunkle Kleidung. "Mr. Leroy!" sagte lan Sutherland. "Da sind Sie ja! Connor hat Sie schon überall gesucht." "Mich?" Er war nur 1,70 Meter groß und musste den Kopf etwas in den Nacken legen, um zu Sutherland hinaufzuschauen. "Ah... warum?" "Haben Sie es vergessen? Wir haben Besuch bekommen. " Er trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf die Israelin frei. "Valerie!" Pierre war überrascht. "Du bist schon zurück?" -121-
Sie wollte den Mundwinkel verziehen, brach es aber ab, weil ihre geschwollene Lippe zu sehr dagegen protestierte. "Nein, ich bin noch unterwegs. Was hier vor dir steht, ist nur eine Projektion von mir." Er räusperte sich. Ja, genauso launig kannte er sie. "Na ja, wie auch immer. Schön, dich..." Er zögerte kurz, "...gesund wiederzusehen. " Sie hob abwehrend die Hände. "Bitte nur keine übertriebenen Wiedersehenszeremonien!" "Keine Bange." Er kannte ihren Widerwillen gegen jede Form von Herzlichkeit oder körperliche Nähe. "Hatte ich nicht vor." Er deutete auf ihr Gesicht. "Darf ich dich fragen, was..." "Nein", beschied sie knapp, "darfst du nicht!" Er kniff die Lippen zusammen. Diese gereizten Reaktionen von ihr war er gewohnt und er wusste, dass es in solchen Augenblicken keinen Sinn hatte, weiter in sie zu dringen. Also versuchte er es gar nicht erst. "Was haben Sie überhaupt im Keller gemacht?" wunderte sich Sutherland. Pierre Leroy wirkte einen kurzen Moment lang verunsichert. Dann lächelte er mit entwaffnender Offenheit. "Nun, ich... äh... habe mir noch einmal ein paar der alten Fundstücke vorgenommen. Ich hatte gehofft, ihnen vielleicht ein paar ihrer Geheimnisse entlocken zu können. " Valerie, die Pierre mittlerweile gut kennengelernt hatte, kam diese Erklärung etwas fadenscheinig vor. Aber sie hatte in ihrer Verfassung keine Lust, sich darüber Gedanken zu machen. "Und", erkundigte sich Sutherland. "Wie haben Sie das versucht?" Pierre Leroy machte ein unglückliches Gesicht. "Ich muss zugeben, eigentlich habe ich mehr oder minder nur vor den Artefakten gesessen und sie in der Hoffnung 133 angestarrt, mir -122-
würde in der Stille dort unten irgendeine Idee kommen. " Valerie runzelte die Stirn. Der quirlige Franzose und Stille das war eine Kombination, die sie sich nur schwerlich vorstellen konnte. "Ich verstehe", sagte Sutherland. "Das geht mir bisweilen auch so. Aber leider bleibt mir für so etwas wenig Zeit." "Was ist nun mit Valeries Begleiter?" erkundigte Leroy sich. "Habe ich irgend etwas verpasst?" "Keine Bange", meinte Valerie. "Die Hauptperson des heutigen Abends ist vorhin einfach eingeschlafen. " "Connor und Elwood haben ihn in ein Gästezimmer gebracht", sagte Sutherland. "Wir haben alles Weitere auf morgen verschoben. " Valerie gähnte. "Schlafen - das ist auch mein Stichwort. Gute Nacht." Sie wollte sich abwenden und hielt inne, als sie sah, dass Leroy noch etwas auf dem Herzen zu haben schien. "Ja, was gibt's noch? " "Wenn du mir die andere Frage schon nicht beantworten willst, sagst du dann wenigstens, was mit deinem Haar geschehen ist? Wo sind deine Locken geblieben? " Valeries strafender Blick traf ihn voller Verachtung. Dann drehte sie sich wortlos um und ging. "Aber..." Pierre sah Sutherland an und breitete hilflos die Arme aus. "Was hat sie denn? Habe ich irgend etwas Falsches gesagt?" "Ach, nehmen Sie es ihr nicht krumm. Sie hat einfach nur ein paar anstrengende Tage hinter sich. " "Das glaube ich gerne." Pierre seufzte. "Nur hat sie fast immer anstrengende Tage hinter sich. "
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4. Kapitel Irgendwo im Himalaya I Der Himalaya mit seinen Tausenden und Abertausenden von schneebedeckten Gipfeln, Hochebenen, Bergseen und abgrundtiefen Schluchten war derart groß, dass allein seine Ausdehnung eine schier unlösbare Herausforderung an die Vorstellungskraft des menschlichen Geistes darstellte. Es gab unzählige Täler, die schon seit Jahrtausenden nicht mehr - oder womöglich sogar noch nie von eines Menschen Fuß betreten worden waren. Auch in viele andere verirrte sich nur äußerst selten jemand. Eines dieser Täler war das, in dem das Kloster Gompa lag. Zugleich war der Himalaya ein Hort uralter Geheimnisse. Einige von ihnen waren so geheim, dass kaum mehr als eine Handvoll Eingeweihter davon Kenntnis hatten. Andere wiederum schienen unwiederbringlich vergessen zu sein. Sie existierten oftmals nur noch in Form von steinernen Inschriften oder anderen Aufzeichnungen an versteckten und verschollenen Orten, zum Teil in längst vergessenen Sprachen. Einer der sowohl geheimsten wie auch geheimnisvollsten Orte war das Kloster Gompa. Diejenigen, die den Weg hierher fanden - und das geschah niemals zufällig - waren fast ausnahmslos Eingeweihte oder aber bedingungslos ergebene Diener. In seltenen Fällen kam es auch vor, dass Gäste hierher geführt wurden. Hätte ein solcher später allerdings versucht, das Kloster auf eigene Faust wiederzufinden, so wäre es ihm nicht gelungen. Selbst wenn er es geschafft hätte, dieses abgelegene Seitental in über dreitausend Metern Höhe wiederzufinden - nach tagelangen Fußmärschen, denn eine andere Möglichkeit, hierher zu gelangen, gab es nicht -, so hätte er nach seiner Ankunft doch nur feststellen können, dass ringsum zwar alles genauso aussah -124-
wie bei seinem Besuch... mit der einzigen Ausnahme, dass es hier weit und breit kein Kloster gab! Auch diejenigen, die in den Genuss gekommen waren, Gompa zu besuchen, würden das Kloster recht unterschiedlich beschreiben. Für manche war es eine einsame, hölzerne und baufällig anmutende Eremitage, kaum zwei, drei Zimmer groß; für andere war es ein unübersichtliches Gewirr steinerner Bauten, die die Flanke eines weit aufragenden Berges empor krochen. Doch da sie nie Gelegenheit hatten, ihre unterschiedlichen Eindrücke auszutauschen, gab es niemandem, dem diese Widersprüche aufgefallen wären. Die wenigen, die wussten, was Gompa wirklich war, waren sich darüber bewusst, wodurch diese wechselnden Eindrücke hervorgerufen wurden: Es war die Beschränktheit des menschlichen Geistes und der Aufnahmefähigkeit der allzu materiell ausgerichteten menschlichen Sinne. Da niemand der Gäste das wirkliche Wesen Gompas zu fassen vermochte, behalf sich ihr Geist mit eigenen Vorstellungen. Doch diese waren genau betrachtet nur allzu irreal und bestenfalls eine Annäherung an einen kleinen Teilaspekt der Wirklichkeit. Die Eingeweihten erwiesen den irrenden Menschen gegenüber in diesem Punkt gerne Nachsicht. Schließlich wussten sie, dass deren Blindheit nur der Unfähigkeit entsprach, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie war. Diese lebten mit ihren Vorstellungen und allgemeinen Übereinkünften von Realität und hielten diese infolgedessen wirklich für real - ohne zu merken, welchen Kardinalfehler sie begingen. Köpfe, die sich über diesen Erkenntnisstand hinaufschwangen und über den Tellerrand der fünf Sinne und der Rationalität hinausblickten, gab es nur wenige. Aber sie waren unersetzlich wertvoll und leuchteten wie funkelnde Diamanten inmitten einer dunklen Kohlestaubwüste - dem Element, aus dem sie komprimiert und geboren worden waren. Doch gleichgültig, welchen Eindruck ein Besucher vom -125-
äußeren Anschein des Klosters hatte und wie er es beschrieben hätte, die Räume im Innern waren immer gleich. Es gab unendlich viele Kammern und Räume. Einige davon ragten in Dimensionen hinein, die sich selbst dem Geist Eingeweihter entzogen und es war gut daran getan worden, die Türen dazu seit langer, langer Zeit nicht mehr zu öffnen. Einige von ihnen waren womöglich noch nie geöffnet worden. Aber das war eine unzulässige Formulierung. Denn bereits in den Korridoren vor den Türen zu diesen besonders brisanten Räumen war ein linearzeitlicher Begriff wie "noch nie" eine reine Illusion. "Noch nie" konnte gewesen sein, erst kommen... oder niemals stattfinden. Nicht umsonst lag das Kloster ausgerechnet in diesem Seitental. Dies war ein Ort, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander flössen - ein Ort, in dem die Zeit gleichsam transparent war. Die nicht eingeweihten Helfer, die hier lebten - Mönche, Schüler und andere -, hinterfragten diese Mehrgestaltigkeit längst nicht mehr. Denn hätten sie es getan, hätten sie überhaupt nicht hier leben können, waren sie selbst doch nichts anderes als ein Teil jener Mehrgestaltigkeit. Dennoch war jeder von ihnen freiwillig hier. "Es ist jetzt von äußerster Wichtigkeit, nicht unbedacht zu handeln." Derjenige, der sprach, war Paldan Manjushi. Der kahlgeschorene, hochgewachsene Tibeter mit den edlen Gesichtszügen war der Vorsteher und Lama dieses Klosters. Er war der größte Geheimnisträger und zugleich auch der Hüter der Geheimnisse dieses Ortes. Er befand sich in einem gänzlich weißen, wie getüncht wirkenden Raum, der nur einen einzigen Einrichtungsgegenstand aufwies: einen etwas mehr als einen Meterhohen, dreibeinigen massiven Steinhocker. Paldan nutzte -126-
ihn dennoch nicht, um sich darauf zu setzen. Er saß unweit davon in Lotushaltung knapp über dem Boden und vollführte ein paar einfache Levitationsübungen. Sie halfen ihm, sich besser zu konzentrieren und sein Bewusstsein weit dem Geist zu öffnen, den er seit einiger Zeit in sich beherbergte. Auf diese Aufgabe war er sein gesamtes Leben lang vorbereitet worden. "Ich handle nicht unbedacht", antwortete Manjushi scheinbar auf seine eigene Frage. Diesmal jedoch war es der Geist in seinem Innern, der aus seinem Mund sprach. Sie hätten sich auch rein gedanklich verständigen können, hatten diese Form der Zwiesprache jedoch gewählt, weil sie dadurch gezwungen waren, oftmals konfuse Gedanken genau zu formulieren und exakt auszusprechen. Das betraf vor allem Cahuna. Das war der Name des körperlosen Geistwesens, das er beherbergte. Er war ein alter atlantischer Geist, der die Jahrtausende überdauert 138 hatte und nun wieder erwacht war, um die Erde und die Menschheit vor einer uralten Gefahr zu bewahren - einer Gefahr, die draußen in der Menschenwelt im Laufe der Zeit längst vergessen worden war. "Ich höre nur auf meine Gefühle", sprach Cahuna durch Manjushis Mund weiter. "Und die besagen, dass ich meiner Aufgabe folgen muss." "Gefühle sind ein schlechter Ratgeber", war da eine weitere Stimme in dem Raum. Obwohl es keinen Mund gab, der sie aussprach, waren die Worte doch klar und deutlich zu vernehmen. Sie klangen wie die Stimme einer älteren Frau. Manjushi wusste, wodurch sie entstanden. Die Luftmoleküle in dem Raum gerieten in Schwingung und bildeten Schallwellen, die diesen Effekt hervorriefen. "Vor allem für jemanden, in dessen Händen so viel Verantwortung liegt wie in deinen. " Der Lama hob seine Hände und blickte darauf. "Meine Hände..." sagte Cahuna. Manjushis Kopf wandte sich dem -127-
dreibeinigen Hocker zu. "Und was verstehst du schon von Gefühlen? Hast du überhaupt welche?" "Ich darf dir versichern, ich habe Gefühle", antwortete wieder die körperlose Frauenstimme. Sie wurde von dem Hocker erzeugt. "Selbst wenn sie gänzlich anderer Art sind als deine. Aber ich muss diese nicht haben, um sie zu verstehen. " In Manjushis Gesicht zuckte es und aus seiner ruhigen Levitation wurde ein unruhiges Schaukeln. Er hatte Mühe, die Konzentration zu wahren. Es waren Cahunas Gefühle, die ihn störten. Er hatte Mühe, die nötige geistige Ausgeglichenheit zurückzuerlangen, um seinen Schwebezustand zu stabilisieren. Das Geisteswesen, das er beherbergte, war gänzlich anders, als er es in den langen Jahren, die er darauf vorbereitet worden war, erwartet hatte. Vor allem viel emotionaler. Es gab dadurch immer wieder Schwierigkeiten, mit denen er nie gerechnet hatte. Aber es stand ihm nicht zu, sich darüber zu beschweren. Selbst wenn er vieles anders gemacht hätte, er diente in diesem Fall lediglich als Gefäß. Mehr als ein sanfter Ratgeber konnte er nicht sein. Das hätte seiner Aufgabe widersprochen. "Dann verstehst du sicherlich auch", sagte Cahuna, "dass ich nicht erweckt worden bin, um hier am Ende der Welt untätig herumzusitzen und die Dinge einfach geschehen zu lassen! " Du bist nicht untätig, raunte Manjushi ihm auf telepathischem Wege sanft zu. Seit deiner Wiedererweckung arbeitest du an deiner vordringlichsten Aufgabe und die ist es, sich der Augen zu bedienen, die dir zur Verfügung stehen, um dir einen Überblick zu verschaffen. Erst dann ist die Zeit entschlossenen Handelns gekommen. Mein Überblick mag noch nicht groß genug sein, antwortete Cahuna. Aber deswegen darf ich nicht ewig warten. Mit jedem Tag, der unnütz vergeht, kann die andere Seite ihre Kräfte mehr -128-
und mehr bündeln. "Manchmal erreicht man am meisten, indem man die Dinge einfach ihren Lauf nehmen lässt", materialisierte sich orakelhaft die Antwort über dem Hocker. Sie kam exakt erst in dem Moment, da Cahuna und Manjushi ihren kurzen inneren Dialog beendet hatten. "Und manches Mal ist ein kleiner Nadelstich wirksamer als ein großer Schlag mit aller Kraft." "Ja, du hast gut Reden! Aber ich weiß, was meine Bestimmung ist!" "Hast du je bedacht, dass du aufgrund falscher Vorzeichen erweckt worden sein könntest? Und dass für deine Bestimmung jetzt noch nicht die Zeit gekommen ist?" Manjushis Körper plumpste unsacht zu Boden. Das war eine Äußerung, die nicht nur Cahuna, sondern auch den Lama zutiefst verunsicherte. Wrenn das wahr wäre, dann hätte auch er seine Bestimmung verfehlt, denn er war nur ein Glied in einer endlosen Kette von Lamas, die in vergangenen Zeiten gleich ihm für diese Aufgabe ausgebildet und geschult worden waren. Er hatte sich glücklich geschätzt, der Auserwählte sein zu dürfen, der dieser Bestimmung endlich gerecht wurde. Kein Wunder also, dass eine solche Möglichkeit, wie der Hocker sie andeutete, selbst einen ausgeglichenen Geist wie den seinen ins Taumeln brachte. Manjushi wusste, dass der Hocker so etwas niemals einfach nur unbedacht geäußert hätte - und dass dieser zugleich einen übergeordneten Einblick in die Dinge hatte, der den seinen weit überstieg. Denn bei diesem Hocker handelte es sich um das antike Orakel von Delphi! Die Frage war lediglich, ob es für die erschreckende Möglichkeit, die das Orakel gerade in den Raum gestellt hatte, eine reale Grundlage gab oder ob es Cahuna lediglich die Beschränktheit seines derzeitigen Blickwinkels zu bedenken -129-
geben wollte und mehr Bescheidenheit oder Zurückhaltung einforderte. Doch er wusste, wie spröde das Orakel auf diesbezügliche Nachfragen reagiert hätte. Manjushi kam nicht mehr dazu, seine alte Konzentration zurückzuerlangen. Im Gegenteil, er spürte, wie Cahunas überschäumende Gefühle sein Bewusstsein beiseite drängten. Doch er begehrte nicht dagegen auf, selbst wenn er nun keine Gewalt mehr über seinen Mund hatte. Schließlich war es seine Aufgabe, Cahuna zu dienen. Außerdem konnte er noch immer alles verstehen. "Ach ja, das Orakel!" rief Cahuna über Manjushis Lippen wütend und selbst das so edle, ausgeglichene Gesicht des Lamas nahm einen unwilligen Zug an. Seine Untergebenen wären erstaunt gewesen, wenn sie ihn so gesehen hätten. "Mehrdeutige Andeutungen - das ist alles, was du von dir geben kannst!" Das Orakel schwieg. "Und du weißt immer alles besser!" rief Cahuna wütend. "Das ist das einzige, was du unter Beweis stellst!" "Das ist keine Frage der Besserwisserei, sondern ergibt sich aus der Differenz unserer Standpunkte", lautete die ruhige, körperlose Antwort. "Da ich in der Tat fast alles weiß - wie könnte ich da weniger wissen als ein zwar bevorrechtigtes, aber nichtsdestotrotz immer noch linearzeitliches Wesen wie du? " Cahuna schnaufte durch Manjushis Nase. "Wenn du schon soviel weißt, warum sagst du mir dann nicht, was ich tun soll, um der Gefahr ihren Rückweg auf die Erde zu verwehren? Ich weiß noch nicht einmal, wo ich sie zu fassen bekommen soll! Es gab eine Möglichkeit dazu, vor einigen Wochen. Doch weil ich nichts getan habe, ist alles wieder zerronnen. " "Wird eine Gefahr denn ungefährlicher, wenn man sie zu fassen bekommt?" fragte das Orakel. "Könnte es nicht sein, dass sie dadurch erst recht wächst und außer Kontrolle gerät?" "Es könnte alles sein!" -130-
"In der Tat. In die Zukunft gerichtet, sind alle Wege offen. Es ist jedoch erstaunlich, dass doch immer wieder dieselben dünnen, zerbrechlichen Pfade beschritten werden. " "Du magst recht haben, trotzdem sind es nichtssagende Worte. Dadurch weiß ich noch nicht, was ich tun soll!" "Das solltest du aber. Denn du bist derjenige, der die Entscheidungen treffen muss." "Bei Chronos! Eine n besseren Ratgeber als dich hätte ich mir wirklich nicht wünschen können!" stieß Cahuna verächtlich aus. "Einen Rat? Du willst einen Rat von mir? Du weißt, was du dafür zu entrichtet hättest?" "Ich weiß. Ich wäre dir einen Gefallen schuldig. Ist es das, was du willst?" "Das ist dabei nicht von Belang. Ich empfehle dir sogar ausdrücklich, mich nicht zu befragen. Es wäre nicht gut für dich, das zu tun. " "Es ist für niemanden gut, nicht wahr?" rief Cahuna sarkastisch. "Ich verstehe schon recht gut, dass die Göttin Khom mir geraten hat, den Orakeln zu misstrauen!" Die Göttin Khom war die letzte Herrscherin des untergegangenen Atlantis gewesen, eingesetzt als letzte Möglichkeit, das Unheil abzuwenden. Doch das war ihr trotz all ihrer Weisheit nicht gelungen. Sie war auch diejenige gewesen, die Cahuna ausgewählt und für seine Mission vorbereitet hatte - als Schutz für spätere Generationen. "Ich habe nie verstanden, warum sie solchen Wert auf euch gelegt hat." "Du verstehst so vieles nicht. Deswegen bist du ja auch keine Göttin. Nicht einmal ihren Rat gibst du korrekt wieder. Dabei ist sie dafür verantwortlich, dass ich dirjetzt zur Seite stehe." "Und wie lautet ihr Rat?" "Misstraue den Orakeln! Mache sie dir zunutze, aber misstraue ihnen! " -131-
Cahuna wusste, dass es recht hatte. Für einen kurzen Augenblick wanderten seine Gedanken zurück in die Zeit, aus der er stammte. Wie gerne wäre er noch immer dort gewesen, selbst wenn sie unwiederbringlich dem Untergang geweiht gewesen war. Ob es nicht besser gewesen wäre, mit ihr zu sterben, anstatt dieser unlösbaren Aufgabe gegenüberzustehen, die sich jetzt vor ihm türmte. Ein Teil seiner Wut verrauchte und machte tiefer Wehmut Platz. "Ich kann bisher nicht erkennen, welchen Nutzen du für mich bringen solltest." "Armer Cahuna", sagte die Frauenstimme fast sanft. "So viele Unzulänglichkeiten. Du musst Entscheidungen treffen, weißt aber nicht, welche. Du hast Ohren erhalten, bist aber nicht in der Lage zu hören. Und die Augen, die dir zur Verfügung stehen..." Cahuna horchte angesichts der seltsamen Art auf, wie es die Wörter betonte. Er erinnerte sich, dass Paldan Manjushi sie in ihrem kurzen inneren Dialog verwendet hatte. Es war fast, als hätte das Orakel sie gehört. Bei dem Gedanken an den Lama wurde er sich bewusst, wie sehr er diesen in den Hintergrund gedrängt hatte und räumte ihm wieder mehr Platz in ihrem gemeinsamen Bewusstsein ein. Er spürte die besänftigenden Strömungen des Lamas. "Was ist mit meinen Augen?" fragte Cahuna. "Du läufst Gefahr, sie zu verlieren, auch wenn du dir dessen noch nicht bewusst bist. Dafür wirst du bald wissen, wo du der Gefahr habhaft werden kannst." Cahuna schwieg betroffen. Seine Gedanken rasten. "Das sage ich dir auch ohne Gegenleistung. Zu Ehren der Göttin Khom." Minuten vergingen, ohne dass ein weiteres Wort gesprochen wurde. Paldan Manjushi spürte deutlich Cahunas Betroffenheit. Mit -132-
aller Macht wirkte er beruhigend auf ihn ein. Er wusste, wie instabil der Zustand dieses Geistwesens aus atlantischen Tagen bisweilen war. Gerade deswegen war es wichtig, dass er zuallererst daran arbeitete, sich weiter zu festigen und seinen Überblick zu erweitern. Die heutige Welt war nicht mehr wie die vor der letzten großen Katastrophe. Manjushi versuchte, eine erneute Levitation einzuleiten, doch er kam nicht mehr dazu, denn von außen pochte jemand aufgeregt an die Tür. Erstaunt wandte er den Kopf. Es war absolut ungewöhnlich, dass er in dieser Kammer gestört wurde. Die anderen Priester und anwärter hatten strikte Anweisung, jegliche Störung von außen zu unterlassen - gleichgültig, ob er sich nur Stunden oder ganze Tage hier aufhielt. Auf seiner hohen Stirn erschien eine besorgte Falte. Es musste etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein, sonst hätte man ihn nicht gestört. Er erhob sich. "Orakel, ich danke für deine Zeit." "Zeit ist nicht mein Problem", antwortete die Frauenstimme. "Es ist eures. Eilt nur, denn ihr habt wenig davon zu verlieren. " Damit waren sie entlassen. Manjushi wünschte sich, er hätte schon jetzt ähnlich viel gewusst wie das Orakel. Er trat in den Korridor hinaus. Derjenige, der ihn störte, war einer der Priesteranwärter in einer orangefarbenen Kutte. Auch er hatte einen kahlgeschorenen Kopf und verneigte sich demütig. "Verzeiht, Herr..." "Schon gut", unterbrach Paldan Manjushi. "Sprich! Was ist geschehen? " "Die Meditationsgruppe im Westflügel! Es... ist schrecklich. " Manjushi erstarrte. Die Gruppe diente ihm - auf menschliche Verhältnisse übertragen - als eine Art Seismograph, der auf -133-
bestimmte Dinge reagierte. Sehr bestimmte Dinge, die nichts Gutes versprachen. "Was ist passiert?" entfuhr es ihm, obwohl er musste, dass der junge Priesteranwärter es gar nicht wissen konnte. Dieser machte eine aufgeregte Geste. "Ihr müsst kommen und Euch das selbst ansehen!" Paldan Manjushi nickte und raffte den Saum seines Gewandes etwas zusammen, um besser eilen zu können. "Ich komme. Geh nur voraus." Während er dem jungen Mann mit einer für sein äußerliches Alter erstaunlichen Behändigkeit folgte, spürte er die drängenden Fragen Cahunas in seinem ßewusstsein. Das Geisteswesen wusste nichts von der Meditationsgruppe. Sie war Manjushis ganz persönliche Rückversicherung gewesen, keinem Trugschluss zu unterliegen. Er wusste, wie klein auch seine Übersicht über das Gesamtgeschehen war. Cahunas Fragen wurden drängender und drängender. Sie begannen erneut, Paldans Bewusstsein beiseite zu schieben und beinahe wäre er gestolpert. "Herr?" erkundigte sich der Priesteranwärter besorgt. "Es geht schon", antwortete er laut. Und innerlich: Gedulde dich. Gleich werden wir mehr wissen. Cahuna gab ihm wieder mehr Platz. Sie eilten weiter. Was ist das, was dich so sehr sorgt? fragte Cahuna. Paldan Manjushi überlegte kurz. Er wollte keine übereilten Schlüsse ziehen und Cahuna nicht zu sehr beunruhigen. In diesem Moment war er froh, dass sie, obwohl ihre Bewusstseine verschmolzen waren, ihre gegenseitigen Gedanken nur dann wahrnehmen konnten, wenn sie es sich gestatteten. Und sie beide waren Wesen, die auf Privatsphäre sehr viel Wert legten. Ich fürchte, diesmal geht es wirklich los! formulierte er auf telepathischem Wege. -134-
5. Kapitel Konferenz Als Valerie Gideon am nächsten Tag erwachte, war es bereits später Vormittag. Unternehmungslustig schwang sie die Beine aus dem Bett um gleich darauf zu ächzen. Zwar hatte sie tief und lange geschlafen und fühlte sich entsprechend erholt, doch viele der Blessuren und schmerzenden Stellen begannen erst jetzt, sich richtig zu melden. Ein ausgeprägter Muskelkater saß ihr in den Gliedern. Sie hatte in letzter Zeit ihr regelmäßiges Training wohl etwas vernachlässigt. Erst nach ein paar Lockerungsübungen und einer ausführlichen Dusche ging es wieder. Sie schlüpfte in ein paar bequeme Klamotten und verließ ihr Zimmer. Draußen auf dem Korridor lief ihr jemand über den Weg. "Gudrun!" rief sie. "Ihr seid schon zurück?" Die schwarzhaarige, deutsche Anthropologin mit den grünen Augen blieb stehen und schenkte Valerie einen überraschten Blick. Sie arbeitete seit zwei Jahren für A.I.M. und damit nicht so lange wie Valerie, aber im Gegensatz zu ihr waren Gudrun Heber und Tom Ericson schnell zu Sutherlands wichtigsten Mitarbeitern geworden, die fast ununterbrochen für ihn im Einsatz waren. Valerie neidete ihr diese Position nicht. Sie arbeitete lieber auf einer etwas distanzierteren Basis für A.I.M.. Zwar stand sie bedingungslos zu Sutherland, aber zwischendurch brauchte sie immer wieder ihre privaten Auszeiten. Sie war froh, dass Sutherland dieses Arrangement akzeptierte. Sie hatten nie ausdrücklich darüber gesprochen und hätte sie ihn darauf angesprochen, so hätte er wahrscheinlich nur wohlwollend gemeint, dass er froh wäre, sie nicht die gesamte Zeit ertragen zu müssen. -135-
"Ja, wir sind vor einer halben Stunde aus Brasilien eingetroffen", erwiderte die Deutsche. "Elwood hat uns vom Flughafen abgeholt." "Ist er bei euch auch so penibel genau gefahren? " "Penibel genau?" Gudrun schmunzelte. "Das ist noch untertrieben. Du hättest Tom sehen sollen. Er hätte sich am liebsten selbst hinters Steuer gesetzt und fast mit Elwood zu streiten angefangen. Nicht ernsthaft natürlich, aber trotzdem..." "Mit Elwood streiten? Ist das überhaupt möglich? " "Ach, du hast ja recht. Er hätte es ohnehin gar nicht erst verstanden. Das musste Tom schließlich auch einsehen." Sie deutete auf Valeries lädiertes Gesicht. "Du scheinst einiges mitgemacht zu haben. Dabei dachte ich, du wärst auf Urlaub bei deinem Bruder." "War ich eigentlich auch. Aber dann... egal. Ich denke, was dabei herausgekommen ist, könnte für uns von außerordentlichem Interesse sein. Also war es das wert." Valerie dachte kurz an ihren Sturz die Gangway hinunter. "Jedenfalls das meiste." "Und was hast du mit deinem Haar angestellt? Ich meine, nicht dass es schlecht aussehen würde, aber..." Valerie hob die Hände. "Bitte frag erst gar nicht! Ein Andenken an meinen lieben Bruder. Er hat mich dazu überredet und ich bereue es mehr als genug. " "Wirklich? So schlecht steht es dir gar nicht. Macht dich..." Gudrun überlegte kurz. "Unnahbarer!" "Noch unnahbarer? Wer soll mich da bald überhaupt noch angucken? " Sie lächelten und spürten so etwas wie frauliche Verbundenheit. "Weißt du", meinte Gudrun, "ich habe auch schon mal -136-
überlegt, ob ich etwas an meiner Frisur ändern soll." "Wieso denn das?" "Sie kommt mir langweilig vor. So ein Pferdeschwanz ist zwar praktisch, aber irgendwie komme ich mir damit unattraktiv vor." Unattraktiv, wiederholte Valerie erstaunt in Gedanken. Sie hätte nie geglaubt, dass die Deutsche sich mit derartigen Problemen beschäftigen würde. Dazu hatte sie sie viel zu sehr als ernsthafte und professionelle Forscherin kennen gelernt, die neben ihrem Beruf kaum etwas gelten ließ. "Vielleicht sollte ich auch mal etwas ändern", fuhr Gudrun fort. "Ich habe mir gedacht, zum Beispiel..." "Vergiss es!" riet Valerie. "Aber du hast doch noch gar nicht gehört, was ich mir überlegt habe!" "Brauche ich auch nicht. Egal, was du machst- glaub mir, es nervt gewaltig, jeden danach fragen zu hören, was man mit seinem Haar angestellt hat. Und das ist es nicht wert." Gudrun errötete. "Oh, falls du damit meinst, dass ich selbst gerade gefragt habe, was..." "Anwesende natürlich ausgenommen", unterbrach Valerie. Und tatsächlich meinte sie es so. Aus Gudruns Mund | war das einfach etwas anderes gewesen. Sie als Frau hatte eine ganz andere Einstellung dazu. "Aber irgendwie habe lieh das Gefühl, als könnte ich dem nächsten, der mich danach fragt, an die Kehle gehen. " "Da kommst du schon drüber weg. Ich glaube, die meisten meinen es gar nicht negativ. " Seltsam, dachte Valerie. Ihr Bruder hätte ihr das vermutlich kaum anders gesagt. "Bei der Gelegenheit - du siehst auch nicht gerade gut aus", meinte sie. In der Tat hatte Gudrun dunkle Ringe unter den -137-
Augen, die auf Übernächtigung und Anstrengung hindeuteten. "Und das scheint mir nicht nur am langen Flug zu liegen. War eure archäologische Fachtagung denn so anstrengend?" Gudrun ließ die Schultern hängen und atmete tief durch. "Ja, die war anstrengend. Aber hast du eine Ahnung, was Tom und ich seitdem erlebt haben? Na ja, das wirst du ja gleich alles hören. Die anderen sind bereits unten in der Küche. Wir wollen in ein paar Minuten eine Besprechung abhalten. Du bist also gerade recht aufgestanden. Sutherland hätte dich in ein paar Minuten wecken lassen. " "Na gut", meinte Valerie. "Dann werde ich mal runtergehen. Ein frischer Kaffee wird mir gut tun. " Gudrun nickte. "Ich gehe auch nur noch kurz in den Keller, um mich etwas frisch zu machen und dann komme ich nach. " "Wieso in den Keller?" "In den Keller?" wunderte Gudrun sich. "Ja, du sagtest, du wolltest nur noch kurz in den Keller gehen, um dich..." Gudrun zuckte zusammen. "Sagte ich Keller? Ich meinte natürlich mein Zimmer. Äh, verzeih, ich bin wohl ziemlich fertig." Sie lächelte entschuldigend. "Und außerdem - was sollte ich denn im Keller wollen? " "Eben", meinte Valerie. "Bis gleich dann. " Sie ging hinunter und begab sich auf den Weg zur Küche. Als sie am Eingangsbereich vorbeikam, sah sie Sutherland dort im Gespräch mit einem ihr unbekannten Mann. Seiner edlen Kleidung nach zu urteilen, schien er nicht gerade an Geldnot zu leiden. Sutherland begrüßte sie mit einem kurzen Nicken, als er sie sah und sie erwiderte es. Da er keine Anstalten machte, sie anzusprechen, verstand sie sein Zeichen und ging weiter. In der Küche fand sie die restlichen Abenteurer vor. Elwood, -138-
Pierre, Connor und der gerade eingetroffene Tom Ericson saßen um den rustikalen Küchentisch herum, tranken Kaffee und ließen sich ein deftiges Frühstück schmecken. Nur bei Elwood konnte von letzterem nicht ganz die Rede sein. Er beschränkte sich darauf, steif dazusitzen und ab und zu an der Tasse Kaffee vor sich zu nippen. Auch Mortimer hatte an dem Tisch Platz genommen. Derweil war Mrs. Paddington, die beleibte Köchin, damit beschäftigt, sie alle mit frischem Kaffee zu versorgen. Der alte Kachelofen an der Wand verströmte gemütliche W'ärme. "Setzen Sie sic h nur!" rief sie der Israelin auf ihre gutmütige Weise zu. "Der Kaffee ist gerade frisch gebrüht. Ich gebe Ihnen eine Tasse." Valerie nahm das Angebot denkbar an, grüßte kurz in die Runde und setzte sich. Pierre rückte etwas zur Seite, um ihr auf der Sitzb ank Platz zu machen. Dabei versuchte er, ihren Blick aufzuschnappen, doch sie sah an ihm vorbei. "Mit wem redet Sir lan draußen?" fragte Valerie. Sie nickte dankbar, als Mrs. Paddington ihr nicht nur eine Tasse mit heißem Kaffee, sondern auch einen Teller und Besteck brachte. "Ein potentieller Käufer, der sich für einen Teil seines Fuhrparks interessiert", gab Connor Auskunft. "Er will seine Autos verkaufen?" fragte sie überrascht. Auch Pierre und Tom blickten erstaunt drein. "Nicht alle. Aber einen Teil davon. Sir lan ist der Meinung, dass er das Geld für die teuren Wagen woanders effektiver benutzen könnte." Valerie nippte am Kaffee und verzog wohlig das Gesicht. Schwarz, stark, gut. Genau wie sie es liebte. "Hat er etwa Geldsorgen?" fragte sie arglos. Mortimer hielt im Kauen seines Frühstückstoastes inne und hob den Kopf. "Was ist morgen? " Es gelang ihnen recht schnell, ihm klarzumachen, dass -139-
morgen nichts weiter Bedeutendes sein würde - außer Dienstag. Connor wiegte auf Valeries Frage den Kopf. "Darüber bin ich nicht informiert. Aber ich habe das Gefühl, als sei die Lage momentan etwas angespannt. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass er deshalb solche Maßnahmen ergreift. Es gäbe sicherlich andere Möglichkeiten, Gelder locker zu machen. " Valerie gab sich damit zufrieden. Diese Dinge waren allein Sutherlands Angelegenheit. Sie sah sich um. "Wo ist eigentlich Barnington? " "Du meinst, dein Freund, den du mitgebracht hast?" fragte Tom Ericson. Valerie nickte. "Der schläft noch", sagte Connor. "Wir haben beschlossen, es dabei vorerst auch zu belassen. Dann können Mr. Ericson und Miss Heber von ihren Erlebnissen in Brasilien berichten. " Valerie verstand, was er meinte: Sie konnten freiheraus berichten, ohne darauf Rücksicht nehmen zu müssen, was sie dem Engländer gegenüber sagen konnten und was nicht. Sie verspürte bereits eine gewisse Spannung. Tom und Gudrun schienen interessante Dinge erlebt zu haben. Aus den Augenwinkeln sah Valerie, dass Elwood seine Kaffeetasse mit identischen Bewegungen wie sie vorhin an seine Lippen brachte, daran nippte und versuchte, dabei ähnlich selig auszusehen wie sie - ein Versuch, der ihm kläglich misslang. Offenbar fiel das nicht nur ihr auf. "Sagen Sie, Elwood", meldete Tom sich zu Wort. "Reicht es Ihnen aus, nur zu trinken? Brauchen Sie gar nichts zu essen? " "Das ist korrekt", erwiderte der Mann in Schwarz auf die ihm eigene, trockene Art. "Ich bin zwar in der Lage zu essen, aber nicht darauf angewiesen." Eine kurze Pause. "Wenn ich es recht überdenke, empfinde ich es trotz der interessanten -140-
Geschmackserfahrungen sogar eher als lästig." "Wieso das?" "Nun, wegen der umständlichen Art, das Essen wieder zu entsorgen. Ich nehme an, Sie haben bereits ähnliche Erfahrungen gemacht. Dabei gibt es zum Beispiel das Problem..." "Elwood!" riefen Valerie, Pierre und Connor wie aus einem Mund. "Bitte nicht beim Frühstück!" Der Mann in Schwarz hob eine Augenbraue. "Das hatte ich keineswegs vor. Ich wollte nur erklären, was..." "Elwood. Genau das meinen wir!" "Nicht beim Frühstück. Verstehe. Ich stelle meine Erklärung zurück." "Wie ist das möglich?" fragte Tom. "Ganz einfach", sagte Elwood. "Ich habe aufgrund Ihrer Einwände entschieden, meine Erklärung all jenen zuzuordnen, die ich Ihrer Aussage zufolge auf einen späteren Zeitpunkt verschiebe. Das mache ich oft so. Was ist daran so unverständlich? " "Das meine ich nicht. Wie kann es möglich sein, dass Sie ohne Essen auskommen?" Er sah in die Runde, wie um die anderen für diese Frage zu interessieren. "Wir wissen ja, dass Sie ein Mann vieler Widersprüche sind, aber trotzdem müssen Sie doch den Naturgesetzen unterworfen sein. " Connor nickte zustimmend. "Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen. " "Ich nicht", bekannte Elwood. "Jeder Ihrer Bewegungen und Aktionen verbraucht Energie", erklärte Tom. "Um diese Energie zu erzeugen, müssen wir Menschen essen. Wir müssen uns also sozusagen Brennstoff zuführen, damit wir in Betrieb bleiben. Die Frage ist also woher kommt der Brennstoff für Ihren Betrieb?" -141-
Elwood hatte darauf keine Antwort parat. "Ich trinke", sagte er, hob die Tasse erneut zum Mund und nippte daran. "Aber auch darauf bin ich nicht angewiesen. Ich denke, Ihr Einwand ist korrekt. Ist dies ein Anzeichen dafür, dass ich kein Mensch bin?" "Das kann ein Anzeichen für alles Mögliche sein", beruhigte Valerie ihn, sofern bei jemandem wie ihm überhaupt von Beunruhigung die Rede sein konnte. "Aber seltsam ist es schon. Irgendeine Art von... Energiequelle brauchen selbst Sie." "Ich verstehe es selbst nicht. Ich wünschte, ich würde es tun. Ich denke, es is t angebracht, dieses Thema der Liste derjenigen Fragen hinzuzufügen, mit denen ich mich künftig intensiver auseinandersetzen will." "Sagen Sie, Elwood", meinte Pierre. "Wie viele Fragen umfasst diese Liste eigenüich bis jetzt?" "Einhundertundzweiundachtzig. Wollen Sie hören, was..." "Nein, nicht jetzt." Gudrun kam in den Raum zurück. Valerie war überrascht, wie erfrischt die Deutsche auf einmal wirkte. Die dunklen Linien unter ihren Augen, die gerade eben noch zu sehen gewesen waren, waren beinahe vollständ ig verschwunden. Auch ihr Teint wirkte sehr viel frischer. Valerie war erstaunt. Sie wünschte sich, sie hätte sich nur annähernd so gut gefühlt, wie Gudrun bereits wieder aussah. Aber vermutlich lag dieser Eindruck nur am gedämpften Licht in der Küche. "Was ist?" erkundigte Gudrun sich. "Was seht ihr alle so angestrengt aus?" "Wir hatten gerade eine Unterhaltung mit Elwood." "Verstehe", ahmte die Deutsche gutgelaunt den ausdruckslosen Tonfall des Mannes in Schwarz nach. Leichtfüßig kam sie näher, setzte sich zu ihnen und bediente sich heißhungrig. -142-
Sie verstrahlte dabei eine nahezu ansteckende Heiterkeit. Vermutlich lag es daran, dass sie sich nach ihrer Rückkehr hierher ähnlich wohlfühlte wie Valerie. Dieses Schloss schien auch für sie ein Stück Heimat geworden sein. Tom musterte Gudrun erstaunt und auch Pierre warf ihr einen forschenden Blick zu. Sie ignorierte es und stärkte sich weiter. Wenig später kam auch Sutherland herein.. "Und, sind Sie Ihre Wagen losgeworden?" fragte Valerie wie nebenbei. Sutherland nickte. "Nicht alle. Aber der Herr hatte zum Glück viel Sachverstand. Er hat mir meine Oldtimer-Sammlung zu einem durchaus akzeptablen Preis abgenommen. Und auch ein paar der neueren Wagen. " Valerie verschluckte sich fast und würgte schnell herunter, was sie im Mund hatte. "Doch nicht etwa auch den roten..." "Doch, auch den Ferrari. " Sie öffnete protestierend den Mund, doch Sutherland winkte ab. "Ich weiß sehr wohl, wie gerne Sie den gefahren sind." Unglücklich dachte er daran, wie sehr er jedesmal zusammengezuckt war, wenn sie ihn eingeparkt hatte. "Aber sehen Sie es auch mal aus folgendem Blickwinkel: Nur weil Sie ihn zwei- oder dreimal im Jahr fahren, lohnt es sich nicht, ihn ein ganzes Jahr zu unterhalten. Und bei den anderen Wagen ist es genauso. Die meiste Zeit ist jeder von uns doch ohnehin irgendwo in der Welt unterwegs. Ein kleiner Jet wäre da wohl eher eine lohnende Anschaffung." "Au ja!" stimmte Pierre Leroy zu. "Das wäre was!" "Dann müssten Sie natürlich auch hier in der Gegend eine Landebahn bauen", ergänzte Tom. "Damit wir nicht jedesmal den langen..." Er warf Elwood einen schrägen Blick zu. "...und mitunter auch langsamen Weg nach Glasgow fahren müssen. " -143-
Sutherland nickte ironisch. "Das könnte Ihnen so gefallen." Er setzte sich zu ihnen an den Tisch. "Da wir gerade beim Thema sind." Tom war wieder ernst geworden. "Wann ist der Hubschrauber eigentlich wieder aus der Reparatur zurück?" "Die fällt leider etwas umfangreicher aus. Es ist eine komplette Überholung fällig. Und da keine früheren Termine frei sind, werden wir uns wohl noch ein paar Wochen gedulden müssen. " "Ich dachte eigentlich, sie hängen an Ihren Oldtimern", wandte Connor ein. "Warum dann der Verkauf? " "Das schon. Aber seien Sie ehrlich, Connor. Wann bin ich in den letzten Jahren schon dazu gekommen, mich diesem Hobby zu widmen? Ach, was sage ich - in den letzten Jahrzehnten! Unsere Forschungen nehmen alle Aufmerksamkeit in Anspruch und ich kann beim besten Willen nicht erkennen, dass das in Zukunft anders wird. Nein, es war mehr als Ze it, mich davon zu trennen." Er rieb sich nachdenklich über das Kinn. "Ich denke, bei den Fahrzeugen für die Bediensteten werde ich ebenfalls ein paar Einsparungen vornehmen. " Fragende Blicke trafen ihn. "Haben Sie finanzielle Sorgen?" sprach Leroy die Frage aus. Sutherland lächelte entwaffnend. "Nein, nichts worüber Sie sich Sorgen machen müssten. Aber die Zeiten sind nicht mehr so einfach wie noch vor ein paar Jahren. Da sollte man auf die Kosten achten. Sonst bleibt für die wirklich wichtigen Dinge nichts übrig. Valerie hat schon ein paar Andeutungen gemacht, für was ich demnächst ein paar freie Mittel übrig haben sollte." Tom Ericson sah die Israelin fragend an. Da er gerade erst angekommen war, wusste er über ihre Erlebnisse bislang nicht mehr, als dass sie in Burma gewesen war und einen jungen -144-
Engländer als Gast mitgebracht hatte. "Aber ich denke, solange wir noch unter uns sind, sollten wir als erstes über das reden, was Mr. und Mrs. Ericso..." Sutherland brach ab, als er seinen Versprecher bemerkte und räusperte sich trocken. "Ich meine, was Mr. Ericson und Miss Heber in Brasilien erlebt haben. " Valerie bemerkte, dass Gudrun auf den Versprecher mit einer leicht säuerlichen Miene reagierte, selbst wenn sie sich bemühte, sich nichts anmerken zu lassen. Aber der Ex-Agentin konnte sie nichts vormachen. Aha, dachte Valerie. Da war offenbar wieder etwas zwischen ihnen vorgefallen. Schon seit ein paar Monaten gestaltete sich ihr Verhältnis zueinander nicht mehr ganz so zwanglos und natürlich wie noch zu Anfang. Als Valerie den beiden vor zwei Jahren zum ersten Mal begegnet war, hatte es den Anschein gehabt, als wären sie füreinander bestimmt und als wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ein Paar würden. Doch dazu war es bis heute nicht gekommen. Im Gegenteil, ihr Verhältnis schien sich in letzter Zeit sogar etwas abgekühlt zu haben. Valerie hütete sich, sich in irgendeiner Weise in diese Angelegenheit einzumischen. Aber es hielt sie nicht davon ab, es zu registrieren. Und sie hatte so eine Ahnung, als ob die beiden bei ihrem letzten Abenteuer erneut irgendwie miteinander in Konflikt gekommen wären. "Und das ist eine Menge", knurrte Tom. "Wenn ihr nichts dagegen habt- und mit Ihrem Einverständnis, Sir lan - beginne ich gleich. " Gudrun schien nicht unglücklich darüber zu sein, dass er sprach. Außer Valerie schien davon jedoch niemand etwas zu bemerken. Und Sekunden später hatte auch sie den Gedanken daran beiseite geschoben. Zu sehr nahm sie Tom Ericsons Erzählung gefangen. -145-
Er berichtete, wie Gudrun und er nach dem Besuch einer archäologischen Fachtagung in Brasilia mysteriösen Vorfällen nachgegangen waren, die sich an einer Baustelle im tiefsten Dschungel ereignet hatten. Straßenbauarbeiter, die sich dort ihre Bahn durch den Urwald frästen, waren auf die Überreste einer unbekannten alten Indianerkultur gestoßen. Und dadurch waren unerklärliche Vorgänge ausgelöst worden. "Ich hatte gleich das Gefühl, dass wir es mit einer Anlage zur Zeitlosen Ortsversetzung zu tun hatten, wie auch Kar sie benutzt hat", sagte To m erregt. "Und meine Ahnung hat mich nicht getrogen. " "Sie meinen, dass es wieder jemanden gibt, der die Überbleibsel der Echsenkultur für seine Zwecke einsetzen will?" Tom schüttelte den Kopf. "Nein, diesen Eindruck hatte ich nicht. Es sah ganz und gar nicht nach einer gewollten Manipulierung aus. Mir erscheint es eher so, als ob diese Dinge zufällig in Gang gesetzt worden wären. Vielleicht durch die Bauarbeiten, vielleicht auch dadurch, dass jemand an der Maschine herumgespielt hat." Tom fuhr mit seinem Bericht fort. Kaum hatten Gudrun und er sich an Ort und Stelle begeben und eine Inspektion der Ruinenanlage vorgenommen, waren sie ohnmächtig geworden und in einer fremden Welt wieder erwacht. Die Anlage zur Zeitlosen Ortsversetzung hatte ihre Bewusstseine in die Vergangenheit gerissen, wo sie in fremden Körpern wieder zu sich gekommen waren. Sie waren in einer unbekannten Indianerkultur gelandet - genau derjenigen, auf deren Überreste die Bauarbeiter gestoßen waren. Azachen hatten sie sich genannt. "In was für Körpern sind Sie genau erwacht?" fragte Sutherland nach. 161 "Wir waren junge Indianer, die gerade bei einer Zeremonie geopfert worden waren", erzählte Tom. Ein -146-
unmerkliches Zögern. "Eine junger Mann und eine junge Frau. " Um Tom Ericsons Mundwinkel zuckte es einen Moment lang und er zwang sich dazu, nicht zu Gudrun zu blicken. Ja, es stimmte schon, sie waren in den Körpern junger Indianer erwacht, nur dass "er die junge Frau gewesen war und Gudrun der junge Mann. Und dass die beiden Wirtskörper darüber hinaus schon vor ihrem Tode ineinander verliebt gewesen waren. Und dass sie beide -Tom und Gudrun - dann miteinander geschlafen hatten. Sie hatten die stillschweigende Übereinkunft getroffen, den anderen gegenüber nicht darüber zu reden. Das war ihre Privatsache. Und Gudrun war Tom dankbar, dass er sich daran hielt. "Mr. Ericson?" erreichte Tom Sutherlands Stimme. Tom hob gedankenverloren den Kopf. "Ja?" "Sie wollten weitererzählen. " Er riss sich zusammen. "Richtig. Verzeihung, ich hatte kurz den Faden verloren. Wo war ich stehen geblieben? " "Bei der Indianerkultur", half Pierre ihm. "Was schätzen Sie, wie weit sind Sie in der Vergangenheit gewesen? " "Das ist schwierig zu schätzen. Wir hatten keine Zeit, astronomische Bestimmungen vorzunehmen. Das wäre die einzige Möglichkeit gewesen, die genaue Zeit herauszufinden. Es kann also genauso gut vor tausend wie auch viertausend Jahren gewesen sein. Meinem Gefühl nach irgendwo dazwischen. " Gudrun schloss sich ihm mit einem Nicken an. Tom Ericson berichtete über den Echsenkult, den die Indianer gepflegt hatten. In der Nähe der Siedlung hatte sich eine labyrinthartige schwarze Totenstadt befunden. Auf den ersten Blick hatten Tom und Gudrun vermutet, dass es sich um eine Hinterlassenschaft der Echsenwesen gehandelt hätte, doch bei -147-
näherem Hinsehen war deutlich geworden, dass sich hier irgend jemand bemüht hatte, eine schwarze Stadt nachzubauen vermutlich schon viele Generationen vor der Zeit, in der sie gelandet waren. "Ein Nachbau" fragte Sutherland erstaunt. "Ja", bestätigte Tom. ."Demnach müsste es irgendwo eine Vorlage dafür gegeben haben", schlussfolgerte Pierre Leroy. "Hm, eine Schwarze Stadt!" "Wir sollten nicht zuviel darüber spekulieren", warnte Connor. "Oder wissen Sie Genaueres?" "Leider haben wir nichts über die Ursprünge der Totenstadt in Erfahrung bringen können", sagte Tom. "Aber Tatsache ist, dass die Erbauer in Verbindung mit der Echsenkultur gestanden haben müssen. Denn es gab zwei Dinge, die eindeutig dieser zuzuordnen sind : Zum einen existierte dort, wie ich es mir schon gedacht hatte, tatsächlich eine Anlage zur Zeitlosen Ortsversetzung. Und sie war voll funktionsfähig, wie ich versichern kann. Sie war während der Bauarbeiten in Gang gesetzt worden und hat den Zeitsprung bewirkt." "Und das zweite?" fragte Leroy. "Die Flüssigkeit, mit der auch Kar sich seinen Aussagen zufolge infiziert hat - und die dafür verantwortlich war, dass er sich in eine Echse verwandelt hat. In der Totenstadt hat es eine immense Menge davon gegeben. Vermutlich hätte sie ausgereicht, um ein ganzes Volk in Echsen zu verwandeln. Genau das war auch der Plan derjenigen gewesen, die sich zuerst infiziert hatten. " Tom erschauderte bei der Erinnerung daran, wie er in seinem Indianerkörper in die Flüssigkeit gefallen war und sich selbst zu verwandeln begonnen hatte. Es war das schrecklichste Gefühl gewesen, das er je empfunden hatte. -148-
"Eine immense Menge dieser Flüssigkeit?" horchte Sutherland besorgt auf. "Was ist daraus geworden? Könnte sie immer noch gefährlich sein? Wir haben erlebt, was es für Folgen haben kann, wenn nur ein einziger Mensch sich in eine Echse verwandelt." Tom schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht, dass eine Gefahr besteht. Wer weiß, ob die Flüssigkeit ohne entsprechenden Schutz überhaupt die Jahrhunderte oder Jahrtausende überstanden hat. In der Gegenwart haben Gudrun und ich keine Spuren davon mehr gefunden. Das einzige waren nur noch ein paar Ruinen und die Anlage zur Zeitlosen Ortsversetzung. Aber die ist - wie alles andere auch - von den Baggern der Straßenbaugesellschaft dem Erdboden gleichgemacht worden. Es gab leider keine Möglichkeit, diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten." Er ließ seinen Kopf hängen. Er wusste, wie viele unersetzliche archäologische Güter schon sogenannten übergeordneten Interessen zum Opfer gefallen waren. Meist steckte Profitgier dahinter. Wie viel mehr könnte die Menschheit bereits über ihre Vergangenheit wissen, wenn dies nicht immer und immer wieder geschehen würde? "Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen", sagte Sutherland. "Das scheint irgendwie unser Fluch zu sein - dass uns jeder Fund sofort durch die Finger rinnt." Valerie lächelte insgeheim. Genau diesen Fluch zu überwinden, konnte Barningtons Fund möglich machen. Aber sie hielt sich zurück. Sie wusste, dass Sutherland sie noch fragen würde. Und sie freute sich insgeheim schon auf die großen Augen, die Tom Ericson dann machen würde! "Ich habe das Gefühl, dass die Sache mit den Azachen noch nicht erledigt ist", sagte Tom. "Es steht fest, dass sie irgendwann in ferner Vergangenheit ihre Heimat verlassen haben. Und das könnte mit der Zeitreise von Gudrun und mir zusammenhängen. Wenn ich es richtig -149-
verstanden habe, wollte der Volkvater, ihr Anführer, sie nach Norden führen. " Er sah beifallsheischend in die Runde. Von überall her trafen ihn nur ratlose Blicke. "Versteht ihr denn nicht?" fragte er. "Wir waren in Südamerika, dem heutigen Brasilien! Und die Azachen wollten nordwärts ziehen! " Noch immer reagierte niemand. "Was ist nördlich von Südamerika? Mittelamerika! Und wie heißt das Volk, auf das man dort von Europa aus als erstes traf? Die Azteken! Versteht ihr denn nicht? Azachen -Azteken! Das kann kein Zufall sein!" "Sie meinen, dass die Azachen die Ahnen der Azteken sind?" fragte Connor. Tom hieb mit einer Faust in die andere Hand. "V erdämmt, ja! So oder so ähnlich! Es muss da einen Zusammenhang geben! Ich spüre das!" "Sie vergessen die Mayas", sagte Connor. "Sie gelten als Vorfahren der Azteken. " "Das ist nicht ganz richtig", korrigierte Gudrun. "Die MayaStädte waren bereits verlassen, als die Azteken Mittelamerika besiedelten. " "Trotzdem gibt es noch jede Menge anderer Ahnenund Nachbarvölker der Azteken", beharrte Connor. "Zum Beispiel die Tolteken", sagte Gudrun. "Ja", stimmte Pierre zu. "Und gab es da nicht noch die Zapoteken? " "Und erst die Olmeken", meinte Valerie. "Sie gelten als die älteste Kultur in Mittelamerika." Mortimer hielt darin inne, seinen Frühstückstoast zu kauen. Verwirrt sah er in die Runde, dann schüttelte er vehement sein -150-
greises Haupt. "Nein, ich war nicht an der Theke!" empörte er sich. "Schon seit langem nicht mehr.". Sie beruhigten ihn. Es sei nichts, was gegen ihn gerichtet wäre. "Trotzdem", raunte Tom leise, fast mehr an sich selbst gerichtet. "Es gibt da Zusammenhänge. Dessen bin ich mir sicher." Sie diskutierten eine Zeitlang darüber, was Tom berichtet hatte. Sowohl er als auch Gudrun trugen weitere Details ihrer Erlebnisse bei. Irgendwann ging die Tür zur Küche auf und ein ungekämmter Kopf mit schütterem blondem Haar blickte herein. Geoffrey Barnington. "Hier sind Sie alle!" stieß der junge Engländer erleichtert hervor. "Endlich finde ich Sie. Ich irre jetzt schon gut zehn Minuten durch das Schloss." "Hätten wir das gewusst", rief Valerie ihm entgegen, "hätte Mortimer das Schloss bestimmt gerne ausgeschildert." Der greise Diener sah erneut auf. "Verwildert? Aber nicht doch! Sicherlich, der Schlossgarten könnte ein wenig mehr Pflege gebrauchen, aber es ist auch nicht so leicht, das rechte Personal dafür zu bekommen." Er sah Sir Ian an. "Sie wissen das selbst. Wenn es nach mir ginge, wäre diese Arbeit längst erledigt. Genau wie die längst fällige Renovierung der Schlossfassade." "Ja", versicherte Sutherland. "Ich weiß, Mortimer. Ich werde mich irgendwann darum kümmern." Und an Barnington gewandt, fügte er hinzu: "Kommen Sie ruhig herein und nehmen Sie in unserer Runde Platz. " Der Angesprochene kam zögernd näher. Er hatte noch immer - oder besser: schon wieder - die Kleidung an, die sie in Bangkok auf die Schnelle für ihn gekauft hatten. Nicht -151-
besonders schick oder kleidsam, aber immer noch besser als die zerrissene Kleidung, die er zuvor während seiner Gefangenschaft im Dschungelcamp getragen hatte. Er nahm am Tisch Platz. "Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich so lange geschla fen habe", sagte er kleinlaut. "Aber nach der Anstrengung der letzten Tage war ich wohl ein wenig schlapp." "Mach dir deswegen keine Sorgen", versicherte Vale rie. "Du bist hier unter... Freunden. " "Ja", meinte Elwood. "Freunde." Barnington griff sich an den Kopf, als litte er unter ligräne. "Wenn ich ehrlich bin, erinnere ich mich nicht einmal mehr daran, wie ich gestern ins Bett gekommen bin. Ich weiß zwar noch, wie Valerie und ich hier angekommen sind, aber dann... Dabei habe ich nicht mal eilen Schluck getrunken. Alkohol vertrage ich nämlich licht besonders gut." "Erschöpfung kann genauso einen Blackout ergeben", sagte Sutherland. "Ihr Zimmer haben Sie jedenfalls noch recht gut gefunden", sagte Connor diplomatisch. Barnington wirkte beruhigt. "Das stimmt doch gar nicht", sagte Elwood. "Es hat sich doch so zugetragen, dass..." "Elwood!" kam es aus mehreren Kehlen gleichzeitig. Der Mann in Schwarz blickte unschuldig in die Runde. "Ja?" "Das interessiert jetzt nicht." "Interessiert nicht. Verstehe." Barnington blickte unsicher in die Runde. Die seltsamen Bekanntschaften, die er gestern gemacht hatte, waren also doch kein Traum gewesen. Sutherland stellte ihm Tom und Gudrun vor, die er noch nicht kannte und Mrs. Paddington versorgte den Gast mit allem nötigen. -152-
"Hier, lassen Sie's sich schmecken", meinte sie und tätschelte ihm gutmütig die Wange. "Sie sehen aus, als hätten Sie's nötig, wieder ein bisschen Fleisch auf die Knochen zu bekommen. Greifen Sie ruhig kräftig zu. " Genau das tat Barnington. Ian Sutherland brachte das Thema kurz auf die Verfolger, die hinter Geoffrey Barnington und Valerie her gewesen waren. Die Polizei hatte sich telefonisch gemeldet, aber leider keine guten Nachrichten gehabt. Es gab keinerlei verwertbare Hinweise auf die Insassen. Keine Brieftaschen, keine Ausweispapiere, nichts dergleichen. Die Nummernschilder waren gestohlen und das angebliche Polizeiauto einfach umlackiert und mit einer Blaulichtanlage versehen gewesen. Das war rätselhaft und deutete schon auf Hintermänner hin, die bereit waren, einiges an Risiko einzugehen. Da die Abenteurer hier nicht weiterkamen, wechselte der Schlossherr alsbald das Thema. "Natürlich sind wir alle brennend interessiert zu hören, was Sie uns aus Burma zu berichten haben", sagte lan Sutherland mit einer leisen Aufforderung in seiner Stimme. "Myanmar", korrigierte Tom Ericson. "Genauer gesagt: Union von Myanmar. Das ist der offizielle Staatsname und zwar schon seit 1989. Und auch davor hieß es meines Erachtens Birma und nicht Burma. Die Umbenennung erfolgte nämlich, weil die Birmesen zwar die größte, neben den Karen und Mon aber nur eine von drei Hauptgruppen der Bevölkerung sind. Alle drei sind buddhistisch. " Gudrun beugte sich zu Pierre und flüsterte ihm spöttisch ins Ohr, so leise, dass nur er es hören konnte: "Das hätte Elwood kaum besser sagen können. " Elwood hob eine Augenbraue. "Hätte ich sollen? " Gudrun seufzte. Natürlich hatte der Mann in Schwarz es -153-
ebenfalls gehört. "Nein, hätten Sie nicht." Tom blickte sie irritiert an. "Worüber redet ihr?" "Nichts Wichtiges." "Ich denke, wir sollten uns intern auf Burma einigen", meinte Sutherland. "Nun, Mr. Barnington, was können Sie uns über Ihre Funde dort erzählen? " Er sah Valerie an. "Hast du noch nichts gesagt?" "Ich hätte mir doch niemals erlaubt, ohne dich anzufangen", meinte sie. "Außerdem hatten wir bis jetzt andere Themen. " Er machte eine unsichere Handbewegung, mit der er fast die Kaffeetasse vom Tisch gefegt hätte und blickte schüchtern drein. "Willst nicht besser du erzählen, was..." Sie schüttelte den Kopf. "O nein, Geoffrey! Du hast so sehr daraufgebrannt, also mach du das gefälligst." Barnington schluckte den Kloß in seiner Kehle herunter. "Ahm, nun gut. Wo soll ich beginnen? Eigentlich habe ich Kunstgeschichte studiert. Fernöstliche Kunstgeschichte. Archäologie habe ich nur so nebenbei studiert. Es war angesichts dessen schon ein ziemlich großer Zufall, dass mir vor fünf Jahren die Leitung einer Ausgrabung in Myanm... äh... Burma angeboten wurde." Sein Blick schweifte in weite Ferne. "Das war schon eine kuriose und vertrackte Geschichte, über viele Ecken und Enden. Ich glaube, wenn ich das alles erzähle, würde man mir kaum glauben..." "Geoffrey!" unterbrach Valerie. "Ja?" "Es ist auch nicht nötig, daß du's erzählst. Beschränk dich einfach auf das, was du in Burma gefunden hast. Sonst sitzen wir morgen noch hier." "Dann beginne ich am besten mit der Lage der Ausgrabungsstätte. Sie befindet sich im äußersten Westen von -154-
Burma, nahe der laotischen und thailändischen Grenze." "Das Goldene Dreieck", meinte Tom Ericson ernst. "Ein Hauptort der Drogenherstellung. " "Davon ist in der Nähe der Ausgrabungsstätte nicht viel zu spüren", sagte Barnington. "Auch nicht in der benachbarten Provinzhauptstadt Kengtung. " "Was war der Anlass, um dort Ausgrabungen vorzunehmen?" fragte Gudrun. "Das geht noch auf die Zeit als britische Kolonie zurück. Ende des letzten Jahrhunderts müssen irgendwann britische Naturforscher dort vorbeigekommen sein und Aufzeichnungen über entsprechende Ruinen gemacht haben. Danach lag die ganze Geschichte über hundert Jahre in der Schublade irgendeines Museums herum, bis sie wieder hervorgekramt wurde. Durch Zufall geriet sie dem Leiter einer privaten Stiftung in die Hand, die auch Zuschüsse für archäologische Forschungen vergibt. Und da dort noch Gelder frei waren und der Leiter in seiner Jugend mehrere Jahre als Soldat in Burma verbracht hatte..." "So ausführlich brauchen wir das nicht", meinte Valerie. "Ich denke, wir haben verstanden. " "Ich habe ja gesagt, daß es eine komplizierte Geschichte ist", verteidigte Barnington sich. "Wie auch immer, schließlich war ich der Leiter. Ich dachte, es wäre eine Chance, wie ich sie nie wieder im Leben bekommen würde und habe zugegriffen. Wie es mit dem burmesischen Wirtschaftsministerium abgesprochen war, habe ich fast ausschließlich Helfer aus der Gegend angeworben. In den ersten Jahren waren wir mehr oder minder ausschließlich damit beschäftigt gewesen, die Anlage freizulegen. Es ist ein recht beeindruckender Tempelkomplex mit etlichen, teilweise großen Gebäuden. Valerie hat sie gesehen und kann bestätigen, -155-
was für eine Heidenarbeit es gewesen ist, das alles dem Urwald abzuringen. " "Bestätigung", meinte die Israelin trocken. "Der Tempelkomplex stammt, soweit es sich absehen lässt, aus der Zeit irgendwann um das fünfzehnte Jahrhundert und dürfte derselben Bauepoche wie Angkor Wat in Kambodscha oder Borobodur auf Java zuzuordnen sein. Zuerst deutete alles daraufhin, daß es sich um eine ähnliche religiöse Stätte handelte - und als solche gilt sie noch immer bei den Dummköpfen der Kommission. Aber je länger ich mich dort aufhielt, desto mehr Zweifel bekam ich, daß die Anlage diesem Zweck diente. Im Gegenteil, immer mehr deutete darauf hin, daß sie auch früher schon abgelegen und verborgen gewesen war. Mehr noch, daß sie einzig und allein dazu geschaffen war, selbst etwas zu verbergen. " "Wie kamen Sie darauf?" erkundigte Sutherland sich. "Es gibt in den Bauten mehrere Stellen mit eingemeißelten Zeichen in einer unbekannten Bilderschrift. Ein Großteil davon ist nachträglich zerstört worden, vermutlich schon vor langer Zeit. Es scheint, als hätte jemand Interesse daran gehabt, die Erinnerung an den Zweck dieser Anlage zu tilgen. Aber wer auch immer es war ein paar vermutlich schon damals verschüttete oder zugewachsene Bereiche hat er übersehen. Ich habe viel Zeit darauf verwandt, diese Zeichen zu entschlüsseln und glaube, daß es mir zum Teil auch gelungen ist. Und das ließ den Zweck der Anlage deutlicher werden." Er nahm einen Schluck Kaffee, ehe er weitersprach und genoss es, die gesammelten Blicke der Abenteurer gespannt auf sich ruhen zu wissen. "Demnach wurde die Anlage gebaut, um eine Art Torweg zu bewahren oder zu versiegeln", sprach er weiter. "Einen Torweg, der nicht für oder nicht von Menschen gemacht wurde." "Ein Torweg!" Tom Ericson stieß aufgeregt hervor, was sie -156-
alle dachten. Vor etlicher Zeit waren sie schon einmal auf ein mysteriöses Tor aus atlantischer Zeit gestoßen, durch das Tom in eine uralte Station dieser Zivilisation gelangt war. "Soll das etwa heißen..." Sein Blick richtete sich fragend auf Valerie. Die Israelin nickte schmunzelnd. Ja, genauso hatte sie sich sein erstauntes Gesicht vorgestellt. "Exakt!" Und an Barnington gewandt, meinte sie auffordernd: "Aber erzähl erst einmal weiter." "Im Zentrum der Anlage befindet sich ein einfaches Steinplateau. Dieser Umstand hat mir schon immer zu denken gegeben. Warum nur ein unscheinbares Plateau und kein prächtigeres Bauwerk? Die Lösung kam mir, als ich den Inschriften entnahm, daß es sich bei diesem Plateau um den Hüter des Torweges handeln sollte. Ich begann zu überlegen, ob es womöglich dazu da war, etwas darunter zu verbergen und in der Tat, so war es. Wir fanden in dem Plateau schließlich einen verborgenen Eingang und eine Treppe, die in die Tiefe führte, insgesamt gut fünfzig Meter. Als wir sie entdeckten, war der Treppengang völlig mit Geröll und Sand gefüllt. Es hat etliche Monate gekostet, ihn überhaupt freizulegen. Aber ich denke, es hat sich gelohnt." "Demnach haben sie diesen Torweg gefunden?" meinte Tom. "Zuerst stieß ich auf etwas anderes. Nach etwas mehr als der Hälfte des Weges nach unten verändert sich der Baustil des Treppenganges abrupt. Er entspricht ab da an nicht mehr demjenigen der übrigen Anlage, sondern besteht aus millimetergenau behauenen Megalith- Blöcken. Genau wie beispielsweise bei Stonehenge, nur viel, viel besser erhalten. Das Aufschütten hat alles hervorragend konserviert. Ganz unten stießen wir auf eine kleine Halle, ebenfalls aus MegalithBlöcken. Und in einer der Wände dort befand sich ein eingemeißeltes Tor." Er schüttelte den Kopf. "Ich habe geahnt, daß es sich dabei um den erwähnten Torweg handelt, aber ich -157-
hätte mir nie träumen lassen, daß man dort tatsächlich direkt hindurchgehen kann. " "Wie bitte?" entfuhr es Ericson. "Ihr seid sogar hindurchgegangen?" Valerie nickte. "Wir mussten es tun", erklärte Barnington. "Sonst wären wir verbrannt." "Verbrannt?" fragte Leroy. "Wieso das?" "Ja", rief Tom. "Und vor allem - wohin seid ihr gekommen? " Barnington setzte zu einer umfassenden Antwort an, doch Valerie unterbrach ihn und hob die Hände. "Ich schlage vor, du erzählst erst mal der Reihe nach weiter. Sonst verzetteln wir uns." Sutherland nickte zustimmend. "Also gut", meinte Barnington. Er berichtete, daß er um zusätzliche Gelder gebeten hatte, um hinter der Kammer nach der Fortsetzung des Torweges zu suchen. "Ich war überzeugt, daß es dahinter irgendwie weitergehen müsste. Aber bei der Kommission galten die eigentlichen Ausgrabungsarbeiten mittlerweile als beendet und man hatte vor, das Projekt zu beenden. Nun, ic h kann nicht einmal sagen, daß man mich besonders unfair behandelt hätte. Man prüfte alles, was ich über den Torweg und die Megalithbauten unter dem Tempel berichtet hatte und schickte sogar eine Kommission, die das ganze Gelände seismologisch untersuchte. Dabei kam heraus, daß es dort keine weiteren unterirdischen Hohlräume oder Gebäude gab. Der Torweg, den ich entdeckt zu haben glaubte, hatte sich als Sackgasse erwiesen. Ich kann es der Kommission nicht einmal verübeln, daß sie das Projekt gestoppt hat. Ihrer Meinung nach - und dagegen konnte ich nichts vorbringen - war dort alles erforscht. Man entzog mir die Mittel und gab mir den Rat, am besten ein Buch darüber zu schreiben und mir ansonsten einen neuen Job zu suchen. " -158-
"Was du natürlich nicht getan hast", ergänze Valerie. Barnington sah sie an, wie um zu erkunden, ob da womöglich ein bisschen Stolz über seinen Entschluss in ihrer Stimme mitgeschwungen war. Für einen kurzen Moment hatte es sich für ihn so angehört. Doch wenn dem so gewesen war, gab sie es nicht zu erkennen, sondern wartete darauf, daß er weitersprach. "Nein, habe ich nicht", erklärte er. "Ich war überzeugt davon, kurz vor der entscheidenden Entdeckung zu stehen. Also habe ich all meine wenigen Ersparnisse zusammengekratzt, nach Burma überweisen lassen und versucht, die Arbeiten auf eigene Faust weiterzufinanzieren. " Er senkte den Kopf. "Wie ich zugeben muss, bin ich damit nicht besonders weit gekommen. Tja und wenig später tauchte dann die Miliz auf und hat mich gekidnappt. Dem Kommandeur ging es darum, Valerie und mich in die Finger zu bekommen, um sich an uns zu rächen. " Ringsum sahen sie alle fragend an. "Alte Geschichten", erklärte Valerie. "Geoffrey hat mir vor vielen Jahren mal geholfen, illegal Gefangene aus Kambodscha herauszuschmuggeln und ein Kommandeur, der damals seinen Posten verloren hat, hat das bis heute nicht vergessen. Geoffrey hatte von mir einen Rettungscode und als er ihn benutzt hat, bin ich runtergeflogen, um ihn rauszuholen. Auf der Flucht vor dem Kommandeur waren Geoffrey und ich dann gezwungen, das Tor zu benutzen. Er hatte kurz zuvor in der Anlage etwas gefunden, womit ich das Tor öffnen konnte." "Und zwar gerade noch rechtzeitig", fügte Barnington hinzu und erbleichte in Erinnerung an das, was erst vor ein paar Tage n geschehen war. Dennoch kam es ihm fast so vor, als läge all das bereits eine Ewigkeit hinter ihm. Was eine Nacht langen Schlafes doch bewirken konnte! "Und - was haben Sie dahinter entdeckt?" wollte Tom ungeduldig wissen. Ebenso wie die anderen Abenteurer -159-
vielleicht mit Ausnahme von Valerie, die dabei gewesen war war er von dem Bericht höchst elektrisiert. "Wohin sind Sie gekommen? " Barnington verzog die Lippen und neigte den Kopf. "Nun, wenn ich das so genau wüsste... Es kann überall gewesen sein, nehme ich an. " "Wir sind in einer kuppeiförmigen Halle gelandet", half Valerie ihm aus. "Ohne jeden weiteren Eingang. Aber unverkennbar ebenfalls aus Megalith-Steinen erbaut. Also vermutlich atlantischen Ursprungs." Barnington sah sie erstaunt an. "Atlantisch? Ah... du meinst, in dem Sinne von... Atlantis?" Valerie nickte ernst. "Ja, aber... äh..." Wieder wedelte er fahrig mit den Armen umher. "Atlantis ist doch nur ein Mythos! Eine alte Sage, ein Märchen, nicht mehr." Er sah sich auf der Suche nach Zustimmung um, aber niemand brachte sie ihm entgegen. Seine Miene wurde unsicherer. "Ich habe dir doch prophezeit, dass deine Weltsicht auf ein paar harte Prüfungen gestellt werden würde", meinte Valerie. Als sie sah, wie er den Mund öffnete, hob sie die Hand. "Warte, lass mich noch kurz ausreden. Dann kannst du alle Fragen stellen, die dir auf der Zunge liegen." Sie wandte sich den anderen Abenteurern zu. "In dem Raum befand sich eine rätselhafte schwarze Maschine. So groß wie ein ausgewachsener Bus, vielleicht etwas größer." "Moment!" rief Tom und fasste noch einmal zusammen. "Also eine atlantische Halle! Hinter einem atlantischen Tor! Und darin eine... eine schwarze Maschine?" Alle bis auf Geoffrey Barnington wussten, was er meinte: eine Maschine der Echsen, der Feinde von Atlantis. Valerie nickte. "Ja, das haben Sie recht verstanden. Ich denke, -160-
das ist wirklich etwas, das höchst interessant sein könnte. Beides an demselben Ort." Jeder der Abenteurer hing plötzlich seinen eigenen Gedanken nach. So viele phantastische Möglichkeiten ergaben sich. "Was wissen Sie darüber, was das für eine Maschine ist?" fragte lan Sutherland. "Leider..." Valerie überlegte kurz und hob bedauernd die Schultern, "...nichts!" "Ich habe die Maschine kurz berührt", gab Barnington kleinlaut zu. "Und damit irgend etwas in Gang gesetzt. Unsere Augen begannen zu schmerzen. Das war etwas, was auch schon in den Inschriften über die Schwarze Stadt stand: dass sie in den Augen weh tut." Tom Ericson fühlte sich bei diesen Worten auf eigentümliche Weise an sein gerade erst zurückliegendes Vergangenheitsabenteuer erinnert. Als er dort die Totenstadt mit all ihren verrückten Winkeln und Konstruktionen gesehen hatte, hatte er das Gefühl gehabt, als hätte sie ihm ebenfalls in den Augen geschmerzt. Und dabei war dies nur ein Nachbau gewesen. Plötzlich stockte ihm der Atem. "Ah, Moment", meinte er an Barnington gewandt. "Habe ich Sie da gerade richtig verstanden? Sagten Sie Schwarze Stadt?" "Ja, das ist laut den Inschriften das Ziel, zu dem der Torweg führt. Wieso fragen Sie?" Tom Ericson antwortete nicht, sondern blickte bedeutungsschwanger in die Runde. Jeder wusste, was er meinte. Ob damit womöglich dieselbe Schwarze Stadt gemeint war, die das Vorbild für die Totenstadt gewesen war? Sicherlich, es wäre ein unwahrscheinlicher Zufall gewesen, zumal sich beide Funde an entgegengesetzten Enden der Welt befanden! Aber andererseits hatten sie schon viele unwahrscheinliche Zufälle erlebt - von denen sich manche im Nachhinein -161-
wiederum als gar nicht so zufällig heraus gestellt hatten. Geoffrey Barnington nahm verblüfft wahr, wie jedermann rings um ihn plötzlich seinen eigenen Gedanken nachhing - ohne dass er wusste, warum. Er fühlte sich wie ein Außenseiter. "Also!" rief er in die Runde. "Sie haben gehört, was ich zu berichten hatte!" Sein Blick blieb fordernd auf Sutherland liegen. "Wie war's, wenn Sie mir allmählich verraten, was Sie wissen? " Valerie war erstaunt. So energisch kannte sie ihn gar nicht. Sutherland nickte. Er überlegte, inwieweit er Barnington einweihen sollte. "Keine Bange. Wir haben Sie keineswegs nur aushorchen wollen. Sie werden Ihre Antworten bekommen. " "Dann sagen Sie mir, warum Sie auf den Begriff Schwarze Stadt so seltsam reagiert haben? " "Es ist nicht mehr als eine Ahnung", beantworte Tom Ericson die Frage. "Vielleicht nur eine zufällige Übereinstimmung. Gudrun und ich sind gerade in Brasilien gewesen und haben herausgefunden, dass es dort vor langer Zeit womöglich so etwas gegeben hat. Daher unser Erstaunen. " "Brasilien und Burma", meinte Barnington. "Das ist ziemlich weit voneinander entfernt." "Entfernungen spielen bei dieser Art Tor nicht unbedingt eine Rolle", erklärte Tom Ericson. "Sie haben selbst gesagt, dass Sie und Valerie überall herausgekommen sein könnten. " Barnington nickte entschlossen. "Damit wären wir beim richtigen Thema: die Tore! Was können Sie mir darüber erzählen? Valerie sagte, dass Sie schon früher darauf gestoßen sind. Sonst hätte sie nicht wissen kön- nen, wie man es öffnet." "Ein einziges Mal sind wir bisher darauf gestoßen. In Tiahuanaco." Sutherland berichtete, unter welchen Umständen -162-
das geschehen war und dass sie drei Schlüssel benötigt hatten, um es zu öffnen. "Einen Schlüssel brauchten wir auch diesmal", warf Valerie ein. "Was für einen?" wollte Tom Ericson wissen. "Eine kleine Pyramide", antwortete Valerie. "Vielleicht zwanzig Zentimeter groß. Offenbar aus demselben schwarzen Metall, wie wir ihm schon bei Kar begegnet sind." Zum Glück fragte Barnington nicht nach, wer sich hinter diesem Namen verbarg. "Ich habe die kleine Pyramide erst gegen Ende der Ausgrabungsarbeiten in einem Seitengebäude gefunden. Aber ich hätte nie gedacht, dass es sich um einen Schlüssel für das Tor handelt." "Wo ist die Pyramide jetzt?" fragte Sutherland. "Wir haben sie benutzt, um das Tor zu aktivieren", sagte Valerie. "Daneben ist eine Art Schachfeldmuster mit verschiedenen geometrischen Aussparungen in die Wand gemeißelt. Die Pyramide passte genau in eine davon und verschwand dann in der Wand. Aber ich muss eure Erwartungen dämpfen. Als wir von der anderen Seiten zurückkamen, war der Durchgang wieder dicht. Und das Muster zudem noch beschädigt." "Aber das Tor ist weiter frei zugänglich?" vergewisserte Tom Ericson sich. Valerie nickte - ein wenig stolz. lan Sutherland atmete tief durch. "Das könnte in der Tat der bedeutendste Fund sein, auf den wir bisher gestoßen sind." Er räusperte sich. "Genauer gesagt, auf den Sie gestoßen sind, Mr. Barnington. " Der Angesprochene machte ein unglückliches Gesicht. "Ja, sicherlich. Eine hochbedeutende Entdeckung - nur leider fehlen mir sämtliche Möglichkeiten, sie weiter zu erforschen." Er runzelte die Stirn, als er sah, wie Valerie zu grinsen begann. "Was ist, worüber machst du dich lustig." -163-
"Ach, Geoffrey!" rief die Israelin. "Manchmal bist du wirklich schwer von Begriff!" "Was, ich? Ich verstehe nicht, was du meinst." "Das merkt man deutlich", sagte sie spöttisch. "Mensch, Geoffrey, falls du's noch immer nicht kapiert hast - derjenige, der dir den Fortgang der Forschungen finanzieren könnte, sitzt dir gerade am anderen Ende des Tisches gegenüber!" Sie neigte den Kopf in Sutherlands Richtung. Barnington sah den Schlossherrn mit weit aufgerissenen Augen an. "Ist das wahr? Sind Sie wirklich daran interessiert..." Er ließ den Rest unausgesprochen. lan Sutherland nickte zurückhaltend und musste über den Enthusiasmus des Archäologen unwillkürlich lächeln. Er erinnerte sich daran, dass er auch einmal so ungestüm gewesen war - vor mehr als zwanzig Jahren. Es machte ihm den jungen Engländer nur noch sympathischer. "Ja, das wäre ich. Sehr sogar. Aber zuvor gäbe es hoch eine Unmenge offener Fragen zu klären. Zum Beispiel die, bei wem die Rechte für Ihr Ausgrabungsunternehmen liegen. " "Die... äh... liegen alle bei mir", versicherte Barnington schnell. "Ja, wirklich. Ich weiß, es klingt unwahrscheinlich, aber das ist auch so eine Besonderheit. Das Institut, das die Grabungen finanziert hatte, konnte wegen der internationalen Isolierung der burmesischen Regierung kein offizielles englisches Forschungsunternehmen daraus machen. Also wurden alle offiziellen Rechte mir übertragen. Ich war lediglich verpflichtet, sämtliche Ergebnisse der Kommission des Institutes zu melden." Er machte eine ergebene Handbewegung. "Aber da dort das Projekt beendet worden ist, weiß ich nicht einmal, ob man überhaupt noch etwas von mir erwartet." Er sah in die Runde. "Auf jeden Fall besitze ich noch für rund zwei Jahre die Ausgrabungserlaubnis - hochoffiziell von der burmesischen Regierung mit sämtlichen erforderlichen Stempeln." -164-
"Das klingt gut." Tom Ericson rieb sich die Hände. "Das heißt, dass wir schnellstmöglich dorthin zurückkehren können. Um so besser." lan Sutherland blickte ihn an. Er wusste um die Ungeduld seines mittlerweile wohl wichtigsten Mitarbeiters. "Demnach wollen Sie auf jeden Fall dabei sein. " "Darauf können Sie Gift nehmen! " Mortimer blickte entsetzt hoch. "Nein, Sir, bitte nicht! Tun Sie das bloß nicht! Sie wissen, wie... wie schädlich das ist." "Keine Angst, Mortimer, das hatte ich nicht vor!" "Da bin ich aber froh, Sir." ;, Barnington hatte die Szene erstaunt mitverfolgt. Er konnte nicht verstehen, wieso Sutherland einen so senilen Diener beschäftigte. Er ahnte, dass es dafür noch andere Gründe geben musste außer dessen Qualifikation. Und damit lag er auch gar nicht so falsch. "Halt!" meinte er. "Nicht so schnell! Ich denke, da müssen zuvor noch etliche Punkte geklärt werden. " "Seien Sie unbesorgt, Mr. Barnington", versicherte Sutherland. "Das werden wir und Sie werden sich bestimmt nicht übervorteilt fühlen. " Valerie nickte auf Barningtons kurzen, vergewissernden Seitenblick hin bestätigend. So etwas hätte nicht dem Stil des Earl of Oake Dun entsprochen. Er war in seinen Ansprüchen zwar hoch und bisweilen knallhart, aber nie unfair. "Vor allem möchte ich noch mehr wissen", fuhr Barnington fort. "Zum Beispiel warum Sie so sicher sind, dass das alles etwas mit Atlantis zu tun hat." "Wir sind in den letzten Jahren auf eine Vielzahl von atlantischen Artefakten gestoßen", erklärte Sutherland. "Und wir haben zu spüren bekommen, welche teilweise außerordentlichen Kräfte ihnen noch immer innewohnen. " "Was für Artefakte? Und wo sind Sie?" Sutherland nickte bitter. "Das ist eine berechtigte Frage. Wir -165-
haben Sie wieder verloren. Mehr als das Wissen darum ist uns leider nicht geblieben. " "Der letztendliche Beweis war mein Durchgang durch das erste Tor in Tiahuanaco", ergänzte Ericson. "Ich bin dadurch in einer uralten, atlantischen Station gelandet. Und sogar einem leibhaftigem Atlanter begegnet, der dort seit Jahrtausenden geruht hat." Sein Gesicht verdüsterte sich kurz, als er an Gwadain zurückdachte. Der weise, uralte Atlanter hätte ihnen noch so unendlich mehr erzählen können, wenn, ja wenn nicht der ZERSTÖRER wiedererweckt worden wäre. Dass Gwadain ihm zum Opfer gefallen war, ließ Tom ebenso unerwähnt wie die Tatsache, dass sie sich dieses schier unzerstörbar erscheinenden Monsters während der Geschehnisse um Kars Pyramide wohl endgültig entledigt hatten. "Sie sehen, wir haben allen Anlass, uns der Sache sicher zu sein. Sie haben schließlich selbst eines der Tore durchschritten und erlebt, mit was für einer erstaunlichen Technik wir es hier zu tun haben. " "Und Sie können erahnen, wie wichtig es für uns ist, eines davon genauer zu erforschen", ergänzte Sutherland. "Das alles wirft ein vollkommen neues Licht auf die gesamte menschliche Vorgeschichte", fasste Gudrun zusammen. "Statt primitiver Steinzeitwesen gab es eine Hochkultur mit Errungenschaften, die selbst wir heute mit all unseren Erkenntnissen - kaum verstehen. Das stellt so ziemlich alles auf den Kopf, was heute in der Schule gelehrt wird." "Sie sagen es!" In Barningtons Augen leuchtete dasselbe Forscherfieber wie in ihren. "Das... ist eine wissenschaftliche Sensation ersten Ranges! Die Welt muss davon unbedingt davon erfahren." Er breitete die Arme aus. "Ich kann nicht verstehen, warum Sie nicht alles tun, um das zu erreichen. Jedenfalls habe ich davon noch nichts gehört." Ringsum herrschte betretenes Schweigen. "Tja", meinte Valerie leise. "Und dafür gibt es auch gute -166-
Gründe." Sie blickte zu Sir lan, als erwarte sie von ihm, dass er weitersprach. "Und die wären?" fragte Barnington gedehnt. Ohne dass es ihm zu diesem Zeitpunkt schon bewusst gewesen wäre, fühlte er sich seit einigen Minuten nicht mehr als Außenseiter, sondern schon fast als Mitglied dieser Gruppe. Und als ein solches hatte er das Recht auf eine Antwort. "Sie dürfen nicht vergessen", formulierte lan Sutherland, "dass wir bis heute keinen realen Beweis haben. Alles, was wir besitzen, sind unsere Erlebnisse. Denken Sie, das würde uns jemand glauben? Wie viele Leute haben in der Vergangenheit schon ähnliche Dinge behauptet? Und wie ernst sind die genommen worden? " "Dafür haben wir jetzt doch das Tor in Burma!" rief Barnington. "Sie sagten selbst, dass es einen endgültigen Beweis darstellen könnte." "Trotzdem gibt es gute Gründe, noch zu warten, ehe wir mir irgend etwas an die Öffentlichkeit treten. " Ein misstrauischer Zug zeigte sich in Barningtons Miene. "Was für Gründe?" Diesmal war es Sutherland, der sich vergewissernd in die Runde blickte, wie um das Verständnis einzuholen, mehr zu verraten. Er war der Chef und hatte es nicht nötig. Aber dass er es tat, war ein Zeichen, wie sehr er sie alle als Team begriff. Als er sah, dass niemand Einwände erhob, erklärte er: "Sie haben am eigenen Leib einen Einblick erhalten, mit was für unglaublichen Kräften wir es zu tun haben. Aber das ist noch nicht alles. Wir sind bei unseren Nachforschungen nicht nur auf atlantische Artefakte gestoßen, sondern auch auf solche einer fremden Macht. Und diese besitzen nicht minder erstaunlicher Eigenschaften, mit einem Unterschied: Sie sind weitaus gefährlicher." "Was ist das für eine fremde Macht?" -167-
"Darüber wissen wir bislang nur äußerst wenig", hielt Sutherland sich bedeckt. "Aber es scheint, als hätte sie sich im Krieg mit Atlantis befunden. " Hinter Barningtons Stirn arbeitete es. "Ich verstehe. Diese seltsame Maschine, die Valerie und ich hinter dem Tor gefunden haben, stammt von der anderen Macht, nicht wahr? Deshalb haben Sie vorhin auch so seltsam darauf reagiert?" "Sie haben es erfasst", bestätigte Sutherland. "Und verstehen Sie bitte auch unsere Zurückhaltung. Ehe wir irgend etwas an die Öffentlichkeit geben, müssen wir vorher unbedingt mehr herausfinden. Es ist kaum vorstellbar, welche Katastrophen wir heraufbeschwören könnten, wenn sich Unbedarfte an diesen Hinterlassenschaften zu schaffen machen. " Barnington nickte verständnisvoll. "Wie lange, schätzen Sie, wird es dauern, bis wir nach Burma zurückkehren können? " "Hm." Sutherland überlegte kurz. "Es wird nicht einfach sein, die ganzen Einreisegenehmigungen und Aufenthaltserlaubnisse kurzfristig zu bekommen, aber ich denke, in vier, fünf Tagen könnte alles erledigt sein." "Wie bitte? So schnell? Bei mir hat das damals fast ein ganzes Jahr gedauert." "Nun", meinte Sutherland zurückhaltend, "zum Glück verfüge ich über einigermaßen gute internationale Kontakte. Sie können so lange gerne hier auf Oake Dun bleiben und nach Ihrer Entführung wieder zu Kräften kommen. Und wir werden noch so einiges zu besprechen haben. Zum Beispiel, welche Ausrüstung wir besorgen müssen." Er blickte in die Runde. "Und wir müssen klären, wer überhaupt mit nach Burma will." "Ich bin auf jeden Fall dabei", rief Tom Ericson wie aus der Pistole geschossen. "Das lasse ich mir nicht entgehen. " Sutherland nickte. Davon war er fast ausgegangen. -168-
"Ich habe noch meine Reisetasche in einer Herberge in Kengtung liegen", meinte Valerie. "Und außerdem meine Rechnung dort noch nicht bezahlt. Also bin ich ebenfalls dabei." Sutherlands Blick wanderte eine Person weiter. "Pierre?" Der Franzose schüttelte den Kopf. "Also, ich habe den Dschungel noch nie besonders gemocht. Ich wäre nicht unglücklich, wenn Sie auf mich verzichten könnten. " Sutherland nickte. "Wir müssen nicht alle dabei sein. " "Außerdem wissen Sie, dass ich in ein paar Tagen meine Tante in Frankreich besuchen will." "Wie bitte?" fragte Tom Ericson verwundert. "Ihre Tante? Seit wann sind Sie ein so familiärer Mensch? " Auch die anderen Abenteurer musterten den Franzosen erstaunt. "Zu ihr hatte ich schon als Kind ein besonderes Verhältnis", erklärte Pierre Leroy. "Und sie feiert nur einmal ihren hundertsten Geburtstag. " "Das ist natürlich ein Grund", räumte Tom ein. "Aber warum sind Sie nicht gleich in Frankreich geblieben? Ich dachte, Sie wären gerade erst dort gewesen. " "Ja, das stimmt. Aber meine Arbeiten waren abgeschlossen und..." Pierre grinste schräg. "Ich schätze, ich hatte einfach Sehnsucht danach, zwischendurch mal wieder all Ihre Gesichter zu sehen. " Niemand reagierte auf seinen Scherz. "Connor, was ist mit Ihnen?" fragte Sutherland. "Wenn Sie mich entbehren können, würde ich gerne mitgehen", sagte der Butler ruhig. "Mr. Barnington erwähnte, dass es in der Anlage jede Menge Inschriften gibt, die bestimmt vollständig erfasst werden sollen. Mit meinen Vorkenntnissen bin ich dafür wohl der beste Mann. Und es muss sich jemand um -169-
die Organisation vor Ort kümmern. " "Ich wäre sehr froh, wenn Sie das tun würden", sagte Sutherland. "Ehrlich gesagt, ich könnte mir niemanden vorstellen, der besser dafür geeignet wäre." Connor nickte. Damit war es abgemacht. Sutherlands Blick, aber auch diejenigen der anderen Abenteurer blieben auf Gudrun Heber liegen, die bislang als einzige nichts gesagt hatte. Die Deutsche bemerkte es und machte ein wenig begeistertes Gesicht. "Schon wieder Dschungel? Tom und ich haben gerade so ein Abenteuer hinter uns. Und die Monate im letzten Jahr in Guatemala sind mir auch immer noch gut in Erinnerung. " "Sie müssen sich nicht verpflichtet fühlen, mitzukommen", meinte Sutherland entgegenkommend. "Wir werden schon genügend fähige Leute vor Ort haben. " "Die Arbeiten dort dürften sicherlich einige Wochen in Anspruch nehmen", meinte sie. "Davon ist auszugehen", bestätigte Connor. Gudrun überlegte kurz. "Dann möchte ich, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, nicht mitgehen. Vielleicht ist später immer noch Zeit, dazuzustoßen. " Sutherland nickte. Er hatte keine Probleme damit. Er verstand es, wenn seine Mitarbeiter von Zeit zu Zeit auch einmal eine Auszeit in Anspruch nahmen. Und gerade Tom und Gudrun hatten in den letzten Jahren am meisten durchgemacht. Tom Ericson hingegen hatte weniger Verständnis dafür. Erstaunt, nahezu ungläubig sah er Gudrun an. Valerie hatte fast das Gefühl, als würde er diese Absage regelrecht persönlich nehmen. Es bestätigte sie in ihrer Vermutung, dass in Brasilien etwas zwischen ihnen vorgefallen sein musste. "Und was willst du in der Zwischenzeit machen?" fragte Tom. Gudrun wich seinem fordernden Blick aus und hob die -170-
Schultern. "Mich erholen. Oder mich mit der Arbeit beschäftigen, die hier liegengeblieben ist." "Wieso kommen Sie nicht mit nach Frankreich?" schlug Pierre vor. "Meine Tante lebt auf einem abgelegenen Landgut. Da kann man sich für ein paar Tage sicherlich gut erholen. Und länger will ich auch nicht dort bleiben. So interessant finde ich es auf dem Land nun auch wieder nicht. Aber für zwischendurch..." Gudrun wirkte nicht sehr begeistert. "Ich werde es mir überlegen", sagte sie zurückhaltend. "Ich würde gerne mitfahren", meldete sich da eine ausdruckslose Summe zu Wort. Alle Blicke wandten sich Elwood zu. "Sie?" "Ja", bestätigte Elwood. "Ich kann keinen Grund erkennen, warum ich es nicht tun sollte. Im Gegenteil, gerade Sie, Sir lan, sagten doch stets, wie wichtig es für mich wäre, neue Erfahrungen zu sammeln." "Das, äh, stimmt", räumte lan Sutherland ein. "Aber ich denke trotzdem, dass so ein Einsatz für Sie noch viel zu früh käme. Es wäre besser, wenn Sie Ihre Fähigkeiten vorerst weiter hier auf Oake Dun trainieren, ehe wir Sie vor Ort einsetzen. " "Verstehe." Es klang fast ein wenig traurig, aber das war sicherlich nur Einbildung. Der Mann in Schwarz konnte keinerlei Gefühle ausdrücken. "Gut", sagte Sutherland. "Damit wäre alles geklärt." "Bis auf einen Punkt", meinte Tom Ericson. "Was ist eigentlich mit Ihnen? " "Mit mir?" fragte der Schlossherr. "Ganz recht. Kommen Sie mit nach Burma oder bleiben Sie auf Oake Dun? " "Weder noch", antwortete der Schlossherr. "Ich muss in ein -171-
paar Tagen nach New York. Zur UN. Ich habe dort einen Termin mit Mahon. " Die anderen Abenteurer wussten, wer das war. George Mahon war der Abteilungsleiter, der für die UN-Unterstützung von A.I.M. zuständig war. Immer wenn auf der Welt etwas Eigenartiges geschah, das in den Forschungsbereich von A.I.M. fallen könnte, leitete er entsprechende Berichte an Sutherland weiter. Es war eine sehr diffizile Zusammenarbeit, die sehr viel Fingerspitzengefühl und internationale Diplomatie erforderte aber gerade darin war Sutherland ein Meister. "Probleme?" fragte Pierre. "Wie man's nimmt. Es geht noch um die alte Geschichte, um Kars Pyramide. Wir haben über Mahon damals amerikanische Kriegsschiffe angefordert und ich hatte ihm gesagt, dass ich ihm die Erklärung noch nachliefern werde. Und jetzt ist die Zeit gekommen, sich deswegen vor einem Ausschuss zu verantworten. " "Klingt nicht erfreulich. " "Routine", meinte Sutherland und einzig Connor kannte den Schlossherrn gut genug, um herauszuhören, dass mehr dahinter steckte. "Uns wird schon niemand den Kopf abreißen. Außerdem steht Mahon auf unserer Seite." Connor fand, es klang, als wolle sich der Schlossherr selbst Mut machen, aber er sagte nichts. "Gut", meinte Sutherland. "Nachdem wir das nun geklärt hätten, schlage ich vor, wir machen eine kurze Pause und treffen uns alle in zwei Stunden im Kaminzimmer, um die weiteren Sachen abzuklären. " Er verließ die Küche und die meisten der Abenteurer standen auf, um sich die Beine etwas zu vertreten. Sofort bildeten sich verschiedene Gesprächspärchen. Als Valerie sah, dass Barnington keine Schwierigkeiten hatte, -172-
sich mit den anderen weiter bekannt zu machen, schickte sie sich an, die Küche kurz zu verlassen. Vor der nächsten Besprechung würden ihr ein paar Minuten im Fitness-Raum gut tun - auch um den Muskelkater weiter zu lockern. "Ach ja, Valerie! "hielt To ms Stimme zurück. "Ehe ich's vergesse!" Sie wandte sich um. "Ja?" "Sagen Sie", begann er. "Nichts für ungut, aber was ist mit ihren Haaren passiert?" Ein flammender Blick war alles, was er als Antwort erhielt. Es war, als braue sich über den Schläfen der Israelin ein dunkles Zornesgewitter zusammen. Einen Moment sah es so aus, als wolle sie etwas sagen, dann drehte sie sich einfach um und ging aus der Küche. "Hoppla", meinte Tom überrascht. "Was hat unsere kleine Kampfhundstreichlerin denn so plötzlich? " "Lassen Sie sie das nur nicht hören!" riet Pierre. Tom hob unschuldig die Schultern. "Habe ich irgendwas Falsches gesagt?" "Das ging mir gestern auch so", bekannte Pierre. "Soll einer die Frauen verstehen!" "Pah, Männer!" Gudrun stand auf und stemmte die Arme in die Hüften. "Ihr wisst einfach nicht, wann es besser ist, den Mund zu halten. " "Ja, aber..." Pierre und Tom tauschten einen ratlosen Blick. "Das ist doch einfach nur freundliches Interesse! Es gibt doch keinen Grund, einen deswegen so anzufahren! " "Ach, ihr versteht einfach nichts von den Gefühlen einer Frau! Bei euch ist Hopfen und Malz verloren. Da...da..." Gudrun fiel in ihrer Aufregung nichts Rechtes ein. "Da solltet ihr mal drüber nachdenken!" rief sie, verließ ebenfalls die Küche und schlug die Tür hinter sich zu. -173-
Tom, Pierre, Connor und Barnington sahen sich überrascht an. Auch Elwoods Blick wanderte interessiert von einem zum anderen. "Sollten wir wirklich?" meinte Pierre leise. Seine Frage blieb ein paar Sekunden im Raum stehen. Abermals sahen sich die vier Abenteurer an, dann schüttelten sie einmütig die Köpfe. "Nein", verkündete Tom das Ergebnis ihrer kurzen Beratung. "Sollten wir nicht!" "Nicht?" fragte Elwood. "Nein!" "Dabei würde mich wirklich interessieren, was für Auswirkungen es hat, wenn man Hopfen und Malz verliert", sagte Elwood. "Ich war mir gar nicht bewusst gewesen, dass Sie diese Dinge zuvor dabei hatten. Wann sind Sie ihrer denn verlustig geworden? " Tom seufzte. "Das war doch nur ein Sprichwort." Der Mann in Schwarz überlegte. "Welches davon? ›Hopfen‹,›und‹,›Malz‹oder›verlieren‹?" "Nein, das alles!" "Aber das sind doch vier Wörter! Sind das alles Sprichwörter?" "Elwood!" Tom schickte einen Blick zur Küchendecke. "Das Gesamte nennt man ein Sprichwort. Oder auch eine Redewendung. " "Verstehe. Nein, korrigiere, ich verstehe nicht ganz. Kann sich eine Rede denn... "Nein, Schluss jetzt!" entschied Tom. Für diese Spitzfindigkeiten fehlte ihm nach der langen Reise der Sinn. Immerhin hatte der Mann in Schwarz den Vorteil, dass man ihn nicht vor den Kopf stoßen konnte. "Dafür ist später noch Zeit." -174-
"Später noch Zeit." Elwood nickte. "Das verstehe ich. " Die vier Abenteuer steckten ihre Köpfe zusammen und waren kurz darauf in eine lebhafte Fachdiskussion über die letzten Erlebnisse und Abenteuer vertieft.
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6. Kapitel Irgendwo im Himalaya II Der Raum, in dem sich die kleine Meditationsgruppe befand, lag in einem der Seitenflügel. Es dauerte nicht lange, bis Paldan Manjushi dort eintraf. Schon vor der Tür hatte sich ein kleiner Auflauf gebildet, sofern man bei einem halben Dutzend Menschen davon reden konnte. Es gab nicht viele, die hier lebten. Wie gesagt, Gompa war ein abgelegener und einsamer Ort. Es war überhaupt erst Manjushis Initiative zu verdanken, dass in der letzten Zeit mehr Priester und Priesteranwärter hierher gekommen waren und ein jeder von ihnen war äußerst sorgsam ausgewählt worden. Manjushi hielt es für möglich, dass er in Zukunft ihre Hilfe nötig haben könnte und er fand es beruhigend zu wissen, dann fähige Helfer um sich zu haben. "Was ist geschehen?" fragte er, als er die Tür zu der Kammer erreicht hatte. Niemand sagte etwas, aber alle machten ihm sofort ehrfürchtig Platz, so dass er in die Kammer gehen konnte. Das reichte auch völlig aus, denn was er dort sah, war Antwort genug. Überall war Blut am Boden und man war dabei, die vier noch rechtjungen Angehörigen der Meditationsgruppe zu versorgen. Sie waren allesamt Priesteranwärter. Bandagen und Tücher wurden herbeigeholt und man fertigte daraus provisorische Verbände an. "Ihnen sind die Augäpfel geplatzt", erklärte einer der Helfer. Manjushi nickte düster. Das hatte er gesehen. Er blieb abwartend stehen und wartete, bis die vier jungen Männer versorgt waren. Es war ein unglücklicher Zufall, dass alle vier betroffen waren. Die meiste Zeit über befanden sich lediglich zwei von ihnen in dieser besonderen, langanhaltenden Form der -176-
Meditation. Zwei deshalb, weil es einem immer wieder geschehen konnte, dass er zwischendurch durch irgend etwas gestört wurde. Schließlich waren es auch nur Menschen. Nach jeweils zwölf Stunden wurden sie dann von dem anderen Paar abgelöst, das in der übrigen Zeit genügend Gelegenheit zur Erholung gehabt hatte. Schlaf brauchten sie dabei keinen mehr, denn dieser wurde durch die Meditation überflüssig, obwohl sie während dieser Zeit hellwach waren. Nur in der Übergangszeit, in der sich beide Gnippen ablösten, gab es eine kurze Zeitspanne der gemeinsamen Meditation. Genau in diesem Moment musste sie ein verheerender Impuls von außerordentlicher Stärke getroffen haben. Wenigstens hatten sie ihn alle überlebt. Du hast mir noch nicht gesagt, wozu diese Gruppe dient, raunte Cahunas körperlose Stimme in seinem Geist. Sie ist eine Art Anzeiger für bedeutsame Ereignisse, antwortete Paldan Manjushi auf dem gleichen Wege. Für alle Aktivitäten, die von der schwarzen Seite ausgehen. Warum hast du mir nie etwas von der Gruppe gesagt? Warum tust du so etwas ohne mein Wissen? Es war nicht gegen dich gerichtet, sondern diente allein dazu, mich zu vergewissern. Du warst dir deiner Mission von Anfang an gewiss. Ich hingegen wollte mehr Sicherheit. Und mehr Orientierung. Cahuna wirkte wieder einigermaßen versöhnt. Diese Gruppe hatte bereits einige Aktivitäten registriert, erklärte Manjushi weiter. Von den Parasiten über die Aktivierung von Anlagen zur Zeitlosen Ortsversetzung bis hin zur Freisetzung des Aymish. Aber das waren bislang vergleichsweise schwache Impulse gewesen. Vielleicht mit Ausnahme der Lade, doch deren Energiestruktur passte nicht auf das Suchraster. Aber sie leuchtete dennoch deutlich hinein. Gut, dass ich es von vorneherein ausgeschlossen habe, ihren Geist darauf zu richten. -177-
Und dieser Impuls jetzt? Paldan Manjushi antwortete mit einer kurzen Emotion, die das geistige Äquivalent eines Schulterzuckens war. Wir werden gleich mehr erfahren. Er trat zu den vier Männern, die halbwegs versorgt waren. Ihre Augen waren von Verbänden verhüllt, aber niemand von ihnen machte den Eindruck, als litte er unter Schmerzen oder wirkte gar niedergeschlagen. "Ich bin es", sagte Manjushi schlicht. Einer der vier wandte seinen Kopf in die Richtung des Lamas, als könnte er ihn noch immer sehen. "Wir haben Eure Anwesenheit gespürt. Es sind keine körperlichen Augen notwendig, um das zu tun. " "Habt Ihr nicht selbst gesagt, dass sie nur ein Teil der Sinne sind?" fragte ein zweiter. "Und dass das innere Auge viel wichtiger ist", schloss sich der dritte an. "Und damit sehen wir noch immer", schloss der vierte. "Wir sind stolz, auf diese Weise unseren Beitrag zur großen Sache leisten zu können. " Paldan spürte die Aufrichtigkeit, die dahinter steckte. Das waren nicht nur bloße Worte. Er erkundigte sich, was sie auf geistiger Ebene "erspürt" hatten, als der Impuls sie getroffen hatten. Sie antworteten ihm ausführlich, aber in einem Vokabular, das nur für jemanden verständlich war, der diese Form der Meditation und der damit verbunden Form der erhöhten Wahrnehmung selbst praktiziert hatte. In menschliche Worte übersetzt und zusammengefasst, ließ sich daraus Folgendes entnehmen: Irgendwo war ein einzelner, bestimmter Energieträger der anderen Seite aktiviert worden. -178-
Und er hatte urplötzlich einen immens starken Impuls ausgesandt, der kurz darauf wieder verloschen war. Die Art der Energiesignatur zeigte jedoch, dass nicht der Impuls selbst kurz gewesen war. Nein, es handelte sich um einen kontinuierlichen Energieausstoß, den sie lediglich für eine kurze Zeit wahrgenommen hatten. Der Grund dafür lag nahe: Die Energiequelle hatte zuvor im Verborgenen gearbeitet; sie war abgeschirmt gewesen und diese Abschirmung war für ein paar Sekunden zusammengebrochen oder durchlässig geworden. Das war auch der Grund, warum der Impuls die vier Männer so überraschend getroffen hatte. Normalerweise war es zu spüren, wenn sich ein mächtiger Impuls aufbaute und man konnte seine ge istigen Fühler rechtzeitig zurückziehen, um nicht in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Doch diese Chance hatten die vier Meditierenden nicht gehabt. Die wichtigste Frage - die, woher der Impuls gekommen war vermochten sie nicht zu beantworten. Dazu war er zu kurz und zu verheerend gewesen. "Zum Abschluss noch eine Frage", sagte Paldan Manjushi. "Habt ihr Eindrücke von dem Zweck der Impulsquelle erhalten? " "Nicht deutlich", antwortete einer. "Und nur ganz vage." "Und? Welche waren das?" Die vier lauschten ein paar Sekunden in sich hinein, um diese Eindrücke abzurufen. Der Lama wartete still, bis sie damit fertig waren. "Eine Sperre", begann der erste flüsternd. "Eine Falle." "Ein Wächter." "Eine Mutter." Manjushi nahm alles in sich auf. Er spürte das Zögern in den -179-
Worten der vier. Sie waren sich ihrer Sache selbst nicht sicher. Damit beendete er das Gespräch und versprach ihnen, sich später um sie zu kümmern. "Macht Euch um uns keine Sorgen, Meister", erwiderte einer von ihnen. "Unsere Wunden sind nur körperlicher Natur. Wir werden so schnell wie möglich unsere Wache wieder aufnehmen. Es ist wichtig, dass sie ununterbrochen fortgesetzt wird." Manjushi überlegte kurz und befahl ihnen, dennoch ein paar Ruhetage einzulegen, um den Schock zu überwinden und ihre Wunden heilen zu lassen. Sofort erklärten sich zwei der älteren Priester bereit, solange die Meditationspflichten zu übernehmen. "Wir sind geübt darin. Wir können jeweils eine Schicht alleine absolvieren. " Manjushi nickte zustimmend, dann zog er sich wieder in seine privaten Gemächer zurück. Es gehen große Dinge vor, dachte Cahuna aufgeregt. Die Gegenseite rüstet auf. Und sie hat es geschafft, dies im Verborgenen zu bewerkstelligen. Ist dieser Schluss nicht zu gewagt? fragte Manjushi. Die Art des Impulses beweist, dass es so ist. Ich habe die ganze Zeit über recht gehabt. Ich habe es gefühlt. Manjushi unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, dass Gefühle deshalb noch immer ein schlechter Ratgeber waren. Was hast du vor? Ich muss herausfinden, woher der Impuls gekommen ist! Und was für eine Art Angriff sich dahinter verbirgt. Wie willst du das bewerkstelligen? Cahuna antwortete nicht sofort, sondern dachte nach. Dann drängte er danach, erneut das Orakel aufzusuchen. Manjushi versprach sich davon nicht sehr viel, lenkte aber seine Schritte dorthin. -180-
"Du hattest recht, Orakel", sagte Cahuna über die Lip pen des Lamas. "Natürlich habe ich recht!" antwortete dieses fast pikiert. "Ich habe immer recht." "Du sagtest, dass ich meine Augen verlieren werde", redete Cahuna unbeeindruckt weiter und ließ sich nicht provozieren. "Und so ist es geschehen. " "Nicht du hast sie verloren, sondern die vier jungen Anwärter." "Aber sie waren auch meine Augen. " "Ja, da hast du recht. Aber du hast zugleich vielerlei Augen. Du hast Paldan Manjushis Augen. Du hast mich. Du hast deine innere, aufrechte Einstellung. Du hast die Diener..." "Sag mir, was soll ich als nächstes tun?" forderte Cahuna. "Du ermüdest mich", lautete die abweisende Antwort. "Dir wurde bereits alles gesagt. Du triffst die Entscheidungen. Du trägst die Folgen. Wieso sollte es dir anders ergehen als allen anderen Wesen dieser Sphäre?" Das war nicht das, was Cahuna zu hören gehofft hatte. Paldan spürte, wie dessen Emotionen wieder anstiegen und drängte zum Aufbruch. Es war niemandem hilfreich, wenn er das Orakel beleidigte. Komm! "Ja, geh!" ergänzte das Orakel von Delphi. "Nein, warte, du musst..." "Ich muss gar nichts. Alles, was ich in dieser Angelegenheit tun muss oder tun zu müssen beschlossen habe, ist bereits getan. Oder für wie wenig weitsichtig hältst du mich? Du vergisst, wer hier auf seinen drei Beinen vor dir steht! Meine diese Dinge betreffenden Botschaften habe ich schon vor Monaten, zum Teil auch schon vor Jahrhunderten versandt." "Was meinst du damit?" -181-
Aus der Luft über dem dreibeinigen Hocker war ein tiefes, deutlich vernehmbares Seufzen zu hören. "Fragen über Fragen. Ihr stellt immer nur Fragen! Meine Botschaften werden ihre Empfänger schon rechtzeitig erreichen. Nun geh endlich und lass mich in Ruhe den Wreitergang der Geschichte betrachten. " Cahuna fühlte sich zu Unrecht so abgefertigt. In seinen Augen warf jede Aussage des Orakels mehr Fragen auf, als es damit beantwortete. Er sah aber ein, dass er nichts mehr erreichen konnte und gab nach. Paldan Manjushi ve rabschiedete sich höflich von dem Orakel und verließ den Raum. Die Diener! rief Cahunas Geist plötzlich. Sie sind die Lösung. Deshalb hat das Orakel sie auch so ausdrücklich erwähnt . Wobei sind Sie die Lösung? Sie werden uns helfen, die Energiequelle zu lokalisieren und zu bekämpfen. Paldan steuerte seine Schritte in eine Kammer, die sich erheblich von den meisten anderen, sehr schlicht gehaltenen Räumen auf dieser Seite der Wirklichkeit unterschied. Allein um sie zu erreichen, war es nötig, eine besondere Pforte zu durchschreiten. Die Kammer selbst war ein eiförmiges Oval, dessen Wände über und über von funkelnden, glitzernden Kristallen bedeckt waren. Sobald Paldan eintrat, begannen sie in einem sanften Licht von innen her zu glühen. Doch der Lama wusste, dass es nicht seine Anwesenheit war, die die Kristalle derart reagieren ließ. Nein, es war Cahunas Geist, den sie registrierten. Er war der legitime Herr und Meister dieser Kammer, von der vermutlich niemand je geahnt hätte, dass eine solche sich hier in diesem abgelegenen Kloster befand. Von hier aus konnte Cahuna Vorgänge in weit entfernten Stationen steuern. Sie waren die eigentlichen "Muskeln" seines -182-
Geistes. Um sie zu aktivieren und sich ihrer zu bedienen, genügte ein Gedanke von hier aus. Es war kaum schwerer wie für einen Menschen, seine Muskeln zu bewegen, um beispielsweise eine Hand oder ein Bein zu heben. Aber um das Bild korrekt wiederzugeben, musste man genauer sagen: kaum schwerer, als es für einen Menschen gewesen wäre, der das seit 5000 Jahren nicht mehr gemacht hatte. Es gelang ihm, aber er musste sich noch viel mehr darin einfinden, ehe er seine volle Beweglichkeit zurückerlangte. Kaum hatte Cahuna den Kontakt hergestellt und die üblichen routinemäßigen Meldungen erhalten, strahlte sein Bewus stsein Unruhe und Verwirrung ab. Erst dachte er, er hätte einen Fehler gemacht, doch nachdem er alles überprüft hatte, hatte sich nichts daran geändert. "Was ist los?" fragte Paldan laut. Cahuna brauchte einen Moment, um zu antworten. Es gibt Unregelmäßigkeiten in der Station AUTOCHTON. Was für Unregelmäßigkeiten? Das werde ich gleich herausfinden. Cahuna nahm aus der Ferne ein paar Einstellungen vor, rief das Wissen von verschiedenen Speichereinheiten ab, aktivierte eine Reihe von Selbstprüfungsprogrammen und wartete dann ungeduldig auf das Ergebnis. Als es ihm übertragen wurde, war er verblüfft. Was ist los? fragte Manjushi. Es gibt mehrere kleinere, allerdings nur oberflächliche Beschä iigungen im Inneren der Station. Aber sie sind lediglich von untergeordneter Natur. Was viel bedeutsamer ist: Es wurde eine Anzahl von unautorisierten Erweckungen von Dienern vorgenommen. Paldan Manjushi hörte es ungläubig. Er war nicht in der Lage, wie Cahuna die Anlage zu steuern - dies blieb dem Auserwählten selbst vorbeha lten -, aber er wusste am ihre Funktionen und auch um diejenigen der Stationen und Diener. -183-
So etwas lag normalerweise außerhalb alIer Möglichkeiten. Wie viele? fragte er. Erst eine und dann etwas später einhunderundvierund vierzig weitere. Wer hat diese Erweckungen vorgenommen? Cahuna setzte ein paar Programme in Bewegung. Unekannt. Es liegen keinerlei Aufzeichnungen vor. Sie wurden gelöscht. Cahuna war regelrecht schockiert, als er sich der Bedeutung dieser Analyse bewusst wurde. So etwas dürfte noch nie vorgekommen sein und eigentlich auch nie mals vorkommen! Welche Informationen gibt es darüber, was diese Diener jetzt tun oder wo sie sich aufhalten? fragte Manjushi. Wieder ein Suchprogramm. Auch darüber liegen keinerlei Angaben vor, berichtete Cahuna. Die Daten wurden ebenfalls gelöscht. Aber in der Station befinden sich die Diener nicht mehr. Sie müssen sie verlassen haben. Und zwar... eigenmächtig! Er wagte das letzte Wort in seinen Gedanken kaum zu formulieren. So etwas war eigentlich ein Ding der absoluten Unmöglichkeit. Kein Diener verfügte über einen eigenen Willen und wäre imstande gewesen, so etwas zu tun. Und dennoch war es geschehen. Paldan Manjushi war ebenfalls ratlos. Das bedeutet, folgerte er, dass ein Unbekannter diese Erweckungen vorgenommen haben muss. Es kann kein Zufall sein, dass das ausgerechnet jetzt passiert ist. Das ist dieser feindliche Energieträger! Er muss dafür verantwortlich sein. Er greift die innere Verteidigungsstruktur an! Gibt es Aufzeichnungen darüber, ob jemand in die Station eingedrungen ist? Wieder startete Cahuna ein paar Suchprogramme. Ja, stellte er -184-
anschließend fest. Tatsächlich. Ein Mensch Männlich. Und das unmittelbar, bevor die erste eigenmächtige Erweckung vorgenommen wurde. Dann ist er der Saboteur, dachte Manjushi. Wie immer er es auch geschafft hat, in die Station einzudringen. Das hätte einem Menschen eigentlich nicht gelingen dürfen. Cahuna bekam ein paar weitere Informationen überspielt. Es sieht allerdings nicht so aus, als sei er überhaupt in der Nähe der Erweckungskammern gewesen. Aber das Protokoll ist lückenhaft. Dafür liegt ein kurzes Tondokument vor. Ich könnte es regenerieren lassen... Der letzte Satz war halb als Frage gemeint. Manjushi stimmte zu. Er war selbst gespannt darauf. Cahuna veranlasste alles. "He!" scholl kurz darauf eine lallende Männerstimme durch die Kristallkammer. "Is´ da fleischt irgendwer? He! Dammtnochmal! Könnt mich hier doch nicht so seh... seht... schtehenlaschen! Los, raus, ihr verdammten Aliens! Ich... icks... zeig' euch, was 'ne Harke is'!" Es folgte noch ein polterndes Geräusch, als ob etwas umgefallen wäre, dann endete die Aufzeichnung. Hätten Cahuna und Manjushi zwei Körper gehabt, so hätten sie sich in diesem Moment wohl nur ratlos angesehen. So lauschte jeder in sich hinein, ob der andere damit was anzufangen wusste - aber dem war nicht so. Es klingt nach einem menschlichen Individuum mit großen Kontrollproblemen, dachte Manjushi. Und als würde es dabei großes Leid empfinden. Das könnte auf eine geistige Fernlenkung hindeuten. Aber es ist zweifelsohne aggressiv. Kein Wunder, wenn es die Station angegriffen hat. Was ist aus diesem Individuum geworden? -185-
Es hat die Station wieder verlassen. Genau 58 Minuten später. Durch dieselbe Pforte, durch die es hineingekommen ist. London Mitte. Und dann wurde diese Pforte wieder versiegelt. Wie bitte? entfuhr es Manjushi. Versiegelt? Durch einen Mensch? Woher sollte er wissen, wie so etwas möglich ist? Cahuna wusste darauf ebenfalls keine Erklärung. Die ganze Angelegenheit war höchst mysteriös. Und beunruhigend. Das beweist, wie weit der Feind über unsere Möglichkeiten informiert ist. Gibt es eine Möglichheit, diesen Menschen, der die Station betreten hat, wieder aufzuspüren? Eigentlich nicht. Cahuna dachte nach. Moment, ich ahne, was du meinst. Wenn er zweimal so kurz hintereinander eine Pforte durchschritten hat, müsste es eigentlich noch einen Nachhall der Molekularveränderung geben. Unter günstigen Umständen, vielleicht... Dann setze alles nötige in Bewegung, um diesen Menschen ausfindig zu machen. Vielleicht kann er uns Antworten geben. Das werde ich tun. Und nicht nur das. Ich werde die Verteidigung der Station erheblich verstärken. Und alle Möglichkeiten ausnutzen, diesen Energieträger zu lokalisieren. Ich habe den Eindruck, als würde er die größte Gefahr bilden. Und ich bin mir sicher - er ist der Grund, warum all das geschieht ! Er erwartete, dass Manjushi Einspruch erhob. Doch dem war nicht so. Und er wertete es als Einverständnis, es so zu machen. Bevor er begann, alles zu veranlassen, hielt er noch einmal kurz inne. War es nicht erst ein paar Augenblicke her, dass er sich darüber beschwert hatte, hier untätig herumsitzen zu müssen? Und jetzt, nur unwesentlich später, wusste er kaum, mit welcher Sache er zuerst beginnen sollte. Manjushi schien mit seiner Einschätzung der -186-
Meditationsgruppe schon ganz recht gehabt zu haben. Diesmal schien es wirklich ernst zu werden! Der Feind war wieder zurück. Immer noch im Verborgenen, aber immerhin war sein Schleier kurz gefallen.
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7. Kapitel Geheimnisse Pierre Leroy konnte nicht schlafen. Unruhig wälzte er sich immer wieder im Bett hin und her, ohne dass sein Geist zur Ruhe kam. Der Schlaf hielt sich meilenweit entfernt von ihm. Vielleicht lag es an den Neuigkeiten, die Gudrun und Tom einerseits, sowie Valerie und dieser Engländer namens Barnington andererseits zurück nach Oake Dun gebracht hatten. Er müsste sich eingestehen, dass er den jungen Engländer nicht besonders mochte und auch nicht für besonders fähig hielt. Nicht etwa, dass er in seinen Augen einen unredlichen oder gar unehrenhaften Eindruck gemacht hätte - nein, dazu war solch ein Muttersöhnchen gar nicht fähig. Pierre konnte nur nicht verstehen, wieso Valerie einem solchem Milchbubi derart viel Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Sicherlich, das, worauf er gestoßen war - aus Zufall wohlgemerkt -, war hochinteressant und genau das, worauf sie alle von A.I.M. seit langem gehofft hatten, aber das war noch lange kein Grund, sich derart um ihn zu kümmern. Er fragte sich, was sie überhaupt an einem schlaksigen langen Lulatsch wie ihm finden konnte. Er griff nach dem kleinen Digitalwecker auf dem Nachtschrank und starrte aus verquollenen Augen darauf. 4.18 Uhr. Mitten in der Nacht. Es würde noch gut eine Stunde vergehen, ehe die ersten Bediensteten Sutherlands ihren Dienst antraten. Fast gegen seinen Willen schwang er die Füße es dem Bett. Seine innere Unruhe ließ ihn einfach keine Ruhe finden und sein Mund fühlte sich seltsam trocken an. Er knipste die Nachttischlampe an. Dabei streifte sein Blick den Sexy 6, der dort abgestellt war. Es war sein Lieblingscocktail und er hatte ihn kurz vor dem Schlafengehen noch mit auf sein Zimmer genommen, jedoch ohne einen Schluck davon getrunken zu -188-
haben. Und der Gedanke daran, dies jetzt nachzuholen, ließ ihn erschaudern. Das Eis darin war längst geschmolzen und der Drink zimmerwarm. Pierre Leroy stand auf und ging statt dessen zur Kommode, wo eine Wasserflasche abgestellt war. Es war dieselbe, die er vor Tagen aus dem Keller heraufgebracht hatte, als er Sutherland und Valerie begegnet war. Viel mehr als zwei Fingerbreit Flüssigkeit waren nicht mehr darin und auch diese waren zimmerwarm. Dennoch stürzte Pierre sie fast in einem Schluck hinunter und wischte sich danach mit dem Handrücken über den Mund. Er straffte sich und spürte, wie er sich gleich viel besser fühlte. Das trockene Gefühl in seiner Kehle war verschwunden und er spürte, wie seine innere Unruhe nachließ. Nein, wozu sich unnütz Sorgen machen? Er und die übrigen Abenteurer waren auf den richtigen Fährten und alles lief, wie es nicht besser laufen konnte. Zugleich machte sich eine andere, viel aktuellere Sorge in ihm breit. Zwar hätte er sich jetzt beruhigt wieder ins Bett legen und wohl auch schlafen können, aber er hatte mit dem Wasser eigentlich bis morge n Nachmittag auskommen wollen - und eigentlich auch sollen, so streng, wie er es sich eingeteilt hatte. Dennoch war die Flasche bereits leer. Was, wenn er wieder erwachen und Durst haben sollte? Er beschloss, sein Schlafbedürfnis noch etwas zurückzustellen. Statt dessen ging er ins Bad, das zu seinem Zimmer gehörte und füllte die Flasche wieder halb mit Leitungswasser aus dem Hahn. Dann, nachdem er vorsichtig die Tür geöffnet und sich umgesehen hatte, ob draußen auf dem Korridor jemand zu sehen war, verließ er sein Zimmer. Auf leisen Sohlen schlich er hinunter ins Erdgeschoss und von dort aus durch die dicke Stahltür weiter in den Keller. -189-
Hier befanden sich in den verschiedensten Räumen Dutzende und Aberdutzende von Regalen und Vitrinen. Im Gegensatz zu den modern renovierten Räumen oben im Schloss waren die Kellerräume hier unten noch weitestgehend so erhalten, wie sie im Mittelalter geschaffen worden waren. Wie sich herausgestellt hatte, gab es tief darunter sogar noch weitere unterirdische Katakomben. Darauf war Sutherland vor einem Jahr gestoßen und bis jetzt hatte die Zeit gefehlt, sie näher zu untersuchen. Es war einer der Flüche ihrer Rastlosigkeit. Zu viele Dinge kamen auf sie zu, als dass sie Zeit gehabt hätten, hier alles ausführlich zu untersuchen. Wer wusste, welche Geheimnisse all diese Katakomben noch bargen? Leroy schlich weiter. Hier unten hatte er stets das Gefühl, als sähe ihm ein Dutzend Augen bei jeder Bewegung zu. Es schien, als seien sämtliche Geister der Artefakte erwacht und zu Zuschauern eines jeden seiner Schritte geworden. Obwohl er diesen Weg in den letzten Wochen schon oft gegangen war, richteten sich seine Nackenhärchen doch stets aufs Neue auf. Aber Pierre hatte sich an das Gefühl bereits gewöhnt zumindest so sehr, dass es ihn nicht mehr zu ängstigen vermochte. Zielstrebig ging er zu einem der Artefakte in den Regalen und nahm es mit zitternden Fingern in die Hand, fast ehrfürchtig und voller Angst, es fallen zu lassen. Er glaubte zwar nicht, dass es dann entzweigebrochen wäre, dazu war es zu massiv und hatte in den letzten Jahrhunderten wohl auch schon zuviel mitgemacht - dennoch wollte er kein Risiko eingehen. Tief in seinem Innern wusste er, dass das, was er hier tat, nicht recht war. Nein, unrecht war das falsche Wort, denn er war sich sicher, dass er niemandem schadete und nicht einmal Sir lan etwas dagegen haben konnte. Trotzdem war es irgendwie falsch, was er hier machte. Und vermutlich war das Wissen darum auch der Grund, aus dem er nicht wollte, dass jemand wusste, dass er hier unten war. Er registrierte sehr wohl, wie sehr seine Besuche hier unten -190-
sich in letzter Zeit gehäuft hatten und erschauderte bei dem Gedanken, länger als ein paar Wochen von Oake Dun getrennt zu sein. Er mochte erst gar nicht daran denken, was für Konsequenzen das haben mochte. Statt dessen drängte er alle diesbezüglichen Gedanken zurück, konzentrierte sich auf das, was er tat und bemühte sich, nichts falsch zu machen. Den ersten Viertelliter, den er in das Artefakt einfüllte, trank er kurz darauf gleich selbst, in ebenso genießerischen wie auch gierigen Schlucken. Und mit jedem davon fühlte er, wie sich seine innere Nervosität und Unruhe mehr und mehr legte, bis er schließlich das Gefühl hatte, dass alles in bester Ordnung wäre. Er fühlte sich nun hellwach, trotzdem wusste er, dass er, wenn er sich hingelegt hätte, sofort hätte einschlafen können. Er hatte eigentlich bereits genug. Trotzdem, als er sah, dass noch immer ein großer Schluck Wasser in dem Artefakt verblieben war, goss er auch diesen so gierig in sich hinein, dass er sich fast daran verschluckte. Herrlich! Er wischte sich mit dem Handgelenk über den Mund. Was konnte es Besseres geben? Als er den Rest des Wassers in das Artefakt eingoss und von dort durch den engen Hals der Wasserflasche zurück, waren seine Finger vollkommen ruhig. Kein einziger Tropfen ging daneben. Er verschloss die Flasche und mache sich daran, die Kellerräume wieder zu verlassen. Wenn er Glück hatte und warum sollte er es diesmal nicht haben, denn Valerie und Sir lan dürften ihm wohl kaum wieder wie vor ein paar Tagen über den Weg laufen -, gelang es ihm so unauffällig wie in den letzten Wochen. Er hatte gerade den Treppenabsatz erreicht, als er erstarrte. Jemand öffnete die Tür. Blitzschnell und so leise, wie es ihm zu eigen war, zog er sich in eine dunkle Ecke zurück, in die das Licht der Deckenlampen -191-
nicht hineinreichte. Wer um alles in der Welt kam jetzt hier vorbei? Hatte gar jemand seine nächtlichen Ausflüge entdeckt? "Halloooh?" hörte er eine schüchterne Stimme herunterrufen. "Ist da jemand?" Gudrun! Das war Gudrun Hebers Stimme! Schnell drückte er sich tiefer ins Dunkel zurück. Die Deutsche durfte ihn hier nicht entdecken. Nicht sie ! "Warum meldet sich niemand?" rief sie wieder. "Hier brennt doch Licht." Pierre verhielt sich mucksmäuschenstill. Er nahm wahr, dass Gudrun nach Antwort lauschte, dann war zu hören, wie sie zaghaft die Treppe herunterstieg. Ein paar Mal rief sie noch zaudernd und dann, als ihr niemand antworte, drang sie entschlossen tiefer vor. Leroy folgte ihr lautlos im Schutz der Dunkelheit. Konnte es sein, dass sie... Aber ja! Warum hatte er bislang nie daran gedacht, dass er nicht der einzige sein könnte, der... Bei diesen Gedanken verspürte er kurz den Impuls, einfach zu ihr zu gehen und sich zu erkennen zu geben, aber er tat es dennoch nicht. Es wäre ihm zu unangenehm gewesen. Gudrun begab sich dorthin, wo auch er gewesen war und er hörte, dass sie ebenfalls mit Wasser zugange war. Vermutlich machte sie dasselbe wie er. Erkennen konnte er es von seiner Position aus nicht und wenn er sich weiter aus seiner Deckung herausgewagt hätte, wäre er Gefahr gelaufen, von Gudrun gesehen zu werden. So wartete er still ab, bis sie fertig war und sich wieder in Richtung der Kellertreppe begab. Vorsichtig folgte er Gudrun, immer in ausreichendem Abstand, um nicht entdeckt zu werden. -192-
Sie stieg die Treppe wieder hinauf und öffnete oben die Tür. Im nächsten Moment war es plötzlich stockdunkel. Mon Dieu! durchzuckte es Pierre. Gudrun hatte das Licht ausgeschaltet. Er hörte, wie die schwere Stahltür ins Schloss fiel und dann auch noch von außen der Schlüssel zweimal herumgedreht wurde. Abgeschlossen! Pierre ließ die Schultern sinken. Auch das noch! Da hatte er sich in eine ganz schön dumme Situation hineinmanövriert. Wie sollte er jetzt wieder herauskommen? Vor allen Dingen musste er erst einmal Licht machen. Hier unten war es so finster, dass man buchstäblich nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte. Kein Wunder, denn Fenster, durch die Licht hätte hereindringen können, gab es nicht. Pierre überlegte, ob er sich bis zu einem der Labors weitertasten sollte - denn auch dort gab es Lampen -, entschied sich dann aber für den Schalter oben an der Kellertreppe. Der Weg dorthin war näher und ungefährlicher. Mit weit ausgestreckten Armen tastete er sich Schritt für Schritt durch die Finsternis vorwärts. Nur gut, dachte er, dass er nicht ganz unerfahren war, sich in der Dunkelheit zu bewegen und dass sein Orientierungssinn ganz hervorragend war. Wenn er sich recht entsann, musste er jetzt gleich scharf nach rechts und dann... Er stieß mit den Hüften gegen ein überraschendes Hindernis, das er nicht erwartet hatte, weil seine Hände nichts erspürt hatten und kam ins Stolpern. Haltsuchend griff er um sich und erkannte plötzlich, warum seine Hände ins Leere gegriffen hatten: Er hatte mitten durch ein Regal hindurchgefasst. Aber als er sich daran festhalten wollte, erreichte er nur, dass es vornüber zu kippen begann, direkt auf den Franzosen zu. -193-
Leroy erkannte die Gefahr, stemmte sich schnell gegen das Regal und versuchte in der Dunkelheit zu retten, was zu retten war. Doch da fielen von oben bereits die ersten Gegenstände hinunter und als sich dann auch noch das Brett, das Pierre festhielt, aus seinen Verstrebungen löste, war es endgültig zu spät. Krachend, scheppernd und klirrend brachen das Regal und die darauf gelagerten Gegenstände über Pierre zusammen und begruben ihn unter sich. Pierre wartete noch ein paar Sekunden, nachdem wieder Stille im Keller eingekehrt war, erst dann wagte er es, den Kopf zu heben. Bis auf ein paar Beulen hatte er sich glücklicherweise nichts getan. Langsam befreite er sich aus den Trümmern, tastete sich über den Boden vorwärts und schnitt sich die Handfläche an einer Scherbe auf. Nicht tief, aber es ließ ihn fluchen. Verdammt! Hätte er nur eine Taschenlampe mitgenommen! Aber wer hätte schon ahnen können, dass Gudrun hier mitten in der Nacht herunterkam und ihn einschloss? Du! riefeine Stimme in seinem Kopf. Du hättest es sogar ahnen müssen! Pierre Leroy schob die unangenehme Stimme beiseite und konzentrierte sich ganz darauf, die Kellertreppe zu erreichen. Der Sturz hatte seine Orientierung nicht gerade leichter gemacht. Er stieß sachte gegen ein weiteres Regal, aber diesmal war er vorsichtig genug, es nicht ebenfalls umzuwerfen. Dann hatte er den unteren Absatz der Kellertreppe erreicht, war wenig später oben an der Tür und tastete nach dem Lichtschalter. Erleichtert atmete er auf, als kurz darauf wieder sämtliche Deckenlampen aufflammten. Für einen Moment schmerzte ihn die Helligkeit in den Augen, doch nach wenigen Momenten hatten sie sich wieder daran gewöhnt. -194-
Weniger erleichtert war Pierre, als er bei Licht das Malheur mit dem Regal betrachtete, das, wie er feststellte, zu allem Unglück auch noch überwiegend mit Keramikgegenständen beladen gewesen war. Fast alle Bretter waren auseinandergebrochen - ein Zeichen dafür, dass es schon zuvor nicht mehr recht stabil gewesen war. Von den meisten Fundstücken waren nur noch Scherben übrig. Er überlegte, wie er es schaffen sollte, diese Bescherung wieder zu beseitigen - vor allem so, dass niemand etwas davon merkte. Das Regal hätte er mit Mühe und Not auf die Schnelle wieder zusammenzimmern können, aber wie sollte er aus den Scherben wieder Vasen, Töpfe und Amphoren zaubern? Die einzelnen Teile zu sortieren und zu kleben, wäre ein Puzzlespiel gewesen, das mehrere Wochen in Anspruch genommen hätte. Er schob das Problem zurück. Die Tür aufzubekommen, war jetzt wichtiger. Dass die Stahltür zum Keller so dick war, dass wohl niemand im Schloss etwas gehört haben dürfte, war das einzig Positive, das sich seiner Lage abringen ließ. Pierre versuchte eine Zeitlang, das Schloss von innen zu öffnen, was ihm aber trotz aller Fingerfertigkeit und einer zurechtgebogenen Büroklammer aus seinen Hosentaschen misslang. Nein, so hatte das keinen Sinn. Er musste erst etwas finden, was sich besser als Dietrichersatz benutzen ließ. Aber das dürfte hier unten in den Räumen mit den vielen tausend Artefakten und Sammlerstücken wohl ein eher kleines Problem sein. Pierre ging hinunter und begann sich nach etwas Geeignetem umzusehen, als er abermals erstarrte. Oben an der Tür wurde erneut ein Schlüssel im Türschloss herumgedreht. Parbleu! dachte Pierre. Wer war das jetzt schon wieder? Er wurde sich bewusst, dass er sich dort, wo er gerade aufhielt, sofort entdeckt werden würde. Er schnappte sich seine Wasserflasche und flüchtete -195-
blitzschnell in die dunkle Ecke, in der er sich zuvor schon verborgen hatte. Atemlos lauschte er, wie schlurfende, langsame Schr itte die Kellertreppe hinunterstiegen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe sie unten angekommen waren. Vorsichtig wagte es Pierre, seinen Kopf ein wenig aus der Deckung zu strecken. Wer zum Teufel... Einen Augenblick später hatte er seine Antwort. Mortimer! Der greise Diener trug einen Morgenmantel, eine Schlafmütze auf dem Kopf und Pantoffeln an den Füßen. Und vor sich trug er eine kleine Petroleumlampe, obwohl es hier unten mit Sicherheit hell genug war, um sich ohne dieses Hilfsmittel zu orientieren. Pierre runzelte die Stirn. Er hatte ja gewusst, dass des alte Diener etwas sonderlich war, aber was das sollte, konnte er sich auch nicht erklären. Doch egal. Das war seine Chance, ungeschoren aus der Nummer herauszukommen und Pierre beschloss, sie zu nutzen. Mortimer hatte die Tür oben aufgelassen und mit etwas Glück konnte er ungesehen entwischen. Er wartete, bis der Diener an seiner Deckung vorbeigeschlurft war, dann verließ er sie und schlich mit leisen Schritten auf die Kellertreppe zu. Er hatte sie fast erreicht als sich Mortimer hinter ihm plötzlich vernehmlich räusperte. Pierre blieb wie auf frischer Tat ertappt stehen. Oje jetzt brauchte er eine verdammt gute Erklärung. Er wandte sich um. Doch der greise Diener hatte ihn überhaupt noch nicht entdeckt. Er wandte dem Franzosen noch immer den Rücken zu, obwohl er sich verwirrt umzuschauen begann. Er hatte offensichtlich etwas anderes entdeckt - und zwar, wo er sich hier befand. "Hm, wie komme ich denn hierher?" fragte er sich laut. "Ich -196-
wollte doch eigentlich zum Klo." Pierre begriff, dass er Mortimers Besuch lediglich dessen Schusseligkeit zu verdanken hatte. Doch das half ihm auch nicht weiter. Wäre er zwischendurch nicht stehen geblieben, in der irrigen Annahme, ertappt worden zu sein, hätte er den Keller längst wieder verlassen können. So aber war es dafür viel zu spät. Schon drehte sich der greise Diener um und selbst wenn seine Augen nicht mehr so gut waren, so konnte er Pierre doch unmöglich übersehen. Schon weiteten sich Mortimers Augen. "Um Gottes willen!" entfuhr es ihm. "Ojemine, was ist das denn?" Leroy registrierte ungläubig, dass Mortimers Blicke gar nicht bis zu ihm weitergewandert waren. Statt dessen hatten sie das zerbrochene Regal entdeckt und er starrte auf die Trümmer. "Aber... aber das ist ja furchtbar." Mortimer fasste sich entsetzt an den Kopf. "Was wird nur Sir lan dazu sagen? Wie konnte so etwas passieren? " Pierre Leroy wollte gar nicht abwarten, bis Mortimer ihn und damit die Ursache entdeckt hatte. Ohnehin hatte er bis jetzt ein Riesenglück gehabt und das wollte er nicht überstrapazieren. Leise und blitzschnell eilte er die Treppe hinauf und schlüpfte hinaus auf den Korridor. Ein rascher Blick nach links und rechts, dann atmete Pierre auf. Der Korridor war leer. Niemand zu sehen. Pierre hielt sich nicht lange mit Verschnaufen auf, sondern eilte weiter zu seinem Gästezimmer im ersten Stock. Erst als er die Tür geschlossen hatte und sich von innen dagegen lehnte, gestattete er sich, erleichtert durchzuatmen. Das war knapp gewesen! Mehr unterbewusst nahm er einen weiteren Schluck aus der -197-
Flasche und spürte, wie es ihm half, seine Aufregung abzuschütteln. Er musste sich unbedingt etwas Neues überlegen, beschloss er. So konnte das nicht weitergehen, wenn er Wasser brauchte. Vor allem dann nicht, wenn er - wie demnächst - längere Zeit abwesend von Oake Dun sein würde. Gudrun Heber war gerade dabei, ihre Koffer zu packen und die drei Wasserflaschen darin möglichst sicher einzuhüllen schließlich wusste sie, in welch üblem Zustand Fluggepäck bisweilen seinen Zielort erreichte -, als Tom Ericson in ihr Zimmer stürmte. Überrascht und etwas ungeschickt versuchte sie, die Flaschen zu verbergen, doch Tom hatte dafür ohnehin keinen Blick übrig. Statt dessen sah er sie mit wild leuchtenden Augen an. "Gudrun! Kannst du mir verraten, warum du nicht mit nach Burma willst? Noch ist Zeit, es dir anders zu überlegen. Unsere Flieger gehen erst morgen. Also, was ist nun? " Gudrun sah ihn überrascht an. Sie hatte den Eindruck, als hätte Tom sich diese Worte wie ein kleiner schüchterner Junge immer und immer wieder vorgesagt, bevor er so stürmisch in ihr Zimmer gekommen war. Irgendwie machte ihn ihr diese Vorstellung wieder ein gutes Stück sympathischer. Manchmal konnte er regelrecht liebenswürdig sein - vorausgesetzt, man kannte ihn gut genug. "Ich wünsche dir ebenfalls einen guten Morgen", erwiderte sie ironisch. "Ja, danke der Nachfrage, ich habe gut geschlafen. Und wovon ich geträumt habe, das weißt du ja sicherlich. " "Gudrun! Nimm mich nicht auf den Arm!" "Ich?" Ihr Tonfall blieb ironisch. "Wie könnte ich? " "Gudrun!" rief er ungehalten. "Ich meine das nicht spaßhaft." "Und ich auch nicht!" Sie schnaufte und machte eine wütende Handbewegung. "Meine Güte, was bildest du dir überhaupt -198-
ein?" "Ich, wieso? Ich frage dich doch nur..." "Fragen? Fragen, nennst du das? Du stürmst hier einfach ohne vorher anzuklopfen herein, grüßt nicht einmal und stellst mich zur Rede, als sei ich dir irgendwelche Rechenschaft schuldig! Und das nennst du nur'?" "Bitte, Gudrun, ich wollte doch nur..." "Da bin ich mir ganz sicher", fiel sie ihm ins Wort. "Aber hier geht es ausnahmsweise einmal darum, was ich will. Und ich werde nicht mit nach Burma kommen. " Tom Ericson kniff seine Lippen zu einem schmalen, dünnen Strich zusammen. Fast schüchtern sah er Gudrun an. "Aber ich dachte, jetzt nachdem wir... ich meine, jetzt wo wir miteinander... da dachte ich, du..." Gudrun baute sich vor ihm auf und stemmte die Arme in die Seiten. Fast tat Tom ihr leid, aber sie ließ ihren Emotionen dennoch freien Lauf. Dazu hatte sie sie zu lange zurückgehalten. "Du meinst, dass ich jetzt, da wir miteinander geschlafen haben, nichts anderes zu tun habe, als dir überall und ständig nachzulaufen! Und nur noch zu tun, was du tust!" Er hob hilflos die Schultern. "Nun, äh, ja..." "Das glaubst aber auch nur du! Denn erstens, wir beide haben überhaupt nicht miteinander geschlafen. Wer miteinander geschlafen hat, sind zwei junge Indios gewesen, die seit Tausenden von Jahren tot sind." Tom wirkte betroffen. Sein Argument blieb dennoch dasselbe: "Nun, äh, ja..." "Und außerdem war ich keine Frau, als das geschehen ist. Nicht du hast mit mir geschlafen, sondern ich mit dir!" "Ich verstehe nicht, was das für ein Unterschied..." "Natürlich nicht! Ich habe nichts anderes erwartet. Dann will ich es dir verraten: Was zwischen uns geschehen ist, ist in längst -199-
vergangenen Zeiten geschehen. Wir beide heute - du und ich, Tom und Gudrun - sind trotz allem nichts anderes als Kollegen. Und als solche kann ich machen, was immer ich will. Und wenn ich nicht mit nach Burma kommen will, dann ist das ganz allein meine Sache. Kapiert?" Als Gudrun Heber sich der Vehe menz bewusst wurde, mit der sie das geäußert hatte, fühlte sie fast ein wenig von der Stärke, die sie an Valerie insgeheim stets bewunderte. Tom war allem Anschein nach regelrecht eingeschüchtert davon - und gleichermaßen ratlos, was er als nächstes sagen sollte. Gleichgültig, wie entschlossen und zielstrebig er ansonsten war, Gudrun gegenüber schienen ihn diese Fähigkeiten komplett im Stich zu lassen. "Willst du etwa lieber mit Pierre nach Frankreich?" fragte er. "Das hat mit lieber nichts zu tun!" fauchte sie. "Ich habe mich noch gar nicht entschlossen, mit ihm zu gehen. " "Ach ja?" meinte er lakonisch. "Und warum packst du dann deine Koffer?" Gudrun zuckte zusammen. Das hatte sie sich noch gar nicht richtig überlegt. Sie hatte es fast unterbewusst getan, überlegte sie, beinahe so, als ob sie geahnt hätte, dass dies nötig sein würde. Doch wie sollte sie jemandem wie Tom diese widerstreitenden Gefühle erklären - wo sie sich doch so vieles selbst nicht erklären konnte? Warum konnte er ihr nicht mehr Zeit lassen, um sich darüber klar zu werden? Wanim konnte er sie wenigstens einmal nicht drängen? Er deutete ihr Schweigen falsch. "Wieso willst du ausgerechnet mit Pierre verreisen? " "Was hast du gegen Pierre?" wehrte sie sich. "Nichts. Ich kann nur nicht verstehen, warum du es vorziehst, mit ihm zu verreisen, statt mit mir." Sie sah ihn kopfschüttelnd an. "Du bist paranoid, Tom -200-
Ericson! Weißt du eigentlich, was du mir da gerade vorwirfst?" Er wusste selbst, dass er ein wenig über das Ziel hinausgeschossen war und gab sich etwas kleinlauter. "Nimm es mir nicht übel! Ich habe natürlich nichts dagegen, wenn du mit Pierre fährst, nur..." "Gut, dann wäre ja wohl alles geklärt!" Gudrun drängte ihn sanft auf den Ausgang zu. "Und wenn du mich jetzt bitte wieder allein lassen würdest? Wie du siehst, bin ich gerade beim Packen. " Tom hob hilflos die Hände und ließ zu, dass sie ihn zurückdrängte. "Na schön. Vielleicht ist etwas später noch Zeit zum Reden. " "Sicherlich. Wir treffen uns ja alle nachher noch zur Abschlussbesprechung. " Sie hatten die Tür erreicht. Gudrun öffnete sie. Tom deutete fast etwas schüchtern zu ihrem Koffer. "Sag mal, warum nimmst du Wasserflaschen mit? Und dann gleich drei? Glaubst du, in Frankreich gibt es kein vernünftiges Wasser?" Sie überlegte kurz. "Da ist kein Wasser drin, sondern ein Obstbrand. Eine schottische Spezialität. Habe ich direkt von einem Bauern, als Geschenk für Pierres Tante. Und da er keine anderen Flaschen hatte..." "Hm, drei Flaschen Obstbrand für eine Hundertjährige", überlegte Tom laut. "Wären da eine schöne Packung Weinbrandpralinen und ein Strauß Blumen nicht angebrachter?" "Überlass das nur mir!" "Außerdem hattest du so eine Flasche doch auch schon in Brasilien dabei", fiel ihm ein. "War da auch Obstbrand drin?" "Nein, Wasser! Tom, du nervst! Jetzt lass mich endlich allein!" Sie schon ihn endgültig auf den Korridor hinaus. Sie sah noch, wie er erneut den Mund öffnete, um zu einer -201-
Frage anzusetzen, aber es war ihr egal. Sie schlug die Tür zu. Aufatmend blieb Gudrun stehen. Manchmal konnte Tom schon ein regelrechter Quälgeist sein. Gut, wo war sie gewesen, als er sie gestört hatte? Erneut ging die Tür auf und Tom streckte seinen Kopf herein. "Gudrun, ich..." Ihr platzte endgültig der Geduldsfaden. "Nein!" schrie sie und schlug die Tür erneut mit aller Kraft zu. Sollte er selbst zusehen, wie er seinen Kopf früh genug zurückzog. Offenbar war es ihm gelungen, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, denn nirgendwo auf dem Rahmen oder der Tür klebten irgendwelche Hautfetzen oder Blutspritzer. Und um endgültig Ruhe zu haben, schlöss Gudrun sicherheitshalber ganz ab. Offenbar verstand er das richtig, denn er machte keinen weiteren Versuch, ins Zimmer zu kommen. Als Gudrun sich wieder ihrem Koffer zuwenden wollte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Schnell ruckte ihr Kopf in die Richtung und sie sah gerade noch einen Briefumschlag die letzten Zentimeter zu Boden segeln - unweit der Tür gleich neben der Wand. Gudrun runzelte die Stirn und fragte sich, wo der Umschlag so plötzlich hergekommen sein mochte. Als sie das Gemälde entdeckte, das darüber an der Wand hing mit einem schottischen Landschaftsmotiv -, ahnt e sie es. Der Umschlag musste hinter dem Rahmen eingeklemmt gewesen sein. Und durch das Türknallen hatte er sich gelöst und war heruntergefallen. Wie magisch angezogen, näherte Gudrun sich dem Umschlag, der in unschuldigem Weiß auf dem Teppich lag und ging davor in die Hocke. Vorsichtig, als befürchte sie, ihn womöglich zu verscheuchen, griff sie danach und betrachtete ihn von allen Seiten. Eine war unbeschrieben, auf der anderen befand sich ihr Name und das heutige Datum - geschrieben in einer gezierten, -202-
etwas zittrigen Handschrift. Mortimers Handschrift. Gudrun spürte, wie ihr Herz aufgeregt schneller zu schlagen begann. Sie wusste, was das für eine Botschaft War. Mortimer hatte sie zwar geschrieben, trotzdem stammte sie nicht von ihm ebenso wenig wie eine Reihe anderer Botschaften. Er hatte sie ohne sein eigenes Wissen und unter dem Einfluss des Orakels von Delphi verfasst, als dieses eine Zeitlang auf Oake Dun geweilt hatte. Mehr als ein Jahr war das jetzt her, doch noch immer tauchten Botschaften auf, die er damals geschrieben hatte - und die ihre Adressaten auf verblüffende Weise stets genau dann erreichten, wann es vom Orakel vorgesehen worden war. Das bewiesen nicht zuletzt die Datumsangaben, die jeweils haargenau mit dem Tag des Auffindens zusammenfielen. Dies war ohne jeden Zweifel eine dieser Botschaften des Orakels von Delphi. Mit leicht zitternden Händen riss Gudrun den Umschlag auf und holte das Blatt Papier darin hervor. Die Abenteurer wussten bislang noch so gut wie nichts darüber, welche Rolle das Orakel in dem großen Spiel spielte, dem sie seit einiger Zeit auf die Spur gekommen waren. Aber es schien aus irgendeinem Grund auf ihrer Seite zu stehen oder zumindest ein Interesse daran zu haben, den Fortgang ihrer Entdeckungen zu beschleunigen. Oder aber auch zu steuern, fügte Gudrun mit einem unguten Gefühl in Gedanken hinzu. Sie misstraute dem Orakel aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht so genau zu benennen wusste. Vielleicht lag es daran, wie unfassbar fremd ein solches Wesen war. Eines jedoch ließ sich nicht abstreiten: Bisher hatte jede seiner Botschaften entscheidende Dinge in Gang gesetzt. Und kaum anders dürfte es diesmal sein. Atemlos begann Gudrun die vier Zeilen zu lesen, die in Mortimers gezierter Handschrift auf dem Papier standen. Dann faltete sie es sorgsam wieder zusammen und hielt nachdenklich -203-
inne. Sie hatte richtig vermutet. Diese Zeilen waren ganz allein für sie bestimmt - und das, obwohl das Orakel sie zuvor noch nie in irgendeiner Form persönlieh angesprochen hatte. Auf welche Spuren oder Erkenntnisse diese Botschaft führen würde, blieb vorerst noch unklar. Dazu waren die Worte wie stets zu orakelhaft verfasst. Gudrun wusste, dass es einzig ihr überlassen blieb, ob sie der darin enthaltenen Anweisung folgte oder nicht. Es gab keinerlei Zwang dahinter. Trotzdem war sie sich ganz sicher, was sie zu tun hatte. Und plötzlich ahnte sie, warum sie aus einem Gefühl heraus ihre Koffer bereits gepackt hatte. Am Abend trafen die Abenteurer ein letztes Mal im Kaminzimmer des Schlosses zusammen, bevor sie am nächsten Morgen aufbrechen würden, um in verschiedene Richtungen der Welt auseinander zu streben. "Ich kann Sie darüber informieren, dass sämtliche Visa vorläufig genehmigt sind", sagte Sutherlands. Es war in Richtung derjenigen gedacht, die nach Burma aufbrechen würden. "Allerdings werden Sie nach Ihrer Ankunft in Rangoon noch einige Formalitäten zu erledigen haben. Ich habe einen alten Bekannten von mir, der dort lebt, bereits über Ihre Ankunft in Kenntnis gesetzt. Er wird Sie in Empfang nehmen, für Ihre zwischenzeitliche Unterkunft sorgen und Ihnen bei allen weiteren Angelegenheiten helfen. Das betrifft besonders die Freigabe der Ausrüstungsgegenstände, die bereits auf den Weg gebracht worden sind." "Ich habe mit den Behörden in Rangoon bereits unliebsame Erfahrungen gesammelt", stimmte Geoffrey Barnington leidvoll zu. "Das ist ein wahres Wespennest. Für jede Kleinigkeit sind tausend Leute zuständig und jeder erwartet ein großzügiges Bestechungsgeld." lan Sutherland nickte, als sei er sich dieses Problems vollauf bewusst. "Was ich von hier aus tun konnte, -204-
habe ich getan. Vor Ort wird Ihnen mein Kontaktmann behilflich sein. Außerdem treffe ich mich nach meiner Ankunft in New York mit dem UN-Botschafter von Myanmar. Ich denke, dabei werde ich Ihnen weitere Vergünstigungen verschaffen können. " "Ihr Wort in Gottes Ohr!" seufzte Tom. Er hasste bei Abenteuern und Unternehmungen kaum etwas mehr als bürokratische Hindernisse. Sie waren das Überflüssigste, was es für jeden aufrechten Forscher geben konnte. "Sir, da gibt es eines, was ich unbedingt ansprechen muss", meldete Mortimer sich zu Wort. "Es gab da eine Katastrophe. Unten im Keller mit den Artefakten. " "Was für eine Katastrophe?" fragte Sutherland. Mortimer sah den Schlossherrn fassungslos an. "Ihre Hose? Ich bitte Sie, das gehört doch wirklich nicht hierher. Nein, unten im Keller gab es ein Unglück. Ich habe es heute früh entdeckt. Eines der Regale ist zusammengebrochen. Und die ganzen schönen Vasen darauf..." Mortimer machte eine beze ichnende Handbewegung. Jeder von ihnen konnte das Geschehene lebhaft nachvollziehen. Pierre wurde in seinem Sitz ein paar Millimeter kleiner, ohne dass es jemand der anderen merkte. Er beruhigte sich. Wie hätten sie das auch sollen? "Hm", machte Sutherland nachdenklich. "Ich habe ohnehin seit geraumer Zeit das Gefühl, dass da unten irgend etwas vor sich geht." "Sie meinen, wir haben einen Schlossgeist?" fragte Valerie Gideon scherzhaft. Sutherland blieb ernst. Er wiegte den Kopf. "Vielleicht hängt es mit irgendeinem der Artefakte zusammen. Es wäre nicht das -205-
erste Mal, dass es zu derartigen Zwischenfällen kommt. Vielleicht sollte man eine Überwachungsanlage installieren, um der Sache auf die Spur zu kommen. " Pierre hatte Mühe, sich seinen Schrecken nicht anme rken zu lassen. Er merkte, wie auch Gudrun unmerklich zusammenzuckte. Aha, dachte er. Sie fühlte sich also ebenso angesprochen. "Das Regal war vermutlich einfach morsch", sagte Mortimer. "Ich habe Ihnen schon öfter gesagt, dass ein Teil der Regale erneuert werden muss. Sie wissen selbst, wie feucht es dort unten ist. Einige Regale sind schon fast ein Jahrhundert alt. Kein Wunder, dass es irgendwann zu solch einem Malheur kommen musste." "Ja", meinte Sutherland. "Vermutlich haben Sie recht." Pierre war dem greisen Diener dankbar, Sutherlands Misstrauen so schnell zerstreut zu haben. Das war nach seiner Freilassung aus dem Keller heute nun schon das zweite Mal, dass er Mortimer dankbar sein musste. "Darf ich Sie bei dieser Gelegenheit auch an die längst überfä llige Renovierung der Schlossfassade erinnern?" redete Mortimer weiter. "Einige Stellen werden den nächsten Sturm sonst kaum überstehen und wenn dabei irgendwelche Teile abgerissen werden und in der Gegend herumfliegen, kann es gefährlich werden. Sie wollen doch nicht, dass jemand verletzt wird!" "Ja, Mortimer, ich weiß", meinte Sutherland. Er hatte jetzt andere Dinge im Kopf, als sich um derart vergleichsweise banale Fragen zu kümmern. "Ich werde alles nötige veranlassen, sobald ich Zeit dazu habe." "Also erst nach Ihrer Rückkehr aus New York?" fragte der Diener anklagend. "Hm", machte lan Sutherland. -206-
"Dann kann es aber schon zu spät sein und Sie wissen: Wenn die Schäden erst einmal da sind, wird es sehr viel teurer, sie zu reparieren. Ich habe übrigens einen Cousin, nicht weit von hier in Thurso, der ist auf solche Arbeiten spezialisiert. Wenn Sie wollen, kann ich von ihm ja mal einen Kostenvoranschlag einholen. " "Ja, machen Sie das", entschied Sutherland - in der Annahme, die Sache damit erledigt zu haben. Mortimer war anderer Ansicht. "Und er kann sicherlich auch alle Arbeiten ausführen", ergänzte er. "Sir, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich sage das nicht, weil ich mit ihm verwandt bin, sondern weil er wirklich der beste ist, der dafür..." "Ja, Mortimer", unterbrach Sutherland ungeduldig. "Ich verstehe schon und ich habe Ihnen gesagt: Machen Sie es so! Ist das deutlich genug gewesen? " Mortimer nickte mit einem Gesichtsausdruck, als wäre er regelrecht überrascht, dass die Sache so einfach und schnell geklärt worden wäre. Zufrieden lehnte er sich zurück. Alles, was seine Pflichten anging, war erledigt. Tom Ericson atmete hörbar durch und rieb sich tatendurstig die Hände. "Ich weiß nicht, wie es euch ergeht, aber bin mir sicher, dass wir in kurzer Zeit einen bedeutenden Schritt weiter sein werden. Was unser neuer Freund Geoffrey Barnington über die Tempelanlage erzählt hat, klingt wirklich vielversprechend. Ich kann kaum erwarten, sie mit eigenen Augen zu sehen. Das könnte nicht nur unser größter Fund, sondern einer der größten Funde in der Menschheitsgeschichte überhaupt werden. " "Sehen Sie das nicht ein wenig zu rosarot?" fragte Valerie. "Haben wir das in der Vergangenheit nicht auch schon häufig geglaubt? Und was ist uns dann geblieben?" Mortimer richtete sich wieder auf und sah verwirrt in die Runde. "Rosarot?" fragte er erstaunt. "Ja, rosarot", bestätigte Sutherland leicht gereizt. "Sie haben -207-
schon ganz richtig verstanden. " "Ja, aber...", hob der greise Diener an. Sutherland winkte ab. "Nicht jetzt. Sie haben doch gehört, was Sie zu tun haben. " Mortimer neigte den Kopf. "Ja, schon. Aber..." "Gut", rief Sutherland, "dann lassen Sie uns jetzt mit unserer Diskussion fortfahren! " Es war selten, dass der Earl of Oake Dun mit Anzeichen von Gereiztheit auf irgend etwas reagierte. Dass er es jetzt tat, zeigte Mortimer genau, dass er besser nicht weiter nachfragen sollte. Etwas wunderte ihn die Entscheidung zwar schon, aber gut, wenn lan Sutherland es so wollte... Dieser war schließlich der Schlossherr. Sutherland war froh, dass Mortimer endlich Ruhe gab und sah in die Runde. "Gibt es sonst noch etwas Wichtiges?" Ein paar Sekunden herrschte Schweigen, dann hob Gudrun zaghaft die Hand. Sutherland sah sie an. "Ja, Miss Heber?" "Ich wollte nur sagen, dass ich mir überlegt habe, Pierre doch nach Frankreich zu begleiten. " Sie sah den Franzosen an, der überrascht dreinblickte und fügte hinzu: "Das heißt, falls dein Angebot noch steht." "Kommen Sie bloß nicht auf den Gedanken, nein sagen", ließ Tom sich ironisch vernehmen. "Sie hat sogar ein Geburtstagsgeschenk für Ihre Tante besorgt." Gudrun strafte ihn mit einem säuerlichen Blick. "Aber natürlich", sagte Pierre davon unbeeindruckt. "Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst." Sutherland hatte ebenfalls nichts dagegen. "Also gut. Dann ist es so abgemacht. Und morgen früh nach dem gemeinsamen -208-
Frühstück geht es los."
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8. Kapitel Nachtschicht Amanda Wyss wusste nicht, ob sie sich über dieses Wochenende freuen sollte. Ein Kollege, der für vierzehn Tage im Urlaub war, hatte ihr für diesen Zeitraum seinen Kleinwagen zur Verfügung gestellt. Sie hatte schon geplant gehabt, nach Feierabend einen Abstecher nach Norwich oder Cambridge zu machen, als Dr. Obman sie in ihrem Appartement besuchte und fragte, ob sie nicht ausnahmsweise auc h die Nachtschicht übernehmen könne. "Was ist mit Dr. Jeffries?" fragte sie. "Er war doch eingeteilt." "Seine Frau hat mich gerade angerufen. Er hat Magenkrämpfe und der Hausarzt empfiehlt eine dringende Einlieferung in die nächste Klinik. Verdacht auf ein Magengeschwür. Und keiner der anderen Arzte ist momentan erreichbar." Amanda seufzte. Wochenende ade! "Also gut, ich übernehme", hörte sie sich sagen und fragte sich im Stillen, warum sie sich nicht traute, den Institutsleiter zu fragen, was er eigentlich heute nach machte. "Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann!" Dr. Obman wandte sich zum Gehen, hielt dann aber noch einmal inne. "Ach ja, ehe ich's vergesse. Dr. Jeffries war heute alleine für die Nachtschicht vorgesehen. Sie müssten das also auc h alleine erledigen. Ist das ein Problem für Sie?" Amanda überlegte. Sonderlich wohl war ihr nicht dabei. Nicht, dass sie sich mittlerweile nicht genügend mit der Station vertraut gemacht hätte, aber trotzdem, ein ungutes Gefühl blieb. "Allein?" fragte sie bange nach. "Na ja, nicht ganz alleine", schränkte Dr. Obman beruhigend ein. "Für alle Fälle ist noch Mr. Bradshaw da." -210-
Ach ja, richtig, dachte Amanda. Sam, der Wachmann. Bei dem Gedanken an ihn ließ ihre Unsicherheit etwas nach. Wie sie seit ihrem Hiersein erfahren hatte, war Sam nicht nur ein zuverlässiger Kollege, sondern auch ein netter Bursche. "Na schön", stimmte sie zu. Als sie später zum "Kerker" hinüberging, braute sich ein Gewitter über dem Blofeld Health Center zusammen. Dunkle Wolken türmten sich am Abendhimmel auf. Eiste Regentropfen fielen zu Boden und aus ihnen wurden binnen kurzem wahre Sturzbäche. Entfernt zuckten Blitze auf und grollender Donner rollte heran. Amanda schaffte es gerade noch, sich einigermaßen trocken zum "Kerker" zu flüchten, ehe das Unwetter zu stark über sie hereinbrach. Sam Bradshaw, der Wachmann, ließ sie ein. "Scheißwetter heute", meinte er lakonisch. Amanda nickte. Das konnte man wohl sagen. Doch der Gedanke daran versöhnte sie zugleich etwas mit ihren nächtlichen Überstunden. Bei dem Wetter hätte sie sich ohnehin nicht auf den meilenweiten Weg in eine der Städte gemacht. Es wäre ihr zu anstrengend gewesen. Außerdem war sie keine geübte Fahrerin und mit einem geliehenen Wagen wollte sie schon gar kein Risiko eingehen. "Ich habe gehört, Sie machen die Schicht heute Nacht allein?" fragte Sam. "Ja", seufzte Amanda. "So langsam scheint man mich als vollwertige Kollegin anzuerkennen. Und warum sollte mein Dienstplan da anders aussehen als bei den anderen? " Sam lächelte freund lich. "Falls es irgendwelche Probleme geben sollte oder Sie sich einfach nur einsam fühlen sollten und Ihnen nach einem Plausch zumute ist -Sie wissen, wo Sie mich finden können. " "Danke, Sam. Das ist nett. Ich werde vielleicht darauf -211-
zurückkommen. " Damit ging sie in den Kontrollraum, wo sie die Schlüssel von ihrem Vorgänger übernahm. Ehe er sich verabschiedete, unterrichtete er sie, dass die Insassen alle verpflegt waren. Ansonsten gab es keine besonderen Vorkommnisse. "Und ich glaube nicht, dass noch welc he zu befürchten sind." Er lauschte kurz und hörte den Donner draußen. "Na ja, mit Ausnahme unseres Mr. Flash. Bei Gewitter wird er immer unruhig. Aber damit kommen sie schon klar. Also dann, schöne Nacht." Er verschwand und wurde von Sam hinausgelassen. Von da an waren nur noch sie beide im Gebäude - von den Insassen einmal abgesehen. Amanda konnte Sam vom Kontrollraum aus zwar nicht sehen, aber ihn in relativer Nähe zu wissen, gab ihr allein schon ein beruhigendes Gefühl. Sie packte Sachen aus, die sie aus ihrem Appartement für die Nacht mitgebracht hatte: ein paar belegte Brote, eine Thermoskanne mit Kaffee und einen Roman, in dem sie schon seit Wochen schmökerte, aber nicht so recht vorankam: Roter Drache von Thomas Harris. Über die Monitore kontrollierte sie die Insassen. Es bestätigte sich, was ihr Vorgänger gesagt hatte: Alles war ruhig, mit Ausnahme des Mannes, der dreimal hintereinander vom Blitz getroffen worden war. Er hatte sich auf das Bett geflüchtet, den Kopf in die Hände geborgen und sein Körper zuckte, als ob er schluchzen würde. Amanda schaltete weiter. Auch der tätowierte, ehemals verschüttete Bergmann war noch unruhig unterwegs. Sie schaltete zu George Bentley und musste im nächsten Augenblick unwillkürlich schmunzeln. Er saß an seiner Staffelei und malte, aber nicht das war es, was sie so amüsierte. -212-
Im Vordergrund, so dass es von der Kamera unmöglich übersehen werden konnte, hatte er ein neues Bild angebracht kein Gemälde, sondern nur eine Skizze, aber sie trug unverkennbar Amandas Züge. Und darunterstand in formschönen Buchstaben geschrieben: Trinken wir später noch einen Kaffee1? Amanda sah auf ihr Porträt. Ihr Gesicht darauf lächelte und wirkte sehr entspannt. War das sie, wie sie durch die Augen eines vierzehnfachen Mörders gesehen wurde? Vor allem - wie konnte er überhaupt darüber informiert sein, dass sie kurzfristig für Dr. Jeffries eingesprungen war? Sie dachte an die vielen plappernden, nie verstummenden Münder, von denen er geredet hatte. Sie hatte bislang angenommen, dass diese lediglich seiner Einbildung entstammen würden. Aber wenn dem so war, so schienen sie ihm zumindest das Richtige einzuflüstern. Wir werden sehen, dachte sie bei sich auf sein Angebot hin. Aber wenn, dann würde sie ihn auf jeden Fall noch etwas warten lassen. Nicht, dass er noch dachte, sie würde nach seiner Pfeife tanzen. In den letzten Tagen hatte sie sich schon ein paar Mal Zeit für ein kurzes Gespräch mit ihm genommen, aber es waren jedesmal nur ein paar Augenblicke im Rahmen der normalen Rundgänge gewesen und außerdem war stets ein weiterer Kollege dabei anwesend gewesen. Nichtsdestotrotz hatte Bentley sie immer wieder darauf angesprochen, doch ein wenig mehr Zeit zu erübrigen. Hm, dachte Amanda. Vielleicht sollte sie ihm den Gefallen heute Nacht einmal tun. Doch das hatte Zeit bis später. Die Nacht war noch lang und hatte gerade erst angefangen. Nachdem sie alles kontrolliert hatte, legte sie die Beine auf das Pult und versuchte sich auf den Roman zu konzentrieren. Es gelang ihr mehr schlecht als recht, doch das lag nicht an der Lektüre. Immer wieder wanderte ihr Blick wie magisch -213-
angezogen zu dem Monitor, der Bentleys Zelle zeigte. Noch immer saß er aufrecht vor der Staffelei und malte. Es schien, als sei er ganz darin vertieft, doch irgendwie hatte Amanda trotzdem das Gefühl, als wüsste er ganz genau, nicht nur dass, sondern auch wann sie ihn jeweils beobachtete. Sie schüttelte unwillig den Kopf. Hör auf, dich verrückt zu machen, sagte sie sich. Sonst landest du irgendwann auch auf der anderen Seite der Sicherheitstür. Sie versuchte sich wieder auf ihre Lektüre zu konzentrieren. Unsicher zuckte sie hoch, als ein lauter Donner über das Gebäude rollte, ganz nahe und so stark, dass es regelrecht zu erzittern schien. Das Licht begann sekundenlang zu flackern, dann fiel es komplett aus. Auch die Anzeigen auf dem Kontrollpult erloschen und die Bilder auf den Monitoren brachen zusammen. 233 Von einem Augenblick auf den anderen saß Amanda Wyss in vollkommener Dunkelheit da. Sie fühlte, wie Panik nach ihrem Herzen zu greifen begann. O Gott, bitte nicht das! Wie gelähmt saß sie da. Das Buch entglitt ihren Händen und fiel zu Boden. In eine Situation wie diese zu geraten, war das Schlimmste, was sie sich ausgemalt hatte. Sie wusste nicht, wie viel Sekunden verstrichen, bis das Licht unvermittelt wieder aufflammte, ebenso die Kontrollen auf den Pulten. Es dauerte etwas länger, dann bauten sich auch die Bilder auf den Monitoren wieder flackernd auf. Darauf war zu sehen, wie die verschiedenen Insassen ebenfalls auf den kurzfristigen Stromausfall reagierten, indem sie fragend umherblickten oder zur Position der Überwachungskameras sahen. Amanda schaltete solange umher, bis sie sich überzeugt hatte, dass sie alle noch in ihren Zellen waren. Es gab nur zwei Insassen, die ein auffälliges Verhalten zeigten: zum einen der vom Blitz Getroffene. -214-
Er saß nicht länger ängstlich da, sondern rannte wie ein eingesperrtes Tier in seiner Zelle umher. Zum anderen Bentley. Er saß so ungerührt vor seiner Staffelei, als hätte ihn die vorübergehende Dunkelheit überhaupt nicht gestört. Im Gegenteil, Amanda vermeinte sogar, einen äußerst zufriedenen Zug auf seinem Gesicht zu erkennen. "Alles in Ordnung? " Amanda zuckte erschrocken herum, als die Stimme unvermittelt direkt hinter ihr erklang. "Sam!" stieß sie hervor. "Sie sind es! Meine Güte, haben Sie mich erschreckt!" "Tut mir leid", erwiderte der Wachmann. "Der Strom kurz weg. Da dachte ich, ich sehe hier drinnen besser mal nach dem Rechten. " Sie nickte erleichtert. "Es ist alles in Ordnung. Ich... ich... war nur etwas schreckhaft. Für einen Moment wusste ich überhaupt nicht, was ich tun sollte." "Kann ich gut verstehen. Naja, das Schlimmste ist überstanden. Der Saft ist wieder da." Er deutete zum Pult. "Irgendwelche Ausfälle?" "Nicht, soweit ich es feststellen konnte. Aber ich werde alles gleich noch einmal überprüfen." Sie zog fröstelnd die Schultern zusammen und sah Sam dankbar für seine Aufmerksamkeit an. Gut, ihn in ihrer Nähe zu wissen. Der Stromausfall hatte ihr einen gehörigen Schrecken in die Glieder gejagt. Sie machte eine unsichere Geste. "Was ist, Sam, bleiben Sie noch einen Augenblick? Wir könnten eine Tasse Kaffee zusammen trinken. " "Ja, gern. Sofern es nicht zu lange dauert. Ich muss wieder in meine Kabine." Sie saßen kurz beisammen und nach einem kurzen Plausch machte er sich wieder auf den Weg zum Eingang. -215-
Amanda blieb allein zurück. Sie war zu aufgeregt, um sich ihren Roman abermals vorzunehmen. Die paar kurzen Worte mit Sam hatten in ihr das Bedürfnis auf eine Unterhaltung geweckt. Sie überlegte, ob sie ihn in seiner Wachkabine besuchen sollte. Aber nein. Sie wollte nicht einen zu hilfsbedürftigen Eindruck machen. Ihr Blick wanderte zu dem Monitor, der Bentleys Zelle zeigte. Noch immer saß er vor der Staffelei und malte. Tja, überlegte Amanda. Warum eigentlich nicht? Sie schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein, löste am Kontrollpult die Sperren der Sicherheitstür und stellte sie so ein, dass sie gelöst blieben. Nicht, dass sie sich letzten Endes noch selbst einsperrte, wenn die Tür wieder zufiel. Das wäre doch zu peinlich gewesen, wenn sie die restliche Nacht drinnen im Zellentrakt hätte verbringen müssen - und vor allem zu unheimlich. Mit der Tasse in der Hand schlüpfte sie durch die Schleuse. Die meisten Insassen waren ruhig. Nur der Blitzgeschädigte wimmerte, heulte und rannte in seiner Zelle umher. Er tat Amanda leid. Er hätte ein Beruhigungsmittel nötig gehabt, doch dazu hätte sie erst einen zweiten Kollegen wecken müssen, der sie in die Zelle begleitete. Und so weit wollte sie nicht gehen. Jedenfalls noch nicht. Vielleicht beruhigte er sich wieder, wenn das Gewitter vorüber war. Obwohl es hier drinnen keine Fenster gab, war das dumpfe Donnergrollen selbst durch die dicken Mauern deutlich zu hören und zu spüren. Amanda wanderte weiter zu Bentleys Zelle. Er sah von seiner Staffelei auf und begrüßte sie mit einem warmen Lächeln. "Nun, haben Sie sich entschlossen, meine Einladung anzunehmen? " Sie deutete auf ihr Porträt, das er so deutlich in den Aufnahmebereich der Kameras gehängt hatte. "Sie war ja nicht zu übersehen. " "Schade, dass Sie vergessen haben, sich einen Stuhl -216-
mitzubringen. Im Stehen plaudert es sich's nicht so gemütlich. " "Ich habe ohnehin nur ein paar Minuten Zeit. Dann muss ich wieder nach vorne." "Um so netter, dass Sie sie mit mir teilen. " Sie nippte am Kaffee. "Woher wussten Sie überhaupt, dass ich heute Nacht Dienst habe?" Er lächelte schief und tippte sich erst gegen seine Stirn und dann an sein Ohr. "Haben Sie vergessen, was ich Ihnen über die Stimmen gesagt habe? Es wundert mich, dass Sie sie nicht hören können. Gerade heute Nacht sind Sie doch besonders laut." Amanda lauschte in die Tiefen des Zellentraktes hinein. Das einzige, was sie hörte, war das entfernte Wimmern und Heulen des Blitzopfers. Und immer wieder ein feines Zittern. "Lassen Sie ihn", riet Bentley. "Er wird sich schon von alleine wieder beruhigen. Es ist nur das Gewitter da draußen. Er spürt es. Und es macht ihm Angst." Wieder ein besonders lauter Donnerschlag und erneut begann das Licht zu flackern. Amanda Wyss fühlte, wie sich ihre Nackenhärchen aufrichteten. Nein, dachte sie, nicht schon wieder! Und schon gar nicht, solange sie hier war! Bange blickte sie zu den Röhren der Deckenbeleuchtung empor, deren Licht sich gerade wieder stabilisierte. Sie atmete auf. "Und Ihnen macht das Gewitter auch Angst, nicht wahr?" fragte George Bentley. Amanda blickte etwas unsicher drein. Ja, da hatte er ganz recht. Aber das wollte sie nicht zugeben. Sie hob die Achseln und tat unbeeindruckt. "Worum sollte es?" "Weil Sie sich fragen, ob die Sicherheitseinrichtungen dann auch noch funktionieren", antwortete er wie aus der Pistole geschossen. -217-
Seine Augen sahen sie so intensiv an, dass sie unwillkürlich ihren Blick senkte. Sie flüchtete sich darin, einen Schluck Kaffee zu trinken. "Natürlich funktionieren sie." "Ach ja?" Seine Stimme war einschmeichelnd. "Glauben Sie das wirklich? Nehmen Sie zum Beispiel die Sicherheitstüren." Er deutete zu dem gesicherten Durchgang, der seitlich in die Zelle führte. "Was ist mit ihnen?" fragte Amanda fast gegen ihren Willen. "Sie brauchen zwei Schlüssel, um sie zu öffnen, nicht wahr? Und deswegen halten Sie sie dann für besonders sicher?" Amanda sah ihn forschend an. Wollte er sie aushorchen? Er schüttelte bedauernd den Kopf. "Ach, Sie sind viel zu misstrauisch. Glauben Sie wirklich, ich würde das nicht wissen? Sie vergessen, wie lange ich hier bin! Und wie oft ich schon zugesehen habe, wie man diese Zelle betritt. Aber gut, Sie müssen dazu nichts sagen. Ich möchte nicht, dass Sie das Gefühl haben, ich wolle sie manipulieren. " "Mich manipulieren? Das können Sie gar nicht!" "So, meinen Sie?" Es sah aus, als hätte er dazu noch mehr zu sagen. Doch wenn dem so war, ließ er es unausgesprochen. "Aber wir waren bei den Zellentüren stehen geblieben. Sie halten sie also für sicher?" "Sie haben elektronische Sicherheitsschlösser und sind aus hochwertigem Stahl", antwortete sie. "Ja, richtig", stimmte er ihr zu. Sein Blick wurde noch eine Spur intensiver. "Aber eine Elektronik benötigt Strom, um überhaupt zu funktionieren. Und haben sie sich schon mal gefragt, was mit dieser Elektronik bei einem Stromausfall passiert? Könnte es nicht sein, dass sie komplett ausfällt und die Durchgänge dann so einfach zu öffnen sind wie alte, klapprige Holztüren? Vorausgesetzt, man hat einen Dietrich. " Amanda zuckte zusammen und hätte beinahe den Rest ihres -218-
Kaffees verschüttet. Eilig überprüfte sie, ob mit den Türen zu seiner Zelle noch alles in Ordnung war. Dann kehrte sie vor die Glasscheibe zurück und sah Bentley unwillig an. Sie war doch tatsächlich auf ihn hereingefallen! "Was soll das?" fragte sie ärgerlich. "Warum erzählen Sie mir einen solchen Unsinn?" Er wirkte erheitert. "Wie sagten Sie gerade doch? Ich könne sie nicht manipulieren? Dafür wirkten Sie eben aber recht erschrocken. " Ihr Unwille verstärkte sich noch. Sie mochte es nicht, wenn man irgendwelche Spielchen mit ihr trieb. "Überschätzen Sie sich nicht! Manipulieren ist etwas ganz anderes. Sie haben einfach nur versucht, mir Angst zu machen. " "Ich Ihnen Angst machen?" Bentley schüttelte den Kopf. "O nein, die Quelle Ihrer Angst sind ganz allein Sie. Das einzige, woraus die Angst geboren wird, ist die Angst selbst. Die Angst vor der Angst. Verstehen Sie?" Amanda schnaubte verächtlich. Geschwätz! "Sie verstehen es also nicht", fuhr Bentley fort. Er seufzte. "Gut, dann will ich versuchen, Ihnen zu erklären..." "Nein", sagte Amanda. Das Gespräch lief überhaupt nicht so, wie sie es erwartet hatte. Dr. Obman hatte offenbar ganz recht gehabt. Es hatte keinen Sinn, sich mit den Insassen wie mit normalen Menschen verständigen zu wollen. Jetzt, da sie das erkannte, fragte sie sich, warum sie sich das überhaupt erhofft hatte und hierher gekommen war. "Ich glaube nicht, dass ich mir das anhören möchte. Ich muss jetzt wieder zurück in den Kontrollraum." Sie trank den Rest des Kaffees aus und wollte gehen. "Warten Sie!" bat Bentley und sah sie flehend an. "Bitte nur noch eine Minute. Ich erzähle Ihnen keinen Unsinn. Es ist wichtig, dass sie das begreifen. " -219-
239 "Warum sollte es das sein?" "Nun..." Er schien zum ersten Mal auf Anhieb keine Antwort zu wissen und machte eine vage Handbewegung. "Für Ihr späteres Leben und überhaupt." Amanda lachte amüsiert auf. Sie spürte, wie dabei ein Teil der Beklemmung, die sie ergriffen hatte, von ihr abfiel. "Ach ja?" meinte sie ironisch. "Und warum glauben Sie, hätte ich solche Lebensratschläge ausgerechnet von jemandem nötig, der in einer Zelle wie dieser sitzt? Das zeugt nicht gerade davon, dass Sie Ihr Leben sonderlich im Griff gehabt hätten. Finden Sie nicht auch? " Er zeigte sich nicht im mindestens beeindruckt. "Sie vergessen, wir beide befinden uns am gleichen Ort, im selben Gebäude. Zeugt etwa allein die Tatsache, dass Sie auf der anderen Seite der Scheibe stehen, davon, dass Sie Ihr Leben gut im Griff hätten? " Amanda hielt nachdenklich inne. Hatten die paar kurzen Gelegenheiten, bei denen sie sich bisher begegnet waren, wirklich ausgereicht, sie so gut einzuschätzen? Stand ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben, wie es um ihr inneres Befinden stand? "Aber wir wollten über Angst reden", fuhr erfort. "Und was diese angeht, so bin ich darin ein wahrer Experte. Und als solcher weiß ich: Nicht ich bin es, der Ihnen Angst macht. Es ist auch nicht das Gewitter oder der Stromausfall. Nein, das einzige, was Ihnen Angst macht, sind ganz allein Sie selbst. Es sind Ihre Vorstellungen, was passieren könnte, wenn Ihnen die Situation außer Kontrolle gerät. Also nichts anderes als eine klassische Angst vor Kontrollverlust." "So? Glauben Sie?" "Ja, denn sehen Sie: Wenn es hier nur mich, das Gewitter und einen Stromausfall gäbe, dann gäbe es gar keine Angst. Das einzige, was die Angst hier hereinträgt, sind Sie." Er lächelte sie -220-
einnehmend an. "Also machen 3ie bitte nicht mich dafür verantwortlich. " Amanda musste sich eingestehen, dass er nicht ganz Unrecht mit dem hatte, was er sagte. Sie wusste aber trotzdem nicht, wie ihr das helfen sollte. Und es würde sie schon gar nicht dazu bringen, sich weniger vor ihm vorzusehen. Sie räusperte sich. "Gut, wenn das alles war, was Sie mir zu sagen hatten, dann kann ich nun ja wieder..." Sie brach ab, als das Licht erneut zu flackern begann. Wieder hatte ein Donnerschlag das Gebäude erschüttert, diesmal stärker als je zuvor und Amanda vermeinte zu spüren, dass die Luft plötzlich wie mit Spannung geladen war. "Sehen Sie!" rief Bentley und hob beschwörend die Arme. In dem flackerndem Licht der Neonröhren wirkte sein Gesicht plötzlich seltsam diabolisch und Amanda verstand, warum er für immer hinter der Scheibe bleiben musste. "Es geschieht!" "Was geschieht?" "Es geschieht alles so, wie man es mir gesagt hat." "Wer hat Ihnen das gesagt?" "Die Stimmen!" rief er und starrte sie durch die Scheibe plötzlich so eindringlich an, als wolle er sie hypnotisieren. "Mein Gott, hören Sie sie denn nicht? Gerade jetzt sind sie so laut, als wollten sie einem schier den Verstand rauben! Sie müssen Sie doch hören! " Amanda lauschte unwillkürlich. Sie konnte nichts anderes hören als das entfernte Geheul des Blitzopfers. Auch noch jemand anders schien in seiner Zelle zu randaueren. Doch das war alles. Trotzdem jetzt, da sie ihre Aufmerksamkeit derart nach außen gerichtet hatte, merkte sie plötzlich, dass dort noch etwas anderes war, etwas Unfassbares, das sie zwar nicht hören, wohl aber spüren konnte - so deutlich, dass es ihr heiß und kalt den Rücken hinunterlief. -221-
Und dieses Etwas schien sich diesem Ort mit großen Schritten zu nähern. Amanda blickte sich in dem flackernden Licht zu beiden Seiten um. Die Neonröhren sprangen immer wieder für Sekundenbruchteile an, um dann wieder zu verlöschen. Ein künstliches Blitzlichtgewitter schien in dem Gang zu herrschen. Und überall tanzten Schatten. Ansonsten war niemand zu sehen. Der Gang war leer. "Hören Sie es noch immer nicht?" rief Bentley mit schriller Stimme. "Die Stimmen? Und sehen Sie sie nicht, die tanzenden Schatten, die von überall her aus ihren Löchern zu kriechen beginnen? " Amanda atmete tief durch. Bentley hatte recht gehabt: Sie hatte definitiv Angst, die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Noch immer flackerte das Licht ringsherum in einem wilden Rhythmus. Sie ermahnte sich, wieder in den Kontrollraum zu gehen. Da vermeinte Amanda aus den Augenwinkeln plötzlich eine kleine Gestalt zu erkennen, die sich ihr mit scheinbar tanzenden Bewegungen näherte. Und zwar hier draußen auf dem Gang! Amanda Wyss schrak so sehr zusammen, dass sie die Kaffeetasse fallen ließ, die laut klirrend auf dem Boden zerschellte. Ihr Kopf ruckte herum. Doch als sie direkt dorthin sah, wo sie gerade noch die kleine Gestalt zu sehen vermeint hatte, war dort niemand mehr zu entdecken. Amanda blinzelte. Dort war zwar keine Gestalt mehr zu sehen, aber noch immer noch hatte sie den Eindruck von tänzelnden Bewegungen, selbst wenn es niemanden gab, der sie ausführte. Aber, dachte sie atemlos, das ist doch nicht möglich! Im nächsten Moment war auch dieser Eindruck -222-
verschwunden. Amanda runzelte unsicher die Stirn. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Eine Erinnerung an ein Buch, das sie als Kind gelesen hatte: Alice im Wunderland. Dort hatte es eine Katze gegeben, deren Grinsen auch dann noch kurz geblieben war, wenn sie selbst verschwunden war. Amanda schüttelte den Gedanken ab. Ach was, es waren nur die Schatten gewesen, die sie genarrt hatten! Wann, zum Teufel, baute sich die Stromversorgung endlich wieder komplett auf? "Sie haben ihn gesehen", rief Bentley. "Ich weiß, sie haben ihn gesehen! " Wen? wollte Amanda fragen. Aber sie schluckte die Frage herunter. Nein, sie durfte hier nicht länger herumstehen und quasseln. Sie musste zurück in den Kontrollraum. Da fiel das Licht endgültig aus. Abermals war Amanda von einem Augenblick auf den anderen in absolute Dunkelheit gehüllt. Nur mit dem kleinen Unterschied, wie sie sich klarmachte, dass sie sich diesmal mitten im Zellentrakt befand. Sie schluckte, zwang sich dazu, ruhig zu atmen und wartete endlose Sekunden darauf, dass das Licht wieder anging. Nichts geschah. Es blieb dunkel. O Gott! Amanda versuchte die Lähmung zu überwinden, die sie abermals erfasst hatte. Wieder hatte sie das Gefühl, als wäre da irgendwo in der Dunkelheit noch etwas anderes. Etwas Unheimliches, Böses und es eilte geradewegs auf sie zu. Amandas Kopf ruckte in alle Richtungen herum, ohne dass sie irgendwo auch nur das Geringste erkennen konnte. Panik stieg in ihr auf. Das Böse kam näher und näher, das konnte sie deutlich spüren. Nun hatte es sie erreicht und streckte seine Arme aus, -223-
um... "Unangenehme Situation, nicht wahr?" Amanda schrie erschrocken auf und torkelte zurück. Bentleys Stimme schien plötzlich nic ht mehr durch das Panzerglas gekommen zu sein, sondern sich ganz dicht neben ihrem Ohr befunden zu haben. So nahe, dass sie vermeint hatte, sogar seinen warmen Atem zu spüren. Tausend Gedanken schössen ihr durch den Kopf. Und Dutzende von Stimmen wehten gleichzeitig durch ihr Bewusstsein. Zum Beispiel die von Dr. Obman: Beten Sie dafür, keinem von ihm jemals in die Hände zu fallen! Oder die von Dr. Jeffries: Das könnte höchstens bei einem totalen Stromausfall passieren. Oder wieder Dr. Obman: Verlieren Sie das nie aus dem Gedächtnis. Jeder noch so kleine Fehler ka n n hier zu einer Katastrophe führen. Und zwischendrin auch George Bentleys Stimme: Könnte es nicht sein, dass die Überwachung bei einem Stromausfall komplett ausfällt und die Durchgänge dann so einfach zu öffnen sind wie alte, klapprige Holztüren? Und: Machen Sie bitte nicht mich dafür verantwortlich! Amanda Wyss war so weit zurückgewichen, dass sie mit dem Rücken gegen die andere Seite des Korridors prallte und dort heftig mit dem Hinterkopf anschlug. Der dumpfe Schlag half ihr zugleich, ihre panischen Gedanken etwas zu klären. Nein! hämmerte sie sich mit aller Gewalt ein. Das kann nicht sein. Das darf nicht sein! Er ist nicht aus seiner Zelle entkommen! Das bildest du dir nur ein! Sie atmete tief durch und straffte sich. Jede ihrer Nervenfasern war bis zum Zerreißen gespannt. "Bentley?" rief sie bange in die Finsternis. "Los! Sagen Sie was!" "Gerne", erwiderte er ebenso prompt wie lakonisch. "Was möchten Sie denn hören? " -224-
Amanda lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Nein, Bentleys Stimme hörte sich noch immer so an, als käme sie aus der Zelle. Durch die dünnen Sprechschlitze wirkte sie leicht hohl und verzerrt. Amanda wagte es, zaghaft einen Schritt nach vorne zu setzen. "Wo sind Sie?" "Wo sollte ich schon sein?" Ein leicht spöttischer Unterton lag in seiner Stimme. "Natürlich in meiner Zelle. Und ich warte darauf, dass das Licht wieder angeht. Sie doch auch oder?" Amanda antwortete nicht. Abermals hatte sie ganz genau hingehört. Nein, stellte sie fest, sie hatte sich umsonst geängstigt. Er war eindeutig noch immer in seiner Zelle. Ihre Nerven mussten ihr einen Streich gespielt haben. Sie hatte sich das nur eingebildet. Aber deshalb fühlte sie sich keineswegs gänzlich beruhigt. Im Gegenteil. Sie hatte noch immer das Gefühl, als gäbe es hier noch etwas Anderes, Fremdes, Unheilvolles. Ihr Pflichtgefühl gewann die Oberhand über ihre Furcht. Selbst wenn ihr der Gedanke, sich durch die undurchdringliche Finsternis bis zum Kontrollraum vorzutasten, nicht besonders behagte - es musste sein! Schließlich war sie die diensthabende Ärztin. Und da der Strom offensichtlich nicht wiederkam, musste sie die Notstromaggregate starten. Ohnehin hatte sie schon viel zu viel Zeit hier vertrödelt. "Machen Sie's gut, Bentley. Ich gehe wieder nach vorne." "Viel Glück", gab er ihr mit auf den Weg. "Sie werden es brauchen können! " Sie ließ sich nicht einschüchtern - das war sie bereits genug-, sondern torkelte durch die Finsternis voran. Sie hatte die Lage der Gänge und Korridore noch nicht recht verinnerlicht und so musste sie sich an den Wänden entlang tasten, die andere Hand nach vorne ausgestreckt, um nicht blindlings gegen irgendein Hindernis zu laufen. -225-
Nachdem sie einen Teil des Weges zurückgelegt hatte, legte sich ihre Panik langsam. Das Gefühl, von etwas Bösem umgeben zu sein, ebbte ab. Nein, sagte sich Amanda, als sie in sich hineinhorchte. Das Böse verschwand nicht wirklich, es blieb lediglich im Gang hinter ihr zurück. Plötzlich kreischte eine Stimme direkt an ihrer Seite unartikuliert, sich überschlagend, sabbernd. Amanda prallte zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Die Stimme kreischte weiter. Amanda begriff, dass es das Blitzopfer in seiner Zelle war. Er schien gehört zu haben, dass sie sich näherte und so lange mucksmäuschenstill gewartet, bis sie direkt an den Schlitzen der Panzerverglasung vorbeikam. Erst dann hatte er sie angeschrieen. Amanda hatte gar nicht darauf geachtet, dass sein langanhaltendes Geheul zuvor verstummt war. Dazu war sie zu sehr mit ihren eigenen Ängsten beschäftigt gewesen. Sie blieb ein paar Sekunden einfach auf dem Boden sitzen und atmete tief durch. Verdammt, in dieser Nacht schien es wirklich jedermann darauf anzulegen, sie zu Tode zu erschrecken. Die junge Ärztin rappelte sich auf und tastete sich weiter dem Ausgang entgegen. Irgendwo vor sich erkannte sie einen Lichtschein und im nächsten Moment leuchtete ihr ein grelles Taschenlampenlicht ins Gesicht. "Dr. Wyss, hier sind Sie!" Es war Sams Stimme. "Ich habe Sie schon überall gesucht." Amanda spürte, wie ihr ein großer Stein vom Herzen fiel. "Sam, Sie! Ein Glück!" "Was machen Sie denn hier?" "Ich... äh... habe nur gerade den Zellentrakt kontrolliert, als der Stromausfall kam. War gar nicht so einfach, im Dunkeln den -226-
Weg zurück zu finden. " "Das glaube ich gerne." Der Wachmann leuchtete sie erneut an. "Sie sehen ziemlich fertig aus. Als ob Sie einem Gespenst begegnet wären. " Du weißt gar nicht, wie recht du hast, dachte sie. Und nicht nur einem. "Was ist passiert?" fragte sie laut. "Ein Blitz hat den Strommast neben dem Gebäude getroffen. Dadurch haben wir einen kompletten Stromausfall. Die anderen Gebäude haben Glück gehabt. Sie sind nicht betroffen. " "Haben Sie schon jemandem Bescheid gegeben, wie es hier aussieht?" In dem Streulicht der Taschenlampe erkannte Amanda, wie er sie stirnrunzelnd ansah, als könne er dafür keinen besonderen Grund erkennen. "Wieso jemanden stören?" fragte er lapidar. "Die Reparaturteams der Stromwerke werden ohnehin nicht vor morgen früh kommen könne n und die Störung ganz allein feststellen. Und unsere Kollegen können auch nicht mehr tun, als die Notstromaggregate zu starten. Für diesen Fall sind wir ja schließlich da. Wozu also jemanden wecken? " Richtig, die Notstromaggregate! Amanda ertappte sich bei dem Gedanken, gar nicht mehr richtig in Erinnerung zu haben, wie diese hochgefahren wurden. Dr. Jeffries hatte es ihr zwar erklärt - gleich bei ihrem ersten Besuch hier -, aber sie war viel zu aufgeregt gewesen, um sich alles eingeprägt zu haben. "Ich hätte es längst allein getan", redete Sam Bradley zu ihrer Erleichterung weiter, "aber ich brauche dafür Ihren Schlüssel für das Pult." "Den habe ich bei mir. Kommen Sie. Gehen wir." Sie verließen den Zellentrakt durch die offene Sicherheitsschleuse und gingen in den Kontrollraum. Sam -227-
beleuchtete den Weg bis zum Pult. Amanda reichte ihm den Schlüssel. Sam entriegelte die Anlage manuell und betätigte ein paar Schalter. "So", sagte er dann. "Gleich müssten wir wieder Licht haben. " Er nickte Amanda aufmunternd zu und drückte auf einen weiteren Knopf. Ein paar der Decken- und Kontrolllichter flammten kurz auf, jedoch nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann war der Strom wieder weg. "Verflucht!" stieß Sam aus. Er versuchte es erneut. Wieder dasselbe. "Was ist los?" fragte Amanda ratlos. "Wenn ich das wüsste." Er versuchte es noch ein paar Mal, ohne dass sich an dem Ergebnis etwas änderte. "Hm. Aber es kommt Strom an. Irgend etwas muss ihn sofort wieder blockieren. " "Und was?" "Gerade das muss ich herausfinden. An den Kontrollen scheint's jedenfalls nicht zu liegen. " "Sollten wir nicht doch besserjemanden verständigen? Gibt es für solche Fälle keinen Notdienst?" Er nickte. "Ja, den gibt es. Aber der muss aus Ipswich kommen. Und bei dem Wetter ist der mindestens eine Stunde unterwegs. Nein, ich denke, vorher sollte ich mir die Generatoren draußen einmal selbst ansehen. Vielleicht finde ich was." "Wrie bitte?" rief Amanda. "Sie wollen mich doch nicht allein hier in der Dunkelheit zurücklassen? " "Sie können gerne mit nach draußen in den Regen kommen. Nur glaube ich kaum, dass Sie mir dort eine große Hilfe sein -228-
würden. Aber was die Dunkelheit angeht - dagegen habe ich etwas für Sie." Er drückte ihr die Taschenlampe in die Hand. "Hier, nehmen Sie! Ich habe in meiner Kabine noch eine zweite. Aber es wäre nett, wenn Sie mir auf dem Weg zur Tür noch ein wenig Licht geben könnten. " Amanda tat es und er ging wieder zu seiner Wachkabine. "Keine Sorge", meinte er zum Abschied. "Ich bin in ein paar Minuten wieder da." Amanda Wyss blieb allein zurück. Erst jetzt wurde ihr wieder die unnatürliche Stille bewusst, die ringsum herrschte. Ob es in den Zellen irgendwelchen Aufruhr gab, konnte man von hier aus nicht hören. Sie richtete den Strahl der Lampe auf die Sicherheitstür, die noch immer entriegelt war. Solange der Strom ausgefallen blieb und das Pult nicht funktionierte, würde sich daran auch nichts ändern lassen. Manuell ließ sich die Tür weder ent- noch verriegeln. Arnanda musste an das denken, was George Bentlev vorhin über die Sicherheitsschlösser gesagt hatte und dabei hatte sie für eine kurze Sekunde die Vision, wie plötzlich er und all die anderen Insassen durch das Schott gekrochen kamen und mit mordlüsternen Blicken auf sie zueilten. Sie schüttelte den Kopf und vertrieb die düstere Vision. Nein, die Zellen waren alle sicher. Auch ohne Strom. Sam hatte nicht zuviel versprochen. Nach kurzer Zeit war er wieder zurück. Klatschnass zwar, aber um eine Erkenntnis reicher. "Es gibt ein Problem mit den Sicherungen", verkündete er. "Eine Art Rückschlag. " Der Wachmann ging zum Pult und versuchte es abermals. Diesmal stand das Licht schon für eine gute halbe Sekunde. Länger allerdings nicht. -229-
"Na ja", meinte er. "Immerhin." "Und? Was bedeutet das?" "Dass ich's hinbekommen könnte. Ich muss nur ein paar Sicherungen mehr überbrücken. Dafür muss ich aber noch mal raus. Und diesmal etwas länger. Mindestens eine Viertelstunde." Er sah sie fragend an. "Kommen Sie hier solange alleine klar?" Sie nickte tapfer. "Sicher. Kein Problem. Ich war vorhin nur etwas aufgeregt. Mit so etwas habe ich bei meiner ersten Einzelnachtschicht nicht gerechnet." "Verstehe ich. Wird wohl auch bald ausgestanden sein. Also dann, ich mache mich wieder auf den Weg. Nur versprechen Sie mir, keinen Start der Aggregate zu versuchen, solange ich weg bin. Ich will keinen Schlag bekommen. " "Versprochen. " "Gut - bis dann! " Amanda blieb ein zweites Mal alleine zurück. Wieder richtete sie den Strahl der Lampe auf die Eingangstür. Täuschte sie sich oder hatte sie sich etwas mehr geöffnet? Aber nein, das bildete sie sich nur ein. Ebenso wie den Schatten, den sie dahinter kurz huschen zu sehen vermeinte. Unruhig wippte sie auf den Fußballen auf und ab. Immer wieder wanderte ihr Blick zu der Tür. Sie fühlte sich von dem Zellentrakt dahint er wie magisch angezogen. Die Empfindungen, die sie dort vor Minuten gehabt hatte, ließen sie nicht los. Sie atmete tief durch. Wenn sie nicht ihr Leben lang an sich und ihren Sinnen zweifeln wollte, musste sie sich davon überzeugen, dass ihre Angst unbegründet war und dass es dort nichts... Böses gab. Sie umfasste die Taschenlampe fester und machte einen ersten, zögerlichen Schritt nach vorn. Nein, sagte eine eindringliche Stimme in ihr. Tu das nicht! -230-
Bleib hier! Ach was! wischte sie die warnende Stimme beiseite. Sie hatte genug von widerstreitenden Stimmen und Empfindungen in ihrem Innern. Das einzige, was zählte, war die Realität. Und von der würde sie sich mit eigenen Augen überzeugen. Wras für ein Problem sollte dabei sein? Wenn sie sich beeilte, war sie in ein paar Minuten zurück - lange bevor Sam zurückkam. Er hatte gesagt, dass er mindestens eine Viertelstunde benötigen würde. Amanda lenkte ihre Schritte auf die Schleuse zu, den Lichtkegel der Taschenlampe stets vor sich haltend. Von dem huschenden Schatten, den sie dahinter gerade noch zu sehen vermeint hatte, war nichts mehr zu entdecken. Im Gegenteil. Der Korridor hinter der Sicherheitsschleuse war leer, wovon sie sich überzeugte, als sie in den Zellentrakt eindrang. Alles war ruhig - einmal abgesehen von dem Geheul des Blitzopfers, das nun wieder an ihr Ohr drang. Aber seltsam so sehr es sie das letzte Mal beinahe zu Tode erschrocken hätte, diesmal wirkte es auf sie fast beruhigend. Es erschien ihr wie ein Indikator dafür zu sein, dass alles in Ordnung war. Fast nach dem Motto: Solange dieser Insasse heulte, würde sie niemand beißen. Sie ging weiter durch die Korridore, die sie sorgsam vor sich ableuchtete. Es war, wie ihr Verstand es ihr gesagt hatte: Keiner der Insassen war entflohen. Sie alle befanden sich noch in ihren Zellen. "Keine Sorge", sagte sie den wenigen von ihnen, die überhaupt ansprechbar waren. "Wir werden bald wieder Licht bekommen. " "Wird auch Zeit!" beschwerte sich der UFO-Freak. "Bald läuft Ally McBeal in der Glotze und ich will die neueste Folge nicht verpassen. Also gebt euch gefälligst etwas Mühe." "Wir tun, was wir können. " -231-
"Ah ja, ehe ich's vergesse: Halten Sie's für möglich, dass Sie fliegen können? " Amanda Wyss ging nicht darauf ein, sondern eilte weiter. Auch mit den nächs ten Zellen war alles in Ordnung. Ihr Schritt wurde allmählich fester. Die nächste Biegung kam in Sicht. Dahinter wartete die Zelle von George Bentley. Einen winzigen Augenblick lang zögerte Amanda, bevor sie weiterging. Sie horchte mit all ihren Sinnen nach der bedrohlichen, unfassbaren Aura des Bösen, die sie dort vor Minuten noch gespürt hatte. Doch nun war davon nichts mehr zu merken. Es wunderte sie nicht. Bei Licht - und sei es nur das einer Taschenlampe - und klarem Geist betrachtet, waren das nichts anderes als Hirngespinste gewesen. Nichts als phantasievolle Auswüchse ihres überängstigten Geistes. Amanda ging um die Biegung. Nichts Außergewöhnliches war zu sehen. Der Gang war leer. Sie erreichte die Panzerglasscheibe vor Bentleys Zelle. "Da bin ich wieder", sagte sie. "Ich wollte nur noch mal kurz nach dem Rechten sehen und..." Sie brach ab, als sie gewahrte, dass es auf der anderen Seite des Glases niemanden mehr gab, der ihr zuhörte. Der Platz vor der Staffelei, wo sich Bentley bislang jedesmal befunden hatte, war leer. Eilig leuchtete Amanda die gesamte Zelle ab. Beneley war verschwunden! Der jungen Ärztin stockte der Atem. Sie eilte zu den Sicherheitstüren neben der Zelle und fand diese offen vor. Und sie musste nicht lange darüber nachdenken, wer das gewesen war - wie immer er es auch angestellt hatte. Es dauerte ein paar Momente, ehe ihr das gesamte Ausmaß dessen klar wurde, was sie entdeckt hatte. George Bentley war -232-
entkommen! Er war frei. Ein vierzehnfacher Mörder und er lief hier irgendwo herum! Eine kreatürliche Angst kroch ihren Hals hinauf und schien ihr den Atem abzuschnüren. Amanda lenkte den Strahl der Taschenlampe wild umher. Verdammte Scheiße, wurde eine verzweifelte Stimme in Amanda lauter und lauter. Sie ertappte sich dabei, sich beinahe in die Hosen zu pinkeln. Im letzten Moment konnte sie den Drang unterdrücken. Ihr wild herumstochernder Lichtstrahl überzeugte sie davon, dass niemand in unmittelbarer Nähe daraufwartete, ihr an die Kehle zu gehen. Ruhig! Ruhig! Ruhig! Nur ruhig! versuchte sie sich einzuimpfen und die andere Stimme in ihrem Innern zu übertönen. Du kannst hier noch gut rauskommen, wenn du jetzt keinen Fehler machst! Amanda Wyss zwang sich zur Ruhe und leuchtete die Umgebung abermals ab. Niemand zu sehen. Also gut, überlegte sie und jeder Gedanke kostete sie eine große Kraftanstrengung. Denk nach! Denk schneller nach! Was wird er wohl tun? Entkommen! Er will entkommen. Richtig und das musst du verhindern! Deswegen bist du hier. Du musst schneller im Kontrollraum sein als er. Aber was, wenn er dort oder auf dem Weg auf mich... Vergiss es! Verlier einfach keine Sekunde! Amanda stand ein paar Momente schweratmend da. Nein, sagte eine altbekannte, eindringliche Stimme in ihrdieselbe wie schon im Kontrollraum. Nur dieses Mal wesentlich eindringlicher. Tu das nicht! Bleib hier! Amanda wischte sie abermals beiseite. Nein, ihr Risiko war -233-
genauso groß, wenn sie einfach hier blieb und sich versteckte. Vielleicht sogar noch größer. Sie nahm ihre Beine in die Hand und begann zurück in Richtung des Einganges zu laufen. Ihre Schritte klangen hohl durch die leeren Korridore. An jeder Biegung verharrte Amanda kurz und leuchtete mit der Taschenlampe in den Abschnitt vor ihr hinein, jederzeit darauf gefasst, einem überraschendem Angriff von Bentley zu entgehen, der irgendwo auf sie lauerte. Doch er ließ sich nirgendwo sehen. Amanda erreichte unbehelligt die Schleuse und schlüpfte durch sie hindurch in den Kontrollraum. Kaum stand sie darin, erstarrte sie. Moment, hätte sie sich gerade nicht besser vergewissern müssen, ob die Sicherheitstür noch genauso angelehnt gewesen war wie vorhin? Und ob Bentley mittlerweile bis hierher entkommen sein konnte? Amanda ließ den Lichtstrahl der Lampe durch den Kontrollraum wandern. Dieser war leer. Nirgendwo war eine Spur von Bentley zu entdecken. Amanda verfluchte die Tatsache, dass das Sicherheitsschott nicht manuell zu schließen war. Sonst hätte sie Bentley auf diese Weise im Innenbereich des Hochsicherheitstraktes einsperren können. Sie ging zu den Kontrollpulten und sah zögernd auf die Schalter zur Notstromversorgung. Wenn diese anspringen würde, wäre das gesamte Problem gelöst. Amanda hatte Sam vorhin genau genug zugesehen, um nun zu wissen, wie man die Aggregate einschaltete. Aber sie wollte ihn nicht gefährden, indem sie es versuchte. Ihr Blick heftete sich auf den Alarmknopf auf dem Pult, der für solche Fälle angebracht war. -234-
Aber aufgrund des Stromausfalls war es wirkungslos, ihn zu betätigen. Und die Telefone waren ebenfalls ausgefallen. Amanda überlegte, ob sie zu Sam eilen und ihn über die neue Situation unterrichten sollte. Es konnte nicht schwer sein, ihn draußen zu finden. Vielleicht hatte er die rettende Idee und konnte dafür sorgen, den Kerker von außen abzusperren, ehe Bentley oder andere ins Freie gelangten. Oder zumindest konnte er ihr dabei helfen, den Rest der Institutsbelegschaft zu alarmieren. Sie machte sich auf den W7eg und hörte leise Geräusche aus der Wachkabine. "Sam?" rief sie unsicher. "Sind Sie das?" Keine Antwort. Amanda ging langsam und mit pochendem Herzen weiter. Wieder kam ein seltsames Geräusch aus der Kabine. "Saaaam?" fragte sie leise und langgezogen, während sie in die Stille lauschte. Abermals keine Antwort. Amanda sah, dass sich eine Schlamm- und Dreckspur vom Eingang bis zu der Wachkabine zog. Nein, nicht nur eine, sondern zwei und die zweite war weitaus intensiver. Demnach musste er bereits ein zweites Mal von draußen hereingekommen sein. "Sam?" Amanda Wyss hatte die Kabine erreicht. Sie blieb am Eingang dazu stehen und ließ den Strahl ihrer Taschenlampe umherwandern. Der Raum war leer. Überall traf das Licht nur auf erloschene Monitore. Hier war Sam jedenfalls nicht. Amanda ließ die Lampe sinken und schrak zusammen, als der Lichtkegel direkt auf das Gesicht des Wachmannes fiel. Es war Sam und er lag am Boden, inmitten einer Blutlache. -235-
"Sam, mein Gott!" stieß Amanda hervor. Sie stürzte zu ihm und kniete neben ihm nieder, um zu sehen, ob er noch am Leben war. Doch sie kam nicht mehr dazu, ihn genauer zu untersuchen. Plötzlich fühlte sie wieder dieselbe unheilvolle Aura wie auch schon kurz vor dem Stromausfall vor Bentleys Zelle. Es war dasselbe Gefühl - als ob das Böse sich aus seinen Grüften erhob und mit Riesenschritten auf einen zueilte. Und es war derart stark, dass es sie regelrecht lahmte. Wieder vermeinte sie, warmen Atem an ihren Ohr zu verspüren. Nur diesmal war es keine Einbildung. "So sieht man sich also wieder", sagte Bentleys Stimme. Sie klang sanft, fast freundlich. Amanda schrak dennoch entsetzt zusammen, ließ die Lampe fallen und krabbelte schutzsuchend in eine Ecke des Wachraumes. Natürlich war es reines Wunschdenken, dort Schutz finden zu wollen. Vor Bentley gab es kein Entkommen. Nicht, nachdem er sie gefunden hatte. Sie hob den Kopf und blickte ihn ängstlich an. Diesmal war es keine Illusion, dass er aus seiner Zelle entkommen war - so gerne sie sich das auch gewünscht hätte. Bentley stand in Person vor ihr und grinste sie an. "Na, haben Sie schon wieder Angst?" Er breitete unschuldig die Arme aus. "Aber wovor denn? Haben Sie nicht zugehört, was ich Ihnen vorhin über Ihre Angst erzählt habe? Dass ganz allein Sie dafür verantwortlich sind und nicht ich?" O ja, daran erinnerte Amanda sich. Sie wusste trotzdem nicht, wie ihr das jetzt irgendwie weiterhelfen sollte. "Was haben Sie mit Sam gemacht?" "Ich?" Bentley sah beinahe echauffiert drein. "Gar nichts. Was denken Sie denn von mir? -236-
Nein, er ist ganz allein zu Boden gestürzt, nachdem ich ihm den Werkzeugkoffer über den Schädel gezogen habe. Konnte ich denn wissen, dass er so empfindlich ist?" "Bentley!" rief Amanda Wyss aufgebracht. In diesem Moment war ihr ihre Angst plötzlich gleichgültig. Dazu war die Sorge um Sam zu übermächtig. Er brauchte so schnell wie möglich eine medizinische Versorgung. "Verstehen Sie denn nicht? Sie haben diesen Menschen fast umgebracht! Und warum?" Bentley wirkte irritiert. Ob aufgrund ihres heftigen Ausbruchs oder ihrer Frage, blieb unbeantwortet. "Man wird ihn bestimmt rechtzeitig entdecken. Außerdem blieb mir keine andere Wahl. Er hätte bestimmt versucht zu verhindern, dass ich dieses Institut verlasse. Das war doch auch der Zweck seiner Anstellung hier, oder?" Amanda presste die Lippen aufeinander. Was sollte sie darauf schon sagen? Bentley trat einen Schritt auf sie zu und streckte einladend eine Hand nach ihr aus. "Und nun kommen Sie. Es wird Zeit, dass wir gehen. " Amanda wich vor der Hand zurück und duckte sich unwillkürlich ein Stück tiefer zusammen. "Wir?" "Ja. Oder denken Sie, dass ich ohne Ihre Hilfe durch das Außentor komme?" Amanda erstarrte entsetzt. Er wollte sie also mitnehmen. Nein, nicht das! Sie dachte daran, was sie in den Akten darüber gelesen hatte, was er mit seinen früheren Opfern alles Unaussprechliches angestellt hatte. Nein, dann sollte er sie lieber hier an Ort und Stelle umbringen. Doch in der Realität blieb von diesem Gedanken nicht mehr viel übrig, als er nach ihrem Handgelenk griff und sie auf die Beine zog - mit einer Kraft, die sie seinem Körper nie zugetraut -237-
hätte. Und sein Blick, der sich in ihre Augen bohrte, war so flammend, dass jeglicher Widerstand in ihr zusammenbrach. Willenlos ließ sie sich von ihm aus dem Gebäude ziehen. Minuten später fuhr Amanda mit dem roten Kleinwagen ihres Kollegen an dem äußeren Wachhaus vorbei. Noch immer war das Gewitter in vollem Gange und es goss in Strömen. Entsprechend schlecht war die Sicht. Der Regen prasselte ebenso auf die Scheiben des Wagens wie auf die der Wachkabine. Der Wachmann verließ seinen trockenen Unterstand erst gar nicht. Er begnügte sich damit, Amanda hinter dem Steuer zu sehen. Da ihm die neue Kollegin nicht mehr unbekannt war, tippte er nur grüßend an seine Dienstmütze und öffnete das Tor. Dass sich auf der Rücksitzbank des Wagens jemand verbarg, der die Fahrerin bedrohte, sah er nicht. Amanda wusste, dass dies ihre letzte Chance war, auf sich aufmerksam zu machen, ehe sie diesem wahnsinnigen und vielfachem Mörder endgültig ausgeliefert war. Sie musste dem Wachmann irgendein Zeichen geben, aus dem Wagen springen und weglaufen oder sonst etwas dergleichen tun - aber sie war zu nichts davon in der Lage. Die Angst lahmte sie viel zu sehr. So gab sie Gas und fuhr auf den gepflasterten Weg zur Landstraße hinaus, dorthin wo sie vor Wochen an der Bushaltestelle ausgestiegen war und sich unsicher umgesehen hatte. Hätte sie damals auch nur den Schimmer einer Ahnung gehabt, in was für einer Situation sie sich jetzt befinden würde, hätte sie wohl auf der Stelle umgedreht und wäre von hier geflüchtet, so schnell es ihr möglich gewesen wäre. Aber dafür war es längst zu spät. Sie bog in die Richtung auf die Landstraße ein, die Bentley ihr vorgab und bald blieben die Lichter des Blofeld Health -238-
Center hinler ihnen in der Dunkelheit der stürmischen Nacht zurück. "Brav", lobte Bentley. "Das haben sie gut gemacht. Fahren Sie nur weiter. Und seien Sie unbesorgt - ich habe mir für Sie schon etwas ganz Besonderes ausgedacht." Amanda Wyss schwieg. Sie starrte kreidebleich geradeaus und fuhr wie betäubt weiter. Ihr letzter Widerstandswillen war längst erloschen. Sie hatte mit ihrem Leben abgeschlossen.
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9. Kapitel Der Morgen danach Es dauerte bis zum Morgen, ehe man beim Blofeld Health Center bemerkte, was in der Nacht geschehen war. Es war ein Wachmann, der am Morgen zur Ablösung von Sam Bradshaw kam und seinen reglos daliegender Kollegen entdeckte. Von da an dauerte es nur wenige Minuten, ehe überall im Institut helle Aufregung herrschte. Sam Bradshaw wurde unverzüglich in die Intensivstation der Krankenabteilung gebracht und man alarmierte den Institutsleiter, der sofort dorthin eilte. "Wie sieht es aus?" fragte Dr. Obman den zuständigen Arzt. "Kritisch", antwortete dieser. "Eine schwere Schädelfraktur und er hat eine Menge Blut verloren. Hoffen wir, dass er die nächsten vierundzwanzig Stunden übersteht. Danach können wir ein wenig optimistischer sein. " Dr. Obmann nickte. "Gut. Halten Sie mich bitte ständig auf dem Laufenden, falls sich sein Zustand irgendwie verändert." "Das werde ich tun. " Dr. Obman eilte hinüber in den Hochsicherheitstrakt. Hier hatte man inzwischen festgestellt, dass einer der Insassen verschwunden war: George Bentley. Ausgerechnet er, dachte Dr. Obman düster. Bei ihm hatte er schon seit jeher ein ungutes Gefühl gehabt. "Wie konnte er aus seiner Zelle entkommen?" fragte einen der Techniker, die gerufen worden waren. Sie hatten den Stromausfall, der die gesamte Nacht angedauert hatte, mittlerweile behoben. Das ganze Gebäude hatte wieder Licht. "Sie werden es kaum glauben", antwortete der Mann. "Aber er scheint auf einen Ausfall wie diesen nur gewartet zu haben. Er -240-
hat aus dem Innenleben seiner Fernbedienung eine Apparatur konstruiert, mit der er die Spannung beim versuchten Start der Notstromaggregate dazu genutzt hat, die elektronischen Schlösser an den Türen seiner Zelle zu zerstören. " "Wie bitte? Was hat er getan? " "Sie haben sich nicht verhört. Genauso ist es. Wenn Sie mich fragen, äußerst genial. " Dr. Obman waren die technischen Details der Flucht wesentlich weniger wichtig als die Tatsache, dass die zuständige Arztin der Nachschicht ebenfalls spurlos verschwunden war. Er verspürte ein schlechtes Gewissen dabei, dass er sie gestern Abend noch persönlich gebeten hatte, die Nachschicht zu übernehmen - und das alleine. Ob es unter einer erfahreneren Ärztin oder bei einem Doppelteam ebenfalls zu solch einem Desaster gekommen wäre? Doch jetzt war es für derartige Gedanken zu spät und auch Selbstvorwürfe brachten ihn kein bisschen weiter. Nachfragen beim Wachpersonal hatten mittlerweile ergeben, dass Dr. Wyss das Außentor mitten in der Nacht mit dem Wagen eines Kollegen passiert hatte. Dort hatte man nicht gewusst, dass sie kurzfristig zur Nachtschicht eingeteilt worden war, sonst wäre man darüber sicher beunruhigt gewesen. Dr. Obman brauchte nicht lange, um sich zusammenzureimen, was geschehen war. George Bentley hatte die Arztin als Geisel genommen und sie entführt. Der Institutsleiter atmete tief durch. Es blieb zu hoffen, dass Bentley sie tatsächlich als Geisel genommen hatte. Denn das hätte garantiert, dass sie noch immer am Leben war. Wenn er sie hingegen nur benutzt hatte, um mit ihrer Hilfe das Klinikgelände zu verlassen, dann konnte sie jetzt womöglich schon tot sein. Und Dr. Obman mochte erst gar nicht daran denken, wie schrecklich Bentley seine früheren Opfer zugerichtet hatte. Kurz darauf traf Scotland Yard ein und schnellstmöglich -241-
wurde eine landesweite Fahndung eingeleitet. Auch die Fernsehsender und Rundfunkstationen wurden informiert, damit sie die Öffentlichkeit vor dem entflohenen gemeingefährlichen Geisteskranken warnen konnten. "Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um Ihnen Ihre Kollegin gesund wiederzubringen", sagte Inspektor Hennessy von Scotland Yard. Er war der leitende Beamte. "Haben Sie vielleicht irgendwelche Hinweise, wohin Bentley sich wenden könnte?" Der Institutsleiter schüttelte den Kopf. "Leider nein. So ein Psychopath ist unberechenbar. Es lässt sich nicht voraussehen, was er machen wird." "Es war auch nur so ein Gedanke." Der Kommissar wandte sich zum Aufbruch. "Gut, dann mache ich weiter mit meiner Arbeit." "Warten Sie!" rief Dr. Obman. "Mir ist da gerade doch noch etwas eingefallen. " "Und was?" "George Bentley hatte irgendeine besondere Beziehung zu einem schottischen Schloss. Irgendwo ganz oben im Norden an der Küste. Ich habe keine Ahnung, warum. Aber er hat immer wieder geäußert, dass er dort alle umbringen wolle." "Und das nennen Sie keinen Hinweis?" "Wie gesagt, Bradley ist vollkommen unberechenbar. Das muss nichts zu sagen haben. Aber ich kann Ihnen die Adresse von dem Schloss heraussuchen. Sie müsste sich in den Akten befinden. " "Tun Sie das! Ich denke, wir müssen die Bewohner des Schlosses umgehend warnen. Und auch die örtliche Polizei verständigen. " "Warten Sie eine Minute", sagte Dr. Obman. "Ich lasse die -242-
Akten gleich holen. " Der Tag, an dem die Abenteurer aufbrachen, war wesentlich freundlicher als derjenige, an dem Valerie und Barnington auf Oake Dun angekommen waren. Zwar herrschte noch immer alles andere als Sonnenschein im Gegenteil, dicke, dunkle Wolken eilten über den Himmel und die Temperaturen erreichten kaum fünfzehn Grad -, aber immerhin regnete es nicht mehr. Und das war in diesen nördlichen Breiten auch schon etwas. Sutherland, Pierre und Gudrun trafen sich mit ihrem leichten Handgepäck im Eingangsbereich des Schlosses, als Elwood wieder auf Oake Dun eintraf. Er hatte zuvor gerade Connor, Valerie, Tom und Barnington nach Glasgow gebracht, die früher nach London fliegen mussten, um rechtzeitig ihre Anschlussflüge nach Fernost zu erreichen. Mit den Flugverbindungen nach New York und Frankreich sah es hingegen wesentlich besser aus. Daher hatte Sutherland beschlossen, dass Elwood sie mit zwei Fahrten hintereinander dorthin bringen sollte. Jedem anderen hätte er nach der ersten wohl erst einmal eine Pause gegönnt. Aber er wusste, dass Elwood dergleichen nicht nötig hatte. Der Mann in Schwarz hätte die Strecke auch wochenlang ununterbrochen fahren können, ohne dabei irgendwelche Erholung zu benötigen. Elwood verstaute das Gepäck im Wagen. Gudrun und Pierre stiegen ein. "Also dann, machen Sie's gut, Mortimer", verabschiedete sich der Schlossherr von seinem Diener. Irgendwie hatte er ein leicht ungutes Gefühl dabei, ihn hier ohne Connor zurückzulassen, der normalerweise ein Auge auf alles hatte. "Und passen Sie gut aufs Schloss auf! " "Werde ich tun, Sir, keine Bange", ve rsicherte Mortimer. Er hob vorsichtig die Hand. "Ach ja und was die Renovierung angeht..." -243-
"Bitte, Mortimer, nicht schon wieder", stöhnte Sutherland. "Ich dachte da wäre alles geklärt." "Ja, das schon, aber..." "Na bitte! Dann halten Sie sich auch daran. " "Gut. Aber bitte machen Sie mich dann bitte nicht dafür verantwortlich, dass..." Der Diener wurde unterbrochen, als drinnen das Telefon läutete. Verunsichert blickte er hin und her, als könne er sich nicht entscheiden, was er tun sollte: sich darum kümmern oder seinen Gedanken weiter verfolgen. "Nun gehen Sie schon rein und nehmen ab", sagte Sutherland, froh der Situation entkommen zu sein. Manchmal konnte sein Hausdiener schon recht lästig sein. "Wir sehen uns dann in ein paar Tagen wieder." "Ja, aber..." Mortimer ruderte hilflos mit seinen dürren Armen in der Luft herum. "Wenn es nun für Sie ist und..." "Dann sagen Sie einfach, dass ich mich schnellstmöglich um alles kümmern werde", erwiderte Sutherland. "Und vergessen Sie nicht zu neueren, um was es dabei geht. So und nun los, sonst legt der Anrufer wieder auf. " Zögernd ging Mortimer ins Schloss zurück. Sutherland stieg in den Wagen und gab Elwood das Zeichen, rasch loszufahren, ehe Mortimer auf die Idee kam, ihn mit anderen Dingen zu belästigen. Aber Mortimer dachte gar nicht daran. Im Schloss nahm er derweil den Anruf entgegen und erwiderte pflichtgemäß, was lan Sutherland ihm aufgetragen hatte. "Ja, ich habe schon verstanden, wer Sie sind!" rief er pikiert in den Hörer. "Inspektor Hennessy von Scotland Yard. Ja, natürlich weiß ich, was das ist. Nein, Sie können Sir lan nicht sprechen. Er ist unterwegs und nicht erreichbar. Aber ich kann notieren... Was, wie bitte? Aber ja, natürlich, ich werde ihn sofort unterrichten, sobald er wieder zurück ist. Und wenn Sie -244-
nun bitte... Warten Sie, ich habe sofort etwas zum Schreiben. So, jetzt! Was sagten Sie? Ein gemeingefährlicher Irrer, er ist ausgebrochen und Sie befürchten, dass er jetzt nach Oake Dun käme, um hier alle umzubringen. Ja, das habe ich verstanden. Warten Sie, gleich habe ich's." Er buchstabierte laut vor sich her. "Alle umbringen. Ja, das habe ich. Sonst noch etwas? Sie benachrichtigen, sobald etwas Ungewöhnliches vorfällt? Aber klar, das schreibe ich mit dazu. " Mortimer kritzelte angestrengt auf das Stück Papier, das er vor sich hatte. "Wie bitte?" rief er dann empört in den Hörer. "Ob ich mir über den Ernst der Lage im Klaren bin? Aber sicher! Was denken Sie denn? " Wieder eine kurze Pause. "Ja, doch!" rief Mortimer. "Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich werde Sir lan unterrichten, sobald er wieder da ist. Ja, wenn Sie das wünschen, richte ich ihm auch aus, dass er sich dann umgehend bei Ihnen meldet. Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, wie Sie sich sicher denken können, habe ich hier noch eine Reihe anderer Pflichten zu erledigen. " Die Verbindung wurde beendet. Mortimer legte kopfschüttelnd auf. Also, manche Leute schienen ihn ja regelrecht für blöd zu halten. Als ob er nicht ganz genau verstanden hätte, worum es hier ging! Und er würde Sir lan nach seiner Rückkehr ganz sicherlich sofort darüber informieren! Grummelnd zog er sich vom Telefon zurück, um seinen anderen Pflichten nachzugehen. Was dachte man eigentlich von ihm? Er war ja schließlich nicht senil. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als George Bentley aus dem Waldstück zurück an den Rand der Landstraße kam, die -245-
dort mitten hindurchführte. Der kleine Waldweg, der an dieser Stelle einmündete, war von der Straße aus kaum zu entdecken, so überwachsen war er. Gerade deshalb war er für Bentley so hervorragend geeignet gewesen - ebenso wie die verlassene Hütte am anderen Ende des Waldweges, direkt neben einem kleinen See. Wem immer sie gehörte, er war dort bestimmt schon seit Jahren nicht mehr gewesen. Davon hatte die dicke, unberührte Staubschicht, die sich überall befunden hatte, mehr als deutlich gezeugt. Bentley hatte in einem Holzschrank sogar ein paar Kleidungsstücke gefunden, gegen die er seine Anstaltskleidung getauscht hatte: ein alter dunkler Anzug, der zwar etwas muffig und schon seit Jahren aus der Mode war, aber dafür in etwa seine Größe hatte. Benüey duckte sich schnell hinter ein paar Sträucher, als sich ein Wagen näherte und erhob sich erst wieder, nachdem dieser an seiner Deckung vorbeigefahren war. Er rechnete damit, dass die Fahndung nach ihm mittlerweile längst ausgelöst war. Deshalb hatte er sich auch des Kleinwagens und der Ärztin entledigt. Beide wären nur ein verräterischer Ballast gewesen. Der Wagen lag nun auf dem Grund des kleines Sees - und in der Hütte die Ärztin. Bentley verzog angewidert das Gesicht, als er daran dachte, wie sehr sie geschrieen hatte, obwohl er ihr doch immer wieder versichert hatte, dass er ihr überhaupt nicht wehtun wollte. Und dass es überhaupt vollkommen sinnlos wäre zu schreien, weil es hier ohnehin niemanden gäbe, der sie hören könnte. Trotzdem hatte sie geschrieen und geschrieen - so laut, dass es ihm jetzt noch unangenehm in den Ohren klang. Was konnte er dafür, dass er sie zum Verstummen hatte bringen müssen? Das hatte sie sich ganz allein eingehandelt. Warum hatte sie nicht auf ihn gehört? Als er daran dachte, was er getan hatte, blickte er auf das frische Blut an seinen Händen. Er hätte sie sich besser an dem -246-
See waschen sollen. Immerhin, dachte er beruhigt, war es nicht sein eigenes Blut. Das hatte er noch nie sehen können, ohne dass ihm dabei schummrig geworden wäre. Er holte das Versäumte nach, indem er die Hände mit Grasbüscheln reinigte, die vom Unwetter der Nacht noch nass waren. Und als er sicher war, dass man ihm nichts mehr ansehen konnte, machte er sich zu Fuß auf in die nächste Ortschaft. Er wollte erst einige Distanz zwischen sich und diesen Ort legen, ehe er sich ein neues Fahrzeug verschaffte. Und dann - in seinem Gesicht und seinen Augen leuchtete es voller Vorfreude, als er sich das vorstellte - würde er das tun, wonach ihm seit Jahren gelüstete. Natürlich wusste er, dass er dabei äußerst vorsichtig zu Werke gehen musste. Seine Verfolger würden eine solche Möglichkeit sicherlich erwägen. Aber trotzdem jetzt, da er so viel des Weges bereits geschafft hatte, würde ihn nichts und niemand mehr aufhalten können. George Bentleys Gesicht wurde zu einer grimmigen Grimasse. Ja, er würde Oake Dun von jeglichem Gesindel und Leben befreien, das sich dort aufhielt!
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10. Kapitel Happy Birthday, Tante! Am frühen Abend ereichten Gudrun Heber und Pierre Leroy das Anwesen von Pierres Tante. Nach ihrer Ankunft auf dem Flughafen Paris-Orly waren sie mit der Bahn weiter nach Chablis gereist und vom dortigen Bahnhof hatte sie ein Taxi hinaus zu dem ländlichen Anwesen gebracht. Pierre hatte in Chablis eigentlich einen Mietwagen nehmen wollen, aber ihr Zug hatte Verspätung gehabt und so waren nach ihrer Ankunft sämtliche Verleihfirmen bereits geschlossen gewesen. "Was soll's?" hatte Gudrun ge meint. "Wir sind hier, um ein paar geruhsame Tage bei deiner Tante zu verbringen und nicht, um wild in der Gegend herumzufahren." Pierre war nichts anderes übriggeblieben, als sich ihrer Meinung anzuschließen, "Hier wohnt deine Tante?" Gudrun sah sich erstaunt um, nachdem das Taxi sie an der Pforte zu einem weitläufigen ländlichen Anwesen inmitten ausgedehnter Weinberge abgesetzt hatte. Pierre entlohnte den Fahrer mit einem ordentlichen Trinkgeld und einem Scherz, den wohl nur Franzosen verstanden. Danach blickte er sich ebenfalls um, mit einem Schuss Heimatgefühl im Blick. "Ja. Wieso fragst du? " "Nun..." Sie zuckte die Achseln. "Ich hatte mir das Ganze, ehrlich gesagt, eine Nummer kleiner vorgestellt." "Wirklich? Mon Dieu! Hatte ich vergessen zu erwähnen, dass meiner Tante ein vergleichsweise kleines, aber durchaus angesehenes Weingut in der Champagne gehört?" "Wie bitte?" Gudrun machte eine allumfassende Geste. "Das hier nennst du klein? Der Taxifahrer sagte, dass alles ringsumher zu dem Gut gehört!" Pierre Leroy blieb unbeeindruckt. "Gudrun, mit allem Respekt -248-
- das kommt dir nur so vor, weil du noch nie ein wirklich großes Weingut gesehen hast." Er zwinkerte ihr zu. "Glaub mir, ich als Franzose kann das beurteilen. " "Ach ja, du Weinkenner", ging sie auf seinen Tonfall ein und fügte in Anspielung auf seinen Lieblingscocktail hinzu: "Dann zeig mir doch mal, wo hier die Sexy 6-Traube wächst!" Er lachte. "Komm, meine Tante wartet bestimmt schon. " Sie nahmen ihr weniges Gepäck und gingen zum Haupthaus des Anwesens. Gudrun merkte, wie sehr sie seit den letzten Stunden das Zusammensein mit Pierre genoss. Natürlich konnte er es sich - gerade als Franzose - nicht verkneifen, die eine oder andere anzügliche Bemerkung fallen zu lassen oder zu versuchen, mit ihr zu flirten, doch Gudrun war das keineswegs unangenehm. Ganz im Gegensatz zu manchen Anwandlungen Toms. bei denen er sich ihr gegenüber so grobschlächtig und trampelnd wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen benahm. Gut, im Vergleich dazu war ihr der Franzose manchmal etwas zu charmant, aber sie empfand das als locker und entspannend. Pierre Leroys Tante mochte morgen ihren hundertsten Geburtstag feiern, aber sie ließ es sich nicht nehmen, ihren Neffen höchstpersönlich an der Tür zu begrüßen. Gudrun war erstaunt, wie rüstig die alte grauhaarige Dame trotz ihres fast schon biblisch zu nennenden Alters noch war. In ihrer Begleitung waren ein paar freute, die ein sorgsames Auge auf sie hatten und sie stützten, aber sie war kräftig genug, um aus eigener Kraft zu "Pierre zu gehen und ihn zu umarmen. "Pierre! Wie schön, dass du hier bist. Ich dachte schon, ich würde dich gar nicht mehr sehen. " "Tante... ächz... Adele", antwortete er halberstickt. Trotz des fortgeschrittenen Alters und der dürren Ärmchen schien die Umarmung kräftig genug zu sein, um ihm den Atem zu rauben. "Ich... äh... freue mich auch. " -249-
Seine Tante trat einen Schritt zurück und nahm ihn blinzelnd mit ihren altersschwachen Augen in Augenschein. "Mein Gott, wie groß du geworden bist, seitdem Wir uns das letzte Mal gesehen haben. " , Pierre verdrehte die Augen. "Ich bitte dich! Das kann Überhaupt nicht sein. " "Was ist fein? " "Tante!" rief er laut. "Ich bin jetzt über dreißig Jahre alt. Und wir haben uns vor acht Jahren das letzte Mal gesehen. Es kann also gar nicht sein, dass ich seitdem gewachsen bin! Ich bin und bleibe so groß oder klein, Wie ich bin. Glaub mir, damit habe ich mich abgefunden. " Sie schüttelte den Kopf. "Ach was! Ich kenne dich noch, da warst du..." Sie dachte kurz nach und deutete mit der Hand fahrig in Höhe ihres Oberschenkels umher, "...so klein. " "Ja, Tante, sicherlich", stimmte Pierre zu und warf Gudrun einen entschuldigenden Blick zu. Tanten! Noch dazu hundertjährige! Gudrun lächelte nachsichtig. Ja, sie verstand ihn sehr gut Es war doch immer dasselbe mit Tanten! In ihrer Jugend hatte sie ähnliche unliebsame Erfahrungen gemacht. "Und so klein wirst du für mich immer bleiben", fügte Tante Adele glückselig hinzu. Pierre Leroy verzog leicht gequält das Gesicht. Ja, genau das hatte er befürchtet! Tante Adele entdeckte Gudrun und verzog vor Verzücken ihr faltiges Gesicht. "Da ist ja der Besuch, den du mitbringen wolltest. Und wie entzückend sie aussieht! Dass ich das noch miterleben darf!" "Äh?" Irritiert fragte er nach: "Dass du was noch miterleben darfst?" Sie seufzte. "Ach, Junge, nun tu nicht so unschuldig! Mir -250-
kannst du nichts vormachen! " "Vormachen - ich?" Tante Adele machte ein verständnisloses Gesicht und reckte den Hals vor. "Wie bitte? Du musst schon etwas lauter sprechen. In meinem Alter sind die Ohren nicht mehr ganz so gut." "Nun, ich..." "Na ja, auch nicht so wichtig", meinte Tante Adele. "Hauptsache, du hast endlich jemanden gefunden. Ich dachte schon, du würdest auf immer und ewig alleine bleiben. Kein Wunder, dass du bei deinem unsteten Leben nie eine Frau gefunden hast, die es lange an deiner Seite ausgehalten hat." Gudrun meinte zu sehen, wie Pierre leicht rot anlief. So hatte er sich das Wiedersehen bestimmt nicht vorgestellt. Sie musste insgeheim schmunzeln. Was bestimmte Dinge anging, schien Tante Adele darin so dezent wie wohl nahezu alle Tanten rund um den Erdball zu sein. "Na danke", kam es leise über Pierres Lippen. "Aber nun ist das ja anders. Du hast endlich jemanden gefunden." Sie nahm Gudrun genauer in Augensche in. "Und dann gleich jemand so Apartes! Ach, ich freue mich ja so sehr für dich! Wie lange hast du darauf gewartet?" Er kniff die Lippen zusammen. "Nun, wenn ich ehrlich sein soll, ist das gar nicht meine..." "Das ist wirklich das allerschönste Geburtstaggeschenk, das du mir machen konntest!" rief Tante Adele glücklich. Sie strahlte über beide Wangen. "Was ist, Pierre, willst du mir deine Zukünftige nicht vorstellen? " Pierre Leroy warf Gudrun einen Blick zu, in dem all seine Qualen geschrieben standen. "Mein Name ist Gudrun", kam sie ihm zu Hilfe, indem sie sich mit lauter Stimme selbst vorstellte. "Es freut mich, Sie kennen zu lernen. Wissen Sie, Pierre hat ja schon so viel von -251-
Ihnen erzählt!" Er blickte Gudrun konsterniert an. Habe ich? formulierte sein Mund lautlos. "Wirklich?" Tante Adele blickte glücklich drein. "Ja, so ist er, mein kleiner Pierre!" Sie ergriff die Hände der Deutschen und drückte sie. "Gudrun, also! Seien Sie willkommen!" "Es ist schön, zu Ihrem Ehrentag hier sein zu dürfen! " "Mein Ehrentag? Ach, was habe ich denn schon dazu beigetragen? Ich bin einfach nur Morgen für Morgen aufgestanden." Die Alte sah Gudrun an und in ihren alterstrüben Augen blitzte es ebenso fröhlich wie weise auf. Sie deutete mit ihren dürren Ärmchen zum Abendhimmel hinauf. "Der einzige, der dafür verantwortlich ist, dass ich noch hier bin, sitzt da oben." Gudrun nickte zustimmend. "Und nun steht hier nicht länger herum, sondern kommt endlich herein!" Tante Adele deutete zum Landhaus. "Ich habe euch bereits ein Gästezimmer herrichten lassen. Da könnt ihr erst einmal euer Gepäck hinbringen und euch etwas frisch machen. " "Ein Zimmer?" fragte Pierre. "Ja, du ahnst gar nicht, wie viele Besucher gekommen sind! Was für ein Trubel! Ich habe heute ein anderes Gästepaar extra noch in ein Gästehaus ausquartieren lassen, um euch überhaupt hier unterbringen zu können. " Pierre sah ein, dass sie keine andere Wahl hatten. "Also schön. " "Gut, dann sehen wir uns nachher zum Abendessen. " Einer der Begleiter von Tante Adele führte sie durch das Anwesen zu ihrem Zimmer. "Ich hoffe, das mit dem einen Zimmer ist kein Problem für dich?" erkundigte Pierre sich leise. -252-
Gudrun lächelte ihn an. Welche Sorgen er hatte! Als ob sie sich so wenig kennen würden! "Warum sollte es?" "Nun, weil wir noch nie zusammen... ich meine in einem Zimmer..." "Na und? Wir beide sind doch erwachsene Leute, oder?" Sie hatten das Zimmer erreicht. "Das Abendessen ist um neun Uhr", verabschiedete sich ihr Führer. "Unten im großen Speisesaal. Sie werden keine Probleme haben, ihn zu finden. Folgen Sie einfach allen anderen Leuten, die nachher dorthin unterwegs sind." Damit ließ er sie allein. Gudrun und Pierre betraten das Zimmer, stellten ihre Koffer ab und schauten sich um. Es war ein kleines gemütliches Gästezimmer, aus dessen Fenster man einen prächtigen Überblick über weite Teile des Landguts hatte. Es war ein Anblick wie eigens für ein Postkartenmotiv gemacht. Ihr beider Blick wanderte zu dem kleinen Doppelbett, das inmitten des Zimmers stand - dann sahen sie sich an. Leroy verzog unglücklich das Gesicht. Gudrun hob die Schultern. "Wie gesagt, wir beide sind erwachsene Leute." Pierre öffnete seinen Mund. "Jetzt komm nicht auf die Idee anzubieten, dass du auf dem Sofa schläfst", fuhr sie fort. "Erstens gibt es hier kein Sofa, also bliebe nur der Fußboden..." Pierre schloss seinen Mund wieder. "Und zweitens kann man auch gemeinsam in einem Bett schlafen, ohne miteinander..." Leroy nickte zustimmend, ehe sie weitersprechen konnte. -253-
"Das heißt", fügte Gudrun schnell hinzu, "nur wenn du es schaffst, den Franzosen in dir ausnahmsweise ein paar Nächte lang ruhen zu lassen. " Pierre Leroy verneigte sich galant. "Isch werdäh esch versuchen!" säuselte er mit übertriebenem französischem Akzent. Das Abendessen fand in einem großen Festsaal statt. Es waren gut hundert Gäste anwesend und das war nur ein Vorgeschmack auf das, was die morgige, eigentliche Geburtstagsfeier bringen würde. Pierre und Gudrun hatten unweit der Jubilarin ihren Platz erhalten, aber diese wurde von den anderen Gästen viel zu sehr in Anspruch genommen, als dass einer von ihnen beiden versucht hätte, mit ihr näher ins Gespräch zu kommen. Außerdem sah man ihr die Anstrengungen des langen Tages allmählich an. Tante Adele wurde müde und gähnte gänzlich ungeniert. Einen solc hen Trubel hatte sie sicherlich schon lange nicht mehr mitgemacht. So nahm es ihr niemand übel, dass sie sich alsbald in ihr Schlafgemach verzog und die Gäste alleine weiterfeiern ließ. Später am Abend hatten Pierre und Gudrun die Muße, auf der Veranda zusammenzusitzen, wo sie das Zirpen der Grillen, die laue Sommernacht und einen Cidre genossen. Eine Weile - fast eine halbe Stunde lang - hing jeder von ihnen nur seinen eigenen Gedanken nach und sie waren froh, nicht von den anderen Gästen behelligt zu werden. "Und?" fragte Pierre irgendwann. "Wie fühlst du dich? " Gudrun überlegte einen Moment. "Entspannt." "Also bereust du es nicht, mitgekommen zu sein?" Sie schüttelte den Kopf und sah den Franzosen dankbar an. "Nein, keineswegs. Es ist traumhaft hier, eine wahre Idylle und deine Tante ist wirklich allerliebst." "Meine Tante..." Ein leichter Schatten flog über sein Gesicht. -254-
"Ja, das ist sie wirklich. Bis auf die Tatsache, dass sie uns beide... ich meine, dich und mich..." "Ich weiß", beruhigte sie ihn. "Aber so sind Tanten nun einmal." Sie reckte sich wohlig. Die sanfte Abendluft und ihr voller Magen waren einfach zu einschmeichelnd. "Was ist, Pierre, noch einen letzten Cidre und dann gute Nacht?" Er nickte zustimmend. "Ich möchte morgen außerdem früh aufstehen, um in Chablis noch ein passendes Geburtstagsgeschenk für deine Tante zu besorgen", fügte sie hinzu. "Ich hoffe, mit deiner fachkundigen Beratung wird mir das gelingen. " "Ich dachte, du hättest schon eines." "Wie kommst du darauf?" "Na ja." Pierre machte eine vage Handbewegung. "Tom erwähnte am letzten Abend auf Oake Dun so etwas." Gudrun zuckte zusammen. Ihre Miene verdüsterte sich leicht. "Ach, Tom!" machte sie. "Du weißt doch, dass er bisweilen ziemlich blödsinnige Scherze macht!" Pierre runzelte die Stirn. Wusste er das? "Wie du meinst", sagte er ausweichend und erhob sich. "Ich gehe dann mal unseren letzten Cidre besorgen..." Die Geburtstagsfeier war ein halbes Volksfest. Mehrere hundert Gäste hatten sich auf dem Landgut eingefunden - und im Mittelpunkt stand natürlich die Jubilarin selbst. Unter den Gästen waren auch der Bürgermeister der nächstgelegenen Gemeinde sowie irgendein Minister, der in Begleitung eines umfangreichen Fernsehteams eigens aus Paris herbeigereist kam, um Tante Adele möglichst telegen einen Scheck über 3000 Franc zu überreichen und danach ebenso schnell wieder abzureisen. Dafür nahmen die Mitglieder des Fernsehteams die Einladung an, noch für ein paar Stunden zu bleiben. Der Beitrag war ohnehin erst für ein Seniorenmagazin am kommenden -255-
Wochenende geplant. Sehr populär schien der Minister demnach nicht zu sein. Gudrun Heber und Pierre Leroy hielten sich die gesamte offizielle Veranstaltung über im Hintergrund. Ein paar Mal wurden sie von anderen Gästen in belanglose Gespräche verwickelt meist darüber, wer man war, woher man kam und wie es einem hier gefiel -, konnten sich aber recht schnell wieder daraus lösen. "Bei der Gelegenheit", meinte Gudrun. "Ich hatte eigentlich gehofft, bei der Feier ein paar mehr Angehörige deiner Familie kennen zu lernen. Aber außer dir und deiner Tante scheint es hier niemanden zu geben. " Pierre nickte. "Das ist richtig. Sie ist meine ein/ige Tante, die noch lebt. Auch meine Eltern sind schon seit langem tot. Es gibt noch ein paar entfernte, weitläufige Verwandte, die hier sicherlich irgendwo herumlaufen, aber zu ihnen habe ich noch nie Kontakt gehabt. Und alle anderen hat Tante Adele mittlerweile längst überlebt." "Das ist bestimmt schwer für sie, so ganz ohne Familie auszukommen. Ich kann verstehen, warum sie sich über deinen Besuch so sehr gefreut hat." "Ach, so schwer ist das nicht. Tante Adele hat hier auf diesem Landgut längst eine große eigene Familie gefunden." Pierre machte eine allumfassende Geste. "Sieh dir all die Leute an! Die meisten von ihnen kennt sie seit deren Geburt. Sie alle kommen aus der Umgebung oder sind Angehörige ihrer Bediensteten. " Gudrun nickte zusümmend. Ja, man merkte, wie beliebt und geschätzt die alte Dame allerseits war. Und es war bewundernswert, mit welcher Ausdauer sie die unzähligen Glückwünsche und Geschenke annahm und für jeden ein offenes Lächeln übrig hatte. Gudrun wünschte sich, in diesem hohen Alter auch noch so rüstig zu sein. "Und was ist mit dir?" fragte sie. "Wie meinst du das?" -256-
"Sehnst du dich manchmal nicht auch nach einer Familie?" Pierres Miene wurde ernst. Er ließ sich mit der Antwortein paar Augenblicke Zeit. "Vielleicht", sagte er dann vage. "Aber man kann im Leben eben nicht alles haben. Nein, ich glaube, ich bin ganz zufrieden so." "Ganz zufrieden? Das ist aber alles andere als glücklich. " "Welcher Mensch ist schon dauerhaft glücklich? Aber zufrieden ist doch schon weitaus mehr als unglücklich. Außerdem hat Tante Adele in diesem Punkt vermutlich recht. Wie sollte ich bei meinem unsteten Leben einen Partner finden, der mit mir eine Familie aufbauen will?" Und nach einer Pause fügte er hinzu: "Ich denke, dieses Problem ist uns allen bei A.I.M. nicht fremd." Gudrun schwieg nachdenklich. Später am Nachmittag - die Abenddämmerung kündigte sich bereits an und ein Teil der Gäste hatte sich daran gemacht, den Heimweg anzutreten - tauchte Tante Adele plötzlich bei ihnen auf und zupfte Pierre aufgeregt am Arm. "Komm mit, Pierre", sagte sie. "Ich möchte dir jemanden vorstellen. " "Wen? " "Das wirst du gleich sehen, wenn du mitkommst." Sie schaute zu Gudrun und lächelte. "Sie dürfen natürlich auch mitkommen, wenn Sie möchten. " Sie schlossen sich ihr notgedrungen an. Durch die Menschenmenge führte Tante Adele sie zielstrebig zu einem Priester in einer schwarzen Soutane. Er war bestimmt schon weit über siebzig Jahre alt, hatte ein gutmütiges, faltiges Gesicht und sah Pierre und Gudrun freundlich entgegen. "Pierre!" rief Tante Adele. "Erinnerst du dich noch an Pater Armand?" -257-
Pierre Leroy kramte in seiner Erinnerung. Vergeblich. Er schüttelte den Kopf. "Nein, tut mir leid." "Aber, Pierre!" tadelte Tante Adele. "Du musst dich doch noch an Pater Armand erinnern. Er hat früher in der Nachbargemeinde Dienst getan. Ich weiß noch genau, dass er dich gefunden hat, als du dir damals beim Herumspielen auf den Feldern den Knöchel gebrochen hattest und nicht mehr..." "Tante!" rief Pierre. "Beim besten Willen! Damals war ich gerade mal sechs oder sieben Jahre alt." "Mindestens acht", beharrte sie. Pierre presste die Lippen zusammen. Gut, wenn ihr Gedächtnis so gut war. Seines war es nicht. Der Pater nahm es Pierre nicht übel, dass er ihn nicht wiedererkannte. "Ist eine lange Zeit seit damals ins Land gegangen. Ich habe schon vor vielen Jahren eine andere Stellung angetreten und bin im Süden Frankreichs tätig. " "Um so mehr freue ich mich, dass Sie es einrichten konnten zu kommen, Pater", sagte Tante Adele und strahlte ihn an. Ein paar andere Gäste kamen zu ihr. "Entschuldigt mich bitte einen Moment. Ich bin gleich wieder zurück. Wenn ihr euch solange alleine unterhalten könntet." Worüber? dachte Pierre. Er und Gudrun blieben mit dem Pater zurück. "Dafür erinnere ich mich noch recht gut an Sie", sagte der Pater. "Sie waren damals öfter bei Ihrer Tante zu Besuch. Und im Klettern, Herumtollen und Rennen waren Sie damals der Beste von allen in Ihrem Alter. Und wenn ich mich recht erinnere, auch der Beliebteste bei den jungen Mädchen. " Sieh an! dachte Gudrun. Pierres Talente schienen sich schon früh abgezeichnet zu haben! "Und Sie waren jemand, der unbedingt alles wissen wollte", fügte der Priester hinzu. "Ich erinnere mich, dass niemand seine -258-
ganze Umwelt mit mehr Fragen gelöchert hat." Pierre Leroy hob verlegen die Schultern. "Nun ja", meinte er. Was sollte er daraufhin schon sagen? Für ihn waren das längst vergangene und vergessene Kindheitsgeschichten. Offenbar schienen alte Leute ein Faible dafür zu haben, solche Dinge immer wieder aufzuwärmen. Ihm hingegen war es eher peinlich. Der Priester schien das zu spüren. "Aber ich will Sie nicht aufhalten, wenn Sie sich noch anderweitig amüsieren wollen. " "Ja, danke", meinte Pierre. Er stieß Gudrun unauffällig an. "In der Tat, das hatten wir gerade vor." Pater Armand nickte. "Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß. Vielleicht ergibt sich ja ein andermal die Gele genheit, ein bisschen intensiver zu plaudern. " "Ja, vielleicht." Pierre konnte sich Besseres vorstellen, als mit einem greisen Pater über seine Kindheitserlebnisse sprechen. "Tante Adele hat mir erzählt, dass Sie heute noch an heimnissen interessiert sind." "Ach ja", seufzte Pierre. "Meine liebe Tante. Einen schönen Tag dann noch. War schön, Sie getroffen zu haben. " Damit ließen den Priester zurück und mischten sich wieder unter die anderen Gäste. "Du scheinst kein gesteigertes Interesse an Tante Adeles besonders lieben Gästen zu haben", meinte Gudrun. "Ihre Gäste in allen Ehren, aber ich mag es nicht, mir anzuhören, was ich mit sechs oder sieben Jahren für Kindereien gemacht habe." "Mit acht!" korrigierte sie ihn lächeln. Er sah sie irritiert an. "Wie bitte?" Gudrun schmunzelte. "Tante Adele meinte, du wärst damals mindestens acht Jahre alt gewesen. Und außerdem, was hast du gegen Kindheitsgeschichten? Ist doch ganz amüsant, so etwas zu hören." -259-
Pierre machte ein gequältes Gesicht, in dem geschrieben stand: So etwas können wohl nur Frauen denken! "Lass uns lieber noch etwas das Fest genießen", schlug er vor. Gudrun tat ihm den Gefallen. Einen Tag später war wieder vergleichsweise Ruhe auf dem Landgut eingekehrt. Auch ein Großteil derjenigen Gäste, die für ein paar Tage hier untergekommen waren und übernachtet hatten, waren im Laufe des Tages wieder abgereist. Tante Adele hatte sich von jedem einzelnen von ihnen persönlich verabschiedet. Angesichts des Pensums, das sie leistete, fragte Pierre Leroy sich, ob er sich wirklich eine Familie wünschte. Aber andererseits schien es zumindest auf sie wie ein Jungbrunnen zu wirken. Früher gab es Zeiten, in denen er sie besucht hatte, als sie ihm wesentlich gebrechlicher erschienen war. Oder lag das nur daran, dass auch er im Laufe der Zeit älter geworden war und sich sein Blickwinkel verändert hatte? "Ich glaube, für uns beide wird es auch bald Zeit abzureisen!" meinte Pierre, als seine Tante an ihnen vorbeikam. Gudrun sah ihn überrascht an. Darüber hatten sie noch gar nicht gesprochen. Auch Tante Adele schien regelrecht entsetzt zu sein. "Aber, Junge!" rief sie. "Das kannst du doch nicht machen! Bislang haben wir kaum ein paar Minuten für uns gehabt. Und ich würde so gerne noch mit dir über die alten Zeiten plaudern. Denk nur daran, was du früher hier alles angestellt hast!" Pierre presste seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Ja, genau das hatte er befürchtet! "Wer weiß, wann du wieder Zeit hast, mich zu besuchen", fügte Tante Adele hinzu. "Und ob wir uns überhaupt noch einmal sehen. Nein, du musst unbedingt noch bleiben! " Pierre war hin und her gerissen. Ja, sie hatte ja recht. Bei -260-
ihrem fortgeschrittenen Alter war nicht mehr davon auszugehen, dass sie sich noch oft sehen würden. Wer wusste, wann und ob solch eine Gelegenheit wiederkehren würde? Tante Adeles Blick richtete sich auf Gudrun. "Versuchen Sie doch, ihn zu überreden!" Sie blinzelte ihr verschwörerisch zu. "Geben Sie ihm einfach einen dicken Kuss und sagen Sie ihm, dass er noch ein paar Tage Weihen muss. Oder hört er nicht auf Sie?" Gudrun lachte und sah den Franzosen spitzbübisch an. "Ich kann es ja mal probieren." Mit leicht gespitzten Lippen kam sie näher. "Also schön", meinte Pierre und hob abwehrend die Arme. "Noch eine Nacht. Wir beide können dann ja heute Abend noch ausführlich plaudern. " Tante Adele strahlte. "Oder vielleicht auch noch ein paar Nächte länger", fügte Gudrun hinzu. Pierre sah sie überrascht an. Tante Adele strahlte noch mehr. Sie tätschelte Gudruns Hand. "Wenigstens Sie verstehen mich. Pierre hat mit Ihnen wirklich einen guten Fang gemacht." Damit wandte sie sich wieder zum Haus, wo eine andere Gästegruppe aufbrechen wollte. "He!" meinte Pierre. "Wie kommst du dazu, einfach zu sagen, dass wir noch ein paar Nächte länger bleiben? Darüber haben wir überhaupt nicht gesprochen. " "Und wie kommst du dazu, einfach zu sagen, dass wir heute noch aufbrechen?" gab sie zurück. "Darüber haben wir auch nicht gesprochen! " Pierre stutzte kurz und breitete die Arme aus. "Ich dachte nicht, dass es dir hier länger gefallen würde." "Im Gegenteil, es gefällt mir hier sehr gut. Und da deine -261-
Tante offenbar nichts dagegen hat, wenn wir noch ein paar Tage länger bleiben... Warum nicht?" "Und die Arbeit? Auf Oake Dun wartet eine Menge davon. Und vielleicht hat Sir lan bereits neue Aufgaben für uns." Gudrun zuckte mit den Schultern. "Sir lan ist in New York und verantwortet sich vor irgendeinem Ausschuss. Außerdem weiß er, wo er uns erreichen kann, falls etwas Dringendes anliegen sollte. Und die anderen dürften gerade eben erst in Burma angekommen sein und ihre Weiterreise zur Ausgrabungsstelle organisieren. Ich wüsste nicht, wie wir ihnen da von Nutzen sein könnten. " Pierre sah Gudrun forschend an. Er war überrascht, wie vehement sie dafür eintrat, hier zu bleiben. Plötzlich hatte er das Gefühl, als wäre das, was sie gesagt hatte, nicht der einzige Grund dafür. "Und das ist alles?" fragte er. Gudrun zuckte leicht zusammen. Sie senkte ihren Blick. "Nein, da gibt es noch etwas", gab sie zu. "Ich... ich habe das Gefühl, dass wir hier auf etwas... Wichtiges stoßen werden. " "Wie bitte?" Er glaubte, sich verhört zu haben. "Hier bei meiner Tante?" Er hatte so laut gerufen, dass ein paar andere Gäste in der Nähe erstaunt zu ihm herübersahen. Er lächelte ihnen entschuldigend zu und wandte sich dann wieder an Gudrun. "Also, sag schon, wie kommst du darauf, dass wir hier auf irgend etwas stoßen? Ist das wieder so ein Gefühl von dir?" Gudrun wand sich und schien mit sich zu ringen. Dann gab sie sich einen Ruck. "Eigentlich ist es viel mehr als nur ein Gefühl. " Zwischen Pierres buschigen schwarzen Augenbrauen erschien eine tiefe Falte. "Ich verstehe beim besten Willen nicht, wovon -262-
zu redest." Sie hob den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. "Komm! Ich werde es dir zeigen. Ich denke, du hast ein Recht darauf." "Was zeigen? " 286 287 Gudrun blickte sich um. "Lass uns eine stille Ecke suchen, dann werde ich dir alles erklären. " In einem Gartenpavillon fanden sie einen ungestörten Platz. Sie nahmen auf den Bänken Platz und Pierre sah Gudrun erwartungsvoll an. "Und?" "Ich will es kurz machen." Gudrun zog einen weißen Briefumschlag aus ihrer Jackentasche und reichte ihn ihm. "Hier! Sieh selbst! Es ist sicherlich nicht das erste Mal, das du so einen Umschlag siehst." Pierre nahm ihn entgegen und betrachtete ihn kurz. "Eine Orakelbotschaft?" "Ja, eine von denen, die Mortimer damals auf Oake Dun deponiert hat. Ich habe sie vorgestern in meinem Zimmer gefunden. Sie hatte hinter einem Bilderrahmen gesteckt, bis sie dann zu Boden geflattert ist. Natürlich haargenau an dem Datum, das darauf verzeichnet ist." Pierre nickte düster. "Ja, das sieht dem Orakel ähnlich." Auch er hatte Vorbehalte gegen viele der geheimnisvollen Kräfte, mit denen sie es in letzter Zeit zu tun bekommen hatten. Das Orakel von Delphi gehörte zweifelsohne dazu. Aber immerhin schien dieses seltsame, lebendige Artefakt auf ihrer Seite zu stehen. "Dieser Umschlag ist also der Grund, warum du mit mir nach Frankreich gekommen bist?" Gudrun nickte. "Parbleu!" Pierre seufzte enttäuscht. "Und ich dachte schon, es wäre, weil du meine Anwesenheit so schätzt!" Es sollte ein Scherz sein. Doch Gudrun blieb ernst. "Ja, vermutlich wäre ich auch so -263-
mitgekommen. Ich war dicht davor. Und diese Nachricht hat dann den letzten Ausschlag gegeben. " "Was steht darin? " "Warum siehst du nicht selbst nach? " Pierre sah auf den Umschlag, als sei er unsicher, ob er das wirklich tun sollte. Jede Orakelbotschaft hatte bisher am Anfang bedeutsamer Entdeckungen gestanden. Vorsichtig öffnete er den Umschlag, holte das darin enthaltene Papier hervor und begann zu lesen. Wie üblich handelte es sich um eine vierzeilig abgefasste Botschaft: "Ein Ratgeber geht, ein anderer kommt. Finde seine Spur in Frankreich. Warte! Auf den Weg zur Steinernen Prophezeiung. Mit ihrem Anb lick fügt sich alles zusammen. " Pierre Leroy ließ die Botschaft sinken und hielt nachdenklich inne. Wie Gudrun es gesagt hatte - es war nicht das erste Mal, dass er eine Orakelbotschaft las. Das erste Mal war vor zwei Jahren in Indien gewesen. Ein kleiner Straßenjunge hatte ihm einen Zettel in die Hand gedrückt, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Pierre hatte ihm ebenso wie den rätselhaften Worten auf dem Papier wenig Beachtung geschenkt, es aber trotzdem aufgehoben. Erst viele Monate später - bei einem Auftrag im Sudan - hatte sich herausgestellt, dass darin bereits sein dortiges Zusammentreffen mit Valerie Gideon beschrieben worden war. Sie hatte auf rätselhafte Weise eine ähnliche Botschaft erhalten und anhand beider war es ihnen gelungen, das Orakel von Delphi an einem verborgenen Ort in der Sahara zu finden. Mittlerweile befand es sich auf eigenen Wunsch an einem unbekannten Aufenthaltsort im Himalaya. "Frag mich nicht, was das in allen Einzelheiten bedeutet", sagte Gudrun. "Ich bin genauso ratlos wie du. " "Wie wir es bei diesen Nachrichten anfangs meist alle sind. -264-
Ich kann mich jedenfalls nicht entsinnen, dass wir je eine von ihnen auf Anhieb verstanden hätten." Pierre verzog die Mundwinkel. "Ich habe fast den Eindruck, als würde sich das Orakel einen Spaß daraus zu machen, sich so... so... orakelhaft auszudrücken! " "Keine Ahnung, wer mit dem Ratgeber gemeint sein könnte", sagte Gudrun. "Und auch nicht, was es mit der Steinernen Prophezeiung auf sich hat. Das einzige, was ich kapiert habe, ist, dass wir die Spur zu einem von beiden hier finden. Und dass wir warten sollen. " "Verstehe." Pierre betrachtete die Botschaft erneut. "Und deswegen willst du also noch ein paar Tage hier bleiben? " "Ja. Ich habe das Gefühl, dass etwas passieren wird. Sonst hätte mir das Orakel die Botschaft nicht zukommen zu lassen. " Pierre nickte bedächtig. Das war auch seine Meinung. Dann sah er Gudrun fragend an. "Warum hast du mir nicht schon früher etwas von der Nachricht gesagt? Oder den anderen? " Gudrun vermochte das nicht sofort zu beantworten. "Ja, das habe ich mich auch gefragt. Ehrlich gesagt, ich weiß es gar nicht so recht. Es schien mir, als wäre diese Nachricht in erster Linie für mich gedacht gewesen. Und die anderen hatten mit den Vorbereitungen für Burma so viel zu tun, dass sie bestimmt keine Zeit gehabt hätten, sich auch noch damit zu beschäftigen. " "Und warum hast du nicht wenigstens mich darüber informiert?" "Das habe ich doch nun, oder?" Gegen diese Art von Logik war nicht anzukommen. Pierre kannte sie schon von Valerie her. "Hm, ich frage mich, ob es nicht trotzdem besser wäre, zumindest Sir lan zu informieren. " -265-
"Wieso?" fragte sie und aus ihrer Stimme klang ein , leicht schlechtes Gewissen, das bisher noch nicht getan zu haben. "Sir lan ist in New York und beschäftigt. Außerdem würde er mit der Botschaft derzeit ebenso wenig anfangen können wie wir. Wir müssen erst warten, bis sich etwas ergibt. Dann ist immer noch Zeit, ihn zu verständigen. " Pierre Leroy gab sich geschlagen. "Meinetwegen." Nach einem letzten Blick auf das Papier steckte er es in den Umschlag zurück und gab ihn wieder Gudrun. "Hier. Es ist deine Nachricht." "Jetzt tu nicht beleidigt!" Er lächelte charmant. "Ich tue nicht beleidigt. Aber jetzt weiß ich wenigstens, warum du unbedingt hier bleiben willst." "Und - bist du meiner Meinung?" "Ja. Warten wir!" Pierre straffte die Schultern und fragte sich, was sie wohl erwarten würde. "Bis jetzt hat uns das Orakel jedenfalls noch nie enttäuscht." Pierre Leroy sollte recht behalten. Das Orakel von Delphi enttäuschte sie auch diesmal nicht. Schon am Abend des nächsten Tages erfuhren sie, was mit der Spur gemeint war, auf die sie stoßen sollten und sie war so deutlich, dass sie sofort die Gewissheit hatten, sich nicht zu täuschen. Dies war die Spur, die von der Orakelbotschaft verheißen worden war. Wären sie hingegen schon früher abgereist, so hätten sie nie etwas davon erfahren. Die wenigen Gäste, die auf dem Gut verblieben waren immerhin noch gut drei Dutzend -, hatten sich zu einem Abendessen im kleinen Kreis versammelt, zu dem Tante Adele geladen hatte. Im Gegensatz zu den Tagen vorher gab es diesmal keine lange Tafel, sondern mehrere runde Tische, an denen jeweils sechs bis acht Leute saßen. Pierre Leroy und Gudrun Heber hatten diesmal die Gelegenheit, direkt an Tante Adeles -266-
Tisch zu sitzen und hier trafen sie Pater Armand wieder. Auch er hatte einen Platz direkt bei der Gastgeberin. Er war ebenfalls noch ein paar Tage auf dem Landgut geblieben, ohne dass sie ihn bis dahin bemerkt hatten. "Ah, Monsieur Leroy", begrüßte er ihn. "Schön, dass wir uns heute Abend Wiedersehen. Vielleicht ergibt sich ja jetzt die Gelegenheit zu ein wenig Plauderei. " Pierre nickte wenig begeistert. Nein, dachte er, nicht schon wieder Kindheitsgeschichten! "Ja", meinte er höflich. "Warum nicht?" Der alte Priester nahm es als Aufforderung zu sprechen. "Ich hatte in den letzten Tagen ausführlich Gelegenheit, mit Ihrer Tante gewisse Dinge zu besprechen." Er sah zu ihr, wie um ihr zu überlassen, ob sie davon reden wollte. Tante Adele nahm den Blick auf und sprach erklärend weiter: "Ich bin zwar gerade hundert geworden, aber ich denke nicht, dass es ewig so weitergehen wird. Irgendwann ist auch meine Zeit gekommen, von dieser Welt abzutreten. Pater Armand hat sich freundlicherweise bereit erklärt, mir bei allen Angelegenheiten zu helfen, die über mein Ableben hinausgehen und meinen Besitz betreffen. Ich habe mich lange dagegen gewehrt, aber in meinem Alter ist langsam an der Zeit, diese Dinge zu regeln. Und Pater Armand ist der Mensch auf Erden, dem ich am meisten vertraue." Pierre blickte abwartend drein. Er schien diese Meinung nicht recht teilen zu können, aber er war sich bewusst, dass er seine Tante viel zu selten sah und viel zu wenig über den Geistlichen wusste, um sich seine eige ne Meinung bilden zu können. Gudrun hingegen horchte interessiert auf. Forschend sah sie Pierres Tante an. Sollte das gar etwa eine Einleitung dafür sein, dass sie ihn zu ihrem Erben über dieses Gut einsetzen wollte? -267-
Gudrun fragte sich bei diesem Gedanken plötzlich, wie er sich in dem Fall wohl entscheiden würde. Würde er weiterhin für A.I.M. tätig bleiben oder sich hierher zurückziehen, um das Landgut zu betreuen? Seltsam, jetzt da sie kurz darüber nachdachte, konnte sie ihn sich in dieser Rolle durchaus vorstellen. Sehr gut sogar! Er hätte sicherlich eine Menge aus all dem hier gemacht! Ein seltsamer Gedanke durchfuhr sie. Wie stand es mit ihr? Könnte sie sich dabei an seiner Seite vorstellen? Gudrun musste feststellen, dass sich das Gespräch in einer anderen Richtung weiterentwickelte. "Bei unseren Gesprächen hat Ihre Tante mir erzählt, dass Sie noch immer sehr an Geheimnissen interessiert sind", fuhr der alte Priester fort. "Ja, habe ich", stimmte Tante Adele zu. "Du arbeitest doch immer noch für diesen seltsamen Club von dem irischen Kaufmann - nicht wahr?" Pierre atmete tief durch. "Tante", begann er klarzustellen. "Also erstens ist er kein Ire, sondern Schotte. Zweitens ist er kein Kaufmann, sondern ein Earl. Der Earl of Oake Dun. Und drittens ist das kein Club, sondern ein privates Institut." Er hielt eine Sekunde lang inne. "Aber abgesehen davon hast du ganz recht." Der Priester hatte aufmerksam zugehört. "Was für Geheimnisse sind das denn, denen dieses Institut nachgeht?" fragte er. Pierre hob die Schultern. "Ach, dies und das. Alles, was sich nicht recht erklären lässt. Über Parapsychologie bis hin zu ungelösten Rätseln der Geschichte. Alles, was Sie sich vorstellen können, Pater." Er machte ein ablehnendes Gesicht. "Aber ich weiß nicht, ob das ein geeignetes Thema für diese Runde wäre." -268-
"O ja! Das verstehe ich gut." Der Priester nickte verständnisvoll und nahm einen Happen seines Desserts, als handle es sich dabei um eine Todsünde, der er aber trotzdem nicht widerstehen konnte. "Köstlich, einfach köstlich!" lobte er. "Nicht wahr?" freute Tante Adele sich. "Nach demselben alten Hausrezept gemacht, das Sie schon von früher kennen. " "Man schmeckt es", bestätigte er. Pierre hatte schon den Eindruck und die stille Hoffung, dass das vorige Thema damit endgültig ad acta gelegt worden wäre wen interessierte es hier schon wirklich, was er tat? -, als Pater Armand unvermutet wieder den Kopf hob und ihn direkt ansah. "Sie arbeiten derzeit also für eine private Forschungsgruppe namens A.I.M.?" fragte er. "Analytic Institute for Mysteries." "Ja", bestätigte Pierre. Er runzelte die Stirn und sah den alten Pater forschend an. Woher wusste dieser das so genau? Seine Tante konnte sich doch nicht einmal das Land merken, in dem A.I.M. seinen Sitz hatte, geschweige denn den genauen Namen! Der Priester blickte zurück, als wüsste er genau, wie sehr er Pierre verblüffte - und als hätte er es genau darauf angelegt! Auch Gudrun war hellhörig geworden. Sie störte es nicht, an dem Gespräch nicht beteiligt zu sein. Im Gegenteil. So hatte sie mehr Gelegenheit, alle anderen eingehend zu beobachten. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sich gerade große Dinge anbahnten. Und wenn es in den turbulenten letzten Jahren irgend etwas gegeben hatte, auf das sie sich zu verlassen gelernt hatte, dann war es ihr Gefühl gewesen. Sogar mehr denn je. "Und Sie interessieren sich besonders für Echsen", fuhr der Priester im Plauderton fort. "Aufrecht gehende Echsen, nicht wahr?" Er blickte Pierre und Gudrun scheinbar arglos an. Die beiden Abenteurer waren unwillkürlich -269-
zusammengezuckt und tauschten einen kurzen, aber nichtsdestotrotz um so intensiveren Blick. Sie fühlten sich bei dieser Erwähnung regelrecht elektrisiert - und zwar bis unter die Haarspitzen. Was in drei Teufels Namen hatte dieser greise Priester mit Echsen zu tun und woher wusste er überhaupt, dass sie sich dafür interessierten? Die Botschaft des Orakels von Delphi hallte durch ihren Kopf. Ja, dies war zweifelsohne die Spur, die es angekündigt hatte! Pierre Leroy fasste sich als erster. "Mit Verla ub, Pater was wissen Sie über aufrechtgehende Echsen?" Pater Armand lächelte dünn. "Nur ein wenig." Er sah sich um. "Aber ich weiß nicht, ob es ein angemessenes Thema für diese Runde wäre." Pierre verstand den leisen Tadel. Er hatte sich vor Mi- nuten dem Priester gegenüber nicht anders verhalten. "Und wann wäre es das?" erkundigte er sich. Der Pater nahm in aller Seelenruhe ein weiteres Stück Dessert zu sich. "Vielleicht nach dem Abendessen. Bei einem kleinen, winzigen Schluck Portwein." Und mit einem kurzen Blick gen Himmel fügte er hinzu: "Natürlich nur um den Magen zu schließen. " "Und wo?" fragte Pierre. "Draußen auf der Veranda zum Beispiel." Pater Armand sah zu Gudrun und nickte ihr einladend zu. "Natürlich zusammen mit Ihrer reizenden Kollegin von A.I.M." Tante Adele war verwirrt. "Kollegin?" Sie starrte Pierre an. "Aber ich dachte, ihr wärt..." "Tante!" rief Pierre, der nun wirklich keine Lust auf diese Art von Diskussion hatte - zumindest nicht jetzt. "Gudrun und ich sind auch Kollegen. " -270-
"Ach so", rief sie. "Deshalb hast du jemanden gefunden, der zu dir passt! Jetzt verstehe ich. Ihr beide habt so ein unstetes Leben. Ja, das ist auch eine Möglichkeit!" Pierre tauschte einen kurzen Blick mit Gudrun, dann sah er den Priester ernst an. "Also gut, dann nachher auf der Veranda." Pater Armand nickte bestätigend. "Na bitte!" rief Tante Adele zufrieden. "Ich habe doch gewusst, dass ihr euch noch einiges zu erzählen habt." Pierre und Gudrun konnten es kaum erwarten, bis das Essen vorbei war - und französische Abendessen mit ihren mehreren Gängen dauerten recht lang- und sie draußen auf der Veranda mit dem Priester zusammensaßen. Ein Bediensteter des Landguts brachte ihnen allen ein Glas Portwein und sie stießen miteinander an. Der Priester nippte genüsslich an seinem Glas, dann stellte er es auf den Tisch zurück und lehnte sich entspannt nach hinten. "Ach", seufzte er. "Wie herrlich kann das Leben doch sein. Finden Sie nicht auch? " "Nun rücken Sie schon raus mit der Sprache!" forderte Pierre, der vor Ungeduld kaum an sich halten konnte. Seine Finger spielten nervös mit seinem Glas. "Woher wissen Sie, dass wir uns für aufrecht gehende Echsen interessieren? " Pater Armand lächelte. "Haben Sie nicht selbst für A.I.M. Anfragen an diverse französische Bibliotheken geschickt, ob es dort Texte gäbe, in denen es um derartige Echsen geht? Und waren Sie nicht sogar selbst einige Wochen lang unterwegs, um diesbezüglichen Spuren nachzugehen? " "Ja, nur war das leider nicht sehr ergiebig", räumte Pierre Leroy ein. Es war ein Projekt gewesen, das Sutherland finanziert hatte. Sie waren davon ausgegangen, dass die Echsen noch andere Spuren in der Ge-. schichte hinterlassen haben mussten. -271-
Und falls ja, so mussten diese irgendwo aufgezeichnet sein. Zumindest was Frankreich anging, war es offenbar ein Fehlschlag gewesen. Pierre hatte ein paar rare Hinweise gefunden, aber nichts, was sich konkret auswerten ließ. Er blickte den Priester an. "Wie kommt es, dass Sie davon wissen? " "Oh, erwähnte ich nicht, dass ich seit Jahren im Süden von Frankreich tätig bin?" antwortete Pater Armand. "Ich arbeitete als Bibliothekar im kirchlichen Archiv von Lyon. " "Ja, ich erinnere mich", sagte Pierre. "Dorthin habe ich ebenfalls geschrieben. Ohne Erfolg. In der Antwort hieß es, man könne mir nicht helfen. Ein solches Ersuchen sei geradezu abwegig. Es hieß mehr oder minder, dass man mit Esoterik-Spinnern wie mir nichts zu tun haben wolle - auch wenn man es ein bisschen weniger direkt formulierte." "Richtig. So lautete die offizielle Antwort. Ich habe Ihr Anschreiben auf dem Schreibtisch eines Amtsbruders gesehen. Ehrlich gedacht, ich hätte kaum gedacht, dass es sich bei dem Absender um denselben Pierre Leroy handeln könnte, den ich hier noch als kleinen Jungen kennen gelernt hatte. Aber als Ihre Tante erwähnt e, dass Sie in einem solchen Institut arbeiten, dämmerte es mir, dass dies keine zufällige Übereinstimmung war. Sie sind derselbe." "Offensichtlich ja." Pierre warf Gudrun einen kurzen Seitenblick zu. Nun wussten sie zwar, wieso der Pater über ihr Interesse Bescheid wusste, aber es hatte sie noch kein Stück weitergebracht. "Gibt es denn etwas, Pater, was Sie uns über diese aufrecht gehenden Echsen erzählen können? " "Vielleicht ja", erwiderte er mit einem geheimnisvollen Lächeln. "Aber erlauben Sie mir zuvor, Ihnen eine Frage zu stellen? Woher rührt Ihr Interesse an derartigen Echsen? " Gudrun nickte Pierre auffordernd zu. Er mochte entscheiden, was er verraten wollte. -272-
Der Franzose dachte kurz nach. "Sagen wir so", formulierte er. "Wir bei A.I.M. sind in letzter Zeit vermehrt auf Hinweise gestoßen, dass es in der Geschichte Eingriffe von derart echsengesichtigen Gestalten gegeben hat. Und zwar so viele Hinweise, dass es sich unserer Meinung nach um keinen Zufall mehr handeln kann. Gerade deshalb hat lan Sutherland, unser Finanzier, es ermöglicht, diese Nachforschungen anzustellen, denen ich dann nachgegangen bin. Aber wenn Sie mich fragen, was hinter der ganzen Sache steckt..." Pierre hob die Schultern. "Vor derselben Frage stehen wir auch. Es scheint einer der Teile in unserer Menschheitsgeschichte zu sein, die nicht ganz mit dem übereinstimmen, was wir bislang davon wissen. " Gudrun zollte Pierre insgeheim Anerkennung. Das hätte sie kaum besser formulieren können. Pater Armand nickte nachdenklich und nippte erne ut an seinem Portwein. Den beiden Abenteurern erschien es beinahe, als wüsste er genau, wovon Pierre gesprochen hatte. "Ich weiß nicht, inwieweit Ihnen das helfen wird, was ich Ihnen anzubieten habe", sagte er dann. "Aber es könnte etwas sein, das für Sie von Interesse ist." "Nun reden Sie schon!" forderte Pierre Leroy ungeduldig. "Um was handelt es sich? " Pater Armand ließ sich mit der Antwort ein paar Sekunden Zeit. Er sah die Abenteurer forschend an. "Sagt Ihnen der Name Nostradamus etwas?" "Nostradamus?" Pierre verdrehte die Augen und winkte ab. "Und ob! Wie könnte er nicht? Der berühmte französische Nationalprophet! Jedes Jahr erscheinen Dutzende und Aberdutzende von Büchern, die seine Prophezeiungen angeblich endgültig entschlüsselt haben wollen. Und jeder liest aus ihnen immer nur das heraus, was er darin erkennen will. Nun kommen Sie uns bloß nicht damit!" -273-
Pater Armand zeigte sich nicht im Geringsten betroffen. "Sie sollten nicht annehmen, dass sein Werk Unsinn ist, nur weil derart viel Unsinn darübergeschrieben wird Denken Sie daran, dass Nostradamus selbst hinterlassen hat, dass sich Astrologen, Uneingeweihte und Dummköpfe nicht damit beschäftigen sollen. Wundert es Sie, dass etwas Derartiges dabei herauskommt, wenn es doch getan wird?" "Ach?" meinte Pierre abfällig. "Sie scheinen sich ja gut auszukennen. Sind Sie etwa auch so ein Nostradamus-Jünger?" "Vermutlich", räumte der Priester ein. "Und zwar in ähnlichem Maße, in dem Sie wohl ein Esoterik-Spinner sind, um diesen Begriff aufzugreifen. Mit einem Unterschied: Ich habe mich all dem nur in meiner Freizeit gewidmet, wohingegen Sie es ja beruflich zu betreiben scheinen. " "Hm", machte Pierre wenig begeistert. "Ich habe mich in der Tat mit seinen Schriften beschäftigt", redete der Priester weiter. "Nicht so intensiv, dass ich mir anmaßen würde, sie deuten zu können. Aber doch eingehend genug, um zu wissen, dass sie ohne jeden Zweifel das Produkt eines äußerst genialen Geistes sind. Vieles von dem, was sich in seinen Voraussagen findet, hat sich bis jetzt auf verblüffend genaue Art und Weise bewahrheitet. Das ist ein Fakt, an dem es nichts zu rütteln gibt. Wenn Sie möchten, gebe ich gerne ein paar Beispiele." "Ja", stimmte Pierre sarkastisch zu. "Sollte ihm zufolge nicht eben erst die Welt untergegangen sein? Trotzdem sitzen wir jetzt alle hier auf der Veranda, unterhalten uns und trinken Portwein." "Sie machen wiederum den Fehler, davon auszugehcn, was in seine Worte hineininterpretiert wird und nicht er wirklich gesagt hat. Einen Weltuntergang hat er nie prophezeit. Wieso sollte 1999 auch einer stattfinden, wenn der größte Teil seiner Prophezeiungen bis zum Jahre 3979 reicht? Welchen Sinn ergäbe das?" -274-
"So? Und, was hat er für 1999 wirklich vorausgesagt?" "Dass dann - nach der Zeit der großen Sonnenfinsternis in Europa - Geschehnisse einsetzen werden, die die gesamte Welt in einen äußerst bedrohlichen Wandel stürzen werden." Pater Armand senkte seine Stimme. "Ein Wandel, der der Menschheit so vorkommen wird, als wäre sie in den tiefsten Abgrund geschleudert und dort angekettet worden. Ich frage Sie - halten Sie das wirklich für so unwahrscheinlich? " Obwohl Pierre sich skeptisch gab, verspürte er - ebenso wie Gudrun - bei diesen Worten unwillkürlich einen Schauder. Die Deutsche musste daran denken, was Kar Ihnen noch vor wenigen Monaten im Angesicht seines sicheren Triumphes gesagt hatte. Er hatte davon gesprochen, dass sie Zeugen des "Anbruchs einer neuen Zeitrechnung" werden würden und dass danach nichts mehr auf Erden so sein würde wie zuvor! Den Abenteurern war es zwar gelungen, Kars Pläne zu vereiteln und seine schwarze Pyramide zu zerstören, doch damit hatten sie die Gefahr selbst noch nicht abgewehrt, die aus den Tiefen der Vergangenheit empor gekrochen kam. Im Gegenteil, bis jetzt hatten sie nicht mehr als einen winzig Weinen Einblick darin erhalten, was auf "der anderen Seite" noch alles lauern mochte. Kar hatte davon gesprochen, dass seine schwarze Pyramide nicht die einzige wäre, die aus uralten Zeiten auf dem weiten Erdenrund verblieben war. Anhand dieser Pyramiden hatte er seine Weltherrschaft festigen wollen. Auch bei Pierre hatten die Worte des Priesters für Sekunden der Nachdenklichkeit gesorgt. Ihm schienen ähnliche Gedanken im Kopf herumzugehen. "Verzeiht, wenn ich so dumm frage", sagte Gudrun Heber an beide gewandt. "Aber ich bin keine Französin und weiß über Nostradamus nicht mehr als ein paar Oberflächlichkeiten. Könnte mich also jemand kurz aufklären, wer das war?" Pierre Leroy nickte dem Priester einladend zu. "Pater? Das -275-
scheint mir Ihr Spezialgebiet zu sein. " "Nostradamus war sozusagen nur sein Künstlername", erklärte dieser. "Bürgerlich hieß er Michel de Notredame. Geboren 1503, gestorben 1566. Nach seinem Studium von so ziemlich allem, was man damals studieren konnte, war er etliche Jahre als Arzt tätig und galt bald als einziger, der ein Mittel gegen die damals über Europa hereinbrechende Pest hätte. Den Aufzeichnungen zufolge heilte er unzählige Kranke und befreite ganze Städte vom Schwarzen Tod. Dafür zahlte man ihm wahrhaft fürstliche Honorare. Nur seine eigene Familie vermochte er nicht zu retten. Sie starb an der Seuche." "Ich sag's ja", meinte Pierre. "Ein Scharlatan! " Pater Armand sah Pierre an, als wäre dieser noch immer der kleine Junge von damals. "Wenn Sie ein Grippemittel erfänden, das eine hohe Prozentzahl von Kranken heilen würde", fragte er, "wäre dieses Scharlatanerie, nur weil es bei Ihren Familienangehörigen nicht wirken würde?" Pierre kniff die Lippen zusammen und schwieg. "Nach diesem Verlust reiste Nostradamus lange durch ganz Europa und traf sich mit allen möglichen Berühmtheiten. Es gibt Stimmen, die behaupten, dass er damals bis nach Ägypten oder gar Asien gekommen wäre. Aber diese Zeit seines Lebens liegt im Dunkeln." Pater Armand machte eine kurze Pause. "Erst mit gut fünfzig Lebensiahren trat er dann als der große Prophet in Erscheinung, als der er heute noch bekannt ist. Er ließ sich in Salon in Südfrankreich nieder, gründete dort erneut eine Familie und lebte sehr gut von den diversen Voraussagen und Almanachen, die er für seine Zeitgenossen anfertigte." "Weshalb ist er heute noch so berühmt?" wunderte Gudrun sich. "Vor seinem Tode hinterließ er der Nachwelt ein rätselhaftes Werk mit eintausend Prophezeiungen, die bis zum Jahr 3979 reichen sollten - zehn sogenannte Centurien mit je einhundert -276-
Voraussagen. Und etliche davon sind bis heute bereits auf verblüffend genaue Weise eingetreten. " "Ja", stimmte Pierre zu. "Aber das hat man leider natürlich immer nur im nachhinein feststellen können!" "Worüber beschweren Sie sich?" fragte Pater Armand. "Nostradamus hat selbst geschrieben, dass er das genauso beabsichtigt hat." "Welchen Sinn sollte es dann haben, derartige Prophezeiungen zu verfassen?" fragte Pierre lakonisch. "Wenn niemand sie im vornherein verstehen kann? " "Das hast du doch gerade gehört", antwortete Gudrun plötzlich. "Er hat niemanden im voraus darüber informieren wollen, was geschehen würde. Er hat damit lediglich beweisen wollen, dass er es schon gewusst hat." Pater Armand nickte Gudrun anerkennend zu. "Dafür, dass Sie sich noch nie näher mit ihm beschäftigt haben, scheinen Sie sich doch recht gut im Innern eines Hellsichtigen auszukennen. Haben Sie womöglich von Zeit zu Zeit ähnliche Eindrücke?" Seine Frage hatte sich ebenso freundlich interessiert wie beiläufig angehört, dennoch fühlte Gudrun sich bis ins Innerste getroffen. Und ob sie ähnliche Eindrücke hatte! Sie hatte sie schon als Kind gehabt. In letzter Zeit waren sie jedoch sehr viel stärker zutage getreten. Es war so etwas wie ein verschwommenes Wissen darum, was in naher Zukunft geschehen würde. Jedoch viel zu verwaschen, um es richtig zu greifen, deuten oder gar in Worten ausdrücken zu können. Es entzog sich jeglicher Rationalität und trat nur in Form von Gefühlen und Empfindungen zutage. Sie waren allesamt zu vage, als dass sie ihren Mitstreitern von A.I.M. dadurch irgendwelche Hilfen hätte geben können - aber viel zu deutlich, um sie einfach zu ignorieren. Gudrun war sich von Tag zu Tag sicherer: Es gab da etwas Unbegreifliches, etwas Fremdes unter der Oberfläche ihres Ichs, das beständig vehementer an die -277-
Pforten seines Gefängnisses pochte und danach gierte, freigelassen zu werden. "Zu den großen Rätseln um Nostradamus' Prophezeiungen zählt", fuhr Pater Armand fort, "dass er zwar eintausend hinterlassen haben will - und diese sind schon zu seinen Lebzeiten in verschiedenen Buchausgaben veröffentlicht worden, von denen einige bis heute überdauert haben -, aber dennoch sind achtundfünfzig dieser Texte nie erschienen. Sie gelten bis heute als verschollen." "Ach", meinte Pierre. "Und einen dieser Texte wollen Sie uns jetzt verkaufen? " "Wie kommen sie darauf?" fragte der Priester. "Wie schätzen Sie mich ein? Ich will Ihnen doch nichts verkaufen! Ich fasse lediglich ein paar Fakten über sein Leben zusammen. " "Was ist es dann, was Sie für uns haben? " "Ein altes Manuskript. Eine Handschrift." "Von Nostradamus?" Pater Armand nickte, um gleich darauf abwehrend die Hände zu heben. "Ja, aber sie ist nicht verifiziert. Alles, vas sich sagen lässt, ist, dass sie mit Sicherheit aus dem achtzehnten Jahrhundert stammt. Wenn es also eine Fälschung sein sollte, dann eine mindestens zweihundert Jahre alte." "Erklären Sie das bitte!" bat Gudrun. "Was ist das für ein Manuskript?" "Dazu muss ich kurz ausholen. Nostradamus ließ sich nach seinem Tod in einer Gruft bestatten, die er zuvor in einem Kloster nahe seiner Heimatstadt Salon erworben hatte. Dort sollen als Grabbeigaben auch seine zu Lebzeiten verfassten Manuskripte eingeschlossen worden sein. Dort blieben sie fast zweihundertfünfzig Jahre lang unversehrt - bis zur Zeit der Französischen Revolution. In ihrem Verlauf wurde das Kloster von Jakobinern aus Marseiile geplündert. Dabei wurde auch -278-
Nostradamus' Grab aufgebrochen und ein Großteil des Inhalts verschwand für immer. Der damalige Bürgermeister von Salon ließ die verstreuten Gebeine zusammensammeln und gab ihnen in einer Kirche dann ihren letzten Ruheplatz." Pater Armand nickte geistesabwesend. "Seit dieser Zeit sind überall in Frankreich immer wieder Manuskripte aufgetaucht, die angeblich aus seinem geplünderten Grab stammen sollten. " "Verstehe", meinte Gudrun. "Und um solch ein Manuskript handelt es sich dabei?" "Richtig. Es ist nachweisbar, dass es aus der Zeit um 1798 stammt. Damals wurde es bei einem Straßendieb gefunden und ein Abt hat es konfisziert. Seitdem lag es nachweislich in verschiedenen Archiven. Und nun befindet es sich in dem, in dem ich arbeite." "Warum geben Sie es nicht an die Öffentlichkeit?" fragte Pierre. "Wäre das nicht eine Sensation? " "Erstens ist das Manuskript Eigentum des Archivs und ich habe nicht darüber zu bestimmen. Zweitens gibt es keinen Beweis für seine Echtheit. Und drittens..." Pater Armand atmete tief durch, "...glaube ich, dass es nur noch mehr dazu beitragen würde, dass man Nostradamus für einen Scharlatan hält. Es würde Ihre Meinung von ihm. Monsieur Leroy, glatt bestätigen. Dazu ist das, was in dem Manuskript geschrieben steht, zu phantastisch und unglaubwürdig. " Pierre runzelte die Stirn. Weshalb erzählte der Priester es ihnen dann? "Wieso das?" "Nun..." Pater Armand lächelte. "Weil darin die Rede von so etwas wie einer aufrecht gehenden Echse ist." Pierre und Gudrun beugten sich ruckartig vor. "Wie bitte?" kam es nahezu gleichzeitig über ihre Lippen. "Ja", bestätigte der Priester. "Sie haben richtig gehört. Aber -279-
bitte, denken Sie daran, das einzige, was wirklich sicher daran ist, ist, dass es mindestens zweihundert Jahre alt ist." "Seien Sie gewiss - allein das macht es hochinteressant", versicherte Gudrun. "O ja", stimmte Pierre zu. "So etwas ist genau das, wonach ich gesucht habe. Worum geht es darin genau? " Pater Armand nahm seelenruhig noch einen Schluck Portwein. "Ich hätte da einen anderen Vorschlag. Können Sie eigentlich Altfranzösisch?" "Leidlich", antworte Pierre. "Warum fragen Sie?" "Weil das Manuskript darin abgefasst ist. Gut. Dann kommen Sie mich in den nächsten Tagen doch einfach mal besuchen, wenn es Ihr Terminplan zulässt. Ich reise noch heute ab und werde in zwei Tagen wieder in Lyon sein. Ich empfange Sie dort gerne und zeige Ihnen das betreffende Manuskript." "Aber ja, wir werden kommen! " "Gut." Pater Armand reichte ihnen eine Karte. "Hier, das ist die Adresse des Archivs." "Und Sie wollen nicht wenigstens ein wenig davon verraten, was in dem Manuskript steht?" bohrte Pierre nach. Pater Armand schüttelte entschieden den Kopf. "Egal, was ich Ihnen erzählen würde, Sie würden es ohnehin mit Ihren eigenen Augen sehen wollen. Und was sind schon zwei Tage Geduld im Vergleich zu den zwei Jahrhunderten, die diese Aufzeichnungen bislang schon überdauert haben? " Was ließ sich dagegen einwenden? Gleichgültig, wie sehr Gudrun und Pierre den Priester auch bedrängten, er ließ sich nichts entlocken. So verblieben sie schließlich mit der Verabredung, ihn in zwei Tagen in Lyon zu besuc hen. "Keine Frage", meinte Pierre, als er später wieder mit Gudrun allein war. "Das ist die Spur, von der in der Orakelbotschaft die -280-
Rede ist." Gudrun Heber nickte. "Ja. Deutlicher ging es kaum." Sie neigte den Kopf, als horche sie in sich hinein." "Was ist?" fragte Pierre. "Hast du irgendwelche Vorahnungen? " "Nein. Ich überlegte nur gerade, dass ich mir Lyon schon immer einmal ansehen wollte. Warum also nicht jetzt?" Pierre gab sich damit zufrieden. Gudrun Heber war froh darüber. In Wirklichkeit hatte sie kurz in Gedanken überschlagen, wie lange sie mit dem Wasser, das sie in ihrem Koffer versteckt hatte, noch auskommen würde. Aber es reichte noch eine Zeitlang. Ein kleiner Umweg über Lyon war also allemal drin. Sie beglückwünschte sich dazu, diesmal vorsorglich gleich drei Flaschen mitgenommen zu haben. Das verschaffte ihr einen gewissen Freiraum. Aber irgendwann würde unweigerlich der Zeitpunkt kommen, wo sie nach Oake Dun würde zurückkehren müssen.
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11. Kapitel Im Angesicht des Dämons Zwei Tage später brachen Pierre Leroy und Gudrun Heber auf. Nach einer überschwänglichen Verabschiedung von Tante Adele, die sich freute, dass ihr Neffe so lange bei ihr geblieben war, brachte sie ein Taxi in die Stadt, von wo aus sie mit dem Zug in Richtung Lyon weiterreisten. Pierre blickte verwirrt auf die Bücher, die Gudrun mit sich schleppte und in denen sie während der Fahrt durch die liebreizende Landschaft Burgunds schmökerte. "Was liest du da?" fragte er. "Nostradamus-Bücher. Ich habe mir gestern in der Buchhandlung vo n Chablis alles besorgt, was es dort darüber gab." "Deshalb bist du am Nachmittag so lange unterwegs gewesen? " "Genau. Der Buchhändler hatte ein gutes Dutzend Bücher darüber vorrätig. Und wenn ich sie mir so anschaue, muss ich sagen, du hast recht. Jeder liest in seine Texte meist nur das hinein, was er darin gerne erkennen möchte." "Du sieht, ich habe nicht übertrieben", meinte Pierre. Er lehnte sich zurück. Schön, dass sie es genauso sah. "Aber es gibt da trotzdem eine Menge, was ich äußerst interessant finde", fügte sie hinzu. "Was denn? " "Zum Beispiel dass er seine Prophezeiungen in den Centurien in Form von vierzeiligen Versen abgefasst hat." "Was soll daran interessant sein?" "Denk an das Orakel von Delphi! Seine Botschaften sind ebenfalls vierzeilig abgefasst." -282-
Pierre blickte verwirrt drein. "Klar. Sicherlich. Aber was sollte das Orakel von Delphi mit Nostradamus oder seinen Prophezeiungen zu tun haben? " Er hatte die Frage spontan gestellt und war der sicheren Erwartung, dass Gudrun ihm zustimmen würde. Erst als sie es nicht tat, wurde er stutzig und richtete sich wieder auf. Nicht nur, dass Gudrun ihm nicht zustimmte, ihre Miene drückte sogar sehr deutlich aus, dass sie anderer Meinung war - selbst wenn sie keinen Widerspruch erhob. "Los!" forderte er sie auf. "Raus mit der Sprache! Gibt es da etwa irgendwelche Parallelen?" "Ich weiß nicht", meinte Gudrun. "Ich bin ja nur eine Anfängerin. Aber in diesen Büchern sind auch die Originaltexte angegeben. Und im ersten Text der ersten Centurie beschreibt Nostradamus, auf welchem Wege er zu seinen Prophezeiungen gekommen ist." "Und? Wie?" Gudrun lächelte. "Indem er auf einem dreibeinigen Hocker gesessen hat!" Pierre starrte sie ungläubig an. "Wie bitte?" "Ja, du hast richtig gehört." Pierre war ein paar Sekunden lang regelrecht verwirrt. Dann riss er ihr das Buch aus der Hand. "Wo steht das?" Gudrun zeigte es ihm. "Hier, lies selbst! Gleich im allerersten Text. Und dieser scheint auch der einzige zu sein, der sich damit beschäftigt. Der Rest sind verschlüsselte Prophezeiungen. " Pierre Leroy las: "Bei nächtlichen, geheimen Studien sitze ich allein auf dem ehernen Dreifuß. Der Einsamkeit entspringt eine winzige Flamme, aus deren Eingebung nur Wahrheit entsprießt." -283-
Pierre Leroy hielt atemlos inne. Ein Dreifuß! So ge nau hatte er sich die Texte bis jetzt noch nie betrachtet. "Versteht du jetzt, was ich meine?" fragte Gudrun. "Ein eherner, dreibeiniger Hocker! Und darauf sitzend, erlangte Nostradamus seine Eingebungen! " Pierre nickte geistesabwesend. Ja, er verstand sie. "Genau wie bei den Orakelbotschaften von Mortimer!" fuhr sie fort. "Er hat sie verfasst, als er auf dem Orakel von Delphi gesessen hat. Und auch diese sind vierzeilig und rätselhaft - so wie alle Botschaften des Orakels." "Du willst Mortimer doch nicht mit Nostradamus vergleichen? " "Natürlich nicht. Aber die Parallelen mit dem Dreifuß sind doch zu interessant, um sie zu ignorieren, oder?" Pierre musste ihr abermals recht geben. "Du meinst, der Hocker, auf dem Nostradamus gesessen hat, könnte das Orakel von Delphi gewesen sein?" Wer wusste, welchen Weg dieses durch die Geschichte gegangen war, ehe er es mit Valerie im Sudan gefunden hatte. "Ich meine nichts. Aber ich halte ebenso nichts für ausgeschlossen." Auf Gudruns Gesicht erschien ein Ausdruck wissenschaftlichen Eifers. "Aber eines weiß ich. Diese Parallele könnte womöglich noch niemals jemand anderem aufgefallen sein. Wir hatten schließlich auch nicht die geringste Ahnung, wie das Orakel wirklich aussieht, ehe Valerie und du es nach Oake Dun gebracht haben. " Pierre seufzte tief. "Da hast du recht. Ich schätze, ich werde meine Abneigung gegen alles, was mit Nostradamus zu tun hat, vorerst wohl ein wenig revidieren müssen. Mag sein, dass wir in Lyon interessante Entdeckungen machen. " Am Nachmittag erreichten die beiden Abenteurer Lyon. Das kirchliche Archiv, in dem Pater Armand arbeitete, lag mitten in -284-
der Innenstadt - auf halben Wege zwischen dem ausgedehnten Universitätsviertel und dem Zusammenfluss der Rhone und Saonne. Es war diese strategisch günstige Lage gewesen, die dazu geführt hatte, dass die Römer hier fünfzig Jahre vor Christus eine Niederlassung namens Lugudunum gründeten und nach zwei Jahrtausenden wechselvoller Geschichte war daraus heute eine Halbmillionenmetropole mit vielen Kirchen, Kathedralen, Museen, aber auch drei Universitäten geworden. Eine Stadt, die zum Bummeln geradezu einlud. Pierre und Gudrun hatten anderes vor. Sie hatten Pater Armand ihr Kommen angekündigt und so empfing der greise Priester sie am Eingang. Er drückte ihnen beiden kräftig die Hand. "Schön, dass Sie da sind! Ich habe bereits alles vorbereitet. Kommen Sie!" Er führte sie durch endlos erscheinende Korridore weiter zu seinem Büro. Ein paar Mal kamen ihnen andere Priester entgegen, die ebenfalls schwarze Soutanen trugen und freundlich nickten. "Darf ich fragen, woran Sie hier forschen?" erkundigte Pierre sich. "Forschen?" wiederholte der Pater belustigt. "Sie überschätzen da unsere Möglichkeiten. Ehrlich gesagt, bis jetzt sind wir einzig damit beschäftigt, all die Manuskripte, Urkunden und anderen Schriften, die hier lagern, aufzulisten und zu katalogisieren. Wir wissen bis jetzt nicht einmal, was hier überhaupt alles lagert. Viele der Inventarverzeichnisse aus alten Zeiten sind verlorengegangen und es wird noch Jahre dauern, ehe wir diesen Teil der Arbeit abgeschlossen haben. An ein inhaltliches Erfassen all der Dokumente ist bis dahin gar nicht zu denken. " Pierre nickte verständnisvoll. Viele ähnliche Einrichtungen der Welt standen vor genau demselben Problem. -285-
"Ich frage mich, wie viel mehr wir schon über unsere Vergangenheit wissen könnten, wenn wir die Inhalte all dieser ungelesenen Schriften kennen würden", fügte der Pater nachdenklich hinzu. "Da wartet noch Arbeit auf ganze Generationen von Forschern. Aber ich denke, wenn wir irgendwann soweit sind, alle Schriften zu scannen und ins Internet zu stellen, wird das die Forschungen wesentlich beschleunigen. Das ist eine meiner ganz großen Hoffnungen für die Zukunft." Gudrun und Pierre wechselten einen erstaunten Blick, als sie den greisen Priester so selbstverständlich übers Internet sprechen hörten. Pater Armand bemerkte es. "Was schauen sie so überrascht drein? Hätten Sie einem alten Knacker wie mir nicht zugetraut, auf der Höhe der Zeit zu sein?" "Nein, das nicht", versicherte Pierre schnell. "Es ist nur so... Ein Ort wie dieser, mit uralten Geheimnissen und dann der Gedanke ans Internet - das ist schon etwas überraschend." "Schon für die nächste Generation wird es selbstverständlich sein", sagte der Pater. "Und um das vorauszusagen, brauche ich kein Prophet zu sein. Weshalb sollte ich mich dieser Entwicklung also entziehen? Im Gegenteil, ich habe mich stark dafür eingesetzt, dieses Projekt hier zu verwirklichen. " Sie hatten das Büro erreicht und er ließ sie ein. Wie zur Bestätigung seiner Worte stand auf seinem Schreibtisch inmitten sich auftürmender Unterlagen, Akten und Papiere - ein Computer. Die Wände waren mit Regalen bedeckt, die bis zur Decke reichten und sich unter der Last der darin verstauten Bücher und Schriften bogen. Pierre und Gudrun sahen sich beeindruckt um. Hier hätten sie sicherlich monatelang stöbern können, ohne dass ihnen langweilig geworden wäre. Pater Armand führte sie zu einem Besuchertisch, den er flüchtig von dem Chaos darauf freigeräumt zu haben schien, -286-
denn es war der einzige halbwegs freie Platz. Es befand sich lediglich ein Tablett mit mehreren Tassen und einer großen Thermoskanne darauf. Daraus schenkte der Pater ihnen allen ein, nachdem sie sich gesetzt hatten. "Ich denke, es ist Ihnen recht, wenn ich gleich zum Wesentlichen komme", sagte er. "Wir bitten darum." Der Priester holte eine Mappe aus dem Regal neben sich. Als er sie öffnete, war zu erkennen, dass sich darin mehrere vergilbte Blätter befanden, die alle einzeln in Schutzhüllen verpackt waren. "Dies ist das Manuskript. Ich halte es heute noch für einen Glückfall, dass ich es vor vielen Jahren hier entdeckt habe. Insgesamt sind es elf Seiten. Ursprünglich müssen es einmal zwölf gewesen sein, aber eine davon ist nie aufgetaucht." "Sie sagten, dass es sich um eine Art Tagebuch handeln würde?" "So ähnlich. Kein offizielles, fortlaufendes Tagebuch, sondern nur die Aufzeichnung einer einzelnen Episode. Aber sehen sie selbst." Er reichte Pierre die Mappe. "Hier. Aber ich darf Sie bitten, sie sorgfältig zu behandeln. " "Keine Bange. Wir sind keine Amateure." Vorsichtig zog Pierre die Blätter hinaus und stellte seine Kaffeetasse vorsorglich aus der Reichweite. Er hielt die Blätter so, dass Gudrun sie ebenfalls sehen konnte, wenngleich sie nicht in der Lage war, sie zu lesen. Sie erkannte nur, dass sie einen recht gut erhaltenen Eindruck machten und mit einer schweren Handschrift beschrieben waren. "Wenn Sie Probleme mit dem Lesen haben, helfe ich Ihnen gerne aus", bot der Pater an. "Oder möchten Sie lieber alleine sein? " Pierre blickte stirnrunzelnd auf den Text. Einen Teil konnte er -287-
entziffern. "Salon, im Oktober 1558", stand oben auf dem ersten Blatt. Und im Satz darunter etwas von "Hufgeklapper am frühen Morgen, noch fast in der Nacht", von "Soldaten" und "heller Aufregung im Haus". Andere Passagen hingegen waren kaum zu entziffern, was sowohl an der alten Sprache wie auch der schwer entzifferbaren Handschrift lag. "Ahm, nein", meinte Pierre. "Es wäre mir ganz recht, wenn Sie bleiben und mir ein wenig helfen würden. " "Gern." Pater Armand rückte mit dem Stuhl etwas dichter an Pierre heran, um ebenfalls in das Manuskript zu sehen. "Sagen Sie mir, an welchen Stellen Sie Schwierigkeiten haben. " Pierre nickte und holte tief Luft. Noch ein kurzer, letzter Blick zu Gudrun, dann begann er zu lesen, anfangs noch stockend und zögernd, doch je länger er las, desto besser kam er mit der Schrift und Sprache zurecht. Was er las, zog sie so sehr in den Bann, dass bald die gesamte Welt rings um sie herum zu versinken schien und eine andere Welt vor ihren Augen lebendig wurde: die Welt Frankreichs vor beinahe 450 Jahren! Salon, im Oktober 1558 Nostradamus verbrachte die Nacht wie üblich zurückgezogen und allein in der Dachkammer seines kleinen dreigeschossigen Hauses in der kleinen südfranzösischen Stadt. Hierher zog er sich zurück, um in Ruhe seinen nächtlichen Studien nachzugehen. Jahrelange intensive Übung und Disziplin hatte es ihm ermöglicht, mit nur vier Stunden Schlaf auszukommen und den Rest der Nachtzeit nutzte er für seine Forschungen und gedanklichen Reisen in die Zukunft, die er dann in Zeilen goss und aufs sorgsamste verschlüsselte. Normalerweise war es das Lärmen seiner erwachenden Familie, das ihn in den frühen Morgenstunden an die diesseitige Welt erinnerte und seinen Studien ein Ende setzte. Diesmal -288-
jedoch war es etwas anderes. Lautes Hufgeklapper hallte am frühen Morgen, noch fast in der Nacht, durch die engen Gassen Salons. Es waren gut ein Dutzend Reiter, die die friedliche Ruhe störten. Überall, wo sie vorbeiritten, wurden die Fenster der Häuser geöffnet und verschlafene Gesichter sahen hinaus, um zu erkunden, wer die Störenfriede waren. Und sobald man gesehen hatte, um wen es sich handelte, wurden die Fenster schleunigst wieder zugeschlagen und von innen verriegelt. Es waren Soldaten. Soldaten, die im Auftrag der Inquisition unterwegs waren. Vor dem Haus des Sehers machten sie Halt und auf einen Befehl des Führers stiegen die Reiter ab. Nostradamus hörte es, aber es bereitete ihm keine Furcht. Zwar war er Zeit seines Lebens hier in Frankreich von der Inquisition bedroht gewesen und ein paar Mal hatte ihn nur die persönliche Intervention von Katharina von Medici, der Königin von Frankreich, davor bewahren können, aufgrund seiner Prophezeiungen und seines Interesses für Geheimwissenschaften auf dem Scheiterhaufen zu enden. Aber er wusste, dass ihm diese Gefahr nun nicht mehr drohte. Wahrscheinlich gab es immer noch genügend Leute in der Kirche, die ihn liebend gerne als Ketzer verbrannt gesehen hätten - allen voran der berüchtigte Großinquisitor Marquetor, der mehrere Male versucht hatte, ihm den Prozess zu machen -, aber Nostradamus wusste, dass ihn dieses Schicksal nicht mehr treffen würde. Er hatte sich darüber selbst eine Voraussage erstellen lassen. Er hatte dafür als Gegenleistung zwar einen Gefallen entrichten müssen, aber es hatte ihm die Gewissheit gegeben, dass er von dieser Seite aus nichts mehr zu befürchten hatte. Nostradamus schloss die Schriftmappe, an der er gearbeitet hatte und erhob sich ächzend von dem dreibeinigem Hocker. In den letzten Jahren hatte er vermehrt unter körperlichen -289-
Gebrechen zu leiden. Ihn plagten Rheuma und Gicht und dagegen konnte selbst er als Heilkundiger nichts ausrichten. Es war der Tribut, den er an sein Alter zu zahlen hatte. "Scheint, als wäre die Zeit der Ruhe vorbei", murmelte er vor sich hin. "Ja, geh! Es erwarten dich große Dinge. Selbst wenn deren volle Bedeutung erst in Jahrhunderten erkannt werden wird. Aber du hast das Vorrecht, an ihnen teilzuhaben. " Auch in Nostradamus' Haus herrschte seit der Ankunft der Reiter helle Aufregung. Und seine Frau tat etwas, was sie sonst nie getan hätte - sie stieg zur Dachkammer hinauf und pochte heftigst an die geschlossene Tür. "Michel!" drängte sie. "Hörst du mich? Da sind Räter!" "Ich komme schon." Nachdem er den dreibeinigen Hocker verstaut hatte, öffnete er die Tür und nahm seine Frau behutsam in die Arme. "Sei unbesorgt! Es besteht keine Gefahr." "Aber... das sind Reiter der Inquisition. " "Ja, das mögen sie sein. Aber glaube mir - dieses Gericht hat keine Gewalt mehr über mich. " Sie sah ihn bangend an. "Und dessen bist du dir vollkommen sicher?" Sein Blick warfest. "Vollkommen." Von unten wurde laut und fordernd an der Eingangstür gehämmert. Nostradamus wandte sich ab. "Und nun lass mich unseren Besuch begrüßen. Bereite etwas zur Stärkung für die Reiter. Sie werden sicher früh aufgebrochen und hungrig sein. " Damit eilte er nach unten, so schnell es seine altersschwachen Knochen und Gelenke zuließen. "Moment", meinte Gudrun, nachdem Pierre die erste Seite zu Ende gelesen hatte. "Was war das in der Dachkammer? Ich denke, Nostradamus war alleine dort! Mit wem hat er also geredet, ehe er die Tür geöffnet hat?" -290-
Pierre Leroy besah sich die betreffenden Stellen erneut. Nein, er hatte beim Lesen keinen Fehler gemacht. Aber er wusste nun genau, was Gudrun meinte. Nostradamus hatte auf seinen gemurmelten Satz in der Kammer eine Antwort bekommen. In einer Kammer, in der sich außer ihm niemand befunden hatte. Niemand mit Ausnahme des dreibeinigen Hockers, auf dem er gesessen hatte! "Ich weiß, was Sie meinen", sagte Pater Armand. "Diese Passage hat mir einiges Kopfzerbrechen bereitet. Es hat wirklich den Anschein, als hätte dort eine zweite Person gesprochen. Aber das soll vermutlich nur eine Reflexion der Gedanken des Propheten sein." Pierre und Gudrun nickten zustimmend. Doch der Blick, den sie tauschten, besagte anderes. Sie hatten selbst erlebt, wie ein dreibeiniger Hocker sprechen konnte. Es bestätigte nur, was Gudrun während der Zugfahrt nach Lyon bereits vermutet hatte. Nostradamus war im Besitz eines Orakelhockers gewesen! "Noch etwas anderes ist mir aufgefallen", fügte Gudrun hinzu. "Es steht dort, dass Nostradamus von irgend wem anders die Versicherung erhalten hätte, dass ihm die Inquisition nichts anzuhaben vermag. Er, der große Prophet! Und dass er dafür einen Gefallen zu entrichten gehabt hätte." Wieder traf sich ihr Blick mit dem von Pierre. Der Franzose nickte unmerklich. Ja, er wusste, worauf sie hinauswollte. Das Orakel von Delphi hatte ihnen zwar auch von sich aus Nachrichten zukommen lassen - letztendlich waren sie aufgrund einer solchen hier in Lyon -, aber immer, wenn sie etwas selbst in Erfahrung hatten bringen wollen, hatte es im Gegenzug einen Gefallen verlangt. Und das war exakt das, was laut dem Manuskript auch Nostradamus zu entrichten hatte. Konnte das noch länger Zufall sein? "Ich sehe, Sie wissen die Schwachstellen dieses Manuskriptes sehr genau zu benennen", -291-
sagte Pater Armand. "Das zeugt davon, dass Sie einen kritischen Geist haben und wissen, worauf es bei der Auswertung derartiger Schriften ankommt. Aber bitte, verlangen Sie nicht, dass ich Ihnen auf diese Fragen eine Antwort zu geben vermag. Für mich ist das ebenso rätselhaft und widersprüchlich. " "Danke, dass Sie das so offen zugeben", sagte Gudrun. Und an Pierre gewandt, fügte sie lakonisch hinzu: "Warum liest du nicht weiter?" Nostradamus öffnete die Pforte seines Hauses und trat hinaus vor die Reiter. Der Anführer von ihnen, derjenige, der gerade noch so heftig an die Tür gepocht hatte, zuckte zusammen und einen Moment lang sah es so aus, als wäre er angesichts des großen Sehers beinahe auf die Knie gefallen. Aber er hielt im letzten Moment an sich - auch um vor seinen Untergebenen keine schlechte Figur abzugeben. "Wir sind mit dem Auftrag gekommen, Euch zu holen", sagte er mit lauter Stimme, konnte jedoch ein Zittern darin nicht vermeiden. Erzählte man sich nicht hinter vorgehaltener Hand, ein einziger Satz des großen Propheten würde ausreichen, einen auf alle Zeiten zu verwünschen? Und dagegen konnten ihn noch so viele bewaffnete Soldaten in seinem Rücken nicht bewahren. "Wohin zu holen?" fragte Nostradamus. "Nach Avignon! In den ehemaligen Papstpalast." "Und wer schickt euch, um mich zu holen? " "Marquetor, der Großinquisitor. Er residiert dort zur Zeit und führt einige Prozesse." Ein erschrockenes Raunen ging durch die Reihen der wenigen Leute, die sich ringsum auf die Straße getraut hatten, um zu sehen, was die Reiter von dem Seher wollten. Auch dessen Frau schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Nostradamus nickte ihr beruhigend zu, dann wandte er sich wieder dem Anführer der Soldaten zu. -292-
"So hast du denn den Auftrag, mich zu verhaften?"fragte er. "Nein. Mein Auftrag lautet nur, euch zu holen und sicher nach Avignon zu geleiten. Dort erwartet Euch der Großinquisitor. " "Und was ist, wenn ich mich weigern sollte mitzukommen'?" Der Anführer der Soldaten wirkte verunsichert. "Für einen solchen Fall liegen mir keine Befehle vor." Er wurde bleich bei der Vorstellung, nach Avignon zurückzukehren und dem Großinquisitor mit leeren Händen unter die Augen treten zu müssen. "Seid unbesorgt", versicherte Nostradamus. "Ich werde Euch begleiten. Aber kommt zuvor herein und stärkt euch ein wenig. Ich werde veranlassen, dass auch eure Pferde verpflegt werden. " Da Nostradamus nicht zuzumuten war, zu Pferde zu sitzen, besorgte man eine Kutsche, mit der man ihn nach Avignon eskortierte. Die Soldaten verhielten sich ihm gegenüber dabei keineswegs feindselig, wahrten aber eine gewisse Distanz - teils aus Respekt vor dem großen Seher, teils aus Furcht, ihnen könne nachgesagt werden, sie ließen sich auf abergläubische Dinge ein. Dennoch ließ sich mancher während der Reise verstohlen ein kleines Horoskop für seine persönliche Zukunft erstellen und hütete es wie einen großen Schatz. Und gleiches galt für die Wirte und Gäste einer Herberge, in der sie auf halbem Wege einkehrten, um die Nacht zu verbringen. Niemals hätte man dort damit gerechnet, einen solch berühmten Besuch bewirten zu dürfen. Am Abend des nächsten Tages erreichten sie Avignon. In der Stadt herrschte eine seltsame, gedrückte Stimmung. Nirgendwo auf den Straßen war ein Lachen oder ein lockeres Gespräch zu hören. Die meisten Menschen gingen stumm ihren eigenen Angelegenheiten nach. Ganz Lyon schien sich unter der Anwesenheit des Großinquisitors zu ducken. Die Soldaten ritten sofort weiter zum ehemalign Papstpalast. Es war eine große, wehrhafte Festung, in der das Papsttum während der Exiljahre -293-
zwischen 1309 und 1376 residiert hatte. Nostradamus wunderte es nicht, dass Marquetor sich ausgerechnet diese Burg als Sitz ausgesucht hatte. Bescheidenheit wie noch, nie eine Zierde des Großinquisitors gewesen. Die meisten Reiter blieben auf dem Burghof zurück. Nur der Anführer begleitete Nostradamus ins Innere der Festung, wo diese alsbald an zwei andere Wachen übergeben wurde. "Viel Glück!" gab ihm der Anführer zum Abschied mit auf da Weg. "Es war eine Ehre, Euch eskortieren zu dürfen. Und wir stehen bereit, Euch wieder in Eure Heimatstadt zurückzubringen. " Nostradamus lächelte dünn. "Ist das denn vorgesehen?" Was vorgesehen ist", antwortete der Anführer ernst, "bestinmt allein der Großinquisitor." Er salutierte und verschwand. Die beiden anderen Wachen nahmen Nostradamus in die Mitte. "Wir haben Befehl, Euch direkt zum Großinquisitor zu bringet." "Dann lassen wir ihn nicht länger warten." Nostradamus musste sich eingestehen, dass auch er ein klamme Gefühl verspürte, als sie durch die Gänge schritten. Schließlich war auch er nur ein normaler Sterblicher. Und der Gedanke an all die vielen armen, unschuldigen Seelen, die hier schon unter dem Banner der Inquisition ihr Leben verloren hatten oder noch darauf warteten, ließ ihn erschaudern. Zu wie viel Grausamkeit Menschen doch fähig sein konnten. Er wusste nicht, was ihn hier erwartete. Wie alle wahrhaft wehen Seher verzichtete er darauf, allzu deutlich in die eigene Zukunft zu blicken. Es war wichtig, dieser Verlockung zu widerstehen, wenn man seinen freien Willen behalten wollte. Nicht alle prophetisch Begabten -294-
hatten sich daran gehalten und hatten sich in das Gefängnis ihrer eigenen Zukunft begeben. Doch diese Zusammenhänge zu durchschauen, war nicht leicht und die meisten Normalsterblichen hatten von den Gesetzmäßigkeiten, die in diesen Bereichen des Geistes gültig waren, ohnehin kaum eine Vorstellung. Sonst würden sie sich nicht unentwegt so unklug verhalten. Marquetor erwartete ihn in einem riesigen Empfangssaal, wo er in einem Stuhl auf einem kleinen Podest gleichsam so thronte, als wäre er der Herrscher der Welt. Vielleicht mochte das aus seiner Sicht auch so sein, denn überall dort, wo er auftauchte, bestimmte allein er über Leben und Tod. Dabei schien er selbst letzterem bereits sehr nahe zu sein. Die Haut des fast neunzigjährigen Greises wirkte eingefallen und vertrocknet und seine Grausamkeit und Unerbittlichkeit hatten sich in tiefen Linien in sein Gesicht gefressen. Seine Augen lagen eingesunken in ihren Höhlen. Auf den ersten Blick wirkten sie wie leblos, aber noch immer glomm ein alles verzehrender Funke in ihnen. Dieser Funke wurde zu feurigen Rammen, als Nostradamus hereingebracht und vor den Stuhl geführt wurde. Die Augen des Inquisitors schienen ihn regelrecht zwingen zu wollen, seine Autorität anzuerkennen und vor ihm auf die Knie zu fallen, doch der Seher hielt dem Blick stand und blieb stehen. Hinter den eingefallenen Wangen des Greises zuckte es unwillig. Hätte es jemand anders gewagt, ihn derart zu brüskieren, wäre dieser Gefahr gelaufen, auf ewig in einem der Verliese der Festung zu verschwinden, doch diese Möglichkeit stand Marquetor in diesem Fall nicht zur Verfügung. Wie gerne hätte er den großen Propheten auf einem Scheiterhaufen verbrennen sehen, doch in diesem Fall waren ihm die Hände gebunden. Es gab Personen und Einrichtungen, die ihre schützenden Hände über ihn hielten. "Ihr habt mich rufen lassen", sprach Nostradamus und breitete die Arme aus. "Hier bin ich." -295-
Kein Gruß, keine noch so geringe Ehrerbietung - dies war eine erneute Brüskierung. Doch Marquetor war zu alt und erschöpft, um dagegen aufzubegehren. Vor zehn, zwanzig Jahren, ja, da hätte er diesen vorlauten, ungehobelten Besserwisser sicherlich noch die ganze Macht der heiligen, unbesiegbaren Inquisition spüren lassen wobei er verdrängte, dass er dies mehrfach vergeblich versucht hatte -, aber heute war er des Kämpfens müde geworden. Er fühlte sich noch nicht zu alt, um zu richten, aber er hatte keine Kraft mehr übrig, den verstockten Geist eines starrsinnigen Astrologen ändern zu wollen. Außerdem hatte er ihn aus einem anderen Grund herbringen lassen. "Gut, dass Ihr gekommen seid", kam es stockend über seine Lippen. Er hätte nie gedacht, dass er das einmal sagen würde. "Weshalb habt Ihr mich rufen lassen?" Marquetor atmete ein paar Mal schwer und röchelnd, dann scheuchte er die beiden Wachen mit einer fahrigen Geste hinaus. Erst als sie den Raum verlassen hatten, erhob er seine Stimme und ihr war anzuhören, dass es ihn Überwindung kostete, es auszusprechen: "Ich brauche Euren Rat!" Nostradamus glaub te fast, sich verhört zu haben. Er hätte nie damit gerechnet, dm einmal aus dem Mund des Großinquisitors zu hören. "Ihr, der Ihr für Euch in Anspruch nehmt, allein im Namen der letztendlichen Weisheit zu sprechen und in ihrem Namen zu richten", vergewisserte sich der Seher, "braucht meinen Rat? Den Rat eines Scharlatans, als den Ihr mich oft genug bezeichnet habt?" Die Zähne des alten Greises mahlten und man konnte ihm den Unmut ansehen. Dann rang er sich ein Nicken ab. "So ist es." Nostradamus war erstaunt. Der Großinquisitor musste tatsächlich in einer prekären Situation sein, wenn er sich so weit herabließ, nicht einmal gegen diese Worte zu protestieren. Es -296-
weckte das Interesse des Sehers. "Wie kommt Ihr darauf, dass ausgerechnet ich Euch helfen könnte?" fragte er. "Ich weiß, dass Ihr Zeit Eures Lebens Einblick in viele schändliche Bücher gehabt habt. Bücher, deren bloßer Besitz jedem rechtgläubigen Christen das ewige Fegefeuer zu bescheren vermag. Abscheuliche Bücher über dunkle Riten und wirre Gedanken. " "Könnte es sein, dass Ihr selbst sie nie gelesen habt?" "Dazu wird mich auch niemand bringen!" rief Marquetor. "Mir reichen die Sünden und die Schuld, die ich mir bereits aufgeladen habe, wenn ich bald vor den Thron des Herrn zu treten habe. Ich muss mir keine weiteren Verfehlungen auflasten. Nein, ich werde keinen Blick in diese Bücher werfen und meine Seele nicht in Gefahr bringen. Aber Ihr habt es getan! Und wir beide wissen, dass Ihr schon allein dafür vor ein Gericht gehört hättet!" "Dennoch habt Ihr mich nicht deshalb kommen lassen. " "Richtig." Marquetor seufzte. "So sehr ich Euer Tun verdamme, so sehr halte ich es für möglich, dass Ihr in diesen Büchern etwas gefunden habt, was mir in diesem Fall weiterhelfen könnte. Denn ich muss zugeben, diesmal bin ich mit meinem Latein am Ende." Hätte Nostradamus nicht gewusst, wer da vor ihm saß, er hätte fast Mitteid mit dem Greis haben können. "Zeit meines Lebens habe ich für die gerechte Sache des Herrn gekämpft", redete Marquetor weiter, ohne dass er dazu aufgefordert werden musste. "Ich habe geholfen, den Irrglauben zu bekämpfen und die Menschheit von Hexen, Jüngern des Teufels oder Anhängern von Dämonen zu befreien. Der Glaube an diese dunkle Seite ist sehr stark und es ist wichtig, sich ihr mit aller Macht entgegenzustellen. « "Irrglauben zu bekämpfen -297-
ist ein edles Ziel. Ihr aber bekämpft die Menschen. " Marquetor schüttelte uneinsichtig den Kopf. "Der Teufel lauert in vielerlei Gestalt drauf, die Erde zu verderben. Oft hinter der Fassade von Wahrheit und Redlichkeit." "Wie wahr!" stimmte Nostradamus bitter zu. Er musste, dass es keinen Sinn hatte, mit dem Großinquisitor über die Dinge zu reden. Er würde seine Meinung darüber gewiss nicht ändern. Nicht, nachdem er sein Leben lang daran festgehalten hatte. "Wie gesagt, ich habe schon viele Anhänger und Jünger von Dämonen einkerkern lassen und ihnen den Prozess gemacht. Aber..." Er stockte, "...so etwas hätte ich nie für möglich gehalten. Dass es uns gelingen würde, einen derartigen Fang zu machen. " "Von was für einem Fang redet Ihr?" Der Blick des Inquisitors bohrte sich in den des Sehers und wieder schienen Flammen daraus zu schlagen. "Diesmal haben wir einen Dämon selbst gefangen!" antwortete er mit schwerer Stimme. "Einen leibhaftigen Dämon!" "Wie bitte?" "Ja. Ihr habt Euch nicht verhört. Er befindet sich unten im Kerker. In einem eigens abgesperrten Flügel. " Nostradamus verfügte über einen hellen, klaren Geist, doch auch er benötigte er ein paar Momente, das alles zu verarbeiten. "Ihr erhofft Euch", sagte er dann, "dass ich Euch weitere Auskunft darübergeben kann? " "Ja. Seht Euch dieses Wesen selbst an und sagt mir, was ich davon zu halten habe!" Der Inquisitor erhob sich langsam aus seinem Stuhl und klatschte in die Hände. Die baden Wachen erschienen wieder "Sie werden Euch hinunterbringen. Für meine alten Knochen ist der Weg zu weit. Wir sehen uns dann zum Abendessen. Ich bin auf Eure Analyse gespannt." Damit war die Audienz beendet. -298-
Die beiden Wachen brachten Nostradamus hinaus. "Der Großinquisitor hat Anweisung gegeben, ein Gemach für Euch herrichten zu lassen", sagte einer von ihnen. "Möchtet Ihr Euch erst ein wenig von den Strapazen Eurer Reise erholen, ehe wir Euch in den Kerker führen?" Nostradamus war angenehm überrascht. Das zeigte, dass er nicht als Gefangener, sondern mehr als Gast gesehen wurde. Dennoch schüttelte er den Kopf. "Nein, lasst uns gleich hinuntergehen. " Er folgte den Wachen nach unten. Sobald sie die unterirdischen Verliese betraten, empfing sie Feuchtigkeit und Modergeruch. Der Kerkermeister, ein stämmiger, dickbäuchiger Mann mit bloßem Oberkörper, empfing sie und brachte sie weiter. Über weitere Treppen ging es tiefer und tiefer in die Eingeweide der Festung hinab. Nostradamus war einigermaßen froh, dass hier keine anderen Gefangenen untergebracht waren. So musste er sich nicht ansehen, welche schrecklichen Spuren die Folter bei ihnen hinterlassen hatte oder ihr Leid hautnah spüren. Wie der Großinquisitor gesagt hatte, diente dieser Bereich einzig dazu, den Dämon gefangen zu halten. Und es gab die strikte Anweisung, so wenig Leute wie möglich zu ihm zu lassen. Niemand wusste, über welche Möglichkeiten diese Ausgeburt der Hölle verfügte, andere Menschen zu beeinflussen und in seinen Bann zu ziehen. Vor einer eher unscheinbar wirkenden Zelle blieb der Kerkermeister stehen und hob die Hand. "Wir sind am Ziel!" Die Vorderseite der Zelle war mit Eisengittern versehen, durch die hindurch man den Raum komplett überblicken konnte. Ein Geruch von Urin und Kot wehte ihnen entgegen. Es gab eine kleine rechteckige Öffnung in der Außenwand, ein Schacht nach oben, durch den ein wenig Tageslicht hereinfiel - gerade -299-
genug um das Innere in dämmriges Zwielicht zu tauchen. Die Fackeln im Gang sorgten zusätzlich für etwas Helligkeit. Eine blanke Holzpritsche war der einzige erkennbare Einrichtungsgegenstand, der sich in der Zelle befand. Ansonsten befand sich hier und da ein Häufchen Stroh auf dem Boden. Und darauf lag, mit schweren Ketten an der Wand gefesselt, ein Geschöpf, wie Nostradamus es noch nie zuvor gesehen hatte, nicht einmal in seinen gedanklichen Zukunftsreisen. Aber das war, wie er sofort erkannte, auch nicht weiter verwunderlich. Schließlich hatte er dabei niemals konkret nach Wesen dieser Art Ausschau gehalten. Es war ein echsenartiges Wesen, zwar von der Gestalt eines Menschen, aber ansonsten vollkommen reptilienförmig. Die Haut war mit grünlichblässlichen Schuppen bedeckt, an den fünf Fingern und Zehen befanden sich gebogene Krallen und auf dem stämmigen Hals ruhte ein langgezogenen Echsenschädel. Die Lider des Wesens öffneten sich, als es die Besucher gewahrte und gelbliche, geschlitzte Augen starrten ihnen müde entgegen. Nostradamus verspürte weniger Furcht sondern vielmehr Mitleid, als er das Geschöpf sah. Was immer es war, es war eine geschundene, verängstigte Kreatur. Auf keinen Fall war es ein machtvoller Dämon. Sonst hätte dieses materielle Gefängnis es gar nicht halten können. "Ist es nötig, dass diese Kreatur angekettet ist?" fragte Nostradamus. Er sah, dass die Schuppen an den Hand- und Fußschellen abgesplittert und die Haut grünlich wundgescheuei~t war. Auch sonst waren einige nur schlecht verheilte Verletzungen zu erkennen. Es sah aus, als sei das Wesen verschiedenen Foltern unterzogen worden. Der Kerkermeister sah ihn ungläubig an. "Aber natürlich. Habt Ihr denn nicht gehört? Es ist ein Dämon! Da kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Wir haben rings um die Zelle geweihte Kreuze anbringen lassen. Und wenn wir hier in der -300-
Festung nicht unter dem Schutz einer ganz besonderen heiligen Reliquie stehen würde, würde wahrscheinlich nicht mal das ausreichen. " "Was für eine Reliquie?" In den Augen des Kerkermeisters leuchtete es voller Ehrfurcht l auf. "Ein Fußnagel des linken kleinen Zehs des Heiligen Bernhard. Des Verfechters der Kreuzzüge gegen die ungläubigen Hei-1 den! Wekhen besseren Schutz gegen Dämonie könnte es geben als das?" Nostradamus verzichtete auf jeden Kommentar. Ersah erneut auf die Kreatur. "Dieser... Dämon macht einen ausgezerrten Eindruck. Bekommt er nicht genug Speise?" "Natürlich nicht", bestätigte der Kerkermeister. "Auch das hat der Großinquisitor so angeordnet. Als der Dämon gefangen wurde, sollen zehn Männer nicht ausgereicht haben, um ihn im Zaum zu halten. Zweien soll er mit seinen Krallen sogar die Kehlen aufgeschlitzt haben und andere haben Knochenbrüche erlitten." Er grinste. "Seit wir ihn ein wenig kürzer halten, hat i seine Angriffslust spürbar nachgelassen. Er bekommt jetzt nur noch zwei Hühner in der Woche." "Hühner?" "Ja, etwas anderes hat er nicht angerührt. Ihr hättet sehen sollen, wie er sie anfangs mit bloßen Händen zerrissen und verschlungen hat!" Der Kerkermeister schüttelte sich bei dem Gedanken. "Aber in letzter Zeit müssen wir die Hühner erst töten, ehe wir sie zu ihm in die Zelle werfen. Er ist zu schwach, um sie überhaupt noch zu fangen." Er grinste beruhigt. " Und das ist gut so." Nostradamus machte mehrere Versuche, die Kreatur anzusprechen. Sie schien ihn wohl zu hören, aber es war nicht ersichtlich, ob sie ihn auch verstand. Wenn dem jedoch so sein -301-
sollte, war sie auf jeden Fall zu schwach, um darauf zu antworten. "Es hat keinen Sinn", sagte der Kerkermeister. "Während mehrerer Sitzungen hat man versucht, ihm ein paar Worte zu entlocken. Aber er gibt sich verstockt. Dabei muss er uns verstehen, sonst wäre er vom Satan nie auf die Erde gesandt worden, um uns zu verderben. Welchen Sinn hätte das, wenn er unsere Sprache nicht verstünde? Dann hätte der Herr der Hölle doch einen geeigneteren Dämon schicken können! " Nostradamus ersparte sich auch darauf jede Antwort. Er nickte nachdenklich. "Ich denke, ich habe einstweilen genug gesehen. Bringt mich wieder nach oben. " Nostradamus fühlte sich wesentlich ausgeruhter und frischer, als er sich mit Marquetor zum Abendessen traf. Er hatte die letzten Stunden etwas in seinen Gemächern geruht und ein erfrischendes Bad genommen, mit dem er sich die Mühsale und Anstrengungen seiner Reise endgültig von der Haut gewaschen hatte. Nur sein Geist war dabei keinen Moment zur Ruhe gekommen. Ständig hatte er über die seltsame Kreatur gegrübelt und war zu keinem Schluss gekommen. Dies teilte er auch Marquetor unumwunden mit. "Ihr habt also noch nie zuvor etwas über eine solche Kreatur gehört oder gelesen? " vergewisserte sich der Großinquisitor. Wieder saßen sie alleine zusammen. Es sollte keine Zeugen geben, die hörten, worüber sie sprachen. "Nur ein paar Bruchstücke und Erwähnungen. Aus Berichten aus längst vergangenen Zeiten. Aber ich habe den Passagen nie besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Vielleicht war das ein Fehler, denn nun sind mir diese Schriften nicht mehr zugänglich. Zu viele von ihnen sind in den Feuern der Inquisition verbrannt worden. " -302-
Marquetor nahm den Vorwurf nicht auf. Er saß etliche Zeit in sich gekehrt da, dann nickte er. "So war es also vollkommen umsonst, dass ich Euch habe holen lassen. Dabei erschient Ihr mir der einzige zu sein, der darüber etwas wissen könnte." "Eure Einschätzung ehrt mich. " "Pah! Eine verschwendete Ehre, denn Ihr könnt mir ja nicht helfen! Ich hätte besser auf die Empfehlung der päpstlichen Kurie hören und die Kreatur längst dem Scheiterhaufen überantworten sollen, anstatt daran zu glauben, dass Ihr mir weiterhelfen könntet. Aber versteht, es ist das erste Mal, dass ich einen leibhaftigen Dämon sehe und weiß, dass mein Lebenswerk nicht umsonst war. Dass es nicht umsonst war, was ich altes an Schmerzen, Schreien und Flehen ertragen habe, ohne Gnade zu zeigen. Weil ich tief in meinem Innern schon immer wusste, dass es meine göttliche Pflicht ist, die Menschheit vor der Versklavung durch derartige Kreaturen zu schützen. " Seine Worte wirkten beinahe, als böte er dem Propheten die Hand zur Versöhnung. Als böte er ihm damit eine Erklärung für all das Leid, das er in die Welt gebracht hatte. Doch Nostradamus nahm diese Hand nicht an. Dafür klang es in seinen Ohren zu sehr nach einer bloßen Rechtfertigung. "Es mag sein", sagte er statt dessen, "dass ich Euch doch helfen könnte. Ich wäre bereit, mir für die Erforschung dieser Kreatur einige Zeit zu nehmen. Sie könnte uns sehr wertvolle Aufschlüsse geben. " Marquetor musterte Nostradamus mit stechendem Blick. Er schien nicht recht zu wissen, was er von dem Angebot halten sollte. In seinen Augen war Misstrauen zu erkennen. Hatte der Seher etwa irgendeine Teufelei im Sinn? " Wie sollte uns das weiterbringen? Glaubt mir, ich habe schon alles versucht, um diese Kreatur zum Reden zu bringen. Mehrfach habe ich sie einer hochnotpeinlichen Befragung unterziehen lassen. Ohne jedes Ergebnis. Sie gab kein -303-
vernünftiges Wort von sich. " Nostradamus nickte nachdenklich und bediente sich an den Speisen, die vor ihnen auf dem Tisch standen. Es wunderte ihn, dass Marquetorden vielen erlesenen Köstlichkeiten keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Er hatte gerade einmal ein paar Bissen trockenen Weißbrotes zu sich genommen. Es schien, als wolle er sich selbst strafen, indem er sich diese Freuden versagte. Oder fehlte ihm heute nur der Appetit? "Habt Ihr je erwogen", fragte Nostradamus, "dass es sich bei diesem angeblichen Dämon um nichts anderes als eine Art Tier handeln könnte? Dass überhaupt kein Satan dahintersteckt?" "Ein Tier?" "Ja. Genauso wie eines der exotischen Tiere, die zu Zeiten Roms oder der venezianischen Dogen aus fernen Ländern geholt worden sind. Bevor man sie gesehen hat, dachte man auch nie, dass es solche Geschöpfe geben würde." "Ihr haltet diesen Dämon also für ein Tier?" "Das habe ich nicht gesagt. Aber diese Möglichkeit ist nicht auszuschließen, oder?" Marquetor antwortete darauf nicht sogleich. Dafür lief über sein vertrocknetes, faltiges Gesicht ein dünnes Lächeln, als ob er noch einen Trumpf in der Hand hielte. Und in der Tat, einen Moment später spielte er ihn aus. Er beugte sich zur Seite und holte ein kleines Schächtelchen hervor, das er zu Nostradamus über den Tisch schob. "Wie erklärt Ihr Euch dann, dass er so etwas um sein Handgelenk trug?" fragte er. "Ein Tier wird darauf kaum Wert legen. " Nostradamus nahm das Schächtelchen verunsichert entgegen und öffnete es. Darin lag etwas wie ein goldener Handreif mit 332 etlichen Diamanten. Erstaunt sah er darauf. Etwas Derartiges hatte er noch nie gesehen. -304-
Nein, halt, da hatte es etwas ähnliches in seinen Zukunftsträumen gegeben. Aber es waren zu vage Eindrücke, als dass er sie richtig zu fassen vermochte. "Dies hat der... Dämon bei sich getragen?" "Ja. Für was haltet Ihr es?" "Ein Schmuckstück. Vielleicht so etwas wie ein Amulett." Nostradamus betrachtete es eingehender. Auf der Vorderseite war eine mit Brillanten besetzte runde Fläche mit Ziffern zu erkennen. Drei, sechs, neun und zwölf. Es erschien ihm wie die Stundeneinteilung eines Tages. Zwölf Stunden für den Tag und zwölf Stunden für die Nacht. Auf dem Ziffernblatt waren noch fünf weitere kleine Buchstaben in lateinischer Schrift angebracht. Mit Erlaubnis von Marquetor nahm er den goldenen Armreif aus seinem Behältnis und hielt ihn dichter vor sein Gesicht. In seinem zunehmendem Alter waren seine Augen nicht mehr so gut. R-O-L-E-X, entzifferte er die Buchstaben und sah den Großinquisitor fragend an. "Rolex?" fragte er. "Was bedeutet das?" "Ein teuflischer Fluch? Ein dämonischer Bann des Antichristen?" Der Großinquisitor hob die Schultern. "Ich weiß es nicht. Ich hatte gehofft, dass Ihr mir das sagen könntet!" Wieder vermochte Nostradamus darauf keine Antwort zu geben. Er legte den Armreif wieder in die Schachtel zurück. "In der Tat, ein sehr seltsames Stück. Wenn dieses Wesen es getragen hat, so ist wahrhaft davon auszugehen, dass es sich um kein Tier handelt." "Demnach bleibt nur noch...", folgerte Marquetor. "Es ist ein Dämon!" Nostradamus antwortete nicht direkt. "Gebt mir die Chance, mich mit diesem Dämon zu beschäftigen, um ihm einige seiner -305-
333 Geheimnisse zu entreißen!" "Der Papst hat mich aufgefordert, mich der Kreatur unverzüglich zu entledigen", antwortete der Großinquisitor. "Aber wenn der Bote mit dieser Nachricht in unbilliges Wetter gekommen oder sonst irgendwie aufgehalten worden wäre, würde ich sie wohl erst nächste Woche erhalten. " "Also gebt Ihr mir Zeit, mich mit dem Dämon zu beschäftigen? " "Ja. Bleibt ein paar Tage und seht, ob Ihr ihm etwas entlocken könnt. Aber haltet mich über alles auf dem Laufenden. " "Warte!" rief Gudrun. "Hast du dich auch wirklich nicht verlesen? Steht da wirklich Rolex? " Pierre nickte. "R-O-L-E-X. Du hast schon ganz recht gehört." Wieder tauschten sie einen langen Blick und sie mussten es nicht aussprechen, um zu wissen, dass sie beide dasselbe dachten: Sie kannten eine Echse, die eine Rolex getragen hatte! Nachdem er sich an einer fremdartigen Flüssigkeit infiziert hatte, hatte ihr früherer Gegenspieler Kar begonnen, sich zu verändern und sich schließlich in ein echsenhaftes Wesen verwandelt. Sie hatten das Bild noch deutlich vor Augen, wie er vor kaum mehr als drei Monaten im Kontrollraum seiner schwarzen Pyramide gestanden hatte - mit eben einer solchen Uhr am Hand gelenk. "Aber... das ist unmöglich!" stieß Gudrun hervor. Kar war tot! Umgekommen beim Absturz der Pyramide! Was machte er nun fast 450 Jahre in der Vergangenheit? "Ich verstehe, was Sie meinen", sagte Pater Armand. "Das ist eines der großen Rätsel dieses Manuskriptes. Es 334 wirkt in der Tat so, als sei dort von einer modernen Uhr die Rede. Und wie kann das zu Zeiten von Nostradamus der Fall sein? Selbst vor zweihundert Jahren - wenn das Manuskript eine Fälschung aus dieser Zeit sein sollte konnte noch niemand etwas von einer -306-
Uhrenmarke namens Rolex wissen. Das Rätsel bleibt dasselbe." Pierre und Gudrun nickten scheinbar zustimmend. In Wirklichkeit waren sie mit ihren Gedanken noch immer bei Kar. "Steht dort, was mit der Uhr geschehen ist?" "Ja", bestätigte Pater Armand. "Es steht weiter hinten. " "Dann ist es wohl am besten, ich lese erst einmal weiter", sagte Pierre Leroy. "Es ist nicht mehr viel." Nostradamus veranlasste, dass dem Wesen mehr Wasser und Nahrung gegeben wurde und er sorgte auch dafür, dass man die Zelle von dem Urin und Kot der letzten Tage befreite - nicht nur, um dem Wesen angenehmere Bedingungen zu verschaffen, sondern auch um sich selbst nicht diesem bestialischen Gestank aussetzen zu müssen. Von nun an würde der Seher viele Stunden des Tages hier unten verbringen. Dabei war er stets in Begleitung des Kerkermeisters oder anderer Wachen. Marquetor wollte keinerlei Risiko eingehen. Die Kreatur hatte weiterhin angekettet zu bleiben und Nostradamus war es auch nicht gestattet, die Zelle zu betreten. So versuchte er von außen, so etwas wie einen Kontakt herzustellen. Das Wesen bemerkte zwar, wenn er es ansprach und es schien auch zu wissen, dass er für die Vergünstigungen verantwortlich war. Doch außer einem kurzen Schnauben zeigte es keine Reaktion. Nach weiteren vergeblichen Versuchen beschloss Nostradamus, es am nächsten Tag weiter zu versuchen. Vielleicht würden die 335 Resultate besser sein, wenn das Wesen wieder einigermaßen zu Kräften gekommen war. Nostradamus sah sehr wohl, dass es unter seinen vielfältigen Wunden schwer zu leiden hatte und vielleicht hatte es auch innere Verletzungen. Er bedauerte es, nicht die Möglichkeiten nutzen zu können, über die er daheim verfügte. Vielleicht sollte er jemanden nach Salon schicken, um ein paar seiner speziellen Tinkturen, Pastillen und anderen Heilmittel zu holen. -307-
Er war sich fast sicher, dass sie auch in diesem Fall geholfen hätten. Doch der Gedanke daran, jemanden ohne sein Beisein in seine Dachkammer zu lassen, behagte ihm nicht. Nein, wenn, dann musste er diese Dinge persönlich holen. Und vielleicht brachte ihm eine Sitzung auf dem Dreifuß weiteren Aufschluss. Eine solche Reise würde allerdings - selbst mit einer schnellen, vierspännigen Kutsche gut drei Tage in Anspruch nehmen. Er beschloss, die Entscheidung darüber auf den nächsten Tag zu verschieben. An selbigem machte er ein paar Fortschritte. Dem Wesen ging es noch immer schlecht, daran konnte auch die bessere Versorgung so rasch nichts ändern. Aber immerhin zeigte es diesmal eine Art Interesse an seinen Versuchen, sich irgendwie zu verständigen. Und ein paar Mal lösten sich auch ein paar Worte aus seinem Maul. Nostradamus hatte eine Schreibtafel mitgenommen und notierte alles, so gut er es in Lautschrift aufzeichnen konnte. Denn es waren keine Worte in einer ihm bekannten Sprache. Womöglich handelte es sich nicht einmal um eine menschliche Sprache. Aber es war eine Sprache, dessen war Nostradamus sich sicher. Denn es waren immer dieselben wenigen Worte, die er hörte. zum einen etwas, das sich wie "Iggitten" anhörte sowie "Kraschassa" und "Grüzzenfürk". All das waren kurz ausgestoßene Laute. Aber es gab auch ein paar gedehnt gezischte Wörter: "Rischar" und ein langgezogenes "Kaaarn". "Rischar?" wiederholte Gudrun. Der Verdacht, denn sie bezüglich Kar hatte, verdichtete sich zur Gewissheit. Das alles konnten keine Zufalle sein! "Rischar? Kaaarn? " Pierre nickte. Er wusste, was sie dachte. Richard Karney war der Name ihres Gegenspielers gewesen, ehe er sich nach seiner Verwandlung nur noch Kar genannt hatte. Er legte das Blatt weg und griff nach dem letzten in der -308-
Mappe. "Warte, vielleicht kommt noch mehr dazu. " Pierre wollte weiterlesen, doch dann runzelte er die Stirn und sah noch einmal auf das Ende des letzten Blattes. "Das passt nicht zusammen", stellte er fest. "Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass eine Seite des Manuskriptes fehlt", erinnerte Pater Armand. "Die vorletzte." Gudrun und Pierre machten enttäuschte Gesichter. Ausgerechnet diese Seite! "Wie Sie feststellen werden", erklärte Pater Armand weiter, "scheint Nostradamus zumindest eine oberflächliche Verständigung mit diesem Wesen zustande gebracht haben. Und dann muss er sieh entschlossen haben, doch zwischendurch nach Salon zu reisen. Die Eintragungen fahren damit fort, wie er von dem Kutschgespann wieder nach Avignon zurückgebracht wurde." Pierre seufzte und nahm es als Aufforderung weiterzulesen. Der Kutscher trieb die Pferde bis zum Äußersten an. Dennoch war es bereits früher Abend, als endlich die Stadttore von Avignon vor ihnen auftauchten. Mit rasender Geschwindigkeit ging die Fahrt weiter bis zum ehemaligen Papstpalast. Nostradamus düstere Vorahnung sollte sich bewahrheiten. Sie kamen zu spät. Er wusste es, als er die Menschenmenge sah, die im großen Hof des Palastes zusammengekommen war und das Spektakel verfolgte, das ihnen dargeboten wurde. Die Verbrennung eines leibhaftigen Dämons ! Ein lichterloh brennender Scheiterhaufen bildete den Mittelpunkt des Hofes und die lodernden Rammen warfen bizarre Schatten an die Wände ringsum. Als Nostradamus den Scheiterhaufen erreichte, hatte der "Dämon" sein Leben längst ausgehaucht. Dem Seher blieb nichts anderes übrig, als mit anzusehen, wie der schuppige Körper endgültig zu Asche verbrannte und ihn erfüllte -309-
unbändige Wut. Seine gesamte Reise war umsonst gewesen mehr noch, er hatte sich der Chance beraubt, weitere Dinge von dem Wesen zu erfahren. Allein das wenige, was er gehört hatte, war nicht minder unglaublich gewesen wie das Wesen selbst. Nachdem der Scheiterhaufen erloschen war, zerstreute sich die Menschenmenge. Die Leute waren ungewohnt stumm. So etwas hatte man nie zuvor gesehen und man wusste nun, dass die Dämonen, vor denen die Kirche immer warnte, leibhaftig existierten. Nostradamus begab sich in den Palast. Zu seinem Erstaunen wurde er ohne jedes Problem zum Großinquisitor vorgelassen. "Sagt mir nur eines!" rief er mit wutbebender Stimme, als er vor ihn trat. " Warum?" Marquetor musterte den Seher unwillig. In seinen Augen loderte nun wieder jenes alles verzehrende Feuer, das schon in den letzten Jahrzehnten darin gelegen und jedem Angeklagten klargemacht hatte, dass er keinerlei Gnade oder Nachsicht zu erwarten hatte. Fast schien es, als hätte ihm der Anblick des brennen- 338 den Scheiterhaufen und der Gestank des verbrannten Fleisches zumindest vorübergehend wieder einen Teil seiner alten Kraft zurückgegeben. Und seines alten Hasses! " Weil es Sünde gewesen wäre, diese Ausgeburt der Hölle auch nur einen einzigen Tag länger am Leben zu lassen", erwiderte er mit fester Stimme. "Oder sie gar aufzupäppeln. Nein, ich konnte es vor meinem Gewissen nicht mehr länger verantworten, gegen die Anweisung des Papstes zu verstoßen. So hat das Volk die Gelegenheit erhalten, mit eigenen Augen zu sehen, gegen was für eine Dämonenbrut wir kämpfen. Ich denke, am kommenden Sonntag werden die Kirchen hier besonders voll sein." "Aber warum habt Ihr mir nicht zumindest ein paar wenige Tage mehr Zeit gelassen? Denkt nur daran, was wir von ihm -310-
alles hätten erfahren können! " "Was hätte er uns schon erzählen können außer Lügen und Versuchen, uns zu verblenden? " rief Marquetor inbrünstig. "Er wollte etwas über seine Heimat erzählen. " "Seine Heimat?" Marquetor lachte. "Dieser Dämon kam aus der Hölle. Was sollte er uns schon darüber erzählen können, das wir noch nicht wissen? Wir wissen genug, um jedem Tag darum zu beten, dass uns dereinst das Höllenfeuer verschonen möge." Nostradamus sah ein, dass es keinen Sinn hatte, mit dem Großinquisitor darüber zu diskutieren. Marquetor sah es offenbar ebenso. "Und nun geht! Es gib t hier nichts mehr für Euch zu tun und ich brauche Eure Dienste nicht mehr. Ich hätte von Anfang darauf verzichten sollen. " "Eine Frage noch. Was ist mit dem Armreif, den die Kreatur bei sich hatte?" "Hofft Ihr etwa, dass ich ihn Euch aushändige? Das könnt Ihr Euch aus dem Kopf schlagen. Dieser Armreif wird von einem Boten direkt zum Vatikan gebracht. Der Papst wünscht dieses Schmuckstück zu sehen. Und danach wird es hoffentlich für lange, lange Zeit in einem tiefen Keller verschwinden. Und nun geht, ehe ic h es mir anders überlege und trotz aller schützenden Hände über Eurem Haupt doch noch Anklage erhebe!" Nostradamus wusste, dass es eine leere Drohung war. Eine solche Anklage würde es nicht geben. Aber in einem hatte der Großinquisitor recht: Es gab hier in der Tat nichts mehr für ihn zu tun. Also wandte er ihm grußlos den Rücken und kehrte in seinen Heimatort Salon zurück. Und dort, nach weiteren langen nächtlichen Studien, beschloss er, den restlichen Teil seines Lebens denjenigen Geheimnissen zu widmen, in die er in den letzten Tagen einen -311-
kleinen Einblick erhalten hatte. Pierre Leroy ließ das letzte Blatt sinken. "Uff!" entfuhr es ihm. Nur langsam kehrten ihre Sinne wieder ins Hier und Jetzt zurück. Zu phantastisch mutete die Episode an, der sie gerade gedanklich beigewohnt hatten. "Was sagen Sie?" fragte Pater Armand. "Halten Sie das Manuskript für authentisch? " Wieder konnten Pierre und Gudrun nur einen langen Blick wechseln. In Anwesenheit des Priesters wollten sie ihre Gedanken nicht frei aussprechen. Aber sie beide waren sich sicher, dass dieser Bericht echt sein musste. So etwas hätte sich kein Fälscher ausdenken können. Woher hätte er von Kar und der Rolex wissen sollen? "Sie haben selbst gesagt, dass es nicht möglich ist, die Echtheit des Papiers festzustellen", antwortete Pierre. "Aber der Inhalt ist zweifelsohne hochinteressant. Könnten Sie uns davon eine Kopie anfertigen? " Pater Armand nickte. Er wirkte etwas niedergeschlagen, weil ihm die beiden Forscher bei dieser Frage nicht weiterhelfen konnten. Er hatte insgeheim große Hoffnungen darauf gesetzt. "Entspricht es denn Ihrem Interesse über diese Echsen?" fragte er neugierig. "Ich versichere Ihnen, nach genau so etwas haben wir Ausschau gehalten", sagte Pierre. "Aber bitte haben Sie Verständnis, wenn meine Kollegin und ich uns erst einmal in Ruhe über die mögliche Bedeutung dieses Textes austauschen möchten. Und dasselbe gilt natürlich für die anderen Mitarbeiter von A.I.M.. Aber wenn wir eine Kopie erhalten haben, werden wir uns etwas später sicher bei Ihnen melden. Wir werden sehen, was wir Ihnen dann berichten können. " -312-
Sehr zufrieden wirkte der Priester nicht, aber er akzeptierte die Antwort. "Nur eine Frage noch", bat er. "Sie haben gesagt, dass aufrechtgehende Echsen dieser Art schon öfter in der Geschichte der Menschheit aufgetaucht sind. Und Ihrer Reaktion entnehme ich, dass die Echse in diesem Text auch dazu gehört. Können Sie mir sagen, was das für Wesen sind? Dämonen können es ja wohl schlecht sein!" Außerirdische! hallte die Antwort durch Pierres Kopf. Nein, korrigierte er sich sofort, Menschen, die durch eine außerirdische Technologie in Echsen verwandelt wurden! Aber das konnte er dem Priester schlecht sagen. "Nein, Dämonen sind es mit Sicherheit nicht", antwortete er statt dessen. "Aber sehr viel mehr wissen wir auch nicht. Wir hoffen, es noch herauszufinden. Nur denken Sie bitte daran, dass die Möglichkeiten unseres Institutes 341 recht begrenzt sind und wir noch anderen Mysterien nachgehen." Auch das stimmte nicht. Seit mehr als zwei Jahren führte plötzlich jede Spur, die sie verfolgten, fast zwangsläufig immer wieder zu den Echsen. Egal, wo sie anfingen, sie landeten immer wieder bei demselben Ziel. Die Echsen schienen geradezu A.I.M.S Rom zu sein, zu dem alle Wege führten. "Gut, dann werde ich mich in Geduld fassen." Pater Armand nahm das Manuskript wieder entgegen und packte es ein. "Ich werde Ihnen möglichst gute Kopien zukommen lassen. " Gudrun und Pierre erhoben sich. Es drängte sie danach, unter vier Augen über diese Dinge zu reden. Zu viel lag ihnen auf der Zunge. "Ich habe ebenfalls noch eine Frage", meinte Pierre. "Sie haben sich bestimmt lange mit diesem Manuskript beschäftigt. Darin steht geschrieben, dass Nostradamus sich den Rest seines Lebens um diese Fragen kümmern wollte. Haben Sie -313-
irgendwelche Hinweise aus seinem Werk, was er dabei herausgefunden hat?" Pater Armand schüttelte den Kopf. "Bedaure. Dieses Thema scheint ausschließlich in diesem Manuskript vorzukommen. Und Sie können mir glauben, ich habe akribisch danach gesucht. Aber andererseits bin ich nur ein einfacher Archivar." "W'issen Sie vielleicht etwas von irgendwelchen anderen Manuskripten, die wie dieses der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind?" Pater Armand zögerte. "Hm. Eines gäbe es. Es soll genauso aus dem später geöffneten Grab von Nostradamus stammen. Und es befindet sich in privatem Besitz." "Wissen Sie, bei wem?" 342 "Ein Bibliothekar oder Sammler. Ich hatte vor vielen Jahren mal Kontakt mit ihm. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen die Adresse heraussuchen. " "Tun Sie das bitte." "Aber ich warne Sie. Von diesem anderen Manuskript sollen nur Bruchstücke erhalten sein. Und es geht darin weder um Dämonen, Echsen noch sonst etwas, was Parallelen zu diesem Text hätte. Ich glaube also nicht, dass es Ihnen in Ihrer Angelegenheit weiterhilft." "Wissen Sie etwas über den Inhalt dieses Manuskriptes?" fragte Gudrun. "Nur das, was mir der Sammler damals erzählt hat", antwortete der Priester. "Er war auf der Suche nach Spuren zu den achtundfünfzig verschollenen Prophezeiungen, die bis heute nie aufgetaucht sind. Er war der Meinung, dass Nostradamus sie nicht in Buchform hinterlassen hat, sondern sie an einem geheimen Ort in Stein gemeißelt hätte. Also eine Art steinerne Prophezeiung. " "Wie bitte?" entfuhr es Gudrun und Pierre zugleich. Wieder -314-
hatten sie wie schon so oft in den letzten Minuten - das Gefühl, eine große Entdeckung zu machen. Eine steinerne Prophezeiung! In der Orakelbotschaft hatte gestanden, dass sie genau auf diese Spur stoßen würden. Und bei dem Anblick dieser steinernen Prophezeiung sollte sich alles zusammenfügen! "Ja, Sie haben richtig gehört", bestätigte der Pater. "Aber ich muss gleich hinzufügen, dass dies seine Einzelmeinung ist. Er schien mir überhaupt ein verschrobener Kerl zu sein." "Egal", sagte Gudrun. "Wenn Sie uns die Adresse trotzdem heraussuchen würden. " Pater Armand tat das und wenig später verabschiede- 343 ten sich die beiden Abenteurer von dem alten Priester. "Ein Orakelhocker, den Nostradamus benutzt hat", fasste Gudrun zusammen, als sie vor dem Büro unter sich waren, "eine Echse im Mittelalter, die eine Rolex getragen und sich Richard Kar genannt hat - wenn das keine überraschenden Ergebnisse sind!" "Und die Spur zu einer Steinernen Prophezeiung", fügte Pierre hinzu. "Was immer sie aussagt." "Eines verstehe ich beim besten Willen nicht. Was sucht Kar in einem solchen Manuskript? Wie kann er vierhundertfünfzig Jahre in die Vergangenheit gelangt sein? Er ist doch tot, umgekommen beim Absturz seiner Pyramide!" "Dafür habe ich ebenso wenig eine Erklärung wie du", pflichtete Pierre Leroy ihr bei. Er atmete üef durch. "Aber eines weiß ich. Egal wie er dort hingekommen ist - er ist dort auf jeden Fall zum zweiten Mal gestorben. " "Ja, auch das ist sehr mysteriös", meinte Gudrun leise. "Ich hätte nie gedacht, dass wir noch einmal auf ihn stoßen würden. Wenn auch nur in dieser Form. " -315-
"Immerhin wissen wir, wo wir beide weiterzusuchen haben", sagte Pierre. "Und ich schätze, dort warten vermutlich ein paar ähnlich interessante Entdeckungen auf uns." Gudrun sah auf den Zettel mit der Adresse des Sammlers. Es würde eine weitere kleine Reise bedeuten, aber noch hielt ihr Wasservorrat. Im Augenblick war dieses Problem für sie ohnehin nebensächlich. Zu sehr hatte sie das Forscherfieber gepackt. "Ja", sagte sie nur und in ihren Augen blitzte es voller Vorfreude auf.
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Epilog Dunkle, regnerische Wolken lagen über den Zinnen des Schlosses Oake Dun. Ein beständiger Nieselregel ging hernieder und ein kalter Wind fegte. Es war ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür gejagt hätte. Dennoch waren draußen zwei Gestalten zu erkennen, die unbeirrt um das Schloss herumgingen und sich verschiedene Dinge ansahen. "Hier", sagte Mortimer und deutete auf mehrere marode Abflussrohre. "Die müssen auch ausgetauscht werden. Nehmen Sie die in die Liste auf. " "Abgespeichert", erwiderte Elwood. Sie gingen weiter. "Darf ich Sie etwas fragen?" erkundigte sich der Mann in Schwarz. "Nur zu." "Sind Sie sich wirklich sicher, dass Sir lan die Anweisung gegeben hat, das Schloss in der Zeit seiner Abwesenheit renovieren zu lassen? " Der alte Diener seufzte. Hielt ihn denn jeder für senil? "Aber natürlich", antwortete. "Er hat mir das noch direkt vor seiner Abreise aufgetragen. " "Verstehe." Sie nahmen die nächsten Daten auf, die Mortimers Cousin in Thurso brauchte, um alle erforderlichen Materialien zu bestellen. "Darf ich Sie noch etwas fragen? " Mortimer seufzte. "Wenn's sein muss." "Sind Sie sich auch wirklich sicher, dass Sir lan die Fassade in dieser Farbe haben wollte?" fragte Elwood weiter. -317-
Mortimer blieb stehen. "Hören Sie, ich bin kein Anfänger! Ich arbeitete nun schon seit... seit..." Er runzelte die Stirn und dachte ein paar Momente lang nach, "...na ja, seit einer halben Ewigkeit hier auf Oake Dun und ich weiß genau, wann Sir lan etwas anordnet und wann nicht. Nun gut, das muss ich einräumen. Ein wenig hat mich die Farbwahl auch gewundert. Aber es liegt mir nicht an, mich da einzumischen. Sir lan ist schließlich der Schlossherr." Mortimer hob den Zeigefinger und stocherte in der Luft herum. "Und wenn er Oake Dun rosarot haben will, dann ist das ganz allein seine Entscheidung. " "Ganz allein seine Entscheidung. Verstehe." Sie gingen weiter und setzten ihr Werk fort. Keiner von ihnen bemerkte den hageren, hochgewachsenen Mann, der sie aus dem nahen Waldstück heraus aufmerksam beobachtete. Er wischte sich eine Strähne seines nassen, blonden Haares aus der Stirn und um seine Lippen spielte ein entrücktes, glückliches Lächeln. George Bentley verspürte bei dem Anblick des Schlosses ein Hochgefühl, wie er es schon lange nicht mehr empfunden hatte. Genau so lange, wie man ihn daran gehindert hatte, hierher zu kommen. Doch nun hatte er es geschafft und niemand hatte ihn aufhalten können. Es war endlich soweit. Er war wieder zu Hause! Nun konnte er mit seinem Werk beginnen, das Schloss zu säubern. Sein Schloss!
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