Sabine Ursula Nover Protest und Engagement
Sabine Ursula Nover
Protest und Engagement Wohin steuert unsere Protestku...
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Sabine Ursula Nover Protest und Engagement
Sabine Ursula Nover
Protest und Engagement Wohin steuert unsere Protestkultur?
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Diss. TU Dortmund, 2008
. 1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16313-0
Meinen Eltern, in Dankbarkeit für ihren Beistand
Danksagung
Wie jede Dissertation kommt auch diese nicht ohne Danksagung aus, weil sie ohne die Hilfe vieler Menschen nicht hätte entstehen können. Einige davon möchte ich explizit benennen: Zunächst danke ich denjenigen Hertener Bürgerinnen und Bürgern, die sich die Zeit genommen haben, mit mir die zum Teil sehr langen Interviews zu führen. Ganz besonders möchte ich Frau Gertrud Fleischmann danken, ohne deren lückenlose Pressesammlung der entsprechende Analyseteil dieser Arbeit nicht hätte entstehen können. Die Diskussionen mit Dr. Michael Jonas haben mir (wie immer) aus vielen Krisen und Sackgassen geholfen. Geduld und wichtige Hinweise habe ich von Prof. Dr. Ursula Schumm-Garling und Prof. Dr. Hartmut Neuendorff, die diese Arbeit begutachtet haben, bekommen. Letzter war vor allem in Methodenfragen eine große Hilfe. Immer ein offenes Ohr, Unterstützung und gute Tipps hatten Christian Nover, Alexandra Dirkes und Ulrike Rox für mich. Und last but not least hat mir Peter Peitz nicht nur in allen Lebenslagen zur Seite gestanden, sondern auch bei Recherche- und Computerproblemen aller Art wahre Wunder vollbracht. Danke!
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Inhalt
Abkürzungsverzeichnis ...................................................................................... 12 I. Inhalt und Aufbau dieser Studie ................................................................. 13 I.1 Das Thema der Studie ............................................................................ 13 I.2 Die Anlage der Studie ............................................................................ 14 I.3 Die Wahl der Methoden ......................................................................... 16 I.4 Der Aufbau der Studie ........................................................................... 17 II. Theoretische Grundlagen ........................................................................... 20 II.1 Klärung der Begriffe Engagement, Protest, Widerstand ...................... 27 II.2 Was sind Bürgerinitiativen, was sind soziale Bewegungen? ................ 30 II.3 Analyseansätze ..................................................................................... 35 II.3.1 Stärker strukturorientierte Ansätze ........................................ 36 II.3.1.1 Ressourcen-Mobilisierung ....................................... 36 II.3.1.2 Structural Strains ..................................................... 39 II.3.1.3 Political Opportunity Structure ................................ 40 II.3.2 Stärker handlungsorientierte Ansätze .................................... 43 II.3.2.1 Kollektive Identität .................................................. 43 II.3.2.2 Framing ................................................................... 46 II.4 Öffentlichkeit ....................................................................................... 50 II.4.1 Was ist Öffentlichkeit? .......................................................... 51 II.4.2 Welche AkteurInnen treten auf? ........................................... 54 II.4.3 Was ist öffentliche Meinung? ............................................... 60 II.4.4 Die Bedeutung der Öffentlichkeit für Soziale Bewegungen und Bürgerinitiativen – die Theorie des Agenda-Setting ................ 63 II.4.5 Strategien der Sozialen Bewegungen / Bürgerinitiativen ...... 66 II.4.6 Analyse des wechselseitigen Einflusses ................................ 70 II.5 Die Forschungsmethoden ..................................................................... 72 II.5.1 Begründung der Methodenwahl ............................................ 72 II.5.2 Die Rolle des Vorwissens ..................................................... 73 II.5.3 Die Fallauswahl .................................................................... 76 II.5.4 Die Datenbasis ...................................................................... 76 II.5.5 Das Instrumentarium ............................................................. 77 9
II.5.6 Die Methode ‚Grounded Theory’ .......................................... 79 II.5.7 Die Methode ‚Narrationsanalyse’ ......................................... 82 III. Empirischer Teil – Erhebung und Auswertung der Daten .................... 88 III.1 Darstellung des Hintergrundes ............................................................ 88 III.1.1 Stadtgeschichte Hertens ....................................................... 88 III.1.2 Grundsätzliches zur Thematik ............................................. 92 III.1.2.1 Forensische Psychiatrie .......................................... 92 III.1.2.2 Rahmenbedingungen des Maßregelvollzugs .......... 96 III.1.3 Überblick über den Ablauf der Ereignisse und die Geschichte der Bürgerinitiative gegen eine Hertener Forensik .... 100 III.2 Analyse der natürlichen Daten ......................................................... 103 III.2.1 Analyse der Materialien der Stadt Herten .......................... 103 III.2.2 Analyse der Materialien der Bürgerinitiative ..................... 110 III.2.3 Analyse der Zeitungs- und Zeitschriftenartikel ................. 120 III.3 Analyse der künstlich erzeugten Daten: Interviews ......................... 132 III.3.1. Rekonstruktion der Ereignisse („biografische Daten“) ..... 134 III.3.2 Fall 1 .................................................................................. 164 III.3.2.1 Sequenzanalyse .................................................... 164 Transkriptionsregeln ............................................ 164 III.3.2.2 Rekonstruktion der Fallgeschichte und Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Geschichte ................... 181 III.3.2.3 Typenbildung ....................................................... 184 III.3.3 Fall 2 .................................................................................. 187 III.3.3.1 Sequenzanalyse .................................................... 187 III.3.3.2 Rekonstruktion der Fallgeschichte und Kontrastierung der der erzählten mit der erlebten Geschichte .............. 207 III.3.3.3 Typenbildung ....................................................... 210 III.3.4 Fall 3 .................................................................................. 215 III.3.4.1 Sequenzanalyse .................................................... 215 III.3.4.2 Rekonstruktion der Fallgeschichte und Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Geschichte .................. 220 III.3.4.3 Typenbildung ....................................................... 225 III.3.5 Fall 4 .................................................................................. 226 III.3.5.1 Sequenzanalyse .................................................... 226 III.3.5.2 Rekonstruktion der Fallgeschichte und Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Geschichte ................... 231 III.3.5.3 Typenbildung ....................................................... 233 III.3.6 Gesamtfazit der Typenbildung ........................................... 234 III.4 Kontrastierung aller Analyseebenen ................................................. 237 10
III.4.1 Kernthemen der Argumentation gegen den Bau ................ 238 III.4.1.1 Standortwahl ........................................................ 238 III.4.1.2 Vorgehensweise des LWL ................................... 242 III.4.1.3 Situation in Herten ............................................... 245 III.4.1.4 Auseinandersetzung mit dem Konzept der Forensischen Psychiatrie .................................................... 246 III.4.2 Darstellung und Einschätzung der Rahmenbedingungen .. 249 III.4.2.1 Politik ................................................................... 249 III.4.2.2 Kritik an den Aktionen und Opposition ............... 253 III.4.2.3 Darstellung in der Presse ...................................... 254 III.4.2.4 Klima ................................................................... 255 III.4.3 Die Auswirkungen der Proteste ......................................... 259 III.4.3.1 Erfolg ................................................................... 259 III.4.3.2 Erfahrungen .......................................................... 260 IV. Sicherung der Ergebnisse und Ausblick ................................................ 262 IV.1 Anbindung der empirischen Ergebnisse an die Theorie .................... 262 IV.1.1 Ressourcen-Mobilisierungs-Ansatz ................................... 264 IV.1.2 Political Opportunity Structure .......................................... 267 IV.1.3 Kollektive Identität ............................................................ 268 IV.1.4 Framing ............................................................................. 270 IV.1.5 Öffentlichkeit ..................................................................... 272 IV.1.6 Fazit ................................................................................... 274 IV.2 Ausblick: Die gesellschaftliche Ebene .............................................. 279 1. Anknüpfungspunkt: Mobilisierung ........................................... 279 2. Anknüpfungspunkt: Framing .................................................... 280 3. Anknüpfungspunkt: Handlungspraktiken ................................. 280 4. Anknüpfungspunkt: Organisation des Handelns ....................... 282 5. Anknüpfungspunkt: Öffentlichkeit ........................................... 284 6. Anknüpfungspunkt: Konflikte .................................................. 286 Ausblick ........................................................................................ 287 Literaturliste und Quellenverzeichnis .............................................................. 289
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Abkürzungsverzeichnis
BauGB BI DV-MRVG HA LWL IBA MRVG-NW StGB StPO UBH WAZ
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Baugesetzbuch Bürgerinitiative Durchführungsverordnung zum Maßregelvollzugsgesetz Hertener Allgemeine Zeitung Landschaftsverband Westfalen-Lippe Internationale Bauaustellung Emscherpark Maßregelvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Unabhängige Bürgerinitiative Herten e.V. Westdeutsche Allgemeine Zeitung
I. Inhalt und Aufbau dieser Studie
I.1 Das Thema der Studie Um diese Arbeit vorstellen zu können, ist es hilfreich, zunächst die Vorüberlegungen darzulegen. Der Auslöser meines Interesses war ein Fernsehbericht über eine Bürgerinitiative (BI) in meiner Nachbarstadt, die sich gebildet hatte, um eine therapeutische Wohngruppe in ihrem Viertel zu verhindern. Die Argumentationen der BI, ‚solche Leute’ nicht in ihrer Nachbarschaft haben zu wollen, die behauptete Minderung des Wohnwertes und der Wertverlust ihrer Eigenheime, hat mich stutzen lassen, woraufhin mir immer öfter ähnliche Gruppierungen aufgefallen sind. Ich fragte mich, ob dieses Phänomen, wenn es denn überhaupt eins ist, neu ist und um welchen Typus Bürgerinitiative es sich dabei handeln mochte. Bei oberflächlicher Betrachtung sieht es zunächst so aus, als wären solche Bürgerinitiativen das Gegenteil typischer sozialer Bewegungen wie der Frauen- oder Arbeiterbewegung, oder auch den in der Literatur in Abgrenzung zu diesen Klassikern als Neue soziale Bewegungen titulierten Friedens- oder der Anti-AtomBewegung oder der Bewegung der Globalisierungskritiker/innen1. Diese Bewegungen haben sich das Wohl einer großen Allgemeinheit auf die Fahnen geschrieben – und bei den gerade genannten BIs vermutet man zunächst Egoismen, also die Verkörperung des ‚St.-Florian-Prinzips’: ‚Lieber guter Florian, verschon’ mein Haus, zünd and’re an’ – da die Proteste und der angestrebte Erfolg allein auf die direkt Betroffenen beschränkt bleiben. Ist daran ein gesellschaftlicher Klimawandel fest zu stellen, hin zu mehr Egoismus, weg von Solidarität? Nachdem mein Interesse geweckt war, bin ich auf den Fall Herten gestoßen. Dabei handelt es sich um eine Bürgerinitiative, die als erste dieses lokalen/regionalen Typs deutschlandweite Bekanntheit erlangt hat, und die nach diesem Prinzip zu funktionieren schien. In Herten sollte eine forensische Klinik zur Unterbringung und Therapie psychisch kranker Straftäter/innen gebaut werden. Anscheinend über Nacht mobilisierten die Hertener/innen Groß und 1 In dieser Arbeit werde ich, wenn wie hier möglich, beide Geschlechterformen verwenden; wo die Deklinationsformen das nicht zulassen, benutze ich die weibliche Form mit großem I.
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Klein; die ganze Stadt schien geschlossen Front gegen diese Pläne gemacht zu haben. Die Ereignisse lagen, als ich anfing, mich damit zu beschäftigen, schon einige Jahre zurück; ähnliche Phänomene gab es zwar auch aktuell, doch Herten hatte eine Vorreiterrolle. Auch hatte keine der neueren BIs ein ähnliches landesweites Echo hervorgerufen, was ebenfalls für Herten sprach: War die BI so ungewöhnlich oder waren die Umstände einfach besonders günstig? Denn die Proteste waren erfolgreich: Die Pläne für den Bau wurden nach einjährigem Ringen fallengelassen. Nun ist das oben benannte Forschungsinteresse an einem etwaigen gesellschaftlichen Klimawandel, der sich in dieser BI zeigen könnte, nicht ohne weiteres in eine handhabbare Forschungsfrage zu übersetzen. Dazu muss das Ganze in Teilschritte zerlegt werden.
I.2 Die Anlage der Studie Untersuchungsstränge 1. 2. 3.
Empirie: die Bürgerinitiative Theorie: Vergleich und Anwendung Forschungsmethoden: Anwendung in neuem Bereich
Mein Forschungsinteresse lässt sich in drei Stränge gliedern, die jeweils eigene Forschungsfragen haben. Der erste Strang führt in die Empirie. Dort muss die Frage nach dem Besonderen an Herten beantwortet werden. Dazu ist in einer detaillierten Analyse dieses Falles zu untersuchen, um welchen Typus von Bürgerinitiative es sich handelt, welche Strukturen der Protest aufweist, welche Rahmenbedingungen vorzufinden sind und welche Bedingungen für den Erfolg sich finden lassen. Der zweite Strang bildet sich, wenn man der Frage des Vergleiches – was war in Herten anders als woanders – weiter nachgeht, der ich über die Theorie näher gekommen bin. Es gibt vielfältige Arbeiten über unterschiedliche soziale Bewegungen mit sehr differierendem Untersuchungsfokus, auf die zurückgegriffen werden kann. Diese günstige Materiallage ist für den Abgleich mit der Theorie von ausschlaggebender Bedeutung, da in diesem Schritt die Frage zu stellen sein wird, ob sich die für die Analyse sozialer Bewegungen entwickelten Instrumente gewinnbringend auf Bürgerinitiativen vom Typ Herten anwenden lassen. Es gibt augenfällige Unterschiede zwischen der untersuchten BI und den 14
angesprochenen Bewegungen; wie sieht es mit Analogien aus? Solche Ähnlichkeiten wären für die Analyse besonders ertragreich, weil sie viele Erklärungsgründe für Erfolgsbedingungen sozialer Bewegungen, wie sie in der Literatur genannt werden, relativieren oder bestätigen helfen, sollte sich die so vermutete Vergleichbarkeit bewahrheiten. Mit der Suche nach den Erfolgsbedingungen kann die Frage einer etwaigen Besonderheit Hertens weiter spezifiziert und damit handhabbar gemacht werden. Zugleich verbinden sich erster und zweiter Strang damit wieder. Um vom Fall Herten zu abstrahieren und das für solche Bürgerinitiativen Typische herausstellen zu können, habe ich in einem späteren Analyseschritt danach gefragt, welches demokratisierende Potential diese BIs in sich tragen. Haben die Erfahrungen, die die Menschen, die sich kurz- oder mittelfristig für eine Sache einsetzen, Auswirkungen auf ihr weiteres soziales oder politisches Engagement? Ändern sich ihre Einstellungen zu politischen Fragen oder solchen des Gemeinwohls? Entwickelt sich gar die Zivilgesellschaft durch kleine, lokale Bürgerinitiativen? Das könnte der Fall sein, wenn eine Spirale in Gang gesetzt wird: Andere Bürger/innen fassen Mut sich zusammenzuschließen, Konzepte für gesellschaftlich zu lösende Probleme geraten auf den Prüfstand, Gesetzte werden geändert. Sind diese typischen Mechanismen sozialen Wandels auch hier am Werke? Und in welche Richtung führen sie? Diese Fragen lenken direkt auf die gesellschaftliche Ebene und lassen sich nur dort beantworten. Der dritte Strang wird gebildet durch die Anwendung der Auswertungsmethode ‚Narrationsanalyse’, die, für die Biografiefiorschung entwickelt, hier ihre gewinnbringende Anwendbarkeit in einem anderen Feld zeigen soll. Dazu im folgenden Kapitel mehr. Meine Forschungsinteressen richten sich damit auf drei unterschiedliche Ebenen, womit sich zusammengefasst folgendes Bild ergibt: Forschungsinteresse an: - der Ebene des Falls Herten - der Ebene der Forschungsmethode - der gesellschaftlichen Ebene
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I.3 Die Wahl der Methoden Eine der Grundfragen empirischer Forschung, welche Methode der Forschungsfrage angemessen ist, war hier nur durch die Entscheidung für einen Methodenmix zu beantworten. Da hier, wie oben aufgeführt, mehrere sehr unterschiedliche Forschungsfragen zu beantworten sind, liegt es auf der Hand, dass eine Methode alleine den divergierenden Anforderungen nicht gerecht werden kann. Bei den Erhebungsmethoden habe ich mich für das Sichten von Flugblättern, Internet-Auftritten, Zeitungsartikeln und das Führen von Interviews entschieden. Für die natürlichen Daten (in diesem Fall Veröffentlichungen von Bürgerinitiative und Stadt Herten sowie Artikel regionaler und überregionaler Zeitungen) und die künstlichen Daten (die von mir geführten Interviews) kamen entsprechend den unterschiedlichen Fragen, die ich an sie gestellt habe, unterschiedlichen Auswertungsmethoden zur Anwendung. Neben der Tatsache, dass man damit den unterschiedlichen Materialien und den Anforderungen an die Analyse, wie ich sie mir vorgestellt habe, besser gerecht werden kann, bietet ein Methodenmix auch immer die Möglichkeit, zusätzliche Ergebnisse zu erlangen, wenn man die der einen mit denen der anderen vergleicht. Für die Analyse der natürlichen Daten waren die Verwendung von Begriffen, Rhetoriken, Verweisen oder Hinweisen für mich von besonderem Interesse. Das liegt vor allem daran, dass ein entscheidender Faktor für die Untersuchung jeder Bürgerinitiative die Öffentlichkeit ist, genauer das Verhältnis von Öffentlichkeit und BI bzw. Bewegung und – wenn möglich – die Analyse des Einflusses davon auf Aktionen und Erfolge. Diese Ergebnisse sind auch für die abschließende Diskussion, ob und wieweit die Erkenntnisse über Herten Aufschluss auf gesellschaftliche Entwicklungen zulassen, unerlässlich. Die zu wählende Methode muss in die Lage versetzen, die Fülle des Materials auf wesentliche Begriffe oder Kategorien zuzuspitzen, das heißt also schrittweise die Essenz daraus zu entwickeln. Die Methode der Wahl ist hier die Grounded Theory, die über ein für diese Aufgaben gut ausgearbeitetes Instrumentarium verfügt. Bei der Analyse der künstlich erzeugten Daten waren für mich die Sichtweisen einzelner AkteurInnen und deren Einordnungen oder Bewertungen der Ereignisse im Mittelpunkt des Interesses, die Analysen von Textstruktur und manifestem und latentem Sinngehalt des Gesagten notwendig machten. Dazu kommen nur hermeneutische Verfahren in Frage. Auch wenn sie für die Biografieforschung entwickelt wurde und hier eine, im ersten Fall sogar ziemlich kurze
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Biografiephase interessierte, entspricht doch die Narrationsanalyse am genauesten den hier gestellten Anforderungen2. Zusammengefasst stellt sich das wie folgt dar:
Methodenmix Natürliche Daten Erhebung: Sammeln aller verfügbaren Materialien Ziel: Reduktion des Materials durch Bildung von Kategorien Auswertung: => Grounded Theory
Künstliche Daten Erhebung: Leitfadeninterviews Ziel: Subjektive Sicht und Perspektiven der Handelnden erheben Auswertung: => Narrationsanalyse
Mit dieser Entscheidung erhärtet sich der dritte Strang meines Forschungsinteresses, nämlich der zu erbringende Nachweis der Tauglichkeit der Narrationsanalyse für die Untersuchung von Gruppen und nicht-biografischen Fragestellungen.
I.4 Der Aufbau der Studie Konkret umgesetzt finden sich diese Überlegungen in der Arbeit so, dass zunächst im Teil II das für die Bearbeitung notwendige Rüstzeug entfaltet und die Begrifflichkeiten, die Verwendung finden sollen, herausgearbeitet werden. Vor allem interessiert hier, wie sich Engagement, Protest und Widerstand, häufig synonym verwandte Begriffe, voneinander abgrenzen lassen (II.1), und was Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen unterscheidet (II.2). Zur Untersuchung letzter steht ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfügung, das sich in stärker struktur- und mehr handlungstheoretisch orientierte Ansätze unterteilen lässt; einige aus beiden Gruppen, die mir besonders vielversprechend für den hier vorliegenden Fall erscheinen, stelle ich detailliert vor (II.3). Die Öffentlichkeit liefert Rahmen, Projektionsfläche und Resonanzboden für jede Bürgerinitiative. Sich ihre ProtagonistInnen, Wirkungsmechanismen und wechselseitige Einflüsse vor Augen zu führen, ist auch für das Verständnis der Hertener BI von besonderer Bedeutung; daher ist ihr ein eigenes Kapitel gewidmet (II.4). 2 Genaueres zur Methodenwahl in Kapitel II.5
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Der Tatsache geschuldet, dass diese Arbeit auch eine Methodenarbeit ist, werden anschließend einige Grundlagen der Forschungsmethodologie sowie die hier angewandten Erhebungs- und Auswertungsmethoden vorgestellt (II.5). Dieser Schwerpunkt hat sich zum einen durch den oben genannten dritten Interessensstrang, der Frage der Anwendbarkeit der Narrationsanalyse auf diesen Fall, ergeben; zum anderen wollte ich aber auch eine empirische Arbeit vorlegen, bei der alle Analyseschritte transparent und nachvollziehbar sind. In meiner langjährigen Arbeit als Dozentin für Qualitative Forschungsmethoden bin ich immer wieder auf das Problem gestoßen, Studierenden Methoden theoretisch erklären zu müssen, ohne Studien zur Verfügung zu haben, die jeden Schritt ihrer Analyse und Interpretation offen gelegt hätten. Für einige Methoden liegen solche Untersuchungen vor, für die meisten nicht. Dem wollte ich hiermit Abhilfe schaffen. Das führt allerdings für diejenigen, die methodisch weniger wissbegierig sind, zu echten Herausforderungen, was das Durchhaltevermögen beim Lesen angeht. Ich habe mit einer diese unterschiedlichen Interessen berücksichtigenden Struktur und Lesetipps zu Anfang der Analysekapitel versucht, dem Rechnung zu tragen. Dementsprechend bildet die Empirie den größten Block. Zunächst illustriere ich den Ort, in dem dieser Fall spielt (III.1.1), und liefere einige grundsätzliche Informationen über die Thematik der forensischen Psychiatrie sowie die Gesetzeslage des Maßregelvollzugs (III.1.2). Dann folgen die eigentlichen empirischen Kapitel, beginnend mit den Analyseergebnissen der natürlichen Daten: den Veröffentlichungen der Stadt (III.2.1) und der BI (III.2.2), sowie den im interessierenden Zeitraum erschienenen Zeitungsartikeln (III.2.3). Bei den künstlich erhobenen Daten ergibt sich eine in der Auswertungsmethode liegende Besonderheit: Am Anfang des ersten Falles findet sich die „Darstellung der Ereignisse“ (III.3.1), die für alle vier Unterfälle gilt. Die Narrationsanalyse fordert die Darstellung der biografischen Daten; dem musste für dieses Anwendungsgebiet, für das sie nicht konzipiert wurde, mit geringen Modifikationen Rechnung getragen werden3. Im Anschluss werden, dem oben genannten methodischen Interesse geschuldet, zunächst zwei Fälle sehr detailliert dargestellt (III.3.1 und 2), von zwei weiteren nur die Ergebnisse (III.3.3 und 4). Zusammenfassend findet sich zum Abschluss ein Überblick über zentrale normative Orientierungen und Handlungsmotive der Interviewten, die von den Einzelfällen abstrahierend Beispiele für typische Mitglieder an solchen Protesten darstellen (III.3.5).
3 Details dazu sind im Kapitel II.5.7 und zu Beginn des Kapitels III.3 zu finden.
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Wie ergänzen oder widersprechen sich nun die Ergebnisse der unterschiedlichen Erhebungs- und Auswertungsmethoden? Diese Kontrastierung füllt die folgenden Kapitel, wobei nach drei zentralen Kategorien untergliedert wurde: den Kernthemen der Argumentation gegen den Bau (III.4.1), der Darstellung und Einschätzung der Rahmenbedingungen durch die Beteiligten (III.4.2) und Erfolg und Erfahrungen durch die Proteste, damit den Auswirkungen, die die Vorgänge auf die Protestierenden hatten (III.4.3). Letzteres führt direkt zur oben angesprochenen Frage nach demokratisierendem Potential von Protest oder Engagement und dadurch zur gesellschaftlichen Ebene. Zunächst aber ist damit die Beantwortung der ersten Forschungsfrage, der detaillierten Analyse des Falls Herten, von der genauen Beschreibung des Klimas, der Rahmenbedingungen, der Ereignisse und ihrer Rezeption bis zur Darstellung der Deutungsmuster der Beteiligten, abgeschlossen – und damit gleichzeitig die Beantwortung der dritten Forschungsfrage, dem Nachweis der äußerst gewinnbringenden Anwendbarkeit der Narrationsanalyse auf zunächst nicht dafür gedachte Anwendungsfelder. Folgerichtig gibt es in dieser Arbeit kein Schlusskapitel im klassischen Sinn; nicht nur, um langweilige Wiederholungen durch Zusammenfassung der vorher bereits genannten Ergebnisse zu vermeiden, sondern auch um der Fülle des Materials und den drei Strängen des Erkenntnisinteresses gerecht zu werden. Die Sicherung der weiteren Ergebnisse findet daher zunächst in Form der Anbindung der Analyseergebnisse an die im Theorieteil dargestellten Konzepte statt (IV.1), also um den zweiten Strang und die Beantwortung der zweiten Forschungsfrage. Durch die Prüfung der Anwendbarkeit dieser Konzepte für Bürgerinitiativen vom Typ Herten, wird vom eigentlichen Fall abstrahiert wird. Damit weisen alle Ergebnisse auf die gesellschaftliche Ebene, auf die ich mich am Schluss mit einem Ausblick (IV.2) wage; als Sicherungsseil dient dabei ein Raster aus den wichtigsten Analysekategorien der empirischen Ergebnisse, das diesem letzten Kapitel seine Struktur liefert.
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II. Theoretische Grundlagen
Auslöser für Proteste sind soziale Konflikte, ein zentrales Thema soziologischer Gesellschafts- wie auch Akteurstheorien. So haben sich Karl Marx, Max Weber oder Georg Simmel mit dem Thema beschäftigt4, später steht unter anderem Ralf Dahrendorf für eine ausgearbeitete Konflikttheorie. Auch systemtheoretisch interessierte Theoretiker/innen beschäftigen die Probleme, warum, wie, wann Konflikte auftreten und welche Bedeutung sie für Stabilität und Wandel der Gesellschaft haben5. Dabei stand lange Zeit die Kontroverse zwischen stärker am Wandel interessierten und mehr die Stabilität betonenden Theoretiker/innen, zu denen die der Systemtheorie zu zählen sind, im Vordergrund und damit das Unterscheidungskriterium nach Konflikt- oder Konsenstheorie. Dahrendorf hat sein „Konfliktmodell“ der Gesellschaft entsprechend explizit in ablehnendem Bezug auf das Integrationsmodell der strukturell-funktionalen Theorie Talcott Parsons erarbeitet6. Den im Kapitel II.3 vorgestellten Analyseansätzen ist unschwer abzulesen, welche Theorie, z.B. gesellschaftlicher Zentralkonflikte, ihnen zugrunde liegt. Der schon in der Konflikttypologie von Ralf Dahrendorf (1961) angelegte, dort noch wenig ausgearbeitete ‚übergesellschaftliche’ Konflikt spielt in jüngerer Zeit eine zunehmend bedeutsame Rolle. Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an globalisierungskritische oder fundamentalistisch-religiöse Bewegungen und die Diskussionen um einen ‚Kampf der Kulturen’7.
4 Um nur jeweils einen zentralen Aspekt zu nennen: Nach Marx sind Konflikte Interessenkonflikte, die Ausdruck der Produktionsverhältnisse, insbes. der Verteilung des Besitzes an Produktionsmitteln sind. Für Weber sind Wertkonflikte zentral, da im Zuge der Modernisierung der Gesellschaft unterschiedliche Werthierarchien entstanden, nach denen die Einzelnen ihr Handeln ausrichten, und die miteinander in Konflikt geraten. Nach Simmel führen Rationalisierung und Individualisierung zu Konflikten durch Differenzierung der sozial-moralischen Milieus, in die die Einzelnen eingebunden sind, und die unterschiedlichen Bewältigungsstrategien - vgl. dazu Schuhmacher, Ingrid 2001: Sozialer Protest: Konfliktkommunikation, soziale Deutungsmuster und die kulturelle Selbsterzeugung von sozialem Protest. S.11ff und Bonacker, Thorsten (Hrsg.) 2002: Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Opladen S.20ff. 5 beispielhaft dazu Talcott Parsons 1969, der den Begriff ‚Spannung’ verwendet, oder Niklas Luhmann 1991: Soziologie des Risikos und derselbe 1996: Protest 6 Ralf Dahrendorf 1969: Zu einer Theorie des sozialen Konflikts. 7 s. dazu die Kontroverse um das gleichnamige Buch von Samuel P. Huntington, 1996
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Es gibt entsprechend den gerade angesprochenen Theorien und Theorietraditionen verschiedenste Definitionen für den Begriff ‚Konflikt’. Neben der theoretischen Perspektive hängt die gewählte Auslegung auch vom Erkenntnisinteresse ab. Inzwischen herrscht Konsens darüber, Konflikte als „konstitutiv für den lebensweltlichen Alltag der Akteure“ (Bonacker 2002:11) anzusehen8, sie als prozesshaft zu begreifen und ihre Ursachen mindestens zum Teil in der Situationsdeutung der AkteurInnen zu suchen. In der vorliegenden Arbeit geht es nicht um einen gesellschaftstheoretischen Zugang, auch wenn im letzten Kapitel die gesellschaftliche Ebene einbezogen werden soll. Im Zentrum stehen Interaktionen auf der Makro- und vor allem der Mesoebene. Daher wird nicht nach grundlegenden gesellschaftlichen Konflikten gefragt, deren Ausdruck die Proteste in Herten vielleicht sein könnten, sondern vor allem nach Konfliktformen. Das legt eine Definition von Konflikten nahe, die die Interpretation der Gruppe darüber, dass ein Konflikt vorliegt und worin dieser besteht, ins Zentrum stellt. Ob es sich bei einem sozialen Phänomen um einen Konflikt handelt, ist eine Frage der Wahrnehmung. Ingrid Schuhmacher benennt in ihrer Arbeit die Konfliktkommunikation, die u.a. die Benennung des Themas oder den Aufbau von Gegnerschaften beinhaltet, als entscheidend für die Entstehung eines Konfliktes, da erst in ihr sozialstrukturelle Bedingungen mit spezifisch-historischen Deutungsmustern verbunden werden – ein Prozess, in dem die „kulturelle Selbsterzeugung“ einer sozialen Bewegung stattfindet (Schuhmacher 2001:15ff). Es gibt noch eine zweite Grundbedingung für Proteste: das Aktiv-Werden vieler Menschen muss gemeinsam, gleichzeitig und organisiert ablaufen. Mit der Frage, was kollektives Handeln ist, wie es generiert wird und welche Bedeutung es für die Gesellschaft hat bzw. beanspruchen könnte, haben sich ebenfalls Theoretiker/innen unterschiedlichster Ausrichtungen auseinandergesetzt. Dieser Terminus wird in der Regel mit dem der kollektiven Identität verknüpft, indem sie als eine wichtige mögliche Grundlage oder Ursache kollektiven Handelns analysiert wird. Die obige Unterscheidung zwischen Handeln und Verhalten zugrunde gelegt ergeben sich Fragen nach Ausprägungen und Formen sowie seinen Entstehungsbedingungen. Zur Verdeutlichung sei hier eine erste Annäherung an den Begriff kollektiver Identität versucht: „ ein handlungsfähiges und handlungsleitendes „Wir“ … das dazu dient, dem Handeln der AktivistInnen einen Rahmen zu geben“ (Sebastian Haunss 2002:13). Da kollektive Identität nicht nur in aktuellen soziologischen Gegenwartsdiagnosen wie z.B. bei Manuel Castells oder Alberto Melucci eine wichtige Rolle spielt, sondern auch für die 8 Eine umfassende und hochinteressanten Einführung und Zusammenstellung unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Theorien bietet das oben erwähnte, von Thorsten Bonacker herausgegebene Buch (2002).
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Analyse sozialer Bewegungen einen bedeutenden Ansatzpunkt liefert, wird sie in einem eigenen Kapitel (II.3) genauer beleuchtet. Eine dritte Grundbedingung sei hier ebenfalls benannt: Eine zentrale Rolle bei allen Protesten spielt die Öffentlichkeit. Konflikte finden in Arenen (Neidhardt 1994) statt, über sie wird in Medien berichtet – oder nicht. Dieser herausragenden Rolle wird dadurch Rechnung getragen, dass dem Feld ein eigenes Kapitel (II.4) gewidmet ist. In diesem Kapitel soll es vor allem darum gehen, für das Thema Protest zentrale Begriffe und grundlegende Analyseansätze zu klären. In der über 20jährigen Geschichte der Soziologie sozialer Bewegungen haben sich viele, zum Teil nicht klar voneinander abgrenzbare, zum Teil im direkten Widerspruch miteinander stehende, selten sich als komplementär auffassende Analyseansätze herausgebildet. Grob kann man in Ansätze unterteilen, die sich stärker mit Strukturen befassen und solche, die die interaktionistische Seite von Protest in den Vordergrund stellen. Eine andere Möglichkeit der Einteilung wäre es, nach Theorien, die nach der Mobilisierung und solchen, die nach dem Erfolg einer Bewegung fragen, zu unterscheiden. Ebenso könnte man in mikro-, meso- und makrosoziologische Ansätze unterteilen. Ich habe nach den erstgenannten Kriterien unterschieden, weil sie meinen Fragestellungen am besten entsprechen. Bei der Betrachtung des Hertener Falles springt ins Auge, dass die Stadtspitze die Initiatorin des Protestes war. Damit stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit und der Bedeutung politischer Gelegenheitsstrukturen. Die zweite die Struktur betreffende Frage ist die der mobilisierbaren und mobilisierten Ressourcen. Gibt es strukturelle Gründe für den hohen Mobilisierungsgrad? Auf der Seite der handlungstheoretisch zu beantwortenden Fragen gibt es ebenfalls zwei Komplexe: Sind kollektive Identitäten nachweisbar und welche Bedeutung hatten sie für Verlauf und Erfolg der Bewegungen? Wie hat die BI Themen in der Öffentlichkeit platziert, wie hat die Öffentlichkeit Themen, Bewegungen und Aktionen aufgenommen und verarbeitet? Sind Wechselwirkungen nachzuweisen? Die Wurzeln der Bewegungsforschung verortet Kai-Uwe Hellmann (1998) in der Aufklärung. Er beschreibt die französische Revolution als erste soziale Bewegung und interpretiert die Romantik als Gegenbewegung zur Aufklärung. Wissenschaftliche Vorläufer wären demnach Henry de Saint Simon, Charles Fourier, August Comte oder Karl Marx. Das Werk von Marx hat, nach Hellmann, entscheidenden Einfluss auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit sozialen Bewegungen. In vielen Analyseansätzen präsente Annahmen sind die aus seiner Theorie ableitbare Verortung sozialer Bewegungen auf der Makroebene, der Bezug zu gesellschaftlichen (Zentral)Konflikten, die Bedeutung von sozialen Bewegungen für sozialen Wan22
del, die Verbindung mit der Sozialstruktur der Gesellschaft und die Entstehung kollektiver Akteure, die mit der Beschreibung des Wandels von einer ‚Klasse an sich’ in eine ‚Klasse für sich’ ihre Grundlegung gefunden hat. Ein weiterer Referenzpunkt für soziologische Arbeiten zum Thema ‚Massen’ sind Theorien der Massenpsychologie. Dabei wird vor allem kollektives Verhalten statt kollektivem Handeln untersucht. Erkenntnisse der Massenpsychologie führen demnach nicht weiter bei Analyseansätzen, die Strategien, BewegungsakteurInnen, Pressearbeit usw. untersuchen, also Komplexe, in denen es um bewusstes und überlegtes Handeln geht. Zur Verdeutlichung: kollektives Handeln beruht auf Rationalität und ist verursacht durch gesellschaftliche Selbstwidersprüchlichkeiten, kollektives Verhalten ist irrational, durch Ängste oder Affekte geleitet, ohne Kontrolle und klare Ziele. Hier interessiert allein das kollektive Handeln und damit verknüpft die kollektive Identität. Weniger in der Wissenschaft als in den Medien tauchen jedoch Zuschreibungen kollektiven Verhaltens zu Protestaktionen und AktivistInnen auf, insbesondere zu denen der Anti-Atom-, gelegentlich auch noch zu denen der Friedensbewegung. So zitieren Kretschmer und Rucht aus einem Sendemanuskript des Bayrischen Rundfunks9: „Kinder und Jugendliche mit den Mitteln der Massenpsychologie sozusagen entkernt und mit fremdem Willen angefüllt…Die meisten Versammelten waren auf irgendeine dumpfe Weise Friedensfreunde…wer darf den zur Masse geborenen verargen, wenn sie sich in der Masse vitalisieren“ (1997:134). Dem widersprechen deutlich nicht nur Untersuchungen über Strategien und Planungen von Bewegungen, sondern auch Analysen und Beobachtungen von Protestaktionen10. Von den Theoretikern der Massengesellschaft einmal abgesehen sind bezüglich der Anwendung massenpsychologischen Erkenntnisse für das hier interessierende Thema allein die Theoretiker des Collective-Behaviour-Ansatzes zu nennen. Ausgelöst durch strukturelle Spannungen, Widersprüche oder Enttäuschungen unterstellen sie den sozialen Bewegungen irrationales Verhalten. „The social movement is effective not as a political action but as therapy“, spottet McAdams (nach Hellmann 1998:234). Da diese Ansätze eine untergeordnete Rolle spielen, werden sie von mir nicht gesondert behandelt. Vertreter/innen der zeitlich früher entstandenen Deprivationsansätze legen denselben Auslöser zu Grunde, nämlich latente Unzufriedenheit, die sich bei wachsender Diskrepanz zu Protest wandelt. Sie unterstellen dabei aber eine gewisse Rationalität der Motive, indem sie aufzeigen, welche Diskrepanz zwischen 9 L. Herrmann, Kommentar der Woche, 10.10.1982 10 Vgl. dazu beispielsweise Berichte über die GegnerInnen neoliberaler Globalisierung, etwa bei Sassen, Saskia (2000); Grefe, Christian u.a. (2002); Nover, Sabine/Jonas, Michael (2002).
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Erwartungen von Individuen und gesellschaftlicher Realität besteht. So erklärt Felix Kolb (1997) die Gründe für die Teilnahme an Anti-Castor Protesten (unter anderem) im Sinne der Deprivationstheorien als Vorhandensein relativer Benachteiligung und kollektiver Unzufriedenheit. Das zeige sich an der Angst der Teilnehmer/innen vor den Gefahren durch die gelagerten Brennelemente und an der kollektiven „Unzufriedenheit über die Nutzung der Atomenergie und an der in ihren Augen an kapitalistischen Imperativen ausgerichteten Struktur von Wirtschaft und Staat“ (Kolb 1997:21). Regionale Akteur/innen empfanden es darüber hinaus als ungerecht, die Auswirkungen der ungeklärten Situation, vor allem was die Endlagerung dieser Brennelemente angeht, tragen zu müssen. Nicht zuletzt hatten sie aus der Geschichte der Anti-Atombewegung gesehen, dass Widerstand erfolgreich sein konnte. Betrachtet man die Theoriegeschichte der Erforschung sozialer Bewegungen, zeigt sich, dass stärker die Strukturen betonende Ansätze mit interaktionistisch fokussierten abwechseln. Das mag auch daran liegen, dass sich Nachfolgemodelle oft auf nur einen zentralen Kritikpunkt am Vorgänger beziehen. Dadurch sind viele Ansätze auffällig monokausal, was bei Beachtung der hohen Komplexität und der diffizilen Wechselwirkungen nie dem Gegenstand angemessen sein kann. Ruud Koopmans beschreibt diesen Wettkampf so: „Dabei wurden letztere oft für null und nichtig erklärt und eine ‚Neue Ordnung’ geschaffen, deren Anziehungskraft nicht zuletzt darauf beruhte, daß sie das genaue Gegenteil des ‚alten’ Paradigmas beinhaltete“ (1998:217). Den Collective-Behaviour-Theorien folgte die Deprivationstheorie. Der zeitlich nachfolgende Ressourcen-Mobilisierungs-Ansatz erklärt Protest, Motive und Strategien zweckrational, von der Überlegung ausgehend, dass nicht jedes Problem Protest zur Folge hat. Diese Unterscheidung konnte mit dem Deprivationsansatz, der ‚objektive’ Benachteiligung in seinen Fokus nimmt, nicht getroffen werden. Strukturelles steht, wie der Name schon sagt, bei den PoliticalOpportunity-Structure-Ansätzen im Vordergrund, bei dem Gelegenheitsstrukturen des jeweiligen politischen Systems als entscheidend vor allem für die Mobilisierung betrachtet werden. Der Framing-Ansatz betont die „symbolischideologischen Konstruktionsleistungen sozialer Bewegungen“ (Hellman 1998:14). In den Ansätzen, die die Bedeutung sozialer Netzwerke für soziale Bewegungen fokussieren, wird danach gefragt, warum bestimmte Personen bei sozialen Bewegungen mitmachen bzw. warum bestimmte soziale Bewegungen mehr Zulauf haben als andere. Dabei werden wieder stärker strukturelle Faktoren betrachtet. Die Motivation steht im Mittelpunkt, wobei eine grundlegende Hypothese besagt, dass es von der Struktur und dem Eingebunden sein in soziale Netzwerke anhängt, ob jemand für eine soziale Bewegung rekrutiert wird oder nicht. 24
Kai-Uwe Hellmann (1998:14f) verweist darauf, dass ab Mitte der 80er Jahre insbesondere in den USA eine stärkere Betonung des Kollektiven an sozialen Bewegungen und der psychologischen Anteile in der Forschung zu verzeichnen sind, indem nämlich der Blick stärker auf wenig organisierte und spontane Protestaktionen gerichtet wurde. Mir scheint es plausibel, das nicht als alternative Sichtweise im Sinne eines anderen Erklärungsmodells für das Entstehen bestimmter Protestformen zu interpretieren, sondern es als zeitlichen Ablauf zu betrachten: als eine erste Phase, nach der sich eine bestimmte Organisationsform herausbilden muss, um den Protest auf Dauer zu stellen. Auch in fortgeschrittenen Lebenszyklen von Bewegungsgruppen kommen sicherlich immer wieder spontane, nicht kontrollierte, emotionale Reaktionen vor, die dann aber von der dann funktionierenden und routinierten Organisation aufgefangen werden können. Insofern ist das durchaus als Zeitablaufproblem, nicht als eins unterschiedlicher Theorieansätze behandelbar. Vor allem für Europa ist noch der New Social Movement Approach zu nennen. In Anlehnung an die marxistische Theorie wurden hier zwei forschungsleitende Komponenten entwickelt: Zum einen werden soziale Bewegungen in Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Problemen wie beispielsweise der Modernisierung gesetzt; zum zweiten wird unterstellt, dass eine Generation zentral für diese Bewegungen ist, die Selbsterfahrungswerte einfordert, wie politische Mitbestimmung, Selbstverwirklichung oder Umweltschutz. Hier werden insbesondere soziostrukturelle Voraussetzungen im Sinne der klassischen Sozialstrukturanalyse in den Mittelpunkt gesetzt. „Zentral für diesen „New social movement Approach“ ist, daß von einer bestimmbaren sozialstrukturellen Mobilisierungsbasis sozialer Bewegungen ausgegangen wird, was an die Klassentheorie von Marx erinnert, und daß diese Bewegungen, obgleich in ihren Aktionen durchaus politisch-strategisch orientiert, nichts desto trotz auch persönliche, mehr kulturell ausgerichtete Aspekte berücksichtigen, wie eben die Verflechtung bestimmter Lebensweisen, Selbstverständnisse und Werthaltungen“ (Hellmann 1998:145). Vertreter/innen dieses Ansatzes unterstellen, dass das entscheidende Kriterium für neue soziale Bewegungen, die „Realisierung und Verteidigung individueller Autonomie“ (Kriesi nach Hellmann 1998:15) sei. In sozialstruktureller Terminologie gesprochen kann man mit Jürgen Gerhards (1993) von sozialmoralischen Milieus reden, die er als eine vorpolitische Vergemeinschaftungsform bezeichnet. Nach Hellmann (1998:16) zeichnet sich diese Sozialstruktur im Detail dadurch aus, dass es sich dabei um die Generationen handelt, die vor allem durch die Debatten der 60er und 70er Jahren geprägt wurden, um Personen mit hohem Bildungsgrad und postmaterialistischer Werthaltung. Dazu kommen konkret Betroffene, Marginalisierte und die „humanistische Intelligenz“(a.a.O.). Die diesem Milieu 25
zuzurechnenden Menschen zeichnen sich durch eine hohe Problemsensibilität aus und sind, bedingt durch die hier vorzufindende Berufsstruktur, alltäglich mit sozialen Problemfeldern befasst. Sie sind in kommunikativen Fertigkeiten geschult und dazu, Probleme im Gesamtzusammenhang zu sehen; zudem sind sie – beispielsweise über Sparmaßnahmen – oft persönlich betroffen11. Es besteht eine Nähe dieses Ansatzes zu denen Kollektiver Identität, bei denen allerdings weniger die Struktur, sondern gemeinsames Handeln von sich zusammengehörig fühlenden Individuen im Vordergrund steht. Die strikte Trennung in einzelne Schulen ist durchaus noch nicht aufgehoben, sie lässt sich auch klar nach us-amerikanischen und europäischen Vorlieben unterscheiden. „By no means all Europeans were advocates of the NSM [New Social Movement, d. A.] approach, nor were all the Americans adherents of RM [Ressourcen-Mobilisierung, d.A.]. But whatever their theoretical orientation, most of the former looked to larger structural and/or cultural issues, while the latter developed their research at the organisational, group and individual level” (Sidney Tarrow nach Hellmann 1998:234). Auch Ruud Koopmans (1998:215) spricht von einem noch immer schwelenden Streit innerhalb der Bewegungsforschung um den richtigen Ansatz und zitiert in diesem Zusammenhang Lofland, der eine „auffällige Parallelität zwischen der Bewegungsforschung und ihrem Gegenstand“ feststellte. In den USA hat sich bis heute eine Spaltung in eine Collective-Behaviour- und eine SocialMovement-Schule gehalten. In Europa macht Koopmans die Lager von Theoretiker/innen des Ressourcenmobilisierungs- und der Political-OportunityStructure-Ansätze auf der einen und von marxistischen Traditionen geprägten, stärker strukturelle Gegebenheiten in den Vordergrund stellenden Theoretiker/innen aus, „zwischen denen es nicht viel mehr Kommunikation gibt als zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland“ (a.a.O.:216). Viele Forscher/innen halten diese strikte Trennung aber nicht mehr aufrecht. Immer häufiger finden sich Arbeiten, theoretische wie empirische, in denen Ansätze kombiniert werden. Nicht zuletzt sollte die Entscheidung über die angewendeten Theorien von der Forschungsfrage abhängen. Ich schließe mich hier der Einschätzung von Koopmans (1998:228f) an, nach der die Voraussetzung für soziale Bewegungen die Identifikation von Individuen mit Lagen und Interessen einer größeren Gruppe ist, aus der sich kollektive Identität mit Gruppensolidarität und Abgrenzung entwickelt. Für die weitere Mobilisierung und die Dauerhaftigkeit des Protestes müssen aber eine Organisation und Infrastrukturen geschaffen werden, bei der es gilt, Ressourcen zu mobilisieren, die Unterstützung anderer Gruppen beziehungsweise des 11 s. dazu auch die Ausführungen weiter unten zur Definition der Neuen Sozialen Bewegungen
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Publikums zu erreichen und geeignete Strategien zu entwickeln. Zusätzlich müssen Interpretationen gefunden werden, „die überzeugende Problemdiagnosen, Kausalattributionen und Lösungsvorschläge beinhalten und darüber hinaus deutlich machen, wie kollektive Aktion zur Realisierung des kollektiven Ziels beitragen kann“ (a.a.O.:228). Ebenfalls steht fest, dass die beschriebenen Prozesse einen politischen und kulturellen Rahmen haben, der die Möglichkeiten der Entfaltung beeinflusst. Damit sind fast alle Schwerpunkte der genannten Theorieansätze erwähnt. Dennoch spricht sich Koopmans gegen ein Modell aus, das alle Theorieansätze in einer Metatheorie vereinen würde, da damit „die Komplexität des Gegenstandes, den sie untersucht, nur theoretisch“ (a.a.O.:230) reproduziert würde. In dieser Arbeit soll weder ein neues theoretisches Konzept entwickelt, noch bestehende Konzepte empirisch überprüft werden, sondern in erster Linie eine Bürgerinitiative unter festgelegten Fragestellungen analysiert werden, womit vorgegeben ist, auf welches Rüstzeug ich bei ihrer Analyse zurückzugreifen habe. Die Besonderheiten dieses Falles, seine Rezeptionen und Resonanzen in der Öffentlichkeit, wie auch das Interesse an den Faktoren des Erfolges lassen es geraten erscheinen, sich insbesondere mit der Problematik der Mobilisierung, der Organisation und der Öffentlichkeitsarbeit der BI zu befassen, weswegen ich vor allem auf Theorien der Ressourcenmobilisierung, der Political-Opportunity-Structure, der kollektiven Identität und des Framing zurückgreifen werde.
II.1
Klärung der Begriffe Engagement, Protest, Widerstand
Sucht man nach der Bedeutung der im hier interessierenden Zusammenhang vielfach verwandten Begriffe Engagement, Protest und Widerstand, kann man sich zunächst nach den lexikalischen Definitionen und dem alltagssprachlichen Gebrauch richten. Danach bedeutet Engagement eine Verpflichtung und Bindung; sich zu engagieren heißt darüber hinaus auch, sich für etwas einzusetzen. Protest wird mit Einspruch, Verwahrung, Widerspruch, aber auch von der Etymologie her mit ‚öffentlich als Zeuge auftreten’ übersetzt. Widerstand, abgeleitet von stehen mit einer Verwandtschaft zu stabil, bedeutet stehen bleiben, sich widersetzen, entgegenwirken, hindern. Hier wird die erste Präzisierung nötig. Die juristische Betrachtungsweise verbietet laut Bernd Guggenberger die Verwendung des Terminus ‚Recht auf Widerstand’ für alle Sachverhalte, bei denen es nicht um „Situation des Verfassungsumsturzes“ (1987:337) geht. Demnach gibt es das Widerstandsrecht nur, wenn die Verfassung bedroht ist und rechtsstaatliche Organe außer Kraft gesetzt sind. Juristisch gesehen ist es also nicht zulässig, wenn sich soziale Bewegungen 27
auf ein Widerstandsrecht berufen12. Alles, was sich nicht auf den skizzierten Umstand bezieht, ist ziviler Ungehorsam. Guggenberger geht hart mit Zuwiderhandelnden ins Gericht: „Er stilisiert sich entweder selbst unverdient zum Helden, indem er vorgibt, etwas zu erkämpfen, was die rechtsstaatlich verfaßte Demokratie nicht nur nicht verbietet, sondern ausdrücklich gewährleistet und schützt: Oppositions- und Meinungsfreiheit“ (a.a.O.:328). Demgegenüber besteht ziviler Ungehorsam zur „moralischen Mobilmachung der Bevölkerung“ aus einer „demonstrativen, sorgsam begrenzten Regelverletzung“ (a.a.o.:330) und ist darauf angewiesen, dass der demokratische Rechtsstaat funktioniert13. Für den ganz überwiegenden Teil des Protestes gilt sicher: „ziviler Ungehorsam ist Ungehorsam des Bürgers mit der Absicht, Bürger zu bleiben“ (Guggenberger 1987: 332). Anders sieht das bei Gruppen aus, die keine reformatorischen, sondern erklärtermaßen revolutionäre Ziele verfolgen, und gerade das Funktionieren des Rechtsstaates bestreiten. In diesem Zusammenhang sei noch kurz auf den Unterschied zwischen legal und legitim hingewiesen. Legal ist all das, was gesetzlich erlaubt ist, legitim das, was nach gesellschaftlichen, kulturellen, moralischen, also kollektiven Werten und Normen als rechtmäßig angesehen wird. Hier gibt es sicherlich große Differenzen zwischen ProtestaktivistInnen und öffentlicher Meinung. Protest hat nach Bernhard Peters (1994:67) zwei Funktionen. Zum einen sollen Empörung und Engagement zum Ausdruck gebracht, zum anderen öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt werden, wobei das grundsätzliche Problem einer Überführung von Konflikt in Disput besteht. Entsprechend ist er, ganz analog zu Guggenberger, davon überzeugt: „nicht einfach die ‚Zähmung’, sondern die Fruchtbarmachung von Konflikt durch Verwandlung in Dissens ist eine entscheidende, wenn auch stets gefährdete Errungenschaft der Moderne“ (a.a.O.:68). Auch Dieter Rucht betont die Funktion von Protest zur Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit und der Erlangung von „möglichst auch Zustimmung“ (1998:109). Luhmann drückt das in seiner Theoriesprache, dabei noch einen anderen Schwerpunkt setzend, so aus: „Proteste sind Kommunikationen, die an andere adressiert sind und deren Verantwortung anmahnen“ (nach Hellmann 1995:76) – wobei er die gleichzeitige Verneinung eigener Verantwortung unterstellt. Ruud Koopmans (1998:229) ergänzt um den wichtigen Aspekt, dass Protest nicht nur Reaktion, „sondern auch Träger und Auslöser sozialen Wandels“ ist. 12 Traditionell tun das Teile der Anti-Atom- und links-alternative Bewegungen; inzwischen scheint auch das, wie die Anwendung aus diesen Bewegungen stammender Protestformen, Allgemeingut geworden zu sein. Auch in dem hier interessierenden Fall der Stadt Herten war immer von ‚Widerstand’ die Rede – s. dazu auch IV.3.3 Handlungspraktiken. 13 vgl. dazu das Kapitel über Political Opportunity Structure, II.3.1
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Kai-Uwe Hellmann bezieht in seine Definition die Selbstlegitimierung dieses Protestes und der angewandten Protestformen mit ein, wobei Protest den Anspruch bekräftigt, eine unliebsame, von anderen getroffene Entscheidung zu ändern. „Der Form von Protest liegt also generell die Unterscheidung von Erwartung und Enttäuschung zugrunde, verbunden mit dem Anspruch auf Veränderung der Entscheidung“ (1995:76). Am Wissenschaftszentrum Berlin ist in den 90er Jahren ein umfangreiches Protest-Archiv angelegt worden14. Dazu war es unter anderem nötig, den Terminus ‚Protestereignis’ zu definieren, um zu klären, was aufgenommen werden sollte: jede „kollektive, öffentliche Aktion nicht-staatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist“ (Rucht 2001:19). Diese Definition passt gerade wegen ihrer Offenheit am besten auf den Hertener Fall, bei dem die oben erwähnten speziellen Faktoren keine oder nur eine untergeordnet Rolle spielen. Daher wird sie im Folgenden bei allen ausschließlich Herten betreffenden Ausführungen zugrunde gelegt. Der Schritt zur Bürgerinitiative oder gar einer sozialen Bewegung ist mit zeitlichen und organisatorischen Veränderungen verbunden. Protest muss auf Dauer gestellt werden, die Mobilisierung der Teilnehmer/innen muss mindestens aufrechterhalten, besser sollten neue AktivistInnen gewonnen werden. Diese recht offensichtlichen Bedingungen scheinen auch schon die einzigen zu sein, bei denen es in der Literatur Übereinstimmung gibt. Konkretere Fragen z.B. der Art und Weise der Entstehung von Protest, der Mobilisierung, der Aufrechterhaltung von Teilnahme, des Erzielens von Erfolg, der Erlangung öffentlicher Aufmerksamkeit oder Kausalfragen etwa der Art, warum Protest entsteht, sich Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen bilden, bestimmte Personengruppen eher als andere daran teil nehmen, bestimmte Bewegungen Erfolg haben und andere nicht, führen zu unterschiedlichen Fokussierungen und Sichtweisen und damit zu unterschiedlichen Analyseansätzen, deren Vertreter/innen sich, wie oben gezeigt, zum Teil heftig widersprechen. Damit kommen sie auch zu sehr unterschiedlichen Definitionen von Bürgerinitiativen oder Sozialen Bewegungen. Im Folgenden sollen dennoch einige gemeinsame Merkmale herausgestellt werden.
14 In der Datenbank „Prodat“ sind nach einem speziellen Verfahren (Details s. Rucht 2001) Protestaktivitäten der letzten 50 Jahre aufgenommen worden, von denen in der „Süddeutschen Zeitung“ und der „Frankfurter Rundschau“, später auch in der „taz“ berichtet wurde.
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II.2
Was sind Bürgerinitiativen, was sind soziale Bewegungen?
„Demnach weist jede Gesellschaft in sich selbst strukturelle Spannungen und Widersprüche auf, die – wie der Gegensatz von Kapital und Arbeit – schon von sich aus den Keim des Neuen in sich tragen. Dieser Keim nimmt dann in einer sozialen Bewegung seine Endgestalt an, nämlich die des ’Totengräbers’ der bisherigen Gesellschaft, um zur rechten Zeit die ‚revolutionäre Umgestaltung der ganzen Gesellschaft’ in die Wege zu leiten und durch das Neue zu ersetzen.“ (Hellmann 1998:10/11) Bürgerinitiativen unterscheiden sich von sozialen Bewegungen vor allem durch die Dimensionen Zeit, Größe und Raum, wobei sich die beiden letzten sowohl auf die Mitglieder als auch auf die Ziele beziehen. In aller Regel haben Bürgerinitiativen ein fest umrissenes, meist lokal verankertes Ziel, bei dessen Erreichung oder endgültigem Scheitern sie sich auflösen, womit auch die Dauer der Beteiligung als kurz- bis mittelfristig veranschlagt werden kann. Wegen der Begrenztheit des Ziels setzen sie sich in aller Regel auch nur aus örtlich Betroffenen zusammen, bei entsprechender Öffentlichkeitsarbeit und entsprechendem Framing (s. II.3.), also gelungener Thematisierung und Einbettung des Problems, nicht selten von (über)regionaler Prominenz unterstützt. Bürgerinitiativen, auf die das nicht zutrifft, die langfristig bestehen oder gar schon so angelegt wurden, und die ein überregionales Ziel verfolgen, wie es sie beispielsweise in der Umweltbewegung häufig gibt, sind in aller Regel mit anderen Bürgerinitiativen vernetzt und Teil einer sozialen Bewegung. Joachim Raschke (1985:19ff) benennt die Merkmale einer sozialen Bewegung: sie ist ein kollektiver Akteur, der mobilisieren muss, da es keine gesicherte Machtgrundlage für ihr Handeln gibt. Die „aktive, permanente Suche nach Unterstützung, das in-Bewegung-bleiben, ist deshalb ein Merkmal sozialer Bewegung“(a.a.O.:21). Mit dem Begriff der Kontinuität fügt er die notwendige zeitliche Dimension hinzu, betont die Bedeutung von Zusammengehörigkeitsgefühl und Abgrenzung, die geringe Ausbildung spezifischer Rollen innerhalb der Organisation15, und als letztes Element die Ziele, die er als das Erreichen grundsätzlichen sozialen Wandels charakterisiert. Damit kommt er zu der Definition: „Soziale Bewegung ist ein mobilisierender kollektiver Akteur, der mit einer gewissen Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und 15 Das ist durchaus strittig. ExpertInnentum ist je nach Ziel der Sozialen Bewegung unabdingbar, das gilt auch, wie im Kapitel Öffentlichkeit gezeigt wird, für den Umgang mit Medien. Fast alle Bürgerinitiativen und Sozialen Bewegungen bilden inzwischen SpezialistInnen, Pressesprecher/innen u.s.w. aus. Raschke hält diese Rollenverteilung allerdings für wenig stabil. Es liegen aber zahlreiche überzeugende Untersuchungen über die Professionalisierung und Institutionalisierung Sozialer Bewegungen vor, so z.B. von Rucht/Roose 2001 oder Rucht u.a. 1997.
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geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenden sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen“ (a.a.O.:21). Dieter Rucht bietet eine ganz ähnliche Definition an, die zentrale Aspekte aus unterschiedlichen Analyseansätzen integriert. Demnach sind soziale Bewegungen ein „auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppe und Organisationen, welche sozialen Wandel mittels öffentlicher Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen“ (1994:338/339). Er wendet sich gegen Zyklusmodelle sozialer Bewegungen, weil sie „Richtung und Abfolge der Etappen“ (1987:239) vorgeben. Insbesondere Organisation und Selbstreflexion seien aber zu jeden Zeitpunkt ihrer Biografie notwendig und tauchen nicht erst mit zeitlicher Verzögerung auf. Friedhelm Neidhardt rekurriert auf die Beziehung von Öffentlichkeit und sozialen Bewegungen und auf die Rolle, die sie in der Öffentlichkeit einnehmen: „soziale Bewegungen sind mobilisierte Netzwerke von Gruppen, die über die Inszenierung öffentlich wahrnehmbarer Proteste aktiv werden. Als Protestbewegungen unterscheiden sie sich vom üblichen Zustand anderer Publikumssegmente durch das Minimum an (meist lockerer) Organisation, das für ihren Wechsel von einem reinen kommunikations- in ein sozial voraussetzungsvolleres Handlungssystem erforderlich ist“ (1994:32). Über eine Aufteilung in alte und neue soziale Bewegungen scheint ebenfalls Konsens zu herrschen; zu ersteren zählen die klassischen wie Frauen- oder Arbeiterbewegung; was zu den Neuen soziale Bewegungen gehört, variiert allerdings je nach präferierter Theorie, zudem beschreibt der Begriff Neue soziale Bewegungen gleichzeitig auch ein Forschungsprogramm. So sieht es auch Roland Roth: „’Neue soziale Bewegungen’ können nicht im Sinne einer möglichen Zugehörigkeit abgefragt werden, d.h. es gibt kein entsprechendes Wir-Gefühl, sondern sie sind in erster Linie ein sozialwissenschaftliches Konzept“ (1998:57). Alberto Melucci etwa bietet ein anspruchsvolles theoretisches Konzept, in dem Neue Soziale Bewegungen einen Typus kollektiven Handelns darstellen16. Seine Typen lassen sich danach unterscheiden, ob sie konflikt- oder konsensorientiert sind, ob sie solidarisches Handeln oder zufällige Zusammenschlüsse repräsentieren und inwieweit sie Veränderungen anstreben. 16 Im Rahmen seines Entwurfes sind sie „a concept that comprises three analytical dimensions. A movement is the mobilization of a collective actor (i) defined by specific solidarity, (ii) engaged in a conflict with an adversary for the appropriation and control of resources valued by both of them, (iii) and whose action entails a breach of the limits of compatibility of the system within the action itself takes place“ (nach Haunss 2002:20).
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Nach Niklas Luhmann liefern die Neuen Sozialen Bewegungen einen „Beitrag zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft, für die es noch kein funktionales Äquivalent gibt“ (Luhmann nach Langner 2005:157). Wichtige Kategorien der dort vorzufindenden Themenvielfalt sind Fragen der Individualisierung und der Pluralisierung. Relative Einigkeit herrscht bezüglich ihres Erscheinungsdatums, das etwa Mitte der 70er Jahre verortet wird. Einige Forscher/innen bezeichnen die Studenten- und Jugendbewegung der 60er Jahre als erste der neuen sozialen Bewegungen, so etwa Kathrin Fahlenbach (2002). Diese Einschätzung hat überzeugende Argumente auf ihrer Seite, auf die noch verschiedentlich zurückzukommen sein wird. Zumindest kann sie als Vorläuferin angesehen werden. Was die Unterscheidung zu den alten sozialen Bewegungen angeht, sind vor allem die folgenden inhaltlichen und strukturellen Merkmale von Interesse: Grundsätzlich ist in den 70er Jahren ein Paradigmenwechsel zu verzeichnen, weil nicht mehr die ökonomischen Herrschaftsverhältnisse im Mittelpunkt standen, sondern Probleme der „gesellschaftlichen Reproduktion“ (Brand 1987:30) und vor allem die „Durchsetzung individueller Autonomie und Selbstverwirklichung“ – womit erneut auf die Studentenbewegung verwiesen ist (Fahlenbach 2002)17. Damit reicht das Feld von neuen Formen bürgerschaftlichen Engagements bis zu alternativen Lebensentwürfen. Mit ersteren ist vor allem das breite Spektrum von Bürgerinitiativen bezeichnet. Dabei ist die Frage zu stellen, wieweit die Zielbeschreibung aus der Definition sozialer Bewegung tatsächlich zutrifft, ob also ein grundlegender sozialer Wandel angestrebt wird. Zu letzteren gehören alle alternativen Lebens- und Wohnprojekte sowie z.B. Selbsterfahrungs-, Tierrechts- und Dritte-/Eine-Welt-Gruppen und nicht zuletzt die immer wichtiger gewordenen globalisierungskritischen Bewegungen18. Die Systemtheorie begründet die von ihr ebenfalls konstatierte Möglichkeit der Mehrfachzugehörigkeit zu verschiedenen (Protest)Bewegungen damit, dass anders als bei den ‚alten sozialen Bewegungen’, in denen die Inklusion durch die Homogentität der Mitglieder bezogenen auf ein persönliches Merkmal stattfand, nun nur eine thematische Teilinklusion notwendig ist. Die Teilnahme ist nicht mehr an das Vorhandensein eines persönlichen Merkmals (Lebenslage, Geschlecht) gebunden (Luhmann 1991:178). Bei „protesttauglichen“ Themen bilden sich Koalitionen zwischen verschiedenen Bewegungen (Langner 2005:158). Die Veränderungen im Bereich der Sozialen Bewegungen im Blick sprechen verschiedene AutorInnen seit einigen Jahren von „Neuesten Sozialen Bewegungen“, Luhmann von „neuesten neuen Sozialen Bewegungen“, mit denen er vor allem auf Exklusion bedachte wie rechtsradikale oder fundamentalistische 17 s. dazu auch die Ausführungen zu kollektiver Identität in Kap. II.3 18 dazu beispielsweise Rucht 1999, Burchardt 2000 oder Nover/Jonas 2002
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Gruppen19 zählt. Bereits Anfang der 90er Jahre ist die Frage, ob rechtsextreme und Neonazi-Gruppen den Neuen Sozialen Bewegungen zuzurechnen und in diesem Sinne zu analysieren sind, diskutiert worden, so etwa von Werner Bergmann oder Hans-Gerd Jaschke oder Christoph Butterwegge und Klaus Leggewie20. Es herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass zu den „Neuesten Sozialen Bewegungen“ vor allem die globalisierungskritischen Gruppen zu zählen sind. Sie verkörpern einen neuen Typus, weil sie neue Kommunikationswege gefunden, eine andere Form interner Strukturen aufgebaut haben und neue Ziele verfolgen. Der politische Gehalt wird z.B. in der hochinteressanten Arbeit „Gramsci is dead“ von Richard Day (2005) analysiert, der ihnen einen anderen, sich auf anarchistische Traditionen berufenden Weg zuschreibt: Nicht das Verändern bestehender Strukturen sondern das Schaffen eigener und neuer Bahnen ist ihre Art, den angestrebten Zielen, z.B. einer gerechteren Weltwirtschaft, näher zu kommen. Saskia Sassen untersucht strukturelle Besonderheiten und Kommunikationswege der Globalisierung, die auch für die Bewegungen gelten, nachzulesen etwa in „Machtbeben“ (2000). Den internen Blick auf Ziele und Strukturen liefert Naomi Klein, z.B. in ihrem Buch „Über Zäune und Mauern“ (2002). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass neu an den Neuen Sozialen Bewegungen vor allem die Art der Zusammenschlüsse sind, nämlich Netzwerkorganisationen statt institutioneller, ebenso die Themen sowie die Ursachenanalysen der AktivistInnen, die „nicht mehr primär in der Klassengesellschaft…sondern in den kontraproduktiven Folgen des industriellen Wachstums“ (Raschke 1987:32/33) gesehen wurden und zu einer „Frontstellung von Ökologie und Ökonomie, von gegenkulturell-emanzipativen Lebensentwürfen und technokratisch-instrumentellen Machtstrukturen“ (a.a.O.:33) führte. Karl-Werner Brand (1998:34ff) spricht von einem dadurch neu entstandenen Bewegungssektor, den eine sozial-ökologische Utopie eine. Diese Utopie beinhaltet Vorstellungen über ein dezentralisiertes und basisdemokratisches Gemeinwesen und eine ökologisch verträgliche und bedürfnisorientierte Wirtschaft mit entsprechend angepassten Technologien, die mit Elementen feministischer Patriarchatskritik und Vorstellungen von einem herrschaftsfreien Geschlechterverhältnis, wie insgesamt eines selbstbestimmten und egalitären Lebens verknüpft werden (vgl. Brand 1998:34). Dass es sich dabei um eine ‚Bewegungsfamilie’ im Sinne der Analyse von Dieter Rucht handelt, belegt er mit der vorzufindenden „Dominanz bestimmter politisch-kultureller Orientierungen“ 19 vgl. Langner 2005:158 20 vgl. z.B. Bergmann, Werner /Erb, Rainer 1994: Eine neue soziale Bewegung von rechts? In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg.7, 2/1994, S. 80-98; Jaschke, Hans-Gerd 1993: Rechtsradikalismus als soziale Bewegung. In: Vorgänge, Jg.32 2/1993, s. 105-116; oder das Heft 4/2003, Jg.16 des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen
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und der sozialstrukturellen „Verankerung der Aktivisten und Anhänger der neuen sozialen Bewegungen“ (a.a.O.:37)21. Annahmen über die Entstehungsgründe scheinen ebenfalls nicht so weit auseinander zu liegen. Nach Jürgen Habermas sind sie eine defensive Reaktion auf die ‚Kolonialisierung der Lebenswelt’, Joachim Raschke sieht das Verteilungsparadigma durch das Lebensweiseparadigma abgelöst und Karl-Werner Brand, Detlev Büsser und Dieter Rucht sehen in den Neuen sozialen Bewegungen eine „Reaktion auf die neue Qualität industriegesellschaftlicher Folgeprobleme und die dadurch entstandene ‚Krise der Modernität’“ (nach Brand 1998:40). Sehr umfassende theoretische Konzepte zu Neuen sozialen Bewegungen haben Alain Touraine, Albetro Melucci und Manuel Castells vorgelegt22. Touraine identifiziert in seiner Gesellschaftsanalyse einen Zentralkonflikt, der sich um Technokratie und die ‚programmierte Gesellschaft’ dreht. „Der technokratische Staat zerstört das Netz sozialer Beziehungen und fördert das Leben in der Vereinzelung, das auf Konsum und durch das Fehlen einer von Sozialbeziehungen gekennzeichneten Intimität geprägt ist“ (nach Roth 1998:58). Hauptmerkmal der ‚programmierten Gesellschaft’ ist es, dass alle Lebensbereiche als im Prinzip gestaltbar angesehen werden können. Daraus ergibt sich der Konflikt der Einflussnahme auf diese Gestaltungschancen und damit darauf, in welche Richtungen die Teilbereiche der programmierten Gesellschaft entwickeln werden. Soziale Bewegungen und Proteste lassen sich dann danach unterscheiden, in welcher Nähe sich die Akteur/innen zu diesem Zentralkonflikt befinden. Dafür entwickelt Touraine ein sechsstufiges Modell, auf dessen letzter Stufe Neue soziale Bewegungen dann zu verorten sind, wenn sie „ihre Konflikte auf den Terrain der programmierten Gesellschaft verorten … und die Technokratie als Gegner identifizieren“ (nach Roth 1998:59). Damit sind sie „ein zeitdiagnostisch und gesellschaftstheoretisch begründetes analytisches Konzept und kein Versuch, gemeinsame Merkmale bereits existierender Protestbewegungen zu synthetisieren“ (Roth 1998:58). Touraine geht davon aus, dass es „soziale Bewegungen sein werden, die die Träger gesellschaftlicher Veränderungsprozesse sind“ (Haunss 2002:14). Melucci wie auch Castells übernahmen die Grundannahmen des Konzeptes von Touraine. Melucci ging in seiner Weiterentwicklung davon aus, dass die neuen sozialen Bewegungen in diesem Kampf gegen Technokratie und Manipulation zunächst um personale und soziale Identitäten ringen müssten, in einer 21 vgl. dazu auch die Ausführungen am Anfang des Kapitels II, insbesondere die Ausführungen zum Structural Strains Ansatz 22 vgl. im Folgenden Roth 1998:57ff, Haunss 2002:13ff, Castells 2002 und 2004
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„Praxis konflikthafter kultureller Selbstbestimmung“ (Roth 1998:60). Zum Ausdruck kommt das dann folgerichtig weniger in Protesten als im Ausleben und Verteidigen alternativer Lebensformen. Das Problem der Identität spielt auch bei der Diagnose von Castells eine zentrale Rolle. Er geht davon aus, dass eine Gesellschaftsanalyse zwingend die globale Perspektive beinhalten muss und verortet den Zentralkonflikt entsprechend „zwischen partikularen Identitäten und Globalisierungen“ (a.a.O.: 1998:62). Entsprechend werden „’lokale’, gemeinschaftlich begründete kollektive Identitäten … für Oppositionsbewegungen zentral, weil sich aus ihnen noch am wahrscheinlichsten Projekte für alternative Formen der Vergesellschaftung entwickeln können“ (a.a.O.:62)23. Insbesondere die Analysen von Castells werden weiter unten nochmals aufgegriffen. Je nach Blickwinkel interessieren unterschiedliche Elemente sozialer Bewegungen, so etwa Fragen der Identität und der Selbstverwirklichung auf Mikrooder die Herausbildung einer kollektiven Identität auf Mesoebene. Deren Fokussierung hat zu unterschiedlichen Analyseansätzen geführt, die sich mit der Frage beschäftigen, warum jemand an Protesten teilnimmt oder sich längerfristig engagiert.
II.3
Analyseansätze
Die im Folgenden vorgestellten Analyseansätze wie auch die Ausführungen zum Komplex Öffentlichkeit (II.4) beziehen sich auf soziale Bewegungen – im Zentrum dieser Arbeit steht mit dem Fall Herten jedoch eine Bürgerinitiative. Wie in der Einleitung dargelegt, geht es bei einer der hier diskutierten Fragestellungen, die über den Fall hinaus weist, darum, inwieweit sich die für die Untersuchung Sozialer Bewegungen entwickelten Instrumente auf Bürgerinitiativen übertragen lassen. Die Grundlage für diese Diskussion bilden die folgenden Darlegungen hier bedeutsamer Ansätze.
23 s. dazu auch die Bestandsaufnahme bei Nover/Jonas 2002
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II.3.1 Stärker strukturorientierte Ansätze II.3.1.1 Ressourcen-Mobilisierung Dieser Ansatz entstand in den USA, nachdem Rassenunruhen mit den vorher vorherrschenden Deprivationstheorien nicht mehr erklärt werden konnten, weil die Missstände und Benachteiligungen, die sie als Auslöser für Konflikte in den Fokus nehmen, schon länger Bestand hatten. Warum die Proteste zu diesem Zeitpunkt ausbrachen, war mit den Deprivationstheorien nicht zu erklären. Die Theorie der Ressourcenmobilisierung baut auf ökonomischen Theorien kollektiven Handelns auf, insbesondere auf denen des rational choice. So verwundert es nicht, wenn hier von ‚Bewegungsunternehmern’, ein Begriff, der inzwischen allgemeinere Verbreitung gefunden hat, von ‚Bewegungsindustrien’ oder ‚Bewegungssektoren’ die Rede ist. Theoretiker/innen des Rational choice stellen die „organisierten, rationalen und strategischen Momente von Bewegungen“ (Rucht 1994:340) in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen. Wie der Name schon vermuten lässt, werden auch bei ökonomischen Theorien der Konkurrenz um knappe Güter Anleihen gemacht. Einige AutorInnen sprechen sogar von einer Nachfrage nach sozialem Wandel als einer „strikten Analogie“ zur ökonomischen Nachfrage (nach Rucht 1994:341). Damit geraten strategische Probleme, Lösungen und Bündnisse in den Blickpunkt. „Die Aktivitäten von Protestgruppen gelten nicht als unvermittelte, spontane Reaktionen, sondern vor allem als Ergebnis organisierter Bemühungen und rationaler Kalküle“ (Rucht 1994:341). Karl-Dieter Opp (1998) weist darauf hin, dass die Beschäftigung mit der Ressourcenmobilisierung sich meistens auf die Makroebene bezieht. Das trifft auf alle Fragen von Wachstum und Wandel sozialer Bewegungen zu. Die theoretische Grundannahme dabei ist, dass eine Gruppe von Personen als kollektiver Akteur gemeinsame Ziele hat, die sie zu realisieren versuchen. In der Lesart der Ressourcenmobilisierung handelt es sich bei diesen Zielen um Kollektivgüter. Entsprechend ist die Frage der zugrunde liegenden Theorie kollektiven Handelns die, „unter welchen Bedingungen Personen einen Beitrag zur Herstellung von Kollektivgütern leisten“ (Opp 1998:92). Zu der prinzipiellen Grundannahme rationalen Handelns, wie sie in der ökonomischen Theorie verstanden wird, gehört ebenfalls die Annahme, dass Individuen ihr Handeln nach Kosten -/ Nutzen - Erwägungen ausrichten. Hier bedeutet das, dass sie sich um so eher einsetzen werden, das heißt an sozialen Bewegungen oder Protestaktionen teilnehmen, je höher ihre Präferenz für dieses Kollektivgut ist und je eher sie annehmen, dass sie mit ihrer Handlung zur Zielerreichung beitragen können. Der Ressourcenmobilisierungsansatz beschäftigt sich dabei im wesentlichen mit zwei Handlungsproblemen: Zum einen ist das die Koordination, die auch, da theoriegemäß Han36
deln mit Kosten verbunden ist, die Verringerung selbiger für die einzelne Person mit sich bringt. Zum zweiten ist das die für den Erfolg ebenso unverzichtbare Mobilisierung von Ressourcen, von denen die Größe einer Bewegung abhängt, die wiederum Einfluss auf den Erfolg hat und zwar in einem proportionalen Verhältnis: je größer, desto wahrscheinlicher der Erfolg. Ressourcen bestehen für John McCarthy, einem der Begründer dieses Ansatzes, vor allem in Geld, Menschen und Legitimation (McCarthy/Wolfson 1996). Karl-Werner Opp nennt als weitere: Gelegenheiten, Arbeit, Rechte und Zugang zu Medien. Er führt weiter aus, dass die Mobilisierung „der Prozeß, in dem Akteure Kontrolle über Güter erhalten, d.h. in dem Güter zu Ressourcen werden“ (1998:95) ist. In Weiterführung der unter II.2 genannten Definitionen sozialer Bewegungen von John McCarthy und Mayer N. Zald ist eine Organisation dann eine Bewegungsorganisation, wenn sie mit sozialen Bewegungen übereinstimmende Ziele durchzusetzen versucht. Alle Bewegungsorganisationen mit ähnlichen Zielen kann man zu Bewegungsindustrien zusammenfassen, alle Bewegungsindustrien unabhängig davon, welcher sozialen Bewegung sie angehören, bilden den Bewegungssektor (vgl. Opp 1998:96). Die Aussagekraft einer solchen Einteilung lässt sich anzweifeln, da danach zur ersten Stufe, der sozialen Bewegung, bereits z.B. „derjenige Teil der Bevölkerung, der Präferenzen für mehr Umweltschutz hat“ (Opp 1998:96), gehört - in dem Fall also Teil der Ökologiebewegung wäre -, unabhängig davon, ob jemand tatsächlich handelt. Folgt man der Konstruktion, ergibt sich auf der Mikroebene folgendes Ablaufschema (vgl. Opp (1998:99ff)): zunächst muss eine Bejahung eines bestimmten Zieles vorhanden sein, dazu müssen zusätzliche Anreize kommen, um dann direktes oder indirektes Engagement auszulösen. Um in der Sprache der Theorie zu bleiben: der Nutzen, den ein Individuum durch sein oder ihr Handeln erwartet, muss höher sein, als die aufzubringenden Kosten. Diese zusätzlichen Anreize hängen von den individuellen Einschätzungen über die Bedeutung des Ziels, über die Wirkung des eigenen Handelns und über die der gewählten Handlungsformen ab. Darüber hinaus gibt es soziale Anreize, die in der Erfüllung von Erwartungen, in Anerkennung, Prestige oder Bekanntheit bestehen. Mit materiellen Anreizen sind in diesem Zusammenhang die Opportunitätskosten von aufgewendeten Zeit- und Geldmitteln gemeint. Ekkart Zimmermann (1998) weist darauf hin, dass in der Theorie der Ressourcenmobilisierung in Abgrenzung zu Deprivationstheorien Fragen der Organisation deswegen eine so bedeutsame Rolle spielen, weil nicht alle Missstände zu Protest oder gar sozialen Bewegungen führen. Zudem bestimmt „die Mobilisierung bestimmter Ressourcen den Verlauf und Charakter spezieller Organisationen“ (a.a.O.:55). Er fügt den bereits genannten Ressourcenkategorien noch Personen, Räumlichkeiten, Netzwerke, Zeit und Kommunikationsmöglichkeiten hinzu, ebenso immaterielle Ressourcen. 37
Dabei wirft er die Frage auf, inwieweit die unterschiedlichen Ressourcenarten untereinander substituierbar sind und weist darauf hin, dass Organisationen in Konkurrenz zueinander stehen können, bzw. die Bildung von Gegenorganisationen provozieren können. Daraus leitet er als weiteren Einflussfaktor sowohl auf die Art der Organisation als auch auf die Erfolgswahrscheinlichkeit die Verteilung politischer Einflusschancen ab. Indem sie das wirtschaftswissenschaftliche Instrumentarium auf soziale Phänomene übertrugen, konnten John McCarthy und Mayer N. Zald davon sprechen, dass Proteste und soziale Bewegungen als Organisierung knapper Ressourcen zu begreifen sein, und die Bewegungsorganisationen als Angebotsseite aufgefasst werden kann. Die Rational Choice Theorie bildet den Rahmen für die Mikroebene (vgl. Zimmermann 1998:59). „Ressourcenmobilisierung wiederum kann im Unterschied zu relativer Benachteiligung [also den Deprivationstheorien, d.A.] die Beschaffung, den Fortbestand und die Anpassung sozialer Bewegungsorganisationen erklären“ (Zimmermann 1998:61). Das Erklärungsdefizit, das die Theoretiker/innen der Ressourcenmobilisierung bei den Deprivationstheorien sahen den Mangel, nicht erklären zu können, wann Unzufriedenheit zu Protesten führt und wann nicht -, erklären sie analog der Rational Choice Theorie daraus, dass jeweils Kosten und Nutzen solcher Aktionen abgewogen und oftmals die Kosten als zu hoch eingeschätzt würden. Ruud Koopmans sieht darin eine besondere Stärke dieses Ansatzes: „Als besonders wichtiger Beitrag muß dabei die Einbeziehung der Individualebene hervorgehoben werden. Das Abwägen von Kosten und Nutzen, die Individuen dazu bringen, eine Bewegung zu unterstützen oder ihr fern zu bleiben, bleibt in anderen Ansätzen meist implizit und wird damit als unproblematisch dargestellt. Gerade das berühmte ‚Dilemma der kollektiven Aktion’, wie es von Mancur Olsen formuliert wurde, macht aber klar, daß der Schritt von ‚Sympathie haben’ für eine Bewegung und ihre Ziele bis zur tatsächlichen Unterstützung keineswegs selbstverständlich ist“ (Koopmans, 1998:222).
II.3.1.2 Structural Strains Der Structural Strains Ansatz führt in Anlehnung an marxistische Gesellschaftstheorien den Gedankengang fort, dass soziale Bewegungen aus Transformationsprozessen entstehen. Nimmt man die Definitionen zur Theorie neuer sozialer Bewegungen des vorherigen Kapitels hinzu wird klar, dass eine Möglichkeit, neue soziale Bewegungen als Begrifflichkeit zu fassen, genau darin besteht, sie als Ergebnis bzw. Reaktion auf Umbrüche und Modernisierungsschübe zu inter38
pretieren. Dieser Ansatz liefert „historisch-strukturelle Deutungen“ (Brand 1998:33) im Fokus. Damit stehen hier typische Konstellationen „struktureller Problemlagen, Deprivationserfahrungen und Erwartungsdiskrepanzen“ sowie die „sozialstrukturelle Verortung der jeweiligen Bewegung, ihrer Sympathisanten und Gegner im Gefüge gesellschaftlicher Interessenlagen und Machtstrukturen“ (Brand 1998:34). Ebenfalls wird in den Blick genommen, welche Rolle die jeweiligen Gruppen im Transformationsprozess einnehmen (vgl. dazu auch die Ausführungen zu Touraine im vorherigen Kapitel II.2). Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die sozialstrukturellen Faktoren nicht nur auf progressive Bewegungen, zu denen die neuen sozialen Bewegungen ganz überwiegend zu rechnen sind, Auswirkungen haben, sondern auch auf reaktionäre Bewegungen. Claus Leggewie zeigt das am Beispiel der neuen Rechten. Bereits die Grundannahme, nach der „historische Zäsuren als ‚Rohstoff’ für sozialen Protest“ zu sehen sind, schließt das mit ein (Leggewie 1998:131), da die Richtung der Proteste zunächst grundsätzlich offen ist. Untersucht werden also aus makrosoziologischer Perspektive die „’Rahmung’ der sozialen und politischen Handlungsstrategie kollektiver Akteure“ (a.a.O. 1998:132). Da es sich um eine makrosoziologische Perspektive mit einem klaren, eingangs beschriebenen Fokus handelt, können kontextspezifische Rahmenbedingungen von Bewegungen oder Verlauf und Erfolg wie auch mikrosoziologische Fragestellungen, wie beispielsweise die nach den potentiellen Sympathisanten, nicht bearbeitet werden. Sowohl Karl-Werner Brand (1998) als auch Claus Leggewie (1998) finden Anhaltspunkte dafür, dass sich Mobilisierung und Protest mindestens auch aus sozialstrukturellen Gegebenheiten erklären lassen. Brand hat das Structural Strains Modell auf die Neuen sozialen Bewegungen angewandt und entdeckt dort einen vorherrschenden neuen Gesellschaftsentwurf. In einigen Definitionen Neuer Sozialer Bewegungen im vorherigen Kapitel klang das bereits an. Damit ist ein Merkmal benannt, nämlich die Dominanz bestimmter „politisch-kultureller Orientierungen“ bei der relevanten sozialen Trägergruppe. Das zweite ist die „sozialstrukturelle Verankerung der Aktivisten und Anhänger“ (Brand 1998:37), die jünger, gebildet und überwiegend in sozialen und kulturellen Dienstleistungsberufen tätig sind. Hanspeter Kriesi (1993) spricht bereits davon, dass eine neue soziale Klasse der „sozial-kulturellen Professionellen“ entstanden sei, dem wird aber vielfach widersprochen. So argumentiert etwa Brand, es sei bislang nicht gelungen, über die Identifizierung sozialer Lagen hinaus „aufzuzeigen, in welcher Weise sie die Basis für neue Vergemeinschaftung, für die Herausbildung neuer Mentalitäten und Handlungsmuster abgeben“ (1998:38). Auch Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht führen an, dass man auf grund der strukturellen Verankerung nicht annehmen darf „daß diese den sozial 39
verdichteten und dann auch mentalitätsmäßig komprimierten Aggregatzustand traditioneller Klassenformationen erreicht“ (1993:21) hätten24. Umgekehrt gibt es Hinweise darauf, dass Neue Soziale Bewegungen vor allem in dem von Gerhard Schulze (1992) so bezeichneten Selbstverwirklichungsmilieu entstehen bzw. ihre personellen Ressourcen finden (z.B. in Hellmann 1996). Claus Leggewie findet „starke Anzeichen dafür, daß in der erudierten Industriearbeiterschaft, infolge eines intergenerationellen Sozialisationsbruches, Orientierungen und Handlungsmuster der radikalen Rechten an Bedeutung gewinnen und daß sowohl im subkulturellen Milieu als auch in der einkommensschwachen und geringer qualifizierten Wählerschaft ein Konkurrenzkampf zwischen herkömmlichen Arbeitnehmer-Organisationen und rechtspopulistischen und –radikalen Szene-Gruppen entbrannt ist“ (1998:148). „Sozialstruktureller Wandel schlägt nicht automatisch auf alle potentiell Betroffenen durch, sondern wirkt immer erst durch selektive sozialpsychologische Wahrnehmungsfilter auf spezifische Akteure“ (Leggewie 198:132) An dieser Stelle sei der Hinweis auf die eingangs formulierte Definition von Protest erlaubt: die entscheidende Rolle, ob eine vorfindbare Situation zu Protest führt, hängt von der Deutung der AkteurInnen ab. Zunächst aber zu einem weiteren Analyseansatz, der sich mit den Rahmenbedingungen, dem ‚objektiv’ vorfindbaren, befasst.
II.3.1.3 Political Opportunity Structure „Die Analyse politischer Gelegenheitsstrukturen thematisiert die Rolle von strukturellen Rahmenbedingungen für sozialen Wandel und für die Entstehung und Mobilisierung sozialer Bewegungen“ (Kolb 1997:25) Dieser Ansatz ist, der Name deutet darauf hin, für die Analyse von politischen Gelegenheitsstrukturen, die förderlich oder behindernd für die Entstehung und Entwicklung von Protest und sozialen Bewegungen sind, entwickelt worden. Ruud Koopmans (1998:198ff) unterscheidet dabei einerseits zwischen Ansätzen, die den unterschiedlichen Einfluss verschiedener politischer Systeme oder „von repressiven oder konsensuellen Traditionen“ (a.a.O.:199) auf Mobilisierung untersuchen; andererseits denen, die Einflussfaktoren auf die Entstehung von Mobilisierung innerhalb eines bestimmten politischen Systems analysieren. Für beide Varianten gilt, und das ist ein entscheidender Unterschied zu anderen Theorieansätzen wie etwa dem Framing, dass sie das Auftreten und nicht den Erfolg von Protest erklären wollen25. Zur Definition von Gelegenheitsstrukturen 24 s. auch die Ausführungen unter dem Stichwort Neue Soziale Bewegungen 25 vgl. dazu auch Rucht 1998:109ff
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zitiert Dieter Rucht Peter Eisinger, einen der Begründer dieser Theorie, wonach sie „a function of the degree to which groups are likely to be able to gain access to power and to manipulate the political system” (zitiert nach Rucht 1998:110) sind. Analysiert wird insbesondere, ob die Gelegenheitsstrukturen offen oder geschlossen sind, und welche formellen und informellen Indikatoren sie aufweisen. Zu ersteren gehören der Zentralisierungsgrad politischer Strukturen, die Verteilung von Ressourcen und die Art der Besetzungspraxis politischer Entscheidungsstellen. Zu letzteren zählt z.B. der Anteil von Minoritäten im Öffentlichen Dienst. Neben den genannten gibt es in der Literatur eine Vielzahl analysierbarer Faktoren, die sich im Wesentlichen auf strukturelle Elemente des Staates beziehen, wie beispielsweise seine Stärke, vorfindbare Repressionsformen oder das Parteiensystem; andere haben mit der politischen Kultur zu tun oder beziehen sich auf Machtfaktoren wie beispielsweise die Möglichkeit, einflussreiche Allianzen zu bilden und Eliten einzubeziehen. In der Literatur wird übereinstimmend betont, dass diese Gelegenheitsstrukturen veränderbar sind und Deutungsprozessen unterliegen. Insbesondere auf den Punkt der Annahme von Veränderbarkeit durch die Betroffenen wird noch an späterer Stelle einzugehen sein. Diese Unüberschaubarkeit der Faktoren lässt sich in Anlehnung an Doug McAdam (1996) auf vier Dimensionen und zwei abhängige Variablen beschränken. Die vier Dimensionen sind: - die Offenheit oder Geschlossenheit einer politischen Institution, - Konsens oder Dissens politischer Eliten, - die Existenz von Verbündeten und Kapazitäten und - die Bereitschaft des Staates zur Anwendung von Repressionen. Die abhängigen Variablen sind die Wahl des richtigen Zeitpunktes für Aktionen und der Erfolg der Aktivitäten. Um klären zu können, wie eine bestimmte Gelegenheitsstruktur auf die Mobilisierung Einfluss nimmt, führt Ruud Koopmans (1998:200) wiederum auf der Basis der Rational Choice Theorie vier Faktoren ein, genannt „konkrete Gelegenheiten“, mit denen er strukturelle und akteursbezogenen Theorien kollektiven Handelns verbindet: erstens die Einschätzung der Erfolgschancen, zweitens Erwartungen darüber, ob das Ziel auch ohne kollektive Aktionen erreicht werden kann, drittens externe Förderung, z.B. durch die Implementierung von Mitbestimmungsverfahren oder durch Allianzen und viertens erwartete Repressionen oder Sanktionen bei Beteiligung. Dieter Rucht (1998) zeigt in der Anwendung dieses Konzeptes auf Einzelbewegungen aus dem Bereich der Neuen Sozialen Bewegungen die begrenzte Aussagekraft auf. Insbesondere 41
Mobilisierungsschübe können, da deutliche Veränderungen der politischen Gelegenheitsstrukturen zeitgleich kaum nachweisbar waren, damit nur zum sehr geringen Maße erklärt werden. Tatsächlich scheinen situative Bedingungen, regionale Konflikte mit einer spezifischen Konfliktdynamik oder auch konkrete Auslöser bedeutsamer zu sein. Koopmans, der das Anwachsen des Rechtsextremismus mithilfe des Konzeptes politischer Gelegenheitsstrukturen untersucht hat, greift genau diese Problematik auf, indem er sie wie oben erwähnt unter dem Label der ‚konkreten Gelegenheiten’ miterhebt. „Fügt man hinzu, daß die Asylbewerberzuwanderung zwar von Politikern immer wieder problematisiert wurde, die zerstrittene politische Elite es aber zugleich nicht schaffte, dieses Problem durch wirksame Maßnahmen in den Griff zu bekommen, läßt sich daraus auf eine günstige Gelegenheitsstruktur für gegen Asylbewerber gerichtete Mobilisierung schließen“ (Koopmans 1998:207). Ebenfalls mobilisierungsförderlich und in dieses Schema passend sind die zaudernde Haltung der Regierung und das Fehlen von Lösungsvorschlägen. Felix Kolb (1997), der den Castor-Konflikt untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis, dass sich bestimmte Rahmenbedingungen der politischen Gelegenheitsstruktur als förderlich für die Gegner der Castor Transporte erwiesen haben, wie zum Beispiel der Streit zwischen dem Land Niedersachsen und dem Bund (Aufspaltung der Eliten) oder günstige Gerichtsurteile oder auch die Bildung von Allianzen, was vor allem Zeit, Zugang zu Informationen und Zugang zu weiteren Ressourcen gebracht hat. Dieser Analyseansatz kann keine Auskunft darüber geben, warum sich Menschen mobilisieren lassen oder welche Gruppen besonders leicht angesprochen werden können oder wie regionale Unterschiede zu erklären sind. Die Kritik an diesem Ansatz bezieht sich entsprechend vor allem auf seine Erklärungskraft. Sie ist, wie gezeigt, begrenzt, was insbesondere für ihre streng strukturell ausgerichteten Versionen gilt. Durch die starke Betonung des politischen Feldes sind beispielsweise kulturell ausgerichtete Bewegungen sowie kulturelle Aspekte bei politischen Bewegungen kaum zu erfassen. Der oben erwähnte Punkt der Veränderbarkeit von Gelegenheitsstrukturen und ihrer Abhängigkeit von Interpretationen der AkteurInnen wird zwar gesehen, findet in den Analysen aber so gut wie keinen Niederschlag. Von den angeführten Fragekomplexen, die mit diesem Konzept nicht bearbeit werden können abgesehen, liefert es offenbar eine zwar notwendige aber nicht hinreichende Erklärung für Mobilisierung.
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II.3.2 Stärker handlungsorientierte Ansätze II.3.2.1 Kollektive Identität Zurück auf die Mikroebene und zur handlungstheoretisch interessierten Theorien gelangt man mit den Ansätzen, die das Phänomen Kollektiver Identität untersuchen. Hierbei geht es um die Fragen, wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht und welche Bedeutung es für die Motivation zur Teilnahme und den Erfolg sozialer Bewegungen hat. Eine Schwierigkeit besteht darin zu erfassen, was kollektive Identität überhaupt ist. Dazu wird in der Literatur auf die unterschiedlichsten Theoretiker aus Psychologie und Soziologie verwiesen, insbesondere auf Mead, Goffman und Strauss, aber auch Blumer, Erikson oder Maturana. Besondere Beachtung in jüngerer Zeit haben die Theorien Alberto Meluccis und Manuel Castells’ gefunden. Identitätsbildung beruht auf Abgrenzung vom Anderen, sie ist ein Prozess, „dessen Ergebnis offen ist“ (Haunss 2002:17). Hier sollen die Grundüberlegungen von Manuel Castells zugrunde gelegt werden, um deutlich zu machen, welche theoretischen Grundannahmen hinter der Verwendung des Begriffes stecken (können) und welche Bedeutung er für die soziologische Theorie hat26. Castells misst der Identität27 besondere Bedeutung zu, da sie in Zeiten der Auflösung sozialer Milieus und gesellschaftlicher Institutionen Halt bieten. „Nur der Rückbezug auf Identität ermöglicht überhaupt noch Politik“ (Haunss 2002:19). Dieter Rucht (1995:10) definiert kollektive Identität „als ein Syndrom von Bewußtseins- und Ausdrucksformen von mindestens zwei Personen, welche um ihre Zusammengehörigkeit … wissen, diese – im Regelfall – handlungspraktisch demonstrieren und insofern auch von ihrer Umwelt als zusammengehörig wahrgenommen werden“. Dazu gehören ein Wir-Gefühl, die Betonung von Gemeinsamkeiten, Abgrenzungen und symbolisch vermittelte Vergemeinschaftung. Die Gruppe erschafft sich selbst als Gemeinschaft. Unter Umständen bildet sich eine Subkultur heraus (Haunss 2002:15). Hier besteht offensichtlich eine starke Anlehnung an die Theorien von Mead. „Kollektive Identität ist eine kulturelle Konstruktion, die der symbolischen und rituellen Bestätigung bedarf, um sich zu reproduzieren und damit handlungsmächtig zu bleiben“ (Eder 1998:36). Bezogen auf ethnische und nationalistische Konflikte fügt Klaus Eder an: „Wer inkludiert 26 vgl. im Folgenden Haunss 2002 und Castells 2002 27 Er unterscheidet erstens Identitäten gesellschaftlicher Institutionen wie Staat, Religion etc., zweitens Widerstandsidentitäten ausgegrenzter Personengruppen und drittens Projektidentitäten, die zur Erreichung bestimmter gesellschaftlicher Veränderungen angenommen werden.
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ist, kann sich sogar Interkulturalität leisten“ (a.a.O.:37), da das Dazugehören symbolische Grenzen und damit symbolische Macht bestätigt. Diese symbolische Macht ermöglicht gleichzeitig soziale Exklusion auch dort, wo reale Exklusion verboten ist. In der Systemtheorie wird kollektive Identität als Bildung von Innen und Außen definiert, womit Zuweisungen von Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit sowie Fragen der Selbst- und Fremdwahrnehmung angesprochen sind (Fahlenbach 2002:21f). Bert Klandermans (1997:41ff) weist auf die Notwendigkeit hin, zwischen kollektiver und sozialer Identität zu unterscheiden, letztere verstanden als den Anteil einer Identität, der durch die diversen Gruppenzugehörigkeiten eines Individuums bestimmt wird und somit die individuelle Komponente kollektiver Identität liefert. Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass Mobilisierung, also der Übergang von Nicht-Handeln zu Handeln oder der Wechsel vom Publikum zur Aktivist/in nicht ohne das Entstehen kollektiver Identität stattfinden kann. Roland Roth (1998) hält es für fraglich, ob über die erwähnte Vorraussetzung des Entstehens kollektiver Identität für soziale Bewegungen hinaus davon gesprochen werden könne, dass sie ein Ziel sozialer Bewegungen sei. In seiner Untersuchung über Protest und symbolische Gewalt weist Klaus Eder (1998) auf den Sachverhalt hin, dass durch die Bildung kollektiver Identität mit den oben erwähnten Abgrenzungen innen/außen und zugehörig/nicht zugehörig auch Fragen der Macht, insbesondere der symbolischer Gewalt berührt sind. Auch Bert Klandermans (1997:43ff) gibt zu Bedenken, dass die mit kollektiver Identität zusammenhängende Dynamik von Zugehörigkeit konfliktträchtig sein kann. Insbesondere gilt das, wenn es um die in der Literatur ganz überwiegend für Protest als notwendig erachtete Schuldzuschreibung oder das Zuweisen von Verantwortung geht28. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus der Definition Klandermans (1997), die er in Anlehnung an Melucci entwickelt hat und nach der kollektive Identität ein Prozess der Aktivierung von Beziehungen ist, der auf Netzwerke von AkteurInnen und ihre emotionale Beteiligung angewiesen ist. Bei der Bildung kollektiver Identität sind demnach drei Leistungen zu erbringen: zum einen müssen Grenzen gezogen werden, zum zweiten ein Bewusstsein über die gesellschaftlichen Positionen einer Gruppe geschaffen werden und drittens muss durch die ‚Politisierung des Alltags’ an grundlegenden Unterschieden festgehalten werden. Neben der Unterscheidung nach handlungs- und systemtheoretischer Ausrichtung, wobei hier nur – die Überschrift macht das bereits deutlich – erstere 28 vgl. dazu auch im Kapitel Öffentlichkeit das Unterkapitel Strategien sozialer Bewegungen, II.4.5
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eine Rolle spielen, bietet Roth (1998) die Unterscheidung nach kulturorientierten und nach sozialpsychologisch orientierten Ansätzen an. Erstere sehen die Wurzel kollektiver Identität in der Alltagspraxis, in Routinen, in Lebensstilen und als „prekäres und instabiles Produkt“ (a.a.O.:53), letztere beschreiben kollektive Identität als den Wechsel von individuellen zu kollektiven Selbstinterpretationen, der die außeralltägliche „Identifikationen entlang gemeinsamer ‚Objekte’“ (a.a.O.:53) markiert. In Anlehnung an die Definition von Melucci schlägt Roth drei Dimensionen kollektiver Identität vor: Die erste beinhaltet den Definitionsprozess von Zielen, Mitteln und Handlungsfeldern, wobei kein strikt einheitlicher Rahmen notwendig ist29. Die zweite besteht aus einem Beziehungsnetzwerk mit typischen Organisationsformen, Entscheidungsmodi, Kommunikationswegen und Technologien und die dritte wird durch das Vorhandensein von Emotionen und emotionalen Bindungen erzeugt. „Erst dieses Zusammenspiel von Kognition, Interaktion und Emotion konstituiert kollektive Identität. Ihr Prozesscharakter schließt beides ein: Veränderung und Strukturierung“ (a.a.O.:60). Bert Klandermans (1997:44) konstatiert, dass für die Identitätsbildung Prozesse der Selbstkategorisierung notwendig sind. Dazu gehört unter anderem die eigene Verortung in bestimmten sozialen Gruppen, mit denen sich das Individuum identifiziert – die eingangs erwähnt soziale Identität. Diese Identifikation wird verstärkt „wenn Menschen einen negativen Status der Gruppe als stabil und die Gruppengrenzen als undurchlässig wahrnehmen“ (a.a.O.:45). Diese Gruppenidentifikation bildet das Verbindungsglied zwischen kollektiver und sozialer Identität. Kollektive Identität ist damit als Gruppenmerkmal identifiziert, das sich auf mehrere Individuen bezieht, soziale Identität ein individuelles Merkmal, das sich auf mehr als eine Gruppe bezieht. Veith-Michael Bader stellt klar: „Kollektive wie individuelle Identitäten sind nichts Natürliches, Unveränderliches, statisches, Ein-für-allemal Gegebenes. Sie sind das Resultat von Prozessen sozialer Definition und Identifikation und Ausgrenzung“ (nach Roth 1998:235). Der Aspekt, kollektiver Identität als geteilte Überzeugungen zu betrachten, ist insbesondere für soziale Bewegungen und Bürgerinitiativen wichtig. Dabei ist analytisch zu unterscheiden zwischen der Konstruktion von Überzeugungen, die auf der Gruppenebene, und der Aneignung selbiger, die auf der Individualebene stattfindet. Das bedeutet für die empirische Anwendung, dass die kollektive Identität einer Gruppe „durch die Herausarbeitung solcher Phänomene wie Gruppensymbole, Rituale, Überzeugungen und Werte, die die Gruppenangehörigen teilen, untersucht werden“ kann. Entsprechend kann die „Identifikation eines Individuums mit einer Gruppe…durch die Herausbildung individueller Überzeugung, Empfindungen, der Selbstverpflichtung gegenüber der Gruppe, dem 29 vgl. dazu auch die Framing-Strategien und die Kritik am Konzept
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Gebrauch von Symbolen, der Teilhabe an Ritualen etc.“ (Klandermans 1997:49) analysiert werden. Kollektive Identität ist insofern konstitutiv, als eine Bewegung, wenn der damit bezeichnete ständige Aushandlungsprozess nicht funktioniert, zerfällt, sie aber auch, ganz ähnlich wie das bei den Framing-Prozessen im folgenden noch zu zeigen sein wird, nicht zu eng gezurrt sein darf, damit sich möglichst viele in ihr wiederfinden können. Denkt man an die Ausführungen im Kapitel Begriffserklärungen, in dem der Begriff Neue Soziale Bewegungen erläutert wird, fällt auf, dass viele der Bewegungsthemen mit der persönlichen Identität zu tun haben, dass sogar „personale Identitäten eines der zentralen Themen dieser Bewegungen sind“ (Roth 1998:55). Die Verknüpfung sozialer und kollektiver Identität ist hier umso mehr eine zentrale Aufgabe. Plausible Erklärungsangebote, wie das zu leisten ist, liefert die folgende Framing-Theorie.
II.3.2.2 Framing Der zuerst von David A. Snow u.a.1986 vorgestellte Framing-Ansatz beleuchtet eine Ebene, die bis dahin keine Beachtung fand, nämlich die der symbolischen Konstruktion von Wirklichkeit und kollektiv erzeugter Deutungen. Theoretiker/innen dieses Ansatzes gehen davon aus, dass für die Analyse sozialer Bewegungen die Untersuchung von Struktur und Dynamik kollektiver Deutungsprozesse und daraus entstehender Deutungsmuster unabdingbar sind. Reinhard Kreissl und Fritz Sack formulieren das so, dass eine „Ebene beziehungsweise ein Faktorenbündel der Entstehung, Wirkungsmacht und Wirkungsmechanismen sozialen Bewegungen und sozialem Protest, … : die Bereitstellung und Erarbeitung von Definitionen und Deutungen der Probleme und Anliegen zu deren Artikulation und Beförderung kollektive Akteure an die Öffentlichkeit treten“ (1998:41) mit einbezogen werden. Daraus folgt, dass soziale Bewegungen als kollektive Akteure ihre Wirklichkeit bewusst selbst konstruieren, Interpretationen gezielt inszenieren und Deutungen strategisch operationalisieren. Kreissl und Sack verweisen auf die objektiven und subjektiven Theorietraditionen, die sich darin unterscheiden, dass „erstere den Status sozialer Probleme an objektive Kriterien und Gesichtspunkte binden, wohingegen subjektive Positionen von der Prämisse ausgehen, dass soziale Probleme durch Definitionsprozesse…erst als solche erzeugt und konstituiert werden“ (a.a.O.:42/43). In ihrem initialen Artikel stellen Snow u.a. ihre Framing-Theorie als Bindeglied zwischen sozialpsychologischen Ansätzen und denen der Ressourcenmobilisierung dar, wobei sie sich auf die Frame-Analyse von Goffman berufen. Sie unterscheiden vier Prozesse der Ausrichtung von 46
Frames, und zwar frame-bridgeing, frame-amplification, frame-extension und frame-transformation, die sie für unerlässlich für jede Beteiligung halten. Sie sind typischerweise interaktional und prozessual. Der Grundgedanke hinter dieser Theorie ist der einer notwendigen Komplementarität von individuellen und kollektiven interpretativen Orientierungen. Ohne Übereinstimmung individueller Interessen, Werte und Ansichten mit den Aktivitäten, Zielen und Ideologien von sozialen Bewegungen würde keine Mobilisierung stattfinden. Die Definition des Begriffes Frame übernehmen sie von Goffman, der damit Interpretationsschemata bezeichnet, die Individuen in die Lage versetzen, „to locate, perceive, identify, and label occurrences within their life space and the world at large“ (Snow u.a. 1986:464). Jürgen Gerhardts und Dieter Rucht schlagen vor, zwischen individuellen und kollektiven Überzeugungssystemen zu unterscheiden. „We suggest the term ‚frame’ for the belief systems of collective actors. Both cognitive schemes (individual belief systems) and frames (collective belief systems) may involve different degrees of conceptualization” (1992:575). Felix Kolb definiert Framing als „die Entwicklung und Propagierung eines Deutungs- und Erklärungsmusters, in dessen Rahmen die Bewegung den Konflikt, ihre Ziele und ihr Vorgehen in einer bestimmten Weise definiert, interpretiert und rechtfertigt“ (1997:23). Demnach erbringt Framing die Leistungen, SympathisantInnen zu werben und zur Teilnahme zu motivieren, eine positive öffentliche Wahrnehmung zu ermöglichen und eine breite Identifikation mit der Organisation zu erlauben. Mit Frames werden Erfahrungen organisiert und Handlungen geleitet, sowohl individuelle als auch kollektive; sie sind somit eine notwendige Bedingung für Mobilisierung. Mit dem Framing-Ansatz wird untersucht, wie Mobilisierung gelingen kann, wie Themen in der Öffentlichkeit platziert und Interpretationsvarianten durchgesetzt werden können. Diese Interpretationsarbeit knüpft „an gegebenen Deprivationslagen und Unzufriedenheiten“ (Kliment 1998:70) an und besteht aus den vier benannten frame-alignment Prozessen. Diesen nach außen gerichteten vier Prozessformen stehen als interne Struktur drei Komponenten gegenüber, die drei Funktionen des Frames entsprechen: die diagnostische, die prognostische und die motivationale. Damit sind die drei Schritte bezeichnet, ein Thema als Problem zu diagnostizieren, Lösungswege aufzuzeigen und damit die Möglichkeit von Veränderung zu prognostizieren und als drittes zur Teilnahme zu motivieren. Die erste Teilfunktion bindet das Thema an möglichst zentrale Werte und identifiziert Verursacher und Verantwortliche (vgl. Snow u.a. 1988, Gerhardt 1992, Kliment 1998 und Kreissel/Sack 1998). Die interne Struktur von Frames beschreiben Reinhard Kreissl und Fritz Sack als „binär strukturierte semantische Konstrukte, die sich
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um ein zentrales Verdichtungssymbol aufbauen. Sie können von unterschiedlicher Abstraktheit und Reichweite sein“ (1998:44). Bei den vier nach außen gerichteten frame-alignment Prozessen geht es darum, individuelle Interpretationsmuster mit den kollektiven zu verknüpfen. Als Adressaten dafür benennen Snow u.a. sieben Gruppen: „adherents, constituents, bystander publics, media, potential allies, antagonists or countermovement, and elite decisionmakers or arbiters“ (a.a.O.:465). Im Einzelnen sieht das wie folgt aus: Im Zuge des frame-bridging wird bei ideologisch nahe beieinander liegenden aber strukturell unverbundenen frames die Verbindung zwischen der Gruppe und bislang nicht Mobilisierten, die aber ähnliche Missstandswahrnehmungen und Wertemuster haben, gebildet. Dieser Brückenbau findet insbesondere durch die Weitergabe von Informationen statt, wobei David A. Snow u.a. die hohe Bedeutung von interpersonellen und Gruppennetzwerken betonen, da sie die Rekrutierung von Teilnehmer/innen und das Wachstum steuern können30. Im Analyseteil dieser Arbeit wird auf diesen Komplex, dem Thomas Ohlemacher in seiner Arbeit (1993: Brücken der Mobilisierung) nachgeht, vertiefend eingegangen. Wie Jürgen Gerhards und Dieter Rucht (1992:584ff) an den Beispielen der Anti-IWF und Anti-Reagan-Kampagnen zeigen konnten, können durch framebridging sehr unterschiedliche Gruppen ihre frames mit denen für diese Gelegenheit gebildeten übergeordneten Frames (master-frames) verbinden. In sozialen Bewegungen, die sehr heterogene Gruppen von Akteur/innen miteinander vereinen, ist das unabdingbar. Bei Prozessen des frame-amplifikation geht es darum, Interpretationsframes zu präzisieren und zu stärken. Dabei unterscheiden Snow u.a. zwei Varianten: einmal das value amplification, wobei sie Werte als „modes of conduct or states of existence that are thought to be worthy of protection and promotion“ (1986:469) definieren und von einer Wertehierarchie ausgehen. Beim value amplification geht es darum, den dem Problem zugeschriebenen Wert möglichst mit zentralen kulturellen Werten zu verknüpfen, das sind z.B. Gerechtigkeit, Demokratie, Gleichheit, Freiheit. Bei der zweiten Variante, dem belief amplification, sollen die Überzeugungen, die besonders interessierende Sachverhalte betreffen, mit dem Problem verbunden werden. Darunter fallen z.B. Annahmen über die Bedeutung des Problems, über Ursachen, Schuldzuschreibungen, Gegner, Erfolgsaussichten, effektive Maßnahmen und über die Notwendigkeit und Richtigkeit der kollektiven Handlungen. So hat beispielsweise die amerikanische Friedensbewegung Handeln an den kulturellen Code ‚moralische Ver30 s. dazu auch den Absatz über soziale Netzwerke
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pflichtung bzw. Verantwortung’ gebunden. „I’ve learned that we not only have a right but a responsibility to tell our government…when they have gone against our whishes“ (Friedensaktivist nach Snow u.a. 1986:472). Die dritte Technik, das frame-extension, kommt vor allem dann zum Einsatz, wenn die gewählten Themen keinen direkten Bezug zum Alltag potenzieller Unterstützer/innen haben, und so ausgeweitet werden müssen, dass sie deren Interessen oder Sichtweisen berühren. Damit wird versucht, die Verbindung zu möglichst vielen Personen herzustellen, um Interesse oder Betroffenheitsgefühle zu wecken. Im vierten Prozess, dem frame-transformation, geht es darum, Frames, die mit Hilfe der anderen Mittel nicht anschlussfähig zu machen sind, entsprechend umzuwandeln, unter Umständen auch neue zu planen („keying“ bei Goffman). Die Autoren unterscheiden dabei zwischen bereichsspezifischen und globalen. Beide beinhalten die Uminterpretation oder Veränderung eines frames, so z.B. wenn ein Sachverhalt, der vorher als Unglück angesehen wurde nun als Ungerechtigkeit interpretiert wird. Im ersten Fall werden dabei bislang unstrittige Annahmen über Status, Verhältnismäßigkeit oder soziale Praktiken eines bestimmten Bereiches als unmoralisch und ungerecht dargestellt. Dazu kann es auch notwendig werden, dass sich die Mitglieder selbst neu definieren, Annahmen über ihre Identität verändern, wie es beispielsweise in der Black Power Bewegung oder der Frauenbewegung passiert ist, oder auch in Selbsthilfegruppen häufig grundlegend dazu gehört. In diesen Bereich fällt auch die Uminterpretation von bislang zur Alltagspraxis gehörender Bereiche als etwas Besonderes. So werden beispielsweise Wohnhäuser zu Traditionslinien zu den Vorfahren umgedeutet. Im zweiten Fall, der Transformation globaler Interpretationsschemata gewinnt ein neuer Frame überragende Bedeutung und wird zum „master frame that interprets events and experiences in a new key“ (a.a.O.:475). Damit werden grundlegende Überzeugungen berührt und ein Diskursuniversum durch ein anderes ersetzt, mit allen zugehörigen Gesetzmäßigkeiten und Regeln. Als Folge sind die Menschen davon überzeugt, die ganze sie umgebende Umwelt völlig neu und mit größerer Klarheit zu sehen, erst jetzt richtig zu verstehen. Uminterpretationen globaler Frames haben immer Einfluss auf viele, wenn nicht alle anderen Lebensbereiche, im Gegensatz zu der Transformation der bereichsspezifischen. Diese radikale Transformation ist, abhängig von der jeweiligen Bewegung, unterschiedlich wahrscheinlich. Die meisten Bewegungen verlangen oder fördern nicht, dass man sich ihnen mit Haut und Haaren verschreibt. Es finden sich aber mindestens Ansätze dazu bei den Globalisierungskritiker/innen und der Tierrechtsbewegung, deutlicher nachzuvollziehen ist diese Transformation in fundamentalistischen religiösen Bewegungen. 49
Die nachfolgende Literatur verwendet den Begriff Masterframe ganz überwiegend im Sinne eines dominanten, übergeordneten Begriffes, der vor allem für viele Gruppen anschlussfähig sein muss. Auch Felix Kolb (1997) verwendet den Begriff ’master frame’ im so definierten Sinne in seiner Untersuchung des Castor-Konflikts. Bei Reinhard Kreissl und Fritz Sack dienen master frames der Bündelung „microvernetzter Bewegungsakteure“ (1998:45). Sie schlagen vor, das Konzept ‚master frames’ weiter auszubauen, indem soziale Bewegungen zum einen daraufhin unterschieden werden, ob sie die ökonomische Struktur einer Gesellschaft oder ihr politisches System kritisieren, und auf der anderen Seite Bewegungen, denen es „um gesellschaftliche Anerkennung partikularer Anliegen oder bestimmter Lebensformen geht“ (a.a.O.:45). Bewegungsziele könnten ebenfalls auf Ebene der ‚master frames’ in „injustice“, „agency“ und „identity frames“ unterschieden werden.
II.4 Öffentlichkeit Mit Schlagworten wie Massenkommunikation, Diskursanalyse, Aganda-setting oder Öffentliche Meinung wird eine für Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen lebenswichtige Problematik angesprochen: wie das Problem, das die AkteurInnen beschäftigt, in die Öffentlichkeit gelangen und dort diskutiert werden kann. Dabei gibt es, bezogen auf die hier interessierende Problematik, zwei grundsätzlich zu unterscheidende Analyseebenen: Die erste betrifft die Öffentlichkeit. Was ist überhaupt Öffentlichkeit, woraus setzt sie sich zusammen, inwiefern ist sie für Bürgerinitiativen oder soziale Bewegungen relevant? Dabei wird im Folgenden zwischen drei untergeordneten Analyseebenen unterschieden: der der Sprecher/-innen, der des Publikums und der von Massenmedien. Diesem Komplex wird im Unterkapitel 4.1 nachgegangen. Die zweite Ebene betrifft die AkteurInnen (Kap. 4.2). Wie gelingt es ihnen, ihr Problem publik zu machen? Wie können sie das Problem und vor allem ihre Problemsicht in der Öffentlichkeit verankern, um Sympathien, Ressourcen und weitere Mitstreiter/-innen zu finden? Es scheint in der Literatur unstrittig, dass der Erfolg von Bürgerinitiativen wie auch von sozialen Bewegungen ganz entscheidend von diesem Punkt abhängt, da sie im Gegensatz zu anderen Gruppierungen wie Lobbys auf keine andere Macht und Einflussquelle zurückgreifen können. Diese Fragen werden in den Kapiteln 4.3 und 4.4 behandelt. So wie die AkteurInnen versuchen, Öffentlichkeit und öffentliche Meinung und die Medienberichterstattung zu beeinflussen, hat umgekehrt auch die 50
Öffentlichkeit Auswirkungen auf soziale Bewegungen und Bürgerinitiativen. Neben den oben genannten Einfluss- und Rekrutierungsmöglichkeiten nimmt die dort herrschende Rezeption Einfluss auf den Verlauf, auf die Lebensdauer und auf die Dynamik des Protestes. Dieser Punkt wird im letzten Unterkapitel beleuchtet.
II.4.1 Was ist Öffentlichkeit? Der Begriff Öffentlichkeit ebenso wie der später behandelte der öffentlichen Meinung wird in vielerlei zum Teil widersprüchlichen, zum Teil sich ergänzenden Bedeutungen verwendet. Bernhard Peters unterscheidet in seinem Aufsatz „Der Sinn von Öffentlichkeit“ (1994) drei Grenzziehungsmöglichkeiten: erstens Öffentlichkeit als institutionalisierte Handlungssphäre, in dem das Begriffspaar öffentlich und privat zwei Bereiche unterschiedlichen normativen Charakters voneinander abgrenzt; zweitens benennt er die Dimensionen Kommunikation und Wissen, in dem mit dem Begriffspaar öffentlich und geheim unterschiedliche Wissens- und Kommunikationsbereiche abgegrenzt werden; und als drittes Öffentlichkeit im emphatischen Sinn, mit dem ein Bereich mit spezifischen Kommunikationsstrukturen bezeichnet ist. Diese Unterscheidung bezieht sich auf Handlungen und ihre institutionellen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Rollen, Positionen, Kompetenzen, und auf die faktischen Handlungsbedingungen, wie beispielsweise die Verfügung über Ressourcen. Nach Bernhard Peters finden private Handlungen in einer relativ geschützten Sphäre weitgehend ohne öffentliche Kontrolle statt, öffentliche Handlungen dagegen unterliegen entsprechender Kontrolle und sollten im gemeinschaftlichen Interesse sein. Beobachtbar ist, dass es ständig neue Grenzziehungen gibt, was als öffentliche und was als private Belange bezeichnet wird31. Das zentrale Problemfeld betrifft dabei die Fragen, wofür der Staat zuständig ist und was in der Verantwortung der Bürger/innen liegen oder den Kräften des ‚freien’ Marktes überlassen werden soll. Diese Problematik ist Grundlage ständiger Aushandlungsprozesse. Neo-liberale Theorien, auch Kommunitarismustheorien wollen die Grenze in Richtung Staat verschieben, mehr den Bürger/innen überantworten. Die seit langem geführten Debatten um Kommunitarismus, Bürgergesellschaft, oder 31 Interessant ist daneben auch, was an Privatsphäre Menschen freiwillig in die (TV)Öffentlichkeit bringen, etwa in Talkshows, in denen intime Probleme und Beziehungen ausgebreitet werden, oft konfrontativ mit einem persönlichen Gegenpart, oder in Ratgebershows, in denen meist selbsternannte ExpertInnen in die eigene Wohnung geholt werden um sie einzurichten oder die Kinder und Haustiere zu erziehen.
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Maßnahmenkataloge gegen sozialstaatliche Fragen wie Renten und Arbeitslosigkeit drehen sich schwerpunktmäßig um diese Frage32. Neben der Fragen der Verantwortlichkeit und Zumutbarkeit ergibt sich dabei ein weiteres Problem: „Die institutionelle Grenzziehung ist selbst diffus geworden. Wir finden eine breite Übergangszone zwischen privaten und öffentlichen Handlungs- und Verantwortungsbereichen – eine Vielzahl von Assoziationen, Organisationen und anderen Strukturen, die nach vorherrschenden sozialen Definitionen öffentliche Aufgaben erfüllen und öffentliche Autorität ausüben, die aber nicht dem Bereich staatlicher, dem Anspruch nach demokratisch kontrollierter Institutionen angehören“ (Peters 1994: 43). Bei der zweiten Unterscheidung, der nach Kommunikation und Wissen, geht es um die Unterscheidung, wer an Kommunikationen teilnehmen kann und welche Wissensbestände wem zugängig sind oder mindestens sein sollten. „Entsprechend lässt sich Öffentlichkeit als eine soziale Handlungssphäre verstehen, die mehr oder weniger frei zugängig ist und in der soziale Akteure sich an ein unabgeschlossenes Publikum wenden oder jedenfalls der Beobachtung durch ein solches Publikum ausgesetzt sind“ (Peters 1994:44). Die dritte Unterscheidung bezieht sich auf das diskursive, normative Modell, dazu weiter unten mehr. Bernhard Peters definiert Öffentlichkeit als den Raum, der von öffentlicher Kommunikation gebildet wird33. Je nach grundsätzlicher theoretischer Ausrichtung ist Öffentlichkeit entweder als ein Kommunikationssystem oder als Netzwerk von Kommunikationsprozessen, in denen öffentliche Meinung gebildet wird, zu interpretieren. Unstrittig ist, dass die Kommunikation das konstituierende Element ist, strittig, wie diese Kommunikation abläuft und was sie bewirkt. Die beiden wichtigsten Theoriemodelle über Öffentlichkeit gehen auf Niklas Luhmann und Jürgen Habermas zurück. Niklas Luhmann hat ein normativ wenig anspruchvolles Spiegelmodell entwickelt (Luhmann 1993), nach dem die wesentliche Funktion die Aquisition und die Sichtbarmachung von Themen und Meinungen ist, beschränkt sich also auf die erste, die Transparenzfunktion. Das von Jürgen Habermas entwickelte Diskursmodell (Habermas 1982) ist normativ sehr anspruchsvoll; die Forderung nach Diskursivität bedeutet, dass die Diskussion und die in ihr verwandten Argumente selbst Anspruch auf kollektive Akzeptanz erheben und erfordert die gegenseitige Achtung der Diskussionsteilnehmer/innen. Merkmale der hier geforderten Kommunikationsart sind Gleichheit und Reziprozität, was praktisch kaum durchführbar ist, aber den Anspruch bekräftigen soll, dass im Prinzip alle sprechen beziehungsweise zuhören dürfen. 32 vgl. Nover/Jonas/Schumm-Garling 2002 33 dazu auch Neidhardt 1994, Kriesi 1994, Schenk/Rössler 1994
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Dazu gehören Offenheit für Themen und Beiträge, eine bestimmte Kapazität und eine diskursive Struktur, das heißt: Austausch von Argumenten, Anspruch auf kollektive Akzeptanz, Zulassen von Kritik, gegenseitige Achtung der Kommunikationspartner und ein Verbot von Kommunikationsformen, die nicht auf Überzeugung setzen34. „Bleibt jedoch die Annahme, daß das Publikum durch öffentliche Diskurse und nur dadurch zu begründeten, kritisch geprüften, in diesem Sinne vernünftigen gemeinsamen Einsichten, Problemlösungen und Zielsetzungen kommen kann (oder zumindest zu reflektiertem und tolerantem Dissens)“ (Peters 1994:47). Auch wenn dieses Ideal nicht erreicht wird, in großen Gruppen gar nicht erreicht werden kann, bildet es den theoretischen Maßstab, nach dem sich Diskurse bewerten lassen müssen. Im Verlauf der Analyse im empirischen Teil wird auch von Demokratisierung und demokratisierendem Potenzial die Rede sein. Dieses diskursive Modell ist dabei ein bedeutendes Kriterium. Es handelt sich hierbei auch um das grundsätzliche Demokratieproblem der Bildung eines ‚Allgemeinen Willens’. In den Diskussionen um Basisdemokratie und darüber, wie Demokratie im politischen System besser zu verankern ist, spielt diese Frage eine zentrale Rolle. Im empirischen Teil wird sich zeigen, wie sie von der hier im Zentrum stehenden Bürgerinitiative beantwortet wurde. Mit Blick auf das Gesellschaftsmodell von Habermas sagt Friedhelm Neidhardt „Öffentlichkeit ist nicht Politik und Ökonomie, sondern das (politisch und ökonomisch mitbestimmte) Forum der Kommunikation über Politik, Ökonomie“ (1994:16). Er definiert Öffentlichkeit als Arenen mit handelnden Öffentlichkeitsakteuren und Publikum auf den Rängen, womit sie sich aus drei analytisch zu unterscheidenden Teilen zusammensetzt: Sprecher/-innen, Publikum und Massenmedien. Eine umfassende Aufzählung dieser Arenen findet sich bei Stephen Hilgartner und Charles Bosk: „the executive and legislative braches of government, the courts, made-for-TV movies, the cinema, the news media (television news, magazines, newspapers, and radio), political campaign organizations, social action groups, direct mail solicitations, books dealing with social issues, the research community, religious organisations, professional societies, and private foundations” (1988:58). In diesen Arenen finden Diskurse statt, in denen unter anderem die weiter unten genauer beschriebene Deutung von Themen als soziales Problem stattfindet. Typisch für alle Teilarenen ist das Auswahlproblem, das durch die - nach konstruktivistischer Lesart - unbegrenzte Anzahl möglicher, als Problem zu definierender Themen und die begrenzte Zeit und den begrenzten 34 vgl. Hilgartner/Bosk 1988:53ff und Peters 1994: 46f
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Raum zur Behandlung von Themen gebildet wird. Hier würden in objektivistischer Tradition stehende Theoretiker/-innen widersprechen, da sie den „Status sozialer Probleme an objektive Kriterien und Gesichtspunkte“ binden (Kreissel / Sack 1998:42), wie es beispielsweise in den Deprivationstheorien geschieht. In interaktionistischer, subjektivistischer Tradition stehende Theorien wie der framing-Ansatz betonen die Notwendigkeit, Themen als Problem zu definieren und behaupten eine „unaufhebbare Bestreitbarkeit…von Konzepten wie ‚Bedeutung’, ‚Problem’ etc.“ (Kreissel/Sack 1998:43). Dazu mehr im Kapitel II.4.3. Stephen Hilgartner und Charles Bosk (1988) weisen darauf hin, dass neben institutionellen auch individuelle räumliche, zeitliche und durch den Eindruck persönlicher Nähe geschaffene Kapazitätsbegrenzungen vorhanden sind. Dadurch findet notwendigerweise Wettbewerb statt: zwischen Themen um Aufmerksamkeit wie auch innerhalb eines Themas um Definitionsmacht. Dazu gehört die Wahl eines plausiblen Rahmens, in den das Problem eingeordnet werden kann. Was die Erregung von Aufmerksamkeit anbelangt, geben sie zu bedenken, dass in Anbetracht der Interaktionen zwischen den Teilarenen insbesondere bei hohem Neuigkeitswert Synergieeffekte zu erwarten sind. Dabei breitet sich bei „very successful social problems“ (1988:72) die Aufmerksamkeit in andere Arenen aus. Andere Themen erobern sich eine Nische in einer Teilarena, wo sie sehr lange überleben können.
II.4.2 Welche AkteurInnen treten auf? Zur eingangs erwähnten zweiten Analyseebene führt die Differenzierung danach, welche AkteurInnen in der oben definierten Öffentlichkeit zu finden sind. Rucht (1994) bedauert, dass der Einbezug von Massenmedien und Publikum bei vielen Analysemodellen fehlt; indirekt sei er bei framing- und opportunity-structure-Ansätzen vorhanden, direkt erst „im Rahmen von Interaktionstheorien“ (1994:337). Es lassen sich aber viele empirische Arbeiten finden, die die Rolle und den Einfluss von Massenmedien auf das Publikum und auf politische Entscheidungsträger/-innen untersuchen, und deren Ergebnisse sich auch für die Analyse von Protest und Engagement nutzbar machen lassen, wie im Folgenden gezeigt wird. Die Akteurs-Kategorien Sprecher, Publikum und Medien sind analytisch notwendige Unterscheidungen. Empirische Personen können durchaus mehrere Rollen innehaben.
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Sprecher/innen Innerhalb sozialer Bewegungen oder Bürgerinitiativen existieren netzwerkartige, kreuz und quer durch die AktivistInnen verlaufende Kommunikationskanäle. Man kann sich (mit Hilgartner/Bosk 1988) die sozialen Probleme als „departments“ vorstellen, in denen die kulturelle Problemstruktur die informelle Organisationsstruktur repräsentiert. Diese Departments und ihre AktivistInnen kontrollieren mehr oder weniger den Zugang, wirken als ‚gatekeeper’ und geben die Interpretationen und Lesarten für auf das Problem bezogene Sachverhalte vor. Durch die beschriebene Struktur von Öffentlichkeit herrscht ein starker Anpassungsdruck auf Sprecher/innen, weswegen sie zwei öffentlichkeitsspezifische Strategien entwickeln müssen: Die erste benennt Friedhelm Neidhardt (1994:18ff) als Thematisierungsstrategie mit den Taktiken, Betroffenheit zu suggerieren und Differenz zu behaupten. Das geschieht durch Übertreibungen und die Beachtung struktureller Präferenzen. Je nach Arena kann das die Betonung des gänzlich Neuen dieses Falles oder seines dramatischen Gehaltes oder des besonderen, darin enthalten Konfliktpotentials sein. Die zweite Strategie ist die der Überzeugung, wobei hier Kommunikation stärker nach Gesetzen der Rhetorik als nach denen der Logik stattfindet. Entscheidend dabei ist, das Publikum davon zu überzeugen, dass das Berichtete wahr ist, oder wie Friedhelm Neidhardt (1994:18) es formuliert, von der „Tatsächlichkeit der Tatsachen“ zu überzeugen. Das passiert durch die Präsentation von Beispielen als Beweisen, von Augenzeugen, Zitaten, Quellenangaben. Als zweites sollen die Erklärungen plausibel gemacht werden durch leichte Nachvollziehbarkeit, Rekrutierung von Experten oder der Verwendung einfacher, deterministischer Kausalmodelle. Als drittes wird auf allgemein geteilte Werte rekurriert, üblicherweise verknüpft mit einer Aufladung des Themas mit ‚gut und böse’, mit Schuldfragen oder Verantwortungszuweisungen35. Friedhelm Neidhardt (1994:23ff) bedauert, dass die Rolle des Kommentars, genauer gesagt von JournalistInnen als KommentatorInnen zu wenig untersucht sei. Kommentare sind tatsächlich fester Bestandteil sowohl von Printmedien als auch von den meisten Nachrichtensendungen im Fernsehen. Wenn auch nicht auf diesen Punkt bezogen, lässt sich aber doch allgemein etwas zur Wirkung und zum Einfluss von Medien auf das Publikum sagen, dazu aber mehr im Kapitel II.4.6. Nach Bernhard Peters teilt sich die Öffentlichkeit in soziale Kommunikationsnetze auf, die sich um bestimmte Themen bilden und als „Felder verdichteter Kommunikation mit porösen Grenzen“ (1994:56) bezeichnet werden können. Die Öffentlichkeit differenziert sich weiter nach den Kriterien Kompetenz, 35 vgl. auch Gerhards 1992 und die Ausführungen des Kapitels II.4.4
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Wissen, Engagement, Sichtbarkeit und Einfluss. Dabei bilden sich spezielle Kommunikationsrollen heraus und zwar die der RepräsentantInnen, die eine Kollektivposition nach außen vertreten, die der ExpertInnen, die spezialisierte Professionen oder Disziplinen vertreten, die der Advokaten, die sich als SpezialistInnen für die Belange bestimmter Gruppen einsetzen und die Intellektuellen, die als „Zeitdeuter mit Anspruch auf allgemein Verständlichkeit“ (Peters 1994:58) bezeichnet werden können. Publikum Die zweite auftretende Gruppe ist das Publikum, wobei sich die Fragen stellen, wer dazu gehört, wie es in den Disput einbezogen wird und welche Auswirkungen seine in der Regel passive Anwesenheit hat. Friedhelm Neidhardt weist ihm eine besondere Bedeutung zu: „Sprecher und Medien sind die zentralen Akteure von Öffentlichkeit, und das Publikum ist als Adressat ihrer Kommunikation die öffentlichkeitskonstituierende Bezugsgruppe“ (1994:12). Jedes Massenmedium hat sein spezifisches Publikum, das man nach den klassischen Kategorien der Sozialstatistik beschreiben kann und das also nicht bevölkerungsrepräsentativ, sondern „nach Merkmalen von Bildung, Geschlecht, Alter, sozialem Status und ideologischer Orientierung selbstselektiv verzerrt“ (Neidhardt 1994:13) ist. Je nach gewonnenem Eindruck von einem Thema, persönlicher Betroffenheit oder dessen Sensationswert kommen fallweise noch zusätzliche Personen hinzu. Hans Kleppinger teilt das Publikum entsprechend einer Dreiteilung der Massenmedien in Befürworter/-innen der einen, Befürworter/-innen der anderen Seite und Neutrale. Friedhelm Neidhardt kommt zu dem Schluss, dass es sich beim Publikum nicht um einen kollektiven Akteur handelt, da die (Publikums)Merkmale Überzahl von Laien, Heterogenität und fehlender / schwacher Organisationsgrad, allerdings mit Tendenz zur Meinungskongruenz, dagegen sprächen. Hanspeter Krisi (1994) steuert den Aspekt bei, dass die individuellen Meinungen vorgeformt sind durch (politische) Sozialisation, Erfahrungen mit politischen Prozessen und Medien, sowie nicht zur Disposition stehende Grundwerte. Eingehende Informationen würden vor diesem Hintergrund verarbeitet. Damit sieht er die Meinungsbildung durch kulturelle Resonanzen, das soziale Umfeld, in dem der Diskurs stattfindet, und die Bedeutung der Definitionen und Interpretationen von Meinungsführern beeinflusst. Stephen Hilgartner und Charles Bosk sehen typische „communities“ für bestimmte Probleme, innerhalb derer es neben inhaltlichen SpezialistInnen auch solche für arenatypische Techniken wie „investigative reporting, grass-roots
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organizing, campaign financing…“ (1988:68) gibt. Hier überschneiden sich die Teilgebiete von Publikum und Sprecher/-innen. Für das Publikum sind Vertrauen und Glaubwürdigkeit unerlässlich, weil die meisten Themen in der Regel nicht aufgrund eigener Kenntnis beurteilt werden können. Auch wenn klar ist, dass Diskurs nicht idealtypisch stattfindet, lassen sich in der öffentlichen Kommunikation doch diskursive Elemente finden. So haben beispielsweise Postulate der Meinungsfreiheit normativen Charakter. Kommunikationsstile lassen sich drei Modellen zuordnen (nach Neidhardt 1994:20): Das erste ist das Verlautbarungsmodell, in dem keine echte Kommunikation stattfindet, sondern nur statements in Form einer Serie von Monologen, das zweite das Agitationsmodell, in dem die Sprechenden nicht aufeinander eingehen, sondern von rhetorischen Fragen und polemischen Antworten Gebrauch machen, das dritte ist das Diskursmodell, in dem eine argumentative Auseinandersetzung und Lernprozesse stattfinden. Wenn auch nicht dominant, so lässt sich letzteres doch immer noch finden, wird mindestens häufig eingeklagt, wenn beispielsweise von ‚Versachlichung’ einer Diskussion die Rede ist. Massenmedien Massenmedien haben zweifellos großen Einfluss darauf, welche Themen Aufmerksamkeit und welche Bewegungen Beachtung erlangen. Ebenso sind sie bestimmend dafür, wie die ausgewählten Themen behandelt werden. In der Literatur werden diese Mechanismen „election bias“ und „description bias“ genannt (Eilders 2001). Fraglich bleibt, welchen Einfluss sie auf Meinungsbildung beim Publikum und Entscheidungsfindung bei politischen Entscheidungsträger/-innen, als den typischen AdressatInnengruppen für sozialen Protest, haben. Auch Unternehmen geraten zunehmend unter Druck durch Thematisierung kritischer Positionen in der Öffentlichkeit. Da aber diese Adressatengruppe für Protest im empirischen Teil dieser Arbeit keine Rolle spielt, soll die Analyse hier auf die beiden anderen Adressatengruppen, Publikum bzw. Politik beschränkt bleiben. Hans Kleppinger betont in seiner Untersuchung publizistischer Konflikte, die er als Auseinandersetzung mittels Massenmedien vor Publikum definiert, dass Massenmedien eine Schlüsselstellung dafür haben, was wie zum Publikum dringt. Drei Fälle können unterschieden werden: In publizistischen Konflikten gibt es mindestens zwei Positionen und einen strittigen Sachverhalt (Beispiel Atomenergie), in Abgrenzung zu öffentlichen Krisen (Beispiel Aids), die nur eine legitime Position aber strittige Konsequenzen haben, oder Skandalen, in denen eine Position mit klaren Konsequenzen vorzufinden ist.
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Jürgen Gerhardts hebt in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Form des Protestes hervor: “Ungewöhnliche Maßnahmen gewinnen ihre Stärke durch ihren Neuigkeitswert und ihren Überraschungseffekt“ (1992:316). Nach Bernhard Peters (1994:57ff), treten im Bereich der Massenmedien die Rollen des Verlegers, des Veranstalters, des gatekeepers und des Journalisten auf. Die Ausbildung dieser speziellen Kommunikationsrollen beschränkt das Gleichheitspostulat im diskursiven Modell dadurch, dass die mögliche Anzahl von Sprecherrollen beschränkt wird durch eine asymmetrische Verteilung von Wissen. Die Forderung nach Offenheit, also danach, die Relevanz von Themen in der Öffentlichkeit zu klären, wird durch Konkurrenz um Aufmerksamkeit und durch die Knappheit von Aufmerksamkeit begrenzt36. Wie hinlänglich bekannt, geht die Zunahme disponibler Zeit mit der Vermehrung von Alternativen einher, wie man diese Zeit verbringen kann oder sollte37. Gleichzeitig steigt die Anzahl problematisierbarer sozialer Themen und damit nehmen die Anlässe für mögliches Engagement zu; wie oben erwähnt wächst der Bereich kollektiver Verantwortlichkeiten, ebenso „ Deutungen, Wissensbestände und normative Standards“ (Peters 1994:61). Die gesellschaftliche Reaktion darauf kann wie folgt beschrieben werden: „Eine Art demokratische Arbeitsteilung durch die Bildung einer Vielzahl von „publics“, die sich auf bestimmte Themen oder Problembereiche konzentrieren, erhöht die Gesamtkapazität für die Behandlung von Themen und ermöglicht spezielle Kompetenzsteigerungen durch intensive Beschäftigung mit bestimmten Themengebieten“(Peters 1994: 62). Damit ist klar, dass der Zugang zu den Medien ungleich verteilt ist. Hier gelten analog die Mechanismen, die den Zugang zu Öffentlichkeit bereits beschränkt haben. Der Nachrichtenwert markiert einen Unterschied zur Teilnahme an öffentlichen Diskursen und bringt ein egalitäres Element hinein. Ist er genügend hoch, ist es durchaus möglich, unabhängig vom Ansehen der Person oder Gruppe in die Schlagzeilen zu kommen. Die inzwischen fast zum Schlagwort verkommene Äußerung von Andy Warhol, jeder könne für 15 Minuten berühmt werden, illustriert das. Alle sozialen Bewegungen, alle Protestbewegungen, alle Bürgerinitiativen machen sich das zu Nutze, wobei über die Schwierigkeit, die Balance zu halten zwischen dem Erregen von Aufmerksamkeit und der Erzeugung von Ablehnung im Kapitel II.4.5, wenn es um öffentlichkeitsbezogene Strategien geht, noch zu sprechen sein wird. Um ein Thema im Bewusstsein des Publikums zu verankern, ist es notwendig, es über längere Zeit bzw. immer wieder in den Medien präsent zu halten. Hier wirken sich Fragen des Einflusses, insbesondere
36 dazu auch Hilgartner/Bosk 1988 37 vgl. Nover 1995:33ff
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auch finanzieller Ressourcen enorm aus, weil damit Sendezeit oder Anzeigenkampagnen ermöglicht werden. Es war schon von der Funktion von JournalistInnen als gatekeeper die Rede. Das scheint in der Literatur unstrittig zu sein. „Es sind schließlich die Praktiken und Normen der Journalisten, die bestimmen, welche Informationen ausgewählt und auf welche Weise präsentiert werden“ (Kriesi 1994:237, s. auch Hilgartner/Bosk 1988) Hanspeter Kriesi beobachtet für die Schweiz eine Tendenz zur „Kolonisation der Medien durch mächtige Akteure“ (a.a.O.:238), aber keine völlige Beherrschung oder Gleichschaltung. Friedhelm Neidhardt (1994:11ff) beschreibt Massenmedien als relativ autonom mit jeweils typischer Eigenlogik. Es finden ständig Prozesse der Professionalisierung, Ausdifferenzierung und Produktdifferenzierung statt, wobei es eine leicht wiedererkennbare redaktionelle Linie jedes Produktes gibt. Auf den Medienmärkten herrscht starke Konkurrenz, weswegen die Werbewirtschaft immer bedeutsamer wird, „wobei tendenziell jene Publikumsgruppen privilegiert werden, die als Zielgruppen der Werbung besonders interessant erscheinen“ (Neidhardt 1994:12). Normsetzung und Normkontrolle findet weitgehend „auf der Ebene der Medienbetriebe und ihrer Redaktionen“ (a.a.O.:12) statt, weniger auf Ebene der Verbände. Nicht nur die inhaltliche Beschäftigung mit einem Themenkomplex, der als soziales Problem behandelt wird, sondern auch der Umgang mit Medien erfordert eine Professionalisierung der jeweiligen Sprecher/innen, beispielsweise von Bürgerinitiativen. Das Management von Medienereignissen erfordert die Ausarbeitung gezielter Strategien, was ohne genaue Kenntnis der Medien nicht erfolgversprechend eingesetzt werden kann. Die Bedeutung dieser Sprecher für die Medien variiert je nach Prominenz, Dauerhaftigkeit als Nachrichtenquelle und „Ressourcenlage im Hinblick auf Ausmaß und Professionalität“ (Neidhardt 1994:16). Diese ungleiche Verteilung, in den Medien gehört bzw. gesehen zu werden, führt Friedhelm Neidhardt dazu, von einer stabilisierenden Wirkung der Medien auf die bestehende Herrschaftsordnung und von systematischen Verzerrungen zu sprechen. Im Kapitel II.4.4. sowie in den Analysen des Kapitels III ist zu sehen, wie Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen diese Handicaps zu verbessern suchen. Da Massenmedien Mittler sind, über die das Publikum direkt beeinflusst und indirekt Einfluss auf politische Entscheidungen genommen werden soll, da das Publikum ja auch aus WählerInnen besteht, überwiegen hier polemische oder monologische Stile; von den drei oben eingeführten Modelle finden sich hier vor allem das Verlautbarungs- bzw. Agitationsmodell. Das liegt daran, dass eine Kommunikation zwischen SprecherInnen stattfindet, die nicht AdressatInnen des Gesprochenen sind, am Herrschen von Konkurrenz und an dem Nachrichtenwert von Themen (nach Neidhardt 1994:24ff). Friedhelm Neidhardt stellt die Frage, 59
ob angesichts dieser Analyse Öffentlichkeit überhaupt die Validierungsfunktion, die sie nach dem diskursiven Modell hat, erfüllen kann. Wenn dem nicht so ist, hätte das Spiegelmodell „als input-Modell Recht mit seiner Vernachlässigung kommunikativer Potentiale öffentlicher Kommunikation“ (1994:22). Für die Analyse von Öffentlichkeit sei es demnach wichtig, Selektionsmuster, Verarbeitungskapazität, die Art des Umgangs miteinander und die Überzeugungskraft öffentlicher Meinung auf das Publikum zu untersuchen, wie er an anderer Stelle (1994:14) betont, und damit also ebenfalls die Maßstäbe des normativen Modells als Heuristik anlegt.
II.4.3 Was ist öffentliche Meinung? Was ist und wie entsteht öffentliche Meinung? Niklas Luhmann (1971) beschreibt die Begriffsgeschichte von Öffentlichkeit so, dass die eingangs eingeführten Gegensatzpaare öffentlich/privat und öffentlich/geheim im 18. Jahrhundert zu einer einzigen zusammengefasst wurden. Vorher „war der Gegenbegriffsstatus des Öffentlichen unklar“ (Luhmann 1993:170). Nur dadurch konnte sich der Begriff der öffentlichen Meinung bilden im Sinne eines „ „heimlichen“ Souveräns und der unsichtbaren Gewalt der politischen Gesellschaft“ (a.a.O.: 170/171). Das so entstandene Gegensatzpaar entspricht der dritten oben eingeführten Unterscheidung oder Grenzziehung, nämlich Öffentlichkeit im empathischen Sinn, nach der mit dem Begriff öffentlicher Meinung die Vorstellung eines politisch interessierten, aufgeklärten, frei denkenden Individuums verbunden wurde. „Bezahlt wurde diese Fusionierung zweier Unterscheidungen zu einer einzigen mit einer emphatischen Aufladung des Begriffs, dem auf der anderen Seite ein ebenso stark idealisierter Begriff des Individuums entsprach“ (a.a.O.). Jürgen Habermas präzisiert die Definition: „Öffentliche Diskurse behandeln praktische Fragen des kollektiven Zusammenlebens. Sie betreffen also nicht nur die Beurteilung objektiver Handlungsbedingungen, das heißt kognitive oder instrumentelle Probleme, sondern auch normative Fragen des Ausgleichs von Ansprüchen und Interessen und evaluative Probleme der Definition von kollektiven Werten und Aspirationen“ (nach Peters 1994:46). Daher sollen und werden sie „nicht nur Meinung bilden, sondern auch Motive prägen, zur kollektiven Willensbildung beitragen“ (Peters 1994:46) Es scheint klar, dass als Ergebnis öffentlicher Kommunikation, wie sie oben beschrieben und in ihren Elementen analysiert wurden, öffentliche Meinung entsteht. Was ist unter diesem Begriff zu verstehen? Nach Friedhelm Neidhardt (1994:26ff) sind öffentliche Meinungen medial vermittelte Meinungsäußerun60
gen, die in öffentlichen Kommunikationen, also von Sprechern vor Publikum geäußert werden. Ein anderer Aspekt wird mit der Definition, öffentliche Meinung sei „kollektives Produkt von Kommunikation, das sich zwischen Sprechern als „herrschende“ Meinung darstellt“ (a.a.O.:26) angesprochen. Damit wird betont, dass es sich nicht um die Summe aller geäußerten Meinungen handelt und noch einmal auf die bereits erwähnten Zugangs- und Rezeptionschancen hingewiesen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass öffentliche Meinung als Zusammenspiel öffentlicher Meinungsäußerungen zu verstehen sei und hält eine „Fiktion öffentlicher Meinung“ (a.a.O.:27), die wirksame reale Konsequenzen haben könnte, für möglich. Die häufige Orientierung an echten oder fiktiven öffentlichen Meinungen hält er für eine Überschätzung von Konsonanz und Überzeugungseffekt. Öffentliche Meinung entsteht dann, wenn sich die Kommunikation in der Arena auf bestimmte Themen fokussiert. Oftmals bleibt dabei unklar, ob die so entstehende öffentliche Meinung auch der des Publikums entspricht. Wenn öffentliche Meinung und Bevölkerungsmeinung zusammen fallen, entsteht Druck auf die Politik; wenn sie auseinander fallen, kann es zu sozialen Bewegungen kommen (vgl. dazu Kapitel II.2.). Friedhelm Neidhardt beschreibt drei normative Ansprüche, die sich aus den Funktionen von Öffentlichkeit ergeben (1994:38ff): Die Transparenzfunktion besagt, dass Öffentlichkeit offen sein soll für kommunikationswillige Akteure und für Themen. Die Validierungsfunktion fordert, Auseinandersetzungen diskursiv zu führen. Wird das Publikum mit Hilfe dieser Auseinandersetzungen in die Lage versetzt, Überzeugungen zu gewinnen, ist der Anspruch der dritten, der Orientierungsfunktion, erfüllt. Die Wirkung der Kommunikation ist abhängig von ihrer Form, ihrem Inhalt, der Prominenz der Sprechenden: ihrer Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu erregen, bzw. ihrem Prestige: ihrer Fähigkeit, Zustimmung zu erzeugen. Wenn es um die Überzeugung des Publikums geht ist bedeutsam, wie viele das gleiche sagen und wer was sagt. Die Bedeutung von Vertrauen ist bereits oben angesprochen worden. Nach Neidhardt ist das Vertrauen in öffentliche Akteure der Medien, der Politik u.ä. relativ niedrig, wobei zu fragen bleibt, ob die Misstrauensäußerungen nicht eher als sozial erwünscht angesehen werden, weil aufgeklärte Menschen natürlich nicht alles glauben, was die (Bild-)Zeitung schreibt, weil den Worten von PolitikerInnen zunächst einmal mit Vorsicht begegnet werden sollte u.s.w. Das beruht sicher neben schlechten Erfahrungen auch auf enttäuschten Diskurserwartungen des Publikums. Anders sieht es aus, wenn nicht das generell niedrige Vertauen in öffentliche Akteure, sondern „wenn Öffentlichkeitseffekte nicht pauschal, sondern sprecherspezifisch gemessen werden“ (Neidhardt 1994:29). 61
Die oben bei der Erläuterung des diskursiven Modells gestellten Forderungen erfahren, wie bereits an verschiedenen Stellen gezeigt, zum Teil starke Einschränkungen. Systematisch lässt sich das wie folgt zusammenfassen: Die Forderung nach Gleichheit und Reziprozität erfährt eine Einschränkung dadurch, dass allein aus Mengenerwägungen nicht die gleiche Redezeit für alle angesetzt werden kann. Das Internet mit seinen Diskussionsforen hat an dem logischen Grundproblem dabei nichts geändert, allerdings doch für so viel mehr Raum gesorgt, dass erheblich mehr Menschen teilnehmen können38. Nach Bernhard Peters (1994:561ff) kann man unterscheiden nach Ungleichheiten bei der Sichtbarkeit, das heißt einer ungleichen Verteilung von Dauer und Häufigkeit der Teilnahme sowie Größe des Adressatenkreises; nach Ungleichheiten des Einflusses; nach unterschiedlichen Wissensvoraussetzungen, was bei systematischen Verzerrungen und Expertenthemen problematisch wird. Ungleichheiten entstehen auch durch unterschiedliche Einflussnahmemöglichkeiten, durch unterschiedliche Positionen im politischen oder ökonomischen Bereich. „Die Verfügung über ökonomische Ressourcen hat einen Lautsprechereffekt“ (B. Peters 1994:54). Wie gerade angesprochen ist die gesellschaftliche Verteilung von Wissen bedeutsam. Bei vielen Themen ist hochkomplexes ExpertInnenwissen notwendig; diese Problematik ist im Zusammenhang mit Vertrauen bereits erwähnt worden. „Das spezialisierte kognitive Wissen ist längst in sozialen Praktiken, Technologien und Organisationsformen“ (Peters 1994:55) Beispiele dafür sind die Gentechnologie oder auch die Atomkraftwerke. Wird das Publikum zum Akteur in der Öffentlichkeitsarena, muss es sich, mindestens Teile der aktiv geworden Menschen, dieses spezielle Wissen in mehr oder weniger großem Umfang aneignen. In allen sozialen Bewegungen und Bürgerinitiativen ist beobachtbar, dass Personen die Rolle von (Wissenschafts)ExpertInnen übernehmen. Die Anzahl dieser Personen wie auch Umfang und Tiefe des Wissens, das sie sich dazu aneignen, hängt sehr stark von der Zielsetzung ab, worauf im empirischen Teil noch zurück zu kommen ist. Im oben behandelten Komplex über Sprecher/innen ist dazu bereits einiges auf theoretischer Ebene gesagt worden. Auch bei dem dritten Postulat, den diskursiven Strukturen, wie sie oben beschrieben wurden, finden sich bestimmte Beschränkungen. Bernhard Peters (1994:65ff) nennt u.a. folgende Maßnahmen: Zum einen die expressive Kommunikation, bei der andere als argumentative Kommunikationsformen eingesetzt werden, so zum Beispiel Musik, Demonstrationen, Plakate, Rituale. Wie im empirischen Teil nachzulesen ist, kann diese Form der Übermittlung symbolischer Inhalte zur Beschränkung oder gar Aufhebung öffentlicher Diskurse 38 vgl. Nover/Jonas 2002:219f
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verwandt werden, sie können aber auch eine Ausweitung des Diskurses bewirken. Bei der zweiten Beschränkung werden argumentative Diskussionen durch Verhandlungen ersetzt, in denen es um Interessensausgleich und nicht um Überzeugung geht. Die dritte ist die der symbolischen Gewalt, Täuschung und Manipulation. Damit wird die Anerkennung als Kommunikationspartner beziehungsweise die Handlungsmöglichkeiten des Anderen eingeschränkt. Bei der vierten Maßnahme werden Kommunikationsmöglichkeiten geschlossen; wenn Kommunikation als reine Bestätigung von Gemeinsamkeiten oder Zugehörigkeiten geführt wird, werden damit automatisch Dritte ausgeschlossen. Nach innen erhöht sich der Konformitätsdruck, da Dissens „als Verrat, Seitenwechsel, Zerstörung von Solidarität behandelt“ wird (Peters 1994:66). Als fünften Punkt führt Peters die Fragmentierung des symbolischen Universums an. Das bedeutet, dass erstens die beobachtbare funktionale Differenzierung dazu führt, dass zum einen nicht mehr alle in Diskursen verknüpft werden können, da jedes Problem unter vielen Gesichtspunkten behandelbar ist, zum anderen durch Kolonialisierung bestimmte Expertensprachen die Alltagssprache so dominieren, dass damit „wesentliche Ausdrucks- und Deutungsmöglichkeiten“ (Peters 1994:69) verloren gehen. Ein augenfälliges Beispiel dafür ist die Benutzung ökonomischer Fachbegriffe in allen Bereichen des Lebens: Altenheime und Krankenhäuser müssen sich rentieren und profitabel arbeiten, die ‚KundInnen’ des öffentlichen Dienstes, vormals Bürger/innen, sind nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu behandeln, im Privatleben muss Beziehungsarbeit geleistet werden und ist moralisch einklagbar, um nur einige Beispiele zu nennen. Eine weitere Form ist die pluralistische Differenzierung, nach der öffentlicher Diskurs dadurch in Frage gestellt wird, dass ein gemeinsamer Verständigungshorizont durch verschiedartige und inkompatible Deutungssysteme fehlt.
II.4.4 Die Bedeutung der Öffentlichkeit für Soziale Bewegungen und Bürgerinitiativen – die Theorie des Agenda-Setting „Eine Bewegung, über die nicht berichtet wird, findet nicht statt“ (Raschke nach Rucht 1994:337). Wie eingangs schon erwähnt, stellt die Beeinflussung öffentlicher Meinung einen Weg der Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse dar. Dazu sind spezielle „ Deutungs- und Interpretationsmuster, die einem Laienpublikum 63
plausibel machen, warum man meint, das thematisierte Problem sei ein Problem, und wie man es lösen kann“ (Gerhards 1992:307) nötig. Wie wird nun aus einem Problem ein soziales Problem? Wie gelingt es AkteureInnen, ihre Problemsicht in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und ihre Deutungen durchzusetzen? „We define a social problem as a putative condition or situation that is labelled as a problem in the arenas of public discourse and action“ (Hilgartner/Bosk 1988:55). Stephen Hilgartner und Charles Bosk betonen die Prozesshaftigkeit dieses Vorgangs. Soziale Probleme sind das Ergebnis eines kollektiven Definitionsprozesses, wobei sie die Konkurrenz nicht nur um Medienpräsenz, sondern auch um unterschiedliche Realitätsdefinitionen betonen. Im Rahmen dieses Definitionsprozesses findet ein Diskurs statt, bei dem ein auf dieses Problem zugeschnittenes Interpretationsmuster entsteht39. Hilgartner und Bosk haben einen Theorieentwurf zur Platzierung von Themen in der Öffentlichkeit („agenda-setting“) vorgelegt, in der sie die Erkenntnis darlegen, dass soziale Probleme Ergebnisse eines kollektiven Definitionsprozesses sind. Ihre Kritik an dem gegenteiligen Standpunkt, die Wahrnehmung sozialer Probleme sei eine Reflexion objektiver Bedingungen, machen sie daran fest, dass damit Unterschiede im Bekanntheitsgrad verschiedener Themen nicht erklärt werden können. Sie betonen, dass soziale Probleme mit anderen sozialen Problemen zusammenhängen und in ein institutionalisiertes System der Formulierung und Verbreitung von Problemsichten eingebettet sind. Dabei definieren sie ein soziales Problem als Situation oder Bedingung, die in öffentlichen Diskursen oder Arenen als Problem diskutiert wird. Sie zeigen, wie komplex und daher schwer zu untersuchen das Thema des kollektiven Deutens ist. Ihr Analysemodell hat die folgenden Grundannahmen: Die Autoren gehen von einem Wettbewerb zwischen Themen aus; für das Erlangen von Aufmerksamkeit während des oben beschriebenen Prozesses spielt die Art und Weise der Präsentation des Themas eine entscheidende Rolle. In diesem Zusammenhang sprechen sie von der Inszenierung eines ‚Dramas’. Des Weiteren sind die Themenselektion durch die oben bereits erwähnten ‚gatekeeper’ zu beachten sowie eine wechselseitigen Beeinflussung von Institutionen und sozialen Netzwerken, da sie auf spezifische Art und Weise voneinander abhängen. Ihr Modell bedient sich der Grundannahmen der Theorie der Ressourcenmobilisierung, wie sie im Kapitel II.3. beschrieben sind, legt jedoch den Fokus auf kollektive Definitionen statt auf kollektive Aktionen. Ihr daraus entwickeltes Analysemodell hat sechs Hauptelemente: 1. den dynamischen Wettbewerbsprozess, der neben dem Themenwettbewerb auch den zwischen sozialen Gruppen beinhaltet, 39 s. dazu Kap.II.4.5. – Strategien
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2. die institutionalisierten Arenen, die als Umwelt für das Publikum dienen, 3. die begrenzten Kapazitäten dieser Arenen im Sinne von Aufmerksamkeit für gleichzeitig eingebrachte Themen, 4. Selektionskriterien und institutionelle, kulturelle und politische Einflussfaktoren für die Auswahl, 5. Interaktionsmuster zwischen unterschiedlichen Arenen und 6. das Netzwerk der Akteure und deren Kommunikationskanäle. Die Aufgabe einer sozialen Bewegung oder einer Bürgerinitiative besteht also darin, für die genannten Sachverhalte Deutungsvarianten durchzusetzen. Die Erzeugung öffentlicher Meinung, wie sie im vorherigen Kapitel definiert wurde, erfordert das Erzielen von Aufmerksamkeit und das Leisten von Überzeugungsarbeit. Die dazu notwendigen Strategien sind Thema des nächsten Kapitels. Hier soll zunächst der typische Ablauf des benannten Prozesses skizziert werden. Im ersten Schritt ist dabei das Thema festzulegen, das geschilderte Phänomen muss glaubwürdig und empirisch belegbar sein. Zur Not kann man sich, wie in dem Analysekapitel zu sehen sein wird, mit Konstruktionen behelfen. Im nächsten Schritt muss dieses umrissene Thema als Problem definiert werden; insbesondere bei sozialen Bewegungen hat man es mit Phänomenen zu tun, die keinen neuen Tatbestand darstellen, sondern erst durch Infragestellen, durch Moralisierungen zum Problem erklärt wurden40. Als klassisches Beispiel kann die Frauenbewegung angeführt werden, die unter anderem das diskriminierende Wahlrecht, im vorletzten Jahrhundert Normalität und Selbstverständlichkeit, in Frage gestellt hat; ein anderes Beispiel ist die Bewegung gegen die Rassentrennung in Südafrika. Mit diesem Prozess der Erklärung eines Themas zu einem sozialen Problem ist in der Regel eine Polarisierung verbunden. Wenn man an die genannten Beispiele denkt wird das unmittelbar deutlich. Die Positionen werden von vornherein moralisch aufgeladen und als gut oder richtig bzw. falsch und verwerflich dargestellt. Auch das lässt sich im Fall Herten, wie die Analysen im Kapitel III zeigen, nachweisen. Dieser Prozess soll an einem anderen Beispiel verdeutlicht werden. Es ist bei der Einführung der zivilen Nutzung der Atomtechnologie gelungen, den Bau von Atomkraftwerken mit einer Fortschrittsideologie zu koppeln, was Anfangs zu einem großen Zuspruch zu dieser Technologie führte. „Packages“ nennen William A. Gamson und Andre Modigliani (1989) solche Bündel von Interpretationen, ganz analog zu den Ausführungen von Hilgardner und Bosk über den Zusammenhang verschiedener sozialer Probleme wie er weiter oben vorgestellt 40 vgl. dazu auch Edelmann 1988
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wurde41. Gelingt es, ein Problem mit einem übergeordneten Wertebündel zu verknüpfen, wird auch das Problem mit diesen Werten aufgeladen und gewinnt an Bedeutung. Da beim Publikum damit oftmals tiefliegende Deutungsmuster angesprochen werden, sind solche Verbindungen nur schwer zu lösen. Die Geschichte der Anti-Atom-Bewegung zeigt, dass ein Großteil der Arbeit dieser sozialen Bewegung daraus besteht, sowohl die Verknüpfung als falsch darzustellen, als auch Fortschritt anders zu definieren. Die Neuanwendung dieser Strategie besteht dann darin, Atomkraft genau gegenteilig als zerstörerisch für Zukunft und die erstrebenswerte Form von Fortschritt darzustellen. Auch bei den Bürgerinitiativen gegen forensische Kliniken finden sich diese Koppelungsmechanismen, indem der Bau forensischer Kliniken in Widerspruch gesetzt wird zu dem Gut von Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit insbesondere der umliegend wohnenden Kinder. Der damit angesprochene Wirkmechanismus lässt sich allerdings nicht nur auf diesen Sachverhalt reduzieren, Genaueres dazu findet sich im Kapitel III. Der nächste Schritt in dem Prozess besteht darin, Ursachen und Verursacher für die jetzt als Problem etablierten Sachverhalte zu benennen. Erstere müssen einem kollektiven Akteur zurechenbar sein, das Problem damit fremdverschuldet, letztere sollten in der Benennung konkreter Personen oder Institutionen gipfeln. Als letzter Schritt dieser Moralisierung können die Gegner dann als nicht diskussionswürdig abgestempelt werden. Auch dafür finden sich in den empirischen Teilen Belege. Gerhards (a.a.O.) weist darüber hinaus auf die Notwendigkeit hin, dass sich Akteurinnen und Akteure legitimieren müssen, dieses Problem zu vertreten.
II.4.5
Strategien der Sozialen Bewegungen / Bürgerinitiativen
Bei den oben beschriebenen Deutungsprozessen gilt es, Definitionen für fünf Bereiche festzulegen, für die eigene Deutungsvarianten durchgesetzt werden müssen. (nach Gerhards, 1992: 308): „1) ein Thema und dieses Thema als soziales Problem interpretieren, 2) Ursachen und Verursacher für das Problem ausfindig machen, 3) einen Adressaten für ihren Protest finden und etikettieren, 4) Ziele und die Aussicht auf Erfolg ihrer Bemühungen interpretieren und 41 vgl. dazu im Kapitel II.3. die Ausführungen zu Framing, insbesondere die beiden Aspekte framebridging, womit die Verbindung zweier Wertemuster gemeint ist, und frame-amplification, bei dem das Problem mit einem allgemeinen Werterahmen in Beziehung gesetzt wird
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5) sich selbst als legitimierten Akteur rechtfertigen“ Die starken Anleihen an den oben vorgestellten Framing-Ansatz sind offensichtlich. Die Strategien zur „Generierung öffentlicher Meinung“ sehen im Detail folgendermaßen aus (a.a.O.:311): Zu 1: wie im vorherigen Kapitel geschildert, ist mit der Interpretation eines Themas als Problem oft eine Polarisierung verbunden. Um diese Polarisierung zu erreichen, können zwei Strategien angewandt werden: zum einen die Konkretisierung, dabei wird die Nähe zur Lebenswelt der angesprochenen Personen hergestellt und eine individuelle Betroffenheit suggeriert. Als zweite Strategie, der Abstraktion, wird das Thema in einen allgemeinen Werterahmen eingebettet und eine Diskrepanz oder eine große Nähe zwischen einem bestimmten, hoch angesiedelten Wert und dem Problem hergestellt. Beides soll die Bedeutung, die das Publikum dem Thema zumisst, erhöhen. Die Interpretation des Themas als besonders wichtig kann noch erhöht werden, wenn eine Verschärfung der Problematik in Zukunft glaubhaft gemacht werden kann. Zu 2: Die oben erwähnte Polarisierung in ‚gut’ und ‚böse’ kann noch gesteigert werden, wenn es gelingt, den benannten Verursachern zu unterstellen, durch willentliches Handeln zum privaten Vorteil die negativen Auswirkungen für die Öffentlichkeit in Kauf zu nehmen. Zu 3: Adressiert ist Protest in der Regel, wie im Kapitel II.2 erwähnt, an politische Entscheidungsträger/innen; die gängige Strategie – oft auch Auslöser von Protest – ist es, Politik als zur Lösung des Problems unwillig oder unfähig darzustellen. „Politik ist der Generalbevollmächtigte für gesellschaftliche Steuerung und entsprechend der Adressat“ (a.a.O.:312) Zu 4: Für die Durchsetzung der eigenen Interpretationen zu Zielen und Erfolgsaussichten kommen die gleichen Schritte wie bei der Thematisierung zum Tragen: Begriffsfindung, moralische Aufladung, Konkretisierung, Abstraktion Zu 5: Als Strategien, um als legitime AkteurInnen anerkannt zu werden, benennt Gerhardts zunächst die der „Verquickung von Selbstdefinition und zentralem Wert“ (a.a.O.:113). So schwingt bei der Bezeichnung Friedensbewegung bereits mit, dass die Gegner der Bewegung nicht auf Seiten des Friedens stehen können. Die zweite Strategie besteht darin, prominente Personen zu rekrutieren, wobei die Vertrauenswürdigkeit gesteigert wird, wenn diese Personen Institutionen angehören, die uneigennützige Interessen vertreten, so zum Beispiel Wissenschaftler/innen oder Kirchenvertreter/innen. Die dritte Strategie besteht darin, eintretende negative Entwicklungen als eigene Prognose zu definieren. Kleppinger 1994 zeigt am Beispiel publizistischer Konflikte, die er als Auseinandersetzung von Kontrahenten mittels Massenmedien vor Publikum 67
definiert, Konflikte also, in denen es mindestens zwei Positionen über einen strittigen Sachverhalt gibt, auf Massenmedien zugeschnittene Strategien auf. Publikum wie Massenmedien lassen sich in aller Regel drei Lagern zuordnen: für die eine Seite, für die andere Seite und neutral bis desinteressiert. Massenmedien haben insofern eine Schlüsselstellung, als sie entscheidend dafür sind, was wie zum Publikum durchdringt. Für den Diskurs bedeutet das, dass vom Postulat der Überzeugung des Gegners durch Argumentation abgewichen wird. „Der Erfolg in einem publizistischen Konflikt beruht deshalb unter Umständen mehr darauf, daß ihr Verhalten mediengerecht als daß es sachgerecht ist“ (Kleppinger 1994: 220). Er beschreibt zwei Strategien: die defensive, bei der eigene Leistungen und die Güte der eigenen Position herausgestellt wird, und die offensive, bei der die Position und das Ansehen der gegnerischen Partei erschüttert werden sollen. Diese Strategien können mit zwei Taktiken verknüpft werden. Die eine, instrumentelle Aktualisierung genannt, besteht darin, mit der eigenen Position positive Auswirkungen auf unstrittige Sachverhalte zu verknüpfen. Bei der Umbewertung sollen allgemein gültige Sichtweisen geändert werden. Ersteres ist erfolgsversprechender, da der Einfluss von Massenmedien eher in der Vermittlung von Kenntnissen und der Setzung von Themen liegt, als in der direkten Beeinflussung von Meinungen42. So ist das Argument von Abtreibungsgegnern, ein drei Monate alter Fötus sei schmerzempfindlich, zielführender als die Behauptung, Abtreibung im dritten Monat sei Mord (nach Kleppinger 1994:221). „Die Kommunikation in einem publizistischen Konflikt folgt deshalb zumeist nicht der Dialektik (These – Antithese), sondern den Regeln der Rhetorik“ (Kleppinger 1994:222). Stephen Hilgartner und Charles Bosk (1988) beschreiben in ihrem PublicArenas-Modell Selektionskriterien, basierend auf der Grundannahme eines intensiven Konkurrenzkampfes um Raum in der Öffentlichkeit, die sich gewendet auch als Grundlage für die Entwicklung zusätzlicher Handlungsstrategien für soziale Bewegungen bzw. Bürgerinitiativen lesen lassen. Diese Kriterien sind: - die Inszenierung eines ‚Dramas’. Damit ist die möglichst dramatische Art der Präsentation gemeint, analog zu den oben erwähnten Polarisierungsstufen, der Herstellung von Betroffenheit und der Verschlechterungsvorhersage. Dazu gehören auch die Beachtung massenmedialer Vorgaben wie Nachrichtenwert und Sättigung; - die Beachtung kultureller Bezüge, Vorurteile und Vorlieben, insbesondere, wenn es möglich ist, die Probleme mit „deep mythic themes or broad cultural
42 vgl. dazu auch Schenk/Rössler 1994
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preoccupations“ (1988:71) zu verknüpfen – hier finden sich Parallelen zu den Strategien moralischer Aufladung, Konkretisierung und Abstraktion; - Kalkulieren politischer und ökonomischer Interessen und Rahmenbedingungen - so ist es für den Erfolg bereits des Agenda-Setting entscheidend, ob sich ein Land im Krieg oder Frieden, die Wirtschaft in Rezession oder Aufschwung befindet; - Einbeziehung arenatypischer Rhythmen, „schedules or patterns in its use of time“ (a.a.O.:63), was für die gesamte Zeitorganisation, die Wahl der Zeitpunkte für Protest, Pressemitteilungen usw. wichtig ist; - Beachtung organisatorischer und struktureller Besonderheiten der anzusprechenden Medien, was formale, personale oder technische Gegebenheiten anbelangt; - Beachtung organisatorischer und struktureller Besonderheiten und Selektionskriterien der Teilarena. Wie schon an verschiedenen Stellen erwähnt, hat die Art des Protestes großen Einfluss auf seine Medienwirksamkeit. Protestformen werden den Medienbedürfnissen angepasst, erfordern also immer, das Kalkül von Neuigkeit und Präsentierbarkeit mit einzubeziehen. Das hat Auswirkungen auf die Vermittlung der Inhalte, wenn griffige und einprägsame Formulierungen gewählt werden. Viele der Grundprobleme lassen sich als Marketingprobleme verstehen und sind in der einschlägigen Literatur so behandelt worden43. Der Nachrichtenwert der gewählten Maßnahmen hat ein eng begrenztes Verfallsdatum; besondere Aktionen „stellen zudem besondere Ansprüche an die Deutung des Themas und die Selbstlegitimation der handelnden Akteure“ (Gerhardts 1992:316). Darüber hinaus werden bestimmte Protestformen durchaus in einem Fall als legitim und in einem anderen Fall als illegitim von der Öffentlichkeit gesehen; das ist stark von den AkteurInnen und dem Thema abhängig. In den Analysekapiteln wird sich das belegen lassen müssen44. Zusammengefasst und in den Gesamtzusammenhang gestellt ist der Rahmen der Deutungsprozesse der öffentliche Diskurs im weiter oben beschriebenen Sinne, mit den genannten fünf Deutungsdimensionen und unter Einsatz der beschriebenen Strategien.
43 vgl. Holzmüller, Hartmut 1988 44 vgl. dazu auch Martin Winter, 1998, der Polizeistrategien für den Einsatz bei Demonstrationen untersucht hat
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II.4.6
Analyse des wechselseitigen Einflusses
Aus den bisherigen Betrachtungen wird deutlich, dass die Wechselbeziehungen von Medien und Publikum, nämlich einerseits Orientierung an Forderungen des Publikums beziehungsweise den speziellen Zielgruppen im Publikum, andererseits Beeinflussung der eignen Meinung durch in den Medien vertretene, kaum quantifiziert werden kann. Auf das hier interessierende Thema bezogen bleibt jedoch festzuhalten, dass die öffentlich Resonanz der einzige Weg für soziale Bewegungen und Bürgerinitiativen ist, der aus einer ständigen Gradwanderung zwischen aufsehenerregenden Aktionsformen und dem Aspekt von framing besteht, der auf das Erzielen von Mitgefühl, Wohlwollen, Unterstützung abzielt. Man könnte überspitzt formuliert als Ziel der in II.4.5 genannten Strategien benennen, die Bewegung als Opfer und die als verantwortlich dargestellten als Schuldige in der öffentlichen Diskussion zu implementieren. Wie sich in den Analysekapiteln des III. Blocks zeigt, benutzen die sozialen Bewegungen die Öffentlichkeit, sie verändern sie damit auch. Wenn Verlautbarungs- und Agitationsstile überwiegen, wird zum einen die Fähigkeit zur kritischen Verarbeitung von Themen geringer, was einerseits die Konkurrenz erhöht und anderseits durch den Vertrauensverlust zu einem weiteren Auseinanderdriften von Bevölkerungsmeinung und öffentlicher Meinung führt. Damit wird die Meinungsbildung noch stärker auf private Netzwerke verlagert. Hier wird die Einschätzung von Hanspeter Kriesi (1994:239ff) bedeutsam, der Meinungsführern eine hohe Bedeutung im Meinungsbildungsprozess bescheinigt – im Abschnitt „Das Publikum“ des Kapitels II.4.2 wurde bereits darauf hingewiesen. Er unterscheidet zwei Versionen: Die eine geht auf Paul Lazarsfeld zurück und besagt, dass Informationen über Meinungsführer gefiltert an die Mehrheit gelangen. Die zweite wurde von Robert K. Merton begründet, der dargelegt hat, dass nur die Bewertung der Informationen durch Meinungsführer geschieht. Jedoch sieht er Probleme der Meinungsbildung, vor allem durch Informationsdefizite und Bewertungsprobleme, und kommt zu dem Schluss, dass das Publikum doch auf die Entscheidungshilfen der Medien angewiesen sei. Im Gegensatz dazu attestieren Schenk/Rössler (1994) den Medien nur sehr geringe Einflussmöglichkeiten. Hier relativiert Kriesi völlig zu Recht: „Alle organisationellen Akteure, die an der öffentlichen Debatte teilnehmen, äußern sich über die Medien, und die Bekannten und Freunde, die einen so starken Einfluß auf die Entscheidungsfindung des Einzelnen haben, beziehen ihre Informationen ebenfalls über die Medien“ (1994:255). Kriesi hält - in seiner Untersuchung zum Medieneinfluss auf die Ergebnisse von Volksabstimmungen in der Schweiz - den Medieneinfluss für abhängig von der staatsbürgerlichen Kompetenz, dem Vertrauen in Experten, der eigenen 70
politischen Identität, der Komplexität und des moralischen Gehaltes des Themas sowie des persönlichen Bezuges. In der Literatur wird der Einfluss öffentlicher Meinung und damit wie oben gezeigt der Einfluss von Massenmedien auf die Meinung des Publikums als relativ gering eingeschätzt. Davon muss allerdings der Einfluss unterschieden werden, den sie auf die Thematisierung von Problemen und darauf, wie Themen präsentiert werden, haben. Neidhardt (1994:28) sieht den Einfluss öffentlicher Meinung abhängig von der Kongruenz der über die Massenmedien vermittelten Berichterstattung: „In dem Maße, in dem in den Öffentlichkeitsarenen tatsächlich öffentliche Meinung entstanden ist (oder auch nur wahrgenommen wird), werden ihre Effekte auf Bevölkerungsmeinung wahrscheinlich“. Allerdings: „entscheidend ist also nicht nur, wie viele dasselbe sagen, sondern was von wem gesagt wird“ (a.a.O.:29). Hier spielen die bereits angesprochenen Einflussgrößen Prominenz und Prestige der Sprecher/innen sowie Vertrauen eine wichtige Rolle, aber auch die angewandten Kommunikationsstile sowie die im vorherigen Kapitel behandelten Strategien von ÖffentlichkeitsakteurInnen. Die Prominenz von SprecherInnen erhöht die des Themas, ihr Prestige das der von ihnen geäußerten Meinungen. Die Notwendigkeit diskursiver Auseinandersetzungen ergibt sich vor allem, wenn die Gruppe der Neutralen bzw. Unentschlossenen im Publikum groß ist. In vielen Konflikten werden sie deshalb zur zentralen Zielgruppe von SprecherInnen. Offenbar hat die Medienberichterstattung im Gegensatz zu Gesprächen in persönlichen Netzwerken relativ geringen Einfluss auf die Einschätzung der Bedeutsamkeit von Themen bzw. die persönliche Einstellung zu ihnen. Auch der Einfluss öffentlicher Meinung auf den politischen Prozess erweist sich in Untersuchungen als weniger bedeutsam als gemeinhin angenommen. Ein Beleg dafür ist, dass auch die Politik die Diskrepanz zwischen herrschender Meinung und Bevölkerungsmeinung kennt und als Folge Umfrageergebnissen einen höheren Einfluss auf politische Entscheidungen zubilligt als der öffentlichen Meinung. „Unter diesen Bedingungen entwickelt sich die Eigendynamik einer auf Mikroebene über persönliche Netzwerke ablaufenden, aber insgesamt wenig organisierten Bürgerkommunikation, die an die Themen und Meinungen der öffentlichen Kommunikation zwar vermittelt bleibt, sich in ihren Resultaten aber mehr oder weniger von „öffentlicher Meinung“ abkoppelt“ (Neidhardt 1994:31). Dennoch ist unbestreitbar, dass Medien mit der Praxis des AgendaSetting Einfluss ausüben. Diesen Aspekt betont Kleppinger zumindest für publizistische Konflikte (1994:220): so „hat die Beeindruckung der Massenmedien als Vorraussetzung für die Beeinflussung des Publikums eine überragende Bedeutung, da die Reaktionen des Publikums unter Umständen einen entscheidenden Einfluß auf den Ausgang des Konflikts besitzen“. 71
Eine Begründung für den relativ begrenzten Einfluss öffentlicher Meinung bzw. der Massenmedien auf das Publikum liefert Neidhardt (1994), der den Zusammenhang zwischen Sprecher, Medien und Publikum als relativ schwach integriert analysiert. Er führt das darauf zurück, dass die SprecherInnen nicht gleichgewichtig verteilt sind, da die Konkurrenz Kommunikationsmuster erzeugt, die zwar Aufmerksamkeit, aber nicht auch Vertrauen erzielen, und dass das Publikum sehr heterogen zusammengesetzt ist. Kriesi (1994) kommt in seiner Untersuchung zu folgender Rangfolge von Beeinflussung: Bekannte – Medien – Bundesrat – Interessenverbände – Parteien. Er sieht bezogen auf die Medien zwar keinen signifikanten Einfluss eines Mediums, jedoch eine deutliche Rangfolge bei der Beschaffung von Informationen, mit Variationen je nach Thema aber ohne Abhängigkeit von einem Medium. Die Frage nach etwaiger Veränderung dieses wechselseitigen Beeinflussungsverhältnisses wird im Verlauf dieser Arbeit noch angesprochen werden.
II.5 Die Forschungsmethoden II.5.1 Begründung der Methodenwahl Eie zentrale Forderung der sozialwissenschaftlichen Forschung ist die der Gegenstandsangemessenheit der gewählten Methode. Daher gilt es zunächst, eine Begründung der Methodenwahl zu liefern. Bei der Mehrschichtigkeit der Analyseebenen in dieser Arbeit war eine Methode, die alle abdecken könnte, nicht zu finden. Um obiger Forderung Rechnung zu tragen, habe ich mich daher entschieden, die natürlichen und die künstlichen Daten mit unterschiedlichen Methoden auszuwerten. Zum einen wird man damit den unterschiedlichen Materialien und den Anforderungen an die Analyse besser gerecht, zum anderen bietet ein Methodenmix die Möglichkeit, zusätzliche Ergebnisse zu erlangen, wenn man die der einen mit denen der anderen vergleicht. In diesem Fall gab es eine Besonderheit, für die ich mir damit zusätzlich zum Genannten Aufschluss erhoffe: In Herten war es enorm schwierig und ein sehr zäher Prozess, überhaupt an InterviewpartnerInnen zu kommen. Das ist eine zunächst doch unerklärliche und unerwartete Schwierigkeit bei einer Bürgerinitiative, die doch eine erfolgreiche Geschichte vorzuweisen hat, und einem Thema, das zwar emotional besetzt aber doch kein Tabu-Thema ist. So erhoffe ich mir davon unter Anderem zusätzliche Erkenntnisse darüber, warum die Menschen dort nur so ungern über ihre zum Zeitpunkt der Interviews längst aufgelöste BI reden mochten. Für die Auswertung der natürlichen Daten, das sind die Selbstdarstellungen der Bürgerinitiative, vor allem Flugblätter und Internet-Artikel, sowie die 72
außerordentlich erschöpfende Zeitungsartikelsammlung, die mir zur Verfügung stand, waren die Verwendung von Begriffen, Rhetoriken, Verweisen oder Hinweisen für drei Fragen von besonderem Interesse: das Verhältnis von Öffentlichkeit und BI, der Analyse des Einflusses davon auf Aktionen und Erfolge und dem Übertrag diese Ergebnisse für die abschließende Analyse des gesellschaftlichen Klimas. Die zu wählende Methode muss in die Lage versetzen, die Fülle des Materials auf wesentliche Begriffe zuzuspitzen, damit schrittweise eine Essenz daraus zu entwickeln. Ich habe die Methode Grounded Theory gewählt. Sie eignet sich aufgrund der vorgeschriebenen Codierungsverfahren besonders gut für diese Forschungsfrage. Bei der Analyse der künstlich erzeugten Daten, den Leitfadeninterviews45, standen die Sichtweisen und Einordnungen der Ereignisse einzelner AkteurInnen im Mittelpunkt des Interesses, daher ist hier die Analyse der Textstruktur notwendig. Dazu kommen nur hermeneutische Verfahren in Frage. Auch wenn sie für die Biografieforschung entwickelt wurde und hier eine, sogar recht kurze Biografiephase interessierte, entspricht doch die Narrationsanalyse am genauesten den hier gestellten Anforderungen. Narrationsanalysen sind „Analysen gelebter und alltagssprachlich gedeuteter Gesellschaftsgeschichte“. Sie ist ein Instrument, mit dem Prozesse dargestellt werden können, somit auch Veränderungen der Bedeutung, die eine bestimmte Phase oder ein Ereignis für eine Person früher hatte und zum Interviewzeitpunkt hat. Außerdem wird in einem der fünf Schritte, aus der die Methode besteht, die erzählte Geschichte mit der erlebten konfrontiert. Daraus lassen sich Ergebnisse für Fragen der Veränderung von Einstellungen, Überzeugungen, Werten erzielen, mit denen wiederum auf gesellschaftliche Auswirkungen der Mobilisierung, der Teilnahme an BIs und sozialen Bewegungen hinsichtlich der Frage nach Demokratisierungsgewinnen geschlossen werden kann.
II.5.2 Die Rolle des Vorwissens Über die Frage, wieweit qualitative Methodik ohne Vorwissen auskommen sollte, sind zahllose Diskussionen geführt worden, die hier nicht wiedergegeben werden sollen. Ich schließe mich dem Standpunkt an, dass theoretisches Vorwissen hilfreich ist, um Besonderheiten als solche erkennen zu können. In dieser Arbeit soll untersucht werden, welche Besonderheiten Bürgerinitiativen aufweisen, die lokal und zeitlich begrenzt entstehen und agieren, und ob das theoreti45 Genaueres s. II.5.4
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sche Handwerkszeug, für den ‚klassischen’ Typus, wie er z.B. durch die AntiCastor-Bewegung vertreten wird, auch dafür taugt. Soziale Bewegungen, alte wie neue, sind ein bedeutendes Feld soziologischer Forschung. Im Folgenden sollen einige, für diese Untersuchung wichtige Begriffe vorgestellt werden, um die hier gewählte Herangehensweise und den Gebrauch von und Umgang mit Wissensbeständen zu erläutern. In der Logik heißt ein Vorgehen, bei dem Hypothesen über eine neue Regel aufgestellt werden, bei dem entsprechendes Vorwissen der Forschenden unabdingbar ist, Abduktion (vgl. Kelle/Kluge 1999:20ff), Bruno Hildenbrand bezeichnet diesen Vorgang als Schluss von einer Folge auf Vorhergehendes (2000:34). Um die Abgrenzung zu anderen Vorgehensweisen deutlich zu machen: die Schlussfolgerung auf ein bestimmtes Resultat, bei der ich von einer bekannten Regel und einem bekannten Fall ausgehe, heißt Deduktion. Dabei wird vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen, wobei eine Subsumtion dieses Falles unter die Regel stattfindet. Wenn ich auf die Regel schlussfolgere, also Fall und Resultat bekannt sind, handelt es sich um eine Induktion, eine Generalisierung. Es wird vom Besonderen auf das Allgemeine gefolgert. Jo Reichertz (2000:280) unterscheidet hier noch die Möglichkeit der qualitativen Induktion, bei der von der Existenz bestimmter Merkmale auf andere Merkmale geschlossen wird. Wenn ich auf den Fall schlussfolgere, weil ich Regel und Resultat kenne, bilde ich eine Hypothese. Dabei sind folgende Möglichkeiten denkbar: a. der Fall ist einer bereits bekannten Klassifizierung zuordenbar. „Das Wissen um die Geltung bekannter Regeln wird auf neue Objekte ausgedehnt“ (Kelle/Kluge 1999:23). b. ein unerwarteter Fall erfordert die Bildung einer neuen Regel. Dabei handelt es sich um eine Abduktion, die „Umdeutung und Neubewertung empirischer Phänomene“ (Kelle/Kluge 1999:23) „Abduktive Schlüsse dienen dazu, eine erklärende Hypothese in der Form zu bilden, dass von einer Folge auf eine vorhergehende geschlossen wird“ (Hildenbrand 2000:34). Nach Hildenbrand folgt auf einer zweiten Stufe die Deduktion, das heißt, die „abduktiv gewonnenen Hypothesen werden in ein Typisierungsschema überführt“ (a.a.O.:35). Reichertz weist darauf hin, dass die Renaissance des Begriffes Abduktion, wenn damit die Vorstellung einer „regelgeleiteten und reproduzierbaren Produktion neuen gültigen Wissens“ (Reichertz 2000:277) verbunden ist, auf einem Missverständnis beruht: die Bildung von Hypothesen und die Abduktion sind unterschiedliche Formen. Der Bergriff geht auf Peirce zurück, der gerade keinen exakten Schlussmodus damit bezeichnet hat, es sogar zur Herbeiführung
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abduktiver Schlüsse für notwendig hielt, dass der „bewusst arbeitende, mit logischen Regeln vertraute Verstand ausmanövriert“ (Reichertz 2000:283) wird. Udo Kelle und Susann Kluge (1999:23) unterscheiden die beiden Fälle der Ausdehnung einer bekannten Regel auf neue Fälle und die oben erwähnte Abduktion. „Neue wissenschaftliche Ideen entstehen also aus einer Kombination von altem Wissen und neuer Erfahrung“ (a.a.O. 24). Es sollen Daten gefunden und geordnet werden, für die es keine bereits bekannte Regel gibt. Dabei wird parallel „sowohl die Regel gefunden bzw. erfunden und zugleich klar, was der Fall ist“ (Reichertz 2000:281). Für Glaser und Strauss, die diese Art theoretischen Vorwissens „sensitizing concepts“ nennen, sind diese die Vorraussetzung, über Empirie „ in theoretischen Begriffen zu reflektieren“ (Kelle/Kluge 1999:25). „Sensibilisierende Konzepte sind als Leitidee Ausgangspunkt der Forschung und haben den Charakter von offenen Fragen“ (Böhm 200:476). Damit entbinden sie nicht vom Offenheitsparadigma qualitativer Forschung und beinhalten die Notwendigkeit zur Fähigkeit, eigenes Wissen zu hinterfragen. Ebenso rütteln sie nicht an dem Anspruch, Lebenswelten von inner heraus, „aus Sicht der handelnden Menschen“ (Flick u.a. 2000:14) zu beschreiben, und gerade Unerwartetes als Erkenntnisquelle zu nutzen. Im Unterschied zur quantitativen Forschung wird also theoretisches Vorwissen nicht zur Vorstrukturierung und -konzeptualisierung benutzt oder als Raster an das Material angelegt, sondern dient der Sensibilisierung der Forschenden, dem Schärfen, nicht dem Einengen des Blicks. Die Grundannahme, dass die Realität interaktiv hergestellt und dann durch kollektive und individuelle Interpretationen subjektiv bedeutsam wird, zwingt dazu, diese Interpretationen aufzudecken, die die Handelnden „in Rahmen ihrer Relevanzhorizonte“ (Flick u.a. 2000:20) leisten. Schon das macht es unmöglich, theoretische Begriffe von vornherein an das Material heranzutragen. Entsprechende Ergebnisse kann nur erzielen, wer mindestens zunächst ‚in der Sprache des Falles’ bleibt. Zusammengefasst bedeutet das für die Frage des Vorwissens, hier wieder der Klassifikation von Kelle/Kluge (1999) folgend, empirisch gehaltloses Theoriewissen mit empirisch gehaltvollem Alltagswissen von Forschenden und Erforschten zu kombinieren, um damit im Rahmen des qualitativen Forschungsprozesses empirisch gehaltvolles Theoriewissen über die untersuchten Fälle zu erlangen. „Theoretische Konzepte, die in einer Untersuchung entwickelt werden, werden im Zuge der Analyse von Daten entdeckt und müssen sich an den Daten bewähren – andere Kriterien gibt es nicht“ (Hildenbrand 2000:33).
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II.5.3 Die Fallauswahl Der Fall Herten mit seiner Bürgerinitiative zur Verhinderung des Baus einer forensischen Klinik fiel mir zunächst wegen des großen Medienechos, das die Aktionen dieser Bürgerinitiative gefunden haben, als außergewöhnliches Phänomen auf. Auf der Ebene der Einzelfälle habe ich mich sowohl was die natürlichen als auch was die künstlich gewonnenen Daten anbelangt, an den Vorschlägen des „theoretical sampling“ von Glaser und Strauss orientiert und eine bewusste und kriteriengesteuerte Fallauswahl und Fallkontrastierungen vorgenommen. Das gilt für die Anzahl der geführten Interviews wie für die natürlichen Daten, die ich zur Analyse herangezogen habe. Dabei hat sich während der Analyse ergeben, dass zusätzliches Material herangezogen werden musste. Glaser und Strauss empfehlen für das theoretical sampling eine systematische Suche nach Vergleichsgruppen. Dabei sind Analyse und Fallauswahl im ständigen Wechselbezug. Das heißt, dass die Kriterien für das Heranziehen zusätzlicher Fälle oder zusätzlichen Materials von der Empirie gesteuert werden. Nur wenn zunächst ein geringes Quantum an Daten erhoben, die Forschungsfragen an das Material gestellt und permanent analysiert wird, „kann das Material die Analyse steuern“ (Hildenbrand 2000:35). Wenn also erklärungsbedürftige Phänomene auftauchen, kann es nötig werden, einen anderen, vielleicht bereits analysierten Fall, unter diesem Aspekt erneut zu untersuchen, oder neues Material zu finden – Genaueres dazu unter II.5.5. Glaser und Strauss unterscheiden dabei zwischen Mini- und Maximierung. Ersteres bezeichnet die Suche nach sehr Ähnlichem, das zweite die nach möglichst Unterschiedlichem. Nach Kelle/Kluge (1999:45) hat Minimierung den Effekt, dass die theoretische Relevanz bestimmter aus dem Material entwickelter Kategorien bestätigt wird, die Maximierung dient dazu, die Unterschiede im Feld zu finden. Beide Vorgehensweisen habe ich angewandt; an den entsprechenden Stellen in der Analyse wird darauf hingewiesen. Schwerpunktmäßig beziehen sich diese Verfahren hier auf die Bereiche Auswertung und Fallkontrastierung, nur im Rahmen wie oben beschrieben auch auf die Fallauswahl.
II.5.4 Die Datenbasis Die verwendeten Materialien, die mit Hilfe der Grounded Theory analysiert wurden, sind Veröffentlichungen der Bürgerinitiativen bzw. der Gegner des Baus einer forensischen Klinik, und zwar Flugblätter, Zeitungsannoncen und InternetSeiten. 76
Die Informationen über die Stadt Herten wurden überwiegend durch ihre Homepage, eine Internet-Recherche sowie durch Zeitungsartikel gewonnen46. Für die Analyse der ‚Öffentlichkeit’, damit ist das Bild gemeint, das in den Medien gezeichnet wurde, habe ich sämtliche Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, die von der Stadtverwaltung zu den Ereignissen in Herten gesammelt wurden, ausgewertet. Der erste Artikel dieser Vollerhebung ist vom 13.9.1996, der letzte vom 25.11.1997; sie umfasst insgesamt 1009 Dokumente, von Kurzmeldungen bis zu mehrseitigen Artikeln. Außerdem habe ich 217 Leser/innenbriefe ausgewertet. Die Hintergründe für den Ablauf der Proteste und die Geschichte der Bürgerinitiative sind durch einen Vergleich der gerade genannten Zeitungsartikel und Rechercheergebnisse mit den Materialien, die die Bürgerinitiativen herausgegeben hat, herausgearbeitet worden. Dieses Abgleichen ist insbesondere für die Narrationsanalyse, bei der in einem methodischen Schritt die erlebte mit der erzählten Geschichte kontrastiert wird, unerlässlich. Außerdem habe ich vier Interviews zur Analyse herangezogen. Deren Auswertung wird in den Kapiteln III.2 bis III.5 ausführlich dargestellt. Die Transkription erfolgte gemäß der von Bruno Hildenbrand (1999:31f) vorgeschlagenen Regeln. Damit die eingefügten Interviewzitate leichter verfolgt werden können, habe ich diese Regeln an den Anfang des Kapitels III.3.2, der ersten Fallanalyse, gesetzt.
II.5.5 Das Instrumentarium Die künstlichen Daten habe ich mit Hilfe von qualitativen offenen Interviews in drei Erhebungswellen gewonnen. Die dritte Erhebung ist deswegen notwendig geworden, weil sich bei der Analyse der vorherigen Interviews herausstellte, dass weiteres Datenmaterial hinzugezogen werden musste. Die Interviews selbst habe ich in enger Anlehnung an das von Andreas Witzel (1982) entwickelte Instrument des Problemzentrierten Interviews und das des von Christel Hopf (2000) vorgestellten Fokussierten Interviews geführt. Diese Fokussierung bezieht sich auf einen vorab festgelegten Gesprächsgegenstand, unter Wahrung der Forderung, zwar ein Thema festzulegen, dabei aber eine Maximierung der Themenreichweite anzustreben; beides ist in meinen Interviews erfüllt. Beide Instrumente, das Problemzentrierte Interview und das Fokussierte Interview, bieten die Vorteile einer Kombination aus zurückhaltender und streng nicht-direktiver Interviewführung mit dem Interesse an spezifischen Informatio46 s. auch die Angaben in den entsprechenden Kapiteln bzw. die Literaturliste
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nen. Auch wenn es sich also nicht um narrative Interviews handelt, wie sie Fritz Schütze in den 70er Jahren entwickelt hat47, ist es möglich, mit den Transkripten dieser Interviews hermeneutische Analyseverfahren durchzuführen, was ich hier mit der Narrationsanalyse getan habe. Der zum Problemzentrierten Interview gehörigen Kurzfragebogen, der dem eigentlichen Interview vorangestellt wird, ist hier nicht verwandt worden. Die darin abzufragenden biografischen Daten waren für die Problematik über das hinaus, was die interviewten Personen von sich aus erzählt und somit selbst mit der Thematik verknüpft haben, nicht bedeutsam. Eine der Funktionen des Kurzfragebogens, nämlich das Herausnehmen zentraler Informationen aus dem Gespräch, um einen besseren Fluss zu ermöglichen, war für meine Belange sogar kontraproduktiv, da es mir für die Analyse wichtig war zu sehen, wie weit die Befragten biografische Aspekte mit der im Fokus des Interviews stehenden Problematik verbinden würden. Die zweite Funktion, der leichte Gesprächseinstieg nach bereits erfolgter Aktivierung von Gedächtnisinhalten und der Zentrierung auf das Problem durch das Ausfüllen des Fragebogens, habe ich mit der Technik der Einstiegsfrage als Erzählaufforderung, wie sie für das narrative Interview konstruiert werden muss, zu erreichen versucht. Bedient habe ich mich des zweiten Teilinstrumentes, des Leitfadens; er ermöglicht es, bestimmt Komplexe, die in allen Interviews angesprochen werden sollen, wie zum Beispiel Gründe für die eigene Beteiligung oder Motivation, zu thematisieren. Das narrative Interview hätte diese Möglichkeit nicht geboten, da die zu diesem Instrumentarium gehörenden erzählgenerierenden Nachfragen48 nach der eigentlichen Haupterzählung nur aus dem bereits Erzählten generiert werden sollten, somit Bereiche, die von der interviewten Person nicht angesprochen wurden, auch nicht thematisiert werden können. Der zum Problemzentrierten Interview gehörende Leitfaden dient wie der beim Fokussierten Interview49 der thematischen Organisation des Hintergrundwissens der Forschenden, der Vergleichbarkeit der Herangehensweise an den Forschungsgegenstand; er ist Orientierungsrahmen und Gedächtnisstütze und kann bei Stockungen während den Erzählsequenzen zur Anregung des Erzählflusses hilfreich sein. Der Begriff ‚Leitfaden’ ist hier, im Gegensatz dazu, wie er bei anderen Instrumenten verwandt wird, nicht im Sinne einer Gesprächsführung zu verstehen. „Für die Entwicklung des Gespräches selber ist der Begriff „Leitfaden“ eigentlich unzutreffend, weil hier der Gesprächsfaden des Interviewten im Mittelpunkt des Interesses steht, der Leitfaden diesen lediglich als Hintergrundsfolie begleitet“ (Witzel 1982:90). Die darauf enthaltenen Themenfelder können also nur in 47 vgl. dazu auch Maindok 1996 48 vgl. Maindok 1996:119 49 vgl. Witzel 1982:90ff und Hopf 2000:349ff
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Ergänzung zur „Logik des Erzählstranges“ (a.a.O.), wie ihn die interviewte Person vorgibt, in das Gespräch eingebaut werden. Die Forderung, ein Tonbandgerät zur Aufzeichnung der Interviews zu verwenden, muss meines Erachtens für alle Formen qualitativer Interviews gelten. Notizen über Gesprächsinhalte ohne eine Kontrolle durch eine Bandaufzeichnung sind für die Analyse unbrauchbar, hermeneutische Verfahren sind von vornherein ausgeschlossen. Von der InterviewerIn würde verlangt, in einer Gesprächssituation gleichzeitig zu verstehen, korrekt zu interpretieren, zu notieren und weiter zuzuhören, was ich für ausgeschlossen halte. Bei nachträglichen Verschriftlichungen sind selbst Inhalte kurzer Gespräche maximal in Stichworten, die eine willkürliche Interpretation darstellen, zu fassen. Darüber hinaus kann eines der wichtigsten Gütekriterien qualitativer Forschung, die intersubjektive Nachvollziehbarkeit, nicht erfüllt werden. Das gleiche gilt für ein weiteres Kernkriterium, nämlich die reflektierte Subjektivität50. Nicht zuletzt sind Kontrolle und Analyse der eigenen Rolle in dem und der Einflussnahme auf das Interview sonst nicht möglich. Da im qualitativen im Gegensatz zum quantitativen Interview die interviewende Person nicht als Störfaktor, deren Einfluss möglichst ausgeschaltet werden sollte, behandelt wird, sondern das Interview als soziale Situation aus der Interaktion der (i.d.R.) beiden Personen besteht, ist eine Aufzeichnung von grundsätzlicher Bedeutung. Die von Witzel so genannte „Postkommunikationsbeschreibung“ (a.a.O.:92) dient dagegen der Ergänzung der Bandaufzeichnung. Sie rundet das Bild ab und schärft die Sensibilität der interviewenden Person. Nach Abschluss des Interviews sollen darin „Ahnungen, Zweifel, Vermutungen, Situationseinschätzungen, Beobachtung von besonderen Rahmenbedingungen des Interviews und von nonverbalen Elementen“ (a.a.O.:92) festgehalten werden, da sie Kontext und Ablauf des Gesprächs beeinflussen. Ebenfalls gehört in dieses Postskriptum, was unmittelbar vor dem Interview passiert ist, z.B. Ablenkungen, von der interviewten Person geäußerte Befürchtungen oder Erwartungen, und was direkt im Anschluss, nach Abschalten des Gerätes passiert ist. Das sind häufig Fragen zur Forschung oder zum Konzept, vielleicht auch anschließende persönliche Gespräche.
II.5.6 Die Methode ‚Grounded Theory’ Das handwerkliche Vorgehen ist bei den beiden Methoden von Beginn an unterschiedlich. Durch Indizierung beziehungsweise Kodierung des Materials „kann 50 vgl. dazu auch Steinke 2000
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die Fallkontrastierung durch einen systematischen…Vergleich von Textstellen erfolgen“ (Kelle/Kluge 1999:54) - bei der Grounded Theory. Die Narrationsanalyse geht als hermeneutisches Verfahren sequenzanalytisch vor. Der Begriff Grounded Theory wird sowohl für die von Barney Glaser und Anselm Strauss entwickelte Methode als auch für das erzielte Ergebnis verwandt. Zusammen mit dem Festhalten an der von Parsons festgelegten Reichweite, die eine Theorie haben müsse, führt das leicht zu einem Missverständnis, das in dem Vorwurf sichtbar wird, es könne von dem Entwickeln einer Theorie in Forschungsarbeiten, die nach dieser Methode arbeiten, keine Rede sein. Theorien können durchaus eine geringe Reichweite haben. Métraux (2000:644) macht diese, am Kern des Phänomens vorbeigehende Kritik daran fest, dass Parsons’ Vorstellung einer „Grand Theory“ zum allgemeinverbindlichen Maßstab genommen wurde: „da Untersuchungen geringerer Reichweite anscheinend keinen theoretischen Wert besaßen (oder: besitzen durften), stand den Forschenden nur noch die Möglichkeit offen, sich mit der Verbesserung der Datengewinnungs- und Überprüfungsinstrumente oder mit neuen, allerdings ohne theoretischen Kompass erhobenen Daten zu profilieren“ (a.a.O.:644). Übersetzt man Grounded Theory mit gegenstandsbezogener oder -begründeter oder -verankerter Theorie, wird deutlich, dass der Anspruch hier ein ganz anderer ist, nämlich für einen bestimmten Bereich „eine Beschreibung und Erklärung der untersuchten sozialen Phänomene zu liefern“ (Böhm 2000:476), die Reichweite also von vornherein als begrenzt definiert wird. Reichertz weist darauf hin, dass gesellschaftliche Ordnungen immer nur einen räumlich und zeitlich begrenzten Geltungsbereich haben, sich also Gestaltung und Geltung ständig wandeln (Reichertz 2000:278). Der vorweg erwähnten häufig vorzufindenden Vermischung des Begriffes für Methode und Ergebnis versuche ich hier vorzubeugen, indem ich Grounded Theory immer nur für die Methode verwende. Als theoretische Grundlagen haben hier unter anderem Pragmatismus und Symbolischer Interaktionismus gedient. Die Schlüsselthemen51 bei Anselm Strauss sind gesellschaftlicher Wandel, genauer das Entdecken der Prozesse, die den Wandel bewirken, und die Interaktion – auch die zwischen Forschenden und erforschten Personen bzw. Daten –, deren Zeitlichkeit, Prozesshaftigkeit und Strukturiertheit. Gemäß den Vorschlägen von Barney Glaser und Anselm Strauss (1998) habe ich zunächst in einer ersten Auswertung der Datenquellen Kategorien gebildet, und zwar ad hoc aus dem Material, und diese dann nach Anselm Strauss und Juliet Corbin (1996:75ff) erstens nach Phänomenen, auf die das Handeln gerichtet ist, zweitens nach Gründen für diese Phänomene, drittens nach 51 vgl. im Folgenden auch Hildenbrand 2000
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Eigenschaften des Handlungszusammenhanges und viertens nach intervenierenden Bedingungen geordnet. Wie oben beim theoretical sampling erklärt, erfolgte danach eine gezielte Datenauswahl, um die Kategorien bestätigen oder differenzieren zu können, wobei nach Böhm (2000:476) die wichtigste Tätigkeit im Auswertungsprozess darin besteht, zu vergleichen. Der genaue Ablauf ist der, dass zunächst Codes gefunden werden müssen, die entweder „Verschlüsseln oder Übersetzen von Daten“ (Böhm 2000:476) bedeuten. Als Ergebnis erhält man eine Liste von Begriffen mit erläuterndem Text. Glaser/Strauss bzw. Strauss/Corbin unterscheiden zwischen offenem, axialem und selektiven Kodieren. Beim ersten findet eine analytische Aufschlüsselung statt, wobei die hier gewählten Codes aus dem Text stammen. „In-vivo-codes sind Teile von „Theorien“, die vom Produzenten des jeweiligen Textes selber formuliert wurden“ (Böhm 2000:478). Das Analytische an dieser Aufschlüsselung besteht darin, dass man an den Text die Fragen stellt, welche Phänomene an dieser Stelle angesprochen werden, welche Akteure mit welchen Rollen beteiligt sind, welche Aspekte des Phänomens angesprochen werden, welche Begründungen gegeben werden, mit welchen Strategien gearbeitet wird, u.s.w.52 . Beim axialen Kodieren werden unter Hinzuziehung theoretischer Konzepte diese Kategorien theoretisch geordnet. Hier werden die Konzepte zu Kategorien verfeinert bzw. differenziert. Die interessierende Kategorie wird in den Mittelpunkt eines Beziehungsgeflechtes damit zusammenhängender weiterer Konzepte gestellt, das aus zeitlich-räumlichen Beziehungen, aus Ursache/ Wirkungsbeziehungen, Mittel/Zweck-Beziehungen und argumentativen und motivationalen Zusammenhängen besteht. Beim selektiven Kodieren geht es darum, die Code-Listen, Memos und die beim axialen Kodieren skizzierten Beziehungsnetzwerke zusammen zu fassen, um möglichst eine Kernkategorie, die das zentrale Phänomen des Falles beschreibt, zu finden. Das kann entweder eine der bereits gefundenen Kategorien sein, die eine zentrale Stelle innerhalb des Falles einnimmt, oder es ist eine neue Kategorie zu bilden, die sich auf mehrere der vorherigen bezieht. Diese drei Schritte folgen nicht in dem Sinne aufeinander, dass der erste abgeschlossen ist, wenn der zweite beginnt, sondern laufen weitgehend parallel, wenn auch das selektive Kodieren gegen Ende der Forschungsarbeit eine größere Rolle spielt. Dennoch kann man einen typischen Verlauf einer solchen Untersuchung aufzeichnen53. Zunächst werden fallbezogen Kategorien mit Subkategorien entwickelt. Subkategorien sind die Merkmale (oder Dimensionen) einer Kategorie. Strauss (1991) nennt diesen Vorgang entsprechend Dimensionalisierung. Beim Fallver52 vgl. dazu auch Böhm 2000:477f 53 vgl. im Folgenden Kelle/Kluge 1999:67ff
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gleich können entweder die einzelfallbezogenen Kategoriensysteme miteinander verglichen werden, oder das beim ersten Fall entwickelte Kategorienschema durch die weiter hinzugenommenen Fälle modifiziert werden. In dieser Studie wurde der zweite Weg beschritten. Danach entwickelt man eine Typologie oder eine Theorie, wobei der Grad der Verallgemeinerbarkeit, also die Reichweite, vom Abstraktionsgrad der Kernkategorie abhängt54. Hier ging es darum, eine möglichst detaillierte Beschreibung der Hertener Bürgerinitiative zu erhalten. Die in den Interviews gewonnenen Erkenntnisse sollten mit denen aus der Dokumentenanalyse kombiniert werden, dort gefundene Hypothesen hier abgeglichen. Für diese Zwecke ist der Gebrauch des von der Grounded Theory bis hierher bereitgestellten Instrumentariums ausreichend. Den in dieser Darstellung noch fehlenden Prozess der Typenbildung, die auch für andere Methoden so oder ähnlich durchgeführt wird, behandele ich im nächsten Kapitel, weil er in dieser Studie im Rahmen der Narrationsanalyse angewandt wurde. Die Anweisung, laufend Memos zu schreiben, der ich mit großem Gewinn gefolgt bin, dient zum einen der Distanzierung von den Daten und soll von reiner Deskription wegführen; Memos sind aber auch eine ganz praktische Hilfe, Ideen festzuhalten, die den Forschenden unter Umständen an Stellen einfallen, an denen sie nicht weitergesponnen oder verwendet werden können, und die ansonsten leicht verloren gehen. Oft blitzen Vorstellungen über Zusammenhänge, Erinnerungen an Ähnliches oder vage Ideen über die Verbindung zur Theorie auf, die zunächst schwer fassbar sind und auch erst später eingearbeitet werden können. Theoretische Memos sollen nach Glaser/Strauss dann auch direkt dem Aufspüren übergreifender Zusammenhänge dienen. II.5.7 Die Methode ‚Narrationsanalyse’55 Zu den Grundannahmen dieser Methode gehört die soziale Funktion von Kommunikation, das heißt, dass Erzählen als Technik, Erlebnisse versteh- und vermittelbar zu machen, eine „wir-Wirklichkeit“ (Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2000:457) herzustellen, angesehen wird. Diese Wirklichkeit muss permanent aufrechterhalten werden und verlangt ständige Interpretationen, die miteinander abgeglichen werden müssen. Damit hängt soziale Wirklichkeit von „symbolischsprachlichen Eigenstrukturierungen“ (a.a.O.:458) ab. Neben diesen, der Theorie des Symbolischen Interaktionismus entstammenden und auch für andere Methoden gültigen Grundannahmen wird die Unterscheidung von Ereignis und Erzählung bei gleichzeitiger Betonung der Einheit von beiden in der Erzählung 54 vgl. Böhm 2000:483ff 55 vgl. im folgenden Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997 und Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2000
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zu einer methodisch direkt umsetzbaren Annahme: in der Narrationsanalyse ist es möglich, zwei Ebenen zu erheben, und zwar in Form von Rekonstruktionen der erlebten und der erzählten Lebensgeschichte. Dabei werden hermeneutische und textanalytische Verfahren mit der Thematischen Feldanalyse verknüpft. „Allgemein formuliert handelt es sich dabei um eine Analyse, die die Differenz von Narration und Leben in der Einheit der aktualsprachlichen Selbstpräsentation… beobachtet“ (Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2000:460). In den einzelnen Schritten dieser Methode werden also erzählte und erlebte Geschichte rekonstruiert und aufeinander bezogen. Die Methode wurde für die Biografieforschung entwickelt, es ist also nötig, sie für meine Belange leicht zu modifizieren. Dennoch ist sie für mich wegen der Möglichkeit, die genannten beiden Ebenen zu untersuchen, sehr attraktiv. Grundsätzlich gilt aber folgendes: Bezogen auf die erlebte Lebensgeschichte, damit ist der chronologische Ablauf (der Biografie) gemeint, interessiert insbesondere die Rekonstruktion von Orientierungsstrukturen und deren Reproduktion und Transformation. Was die erzählte Lebensgeschichte betrifft, sollen temporale und thematische Verknüpfungen aufgespürt werden. Dementsprechend wird auf der Ebene des Erlebten die biografische Bedeutung der Ereignisse für das erlebte Leben erhoben; auf der Ebene des Erzählten geht es um die Art der Präsentation der Erlebnisse. Hier wird danach gefragt, welche Funktion die jeweils gewählte Art für die Selbstpräsentation in der Erzählung hat56. Da ich die Narrationsanalyse nicht im Rahmen der Biografieforschung einsetze, sondern Bürgerinitiativen untersuche, ergibt sich eine bedeutende Differenz zum ‚klassischen’ Vorgehen daraus, zu definieren, was denn die im ersten Schritt zu erhebende Biografie hier sein kann. Die interviewten Personen sollen – stellvertretend für typische Mitglieder der BI – Auskunft über die Motivation und Zusammensetzung der Beteiligten, sowie über mögliche Auswirkungen der Teilnahme Auskunft geben. Eine Möglichkeit wäre es gewesen, ihre jeweilige Biografie zu erheben. Um zeigen zu können, dass die Analyseform auch taugt, Aggregate zu untersuchen, wird hier aber der anderen Möglichkeit, nämlich entsprechende Daten der Initiative als Folie zu nehmen, der Vorzug gegeben. Auf meine Arbeit angewandt bedeutet das, auf der Ebene des Erlebten, also der Geschichte der Bürgerinitiative, wie ich sie anhand von Zeitungsartikeln rekonstruieren konnte, die Bedeutung der erzählten Ereignisse für eben diese Geschichte herauszufinden. Daher werde ich bei diesem ersten Schritt nicht die biografischen Daten der von mir interviewten Personen erheben, sondern den Ablauf der Ereignisse mit allen für die Bürgerinitiative wichtigen Daten. Das bedeutet auch, dass in den 56 vgl. Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2000:462
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noch folgenden Fällen ebenfalls diese Chronologie der Ereignisse den ersten Teil der dortigen Analyse bildet. Sie wird also nur einmal für alle vier Fälle durchgeführt. Die Ebene des Erzählten wird hier analog der ursprünglichen Anwendung erhoben. Dadurch können zwei Ebenen erreicht werden: auf der des Individuums gewinne ich Erkenntnisse über die Bedeutung der Bürgerinitiative für die erzählende Person, deren subjektive Sicht auf die Ereignisse und Auswirkungen auf Einstellungen und Ansichten der erzählenden Person. Auf Ebene der Bürgerinitiative erhalte ich Auskunft darüber, warum sie so funktioniert, wie sie es tut, und welche Wechselbeziehungen es zur Umwelt gibt. Die zu bildenden Hypothesen werden dadurch überprüft, dass auf der ersten Ebene die ausgewählte Sequenz sinnrekonstruktiv in die Biografie (hier: Geschichte der BI) eingeordnet wird, auf der zweiten Ebene die gewählte Sequenz in die sequentielle Gestalt der Erzählung eingeordnet wird. Um dieser Differenz gerecht zu werden, werden die beiden Ebenen getrennt rekonstruiert und dann kontrastiert. Das geschieht in sechs Schritten: Im ersten, der Analyse der biografischen Daten, werden die „kaum an die Interpretation des Biographen gebundenen Daten (z.B. Geburt, Anzahl der Geschwister,…)“ (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997:152) erhoben. Grundsätzlich wird sequentiell vorgegangen; für diesen ersten Schritt heißt das, dass die Daten eines nach dem anderen ausgelegt werden. Hier werden also Hypothesen darüber gebildet, welche Bedeutung die Ereignisse für die erzählende Person haben. In dieser Studie habe ich die entsprechenden Daten, das ist der Ablauf der Ereignisse im Kapitel III.3.1, mithilfe von Zeitungsartikeln rekonstruiert. Der zweite Schritt ist die sequentielle Text- und thematische Feldanalyse. Hier wird die sequentielle Gestalt des Textes analysiert, mit dem Ziel herauszufinden, welche Mechanismen Auswahl, Gestaltung, temporale und thematische Verknüpfung der Textsegmente gesteuert haben. Dabei wird „jedes einzelne interpretationsbedürftige „Datum“…ohne Kenntnis über den folgenden Text auf seine unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten hin befragt“ (FischerRosenthal/Rosenthal 1997:153). Die dazu gebildeten Hypothesen folgen den auch in anderen Methoden angewandten Fragen danach, warum das Thema an dieser Stelle, warum diese Textsorte, warum diese Kürze oder Länge u.s.w. gewählt wurden. Hierbei sind die Daten des ersten Schritts die Folie, um später erkennen zu können, wo etwas weggelassen, ausgeschmückt, in veränderter Reihenfolge erzählt wird. Dabei wird die Darstellungsperspektive zum Interviewzeitpunkt rekonstruiert. Die sequentielle Vorgehensweise stellt sicher, dass die Themen in der von der interviewten Person vorgegebenen Reihenfolge analysiert werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass „die Selbstpräsentation gar nicht oder nur zeitweise intentional steuerbar ist und dass die Erfahrungsge84
schichte in einer entsprechenden Textproduktion der interventionsfreien Eingangserzählung manifestiert wird“ (Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2000:464). Es geht also darum, Art und Funktion der Selbstdarstellung zum Zeitpunkt des Interviews zu rekonstruieren. Im dritten Schritt wird die Fallgeschichte rekonstruiert, dabei werden alle biografischen Erlebnisse in der chronologischen Reihenfolge aufgenommen. Wenn man die Daten mit der Erzählung kontrastiert, werden die in Schritt zwei gebildeten Hypothesen zur Hilfe genommen, um herausfinden zu können, welche funktionale Bedeutung die Daten haben, und zwar sowohl für die Gegenwart als auch in der Vergangenheit. „Hier geht es um die Rekonstruktion der funktionalen Bedeutsamkeit eines biographischen Erlebnisses für die Gesamtgestalt der erlebten Lebensgeschichte und um die konsequente Vermeidung einer Atomisierung einzelner biographischer Erlebnisse“ (FischerRosenthal/Rosenthal 1997:155). Dabei bewegt man sich auf der Ebene der erlebten Geschichte. Die zur Chronologie gebildeten Hypothesen werden mit den Aussagen der interviewten Person kontrastiert, um deren biografische Bedeutung herausfinden zu können. Dabei werden die bereits gewonnenen Hinweise über die Gegenwartsperspektive der interviewten Person und die funktionale Bedeutung ihrer Erzählung für die Selbstpräsentation zur Analyse zur Hilfe genommen. Im vierten Schritt, der Feinanalyse, wird in Anlehnung an das Verfahren der Objektiven Hermeneutik, wie es Ulrich Oevermann57 entwickelt hat, die gebildeten Hypothesen anhand einzelner Textstellen überprüft. In dieser Feinanalyse werden fragliche Stellen sowohl bezüglich der manifesten als auch der latenten Ebene analysiert. Im fünften Schritt werden beide bislang getrennt erhobenen Ebenen kontrastiert, um Aufschluss über Mechanismen von Auswahl und unterschiedlicher Vergangenheits- und Gegenwartsperspektiven zu erlangen. „Nun können wir uns bei der Kontrastierung der erzählten und erlebten Lebensgeschichte fragen, welche Funktion diese Präsentation für den Autobiographen hat und umgekehrt, welche biographischen Erfahrungen zu dieser Präsentation führen“ (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997:155). Im sechsten und letzten Schritt wird die Verdichtung der Rekonstruktionen zu Typen vorgenommen. Dieser Prozess der Typenbildung ist nach Kelle/Kluge (1999:81ff) in vier Schritte zu fassen und gilt, im Gegensatz zum meisten des bislang Gesagten, auch für die Typenbildung nach der Anwendung anderer Verfahren: zunächst in der Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen, dann in einer Clusterung der Fälle, als drittes in einer Analyse der Sinnzusammenhänge und schließlich in der 57 z.B. 1993 oder 2001
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Charakterisierung der gebildeten Typen. Die für die Typenbildung entscheidenden Merkmale werden während der Kodierung gefunden. Anhand dieser Vergleichsdimensionen werden die Fälle geclustert. Dabei ist zu entscheiden, ob Fälle anders geordnet, neu zusammengefasst, bereits gebildete Gruppen weiter differenziert werden müssen, wenn man feststellt, dass die Fälle zu unterschiedlich sind. Reichertz bezeichnet die Auswertung als Typisierung „entlang bestimmter Merkmale und Merkmalsordnungen“ (2000:278). Den Abschluss bildet die Charakterisierung der gebildeten Typen, wobei es darum geht, die Komplexität des Falles zu achten und dennoch das Typische aufzuzeigen. Dazu schlägt Udo Kuckartz (nach Kelle/Kluge 1999:94) idealtypische Konstrukte vor, wobei aus Fällen, die viele Merkmale des Typus aufweisen, der Idealtyp konstruiert wird. Uta Gerhardt (a.a.O.:95f) konstruiert einen optimalen Fall, indem sie einzelne Merkmale eines besonders typischen Falles zuspitzt. Damit sind die Eigenheiten jedes Einzelfalles in der Kontrastierung mit diesem optimalen Fall besonders gut darstellbar. So lassen sich Differenzen im Feld besonders gut darstellen, während für Gemeinsamkeiten der Prototyp geeigneter ist. In Abwandlung dieses gängigen Verfahrens habe ich innerhalb der jeweiligen Fälle zunächst einen Prototyp gebildet und dann den Weg der Zuspitzung gewählt, wobei eine Typenbildung im herkömmlichen Sinne bei meiner Fragestellung und Materiallage nicht sinnvoll war. Daher habe ich die für jeden Fall typischen Orientierungsmuster im Sinne lebenspraktischer Grundorientierungen und damit zusammenhängender zentraler Handlungsmotive aufgezeigt, wobei die Vorgehensweise in Anlehnung an das gerade beschriebene Verfahren gewählt wurde, um die erwünschte Abstraktion vom Einzelfall zu leisten. Die so gebildeten ‚Typen’ helfen, das gesamte Spektrum der an der Bürgerinitiative Beteiligten darzustellen, da sie im Laufe mehrerer Abstraktionsschritte aus dem individuellen Interview als überindividuelle Muster konstruiert werden. Hier zeigt sich ein weiterer Nutzen der Anwendung der Narrationsanalyse, die eine Typenbildung als letzten Analyseschritt vorsieht. Zusammenfassend stellen Rosenthal und Fischer-Rosenthal (2000:468) fest: „Das vorgestellte Verfahren der Rekonstruktion versucht, den Gestaltungsprozess sowohl der erzählten als auch der erlebten Lebensgeschichte nachzuzeichnen, ohne dabei die Wechselbeziehungen, ihre Einheit im Fall, aus den Augen zu verlieren. In getrennten Auswertungsschritten wird zunächst die eine oder andere Seite stärker fokussiert, um abschließend die Ergebnisse aufeinander zu beziehen“. Für das hier interessierende Thema sind selbstverständlich geringere Tiefe und Reichweite nötig als in der Biografieforschung. Wo ich in der Analyse vom hier skizzierten Ablauf abweiche, werde ich es entsprechend vermerken. 86
Zur Verdeutlichung soll das folgende Schema dienen, bei dem die Schritte den Ebenen zugeordnet sind:
Die Ebenen der Analyseschritte Erlebtes
Erzähltes
1. Analyse der Ereignisdaten 2. Sequenzanalyse der Selbstpräsentation 3. Rekonstruktion der Fallgeschichte 4. Feinanalyse einzelner Passagen
5. Kontrastierung beider Ebenen 6. Typenbildung
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III. Empirischer Teil – Erhebung und Auswertung der Daten
III.1 Darstellung des Hintergrundes III.1.1 Stadtgeschichte Hertens58 Die Stadt Herten liegt in Nordrhein-Westfalen, im Nordwesten des Ruhrgebietes, am Rande des Münsterlandes, und gehört zum Kreis Recklinghausen. Sie hat 66800 Einwohner/innen und umfasst 37 qkm. Ihr Stadtgebiet grenzt an Gelsenkirchen, Recklinghausen, Herne und Marl. Sie ist Mitglied im Regionalverband Ruhr. Eine erste Erwähnung findet sich 1050, im Laufe der nächsten 100 Jahre wurden auch die inzwischen zugehörigen Bauernschaften Ebbelich, Disteln, Langenbochum und Scherlebeck beurkundet. Im Mittelalter gehörte Herten zum Vest Recklinghausen und damit zum Kurfürstentum Köln. Wahrscheinlich im 12.Jahrhundert entstand die Burg Herten, die Vorläuferin des heutigen Wasserschlosses, zu dem sie im 17.Jahrhundert ausgebaut wurde, und die bis 1876 als Residenz der Statthalter bzw. der Verwaltung diente. Die älteste Kirche ist die an der Fußgängerzone gelegene Antoniuskirche, die im 15.Jahrhundert gebaut wurde und als ein besonders gelungenes Beispiel der Architektur des Übergangs von der Gotik zur Renaissance gilt; sie erhielt 1433 die Pfarrechte, wurde 1882 abgerissen und neu gebaut. Ihr Pfarrarchiv beginnt 1471 und wird im Diözesanarchiv in Münster aufbewahrt; komplett erhalten sind die Jahrgänge der Kirchenbücher ab 1753, die ebenfalls in Münster liegen. Die Stadt wurde Mitte des 19. Jahrhunderts eine selbständige Landgemeinde im Amtsverband Recklinghausen und bekam 1857 eine eigene Verwaltung. 1923 bis Mitte 1924 befand sich die Stadt mit einer kurzen Unterbrechung in französischer Hand. Die Stadtrechte erhielt sie erst 1936. 1929 wurden die oben erwähnten Bauernschaften eingemeindet; 1975, während der Kommunalreform, schlossen sich Herten und Westerholt zusammen, um einer Eingemeindung zu Recklinghausen bzw. Gelsenkirchen zu entgehen. Herten hat nun neun Stadtteile. 58 vgl. im Folgenden die Homepages herten.de, wikipedia.de, ruhrgebiet.de
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Infrastrukturell begann der Ausbau des Straßenbahnnetzes um 1900, einen eigenen Bahnhof bekam Herten 1905. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die Autobahnanbindung über Recklinghausen an die A 43, sowie im Norden an die A 42 und die A 2 geschaffen; außerdem liegt Herten am RheinHerne-Kanal und verkehrsgünstig zu den Flughäfen Düsseldorf und Dortmund. Einen Bahnhof hat Herten allerdings seit 1983 nicht mehr. Der wirtschaftliche Aufschwung begann mit Einzug des Bergbaus 1872, wobei sich die Stadt rasant von landwirtschaftlich zu industriell geprägt wandelte. Schächte gab es in den Stadtteilen Disteln, Langenbochum, Scherlebeck und Herten-Süd. Die ersten Zechen waren ‚Ewald’ (1872/76) und ‚Schlägel und Eisen’ (1876/80). Die Bevölkerungszahl stieg, wie in allen anderen Bergbaustädten, sprunghaft an, und auch hierher kamen viele Menschen aus Ostdeutschland und Osteuropa, insbesondere aus Polen, Tschechien und Slowenien. Bis 1926 hatte sich die EinwohnerInnenzahl auf 35.000 Menschen verdreißigfacht. Dazu musste viel Wohnraum in kurzer Zeit geschaffen werden, eine Trinkwasserversorgung und eine Kanalisation wurden jedoch erst 1896 gebaut. Für die Gasversorgung wurde 1900 mit dem Bau der Gasanstalt gesorgt, Strom gab es erst einige Jahre später. Bedingt durch den Flüchtlings- und Vertriebenenstrom nach Ende des 2. Weltkrieges und die Anziehungskraft des Bergbaus, der Arbeitsplätze bot, stieg die Einwohner/innenzahl bis 1960 auf 53.000 an. Herten war zeitweise die „größte Bergbaustadt Europas“59. Weiter zu nennen ist die Wurstwarenfabrik Schweisfurth, heute Herta, in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts nach dem Bergbau die wichtigste Arbeitgeberin der Stadt. Mit dem Ende der Bergbau-Ära geriet auch Herten in eine schwere Krise, da der Großteil der Bevölkerung direkt oder indirekt vom Bergbau abhing. Eine dramatische, von Unruhe und Existenzängsten geprägte Zeit des Umbruchs setzte ein. Erst in den 90er Jahren begannen die Maßnahmen zu greifen, startete der Strukturwandel, der in allen Ruhrgebietsstädten das zentrale Thema seit 20 Jahren ist – und wohl auch noch eine zeitlang bleiben wird. Typische Veränderungen dabei sind die Umwandlung der Wirtschaftsstruktur von wenigen Großindustrien zu Kleinen und Mittleren Betrieben, wobei längere Zeit auf eine breite Streuung der Branchen gesetzt wurde. Zunehmend wird indes der ClusterBildung, das heißt der Zusammenballung von Unternehmen und anderen Akteuren aus gleichen oder verwandten Wirtschaftsbereichen, um die daraus resultierenden Standortvorteile zu nutzen, große Aufmerksamkeit gewidmet60. Herten setzt dabei, auch das wie in anderen Ruhrgebietsstädten, vor allem auf
59 http://www.herten.de/stadtinfo 60 Eine detaillierte Analyse dieses Phänomens findet sich bei Jonas/Berner 2002.
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Neue Technologien; die meisten Arbeitsplätze finden sich allerdings bislang im Dienstleistungssektor. Diesen Strukturwandel voranzutreiben haben sich die Wirtschaftsförderungen auf die Fahnen geschrieben; die der Stadt Herten bietet auf ihrer Homepage unter anderem Hilfe bei Förderprogramm-/ und Fördermittel-Anträgen, Existenzgründungen oder gewerblichen Bauvorhaben an. Darüber hinaus gibt es ein Zukunftszentrum Herten, das als Technologie- und Innovationszentrum Büroräume, Laboratorien und Werkstätten unter einem Dach vereint, sowie diverse Projekte, um die alten Bergbauimmobilien und Flächen neu zu nutzen. Die Hertener Entwicklungsgesellschaft (HEG) wurden gegründet, um Technologieberatung und technologieorientiertes Projektmanagement zu betreiben; im Rahmen dieser Aufgabe ist sie auch für die Planung und Entwicklung neuer Gewerbegebiete, sowie den Aufbau und Betrieb des 1995 gegründeten ZukunftsZentrums Herten (ZZH) zuständig. Hier sollen neue Arbeitsfelder und – technologien vor allem im Bereich Umweltschutztechnik und Entsorgungswirtschaft entwickelt werden. Die auch in den Interviews mehrfach genannt Müllverbrennungsanlage entstand in diesem Zusammenhang, ebenso eine Sortieranlage für Verpackungen und eine Biogasanlage. Im Stadtgebiet wurden neue Gewerbeflächen bereitgestellt, wobei auf den reaktivierten Zechengeländen in Disteln und Scherlebeck fast ausschließlich kleinere örtliche Handwerksbetriebe angesiedelt wurden. Das Gelände der Zeche Ewald wird von Dienstleistungs- und Produktionsbetrieben sowie dem Wasserstoffkompetenzzentrum genutzt. Die Maschinenhalle der Zeche Scherlebeck beherbergt ein Museum und wird für Kunstausstellungen genutzt. Das Stadtbild ist entsprechend nicht von Industrie- sondern von Grünflächen geprägt. Die Stadt wirbt auf ihrer Internet-Seite damit: „Dass das Stadtgebiet Hertens (insgesamt 37 Quadratkilometer) zur Hälfte aus Grün- und Freiflächen besteht, die durch ein Netz von Rad- und Wanderwegen miteinander verknüpft sind, gehört zu den weniger bekannten Seiten dieser Stadt“61. Prägnant bei der Anfahrt von Süden oder Osten sind die Bergehalden, beliebtes Ziel für Spaziergänge und Mountainbiking. Auf der Halde Hoppenbruch, der größten und mit 70 Metern höchsten, steht eine Windkraftanlage. Das ehemalige Kühlwasserreservoir der Zeche Ewald, gelegen im Hertener Süden, ist heute Teil eines waldreichen Naherholungsgebietes mit seltenen Tierund Pflanzenarten.
61 (http://www.herten.de/stadtinfo/index.htm)
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Im Norden erstreckt sich die Ried, die aus Feldern, Wiesen und Wäldchen besteht, außerdem das 30 Hektar große Spargelanbaugebiet „Spargeldorf Scherlebeck“ beherbergt und neben der landwirtschaftlichen Nutzung überwiegend zum Wandern und Radfahren genutzt wird. Herten hat zwei Schlösser; das schon erwähnte innenstadtnahe Wasserschloss, 1376 erstmalig urkundlich erwähnt, das vom 30 Hektar großen Schlosspark umgeben ist und in der hier beleuchteten Auseinandersetzung eine zentrale Rolle spielt, und ein weiteres in Herten-Westerholt. Im Schlosspark werden Führungen von NABU und BUND durchgeführt, auf den großen Wiesen finden regelmäßig Veranstaltungen wie z.B. Musikfestivals statt. Das Schloss gehört dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, wurde von 1974 bis 1989 restauriert, beherbergt ein Café und wird überwiegend für kulturelle Veranstaltungen genutzt. Auf dem Gelände entstanden Gebäude für Wohngruppen des Westfälischen Zentrums für Psychiatrie. Das Schloss Westerholt, ebenfalls ein Wasserschloss, liegt am Westerholter Wald, neben dem unter Denkmalschutz stehenden Alten Dorf, das aus 60 gut erhaltenen Fachwerkhäusern besteht. Das heutige Schloss wurde 1830 im Stil des Klassizismus erbaut, hatte aber Vorläufer bereits im 12. Jahrhundert. Es wurde zu einem Hotel mit Restaurant umgebaut und ein Golfclub dort untergebracht. Die Bevölkerungsentwicklung verzeichnet nach einem Anstieg in den Jahren 1995-98 einen leichten Abwärtstrend; die Entwicklung des Ausländeranteils folgt der allgemeinen nicht; der Ausländeranteil sank in den 90er Jahren rapide von ca. 19 % 1983 auf etwa 7 % im Jahr 2001. Die Arbeitslosigkeit stieg in den letzten Jahren von 12 auf 15 %. Die Stadt wird von einem Bürgermeister und dem 50-köpfigen Rat regiert, die beide traditionell von der SPD gestellt bzw. dominiert werden. Der Bürgermeister ist Ratsvorsitzender und Chef der Verwaltung. Er bereitet politische Entscheidungen vor, ist der juristische Vertreter der Gemeinde und Dienstvorgesetzter der in der Verwaltung Beschäftigten. Ergänzt wird die Arbeit von Bürgermeister und Rat durch verschiedene Ausschüsse62.
62 Inzwischen ist die Verwaltung zum „Konzern Stadt Herten“ umgewandelt; das Organigramm ist nachzulesen auf der Seite: http://www.herten.de/rathaus/konzern/index.htm.
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III.1.2 Grundsätzliches zur Thematik III.1.2.1 Forensische Psychiatrie Forensische Psychiatrie, oft zu Forensik abgekürzt, ist die Bezeichnung für gerichtsmedizinische Einrichtungen eines Untergebietes der Psychiatrie, in denen Kranke, die schwerwiegende Gesetzesverstöße begangen haben, unter bestimmten Bedingungen zwangsuntergebracht werden. Unter Maßregelvollzug versteht man die gesetzlichen Bestimmungen für die Unterbringungsbedingungen, die in NRW im Maßregelvollzugsgesetz (MRVG)63 geregelt sind. Das Strafgesetzbuch kennt die Begriffe Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit. Erstere ist nach § 20 StGB, Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen so definiert: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“. Die Bedingungen verminderter Schuldfähigkeit werden im § 21 festgelegt: „Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. Sind diese Sachverhalte festgestellt, muss darüber entschieden werden, ob die Tat schwerwiegend ist, ob weitere erhebliche Straftaten zu erwarten sind und ob „diese drohenden Taten Symptome des Zustandes sind, die auch der Anlasstat zugrunde liegen“ (www.forensik.de/info.html). Stellt das Gericht fest, dass bei einer Täterin oder einem Täter diese Sachverhalte zutreffen, wird die ‚Freiheitsentziehende Maßregel’ angeordnet, die eine Unterbringung entweder in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt bedeutet, und zwar ohne Befristung oder Strafmaß, wobei das Kriterium für die Beendigung der Maßnahme in der Regel eine - ärztlich festzustellende - Besserung der Krankheit ist. Die beiden Ziele dieser Unterbringung sind die Besserung der Krankheit, um eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen, und der Schutz der Bevölkerung vor möglichen Wiederholungen, wobei letzteres die Begründung für die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzuges ist. Geregelt werden diese Unterbringungen in den Paragraphen 63 und 64 StGB: § 63: „Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das 63 komfortabel nachzulesen auf der Seite http://www.forensik.de/recht/gesetze/6_10.html (Stand 13.11.2006)
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Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist“. §6464: „(1) Hat jemand den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird er wegen einer rechtswidrigen Tat, die er im Rausch begangen hat oder die auf seinen Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an, wenn die Gefahr besteht, daß er infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. (2) Die Anordnung unterbleibt, wenn eine Entziehungskur von vornherein aussichtslos erscheint“. In § 66 sind die Bedingungen für eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung geregelt. Sie wird zusätzlich zur Strafe verhängt, wenn unter anderem „1. der Täter wegen vorsätzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, 2. er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und 3. die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, daß er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist“65. 64 § 64 ist durch das BVerfG (BVerfGE 91, 1) insoweit für nichtig erklärt worden, "als er die Anordnung der Unterbringung unter den Voraussetzungen seines ersten Absatzes auch dann vorsieht, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht eines Behandlungserfolgs nicht besteht." 65 weitere Gründe sind: „(2) Hat jemand drei vorsätzliche Straftaten begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Abs.1 Nr.3 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Abs.1 Nr.1 und 2) anordnen. (3) Wird jemand wegen einer Verbrechens oder wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 174c, 176, 179 Abs.1 bis 3, §§ 180, 182, 224, 225 Abs.1 oder 2 oder nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat ein Verbrechen oder eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Abs.1 Nr.2 und 3 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Strafaten der in S.1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Abs.1 S.3
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Im Jahr 2000 waren 5831 Menschen im Maßregelvollzug untergebracht, davon 4051 in Psychiatrischen Kliniken und 1780 in Entziehungsanstalten, davon 964 wegen Alkohol- und 816 wegen sonstiger Drogenabhängigkeit. Zum Vergleich: Im Strafvollzug befanden sich rund 51000 Personen66. Die Durchführung ist in den Bundesländern unterschiedlich geregelt. In Nordrhein-Westfalen war sie bis 1999, also im interessierenden Zeitraum, Sache der beiden Landschaftsverbände Rheinland, der ein regionales Versorgungskonzept hatte und die Kranken in Abteilungen der psychiatrischen Kliniken unterbrachte, und des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), der mit der Klinik Lippstadt-Eickelborn ein zentralistisches Konzept verfolgte. Mitglieder im LWL sind 18 Kreise und 9 kreisfreie Städte, mit insgesamt 8 Mio. Einwohner/innen. Der im weiteren Verlauf der Arbeit auch immer wieder erwähnte Landschaftsausschuss ist das zentrale Beschlussorgan des LWL. Die staatliche Aufgabe des Maßregelvollzuges wird also nach Weisung des Landes von den Landschaftsverbänden durchgeführt, die Zuständigkeit ist im § 22 MRVG-NW geregelt. Ausdrücklich wird darin der regionale Versorgungsauftrag betont. Die Einrichtungen der Allgemeinpsychiatrie entsprechen diesem europäischen Standard schon lange. Davon soll im Einzelfall nur abgewichen werden, wenn die Nähe zum Heimatort für die Behandlung und Genesung des Patienten nachteilig wäre. Gemäß der Ergebnisse des in den 90er Jahren nach schweren Vorfällen mit ausgebrochenen Straftätern eingesetzten Parlamentarischen Untersuchungsausschusses wurde 1999 die Obere Maßregelvollzugsbehörde mit Sitz in Düsseldorf als eine von nach der Verwaltungsreform nur noch sieben Landesoberbehörden eingerichtet. Sie unterstand dem Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Soziales und sollte die notwendigen Umstrukturierungen, ein neues Finanzierungskonzept sowie das Problem der Überbelegung durch zu wenige Plätze (in NRW fehlen etwa 500) lösen. Die Behörde besteht aus einem Baudezernat, zuständig für bestehende und den Bau neuer Einrichtungen, einem Dezernat für Therapie und die Sicherheit von Therapiestandards, einem Dezernat für Finanzierung und einem Rechtsdezernat. Es gibt einen Lehrstuhl für Forensische Psychiatrie in Essen und Überlegungen, einen weiteren in Münster einzurichten. Für die Standortentscheidung ist also der LWL gesetzlich zuständig. Das Ministerium ist oberste Aufsichtsbehörde und prüft nach erfolgter Entscheidung und auf Grundlage selbiger. bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Abs.1 Nr.1 und 2) anordnen. Die Abs.1 und 2 bleiben unberührt.“ 66 vgl. www.forensik.com/laender.html, Stand 13.11.2006
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PatientInnen der forensischen Psychiatrie sind nur zum geringen Prozentsatz wegen Sexualstraftaten im Maßregelvollzug. Pro Jahr sind es etwa 15 % der zu Maßregevollzug Verurteilten. In den Kliniken wächst der Anteil aber, im Jahre 2002 lag er schon über 30 %, was der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug auf die besondere Vorsicht, solche Straftäter zu entlassen, zurückführt, nicht darauf, dass sie zu einem höheren Prozentsatz schwer oder gar nicht therapierbar wären, oder diese Straftaten deutlich zugenommen hätten. Insgesamt sei die Verweildauer für Sexualstraftäter im Maßregelvollzug mit 7-10 Jahren länger als im Strafvollzug, wo sie bei maximal 4 Jahren liege67. Das neue Konzept für die Unterbringung ist nach dem Prinzip der “Offenheit in der Geschlossenheit“, wie Uwe Dönisch-Seidel (Seidenberg 2002) es bezeichnet, aufgebaut. Danach gibt es in den Kliniken einen geschlossenen Bereich, der mit Mauern und Sicherungssystemen ausgestattet ist, um ein Entkommen zu verhindern, innerhalb dessen aber Wohn-, Therapie- und Freizeiteinrichtungen frei zugängig sind. Dieses Konzept beinhaltet auch eine gewisse Dauer der Unterbringung in geschlossenen Einrichtungen ohne Ausgangsmöglichkeiten, die Dönisch-Seidel auch für den Erfolg der Therapie für unabdingbar hält, um ein auch psychisches Ausweichen vor Einsichten, die die Therapie mit sich bringt, zu verhindern. Allgemein kann man zwischen Maßnahmen innerer Sicherung, damit sind vor allem die soziale Kontrolle durch Wohngruppen, Mitpatient/innen, Therapeut/innen und Pfleger/innen gemeint, und Maßnahmen äußerer Sicherung unterscheiden. Bei letzterer gibt es drei Stufen: Stufe 1 bedeutet vergitterte Fenster oder solche aus Panzerglas, Türen mit Schließsystem und elektronischer Verriegelung und einer von Pförtnern kontrollierten Eingangsschleuse. Der Außenbereich ist von sechs Meter hohen Mauern mit Stacheldraht umgeben und der Aufenthalt dort nur in Begleitung von Pflegepersonal möglich. Die Stufe 2 unterscheidet sich nur im hier nicht durch Pförtner kontrollierten Zugang zu den Gebäuden. In der Stufe 3 bestehen keine besonderen Sicherungsvorkehrungen mehr, je nach Fall können aber Fenster und Türen verriegelt werden (Landschaftsverband Westfalen-Lippe 1996). Detailliert ausgearbeitet wurden die neuen Regeln von einer europäischen Expertenkommission. Deren Ergebnisse liefern nicht nur einen guten Einblick in die grundlegenden Überlegungen, die der Einrichtung einer forensischen Klinik vorausgehen müssen und damit in die Grundgedanken forensischer Psychiatrie; sie spielten auch in den Auseinandersetzungen zwischen der Stadt Herten und dem Land NRW eine bedeutende Rolle. Daher sollen sie im Folgenden genauer dargestellt werden.
67 vgl. Seidenberg, Günter 2002
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III.1.2.2 Rahmenbedingungen des Maßregelvollzugs 1. Rechtliche Rahmenbedingungen: Der §20 StGB regelt die Schuldunfähigkeit, der §21 StGB regelt die verminderte Schuldfähigkeit. Der §126a StPO erlaubt die Unterbringung von Angeklagten in einer entsprechenden Einrichtung schon vor Beginn des Strafverfahrens, wenn von einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgegangen werden muss. §§ 63ff sind bereits ausführlich vorgestellt worden. Der §1 MRVG-NW verlangt, dass die Patienten und Patientinnen so behandelt und betreut werden müssen, dass sie in die Gesellschaft eingegliedert werden können. Dabei muss allerdings der Schutz der Allgemeinheit sichergestellt sein. Zur Behandlung gehören psycho- und sozialtherapeutische, beschäftigungs- und arbeitstherapeutische sowie medikamentöse Behandlungen. Durchgeführt wird im geschlossenen Vollzug und in teiloffenen und offenen Maßnahmen, dafür müssen stationäre, tagesklinische und ambulante Einrichtungen sowie dezentrale Übergangseinrichtungen vorhanden sein. 2. Die Arbeit der Kommission68 Vorgaben 1994/1995 wurde eine europäische Expertengruppe aus Sachverständigen gebildet, „die über Erfahrung in der Leitung forensischer Klinikern verfügen, bei der Planung neuer Bauprojekte maßgeblich beteiligt waren oder in der Planung von Sicherheitskonzepten qualifiziert sind. Außerdem sollte der aktuelle Wissenstand aus anderen europäischen Ländern Berücksichtigung finden, so daß im Sinne eines internationalen Fachaustausches auch Experten aus den Niederlanden und aus Österreich in die Kommission berufen wurden.“ (van den Bergh u.a. 1996:57). Diese Kommission bekam den Auftrag, Vorschläge zu inhaltlichen und baulichen Rahmenbedingungen, Struktur und Gliederung, sowie sicherheitstechnischen Anforderungen zu erarbeiten. Grundlage für die Planung sollte eine projektierte Einrichtung mit 60-80 Plätzen sein, die die forensische Pflichtversorgung für einen bestimmten regionalen Bereich abdeckt. Der Patientenkreis war dabei auf solche mit Persönlichkeitsstörungen (2/3 der Plätze) oder Psychosen begrenzt, um das für die Behandlung notwendige Programm in einer solch kleinen Einrichtung gewährleisten zu können. Ausgeschlossen waren damit Menschen mit geistiger Behinderung, Suchtkranke sowie unter 18-jährige. Zudem sollten nur Männer aufgenommen werden.
68 vgl. im Folgenden Berg, W.M. van den u.a. 1996
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Bauliche Vorschläge Die Vorschläge, die die Kommission daraufhin erarbeitet hat, beinhalten folgende Details: Die therapeutischen Anforderungen sind nicht delikttypisch, so dass eine Spezialisierung auf bestimmte Tätergruppen oder der Ausschluss anderer sachlich nicht haltbar ist. Zwei grundsätzliche Forderungen betreffen die Größe der Einrichtung. Zum einen muss eine ausreichende Differenzierung gewährleistet sein, bei gleichzeitigen angemessenen Gruppengrößen. Letzteres ist der Fall, wenn die Gruppen so übersichtlich sind, dass eine ausreichende soziale Kontrolle gewährleistet ist. „In dieser überschaubaren sozialen Gemeinschaft ist es möglich, Entwicklungen von Krisen und Risiken frühzeitig zu erkennen“ (van den Bergh u.a. 1996:60). Im Detail schlug die Kommission vor, eine organisatorisch und fachlich eigenständige Klinik zu schaffen. Die drei Kernbereiche sollten Aufnahme, Behandlung und Rehabilitation beherbergen, ergänzt durch eine Tagesklinik und eine Ambulanz zur Prävention und Nachsorge. Der Aufnahmebereich muss baulich und personell von den anderen Bereichen getrennt sein und sollte Platz für 18 Patienten liefern, 6 davon für nach §63 StGB, 12 für nach §126a StPO eingewiesene. Da bei den so eingewiesenen Patienten von einer hohen Aggressionsbereitschaft ausgegangen werden muss, kommt nur eine Einzelunterbringung infrage. Die Diagnose und der darauf fußende Behandlungsplan sollen in sechs Wochen erstellt sein. Der Behandlungsbereich ist zweigegliedert. Einer davon beherbergt die Wohngruppen, die jeweils aus 8-10 Personen bestehen, die „voneinander in ihren sozialen Beziehungen abhängig sind und somit die Auseinandersetzungsfähigkeit im täglichen Leben geübt werden kann“ (Van den Bergh u.a. 1996:61). Bei der Zuteilung zu den verschiedenen Gruppen soll nach Störungsbildern unterschieden werden. Die PatientInnen sollen Einzelzimmer bekommen, um bei auftretenden Krisen eine Verlegung in den Intensivbereich möglichst nicht nötig werden zu lassen, sondern sie in der Gruppe bearbeiten und bewältigen zu lassen. Jede Gruppe sollte daher einen Intensivbetreuungsraum haben. Damit fällt auch die Möglichkeit für Gruppen weg, unbeliebte Patienten abzuschieben. Patienten sind durchschnittlich fünf Jahre in einer forensischen Einrichtung; ein persönlicher Rückzugsbereich ist daher wünschenswert. Durch die Möglichkeit, Patienten nachts einzuschließen, verringert sich der Aufwand für Nachdienste. Zweibettzimmer können allerdings für Patienten mit schweren Angststörungen erforderlich sein. Die Zimmer sollen Nasszellen enthalten, insgesamt eine Größe von 12qm haben und durch die Patienten wie auch davon unabhängig durch das Personal auf- und abschließbar sein. 97
Auf Anregung der niederländischen Experten soll die Einrichtung auch Familienappartments enthalten, die es bei entsprechender Indikation ermöglicht, einige Tage mit Familienangehörigen zusammen zu leben. In den Niederlanden hat man damit gute Erfahrungen gemacht. Ebenfalls niederländische Erkenntnisse führen dazu, als Ergänzung einen Intensiv-Care-Bereich vorzuschlagen, in den noch nicht gruppenfähige Patienten und solche mit in der Gruppe nicht zu bewältigenden Krisen untergebracht werden können, eventuell auch die nicht therapiefähigen. Der Bereich soll 10 % der Gesamtbelegungszahl betragen und eine höhere personelle Besetzung und größere bauliche Sicherheiten bekommen. Dabei ist für eine völlig Abtrennung, auch des Gartenbereiches, von den übrigen Patienten Sorge zu tragen. Auch hier soll ein Intensivbetreuungsraum eingerichtet werden. Im Rehabilitationsbereich schließlich werden die Patienten bis zu einem Jahr vor ihrer Entlassung betreut. Er bietet Platz für sechs Personen und ist halboffen gestaltet, was regelmäßige Kontakte nach außen, z.B. Arbeitsverhältnisse, ermöglicht. Abhängigkeit und Sicherung sind hier gelockert. Inhaltliche Vorschläge Neben der medizinischen, somatischen und psychiatrischen Grundversorgung, die auch durch Fachkräfte außerhalb der Klinik sichergestellt werden kann, sollten auch Psycho-, Sozio- und Ergotherapie, sowie Kunst- und Kreativtherapie, Familientherapie bzw. der Aufbau sozialer Netze und nonverbale Therapie (Musik, Bewegung…) angeboten werden. Darüber hinaus werden schulische und Feizeitangebote benötigt, was Unterrichtsräume und eine Turnhalle erfordert. Falls möglich, sollen umliegende Einrichtungen (z.B. Schwimmbäder) mitbenutzt werden. Das gilt auch für Möglichkeiten zur Religionsausübung und der Seelsorge. Die Erfahrungen von Lippstadt-Eickelborn haben gezeigt, dass 40 % der Patienten keine Hauptschule besucht haben, weitere 20 % keinen Hauptschulabschluss haben. Nur 20 % haben eine Lehre abgeschlossen. Die Aussichten, nach der Entlassung eine Arbeitsstelle zu finden, sind also äußerst gering. Daher sind Angebote zur Verbesserung der schulischen und beruflichen Situation besonders wichtig. Grundkenntnisse und einfache handwerkliche Fähigkeiten können im Rahmen der Therapien vermittelt werden. Arbeitsmöglichkeiten sollten möglichst auch außerhalb der Klinik zur Verfügung stehen. Um die externen Angebote wahrnehmen zu können, muss der Patient in den Genuss der Lockerungen kommen, die regelgerechter Teil der Therapie sind. Je nach Fortschritt werden sie schon während der Zeit in den Wohngruppen erteilt. Da dieses Feld für Bürgerinnen und Bürger ein besonders heikles Thema ist, wird dem LWL empfohlen, „transparent zu machen, in welcher Weise die 98
Lockerungsmaßnahmen gewährt werden und auch regelmäßig Rechenschaft über Verlauf und Erfolg von Lockerungsmaßnahmen abzulegen“ (Van den Bergh u.a. 1996:63). §9 Abs.4 DV-MRVG regelt, dass die ärztliche Leitung über die Gewährung entscheidet, also ausdrücklich nicht der Arzt oder die Ärztin, die mit der Behandlung betraut sind. Vorschläge für das Sicherungskonzept Hier wird zwischen innerer und äußerer Sicherheit unterschieden, wobei erstere Komponenten aus baulichen, personellen, therapeutischen Voraussetzungen und der sozialen Kontrolle hat. Wie schon oben erwähnt, dürfen die Patienten der unterschiedlichen Bereiche nicht miteinander in Kontakt treten können. Es muss ausreichend viel und ausreichend geschultes Personal für jeden Bereich und auf jeder Ebene zur Verfügung stehen. Alle Berufsgruppen müssen entsprechend sozialtherapeutische Kompetenzen haben und laufend aktualisieren. Die Bereitschaft zur Mitarbeit und der Akzeptanz der Einrichtung wird durch Bezugspersonen beim Personal, die Übernahme von Verantwortung und das Aufrechterhalten bzw. Wecken von Hoffnung auf Therapieerfolge erzielt. Organisatorisch ist ein Informationssystem von hoher Qualität wichtig, für allgemeine Informationen ebenso wie als Meldesystem im Krisenfall. In den Niederlanden hat sich neben dem nur dem Personal zustehenden Intranet die Mitteilung allgemein wichtiger und interessanter Themen durch Hauszeitschriften bewährt. Die äußere Sicherheit soll durch ein geschlossenes System (Mauer) mit nur einem Eingang in Form einer Schleuse, zu dem das Personal keinen Schlüssel besitzt, gewährt werden. Schlüsselgewalt hat allein ein Pförtner, der alle Informationen über Lockerungen bei Patienten besitzt. Die Außenmauer enthält zusätzlich elektronische Sicherungssysteme, Fenster sind aus Panzerglas zu fertigen. Im Krisenfall muss es möglich sein, die Strom- und Wasserzufuhr zu den Patientenzimmern zu unterbrechen, sowie die Zimmer von außen abzuschließen. Vorschläge zur Einbindung Mit anderen Einrichtungen der forensischen Psychiatrie, auch ausländischen, sollen fachlicher Austausch und Kooperationen stattfinden, ebenso mit universitären Einrichtungen. Die Zusammenarbeit mit Gerichten, Staatsanwaltschaften, Führungsaufsicht und Bewährungshilfe soll durch Einrichtung einer Stelle für den regelmäßigen Informationsaustausch gefördert werden. Diese Vorschläge dienen auch der größeren Transparenz einer kritischen Öffentlichkeit gegenüber. 99
Ausdrücklich genannt wird auch die Zusammenarbeit mit Bürgerinnen und Bürgern. Die Praxis anderer Maßregelvollzugseinrichtungen, einen Beirat als „Forum für die Diskussion über alle Fragen der inhaltlichen und organisatorischen Durchführung“ (Van den Bergh u.a. 1996:67) einzurichten, soll auch für den neuen Standort übernommen werden; die Zusammenarbeit mit kirchlichen Gemeinden wird ausdrücklich gesucht. Kooperationen mit der Kommission für Patientenbeschwerden des LWL und der staatlichen Besuchskommission, einer Kontrollstelle, sind selbstverständlich. Externe Leistungen sollen, soweit möglich und finanziell günstiger, eingekauft werden; am Grundprinzip der Selbstversorgung, an der auch die Patienten zu beteiligen sind, wird dennoch festgehalten. Was den Standort betrifft, sollen die Kriterien einer guten Infrastruktur im Nahbereich mit vielfältigem Angebot (Freizeit, Arbeitsmöglichkeiten) entscheidend sein. Konkret werden eine zentrale Lage im städtischen Bereich mit guter Infrastruktur, die Verfügungsmöglichkeit über die betreffenden Grundstücke und die Möglichkeit, vorhandene Gebäude zu nutzen, in den Vordergrund gestellt. Ausdrücklich erwähnt wird das Befremden der niederländischen Experten, die Diskussionen um bisherige mögliche Standorte betreffend. Die Akzeptanz auch für innerstädtische Einrichtungen in den Niederlanden ist erheblich größer als hier. Empfehlung für das weitere Vorgehen Die Kommission hat Hilfe bei der konkreten Umsetzung nach erfolgter Standortsuche angeboten, insbesondere, wenn bei vorhandenen Gebäuden Kompromisse geschlossen werden müssen.
III.1.3 Überblick über den Ablauf der Ereignisse und die Geschichte der Bürgerinitiative gegen eine Hertener Forensik69 Im Oktober 1994 beschoss der zuständige Ausschuss des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), der bis 1999 für den Maßregelvollzug zuständig war70, einzelne Behandlungseinheiten aus der damals bereits überfüllten Klinik Lippstadt-Eickelborn zu verlagern, um Klinik und Bevölkerung zu entlasten. 1995 wurde eine Planungsgruppe gebildet, die Rahmenbedingungen und Struktur 69 vgl. im Folgenden: Landschaftsverband Westfalen-Lippe – Presseinfos von 1996 und 1997, Stadt Herten 1996, Unabhängige Bürgerinitiative Herten e.V. 1997, Zeitungsartikelsammlung lt. Literaturliste 70 s. Kapitel III.1.2
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des Maßregelvollzugs bewerten und neue Konzepte erarbeiten sollte. Anfang 1996 legte diese Kommission ihren Abschlußbericht vor, der unter anderem den Neubau einer forensischen Klinik mit verändertem Konzept beinhaltete. Als Standort wurde ein LWL eigenes Grundstück in Herten ausgewählt. Dieser Vorschlag ist auf einer öffentlichen Sitzung des Ältestenrates des LWL am 12.9.1996 beraten und bereits abends im Hertener Lokalradio bekannt gegeben worden. Die Entscheidung des Rates für Herten erfolgte allerdings erst am 20.12. – das relativiert den immer wiederkehrenden Vorwurf, Herten sei vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Das Verfahren schreibt vor, dass darüber hinaus der Gesundheits- und Krankenhausausschuss (positiver Beschluss am 9.10.) und der Landschaftsausschuss (positiver Beschluss am 11.10) beraten und entscheiden müssen. Am 13.9.1996 wurden Stadtdirektor und Bürgermeister der Stadt Herten von einer Delegation aus Gesundheitsminister des Landes (Dr. Axel Horstmann), des Direktors des LWL (Dr. Manfred Scholle) und des Gesundheitsdezernenten des LWL (Dr. Wolfgang Pittrich) besucht und über den Beschluss, sowie die geplanten Daten (Baubeginn 1997, Inbetriebnahme 1999) informiert. Noch am selben Tag fanden die ersten Proteste vor dem Rathaus statt. Unterschriftenlisten wurden zunächts ausgelegt, dann die Unterschriftensammelaktion ausgeweitet. Am 17.9. waren 10 000, am 21.9. bereits 30 000 zusammen gekommen. Die „Unabhängige Bürgerinitiative Herten e.V.“ wurde am 23.9. gegründet, mit dem Satzungsziel „die Errichtung einer Maßregelvollzugsanstalt in Herten zu verhindern“ (Unabhängige Bürgerinitiative Herten e.V., 1997:2). Die BI war von Anfang an mit Vorstand und Beirat, der sich aus Mitgliedern der einzelnen Arbeitsgruppen („Resse sagt nein“, Koordination Stadtteile und Nachbarstädte, Infostände, Presse und Öffentlichkeit, Plakate, Veranstaltungen, Landschaftsschutz) zusammensetzte, sowie der übergeordneten AG Recht und dem Aktionsbüro Glashaus sehr gut organisiert. Insgesamt hatte die BI etwa 2 100 Mitglieder. Eine wichtige Informationsveranstaltung der Stadt fand am 17.9.1996 in der Gesamtschule als öffentliche Sitzung des Stadtrates statt, bei der sich die Fronten zwischen Gegner/innen und gemäßigten – eine befürwortende Fraktion hat es eigentlich nie gegeben – verhärteten. Offenbar kam es zu tumultartigen Szenen, als eine Ratsvertreterin zum Abwägen aufrief. Es gibt in den Interviews viele Hinweise, dass die Stimmung immer wieder, besonders jedoch in der Anfangsphase, als die Erfolgschancen noch kaum einzuschätzen waren, hoch emotional aufgeladen war71. Als erste Aktionen wurde ein Vortreffen zur Gründung der Bürgerinitiative (am 18.) und eine Demonstration vor dem Landeshaus in Münster (am 19. – mit über 4000 Menschen), durchgeführt. Das
71 vgl. Kap. III.3
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Interesse überregionaler Medien stieg sprunghaft an, alle großen Zeitungen sowie Fernsehsender berichteten über die Entwicklung in Herten. Die Leitung der Stadt war von Beginn an gegen den Klinikbau und Initiatorin der Bewegung; am 25.9. beschloss der Rat, auch rechtlich gegen die Pläne vorzugehen. Vertreter der Stadt waren auch am 1.10 bei der Übergabe der bis dahin gesammelten 66 300 Unterschriften an den damaligen Ministerpräsidenten Johannes Rau und Dr. Horstmann dabei. Im Laufe der Monate Oktober bis Dezember veranstaltete die BI unter anderem eine Menschenkette (über 10 000 Teilnehmer/innen), Mahnfeuer, weitere kleine Demonstrationen in Münster, fertigte und verteilte Info-Blätter, erreichte mehrere Gespräche mit Dr. Horstmann, pflanzte Apfelbäume auf dem für den Bau vorgesehenen Grundstück, sammelte Spenden (eine Benefizveranstaltung erbrachte z.B. 45 000 DM, eine Wein- und Kunstauktion 13 000 DM), veranstaltete Mahnwachen vor dem Düsseldorfer Landtag und einen Laternensternmarsch zum Grundstück. Die BI hatte zu diesem Zeitpunkt 2 000 Mitglieder. Im Zeitraum Januar bis April fanden weitere Demonstrationen, Fackelumzüge, Straßensperren, eine Mahnwache, eine Ballonaktion, bei der Protestpostkarten verschickt wurden, und eine Benefizveranstaltung mit buntem Programm statt. Am 13. 5. 1997 wurde der Plan, in Herten eine Forensische Klinik zu bauen, aufgrund rechtlicher Bedenken aufgegeben. Am 20.6. fand das letzte Treffen der BI statt, auf dem ihre Auflösung beschlossen wurde. Neben dem sehr schnellen und professionellen Aufbau der Organisation ist das Gewicht, das auf Öffentlichkeitsarbeit und öffentlichkeitswirksame Aktionen gelegt wurde, sehr auffällig. Vier von sieben Arbeitsgruppen hatten entsprechende Aufgaben (s.o.). Ins Auge springen auch die sehr variationsreichen und immer publikumswirksamen Aktionsformen. Darüber hinaus – und vielleicht deswegen – war das Presseecho immens; auch wenn nicht immer positiv berichtet wurde, war die BI doch ständig in den Medien, zum Teil sogar mit LiveSchaltungen (so bei den Mahnfeuern und -wachen (WDR, 11.10.1996 und ARD 14.10.1996). Ebenfalls gelang es von Anfang an, mit hohen Entscheidungsträgern in Kontakt zu kommen, was sicher nicht zuletzt an der engen Zusammenarbeit mit der Stadtspitze lag. Die detaillierte tabellarische und chronologische Darstellung der Ereignisse findet sich im Kapitel III.3.1, da sie ein wichtiger Teil der Interviewanalyse ist.
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III.2 Analyse der natürlichen Daten In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der mit Hilfe der Grounded Theory untersuchten Daten vorgestellt. Dieses Material ist, anders als die Interviews, unabhängig von dieser Untersuchung entstanden. Von den an den Protesten beteiligen Parteien liegen Veröffentlichungen der Stadt Herten und der BI vor, im Wesentlichen sind das Flugblätter. Insgesamt habe ich 13 ein- bis sechzehnseitige Dokumente analysiert. Ein Beispiel dafür, wie ich gearbeitet habe, findet sich im Folgenden - dem zweiten Ziel dieser Arbeit gehorchend, qualitative Forschung transparent zu gestalten und auch für Ungeübte nachvollziehbare Fallbeispiele vorzuführen. Das Ergebnis eines zusammenfassenden Verfahrens besteht in der Bildung von Kategorien. Zur besseren Unterscheidbarkeit sind die im offenen Kodieren gefundenen Kategorien, die ja Zitate sind, in Anführungszeichen („Schlosspark“), die daraus gebildeten abstrakteren Kategorien in Parenthese, fett und kursiv (‚Standort’) gesetzt. Zu einigen gibt es Subkategorien, die in Parenthese und einfacher Kursivschrift (‚ökologische Bedeutung des Schlossparks’) dargestellt sind. Eine Gesamtübersicht aller gefundenen Kategorien befindet sich am Ende des Kapitels III.2.2.
III.2.1 Analyse der Materialien der Stadt Herten Die Entwicklung der Intentionen bzw. der Argumentationen verläuft wie folgt: Geht es am Anfang um Mobilisierung, die Betonung von Gemeinsamkeit und die Zementierung der Deutung, das Problem gehe alle Bürger/innen an, folgen bald (ab Dokument 3) Veränderungen in der Frontenbildung. Zunächst werden die Angriffe gegen die Verantwortlichen des LWL und einzelne Politiker/innen schärfer, dann weiten sie sich aus gegen andere Personen, die sich nicht gegen den Bau aussprechen, z.B. JournalistInnen oder Sachverständige. Dokument 1 ist das erste Flugblatt, das die Stadt Herten zum interessierenden Thema herausgegeben hat. Der Grundtenor besteht darin, den Zusammenhalt zu beschwören, an die Gemeinsamkeit zu appellieren und für alle geltende Sachverhalte zu unterstellen. Erste Kategorien bilden die Worte der Überschrift „Wir“ und „wehren“. Inhaltlich wird zur Teilnahme an der öffentlichen Ratssitzung aufgerufen72, darüber hinaus wird das „Wir“ illustriert, indem für alle geltende Sachverhalte („in unsere Stadt“, „in unseren beliebten Schlosspark“, „für unsere Region“, „die Zukunft unserer Stadt“ in drei von sieben Sätzen) und 72 Diese Sitzung war der Beginn der Proteste, vgl. die Chronologie der Ereignisse in Kap.III.3.1
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eine für alle geltende Meinung („Kein Hertener Bürger versteht“) unterstellt werden. Dass von „wehren“ gesprochen wird, assoziiert eine Reaktion auf einen Angriff und erzeugt Handlungsdruck, kombiniert mit der Aussage, dass mit den vorgeschlagenen Aktionen noch etwas zu retten sei: „Jetzt hilft nur noch der geschlossene Protest der gesamten Bevölkerung“ (Z 9). Damit wird ebenfalls ein Erfolgsversprechen gegeben, durch die Wahl des Wortes „hilft“ ohne Einschränkung etwa durch ein ‚kann’73. Diese Strategie des Erzeugens von Handlungsdruck, des Aufzeigens von Handlungsmöglichkeiten und des in Aussicht Stellens eines positiven Ergebnisses sind im Ressourcen-Mobilisierungsansatz beschrieben. Dokument 2 ist die Beschlussvorlage für die öffentliche Ratssitzung am 17.9.1996. In sechs Punkten sind die zu fassenden Beschlüsse aufgeführt. Im ersten lehnt der Rat „die geplante Errichtung einer Sonderklinik für psychisch kranke Schwerstkriminelle in Herten ab.“ (Z 6f), im zweiten Absatz werden LWL, im dritten der Ministerpräsident und der Arbeits- und Sozialminister aufgefordert, diesen Bau zu verhindern bzw. zu stoppen. Im vierten Absatz werden der Minister und der LWL wegen ihrer Informationspolitik gerügt, im fünften wird die Verwaltung aufgefordert, rechtliche Schritte einzuleiten, im letzten ergeht ein Appell „an die Bürgerschaft, an Vereine, Verbände, Kirchengemeinden und Betriebsräte sowie die Gewerkschaften, mit Rat und Verwaltung ein Aktionsbündnis „Herten wehrt sich“ einzugehen“ (Z 26-28). Besonders ergiebig war das Dokument 3, ein vierseitiges Flugblatt in Zeitungsformat und -design, das die Stadt Herten am 2.10.96 herausgegeben hat74. In ihm finden sich alle Argumentationsstränge, die im weiteren Verlauf eine Rolle spielen und je nach Entwicklung mehr oder weniger in den Vordergrund gestellt und ausgebaut werden. Die Analyse soll im Folgenden exemplarisch für die Vorgehensweise in diesem Teilbereich ausführlich dargestellt werden. Zur besseren Zitierbarkeit habe ich die Seiten von 1 bis 4 und die Spalten von 1 bis 7 nummeriert. 73 s. dazu auch das Kapitel III.5, Anbindung der Theorie an die Empirie, insbesondere die Ausführungen zum Framing 74 Die erste Zeile (Größe 1 cm) lautet „NEIN zur Strafklinik am Schloßpark“, darunter in rot die eigentliche Überschrift (1,6 cm) „Herten wehrt sich“, die zum Slogan der gesamten Protestaktionen von Stadt und Bürgerinitiative wurde. Insgesamt sind sechs zum Teil großformatige Fotos, eine Fotomontage und 3 Grafiken auf den vier Seiten. Es gibt keine Angaben zu Autorinnen oder Autoren, kein Artikel ist entsprechend gekennzeichnet mit Ausnahme des im Stil eines offenen Briefes formulierten am Anfang, der mit Bild und Unterschrift des Bürgermeisters ausgewiesen ist. Im Impressum stehen die Stadt Herten und der Stadtdirektor als Herausgeber, als Redaktion ist die Pressestelle angegeben.
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Inhaltsanalyse: Die Seite 1 beginnt mit einem grußwortartigen Artikel des Bürgermeisters, in dem er die Situation, in der sich Herten seit bekannt werden der Baupläne befindet, kurz darstellt. Bereits in diesem Artikel lassen sich die zentralen Kategorien, die sich auch in zum Teil etwas abgewandelter, aber klar zuordenbarer Form im weiteren Flugblatt finden, festlegen. Es sind „Proteststurm“ (S.1, Sp.1 u.2) „Angst“, „Standort“ (beide S.1, Sp.1), „Herten hat genug Probleme“ und „Widerstand“ (Sp.2). Damit sind die wesentlichen Themen benannt, es folgen noch die Kategorien „Nackenschläge“ (S.2, Sp. 1) und „Machtdemonstration“ (S.2, Sp.2). Verknüpft wird die Situationsbeschreibung gleich zu Anfang mit der Kategorie „Angst“: „die Sorge um die persönliche Sicherheit, die Angst um eigene Angehörige, besonders die Kinder“ (S.1, Sp.1). Mit den Adjektiven „persönliche“ und „eigene“ und dem bestimmten Artikel vor „Kinder“ wird das Problem als jede/n Einzelne/n betreffend charakterisiert, damit die bereits in Dokument 1 gefundene Kategorie „Wir“ weiter bedient. Diese Angst angesichts des geplanten Baus wird als berechtigt beschrieben, „weil in den vergangen Jahren, ja leider noch in den letzten Tagen zuviel Schreckliches geschehen“ (S.1, Sp.1) sei. Damit wird zusätzlich die Bedrohung zeitlich und räumlich nah an die Bevölkerung gerückt, ohne zu erklären, was mit dem Schrecklichen gemeint ist. Es bleibt der Eindruck von realer, naher, aber nicht genau greifbarer Gefahr. Zur auf der nächsten Ebene liegenden Kategorie ‚Angst’, die jetzt gebildet werden kann, passen noch weitere Fundstellen. Mit dem Satz „Herten eignet sich nicht als Eickelborn II.“ (S.1, Sp.2) wird eine Etikettierung der BoulevardZeitungen für Herten aufgegriffen. Damit wird an die Ermordung eines Mädchens durch einen Freigänger erinnert, die dort kurz zuvor stattgefunden hat, sowie alle damit zusammenhängen Ängste, wie auch die Probleme, die in Eickelborn herrschen, mittransportiert. Zur Kategorie ‚Standort’ gehören die Subkategorien ‚Bedeutung des Schlossparks’ und ‚Mangelnde Eignung des Baugeländes’. Damit ist der direkte Bauplatz gemeint, nicht der Standort Herten. Unter die erste Subkategorie fallen emotionale Beschreibungen wie „gute Stube Hertens“ (S.1, Sp. 4), oder „Mit diesem wunderschönen Stück Grün im Herzen der Stadt verbinden wir Hertener viel Gefühl“ (S.2, Sp.4). Der hohe Freizeitwert wird betont („Tausende von Spaziergängern jedes Wochenende, Hunderte von Kindern auf dem Kletternetz“ (S.1, Sp. 4)), die Nutzung für kulturelle Veranstaltungen ebenso wie die ökologische Bedeutung des Schlossparks („grünes Herz“ (S.1, Sp.2) oder „die grüne Lunge Hertens“, S.1, Sp.5,) hervorgehoben.
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Für die Subkategorie ‚Mangelnde Eignung des Baugeländes’ finden sich die Stellen „“echtes Naturrelikt“(S.1, Sp.5) oder „aus ökologischer Sicht unverzichtbar“ (S.1, Sp.5.). Da das Gelände als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen sei, hätten sich die zuständigen Stellen nicht an die Vorgaben der Expertenkommission gehalten, nach der durch den Bau kein Landschaftsschutzgebiet zerstört werden dürfe (S.1, Sp.6). Zudem sei es zu nah am Krankenhaus und nur 150-250 Meter von Kindertagesstätte, Schwesternwohnheim und einem Neubaugebiet entfernt (S.1, Sp.7). Eine Karte auf Seite 2 zeigt alle öffentlichen Einrichtungen und Freizeitanlagen Hertens im Umkreis von 4 km um das Gelände. Im Brief des Bürgermeisters wird mit der Kategorie „Herten hat genug Probleme“ bereits ein weiterer zentraler Argumentationsstrang angesprochen: die große Belastung Hertens durch den Strukturwandel und durch Leistungen, die die Stadt für die Region erbringe („Herten hat genug Probleme mit dem Strukturwandel, Herten hat genug für die Region geleistet“ S.1, Sp.2). Auf den Seiten 3 und 4 folgen dazu Artikel, einer unter der Überschrift „Das St.-FloriansPrinzip“, ein anderer unter „Herten beweist soziale Sensibilität“ und der dritte ist mit „Strukturwandel wird erschwert“ betitelt. Bereits auf Seite 1, Spalte 2 spricht der Bürgermeister von ‚Widerstand’, der nächsten Kategorie. Er wählt die Bezeichnung „unser Kampf“ (S.1, Sp. 3) für den gemeinsamen Protest und schließt seinen Artikel mit den Worten „Wir kämpfen weiter, kämpfen Sie mit“(S.1, Sp.3). Die Bildüberschrift über einem Foto des von der Stadt errichteten Bauzauns, der die Höhe der geplanten Mauer zeigen soll, ist mit „Phantasievoller Widerstand“, ein Kasten auf Seite 4 mit „Chronik des Widerstandes“ überschrieben. Zur Kategorie „Machtdemonstration“ habe ich auch die Äußerungen geordnet, mit denen die Planer/innen als fremde, an Herten desinteressierte Personen charakterisiert werden, die Bedrohung Hertens damit als von außen kommend: „Wer einen solchen Vorschlag macht, kennt Herten nicht, kennt Bürgerinnen und Bürger nicht, hat nie mit ihnen gesprochen“ (S.1, Sp.2). Entsprechend wird die Entscheidung als unüberlegt und unvernünftig charakterisiert: „Bei vernünftigem Nachdenken kann keiner an diesem Standort festhalten“ (S.1, Sp. 2). Das Vorgehen wird darüber hinaus als „handstreichartig“ beschrieben, Herten sei „überfallen“ und „hinter unserem Rücken ein Angriff auf diese Stadt unternommen“ (S.3, Sp.6 bzw. 7) worden. Die Fundstellen „Dieses Verfahren war eine reine Machtdemonstration“ (S.2, Sp. 2), und „Diktatur (S.2, Sp.4) oder „eine Stadt…so der Willkür anderer Behörden preis“ geben (S.2, Sp. 7), belegen ebenfalls die Sicht- und Darstellungsweise der Stadt und ihre scharfe Kritik an der Vorgehensweise des LWL. An mehreren Stellen wird dem Verband dabei auch absichtliche Täuschung unterstellt, so etwa auf Seite 2, Spalte 3/4: „Am Hertener Schloßpark, westlich 106
des Elisabeth-Hospitals plant der LWL die Errichtung einer „Klinik für forensische Psychiatrie“. Mit dieser Wortwahl wird – bewußt oder unbewußt – verschleiert, daß es sich um eine Einrichtung für psychisch kranke Straftäter handelt.“ Auch im Artikel unter der Überschrift „Nachgeschlagen: Forensik“, in dem es um die lexikalische Bedeutung des Wortes geht, wird Verschleierung suggeriert, da es das Wort weder im Duden noch im Brockhaus gäbe. „Forensik“ wurde aber in offiziellen Verlautbarungen nicht gebraucht, ist wohl vielmehr eine populäre Abkürzung. Das tatsächlich verwendete Wort „forensisch“ findet sich in allen einschlägigen Lexika als der korrekte medizinische Fachausdruck für den darzustellenden Sachverhalt. An anderer Stelle wird dem LWL Falschinformation des zuständigen Ministers vorgeworfen. Es würde „immer fragwürdiger, ob Gesundheits- und Sozialminister Horstmann vom Landschaftsverband in Münster über die Klinikpläne richtig informiert war“ (S.3, Sp.1) und „läßt vermuten, daß Minister Horstmann auch über die planerische Situation und die Bedeutung des Gebietes für die Stadtökologie … nicht richtig informiert worden war“ (S.3, Sp.2). Auch die korrekte Durchführung des Verfahrens wird angezweifelt: „Dies läßt vermuten, daß entweder gar nicht 18 Standorte untersucht wurden oder daß das Untersuchungsergebnis höchst zweifelhaft ist“ (S.4, Sp.5). Die übergeordnete Kategorie ist hier ‚Vorgehensweise des LWL’. Zur Kategorie „Nackenschläge“ gehören auch die Stellen, an denen gegen den Vorwurf, nach dem St.-Florians-Prinzip zu handeln, argumentiert wird. Hierunter lassen sich auch die Argumente zusammenfassen, die Herten als benachteiligt beschreiben, bei gleichzeitiger Betonung der Leistungen, die Herten bereits für die Region geleistet habe. In diesem Zusammenhang werden der Strukturwandel, die Arbeitslosigkeit, die Müllverbrennungsanlage und die Psychiatrie genannt. So schreibt der Bürgermeister auf Seite 1, Sp. 2, „Herten hat genug für die Region geleistet“. Auf Seite 3, Sp. 3 und 4 wird das aufgenommen und ausdifferenziert in Müllverbrennungsanlage, Abraumhalden und das Westfälische Zentrum für Psychiatrie. Diese Einrichtungen werden als „Vorleistungen“ bezeichnet. Mit dieser Wortwahl wird suggeriert, dass nun die anderen etwas für Herten tun müssten, da die Stadt ganz im Gegenteil zum Vorwurf, ihren Part bereits (über)erfüllt habe. Genannt wird die Kategorienbezeichnung auf Seite 2, Sp. 1, wo in einem Kasten ein Interview mit der stellvertretenden Bürgermeisterin abgedruckt ist, die sagt: „Was will man dieser Stadt eigentlich noch alles zumuten? Wir versuchen, uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen und von oben kriegen wir immer nur Nackenschläge!“ Gleichzeitig wird damit am Bild der Bedrohung von außen weiter gemalt. „Nackenschläge“ ordne ich zur Kategorie ‚Stadt’, weil
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damit weniger die Art des LWL gemeint ist, sondern stärker die benachteiligte Situation Hertens unterstrichen werden soll. Fazit: Trotz Betonung gegenteiliger Absichten, nämlich sachliche Argumente gegen den Bau der Klinik anzuführen, ist der Ton des Flugblattes überwiegend emotional. Dafür spricht die Wortwahl bezogen auf mögliche Befürchtungen der Leser/innen, hinsichtlich des Standortes, des Protestes und der Vorgehensweise des LWL: „Nackenschläge“ (S.2, Sp.2), „handstreichartig“, „überfallen“, „ein Angriff auf diese Stadt“ (alle S.3, Sp. 4). Es finden sich häufig direkte Appelle an Solidarität, die Beschwörung eines Wir-Gefühls und die Betonung, alle seien betroffen. Weiter finden sich Aufrufe zur Teilnahme, wie „kämpfen Sie mit“ (S. 1, Sp. 2) oder „Beteiligen Sie sich“ (S.4, Sp. 6). Gleichzeitig werden die für die Planung zuständigen als fremd, die Bedrohung als von außen kommend dargestellt. Die Problematik unsachlicher Äußerungen wird auf der letzten Seite angesprochen, es findet aber keine Distanzierung statt; sie wird nur unter dem Gesichtspunkt diskutiert, solche Verlautbarungen „schaden letztlich der Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft des Hertener Protestes“ (S.4, Sp. 2). Indirekt wird die eigene, Emotionen schürende und Entgleisungen hinnehmende Handlungsweise an anderer Stelle erläutert: „In dieser Situation hatte die Stadt Herten keine andere Chance, als ihre Beteiligungsrechte mit Hilfe der Bevölkerung und der Medien durchzusetzen“ (S.3, Sp. 7). Die Stadt wird in vielerlei Hinsicht als benachteiligt dargestellt: zunächst durch die bauliche Situation, indem der Schlosspark als einer der wenigen Lichtblicke Hertens, der nun genommen werden soll, beschrieben wird. Des Weiteren befinde sich Herten in einer besonders schwierigen wirtschaftlichen Lage und müsse um den Verlust weiterer Arbeitsplätze fürchten. Obgleich die Stadt „Vorleistungen“ für das Gemeinwesen durch die Müllverbrennungsanlage, die Halde und die psychiatrische Klinik erbracht habe, werde man mit seinen Problemen allein gelassen, müsse sich „am eigenen Schopf aus dem Sumpf“ ziehen (S.2, Sp. 1). Dabei bekommt man noch „Nackenschläge“ (S.2, Sp. 1) und „Knüppel zwischen die Beine“ (S.4, Sp. 6). Eine Einrichtung für forensische Psychiatrie in Herten wird damit grundsätzlich, nicht nur am geplanten Standort, abgelehnt. Diese Linie wird bereits am Anfang, dem Grußwort des Bürgermeisters klar, der das an zwei Stellen ausspricht: „Es ist für mich undenkbar, eine solche Einrichtung in eine Stadt wie Herten zu bringen“ und „In diese Stadt gehört keine Klinik für psychisch kranke Straftäter“ (S.1, Sp. 1 bzw. 2/3). Zusammengefasst ergeben sich bis hierher aus den offenen Kategorien: ‚Gemeinschaft’, als übergeordnete zum „Wir“, 108
‚Protest’, gebildet aus „Aktionsbündnis ‚Herten wehrt sich’“, „Ablehnung der Sonderklinik“, „wehren“, „Proteststurm“, „Widerstand“, ‚Standort’, wozu „Schlosspark“ gehört, ‚Stadt’, darunter gefasst „Nackenschläge“, „Herten hat genug Probleme“, „schwierige wirtschaftliche Lage“ ‚Angst’, ‚Vorgehen des LWL’, darunter „Mißbilligung der Informationspolitik des LWL“, „Machtdemonstration“, ‚Politiker/innen’, darunter „Aufforderungen an Politiker“ als die Kategorien, mit denen weiter gearbeitet werden soll. Dokument 4 enthält eine Auflistung einiger bereits in den früheren Flugblättern aufgeführten Ansichten und Standpunkte. Diese Zusammenstellung erzeugt vor allem das Gefühl der wiederholt ungerechten Behandlung der Stadt von außen und beschwört den Zusammenhalt. Mit dem Satz „Herten ist nicht der Ort, alle ungelösten Probleme des Landes auf seine Schultern zu laden!“ (Z 11f) wird ein Argumentationsstrang besonders in den Mittelpunkt gerückt. Worauf er sich bezieht, bleibt im Rahmen dieses Flugblattes unklar und ist nur zu verstehen, wenn man die Erkenntnisse des vorherigen Dokumentes hinzuzieht. Offenbar sind damit wieder die dort als „Vorleistungen für die Region“ und als Lasten charakterisierte Einrichtungen angesprochen. Der zentrale Anlass dieses Flugblattes ist die Aufforderung, sich an der geplanten Demonstration in Münster zu beteiligen, die maßgeblich von der Stadt organisiert worden ist. Sie wird mit dem Empörungsthema verbunden: „Zeigen Sie den Landesbehörden, daß die Hertener Bürgerinnen und Bürger nicht so mit sich umspringen lassen!“ (Z 16-18). Das Dokument 5 ist die „Nr.2 des Informationsblattes der Stadt Herten“ vom 9.11.199675. Es ist analog zum ersten Infoblatt aufgebaut, die zentralen Themen sind hier vor allem „Widerstand“ und Aufrufe zur Geschlossenheit. Argumentativ stehen die Vorwürfe gegen Politiker/innen des LWL und den Ablauf („skandalöses Verfahren“) im Vordergrund, womit das Fehlen der von Herten vorgebrachten Argumente gegen den Bau in den Sitzungsvorlagen gemeint ist. Die Einladung, vor dem Gesundheitsausschuss diese Argumente darzustellen, schlug der Bürgermeister allerdings mit der Begründung aus, er solle nur als 75 Materialien Nr. 5. Genauso aufgemacht wie Dokument 2, gleicher formaler und inhaltlicher Aufbau des oberen Drittels, gleiches Zeitungsdesign des gesamten, wieder vierseitigen Blattes. Es finden sich 10 Fotos, davon sechs großformatige, vier kleine Personenbilder und eine Fotomontage. Angaben zu Verfasserinnen oder Verfassern fehlen wieder, das Impressum ist mit dem im Dokument 2 identisch.
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„scheindemokratisches Feigenblättchen“ (S.1, Sp.7) missbraucht werden, da die Entscheidung schon im Vorfeld feststehe. Der Personenkreis derjenigen, die z.T. namentlich genannt und angegriffen werden, wird größer. Die Angriffe auf PolitikerInnen werden heftiger und umfassen immer mehr Personen (Politiker/innen der Grünen und überregionale Politiker/innen). Ihnen werden u.a. ‚Desinteresse’ und ‚Eigennutz’ unterstellt. Eine Zusammenarbeit mit dem LWL wird grundsätzlich für unmöglich erklärt, die Beteiligten als unfähig und unwillig dargestellt. Daneben wird die Sachkenntnis der ExpertInnenkommission angezweifelt. Zudem werden JournalistInnen, die über Besichtigungen in anderen Forensischen Psychiatrien berichtet hatten, als „Handverlesene Journalistengruppe“, die „sich in ihrer bisherigen Berichterstattung als LWL-freundlich oder Herten-kritisch „qualifiziert“ hatten“ verunglimpft. Gleichzeitig setzt der Bürgermeister ermutigende Signale, indem er die Beziehung zur Landesregierung als hilfreich einschätzt, die schon früher gezeigte „Solidarität“ des Ministerpräsidenten mit Herten feststellt und sich von der Situationseinschätzung im Sinne Hertens überzeugt zeigt. Danach ruft er aber noch zweimal zum „Widerstand“ (S.1, Sp.3) und zu Geschlossenheit auf. „Nur wenn Herten geschlossen steht und nach außen Solidarität zeigt, werden wir den Kampf gewinnen“ lautet der Schlusssatz. Des Weiteren beginnt die nächste Strategie zur Verhinderung des Baus, indem das anvisierte Bauland als ungeeignet dargestellt wird. Die Kategorie ‚Region’ aus dem Dokument 1 spielt keine Rolle mehr, was vermutlich daran liegt, dass die anfangs noch gehegte Hoffnung auf Solidarität umliegender Städte sich nicht erfüllt hat. Die Stadt beginnt damit, ihre Vorgehensweise als „rational“ zu klassifizieren.
III.2.2 Analyse der Materialien der Bürgerinitiative Die hier zu verfolgende Entwicklung zeigt zunächst eine sehr aggressive und von vornherein kompromisslos ablehnende Haltung. Der Ton ist deutlich schärfer als bei den Flugblättern, die die Stadt herausgegeben hat. Es wird immer wieder versucht, andere Städte zu Solidarisierung zu bringen; das gelingt nicht, mit Ausnahme des direkt angrenzenden Resse, einem Stadtteil von Gelsenkirchen. Danach wird die Strategie gefahren, andere Städte als besser geeignete Standorte in die Diskussion zu bringen, um so dort Betroffenheit zu erzeugen. Auch diese Strategie ist nicht erfolgreich. Proteste regen sich immer erst dann, wenn eine Stadt direkt in die Planungen des LWL einbezogen wird, nachdem der Standort 110
Herten aufgegeben wurde waren das z.B. Werne, Dortmund oder Herne. Die überwiegend für den internen Gebrauch verfassten Berichte der Arbeitsgruppen, die in der öffentlichen Diskussion keinen Widerhall finden, unterscheiden sich gravierend von den massenhaft verteilten Flugblättern, da sie betont sachlich verfasst sind. Die dort gesammelten Argumente scheinen dann für die Verwendung in den Flugblättern aufbereitet worden zu sein. Gleich in ihrem ersten Flugblatt, dem Dokument 6, stellt die BI ihr Ziel, von dem sie nicht abgewichen ist, vor: „Kein Gefängnis für psychisch kranke Schwerstverbrecher in Herten“. Damit ist von vornherein klar, dass es nicht um eine Bauplatz-Debatte geht. Stimmung wird mit der Reihung „Mörder Sexualverbrecher Vergewaltiger Brandstifter“ „nicht nach Herten!“ erzeugt. Der Grundtenor dieses Blattes ist aggressiv, was durch die sechs von sieben Sätzen vorangestellte Aussage „Wir lassen es uns nicht gefallen“ und die Wortwahl bei den in Angriffsform formulierten Vorwürfen zum Ausdruck gebracht wird. Diese Vorwürfe stellen die Behauptungen auf, Herten werde „Experimentierfeld für karrieresüchtige LWL-Beamte und Psychiater“ (Z 17), zwei namentlich genannten Beamten wird „Feudalherrenart“ vorgeworfen (Z 18), es wird behauptet, dass Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit, freie Persönlichkeitsentfaltung, Mitsprache „außer Kraft gesetzt werden“ (Z 20f) und „die verfassungsmäßigen Rechte unserer Stadt mit Füßen getreten werden“ (Z (22), dass Schlosspark und Landschaftsschutzgebiet „zerstört und uns weggenommen werden“ (Z 24f). Die Vorgehensweise des LWL wird so beschrieben, dass „mit Lügen, Manipulationen, falschen Unterlagen und Diffamierungen die Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungsgremien hinters Licht geführt werden“ (Z 26-28). Im letzten Absatz werden Abgeordneten Missachtung des Grundgesetzes aus nicht näher bezeichneten persönlichen Motiven vorgeworfen. Im Dokument 7 vom 10.1996 werden massive Vorwürfe über bewusste Täuschungen, Falschdarstellungen und Manipulationen durch den LWL erhoben. Damit soll Empörung ausgelöst werden, gipfelnd in dem Abschluss der Aufzählung mit dem Satz: „Der LWL hält die Hertener für dumm!“. Den Hauptteil des Blattes bildet die Auflistung der behaupteten Falschdarstellungen mit einer Gegenüberstellung der eigenen Sichtweise. Der Aufbau ist so gewählt, dass in vier Spalten Aussagen gesammelt sind, die mit unterschiedlichen fett gedruckten Bewertungen in Form von Überschriften eingeleitet werden („Es ist sachlich falsch“; „Es ist unwürdig“; „Es ist richtig“; „Tatsache ist“; „Es ist irreführend“; „Es ist unverantwortlich; „Es ist gelogen“; „Es ist beängstigend“; „Es ist lebensbedrohlich“; „Und es bedeutet Lebensgefahr“; „Es ist lächerlich“; „Es ist eine unzulängliche Verharmlosung“). Die Strategie dabei ist es, aus dem Klinik-Konzept entlehnte Elemente auf Herten und seine Stadtteile zu übertragen, womit eine allgegenwärtige Bedrohung aller Bürger/innen 111
beschworen wird. So findet sich z.B. „Es ist beängstigend, daß 40 bis 50 Prozent der psychisch gestörten Schwerstkriminellen Arbeitsplätze in Scherlebeck, Bertlich, Langenbochum, Westerholt, Herten-Mitte, Disteln und Herten-Süd haben werden“ (Sp.1, Z 28-37). An anderer Stelle heißt es: „Es ist lebensbedrohlich, daß 40 bis 50 Prozent der psychisch gestörten Schwerstkriminellen…[es folgt eine Aufzählung von Hertener Freizeitstätten und Naturgebieten, d.A.] im Rahmen der Therapie besuchen werden“ (Sp. 1, Z 38 – Sp. 2, Z 11). Das Konzept wird als gefährlich für die Bevölkerung, unausgegoren und noch in der Erprobung befindlich charakterisiert, was durch den Ausruf in roten Großbuchstaben „HERTEN SOLL VERSUCHSGEBIET WERDEN!! DAS DARF NICHT SEIN!!“ abgeschlossen wird. Der Ton des Dokumentes ist ebenfalls aggressiv, die Darstellung stark manipulativ. Auffällig ist der, verglichen mit den bisherigen Flugblättern, betont sachliche und ruhige Ton im Dokument 8. Adressaten waren nicht zu ermitteln, in der oben genannten Chronik wird dieses Papier nicht erwähnt. Ein zweites in gleichem Stil und gleicher Aufmachung gehaltenes Dokument ist ein Bericht zweier Arbeitsgruppen der BI (Dokument 12); wegen der auffälligen Parallelen ist der Schluss erlaubt, dass es sich auch hier um einen solchen Bericht handelt. Eine eindeutige Bestimmung ist erst mit Durchsicht der „Schlußbemerkung“ (S.12, Z 10) möglich, in der die „von zahlreichen Bürgern in mehreren Arbeitsgruppen erstellten Argumente“ (S.12, Z 11f) zugeordnet werden. Diese beiden Papiere unterscheiden sich so grundlegend von den dreien, die laut „Chronik des Widerstandes“ massenhaft verteilt wurden, dass darauf geschlossen werden darf, es handele sich hierbei nicht um Flugblätter. Da sie nirgendwo erwähnt werden, kann davon ausgegangen werden, dass sie in der Auseinandersetzung keine bedeutende Rolle gespielt und Ton und Klima nicht wesentlich beeinflusst haben. Interessant ist die Einschränkung in einem, der Kategorie ‚Angst’ zuzuordnenden Absatz: „Die Konfrontation mit einem Gefängnisbau einschließlich eines Hochsicherheitstraktes an dieser Stelle und die Furcht vor psychisch kranken Schwerstkriminellen und die daraus entstehenden Ängste – so irrational diese zum Teil auch sein mögen“ (S.2, Z 10-13). Das widerspricht der gesamten bisherigen Strategie der BI, für die diese Angst und ihre Berechtigung zentrale Argumente waren, so etwa im oben besprochenen Flugblatt (Dokument 7), in dem von den Insassen ausgehenden Lebensgefahr („es ist lebensbedrohlich“ (S.2, Sp. 1, Z 38) und „es bedeutet Lebensgefahr“ (S.2, Sp. 2, Z 14f) festgestellt wurde. Beispielhaft für den ganz anderen Tonfall hier ist die Feststellung, Herten brauche dringend „positive Signale“ (z.B. S. 5, Z 29), die Klinik werde sich negativ auf die wirtschaftliche Situation auswirken und nur eine „gesunde…Stadt“ (S.6, Z 6) könne eine solche Last tragen. In diesem Zusam112
menhang werden Dortmund, Bochum und Essen zweimal genannt. Hier wird versucht, andere Städte zu von dem Problem betroffenen zu machen; diese Strategie führt jedoch, wie oben erwähnt, nicht weiter. Argumente und Angriffe auf bestimmte Personen, das Anzweifeln der Sachkunde und korrekten Durchführung des Verfahrens unterscheiden sich nicht inhaltlich, allerdings stark im Ton. Bei letzterem zeigt sich noch ein wichtiges Detail, das sich auf von der BI gemalte Zukunftsszenarien bezieht: „Am Beispiel Düren zeigt sich auch die Expansionstendenz einer solchen Anstalt [weil dort Außenwohngruppen geplant waren, d.A.], die sich Stück für Stück über das gesamte Stadtgebiet ausbreitet. Hinzu kommt, daß viele der Straftäter nach ihrer Entlassung aufgrund der im Rahmen der Lockerungsmaßnahmen erfolgten Eingliederung endgültig am Behandlungsort sich niederlassen“ (S.11, Z 4-8). Damit wird der tiefsitzenden Ablehnung der Patienten noch nachdem sie entlassen wurden Ausdruck verliehen. Auch das Beklemmung erzeugende Bild der sich heimlich immer weiter ausdehnenden Klinik ist nicht mit dem angestrebten sachlichen Ton zu vereinbaren. Ebenfalls Emotionen erzeugend ist die „Schlußbemerkung“ (S.12, Z 10), in der betont wird, dass es nicht um die Bewertung forensicher Konzepte gehe, sondern um die Verhinderung des Baus „um zu überleben“ (S.12, Z 31), da die Stadt zu schwach sei, diese weitere Last zu tragen. Im Dokument 9 vom Dezember 1996 werden die im letzten Dokument gesammelten Infos für ein breites Publikum aufbereitet verarbeitet, deutlich weniger nüchtern als in diesem, sachlicher als im ersten Info-Blatt. Die in den Veröffentlichungen der BI wichtige Kategorie „Zukunftsszenarien“ findet sich z.B. in folgendem Satz: „Wir Hertener haben das Recht auf Sicherheit bei unseren alltäglichen Wegen. Diese wollen wir – ohne Herzklopfen bis zum Halse – gehen!“ (S.2, Sp.1, Z 9-14), womit eine Situation skizziert wird, in der man sich nicht mehr ohne Angst aus dem Haus begeben kann. Das Entwerfen vieler, sehr plastischer und drastischer Szenarien ist ein immer wiederkehrendes Stilmittel der BI. So wird etwa ausgemalt, dass „unsere Kinder bei ihren alltäglichen Wegen durch den Schlosspark den Freigängern begegnen müssen“ (S.2, Sp.1, Z 34-38), wobei „Angst“ (S.2, Sp.1, Z 25 u. 32) erzeugt werde. Auch die kulturellen Aktivitäten, die im Schlosspark stattfinden, werden mit dieser Angst verbunden unter der Zwischenüberschrift „Festival ohne Angst“ (S.2, Sp.2, Z 14). Unter der Überschrift „Gefängnisklinik – keine Zukunft für Herten“ (S.2, Sp.3, Z 5-7) werden weitere Auswirkungen aufgezeigt, die nach Meinung der UBH eintreten werden, nämlich eine nachhaltige Störung der wirtschaftlichen Entwicklung, das wirtschaftliche Aus für das Krankenhaus, Abschreckung möglicher Investoren, Abwanderung vieler Bürger, Pleitewelle der Geschäfte in der Innenstadt und Wechseln der Kinder in Schulen der Nachbarstädte. 113
Es folgt ein Absatz darüber, dass in Herten „nicht die Reichen“, sondern „hart arbeitende Menschen, die einen Anspruch auf ihr Naherholungsgebiet haben“ (S.2, Sp.1, Z 18-23) wohnen, damit werden gleichzeitig die Kategorie ‚Gemeinsamkeit’ bedient, der „Anspruch“ auf den Park erhoben, die Empörung über ‚die da oben’ geschürt und die ‚Soziale Bedeutung des Schlossparks’ hervorgehoben. Gleichzeitig wird das Angebot, die Bürger/innen bei der Gestaltung der Außensicherung und dem Abstand zum Krankenhaus zu beteiligen, mit der Begründung ausgeschlagen, solche Entscheidungen seien nichtig – obwohl an anderen Stellen beide als wichtige Argumente von der UBH aufgebaut wurden, wie in den anderen Flugblättern zu lesen. Dieser Widerspruch manifestiert sich in der Aussage, die zur Begründung angeführt wird: „Dazu haben wir weder Zeit noch Lust! Wir wollen keine Gefängnisklinik!“ (S.4, Sp.1, Z 29-32). Damit ist erneut bekräftigt, dass unabhängig vom Standort und Art der Ausführung der Bau dieser Klinik abgelehnt wird. Eine andere Argumentationslinie richtet sich gegen die Verantwortlichen beim LWL und gegen die Konzeption selbst. So findet sich ein Angriff auf den Zuständigen beim LWL, dem unterstellt wird, er wolle sich „vor seinem Ruhestand noch ein Denkmal setzen“ (S.3, Sp.3, Z 8f) und den Hertenern ein schlechtes Gewissen einreden (Subkategorie ‚Eigennutz’ zu ‚Vorgehensweise des LWL’). Die Sorgfalt und Ernsthaftigkeit der Prozesse und Beurteilungen, die Straftäter zu durchlaufen haben, bevor sie in die Freigängerstufen kommen, werden sämtlich negiert. Aus den Aussagen lassen sich die Kategorien ‚Fahrlässigkeit’, ‚Missachtung der Vorschriften’ und ‚Unehrlichkeit’ bilden. Zudem werden die Unparteilichkeit der Gutachterkommission und die Sachhaltigkeit ihrer Argumente bestritten. Gelegentlich erfolgen noch Versuche, das Gebiet der direkt Betroffenen auf die Region auszuweiten, insbesondere wenn von den als feststehende Tatsache dargestellten Ausweitungen der Klinik, der Errichtung von Außenwohngruppen o.ä. im Rahmen der Skizzierung von Zukunftsszenarien die Rede ist. Sie bleiben aber, wie eingangs bereits erwähnt, folgenlos. Mit den nächsten Veröffentlichungen erfolgt eine Änderung der Stoßrichtung, die nun gezielt in Richtung Politik geht, um dort ein Einlenken zu erreichen. Dokument 10 ist ein Flugblatt, das vor allem erneut der Mobilisierung dienen soll, indem zum Schreiben von Protestkarten aufgerufen wird. Unter den Überschrift „Jeder Bürger macht mit !“ (Z 13) findet sich eine Sammlung von Argumenten gegen den Bau der Klinik, die sich auf den Bauplatz, die Situation Hertens, Sicherheitsbedenken, die Vorgehensweise des LWL beziehen und aus denen die Leser/innen auswählen sollen, welche davon sie auf ihre Postkarte
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schreiben. Es schließt mit der Aussage, dass „Herten ist als Standort für die geplante Maßregelvollzugsanstalt ungeeignet!“ sei. Dokument 11 ist ein „Offener Brief an verantwortungsbewusste Politiker in Nordrhein-Westfalen“, der mit: „12 PUNKTE, DIE WIR NIE VERGESSEN WERDEN!“ übertitelt ist. Der Ton ist aggressiv und lässt keinerlei Spielraum für Diskussionen. Die durch die häufige Wiederholung des Wortes „nein“, meist in Fettdruck und Großbuchstaben, zum Ausdruck gebrachte kompromisslose Ablehnung findet sich im gesamten Text. Den Politiker/innen wird mit Konsequenzen bei der nächsten Wahl gedroht: „Wir werden dafür sorgen, daß dieses Polit-Desaster noch mehr Öffentlichkeit erhält. Wir werden Sie immer wieder daran erinnern“. Am Ende des Textes werden die AutorInnen noch einmal deutlicher, indem sie darauf hinweisen, dass die Gegner/innen des Baus auch Wähler/innen sind, verbunden mit der Drohung, bei der nächsten Wahl entsprechend zu reagieren. „Wenn uns die Landespolitiker in Düsseldorf und Münster nicht hören wollen, wird das der Punkt 13 sein, den wir als Bürger nie vergessen werden!“ (Z 32-35). Immer wieder wird auch PolitikerInnen absichtsvolle Missachtung und Geringschätzung der Bevölkerung vorgeworfen. So heißt es etwa „Wir wurden schamlos vorgeführt!“ (Z 24) oder „Der Bevölkerung wurde Sand in die Augen gestreut, damit Horstmann trickreich die Verfahrensmängel beseitigen kann“ (Z 34f). Massive Vorwürfe bis hin zur Unterstellung von Straftatbeständen werden gegen den beim LWL Zuständigen Beamten erhoben. So werden etwa die Veröffentlichungen des LWL zum Thema unter der Überschrift „Pittrich schürt Angst und Emotionen“ (S.2, Z 34) als „dummdreist zusammengeschusterte Informationsblätter, die vor falschen Aussagen, Irreführungen und sachlichen Fehlleistungen strotzten“ (Z 38f) bezeichnet. Die Sachkunde hinzugezogener ExpertInnen wird ohne Ausnahme in Zweifel gezogen. So wird die Begutachtung von Dr. Röwer als nicht sachhaltig, sondern im Sinne des Ministeriums geschrieben bezeichnet: „Herr Dr. Röwer leitet den Schönschreibkurs für das Gesundheitsministerium“. Das Fazit lautet: „Ignoranz, Verantwortungslosigkeit, Arroganz, Leichtfertigkeit, Unfähigkeit, Entscheidungsunwilligkeit, Dummheit, Lügen und Verfälschung dürfen nicht die Grundsteine für die geplante Gefängnisklinik werden!“ (Z 8-10). Im Gegensatz dazu herrscht in Dokument 12, vom April 1997 ein relativ sachlicher Ton; analog zum Dokument 8 sind hier die Ergebnisse der Arbeitsgruppen dargestellt, ebenfalls vermutlich zum internen Gebrauch, sicher nicht massenhaft verteilt. Es ergeben sich keine neuen Kategorien. Das Dokument 13 ist der Abschlussbericht, im Oktober 1997 verfasst, ebenso in überwiegend sachlichem Ton gehalten. In ihm finden sich die 115
Darstellung der Ereignisse und ihrer Interpretationen. Ihre Arbeit und das verfolgte Ziel werden gleich zu Anfang dargestellt: die BI sei gegründet worden, „um eine faire, sachliche und fundierte Auseinandersetzung zu führen“ (S.1, Z 30f) und „Der Verein hat das Ziel, die Errichtung einer Maßregelvollzugsklinik in Herten zu verhindern“ (S.2, Z 3f). Gegen Ende wird die eigene Arbeit erneut als erneut „faire, sachliche und fundierte Arbeit der UBH“ (S.4, Z 2), die zum Ziel geführt habe, gelobt. Der Erfolg wird darauf zurückgeführt, dass die Landesregierung die von der BI vorgetragenen Sachargumente eingesehen habe. Begründet wird aber mit der Nichtanwendbarkeit des § 37 BauGB – somit einer Frage von Macht und Gesetz, ohne jedes inhaltliche Argument. Dennoch ziehen die AutorInnen das Fazit: „Somit wichen Düsseldorfs Politiker und Beamte nicht „dem Druck der Straße“, sondern den Sachargumenten, die durch die 3 Säulen des Widerstandes und leider nicht durch die Verantwortlichen erarbeitet wurden“ (S.3, Z 32-34). Fazit Zusammenfassend werden im Folgenden alle gefundenen Kategorien, ihre Subkategorien und die zugrunde liegenden offenen Kategorien dargestellt, um die Spannbreite und damit die Grundlage des Fazits deutlich zu machen. Offene Kategorien „Wir“, „nicht die Reichen“
Subkategorien
„Aktionsbündnis“, „Herten wehrt sich“, „Ablehnung der Sonderklinik“, „wehren“, „Proteststurm“, Widerstand“, „gerichtliche Verhinderung“
‚Gegenwehr’,‚gerichtliches Vorgehen’
„Krankenhaus“, „Soziales Umfeld des geplanten Standortes“, „Anspruch auf ihr Naherholungsgebiet“
‚Soziale Bedeutung des Schlossparks’, ‚ökologische Bedeutung des Schlossparks’, ‚Mangelnde Eignung des Baugeländes’, ‚Nähe zum Krankenhaus’ ‚Forderungen’, Auswirkungen’, ‚Belastung’ ‚Benachteiligung’
„Nackenschläge“, „Urbanität von Herten“, „Wirtschaftsstandort Herten“ „Lasten für die 116
Kategorien ‚Gemeinschaft ’ ‚Protest’
‚Standort’
‚Stadt’
Gemeinschaft: Psychiatrie, Müllverbrennung, Abraumhalde“ „schwierige wirtschaftliche Lage“, „Vorleistungen für die Region“, „auf seine Schultern laden“, „einiges an Solidarlasten freiwillig übernommen“, „Auswirkungen“, „Auswirkungen der geplanten Anstalt auf die Urbanität von Herten“, „Auswirkungen der geplanten Anstalt auf den Wirtschaftsstandort Herten“, „Lebensnerv der Stadt soll getötet werden“ „Freizeit mit Verbrechern“, „lebensbedrohlich“, „Beängstigend“, „Versuchsgebiet“, „um zu überleben“, „Herzklopfen bis zum Hals“, „den Freigängern begegnen“, „Angst um die Sicherheit der Schwachen“ „Missbilligung der Informationspolitik des LWL“ ,„Machtdemonstration“, „Manipulation“, „Das Gutachten“, „Ignoranz“, „Verantwortungslosigkeit“, „Arroganz“, „Leichtfertigkeit“, „Denkmal setzen“, „Unfähigkeit“, „dummdreist zusammengeschusterte Informationsblätter“,
‚Angst’
‚Forderungen’, Unehrlichkeit’, ‚Fehlinformationen’, ‚mangelnde Sachhaltigkeit der Argumente’, ‚Manipulation von Bevölkerung und Politiker/innen’, ‚Desinformationskampagne’
‚Vorgehen des LWL’
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„Dummheit, „Entscheidungsunwilligkeit“, „öffentliche Demütigung aller Bürger“, „arrogantes und zutiefst undemokratisches Verfahren“ „Aufforderungen an Politiker“, „Ignoranz“, „Verantwortungslosigkeit“, „Arroganz“, „Leichtfertigkeit“, „Unfähigkeit“, „Dummheit“, „hinters Licht geführt“, „Polit-Desaster“, „Amtsmissbrauch“ „Entscheidungsunwilligkeit“, „verfassungsmäßige Rechte mit Füßen getreten“
‚Desinteresse’, ‚Eigennutz’,‚Einbezug überregionaler Politiker/innen’, ‚persönliche Überforderung’
‚Politiker/innen’
„Bewohner der Nachbarstädte“, „Ausbreitung“
‚Region’
„bewußt übergangen“, „Mißbrauch“, „Demütigung“, „schamlos vorgeführt“
‚Empörung’
„freien Ausgang“, Arbeitsplätze“, „im Rahmen der Therapie“, „eingegliedert“, „verstärkte Forschung“, „Aus- und Weiterbildung des Personals“, „uneingeschränkte Transparenz“
‚Fahrlässigkeit’, ‚Eigennutz’ ‚Unehrlichkeit’, ‚Forderungen’
‚Konzept forensischer Psychiatrie’
„ohne die geringste Sachkenntnis“,
‚Kritik an Aktionen’, ‚Absprechen der Kompeten-
‚Opposition zur BI’/
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„Gefälligkeitsgutachten“, „karrieresüchtige LWLBeamte und Psychiater“, „mangelnder gesunder Menschenverstand“
zen’, ‚Fahrlässigkeit’, ‚Missachtung der Vorschriften’
‚Abwertung der Befürworter/innen bzw. Neutralen
„Expansionstendenz“, „Eingliederung entlassener Patienten“, „schwierige wirtschaftliche Lage“, „Lebensqualität“, „soziale, wirtschaftliche und kulturelle Negativauswirkungen“
‚nachhaltige Störung der wirtschaftlichen Entwicklung’, ‚Abwanderung’, ‚Pleitewelle’, ‚Aus für das Krankenhaus’
‚Zukunftsszenarien’
In den untersuchten Dokumenten ist viel von den Auswirkungen die Rede, die der Bau dieser Klinik auf die Stadt und ihre BewohnerInnen haben würde. Dabei wird insbesondere das Bild gezeichnet und im Verlauf verfestigt, dass der gesamte Alltag beeinträchtigt werden wird, es keine wirtschaftliche Zukunft mehr geben und die Innenstadt öde (der zu erwartenden Geschäftsaufgaben wegen) und verwaist aussehen werde. Die Vision vom Leben in Herten als trostlos und gefährlich entsteht so vor dem geistigen Auge der Leser/innen. Für die Klinik wird das Bild einer Krake gemalt, die schon durch diese gerade geschilderten zu erwartenden Entwicklungen ständig präsent ist und in alle Lebensbereiche eindringt, darüber hinaus aber auch räumlich durch visionierte Ausdehnungen und prognostizierte Erweiterungsbauten immer mehr Platz für sich beanspruchen werde. Sehr plastisch – und drastisch – wird das in den massenhaft verteilten Flugblättern, vermittelter und sachlicher in den Berichten der Arbeitsgruppen deutlich. In den Dokumenten finden sich heftige Anfechtungen bis zu Beleidigungen von Zuständigen beim LWL und von überregionalen PolitikerInnen, sowohl was deren persönliche Integrität als auch ihre Motive und ihren Sachverstand angeht. Als übergeordnete, zentrale Kategorien kommen zu diesem Zeitpunkt ‚Empörung’ und ‚unterstellte Fahrlässigkeit’ infrage. Neben den Informationen über die Inhalte der Diskussion fangen die bisher gebildeten Kategorien Stil, Ton und Stimmung schon recht gut ein. Um ein getreueres Bild zu erhalten, sollen in den weiteren Schritten andere Daten – Zitate aus Zeitungsartikeln im nächsten, Interviews im übernächsten Kapitel –
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herangezogen und untersucht werden, um die Ergebnisse dieser Analysen im Anschluss kontrastieren zu können.
III.2.3 Analyse der Zeitungs- und Zeitschriftenartikel Neben der Chronologie der Ereignisse, wie sie ausführlich im nächsten Kapitel (III.3.1) dargestellt wird, und in der allein der Ablauf der Geschehnisse aus dem Material gezogen wurde, habe ich auch eine inhaltliche Analyse vorgenommen. Dazu wurden die Aussagen der Artikel gesammelt und nach Themenblöcken sortiert zusammengefasst, um einen Eindruck des Klimas, der Stimmungen und der Meinungen, die zu der fraglichen Zeit in Herten über die Medien verbreitet wurden, gewinnen zu können. Wie im Kapitel II.4 dargelegt, stehen öffentliche Meinung, Medien und Bürgerinitiativen in einem steten Wechselspiel gegenseitiger Beeinflussung. Daher ist es für die Einschätzung der Gesamtsituation wie auch der Aktivitäten der BI notwendig, diesen ‚öffentlichen’ Hintergrund zu kennen. Das zugrunde gelegt Material ist, wie in Kapitel II.4.5. beschrieben, die Vollerhebung der Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zum Thema im interessierenden Zeitraum. Das hier gewonnene Bild zeigt die Darstellung der Beteiligten und des Publikums in der Öffentlichkeit – wie sie durch die Presse gezeichnet wurde; es gibt ebenfalls Aufschluss über die Pressearbeit der BI. Die Ergebnisse der aufwändigen Untersuchung sollen im Folgenden zusammengefasst dargestellt werden76. Die örtliche lokale Presse hat die Ereignisse deutlich parteiisch für die Bürgerinitiative und die Aktionen der Stadtspitze begleitet. Gesammelt und ausgewertet wurden hier die Hertener Allgemeine (HA), der Kurier zum Sonntag, der Stadtspiegel Herten, der Stadtspiegel Recklinghausen, verschiedene WAZ-Ausgaben, vor allem die regionale, und vereinzelte Ausgaben anderer regionaler Zeitungen77. Es gibt fast keine negativen Berichte über Aktionen der GegnerInnen des Baus einer forensischen Psychiatrie, einige extreme Aktivitäten ausgenommen. Es wurde auch in anderen lokalen, z.B. Aachener oder Münsteraner Zeitungen, und überregionalen Medien berichtet: Spiegel, Fokus, BildZeitung, Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, taz, Welt am Sonntag haben z.T. wiederholt Artikel zum Thema ins Blatt genommen. Die Darstellung ist, den sehr unterschiedlichen Medien entsprechen, uneinheitlich; es überwiegen aber neutrale Berichte, die die Problematik einer 76 Anders als im nächsten Kapitel kann hier auf eine detaillierte Darstellung verzichtet werden, da die Auswertung mit einfachen zusammenfassenden Verfahren gewonnen werden konnten. 77 Eine komplette Auflistung der ausgewerteten Medien findet sich in der Literaturliste.
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Standortwahl für eine forensische Psychiatrie oder Berichte über Opfer sexuell motivierter Straftaten in den Mittelpunkt stellen, und dabei die Hertener Proteste als Aufhänger nehmen. Die berichteten Auseinandersetzungen wurden zum Teil sehr hart geführt. Die ganz überwiegende Menge der ausgewerteten Artikel besteht aus den lokalen Blättern. Wenn nicht ausdrücklich anders erwähnt, stammen die aufgeführten Ergebnisse daher. Es wird immer wieder das Zusammengehörigkeitsgefühl betont und die Aktionen von Stadtspitze und Bürgerinitiative (im folgenden UBH – Unabhängige Bürgerinitiative Herten – abgekürzt) anerkennend beschrieben. Alle AktivistInnen kamen regelmäßig zu Wort und erhielten viel Raum, ihre Standpunkte darzulegen. Auch von sehr kleinen Aktionen, wie etwa dem Plätzchenbacken des örtlichen Krankenhauspersonals oder einer Mal-Aktion eines Kindergartens wird berichtet, häufig bebildert. Auch die Sprachregelung der Forensik-GegnerInnen wurde weitgehend übernommen, so etwa bei einem Bericht zu Anfang der Aktionen: „Der Widerstand gegen die geplante Forensik stützt sich jetzt auf drei Säulen: die Stadt trägt ihn politisch, das ElisabethHospital als betroffener Nachbar und die Bürgerinitiative mit vielfältigen Aktionen“ (WAZ Herten 28.9.96 „43 000 Unterschriften“). Von Beginn an werden Solidaritätsgefühle verstärkt und die Einzigartigkeit der Protestwelle mit ihrer Bedeutung für ein einiges Herten betont: „Gerade diese Attacke auf Gutsherrenart hat in Herten eine Streitkultur entstehen lassen, die noch vor wenigen Wochen niemand für möglich gehalten hätte“ (HA 3.10.96 Robert Klose „Kommentar“) oder „Waren Sie dabei?...Nein? Dann haben Sie dieses einmalige Gefühl verpasst, Teil einer großen, solidarischen Familie zu sein“ (HA 5.10.96 Gregor Spohr „Kommentar“). Es gab im Zuge üblicher politischer Profilierungsversuche immer wieder Angriffe auf politische Gegner, aber sehr viel weniger als zu erwarten. Die einzigen, die regelmäßig und hart angegriffen wurden, waren die Grünen. So gab es z.B. heftige Reaktionen von KollegInnen und Bürger/innen auf zwei Anfragen von Landtagsmitgliedern der Grünen; eine davon bezog sich darauf, ob das Recht auf Meinungsfreiheit gewährleistet war, da viele Hertener Schulklassen geschlossen und als Exkursion deklariert zu einer großen Demonstration nach Münster gefahren sind; gefragt wurde ebenfalls, wie die Nicht-Teilnahme von SchülerInnen behandelt wurde. In der zweiten, wohl nicht ganz ernst gemeinten Anfrage ging es darum, ob zukünftig bei allen Großdemonstrationen auf die Vergabe von ‚Knöllchen’ im Umfeld der Busabfahrtsplätze verzichtet werde – wie es während dieser Demonstration praktiziert worden ist. Die Reaktion der Stadtspitze war sehr heftig „Die Argumentation der Grünen nimmt inzwischen abstruse Züge an“, sagt Stadt-Pressesprecher Peter Brautmeier“ (HA 5.11.96
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„Stadt: Argument der Grünen abstrus“) – sicher übertrieben, aber ein Zeichen für die herrschende Stimmung. Den Grünen gelang es nicht, die Gründe für ihre Enthaltung bei der Abstimmung, Herten insgesamt als Standort abzulehnen, deutlich zu machen. Noch Tage später gingen dazu Rechtfertigungen von Mitgliedern durch die Presse. Obwohl sie dem Entschluss, den Schlosspark als Standort abzulehnen, zugestimmt hatten, blieben sie Ziel heftiger Attacken, so etwa in einem Leserbrief des Vorsitzenden der JU Herten, Borsu Alinaghi und des stv. Vorsitzenden der JU Westerholt, Jörg Becker (HA, Nr. 221, 19.9.96 „Lesermeinung“): „…scheint Hans Heinrich Holland [Sprecher der Ratsfraktion der Grünen, d.A.] bereits eine psychologische Gehirnwäsche hinter sich gehabt zu haben. Anders ist das unverständliche Verhalten des ansonsten gegen alles und jeden panikmachenden Grünen kaum zu verstehen“ und weiter: „daß sich die Grünen immer noch nicht zu einer zuverlässigen Partei zum Wohle Hertens entwickelt haben, sondern nach wie vor eine Zusammenkunft linker, desorientierter Querköpfe darstellt“. „Die große Mehrheit der Bürger Hertens will nicht über inhaltliche Argumente diskutieren, sondern lehnt die Unterbringung von Mördern, Vergewaltigern und Kinderschändern entschieden ab, solange diese Gruppe Freigang haben wird. Mörder bleibt Mörder.“ „Weil auf der Hertener Ratssitzung einige Grüne daran erinnert hätten, dass auch psychisch kranke Straftäter ein Recht auf menschenwürdige Therapie haben, seien sie sowohl während der Veranstaltung als auch nun schriftlich mit anonymen Morddrohungen unter Druck gesetzt worden“ (Stellungnahme der Grünen zitiert nach WAZ Herten 24.9.96 „Verband verteilt jetzt Flugblätter zur Forensik“). Ein Ratsherr der Grünen erhielt einen anonymen Brief, in dem unter anderem gedroht wurde: „Wenn Sexmörder nach Herten kommen, sind die Eier ab! Wir sind viele: Herten wehrt sich gegen Grüne“ Text eines anonymen Briefes an den Grünen-Ratsherren Hubert Wessing (taz 27.9.96 „Menschenverachtende Diskussion“). Und etwas gemäßigter: „…das dümmliche Geplänkel der Landtags-Grünen. Fragen über Fragen zu stellen, weil Schulen die Demo-Teilnahme in Münster als „Exkursion“ kaschierten – das ist kleinkariert“ (HA 9.11.96 Robert Klose „Kommentar zur Woche“). Angegriffen wurden auch die Mitglieder der beschlussfassenden Gremien des Landschaftsverbandes, so z.B. in einem offenen Brief von Bürgermeister Scholz und Stadtdirektor Bechtel (in der HA 12.10.96 „Hier sagen Leser ihre Meinung“): „Frau Schmidt-Zadel, im Propagandablatt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe „Menschen und Maßregelvollzug“ geben Sie ein Interview …Art und Weise ihrer nur als oberlehrhaft zu bezeichnenden Erklärung weisen 122
wir in aller Deutlichkeit zurück. Sie sind nach unserem Verständnis einer Abgeordneten des Deutschen Bundestages unwürdig …Und da Sie mit moralischen und lehrerhaften Empfehlungen so schnell bei der Hand sind, lassen Sie uns auch eine Empfehlung geben: …Wir brauchen in dieser Frage keinen Nachhilfeunterricht aus dem Rheinland und schon gar nicht von einer Bundestagsabgeordneten, die sich offenbar weder …informiert hat noch die Lage …einschätzen kann“. Die anderen heftigen Attacken beziehen sich auf LandespolitikerInnen, insbesondere den damaligen Gesundheitsminister, und Mitglieder des LWL. So bezeichnete z.B. Bürgermeister Scholz den damaligen Minister Horstmann öffentlich als einen „Minister, der offensichtlich überfordert ist, die Tragweite seines Handelns zu überschauen“ und droht etwas später in derselben Rede „Ich glaube an die Selbstreinigungskräfte in der Demokratie“ (HA 21.10.96 „LWL nicht mehr unser Gesprächspartner“). Für die CDU Hertens, so eine öffentliche Stellungnahme, werde an dem ganzen Verfahren deutlich, dass sich die Mitglieder der Landschaftsversammlung, abgesehen von den wenigen Ausnahmen, die in den Fraktionen protestiert haben, als inkompetent für dieses Amt erwiesen haben. „Die Fraktionen haben sich bereitwillig entmündigen lassen und das Gutachten der sogenannten Expertenkommission zu keinem Zeitpunkt hinterfragt“… Schließlich springe man auch nicht von einem Fernsehturm, nur weil eine Expertenkommission sagt, dies sei der kürzeste Weg nach unten …“Wer wie Horstmann, Scholle und Pittrich dieses Vorgehen für richtig und objektiv hält, sollte ernsthaft darüber nachdenken, ob er oder sie noch geeignet sind, ein öffentliches Amt zu bekleiden““(HA 14.10.96 „CDU meint: Horstmann hat nur „abgenickt““). Immer wieder ist der damalige Dezernent Ziel der Angriffe. So lässt der Bürgermeister Herr Scholz in einer Presseerklärung verlautbaren, Dr. Pittrich lasse „keine Gelegenheit aus, mit verzerrenden Behauptungen selbst die Emotionen der Hertener Bevölkerung zu schüren. Und wenn er dann in diese Stadt kommt, lässt er sich von Bodyguards begleiten um zu suggerieren: Hier bin ich nicht mehr sicher, in dieser Stadt könnte das Faustrecht angewendet werden“ (HA 16.10.96 „Scholz empört: Dr. Pittrich diffamiert Bürger“). „Wer bewahrt Herten, wer bewahrt unsere Kinder, Frauen und Männer vor Leuten wie Pittrich?“ Diese Frage stellte die Unabhängige Bürgerinitiative Herten (UBH) vor dem Hintergrund „skandalöser Äußerungen“, die LWLGesundheitsdezernent Dr. Wolfgang Pittrich in einem Interview vor Hertener Abiturienten gemacht haben soll“. Der Sprecher der BI sagt weiter: „Es ist ein Unding, daß Gesundheitsminister Horstmann ausgerechnet auf diesen Mann hört, sich auf ihn verlässt“ (HA 21.10.96 „Wer bewahrt uns vor Leuten wie Pittrich?“) – am 23.10. korrigierten die Lehrerin und der Lehrer, die das Ganze initiiert hatten dahingehend, dass die Zitate aus dem Zusammenhang gerissen 123
und damit falsch seien, zunächst in einer kleinen Meldung. Am nächsten Tag wird durch Abdruck des gesamten Briefes in der Hertener Allgemeinen darauf hingewiesen, dass sie die Diskussion versachlichen wollten. Tatsächlich gab es obigen Protestschrei, der nach Auffassung der Lehrer völlig unberechtigt war …“Skandalös“, wie von der UBH behauptet, seien nicht die Pittrich-Äußerungen, sondern der beschriebene Sachverhalt und die verkürzte Wiedergabe durch UBH-Sprecher Dr. Thomas Thurner“ (HA 23.10. „Lehrer: Falsch zitiert!“ und 24.10.96 „Lesermeinung“, auf die in einem kleinen Artikel „UBH: Aussage bleibt skandalös“ hingewiesen wird). Obwohl zur Verfügung gestellt, wurde das Video mit der Aufzeichnung der Diskussion auf Informationsveranstaltungen nicht gezeigt (WAZ Herten 23.10.96 „Fast 1000 Bürger in Initiative“). Die anderen Zeitungen erwähnen diese Richtigstellung nicht. Als „Zynismus-Highlight“ wurde eine in der Hertener Allgemeinen zitierte Äußerung von LWL-Direktor Scholle bezeichnet: „Das Leben in Herten wird im Ergebnis sicherer. So ist das also“ (HA 12.10.96 Gregor Spohr „Kommentar“). Die zugrunde liegende Aussage Scholles wird in der WAZ Herten aber so zitiert: „ Das Leben in Herten wird mit der neuen Klinik, der modernsten ihrer Art in Deutschland, im Ergebnis nicht unsicherer, sondern sicherer“ (12.10.96 „Enttäuschung und Unverständnis“). Es tauchen von einer Ausnahme abgesehen, bei der sich ein Leserbriefschreiber dafür entschuldigt, Kasperek zu Unrecht unterstellt zu haben, bereits vorher gewusst zu haben, dass Herten als Standort im Gespräch sei, keine Entschuldigungen in der Presse auf. Auch die Gegenseite erschien mit unsachlichen und diffamierenden Äußerungen in der Presse: „Bürgermeister Scholz verhält sich faschistoid“ (Prof. Dr. Ulrich Oskamp lt. Hertener Allgemeine, 28.9.96 „Bürgermeister im Landeshaus beleidigt: Strafanzeige“) oder „Ich schäme mich für Sie als Christ und Arzt“ (Gesundheitsdezernent Wolfgang Pittrich zu Pfarrer Schultes, der u.a. Vorsitzender der Stiftung St.Elisabeth-Hospital ist). Gleichzeitig wurden bestehende Ängste geschürt, wie die folgenden Überschriften vom Wochenende nach dem Bekannt werden des Beschlusses illustrieren: „Sex-Straftäter nach Herten“ (Kurier zum Sonntag, 14.9.96), „Herten entsetzt über Klinik-Pläne: Forensik, nein danke!“ (Hertener Allgemeine 14.9.96), „Die Straftäter-Klinik: Ganz Herten ist in Aufruhr“ (WAZ Herten 14.9.96) und „Wird Herten das neue Eickelborn?“ (Bild-Zeitung 14.9.96). Der Vergleich mit Eickelborn und der dabei mitschwingenden Sorgen, da kurz zuvor dort ein Mädchen von einem Freigänger ermordet worden war, wurde ein Dauerbrenner in der Presse, Herten von einigen Boulevardblättern regelrecht umbenannt: „40 000 gegen Eickelborn II“( Westfalen-Blatt/Bielefelder Zeitung 26.9.96), „Eickelborn II: Freifläche soll Klinikbau verhindern“ (Bild-Zeitung 124
27.9.96), „Eickelborn II – In Herten brennen jetzt Mahnfeuer“ (Bild-Zeitung 10.10.96), „Mahnwachen, Proteste – alles umsonst? Eickelborn II: Erste Runde ist verloren!“ (Kurier zum Sonntag 12.10.96). Auch später noch titelt der Fokus „große Angst vor Sexmorden von Freigängern“ (Fokus 28.10.96). Die Aktivitäten wurden wie oben als „Widerstand“ oder „Notwehr-Aktionen“ (Stadtdirektor Bechtel lt. HA Nr.223, 21.9.96 „Forensik: Herten kämpft um sein Recht“) bezeichnet, wodurch ebenfalls sowohl die Motivation als auch die Besorgnis geschürt, die Bedeutung der Aktionen hervorgehoben wurde. Es gibt auch Angriffe gegen die Insassen forensischer Psychiatrien und das Konzept. „Das bedrohliche an dieser Standortentscheidung ist nicht das Gebäude, sondern der Maßregelvollzug“ Lothar Hegemann, CDU-Kreisvorsitzender. „Doch grundsätzlich sage ich: Eine derartige Einrichtung, die immer letzte Risiken birgt, gehört nicht in ein dichtbesiedeltes Gebiet. Nicht nach Herten, nicht in den Kreis Recklinghausen und nicht ins Ruhrgebiet. Herten wäre die erste Forensik in einem Ballungsraum. Dieses Experiment ist uns zu riskant“, findet der SPD Unterbezirksratsvorsitzende Bernhard Kasperek (HA 28.9.96 „Erste Forensik im Ballungsraum: Das Experiment ist uns zu riskant“). Ein weiteres drastisches Beispiel ist der folgende Artikel: „Vielmehr müssen sich politische Verantwortungsträger…fragen lassen, ob es denn wahr sein darf, dass hochgradig gemeingefährliche Gewaltverbrecher, Vergewaltiger, Kinderschänder oder gar Mörder ü b e r haupt jemals wieder frei kommen können …Hier wird abermals ‚Hampelmann’ gespielt mit dem Grundanliegen ungezählter Menschen, die nicht wissen, woran sie sind, weil ihr berechtigtes Schutzinteresse augenscheinlich hinter exzessiv liberaler Ideologie und parteipolitischer Engstirnigkeit zurücktreten muß …Triebtäter gehören in Sicherungsverwahrung. Auch die „chemische Kastration“ muß ernsthaft erwogen werden. Unerträglich ist das Abwehr-Gefasel von Politikern und Sozialpsychologen …und erst recht der beliebte Hinweis daß Verbrecher im Allgemeinen eigentlich wenig oder gar nichts „dafür können“, weil sie angeblich beklagenswerte Opfer ihres maroden „gesellschaftlichen Umfeldes“ seien. Dieser vorsätzliche Unfug ist die Wurzel fortschreitender Wirrnis in vielen Köpfen“ (Rolf Dressler „Wirrnis in zu vielen Köpfen“, Westfalen-Blatt 5.10.96). Hier gibt es auch andere Stimmen, überwiegend aus dem überregionalen Bereich. So schrieb etwa die Süddeutsche zu der Versammlung in der Gesamtschule, die offenbar äußerst emotional aufgeheizt verlaufen ist78: „Die Spitzen der Stadt hielten es nicht für nötig, zur Mäßigung aufzurufen. Sie schienen heilfroh zu sein, dass der geballte Zorn sich nicht gegen sie, sondern gegen die 78 Siehe dazu auch die Rekonstruktion der Ereignisse, Kap. III.3.1 und die Aussagen der Interviewten in Fall 1 und 2 zur Versammlung in der Gesamtschule.
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Verantwortlichen in Münster und Düsseldorf richtete“ (Süddeutsche Zeitung 23.9.96 „Angsthaben und Angstmachen nach Dutroux“). Ein sich selbst als Gegner des Baus bezeichnender Leser schrieb nach der Veranstaltung in der Gesamtschule in der Hertener Allgemeinen: „Mit Verlaub habe ich aber auch nach dieser Veranstaltung große Angst vor dem Gewaltpotential, mit dem dieses Projekt gestoppt werden soll. Bürgerinnen und Bürger, die es sich während der Sitzung erlaubt haben, ihre Gedanken differenziert zu äußern, würden beschimpft und sogar bedroht. Sie konnten kaum ohne Angst nach Hause gehen“ (HA 20.9.96 „Lesermeinung“)79. Ein polemischer und deswegen häufig kritisierter Artikel in der Zeitschrift Marabo beschreibt die aufgebrachte Stimmung drastisch: „Eine Krankenschwester aus der Psychiatrie musste das erfahren, als sie in einer Bäckerei die Unterschrift verweigerte. Daraufhin drohten ihr aufgebrachte Kunden unvermittelt Prügel an. Andere hingegen phantasieren schon lebhaft, dass sie demnächst vom 7.Stock des Elisabeth-Krankenhauses einen herrlichen Blick in die Straftäter-Klinik hätten und mit dem Gewehr Jagt auf Insassen machen könnten. Als Reaktion auf einen Leserbrief in der „Hertener Allgemeinen“, in dem Eva Vogt daran erinnerte, dass psychisch kranke Straftäter auch Menschen seien, wünschte ein Drohbriefschreiber der jungen Sozialarbeiterin: „Hoffentlich werden Sie die erste sein, die einem armen Mörder in die Hände fällt. Solche Menschen sind Ungeziefer und müssten zertreten werden“ (Marabo Nr.11, November 96). Deutlich wird die Stimmung auch in den LeserInnenbriefen80. In diesen Rubriken fanden sehr engagierte und emotionalisierte Diskussionen statt. Weit überwiegend waren die Stimmen der GegnerInnen, dabei mit klarem Übergewicht sehr ablehnende Haltungen, einige vorsichtig ablehnende und sehr wenige abwägende. Nur zu Beginn gab es einzelne befürwortende Stimmen. Es gab regelmäßig auch sehr extreme Äußerungen, von denen hier einige aufgeführt werden sollen. An dieser Stelle sei auf die Nachrichtenwert-Theorie verwiesen: Sicher hatten nicht alle LeserInnen-Briefe die gleiche Chance, abgedruckt zu werden, extreme vermutlich eher als gemäßigte. Dennoch ergibt sich ein Stimmungsbild, wie ja auch die Artikel und abgedruckten Briefe zum Klima, das seinerzeit herrschte, beigetragen haben. Sehr wenige Leser/innen sprechen sich für Mäßigung aus oder kritisieren die Äußerungen der Forensik-Gegner. In aller Regel sind die SchreiberInnen 79 Vgl. dazu auch die Analyse des ersten Interviews, in der Person B von diesem Ereignis erzählt. 80 Hierbei ist einschränkend festzuhalten, dass LeserInnebriefe nicht repräsentativ sind. Die Auswahl wird dadurch verzerrt, dass bestimmt Personen und Gruppen über- bzw. unterrepräsentiert sind, weil sie häufiger oder seltener Leserbriefe schreiben. Auffällig war allerdings, dass viele SchreiberInnen angaben, zuvor noch nie LeserInnenbriefe geschrieben zu haben. Die zweite, nicht gering zu schätzende Verzerrung tritt durch die Zeitungen selbst ein, die nach bestimmten Kriterien entscheiden, welche Briefe veröffentlicht werden.
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Gegner/innen der geplanten Forensik, was in der Regel direkt zu Anfang der Leser/innenbriefe betont wird. Die meisten nennen ihre Namen, wenige bleiben anonym. Vor allem in der ersten Zeit gibt es mahnende oder warnende Leser/innenbriefe zum herrschenden Klima: „Mit Entsetzen, Befremdung und Beschämung verfolge ich in den letzten Tagen die völlig emotionale, teilweise hysterische Diskussion…Was dort an unsachlichen Ängsten, politischem Kirchturmdenken und faschistoiden Tendenzen der Kommunalpolitiker ALLER Parteien und der Bevölkerung zum Besten gegeben wird macht mich wütend“ (Leserbrief eines Krankenpflegers in der Psychiatrie, HA 19.9.96, „Lesermeinung“) Auch hier fanden heftige Attacken statt, von denen einige der typischen und der exaltierten Äußerungen vorgestellt werden sollen. Angriffe richteten sich sowohl gegen die zu erwartenden Patienten und das Konzept der forensischen Psychiatrie als auch gegen konkrete Personen. „Ich glaube, jede einzelne dieser Personen haben allemal mehr Rechte als die Täter! Täter, die nie wieder auf die Menschheit losgelassen werden sollten, nur weil Psychologen sie als geheilt entlassen“ (Leserinnenbrief HA 24.9.96 „Lesermeinung“), oder „In der geplanten Forensik sollen 90 Schwerstverbrecher (alle anderen Bezeichnungen sind Untertreibungen) untergebracht werden. Kostenpunkt: 40 Millionen zuzüglich jährlicher Folgekosten ebenfalls in Millionenhöhe. Frage: Wieviel Geld haben eigentlich die Opfer dieser Verbrecher vom Staat erhalten? Betreibt der Staat Täter- vor Opferschutz? ...Wodurch unterscheiden sich im Ergebnis, nämlich der Folge-Straftat, Verbrecher von denen, die dies ermöglichen? (WAZ Herten 26.9.96 „Leserbriefe zur Forensik“). „Solche Anstalten gehören in ein schwach besiedeltes Gebiete, beispielsweise ins Moor“ (aus einer Befragung der HA vom 14.9.96). „Der durchschnittliche Aufenthalt im Maßregelvollzug wird ca. 3 Jahre betragen x 100 Maßregelstraftäter. Dies bedeutet in einem Zeitraum von 10 Jahren einen Durchgang von rund 300 Straftätern, davon werden 20 Prozent rückfällig = 60 neue Gewalttaten bis hin zu neuen Morden …In Herten planen Sie jetzt eine 5-Sterne-Hoteleinrichtung für Straftäter, …Sehr schnell wird diese Luxusherberge aber einen Stamm von 200 Tätern beherbergen“ meinte der Vorsitzende des Freundeskreises der Gesamtschule in einem Brief an Dr. Pittrich, der in der HA in Auszügen veröffentlicht wurde (HA 11.11.96 „Diskussion mit Ihnen ist nur vertane Zeit“). „Uns Bürgern ist die eigene Existenz und die Angst um unsere Kinder wichtiger als die Utopie, psychisch kranke Straftäter könnten in die Gesellschaft gefahrlos wieder reinintegriert werden“…„Die Mehrheit der Bürger will die 127
Cassandrarufe der Ökopaxe in Herten nicht hören, die ja so viel Verständnis für psychisch kranke Straftäter haben und einen Standort in Herten nicht ausschließen“ (HA 30.9.96 „Lesermeinung“). „Ohne Hysterie schüren zu wollen, muß dem Bürger deutlich gemacht werden, dass die Polizei in dieser Angelegenheit keinen Schutz übernehmen kann“ Leserbrief eines Kriminalhauptkommissars und stellvertretenden Vorsitzenden der Kreisgruppe Gelsenkirchen der Polizeigewerkschaft (Hertener Allgemeine, Nr.221, 19.9.96). Ein Mitglied des Vorstandes der Bürgerinitiative äußert die Befürchtung, dass Kranke und Behinderte in Zukunft diffamiert werden könnten – und tut es gleich selbst: „Niemand wird mehr trennen können, wer ein Kranker ist und wer ein Krimineller auf Ausgang“. Da in dem Neubau nur psychisch Kranke untergebracht werden sollen ist das eine Verunglimpfung, die umso unverständlicher ist, da es sich um einen Mediziner handelt. Eine weitere Diffamierung der Insassen der bestehenden psychiatrischen Einrichtung kam von einem Sprecher der UBH: „Der LWL habe dafür gesorgt, „daß sich bereits jetzt psychisch kranke Straftäter im ZfP (Zentrum für Psychiatrie, Anm.d.Red.) in Herten in Behandlung befinden“ (HA 10.10.96 „UBH: Herten Versuchsgebiet“). „Alles das, was anderen Städten „stinkt“, wird in Herten abgestellt. „Die Psychiatrie wollte keiner haben – wir haben sie! Die Müllverbrennungsanlage wollte keiner haben – wir haben sie! Und nicht nur das, sie wird auch noch erweitert. Aller Müll zu uns!“ (Leserbrief in HA, Nr. 217, 14.9.96). Gegen konkrete Personen und das Entscheidungsgremium des LWL richten sich z.B. die folgenden Äußerungen: „Auswärtige Stellungnahmen in dieser Form seien „ein Dolchstoß in den Rücken der SPD Herten“ sagte der Vorsitzende des SPD-Ortsvereins HertenMitte/Süd auf kritische Äußerungen der Bundestagsabgeordneten und Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses beim Landschaftsverband Rheinland (HA 9.10.96 „Bürgerinitiative will heute still protestieren“). „In Münster beim LWL regieren Feudalherren. Wer nicht kuscht, wird diffamiert …Die diktatorisch agierende Beamtenbürokratie in Münster hat die erste Runde gewonnen. Manipulation und Unwahrheiten von Scholle & Pittrich haben zum Erfolg geführt“ aus einer Stellungnahme der UBH (HA 12.10.96 „Feudalherren“, ebenfalls so zitiert in WAZ Herten 12.10.96 „Und zum Frühstück die Forensik“). „Der Landschaftsverband ist kein leichter Gegner. Er hat sich in der Vergangenheit an anderen Orten nicht gescheut, zu äußerst unfeinen Mitteln zu greifen“ sagte einer aus dem BI-Vorstand auf der ersten Sitzung (HA 3.10.96 „Landschaftsverband kein leichter Gegner“).
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Die Entscheidung für Herten wird als „Terrorüberfall des LWL“ (HA 7.10.96 „Lesermeinung“) bezeichnet. Gegen diese und viele ähnliche Verlautbarungen gibt es aber auch warnende und besorgte Gegenstimmen. Allerdings habe ich Insgesamt nur 8 Leser/innenBriefe in den von mir untersuchten Zeitungen gefunden, die sich gegen die herrschende Stimmung gewandt haben, zum Teil zur Mäßigung aufriefen, zum Teil selbst Stimmung machten gegen „faschistoide(n) Tendenzen“, was an mangelnder Differenzierung oder an selektivem Abdruck gelegen haben kann. Wie erwähnt, berichteten diese Zeitungen von Anfang an eher positiv über die Aktionen, allerdings z.T. auch sensationslüstern. Auch dagegen gab es Einwände: „Aber um eine sachliche Diskussion zu führen muß man erst einmal aufhören, über die Printmedien Stammtischparolen in die Bevölkerung zu tragen“ (Leserbrief, WAZ Herten, 18.9.96). „Wenn ich jedoch erlebe, wie man hier zu recht die mangelnden demokratischen Verfahrensweisen beschreit und dort andere Meinungen innerhalb der doch so geforderten Demokratie niedermacht, dann bin ich darüber tief erschrocken“ (Lesermeinung, Hertener Allgemeine 20.9.96) und „Das ängstliche, ja panische Verhalten vieler Hertener Bürger erschreckt uns zutiefst…Wir denken, dass zuviel auf der Gefühlsebene verhandelt und ungenügend sachlich diskutiert wird“ (Schüler/innen, Hertener Allgemeine 27.9.96 Leserecho). „Dieses verordnete „Wir-Gefühl“ grenzt manchmal hart an Körperverletzung. Endlich gibt es eine gemeinsame Aufgabe, die uns von den Problemen der Stadt mit hoher Arbeitslosenquote und knapper werdenden Ressourcen ablenkt. Der undifferenzierte Schulterschluß, diese „Kopf-ab-Mentalität“ erschüttert mich“ (WAZ Herten 27.9.96 Leserecho) „Eine Stimmung, die zum Beispiel darin ausufert, daß PolitikerInnen, die durchaus auch Eltern sind und nichtsdestotrotz oder gerade trotzdem sich um vernünftige Perspektiven bemühen wollten, beschimpft, tätlich angegriffen (in einer Ratssitzung mit Dosenwurf) und anonym terrorisiert wurden (Briefe mit Androhungen von „Eier abreißen“ oder Vergewaltigung, wenn man sie „in einer dunklen Ecke anträfe“ (taz 25.10.96 Leserinnenbrief). „Deshalb sind diejenigen Diskussionsansätze im Widerstand gegen die Klinikpläne sehr bedenklich, welche die Therapierbarkeit von Patienten der Maßregelkliniken infrage stellen …daß im letzten Wahlkampf Flugblätter der Deutschen Liste verteilt worden sind, die zum Beispiel die „Todesstrafe für Kinderschänder“ forderten“, heißt es in einem Brief des Aktionsbündnisses gegen Neofaschismus (WAZ Herten 28.11.96 „Das Thema. Forensik“). Es findet sich auch die Erwiderung auf einen Leserinnenbrief einer SPDRatsfrau aus Herten, die schrieb: „Aus meiner Sicht hat dieser Personenkreis seine Rechte verwirkt“ folgte ein Leserbrief, in dem sich jemand darüber 129
empörte und unter anderem schrieb: „meines Erachtens hat …ihr Recht, sich als Sozialdemokratin zu bezeichnen, verwirkt“ (Hertener Allgemeine „Lesermeinung“ 23.9.96). Die Sachhaltigkeit des Beschlusses für Herten und die Kompetenz der damit befassten Personen wurden ebenfalls massiv angezweifelt. Auch hierzu einige Beispiele: Die neuerliche Beschlussfassung im Landschaftsverband sei die „inkompetente Meinungsäußerung einer inkompetenten Behörde““, sagte der Vorstandssprecher der UBH (in der WAZ Herten 8.2.97 „Protestwelle rollt nach erneutem LWL-Votum weiter“) und „Der LWL hat „mit Hilfe von Desinformation und manipulierten Standortvorschlägen Herten als Standort passend gemacht“ meint die Bürgerinitiative“ (HA 8.2.97 „LWL bekräftigt: Die Klinik soll nach Herten“). In einer Pressemitteilung der UBH vom 6.3.97 heißt es: „Unter Missachtung demokratischer Grundsätze wird hier eine Stadt und deren Bürger mit üblen Tricks hintergangen und betrogen“. „Es ist schon erstaunlich, wie sich Mitglieder der Landschaftsversammlung vom LWL sowie Gesundheitsminister Horstmann an der Nase herumführen lassen“, meinten zwei CDU-Abgeordnete (WAZ Herten 10.2.97 „Neue Proteste sind schon programmiert“). Harsche Vorwürfe gab es auch gegen den vom Land bestellten Gutachter Dr. Röwer, der sich in seinem Gutachten für den Standort Herten ausgesprochen hat. „Das Röwer-Gutachten ist das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist“, es sei abgekupfert und „enthalte noch mehr Fehler als die Beschlussvorlagen des LWL“ – so ein Vorstandssprecher der UBH (lt. WAZ Herten 22.2.97 „Scharfe Kritik am Forensik-Gutachten“). „Aus Unkenntnis der örtlichen Gegebenheiten heraus und unter Ignoranz der sozial-, struktur- und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkte werde dem Landschaftsverband in „höchst zwielichtiger Weise“ eine sachgerechte und nachvollziehbare Entscheidung bescheinigt, so die UBH“ (WAZ Herten 22.2.97 „Gutachten ist das Papier nicht wert“). „Bürgermeister Karl-Ernst Scholz erhebt einen der schwersten Vorwürfe, die man einem Experten machen kann: Man könne sich des Eindrucks nicht erwehren, daß ein Gefälligkeits-Gutachten vorläge“ (HA 22.2.97 „Röwer-Kritik: Gefälligkeits-Gutachten“). „Um so mehr macht uns betroffen, daß ausgerechnet der ehemalige Staatssekretär des NRW-Justizministeriums hier eine Anleitung zur Umgehung des Rechts verfaßt hat. Das ist womöglich ein Fall für den Staatsanwalt“ (WAZ Herten 25.2.97 „Gutachter liefert Tricks gegen Gesetz“).
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Minister Horstmann wird zum Rücktritt aufgefordert, weil er „ein unsauberes und undemokratisches Spiel getrieben habe“. Ministerpräsident Rau „habe in diesem Verfahren – wie sein Schreiben an den Bürgermeister beweise – offenbar nie den Durchblick gehabt“, meint der damalige CDU-Fraktionschef Reinhard Hahn (lt. HA 15.3.97 „Minister Horstmann zum Rücktritt aufgefordert“). Abschließend lässt sich festhalten, dass die in den Interviews oft angeführte Unfairness der Presse und eine gegen Herten gerichtete Berichterstattung nicht zu finden ist. Ausgesprochen wohlwollend bis parteiisch berichteten HA und WAZ Herten, insbesondere in den unterschiedlichen Meinungsrubriken. Dazu gab es an einer Stelle Kritik: „die Berichterstattung in der hiesigen Medienlandschaft. Von einer journalistischen, neutralen Sichtweise…keine Spur, im Gegenteil, einige Teile der Presse in Herten tragen dazu bei, die Diskussion um den Forensik-Neubau in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken. Vor einer Woche war eine größere Abordnung der Hertener Grünen in Düren…um sich dort über die Forensik zu informieren. Es gelang uns nicht, einen Redakteur der Hertener Regionalzeitungen zu bekommen, der sich unserer Gruppe anschließt“ Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen im Kreistag (HA 14.10.96 „Hier sagen Leser ihre Meinung“). Die Stadtspitze war entsprechend zufrieden, Stadtdirektor Bechtel selbst sagt, das „Presseecho sei insgesamt positiver als angenommen. Dies sei das Ergebnis von Auswertungen, die städtische Mitarbeiter durchgeführt hätten“ (HA 21.10.96 „Gegenwehr in Kirchen nach Leipziger Vorbild“). Auch die UBH betonte wiederholt die gute Zusammenarbeit mit der Presse. Positiv berichteten alle Zeitungen der Region, überwiegend verständnisvoll/neutral bis vorsichtig kritisch die taz, die Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine und Rundschau, Focus und Spiegel. Ein Beispiel dazu aus der Frankfurter Allgemeine: „Ob es nun zutrifft, wie einige Kommunalpolitiker glauben, daß es gelungen sei, den Protest dadurch „zu kanalisieren“, oder ob die Stadtspitze ihre Pflichten vernachlässigt hat, die Erregung ein wenig zu dämpfen, läßt sich schwer sagen. In Herten ist jedenfalls ein gefährliches Gemisch aus verständlichen Befürchtungen und hysterischen Ängsten, aus sachlichen Einwänden und vordergründigen Ausflüchten entstanden…Manche Eltern scheinen nicht mehr wahrzunehmen, was sie ihren Kindern zumuten, wenn sie an Kindergärten großflächige Transparente aufhängen mit Sprüchen wie „Die Straftäter haben Ausgang – Wir dann nicht mehr““ (11.10.96 „Ein gefährliches Gemisch aus hysterischen Ängsten und sachlichen Einwänden“). Kritische Äußerungen habe ich in der Westfalenpost (vom 15.4.97 „Eickelborn will Aufnahmestopp“) gefunden, im Kommentar von Wilfried Goebels „Der Notstand“, in dem es um den beantragten Aufnahmestopp in Eickelborn wegen Überfüllung geht. „Der Erfindungsreichtum aber, mit dem 131
Herten das Projekt boykottiert, ist erschreckend. Nach Sicherheitsbedenken, Klagen über die Nähe zu Wohngebieten, Kliniken und Kindertagesstätten hat die Kommune die Ökologie entdeckt. Die geplante Klinik liegt in einem Naturschutzgebiet. Man muß daran erinnern: In Herten geht es nicht um den Bau eines Großflughafens, sondern um die Errichtung einer Klinik mit 70 Betten. Hoffentlich erinnert sich das Land bei künftigen Fördermitteln daran, wie „hilfreich“ sich Herten in der Forensik gezeigt hat“. Ebenfalls sehr kritisch äußerte sich Theo Schumacher in der NRZ (Neue Ruhr-Zeitung) in seinem Kommentar „Hertener Drehbuch“ vom 14.5.1997: „In Herten, wo sie monatelang den Widerstand geschürt haben gegen die Klinik für psychisch kranke Straftäter werden sie feiern. St. Florian hat gesiegt: die Forensik kommt nicht. Wer in Zukunft irgendwo ein ungeliebtes Projekt verhindern will, über dessen Bedarf und Nutzen kein Zweifel besteht, kann sich das Drehbuch in Herten abholen“. Bisweilen polemisch parteinehmend gegen die Forensik-Gegner berichtete allein die Zeitschrift Marabo, Nr.11, November 96 „Herten – eine Stadt läuft Amok“. Dort finden sich die folgenden Passagen: “Doch solche rationalen Argument verhallen in Herten ungehört, Alternativ-Vorschläge, die über Stammtischparolen und das entschiedene „Überall, aber nicht hier!“ nach dem St.Florians-Prinzip hinausgehen, wurden nicht vorgebracht. Die hemmungslose Hysterie in Herten verhindert zudem, dass die wirklich wichtigen Fragen in diesem Zusammenhang gestellt, geschweige denn beantwortet werden: Wie soll eine Gesellschaft mit den Straftätern …umgehen?“ In diesem Artikel werden allerdings zumindest die Drohungen zitiert (s. weiter oben), von denen sonst nur in Leser/innen-Briefen gelegentlich die Rede ist – die Hertener Zeitungen berichten gar nicht davon. Nach der Auswertung der Interviews im folgenden Kapitel werden die Ergebnisse der bislang vorgelegten beiden Analyseblöcke im Kapitel III.4 zusammen gefügt, um ein umfassendes Gesamtbild zu erhalten.
III.3 Analyse der künstlich erzeugten Daten: Interviews Das erste Unterkapitel befasst sich, obiger Überschrift zum Trotz, mit der Chronologie der Protestgeschichte, die weder aus künstlichen Daten noch aus Interviews gewonnen wurde, sondern wie im Kapitel II.5.3 beschrieben aus Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln. Der Logik der Analysemethode folgend gehört sie dennoch hierher, da sie als erster Schritt der Narrationsanalyse die
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Hintergrundfolien für die Analyse der Interviews bildet81, die ab dem Kapitel III.3.2 anschließen. Die Art der Darstellung der beiden ersten Fälle ist ungewöhnlich, da sie sehr detailliert den Weg vom Transkript zum Analyseergebnis abbildet. Diese Form habe ich deshalb gewählt, weil, wie weiter oben ausgeführt, diese Arbeit auch zeigen soll, dass die Narrationsanalyse ebenso gewinnbringend im hier vorliegenden Feld einzusetzen ist, wie in ihrem originären, der Biografieforschung. Dazu ist es geraten, die Analyseschritte so transparent wie möglich zu halten um im Detail zeigen zu können, was diese Methode an welcher Stelle an Erkenntnisgewinn bringt. Ich habe mich entschieden, das bei zwei von vier Fällen durchzuspielen, die Besonderheiten aufweisen: im einen Fall sprechen zwei Personen, der andere beruht auf einem Interview mit besonders langen Erzählpassagen, das fast ohne Äußerungen von mir als Interviewerin ausgekommen ist. Eine ebenso ausführliche Darstellung der beiden anderen Fälle hätte keine zusätzlichen Informationen über die Einsetzbarkeit der Methode gebracht. Bei der Darstellung werden die einzelnen Schritte nicht exakt wie im Ablauf der Analyse abgebildet, da das zu häufigen Wiederholungen und einem schwer lesbaren Text führen würde. Insbesondere die methodisch nacheinander verlaufenden Schritte der Sequenzanalyse und der Feinanalyse werden zusammen dargestellt. Damit bleibt die Chronologie des Interviews dennoch erhalten. Die erst im Verlauf der Analyse gebildeten Hypothesen sind ihr in der Darstellung vorangestellt, ebenfalls um Anschaulichkeit und Verständlichkeit zu erhöhen. Gebildet wurden sie im Verlauf der Sequenzanalyse, dem zweiten Schritt der Narrationsanalyse, überprüft im dritten und vierten. An dieser Stelle ist ein Warnhinweis angebracht: Die beiden folgenden Darstellungen sind für methodisch Interessierte und/oder versierte Leser/innen hermeneutischer Analysen gedacht. Der Lesbarkeit und der methodisch weniger interessierten Leser/innen wegen folgen dann die deutlich weniger detailliert aufgezeichneten Fälle. Struktur und Prinzipien der Vorgehensweise werden auch dabei deutlich, ohne dass man sich durch eine, für Ungeübte sicher zu reiche Materialfülle kämpfen muss. Ist das Grundprinzip klar, können die ersten beiden Fälle auch mit dem Lesen der jeweils letzten beiden Kapitel („Rekonstruktion der Fallgeschichte und Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Geschichte“ und „Typenbildung“) verstanden werden. Da jeder Fall für sich geschlossen analysiert wird, ist die Reihenfolge, in der man sie liest, für das Verständnis nicht zwingend, jedoch sollte mit der „Rekonstruktion der Ereignisse“ begonnen werden, da sie, wie eingangs erläutert, die Grundlage für alle Fälle liefert. 81 Zur Vorgehensweise der Narrationsanalyse s. Kap.II.5.
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III.3.1. Rekonstruktion der Ereignisse („biografische Daten“) Wie im Kapitel II.5.7 erläutert, geht es in diesem Schritt darum, den Ablauf aller für die Bürgerinitiative wichtigen Geschehnisse zu sammeln und auf ihre Bedeutung für die BI hin zu untersuchen. Dieser Schritt findet einmal zu Beginn statt. Die Ergebnisse dienen dann allen Fällen als Folie. Die Ereignisse wurden im Zuge einer Dokumentenanalyse gewonnen. Es ist notwendig, anderes als das Interviewmaterial zu Hilfe zu nehmen, da die einzelnen Personen nicht über alles, was die Bürgerinitiative betrifft, informiert sein können. Gegenstandsangemessen ist daher allein die Gewinnung der nötigen Daten aus anderem Material, hier Zeitungs- und Zeitschriftenartikel. Zunächst wird die Chronologie der Ereignisse dargestellt, wobei wegen der Datenmenge, in der sie sonst untergehen würde, die Geschichte der Bürgerinitiative in tabellarischer Form gesondert angehängt ist. Das ist die Grundlage für eine Hypothesenbildung über die Bedeutung einzelner Ereignisse für die beteiligten Personen. Die erhobenen Daten und daraus gebildeten Hypothesen sollen als „Kontrastfolien“ der Sequenzanalysen der nächsten Kapitel dienen. Die Ergebnisse der Analyse der Ereignisse ergeben folgendes Bild: Die Geschichte der Bürgerinitiative zeigt, dass sie stark auf Ereignisse von außen reagiert, weniger agiert hat. So wurde sie nach eigenen Aussagen gegründet, „um den Widerstand der Stadt zu unterstützen“ (WAZ Herten 2.10.96 „Bürger wehren sich – aber friedlich“). Die weiteren Aktionen wurden stark von Äußerungen des Landschaftsverbandes oder Ereignissen, die sich auf die Thematik Forensik beziehen, wie der Ermordung eines Mädchens in Bayern, beeinflusst. Auch fanden Unterstützungsaktionen für lokale Politiker/innen, etwa bei Anhörungen, statt. Diese enge Zusammenarbeit ist das zweite typische Charakteristikum dieser Bürgerinitiative: „und darum waren da immer eigentlich von 3 Säulen des Widerstandes in Herten die Rede(!) von der Bürgerinitiative von der Stadt der also der Politik und(!) äh vom Krankenhaus“ (Fall 2, Zeile 196-198). In den Interviews werden die Aktionen dennoch ganz überwiegend der Bürgerinitiative zugerechnet, so etwa das mehrfach hervorgehobene Baugerüst gegenüber des anvisierten Baugeländes in Höhe der geplanten Mauer mit Protestplakaten, das tatsächlich von der Stadt errichtet wurde (HA 19.9.96 „Krach: Pfarrer sauer nach Pittrich-Angriff“ und WAZ Herten 19.09.96 „Feuerwehr ruft zur Demo gegen die neue Klinik“). Auch die vielzitierte Versammlung in der Gesamtschule ist eine öffentliche Ratssitzung gewesen, die Demonstration in Münster wurde von der Stadt organisiert. Die Unterschriftensammlung hat ebenfalls die Stadt begonnen und, neben vielen anderen, die BI später weitergeführt. Originäre Aktionen der BI sind also vor allem das Stadtfest – das in den Interviews keine Erwähnung findet –, Mahnwachen, Erstellung von Flugblättern, 134
Sammeln von Spenden – wobei die ersten Aufrufe und die Einrichtung eines Spendenkontos ebenfalls von der Stadt organisiert wurden –, die große Menschenkette vom 3.10. und vielfältige Unterstützungsleistungen für die Politiker/innen. Auch in den analysierten Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln wurde oftmals nicht zwischen Stadt und Bürgerinitiative unterschieden, insbesondere bei Zusammenfassungen nicht, was es manchmal schwierig machte, die Urheberschaften herauszufinden (so etwa in der WAZ Herten vom 8.10.96 „Die Chronik des Widerstandes“). Als Ergebnis der detaillierten Untersuchung konnten zwei zentrale Schlussfolgerungen gezogen werden: A.: Für die Hertener Bürgerinitiative ist die enge Zusammenarbeit mit der Stadt, insbesondere die wechselseitige Absprache und Unterstützung, charakteristisch. B.: Aktionen der Stadt und der BI werden von der Bevölkerung kaum getrennt wahrgenommen, erfolgreiche oder eindrucksvolle Aktionen meist der BI zugerechnet. Die entwickelte Hypothese, die in den folgenden Schritten als Folie dienen soll, lautet: 1. Wichtige Ereignisse, die sowohl die BI als auch die Beteiligten beeinflusst haben, sind die Plötzlichkeit der Wahl Hertens, die starke Abwehr dieses Beschlusses durch den Stadtrat, die große Beteiligung der Bürger/innen, die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Abwartenden/Befürwortenden und Gegnern des geplanten Baus sowie mit den Verantwortlichen bei LWL und Land und der Aufruhr bzw. die Emotionalität, die in dieser Zeit herrschten. Im Detail sieht der Ablauf wie folgt aus: Die Vorgeschichte 10.94 1995 1.96 6.96
Beschluss zur Verkleinerung und Entlastung der überbelegten forensischen Klinik Eickelborn Expertenkommission für die Ausarbeitung der Eckdaten einer neuen Klinik wird gebildet Vorstellung des erarbeiteten Anforderungsprofils Zustimmung der Parlamentarische Kommission „Maßregelvollzug“ des LWL zum nach Besichtigung der Kliniken Düren, Utrecht, Rotterdam, Prüfung von 18 möglichen Standorten (WAZ Herten 8.10.96 „Die Suche nach dem Standort“)
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1996
Die heiße Phase
10.9.
- Gesundheitsminister Axel Horstmann stimmt Standort Herten zu - Information des Ältestenrates der Landschaftsversammlung - Radio FiV aus Recklinghausen informiert darüber (Marabo Nr.11, November 96) - Artikel in der Hertener Allgemeinen informieren über die Pläne - NRW Arbeits- und Sozialminister Horstmann erklärt Bürgermeister Scholz und Stadtdirektor Klaus Bechtel die Pläne des LWL, in Herten am Rande des Schlossparks eine forensische Klinik zu bauen - Kaufleute legen Unterschriftenlisten in ihren Geschäften aus - Stellungnahme des Rates wird von allen Fraktionen verabschiedet (Zitate daraus: „So kann man mit der Hertener Bevölkerung nicht umgehen“ „Alle Hertener Bürgerinnen und Bürger sind aufgefordert, mit ihrer Unterschrift ihren Protest gegen den Bau einer Sonderklinik für psychisch kranke Schwerstkriminelle in Herten deutlich zu machen“ (HA, 14.9.96, Robert Klose)) - Aufforderung auf der Unterschriftenliste: „Leisten Sie mit Ihrer Unterschrift Widerstand gegen diesen Angriff auf die Zukunft unserer Stadt“ (Plakat der Stadt Herten, unterzeichnet von Bürgermeister, Stadtdirektor und allen Fraktionen - alle Fraktionen protestieren, auch die Grünen - Bürgermeister Dieter Rauer aus Gelsenkirchen erklärt sich solidarisch, gemeinsame Aktionen sollen stattfinden - Pressekonferenz in Münster von LWL-Direktor Dr. Manfred Scholle und Gesundheitsdezernent Dr. Wolfgang Pittrich - Krisenstab der Stadtverwaltung wird gebildet, ist von 9 – 18 Uhr täglich zu erreichen und bietet Koordination, Information und Hilfestellung bei Aktionen - die CDU-Fraktion der Landschaftsversammlung (das ist
12.9.
13.9.
136
14.9.
15.9. 16.9.
17.9.
das Parlament der LWL) und die von Bündnis90/Die Grünen stimmen den Plänen zu, die SPD will erst Gespräche mit Hertener Partei führen, sieht aber „kaum Spielraum“ (WAZ Herten 18.9.96 „Herten gründet Bündnis gegen Klinik-Pläne“) - Bürgermeister stellt sich „an die Spitze des Widerstandes“ (HA, 14.9.96, Robert Klose) - Unterschriftenlisten im Hertener ‚Glashaus’ auf Veranlassung des Rates - Ratsmitglieder sammeln Unterschriften auf einem Weinmarkt und in Kneipen - etwa 10 000 Unterschriften sind am Wochenende gesammelt worden - Vertreter von Hertener Schulen und Kindergärten treffen sich, um weiteres Vorgehen zu koordinieren - weitere Aufforderungen (Handzettel, Plakate), an der Sondersitzung am nächsten Tag teilzunehmen - LWL schaltet Info-Telefon - SPD-Ratsfraktion Gelsenkirchen spricht sich gegen den Forensik-Bau aus (das Grundstück liegt an der Stadtgrenze zu GE-Resse) und fordert die Bürger/innen von GE auf, „gemeinsam und solidarisch die ablehnende Haltung der betroffenen Nachbarstadt Herten aktiv zu unterstützen“ (WAZ-GE, 17.9.96 „SPD lehnt Klinik für Straftäter ab“) - Unterschriftensammlung in Resse - Stadt plant und organisiert eine Demo-Fahrt nach MS am 19.10., Geschäftsleute werden gebeten, ihre Läden vormittags geschlossen zu halten, Busse sind organisiert, alle städtischen Dienststellen sollen geschlossen werden, die Beschäftigten sind zur Teilnahme aufgefordert, mit Flugblättern („Herten wehrt sich“) werden die Bürger/innen zur Teilnahme aufgerufen - Aufruf „Herten wehrt sich“ der Stadtverwaltung wird initiiert, Aufforderung, an Demo in MS teilzunehmen: „Demonstrieren Sie mit uns in Münster! Zeigen Sie den Landesbehörden, daß die Hertener Bürgerinnen und Bürger nicht so mit sich umspringen lassen“ (aus dem Aufruf zur Demo-Teilnahme der Stadt Herten) - Auch in Westerholt werden Unterschriften gesammelt, initiiert von der dortigen SPD 137
18.9.
- Öffentliche Ratssitzung in der Gesamtschule mit ca. 3000 Teilnehmer/innen, „darunter viele Kinder“ HA Nr. 220, 18.9.96 Sonderratssitzung: Herten tobte“): tumultartige Szenen, Sprechchöre, die Redner/innen proForensik niederbrüllen, Pfeifkonzerte, einige warnende Töne vor allem von Mitgliedern der Grünen aber auch in einigen Leser/innen-Briefen82, auf Fotos sind wütende Menschen zu sehen und Kinder mit umgehängten Plakaten (z.B. „Mama helfe mir“, „Wir haben Angst“, „Keine Macht der Forensik“, „Ich habe Angst um meine kleine Schwester“, „Ich will ohne Angst draußen spielen“), von denen die meisten augenscheinlich zu klein waren, um selbst schreiben zu können; alles nach Zeitungsartikeln der HA vom 18.9.96 (s. Quellenverzeichnis), die die Proteste von Anfang an sehr wohlwollend begleitet hat - es wird eine Resolution des Rates, in dem die Entscheidung sowie „aufs schärfste“ die Informationspolitik missbilligt und der damalige Ministerpräsident Johannes Rau zur Hilfe aufgefordert werden, enthält auch einen Aufruf an Vereine, Verbände, Kirchengemeinden, Betriebsräte, mit dem Rat ein Aktionsbündnis „Herten wehrt sich“ einzugehen. - die Stiftung des Elisabeth-Hospitals lehnt eine mögliche Zusammenarbeit mit einer forensischen Klinik ab (für die bestehende Psychiatrie existiert ein Kooperationsvertrag) - über Megafone von Feuerwehrwagen wird zur Teilnahme aufgerufen (WAZ Herten 19.9.96 „Feuerwehr ruft zur Demo gegen die neue Klinik“) - es sind 70 Busse organisiert, die von 7 Haltestellen im Stadtgebiet aus losfahren, die Stadt verspricht, keine Strafzettel zu verteilen, das Parken am morgigen Tag ist überall kostenlos, alle Politessen werden an der Demo teilnehmen (WAZ Herten 19.9.96, „Sieben Haltestellen für 70 Demo-Busse“) - die Hertener Ärzteschaft erklärt sich, mit einer Gegenstimme, mit den Bürger/innen solidarisch und lehnt den Klinikbau ab (WAZ Herten 19.9.96 „Ärzte sehen in
82 s. Kapitel III.2.3 Analyse der Zeitungs- und Zeitschriftenartikel
138
19.9.
20.9.
der Forensik eine Gefahr für die Bürger“) - Ämter des Rathauses, des Finanzamtes, der Bezirksverwaltungsstelle Westerholt bleiben geschlossen, vormittags auch alle Schwimmbäder und die VHS, Musikschule, Glashaus und Stadtwerke richten Notdienste ein - Demonstration in Münster vor dem Landeshaus des Landschaftsverbandes: über 80 Busse lt. HA, 60 lt. Westfälische Nachrichten (20.9.96 „Demonstranten legten Verkehr rund um das Landeshaus lahm“) plus Pkws mit ca. 5000 Personen lt. HA und WAZ, über 3000 lt. Münstersche Zeitung (20.9.96 „Protest gegen Sonderklinik für psychisch kranke Straftäter“), 2500 lt. Schätzung des Landschaftsverbandes bzw. 3500 lt. Schätzung der Polizei (Westfälische Nachrichten 20.9.96 „Demonstranten legten Verkehr rund um das Landeshaus lahm“), darunter Schulklassen, die offiziell „Exkursionen“ nach Münster machten und Kindergartengruppen, vor dem Landeshaus des Landschaftsverbandes versammeln sich die Angereisten und protestieren lautstark mit Sprechchören, Plakaten, Transparenten und Trillerpfeifen, es gibt Reden, Buhrufe, Pfeifkonzerte und „wenig schmeichelhafte Sprechchöre“ für den Gesundheitsdezernenten Pittrich, er wird mit Trillerpfeifen und Süßigkeiten beworfen (HA 20.9.96 „Alle Erwartungen übertroffen: 5000 protestierten in Münster!“) - Die Polizei steht dem Ganzen ebenfalls wohlwollend gegenüber „Natürlich gefällt uns nicht, dass hier eine Münsteraner Hauptverkehrskreuzung lahm gelegt wird. Aber bei dieser Sache muß man das in Kauf nehmen“ Aussage eines bei der Demo eingesetzten Polizisten (lt. HA 20.9.96 „Pittrich unter Beschuß“) - Polizeiaufgebot: ca. 50 Beamte (Westfälische Nachrichten 20.9.96 „Demonstranten legten Verkehr rund um das Landeshaus lahm“) - Langebochumer SPD sammelt Unterschriften gegen die Forensik - in der kommenden Ratssitzung soll ein Bebauungsplan verabschiedet werden, der den Zustand als Grünzug und Landschaftsschutzgebiet festschreibt und eine sofortige 139
22.9.
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Veränderungssperre verhängt - Koordination der Planung der juristischen Vorgehensweise - Termin bei Ministerpräsident Johannes Rau wird angestrebt, um ihm die gesammelten Unterschriften überreichen zu können - die Stadt richtet Spendenkonten ein - in der Antonius-Kirche wird statt Predigt ein Stellungnahme des Pfarrers verlesen, in der er die Standortwahl kritisiert und zum eintragen in die Unterschriftenlisten aufruft - Unterschriftensammlung in den katholischen Kirchen Hertens, um sich „mit seiner Unterschrift bewusst gegen die Ansiedlung einer ‚Psychiatrischen Strafanstalt’ in Herten“ auszusprechen“ da es „entscheidende Gründe, sich aus christlicher Sicht gegen eine solche Einrichtung zu wenden“ gäbe (zitiert nach HA Nr. 223 21.9.96 „Unterschriftenaktion in den kath. Kirchen“) - der Landschaftsverband verteilt das Info-Blatt „Menschen und Maßregelvollzug“ an alle Hertener Haushalte - die Stadt richtet ein Aktionsbüro im Glashaus zur Koordination und Information für das von ihr initiierte Aktionsbündnis „Herten wehrt sich“ ein, tägliche Öffnungszeiten von 10-16 Uhr - der CDU-Kreisparteitag lehnt den Forensik-Bau ab und fordert die CDU-Fraktion im Landschaftsverband auf, ihren zustimmenden Beschluss zu revidieren - lt. Auskunft der Stadt sind 30 000 Unterschriften sind gesammelt (HA 24.9.96 „Herten im Blickpunkt der Medien“) - überregionale Medien berichten, z.B. die Süddeutsche Zeitung, der Fokus, das ZDF - Stadt druckt noch weitere Plakate, Aufkleber, Flugblätter und Buttons - Unabhängige Bürgerinitiative Herten e.V. (UBH) wird gegründet, eine weitere in Westerholt, beide schließen sich aber sehr schnell zusammen - das Aktionsbüro wird auch als Anlaufstelle für die BI zur Verfügung gestellt – so wird die fast nahtlose Zusammenarbeit von Stadt und Bi von Anfang an deutlich. Die
24.9.
BI betont selbst die engen Zusammenarbeit mit der Stadt: „Die BI habe sich aus einer Gruppe von Bürgern formiert, um den Widerstand der Stadt zu unterstützen“ sagt ein Mitglied des Vorstandes auf der ersten Versammlung (WAZ Herten 2.10.96 „Bürger wehren sich – aber friedlich“) und „Wir haben das Gefühl, dass wir unsere Vertreter im Rathaus in dieser schweren Stunde unterstützen müssen“ (HA 3.10.96 „Landschaftsverband kein leichter Gegner“) - die Stadt richtet eine Homepage ein - RTL sendet live aus dem Schloßpark, etwa 100 Bürger/innen, darunter Mitglieder der neu gegründeten BI nehmen daran teil - Die Grünen stellen Strafantrag gegen die JU wegen ihres Flugblattes „Ki(nd)llerfreundliche Stadt Herten“ – daraufhin entschuldigen sich die Autoren dafür - Kreis Soest (in dem die überfüllte Klinik Eickelborn liegt) spricht sich für den Forensik-Bau aus, ersucht Herten um Versachlichung und bietet Hilfe und Informationen an - von der Stadtspitze angeregte Aktionen: „Plakate in Schaufenstern und Vorgärten, Autoaufkleber, Briefe an Abgeordnete, ein provisorischer Spielplatz auf dem Forensik-Grundstück, ein Info-Blatt für alle Haushalte, Zusammenarbeit mit Gruppen aus den Nachbarstädten, gemeinsames Vorgehen aller Schulpflegschaften“ WAZ Herten, 24.9.96 “Die Stadt setzt nun auf Argumente“ - Mahnwache der UBH am geplanten Forensik-Standort für ein in Bayern ermordetes Mädchen „In Bayern wird dann das ermordete Mädchen Natalie beigesetzt. Dies nehmen wir zum Anlaß, in Herten deutlich für die Sicherheit unserer Kinder vor psychisch kranken Straftätern einzutreten“, so eine Mitinitiatorin (WAZ Herten, 25.9.96 „Forensik: Bürger organisieren sich“) - das Mädchen war von einem wegen Sexualstraftaten vorbestraften Mann, der seine Haft in einem normalen Gefängnis, nicht in einer Forensik, verbüßt hatte, der als voll schuldfähig verurteilt wurde und daher „dessen sexuelle Probleme nicht therapiert wurden“ (Der Spiegel“ 30.9.96 „Schrei der Hilflosigkeit“), missbraucht und 141
25.9.
26.9.
27.9.
1.10.
142
ermordet worden. Die Praxis „voll schuldfähig“ zu verurteilen, beurteilt der Spiegel: „Nahezu regelmäßig werde von Gutachtern bei Kapitaldelikten in München auf „voll schuldfähig“ erkannt, um möglichst harte Strafen zu ermöglichen. Im Rückschluß bedeutet das aber, so ein langjähriger Strafverteidiger, daß den Tätern häufig zu Unrecht attestiert werde, kerngesund zu sein“ Damit laufen sie durch die normalen Bewährungsverfahren, statt durch die erheblich strengeren forensischen Begutachtungen. „Einziger Erfolg: Das Gericht könne zeigen, wie sehr es auf Law and Order hält“ Ratssitzung beschließt, Bebauungsplan für das fragliche Gebiet zu verändern und eine Veränderungssperre festzulegen, ebenso eine grundsätzliche Ablehnung des Standortes Herten, wobei sich die Grünen enthalten, die nur gegen den Standtort Schlosspark stimmen wollen (HA 26.9.96 „Rat lehnt Klinik-Pläne ab: Jetzt Gespräch bei Rau“) - die Aufrufe dazu, die Diskussion zu versachlichen, werden häufiger. „Die Auseinandersetzung um den geplanten Standort der Forensischen Klinik in Herten verlagert sich mehr und mehr auf die sachliche Ebene“ (WAZ Herten 26.9.96 „Grüne fordern: Entscheidungskriterien offen legen“) - gemeinsame Erklärung der katholischen und evangelischen Gemeinden Hertens wird Minister Horstmann überbracht - Aufruf der UBH, Protest-Plakate in Vorgärten und Fenster zu hängen - Scholz schreibt Industrie- und Handelskammer, Handwerkskammer und diverse Unternehmen um Unterstützung - Stadt richtet zwei Sonderkonten „Aktionskonto Sonderklinik“ für Spenden ein - Termin der Stadtspitze und einer Abordnung aus Vertretern der des Kreises, der Städte Gelsenkirchen und Recklinghausen, der BI, der Ärzteschaft, der Kirchen, der Kaufleute bei Ministerpräsident Johannes Rau – Übergabe der Listen mit etwa 65 000 (HA 2.10.96) Unterschriften
3.10.
4.10. 5.10.
9.10.
(Herten hat 53 000 erwachsene Einwohner/innen, taz 27.9.96 „Menschenverachtende Diskussion“). Rau nimmt sich dafür 45 Minuten, Minister Horstmann 2 Stunden, der Chef der Staatskanzlei Frohn 3 Stunden Zeit – auch hier geht es nicht um den Standort Schlosspark „alle versuchten Rau und Horstmann eindringlich nahe zu bringen, warum Herten, warum die Emscher-Lippe-Region eine Einrichtung wie diese Klinik für psychisch kranke Straftäter nicht vertragen könne“ (WAZ Herten 2.10.96 „Jetzt findet Herten endlich Gehör“). Rau und Horstmann sagen einen Anhörungstermin für Herten im weiteren Verfahren zu - erste öffentliche Bürgerversammlung der UBH: Wahl des Vorstandes, Bildung von Arbeitskreisen - Brief der Beschäftigten des Elisabeth-Hospitals an die Landschaftsversammlung, in dem sie ihre Ablehnung der Forensik bekräftigen (HA 1.10.96 „Lichterkette: Auch ab Westerholt“) - die Stadt verteilt ein 4 Zeitungsseiten großes Informationsblatt - Menschenkette von Resse nach Herten, das sind ca. 2000 Meter, an der ca. 8 000 Personen teilnehmen (15.000 lt. Bild-Zeitung), eine Kreuzung wird für 30 Minuten blockiert (HA 4.10.96 „Tag der Einheit: Tausende Hand in Hand gegen Klinik“), die Polizei setzt 14 Beamte ein, es gibt keine Reden, nur Plakate und Transparente; organisiert von der BI und Bürger/innen aus Resse, unterstützt von vielen Organisationen, z.B. Ortsvereinen der Parteien, die ihre Mitglieder zur Teilnahme aufrufen und Treffpunkte zum gemeinsamen Marschieren festlegen - Protestkarten-Druckaktion - 71 000 Unterschriften gegen den Forensik-Bau gesammelt - zweites Faltblatt des LWL - gemeinsame Erklärung aller Fraktionen der Landschaftsversammlung des Inhalts, dass es keine Alternative zu Herten gebe - Gesundheits- und Krankenhausausschuss des Landschaftsverbandes (Zusammensetzung der Mitglieder: 11 CDU, 10 SPD, 2 Bündnis 90/Die Grünen) berät 143
10.10.
11.10. 144
- von der UBH organisierter Protest mit Plakaten vor dem Landeshaus in Münster, ein Sprecher der BI redet vor dem Ausschuss - der Vorschlag Herten wird mit nur einer Gegenstimme angenommen - Bürgermeister Scholz spricht nicht vor diesem Ausschuss, weil er annimmt, es wolle niemand dort seine Argument hören (HA 9.10.96 „Bürgermeister nach LWLBesuch: Würfel sind gefallen!“) - Mahnwache der SPD und CDU Ortsgruppen Langenbochum an dem geplanten Bauplatz - Appell der sieben Chefärzte des Elisabeth-Krankenhauses, verschickt an alle Mitglieder der beiden tagenden Ausschüsse, in dem ernste Folgen für das Wohl der Patient/innen befürchtet werden - Live-Sendung des WRD der Sendung „mittwochs in…“, einer Talkshow vom Standort des Protest-Schildes, sofortige Hilfe der Feuerwehr und der Stadtwerke, als es Probleme mit der Stromversorgung gab - mindestens Erwähnung findet Herten in den ARDSendungen Tagesschau und „Brisant“, sowie im ZDF und auf RTL - Aufruf „Jetzt erst recht“ der Stadt Herten mit dem Appell, weiter „friedlich gegen die Forensik-Pläne zu kämpfen“ (HA 10.10.96 LWL-Gesundheitsausschuß: Die Klinik in Herten bauen“) - Ankündigung juristischer Schritte - Ortsgruppe Herten des Naturschutzbundes (Nabu) lehnt den Bau aus ökologischen und ökonomischen Gründen ab - ein Mahnfeuer wird am geplanten Bauplatz entzündet, das bis zum 11. brennen soll - Mahnwache der SPD und CDU Ortsgruppen Langenbochum an dem geplanten Bauplatz - UBH distanziert sich von den „Forensikfreie Zone“Schildern - zwei Live-Übertragungen des WDR vom geplanten Bauplatz – es sind keine Berichte in den Printmedien über negative Berichterstattung dabei (HA 11.10.96 „Eine Wiese hat keine Steckdosen“) - Landschaftsausschuss (Zusammensetzung der Mit-
13.10.
14.10.
glieder: 8 CDU, 8 SPD, 1 Bündnis 90/Die Grünen) berät und stimmt mit einer Gegenstimme und einer Enthaltung für den Standort Herten - von der UBH organisierter erneuter Protest mit Plakaten vor dem Landeshaus in Münster, Teilnahme an der Sitzung, wobei ein Transparent „Herten wehrt sich“ vor die Tribüne gespannt wurde - Mahnfeuer von Bergleuten der Zeche Ewald vor dem Landeshaus - Mahnwache der SPD und CDU Ortsgruppen Langenbochum an dem geplanten Bauplatz - Stadt fertigt neue Buttons „Herten wehrt sich! Jetzt erst recht“, die am UBH-Mahnfeuer verteilt werden - die Verteilung des zweiten LWL-Info-Blattes wird gestoppt, „nachdem Verteilerinnen massiv behindert und bedroht worden waren“ (WAZ Herten 12.10.96 „Und zum Frühstück die Forensik“) - es wird bekannt, dass Eickelborn Lehrkrankenhaus der Uni Münster wird, deren neu eingerichteter Lehrstuhl für forensische Psychiatrie mit Prof. Klaus Foerster besetzt werden wird, bislang an der Uni Tübingen auf diesem Gebiet tätig - „Am Wochenende tauchten an vielen Stellen in Herten Aushänge auf, die lediglich mit „BWF – Bürgerwehr gegen die Forensik verzweifelter Eltern und Bürger“ unterzeichnet sind“ (WAZ Herten 14.10.96 „Das Thema: Forensik“) - drei Live-Schaltungen des Frühstücksfernsehens von ARD und ZDF im Rahmen einer Sondersendung von 6.30-9 Uhr vom geplanten Bauplatz mit etwa 500 Bürger/innen - auch Sportvereine spenden Teile ihrer Einnahmen für die UBH (HA 15.10.96 „Sportvereine helfen UBH“) - der umweltpolitische Sprecher der SDP-Landtagsfraktion Kasperek wendet sich an Ministerin Höhn und weist auf Naturschutzgründe hin, die dem Bau an der Stelle entgegen stünden (HA 15.10.96 „Umwelt-Aspekt beachten“) - die Stadtspitze wendet sich an den Gesundheitsminister von NRW, Horstmann, der nun „Herr des Verfahrens“ ist 145
17.10.
18.10.
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146
(HA 17.10.96 „Appell an Horstmann: „Mehr Aufrichtigkeit“) - Bürger erstattet Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Flugblättern mit „Hetzparolen“, wieder unterschrieben mit „Bürgerwehr gegen die Forensik verzweifelter Eltern und Bürger“ (HA 18.10.96 „Hetze: Strafanzeige“) - UBH wirft Horstmann Befangenheit vor, nachdem bekannt wurde, dass er in seiner Funktion als Stadtdirektor von Detmold den Bau einer Forensik dort strikt abgelehnt hatte, mit ähnlichen Argumenten, wie sie jetzt in Herten vorgebracht werden (HA 19.10.96 „Horstmann `95: Resolution gegen Forensik in Detmold „erforderlich““) - in Düren gründet sich eine BI, um eine Außenwohngruppe für Freigänger der dortigen Forensik zu verhindern. Bislang gab es dort wenig Akzeptanzprobleme (WAZ Herten 19.10.96 „Bürgerinitiative jetzt auch in Düren gegründet“) - Bürgermeister regt an, dass am 6.11. vor dem Landtag in Düsseldorf eine Mahnwache stattfinden soll (Termin der Anhörung zum Thema Sicherheit im Maßregelvollzug) (HA 21.10.96 „Großdemo gegen Forensik am 4. November in Düsseldorf“) - weitere Briefe an Mitglieder der Landesregierung, Vorbereitung eines neuen Info-Blattes - Informationsveranstaltung der Jusos „Bedeutung und Möglichkeiten der Forensik“ mit UBH-Sprecher, einen Juristen und einen Mitarbeiter der Gemeindepsychiatrischen Einrichtung der AWO – alle Gegner der Forensik – mit 30 Zuhörer/innen - LWL verschickt sein Info-Blatt an Pfarreien mit der Bitte um Verteilung an Interessierte. Der ev. Pfarrer Kuhn bestätigt die Bedrohungen der Verteilerinnen, findest es aber „um so schlimmer ...dies jetzt zum Anlaß für „Stimmungsmache“ zu nehmen“ (HA 23.10.96 „Faltblatt: LWL schreibt Pfarrämter an“) - LWL lädt Gruppe von Journalist/innen zur Führung und Information in die Nijmegener forensische Klinik ein - Gesprächsabend der KAB zum Thema Forensik - Briefe an Johannes Rau der Stadtspitze, der SPD-Frauen, des Betriebsrates der Zeche Westerholt
26.10. 27.10.
30.10.
1.11.
3.11. 5.11. 6.11.
- Brief an den Chef der IBA - SPD Paschenberg fordert Auflösung des LWL - Abstimmungsgespräch der für Stadt, UBH oder Elisabeth-Krankenhaus tätigen Jurist/innen (WAZ Herten 26.10.96 „Straftäter-Klinik: Die Juristen wappnen sich“ - „gemeinsamer Info-Stand gegen die Straftäter-Klinik“ von SPD und CDU Langenbochum - Protest von 70 Klinik-Gegner/innen bei einem SPD-Fest in Gelsenkirchen, 8 UBH Mitglieder sprechen mit Minister Horstmann (HA 28.10.96 „Horstmann: Vor einem Bauantrag werden wir alle Standorte kennen“) - öffentliche Sitzung des Kreistages Recklinghausen zum Thema Forensik mit tumultartigen Szenen, von SPD und CDU ohne die Stimmen der Grünen verabschiedeter Ratsbeschluss, in der gesamten Emscher-Lippe-Region den Bau einer Forensik abzulehnen und in der Minister Horstmann aufgefordert wird, das Projekt zu stoppen (HA 31.10.96 „Forensik: Tumultartige Szenen im Kreistag“) - eine weitere Resolution wird im Hertener Stadtrat mit einer Gegenstimme des Grünen Ratsmitgliedes, der befürchtet, die Stadt beraube sich damit weiterer Einflussnahmemöglichkeiten verabschiedet (HA 31.10.96 „Rat: Keine Kooperation mit LWL“ und WAZ Herten 31.10.96 „Nein zur Klinik“) - vom Elternrat organisierte Mahnwache von Eltern und Kindern vor der DRK-Kindertagesstätte, die in unmittelbarer Nähe des Geländes liegt; dabei wurde ein riesiges „Angstgespenst, mit Fratzengesicht, Bettlakenfetzen und weißen Luftballons“ (WAZ Herten 2.11.96 „Forensik findet hier nicht statt) aufgehängt, an das Zettel mit aufgeschriebenen Ängsten, geheftet werden sollten. Es fand sich z.B. „Angst davor, was als erstes passiert. Angst davor, wer der erste ist“ (HA 2.11.96 „Forensik wird bei Eltern zum Angstgespenst“) - UBH pflanzt am geplanten Bauplatz zwei Apfelbäume - Benefiz-Veranstaltung der UBH zu ihren Gunsten - gemeinsamer Brief von SPD und CDU an Johannes Rau - 6-stündige Anhörung im Landtag zum Maßregelvollzug, dabei wird wieder darauf hingewiesen, dass weitere Standorte notwendig werden die UBH organisiert eine 147
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15.12. 18.12.
148
Mahnwache vor dem Landtag (WAZ Herten 7.11. „UBHProtes vor dem Landtag“) - Sternmarsch mit Laternen von Kindern und Eltern zum geplanten Bauplatz - Gesundheitsminister Horstmann beauftragt unabhängigen Gutachter (Dr. Röwer) mit der Prüfung des Entscheidungsfindungsverfahrens (WAZ Herten 13.11.96 „Forensik: Minister holt Gutachter“) - Ministerin Höhn besichtigt den geplanten Standort - Info-Stände und Luftballonaktion von SPD und CDU, der Erlös vom Verkauf der Ballons geht an UBH (HA 6.11. „Gegen Straftäter Klinik: SPD und CDU-Gruppen üben Schulterschluß“) - kleine Anfrage der CDU zu dem genauen Auftrag des Gutachters und den anderen geprüften Standorten (WAZ Herten 28.11.96 „Edle Weine und Kunst gegen StraftäterKlinik“) - nach dem traditionellen Nikolausumzug legen Kinder und Eltern mit Teelichtern den Schriftzug „Herten wehrt sich“ in der Innenstadt - Mitarbeiter/innen der Küche des Elisabeth-Hospitals verkaufen selbstgebackene Plätzchen zugunsten der UBH - die Schulministerin stellt fest, dass die Deklarierung der Demonstrationsteilnahme in Münster als Wandertag, wodurch Hertener Schulen in geschlossenen Klassenverbänden teilgenommen haben, nicht rechtmäßig war. Der ausgefallene Unterricht soll nachgeholt werden - Wein- und Kunstversteigerung der Hertener KaufleuteVereinigung zugunsten der UBH - Horstmann gibt das Verfahren an den LWL mit der Anweisung um erneute Standortentscheidung zurück, da das Gutachten zwar keine rechtlichen Mängel festgestellt hat, aber einen „Verfahrensmangel aufgrund von „Kompetenzverwischung“ nicht ausgeschlossen“ werden könne (WAZ Herten 19.12.96 „Forensik-Pläne vorerst gestoppt“). Damit ist gemeint, dass Horstmann sich vor Beginn des Verfahrens bereits für Herten ausgesprochen habe (WAZ Herten 19.12.96 „Forensik-Standort wird neu gewählt“). Hertener Bürgerinitiative und Politiker/innen werten das als großen Erfolg ihrer Maßnahmen. Das
19.12.
23.12.
1997 13.1.
16.1.
19.1.
Gutachten bestätigt aber, dass die Standortwahl sachgerecht getroffen worden sei und es keine Beanstandung bei der Beteiligung der Stadt Herten gebe (HA 20.12.96 „Horstmann hat gesprochen – wie geht es jetzt weiter?“). - UBH gibt Stellungnahme an die Landschaftsversammlung heraus, in der die Argumente, die gegen Herten als Standort sprechen aufgelistet sind und in der sie aufgefordert wird, das Verhalten des LWL und des Gesundheitsministeriums ebenfalls geprüft werden sollen (HA 19.12.96 „Forensik: UBH bringt Münster ins Gespräch“) - die Gegner des Baus erwarten nun ein „völlig neues, offenes und transparentes Verfahren“ (HA 21.12.96 „Straftäter-Klinik: Kreistag fordert neues Verfahren“) - Der Heimatverein Westerholt beschließt, die Abwahl des Direktors des Landschaftsverbandes als Vorsitzender des Westfälischen Heimatbundes zu fordern (HA 20.12.96 „Heimatverein fordert: Dr. Scholle abwählen“) - Der Kreistag in Soest äußert „Empörung und absolutes Unverständnis“ über die Aussetzung des Prozesses und fordert zu unverzüglicher Entscheidung auf (HA 24.12.96 „Kreis Soest fordert Forensik-Entscheidung“) - Gespräch der Stadtregierung mit Minister Horstmann, an dem auf Drängen der Stadt auch Vertreter/innen der UBH teilnehmen - Die Situation in Eickelborn verschärft sich – es werden Vorwürfe gegen Minister Horstmann erhoben, der mit seinem Veto gegen Herten die Situation in Eickelborn verschärfe „Angesichts der Notsituation ist diese Verzögerung eine kaum noch zu rechtfertigende Pflichtverletzung seitens des Landes gegenüber den Sicherheitsinteressen der Bürger im Raum Eickelborn“ – so der Oberkreisdirektor von Soest in der Zeitung „Neue Westfälische“, 16.1.97 - Protestaktion vor dem Glashaus, aus Teelichtern wird ein großes NEIN geformt, danach Versammlung im Glashaus mit Informationen zum Stand der Dinge und Aufrufen zu weiteren Aktionen. Anwesend sind etwa 300 Bürger/ innen. Dabei gerät zunehmend die Landesregierung ins 149
21.1.
22.1.
150
Visier, es wird die „rote Karte“ für Rau gefordert (WAZ Herten 20.1.97 „Das „Nein“ zur Forensik brennt riesengroß“) - der SPD-Stadtverband Herten fordert den Ministerpräsidenten und SPD-Landesvorsitzenden Rau auf, „diesem unwürdigen Schwarze-Peter-Spielen endlich ein Ende zu setzen“ und greift Minister Horstmann scharf an – es sei „Vertrauen in die SPD und die Politik überhaupt zerstört. Damit mache Horstmann die Spitze der SPD in NRW, allen voran Johannes Rau, unglaubwürdig. Dem müsse Rau Einhalt gebieten, indem er Horstmanns Politik stoppe“ (WAZ Herten 22.1.96 „Forensik: SPD fordert klares Wort von Rau“) - die Ortsvereine Mitte und Süd von SPD und CDU schreiben einen gemeinsamen Brief an Rau (WAZ Heten 22.1.97 „Verständnis in Eickelborn“) - UBH hängt Transparente mit der Aufschrift „Heute wir – morgen ihr „Tschüss – Demokratie“ über den Hauptstrassen Hertens auf - der Geschäftsführer des Diakonischen Werkes sieht aufgrund der Forensik-Diskussionen die Akzeptanz gegenüber psychisch Kranken schwinden – die Hertener Pfarrer widersprechen: „Mit diesem Kommentar werden wir zu Unrecht in eine Ecke gestellt, in die wir nicht gehören“. Sie schreiben erneut an Johannes Rau - von einem Hertener Verleger organisiert sollen die Bürger/innen rote Karten an Johannes Rau verschicken, die im Aktionsbüro der UBH im Glashaus erhältlich sind, und die zusätzlich die Androhung eines Wahlboykottes enthalten (WAZ Herten 23.1.97 „Zehntausend rote Karten für Johannes Rau“ und HA 23.1.97 „10 000 mal „rote Karte“ für Rau“) - die Hertener SPD verschickt eine Presseerklärung, in der sie Horstmann und Rau scharf angreift „Damit macht Horstmann die Spitze der nordrhein-westfälischen Sozialdemokratie, ,,allen voran Ministerpräsident Johannes Rau, unglaubwürdig“ er „demontiere das ansehen der SPDParteiführung in unverantwortlicher Weise“ (dpa-Meldung vom 22.1.97 „Hertener SPD greift Sozialminister an – Rau zum Handeln aufgefordert“)
26.1.
23.1.
- die UBH schickt Horstmann einen Brief, in dem strukturpolitische Probleme von Herten als Gegenargument aufgebaut werden; darin steht aber auch u.a. der Satz „Die SPD in dieser Region riskiert Kopf und Kragen“ (HA 24.1.97 „Schwere Vorwürfe gegen Horstmann“) - die UBH erweitert ihr Merchandising-Programm um Sweatshirts und Mützen mit dem Aufdruck „Herten wehrt sich“ – bislang gibt es bereits Buttons, Plakate, Aufkleber und Einkaufstaschen (WAZ Herten 27.1.97 „Forensik: Rote Karten und weiße Pullover“) - Bürgermeister und Stadtdirektor schreiben erneut an Rau (HA 24.1.97 „Appell: Dem unwürdigen Spiel ein Ende setzen!“)
Etwa ab Februar rückt die Betonung ökologische Gegenargument – schützenswerte Hecken, Bäume und zugehörige Fauna, Lage am Grüngürtel D, einem von mehren durchgängigen Gürteln im Ruhrgebiet, die wegen ihrer relativen Geschlossenheit für die Ökologie sehr wichtig sind – in den Vordergrund der Strategien. Besonders wird die Veröffentlichung eines von der Landesanstalt für Ökologie, Bodenordnung und Forsten (LÖBF) erarbeiteten Berichtes über die ökologische Bedeutung aller Standorte, das das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Auftrag gegeben hatte, gefordert. 29.1.
31.1.
3.2.
- UBH lädt alle Mitglieder des Gesundheits- und des Landschaftsausschusse ein, vor dem erneuten Beschluss am 7.2. nach Herten zur persönlichen Inaugenscheinnahme zu kommen - die Hertener CDU schlägt Standorte vor, die sie für geeigneter hält, unter anderem Dortmund-Aplerbeck „kommt man ganz schnell zu der Überzeugung, daß hier ein wesentlich besserer Standort verschleiert werden soll“ - Hertener Abgeordneter führt Gespräch mit Rau, Horstmann und Matthiesen (Fraktionschef) „Die Gesprächsbereitschaft sei erkennbar groß gewesen, allerdings sei die Position von Minister Horstmann unverändert, daß es Sache des Landschaftsverbandes sei, über einen Standort zu befinden - was die juristisch einzig mögliche Verfahrensweise ist (HA 1.2.97 „Gespräch mit Rau ergebnislos“) - der Rechtsprofessor, dem das Rechtsgutachten in Auftrag 151
4.2.
7.2.
8.2.
152
gegeben wurde (Prof. Ossenbühl), stellt es im Rahmen einer öffentlichen Ratssitzung vor. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Herten als Standort aus planungsrechtlicher Sicht nicht in Frage kommt, da der entscheidende §37 Bundesbaugesetz hier keine Anwendung finden kann. Das Vorhaben ist eines des LWL, der Paragraf gilt nur bei Vorhaben des Bundes oder der Länder (WAZ Herten 4.2.97 Rechtlich aus dem Rennen“). „Herten habe allen Grund, mit Zuversicht in eine rechtliche Auseinandersetzung zu gehen“ (HA 4.2.97 „Gutachter zum Forensik-Kurs: Ungeheuerlich!“) - der Sprecherrat der Hertener Grünen widerspricht der allgemeinen Hetze gegen Horstmann und bescheinigt ihm korrektes Verhalten. Herten habe im Vorfeld es eigentlichen Verfahrens von der Standortentscheidung erfahren und alle Möglichkeiten des Einspruchs. Auch der LWL habe vorgabengemäß gehandelt (HA 5.2.97 „Grüne: Horstmann korrekt“) - erneute Prüfung der 18 in Frage kommenden Standorte und neuerlicher Beschluss des LWL-Gesundheits- und des Landschaftsausschusses für Herten als Standort; die letzte Entscheidung liegt bei der Landesregierung - zur Verdeutlichung: die Beschlüsse lauten, Herten als Standort dem Land NRW vorzuschlagen, das eigentliche Verfahren ist noch gar nicht eröffnet. Bislang wurde das nicht deutlich. „Hier fällt heute keine Entscheidung über den Standort, sondern lediglich ein Vorschlag für die Entscheidung des Landes“ hatte der juristische Berater des LWL, Dr. Stüer, in den Sitzungen betont. „Wenn das Land diesen Vorschlag nicht will, soll es anders entscheiden. Das Land trägt als Bauherr jetzt rein juristisch die Verantwortung“ (HA 8.2.97 „LWL bekräftigt: Die Klinik soll nach Herten“) - UBH organisiert Demonstration mit Mahnfeuer - Demo mit Fackelumzug, 1500-2000 DemonstrantInnen (WAZ 8.2.92 „Entsetzen im Fackelschein“, HA 8.2.97 „Herte - Bürgermeister Scholz kündigt rechtliche Schritte bis zum Bundesverwaltungsgericht an (HA 8.2.97 „Die Stadt darf nicht vor die Hunde gehen“) - von der Stadt in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten widerspricht dem des LWL, wonach das Land unter
21.2.
26.2.
14.4.
15.4.
Umgehung der kommunalen Planungshoheit im Allgemeinwohl-Fall umgehen darf. HA 8.2.97 „Im Tauziehen um die Forensik haben jetzt die Juristen das Wort“ - Gutachten über den Standortentscheidungsprozess, das vom Land in Auftrag gegeben war, wird veröffentlicht – und sofort kritisiert (WAZ Herten 22.2.97 „Scharfe Kritik am Forensik-Gutachten“) - Ministerpräsident Rau schickt einen Brief an die Hertener Stadtspitze zur Veröffentlichung nach Kenntnisnahme durch den Stadtrat bestimmt, in dem er die rechtlichen Grundlagen und seine Haltung erläutert – dieser Brief trifft auf scharfe, zum Teil polemische Kritik (z.B. WAZ Herten 5.3.97 „Kasperek fordert Stop der Forensik-Pläne“) - Klinik in Eickelborn beantragt Aufnahmestopp wegen ständig wachsender Überfüllung Westfalenpost 15.4.97 „Eickelborn will Aufnahmestopp“ - die SPD führt eine Fragebogen-Aktion unter allen Mitgliedern zum Thema Forensische Klinik durch, nimmt aber die Ergebnisse schon vorweg, weil auf der im Anschluss und vor Auszählung stattfindenden Vollversammlung Beschlüsse zu den Punkten: Ablehnung des Standortes Herten für eine forensische Klinik“, „weitere Unterstützung der Unabhängigen Bürgerinitiative Herten (UBH) und des Elisabeth-Krankenhauses“, “Konsequente Beschreitung des Rechtsweges zur Verhinderung der Sonderklinik“ und „Vergabe eines eigenen Gutachten-Auftrages zur Prüfung anderer Standorte“ auf der Tagesordnung stehen (WAZ Herten 27.3.97 „Forensik am Schloß: SPD fragt die Basis“ und HA 29.3.97 „Forensik: SPD fragt alle 1700 Mitglieder“) - auf der Vollversammlung, die allerdings nur von etwa 100 Mitgliedern besucht wurde, wird gefordert, Rau solle „seinem offenbar überforderten Gesundheitsminister alle weiteren Entscheidungen zum Thema „Forensik“ entziehen“ – auch an der Fragebogenaktion hatten sich nur etwa 10% beteiligt (HA 16.4.97 „Scharfe Attacke gegen Horstmann“)
153
Die Entscheidung verzögert sich, weil wegen der von Herten angekündigten rechtlichen Schritte vom zuständigen Ministerium zuerst alle juristischen Fragen geklärt werden sollen, insbesondere die, ob es in Herten juristisch möglich ist, gegen den Willen der Kommune zu bauen, ob also der § 37 Bundesbaugesetz Anwendung finden kann. 17.4.
19.4.
21.4.
22.4.
28.4. 154
- der LWL bestätigt den Aufnahmestopp für Eickelborn – mit Folgen für die Sicherheit: zur Therapie eingewiesene Täter müssen nun im normalen Gefängnissen oder der Psychiatrie untergebracht werden, in denen die Sicherheitsstandards nicht annähernd so sind wie im Maßregelvollzug (Neue Westfälische Zeitung 16.4.97 „Aufnahmestopp für Eickelborn verhängt“) - Die Bielefelder Neue Westfälische Zeitung meldet, die Ablehnung von Herten sei im Ministerium beschlossen – das dementiert - CDU-Fraktion der Landschaftsversammlung erwägt Klage gegen Horstmann wegen Untätigkeit – weil „nach 7 Monaten intensiver Standortdebatte, nach eindeutigen Fachgutachten und nach bereits zweimaliger StandortBeschlußfassung durch die LWL-Gremien“ noch nichts passiert sei (HA 19.4.97 „Untätigkeit: CDU prüft Klage gegen Horstmann“) - Die Zeitschrift Fokus meldet ebenfalls ohne Quellenangabe, Herten sei als Standort abgelehnt – ebenfalls ohne Bestätigung. Als Alternativen werden Dorsten, Marl-Sinsen, Dortmund-Mengede und Herne genannt, die auch auf der LWL-Liste der 18 möglichen Standorte stehen (Fokus 21.4.97 „Sturkopf im Regen NRW-Premier Rau stoppt Minister Horstmann: Die Sextäter-Klinik in Herten wird nicht gebaut“, S.46) - das Ministerium dementiert, dass bereits eine Entscheidung gefallen sei, macht aber klar, dass fünf andere, vom LWL in die engere Wahl gezogene Standorte ebenfalls in die Prüfung einbezogen sind - Die Bürgerinitiative in Marl nimmt daraufhin ihre Arbeit wieder auf (WAZ Herten 23.4.97 „Forensik: Weiter warten“) - Öffentliche Ratssitzung zum Thema Stand der Forensik-
7.5.
12.5. 13.5.
Debatte, auf der der Bebauungsplan dahingehend geändert wird, dass das fragliche Gelände Freifläche bleiben muss, das bestehende Landschaftsschutzgebiet ausgeweitet wird und eine dort stehende 250 jährige Eiche zum Naturdenkmal erklärt wird (WAZ Herten 29.4.97 „Forensik-Gelände soll Freifläche bleiben“) Die Stadt hatte ein Gutachten in Auftrag gegeben, worin dem Grünzug Emscherbruch, Schlosswald, Schlosspark hohe Bedeutung zugesprochen wird – über die Resonanz war nichts zu finden, es ist nur von „gutbesetzter Zuhörertribüne“ die Rede. (HA 29.4.97 „Neue Hürden gegen Forensik: Grünzug soll gesichert werden“). - Der Kreis Soest kritisiert die mögliche Abkehr von Herten, weil damit die lange, sachgerechte und teure Standortsuche ignoriert und die Gremien des LWL brüskiert würden (dpa-Meldung vom 28.4.97 „Kreis Soest kritisiert „Willkür“-Entscheidung gegen Herten“) - Horstmann gibt bekannt, dass nach Untersuchung des LÖBF mit dem Bauplatz Herten „Belange von Natur und Landschaft erheblich beeinträchtigt würden“ (HA 7.5.97 „Forensik: Belange von Natur würden beeinträchtigt“) - Benefiz-Konzert des Elsabeth-Krankenhauses zugunsten der UBH - Minister Horstmann verkündet in einer Pressekonferenz den Beschluss, den Standort Herten aufzugeben. Das Hauptargument dabei sind „erhebliche Zweifel an der rechtlichen Durchsetzbarkeit eines Standortes Herten…zumal die Durchsetzung eines solchen Klinikbaus gegen den Willen der Gemeinde mit Hilfe des § 37 bundesweit ohne Vorbild sei“ („Informationen der Landesregierung 287/5/97). Die der Entscheidung des LWL für Herten zugrunde liegenden maßregelvollzugsfachlichen Erwägungen seien sachlich richtig, es seien aber baurechtliche Gründe zu wenig berücksichtigt worden. „Diese rechtliche Problematik ist in Umfang und Schwere so zunächst nicht erkannt worden“. Offenbar war das von der Stadt Herten in Auftrag gegebene Gutachten so überzeugend. Der Minister „beugt sich mit dieser Entscheidung, die er am Dienstag bekannt gab, den juristischen Argumenten der Gegner dieses Projektes“ 155
(FAZ 14.5.97 „Forensische Klinik in Herten wird nicht gebaut“) (Veröffentlichung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit, Soziales „Pressekonferenz mit Gesundheitsminister Dr. Axel Horstmann Thema: Dezentralisierung des Maßregelvollzugs in Westfalen-Lippe“ 13.5.97) Statt des geplanten Neubaus, mit dem ja auch ein neues Sicherheitskonzept verwirklicht werden sollte, sollen nun bereits bestehende Einrichtungen, den Landeskrankenhäusern, ausgebaut werden. Das bedeutet eine Integration forensischer und allgemeinpsychiatrischer Einrichtungen – diese Entscheidung widerspricht ausdrücklich der Grundsatzstrategie prinzipieller Selbständigkeit forensischer Einrichtungen des LWL. Ebenfalls in die Überlegungen miteinbezogen werden sollen Justizvollzugsstandorte. Des Weiteren soll das Maßregelvollzugsgesetz dahingehend geändert werden, dass der Schutz der Bevölkerung als Vollzugsziel verankert wird sowie eine Widerrufsregelung für Freigangsregelungen. Ferner wird eine Qualitätsverbesserung der Gutachten angestrebt. - Der LWL äußert Bedenken, da solche Abteilungen „Aus Sicherheitsgründen „kaum zu vertreten““ sein. „Solche Zwergabteilungen sein zudem teurer und könnten nicht das gleiche Therapieangebot bieten wie Kliniken mit 80 bis 90 Plätzen.“ (WAZ Herten 14.5.97 „Die Hertener jubeln leise“ und HA 14.5.97 „Der Weg wird jetzt noch steiniger“) Der Direktor des LWL findet das eine „unfaßbare Entscheidung“ und der Oberkreisdirektor von Soest kommentiert: „Der Protest der Straße hat Horstmann dazu bewogen, Herten endgültig zu kippen“ (WAZ Herten 14.5.97 „Lob und Tadel für Minister“) Außer für die regionale Presse ist diese Entscheidung des Ministeriums auch wieder Gegenstrand überregionaler Presse: es berichten unter anderem die FAZ (s.o.), die Bild (“Psycho-Klinik Herten gestoppt“), der Kölner Stadtanzeiger („Umstrittene Klinik in Herten wird nicht gebaut“), die Westdeutsche Zeitung („Das Baurecht als Krücke“), Süddeutsche Zeitung („Hertens Bürger setzen sich durch“), Neue Ruhr Zeitung („Rückzieher: Keine Klinik nach Herten“ und „Hertener Drehbuch“). Die Rheinische Post („ Hertens Bürger sind erleichtert“ und „Der Umfaller“), taz („Aus für Hertener Straftäterklinik“), Frankfurter Rundschau („Forensische Klinik gegen die Bevölkerung nicht durchzusetzen“), 156
Aachener Nachrichten („Ein Minister auf dünnem Eis“) – alle zitierten Artikel sind vom 14.5.97. Ganz überwiegend wird die Art kritisiert, wie das Verfahren durchgeführt wurde, ganz besonders jedoch das Ergebnis. Bei den Fachleuten herrscht die Ansicht vor, dass eine größere, eigenständige Einheit sicherer und mit besseren Therapiemaßnahmen auszustatten ist – was wiederum mittel- bis langfristig ebenfalls für mehr Sicherheit sorgt. Der Verstoß gegen die LWL-Richtlinien und gegen das Neubau-Konzept wird dem Minister als Einknicken vor dem Protest angerechnet, die juristischen Bedenken überwiegend als vorgeschoben klassifiziert. Dadurch aber, dass sie als das entscheidende Argument vorgebracht wurden, mache Horstmann einen Neubau überall unmöglich, da er, wie zu vermuten stehe, nirgends gegen den Willen der Kommune / Stadt durchführbar sei. Der Grund für die neue Idee, die PatientInnen auf die Landeskrankenhäuser zu verteilen, wird allgemein in dem Versuch gesehen, damit weniger Gegenwehr hervorzurufen. Die Situation für Eickelborn hat sich nach übereinstimmender Meinung damit weiter verschärft. So überwiegt dann auch vor allem die Einschätzung, damit die Lösung erschwert zu haben. Die Frage, was denn nun bezüglich der drängenden Probleme stattdessen zu tun sei, dominiert die Berichterstattung bei gleichzeitigem Verständnis für die Ängste der Hertener Bevölkerung und Unverständnis für die unsensible Vorgehensweise von LWL und Ministerium. Neben den Politiker/innen des LWL, die sich brüskiert fühlen und die Entscheidung aus fachlicher Sicht nicht nachvollziehen können (s.o.), reagieren auch die Bevölkerung von Eickelborn und deren Politiker/innen entsetzt. Die Hertener Stadtspitze gibt gemeinsam mit der UBH und dem ElisabethHostpital eine Presseerklärung heraus, in der die Entscheidung auf ihre überzeugenden Argumente zurückgeführt wird, ebenso die Leitung des SPD Unterbezirkes Recklinghausen „Die Vernunft hat gesiegt“ 14.5.
- LWL lehnt mit einer Gegenstimme das Konzept, forensische PatientInnen auf vorhandene Psychiatrische Kliniken zu verteilen, ab und verurteilt einmütig die Entscheidung des Ministers (HA 15.5.97 „Minister löst damit Flächenbrand aus“). - Der LWL bleibt bei seiner Entscheidung für Herten - die Klinik Eickelborn will nun auch nach den in Herten angelegten Kriterien prüfen, ob Eickelborn nicht zurückgebaut werden müsse (HA 15.5.97 „Minister löst damit Flächenbrand aus“) - für die Durchführung des ministeriellen Beschlusse, 157
19.6.
22.7.
25.9.
16.12.
forensische Abteilungen an bestehende Psychiatrien anzubauen, kommt auch Herten in frage - im weiteren Verlauf spuken immer wieder Gerüchte und heftige Ablehnungsbekundungen von unterschiedlichen Seiten durch die Presse - auch die Direktorenkonferenz der psychiatrischen Krankenhäuser der Bundesrepublik spricht sich gegen die Unterbringung in angegliederten Abteilungen aus „Dies sei eine verhängnisvolle Entwicklung“, weil die Patienten gar nicht vernünftig betreut werden könnten“ (WAZ Herten 20.6.97 „Forensik bleibt beim LWL ein Thema“) - auf einen Versuch des LWL-Direktors, für den Bau einer Forensik in Dorsten zu werben, reagieren dortige Bevölkerung und Politiker/innen sofort mit heftig ablehnender Betriebsamkeit, Ratsbeschlüssen und einem Brief an Rau - die Marler Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die im Waldgebiet Haard ohne direkte Stadtnähe liegt und wofür die ansässige Psychiatrie weichen müsste, kommt wieder als möglicher Standort ins Gespräch, woraufhin sich dort sofort Widerspruch regt - erstmals kommt Herne als möglicher Standort in der Presse ins Gespräch, der LWL äußert sich dazu nicht (HA 16.12.96 „Forensik in der JVA Herne?“)
Chronologie der BI-Geschichte 1996 18.9. 23.9.
158
- erstes Treffen eines Aktionsbündnisses - Unabhängige Bürgerinitiative Herten e.V. (UBH) wird gegründet, eine weitere in Westerholt, beide schließen sich aber sehr schnell zusammen Mitgliedsbeiträge (20 bzw. 10 DM) und Spenden sollen der Finanzierung dienen - das Aktionsbüro der Stadt Herten wird auch als Anlaufstelle, als einzige Kontaktaufnahmemöglichkeit neben einer Postfachadresse für die BI zur Verfügung gestellt. Die BI betont selbst die engen Zusammenarbeit mit der Stadt: „Die BI habe sich aus einer Gruppe von Bürgern formiert, um den Widerstand der Stadt zu unterstützen“ sagt ein Mitglied des Vorstandes auf der
24.9.
27.9. 28.9. 1.10.
3.10.
5.10. 9.10.
11.10.
ersten Versammlung (WAZ Herten 2.10.96 „Bürger wehren sich – aber friedlich“) und „Wir haben das Gefühl, dass wir unsere Vertreter im Rathaus in dieser schweren Stunde unterstützen müssen“ (HA 3.10.96 „Landschaftsverband kein leichter Gegner“) - Mahnwache der UBH am geplanten Forensik-Standort für ein in Bayern ermordetes Mädchen – Details s.o - Beginn der Arbeit des ‚Aktionsbüros’ im Glashaus - Aufruf der UBH, Protest-Plakate in Vorgärten und Fenster zu hängen - ein Autohaus spendet die Erlöse einer PR-Aktion (WAZ Herten 27.9.96 „Ansturm auf die Bürgerinitiative“) - erste öffentliche Bürgerversammlung der UBH: Wahl des Vorstandes, Bildung von Arbeitskreisen - Die Arbeitskreise sollen sich mit den Themen: Stadtteile/Nachbarstädte, Info-Stände, Landschaftsschutz, Benefiz-Veranstaltung am 3.11., Aktionen, Rechtsfragen befassen - Der Unternehmer Heinz Wenger ruft zur „Formierung und mehrjährigen Ausbildung einer Bürgerwehr“ auf, dem wird aber massiv widersprochen (HA 2.10.96 „Widerstand: Glashaus so voll wie noch nie“) - Ausdrückliche Betonung der Absicht „im Rahmen demokratischer Mittel Widerstand zu leisten“ (WAZ Herten 2.10.96 „Bürger wehren sich – aber friedlich“) - Übergabe der Unterschriftensammlung an den Ministerpräsidenten, bei der auch Mitglieder der BI dabei sind - Menschenkette von Gelsenkirchen-Resse entlang des geplanten Baugeländes - Anfang Oktober wird ein Rechtsanwalt mit der Prüfung beauftragt - UBH hat, 14 Tage nach der Gründung, 251 Mitglieder - UBH organisiert Fahrt nach Münster, um vor dem Landeshaus während der Sitzung des Gesundheits- und Krankenhausausschusses zu protestieren (HA 5.10.96 „Die Südhang-Bebauung bewusst vergessen?“) - das Mahnfeuer wird gegenüber des geplanten Bauplatzes entfacht - UBH organisiert eine zweite Fahrt nach Münster, um vor 159
20.10.
21.10 22.10.
25.10.
27.10.
29.10.
dem Landeshaus während der Sitzung des Landesausschusses zu protestieren - über 600 Mitglieder (HA 11.10.96 „Jetzt Druck in Düsseldorf gegen Klinik“) - UBH verteilt 40.000 Flugblätter „UBH-Info Nr.1“ in Herten und Umgebung83 - distanziert sich von Gruppen, „die das Forensik-Thema nutzen wollten, um radikale Forderungen zu verbreiten und zu Gewalttaten aufzurufen“ (HA 21.10.96 „Großdemo gegen Forensik am 4. November in Düsseldorf“) - UBH will verstärkt Nachbarstädte einbeziehen - eine Gruppe von 20 Apotheker/innen spendet 3.000 DM - UBH bekommt eigene Telefon- und Fax-Anschlüsse, das Büro im Glashaus ist von 10-16 Uhr mit zwei Mitgliedern besetzt - inzwischen sind fast 1.000 Mitglieder zu verzeichnen - UBH lehnt Gespräch mit Horstmann ab, da es lediglich Alibi-Funktion habe, die zugestandene Zeit (20 Min.) zu kurz sei und eine „ehrliche Gesprächsbasis“ fehle (HA 26.10.96 „UBH: Eine ehrliche Gesprächsbasis fehlt“) - Mitgliederzahl bei fast 1200 - 8 UBH Mitglieder sprechen doch mit Minister Horstmann, eine Stunde lang während eines SPD-Festes in Gelsenkirchen (HA 28.10.96 „Horstmann: Vor einem Bauantrag werden wir alle Standorte kennen“) - erste Mitgliederversammlung der UBH findet im großen Sitzungssaal des Rathauses statt mit ca. 400 Personen und in Anwesenheit des Bürgermeisters, der auch die Begrüßung spricht - Wahl des Vorstandes (einstimmige Bestätigung des bisherigen), Satzungsänderung, ein Hertener HobbyMusiker führt das von ihm komponierte Lied „Wir sind das Herz vom Ruhrgebiet“ zusammen mit seiner Tochter auf - UBH sucht Klagewillige bei voller Kostenübernahme (HA 31.10.96 “UBH sucht Forensik-Kläger – kein finanzielles Risiko!“) - bislang rund 50.000 DM an Spenden und
83 s. dazu auch die Analyse der natürlichen Daten, III.2
160
1.11. 3.11.
6.11. 8.11.
18.11.
Mitgliedsbeiträgen gesammelt (WAZ Herten 31.10.96 „Forensik-Gegner tanken Kraft“) - UBH pflanzt am geplanten Bauplatz zwei Apfelbäume - Benefiz-Veranstaltung der UBH von 9-23 Uhr, „Mit dem Erlös soll der Kampf gegen die Ansiedlung einer Sonderklinik …finanziert werden“(HA 29.10.96 „Riesiges Fest im Kampf gegen die Forensik Herten“): Ökumenisches Morgengebet, Frühstücksbuffet Ab 10.30 Uhr in der Gesamtschule Jugendfußball, JudoWettkämpfe, Basketball-Vorführungen, Rollschuh-Schaulaufen, Autogrammstunde mit bekanntem Fußballspieler, diverse Bands und Musikgruppen, Männerchöre, Tanzvorführungen, Kinderprogramm Verköstigung durch Hertener Gastronom/innen weitgehend gespendet Tombola mit Preisen um 60.000 DM aus Spenden, u.a. eine dreitägige Reise nach Paris mit Eintritt ins Euro-Disney oder ein Motorroller, Abends Varieté-Programm, nur das kostet Eintritt (HA 29.10.96 „Herten feiert: UBH-Mammutfete mit Stars) „Fast an jeder Brust haftete der „Herten wehrt sich“ Button. Aktive und Besucher zeigten, daß es sich um ein buntes Fest, aber auch um einen friedlichen Protest drehte“ (WAZ Herten 4.11.96 „300 Friedensblumen für Herten“) Es kommen 40.000 DM Reinerlös zustande, die UBH zählt 20.000 Besucher (HA 5.11.96 „UBH: 40.000 Mark Reinerlös aus Benefiztag“) - Mahnwache der UBH bei der Anhörung im Düsseldorfer Landtag zum Thema Forensik - Laternen-Sternmarsch für Kinder und Eltern zum geplanten Bauplatz, dort Mahnwache, UBH ruft ausdrücklich dazu auf, auch Plakate und Transparente mitzubringen (HA 7.11.96 „Laternen gegen Klinik: Sternmarsch der UBH“) - Brief der UBH an den von Minister Horstmann am 12. eingesetzten Gutachter mit der Bitte, einen Ortstermin wahrzunehmen und die Argumente der Gegner/innen anzuhören - Bürgertreffen unter dem Motto „Der Schloßpark gehört uns“ mit Drachenflug- und Luftballonwettbewerb (HA 161
5.12. 20.12. 1997 29.1.
7.2.
10.2. 9.3.
18.3.
26.3.
31.10.96 „Heißer Herbst: Protest gegen die StraftäterKlinik füllt den Kalender“) - Wein- und Kunstauktion zu Gunsten der UBH erbringt Spende von 13.000 DM - UBH verteilt das „UBH-Info Nr.2“84
- Angebot der UBH, einen Fahrdienst für Mitglieder der Gesundheits- und Landschaftsausschüsse zum geplanten Bauplatz zu organisieren - BI verteilt 45.000 Flugblätter „12 Punkte, die wir nie vergessen werden“85 - Fackeldemonstration mit Kundgebung (WAZ Herten, 6.2.97 „Linssen beklagt schlechten Stil des LWL“, HA 6.2.97 „Forensik-Großdemo: Das Ende der Stille“) - Wagen der UBH beim Recklinghäuser Karnevalsumzug - Demonstration vom Rathaus zum noch immer bestehenden „Mahnmal“ mit Transparenten, Trillerpfeifen, übergroßem schwarzen Hampelmanns, der die Gesichtszüge von Minister Horstmann trug und den Kinder gegen geringes Entgeld zappeln lassen konnten, dem Steigen lassen von 750 weißen Luftballons mit dem Aufdruck ‚Herten wehrt sich’ (HA 7.3.97 „Demo: UBH läßt den Hampelmann tanzen“) und einer kurzzeitigen Straßensperre. Teilnahme: etwa 1000 DemonstrantInnen (WAZ Herten 10.3.97 „Forensik-Gegner stoppen den Verkehr“); im Mittelpunkt steht das „12 PunkteProgramm“ der BI - Brief der UBH an die Minister Rau und Horstmann mit harscher Kritik am Gutachten und am bisherigen Verfahren: „Sie haben der Hertenern in Düsseldorf Verständnis vorgespielt und ein faires Verfahren versprochen, und nichts von alldem ist eingelöst worden. Der Versuch, die Klinikansiedlung in Herten vorzubereiten, ist eine Geschichte mit Täuschung, Trickserei und Gesetzesumgehung“ (zitiert nach HA 19.3.97„UBH an Rau: Nicht entmutigt“) - Start der Rennsaison der Seifenkisten-Rennen in Herten
84 s. dazu auch die Analyse der natürlichen Daten, III.2.2 85 s. dazu auch die Analyse der natürlichen Daten, III.2.2
162
15.5.
31.5. 13.6.
20.6.
30.10.
mit Benefiz-Veranstaltung und Rahmenprogramm: Musik, Kinder-Seifenkisten-Fahren, Kinderfest, Ess- und Trinkständen. Gefahren wird ganz offiziell um den „Großen Preis der UBH“, beim Fest gibt es wieder gestiftete wertvolle Preise zu gewinnen, u.a. einen PKW - UBH kündigt Fest im Sommer und Auflösung im Herbst an sowie den Willen Einzelner, am Thema Forensik weiterzuarbeiten „Wir habe so viele Kontaktegeknüpft und u - das Aktionsbüro im Glashaus wird geschlossen - UBH kündigt Termin für Bürgerfest und Auflösung an mit der Begründung „Wir haben das Ziel erreicht“ (Kurier zum Sonntag 14.6.97 „UBH feiert“) - Bürgerfest der UBH als „Dankeschön“ für die Hilfe (HA 18.6.97 ’Dankeschön’ der UBH: Spaß in der Innenstadt“), bezahlt von Coca-Cola als Sponsor (WAZ Herten 21.6.97 „UBH dankt mit bunter Fete“) - letzte Mitgliederversammlung mit ca. 200 Personen, Vorlage des Abschlußberichtes86, Beschluss der Auflösung der UBH „Wenn der Stadt erneut Gefahr droht, stehen wir genauso schnell wieder auf“ Vorstand der UBH (HA 16.10.97 „UBH-Mitglieder sind zur Auflösung des Vereins eingeladen: „Ziel ist erreicht“) nach heftigen Debatten mit 120 Ja-, 35 Nein-Stimmen und 27 Enthaltungen „Sollte die Stadt wieder bedroht werden, werden wir uns mit Vehemenz und allen erforderlichen Mitteln wieder zur Wehr setzen“ sagte die Vorsitzende. Sie beschließt satzungsgemäß, die restlichen Gelder, das sind noch rund 60 000 DM der „Aktionskasse“ (WAZ Herten 21.6.97 „UBH dankt mit bunter Fete“ und (HA 31.10.97 „UBH „danach“: Aus Freunden wurden Gegner“) sozialen Einrichtungen (City-Kinderprojekt, Kinde im Mittelpunkt stand, sondern der Streit um Auflösung oder Fortbestand“ HA 1.11.97 „Kommentar: Andere Ziele“)
86 siehe dazu auch die Analyse der natürlichen Daten, III.2
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Bilanz der UBH: Aktive: fast 500 Telefonate: 500 000 Einheiten Arbeitsstunden: 40 000 Mitglieder: über 2100 (WAZ Herten 21.6.97 „UBH dankt mit bunter Fete“, HA 16.05.97 „UBH blickt nach Monaten zurück: Es hat sich gelohnt“ und 16.10.97 „UBH-Mitglieder sind zur Auflösung des Vereins eingeladen: „Ziel ist erreicht“) Spenden: von Unternehmen, der Kaufmannschaft, der Werbegemeinschaft „Wir in Herten“, von SPD, CDU, FDP, Mitarbeiter/innen der Elisabeth-Klinik, Privatleuten
III.3.2 Fall 1 Die Besonderheit dieses Interviews liegt darin, dass zwei Personen am Interview teilgenommen haben, Frau A und Herr B. Daraus ergeben sich Spannungsbögen, da sich die beiden in einigen Punkten deutlich widersprechen, und hervorragende Ansätze für die Analyse, wo diese Unterschiede nicht offen angesprochen werden. Im Rahmen der Feinanalyse wird das verdeutlicht. Die beiden Personen sind miteinander verheiratet, zum Zeitpunkt des Interviews zwischen 55 und 60 Jahre alt und haben zwei erwachsene Kinder.
III.3.2.1 Sequenzanalyse Zur besseren Verfolgbarkeit bzw. Verständlichkeit der Interviewzitate zunächst die Transkriptionsregeln (in Anlehnung an Hildenbrand 1999:31f): [ Überlappen von Redebeiträgen , kurzes Absetzen (.) Pause, 1 Sek. (4) Pause, Dauer in Sek. = schnell anschließender Redebeitrag normal Betonung ! besonders starke Betonung (!) Stimme heben . Stimme senken (?) Frageintonation (lauter) Kommentar der Transkribendin Stelle mit Besonderheiten beim Sprechen, z.B. schneller oder Text lauter – die Erläuterung folgt dann in Klammern, z.B.: Interviewtext (schneller) 164
Dieses Kapitel enthält die Ergebnisse der Schritte ‚sequentielle Text- und Thematische Feldanalyse’ und ‚Feinanalyse’87 . Im Fall 1 wurden 147 Sequenzen gesetzt, nach den Kriterien Sprecher/innenwechsel, Textsorte (Erzählung, Beschreibung, Argumentation, Meinung) und Themenwechsel. Dadurch wird die sequentielle Gestalt des Interviews sichtbar, mit der dann weiter gearbeitet werden kann: „Generelles Ziel der Analyse ist es, herauszufinden, welche Mechanismen die Auswahl und Gestaltung sowie die temporale und thematische Verknüpfung der Textsegmente steuern“ (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1999, S.153). Im vorliegenden Interview finden Sprecher/innen-Wechsel dann statt, wenn die beiden interviewten Personen sich mit Begriffen aushelfen, zu dem Gesagten etwas ergänzen wollen oder anderer Ansicht sind. Die beiden ersten Aspekte sind hier von weniger großem Interesse, unter anderen Forschungsfragen (z.B. biografischen oder interaktionistischen) sähe das anders aus. Besonders wichtig ist hier der dritte Aspekt. An diesen Stellen werden, bis auf wenige Ausnahmen, vorhandene Differenzen in den Sichtweisen der beiden verdeckt dadurch, dass sie als Ergänzung zum Gesagten dargestellt werden, so etwa in der weiter unten vorgestellten Eingangssequenz. Diese Art, mit unterschiedlichen Ansichten umzugehen, birgt auch für meinen Fokus viel Material. Die so gewonnenen Schlüsse bilden einen Teil der notwendigen Basis für die im Kapitel III.3.2 folgende Kontrastierung mit den Ergebnissen der obigen Chronologie der Ereignisse. Zudem finden diese verdeckten Differenzen bei der Konstruktion der Typen Verwendung und helfen, die gebildeten Hypothesen zu bestätigen oder zu verwerfen. Da vier dieser Passagen nicht ohne weiteres zu verstehen waren, wurden sie mithilfe einer Feinanalyse interpretiert, um Hypothesen über die Einschätzung und die Sichtweise auf den Verlauf der Proteste bzw. der Bürgerinitiative formulieren zu können. Die anderen Sequenzen sind nach den Kriterien Wechsel von Textsorte und Themen vergeben. Im Folgenden werden, die Chronologie des Interviews erhaltend, die Sequenzen vorgestellt, die für die Analyse besonders aufschlussreich waren. Wie eingangs erwähnt, sind in der Darstellung die Ergebnisse der Analyseschritte zwei und vier zusammengefasst. Als Hypothesen haben sich ergeben: 1. Da als Textsorte die Argumentation überwiegt, kann man auf einen tiefliegenden Konflikt dieses Thema betreffend schließen.
87 Zur Vorgehensweise der Narrationsanalyse s. Kap. II.5, Methoden
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2. Die Situation der Stadt und der Bürgerinnen und Bürger werden als benachteiligt dargestellt. 3. Es ist den Interviewten wichtig, die Stichhaltigkeit und Rationalität der ablehnenden Haltung zu betonen. 4. Die Ereignisse werden sehr emotional erinnert, stärker an damaligen Stimmungen als an konkreten Geschehnissen orientiert. 5. Die Interviewten fühlen sich von überregionalen Politiker/innen und von der Presse ungerecht behandelt. Die erste Fundstelle, die einer Feinanalyse unterzogen wurde, ist der Anfang des Gesprächs, die Reaktionen auf die Einstiegsfrage danach, was den interviewten Personen einfällt, wenn sie sich an die fragliche Zeit zurückerinnern („Wenn Sie sich noch mal zurückerinnern an die Zeit(!) is ja alles ne Weile her 1996 war das ähm was fällt Ihnen so ein (?)“). B: Ja es war ne richtje Volks(!)bewegung (.) äh würd ich sagen ne euphorische(!) Stimmung, ne(?) ne euphorische Stimmung gegen(!) die Forensik die sich auch unwahrscheinlich A: Jaaa (5) euphorisch(?) zunächst ma Angst(!) ne(?)] B: ja ja(!)(betont, energisch) aber ne euphorische(!) Stimmung ne (!) den zeigen wer das lassen wir uns nicht gefallen. A: Und viel Unsicherheit(!) und eben so das Gefühl, dass man total überrumpelt . wurde. B: Natürlich Ja(!) A: denn also es is hier(!) die Politiker haben ja sogar behauptet sie hätten nichts gewusst(!) aber die Bevölkerung(!) hat mit Sicherheit(!) nie im Leben daran gedacht, dass ausgerechnet Herten(!) als Standort in Frage kommen könnte dass da was gesucht(!) wurde, hat man ja im Fernsehen gehört, ne(?), sind ja immer wieder Berichte gekommen aus Eickelborn und die Zustände da und dass also dringend was gemacht werden muss . und dann war ja lange Zeit Marl im Gespräch das Hardtheim, und dann hieß es in Dorsten hätten sie sich was ausgeguckt ja und dann von einem Tag zum anderen plötzlich Herten . Also es war n richtiger Schock ne(!?) B: Es war n Schock(!) und äh deswegen auch sachte ich ja euphorisch(!) die Stimmung, also (.) da gehen wer gegen an das lassen wir uns nicht gefallen“ (Z 6-23).
In seinem ersten Satz spricht Herr B von einer ‚Volksbewegung’ und zweimal von euphorischer Stimmung, die geherrscht habe. Frau A hatte nach der zweiten Erwähnung der Stimmung parallel zu sprechen begonnen und widerspricht, indem sie die Stimmung mit „Angst“ beschreibt. Herr B bleibt bei seiner Einschätzung einer euphorischen Stimmung, belegt das jedoch mit einer als eher als trotzig zu interpretierenden Haltung „den zeigen wer das lassen wir uns nicht gefallen“ Z (Z 10/11). Wiederum schließt Frau A scheinbar zustimmend an. Es folgt aber aus den angesprochenen Inhalten, dass sie die Ansicht von Herrn B nicht teilt: „Und viel Unsicherheit (!) und eben so das Gefühl, dass man total überrumpelt (.) wurde .“ (Z 12). Das wird mit einer Erzählung über den Hergang 166
im Vorfeld der Auswahl belegt, während der von Herten nie die Rede gewesen sei, und endet mit der Feststellung des Schocks, den die Stadt erlitten habe. Herr B schießt zunächst bestätigend mit „Es war n Schock (!)“ an, fährt dann aber fort „und äh deswegen auch sachte ich ja euphorisch(!) die Stimmung“ (Z 21), wieder belegt mit dem eher trotzigen oder widerständigen „also (.) da gehen wer gegen an das lassen wir uns nicht gefallen“(Z 22). Dass trotz scheinbarer Zustimmung bzw. fehlendem offenen Widerspruch sehr unterschiedliche Einschätzungen herrschen, lässt sich schon hier daran belegen, dass die Emotionen Unsicherheit, Gefühl der Überrumpelung und Schock den Grundtenor von Frau As Antworten bilden, während Herr B zwar zustimmt, dennoch während der gesamten Anfangspassage von euphorischer Stimmung spricht, belegt mit den als trotzig bis selbstbewusst zu interpretierenden Haltungen wie „den zeigen wer“ (Z 10), „das lassen wir uns nicht gefallen“ (Z 10/11 und Z 22). Direkt anschließend, ohne Stimmsenkung oder Pause, mit der Passage „und ich entsinn mich an eine(!) Sache“ (Z 22) verknüpft, erzählt er die erwähnte Geschichte, die er von einem Bekannten gehört hat. Danach sei der Minister von der Endgültigkeit der Entscheidung für Herten überzeugt gewesen. Der Fahrer des Ministers habe ein Gespräch mitgehört, nach dem jeder Protest aussichtslos und Herten als Standort beschlossene Sache sei. Auch hierin ist kein Beleg für die erwähnte euphorische Stimmung zu finden. Die plausible Erklärung für diese Verknüpfung ist die, dass er damit die Jetzt-erst-recht-Haltung erläutern will, wenn sie als Reaktion darauf interpretiert wird, dass die Bevölkerungsmeinung bei den überregionalen Politikern keine Rolle spielte. Ein Beleg für diese These ist die Erzählform: direkte Rede bei der Aussage des Fahrers in Z 26/27, obwohl er ganz klar sagt, dass ihm diese nur erzählt worden ist. Die zeitlich Einordnung dieses Ereignisses bleibt unklar; bis auf den Hinweis zu Beginn der Erzählung, die im schnellen Anschluss erfolgt „=als es schon im grund genommen fast vorbei(!) war als alle sachten nä kann jetzt nix mehr passieren“ (Z 23/24) gibt es dazu keine Fundstellen. Im weiteren Verlauf kommt er auf die Versammlung in der Gesamtschule zu sprechen, die aber ganz am Anfang stattfand. War also die kolportierte Aussage des Ministers vor der Versammlung? Das ist allein aus zeitlichen Gründen schon unwahrscheinlich, wird aber durch die Überleitung zwischen den beiden Themen Ministergespräch und Gesamtschulversammlung („Wir ham dann ja hier auch Versammlungen gehabt, zum Beispiel in der Gesamtschule(!)“ (Z 29)) durch die eine Auslöser-Reaktionskette suggeriert wird, nahe gelegt. Damit ergibt sich aber ein Widerspruch zur oben zitierten Zeile 23/24. Die plausible Lösung ist demnach die, dass damit die von ihm so anders als von Frau A beschriebene Stimmung belegt und gleichzeitig die Unterschiede in den Beschreibungen als Ergänzung dargestellt werden sollen. 167
Die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, dass er die Stimmung als „euphorisch“ und „das lassen wir uns nicht gefallen“ darstellt, was zwei unterschiedliche Emotionen beschreibt, wäre durch die Verknüpfung mit der Interpretation, dass seiner Ansicht nach die Meinung der Bevölkerung nicht zählte, ebenfalls zu erklären. Auch die eingangs verwendete Kombination von „euphorisch“ und „gegen“ (Z 7), ist erklärungsbedürftig, weil man nach üblichem Sprachgebrauch nicht euphorisch gegen etwas sein kann, klärt sich in dieser Sicht. Somit handelt es sich hier um eine Schlüsselstelle für das Verständnis von Herrn Bs Einschätzung der Ereignisse. Die Tragfähigkeit dieser Annahme wird sich im Verlauf der weiteren Analyse erweisen müssen. Hier wird schon deutlich, dass Herr B stärker emotional beteiligt ist und erzählt, Frau A möglichst sachlich und der Chronologie entsprechend berichten möchte. Im Anschluss an die Eingangssequenz folgt nach kurzen Überlegungen darüber, wie der gegründete Verein bzw. die Bürgerinitiative hieß, die Erzählung von Herrn B über den Abend in der Gesamtschule. Fraglich ist, warum er an dieser Stelle das Thema wählt; der Abend hat mit der Bürgerinitiative nichts zu tun, die erst einige Tage später gegründet wurde. Aufgerufen dazu hatte, da es sich um eine öffentliche Ratssitzung handeln sollte, die Stadt. Herr B erzählt, dass es turbulent zugegangen sei und eine Frau, die sich für die Forensik ausgesprochen habe, ihn um Begleitschutz nach Hause gebeten hätte (Z 37-44). Übergangslos erfolgt dann die Beschreibung, dass viele Bürger/innen dem „Verein“ beigetreten seien, belegt mit der Argumentation, es sei nach Auflösung noch viel Geld übrig gewesen (Z 44-53). Der nächste Themenwechsel erfolgt, wieder abrupt, in Z 54-58, nachdem F und M überlegt haben, an wen das übriggebliebene Geld gespendet wurde, mit einer Argumentation: „B: Aus Mitgliedsbeiträgen, ja aber s sind sicherlich auch irgendwelche Sponsoren da gewesen [A: Ja, denke ich auch] denn es war in der ganzen Stadt verbreitet(!) eine Angst(!) die ja (.) meines Erachtens auch nich unbegründet(!) war“.
Offenbar verknüpft Herr B hier Gründe für den massenhaften Beitritt und das hohe Spendenaufkommen mit ersten Angaben zur Motivation, an diesen Protesten aktiv teilzunehmen bzw. Geld dafür zu spenden. Die nächsten Sequenzen sind Argumente dafür, dass diese Angst vor allem in der ungeeigneten Standortwahl begründet sei, wobei Herr B in Sequenz 16, Z 66-68 seine Meinung über Erfolgschancen forensischer Therapie anhängt: „und durch ne Ansammlung äh ne? man muss ja sagen Krimineller(!) bei denen ich bezweifle(!) ob eine Besserung möglich ist, so verunsichert werden dass man natürlich Angst gehabt hätte da spazieren(!) zu gehen“.
Die folgenden Sequenzen bauen inhaltlich aufeinander auf. Es werden unterschiedliche Parteien mit ihren Motiven, gegen den Bau der Forensik zu sein, aufgeführt, die Textsorten werden entsprechend gewählt. Herr B schließt mit 168
„Gott sei dank ja auch erfolgreich(!) gewehrt“. Frau A äußert Skepsis, ob dieser Erfolg von Dauer ist, worauf die einer Feinanalyse unterzogene Passage der Zeilen 99 ff folgt. Hierbei handelt es sich um eine Stelle, an denen Herr B und Frau A sich, entgegen des typischen Verhaltens, offen widersprechen. Die erste dieser Ausnahmen findet sich in den Zeilen 106ff, nachdem Frau A in Form einer Argumentation (in den Zeile 99-105) dargelegt hat, dass der Bau einer Forensik nur mit Gewalt wird durchzusetzen sein, da sich keine Stadt dazu bereit erklären würde: „A: Und ich denke es muss halt auch ne Lösung gefunden werden und die werden (.) [B: sicher] irgend ne Lösung mit Gewalt(!) durchsetzen denn anders gehts gar nicht . welche Stadt will unbedingt ne forensische Klinik haben? (2) Die werden sich alle(!) dagegen wehrn und sie werden alle(!) darauf verweisen dass es ja in Herten geklappt hat und warum solls dann bei ihnen nicht klappen ne(?) und irgendwann (.) muss halt dann mit Gewalt(!) ne Lösung durchgesetzt werden“
Dann folgt die fragliche Passage: „B: (Name von A) . ich bin ja gar(!) nicht gegen eine forensische Klinik . ich äh [A: Nein (!) nur an diesem Platz(!) war es falsch.] B: (energisch, ärgerlicher, etwas unwirscher Tonfall): Ich hätte auch nix dagegen, wenn sie irgend wo am Rande von Herten gebaut würde aber doch nicht da(!), wo Volksfeste stattfinden [A: Ja, ja, sicher], wo äh die besten Erholungsplätze der Hertner Bürger sind also da kann mir doch keiner erzählen“.
Offenbar reagiert Herr B verärgert auf etwas, das Frau A nicht direkt gesagt hat. Ihr Einwurf „Nein(!) nur an diesem Platz war es falsch“, auf den er nicht reagiert, legt die Interpretation nahe, dass er sich gegen einen Vorwurf wehrt, es sei um eine generelle Ablehnung der Forensik gegangen. Er legt offenbar großen Wert darauf deutlich zu machen, dass nur der gewählte Standort neben dem Schlossparkgelände, nicht der Bau einer forensischen Klinik in Herten, Grund für die ablehnende Haltung sei. Dieser Punkt wird weiter unten, in Kapitel III.3.2.2, noch aufgegriffen werden. Erklärungsbedürftig ist dann weiter der völlig übergangslose Themenwechsel von seiner Kritik am Leiter des Landschaftsverbandes in Z 112-119, die sich auf dessen Äußerungen auf einer Veranstaltung mit Bürger/innen in Herten bezieht, und über die er sich noch immer sehr erregt, zum Thema der Demonstration in Münster: „dann so eine Zynik von diesem Doktor sowieso der damals da (.) der Leiter vom Landschaftsverband war ja wenn diese hohe Mauer stören(!) würde, dann könne man ja auch n tiefen Graben machen und die Mauer da rein setzen dann würde die ja nicht mehr so hoch rausgucken(!) und dann sei dem ganzen doch ehe so zu sagen schon der Zahn ausgebrochen . also das war eine derartije derartijer(!) Zynismus (!) ähh (.) also [A: Ja ja] da hätte glaube ich au nich viel gefehlt dann hätte man den Menschen also wirklich tätlich(!) angegriffen .
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In dieser Zeile (119) findet der angesprochene, zu erklärende Themenwechsel statt: „angegriffen . wir sind ja auch unter anderem ähm mit großen Schülergruppen nach Münster gefahren und haben vor dem Gebäude (.) des LWL äh protestiert(!) (.) man kann darüber streiten ob nun Schüler äh (atmet hörbar aus) welcher Altersgruppen auch immer(!) in der Lage sind solche Dinge zu überschauen=und äh überhaupt in der Lage sind den Ernst ! der Sache zu erfassen und wirklich mit Ernsthaftigkeit da zu protestieren.“.
Warum werden die beiden Themen – Kritik an der Äußerung des Leiters des Landschaftsverbandes und Wiedergabe der Kritik an den Demonstrationsteilnehmer/innen – so übergangslos verbunden? Da sich diese Stelle so nicht erschließt, versuchte ich über den Ablauf von Meinung, Erzählung, Argumentation und wieder Erzählung einen Zugang zu bekommen. In der Argumentation mit Frau A reagiert Herr B im Interview (der erzählten Situation) emotional, was, wie der Verlauf zeigt, zu einem Wiedererleben der als von starken Emotionen geprägten Begebenheit mit einem Vertreter des LWL (der erlebten Situation), die er dann schildert, führt. Das ist mit einer Steigerung der Intensität dieser Gefühle verbunden, die in den Äußerungen der Zeilen 118/119 gipfeln. Der übergangslose Themenwechsel zur Demonstration in Münster wird mit „wir sind ja auch unter anderem“ (Z 119) eingeleitet. Dieses „auch unter anderem“ lässt als plausible Interpretation die übrig, nach der eine als sozial unerwünscht klassifizierte Situation mit einer ganz anderen relativiert werden soll. Da die emotional aufgeheizte, bei der Prügel in der Luft liegt, hier die ordentlich verlaufene, lustige Demonstration mit Kindern. Es hat also „auch“ andere Ereignisse gegeben, die sogar in der Mehrzahl waren. Das legt die Betonung von „anderem“ nahe. Aus den vielen möglichen Beispielen greift er eines heraus. Die in Zeile 119 begonnene Beschreibung wird dann fast augenblicklich wieder durch eine Argumentation unterbrochen, dadurch dass er in Zeile 120 die an der Mitnahme von Kindern geäußerte Kritik anfügt. Herr B argumentiert zunächst nicht dagegen, sondern stimmt indirekt dem Argument zu, die Schüler/innen hätten den Ernst der Lage nicht erkannt, indem er anfügt, dass sie die Demo wie einen freien Tag aufgefasst hätten. Frau A stimmt dem zu und fügt an, dass die Schüler/innen die Veranstaltung als lustig empfunden hätten, dem stimmt Herr B wiederum zu. Frau A bringt dann das Ganze von der Beschreibung zur Argumentation, indem sie präzisiert, die Kritik habe sich auf die Mitfahrt von Kindergartengruppen bezogen, „und die wussten nu wirklich nicht wogegen se protestiern“ (Z 129). B greift das auf und argumentiert nun für die Mitnahme (Z 130-136): B: „Ja aber auf der anderen Seite äh Politiker die werde doch sehr hellhörich(!) wenn also (.) Kinder(!) eingeschaltet werden weil se dann wissen hinter den Kinder
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stehen halt auch die Eltern(!) [(A): Ja, ja.] und die Eltern sind potentielle Wähler(!) und äh die potentiellen Wähler möchte man ja nun nicht unbedingt verprellen und damit verlieren(!) denn die nächsten Wahlen die (.) weiss zwar nich wann die nächste Wahl wa wenn das 1996 war wann stand die nächste Wahl an ?(.) kannich ga nich ma sagen“.
Hier schwingen zwei Aussagen mit: Die Mitnahme der Kinder wird als Instrument benannt und gerechtfertigt („wenn also (.) Kinder(!) eingeschaltet werden“ Z 131). Mit dem Hinweis auf das Hellhörigwerden der Politiker/innen verweist er auf einen anderen, für Bürgerinitiativen lebenswichtigen Punkt, die Öffentlichkeit. Fügt man gedanklich die hier nicht erwähnten Medien hinzu, bei denen Demos, die etwas Besonderes zu bieten haben oder bei denen gute Fotos zu machen sind, mehr Aufmerksamkeit der Journalistinnen und Journalisten erlangen und über diesen Weg dann auch die der Politiker/innen88, wird die Argumentation pro Mitnahme plausibel. Herr B schließt mit „aber das ist in jedem Fall auch ein (.) Entscheidungspunkt mit der Politiker da n bisschen aufhorchen lässt“ (Z 138/9). Offenbar sind also die durch den Medieneinsatz erhofften Solidarisierungseffekte, die zusätzlich zu mobilisierende Öffentlichkeit gemeint. Nach einer kurzen Pause wird der nächste Themenwechsel von der Interviewerin veranlasst, die nach der schon mehrmals erwähnten Allianz, der Einheit der Protestierenden fragt. Herr B beginnt mit der Erwähnung von Dorsten, fragend ob das die Stadt ist, die er meint und die als Vorbild gedient habe. Frau A hilft mit „Ne, es war erst Haltern [B: Ach Haltern]“ aus. Herr B weitet sein Argument dahingehend aus, dass der Leiter des Krankenhauses und der Pfarrer der nahegelegenen Gemeinde, der auch im Vorstand des Krankenhauses war, die Bürger/innen mitgerissen hätten. Beides ist als Argumentation zu lesen: die Stellen liefern Argumente dazu, warum der Protest in Herten so schnell geklappt hat. Er schließt mit: „also das war schon beeindruckend(!) das war für mich sehr beeindruckend zu sehen(!)(schneller) dass sich die Bürger wirklich in so einem Falle(!) massiv wehren(!) und zur Wehr setzen“ (Z 154-156).
Dann folgt bis Z 161 übergangslos eine Erzählung über Befürworter/innen, mit der er auf die oben gestellte Frage der Interviewerin (N) eingeht: „auch wenn es äh natürlich zwischen bestimmten Bürgergruppen so kleine äh (.) ja Wortrangeleien gegeben hat=nicht direkt äh äh tätliche Rangeleien äh für und wider die meisten waren gegen(!) die Forensik aber es hat einige! gegeben die dafür warn und vor allem Dingen die Grünen ! (schneller) . die haben sich also zu diesem Zeitpunkt in Herten äußerst! unbeliebt! gemacht dadurch dass sie also offen! öh für den Bau dieser Forensik eingetreten sind“. 88 vgl. zu dieser Thematik auch die Kapitel II.3.2.2 „framing“ und „agenda setting“, II.4.4 – 5, sowie die fallbezogene Analyse in Kapitel III.4.
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Hier sprechen die starken Betonungen in den Zeilen 158-160 und die Wortwahl „offen!“ gegen den bislang als friedlich beschriebenen Verlauf89. Frau A relativiert mit „Ja vor allen Dingen an dieser Stelle“ (Z 162), Herr B bestätigt, und Frau A fährt dann damit fort, die Darstellung in der Presse zu kritisieren: „dass also die Hertner jetzt hier nach diesem St. Florians-Prinzip ne(?) [N: Hmm] sich benehm“ (Z 165/6). Diese Darstellung sei falsch; dass grundsätzlich etwas passieren müsse sei klar, nur gegen die gewählte Stelle habe sich der Protest gerichtet. Sie argumentiert dann (Z 171-175): „und der Grund dafür war ja nur(!) dass der Landschaftsverband da ein Grundstück hatte [N: Hmm] das ihm eben gehörte(!) die sind Besitzer dieses Eckchens da neben dem Krankenhaus und die haben gedacht wenn sie als Grundstücksbesitzer jetzt da los legen kann ihnen keiner was (2) kann ihnen keiner an die Karre (!) fahrn [N: Hmm] kann keiner was dagegen unternehmen ne(?)“.
Erklärungsbedürftig hier ist vor allem die dreimalige Wiederholung. Offenbar will sie damit erklären, warum der Landschaftsverband trotz heftiger Proteste so lange an dem Standort festhielt. Dieses Argument, auch an anderen Stellen noch angeführt, erscheint den beiden als das einzige, mit dem sie sich dieses Verhalten erklären können. Die dreimalige Wiederholung betont das Fehlen anderer Gründe und die Festgefahrenheit der Situation, die offenbar nicht als Austausch von Argumenten und Entwicklung, also als Dialog, gesehen wurde, sondern als Stillstand und stures Festhalten an alten Begründungen. Zieht man andere Stellen hinzu, erhärtet sich das Bild. So stellt Herr B auch später das Verhalten des LWL als trotzig dar, Frau A argumentiert an der Stelle, an der sie die Gründe des LWL nachzuvollziehen sucht, genauso wie bereits hier90. Herr B schließt mit einer Erzählung an, wie die Stadt durch Änderung des Bebauungsplanes und Erklärung des fraglichen Grundstücks zum Landschaftsschutzgebiet dem sehr schnell etwas entgegen setzte. Frau A entlarvt diese Handlungen als Strategie durch die Wortwahl der Erzählung der Zeilen 185-187: „sogar n Gut(!)achten geschrieben von irgendwelchen alten Eichen(!) die da stehen und die also sehr schützenswert sind und was weiß ich was da noch alles wachsen sollte“.
Diese Thematik, insbesondere die schnelle Reaktion der Stadt, bleibt bis zur Zeile 208 mit wechselnden, sich ergänzenden Sprecher/innen erhalten. Herr B schließt mit: „Ja ja da hat also die Regierung gar nicht mehr handeln können (!), da war ihnen schon der Weg verbaut.“ (Z 207f).
N hinterfragt diese scheinbar abschließende Sicherheit durch das Statement, dass die Proteste aber doch noch lange weitergingen. Herr B stimmt zu und benennt die noch bestehende Verunsicherung als Grund, was dem vorher Gesagten aber 89 Genaueres dazu beim Vergleich mit den Ergebnissen der Zeitungsartikelanalyse in III.4 90 vgl.weiter unten die Interpretation der Zeilen 365ff
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widerspricht. Auch Frau A argumentiert in die vorherige Richtung, indem dem Landschaftsverband Scheu vor jahrelangen Prozessen zugeschrieben wird. Auch habe der damalige Ministerpräsident von NRW durch ein „Machtwort“ (Z 220) die Sache beendet. Beides erklärt nicht die anhaltenden Proteste. Die Argumentation lässt sich verstehen, wenn man den Zeitabstand bedenkt; beide sehen die Ereignisse gerafft, kommen von der einen, chronologisch eingeführten Situation – das Gelände wird zum Landschaftsschutzgebiet erklärt – zum Gesamterfolg. N fragt dann nach dem Grund für die Reaktionen der Stadt Herten, die Herr B mit der Argumentation, die Politiker wären sich sicher gewesen, dass die Bevölkerung hinter ihnen stand, beantwortet. Mit der Überleitung „wobei man immer wieder sagen muss (schneller und lauter)“ (Z 230) folgt auf die Meinung über die Notwendigkeit, diese Patient/innen unterzubringen, wobei gleichzeitig die Erfolgschancen der forensischen Medizin bezweifelt werden, dann eine Argumentation zur fehlenden Eignung des Standortes. Herr B und Frau A wechseln sich dann mit Argumentationen bzw. Erzählungen zu den Themen eines allgemeinen Forensikkonzeptes und der Standortwahl ab. Dabei sind sie sich bis zur Zeile 254 einig, in der Frau A die Beschreibung des Umgangs mit forensischen Patienten in den Niederlanden beginnt: „Nö das muss auch wirklich nich sein [B: Nö(!)] ..) Obwohl (!)auf der andern Seite(!) (.) ich mein . was mich immer wieder wundert sie haben ja dann im Fernsehen auch so Berichte aus Holland gezeicht nu weiß man natürlich nie in wie weit die gefärbt(!) sind und ob das so stimmt(!) (schneller) und die haben ja ihre forensische Kliniken in Holland mitten in der Stadt (hoch und schneller) und zwar in Häusern, die überhaupt nicht speziell gesichert(!) sind die gar nich besonders auffallen(!) und die Patienten(!) oder (.) Häftlinge oder wie man sie nennen soll (.) die arbeiten (!)in ganz normalen Betrieben(!) in Holland zum Teil auch in Familien(!) ne.“(Z 254260).
Offenbar weiß sie, dass Herr B anderer Meinung ist, da entgegen der typischen sehr ruhigen und überlegten Sprechweise hier eine emotionale Beteiligung deutlich wird, in den schnell gesprochenen Passagen der Zeilen 256-258 und den auffallend vielen Betonungen. Herr B reagiert auch sofort mit emotionaler Beteiligung: B: (energisch) „Ja nun muss man aber dazu sagen [A: Wie das dort] äh das ist auch sicher sicherlich eine Mentalitätsfrage . also die Holländer sind mit vielen Dingen wesen oder gehen mit vielen Dingen wesentlich leichter(!) um als wir in Deutschland“ (Z 261-263).
Im direkten Anschluss folgt eine Erzählung eines Erlebnisses aus der Lüneburger Heide, nach der das niederländische Militär ein „unzuverlässiger Haufen“ (Z 268) sei, in wörtlicher Rede die Einschätzung eines offenbar deutschen Militärpostens wiedergebend. Frau A bleibt noch bei ihrer Einschätzung: 173
„Aber (.) offensichtlich gibt es doch da keine größeren Probleme(!) denn man hat ja nichts gehört(!) B: „Das sind aber auch kleinere(!) Einheiten. (sehr energischer, verärgerter Tonfall)“ A: „Ja das is das is ja das was ich halt auch von Anfang an gesacht hab: son Massenunternehmen wie Eickelborn das ist Wahnsinn!(!)“ (Z 270-274).
Die Frage, warum Herr B an der Stelle Z 263 eine Erzählung einfügt, die zunächst nichts mit der Thematik Forensik zu tun hat, klärt sich auch wieder bei der Betrachtung der Reaktion von Frau A. Offenbar reagiert er weniger auf das, was sie sagt, als auf die dabei mitschwingenden Diskussionen während der heißen Phase der Bürgerinitiative. Zunächst fällt ihm bei der Erwähnung des Beispiels Niederlande nichts zur Thematik passendes ein, das die fehlende Vergleichbarkeit illustrieren würde, auf die er, wie sich im Verlauf zeigt, hinaus will. Deswegen erwähnt er eine Geschichte, die zumindest schon mal die Unterschiede zwischen deutscher und niederländischer Mentalität belegen soll. Erst auf den Einwurf von Frau A, es gäbe aber doch keine Probleme, womit sie wieder zur Thematik zurück führt, fügt er nun ein Argument an, das sich tatsächlich auf die behauptete mangelnde Vergleichbarkeit der deutschen und niederländischen Systeme bezieht, das Frau A auch sofort aufgreift und, nun wieder zustimmend, ausdifferenziert. Herr B relativiert ihre Argumente dadurch, dass die Möglichkeiten, das gemalte Szenario durchzusetzen, für unrealistisch erklärt (Z 274-281): A: „das ist wie mit diesen Riesenschulen(!) wenn so was unüberschaubar(!) wird und wenn man die Leute nich mehr einzeln kennt(!) und nich mehr einzeln ansprechen kann, dann bringt das nix [B: Ja!] also für meine Begriffe wärn wirklich kleinere(!) Häuser mit sagn wer mal ner Handvoll Patienten höchstens ne [B: Ja nur] das wäre die Lösung aber wo [B: “Nur das scheitert wieder daran dass kein Geld ! da is für die Betreuung ! (langsam, jedes Wort sehr betont)] A: „Ja und dass eben keine Betreuer(!) da sind klar(!)“.
Gründe dafür, vom beherrschenden Muster der zustimmenden Ergänzung abzuweichen, liegen also vor, wenn Themen angesprochen werden, die zu der fraglichen vergangenen Zeit strittig waren oder in den geführten Auseinandersetzungen eine Rolle gespielt haben. Insbesondere scheint das für Herrn B zu gelten, der darauf emotional reagiert. In den nächsten Sequenzen wird das aufgestellte Argument, das niederländische Modell sei nicht übertragbar, weil die Betreuer/innen fehlten, überwiegend von Herrn B mit einer Erzählung untermauert, in der eigene Erfahrungen mit einem psychisch Kranken und der Hertener Psychiatrie geschildert werden. Danach geht es darum, wie schwierig es sei, im Bedrohungsfall ohne bereits erfolgt Straftat polizeiliche Hilfe zu bekommen. Mit „…aber wir sind vom Thema abgekommen“ (Z 339) beendet Frau A diese lange Passage. 174
Eine andere Interpretation, warum Herr B an dieser Stelle das Beispiel der eigenen Erfahrung mit einem Patienten der Psychiatrie einführt, wäre die Annahme, damit solle die Unsicherheit des forensischen Konzeptes bzw. sein Unbehagen damit belegt werden. Dafür sprechen die sehr emotionale Beschreibung mit vielen Betonungen und die Darstellung der ganzen Situation als bedrohlich und Angst einflößend. Zieht man andere Stellen hinzu, erhärtet sich diese Lesart. Es finden sich zwei Stellen, in denen er die Wirksamkeit forensischer Therapie anzweifelt: Die weiter oben schon erwähnten Z. 66ff und die Zeilen 229-233: „bewundernswerte Solidarität gegen diese Maßnahme wobei man immer wieder sagen muss (schneller und lauter)(.) jeder halbwegs intelligenter Mensch sieht ein dass diese Leute irgendwo unter(!)gebracht werden müssen obwohl ich (.) der Ansicht bin (.): nur ganz ganz wenige(!) können durch therapeutische Maßnahmen (.) eventuell geheilt werden aber sie müssen(!) halt untergebracht werden“.
Die Haltung zum Forensikkonzept wird in III.4. thematisiert werden. Ein dritter Beleg für die oben genannte Lesart sei hier noch angeführt. Während der Erzählung weist Frau A auf den Unterschied zwischen psychiatrischen und forensischen Patienten/innen hin, was Herr B so nicht gelten lässt (Z 292-297): A: „Jaja auch durch den Garten die konnten ja auch in den Park und so ich mein nun is sind ja . (.) is ja nich vergleichbar(!) die Leute die in Herten [B: Nein! Natürlich!] einsitzen das sind ja nun keine gefährlichen Leute die sind (.) einfach gestört und die brauchen ne Therapie(!) ne. aber das ist jetzt niemand der (.) irgendwie auffällig oder jetzt so auffällig geworden wäre dass man vor denen Angst(!) haben müsste ne. B: (betont) “Aber unsere Tochter hat Angst gehabt“
N fragt dann nach Emotionen, von denen auch in den Zwischenerzählungen viel die Rede war. Herr B und Frau A beschreiben dann in den Zeilen 343-346, sich gegenseitig ergänzend oder unterbrechend, die Gefühle als Zusammengehörigkeitsgefühl, eher in Richtung ‚sich Mut machend’ bei Frau A, in Richtung ‚nicht gefallen lassen’ bei Herrn B: B: „Euphorie äh so! . so wir können [A: so n so n Wir-Gefühl] etwas tun als Bürger ne(?) Wir-Gefühl. zusammengerückt so! . den [A: wir schaffen das jetzt] zeigen wir jetzt“.
Herr B argumentiert dann, das habe die Politiker von der Ernst- und Dauerhaftigkeit des Protestes überzeugt, wobei er die Bedeutsamkeit des Zusammenschlusses betont. Für ihn ist eine Bürgerinitiative offenbar etwas außergewöhnliches, ihm eher Fremdes. Damit belegt er in den Zeilen 346-350 dieses Argument: „zeigen wir jetzt und (.) ich denke das is auch ähh bei der Regierung und beim LWL rüber(!)gekommen die ham zwar gedacht sie können die Leute unterbuttern und irgendwann würden sie ein(!)brechen aber das war eben nich der Fall(!) vor allen Dingen dadurch äh dass sich die Menschen(!) ja eben auch (.) unwillig die Deutschen gehen eigentlich nich so gerne innen Verein ich eigentlich auch nicht äh dass
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die sich in diesem Verein zusammengeschlossen haben und gesacht habn so! gemeinsam hauen wer euch wirklich was vorn Latz das! geht! hier nicht!.“.
Der Anschluss mit „vor allen Dingen dadurch“ (Z 346/7) erscheint zunächst unlogisch, die folgende Aussage unverständlich, da Deutsche häufig in Vereinen organisiert sind. Vermutlich meint Herr B aber diese Art Verein, also Bürgerinitiativen, was zumindest für die Klientel dieser Bürgerinitiative stimmt. Zwar gibt es schon länger auch andere als die ‚klassischen’ Bürgerinitiativen, wie sie z.B. Teilen der Umweltschutzbewegung repräsentiert werden. Da sie aber üblicherweise nur eng regional begrenzt agieren und auch sehr kurzlebig sind, werden sie von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Protest wird in der Regel mit Krawall und anderen sozialen Schichten oder Altersgruppen in Verbindung gebracht. Zu dieser Demo- und Protestklientel zählt Herr B sich und die „Deutschen“, damit ist übersetzt wohl die Mehrheit der Hertener/innen gemeint, nicht. Öffentlich protestieren, die Aufmerksamkeit auf sich lenken, gar noch überregionaler Medien und des Fernsehens, ist ihm unangenehm91. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass im direkten Anschluss eine Kritik an der Medienberichterstattung folgt. Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen ist per se unangenehm, jede negative Äußerung wird dann offenbar sehr stark als Kränkung und Ungerechtigkeit empfunden. Die überwiegend sehr positive Berichterstattung der Printmedien findet hier, wie auch bei den anderen Interviews, keine Erwähnung92. In der Kritik an der falschen Darstellung in den Medien sind sich beide einig. Frau A schließt daran wieder die Erwähnung anderer Vorschläge seitens lokaler Politiker/innen, die aber vom Landschaftsverband nicht beachtet worden seien. Herr B stimmt zu und unterstellt dabei dem Landschaftsverband die Argumentation, er könne als Besitzer des Grundstückes ohne Rücksicht auf die Bevölkerungsmeinung den Bau durchsetzen. Auch hier (Z 365/6) wird ein Stimmungsbild von verhärteten Fronten und eher trotzigen Reaktionen gemalt: B: „Neinnein für die war das Argument hier is unser Platz(!) hier haben wir das Sagen(!) und da könnt ihr euch quer stellen wie ihr wollt das ziehn wer durch“.
Frau A argumentiert im Anschluss (Z 369-374), der Landschaftsverband hätte selbst schwer unter Druck gestanden, einen Platz für das Krankenhaus zu finden. Ihre Argumentation scheint aber zunächst unlogisch: A: „Und ich denke mal beim Landschaftsverband war das auch (!)mehr so ne Angstreaktion denn die hatten ja auch die Faust (!)im Nacken . Es war glaube ich grade kurz vorher wieder irgendwas passiert mit Leuten die aus Eickelborn ausgebrochen sind [N: Ja hmm] und da hatte es schon jede Menge Krawall gege(!)ben und jetzt (.) 91 vgl. dazu auch die Stellen aus dem Interview mit Herrn C, 239fff, in denen er seine Erfahrungen mit der Presse schildert 92 s. dazu auch die Kapitel III.2.3 und III.4.2.3
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haben die wahrscheinlich auch gedacht das ist die Gelegenheit jetzt setzen wers durch(!) (3) ne.“.
Gerade, wenn es vorher Unruhe und eine stark ablehnende Haltung der Öffentlichkeit durch die reißerische Pressemeldungen gegeben hat, kann man doch nicht erwarten, dass sich der Bau einer solchen Klinik problemlos durchsetzen lässt, es sogar „die Gelegenheit“ sein soll. Verstehbar ist es aber als Zustimmung zu Herrn B, dass nämlich der Besitz an dem Stück Land das entscheidende Kriterium für die Hartnäckigkeit des Landschaftsverbandes und die geringe Neigung, auf die Bedenken der Bevölkerung einzugehen, gewesen ist. Herr B verlässt danach (etwa Zweidrittel der Gesamtzeit des Interviews) wegen eines anderen Termins den Raum, das Interview wird nur noch mit Frau A weitergeführt. Auf die Frage nach der Stimmung in der Stadt antwortet sie mit einer Erzählung, dass der geplante Bau häufig Thema in Gesprächen unter Bekannten gewesen ist, sie mit Fremden aber nicht ins Gespräch kam. Sie erzählt dann noch über die lange Dauer, während der es widersprüchliche Meldungen gab. Die Aufgabe der Pläne, in Herten zu bauen, sei dann ebenfalls völlig überraschend gekommen. Auf die Frage danach, warum der Protest so funktioniert hat, antwortet sie mit einer Argumentation, dass „sich jeder(!) persönlich angesprochen gefühlt hat“ (Z 409/10) und zählt einige Bevölkerungsgruppen auf. An zwei Stellen schimmert dabei die später in Kapitel III.4. noch Erwähnung findende Darstellung von Herten als besonders benachteiligt auf, was einer genaueren Klärung bedarf. „es hat ja im Grunde jeden betroffen . Die Geschäfts(!)leute die natürlich auch Angst(!) hatten . dass das wieder zu Geschäftseinbußen führt wenn (.) überall drüber geredet wird dass da irgendwelche Irre durch die Stadt rennen und Herten is ja eh nicht die (!)Einkaufsstadt“ (Z 413-415).
Und in Zeile 453, auf die Nachfrage: „Is wohl offenbar so n neuralgischer Punkt“, die sich auf den Schlosspark bezieht: „Jaja! Genau . das is so ungefähr das einzige was Herten zu bieten(!) hat ne s is ja drumrum nix .“ In der folgenden Sequenz fügt Frau A ein Beispiel an, die Streichung der finanziellen Mittel für die Jugendarbeit, bei denen es keine Protestbewegungen gegeben habe, weil nur bestimmte Gruppen betroffen waren. Ganz kann die Argumentation der Betroffenheit aber die konstant hohe Beteiligung über den ganzen Zeitraum nicht erklären, denn im angeführten Beispiel kämen ja auch viele Betroffene zusammen: die Jugendlichen, deren Eltern, die in der Jugendarbeit Beschäftigten und deren Institutionen, z.B. die Kirchen. Interessant ist die Wortwahl in den Sequenzen, in denen es um die Thematik der Gründe für die Beteiligung an Protesten geht: „persönlich angesprochen“ 177
(Z 410), “jeden betroffen“ (Z 413), „war einfach n Thema das von für jede Bevölkerungsgruppe von Interesse war“ (Z 418), „jeder angesprochen gefühlt“ (Z 425), „jeder aus der Bevölkerung seine Interessen vertreten sieht“ (Z 439) „durchgängig alle anspricht“ (Z 445). Diese sehr sachliche und distanzierte Beschreibung der Motivation lässt auf ein Thema schließen, das eben ‚von Interesse’ ist und alle ‚anspricht’, aber hohe emotionale Beteiligung nicht hervorruft. N fragt dann nach einer möglichen Wiederholbarkeit des gemeinsamen Protestes. Frau A hält das für möglich wegen der positiven Erfahrungen, betont aber im weiteren, dass es nur bei einem Thema funktionieren könne, „dass (2) durchgängig alle anspricht“ (Z 445). Sie versucht dann, ein Beispiel zu konstruieren, ihr fällt aber nur ein nicht ernst gemeintes über den Schlosspark ein: „würde mir im Augenblick (8) gar kein Thema einfallen vielleicht wenn se den Schlosspark dicht machen würden das könnte so ne ähnliche Wirkung haben (lacht)“ (Z 446f).
Sie beendet das Thema mit dem oben genannten Zitat (Z 453f), einer erneuten Betonung der Bedeutung des Parks und der Benachteiligung Hertens. Der nächste Themenwechsel kommt wieder von N, die nach etwaiger Opposition fragt. Frau A fängt mit einer Erzählung an, dass die Grünen den Bau befürwortet hätten, fügt aber sofort an, dass deren Gründe ihre Meinung nach wenig einleuchtend gewesen seien: Sie fährt mit einer Argumentation fort, in der sie die Ablehnungsgründe erneut eindeutig am Standort Schlosspark festmacht. Das sei in den Medien falsch dargestellt worden. Die Grünen hätten argumentiert, dass es solche Einrichtungen geben müsse, was aber gar nicht der eigentliche Anlass für die Protestbewegung gewesen sei. Sie relativiert diese Aussage allerdings sofort: „ das is ja das ich habe ich glaub ich habs vorhin schon mal gesagt das is ja das was in den Medien(!) eigentlich auch falsch dargestellt wurde es ging ja überhaupt(!) oder sag mal nich überhaupt es ging nicht hauptsächlich darum dass man jetzt hier in Herten keine forensische Klinik wollte . (.) natürlich war man nicht wild darauf (betont) is klar.“ (Z 468-472).
In den folgenden Sequenzen wechselt sie zwischen Beschreibung und Argumentation, wenn sie noch einmal das „Überrumpelungsmanöver“ (Z 472) erwähnt und argumentiert, mit einer gemeinsamen Standortsuche hätte man das Problem regeln können. Sie betont nochmals die Bedeutung des Parks und argumentiert, wenn Herten noch mal als Standort ins Gespräch käme könne es bei besserer Vorbereitung funktionieren93. Frau A beendet diese Passage mit
93 vgl. dazu die gegenteilige Meinung im Fall 2
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einer Beschreibung über passendere Grundstücke und der erneuten Darstellung von Herten als benachteiligt (Z 486-488) : „die Leute da von der Stadt haben tolle Pläne und ham alle möglichen Ausschreibungen gemacht aber es besteht ja kaum Interesse wer will unbedingt nach Herten . (2)“.
Sie argumentiert weiter, die Überrumpelung und das Gefühl, die Interessen der Bevölkerung zählten nicht, sei „eigentlich auch mit der Auslöser(!)“ der Proteste gewesen. Hier ist eine der ganz wenigen Stellen, an denen sie emotional gefärbt reagiert: „werden hier überhaupt nicht ernst genommen(!) unsere Interessen (.)werden (.) überhaupt nich gesehn unsere Vorstellungen interessieren niemanden (.) wir kriegen das jetzt einfach hier so vorn Kopp geknallt was is das denn fürn Vor(!)gehen ?“ ( Z 493-495).
Frau A schließt dann relativierend und wieder mit sehr ruhigere Stimme mit „Das war vielleicht auch son bisschen auch der Anstoß.“ (Z 495/6) Auf die Nachfrage von N, ob auf den Versammlungen auch so reflektiert argumentiert wurde, antwortet sie in den Zeilen 500-506 mit einer Beschreibung: „Von von einigen(!) ja also einige haben (.)sich eben besonders (.)heftig dagegen gewandt dass man so überfahren wurde als Stadt= das war immer wieder n Thema, ja andere haben eben, (.) im Vordergrund gesehen dass dieser Standort völlig unmöglich war=n Teil hat natürlich auch grundsätzlich dagegen protestiert dass ne forensische Klinik hierher sollte (.) aber (.)einige haben das wirklich ganz (.) ganz deutlich so geschildert dass sie sich völlig überfahren gefühlt haben dass das kein demokratisches Vorgehen war, und dass ihnen das eben auch nich gepasst hat .“.
Die Betonungen, Wiederholungen und schnellen Anschlüsse deuten darauf hin, dass dieser Punkt für Frau A von Bedeutung ist. Es bleibt zu klären, ob das daran liegt, dass das ihre Meinung ist oder ob sie die Sachlichkeit des Protestes betonen möchte. Die wiederholte Wahl des Wortes „einige“ deutet eher auf eine Beschränkung der Anzahl hin. Dafür sprechen auch der letzte Satz der vorherigen Passage „Das war vielleicht auch son bisschen auch der Anstoß“ (Z 495/6), sowie die Betonungen in Zeilen 503/4 „ aber (.) einige haben das wirklich ganz (.) deutlich so geschildert“ (Z 504/5). Auf Ns Frage nach der von Herrn B als hochemotional geschilderten Versammlung in der Gesamtschule relativiert sie dessen Erzählung durch eine eigene, bei der eine indirekte Beurteilung der Frau, die Herrn B gebeten hatte, sie nach Hause zu begleiten, weil sie sich bedroht fühlte, im Vordergrund steht. Aber auch hier wird deutlich, dass die Stimmung sehr aufgeheizt war (Z 511517). „und da is sie (.)sie war gar nicht als Rednerin auf der Liste aber sie hat sich gemeldet und hat dann gesagt sie (.)wäre eine von den wenigen in Herten die für diese Forensik is und konnte aber dann nicht (lacht) groß weiter reden weil . sie nach drei bis vier Sätzen eben wirklich schon niedergebrüllt wurde= und dann is sie wieder
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vom Rednerpult gegangen und dann hatte sie wohl aber das war mehr son son kippliges Gefühl es hat ihr jetzt keiner vor aller Öffentlichkeit Prügel angedroht ne . (.) nur sie hatte wohl den Eindruck also wenn sie jetzt da durch diese Menge muss dann kriegt sie irgendwas an Kopf“.
Auf Ns Frage nach der Versammlung beginnt Frau A mit einer Beschreibung, um welche Versammlung es sich handelte und fügt dann übergangslos eine Argumentation an, mit der die Ungeschicklichkeit des Vorgehens dieser Frau noch deutlicher herausgestellt wird, obwohl das Thema eigentlich erledigt war. Dieser Themenwechsel lässt sich im Lichte der vorhergegangenen Interpretationen als weiteres Bemühen, die Begebenheiten möglichst emotionslos darzustellen, lesen. N fragt dann nach den Aktionen der BI, Frau A antwortet mit einer Erzählung über eine Holzwand in Höhe der geplanten Mauer, die aufgestellt worden sei und die sie sehr beeindruckt habe. Sie erwähnt noch Mahnwachen und Feuer sowie Informationszettel und kommt dann wieder auf die Holzwand zurück: „aber eindrucksvoll fand ich halt dieses Holzgerüst“ (Z 541/2). Auf Ns Frage, ob ihr noch etwas einfalle, beschreibt sie die Auflösung der BI, die mit einem „Riesenvolksfest“ (Z 551) gefeiert worden sei. Als einzige noch folgende längere Passage folgt auf Ns Frage nach den Wellen, die diese Proteste geschlagen hätten, eine Erzählung darüber, dass die Aktionen ohne Gewalt gelaufen seien. Das Interview schließt durch Statements oder Fragen von N, auf die Frau A nur noch kurz antwortet und endet mit der Frage nach Beteiligungen von Bürger/innen aus umliegenden Städten: A: „Mmmm ne also ich wüsste nich ich wüsste auch nich dass bei den Veranstaltungen aus Leute aus Marl oder Haltern dabei warn oder aus Dorsten (.) das war eigentlich wirklich auf Herten beschränkt .“ N: „Hmm (2) und umgekehrt auch also“ A: „Umgekehrt auch diese Aktion damals im im Hardtheim da warn auch nur Leute aus Marl beteiligt die wirklich unmittelbar betroffen waren .“ (Z 592-597).
Erzählungen und Berichte werden, wie gezeigt, sehr häufig von Argumentationen unterbrochen, oft mit zunächst unverständlichen Themenwechseln verbunden. Es wird bei näherer Betrachtung aber klar, dass damit in der Regel Argumentationen der Vergangenheit, also auf Ebene der erlebten Geschichte, wiederholt werden. Es lassen sich keine Belege dafür finden, dass sich die Einstellungen oder die Bedeutung der Ereignisse für die erzählenden Personen in der Gegenwart geändert hätten. Auch im Wechselspiel der beiden scheinen sich alte Diskussionen und Argumentationen wiederzuspiegeln. Beide haben ein starkes Bedürfnis, Aktionen und Verlauf, sogar die gesamte Protestbewegung zu erklären, was gelegentlich Züge von Rechtfertigung
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annimmt. Es kann ausgeschlossen werden, dass das durch Reaktionen der Interviewerin veranlasst ist. Es werden zwar überwiegend die Argumente der Bürgerinitiative genannt, aber auch die der anderen beteiligten Gruppen, zum Teil in Vermutungen, angeführt. Besonders Frau A bemüht sich, solche Gründe nachzuvollziehen und besonders sachlich und emotionslos zu bleiben.
III.3.2.2 Rekonstruktion der Fallgeschichte und Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Geschichte In diesem Kapitel werden die Ergebnisse von zwei Analyseschritten zusammen dargestellt, um eine prägnantere und Redundanzen möglichst vermeidende Darstellung zu erreichen, die sich dadurch ergeben würde, dass beim zweiten Teil die Ergebnisse des ersten hinzugezogen werden. Dabei geht es zum einen um die Bedeutung von bestimmten Ereignissen für die erzählenden Personen, zum zweiten um die Funktion der gewählten Art der Präsentation. Im ersten Analyseschritt werden einzelne Ereignisse – ursprünglich der Biografie, hier der Geschichte der Proteste und der Bürgerinitiative – auf ihre Bedeutung für die erzählenden Personen untersucht. Dazu kontrastiert man diese ausgewählten Ereignisse mit deren Aussagen darüber. Die Ergebnisse aus III.3.2.1 erhellen die Gegenwartsperspektive. Ereignisse, die für die beteiligen Personen besonders bedeutsam waren, müssen in den Interviews wiederzufinden sein. Von der in III.3.1 rekonstruierten Geschichte der Ereignisse und der Bürgerinitiative finden sich in dem Interview wieder94: - die Plötzlichkeit der Wahl Hertens als Standort einer Forensischen Klinik, ohne Vorwarnung (Z. 14ff) (A) - öffentliche Ratssitzung in der Gesamtschule (Z. 29ff, Z. 37ff) (B), (Z 510ff) (A) - Gründung der Bürgerinitiative (Z. 30ff) (B u. A) - Beitrittszahlen (Z. 44) (B) - Finanzen und Sponsoren der BI (Z. 45 – 56) (A u.B) - Gegnerschaften von Krankenhaus und katholischer Kirche (Z. 69ff) (A), (Z. 150ff) (B) - Treffen mit Dr. Pittrich (Z. 112ff) (B) - Demonstration in Münster (Z. 119-126) (B u. A), (Z 566f, Z 581f) (A) 94 in Klammern angegeben sind die jeweiligen Sprecher/innen
181
- Haltung der Grünen (Z. 158ff) (B), Z 460ff (A) - Änderung des Bebauungsplanes (Z. 176ff) (B), (Z. 204ff) (A) - Erklärung des Grundstückes zum Landschaftsschutzgebiet (Z. 184ff) (A) - Eingreifen Raus (Z. 218) (B u. A) - Vergleich mit den Niederlanden (Z. 254ff) (A) - Aufstellen des Gerüstes in Höhe der geplanten Mauer (Z 532ff) (A) - Mahnwachen, Unterschriftenlisten, Handzettel (Z 538-541) (A) - Fest bei Auflösung der BI (Z 549ff) (A) Am Ende des Kapitels III.3.1 waren einige Ereignisse als besonders wichtig herausgestellt worden; laut der dort formulierten Hypothese müssten sich diese jedenfalls wiederfinden lassen. Tatsächlich finden sich davon die Plötzlichkeit der Wahl Hertens wieder. Die Stärke der Abwehr dieses Beschlusses durch den Stadtrat wird hier nicht deutlich, es ist allerdings von städtischen Aktionen die Rede, wobei die meisten fälschlich der BI zugerechnet werden. Die große Beteiligung der Bürger/innen wird allenfalls indirekt angesprochen, die heftige Debatte zwischen Abwartenden/Befürwortenden und Gegnern des geplanten Baus herunter gespielt. Dementsprechend finden der Aufruhr bzw. die Emotionalität der Zeit auch nur indirekt, über die Reaktionen der Interviewten, einen Wiederhall. Die Interviewten erinnern sich nicht chronologisch, Herrn Bs erste Erinnerung an eine euphorische Stimmung bezieht sich sicher auf das, was bei ihm als Gesamteindruck zurückgeblieben ist. Entsprechend korrigiert Frau A dann auch. Bei Durchsicht der gesammelten Presseberichte fallen davon als vielfach erwähnte und ausführlich besprochene Ereignisse die Plötzlichkeit der Wahl Hertens, die öffentliche Ratssitzung, die Demonstration in Münster, die Gründung der BI und die Änderung des Bebauungsplanes auf. Ereignisse, die viel besprochen wurden aber nicht im Interview auftauchen sind zum Beispiel die Diskussionsrunden, oft als Live-Übertragungen des Fernsehens, die am Bauplatz stattfanden. Erwähnt wird nur die eine, bei der der Vertreter des LWL davon sprach, die als zu hoch empfundene Mauer könne auch versenkt gebaut werden. Auch das Engagement der Stadt, von der fast alle erwähnten Aktionen initiiert wurden, findet bis auf die Änderung des Bebauungsplanes keine Erwähnung. Insbesondere erstaunt das bei der übergeordneten Aktion „Herten wehrt sich“, deren Slogan den gesamten Protest begleitet hat, und bei dem Engagement von Politiker/innen und Partei(unter)gruppen, die sehr häufig in der Presse erwähnt wurden. Auch die eindrucksvollen Unterschriftenlisten, die von Parteien, Kirchen, Geschäftsleuten und BI gesammelt und dann von der Stadtspitze an den Ministerpräsidenten Rau übergeben wurden, werden nicht genannt, ebenso Äußerungen zum Aktionsbüro im Glashaus, das zunächst von der Stadt, 182
später von Stadt und BI gemeinsam unterhalten wurde. Ebenfalls unerwähnt bleiben die vor allem in der ersten Zeit heftigen Attacken gegen Personen, die Bedenkzeit wollten, und Befürworter/innen. Anonyme Drohungen, öffentliche Attacken und Diffamierungen, reißerische Flugblätter sind in der Presse und den Materialien von Stadt und BI vielfach belegt95. Zusammen mit der häufigen Erwähnung der negativen Darstellung des Protestes in den Medien, die sich in den Printmedien nicht finden lässt, die im Gegenteil ganz überwiegend positiv berichten, kann man darauf schließen, dass es zu der Zeit problematische Aspekte gab, die nicht erwähnt werden sollen. Als plausible Interpretationsidee zu diesem Zeitpunkt bietet sich an, dass damit ein Gegengewicht zu den sie offenbar belastenden Negativdarstellungen gebildet werden soll96. Unerwähnt bleibt auch eine der größten Aktionen der BI – auch wieder nicht allein von ihr organisiert aber initiiert und unterstützt von vielen Hertener Organisationen, nämlich die Menschenkette Anfang Oktober. Offensichtliche Gründe für die fehlende Erwähnung der genannten Ereignisse sind sicher die Selektivität von Wahrnehmung, die unterschiedliche Bedeutungszuschreibung oder schlichtes Vergessen. Auffällig ist aber, dass im gesamten Gespräch kaum von Aktionen oder Ereignissen die Rede ist. Es überwiegen Beschreibungen der Stimmungen, Wiedergabe der (z.T. vermuteten) Argumente aller Seiten, Darstellung der Konflikte und Probleme, die mit dem Bau einhergehen würden, und immer wieder die Darlegungen von Argumenten wider den Standort. Die Ausklammerung der hoch emotional geführten Debatte zwischen Gegnern und abwägenden Personen zusammen mit der als überwiegend negativ und ungerecht empfundenen Presse lässt darauf schließen, dass die Darstellung hier besonders sachlich, vernünftig und als Gegengewicht eingesetzt werden soll. Eine der wenigen emotionale gefärbten Äußerungen Frau As bezieht sich auf das Vorgehen des LWL bei der Entscheidung für Herten (Z 491ff). Im folgenden Schritt geht es darum, durch die Kontrastierung nach der Funktion der Präsentation und nach den Auswirkungen bestimmter Ereignisse auf die Interviewten zu fragen. Nimmt man die weiter oben erarbeiteten Ergebnisse zur Hilfe ergibt sich folgendes Bild: Die Art der Präsentation hat einen entlastenden, bisweilen rechtfertigenden Charakter. Die Interviewten weisen immer wieder auf die Rationalität und Berechtigung der BI-Argumentation hin. Sie stellen sich selbst als rational und ihre Meinung als wohlbegründet dar. Hinweise auf Konflikte innerhalb der Bürgerschaft unterbleiben, die Emotionalität der Situationen wird meistens 95 s. hierzu die detaillierten Analysen im Kapitel III.2 96 vgl. dazu den Fall 2
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relativiert oder als berechtigter Zorn auf Zumutungen von außen erklärt. Die auf der Ebene der erlebten Geschichte geführten Debatten, – offenbar auch zwischen den beiden geführt – schimmern auf der Gegenwartsebene immer wieder durch. Es scheint so, als trügen sie bestimmte Konflikte noch weiter mit sich. Wieweit es sich dabei um noch tiefer liegende, in der Beziehung begründete Konflikte oder individuelle Unterschiede in Temperament oder Grundhaltungen handelt, soll hier nicht thematisiert werden. Falls sich in den anderen Interviews keine Entsprechungen, also vor allem große Veränderungen der Gegenwarts- und Vergangenheitsbewertungen finden lassen und die Vergangenheit nicht ebenfalls als sehr stimmungsbetont erinnert wird, müsste die Interpretation darüber, wieweit individuelle Gründe bedeutsam sind, wieder aufgenommen werden. Aus diesem Grunde wird hier auch nicht Thema sein, ob die bei beiden festzustellende Bedeutung der Überrumpelungssituation und des Gefühls, die eigenen Wünsche und Vorstellungen spielten keinerlei Rolle für die Entscheidung über den Standort, weiter zurückliegende biografische Gründe haben. Hier bleibt festzuhalten, dass diese Ereignisse der erlebten Geschichte, wie sie in III.3.1. dargestellt wurde, große Bedeutung für die erzählte Geschichte haben. An vielen Stellen lässt sich das bei Herrn B nachweisen, aber auch Frau A reagiert diesbezüglich deutlich (Z 492ff). Die starke Resonanz und häufige Präsenz in den Medien findet sich im Interview als negative Erinnerung an ungerechte Darstellungen wieder. Das ist sicher ein entscheidender Punkt für die Präsentation, in der Argumentation und die wiederholte Darstellung der Argumente gegen den Bau der Forensik eine große Rolle spielen. Dabei fällt auf, dass besonders von Frau A häufig betont wird, dass sich diese Ablehnung auf den Standort in der Nähe des Schlossparks, nicht auf Herten insgesamt bezieht. In diesem Zusammenhang ist auch das Fehlen vieler, nach der Analyse in III.3.1 als wichtig vermuteter Ereignisse zusammen mit der Art der Präsentation zu sehen. Denn damit lässt sich zusätzlich darauf schließen, dass die zugrunde liegenden Gefühle und tiefer liegenden Strömungen für die Interviewten eindringlicher waren als die Protestaktionen. Die gebildeten Hypothesen können aufrechterhalten werden.
III.3.2.3 Typenbildung Wie in Kapitel II.5.7 dargelegt, verstehe ich die hier vorzunehmende Abstraktion als eine Offenlegung je typischer Sichtweisen, die Relevanz für das Handeln der jeweiligen Person haben. In den damit angesprochenen lebenspraktischen Grundorientierungen sind normative Einstellungen und sachliche Wahrnehmun184
gen verknüpft. Sie liefern Motive dafür, dass die jeweilige Person so handelt, wie sie es tut, und dass sie sich auf eine für sie typische Weise an Rollenerwartungen orientiert. Sie sind die Erklärung für die Interpretation von und die Sichtweisen auf die Umwelt. Die Analyse aller Fälle wird auf diese Weise abgerundet, indem ein Überblick über zentrale normative Orientierungen und Handlungsmotive der Interviewten gegeben wird, auf dessen Grundlage dann, vom Einzelfall abstrahierend, überindividuelle Typen gebildet werden können. Zur Erinnerung seien hier noch einmal die in den vorangegangenen Kapiteln gebildeten Hypothesen benannt: 1. Da als Textsorte die Argumentation überwiegt, kann man auf einen tieferliegenden Konflikt dieses Thema betreffend schließen. 2. Die Situation der Stadt und der Bürgerinnen und Bürger werden als benachteiligt dargestellt. 3. Es ist den Interviewten wichtig, die Stichhaltigkeit und Rationalität der ablehnenden Haltung zu betonen. 4. Die Ereignisse werden sehr emotional erinnert, stärker an Stimmungen als an konkreten Geschehnissen orientiert. 5. Die Interviewten fühlen sich von überregionalen Politiker/innen und von der Presse ungerecht behandelt. Charakteristisch für die beiden Personen ist eine stärkere gefühlsmäßige Beteiligung bei Herrn B, der auf beiden Ebenen emotional reagiert hat. Frau A dagegen ist sachlicher, mehr bemüht, sich mit den Argumenten aller Seiten auseinander zu setzen. Bei beiden fällt das starke Bedürfnis zu argumentieren auf. Sogar Ereignisse, die gar nicht passiert sind, sucht Herr B zu begründen. Das ist in den Zeilen 111-119 zu lesen, in der das Gebaren eines Vertreters des LWL als so herausfordernd dargestellt wird, dass gewalttätige Reaktionen nicht verwundert hätten. Schlüsselt man die in den vorhergehenden Kapiteln gebildeten Hypothesen auf, ergibt sich auf den tiefliegenden Ebenen (der latenten Sinnebene) der Eindruck von Angst. Dazu kommen aber weitere Gefühle. Offenbar ist der geplante Bau zusätzlich dazu, dass da etwas Bedrohliches von außen auf sie zu kommt, mit dem Gefühl, man wolle damit nicht in Zusammenhang gebracht werden, verbunden. Sexualstraftaten, zumal noch von psychisch Kranken, sind etwas, womit man sich eigentlich nicht auseinandersetzen mag. Das gehört zu den Problemen, die nicht zur Vorstellung davon passen, wie die Welt sein sollte, gleichzeitig aber, im Gegensatz zu Hunger oder Krieg, als für das eigene Umfeld 185
realistische Gefahr gesehen werden. Sie führen daher Diskrepanzen von Realität und Wunsch besonders deutlich vor Augen. Belege dafür finden sich in den Stellen, in denen das Forensikkonzept angesprochen wird, und zwar sowohl in der skeptischen Haltung von Herrn B als auch in der sachlich interessierteren von Frau A (Z. 66ff und 229ff bzw. 245ff). Ein weiterer Belegt liegt darin, dass es beiden schwer fällt, die Klinikinsassen zu bezeichnen: - „durch ne Ansammlung äh ne? man muss ja sagen Krimineller(!) bei denen ich bezweifle(!) ob eine Besserung möglich ist“ (Z 66/67) - „für diese (. )ähh (.) tja forensischen Leute (.)“ (Z 79/80) - „äh solchen äh Triebtätern“(Z 85) - „diese Leute“ (Z 82 u. 231).
Diese Grundkonstellation wird hier noch zusätzlich mit einem Eindruck fortgesetzter Benachteiligung verknüpft. Herten gilt ihnen als ständig übervorteilt und mit Negativem über Gebühr belastet. Ein starkes unterschwelliges Gefühl von Ungerechtigkeit schimmert immer wieder durch. Das Image der Stadt würde dann noch zusätzlich in der öffentlichen Meinung durch die Assoziation mit dem überall auf Ablehnung stoßenden Thema Kliniken für forensische Psychiatrie weiter strapaziert. Das führt zu einer Bedrohung, gar Herabsetzung des ohnehin angeschlagenen Selbstwertgefühls (Z 415, 453/54, 480). Verschärft und bestätigt wird diese unterschwellige Gefühlslage durch die Überrumpelung, mit der die Stadt von der Planung erfuhr. Damit wurde der Trotz, der an vielen Stellen spürbar wird, ausgelöst. Die Stimmung, es reiche jetzt aber wirklich, oder die Argumentationen, nach der selbst gewalttätige Reaktionen nach einer solchen Anhäufung von Zumutungen kein Wunder mehr gewesen wären, sind so zu erklären. Damit wird indirekt die friedliche Form des Protestes trotz ständig als Provokationen empfundener Aktionen und Äußerungen vor allem des LWL hervorgehoben. Es erklärt sich auch die Emotionalität der Reaktionen (hauptsächlich bei Herrn B) ebenso wie das Überwiegen von Sachlichkeit (Grundtenor bei Frau A). Herr B reagiert in der erzählten wie in der erlebten Geschichte emotional, rationalisiert dann aber immer im Anschluss. Einige der für die Interpretation besonders ergiebigen Textsorten- und Themenwechsel kommen so zustande. Sie sind damit zu erklären, dass es einen gesellschaftlichen Konsens gibt, dem sich Herr B verpflichtet fühlt, Konflikte mit den besseren Argumenten für sich zu entscheiden. Darüber hinaus spielt aber die von beiden als parteiisch gegen Herten berichtend wahrgenommene Presse eine Rolle. Die erzählte Geschichte soll dazu ein Gegengewicht bilden, indem sie möglichst sachlich, berichtartig vorgetragen wird. Das Interview stellt sich vom Grundtenor zwar nicht so dar, die Intention ist aber genau in den Brüchen, den Relativierungen und ‚Rechtfertigungen’ von Emotionalität zu finden. 186
Abstrahiert man von den beiden konkreten Personen, lassen sich zwei zentrale Grundorientierungen, die zu charakteristischen Wahrnehmungen und daraus abgeleiteten Handlungsmotivationen führen, unterscheiden: die eine lässt sich mit dem Begriff ‚Empörung’ charakterisieren, mit dem zugehörigen zentralen Thema des ’sich ungerecht behandelt fühlens’, der andere mit ‚Sachlichkeit’ und dem Zentralthema ‚Abwägen bzw. Ausgeglichenheit’.
III.3.3 Fall 2 Herr C war zum Zeitpunkt des Interviews Mitte 60, alleinstehend und kinderlos. Die Rekonstruktion der Ereignisse ist identisch97, der übergeordnete Fall bleibt der der Bürgerinitiative in Herten, so dass hier sofort mit der Sequenzanalyse begonnen werden kann. Die Vorgehensweise ist analog zu der im Fall 1. III.3.3.1 Sequenzanalyse98 Die sequentielle Gestalt dieses Textes ist durch die Kriterien Wechsel der Textsorte bzw. des Themas bestimmt. Dieses Interview wurde in 186 Sequenzen unterteilt. Es wurden folgende Hypothesen formuliert: 1. Der Konflikt mit den Verantwortlichen von LWL und Überregionaler Politik ist für Herrn C zentral. 2. Er sieht sich und die Proteste in den Medien falsch dargestellt. 3. In beiden Konflikten sieht er Ursachen für Art und Erfolg des Protestes. 4. Ihm liegt viel daran, neben den Richtigstellungen Erklärungen für sein Verhalten und für das der Bürger/innen zu liefern. Auch hier wird die Chronologie des Interviews eingehalten und die besonders ergiebigen Sequenzen detailliert vorgestellt. Die sieben Sequenzen, die einer Feinanalyse unterzogen wurden, sind ebenfalls bereits in dieses Kapitel eingebaut, obwohl sie im Forschungsprozess erst als übernächster Schritt durchgeführt wurde. Typisch für dieses Interview sind häufige Selbstunterbrechungen mit zunächst unverständlichen und schwer zu erklärenden Themenwechseln. M beginnt mit einer Beschreibung dessen, wie er das Interview gestalten will, sofort abgelöst von dem Beginn einer Erzählung, nämlich: 97 zur Chronologie der Ereignisse siehe III.3.1. 98 Zur besseren Verständlichkeit der Zitate: Die Transkriptionsregeln finden sich am Anfang des Kapitels III.3.2.1.
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“und zwar ee ich werde das chronologisch, e mal aus meiner Sicht(!) erzählen. (.) ich war, ich kann Ihnen das dann ganz genau sagen, ich war also zu einer Tagung in Münster“ (Z 4-6).
Er unterbricht sich sofort, um eine Beschreibung seiner Funktion einzuflechten. Er beschreibt dann den Tag, an dem Vertreter des Landschaftsverbandes die zuständigen Politiker informiert haben und an dem er während dieser Tagung angerufen und gebeten wurde, dazuzukommen, was er nicht konnte. Er beschreibt die Situation als dramatisch: „kriegt dann sehr aufgeregt einen Anruf hier von der Verwal vom Verwaltungsdirektor“ (Z 11f) bzw. „und ich fand kam dann da an (.) und habe (2) eine ziemlich, muss ich sagen, verstörte Ärzteschaft, verstörte äh Verwaltung vorgefunden als ich eben kam“ (Z 17-19). Er unterbricht mit einer Beschreibung, wie nah die geplante Forensik am Krankenhaus hätte stehen sollen, und die wiederum mit einer Erzählung, die in Argumentation übergeht, dass allein aus städtebaulichen Erwägungen neben das Krankenhaus als massivem Block kein weiteres großes Gebäude gebaut werden dürfe. Er betont im Verlauf, dass dieses geplante Gebäude besonders fehl am Platze sei: „Also, schrecklicher auch vom Baulichen kann man sich das überhaupt nich vorstellen“ (Z 30/31), und stellt dann die Argumentation der LWL-Vertreter dar, die nur zum Informieren gekommen seien: „was da nun gesagt würde hätte nur den (.) den Wert einer Information(!) die Sache als solche sei beschlossen da brauchte man sich gar nich mehr drüber zu unterhalten, das sei klipp und klar.“ (Z 34-36). Einer der Vertreter habe dann auf die christliche Verantwortung verwiesen und im gleichen Atemzug mit Einschalten des Bischofs bzw. des Präses zur Disziplinierung gedroht. Er beschreibt die Reaktion der Vertreter der Stadt mit „Betroffenheit“ und ihre Verfassung als „erschlagen“ (Z 39) – warum war es dann nötig, zu drohen? Der dargestellte Ton – er gibt hier zwar das damals Gesprochene in direkter Rede wieder, war selbst aber bei diesem Treffen nicht dabei – erzeugt die Vorstellung an den Umgang mit widerspenstigen Kindern: „dass e wir ja wohl wüssten dass wir ein christliches(!) Haus sehen wären und wenn wir (!) da unsere von unserer Tradition her unsere christliche Verantwortung nicht wahrnehmen würden, dann würden sie mit dem zuständigen Bischof (!) und mit dem Präses der evangelischen Landeskirche Westfalen-Lippe sprechen die würden uns schon dann beibringen, welches was wir zu tun hätten.“ (Z 39-44).
In den folgenden fünf Sequenzen betont er die starke emotionale Reaktion der Beteiligten: „deprimiert“ (Z 50) und „Und das hat (.) natürlich einmal ne große Wut ausgelöst, auf der anderen Seite aber auch eben doch ne Hilflosichkeit. Solch eine starke Hilflosichkeit (.) dass ich (.) so gedacht habe im Moment erst (.) meine Güte das is ja für unser Krankenhaus tödlich (2) nicht wegen der jetzt wegen der (.) ähm hmhm wegen der Sache als solcher sondern einfach auch wegen der Vorurteile gegen eine solches Haus“ (Z 54-58) (gemeint ist eine forensische Klinik d.A.).
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Damit malt er ein Stimmungsbild, das von Hilflosigkeit einem übermächtigen Gegner gegenüber geprägt wird, der die Betroffenen durch Drohung mit Vorgesetzten noch mehr unter Druck setzen will. Er unterbricht sich übergangslos mit einer Erzählung über herrschende Vorurteile beim Bau der seit Jahren bestehenden Psychiatrie, die aufzufangen gewesen seien. In dem Zusammenhang erzählt er über eine Zusage des LWL, in der Psychiatrie keine Forensik einzurichten, die er vor einigen Jahren auf seine entsprechende Anfrage bekommen habe. Nach einigen Wiederholungen über die negativen Auswirkungen eines solchen Baus führt er zur chronologischen Erzählung zurück mit einer sehr erregt gesprochenen Passage (Z 86-98): „Und dann habe ich sehr(!) scharf(!) [lauter] mit Bischof gesprochen und habe gesacht also ich bäte ganz herzlich(!) er würde die Situation hier nicht kennen (.) so genau ich würd sie ihm gerne zeigen, sich da heraus zu halten, wenn dies obrichstaatliche Denken, was wir (!) erleben müssten leider von Seiten des Landschaftsverbandes, ich würde das denen zu Gute halten auch aus ner gewissen Hilflosigkeit heraus aber so könnte man, bei einer gesellschaftlich nicht(!) akzeptierten (.) äh ähähähäh (dauert etwa 4 Sek.) sehr(!) schwierigen (!) und höchst sensiblen(!) Frage nicht mit Leuten umgehen, dass man sacht ihr habt keinerlei(!) Mitspracherecht, weil ja so eine Einrichtung auch einen Minimum(!) an Akzeptanzbedarf zumal des unmittelbaren Nachbarn der 30 20 m da weit und dann hab ich also ge den Bischof gebeten ganz herzlich halt(!) dich da raus, lass(!) das erstmal uns machen(!) und wenn der Landschaftsverband kommt(!) und der Landschaftsdirektor hatte auch schon (.) sich e gemeldet da, sage er soll sich erstma an die am Ort Zuständigen (.) äh halten(!).“
Die starke Ablehnung dieser Art des Vorgehens passt zu dem obigen Stimmungsbild, in dem als schwächer charakterisierte Personen noch mit Vorgesetzen gedroht wird. Offenbar lehnt er diese Umgangsform strikt ab. Es finden sich noch mehrere Passagen, in denen das thematisiert wird. Mit der Betonung dieses als ‚obrigkeitsstaatlich’ klassifizierten Handelns und dem häufigen Hinweis darauf, dass zuständig „wir“ „hier“ und „am Ort“ sein sollten, gelingt es auch, Zustimmung nicht direkt Betroffener zu bekommen, wie er in den folgenden Sequenzen erzählt. Über die Beschreibung weiterer Maßnahmen, die er diesbezüglich ergriffen hat, gelangt er zur Erzählung über die Gesamtschulversammlung („und dann war diese berühmt berüchtigte mm (.) ähm Versammlung, in der Aula oder im Forum der Gesamtschule(!) die nun immer wieder in den Medien als abschreckendes Beispiel kam“ (Z 114-116)), die er ebenfalls wieder als sehr dramatische Situation schildert. Die Zeilen 123-135 bilden die erste der Passagen der Feinanalyse: „und dann wurde das (.) unheimlich (! .) emotional(!) und diese ähm diese (.) da die die saßen dann alle an einem Tisch, (.) die die die einzelnen (.) ähm Leute und äh hörten dann zu der Landschaftsverband der Direktor des Landschaftsverbandes und der äh zuständige äh äh Gesundheitsdezernent Herr Dr. Pittrich und dann [lauter](.)
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äh war das (.) son son son richtiges Brodeln(!), was (.) was also auch wenich also übern Verstand noch ging und ich hab da wir haben 800 Angestellte im Krankenhaus, da warn Teil auch von da dann die ganzen, inzwischen sprach sich das in der Bevölkerung herum, da warn ganz viel da und dann hat der Bürgermeister, dann musste jeder hatte kriegte jeder so ne Zeit ähm äh Redezeit ne kurze, ich war (2) ganz am Ende (2) und dann hat der Bürgermeister da furchbar auf die Sahne gehauen, (.)dass ich gedacht hab (lacht) Donnerwetter hm (.) was ich aber einfach als Notreaktion(!) muss ich ehrlich sagen(!) auf (.) auf (.) um überhaupt da was hinzukriegen (.) ähm (.)rechtfertigen würde weil weil weil das einfach ähm (.) weil das einfach äh anders nicht hinzukriegen war als auf na auf na emotionalen Schiene zunächst (!)“.
Warum eine als emotional aufgeheizt beschriebene Situation noch weiter verschärfen? Herr C will die kritisierten Äußerungen erklären – hier des Bürgermeisters, später seine eigenen. Die Grundsituation wird schon als „unheimlich (! .) emotional(!)“ (Z 123) und „wenich also übern Verstand“ (Z 127) charakterisiert, somit entsprechende Reaktionen als daraus erklärbar dargestellt. Darüber hinaus werden die offenbar kritisierten Äußerungen (Z 116) als Strategie, die Emotionalität aufzugreifen als zu dem Zeitpunkt einzige Möglichkeit, die Menschen zu erreichen, vorgestellt – abzulesen an der Betonung des Wortes „Schiene“, das eine Richtung oder einen Weg symbolisiert, statt der hier zu erwartenden Betonung von „emotionalen“. Offenbar hat er selbst die Äußerungen des Bürgermeisters als heftig empfunden (Z 131f), rechtfertigt das aber sofort als „Notreaktion“ (Z 133). Auch hier wird wieder eine Situation als von außen aufgezwungen dargestellt, die Emotionalität als verständliche Reaktion erklärt. Allerdings führt er nicht aus, auf was genau diese Reaktion erfolgt. Die Stoßrichtung der Strategie ist hier das Aufgreifen der Stimmung. Das wird weiter unten noch deutlicher. Zusammen mit den Erzählungen und Beschreibungen weiter oben wird das Bild verfestigt, dass sich die Stadt in einer aufgeheizten Stimmung befand, bei gleichzeitigem Gefühl der Hilflosigkeit, in den folgenden Sequenzen ergänzt durch die Beschreibung der schwierigen, benachteiligten Situation Hertens, wo eine „resignative Stimmung“ (Z 137) herrschte und „Horrormeldungen“ (Z 138) über Zechenstillegungen und erneute Arbeitsplatzverluste und „ganz (!)ganz(!) viele soziale Probleme“ (Z 142) hinzunehmen waren. In dem mit dem Bau verbundenen zusätzlichen Imageverlust sieht er die Motivation der Politiker/innen und die Erklärung der Art der Reaktion: „haben die also in sehr(!) sehr emotionaler Weise einfach das war nicht alles rational da drauf, da da nun äh äh (.) reagiert dagegen gehalten.“ (Z 147f).
Damit ist aber auch indirekt gesagt, dass es zumindest den Politiker/innen nicht um den engen Standort Krankenhaus//Schlosspark ging, sondern um ganz
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Herten. Der befürchtete Imageverlust bezöge sich ja auf jeden Standort innerhalb des Stadtgebietes. Mit sehr vielen Brüchen und Unterbrechungen, die alle Erklärungen beinhalten, beginnt C dann mit der Erzählung über seinen Diskussionsbeitrag, der „in diesem ganzen Durcheinander(!) missverstanden wurde zum Teil(!)[lauter], ich hab das also wieder dann auch n paar mal dementieren müssen wie ich das überhaupt gemeint habe“ (Z 151-153). Es folgt eine langen Passage, in der er die rationale Argumentation darlegt, die der bei der Versammlung habe vortagen wollen, bzw. wohin das tatsächlich Gesagte führen sollte und aus welchen strategischen Überlegungen heraus er das, was missverstanden wurde, gesagt hat. Beides leitet er mit „ich habe gesacht also“ (Z 155) bzw. „und dann hab ich äh gesacht“ (Z 166) ein, lässt dann aber die geplante Argumentationen und nicht das, was er tatsächlich gesagt hat, folgen. Das erzählt er erst in Zeile 175, wieder mehrfach unterbrochen von Erklärungen, was er damit hat sagen wollen. Offenbar ist es ihm ein großes Bedürfnis, zu erklären, was seiner Meinung nach vielfach falsch dargestellt wurde. Auch in dieser Passage ist von der Stimmung als Erklärung für das Gesagte die Rede: „weil ich der letzte(!) war und das war so(!) am Brodeln“ (Z 165) oder „vor 3000 Leuten die da aufn Stühlen standen und da mit auch unmöchlichen Plakaten rumwedltn dass man da dachte, wie verschafft man sich überhaupt Gehör“ (Z 166-168). Hier greift er die oben eingeführte Argumentation, die einzig mögliche Strategie sei das Aufgreifen der emotional aufgeheizten Stimmung gewesen, ergänzend wieder auf. Im weiteren Verlauf erzählt C von der Gründung der Bürgerinitiative, immer wieder von Schilderungen der Stimmung unterbrochen. Der Gesamteindruck ist widersprüchlich. Die häufigen Erwähnungen der Stimmung, auch von Überreaktionen, die aber von der Bürgerinitiative „kanalisiert“ (Z 185) worden seien, stehen unverbunden neben der mehrfachen Betonung, es sei um, wie von ihm vorher aufgeführt, sachlich begründete Standortargumente gegangen. Ein Beispiel dafür sind die Zeilen 181 – 187: „Durch diese sehr emotionale(!) (.)Geschichte (2) ging das natürlich jetzt die Gefühle also äh bis zum ich weiss nicht mehr wo, und es bildete sich eine Bürgerinitiative die(!) allerdings das muss ich ehrlich sagen, sich sehr bemüht(!) hat so die Überreaktionen zu kanalisieren äh und äh und das s aber in den Medien eigentlich nie so übergekommen und wir gesagt haben es ist wirklich zunächst eine Sache des Standortes(!).“
Erklärungsbedürftig ist hier der Einschub, „das muss ich ehrlich sagen“. Was zwingt zur Ehrlichkeit? Die Erklärung liefert der Satzteil über die Medien. Er fühlt sich verpflichtet, eine Gegendarstellung zur seiner Ansicht nach verzerrten Darstellung in der Presse zu liefern. Diese Haltung bildet einen Grundtenor des gesamten Interviews. Die Überzeugung, dass vieles falsch und ungerecht darge191
stellt wurde, taucht immer wieder auf; der Wunsch nach Richtigstellung ist der Anlass für viele der noch folgenden Argumentationen. Auch die Einleitung im ersten Satz, jetzt mal aus seiner Sicht berichten zu wollen, ist nun im Sinne dieser Analyse zu interpretieren. Für die Beantwortung der Frage, warum er die Bedeutung des Standortargumentes so stark betont, bietet sich hier vorläufig ebenfalls die – zu korrigierende – Darstellung in der Presse an, in dessen Zusammenhang ihm dieser Punkt einfällt. Herr C schließt eine Argumentation an, warum er der BI nicht beigetreten ist. In deren Kern steht sein Unbehagen darüber, wie sich diese Bürgerinitiative entwickeln könne, und seine Befürchtung, das Ganze sei eventuell nicht mehr zu steuern, da die Situation verfahren gewesen sei. Damit nimmt er allerdings der oben aufgebauten Darstellung einer ungerechten Presse an Überzeugungskraft. Seine Bedenken haben auch einen strategischen Grund: eine etwaige, bei zunehmender Aufheizung notwendig werdende Distanzierung schwäche die GegnerInnen des Baus. Die nächste Erzählung beginnt mit den Worten (Z 200): „Und dann hat sich das ganze (.) e natürlich äh äh sehr(!) sehr hoch äh geschaukelt und ich habe dann gedacht, (.) ich hab gesacht es können ja . ich hatte zwar also gut man hat immer son son Bild von Politikern aber ich hab dann immer die nicht für e äh nun totale Dilettanten gehalten“.
Damit leitet C eine Erzählung ein über seine strategisch-rationale Vorgehensweise mit von ihm durchgeführten Aufklärungsmaßnahmen und von den Gesprächen, die er gesucht hat. Dabei habe ihn die mangelnde Sachkenntnis der Politiker überrascht, wohingegen er sich mithilfe von Fachliteratur kundig gemacht habe. Diese Verknüpfung ist erklärungsbedürftig. Für sich genommen gelangt man zu dem Schluss, er wolle in dieser Sequenz zeigen, dass er entgegen der allgemeinen Stimmung auf sachliche Argumente gesetzt habe. Die übergangslose Verbindung mit dem Thema politischer Dilettantismus lässt darüber hinaus den Schluss zu, er bringe die aufgeheizte Stimmung damit zusammen, indem er in der Vorgehensweise von (überlokaler) Politik und LWL einen Grund dafür sehe. Für diese Interpretation finden sich in vielen Sequenzen Belege, so z.B. die oben erläuterte Erzählung über die Information der Zuständigen durch Vertreter des LWL ( Z 32-45) oder die Passagen, in denen er seine Verärgerung über das, wie er es nennt „obrigkeitsstaatliche“ Vorgehen zum Ausdruck bringt (Z 90, 105f, 519) oder Sequenzen, in denen er die Situation als verfahren charakterisiert. In die Darlegung seiner Meinung darüber, wie wenig Fachwissen Politiker haben, bettet er eine Argumentation, in der er sein Verständnis dafür bei schwieriger Materie „meintwegen Atomausstieg oder nicht Atomausstieg“ (Z 220) äußert. Dennoch sei das hier vorzufindende Ausmaß nur dadurch zu erklären, dass die Politiker darüber auch nichts wissen wollten („dass die nu wirklich 192
ganz(!) ganz wenig Ahnung hatten auch keine haben wollten(!) zum Teil“ (Z 228/9)) und fügt übergangslos „und genauso war das bei den Medien“ (Z 230) an. Das passt zusammen, wenn man ergänzt: Die Politiker wollten es gar nicht so genau wissen, weil sie die für sie unangenehme Beschäftigung mit dem Thema schnell erledigt haben wollten und die Medien nicht, weil sie mehr an Sensationen als an sachlicher Berichterstattung interessiert waren. Damit weist er darauf hin, dass seiner Meinung nach richtige, ‚wahre’ Gründe der Ablehnung niemand (außerhalb Hertens) wissen wollte oder veröffentlicht hat99. Er begründet mit „und dann war das so(!) in Graben die Sache auch mit dem Gespräch“ (Z 234/5) die gegenseitigen Unterstellungen von Handlungsmotiven, kommt dann aber erneut auf das seins Erachtens falsche Bild, das in den Medien gezeichnet worden sei. Dabei erzählt er in einer langen, in Feinanalyse erarbeiteten Passage von einem Reporter der Süddeutschen, der ihn an einem Tag begleitet hat. Dieses Erlebnis greift er unter anderem heraus, weil durch die geschilderte verzerrte Darstellung eines Reporters, den er mit „das war n sehr netter“ (Z 239) charakterisiert und in einer Zeitung, von der er wegen ihrer „Seriosität(!)“ (Z 264) viel hält, die grundsätzlich falsche Berichterstattung besonders auffällig und unverständlich findet. Mit dieser zunächst wegen ständiger Unterbrechungen und Einschübe schwer verständlichen Sequenzabfolge will er offenbar sagen, dass den anderen Zeitungen erst recht nicht zu glauben ist. Es bleibt ganz unerwähnt, was in der Süddeutschen gestanden100 oder was er in seinen als falsch charakterisierten Äußerungen tatsächlich gesagt hat. Offenbar ist er beeindruckt, dass sich die von ihm geschätzte Zeitung dafür interessiert „sein’n Artikel in der Süddeutschen auf Seite 3 das ist nun diese bekannte Meinungsseite“ (Z 251) und „das mit einmal so jetz den bundesweiten Touch“ (Z 239) bekam; er spielt das und seine Rolle dabei aber herunter. So sollte nur „ganz kurz (.)“ein „Statement“ (Z 244) abgegeben werden, er nimmt den Reporter aber zu mehreren Aktivitäten mit: „am Sonntach da hab äh [stottert sehr] hab ich so zufällich weil ich den zum Essen eingeladen hatte auch weil er mitgegangen äh eh zum Krankenhaus bei uns hab ich denen das allen gezeicht“ [leise und schnell] (Z 247-249).
Er tut sich schwer damit, diesen Sachverhalt darzustellen, und verhaspelt sich bis zu einem Versprecher: Als äh Pfarrer … im Hochamt Viertel vor Elf auf die Kanzel stiech war die Kirche geschönt wie Weihnachten was überhaupt gar nicht stimmt . stimmte weil [der Pfarrer, d.A.] … das in alln wir ham 5 Messen in allen gemacht [hat, d.A.]…(.) und eh
99 s. dazu die Kapitel III.2, in der u.a. die Zeitungsartikel analysiert werden, und III.4, der Kontrastierung aller Analyseebenen 100 vgl. dazu den Absatz ‚Darstellung in der Presse’ im Kap. III.4.
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dann, als wenn [der Pfarrer, d.A.]…das nun darüber gepredigt hätte es war stiller als wenn eine Stecknadel ja jetzt habe ich darauf wieder . [schneller und lauter] ich sach das mal als Beispiel(!), wie auch solche (lacht) was überhaupt nicht unrichtig war .“ (Z 251-257).
Mit einer Erzählung, wie er wegen dieses Artikels angegriffen wurde, beendet er zunächst das Thema, indem er wiedergibt, was er seiner Kritikerin gesagt hat (Z 262-265): „und die kam und und rechte sich dann furchbar über diesen Artikel auf und ich hab ihr dann gesagt also wissen se bei aller Seriosität(!) auch dieser Zeitung (2) se müssen se auch mal lern dass das nicht alles stimmt was da drin ist“.
Übergangs- und pausenlos kommt er auf seine Aktivitäten zurück, erwähnt, dass die BI auch sehr rege war, ohne Aktionen zu benennen (Z 265-341), erzählt, dass er von seinem Vorgesetzen unter Druck gesetzt wurde, ihn aber durch Aufklärung überzeugte und er ihn „am Ende so weit auch bekommen dass er eh dem dem dem Rau, dem damaligen Ministerpräsidenten n Brief geschrieben hat [atmet hörbar ein]“(Z 276f).
Dieser Konflikt hat ihn wohl sehr belastet. Er fährt ohne Unterbrechung fort, die Angelegenheit erneut als „und es war am Ende(!) dann auch so hier in Graben(!)“ (Z 277f) zu beschreiben, wofür er die Politik verantwortlich macht, namentlich den Gesundheitsminister: „der dachte packen wer ma locker an dass wer die Sache vom Tisch haben“ (Z 281f). Da gerade der Versuch, den Entschluss so schnell wie möglich durchzusetzen, für den Fall Herten charakteristisch ist, erstaunt die Wortwahl „locker“ – darunter versteht man nach allgemeinem Sprachgebrauch lässig, nebenbei, ohne große Mühe und Aufwand, oder ohne sich viel Gedanken darüber zu machen. Diese letzte Interpretation führt zu dem, was M gemeint hat, und was sich mit einem weiter oben gefundenen Interpretationsergebnis deckt: Er kritisiert den Versuch der schnellen Durchsetzung, bei dem die Betroffenen so weit wie möglich vor vollendete Tatsachen gestellt werden sollten, offenbar ohne einzukalkulieren, was sie damit auslösen könnten. Auch dem LWL macht er im Weiteren schwere Vorwürfe, bezeichnet ihn als unfähig und erzählt, von einem Vertreter nach der Versammlung in der Gesamtschule persönlich beleidigt worden zu sein. Er schließt diese Passage wieder mit „jedenfalls war das dermaßen(!) auch von daher niveaulos(!) äh dass das so(!) in Graben war die Sache“ (Z 294f), dass ein Versuch seinerseits, eine Diskussion über einen anderen Standort für eine Forensik in Herten in Gang zu setzen, ganz zwecklos gewesen wäre. Auch hier betont er wieder, dass bei frühzeitiger Information und Beratung der Zuständigen in Herten eine Lösung an anderer Stelle möglich gewesen wäre. Die völlige Ablehnung einer Forensik in Herten sei aus dem falschen Vorgehen erwachsen. Das habe so viel verbrannte Erde hinterlassen, dass etwaige zukünftige Pläne keinerlei Aussicht auf Erfolg haben würden.
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Die folgende Passage ist die dritte in Feinanalyse untersuchte. Sie beginnt in der Zeile 300, in der C direkt anschließt mit „und zum Glück(!!) (.) zum großen (!)Glück is das dann noch grade rechtzeitig äh äh abgeblasen worden“ (Z 300f). Damit beginnt er eine Erzählung über seine Erleichterung wegen der Aufgabe des Plans, in Herten zu bauen, weil er „eine panische Angst“ (Z 301f) vor den Reaktionen der Bevölkerung hatte, falls das noch länger Thema gewesen wäre: „wenn das noch eh wenn die da angefangen hä wärn und hätten die Bagger(!) kommen lassen (.) das wär in eine Richtung ab(!)gedriftet weil das so(!) emotionalisiert war und wern und und das hätte man nicht mehr steuern können auch das sind auch äh eh die Leute, die auch nicht alle, die so differenziert denken hier, obwohl die da die Politiker wie auch die Bürgerinitiative wie auch wir denke ich das schon sehr(!) differenziert gesehen haben aber sie können nachher, wenn das so ist das nicht mehr steuern(!) und ich war heilfroh es wär nich gut(!) gegangen, das wäre da hätte man sich dann wieder absetzen müssen von dem das wär ga nich mehr verstanden worden“ (Z 302-304).
Neben der klaren Aussage, dass die Situation in Herten sehr emotionalisiert war, ist hier die Betonung interessant. C hebt dadurch hervor, dass seine Sorge dem Zusammenhalt der nach außen möglichst einheitlich auftretenden Beteiligten am Protest galt. Bis dahin war es offenbar gelungen, interne Differenzen klein zu halten. Komprimiert man diese häufigen und übergangslosen Themenwechsel, wird das vorher nur zu ahnende Muster deutlich: Kommunikation funktioniert nicht mehr (Z234ff) – die Medien berichten falsch (Z 238ff) – er wird wegen eines Artikels angegriffen (Z 257ff) – er informiert weiter Leute, die BI macht ihre Arbeit (Z 265ff) – er wird von seinem Vorgesetzen unter Druck gesetzt (Z 271ff) – die Zuständigen sind unfähig und greifen zu persönlichen Beleidigungen (Z 277ff) – die Situation war zu verfahren, um andere Standorte in Herten in Betracht zu ziehen (Z 293ff) – er hatte große Befürchtungen vor einer Eskalation (300ff). Er lastet den Verlauf den Verantwortlichen in Politik und LWL an; die Äußerungen der Bevölkerung, auch noch in der Presse verzerrt dargestellt, sind verständliche emotionale Reaktionen, weil das Problem völlig falsch angegangen wurde. Auch das strategische Argument eine notwendig werdende Distanzierung betreffend taucht hier wieder auf, das C in den bereits interpretierten Zeilen 187ff angeführt hat. Er schließt an die oben zitierte Einschätzung seine Meinung an, dass die zuständigen Stellen die Ausweglosigkeit der Situation eingesehen und daher die Baupläne aufgegeben hätten, um dann im Anschluss noch einmal zu argumentieren, dieses Scheitern sei „zum Großteil auch (.) aus meiner Sicht ein Unvermögen der verantwortlichen Leute gewesen, die hier im Hau-Ruck-Verfahren, so was Sensibles hinkriegen wollen was
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ein Minimum(!) an Akzeptanz auch bei der Bevölkerung bedarf.(langsamer)“ (Z 311-314).
Ein weiteres Argument führt er mit der Einschätzung, in Deutschland gäbe es kein geeignetes Personal für eine solche Einrichtung und das Problem sei jahrelang nur verschoben worden, ein. Über eine Bemerkung zu einer Stadt, die zum Zeitpunkt des Interviews gerade im Gespräch als Forensik-Standort war und in der sich ebenfalls sofort eine BI bildete, kommt er wieder auf Herten und betont, dass da auch zukünftig wegen der Verfahrenheit der Situation keine Akzeptanz zu erwarten sei. Er will die Darstellung zunächst beenden mit „das is also so äh in ganz ganz kurzen äh Dingen also“ (Z 328f), unterbricht sich aber sofort darin und kommt erneut auf die Medien zu sprechen, die die Ebene der zweiten Auseinandersetzung gebildet hätten. Er berichtet von ständigen Pressebesuchen und den schlechten Erfahrungen, die er damit gemacht habe, seine Meinung darzustellen, wobei er besonders die „Aktuelle Stunde“ – eine Nachrichtensendung des WDR-Fernsehens – kritisiert. Er vermutet, es habe eine entsprechende Anweisung dazu gegeben, verzerrt zu berichten: „der WDR der wirklich wahrscheinlich auch die Vorgabe hatte nehm ich mal an(!) (.)dass äh das in einer ganz bestimmten Akzentuierung nur rüber kam“ (Z 337-339). Die falsche Darstellung ging so weit, „wenn man sich da selber sah musste man sich selber schämen(!) also (lacht) und dachte was (lacht) is das denn für n Idiot der da so son Quatsch da von sich gibt weil da zwei Halbsätze drin waren (lacht)“ (Z 344-346).
Er vermutet dahinter die Weisung von politischer Seite, die das Geschehen in einer bestimmten Weise dargestellt sehen wolle: „wenn man wenn eine(.) politische oder Leute die an einer politischen äh inner politischen Verantwortung sind ähhhh versuchen das in eine bestimmten Richtung äh dann äh äh zu lenken= dann ham se also ganz wenig Chancen (.) das rüber zu kriegen“(Z 347-349).
Er schließt Erzählungen an über die Streitigkeiten, die es zwischen den Parteien gegeben habe und kommt dann nahtlos zur Demonstration in Münster, die er als „sehr machtvolle Geschichte(!)“ (Z 361/362) charakterisiert und lobt sie sei „vorbildlich(!) organisierte weil hier die Stadtwerker mitgefahren haben die äh das alles wieder sauber gemacht hatten“ (Z 358/359). Es folgt eine Erzählung, die in eine Argumentation übergeht, über die Kritik an der Teilnahme von Kindern: „= und da wurde sich dann drüber aufgeregt natürlich =dass da n paar kleine Kinder und so dabei wa=ich fand ich auch nich gut aber das kann man dann in solchen Dingen natürlich auch nie ganz verhindern =man hat das dann nur noch begrenzt n bisschen in der Hand =aber das lag nicht hier eigentlich so sehr an der Bürgerinitiative und an Verantwortlichen sondern das lag an dem Mitteinander wie man so was angefangn hatte“ (Z 362-366).
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Auch hier rechtfertigt er einen in die Kritik geratenen Sachverhalt wieder als Reaktion auf die Vorgehensweise der für die Planung Zuständigen. Hätten sie, wie er mehrfach erwähnt hat, im Vorfeld den Weg über die in Herten Verantwortlichen gesucht, wäre zu solchen Mitteln wie Demonstrationen mit Kindern nicht gegriffen worden. Er beginnt erneut einen Abschluss mit „Ja das ist also zunächst mal mein aus meiner Sicht son son son son Stimmungsbild da wie das war wie ich das so erlebt habe“ (Z 367/368), fährt aber sofort weiter mit einer Beschreibung darüber, dass es eine anstrengende und schlimme Erfahrung gewesen sei, wegen des negativen Bildes, das er nun von Politik und Medien habe. Davon sei ihn die Einschätzung geblieben, anders als er vorher dachte, nicht richtig informiert zu sein, wenn er Zeitungen und Fernsehnachrichten verfolge. Widersprüchlich ist dann die nächste Passage, in der er auf eine Frage Ns („Haben sie den Eindruck dass es eher negativ rüber gekommen ist so wie das dargestellt wurde“) die Darstellung in den Medien erläutert. Er beginnt mit: „ja das is so rübergekommen das is ein wilder Haufen die mit Knüppeln jeden tot(!) schlagen der ar diesen armen Menschen da helfen will (lacht) und so ist das rüber und ganz unverständlich hieß es dass nun die Kirche(!) (.) die nun doch Parteien ergreifen soll für diese arme Menschen dass die zwar nicht n Knüppel da hat aber da noch mitmarschiert so ist das rübergekommen zum Teil ja. Oder dass Ärzte (.) die nun dazu da sind nun des Krankenhauses Menschen zu helfen da sind ja auch finstre Drohungen(!) ausgesprochen worden gegen uns also regelrecht wirklich das nahm wirklich die Form von Drohungen“ (Z 382-388).
Der letzte Teil bezieht sich aber offensichtlich nicht mehr auf die Presse, da er im Weiteren die den Ärzten angedrohten Folgen expliziert: „Sie sind inner ganzen Bundesrepublik is auch erst gesacht worden erledigt(!) so ungefähr Sie haben den Eid des Hypokrates verletzt“ (Z 388-390). Damit kann eigentlich nur eine Organisation gemeint sein, die theoretisch die Möglichkeit hätte, bei Bewerbungen negativ zu wirken und nicht die Presse, die durch Veröffentlichungen jemanden schlecht darstellen kann. Dafür spricht auch die Wortwahl „ausgesprochen worden“ (Z 387) und „is auch erst gesacht worden“ (Z 389), was eher auf persönliche Kommunikation und nicht auf einen Zeitungsartikel weist. Auch steht nicht zu erwarten, dass in einer Zeitung Drohungen ausgeschrieben würden. Seine Verbundenheit, die eigene Betroffenheit wie auch die Betonung der Authentizität stellt er wieder durch die Verwendung wörtlicher Rede her, schließt aber damit an, dass er persönlich so etwas nicht erlebt hat; Vertreter des LWL ausgenommen, „warn die einglich noch immer sehr höflich zu mir bin ich also nich direkt da so angegangen worden“ (Z 394f). Er führt erneut seinen oben schon einmal geäußerten Eindruck an, dass „auch die Lokalen wohl die Weisung hatten das inne ganz bestimmte Richtung zu äh bringen“ (Z 397f), um Position und Ansehen des Gesundheitsministers zu stärken. Er endet die Passage mit der 197
Feststellung, dass Politiker/innen sowieso immer mehr Möglichkeiten hätten, ihre Argumente darzulegen. Diese gesamte Passage dient mit ihren Beschreibungen und Argumenten der Wiederholung und Belegung seiner Meinung, die Presse habe gar nicht die Absicht gehabt, objektiv zu berichten, sondern sei angewiesen worden, das parteiisch zu tun. Auf Ns Frage nach den Drohungen beginnt er mit „Ja das ging ja immer in Gesprächen(!) so die Politiker wenn die da so saßen oder die Leute vom Landschaftsverband“ (Z 405f), schließt aber übergangs- und pausenlos eine Erzählung darüber an, dass er viele zum Gespräch geladen habe, von denen einige „furchtbar(!) schlicht(!)“ (Z 408) über die Gegner des Baus dächten, insbesondere was deren Sachkenntnis anbelangt. Es folgt eine längere Passage über eine andere Bürgerinitiative, in der er Mitglied war und die in ihrer Sachkenntnis ebenfalls unterschätzt wurde. Mit diesem Beispiel belegt er seine Ansicht über vorhandene Kompetenzen in BIs und mangelnde bei zuständigen Politiker/innen und argumentiert dann: „daher wusste man auch dass der Stand der Forensik in Deutschland wirklich nun nicht äh äh so doll(!) war . „(Z 421/422 ). Er beendet und belegt diese Einschätzung mit einer Erzählung darüber, wie man sich informiert habe und dass der geplante Bau neben dem Krankenhaus ein architektonisches Problem gewesen sei. Diese Themenabfolge belegt sein großes Interesse, zugefügte Ungerechtigkeiten aufzuzeigen, seiner Meinung nach falsche Darstellungen richtig zu stellen und die Sachlichkeit und das Fachwissen der Protestierenden zu belegen. Sein starkes Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, drückt in der schon zitierten Wortwahl aus bei „aber man kriegt seine (!) Meinung nicht (!) rüber“ (Z 336/337), „wenn man sich da selber sah musste man sich selber schämen(!)“ (Z 344), „für n Idiot“ (Z 345), seine Beschreibung der Pressedarstellung der Protestbewegung als „ein wilder Haufen die mit Knüppeln jeden tot(!) schlagen der ar diesen armen Menschen da helfen will“ (Z 382f) und „irgend wie wild gewordene Leute“ (Z 409), „wie die letzten (.) äh Blödmänner(!)“ (Z 485f), Seine oben belegte Ansicht, die Presse sei instruiert worden, parteiisch zu berichten, liefert die Begründung für die behaupteten Falschdarstellungen. N fragt dann nach den von Herrn C weiter oben angesprochenen unterschiedlichen Motivationen, worauf er mit „Einmal wars natürlich ganz schlicht(!) auch Angst(!)“ (Z 436) unterbricht, dann aber sofort von seiner Motivation, die sich vor allem aus der baulichen Nähe zum Krankenhaus speiste, erzählt („ich hab Ihnen gesagt dass mein Motiv war ganz eindeutig der Standort(!) Z 437), direkt gefolgt von der Vermutung, die forensische Klinik sei an anderer Stelle machbar gewesen, wofür er als Beleg eine Beschreibung der guten Integration der Patient/innen der bestehende Psychiatrie anführt. Die Motive der Stadt sieht er in einem Imageverlust, dessen Berechtigung er mit der schwierigen 198
Situation Hertens, „Herten so als Armenhaus des Ruhrgebietes“ (Z 450), belegt. Er argumentiert dann weiter, dass er den Verdacht habe, Herten sei ausgewählt worden, weil die Zuständigen davon ausgingen, mit der Bevölkerung, die aus unkritischen Menschen mit hohem Ausländeranteil („die da gar(!) nichts von mitgekricht haben die ham so die denen is die Problematik ja auch nich die juckt das ja auch so jetzt nich weil se eben das gar nich so wissen auch nich jetzt diese Beziehung etwa hier zu dem Ort(!) haben“ (Z 455-457)), leichtes Spiel zu haben. Er stellt die diesbezüglichen Gedanken der Zuständigen wieder in wörtlicher Rede dar: „mit der wer fertig werden ganz schnell und die wer argumentativ äh ruckzuck inner Ecke haben“ (Z 461f). Seine Vermutungen über Motive der Protestierenden ergänzt er durch ökonomische Erwägungen, da viele sich mit dem Bau eines Hauses verschuldet hätten, das nun in der Nähe einer Forensik stehen sollte. Auch in diesem Zusammenhang kritisiert er die Medien, da die Menschen einerseits Verständnis für die Kranken haben sollten, andererseits mit Berichten über deren Straftaten verunsichert würden: „das is ja auch die Schizophrenie(!) der die Leute ausgeliefert sind“ (Z 475). Ohne Übergang erzählt er, dass die Verantwortlichen des Protestes diese Angst aber nicht geschürt oder mit einer Bedrohung argumentiert hätten. Er schließt übergangslos mit einer schwierigen Passage an, die ich in Feinanalyse untersucht habe. Sie besteht aus zwei Sequenzen, einer Argumentation und einer Erzählung, und lautet: „das lag natürlich jetzt auch daran(!) dass man mit denen die ver Verantwortlich(!) waren auch wirklich umgegangen is und mit den Leuten auch(!) wie die letzten (.) äh Blödmänner(!) denen is ja nich gesagt worden ja ihr habt auch recht erst ganz am Schluss versuchen so n bisschen die haben ja nicht gesagt also . das is was Schwieriges(!) wir kommen mal um mit euch zu sprechen ihr habt sicher Angst aber diese Angst ist unberechtigt=so war das ja nich= sondern die kamn und sachten wir brauchen(!) uns überhaupt(!) nicht mehr darüber zu unterhalten(!) (Klatschen mit der Hand auf den Tisch), die Entscheidung ist gefallen(!) (Klatschen mit der Hand auf den Tisch ) und ihr könnt machen, was ihr wollt . die Leute hatten ja in dem Sinne äh von Forensik also no nie= die hatten das Wort(!) ja noch nich mal gehört (.) geschweige denn konnten sich da so richtig was drunter vorstellen(!) und das ging dann ganz schnell und dann war natürlich also auch äh die nackte Angst nachher am Ende äh war die da das war sicher beim Großteil derer(!)“ (Z 484-495).
Zunächst macht er auch für die Angst der Menschen die Vorgehensweise der Zuständigen verantwortlich. In dieser Passage erregt er sich sehr, wie man am zweimaligen Schlagen auf den Tisch, was bislang nicht vorgekommen ist, sieht. Das belegen auch die Wortwahl und die vielen Betonungen, Stockungen und schnellen Anschlüsse. Diese Vorgehensweise ist ihm so nahe gegangen, dass der Gedanke daran noch immer starke Emotionen hervorruft. 199
Unverständlich bleibt hier noch die zeitliche Zuordnung der Angst („nachher am Ende äh war die da“ Z 495), was im Widerspruch zur Zeile 436 steht. Bislang ist Angst als Motiv für Handeln oder Proteste kaum vorgekommen, obwohl er schon viel über Stimmungen gesprochen hat. Es ist daher wahrscheinlich, dass sie für ihn selbst keine Rolle spielt und er sie veranlasst durch die Frage nach Motivationen erwähnt. Das bestätigt die nächste Sequenz, in der er sich das Motiv selbst verdeutlicht und die Situation von Familien mit Kindern ausmalt, indem er sich auf die für ihn typische Weise hineinversetzt, was wieder mit dem Gebrauch wörtlicher Rede einhergeht: „hamse ja so Menschenketten gemacht (2) da wird das vorrangig ne Rolle(!) gespielt haben . und ich weiß das jetzt nich aber ich schätze wenn man jetzt grade nen Haus gebaut hat dachten (Z 496-498)… du könnst die Kinder auf der Straße laufen lassen und jetzt musste besonders aufpassen und so . das spielte sicher (.) auch ne große Rolle . (3) Ja. (3)“ (Z 500f).
Er greift Ns Einwurf „schwierige Situation“ (Z 502) sofort wiederholend auf, schließt daran erneut seine Meinung, wie verpfuscht die Situation wurde („Muster(!)beispiel“ Z 503) an und argumentiert, wie es hätte anders laufen müssen („Strategie“ Z 506, „Gespräch“ Z 508“). Er unterstellt dann den Zuständigen, sie hätten die Hertener für „doof“(Z 508) gehalten und angenommen, „die schlucken das noch= dies jetzt auch noch“ (Z 509f) und führt dann an, welche Belastungen Herten schon zu tragen hätte. Wieder beschreibt er seine Verärgerung über die Umgangsweise mit der Bevölkerung und mit ihm persönlich, dem der Mund verboten werden sollte. Hier kehren die Themen ‚Schlichtheit der Bevölkerung’ („eine (.) geduldige(!) Bevölkerung die die Trachweite ganz bestimmter Dinge noch gar nich so überschauen konnte Z 514ff), nicht ernst nehmen bzw. für dumm verkaufen und Zuschreibung obrigkeitsstaatlichen Denkens („also Obrichstaatlichkeit(!) obrichstaatliches(!) Denken in Schlimmsten(!)“ Z 519) zu den Planungsverantwortlichen wieder. Er argumentiert, dass aus dieser Kombination zu erklären sei, warum die Leute so verärgert waren. Da dieser Argumentationsstrang hier zum wiederholten Male aufgezeigt wird, kann geschlussfolgert werden, dass damit das Fundament seiner Situationseinschätzung gebildet wird. Erneut beschreibt er seine allgemeine Einschätzung zu Bürgerinitiativen, zieht dazu das Problem der Atommülllagerung als Beispiel heran, und argumentiert, Bürgerinitiativen seien „immer ein Zeichen dass die herkömmlichen demokratischen Instrumentarien nicht klappen(!) das sind se ja immer irgendwas klappt ja nicht (.) mein is ja auch n Mittel der Demokratie(!) natürlich aber (.) die Parteien(!) (.) schaffens ja ganz offensichtlich nicht dann das so aufzugreifen dass die Leute das Vertrauen haben= da ist das schon gut aufgehoben bei denen die wir gewählt haben.“ (Z 529-533).
N fragt dann nach der erwähnten Autoritätsgläubigkeit der Bevölkerung, deretwegen Herr C verwundert über die Proteste gewesen sei, und wird darin von ihm 200
mit einer Bekräftigung unterbrochen, belegt mit dem Argument, das sei auf die „Feudalstruktur und so die im Bergbau herrscht(!)war die katholische Kirche wirklich n Weisenknabe dagegen =in den hierarchischen Ordnungen“ (Z 540f) zurückzuführen. Er bezeichnet dieses für ihn erstaunliche Phänomen als „Aufbäumen“, „Wir-Gefühl“ und mit „so wir packens jetzt gemeinsam an“ (Z 542f). Damit beschreibt er an dieser Stelle erstmals eine positive Stimmung. Die Frage, warum die Mobilisierung hier funktioniert habe, beantwortet er zunächst spontan mit Angst, die er unmittelbar mit seiner Sorge um das Krankenhaus verbindet, da seiner Meinung nach eine Folge dieser Angst vor der nahen Forensik sein könne, in andere Krankenhäuser auszuweichen. Er argumentiert dann: „ich war deshalb so überrascht weil ich (.) äh vieles schon so versucht habe hier“ (Z 552), womit er eine lange Passage einleitet, in der er das Hertener Milieu beschreibt und von anderen BIs erzählt (Z 552-585). Er kommt mit der Wendung, „wenn se fuffzich [gemeint sind Teilnehmer/innen – d.A.] hatten hatten se viel und darum habe ich gedacht das kriegt man auch nich hin“ (Z 585f), zur fraglichen Mobilisierung zurück. In den nächsten drei Sequenzen unterbricht er sich ständig, offenbar während des Erzählens nach Gründen suchend, warum das diesmal anders war: „und dann saß irgendwo so durch diese Geschichte die in Belgien passiert ist so die Angst im Nacken anders(!) kann ich mir das nicht erklären(!) (.) wie das gekommen ist= und weil der Bürgermeister (.) aber da warn ja immerhin 3000 Leute da (2)die Presse hat eigentlich bei diesen ganzen übrigen Mediengeschichten auch mitgezogen= aber es war jetzt auch wohl (.) hier war ne Bedrohung(!) jetzt von ich sag mal in Anführungsstriche von außen(!)(lauter)“ (Z 586-591).
Im Gegensatz zu vorher wird hier die Presse erstmals positiv erwähnt – offensichtlich ist damit eine andere Presse gemeint. Da die anderen aufgezählten Akteure lokale sind, liegt die Vermutung nahe, dass auch die lokale Presse gemeint ist. Diese Abfolge illustriert das für ihn typische ‚laute Denken’, und seine Methode, sich in die Situation und Gedankenwelt Anderer zu versetzen. Im Anschluss fällt ihm ein Argument ein, das er dann in den nächsten Sequenzen ausbaut und mit einem oben eingeführten Beispiel, der BI gegen die Müllverbrennungsanlage, als Negativ-Folie untermauert: Es habe sich im Gegensatz zu den missglückten Protesten vorher diesmal um eine Bedrohung von außen gehandelt. Zu dem zentralen Argument gelangt er mit der Kette: „da sah man ne Bedrohung(!) so der der ganzen Stadt wohingegen bei den anderen wandte man sich gegen die(.) Verantwortungsträger hier(.)“ (Z 599-601). Dass das der entscheidende Unterschied ist, belegt er mit der schon mehrfach beschriebenen Mentalität der Bevölkerung, die sich nicht gegen Autoritäten stelle und der Größe der Stadt, in der jeder jeden kenne. Diese Argumentation behält er im Wesentlichen bei, er endet mit 201
„sonst weiß ich das auch nicht . wie das kam(!) also kann ich auch nur spekulieren=einmal diese ich schätze der Druck(!) von außen (.) und diese nicht greifbare Angst(!) das weiß ich nicht . Also Menschen böse Menschen sind wahrscheinlich was schlimmeres wie die böse Technik sieht man ja zunächst nicht was da aussem Schornstein kommt .(4)“ (Z 617-621),
womit er als zusätzliches Argument die leichtere Vorstellbarkeit der Bedrohung anfügt. N fragt dann nach den Aktionen und wie er sie erlebt habe, wobei er sie mit „Als sehr diszipliniert(!)“ (Z 625) unterbricht, dann aber sofort die Versammlung in der Gesamtschule davon ausnimmt, die Emotionalität wieder als notwendig anführend: „aber das die sah ich auch so (.) also so n Initialgeschichte und das kriechten se auch nur so hin wenn Ses hinterher hinkriegen wollten . „ (Z 626628). Die weiter oben erfolgte Interpretation, das Aufgreifen der Emotionalität als Strategie zu erklären und die Emotionalität selbst als Folge des Vorgehens der für den Bau Zuständigen, wird hier durch das Wort „Initialgeschichte“ erweitert. Damit wird sie als Plan, die Menschen aufzurütteln, damit sie aktiv werden, charakterisiert, was vorher noch nicht herauszulesen war. Herr C kommt dann auf die Gründe für den Erfolg der BI zu sprechen, die er unter anderem am Zusammenkommen sehr unterschiedlicher Leute mit unterschiedlichen Gegenargumenten zurückführt. Als wichtigstes davon stellt er hier heraus, dass eine forensische Klinik in Herten der Stadt schwer geschadet hätte. Den scheinbaren Widerspruch zu den bislang herausgehobenen Gründen – die negativen Auswirkungen auf das Krankenhaus, die Ängste und die Nähe zum Schlosspark – mildert er durch kurze Erwähnung dieser Argumente ab. Die behauptete Disziplin belegt er mit den Sprechzeiten des Aktionsbüros im Glashaus, die er außerdem als professionell und gut organisiert beschreibt. In der Zusammensetzung der Mitglieder der BI sieht er eine „günstige Masche“ (Z 656), auch seien „eigentlich keine Scharfmacher drin.“ (Z 658f) gewesen. Die direkt anschließende Sequenz habe ich in Feinanalyse interpretiert: „ich hab das also die Stimmung als sehr angenehm(!) so empfunden man sprachen Leute mit Leuten die nie mitnander gesprochen hatten es war (.)es war son Wir-Gefühl(!) war wirklich da (2) wie man sich das eigentlich wünscht(!) nicht nur bei so was sondern allgemein(!) . es warn also da Leute aller Schichten (.) es war wohl so dass äh doch in den Spitzen auch wirklich etwas kritischere Leute saßen aufgrund ihrer Vorbildung warn relativ viel dort auch äh (.) wohl aus akademischen Berufen drin aber sonst war das quer durch alle Querbeet jeder tat das was er konnte . und es war (.) auch mit Pfiff(!) . (2)ich hatte dann also n bisschen Bauchschmerzen hab mich im Karnevalsverein umgetan (gemurmelt, leise)“ 659-667).
Es stellt sich die Frage, wie die im letzten Satz geäußerten „Bauchschmerzen“ zu verstehen sind, die er nicht erläutert, sondern sich unterbrechend wieder auf die 202
positiven Effekte der BI wie Kreativität und ein „Gemeinschaftsgefühl auch von Leu auch unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppierungen die gar nix mitnander zu tun hatten . sonst .“ (Z 674) kommt. Da er sich darin selbst unterbricht, seine Bedenken auch nur murmelnd und leise äußert, kann man darauf schließen, dass er dazu eigentlich gar nichts sagen wollte. Die positive Darstellung ist ihm wichtiger. Nimmt man die Äußerung der Sequenz vorher hinzu, in der er seine eigene Aussage, es habe in der BI keine Scharfmacher gegeben, durch ein „eigentlich“ relativiert, festigt sich das Bild, dass einiges ungesagt bleiben soll. Aus der Sequenz heraus ist nicht nachzuvollziehen, warum sie in eine ansonsten durchgängig positive Aspekte beinhaltende Beschreibungen geschoben wurde. Nimmt man die in anderen Sequenzen bereits geäußerten Befürchtungen, die Bevölkerung könnte sich radikalisieren bzw. berechtigte Kritik heraufbeschwörende Aktionen oder Äußerungen planen, und den Interviewzusammenhang, in dem es um Aktionen der BI geht, hinzu, wird diese Sequenz verständlich. Es ist Herrn C tendenziell unwohl bei geplanten Aktionen und Gedanken an die mögliche Entwicklung der BI, er wurde aber, nachdem er sich die Vorbereitungen – z.B. des Karnevalvereins – angesehen hat, beruhigt. Er belegt seine Beschreibung mit der Argumentation, dass das an einem Strang Ziehen der unterschiedlichen Personen wichtig gewesen sei. Als Beispiel dafür führt er die Zusammenarbeit von ihm, mit bekannter kritischer Haltung gegenüber der Politik, und dem Bürgermeister an: „dass das miteima alles zusammen war das hat Leuten sicher Mut(!) gemacht auch, war n mutmachendes Zeichen . wenn da mit einmal einer der sich sonst so fetzten oder nicht fetzten aber unterschiedlicher Meinung waren das das mit einmal so zusamm war“ (Z 688-691).
Er beendet diese Passage mit einer positiven Beschreibung über die Kräfte, die dadurch frei geworden seien. Ns Frage, ob das seiner Meinung nach nachwirke, verneint er bedauernd und kommt wieder auf die Medien zusprechen, argumentierend, dass das „Wir-Gefühl“ sicher auch auf ein Zusammenrücken wegen der schlechten Presse zurückzuführen sei: „war sicher auch ne Folge der schlechten äh ähäh des schlechten Images (lacht) was Herten mit einmal in der Medien krichte weil man da ja also äh (.) äh nun in den großen Zeitungn das haben die Leute ja nich gelesen aber (.) was sonst inn Medien kam da waren die Leute ja krichten die ja schon n hochroten (murmelt) fanden sich ja auch überhaupt nich wieder ja? Und wenn man so behandelt das schweißt ja auch noch dann noch mal zusammen nech?“ (Z 698-703).
Er fügt seine Einschätzung an, die Individualisierung der Gesellschaft führe dazu, dass nur eine „außergewöhnliche Bedrohung(!)“ (Z 711) früher übliche nachbarschaftliche Zusammengehörigkeitsgefühle auslösen könne. Er beginnt dann in resigniertem Ton und immer wieder leiser werdend von neuen Aktionen 203
wegen Zechenschließungen zu berichten, die er mitorganisiert, und befürchtet: „ich schätz nich dass das son Echo haben wird .“ (Z 718f). Er kommt auf das Thema Forensik über die zeitliche Einordnung zurück, dass schon zu der Zeit der Proteste davon die Rede war. Diese Passage ist wieder einer Feinanalyse unterzogen. Sie lautet: „das (.)war direkt im Anschluss und so und zum Teil parallel(!) (2)da hatt ich auch immer gedacht wenn das jetzt alles zum Glück kam es später wenn das jetzt alles noch direkt(!) parallel wär dann wär hier auch dann wär hier ein Zündstoff gewesen (2) und zwar na rechts abgedriftet da . es warn schon so es hatte ja einer zu soner Bürgerwehr ungefähr aufgerufen schon ja(!) ja ja ja! das war also das war alles Haaresbreite=hätte das noch sehr lange gedauert dann hätt das Mord und Totschlach deshalb gegeben weil man sich dann (.)eben auch hätte (.)absetzen müssen von ganz bestimmten von diesen Wir= und dann (.)hätte das miteima n Knacks gekriecht und und und die Leute (.)das wär auch ne Überforderung gewesen dass die dann so differenziert hätten und so und da müssen wer uns aber jetzt mal(spricht schnell und undeutlich) da hat aber die Bürgerinitiative und da ham alle sofort(!) was damals über über de Rübe gegeben und ham gesacht so nicht! und solche Töne bitte nicht(!) . aber wenn das wirklich angefangen wäre zu bauen (.)dann(.) weiß man eben nich was dabei raus gekommen wäre .“ (Z 734-746).
Hier wird wieder thematisiert, was er in den Zeilen 300ff beschreibt: seine Angst davor, was mit Wahrscheinlichkeit passiert wäre. Wie ist die Kausalität der Zeilen 739ff, es hätte Gewalt gegeben weil man sich hätte distanzieren müssen, zu verstehen? Zunächst relativiert er seine Aussage dadurch, dass er den gewaltbereiten Personenkreis eingrenzt. Dann unterstreicht er damit auch die Gewaltfreiheit und differenzierte Denkweise der verantwortlichen Aktiven, und er betont die schwierige Situation, in der Herten sowieso schon steckte, bei gleichzeitigem Hinweis auf die Schlichtheit von mindestens Teilen der Bevölkerung durch die Charakterisierung als „Überforderung“. Er sagt damit indirekt aber auch aus, dass eine Spaltung, die dann nötig geworden wäre, der BI einen „Knacks“ versetzt hätte. Damit unterstreicht er die große Bedeutung der Geschlossenheit und das breite Dach, unter dem unterschiedliche Menschen Platz finden konnten. Das schließt dann auch die mit ein, die zu radikaleren Mitteln greifen würden, und von denen man sich, wenn es nach außen dringt, distanzieren müsste, was sie, gelöst von Kontrolle und Gruppendruck der BI, noch stärker radikalisiert hätte. Als Antwort auf die Frage nach einer etwaigen Wiederholbarkeit rechnet Herr C zunächst mit Resignation. Dann ärgert er sich über die Vorstellung, nach diesem Fiasko einen erneuten Versuch zu starten und hält für möglich, dass „Schlimmes“ (Z 760) passieren würde, da die Kanalisation von Überreaktionen dann fehle. Er betont noch einmal die Zusammenarbeit und die Bedeutung von „Leitfiguren“, damit sind der Chefarzt des Krankenhauses, der Stadtdirektor, der Bürgermeister oder „andere honorige Leute“ (Z 770) gemeint. Im weiteren 204
Verlauf erzählt er, dass es auch von falscher Seite Beifall gegeben habe, und konkretisiert auf Nachfrage (N: „was ist denn die falsche Seite(?)“ Z 785): „Ja äh dass da also Töne nun laut wurden wo sie sich äh sagen ne ne und so dem gehört so ungefähr Rübe ab dies mein ich so . (. ) so oder oder solln se erst ma alle kastrieren(!) oder was weiß ich was(!) dann kommt . äh und von äh äh (.)da konnten da können se natürlich da solange das nur so auffe Stammtischebene dann is da können se ja nix dran machen und dann sagen se gut wenns auf der Ebene jetzt nun ma bleibt(!) da müssen wer halt mal durch(!) und wenn das öffentlich wird dann äh dies wir haben uns n paarmal von Dingen distanziert(!)“ (Z 786-791).
Damit bekräftigt er mehrere oben bereits angeführte Beschreibungen: die Leitungen der drei Protestgremien waren besonnen, Scharfmacher sind ins Leere gelaufen und solange es nicht in die Öffentlichkeit geriet, fand unter dem Dach des Protestes ein breites Spektrum an Meinungen Platz. Er hebt mit „da müssen wer halt mal durch(!)“ die Bedeutung der Geschlossenheit hervor, die er so hoch einschätzt, dass auch unliebsame Meinungen bis zu einem gewissen Grad geduldet werden. Er kommt dann auf die Bedrohung der Stadt insgesamt durch einen solchen Bau und dann auf die Lage des geplanten Bauplatzes zu sprechen, wobei er anhand der Geschichte des Schlossparks dessen Bedeutung für Herten erläutert. Er fügt an, dass es schon Probleme gegeben habe, als am Rand des Schlossparks die Psychiatrie gebaut wurde, „das war damals aber noch aufzufangn“ (Z 807) Hier folgt die zweite Stelle, an der er so erregt ist, dass er mit der Hand auf den Tisch klopft: „Und jetzt da(!) wo die Leute immer (klopft auf den Tisch) wo se so stolz(!) (klopft auf den Tisch) drauf warn da so (klopft auf den Tisch) da so (!) das war ja auch der Grund das macht man ihnen kaputt das war also die ham die emotional so(!) auffn falschen Fuß erwischt (2) dass ich äh sach n Musterbeispiel (.) da für solche Unsensibilitäten“ (Z 810-813).
Über das Erstaunen, dass die zuständigen Lokalpolitiker/innen vorher nichts von der Planung mitbekommen haben, kommt er zur Beschreibung der Konfrontation mit diesem Thema als „Blitz aus heiterem Himmel als fertige (!) Geschichte“ (Z 820f). Es folgen längere Passagen (bis Zeile 872), in denen er Fälle beschreibt, die seiner Meinung nach schlimmere Auswirkungen auf Herten haben, gegen die sich aber kaum Protest geregt habe. Er führt das darauf zurück, dass die Menschen an Großindustrie und ihre Auswirkungen gewöhnt seien und es sich dabei auch um die Arbeitgeber vieler handele. Dabei fällt ihm ein, dass der Versuch, ihm über seinen Vorgesetzen den Mund verbieten zu lassen, schon bei früheren Protesten versucht wurde, eine Erinnerung, die die dritte Situation, in der auf den Tisch klatscht, auslöst: „=das ist auch für mich(!) hier eine ganz komische Denkungsart(!) wie die sich das wohl vorstellen(!) (.)dass hier einer (lacht) sitzt(!) und da sacht(!) ihm einer (klatscht
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auf den Tisch) was was weiß ich der Regierungspräsident und dann is er (.) sacht er miteinmal nix mehr und sacht nein nein also gut wenn Ihnen das nich gefällt(!) dann sag(!) ich das nicht . das is ja auch immer noch sehr merkwürdig(!) (.) dass äh dass das so ausgeprägt(!) ist =son Denken .“ (Z 846-851).
Hier bestätigt sich die oben geäußerte Vermutung, dieser Punkt sei ihm besonders nahe gegangen und ärgere ihn so, dass er sich noch sehr lange Zeit später – diese an der Stelle erinnerte Situation fand in den 70er Jahren statt – darüber erregt. N fragt dann nach der Geschlossenheit und in wie weit es auch andere Stimmen gegeben habe, worin Herr C sie unterbricht mit einer Erzählung über Vertreter der evangelischen Kirche, die dem Protest zunächst abwartend bis kritisch gegenüber standen, die er aber in mehreren Schritten der Information und Diskussion und unter Einsatz der ihm zuerkannten Autorität hat überzeugen können. Ebenso sei er mit der Partei Bündnis 90/Die Grünen verfahren. Er beendet das Interview mit einer durchgängig positiven Einschätzung der wechselseitigen Kommunikation: „=ich hab (.) Briefe gekriegt natürlich die hab ich immer beantwortet(!) aber dat war alles sehr freundlich(!) war alles freundlich es war nich(!) so äh sondern äh da hat man wirklich auch miteinander äh gesprochen . und ich hab ja auch nun wirklich das war sehr sachlich(!) das ganze es ist nie so dass man sich da so außer diese äh erste äh Versammlung da dass man sich da so gegenseitig da (.) so verprügelt(!) hat hier sondern das war dann schon auch mim gewissen Respekt(!) getan . (3)“ (Z 932937).
Diese Sequenz ist nach den häufigen Schilderungen hoch emotionaler Reaktionen an verschiedenen Stellen, die er zum Teil sogar als beängstigend in dem Sinne, was sich daraus noch alles entwickeln könne, darstellt, zunächst widersprüchlich. Sie kann so gelesen werden, dass er gegen Ende eine positive Schilderung sehen möchte. Eine andere Interpretation ergibt sich daraus, dass er hier nur von sich erzählt. Demgemäss zählen auch die emotionalen Ausbrüche der Gegner/innen des Baus nicht dazu, da er damit direkt nichts zu tun hatte, sich im Gegenteil sogar distanziert hat, bzw. an verschiedenen Stellen eine notwendig werdende Distanzierung der schwierigen Vermittelbarkeit solcher Differenzierungen wegen befürchtet hat (Z 189ff bzw. 300ff). Sie kann auch als Reaktion auf die Frage nach „Gegenstimmen“ (Z 786) verstanden werden, auf die diese längere Erzählung folgt. Der von der Interviewerin verwendete Ausdruck ‚Gegenstimmen’ legt schon Diskussionen und nicht Gegnerschaften nahe, ist sicher ein moderater, der die Erinnerung nicht zu krisenhaften Begegnungen lenkt. Folglich erinnert Herr C sich an die Kontrahenten, die sachlich geblieben sind. Den früher erinnerten Konflikt mit einem Vertreter des LWL, der verbal ausfallend geworden sei (Z 291ff), zählt er hier 206
nicht dazu. An anderer Stelle hatte er auch bereits gesagt, dass ihm gegenüber meist zurückhaltender agiert wurde („also (.) außer vom Landschaftsverband von den Beamten warn die einglich noch immer sehr höflich zu mir bin ich also nich direkt da so angegangen worden“ Z 393-395). Für die hier erinnerten Situationen und Diskussionspartner/innen gilt vermutlich die Beschreibung als überwiegend sachlich. Diese letzte Interpretation wird hier bis auf weiteres als plausibel genommen. Herr C verwendet am häufigsten die Erzählung, gefolgt von der Argumentation.
III.3.3.2 Rekonstruktion der Fallgeschichte und Kontrastierung der der erzählten mit der erlebten Geschichte Analog zum ersten Fall werden in diesem Kapitel zwei Schritte dargestellt: Zum einen werden die Bedeutungen einzelner Ereignisse für die erzählende Person herausgearbeitet und zum anderen in der Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Geschichte nach der Funktion der Art der Präsentation gefragt. Wieder muss zunächst nach den vom Interviewten angebotenen und folglich für wichtig erachteten Themen gefragt werden. Von denen der rekonstruierten Geschichte finden sich die folgenden Themen im Interview wieder: - die Plötzlichkeit der Wahl Hertens als Standort einer Forensischen Klinik (Z 12ff, 820f) - Information von Stadtspitze und Krankenhaus durch Zuständige des LWL (Z 20f, Z 29ff) - Vorgehensweise von Politik und LWL (Z 35ff, 90ff, 280ff 286ff, 312ff, 387ff, 484ff, 503ff, 516ff, 812ff, 838f, 843ff) - Ablehnung der Pläne durch Stadt und Krankenhaus (Z 26f, 31f, 39f, ) - Treffen der Stadtspitze mit Vertretern des Krankenhauses (Z 45ff) - Verhältnis zur bestehenden Psychiatrie (Z 59ff, 444ff, 807) - taktische Schritte, Suche von Verbündeten (Z 85ff, 96ff, 204ff, 225ff, 406ff, 680ff, 761ff) - öffentliche Ratssitzung in der Gesamtschule (Z 115ff, 151ff, 166ff, 588) - Gründung der Bürgerinitiative (Z 120, 181) - Situation Hertens (Z 137ff, 448ff, 509ff, 539ff, 601ff, 636ff) - Darstellungen in den Medien (Z 113ff, 230f, 238ff, 331ff, 371ff, 588f, 699ff) - Konflikte(Z 234ff, 257ff, 300ff, 362ff, 737ff, 786ff, 880ff)
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- Einbeziehung höherer politischer und übergeordneter institutioneller Stellen (Z 353ff, 843) - Vergleich mit den Niederlanden (Z 315ff) - Demonstration in Münster (Z 356ff, 625f) - Aktionen der BI (Z 266ff, 496f, 652ff) - Haltung der Grünen (Z 907ff) - Einbezug des Ministerpräsidenten (Z 276f, 284f) - Bedeutung des Schlossparks (Z 640, 798ff) Die vielen Selbstunterbrechungen führen zu häufigen Themenwechseln und die wiederum dazu, dass fast alle Themenbereiche mehrfach angesprochen werden. Diese Wiederholungen vieler angesprochener Themen erschweren zunächst die Bewertung für die Gegenwart. Dennoch lässt sich aus den Häufigkeiten – zusammen mit den emotionalen Reaktionen – die jeweilige Bedeutung, die Herr C den Ereignissen zuschreibt, ablesen. Bei der Betrachtung von Häufigkeiten und Ausführlichkeit der Darstellung fallen mehrere Themen auf: Stark berührt hat ihn offensichtlich die Vorgehensweise, angefangen damit, dass Herten unvorbereitet als Standort ausgewählt wurde und weiter mit der Art des Umgangs, den er mehrfach und sehr aufgebracht „obrigkeitsstaatlich“ nennt, z.B. in Zeile 519: „=also Obrichstaatlichkeit(!) obrichstaatliches(!) Denken in Schlimmsten(!)“. Die als Folie dienende Hypothese aus III.3.1. sei hier zur besseren Verfolgbarkeit wiederholt: Wichtige Ereignisse, die sowohl die BI als auch die Beteiligten beeinflusst haben, sind die Plötzlichkeit der Wahl Hertens, die starke Abwehr dieses Beschlusses durch den Stadtrat, die große Beteiligung der Bürger/innen, die heftige Debatte zwischen Abwartenden / Befürwortenden und Gegnern des geplanten Baus, der Aufruhr bzw. die Emotionalität insbesondere der Anfangszeit. Wie in dem Kapitel ebenfalls herausgearbeitet, spielt die enge Zusammenarbeit der „drei Säulen des Widerstandes“ eine zentrale Rolle für die Geschichte. Das findet sich auch in diesem Interview wieder. Die abwehrende Haltung des Stadtrates würdigt Herr C an vielen Stellen zumeist indirekt, wenn er von der guten Zusammenarbeit spricht, so etwa vom Treffen am ersten oder zweiten Tag (Z 47ff). „eigentlich immer wir drei so praktisch aus verschiedenen Motiven heraus immer die Dinge abgesprochen, so dass man nich den einen gegen den andern ausspielen(!) konnte“ (Z 267ff), oder in der erwähnten, sonst nicht typischen Zusammenarbeit mit Politiker/innen. Die große Beteiligung der Bürger/innen wird mehrfach erwähnt. An einigen Stellen äußert er seine Überraschung sowohl über den Zusammenschluss selbst, 208
wie auch über die große Anzahl der Beteiligten und ihre Zusammensetzung. Insgesamt war er erstaunt über die Solidarität, da er andere Erfahrungen gemacht hat: „ich hab das damals nich hier für möchlich gehalten“ (Z 233f). Zwar kommen alle als vermutlich bedeutsam herausgefilterten Themen vor, für Herrn C hat jedoch vor allem der erste Punkt eine besondere Bedeutung: Das wird durch den Zusammenhang, in den er ihn stellt deutlich: die Art des Vorgehens der zuständigen überregionalen Politiker/innen und des LWL. Darüber ist er noch immer betroffen: „es war sehr stressig(!) es war es war furchtbar also auch auch auch nervenzerrend(!) natürlich und es war (.)es war eigentlich ne sehr schlimme Erfahrung(!) muss ich auch sagen in vielerlei Hinsicht mein Bild so vonner Politik und auch von den Medien hat also doch also n bisschen Knacks gekricht weil man auch mal sah wie Meinung gemacht wird wie Meldungen gemacht werden“ (Z 368-372).
Damit ist in dieser negativen Gesamteinschätzung ein weiterer ihm wichtiger Punkt genannt, die Darstellung in den Medien, in denen er sich und die Situation falsch dargestellt findet: „also wenn man sich da selber sah musste man sich selber schämen(!)“ (Z 344). Seine Ansichten über Politik und Medien begründet er mit den dort gemachten Erfahrungen. Fasst man die ersten drei oben genannten Punkte – die Wahl Hertens, die Information darüber, die Vorgehensweise – und den Punkt Darstellung in den Medien zu diesem Oberthema zusammen, fällt auf, wie oft Herr C diesen Themenbereich anspricht. Auch emotionale Reaktionen finden sich gehäuft an diesen Stellen, in denen es um seiner Meinung nach ungerechtes oder unfaires, insbesondere hierarchische Machtpositionen ausnutzendes Verhalten geht. Die Punkte zwei und drei – Abwehr durch den Stadtrat und große Beteiligung – wusste er sichtlich zu schätzen; deutlich wird das z.B. in den Zeilen 110113: „Ich hatte zunächst also gedacht (.) wir wärn ziemlich (…) alleine, weil die (.) nicht wussten wie man das organisieren soll da hatt ich mich aber dann ganz ganz gründlich äh vertan, (.) weil dann mit einmal, (.)“–, nimmt sie aber als dem Thema zu verdankenden Konstellation, die er so nicht wieder zu erwarten hofft. Er differenziert auch sehr klar zwischen den unterschiedlichen Motiven der Beteiligten (Z 436ff). Dass diese Themen zum Teil mehrfach vorkommen, ist demnach seiner Erzählweise zuzurechnen. Herr C erzählt sehr stringent die Ereignisse aus seiner Sicht, wie er es auch gleich zu Anfang benannt hat (Z 5f) – wie gesehen, ist das zugleich der Versuch einer Gegendarstellung. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass von den Aktivitäten der BI sehr wenig zu erfahren ist. Es werden das Büro im Glashaus, die Fahrt nach Münster und eine weitere Veranstaltung, die er nicht mehr näher als mit „auf som Feld“ (Z 630) bezeichnen kann, genannt. Vermutlich handelt es sich dabei um eine der zahlreichen Demonstrationen und Mahnwachen, die am
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geplanten Bauplatz stattfanden. Seine Überlegungen, wo das gewesen sei, legen diese Vermutung nahe (Z 631f). Herr C ist bemüht, die Trennung zur BI deutlich zu machen. Mehrfach weist er darauf hin, dass er nicht Mitglied war (z.B. Z 187ff) und nicht an den Aktionen beteiligt („Ich hab auch nur ich war auch nur bei dieser (.) im Ganzen bei der äh (.) da in äh der Gesamtschule dann war ich in Münster mit (.) und dann habe ich einmal mal noch gesprochen (2) ja auf som Feld“ Z 628-630), aber gut zusammengearbeitet hat. Diese beiden Punkte erklären, warum die in der Presseanalyse vielfach erwähnten Aktivitäten hier fehlen. Die politischen Auseinandersetzungen auf überregionaler Ebene, die in der Presse einen breiten Raum einnehmen, fehlen fast völlig, bis auf einige Erwähnungen der Rolle des Ministerpräsidenten und zweier anderer überregionaler Politiker. Als Ergebnisse lassen sich festhalten, dass für die Gegenwartsperspektive Herrn Cs starke Ablehnung der Vorgehensweise der Zuständigen bei LWL und der Politik zentral sind. Daran koppelt er die Berichterstattung in den Medien, da er vermutet, die als falsch und negativ eingeschätzte Berichterstattung sei auf politische Weisung und wegen des Vorziehens der Sensation vor ‚Tatsachen’ zustande gekommen. Diese Eindrücke wirken so weit nach, dass sein Bild von Politiker/innen und Medien nachhaltig negativ beeinflusst bleibt. Dass viele in der Analyse in III.3.1 als wichtig eingeschätzte Themen nicht oder in anderer Gewichtung vorkommen, liegt neben den offensichtlichen Gründen wie Erinnerung und unterschiedlicher Bedeutungszuweisung, hier vor allem an der sehr klar durchgehaltenen subjektiven Erzählperspektive. Er erzählt, was ihm wichtig war und stellt heraus, was ihn geärgert hat. Anders als im Fall 1 ergeben sich hier keine zusätzlichen Hypothesen. Die in der Sequenzanalyse gebildeten lassen sich bis hierher aufrecht erhalten und finden in den beiden aufgezeigten Analyseschritten Bestätigungen auch aus diesen anderen Blickwinkeln auf das Material. III.3.3.3 Typenbildung101 In diesem Interview ist viel von Handlungen die Rede; insbesondere die ständigen Bemühungen von Herrn C, zu informieren und Überzeugungsarbeit zu leisten, sind häufig wiederkehrende Themen. Dennoch beschreibt er immer wieder die Stimmungen, die – zum Teil vermutet – geherrscht haben, und die gefühlsmäßigen Reaktionen auf diverse Handlungen, ebenfalls zum Teil 101 zur hier verwendeten Bedeutung des Begriffes s. Kap. III.3.2.3
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vermutet. Der Grundtenor dieses Interviews ist daher sehr engagiert bis gefühlsbetont, es fehlen Fakten zur BI, die in seiner Erzählung nur am Rande vorkommt. Zur Erinnerung seien auch hier die gebildeten Hypothesen wiederholt: 1. Der Konflikt mit den Verantwortlichen von LWL und überregionaler Politik ist für Herrn C zentral. 2. Er sieht sich und die Proteste in den Medien falsch dargestellt. 3. Ihm liegt viel daran, neben den Richtigstellungen Erklärungen für sein Verhalten und für das der Bürger/innen zu liefern. In diesem Interview gibt es zwei zentrale Themen: Der große Ärger, den Herr C noch immer verspürt, – an einigen Stellen gewinnt man den Eindruck, er nage an ihm, – über die Art, wie die für die Planung Zuständigen mit ihm und anderen Bau-GegnerInnen umgegangen sind, und seine Einschätzung der Darstellungen in den Medien. Er verbindet diese Aspekte einmal indirekt durch die Themenabfolge im Interview – wenn er vom einen Bereich erzählt, kommt er regelmäßig auch auf den anderen zu sprechen –, und direkt, wenn er unterstellt, die Medien hätten auf Weisung der Politik parteiisch gegen Herten berichtet. Das zweite Thema hängt damit zusammen: Er benennt die Vorgehensweise als den entscheidenden Grund für das Aufflammen des Protestes und das Scheitern des Versuches, in Herten eine forensische Psychiatrie zu bauen. An den Stellen, an denen er von außen kritisierte Handlungen z.B. der BI rechtfertigt, vermischen sich diese beiden Hauptthemen, so z.B. in den Zeilen 293ff, in denen die Unmöglichkeit, über andere Standorte zu verhandeln, mit der vom LWL verschuldeten Kommunikationsblockade erklärt wird, die wiederum unter anderem an Beleidigungen durch dort Verantwortliche lag. Besonders deutlich wird seine Intention, sein von ihm als falsch interpretiert bezeichnetes Verhalten zu erklären, an zwei Stellen: als er wiedergibt, was er auf der Gesamtschulversammlung gesagt hat102 und als es um den von ihm als beispielhaft für die Falschdarstellungen in den Medien angeführten Artikel in der Süddeutschen Zeitung geht (Z 239-265). Dabei wird die Tendenz, sich zu unterbrechen und unterschiedliche Aspekte zur möglichst genauen Erläuterung seiner Sicht hinzuzuziehen, so verstärkt, dass die Passagen nur schwer verständlich sind. Dies immer wieder neue Ansetzen ist als Beleg dafür zu lesen, wie wichtig es ihm ist, hier Richtigstellen zu können. Schwierig war die zeitliche Zuordnung seiner Einschätzungen zu rekonstruieren. Wann hat Herr C sich diese Meinung gebildet? Insbesondere seine Beschreibung der Situation als ‚in den Graben gesetzt’ zieht sich durch das 102 von Zeile 151 bis 182 geht es mit vielen Unterbrechungen um dieses Thema
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gesamte Interview. Dabei wird diese Metapher immer in zeitliche Bezüge gesetzt, die jedoch variieren. Überwiegend verwendet er das zusätzlich einen kausalen Zusammenhang herstellende „dann“ (Z 234) oder „dann auch“ (Z 278), aber auch „und wenn“ (Z 191). Die plausible Erklärung ist, dass er das Vorgehen von Anfang an als ungeeignet, eine Kommunikationsbasis herzustellen, klassifiziert. Mit der Verwendung dieser Metapher an anderen Stellen, an denen er Handlungen des LWL oder der überregionalen Politik kritisiert, werden zwar ein Kausal- und ein zeitlicher Zusammenhang mit der jeweiligen Handlung hergestellt (z.B. „und dann war das so(!) in Graben“ Z 234f), diese Stellen müssen aber als Aufzählung gelesen werden. Die gewählten zeitlichen Zuordnungen lassen den Schluss zu, dass er sich seine Ansichten und Urteile zum damaligen Zeitpunkt, als die Proteste aktuell waren, gebildet hat. Das gleiche gilt für seine Einschätzung der hoch emotionalisierten Situation, die er mehrfach als kurz davor, nicht mehr steuerbar zu sein, erlebt hat (Z 300ff u.a.). Da es keine dramatischen Ausschreitungen gegeben hat, ist die wiederholte Erwähnung dieser Befürchtungen nur als Wiedergabe seiner damaligen Einschätzung, nicht als Sichtweise und Interpretation im Nachhinein lesbar. Seine Rechtfertigung, ‚die emotionale Schiene’ zu bedienen sei notwendig gewesen, zieht sich durch das gesamte Interview. Dabei erklärt er die beschriebene Emotionalität aus dem Versagen der in Politik und LWL Zuständigen (Z 181f, Z 200, Z 300ff), der besonders schwierigen Situation, in der Herten insbesondere wirtschaftlich stecke (ausführlich Z 137-146), sowie der ‚Schlichtheit’ von Teilen der Bevölkerung (Z 305ff, Z 453ff, Z 514ff). Ganz eindeutig macht er das Vorgehen der für die Planung Verantwortlichen für Verlauf und sogar einzelne Aktionen verantwortlich. Er vertritt die Meinung, der Bau einer Klinik an anderer Stelle – gegen die geplante argumentiert er mehrfach vehement – sei möglich gewesen. Die Häufigkeit der Erwähnung dieser Vorgehensweise, die durchgängige Beschreibung der Zuständigen als ungeschickt bis dilettantisch, die Zuordnung dieser Vorgehensweise als Ursache für alle – wohl vor allem in der Presse – kritisierten Handlungen der Gegner/innen (z.B. emotionalen statt rationalen Reaktionen, Mitnahme der Kinder zur Demo, Angst) sowie die Heftigkeit der Reaktionen, wenn er davon spricht (insbes. Z 484), lassen den Schluss zu, dass diese Handlungsweise eine tiefere Ebene getroffen hat. Sie verweisen auf seine Grundüberzeugung, Mitsprache und Informationen stünden den Betroffenen zu, und durch eine Kombination aus Mitspracherechten, Informationsmanagement und strategischer Herangehensweise könnten Konflikte im Vorfeld gelöst werden. Von dieser Enttäuschung über Politiker/innen nimmt er ganz offensichtlich die der Stadt aus – ohne das zu benennen. Es wird nur in der Kontrastierung mit der Chronologie deutlich, dass er, wenn er von der guten Zusammenarbeit der 212
‚drei Säulen’ spricht und eine davon mit ‚Stadt’ bezeichnet, die Politiker/innen des Stadtrates meint. Auch in den Zeilen 529ff, in denen er Unzufriedenheit mit der Politik und das Fehlen der Auffassung, ein bestimmtes Problem sei bei den gewählten Politiker/innen gut aufgehoben, als Entstehungsgrund für Bürgerinitiativen allgemein nennt, kann sich diese Einschätzung nur auf Landespolitiker/innen beziehen, da die lokalen ja die treibende Kraft des Protestes von Anfang an waren, dem sich ganz überwiegend auch die regionalen angeschlossen haben. Die Beschreibung von Stimmungen ist ein durchgängiges Motiv während des gesamten Interviews. Er spricht an verschiedenen Stellen von Betroffenheit, Wut und Hilflosigkeit (Z 39ff), die bei Stadtspitze und Krankenhausverwaltung durch die Mitteilung ausgelöst worden sei. Die Stimmung während der Gesamtschulversammlung beschreibt er als sehr aufgeheizt, „unheimlich (! .) emotional(!) (Z 124), es habe ein „Brodeln“ (Z 128 u. 167) gegeben, oder auch als „Durcheinander“ (Z 153). Offenbar zeitlich später klassifiziert er die herrschende Stimmung zwar weiterhin als sehr emotional „natürlich jetzt die Gefühle also äh bis zum ich weiß nicht mehr“ (Z 183f) und spricht von „Überreaktionen“ (Z 185), bezeichnet diese Gefühle und die offenbar daraus resultierten Handlungen aber nicht näher. Auch an den Stellen, an denen er die von ihm als verzerrt bezeichnete Darstellung der Gegner/innen des Baus beschreibt, spricht er davon, sie seien als ‚Wilde mit Knüppeln’, ‚Idioten’ oder ‚Blödmänner’ dargestellt worden, was ebenfalls eher für Wut oder Hilflosigkeit spricht, nicht für Angst. Bei ihm selbst herrschen Verärgerung über die Art des Umgangs und Desillusionierung vor, Angst nur vor der Gefahr des ‚Abdriftens’ des Protestes (Z 300ff). Dass Herr C mit dem Thema ‚Angst’ als Protestmotiv nicht so viel anfangen kann, zeigt sich auch, als er von N gefragt wird: „N: Sie haben noch gesagt es hat unterschiedliche Motivationen gegeben [C: Ja, ja] unterschiedliche Gruppen. Konnten Sie mir was zu der Motivation der anderen sagen (wird unterbrochen)“ (Z 432ff). Zwar beginnt er seine Beschreibung mit dem Motiv Angst in Zeile 436, verfängt sich aber dann und wechselt zu seiner Motivation und der der Politiker/innen: „Einmal wars natürlich ganz schlicht(!) auch Angst(!) und das wird beim beim (.) das kriegen Sie auch weils auch äh sie ja undifferenziert da war =Ich habe jetzt ich hab Ihnen gesagt dass mein Motiv war ganz eindeutig der Standort(!)“ (Z 436-438). Wenn man bedenkt, dass er von einer Versammlung ganz zu Anfang berichtet, vorher (Z 136) auch argumentiert hat, es sei „zunächst“ nicht anders als über das Aufgreifen der Emotionalität in den Griff zu bekommen gewesen, fällt der Widerspruch in den Zeitangaben auf. Emotionalität taucht immer wieder auf und wird meistens von einer Zeitangabe begleitet wie „und dann“, 213
auch wenn vorher bereits von emotionalen Reaktionen die Rede war, ganz ähnlich wie oben bei der Beschreibung der Gesamtsituation als ‚in den Graben gesetzt’ beschrieben. So erzählt er z.B. in den Zeilen 110ff davon, dass er dachte, das Krankenhaus stünde allein in der Ablehnung des Neubaus. Da diese Verknüpfungen mit zeitlichen Präpositionen nicht in einen chronologischen Verlauf gebracht werden können, bleibt nur der Schluss, dass damit wohl Kausalbeziehungen gemeint sind. Die angeführten Beschreibungen stehen immer im Zusammenhang mit Argumenten über verfehltes Handeln des LWL oder von Politikern, was seiner Grundargumentation entspricht. Dennoch ist sehr deutlich, dass er die gesamte Phase als hoch emotional besetzt erlebt hat und auch in der Erinnerung gefühlsbetont reagiert. Zusammenfassend lässt sich für die latente Sinnebene festhalten: es findet sich eine stark emotionale Beteiligung durch das durchgängige Gefühl, nicht ernst genommen oder übergangen zu werden, sich grundsätzlich ungerecht oder schlecht behandelt zu fühlen. Die heftige Verärgerung über hierarchisches Verhalten, Abneigung gegen Ausnutzen von Machtpositionen sind so erklärlich. Zugleich hat Herr C eine patriarchalische Einstellung zur Bevölkerung, die sich aus seinen Einschätzungen bei gleichzeitigem Bedürfnis, sie in Schutz zu nehmen herauslesen lässt. Er beschreibt die Mehrheit der Bevölkerung als gutmütig, aber nicht allzu gebildet oder helle, versucht aber, alle von ihm benannten Phänomene zu erklären. Offenbar hat sie auch seine Zuneigung. Die Sichtweise von Herrn C lässt sich gut mit seinen eigenen Worten zusammenfassen, er beschreibt die Zeit als „aufbegehren gegen Autoritäten“ (Z 401f), und ist empört, dass seiner Meinung nach unredliche, ‚obrigkeitsstaatliche’ Vorgehensweisen, Beeinflussungen der Presse und Drohungen die Auseinandersetzung bestimmten. Es fragt sich, ob er nach all den Erfahrungen, die er beruflich und in seinem beschriebenen Engagement gemacht hat, davon tatsächlich so überrascht worden sein kann. Das um so mehr, als er an den Stellen, an denen er davon berichtet, Kennzeichen wie Unterschätzung von Wissen bei BIs durch die Politik oder Entstehungsgründe, die im „Versagen“ von Politik begründet sind, seien typisch für Proteste herausstellt (Z 408ff und 419ff bzw. 259ff). Sicherlich erregt ihn die Erinnerung an die Handlungsweise noch immer, das Thema beschäftigt ihn nach wie vor. Die zum Ausdruck gebrachte Überraschung ist jedoch eher als Stilmittel zu lesen, diesen Punkt besonders herauszustellen. Daran liegt ihm persönlich wegen der Aversion, die er gegen ein solches Verhalten hat; auf die Sache bezogen will er damit belegen, dass die – von ihm nicht heruntergespielten – Auseinandersetzungen und Entgleisungen darin ihre Ursache haben.
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Für die Konstruktion des zentralen Musters ergibt sich folgendes Bild: Die Präsentation von Herrn C zeichnet sich durch eine stringent subjektiv gehaltene Erzählung aus, er scheint sich seiner Motivation sehr bewusst und seine Intention, seine ‚message’ im Interviews ist es, eine klare Zuordnung von Ursache (Verhalten des LWL) und Wirkung (heftige emotionale Reaktionen der Bürger/innen) deutlich zu machen. Als wichtigste Grundorientierung lässt sich damit die des engagierten Bürgers herausfiltern, das zugehörige zentrale Thema für die Handlungsmotivation ist Verärgerung.
III.3.4
Fall 3
Frau D war zum Zeitpunkt des Interviews Mitte 40, verheiratet, und hatte zwei schulpflichtige Kinder. III.3.4.1 Sequenzanalyse103 Hier wurde in 112 Sequenzen nach Wechsel der Textsorte und der Themen unterteilt. Auffällig (und erschwerend bei der Transkription) ist das häufige Händeklatschen während des Interviews. In den Analyseschritten wurden folgenden Hypothesen gebildet: 1. Frau D bemüht sich sehr um eine glättende Darstellung. 2. Sie stellt die sachliche aber ideenreiche Vorgehensweise der Bevölkerung heraus und betont dabei gleichzeitig und widersprüchlich die Bedeutung emotionaler Aspekte, insbesondere Angst, als Motivationsfaktoren. Die Ergebnisse von Sequenz- und Feinanalyse lassen sich wie folgt zusammenfassen: In der Anfangssequenz bezeichnet Frau D die Übernahme ihrer Rolle als Zufall, entwickelt aber im Verlauf der folgenden chronologischen Erzählungen eine Kausalkette. Sie beginnt damit, dass sie von Anfang an gegen den Bau einer forensischen Klinik war, und sich auch offenbar an der Beschlussfassung „dass man Widerstand leistet . in der Elternschaft“ (Z 11/12) beteiligt hat. Später sei sie gefragt worden, ob sie auf der Demonstration in Münster sprechen wolle. Da sie diese beiden Themen übergangslos miteinander verknüpft, kann man davon ausgehen, dass sie auch in der Elternschaft aktiv war. Sie berichtet von anfänglichem Zögern, unterbricht sich darin mit 103 Zur besseren Verständlichkeit der Zitate: Die Transkriptionsregeln finden sich am Anfang des Kapitels III.3.2.1.
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„das wollte ich eigentlich nicht (!) (lacht), das hatte ich nicht vor, weil eh die großen Reden, die liegen bei mir schon länger zurück, das war so, (Händeklatschen) Schüler SMV und Studentenzeit, also von daher war ich schon (Händeklatschen) gewohnt vor der größeren Menge zu sprechen“ (Z 14-17)
Sie begründet ihre Teilnahme mit, „gut ich mache es bevor (2) jemand etwas falsches (Händeklatschen) sagt“, da es viele problematische Äußerungen gegeben habe. In dieser Sequenz betont sie gleichzeitig den Ausnahmecharakter solcher Äußerungen, erwähnt auch im gesamten Interview nichts mehr über weitere dieser Art. Zwar liefern diese Äußerungen die Begründung für ihre Aktivität – „Aber im Vorfeld sind eben schon sehr viele negative Äußerungen… von wegen Hand ab und Fuß ab und alle (Händeklatschen) in die Gaskammer oder so“(Z 1820), sie relativiert aber sofort mit „so was ist aber wirklich ganz selten gefallen, aber das sind die Dinge, die immer an die Öffentlichkeit(!) gekommen sind“ (Z 20-22);
außer zu Beginn habe ein sachlicher Umgang mit dem Thema geherrscht. Der Widerspruch zwischen „sehr viele negative Äußerungen“ und „ganz selten gefallen“ führt zur ersten Hypothese, dass sich Frau D um eine glättende Darstellung bemüht. Auch ihre weiteren Aktivitäten, die sie und ihre Familie wegen des hohen Zeitaufwandes sehr belastet haben, übernimmt sie auf Anfrage, weil sie die von der BI gestellten und von ihr offensichtlich geteilten Anforderungen, eine Frau und ohne Berufsarbeit zu sein, erfüllt. Sie begründet ihre Entscheidung und gleichzeitig die Angemessenheit dieser Anforderungen mit: „weil die Frau als Mutter(!) glaubwürdig ist, von der emotionalen Seite her“ (Z 36f) und etwas weiter unten noch einmal „nicht so glaubwürdig in der Öffentlichkeit, wie die (.) Mutter(!)“ (Z 48f ) und ein „Mann, der die Familie ernährt und berufstätig ist, der kann(!) sich in dem Maße nicht engagieren“ (Z 46f). Das zentrale Thema in diesem Interview bleibt Angst, fast immer verknüpft mit den Themen Mutter und Frau, wie in den Zeilen 58-60: „diese Risiken, die dann auf uns zugekommen wären, die wollte ich nicht tragen(!) (.) als Mutter(!) nicht und als Frau(!) nicht“ (Z 58-60). In die gleiche Richtung geht ihre Argumentation etwas weiter unten: „vor allem bei den Frauen(!) auch ne. (.) die Angst um ihre Kinder bei Vätern sicher auch wobei ich doch behaupten möchte dass Frauen das noch son bisschen besser nachvollziehen können . (.)“ (Z 131133) Später argumentiert sie: „und ich finde es selbstverständlich(!), wenn die Leute Angst(!) haben äh (2). Angst war auch, ich denke, bei vielen Müttern(!) und Vätern(!) vorhanden“ (schneller und lauter)(Z 121-123). Das werde dazu führen, dass viele Eltern aus Angst ihre Kinder nicht mehr allein hinaus ließen, was für den Alltag eine große Veränderung bedeute: „ich hätte Angst, mein Kind alleine zur Musikschule zu schicken und s hat jetzt die Freiheit alleine in die 216
Stadt zu gehen mit einer Freundin“ (Z 293f). Und im weiteren Verlauf, als es noch einmal um das Konzept Forensik geht: „ich denke mal das Schlimme daran ist dieser unbegleitete Ausgang(!), der den Eltern oder Frauen Angst macht. (2)“ (Z 298f). Das Thema ‚Mutter’ kommt auch im Zusammenhang des Themas Schutz vor sexuellen Übergriffen vor. Sie baut es in eine Argumentation ein, warum die Vorstellung, psychisch kranke Sexualstraftäter in der Nähe zu haben, besonders ängstigend ist: „Es ist klar, ich als Mutter(!) weiß auch, die meisten Übergriffe, sexuelle Übergriffe an Kindern finden innerhalb der Familie statt oder oder im näheren Umfeld des Kindes“ (Z 285-287).
Darüber hat sie sich informiert und ihre Kinder entsprechend erzogen, gegen die durch die Forensik drohenden Gefahren fühlt sie sich machtlos: „aber das ist ne Sache (.) wo ich (.) nich eingreifen kann.“ (Z 292). Insgesamt war diese Zeit für sie sehr anstrengend, was sie vor allem auf die hohe zeitliche Belastung zurückführt. Auch beschreibt sie aus der internen Sicht die Stimmung als häufig niedergedrückt und mit wenig Hoffnung auf einen positiven Ausgang, was aber nach außen nicht gezeigt werden sollte: „Dann war es deprimierend“ (Z 102) „und selbst wenn wir … nicht mehr daran geglaubt haben, an Erfolg, dann konnte man das immer noch nach außen vermitteln“ (Z 104f).
Durch viele gute Ideen wechselte die Stimmung jedoch „immer in der ganzen Zeit von deprimiert bis euphorisch (.)“ (Z 108). Auch mit der Beschreibung der Situation als Belastung verknüpft sie ihre Rolle als Mutter, da ihre Kinder ihrer Aktivitäten wegen zu kurz gekommen sein: „die waren es halt gewohnt, die Übermutter (Händeklatschen) zu haben, die immer da ist (lacht) und immer Zeit hat“ (Z 327f). Der negative Nachgeschmack, der an einigen Stellen spürbar wird, hängt damit zusammen, obwohl sie als positive Auswirkung auf ihre Kinder Lerneffekte über Erfolg durch Anwendung demokratischer Mittel und gemeinsame, konstruktive Aktionen benennt. Sie beendet die Sequenz mit „Vielleicht hats sich auch von daher gelohnt man muss so in allem noch was Positives sehen“ (Z 335f) und die Äußerung von N „Na gut (.) das Positive is ja erst mal, dass Sie ihr Ziel erreicht haben“ (Z 337) mit dem Satz unterbricht: „Das Ziel ist erreicht ja aber das was so negativ war, das versuche ich jetzt einfach umzuwandeln in was Positives (lacht) für mich (lacht), ne“ (Z 338f). Dennoch zieht sie als Fazit, was ihre Aktivitäten betrifft: „Ja ich würds immer wieder so tun(!) immer wieder es war ne ganz (!) schlimme(!) Zeit (.) aber (.) ich würds immer wieder(!) machen“ (Z 322f)
Auf eine direkte Frage nach den Gründen für den großen Zulauf antwortet sie:
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„Das war... Ich glaube, das Schlimmste(!) war (.) die Art und Weise, wie mit dem Thema umgegangen wurde wie die Hertner vor vollendete Tatsachen gesetzt wurden, das fand ich auch dermaßen(!) unverschämt(!), ich fühlte mich in eine ganz andere Zeit zurückversetzt entmündigt(!) (Händeklatschen) und überfahren(!) und das(!) hat die meisten Hertner, also nicht nur mich, sondern alle anderen sehr erbost (Händeklatschen) da lief überhaupt nichts an Information, sondern (Händeklatschen) (schnell und lauter) ihr kriegt das. Und das hat die Leute auf die Barrikaden gebracht, jung und alt und das wollte keiner mit sich machen lassen und darüber waren auch (.) verständlicherweise(!) unsere Stadtväter sehr erbost“ (Z 81-88).
Für sie ist diese Thematik aber nicht zentral, sie wird nur noch einmal indirekt erwähnt, als sie davon spricht, dass der Baubeschluss unumstößlich schien und an anderer Stelle, an der sie beschreibt: „also im ersten Augenblick, wo man überrumpelt wurde, da waren viele richtig sauer(!) (lauter) “ (Z 211f), leitet aber sofort zu den Arbeitsgruppe über, die sich im Rahmen der BI gebildet hatten, in denen sachlich und konstruktiv gearbeitet wurde. Neben den bereits erwähnten Themen spielt diese Betonung des sachlichen Umgangs mit der Thematik eine bedeutende Rolle, so etwa in der gerade erwähnten oder der weiter oben angeführten Passage mit der Begründung für die Übernahme einer Rede (Z 18ff), insbesondere der Zeilen 22-24: „Die meisten Hertner sind sehr sachlich (2) (Händeklatschen) mit dem Thema umgegangen. Nachdem so die ersten Emotionen raus waren, sind die Hertner doch recht (.) sachlich damit umgegangen“.
Auffällig dabei ist, dass sie ihre erste Aussage „sehr sachlich“ nach kurzer Pause zweimal relativiert. Auch begründet sie die Entscheidung, ihre Position mit einer Frau zu besetzen unter anderem damit, dass dann die emotionale Seite glaubwürdiger vertreten werden könne (Z 36ff). Damit ist indirekt auch die große Bedeutung dieses nicht sachlichen Argumentationszweiges benannt. An anderer Stelle findet sich auf die Frage nach der Stimmung auf den Versammlungen die Äußerung: „Hmm (.) ja (2) es war erst mal sehr deprimierend (!) als wir alle s erste Mal hörten, deprimierend(!) und (3) ja, streckenweise war man auch erbost ich möchte jetzt nicht aggressiv(!) sagen, aber (lauter) (Händeklatschen) (4) ähh (..) ja wir hatten auch viele Tiefs“ (Z 92-94).
Auffällig und typisch hier ist, dass sie sich sofort unterbricht und von der aufgebrachten Stimmung wegleitet. Noch eine weitere Stelle soll hier genannt werden, als sie von den Anfeindungen erzählt, denen die Frauen im Informationsbüro ausgesetzt gewesen seien, und die sie mit einem Mangel an Argumenten erklärt: „Die wollten vielleicht wirklich hören, dass wir sagen ihnen (Händeklatschen), die müssten härter bestraft werden und man soll die Todesstrafe wieder einführen und der gleichen (.) Da ham wer uns ja ganz von distanziert“ (Z 181-183)
Damit sagt sie indirekt aus, dass es solche Äußerungen gegeben hat, sonst hätte man sich nicht distanzieren können. Sie verlässt diese mehrfach von ihr selbst 218
angesprochene Thematik jedes Mal umgehend, auch in den Zeilen 192ff, die eine der wenigen Stellen beinhalten, an denen sie einen unverständlichen und nicht beendeten Satz spricht: „Äh (.) und diejenigen ich denke mir auch dass dass vielleicht etliche dabei waren, (Händeklatschen) die gesagt haben (Händeklatschen, 2-mal), ich kanns nicht sagen aber 2100 Menschen, 2100 verschiedene Charaktere(!). (...)(5)“
Gemeint sind damit von ihr am Anfang dieser Erzählung erwähnte radikale Äußerungen, die es, wie sie da betont, nicht gegeben habe. Hier schließt sie nicht mehr aus, dass bei der großen Anzahl der Mitglieder vielleicht jemand dabei war, der oder die sich so geäußert hat. Themenwechsel kommen ansonsten sehr selten vor und sind daher für die Analyse, wie oben gezeigt, fruchtbar zu nutzen. Insgesamt fällt auf, dass sie beherrscht und wohlüberlegt redet, sich wenig unterbricht oder korrigiert und so gut wie keine Pausenfüller wie ähhm oder ähnliches benutzt, was ungewöhnlich ist. Dennoch berührt sie das Thema offensichtlich emotional, wie sie an verschiedenen Stellen auch selbst sagt. Ihre Emotionen äußern sich aber weniger in der Sprache; dafür hat sie das Ventil des Händeklatschens, manchmal kombiniert mit Lachen, gefunden. Dabei lassen sich mehrere Fälle unterscheiden, die meisten haben mit ihr Unangenehmen zu tun. Dazu zählen erstens die Stellen, an denen sie von ihren Leistungen redet, etwa als Sprecherin zu Schulzeiten oder als „Übermutter“. Dass das nach Selbstlob aussehen könnte, ist ihr unangenehm, was sie durch Klatschen und/oder Lachen kund tut. Die Erzählungen über ihre Entscheidungsprozesse, aktiv zu werden, werden ebenfalls von vielfachem Händeklatschen begleitet. Auch bei Erzählungen, in denen ihre Kinder vorkommen, klatscht sie häufig, zum Beispiel in den Zeilen 41ff, 287ff oder Z 333, was daran liegt, dass sie sich zum einen vorwirft, sie während ihres Einsatzes vernachlässigt zu haben, und zum anderen an die Bedrohung erinnert, die sie für ihre Kinder sah und durch ihr Aktivitäten in der BI abwenden wollte. Mehrfaches Klatschen findet sich auch bei der Erzählung über die Vorgehensweise des LWL (Z 84ff und 96ff). Auffällig in diesem Zusammenhang sind auch die fünf Stellen, an denen sie von radikalen Äußerungen erzählt, etwa in den Zeilen 20ff, 94, 148f, 181ff, 193f. Wenn sie von forensischer Psychiatrie und ihrer Angst vor den Patienten erzählt, klatscht sie immer, insgesamt sechs Mal. Nicht unbedingt unangenehm, aber ebenfalls gefühlsmäßig konnotiert sind die Stellen, wenn sie sich an emotionale Situationen erinnert, so zum Beispiel an die weiter oben erwähnten Wechsel von Aussichtslosigkeit und Euphorie. Eine andere Gruppe bildet den Fall, bei dem sie mit dem Klatschen das Gesagte betonen will, bei Argumenten, die ihr besonders wichtig sind, so zum Beispiel in den Zeilen 37ff oder 48, in denen von der ‚Bedienung der emotiona219
len Schiene’ die Rede ist, oder zweimal bei der Erwähnung der Bedeutung des Schlossparks. Sie verwendet die Textsorten Argumentation, Erzählung und Beschreibung – in der Reihenfolge der auftretenden Häufigkeiten, die keine sehr großen Unterschiede aufweisen.
III.3.4.2 Rekonstruktion der Fallgeschichte und Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Geschichte Wie auch in den beiden vorherigen Fällen werden hier einzelne Ereignisse aus der Chronologie in Kontrastierung mit denen des Interviews auf ihre Bedeutung für die erzählende Person untersucht. Zur Erinnerung seien hier die in Hypothese 1, Fall 1 benannten Ereignisse, deren Vorkommen im Interview zu erwarten ist, wiederholt: die Plötzlichkeit der Wahl Hertens, die starke Abwehr dieses Beschlusses durch den Stadtrat, die große Beteiligung der Bürger/innen, die heftige Debatte zwischen Abwartenden/Befürwortenden und Gegnern des geplanten Baus, der Aufruhr bzw. die Emotionalität der Zeit. Im Interview vorfindbare Themen sind: - die Informationsveranstaltung der Hertener Schulen - die Demonstration in Münster - radikale Äußerungen der Forensik-Gegner/innen - Angst - Vorgehensweise des LWL - Ideenvielfalt der Protestierenden, Aktionen, Finanzierung - Anfeindungen - Arbeitsgruppen der BI - überlokale Resonanz - Umgang mit Sexualstraftätern Es fällt in Kontrastierung mit der erarbeiteten Chronologie auf, dass nur sehr allgemein von den Aktionen der BI die Rede ist, obwohl Frau D doch sehr aktiv mitgearbeitet hat, es also keine Frage mangelnder Erinnerung sein dürfte. Wenn sie davon spricht, findet das immer im Zusammenhang mit anderen Themen statt, so etwa in den Zeilen 116ff, in denen sie von „viel Phantasie“ (Z 102) und „tollen Ideen“ (Z 106) der in der BI Aktiven spricht – etwas distanziert als „die Leute“ (z.B. Z 102) bezeichnet. In den Sequenzen, in die diese eingebettet ist, geht es um die oft herrschende Mutlosigkeit, weil ihr Unterfangen als aussichts220
los galt. Konkret wird sie nicht, bis auf die Erwähnung von Seifenkistenrennen und Benefizveranstaltungen, was allerdings daran liegen kann, dass sie die Aktionen als bekannt voraussetzt und nicht aufzählen will. Zeile 106 spricht dafür, als sie „das haben Sie ja sicher gelesen“ einflicht. Allerdings kommen von fast allen Interviewten ähnliche Äußerungen, ohne dass deren Ausführungen dadurch wesentlich beschnitten würden, weswegen es auch als zustimmungsgenerierende Floskel gelesen werden kann. Die zweite Hypothese ergibt sich hier104. Eine weitere Aktivität der BI, die im Interview Erwähnung findet, ist das im Glashaus eingerichtete Informationsbüro. Die Beschreibung ist eingebettet in Erzählungen darüber, wie die dort arbeitenden Frauen von Passanten provoziert wurden. Ausgelöst wurde dieser ganze Erzählkomplex durch die Frage nach einer Opposition zur BI. Als dritte Aktivität werden die Arbeitsgruppen erwähnt, als Erzählung im übergangslosen Anschluss an die Beschreibung der Stimmung zu Anfang, nach der vorher gefragt wurde. Diese Erzählung dient als Beleg dafür, dass Emotionalität ein kurzes Anfangsphänomen war, schnell abgelöst von sachlicher Debatte. Die Passage im Transkripttext (Z 207-214): „N: Mich würd doch noch mal interessieren äh so die Stimmung meinetwegen an der Basis da wird das ja nich immer so sachlich oder so na ja vielleicht auch gar nich möglich gewesen sein das immer so zu versachlichen (.) was ist da hochgekocht denken Sie an ja auch eben an Wut an Emotionen? D: Das war einglich wirklich nur die erste Zeit . (.) Also im ersten Augenblick, wo man überrumpelt wurde, da waren viele richtig sauer(!) (lauter) und dann noch so bei som brisanten Thema nach den Vorfällen die gewesen sind da waren die Leute wirklich so (.) aber es is hinterher wirklich sehr sachlich(!) diskutiert worden auch in den Arbeitsgruppen“
Sie beendet das Interview mit einem Resümee zur Vorgehensweise der BI, auch hier dienen die eigentlichen Aktivitäten nur der Illustration des Gesagten (Z 427434): „Wir ham auch hier nich nur (.) demonstriert und Mahnwachen gemacht und (.) alle hier geweint wir ham auch (.) das wollt ich vorhin sagen man muss auch n bisschen (.) Humor(!) dabei entwickeln manchmal wirklich um das ganze zu überstehen(!).(.) wir können hier nich alle monatelang sitzen und weinen(!) sondern irgendwie muss man auch ma hin und wieder lachen(!) und was Schönes machen so wie diese Benefizveranstaltungen im November die war hat nicht nur sehr viel Geld eingebracht sondern da hat man auch sehr viele Leute gesehen, die sich gefreut haben, die es
104 Zur Erinnerung - die Hypothese lautete: Frau D stellt die sachliche aber ideenreiche Vorgehensweise der Bevölkerung heraus und betont dabei gleichzeitig und widersprüchlich die Bedeutung emotionaler Aspekte, insbesondere Angst, als Motivationsfaktoren.
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einfach mal vergessen haben (.) und nicht jeden Tag an der Mahnwache stehen am Feuerchen (.) das man darf die Leute auch nicht überstrapazieren .“
In diesem Zusammenhang ist eine weitere Auffälligkeit interessant. Es sticht ins Auge, dass sie nie von ihren Tätigkeiten im Rahmen ihrer Funktion, die sie in der BI innehatte, direkt spricht. Sie sieht sich in dieser besonderen Position, Belege dafür finden sich an den Stellen, an denen sie zwischen Leitung und Aktiven der BI unterscheidet, von den einen als „die Leute“ spricht, von ersteren als „wir“ (etwa in den Zeilen 92ff). Dennoch verbirgt sie das im Interview, kommen ihre Aktivitäten nur indirekt vor105. Besonders erstaunt das, da die Einstiegsfrage dieses Interviews lautete: „N: Ja das einfachste wird vielleicht sein wenn Sie erst mal erzählen . und dann (Geräusch vom Geschirr) wie das angefangen hat und Sie überhaupt da in diese Bürgerinitiative gekommen sind“ (Z 3-5). Darauf folgt die oben analysierte Eingangssequenz. Diese Einstiegsfrage hätte auch als Verweis auf ihre Tätigkeiten im Rahmen der BI verstanden werden können, was sie nicht tut. Stattdessen stellt sie sich als Privatperson dar, als Mutter mit Angst um ihre Kinder, als Frau in Angst um sich. Untersucht man die Bedeutung einzelner Ereignisse für die erzählende Person, fällt auf, dass sich nur wenige der als wichtig vermuteten Themen aus der Rekonstruktion der Ereignisse wiederfinden. Bei den Themenüberschneidungen ist von denen der ersten Hypothese die Plötzlichkeit der Wahl Hertens nur indirekt zu entdecken, als es um die Vorgehensweise des LWL geht, die die Menschen erzürnt habe. Die Argumentation der bereits oben zitierten Zeilen 81ff, auf die Frage nach dem Grund für den großen Zulauf zur BI, zielt dabei stärker auf den Aspekt der mangelnden Beteiligung am Verfahren und der fehlenden Information ab: „vor vollendete Tatsachen gesetzt“, „entmündigt(!) (Händeklatschen) und überfahren(!)“ und „ da lief überhaupt nichts an Information, sondern (Händeklatschen) ihr kriegt das.“
Und eine zweite Stelle findet sich in den Zeilen 211f: „Also im ersten Augenblick, wo man überrumpelt wurde, da waren viele richtig sauer(!)“, wird aber auch hier nicht weiter vertieft. Dafür gibt es zwei Gründe: zum einen hat das Thema für sie offenbar keine zentrale Bedeutung, zum anderen vermeidet sie die Erwähnung zorniger Reaktionen, dazu weiter unten mehr. Gleiches gilt für die Rolle der Stadtverwaltung, die auch nur in einem Nebensatz in Zeile 88 vorkommt („darüber waren auch (.) verständlicherweise(!) unsere Stadtväter sehr erbost .“). Sie macht auch die große Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern nicht explizit zum Thema, verweist aber an verschiedenen Stellen darauf, so z.B. als sie beschreibt, wie aussichtslos sich die Situation oft darstellte, die Stimmung der 105 Ganz anders als Herr C aus Fall 2, der seine Rolle im Geschehen auch direkt darstellt
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Beteiligten durch hohe Zahlen der Teilnehmerinnen und Teilnehmern oder deren vielfältige Ideen aber wieder aufgefangen wurde. Die aus der Zeitungsanalyse bekannten Auseinandersetzungen beschränken sich bei ihr im Wesentlichen auf die oben erwähnten Beschimpfungen durch Passanten. So berichtet sie an einer Stelle auf die Frage nach einer Opposition zur BI von Anfeindungen, die sich die Frauen im BI-Büro hätten gefallen lassen müssen: „diese Frauen, die waren tagtäglich öh dieser Kritik ausgesetzt früher ehe (Händeklatschen) hat man solche vergast (Händeklatschen) und das hättet ihr am liebsten auch und die mussten sich einiges sagen lassen und (.) sich auch anhören von Passanten (2)“ Z 147-159,
bleibt dabei aber vage und widerspricht sich, die Häufigkeit solcher Vorfälle betreffend, etwas später auf die Frage von N nach organisierter Gegnerschaft zur BI: „Nein, nein, dafür waren die Stimmen also wirklich(!) zu gering. Das waren wirklich nur n paar Leute und die haben dann halt die Presse mit eh Leserbriefen bombardiert aber ansonsten hat da keine (.) Auseinandersetzung stattgefunden“ (Z 153-155).
Sie spricht dieser ‚Opposition’ die Argumente ab und stellt deren Vorwürfe, radikale Äußerungen zu dulden, als Versuch dar, die BI zu verunglimpfen. Auf die gezielte Frage, wie sie sich diese Vorwürfe erklären könne, antwortet sie: „Tja wie die dazu kommen weiß(!) ich nicht wir haben nie Anlass(!) dazu gegeben… aber wie die nun dazu kommen uns in die Ecke(!) zu stellen das weiß ich nicht das finde ich einfach is ne Unverschämtheit wie die dazu kommen kann ich mir nicht erklären“
Damit negiert sie zugleich, dass solche radikalen Äußerungen im BI-Umfeld überhaupt stattgefunden haben106. Da sie selbst auch von entsprechenden Äußerungen berichtet, die sie dazu bewogen hatten, die Rolle einer Rednerin in Münster zu übernehmen (Z 20ff), bekräftigt sie damit ein weiteres Mal, die BI hätte damit nichts zu tun gehabt. Gleichzeitig betont sie an verschiedenen Stellen die Sachlichkeit, mit der das Problem angegangen wurde. Darauf bin ich im vorherigen Kapitel schon ausführlich eingegangen. ‚Aufruhr’ findet bei ihr nicht statt, Emotionalität schon, die zu nutzen sie auch als (Teil-)Strategie der BI erwähnt (Z 39ff). Sie taucht in zwei Formen auf: immer wieder als Angst vor Gefahren durch die Patienten, wie oben beschrieben, und an zwei Stellen als Empörung über das Vorgehen des LWL. Bei der Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Geschichte wird auch nach der Funktion der gewählten Präsentation gefragt.
106 s. dazu auch die Auswertungen der Kapitel III.2 und III.4
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Ins Auge sticht hier die relative Ausgewogenheit der verwendeten Textarten, die den Versuch, auch inhaltlich ausgewogen zu sein, wiederspiegelt. An verschiedenen Stellen, an denen sich Frau D mit dem Grundproblem forensischer Psychiatrie beschäftigt – ohne es konkret so zu benennen –, der Therapie und Unterbringung psychisch kranker Straftäter, wird ihr Bemühen deutlich (Z 308311): „Ich möchte auch nicht ungerecht sein, auch nicht denjenigen gegenüber, die (seufzt)(.) die so krank sind, die haben ja meist auch Schweres erfahren (2) aber (.) ich seh halt da bin in dem Fall bin ich vielleicht doch egoistisch(!), wenn ich an meine Kinder denke.“
Dadurch, dass sie mehrmals darauf hinweist, dass sich die BI nicht mit dem Konzept forensischer Psychiatrie auseinandersetzen wollte, unterstreicht sie diese Haltung noch. Beispiele dafür finden sich in den Zeilen 66-68: „wusste ich also schon, was Maßregelvollzug ist aber nicht so genau und ich möchte auch heute nicht behaupten, dass ich genau Bescheid weiß, ne(!), dass möchte ich mal vorweg schicken“, oder in Z 165-167 „wir haben auch nie gesagt, wir sind dagegen(!), dass Sexualstraftäter therapiert werden, dafür sind wir alle keine Fachleute(!) gewesen“ und besonders vehement in Z 400-404: „Wir haben uns ja mit der Forensik an sich nie (!) auseinander gesetzt (.) weil wie gesagt wir auch alle keine Fachleute (!)(Händeklatschen) waren wir hatten wohl Ärzte dabei 2 Ärzte aber ansonsten ja n Polizisten, (lacht) Polizeibeamten und äh die Leute waren aus den verschiedensten Berufen und das sollte auch nicht unser Thema sein das ist damit wolltn wir uns nicht beschäftigen“
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Frau D sehr um eine glättende Darstellung bemüht. Besonders deutlich wird ihre Beherrschung und Kontrolle in Kombination mit dem Vorsatz, in der Vergangenheit kritisierte Sachverhalte möglichst unerwähnt zu lassen oder als unbedeutend zu charakterisieren, in den Zeilen 93-94, eine der wenigen Stellen, an denen sie sich selbst mit einem Themenwechsel unterbricht: „deprimierend(!) und (3) ja, streckenweise war man auch erbost ich möchte jetzt nicht aggressiv(!) sagen, aber (lauter) (Händeklatschen) (4) ähh (..) ja wir hatten auch viele Tiefs“
Sie stellt die sachliche aber ideenreiche Vorgehensweise der Bevölkerung heraus und betont dabei gleichzeitig und widersprüchlich die Bedeutung emotionaler Aspekte, insbesondere von Angst, als Motivationsfaktoren. Die in den Analyseschritten gebildeten Hypothesen konnten demnach bestätigt werden.
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III.3.4.3 Typenbildung107 Für Frau D ist ihre Rolle als Mutter zentral, auch die als Frau betont sie häufig. Aus diesem Blickwinkel betrachtet sie und erklärt sich die Geschehnisse, diese Selbstverortung bildet ihre latente Sinnebene. Zu diesen Rollen, insbesondere der der Mutter, gehört für sie, auch nach außen aktiv zu werden, sich mit allen Aspekten der Kindererziehung auseinander zu setzen. Die starke Orientierung an diesem Rollenbild und die normativen Einstellungen, die zu den aufgezeigten Rollenerwartungen führen, charakterisieren diesen Typ. Diese Einstellungen werden mit einer speziellen Wahrnehmung des Problems verknüpft. Im Laufe der Analyse hat sich das Bild einer Frau ergeben, die vor allem aus einem diffusen Gefühl von Angst heraus handelt und die trotz der wiederkehrenden Befürchtung, die Mühen seien erfolglos, weiter für die BI arbeitet, und zwar als „Fulltimejob“ (Z 42), und obwohl das zu Lasten ihrer Kinder geht. Diese Angst ist das in den oben skizzierten Orientierungen und Einstellungen begründete Handlungsmotiv. Bei aller Rationalisierung, wie gezeigt ruft sie sich selbst immer wieder ‚vernünftige’ Argumente ins Gedächtnis, so etwa, wenn sie von der Gefahr sexuellen Missbrauchs bei Kindern spricht oder der für sie einsichtigen Notwendigkeit, psychisch kranke Straftäter zu therapieren, bleibt handlungsbestimmend die Angst vor einer Bedrohung, „wo ich (.) nich eingreifen kann .“ (Z 292). Diese Ängste lähmen sie jedoch keineswegs, sondern spornen sie zu Höchstleistungen an; Probleme offensiv anzugehen gehört zu ihrer Persönlichkeit, was sich unter anderem an der Interviewpassage über den sexuellen Missbrauch bei Kindern zeigt. Obwohl Emotionen eine so große Rolle in dem Interview spielen, bleibt Frau D sehr kontrolliert und moderat. Einzig das ständige Händeklatschen verrät ihre innere Beteiligung. Die oben erläuterte Art der Präsentation als Versuch eines möglichst geglätteten Bildes bestätigt sich hiermit. Als wichtigste Grundorientierung lässt sich damit die Ausrichtung an der Mutterrolle mit den aufgezeigten normativen Erwartungen nennen, das diesem Typus zuzuordnende zentrale Thema für die Handlungsmotivation ist ‚Angst’.
107 Zur hier verwendeten Bedeutung des Begriffes s. Kap. III.3.2.3
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III.3.5 Fall 4 Frau E war zum Zeitpunkt des Interviews, 40 Jahre, verheiratet und hatte drei kleine Kinder. III.3.5.1 Sequenzanalyse108 Das Interview ist in 109 Sequenzen unterteilt. Schon in der Eingangssequenz wird die für Frau E typische Haltung deutlich: sie ist kritisch distanziert und stört sich vor allem daran, dass statt Information und Sachlichkeit, die sie sich gewünscht hätte, ihr übertrieben erscheinende Emotionen auf Seiten der BI und schlechte Informationspolitik seitens des LWL bestimmend waren. Sie beginnt damit, dass die Bauentscheidung für sie völlig überraschend kam, sie im Kindergarten, als sie ihr Kind dorthin brachte, davon erfahren hat, und fügt an: „und selbst die Stadt wusste überhaupt nichts davon weil das einfach so hintenrum durchgesickert is.“ (Z 8f) Direkt anschließend an diese Erzählung folgt die Beschreibung der Reaktion, die sie als übertrieben klassifiziert, gefolgt von der Beschreibung ihrer Ausgangsposition: „Ja, die Leute waren alle wie aufgescheuchte Hühner(!) und(gedehnt) haben sich überhaupt nicht mehr eh und fingen gleich an, ja, wir könnten dann nie mehr wieder rausgehen, innen Park gehen (lacht) und wenn aus ner Gruppe vonn (.) 20 Kinder und 3 Erziehern oder so auf einmal ein Kind rausgeklaut würde soo al la Amerika(!) wenn so Amokschützen(!) rumlaufen (.) und (gedehnt) (.) ja ich stand da erstmal so n bisschen ja ich wusst so gar nicht, was ich sagen sollte, weil ich auch über Forensik im ersten Moment überhaupt nichts(!) mit anfangen konnte (.) und(gedehnt) dann kam auch schon gleich Presse und was weiß ich was. =belagerte dann den Kindergarten und ja, (lacht) es war wirklich heftig. (lacht)“ (Z 11-18)
Die folgenden Beschreibungen der Vorgehensweise der Presse werden an vier weiteren Stellen bekräftigt und weiter ausgemalt. Demnach hatte die Presse im Fall Herten zwei Funktionen, zum einen war sie Stimmungsmacherin dadurch, dass sie nur zur gewünschten Darstellung passende Äußerungen von Bürger/innen zitiert hat und zum Beispiel abwägende oder den Bau befürwortende unter den Tisch fallen ließ: „Wenn so die Presse kommt oder Fernsehen kommt und ein’n interviewt was man davon hält und was man meint und man merkte genau die waren auch nur daraus aus mitzukriegen dass die Leute Angst haben und Panik haben. und nicht irgendwie um
108 Zur besseren Verständlichkeit der Zitate: Die Transkriptionsregeln finden sich am Anfang des Kapitels III.3.2.1
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ne objektive Darstellung. das hat man also gleich sofort von Anfang an mitgekriegt ne.“ (Z 22-26)
Und auf Gegenstimmen bezogen: „die wurden also erst gar nicht interviewt(!) oder da wurde erst gar nichts mit gemacht(!)“ (Z 273f). Zum anderen habe die Presse für das bekannt werden vor allem des Problems Forensik gesorgt, worin sie eine positive Auswirkung der Bürgerinitiative sieht: „und ich denk mir das ist der Vorteil(!) dieser Bürgerinitiative gewesen. dass die Leute einfach aufgerührt worden sind. Denn es stand ja wirklich noch in jeder so ner kleinen Presse und in jeder Zeitung in jedem Radiosender es war ja ständig irgendwas zu dem Thema über Forensik zu hören“ (Z 341-344).
Aber auch die Sache der BI selbst sei durch die Presse befördert worden: „und die hatten halt Glück dass se ähh dass die Presse das so gut mitgezogen hat, dass die das machen konnten.“ (Z 370f). Das Hauptthema hier ist Information, deren Mangel Frau E an vielen Stellen beklagt. Erstmalig erwähnt sie das Thema in Zeile 15, als sie den aufgeregten Reaktionen ratlos gegenübersteht („ja ich stand da erstmal so n bisschen ja ich wusst so gar nicht, was ich sagen sollte, weil ich auch über Forensik im ersten Moment überhaupt nichts(!), mit anfangen konnte (.)“), es zieht sich dann durch das gesamte Interview, in aller Regel in Kombination mit den Themen für sie übertriebener Aufregung bei anderen („Na es war also alles ziemlich panisch(!) so vom Gefühl der anderen Leute hier und(gedehnt) die Panik greift dann natürlich auch son bisschen auch auf ein selber über man lässt sich da auch son bisschen mit kirre machen“ (Z 34-36)) oder Enttäuschung über die Informationspolitik des LWL aber auch der BI. Frau E begründet ihre Distanz zur BI, mit der sie übereinstimmt, was die Ablehnung des Baus einer forensischen Klinik im Schlosspark betrifft, mit Äußerungen, die sie zum ersten Mal auf der Gesamtschulversammlung gehört hat: „ja da kam mir so erste Mal zu Bewusstsein irgendwie, dass ich so n bisschen Panik hatte mehr (lacht) so vor den Leuten die da(!) waren als so in dem ersten Moment vor der Forensik weil da Sprüche laut wurden (lacht) die mich so n bisschen mehr so an das dritte Reich(!) erinnert haben. hab ich dann son bisschen so Schiss gekriegt ne (.) so alle gleich wegsperren und umbringen und auf ne einsame Insel schicken und (.) also wirklich total ekelig ne(?)“ (Z 47-52).
Weil später auch von der BI ähnliche „Sprüche“ (Z 93) zu hören waren, wurde sie nicht Mitglied, was sie zunächst werden wollte, hat aber an vielen Aktionen teilgenommen. An denen macht sie einen zweiten Kritikpunkt fest: Die Vorgehensweise der BI war ihr zu „aufrührerisch“ (Z 132), es fehlten sachliche Argumente, und die Aktionen hatten nichts mit der Sache zu tun, sondern sollten nur „presse(!)wirksam“ (Z 125) sein. Auch hier zeigt sich der rote Faden: Veran227
staltungen mit Informationscharakter finden ihren Beifall, Stimmungsmache, gar Verhinderung von inhaltlichen Auseinandersetzungen, stören sie sehr. Das findet sich in Sequenzen, in denen es um Gegenstimmen zur Bürgerinitiative geht, wie z.B. auf der Gesamtschulversammlung: „und die Leute die sich dann für(!) die Forensik aussprachen oder zumindest nicht so extrem(!) gegen die die wurden dann einfach, fast niedergeschrieen(!) so ungefähr und kamen überhaupt nicht zum Wort“ (Z 67-69)
oder deren Beurteilung: „die Leute unter sich in den Gesprächen unter sich wurden wurd irgendwie nur was Negatives über die Leute gesagt ja die wohnen ja da und da und wie die auch drauf sind und sind immer dagegen und oder für irgend etwas und immer als Opposition und na ja irgendwie so’n bisschen merkwürdig (lacht) also die wurden mehr so als Menschen so in Frage gestellt (.) und wurden also nicht als (.) normaler Gegner genommen oder (gedehnt) was die gesagt haben das, hat überhaupt gar keinen interessiert da hat überhaupt keiner n bisschen nachgeforscht oder geguckt ob die irgendwo drin recht hatten oder nicht.“ ( Z 274-281).
Diese Missbilligung dessen, was eine sachliche Auseinandersetzung verhindert, führt auch dazu, dass sie viele Aktionen der BI ablehnt wie den Trillerpfeifengebrauch auf der Demonstration in Münster: „wenn die Leute von von (atmet tief ein) halt ähh der Landesklinik(!) geredet haben wurden die einfach, mit diesen Trillerpfeifen unterbrochen(!)“ (Z 146f). Das ist – neben den oben erwähnten von ihr kritisierten Äußerungen von Forensik-Gegner/innen – der zweite Grund dafür, dass sie nicht in die BI eingetreten ist, obwohl sie deren Ziel grundsätzlich zustimmt. Sie lehnt Auseinandersetzungen ab, die sie an verschiedenen Stellen so charakterisiert: „und (gedehnt) mir hat einfach diese fachliche(!) Auseinandersetzung n bisschen zu sehr gefehlt und (gedehnt) (.) nur jetzt dagegen sein weil man dagegen ist finde ich einfach nicht so n gutes Argument(!)(lacht) und (gedehnt) es wurde nichts gemacht um die Bürger überhaupt aufzuklären“ (Z 108-112)
Oder an anderer Stelle: „zum Beispiel Kirche selber hat also wenigsten fachliche(!) Argumente gebracht und(gedehnt) nicht einfach nur eh nur aufrührerische(!) Sachen und es war mir ein bisschen vonner Bürgerinitiative zu aufrührerisch.“ (Z 130-132).
Auch der LWL habe eine sehr schlechte Informationspolitik betrieben, die sie für die massive Ablehnung mit verantwortlich macht, ebenso für einige der von ihr kritisierten Auswüchse: „die Leute vonner Forensik waren zwar auch alle n bisschen sehr merkwürdig drauf weil die gaben überhaupt keine fachkundigen Auskünfte(!) es schwebte alles ziemlich in der Luft und die Fragen die gestellt wurden die wurden sehr (.) schwammig einfach beantwortet (Z 59-62) … es war so n extremer Unsicherheitsfaktor für die Leute und dadurch wurden die dann einfach noch aufgebrachter(Z 65f)“
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Sie sieht darin eine Wurzel für die unsachliche Auseinandersetzung, da der Bürgerinitiative nichts entgegen gesetzt worden sei: “ nur dadurch dass die Leute vonner Forensik das nicht gemacht haben, war es auch kein Gegenpol zu der Bürgerinitiative und auf Grund dessen ist die Meinungsmache vielleicht von der Bürgerinitiative noch mehr ausgeartet. weil da gar kein Pol dagegen war s es gab gar kein Druck.“ (Z 246-249).
Auch die Art, wie der Beschluss für Herten gefasst und dann verkündet wurde habe dazu beigetragen, dass Opposition entstanden sei: „weil’s so ne Nacht- und Nebelaktion war und Nacht- und Nebelaktion denk ich mir (.) (atmet tief ein) bewirken einfach dass sich die Leuten dagegen auflehnen egal ob das gut oder schlecht ist da kann man noch so ne gute Sache machen da regen die einfach drüber auf.“(Z 71-74)
Den Zusammenschluss zur Bürgerinitiative begründet sie ebenfalls damit, dass die Bevölkerung durch diese Vorgehensweise „total schockiert“ (Z 88) war und „jeder(!) gleich einfach mitgezogen“ (Z 84f) habe. Ihre Distanzierung manifestiert sich darin, dass sie nur in der dritten Person von Bevölkerung und Bürgerinitiative redet, auch an Stellen, an denen deutlich wird, dass sie inhaltlich zustimmt. Folgerichtig sieht Frau E den größten Erfolg der BI in einer Entwicklung, die von der Bürgerinitiative nie beabsichtigt war („obwohl mit Sicherheit kein Mensch ähh das als Ziel gehabt hat“ (Z 356)), nämlich der bundesweiten Diskussion über die Problematik. Das zeigt sich neben den oben bereits erwähnten Zeilen zum Beispiel auch in den Zeilen 305-309: „der einzige Vorteil daran ist ähmmm an der Bürgerinitiative dass das Gespräch überhaupt(!) erst mal aufgekommen ist, dass die überhaupt erst mal überall wissen was Forensik ist, was’s für Vor- und Nachteile hat und dass die Leute in der Forensik selber die Leiter und die ganze Leute die da arbeiten(!), doch vielleicht n bisschen mehr sensibilisiert(!) werden (.)
Bei Frau E hat die Beschäftigung mit der Thematik zu einer Auseinandersetzung mit der Konzeption forensischer Psychiatrie geführt, die aber auf der privaten Ebene verbleibt, keine Handlungswirksamkeit erlangt. Sie verbindet ihre Kritik mit der Beschreibung der Situation im Ruhrgebiet, das sie wegen seiner strukturellen Gegebenheiten, seiner Größe und der wirtschaftlichen Probleme, für ungeeignet als Standort hält. Immer wieder kommt sie auf ihr zentrales Thema, die unsachliche Auseinandersetzung und die mangelhaften Informationen zurück, die bei ihr sogar Angst vor den Leuten, „die das momentan da durchziehen wollen“ (Z 233) auslöst. Wie oben schon einmal angesprochen, sieht sie die Presse in unterschiedlicher Weise an dem Konflikt beteiligt: einerseits habe die massenhafte Berichterstattung zum Erfolg beigetragen: einige Aktionen der BI kritisiert sie als nur durchgeführt, weil sie für „presse(!)wirksam“ (Z 125) gehalten wurden, die 229
Gegenstimmen zur allgemeinen (BI-)Meinung wurden ignoriert („die Presse hat sich mit Sicherheit nich mit denen beschäftigt“ Z 260). Zudem wurde dadurch der ihr wichtige Punkt der allgemeinen Diskussion über das Thema befördert. Andererseits wurde durch reißerische Artikel die Stimmung, insbesondere am Anfang, stark angeheizt: „das is einfach die Sache vonner Presse gewesen. (.) dass die vorher schon die Sachen einfach mit Forensik, so son bisschen aufgepuscht haben.“ (Z 488f). Darüber hinaus stellte die ständige Präsenz in den Medien ihrer Meinung nach auch eine Attraktion für die Hertener/innen dar, z.B. in den Zeilen 22-24: „(.) und das war irgendwie schon n merkwürdiges Gefühl. (.) Wenn so die Presse kommt oder Fernsehen kommt und ein’n interviewt was man davon hält und was man meint“
Oder in den Zeile 508-511: „für so ne Kleinstadt wie Herten ist es mit Sicherheit für die Leute auch ganz interessant wenn se auf einmal überall in der Presse stehen und überall interviewt(!) werden und überall Kamera ist is auch noch so diese Sensationslust mit dabei“
Dennoch hätten sich daraus keine überregionalen Verbindungen oder handlungswirksame Solidaritäten mit anderen Städten ergeben. In dieser Haltung, die dem Desinteresse am Thema forensische Psychiatrie entspringt, liegt für Frau E ein grundsätzlicher Fehler dieser BI wie auch der öffentlichen Diskussion darüber: „Dadurch dass aber jeder nur für sich selber wurschtelt und nur (gedehnt) jeder so seine eh seine seiner bis zu seiner eigenen Nasenspitze sieht, (.) ähh werden die Sachen immer auf (gedehnt) kommunaler Ebene bleiben und überhaupt nicht weiter gehen.“ (Z 402-405)
Ihre eigene Motivation, hier bei Protestaktionen mit zu machen, was sie vorher noch nie getan hatte, begründet sie mit der Stimmung in Herten, die bei ihr Neugier und den Wunsch, sich selbst eine Meinung bilden zu können, auslöste, sowie der räumlichen Nähe und einer daraus abgeleiteten persönlichen Betroffenheit (Z 422ff). Die Erfahrung, die sie gemacht hat, bestätigen sie in ihrer Überzeugung der großen Bedeutung detaillierter Informationen, weswegen sie in einer vergleichbaren Situation wieder so handeln würde wie diesmal: „sondern mich auch einfach mal informieren. weil (beschäftigt sich mit dem Kind 5) das denk ich mir das wird auch immer so bleiben denn gerade an dieser Bürgerinitiative (das Kind weint) habe ich gesehen dass das, sehr dringend(!) notwendig is sich vorher zu informieren und nicht nur einfach dafür oder dagegen zu sein.“ (Z 454457)
Handlungswirksame Veränderungen bei der Hertener Bevölkerung sieht sie nicht, nachhaltige Einsichten seien nicht entstanden: „wird’s immer Leute geben die sich gegen irgendwas auflehnen oder aufregen aber im Endeffekt wird sich nichts daran ändern. An dem Verhalten der Leute sagn wer
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mal. Die werden weder mehr dafür oder dagegen sein oder(gedehnt) sich auf Grund dessen mehr Information holen oder sonstige Sachen machen. (.)“ (Z 494-497).
Die verwendeten Textsorten sind Argumentation, fast gleich häufig verwandt wie Beschreibung mit deutlich weniger Erzählpassagen.
III.3.5.2 Rekonstruktion der Fallgeschichte und Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Geschichte Zur Erinnerung: es geht im Folgenden um die Kontrastierung ausgewählter Ereignisse der Protestgeschichte mit solchen aus dem Interview, um deren Bedeutung für die erzählende Person zu analysieren. In diesem Interview werden die Themen - Aufregung nach plötzlicher Wahl Hertens, - Unsicherheit durch Unwissenheit - Presseandrang und einseitige Berichterstattung - heftige emotionale Reaktionen der Bevölkerung - Gesamtschulversammlung - radikale Äußerungen von Forensik-Gegnern - Vorgehen des LWL - Informationspolitik des LWL - fehlende inhaltliche Auseinandersetzung mit Befürwortern, Ignorieren durch die Presse - schlechte Informationspolitik von BI und LWL - Kritik an Aktionen der BI - Übernahme des Themas Forensische Psychiatrie in den öffentlichen Diskurs - Konzept Forensische Psychiatrie - problembelastete Lage des Ruhrgebiets - Diskussion um anderen Bauplatz innerhalb Hertens - weiter reichende Auswirkungen durch Proteste genannt. Das Thema der Plötzlichkeit der Wahl Hertens spielt auch für Frau E eine Rolle. Sie erklärt sich daraus die heftigen Reaktionen der Bevölkerung und sieht hier die Ursache ihrer eigenen Unsicherheit zu Beginn sowie der Tatsache, dass sie sich „da auch son bisschen mit kirre machen“ (Z 36) ließ. In diesem Zusammenhang verwendet sie die Begriffe „Nacht- und Nebelaktion“ (Z 72) und „Schock“ (Z 88). Sie geht dagegen in der für sie typischen Art an, indem sie sich Informationen besorgt, über Gespräche, Flugblätter, Zeitungslektüre und Lexika. 231
Die Rolle der Stadt in diesem Konflikt wird hier gar nicht thematisiert. Es wird nur zu Anfang erwähnt, dass die Stadt ebenso wie die Bevölkerung aus der Zeitung vom Bau erfahren habe, und an einer anderen vermutet, sie habe die Versammlung einberufen („entweder war das vonner Stadt aus, oder da haben sich gleich Leute zusammengeschlossen“ Z 76f). Die große Beteiligung der Bürger/innen wird überwiegend in den Zusammenhang des letzten in III.3.1 herausgefilterten Themas, des Aufruhrs bzw. der Emotionalität in dieser Zeit, gestellt. Frau E sieht dabei die Bedeutung der (ungeschickten und nicht offenen) Vorgehensweise des LWL und der ständigen Präsens des Themas in der Presse als besonders groß an. Die Sensibilisierung für das Thema durch die (über)regionale Presse zusammen mit Punkt eins, der Plötzlichkeit der Wahl Hertens, habe demnach zu einem Schock geführt, dem die Bevölkerung mit Zusammenschluss begegnet sei. Die Emotionalität, mit der das Problem bearbeitet wurde, wird häufig zitiert, weil damit das grundlegende Unbehagen von Frau E zusammenhängt, nämlich das Fehlen einer sachlichen Auseinandersetzung, das sie immer wieder thematisiert. Die Auseinandersetzungen zwischen Abwägenden / Befürwortenden und Gegnern des Baus finden in diesem Interview ihren Niederschlag wiederum untergeordnet unter ihr zentrales Thema. Sie stellt entsprechend die unterschiedlichen Meinungen nicht als inhaltliche Auseinandersetzung dar, sondern beschreibt bzw. erzählt davon, dass Personen, die nicht ausgesprochen gegen den Bau einer Forensik waren, missachtet, ignoriert, nicht ernst genommen wurden, Beispiele dafür sind weiter oben bereits zitiert worden. Die damit zusammenhängende Abwertung der gesamten Person, die sie an anderer Stelle beschreibt, findet sich ebenfalls als Zitat weiter oben, wie auch die Missachtung anderer Stimmen durch die Presse. Die Aktionen der BI hat sie verfolgt, an vielen teilgenommen, steht dem, was sie als ‚nur pressewirksam’ bezeichnet und was mit der Thematik nicht zu tun habe, aber sehr kritisch gegenüber. Direkt erwähnt werden nur sehr wenige Aktionen, immer in Zusammenhang mit einer Bewertung. Zusammenfassend bleibt zu erwähnen, dass bis auf die enge Verzahnung von Stadtspitze und BI, sowie der prominenten Rolle, die erstere für die Proteste spielte, alle in der Hypothese in III.3.1 genannten Themen im Interview vorkommen, teilweise sehr ausführlich und differenziert. Nimmt man in der weiteren Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Geschichte die Frage nach der Funktion der gewählten Präsentation hinzu, fällt auf, dass Argumentation und Beschreibung fast gleich häufig vorkommen, Erzählungen dagegen eine untergeordnete Rolle spielen. Obwohl sie sehr engagiert spricht, bleibt eine Distanz spürbar, was sich unter anderem in der Dominanz von Beschreibungen gegenüber Erzählungen niederschlägt. Und obwohl sie 232
mit fester Stimme, laut und überzeugt spricht, drückt die Wortwahl Unsicherheit aus. Auf der latenten Sinnebene ist sich Frau E ihrer Überzeugungen nicht völlig sicher. Mit dem bislang Gesagten ergibt sich daraus das Bild einer Frau, die versucht, sich selbst Probleme zu rationalisieren, durch Informationen zu versachlichen. Indem sie der Interviewerin die vorliegende Problematik erklärt, versichert sie sich selbst auch noch einmal ihrer Haltung. Ihre Argumentationen enthalten wenig Erklärungen der Situation, sie erweckt nicht den Eindruck, rechtfertigen oder Missverständnisse richtig stellen zu wollen, sondern die Inhalte der argumentativen Sequenzen sind ganz überwiegend Argumentationen inhaltlicher Art, Auseinandersetzungen mit dem Thema und der Aufarbeitung der damaligen Situation. In diesem Sinne versucht sie an verschiedenen Stellen, Reaktionen und Ereignisse zu erklären. Neben den inhaltlichen Hinweisen dafür, die weiter oben schon an verschiedenen Stellen erwähnt wurden, zeugen auch sprachliche für diese Interpretation. So findet sich die häufige Verwendung der Floskel „denk ich mir“ (z.B. Z 54) bzw. „ich denk mir“ (z.B. Z 85) 39-mal, gehäuft vor allem in Argumentationen, die Kritik an BI-Aktionen enthalten. Sie kommt z.B. in den Zeilen 150-160 vier mal vor, in denen es um die Demonstration in Münster geht, oder wenn sie ihre Ansichten über das Konzept forensischer Psychiatrie erklärt, so etwa 9 mal in den Zeilen 173-200, in denen es zusätzlich noch um die Eignung des Ruhrgebietes als Standort geht. Wie die verwandte Floskel ‚glaube ich’ zeugt sie von Unsicherheit, bei gleichzeitigem argumentativen Absichern. Man lässt eine Fluchttür offen, falls das Gegenüber widerspricht. Anderes als beim Gebrauch letzterer betont die Sprecherin damit aber auch, dass sie ihre Argumente auf sachlicher, rationaler Basis gewonnen hat. So sieht sie sich und dieses Bild von sich will sie auch vermitteln. Das Interview hat für Frau E die Funktion, sich die Ereignisse, ihre Einstellung dazu und ihre Argumentationen noch einmal zu erklären. III.3.5.3 Typenbildung109 Im Interview mit Frau E fällt vor allem ihre kritische Grundhaltung auf. Sie erwartet bei strittigen Themen Informationen und eine sachliche Auseinandersetzung. Sie macht deutlich, dass sie eine solche Form immer erwartet, weswegen sie, da es daran in der Regel mangele, auch sonst noch nie in einer Bürgerinitiative mitgearbeitet habe. 109 Zur hier verwendeten Bedeutung des Begriffes s. Kap. III.3.2.3
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Zwar ist sie auch gegen den geplanten Bau, tritt aber nicht der BI bei, sondern nimmt nur an diversen Aktionen teil. Diese distanzierte Haltung begründet sie mit ihr widerstrebenden Äußerungen aus dem Lager der ForensikGegener/innen bzw. dem Umfeld der BI und der Art der Proteste. Ihr zentrales Thema ist die Rationalisierung von Problemen, sich nicht „kirre“ machen zu lassen, durch das Sammeln von Informationen und Wahren oder Wiedergewinnen von Sachlichkeit Sicherheit zu erlangen. Ihren eigenen emotionalen Reaktionen wie etwa Angst, die sie in aller Regel nur indirekt erwähnt, begegnet sie ebenfalls mit dieser Strategie. Dennoch bleibt sie im Kern unsicher. Diese Grundkonstellation bildet hier die latente Sinnebene. Sie wird nur im Privaten handlungswirksam, insofern sie dazu führt, dass sich Frau E aktiv um die Beschaffung von Informationen bemüht. Die Kritik an den Aktionen wird häufig damit begründet, sie sei dem Thema nicht angemessen. Geht man davon aus, dass eine BI Öffentlichkeit herstellen und ihren Protest bekannt machen soll, erscheint das Argument, bestimmte Aktionen seien ‚nur pressewirksam’ gewesen, unverständlich. Es zeichnet aber, zusammen mit der oben konstatierten Unsicherheit, das Bild einer Frau, die sich privat ihre Meinung bildet und öffentliches Auftreten scheut. Dazu passt auch ihre Ablehnung des Einsatzes von Trillerpfeifen bei der Demonstration in Münster, den sie mit den Worten „so nur dieses Laute und Aufrührerische“ (Z 131) ablehnt. Sie befürwortet Informationsabende – Krach zu schlagen lehnt sie ab, das ist ihr unangenehm. Frau E verkörpert den Typus der zwar dem Bau einer forensischen Klinik ablehnend gegenüberstehenden, insofern dem Ziel der BI zustimmenden Person, die der BI selbst gegenüber aber kritisch distanziert bleibt. Die Grundorientierung ist sachliche Distanzierung, mit den normativen Erwartungen verbunden, Gefühle und Auffälliges nicht nach außen zu tragen. Das daraus resultierende zentrale Thema für die Handlungsmotivation ist der Wunsch nach Information, um Sicherheit zu gewinnen, und sachlicher Auseinandersetzung, ohne Aufruhr zu provozieren.
III.3.6 Gesamtfazit der Typenbildung Die fünf Typen, die mit der Interviewanalyse gebildet werden konnten, sind: Die Sachliche zentrales Thema/ Handlungsmotivation: abwägen bzw. Ausgeglichenheit suchen
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Der Empörte zentrales Thema/Handlungsmotivation: sich ungerecht behandelt fühlen Der Engagierte zentrales Thema/ Handlungsmotivation: Verärgerung Die Mutter zentrales Thema/ Handlungsmotivation: Angst Die Distanzierte zentrales Thema/ Handlungsmotivation: informiert sein, um Sicherheit zu gewinnen Zunächst soll hier eine kurze Zusammenfassung der empirischen Charakterisierung im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede erfolgen. Was die Einstellung zur BI und ihrem Erfolg anbelangt, begrüßen zunächst alle, dass die Klinik nicht gebaut wurde. Damit ist ein wichtiges Kriterium für Verallgemeinerbarkeit erfüllt, denn sicher war die Mehrheit der Hertener/innen gleicher Meinung. Dennoch finden sich Zwischentöne, die eine reine Zufriedenheit nicht zulassen. Im Fall 1 ist das bei Frau A das Unbehagen, dass das Grundproblem so nicht gelöst werden kann. Für Herrn B war der Erfolg das Entscheidende. Verbunden mit dem Gefühl, eine erlittene Ungerechtigkeit rückgängig gemacht zu haben, es denen da oben gezeigt zu haben, ist er der zufriedenste der interviewten Personen. Herrn C hängt die Art, wie mit ihm und dem Problem verfahren wurde, die er noch immer als höchst beleidigend empfindet, so nach, dass seine Freude über den Erfolg, für den er, wie Frau D, hart gearbeitet hat, deutlich gedämpft erscheint. Auch hat er schon neue Aktionen zu anderen Problemen geplant und erwartet nur wenig Zulauf und Mithilfe. Die fehlende Langzeitwirkung der Proteste bekümmert ihn ebenfalls. Frau D merkt man an, dass der Einsatz für die BI sehr viel Kraft gekostet hat. Auch wenn sie betont, es immer wieder so machen zu wollen, überwiegen doch die Berichte bzw. Erzählungen über die damaligen Belastungen. Frau E ist mit der Art und Weise, wie der Erfolg erreicht wurde, unzufrieden. Wie Frau A sieht sie darüber hinaus das Grundproblem als nicht gelöst an. Die Frage, was weiter passieren soll, nachdem Herten als Standort wegfiel, ist das Hauptthema aller mir vorliegenden Zeitungsartikel des entsprechenden Zeitraumes. Von daher erstaunt es nicht, dass es auch in den Interviews eine Rolle spielt. Die Vermutung, das sei allein eine Reaktion auf die oder Wiederspiegelung der gelesenen Artikel, lässt sich aber mit Hilfe der herausgearbeiteten normativen Grundorientierungen entkräften. Das ungute Gefühl bei Frau D 235
beruht auf dem Eindruck persönlicher Betroffenheit, den sie inzwischen von Herten auf einen größeren Raum ausgedehnt hat und sich bei Einrichtung einer Klinik in einer Nachbarstadt als genauso berührt sieht – ohne dass daraus eine handlungswirksame Motivation entstanden wäre110. Sie bleibt mit ihren Bedenken im aufgezeigten Muster. Frau A hat sich schon während der Protestphase Gedanken zum Konzept gemacht und bezieht ihre Aussage, dass dringend eine Lösung gefunden werden muss, mit der sie ihrer überpersönlichen Sorge Ausdruck verleiht, ausdrücklich auf die Situation der forensischen Psychiatrie in NRW. Ihre Gedanken über das Konzept bringt sie an verschiedenen Stellen ein, wie in der ausführlichen Analyse nachzulesen ist111. Gleiches gilt für Frau E, die auch die mangelnde überregionale Zusammenarbeit als Teil der noch ausstehenden Lösung nennt. Dieses Unbehagen mit der ungelösten Problematik hat bei beiden ebenfalls keine Handlungswirksamkeit. Mit Ausnahme von Herrn C hat sich niemand schon früher in Bürgerinitiativen engagiert bzw. Protesten angeschlossen. Die Interviewten haben es auch für die Zukunft nicht wieder vor. Es hat eindeutig kein diesbezüglicher nachhaltiger Lerneffekt dadurch stattgefunden, dass ein Anliegen, hinter dem alle stehen, erfolgreich durchgesetzt wurde. Das betrifft die grundsätzliche Bereitschaft, sich einzusetzen, aber auch die Beschäftigung mit dem Thema Forensische Psychiatrie. Selbst diejenigen, die eine Lösung der Probleme für dringend nötig halten, setzen sich nicht mehr dafür ein, sind maximal weiter am Thema interessiert und verfolgen die Diskussion aufmerksamer. Auch Herr C, der insofern eine Ausnahme bildet, als er sich sehr häufig und engagiert für diverse Ziele einsetzt, hat keine Hoffnung, dass ein solcher Lerneffekt bei der Hertener Bevölkerung eingesetzt haben könnte. Alle sehen diese Aktionen als Ausnahmephänomen, ausgelöst durch die Überraschung, das ungeschickte Vorgehen des LWL, das zeitliche Zusammenfallen mit dem Bekannt werden von Missbrauchsfällen und der sexuell motivierten Ermordung von Kindern, sowie dem großen Medienrummel um die Vorgänge in Herten. Nun lässt sich auch die eingangs gestellte Frage danach, warum es so schwierig war, Interviewpartner/innen zu finden, beantworten. Das in allen Interviews offensichtliche Unbehagen, obwohl sie eine aufwändige und erfolgreiche Protestzeit vorzuweisen haben, prägt das
110 „Damals war ich der Meinung, ich bin besonders hier als Hertnerin (.) gefährdet, heute bin ich nicht mehr der Meinung. Heute sage ich, wenn die Maßregelvollzugsklinik in (.) in Bochum, zum Beispiel, ist (lacht), bin ich genau so betroffen. Das sind alles keine Entfernungen(!), die sind in 20 Händeklatschen) Minuten mit dem Bus sind die irgendwo (Händeklatschen), das ist auch diese Machtlosigkeit(!) ähm bei Sexualstraftätern dieser Kategorie. (2)“ (Z 280-285). 111 III.3.2
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Klima und hat zu einer abwehrenden Haltung geführt. Die Bürger/innen möchten nichts mehr mit dem Thema zu tun haben. Wozu überhaupt eine Typenbildung? Typen werden u.a. gebildet, um eine Abstraktionsebene zu erreichen, die sich von der Empirie einen Schritt wegbewegt. Die Verallgemeinerung, die damit gelingt, zeigt die Überindividualität, eben das Typische, das am Einzelfall erhoben wird, aber eine Gruppe von Personen repräsentiert. Mit den hier gebildeten normativen Grundorientierungen der sachlichen, des empörten, des engagierten, des mütterlichen und des distanzierten Typs ist das Spektrum der am Protest Beteiligten mit ihren unterschiedlichen Motivationen für ihr Handeln, die sich an den zugehörigen Zentralthemen Abwägen bzw. Ausgeglichenheit anstreben, sich ungerecht behandelt fühlen, Verärgerung, Angst und Wunsch nach Informationen festmachen lassen, gut beschrieben.
III.4
Kontrastierung aller Analyseebenen
Auch wenn die Situation zu Zeiten der Proteste und die Sichtweisen der Beteiligten bis hierher schon recht plastisch geworden sind, bleibt doch noch unscharf, was genau die Mobilisierung in diesem Umfang bewirkt hat. Um dieser Frage näher zu kommen, sollen zunächst die gewonnenen Ergebnisse miteinander in Verbindung gebracht und verglichen werden. Um das leisten zu können, waren andere methodische Schritte gefragt, als die bisher verwandten. Diese Vorgehensweise will ich kurz skizzieren. Die in den vorangegangenen Kapiteln analysierten Interviews, Veröffentlichungen und anderen, nicht für die Untersuchung entstandenen Daten wie Internet-Seiten, Leser/innen-Briefe und Statements aus Zeitungsartikeln werden hier nach Gemeinsamkeiten oder einem durchgängigen Muster durchsucht. Dazu mussten ‚Kernthemen’ gesammelten werden. Die Suche nach solchen übergeordneten Themen passt nicht zur Narrationsanalyse; daher habe ich im Rahmen der Interviewanalyse neben der hermeneutischen Untersuchung, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellt wurde, die in den Interviewtranskripten markierten Themenwechsel in zusätzlichen Arbeitsschritten mit Überschriften versehen und diese stufenweise gebündelt bzw. übergeordneten Schlagworten zugeordnet, bis alle so gefundenen Kategorien trennscharf waren. Diese konnten dann mit den bei den anderen Analysen gefundenen Kategorien verglichen werden. Zu den so gefundenen Kernthemen habe ich Fragestellungen entwickelt und im weiteren Verlauf der Analyse zu beantworten versucht.
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III.4.1 Kernthemen der Argumentation gegen den Bau Die Durchsicht der Ergebnisse der Interview- und Dokumentenanalysen erbrachte als Resümee, dass sich die vorgebrachten Argumente zur Ablehnung ganz überwiegend in 5 Kategorien einteilen lassen: 1. Argumente, die sich auf die soziale Bedeutung des Schlossparks beziehen, 2. Argumente, die sich auf die Lage und die ökologischen Besonderheiten des geplanten Baugrundstücks beziehen, 3. Argumente, die sich auf die Vorgehensweise des LWL und der PolitikerInnen beziehen, 4. Argumente, die sich auf die Situation der Stadt Herten beziehen, 5. Argumente gegen das Konzept der Forensischen Psychiatrie
III.4.1.1 Standortwahl Das ist von der Häufigkeit der Nennungen her das wichtigste Thema. Es stellt sich die Frage, ob, wie im ersten Interview betont, ein Bau an anderer Stelle in Herten unproblematischer gewesen wäre. In diese Richtung gehen auch die überwiegend heftigen Verwahrungen gegen den Vorwurf, egoistisch zu handeln (‚St-Florians-Prinzip’). Daraus ergibt sich die erste Fragestellung, der ich in Rahmen dieses Kapitels nachgehen werde: Welche Bedeutung hat die Wahl des Standortes für die Protestbewegung? Nur die Kategorien 1 und 2 lassen sich für die Behauptung heranziehen, es sei um den gewählten Bauplatz gegangen. Die Argumente der Kategorien 3 und 4 widersprechen dem. Die Fundstellen im ersten Interview zeigen, dass beide Personen die Bedeutung des Schlossparks für die Stadt betonen; ihre ablehnende Haltung deckt sich argumentativ weitgehend mit der der BI, was die Nähe zu sozialen Einrichtungen betrifft. Somit ist ebenfalls die zweite Kategorie, Lage und ökologische Besonderheiten, angesprochen. Die Argumentationen sind sachlicher als die in den Materialien der BI bzw. den Zeitungsartikeln, die Situation ist aber auch eine andere. Ihr Interesse besteht, wie gezeigt, darin, die damalige Situation zu erklären. Das Ziel, den Bau der Klinik zu verhindern, ist längst erreicht. Auf Basis dieser Gewissheit fallen viele strategische und emotionale Reaktionen weg. Dennoch ist dank des Analyseverfahrens die damalige hohe Bedeutung der Ereignisse rekonstruierbar, wobei die Verärgerung über die Vorgehensweise des LWL eine entscheidende Rolle spielt. Da dies Standort unabhängig ist, spricht
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nichts dafür, dass die Akzeptanz an anderer Stelle problemlos zu erreichen gewesen wäre. Der Interviewte im Fall 2, Herr C, führt fast ausschließlich Gründe gegen den geplanten Standort an, die mit der Nähe zur bestehenden Klinik zu tun haben, sich also auf die Lage beziehen. Er beschreibt als einziger den Bauplatz nicht über seine Nähe zum Schlosspark, sondern über die zum Krankenhaus. Das liegt sicher an seinem besonderen Interesse am Krankenhaus, tatsächlich liegt das Krankenhaus aber auch zwischen Schlosspark und anvisiertem Bauplatz. Da, wo C über die Bevölkerung spricht, macht er seine Einschätzung deutlich, dass die hohe Emotionalisierung zu einer grundsätzlichen, Standort unabhängigen Ablehnung einer forensischen Einrichtung geführt hat. Die Wahl des geplanten Bauplatzes habe dies lediglich verstärkt. Die soziale Bedeutung des Schlossparks sieht er vor allem in seiner Funktion als „gute Stube“ Hertens, sowie in dem Stolz, dass dieser Park öffentliches Eigentum ist. Auch er hält daneben die Vorgehensweise der Verantwortlichen für ausschlaggebend. Betrachtet man die natürlichen Daten, ergibt sich folgendes Bild: Die Dokumente der Stadt Herten zeigen deutlich, dass es nicht um den Standort in der Nähe des Schlossparks gegangen ist – bereits Dokument 2, die Beschlussvorlage zur öffentlichen Ratssitzung in der Gesamtschule, belegt das, da dort nie von einem speziellen Standort, sondern der Ablehnung eines Klinikbaus „in Herten“, ohne jeden Zusatz oder eine Einschränkung die Rede ist. So ist diese Beschlussvorlage auch verabschiedet worden. Die Zitate dazu sind „lehnt die geplante Errichtung…in Herten ab“ (Z 6f), „die Errichtung…in Herten abzulehnen“ (Z 9f), „dafür einzusetzen, daß in Herten eine solche Einrichtung nicht entseht“ (Z 13), „die Vorbereitungen für den Bau…in Herten sofort zu stoppen“ (Z 16.18), “alle rechtlichen Möglichkeiten, die der Verhinderung der Einrichtung dienen, auszuschöpfen“ (Z 22-24). Auch im Weiteren beziehen sich die meisten Argumente auf die Stadt insgesamt. Dabei ist auffällig, dass zu Anfang noch verstärkt von der Region, zum Teil sogar vom Ruhrgebiet insgesamt gesprochen wird112. Es bestand wohl noch die Hoffnung auf Solidarisierungseffekte. Allerdings hatte es die vorher in Herten auch nicht gegeben, als benachbarte Städte als Standort für eine Forensische Psychiatrie im Gespräch waren. Typisch für das gros der Leser/innenbriefe ist das Zitat „Die Mehrheit der Bürger will die Cassandrarufe der Ökopaxe [gemeint ist die Partei Bündnis 90/ Die Grünen, d.A.] in Herten nicht hören, die ja so viel Verständnis für psychisch
112 s. dazu die Analyse in Kapitel III.2.1, Dokument 5
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kranke Straftäter haben und einen Standort in Herten nicht ausschließen“ (HA 30.9.96 „Lesermeinung“). Neben den vielen Leser/innenbriefen, in denen das thematisiert wird, spricht auch der Streit bei der Auflösung der BI dafür, der dadurch entstanden war, dass einige Mitglieder die Aufgaben der BI als noch nicht erfüllt ansahen, solange nicht Herten insgesamt als Standort ausscheide113. An den Ortseingangsschildern wurden Schilder mit dem Aufdruck „Forensikfreie Zone“ befestigt – auch das spricht gegen die Aussage, dass es nur um den Standort Schlosspark und nicht um ganz Herten gegangen sei. Da diese Äußerungen aber keiner der untersuchten Parteien zuzuordnen sind, soll das als Stimmungsbild hier genügen. Die Frage der ökologischen Bedeutung des Schlossparks spielt in den meisten untersuchten Daten eine Rolle, wenn auch weniger prominent. Zur Illustration sollen die folgenden Zitate dienen: - Das Gebiet ist als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen, es soll „in seiner Ausprägung als Land- und Forstwirtschaftlicher Freiraum erhalten bleiben, seine ausgeprägte Erholungsfunktion behalten und dem Erhalt und der Sicherung besonders wertvoller Gehölzstrukturen dienen“; des weiteren widerspräche die Bebauung den generellen Zielen der Internationalen Bauausstellung EmscherPark (HA 15.10.96 „Umwelt-Aspekt beachten“), nach dem unter anderem vorgesehen ist, diesen Grünzug zwischen der Stadtmitte Bochum und dem Hertener Norden durchgängig zu gestalten und zu sichern“ (WAZ Herten 19.10.96 „Geplante Forensik zerstört Umwelt“) - Zudem leiste es unbebaut „wichtige Funktionen als Kaltluftentstehungsgebiet, Luftregenerationsraum und für die Stadtdurchlüftung“ (Kurier zum Sonntag 19.10.96 „Wir sehen eine Chance!“) Zu der Thematik des Bauplatzes gehört auch die Frage nach einer Klinik für forensische Psychiatrie an einem anderen Standort innerhalb Hertens. Sie wird häufig gestellt, immer in direktem Zusammenhang mit der kritisierten Standortwahl und der Vorgehensweise des LWL. In fast allen Interviews wird die Frage thematisiert, was passiert wäre, wenn der LWL versucht hätte, an anderer Stelle in Herten eine solche Klinik zu bauen. In diesem Zusammenhang taucht der Begriff des ‚St.Florian-Prinzips’ häufig auf. Die Analyse der Zeitungsartikel hat gezeigt, dass er zwar fast immer in Abgrenzung, in dem Sinne, dass hier genau das nicht passiere, gebraucht wird. Wie aus den Interviews herauszuhören, gab es aber offenbar kritische Fernsehberichte, die der Stadt vorwarfen, danach zu handeln. Das ist wohl der Grund, warum dieser Begriff in allen Interviews auftaucht und warum so sehr betont wird, dass 113 s. dazu Kap. III.3.1 Rekonstruktion der Ereignisse
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es allein der gewählte Standort nahe Krankenhaus und Schlosspark sei, der abgelehnt würde. In den ausführlich dargestellten Interviews zeigt sich das deutlich an allen Stellen, an denen die Interviewten vom Standort sprechen. In Fall 2 betont Herr C diesen Sachverhalt zusätzlich dadurch, dass er mehrmals davon spricht, die Angelegenheit sei von den Verantwortlichen von Anfang an falsch angegangen worden. Dabei verwendet er achtmal die Metapher des ‚in den Grabensetzens’, wodurch jede Möglichkeit, irgendwo anders in Herten zu bauen, zerstört worden sei. Im Fall 1 wird die, auch hier selbstaufgeworfene, nicht von mir gestellte Frage, warum nie ernsthaft über einen anderen Standort gesprochen wurde, mit der Sturheit des LWL, am einmal gefassten Beschluss festzuhalten, erklärt. Frau A erwähnt mehrmals, zum Teil in Frageintonierung, dass es andere Vorschläge gegeben habe. Die Interviewten kommen auf dieses nicht von mir angesprochene Thema immer wieder zurück, womit sie sicherlich dem als ungerecht empfundenen Vorwurf, nach dem erwähnten St-Florians-Prinzip zu handeln, begegnen wollen. Auf die eine oder andere Weise wird betont, es habe nicht an Herten gelegen, dass eine Standortdiskussion nie zustande kam, wodurch gleichzeitig die Rationalität der Argumente gegen den ausgewählten Standort hervorgehoben wird. In den Zeitungsartikel findet sich zu dieser Thematik, bis auf wenige Leser/innenbriefe, die Alternativen innerhalb Hertens vorschlagen, nichts. Keine Rolle spielt der Standort da, wo ein Bau in Herten prinzipiell ausgeschlossen werden soll. Es finden sich viele Aussagen von Politiker/innen und Aktiven der BI, die einen Standort Herten überhaupt ablehnen. Im Folgenden einige Zitate: „Doch grundsätzlich sage ich: Eine derartige Einrichtung, die immer letzte Risiken birgt, gehört nicht in ein dichtbesiedeltes Gebiet. Nicht nach Herten, nicht in den Kreis Recklinghausen und nicht ins Ruhrgebiet. Herten wäre die erste Forensik in einem Ballungsraum. Dieses Experiment ist uns zu riskant“, sagte der SPD Unterbezirksratsvorsitzender Bernhard Kasperek (HA 28.9.96 „Erste Forensik im Ballungsraum: Das Experiment ist uns zu riskant“). Der Oberkreisdirektor Ulrich Noetzlin fragte, „Warum ausgerechnet wieder die Emscher-Lippe-Region?“ betroffen sei (HA 217, 14.9.96).
Auch in den Leser/innen-Briefen dominiert diese Ansicht, wie folgendes Beispiel illustriert: „Als Bergbaustadt befindet sich Herten mitten im Strukturwandel…Und nun soll Herten auch noch als Abstellgleis für psychisch kranke Schwerverbrecher dienen?“ (Leserbrief HA, Nr. 219, 17.9.96)
Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass die direkte Standortwahl nahe dem Schlosspark für die Motivierung wichtig, aber nicht entscheidend war. Insgesamt bestätigt sich daher die in den Interviews betonte Ablehnung allein der gewähl241
ten Stelle nicht. Es lässt sich nicht sicher sagen, was bei einer offenen Standortdiskussion passiert wäre; die Argumentationen legen aber die Vermutung nahe, dass zwar die Wahl dieser Stelle auf besonders heftige Ablehnung stieß, die Reaktionen aber auch bei anderen Hertener Örtlichkeiten ähnlich ausgefallen wären. Das untermauern auch die wenigen Alternativvorschläge, die ich gefunden habe. Sie beziehen sich fast ausnahmslos auf andere Städte oder Regionen, wie zum Beispiel der folgende Leserbrief illustriert: „Eine forensische Klinik ist eine Strafklinik, kein Sanatorium …Da auf der Handskizze des Landschaftsverbandes die Unterbringung der Patienten in kasernenähnlichen Unterkünften vorgesehen ist…würde ich vorschlagen, Kasernen, die von verbündeten Nato-Einheiten verlassen wurden, für diesen Zweck umzubauen. Auch in Nordrhein-Westfalen existieren welche. Ich denke dabei nicht einmal an die Kasernen in den neuen Bundesländern und an die, die von den Russen geräumt wurden“ (HA 15.10.96 „Lesermeinung“), oder: „Solche Anstalten gehören in ein schwach besiedeltes Gebiet, beispielsweise ins Moor“ (aus einer Befragung der HA vom 14.9.96). Andere Städte werden auch in den Verlautbarungen der BI als mögliche Standorte genannt, z.B. Dortmund, Essen oder Bochum114.
In den Interviews findet sich nur im Fall 1 eine konkrete auf Herten bezogene Nennung und zwar das Gelände der ehemaligen Zeche Ewald. Eine entsprechende Diskussion ist weder von offizieller Seite, also z.B. der Stadt oder der Bürgerinitiative, noch in der Presse geführt worden. Wie die Analyse der Veröffentlichungen von Stadt und BI gezeigt hat, war die Forderung nach Verhinderug des Baus stets auf Herten, nie nur auf den Schlosspark bezogen115.
III.4.1.2 Vorgehensweise des LWL Das ist das zweite wichtige, in allen Materialien zu findende Thema. Aus der Häufigkeit der Nennungen ergibt sich die zweite Fragestellung: Welche Bedeutung für die Proteste hat die Vorgehensweise des LWL? Eindeutig dazu sind die Argumentationen von Herrn C aus dem Interview 2. Bei ihm war die Verärgerung, ausgelöst durch die Vorgehensweise, das zentrale Thema seiner Typisierung, entsprechend finden sich besonders viele Stellen dazu. C argumentiert, die Angelegenheit sei von den Zuständigen ‚verpfuscht’ worden. Er nutzt die Erzählung, wie er persönlich durch einen Vertreter des LWL beleidigt wurde, als Beleg für diese These. Zeitlich legt er damit fest, dass eine sachliche Standortdebatte von Anfang an aussichtslos war, da die Beleidi114 s. Analyse der natürlichen Daten, Kapitel III.2, z.B. die des Dokumentes 8 115 s. Kapitel III.2.1 und 2
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gung auf der Gesamtschulversammlung, also ganz zu Anfang des Prozesses, stattgefunden hat. An anderer Stelle argumentiert er, ein erneuter Versuch in Herten sei wieder zum Scheitern verurteilt, weil die Sache beim ersten mal so verfahren sei und „dann is das ja sehr schwer dass die gleichen Leute die jetzt dagegen standen mit einmal dafür das das geht ja kaum das wird man ich sach mal nachher auch ne Sache der Glaubwürdigkeit“ – das spricht zusätzlich dagegen, dass die Bevölkerung nur den ausgewählten Standort abgelehnt hat. Wäre das tatsächlich das Hauptargument gewesen, hätte es die Glaubwürdigkeit ja nur verstärkt, einen anderen Bauplatz zu befürworten. Die Argumentation, aus der dieses Zitat stammt, soll aber die grundsätzlich verfahrene Situation durch die Vorgehensweise des LWL belegen. Auch im Fall 1 werden die Zuständigen von LWL heftig kritisiert: Frau A nennt die Vorgehensweise in der Zeile 472 „Überrumpelungsmanöver“, und weiter in den Zeilen 276ff: „es ging(!) einmal darum dass man sich so überfahren gefühlt hat und das denk ich hat ne Menge Wut(!) in den Leuten hochgebracht (.)“. Weitere Belege finden sich in den Zeilen 492ff und 501ff, in denen davon die Rede ist, man habe das Gefühl gehabt, nicht ernst genommen zu werden, und die Hertener Interessen seien bedeutungslos für den LWL gewesen. Auch bei Frau D, deren Hauptargumentation auf der ihrer Angst gründet, findet sich eine Passage, in der die Empörung über die Vorgehensweise des LWL thematisiert wird. Sie kommt über die Frage, was andere zum Protestieren bewogen haben könnte, darauf, dass dieses Verhalten ein entscheidender einender Faktor gewesen sei116. Das gleiche Bild findet sich in den Zeitungsartikeln und natürlichen Daten, sicher in wechselseitiger Beeinflussung. Da die Pläne des LWL nicht durch die Verantwortlichen, sondern im Vorfeld durch die Medien bekannt geworden sind, verstärkte sich der Eindruck, überrumpelt worden zu sein („Nachricht schlug ein wie eine Bombe“ WAZ Herten, 14.9.96 oder „Unerwarteter Beschluß: Bürgermeister fiel aus allen Wolken“, Westfälische Rundschau 14.9.96 Anja Luckas). Vor allem die regionale Presse hat das, vermutlich in Betonung ihrer Rolle dabei, die Absichten des LWL ans Licht zu bringen, immer wieder hervorgehoben. 116 „Ich glaube, das Schlimmste(!) war (.) die Art und Weise, wie mit dem Thema umgegangen wurde wie die Hertner vor vollendete Tatsachen gesetzt wurden, das fand ich auch dermaßen(!) unverschämt(!), ich fühlte mich in eine ganz andere Zeit zurückversetzt entmündigt(!) (Händeklatschen) und überfahren(!) und das(!) hat die meisten Hertner, also nicht nur mich, sondern alle anderen sehr erbost (Händeklatschen) da lief überhaupt nichts an Information, sondern (Händeklatschen) ihr kriegt das. [schnell und lauter] Und das hat die Leute auf die Barrikaden gebracht, jung und alt und das wollte keiner mit sich machen lassen und darüber waren auch (.) verständlicherweise(!) unsere Stadtväter sehr erbost.“ (Z 81-88).
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Auch PolitikerInnen empören sich darüber, so etwa der Sprecher der GrünenFraktion Hans-Heinrich Holland: „Durch seine Art des Vorgehens habe der Landschaftsverband Herten eine „Hochkonjunktur der Vorurteile“ beschert“ (nach HA Nr. 217, 14.9.96 rkl), oder der SPD-Stadtverband, der z.B. zur mangelnden Beteiligung der Stadt im Vorfeld der Entscheidung meint: „So kann man mit der Hertener Bevölkerung nicht umgehen“ (Stellungnahme lt. HA 14.9.96 rkl), und immer wieder der damalige Bürgermeister Scholz: „Das war eine Nacht-und-Nebel-Aktion“, „Ich bin empört darüber, dass der LWL hinter unserem Rücken den Standort Herten geprüft hat“ (lt. HA, Nr. 217, 14.9.96). Dem LWL wird in den vorliegenden Materialien Absicht dabei unterstellt, nicht schon im Vorfeld der Entscheidungsfindung die infrage kommenden Städte genannt zu haben. So vermutet die WAZ Herten: „die Überrumpelungs-Taktik hatte nur einen Sinn. Zu verhindern, daß vor der Entscheidung etwas durchsickert, daß vor Ort eine Antistimmung entsteht“ (14.9.96 „Angst schürt Proteste gegen Klinik-Pläne“). Der LWL hat aber auch sachliche Fehler gemacht, die ihm in der aufgebrachten Stimmung, nachdem das Vorgehen einmal skandalisiert worden war, als Taktik ausgelegt wurden. So habe er etwa durch das Fehlen des Neubaugebietes Paschenberg-Südhang auf dem der Entscheidung zugrunde liegenden Plan keine korrekten Unterlagen zur Entscheidungsfindung verwandt. Zudem fehle im Gutachten der Expertenkommission die Berücksichtigung sozialer und regionaler Gesichtspunkte. Daraus wurde geschlossen, dass die Entscheidung für Herten „ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig ist, weil die Entscheidungsgrundlagen falsch ermittelt und unvollständig in den Abwägungsvorgang eingeflossen sind“ (Stadtspiegel Recklinghausen 10.10.96 „Gutachten einseitig“). Offenbar besteht weitgehend Konsens darüber, dass das Thema falsch angefasst wurde: Nachdem die Pläne zurückgezogen wurden, bilanzieren die Neue Rhein-Zeitung und die WAZ analog: „Das heikle und emotionsgeladene Thema Forensik ist politisch von Anfang an amateurhaft angefaßt worden – egal, wie das Ende aussieht. Setzt sich der Eindruck fest, das Land kapituliere vor lokalen Interessen und könne ein wichtiges Projekt nirgendwo durchsetzen, obwohl über den dringenden Bedarf kein Zweifel besteht, wären die Folgen verheerend: für die direkt Betroffenen, für die Politik, für das Gemeinwohl. Es steht viel auf dem Spiel – übrigens auch für Horstmann“ (NRZ Neue Rhein-Zeitung 26.4.97 „Schadensbegrenzung“) und „Keine Stadt bewirbt sich um eine solche Straftäter-Klinik, aber gerade deshalb hätte man auf die nach den schlimmen Erfahrungen von Eickelborn verständlichen Ängste in der Bevölkerung anders reagieren müssen als mit der Brechstange. Die Chance, einen Konsens auch nur zu suchen, wurde verschenkt“ (WAZ Herten 8.2.97 „Verschenkte Chance“)
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Abschließend kann konstatiert werden, dass die Vorgehensweise des Landschaftsverbandes sicher zur Mobilisierung beigetragen hat. Zum einen fühlten sich viele Bürger/innen in ihren Rechten verletzt, zum anderen gab es so viele Ungeschicklichkeiten und Fehler im Vorgehen wie im Verfahren, dass damit den GegnerInnen viele Argumente und viel Munition geliefert wurden.
III.4.1.3 Situation in Herten Mit unterschiedlicher Gewichtung wird immer wieder die Besonderheit der Situation Hertens zur Sprache gebracht. Als dritte Frage ergibt sich daher, wie gewichtig dieses Argument für die ablehnende Haltung der Bürger/innen war. Für drei Interviewte ist das ein wichtiges Thema, für zwei spielt es keine bedeutende Rolle. In der Regel beziehen sich die Argumente auf die wirtschaftliche Situation, die als vom Strukturwandel besonders stark betroffen dargestellt wird. Herten wird dabei als von hoher Arbeitslosigkeit und geringem Wirtschaftswachstum bei fehlenden Alternativen zum aussterbenden Bergbau gekennzeichnet. Befürchtet werden im wesentlichen weitere Nachteile für den Mittelstand, da Käufer/innen wegbleiben könnten, und ein Imageverlust; beides zusammen könnte mögliche InvestorInnen abschrecken und so eine erneute Abwärtsspirale in Gang setzen. So heißt es etwa bei Herrn C, die Stadt habe„in dieser schwierigen sozialen Situation einen weiteren Imageverlust“ (Z 449/450) durch den Bau zu erwarten, zudem gelte „Herten so als Armenhaus des Ruhrgebietes und dann noch drückt man denen das noch auf“ (Z 450/451). Und an anderer Stelle bezeichnet er Herten als „sterbende Stadt“(Z 636) Auffällig ist auch die häufige Darstellung der Situation als besonders benachteiligt. Dafür finden sich in den Statistiken der Stadt, wie sie im Internet zugängig sind, nur wenige Belege. Zumindest die ausgeprägte Betonung ist zunächst nicht nachzuvollziehen. Offenbar bestimmte aber das Gefühl, sich in einer deutlich schwierigeren Situation als andere Ruhrgebietsstädte zu befinden, die Atmosphäre. Dabei ist nicht mehr auszumachen, was Henne und was Ei war, ob also schon vor dem Beginn der Proteste diese Situationsdeutung ein Kennzeichen der Hertener Selbsteinschätzung war, oder ob die vielfachen Beschwörungen der schwierigen und benachteiligten Situation durch die Gegner/innen des Klinikbaus dieses Klima geschaffen haben. Sicher wurde dieses Klima durch die Kombination mit dem Thema der forensischen Psychiatrie und den dazugehörigen negativen Konnotationen verstärkt und erfolgreich zur Mobilisierung genutzt. In einem Interview (Fall 2), in fast allen Veröffentlichungen der Gegner/innen des Baus, sowie in zahlreichen Zeitungsartikeln ist davon die Rede, dass Herten bereits viele Leistungen für die Region durch die 245
Müllverbrennungsanlage (für Kreis RE, die Stadt Herne und den Ennepe-RuhrKreis), die Abraumhalde (der Einzugsbereich gehe über Hertener Zechen hinaus) und das Westfälische Zentrum für Psychiatrie erbringe – damit habe „Herten genügend Vorleistungen erbracht, als daß diese Stadt sich „St. Florian“ vorwerfen lassen müßte“ (Info-Blatt der Stadt Herten „NEIN zur Strafklinik am Schloßpark Herten wehrt sich“). Es fällt auf, wie häufig vor allem die Müllverbrennungsanlage und die ortsansässige Psychiatrie in diesem Zusammenhang genannt werden. Diese Ablehnung steigert sich bis zum Gefühl, absichtsvoll getroffen zu werden: „Das ist wirklich das letzte, was man noch tun konnte, um Herten kaputt zu machen. Diskussionslos wird einem der schwächsten Glieder einer Gemeinschaft eine Einrichtung zugeschoben, die sonst keiner haben will“ (ein CDU-Politiker und Mitglied des Krankenhaus-Kuratoriums, HA Nr. 218 16.9.96 „Protestwelle rollt an: Herten gegen Kriminellen-Klinik“). Unklar bleibt, wer denn ein Interesse an der so gezeichneten ‚Zerstörung’ Hertens haben solle. Die Benachteiligung und ungerechte Behandlung wird ausschließlich von nicht lokalen PolitikerInnen auf die Region ausgeweitet. Dabei ist davon auszugehen, dass sie befürchten, falls Herten nicht endgültig gewählt würde, in ihrem Wahlkreis betroffen zu werden: „Warum ausgerechnet wieder die EmscherLippe-Region?“ fragt z.B. Oberkreisdirektor Ulrich Noetzlin (HA 217, 14.9.96). Und der lokale Bundestagsabgeordnete der SPD hält eine solche forensische Klinik im gesamten Emscher-Lippe-Raum für „Nicht machbar“ (HA 30.10.96 „Kritik an der Kritik – und dann Ortstermin“). Je nach eigenem Wirkungskreis vergrößert sich offenbar das Gebiet, in dem die Forensik nicht stehen soll. Als Quintessenz bleibt festzuhalten, dass die Argumentationen, die sich auf die Situation Hertens beziehen, etwas anderes, für den Protest wichtiges signalisieren: das Gefühl, benachteiligt und ungerecht behandelt zu werden, das offenbar seit langem für einen Teil der Hertener/innen bestand, und das nun zum Frame ausgebaut werden konnte, der für eine große Anzahl Menschen anschlussfähig wurde. Das konnte nur in Zusammenhang mit dem von Anfang an beschworenen Wir-Gefühl und der im vorhergehenden Unterkapitel analysierten Empörung über die Vorgehensweise des LWL funktionieren.
III.4.1.4 Auseinandersetzung mit dem Konzept der Forensischen Psychiatrie Es findet sich sehr wenig in den Interviews zu diesem Punkt; der Grad der Informiertheit ist auch bei den meisten gering. Die in der Bürgerinitiative
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besonders aktive Frau D (Fall 3), benennt auch ganz klar, dass es darum nie gegangen sei117. Die Kritik am Konzept Forensischer Psychiatrie geht nicht über ein grundsätzliches Misstrauen und Unbehagen hinaus. Am offensten dem Konzept gegenüber ist Frau A, die sich fragt, warum es in den Niederlanden so viel weniger Probleme und Ablehnung gibt (Z 254ff). Ideen, die geäußert werden, beziehen sich fast ausschließlich auf den Aspekt der Sicherheit, so etwa, wenn Frau A kleine, überschaubare Einheiten vorschlägt (Z 273f) oder Herr B neben grundsätzlichen Zweifeln an der Wirksamkeit forensischer Psychiatrie (Z 230ff) den konzeptuellen Bestandteil der stadtnahen Unterbringung für unsinnig hält (Z 247ff). Herr B (Fall 1) und Herr C (Fall 2) argumentieren, dass es in Deutschland kein Personal für eine forensische Psychiatrie, wie sie geplant sei, gebe. Herr C begründet diese Ansicht noch damit, dass das Problem lange verschoben worden sei, weswegen Ausbildung und Weiterentwicklung fehlten (Z 314ff). Ansonsten äußert er sich nicht zu dieser Frage, obwohl er sehr gut informiert scheint und selbst angibt, entsprechende Fachliteratur gelesen zu haben. Eindeutig ist die Begrenzung des Protestthemas auf die Verhinderung des Baus einer forensischen Klinik in Herten. Das wird aus allen Interviews deutlich, auch bei Frau A und Frau E, die sich persönlich informiert und Gedanken gemacht haben, sowie bei Herrn C, der die Auseinandersetzung mit fachlichen Argumenten geführt hat, bei denen auch das Forensikkonzept eine geringfügige Rolle spielte. Frau D und Frau E sagen eindeutig, dass die fachliche Auseinandersetzung nie Strategie oder Ziel der BI war118. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema, die in den Interviews dennoch eine wenn auch nicht prominente, aber bisweilen deutliche Rolle spielt, findet nur auf der persönlichen Ebene statt und hat keinen Wi derhall in den Aktionen der BI.
117 „Wir haben uns ja mit der Forensik an sich nie (!) auseinander gesetzt (.) weil wie gesagt wir auch alle keine Fachleute (!)(Händeklatschen) waren … die Leute waren aus den verschiedensten Berufen und das sollte auch nicht unser Thema sein das ist damit wolltn wir uns nicht beschäftigen“ (Z 400-404). 118 „es ging nämlich nicht um Forensik an sich, dass die Forensik an sich kritisiert worden ist oder das ganze Prinzip der Forensik, sondern den Leuten hier ging es wirklich nur (gedehnt) um diesen Standort Herten… sehr gut ist, dass dieses ganzes Prinzip überdacht wird aber eh es ist eigentlich nur ne angenehme Begleiterscheinung . es ist nicht Sinn und Zweck gewesen. von der Bürgerinitiative“ (Fall 4, Frau E: Z 256-262)
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Sogar an der Stelle, an der Frau D von ihrer Beschäftigung mit dem Thema berichtet, liegt diese für sie im Sammeln von Informationen über Probleme an bestehenden Standorten forensischer Kliniken, nicht im Konzept selbst119. Frau A und Frau E nehmen als einzige vorsichtig positive Haltungen zum Konzept forensischer Kliniken ein, Herr C äußert keine Meinung dazu, was erstaunt, da er prinzipiell durchaus seine Ansichten deutlich macht und als einziger von einer inhaltlich-fachlichen Beschäftigung mit forensischer Psychiatrie berichtet hat. Herr B äußert mehrfach seine grundsätzliche Skepsis dem Konzept gegenüber, Frau D ist auch diesbezüglich sehr zurückhaltend. Ihre Vorstellungen bleiben auf einem sehr vagen Level dergestalt, dass den psychisch kranken Menschen geholfen werden müsse, diese Ansicht aber von ihrer Angst überlagert wird. Auch damit verkörpern diese Personen die häufig im Protest vorkommenden Orientierungsmuster. Frau E vermutet noch, „und wenn das jetzt der Standort in (gedehnt) Marl gewesen wär da hätte sich hier überhaupt keiner drum gekümmert.“ (Z 356f), eine Einschätzung, die dadurch bestätigt wird, dass vorher, als andere Standorte im Gespräch waren und kleinere regionale Bürgerinitiativen tätig wurden, wie auch später, als das Konzept dahingehend modifiziert wurde, dass forensische Patienten auf mehrere Standorte verteilt werden sollten, keine Aktionen in oder aus Herten dazu erfolgten. Auch bei den Dokumentenanalysen fanden sich wenige tiefergreifende inhaltliche Auseinandersetzungen. Wo sie stattfinden, beschränken sie sich meist auf das Anzweifeln bekannt werdendender Fachmeinungen, wie es etwa in Veröffentlichungen der BI und der Stadt zu finden ist. Dort bewegt sie sich auf dem von Frau D verkörperten Level ohne die Überlagerung durch Emotionen. Eigene Sachverständige werden zu juristischen Fragen beauftragt, die helfen sollen, den Bau zu verhindern, wie etwa der Begutachtung des Geländes als ökologisch wertvoll und eines daraus abzuleitenden gesetzlichen Bauverbotes. Dennoch findet in den natürlichen Daten die Auseinandersetzung mit dem Konzept Forensischer Psychiatrie häufiger statt als in den Interviews. In einem in Dokument 5 (Informationsblatt der Stadt Herten) enthaltenen Artikel, der gegen die Gründe des LWL für den Standort Herten argumentiert, gibt es dazu eine Passage. Dort wird die Sinnhaftigkeit, Täter wohnortnah unterzubringen, 119 „Ja, und man hat sich dann im im Laufe der Zeit natürlich noch mehr mit dem Thema auseinandergesetzt und immer mehr Informationen bekommen, vor allen Dingen aus den Städten, wo schon diese Maßregelvollzugskliniken (Händeklatschen) sind jetzt aus Eickelborn, Düren und so damit hatten wer also auch sehr viel Kontakt und das hat mich anfürsich im Nachhinein bestätigt, in dem (.) Tun und Handeln (.) weil nämlich dort nicht alles so schön ist, wie es immer äh von unseren Politikern behauptet wird“ (Z 269-274)
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angezweifelt. Dass es sich dabei um relativ unfundierte Vorstellungen handelt, sagt die Redaktion dadurch, dass sie ihren kritischen Fragen dazu den Satz „Und außerdem fragt sich der Laie“ voranstellt (Dokument 5, S.1, Sp.2). Auch in der Argumentation der UBH findet sich ab dem Papier „Stellungnahme zum geplanten Bau einer Maßregelvollzugsanstalt in Herten“ (Dokument 8) bei den wichtigsten Gründen gegen den Bau das Infragestellen entscheidender Bestandteile des Konzeptes forensischer Psychiatrie – entgegen dem, was Frau D im Interview sagt. Im „UBH-Info“ Nr.2 beansprucht diese Auseinandersetzung 3 1/2 der 8 Seiten120. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass anders als bei anderen Bürgerinitiativen, die sich aktiv in die fachliche Diskussion einmischen und zum Teil hohen Sachverstand ausbilden, wie beispielsweise in der Anti-Castor- oder Anti-Atombewegung, das sachlich-fachliche keine Rolle spielte. Das mag damit zu tun haben, dass diese BI schon recht schnell erfolgreich war, sich also die Aneignung von Sachkenntnis erübrigt hat. Andererseits konnte das niemand vorhersehen, und es ist von Anbeginn benannt worden, dass eine solche Form der inhaltlichen Auseinandersetzung oder des Suchens und Anbietens von Alternativen ausdrücklich nicht als Ziel, Strategie oder Nebenprodukt des Protestes angesehen wurde. Daher kann davon ausgegangen werden, dass es hier allein um die Verhinderung des Baus ging und keine gesellschaftliche Debatte um den Umgang mit psychisch kranken StraftäterInnen oder die Erarbeitung von Alternativen zum bestehenden Konzept angeregt werden sollte – somit kein sozialer Wandel oder gesellschaftliche Veränderungen angestrebt waren.
III.4.2 Darstellung und Einschätzung der Rahmenbedingungen III.4.2.1 Politik Alle Interviewten unterscheiden zwischen lokalen und anderen Politiker/innen. Das liegt daran, dass sich erstere fast ausnahmslos und sofort gegen die Forensik ausgesprochen hatten und von Anfang an und während der gesamten Protestzeit eine treibende Kraft waren. Dennoch ist es interessant, genauer hinzusehen. Bei den Interviews wird in Fall 1 mit dem Begriff ‚Politiker’ immer Negatives verbunden, die lokalen zumindest dem Wort nach nicht dazu gezählt. In Fall 2 belegt Herr C mit der Unterscheidung eine von ihm vermutete Erleichterung für die Bürger/innen, sich dem Protest anzuschließen. Seine Argumentation der Zeilen 589ff läuft darauf hinaus, dass in der Kleinstadt 120 vgl. dazu die entsprechenden Analysen in Kapitel III.2.2 bzw. III.3.8
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Herten, in der man sich untereinander kenne und außerdem eine eher schlichte Bevölkerung wohne, es größeren Mut erfordere, gegen die lokalen Politiker/innen zu protestieren: „diese Stadt da kennt ja jeder jeden und das tut man dann eigentlich =das ist so unangenehm =oder man hat Angst(!) . […] dann haben Leute auch Angst da kommt der und wird er dann wütend(!) und poltert er rum (.) (Z 603-607)“.
Spannend ist die Reaktion der Politiker/innen, die die Proteste initiiert hatten. Im Stadtrat waren Vertreter/innen von SPD (stärkste Fraktion), CDU, Grünen und Unabhängiger Wählerliste. Bis auf letztere sind das auch die in den Entscheidungsgremien des LWL vertretenen Parteien. Das Land wurde von einer Koalition aus SPD und Grünen regiert. Die Stadtspitze hatte also die schwierige Aufgabe, eigene Interessen gegen die Parteimitglieder auf Landesebene durch zu setzen. Tatsächlich geht sie in den schriftlichen Verlautbarungen vorsichtig mit Parteifreunden um. In Dokument 3 wird dem LWL in einem eigenen Artikel unterstellt, den zuständigen (SPD)Minister falsch informiert zu haben („War Minister Horstmann richtig informiert?“ S.3, Sp.1/2), in Dokument 5 wird der Meinungsumschwung einer SPD-Politikerin den LWL in einem rot umrahmten Kasten lobend erwähnt (S.2, Sp.7), im gleichen Dokument wird der Einsatz von verschiedenen SPD-Politikern für Herten sowie das Verständnis, auf das man in der Landesregierung treffen werde, betont (S.1, Sp. 2/3, S.4, Bildunterschrift Sp.4) Im Laufe der Auseinandersetzungen wandelte sich das Bild etwas. Vorreiter dieser Entwicklung waren die Grünen, von denen zunächst abwägende Äußerungen zu hören waren, wofür sie harsche Kritik einstecken mussten121. Sie wurden auf lokaler Ebene zunehmend integriert, wobei sich ein Konflikt mit Parteimitgliedern auf Landesebene entwickelte. Letztere wurden in Herten scharf kritisiert, wie ich bei der Auswertung der Zeitungsartikel gezeigt habe. Auch im Dokument 5 findet sich ein entsprechender Artikel unter der Überschrift „Grüne verlieren das Maß“ (S.4, Sp.2-4), in dem eine Ausgrenzungsstrategie mit Vorwürfen praktiziert wird: „Während bei jeder Atomdemonstration den Grünen Straßen- und Schienenblockaden legitime Mittel des Widerstandes sind, legen sie in Herten andere Maßstäbe an“. Die behauptete Haltlosigkeit der von den Grünen geäußerten Kritik wird mit der Wortwahl unterstrichen: „bei jeder Atomdemonstration“ – also etwas regelmäßigem, eher unwichtigem gegenüber der Einmaligkeit des Hertener Protestes. Es wird ihnen mangelnde Wahrung der Verhältnismäßigkeit vorgeworfen, wegen der von den Grünen monierte Aussetzung von Strafzetteln für Demonstrationsteilnehmer/innen, die falsch geparkt 121 s. die Kapitel III.2 Analyse der natürlichen Daten, insbes. III.2.3, und III.3.1 Rekonstruktion der Ereignisse
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hatten; dabei werden zunehmend die örtlichen Grünen von dieser Kritik ausgenommen und deren Zugehörigkeit zu Herten betont. Bezogen auf Parteimitglieder anderer Ebenen wurde die Bewertung zunehmend vorsichtiger. Im zweiten Info-Blatt betont der Bürgermeister zwar noch sein Vertrauen in die Landesregierung, es beginnt aber schon die Differenzierung (mit der Kommentierung der Fotomontage einer Unterschriftenübergabe an Johannes Rau: „Dem Landesvater wird wohl noch am ehesten zugetraut, in der verfahrenen Lage das Ruder herumzureißen“ Dokument 5, S.4, Sp.3), die zur Herausnahme des Ministerpräsidenten aus der Kritik führte, während der Ton zum Beispiel gegen den Gesundheitsminister schärfer wurde. In dieser Ausgabe allerdings wird noch schonend mit letzterem umgegangen, in einem Artikel auf Seite 4, in dem seine Äußerungen pro Steinkohlesubventionen herausgehoben werden – die thematisch deswegen ins Blatt passen, weil die schwierige Gesamtsituation Hertens ein zentrales Argument gegen den Bau ist. So heißt es im Artikel dann auch: „In Herten hofft man, daß Minister Horstmann die Verbindung zwischen Strukturpolitik und Gesundheitspolitik erkennt und sieht, welchen Bärendienst er den Bergleuten mit der Straftäterklinik erweisen würde“ (Dokument 5, S.4, Sp.5-7). Die Schuld wird hier noch allein dem LWL zugeschoben, in einem Zitat eines ‚Parteifreundes’: „Die LWL-Leute haben ihm den Standort schön schmackhaft gemacht…Ich sehe noch Möglichkeiten, Axel Horstmann im Sinne Hertens umzustimmen“ (S.4, Sp.7). Hier findet noch Parteipolitik statt, aber in der Trennung lokal – regional. Was die lokale Ebene betrifft, wird die Einheit der Parteien noch in einer zweiten Kurzmeldung betont, in der vom Zusammenschluss zweier Ortsteilgruppen von CDU und SPD zu Aktionsgemeinschaften berichtet wird. Die Ebene parteiübergreifender Zusammenschlüsse, die auch die Kritik an der eigenen Partei mit einschließt, wird erst später erreicht, zumindest bei SPD und CDU. Kritik an überregionalen Parteifreunden ist zu diesem Zeitpunkt noch äußerst selten, wie die Analyse der Zeitungsartikel ergeben hat. Allerdings wurde damit begonnen, überregionale Politiker/innen in die Auseinandersetzungen einzubeziehen, indem die Zusammenarbeit mit dem LWL abgelehnt und angekündigt wurde, alle Gespräche über die Landesregierung laufen zu lassen: „“Und dafür ist Dr. Scholle kein Gesprächspartner mehr, sondern nur noch die Landesregierung“ (S.4, Sp.6). Die Person des Ministerpräsidenten spielte eine wichtige Rolle in den Auseinandersetzungen, obwohl er sich wenig und dann nur unverbindlich beschwichtigend dazu geäußert hat. Dennoch wurde er – auch in der Presse – als Hoffnungsträger aufgebaut, dem das Vertrauen zu keiner Zeit entzogen war. In Dokument 3, dem ersten Flugblatt der Stadt Herten zur Thematik, wurde er mit
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dem besitzanzeigenden Fürwort „unser“ als Mann des Vertrauens eingeführt, verstärkt durch die oben erwähnte Bildunterschrift im zweiten Flugblatt. Bei zwei Interviews wird der Ministerpräsident erwähnt, beide Male in positiver Bewertung und als entscheidende Figur gesehen: Im Interview mit Frau A und Herrn B wurde darauf Bezug genommen, als sie vom „Machtwort“, das er gesprochen habe, um die Auseinandersetzungen zu beenden, sprechen. Auch Herr C konstatiert: „Rau hat das n Stück dann selber auch (.) wohl zu seiner Sache gemacht“ (Fall 2, Z 284f). Die Spekulationen darüber, ob und wie er Einfluss genommen habe, sind in den Zeitungsartikeln dokumentiert; offiziell hat er selbst immer betont, sich nicht einzumischen zu wollen und vollstes Vertrauen in seinen Minister zu haben. Wie in den Analysen des Kapitels III.2 gezeigt, spielen auch in den Dokumenten der BI Angriffe auf Politiker/innen eine große Rolle, von denen der Ministerpräsident jedoch ausgenommen ist. So wird in den verteilten Flugblättern und UBH-Infos, beispielhaft sei hier das in diesem Zusammenhang besonders ergiebige Dokument „Offener Brief an verantwortungsbewusste Politiker in Nordrhein-Westfalen“ zitiert, davon gesprochen, es herrsche „größtes Misstrauen gegenüber der Landespolitik“ nach einer öffentlichen „Demütigung aller Bürger durch ein arrogantes und zutiefst undemokratisches Verfahren, das den Lebensnerv unserer höchst belasteten Stadt töten soll“ (Dokument 11). Es wird wenig zwischen PolitikerInnen und LWL differenziert, aber lokale Politiker/innen in die eigene Gruppe einbezogen, wenn davon die Rede ist, dass „alle politischen Ebenen der Stadt und ihre Bürger“ (S.2, Z 3f) „schamlos vorgeführt“ (Z 4f) worden seien. Die strikte Ablehnung wird mit Empörung verbunden, die sich auf die Vorgehensweise bezieht, wobei unterstellt wird, die eigenen Sachargumente seien übergangen und das Vertrauen der Hertener/innen missbraucht worden. Das Verfahren wird als „Verfahren der Verantwortungslosen“ (S.2, Z 18) bezeichnet und den Politiker/innen der mit der Entscheidung betrauten Ausschüsse unterstellt, „ohne die geringste Sachkenntnis“ (Z 20f) entschieden zu haben. Das St-Florians-Prinzip wird nun den kritisierten PoltikerInnen mit der ihnen untergeschobenen Aussage „Lieber in Herten als in meinem Wahlkreis“ (Z 26) unterstellt. Das kritisierte Verhalten wird mit der Aufzählung „Ignoranz, Verantwortungslosigkeit, Arroganz, Leichtfertigkeit, Unfähigkeit, Entscheidungsunwilligkeit, Dummheit, Lügen und Verfälschung“ zusammengefasst und politische Konsequenzen angedroht: „Wir werden dafür sorgen, daß dieses Polit-Desaster noch mehr Öffentlichkeit erhält. Wir werden Sie immer wieder daran erinnern“ (Z 43f).
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III.4.2.2 Kritik an den Aktionen und Opposition Ein in der Presse zu findender Kritikpunkt sind extreme Äußerungen, die es gegeben habe, festgemacht an Leser/innenbriefen, Flugblättern, insbesondere dem der Jungen Union122, anonymen Briefen an PolitikerInnen und Slogans, wie etwa dem auf Transparenten und als Aufkleber auf den Stadteingangsschildern zu findendem „Herten – forensikfreie Zone“. In Fall 2 betont Herr C an verschiedenen Stellen, dass es zwar unerfreuliche Auswüchse gegeben hab, die aber nie von verantwortlicher Seite (der BI oder der Politik) gekommen seien. Zudem sei auch die Angst der Bevölkerung nicht geschürt worden (Z 478f). Das lässt sich nach den Zeitungsartikeln nicht belegen. Sicher hat die BI immer zur Mäßigung aufgerufen, hatte aber an der Verbreitung von Furcht wie auch am Aufbau von Feindbildern, z.B. im Fall des damaligen Gesundheitsministers Axel Horstmann oder des Gesundheitsdezernenten Dr. Wolfgang Pittrich, einen großen Anteil. Im Fall 3 betont Frau D an verschiedenen Stellen, dass die BI mit menschenverachtenden Äußerungen nichts zu tun hatte, ja solche Äußerungen nicht einmal stattgefunden haben. Auffällig ist, dass sie als einzige nicht von sich aus auf dieses Thema zu sprechen kommt, obwohl es zu der Zeit so präsent war. Das hat mit ihrer Stellung innerhalb der BI zu tun, offenbar fühlt sie sich auch nach deren Auflösung noch der offiziellen Linie verpflichtet. Im Gegensatz zu den drei Personen aus 1 und 2 argumentiert sie an dieser Stelle auch nicht oder rechtfertigt sich gar, sondern stellt diesbezügliche Vorwürfe schlicht als haltlos und unverschämt dar, vorgebracht nur, weil echte Argumente fehlten. In den Interviews finden sich nur zwei weitere der aus der Dokumentanalyse bekannten, zahlreichen Konfliktpunkte. Bezogen auf die Demonstration in Münster wird in den beiden ausführlich dargelegten Interviews die Kritik an der Mitnahme von Kindern erwähnt. In den Zeitungsartikeln findet diese Kritik keinen großen Raum, wird aber mehrfach erwähnt. Überwiegend ging sie demnach von Mitgliedern der Grünen auf Landesebene aus. Ein zweiter Punkt ist die ministerielle Feststellung, die als Schulausflug deklarierte Teilnahme ganzer Klassen sei nicht rechtens gewesen und der Unterricht müsse nachgeholt werden. In den Interviews wird nicht benannt, wer die Kritik geäußert hat. Die darüber geführten Auseinandersetzungen und Angriffe sind im vorherigen Kapitel beschrieben. Im Fall 2 sprach Herr C davon, man habe „sich dann drüber aufgeregt natürlich =dass da n paar kleine Kinder und so dabei“ (Z 362/363) waren. Das ist zunächst schon sehr untertrieben. Genaue Zahlen fehlen, da aber mehrere 122 im Kapitel III.2
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Schulen im Verband dorthin gefahren sind, ebenso Kindergärten, muss die Anzahl doch beträchtlich gewesen sein. Herr C äußerte, dass er das ebenfalls nicht richtig gefunden habe, so etwas aber nur bedingt steuerbar sei und die Verantwortlichen beim LWL daran Mitschuld trügen; dieser Vorwurf ist nur als Kritik an deren Vorgehensweise, die die Menschen zu unvernünftigen und unangemessenen Verhaltensweisen gebracht hätten, interpretierbar. Die erwähnte Kritik zweier Landtagsabgeordneter der Grünen findet in den Interviews weniger Wiederhall als in den Zeitungsartikeln. Eine tatsächliche Opposition zur Protestbewegung wird nirgends erwähnt, auch auf entsprechende Nachfragen bei den Interviews fällt den Befragten nichts dazu ein. Wenn es sie gegeben hat, ist sie nirgends dokumentiert. Die heftigen Auseinandersetzungen zwischen den GegnerInnen des Baus und dem LWL bzw. den Zuständigen auf Landesebene, wie sie in der Zeitungsanalyse nachgewiesen werden konnten, werden außer im Fall von Frau E in den Interviews kaum thematisiert, und da, wo danach gezielt gefragt wurde, heruntergespielt. In den Fällen 1 und 2 hängt das sicher mit der dort herrschenden Ansicht, man sei in der Presse besonders ungerecht dargestellt worden, zusammen.
III.4.2.3 Darstellung in der Presse In den beiden ausführlich dargestellten Interviews findet sich eine sehr ausgeprägte Kritik an der Darstellung der Ereignisse in der Presse. Besonders stark macht das Herr C im Fall 2, nachdem er vorher schon die Medien als zweite Ebene der Auseinandersetzung bezeichnet hatte (Z 330/331): „ja das is so rübergekommen das is ein wilder Haufen die mit Knüppeln jeden tot(!) schlagen der ar diesen armen Menschen da helfen will (lacht) und so ist das rüber und ganz unverständlich hieß es dass nun die Kirche(!) (.) die nun doch Parteien ergreifen soll für diese arme Menschen dass die zwar nicht in Knüppel da hat aber da noch mitmarschiert so ist das rübergekommen zum Teil ja. Oder dass Ärzte (.) die nun dazu da sind nun des Krankenhauses Menschen zu helfen…“ (Z 382-386).
Wie in III.2.3 dargelegt, bezieht sich der letzte Teil nicht auf die Presse. Solch negative Darstellungen finden sich mit einer Ausnahme nirgends in den Printmedien, wie die Dokumentenanalyse gezeigt hat. Vermutlich sind damit die von Herrn C schon vorher erwähnten Fernsehsender gemeint, obwohl er anfügt: „ich hatte nicht den also ich hatte nicht den Eindruck dass in =ganz(!) egal ob in Printmedien oder in den optischen Medien dass irgendwo äh auch nur die Bereitschaft(!) da war das hinzukriegen =weil natürlich wie gesagt auch die Lokalen wohl die Weisung hatten das inne ganz bestimmte Richtung zu äh bringen.“ (Z 385-389).
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Damit will er seine Behauptung belegen, die Politiker/innen hätten der Presse entsprechende Anweisungen erteilt. Er nennt dann auch namentlich den Gesundheitsminister, dessen Position angeschlagen gewesen sei und der daher an einer gegen Herten gerichteten Berichterstattung interessiert gewesen sei. Wie gesagt kann das für die untersuchten Medien nicht bestätigt werden. Die im Zitat erwähnten Vorwürfe stammen sehr wahrscheinlich von VertreterInnen des LWL. Später fügt Herr C eine Argumentation an, in der er das entstandene WirGefühl auch auf das negative Bild Hertens in der Presse zurückführt, und die er mit „dass man Prügel kriechte von allen so dass das schon (.) doch ähm zusammengeschweisst“ (Z 707f) beendet. Die Analyse der natürlichen Daten ergibt ein anderes Bild. Die Zusammenarbeit mit der Presse wird gesucht und positiv dargestellt. Die Ergebnisse der Dokumentenanalyse stützen diese Sicht. Weder die von der Stadt noch die von der BI herausgegebenen Papiere enthalten Angriffe auf Medien oder Berichte über Falschdarstellungen, im Gegenteil. So findet sich in Dokument 11 in dem offenen Brief an „verantwortungsbewusste Politiker“ die abschließende Drohung, über das Herstellen von Öffentlichkeit Stimmung für das eigene Anliegen zu machen. In ihrem Abschlussbericht erwähnt die UBH nur einige ihrer Aktivitäten, dabei widmen sich 6 der 26 Zeilen der Pressearbeit. Negative Erfahrungen werden nicht genannt. Auch in der angehängten „Chronik des Widerstandes“, in der mehrfach von berichtenden Medien die Rede ist, wird eher der Eindruck von für die BI positivem Interesse erweckt, z.B. „Die überregionalen Medien finden immer größeres Interesse am Hertener Widerstand: Berichte im TV (WDR, ZDF, ARD, Arte, RTL, VOX, Pro7) und in großen Zeitungen (Focus, Süddeutsche Zeitung, Welt am Sonntag, Der Spiegel, FAZ)“ (S. 2, 7-10) oder „Das WDRFernsehen berichtet live vom Mahnfeuer (S.3, 24) oder „Der Hertener Widerstand fehlt weder in den Jahresrückblicken der örtlichen Presse noch in denen der Fernsehsender ARD und ZDF“ (S.5, Z 21f).
III.4.2.4 Klima Wie deutlich geworden ist, herrscht während der Dauer des Konfliktes ein hoch emotionalisiertes Klima, das von Angst, Aggressionen und Verärgerung beherrscht wird. Das in den Zeitungsartikeln häufig beschworene Gefühl fehlender Sicherheit spielt in der Argumentation von Herrn C im Fall 2 keine Rolle. Nur an einer Stelle, als er von einem Informationsbesuch in der forensischen Psychiatrie Düren berichtet, erwähnt er, dass es keine völlige Sicherheit gäbe. Er nutzt das 255
Argument aber nicht, im Gegenteil. Nach der Feststellung, der Punkt Sicherheit sei „natürlich n Stückchen schon verharmlost“ (Z 429) worden, nimmt er den Vorwurf direkt wieder zurück: „dass man da nich das ham se wohl immer gesagt nicht ne 100%-ige Sicherheit kriegen konnte“ (Z 429-431). Er kommt dann wieder, mit für ihn ganz untypischen Pausen, zu dem Argument der Krankenhausnähe, das er überzeugend findet und das durchgängig seins ist, das er aber nicht mit etwaigen Sicherheitsproblemen verknüpft: „das war natürlich das Problem direkt also neben dem Krankenhaus in dem in dem äh (.) aber das war mehr auch so so n architektonisches(!) (2) Problem . (3)“ (Z 431f). Die anderen Interviewten problematisieren Sicherheit unterschiedlich. Da wo Angst, eigene oder die der Anderen eine Rolle spielt, wird in dem Zusammenhang auch ein zu erwartender Mangel an Sicherheit beklagt, so bei Herrn B und Frau D. Das Thema Angst ist zentral in den Zeitungsartikeln, deutlich weniger präsent bei den Interviews. Das hätte vielleicht etwas anders ausgesehen, wenn die Befragung während der Proteste durchgeführt worden wäre. Da aber in allen Fällen die damals erlebten Emotionen wieder anklingen und nur in einem Fall Angst dafür zentral ist, kann davon ausgegangen werden, dass sie bei den Befragten, mit dieser einen Ausnahme, von untergeordneter Bedeutung war. Das ist insofern erstaunlich, da es immer das zentrale Thema auf allen Kundgebungen, Plakaten, Transparenten war und sogar zum Motto von Aktionen gemacht wurde, wie beispielsweise beim „Angstgespenst“, das ein Kindergarten seine Kinder hat basteln lassen und mit Karten, auf denen Ängste geschrieben waren, behängt hat (HA, Nr.259, 2.11.96 „Forensik wird bei Eltern zum Angstgespenst“). Einige typische Zitate aus Zeitungsartikeln illustrieren das: „Unsere Zukunft: Ein Leben in Angst – ohne jede Lebensqualität. Dafür wird aber für die Täter alles getan“ (Leserinnenbrief HA Nr. 219 17.9.96). Eine andere Leserin empfindet „Entsetzen darüber, daß zukünftig die Angst um die Sicherheit unserer Kinder, egal wie alt sie sind, regieren wird. Wie werden unsere Kinder aufwachsen, wenn sie die tägliche Angst der Erwachsenen ständig miterleben? Wie sehr wird Mißtrauen ihre und unsere Zukunft bestimmen?“ (Leserinnenbrief, HA, Nr.219, 17.9.96). „„Wir wollen ohne Angst zur Schule!“ war auf dem Rücken eines viereinhalbjährigen Jungen zu lesen. „Mein Kind weiß genau, um was es hier geht. Ich habe ihm erklärt, daß diese Kriminellen ihm was tun können“, entrüstet sich die aufgebrachte Mutter“ (Stadtspiegel Herten 19.9.96 „Wir wollen ohne Angst zur Schule“). Das Thema Angst wird auch verknüpft mit Argumentationen über die Bedeutung des Schlossparks, in dem niemand, insbesondere Frauen und Kinder noch unbefangen spazieren oder spielen könnten. Diese Argumentation findet sich auch in den Interviews wieder, vor allem bei Frau D, die befürchtet, den Kindern die Freiheiten, allein in Stadt oder Park gehen zu dürfen, nehmen zu müssen. 256
Besonders von der Boulevardpresse werden diese Ängste geschürt, was angesichts der zu erwartenden Auflagensteigerung keine Überraschung ist. Vor allem die Verknüpfung mit negativen und dramatischen Ereignissen und die besonders detaillierte und prominent platzierte Berichterstattung haben sicher zur Verfestigung der Vorstellung von Herten als benachteiligt und durch den Bau akut in seiner Zukunft bedroht beigetragen. Bei der Analyse der Interviews ergab sich, dass Angst im Fall 2 überhaupt keine Rolle spielt. Herr C kommt erst durch die Frage nach den Motiven Anderer darauf, unterbricht sich aber sofort wieder, um über seine Motive zu berichten. Erst nach längerem Sprechen über andere mögliche Motive kommt er auf das Thema zurück. Für den Protest insgesamt macht Herr C vor allem die seiner Meinung nach ungeschickte Vorgehensweise von LWL und Politik verantwortlich, da bei so einem schwierigen Thema vorsichtiges Herangehen und Vorbereiten der Menschen nötig sei. Die in anderen Interviews vorherrschenden Themen spielen für ihn keine Rolle. Das zentrale Thema dagegen ist es im Fall von Frau D, die immer wieder darauf zu sprechen kommt. Eine untergeordnete Rolle spielt es bei Frau A, Herrn B und Frau E. Letztere bringt ihre eigene Angst weniger mit den Insassen der forensischen Psychiatrie in Zusammenhang als mit den Personen, die in die Auseinandersetzung um den Bau verwickelt waren, nämlich radikalen Gegner/innen und den VertreterInnen des LWL. Von ersteren spricht sie gleich zu Beginn, als sie von der Gesamtschulversammlung erzählt: „ja da kam mir so erste Mal zu Bewusstsein irgendwie, dass ich so n bisschen Panik hatte mehr (lacht) so vor den Leuten die da(!) waren als so in dem ersten Moment vor der Forensik weil da Sprüche laut wurden (lacht) die mich so n bisschen mehr so an das dritte Reich(!) erinnert haben. hab ich dann son bisschen so Schiss gekriegt ne (.)“ (Z 47-51). Später erzählt sie, zum wiederholten Male, von ihren Vorbehalten gegenüber den Vertretern des LWL, hier verbunden mit dem Thema Angst: „die Leute die das momentan da durchziehen wollen hab ich ehrlich gesagt Angst vor. weil es geht (lacht) nicht um dass ich vor der Forensik Angst hatte sondern mehr um die Leute. weil die mir ähh (.) zu merkwürdig doch n bisschen drauf waren. einfach Fehlinformationen oder (.) Verschweigen von Tatsachen(!) weiß ich nicht bringt nich grade sehr viele Anhänger denke ich zu einem (lacht) (.)“ (Z 233-237).
Sie hält Angst aber für ein wichtiges Thema bei anderen. Ein in allen Interviews vorkommendes Beispiel für die vor allem am Anfang hochkochenden Emotionen ist die Gesamtschulversammlung. Sie spielt in den Erzählungen des Interviews Fall 1 mehrfach eine Rolle. Auch in Fall 2 wird sie an verschiedenen Stellen erwähnt. Auffällig ist hier, dass zwar die Stimmung als sehr aufgeheizt beschrieben wird, stärker betont als in den anderen Interviews, hier Hinweise auf Kontroversen aber völlig fehlen. Erst an anderer Stelle, als Herr C davon berichtet, auch persönlich beleidigt worden zu sein, 257
kommt das Thema vor, wenn auch nur im Zusammenhang dieser Beleidigung durch einen Vertreter des LWL. Über Stimmung und Äußerungen des Publikums während die Vertreter des LWL redeten, wird nichts gesagt. Insgesamt wird jedoch deutlich, dass für die herrschende Stimmung die Emotionen Wut, Verärgerung, Düpierung, Entmutigung und Euphorie bestimmend waren. Herr B beginnt seine Erzählung gleich mit der Darstellung der euphorischen Stimmung – sie ist das erste, was ihm zu den Protesten einfällt. Auch Frau D spricht von euphorischer Stimmung: „Die Stimmung wechselte immer in der ganzen Zeit, von deprimiert bis euphorisch“ (Z 108), ihre eigene Stimmung ist jedoch eher von der Erinnerung an Ängste und Belastungen geprägt. Bei Herrn C überwiegt die Entmutigung, da er von dem Verhalten der beim LWL und beim Land Zuständigen und von der Presse enttäuscht ist und weil er sicher ist, dass eine erneute Mobilisierung bei anderen Themen nicht gelingen wird. Eine fröhliche Stimmung bei vielen Aktionen ist durch viele Stellen in den Interviews belegt, auch in den Zeitungsartikeln finden sich dazu häufig Anhaltspunkte. Das versuchte auch die Gegenseite als Argument zu nutzen: „Wir verstehen zwar die Emotionen in der Stadt Herten, aber denken Sie doch an die Stimmung bei der Demonstration am Donnerstag in Münster. Die war wie bei einem Ausflug mit karnevalistischem Einschlag“ Dr. Wolfgang Pittrich im Interview (WAZ Herten 21.9.96 „Standortfrage entschieden“) – für diese Einschätzung sprechen auch die Fotos, die, im Gegensatz zu denen von der öffentlichen Ratssitzung am 17.9. in der Gesamtschule, auf denen viele schreiende und wütende Menschen zu sehen waren, überwiegend neutrale bis fröhliche Minen zu sehen sind. In den Interviews 1 und 2 ist ebenfalls davon die Rede, dass die Demonstration Unterhaltungswert gehabt habe. So heißt es z.B. im Interview 1: (B) „natürlich haben unsere Schüler das auch äh durchaus aufgefasst, wie einen freien Tag“ (A): „die fanden das ganz lustig dass se n Tag in Münster waren“ – und den Tag (B): „lustig in Münster verbringen konnten“ (Interview Fall 1, Z. 123/126) Welche der Emotionen überwogen hat, ist eine Frage der persönlichen Einstellung und der eigenen Psyche. Festzuhalten bleibt jedoch, dass nicht die sachliche Auseinandersetzung sondern Emotionen das Klima bestimmt haben.
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III.4.3 Die Auswirkungen der Proteste III.4.3.1 Erfolg Hier sollen die Gründe für den Erfolg der Proteste, wie sie die Beteiligten sehen bzw. wie sie in der Presse dargestellt wurden, zusammengefasst werden. Eine Analyse des Gelingens aus dem vorliegenden Material erfolgt im nächsten Kapitel. In allen Interviews wird die Geschlossenheit des Auftretens der Protestierenden betont und für das Erreichen des Ziels verantwortlich gemacht. Auch in Zeitungsartikeln findet sich diese Erklärung durchgängig. In Fall 2 betont Herr C an verschiedenen Stellen (Z 300ff, Z 735ff), dass er Angst hatte, der Protest könne „nach rechts“ (Z 737) und in Gewalttätigkeit abdriften. Für die Bewegung sah er dabei vor allem die Gefahr der Spaltung, weil jede Form der Differenzierung schwer zu vermitteln gewesen wäre. Er sieht mithin im Dulden auch größerer Differenzen die einzige Möglichkeit, diese BI zusammen zu halten. Nur damit sei der Erfolg möglich gewesen. In ihrem Abschlussbericht führt die UBH unter der Überschrift „Sachargumente“ zwei Bereiche an; der erste bezieht sich auf den Landschaftsschutz, unter den das Gelände gestellt ist, das zweite ergibt sich durch die Argumente aus dem von der Stadt in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten. Unter dem Punkt „Erfolg“ werden dann auch nur diese beiden Bereiche genannt. Die Vermischung der Aktivitäten insbesondere von Stadt und BI war schon Thema bei der Analyse der Interviews; sie findet auch hier statt. Jede Seite reklamiert den Erfolg für sich, erwähnt dabei aber immer die dazu notwendige Zusammenarbeit mit der jeweils anderen. Die gelungene Kooperation der ‚drei Säulen’, Stadt, BI und Krankenhaus habe die große Geschlossenheit nach außen und damit die Stärke des Widerspruchs gegen die Baupläne und im Verbund mit der Drohung einer juristischen Auseinandersetzung das Nachgeben des LWL erzwungen. Das ist der allgemeine Tenor, wie er sich aus den Daten ergibt. In den Interviews finden sich unterschiedliche Gewichtungen der Ereignisse, wie sie insbesondere in der Kontrastierung mit der Chronologie der Ereignisse123 sichtbar werden. Das liegt zunächst offensichtlich an individuellen Unterschieden in Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung. Die Selektionen und Betonungen zeigen dementsprechend typische Muster. Den ersten drei Fällen gemeinsam ist das Herausstellen der Besonnenheit der BI Leitung. Im Fall 1 wird, häufig bei gleichzeitiger eigener emotionaler Reaktion, alles, was mit emotionalen Reaktionen zu tun hat, so weit wie möglich herunter gespielt. Im 123 vgl. die Kapitel III.3.2.2., III.3.3.2, III.3.4.2 und III.3.5.2
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Fall 2 ist die emotionale Beteiligung eher noch größer, die aufgewühlte Stimmung wird hier nicht verschwiegen, sogar mehrfach als bedrohlich erlebt erzählt. Diese Herangehensweise hat den Zweck, die als besonders ungeschickt herausgestellte Vorgehensweise der Verantwortlichen als Ursache der damit verständlich werdenden (Über)Reaktionen zu benennen und den für den Protest Verantwortlichen das Verdienst am dennoch gewaltlosen Verlauf zu geben. Mehrfach wird darüber hinaus die Annahme geäußert, es sei zur Kanalisation unbedingt nötig gewesen, organisierte Formen und Strukturen des Protestes zu haben. Auch diese Argumente werden im Zusammenhang der Frage, warum die Proteste erfolgreich verlaufen sind, genannt. Niemand vermutet länger anhaltende Effekte durch die Teilnahme an den Aktionen. In zwei Interviews werden aber unbeabsichtigte Auswirkungen für möglich gehalten. Frau D und Frau E erzählen von einer größeren Sensibilität dem Thema Forensische Psychiatrie gegenüber, letztere hält das für das eigentlich Positive, das bei den Protesten herausgekommen sei124. Frau D, die sehr aktiv in der BI mitgearbeitet hat, beschreibt darüber hinaus eine andere Bindung an Herten: „man geht auch anders (.) durch diese Stadt ham jetzt um diese Stadt gekämpft (.) und (.) äh man hat viele Leute kennengelernt, solche und solche, und (.) ja auch n anderes Verhältnis zum Beispiel zu den Kommunalpolitikern bekommen (.) wenn man genauer gelesen hat, mehr mit ihnen gesprochen hat, das ist alles nicht mehr so anonym“ (Z 347-351).
Niemand der Interviewten hält die Mobilisierung für wiederholbar.
III.4.3.2 Erfahrungen Da die Berichterstattung in den Zeitungen überwiegend positiv war und auf Seiten der Gegner der Forensik stand, ist das Bild, das von der Stimmung gezeichnet wurde, auch überwiegend gut. Erfolge wurden ausführlich dargestellt, (Zwischen)Niederlagen entsprechend mitfühlend berichtet und kommentiert. Immer wieder ist von der guten Stimmung bei Aktionen, von ungebrochenem Mut, von großer Solidarität, vom Durchhaltevermögen, von der schönen Erfahrung gemeinsamer Aktionen die Rede. In den Interviews werden unterschiedliche Stimmungsbilder gemalt. Im Fall 1 überwiegt bei Herrn B eine positive Empfindung im Sinne von ‚das haben wir geschafft’. Es ist ein euphorisches, etwas trotziges und stolzes Gefühl, das er als Erfahrung aus den Ereignissen mitgenommen hat. Frau A bezeichnete die Erfahrung ebenfalls als positiv, hatte aber das ungelöste Grundproblem im Auge 124 vgl. die entsprechenden Fallanalysen
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und war daher etwas gedämpfter. Bei ihr spielte die Erfahrung gemeinsam etwas schaffen zu können eine wichtige Rolle. Mit Frau D teilt sie die Einschätzung, das sei auch für die Kinder und Jugendlichen eine wichtige Einsicht. Im Fall 2 sprach Herr B von negativen Erfahrungen, von Stress und Desillusionierungen, was Politik und Medien angeht. In den anderen Interviews finden sich ähnliche Darstellungen. Bei Frau E, die der ganzen BI skeptisch gegenüber stand, blieb ein schaler Beigeschmack, weil sie die negativen Seiten des Protestes, die persönlichen Angriffe und die wenig sachliche Auseinandersetzung vor Augen hatte, auch wenn sie über den Ausgang froh war. Frau D betonte vor allem das Positive, insbesondere die Erfahrung der Solidarität und des gemeinsamen Erfolges, für die sich jeder Stress gelohnt habe. In den Zeitungsartikeln findet sich erwartungsgemäß deutlich weniger zu diesem Punkt. Es ist häufig von Erfolgen und glücklicher Stimmung bei allen Beteiligten die Rede. In der regionalen Presse wird der Erfolg gefeiert und in diesem Zusammenhang immer auf die oben erwähnte große Geschlossenheit zurückgeführt. Die damit in Verbindung gebrachten Gefühle von Zusammengehörigkeit und Solidarität werden als eine entscheidende Erfahrung dargestellt. Somit zeichnet die überwiegende Mehrzahl der ausgewerteten Artikel das gleiche Bild wie Frau D. Wie dargelegt tauchten nach erfolgreichem Abschluss der Proteste in überregionalen Zeitungen zunehmend nachdenkliche und besorgte Artikel auf, was die ausstehende Lösung des Problems der Unterbringung psychisch kranker Straftäter angeht. Damit wurden Ratschläge, die Vorgehensweise der Verantwortlichen betreffend verbunden, die aus den Erfahrungen lernen sollten. Zugleich wurde prophezeit, andere Bürgerinitiativen würden mit gleich gestrickter Gegenwehr erfolgreich darin sein können, den Bau einer Klinik für forensische Psychiatrie zu verhindern, damit also ihrerseits von den Erfahrungen der Hertener/innen profitieren. Diese Einschätzung teilt auch Frau A.
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IV. Sicherung der Ergebnisse und Ausblick
IV.1 Anbindung der empirischen Ergebnisse an die Theorie In diesem Kapitel soll es um die Fragestellung gehen, welche Ergebnisse durch Anwendung der im theoretischen Teil vorgestellten Analysekonzepte zu erzielen sind, indem die Darlegungen des Kapitels II mit den Ergebnissen des Kapitels III zusammengebracht werden. Welche Theorie bzw. Theorieelemente lassen sich fruchtbar auf die Analysen der vorherigen Kapitel anwenden? Welche Ansätze bringen zusätzlichen Erkenntnisgewinn? Jeder der im theoretischen Teil vorgestellten Analyseansätze ergäbe eine eigene Untersuchung. Das Anliegen dieses Kapitels ist es, Hinweise dafür herauszuarbeiten, ob diese Ansätze, die für die Untersuchung sozialer Bewegungen entwickelt worden sind und deren Verwendung dort gut nachgewiesen ist, auch für eine Bürgerinitiative des Hertener Typs Erkenntnisse bringen – und damit die Beantwortung der im Kapitel I gestellten zweiten Forschungsfrage. Dabei darf das Ziel dieser Arbeit nicht aus dem Blick geraten, weswegen nur die im Hinblick auf die erste Forschungsfrage – Gibt es im Fall Herten Besonderheiten und warum waren die Proteste erfolgreich? – interessierenden Punkte beleuchtet werden sollen. Es ergeben sich zwei, in Kapitel II bereits aufgeworfene Fragen, was die Strukturanalyse angeht. Die erste Frage stellt sich bei der Betrachtung des politischen Umfeldes: gesamtgesellschaftlich ist zunächst von den gleichen politischen Gelegenheitsstrukturen auszugehen wie bei anderen, weniger erfolgreichen Bürgerinitiativen; es steht daher zu vermuten, dass Unterschiede auf regionaler Ebene eine Rolle gespielt haben. Das erfordert die Ermittlung regionaler politischer Gelegenheitsstrukturen. Das zweite Problem, die sich mit strukturellen Gegebenheiten befasst, lautet: Welche mobilisierbaren und tatsächlich mobilisierten Ressourcen sind vorzufinden und gibt es dafür strukturelle Gründe? Die Fragestellung der Arbeit gibt daher die Beschäftigung mit und Anwendung von den Ansätzen der Ressourcen-Mobilisierung und dem der Politischer Gelegenheitsstrukturen vor. Auch der Structural-Strains-Ansatz scheint hier attraktiv. Allerdings hätte dessen Nutzung eine andere Fokussierung des Untersuchungsmaterials erfordert, 262
zudem hätte weiteres Material über die wirtschaftliche Situation herangezogen werden müssen. Damit wären über die Situation in Herten zwar zusätzliche aufschlussreiche Ergebnisse zu erwarten, da sich die Stadt ja gerade in einer von allen Beteiligten betonten Umbruchsituation befindet; das ist eine für diesen Ansatz klassische Situation, zu der die Frage nach der Rolle unterschiedlicher Gruppen im Transformationsprozess und die nach strukturellen Problemlagen oder Deprivationserfahrungen gehören, die die Hertener Bevölkerung offenbar gemacht hat: Die Äußerungen der Interviewten im untersuchten Material über lange schon andauernde Benachteiligungen Hertens, das Argument, nach den vielen ‚Nackenschlägen’, die sie hingenommen hätten, hätte dieser Konflikt nun das Fass zum Überlaufen gebracht, deuten darauf hin. Der ‚Ausbruch’ richtete sich aber nicht gegen Ursachen oder Auswirkungen von Transformation und Strukturwandel. Der engagierte Herr C rechnete sogar aufgrund seiner diesbezüglichen Erfahrungen, die er über viele Jahre dort gemacht hat, für die kurz darauf stattfindenden Proteste gegen Zechenstilllegungen mit nur sehr wenigen Beteiligten. Auch bei Umweltproblemen, die es in der Region vermehrt gibt, waren nur wenige zu mobilisieren. Insofern scheinen, ohne das hier abschließend beurteilen zu können, Lebenslagen und strukturelle Gegebenheiten das Gefühl erzeugt zu haben, benachteiligt und ungerecht behandelt worden zu sein. Es ist somit wahrscheinlich, dass diese Grundstimmung hilfreich für die Proteste war; als Erklärungsgrund reicht das aber nicht aus, da bei gleichen strukturellen Gegebenheiten Proteste, die sich direkt auf die als negativ empfundenen Rahmenbedingungen beziehen, ohne nennenswerte Mobilisierung blieben. Dieser Ansatz verspricht also keinen weiteren Erkenntnisgewinn für meine Fragestellung. Es gibt aber auch ein in der Theorie selbst liegendes Gegenargument: Anders als bei sozialen Bewegungen ist hier keine dauerhafte Vergemeinschaftung entstanden und eine solche zu untersuchen ist ein Anliegen dieses Ansatzes. Daher wird er nicht weiter verfolgt. Auf der Seite der handlungstheoretisch zu beantwortenden Fragen finden sich die zwei zentralen Bereiche kollektiver Identitäten und der Benennung und Platzierung des Anliegens in der Öffentlichkeit. Was den erstgenannten Ansatz angeht, muss untersucht werden, ob bei der Bürgerinitiative Ansätze einer kollektiven Identität nachzuweisen sind und, falls ja, welche Bedeutung sie für Verlauf und Erfolg der Bewegungen hatte. In den Interviews ist viel von Presse und öffentlichem Interesse die Rede, zumeist mit negativer Konnotation. Dennoch oder deswegen machte die PR einen großen Teil der BI-Arbeit aus. Für die Forschungsfrage ist interessant, wie es gelungen ist, die Themenschwerpunkte und Unterthemen (Ablehnung des Bauplatzes, Ablehnung einer Klinik für forensische Psychiatrie etc.) in der Öffentlichkeit zu platzieren, und wie Oberthema, Bürgerinitiative und Aktionen 263
aufgenommen und verarbeitet wurden. Die Frage der Rezeption der Proteste ist bereits im Kapitel III.2.3 beantwortet worden. Für diese handlungstheoretischen Fragestellungen bieten sich die Analyseansätze zu Kollektiven Identitäten und zu Framing an.
IV.1.1 Ressourcen-Mobilisierungs-Ansatz Dieser Ansatz baut auf ökonomischen Theorien kollektiven Handelns auf, indem er es als Summe individueller Kosten-Nutzen-Abwägungen beschreibt125. Dabei wird unter anderem das Ziel der Bewegung als Kollektivgut interpretiert. Auf diesen Fall übertragen wäre das die Verhinderung des Baus einer Klinik für forensische Psychiatrie in Herten. In den untersuchten natürlichen Texten und Zeitungsartikeln wird, wie gezeigt, in vielerlei Hinsicht dieses Ziel als eins aller Bewohner/innen dargestellt. Deutlich wird das in der Wahl der Adjektive wie der häufigen Verwendung von ‚unser’ oder Pronomen wie ‚wir’. Die große Bedeutung des Schlossparks für alle (direkte Nachbarn, Kinder, Jugendliche, ältere Menschen) wie auch seine Einmaligkeit werden immer wieder beschworen. Auch die häufigen Verweise darauf, was „die“ Hertener/innen bereits an Lasten für die Allgemeinheit übernommen hätten, dienen der Produktion von Gemeinsamkeits- und Betroffenheitsgefühlen und damit der Teilhabe an diesem Kollektivgut. Nimmt man Annahmen über knappe Güter und Kosten-Nutzen-Erwägungen als die Grundlage für Handeln hinzu, wird mit dem oben beschriebenen Vorgehen erreicht, den EinwohnerInnen den geplanten Standort kostbar zu machen, sie darin ein teures Gut sehen zu lassen. Durch die Hervorhebung der durch eine große Teilnehmer/innenzahl zu erreichenden Macht, durch die Betonung der Entschlossenheit, das Ziel zu erreichen, durch das Beschwören von Gemeinsamkeit, insbesondere des gemeinsamen Handelns wichtiger Institutionen (Stadt, Kirchen, Krankenhausverwaltung) wird das Engagement Einzelner als wichtig, gleichzeitig aber auch erfolgversprechend klassifiziert. Die Auswertung von Zeitungsartikeln und Interviews hat ergeben, dass für den Schlosspark, nahe dem geplanten Baugelände gelegen, hohe Präferenzen bestehen und er als Kollektivgut eine große Bedeutung hat. Im Rahmen dieser Theorie ergibt sich daraus ein weiterer wichtiger Mobilisierungsfaktor, da sich so eine positive Kosten-Nutzen-Bilanz für die (potentiellen) Beteiligten ergibt. Auch ein anderer Theoriebaustein lässt sich in Herten finden: In Interviews und Zeitungsartikeln werden bestimmte Personen häufig als Motoren des 125 vgl. im Folgenden die entsprechenden Ausführungen des Kapitels II
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Protestes genannt, denen der Erfolg maßgeblich zu verdanken sei. In der Sprache des RM-Ansatzes sind das die Bewegungsunternehmer, die es offenbar auch in Herten gab. Bleibt noch der namensgebende Faktor der Mobilisierung von Ressourcen zu untersuchen. Ressourcen bestehen vor allem aus Geld, Menschen, Legitimation, Arbeit, Zugang zu Medien, Räumlichkeiten, Netzwerken, Zeit und Kommunikationsmöglichkeiten126. Gelingt die Umwandlung des RessourcenPotentials in für die Bürgerinitiative nutzbares Kapital, war die Mobilisierung erfolgreich. Der Faktor Mensch ist oben schon behandelt worden. Zur Ergänzung seien hier noch die Zahlen genannt, die die Bürgerinitiative nach Beendigung ihrer Arbeit vorgelegt hat. Danach waren 500 Menschen aktiv beteiligt, über 2000 als zahlende Mitglieder127. Wie der Geschichte der Bürgerinitiative weiter zu entnehmen ist, waren die Hertener/innen sehr erfolgreich darin, ehrenamtliche Arbeit zu rekrutieren (40 000 Stunden) und Geld zu sammeln (bei Auflösung waren noch ca. 60 000 DM in der Kasse). Der Zugang zu Medien ist vor allem lokal und regional gelungen. Wie die entsprechende Analyse zeigt, gelang es der UBH ihre Aktionen in die Presse zu bringen. Dennoch war das Verhältnis zu den Medien zwiespältig, in den Interviews wird teilweise sehr vehement eine negative Einschätzung vertreten. Wie die Analyse ergeben hat, bezieht sich das aber auf überregionale Medien und ist mit den in Kapitel III.4 herausgearbeiteten sozialen und psychischen Besonderheiten zu erklären. Im Zusammenhang damit ist die Einschätzung der Mobilisierung der Ressource Legitimation zu treffen. Allein die Konstellation der Zusammenarbeit von Bürgerinitiative und Politik bürgt schon für mindestens lokale Legitimation, überregional war die Begleitung dieser Proteste weitgehend neutral bis wohlwollend. Es hat innerhalb Hertens nur eine sehr schwache Opposition gegeben, deren Legitimation ihrerseits von der überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Protest-Allianz stets bestritten wurde. Dennoch fühlten sich die Hertener/innen selbst auch längere Zeit nach den Ereignissen noch genötigt, ihre Handlungen zu erklären, zum Teil mit Rechtfertigungscharakter. Die Textsorte Argumentation, was die Gründe für Handeln anbelangt, herrscht in vielen Interviews vor. Die Analyse der Presseberichte hat gezeigt, dass die Bürgerinitiative und ihre Aktionen auch überregional überwiegend als legitim angesehen wurden. Diese Beurteilung geriet ein wenig ins Wanken, nachdem die Initiative erfolgreich war, und das eigentliche Problem, die unbestreitbare und dringende Notwendigkeit, Plätze für forensische Psychia126 nach McCarthy/Wolfson bzw. Opp, bzw. Zimmermann; s. Kap. II.3.1.1 127 s. Kap. III.3.1 Rekonstruktion der Ereignisse
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triepatientInnen einzurichten, stärker in den Vordergrund trat. Erst dann wurden vermehrt Artikel über den Notstand veröffentlicht und den HertenerInnnen in Zeitungskommentaren Egoismus vorgeworfen – das aber bis auf die genannten Ausnahmen moderat. Auch die Reaktionen der Polizei auf Demonstrationen, Straßensperren u.ä. waren sehr verhalten bis entgegenkommend. Die Anwesenheit von Polizei wird nur im Zusammenhang mit Hilfestellung und guter Zusammenarbeit erwähnt, ebenso wie die der Feuerwehr. Zitate in Zeitungsartikeln zeugen von Sympathie und Verständnis der befragten Beamten für die Ziele. Umgekehrt werden von den Protestierenden auch Anweisungen und Vorgaben von Polizei und Feuerwehr eingehalten. Eine mögliche Erklärung dieses Sachverhaltes ist die Wahrnehmung des Problems. Während Herten gegen den Bau protestierte, waren Verständnis und Legitimation auf Basis der eigenen Ablehnung, sollte eine solche Klinik in die persönliche Nähe rücken, dominant. Später rückte die Sorge um das ungelöste Problem und die Tatsache, dass der LWL einen Bauplatz in der Region brauchte, womit die eigene Betroffenheit größer wurde, in den Mittelpunkt. Diese Interpretation wird durch die erwähnte leicht veränderte Berichterstattung regionaler Medien gestützt. In der Sprache dieser Theorie ist die Bewegung, hier die Bürgerinitiative, das Angebot, das im Fall Herten offensichtlich auf eine entsprechende Nachfrage getroffen ist – allerdings nicht nach sozialem Wandel, sondern nach Beibehaltung des Status quo. Für die Hertener/innen war es, rationale Abwägung zugrunde gelegt, sinnvoll, bei den Protesten mitzumachen, weil die Kosten dabei niedrig einzuschätzen waren: Neben den eingangs erwähnten Gründen sind vor allem die Aktionen zu nennen, die so konzipiert waren, dass sie vor allem für Eltern mit Kindern, der Zielgruppe der BI, attraktiv waren. Viele Aktivitäten konnten daher als Familienunternehmung begangen werden, wie gemeinsames Basteln, Spaziergänge, Laternenumzüge etc. Außerdem lagen sie zumeist zu Zeiten, an denen diese Bevölkerungsgruppe mit der Familie etwas unternimmt, nachmittags oder am Wochenende. Der Aufwand war also gering, die Teilnahme an der Aktion selbst schon Nutzen. Wie eingangs dargestellt, hat die gleich zu Anfang gelungene Verknüpfung des Baus mit der drohenden Zerstörung des Schlossparks dazu geführt, dieses kollektive Gut als knapp zu etablieren. Bei Erreichen des Ziels war also ein großer Nutzen zu erwarten. Auch wenn es zwischendurch Zeiten gab, in denen die Chancen dazu gering eingeschätzt werden mussten, war durch die starke Beteiligung diverser Institutionen und die breite Zustimmung in der Bevölkerung der individuelle Aufwand gering und die grundsätzliche Hoffung auf Erfolg gegeben, was die Kosten noch weiter drückt. Wägt man als Bürger/in der Stadt 266
Herten also Kosten und Nutzen einer Beteiligung ab, wird man in der Regel zu einem positiven Saldo kommen. Die massenhafte Beteiligung lässt sich damit erklären, ebenso wie die mangelnde Beteiligung bei anderen Protestaktionen. Es ist auch ohne diese Übertragung wirtschaftswissenschaftlichen Instrumentariums auf soziale Beziehungen klar, dass der Erfolg in Herten zu einem wesentlichen Teil darauf beruht, dass dort einflussreiche Größen aus Politik und öffentlichem Leben die Proteste getragen haben. Das ist mit einer besonders gelungenen Mobilisierung von Ressourcen erklärbar, offen bleibt jedoch, warum das hier so gut funktioniert hat. Eventuell kommt man dem Problem näher, wenn man den Schlosspark ins Zentrum der Überlegungen stellt und schlussfolgert, dass er ein so besonders wertvolles Gut sei wie keins zuvor in der Hertener Protestgeschichte. Es finden sich einige Interviewpassagen, die diese Annahme stützen. Wie die Analysen gezeigt haben, war aber das eigentliche Ziel, den Bau einer forensischen Klinik in Herten überhaupt zu verhindern, was damit nicht zu begründen wäre. Grundsätzlich ist an diesem Ansatz zu kritisieren, dass jedes Mitmachen oder Fernbleiben immer damit erklärt werden kann, das Individuum habe die Abwägung der Teilnahme positiv bzw. negativ bilanziert. Hier scheint es plausibel, bei aussichtslosen oder weniger breit legitimierten oder an der Grenze zum Illegalen handelnden Bewegungen/Initiativen, die dennoch hohe Mobilisierungen erreichen, nicht mehr ohne die Hilfe von im Nachhinein per definitionem festgelegten Sachverhalten, was die Bedeutung von Kollektivgütern oder die Abwägung der Kosten anbelangt.
IV.1.2 Political Opportunity Structure Ruft man sich noch einmal ins Gedächtnis, worum es bei diesem Analyseinstrument geht, nämlich der Bedeutung struktureller politischer Rahmenbedingungen für Entstehung und Mobilisierung von Protest und Engagement, fallen sofort zwei Sachverhalte ins Auge. Erstens ist, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, durch das Vorantreiben des Protestes durch die politische Stadtspitze ein entscheidender Unterschied zu anderen Bürgerinitiativen entstanden, auch wenn die grundsätzliche politische Struktur etwa bei anderen nordrhein-westfälischen Städten gleich ist. Den Protesten in Herten kam ihre Nähe zur Landesregierung zu gute, da die Stadtspitze dort direkt und über die Herstellung von Öffentlichkeit in Form negativer Publicity für die NRW-Regierung indirekt Druck ausüben konnte.
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Dieser Ansatz ist insofern hilfreich, als er die weiter oben formulierten vermuteten Gründe für den Erfolg Hertens belegen kann. Grundsätzlich kann bei dieser Art der Analyse zum einen gefragt werden, welche Bedingungen eines bestimmten politischen Systems oder zum anderen welche Faktoren innerhalb eines Systems die Entstehung von Protest, die Entstehung sozialer Bewegungen positiv oder negativ beeinflussen. Der auf der Hand liegend Sachverhalt günstiger politischer Gelegenheitsstrukturen durch die Rolle der politischen Stadtspitze für die Proteste ist bereits genannt. Zusätzlich könnte die Anwendung Informationen über gesellschaftliche Entwicklungen bringen und damit Aufschluss über ein gesellschaftliches Klima, das offenbar förderlich gewesen ist, geben. Dazu ist nach der Selbstverständlichkeit, mit der Protestieren und Demonstrieren in die Alltagskultur übernommen wurde, zu fragen. Der zweite interessante Punkt, der mit dieser Methode zu erhellen ist, betrifft die Frage, warum offenbar Protestelemente, die in Zeiten der Studierendenproteste der 1960er Jahre populär wurden, zum allgemeinen Handlungsrepertoire geworden sind. Wie eingangs erwähnt, ist die Untersuchung der gesellschaftlichen Ebene nicht das primäre Forschungsziel. Ich werde dennoch im letzten Kapitel einige Überlegungen dazu sammeln und diese Fragen aufgreifen. Im Rahmen dieses Kapitels spielen sie keine Rolle. Dennoch gibt es einen hier zu erwähnende Aspekt, der mit der Frage nach der Veralltäglichung von Protest zusammenhängt: Die Akzeptanz des Rechtes auf Demonstration und damit zusammenhängender Proteste ist in allen Bevölkerungsschichten vorhanden. Das heißt jedoch nicht, dass ein grundsätzliches Wohlwollen bei anderen Anliegen zu verzeichnen wäre. Die Legitimation des speziellen Protestes muss jedes Mal neu bewiesen werden. In Herten zeigt sich das an der großen Mühe, die darauf verwandt wurde, bei gleichzeitiger Abgrenzung von nicht ‚ordentlichem’ Protest. Es wird sehr klar getrennt zwischen unterschiedlichen Formen und der Anwendung dieser Formen zum einen und der Legitimität des Protestes aufgrund seines Anlasses zum anderen. Auch das erklärt, warum in den Interviews so viel Wert darauf gelegt wurde, die Rechtmäßigkeit verschiedener verwendeter Protestformen darzulegen und warum die Reaktionen auf Kritik an diesen Formen, etwa der Fahrt ganzer Schulklassen zu einer Demonstration, so heftig waren.
IV.1.3 Kollektive Identität Wie im Kapitel II.3.2.1 dargelegt, ist die Herausbildung eines Wir-Gefühls zentral für soziale Bewegungen wie für Bürgerinitiativen. Eine kollektive 268
Identität geht darüber hinaus. Sie regelt die Definitionsprozesse von Zielen, Mitteln und Handlungsfeldern der beteiligten Individuen; von ihr hängen die Art der Beziehungen und des internen Netzwerkes, die spezifischen Organisationsformen, Entscheidungsmodi und Kommunikationswege der Gruppe ab; typisch sind auch starke emotionale Bindungen der Mitglieder untereinander. Kollektive Identität in der Auslegung, wie sie im Kapitel II.3.2 entwickelt wurde, hat sich in Herten nicht gebildet, einige wichtige Elemente kollektiver Identität sind jedoch nachzuweisen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wird in allen Interviews als besonders eindrucksvoll herausgehoben; alle geschilderten positiven Erfahrungen, die im Rahmen der Protestbewegung gemacht wurden, hängen damit zusammen. Es ist demnach von der Existenz emotionaler Bindungen und Netzwerken, die sich gebildet haben, auszugehen. Die Entstehung von gemeinsamen Definitionen ist meines Erachtens besser mit Framing-Prozessen zu erklären, so dass an dieser Stelle auf das nächste Kapitel verwiesen sei. Hier bleibt festzuhalten, dass diese Prozesse so gut funktioniert haben, dass sie noch Jahre nach der Protestphase, zum Zeitpunkt der Interviews, aktiv waren. Seine soziale Identität gewinnt man aus dem Wissen um die Zugehörigkeit zu und die Identifikation mit benennbaren Gruppen. Das hat für die Mitgliedschaft in der Hertener BI und die Teilhabe an den Protesten offenbar Bedeutung erlangt, da bis auf eine Interviewte alle davon berichten, froh über diese Gemeinschaft gewesen zu sein. Die Betrachtungsweise von kollektiver Identität als Resultat geteilter Überzeugungen ist für Herten anwendbar; wie die Analysen gezeigt haben, herrschten überraschend einhellige Meinungen zu den zentralen Fragestellungen – auch wenn unterschiedliche Gewichtungen und individuelle Sichtweisen deutlich herausgearbeitet werden konnten. Die von Ruud Koopmans (1998:228f) geäußerte Einschätzung, nach der die Identifikation von Individuen mit Lagen und Interessen einer größeren Gruppe als erste Stufe kollektiver Identität sowie die Herausbildung von Gruppensolidarität als zentral benannt werden, erweist sich hier als besonders tragfähig. Beides konnte für Herten nachgewiesen werden. In der Definition sozialer Bewegungen von Rucht (1994)128 ist der Terminus ebenfalls enthalten: Sie sind demnach u.a. ein „durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem“ (1994:338). Die durchgängige Beschwörung des Zusammengehörigkeitsgefühls, wie sie in der Analyse der natürlichen Daten 128 Zur Erinnerung hier die Definition, wie sie in Kapitel II eingeführt wurde: Soziale Bewegungen sind ein „auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppe und Organisationen, welche sozialen Wandel mittels ffentlicher Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen“ (1994:338/339).
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nachgewiesen wurde, diente neben der Mobilisierung auch diesem Zweck: Handlungen zu veranlassen und koordinieren zu helfen. Kollektive Identität im engeren Sinne, also über das beschriebene Gemeinschaftsgefühl hinaus, ist nicht entstanden. Zudem war es nach dem Erfolg der Proteste nicht von Dauer. Die weiteren, in langfristigen und komplexeren sozialen Bewegungen vorfindbaren Elemente kollektiver Identität sind in Herten durch andere Mechanismen gelöst worden; da es schon früh eine differenzierte und straff organisierte Bürgerinitiative gab, deren Leitung durch die Anerkennung von Stadtverwaltung und Kirche eine hohe Legitimation und Akzeptanz in der Bevölkerung hatte, konnten die eingangs genannten Probleme von Definitionsprozessen, Entscheidungsfindung, Netzwerkbildung und Kommunikationswegen durch diese Organisation gelöst werden.
IV.1.4 Framing Besonders ergiebig für die Frage nach Gründen für den Erfolg verspricht die Anwendung des Framing-Ansatzes zu werden. Zunächst sei noch einmal vergegenwärtigt, dass es dabei um die Analyse der symbolischen Konstruktion von Wirklichkeit und kollektiv erzeugter Deutungen geht, wozu die Untersuchung von Struktur und Dynamik kollektiver Deutungsprozesse und daraus entstehender Deutungsmuster dienen kann. Dabei ist davon auszugehen, dass die kollektiven Akteure ihre Wirklichkeit selbst konstruieren, Interpretationen gezielt inszenieren und Deutungen strategisch operationalisieren – bei einer vorausgesetzten notwendigen Komplementarität von individuellen und kollektiven interpretativen Orientierungen. Wie gut das in Herten funktioniert hat, lässt sich an den in allen Materialien auftauchenden Interpretationen ablesen. So ist zum Beispiel die Darstellung der Situation Hertens als besonders benachteiligt zu verstehen, die in allen drei Materialarten auftaucht. Auch wenn unklar ist, inwieweit diese Interpretation der Wirklichkeit schon vor dem Beginn der Proteste bestanden hat, ist sie doch eindeutig für die Mobilisierung und die Erzeugung oder Verstärkung eines Zusammengehörigkeitsgefühls erfolgreich genutzt worden. Die Deutung der Situation als von außen kommende Bedrohung, die jede einzelne BürgerIn wie auch die Zukunft der gesamten Stadt gefährde, war für die Mobilisierung zentral und taucht in geringen Varianten ebenfalls in allen Materialarten auf. Hilfreich ist hier die in Kapitel II.3.2.2 eingeführte Definition von Felix Kolb (1997:23), nach der durch gelungenes Framing die Bewegung in die Lage versetzt wird, den Konflikt, die Ziele und die Vorgehensweise zu definieren, zu 270
interpretieren und zu rechtfertigen. Denkt man zum Beispiel an die vorwegnehmenden Rechtfertigungen von Herrn B oder Herrn C, die Handlungen, die gar nicht passiert sind, entschuldigen, wird diese Auslegung plastisch. Der Grund für diese Argumentationen war in beiden Fällen, die Darstellung des Verhaltens des LWL als besonders skrupellos und beleidigend zu belegen. Das habe die Menschen so aufgebracht, dass aggressive Handlungen zu befürchten standen und zu verstehen gewesen wären. Durch Framing werden SympathisantInnen geworben und zur Teilnahme motiviert, eine positive öffentliche Wahrnehmung ermöglicht und eine breite Identifikation mit der Organisation ermöglicht. Die BI wurde in die Lage versetzt, ihre Interpretationsvarianten der Geschehnisse durchzusetzen. Zu den nach innen gerichteten Funktionen der gebildeten Frames gehört die Diagnose eines Sachverhaltes als Problem. Dabei werden Verursacher genannt und das Problem an möglichst zentrale Werte gebunden. Beides gelang in Herten besonders leicht: Als Verursacher war der Landschaftsverband sofort identifizierbar. Später kamen noch unterschiedliche Politiker/innen hinzu, die den Protest nicht unterstützen. Die Bindung an die zentralen Werte körperlicher Unversehrtheit und Schutz der Kinder war durch die Thematik gegeben und wurde verstärkt durch aufsehenerregende Fälle von Morden und sexuellem Missbrauch von Kindern, die kurz zuvor durch die Presse gingen. Was aufgebaut werden musste, war ein Gefühl von Angst und Unsicherheit, eine Bedrohung, die von den Insassen einer solchen Klinik ausgehen würde. Das gelang, weil bereits zu Beginn häufig davon die Rede war, dass obige, von allen geteilte Grundwerte, für die Hertener nach dem Bau nicht mehr gewährleistet sein würden. Des Weiteren müssen individuelle Interpretationsmuster an kollektive gebunden werden. Da es sich hier nicht um eine soziale Bewegung handelt, waren Frame-bridgeing Prozesse, bei denen unterschiedliche Frames verschiedener Gruppen zu einen gemeinsamen verbunden werden, nicht nötig, auch wenn die Zusammensetzung der Bürgerinitiative recht heterogen war. Der gemeinsame Frame, Schutz der Bevölkerung vor den Insassen des geplanten Baus, entstand quasi automatisch aus der oben beschriebenen Problemdeutung. Eine abgeschwächte Variante der Frame-Transformation findet sich auch: Die Deutung des Verfahrens und damit der politischen Führungen als undemokratisch findet sich von Beginn an. Verbunden wurde das mit der Interpretation der Zuständigen als inkompetent, eigennützig und gleichgültig gegenüber den Belangen der Bevölkerung. Die Methode des Amplification wurde hier so angewandt, dass der Wert, den der Schlosspark für die Hertener/innen hat, mit den zentralen kulturellen Werten Freiheit und Recht auf körperliche Unversehrtheit verbunden wurde. So fällt etwa das Herausheben des geplanten Bauplatzes als besonders schutzwürdig 271
in den Bereich dieser Strategie. Daher wurde von Beginn an die Bedeutung des Schlossparks für die gesamte Bevölkerung, vor allem der Kinder, herausgestellt: der Ort sei etwas ganz Spezielles, Einmaliges; er habe für die Bevölkerung einen besonders hohen Rang. So konnte es gelingen, durch die Verknüpfung mit Freiheitsrechten (der Spaziergänger/innen, der spielenden Kinder, der Jugendlichen) individuelle Werte mit kollektiven zu vereinigen. Auch die Überzeugung, die kollektiven Handlungen zur Verhinderung des Baus und damit zum Schutz der genannten Rechte seien notwendig und richtig, konnte erfolgreich implementiert werden, wie die Analysen gezeigt haben. Als Master-Frames im üblicherweise verwandten Sinn129 sind die in Kapitel III.2 gefundenen Kategorien130 interpretierbar: Die Stadt wurde als bedroht dargestellt, wogegen allein massenhafte Proteste helfen konnten. Zur möglichst breiten Teilnahme wurde die Gemeinsamkeit aller Hertener/innen beschworen, die Erhaltung des Schlossparks mit der Betonung der Bedeutung des geplanten Standortes ganz in der Nähe als verbindendes Ziel konstruiert. Die Emotionen Angst und Empörung wurden verstärkt durch die Überzeichnung der Gefahren durch das bestehende Konzept der forensischen Psychiatrie und die Abwertung seiner Verfechter/innen, sowie die Skandalisierung der Vorgehensweise des LWL und verschiedener Politiker/innen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit der Anwendung der Theorie des Framing schlüssige Antworten zu Fragen der Strategien der Gegener/innen des Baus wie auch zu den Gründen für die erfolgreiche Mobilisierung des Publikums geliefert werden können.
IV.1.5 Öffentlichkeit Die im Kapitel II.4.4 geschilderten Strategien des Agenda-Setting lassen sich perfekt nachweisen. Sowohl die Konkretisierung, also die Verortung des bezeichneten Problems in der Lebenswelt der zu Mobilisierenden, wie auch die Abstraktion mit der Einbettung in einen Werterahmen und dem interpretativen Festlegen einer Diskrepanz zwischen kollektiven Werten und dem Problem ist hier, wie oben gezeigt, erfolgt und gelungen. Auch die Polarisierung in ‚gut’ und ‚böse’ war besonders erfolgreich; wie in Kapitel III.1 gezeigt, wurde in diesem Zusammenhang den Verantwortlichen in LWL und Politik immer wieder Eigennutz und Gleichgültigkeit auf Kosten der Hertener/innen sowie mangelnder Sachverstand vorgeworfen.
129 vgl. die Erläuterungen am Ende des Kapitels II.3.2.2, Analyseansätze, Framing 130 vgl. das Schema im Fazit des Kapitels III.2.2, Analyse der natürlichen Daten
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Was die Inszenierung betrifft, wurde die möglichst dramatische Darstellung der eigenen Deutungsvariante häufig angewandt. Von der Erzeugung von Betroffenheit wie auch massiven Verschlechterungsvorhersagen ist bereits die Rede gewesen; gearbeitet wurde in diesem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Lage und den Lebensbedingungen in Herten. Sowohl die Herausstellung eigener Leistungen und Qualitäten (defensive Strategie), wie auch die Herabsetzung der Gegner/innen (offensive Strategie) waren hier anzutreffen – für publizistische Konflikte charakteristische Strategien, weshalb die Auseinandersetzung als ein solcher kategorisiert werden kann. Durch Beachtung der Nachrichtenwertfaktoren gelang es, sich über lange Zeit gegenüber konkurrierenden Themen durchzusetzen, und zwar in der lokalen Presse regelmäßig, da dort durch den lokalen Bezug das Interesse per se groß war, und in der überregionalen mehrfach. Das lag zum Teil am Thema, zum Teil an der von Anfang an professionellen Pressearbeit der BI, durch die es gelang, ihre Aktivitäten und Sichtweisen publik zu machen. Die Aktionen selbst waren wirkungsvoll inszeniert, von Fackelmärschen über riesige Baugerüste bis zu Straßenblockaden, und weckten das Interesse der Medien. Zu vermuten steht, dass auch die Einbindung der Stadtspitze eine Rolle dafür spielte, die Proteste ungewöhnlich und damit berichtenswert zu machen. Die Koppelung mit allgemeingültigen Grundwerten wie Schutz der Kinder und Recht auf körperliche Unversehrtheit brachte das wünschenswerte ‚Paket’, um das Problem mit diesen Werten zu verbinden. Ein weiterer Schritt ist die Benennung der Verursacher. Die mit der Entscheidungsfindung betrauten Personen beim LWL wurden sofort als solche benannt. Ein Problem entstand allerdings dadurch, dass die Landesregierung die gleiche politische Ausrichtung hatte wie die der Stadt, und die Entscheidungsgremien des LWL mit VertreterInnen aller Parteien besetzt waren. Die Lösung hier sah so aus, dass zunächst einzelnen Personen die Verantwortung gegeben wurde, mit zunehmender Dauer aber auch Politiker/innen der eigenen Parteien angegriffen wurden. Auch die Strategie der Etikettierung von Personen als nicht mehr diskussionswürdig ist in Herten vollzogen worden, indem Gesprächs- und Beteiligungsangebote ausgeschlagen wurden. Es bedurfte keiner eigentlichen Legitimierung, da die Trägerinnen des Protestes, Stadtspitze, Bürgerinitiative und Kirche, als Betroffene und damit rechtmäßige Vertreterinnen ihrer Interessen angesehen wurden. Ebenso war klar, an wen der Protest zu adressieren war, da für die Entscheidung zunächst der LWL, später, als die erhoffte Hilfe von überregionaler politischer Seite ausblieb, zusätzlich die Landesregierung verantwortlich gemacht wurden. Die Erfolgsaussichten wurden immer wieder thematisiert und ungeachtet zwischenzeitlicher Niederlagen als vielversprechend dargestellt.
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In den Interviews wird das als Strategie thematisiert131; das Ziel, die Verhinderung des Baus einer Klinik für forensische Psychiatrie, war immer klar, wie im Kapitel II.2 gezeigt. Selbst wenn man sich der in der Literatur überwiegend anzutreffenden Meinung anschließt, dass die Massenmedien einen relativ geringen Einfluss auf die Meinungsbildung des Publikums haben, konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass sie die Art der Protestformen und die Präsentation der Inhalte durch die Protestierenden stark beeinflusst haben – vor allem durch ihre Regeln, was als berichtenswert gilt.
IV.1.6 Fazit Gemäß der von mir gewählten Auswertungmethoden stellt sich abschließend die Frage nach einem Zentralthema in Herten. Bei anderen Fragestellung und zugehörigen Methoden wäre auf dieser Abstraktionsebene etwa nach Handlungsmustern zu fragen. Offenbar gibt es zwei besonders wichtige Stränge, unter die sich die gefundenen Kategorien subsumieren lassen. Das ist zum einen die Angst vor den Insassen eines Krankenhauses für forensische Psychiatrie, zum anderen der Ärger darüber, dass dieses Krankenhaus bei ihnen gebaut und auf welche Weise das Vorhaben durchgesetzt werden sollte. Zu beachten sind dabei die spezielle zeitliche und die spezielle räumliche Dimension. Was die zeitliche Dimension anbelangt ist in die Überlegungen einzubeziehen, dass es kurz zuvor die Verbrechen des Doutroux-Ringes in Belgien gegeben hat, sowie einen Fall von Missbrauch und Ermordung eines Mädchens durch einen Freigänger der forensischen Psychiatrie Eickelborn. Sexualstraftaten an Kindern waren und sind ein besonderes Thema in den Medien, das in der Regel hoch emotional aufgeladen verarbeitet wird. Die Zeitschrift ‚Stern’ veröffentlichte das Tagebuch des Täters, in dem er seine Beobachtungen des Mädchens und seine krankhaften Phantasien festgehalten hatte. Das Konzept forensischer Psychiatrie geriet in die Kritik, wobei nicht die Gesamtkonzeption oder die Behandlung der Kranken, sondern die Sicherheitsstandards wegen einer Gefährdung der Bevölkerung im Zentrum der Diskussion standen – wie es sich in Herten ebenfalls wiederspiegelt. Dabei bezog sich die Debatte fast ausschließlich auf Sexualstraftäter, die nur einen kleinen Teil der Patienten ausmachen. Das hat sicher mit der besonderen Abscheu vor diesen Taten zu tun, gesteigert noch, wenn Kinder betroffen sind, aber auch mit der vorangegangenen Sensibilisierung und Emotionalisierung durch die Medien. 131 vgl. die Ausführungen bei Herrn C und Frau D, Kapitel III.3 bzw. III.4
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Jürgen Friedrichs132 hat in der Analyse eines ähnlichen Falles von kurz und heftig aufgeflammten Protesten resümiert, was auch für Herten gilt: Es gab kein grundsätzliches Konzept, keine prinzipielle Kritik, keinen Zusammenschluss mit anderen, keine Forderungen nach strukturellen Veränderungen und eine völlige Auflösung ohne irgendeine sichtbare Form der Weiterführung oder Übertragung der entstandenen Kräfte und Erfahrungen auf andere Themen. Anders als in Herten bestand in diesem Referenzfall das Problem der als zu hoch angesehenen zulässigen Fahrgeschwindigkeit schon länger und hatte auch bereits zu vereinzelten Protesten geführt. Der Grund für die (damals) aktuellen Proteste war also mit dem für die latente Unzufriedenheit identisch. Betrachtet man die räumliche Dimension, wird man immer wieder auf die wirtschaftliche Lage einer Kleinstadt am Rande des Ruhrgebietes verwiesen. Dass sich die HertenerInnen so besonders benachteiligt vorkommen, ist weiter oben bereits gewürdigt worden. Pierre Bourdieu spricht von einem „kritischen Ereignis“, das latente Konflikte in unterschiedlichen Bereichen durch Synchronisation in diesem einen Auslöser manifest werden lässt133. Um zu prüfen, inwieweit man in Herten davon sprechen kann, das Bekannt werden der Baupläne sei ein solches kritisches Ereignis bei bestehender Deprivationslage, wären zusätzliche Untersuchungen nötig; die bisherigen Ergebnisse liefern aber gute Gründe anzunehmen, dass genau das passiert ist – wenn es sich auch hier, anders als z.B. in Rheinhausen134, um ein Thema handelte, das mit dem eigentlichen Grundproblem nichts zu tun hatte. Wie gezeigt, gelang es jedoch durch geschicktes Framing, die Grundstimmung zu verstärken und auf das Thema des Klinikbaus umzuleiten. Die Analyseergebnisse von Interviews und natürlichen Daten stützen diese Sicht. So ist immer wieder von einer ‚jetzt reicht es’-Stimmung die Rede, oder davon, das Fass sei übergelaufen. Auch die immer wieder als Argument gebrauchten ‚Vorleistungen’ in anderen Bereichen deuten in diese Richtung. Damit ist ein entscheidender Faktor für die gelungene Mobilisierung benannt: Den GegnerInnen des Baus ist es ad hoc gelungen, ihre Deutung der Situation durchzusetzen. Sie findet sich in allen späteren Dokumenten, auch den erst einige Jahre später entstandenen Interviews, wieder. In zunächst unklarer Ausgangslage boten die Stadtspitze und die lokale Presse das alternativlos
132 Friedrichs, Jürgen 1994: Stresemannstraße. Eine Fallstudie zur Dynamik sozialen Protests. Der Autor hat die Proteste in der Hamburger Stresemannstraße untersucht, die nach dem Unfalltod eines Mädchens aufgelodert waren. Anders als der Autor bin ich nicht der Meinung, man könne in diesen Fällen von sozialen Bewegungen sprechen. S. dazu die Ausführungen im Kapitel II.2 133 in „Homo academicus“, 1988, F.a.M. 134 s. dazu die Untersuchung von Irmgard Schuhmacher 2001
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gebliebene Deutungsangebot135 an, ganz Herten sei in einer ‚Nacht- und Nebelaktion’ übertölpelt worden, die man sich nicht gefallen lassen dürfe. So wurde zunächst die Empörung geschürt – in Anknüpfung an das obige kollektive Deutungsmuster –, später dann zusätzlich die Angst. Durch die Verknüpfung mit einem weiteren Frame, der die Bedeutung des Schlossparks mit den zugehörigen Unterkategorien zum Inhalt hatte, gelang eine andere zentrale Strategie von Stadt und Bürgerinitiative: Möglichst viele Hertener/innen (als Mütter/Väter, als Schlossparkbesucher/innen, als potentielle Kranke wegen der Nähe zum Krankenhaus, als potentielles Opfer, als Angehörige/r potentieller Opfer) sollten sich angesprochen und betroffen fühlen und so zur Teilnahme motiviert werden. Die kollektiven Deutungsmuster der Situation als empörende Ungerechtigkeit und Beginn einer permanenten Bedrohung war somit entstanden und verfestigten sich im Verlauf, wovon die wesentlich später entstandenen Interviews, in denen sie sich noch immer nachweisen lassen, zeugen. Wichtig für die Mobilisierung war auch, dass auf vorhandene Netzwerke zurückgegriffen werden konnte. In verschiedenen Untersuchungen ist nachgewiesen worden136, dass die interpersonelle Kommunikation für die Meinungsbildung wichtiger ist als die durch Massenkommunikation, da sie nachhaltiger und homogenisierend wirkt. Das hängt mit den Entstehungsprozessen der oben beschriebenen kollektiven Deutungsmuster zusammen. Zudem ist der persönliche Kontakt zu Aktiven ein entscheidender Mobilisierungsfaktor, wie Thomas Ohlemacher (1993) zeigen konnte. In den Interviews war immer wieder von solchen persönlichen Kontakten die Rede, etwa wenn Frau D berichtet, um die Übernahme bestimmter Aufgaben gebeten zu sein. Die als „soziale Relais“ (Ohlemacher 1993:29) begreifbaren Institutionen wie Stadtverwaltung und Kirche haben bereits existierende aber unverbundene Netzwerke miteinander und mit dem Protest verbinden können. Sie brachten die Voraussetzungen mit, einen gesellschaftlich akzeptierten Bezugspunkt, sogar eine gewisse Autorität zu besitzen und viele unterschiedliche Personengruppen miteinander in Verbindung zu bringen. Sie lieferten den Rahmen für weniger enge soziale Bindungen („schwache Beziehungen“ bei Ohlemacher 1993:42), die für die Mobilisierung zu Aktivitäten mit niedrigen Kosten besonders bedeutend sind, da sie eher mit neuen Themen bekannt machen und von ihnen ein größerer Druck zur Teilnahme ausgeht. Dass es sich in Herten überwiegend um Aktivitäten mit niedrigen ‚Kosten’ gehandelt hat, ist weiter oben gezeigt worden. Die Mobilisierung verspricht um so erfolgreicher zu werden, je mehr unterschiedliche Netzwerke einbezogen werden können. Auch das Image des neu entstandenen Netzwerkes 135 Es finden sich keine Hinweise dafür, dass diese Interpretationshoheit zu irgendeinem Zeitpunkt bedroht gewesen wäre. 136 Vgl. z.B. Schenk/Rössler 1994
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spielt eine zentrale Rolle, um die Mobilisierung auf Dauer zu stellen. Dafür ist die Glaubwürdigkeit der in der Öffentlichkeit auftretenden Vertreter/innen, der Ziele und der Aktionen entscheidend. All das ist in Herten, wie die Analyse gezeigt hat, gelungen. Sowohl in den Interviews wie auch in den Zeitungsartikeln wird das Vorhandensein dieser Glaubwürdigkeit immer wieder betont. Zum gelungenen Framing gehört auch das Aufzeigen von Lösungswegen (vgl. Kreissl/Sack 1998:43). In Herten gab es von Anfang an nur den als einzig möglichen aufgezeigten Weg: die Klinik nicht zu bauen. Die Mobilisierung gelingt umso leichter, je unkomplizierter die aufgezeigten Möglichkeiten sind. Eine einfache Forderung erfordert keine Reflexion und stellt nur geringe Anforderungen an Kohärenz und Kompatibilität mit dem eigenen Lebensstil. Dadurch ergeben sich ein großes Mobilisierungspotential und eine niedrige Akzeptanzschwelle, was die Zustimmung für viele erleichtert. Kontrovers zu diskutierende Lösungswege erfordern die sachkundige Beschäftigung mit dem Thema und damit einen größeren Einsatz und das Zulassen höherer Komplexität. Viele soziale Bewegungen, wie beispielsweise die Anti-Castor-Bewegung, stellen viel höhere Ansprüche an die Einarbeitung ins Thema, an das Verständnis für Zusammenhänge und ggf. an die Veränderung des eigenen Lebensstils. In jüngerer Zeit sind hier besonders die schon mehrfach erwähnten globalisierungskritischen Bewegungen wie attac oder gegen die G8137 gerichteten zu nennen. Letzteres war hier schon allein wegen der inhärenten Kurzfristigkeit nicht nötig. Auch wenn besonders mit dem Wohl der Kinder argumentiert wurde, war die BI ein reines Gegenwartsprojekt und daher schon von der Anlage her vorübergehend angelegt. Soziale Bewegungen zeichnen sich durch die Langfristigkeit ihrer Strategien und erstrebten Ziele aus. Wie gezeigt haben sich durchaus ebenfalls kurzlebige Formen kollektiver Identität gebildet. Das Grundproblem dauerhafter Verknüpfung von individueller und kollektiver Identität stellte sich nicht. Allerdings war es auch hier unumgänglich, dass sich die Teilnehmer/innen die kollektiven Deutungen und Überzeugungen zueigen machten. Das gelang durch die oben geschilderte 137 Dieser „Gruppe der Acht“ gehören Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Russland und die Vereinigten Staaten an, die Europäische Kommission hat Beobachterstatus. Sie versteht sich als Netzwerk, das auf jährlich stattfindenden Weltwirtschaftsgipfeln Probleme von globaler und internationaler Bedeutung berät. Dem Gremium gehören neben den RegierungschefInnen Wissenschaftler/innen und Vertreter/innen der Wirtschaft an. Inzwischen besteht der Arbeitszusammenhang aber das ganze Jahr über, die Themen werden im Vorfeld besprochen und z.T. gelöst. Kritisiert werden vor allem die fehlende Beteiligung von Entwicklungs- und Schwellenländern und die reine Interessenpolitik, die dort betrieben wird; außerdem mangelnde Transparenz und fehlende demokratische Kontrolle. Die Gegner/innen geben den RegierungsvertreterInnen aus diesen Gründen die Verantwortung für die Verfestigung von Armut, Umweltzerstörung und Kriegen.
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Implementierung eines kollektiven Deutungsmusters und die durchgesetzte Deutungshoheit der organisierten Gegner/innen des Baus. Eine völlige Identifizierung mit der Gruppe, eine Prägung der eigenen Identität durch die Zugehörigkeit mit ihr wurde nicht erforderlich. Auch dadurch war das Mobilisierungspotential so groß und die Teilnahme so ‚kostengünstig’. Die Frames der Gegenseite waren nur schwach und wenig überzeugend. Sie argumentierten überwiegend mit abstraktem Gemeinwohl, die Gegner/innen des Baus mit dem Wohl konkreter Menschen, vor allem Kindern. Sie konnten vor allem deshalb nicht überzeugen, weil die Deutung der Hertener/innen einen moralischen Standpunkt und die feste Überzeugung beinhaltete, im Recht zu sein, ja sogar die Pflicht zu haben, sich gegen den Beschluss zu wehren. Der Frame des LWL, Herten handele nach dem St-Florians-Prinzip, trug daher nur zur Verfestigung des Zusammenhaltes bei, nicht zur erwünschten Verunsicherung oder Spaltung der Protestbeteiligten. Er erzeugte starke emotionale Reaktionen, was mit der moralische Diktionen beinhaltenden Grundhaltung erklärt ist, deren Wahrhaftigkeit durch diesen Vorwurf in Zweifel gezogen wurde. Zudem stellte er Deutungsmuster und Frames infrage, nach denen Herten benachteiligt sei oder bereits viele Leistungen für die Region erbracht habe. Auch das konnte nicht angenommen werden, da sonst Verunsicherung und Zwang zu Reflexion des Selbstverständnisses hätten in Kauf genommen werden müssen. Es ist deutlich geworden, dass die vorgestellten Analysekonzepte hilfreich auch bei der Untersuchung von BIs eingesetzt werden können, die nicht Teil einer sozialen Bewegung sind. Ein neues Analysekonzept muss nicht entwickelt werden, es ist aber sinnvoll, je nach konkretem Fall den ‚Baukasten’ dieser Instrumente anders zusammen zu stellen. Hier tragen vor allem der FramingAnsatz und die Überlegungen zu Öffentlichkeit, weniger prominent auch die Konzepte Kollektiver Identität und der Ressourcen-Mobilisierung zum Erkenntnisgewinn bei, da sie bei den für Bürgerinitiativen entscheidenden Fragen nach Mobilisierung und Erfolg den meisten Ertrag gebracht haben. Die Gründe für den Erfolg der Proteste sind mithilfe des Framing-Ansatzes plausibel herauszuarbeiten, zu ergänzen durch den Blick auf die Zusammenhalt gewährende Kollektive Identität. Die Ansätze zur Politischen Gelegenheitsstruktur oder zur Ressourcenmobilisierung beleuchten, inwieweit die Umstände und Rahmenbedingungen für den Protest oder die Bewegung förderlich sind. Vor allem letzter hat einige dieser Aspekte im vorliegenden Fall erhellen können. Generell ist damit abzugleichen, ob sie „ein bestimmtes strukturelles Potential für kollektive Aktionen“ schaffen, wie es Doug McAdam (1994:394) formuliert hat – das ist hier gelungen. Da Herten typisch für einen bestimmten Typus von Bürgerinitiativen ist, kann dieses Ergebnis verallgemeinert gelten. Zudem ist dafür zu 278
plädieren, soziokulturelle Rahmenbedingungen und Besonderheiten bei den Analysen sozialer Bewegungen und Bürgerinitiativen stärker zu beachten.
IV.2 Ausblick: Die gesellschaftliche Ebene In diesem letzten Kapitel will ich versuchen, die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung vom Fall Herten zu lösen und auf die gesellschaftliche Ebene zu heben. Diese zusätzliche Abstraktion soll Antwort auf die Frage bringen, ob sich über die detaillieren Ergebnisse hinaus Erkenntnisse allgemeinerer Art gewinnen lassen. Inwieweit hilft der Fall Herten, gesamtgesellschaftliche Phänomene zu verstehen? Um dabei die Bodenhaftung nicht zu verlieren, werden Anknüpfungspunkte aus den Analyseergebnissen zu einem Raster gewoben, das als Struktur der Überlegungen dient.
1. Anknüpfungspunkt: Mobilisierung Die Zahlen zu Protestereignissen, wie sie im erwähnten Projekt „Prodat“ des Wissenschaftszentrums Berlin erfasst wurden138, zeigen eine kontinuierliche Steigerung. Auffällig dabei ist die gesunkene Zahl der Protestierenden pro Protest. Offenbar gelingt eine kurzfristige und spontane Mobilisierung relativ leicht; aus dem Protest Engagement zu machen, ihn also auf Dauer zu stellen, scheint in gleichem Maße schwieriger geworden zu sein. In Herten war das Thema begrenzt, die Dauer des Einsatzes berechtigter Weise als relativ kurz anzunehmen, und die persönliche Betroffenheit, zumal nach den erfolgreichen Strategien von BI und Stadt, wurde als hoch eingeschätzt. Das sind optimale Bedingungen für eine hohe Mobilisierung. Aus diesen Ergebnissen lässt sich schlussfolgern, dass eine solche Art von Themen die zukünftige Protestlandschaft prägen wird. Nach wie vor erzielen die Themen ‚Arbeit’ und ‚Frieden’ die höchsten TeilnehmerInnenzahlen139, solche Massendemonstrationen werden aber seltener. Auch die Aktionsformen spielen für die Mobilisierung eine Rolle, wie am Beispiel Herten gezeigt. Je nach Thema 138 vgl. Kapitel II.1 und Rucht, Dieter 2001 139 So demonstrierten etwa im Februar 2006 jeweils ca. 15 000 Menschen in Straßburg und in Berlin gegen die ‚Bolkestein-Richtlinien’, in der EU-weit die Richtlinien für das Dienstleistungsgewerbe festgelegt bzw. dereguliert werden sollten, und im Zuge derer Lohndumping und die Aushöhlung von Sozialstandards befürchtet wurden.
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erzielen ‚Familientaugliche’, wie überwiegend in Herten zu finden oder avantgardistische und actionreiche mehr Zuspruch.
2. Anknüpfungspunkt: Framing Noch einmal in Erinnerung gerufen werden soll die Einschätzung von Gramson, nach der Schemata der Deutung und kognitiven Organisation von Wissen als Frame bezeichnet werden können. Die Analyse der Leistungen von Diskursen, diskursiver Praktiken und der Deutungsmusterbegriff können als Grundlage für eine Diskursanalyse auf gesellschaftlicher wie auf Bewegungsebene dienen. Damit wäre beobachtbar, in welche Richtung sich die Widerstände und Konflikte in der Gesellschaft entwickeln und um welche Themen es dabei geht: bewahrende bis reaktionäre oder in emanzipatorisch vorwärts weisende, offene und respektvolle Überzeugungen und Formen.
3. Anknüpfungspunkt: Handlungspraktiken Hier ist der weiter oben angekündigte Blick auf die gewählten Protestformen und das kollektive Handeln zu richten. Der Problemstellung, warum es zur ‚Veralltäglichung’ von Protest gekommen ist, kommt man mit der Anwendung des New Social Movement Appropach näher. Mit ‚Veralltäglichung’ ist gemeint, dass es nicht mehr legitimierungsbedürftig ist, Proteste zu organisieren oder daran teilzunehmen. Das Recht zur Demonstration ist allgemein anerkannt. Zwar lassen sich in den Interviews noch vereinzelt Stellen finden, in denen auch das Recht zu demonstrieren gerechtfertigt wird (so etwa bei Herrn B im Fall 1), wenn dieses Recht thematisiert wird, geht es aber fast ausschließlich um die Abgrenzung zu ‚chaotischen’ oder gewalttätigen Demonstrationen. Der New Social Movement Approach soll, obwohl im Kapitel II nicht so ausführlich wie die in Kapitel IV.2 herangezogenen behandelt, hier deswegen Erwähnung finden, weil er einen wichtigen Beitrag zur Analyse liefern kann: Mit seiner Hilfe kann erklärt werden, warum es zu der beobachtbaren und weiter oben beschriebenen ‚Veralltäglichung’ von Protest und Protestformen gekommen ist. Im Zuge der Modernisierung von Gesellschaft hat sich die zentrale Stellung von Selbstbestimmung und politischer Mitbestimmung im Wertekatalog der bürgerlichen Schichten gefestigt. Das „sozialmorali-
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sche Milieu“, das nach Gerhards (1993)140 der Nährboden sozialer Bewegungen ist, lässt sich auch in Herten finden: Treibende Kräfte waren in den 60er Jahren im Rahmen ihrer Kinder- und Jugendzeit sozialisierte Personen mit hohem Bildungsgrad, ergänzt von „humanistischer Intelligenz“ (Hellmanns 1998:16). Das offenbar bereits zu Anfang weit verbreitete Gefühl, zu den ‚konkret Betroffenen’ zu gehören, die auch Teil einer so beschriebenen sozialen Bewegung sind, wurde von den Aktiven weiter verstärkt141. Die zitierten Eigenschaften der Sensibilität für Probleme, die Kenntnis sozialer Problemfelder und die Fähigkeit, sich deutlich und öffentlich zu artikulieren, finden sich auch bei den Aktiven der Hertener BI: In den Interviews sind Verweise auf andere Aktionen und Vergleiche mit anderen Initiativen häufig, einige waren in anderen Zusammenhängen bereits öffentlich aktiv, z.B. als Schulsprecherin oder Mitglied einer BI, Herr C nennt sie „honorige Leute“, und sind daher sowohl rhetorisch vorgebildet als auch daran gewöhnt, für ihre Interessen einzutreten. Für die beteiligten Politiker/innen gilt das alles qua Rolle. Offenbar bietet der von den Vertreter/innen des New Social Movement Approach herausgearbeitete und beschriebene Nährboden sozialer Bewegungen auch Futter für kurzlebige Bürgerinitiativen des Typs Herten. Er liefert eine Erklärung dafür, dass Proteste so selbstverständlich geworden sind, mindestens zeitweiliges Engagement Bestandteil vieler Biografien geworden ist. Die geänderte gesellschaftliche Einschätzung spiegelt sich auch in dem polizeilichen Umgang mit Demonstrationen wieder: Wie Martin Winter (1998) gezeigt hat, haben sich polizeiliche Einsatzphilosophie und -taktiken dementsprechend geändert; das Bürgerrecht zu demonstrieren soll auch hier Vorrang haben142. Bei der Demonstration der Hertener in Münster stand die Polizei dem Ganzen offenbar wohlwollend gegenüber: „Natürlich gefällt uns nicht, dass hier eine Münsteraner Hauptverkehrskreuzung lahmgelegt wird. Aber bei dieser Sache muß man das in Kauf nehmen“ lautet die zitierte Aussage eines bei der Demo eingesetzten Polizisten (lt. HA 20.9.96 „Pittrich unter Beschuß“). An anderer Stelle heißt es: „Motorisierte Polizisten empfingen die ungeladenen Gäste und geleiteten sie freundlich auf die Parkplätze. „Dank an die Stadt Münster“, lobte ein Busfahrer die prächtige Organisation“ (WAZ Herten, 20.9.96, „5000 Hertener protestierten“). Auch andere Aktionen wurden entsprechend begleitet – was als so selbstverständlich genommen wurde, dass es nicht einmal thematisiert werden musste. Zum Vergleich: Auflagen der Feuerwehr bei 140 Details s. Kapitel II 141 s. die entsprechenden Analysen in Kapitel IV.2 142 Dass das von den Themen der jeweiligen Demonstration abhängt, vor allem – berechtigter Weise – von dem zu erwartenden Verhalten der DemonstrantInnen, ist ebenfalls Teil der Ergebnisse dieser Untersuchung.
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einem Fackelumzug dagegen wurden, weil die Ausnahme, in der Presse mehrfach erwähnt143. Auch die BI äußerte sich in dem Sinne, dass die Veränderung der Streckenführung schade sei, man sich aber diesen Anordnungen fügen werde. Dieser verständnisvolle Umgang miteinander ist an anderer Stelle, im Kapitel IV.1.1, in dem der Ressourcen-Mobilisierungs-Ansatz auf zusätzliche Erkenntnisse abgeklopft wurde, als Frage der Problemwahrnehmung im Feld der Gewinnung von Legitimation, die jede soziale Bewegung, jede BI erreichen muss, angesprochen worden. Hier steht der Legitimationsglaube an die Rechtmäßigkeit zu Protestieren im Zentrum, der offenbar allgemeingültig geworden ist. Wie sieht es mit den Protestformen aus? Die Hertener/innen haben sich einer breiten Vielzahl von Aktionen bedient: Demonstrationen, Straßensperren, Lichterketten, Mahnfeuern und –wachen, Plakataktionen, Flugblättern, Zeitungsannoncen, großen Festen, Fackelzügen u.v.m. Auffällig ist dabei, dass die Planenden die Proteste in viele alltägliche und außeralltägliche Aktivitäten eingewoben haben, die auch sonst stattgefunden hätten oder in ähnlicher Form hätten stattfinden können, wie Spaziergänge, Schulfeste, Nikolaus- oder Karnevalumzüge. Das hat zum einen seine Ursache darin, dass die Aktionen zum überwiegenden Teil für Eltern und Kinder gedacht waren, zum anderen in der Breite des Bündnisses und der Verankerung in der Bevölkerung. Es ist selbstverständlich geworden, alle gewaltlosen Protestformen zu nutzen. Die in den Interviewanalysen herausgearbeiteten handlungsleitenden Motive, die der Verknüpfung normativer Einstellungen und individueller Problemwahrnehmung entspringen, und zu typischen Handlungsmustern führen, runden das hier gezeichnete Bild ab.
4. Anknüpfungspunkt: Organisation des Handelns Als Ergebnis der theoretischen Betrachtungen und der empirischen Analyse lässt sich, auf eine zwar stark verkürzte aber dennoch präzise Weise zusammenfassen: Aus einem sozialen Konflikt und einer ‚objektiven’ Problemlage macht erst die Erzeugung gemeinsamer Deutungsmuster eine Protestbewegung möglich – aber noch nicht wahrscheinlich. Welche Bedingungen nötig bzw. förderlich sind, damit sie tatsächlich entsteht, ist ausführlich dargelegt worden. Festzuhalten bleibt, dass erst nach dem kollektiven Deutungsprozess eines Sachverhalts als Problem kollektive Handlung möglich wird. In diesem Zusammenhang sei
143 z.B. in der Hertener Allgemeinen vom 8.7.1997
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erneut auf die Bedeutung von Netzwerken und „Mobilisierungsbrücken“ (Thomas Ohlemacher 1993) hingewiesen. Wie im theoretischen Teil dargelegt, bedarf es immer einer gewissen Dauer, bis sich Protest verfestigt und eine Organisation herausgebildet hat. Die Empirie hat gezeigt, dass das in Herten mit der Gründung der BI sehr schnell und professionell geklappt hat. Da nach einem Jahr ihr Ziel erreicht war, bestand keine Notwendigkeit der Fortführung. Interessant ist die Frage, inwieweit sich aus solchen spontanen Protesten und Gründungen von Bürgerinitiativen dauerhafte Veränderungen bei der Bereitschaft zu Protest oder Engagement finden lassen. Das ist für die Problemstellung der zukünftigen Entwicklung wichtig. Es haben sich keine Anhaltspunkte dafür gezeigt, dass dieses für die Beteiligten wichtige Ereignis Auswirkungen auf ihr zukünftiges Handeln haben wird. Die Bereitschaft zu (bürgerschaftlichem) Engagement scheint hier nicht gesteigert worden zu sein, wenngleich es Anzeichen dafür gibt, dass sie mit anderen Augen nicht nur auf das zur Diskussion stehende gesellschaftliche Problem forensischer Psychiatrie, sondern auch auf den Wahrheitsgehalt von Medienberichten und die Beteiligung an Protesten/Demonstrationen blicken144. Insofern hat die Beteiligung Veränderungen der Protestierenden mit sich gebracht, die – auch – in Richtung einer Demokratisierung wirken könnten, somit über die persönliche Ebene hinaus weisen. Betrachtet man neuere soziale Bewegungen fällt auf, dass sie neben den veränderten Themen auch veränderte, in aller Regel dezentralisierte Organisationsformen gewählt haben. Am Beispiel von Umweltschutzinitiativen konnte gezeigt werden, dass das Aufbrechen herkömmlicher Strukturen, womit sowohl organisationelle wie auch Zeitverwendungsroutinen gemeint sind, entscheidende Faktoren für die Mobilisierung neuer Zielgruppen sind (Böcker/Nover 1996)145. Auch „globalisierte Bürgerinitiativen“ (Nover/Jonas 2002:217), als „neue Koalitionen jenseits herkömmlicher Institutionen“ (a.a.O.:218) funktionieren nach einem ähnlichen Muster. Die Analyse hat folgende zentrale Erfolgskriterien einer veränderten Organisation ergeben (a.a.O.:235f): - das Vorhandensein vieler Verantwortlicher ohne zentrale Führung - das herausragende Kriterium ist die Offenheit des Zugangs und der Formen der Zusammenschlüsse - ein Vernetzungsprinzip statt herkömmlicher Organisation
144 s. die Ergebnisse der Interviewanalysen des Kapitels III.3 145 In dieser Untersuchung werden u.a. sechs Thesen aufgestellt, wie solche veränderten Strukturen und Organisationen aussehen und welche Wirkungen sie entfalten werden (Böcker/Nover 1995:59ff).
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- die Bereitstellung eines dauerhaften und entwicklungsfähigen Rahmens bei großer Bandbreite von Umfang und Dauer des möglichen Engagements Einzelner - Möglichkeiten flexibler Beteiligung (räumlich, zeitlich, thematisch) - umfassende interne Demokratie - freier Zugang zu Informationen und Medien. Die Bürgerinitiativen vom Typ Herten werden zunehmen, neue Formen an Bedeutung gewinnen, so dass von einer Parallelität unterschiedlicher Organisationstypen ausgegangen werden kann.
5. Anknüpfungspunkt: Öffentlichkeit Eine Reduktion ihrer Aussagen und Ziele auf eingängige, möglichst griffige Formeln braucht jede Bewegung; auch die Demonstrationen früherer Jahrzehnte kamen nicht ohne Slogans für ihre Banner aus. Die Frage danach, ob eine Protestbewegung mindestens ansatzweise die Regeln des Diskurses beachtet, ist damit nicht verneinend zu beantworten. Sie entscheidet sich in der Zeit zwischen den einzelnen Protestaktionen und zwar darin, ob und wie öffentliche Diskussionen zugelassen werden und wie die Meinungsbildung stattfindet, ob die Standpunkte von ExpertInnen publiziert werden, auch wenn sie der eigenen Meinung widersprechen, ob, allgemein gesprochen, diskursive Strukturen aufgebaut oder verhindert werden. In Herten hat kein Diskurs stattgefunden. Die wenigen Ansätze, Informationen zu sammeln und auf versachlichter Basis zu verbreiten, sind von den Verantwortlichen im Keim erstickt oder von der Öffentlichkeit mit Nichtbeachtung quittiert worden, wie etwa die Diskussionsrunde mit ExpertInnen, die zwei LehrerInnen organisiert hatten146. Die Zuspitzung auf die Frage ‚die oder wir‘ in der öffentlichen Auseinandersetzung, und damit eine weitere Beschränkung des Diskurses, gelang durch einen rhetorischen Kunstgriff: Das Publikum wurde in eine Entscheidungssituation gezwungen, in der es nur noch zwischen dem Wohl der Straftäter (überzeichnet dargestellt durch den behaupteten Luxus durch die Unterkünfte und die schöne Lage der Klinik) und dem Wohl der Bevölkerung, insbesondere der Kinder wählen konnte. Erreicht wurde das durch bestimmte Formen expressiver Kommunikation, wie sie in der Analyse der natürlichen Daten ausführlich beschrieben sind, wie 146 für Details s. die Analyse der Zeitungsartikel in Kapitel III.2.3
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z.B. dem Plakat mit der Aufschrift: „Wir wollen auch Freigang“, das ein Kind bei einer Demonstration trug. Weitere Formen der Einschränkung diskursiver Strukturen sind z.B. Manipulation und Täuschung. Ersteres haben in Herten beide Seiten mit mehr oder weniger großem Erfolg angewandt, letzteres ist, teilweise zu Recht, den Entscheidungsträgern vorgeworfen worden. Der im theoretischen Teil im Kapitel II.4.6 dargelegte Prozess, der durch das Überwiegen von Verlautbarungs- und Agitationsstilen in Gang gesetzt wird, ist hier zu finden, mit den beschriebenen Gefahren für die Meinungsbildung. Insbesondere die Beschränkung oder gar der Verlust der Fähigkeit zur kritischen Verarbeitung von Themen, Informationsdefizite und daraus folgende Bewertungsprobleme sind eine deutlich sichtbare Gefahr. Auch wenn, wie oben dargelegt, der wechselseitige Einfluss von Massenmedien, Meinungsbildung und Protesten nicht eindeutig festgestellt werden kann, ist doch davon auszugehen, dass sie das Klima und die Stimmung in Herten beeinflusst haben. Es lassen sich auch Belege für die Tendenz zunehmender Beeinflussbarkeit von Politik und Publikum durch die Medien finden. Kriesi sieht bereits Mitte der 90er Jahre einen Umbruch des ’politischen Marketing’: „Es professionalisiert sich vermehrt, ist Gegenstand von Zentralisierungsprozessen und organisiert immer gezieltere und immer langfristiger geplante Kampagnen, die sich mehr denn je auf die Medien stützen“ (1994:241). Umgekehrt zeigen politische Ereignisse aus jüngerer Zeit – allerdings im Vorwahlkampf – die Beeinflussung der Politik durch Medien, anders als oben belegt, offenbar ohne eine Übereinstimmung von öffentlicher und Bevölkerungsmeinung. So sind im Sommer 2002 die Politiker Rudolf Scharping (SPD), Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) und Gregor Gysi (PDS) zurückgetreten, nachdem in den Massenmedien eine Kampagne wegen privat genutzter aber dienstlich erworbener VielfliegerBonusmeilen gelaufen war. Bezogen auf das Verhältnis Massenmedien – Publikum lässt sich anführen, dass die Wahlumfragen immer größere Schwankungen zeigen, dass die Wahlbevölkerung ihre Meinung nach in den Medien skandalisierten Ereignissen ändert und offenbar stärker an tagespolitischem Geschehen ausrichtet. Dafür spricht auch die von der Politikwissenschaft festgestellte Verringerung der Stammwählerschaft zugunsten von SpontanwählerInnen. Vermutlich muss deutlicher danach differenziert werden, ob es um konkrete Entscheidungen geht, wie etwa in den Untersuchungen von Kriesi (1994). In diesen Fällen scheinen die Medien weniger einflussreich zu sein. Der davon zu unterscheidende Fall sind stärker emotional besetzte Themen und diffuse, unkonkrete Alternativen. Da scheinen Mechanismen des agenda-setting oder, 285
wenn man so will, des Marketing, zu greifen und durchaus Entscheidungen mitzubestimmen. Fraglich bleibt auch, wie die in vielen Untersuchungen als besonders einflussreich klassifizierten Meinungsmacher selbige bilden. Wenn man auf die in vielen europäischen Ländern um die Jahrhundertwende temporär an die Macht gekommenen Rechtspopulisten sieht (so Haider und die FPÖ in Österreich, Berlusconi mit Forza Italia oder die „Lijst Pim Fortuyn“-Partei in den Niederlanden und die Schill-Partei in Hamburg mit den jeweiligen gleichnamigen Gründern), zeigt sich, dass die Themen, mit denen diese Parteien gepunktet haben, lange in den Medien, sowohl in seriösen wie auch in Boulevardmedien, als Probleme ausgewiesen und diskutiert wurden. Rechtsgerichtete Parteien spielen nach wie vor eine Rolle in den europäischen Parlamenten, neben den genannten etwa die Front National in Frankreich, auch in Deutschland hat es die NPD in einige Landtage geschafft. Die in Kapitel II. erwähnte Problematik von Wechselwirkung und unterschwelliger Beeinflussung, wie sie durch Thematisierung stattfindet und wie sie im Rahmen soziologischer Theorie über die Wahrnehmung und Konstruktion von Wirklichkeit beschrieben ist, hat damit weitere empirische Belege gewonnen.
6. Anknüpfungspunkt: Konflikte Es bleibt die Frage, ob die untersuchten Formen des Konfliktes und der Konfliktaustragung die für die nähere bis mittlere Zukunft typische sein werden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist das der Fall. Folgt man Ralf Dahrendorf, für den soziale Konflikte das Schlüsselkonzept einer Gesellschaftstheorie sein müssen, da sie die „strukturelle Wandlungsdynamik ganzer Gesellschaften“ (Lamla 2002:207) erklären können, und der davon ausgeht, dass „der politische Konflikt also eine Strukturtatsache der Gesellschaft“ (Dahrendorf, 1996:119) sei, ist es zwingend, diese Frage weiter im Auge zu halten. Es steht zu erwarten, dass der Entwicklung zur Globalisierung bei gleichzeitiger Regionalisierung147 eine Entwicklung auf dem Bewegungssektor entspricht, die globalisierte soziale Bewegungen und lokale Interessen vertretende Bürgerinitiativen zu Prototypen werden lässt. Zahlenmäßig ist das kaum zu belegen; Veröffentlichungen zu ersteren liegen nur bis Mitte der 90er Jahre vor. Bis dahin waren sie quantitativ unbedeutend – nicht jedoch im Hinblick auf die Beachtung, die beispielsweise Demonstrationen und Aktionen von globalisierungskritischen Gruppen sowohl von der Wissenschaft wie auch von den Medien und der Öffentlichkeit erhalten. Lokale Bürgerinitiativen werden selten in 147 vgl. die Untersuchungen von Sakia Sassens, z.B. 2000, oder Manuell Castells, insbes. 2002 und 2004
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überregionalen Medien erwähnt, weswegen sie auch in Zählungen kaum erfasst werden können. Die ‚großen‘ Themen sozialer Bewegungen bestehen nach wie vor und bilden den Löwenanteil der Protestereignisse. Der kontinuierliche Abwärtstrend sowohl der TeilnehmerInnenzahlen dabei wie der Mitgliederzahlen aller großen Organisationen wie Gewerkschaften oder Parteien lässt aber die Vermutung zu, dass sie für gesellschaftlichen Wandel weniger bedeutend sind und sein werden, als es die momentanen Zahlen noch vermuten lassen könnten – zumal es bei den Themen sehr häufig um defensive Reaktionen auf unerwünschte oder beängstigende Veränderungen, in aller Regel durch die Wirtschaftssphäre verursacht, geht. Manuell Castells (2002, 2004) hat das in seiner beeindruckende Analyse über die Netzwerkgesellschaft dargelegt.
Ausblick Was die zukünftige Entwicklung der Protestkultur anbelangt, bleiben die Veränderungen bei Protesthandeln und –aufkommen, sowie die Zunahme der Themen, die protesttauglich sind festzuhalten. Zwei mögliche Entwicklungen sind plausibel: Die eine führt in Richtung Bürgergesellschaft mit der Aussicht auf deutlich erweiterte neue Partizipationsmöglichkeiten. Dazu sind ein entsprechendes Selbstbewusstsein im Sinne eines Selbstverständnisses und Vorstellungen über das Recht, seine Wünsche und Vorstellungen vorzubringen und in Entscheidungen einfließen zu lassen, Voraussetzung. Die Selbstverständlichkeit, mit der in Herten demonstriert und protestiert wurde, die Protestformen, die selbstverständlich eingesetzt wurden, die ‚Veralltäglichung’ von Protest, können als Indiz für eine solche Entwicklung interpretiert werden. Die Grundsätze der Bürgergesellschaft müssen von allen Beteiligten ernst genommen werden, um einen offenen und respektvollen Umgang als Grundlage einer verantwortungsvollen und verantwortungsbewussten Entscheidung zu gewährleisten. Dazu gehört unbedingt das Gefühl der Verantwortung für gesamtgesellschaftliche Belange, damit der Einbezug der Frage, inwieweit mein Handeln Auswirkungen auf gesellschaftliche Probleme hat und was es für andere bedeutet kann/wird. Ohne die Beachtung zumindest der minimalen Grundregeln des Diskurses ist das nicht denkbar, sondern führt zu egoistischem Handeln, Beeinflussung und der Ausübung von Macht (über Medien, über Informationen, über Entscheidungen). Die Frage nach dem demokratisierenden Gehalt und emanzipatorischen Effekten durch die Mitarbeit in Bürgerinitiativen stellt sich unter diesem Gesichtspunkt neu. Unter günstigeren Voraussetzungen als im vorliegenden Fall 287
kann es sehr wohl sein, dass durch andere Erfahrungen, die Partizipation beinhalten, auch langfristige Veränderungen hin zu verantwortungsvollem Umgang mit Fragen des Gemeinwohl erzielt werden. Die zweite Möglichkeit ist die der Beliebigkeit von Protest, ohne die Weiterentwicklung von Engagement, für das auch eine Bindung an die infrage stehenden Inhalte notwendig ist. Zu beobachten ist, dass in den letzten Jahren eine Steigerung der Ausdrucksformen ins Extreme nötig, zumindest für nötig gehalten schien, weil sonst keine Beachtung durch die Medien und damit durch die Öffentlichkeit mehr zu erlangen ist. Dafür sprechen zum Beispiel die zunehmende Gewalt bei Protesten, sowie die immer auffälligeren Formen, die von den Aktiven gewählt werden. Die Themen sind oft reaktionär; ein trauriges Beispiel dafür ist die deutliche Zunahme rechtsextremer und ausländerfeindlicher Proteste, die zunächst vor allem in Ostdeutschland, inzwischen aber bundesweit zu verzeichnen sind. Manuel Castells setzte seine Hoffnung in die Entstehung von Subjekten durch Projektidentitäten, die aus Widerstandsidentitäten entstehen können; ich möchte mich dem anschließen. Vor 40 Jahren lautete ein zentraler Slogan: „Demokratie ist machbar“, heute muss man umformulieren: Demokratie war machbar – sie ist von den „identitätslosen Individuen“ (Castells 2002:379), der Elite der Netzwerkgesellschaft, unterwandert worden. Damit sind die Quellen der legitimierenden Identität als früherer Grundlage für Macht, Demokratie und Zivilgesellschaft – politische Ideologie, Kirche, Familie, Nationalstaat – vielleicht nicht ganz versiegt, sie sprudeln aber sicher nicht mehr wie ehedem. Jean Tardiff konstatiert in diesem Zusammenhang: „Die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte galt bislang als abgesichert. Doch heute muß man sich neue Mittel ausdenken, damit diese Rechte als Engagement auf verschiedenen Ebenen praktiziert werden können“ (2000:2). In den Auseinandersetzungen um „Raum, Zeit und Technologie“ (Castells 2002:381) wird auch darüber entschieden werden, wer die Definitions– und Verbreitungsmacht über neue kulturelle Codes erlangt. Entscheidend wird sein, welche der Widerstandsidentitäten sich durchsetzen. Der Schlüssel dazu scheint mir der Diskurs zu sein, den defensive Widerstandsidentitäten gerade nicht befördern sondern unterbinden wollen. Diese Bewegungen, z.B. fundamentalistische, religiöse oder nationalistische, können ebenfalls zukunftsfähige Utopien, kulturelle Codes und Handlungsmuster zur praktischen Umsetzung konstruieren, und damit Projektidentitäten schaffen. Es bleibt zu hoffen, dass – in Abwandlung des alten Slogans – die ‚Machbarkeit des Diskurses’ in näherer Zukunft von „nicht-reaktiven“ (Castells 2002:76) oder „offensiven“ (a.a.O.:379) sozialen Bewegungen bewiesen werden wird. 288
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Nr.232, 2.10.96 „Forensik: Gespräch mit Rau“ Nr. 233, 3.10.96 „Landschaftsverband kein leichter Gegner“ Nr.233, 3.10.96 Robert Klose „Kommentar“ Nr.233, 3.10.96 Landschaftsverband kein leichter Gegner“ Nr.233, 3.10.956 „Enttäuscht“ Nr.234, 4.10.96 „Tag der Einheit: Tausende Hand in Hand gegen Klinik“) Nr. 235, 5.10.96 Gregor Spohr „Kommentar“ Nr.235, 5.10.96 „Die Südhang-Bebauung bewußt vergessen?“ Nr.235, 5.10.96 „Hier sagen Leser ihre Meinung“ Nr.238, 9.10.96 „Bürgermeister nach LWL-Besuch: Würfel sind gefallen!“ Nr.238, 9.10.96 „Bürgerinitiative will heute still protestieren“ Nr. 239, 10.10.96 LWL-Gesundheitsausschuß: Die Klinik in Herten bauen“ Nr. 239, 10.10.96 „UBH: Herten Versuchsgebiet“ Nr. 239, 10.10.96 „LWL droht kritischen Ärzten mit Abmahnungen und Kündigungen Nr.240, 11.10.96 „Eine Wiese hat keine Steckdosen“ Nr.240, 11.10.96 „Jetzt Druck in Düsseldorf gegen Klinik“ Nr.241, 12.10.96 Gregor Spohr „Kommentar“ Nr.241, 12.10.96 „Feudalherren“ Nr.241, 12.10.96 „Hier sagen Leser ihre Meinung“ Nr.242, 14.10.96 „CDU meint: Horstmann hat nur „abgenickt““ Nr.242, 14.10.96 „Hier sagen Leser ihre Meinung“ Nr.243, 15.10.96 „Live in der ARD: Diskussion mit Dr. Pittrich“ Nr.243, 15.10.96 „Sportvereine helfen UBH“ Nr.243, 15.10.96 „Umwelt-Aspekt beachten“ Nr.243, 15.10.96 „Lesermeinung“ Nr.244, 16.10.96 „Scholz empört: Dr. Pittrich diffamiert Bürger“ Nr.245, 17.10.96 „Appell an Horstmann: „Mehr Aufrichtigkeit“ Nr.246, 18.10.96 „Hetze: Strafanzeige“ Nr.247, 19.10.96 „Horstmann `95: Resolution gegen Forensik in Detmold „erforderlich““ Nr.248, 21.10.96 „Großdemo gegen Foreensik am 4. November in Düsseldorf“ Nr.248, 21.10.96 „LWL nicht mehr unser Gesprächspartner“ Nr.248, 21.10.96 „Gegenwehr in Kirchen nach Leipziger Vorbild“ Nr.248, 21.10.96 „Wer bewahrt uns vor Leuten wie Pittrich?“ Nr.250, 23.10.96 „Faltblatt: LWL schreibt Pfarrämter an“ Nr.250, 23.10.96 „Lehrer: Falsch zitiert!“ Nr.251, 24.10.96 „Lesermeinung“ Nr.251, 24.10.96 „UBH: Aussage bleibt skandalös“ Nr.253, 26.10.96 „UBH: Eine ehrliche Gesprächsbasis fehlt“ Nr.254, HA 28.10.96 „Horstmann: Vor einem Bauantrag werden wir alle Standorte kennen“ Nr.255, 29.10.96 „Herten feiert: UBH-Mammutfete mit Stars“ Nr.255, 29.10.96 „Riesiges Fest im Kampf gegen die Forensik Herten“ Nr.256, 30.10.96 „Kritik an der Kritik – und dann Ortstermin“
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Nr.257, 31.10.96 „Heißer Herbst: Protest gegen die Straftäter-Klinik füllt den Kalender“ Nr.257, 31.10.96 “UBH sucht Forensik-Kläger – kein finanzielles Risiko!“ Nr.257, 31.10.96 „Forensik: Tumultartige Szenen im Kreistag“ Nr.257, 31.10.96 „Rat: Keine Kooperation mit LWL“ Nr.259, 2.11.96 „Forensik wird bei Eltern zum Angstgespenst“ Nr.261, 5.11.96 „UBH: 40.000 Mark Reinerlös aus Benefiztag“ Nr.261, 5.11.96 „Stadt: Argument der Grünen abstrus“ Nr.262, 6.11.96 „Gegen Straftäter Klinik: SPD und CDU-Gruppen üben Schulterschluß“ Nr.263, 7.11.96 „Laternen gegen Klinik: Sternmarsch der UBH“ Nr.265, 9.11.96 Robert Klose „Kommentar zur Woche“ Nr.266, 11.11.96 „Diskussion mit Ihnen ist nur vertane Zeit“ Nr.296, 16.12.96 „Forensik in der JVA Herne?“ Nr.299, 19.12.96 „Forensik: UBH bringt Münster ins Gespräch“ Nr.300, 20.12.96 „Heimatverein fordert: Dr. Scholle abwählen“ Nr.300, 20.12.96 „Horstmann hat gesprochen – wie geht es jetzt weiter?“ Nr.301, 21.12.96 „Straftäter-Klinik: Kreistag fordert neues Verfahren“ Nr.303, 24.12.96 „Kreis Soest fordert Forensik-Entscheidung“ Nr.19, 23.1.97 „10 000 mal „rote Karte“ für Rau“ Nr.20, 24.1.97 „Schwere Vorwürfe gegen Horstmann“ Nr.20, 24.1.97 „Appell: Dem unwürdigen Spiel ein Ende setzen!“ Nr.24, 29.1.97 „Umstrittene Straftäter-Klinik: Wahl fiel erneut auf Herten“ Nr.25, 30.1.97 „BM-Vorwurf: Arglistige Täuschung“ Nr.27, 1.2.97 „Gespräch mit Rau ergebnislos“ Nr.29, 4.2.97 „Gutachter zum Forensik-Kurs: Ungeheuerlich!“ Nr.30, 5.2.97 „Grüne: Horstmann korrekt“ Nr. 31, 6.2.97 „Forensik-Großdemo: Das Ende der Stille“ Nr. 33, 8.2.97 „Herten bleibt Klinikstandort“ Nr. 33, 8.2.97 „LWL bekräftigt: Die Klinik soll nach Herten“ Nr. 33, 8.2.97 „Im Tauziehen um die Forensik haben jetzt die Juristen das Wort“ Nr. 45, 22.2.97 „Röwer-Kritik: Gefälligkeits-Gutachten“ Nr. 56, 7.3.97 „Demo: UBH läßt den Hampelmann tanzen“ Nr.63, 15.3.97 „Minister Horstmann zum Rücktritt aufgefordert“ Nr. 66, 19.3.97 „UBH an Rau: Nicht entmutigt“ Nr.74, 29.3.97 „Forensik: SPD fragt alle 1700 Mitglieder“ Nr.88, 16.4.97 „Scharfe Attacke gegen Horstmann“ Nr.91, 19.4.97 „Untätigkeit: CDU prüft Klage gegen Horstmann“ Nr.99, 29.4.97 „Neue Hürden gegen Forensik: Grünzug soll gesichert werden“. Nr.106, 7.5.97 „Forensik: Belange von Natur würden beeinträchtigt“ Nr.112, 14.5.97 „Der Weg wird jetzt noch steiniger“ Nr.113, 15.5.97 „CDU: Befreit vom Würgegriff“ Nr.113, 15.5.97 „Minister löst damit Flächenbrand aus“ Nr.114, 16.05.97 „UBH blickt nach Monaten zurück: Es hat sich gelohnt“ Nr.115, 17.5.97 „ CDU: Ergebnis durch Schulterschluß“
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Nr.141, 18.6.97 „’Dankeschön’ der UBH: Spaß in der Innenstadt“ Nr.244, 16.10.97 „UBH-Mitglieder sind zur Auflösung des Vereins eingeladen: „Ziel ist erreicht“) Nr.258, 1.11.97 „Kommentar: Andere Ziele“ Kölner Stadtanzeiger 14.5.97 „Umstrittene Klinik in Herten wird nicht gebaut“ Kurier zum Sonntag 14.9.96 28.9.96 Horst Niggemeier „Mörder sind auch nur Menschen – oder?“ 5.10.96 „LWL arbeitet mit gefälschten Plänen“ 12.10.96 „Mahnwachen, Proteste – alles umsonst? Eickelborn II: Erste Runde ist verloren!“ 19.10.96 „Wir sehen eine Chance!“ 14.6.97 „UBH feiert“ Marabo Nr.11, November 96 Münstersche Zeitung 20.9.96 „Protest gegen Sonderklinik für psychisch kranke Straftäter“ Neue Westfälische Zeitung 16.1.97 „Vorwurf: Horstmann gefährdet Sicherheit“ 16.4.97 „Aufnahmestopp für Eickelborn verhängt“ 14.5.97 „Im Sumpf“ NRZ Neue Ruhr-Zeitung 26.4.97 „Schadensbegrenzung“ 14.5.97 „Rückzieher: Keine Klinik nach Herten“ 14.5.97 „Hertener Drehbuch“ Rheinische Post 20.9.96, Josef Pogorzalek „Eine Katastrophe für die Stadt“ 14.5.97 „ Hertens Bürger sind erleichtert“ 14.5.97 „Der Umfaller“ Stadtspiegel Herten 19.9.96 „Wir wollen ohne Angst zur Schule“ Stadtspiegel Recklinghausen 10.10.96 „Verantwortung für die Allgemeinheit?“ 10.10.96 „Der Kampf geht weiter“ 10.10.96 „Gutachten einseitig“ Der Spiegel Nr.40, 30.9.96 „Schrei der Hilflosigkeit“ Nr.17, 21.4.97 „Rau unter Druck“ S.19 Süddeutsche Zeitung 23.9.96 Jürgen Kahl „ Angsthaben und Angstmachen nach Dutroux“ 14.5.97 „Hertens Bürger setzen sich durch“ taz 27.9.96 „Menschenverachtende Diskussion“ 25.10.96 Leserinnenbrief 14.5.97 „Aus für Hertener Straftäterklinik“ WAZ Gelsenkirchen 17.9.96 „SPD lehnt Klinik für Straftäter ab“ WAZ Haltern 17.9.96 „BI gegen Forensik macht weiter mobil“ WAZ Herten 14.9.96, Hayke Lanwert, Ernst zur Nieden: „Angst schürt Proteste gegen Klinik-Pläne“ 14.9.96, Ernst zur Nieden: Herte(n) Fälle 18.9.96 „3000 „Hertener nach Münster“ 18.9.96 „Herten wird nicht Eickelborn“ 18.9.96 „Herten gründet Bündnis gegen Klinik-Pläne“ 18.9.96 „Leserbriefe“
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19.9.96 „Feuerwehr ruft zur Demo gegen die neue Klinik“ 19.9.96 „Sieben Haltestellen für 70 Demo-Busse“ 19.9.96 „Ärzte sehen in der Forensik eine Gefahr für die Bürger“ 20.9.96, Hermann Henkel „5000 Hertener protestierten“ 20.9.96 „Volldampf“ 21.9.96 „Straftäter-Klinik: Jetzt sind die Juristen am Zug“ 23.9.96 „CDU-Ratsherr: Klinik in Düsseldorf beschlossen“ 23.9.96 „Johannes Rau soll seinen Minister zurückpfeifen“ 24.9.96 “Die Stadt setzt nun auf Argumente“ 24.9.96 „Verband verteilt jetzt Flugblätter zur Forensik“ 26.9.96 „Grüne fordern: Entscheidungskriterien offen legen“ 27.9.96 „Ansturm auf die Bürgerinitiative“ 27.9.96 „Leserecho“ 28.9.96 „43 000 Unterschriften“ 1.10.96 „Die Hoffnung ruht heute auf Johannes Rau“ 2.10.96 „Jetzt findet Herten endlich Gehör“ 2.10.96 „Bürger wehren sich – aber friedlich“ 8.10.96 „Die Suche nach dem Standort“ 12.10.96 „Die Angst vor einer Klinik“ 12.10.96 „Enttäuschung und Unverständnis“ 12.10.96 „Und zum Frühstück die Forensik“ 14.10.96 „Das Thema: Forensik“ 15.10.96 „ARD und ZDF: Forensik schon zum Frühstück“ 16.10.96 „Zum Tage“ 17.10.96 „LWL: Nur ein Leibwächter dabei“ 19.10.96 „Bürgerinitiative jetzt auch in Düren gegründet“ 19.10.96 „Geplante Forensik zerstört Umwelt“ 19.10.96 „Caskaden“ 23.10.96 „Fast 1000 Bürger in Initiative“ 26.10.96 „Straftäter-Klinik: Die Juristen wappnen sich“ 26.10.96 „Das Modell Pompe-Klinik für Herten“ 31.10.96 „Forensik-Gegner tanken Kraft“ 31.10.96 „Nein zur Klinik“ 2.11.96 „Forensik findet hier nicht statt 4.11.96 „300 Friedensblumen für Herten“ 5.11.96 Leserbriefseite „Das Thema: Forensik“ 7.11. 96 „UBH-Protes vor dem Landtag“ 12.11.96 „Das Thema: Forensik in Herten“ 13.11.96 „Forensik: Minister holt Gutachter“ 28.11.96 „Edle Weine und Kunst gegen Straftäter-Klinik“ 28.11.96 „Das Thema. Forensik“ 19.12.96 „Forensik-Pläne vorerst gestoppt“ 19.12.96 „Forensik-Standort wird neu gewählt“ 20.1.97 „Das „Nein“ zur Forensik brennt riesengroß“ 22.1.96 „Forensik: SPD fordert klares Wort von Rau“
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22.1.97 „Verständnis in Eickelborn“ 27.1.97 „Forensik: Rote Karten und weiße Pullover“ 4.2.97 Rechtlich aus dem Rennen“ 6.2.97 „Linssen beklagt schlechten Stil des LWL“ 8.2.97 „Verschenke Chance“ 8.2.97 „Entsetzen im Fackelschein“ 8.2.97 „Protestwelle rollt nach erneutem LWL-Votum weiter“ 10.2.97 „Neue Proteste sind schon programmiert“ 22.2.97 „Scharfe Kritik am Forensik-Gutachten“ 22.2.97 „Gutachten ist das Papier nicht wert“ 25.2.97 „Gutachter liefert Tricks gegen Gestz“ 5.3.97 „Kasperek fordert Stop der Forensik-Pläne“ 8.3.97 „1000 Ballons gegen Klinik“ 10.3.97 „Forensik-Gegner stoppen den Verkehr“ 27.3.97 „Forensik am Schloß: SPD fragt die Basis“ 18.4.97 „Kasperek: Bei der Forensik ist noch nichts entschieden“ 23.4.97 „Forensik: Weiter warten“ 29.4.97 „Forensik-Gelände soll Freifläche bleiben“ 14.5.97 „Die Hertener jubeln leise“ 14.5.97 „Lob und Tadel für Minister“ 15.5.97 „UBH will sich bedanken und dann auflösen“ 20.6.97 „Forensik bleibt beim LWL ein Thema“ 21.6.97 „UBH dankt mit bunter Fete“ 23.1.97 „Zehntausend rote Karten für Johannes Rau“ WAZ Marl 14.9.96 „Haardklinik-Initiative wird weiterarbeiten“ WAZ Recklinghausen 19.10.96 „Von Geldgier und Trieben“) Welt am Sonntag Nr. 38, 22.9.96 Peter Lamprecht, „Herten – eine Stadt in Angst“ Westfalen-Blatt/Bielefelder Zeitung 26.9.96 „40 000 gegen Eickelborn II“ 5.10.96 Rolf Dressler „Wirrnis in zu vielen Köpfen“ Westfalenpost 15.4.97 „Eickelborn will Aufnahmestopp“ Westfälischer Anzeiger/Hammer Zeitung vom 20.9.96, Bettina Finzsch „Herten fühlt sich ‚vergewaltigt’“ Westfälischer Anzeiger 12.10.96 „Herten ist nur der Anfang“ Westfälische Nachrichten 14.9.96 „126 Politiker übten den kollektiven Rückzug“, Stefan Diebäcker 20.9.96 „Demonstranten legten Verkehr rund um das Landeshaus lahm“ 10.10. 96 „Viel Mut bewiesen“ 10.10.96 „Therapie der Täter soll Bürger schützen“ 14.5.97 „Scherbenhaufen“ 14.5.97 „Das Baurecht als Krücke“ Westfälische Rundschau 14.9.96 Anja Luckas Psychatrische Klinik für Straftäter: Hertener wollen Bau verhindern 14.5.97 „Klinik in Herten wird nicht gebaut“
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