JEAN
AM ERY
GIACOMO PUCCINI A U S D E M L E B E N D E S OP E R N K OM P ON I S T E N
VERLAG
SEBASTIAN
LUX
MURNAU ...
22 downloads
548 Views
411KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
JEAN
AM ERY
GIACOMO PUCCINI A U S D E M L E B E N D E S OP E R N K OM P ON I S T E N
VERLAG
SEBASTIAN
LUX
MURNAU • MÜNCHEN • I N N S B R U C K
• BASEL
Notenschrift Puccinis zu „Turandot".
Wer ist dieser kleine Giacomo? Brüssel, Avenue de la Couronne Nr. 1. Ein hohes, häßliches Zinshaus, vielleicht 1920 erbaut. Zwei Studenten mit farbigen Mützen auf den Köpfen treten aus dem Tor. „Verzeihung, ist dies das Sterbehaus des Komponisten Giacomo Puccini?" fragen wir. Die beiden jungen Männer sehen einander an. Sie wissen es nicht. „Leider, wir bedauern, vielleicht fragen sie einen Polizisten .. ." Wir suchen die Mauer nach irgendeinem Kennzeichen ab — und siehe, jetzt entdecken wir die unscheinbare Tafel in Bronze, sie ist vom Straßenstaub dunkel überlagert. Sie zeigt das Antlitz des Meisters im Relief, nicht allzu ähnlich. Eine karge Inschrift steht darunter: „Giacomo Puccini, geboren in Lucca, Italien, am 22. Dezember 1858, ist hier am 29. November 1924 verstorben." Es sieht nicht so aus, als pflege man die Tafel mit großer Liebe. Keine Blume liegt am Mauerrand. Sollte der Ruhm des Kompo2
nisten, dessen Werke doch noch immer im Spielplan vieler Opernbühnen zu den bevorzugten Stücken gehören, vom Staub der Zeit so überdeckt sein wie die Gedenktafel? Sollte so wenig Verehrung und Liebe das Andenken dieses Mannes umgeben?
Ehrfurchtsvoller als die Sterbestadt Brüssel bewahrt die Geburtsstadt Lucca in der Toscana, der Landschaft um Florenz, das Erbe Puccinis. In der Gedenkstätte dort kann man sogar noch die Schulzeugnisse des Knaben sehen — und sie sind gar nicht vielversprechend. 1871, mündliches Examen im Lateinischen: bestanden — aber mit einem kläglichen Ergebnis an Leistungspunkten; 1872, schriftliches Examen in Grammatik: Prüfling abgewiesen, die Klasse muß wiederholt werden; 1873, mündliches Examen in allen vorgeschriebenen Fächern: wieder mit gerade ausreichender Punkte-Anzahl bestanden. Wer ist der kleine, bildhübsche Giacomo mit dem weichen braunen Haar und den blitzenden schwarzen Augen, der da in der Schule nur mit Ach und Weh gerade mitkommt? Ein kleiner Taugenichts?
Eine Mutter schreibt an die Königin Es gibt im kleinen Städtchen Lucca Leute, die das behaupten; sie schütteln dazu bedauernd die Köpfe, denn die arme Witwe Donna Albina Puccini hätte es besser verdient, und das Erbe der Puccinis müßte würdiger verwaltet werden als durch diesen Sprößling. Diese Puccinis sind ja schließlich nicht die ersten besten: Ein Giacomo Puccini, dessen Name zum erstenmal im Jahre 1760 in den Akten der ehrbaren Stadt Lucca auftaucht, hat die „Dynastie" begründet, ist Musiker gewesen, Stammvater von vier MusikerGenerationen. Arm, aber begabt und ehrlich — das sind alle Puccinis gewesen, die sich als Komponisten, Organisten und Kapellmeister durchgebracht haben. Sollte der neue Giacomo das schwarze Schaf der Familie werden? Aber im Grunde ist es nichts allzu Belastendes, was man ihm vorzuwerfen hat, dem jungen Giacomo. 3
Von den schlechten Schulerfolgen abgesehen, hat er nur einmal eine „Untat" begangen, als er von der Orgel ein paar Pfeifen mitnahm. Schwerwiegend genug, besonders im Falle eines Fünfzehnjährigen, der selber zugab, den Diebstahl begangen zu haben, um sich Rauchwaren zu kaufen. Doch hat der alte Pfarrer dem Knaben, dessen echte, ja leidenschaftliche Religiosität ihm bekannt war und dessen aufrichtige Reue ihn rührte, nach einigen ermahnenden Worten lächelnd vergeben. Sonst? Ja, dieser frühgereifte Giacomo, der als Sechzehnjähriger bereits ein hochgewachsener, schöner Jüngling mit athletischer Gestalt und ausdrucksvollem römischem Kopfe ist, strolcht mit einem Freunde, einem jungen Maler namens Zizziani, durch die Stadt, sammelt Zigarrenstummel, ist ewig auf der Suche nach einer halben Lira für ein Glas Punsch, erschreckt mit Vorliebe nachts ehrsame Bürgersleute durch allerlei Verkleidungen, singt mit brüchiger, aber sehr musikalischer Stimme im Mondschein auf der Piazza del Giglio Melodien von Verdi und weckt damit ordentliche Leute aus dem Schlaf, zeigt auch einen großen Hang zu hübschen, jungen Mädchen, denen er am Kleinstadt-Corso in der Via Fallungo mit anmutiger Würde den Hof macht. H a t er denn keinen Beruf? Gewiß doch! Was sollte ein Puccini wohl anderes werden als Musiker! So studiert Giacomo denn an der heimischen Musikschule, verblüfft seine Lehrer durch frühzeitige Gewandtheit in der Kompositionslehre, orgelt dann und wann für ein paar Lire in den Dorfkirchen der Umgebung oder treibt weltliche Musik, indem er in kleinen Weinkneipen auf verstimmten Klavieren der Jugend zum Tanze aufspielt. Hochbegabt, gewiß, aber ohne Auftrieb und echten Fleiß, sagen manche Lehrer. Ein richtiger Pianist werde wohl niemals aus ihm werden, denn er verschmähe das hartnäckige Üben. Nein, es sei nicht abzusehen, wie dieser Giacomo, dessen schöne und strenge Schwester Ingia eben in ein Kloster eingetreten sei, dessen jüngerer Bruder Michele bereits fleißig auf der Schule und im Musik-Klassenzimmer arbeite, jemals eine bürgerliche Karriere machen solle. Donna Albina aber glaubt an ihren Ältesten. Sie glaubt ihm,
wenn er sagt: „Mama, was soll ich in Lucca? Was kann ich hier noch lernen? Ich gehöre aufs Konservatorium nach Mailand!" Sie glaubt ihm, und sie wendet sich als Bittstellerin um ein Stipendium an den „hochehrbaren Podesta", den Bürgermeister der Stadt Lucca. Ohne Erfolg! Der Magistrat hält wenig von dem vierten Nachkommen des ersten Giacomo. Da schreibt die Mutter, die Puccini mehr liebt als irgendeinen anderen Menschen auf Erden, kurz entschlossen an die Königin Margherita: „Majestät", so beginnt der Bittbrief, „Sie sind die Königin und Mutter aller Armen und die große Beschützerin der Künste . . . " Und das Schreiben endet mit den Worten: „Werden Sie in Ihrer unerschöpflichen Güte einem strebsamen jungen Menschen und einer armen Mutter zu Hilfe kommen? Ich küsse Ihre gönnerische Hand. — Albina Magi Puccini."
Künstlervolk Im Jahre 1880 kommt Giacomo Puccini als zweiundzwanzigjähriger lebens- und kunstdurstiger junger Mann in der Hauptstadt der italienischen Musik, in Mailand, an und bezieht das Konservatorium: Die Königin, Gattin des ersten Viktor Emanuel, hat in der Tat ein kleines, sehr kleines Stipendium bewilligt. Gegenüber dem Städtchen Lucca erscheint dem jungen Künstler Mailand als eine Riesenstadt, in der er sich verloren vorkommt und in der er sich noch viel mittelloser fühlt als in der Heimat, wo er wenigstens, wenn er schon kein Bargeld besaß, angestrahlt war vom bescheidenen Lokalruhm seiner Vorfahren. Hier aber ist er nichts als ein armer Teufel, der neidvoll durch die Prachtstraßen streicht und zusehen muß, wie die Glücklicheren in den Cafes sich behaglich niederlassen, der durch die Fenster der Restaurants späht und sich mit dem Anblick dessen begnügen muß, was andere an weißgedeckter Tafel verzehren. „Ich schlage mir den Bauch mit Kohlsuppe voll", schreibt er nach Hause, „ich nehme immer drei Teller.. . bitte, sendet mir doch etwas heimisches ö l , damit ich mir meine Bohnen besser zurechtmachen kann . . ." Ein Glück, daß Giacomo wenigstens nicht lange allein ist. Bald kommt sein Bruder Michele ihm nach, der gleichfalls in Mailand Musik studieren soll. 5
Sein Zimmer teilt Giacomo mit einem anderen jungen Menschen, einem fröhlichen, glänzend begabten Musikus aus Livorno: mit Pietro Mascagni, dem späteren Schöpfer der Oper „Cavalleria rusucana". Puccini und Mascagni, beide zwei kraftvolle Norditaliener, hausen gemeinsam auf einem Mansardenzimmer. Die Wohnstätte ist äußerst kärglich eingerichtet, immerhin gibt es einen riesigen Schrank, der fast leer ist, denn die hoffnungsvollen Künstler besitzen jeder nur einen Anzug. Der Schrank dient ganz anderen Zwecken: Kommt etwa einer der zahlreichen Gläubiger Puccinis, um ein paar Lire zu kassieren, dann schlüpft Giacomo in den Kasten, und Mascagni erklärt voll Bedauern: „Sie sehen, werter Signor, Puccini ist leider abwesend. . . " Verlangt einer der hoffnungsarmen Flickschuster, Käsehändler, Friseure oder die Wäscherin den Signor Pietro Mascagni zu sprechen, dann verbirgt sich dieser, und es ist an Puccini zu antworten: „Welch unglücklicher Zufall, bester Herr. Gerade heute weilt Pietro auswärts, um eine patriotische Feier durch sein herrliches Klavierspiel zu beleben. . . " Sie haben glücklicherweise ein winziges Restaurant ausfindig gemacht, in dem ausschließlich junge Künstler verkehren und dessen Wirt sich den Sitten und Gebräuchen der „Boheme", des Künstlervölkchens, erstaunlich gut angepaßt hat: Niemand bezahlt dort bar, jede Mahlzeit wird auf Kredit verabreicht. Als einmal fremde Gäste sich bei Vater Gigi, dem Wirt, einfinden und nach dem Essen ihre Rechnung verlangen, steht Giacomo auf und sagt in höchst ehrlicher Entrüstung: „Was denken Sie eigentlich? Sie diskreditieren den einzigen anständigen Gastwirt ganz Italiens, wenn Sie bar bezahlen. Das ist hier nicht Sitte, lassen Sie sich hier nie wieder blicken."
Der Mantel der Mutter Das leidige Geld ist Giacomos wunder Punkt. Eines Tages — es ist Oktober und Mailand wird von den kalten Winden der PoEbene durchweht — langt bei dem Frierenden, der gelegentlich seine Kammer mit dem Notenpapier der eigenen Kompositionsübungen heizt, ein prächtiges Geschenk von seiner Mutter ein, ein nagelneuer Überzieher. Giacomo stolziert in hoher Befriedigung mit dem Prachtstück über den Domplatz — nur kurze Zeit, nur so 6
lange, bis der Zufall ihn die Bekanntschaft einer reizenden kleinen Künstlerin von der Mailänder Oper machen läßt. Die junge Dame scheint nicht mit Glücksgütern gesegnet zu sein, der Hunger spricht ihr aus den Augen, und so lädt Giacomo sie ein — nicht in das Gasthaus an der Ecke, sondern in ein elegantes Restaurant, das einer Dame von diesem Range angemessen erscheint. Er bittet für einige Augenblicke um Entschuldigung und rennt davon, den neuen Überzieher über dem Arm. Im Leihhaus bietet man ihm siebzehn Lire. Er nimmt an, kalkuliert, daß ihn die Einladung nicht mehr als drei Lire kosten werde und daß er dann am Monatsersten in der Lage sein müsse, Mama Albinas Geschenk wieder auszulösen. Eine verhängnisvolle Fehlkalkulation! Erstens wußte er vorher nichts von den Preisen in eleganten Gaststätten und zweitens entwickelt sein ausgehungerter Tischgast einen unheimlichen Appetit. Sechzehn Lire kostet den jungen Mann der Abend! Der Überzieher bleibt im Leihhaus — und die Mutter in Lucca, der er brieflich in rührender Aufrichtigkeit den „Fehltritt" gesteht, muß traurig zurückschreiben: „Mein Sohn, ich habe lange gespart, um Dir den Mantel zu kaufen. Nun wird es wohl mindestens ein Jahr lang dauern, bis ich Dir einen neuen schicken kann . . . "
„ . .. übers Jahr sind wir reich, Mutter!" Solch ein anekdotisches Erlebnis im Dasein eines Künstlers mag in der erzählenden Rückerinnerung heiter wirken. Aber hinter dem vielgepriesenen Leben der darbenden Kunst, der Boheme, steckt oft echter Schmerz, manche Demütigung, ja Verzweiflung. Der Hunger ist nicht romantisch, die Kälte ist es auch nicht, und der Weg ins Leihhaus mag für den zum Erfolg Gekommenen später eine schmunzelnde Erinnerung sein: Für denjenigen, der ihn gehen muß, ist er meist Qual und Scham, auch wenn es geschieht, um, wie es Giacomo tat, einen Mitmenschen für eine Stunde froh zu machen. Man soll auch nicht den Eindruck haben, als hätte sich der junge Puccini in Mailand in den Leichtsinn verloren. Er hat hart gearbeitet unter seinem Lehrer Bazzini, dem Komponisten der Oper 7
„Francesca da Rimini", hat sich gründlich mit der klassischen Musikliteratur vertraut gemacht, hat zur größten Zufriedenheit seiner Lehrer Proben seiner kompositorischen Begabung abgelegt. Puccini der Jüngling, und später der Mann, war kein Kostverächter, wenn es um die kleinen und großen Freuden des irdischen Lebens ging. Er war aber dabei immer ein Arbeiter, ein Schöpfer, dessen echteste Beglückung das musikalische Schaffen war. 1883, als er seine Studien beendigt hat, verläßt Giacomo Puccini Mailand und kehrt in seine Vaterstadt Lucca. zurück. Aus dem Jüngling ist ein prächtiger, junger Mann geworden mit dichtem braunem Schnurrbart, ein in aller Armseligkeit immer elegant wirkender Puccini-Nachkomme, der die musikschöpferische Linie seiner Väter nun doch fortzusetzen scheint. Eine kleine symphonische Arbeit, die er noch als Student verfaßt hat, ist schon in Mailand aufgefallen. Man hört, daß der greise Giuseppe Verdi — der auf dem internationalen Felde seine verzweifelte Fehde gegen den Deutschen Richard Wagner verloren hat, der in Italien aber immer noch allmächtiger König der Oper ist — sich für Puccini interessiert. Man will wissen, daß Giacomo Puccini selber mit einer Oper beschäftigt ist, und Lucca ist begierig, seinen Sohn bald berühmt zu sehen.
* Puccini ist in dieser Zeit tatsächlich in ein künstlerisches Abenteuer verstrickt, das sein Leben entscheidend ändern soll. Abgezehrt, die Nächte der musikalischen Arbeit opfernd, ficht er den ersten erbitterten Kampf seines Lebens aus: Der Verleger Sonzogno hat einen Opern-Wettbewerb für junge, noch niemals aufgeführte italienische Komponisten ausgeschrieben. Das preisgekrönte Werk soll nicht nur finanzielle Belohnung finden, sondern soll auch in einem Mailänder Theater in Uraufführung herausgebracht werden. Giacomo ist von allem Anfang an entschlossen, das Rennen zu machen. Er selbst spürt, daß die Zeit drängt, daß die Tage der unbeschwerten Jugend einen Abschluß finden müssen. Er glaubt, daß verloren ist, wer sich nicht vor seinem dreißigsten Lebensjahr wenigstens mit einem Anfangserfolg durchgesetzt habe. Und 8
Der Komponist Puccini (rechts), einer der ersten Autofahrer Italiens. er läuft einen Wettlauf gegen die Zeit und gegen die Armut, findet endlich nacH langem Suchen einen Operntext, ein Libretto, und feilt an der Musik, die den Namen Puccinis durch Italien tragen soll. „Wird es diesmal werden, mein Junger" fragt die Mutter, die niemals den Glauben verliert. „Es wird, Mama", sagt Giacomo, „übers Jahr sind wir reich und glücklich .. ." Der 31. Dezember 1883 ist Stichtag für die Einreichung des Werkes: Puccini hat noch nicht einmal den ersten Akt beendet! Der Wettlauf ist verloren. Der Mutter aber sagt er: „Man wird mein Werk trotzdem aufführen, Mutter. Man wird es —• in spätestens acht Monaten . .. oder ich will nie wieder wagen, dir unter die Augen zu treten." 9
„Auf ihn hat Italien gewartet . . ." Giacomo beendet nun doch seine zum Wertkampf nicht rechtzeitig fertiggewordene Oper „Die Willis" und erzwingt, dem Versprechen an die Mutter getreu, ihre Aufführung in Mailand. Am 31. Mai 1884 geht in dem kleinen Theater „Dal Verne" Giacomo Puccinis erste und heute fast ganz vergessene Oper in Szene. Der Erfolg ist groß: „Puccini ist der Musiker, auf den Italien gewartet hat", schreibt am Morgen nach der Premiere die einflußreiche Zeitung „Corriere della Sera" — „Das Werk des jungen Puccini ist meisterhaft. Hier wächst ein ganz großer Komponist heran", heißt es in der Zeitung „Italia". Giacomo ist berauscht und überschätzt in seiner kindlichen Freude den finanziellen Erfolg. Der Mutter sendet er das erste Geld. Die Freunde werden zu einem Festmahl eingeladen. Der jüngere Bruder wird neu ausgestattet. „Ich habe Wort gehalten", jubelt er in einem Brief an die Mutter. — „Ich bin zum ersten Male seit Deines Vaters Tod vollkommen glücklich..." antwortet in stolzer Rührung die alte Frau. Signora Albina Puccini hat gerade noch Zeit, den geliebten Sohn die ersten Sprossen emporklimmen, die ersten Strahlen seines künftigen Weltruhms aufschimmern zu sehen. Mehr ist ihr nicht vergönnt. Ein grausames Schicksal rafft sie wenige Monate nach der Premiere von „Die Willis" dahin. Sie stirbt in den Armen Giacomos, der ihr als letztes Geschenk den Lorbeerkranz, den man ihm nach der Uraufführung überreicht hat, aufs Sterbebett legt.
Giacomo ist wie verwandelt. Dieser nach außen hin so sorglos scheinende Künstler wird zum Melancholiker. Der Verlust seiner Mutter hat ihn tiefer getroffen, als seine Umgebung ahnt. Dabei stünde doch sonst alles zum Besten. Wenn auch der materielle Erfolg schnell verrauscht, so hat „Die Willis" die musikalische Welt ganz Italiens auf ihn aufmerksam gemacht. Der große Mailänder Verleger Guilio Ricardo, der auch Giuseppe Verdi finanziell betreut, regt ihn zur Niederschrift einer zweiten Oper an 10
und garantiert ihm ein bescheidenes, aber festes Einkommen. Fontana, der Verfasser des Buches zu Verdis Oper „Aida", erklärt sich bereit, das Libretto zu Giacomos neuer Oper „Edgar" zu schreiben.
Niederlage — und neuer Aufstieg Am 22. April 1889 findet die Uraufführung von Puccinis zweiter Oper, „Edgar", statt. Diesmal ist nicht das kleine Theater „Dal Verne" der Schauplatz, sondern das weltberühmte Mailänder Opernhaus, die „Scala". Mailands glitzernde, elegante, anspruchsvolle Gesellschaft, Kritiker, Industrielle, Bankiers sind Zuhörer und Zuschauer. Aber welche schmerzliche Enttäuschung! Die Oper wird mit eisigem Schweigen aufgenommen. Der alte Verdi rührt in seiner Loge vergebens die Hände zum ehrlich gemeinten Beifall. Aber das Publikum bleibt kalt, und auch die Kritiken in den Zeitungen sind ungünstig. Soll das schon das frühe Ende einer so glänzend begonnenen künstlerischen Laufbahn sein? Puccini ist selber unsicher geworden. Aber sein Verleger Ricardo hält ihm die Treue, bewahrt ihm den Glauben. Als wenige Monate nach der unglücklichen Uraufführung des „Edgar" Pietro Mascagni mit seiner Oper „Cavalleria rusticana" einen triumphalen Erfolg erringt, spricht Ricardo das entscheidende, aufmunternde Wort: „Was Pietrino kann, das kann Giacomo auch!"
Puccini hat sein Vertrauen zu sich selber wiedergewonnen. Dem Freunde Mascagni aus den alten Mailänder Boheme-Tagen schreibt er einen herzlichen Glückwunschbrief. Ricardo drängt ihn, sich an eine neue Arbeit zu machen, ein neues Libretto zu suchen. Giacomo aber ist ein langsamer Arbeiter, ein wählerischer Sucher, und es dauert lange, bis er einen Entwurf findet, der ihn künstlerisch anzieht. Puccini hat inzwischen in Elvira Gemignani aus Lucca eine Lebensgefährtin gefunden. Mit der Gattin, dem Töchterchen Fosca und dem zärtlich geliebten Sohne Tonio zieht er sich nach Torre del Lago zurück, das ihm jahrzehntelang die eigentliche Heimat 11
sein wird. Dort, in der Schilflandschaft, zwischen Pappelalleen und schütteren Pinienhainen, lebt er ein freies und freiherrliches Leben. Er ist ein leidenschaftlicher Jäger und treibt sich Tage und manchmal Nächte lang mit seiner Büchse im Schilf herum. Gern sitzt er in einer der kleinen Tavernen mit Freunden, den Malern Kagni, Tomassi und Fanelli, bei Wein, Brot, Oliven und Salami und fröhlichem Gespräch zusammen. Während die hundertzwanzig Einwohner des Dörfchens glauben, Puccini vertrödele nur die Zeit, sucht und findet er einen Stoff für seine nächste Oper, die die Scharte des „Edgar" auswetzen soll. Ein zerlesenes Exemplar des Romanes von Marcel Prevost, „Manon Lescaut", fällt ihm in die Hand. Ein bewegtes, ein wunderbares Opern-Thema, das vor sieben Jahren schon in Paris der Meister und Konservatoriums-Professor Jules Massenet zu einer Oper gestaltet hat. Dem Verleger Ricardo ist die doppelte Ausschöpfung des gleichen Themas nicht recht. Puccini aber, gepackt von dem Gegenstand und von der Idee, läßt nicht locker. Seine Antwort ist: „Dann wird es eben zwei Manons geben!" Ein Librettist, der bekannte Dichter Luigi Illica, wird für die Textgestaltung gewonnen, und Puccini macht sich an die Vertonung.
„Die große Hand" Puccini ist, wie schon gesagt, ein langsamer Arbeiter, ein Mann, der es sich sauer werden läßt und nicht leicht mit einer Partitur zufrieden ist. Drei Jahre dauert es, bis das Werk heranreift. Als die Arbeit sich endlich im letzten Stadium befindet, geht er, um sich von Jagd-, Freundes- und Trinkfreuden nicht abhalten zu lassen, mit den Seinen für kurze Zeit von Torre del Lago nach der Schweiz in den kleinen Ort Vacallo, wo er die Oper zu vollenden gedenkt. Er findet ein paar Zimmer für sich, für Elvira und die Kinder. Als er am ersten Abend ans Fenster tritt, um tief die klare Abendluft einzuatmen, entdeckt er an einem Nachbarhause eine Flagge, auf die ein Clown gemalt ist. „Ist das eine Wirtschaft?" fragt er einen Vorübergehenden. „Nein", antwortet der Mann, „da drinnen sitzt ein närrischer 12
Das Theatro alla Scala, die „Scala", das 1776—1778 erbaute glanzvolle Opernhaus Mailands, in dem Puccini viele Triumphe feierte. 13
Musikus, der an einer Oper schreibt, die von einem Hanswurst handelt, von einem Bajazzo." „Ein Musikus? Wie heißt er?" fragt Giacomo. „Ach, der hat einen komischen Namen, Löwenpferd oder Pferdlöwe." — Löwe-Pferd: Das ist im Italienischen Leoncavallo. So erfährt Puccini den Namen des zufällig in engster Nachbarschaft mit ihm arbeitenden Opernkomponisten. Er kennt ihn noch nicht. Aber die Idee mit der Fahne macht ihm Spaß, und er sucht selbst nach einem Motiv für seine Standarte. Bald werden die erstaunten Einwohner von Vacallo die Feststellung machen, daß es nun zwei verrückte Musici im Dorfe gibt; denn schon am nächsten Tage weht auch über Giacomos Quartier stolz ein Banner. Es zeigt eine große aufgerichtete Hand: „Manon" heißt im Toskanischen so viel wie „Große Hand", und eine Oper „Manon" schreibt Giacomo Puccini. Im Februar 1894 erlebt die Oper „Manon Lescaut" im Königlichen Theater zu Turin ihre Uraufführung. Ein Sturm des Beifalls erhebt sich, als der Vorhang fällt. Die Hervorrufe nehmen kein Ende. Stolz und glücklich verbeugt sich der fünfunddreißigjährige Giacomo Puccini, der an diesem Abend als ein Großer im Reiche der Musik in die Welt hinaustritt. Denn dies ist der wirkliche Ruhm, die europäische Anerkennung. Giacomo reist nach London, wo „Manon Lescaut" in der „Covent Garden Oper" aufgeführt wird. Bernhard Shaw umarmt ihn freundschaftlich. „Hier haben wir den echten Erben Verdis", schreibt er über ihn, der gleiche Shaw, der sonst so geizig ist mit seinem Lobe. Puccinis Lebensführung ändert sich freilich unter dem Eindruck seines Erfolges nur wenig. In Torre del Lago bleibt er mit seinen Freunden der alte, ein Seigneur unter den Bauern, der niemals lernen wird, sich anderswo als auf der heimatlichen Erde glücklich zu fühlen, der einzige „Luxus", den er sich vorerst leistet, ist ein Fahrrad, das er gern benutzt und das er aufmerksam zu zerlegen und wieder zu montieren liebt.
Höhe des Lebens Im Oktober 1894 spielt sich nachts am Massacioccolo-See eine seltsame und denkwürdige Szene ab: 14
Zwei Gendarmen, die einen Schuß gehört haben, sehen im schwachen Mondlicht ein Boot mit zwei Männern dem anderen Ufer zustreben. Verbrechen? Wilddiebstahl? Eilig machen sie eine Barke los, rudern mit mächtigen Schlägen dem flüchtigen Kahn nach, geben einen Warnungs-Schuß ab, rufen: „Halt, im Namen des Königs!" Das Boot mit den zwei vermeintlichen Übeltätern hält an. Eine mächtige Männergestalt in weiten Pumphosen und verwegenem Cowboyhut erhebt sich und donnert: „Wer wagt es, den Maestro Puccini beim Jagdvergnügen zu stören?" Aber die Ordnungshüter sind arme Bauernjungen aus dem Süden, und der Name des berühmten Komponisten der „Manon" sagt ihnen nichts. Sie fordern die Jagdkarte. Puccini zieht sie verächtlich aus der Tasche und hält sie den Gendarmen unter die Nasen. „Der Ausweis gilt nicht für diesen Teil des Sees", sagen sie. Giacomo Puccini hat in ihren Augen Wilddiebstahl begangen, und die Gesetzesmaschine muß ihren Lauf nehmen. Der Richter, der den Fall behandelt, ist in einer wenig angenehmen Lage: Er weiß, wer Puccini ist, weiß genau, daß der König Italiens die „Manon" zu seiner Lieblingsoper erklärt hat, weiß, daß Maestro Puccinis „langer Arm" ihn ohne weiteres nach Kalabrien oder Sizilien versetzen lassen kann. Aber am Ende geht alles gut aus: Puccinis Verteidiger, zwei weithin berühmte Anwälte, machen es dem Richter leicht, den großen Mann zu schonen, ohne das Gesetz offensichtlich zu verletzen. Es ist bei Puccini kein erlegtes Wild gefunden worden; der Wilddiebstahl ist nicht erwiesen. Man kann den Meister mit Entschuldigungen freisprechen. Wer so von den Gerichten seines Landes behandelt wird, der ist bereits ein berühmter Mann. Zwei Jahre später aber wird der Ruhm noch viel heller erstrahlen: 1896 geht die „Boheme" über die Bühnen Italiens und der Welt, die „Boheme", in der Puccini aus dem eigenen Leben geschöpft hat, die unsterbliche Geschichte der armen Künstler in der Pariser Mansarde, Puccinis persönlichste und liebenswerteste Oper. Der Ertrag aus den Aufführungen dient Puccini dazu, sich, Elvira, die kleine Fosca und Antonio aus der Enge der bis15
herigen Behausungen zu befreien. Er muß sein Haus bestellen. Da ist der alte, ehrwürdige Wachturm am See, der „Torre", dem das Dorf Torre del Lago seinen Namen verdankt. Er wird mit großen Kosten umgebaut und zu einer wahrhaft fürstlichen Wolmstätte ausgestaltet. Eine Wohnung in Mailand wird dazu gemietet, damit Giacomo auf den Reisen zu seinem Verleger Ricardo nicht mehr im Hotel wohnen muß. Das Bankkonto wächst, ohne daß der Meister sich künftig noch um die materielle Seite seiner künstlerischen Arbeit zu kümmern braucht. Des Lebens Mittagshöhe ist erreicht.
Ein „miserabler Sänger" namens — Caruso Ruhm und Geld aber machen ihn nicht hochmütig, noch gierig, noch eitel, höchstens daß er in seinen künstlerischen Anforderungen anspruchsvoller wird. Die Sänger zum Beispiel, die Kapellmeister und Orchester können ihn jetzt nur noch selten zufriedenstellen. Oft sitzt er bei den Aufführungen gequält in seiner Loge und hält sich die Ohren zu. In Wien, wo er sich eines Tages über eine seiner Meinung nach elende Aufführung der „Boheme" fürchterlich geärgert hat, muß er an einem Bankett teilnehmen, und sein ihn begleitender Verleger legt ihm dringend nahe, dem Dirigenten, einem in seiner Heimatstadt sehr angesehenen Manne, ein paar freundliche Worte zu sagen. „Aber ich kann doch nicht Deutsch" gibt Puccini abwehrend zur Antwort, „und außerdem hat der Mann ja die Einsätze immer zu spät gegeben . . ." „Macht nichts", sagt sein Freund und Betreuer, „dein und mein finanzielles Interesse erfordern dieses Zugeständnis". — Bald darauf steht Puccini dem eitlen Kapellmeister gegenüber, der zum Glück die Sprache Dantes ebensowenig beherrscht wie Giacomo die Sprache Goethes. Puccini schüttelt dem Manne überströmend herzlich die Hand, blitzt ihn mit seinem bezauberndsten Lächeln an, sagt aber dazu in unverfälschtem italienischem Dialekt: „Schrecklicher Patron! Räuber der Melodien! Mörder meiner M u s i k . . . ! " Der Kapellmeister lächelt, verbeugt sich und ist überzeugt, soeben das schmeichelhafteste Lob empfangen zu haben. 16
Manchmal ist der Meister in seiner Beurteilung auch ungerecht und leistet sich Fehlkritiken, die er aber später, wenn er sein Fehlurteil erkannt hat, selbst mit befreiendem Gelächter eingesteht. So sagt er einmal, als in Monaco eine Aufführung der „Boheme" stattfindet, einem Freunde: „Die Sänger sind diesmal unter aller Kanone. Heute werden Sie einen besonders unmöglichen Rudolphe hören, einen jungen Tenor, den man unverständlicherweise verpflichtet hat." „Und wie heißt er?" „Ich glaube Enrico Caruso". So beurteilte Puccini den heute noch unerreichten, begnadeten Operntenor Caruso, dem er übrigens später ein herzlich verbundener Freund werden sollte.
„La Tosca" und das erste Auto In diesen Tagen — es ist gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts — sieht Giacomo in Florenz das Drama des zu seiner Zeit die französischen Bühne beherrschenden, heute fast vergessenen Dramatikers Victorien Sardou: „La Tosca". Die tragische Geschichte von der schönen Sängerin Flora Tosca wird von der weltbekannten französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt dargestellt, der Frau mit der „Stimme von Gold", der die Welt zu Füßen liegt und der auch er, Puccini, seine ehr J furchtsvolle Aufwartung macht. Sarah Bernhardt erschüttert ihn tief, obwohl das Stück in französischer Sprache aufgeführt wird und er die Sprache nur unzulänglich beherrscht. Ricardo, der ständig nach geeigneten Themen für Puccini Ausschau hält und der darauf bedacht ist, ihn zur Arbeit anzufeuern, meint, daß dies doch ein geeigneter Stoff sei. „Ich weiß nicht", erwidert Puccini zögernd, „es scheint mir gar zu krass . . ." Doch bald darauf ist er selbst von dem Gegenstand so gepackt, daß er sich mit den Seinen in das Gebirgsdorf Chiatri zurückzieht, wohin im wahrsten Sinne des Wortes nur „das Maultier im Nebel seinen Weg sucht". Dort arbeitet er in tiefer Einsamkeit ungestört an dieser seiner vielleicht populärsten Oper. Im Januar 1900, wie um die Geburt des neuen Jahrhunderts zu feiern, geht im Theater Constanzi in Rom die Uraufführung der „Tosca" in Szene. 17
Glanz und Feierstimmung, Eleganz und Prunk, wie nur ein römisches Theaterpublikum sie zu entfalten versteht! Als Giacomo die Loge betritt, begrüßt ihn, der im ordensgeschmückten Frack wie ein Diplomat oder hoher Aristokrat wirkt, donnernder Beifall. Dennoch ist die Premiere der „Tosca" kein klarer Erfolg; ein paarmal werden Pfiffe laut und Stimmen: „Das hast Du bei Mascagni gestohlen". Es dauert einige Monate, bis die Oper „Tosca" sich durchsetzt, bis Giacomo Puccini sich sagen kann, daß er den größten Sieg seines Lebens errungen hat. Vor sieben Jahren, als die „Manon Lescaut" herauskam, hatte er sich ein Fahrrad gekauft. Nach dem Triumph der „Tosca" erwirbt er sich ein ratterndes und blitzendes Automobil, wird zu einem der ersten Herrenfahrer Italiens und macht täglich die Straßen der Toskana unsicher. Verkehrsregeln gibt es noch nicht. Wenn Puccini am Steuer sitzt, fordert er für sich die Freiheit des großen Herrn und des Genies. Einst wagte man nicht, einen „Wilddieb" zu bestrafen, dessen Schöpferkraft die „Manon" zu danken war. Wer würde sich jetzt getrauen, einen Autowildling rechtlich zu verfolgen, dessen Weisen aus „Boheme" und „Tosca" bereits der Nation gehören und von dem man weiß, daß ihn der junge König Viktor Emanuel und die Königin Elena an ihren Tisch gebeten haben! Puccini ist der Ruhm Italiens. Puccini ist unangreifbar. Puccini gehört jetzt auch als Mensch der Nation, ganz wie seine Melodien.
Ein seltsamer Freund Im Jahre 1904 findet die Premiere der „Butterfly" statt; auch diese Oper setzt sich bei der Uraufführung nur mit Schwierigkeiten durch, aber schon wenige Monate später sind ihre Melodien in aller Munde. Die Reihe der ganz großen populären Werke Puccinis ist abgeschlossen; was nachfolgt, hat trotz der künstlerischen Verfeinerung und Vertiefung nicht die gleiche Volkstümlichkeit erzielt wie die Opern „Manon Lescaut", „Boheme", „Tosca" und die rührende Geschichte der kleinen Frau Schmetterling, der „Butterfly". 18
Wie so oft schon, nachdem ein Werk beendigt ist, hält Puccini nach einem neuen Vorwurf, einem neuen geeigneten Libretto, Ausschau; nicht nur wegen des ewig drängenden Ricardo, sondern auch wegen des eigenen inneren Gleichgewichtes; Giacomo Puccini ist unglücklich, wenn nicht auf seinem Schreibtisch eine neue Arbeit liegt. Auf der Suche nach einem Werk, das zu vertonen sich lohnt, gerät der Maestro in Berührung mit Gabriele d'Annunzio, dem berühmtesten italienisdien Dichter seiner Zeit. 1906 weilt d'Annunzio, über dessen Verstiegenheiten in ganz Italien und im Ausland Legenden verbreitet sind, im benachbarten Viareggio, wo ihn Puccini aufsucht. „Hätten Sie nicht ein geeignetes Textbuch für mich?", fragt Puccini ohne Umschweife. — „Lassen Sie mich nur einige Tage nachdenken", antwortet der Freund der großen Schauspielerin Eleonore Düse, „wir beide scheinen geschaffen, miteinander zu arbeiten." Eine seltsame Freundschaft verbindet während einiger Jahre ergebnislosen künstlerischen Suchens diese beiden grundverschiedenen Männer. D'Annunzio fühlt sich als Renaissancemensch, überaus empfindsam, ein Mann von fast heidnischer Lebensauffassung und überzüchteter Lebensformen. Puccini aber ist der erdverbundene toskanische Kleinstädter, der echte, überströmende Künstler von naturhafter Begabung, der nichts als sein Herz und seine Phantasie braucht, um zu schaffen. Der Musiker ehrt den Dichter und lacht nachsichtig über den Menschen d'Annunzio. Der Poet bewundert, ohne es sich einzugestehen, den aus dem Vollen schöpfenden Puccini. Man schmiedet gemeinsam Pläne, entwirft neue Werke, aber im Grunde stören sie einander mehr, als daß sie sich gegenseitig fördern. Nein, der größte lebende Musiker Italiens und sein größter lebender Dichter sind nidit für einander geschaffen. In einer anderen, gesünderen menschlichen Umgebung wird Puccini sich zu seinem nächsten Werk begeistern lassen: in Amerika. 19
In der Neuen Welt Puccinis erster Aufenthalt in den Vereinigten Staaten gehört zu den glücklichsten Zeiten seines Lebens. Er steht auf der Höhe seines Ruhmes und seiner künstlerischen Kraft. Wo er sich zeigt, ist er von Bewunderern umgeben. Es ist auch die Zeit seiner fröhlichen Kameradschaft mit Enrico Caruso, der es ihm längst nicht mehr nachträgt, daß er ihn einst, vor Jahren, einen „miserablen Sänger" genannt hat. Die beiden Freunde entdecken auf ihre Art Amerika, die Riesenstadt New York. Drei Jahre nach seinem ersten Besuch in Amerika befindet sich Puccini wieder in New York. Wieder ist Caruso um ihn. Es ist das Jahr 1910. In der Metropolitan-Oper findet vor einem begeisterten Publikum die Uraufführung eines Werkes statt, das Puccini in Amerika für Amerika komponiert hat: die Oper „Das Mädchen aus dem goldenen Westen". Puccini kauft sich nach dem Erfolg dieser seiner jüngsten Oper für dreitausend Dollar ein chromfunkelndes Motorboot, mit dem er und Caruso die See, die Seen und die Ströme durchwandern oder Geschwindigkeitsrekorden nachjagen. Das Glück scheint diesem Begnadeten in beinahe beneidenswerter Weise die Treue zu halten — Und dennoch ist zwischen dem ersten und dem zweiten Aufenthalt in den Vereinigten Staaten ein winziges Ereignis eingetreten, dessen bedrohende Bedeutung der Meister erst viel später erkennen wird. Auf einer Deutschlandreise hat Giacomo Puccini sich mit seinem Sohne einen Tag in dem kleinen bayerischen Städtchen Ingolstadt aufgehalten. Man saß in einem gemütlichen Landgasthof, und Puccini tat sich an einem Gänsebraten gütlich, seiner Lieblingsspeise. Plötzlich sprang er auf und hustete heftig. Sein Antlitz rötete sich, er rang um Atem. In größter Eile holte man einen Arzt herbei, der auf der Stelle eine kleine Operation vornahm: Ein Splitter eines Gänseknochens war dem Meister im Kehlkopf steckengeblieben und mußte entfernt werden. Puccinis Sohn Tonio war tief erschrocken. Der Meister aber, nachdem man ihm den Fremdkörper entfernt hatte, maß der Angelegenheit nicht die geringste Bedeutung bei. Höchstens zu einem Wortwitz gab sie ihm Anlaß, pflegte er doch noch Wo20
• i j j I
Die Schlußszene vor dem Palast bei der Uraufführung von Puccinis „Turandot" in der Mailänder „Scala". chen später seine Freunde zu fragen: „Wißt Ihr, was Ingolstadt bedeutet? Ich will's euch sagen: ,In gola stat', zu deutsch: Es steckt in der Kehle." Das Ereignis wurde schnell vergessen. Viel später erst tauchte es gespenstisch und vernichtend aus der Vergangenheit wieder hervor.
Gewitter über Europa Doch noch ist Puccini ein kraftstrotzender, anscheinend urgesunder Fünfziger, den die grauen Fädelten in Haar und Bart kaum älter erscheinen lassen. Noch steht er mitten im Strahlenglanz des Glückes. Er ist der erste Opernkomponist seiner Zeit; vielleicht nicht vor allzu kritischen Musikkennern, denen seine Melodien zu „populär" sind und seine Orchestertechnik zu sehr „auf Wirkung bedacht"; gewiß aber vor dem breiten Publikum der Opernbesucher, die ihm selbst gegen große Zeitgenossen wie Richard Strauß unverbrüchlich die Treue halten. 21
Mit allen Fürsten der Musik ist Puccini befreundet, am herzlichsten vielleicht mit dem genialen Dirigenten Arturo Toscanini, wiewohl es eine stürmische Freundschaft ist; denn beide Künstler sind manchmal recht launenhaft. Gern erzählt man sich im Kreise ihrer Freunde die Geschichte des Kuchenpäckchens, das Puccini zu Weihnachten an Toscanini sandte und das er, da er nach dem Absenden des Päckchens von irgendeiner anzüglichen Äußerung Toscaninis erfuhr, „ungültig" machte, indem er an den Dirigenten ein Telegramm richtete mit den Worten: „Kuchen irrtümlicherweise abgegangen. G. P." Dennoch blieben sie einander zugetan und verlieren sich erst später aus Gründen, die mit der politischen Entwicklung im Italien Mussolinis zusammenhängen. Bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges hält Puccinis hohe Zeit an. Dann beginnen Rückschläge. Dann sinkt die Sonne. Dann stellen sich auf beruflichem und, was schwerer wiegt, auf gesundheitlichem Gebiet die ersten Schwierigkeiten ein. Als das Gewitter über Europa niedergeht, beabsichtigt Puccini, die heute fast vergessene Oper „Die Schwalbe" fertigzustellen. Er hat dieses Werkchen für einen Wiener Verleger geschrieben, denn der alte Ricardo, sein Freund, ist tot, und zu dem Sohn, der nunmehr das Verlagshaus leitet, findet er kein rechtes Verhältnis. Als Puccini die letzten Noten in seine Partitur setzt, im Sommer 1915, erklärt Italien den Mittelmächten Deutschland und Österreich den Krieg, und in den Bergen Südtirols finden die ersten Gefechte zwischen Italienern und Österreichern statt. Unter diesen Umständen ist keine Rede mehr davon, daß Puccinis Werk, wie es geplant gewesen ist, in Wien mit der großen Sangerin Maria Jeritza herauskommen kann. Puccini ist niedergedrückt. Er ist Patriot, gewiß. Er ist aber vor allem Künstler, der für die Kunst keine politischen und nationalen Schranken anerkennt. „Armes Italien, arme Oper!" murmelt er, als man ihm die Kunde vom Kriegseintritt Italiens bringt. Sein Freund d'Annunzio, ein extremer Nationalist, aber ist beglüdu über das „heldische Geschehen"; er übernimmt das Kommando über eine Flieger-Einheit. Die nationalistische Aufwallung der Gemüter bringt für Puc22
j
j j 1 | < I
cini auch in Frankreich, einem Lande, das mit großer Liebe an ihm gehangen hat, schwere Rückschläge: Daß Puccini eine Oper für einen Wiener, also einen feindlichen Verleger geschrieben hat und daß das Werk in der Kaiserstadt an der Donau zur Uraufführung gelangen sollte, ist auch dort bekannt geworden. Wilde Presseangriffe setzen ein. Puccini ist auf einmal „der französischen Kultur nicht mehr würdig". Für lange Zeit verschwinden seine Werke von den Opernbühnen Frankreichs. Erst als im Jahre 1917 das umstrittene Werk nicht in Wien, sondern in Monte Carlo uraufgeführt wird und so Puccinis patriotische Gesinnung „keinen Zweifel mehr erlaubt", verzichten sogar die aufgeregtesten Gegner auf ihre nationalistischen Anfeindungen und Puccini wird wieder „in Gnaden aufgenommen". — Doch diese Ereignisse tragen nicht dazu bei, Lebens- und Schaffensfreude eines alternden Künstlers zu heben. Sie tragen nicht dazu bei, die seelischen Kräfte, die zur Abwehr eines schleichenden Leidens unerläßlich sind, zu stärken . . .
Eine Welt versank Der Krieg ist aus. Das Donnergewölk hat sich verzogen, aber manche Flur Europas ist bedeckt mit den Wäldern weißer Holzkreuze. Eine Welt versank; eine neue kam herauf: Es ist nicht mehr die sorglos heitere Welt Giacomo Puccinis, dessen Opern in ihrem Klangzauber und Wohllaut angesichts der furchtbaren Wirklichkeit zu versagen scheinen. Eine neue Musik klingt durch Europa, neue Namen tauchen auf. Der Meister steht, als der Krieg vorüber ist, anfangs der Sechzig. Sein immer noch schöner Kopf zeigt eine gelblich-bleiche Farbe, die Wangen sind eingefallen. Ein Leiden, eine hartnäckige Zuckerkrankheit erfordert Diät und ständige ärztliche Überwachung. Auch störende Kehlkopfschmerzen machen Puccini zu schaffen, doch mißt man ihnen zunächst keine besondere Bedeutung bei und behandelt sie als „chronischen Rachenkatarrh". Die Schaffenskraft freilich ist noch nicht erloschen. 1919 wird das „Tryptichon" uraufgeführt, drei sehr schöne Kurzopern „Der Mantel", „Schwester Angelika" und „Gianni Schicci". Kaum sind 23
diese Werke, die Puccini noch während des Krieges geschrieben hat, der Bühne übergeben, bemüht sich der Komponist um einen neuen Stoff und wählt das Thema „Turandot", ein Werk des Märchendichters Carlo Gozzi aus dem achtzehnten Jahrhundert. Die „Turandot" wird die einzige Oper Puccinis sein, die er nicht mehr in seiner Eigenschaft als „Schloßherr von Torrc del Lago" komponiert. Er hat das Heim von Jahrzehnten und den geliebten See verlassen müssen. Die neue Zeit hat auch dort ihren Einzug gehalten mit Rauch, Lärm, Maschinenstampfen: Eine Zementfabrik ist in unmittelbarer Nachbarschaft des Arbeitsturmes, des „Torre", errichtet worden. Trotz zahlreicher Eingaben hat der Maestro den Griff des Industriezeitalters nach seinem Tusculum nicht verhindern können. So zieht er sich grollend zurück. Er übersiedelt nach Viareggio, wo eine neue Puccini-Villa entsteht. Sie ist noch stattlicher und in ihrer Ausstattung noch erlesener als das Haus in Torre del Lago, aber Puccini fühlt sich in dem eleganten Badeort, der voll ist von reichen Touristen und in dem es von neugierigen Reportern wimmelt, die ihn umlagern, niemals so glücklich wie einst an „seinem" See.
Ausklang Von den alten Freunden finden sich nur noch wenige in Viareggio ein. Manche von ihnen sind gestorben, viele in alle Welt verstreut. In diesen Jahren schließt sich Puccini vor allem Toscanini an, der als Gast viele Stunden in dem Arbeitszimmer vor dem Kamin oder im Garten mit Giacomo verbringt. Und noch ein anderer Gast ist da, auch er ein Einwohner von Viareggio: der altgewordene Leoncavallo, längst kein Rivale Puccinis mehr; längst ist er aus dem Rausch seines einstigen Welterfolges „Bajazzo" erwacht und zu einem ruhigen, bescheidenen, fast demütigen alten Mann geworden. Für Puccini ist es in diesen Zeiten ein großer Trost, daß ihn seine Gattin Elvira und sein Sohn Tonio treu umsorgen. Er lebt nur noch seiner Familie und seinem Werk. Die äußeren Ehren, die sich in diesen Abendstunden seines Lebens einstellen, nimmt der Meister mit Gleichmut hin. Dann und wann wird er zum Königspaar zu 24
Tisch geladen. Die Regierung verleiht ihm den Titel eines Senators. All das hätte ihn früher in einen Glückstaumel versetzt, heute ist es ihm meist eine Selbstverständlichkeit, manchmal eine Last. Anfangs Oktober 1924 reist Puccini, da ihn in immer kürzeren Abständen quälende Hustenanfälle schütteln, allein nach Florenz zu einem Arzt. Er glaubt den Versicherungen seines Familienarztes, es handele sich um einen „chronischen Rachenkatarrh", nicht länger. Der florentinische Spezialist entdeckt schließlich in der Tiefe des Kehlkopfes ein „winziges Körnchen". Doch weigert sich der Arzt, über die Natur des „winzigen Körnchens" Verbindliches auszusagen, bittet vielmehr um die Zuziehung weiterer Spezialisten. Drei Professoren werden nach Florenz gebeten, Italiens angesehenste Ärzte. Sie untersuchen ihn. Das Urteil ist vernichtend: Krebs in fortgeschrittenem Stadium. Will man den Patienten noch retten, muß unverzüglich gehandelt werden; man entschließt sich zu der neuen Methode der Behandlung mit Radiumstrahlen. Ein Bestrahlungsinstitut
Links neben der Tür seines Arbeitszimmers in Torre del Lago sind die Särge Giacomo und Elvira Puccinis in die Mauer eingelassen. 25
wird ausfindig gemacht, die Klinik des Dr. Ledoux in Brüssel. Puccini entschließt sich unverzüglich zu der Reise in die belgische Hauptstadt. Ist er gebrochen? Niemand kann es sagen. Äußerlich ist er sehr ruhig. Der römische Geist des „Aufrecht-Sterbens" triumphiert. Puccini ist es, der seinen verzweifelten Sohn Tonio tröstet, der seiner Gattin Hoffnung macht — die er wohl selber nicht mehr hegt: Eine Unannehmlichkeit, nichts weiter! In Brüssel werde er ohne Zweifel baldige und vollständige Genesung finden... Am 4. November reist Puccini nach Belgien, begleitet von seinem Sohn Tonio und der Tochter Fosca. Elvira ist selber erkrankt und kann nicht mitkommen. Die Reise ist eine Qual, wiederholt drohen den Kranken die Hustenanfälle zu ersticken. Durch die Bestrahlung scheint sich eine gewisse Besserung einzustellen; dann aber muß man sich zur Operation entschließen. Puccini, schwach, aber aufrecht, bereitet sich gelassen und ernst auf den Eingriff vor. Die Operation findet am 24. November statt. Dr. Ledoux wagt schon von baldiger Entlassung zu sprechen. Da läßt das Herz des sechsundsechzigjährigen Meisters nach. „Wie fühlst du dich Vater?" fragt ihn der Sohn. „Schlecht, sehr schlecht!" Es ist das erste Mal, daß Puccini solche Worte ausspricht. Den Angehörigen wird vorsichtig bedeutet, daß auf Rettung nicht mehr zu hoffen ist. An Puccinis Sterbebett erscheint der italienische Gesandte, begleitet von dem päpstlichen Nuntius Msgr. Micara, der dem Maestro den letzten geistlichen Trost spendet. „Was soll aus meiner armen Elvira werden?" sind Puccinis letzte Worte. Dann folgt das tagelange, aber schmerzfreie Verdämmern. Am 29. November 1924, um elf Uhr dreißig, ist Giacomo Puccini tot. Die Uraufführung seiner „Turandot" hat der Meister nicht mehr erlebt. Erst zwei Jahre nach seinem Tode geht diese Oper, deren Schlußszene nach Entwürfen Puccinis von Franko Alfano geschrieben worden ist, in der Mailänder Scala, feierlich geleitet von Toscanini, unter Mitwirkung von Maria Jeritza vor einem erschütterten Publikum in Szene. 26
'
Künstler im Puccini-Kreis Leoncavallo Ruggiero Leoncavallo war im gleichen Jahre wie Puccini geboren — am 8. März 18)8. Seine sangesfrohe Heimatstadt Neapel hatte den Knaben mit einem Reichtum von Melodien beschenkt, die sein Naturtalent schon früh in eigene von der Lebhaftigkeit des italienischen Südens durchglühte Kompositionen umzumünzen verstand. Aber sein Vorwärtsstürmen wurde jäh gebremst, ah die ersten musikdramatischen Versuche kein Echo fanden und ihm nichts einbrachten als Schulden für die Inszenierung. So sah er sich nach einem Brotberuf um, erteilte jungen Neapolitanern Gesangs- und Klavierunterricht oder bestieg das Musikpodium in kleinen Kaffees und Hafenkneipen, um sich einige Lire zu verdienen. Der Triumph, den Mascagni mit seinem Einakter „Cavalleria rusticana" in einem Kompositionswettbewerb errungen hatte, ließ in Leoncavallo jedoch alle Hoffnungen wieder keimen, daß auch ihm etwas Ähnliches gelingen müsse. Sogleich machte er sich ans Werk. Eine wahre Begebenheit aus dem Dasein wandernder Schausteller verwandelte er in kurzer Zeit in einen zweiaktigen Operntext voller dramatischer Geschehnisse, „kühn aus dem wirklichen Leben schaurige Wahrheit" schöpfend, wie es in dem Prolog heißt. Es glückte ihm, nach der musikalischen Seite hin seine Oper, der er den Namen „Bajazzo" gab, mit wirkungsvollsten Melodien anzufüllen. Die Uraufführung fand 1892 in Mailand statt. „Bajazzo" hielt schnell Einzug auf alle Opernbühnen und wurde zum Welterfolg. Leoncavallo hat diesem Erfolg noch mehrere Opern folgen lassen, aber keine hat auch nur entfernt den Glanz des „Bajazzo" erreichen können. Leoncavallo starb am 9. August 1919 in Montecatini. Caruso Die Opernhäuser der Weltmetropolen waren erfüllt von dem brausenden, begeisterten Beifall und dem Jubel der Tausende, wenn die letzten Töne einer Caruso-Arie verklangen. Diese 27
Stimme war so rein, so strahlend, so gewaltig, daß sie aus einer anderen Welt zu kommen schien. Niemand zweifelte daran, daß Enrico Caruso der größte Sänger seiner Zeit war. — Es war ein langer, arbeitsreicher Weg, den der Sohn einer italienischen Waschfrau, eines von einundzwanzig Geschwistern, zurücklegen mußte, bevor er den stolzen Höhepunkt seiner Laufbahn erreichte. Als ihn einmal jemand nach seiner Lieblingsrolle fragte, antwortete er: „Ich habe keine, alle sind die Frucht harter Arbeit!" Auch sein Genie bedurfte der ununterbrochenen Selbstkontrolle und Selbstkritik, um vor den eigenen höchsten Anforderungen bestehen zu können. Es gibt kaum eine bekannte Bühne Europas und Amerikas, die nicht den Glanz seines Singens, die vollendete Technik des Vortrages und den bezaubernden Charme des schauspielerischen Könnens erlebte. In Petersburg, in Wien, in München, Berlin, Paris, London, New York und Mexiko feierte er seine Triumphe. Caruso konnte kaum richtig schreiben, aber er kannte vierundsechzig Opernpartien bis zur letzten Note und sprach fließend sieben Sprachen. Trotz seines Reichtums — er bekam für einen Konzertabend 10 000 Dollar — .war er bescheiden und anspruchslos. Mit Leidenschaft und großer Fachkenntnis sammelte er Kunstgegenstände, alte Stoffe, Stickereien und Briefmarken. •— Am 11. Dezember 1920 erlitt er in New York auf offener Bühne einen Blutsturz; trotzdem sang er weiter, während Ärzte und Freunde heimlich hinter den Kulissen das Blut zu stillen suchten. Nach kurzer Besserung fuhr er mit Frau und Tochter nach Italien, um dort Heilung zu suchen. Wenige Monate später starb er in Neapel, betrauert von seinen Freunden in aller Welt.
Mascagni Die italienischen Musiker der Jahrhundertwende waren entschlossen, einen eigenen Stil zu finden. Die Entscheidung fei für den Verismus, für die Darstellung des wahren Lebens auf der Opernbühne, als Protest gegen das mystische Musikdrama Richard Wagners. Außer Puccini, Ruggiero Leoncavallo und Eugen d'Albert war es vor allem Pietro Mascagni, der sich dem Neuen 28
zuwandte. In seiner „Cavalleria rusticana", die 1890 in Rom uraufgeführt wurde, war diese Richtung vielleicht am unmittelbarsten ausgeprägt. An den Bühnen bürgerte es sich ein, „Cavalleria rusticana" und den „Bajazzo" Leoncavallos zu einem programmfüllenden Abend zu vereinen. Die beiden Opern waren die Hauptwerke des musikalischen Verismus. Mascagni wurde der Verkünder elementarer Leidenschaften, die er mit dramatischer Kraft und Bewegung und mit feurigem Temperament in Musik setzte; hierin ist er Verdi, dem Meister der „Aida" und „La Traviata", am meisten verwandt. Mascagnis einziger bleibender Welterfolg blieb die „Cavalleria rusticana", eine Oper, die auch heute noch ihre Zugkraft behalten hat. Die folgenden Werke brachten immer wieder Themen aus der Welt der Zigeuner und Schmuggler. Ihre Musik war weniger originell und erreichte längst nicht die Höhe der „Cavalleria rusticana". — Mascagni hatte seine Laufbahn als musikalischer Leiter einer kleinen Operettenbühne begonnen, später übernahm er die Dirigentenstelle einer Musikschule bei Neapel. In Rom leitete er das nationale Musikinstitut und dirigierte das Orchester des Theatro Constanzi. Toscanini Der große italienische Dirigent Arturo Toscanini, der aus der alten Herzogstadt Parma am Fuße des Apennins stammte, war bereits ein bewunderter Cellist, als er im Jahre 1886 in der Hauptstadt Brasiliens zum erstenmal vor einer großen Öffentlichkeit ans Dirigentenpult trat. Man rühmte schon damals an ihm, daß er seinen eigenen künstlerischen Willen gegenüber den Originalpartituren zurücktreten ließ und nicht, wie viele Dirigenten der Zeit, mehr sich selber als die großen Meister spielen ließ. Werktreue gegenüber dem Kunstwerk und in seiner Verlebendigung durch das Orchester, jedoch mit nachschöpferischer Kraft, wurde seine Leidenschaft. Darauf beruhte die gleichbleibende Wirkung seiner Konzerte und der von ihm geleiteten Opernaufführungen. Legenden rankten sich um Toscaninis „Tyrannei", wenn es bei den Proben um die Sorgfalt in der Wiedergabe von Meisterwerken ging. Selbst wo es ihm sein geniales Gedächtnis erlaubte, ohne Partitur zu dirigieren, kehrte 29
er nie sich selber heraus. Toscanini war von 1898 bis 1907 Kapellmeister an der Scala in Mailand, 1907 bis 1921 Dirigent der Metropolitan-Oper in New York, 1921 bis 1931 Direktor der Scala in Mailand, 1929 bis 1936 leitete er die New-Yorker Philharmoniker und später das nationale Rundfunkorchester. Wenn Toscanini für Bayreuth oder die Salzburger Festspiele angesagt war, wurden sein Erscheinen und sein Auftreten zu Ereignissen von tiefster Wirkung, die in die Geschichte dieser Kulturstätten als große Erinnerungen eingegangen sind. Verdi Was auf dem Gebiet der ernsten Oper Wagner für Deutschland bedeutet, das bedeutet Verdi in der gleichen Kunstgattung für Italien. Sein Aufstieg war beschwerlich und langsam. Mit elf Jahren war er Dorforganist in Roucole; der Kaufmann Barezzi im Busseto entdeckte das Talent des Jungen und ließ ihn später studieren, damit er die Organistenstelle an der Kathedrale zu Busseto übernehmen konnte. Aus der Verborgenheit wirkte er mit seinen Kompositionen auch in die weitere Öffentlichkeit. Aber er mußte erst vierzehn Opern schreiben, ehe er mit „Rigoletto" (1851), „Troubadour" und „La Traviata" (1853) die wirklich durchschlagenden Erfolge errang. Inzwischen hatte er sich das Landgut Fant-Agata erwerben können und lebte hier als Komponist und Bauer. Seine erste Frau, die älteste Tochter seines Mäzens Barezzi, starb, die beiden Kinder folgten ihr im Tode nach. Seine zweite Lebensgefährtin wurde die Sängerin Giuseppina Strepponi, die er 1859 heiratete. Von den nun folgenden sieben Opern haben nur „Ein Maskenball" und „Die Macht des Schicksals" die Zeiten überdauert. Im Jahre 1870 bot sich ihm die große Chance: Der Suezkanal war vollendet, zur festlichen Eröffnung sollte eine große Oper aufgeführt werden Der Vizekönig von Ägypten erteilte Verdi den Kompositionsauftrag gegen das damals unerhörte Honorar von 100 000 Francs. Verdi wählte einen Stoff aus der Pharaonenzeit — und schrieb — beeinflußt von Richard Wagner — die „Aida", das Meisterstück unter seinen Opern. Nach diesem Welterfolg entstanden nur noch zwei Opern, der „Othello" und die lyrische Komödie „Fal30
staff". Ebenbürtig steht neben Verdis Opernwerk sein gewaltiges „Requiem" zu Ehren des verstorbenen Dichters Alessandro Manzoni, von hohem Rang sind auch seine letzten Werke: „Stabat Mater ' und das „Tedeum". Als er im patriarchalischen Alter von siebenitndachtzig Jahren starb, trauerte die Welt um ihn.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky L u x - L e s e b o g e n 321
(Kunst/Musik) H e f t p r e i s 2 5 P f g .
Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig. _ Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München. — Herausgeber: Antonius Lux.