Scan by : der_leser K : tigger November 2003 : V.1.0
FREEWARE Nicht für den Verkauf bestimmt
Roman von Peter Telep Nach der Story von Chuck Pfarrer
Nach dem Drehbuch von Jonathan Lemkin und Charming Oibeon
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titelsatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich
© 2000 Warner Bros.- U.S., Canada, Bahamas & Bermuda © 2000 Village Roadshow Films (BVI) Limited – All Other Territories
ISBN 3-933731-51-8 / 1. Auflage Aus dem Englischen von Emanuel Bergmann Covergestaltung: Katharina Hitz Satz: Reiner Swientek, Fotosatz © Burgschmiet Verlag GmbH & Co. KG Burgschmietstr. 2-4,90419 Nürnberg Alle Rechte vorbehalten PRINTED IN GERMANY
Danksagung Ich bedanke mich bei meinem Lektor, Mr. Tom Colgan dafür, dass er an mich gedacht hat, ebenso wie bei den anderen netten Menschen von Penguin Putnam, insbesondere Elaine Piechowski und Samantha Mandor, die mir die zur Vollendung des Manuskripts notwendigen Informationen beschafft haben. Ein besonders herzliches Dankeschön an meinen Agenten, John Talbot, der seine Hand für mich ins Feuer legen würde, trotz der Gefahren, die in jedem Schatten des Verlagsgeschäfts lauern. Außerdem bedanke ich mich bei meinem Webmaster, Richard Bowden, und all den Menschen, die ihm dabei geholfen haben, meine Webseite zu entwerfen, denn ich stehe in ihrer Schuld. Besuchen Sie die Webseite www.earth-netone.com, um die Arbeiten vieler begabter Künstler sehen zu können.
Für Nancy, Lauren und Kendall – drei Frauen, die der Mars nicht haben soll.
Prolog CHANTILLAS, BUD WISSENSCHAFTSOFFIZIER US-RAUMFÄHRE MARS-1 DATUM DER LOGBUCHEINTRAGUNG: 23. NOVEMBER 2050 181. TAG DER MISSION Die Erde meiner Kindheit. Kristallinblau. Voller Leben. Der vollkommenste, sich selbst regulierende Organismus, den man sich vorstellen kann. Wir drangen in den Weltraum vor. Wir drehten uns um. Wir schauten zurück. Wir sahen sie. Man sollte meinen, dass uns in diesem Augenblick, als wir sie erblickten, etwas klar wurde. Aber nichts wurde uns klar. Warum? Noch immer suche ich in der Vergangenheit nach Antworten. 1961 flogen wir zum ersten Mal ins Weltall. Im April umrundete Gagarin die Erde und Shepard ging im Mai nach oben. Präsident John F. Kennedy rief noch im selben Monat das Apollo-Programm ins Leben. Wir schworen, innerhalb eines Jahrzehnts einen Menschen auf den Mond zu bringen. Vier Monate vor Ablauf unseres Termins tat Neil Armstrong einen kleinen Schritt. Damals befanden sich etwa vier Milliarden Menschen auf der Erde. Dann, mit kaum vorstellbarer Geschwindigkeit, fingen wir an, unseren Planeten zu bevölkern und zu vergiften. Im Jahre 2000 schwärmten sechs Milliarden von uns über die Erdkugel. 6
Von da an nahmen wir um jährlich einhundertzwanzig Milliarden Menschen zu und ließen Unmengen unserer Giftstoffe ab. Wir zerstörten unsere Wälder schneller, als man sie wieder hätte aufforsten können, verschmutzten unser Erdreich mit Müllhalden und Kunstdüngern und erstickten in so vielen Industrieabgasen, dass sich der Regen in Säure verwandelte. In neunundfünfzig Prozent unserer Entwicklungsländer ließen wir verschmutzte Abwässer einfach in Flüsse und Buchten ab. Alles, was nicht urheberrechtlich geschützt und mit Profit zu verkaufen war, wurde von uns bedenkenlos ausgelöscht. Zu etwa dieser Zeit fiel den Schülern eines Gymnasiums in Henderson, Minnesota, die verformten Hinterbeine von Fröschen auf, die sie in einem nahegelegenen Tümpel gefangen hatten. Sie riefen das »Minnesota-Neuland-Schulprojekt« ins Leben. Sie waren die große Ausnahme in ihrer Heimatstadt. Sie hatten eine Schlacht gewonnen – aber sie hatten keine Vorstellung von den Ausmaßen des Krieges. Wir hatten alle Frösche getötet. Jeden Frosch auf dem gesamten Planeten. Wir hatten schon vorher Arten ausgerottet, sogar ganze Gattungen. Aber dieses Mal hatten wir einen gesamten Stamm ausradiert. Frösche atmen durch die Haut und reagieren daher schneller auf Giftstoffe in der Umwelt. Das hätte uns eine Warnung sein sollen. Aber es ist uns nicht aufgefallen, denn wir konnten nicht genau feststellen, was sie umgebracht hatte. War es der saure Regen gewesen, die Klimaänderungen, das Ozonloch, die Zerstörung des Lebensraums, ein parasitärer Wurm, vielleicht sogar die Einführung einer fremden Lebensform in ihre Umwelt? Vielleicht hatten wir Angst vor der Wahrheit. Oder wir haben einfach nicht aufgepasst. Hier sind wir also. Heute, in der Mitte des 21. Jahrhunderts, ist über die Hälfte unserer Umwelt zerstört. Zwölf Milliarden
7
Menschen hausen in winzigen Apartments zusammengedrängt, leben in Eigentumswohnungen, Zweifamilienhäusern, Zelten, Grashütten, unter Lattenrosts, in Höhlen und im Schatten sterbender Bäume. Wir benötigten einhundert Jahre von der industriellen Revolution bis zu dem Tag, an dem wir einen Menschen ins Weltall schicken konnten. Beinahe ein weiteres Jahrhundert haben wir dazu gebraucht, unseren Planeten dermaßen zu vergiften und zu Übervölkern, dass wir, wenn es uns nicht gelingen sollte neuen Lebensraum zu erschließen, innerhalb der nächsten zwei Generationen als Spezies aussterben werden. Ich frage erneut: Wie konnte es so weit kommen? War es einfach Gier? Oder werden wir bestraft? Oder war es Selbstverstümmlung, ein Aufstand gegen uns selbst, gegen unsere eigenen Schwächen? Ich lese hier, in Salomo 1,4: »Eine Generation stirbt aus, eine andere Generation folgt. Doch die Erde wird ewig währen.« Ich möchte das gerne glauben. Ich möchte gerne glauben, dass dort draußen, auf einem kleinen roten Planten zumindest eine Antwort liegt.
8
Eins US-RAUMFÄHRE MARS-1 UNTERWEGS ZUM MARS 182. TAG DER MISSION Sie raste mit einer Geschwindigkeit von vierundachtzigtausend Stundenkilometern durchs All, wobei man ihre frühere Funktion als schwerfälliges Mondfrachtschiff nicht mehr erahnen konnte. Man hatte sie so umfunktioniert, dass sie ohne Mühe sechs Passagiere auf eine vierhundert Millionen Kilometer von der Heimat entfernte Rundreise mitnehmen konnte. Ein Teil ihres T-förmigen Bugs wurde von dreizehn riesigen Kugeln gebildet, wobei sich jede davon um sich selbst drehte, um an der jeweiligen Mittelachse eine der Erde ähnliche Anziehungskraft zu erzeugen. Eine einzelne Kugel blieb im Zentrum der Gruppierung übrig, während die anderen die Scheitelpunkte eines imaginären Kuboktaeders dicht umringten und so das veranschaulichten, was die Ingenieure und Mathematiker »kuboktaedrisches Komprimieren« nannten. Ein erfinderischer CNN-Reporter hatte Mars-1 einmal folgendermaßen beschrieben: »Ein Haufen zusammengeklebter Murmeln, an deren Enden man ein Bündel zweihundert Meter langer Zigarren gesteckt hat. Schiebt man ein paar Hula-Hoop-Reifen über die Zigarren und fügt dem Achterschiff eine Windmühle aus Sonnenkollektoren an, dann hat man ein interplanetares Raumschiff, das den höchsten Benzinverbrauch von allen bisher gebauten Fahrzeugen hat.« Obwohl sich die PR-Leute der Raumfahrtbehörde über diese eher unschmeichelhafte Beschreibung einer Raumfähre mit solch wichtiger Mission brüskierten, sahen sie dennoch ein, 9
dass die meisten Menschen der höheren Geometrie einfach nicht gewachsen waren. Kuboktaedrisches Komprimieren hin oder her, Mars-1 erfüllte ihren Zweck. Die einzelnen Funktionsbereiche reichten von Besatzungsräumen und Gärten über Mehrzwecklaboratorien bis hin zu dem höher gelegenen Cockpit, wo Mission Commander Kate Bowman angespannt in ihrem Pilotenstuhl saß und einer Nachricht von Kommunikationsoffizier John Skavlem lauschte. »Mars-1, hier spricht Houston. Sie haben die Umlaufbahn erreicht. Willkommen auf dem Mars und Gratulation zum gelungenen Start.« Bowman stand auf und obwohl sie fast sechs Monate Zeit gehabt hatte, sich auf diesen Augenblick vorzubereiten, war sie dennoch überwältigt von dem Anblick, der sich ihr vom Aussichtsfenster des Cockpits bot. Der Mars. Wahrhaftig. So greifbar nahe. Keine perfekte Simulation, übertragen von Orbitalteleskopen oder Sonden, sondern der Planet selbst; braun und rot gesprenkelte Farbflächen, die nach Norden und Süden rannen, den schimmernden Eiskappen entgegen. Der Mars. Vierter Planet von der Sonne. Heimat des größten Schirmvulkans des Sonnensystems. Heimat eines riesigen Grabenbruchs, der so groß wie die Entfernung zwischen New York und Kalifornien war. Heimat eines komplizierten Netzwerks uralter Kanäle, das sich zu der Zeit gebildet hatte, als noch flüssiges Wasser über die Oberfläche floss. Heimat der Menschheit. Vielleicht. Die Römer hielten den Gott Mars für den Vater ihres Volkes und Bowman gefiel die Vorstellung, dass die Menschheit die Mutter Erde hinter sich ließ, um in den Armen des Vaters Zuflucht zu finden. Bowman betete, dass er ein gnadenvolles Herz haben möge.
10
Mit einem bestätigenden Kopfnicken rieb sie sich die Augen, strich mit ihren Fingern durch das glatte schwarze Haar, das kaum bis auf ihre Schultern reichte, und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Steuer- und Kontrollpult zu. »Beinahe da.« »Commander, egal, was man sich über Sie erzählt, Sie sind noch nicht mal dreißig Jahre alt, und nun sehen Sie nur, wie weit Sie es bereits gebracht haben.« Mit erhobener Augenbraue blickte sie Captain Ted Santen an, ein dunkelhäutiger Athlet, der ungefähr in ihrem Alter war und der selbst im Schlaf sein Pokerface aufsetzte. Aber der Anblick des Mars berührte auch ihn. »Lieutenant, was erzählt man sich über mich?« In seinem Grinsen verbargen sich zu viele Geschichten. NATIONALES SONNENOBSERVATORIUM SACRAMENTO PEAK ALAMOGORDO, NEW MEXICO Sonnenastronom Dr. Joseph Byntana zupfte nervös an seinem grauen Bart, während er sich die Bilder anschaute, die durch die dritte Generation des »Richard B. Dunn Solarteleskops« (DST), dem besten Gerät seiner Art auf diesem Planeten, gefiltert wurden. Mit einer Auflösung von null Komma zwei Bogen-Sekunden war es dem DST möglich, selbst die feinste Oberflächenbeschaffenheit der Sonne zu erforschen. Das Heliostat des Teleskops wurde von zwei Spiegeln gebildet, die der Sonne folgten und ihr Licht in Byntanas Optiklabor umlenkten. Das eigentliche Teleskop lag zum Teil unter der Erde, war so lang wie ein Fußballfeld und wog über zweihundertfünfzig Tonnen. Dr. Byntana zweifelte deswegen nicht eine Sekunde an der
11
Echtheit dessen, was ihm das DST enthüllte. »Hey, Too?! Schau dir das mal an.« Dr. Too Li, ein zweiundvierzigjähriger Sonnenastronom zu Besuch aus China, stellte sein Notebook ab und eilte von einer Reihe Monitore herüber, die ihm Daten vom »Advanced Stokes Polarimeter« übermittelten, eines der Geräte, das er und Dr. Byntana zur Untersuchung komplexer Magnetfelder der Sonne benutzten. Toos Gesicht wurde vor Überraschung leicht blass, als er einen Blick auf Byntanas Bildschirme warf. »Sieht mir nach einem großen Vorboten aus. Schwache Röntgenstrahlung erkennbar.« »Ich empfange das Signal bereits seit sieben Minuten«, erwiderte Byntana und spürte dabei ein Kribbeln in seinem Nacken. Dieser Tag könnte der aufregendste seiner gesamten Karriere werden. Normalerweise trieben zwei sich näherkommende Solarfelder von hoher Magnetfeldstärke ohne Zwischenfall aneinander vorbei, was Byntana schon oft hatte beobachten können. Aber die, die Byntana gerade beobachtete, kamen sich so nahe, dass sie eine hochgradig labile, Sförmige Region bildeten – einen sogenannten »Sigmoid«. Auf dem Kontrollpult des Spektographen hinter ihnen piepste ein Alarm. Too eilte zum Pult hinüber. »Eine offensichtlich impulsive Phase. Geht weit über ein MeV hinaus. Radioaktiv, harte Röntgen- und Gammastrahlung erkennbar, starke Kernstrahlung.« Byntana spürte einen Knoten in seiner Kehle. Er flitzte an seinen Bildschirm zurück und starrte auf die größte Sonneneruption, die er jemals gesehen hatte, eine Eruption, deren freigesetzte Energie der gleichzeitigen Explosion von Millionen von Hundert-Megatonnen-Bomben gleichkam. Byntana hatte alte Fotos eines Vorfalls aus dem Jahr 1973 untersucht, der größten jemals verzeichneten Sonneneruption, aber selbst deren explosive Kraft verblasste im Vergleich zu der, die er jetzt
12
vor sich sah. »Gütiger Himmel … Sie ist über eine Million Kilometer lang. Sie wird sämtliche Funksatelliten auf dieser Seite des Planeten lahm legen.« »Gute Nachrichten«, sagte Too. »Sie ist richtungsstabil. Ich glaube, das meiste davon wird an uns vorbeigehen.« »Aber wohin?« MARS-1, RAUMFAHRTKONTROLLZENTRUM JOHNSON SPACE CENTER, HOUSTON 182. TAG DER MISSION Mit einem schweifenden Blick nahm Flight-Director Matthew Russert den Flugkontrollraum in sich auf. Zum ersten Mal seit vielen Wochen herrschte dort eine Betriebsamkeit, die es ihm erlaubte, sich wie ein Achtzehnjähriger, statt wie ein Einundfünfzigjähriger mit Glatze, leichtem Bauchansatz und zu hohem Cholesterinspiegel zu fühlen. Doch Russerts Verjüngungskur kam vielleicht doch etwas zu früh. Er hastete eine kurze Treppe hinunter und hinein in einen rechteckigen Raum, der keine der Konsolen und großen Bildschirme besaß, die sein Großvater, ein Antriebsingenieur, in seiner Amtszeit während des Spaceshuttle-Programms benutzt hatte. Statt dessen trugen Russert und die neunzehn anderen Raumfluglotsen kaum wahrnehmbare Kopfhörer mit BildProjektions-Monokeln (BPM), die sich vor den Augen herunterklappen ließen. Auf diese Weise konnte Russert einen Befehl geben und dabei ein Bild auf den gemeinsamen Monitor projizieren; ansonsten hielten die BPM das Team durch ihre am Kopf befestigten Displays gut informiert.
13
Momentan saß an jeder Station ein Kontrolleur, jeder folgte entweder über die BPM den Datenübertragungen oder diktierte selbst Daten in die Computer. Tomo Jax – Offizier für Flugdynamik, auch »OFF« genannt – schien besonders auf Zack zu sein. Er lehnte sich gegen seinen Schreibtisch wie Sisyphos gegen den Felsen. Die Direktorin der Einsatzmission, Kathleen Crete, reckte den Kopf nach oben, sah Russert näherkommen und flitzte von ihrer Station. Frau Direktorin verbarg sich stets hinter einem tadellosen Auftreten, das ihr, während ihrer vor kurzem vollzogenen Scheidung, sehr zum Vorteil gewesen war. Ihr war alles zugesprochen worden; behaupteten zumindest böse Zungen. Sie war nicht viel jünger als Russert und hatte ihn immer höflich behandelt, wenn sie sich auch nie die Mühe gegeben hatte, sich einmal länger mit ihm zu unterhalten. Was auch ganz gut so war, denn die zierliche Brünette war das Bindeglied zwischen dem Kontrollzentrum und der Leitung der Einsatzmission, dem Johnson Space Center. In letzter Zeit brachte sie selten gute Neuigkeiten: Sie sollten die Welt retten, dabei aber nicht den Etat überschreiten. »Flight!?«, rief sie. »Was gibt’s?« Crete kniff zögernd die Lippen zusammen. »Sie warten auf eine Bestätigung der Flugbahn.« Russert hob seinen Zeigefinger und steuerte, während Crete ihm auf dem Fuße folgte, auf den Schreibtisch zu, an dem Wissenschaftsoffizier Andy Lowenthal saß. »Andy, ich brauche eine Antwort, und zwar sofort.« Lowenthal, ein langbärtiges Genie, welches das vergangene Jahrzehnt epikureischer Mahlzeiten wie einen Ersatzreifen um seinen Körper trug, warf Russert denselben Blick zu, den er immer dann drauf hatte, wenn sie billige Pizza bestellten. »Wir müssen die Daten mit Alamogordo abstimmen. Dabei darf nichts schief laufen.«
14
»Verstehe Andy, aber wenn es stimmt …« »Sekunde. Es kommt was an.« Lowenthal starrte angespannt in sein BPM und nickte, während er die eingehenden Informationen überflog. »Na gut. Alamogordo bestätigt, dass sie richtungsstabil ist. Das Meiste davon wird an uns vorbeigehen. Die schlechte Nachricht ist, dass sie eine bestimmte Richtung hat – und zwar direkt zum Mars.« »Ausbrüche dieser Art sind selten«, sagte Russert genervt, während Lowenthal zustimmend nickte. »Natürlich musste das ausgerechnet auf meiner Schicht passieren. Wie viel Zeit bleibt uns?« »Eruptionen erreichen den Mars gewöhnlich in ungefähr acht Minuten. Der Mars steht im Aphelion. Ich denke, wir haben etwa vierzehn Minuten Zeit.« Die Schätzung rief bei Russert ein gequältes Grinsen hervor. Es würde zwanzig Minuten dauern eine Warnung an die Mars1 zu schicken. Er wandte sich nach links um, wo Kommunikationsoffizier John Skavlem an seinem Pult saß, sein jugendliches Gesicht von einem frühzeitig ergrauten Militärhaarschnitt eingerahmt. »Tut mir leid, Flight.« Mit einem frustrierten Seufzer wandte sich Russert ab und ließ den Kopf hängen. Er stellte sich eine riesige Flutwelle vor, die durch das Weltall auf ein kleines Boot zuraste, das im Orbit um einen roten Planeten geparkt hatte. Die Welle brach, zerschmetterte das Boot und trug die Trümmer mit sich, während zwölf Milliarden Seelen ihr Schicksal beklagten. Der lauteste Ruf ging von Jessica aus, dem sechzehnjährigen Juwel seines Lebens, seine Tochter, für die er alles opfern würde. »Flight? Bist du okay?«, fragte Skavlem. Russert schüttelte die alptraumhaften Schreie ab und blickte auf. »Was machen wir hier? Schließlich haben wir Protokolle von Sonneneruptionen. Machen wir uns an die Arbeit.«
15
Zwei US-RAUMFÄHRE MARS-1 DIE DUNKLE SEITE DES MARS 182. TAG DER MISSION Robert Gallagher schwebte durch die Zugangstunnel, die die Kabine für die Besatzung mit dem Cockpit verband. Schweißfäden säumten sein schmales Gesicht, flossen von seinem Bürstenhaarschnitt aus abwärts. Er hatte auf seinem Fitness-Rad so hart in die Pedale getreten, als ob es darum ginge, den Vorreiter der Tour de France einzuholen. Aber seine Sorgen herauszuschwitzen war ihm trotzdem nicht gelungen. Mit einem leichten Schubs kippte er sich innerhalb des drei Meter breiten Zugangstunnels in eine aufrechte Stellung und trieb auf ein kleines Bullauge zu. Vor ihm lag der Mars, eine immense, erweiterte Pupille in einer Iris aus Sternen. Dichte Schatten krochen über die gewaltigen Ebenen und Täler der Hellas Planitia, bis schließlich der Keplerkrater ins Blickfeld rollte. Aber vielleicht war dies gar nicht die Oberflächenbeschaffenheit, die Gallagher soeben gesehen hatte. Er hatte zwar Marsgeographie studiert, aber die um sich greifende Dunkelheit und das sechs Zentimeter dicke Perma-Glas stellen eine große Herausforderung dar, einzelne Merkmale ausfindig zu machen. Selbst die Schlauköpfe daheim müssten die Köpfe verdrehen und ihre topographischen Landkarten zu Rate ziehen. »Verdammt noch mal«, flüsterte Gallagher, als ihm das Ausmaß dieses Augenblicks bewusst wurde. Er berührte das Perma-Glas, zog die Konturen des Planeten nach und war noch mehr erstaunt darüber, sein eigenes Spiegelbild mit der dunklen Kugel überlagert zu sehen. Seine vierzig Jahre waren ihm 16
kaum anzusehen und er hatte sich von mehr als nur ein paar Freundinnen vorwerfen lassen müssen, seinen jungenhaften Charme zu missbrauchen. Jetzt stand er da wie ein kleines blondes Kind, verzaubert von dem kolossalen Geschenk, das ihm der Weihnachtsmann unter den Baum gelegt hatte. Robert Gallagher. Einer der ersten Menschen, die den Fuß auf eine andere Welt setzen werden. Das redete er sich schon seit zwei Jahren ein, genau genommen seit dem Tag, an dem er den Anruf erhalten hatte. Damals hatte er gerade sein Atemgerät angelegt und war auf dem Weg gewesen, sein Haus in Daytona Beach zu verlassen, um sich mit zwei alten Tauchfreunden zu treffen, als Rita Didorsa vom Raumforschungszentrum (RFZ) per Vid-Komm angerufen hatte. Gekleidet in teurer Bluse und Rock, die sie für die ganze Welt wie eine First Lady aussehen ließen, hatte die junge Schwarze ein wissendes Lächeln aufgesetzt. »Wir haben uns gefragt, ob Sie etwas dagegen hätten, zum Mars zu fliegen. Wir sind der Meinung, dass Sie genau die richtige Menge an Individualität und Selbstständigkeit haben, um ein effektives Mitglied der Besatzung der ersten bemannten Marsmission abzugeben.« Nachdem er wieder mit beiden Beinen am Boden gestanden war, hatte er lapidar erwidert: »Klar, was soll’s denn kosten?« Didorsa hatte gelacht. »Nein. Wir werden Sie bezahlen. Ich bezweifle, dass Sie in Zukunft Geldsorgen haben werden.« Gallagher hatte bereits gewusst, dass die Beamten vom RFZ an ihm interessiert waren. Sie hatten ihn zuvor bereits durch ein sieben Tage dauerndes Verfahren persönlicher Interviews, gründlicher medizinischer Untersuchungen und Orientierungskurse geschleust, die in erster Linie seine Geduld auf die Probe gestellt hatten – aber bis zu dem Anruf von Didorsa, hatte er nicht gewusst, ob sie ihn tatsächlich nehmen würden.
17
Robert Gallagher. Einer der ersten Menschen, die den Fuß auf eine andere Welt setzen werden. Während einer Pressekonferenz, hatte ein Journalist Gallagher gefragt, was er denn sagen wollte, wenn sein Fuß das erste Mal die Marsoberfläche berühren würde. »Nun, die Metapher des ›kleinen Schrittes‹ wurde schon einmal verwendet. Und der Erste werde ich auch nicht sein. Also weiß ich nicht, ob es so wichtig ist.« Über einhundert Reporter hatten empört die Stirn gerunzelt. »Ich bin sicher, dass ihm etwas einfallen wird«, hatte Mission Commander Bowman gesagt. Jetzt hallte ihre Stimme in seinem Kopfhörer. »Alles klar, Gentlemen. Wir befinden uns in einer stabilen Umlaufbahn in zweiundzwanzigtausend Metern Höhe. Noch drei Umkreisungen, jede davon neunzig Minuten lang. In viereinhalb Stunden starten wir das MEV. Bowman, over.« »Roger«, sagte Santen. »Wir gehen auf die Lichtseite zu. Polarisierer sind aktiviert.« Ein glänzender Lichtstrahl drang messerscharf durch das Perma-Glas und Gallagher setzte seine Sonnenbrille auf, die perfekt zu seinem grellen Hawaiihemd passte. Er trug das Hemd, um Santen zu ärgern, denn dieser hatte auf typisch einfallslose Weise nur Standardausrüstung und Uniformen eingepackt. Gallaghers Ungeduld zwang ihn, sich vom Bullauge zu entfernen. Die Luke zum Cockpit lag offen vor ihm und er schwebte nach oben in die Kommandozentrale. Bowman und Santen saßen vor einem sichelförmigen Schaltpult, das voll erleuchteter Touchboards und Monitore war, die aber nur als Ergänzung ihrer BPM-Kopfhörer dienten. Sie konnten das Schiff mittels dieser flachen Bildschirmtastaturen durch ein »Virtuelles Zerebral-Medium« oder durch einfache sprachliche Befehle steuern. Die K. I., die Künstliche Intelligenz des Schiffes, nahm ihren Puls, maß Blutdruck, Atemrhythmus und
18
Stimmungslage, und entschied sich daraufhin für die beste Methode der Datenübermittlung. Wäre Bowman beispielsweise damit beschäftigt, per Hand ein heikles Manöver durchzuführen – was sie unter Druck setzen und ihren Blutdruck in die Höhe treiben würde – würde sich der Computer wohl dafür entscheiden, zusätzliche Informationen durch Toneinspielungen zu übermitteln, anstatt sie zu zwingen, auf einen Bildschirm zu schauen. So wurde durch dieses System das Problem des Datenüberflusses gelöst, was bei Gallagher Bewunderung hervorrief. Er hatte die Ingenieure vom RFZ gefragt, ob er es einmal auseinander nehmen und untersuchen könne, nur so zum Spaß. Noch nie zuvor hatte er vier blassere Menschen gesehen. Bowman blickte über ihre Schulter und lächelte ihn bereitwillig an. »Sind wir endlich da?«, fragte Gallagher und klammerte sich an der Rücklehne ihres Sitzes fest, um so der Schwerkraft im Cockpit entgegenzuwirken. »Es ist ja nicht so, als ob ich nicht vierhundert Millionen Kilometer auf diesen Augenblick gewartet hätte.« Sie schüttelte ihren Kopf, öffnete den Mund und – Die beiden Touchboards vor ihr flackerten auf und schalteten sich ab. Warnmeldungen blitzten in großen, scharlachroten Buchstaben auf den gegenüberliegenden Overheadmonitoren auf. NAVIGATIONS-UNTERSYSTEM DREI ÜBERLADEN. UMLEITUNG WIRD DURCHGEFÜHRT. UMLEITUNG ERFOLGLOS. SEKUNDÄRSYSTEM ÜBERLADEN. URSPRUNG DES ZWISCHENFALLS UNBEKANNT. Bowman rutschte an die Kante ihres Sitzes und schlug mit der Faust auf die beiden toten Touchboards, dann erblickte sie eine weitere Datenmeldung. MEHRERE PROTEINPROZESSOREN AM ÜBERLAUFEN. URSACHE: EXTERNE KONTAMINATION.
19
»Houston, Mars-1!«, rief Santen. »Wir haben mehrfache Ausfälle von Steuerungs- und Navigationssystemen.« Er informierte sich über einen Monitor. »Funkstörung. Ich kann kein Signal senden.« »Lassen Sie mich mal schauen«, sagte Gallagher und zog sich zu Santen heran. »Mr. Gallagher, verlassen Sie mein Cockpit!« Gallagher blickte zu Bowman, aber das schnelle Umlenken der beiden Systeme ließ nicht zu, dass sie sich zu ihm umdrehen konnte. Die Displays der Steuerungssysteme gaben wieder schimmernde Lebenszeichen von sich. Gerade flüsterte Bowman ein lautes »Ja«, als beide Systeme erneut abstarben. »Vereinzelte Fallstörungen. Betrifft die gesamte Steuerzentrale. Abriegeln. Freier Datenfluss. Wir verlieren Chips. Abschalten.« Santens Kinnlade klappte nach unten. »Abschalten?« Bevor Bowman antworten konnte, ertönten zwei Hupen, deren schnelles Tuten sie aus ihrem Sitz hochfahren und nach Steuerboard, zu den Touchboards für die Luftwiederaufbereitungs- und Lebenserhaltungssysteme eilen ließ. »Alles abschalten«, erwiderte sie schließlich. »Das ist die einzige Möglichkeit, die Systeme zu retten. Scheint, als ob wir eine S-E-P hätten, eine Art massiver Eruption. Computer. Ich brauche die Sprechanlage.« Sie hielt inne. »Gentlemen, ich muss mich korrigieren. Wir starten das MEV noch in dieser Umdrehung. In fünf Minuten, um genau zu sein.« »Wir können jetzt nicht starten«, widersprach Santen während er blitzschnell auf einem Touchboard tippte und der Bildschirm über ihm eine Liste der heruntergefahrenen Systeme aufzeigte. »Das MEV wird genauso betroffen sein.« »Die Luftschutzhülle hilft vielleicht«, sagte Bowman. »Egal was, sie fliegen. Oder wir sitzen auf einer milliardenteuren Landungsfähre, die wir nicht aus der Garage herauskriegen.«
20
Sie stürmte zu Santens Pult zurück, schob seine Hände mit ihrem Arm zur Seite und beendete das Herunterfahren selbst. Ein dritter Alarm wurde ausgelöst, der in schrillen Tönen einen vorzeitigen Grabgesang für das sterbende Schiff sang. »Protonenfluss«, sagte Bowman beim Überfliegen der Daten, die vom Spektrometer des Schiffs hereinströmten. »Noch mehr Fallstörungen. Radioaktivitätsalarm. Captain? Gallagher? Auf Wiedersehen.« Santen sprang aus seinem Sitz heraus. »Gallagher, es ist mir Ernst!«, warnte ihn Bowman. Er gab nach, nickte. »Wir sehen uns hinten.« »Richtig.« Sie winkte ihn ab, gänzlich von ihren Touchboards in Anspruch genommen. Gallagher hastete dem Kopiloten hinterher und spürte, wie sich beim Nachlassen der künstlichen Schwerkraft die Stiefel vom Deck abhoben. Durch das gesamte Schiff hallten Huptöne und er verzog das Gesicht, als er den dichter werdenden Gestank schmelzender Elektronikteile wahrnahm. Bud Chantilas hatte den mit Sensoren vollgepackten, eng anliegenden Thermalanzug bereits angezogen. Jetzt trat er in den einundzwanzig Pfund schweren, aquamarinblauen Raumanzug hinein, bemühte sich, seinen linken Arm in den Kevlar-Ärmel zu bekommen ohne sich den Dreiecksmuskel zu zerren. Ein glühender Schmerz brannte auf, bevor er sich ausstreckte und mit dem Arm hineinschlüpfte. Wenn das das Schlimmste ist, dann geht’s mir noch gut. Nicht schlecht für Sechzig. Gar nicht schlecht. In Wirklichkeit wurde sein rein biologisch genährter Körper von Männern beneidet, die nur halb so alt waren wie er. Ihn musste er jetzt den gottlosen Kräften der oberen Marsatmosphäre aussetzen. Er schnallte die Y-förmige Weste mit den Lebenserhaltungssystemen um und stülpte anschließend den
21
gallertartigen Helm über seinen Kopf. Die automatischen Riegel schnappten zu und der Helm nahm eine feste, durchsichtige Form an. Auf seiner Armbandanzeige checkte er den Status: alle Systeme im grünen Bereich. Der Druck lag bei drei Komma acht Pfund pro Quadratzoll. Er schwebte auf die PermaGlastür der Luftschleuse zu. Dort draußen hing das MEV, das »Marseintrittsvehikel«, hinter der Luftschleuse des Vorraums, mit absprengbaren Bolzen an einer langen Angelschiene befestigt, die tief in die zweihundert Meter weite, kreisrunde Ladebucht hineinragte. Im Gegensatz zu irgendeinem anderen Fahrzeug, das jemals gebaut worden war, konnte sich das MEV mit einer ikosaedrischen Luftschutzhülle brüsten, die es eher wie ein Geometrieexperiment als ein Raumfahrzeug aussehen ließ. Chantilas hatte sich bemüht, den Entwurf der Presse zu erklären, als das MEV noch in der Konstruktionsphase war. »Ein durchschnittlicher Ikosaeder hat fünfundzwanzig fünfeckige Oberflächen, die an jeweils zwölf Schnittpunkten zusammentreffen. Das bedeutet in Wirklichkeit, dass das Objekt eine ulkige Hülle hat, das Resultat eines Versuchs, aus einer Hand voll Dreiecke eine Kugel zu konstruieren. Sie wollen eine einfache Erklärung? Beschreiben Sie es einfach als einen kupferroten Edelstein, der von einem übereifrigen Juwelier zurechtgeschnitten worden ist.« Einer der Reporter hatte Chantilas zitiert, woraufhin die Besatzung ihn damit aufzog, dass er mehr Dichter als Wissenschaftler sei. Das hatte wiederum die Neugierde der Journalisten geweckt, worauf Chantilas mit einem Zitat von Percy Shelley antwortete: »Die Dichter sind die Oberpriester nicht verstandener Inspiration. Die Spiegel der riesigen Schatten, welche die Zukunft auf die Gegenwart werfen. Die Worte, die das ausdrücken, was sie nicht verstehen. Die Trompeten, die zur Schlacht rufen und nicht das fühlen, was inspiriert. Der Einfluss, der nicht zu bewegen ist, aber dennoch bewegt. Die
22
Dichter sind die unbekannten Verwalter dieser Welt.« Ihren leeren Blicken entnahm Chantilas, dass sie den Verweis nicht ganz verstanden hatten, aber als er zuletzt angedeutet hatte, politisch aktiv werden zu wollen, sprangen sie auf. »Nein«, hatte er gesagt, »ich möchte den Menschen helfen.« Chantilas grinste innerlich bei der Erinnerung, bis Gallagher und Santen in das Vorzimmer der Luftschleuse hochschwebten. Sie gingen direkt auf die durchsichtigen Schläuche zu, in denen ihre Thermal- und Raumanzüge aufbewahrt wurden. »Mr. Chantilas?«, rief Santen in seinem militärischen Bariton. »Halten sie sich bei der Schleuse in Bereitschaft!« Chip Pettengill rieb sich den Sand aus den Augen, machte den Latz seiner Baumwollhose zu, und lief direkt in die Querwand hinein. »Verdammte Scheiße!« Nein, der Aufenthaltsort für die Besatzung hatte nicht auf einmal die Schwerkraft verloren. Nur er die Nerven. Er atmete tief durch, rieb seine wunde Nase, um sich zu versichern, dass sie nicht anschwellen würde. Allein der Bürstenschnitt hatte das, was seine Freundin seinen »unheimlichen, aber guten Look« nannte, ruiniert. Keine krausen blonden Locken mehr. Nur noch Stoppeln. Wo zur Hölle ist jetzt die Tasche? Da. Auf dem Deck. Er raffte sie an sich, als die Schwerkraft versagte. »Wäre nett, wenn sie erklärt hätte, warum das gottverdammte Schiff auseinander fällt. Hatte gedacht, dass die Menschheit retten bei den Politikern gut ankommen würde. Haben wir denn auf dieser Reise nicht genug Geld in die Luft geblasen?« Pettengill schwamm der Decke entgegen, stieß sich mit seinen Stiefeln ab und schoss pfeilgerade auf die achteckige Luke zu. Toll. Jetzt kann ich wieder raumkrank werden. Das liehe ich. Scheiße.
23
Schau mich nur an. Ich bin ein spindeldürres, armes Schwein; ein »Terraforming-Spezialist«, also für Neulandgewinnung, d. h. die nutzbare Umwandlung eines bisher unbewohnbaren Planeten zuständig. So was habe ich nicht nötig. Die beiden Dinge, die Quinn Burchenal am meisten in seinem Leben hasste, passierten gerade zur selben Zeit. Man hatte ihn gefälligst nicht bei einem Nickerchen zu wecken und, bei Gott, erst recht nicht mit einer heulenden Alarmsirene. Es hätte gereicht, eine seiner Ex-Frauen zu fragen, um erzählt zu bekommen, wie er zwei ihrer drei Wecker kaputtgemacht, und sogar ein 3D-Wecksystem zerstört hatte, welches einen mit sanften Tönen und einer spärlich bekleideten Liebesdienerin, die versprach den »Frühaufsteher« zu belohnen, aus dem Bett zu locken versuchte. Dieses Ding hatte es verdient, kaputtgeschlagen zu werden. Er biss die Kiefer zusammen, um sich am Fluchen zu hindern und hatte sein Gesicht zu seiner üblichen missmutigen Gangsterfratze verzerrt, während er seinen stämmigen Körper durch das Zugangsrohr wuchtete und, von geisterhaften Strömungen getragen, in den Vorraum schwebte. »Ziehen Sie Ihren Anzug an, Mr. Burchenal«, sagte Santen, der das seinerseits bereits erledigt hatte. »Gut können Sie das. Ihnen fallen solche Dinge auf«, erwiderte Burchenal mit einem Grinsen, dann bewegte er sich auf die Sprechanlage zu. »Kate? Du kannst mit dem Gejaule aufhören. Ich bin von meinem Nickerchen aufgewacht.« Er machte sich zu dem Schlauch auf, der seinen Anzug enthielt und erinnerte sich an seinen letzten Traum, in welchem er sich wieder in seiner klimatisierten, überdachten Pferderennbahn befunden, und mit seinem arabischen Hengst genüsslich einen Samstag-
24
nachmittag verbracht hatte. Er liebte dieses Pferd so sehr wie diese Mission. Und trotz seiner halbernsten Anfragen an die hohen Tiere vom RFZ, hatte er sein Pferd nicht zum Mars mitnehmen dürfen. Burchenal schlüpfte in seinen Thermalanzug, blickte auf und sah, dass Gallagher bereits schwebte und ihm mit seinen Schnallen half. Wie immer trug der Typ ein Grinsen auf seinem Gesicht, das »Wie-zum-Teufel-habe-ich-die-Ehre-dieserMission-verdient?« zu fragen schien. Seine Augen waren hell und seine Haut rein. Burchenal hatte Poren, die so groß wie Marskrater waren, sagte ihm zumindest sein mangelndes Selbstwertgefühl. Gallagher half ihm mit dem Raumanzug, überprüfte noch einmal den Sitz. Er zuckte ein wenig zusammen, als der Autokatheter des Anzugs durch die Thermalhaut drang und an seinen Platz glitt. Mittlerweile war Pettengill hereingeflitzt und Santen war damit beschäftigt, den Anzug des schlanken Zweiunddreißigjährigen vorzubereiten. Santen und Chantilas ignorierten Pettengills Proteste, steckten ihn in die Schutzhaut und klopften den Helm fest. »Alles klar, Gentlemen!«, rief Santen. »Tak-Komm zwei, Ton ab!« Gallagher, Pettengill und Chantilas überprüften die Funkverbindung zwischen den Raumanzügen. Schließlich antwortete Burchenal verschlafen. Chantilas wandte sich dem Kontrollpult der Luftschleuse zu. »Schleuse öffnen!« Perma-Glas-Doppeltüren schwebten zur Seite. Burchenal folgte den anderen durch die Schleuse auf das MEV-Deck. Ihre Beine baumelten in der Schwerelosigkeit hinter ihnen her, als sie eine Leiter hochkletterten, die an einer Querwand festgenietet war. Oben angekommen hielten sie sich am Geländer eines Laufstegs fest, kletterten anschließend zum Anlegeplatz, von
25
wo sie eine rechteckige Brücke zur Hauptschleuse des MEVs führte. »He, Burchenal? Wie schaffst du es eigentlich, so ruhig zu bleiben?«, fragte Gallagher. »Keine Ahnung. Aber es braucht schon mehr als eine Sonneneruption, um mich zu beeindrucken.« *** Kate Bowman kaute auf ihren Lippen herum als sie das Abdocksystem des MEVs genau überprüfte. 3D-Graphiken bewegten sich blinkend über ihren Bildschirm, zoomten die beschädigten Auslöser heran, um sie zu identifizieren. Jedes Mal, wenn sie versuchte, das System neu zu starten, schmolz ein weiterer Prozessor. Sie hätte schreien können, aber sie klammerte sich fest an ihre Wut, eine hässliche Seite an ihr, die sie nie zur Schau stellte und sich selbst kaum zugestand. So schwach bin ich nicht. Erinnere dich an den Tag über der Adria. Das ist genau dasselbe. Angenehmer Flug mit der USNavy. Für immer. O.k., sie hatte eine Idee. Jetzt müsste nur noch das verdammte Schiff mitmachen. Sie tippte den Befehl in ihr letztes funktionsfähiges Touchboard ein. Grünes Licht. »Gentlemen, es sieht so aus, als würde ich mich Ihnen nicht anschließen und statt dessen das Abdecken des MEV per Hand von der Brücke aus steuern.« »Commander!« »So ist es, Santen. Ich bin Commander. Start frei zum Anflug auf den Mars. Auf mein Signal.«
26
Drei US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSEINTRITTSVEHIKEL 182. TAG DER MISSION Obwohl es nicht sonderlich geräumig war, konnte man das Marseintrittsvehikel im Vergleich zu den Kapseln, die bei den ersten Apollomissionen beteiligt waren, als Luxuswohnung betrachten. Sechs Liegen unter hoher Schwerkraft, an denen die Namen der jeweiligen Besatzungsmitglieder angebracht waren, waren fest an die Querwand eines runden Frachtraums angepasst. Ein einzelnes Drehgelenk, das an einer Seite der Liege angebracht war, stützte eine Kommandostation, die ein Touchboard und einen kleinen Bildschirm enthielt. Im Notfall war jedes Besatzungsmitglied in der Lage, eine manuelle Aussperrung durchzuführen und die Kontrolle zu übernehmen. Und aufgrund dieser Möglichkeit war Gallagher gezwungen gewesen, sechs scheinbar endlose Monate in einem Simulator zu verbringen, um sich auf etwas vorzubereiten, was er vermutlich niemals tun würde. Nach einem sehnsüchtigen Blick auf Bowmans leere Liege ließ sich Gallagher in seine eigene fallen und schnallte die Gurte fest. Burchenal saß an der anderen Seite der Querwand, nickte nachdenklich und rieb sich auf seltsame Art und Weise seine Lippen. Chantilas saß da wie ein verschrumpelter Mönch, seine Augen waren geschlossen, seine behandschuhten Finger in seinem Schoß ruhend ineinander verhakt. Pettengill schaute unruhig hin und her und bemerkte, dass Santen ihm einen überheblichen Blick zuwarf. 27
»Nur die Ruhe, kleiner Mann. Ich krieg’ dich schon noch.« Pettengill lächelte. »Leck mich am Arsch!« Hundertneunzig Tage zuvor waren sie noch alle Profis gewesen. Aber so ist es nun mal, dachte Gallagher, wenn man sechs intelligente Menschen sechs Monate lang in eine Dose einsperrt ohne auf das Verfallsdatum zu achten. Ingenieure und ehemalige Astronauten verneinten die Vorkommnisse solcher Ausdrücke und Verhaltensweisen und förderten damit deren Verschleierung. »Commander?«, rief Santen, seinen Blick fest auf die Befehlsstation gerichtet und das Drehgelenk mit einer Hand festhaltend. »Alles im grünen Bereich.« Gallagher räusperte sich. »Privatverbindung zum Cockpit«, befahl er über die Sprechanlage seines Raumanzugs. »Kanal offen«, tönte die wunderschöne Frauenstimme, die er sich unter mehr als einem Dutzend ausgesucht hatte. »He, Commander? Versprechen Sie mir, dass Sie nicht ohne uns gehen werden, wenn es uns hier nicht gefällt?« Er wartete, fragte sich, was sie wohl dachte, dann endlich vernahm er ihre kaum wahrnehmbare Antwort. »Versprochen!« Sie folgte mit einem kurz angebundenen Bericht über die allgemeine Frequenz. »Captain Santen, bei Ablauf des Countdowns haben Sie die Kontrollgewalt über das MEV. Drei – zwei – eins.« »Scheiße«, brüllte Santen. Er schlug mit der Faust auf seine Befehlstation, woraufhin sich die Einheit zur Seite neigte und auf dem blinkenden Touchboard ein Warnsignal sichtbar wurde. Burchenal beugte sich vor. »He, Santen? Warten ist kein guter Plan.« Eine Sekunde lang sah der Kopilot verloren aus, dann schrie er: »Besatzung angeschnallt?«
28
Sie antworteten der Reihe nach, genau wie sie es geübt hatten, wobei Gallagher als letzter an der Reihe war. Santen tippte auf sein Board, dann schob er es zur Seite und klammerte sich an seinem Sitz fest, reckte das Kinn in Erwartung der bevorstehenden Anziehungskräfte in die Höhe. Gallagher schloss seine Augen, atmete tief durch, und versuchte so, etwas von Chantilas innerem Frieden zu finden, dann ließ er sich in die Liege sinken. Der Friede dauerte genau sechs Sekunden, dann donnerten rhythmische Explosionen durch das MEV. Gallagher klammerte sich an seine Gurte. »… zum Teufel?«, rief Pettengill, doch seine Frage wurde von dem Dröhnen abgeschnitten. Durch das dreieckige Bullauge schimmerten Sterne. Absprengbolzen detonierten, die runde Hülle des MEV-Decks wurde abgetrennt und fiel vom Schiff ab wie eine Schalenhälfte aus Stahl, die den Blick auf ihre ikosaederförmige Frucht freigab. »Countdown«, sagte Santen. »Fünf Sekunden. Drei. Verankerung losgelöst.« Ein weiteres Beben traf das MEV, das die Nerven stärker als das Material belastete. Das Gefühl des freien Falls, kaum wahrnehmbar, aber dennoch vorhanden, kribbelte durch Gallaghers Beine nach oben. Draußen zogen die Sterne an ihnen vorüber. Das MEV war abgesprengt. »Die Düsen sind einsatzfähig«, sagte Santen mit einem Seufzer. »Bereit zur Zündung.« Gallagher kannte den Rest bereits, hatte es immerhin elfhundertmal in der Simulation mitgemacht. Die K. I. des MEV würde den Sockel zum Landen positionieren und acht kleine Manövrierdüsen in exakt die richtigen Winkel bringen, dann würde aus diesen Düsen genau siebenundzwanzig Sekunden
29
lang gefeuert werden, um die Orbitalgeschwindigkeit abzudrosseln. Die Anziehungskraft des Mars würde dann das MEV in einer langsamen, kontrollierten Bahn nach unten ziehen. Wenn das MEV erst in die Atmosphäre eingedrungen war, würde es der Hitzeschild vor Temperaturen im Bereich von fünfzehnhundert Grad Celsius schützen. Innerhalb von acht Minuten würde der Luftwiderstand in der Atmosphäre das Fahrzeug auf etwa achthundert Stundenkilometer drosseln und Santen die Möglichkeit haben, mittels Fallschirmen oder unter Einsatz von Gasballons zu landen. Bei optimalen Bedingungen könnte er auch versuchen, das Fahrzeug in einer netten, pittoresken Vertikalachsenlandung runterzubringen, überwacht von einer Außenkamera, die man im letzten Moment wieder an Bord bringen würde. Schließlich wollten daheim alle etwas Action sehen. »Wir sind im Anflug!«, rief Santen. »Automatisches Abschusssystem in zehn Sekunden.« Gallagher schätzte Santens sachliche Art. Das wachsende Selbstvertrauen des Piloten linderte zumindest eine seiner zehntausend Ängste. »Alle tief einatmen und Luft anhalten«, wies der Pilot sie an. »Achtung … los!« »Na. Das war gar nicht so schlimm.« Burchenal zog die Nase hoch und schüttelte den Kopf, wobei seine Backen zitterten. »Es tut sich nichts.« Der erste Stoß presste Gallagher in seinen Gurt. Der zweite kam von unten, drehte ihm den Magen um. »Abschuss erfolgreich«, kündigte Santen an. »Der Hurensohn hat sich verspätet. Nach Ende des Abschuss schalte ich auf Handbetrieb um.« »Egal«, sagte Pettengill. »Lande einfach. Das kannst du
30
doch, oder?« »So einfach ist das nicht, mein lieber Assistent«, sagte Burchenal »im falschen Winkel oder mit einem verspäteten Abschuss –« »Ja, ja«, stöhnte Pettengill. »Einen verspäteten Abschuss hatten wir bereits. Ich hoffe unser Megapilot kann das ausgleichen.« Seine Augen verschmälerten sich und blickten Santen an, dessen Augen sich erweiterten, während er sein Kontrollpult betrachtete. »Also gut«, murmelte Santen. »Also gut.« Für die nächsten zweiundzwanzig Minuten während der Landung war allein Santens Stimme über dem Rumpeln, das der Lautstärke eines Güterzugs gleichkam, zu hören. Sein Selbstvertrauen war zu einem vernünftigen Maße zurückgekehrt und er teilte seine Berichterstattung in gleichmäßigem Tonfall mit, war sogar halbwegs erfolgreich dabei, den anderen Mut zu machen. Gallagher fiel auf, dass sich das Feuer in Pettengills Augen abgekühlt hatte, während Burchenals Blick geistige Abwesenheit verriet. Der Mann hatte sich in den Sattel sinken lassen und gab seinem arabischen Hengst die Sporen. In diesem Augenblick hatte sein Leben mit all dem nichts zu tun. Das rotbraune Tal, das von uralten Wasserströmen geformt worden war, rückte immer näher. Die Vibration war zunächst nur sehr schwach spürbar, stieg zu einem stetigen Klopfen an, dann, als das MEV die Atmosphäre des Mars durchstieß, kletterte die Nadel der Richterskala auf acht oder neun hinauf. »Die Temperatur ist viel zu hoch«, sagte Santen mit einer Stimme, die ebenso stark bebte wie das Fahrzeug. »Über zweitausend Grad. Verbrennen werden wir nicht, aber unser Einflugwinkel ist beschissen.« Er drückte mit dem Daumen auf das Touchboard. »Wir sind auf Handsteuerung. Zwei Chips des Navigationssystems sind kaputt. Gerade haben wir den dritten
31
verloren. Immerhin keine Kontamination im Laderaum. Der Augenblick der Wahrheit, Gentlemen. Ich muss mich beim Landen auf mein Gespür verlassen.« »Ich liebe es, wenn mein Pilot so was sagt«, spottete Pettengill. »Wo ist meine Whiskeyflasche?« »Möchte sich mir jemand im Gebet anschließen?«, fragte Chantilas. »Nein!«, schrien Burchenal und Pettengill. »Warum zum Teufel –«, sagte Gallagher. »Will sagen, klar doch.« US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 182. TAG DER MISSION Bowman knallte ihre Ellbogen auf das Touchboard, stützte ihr Kinn auf ihre Hände. Einundzwanzig Bordsysteme weigerten sich noch immer abzuschalten, und fuhren fort, den in einer Endlosschleife gefangenen Befehlen des durch die Ausstöße der Eruption beschädigten Prozessors zu folgen. Stromflüsse schossen durch ihr Board. Die Systeme knackten, flackerten, schalteten sich abwechselnd an und ab. Die Luftschleuse des MEVs hatte sich bereits elf Mal geöffnet und wieder geschlossen und sie wollte in den nächsten Minuten ein Komm-System untersuchen, das nur noch rauschte. Etwas Knallrotes glühte in ihrem Augenwinkel auf. Alarmstufe Rot. Feueralarm. Peng! Der Alarm ging los. Und natürlich hatte sich die automatische Sprinkleranlage bereits abgeschaltet. Mit einer Wut, die ihren Koffeinkonsum in Frage hätte stel-
32
len können, hackte Bowman in die Tastatur des Touchboards. Es gelang ihr schließlich, die Ursache festzustellen: KONTROLLPULT NO. AQ97-BX3, QUERWAND 221, KABINE SECHS. URSACHE: AUSFALL DER STROMISOLATION. Sie musste endlich eine Entscheidung fällen. Sie konnte versuchen, das Feuerschutzsystem in der entsprechenden Kabine zu reaktivieren, aber dann wäre sie das Risiko eingegangen, die Prozessoren dieser Einheit zu rösten, da noch immer Eruptionsabsonderungen durch das Schiff wüteten. Nein, sie würde dort runtergehen und das Feuer selbst bekämpfen. Vielleicht konnte sie das Feuerschutzsystem später noch brauchen. Und unterwegs könnte sie per Hand so viel Stromleitungen wie nur möglich kappen. Bowman ließ den trommelnden Alarm und das blinkende Touchboard hinter sich und duckte sich in den ersten Zugangstunnel, rannte hinein und eilte eine Leiter hinab, die an der Wand eines anderen Zugangstunnels festgenietet war. Sie tauchte in Kabine drei wieder auf. Hydrokultur. Sie bahnte sich den Weg durch Tomaten und Gurken, die von langen, senkrechten Nährstoffröhren hingen, dann fand sie das Hauptkontrollsystem der Kugel. Mit einem Ruck riss sie die Klappe auf und bearbeitete das Touchboard. Eine Phosphorleuchte und UV-Lampe nach der anderen wurden dunkel und wichen der blass-roten Farbe der Notbeleuchtung. Ein Marathonlauf durch einen weiteren Zugangstunnel. Kabine vier, Blumengarten. Abgerundete Wände waren von Orchideen überwuchert. Sieben verschiedene Farben von Rosen streckten sich in einer riesigen Farbsteppe dem gegenüberliegenden Ausgang zu. Gleich dahinter lag das Pult. Berauscht vom Duft der Blumen griff Bowman danach. »Nimm sie mit« »Diese Mission wird unsere Beziehung nicht überstehen.« »Das weißt du nicht.«
33
»Doch, das tue ich. Ich werde lange weg sein.« »Diese Rose ist wie wir. Wenn du sie nicht nimmst, glaubst du vielleicht nicht mehr an uns.« »Das tue ich vielleicht wirklich nicht.« Bowman verfluchte ihre kühlen Erinnerungen, kappte die Stromleitung und sprintete dann auf den nächsten Tunnel zu. Innerhalb weniger Herzschläge überbrückte sie die Distanz und platzte in Kabine fünf, den Freizeitraum der Besatzung. Auf über zehn Meter großen Tafeln leuchtete interaktive Kunst. Sie musste lächeln, als sie Gallaghers Kunstverständnis auf einer Tafel im Hintergrund bemerkte: Man konnte eindeutig eine Frau erkennen, wobei sich die wohlgeformte Silhouette eines Oberschenkels nach oben, der Decke der Kabine entgegenbog. In der Nähe des Oberschenkels lag, hinter einem Rauchschleier rot blinkend, das Hauptkontrollsystem. Drei Befehlseingaben später verblassten die Kunstwerke zu rot beschmierten Schatten. Die Lichter im nächsten Tunnel wurden permanent schwächer, der Rauch verdichtete sich und als Bowman endlich Kabine sechs, das Zentrallabor erreichte, fühlte sie, wie ihr aus dem vor ihr liegenden Dunkel die Hitze des Feuers entgegenkam. Sie atmete kurz und flach und blinzelte sich die Tränen aus ihren Augen, dann biss sie sich durch den Rauch, fand den Feuerlöscher in der Nähe des Eingangs, eilte zurück, und sah gerade noch, wie Flammen die Wand hochkrochen. Viele der Stromkabel des Schiffes waren mit »gvhada« überzogen worden, einem neuen Mittel, das Flammen zurückhalten sollte, aber irgendetwas im Labor musste wohl kaputtgegangen, verschüttet und anschließend von einem Funken, der wohl von den Stromstößen ausgegangen war, entzündet worden sein. Sie stellte den Feuerlöscher bereit. Das große Licht am Griff leuchtete grün auf. Sie schloss ihre Faust um den Auslöser. Das schaumige Gel schleuderte sie rückwärts durch die Luft;
34
zu spät war ihr klar geworden, dass sie wohl zuerst den Druck hätte einstellen müssen. Sie knallte gegen die Wand und schnappte nach Luft, als ihr die Wucht des Aufpralls den Atem raubte. Aber der Schaum hatte sein Ziel erreicht. Ein Teil der Flammen verlöschte. Sie zerrte den Feuerlöscher seitwärts und verringerte den Druck durch ein leichtes Antippen, dann stand sie auf und zielte ein weiteres Mal, erstickte damit die letzten noch übriggebliebenen Flammen. Sie hustete und verzog das Gesicht, fühlte sich aber ziemlich gut bei dem Gedanken, gesiegt zu haben. »Feuer, Kabine sieben«, berichtete die K. I. des Schiffes mit einer kühlen, weiblichen Stimme. »Feuer, Kabine sieben. Rauch, Kabine acht. Rauch, Kabine acht.« Als der Computer mit seiner Berichterstattung zu Ende war, lief sie zum nächsten Zugangstunnel. Dort war die Luft rauchgeschwängert und die Hauptbeleuchtung ausgefallen. Die Eruptionsabsonderungen verbreiteten sich wie Heroin in den Adern des Schiffes. Noch eine Leiter nach unten, dann noch eine. Zwanzig große Schritte durch den nächsten Zugangstunnel – und das MEV-Wartungsdeck tat sich in voller Beleuchtung vor ihr auf. Die Hauptsicherung war links. Sie stürzte darauf zu. Schloss die erste Sicherung. Dann die zweite. Sie fühlte etwas. Blickte nach oben. Mit einem Summen und Knistern blies der Stromstoß die Reihen der Phosphorröhren so heftig weg, dass es ihr den Atem verschlug. Ein reißender Sturm von funkelnden Bruchstücken fiel auf sie herab, sie kollidierten und erzeugten ein Krachen wie Fensterscheiben, die in einem Hurrikan zerbrachen. Sie sprang zur Wand, fand ein wenig Schutz und bemerkte die Feuerwarnung eines nahegelegenen Monitors. Die Hälfte des Schiffes war bereits angegriffen. Mit einem Arm schützte sich Bowman gegen die Überreste
35
fallenden Glases und bewegte sich gleichzeitig über das Deck in Richtung des Vorraums. Sie schob den Verschluss ihres Anzugs zur Seite. Thermalanzug. Ganz einfach. Jetzt wurde es schwierig – der Raumanzug. Zuerst rechtes Bein, dann linkes. Dann erster Verschluss. Helm auf und drüber. Er gab einen bewölkten Blick frei. Zischen von Sauerstoff war zu hören. Der Helm war fest und durchsichtig. Sie rannte zum Wartungsdeck zurück, auf das Hauptkontrollsystem zu und checkte die Lage der Luken. Sechzehn davon waren offen, drei geschlossen. Sie gab den Befehl ein, die drei übrig gebliebenen auch noch zu öffnen. Es tat sich nichts. Dann nahm sie durch das leistungsstarke Außenmikrofon ihres Anzuges ein fernes Grollen wahr. Die 3D-Darstellung auf dem Monitor lieferte das entsprechende Bild. Alle Schleusen waren nun offen. Resigniert presste sie ihre Lippen zusammen und gab den Befehl ein, den sie am meisten hasste: LEBENSERHALTUNGSSYSTEM DEAKTIVIEREN. Kein Geräusch außer ihrem Atem. Dunkelheit, außer der Lampe des Hauptkontrollsystems. Das Schiff war tot, nur sie brannte noch. Ein Paar Sicherheitsbefestigungen hingen an einziehbaren Leinen an der Wand nahe der Hauptschleuse. Bowman befestigte beide Leinen an den Stahlhaken ihres Anzugs, zog die Schnur etwas weiter heraus und bewegte sich anschließend auf die Schleuse zu. Um in dem Weltraum hinauszusteigen, brauchte man einen Code. Bowman gab die Nummern in den Computer ein. »Achtung. Hauptschleuse aktiviert«, dröhnte die blecherne Stimme der Schleusen-K. I. »Atmosphärenverlust in zwanzig Sekunden. Die Möglichkeit abzubrechen, läuft in zehn Sekunden ab.« Sie verstärkte ihren Griff um die Ketten, rammte ihre Stiefel in den Boden –
36
»Das Öffnen der Schleusen kann nun nicht mehr gestoppt werden.« – und hielt ihren Atem an. Wartete. Mit einem Rumpeln öffneten sich die Türen, wobei ein surrealistischer Luftstrom entstand, der wie aus einem JeanCocteau-Film wirkte. Flammenzungen, Becher, Notebooks, Aspirinfläschen, Boxer-Shorts, freie Datenplatten, Rasierklingen, Wasserflaschen, Reagenzgläser, Hausschuhe, Tampons, ein paar Hawaiihemden, Bleistifte, einige Kaffeekannen und eine Flasche »Old Spice«-Rasierwasser rasten an ihr vorüber. Ein Haufen Schwarz-weiß-Fotos von einem arabischen Pferd blieben an Bowmans Helm hängen, ebenso wie zwei gusseiserne Modellwagen von NASCAR-Rennautos und ein Modell eines atomgetriebenen U-Bootes der »Ohio«-Klasse. Rivinskys terminologisches Wörterbuch der »Neulandgewinnung« prallte an ihrem Schienbein ab, ebenso wie eine Flasche »Genfer Muskelmasse« und eine Bibel. Und dann kam der Garten. Gurken, Kohl, Tomaten, fünfzehn Arten von Salat, Kräutern und Schösslingen, gefolgt von tausenden von Blumenzwiebeln, die von ihren Stängeln gerissen worden waren. Gerade als das Farbgestöber Bowman überschüttete, entwich der Rest der Luft. Die restlichen Knollen blieben in der Schwerelosigkeit hängen und drifteten träge zur Schleuse hin, während sich draußen im All die Luft zu einer riesigen weißen Trümmerwolke kristallisierte. Auf dem Bildschirm flackerten die Feuerwarnungen noch kurz für ein, zwei Sekunden auf, dann erloschen auch sie. Bowman stieß sich von der Wand ab und glitt auf die Hauptschleuse zu, vermied den Blick in die schwindelerregende Leere und drückte den Knopf zum Verriegeln. Jetzt atmen. Nur atmen. Zittern. Dunkelheit. Nach dem Lichtschalter des Raumanzugs tasten. Allein. Totes Schiff. Millionen von Kilometern von der Heimat entfernt.
37
MARSEINTRITTSVEHIKEL NÖRDLICHE HEMISPHÄRE, MARS 182. TAG DER MISSION Gallagher schlug mit der Faust auf den Notausstieg der Luke, und die Tür wurde nach außen hin aufgesprengt. Zu beiden Seiten des MEVs zischten Gasballons und ließen Luft ab. Der Ikosaeder hatte begonnen, sich zu entfalten, aber ein Drittel des Fahrzeugs lag übel zugerichtet und vergraben in dem rötlichbraunen Boden. Für eine Sekunde klärte sich Gallaghers Blickfeld und ein hellrosa Faden mit hellblauen Ranken ließ ihn an der Schleuse wie angewurzelt stehen bleiben. Er bewegte sich nach vorne, stolperte über etwas – vermutlich ein Stein – und untersuchte den pulverfeinen Sand, indem er seinen Helm mit dem Gesicht zuerst hineindrückte. Wut stieg in Gallagher auf, während er sich umdrehte; über ihm glitzerte der Himmel voller Pastellfarben. »So war das nicht geplant.« Und dies waren, wie ihm plötzlich einfiel, die ersten Worte, die der erste Mensch auf dem Mars von sich gegeben hatte.
38
Vier MARS-1, RAUMFAHRTKONTROLLZENTRUM JOHNSON SPACE CENTER, HOUSTON NEUN TAGE VOR MISSIONSBEGINN Da die Giftstoffkonzentration in der Luft diese Woche besonders hoch war und an der NASA Road Nummer 1601 ein Düsenjet Loopings flog, hatte Gallagher als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme seine Jacke mit Kapuze, seine Handschuhe und sein Atemgerät angezogen, bevor er über den Parkplatz schlurfte. Eine dichte, graue Wolkendecke hüllte das über sechs Quadratkilometer große Gelände ein. Der Wegrand war mit blinkenden blauen Lichtern gesäumt, die dem dichten Nebel trotzten und Gallagher zu einem rechteckigen, zweistöckigen Bürohaus führte – dem Pressezentrum, das man eigens für die Mars-1 Mission gebaut hatte. Der Sicherheitsbeamte Jim Krecitz bewachte die Schleuse. Sein weißes Haar flatterte im übelriechenden Wind und seine Stimme klang gedämpft durch sein Atemgerät. »Guten Morgen, Sir.« »Wieder zum Wacheschieben verdonnert, Jimmy?« Der beleibte Wachmann tippte einen Zahlencode ein, bevor er antwortete. »Verdonnert würde ich nicht sagen. Immerhin kann ich Ihnen allen »Hallo« sagen. Und ich habe ein paar neue Pillen, die gegen den Aufenthalt im Freien schützen. Eigentlich fühle ich mich in letzter Zeit ganz gut.« »Na, Jimmy, wenn alles gut geht, werden Sie diese Pillen nicht mehr brauchen.« »Na, viel Glück. Aber ich glaube nicht, dass das wirklich passieren wird. Jedenfalls nicht zu meinen Lebzeiten.« 39
Gallagher nickte ernst, dann ging er durch die Schleuse. Als der Luftaustausch abgeschlossen war, zischten die inneren Türen auf. Etwa vierhundert Journalisten waren bereits in der breiten, hufeisenförmigen Halle für Einsatzbesprechungen versammelt, einige saßen und berieten sich miteinander, andere standen in kleineren Gruppen an der Wand zusammen. Jede Menge Presseleute hatten sich rings um das Podium und unterhalb der zwanzig mal sechzig Meter großen Videoleinwand positioniert, ihre Rucksäcke über die Schultern geworfen und waren an ihren Kameras zugange. Die Fotoapparate blitzten auf und das Gemurmel schwoll an, als Gallagher sein Atemgerät abnahm, seine Jacke und seine Handschuhe auszog und die Treppe hinunterstieg. Er bewegte sich an der Mittelreihe vorbei und nahm seinen Platz neben Burchenal ein, der seinen Kopf leicht zur Seite neigte und ihm ein kleines, drahtloses Mikrofon reichte, das Gallagher an seinem Kragen befestigte. Pettengill, Chantilas, Bowman und Santen hatten bereits die für sie reservierten Sitze eingenommen und Gallagher kam nicht umhin, sie sich als gelangweilte Affen vorzustellen, die in den Overalls der Mission gekleidet waren. Von Anfang an hatte er sich nicht des Gefühls erwehren können, dass er und der Rest nur ein weiteres wissenschaftliches Experiment waren, ein Experiment um herauszufinden, warum ein anderes Experiment fehlgelaufen war. »Die Sache hätte um neun anfangen sollen«, sagte Bowman mit einem Stöhnen. »Nun, da das wichtigste Mitglied unserer Besatzung eingetroffen ist, können wir ja anfangen.« Santen grinste ihn hündisch an. »Also gut«, sagte Chantilas. »Harry ist hier. Es geht los.« Harold Ernest, ein ranghoher Wissenschaftler, hievte seinen sechsundsechzig Jahre alten Körper die drei Stufen zum Podest hinauf und rückte seine Ansteckkrawatte gerade, während er
40
auf das Podium zusteuerte. »Betrachte dich einfach als ein Antikörper«, hatte Harry einmal zu Gallagher gesagt. »Du existierst erst dann, wenn es ein Problem gibt.« Gallagher hatte höflich genickt und, während er dem Mann sagte, dass er seinen Ratschlag zu schätzen wusste, gedacht, er solle ihn am Arsch lecken. Die Beleuchtung wurde gedämpft. Gallagher richtete sich auf und entspannte sich. Er stand kurz davor, mit offenen Augen einzuschlafen. »Guten Morgen. Ich werde mir die einführenden Bemerkungen sparen, obwohl man mir trotzdem vorwerfen wird, langatmig zu sein. Außerdem möchte ich noch hinzufügen, dass wir den eigentlichen Grund unserer Mission bis jetzt geheim gehalten haben, aus Gründen, die ich ihnen in Kürze gerne erläutern werde. Zuerst eine kleine Geschichtsstunde. Um unsere Zukunft zu beeinflussen, ist es notwendig, die Vergangenheit zu verstehen. Nun denn, wie viele von Ihnen bereits wissen, fingen wir im Jahre 2020 damit an, eine Reihe unbemannter Flüge zum Mars zu unternehmen, machten dort weiter, wo unsere Kollegen Anfang des Jahrhunderts aufgehört hatten.« Über dem immensen Videobildschirm hinter ihm verbreiteten sich Lichtpunkte, wurden heller, bildeten ein Sternenfeld, das plötzlich vorbeisauste, als sich das Bild nach rechts verschob, um dem Mars Polar Lander III zu folgen, wie er durch den Weltraum segelte, einem leuchtenden kupferfarbenen Insekt gleich, das auf Antennen aufgespießt war und einen frisbeeartigen Hitzeschild hinter sich herzog. »Wir hatten festgestellt, dass der Mars kein Leben beherbergt. Obwohl er anfangs, vor vier Milliarden Jahren, die selben Rohstoffe wie die Erde besaß, konnte sich auf dem Mars, in den letzten dreihundert Millionen Jahren, kein intelligenteres Leben als die Mikrobe entwickeln.«
41
Als Ernest mit seinem Vortrag fertig war, erstarrten die Bilder auf dem Bildschirm, die die Geschichte des Mars in vier Phasen erläuterten. Der Planet drehte sich und teilte sich in eine dünne Kruste und einem winzigen nicht wärmeleitfähigen Kern. Tausende von Meteoren schlugen auf der Oberfläche ein, beschädigten die Kruste und entfesselten Lavaströme, die in die vielen Täler flossen. Das Wasser strömte in große Kanäle und die Atmosphäre verdichtete sich. Nach einigen Sekunden – Sekunden, die wohl Millionen von Jahren darstellten – kühlte der Planet schnell ab, die Flüsse erhärteten sich und unterhalb der Oberfläche gefror das Wasser. Schließlich verdünnte sich die Atmosphäre und die Kruste wurde dicker. Gallagher gähnte, während er beobachtete, wie der Mars schließlich in der Computeranimation Gestalt annahm. »Und, Ladys und Gentlemen, bis vor dreißig Jahren befand sich der Mars in der vierten Phase seiner Entwicklung, dem langsamen Verfall. Die Vulkanaktivitäten haben wohl vor etwa einer Milliarde Jahren ihren Höhepunkt erreicht und die langsame Erosion hat die vulkanischen Beschaffenheiten und Einschlagskrater abgetragen. Ironischerweise ist es diese Phase des Verfalls, die den Mars für unser Projekt der »Neulandgewinnung« so ideal macht. Wir sind zu dem Entschluss gelangt, dass, falls es uns gelingen sollte, die Temperatur des Planeten durch vorsichtig platzierte Polarexplosionen um lediglich vier Grad zu erhöhen, das daraus resultierende Schmelzen der Polkappen die Atmosphäre verdichten würde, was wiederum zu größerer Wärmespeicherung führen würde. Dies würde die Eiskappen weiter schmelzen lassen. Außerdem müssten wir den Sauerstoffgehalt in der Atmosphäre erhöhen. Als Resultat haben wir eine Reihe von Sonden losgeschickt, wobei jede zunehmend mehr genmanipulierte Flechten und Algen abgelassen hat, die eigens entwickelt wurden, um den Unannehmlichkeiten der Marsumwelt zu widerstehen und da-
42
bei den Sauerstoffgehalt der Atmosphäre zu erhöhen. Innerhalb der letzten achtundzwanzig Jahre haben wir über zweihunderttausend Sonden losgeschickt.« Auf dem Bildschirm leuchtete eine dieser Sonden auf, die Kamera folgte ihr als sie ein Loch in die Marsatmosphäre stach, um dann die Oberfläche zu besprühen. Das Bild zoomte auf den Regen ein, der sich in Pfützen, Strömen, Nebenflüssen sammelte. Die Flüssigkeit verdunkelte sich und Algen blühten darin auf, die lebhaften Farben setzten sich vom trüben Sand ab. Schwarze Bergrücken fielen zu Tälern gebrannter Siena ab. Blaue Hügelketten wurden zu grün-schwarzen Becken. Dunkelrote Steilhänge ragten über orangefarbene, mit Lava gefüllte Gruben. »Die Durchschnittstemperatur auf dem Mars ist in den letzten drei Jahrzehnten um zweieinhalb Grad angestiegen. Auch der Sauerstoffgehalt hat zugenommen.« Als die Kamera wieder den Blickwinkel des Satelliten einnahm, schrumpften die Bergrücken, Hügelketten, Täler und Ebenen zusammen. Farbkleckse sickerten in den Boden ein, als ob die symbiotische Beziehung zwischen den Algen und Flechten unterbrochen worden wäre. »Vor elf Monaten begann der Sauerstoffgehalt auf dem Mars plötzlich abzunehmen. Kurz darauf hörten unsere, auf dem Planeten stationierten, ferngesteuerten Sensoren auf zu funktionieren. Wir haben die Fernmessungen untersucht. Wir haben keine Ahnung, was fehlgelaufen ist. Die Algen verschwinden. Wir müssen wissen, warum. Das Schicksal der Menschheit könnte in dieser Antwort liegen.« Ernest hob seine buschige, graue Augenbraue und blickte Gallagher und die anderen an. »Aufgeht’s, Filmstars«, flüsterte Bowman laut. »Bringt eueren Hintern hoch.« Auf Zehenspitzen gingen sie im Schatten nach vorne, während Ernest weiterredete.
43
»Ladys und Gentlemen, wir stehen kurz davor, die wichtigste Mission in der Geschichte der menschlichen Forschung zu starten. Aus einer Anzahl von Schwerfrachtschiffen und einem umgebauten Mondfrachtschiff ist es uns gelungen, ein Schiff zu bauen, das in der Lage ist, zum Mars zu reisen.« Die Mars-1 fuhr aus ihrem Dock, der veralteten aber vielgenutzten International Space Station, dann rumpelte sie über den Bildschirm. Kugeln drehten sich in einer Art grandiosem Konzert der Technik, das Sonnenlicht glänzte auf den Ringen und Sonnenkollektoren. Gallagher bekam Gänsehaut und schimpfte sich einen Idioten. Dann fiel ihm ein, dass er das Recht hatte, sich benommen zu fühlen. Wie viele Menschen auf diesem Planeten konnten schon sagen: »Ich gehe zum Mars.« Nur sechs. Mehr nicht. Die Mars-1 verblasste und enthüllte einen riesigen Hangar. Im Inneren arbeiteten Hunderte von Technikern in blitzblanken Anzügen an fünf Traglufthallen, die durch dreieckige Durchgänge miteinander verbunden waren; die ganze Angelegenheit erinnerte an eine Miniaturstadt auf Titanaufstellern. »Da ist sie, Ladys«, flüsterte Santen. »Das Mars Hilton.« »Vor drei Monaten wurde die HAB Eins gestartet, ein unbemanntes Lebenshabitat«, erklärte Ernest. »Unsere Astronauten werden in dieser kargen Umwelt bis zu zwei Jahre lang leben und arbeiten. Die Einrichtung grenzt an ein Wunder. Und in nur neun Tagen wird die Mars-1, unsere erste bemannte Mission, zum Mars geschickt werden.« Bowman führte sie auf das Podest hinauf. Gallagher reihte sich ein, so wie man es ihm gesagt hatte, als ihm mit einem Mal auffiel, dass er auf die Toilette musste. Zu spät. Die Scheinwerfer, die im Boden des Podests eingelassen waren, strahlten sie an. »Ladys und Gentlemen, ich präsentiere ihnen die ersten Männer und die Frau, die zum nächsten Planeten unseres Son-
44
nensystems reisen werden.« Die Geste des alten Mannes versetzte die Journalisten in helle Aufregung. Gallagher blinzelte in ein erneutes Blitzlichtgewitter, während der Applaus so laut anschwoll, dass er glaubte, er berühre seine Wangen. Die Scheinwerfer wurden gedämpft, ein einzelner schien auf Bowman. »Mission Commander Katherine Bowman wird den Flug unserer Mission überwachen. Commander Bowman ist eine ehemalige Pilotin der US-Navy mit über zweiundzwanzighundert Stunden Weltraumerfahrung. Air Force Pilot und Missionsspezialist Ted Santen wird ihr assistieren.« Ja, der große Athlet genoss das Rampenlicht. Er winkte, zwinkerte, dann atmete er tief ein und plusterte sich auf. »Und es ist uns eine Ehre, dass Dr. Bud Chantilas seinen Ruhestand verlassen hat, um als unser Wissenschaftsoffizier zu dienen. Bud hat einen Nobelpreis für Chemie und Erfahrung, wie nur wenige seiner Kollegen. Er war gerade dabei, einen weiteren Doktor zu machen, diesmal in …« Ernest schaute auf sein Notebook. »… Theologie, als wir ihn baten, sich uns anzuschließen.« Das Licht fiel auf Pettengill. Er blinzelte, zwang sich zu einem Lächeln, und Gallagher wusste, dass der Wissenschaftler für Neulandgewinnung jeden Augenblick hier hasste. »Doktor Chip Pettengill, der bis vor kurzem den Posten des Assistenzdirektors im Amt für Neulandgewinnung innehatte, ein Experte in extremophiler und kryoendolithischer Biologie. Und als nächstes haben wir Doktor Quinn Burchenal, der früher bei Western BioTech gearbeitet hat und der das einzige Mitglied unseres Teams mit einem MacGregor-Preis in Biotechnik ist. Der gute Herr Doktor ist ein berühmter Genetiker und ein Experte für Biosysteme. Wir haben ihn aus dem Privatsektor weggelockt, damit er sich uns anschließt.« Burchenal konnte sich gerade noch zu einem knappen Kopf-
45
nicken aufraffen, was für ihn schon an Anstrengung grenzte. Gallagher hatte ihn früher einmal im Fernsehen gesehen, das Genie mit mehr Auszeichnungen als Gott selbst, wie er die neuesten Entwicklungen von BioTech anpries. Burchenal hatte scheinbar schon einige Erfahrungen mit der Presse. Unbeweglich stand er da, sein Gesicht wie aus Holz geschnitzt. »Und schließlich haben wir noch Robert Gallagher.« »Der Klempner«, murmelte Santen zu Bowman, aber da sein Mikrofon angeschaltet war, konnte der ganze Saal das Echo dieses Kommentars hören. Gallagher schaltete sein eigenes Mikrofon an und beugte sich vor, um Santen direkt in die Augen sehen zu können. »Weltraumklempner, bitteschön.« Die Journalisten schüttelten sich vor Lachen. Santen öffnete seinen Mund, aber Gallagher kam ihm zuvor. »Wenn zweihundert Millionen Meilen vom nächsten Haushaltswarenladen die Toiletten kaputtgehen, werden sie nach mir rufen. Das heißt, sie haben bereits nach mir gerufen, denn sonst wäre es zu spät.« Großes Gelächter. Ernest hob seine Hände nach oben, um sie zu beruhigen. »Genau gesagt ist Mr. Gallagher Ingenieur für Mechaniksysteme und seine Zeugnisse sind genauso herausragend wie die seiner Kollegen. Wir sind froh, ihn bei uns zu haben.« Ernest holt tief Luft. Er sprach weiter: »Wir stehen hier an der Schwelle des triumphalsten Augenblicks des Jahrtausends. Die Wissenschaft hat uns hierher gebracht und die Wissenschaft wird uns noch weiter bringen.« Gallagher ließ seine Augen über das Meer aus Gesichtern wandern. Großkotzigkeit war hier völlig fehl am Platz. Es würde vom Erfolg seiner Kameraden und ihm abhängen, ob die Kinder und Enkel dieser Menschen hier das nächste Jahrtausend erleben würden. Er trug diese Bürde mit Stolz, aber es war dennoch eine schreckliche Last.
46
Fünf MARSEINTRITTSVEHIKEL NÖRDLICHE HEMISPHÄRE, MARS 182. TAG DER MISSION Die Erinnerung an den Eintritt in die Marsatmosphäre wurde bei Gallagher sofort wieder wachgerufen, als er auf dem Boden lag. Zehntausend Meter. Ein weiteres Mal mussten Absprengbolzen gezündet werden. Ein gewaltiges Zucken. Fallschirmschacht aktiviert und eins, zwei, drei … der Hauptschirm öffnete sich. Die plötzliche Verlangsamung drückte Gallagher in seine Liege, seine Augenlider flatterten, seine Pupillen rollten nach hinten, die Welt wurde um die Ränder herum dunkel. Eine Minute. Zwei. Die Schwerkraft ließ nach. »Äh, wir sind immer noch vom Ziel entfernt. Das Terrain ist beschissen«, sagte Santen. Chantilas zog die Nase hoch. »Finde eine neue Landezone für uns.« »Keine Zeit. Ballons aktiviert.« Angekündigt durch ein dreifaches Donnern, öffneten sich die Gasballons an der Seite des MEVs und hüllten beim Aufblasen das gesamte Schiff ein. »Hundertzweiundfünfzig Meter«, schrie Santen. »Drei. Jetzt kommt’s.« Gallaghers Hals und Magen sanken bis zu seinen Knien, als das MEV auf dem zerklüfteten Terrain aufprallte, dann noch einmal und noch mal und noch mal – wie ein Kirmeskarussell, das von einem zahnlosen alten Mann gesteuert wurde, der an einer halbleeren Flasche Jack Daniels hing. Eine weitere Erinnerung überkam Gallagher. Chantilas. Mein 47
Gott. Chantilas! Der Sitz des Wissenschaftsoffiziers war von der Wand gerissen worden. »Mr. Gallagher. Brauchen Hilfe!«, befahl Santen. Gallagher setzte sich auf, wartete bis das Schwindelgefühl vorbei war, dann stand er auf und ging vorsichtig zur Schleuse zurück. Santen stand da, seine Arme umklammerten Chantilas, der vor Schmerz zusammenzuckte. Gallagher nahm einen von Chantilas Armen auf seine Schulter. Sie bewegten sich vom MEV weg, dann ließ Gallagher Chantilas auf einem ebenerdigen Stück Boden nieder. Der Wissenschaftsoffizier lag auf seinem Rücken, Augen geschlossen, sein Atem kam in abgehackten Stößen. »Bud, bist du noch da, Mann? Wir haben’s geschafft. Wir sind auf dem Mars.« »Hebt mich ein wenig an. Ich will ihn sehen.« Wassereiswolken sammelten sich am Marshimmel, Dutzende von Blauschattierungen stellten ebensoviele rosafarbene in den Schatten. Die Wolken hatten eine blaue Farbe, weil ihre Eispartikel ein Tausendstel der Dichte eines menschlichen Haares hatten und in blauem Licht hell zu sehen waren, in rotem Licht jedoch fast unsichtbar erschienen. Gallagher hatte unzählige Fotos und 3D-Projektionen des Marshimmels untersucht, aber keine war dieser Vorstellung wirklich nahe gekommen. Auf der anderen Seite bot die Landschaft die vorhersehbare Ansammlung von schwer mit Felsgestein übersäten Hügeln, deren gefleckte Färbung den Reichtum an Eisenoxiden ahnen ließen. Ein paar zwei, drei Meter hohe Ausbrüche markierten einen trügerischen Hindernislauf, der auf zwei Gipfel in der Ferne zulief, wobei der linke etwas höher und spitzer als sein Bruder auf der rechten Seite war. Diese Gipfel stellten klar erkennbare Merkmale dar, doch Gallagher erkannte sie nicht. »Bud, hast du irgendeine Ahnung wo wir sind?«
48
»Noch nicht.« »Untersucht eure Anzüge auf Schäden«, sagte Santen. »Helft euch gegenseitig.« Gallagher griff nach Chantilas Handgelenk und drückte auf einen Knopf, befahl der K. I. des Anzugs eine SechsSekunden-Diagnose durchzuführen. »Wer hat den ersten Schritt getan?«, fragte Chantilas schwach. »Was?« »Der Erste auf dem Mars. Wer war es?« »Ah, ich, vermutlich.« Chantilas schaffte es zu lächeln. »Herzlichen Glückwunsch, Junge. Du gehst in die Geschichte ein.« »Bud, es tut mir leid, ich hab nicht aufgepasst. Es sollte dein Schritt sein.« »Vergiss es. Bring mich zu dem Felsen da drüben. Ich will mich aufrecht hinsetzen. Dann sei so gut und hol mir den Medizincomputer.« Da er sah, dass Chantilas Raumanzug mit der Analyse fertig war, hob Gallagher den Mann an und half ihm auf den ein Meter hohen Felsen vor ihnen. Als Chantilas dagegenlehnte, ging Gallagher zum MEV zurück und holte den Medizincomputer, einen kleinen, kraftvollen Medi-Scanner samt Datenbank. Er reichte den Computer weiter, dann eilte er zum Laderaum des MEVs zurück, um eine Oberflächeninspektion der Schäden vorzunehmen. Und wünschte sich, er hätte das nicht getan. Er kam aus dem Laderaum, während Santen gerade damit fertig war, einige Befehle in sein Notebook zu tippen. »Bericht?« »Das Kommunikationssystem ist kaputt. Für Redundanz bleibt keinerlei Energie übrig. AMEE ist völlig zerstört. Was das Startsystem angeht … nun, ich komme noch nicht mal ran.«
49
Burchenal marschierte auf sie zu und sah genauso niedergeschlagen aus, wie Gallagher sich fühlte. »Die Forschungsausrüstung ist auch K.O. Wir können weder den Boden analysieren, noch die Atmosphäre – gar nichts.« Santen wandte seinen Blick ab. »Mist!« »Mission vorüber«, stöhnte Pettengill und wirbelte eine Wolke feinen Staubes auf. »Die Mission ist noch nicht vorüber.« Santen wirkte gedankenverloren. »Ach wirklich? Hast du was verpasst? Wir haben unsere Forschungsausrüstung verloren. Wir können das, wozu wir hergekommen sind, nicht durchführen.« Santen unterbrach seine Gedanken, um Pettengill anzustarren. »Hör auf rumzujammern« »He, du Fliegerass, du hast auf diesem Felsen geparkt.« Mit zwei Schritten stand er direkt vor Pettengill und sah ihm ins Gesicht. »He, Scheißkopf, es gibt immer Risiken.« »Was im Moment zählt, ist das Habitat zu finden«, unterbrach Chantilas und bekam einen Hustenanfall. Der Konflikt war noch nicht vorbei, Pettengill lief rot an und rührte sich nicht. Santen, der die gleiche Farbe angenommen hatte, warf einen Blick auf Chantilas. »Wenn Bowman hier wäre …«, fing Gallagher an. »Also gut«, sagte Santen und seine Stimme wurde etwas sanfter, als er seinen Computer hochhob. »Ich glaube, wir sind irgendwo in der Nähe des Zielgebietes. Computer, ich brauche die ursprüngliche Landezone des Habitats. Vergrößere und beziehe das umliegende Gebiet mit ein. Umdrehung von 360 Grad.« Auf dem Monitor des buchförmigen Computers leuchteten Dateien auf, topographische Landkarten wurden hochgeladen, eine davon ausgewählt. Ein paar Sekunden lang musterte Santen die Karte, dann be-
50
fahl er dem Computer die Landungszone des HAB zu vergrößern. Burchenal, Pettengill und Gallagher zogen ihre eigenen Notebooks aus ihren Hüfttaschen und gaben Santens Daten ein. »Zieht man den letzten, zuverlässigen Navigationsstatus in Betracht, würde ich sagen, dass wir uns innerhalb dieses sechzig mal einundzwanzig Kilometer großen Gebiets befinden.« Gallagher starrte auf das Areal, das auf seinem Bildschirm markiert war. »Wir haben uns total verirrt.« »Nein«, beharrte Burchenal. »Hier drin sind alle Missionsdaten gespeichert. Wir müssen uns nur den Variablen des Gebiets annähern. Den Kreis verkleinern. Alles nur eine Frage der Mathematik.« Mit schneller, monotoner Stimme begann er seinen Computer nach den Variablen zu fragen. Ein schelmisches Grinsen zeichnete sich auf Gallaghers Mundwinkeln ab. »Das ist er. Der Tag, von dem sie uns in der Schule erzählt haben, an dem Algebra unser Leben retten würde.« »Ruhe!«, schnauzte Burchenal. »Das habe ich in der Schule auch oft gehört.« Während die drei Mathegenies in ein Gespräch über Koeffizienz und Luftwiderstand gerieten, schob Gallagher seinen Computer wieder in seine Tasche zurück und machte sich auf den Weg zu Chantilas, der auf den Monitor des Medizincomputers starrte. »Wie fühlst du dich?« Chantilas ignorierte ihn. »Bud?« »Lass mich!« Der Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Gallagher wandte sich ab, angezogen von dem kirschroten Ausblick, der sich ihm bot. Er konnte es noch immer nicht
51
ganz fassen. Der Mars. Ein fremder Planet. Vielleicht werde ich hier sterben. Von dem Gedanken angespornt, griff er nach seinem Notebook und rief die Details des Habitats auf. Er musterte eingehend die topographische Karte und sah sich dann seine eigene Position an. Verdammt noch mal, das war es. Aufgeregt stürmte er auf die Gruppe zu. »He, Leute?« »Was?«, fragte Santen und blickte ihn wegen der Unterbrechung strafend an. »Ich glaube, es hat mit Mathe nichts zu tun. Ich glaube, es hat mit dem Bild zu tun.« Santen runzelte seine Augenbrauen. »Was für ein Bild?« »Dieses hier.« Er hielt ihnen sein Notebook hin. Die drei versammelten sich, um Gallaghers Bildschirm zu mustern. Burchenal warf einen Blick darauf und fluchte. »Wir sind nicht auf dem Bild. Wenn ja, dann wüssten wir, wo das Habitat ist.« Seine Augen traten hervor. »Verstehen Sie, Mr. Gallagher? Genau das versuchen wir herauszufinden.« Gallagher ignorierte den Mann, hob einen Stein auf, um diesen anschließend wieder in den Sand zu werfen. Er richtete sein Notebook auf den Gesteinsbrocken und befahl dem Computer, ein Hologramm der Landschaft zu projizieren. Das Bild umschlang den Stein wie ein undurchsichtiger glühender Ring, erschuf eine Miniaturlandschaft, deren Achse der Gesteinsbrocken war. Er nickte mit dem Kopf in Richtung des Steins. »Sagen wir, das ist das Habitat. Ungefähr dreißig Grad entfernt. Es schaut auf einen Berg mit einer ulkigen Spitze. Bei etwa einhundertachtzig Grad schaut es in Richtung dieser Gipfelgruppierung, wobei der eine davon etwas größer ist als der andere.« Gallagher entfernte sich von der Gruppe und deutete auf den Horizont. »Nun, ich sehe den Berg da drüben. Und
52
diese Gipfel.« Er drehte sich um zwanzig Grad. »Und dann vielleicht diesen Gipfel.« Es dauerte eine Weile, bis Santen und Pettengill begriffen hatten. »Seht ihr, wenn ich recht habe, dann befindet sich unser Ausgangspunkt auf einer Linie, ungefähr hier«, sagte er und deutete mit seinem Finger in die Luft. »Das würde bedeuten, dass der Winkel mit dem Habitat ungefähr hier ist.« Er grub seinen Stiefel in den Sand und machte einen Karateschlag um die Richtung anzugeben. Santen schaute auf sein Notebook. »Weltraumklempner erster Klasse Gallagher, gut gemacht.« Dann befahl er seinem Notebook, die Koordinaten der gescannten Bilder im Vergleich zu denen, die vom Panorama des Habitats ausgingen, zu berechnen. Innerhalb von vier Sekunden kamen die Daten durch. Santen schnitt eine Grimasse. »Wir müssen etwa acht Stunden laufen.« Pettengill rollte sein Handgelenk, schüttelte seinen Kopf als er die Anzeige seines Raumanzugs las. »Unsere Thermalbatterien werden in etwas sechs Stunden leer sein, dann erfrieren wir. Und ich habe nur sieben Stunden und achtundzwanzig Minuten Sauerstoff übrig. Ich glaube, ungefähr ist das entscheidende Wort hier.« »Los geht’s«, sagte Santen. »Wir lassen alles zurück. Wir können später alles bergen.« Gallagher fiel hinter den anderen zurück, während der Pilot sie zu Chantilas führte, der mittlerweile seinen Unterleib umklammert hielt. Santen beugte sich zu dem verwundeten Wissenschaftsoffizier hinunter. »Wir müssen los, Chantilas.« Chantilas hob sein Kinn an, sein Gesicht war wachsfarben und blass. Selbst diese einfache Bewegung rief bei ihm eine schmerzverzerrte Grimasse hervor. »Ich werde leider hier bleiben.«
53
»Was redest du da?«, fragte Gallagher, ging um Santen herum auf ihn zu, kniete nieder und legte eine Hand auf Chantilas Schulter. »So ist das nun mal mit der Milz. Sie ist bei Schlägen gegen den Unterleib leicht anfällig. Ist sie einmal gerissen, ist der Blutverlust enorm. Und schnell tödlich.« »Wir haben eine medizinische Notausrüstung im Habitat«, warf Burchenal ein. »Du kannst uns erklären, wie sie funktioniert.« »Wenn ihr versucht, mich zu tragen, werdet ihr langsamer«, entgegnete Chantilas. »Bis wir dort ankommen, sind wir alle erstickt.« Gallagher hielt Santen am Arm fest. »Wir müssen ihn dort hinbringen. Wir müssen ihm helfen.« »Gallagher«, warnte ihn Chantilas. »Santen. Mensch …« Doch der Pilot blickte durch Gallagher hindurch. »Er muss nein sagen«, sagte Chantilas mit schmerzverzerrter Stimme. »Aber ich werde ihm die Worte ersparen. Ich gehe nicht.« Betroffen starrte Gallagher diesen Mann an, seinen Mentor, seine Vaterfigur hier in der Fremde. Er konnte sich niemanden vorstellen, der es mehr verdient hatte, hier zu sein. Doch ein solches Schicksal? Warum? Ein gefürchteter Augenblick. Ernste Gesichter starrten Gallagher an. Dann, von der Stille sichtlich entnervt, atmete Chantilas tief ein. »Ihr alle wisst, was ihr zu tun habt. Überleben und mit der Mission fortfahren. Es wird nicht einfach werden. Ihr braucht Glauben. Die selbe Art von Glauben, die die Menschheit in uns hat. Jetzt, bitte … geht. Ich kann euch versichern, dass ich innerhalb der nächsten zehn Minuten unter Schock stehen werde. Mein Blutdruck fällt bereits. Dann wird mir kalt und klamm
54
werden, und etwa fünf Minuten später werde ich euch Arschlöcher von oben auslachen.« Santen trottete weg. »Er hat Recht, Gentlemen. Weitergehen.« Gallagher stand da und schaute zu, wie die anderen weggingen. Dann sah er Chantilas schwachen Blick. »Bud, ich wollte –« »Schon in Ordnung. Ich habe den Mars gesehen …« Hätte Gallagher auch nur eine Sekunde länger verharrt, wäre er zusammengebrochen. Er rannte weg, der Boden knirschte unter seinen Stiefeln. »Sucht nach dem Felsen«, keuchte Chantilas. Dieser Satz brachte Gallagher zum Stehen. Er drehte sich langsam um, salutierte schwach, dann beeilte er sich, die Gruppe einzuholen. Ja, es ist in Ordnung, dachte Bud Chantilas, als er die vier Gestalten beobachtete, die in der Ferne über einem Hügel verschwanden. Kurzatmig, kaum noch am Leben, senkte er seinen Blick auf einen nahe gelegenen Stein. Er führte seine Finger um den Stein herum, grub eine Umlaufbahn in den Sand, dann zeichnete er eine Reihe dünner Striche um den Stein, sein letzter Zen-Garten. Komisch. Er hatte eine Vorahnung seines eigenen Todes gehabt, die ihn dazu veranlasste, in der Bibel nachzuschlagen. Der neununddreißigste Psalm, vierter Vers: »Herr, mach, dass ich mein Ende kenne, und am Ende meiner Tage weiß, wie schwach ich bin.« Die Kälte verbreitete sich bereits in ihm, ihre eiskalten Finger umklammerten jedes bisschen Wärme, das sie finden konnten. Ich habe meine Sache gut gemacht, dachte er sich. Ich kann gehen.
55
Sechs US-RAUMFÄHRE MARS-1 UNTERWEGS ZUM MARS 1.TAG DER MISSION Gallagher ging zögerlich ins Hauptlabor, bemühte sich, keine der Ausrüstungsgegenstände anzufassen, die auf den Arbeitstischen lagen oder mit Klettverschlüssen an den Wänden befestigt waren. Burchenal hatte etwas dagegen – und zwar ganz entschieden. »Eiche den Bodenanalysierer noch ein letztes Mal, bevor wir ihn wegpacken«, sagte der Wissenschaftler am anderen Ende des Tischs. »Dann können wir essen.« Pettengill hob eine kleine, blockförmige Einheit an. »Schon fertig. Er ist völlig korrekt. Und ich habe sichergestellt, dass die Batterie voll aufgeladen ist.« Er platzierte den Analysator in seiner silbernen Hülle und klappte den Deckel zu. »Endlich ist es soweit. Nicht nur eine weitere Übung. Wir werden die Grenzen neu stecken müssen.« »Wir sind nicht hier, um Grenzen neu zu stecken«, entgegnete Burchenal zynisch. »Wir sind hier, weil dort oben der Sauerstoffgehalt abnimmt und sie ein paar Deppen brauchen, die Ursache herauszufinden, bevor das gesamte Marsprogramm den Bach hinuntergeht. Etwas weniger reizvoll, findest du nicht auch?« Als er sah, dass Pettengill nach einer passenden Antwort suchte, schritt Gallagher ein. »Ich brauche Hilfe mit AMEE. Eine letzte Untersuchung, bevor ich sie einpacke.« Zu Pettengills Rettung nickte Burchenal mit dem Kopf und der schlanke Wissenschaftler folgte Gallagher in den Zugangstunnel. 56
»Ich verstehe, warum sie Chantilas ausgewählt haben, den ersten Schritt auf dem Mars zu tun«, sagte Pettengill beiläufig, wie es so seine Art war. »Für Burchenal geht es nur um die Forschung, nicht die Schönheit.« »Dir doch auch, dachte ich«, sagte Gallagher. »Nicht wie ihm.« »Na, ich gebe dir Recht. Chantilas ist eine gute Wahl. War öfter als sonst irgendjemand im Weltraum. Berühmter Wissenschaftler. Theologiegelehrter. Der Typ ist eine lebende Legende.« »Ja, aber wünscht du dir nicht im Innersten, dass du es sein könntest?« Gallagher schmunzelte innerlich. »Wollte die ganze Aufmerksamkeit nicht haben.« Santen ging um die Kurve eines benachbarten Tunnels und stieß Schulter an Schulter mit Pettengill zusammen, der ihm eine ernst gemeinte Entschuldigung anbot. »Pass in Zukunft auf wo du hingehst«, knurrte Santen. Er marschierte weiter, und zog eine Wolke von Aufgeblasenheit hinter sich her. »Genau wie in der Schule«, sagte Pettengill, dem Captain hinterherstarrend. »Du und ich gehören einfach nicht zur Clique.« Obwohl Gallagher der Auffassung war, dass dies nur die halbe Wahrheit war, beschloss er mitzuspielen. Es war klar, dass der Typ einen Freund brauchte. »Hey, du passt auf mich auf, ich auf dich.« »Ja, der kann mich mal. Wir sind genau wir er für dieses Team ausgesucht worden. Außerdem hast du schon ganz schön harte Sachen mitgemacht. Du warst in der Antarktis –« »Habe auf McMurdo U-Boote repariert«, berichtigte Gallagher. »War nichts besonderes.« »Du warst auch NASCAR-Mechaniker.« »Zwei Jahre lang, vor dieser Mission. Ich hab immer noch
57
ein Klingelgeräusch in den Ohren. Allerdings vermisse ich Daytona. Das Nachtleben.« Sie kamen im Laderaum des Schiffes an, einer Ebene, die einem gigantischen Lagerhaus glich, mit Hunderten von Lagerfächern verschiedener Größe, die die ganze Halle hinaufreichten. Gallagher hielt vor einer zwei mal vier Meter großen Tür an und schloss sie auf. Dann zogen er und Pettengill eine sehr schwere Stahlkiste, die ungefähr so groß wie ein Sarg war, heraus, und auf deren Seite die Aufschrift AUTONOMER NAVIGATIONSROBOTER FÜR NIVELLIERUNG UND EXOGENKARTOGRAPHIE geschrieben stand. Gallagher öffnete ein kleines Fach neben dem ersten und zog den Ärmel eines Raumanzugs mit beweglichem Monitor und einem kleinen, eingelassenen Berührungssensor hervor. Auf dem Ärmel waren die gleichen Kontrollfelder eingebaut wie auf seinem Schutzanzug. Er schaltete den Strom ein. »Aufwachen, Liebling.« Die Kiste wurde lebendig, fuhr sechs dreigliedrige Beine und einen schmalen, schnabelartigen Kopf aus. Die Rückseite gab ein klimperndes Geräusch von sich, während scharfe Ecken sich in Schichten aus knochigen Metallplatten verwandelten. Weitere Schutzschilder sprangen um den Hals hervor, begleitet von einem Geräusch, als würde ein Messer aus einer Metallscheide gezogen. Nach einem Piepston schaltete der Bildschirm an Gallaghers Armgelenk auf AMEEs Blickwinkel um, dem FischaugenPanorama aus Sicht des Roboters. Gallagher pfiff. AMEE pfiff zurück. »Wir sind alte Freunde«, sagte Gallagher. Pettengill ging in die Hocke, um einen besseren Blick auf das mechanische Spinnentier werfen zu können. »Mir hat noch keiner verraten, wie sie sich auf dem Mars zurechtfinden wird, wo es doch keinen Metallkern gibt, an dem
58
sie sich orientieren könnte.« Gallagher legte einen Schalter um, dann tätschelte er den kleinen, pyramidenförmigen Satelliten, der aus dem Rücken schoss. »Sie hat eine mobile Such-Drone. Sie fliegt umher und überträgt Daten, damit sie unsere Position berechnen kann.« Er umkreiste den Roboter bis zur Vorderseite. »Lass uns dein Infrarot checken, Süße.« Er gab Pettengill ein Zeichen, der daraufhin zum Stromkontrollzentrum ging und die PhosphorLeuchtröhren an der Decke abschaltete. Der Monitor des Ärmels zeigte ein Infrarotbild von Gallagher und Pettengill, dunkelrote Kleckse, die die für das menschliche Auge unsichtbare Wellenlänge von etwa siebenhundertfünfzig Nanometer bis ein Millimeter darstellten, im Grenzbereich der Mikrowellenregion. »AMEE ist technisch begabt«, schlussfolgerte Pettengill als Gallagher das Licht anschaltete. »Verlässliche Echtzeitreaktionen auf jegliche Umgebung. Was nicht gemeinhin bekannt ist: AMEE war früher Soldat.« »Blödsinn.« Gallagher wollte es ihm beweisen. Drei Berührungen auf dem Sensor riefen das Optionsmenü hervor. Er wählte eine der Optionen aus, dann zog er einen Stift aus der Brusttasche und bot ihn AMEE an. »Hier.« »Und was jetzt? Wird sie mir einen Brief schreiben?«, scherzte Pettengill. Mit einem selbstsicheren Lächeln schüttelte Gallagher den Kopf. »AMEE? Weide ihn aus wie einen Fisch.« Die Arme des Roboters zucken nach vorne. Als Pettengill vor dem Angriff zurückschreckte, war er auch schon vorbei. Er starrte auf die Tintenmarkierung, die sich vom Bauchnabel seines Thermalanzugs bis zu seinem Brustkorb erstreckte. »Sehr lustig. Du hast Glück, dass ich Sinn für Hu-
59
mor habe.« »Du hast Glück, dass sie kein Messer hat«, berichtigte Gallagher, um anschließend den Stift aus AMEEs Griff zu entfernen. Drei weitere Berührungen auf dem Sensor. »Jetzt ist sie wieder auf Forschungsmodus eingestellt.« Er zwinkerte der Maschine zu. »Okay, Baby. Du bist so weit.« Ein letztes Pfeifsignal. »Zurück in deine Kiste.« Sie faltete sich zusammen wie eine Schildkröte. Gallagher richtete sich auf. »Laden wir sie ins MEV.« Nachdem sie AMEE sicher verpackt hatten, trafen sich Gallagher und Pettengill mit den anderen in der Küche zu ihrem ersten Abendessen an Bord der Mars-1. Zunächst beschwerten sie sich über das Essen, dann nahm das Gespräch einen etwas nachdenklicheren Ton an, als Bowman Gallagher fragte, warum er mitgekommen sei. »Uff«, sagte Gallagher und senkte die Gabel, die voll Hühnchen war. Er dachte über die Frage nach. Dachte sehr intensiv darüber nach. »Ich bin einmal mit meinen Cousins Crosscountry fahren gegangen. Das hier schien nicht so schlimm.« »So ist es«, sagte Burchenal. »So einen Anruf lehnt man nicht ab. Das ist der Grund, warum ich hier bin.« Gallagher schüttelte den Kopf, dann richtete er seinen Blick auf Bowman. »Sie?« »Ich habe mein ganzes Leben damit zugebracht, mich für einen Flug in der größten und schnellsten Maschine auszubilden. Das hier ist sie. Es ist der beste Job der Welt.« Ihr Blick richtete sich auf Santen. »Er ist hier, weil er den zweitbesten Job der Welt hat. Er ist etwas sauer deswegen, aber er hat ihn trotzdem angenommen.« Santen zuckte zusammen und fand etwas besonders Interessantes in seinen gedünsteten Karotten.
60
»Ich hätte eigentlich nicht kommen sollen«, meldete sich Pettengill zu Wort, wollte wohl um etwas Aufmerksamkeit kämpfen. »Einige von euch wissen das vielleicht. Ich bin gekommen, weil mein Chef nicht konnte. Er hat den medizinischen Test nicht bestanden. Herzrhythmusstörungen. Und hier bin ich. Er hat mir auf die Schulter geklopft und gesagt, dass ich zum Mars fliegen würde. Ich dachte eigentlich, dass ich mein Leben lang Assistenzdirektor für Neulandgewinnung bleiben würde.« »Wie steht’s mit dir, Bud?«, fragte Gallagher. Chantilas atmete tief ein, ließ sich einen Augenblick Zeit, um all ihre Blicke zu erwidern. »Psalm einhundertsieben, Vers dreiundzwanzig: ›Diejenigen, die die großen Gewässer in Schiffen bereisen, die sehen die Schöpfung des Herren, und seine Wunder der Tiefe.‹ Ich habe mich gefragt, wie viele Wunder werden jene erleben, die ins Weltall reisen?« Gallagher schätzte diese Antwort und er liebte es, wie sie alle anderen unruhig in ihren Sitzen werden ließ. »Du gehst zum Mars aufgrund eines Gedichts?«, fragte Santen. Der Dienstältere lehnte sich in seinem Sitz zurück und überlegte kurz. »Ich gehe zum Mars wegen eines Gedichts? Im Grunde genommen … ja.« US-RAUMFÄHRE MARS-1 UNTERWEGS ZUM MARS 13. TAG DER MISSION Man hatte an den »Böden«, an den »Wänden« und an der »Decke« der rotierenden Kugeln Fitness-Geräte angebracht. Pettengill tat sich sehr schwer, diese drei Kategorien zu unter-
61
scheiden. Er näherte sich Bowman und Santen, die beide auf ihren Rädern schwer in die Pedale stiegen, wobei drahtlose Elektroden ihre Pulsfrequenz an die Computer übertrugen. »So, der Sportunterricht ist vorgeschrieben. Das habe ich seit meiner Schulzeit nicht mehr erlebt. Hat das Training vor dem Flug nicht augereicht?« Santen blies sich Schweiß von der Oberlippe. »In deinem Fall nicht. Das muss sich bei dir irgendwie gegenteilig ausgewirkt haben.« »Sie können aufhören«, sagte Bowman zum Captain. »Noch nicht«, berichtigte Santen sie. »Ich wollte noch –« »Nein, Sie sind fertig.« Der Copilot hörte mit dem Radfahren auf, rollte mit den Augen und wischte sich mit einem Handtuch über das Gesicht und den Kopf. »Ja, Madam.« Pettengill war angespannt, als er Santen nachschaute. So ist’s richtig, du Bastard weißt genau, dass du ihr nicht zu widersprechen hast. Als er vor Bowman stand, kam er sich albern vor. »Das wäre nicht nötig gewesen.« »Dieses Ungetüm zu fliegen ist nur die Hälfte meines Jobs«, erklärte sie, während sie sich ein Handtuch um den Hals legte. »Die andere Hälfte besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Crew einsatzbereit und in Topform ist und weiß, was von ihr verlangt wird. Seltsamerweise ist das Fliegen noch der einfachste Teil.« Bevor er es unterdrücken konnte, sprudelte der Ärger aus ihm heraus. »Ich hasse solche Kerle einfach. Mir scheint, als wäre ich mein ganzes Leben lang derjenige gewesen, den sie im Sportunterricht schikaniert haben. Das erste Mädchen, für die ich etwas empfunden habe, hat mir so ein Arsch weggeschnappt, weil er einen Football weiter werfen konnte als ich. Es ist, als
62
ob Frauen darauf programmiert sind zu glauben, dass sportlich begabte Kerle besser für sie sorgen können. Es ist ja nicht so, als ob wir unser Essen noch selbst jagen und erlegen müssten.« Er ging auf Bowman zu und machte ein finsteres Gesicht, völlig von der Vergangenheit vereinnahmt. »Der Arsch verkauft jetzt Autos. Autos. Ich bin an einem Projekt beteiligt, das die Menschheit retten könnte, und er verkauft Autos.« »Wie lange ist das jetzt her, vierzehn Jahre?«, wollte Bowman wissen. »Ihn haben Sie im Auge behalten. Was ist aus ihr geworden?« »Aus wem?« »Dem Mädchen.« Gedankenverloren starrte Pettengill Bowman an, nur daran denkend, was Mr. Arsch über seine Autohandlung palavert hatte. Das Mädchen. Was war aus ihr geworden? Er zuckte mit den Achseln. »Etwas nachtragend, wie?«, sagte Bowman mit einem Lächeln. »Wer ist hier auf was programmiert, Sie Steinzeitmensch?« Sein Gesicht lief warm an und bevor er es stoppen konnte, formten seine Lippen ein Grinsen. »Wir fangen mit den Bungees an«, sagte sie zu ihm. »Und ärgern Sie sich nicht zu sehr, dass man Sie nicht fürs Völkerballteam ausgewählt hat, in Ordnung?« »Ich werd’s versuchen. Zwanzig Jahre Hass auf Schlägertypen gewöhnt man sich nicht so leicht ab.«
63
Sieben MARSEINTRITTSVEHIKEL NÖRDLICHE HEMISPHÄRE, MARS 182. TAG DER MISSION AMEEs nanotechnische Reparatureinheit war fast mit der Wiederherstellung des letzten Servomechanismus fertig. Sie fühlte, wie zwei mikroskopisch kleine Maschinen durch ihre mechanischen Innereien krochen und wies sie an, mit den Operationen an ihrem rechten Mittelbein fortzufahren, die sie aus Versehen während des Atmosphäreneintritts ausgefahren und gegen die Mittelwand geschmettert hatte. Seit der Notlandung hatte sie dreiundvierzigtausendeinhunderteinundzwanzig Überlebensalgorithmen durchlaufen lassen und konnte endlich die Hauptprogrammsequenz einleiten. Die Reparatureinheit teilte ihre Schadenseinschätzung mit und kam zu der Erkenntnis, dass das Bein nicht reparabel war und ersetzt werden müsse. Ein weiterer Überlebensalgorithmus bahnte sich den Weg durch ihren Protein-Prozessor. Alle übrig gebliebenen Servomechanismen heulten laut auf. Nachdem die Berechnungen zur Kompensation für das beschädigte Bein beendet waren und die notwendigen Befehle an die übrigen Gliedmaßen, die aus ihrer Hülle herausragten, gesendet worden waren, erhob sie sich aus dem Lagerraum des MEV und schaltete ihre Sensoraugen ein. Sie scannte ihre Umwelt ab und suchte nach einem User namens Gallagher. Sie erhielt weder visuelle noch Infrarot-Bestätigung. Aber dort lag ein anderer User. Sie entdeckte keine Lebenszeichen. Sie fuhr eine Audiodatei hoch. Ein Klingeln. Keine Antwort. 64
Mit dem Ziel, Kontakt zu ihrem User aufzunehmen, krabbelte AMEE auf die Schleuse zu, kroch vorsichtig über Wrackteile, und krallte sich im felsigen Sand fest. Sie scannte den Horizont ab und stieß einen weiteren Pfeifton aus. Dann aktivierte sie ihre Drone, welche mit zweitausend Umdrehungen pro Minute aus ihrem Gehäuse wirbelte. Die programminterne Uhr begann mit dem Countdown. Der Raketenmotor startete. Die Such-Drone flog mit einem schrillen Geräusch von AMEEs Rücken nach oben, stieg zweihundert Meter auf, wandte sich dann nach Nordosten und begann, sich um sich selbst zu drehen, wobei die gesammelten Informationen direkt an AMEEs Datenbank übertragen wurden. Wie zuvor, konnte die Inspektion den User nicht identifizieren, aber sie vermittelte immerhin Teleskopaufnahmen von Fußstapfen, die vom Landungsplatz wegführten. Dem Protokoll folgend, brach die Such-Drone aus ihrem Kreis und schwirrte davon, um die Längen- und Breitengrade zu berechnen. In der Zwischenzeit verzeichnete AMEE den Kurs der Fußstapfen, dann schlenderte sie los, wich Felsbrocken aus und sprang über ein Netzwerk aus Furchen, das genauso kompliziert, wie ihre eigenen Schaltkreise war. Eine Weile liefen Gallagher und Pettengill an der Spitze der Formation. Zwei Höhenzüge zuvor hatte Santen Chantilas Pulsfrequenz auf seinem Notebook abgerufen und den anderen die traurige Nachricht mitgeteilt. Eine Legende war verschieden. Dort oben, auf einem dieser Gipfel, dachte Gallagher, lachst du uns aus; lachst, weil wir auf uns alleine gestellt sind inmitten dieser feindlichen Landschaft. Hast du nicht ein Zitat bereit, Bud? Aber bitte etwas, was mich aufmuntern wird … »He, macht mal langsam!«, rief Pettengill, der zurückgefal-
65
len war. »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Gallagher. »Etwas müde. Geht schon. Etwas langsamer bitte.« »Hättest mehr Zeit auf der Tretmühle verbringen sollen«, sagte Santen, als er an dem Wissenschaftler vorbeistapfte. Pettengill murmelte etwas Unverständliches. Santen erstarrte und drehte sich blitzschnell um. »Was hast du gesagt?« »Gentlemen!«, sagte Burchenal, wobei er dies als Warnung verstand. Er schaute auf sein Notebook. »Tatsache ist, dass Pettengill weniger Sauerstoff verbraucht hat als Sie.« Der athletische Fighter beschwörte seinen finsteren Blick herauf. »Egal.« Er schaute auf sein eigenes Notebook. »Wir liegen gut in der Zeit. Müssten bald am Habitat sein.« Er drehte sich auf der Ferse um und ergriff die Führung. Alle folgten, außer Pettengill. »Tu uns das nicht an«, sagte Gallagher, blieb stehen und ließ seinen Blick zwischen Pettengill und den anderen hin und her wandern. »Wie sollen wir das jemals erklären –« »Ich bin nicht kindisch. Schau dich um. Es ist seltsam. Hier ist nichts.« Gallagher grinste schief. »Wir sind auf dem Mars.« »Nein, ich meine, hier ist nicht ein einziges Anzeichen der Algen, die wir hochgeschickt haben.« Er hastete Gallagher hinterher und gemeinsam bemühten sie sich, mit den anderen Schritt zu halten. »Denk mal nach«, sagte der Wissenschaftler, noch immer nachgrübelnd. »Selbst wenn die Algen abgestorben sind, müsste immer noch etwas übrig geblieben sein. Ein ausgetrockneter Algenteppich. Irgendetwas.« »Er hat Recht«, sagte Burchenal. »Wir haben zweiundfünfzig Arten hochgeschickt, blaugrün, schwarz, orange, Anhydri-
66
biosen, Chemotrophe, sogar einen Triobazillus, der selbstständig auf Schwefelelementen wachsen kann. Es ist nicht so, als ob sie abgestorben wären, sie sind nicht da, als wären sie am Felsen abgerieben worden.« »Entschuldigt, wenn ich euch auf das Naheliegende hinweisen muss«, fing Gallagher an, »aber vielleicht hat es in diesem Tal nie etwas gegeben?« »Ich habe über fünf Jahre lang das Neulandgewinnungsprojekt beaufsichtigt«, sagte Pettengill. »Noch vor einem Monat war dieses Areal mit Blaualgen überzogen. Das Tal davor hätte mit orangerotem Chloroflecken erblühen sollen.« »Wenigstens wissen wir jetzt, was aus dem Sauerstoff geworden ist«, sagte Burchenal und trat mit dem Stiefel gegen einen Stein. »Hier ist nichts, was ihn hätte produzieren können.« »Reden verschwendet nur Luft«, ermahnte sie Santen. »Wir müssen immer noch sparen, Jungs.« Der Pilot genoss es, das letzte Wort zu haben und ausnahmsweise konnte ihm keiner widersprechen. Sie trotteten stur weiter. Die Sonne wirkte im purpurnem Himmel eigenartig klein. Kurze Zeit später, auf der Spitze einer kleinen Erhöhung, hielten Santen und Burchenal an, um ihre Notebooks zu chekken. »Endlich etwas, das Sinn macht«, sagte Burchenal erleichtert. »Eine Geröllhalde«, ergänzte Santen. »Anzeichen einer Talfüllung. Halde mit Ablagerungen. Wir sind auf dem richtigen Weg.« Die Wanderung ging weiter, und Gallagher testete die Schwerkraft von 0,3; er nahm immer größere Schritte, er wog nur 60 Pfund auf der Oberfläche. Die Anstrengung beschleunigte dennoch seinen Atem und er fiel bald wieder in seinen gewohnten Trott zurück.
67
Wie Gallagher herausgefunden hatte, war hier die Oberflächenschwerkraft viel radikaleren Schwankungen als auf der Erde unterworfen, wo Anziehungskraft und die Topographie weitestgehend nichts miteinander zu tun hatten. Der Grund hierfür war der sogenannte isostatische Druckausgleich, d. h. die leichten, äußeren Erdschichten lagen auf einer viel flüssigeren, dichteren Innenschicht auf, als dies auf dem Mars der Fall war. Hier nahm die Schwerkraft in der Tharsisregion zu, insbesondere über Vulkanen wie dem Olympus Mons, während das Gebiet, das man für das Habitat ausgesucht hatte, so gut wie keine Schwerkraftfluktuationen aufwies. Das war Gallagher sehr recht. Er stellte es sich schrecklich vor, eines Morgens aufzuwachen und zu spüren, dass die Schwerkraft um 0,3 zugenommen hatte und mit einem Mal ein Gewicht auf den Schultern zu spüren, das nichts mit Schuld zu tun hatte. Weiterlaufen. Gott, wie lange liefen sie schon? Erst vierzig Minuten. Die sprichwörtliche Ewigkeit. Santen und Burchenal stießen mit mörderischer Geschwindigkeit einen länglichen Hügel hinauf, sein zerklüfteter Gipfel war etwa zwanzig Schritte entfernt. Gallagher wollte ihnen zurufen, langsamer zu gehen, tat es aber nicht. Er konnte keine Luft verschwenden. Er schaute zurück. Pettengills Stiefel gruben sich tief in den Dreck. Er schwang seine Arme, um sich mehr Schwung zu verleihen. Der arme Kerl. Gallagher kam der Gedanke, ihm zu helfen, aber er vermutete, dass Pettengills Stolz das nicht zulassen würde. Er wandte sich voller Sorge zu dem Wissenschaftler um. Was sollte er tun? Wie könnte er sich beschäftigen, um sich von der unendlichen Höhe des Berges und der riesigen Entfernung zum Habitat abzulenken? Er stellte sich den Nacken seiner Ex-Freundin vor, Tante Annas Pfirsichkuchen, ein weiches Kissen unter seinem Kopf, das gute, saubere Gefühle nach einer heißen Dusche, das kleine
68
Lächeln der dreijährigen Tochter seiner Schwester, das erfrischende Gefühl eines kalten Biers, wenn es einem nach einem anstrengenden Training die Kehle hinunterlief, den Geschmack einer Fleischsoße, von Lachs, Pizza, Erdnussbutter, das Schimmern des wachsfarbenen Monds in einer windigen Nacht. Dann versuchte er, seine Gedanken auf reale Dinge zu lenken: auf das Gefühl seiner Beine auf festem Boden, die Steine, die unter seinen Füßen knirschten, die Schmerzen in seinen Gliedmaßen, den Thermalanzug, der seinen Körper zu ersticken drohte, seinen flachen Atem, seine Unfähigkeit, zu vergessen, und auf den bedrückenden Mars um ihn herum – den Gnadenlosen, absolut Gleichgültigen. »Erzählen Sie mir von Ihrem Vater.« »Was geht das RFZ mein Vater an.« »Es ist lediglich Teil Ihres Profils.« »Wollen wohl keine Psychopathen auf den Mars schicken, was?« »Sie sind hier nicht im Zeugenstand, Mr. Gallagher. Warum spielen Sie nicht einfach mit? Hier steht, dass er sich von einer sehr guten Stellung als Ingenieur bei ExoTech hat pensionieren lassen.« »Stimmt.« »Verstehen Sie sich mit ihm?« »Bestens.« »Er ist sicher stolz auf Sie.« »Meine Mutter ist diejenige, die bald ausflippt. Hat mir eine Sat-Net-Seite gewidmet. Es ist wirklich peinlich.« »Aber nicht Ihr Vater.« »Wonach suchen Sie? Glauben Sie, ich hätte irgendeine Art von Komplex? Dad hat sich jede Mühe gegeben.« »Lieben Sie ihn?« »Natürlich. Er ist mein Vater.« »Wenn Sie er wären, was würden Sie an seiner Erziehung
69
ändern?« »Ich würde nichts ändern.« »Gar nichts?« »Gar nichts.« »Sie haben Glück von einem perfekten Vater erzogen worden zu sein. Dummerweise erzählt er eine ganz andere Geschichte.« »He, ist das nicht eine Verletzung der Schweigepflicht? Moment mal. Sie haben ihn interviewt?« »Natürlich. Von zwölf Milliarden Menschen gehen nur sechs zum Mars. Wir müssen, wie Sie bereits angemerkt haben, vorsichtig sein. Haben Sie denn Ihren Vertrag nicht gelesen?« Nein, das hatte Gallagher nicht. Zu viel Papierkram. Kurz überflogen und unterzeichnet. Und als er seinen Schritt beschleunigte, um näher an Santen und Burchenal zu kommen, fragte er sich, was sein Vater dem RFZ-Psychiater wohl erzählt haben mochte. Gallagher hatte nie den Mut aufgebracht, seinen Vater zu fragen. »Wartet!«, rief Pettengill. »Sekunde mal! Eine Sekunde! Lasst mich aufholen!«
70
Acht Beinah anderthalb Stunden waren seit dem letzten Kontakt Houstons zur Mars-1 vergangen. Flight-Director Matthew Russert rieb sich die Schläfen, während er Captain John Skavlem zuhörte, wie dieser verzweifelt immer wieder: »Mars-1, hier spricht Houston. Bitte kommen. Mars-1, hier spricht Houston, bitte kommen«, rief. Russert kannte Skavlem schon seit zehn Jahren, und in all dieser Zeit hatte Skavlem immer nur mit seinem vollendeten Perfektionismus geglänzt. Aber keiner von ihnen hatte jemals ein bemanntes Raumschiff verloren, und das Bollwerk, das Skavlem um seine Gefühle aufgebaut hatte, fing an zu brökkeln. Russert fragte sich, wie lange sein eigener Schutzmechanismus noch funktionieren würde. Eine Anzeige auf seinem BPM leuchtete auf; ein Bericht der Stabsärztin Dr. Rose Palladino, deren Aufgabe darin bestand, die Aktivitäten der Crew zu überwachen, das medizinische Einsatzteam der Flugkontrolle zu organisieren, die Besatzung zu beraten und Russert über den Gesundheitszustand der Crew stets auf dem Laufenden zu halten. Der Bericht listete jedes Besatzungsmitglied und dessen Biorhythmus zu dem Zeitpunkt auf, an dem der Kontakt abbrach. Puls und Atemrhythmus waren bei allen sehr hoch. Das war nicht weiter erstaunlich. Und es war auch keine Überraschung, dass ihr keine weiteren Daten zur Verfügung standen. Zog man die Kommunikationsverzögerung in Betracht, stellten medizinische Notfälle an Bord der Mars-1 eine beträchtliche Gefährdung der Mission dar. Erlitt ein Mitglied der Besatzung eine schwere Verletzung, würde Houston erst zwanzig Minuten nach dem Vorfall davon erfahren. Palladino brauchte weitere wertvolle Minuten um ihre Leute zu koordinieren, dann 71
erst konnte sie das Schiff zurückrufen – welches ihre Anweisungen zwanzig Minuten später erhalten würde. Jedem war klar, dass es eine sogenannte »Goldenen Stunde« gab, nämlich die Zeit, die zwischen der Verletzung eines Patienten bis zu dem Zeitpunkt verstrich, zu dem der Patient in der Chirurgie ankam. Eine goldene Stunde, die, wenn sie einmal überschritten war, die Überlebenschancen des Patienten stark verringerte. Aus diesem Grund hatten Palladino und ihr Personal darauf bestanden, dass jedes Besatzungsmitglied nicht nur in erster Hilfe, sondern auch in den notwendigen Fertigkeiten voll ausgebildeter Sanitäter geschult war. Sollte es den Besatzungsmitgliedern gelingen, einen Patienten zu stabilisieren und diesen Patienten in die Krankenstation zu bringen, konnten die schiffseigenen Diagnosesysteme den Kontrolleuren dabei assistieren, der Besatzung bei der Durchführung einfacher oder sogar komplexer Operationen zu helfen. Aber bei einem Zusammenbruch der Kommunikation konnten Russert und seine Leute nicht mehr tun, als über die möglichen Schäden und die Art der Hilfe, die diese Leute brauchen könnten, zu spekulieren. Ein Bericht von SNK Reshard Talford kam an, dem angesehensten Ingenieur für »Steuerungs-, Navigations- und Kontrollsysteme«, den Russert in seinem Team hatte. Wie es der Zufall wollte, kam der zierliche Schwarze in diesem Moment auf Russert zugestürmt. »He, Reshard. Ich bin gerade dabei, deinen Bericht zu lesen.« »Wir haben die Protokolle der Eruption durchgesehen und mit den Leuten von Lockheed gesprochen, die relativ zuversichtlich sind, dass der Rumpf des Schiffes die Besatzung vor den meisten Absonderungen geschützt hat. Sie sagten außerdem, dass sie vielleicht den Sicherheitsraum benutzt haben. Die Raumanzüge hätten zusätzlichen Schutz geboten.« »Gut. Und was hast du zu berichten?«
72
»Wir vermuten mehrfache Fallstörungen. Irreparable Schäden an einigen Chips. Die Antriebsingenieure sind mit uns einer Meinung. Und wir haben mit Joey gesprochen. Er sagt, wir müssen mit Überlastung der elektrischen Systeme rechnen, mögliche Schäden an den Treibstoffzellen, Schaltstromleitungsprobleme, und Brände in den Kabinen würde er auch nicht ausschließen.« »Was sagt EECOM?« »Hinter dir, Matt.« »Ja, Scheiße, genau das mag ich an diesem Team«, sagte Russert und reckte den Kopf nach oben. »Ihr könnt alle Gedanken lesen.« Greg Sudmanskis Seidenkrawatte hing lose um seinen Hals, und die Ärmel seines mit Kaffeeflecken besudelten Hemds waren bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Obwohl sein Blick verschlafen war, sprach er mit gleichmäßiger Stimme. »Die Thermalkontrollsysteme sind beeinträchtigt. Wie schwer, ist noch nicht zu sagen. Joey meint, es könnte zu Bränden kommen. Wir glauben das auch. Es könnte zu Abbau oder Abschaltung des Kabinendruckkontrollsystems gekommen sein, der Flugkühlung und der Frisch- und Abwassersysteme.« »Also im Grunde genommen ist jedes System an Bord auf irgendeine Art und Weise von der Eruption betroffen.« »Ein Raumschiff zu bauen, das einer Sonneneruption dieser Größe widerstehen kann, ist unmöglich«, sagte Sudmanski in einem noch aufgeregteren Tonfall als Russert. »Was hätten wir tun sollen? Sechzig Zentimeter dicke Wände entwerfen, die uns vor einem Vorfall schützen, der vielleicht einmal alle hundert Jahre eintritt?« »Natürlich nicht«, gab Russert zu. »Wir müssen nur unsere Karten vorsichtig ausspielen. Wir haben bereits Gott und die Welt mit dem Alamogordo-Bericht in den Simulator geschickt. Sobald wir die Checklisten haben, werden wir sie, wenn’s sein
73
muss, hundertmal durchgehen.« »Flight?«, sagte der Wissenschaftsoffizier Andy Lowenthal, »alle sechsunddreißig Satellitenschüsseln des Deep-SpaceNetworks sind auf den Mars gerichtet.« »Sehr gut.« Lowenthal stand auf und tapste nach vorne, als sein Blick durch den Raum wanderte und Public-Relations-Offizier Mylssa Wong fand. Er schreckte zurück und lehnte sich zu Russert hinüber. »Unsere PR-Offizierin will mit dir reden.« Russert nickte. Zweifellos hatten Amateurastronomen die Eruption entdeckt, ihre Flugbahn errechnet und das Gerücht verbreitet, dass eine massive Störung direkt auf das Mars-Team zugerast kam. Zweifellos wollte die Presse Antworten haben. Während sich Russert wappnete und seine blaue »Diplomatenweste« von seinem Stuhl zog, stellte sich Kathleen Crete in seinen Weg. »Frau Direktorin. Ich wollte gerade –« »Sie wollten Ms. Wong besuchen?«, erriet Crete mit einem gekünstelten Lächeln. »Wir drei sollten uns zusammensetzen und unsere Pressekonferenz besprechen.« »Was gibt’s da zu besprechen? Wir haben aufgrund einer Sonneneruption Kontakt zur Mars-1 verloren. Das ist die Wahrheit und genau das, was die Öffentlichkeit hören sollte.« »Wir sollten ihnen irgendeine Garantie geben, dass wir den Kontakt wieder herstellen werden.« »Ich kenne dieses Spiel, Frau Direktorin. Wir werden ihnen versichern, dass das RFZ die Hoffnung nicht aufgibt. Mehr nicht.«
74
US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 182. TAG DER MISSION Commander Kate Bowman weigerte sich, die Oberfläche des Mars anzuschauen. Sie wusste genau, wie sich der Astronaut Jim Lovell aufgrund der verpassten Chance, auf dem Mond zu laufen, gefühlt haben musste. Dennoch hatte Bowman die Ehre, die Frau zu sein, die am weitesten von der Erde entfernt war. Dadurch fühlte sie sich etwa eine Nanosekunde lang besser, bevor sie sich wieder stoisch ihrer Arbeit zuwandte. Den Reparaturen. Dem Monstrum. Ihrer Aufgabe, es zu reparieren. Sie hatte ein halbes Dutzend elektrischer Fluoreszenzplatten aufgebrochen, die jetzt einen gleichmäßigen Schein über das MEV-Wartungsdeck warfen. Sie fischte eine weitere Platte hervor, brach sie an der Mittelnaht auf, woraufhin die rechtekkigen Doppelstäbe ein blaues Licht verbreiteten. Sie schwamm zur Hauptkonsole und platzierte die Platte genau unter ihren digitalen Multi-Messgeräten, die an ihren Klettverschlüssen herunterbaumelten und dabei wie bizzare Weihnachtsdekorationen anmuteten. Bowman hatte den Zugriff zur Konsole entfernt und ein halbes Dutzend Steckbrücken provisorisch angebracht. Nachdem sie ihre Leitungskabel ein letztes Mal überprüft hatte, berührte sie erschöpft mit dem Zeigefinger das Touchboard, als ob sie dessen Temperatur überprüfen wollte. So lange sie den Knopf zum Aktivieren des systemweiten Neuladens nicht drückte, gab es Hoffnung. Aber wenn sie ihn drückte und nichts passierte … es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Zwei Phosphorleuchtröhren, die nicht durchgebrannt waren, erglühten zu neuem Leben. Das Touchboard schaltete sich
75
blinkend an und Lageberichte erschienen auf dem Bildschirm. Rote Graphiken gingen in grüne über. Auf den Bildschirmen hinter ihr flackerten Selbsttests über dem Bildschirm. Bowman atmete tief durch. Dann stöhnte sie vor Erleichterung auf. Alles starb ab. Also gut. Panik ist nur ein Gefühlszustand. Man kann ihn unter Kontrolle bringen. Überprüfe die Leitungskabel. Überprüfe sie alle. Da. Schlecht platziert. Korrigieren. Und Neuladen. Die Lichter flackerten, brannten stetig, und dann, dann … Neuladung im Gange. Rotations-Servomechanismus wieder online. Rosen, Bücher, schmutzige Socken und Hunderte anderer Dinge, die mitten in der Luft hingen, plumpsten auf das Deck. Sie musste sich festhalten, als die Schwerkraft ihre Schultern niederdrückte. Dann ließ der Druck wieder nach. Also gut. Jetzt hatte sie die Energie, die sie brauchte, um mit der Wiederherstellung anderer Systeme anzufangen. Sie verschaffte sich Zugriff auf die Steuerung der Lebenserhaltungssysteme, ordnete eine Säuberung der Notreserven an und wartete auf das Zischen. Jetzt. Aber zwei der Ventilanschlüsse waren noch immer verstopft und sie musste sie per Hand ablassen. Sie riss den Luftdruckmesser von der Konsole an sich und eilte davon – durch ein Katastrophengebiet. Die Wände waren mit Ruß überzogen. Überall lagen Trümmer herum. Unter ihren Stiefeln knirschte Glas. Zwei Tunnels lagen in einem Schleier der Dunkelheit verborgen. Sie fand die beiden Ventile in den Tunnels zwischen Kabine zehn und elf, öffnete ihre Blasebälge, um anschließend die Anzeige ihres Luftdruckmessers zu überprüfen. Fast da. Noch dreißig Sekunden. Sie lehnte sich gegen die Wand. Eine körperlose Stimme: »Landeerlaubnis, Nova Fünf.«
76
Nacht. Regen über der Adria. Ein graues Deck. Sich auf und ab bewegend. Torkelnd. Ich kann das. Ich bin in Topform. Ich bin dem Flugzeug voraus. Ich werde die richtige Entscheidung treffen, wenn es die Situation verlangt. Ein graues Deck. Sich auf und ab bewegend. Torkelnd. Sieh die Lichter. Schau sie dir an. Du weißt, was du zu tun hast. Zurückbleiben. Die Instrumente lesen. Jetzt zu schnell! Zu schnell! Ich bin zu weit. Anflugswinkel von zwei Grad. Zu flach. Anflugswinkel erhöhen. Stabilisieren. Gas geben. Abwinken? Nicht abwinken! Kabel hinterherziehen. Gezogen. Gas geben! Gas geben! Flammen am. Atmen. Einfach nur atmen. Bowman checkte den Luftdruckmesser, dann berührte sie ihr Handgelenk. Der durchsichtige Helm beschlug, sie rollte ihn zurück. Ein Atemzug. Ein weiterer. Noch immer lag Gestank in der Luft. »EECOM«, murmelte sie. »Kann nicht mit uns und nicht ohne uns leben.« Bowman genoss den Humor und den Wahrheitsgehalt des Mottos des Lebenserhaltungs-Teams, und sie dankte Gott dafür, dass ihr System noch immer funktionierte. Anschließend raste sie auf das Cockpit zu. Und dort schien ein dünner Lichtfaden durch das Hauptaussichtsfenster. In wenigen Minuten würde das Schiff hochfahren, als ob es aus einer kalten Höhle hervorkäme. Bowman ließ sich in ihren Sitz fallen, fuhr das Touchboard hoch. Elf Systeme waren abgestorben, sogar einige Redundanzsysteme, aber ausgeklinkt werden mussten sie alle. Im Komm-System musste ein Chip ersetzt werden, bevor man es hochfahren konnten. Das Antriebssystem hatte große Schäden erlitten. Sie wusste, dass sie von den Teams zu Hause Hilfe benötigen würde. Und ihre Umlaufbahn? Die sah gar nicht gut aus. Die Stelle, wo das MEV abgeworfen wurde, rückte näher. Bowman hastete über das Deck und schaltete die Steuerung des
77
Optikteleskops an. Strom an. Außenluke öffnen. Teleskop ausfahren. Bild in den Hauptsucher leiten. Braune, orangene, rote und rosa Farben verliefen über dem Bildschirm, bis Bowman das Bild scharf stellen konnte. Mit einer weitflächigen Suche zoomte sie nach dem MEV, scrollte an der schwer eingekerbten Oberfläche entlang, bis sie die Koordinaten der ursprünglichen Abwurfszone im Sucher hatte: Chryse Planitia, in dem mit Kratern übersäten Hochland genau außerhalb des Ares Vallis. Nichts. Sie zoomte näher, scannte die Oberfläche mit einer Auflösung von einem Meter. Zehn Minuten Suche brachte keine Spur des MEVs zum Vorschein. Ein anderes Gebiet. Darunter. Sie näherte sich in einem extremen Winkel, der Laien wohl an die Bilder eines Spionagesatelliten erinnert hätte. Da sich die Bahn des Schiffes veränderte, musste sich der Winkel immer mehr ausgleichen. Da. Ein Funkeln. Ihre Finger flogen über das Board. Das Marseintrittsvehikel wurde sichtbar. Untersuchen. Schwerwiegende strukturelle Schäden. Bowmans Körper spannte sich an, als sich der Winkel langsam verschob und mehr von dem zerschmetterten Ikosaeder enthüllte. Dann zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie rang nach Atem. Eine Gestalt lag an einem Fels zusammengesunken da. Sofort zoomte sie näher heran, starrte den Mann an, konnte ihn jedoch nicht identifizieren. Aber die anderen. Wo waren sie? Wenn im Sand Fußspuren waren, dann entzogen sie sich der Auflösung der Kamera. Erneut suchte sie nach Anzeichen von Aktivität. Doch sie sah nur das MEV, und den einsamen Astronauten, der in alle Ewigkeit für seine Kameraden Totenwache halten würde. Nein, vielleicht sind sie herausgekommen. Zum Habitat gegangen.
78
Eine zweite Untersuchung des Fahrzeugs sprach dagegen. Doch die Möglichkeit blieb bestehen und Bowman würde sie verteidigen. In etwa sechs Minuten würde sie über das Gebiet des Habitats fliegen. Bis dahin konnte sie Reparaturen am Komm-System vornehmen. Und hoffen.
79
Neun NÖRDLICHE HEMISPÄHRE, MARS 182. TAG DER MISSION Noch einunddreißig Minuten Luft übrig. Noch einunddreißig Minuten Leben übrig. Genug Zeit, dass sich Gallaghers gesamte Existenz wie ein rührseliger Dokumentarfilm vor seinem geistigen Auge abspielen konnte. Aber er durfte nur an das Jetzt und Hier denken, trotz der Müdigkeit, trotz allem. Keine Ablenkungen dieses Mal. Keine Erinnerungen. Nur dieses Tal, diese Felsen. Diese zwei Typen vor mir. Ein weiterer Blick nach hinten, auf Pettengill, stellte sich als enttäuschend heraus. Der Wissenschaftler schlurfte dreißig Meter hinter ihm her, pflügte durch die Steine hindurch, anstatt über sie zu steigen. In den letzten sieben Stunden war er zweimal hingefallen und hat, wie erwartet, alle Angebote zu helfen, mit Flüchen beantwortet und sich schließlich selbst beschimpft. »Mannschaft? Melden«, verlangte Santen, seine Stimme so gleichmäßig wie an dem Tag, an dem sie von Cape Canaveral aus gestartet waren. Eine Gehirnwäsche des Militärs? Vielleicht. Aber dennoch tröstlich. Jemand musste schließlich die Führung übernehmen und Gallagher genoss den Luxus, einfach nur Befehle entgegenzunehmen, sehr zum Verdruss seines Vaters. »Tja, meine Beine fühlen sich an wie Mozarella, aber immerhin bin ich hier«, sagte Burchenal. »Danke, Mr. Burchenal, ein schlichtes ›hier‹ hätte genügt. Was ist mit ihnen, Pettengill? Haben sie vor, uns jemals einzu80
holen?« »Melde dich einfach nur, Pettengill, sonst nichts«, bat Gallagher ihn eindringlich, während sich seine Eingeweide zusammenschnürten. »Und ich bin auch hier, Captain. Wäre schön, wenn Sie ihn nicht einschüchtern würden. Sie sind hier nicht der Ausbilder der Mission.« »Diesmal werde ich Ihnen das noch durchgehen lassen«, sagte Santen. »Aber wenn Sie noch mal ausfällig werden, Mr. Gallagher, lasse ich Sie zurück.« »Wenn ihr nicht sofort aufhört, werde ich aus meinem Vertrag als Schiedsrichter aussteigen«, sagte Burchenal fröhlich, wobei sein Versuch, die Spannung zu lockern etwas zu offensichtlich war. »Dann bleibt ihr an einem Kerl hängen, der euch einfach gegenseitig umbringen lässt, bevor er eingreift. Damit ihr mich nicht falsch versteht. Mir ist das auch schon in den Sinn gekommen.« »Ich wollte eine schlichte Meldung haben. Wenn ihr Idioten mehr Luft verschwenden wollt, nur zu«, sagte Santen. Keiner machte Anstalten dazu. Der Marsch ging weiter, vier Pfadfinder, die Punktabzüge für schlechte Manieren verdient hätten. Noch ein Hügel, bislang der steilste. Der Überhügel. Verdammter Mars. Du und deine Hügel und deine beschissene Kohlendioxidatmosphäre. Wir kriegen dich schon klein. Werden Zigarren rauchen und später mit Bud darüber lachen. Du hast keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast. Überhaupt keine Ahnung. Denkst du über deine Existenz nach? Na komm. Wenn du eine Stimme hast, dann benutze sie. Ein Stein unter dem Fuß. Drücken. Oh, Scheiße, Ausgerutscht. Auf meinen Hintern. Ah. Ah. Ah! Gallagher rutschte den Hang hinunter, überall Steine. »Hab dich!«, rief Pettengill, ergriff Gallaghers Arm und grub seine Stiefel in den Sand.
81
Eine Staubwolke hüllte sie ein, während Gallagher noch eine Sekunde dasaß und sich sammelte. »Danke.« »Ich pass schon auf dich auf«, erwiderte Pettengill. Santens Stimme drang über das Tak-Komm, das taktische Kommunikationssytem. »He, da unten. Berichterstattung.« »Äh, Sir, ich bin hingefallen«, sagte Gallagher mit seiner dümmlichsten Stimme. »Tut mir leid, Sir.« »Bringen Sie Ihren Hintern hoch und kommen sie her. Das hier wird Ihnen gefallen.« Gallagher und Pettengill tauschten einen ungläubigen Blick aus, dann rollte sich Gallagher zur Seite, sprang auf seine Füße und stürmte den Abhang hoch. Außer Atem kam er an der Spitze an, wo Santen auf etwas im Tal unter ihnen zeigte, etwas, das fünfhundert Meter weit weg lag und im reflektierendem Sonnenlicht blendete – das Habitat. »Sechsundzwanzig Monate lang Essen, Wasser und Luft«, rief Santen und verriet damit seine eigene Freude. Burchenal überprüfte seinen Luftvorrat. »Wir haben’s geschafft.« Pettengill erreichte die Spitze und sah das ferne Juwel. »Na, verdammt!«, keuchte er. »Wird auch langsam Zeit.« Und dann, wie die Überlebenden eines Flugzeugabsturzes, die von einem eiskalten Berg herunterkommen, oder Beduinen, die zum ersten Mal seit Monaten eine Oase sehen, rannten die Vier wie verrückt den Abhang hinunter. Gallagher verlagerte sein Gewicht auf seinen rechten Fuß und sprang fünf Meter nach vorne, landete, rutschte, dann sprang er ein weiteres Mal. Er fühlte sich stark, wie ein Gott, stellte sich vor, dass er wie ein Superheld in einem Comic durch die Luft flog, nur ohne Cape. Und mit jedem Sprung verlor er mehr von seinen Zweifeln und ließ sie zurück, auf dass sie im Staub verkümmerten. Er würde nicht auf dem Mars sterben. Ich habe dir gesagt,
82
dass wir dich kleinkriegen. Du kannst uns nichts anhaben. Santen und Burchenal überboten einander im Springen, und der Anblick der beiden, die wie auf unsichtbaren Federn über die Schuttdecke schnellten, erstaunte Gallagher. Kein Simulator konnte so etwas simulieren. »Gott, ich liebe diesen Ort!«, brüllte Pettengill, als er neben Gallagher herabstürzte. »Pass auf!« Er nahm drei Schritte Anlauf, ging in die Knie und sprang in die Luft. Wie betrunken von der schwachen Schwerkraft, folgte Gallagher dem Beispiel des Wissenschaftlers, sprang wie auf einem Trampolin hoch und flog etwa sechs, sieben Meter, bevor er über den Sand rutschte. Santen und Burchenal kamen unten an und bahnten sich einen Weg durch eine scharfkantige Ansammlung von Schutthalden und Geröll. Fünf Schritte hinter ihnen stiefelten Gallagher und Pettengill durch die Staubwolke ihrer Kameraden. Gallagher konnte den Dreck beinahe riechen. Ein roter Teppich aus Stein und loser Erde rollte sich vor ihnen auf und führte sie zum Habitat. Gallagher fühlte sich dermaßen berauscht, dass er sich ein Begrüßungskomitee von weiblichen Aktmodellen vorstellte, welches ihnen helfen würde, ihre Ausrüstung abzulegen und ihre schmerzenden Muskeln zu massieren. Bei dem Gedanken kicherte er leise, dann runzelte er die Stirn als Santen vor ihm plötzlich anhielt. Gefolgt von Burchenal. Gefolgt von Gallagher, der zu ihnen stieß, einen Blick auf das Habitat warf und wie vom Blitz getroffen unbeweglich dastand. Pettengill stellte sich vor Gallagher. Erstarrt. Eine Reihe von Titanrippen ragten aus dem Boden, wie die Überreste eines gigantischen Mammuts, das hier vor Tausenden von Jahren gestorben war.
83
Von Gallaghers Standpunkt aus waren die Rippen das einzig klare Anzeichen, dass das Habitat überhaupt jemals existiert hatte. Die geodäthische Traglufthalle, die Innenwände, die Böden, … alles weg. Er taumelte vorwärts, konnte seine Stiefel kaum spüren so betäubt war er durch den Schock. »Was zur Hölle ist passiert?«, gab Burchenal von sich. Er hastete zum Wrack hinüber, verschwand hinter einer der Rippen. Pettengills Mund öffnete sich. Er versuchte etwas zu sagen, seine Stimme stockte, schließlich brachte er das Wort »Jesus« heraus. Santen wirbelte herum, blickte Gallagher an. »Sie haben es gesehen, stimmt’s?«, verlangte er zu wissen. »Was gesehen?« »Die Teleskopaufnahmen, die wir unterwegs von diesem Ort gemacht haben!« »Ja, und?« »Es war hier. Genau hier, verdammt noch mal. Intakt. Es hat auf uns gewartet. Was ist passiert?« Er wandte sich den Ruinen zu. »Was ist passiert?« Zum ersten Mal in Santens Leben hatte er eine Situation nicht im Griff. Das beruhigende Gefühl der Kontrolle war ihm vollständig und unwiderruflich entrissen worden. Das war das Schlimmste, was man ihm, der immer alles unter Kontrolle hatte, antun konnte. Sein Gesicht noch immer zu einer Maske des Grauens verzerrt, riss Santen sein Notebook an sich und warf ihn in Richtung der Ruinen. Dann stürmte er auf ein Gefalle im Osten zu. »Schaut euch das an«, sagte Burchenal und winkte sie herbei. Gallagher eilte auf das erste Paar Rippen zu. Dort, wo Burchenal kauerte, war der Boden mit Titanquerbalken und kleineren Stangen übersät. »Genau hier war unser Wasservorrat«,
84
sagt er. »Ebenso unser Lebenserhaltungssystem. Die Nahrungsmittel sind auch weg. Nur ein paar Stoffe, Schaum, Papierwaren und anderer Müll sind noch übrig geblieben. Das war’s. Wo ist der Rest?« Pettengill lehnte sich gegen eine der Rippen und brach in dunkles Gelächter aus. »Sie haben es mitgenommen.« »Sie?! Die –«, setzte Gallagher an, doch Burchenal schnitt ihm das Wort ab. »Ich will es gar nicht wissen!« »Ich wollte sagen, die Chinesen«, berichtigte ihn Gallagher. »Sie wollten von Anfang an Teil dieses Programms sein. Sie kamen nicht in die engere Auswahl und seitdem sind sie sauer.« »Vielleicht hat er recht«, sagte Pettengill. »Aber was sollen sie schon angestellt haben? Das Habitat sabotieren? Wie? Was für eine Bombe würde solche Trümmer hinterlassen? Und wenn sie uns schaden, schaden sie sich auch selbst. Nein, es ist lächerlich. Aber egal. Wir werden ohnehin sterben.« Gallagher überprüfte seinen Vorrat an O2: Noch sechzehn Minuten übrig. Sechzehn Minuten Leben übrig. US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 182. TAG DER MISSION Sie waren alle tot. Oder zumindest würden sie es bald sein. Was würdest du tun, wenn du herausfändest, dass die gesamte Mannschaft tot ist und du die einzige Überlebende bist? Das Schiff retten. Nach Hause zurückkehren. Aber zuerst musste Bowman die Reparatur des Kommsy-
85
stems beenden. Ihre erste Diagnose deutete darauf hin, dass sie die Chips innerhalb von fünf Minuten ersetzen könnte; aber nachdem sie sich die Sache angeschaut hatte, war ihr klar geworden, dass die drahtlosen Sender zwischen den untergeordneten Systemen ebenfalls ersetzt werden mussten – was mindestens acht Stunden Arbeit in Anspruch nehmen würde. Zumindest hatte ihr die Arbeit dabei geholfen, sich von ihrem Kummer abzulenken. In jeder freien Minute zwischen den Tests kehrten ihre Gedanken zur Absturzstelle und zum Habitat zurück, welches unerklärlicherweise zerstört worden war. Was noch schlimmer war, die Umlaufbahn der Mars-1 hatte sich seit Bowmans erster Untersuchung immer mehr verschoben, was eine weitere Suche mit dem Teleskop nach Überlebenden sehr viel schwieriger machte. Selbst wenn die Besatzung den Absturz des MEV überlebt und das Habitat erreicht hätte, würde ihnen dennoch die Luft ausgehen und sie würden sterben. Bowman kämpfte gegen die Tränen an und – verdammt stolz, dass sie keine vergoss – aktivierte den Kommunikator. Sie wartete, bis jeder der neuen Sender den jeweiligen Systemstatus registriert hatte, und verspürte ein leichtes Kribbeln des Triumphes. »Ground Crew, Mars-1, können Sie mich hören?« Pause. Ein weiteres Mal überprüfte sie die Tak-Komm Frequenzen. In Ordnung. »Ground Crew, Mars-1, können Sie mich hören?« Bowman wünschte sich so sehr, dass zumindest einer von ihnen, irgendjemand, noch am Leben war, dass sie förmlich zitterte. Sie versuchte es noch einmal. Und noch einmal. Alle dreißig Sekunden. Verschiedene Frequenzen. Nach zehn Sekunden ließ sie die Schultern hängen. Sie wusste Bescheid. Jedes der Gesichter zeichnete sich vor ihrem inneren Auge
86
ab: Santens scharf geschnittenes Selbstvertrauen, Pettengills zögerliches Lächeln, Burchenals zynisches Grinsen, Chantilas großäugiges Erstaunen und Gallaghers jungenhafter Schmollmund. Sie hatte mehr Zeit mit ihnen verbracht als mit irgendwelchen anderen Leuten in ihrem ganzen Leben. Sie waren ihre Familie gewesen. Ihre verlorene Familie. Sie fühlte sich leer, ihre Hals war zu. Bowman schaltete auf eine andere Frequenz um. Sie atmete ein und sammelte sich. »Houston, hier spricht Mars-1. Wir hatten eine massive Protonenfeldstörung. Das Komm-System war bis jetzt unbrauchbar. Das MEV ist mit fünf Mann Besatzung gestartet. Kein Funkkontakt. Bildübertragung deutet auf Shalbatan Vallis als Absturzort hin. Ein Körper. Keine Anzeichen von Bewegung. Keine Lebenszeichen. Die Systeme der Mars-1 laufen auf unter siebzig Prozent. Die Umlaufbahn wurde durch BrandkontrollLuftsäuberung abgeschwächt. Telemetrie und Videodaten folgen.« Zwei Knopfdrücke starteten den Upload. »Untersuchung des Habitats von hier oben deutet auf völlige Zerstörung hin. Grund unbekannt. Ich wiederhole: Habitat Eins ist zerstört. Ende der Übertragung. Mars-1, over.« Sie klappte das Mikrofon ihres Kopfhörers unter ihr Kinn und murmelte: »Wenn mich überhaupt jemand hören kann.« MARS-1 RAUMFAHRTKONTROLLZENTRUM JOHNSON SPACE CENTER, HOUSTON 182. TAG DER MISSION »Ich weiß, dass ich kaum zuhause war, Schatz. Bitte nimm es mir nicht übel. Sechs meiner Leute sind dort oben auf mich angewiesen.« Russert merkte wohl, dass er seinen Arbeitsdrang zu rechtfertigen versuchte und fragte sich, ob er ebenso er-
87
bärmlich klang, wie er sich fühlte. Sehnsüchtig starrte er auf den Bildschirm. Jessica runzelte angeekelt die Nase, warf ihren Kopf nach hinten und schüttelte ihr blondes Haar aus den Augen. »Weißt du was, Dad? Deine Tochter ist auch auf dich angewiesen.« Sie wandte ihren Blick ab und schnalzte mit der Zunge. »Ich bin doch kein Idiot. Ich weiß, dass du als Flugleiter gebraucht wirst, dass du angesehen bist, ordentlich Geld verdienst und dass dort alles zusammenbrechen und auf dem Mars Raketen einschlagen würden, wenn du mal nicht da wärst. Aber ich wollte doch nur, dass du mich zum Einkaufen fährst.« Der traurige Blick, mit dem sie ihn anschaute, bohrte sich tief in sein Herz. »Du hast es mir versprochen. Du hast mich hängen lassen. Du … VERSAGER!« Sie hängte ein. In diesem Moment erschien ihm jedes der Fotos und Modelle, von denen er in seinem menschenleeren Büro umgeben war und welche die Entscheidungen, die er getroffen hatte, repräsentierten, wie eine furchtbar falsche Entscheidung. Seine Ex-Frau würde ihm da sicher zustimmen. Leute, die erfolgreich waren, wussten zwischen Beruf und Familie für Ausgewogenheit zu sorgen. Warum hatte er so elendig versagt? Auf einmal tönte in seinem Kopfhörer die aufgeregte Stimme von John Skavlem. »Chef?« »Ja?« »Wir haben Kontakt. Du wirst im Kontrollzentrum gebraucht.« Immerhin. Wenigstens etwas war richtig gelaufen. »Bin sofort da.« Er sprang von seinem Sitz auf und warf im Gehen einen letzten Blick auf das Modell der Mars-1, das auf seiner Schreibtischkante stand. Im Gang wimmelte es nur so von Personal. Bei seiner An-
88
kunft im Flugkontrollraum, zwei Minuten später, war er bereits geistig und körperlich völlig erschöpft. Skavlem spielte ihm die Übertragung vor. Mit jedem Satz sank sein sowieso schon schweres Herz noch ein wenig tiefer. »Oh mein Gott …« Noch immer benommen, gab er den Befehl, die Telemetrie und die Videodaten des Schiffes auf den Gemeinschaftsmonitor zu projizieren. Die Kamera führte sie durch den transparenten Bauplan der Mars-1 und zeigte in blutroter Farbe die beschädigten Systeme auf. Dann blendete das Bild zu Bowmans Teleskopaufnahmen von der Absturzstelle des MEV und den skelettartigen Überresten von Habitat Eins über. »Ich glaube es nicht«, seufzte Andy Lowenthal. »Die Eruption war schlimm genug. Aber das …« Russert ballte seine Hände zu Fäusten. »Also gut, Ladies und Gentlemen. Zumindest eine Astronautin hat da oben überlebt. Wir bringen sie nach Hause, was es auch koste.«
89
Zehn US-RAUMFÄHRE MARS-1 UNTERWEGS ZUM MARS 15. TAG DER MISSION Wie in vielen Haushalten war auch an Bord der Mars-1 die Küche zum allgemeinen Treffpunkt auserkoren worden und Gallagher konnte davon ausgehen, dass die meisten Besatzungsmitglieder sich um jeweils acht, zwölf, neunzehn und zweiundzwanzig Uhr dort versammeln würden. Bei den Gesprächen ging es natürlich um alles Mögliche, wobei Burchenal die wissenschaftlichen Errungenschaften der Menschheit hinunterleierte und Chantilas ihm mit sorgfältigen Argumenten über wissenschaftliche Erfahrungen widersprach, denen zufolge jegliche Forschung durch großartige Wendungen des Schicksals, des Glücks, durch Glauben und Gott erklären konnte. Auch Santen traute sich gelegentlich, Argumente vorzutragen und tat seine aufrichtige Überzeugung kund, dass es die moderne Gesellschaft und den damit einhergehenden wissenschaftlichen Fortschritt ohne den militärisch-industriellen Komplex überhaupt nicht gäbe. Obwohl Gallagher davon ausging, dass Bowman derartigen Behauptungen eigentlich zustimmen müsste, da sie ja selbst Luftwaffenpilotin war, nahm sie die Aussage weder in Schutz noch widersprach sie ihr. Sie lehnte sich statt dessen einfach zurück und beobachtete still das Geschehen. Gallagher hätte gerne an diesen Gesprächen teilgenommen, aber sie drifteten dermaßen oft in unverständliche akademische Diskurse ab, dass er gleichermaßen gelangweilt, frustriert und eingeschüchtert war. Angespornt durch die häufigen Aussprüche Chantilas fand Gallagher ein Zitat, das er sich 90
zu eigen machte, eine Binsenweisheit ersten Ranges, die von einem Physiker namens Dyson stammte: »Ein guter Forscher hat neue Ideen. Ein guter Ingenieur bringt einen Entwurf mit so wenigen neuen Ideen wie möglich zum Laufen. Für Primadonnen ist im technischen Bereich kein Platz.« Das war kein schlechtes Mantra für einen Systemmechaniker. Doch als Gallagher es in die Debatte einwarf, konnte er nicht ahnen, dass Burchenal, Pettengill und Santen fünfundvierzig Minuten damit verbringen würden, den Satz auseinander zu nehmen. Schlurfend betrat Gallagher den Raum, rieb sich den Schlaf aus den Augen und fragte sich, welche seiner Bildungslücken wohl in der heutigen Unterhaltung gestopft werden würde. Pettengill, Santen und Chantilas saßen bereits am Tisch. Als Gallagher sich einen Orangensaft aus dem Kühlschrank holte, hörte er, wie Pettengill herausplatzte: »Sie ist verschwunden. Gestern konnte ich sie noch sehen. Heute ist sie weg. Nicht mehr aufzufinden.« »Was ist nicht aufzufinden?«, fragte Gallagher. »Er redet von der Erde«, erwiderte Chantilas. Santen verzog sein Gesicht und schaute Pettengill an. »Wie bitte? Haben Sie etwa Angst, dass die Erde nicht mehr existiert? Da müssen Sie sich, glaube ich, keine Sorgen machen.« Pettengill schnitt seinerseits eine Grimasse. »Es ist nur eigenartig, sie nicht mehr zu sehen, wissen Sie?« Santen stand mit einem leisen Kichern auf. »Gewöhnen Sie sich daran.« Schlecht gelaunt ging der Captain von dannen. »Ich habe einfach nicht damit gerechnet, das ist alles«, sagte Pettengill. »Davor hat uns keiner gewarnt – dass ich eines Tages, wenn ich aus dem Bullauge schaue, die Erde nicht mehr sehen kann. Jetzt wird es langsam ernst. Wir sind ganz schön weit weg von zuhause.«
91
»Hast du Lust auf Speck?«, fragte Chantilas mit erhobenen Augenbrauen. Pettengill zog sichtlich verwirrt den Kopf ein. Seine Antwort klang so, als hätte er es mit einem Verrückten zu tun. »Ah, klar doch …« »Ich auch. Leider haben wir keinen. Nicht einmal Truthahnspeck. Wenn ich welchen will, dann stelle ich mir vor, beim Frühstück in einem Fünf-Sterne-Restaurant zu sitzen und vom Kellner einen Teller voll knusprig gebratenem Speck serviert zu bekommen. Der beste Speck, den man sich vorstellen kann. Ich kann ihn dann richtig schmecken. Ich schmecke ihn auch jetzt. Kannst du es nicht auch?« »Ja«, stöhnte Pettengill mit zuckender Nase und vor Ekstase weit geöffneten Mund. »Okay. Mit der Erde kannst du es genauso machen.« Chantilas wartete, bis Pettengill die Eselsbrücke überquert hatte. »Verstehst du?« »Ich habe Hunger.« Chantilas grinste. »Ich auch.« Er legte seine Hand auf Pettengills Schulter und blickte ihn auf seine ruhige, sanfte Art an, die Gallagher so sehr an seinen eigenen Großvater erinnerte. Pettengill murmelte ein Dankeschön, dann machte er sich zur Luke auf. »Tja, der Gott der Biologie wartet auf mich im Labor.« »Richte Burchenal einen schönen Gruß von uns aus«, sagte Chantilas. Er schaute Pettengill zu, wie er in der Luke verschwand, dann sagte er: »Manche Leute sind bei den Sternen nicht zuhause.« »Ich bin hier mehr zuhause als sonst irgendwo«, antwortete Gallagher mit einem leichten Achselzucken. »Klar, ich vermisse die Erde schon, nur …« »Nur nicht die Menschen.« »Es gibt schon welche, ohne die ich ganz gut auskommen
92
könnte.« »Ich auch. Aber wir sind für sie alle hier: Die Präsidenten, die Prostituierten, die Bankräuber und die Maurer.« Chantilas hob seine Kaffeetasse, schüttelte sich ein wenig beim Anblick des Inhalts, dann schob er seinen Stuhl zurück. »Lust auf einen kleinen Spaziergang?« »Klar.« »Lass uns ein paar Runden über den Campus laufen. Zwei Wochen lang Russert und die anderen, die ihre Nase überall hineinstecken, das kann ganz schön ermüdend werden. Da tut es gut, sich die Beine zu vertreten.« Sie machten sich zum Zugangstunnel auf, wobei Gallagher den Alten verstohlen anschaute. »Kann ich dir etwas sagen, ohne dass du sauer wirst?« »Ich wäre sauer, wenn du es mir nicht sagst.« »Du weißt, was ich meine. Was ich sagen wollte, ist, dass du mich sehr an meinen Großvater erinnerst.« »Ein gutaussehender Mann?« »Selbstverständlich. Als ich ein Kind war, hat er mir das Segeln beigebracht. Er wollte, dass ich die Sterne auswendig lernte, falls alle GPS-Satelliten auf einmal vom Himmel fallen sollten. Er hat immer gesagt, dass jeder, der sein Leben Dingen anvertraut, die durch Batterien betrieben werden, ein Esel ist.« »Klingt nach einem starken Typ. Nach einem echten Yankee.« »Ja. Ich vermisse ihn. Er starb als ich dreizehn war …« Gallagher beschwor in seinem Geist ein klares Bild des Mannes herauf: die glänzende, sommersprossige Glatze, die korallenblauen Augen, die ihre Umwelt in sich aufsaugten, der Zigarrenstummel zwischen den Zähnen, das grelle Hawaiihemd, das wie ein Zelt über dem Bauch hing, für den er, wie er gerne behauptete, über dreißig Jahre gebraucht hatte. »Er mochte keine einfachen Antworten und simplen Lösungen. Er wollte nichts
93
besitzen, was er nicht selbst reparieren konnte. Und, oh, ja, alles was automatisch ist, geht früher oder später automatisch zu Bruch, normalerweise während oder genau vor einer Krise. Er hatte verdammt viele Sprüche drauf. Und das hier hätte er bestimmt nicht gutgeheißen.« »Zum Mars zu fliegen?« »Das wäre ihm recht gewesen, aber nicht aus denselben Gründen. Er wäre bestimmt sauer, dass wir die Hälfte aller Lebewesen auf der Erde zerstört haben. Und dass wir, nachdem wir bereits einen Planeten durch Verschmutzung und den Treibhauseffekt zerstört haben, jetzt versuchen, Leben auf einen anderen zu bringen, um dort genau das gleiche zu machen. Er würde sagen, dass wir uns nur noch mehr Ärger einhandeln.« »Was denkst du?« Gallagher warf seine Hände in die Luft. »Wir wissen ja nicht, ob es funktionieren wird.« »Nehmen wir mal an, wir versuchten es nicht? Wir wären fertig damit, die Erde zu vergiften und innerhalb von ein paar Generationen würden alle tot sein. Was sollte das alles? Musik, Kunst, Schönheit, Liebe? Alles futsch. Die Griechen, Römer, die Renaissance, die Verfassung, die Menschen, die für ihre Freiheit und Ideale starben? Die großen Pyramiden? Hemingways »Die Wahrheit im Morgenlicht«, Fitzgeralds »Der große Gatsby«, die Beatles, die Stones, die Doors. Großartige alte Filme wie »Unten am Fluss«, »Die Brücke am Kwai«, »Ben Hur«, »West Side Story«, »Der Pate«. Alles nur Zeitverschwendung? Lieber würde ich einen Fehler machen, als in einer Welt ohne Hoffnung zu leben.« Sie teilten ein paar Augenblicke nachdenklicher Stille und gingen um eine Kurve. Dann kam Gallagher auf Chantilas letzte Aussage zurück. »Musik, Kunst, Schönheit, Liebe«, zitierte er. »Du hast gesagt, dass du wegen eines Gedichts hier bist.
94
Jetzt verstehe ich. Aber was ich nicht verstehe, ist, warum du aufgehört hast, Wissenschaftler zu sein. Du bist wieder zur Universität gegangen, um Gott zu studieren?« »Mir ist lediglich klar geworden, dass die Wissenschaft die wirklich interessanten Fragen nicht beantworten konnte.« »Wie zum Beispiel …« »Wie zum Beispiel Fragen, die mit Werten zu tun haben, die grundlegend für ein Verständnis unserer Welt sind. Werte, die man durch Gleichungen und Experimente nicht ausdrücken kann. In ihnen sieht man die Hand Gottes.« Er sah Gallaghers Verwirrung und drückte sich klarer aus: »Das Eingeständnis unserer grundsätzlichen Werte. Liebe, Güte, Freude. Damit kann die Wissenschaft nicht viel anfangen. Schau mal – menschenfeindliche Theorien sind schlicht falsch. Das wissen wir aufgrund unserer Erkenntnisse. Die Wissenschaft will das nicht wahrhaben. Wir leben in einer moralischen Welt, die uns sagt, dass Liebe und Wahrheit besser sind als Hass und Lügen. Aber es ist nun mal modisch zu glauben, dass das nicht mehr ist als ein genetischer Abdruck oder ein stillschweigendes gesellschaftlich-kulturelles Abkommen. Ich lege keinen Wert darauf, in einer solchen Welt zu leben.« »Ich habe meinen Großvater einmal gefragt, ob es einen Gott gibt. Er hat mir die Dritte von Brahms vorgespielt. Dann hat er mich gefragt, ob sie mir gefiel oder ob es sich nur um Schwingungen handelte.« Chantilas nickte. »Ja, was ist das Untersuchen von Ästhetik schon wert?« »Wie dem auch sei, mein Großvater hat gesagt, dass ein Mensch, der Brahms lieben, aber nicht an Gott glauben kann, ein Narr sein muss.« Der Blick des Veteranen leuchtete auf. »Ich glaube, mir wäre dein Großvater sympathisch gewesen.« Sie gingen nach rechts, schlenderten an einem kreuzenden
95
Zugangstunnel vorbei, näherten sich dann der Luke des Hauptlabors. Gallagher spähte hinein und entdeckte Burchenal am anderen Ende des Labors. Das Gesicht des Mannes reflektierte in dem unheimlichen Zinnoberrot der Monitorbeleuchtung. Pettengill stand hinter ihm und schaute etwas verärgert. »Siehst du sie?«, fragte Chantilas. »Vielleicht werden sie ein paar Antworten finden. Vielleicht auch nicht. Aber was sie einsehen sollten, ist, dass es etwas gibt, das größer ist als sie, größer als wir alle. Es gibt einen Grund dafür, warum die Planeten ihre Sterne genauso umrunden wie Elektronen den Kern eines Atoms. Das ist kein Zufall. Im Grunde genommen folgt alles einem Plan. Gott wacht über sie, über dich.« »Ja, das tut er«, stimmte Gallagher zu. »Ich wünschte nur, er würde nicht lachen.« »Das ist noch eine Sache – der Humor. Kannst du mir dafür die Formeln geben? Wie sehen die Variablen aus?« Ein weiteres Gesicht erschien vor Gallaghers geistigem Auge, ein hartes Gesicht mit sandfarbener Haut und Augenbrauen, die wie Pfeile auf eine Stupsnase zeigten. »Mein Vater würde versuchen, diese Frage zu beantworten.« »Du hattest deine Eltern vorher noch nie erwähnt. Was ist mit deinem Vater?« »Er hält sich für Gott.« »Ein harter Kerl«, schlussfolgerte Chantilas. »Aus rostfreiem Stahl.« »Der über alle anderen richtet.« »Tja, manchmal kriegen es sogar Versager hin, ihr Leben in die richtige Richtung zu bringen.« Chantilas Gesichtsausdruck wurde ernst, dann überkam ihn ein breites Lächeln. Gallagher teilte den Blick. Dann, als sie anfingen schneller zu gehen, dachte er, dass er nun, wo er schon im Gespräch mit Chantilas war, ein Thema anschneiden könnte, das ein wenig delikater war. »Es gibt Leute, die behaupten, dass du auf diese
96
Mission geschickt wurdest –« »– aus Gründen der Publikumswirksamkeit«, beendete Chantilas den Satz. »Ich bin der Vorzeigejunge für das Raumprogramm.« »Ich denke, dass sie dich mitgeschickt haben, um auf uns aufzupassen. Um als unser Berater zu agieren.« »Ich persönlich glaube an die Vorzeigetheorie, obwohl ich das weiße Haar eines archetypischen Weisen habe, der dem Helden hilft. Wie dem auch sei, ich bin für die Chance dankbar.« »Der Erste auf dem Mars zu sein.« »Der Menschheit als Wissenschaftler zu dienen und gleichzeitig als Theologe an einem neuen Ort nach Gott zu suchen.« »Du bist überhaupt nicht der Wissenschaft wegen auf diese Reise mitgekommen. Deswegen haben sie dich mitgehen lassen, aber du bist hier, um dir selbst zu beweisen, dass Gott existiert.« »Warum auch nicht? Vielleicht werde ich einen Stein hochheben, auf dessen Unterseite die Worte ›Made by God‹ draufstehen. Das Universum ist voller Überraschungen.« »Das wäre eine ziemlich große. Aber vielleicht ist Gott subtiler als du glaubst.« Chantilas verweilte an einem Bullauge und starrte verträumt durch das Perma-Glas in die Sternen übersähte Leere. »Ich werde nicht enttäuscht sein, wenn ich keine Antwort finde. Nur wenn ich es nicht versuche. Weißt du, ich habe das Gefühl, dass wir sehr Wichtiges finden oder lernen könnten, was für uns und unsere Stellung sehr wichtig sein könnte. Es klingt verrückt, wenn ich das so sage, aber es gibt eine Wahrheit, vor der ich nicht fliehen kann. Da draußen sind Antworten. Und eine Stimme ruft mich zu ihnen. Uns alle.« »Wessen Stimme?«
97
»Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht der Mars.« »Du hast recht. Du klingst verrückt. Aber mach dir keine Sorgen, ich werd’s niemandem erzählen.« »Das brauchst du auch nicht. Davon sind sie bereits überzeugt.« »Nun, ich werde keinem von unserem Gespräch erzählen. Und wenn wir auf dem Mars sind, helfe ich dir, unter alle Steine zu schauen.« Chantilas strahlte ihn an. »Danke. Ich kann Hilfe gebrauchen.«
98
Elf HABITAT EINS LANDEPLATZ NÄHERE UMGEBUNG DES ARES VALLIS, MARS 182. TAG DER MISSION Gallagher saß auf einem Riff, dessen Oberseite von den Marswinden glatt poliert worden war, beugte sich vor und hob einen Stein hoch. »Made by God. Tut mir leid, Bud. Hier ist nichts.« Das Display an Gallaghers Handgelenk zeigte noch sehr viel schlechtere Nachrichten an: Die Thermalbatterie des Raumanzugs war bereits abgestorben, wie bei den anderen auch, und er hatte nur noch dreizehn Minuten Luft übrig. »Vielleicht haben wir nur das bekommen, was wir verdient haben«, sagte Burchenal. »Wir haben die Wissenschaft und die Wahrheit eines Planeten ignoriert und ihn hoffnungslos vergiftet. Dann haben wir versucht, uns durch die Wissenschaft auf einen anderen Planeten zu retten. Vielleicht war es diese Widersprüchlichkeit, die uns verurteilt hat.« »Vielleicht wissen wir einfach zu viel«, schlug Gallagher vor. »Bud hat mir mal von etwas erzählt, was Mark Twain gesagt hat, warum wir die Schönheit eines Regenbogens nicht so bewundern können wie ein Primitiver. Unser Problem ist, wir wissen, wie er zustande kam.« »Das sehe ich anders. Wir können dessen Schönheit um so besser bewundern, weil wir die brechende Streuung des Sonnenlichts in fallenden Wassertröpfchen verstehen. Wir verstehen die erstaunlichen Vorgänge der Natur.« »Aber sehen wir ihn als einen schönen Regenbogen oder einen erstaunlichen Naturvorgang an?« 99
Burchenal zeigte auf eine breite Vertiefung, die etwa dreißig Meter entfernt war. »Siehst du das? Was, meinst du, ist es?« »Eine Stelle, wo der Boden abfällt. Nenne es eine Aushöhlung, wie immer du willst.« »Siehst du, ich weiß genau, was es ist und kann dank der Wissenschaft dessen Schönheit besser bestaunen als du. Wir nennen das ein ›Datum‹ und können damit den Meeresspiegel berechnen. Wenn es ein Meer gäbe. Oder als es noch ein Meer gab. Man kann es genau erkennen, denn der Sand wurde von sogenannten Fluvialvorgängen erschaffen, wobei das Wasser die Gesteinsbrocken in immer kleinere Stücke zerbrochen hat. Für dich ist es ein Loch im Boden. Für mich ist es ein Buch, das eine Milliarden Jahre alte Geschichte erzählt. Und das ist keine Vereinfachung, obwohl das manche behaupten würden.« »Also findest du im Wissen Schönheit. Vielleicht sollten wir in der Schönheit Wissen suchen.« »Oho, Gallagher, für einen Klempner ist das ganz schön tiefsinnig.« Er beugte sich vor, seine Augen waren glasig. »Und noch etwas: Wir sind die ersten Menschen auf dem Mars. Auch wenn es nicht mehr lange dauert. Willst du, dass ich das Maul halte, damit du in Ruhe sterben kannst?« »Ach nein, sprich weiter. Immerhin vergesse ich dann die Zeit. Lassen wir uns überraschen.« »Ja, immerhin sterben wir wie Männer. Wir sterben keinen lächerlich verrückten Tod wie ein Soldat, der vier Kriege mitgemacht und ein halbes Dutzend Orden bekommen hat und dann, wenn er nach Hause kommt, auf dem Skateboard seines Kindes ausrutscht und in seiner Garage verendet. Diese Art von Ironie finde ich zum Kotzen.« Burchenals Stimme wurde härter. »Ein letzter Eintrag in deiner Biografie? Zwölf Milliarden enttäuschte Menschen, von Ex-Frauen ganz zu schweigen.« »Sie werden enttäuscht sein, aber der Traum ist damit noch nicht ausgeträumt. Der Kongress wird eine weitere Trillion
100
Dollar auftreiben und ein neues Team schicken.« »Oder sie werden das Geld dazu verwenden, die Dinge kurzfristig in Ordnung zu bringen und das ganze Marsprojekt einfach abschreiben. Politiker leben gerne in einer Art Verdrängung; außerhalb von Washington leben sie alle in einer abgekapselten Gemeinde.« »Heitere mich nicht auf«, warnte ihn Gallagher. »Ich will im Moment nicht allzuviel fühlen. Glaubst du, dass sie uns, abgesehen von Bud, ausgewählt haben, weil wir alle keine Frau und Kinder haben?« »Ich weiß, dass sich mich ausgewählt haben, weil ich den MacGregor-Preis in Biotechnik gewonnen habe, was mir im Moment überhaupt nichts nützt.« Plötzlich fiel Gallagher auf, dass sie seit einigen Minuten nichts von Pettengill und Santen gehört hatten. Er schaute zum Habitat zurück, keiner von beiden war in den Ruinen zu sehen. »Wo ist Pettengill?« Burchenal klatschte mit den Handflächen auf seine Hüften, stand vom Riff auf und inspizierte den zerklüfteten Horizont. »Pettengill? Santen?« Einige Sekunden verflossen. »Wahrscheinlich sind sie über den Grad auf den Canyon zugewandert, außerhalb unserer Reichweite.« Burchenal setzte sich. »Das ist dann wohl der Abschied.« »Ich dachte, dass ich einfach hier sitzen und es wegreden könnte«, sagte Gallagher schnell. »Aber ich glaube nicht, dass ich das kann. Ich denke, wir sollten etwas tun. Wir müssen was tun, stimmt’s?« »Was?« ***
101
Pettengill war Santens Fußspuren über den ersten Abhang hinweg gefolgt, dann parallel an einem Höhenzug entlang gegangen, der sich an der Seite eines breiten Kanals entlangwand und laut seines Notebooks in das Chrysebecken mündete. Er erreichte gerade einen Abschnitt des Kanals, der wohl von einem Erdrutsch verschüttet worden war. Zweihundert Meter vor ihm führte ein steiles Kliff einen Kilometer in die Tiefe. Da er durch und durch Wissenschaftler war, inspizierte er die gleichmäßig geschichteten Ablagerungen auf der gegenüberliegenden Wand des Kanals. Die Schichten ließen auf relativ große umweltbedingte Absetzungen schließen, wie sie zum Beispiel in stillen Gewässern zu erwarten waren. War dieser Kanal von fließendem Wasser erschaffen worden? Hatte es irgendwann aufgehört zu fließen? In wenigen Minuten wirst du sterben, du Esel. Willst du, dass das dein letzter Gedanke ist? Oder willst du, dass dein letzter Gedanke die Analyse deines letzten Gedanken ist … Vor ihm am Abgrund stand Santen, seine Arme in einer Art letzter rebellischer Geste vor der Brust überkreuzt. Er konnte sich hinunterstürzen und selbst in der geringen Anziehungskraft durch den Fall umkommen. Zumindest würde er einen Riss im Raumanzug erleiden. Pettengill schaute den Mann einen Moment lang an, dann taumelte er auf ihn zu, davon ausgehend, dass Santen ihn hörte, aber keinen Blick an ihn verschwenden würde. Er kam neben dem Captain zum Stehen und nahm den Blick der Kanalwände und der Schatten, die zu einem einzigartigen Strudel miteinander verflossen, in sich auf. Und für ein paar Sekunden, die durch einen Adrenalinstoß verlängert wurden, stellte sich Pettengill vor, wie er sich vorbeugte, sich dem Kanal, dem Planeten hingab. Eine einfache Tat. Fast ohne Anstrengung. So würde er sich den grauenvollen Erstickungstod sparen, obwohl der Fall sich vielleicht als noch grausamer herausstellen könnte.
102
Vergiss es. Du bist nicht hergekommen, um dich umzubringen. Du wirst sterben, aber mit einem reinen Gewissen. Plötzlich fing er einfach an zu sprechen. »Letzten Monat habe ich beschlossen, mich bei meiner Rückkehr zu verloben. Meine Freundin hat mich schon seit Monaten deswegen genervt. Und sie hat Stein und Bein geschworen, dass sie auf mich warten wird. Eigentlich wollte ich vor unserer Abreise nichts in der Richtung unternehmen, weil, na ja, sie wissen schon. Eigentlich hatte ich nur Angst. Ich war noch nie in so einer Situation. Aber dann ist mir eingefallen, wie wohl vielen anderen Kerlen vor mir, dass ich nie wieder so eine wie sie finden würde. Also habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich habe auf der Mars-1 viele Nächte damit verbracht, nachzudenken, wie ich um ihre Hand anhalten würde und habe viel darüber nachgedacht, wie sehr ich sie vermisse.« »Ich vermisse eine Menge Mädchen«, sagte Santen. »Und eine Menge Mädchen vermissen mich.« Es war klar, dass die Gedanken des Captains mehrere Parseks weit entfernt waren. In seiner Stimme schwang keine Sehnsucht mit, keine Angst vor dem bevorstehenden Untergang, nur sein eintöniger Gleichmut – selbst in den letzten Minuten seiner Existenz. Er musterte die Tiefen, die vor ihm lagen. Dann, als würden die Schatten die Wahrheit seines Wesens aus ihm herauszwingen, fügte er hinzu: »Meine Flugkünste stehen hierbei nicht zur Debatte. Da das Habitat zerstört ist, macht es keinen Unterschied, wo wir gelandet sind.« Pettengill tat einen Schritt zurück. Sein Gesicht verzerrte sich vor Unglauben. »Sie stehen da und denken sich Entschuldigungen aus?« »Es gibt nichts zu entschuldigen. Macht keinen Unterschied.« »Was ist mit Chantilas? Der Mann ist durch ihre Landung umgekommen.«
103
»Fraglich. Er wäre ohnehin hier gestorben.« »Aber er hätte den ersten Schritt getan. Er wollte mehr als sonst einer von uns hier sein.« »Zwanzig Wege. Sie alle führen in die selbe Sackgasse. Macht es einen Unterschied, auf welchem man sich befindet?« »Sie erstaunen mich. Sie können sich kein Versagen eingestehen. Selbst jetzt nicht, wo sie kurz vor dem Tod stehen.« Santen presste seine Lippen aneinander. Seine Augen nahmen einen abwesenden Blick an. Da endlich war Pettengill zu dem Mann durchgedrungen, nach all der Zeit. Gefühle brachen wie Wellen über ihn herein – Freude, Trauer, Schmerz, Vergebung – sie reinigten Pettengills Seele und hoben ihn wie auf Flügeln empor. Monate bösartiger Gedanken, die gegen Santen gerichtet waren, glitten über das Kliff und verschwanden. »Einige Leute halten mich für kurz angebunden«, sagte Santen schließlich, der bittere Ton in seiner Stimme etwas entschärft. »Das weiß ich. Aber rein technisch betrachtet habe ich nicht versagt.« Die Flügel brachen entzwei. Die Wellen zogen sich zurück. Pettengills Blut wurde kalt, oder zumindest fühlte es sich so an. »Ich bin hierher gekommen, um Ihnen vor meinem Tod zu vergeben. Um Ihnen für den ganzen Scheiß zu vergeben, dem Sie mich vom ersten Tag an ausgesetzt haben. Die gehässigen Bemerkungen, die persönlichen Angriffe, die peinlichen Begebenheiten vor meinen Kollegen, die Stöße, die Tritte, die kleinen Stiche, alles. Ich wollte Ihnen sagen, dass ich Ihnen vergebe und dass es mir leid tut, dass wir uns nie verstanden haben.« »Ach, lecken Sie mich am Arsch. Ich brauche von einem Waschlappen wie Ihnen keine Vergebung. Und ich wollte verdammt noch mal niemals Ihr Freund sein.« Santen drehte sich um und zeigte sein Gesicht, halb von der Dunkelheit verdeckt, sein Auge einer schmalen Öffnung in einer geschwollenen,
104
verfallenden Kugel gleich. Seine Lippe verzog sich zu einem Grinsen, als das Sonnenlicht auf seinen feuchten Zähnen glänzte. Schnaufend atmete er über die Sprechanlage und dann verschwamm sein verdorbenes Gesicht zu einem ganz anderen, zu lausenden von Gesichtern, die Pettengill zweieinhalb Jahrzehnte lang heimgesucht hatten. Es war auf einmal nicht mehr Santen, der da stand, denn in seinem Körper lebte jeder Hurensohn, der Pettengill jemals verspottet hatte. Pettengill hätte sich beherrschen sollen. Es einfach sein lassen. Sie würden beide sterben. Santens Tod wäre an sich schon Rache genug. Das wäre die vernünftige, die logische Entscheidung gewesen. Aber was hatten Vernunft und Logik damit zu tun? Sie würden ohnehin gleich sterben. Und jetzt wusste er, was sein letzter Gedanke sein würde. Er würde in dem Bewusstsein sterben, dass er ein Opfer war. Ein Opfer seiner eigenen Feigheit. Ein Opfer bis zum Ende. Nein. Nur einmal in seinem schnell zu Ende gehenden Leben würde er die Führung übernehmen. Er würde in dem Bewusstsein sterben, dass sein Leben etwas wert gewesen war, dass das Recht in seinen Händen lag und nicht in denen eines anderen. Er schubste Santen. Hart. Über den Abhang des Kliffs hinaus. Der Mund des Piloten öffnete sich. Seine Augenlieder zuckten vor Angst. Er tastete um sich. Nichts außer Luft. Dann schaltete sich seine Militärausbildung plötzlich ein, als ob er einen Hebel betätigt hätte. Santen streckte den Kopf aus, trat um sich, seine Fersen bohrten sich in die Luft. Traten weiter hilflos in die Leere. Seine Anstrengungen nützten ihm nichts. Verzweifelt griff er hinter sich und vor Pettengill materialisierte sich eine behandschuhte Hand, schoss hervor, dann klammerten sich Finger an Pettengills Anzug, in der Nähe sei-
105
nes Unterleibs. Noch immer fallend, lenkte Santen seine ganze Energie in seine Hand und wirbelte herum. Mit seiner freien Hand griff er nach Pettengill, verfehlte ihn, dann noch einmal, während Pettengill schrie und dessen Hand wegschlug. Aber Santen machte weiter, fand eine Öffnung in Pettengills Verteidigung und hätte sich beinahe festgeklammert, wenn ihn Pettengill nicht weggerissen hätte. Ein kehliger Schrei entwich Pettengills Lippen, ein Schrei, der die schreckliche Schwelle beklagte, die zu überschreiten er sich entschlossen hatte. Hätten sie in der Erdanziehungskraft gekämpft, wäre Santen bereits über den Rand gefallen, aber jetzt half ihm der Mars, half ihm bei seiner Rache an dem, der ihn zu ermorden trachtete. Pettengill erschauderte, als Santen mit konzentrierter Anstrengung einen Satz nach vorne machte und auf seinen Füßen landete. Nun standen sie gemeinsam auf dem Kliff: der Captain, ein Wesen aus Schweiß und Muskeln, das in Adrenalin nur so schwamm, ein Wesen, das vor Überlebensenergie strotzte, und Pettengill, eine Kreatur aus Schweiß und rohen Knochen, die bis zum Mark gefroren waren, eine Kreatur, deren Überlebenstrieb unter einer schweren Decke von Angst begraben lag. Santen unternahm einen Kopfstoß gegen Pettengills Schulter und warf ihn zu Boden. Der Captain ließ sich auf die Knie fallen und ließ harte Schläge in Pettengills Magen landen, nahm ihm den Atem und verursachte einen gewaltigen Schmerz in seiner Kehle. Santen zog sich zurück und bereitete sich auf den nächsten Kopfstoß vor. Pettengill versuchte wegzukriechen, aber der Captain stürmte auf Händen und Knien auf ihn zu. Ihre Helme knallten so hart aneinander, dass ein Netz von Rissen sich auf Santens klarer Kugel zeigte.
106
Aber das hielt ihn kaum auf. Er packte Pettengills Anzug nahe dem Schlüsselbein und während er ihn noch an sich zog, griff Pettengill den Anzugskragen des Piloten und zerrte ihn hart nach rechts. Gemeinsam rollten sie in den Sand, ein, zwei, drei Umdrehungen; ihre Knie, Ellbogen und Rückgräder knirschten. Bei der letzten Umdrehung, bei der Santen oben war und kurz davor stand, die Riegel von Pettengills Helm aufzudrükken, überkam ein eigenartiger Ausdruck das Gesicht des Captains. Er holte tief Luft. Nur war sie nicht vorhanden. Er drehte an seiner Armbandanzeige, starrte auf das Display. Pettengill sah, dass er nur noch zwei Minuten übrig hatte. Santen hatte seinen Vorrat an O2 schneller aufgebraucht als sonst jemand und die Anstrengung hatte sein System überlastet. Seine Sauerstoffflasche konnte ihn nicht schnell genug beliefern. Der Captain ließ Pettengill los, kroch um Atem ringend davon, und bewegte sich mit unter diesen Umständen bemerkenswerter Kraft davon. Er dachte, dass er den Tod noch etwas hinauszögern konnte, aber Pettengill würde das Tor des Todes schon noch aufschließen. Er stand auf und ging vor Zorn zitternd zu dem Athleten hinüber, um einen Stiefel hinter seinem Kopf zu platzieren. Und stampfte auf. Stampfte ein weiteres mal auf. Trieb den Helm des Bastards in die Schuttdecke. Kleine, scharfe Steine drangen in das bereits überbeanspruchte Glas. Ein weiterer Tritt. Die Kugel brach in sich zusammen. Stampf! Stampf! Stampf! Dann nichts mehr. Nichts außer einer mörderischen Nachglut. Atmen. Nur atmen. Ein. Aus. Ein. Aus. »Du willst keine Vergebung?«, fragte er Santens Leiche. »Wie wär’s denn damit. Von einem Waschlappen.« Er ergriff Santens Schulter, dann zerrte er ihn an den Rand
107
des Abgrunds. Als Pettengill den Körper mit den Füßen zuerst über die Seite zog, hob Santen seinen Kopf. Ob es ein unfreiwilliger Reflex war, wusste Pettengill nicht so genau, aber es schockierte ihn dermaßen, dass er noch einmal in den zerstörten Helm des Astronauten trat und ihn so über den Abgrund stieß. Santen begann einen tiefen Fall, taumelte langsam abwärts, bis sein Stiefel an einem Vorsprung der Gesteinswand hängen blieb und er, sich immer schneller drehend, von den grobkörnigen Klauen der Dunkelheit verschlungen wurde. Wie viel Zeit? Fünf Minuten. Zeit genug, zurückzugehen. Ich will nicht alleine sterben.
108
Zwölf HABITAT EINS LANDEPLATZ IN DER NÄHE DES ARES VALLIS, MARS 182. TAG DER MISSION Gallagher war zu dem Entschluss gekommen, dass er und Burchenal nicht einfach dasitzen und auf den Tod warten konnten. Sie mussten etwas tun. Also waren sie auf und ab gegangen. Hatten darüber gesprochen, was zu tun sei. Und mit einem bitteren Lachen festgestellt, dass ihre Entscheidung, zu sitzen und zu reden die beste gewesen war. »Der italienische Astronom Giovanni Schiaparelli zeichnete im Jahr 1877 die erste Karte vom Mars. Alles was er hatte, war das verschwommene Bild von einem einfachen Teleskop. Er sah etwas, was er canali nannte, das Flussbett. Das Wort wurde fälschlicherweise mit Kanäle übersetzt. 1894 wurde es von Percival Lowry aufgegriffen. Er saß in Flagstaff, in einem hoch gelegenen Observatorium und sah etwas, das er das »Produkt einer Intelligenz« nannte.« Burchenal kicherte. »Zu dumm, dass er kein besseres Teleskop hatte.« »Ja, aber dann hätten H. G. Wells und Edgar Rice Burroughs unsere Vorfahren nicht so glänzend unterhalten«, sagte Gallagher und wagte einen Blick auf seinen Luftvorrat. Oh mein Gott. Drei Minuten. Burchenal stand auf und ging mit gesenktem Kopf davon. »Die Polkappen mit billigen Nuklearsprengköpfen zum Schmelzen bringen. Das setzt Kohlendioxid frei. Der Aufbau von Kohlendioxid schafft einen Treibhauseffekt. Der Mars erwärmt sich. Algen hinzugeben. Die Algen vermehren sich und produzierten Sauerstoff. Alles folgt ganz logisch. Die Neu109
landgewinnung hätte funktionieren müssen. Was hat unsere Sensoren kaputtgemacht? Warum ist der Algenteppich verschwunden? Was ist mit dem Habitat geschehen? Es muss doch irgendwelche Antworten geben.« »Du gehst zur jährlichen Untersuchung zum Arzt«, sagte Gallagher, den besessenen Wissenschaftler ignorierend, »der Arzt sagt dir, dass du nur noch sechs Monate zu leben hast. Es wird ein schneller Tod werden. Du wirst bis zu den letzten Minuten gesund sein. Was würdet du tun?« Burchenal blieb stehen, richtete sich zu seiner vollen Größe auf, dann drehte er sich um. »Die meisten Leute würden sagen, dass sie Reisen würden, stimmt’s? Sich die Orte auf der Erde anschauen, die sie noch nicht gesehen haben. Wir sind ganz schön weit herumgereist, nicht?« »Also was würdest du tun?« »Als erstes würde ich mich mit meinen Ex-Frauen versöhnen. Mich bei ihnen entschuldigen, dass ich ihnen keine Kinder geschenkt habe. Dass ich sterben muss, würde ich ihnen nicht sagen. Ich wurde kein Mitleid wollen. Dann würde ich mich aufmachen und mich mit den größten Wissenschaftlern der Welt treffen. Leuten wie Foga, Ryltala, Gramanzini und Garibaldi. Ich würde mich mit jedem von ihnen hinsetzen und wissen wollen, welche Fragen sie nicht beantworten konnten. Ich würde eine Liste machen. Und den Rest meiner Tage damit verbringen, Antworten darauf zu finden –« »Von einem Bordell in Las Vegas aus«, fügte Gallagher hinzu. »Ganz genau. Und mein Pferd würde ich auch mitnehmen. Und du?« »Ich denke, dass ich wahrscheinlich lange Zeit schlecht gelaunt sein würde. In Key Largo gibt’s eine nette Kneipe. Da würde ich wahrscheinlich hingehen. Was essen. Lange betrunken bleiben. Aber eines weiß ich. Ich würde gerne etwas hin-
110
terlassen. Etwas Gutes. Etwas, woran sich die Leute erinnern.« »Diesen Wunsch hast du hier erfüllt bekommen.« Gallagher schloss seine Augen »Stimmt wohl.« »Pettengill? Bist du’s?« Eine einsame Gestalt kam zwischen den Trümmern des Habitats auf sie zu. Sein Anzug sah aus wie ein Flickenteppich aus hellen und dunklen Sandflecken, als hätte er sich auf dem Boden gerollt und mit seinen Fäusten gegen den Planeten geschlagen. Der Schein auf seinem Helm klärte sich und enthüllte Pettengill, sein Gesicht angespannt, seine Augen verschwommen. »Santen ist tot.« Er wischte sich Sand vom Ärmel. »Hat sich da hinten von einem Kliff gestürzt. Ich habe versucht, ihn aufzuhalten.« Pettengill schloss sich den anderen auf dem Riff an, bewegte sich wie ein Zombie und zog Burchenals neugierigen Blick auf sich. Gallagher drehte sein zitterndes Handgelenk um, las sein Display ab. »Ich bin unter einer Minute.« »Ich bin nicht weit hinter dir«, berichtete Burchenal. »Das Leben ist zu kurz.« »Wie wird es sich anfühlen?«, fragte Gallagher. »Ersticken?« Er nickte. »Erinnerst du dich an unsere Ausbildung zum Sanitäter? Schwindelgefühl. Deine Haut wird zu kribbeln anfangen. Dein Sichtfeld wird kleiner werden. Dann Sauerstoffmangel, Schock, Schüttelkrämpfe, Übersäuerung …« »Wird’s wehtun?« »Ja.« Noch ein Blick auf die Anzeigetafel. Fünfzehn Sekunden. Zehn. Fünf. Ein Alarmsignal ertönte. Keine Minuten des Lebens mehr übrig. Vielleicht kann ich ganz kleine Atemzüge nehmen. Viel-
111
leicht kann ich – Nur eine Spur von Luft fand seine Lunge. Panik ergriff seine Brust, drückte zu. Er fiel auf seine Knie, dann auf alle Viere, als er den letzten Rest seiner Luft einsaugte. Das Kribbeln fing an. Hatte es in seinem Kopf angefangen? In seinen Zehen? Er war sich nicht sicher, aber sein ganzer Körper wurde von Nadeln gepeinigt. Der Boden hob sich, fiel wieder, sein Kopf wurde wie auf hoher See umhergeschleudert. Er hatte eine solche Angst vor seinem eigenen Tod, dass er gegen die Angst mit dem einzigen Mittel vorging, welches ihm zur Verfügung stand: Seine Wut. Verzweifelt, meuterisch, nicht Willens, ohne Protest unterzugehen, schoss er hoch, drehte sich um und schnallte sein Visier ab. Der Helm bewölkte sich und nahm seine flexible, gelatineartige Form an. Er schob das Verdeck nach hinten und schrie mit der letzten ihm noch verbleibenden Luft: »Scheiß auf diesen Planeten.« Er verfluchte sein Schicksal. Verfluchte die Kälte des Universums. Ein letzter Aufschrei, der klarmachen sollte, dass er besser als dieser verdammte Planet war. Soviel erlaubte ihm sein Empfindungsvermögen noch. Als der Schrei verhallte, verzogen Burchenal und Pettengill ihre Gesichter und wandten sich ab, nicht in der Lage, einen Vorgeschmack ihres Schicksals mit eigenen Augen ansehen zu können. Gallagher hatte keine Luft mehr übrig. Einen letzten, erstickten Schrei würde es nicht geben. Auch kein Wimmern. Sein nächster Atemzug würde keine Erleichterung bringen. Wie lange konnte er sich noch halten? Die Ränder seines Blickfelds wurden bereits von Dunkelheit ergriffen. Er erschauderte. Kämpfte gegen das Verlangen an, einzuatmen. Aber der Reflex zu atmen war stärker, unvermeidbar, die Lungen zogen sich zusammen, um die wertlose Atmosphäre
112
des Mars in sich aufzunehmen. Jetzt der Schock. Und die Erschütterungen, die ihn zu Boden werfen und ihn sich krampfartig im Dreck winden lassen würden, während der Säuregehalt seines Blutes drastisch nach oben ging. Gallagher atmete aus. Stand da. Noch immer am Leben. Wieder atmete er ein. »Ich atme.« Er betrachtete Burchenal und Pettengill, die wie benommen dastanden. »Ich kann atmen.« Piep … piep … piep … Das war Pettengills Sauerstoffalarm. Keuchend fummelte er an den Riegeln herum. Die Kugel wurde weich. Er warf das Verdeck zurück. Blickte entsetzt. Atmete ein. Dann kam ein Ausdruck des Erstaunens. »Ich habe noch sechs Minuten Vorrat«, kündigte Burchenal an. »Ich schalte ab.« Er tippte auf seine Anzeigetafel, dann deaktivierte er seinen Helm und verließ sich auf den Sauerstoffgehalt des Mars. »Wie Höhenluft«, sagte Gallagher mit einem zitternden Seufzer. Es war seltsam, seine eigene Stimme ohne die Dämpfung des Helms zu hören. »Die Luft ist dünn. Aber sterben werden wir nicht.« »Das ist unmöglich«, rief Pettengill. »Der Sauerstoffgehalt war am Absinken.« Langsam zog Gallagher die Luft ein. »Es ist ein Wunder.« Bud, vielleicht ist das hier deine Antwort. Air by God … »Offensichtlich ist etwas geschehen, nachdem die Biosensoren abgestürzt sind«, sagte Burchenal, schnüffelte nach etwas Seltsamen in der Luft, einem fernen Geruch, wie von einem alten, trockenen Schrank. »Ich verstehe das nicht. Wo in Gottes Namen kommt der Sauerstoff her?« »Ist doch egal, wo er herkommt«, sagte Gallagher, während sich seine Adern mit frischem Leben füllten. »Solange er da
113
ist.« Hätte er einen Spiegel gehabt, hätte er das größte Grinsen gesehen, das er jemals aufgesetzt hatte. Und sein Grinsen steckte Burchenal an, der sich trotz der unbeantworteten Fragen nicht helfen konnte. Pettengill schluckte, sein Gesichtsausdruck schwankte irgendwo zwischen verdrießlich und selbstmordgefährdet. »Ich dachte, wir wären tot …« »Wenn Santen das gewusst hätte«, sagte Burchenal mit einem mehr als nur leicht anklagendem Tonfall in der Stimme. »Was für eine Verschwendung.« Er schlug Pettengill hart auf den Rücken. »Immerhin hast du versucht ihn zu retten. Du hast dein Bestes gegeben, nicht?« »Egal. Macht keinen Unterschied«, erwiderte Pettengill und klang dem Mann, über den sie gerade sprachen, seltsam ähnlich. Er wandte seinen Blick ab, in Richtung des Habitats. »Die Vorräte sind weg. Wir werden ohnehin in ein paar Tagen an Hunger sterben.« »Es gibt einen Grund für das, was hier vor sich geht«, sagte Gallagher und hörte, wie Chantilas Worte aus seinem Mund drangen. »Wir hätten hier etwas finden sollen. Vielleicht ist es das.« »Also haben wir es gefunden.« Pettengill warf seinen Kopf zurück. »Jetzt werden wir sterben.« »Ich atme«, sagte Burchenal. »Und ich habe das Sterben gerade aus meinen Terminkalender gestrichen.« Er sah Gallagher an, sein Gesicht verfinsterte sich. »Irgendwelche Ideen?« »Wir müssen Kontakt herstellen. Bowman.« »Wenn sie noch da oben ist«, erinnerte ihn Burchenal. Pettengill nuschelte einen Fluch. »Als ob das was nützen würde. Wie soll sie denn bitteschön die Vorräte zu uns runter kriegen? Mit der Post? Lass mich doch in Ruhe.« Gallagher zuckte mit den Achseln. »Nun, meine Tage des
114
Herumsitzens sind vorbei.« »Können wir die Kommunikationssysteme in unseren Anzügen modifizieren?«, fragte Burchenal. »Die Signalstärke erhöhen und ihr so eine Nachricht schicken?« »Darüber habe ich während unserer Wanderung schon nachgedacht. Ich habe überlegt, ob man die Notebooks benutzen könnte. Aber das klappt nicht. Wir können die Trägerwellen nicht genügend verstärken. Dazu sind unsere Batterien nicht in der Lage.« »Na kommt«, sagte Burchenal und machte sich zum Habitat auf. »Vielleicht gibt’s dort etwas, was wir benutzen könnten.« US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 182. TAG DER MISSION Bowman zwängte sich tiefer in die rechteckige Zwischendecke hinein und erreichte so das Kontrollpult für die Antriebsnummer 213b4. Sie zerbrach eine Leuchttafel und machte sich daran, die vier geschmolzenen Chips zu ersetzten. Obwohl sie noch nie Probleme mit Klaustrophobie gehabt hatte, war es ihr mehr als unangenehm, in einem engen Schacht zu hängen, der zwanzig Meter über und unter ihr in Finsternis endete. Es rief bei ihr tiefste Gefühle von Einsamkeit hervor. Sechsundfünfzig Minuten waren seit der Übertragung nach Houston vergangen – Zeit genug für sie, die Nachricht zu empfangen und eine Antwort zu schicken. Wer immer gesagt hat, dass Warten das Schlimmste sei, wusste wovon er sprach. Sie hatte sich beschäftigt, hatte versucht, ihre Trauer und Frustration in positive Energien umzuleiten, um ihr Fahrzeug für die Heimreise zu reparieren. Aber, bei Gott, sie wünschte
115
sich, dass Gallagher hier wäre, um ihr zu helfen. Bei jeder Aufgabe, die die Grenzen ihres Wissens und Talents strapazierte, vermisste sie ihn mehr. Hin und wieder wurde sie von grauenvollen Gedanken geplagt, sah Bilder von Gallagher vor sich, wie er verzweifelt über steiniges Terrain rannte, um Atem ringend, seine Hände in einer nutzlosen Geste um seinen Hals verkrampft. Sie schüttelte diese Gedanken ab, atmete tief durch und murmelte: »Ich muss nach Hause. Ich muss einfach nach Hause.« Eine Stimme drang über die Sprechanlage und hallte den Schacht entlang. »Mars-1, hier spricht Houston. Wir empfangen sie. Übertragung folgt in dreißig Sekunden.« Der Lärm überraschte Bowman dermaßen, dass sie den Chip, den sie gerade über der Fassung balancierte, fallen ließ. Sie würde ihn später wieder finden. Jetzt kroch sie rückwärts aus dem Schacht heraus, wobei ihr Eifer die Anstrengung kaum wahrnehmbar erschienen ließ. Sie sprang auf das Wartungsdeck und rannte auf die Kommandobrücke zu. »Mars-1, hier spricht Houston. Wir empfangen sie. Übertragung folgt in zwanzig Sekunden.« Röhren schwirrten an ihr vorbei, die Deckenbeleuchtung verschwamm zu leuchtenden Rechtecken. Sie rannte nach unten. Zog den Kopf ein. Die verdammten Trümmer lagen noch überall herum. Sie stolperte über ein zerbrochenes Tischbein. »Mars-1, hier spricht Houston. Wir empfangen sie. Übertragung folgt in zehn Sekunden.« Sie stand auf, setzte ihren Lauf fort, achtete besser auf den Weg. Sie kam an der Luke des Cockpits an und hastete hindurch, als sie John Skavlems Stimme hörte, die ein letztes Mal über das Kommsystem zu hören war. »Übertragung in fünf, vier, drei, zwei, eins. Willkommen zurück, Mars-1. Wir bestätigen Ihre Einschätzung der Protonen-
116
feldstörung. Ihre Telemetrie deutet darauf hin, dass Sie in einunddreißig Stunden Ihre Umlaufbahn verlieren werden. Die Mars Ground Crew wird als missionsunfähig beurteilt. Wir sind uns sicher, dass wir die Energiefunktion zur Zündung des Hauptmotors wiederherstellen können. Wir werden Sie nach Hause bringen. Bitte warten Sie auf Anweisungen des PROP und des SNK.« Es dauerte einen Moment, bis Bowman das alles verarbeitet hatte. Sie drückte ihren Kopf gegen das Aussichtsfenster, schloss ihre Augen und wünschte sich auf den Mars hinunter. Es war nicht so, dass sie sie zurückließ; sie waren bereits tot. Jahre später würde der Landeplatz ein Denkmal werden, ein weitgehend ignoriertes Testament menschlicher Anmaßung. Wie konnten wir es wagen, uns dem Universum zu widersetzen?
117
Dreizehn HABITAT EINS LANDEPLATZ IN DER NÄHE DES ARES VALLIS, MARS 182. TAG DER MISSION »Obwohl der Mars einen Durchmesser von sechstausendsiebenhundertachtundachtzig Kilometern hat, also etwa halb so groß wie die Erde, und obwohl er lediglich ein Zehntel unserer Masse hat, haben andere Merkmale eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit unserem Planeten. Die Oberfläche des Mars misst fast genauso viel wie die Fläche trockenen Bodens auf der Erde. Ein Marstag ist ungefähr vierundzwanzigeinhalb Stunden lang, aber der Planet braucht fast zwei unserer Erdenjahre, um eine Umkreisung um die Sonne zu vollenden, wobei er sich mit vierundzwanzig Komma eins drei Kilometern pro Sekunde bewegt, also etwas langsamer als die Orbitalgeschwindigkeit der Erde. Während die Erdachse um etwa dreiundzwanzigeinhalb Grad gekippt ist, liegt die Neigung des Mars bei ungefähr vierundzwanzig Grad, was zur Folge hat, dass wir den Wechsel der Jahreszeiten selbst mit einem kleinen Teleskop wahrnehmen können.« Gallagher konnte den schlaksigen RFZ-Ausbilder in seinem verwaschenen, lilafarbenen Hemd noch immer vor sich sehen. Der Typ hatte sich etwas zu viel Mühe gegeben, die Ähnlichkeiten zwischen Mars und Erde zu veranschaulichen. Aber Ähnlichkeiten gab es auf unverkennbare Weise doch, ganz besonders jetzt, wo Menschen die Luft des Mars einatmeten. Das Herz des alten Lilahemds würde sicher schneller schlagen, wenn er von dieser Entdeckung erführe. Gallagher war noch immer mit dem Durchsuchen der Habi118
tatsruine beschäftigt. Er legte eine Pause ein, um wieder zu Atem zu kommen und klaren Kopf zu fassen. Die Sonne bewegte sich auf den Horizont zu, ihr blauer Schein blühte mit jeder Minute stärker auf. Obwohl der Marsstaub normalerweise blaues Licht absorbierte und so dem Himmel seine rote Farbe verlieh, hatte Burchenal die Schönheit des Sonnenuntergangs vermasselt, indem er erklärt hatte, dass »der Staub um die Sonne herum viel blaues Licht abgibt, denn bei Sonnenauf- und Untergang dringt das Sonnenlicht durch die größte Menge an Staub. Wir haben auf der Erde einen ähnlichen Effekt, nur dass sich die Farben eher auf die rotorange-gelbe Seite des Spektrums zubewegen.« Erklärungen hin oder her, der kleine, beinahe weiße Kreis war ein von Gallagher und den anderen unterschätzter Freund gewesen. Denn jetzt, wo die Sonne fast untergegangen war und die Luft um einiges kühler wurde, fiel Gallagher auf, wie sehr er sie vermissen würde. Er bemühte sich zu vergessen, wie kalt es werden würde, aber er kannte die Zahlen, wie die anderen auch. Niemand verlor ein Wort darüber. Tatsachenleugnung war auch etwas schönes. »Naja«, seufzte Gallagher und hob einen verknoteten Nudelsalat aus Kabeln und Schaltkreisen hoch. Irgendjemand oder irgendetwas hat die elektronischen Geräte mit einer Schere oder einem ähnlichen Schneidegerät zerstört. »Habe das Funkgerät gefunden. Oder was davon übrig ist. Wir könnten daraus modischen Elektroschmuck, wie ihn Russerts Tochter trägt, machen.« Burchenal starrte die Überreste grimmig an. »Bist du sicher, dass wir nichts vom MEV verwenden könnten?« »Nicht zur Kommunikation. Das Primärsystem hat die volle Wucht des Aufpralls abbekommen. Und die Batterien sind beschädigt worden, also ist für die Redundanzsysteme, die übrigens auch einen Spannungsstoß erlitten haben, nichts mehr
119
übrig. Ich bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt funktionieren würden. Wir hätten eine der Batterien des Habitats dazu verwenden können, es auszuprobieren, aber sie sind verschwunden.« Der Wissenschafter schnaufte, dann legte er ein längliches Stück Plastik auf den Trümmerhaufen. Pettengill, der sich ihnen angeschlossen hatte, gab ein Stück Schaumgummi, das von einer Matratze stammte, hinzu. Wie Archäologen, die sich vorsichtig durch eine Ausgrabungsstätte bewegen, fuhren sie mit ihrer Durchforschung des Habitats fort und untersuchten jedes Teil sorgfältig, bevor sie es auf den Haufen warfen. Einige Minuten lang arbeiteten sie still vor sich hin, dann stieß Pettengill einen Fluch aus und sagte: »Hier ist nichts. Wir verschwenden unsere Zeit.« Gallagher warf einen Blick auf die Sonne, die nunmehr hinter dem Höhenzug verschwand. »Ich wollte es vorher nicht erwähnen, aber in wenigen Minuten wird es sehr kalt werden.« »Ja, so um minus einundsiebzig Grad«, stöhnte Pettengill. »Treibhauseffekt hin oder her. Ich habe mich geirrt. Wir werden erfrieren bevor wir verhungern.« »Die Treibstofftonnen sind weg, aber ich glaube, dass einiges davon im Boden versickert ist«, sagte Burchenal. »Hier. Und Hier. Nicht alles ist verdampft. Wirf etwas Geröll über diesen Haufen und schau was passiert.« Er zückte sein Notebook, dann lehnte er sich an ein Trümmerteil und starrte angestrengt auf den Computermonitor. Als sich Gallagher zu der Stelle aufmachte, wo die Lache war, zog ein lautes Brummen über ihm seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Objekt schnitt durch den Dämmerhimmel, das wegen seiner hohen Geschwindigkeit schwer zu erfassen war. Es bewegte sich schnell in Richtung Norden, dann fing es an, langsam zu kreisen. »He, das ist AMEEs Such-Drone.« Gallagher pfiff. Lauschte.
120
»Ich dachte, sie sei kaputt«, sagte Pettengill und drehte sich um, um dem Satelliten zu folgen. »Der Nanotech-Reparaturtrupp war offline. Irgendwie muss er aktiviert worden sein und den Roboter angeschaltet haben. Verdammt clevere Maschine. Sie ist irgendwo hier. Die SuchDrone kann ohne sie nicht fliegen.« »Wie hat sie uns gefunden?« »Schlichte visuelle Untersuchung unserer Fußspuren. Außerdem kann sie mir durch trigonometrische Punktfestlegung folgen.« Gallagher tippte auf sein Handgelenk. »Ich habe einen Sender mit kurzer Reichweite in meinem Anzug. Früher oder später wird sie mich finden.« »Können wir irgendetwas von ihr verwenden?« »Ihre Batterien haben die falsche Größe für das RedundanzKommsystem des MEVs. Vielleicht kann sie uns auf andere Weise nützlich sein. Ich wünschte nur, sie hätte ein Funkgerät.« Burchenal kam vom Habitat zurückgehastet, sein Gesicht von einem breiten Grinsen und einem Drei-Tage-Bart bedeckt. Entweder hatte er Blähungen oder gute Neuigkeiten. »Gentlemen, man sollte über unser Problem wissenschaftlich nachdenken.« »Wie wär’s mit realistisch?«, schlug Pettengill finster vor. »Wir brauchen Fakten. Keine Theorien.« »Du willst Fakten? Also gut. Zwei Kilometer östlich von hier ist ein Funkgerät.« Burchenal deutete die Richtung an. Gallagher blinzelte in die Ferne, dann schaute er Burchenals Notebook an. »Neunzehn Komma drei Grad nördlich, dreiunddreißig Komma fünf Grad westlich.« »Genau«, sagte Burchenal. »Wir sind am Rande des Ares Vallis.« Jetzt grinste auch Gallagher. »Pathfinder. Und Sajourner.« »Die 97er Marssonden?«, fragte Pettengill. »Immer noch hier«, entgegnete Burchenal. »Am vierten Juli
121
angekommen. Genau wie wir. Sind etwa fünfzehn Mal aufgedotzt, bevor sie in der Nähe des ersten Aufpralls zum Stillstand kamen. Wir haben etwa drei Monate lang Informationen von den Sonden übertragen bekommen, bevor sie der Kälte zum Opfer gefallen sind.« »Die Technologie ist sehr alt, aber ich kann damit arbeiten«, sagte Gallagher, bevor ein anderer Gedanke seinen Enthusiasmus wieder dämpfte. »Falls das, was dem Habitat zugestoßen ist, nicht auch …« Burchenal schaltete sein Notebook ab. »Wer denkt jetzt negativ?« »Wenn er den Job nicht will, nehme ich ihn«, sagte Pettengill. »Er hat Recht, die Technologie ist veraltet. Und selbst wenn wir die Dinger zum Laufen kriegen, was ist, wenn wir unsere Frequenz nicht durchkriegen? Es ist ja nicht so, dass da seit dreiundfünfzig Jahren ein Computerfreak in Pasadena sitzt und auf ein Signal von dem verdammten Ding wartet.« »Du hast Recht, Pettengill. Und Bowman ist vielleicht weg. Es könnte sechs oder sieben Monate dauern, bis uns eine Rettungsmission erreicht. Vielleicht sind wir bereits tot. Aber bevor ich abtreten muss, will ich wissen, was hier passiert ist.« Gallagher richtete seinen Blick auf den Wissenschaftler. »Das ist alles.« Pettengill humpelte unbeeindruckt auf das Habitat zu. In der rötlichen Finsternis brannten Sterne und Gallagher bemerkte mit Schaudern, wie dicht sein Atem bereits geworden war. »Es ist zu spät, jetzt los zu gehen.« »Wir gehen am Morgen«, sagte Burchenal. »Nach einer Nacht am Lagerfeuer.« »Ein fünfundsiebzig Milliarden Dollar teures Lagerfeuer«, gab Gallagher zum Besten und stellte sich vor, wie er einem Senatsunterausschuss Rede und Antwort stehen würde. »Sie haben was getan?«, fragte der schwerfällige Vorsitzende.
122
»Uns war kalt, Sir. Also haben wir alles verbrannt.« Gallagher musste innerlich lächeln, als er und Burchenal zum Habitat zurückkehrten. Nachdem Gallagher sein zigarrengroßes Brenngerät hervorgeangelt und angezündet hatte, hielt er es an den sandigen Haufen. Die Trümmer fingen Feuer, kleine bläulich brennende Flammen züngelten hervor. Die drei Astronauten drängten sich um das wärmende Feuer und Gallagher kam der Gedanke, dass ein Jahrhundert des Blutes, des Schweißes und der Tränen darin resultiert hatte, dass sie auf den Mars fliegen konnten und sich dort wie ihre Ahnen vor Hunderttausenden von Jahren um ein Feuer versammelten. Statt aus ihrer Umwelt Äxte zu schnitzen, würden sie ihre eigenen Artefakte ausrauben um ein Funkgerät zu bauen. Aber wo lag eigentlich der Unterschied? War die Menschheit wirklich so weit gekommen? Oder waren sie lediglich intelligente Affen, die sich die Uniformen einer illusorischen Gesellschaft angezogen hatten? Gallagher beugte sich zu den Flammen. Bud, ich stelle wichtige Fragen. Du wärst sicher stolz auf mich.
123
Vierzehn US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 182. TAG DER MISSION Die Antriebsingenieure in Houston hatten einundvierzig Szenarien zum Einschalten der Zündung hochgeladen. Bowman war achtunddreißig davon vorsichtig und systematisch durchgegangen, ohne einen einzigen Funken zu erzeugen – oder auch nur die Andeutung eines Funkens. Mit jedem Versagen wurde ihr Atem flacher. Das neununddreißigste Szenario setzte voraus, dass sie die Untersysteme siebzehn, zweiundzwanzig und vierzig ausschloss. Ihre tauben Finger hämmerten auf das Touchboard ein. Sie schaltete das Laufwerk ein. Vierzig Stromflüsse. Sie hielt den Atem an. Bereitete sich auf eine weitere Niederlage vor. Noch zwei übrig. Nummer vierzig setzte ein ähnliches Ausschlussmuster voraus, aber mit anderen Stationen. Sie tat ihre Arbeit, erwartete nichts und erhielt … nichts. Noch eine letzte Möglichkeit. Das war alles. Die Letzte musste funktionieren. War es nicht das, was man unter Ironie verstand? Und fand man das, was man suchte, nicht immer zuletzt? Die Letzte musste es einfach sein. Die Ausschlüsse waren programmiert. Laufwerk ein. Und … und … Sie sprang aus ihrem Stuhl, hob ihre Faust über das Touchboard – Und zerbrach den Spiegel über ihrer hübschen weißen Kommode. Ihr Teddybär, »Groomsburrow« stürzte zu Boden als ihre Mutter ins Zimmer stürmte. »Was stellst du denn wieder an?« 124
»Ich kann das nicht! Ich krieg’ die Antwort nicht!«, schrie sie und fuchtelte mit dem Geometriebuch herum. Mom nahm ihr das Buch aus der Hand und führte sie zum Bett, wo Kate sich hinsetzte und in ihre Hände schluchzte. »Es ist doch nur eine Matheaufgabe, Schatz. Du kannst deswegen nicht einfach dein Zimmer zerstören. Dein Vater wird sehr wütend werden, wenn er sieht, was du angestellt hat.« »Ist mir egal! Ist mit egal!« »Schatz, vielleicht kannst du nicht jede Aufgabe lösen. Na und? Löse, so viel du kannst. Manchmal lernen wir von den Aufgaben, die wir nicht beantworten können, mehr als von denen, die wir beantworten können.« »Ich kann gar nichts lernen. Ich bin dumm.« »Glaub mir. Du bist nicht dumm. Hättest du all die Trophäen, wenn du dumm wärst?« »Nein.« »Warum ruhst du dich nicht aus? Mach Pause. Du kannst dich später um Mathe kümmern. Wir fegen die Glasscherben weg und essen eine Kleinigkeit. Okay?« »Okay.« Bowman ließ ihre Faust sinken, dann sank sie in ihren Sitz zurück. Sie dachte an die Schokoladenkekse unten in der Verpflegungskabine, dann räusperte sie sich. »Houston, Mars-1. Keine Ergebnisse bei den Zündungsszenarien. Ich überprüfe alle Ersatzchips. Weiterhin multiple Stromflüsse. Warte auf Antwort. Mars-1, over.« Ich wünschte, es würde keine vierzig Minuten dauern, bis ich wieder von euch höre …
125
USS PAUL REVERE (SSBN-1928) ATOMBETRIEBENES U-BOOT, TRIDENT IV-KLASSE IRGENDWO IM SÜDCHINESISCHEN MEER 14 UHR 50 »Sir, der Entschlüsselungscode wurde anerkannt und bestätigt«, rief Mission Commander Rick Hardeson, als er von der Komm-Station zur Kommandobrücke marschierte, wo Captain Joseph Brama stand und beim Ablesen der Informationen seines BPMs in die Leere starrte. Der stämmige Mitvierziger bestätigte Hardeson mit einem kurzen Nicken. »Sehr Gut, Mission Commander. Geben sie ihn ein.« »Aye-aye, Sir. Komm-Station, Kontakt. Direktkodierte Ernstfall-Aktionsmitteilung an die BPMs der Kommandoleitung.« Komm-Offizier Nayfeh wiederholte die Anweisung und leitete die Übertragung prompt ein. Hardeson überflog die Daten. Als die Übertragung beendet war, klappte er sein Monokel hoch und blickte den Captain ernst an. »Ich werde mit der Besatzung sprechen«, sagte Brama, dann tippte er einen Befehl in seine Kontrolluhr und schaltete sein Headset auf die Sprechanlage des Schiffes um. »Achtung. Hier spricht der Captain. Wir haben soeben eine ErnstfallAktionsmitteilung empfangen und den Befehl erhalten, DEFCON-4 einzuleiten. Es scheint, als ob unsere Chefs in Washington auf die Anschuldigungen, dass die Chinesen die Marsmission sabotiert hätten, reagieren. Ich weiß, dass ihr alle die Berichte mitverfolgt habt, da unser Kollege Robert Gallagher dort oben ist. Ich möchte folgendes sagen: Schenkt den Berichten, dass die Mission abgebrochen ist, keinen Glauben. Wenn es eine Möglichkeit zu überleben gibt, wird Mr. Gallagher sie finden. Ich werde Ihnen weiterhin alle Informationen
126
zur Verfügung stellen. Aber jetzt müssen wir DEFCON-4 einleiten. Hier spricht der Captain.« »DEFCON-4 wird eingeleitet. Hier spricht der Mission Commander.« Hardeson wandte sich mit tiefer Stimme dem Captain zu. »Sir, glauben sie wirklich, dass er noch am Leben ist?« »Ja. Ich werde diesen Seemann nie vergessen. Ein außerordentlich begnadeter Klugscheißer. Konnte sich an das Leben im Militär nie gewöhnen.« Bramas Augen wurden neblig als er ein paar Sekunden nachdachte. »Wir waren an der RossEisbank bei McMurdo. Die Thermalsysteme sind uns abgestürzt. Wir wären erfroren, bevor wir die Scott Base erreicht hätten. Einundzwanzig Matrosen haben an dem Problem rumgetüftelt. Gallagher ging unter Deck und ich schwöre Ihnen, es war wirklich so, er hat das verdammte Dinge mit Plastikbechern und Isolierband repariert. Und das war nicht das erste Mal, dass er seinen Arsch aus Schwierigkeiten heraus improvisierte. Wie gesagt, wenn es eine Möglichkeit gibt, da oben zu überleben, wird er sie finden.« »Hoffentlich hat er Isolierband dabei.« Brama lächelte dünn, dann wandte er sich um und nahm seinen üblichen passiven Gesichtsausdruck wieder an. »Bootsmann, gehen sie auf vierhundertfünfzig Meter Tiefe, und zwar schnell. Schleichfahrt. Waffensysteme aktivieren. Stufe 1QRXZO. Torpedos neunzehn bis zweiundzwanzig und achtundzwanzig bis einunddreißig in Bereitschaft. Hier spricht der Captain.«
127
US-RAUMFÄHRE MARS-1 UNTERWEGS ZUM MARS 21. TAG DER MISSION Als Gallagher zum ersten Mal die »Hygienekabine« der Mars-1 gesehen hatte, konnte er sich ein Lachen nicht verkneifen. Nur ein Team von Ingenieuren konnte einem Klo einen so großspurigen Namen geben. Die Hygienekabine, auch Selbstständige Reinigungs- und Abfallstoffverarbeitungseinheit (S.R.A.V.E.) genannt, war mit einer Ansammlung von an Plastikhaltern befestigten Spiegeln ausgestattet; Waschbecken, Duschen und Toiletten mit starken Saugabflussrohren; und einem entzückenden antiseptisch weißen Muster, welches das genaue Gegenteil von Tante Annas zotteligem Klodeckelüberzug und ihren pastellfarbigen Seifen und Handtüchern darstellte, die man ohnehin nicht benutzen durfte. Statt dessen waren die Wände mit zweckmäßigen Gebrauchsanleitungen plakatiert, die einen auf die korrekte Art der Benutzung jedes dieser raffinierten Geräte aufmerksam machten. Eine, die Gallagher besonderes Vergnügen bereitete, las sich folgendermaßen: SACHGEMÄSSE UND SICHERE BENUTZUNG DER BORDTOILETTE 1. GESÄSS FEST AUF DEM SITZ PLATZIEREN 2. ACHTEN SIE BITTE AUF DEN LUFTABZUG ZWISCHEN DER TOILETTE UND DEM UMLIEGENDEN TOILETTENSTALL, DA EIN VAKUUM BEIM ABSPÜLEN ZU SCHWERWIEGENDEN VERLETZUNGEN FÜHREN KÖNNTE.
128
3. SOLLTE ES ZUM GRAVITATIONSVERLUST KOMMEN, BITTE SOFORT ABSPÜLEN, DA DAS VERUNSTALTEN VON U.S.-REGIERUNGSEIGENTUM ALS VERSTOSS GEGEN DAS BUNDESRECHT GEAHNDET WIRD. 4. DAS LESEN AUF DER TOILETTE IST UNTERSAGT, DA DIES VERZÖGERUNGEN NACH SICH ZIEHEN UND SO DIE BESATZUNGSMORAL UNTERMINIEREN KANN. 5. BITTE VOR VERWENDUNG DIESES GERÄTS DIE ANWEISUNGEN ZUR SACHGEMÄSSEN UND SICHEREN BENUTZUNG DER BORDTOILETTE BEACHTEN. Es war einem einfallsreichen jungen Ingenieur gelungen, dieses Schild an Bord zu schmuggeln, wobei Bowman und Santen zuerst Gallagher im Verdacht gehabt hatten. Solche Dinge plausibel abzustreiten, war Gallagher noch nie leicht gefallen, also hatte man ihm eine Woche lang die Schuld dafür zugeschoben, bis schließlich der Ingenieur beim Verhör im Scheinwerferlicht, den Schlägen und der Einsamkeit der Isolationshaft weich geworden war. Was bedeutete, dass Gallagher beschloss, dem Jungen einen Marsstein im Austausch für den Lacher mitzubringen. Er schlenderte gerade in die Kabine hinein, über die richtige und sichere Benutzung der Bordtoilette bestens informiert, als ihm plötzlich auffiel, dass sein Timing einerseits gut, anderseits schlecht war. Bowman stieg nackt und tropfend aus der Dusche. Und die ganze Neugierde, was wohl unter ihren BaumwollT-Shirts verborgen läge, wurde mit einem einzigen Blick befriedigt. Mein Gott. Seine ganze Vorstellungskraft konnte ihr nicht
129
gerecht werden. Warum sie von Beruf nicht Model geworden war, würde er niemals verstehen können. Jede Agentur hätte sie sofort unter Vertrag genommen. Und ihre verdammte Intelligenz machte sie nur noch schmerzhaft schöner, ebenso wie die teuflische und unterwürfige Phantasievorstellung, seine eigene Chefin zu begehren. Gallagher stand wie gebannt da, wie ein jungfräulicher Teenager, der zum ersten Mal in seinem Leben eine nackte Frau sieht. »Reichen Sie mir das mal bitte?«, fragte sie. Was gab es hinter seiner Schulter denn so Interessantes? Er schaute nach hinten. Oh, das Handtuch. Er zog es von der Halterung, dachte kurz darüber nach, es eine Sekunde länger zu behalten, dann reichte er es ihr. Sie wickelte es sich ruhig um, als ob er sie nicht gesehen hätte. »Stellen sie sich einfach vor, ich bin ihre Schwester.« »Ich habe zwei«, sagte er und bestaunte den Zauber, den ihre Hüfte und ihre Brüste mit dem Handtuch anstellten. »Eine davon hat ein Kind. Keine von ihnen sieht so gut aus.« »Es ist nur ein Körper, Mr. Gallagher. Er wird alt und runzelig werden, wird dahinwelken. Es ist nur eine Hülle.« »Tut mir Leid, Madam, es ist nur … ich kann es nicht einfach so ab- und antörn… anschalten.« »Und sind Sie angetörnt?« »Ah, nein, das habe ich nicht gesagt. Madam. Ich meine nur –« »Schauen Sie, die einzige Art, wie es funktionieren kann, ist, wenn wir beide der Meinung sind, dass es egal ist.« »Als wären Sie Burchenal?«, fragte er in unschuldigem Ton, während seine wilden Gedanken ihr Gesicht mit Bartstoppeln übersäten. »Etwas mehr Kredit sollten Sie mir schon zugestehen.« »Was den Kredit angeht, würde ich sagen, dass für Sie ein erstklassiger Zinssatz in Frage käme.«
130
»Dummerweise will ich nichts kaufen.« »Wollten Sie jemals etwas kaufen?« »Mr. Gallagher, ich bin nicht in der Stimmung für eines von diesen neckischen Gesprächen, bei denen wir übers Einkaufen sprechen aber in Wirklichkeit die Rede von Beziehungen ist. Wenn Sie es wissen wollen, ja, ich habe bereits eingekauft. Und die Waren wieder zurückgebracht. Alles was übrig blieb, waren schlechte Erinnerungen.« »Tut mir leid.« Ihre Bitterkeit verdunstete. »Na gut, es tut mir auch leid. Ich wollte Sie nicht nervös machen. Es war nur ein dummer Zufall.« »Ich bin nicht nervös, Madam.« Gallagher verlagerte sein Gewicht und unterdrückte sein Verlangen, sich zwischen die Beine zu fassen. »Ich muss los.« Er humpelte an ihr vorbei. »Könnten Sie für eine Sekunde weggehen? Wenn ich weiß, dass Sie zuhören …« »O.K. Und. Danke für … na, einfach danke.« HABITAT EINS LANDEPLATZ IN DER NÄHE DES ARES VALLIS, MARS 182. TAG DER MISSION »Bist du jemals aus Versehen ins Bad gegangen, als eine Frau aus der Dusche kam?«, wollte Gallagher von Burchenal wissen. »So habe ich meine dritte Frau kennen gelernt.« Der Wissenschaftler hielt seine unbehandschuhten Hände näher an das Feuer. »Ich war auf einer Konferenz in Seattle. Mein Kumpel gab mir seinen Zimmerschlüssel, hat mich gebeten, dort auf ihn zu warten. Was er vergessen hatte, mir zu sagen, war, dass sei-
131
ne Freundin auch da war. Ich ging aufs Zimmer. Sie war im Bad und hörte, wie ich reinkam. Sie rief den Namen meines Freundes. Ich wollte gerade antworten, aber ich kannte seinen Geschmack, was Frauen angeht, und ich bin nun mal ein Schwein, also dachte ich mir, ich kann ja mal schnell gucken. Also ging ich ins Bad. Und sie stand da. Hatte gerade fertig geduscht. Ihr Haar war perfekt frisiert. Sie trug Make-up, hochhackige Schuhe und sonst nichts. Lieber Himmel, ich konnte genau sehen, wo sie sich im Bikini gebräunt hatte …« »Hat sie dich rausgeschmissen?« »Oh ja. Sie hatte ja hochhackige Schuhe an. Und die hat sie auch benutzt. Und so verrückt es klingt, wir haben in diesem Moment etwas miteinander geteilt, eine seltsame Art der Vertrautheit. Das hat uns einen Monat später zusammengeführt. Warum fragst du?« »Ich weiß nicht. Ich hab nur gerade so nachgedacht …« »Wie lange kann diese Such-Drone da oben bleiben?«, stöhnte Pettengill und richtete seinen Blick gen Himmel. »Bis AMEEs Batterie leer ist – in ein paar Jahren.« Gallagher warf einen Blick auf das Habitat. »Es macht mich immer noch ganz verrückt, was da passiert ist. Hätte so eine Verwüstung ein Sandsturm anrichten können? Das würde erklären, warum viel von dem Zeug fehlt.« Burchenal stocherte mit einer dünnen Titanstange im Feuer herum. »Das Habitat ist entworfen worden, um solchen Dingen zu widerstehen. Die Winde können hier eine Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometer erreichen. Die Ventile wurden so konzipiert, dass sie sich automatisch vom Sand reinigen.« Er verfluchte das Feuer. »Zu wenig Sauerstoff. Wird nur langsam brennen.« »Mir ist heiß«, sagte Pettengill. Obwohl Burchenal Gallagher nichts gegenüber erwähnt hatte, verriet sein Gesichtsausdruck ein klares Misstrauen gegen
132
den Terraforming-Spezialisten. »Es muss schwierig gewesen sein, Santen dabei zuzusehen, wie er sprang. Wo du doch versucht hast, ihn aufzuhalten und so.« Gallagher beobachtete Pettengills Gesicht, wartete auf eine Reaktion. »Im Endeffekt sind alle Schlägertypen Feiglinge«, sagte Pettengill unberührt. »Und was sind letztendlich die Feiglinge?«, wollte Burchenal wissen. »Schläger?« »Nein. Opfer.« Ein entferntes Kratz- und Knirschgeräusch, das über dem gelegentlichen Knistern des Feuers kaum auffiel, drang aus der Dunkelheit zu ihnen. Steine kamen ins Rollen und schließlich wurde das unverkennbare Winseln von Servogelenken hörbar. Gallagher pfiff. Und als sein Pfeifton in den Hügeln ein Echo abgab, pfiff AMEE zurück. Einige Sekunden später schob sich der Roboter in das dämmerige Licht des Lagerfeuers, die Außenhülle staubbedeckt, eines ihrer Beine nutzlos hinterherschleifend. »AMEE, du Süße, du hast uns gefunden.« Gallagher schaltete seine Anzuglampe ein und untersuchte den Roboter, während ihre Such-Drone umhersurrte. »Wie geht es dir? Etwas angeschlagen, nicht wahr? Warum hast du mir gesagt, dass dein Nanotech-Reparaturtrupp offline ist? Du hast mich doch nicht angelogen, oder? Neeein. Ich glaube, wir sind alle ziemlich am Ende. Schön, dich zu sehen.« Als Gallagher ihre beschädigten Gliedmaße untersuchte, schreckte sie plötzlich zurück und beugte sich vor, wie eine Wildkatze kurz vor einem Sprung. »He. Nur mit der Ruhe. Du scheinst etwas verwirrt.« »Ich kann dieses verdammte Dinge nicht leiden«, sagte Pettengill. »Wenn wir nichts Nützliches für sie zu tun finden, bin ich der Meinung, dass wir sie zurücklassen sollten.« »Was stimmt mit ihr nicht?«, fragte Burchenal.
133
»Keine Ahnung.« Gallagher kniete neben seinem Roboter nieder und fing mit seiner Armbandkontrollanzeige an, sie zu diagnostizieren. »Lass uns mal deine Innereien überprüfen. Dreh dich um, Süße.« AMEE folgte dem Befehl, warf sich mit einem dumpfen Geräusch in den Dreck und streckte ihre Gliedmaße in die Luft wie ein metallischer Hund, der am Bauch gekrault werden wollte. Gallagher schloss ein kleines achteckiges Kontrollpult auf und leuchtete mit seinem Licht tief in AMEEs Inneres hinein. Er sah die durchgebrannten Chips, die für ihr defektes Bein verantwortlich waren. Er richtete seinen Lichtstrahl auf ihre Zentraleinheit und identifizierte drei weitere verbrannte Chips sowie eine Anzahl zerfranster Kabel. Ihr Datenbus und ihre Energiezelle schienen intakt zu sein. »Sie ist ganz schön durchgeschüttelt worden. Spuren der Sonneneruption sind noch zu erkennen. Ein paar Chips sind kaputt. Die Nanotechnik hat getan, was sie konnte, aber ihre Systeme sind immer noch beschädigt.« Burchenal kauerte, um selber einen Blick zu erhaschen. »Ist sie noch verwendbar?« »Bis sie endgültig zusammenbricht.« »Wenn wir warten, bis sie zusammenbricht, wird die SuchDrone runterfallen«, schlussfolgerte Burchenal und deutete mit dem Daumen gen Himmel. »Und bei meinem Glück wird sie wie Taubenscheiße auf mir landen. Wir sollten ihre MPSSysteme sofort abschalten.« AMEEs Beine zuckten. Gallagher schaute auf seine Armbandanzeige, welche gerade die Ergebnisse der Diagnose abspielte: Die Zentraleinheit und die Prozessoren der Künstlichen Intelligenz waren beschädigt. Er machte einen Schmollmund, als er die Resultate sah, dann schaute er Burchenal an. »Ihre Festplatte ist modular aufgebaut. Sie wird selbstbetrie-
134
ben. Wir könnten sie über das Notebook laufen lassen.« Er deutete in den Himmel. »Wir hätten dann Kontrolle über den Satelliten. Aber damit würden wir sie töten.« AMEEs Beine zuckten jetzt heftiger. »Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, fragte Burchenal. Mit einem tiefen Seufzer der Resignation schüttelte Gallagher den Kopf. »Ich mach’s schon.« Er öffnete eine zweite Klappe unterhalb der ersten und griff nach den Verriegelungen einer dünnen silbernen Box, die so groß war wie eine Visitenkarte. Er entsicherte den ersten Riegel, verspürte einen gewaltigen Schlag auf seiner Brust und wurde plötzlich durch die Luft geschleudert. Während Gallagher fiel, fuhren AMEEs Hinterbeine aus, ihre Krallen wurden länger und sie ergriff Pettengills Handgelenk. Der Terraforming-Spezialist stieß einen fluchenden Schrei aus, griff nach AMEEs Klauen und versuchte, sie von sich loszubekommen. Es half nicht. Er heulte erneut auf. Der Roboter verstärkte seinen Griff. »Sie wird mich zerquetschen –« AMEE schleuderte Pettengill von sich. Seine Worte wurden abgeschnitten, als er durch die Luft stürzte und mit einem halb erstickten Schrei rücklings auf den Boden krachte. Burchenal hob reflexartig seine Hände, doch als er sich aufrichtete, umschlang AMEE sein Handgelenk und renkte es aus. Burchenal stieß einen lauten Schrei aus, dann gaben seine Beine nach und er versuchte mit seiner freien Hand ihre Krallen zu greifen. Wie ein Kampfsportler warf AMEE ihn zu Boden, ließ ihren Griff nicht locker, hielt ihn fest und holte mit ihrem Hinterbein aus, um ihm den Todesstoß zu versetzen. Verzweifelt zog Gallagher das Menü zum Abschalten herunter und initiierte die Sequenz. SYSTEMFEHLER. Scheiße! »AMEE, hör auf!« Da ihre Sensoren entweder abgeschaltet oder gedämpft waren, rollte sich AMEE auf den Rücken und zog Burchenal mit sich. »Holt sie verdammt noch mal von mir
135
runter«, flehte der Wissenschaftler, sein Gesicht zu einer gefolterten Maske verzerrt. »AMEE, nein!«, befahl Gallagher zum letzten Mal, bevor er die Titanstange ergriff, die Burchenal benutzt hatte, um im Feuer herumzustochern. Die Aktivitäten des Roboters kamen plötzlich zu einem Ende. Die Beine sperrten sich. Das Summen der Servogelenke wurde leiser und verkümmerte zu einem entfernten Klicken, das tief aus ihrem Inneren zu kommen schien. »Sie lockert ihren Griff«, berichtete Burchenal. »Ich kann meine Hand fast –« AMEE stieß ihr freies Bein in seine Brust hinein, ihre Kralle schrumpfte auf die Größe einer menschlichen Hand. Sie grub sich in seinen Anzug, fand ein Rippe und drehte diese um. Gallagher glaubte, den Knochen brechen zu hören, während Burchenal Geräusche von sich gab, die nur Eingeweihten vertraut vorkamen. Dann, mit der natürlichen Grazie, die ihrer Programmierung entsprach, entließ AMEE das beschädigte Objekt namens Burchenal und huschte davon, ein alptraumhaftes Insekt, das vor dem Licht des Lagerfeuers floh. Nach einigen hastigen Schritten erreichte Gallagher Burchenal, der rücklings auf dem Boden lag, seine Brust festhielt und mit jedem kläglichen Atemzug zusammenzuckte. Der Schmerz war so intensiv, dass ihm Tränen in den Augen standen. »Was zur Hölle geht hier vor«, fragte Pettengill von irgendwo hinter ihnen, seine Stimme so dünn wie Schilf, das im Wind hin und her schwankt. »Komm her«, rief Gallagher. »Wir müssen ihn näher ans Feuer bringen.«
136
Fünfzehn HABITAT EINS LANDEPLATZ IN DER NÄHE DES ARES VALLIS, MARS 183. TAG DER MISSION Burchenal verfluchte den mitternächtlichen Marshimmel, während Gallagher und Pettengill den Wissenschaftler aufhoben und ihn zum Feuer trugen. AMEEs Such-Drone summte wie ein bedrohlicher Wächter über ihnen, nahm jede ihrer Bewegungen zur Kenntnis. Nahe der Flammen fanden sie eine ebenerdige Stelle. Gallagher zuckte vor Mitgefühl zusammen, als sie Burchenal auf dem Boden niederließen. »So ist’s gut«, flüsterte der Wissenschaftler. »Genau hier. Ja, genau hier.« »Warum hat sie uns angegriffen?«, fragte Pettengill und beäugte dabei sorgfältig die Hügel, in die sich AMEE zurückgezogen hatte. »Der Absturz muss sie in militärische Bereitschaft versetzt haben. Wir haben versucht, ihr die Augen zu nehmen. Daher sind wir Feinde.« »Toll. Jetzt haben wir einen Roboter auf Feindmission. Nummer drei auf der Liste möglicher Todesarten. Wir haben es nur der geringen Schwerkraft zu verdanken, dass sie uns nicht längst umgelegt hat. Das wird sie bei ihrem nächsten Angriff mit in Betracht ziehen.« Gallagher ignorierte die Prophezeiung und öffnete Burchenals Raumanzug bis zur Hüfte, dann öffnete er den Reißverschluss des sich darunter befindlichen roten Thermalanzugs. Vorsichtig berührte er den rot geschwollenen Striemen auf Burchenals Brust. Der Mann unterdrückte einen Schrei. »Der Medizincomputer ist am MEV-Landeplatz, aber es sind ganz 137
offensichtlich Anzeichen von Schwellungen, Verformungen und Kratzer erkennbar«, sagte Gallagher und hörte das Kratzen der gebrochenen Rippe, als er sie berührte. »Sag mir etwas, was ich nicht weiß«, brachte Burchenal hervor. »Es tut weh, wenn ich atme, also versuche ich, nicht tief einzuatmen und dann kann mir Lungenschrumpfung oder Lungenbläschenkollaps bevorstehen. Ich möchte seufzen, um das zu verhindern, aber der Schmerz lässt das nicht zu, daher ist meine Atmung beschissen. Wenn ich nicht richtig verheile, kann ich eine Lungenentzündung oder Atemwegserkrankung bekommen.« Gallagher lächelte schwach und war dabei von der Fähigkeit dieses Mannes, dermaßen schnell eine akkurate Prognose zu stellen, beeindruckt. »Scheint, als hättest du im Sanitäterunterricht gut aufgepasst.« »Ja. Und das ist nicht das erste Mal, dass ich mir eine Rippe gebrochen habe. Dieses Miststück hätte mir einen eingedrückten Brustkorb verpassen können, dann wäre ich wirklich am Arsch. Außerdem hätte sie mir das Handgelenk brechen können. Tut trotzdem verdammt weh.« »Hol etwas von dem übrig gebliebenen Schaumstoff«, wies Gallagher Pettengill an. »Und etwas, womit wir ihn an seiner Brust befestigen können.« »Schon dabei.« Pettengill warf einen Blick über seine Schulter, dann schlich er um das Feuer herum. Burchenal schloss seine Augen und zitterte ein wenig, als er einen Gegenangriff gegen den Schmerz in die Wege leitete. Gallagher blickte ein paar Augenblicke lang in Richtung AMEE, dann kam Pettengill mit dem Schaumstoff und einigen langen Tuchstreifen zurück, die er aus einem unbeschädigten Betttuch herausgeschnitten hatte. Gallagher hob Burchenal an, während Pettengill die Streifen unter seinem Rücken schob. Dann band Gallagher den Schaumstoff fest, während sich
138
Burchenals Augen zu Schlitzen verengten und er seine Zähne fletschte. Gallagher zog den Reißverschluss von Burchenals Thermalanzug hoch und verschloss seinen Raumanzug. Er half dem Verletzten dabei, sich aufzusetzen, eine Bewegung, die erneutes Stöhnen hervorrief. In der Zwischenzeit holte Pettengill Burchenals Feuerstock und umklammerte ihn fest mit seiner Hand. »Nächstes Mal gebe ich nicht kampflos auf. Wir sollten alle etwas mit uns tragen.« Gallagher nickte resigniert. »Warum hat sie uns leben lassen?«, wollte Burchenal wissen. »Sie hatte uns doch.« »Tja, denke schon«, schaltete sich Pettengill ein. »Vielleicht hat sie die niedrige Schwerkraft in Betracht gezogen. Kannst du sie nicht außer Kraft setzen?« »Habe ich versucht«, meinte Gallagher. »Sie reagiert nicht. Unser Problem ist viel größer als eine einfache Funktionsstörung.« »Uns umbringen wollen würde ich nicht gerade als einfache Funktionsstörung bezeichnen«, schnauzte Pettengill ihn an. »Ist doch scheißegal.« Gallagher passte seinen Tonfall dem des Terraforming-Spezialisten an. »Fest steht, dass sie Kriegsspiele spielt.« Pettengill öffnete seinen Mund, dann taumelte er vom Feuer weg. »Das ist doch wohl ein Scherz.« »Sie ist auf Militärcodes geschaltet«, fuhr Gallagher fort, ließ seinen Blick zu Burchenal wandern. »Deine Rippe zu brechen war ein alter Trick der Vietcong. Man verwunde einen seiner Feinde. Die anderen helfen ihm und werden so langsamer.« »Na, wir werden dadurch nicht langsamer werden«, versprach Burchenal. »Ich war schon mit einer gebrochenen Rippe Skifahren. Und so eine kleine Wanderung kann ich allenthal-
139
ben mitmachen.« »Ich glaube dir. Aber früher oder später wird AMEE ›Aufspüren und Vernichten‹ spielen. Und dann wird sie kommen und uns töten.« US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 183. TAG DER MISSION Bowman erwachte. Hob ihren Kopf an. Spürte den kühlen Luftzug. Scheiße. Sie war auf ihrem Touchboard eingeschlafen. So was war ihr seit ihrer Studienzeit nicht mehr passiert. Sie fühlte noch immer die Eindrücke der Touchpads auf ihrer Wange. Wie lange hatte sie geschlafen? Fast eine Stunde. Sie hatte die Komm-Anlage so eingestellt, dass sie alle ankommenden Nachrichten aufzeichnete. Na kommt, Jungs. Wo seid ihr? Sie konnte nichts tun außer Zeit totzuschlagen. Moment. Vielleicht könnte sie die Szenarien ein weiteres Mal hochfahren. Vielleicht hatte sie etwas vernachlässigt. Sie rieb sich die Augen und fing an. Als sie Nummer zwanzig erreichte, piepste ihr Kopfhörer, gefolgt von der wohlklingenden Stimme John Skavlems, der den Countdown zählte, um anschließend gleich zur Sache zu kommen. »Mars-1, hier spricht Houston. Wir übertragen gerade das überarbeitete Motorszenario. Wir schlagen vor, dass Sie alle Primärsysteme ausschalten und eine Blitzzündung versuchen.« »Ach, und Kate?«, brach eine andere Stimme ein. »Wir alle drücken Ihnen die Daumen.« Das ansteckende Lächeln, die Sensibilität und die schier endlose Geduld des Flight-Directors
140
Matthew Russert waren für Bowman schon immer inspirierend gewesen. Er stockte und Bowman stellte sich vor, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. »Tatsache ist, dass es niemanden gibt, den ich lieber in diesem Sitz hätte. Bitte warten Sie. Hier ist noch jemand, der mit Ihnen reden möchte.« Bowman fröstelte. Panik kam in ihr auf. Nein, ihr Ex-Freund konnte es nicht sein. »Commander Bowman?«, erklang eine Stimme wie Musik, in der ein Hauch eines Akzents, wie er in North Carolina zu hören ist, mitschwang. »Hier spricht Joan Calhoun. Ich würde gerne diese Gelegenheit ergreifen um Ihnen zu sagen, dass die Hoffnungen und Gebete des amerikanischen Volkes bei Ihnen sind. Alle Augen sind auf den roten Planeten gerichtet und alle Herzen wünschen Ihnen eine sichere Heimreise. Möge Gott den Seelen der anderen Astronauten Frieden Schenken. Möge Gott sie für immer bewahren.« Obwohl Bowman die Präsidentin der Vereinigten Staaten bereits vorher einmal getroffen hatte, war die Ehre, direkt von ihr angesprochen zu werden, nicht weniger überwältigend. Dazu kam der Gedanke, dass im ganzen Land, auf dem ganzen Planeten, die Menschen hofften und beteten, dass die Frau, die sich am weitesten von Zuhause befand, wieder zurückfinden würde. »Mars-1, hier spricht Houston«, sagte der Kommunikationsoffizier »Bitte informieren sie uns über den Erfolg des überarbeiteten Szenarios. Ende der Übertragung. Houston, over.« Mit frischem Schwung machte sich Bowman daran, das überarbeitete Szenario zu dekomprimieren. Als das Programm bereit und das primäre Antriebssystem ausgeschaltet war, checkte sie ihre Datentabellen: Die Sekundärsysteme waren für die simulierte Blitzzündung bereit. Der Zündungsanzeiger blinkte rot. Sie drückte einen Knopf. Das Programm wurde durchgeführt. Rotes Licht … rot … grün. Sie stieß einen Freudenschrei aus. Verbarg ihr Gesicht in ih-
141
ren Händen. Bemühte sich, keine Tränen der Freude und des Schmerzes zu vergießen. »Houston, hier spricht Mars-1. Die Antriebszündung ist grün. Ich wiederhole, bereit zur Antriebszündung.« Sie las die Daten ab, die den Verlust der Umlaufbahn anzeigten und fällte dann eine Entscheidung, die das Ende ihrer beruflichen Laufbahn besiegeln könnte. »Jungs, noch haben wir Zeit. Ich weiß, dass wir für die Ground Crew Missionsende angenommen haben, aber ich werde die Suche nicht aufgeben. Noch nicht. Ich werde es bei Tagesanbruch noch mal versuchen. Wenn dann immer noch kein Kontakt zustande kommt, werde ich die Sequenz zur Rückkehr zur Erde initiieren. Mars-1, over.« HABITAT EINS LANDEPLATZ IN DER NÄHE DES ARES VALLIS, MARS 183. TAG DER MISSION »Gentlemen, herzlich willkommen auf Planet Sol Zwei, Missionstag einhundertdreiundachtzig«, murrte Burchenal. »Ach, und guten Morgen.« Die Strahlen des Sonnenaufgangs streiften die Ränder des Horizonts. Gallagher saß in diesem schlechten Licht, krempelte sein Verdeck nach hinten und zwang sich, einen tiefen kalten Atemzug zu tun. Sie hatten die Nacht in drei Schichten eingeteilt, von denen jede zweieinhalb Stunden dauerte. Pettengill hatte die erste übernommen, Gallagher die zweite. Burchenal hatte sich gut genug gefühlt, die dritte zu übernehmen, obwohl Gallagher angeboten hatte, wach zu bleiben. Irgendwo da draußen, unter den dünnen blauen Eiswolken, die sich in der Nacht angehäuft hatten, lauerte AMEE, analysierte den Datenfluss ihre Such-Drone und berechnete ihren
142
nächsten Angriff. Gallagher aktivierte sein Armband und suchte nach AMEEs Kamerablickwinkel. Stabil. Eine Diagnose gab an, dass alle Systeme funktionsfähig waren. Sie würde mich doch nicht absichtlich blockieren, oder? Er schüttelte den Gedanken ab und stand auf, denn wichtigere Dinge führten ihn von dem glimmenden Feuer auf ein Dreieck aus kniehohen Geröllsteinen zu. AMEEs Such-Drone folgte ihm und sank auf etwa drei oder vier Meter hinab. »Ach, leck mich am Arsch«, sagte er zu dem Satelliten. »Ich bin der erste, der auf den Mars pinkelt.« Nachdem er den Katheter des Anzugs deaktiviert hatte und geschworen hatte, diesen nie wieder zu verwenden, öffnete Gallagher seine Raum- und Thermalanzüge und zitterte, als die eiskalte Luft mit seinem nackten Fleisch in Berührung kam. Burchenal fand sein eigenes Plätzchen neben einer Ansammlung von Steinen. Nach einigen Augenblicken wurde seine zitternde Stimme über dem fernen Heulen des Windes hörbar. »Irre! In der niedrigen Schwerkraft kann man ganz schön weit pinkeln.« »Wie fühlst du dich?« »Beim Atmen tut’s noch weh. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich mich bei dir bedankt habe.« »Tja, jetzt versuche ich mich an das ganze Zeug aus dem Unterricht zu erinnern«, enthüllte Gallagher. »Ich bin da mit dem Gedanken reingegangen, dass uns so etwas nie passieren könnte. Nun, es ist passiert.« »Und noch mehr«, fügte Burchenal hinzu. »Die Sonne geht auf. Wir müssen den Sajourner erreichen.« Gallagher machte seinen Reißverschluss zu und deutete auf Pettengill, der nahe der Glut zusammengekauert dalag und die Titanstange umklammert hielt. »Was ist mit ihm?« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Santen von irgend-
143
welchen Kliffs stürzen würde«, sagte Burchenal. Er machte seinen Anzug zu und starrte Pettengill mit ernstem Blick an. »Wir wurden zusammen ausgebildet. Wir haben die selben psychologischen Untersuchungen und Interviews mitgemacht wie er. Er ist ein Mensch mit Fehlern wie wir alle. Er findet sich an einem solchen Ort wieder und weiß, dass er sterben könnte. Das könnte unter Umständen dazu führen, dass er durchdreht. Mir egal, was die behaupten. Wir sollten besser vorsichtig sein.« Das würde Gallagher ohne Zweifel sein. Er schlurfte zu dem Terraforming-Spezialisten zurück und stupste das Bein des Mannes mit seinem Stiefel an. »Pettengill.« »Scheiße«, rief Burchenal. Gallaghers Herz machte einen Satz nach oben, als er sich nach dem Wissenschaftler umdrehte. »Mein Notebook ist abgestürzt«, sagte Burchenal und hielt den Computer hoch. Eine schnelle Überprüfung von Gallaghers eigenem Notebook bestätigte dasselbe. »Meiner ist auch abgeschaltet«, berichtete Pettengill, der sich hingesetzt hatte und während des Sprechens gähnte. »Ich habe versucht, AMEE auf meinen Bildschirm zu bekommen. Ich dachte, dass sie vielleicht meinen Empfang stört. Sie blockiert wahrscheinlich alles.« Pettengill schlug seinen Computer auf seine Hüfte. »Lieber Himmel, wie sollen wir jetzt den Sajourner finden?« »Am besten«, erwiderte Gallagher, »folgen wir der Linie des Bergrückens, vielleicht können wir sie von oben sehen. Wir kennen die Entfernung und die ungefähre Richtung.« Einen Arm über seine Rippen haltend hastete Burchenal zum Wrack und zog einen der Querbalken aus Titan hervor. »Hol deine Stange«, sagte er zu Pettengill. »Und renn auf die Sonne
144
zu.« »Warum?« »Tu es.« Nach einem Schnaufen gehorchte Pettengill, joggte zuerst langsam, dann immer schneller in Richtung der aufgehenden Sonne. Burchenal holte einen weiteren Querbalken und stieß ihn in den Sand. »Stopp!«, wies er den Terraforming-Spezialisten an. »Nach links, links. Etwas mehr rechts. Da. Markiere die Stelle.« Pettengill trieb seinen Querbalken in den Boden, überprüfte dessen Stabilität und sprang in großen Sätzen zurück. »Was war das jetzt?« Gallagher grinste zustimmend. »Wir haben einen Wegweiser gebaut.« »Jetzt wissen wir, wo sich was befindet«, sagte Burchenal. Sein Blick wurde trübe, als er über etwas anderes nachdachte. »Wir haben die Sonnenbahn markiert. Jetzt können wir die grundlegende Trigonometrie errechnen. Und den Rest dieses Gerümpels können wir auch für irgendetwas verwenden. Kommt.« Burchenals Anweisungen folgend legten sie ein Dreieck aus zusammengetragenen Kabeln und Stangen aus, wobei eine Seite parallel zu der Richtungsantenne verlief und die andere nach Osten in die vernarbte Landschaft deutete. Nach einem letzten Überblick schaute Burchenal Gallagher unruhig an. »Tja, hier geht es wirklich um Mathe. Mal sehen, ob ich das noch kann.« Ein Schatten flog über sie hinweg und Gallagher wehrte das Funkeln mit seiner Handfläche ab. In etwa zehn Meter Entfernung glitzerte AMEEs Such-Drone. »Also gut, Jungs, los geht’s. Aber passt auf, AMEE wird Guerillataktiken anwenden. Wer zurückfällt, kann leicht zum Opfer werden. Also bleibt dicht beieinander.«
145
Sechzehn US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 183. TAG DER MISSION Es war Bowman gelungen mit dem Teleskop eine Auflösung von unter dreißig Metern zu erreichen. Sie spielte mit dem Gedanken, die Feinsteuerraketen zu zünden, aber sie würde jeden Liter flüssigen Wasserstoffs für die Heimreise brauchen. Sie ließ sich in ihren Sitz fallen und kämpfte gegen eine innere Leere an, gegen das Gefühl, irgendwie doch versagt zu haben. Verschwommene Aufnahmen der Absturzstelle des MEVs scrollten über den Hauptbildschirm und unterstrichen ihr Versagen. Bowman saß einfach da, wie eine leere Hülle, wartete eine Minute nach der anderen darauf, dass das Wrack des Habitats in der oberen Ecke des Bildschirms endlich sichtbar wurde. Es war nichts Neues zu erkennen. Nur ein kaltes Grab, das sich im Wind aufbäumte. Etwas zog ihren Blick auf sich, ein entfernter Umriss, der in den sich dahinschlängelnden Furchen und Kanälen unnatürlich erschien. Sie machte sich am Touchboard an die Arbeit. Richtete das Teleskop auf die entsprechende Stelle. Stellte das Bild so scharf, wie sie nur konnte. Es sah aus wie … nein, das konnte nicht sein. Was mache ich hier? Ich will es einfach nicht wahrhaben. Sie sind tot. Und ich werde sicherlich bei ihrer Trauerfeier eine Rede halten müssen: Ted Santen vertrat nicht nur die besten Interessen des Weltraumprogramms, sondern auch des amerikanischen Volkes. Quinn Burchenals ausführliche Forschungen werden uns 146
helfen, unsere Suche nach einer neuen Heimat für die Menschheit fortzusetzen. Chip Pettengill repräsentierte nicht nur die Spitze seines Fachgebiets; er war auch jemand, der immer im Einklang mit seiner Seele stand. Bud Chantilas Bestrebungen haben ihn an Orte gebracht, zu denen nur wenige Menschen zu reisen wagen, und diese Reisen machten ihn zu einem der bedeutendsten Renaissancemenschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Und Robert Gallagher. Ich wünschte nur … ich wünschte … Sie zwang sich aufzustehen und ging ans Teleskop. Ihre Finger schwebten über dem Touchpad. Eine kurze Berührung. Kein Grund zur Hoffnung. Nur Grund für Schmerz. Sie trat an ihr Touchboard und schaltete einen Kanal ein. »Houston, hier spricht Mars-1.« Sie stockte, sammelte sich. »Kein Zeichen von der Ground Crew. Initiierung der Rückkehrsequenz zur Erde. Zündung der Hauptdüse erfolgt in T-Minus neunzig Minuten. Mars-1, over.« MARS: PATHFINDER LANDEPLATZ ARES VALLIS FLUTKANAL 183. TAG DER MISSION Obwohl AMEEs Drone sie die ganzen zwei Kilometer über beschattet hatte, zeigte sich die robotische Kriegerin nicht selbst. Ihre Abwesenheit quälte Pettengill, der vor lauter Verfolgungswahn die Zähne zusammenbiss und seinen Kopf dermaßen anspannte, dass Gallagher allen Ernstes glaube, er würde sich einen Muskel zerren. Burchenal war den ganzen Marsch über in sich gekehrt, gab weder Worte noch Stöhngeräusche von sich. Es war ihm sogar gelungen, den Ausdruck
147
unerträglicher Schmerzen aus seinem Gesicht zu verbannen. Wie auch Santen musste er auf alles eine Antwort haben, alles unter Kontrolle haben. Zurzeit war es Gallagher sehr recht, sich an die Entschlossenheit seiner Kameraden zu hängen, die sie hoffentlich direkt zum Landeplatz der Pathfinder führte. Voller Bewunderung standen sie vor der staubbedeckten Pathfinder, dann führte sie Burchenal auf eine dreißig Sekunden dauernde Besichtigungstour. Drei runde Sonnenkollektoren mit viereckigen Endstücken lagen flach auf dem Boden, mit Scharnieren an dem hexagonalen Sockel der Raumsonde befestigt. In der Mitte des Sockels befand sich eine kleine Zusammensetzung elektronischer Instrumente, die einer winzigen Wellblechhütte ähnlich sah. Dies war das Gehäuse des Tachometers, der die Eintrittsgeschwindigkeit berechnete, außerdem trug der Sockel eine dünne, geradlinige Antenne, eine Kamera, die auf einer ausklappbaren, rechteckigen Stütze angebracht war und eine scheibenförmige hochsensible Antenne. An der Spitze einer der Solarflügel befand sich das Atmosphärenmessgerät und der Wettersensor: Eine Stange mit einem zylindrischen Windmesser, der an der Spitze befestigt war. Unterhalb des Windmessers hing eine Windsocke zwischen den Thermosensoren zur Temperaturberechnung. »Sie dachten, dass dieses Baby nur einen Monat lang halten würde«, sagte Burchenal. »Eine bemerkenswerte Konstruktion für den Etat. Sie hat den Weg für neue Forschungstechniken und unser jetziges Programm zur Neulandgewinnung geebnet. Na gut, ein paar Fehler wurden über die Jahre schon gemacht – sie haben beispielsweise vergessen, das metrische Maßsystem bei einer Mission zu verwenden und so eine einhundertfünfundzwanzig Millionen Dollar teure Sonde verloren – aber im großen und ganzen haben sie es richtig angepackt. Na, wo zum Teufel ist die Sonde?«
148
»Da drüben«, sagte Pettengill und deutete auf einen etwa neun Meter entfernten Felsbrocken, von dem Gallagher wusste, dass er einen abgefahrenen Namen wie »Franzl« oder »Gummibär« oder »Schimpanse« hatte. Zwei der sechs Räder des Sajourners lugten hinter dem Felsen hervor. Gallagher zog eine Werkzeugtasche aus dem Hüftbeutel seines Raumanzugs und eilte auf die kleine Sonde zu, während der Schatten der AMEE Such-Drone ihm den Weg wies. Als er angekommen war, sah er, dass die Sonde vermutlich aufgrund eines falschen Überquerungsbefehls über einen kleineren Felsen zu fahren versucht hatte und nun bereits seit einem halben Jahrhundert feststeckte. »Tut mir leid«, sagte er zu der kleinen Maschine und holte seine Werkzeuge hervor. Er schraubte den Sonnenkollektor ab, der der Sonde ihre flache, skateboardartige Oberfläche verlieh, dann dachte er, dass er vielleicht Teile des Mobilitätssystems auseinander nehmen müsste, ein hoch entwickeltes Drehgestell aus Kufen und Federungen, dessen Einzelteile so aussahen, als hätte man sie aus dem Legokasten eines Kleinkindes geborgt. Nein, er hatte bereits Zugriff auf die digitalen und analogen Schaltkreise, den null Komma fünf Watt starken Heizkörper, sowie den Rest des rechteckigen Fahrgestells der Sonde. »Macht die Platten des Elektronikzusammenbaus ab«, rief Gallagher den anderen zu, die sich in der Nähe des Landungsvehikels befanden. »Alles um die Antennen herum. Darin müsste sich ein Hochfrequenz-Funkgerät befinden, das von einer achtundzwanzig Volt starken Batterie angetrieben wird. Und schaut mal, was wir hier haben«, fing er an und beäugte den Innenraum der Sonde. »Ein dreiundfünfzig Jahre altes handelsübliches Computermodem, das von Frequenzen abhängt, die wir auf dieser Mission nicht verwenden.« »Warum versuchen wir’s dann überhaupt«, wollte Pettengill wissen. »Ich meine diesen Ort … wir verunstalten ihn doch. Er ist ein Denkmal für Carl Sagan. Hat man ihn nicht die Carl-
149
Sagan-Gedenkstation genannt?« »Man wird ihn bald die Pettengill-Gedenkstation nennen, wenn du nicht gleich das Maul hältst«, schnauzte Burchenal ihn an. »Wir müssen es tun«, sagte Gallagher eindringlich, sein Tonfall um einiges diplomatischer als Burchenals, aber immer noch bissig. »Es ist nur ein etwas ausgefeilter Hilferuf.« Während Gallagher die Schaltkreise der Sonde entfernte, wurde ihm plötzlich schlagartig klar, wie sein Funkgerät zusammengebaut war. Er konnte das Fahrzeug als Energiequelle verwenden und/oder dessen Hochfrequenz-Funkmodem verwenden, falls das der Sonde nicht funktionieren sollte. Natürlich würde er beim Ausrichten der Sonnenkollektoren Hilfe brauchen und das System auf Stimmübertragungen umstellen müssen. Es war programmiert worden, um kurze Stöße digitaler Symbole zu senden, sogenannte Pakete, wovon jedes aus zweitausend Acht-Bit Bytes bestand. Sollte ihm dieses kleine Kunststück gelingen, würde er das Mikrofon in seinem Anzug anschließen. Mit ein bisschen altmodischem Löten könnte das verdammte Ding vielleicht sogar funktionieren. Doch der schwierige Teil lag noch vor ihm: Jemand musste die Frequenz auch abhören. Die Satellitenschüsseln des Deep Space Networks deuteten vielleicht in diese Richtung und Tausende von Computerfreaks daheim hielten das SETI-Programm am Leben. Es musste jemanden geben, der zuhörte. Zwanzig Minuten und zwei verbrannte Zeigefinger später war es Gallagher zu seiner eigenen Überraschung gelungen, einen Apparat zusammenzubauen, den man für ein Funkgerät halten konnte. Er hatte es sogar geschafft, mittels seines Notebooks den Energiefluss und die Signalstärke des Funkgerätes zu überwachen. Er saß im Schneidersitz in der Nähe des Fahrzeugs, die Schaltkreise der Sonde miteinander verkabelt auf seinem Schoß liegend, ein Mikrofon an seinen Lippen. »Test
150
… Test …« Das Display blieb leer. Er stellte einen kleinen Regler in der Nähe des Modems um. »Test … Test …« Plötzlich leuchtete das Display auf. »Klappt’s?«, rief Burchenal, als er und Pettengill die Solarflügel des Landefahrzeugs der Sonne entgegen neigten. Gallagher ließ das Mikrofon sinken. »Das grüne Ding leuchtet auf. Wir werden wissen, ob es funktioniert, wenn uns jemand zurückruft. Aber es spricht vieles gegen unseren Erfolg. Wenn die Temperatur des Modems ansteigt, steigen auch die Frequenzen zum Übertragen und Empfangen. Wird es kälter, fallen die Frequenzen. Momentan arbeiten wir auf der mittleren Frequenz, aber das kann sich ändern. Dazu kommt, dass unsere Empfangsantenne eine Horizontale von dreihundertsechzig Grad benötigt, wobei die Felsstrukturen und Bodenreflektionen möglicherweise Nullzonen erschaffen, die unseren Empfang beeinträchtigen können.« »Ja, aber denk mal darüber nach, Gallagher. Wir führen ein kostenloses Ferngespräch«, Burchenal zwinkerte ihm zu. Gallagher atmete tief ein und hielt im Geist die Finger überkreuzt. »Mars-1, hier spricht die Ground Crew. Hören Sie? Mars-1, hier spricht die Ground Crew. Können Sie mich hören? Wenn uns jemand hört, bitte antworten Sie.« MARS-1, RAUMFAHRTKONTROLLZENTRUM JOHNSON SPACE CENTER, HOUSTON 183. TAG DER MISSION »Wofür hältst du mich eigentlich, Cap?«, fragte Russert. Er stand kurz davor, über seinen Schreibtisch hinweg John Skavlem anzuspringen. »Ein Typ in Australien behauptet, ein Signal von unserer
151
Ground Crew empfangen zu haben.« Russert verfluchte den falschen Alarm. »Was braucht es, um diese Verrückten loszuwerden? Hast du ihm gesagt, dass wir begrenzte, verschlüsselte Frequenzen benutzen? Er kann dafür in den Knast kommen.« »Nein, der ist O.K. Er gehört zum DSN. Unsere Radioteleskope sind noch immer auf den Mars gerichtet. Vielleicht hat der Typ ja wirklich was gehört. Er ist noch immer am Apparat. Ich verbinde ihn mit dir.« Russert setzte seinen Kopfhörer auf. »Hallo, hier spricht Flight-Director Matthew Russert.« »Gut zu hören«, sagte der Mann. »Hier ist Hank Osterbee in Canberra. Deep Space Network. Vor ungefähr zehn Minuten habe ich ein Signal von eurer Ground Crew abgefangen. Vierhundertfünfundneunzig Komma sieben Megaherz. Ich hab’s aufgenommen, wenn Sie’s hören möchten.« »Ich bitte darum.« Nachdem er der Aufnahme fünf Sekunden lang gelauscht hatte, zog er Skavlem von seinem Tisch weg. »Wie viel Zeit haben wir bis zu Bowmans Hauptdüsenzündung?« Skavlem starrte in sein Monokel. »T-Minus zweiundzwanzig Minuten, einundfünfzig Sekunden.« »Scheiße, wir haben nur zwei Minuten Zeit, sie zu stoppen. Hank? Hören Sie mich?« »Ich bin hier. Was halten Sie von der –« »Hank, wir haben im Moment einen Kommunikationsausfall, Sie aber nicht. Ich möchte, dass Sie Commander Bowman an Bord der Mars-1 kontaktieren. Unser Kommunikationsoffizier wird Ihnen die Frequenz übertragen. Sagen Sie ihr, sie soll die Zündung der Hauptdüse abbrechen und sofort Kontakt mit der Planetenoberfläche aufnehmen. Geben Sie ihr die nötige Frequenz. Und zwar sofort.«
152
US-RAUMFÄHRE MARS-1, MARSUMLAUFBAHN 183. TAG DER MISSION T-Minus eine Minute und vierzig Sekunden. Zündungsanzeige noch immer im grünen Bereich. Ich gehe nach Hanse. Bowman schnallte sich in ihrem Pilotensessel an. Der Mars lag in all seinem blutroten Zorn weit unter ihr. Ihre Ehrfurcht vor dem Planeten war vor einigen Augenblicken gestorben. Vater Mars hatte sie bestraft und es tat gut, aus seiner Sicht zu verschwinden. Aber die Heimreise. Bei Gott, es würde die längste Reise ihres Lebens werden. Eine Kommunikationsdatenreihe leuchtete auf: Sendeempfang. »Was ist los?« Sie schaltete auf Lautsprecher um. »Commander Bowman, hier spricht Hank Osterbee in Canberra, Australien, Deep Space Network. Ich habe Anweisungen von Flight-Director Russert für Sie, die Zündung der Hauptdüse abzubrechen. Ich habe scheinbar eine wichtige Mitteilung für Sie abgefangen – von der Marsoberfläche.« Bowman fing an zu lachen, als er ihr die Frequenz übermittelte, dann kamen die Tränen. Sie zog die Nase hoch und fing damit an, die Sequenz abzubrechen, und verdammt noch mal, sie musste die Nachricht ein weiteres Mal abspielen, um an die Frequenz zu kommen. Sie kicherte erneut und fragte sich, ob sie nicht vielleicht eingeschlafen und in der Mitte eines hoffnungsvollen Traums erwacht war. Wie konnte es möglich sein, dass noch jemand am Leben war? Grenzte das nicht an ein Wunder?
153
MARS, PATHFINDER LANDEPLATZ ARES VALLIS FLUTKANAL 183. TAG DER MISSION »Na komm schon, du Stück Dreck.« »Wie lange hast du es jetzt beschimpft? Fast eine Stunde?«, fragte Burchenal Gallagher. »Ja, lange genug, dass unser Signal die Erde erreichen und jemand antworten konnte«, schob Pettengill ein. »Aber es antwortet keiner. Weil verdammt noch mal keiner zuhört. Weil wir hier nur ein glorifiziertes Walkie-Talkie haben!« »Weißt du was? Du hast recht«, sagte Gallagher mit knurriger Stimme. »Tja, es war ein Versuch wert.« Er stand auf, die Schaltkreise in der Hand haltend, holte zum Wurf aus – »Ground Crew, hier spricht die Mars-1. Gallagher?« Es gelang ihm gerade noch, die Schaltkreise zu fangen, bevor sie auf die Steine taumelten. Mit zitternden Fingern hob er das Mikrofon an seine Lippen. »Bowman?« »Sie sind am Leben?« »Ha!«, rief Gallagher und gaffte seine Kameraden an. »Es hat geklappt! Es hat verdammt noch mal geklappt! Und sie hat’s auch geschafft. Bowman, sind Sie da?« »Wer ist bei Ihnen? Wie sieht Ihre Situation aus?« »Wir sind am Landeplatz der Pathfinder im Ares Vallis. Pettengill und Burchenal sind ebenfalls hier. Wir haben nichts zu essen oder zu trinken. AMEE ist durchgedreht. Aber es gibt hier unten Sauerstoff.« Sie stockte, vermutlich überwältigt von dieser Aussage. »Wie ist das möglich?« »Keine Ahnung. Commander? Bud und Santen haben’s nicht geschafft. Wir haben Bud in der Nähe des MEVs verloren.« »Ich habe eine Leiche dort gesehen.«
154
»Ja. Ich werde ihnen die Details später übermitteln. Momentan brauchen wir Hilfe. Wir können hier unten nicht mehr viel länger überleben. Burchenal hat eine gebrochene Rippe. Wir leiden alle an Wassermangel. Und ich weiß nicht, was wir heute Nacht machen sollen. Unsere Anzugsheizungen werden nur noch für eine Stunde ausreichen. Das war’s. Letzte Nacht haben wir die Trümmer des Habitats verbrannt, um warm zu bleiben, aber es ist nichts mehr übrig.« »Ich werde mit Houston sprechen. Wir werden schon eine Lösung finden. Ich melde mich wieder bei Ihnen.« »Wir sind hier. Und wenn Sie das nächste Mal mit uns Kontakt aufnehmen, sollten Sie eine Frequenzveränderung von fünf Kilohertz mit einkalkulieren – für den Fall der Fälle.« »Fünf Kilohertz. Verstanden. Ich weiß nicht, wie Sie es geschafft haben. Gut gemacht. Mars-1, over.« Burchenal legte seinen Arm um Gallaghers Schulter. »Mit meinem Talent für Mathematik und deinen technischen Fähigkeiten könnten wir es weit bringen.« Gallagher hob eine Augenbraue. »Hoffentlich weit genug, um ein warmes Plätzchen zu erreichen.«
155
Siebzehn MARS-1, RAUMFAHRTKONTROLLZENTRUM JOHNSON SPACE CENTER, HOUSTON 183. TAG DER MISSION Beifallsrufe und Applaus hallten durch das Kontrollzentrum, als Commander Kate Bowman das Kontrollteam davon in Kenntnis setzte, dass drei der fünf Mitglieder der Ground Crew überlebt hatten. Flight-Director Russert klammerte sich an die Rückenlehne von John Skavlems Sessel und ließ seinen eigenen Freudenschrei los. Er hatte sich die Botschaft als erster angehört, bevor sie über die Sprechanlage lief. Doch die Jubelrufe wurden zum Geflüster, als Bowman hinzufügte: »Die Ground Crew berichtet, dass die Atmosphäre sauerstoffhaltig ist. Wiederhole. Ground Crew berichtet von sauerstoffhaltiger Atmosphäre. Quelle unbekannt. Houston, wir brauchen auf der Stelle Szenarien, um sie von dem Planeten zu holen. Warte auf Mitteilung. Mars-1, over.« »Wenn sie atmen, könnten wir dort leben?«, fragte Skavlem. »Nein«, antwortete Lowenthal und drehte sich in seinem Sessel um, um sie anzuschauen. »Neunzig Prozent der Algen sind verschwunden. Es ist irgendeine verrückte Anomalie. Der Mars ist ein sterbender Planet. Genau wie die Erde.« »Verrückte Anomalie hin oder her, die Leute atmen«, sagte Russert. »Verdammt, vielleicht hat es irgendwie funktioniert.« Lowenthals Stimme wurde ernst. »Egal, es macht keinen Unterschied. Bei Anbruch der Dunkelheit werden sie sterben. Bowman sagte, dass sie die erste Nacht ein Feuer entfacht haben. Außer ihren Brenngeräten haben sie nichts Brennbares, 156
und ihre Thermalbatterien sind bereits tot. Die Anzüge sind entworfen worden, um sie auf dem Weg vom MEV zum Habitat zu beschützen, nicht, um längere Zeit auf der Oberfläche zu verbringen. Die eigentlichen Aktivitätsanzüge waren im Habitat.« Russert starrte den Controller gedankenversunken an. »Könnten sie nicht jetzt schlafen und sich bei Nacht bewegen?« »Sie können’s versuchen. Aber sie haben gesagt, dass Burchenal eine gebrochene Rippe hat. Er wird sie aufhalten. Wenn sie aufhören, sich zu bewegen, werden sie sterben. Vielleicht könnten sie irgendwo Unterschlupf finden, aber wie würden sie warm bleiben?« »Und während wir versuchen, das herauszufinden, verliert Bowman ihre Umlaufbahn. Wir müssen ihr mehr Zeit verschaffen.« »Wir haben Bowmans Aufzeichnungen analysiert«, fing Lowenthal an. Sein Gesichtsausdruck war finster. »Das MEV ist verwüstet. Und zwar irreparabel, denn alles, was zur Reparatur nötig ist, wäre im Habitat gewesen. Die Ground Crew von dem Planeten zu holen ist unmöglich. Heute Nacht werden sie erfrieren. O.K., Chef, wir können Bowman eine günstige Flugbahn für die Heimreise verschaffen. Sie hat ausreichend Treibstoff, Nahrungsmittel und Wasser, um es nach Hause zu schaffen. Ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber wenn wir Zeit auf eine verlorene Sache verschwenden, riskieren wir auch sie zu verlieren.« »Du hast recht, Andy, das will ich nicht hören. Du bist für mich immer die Stimme der Vernunft gewesen, aber Umstände, die außerhalb der Vernunft liegen, setzen voraus, dass wir auch Lösungen finden, die außerhalb unserer Vernunft liegen. Okay, PROP? SNK?«, rief Russert in das Mikro seines Kopfhörers.
157
»Ich möchte, dass deine Teams Szenarien ausarbeiten, wie wir für Bowman mehr Zeit in der Umlaufbahn gewinnen können.« Er blickte Lowenthal mit zusammengekniffenen Augen an. »Wie viel Tageslicht hat unsere Ground Crew noch, acht oder neun Stunden? Ich will, dass jeder daran arbeitet. Jeder. Es muss eine Möglichkeit geben.« Russert machte sich auf den Weg, die lange Reihe der Tische abzuschreiten, um sich mit der Direktorin zu beraten, die in den letzten fünfzehn Minuten zweimal darum gebeten hatte, ihn zu sprechen. Aber er hatte eine Idee, die ihn herumwirbeln ließ. »Was ist sonst noch auf dem Mars?« Lowenthal zuckte mit den Achseln. »Steine? Sand?« »Na komm, Andy. Gallagher hat gerade ein Funkgerät aus einer dreiundfünfzig Jahre alten Sonde gebaut. Was ist sonst noch da oben?« Der wissenschaftliche Offizier kehrte an seinen Schreibtisch zurück und erteilte über seinen Kopfhörer Befehle. Russerts BPM schaltete sich ein und zeigte die Reliefkarte einer Region auf, mit dem Namen CHRYSE PLANITIA, dessen Buchstaben glühend leuchteten. Auch die anderen Krater des nördlichen Ares Vallis mit den Bezeichnungen Wahoo, Yuty, Shawnee, Bled wurden identifizierten. Vier rote Punkte zeigten die Landeplätze der vorherigen Missionen auf. »Tja, ich habe unsere Landgewinnungssonden gefunden«, sagte Lowenthal. »Leider nur Müll. Nichts Brennbares.« Lowenthal konnte weitere Krater, chaotisches Terrain, Täler und zerfurchte Ebenen erkennen. »Achtzehnhundertfünfzehn Bildpunkte von der Pathfinder entfernt liegt die alte Viking One. Und wir haben noch immer nichts gefunden.« »Andy?«, rief Russert. »Schlag dir auf die Stirn.« »Warum?« »Weil wir nicht das einzige Land sind, das am Mars Interesse
158
hat.« »Stimmt …« Lowenthal gab drei weitere Befehle. Eine Reihe farbiger Masken wurden über die Karte gelegt. »O.K, lass alle daran arbeiten, aber das meiste von dem Zeug in diesen Planquadraten wurde in den zwanziger Jahren hochgeschickt. Jeder wollte einen Eimer Marssteine haben. Ich sehe hier gerade die Euro-Malaysische Probengewinnungsmission aus dem Jahr 2018 vor mir. Siehst du? Ein viertel Bildpunkte vom Habitat entfernt. Nein … sieht so aus, als wäre sie bei der Rückkehr explodiert. Nichts weiter als ein Haufen Sperrmüll, der noch nicht abgeholt worden ist.« Russert befahl seinem Monokel, eine andere Stelle zu vergrößern, die sich etwa einhundert Kilometer nordöstlich der Pathfinder befand, in der Nähe des McLaughlin Kraters. Er rief den Bericht auf und überflog ihn. »Hey Andy? Es ist nicht gerade in der Nähe, aber wir haben hier eine usbekische PGM, die beim Start versagt hat.« »Ich sehe sie. Eine Sonde namens Cosmos. Hätte im Jahr 2022 starten sollen. Hat einen ziemlich großen Nutzlastcontainer.« »Ist sie brauchbar? Können wir an die Pläne rankommen?« »Bin gerade dabei, das zu überprüfen. Die Sonde wurde im Jahre 2021 von der Cosmos-Fabrik in Gagarin gebaut. Acht Jahre später wurde die Fabrik stillgelegt. Dann ist sie abgebrannt.« »Tja, damit hat sich’s wohl«, sagte Russert. »Was haben wir sonst noch? Komm schon …« »Moment mal. Die PGM ist von Alexander Iwanowitsch Borokovski entworfen worden. Einem der letzten Giganten des russischen Weltraumprogramms.« »Lebt er noch?« »Ich schaue gerade in unseren Datenbanken nach. In seiner
159
Biografie ist kein Todesdatum verzeichnet. Er muss jetzt um die Siebzig herum sein.« »Verschaff mir eine Verbindung nach Kazakhstan. Finde ihn. Oder seine Todesanzeige.« »Alles klar, Flight. Aber du weißt, dass das verrückt ist. Eine dreißig Jahre alte Raumsonde, die in einer Fabrik, die nicht mehr existiert, von einem Mann, der wahrscheinlich tot ist, gebaut wurde.« »Verrückt würde ich es nicht nennen«, sagte Russert. »Höchstens unvernünftig.« »Also … Mensch, das gibt es nicht.« Verblüfft warf Lowenthal seinen Kopf zurück. »Ich hab’ eine örtliche Suche durchgeführt. Borokovski ist tatsächlich noch am Leben. Er ist ausgewandert. Ihm gehört jetzt ein Feinkostgeschäft in Brooklyn.« MARS: PATHFINDER LANDEPLATZ ARES VALLIS FLUTKANAL 183. TAG DER MISSION Als er mit seiner Geduld fast am Ende war, hatte sich Gallagher entschlossen, aus den übrig gebliebenen Teilen zur Sicherheit ein weiteres Funkgerät zu bauen. Immerhin würde ihn das Unternehmen ablenken. Er bastelte herum, hob gelegentlich sein Gesicht zur Sonne und flüsterte. »Wir sind so weit gekommen. Lass uns nicht sterben. Lass uns nicht sterben.« Er versuchte sich an eine Geschichte, die vom Überleben handelte und die Bud ihm vorgelesen hatte, zu entsinnen, konnte sich aber nicht an die Einzelheiten erinnern. Zehn Meter vor ihm schritt Burchenal seine Umgebung ab und inspizierte Felsstücke und Brocken. Jedes Mal, wenn Gal-
160
lagher ihn betrachtete, wurde sein Gesichtsausdruck verbissener. Nach einer zwanzigminütigen Suche kehrte der Wissenschaftler zurück. »Was könnte unsere Algen vernichtet haben?« »Das wird jemand anderes herausfinden müssen«, antwortete Pettengill von seinem Hochsitz auf der Spitze eines Felsblocks aus. Er überkreuzte seine Beine, tippte mit der Titanstange sachte an seine Stirn, dann schaukelte er vor und zurück, wobei sich sein Blick trübte. Gallagher zwang sich, von dem Terraforming-Spezialisten wegzuschauen. Wenigstens bot Burchenal einen beunruhigenden Anblick. Der Mann stand einfach da und murmelte zu sich selbst, als ob er der erste geistig behinderte Forscher dieses Planten sei. »Schau dich an«, sagte Gallagher zu dem Mann. »Du kannst es nicht ertragen, es nicht zu wissen, stimmt’s?« »Glaub mir, wenn ich Zeit hätte, würde ich’s rausfinden.« »Das Universum steckt vielleicht voller Überraschungen. Vielleicht ist diese hier nicht für uns bestimmt.« Burchenal ließ sich langsam auf den Boden sinken und wartete einen Augenblick, um gegen den Schmerz gerüstet zu sein. Dann verwandelte sich sein verbissener Gesichtsausdruck in ein Grinsen. »Das Universum, sagst du? Redest du auch von Gott?« »Vielleicht. Vielleicht will uns Gott eine Lektion erteilen, auf die harte Tour.« »Gott? Du hast zu viel Zeit mit Chantilas verbracht. Aber, na ja, wenn du, wie der Rest der Dummen, der Schwachen und der Hoffnungslosen eine einfache Antwort willst …« Gallagher schaltete sein batteriebetriebenes Werkzeug ab. »Einfache Antworten?« »Nun dann greif auf Gott zurück, um die Zusammenhänge zu erklären. Es funktioniert. Das bedeutet zwar Schwäche, aber warum soll man sich nicht der eigenen Sterblichkeit stellen?
161
Sich dem Unbekannten stellen?« »Ich wette, du glaubst auch nicht an den Weihnachtsmann. Und bei der Bescherung verdirbst du allen die Laune« zog ihn Gallagher erfolglos auf. »Weißt du, nicht alles hat eine Erklärung oder eine Formel.« »Mr. Gallagher, ich bin Biotechniker und Genetiker. Ich schreibe Codes. Wie ein Hacker. Vier Elemente: A, G, T, P, in verschiedenen Kombinationen. Ich breche in das Genom ein. Ich wähle aus, und deine Nieren funktionieren, oder dir wächst ein sechster Finger. Ich reihe Atome ohne Bewusstsein einander an und daraus entstehen Dinge, die ein Bewusstsein haben. Es ist, als ob ich ein Haufen Steine in der richtigen Reihenfolge auftürme und daraus ein Hund wird. So etwas mache ich. Und ich glaube einfach nicht an metaphysische Erklärungen, an organisierte Religionen, oder Theorien wie die des biblischen Codes. Wenn du Gott findest, lass es mich wissen. Bis dahin vertraue ich auf meinen Doktortitel.« Gallagher blickte in Pettengills Richtung. »Und ich dachte, er sei der Pessimist.« »He, versteh mich nicht falsch«, sagte Burchenal. »Ich halte das Leben für etwas Wunderbares. Man muss es mit beiden Händen ergreifen und voll ausleben – womit ich sagen will, dass es mich nicht glücklich macht, meine letzten Stunden auf diesem hässlichen Planeten zu verbringen.« Ob er sich wirklich so beklagenswert fühlte, wie er erschien, Gallagher war sich nicht sicher. Nach ein paar Sekunden wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, während Burchenal die Augen schloss, um die wissenschaftlichen Vorgänge der Sonne anzubeten.
162
MARS-1, RAUMFAHRTKONTROLLZENTRUM JOHNSON SPACE CENTER, HOUSTON 183. TAG DER MISSION Russert schaute auf seine Uhr. Biss sich auf die Lippe. Schaute ein weiteres Mal auf die Uhr. »John, ist er wenigstens gelandet?« Skavlem blinzelte in sein BPM hinein. »Er ist gelandet. Die Piloten von Ford Hamilton setzen gerade den Aufsichtsrat der Mission in Kenntnis. Sie sagen, dass er etwas schwach auf den Beinen und sehr schlecht gelaunt ist. Aber innerhalb von zwei Stunden von New York nach Houston zu reisen, da wäre ich auch etwas zittrig und sauer.« »Ihn zu überreden hat zehn Minuten gedauert. Dann fast eine Stunde, bis er in der Luft war … verdammt, diese drei Stunden sollten sich besser bezahlt machen.« »Das werden sie bestimmt«, rief Lowenthal von seinem Pult. »Weil uns nichts mehr übrig bleibt. Sonst können die Jungs da oben in der Zeit nichts mehr erreichen. Und der alte Mann sollte besser ein gutes Gedächtnis haben.« »Er ist da«, sagte Skavlem. Alexander Iwanowitsch Borokovski marschierte durch die Eingangstür und riss sich schlecht gelaunt das Atemgerät ab. Ein Schopf schlohweißen Haars fiel in das bärtige Gesicht des Mannes, als er Russert erblickte und ihm knapp zunickte. Er ging weiter, gefolgt von zwei lakaienhaften Begleitern. Sein ein Meter achtzig großer und einhundertzwanzig Kilo schwerer Körper steckte in einem jahrzehntealten Stoffanzug von Versace, der um zwei Nummern zu klein und ebenso zerknittert war wie der Mann, der ihn trug. Nachdem seine Augen das Kontrollzentrum überflogen hatten, kam Borokovski ein paar Schritte weiter endlich zum Ste-
163
hen, beäugte Lowenthal und richtete anschließend seinen Blick auf Russert. »Also gut. Ich bin Borokovski. Hier bin ich.« Russert bot seine Hand an. »Doktor Borokovski, Sie ahnen nicht, was für eine Ehre es ist.« »Für Sie vielleicht. Im Flugzeug wollten sie mir Erdnüsse zu essen geben. Ich hasse Erdnüsse.« »Sir, ich verspreche Ihnen, sie bekommen von uns die reinsten Köstlichkeiten. Kaviar. Egal was. Nur erzählen Sie uns von der Cosmos.« »Ich habe im Flugzeug darüber nachgedacht. Wir haben ein Problem. Keiner benutzt mehr Betriebssysteme. Man nannte es WIN 2020. Damals konnte man noch Software besitzen, statt sie von Sat-Net zu mieten. Ich glaube, man besitzt Kopien von der Software im Smithsonian Institut. Können Sie dort anrufen?« »John, hol’ mir dort jemanden an den Apparat. Wenn das nicht klappt, können wir es mit Sat-Net-Auktionen probieren. Irgendjemand muss doch seinen Speicher aufräumen wollen. Und wir werden einen Kurier benötigen. Mir egal, ob er mit einem Jet auf dem Parkplatz landen muss. Ich will eine Kopie dieses Betriebssystems in meinen Händen halten.« Borokovski hob seinen kurzen Zeigefinger in die Luft. »Außerdem brauche ich einen Computer mit einem tausend Megaherz Prozessor, fünfzig Gigabyte Festplatte, CD-ROM Laufwerk, und Minimum zweihundertsechsundfünfzig Megabyte RAM.« Lowenthal unterdrückte ein Lachen. »Er könnte genauso gut eines dieser alten drahtlosen Telefone oder einen DVD-Player verlangen.« »In Kazakhstan war das alles hochmodern«, argumentierte Borokovski. »Ich habe immer noch einen DVD-Player zu Hause. Ich finde zwar keine DVDs mehr. Aber ich habe einen Player.«
164
Russert lehnte sich zurück, um direkt mit Skavlem zu sprechen. »John, wenn du mit dem Smithsonian sprichst, frag’ sie, ob sie der Bestellung nicht auch einen Computer diesen Zuschnitts beifügen können.« »Ja, mit einem Computer und einem Betriebssystem könnte man eine Untersuchung von hier unten anleiten«, sagte Borokovski mit krächzender Stimme. »Vielleicht müsste man eine neue Startsequenz programmieren, oder vielleicht kann das die Ground Crew auch machen. Kein Computer? Kein Betriebssystem? Dann kann ich gleich wieder nach Brooklyn zurück.«
165
Achtzehn US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 148. TAG DER MISSION »Ich glaube, sie kommt hier herunter, um rumzuschnüffeln«, rief Pettengill von seinem Arbeitstisch im Labor. Gallagher floh in Richtung Ausgang und wäre beinahe frontal in Bowman hineingerannt. »Hi«, sagte er. »Hi.« Er lächelte verschämt. »Hi.« »Hi.« Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um über seine Schulter zu blicken. »Meine Cockpitinstrumente haben angezeigt, dass die Temperatur angestiegen ist. Um etwa drei Grad.« »Ah, Fahrenheit oder Celsius?« Sie durchschaute sofort seinen lahmen Versuch, sie aufzuhalten, ging an ihm vorbei und starrte mit herabhängender Kinnlade auf die Ansammlung von Glasröhren, Bunsenbrennern und Filtrationstanks – das Gerümpel eines verrückten Wissenschaftlers, das Burchenal und Pettengill überragte. »Ich lerne gerade etwas Biologie«, sagte Gallagher. »Ich habe Interesse entwickelt an –« »Gärung? In dieser Mission stecken Milliarden an Steuergeldern und Sie haben aus der Laborausrüstung eine Brennerei gemacht? Kenne ich das nicht aus irgendeiner Fernsehserie?« »Wir sind am Sterilisieren.« »Netter Versuch.« Burchenal trat hinter der schillernden Ansammlung hervor. 166
»Commander? Es ist meine Schuld. Wir waren beim Kartenspielen und ich habe den Herren erzählt, wie sehr ich am Ende eines Tages meinen Drink vermisse. Sie wissen ja, diese verdammten Kerle in Houston haben meinen ganzen Tagesablauf durcheinander gebracht.« »Was benutzen Sie zur Gärung?« Er drehte sich zur Brennerei um und fing an, dick aufzutragen. »Ah, das ist das Geniale. Wir benutzen trockengefrorene Kartoffeln.« Sie rollte mit den Augen. »Verraten Sie mir bitte, Mr. Burchenal, wie ich es den Jungs in Houston erklären soll, dass die Hälfte meiner Crew sich mit schwarzgebranntem Wodka die Kante gegeben hat?« »Mit wohl bedachten Worten?«, sagte Gallagher und wollte noch im selben Augenblick seine eigenen schlecht bedachten Worte zurücknehmen. Blanker Zorn zeichnete sich in Bowmans Gesicht ab. Ein Sekunde lang fürchtete Gallagher, dass sie sich umdrehen und ihm einen Schlag versetzten würde. Dann blickte sie auf einmal verletzt. »Was? Werden in diesem Etablissement Frauen nicht bedient?« »Doch, selbstverständlich«, erwiderte Burchenal in einem Sprechgesang. »Und Sie haben Glück. Heute ist ›Ladies’ Night‹. Der erste Drink geht auf Kosten des Hauses.« Er holte eine Tasse und drehte den Hahn auf. Bowman nahm den Drink an, musterte ihn, dann die anderen, dann trank sie auf einen Satz aus. Uff! Das brannte … aber sie hielt sich wacker, nur ihre Augen tränten ein bisschen. »Was brennen sie hier, Schnaps oder Benzin?«, krächzte sie. Sie musste schluckten, um ihre Stimme zu klären. »Wie viel haben Sie davon gemacht?« »So etwa drei Liter«, gestand Burchenal. »Sie sind fertig. Bauen Sie es ab. Verteilen Sie die gleiche
167
Ration an die gesamte Crew, außer an Santen. Der Kapitän trinkt nicht und heißt es auch nicht gut. Aber er ist im Dienst und momentan im Cockpit, und was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.« Sie spähte in ihr leeres Glas. »Wie sehr verdünnen Sie das?« »Der Alkoholgehalt liegt bei etwa fünfundsiebzig Prozent«, sagte Burchenal zu ihr. »Kaum zu glauben, dass Sie nach einem Glas noch auf den Füssen sind.« »Ich habe das Trinken in der Navy gelernt, Jungs.« Bowman ging auf die Brennerei zu, füllte ihr Schnapsglas ein weiteres Mal und hob es an. »Anker los.« Fünfzehn Minuten später lungerten Gallagher, Chantilas, Bowman und Burchenal in der Küche rum, und Gallagher konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal einen so heftigen Rausch gehabt hatte. Genüsslich schlürfte er sein Schwarzgebranntes, sein Körper kribbelte und Bowman sah blendend aus, wenn sie ihr Haar nach hinten warf und mit ihren Lippen das Glas berührte. »Ich verstehe nicht, was auf dem Mars schiefgelaufen ist«, sagte Burchenal lallend. »Aber wir kommen da noch hin. Und dann bring ich’s in Ordnung. Und dann kann die Menschheit Hamburgerketten bauen und sich wie Guppies vermehren und diesen Planeten auch noch zerstören. Dann ziehen wir auf die Venus und wenn die weg ist, heisst es wirklich Abschied nehmen, weil dann kein bewohnbarer Planet mehr übrig ist. Wir verschaffen uns ein weiteres Jahrtausend, mehr nicht.« »Na, vielleicht haben wir von dem, was auf der Erde passiert ist, etwas gelernt«, sagte Gallagher. »Nein. Die Menschen lieben gute Partys. Wenn’s uns gut geht, kommt’s auf nichts anderes an. Die Hälfte aller Lebewesen ausrotten. Egal. So lange es noch Wein, Weib und Gesang gibt. Das ändert sich nicht.« Ein sonderbares Grinsen war auf Chantilas Lippen zu sehen.
168
»Und was, wenn das Leben mehr Rätsel in sich birgt, als Sie sich vorstellen können, Mr. Burchenal?« Der betrunkene Wissenschaftler griff nach dem Becher Schnaps. »Wenn wir jetzt anfangen, über Gott zu reden, brauche ich noch einen Schluck.« »Nicht Gott«, sagte Chantilas. »Faith. Der Glaube.« »Faith?«, fragte Burchenal und trank aus. »Ich hatte mal eine Freundin namens Faith. Sie hat mich betrogen – mit einem Mädchen namens Chastity – ›Wie die Keuschheit‹ …« Selbst Chantilas konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Sie sind mit einer Rakete in den Weltraum geflogen die, wie man so schön sagt, vom billigsten Anbieter gebaut worden ist. So etwas tut keiner ohne Glaube.« »Kann ich nicht bestreiten.« »So ist es auch mit dem Leben.« »Sie sagen also, Gott sei der billigste Anbieter?«, fragte Gallagher, um die Stimmung etwas aufzulockern. Er fühlte sich zu wohl, um sich durch die heranrückende Philosophie befremden zu lassen. »Was ich meine, Robby, ist, dass wir uns oftmals Dingen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, unterordnen müssen. Das zu tun und dennoch in der Lage zu sein, weiterzumachen, setzt voraus, dass wir an ein gutes Ende glauben.« »Man darf die Hoffnung nicht aufgeben, stimmt’s?«, fragte Bowman. »Hoffnung ist nichts weiter als verschobene Enttäuschung«, sagte Burchenal eingeschnappt. »Hoffnung kann das Beste in uns zum Vorschein bringen«, konterte Chantilas. »Was übrigens auch eine ganz gute Definition Gottes ist.« »Vergiss das mal einen Augenblick lang«, brüllte Burchenal, der sein Stimmvolumen falsch eingeschätzt hatte. »Ich habe eine Idee. Zur Hölle mit der Menschheit, O.K.? Ich schlage
169
vor, dass, wenn wir auf dem Mars ankommen, wir ihn einfach für uns selbst in Besitz nehmen sollten.« »Was?«, fragte Gallagher. »Einfach einen Funkspruch senden, hier ist’s beschissen, ihr braucht gar nicht erst zu kommen?« Burchenal stimmte nickend zu. »Was immer nötig ist, um den Pöbel fernzuhalten. Dann kann sich Chantilas um die religiösen Angelegenheiten kümmern und Gallagher sorgt dafür, dass das Weltraumklo funktioniert. Aus Santen machen wir einen Taxifahrer, Pettengill wird der königliche TerraformingSpezialist und ich kümmere mich soweit um alles andere. Du weißt schon … König.« »Ja?«, sagte Bowman. »Und was wird aus mir?« Der König lächelte angetrunken. »Fortpflanzung der Spezies.« Chantilas stand auf. »O.K. Und somit schlage ich vor, dass wir Pettengills Beispiel folgen und zu Bett gehen.« »Ich glaube, ich schließe mich an«, sagte Burchenal, der sich unter Bowmans erhitztem Blick wand. Gallagher blieb zurück und hoffte innerlich, dass sie auch bleiben würde. Seit ihrer Begegnung im Hygieneraum hatte sie es sorgfältig vermieden, mit ihm alleine zu sein. Sie rührte sich nicht. Erstaunlich. »Schwierige Themen«, sagte er faul. »Schlaue Leute.« »Vielleicht etwas zu schlau. Wie steht’s mit Ihnen, Gallagher? Ich habe noch nie gehört, dass Sie eine Meinung zum Besten gegeben hätten. Sie stellen eine Menge Fragen, sagen aber nie, was sie wirklich denken.« »Wie Burchenal bereits gesagt hat, ich sorge dafür, dass die Klospülung funktioniert. Aber eigentlich stimmt’s schon. Es gibt etwas, worüber ich eine Meinung habe.« »Oho.« Sie hob eine Augenbraue und starrte ihn konzentriert an.»Ja?«
170
»Sie sollten einen BH tragen.« Sie stieß sich vom Tisch ab und wollte gerade die Arme über ihrer Brust kreuzen. Eigenartigerweise ließ sie von diesem Plan ab und reckte sich, krümmte ihren Rücken ein wenig. Dann, mit einem Seufzer der Erschöpfung stand sie auf, wartete darauf, dass die Wirkung des Alkohols sie erfasste, dann taumelte sie auf den Ausgang zu. »BHs wurden entworfen, um Brüsten auf der Erde Halt zu geben, wo es eine echte Schwerkraft gibt. Wir schalten hier zwischen geringer und künstlicher Schwerkraft hin und her. Warum würde ich hier einen brauchen?« Er schloss seine Augen. »Weil es mich ablenkt. Aber nicht so sehr, wie wenn Sie aus der Dusche kommen.« »Mir kommt es vor, als sei das eine Ewigkeit her. Und Sie haben seitdem kein Wort gesagt. Sie haben eine erstaunliche Zurückhaltung bewiesen.« »Danke«, sagte er, obwohl er dieses Kompliment verabscheute, und stand auf. »Natürlich habe ich auch dazu beigetragen. Ich schließe seitdem die Tür ab.« »Ja, ich weiß.« »Ach was?« »Ich habe ein dutzend Mal versucht, aus Versehen einen Blick zu erhaschen«, sagte er schuldbewusst, und sah sie dabei mit einem ernsten Blick an. Dann ließ er mit einem breiten Grinsen von ihr ab. Sie bewegte sich Zentimeter für Zentimeter auf ihn zu. »Wissen Sie, zuerst dachte ich, dass Sie –« »Ich weiß nicht, ob ich das hören will.« »Nun … ich habe Sie falsch eingeschätzt.« »Soll das eine Beleidigung oder ein Kompliment sein?« »Eine Beobachtung.« Ihre azurblauen Augen, die Art, wie sie ihn mit ihrer aufreizenden Altstimme ansprach und der schwindelerregende Moschusduft ihres Parfüms stellten eine mächtige Aufforderung
171
für ihn dar. Zur Hölle mit gesellschaftlichen Konventionen. Zur Hölle mit der Mission. Alles was zählte, war dieser Augenblick. Zwei Menschen, die hautnah voneinander entfernt waren. Zwei Menschen, die beide – Sehr angetrunken waren. Aber das sollte keine Rolle spielen. Er konnte die Sehnsucht in ihrem Blick erkennen. Sie offensichtlich auch die seine. Eine Schweißperle rollte seine Stirn herab. Er war atemlos. Er hatte Schwierigkeiten, ihr in die Augen zu blicken. Er wollte die Hand ausstrecken, ihre Wange berühren, ihr einen Kuss geben. Sie wartet darauf. Na komm schon. Gib einfach nach. Bowman lief rot an, zog sich zurück und hastete zum Zugangstunnel. »Gute Nacht«, rief sie mit zärtlicher Stimme. Gallagher verfluchte sich, hob seine ausgestreckte Hand und ballte sie zur Faust. Warum hatte er es nicht getan? Sie war da gewesen, genau hier. Na gut, sie war betrunken gewesen, aber sie wusste, was sie tat. Er hätte sich nicht zurückhalten müssen. Warum hatte er es getan? Hatte er unter dem Erfolgsdruck nachgegeben? War er wie sein Vater und hatte sich selbst bestraft? Hatte er einfach nur Angst, bei ihr zu versagen – oder sie zu enttäuschen? Wie dem auch sei, sie hatten den Moment verloren, einen Moment, den sie vielleicht nie wieder zurückbekommen würden. Und er hatte es vermasselt. Und das war nicht etwas, was sich mit einer altklugen Bemerkung und etwas Isolierband in Ordnung bringen ließe.
172
MARS: PATHFINDER LANDEPLATZ ARES VALLIS FLUTKANAL 183. TAG DER MISSION Gallagher konnte herumkorrigieren, reparieren und nachbessern, soviel er wollte, aber sein zweites Funkgerät wollte einfach nicht funktionieren. Wenigstens aber hatte es einem Zweck gedient, nämlich der Ablenkung. Er schob die Schaltkreise beiseite und überprüfte die Systeme des Primärfunkgeräts, als plötzlich ein Echo und eine Bewegung am Himmel seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Pettengill hob einen weiteren Stein auf und schleuderte ihn auf AMEEs Such-Drone. Er fluchte, als der Metallgeier mühelos auswich. Er fand einen weiteren Stein. Warf ein weiteres Mal. Verfehlte erneut. Fluchte wieder. Doch jetzt zog sich die Such-Drone zurück und er folgte ihr. »He«, rief Gallagher. »AMEE ist in der Nähe. Geh nicht zu weit weg.« Aber der Terraforming-Spezialist war bereits außer Hörweite. »Wie gesagt, ein durchschnittlicher Kerl mit ganz normalen Problemen. Wer in einer solchen Situation steckt, dem kann so etwas schon mal passieren«, sagte Burchenal und deutete mit seinem Kopf in Pettengills Richtung. »Ich traue ihm nicht, aber ich glaube, er wird’s schon schaffen«, erwiderte Gallagher. »Er hat nur noch keinen Verteidigungsmechanismus.« »Warum sollte er einen haben?« »Als ich auf McMurdo war, hat mir der Stationsvorsteher Geschichten erzählt, die er von seinem Bruder gehört hatte. Der Typ war Marineinfanterist gewesen. Hat in den vierziger Jahren in Brasilien gekämpft. Eine Menge Kerle in seiner Ein-
173
heit hatten Mechanismen entwickelt, um nicht verrückt zu werden. Ein Typ hat den Krieg für ein Spiel gehalten. Er hat sich geweigert einzusehen, dass Menschen starben. Hat sogar gezählt, wer die meisten Punkte erhielt.« »Ja, so ähnlich wie bei mir; ich schaue mich um und bilde mir ein, dass ich mich auf einer Reise nach Coober Pedy in Australien befinde. Wir müssen zur Raketenbasis ›Woomera‹, um dort Forschungen anzustellen. Wir stecken gar nicht auf dem Mars fest. Das hier ist lediglich ein Experiment.« »Ganz genau. Und der Bruder des Stationsvorstehers hat von einem Kerl erzählt, der Fotos von den Leichen der Feinde gesammelt hat. Er hat so eine Art Stammbaum gesammelt. Bei ihm ging es im Krieg darum, mehr und mehr Fotos zu sammeln. Er hat gekämpft wie ein Tier, härter als sonst jemand in der Schwadron, dabei wollte er die Feinde gar nicht umbringen. Er wollte nur ihre Fotos. Er hatte sich zu einem fanatischen Sammler entwickelt.« »Tut mir leid, Gallagher, aber ich habe keine Fotos von meinen Ex-Frauen dabei.« »Nein, verstehst du, wir haben bereits unsere Verteidigungsmechanismen. Du beschäftigst dich damit, dass du versuchst zu erklären, was hier vorgefallen ist, und ich spiele mit Funkgeräten. Wir müssen Pettengill etwas zu tun geben, damit er nicht nur AMEEs Such-Drone jagt. Er steht am Abgrund. Wir müssen ihn aufhalten.« »Wir wissen genau, warum er am Abgrund steht, weil er vermutlich jemanden über einen ebensolchen geschubst hat. Aber wenn es was hilft, werde ich versuchen, ihn auf andere Gedanken zu bringen.« »Ground Crew, hier spricht die Mars-1«, krächzte Bowmans Stimme. »Gallagher?« Er tastete nach dem Mikrophon. »Hier bin ich. Was gibt’s?«
174
»Ich glaube, wir sind auf etwas gestoßen. Aber zuerst sollten sie sich hinsetzen …«
175
Neunzehn MARS: PATHFINDER LANDEPLATZ ARES VALLIS FLUTKANAL 183. TAG DER MISSION »Habe ich Sie richtig verstanden?«, hakte Gallagher bei Bowman nach. »Wir sollen hundert Kilometer weit zu einer dreißig Jahre alten russischen Sonde für Gesteinsproben, die beim Start versagt hat, laufen und diese dann kurzschließen? Häh? Was Härteres ist Ihnen wohl nicht eingefallen.« »Die Sonde heisst Cosmos«, fuhr sie fort und ließ sich dabei von seinem Sarkasmus nicht abschrecken. »Houston hat den Konstrukteur ausfindig gemacht; ein Typ namens Borokovski, dem jetzt ein Feinkostladen in Brooklyn gehört. Wie dem auch sei, er wird versuchen, die Startsequenz neu zu programmieren. Er glaubt, dass, falls es ihm nicht gelingt, ich Ihnen dabei helfen kann, es an Ort und Stelle zu tun.« »Wenn nicht, kann er uns vielleicht ein paar Salamibrote schicken«, spottete Burchenal. »Und etwas eingelegten Knoblauch.« »Hören Sie zu. Das ist das wichtigste. Sie haben nur dreiundzwanzig Stunden Zeit, dorthin zu gehen und zu starten.« Gallagher ließ die Schultern hängen. »Ich nehme das zurück, von wegen Ihnen fällt nichts Härteres ein.« »Die Jungs von der Antriebstechnik und dem SNK haben mich gebeten, den B-Tank loszuwerden und mehr Treibstoff vom A-Tank zu verbrennen, damit meine Umlaufbahn lange genug stabil bleibt. Danach wird das Schiff gerade noch genügend Treibstoff haben, um nach Hause zu gelangen. Ich schaue gerade durch mein Teleskop und frage mich, warum sie noch 176
dort rumstehen.« Gallagher rief nach Pettengill, dann wandte er sich wieder dem Sprechgerät zu. »Wohin gehen wir?« »In Richtung Nordosten. Sie befinden sich auf elf Uhr. Drehen sie sich etwas mehr nach rechts. Dort.« »Ist die Batterie geladen?«, fragte Burchenal und beugte sich herunter, um mit den Knöcheln an die Energiezelle zu klopfen. »Glaube schon. Die versilberte Thermalabdeckung müsste dafür sorgen, dass sie sich nicht entlädt. Aber sie benutzt interne Heizkörper, um die Temperatur zu halten, also kann es sein, dass sie leer ist.« »Ich habe hier viel zu tun«, unterbrach Bowman. »Danach bin ich im Funkloch. Ich rufe an, wenn ich wieder herauskomme.« »Und keine Panik, falls wir nicht antworten«, versicherte Gallagher. »Unser Funkgerät könnte kaputt gehen oder durch Bodengeröll gestört werden. Wenn das passiert, behalten Sie uns einfach mit dem Teleskop im Auge. Wenn die Cosmos ein Funkgerät hat, werden wir sehen, was wir damit machen können.« »Ich verstehe. Ich wünschte, ich könnte mehr tun.« »He, besser als nichts. Und es ist schön zu wissen, dass Sie noch da oben sind.« Schön? Gallagher hatte nur aus Rücksicht zu Burchenal auf dieses Wort zurückgegriffen. Worte wie »erleichtert« oder »überglücklich« wären angemessener, aber sie könnten schlecht ankommen und seine Gefühle für sie verraten. »Wissen Sie, ich fürchte mich nicht vor dem Tod«, sagte sie. »aber ich mag den Gedanken nicht, alleine zu sterben. Setzen Sie ihre Ärsche in Bewegung. Mars-1, over.« Gallagher steckte das Sprechgerät zwischen die Schaltkreise, dann hob er die Elektronikbox samt Batterie hoch. Er hielt das Funkgerät in seiner Armbeuge und rief ein weiteres Mal nach
177
Pettengill. »Der Mistkerl. Vielleicht hat ihn AMEE erwischt«, sagte Burchenal. Wenige Sekunden später hallte Gelächter in der Ferne wider. Weitere Lacher folgten. Dann rannte eine Gestalt in ihr Sichtfeld. »Getroffen!«, rief Pettengill, in seiner Stimme schwang der Rhythmus des Wahnsinns. »Getroffen. Ich hab den verdammten Sateliten voll getroffen.« »Unmöglich«, sagte Gallagher herausfordernd. »Wenn ich dir’s doch sage«, sagte der TerraformingSpezialist trotz der dünnen Luft in voller Lautstärke. »Geworfen und klatsch! Getroffen. Hab’ allerdings keinen Schaden angerichtet.« Burchenal setzte ein verzerrtes Grinsen auf. »Wie schön für dich. Aber wir müssen uns auf den Weg machen. Ich erklär’ dir alles unterwegs. Und du und ich? Wir haben viel Arbeit vor uns.« Der Wissenschaftler blickte Gallagher mit erhobenen Augenbrauen an. MARS-1, RAUMFAHRTKONTROLLZENTRUM JOHNSON SPACE CENTER, HOUSTON 183. TAG DER MISSION Es hatte fast drei Stunden gedauert, bis das Paket vom Smithsonian angekommen war, und obwohl Russert jede Minute beklagte, konnte er nicht leugnen, dass die Air Force bei der Eilzustellung hervorragende Arbeit leistete. Das Paket war von Washington aus mit einem atombetriebenen Jet der VTOL-Klasse geliefert worden und war sozusagen direkt in seinen Schoß gefallen. Während Borokovski und Lowenthal zusammengedrängt um
178
ein Notebook herumstanden, das sich, in den Worten des Russen, durch einen »sehr guten Active-Matrix Bildschirm und ein benutzerfreundliches All-in-one-Gehäuse« auszeichnete, hielt sich Russert im Hintergrund, seine Gedanken wirr umherschwirrend. Immerhin hatte er das Leben eines jeden einzelnen da oben einem russischen Wurstverkäufer und dessen lächerlich veralteter Ausrüstung anvertraut. Russert wartete geradezu darauf, dass Frau Direktorin und ihre Chefs ins Kontrollzentrum marschierten und ihn von seinem Posten entfernten. Als ob das noch nicht ausreichte, hatte Russerts Ex-Frau angerufen, um ihm zu sagen, dass Jessica früher als geplant nach Hause wollte, ihre Sachen bereits gepackt hatte und zum Zeitpunkt des Gesprächs bereits nach Galveston unterwegs war. Jessica hatte ihm versprochen, eine ganze Woche mit ihm zu verbringen, aber wegen der Schule konnte sie nur jetzt hier sein, in der hektischsten Woche seines Lebens. Russert hatte sich so sehr nach ihr gesehnt, dass er zugestimmt hatte. Jetzt stellte er sich vor, wie sie in einem Shuttle saß, ihn mit verheulten Augen verwünschte und fremden Leuten erzählte, was sie für einen Mistkerl zum Vater hatte. Borokovski schlug mit der Faust auf Lowenthals Schreibtisch. »Yob tvyou mot!« »Was haben Sie gesagt?« »Das sage ich besser nicht. Hat mit der Mutter des Softwareentwicklers zu tun.« Mit einem Kopfschütteln deutete er auf den Computer, auf dessen blauem Bildschirm die Mitteilung WIN 2020 HAT EINEN FEHLER IM STARTUP-MODUL ENTDECKT UND WIRD HERUNTERGEFAHREN. Lowenthal wirkte verblüfft, als er die Mitteilung wieder und wieder las. »Warum stürzt er ständig ab?« »Gehört zu seinem Charme. Man musste immer Programme kaufen, um herauszufinden, warum das Programm, das man
179
bereits gekauft hatte, nicht funktionierte.« Borokovski schaltete das Notebook ab, zählte leise, dann schaltete er es wieder ein. »Und alle paar Wochen musste man das Programm, das man gekauft hatte erneuern, weil es nicht getestet war, bevor man es auf den Markt brachte.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Leute absichtlich so ein Betriebssystem installiert haben«, sagte Lowenthal. »Es ist so gefährlich wie einige unserer Viren.« »Die Firma hat es so gewollt. Später fand man heraus, dass derselben Firma alle Firmen gehörten, die einem die Produkte zum Reparieren der Produkte, die man bereits gekauft hatte, gehörten.« »Ich erinnere mich, darüber etwas in der Schule gelesen zu haben«, gab Lowenthal mit einem ironischen Grinsen zum Besten. »Am Ende musste die Regierung die Fabrik bombardieren.« »Ja. Sehr traurig.« Der Computermonitor zeigte auf einmal ein WIN 2020-Logo an, wobei die Nullen durch wunderhübsche Erdkugeln ersetzt worden waren und der Satz »WOHIN SOLL ES DENN HEUTE GEHEN?« zu sehen war. Russert spannte seine Muskeln an. »Klappt’s?« »Es wird schon«, sagte Borokovski. »aber erst müssen wir die Sicherheitscodes eingeben. Eine Maßnahme, die Raubkopien verhindern sollte, doch die meisten dieser Codes waren im Internet erhältlich.« »Und wie kommen wir an den Code ran?«, wollte Lowenthal wissen. »Sind die Informationen auf das Sat-Net übertragen worden?« »Nein der Code befindet sich auf der Zugangsbescheinigung.« Russert konnte mit dieser veralteten Technik nichts anfangen. »Doktor Borokovski, können Sie einschätzen, wie lange
180
es dauern wird, bis wir zur Übertragung bereit sind?« »Erst muss ich mich erneut mit Win 2020 vertraut machen. Dann installieren wir den Treiber und dann stellen wir Kontakt her. Wenn es keine Probleme gibt, könnten wir in zwei, vielleicht drei Stunden soweit sein.« HOCHLAND KRATERGEBIET NORDÖSTLICH DES ARES VALLIS 183. TAG DER MISSION Gallagher hatte in seinem Leben nie viele Wanderungen unternommen und er schwor sich, dass er, wenn er überleben sollte, niemals wieder wandern gehen würde. Trotz der niedrigen Schwerkraft hatte ihn der Marsch zum Habitat mitgenommen. Doch jetzt würden er und die anderen noch viel weiter laufen müssen, mit noch weniger Energie. Seine Lippen fingen an, aufzuplatzen, seine Kehle tat ihm weh und sein Magen sehnte sich knurrend nach einer nicht existenten Mahlzeit. Er führte Burchenal, Pettengill und AMEEs Such-Drone einen sanften Hügel mit einer Steigung von fünfunddreißig Grad hinauf, dessen Oberfläche ungewöhnlich glatt wirkte, ohne die Abstoßungen, die den Rest des Terrains bedeckten. Als sie den Gipfel errichteten, erstreckte sich vor ihnen ein sich schlängelnder, einen halben Kilometer breiter Pfad, der an eine gepflasterte Straße erinnerte. »Spuren eines Sandsturms«, sagte Burchenal in das Sprechgerät, als er hinter Pettengill die Spitze erreichte. »Muss ein ganz schöner Wirbel gewesen sein.« »Wir müssen uns parallel halten«, sagte Gallagher und übernahm wieder die Führung. »Dann ein wenig nach Osten wenden.« Er blinzelte in die Sonne, die jetzt im Zenith stand, dann
181
schaute er auf den Weg, den sie zurückgelegt hatten. »Ja, das ist es.« »Bist du sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?«, fragte Burchenal. »Ziemlich sicher.« Pettengills Stimme klang auf einmal seltsam trostlos. »Wir alle machen ab und zu Fehler.« Gallagher ließ die Bemerkung eine Sekunde lang in der Luft hängen, dann sagte er, »Alle außer dem König. Stimmt’s, Euer Majestät?« »Nein, nein«, widersprach Burchenal. »Ich erinnere mich an eine Situation.« Seine Stimme brach ab, er hustete, dann verlangsamte er seinen Atem. »Ein Mal, sagst du? Oho.« »Ja. Wir haben Kartoffeln geklont. Ich habe zwei Jahre meines Lebens damit zugebracht, bessere Kartoffeln zu züchten. Es gab rotbraune Kartoffeln zum Braten, frische Rot- und Weisskartoffeln, goldfarbene Yukonkartoffeln und einige andere. Ich habe eine Art erschaffen, die so herzhaft war, so aggressiv, dass es zwei Jahre gedauert hat, sie einzudämmen. Sie hätte beinahe Idaho ausradiert. Vielleicht erinnerst du dich an die Nachrichten von damals?« »Ich meine, mich an etwas zu erinnern«, log Gallagher, der die Wunden nicht vertiefen wollte. Es war damals unmöglich gewesen, den schlechten Nachrichten auszuweichen. »Wir haben unseren eigenen Garten zerstört. Das traurige ist, dass wir es seit langer Zeit wussten. Bereits vor zweihundertfünfzig Jahren hat ein Typ namens Malthus geschrieben, dass die Bevölkerung schneller zunimmt als der Vorrat an Nahrungsmitteln. Und was haben wir getan, um das zu ändern? Nichts. Wir haben damit weitergemacht, uns zu vergiften. Als wir die »malthusische Mauer« erreichten, haben wir versucht, uns um sie herum zu vermehren. Wir haben niemals aktive
182
Schritte ergriffen, weil das zu teuer gekommen wäre. Und wie hoch ist der Preis jetzt …?« »Was ist das?«, rief Pettengill, schwankte auf den glatten Pfad zurück und deutete mit dem Finger auf einen blutroten Streifen, der so weit entfernt war, dass Gallagher ihn in dem umherwirbelnden Sand kaum ausmachen konnte. »Was?«, wollte Gallagher wissen. »Dort. Siehst du es nicht? Der Boden hat sich bewegt.« Gallagher bemühte sich, einen Blick zu erhaschen. »Ich sehe nichts.« »Hätte ein Wirbelsturm sein können«, sagte Burchenal. »Oder eher dein Verfolgungswahn.« »Wenn ich’s doch sage, ich habe was gesehen.« »Also gut«, sagte Gallagher, »aber wir haben leider nicht die Zeit, es zu überprüfen.« »Jetzt ist es weg. Aber ich habe auf jeden Fall etwas gesehen. Ich hasse diesen Ort, ich hasse ihn!« »Tja, Pettengill, ich kann auch nicht gerade behaupten, dass ich eine besondere Liebe zu ihm empfinde«, sagte Burchenal. »Aber es war auch nicht vorgesehen, dass wir unsere Ärsche wie Lewis und Clark über den ganzen Planeten schleppen würden. Erschöpft oder nicht, wir müssen einfach weiter.« Pettengill schrie und Gallagher legte den Kopf zur Seite, um zu beobachten, wie er einen Stein gegen die Such-Drone schleuderte, die in einem engen Bogen über ihm kreiste. »Pettengill!« »Ich bin O.K. Ich bin … – O.K.« Sie erreichten den äußeren Rand eines Kraters, der etwa einhundert Meter tief und fünfhundert Meter weit war. Gallagher entschied sich für einen Weg um die Außenwand, über sanfte Hügel, die in einem deutlichen strahlenförmigen Muster abfie-
183
len, und weiter um die Streifen und Kränze kleinerer Sekundärkrater herum. Als sie die Außenwand hinter sich ließen, wurde das Gelände gefährlicher, denn ein Fehltritt in einen der kleineren Krater könnte einem das Fußgelenk brechen. Er warnte die anderen, auf den Weg zu achten. Pettengill bestätigte die Warnung. »Burchenal? Bist du bei uns?« Gallagher blickte über seine Schulter. Der Wissenschaftler umklammerte seine Rippe und tappte etwas fünfzig Meter hinter ihnen her, im Schatten von AMEEs Such-Drone. »Ich … komme.« »Du bist zu weit hinten.« »Kreist die Drone um mich?« »Das tut sie.« »Schaut her, ich kriege den Hurensohn«, rief Pettengill. Sein Kopf zuckte hin und her, als er die Oberfläche nach einem Stein absuchte. Schließlich fand er einen und fing an zu rennen wie ein Wahnsinniger. Burchenal hob die Hände. »Was machst du denn?« Aber Pettengill hatte den Stein bereits geworfen. Als das Wurfgeschoss in einem Bogen über Burchenal flog, musste sich dieser auf seine Knie fallen lassen, um nicht getroffen zu werden. »Ground Crew, hier spricht die Mars-1. Gallagher?« »Hier. Sind immer noch unterwegs. Wie wär’s, wenn wir mal die Richtung überprüfen?« »Sie bewegen sich auf das Ziel zu.« »Das überrascht mich. Die Notebooks sind immer noch funktionsunfähig. Können sie AMEEs Position feststellen?« »Ich hab’ sie. Sie befindet sich etwa einhundertfünfzig Meter weit entfernt. Immer noch kein Erfolg beim Abschalten?« »Sie hat mir den Zugriff verweigert.« »Ich behalte sie im Auge. Konzentrieren Sie sich auf den
184
Weg.« »Stimmt was nicht? Ich höre es doch an Ihrer Stimme.« Nach einer langen Pause, die bei Gallagher ein mulmiges Gefühl hervorrief, antwortete sie. »Wir müssen reden.«
185
Zwanzig US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 183. TAG DER MISSION Bowman wappnete sich. Sie mussten es erfahren. Sie konnte nicht zulassen, dass sie die Cosmos erreichten, ohne dass sie es erfuhren … Gott, sie konnte gar nicht daran denken. Was sie am meisten erzürnte war, dass Houston so lange gebraucht hatte, um auf das Problem aufmerksam zu werden. Sie hatten den Konstrukteur der Sonde gefunden und sogar die antiquarische Software ausfindig gemacht, die zur Kommunikation notwendig war. Wie konnten sie etwas derartig Naheliegendes übersehen? »Ich habe mein Sprechgerät abgeschaltet«, erwiderte Gallagher. »Was gibt’s?« Du zögerst nicht, wenn es darum geht, sich der Verantwortung des Befehlshabers zu stellen. Du bist ein Profi. Du kennst die Fakten und hast den Befehl erhalten, sie den anderen mitzuteilen. Aber wie wirst du dich entscheiden? Es darf einfach nicht wahr sein. Es geht nicht. Nicht nach dem, was wir von ihnen verlangt haben. Sollte ich die Entscheidung für sie fällen? Werden sie meine Befehlsgewalt überhaupt akzeptieren? Wie soll ich mich entscheiden? Eines Tages wird man von dir die Entscheidung verlangen, die jeder Befehlshaber am meisten fürchtet, eine Entscheidung, mit der du für den Rest deines Lebens leben musst, eine Entscheidung, die dir ein Gefühl der Reue geben wird, das tiefer ist, als du jemals zuvor gefühlt hast.
186
»Bowman?« Sie sprach schnell, als ob die Schnelligkeit ihrer Worte deren Schmerz lindern würde. »Der einzige Platz, in dem man in der Cosmos reisen kann, ist der Container für die Gesteinsproben.« »Klingt gemütlich.« »Gallagher, er ist sehr klein. Nicht mehr als eine Kiste. Es gibt keine Liegen. Houston und Borokovski haben die Pläne gefunden und untersuchen sie bereits seit Stunden. Sie haben alles getan, was sie nur konnten, um herauszufinden, wie man drei Leute in den Container zwängen könnte.« »He, als ich auf der Uni war, haben wir sechzehn Leute in einen Nissan Torero reinbekommen. Ich bin sicher, dass wir’s irgendwie hinkriegen. Unangenehmerweise sind wir nicht nur hundemüde, wir stinken auch ein bisschen. Das wird ziemlich unangenehm, wenn ihr uns da rausholt, das kann ich euch versprechen.« »Wir haben nur Platz für zwei.« »Wie bitte?« »Es passen nur zwei Leute rein, Gallagher. Zwei Leute … ganz knapp.« »Und wenn wir uns ausziehen? Ich meine, alles außer unseren Helmen und Westen. Und uns so eng wir nur können aneinanderzwängen. Was immer nötig sein wird.« »Glauben Sie mir, wenn sie sie sehen, werden Sie verstehen, dass es nicht funktionieren wird. Dann ist da noch die Frage des Luftvorrats. Es gibt keine Schleuse, nur eine Vakuumverriegelung. Houston sagt, dass zwei Leute etwa anderthalb Minuten lang Luft haben werden. Sie hoffen, dass ich sie erreichen kann, bevor Hirnschäden einsetzen.« »Burchenal hat noch etwas in Reserve. Ich glaube, sechs Minuten oder so. Das können wir uns teilen.« »Hervorragend.« »Ja, aber einer muss hier bleiben.«
187
»Es tut mir leid.« »Ja, in Ordnung«, sagte er geistesabwesend. »Wir reden später miteinander.« »Warten Sie. Ich bin noch immer die Kommandantin dieser Mission und muss jetzt eine Entscheidung fällen.« Bowman klammerte sich zitternd an ihrem Touchboard fest. »Burchenal ist bereits verwundet. Der Start wird seinen Zustand zweifellos verschlimmern. Er würde womöglich ohnehin nicht überleben. Aus diesem Grund befehle ich Ihnen, dass Sie und Pettengill mit der Cosmos starten werden.« Keine Antwort. Sie riss sich den Kopfhörer vom Kopf. »Mistkerl.« HOCHLAND KRATERGEBIET NORDÖSTLICH DES ARES VALLIS 183. TAG DER MISSION Noch als Gallagher die Worte »Einer muss hier bleiben«, vor sich hinmurmelte, traf er bereits die Entscheidung; eine Entscheidung, die allein seine war, nicht Bowmans. Befehle hin oder her. Obwohl ihn jeder aufgezogen hatte, weil er der Weltraumklempner war, wusste er in seinem tiefsten Inneren, dass er für die Mission genauso wertvoll war wie jeder andere. Wenn irgendetwas ausfiel, zum Beispiel das Lebenserhaltungssystem, war Robby auf der Stelle da. Aber, schlussfolgerte er, man musste auf lange Sicht über alles nachdenken. Als Ingenieur für Mechaniksysteme würde er nach Abschluss der Mission nichts beitragen, was das Antlitz der Menschheit verändern würde. Er würde über seine Beobachtungen Bericht erstatten, ein paar Leute würden davon beeindruckt sein, wie er das Funkgerät der Pathfinder ausge-
188
schlachtet hatte. Und das war’s. Burchenal und Pettengill würden heimkehren und das, was sie gesehen hatten analysieren. Sie würden vermutlich herausfinden, warum die Algen verschwunden waren, warum die Luft sauerstoffhaltig war und der Wissenschaft eine neue Denkrichtung geben. Das musste geschehen. Daraus folgte, dass man Gallagher für einen »Helden« oder »Märtyrer« halten würde, obwohl er nicht wusste, was diese Bezeichnungen überhaupt bedeutete und sie aufgrund seiner Unwissenheit immer vermieden hatte. Er wollte lediglich nicht die letzte Überlebenschance der Menschheit aufgrund seiner eigenen Angst vor dem Sterben verspielen. Eines war allerdings komisch. Die Entscheidung an sich war eher beruhigend als beängstigend, denn er wusste, dass Pettengill und Burchenal nun eine größere Chance hatten zu überleben. Er musste die Tatsache, dass er überflüssig war, voll ausnutzen. Den Tod hatte er bereits gespürt, als ihm der Sauerstoff ausging. Dieses Mal würde er friedlich aufgeben, sich wie Santen und Chantilas Gott anvertrauen. »Wie sieht’s aus?«, fragte Burchenal. Seine Augen waren vom Sand dermaßen rot angelaufen und sein Bart so stark gewachsen, dass ihn Gallagher kaum mehr erkannte. »Ganz in Ordnung. Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich glaube, wir sind zu langsam. Aber besser, als sich gar nicht zu bewegen.« Burchenal nahm es nickend zur Kenntnis. »Ich hätte fragen sollen, wie’s dir geht. Du siehst beschissen aus.« »Ja.« Obwohl er sich schwach fühlte, drehte er sich zu Pettengill um. »Wie steht’s mit dir?« »Was?«, gab der Terraforming-Spezialist zurück, wobei sein Blick zwischen Gallagher und AMEEs Such-Drone hin- und herschwankte. »Wollte nur wissen, ob du in Ordnung bist.«
189
»Ich fühle mich großartig. Ich bin ja kein schwaches Stück Scheiße, das hinterhertrabt.« »He …« Burchenal ging auf seinen Assistenten zu. »Jungs, die Sonne geht bald unter. Ich gehe weiter.« Stampfend machte sich Gallagher auf den Weg, und einen Augenblick lang war es ihm egal, ob sie ihm folgten. Zwanzig Meter weiter wagte er einen Blick zurück. Pettengill schwang seine Arme und trabte vor sich hin wie ein Roboter. Burchenal folgte ihm, aber seine immer langsamer werdende Gangart ließ ihn weiter und weiter zurückfallen. Zwei Stunden später, als sie durch eine weitere unveränderte, mit riesigen Kratern übersäte Landschaft trotteten, zog Gallagher den Kopf tiefer in seinen Kragen. Die Nordwinde hatten dafür gesorgt, dass die Temperatur innerhalb der letzten Stunde um mindestens zehn Grad gefallen war und die Luft fühlte sich dünner an. Alle paar Minuten schaute er die anderen an und maß vorsichtig seine Geschwindigkeit. Steine, Steine und noch mehr Steine. Steine wie Speere, wie Bänke, wie Säulen, wie Tische, wie Tempel, wie Rankenkrebse auf dem Rücken eines gigantischen roten Meeressäugetieres. Mach sie weg. Jeden von ihnen. Mach den Weg frei. Wir kommen durch. »Scheiße.« Das kam von Burchenal. Gallagher erschauerte und blickte zurück. Der Wissenschaftler stand vierzig Meter entfernt, schwach in den Knien und um Atem ringend, wobei die unverwechselbare Metallwolke über seiner Schulter hing und ihn beobachtete. »Nicht stehenbleiben, Burchenal. Du kannst nicht stehenbleiben.« Er stotterte. »Ich … ich bin verletzt. Ich bin müde. Du glaubst nicht, was ich für einen Durst habe. Ich kann nicht mehr.« Mit diesen Worten ließ er sich auf den Boden fallen. »Die natürliche Auslese in Aktion«, sagte Pettengill monoton und nahm seine Geschwindigkeit wieder auf.
190
»Steh auf«, brüllte Gallagher. »Zur Hölle damit. Ich bin am Ende.« Burchenal vergrub sein Gesicht in seinen Händen, dann wischte er sich den Staub aus den Augenbrauen und den Wimpern. Vielleicht würde es der Wissenschaftler wirklich nicht schaffen. Vielleicht sollten Gallagher und Pettengill ihn zurücklassen. Vielleicht waren Gallaghers Beiträge zum Überleben der Menschheit doch nicht so lächerlich. Und das Leben hatte bisher eigentlich Spaß gemacht. AMEEs Such-Drone flog jetzt gefährlich nahe heran. Neunzig Meter hinter dem Sateliten wuchs eine entfernte Staubwolke an, eine Wolke erzeugt von AMEE, die näher kam, um den Schwächsten zu erlegen. Ach, zur Hölle damit. Innerhalb von Sekunden überbrückte Gallagher die Distanz zwischen ihm und Pettengill. »Warte«, sagte er zu dem Terraforming-Spezialisten, der eine hässliche Grimasse schnitt und anhielt, Burchenal hielt seinen Kopf gesenkt und eine Hand auf seiner Rippe, als würde er einen Schwur ablegen, nie wieder aufzustehen. Er saugte die dünne Luft auf, seine Lippen ebenso aufgeplatzt wie Gallaghers. »Haut einfach ab.« »Und was wirst du tun?«, wollte Gallagher wissen. »Hierbleiben und warten, bis AMEE deinem Schmerz ein Ende bereitet? Was ist das für ein Mist, du Schwächling?« »Ist mir scheißegal. Ich muss mit keinem außer mit mir selbst Frieden schließen. Also geh. Und lass mich in Ruhe.« »Setz deinen Arsch in Bewegung!« Gallagher nahm Burchenals Arm in beide Hände und zog den schimpfenden Mann auf seine Füße, dann schwang er dessen Arm um seine Schulter. »Wenn’s sein muss, trage ich dich den ganzen Weg, verdammt noch mal.« »Die Luft … ist … ich kann kaum atmen.« »Denk nicht daran.«
191
Gallagher zorniges Militärgehabe erfüllte endlich den erwünschten Zweck. Burchenal zog seinen Arm weg und tapste von selbst los. Doch schon nach einen paar Metern des Laufens kam er stolpernd zum Stehen. »Mach schon«, drängte ihn Gallagher und schubste den Wissenschaftler hart an. »Rechter Fuß, linker Fuß, hüpf wie ein Häschen – egal wie. Auf geht’s.« Zu Gallaghers Linken verdunkelte ein Schatten die Felsen. Er griff nach einem Stein und schaute in den Himmel. »Und du …« So heftig er nur konnte, warf er den Stein nach der Drone. Verfehlte. Wenn das Ding eine Stimme hätte, hätte sie sicher meckernd gelacht. »Bring nur nicht Pettengill auf Ideen«, sagte der Wissenschaftler. »Hast du eine Ahnung, wie weit wir schon sind?« »Ja.« »Hast du was dagegen, es mir zu sagen?« »Ja. Halt den Kopf runter und denk nicht dran.« »Ich kann an nichts anderes denken.« »Vergiss es.« Zwanzig Minuten später meldete sich Bowman, doch die Verbindung drohte aufgrund des statischen Rauschens abzubrechen. »Passt auf. Ihr zieht noch immer AMEE wie an einer tausend Meter langen Leine hinter euch her.« »Ich höre. Gute Nachrichten. Sie ist zurückgefallen«, sagte Gallagher. »Und jetzt die schlechten Nachrichten. Ein Sturm kommt auf euch zu. Er ist so groß wie Montana und bewegt sich sehr schnell!« »Was kann sonst noch schiefgehen!«, schrie Pettengill so laut er konnte. »He … schaut mal …« Burchenal deutete auf einen dichten,
192
blutroten Schleier, der an die nordwestlichen Ebenen grenzte. »Starke Winde da draußen. Erinnert mich an den Pfad, den wir gesehen haben. Seltsam, dass wir so weit im Norden Stürme haben. Die meisten davon bilden sich im Süden.« Gallagher spannte sich an, »Nun, Doktor, sollen wir weiterhin den Ursprung des Sturms enträtseln, oder – rausfinden was zum Teufel wir jetzt tun!« »Achtung, Ruhe da unten«, sagte Bowman. »In wenigen Sekunden bin ich wieder im Planetenschatten. Sie müssen sofort Schutz finden. Egal wie.«
193
Einundzwanzig HOCHLAND KRATERGEBIET NORDÖSTLICH DES ARES VALLIS 183. TAG DER MISSION »Wir bleiben besser stehen und schauen uns um. Irgendwo hier muss es doch einen Unterschlupf geben«, sagte Gallagher halb singend, während der Wind durch sein Haar wütete. »Jetzt wäre mir sogar das MEV-Wrack recht.« Pettengill rieb seine Hände aneinander, wischte sie an seinen Hüften ab und klappte sein Verdeck hoch. »Hier sollen wir Schutz finden? Ich glaube kaum.« »Uns sollte besser etwas einfallen«, sagte Gallagher. »Bald werden hier Staub- und Eispartikel herumpeitschen. Werden wahrscheinlich Sichtverhältnisse wie in der Arktik schaffen. Dort wäre ich auch nicht gerne in einem großen Sturm gefangen. Wenn man aus Versehen in den Wind blickt, kann man sich die Hornhäute abfrieren. Und ich glaube, die Temperatur wird um einiges fallen. Wenn wir hier draußen bleiben, können wir Frostbeulen, Erfrierungen und Unterkühlungen kriegen, mit Anzüge oder ohne.« »Und Mr. Biotechniker hier hat schon die ersten Warnzeichen von Unterkühlung«, sagte Pettengill. »Müdigkeit. Nicht Willens weiter zu laufen. Und er blinzelt.« »Ich bleibe am Leben«, sagte Burchenal zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Und sei es nur, um dich zu ärgern.« »Aber er hat recht«, sagte Gallagher zu dem Wissenschaftler. »Deine Temperatur ist gefallen. Du musst in Bewegung bleiben.« »Was weh tut, verdammt noch mal.« 194
»He, Gallagher? Wurdest du jemals in einem von diesen Riesenstürmen bei McMurdo gefangen?«, fragte Pettengill. »Ach, was rede ich? Dann wärst du ja nicht hier, um zu antworten. Dann wärst du tot. Wie wir.« »Moment mal«, sagte Burchenal und ein dumpfer Schein brannte in seinen Augen. »Was würdest du tun, wenn du da draußen gestrandet wärst, zum Beispiel auf dem RossEisscholl?« »Keine Ahnung. Wenn es keine andere Möglichkeit gäbe? Wohl eine Schneehöhle graben, vermutlich.« »Also lass uns eine graben.« »Noch ein Warnzeichen«, stöhnte Pettengill. »Abnormales Verhalten.« Burchenals Blick fand eine nahe gelegene Erhöhung, ein Hügel von etwa drei Meter Höhe mit doppelt so großem Umfang. »Wir sind nur fünfzehn, zwanzig Grad im nördlichen Breitengrad, aber …« Gedankenverloren erreichte er die Erhöhung und fing an, ein flaches Loch hineinzutreten. »Gentlemen, bitte kommen sie.« Sie versammelten sich um ihn und Gallagher konnte kaum glauben, was er sah, als Burchenal seinen Stiefel wegzog. Etwas Weißes. »Eiswasser«, sagte Burchenal. »Hier ist alles voll davon. Der Großteil des Wassers, das die Seitenkanäle in der marsianischen Frühgeschichte geformt hat, ist während der Vulkanphase verdampft, aber viel davon blieb oberhalb oder unterhalb der Frostschicht übrig.« »Das stimmt«, sagte Pettengill mit hoffnungsvoller Stimme. »Und gefrorenes Wasser ist, außer an den Polen, unstabil. Dieses Gebiet muss irgendwie von der Atmosphäre isoliert
195
liegen, ansonsten wäre diese Schicht verdampft.« »Sieht wie Schnee aus«, sagte Gallagher. »Und graben kann man darin auch«, fügte Burchenal hinzu und kratzte etwas mit seinem Stiefel ab. »Pettengill, hast du noch Brennstoff übrig?«, fragte Gallagher. »Meinen habe ich fürs Löten aufgebraucht. Hab’ so gut wie nichts mehr übrig.« »Ja, ich habe noch etwas.« »Gut. Burchenal? Deinen Vorrat heben wir als Reserve auf. Wir können diesen Abschnitt mit unseren Brenngeräten etwas weich machen und dann auf Teufel komm raus graben. Wir können einige meiner Werkzeuge dazu verwenden.« In knapp einer Stunde war es ihnen gelungen, sich etwa zweieinhalb Meter in die Anhöhung einzugraben, denn das wässrige Eis gab unter Pettengills Brenngerät und dem elektrischen Schraubenzieher, den er als Pickel verwendete, schnell nach. Der Terraforming-Spezialist hatte sich als »Obergräber« zur Verfügung gestellt, während Gallagher und Burchenal hinter ihm das Geröll beseitigten. Burchenal hatte angemerkt, dass er sich wie ein Kriegsgefangener vorkam, der sich den Weg in die Freiheit grub. Das ist gar nicht mal so weit von der Wahrheit entfernt, dachte Gallagher. Der Mars war ein beachtliches Gefängnis. Während sie arbeiteten, nahm die Windgeschwindigkeit bis auf vierzig Stundenkilometer zu. Gallagher schätzte, dass das Ungetüm in weniger als dreißig Minuten über sie hereinbrechen würde, was wiederum Pettengill zu fieberhaften Tempo antrieb. »He, nun mal langsam«, warnte ihn Gallagher, wobei er seine Stimme über das Heulen des Sturms erheben musste. »Du kriegst noch Sauerstoffmangel.«
196
Pettengill hörte auf und kam aus der Höhle heraus, schaltete seine Anzugsbeleuchtung ab und legte eine wohlverdiente Pause ein. »Wenn der Sturm lange dauert, könnte dies unser Grab sein.« Mit einem Seufzer ignorierte Gallagher die Bemerkung, dann übernahmen er und Burchenal die Schicht. Sie erweiterten den Eingang ein wenig: Gallagher arbeitete an der linken Wand, Burchenal übernahm die rechte und Pettengill schloss sich ihnen wieder an, indem er sich als Geröllbeseitiger zur Verfügung stellte. Nach weiteren zehn Minuten hatten sie eine Kammer aus gehoben, die groß genug war, dass sie zu dritt gebeugt darin sitzen konnten. Gallagher verließ die Höhle, da er davon ausging, dass Bowman ihre Umrundung jetzt vollendet hatte. »Mars-1, Ground Crew. Bowman, hören Sie?« Rauschen. Er versuchte es ein weiteres Mal, dann überprüfte er die Schaltkreise des Funkgeräts. Keine Schäden. Als er sich umdrehte, um in den Unterstand zurückzukehren, erhaschte er einen kurzen Blick auf den Sturm. Gewaltige Ausbuchtungen aus Staub und Eis, die unaufhaltsam auf sie zutrieben. Im Osten umkreisten ein paar kleinere Sandwirbel einander wie Boxer und westlich von ihnen wurde AMEEs Such-Drone im Wind heftig hin und her geworfen. AMEE würde ihren SuchDrone wahrscheinlich in wenigen Sekunden zurückrufen und Gallagher hoffte nun, dass der Wind ihr Schoßtierchen davonblasen und erst im tiefsten Krater, der sich finden ließe, wieder fallen lassen würde. »Verdammter Mist, ist das kalt«, sagte Burchenal, als Gallagher ihm das Funkgerät reichte. Dann kroch er zurück, um den Höhleneingang mit ein paar großen Steinen und einem Haufen Eis, das er zum Abdichten verwenden würde, zu versiegeln. Burchenal hustete, dann fragte er: »Hast du Bowman erreicht?« »Sie ist noch immer im Funkloch. Und die Höhle schwächt
197
unser Signal, schneidet es womöglich sogar ganz ab.« Gallagher rückte die Steine zurecht und stopfte anschließend Schnee in die Lücken, wobei er an der Decke ein kleines Luftloch ließ. »Ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte er und zog sich in die Kammer zurück, deren unheimlich erleuchtete Wände mit Schatten gefleckt waren. »Wir kommen mit der fortschrittlichsten Ausrüstung, die der Menschheit zur Verfügung steht, auf diesem Planeten an. Und was machen wir? Wir bauen ein Lagerfeuer und leben in Höhlen.« »Primitivismus nennt man so was«, sagte Burchenal, rieb seine eiskalte Nase und hielt sich die Rippen. »Die Errungenschaften der Zivilisation sind Laster. Der früheste Zeitabschnitt der Menschheitsgeschichte war der Beste.« »Das hast du bei deinen Studien gelernt?« »Nein. Ich hatte mal ein Mädchen in San Francisco kennen gelernt, die darauf abgefahren ist. So etwa wie die Amish in Pennsylvania, nur noch extremer. Sie –« Der Schmerz überwältigte ihn. »Schon gut. Ruh dich aus«, beharrte Gallagher. »Selbst … ausruhen … tut weh.« »Na, da bist du nicht alleine. So müde und zerkratzt war ich noch nie.« Gallagher überkreuzte seine Beine und beugte sich vor, in seiner Schulter knackte ein Knochen. Er rieb sich seine entzündeten Augen, dann blickte er auf und sah, dass Pettengill ihn beobachtete. »Was ist? Du schaust mich an als sei ich das Abendessen. Könntest du wenigstens warten bis ich tot bin?« »Es schmilzt. Du hattest etwas Eiswasser auf deiner Stirn. Und es schmilzt. Vielleicht werden wir nicht erfrieren.« »Endlich etwas positive Energie. Es war an der Zeit, dass du etwas davon entwickelst.« Gallagher wischte sich die Stirn ab und inspizierte den Fleck auf seinem Handschuh. »He, können wir das Zeug trinken?« »Wenn du sterben willst«, erwiderte Burchenal. »Zu viele
198
Giftstoffe. Und selbst wenn wir es trinken könnten, hast du eine Ahnung, wie viel wir davon schmelzen müssten, um auch nur zweihundert Gramm zu erhalten? Mit fällt die Umrechnungsrate nicht ein, aber es war sehr viel.« »Psst«, unterbrach ihn Pettengill. »Hört mal …« Ein vertrauter Pfeifton durchdrang das Heulen des Windes. Pettengills Lippe verzog sich vor Ärger. »Ein Wolf vor dem Tor.« »AMEE ist auf psychologische Kriegführung programmiert. Sie hat unsere Gespräche belauscht und weiß jetzt, wovor wir Angst haben«, sagte Gallagher. »Sie versucht uns einzuschüchtern.« »Na, wenn sie uns nahe kommt, werde ich sie einschüchtern.« Pettengill griff nach seiner Titanstange. »Sie wird sich wahrscheinlich bald wieder verkriechen.« Gallagher hielt seine Hände wie einen Trichter vor den Mund. »Hau ab!« AMEEs Wettersensoren zeigten an, dass die Windstärke jetzt bei einer Geschwindigkeit von achtundsechzig Stundenkilometern lag. Kleinere Steine und Anschwemmungen in der Luft prasselten gegen ihre Panzerung. Die Sichtweite ihrer Kameraugen war auf Null reduziert worden. Ihre Überlebensalgorithmen schlugen den Rückzug des Anhängsels vor, aber die Offensivparameter schrieben vor, dass sie ihre Position beibehielt, um den User und seine Komplizen so lange wie möglich zu zermürben. Sie pfiff ein weiteres Mal, dann wurde sie von einem Sandwirbel auf den Rücken gefegt. Die Überlebensalgorithmen setzten sich über alle Offensivparameter hinweg. Rückzug. Einsatz der Vakuumversiegelung, um Kontamination durch Staub vorzubeugen. Wettersensoren weiterhin im Einsatz. Die Missionspriorität wurde revidiert. Die Ausmaße des
199
Sturms und seine Geschwindigkeit wurden berechnet. Der Zeitpunkt, ab dem die Mission wieder aufgenommen werden sollte, wurde festgesetzt. Mit einem düsteren Blick schaute Gallagher seine Uhr an und wünschte sich, dass er berechnen könnte, wie weit sie von der Cosmos entfernt waren. Wenn er das wüsste, könnte er auch einschätzen, wie viel Zeit sie in ihrem Unterschlupf verbringen durften. Aber Bowmans letzter Bericht war sehr hektisch gewesen und seine Gedanken waren zu verwirrt, um sie zu fragen. Burchenal beobachtete ihn und fragte: »Irgendeine Vorstellung, wie weit wir gekommen sind?« »Du kannst Gedanken lesen. Aber so wie die Dinge stehen, habe ich keine Ahnung.« »Nun, es sind dreizehn Stunden vergangen, seitdem wir die Pathfinder hinter uns gelassen haben. Also haben wir zehn Stunden übrig, nicht Inbegriffen die Zeit, die wir hier verschwenden.« Gallagher zog das Gesagte in Erwägung, dann kroch er auf allen Vieren nach vorn auf den Ausgang zu. »Wo gehst du denn hin?« »Die Antenne aufbauen. Mal sehen, ob wir ein Signal an Bowman schicken können.« Gallagher schlängelte sich durch die Felsen, dann schob er die kleine Antenne durch das Luftloch im Eingang. »Mars-1, Ground Crew. Hören Sie?« »Gallagher«, sagte Bowman aufgeregt. Ihre Stimme klang dünn und wurde von einem Rauschkonzert untermalt. »Bitte unseren Aufenthaltsort festlegen. Und wie lange wir bis zur Cosmos noch laufen müssen.« »Einen Moment, bitte. Wie geht’s euch denn da unten?«
200
»Der Sturm zieht an uns vorüber. Wir sind tief eingegraben. Sehen aus wie so eine blöde Expedition zum Mount Everest.« »O.K. Ich habe eure durchschnittliche Geschwindigkeit beim Laufen berechnet. Ihr seid noch etwa sechs Stunden von der Cosmos entfernt. Jetzt hört gut zu …« Gallagher warf Burchenal einen finsteren Blick zu, als dieser sagte, »Also wir haben nur noch vier Stunden zum Starten. Und während wir hier reden, verlieren wir mehr Zeit.« »Bowman, können Sie die Durchschnittsgeschwindigkeit des Sturms berechnen? Wann wird er von hier wegziehen?« Ihre Antwort wurde vom Rauschen übertönt. »Bowman?« »Hast du sie verloren?«, fragte Pettengill. »Ja.« Gallagher zog die Antenne wieder herein und kroch auf den Knien die Kammer zurück. »Ich schlage vor, dass wir dem Sturm noch zwei Stunden Zeit lassen, um vorbeizuziehen. So haben wir noch sechs Stunden, um vor Ort anzukommen und zwei Stunden zum Starten«, sagte Burchenal. »Sollte der Sturm bis dahin nicht abgezogen sein, bin ich der Meinung, dass wir’s trotzdem riskieren und darauf hoffen sollten, dass Borokovski noch was drauf hat, denn ich bezweifle, dass für einen zweiten Plan Zeit bleibt. Jetzt kommt’s auf die Zeit an.« »Wir werden da draußen nicht überleben«, erwiderte Pettengill scharf. »Und wir haben keine Ahnung, wie lange es dauern wird, dieses Stück Scheiße kurzzuschließen.« »Genau. Je mehr Zeit uns bleibt, desto besser ist es. Aber weißt du, im Moment ist das völlig gleichgültig.« Gallagher sah, wie sie einen angeekelten Blick austauschten, dann senkte er seinen Kopf und versuchte ein kleines Wunder zu vollbringen und es sich bequem zu machen. Das Zittern kam und ging, teils freiwillig, teils unfreiwillig. Er war sich darüber im Klaren, dass seine Körpertemperatur abgesunken war und er
201
das Zittern eigentlich als etwas Positives verstehen musste, denn sein Körper erzeugte dabei Wärme. Lange Zeit saßen sie so da, während draußen der Wind heulte und durch das Luftloch pfiff, zwischen dem gedämpften Klappern der Teilchen, die an das Steintor geschleudert wurden. Hin und wieder schaute Gallagher nach seinen Kameraden und dieses Mal fing Burchenal seinen Blick auf. »Woran denkst du?«, fragte ihn der Wissenschaftler. »Eigentlich an gar nichts. Nur daran, dass mir verdammt kalt ist. Ich frage mich, wie Bud das alles erklären würde.« »Er würde etwas aus dem Buch des heiligen Johannes zitieren«, sagte Burchenal mit einem höhnischen Grinsen. »Er würde uns erzählen, dass Gott Glaube ist, dass Gott Hoffnung ist und dass der große Macker einen Plan hat und wir alle da durch müssen. He, Gallagher. Würdest du ihm Glauben schenken, wenn er das erzählte?« »Ich weiß nicht. Vielleicht. Aber der Teil, der zu rechtfertigen versucht, warum Gott es zulässt, dass guten Menschen beschissene Dinge zustoßen, damit hatte ich schon immer Schwierigkeiten. Ein Mensch lebt ein anständiges Leben, trägt etwas zu seiner Gemeinschaft bei, ist anderen ein Vorbild, all soetwas. Dann wacht er eines Morgens auf und spuckt Blut und findet am Nachmittag heraus, dass er nur noch sechs Monate zu leben hat. So etwas.« »Du kennst diesen Menschen.« »Mein Großvater.« »Tut mir leid.« Der Wissenschaftler schaute ihn mitleidig an. »Es gibt etwas, was die Wissenschaft vielleicht nicht ganz erklären kann.« Gallagher riss die Augen weit auf. »Bist du noch ganz der Alte?« »Lass mich ausreden. Es gibt da so etwas, eine Kraft, die uns weiter antreibt, wenn alles andere versagt, die sich auf andere
202
Menschen übertragen kann. Zum Beispiel, als du mich vorhin zum Weitergehen veranlasst hast. Auf die Gefahr hin, abgedroschen zu klingen, aber das ist es, was einen Helden ausmacht. Das ist es, was uns von diesem verdammten Planeten herunterholen wird.« Eine Welle des Schuldbewusstseins überkam Gallagher, seine Muskeln verspannten sich und die Spannung floss auf seine Lippen zu. »Nur zwei von uns werden gehen können.« »Was?« »In der Cosmos ist nur Platz für zwei. Der Gesteinscontainer ist zu klein.« Pettengills Kopf schoss hoch. »Wie bitte?« »Wie lange wusstest du das schon?«, fragte Burchenal. »Eine Weile. Ich wollte es euch nicht sagen, aber es ist wohl besser wenn wir es hier und jetzt klären. Wie du bereits gesagt hast, es ist eine Frage der Zeit, und wenn wir die Sonde erreichen, wird uns keine Zeit zum Debattieren bleiben.« »Einer von uns muss hier bleiben?«, fragte Pettengill. »Nach all dem, was wir durchgemacht haben, muss einer von uns zurückbleiben?« »Ja«, sagte Gallagher und ließ seine Stimme zu einem resignierten Flüstern absinken. »Ich bleibe.« Er schaute sie an. Keine Reaktion. Na gut. »Du hast es also schon gewusst, als du mir da hinten geholfen hast?«, fragte Burchenal. Gallagher unterdrückte ein Schaudern und nickte. »Du hättest mich zurücklassen können. Du hattest die perfekte Ausrede.« Auf einmal starrte Pettengill, in dessen Gesicht dieselbe Frage geschrieben stand, Gallagher mit Nachdruck an. »Und warum spielst du hier den Märtyrer?«, verlangte Burchenal zu wissen. »He, wir wissen gar nicht, ob die Cosmos überhaupt abhebt.
203
Schon beim ersten Mal konnten sie sie nicht zum Laufen kriegen. Und selbst wenn, sie stammt verdammt noch mal aus Russland, und mir hat mal jemand erzählt, dass sie die taiwanesischen Bedienungsanleitungen nicht sonderlich gut übersetzen. Das Ding wird wahrscheinlich drei Meter vom Boden abheben und dann explodieren, womit ich immer noch am längsten leben würde.« Eine seltsam öliger Glanz wurde in Pettengills Augen sichtbar, ein Glanz, der von seinen vom Wind geröteten Wangen auszugehen schien. »Irgendwie«, sagte er mit einem nervösen Lallen, »fällt es mir schwer, dir zu glauben.« »Wie meinst du das?« »Mir ist aufgefallen, wir ihr mich seit gestern anschaut. Ich weiß doch, was ihr denkt.« Pettengills Kopf schwenkte wie ein Turmgeschütz zu Burchenal hinüber. »Und du? Du hättest es doch gleich zugeben und mir ins Gesicht sagen können. Du willst mir die Schuld an Santens Tod zuschieben.« Bevor Gallagher es verhindern konnte, wanderte sein Auge zu Burchenal und ihre Blicke trafen sich, was Pettengill zu einem bestätigenden Nicken veranlasste. »Vertraust du mir nicht, Gallagher?«, fragte der Terraforming-Spezialist. »Du passt auf mich auf, ich auf dich?« Burchenal fauchte. »Ich traue dir nicht, das steht fest.« »Aber deinen Kumpel willst du zurücklassen und mit mir gehen?« Pettengill fixierte seinen Chef mit einem ungläubigen Blick. »So ist es«, erwiderte Gallagher. »Genau das wird er tun.« »Woher weiß ich, dass das nicht zu eurem Plan gehört?«, spie Pettengill aus. »Wenn wir dort ankommen, könnt ihr mich einfach beseitigen und gemeinsam abzischen. Tut einfach so, als wäre es ein Unfall gewesen. Sehr schwer nachzuweisen.« »Und du musst es ja wissen, stimmt’s?«, fragte Burchenal. Das brachte den Terraforming-Spezialisten zum Schweigen,
204
bis sein paranoider Blick Gallagher fand. »Also sag’s mir. Warum bleibst du?« »Ich bleibe einfach.« »Weil unser Leben mehr wert ist als deines? Weil du weißt, dass du nur ein beschissener Handwerker bist?« »Das reicht!«, brüllte Burchenal. Von Schmerzen geschüttelt, biss er die Zähne zusammen. Gallagher starrte den Terraforming-Spezialisten mitleidig an, dann fing er langsam an zu sprechen, ließ dabei Pausen zwischen seinen Worten, um ihnen Nachdruck zu verleihen. »Du und Burchenal … ihr müsst von hier verschwinden, denn ihr könnt die Menschheit vielleicht retten. Ich trage meinen Teil dazu bei, indem ich euch dabei helfe.«
205
Zweiundzwanzig US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 183. TAG DER MISSION Bowman hatte einmal gelesen, dass Schlafmangel eine positive Nebenwirkung auf all jene hatte, die unter gewissen Arten von Depressionen litten. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatten Forscher entdeckt, dass die Launen und Lebenseinstellungen von Patienten, die über eine Zeitspanne von vierundzwanzig Stunden wach blieben, sich merklich verbesserten. Wie dem auch sei, Bowman litt indessen nicht unter Depressionen und die einzigen Effekte, die sie bemerkt hatte, waren ein etwa alle fünfzehn Minuten nicht mehr zu unterdrückendes Gähnen und ein juckender Schmerz um ihre Augen herum, sowie das gelegentliche Flattern ihrer Augenlider. Sie hatte sich eine starke Kanne Kaffee aufgesetzt. Nachdem sie drei Tassen davon intus hatte, bekam sie dermaßen heftiges Herzklopfen, dass sie den Rest der Kanne wegschüttete und einen dreiviertel Liter Wasser trank, um ihren Körper durchzuspülen. Immerhin sorgten ihre kleinen Ausflüge in die Hygienekabine dafür, dass sie wach blieb, sich bewegte und ein wenig abgelenkt war. Bowman schritt im Cockpit auf und ab, versuchte, die vom Koffein übriggebliebene Nervosität loszuwerden. Dabei drehten sich ihre Gedanken um die Ground Crew und den Sturm, der ihren Berechnungen zufolge dreieinhalb Stunden brauchen würde, um ihren Standort zu verlassen. Somit blieben ihnen nur sechs Stunden, um die Cosmos zu erreichen und dreißig Minuten, um das Ding startklar zu machen. Bowmans Gedan206
ken kamen auch auf AMEE zurück und sie fragte sich, ob es eine Möglichkeit gab, sie aufzuhalten. Die Roboterin benutzte ein taktisches Kommunikationssystem, das dem ihrer Raumanzüge ähnlich war, also war nur Kurzwellenkommunikation zwischen ihr und ihrem User möglich. Die Mars-1 war nicht mit Waffen ausgerüstet worden, womit es auch nicht möglich war, von der Umlaufbahn aus auf AMEE zu schießen. Bowman ließ sich in ihren Sessel plumpsen und wagte eine neue Verbindung zu Gallagher. Seitdem sie das letzte Mal von ihm gehört hatte, waren fast drei Stunden vergangen. Der Sturm ließ jetzt sicherlich nach. »Ground Crew, Mars-1. Hören Sie mich? Ground Crew, Mars-1. Gallagher, hören Sie mich?« »Er kann dich nicht hören, Liebling.« »Warum sind seine Augen geschlossen?« »Weil Daddy jetzt im Himmel ist, weißt du?« »Aber ich will nicht, dass er im Himmel ist. Warum kann er nicht bei uns bleiben? Warum muss er jetzt weg?« »Ich weiß es nicht, Liebling. Jetzt sag schön dein Gebet und setz dich wieder auf die Bank. Deine Mami möchte noch eine Minute hier sitzen.« »Gallagher, bitte kommen. Na komm, sag’ was.« So ist das nun einmal, dachte Bowman. Sie treten in dein Leben ein und verlassen dich wieder. Du musst sie festhalten. Du darfst sie nicht gehen lassen, bis du dich nicht verabschiedet hast. »Gallagher, komm schon, verdammt noch mal.« Das Rauschen wurde unterbrochen, dann war die Stimme des Kommunikationskapitäns laut und deutlich zu hören. Zum ersten Mal, seitdem sie den Kontakt zu Houston wiederhergestellt hatte, fürchtete sich Bowman vor einer Mitteilung von ihnen. In ihrem letzten Bericht hatte sie den Verlust des Kontakts zur Ground Crew mitgeteilt, und säße sie im Kontrollzentrum, um die Situation zu beurteilen, würde sie wahrscheinlich
207
zu dem selben Entschluss wie Flight und der Rest von ihnen gelangen. »Mars-1, Houston. Kate, es sind drei Stunden vergangen, seit Sie das letzte Mal von ihnen gehört haben. Wir alle würden gerne glauben, dass diese Männer noch am Leben sind, aber wir wissen, dass die Chancen gleich Null sind. Sie sind bereits in Gefahr. Wir wollen weder Sie noch das Schiff verlieren. Wir brauchen Sie beide, um uns zu helfen, es erneut zu versuchen.« Skavlem machte eine Pause und leierte den Satz so herunter, als würde er ihn von einem BPM ablesen. »Wenn die Crew bis zum Erhalt dieser Nachricht keinen Kontakt mit Ihnen aufgenommen hat, wird Ihnen hiermit befohlen, nach Hause zurückzukehren. Wir wissen, dass Sie den A-Tank aufgebraucht haben, um mehr Zeit zu gewinnen, aber eine weitere, sechs Stunden dauernde Umkreisung macht keinen Sinn, wenn dort unten niemand mehr am Leben ist. Houston, over.« »Aber das könnt ihr nicht wissen«, widersprach sie dem Lautsprecher der Kommunikationseinheit. »Ihr könnt nichts bestätigen. Ich bin hier. Ich kann das. Sie sind noch am Leben. Und ihr habt mir sechs Stunden Zeit gelassen. Und so leid es mir tut, Leute, ich werde sie auch verwenden.« Sie schaltete den Kanal ein. »Houston, Mars-1. Noch immer keine Antwort von der Ground Crew, aber der Sturm zieht erst jetzt von ihrem Aufenthaltsort ab. Ich bin davon überzeugt, dass Kommunikation wieder hergestellt werden wird und werde aufgrund dessen in der Umlaufbahn bleiben, bis der Orbitalverlust die Zündung des Hauptmotors notwendig macht. Mars-1, over.« Sie warf einen Blick auf die Anzeige der Navigationsdaten. Die noch verbleibende Zeit bis zum totalen Orbitalverlust: 06:37:22. Ein gefährlicher Gedanke keimte in ihr auf. Sie konnte den B-Tank anzapfen, um sich ein paar weitere Umdrehungen zu verschaffen. Natürlich hätte sie dann nicht mehr genügend Treibstoff, um es nach Hause zu schaffen. Vielleicht könnte
208
man ein anderes Schiff schicken, um sie abzuholen. Aber das würde Zeit in Anspruch nehmen. Das Lebenserhaltungssystem lief ohnehin schon auf Reserve und sie hatte während des Luftabzugs all ihre Sauerstoff erzeugenden Pflanzen verloren. Selbst wenn es ihr gelingen sollte, die Ground Crew zu retten, würden sie verhungern oder ersticken, bevor sie ein Rettungsschiff erreichen konnte. Nein, sie mussten mit voller Treibstoffverbrennung zurückkehren. Und diese Treibstoffverbrennung würde in T-Minus 06:36:19 beginnen. »Ground Crew, Mars-1. Bitte kommen. Ground Crew, Mars-1. Gallagher, sind Sie da?« HOCHLAND KRATERLANDSCHAFT NORDÖSTLICH DES ARES VALLIS 184. TAG DER MISSION Der Traum war greifbarer als manch anderer, doch noch während Gallagher ihn träumte, schlich sich die eiskalte Stimme der Realität durch einen Riss in seinen Helm ein und flüsterte ihm zu, dass er sich in Wirklichkeit in einer Höhle, inmitten eines Sturms, auf einem fremden Planeten befand. Um der Stimme zu entgehen, gab er sich völlig dem Traum hin, nahm seine Forschungsmedaille und legte sich deren Band um den Hals. Eltern und Verwandte füllten die gemütliche Aula seiner High-School und Gallaghers Brust schwoll vor mehr Stolz an, als er je zuvor gefühlt hatte. Er verließ die Bühne, kehrte zu seinen Eltern zurück und drückte sich tief in den gepolsterten Sitz. »Darf ich mal?«, fragte sein Vater und beäugte die Goldmedaille, auf der die Worte ERSTER PLATZ eingraviert waren. Gallagher nahm die Auszeichnung ab und überreichte sie
209
seinem Vater, der sich die Medaille in den Mund stopfte und anschließend das Band hinterherschob, als ob es sich um eine abtrünnige Nudel handelte. Seine Backen blähten sich auf und blutrote Blitze hämmerten durch seine anschwellenden Augen. Er schluckte. »Was hast du gemacht?«, rief Gallagher. »Ich hab’ deine beschissene Medaille gefressen. Stört dich das?« »Warum hast du das getan?« »Weil dein kleines Ergonomieprojekt beschissen war. Dein Kumpel Rosenberg da drüben, der hat die Medaille verdient. Sie haben sie dir gegeben, weil sie Angst hatten, dass ich ihnen nichts mehr spenden werde. Alles nur beschissene Rangeleien, mein Junge. Aber dafür bin ich ja da. Ich bin hier, um dir zu erklären, wie es in der Welt zugeht. Und wenn ich dafür eine Medaille fressen muss, dann tue ich das eben. Soetwas nennt man elterliche Fürsorge. Und mach nicht so ein Gesicht. Du weißt, dass du sie nicht verdient hast. Deine Leistung war beschissen. Und wenn du das nicht einsiehst, wirst du niemals besser werden. Du machst es dir zu einfach im Leben. Wach auf, Robert. Es ist Zeit, aufzuwachen!« Gallagher sprang von seinem Stuhl auf, kroch über den Schoß seiner Mutter und griff nach dem Hals seines Vaters, aber als er ihn berührte, wurde die Haut blau und große Risse taten sich auf, die das Gesicht seines Vaters verschlangen. Der Kopf bröckelte und stürzte in seinen Körper, der seinerseits in den Stuhl hinein zerfiel. Das Publikum applaudierte. Dann blies ein kraftvoller kalter Atem die Bruchstücke hinfort, während sich Gallagher an die Brust griff, um ein weiteres Mal nach der Medaille zu suchen und mit einem gewaltigen Erschauern aufzuwachen, das sein Rückgrad umklammerte und sich in seinen Seiten ausbreitete.
210
Kalt. Warum ist es so kalt? Fühlst du den Wind? Er versuchte seine Augen zu öffnen und stellte fest, dass seine Augenlider zusammengefroren waren. Er zog einen Handschuh aus und rieb sie langsam, um sie zu befreien. Da. Er blinzelte, um seinen Blick zu klären. Der Höhleneingang stand weit offen, die Steine waren irgendwo da draußen, der Rest des Unterschlupfs war mit Rauhreif bedeckt. Burchenal lag an ihm angelehnt und schnarchte leise. »Burchenal!« Gallagher schüttelte ihn. »Was ist? Was? Oh Mann, ich kann nichts sehen«, stöhnte der Forscher, seine Augen von Eis umrandet. »Pettengill ist weg. Er hat das Funkgerät mitgenommen.« »Himmel noch mal. Der Bastard wird versuchen, alleine hier wegzukommen.« »Ja, er wird Bowman anlügen und behaupten, wir seien tot. Komm schon!« Gallagher zog seinen Handschuh an und kraxelte aus der Höhle heraus. Gallagher fühlte sich totensteif, was er eventuell bald wirklich sein würde, als er sich bemühte, in der kalten Nachtluft aufzustehen. Er blickte kurz in den Himmel. Nicht ein einziges Watt Lichtverschmutzung versperrte den Blick auf die Sterne. Aber er konnte den atemberaubenden Anblick nicht genießen. Er berechnete seinen Standort aus und die Zeit. Oh Gott. »Burchenal? Weißt du, wie lange wir –« »Ja«, unterbrach der Forscher, der noch immer auf Händen und Knien herumkroch. »Vier Stunden, zehn Minuten. Wir haben bereits etwas von der Zeit verloren, die fürs Laufen verplant war und für den Start bleibt gar nichts mehr übrig.« Er hielt Gallagher die Hand entgegen. »Bowman wird auf uns warten. Sie wird eine Möglichkeit finden.« Gallagher half dem Mann hoch, schaltete sein An-
211
zugslicht ein und richtete den Strahl nach vorne, um den Boden zu untersuchen. »Da. Seine Fußspuren. Immerhin ist er in die richtige Richtung gegangen.« »Woher weißt du das?« »Als wir uns hier eingegraben haben, habe ich unsere Position berechnet. Ich habe mich dabei einfach an den Sternen orientiert. Er muss mich beim ersten Mal beobachtet und es mir nachgemacht haben, als er hier ankam.« »Ich verbreite ja nur ungern seine Art von Pessimismus, aber ich glaube nicht, dass wir es noch schaffen.« »Ich ehrlich gesagt auch nicht.« »Also lass uns doch im Unterschlupf bleiben. Ich bin am … Erfrieren.« »Wir werden doch nicht wieder mit diesem Schwächlingskram anfangen, oder? Komm schon. Wir müssen in Bewegung bleiben. Während wir hier miteinander reden, gibt dein Körper auf fünf verschiedene Arten Hitze ab.« Gallagher sprang nach vorne, überbrückte beinahe drei Meter. »Fünf Arten? Ich erinnere mich. Ausstrahlung. Atmung. Verdampfung. Konvektion. Und Leitung«, krächzte Burchenal über sein Sprechgerät. »He, Gallagher? Hörst du was?« *** Mehr Luft. Bei Gott, warum gibt es hier nicht mehr Luft? Weiter rennen. Nicht anhalten. Konzentriere dich auf den Lichtstrahl. Pass auf die Steine auf. Ich werd’s schon schaffen. Ich werde nicht hier zurückbleiben und sterben. Sie sind die Mörder. Nicht ich. Oho. Nicht das Funkgerät fallen lassen. Ohne das bin ich aufgeschmissen. Na, Gallagher? Burchenal? Ihr wollt mich umbringen? Soweit kommt’s noch.
212
ICH H ABE DIE KONTROLLE. Ich bin weder sein Opfer geworden, noch werde ich eures werden. Mich für seinen Tod verantwortlich machen wollen? Ihr habt überhaupt keine Ahnung, wie falsch ihr liegt. Wie hätte ich wissen können, dass die Luft sauerstoffhaltig ist? Es war nicht meine Schuld. Außerdem hat das Arschloch den Tod verdient. Ich werde langsamer. Besser nicht. Keine Sorge. Hier ist nichts. Jag dir keinen Schreck ein. Außerdem scheint die Luft hier dichter zu werden. Was war das? Oh nein. Nein. Nein! Nicht das Pfeifen. AMEE! Geh und suche Gallagher. Geh ihn suchen. Noch ein Pfeifen. Sie kommt näher. Näher. Pass auf den Stein auf. Spring. Spring. Jetzt rennen! »AMEE ist da draußen«, sagte Gallagher. »Genau vor uns.« Er nahm einen weiteren riesigen Schritt nach vorne, kam auf dem Boden auf, nahm für einen weiteren Sprung Anlauf. Seine Armbandanzeige piepte laut auf. Der Monitor schaltete sich ein, wärmte sich rauschend auf und schaltete anschließend auf ein Infrarotbild um, das von einem von AMEEs Kameraaugen übertragen wurde: Pettengill rannte davon wie ein lächerliches, zweibeiniges Insekt. In einer Hand trug er das Funkgerät, in der anderen seine Titanstange und wagte ab und zu Blicke über die Schulter, die seinen vor Angst verzerrten Gesichtsausdruck verrieten. Er wollte den Abstand vergrößern, aber AMEE kam unaufhaltsam näher, schnitt durch den Sand und navigierte mit fünf Gliedern, die in perfektem Einklang miteinander arbeiteten, über den steinigen Boden.
213
Sie lenkte einen rubinroten Laserstrahl auf Pettengills Rükken, der zum Töten nicht stark genug war, aber sie im Falle von Radar- oder Infrarotausfall auf dem richtigen Kurs halten konnte. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern. »Oh Mann.« »Was ist los?«, fragte Burchenal. »AMEE ist hinter ihm her. Sie will, dass wir es sehen.« »Ja?« »Ja. Und ich habe Zugriff auf ihr Kontrollpult. Vielleicht kann ich sie dieses Mal abschalten.« »Vielleicht solltest du es dieses Mal nicht tun.« »Ich bin unbewaffnet. Und du?« »Ich hab’ meinen Stab in der Höhle gelassen. Warum versuchst du nicht, sie abzuschalten?« Die Servogelenke summten dermaßen laut, dass Pettengill reflexartig über seine Schulter blickte. AMEE sprang ihn wie ein plutoniumgenährtes Schalentier an, die Vorderbeine ausgestreckt, während ihr Körper seinem Rücken einen schmetternden Schlag verabreichte. Pettengill ließ das Funkgerät und die Titanstange fallen und rannte ein halbes Dutzend Schritte nach vorne, wobei die SuchDrone seinen Rücken kratzte und ihn anschließend in den Magen schlug, was ihm den Atem aus den Lungen drückte. Mit einem heulenden, schnappenden, knackenden Geräusch griff eine von AMEEs Krallen nach seinem Bizeps und drehte ihn um. Pettengill fluchte, spie ohne Spucke Sand aus, stemmte seine Ellbogen in den Dreck, krümmte seinen Rücken und zerrte an ihrer Zange. »AMEE. Hör auf.« Ein weiteres Heulen, Schnappen und Knacken. Eine weitere Kralle klammerte sich um sein Fußgelenk.
214
Seine Ellbogen gruben sich tiefer ein. Die Fersen ebenfalls. Er drückte. Drückte. Umsonst. Er kreischte, reckte den Kopf vor und starrte in die leblosen Perma-Glas-Augen. Der dünne Lichtstrahl seines Anzugslichts verlieh dem Roboter einen Heiligenschein. Er wand sich ein wenig, seine Schulter und sein Rumpf gewannen einige wertlose Zentimeter auf dem Boden, der sich auf einmal schwammig anfühlte. AMEE ließ seinen Bizeps los, zog das vordere Glied wieder ein. Pettengill atmete auf. Und AMEE ließ ihre Kralle nach vorn peitschen, trieb sie in seinen Magen und quer durch das Rückgrad. Pettengill fühlte den Schock des Schlags, hörte mit grauenvoller Faszination zu, wie seine Wirbelsäule wie Laub unter dem Tritt knisternd zerbrach, dann fühlte er, wie ihn Taubheit überkam. Er blinzelte. Blinzelte ein weiteres Mal. Die Roboterin zog sich näher heran, neigte sich zu ihm, das Kamerauge wurde ausgefahren, die Blende geöffnet. Pettengill öffnete seinen Mund. Von seiner festgefrorenen Zunge drang kein Schrei. AMEEs Blickfeldübertragung zeigte drei Sekunden lang Schneegestöber, dann schaltete sich der Monitor völlig ab. Gallagher ließ seinen Arm sinken, überlegte, ob er Burchenal ansehen sollte, der mit ihm gemeinsam zugeschaut hatte, dann besann er sich eines besseren. Er zwang sich, das letzte Bild von Pettengills sich schließenden Augen aus seinem Kopf zu verbannen und marschierte weiter. Jetzt war die Frage beantwortet. Er würde in der Cosmos mitfliegen. Vielleicht sollte er eine Party schmeißen. Alle einladen. Pettengills Blut in einer Punchbowle anbieten. Gott, wie er das hasste.
215
Gallagher verengte seinen Blick auf die Fußspuren des Terraforming-Spezialisten, sein Atem im Lichtstrahl sichtbar. Die vor ihm liegenden Hochlandschaften weigerten sich noch immer, Pettengills Aufenthaltsort preiszugeben. »Jetzt, wo AMEE mit ihm fertig ist, wird sie zu uns kommen«, sagte Burchenal mit monotoner Stimme. »Aber ich habe zu große Schmerzen und ich bin verdammt noch mal zu müde, um mir darüber Sorgen zu machen.« »Im Moment glaubt AMEE, dass wir zornig, rachsüchtig und eventuell gefährlicher sind. Sie wird warten, bis sie der Meinung ist, dass wir trauern, bis wir völlig demoralisiert sind.« »Das sind wir. Zumindest der letzte Teil stimmt. He, halt mal an. Was zum …« Burchenal lief an Gallaghers rechter Seite vorbei. Sein Licht fegte über einen Teppich rosafarbener, phosphoreszierender Algen, die weit außerhalb der Reichweite des Strahls lagen. »Also ist doch nicht alles abgestorben«, sagte Gallagher und ließ den Strahl bis dorthin absinken, wo die Algen in einer langen, krummen Linie völlig beseitigt worden waren. »Ich versteh’s nicht«, murmelte Burchenal. »Warum überlebt diese Variante, während die anderen absterben?« Er reichte nach unten und sammelte eine Hand voll davon auf, wobei der rosige Schein langsam nachließ. »Und warum nur hier und nicht an den anderen Orten, an denen wir gesucht haben? Schau dir diesen Pfad an. Warum endet er so plötzlich?« »Zu spät, sich jetzt darüber Gedanken zu machen.« Burchenal fischte eine daumengroße Glasampulle aus seiner Brusttasche und nahm eine Probe der Algen. »Wenn wir zurückkommen, können wir das untersuchen.« »Schau, dort draußen«, sagte Gallagher und richtete seinen Lichtstrahl nach oben, auf einen scharf zu ihrer Rechten gelegenen Bergrücken zu, der wie eine arktische Schneeebene erschien.
216
»Oh ja. Stahlblau. Ochsenblutbraun. Verbranntes Orange. Kadmiumgelb. Alizarinrot. Malachitgrün. Und andere Varianten. Also ist es nicht nur die eine. Vielleicht hat es etwas mit unserer Nähe zu den Nordebenen zu tun.« »Könntest du gefälligst beim Weiterlaufen daran arbeiten?« »Abwehrmechanismus?« »Stimmt«, erwiderte Gallagher und machte sich in Richtung Pfad auf. Burchenal fiel in Gleichschritt mit ihm, seine Augen noch immer auf die Algenbetten gerichtet. »Ich will dir etwas sagen, Gallagher. Das Universum ist nicht voller Überraschungen. Ich wünschte, ich könnte dasselbe von diesem gottverdammten Planeten behaupten.«
217
Dreiundzwanzig MARS-1, RAUMFAHRTKONTROLLZENTRUM JOHNSON SPACE CENTER, HOUSTON 184. TAG DER MISSION »Ich weiß, was alle denken. Alle denken, die russische Sonde ist kaputt«, sagte Borokovski zu Russert, Lowenthal, Skavlem und einem halben Duzend anderer Kontrolleure, die sich um ihn versammelt hatten. »Aber sie ist nicht.« Russert schloss seine rot angeschwollenen Augen. »Sir, die Raumsonde hat beim ersten Start versagt, weil, wie Sie behaupten, ein inaktives Modul in der Kommunikationssoftware enthalten ist.« »Korrekt.« »Und Sie haben außerdem gesagt, dass das Modul nicht von hier aus repariert werden kann, weil Sie keinen Zugriff auf, was war es noch für ein Programm?« Borokovski hielt sich die Hand vor ein langgezogenes Gähnen. »Es heißt Doktor Swanson. Es nimmt Momentaufnahmen vom System, wann immer es zum Systemausfall kommt.« »Sir, ich bin mir darüber im Klaren, dass wir Sie die ganze Nacht aufgrund einer höchst unwahrscheinlichen Eventualität wachgehalten haben. Wir sind alle mit den Nerven am Ende. Aber ich habe noch immer eine Astronautin da oben, der ein staatliches Gerichtsverfahren bevorsteht, weil sie sich einem direkten Befehl widersetzt und sich geweigert hat, zum vorgeschriebenen Zeitpunkt zu starten. Wenn ich ihr sage, dass die Sonde nicht startklar ist, kann ich eventuell ihre Karriere und das Schiff retten.« »Sie bricht Gesetz, um die Ground Crew zu retten?« 218
»Ja. Und sie ist sich über die möglichen Strafen sehr wohl im Klaren.« »Sympathisches Mädchen.« Russert tauschte einen erschöpften Blick mit Lowenthal aus. »Sir, weshalb glauben Sie, dass die Sonde noch funktionsfähig ist?« Der alte Mann entfernte sich Haare aus den Augen und deutete auf den Bildschirm des Notebooks, der die sich langsam umdrehende 3D-Grafik eines Infrarot-Kommunikationssystems darstellte, das mehr an ein Schinkenbrötchen als an ein elektronisches Schaltsystem erinnerte. »Wir können durch Verkabelung des Systems Zugriff bekommen. Die Sonde hat einen Infrarot-Wartungsport. Wir müssen das beschädigte Modul umgehen und die Startsequenzen von dort aus hochfahren.« »O.K., verstehe«, sagte Lowenthal, glaubte aber nur mit halbem Herzen an den Plan. »Die Ground Crew führt den Bypass durch, vernetzt ihr Funkgerät mit dem System und wir benutzen statt der Cosmos das Funkgerät als Kommunikationspaket.« »Ja, aber das ganze wird ewig dauern«, warf Skavlem ein. »Wir müssen ihnen Anweisungen geben, wie die Verkabelung durchgeführt werden muss und dann unsere Befehle übertragen. Zwanzigminütige Verzögerungen an beiden Enden. Bowman hat nicht genug Zeit. Und vergessen wir dabei nicht, dass der Aufsichtsrat der Mission die Ground Crew bereits als missionsunfähig eingestuft hat?« Borokovski winkte die Frage ab. »Ich werde die Befehle hier vorbereiten. Wir senden alles zu Bowman. Sie kommuniziert direkt mit der Ground Crew. Keine Zeitverzögerung.« Lowenthal sah aus, als sei er überzeugt. Nach einigen Sekunden der Überlegung schloss sich Skavlem ihm an. »Na dann mal los«, sagte Russert. »John? Setze Bowman in Kenntnis. Sag ihr, sie soll sich für einen Upload bereithalten.«
219
»Und Mr. Russert?«, rief Borokovski. »Könnte mir jemand etwas zu essen besorgen? Ich weiß, sie haben Kaviar versprochen, aber ich hätte lieber etwas, wie sagt man, Tex-Mex? Wir haben so was auch in Brooklyn, aber ich möchte sehen, wie es wirklich schmeckt.« HOCHLAND KRATERLANDSCHAFT NORDÖSTLICH DES ARES VALLIS 184. TAG DER MISSION Als Gallagher und Burchenal den dritten in einer Reihe von Hügeln herabstiegen, schaute Gallagher wie zufällig zum Horizont. Ein dünner Lichtstrahl leuchtete vom Boden aus auf die Sterne zu. »Da ist er.« Burchenal nickte und sie joggten auf den Strahl zu. Die Algen schillerten noch immer auf den im Osten gelegenen Ebenen. Sie erreichten den Körper und Gallagher bereitete sich geistig auf einen blutigen Anblick vor. »Das Funkgerät«, sagte Burchenal und richtete sein Licht auf die Schaltkreise, die Batterie und die Antenne. Gallagher joggte herüber und nahm seinen Apparat wieder an sich. Er überprüfte die Stromversorgung und das Mikrofon. »Gott sei Dank.« »Nein, bedank dich bei AMEE, dass sie es nicht kaputt gemacht hat.« »Stimmt.« Gallagher bewegte sich auf Pettengill zu. In seinem wackelnden Lichtstrahl tat sich ein seltsamer Anblick auf. Etwas bewegte sich in Pettengills Körper. Vieles. Kleines.
220
Gallagher verlangsamte seinen Schritt und ein Anblick, der schlimmer war, als er es sich jemals hätte ausmalen können, wurde mit grauenhafter Klarheit sichtbar. Tausende von durchsichtigen Insekten schwärmten über Pettengills Körper. Die sieben Zentimeter langen Abscheulichkeiten hatten sich durch ein Loch des Terraforming-Spezialisten hineingewunden und seinen Unterkörper befallen. Ihre Innereien nahmen eine dunklere Färbung an, als sie das blutgetränkte Menschenfleisch mit dreigliedrigen Mündern, die mehrere Reihen winziger, kristalliner Zähne enthielten, aufsaugten, zerkauten und herunterschluckten. Eine geäderte Membrane bedeckte Pettengills Gesicht, als ob die Insekten sich entschlossen hätten, in seinem Gesicht zu nisten. Unterhalb der widerlichen Schicht waren die ekelerregenden Insekten in Nase, Ohren und Mund des TerraformingSpezialisten eingedrungen, seine Haut beulte sich aus, als sie übereinander krochen. Ein Blitzschlag der Angst traf Gallagher, als ihm auffiel, wie viele der Dinger seinen ehemaligen Kameraden fraßen. Gallagher fiel auf die Knie und rang um Atem, als er den fauligen, schwefelhaltigen Gestank einatmete. Burchenal trat hinter ihn und musste heftig atmen. Dann fiel Gallagher auf, dass ein Dutzend Insekten über sein Bein schwärmten. Er stieß zurück, stand mit einem Ruck auf, sah mehr dieser Dinger an seinen Armen und ließ das Funkgerät fallen. »Mach sie ab!« Der Forscher zerrte an einem Klumpen Insekten, die damit angefangen hatten, sich in Gallaghers Raumanzug zu fressen. »Sie stecken so fest wie Blutegel.« »Haben wir noch Brennstoff übrig?« »Ein wenig.« »Dann brenn sie wie Blutegel ab.« Burchenal zündete sein winziges Brennergerät an und hielt die Flamme an einige der Insekten, die sich an Gallaghers Är-
221
mel befanden. Die Insekten platzten mit feurigen, grüngelben Explosionen auf, die Gallagher dazu zwangen, seine Augen zu schließen. Sein feuersicherer Anzug ließ keine Hitze durch, aber die winzigen Bomben ließen seinen Arm zusammenzucken. »Wieso reagieren sie so?« »Miststücke. Sie sind voller Sauerstoff.« Burchenal schwenkte die Flamme über Gallaghers Beine und die Insekten platzten schleimig auf, und fielen leblos ab. Gallaghers gesamter Körper zitterte vor Schock. »Hast du sie alle erwischt?« »Glaube schon«, sagte Burchenal und untersuchte Gallaghers Anzug im Licht des Schweißbrenners. »Sieht aus, als hätten sie nur die erste Schicht erwischt. Mach mal eine Diagnose, vielleicht haben sie Risse verursacht.« Noch immer zitternd machte sich Gallagher an der Kontrolltafel seines Anzugs an die Arbeit. »Sie sind nicht durchgedrungen.« Er steckte den Finger in eines der winzigen Löcher in seinem Ärmel. »Ich dachte, auf diesem Planeten gibt es kein Leben.« »Sollte es zumindest nicht.« »Was sind sie?« »Insekten. Oder etwas ähnliches.« »Haben wir sie aus Versehen mit einer unserer Sonden hochgeschickt?« »Zweifelhaft. Die Sonden waren durch Bioabschirmungen geschützt, du kannst dir kaum vorstellen, wie sehr wir sie sterilisiert haben.« »Also waren sie die ganze Zeit hier.« »Ich glaube nicht, dass sie hier heimisch sind. Vielleicht kamen sie mit einem Meteor an, oder …« Burchenal schaltete seinen Brenner ab, schaute wieder zu Pettengill. »Es kann nicht sein. Kann nicht sein.«
222
»Vielleicht sind sie wirklich mit einem Meteor angekommen und waren im Ruhezustand. Wir haben sie gewärmt, geweckt und ihnen Algen zu essen gegeben.« »Du verstehst nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass es im Universum Leben gibt, ist unendlich gering. Die Chancen, dass dieses Leben auf einer Welt, die nicht der Heimatplanet ist, überleben kann, sind ebenfalls astronomisch gering. Und die Wahrscheinlichkeit, dass es in ein anderes Sonnensystem reisen könnte, dazu noch eines, wo bereits Leben existiert, ist … unmöglich.« »Aber sie sind nun einmal hier. Und es sieht so aus, als ob wir im Universum nicht allein sind. Du hast soeben Leben auf einem fremden Planeten entdeckt. Made by God. Das ist es doch, was uns diese Dinger sagen. Das ist es, was Bud sagen würde. Er hätte das hier geliebt.« »Ein Mysterium gelöst, ein weiteres aufgetan …«, murmelte Burchenal. »Du weißt, was das bedeutet?« »Ja. Du wirst noch berühmter als Darwin werden. Man wird öffentliche Gebäude nach dir benennen, Raumschiffe, Städte auf dem Mars.« Der Wissenschaftler zog eine Metallampulle aus seiner Hüfttasche, dann eine ausfahrbare Greifstange, die man von der Länge eines Bleistifts bis auf die eines Baseballschlägers ausziehen konnte. Er befestigte die Ampulle an der Stange und wagte sich nah an Pettengills Körper heran. Flüssiger Wasserstoff spritzte aus der Spitze des Stabs und fror eines der Insekten blitzschnell ein. Burchenal stopfte den Wurm in die Ampulle, zog den Stab wieder ein und versiegelte sie. »Ein weiteres Andenken?« Burchenal nahm die Ampulle ab und hielt sie hoch. »Verstehst du nicht, wie wichtig das ist?« »Ich bin der Klempner, weißt du noch?« »Diese Dinger sind der Grund dafür, dass wir atmen. Sie er-
223
zeugen Sauerstoff. Aus den Algen. Oder was sie sonst noch vom Habitat verdauen konnten. Sie verwandeln Müll in Sauerstoff. Es wird nicht nötig sein, auf einen neuen Planeten zu ziehen – wenn wir den alten retten können.« Er schwankte die Ampulle hin und her. »Selbst wenn der Scheißkerl hier aufwacht, ich glaube nicht, dass er sich durch das Titan durchfressen wird.« »Gut.« Gallagher hob das Mikrofon des Funkgeräts. »Mars1, Ground Crew. Bowman?« »Hier, Gallagher« sagte sie und klang absolut schockiert. »Pettengill hat mich kontaktiert. Er hat gesagt, dass Sie und Burchenal –« »Keine Zeit. Wir haben Pettengill verloren. Es gibt viel zu erzählen.« »O.K., aber im Moment ist das Wichtigste, dass Sie die Cosmos erreichen. Sie haben etwa fünf Stunden Zeit.« »Glauben Sie, dass wir das schaffen können?« »Houston hat einen Plan, wie wir die Sonde wieder hochfahren können. Ich warte auf die Übertragung. Macht euch auf den Weg. Los!« »Du hast die Frau gehört«, sagte Burchenal, sein Gesicht verzerrt, seine Hand nach der gebrochenen Rippe tastend. »Alles klar, Bowman. Wir machen uns auf den Weg. Ground Crew, over.« Gallagher blickte auf Pettengills Körper zurück. »Lassen wie ihn einfach hier zurück?« Mit dem Daumen schaltete Burchenal seinen Brenner an. Er zündete ein paar Insekten an Pettengills Beinen, Armen und Unterleib an. Einige von ihnen explodierten und entzündeten andere, ein Dominoeffekt, der sich bis in das Loch in Pettengills Unterleib verbreitete. Halblaute Innenexplosionen verursachten eine menschenunähnliche Ausdehnung der Beine des Terraforming-Spezialisten. Weitere Detonationen erschütterten seinen Anzug, einige durchdrangen sogar Pettengills Helm, ein
224
schauriges Feuerwerk innerer Organe. Während der Körper hinter ihm noch sprudelte, beeilte sich Burchenal davonzukommen. Sie gingen weiter nach Norden. Die Algen im Osten waren in einer abrupten, verworrenen Linie abgeschnitten, die jetzt als ein Pfad der Nahrungsaufnahme erkennbar war. Gallagher lief vor Burchenal, ließ aber nie einen mehr als zwölf Meter großen Abstand zwischen ihnen. Wie erwartet, hatte AMEE ihre Such-Drone nicht starten lassen, denn sie wusste, dass sie das nur erzürnen und ihre »Trauerzeit« verkürzen würde. Sie würde eine vorsichtige Distanz einhalten, nie ihren Aufenthaltsort preisgeben und ihren Spuren folgen. Und sobald ihre Programme zur psychologischen Kriegführung abgelaufen waren, würde sie augenblicklich auf den Angriffsmodus übergehen. Gallagher schloss diese Tatsache in einem geistigen Tresor ein. Ein Dreieck von Kratern wurde sichtbar, wobei der größte davon einen Durchmesser von etwa hundert Metern hatte. Sie umgingen das riesige Einschlagbecken, wo die Hügel etwas felsiger waren als die, die einige Kilometer hinter ihnen lagen. Da der Boden schlüpfrig war, beschloss Gallagher, langsamer zu gehen, als plötzlich, Burchenals Stiefel ausrutschten. Der Wissenschaftler fiel zu Boden und rutschte wie auf einem unsichtbaren Schlitten an Gallagher vorbei, kippte auf seine Seite und brauste den Hügel entlang nach unten, drehte sich in der niedrigen Schwerkraft zehn oder zwölf mal um sich selbst, bevor er mit dem Gesicht in einer Schutthalde am Grund des Abhangs aufkam. Da er zu erschöpft war, um seinen Kameraden zuzurufen, beeilte sich Gallagher, den Hügel herunterzugelangen, fiel auf seine Knie und drehte Burchenal auf den Rücken. Burchenal
225
war mit Staub bedeckt und rang eine Weile nach Luft, bevor sich sein Atem wieder normalisierte. »Hier steige ich aus.« Gallagher umkreiste den Forscher von hinten, hielt seine Hände unter Burchenals Arme und hievte ihn in eine sitzende Stellung. »Mein Großvater hat mir immer ein Lied vorgesungen.« »Lass mich. Ich bin am Ende.« »Es geht um Partys.« »Gallagher, hau ab.« »Er sagte, dass er es an der Uni gelernt hatte. Von einer Band, die sich die Beastie Guys nannten, oder so ähnlich.« »Gallagher …« »Er sagt, dass die meiste Musik, die wir uns heute anhören, auf den bahnbrechenden musikalischen Errungenschaften von vor der Jahrhundertwende basiert.« »Ich werde dir die Proben geben. Nimm sie mit zurück.« »Nein, du Hurensohn. Du stehst jetzt auf.« Gallagher testete, wie stark sein Griff war. »Fertig. Eins, zwei, drei!« Der Forscher stieß einen erbärmlichen Schrei aus, der ankündigte, dass er jetzt auf den Beinen war. Er zuckte noch einen Augenblick lang. »Ich habe gerade AMEE die weiße Flagge gezeigt.« »Vergiss sie. Auf Grund meiner nicht existenten medizinischen Kenntnisse schätze ich, dass du noch laufen kannst. Und wenn du noch laufen kannst, kommst du nicht so leicht davon. Jedenfalls nicht ganz so leicht.« Gallagher führte den Wissenschaftler um die Schutthalde herum auf ebenen Grund. »Wie wär’s jetzt mit Singen?«
226
Vierundzwanzig HOCHLAND KRATERLANDSCHAFT NAHE DES MCLAUGHLIN-KRATERS 184. TAG DER MISSION Eine stille Marsnacht. Es gab keinen Wind, der an Gallaghers Schultern zerrte. Es gab keine Wölfe, die den Mond anheulten. Kein Geruch verbrannten Holzes, der die Luft durchdrang. Lediglich ein gefrorener Geröllhang nach dem anderen tat sich vor ihm auf, in staubverhangenen Schatten versteckt. Er hörte nur das Geräusch ihrer Fußschritte, ihren Atmen und ihrem Puls. Er roch nur eine Spur von Schwefel und Ruß, die die Nacht durchdrang. Eine stille Marsnacht. Einige Male hatte er gemeint, seinen Großvater hinter dem Licht stehen zu sehen. Opa zog an seiner Zigarre und winkte ihm zu. Irgendwann später bemerkte Gallagher seinen Vater, dessen Augen so dunkel wir die einer Schlange wurden, während er ihm ein Bein stellte. Das Bild löste die Erinnerung an einen Traum in ihm aus und die Frage, warum sein Vater alles Gute verschlang. Sollte Gallagher dies hier überleben, würde er sich mit dem Mann hinsetzen, ihn zwingen, den Mund zu halten und ihm diese einfache Frage stellen. »Warum ich alles Gute ruiniere?«, würde der Bastard zur Antwort geben. »Zeig mir etwas Gutes, zeig mir etwas, was du verdienst hast, worauf du stolz sein solltest, und ich werde dir auf die Schulter klopfen.« »Wie wäre es damit, für die Marsmission ausgewählt zu werden?« 227
»Weißt du was? Du hast recht. Das hast du verdient, darauf solltest du stolz sein. Zu dumm, dass du nur als Klempner an Bord bist. Warum zum Teufel haben sie dir nicht mehr Verantwortung übertragen?« »Weißt du, was du bist? Du bist ein Klischee. Ein Witz. Und der einzige Grund, warum du dich so verhältst, ist, weil dir dein Vater das gleiche angetan hat. Er hat dich davon überzeugt, dass du ein Stück Scheiße bist und jetzt willst du nicht allein sein.« »Und wer hat dich zum Psychiater ernannt?« »Vergiss es.« Gallagher fiel auf, dass sich seine Geschwindigkeit drastisch erhöht hatte. Er stieß sich ab und nahm einen vier Meter langen Schritt, dann brach er bei der Landung wie ein Bulldozer durch erodierte Gesteinsbrocken hindurch. Burchenals Lichtstrahl bewegte sich im Osten über den Hügeln hoch und runter. Der Mann war zehn, vielleicht fünfzehn Meter hinter ihm, schirmte sich hinter einem durchdringenden Blick ab, war wohl noch immer unwillig zu reden, geschweige denn zu singen. Dass der Forscher überhaupt noch auf den Beinen war, war ein weiteres Wunder des Mars. Ein Viertelkilometer zuvor hatte Burchenal gescherzt, dass er die Anweisung zu sterben in der Höhle erhalten hatte, aber völlig vergessen hatte, diese in seinen Terminkalender zu schreiben. Dann hatte er damit fortgefahren, die grauenvollen Details des Kältetods zu beschreiben, »Weil du es wahrscheinlich vergessen hast und ich will, dass du weißt, was mit mir geschieht.« Wenn Burchenals Körpertemperatur einmal auf unter 33,8 Grad abgesunken war, würde Muskelschwund eintreten, seine Bewegungen langsamer werden und mehr Anstrengung erfordern und er würde unter leichten Verwirrungen leiden. Bei 32,2 Grad würde heftiger Schüttelfrost einsetzen, er würde Schwierigkeiten haben zu denken und zu sprechen und Anzeichen von Depres-
228
sionen an den Tag legen. Eine Körpertemperatur von 30 Grad würde seinem Zittern ein Ende setzen, da die Muskulatur keine Energie mehr beziehen könnte und er deshalb nicht ansprechbar, verwirrt und bewegungsunfähig sein würde. Bei 27,7 Grad würden sich seine Muskeln versteifen, sein Puls und seine Atmung würden nachlassen und sein Herz würde höchstwahrscheinlich fibrillieren. Fiel seine Temperatur unterhalb von 25,5 Grad, wären Lungenödeme, Herz- und Atemstillstand unausweichbar. »Nicht so schlimm«, hatte der Forscher gesagt. »Ich werde im Schlaf sterben. Außerdem behauptet man, dass, wenn man erfriert, es gegen Ende richtig warm wird.« Widerstrebend schritt Gallagher schneller. »Wir müssen uns beeilen«, rief er über die Sprechanlage. »Ich gebe mir Mühe.« Das tat er ohne Zweifel. Er trieb seinen angeschlagenen Körper durch die Dunkelheit, sein Atem war schwer und unregelmäßig, bis die Sprechanlage ein planschendes Geräusch ausstieß. »Was war es gleich, was deiner Meinung nach die Wissenschaftler tun?«, wollte Gallagher wissen. »Wir suchen in der Vielfalt nach Einheit. Ähnlichkeiten sind verborgen. Wir versuchen, sie zu finden. Die natürliche Ordnung zeigt sich nicht von alleine. Wir entdecken sie. Und im gewissen Sinne erschaffen wir sie auch. Was wir hier vor uns haben, ist nur Chaos.« »Wir haben die Insekten gefunden. Tragen sie zur Ordnung dieses Ortes bei? Kannst du Verbindungen herstellen?« »Wie gesagt, ein Mysterium wird gelöst, ein anderes aufgetan. Was ich damit meine ist, dass wir die Verbindung zwischen Ursache und Effekt hier besser erkennen können. Und diese Erkenntnis verhilft uns zu etwas mehr Ordnung und Einheitlichkeit. Aber was hat diese Verhältnisse ausgelöst?« »Das war Gott.« »Ich sage dir eines Gallagher, du machst mich ganz schön
229
fertig. Zu diesem Zeitpunkt würde ich das gar nicht mehr ausschließen.« Gallagher kam am Rand einer Landspitze an, die in ein zwanzig Meter tiefes Kliff abfiel. Unter ihnen endete ein großflächiges Tal in etwa einem Kilometer Entfernung in einer Reihe von Bergrücken. Er folgte der Kante des Kliffs, die sich allmählich nach Westen wand und an zwei Hänge angrenzte, die in einem zwanzig und einem fünfunddreißig Grad messenden Winkel in das Tal hinunterliefen. Er wartete an dem kleineren Hügel und als Burchenal ihn erreicht hatte, traten sie beide vorsichtig über Geröll, das lockerer war, als es aussah. Gallaghers Stiefel rutschte aus und er fing an zu fallen, aber Burchenal hielt seinen Arm fest und verhinderte mit einem schmallippigen Stöhnen seinen Fall. Angetrieben von ihrer eigenen Wucht, überbrückten sie die Distanz in wenigen Sekunden und kamen rennend in dem Tal an. Gallagher zwang sich, langsamer zu werden, als plötzlich ein eigenartiges Knirschen von seinen Stiefeln drang und der Boden an ihren Fersen zu saugen schien. Burchenal griff nach Gallaghers Schulter und brachte ihn zum Stehen. Der Lichtstrahl des Forschers glitt über den rosafarbenen Grund. Phosphoreszierende Algen. Gallagher schwenkte seine Lampe über das Tal und enthüllte einen riesigen lebenden Mantel, der im Licht feucht glitzerte und dessen Auswüchse das gesamte Talbecken säumten. Er drehte sich um, um ihre leuchtenden Fußstapfen zu begutachten, und für einen Augenblick sah alles surreal aus: Das Band der Milchstraße, im Nachthimmel sichtbar, die fernen Berge, dem Rükken eines schlafenden, nicht-irdischen Tieres gleich; und die Fußstapfen, jene schimmernden Fußstapfen, die den infraroten Weg zweier zum Tode verdammter Außerirdischer markierten. »Bei der Landung konnten wir keine Algen finden«, sagte Burchenal. »Zweiundfünfzig Arten einfach verschwunden.
230
Jetzt haben wir mehr, als wir uns wünschen könnten. Und sie sind rutschig. Pass auf.« »Hörst du was?«, fragte Gallagher und lauschte aufmerksam. Irgendwo da draußen rauschte der Wind durch hohes Weidegras, zumindest schien es so. »Ich hör’s«, erwiderte Burchenal nervös. Er schwenkte seine Lampe nach Osten. »Oh Mann. Das ist es wohl, was Pettengill meinte, als er sagte, der Boden bewegt sich.« Etwa fünfhundert Meter von ihnen entfernt ging ein Zittern durch den Algenteppich. Dann noch eines, und noch eines. Die Erschütterungen schwollen zu Wellen an, die aufeinander zuglitten und sich gegenseitig überkreuzten. Weitere Erschütterungen folgten. Noch mehr Wellen. Einige kamen aus dem Nordosten, dem Südosten, der gesamte Mantel bäumte sich an den Säumen auf, als sich die grauenvoll faszinierenden Wellen zu einer massiven Flutwelle anstauten, die auf sie zukam. »Schau dir das an«, sagte Burchenal. »Überall Insekten. Und sie sprechen miteinander – was mir so etwas von überhaupt nicht passt.« Obwohl Burchenal mehrere wissenschaftliche Auszeichnungen hatte, benötigte Gallagher nicht einen einzigen höheren Abschluss, um zu der Einsicht zu gelangen, dass die Insekten alles außer Stein, Sand und Titanstahl auffraßen. Dort draußen waren Trillionen von ihnen, ihre Körper hatten die Farbe der Algen angenommen, die sie verzehrt hatten, aber ihr Appetit war offensichtlich noch immer nicht gestillt. »Lass uns verschwinden«, sagte er und stupste den Forscher aus seiner Trance. Überstürzt sprinteten sie quer durch die Algen. Das Rauschen und Brummen der Welle hallte in den Bergen. Gallagher hielt auf die Bergrücken zu, wo die Algen mit einem sanften Pinselstrich endeten. Er rannte im Zickzack nach rechts und links, wagte einen Blick über seine Schulter, sah ein halbes
231
Duzend Wellen kleinerer Insekten, die ihn schneller verfolgten als die große Welle. Vor ihm fingen die Insekten im Nordosten und Nordwesten an sich zu bewegen. Die Algen wurden heftig wachgerüttelt und brachen auf sie zu, versuchten, das Tal zu versiegeln. »Meine Lungen fühlen sich an, als ob sie Feuer gefangen hätten«, rief Burchenal, der jetzt fast ein Dutzend Meter hinterherhinkte, seine Spuren von Algenkämmen ausgelöscht. »Einfach weiterrennen, verdammt noch mal. Einfach weiterrennen.« Gallagher drosselte seine Geschwindigkeit, als sich ein langes Band aus Algen zwei Meter vor ihm wölbte. Er stürmte nach links wie ein Baseballspieler, der das Außenfeld entlangrannte, bis er dem Band ausgewichen und beinahe geradewegs in eine Ansammlung von drei Wellen gerannt war, die übereinander gewölbt waren und eher an eine Art Wale erinnerten als an den Kollektivinstinkt einer halben Milliarde winziger Insekten. Aufgerüttelt durch einen Schrei, wandte Gallagher seinen Kopf zu Burchenal um, der jetzt nach vorn stolperte, die Wellen über seinen Stiefeln brechend. Seine Stimme war dünn und kratzig. »Wir schaffen’s nicht.« »Wir können’s versuchen. Du musst noch einmal den Schmerz unterdrücken.« Gallagher stürzte auf den Mann zu, hatte vor, ihn zu tragen. Eine Ranke spaltete sich aus dem See der Insekten ab, zweigte sich zu einer krampfadrigen Wunde ab, die ihn von Burchenal abschnitt. »Versuch, darum herum zu gehen«, flehte Gallagher den Wissenschaftler an. Aber Burchenal hörte nicht zu. Ein Gesichtsausdruck überkam ihn, ein Ausdruck, den Gallagher bei seinem Einsatz auf McMurdo bereits gesehen hatte. Es war das Gesicht eines
232
Mannes, der weiß, dass er alles in seiner Kraft stehende getan hatte, um sich zu retten, aber einsehen musste, dass das Ende nun da war, dass das Universum gleichgültig und gnadenlos ist und dass es am besten ist, sich still in sein Schicksal zu fügen. Burchenal lächelte beinahe, als er die Lebenserhaltungsweste seines Raumanzugs losschnallte und sie sich abstreifte. »Ich dachte, dass wir uns das beim Start teilen würden. Nun wirst du es brauchen.« »Nein! Tu es nicht!« Der Forscher holte aus, bereitete sich darauf vor, die Weste zu werfen, aber sein Körper wurde von Erschütterungen dermaßen heftig hin und her geworfen, dass er auf seine Knie fiel. Die Insekten fraßen sich in seine Stiefel hinein, glitten seine Fußgelenke und Hüften herauf und wanden sich jetzt über seine Arme. Er kniete in einer Lache seines eigenen Blutes. »Ohne dich hätte ich es nie soweit geschafft. Aber selbst du kannst mir nicht helfen, schneller als diese Dinger zu rennen. Ich bin nur noch als Köder zu gebrauchen.« »Nein, das bist du nicht.« »Suche bei deiner Rückkehr bitte zwei Frauen, eine in Missoula, eine in Bozeman. Sag ihnen beiden, dass meine letzten Worte an sie gerichtet waren. Und pass auf, dass mein Pferd an jemanden verkauft wird, der es auch zu reiten versteht. Ach, und noch etwas. Bud hatte recht. Es muss einen Grund geben. Das hier war alles kein Zufall. Aber die Antworten wirst du allein in der Wissenschaft finden.« Burchenal warf die Weste. Gallaghers Arm schmerzte vor Erschauern, als er das Lebenserhaltungssystem auffing. Er blinzelte, um nicht in Tränen auszubrechen. »Burchenal!« Die große Welle sammelte sich hinter dem Wissenschaftler, der einen Blick darauf warf, sich aber ansonsten nicht rührte. »Die Exemplare sind in der Weste. Vollende die Mission. Bring sie zur Erde.«
233
Ein Teil Gallaghers wollte die Weste loslassen und auf den Mann zurennen, aber als er noch darüber nachdachte, wurde Burchenal von der Welle verschluckt und auf den Bauch geworfen. Er hob seinen Kopf aus dem Dreck hoch und rief, »Ich schalte jetzt meine Sprechanlage ab. Ich will nicht, dass du das hörst. Jetzt geh endlich, du Dummkopf.« Als sich der Brecher auflöste, wuchsen weitere Wellen und schossen auf Burchenal zu, wobei einige davon miteinander kollidierten und geleeartigen Schaum verspritzen. Gallagher zögerte. Er schaute auf die Weste, dann auf Burchenal, der jetzt von Kopf bis Fuß mit Insekten behangen war und um sich schlug, als ob er in Flammen stünde. Gallagher stieß einen erstickten Schrei aus und rannte, rannte um sein Leben, jedes bisschen Energie, dass er noch übrig hatte, wurde in seine Beine geleitet und trieb ihn auf Teufel komm raus von dort weg. Vollende die Mission. Vollende die Mission. Weitere Wellen kamen auf ihn zu. Von rechts. Links. Einige knapp hinter seinen Fersen. Halt’ die Weste fest, das Funkgerät. Ein weiterer Schrei. Nicht Angst. Sondern Wut, den Verlust des Freundes beklagend. Er schwankte nach rechts, rutschte und, Gott behüte, fing sich gerade noch. Mehr von diesen Bastarden vor ihm, sich wie Maden in einem Eimer windend. Los. Los. Los. Die Algen wurden dünner, als er sich den Bergrücken näherte, er hatte einen Pfad eingeschlagen, der sich so sehr wand, dass ihm schwindelig wurde. Oder vielleicht lag es an dem dichteren Sauerstoff. Er saugte einige zutiefst befriedigende Atemzüge in sich hinein. Er unterdrückte das Bedürfnis, sich umzuschauen und beschleunigte noch mehr, hielt direkt auf zwei Felsbrocken zu, die zwei Meter voneinander entfernt waren und wie Pfosten in den Nachthimmel ragten. Wenn er sie nur erreichen könnte.
234
Seine Stiefel knirschten. Die Wellen der Insekten verhallten zu einem dumpfen Brüllen, ausgelöst von jedem seiner Fußtritte. Trotz seiner trockenen Kehle heulte er auf. Er tat die letzten Schritte. Und ließ die Algen hinter sich. Er drehte sich um, lehnte sich gegen einen der Felsbrocken, um wieder zu Atem zu kommen und strengte seine Augen an, um den dünnen Lichtstrahl ausmachen zu können, der aus dem Tal drang. Das Licht flackerte, flackerte ein weiteres Mal, dann ging es ganz aus. Gallagher stellte sein Funkgerät ab und schnallte seine Lebenserhaltungsweste ab. Er warf sie weg, zog statt dessen Burchenals an, dann überprüfte er den Luftvorrat. Sechs Minuten. Er nahm das Funkgerät wieder in die Hand, wandte sich den Bergrücken zu, bereit, mit seinem parallelen Aufstieg fortzufahren – Als es ihm blitzartig einfiel. Er war der erste Mensch auf dem Mars gewesen. Nun war er der letzte.
235
Fünfundzwanzig US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 184. TAG DER MISSION Als sich Bowman mit den Kontrolleuren in Houston zum ersten Mal getroffen hatte, hatte Andy Lowenthal angemerkt, dass sie mit ihrem Nachnamen besser zum Jupiter als zum Mars passen würde. Bowman hatte höflich gelächelt, doch sie war dieser Anspielungen schon vor langer Zeit überdrüssig geworden. Es stimmte schon, sie wusste alles über die Figur Dave Bowman, die in einem einflussreichen Roman eines legendären Science-Fiction-Autors vorgekommen war. Wie passend, dass sich jetzt »ein anderer Bowman« in den Weltraum aufmachte. Ein Witzbold von einem Reporter hatte sie sogar gefragt, ob sie eine elektronische Kopie des Buches mitnehmen würde. »Nein«, hatte sie zur Antwort gegeben. »Ich habe es bereits gelesen und die Fortsetzungen ebenfalls. Statt dessen werde ich Bücher von Heinlein, Bradbury, Zubrin, Bizony, Bova, Robinson, Bear und Baxter mitnehmen.« Dummerweise hatte Bowman nie die Zeit gefunden, sie zu lesen. Selbst als sie mit den Aufgaben für den Tag fertig war, hatte sie nie die Muße dazu. Und nach der Nacht, in der sie und Gallagher sich beinahe geküsst hätten, hatte sie fast ihre gesamte Freizeit damit zugebracht, nebensächliche Arbeiten zu verrichten, um sich davon abzulenken, an ihn zu denken. Er hatte keine Ahnung davon, dass sie diese Nacht wach lag und über eine Zukunft mit einem Mann, der eine unmögliche Mischung zwischen leichtsinnigem Träumer und pragmatischen Techniker 236
darstellte, nachsann. Liebte sie ihn? Noch nicht. Selbstverständlich liebte sie die Vorstellung, ihn zu lieben. Aber etwas hat ihn diese Nacht zurückgehalten und sie wollte unbedingt wissen, was es war. War es ihre Schuld? Wenn ja, was sollte sie tun? Sollte sie überhaupt etwas tun? Bowman atmete tief ein, blinzelte einige Male, um ihren Blick zu klären und fuhr anschließend damit fort, die Bilder, die vom Orbitalteleskop übermittelt wurden, zu untersuchen. In dreißig Sekunden würde sie aus dem Funkloch herauskommen und in die allumfassende Düsterkeit der dunklen Seite des Planeten gleiten. Das Teleskop würde sich automatisch auf Gallaghers letzten Aufenthaltsort einstellen und dann einer Linie folgen. Sie hatte bereits die topographischen Masken aufgerufen, auf denen die Koordinaten der Cosmos auf den Bildern markiert waren. Ein Datenband am unteren Bildschirmrand würde Gallaghers Durchschnittsgeschwindigkeit anzeigen und die Zeit berechnen, die er benötigen würde, um die Sonde zu erreichen, sobald ihn die Künstliche Intelligenz identifiziert hatte. Das Sonnenlicht schälte sich von dem großen T, dem Bug der Mars-1, ab, und wich der Dunkelheit. Jetzt, in dem schwachen Schein der Touchboards, Bildschirme und Leuchttafeln, hielt Bowman den Atem an. »Ground Crew, Mars-1. Gallagher?« Mach schon, antworte. »Ground Crew, Mars-1, bitte kommen.« Durch ein entferntes Zischen und Knacken wurde sein keuchender Atem hörbar. »Bowman? Ja, ich. Hier bin ich.« »Gott sei Dank.« Ihr Blick fiel auf den Bildschirm des Teleskops. Unscharfe grüne Aufnahmen des Terrains zogen über den Bildschirm, bis die Anzeige des Teleskops eine leuchtende Gestalt fand. Die Daten zeigten drei Kästen mit Zahlenstreifen,
237
während die Künstliche Intelligenz ihre Berechnungen anstellte. »Ich habe sie gefunden. Was ist Ihr Status?« »Immer … immer noch auf dem Weg zur Cosmos. AMEEs Such-Drone ist mir wieder auf den Fersen. Und … und … Burchenal ist tot.« Er weinte fast, als er das sagte. »Ich bin jetzt allein. Burchenal hat sein Leben für mich geopfert, Bowman. Er war … ein tapferer Mensch.« »Dann müssen Sie dafür sorgen, dass Sie es verdient haben«, sagte sie und ihre Stimme versagte beinahe. »Sie haben drei Stunden Zeit, sie zu erreichen.« »Bin ich auf dem richtigen Kurs?« »Ja. Ihre Sternennavigation hat sich bezahlt gemacht.« »Dann sollten mir dreieinhalb Stunden bleiben.« »Houston sagt, dass ich mit Ihnen reden soll, wenn Sie dort ankommen. Sie müssen eine halbe Stunde Zeit gewinnen, ansonsten werde ich bei ihrer Ankunft in einem Funkloch sein. Ich werde etwas Treibstoff verbrennen, um meine Umlaufgeschwindigkeit zu drosseln, aber Sie müssen etwas schneller laufen. Das ist alles. Nur etwas schneller.« »Soll das ein Witz sein?« Sie überflog den Bildschirm und fand einen Grund, das Thema zu wechseln. »Ich gebe Ihnen AMEEs Koordinaten. Sie befindet sich etwa einhundert Meter südlich von Ihnen.« »Ich schaffe es nicht in drei Stunden, Bowman. Ich kann nicht schneller laufen … als jetzt. Sie sollten keinen Treibstoff verschwenden. Sie müssen nach Hause.« Seine Schwäche machte sie wütend. Sie schlug mit der Faust auf die Armlehne, sprang aus ihrem Sitz auf. »Hören Sie mir gefälligst zu, sie Bastard. Alleine gehe ich nicht nach Hause. Setzten Sie gefälligst Ihre Stiefel in Bewegung. Hören Sie mich? Geben Sie verdammt noch mal nicht auf. Geben Sie nicht auf.« »Versprechen Sie mir, dass Sie alleine losfliegen, wenn ich’s
238
nicht schaffe.« »Das kann ich nicht.« »Versprechen Sie es!« »Also gut, ich verspreche es«, log sie. »Ich mache mich auf den Weg. Ground Crew, over.« Bowman drückte mit den Fingern an die Ränder ihrer Augen. Er klang nicht gut … Nein, er klang überhaupt nicht gut. MARS-1, RAUMFAHRTKONTROLLZENTRUM JOHNSON SPACE CENTER, HOUSTON 184. TAG DER MISSION »Die Einsatzbesprechung fängt in zehn Minuten an«, wurde Russert vom Kommunikationsoffizier ermahnt. »He, Andy?«, rief Russert Lowenthal zu, der immer noch an seinem Schreibtisch saß, noch immer mit dem alten Russen, der jetzt nach Chimichangas und scharfer Salsa stank, ins Programmieren versunken. »Ist der Upload fertig?« »Äh, wir haben ein kleines Problem«, erwiderte Lowenthal. »Was für ein Problem, wenn ich fragen darf?« Borokovski schaute von dem Computermonitor auf. »Es gibt ein Installationsprogramm um die Kommunikation herzustellen. Angeblich ist die Installation ganz einfach, aber das Programm spielt mit uns und verlangt Daten, die nicht vorhanden sind.« »Wir haben noch mal im Smithsonian angerufen«, fügte Lowenthal hinzu. »Sie haben es nicht finden können.« »Bei den Auktionen auch nichts«, warf Skavlem ein. »Wir versuchen jetzt, per Hand zu installieren«, sagte Borokovski, kniff die Lippen zusammen und rülpste. »Gehen Sie
239
allein zur Einsatzbesprechung. Wir arbeiten hier.« Lowenthal muss Russerts Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben. Er kam von seiner Station herüber, sein Gesicht angespannt. »Mach dir keine Sorgen, Chef. Wir werden Bowman die Daten übertragen.« »Also gut«, sagte letztendlich Russert. »Ich werde mich dann mal den Haien vorwerfen.« »Ich denke, du solltest dich zuerst duschen und rasieren«, schlug Lowenthal mit einem schwachen Lächeln vor. Russert nickte, dann zog ein Schwall russischer Schimpfworte seine Aufmerksamkeit auf sich. Borokovski stieß sich vom Tisch ab, deutete mit seinem Zeigefinger auf den Computer, fluchte erneut und wandte sich zu ihnen. »Mr. Lowenthal. Kommen Sie her. Sie müssen sehen. Ich glaube, wir haben anderes Problem.« »Was für ein Problem?«, verlangte Russert zu wissen. »Ich kümmere mich darum«, sagte Lowenthal. »Mach dich auf den Weg.« HOCHLAND KRATERGEBIET UNTERWEGS ZUM LANDEPLATZ DER COSMOS 184. TAG DER MISSION Ein weiteres Tal erstreckte sich vor Gallagher. In der riesigen, gewellten Leere verblasste sein Licht. Er nutzte die geringe Schwerkraft so gut er konnte aus. Er war von seinen fliegenden Sprüngen, die ihn an Superhelden in Comic-Heften erinnerten, längst nicht mehr beeindruckt. Seine Gedanken waren ausschließlich auf den Weg, der noch vor ihm lag, gerichtet. Er plante jede Landung so voraus, um die flachen Rinnen und kleinen Steinhaufen zu vermeiden. Das unaufhörliche
240
Summen von AMEEs Such-Drone ähnelte eher einer tickenden Uhr als den Manövrierdüsen, die als Tragflügel dazu dienten, sie in der Luft zu halten. »Kluges Mädchen«, sagte er zu AMEE. »Du bist bestimmt in den Hügeln. Entschuldige, aber ich hatte gehofft, dass du den Insekten begegnet bist.« Die Drone schien nicht beleidigt zu sein. Gallagher schielte auf seine Uhr. Drei Stunden, sagt sie. Tja, bleiben mir nur noch zwei. Außerdem mache ich mir vor Angst fast in die Hose, aber das behalte ich für mich. Und … gut, diesem Schlagloch bin ich gerade noch ausgewichen. Die Marsmenschen sollten jemanden vom Amt für Straßenpflege hierherholen, um diese verdammten Löcher zu flicken. »Habe ich nicht recht, Burchenal?« Beklage’ dich nicht, Gallagher. Die Marsoberfläche ist flacher als die von Kratern überzogenen Gegenden des Mondes. Die Hochlandebenen haben eine geringere Kraterdichte. »Du bist ein verdammter Geist und ich lege dir Worte in den Mund. Du hast mir gefälligst zuzustimmen und nicht von Geographie zu labern.« Du kennst mich zu gut. Du würdest mir keine Lügen andichten. Genau das ist es, was ich sagen würde. »Also werde ich es schaffen?« Ich denke, dass du es bis dorthin schaffst. Ob du die Cosmos starten kannst … das ist eine andere Frage. Und da dir AMEE noch auf den Fersen ist … nun, nimm’s nicht persönlich, aber ich würde nicht gerade eine Wette auf dich abschließen. »Und was meinst du, Bud? Glaubst du, dass ich es schaffe?« Lass ihn bitte da raus. Ich habe keine Lust, mir seine aus den Fingern gesaugte, unsinnige Glaubenslehre mit mystischen Helden und so was anzuhören. »Schenke ihm keine Aufmerksamkeit, Bud. Was meinst du?« Nun, aus der Perspektive einer aus den Fingern gesaugten,
241
unsinnigen Glaubenslehre mit mystischen Helden betrachtet, würde ich sagen, dass ich für dich bete, dass Gott seine Gründe hat und – Oh, Mann. Jetzt kommt wieder ein Zitat. Diesmal gibt’s keine Zitate, Burchenal, da Robby meine Worte erschafft und sich kaum an die, die ich ihm gesagt habe, erinnern kann. Aber eines sage ich dir, Robby. Du hast in deinem Leben einiges mitgemacht, aber den Glauben an dich selbst hast du nie verloren – selbst dann nicht, wenn andere an dir gezweifelt haben. Was genau war es, womit du Burchenal Mut gemacht hast? Wende es auf dich selbst an. Er wird seine Intuition und seine Fachkenntnisse der Physik und elektronischer Systeme dazu verwenden, sich zu retten. »Gentlemen, ich werde versuchen, beides anzuwenden.« Ansonsten wirst du so enden wie ich. Paranoid. Gefoltert. Bis ans Ende deiner Tage schikaniert. Glaubst du noch immer, dass ich Santen ermordet habe? Ich will dir sagen, ich habe es getan. Aber Mord kann man das nicht nennen. »Was war es dann?« Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Aber verachten solltest du mich deshalb nicht. Du musst verstehen, was passiert ist. Du hast keine Vorstellung davon, was es bedeutet, ich zu sein. Nach einer einstündigen Konversation verdunstete die Ansammlung der Geister an diesem Abend. Gallaghers Sicht wurde trüb, als er das Tal verließ und in einen Pass zwischen zwei Abhängen hineinging. Nachdem er den Pass hinter sich gelassen hatte, kam er auf einem Plateau an und schaute in den nächtlichen Sternenhimmel, um seinen Kurs zu überprüfen. Vielleicht befand er sich noch auf dem richtigen Weg. Vielleicht auch nicht. Über ihm wirbelten die Sterne und die Umrandungen ferner Krater schienen auf ihn zuzukommen. Einfach ignorieren, befahl er sich und marschierte weiter, fünf-
242
zehn, zwanzig, fünfundvierzig Minuten lang. Eine weitere Stunde verstrich. Dann fiel er hin. Einfach so. Hatte nicht einmal die Steine oder was immer es gewesen sein mochte, das seinen Stiefel zu Fall gebracht hatte, gesehen. Linkes Knie kam zuerst auf. Dann das rechte. Dann fiel er auf seine Hände und Knie, das Funkgerät fest umklammert. AMEEs Such-Drone schoss in einem Sturzflugwinkel von achtzig Grad auf ihn zu, folgte einer unsichtbaren Bahn und bereitete sich auf einen weiteren Anflug vor. Die Bilder des verwundeten Feindes wurden von der winzigen Kamera des Satelliten an die Königin mit den vielen Krallen übertragen. Gallagher blieb wo er war, saugte Sauerstoff aus der dünnen Luft und stellte auf einmal fest, mit welcher Anstrengung Burchenal gegen die Sirenengesänge des Erfrierens angekämpft hatte, jene verdammten Gesänge, die Gallagher jetzt dazu überreden wollten, sich hinzulegen und zu schlafen, ja, einfach nur zu schlafen. »Ground Crew, Mars-1, bitte kommen.« Ihre Stimme hob ihn an wie zwei kraftvolle Arme. Als er wieder auf den Füßen war, lockerte er sich mit einem kleinen Trab auf, denn ihm war noch immer etwas schwindelig. »Ich höre, Bowman. Wie liegen wir in der Zeit?« »Ich werde in achtundzwanzig Minuten auf der Tagseite ankommen.« »Wie nah bin ich?« »Sie müssten bald darüber stolpern.« »Ich sehe nichts. Vielleicht stimmt bei ihren Daten der Winkel nicht. Oder ich habe mich bei der Sternennavigation vertan. Vielleicht bin ich völlig vom Kurs abgekommen.« »Es ist da. Gehen sie weiter.« Er griff nach seiner Anzugslampe, schwenkte sie über das Plateau, über die eintönige Landschaft aus Kratern und Felsen,
243
die so monoton war, dass sein Auge Schwierigkeiten hatte, sich darauf zu konzentrieren. Nichts, verdammt noch mal. Kein russischer Steinsammler unter diesen Milliarden von Steinen. Er drehte sich um, trabte rücklings, suchte mit seinem Licht die Schuttdecke ab. »Was, wenn ich dran vorbeigelaufen bin?« Hier war nichts. Er drehte sich um. Etwas blitzte in seinem Augenwinkel auf. Und dort war sie. Genau vor ihm. Die Gesteinsprobensonde in all ihrer Hässlichkeit. »Ich hab’ sie gefunden.« »Sehen Sie?«, rief Bowman. »Und in knapp über drei Stunden, genau wie ich vorausgesagt habe.« »Haben sie den Upload von Houston erhalten?« »Ja, vor etwa fünfzehn Minuten, nachdem ich zwei Mal beinahe einen Herzinfarkt erlitten hätte.« »Okay. Sagen Sie mir, was ich zu tun habe.«
244
Sechsundzwanzig HOCHLAND KRATERGEBIET LANDEPLATZ DER COSMOS 184. TAG DER MISSION Als sich Gallagher der Sonde näherte, sah er drei kurze Sonnenkollektoren, die, in einem gleichschenkligen Dreieck angeordnet, dem Licht entgegengeneigt waren. Dann erst betrachtete er sich das Ding etwas genauer. Es sah nicht gerade vertrauenerweckend aus. Zwar hatte Gallagher nicht damit gerechnet, ein großräumiges Raumschiff vorzufinden, aber er hatte sich schon etwas größeres ausgemalt als eine Raumsonde, die aus Haken und Ösen, welche man wohl in russischen Supermärkten gekauft hatte, zusammengesetzt worden zu sein schien. Sechs klapprige, V-förmige Landevorrichtungen endeten in zwei Meter weiten Füßen, von denen drei völlig im Sand begraben waren. Die Beine entsprangen einer siebeneckigen Landeplattform, die etwa drei Meter breit war und von der acht Greifarme von unterschiedlicher Größe zum Einsammeln von Gesteinsproben angebracht waren, die wie genetische Mutationen aussahen. Fein- und Grobfilterschüsseln stachen zu jeder Seite heraus, ihre Oberfläche von dem steten Bombardement kleiner Steine stark abgeschliffen. Daneben ragte die übliche Ansammlung von Instrumenten zur Wetterbeobachtung heraus, ein kegelförmiger Röntgenstrahlungsspektrometer und drei schwer gepanzerte Kameras. Oberhalb des schwächlichen Gefährts befand sich die flache Kuppel des Startvehikels, umgeben von vier kapselförmigen Flüssigtreibstofftanks, die mit verrosteten Metallspangen an 245
der Kuppel befestigt waren. Gallagher umkreiste das Fahrzeug und fand eine einen halben mal zwei Meter große Luke, die sich auf der Höhe seines Brustkastens befand. Dies musste der Deckel des Containers sein. Auch ohne hineinzuschauen wusste Gallagher, dass die Jungs in Houston recht gehabt hatten. Unmöglich, dort zu dritt hineinzupassen. »Neben dem Spektrometer befindet sich ein InfrafrotWartungsport«, sagte Bowman. »Können Sie ihn sehen? Er musste markiert sein.« Gallagher leuchtete mit seiner Lampe auf die rechteckige Tafel, die ungefähr so groß wie ein Kotflügel war. Ob es sich dabei aber um den richtigen Port handelte, konnte er nicht sagen. Das ist der Moment, vor dem mich mein Russischlehrer immer gewarnt hat – wenn ich jemals Russisch gelernt hätte. Beim Anblick der Anzeigetafel verfinsterte sich sein Gesicht: ИНФРАКРАСНЫЙ ОБСЛУЖИВАНИЕ ПОРТ »Sehen Sie es?« »Ich sehe etwas«, erwiderte er. »Aber es ist in Kyrillisch beschriftet. Doch ich glaube, dass es das Richtige ist.« Er probierte die ersten beiden Flügelschrauben aus, welche es ermöglichten, die Tafel an den Angeln nach vorne zu klappen. Sie gaben nicht nach. Er zog seine Handschuhe aus, dann rieb er seine Hände im Sand, um zu verhindern, dass seine Haut am Metall stecken blieb. Er sammelte seine gesamte Kraft in seiner Hand, aber seine Fingerknöchel waren so steif, dass er die Schrauben kaum festhalten konnte. »Mir ist zu kalt. Meine Finger wollen nicht.« »Dann benutzen Sie ihre Zähne. Sie schaffen das.« Er wühlte in der kleinen Werkzeugtasche an seiner Hüfte umher, fand seine elektrische Ratsche, griff nach dem Knopf.
246
Das verdammte Ding wollte nicht angehen. Er befolgte Bowmans Vorschlag, steckte den Griff des Elektrowerkzeugs in seinen Mund und biss auf den Startknopf. Er schlug den Ring des Sperrrads direkt auf die Schraube, woraufhin sich dieser automatisch einstellte und anfing, sich zu drehen. Als die Schraube los war, legte Gallagher sie beiseite und machte sich an der zweiten zu schaffen. Bevor das Werkzeug die Schraube völlig losgelöst hatte, zog Gallagher es weg und fing damit an, die Schraube selbst loszulösen, um seine gefrorenen Hände aufzutauen. Die Schraube gab nach und die Platte brach auf, enthüllte Bündel vielfarbiger Kabel, welche die dunkel getönte Platte des IR-Ports umgaben. Darüber hing eine digitale Statusanzeige und gesicherte Elektroboxen mit abgeblätterten Aufschriften: ПЕРЕДАЧА ДАННЫХ МОДЕМ С ИЗМЕНЕНИЕМ СКОРОСТИ ПЕРЕДАЧ Trotz der kyrillischen Schrift ahnte er, dass er gerade ein Datenkommunikationsmodem anblickte, aber was Bowman und Houston damit vorhatten, konnte er sich beim besten Willen nicht ausmalen. »Wie läuft es, Gallagher?« »Ich bin drin. Was jetzt?« »Schalten Sie ihr Funkgerät wieder auf Datenübertragung ein und schließen Sie es an den Port an. Wir werden Ihr Funkgerät dazu benutzen, das beschädigte Kommunikationssystem der Cosmos zu umgehen und Ihnen alles Notwendige zu übertragen. Das wird etwa zwei Minuten dauern. Entfernen Sie jetzt die Sichthülle. Darunter sind zwei Kabel. Die Farben sind auf dem Schaltplan nicht zu erkennen. Borokovski kann sich nicht mehr erinnern.« »Ich bin froh, dass er nicht einem Bombenentschärfungs-
247
kommando angehört. Moment, bitte.« »Beeilen Sie sich. Sie haben nur noch vierundzwanzig Minuten übrig.« Nachdem er einige Male seine Finger ausgestreckt hatte, griff Gallagher hinein und löste die Tafel des IR-Ports. Ein halbes Dutzend Kupferdrähte schlängelten sich aus der Einheit heraus und Gallagher fing mit der umständlichen Prozedur an, sie zu zerschneiden und wieder zusammenzuflicken, wobei sein Atem ihm die Sicht raubte und so seine Arbeit schwieriger machte. Die ganze Zeit über schwirrte AMEEs Such-Drone irgendwo über ihm umher, beobachtete und übertrug ihre Eindrücke. »Neunzehn Minuten, Gallagher.« »Ich weiß, ich weiß. Ich habe hier sechs Leitungskabel vor mir. Ich hab’ sie alle zusammengeflickt. Sie werden wohl mit dem Upload anfangen müssen, während ich hier unten noch verschiedene Kombinationen von Verbindungen ausprobiere. Ich gehe davon aus, dass, wenn ich die richtige finde, sich auf der Anzeigetafel etwas tun wird, vorausgesetzt, das Ding hat noch Saft.« »Borokovski ist der Meinung, dass die Batterie des Ports noch funktionsfähig ist.« »Okay. Warten Sie bitte dreißig Sekunden, dann können Sie mit der Übertragung anfangen.« »Verstanden.« Gallagher brauchte fast die gesamten dreißig Sekunden, um das Funkgerät vorzubereiten. Er brachte die beiden Leitungskabel mit den angeschnittenen Hauptkabeln der Cosmos in Verbindung und nach mehreren Versuchen, bei denen die Anzeigetafel an- und ausging, wie eine billige Weihnachtsbeleuchtung, gelang es ihm, eine Verbindung herzustellen. »Also gut, Bowman. Hier unten ist alles bereit. Warten Sie zehn Sekunden, dann fangen Sie mit dem Upload an.«
248
»Verstanden. Zehn Sekunden.« Gallagher drehte die beiden Hauptzuleitungen an ihren Platz, dann ließ er sich gegen die Raumsonde fallen und auf den Boden sinken. Er zog seine Handschuhe wieder an und schloss seine Augen. Seine Wangen und seine Ohren fühlten sich aufgrund der Frostbeulen eiskalt an, aber er wusste, dass es besser war, sie nicht zu reiben, denn das würde, soweit er sich entsann, zusätzliche Schäden an seinen Kapillaren verursachen. Er saß einfach nur da, lauschte dem Murmeln des Winds und dem Schnurren von AMEEs Such-Drone, die an Höhe gewann. Er fühlte sich jetzt völlig entspannt und war zufrieden, es zumindest so weit gebracht zu haben. Er konnte seinen Tod jetzt eher akzeptieren, denn er hatte, wie Burchenal, nun das Wissen, alles in seiner Macht stehende getan zu haben, um sich zu retten. Dennoch spürte er in seinem Gleichmut einen Unterton von Schmerz. Was war das noch für eine Geschichte, die Bud ihm vorgelesen hatte, die Geschichte, an die er sich beim Zusammenbasteln des Funkgeräts zu erinnern versucht hatte? Ich wusste, dass du dich nicht einmal an die Hälfte der Dinge, die ich dir erzählt habe, erinnern würdest. »Lass mal gut sein. Ich bin kein Gelehrter wie du.« Es war »Das Offene Boot« von Stephen Crane. Erinnerst du dich an den Teil, den wir besprochen haben? »Den mit dem Zorn der Matrosen, die in dem kleinen Rettungsboot saßen?« Genau. Erinnere dich an die Zeilen: Wenn ich ertrinken sollte, wenn ich ertrinken sollte, wenn ich ertrinken sollte, warum, im Namen der sieben wahnsinnigen Götter, die die Meere beherrschen, wurde mir gestattet, so weit zu kommen und an den Sand und die Bäume zu denken? Wurde ich nur deshalb hierhin gebracht, um an der Nase herumgeführt zu werden, gerade als ich die heilige Frucht des Le-
249
bens kosten wollte? Es war grotesk, dass dieses alte keifende Weib, das man Schicksal nennt, ihre Sache nicht besser machen konnte, man sollte ihr die Verantwortung über die Verwaltung menschlicher Schicksale entziehen. Sie ist eine alte Henne und kennt ihre eigenen Beweggründe nicht. Wenn sie sich entschlossen hat, mich zu ertränken, warum hat sie das nicht von Anfang an getan und mir den ganzen Ärger erspart? Die ganze Sache ist absurd … Aber nein, sie kann mich nicht ertränken wollen. Sie würde es nicht wagen, mich zu ertränken. Sie darf mich nicht ertränken. Nicht nach der ganzen Arbeit. So fühle ich mich auch, dachte Gallagher. Das ständige Ringen, ob die Anstrengung nun inneren Frieden mit sich bringt … oder Wut. Etwas blitzte in Gallaghers Augenwinkel auf. Er reckte seinen Kopf in Richtung Display, wo Daten im Zickzack über den Bildschirm schossen. Da stand etwas vom STATUS DES WIN 2020 STARTPROGRAMMS geschrieben, und davon, dass die Befehlskette für Eingaben jetzt Online war. Ein Cursor blinkte. Er rollte sich nervös auf seine Knie und kroch zum Port zurück, entfernte die Kabel und starrte auf den Bildschirm. »Bowman? Ich glaube, es hat funktioniert. Noch hat es Strom.« »Gut. Unter dem Display befindet sich eine Platte, ziehen Sie sie heraus, es ist ein altertümliches Touchboard.« Gallagher befolgte dies und hielt es an den kleinen Griffen fest. Als sich das Touchboard einklinkte, leuchtete es auf. »Ich bin auf dem Board. Es ist natürlich in Kyrillisch beschriftet.« »Alle Systeme sind auf Handbetrieb umgeschaltet worden. Sie sollten in der Lage sein, eine allgemeine Systemdiagnose durchzuführen. Wir werden uns in einer Minute um die Startsachen kümmern. Borokovski hat es so eingerichtet, dass Sie sich nicht mit dem russischen Alphabet vertraut machen müssen. Tippen
250
Sie einfach nur Y ein, ja, ja, es sieht genau wie ein Y aus. Dann drücken Sie auf den Doppelpunkt, den Querstrich, dann auf den Buchstaben, der wie ein A mit flacher Spitze aussieht, wo die linke Seite nach Innen geht. Drücken Sie das vier Mal.« У:/ДДДД ein. Dann beäugte er den Bildschirm. Wer hätte das gedacht, in verschiedenen Boxen leuchteten Punkte auf, wobei jeder davon die Resultate des jeweiligen Systemchecks aufzeigte. Flugdynamik, Steuerung, Datenverarbeitung, Nutzlast, Antriebs- und Elektroysteme blinkten mit den Worten KEINE FEHLER GEFUNDEN in gut lesbarem Englisch auf. Das Kommunikationssystem hatte mehrfache Störungen, aber diese waren logischerweise nicht von Bedeutung. »Diagnose abgeschlossen. Wir sind im grünen Bereich.« »Danke, jetzt kann ich aufatmen. Okay, das Ding hat nur zwei Einstellungen: An und aus. An würde Sie den ganzen Weg zur Erde zurückschicken. Da es Ihnen an Nahrung, Wasser und langfristigem Luftvorrat mangelt, wäre das schlecht.« »Also was nun?« »Wir brauchen nur genügend Antrieb, um die geostationäre Umlaufbahn zu erreichen. Ich habe Ihr Gewicht, den Gewichtsverlust auf dem Planeten miteingerechnet, Ihren Thermal- und Raumanzug. Sie müssen aus jedem Treibstofftank einen Liter ablassen. Es gibt einen zentralen Ablassmechanismus. Sie werden es irgendwie messen müssen. Es sollte ziemlich exakt sein.« »Hätten die Russen keine Benzinuhr mit einbauen können?« »Ihre eigene Uhr läuft bereits ab. Halten Sie den Mund und denken sie sich was aus. Haben Sie etwas da unten, das sie verwenden können?« Er fluchte innerlich. »Ich melde mich wieder.« Gallagher stand auf, indem er sich auf die Raumsonde stützte, dann ging er eine weiteres Mal um die Sonde herum. Etwas, das groß genug ist, um vier Liter aufzubewahren. Etwa zwei
251
große Colaflaschen. Ein paar der größeren Greifarme zum Sammeln von Gesteinsproben hatten rechteckige Container, die mit Bolzen an ihren dritten Gelenken befestigt waren. Er zog eine elektronische Messlatte aus seiner Werkzeugtasche, schaltete sie mit den Daumen ein und führte den Sensor über die Ausmaße von jeder Kiste, machte sich im Geiste Notizen, wie groß sie waren. Dann zückte er sein Notebook und fragte sich, ob AMEE ihn immer noch blockierte. Ja, das tat sie. »Bowman, Sie müssen etwas für mich ausrechnen. Eine vierzig mal zwanzig Zentimeter große Kiste, zehn Zentimeter hoch. Wie viel Platz nehmen vier Liter ein?« »Eine Quizfrage. Warten Sie mal. O.K., O.K. Hier ist die Antwort. Acht Komma sieben fünf Zentimeter.« »Ich habe einen Container für Gesteinsproben, der funktionieren könnte. Jetzt kommt der spaßige Teil, die Bolzen abmachen. Warten Sie.« Die Box hing an dünnen, sechs Zentimeter langen Stangen. Gallagher klemmte seine Handschuhe unter seinen Achseln fest. Dann, mit seinem Schraubenzieher, suchte er nach den Verbindungen, um sie loszuschrauben, aber sie waren über die fast dreißig Jahre hinweg festgerostet. Er verschwendete weitere Sekunden, indem er fluchend an ihnen zerrte, dann zog er sich ruckartig zurück und trat gegen die gesamte Greifarmzusammenstellung, trat wieder und wieder darauf ein, bis der Arm und der daranhängende Behälter von der Raumsonde abbrachen. Er dankte Gott für russische Techniker mit geringen Etats, dann zerrte er den amputierten Arm zum Hauptablassventil her über, das sich unterhalb der Tanks befand. Er öffnete den Gesteinsbehälter, maß die Tiefe aus, dann kerbte er mit der Spitze des Schraubenziehers eine Markierung an die Stelle, bis zu der er ihn füllen musste. Er atmete tief ein und hielt die Luft an,
252
dann griff er nach der großen Flügelmutter, betete, dass sie nicht feststeckte oder in seiner Hand zerbrechen würde, dann übte er ein wenig Druck aus. Mit einem herrlich spritzenden Geräusch floss der übelriechende Treibstoff in den Behälter. Innerhalb dutzender Atemzüge schäumte die Flüssigkeit bis zur Markierung herauf und er schloss das Ventil. Dann zerrte er den Arm samt Behälter etwa zehn Meter weit weg und verstaute sie hinter einem Felsbrocken. Würde er sie zu nahe an der Raumsonde zurücklassen, könnte er sich genauso gut mit Benzin übergießen und ein Streichholz anzünden. »Bowman? Der Treibstoffspiegel ist eingestellt. Was jetzt?« »Startdiagnose. Dieselben Eingaben wie vorher, nur drücken Sie auf die Taste, die wie ein N aussieht, bevor Sie dieses seltsame A eingeben.« »Alles klar«, sagte er. У:/ПДДДД Gallagher überflog den Bildschirm, während das Programm ausgeführt wurde. »Ach, und noch etwas«, fügte Bowman hinzu. »Starten Sie auf keinen Fall ein Programm, das das Wort Zündung enthält.« Er grinste schief. »Soviel weiß ich auch.« Weitere Kästchen tauchten auf dem Bildschirm auf, wobei bunte Grafiken die Treibstoffspiegel anzeigten, die Beständigkeit des Hitzeschilds und etwa ein halbes Dutzend anderer Angaben, die Gallagher nicht im geringsten interessierten, solange sie alle im grünen Bereich lagen. Was alle taten. Außer einer. Der Zündungsenergie. Die Grafik zeigte an, dass dreihundert Volt und sechzig Ampere für den grünen Bereich benötigt würden. Er hatte genau Null. Die Reservebatterie war völlig leer. Wenn ich sterben sollte, wenn ich sterben sollte, wenn ich sterben sollte, warum, im Namen des Kriegsgottes, der diesen Planeten beherrscht, wurde mir gestattet, so weit zu kommen
253
und an die Heimkehr zu denken? Auf dem Display wurde eine weitere Box sichtbar. 300V ZÜNDUNGSBATTERIE NUMMER 987YH9H9H9H ERSATZTEIL NUMMER 338J98928YU39 KANN BEI
[email protected] ONLINE BESTELLT WERDEN ALLE KREDITKARTEN WERDEN AKZEPTIERT »Gallagher?« Er stand einfach nur da, während der Bildschirm sich in eine blaue Decke, die ihn erstickte, verwandelte. »Gallagher?« »Die Zündungsbatterie ist leer«, stöhnte er. »Ich habe nicht genügend Saft zum Starten.« »Gibt es etwas anderes, was sie verwenden könnten?« Sein Blick wanderte über die trostlose Landschaft und seine Antwort wurde von Rauschen übertönt. »Lassen sie mich mal schauen. Vielleicht ist hier irgendwo eine Energiequelle. Nein. Nur Steine.« »Was ist mit der Batterie Ihres Funkgeräts?« »Hat nur achtundzwanzig Volt. Damit fehlen mir dann nur noch zweihundertzweiundsiebzig.« »Lassen Sie mich den Schaltplan überprüfen. Vielleicht hat das Ding ja andere Batterien, die wir benutzen könnten.« Gallagher sank wartend zu Boden. Es war ausgeschlossen, dass die Sonde eine ebenso starke Energiequelle für irgend etwas verwendete. Sie verschwendete ihre Zeit, aber wenn es sie beruhigte, nachzuschauen, dann sollte sie das tun. »Gallagher? Tut mir leid, es gibt … nun, die anderen Batterien sind nicht …« »Ja, ich weiß.« Er warf den Kopf zurück und griff in den Boden. »Scheiße. Ich wollte hier nicht sterben.«
254
Siebenundzwanzig US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 184. TAG DER MISSION Bowman durchsuchte verzweifelt den Schaltplan der Cosmos, ihre Finger bewegten sich im selben Rhythmus wie ihr rasender Puls. Komm schon. Was habe ich übersehen? Was habe ich übersehen? Ihr blieben etwa vier Minuten bis zum Kommunikations-Blackout und noch etwa dreißig Minuten bis zur Hauptzündung. Und sie würde verdammt noch mal nicht aufgeben. Das lag nicht in ihrer Natur. Der Mars hatte bereits vier Seelen geraubt. Er würde keine weitere bekommen. Aber die Tatsachen waren eindeutig. Gallagher hatte keine Batterie und ohne die würde die Cosmos nicht starten. Was brauchte sie denn noch, um es endlich einzugestehen? Tausende von Leuten mit Megaphonen, die sie daran erinnerten? Was mache ich hier? Ich habe nichts übersehen. Es gibt nichts zu sehen. Sie schaltete den Plan ab und stellte sich vor, das Cockpit mit einer Stahlstange zu zerstören. Überall flogen Funken, die Konsolen explodierten, das zersplitterte Perma-Glas und Plastik glitt über den Boden. Sie atmete den giftigen Rauch ein, bis sie starb, wissend, dass sie sich gegen ihre Hilflosigkeit zur Wehr gesetzt hatte. Ich kann nicht alleine nach Hause gehen. Ich kann es einfach nicht. Gallagher? »Wissen Sie, was mich noch mehr ärgert, als zu sterben?« antwortete er plötzlich. »Ich hatte nicht einmal eine letzte 255
Mahlzeit. Komisch, ich kann an gar nichts anderes denken. Was zu essen. Ein großer Teller mit Nachos. Gebratener Reis. Spare Ribs. Hot Dogs. Mit Soße. In Daytona gibt es eine kleine Pizzeria. Die hatten eine Pizza, bei der der Teig gefüllt war. Und ich erinnere mich, dass Bud einmal von Speck geredet hat. Wir alle konnten ihn schmecken. Ich wünschte, ich könnte das jetzt.« »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« »Nein. Gehen Sie nach Hause. Wie viel Zeit verbleibt Ihnen noch, ein paar, zwei, drei Minuten bis zum Funkloch?« »Ich werde bleiben. Wir können reden, bis es nicht mehr geht.« »Bowman –« »Ich werde nicht das letzte Mitglied meines Teams verlassen.« »Das ist es nicht wert.« »Ich bin die Kommandantin dieser Mission. Mir ist es das wert. Ich habe darüber nachgedacht. Ich weiß, was ich tue.« »Nein, das wissen Sie nicht. Wenn Sie bleiben, dann stirbt alles mit uns. Wer wird unsere Geschichte erzählen? Es gibt so viel zu erzählen und so viel, was zu Hause noch zu lernen ist. Sie wollen bleiben, weil es sich schlecht anfühlt, zu gehen. Reißen Sie sich zusammen.« Der Bastard hatte dummerweise recht. Sie hauchte seinen Namen. »Gallagher …« »Wie viel Zeit haben wir?« »Etwa zwei Minuten.« »Sie müssen Ihnen folgendes erzählen. Zuallererst die Insekten …« »Was für Insekten?« »Burchenal hat gesagt, dass es sich um eine Art von Insekten handelt. Vielleicht sind sie mit einem Meteor auf dem Mars
256
angekommen und wir haben sie geweckt. Wer weiß. Aber sie haben den Großteil der Algen gefressen, das Habitat zerstört, und dann haben sie Pettengill und Burchenal erwischt. Ironischerweise fressen sie Müll und erzeugen Sauerstoff.« »Also gibt es Leben auf dem Mars?« »Außer mir? Ja, eine ganze Menge. Deswegen müssen Sie sich auf den Weg machen. Burchenal war der Meinung, dass diese Insekten die Erde retten könnten. Vielleicht war diese Mission ja trotz allem erfolgreich.« Sie zuckte zusammen als sie auf die Uhr schaute. »Wollen Sie, dass ich etwas für Sie tue?« »Sagen Sie ihnen, dass Bud ein Held war. Santen auch. Sogar Pettengill. Sagen Sie Burchenals Ex-Frauen, dass seine letzten Worte ihnen allen gegolten hatten. Sorgen Sie dafür, dass sein Pferd an jemanden verkauft wird, der es auch zu reiten versteht. Und sorgen Sie dafür, dass ihm die Entdeckung dieser Insekten gebührend angerechnet wird.« »Und was ist mit Ihnen?« »Nun … ich denke … sagen Sie meinem Vater, dass ich meine Sache hier gut gemacht habe. Das soll er hören. Und sagen Sie allen anderen, dass ich sie liebe. Darüber hinaus können Sie noch eine Minute lang meinem Geschwafel zuhören.« Sie schloss ihre Augen, um die Tränen einzudämmen. »Ich bin bei Ihnen.« »Also Bowman, ich muss Ihnen sagen, ich hasse den Mars ganz gewaltig. Ich bin nicht zur Einbürgerung hergekommen. Hier würde ich nicht leben wollen. Ich würde die Erde zu sehr vermissen, so wie jetzt. Es gibt soviel, das ich vermisse.« Seine Stimme klang schwer und reuevoll. »Ich hätte dich küssen sollen.« »Ja. Du hättest mich küssen sollen.« »Du hättest mich küssen können.«
257
»Ich bin altmodisch«, gab sie zu als die erste Welle von Tränen losbrach. »Ich möchte wissen, dass ich begehrt werde.« »Allerdings, wenn ich dich geküsst hätte, wäre der Abschied noch schwieriger geworden.« »Schwieriger geht es nicht.« Bowmans Lippen zitterten, als das Tageslicht in das Cockpit hereinbrach. »Gallagher? Bist du noch da? Gallagher?« HOCHLAND KRATERGEBIET LANDEPLATZ DER COSMOS 184. TAG DER MISSION »Auf Wiedersehen, Bowman. Du wirst mir fehlen. Bowman? Bowman?« Sie hatte ihn nicht gehört, was durchaus im Einklang mit dem Rest des Tages war. Pettengill hatte Recht gehabt – zumindest damit. Das Leben war wie die Schule, voll von Matheaufgaben und schöner Frauen, denen gegenüber man zu dumm ist, seine Liebe zu gestehen. Es hatte offensichtlich etwas gegeben zwischen ihnen und erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr er es in dieser Nacht vermasselt hatte. Es hatte nichts mit Alkohol zu tun gehabt. Sie hatte gewollt, dass er sie küsst. Jetzt würde er sterben, ohne diesen Moment jemals erlebt zu haben. Er gab ein Kichern von sich, das andere Leute von dem Wahnsinnigen, der es ausgestoßen hatte, fortgetrieben hätte. Jetzt würde sie seine aufgeplatzten und geschwollenen Lippen niemals küssen, von seinem zwei-Tage-Bart und der Tatsache, dass er sich nicht gebadet hatte, mal ganz abgesehen. Musste er deshalb lachen? Nein. Muss lachen, muss lachen, um den Schmerz zu vergessen. In der Ferne sah er den zarten Sonnenschein. Die Silhouette
258
der Hügel wurde von einer eisblauen Aura eingerahmt. Vielleicht kann ich ja, noch ein oder zwei Tage überleben. Ich kann in der Cosmos Unterschlupf finden und wenn Burchenals Brenner noch funktioniert, könnte ich Treibstoff verbrennen, um mich zu wärmen. Könnte ich die Algen essen? Die Insekten? Das Eis einschmelzen, um Wasser zu bekommen? Ja, ich könnte mich vergiften. Das wäre was. »Was meinst du?«, rief er AMEEs Such-Drone zu. »Ist es nicht lustig, dass du und ich für immer hier sein werden? Dass wir gemeinsam auf diesem riesigen alten Felsen feststecken? In ein paar Jahren bist auch du tot.« Er lehnte sich zurück, sein Blick verschwamm. »Es ist soweit, es ist soweit, es ist soweit –« Seine Armbandanzeige piepte. AMEEs infrarotes Blickfeld wurde auf dem Monitor sichtbar, das Bild bewegte sich hoch und runter, als sie über Felsen huschte. Offensichtlich war ihr Programm zur psychologischen Kriegführung abgelaufen. Jetzt würde sie das Opfer erlegen und sich ungestraft auf den Weg machen. Gallagher biss die Zähne zusammen, als er das Display anschaute. »Du lässt mich wissen, dass du kommst, stimmt’s? Nur denk dran, deine Tage sind auch gezählt, genau wie –« AMEE hatte eine Energiezelle. Er fluchte, dass ihm das nicht früher eingefallen war. Doch mit der Erschöpfung, der Kälte, dem Hunger … Ja, sie hatte eine Batterie. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie stark sie war, aber er wusste, dass sie stärker als dreihundert Volt war. Er rollte auf seinen Bauch und kroch unter die Raumsonde, fand einen zweiten Wartungsport und öffnete ihn mit seinem Schraubenzieher. Mit Hilfe seiner Anzugsbeleuchtung griff Gallagher nach der Batterie, eine runde Zelle, die so groß wie eine kleine Flasche war und mit den Worten 300 ВОЛЬТ beschriftet war. Er schnitt die Batterie von den Kupferdrähten und zog sie heraus. Dann überflog er die nahe
259
gelegenen Schaltkreise und fand, wonach er suchte: Die Spannungsregler, wahrscheinlich die alten TO-220’er. Selbst wenn AMEEs Batterien viel stärker wären, würden diese hier das System während des ersten Spannungsstoßes abschirmen. Klar, sie würden wahrscheinlich durchbrennen, aber dann wäre Gallagher bereits in der Luft. Verdammt, das könnte funktionieren. Als er wieder auf seinen Füßen war, hastete er um die Sonde herum und suchte nach etwas, was er als Waffe verwenden könnte. Eine Metallstange würde schließlich nur dann funktionieren, wenn er nahe genug an sie herankäme, ansonsten könnte er genauso gut mit einem Wattestäbchen umherwedeln. Was er wirklich brauchte, war ein altmodisches Ablenkungsmanöver, etwas, was sie beschäftigen würde. Er brach einen weiteren Arm der Cosmos ab, schraubte die Klaue ab und schwang sein behelfsmäßiges Schwert umher. Das war der einfache Teil gewesen. Jetzt brauchte er einen Plan, wie er sie ablenken konnte … Ein Feuer? Vielleicht. Er hatte noch genügend Sauerstoff, um ein vernünftiges Feuer zu entfachen. Aber wie könnte er nahe genug an sie herankommen, um sie mit Benzin zu übergießen? Er musste eine Möglichkeit finden, den Treibstoff zu ihr zu bringen. Was stand ihm zur Verfügung? Er wandte sich wieder dem Touchboard der Cosmos zu und stellte die Stange ab. Der Bildschirm darüber zeigte die Tasten an, die er drücken musste, um verschiedene Befehle aufzurufen. Eine Liste aller Teile war von der Diagnose noch mit inbegriff en. Er rief sie auf und wartete, bis die Zentraleinheit vom Kyrillischen ins Englische übersetzt hatte. Er fuhr mit seinem Finger die Liste entlang und hielt bei einer Wortkombination an: ПАРАШЮТ (Fallschirm). Aus seinem Augenwinkel sah er eines von zwei quadratischen Fächern, die an der Unterseite des Startvehikels angebracht waren. Die kyrillischen Schrift-
260
zeichen waren die selben. Also gut. Er brauchte Zugriff auf den Fallschirm. Wie? Mit Hilfe des Diagnoseprogramms. Nach einigen Sekunden fehlgeschlagener Versuche füllte die Kommandobox für den Fallschirm eine Ecke des Bildschirms aus. Er drückte zwei Tasten. Eine der Fallschirmklappen öffnete sich. Gut. Ohne Zeit zu verlieren, rollte Gallagher das riesige weiße Nylonbündel, gefolgt von einem kleineren Zielfallschirm, auf. Dann trabte er zu dem abgerissenen Sammelarm und dem mit Treibstoff gefüllten Behälter. Er zerrte den Arm zu dem Nylonfallschirm herüber und durchtränkte ihn vorsichtig. Gallagher rollte den Fallschirm auf, AMEEs Such-Drone neugierig über ihm schwebend, stopfte ihn in sein Fach zurück und verriegelte die Klappe. Ein weiteres Mal überprüfte er die Kommandobox, prägte sich die Taste, die er drücken musste, gut ein, dann setzte er sich. Innerhalb einer Minute lockte ihn ein entferntes Grollen von der Sonde weg. In etwa einhundert Meter Entfernung bahnte sich ein nichtmenschlicher Schatten den Weg über das Plateau, eine sechsbeinige Kriegerin, die, wenn sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite hat, es wohl mit einem gesamten Militärzug aufnehmen könnte. Gallagher überprüfte seine Armbandanzeige. Ausgestrahlt wurde AMEEs Sichtfeld, und zwar ohne Unterbrechung. »Bereitest dich auf den Todesstoß vor, stimmt’s? Gut. Komm und mach mich fertig. Dann bist du alleine hier. Kannst einfach auf dem Mars rumlaufen. Den Wind anpiepen.« Gallagher ließ sich zu Boden sinken. »Weißt du was? Du kannst mich mal. Hätte keiner Besseren passieren können.« Die Roboterin schoss in drei, sechs, acht Meter langen Schritten nach vorne, ihre Servogelenke beklagten sich heulend. Gallaghers Augenlider wurden schwer und seine Stimme
261
lallte. »Du beeilst dich besser, AMEE. Solange ich noch wach bin, könnest du deine Chance, mich zu töten, verpassen. Die Luft wird dünner. Mir ist kalt, so kalt. Bin verdammt müde. Muss schlafen. Muss meinen Kopf hinlegen und für den Rest meines Lebens schlafen …« Gallagher kippte auf die Seite und legte seinen Kopf auf den Boden, sein linkes Auge geschlossen, sein rechtes auf die Armbandanzeige gerichtet. Unterbrich ja das Signal nicht, du Miststück. Das Heulen und Rumpeln kam näher. Gallaghers Herz schlug heftig gegen seine Rippen. Er konnte sich selbst sehen, wie er zusammengesunken und erbärmlich auf dem Boden lag, in Grün eingerahmt. AMEE kam weiter auf ihn zu, führte Milliarden von Berechnungen durch, um zu komplexen, logischen Schlussfolgerungen zu gelangen, die sie, wie er hoffte, davon abhalten würden, seinen Schachzug zu durchschauen. Sie würde ihn für schlafend halten und zu der Erkenntnis gelangen, dass sie ihn mit minimalstem Aufwand und geringstem Risiko für sie selbst aus dem Weg räumen könnte. Gallagher war der letzte. Sein Tod würde die Vollendung der Mission bedeuten. Trotz dieser Möglichkeit klammerte sich Gallagher an die Hoffnung, die noch immer in ihm glühte, nämlich, dass AMEE anhalten und ihn als ihren Primärpiloten, als ihren Freund erkennen würde und auf einen rein technischen Verhaltensmodus zurückschalten würde. Das wäre nett, aber er zweifelte, dass ihr in absehbarer Zeit eine elektronische Einsicht offenbart werden würde. Als die Roboterin nur noch zwei Meter von ihm entfernt war, wirbelte Staub in Gallaghers Auge. Ein Meter. Ein geschmeidiger Schatten fiel über ihn. AMEE hob ihren Arm. Ihre Kralle fuhr schnappend zu ei-
262
nem Stachel aus. Dann bereitete sich ihr gesamter Körper auf einen Satz nach vorne vor.
263
Achtundzwanzig HOCHLAND KRATERGEBIET LANDEPLATZ DER COSMOS 184. TAG DER MISSION Gallagher atmete tief ein. Hielt seinen Atem an. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt. Gallagher rollte in dem Augenblick, in dem AMEEs Arm wie eine Guillotine herabschnellte, aus dem Weg, kam auf seinen Händen und Knien auf, stürzte auf die Cosmos zu, glitt drei Meter aus, bevor er auf seinem Bauch krachend aufkam. Er hustete Staub, stand auf, drehte sich um. Die Roboterin war genau vor ihm, stand auf ihren Hinterbeinen und streckte ihm ihre Vorderbeine entgegen. Er berührte das Touchboard. Der Fallschirm wurde aus dem Fach gesprengt und faltete sich, ohne von einem Luftzug nach oben abgelenkt zu werden, ebenerdig aus und fiel wie eine große Nylonwelle über AMEE. Mit der Stange in einer Hand und Burchenals gezündetem Brenner in der anderen, berührte Gallagher eine der Fallschirmleinen. Sie brannte auf wie eine Lunte, das Feuer schoss auf den Überzug zu, bis der gesamte Fallschirm mit einem gewaltigen Geräusch in orange-blauen Flammen aufging. AMEE kämpfte heftig gegen die Flammenfalle an. Sie wirbelte ihre Gliedmaße wie brennende Spieße umher, während Gallagher sie umkreiste. Mit seinem Stab hob er den brennenden Fallschirm an, dann stürzte er sich in den Zwischenraum und in die qualmende Dunkelheit hinein. Als er sich etwa auf halbem Wege unterhalb von AMEE befand, drehte er sich auf den Rücken. Seine Anzugslampe schwenkte genau auf die ge264
wünschte Platte. Er öffnete sie, stieß einen Schrei aus und trieb die Stange mit einem kratzenden, funkensprühenden Stoß in AMEEs Zentraleinheit hinein. Von irgendwo draußen drang ein metallischen Klicken, dann schlängelte ein Stromstoß die Stange herab, stieß seine Hände weg und ließ den Stab baumelnd zurück. Um Atem ringend kroch Gallagher, einer Krabbe gleich, auf den Rand des Fallschirms zu, trat sich den Weg frei, um herauszukommen und an sauerstoffhaltige Luft zu gelangen. Er schaute zu der Roboterin zurück, die unkontrolliert zuckend in den schwächer werdenden Flammen lag, die Such-Drone neben ihr, halb im Sand eingegraben. Gallagher kam der Gedanke, seinen Stab wieder an sich zu nehmen und auf den toten Geier einzuschlagen. Statt dessen nahm er die verbrannten Fallschirmleinen in die Hand und zog das schmorende Nylon von AMEE weg. Die Roboterin war nach vorne gefallen, ihr Hinterteil noch immer auf voll ausgestreckten Gliedern hoch gehalten. Doch ihre Kameraaugen waren nun dunkel und aus ihrem Bauch drangen Rauchwolken. »Verlässliche Echtzeitreaktionen auf jegliche Umgebung, dass ich nicht lache«, murmelte Gallagher, dann atmete er ein paar Mal tief durch, bevor er sich herunterließ und sich unter ihren Kopf zog. Mit seinem Daumen öffnete er den zweiten Wartungsport, der sich gleich unterhalb ihrer achteckigen Bedienungstafel befand. Tief in ihren elektronischen Innereien lag AMEEs Energiequelle vergraben. Gallagher vergrub seine Arme bis zu den Ellbogen, um an die zwei Griffe zu gelangen, die sie freisetzen würden. Er zog einen davon herunter, dann den anderen, und die silbrige Coladose landete in seiner Hand. Wenn es einen Aufkleber gegeben hatte, der die Spannung der Batterie angab, dann hatte ihn ein Techniker aus unerklärbaren Gründen entfernt. Aber es mussten über dreihundert Volt sein.
265
Es musste einfach so sein. Da ihm nur noch zwölf Minuten verblieben, bis Bowman die Hauptdüsen zündete, hastete Gallagher zur Cosmos zurück. Er zerrte zwei zehn Zentimeter lange Kabel aus seinem Funkgerät. Diese befestigte er mit Hilfe von Isolierband aus seiner Werkzeugtasche an den Kontaktpunkten der Energiequelle. Jetzt kam der kritische Teil, nämlich die Batterie zu befestigen, und da die Innereien der Cosmos so wackelig wirkten, wie die von einigen der Autos, an denen er als Teenager herumgebastelt hatte, musste er vorsichtig sein, an nichts zu stoßen. Er wickelte die Leitungsdrähte um die entsprechenden Kontaktpunkte und schob anschließend die Energiequelle seitwärts zwischen zwei Elektronikboxen hinein. Schien gut zu passen. Er befreite sich aus dem Port, kehrte dann zu dem Touchboard zurück und fuhr ein weiteres Mal die Startdiagnose hoch. Na komm schon, du Bastard … Volltreffer. Zündungsenergie im grünen Bereich. Warnsignale, dass die Spannung zu hoch war – aber wen interessierte das schon? Der Countdown zum Start. Konnte er die Zündung von hier aus programmieren? Bowman hatte diesen Teil des Vorgangs nicht mit ihm besprochen. Er wählte eine Box aus, auf der die Befehlseingabe zum Starten geschrieben stand. Das war noch einfach. Einen Countdown ohne Pausen einleiten. Wie viel Zeit? Sagen wir sechzig Sekunden. Ein Knopfdruck leitete den Vorgang ein. Jetzt zum Startbehälter. Er zog den Hebel gegen den Uhrzeigersinn an. Mit einem Zischen öffnete sich die Klappe, ließ abgestandene Luft ab, so dass er seinen Mund und seine Nase mit der Hand bedecken musste. Er zerrte drei Gesteinsbehälter voller Geröll heraus und warf sie weg. Verdammt. Da drinnen war kaum Platz für einen, geschweige denn für zwei. Und das einzige, was ihn vor der brennenden Hitze des Starts beschütz-
266
te, war der dünne Hitzeschild des Fahrzeugs. Was habe ich erwartet? Erste Klasse? Champagner? Warme Handtücher nach meiner Mahlzeit? O.K., noch ein kleines Problem. Wie sollte er sich von innen dort einschließen? Er stellte bei offener Klappe das Schloss ein, dann schlug er die Tür zu. Man musste es den russischen Ingenieuren schon lassen. Sie hatten dieses Ding wie einen alten Kofferraum gestaltet. Alles kein Problem. »Nichts wie weg von diesem Planeten«, sagte er und tippte in sein Touchboard ein: STARTZEIT AKTIVIERT: 00:00:30. Er eilte zum Sammelcontainer zurück, hielt sich am Außenrand fest und schwang sich in die kalte Kiste, die genauso gut eine Kühlbox aus einer Leichenhalle sein könnte. Er verriegelte die Klappe. Jetzt wird es interessant … Von der Dunkelheit umgeben, schob Gallagher sein Verdeck über den Kopf, dann stellte er den Druck des Raumanzugs ein. Burchenals Lebenserhaltungssystem zeigte an, dass noch fünf Minuten und vierunddreißig Sekunden Luft übrig war. In etwa sieben Minuten würde Bowman aufbrechen. Start in T-minus zehn Sekunden. Gallagher schloss seine Augen. Er streckte seine Handflächen über dem Stahl aus und drückte sich so tief er konnte gegen das Metall. Ich brauche Glauben. Das ist alles. Nur ein bisschen. Drei, zwei, eins – Etwas klickte. Stille. Dann war auf einmal ein gewaltiges, schürfendes Geräusch hörbar, das von dem dreißig Jahre alten Motor ausging und dermaßen laut war, dass jeder Knochen in Gallaghers Körper vibrierte. Eine Hitzewelle durchflutete ihn, begleitet von einem Beben, das ihn gegen den Hitzeschild schmetterte. Als er nach hinten fiel, hörte er ein tiefes, kehliges Gurgeln, das von der
267
Zündung der Düsen kam. Mit einem Mal entwickelte sich eine gewaltige Gravitation, die ihn hart gegen das Deck presste. Aber er war gestartet, verdammt noch mal. Er war gestartet. Die Gravitation nahm zu. Um wie viel, konnte er nicht sagen. Vier? Fünf? Sechs Einheiten? Wenn er weiter beschleunigte, würde er in die von der Schwerkraft verursachte Ohnmacht sinken, die unter Astronauten und Luftwaffepiloten berüchtigt war. Die einzige Möglichkeit dagegen anzukämpfen war, schnell zu atmen und das Blut aus dem Kopf heraus zurück in die Gliedmaßen zu leiten. Als er diese Anstrengung unternahm, fühlt er, wie etwas von seinem Gesicht über seinen Kopf verschmiert wurde. Warmes Blut tropfte aus seinen Augen und Ohren. Sein Sichtfeld wurde schmaler. Der Hitzeschild glühte rot auf und war nur einen Meter von ihm entfernt. Ein unerwartetes Krachen, dann fiel die erste Stufe ab – gemeinsam mit dem Hitzeschild, der von seinen Halterungen abgerissen wurden. Gallaghers Kopf wurde zur Seite gedrückt, als die Düsen der zweiten Stufe einschaltetet wurde. Winzige Staubpartikel prasselten ein, zwei Sekunden lang auf seinen Körper ein, bevor die Cosmos durch die obere Atmosphäre des Mars stieß. Die Sonde gewann auf einmal an Geschwindigkeit, da sie nicht mehr von der Anziehungskraft des Mars und den atmosphärischen Reibungskräften zurückgehalten wurde. Ich sehe sie, dachte Gallagher, bevor ihn die Dunkelheit verschlang. Ich sehe die Sterne.
268
US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 184. TAG DER MISSION Mit verheulten und geschwollenen Augen schaute Bowman ihre Displays an, um sicher zu sein, dass alle Systeme für die Hauptzündung noch im grünen Bereich lagen. Ich kann nicht alleine nach Hause gehen. Ich kann es einfach nicht. Aber du tust es dennoch. Du hast ihnen bereits gesagt, dass du kommst: Houston, Mars-1. Von der Ground Crew ist nur noch Gallagher übrig. Er hat die Cosmos erreicht. Die Verbindung wurde hergestellt. Sonde hat bei der zweiten Diagnose versagt. Die Zündungsbatterie ist leer. Keine Zündung. Kein Kontakt. Obwohl unser Besatzungsmitglied noch lebt, erklärt die Befehlshaberin der Mission den Einsatz hiermit für beendet. Rückkehrsequenz wird bei Ablauf des Countdowns bei null, null, null, null auf der Uhr des Orbitalverfalls aktiviert. Mars1, over. Als Kind hatte sich Bowman oftmals solche Ermahnungen wie »Mach nicht immer so ein Gesicht« und »Wenn du weiterhin solche Grimassen schneidest, wird dein Gesicht so festfrieren« anhören müssen. Sie vermutete, dass ihr Gesicht auf lange Zeit so bleiben würde. Sie hatte noch nie in ihrem Leben etwas so sehr gehasst. Sie erinnerte sich noch gut an ein Gespräch mit ihrem ehemaligen Radarschutzoffizier, Jon »Kartoffelkopf« Potasky, der beinahe ein Jahr lang bei F-87er Einsätzen in der Adria ihr »Rücksitz« gewesen war. Jon hatte erzählt, wie es war, als er über Südamerika abgeschossen wurde. Es war ihm und seinem Piloten, Captain Francis »Madhatter« O’Malley gelungen, sich
269
abzusprengen, doch hatte sich O’Malley bei der Notlandung beide Beine gebrochen und Jon befohlen, ihn zu verlassen, bevor sie von feindlichen Truppen überwältigt wurden. Jon hatte sich geweigert. Der Feind war nähergekommen und Jon hatte sich letztendlich schweren Herzens entschlossen, zu gehen. Er hatte aus sicherer Entfernung mit ansehen müssen, wie ein bärtiger Soldat sein Gewehr in O’Malleys Mund gesteckt und abgedrückt hatte. Seitdem hatte sich Jon gefragt, warum er damals überlebt hatte. Bowman hatte ihm erklärt, dass, das »Schuldgefühl der Überlebenden« ein sehr klinischer Begriff zu sein scheint; eine Abstraktion, bis es einen selbst trifft. Sie hatte Recht gehabt. Erst jetzt konnte sie Jons Schmerz verstehen. Ein Navigationsbildschirm wurde aktiviert, ihr Touchboard piepte in kurzen Abständen. Was denn jetzt? Ein fremdes Objekt in unmittelbarer Nähe. Was war da draußen? Einen Meteor oder Schlimmeres fürchtend, eilte Bowman zum Optikteleskop, fuhr es hoch, fixierte es anschließend auf die Koordinaten hinter dem Schiff. Während sie das Display des Teleskops zu sich drehte, wurde das Bild schärfer. »Gallagher …« Sie eilte auf ihr Touchboard zu und schaltete die Künstliche Intelligenz des Schiffes auf Stimmaktivierung. »Computer. Abbruch der Hauptdüsenzündung. Rückkehrkurs anhalten. Orbitalmanövriersysteme und Rückkehrkontrollsysteme aktivieren.« Sie drückte die Klappe eines Fachs an ihren Knien ein und ein dicker, gummiartiger Joystick wurde ausgefahren. »O.K. Navigation ist auf Handbetrieb umgestellt. Transferorbiteinschuss initialisiert. Lageregelung. Nick-, Roll-Winkel.
270
Gier-Schubimpulse zehn 10 Sekunden.« »Zündung der Hauptdüsen abgebrochen«, sagte die Computerstimme. »Rückkehrkurs angehalten. Steuerung ist auf Handbedienung umgestellt.« Obwohl sie noch immer nicht glauben konnte, was sie gesehen hatte, drehte Bowman das Schiff um, wobei sie kleine Wasserstoffausstöße hinterließ. Sie steuerte auf die beschädigte Sonde zu, die wie ein metallisches Rettungsboot, das auf hoher See verloren war, im Weltraum schwebte. Nicht viel Zeit. Wie viel Luft hatte er noch? Oh Gott. Mach schon. Mach schon! Bowman blickte zwischen den Navigationsberichten ihres Systems und dem winzigen Fleck da draußen, außerhalb des Aussichtfensters, hin und her. Sie kam knapp hinter dem winzigen Raumschiff an, dann betätigte sie die Bremsdüsen, doppelte Flammen, die sich nahe des Bugs trafen. »Computer. Position zu zweitem Raumfahrzeug konstant halten.« »Autopilot eingeschaltet«, gab der Computer zur Kenntnis. »Koordinaten errechnet.« »He, Commander? Versprechen Sie mir, dass wir gehen, wenn es uns hier nicht gefällt?« »Versprochen.« »Und das werde ich jetzt auch einhalten«, sagte Bowman und sprang von ihrem Sitz auf.
271
Neunundzwanzig US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 184. TAG DER MISSION Kaum, dass sie das Cockpit hinter sich gelassen hatte, rannte Bowman auch schon durch den ersten Zugangstunnel. Als sie den zweiten erreichte, flog sie nach vorne wie ein Langspringer in der Schwerelosigkeit. Sie hatte ganz vergessen, dass nur noch drei Kugeln und sechs Zugangstunnels rotierten, und so künstliche Schwerkraft erzeugten. Jetzt musste sie die verdammten Wandsprossen erreichen und sich daran hindurchhangeln. O.K. Eine habe ich. Noch eine. Zieh. Zieh. Genau wie die Kletterstangen deiner Kindheit. Als sie das MEV-Wartungsdeck erreichte, taten ihre Arme weh. Sie stieß sich durch den Vorraum und rannte zu dem MEV-Deck zu dem unförmigen Raumanzug, der sich am anderen Ende der riesigen Landebucht befand. Die oberen und unteren Hälften des Anzugs hingen weit oben an Magnetgriffen. Bowman richtete sich auf, dann schlüpfte sie in die Hosen und Stiefel, die sich automatisch auf ihre Schuhgröße einstellten und sich eng anschmiegten. Sie zog die Hosen hoch, die sich ebenfalls automatisch einstellten und sich eng an ihre Hüften anlegten. Mit einem Adrenalinstoß drückte sie sich ab und schoss nach oben in den Raumanzug hinein, ließ ihre Arme in die Ärmel gleiten. Ihr Kopf schlüpfte durch den Kragen und sie schaute durch die Perma-Glas-Blase, während sich die automatischen Anpassungssyteme versiegelten und Druck herstellten. Ein Display leuchtete auf. »Computer, Deck abschotten. Primäre Schleu272
sencodes umgehen und auf meine Stimmidentifikation einstellen. Auschlusssequenz abschalten, sofortige Entleerung.« »Deck abgeschottet. Primäre Schleusencodes umgangen. Bitte auf Atmosphärenverlust warten.« Die Haupttore des MEV-Decks öffneten sich, die restlichen Trümmer, die Bowman nicht aufgeräumt hatte, wurden hinausgesaugt. Als der Rest der Luft entwich, hing sie an den Magnetgriffen. »Anzugspangen ablösen.« Ruckartig bewegte sie sich von dem Querwand weg und stieß sich auf die offene Schleuse zu. Dort draußen, dreihundert Meter hinter den gigantischen Windmühlen der Sonnenkollektoren der Mars-1, lag die Cosmos und Gallagher, angeleuchtet von der flammenroten Aura des Planeten. Bowman ließ sich auf die Harpune zutreiben, die an der Wandbefestigung hing. Sie hielt einen der beiden U-förmigen Griffe fest, die aus den Seiten des großen Laufs herausragten, dann schaltete sie die handgroße Zielvorrichtung und den Bildschirm zur Messung der Schussweite ein, der auf einem Drehgelenk befestigt war. Unterhalb des Laufs befand sich eine runde Kammer, aus der sich die Fangleine abspulte. Als das Gewehr aktiviert war, schaltete Bowmans Anzeige auf die Harpune um, wobei das Messkreuz mit der Zielvorrichtung der Waffe gleichgeschaltet wurde. Sie zielte auf Gallagher, dann drückte sie einen zweiten Abzugsriegel, der die Laserzielvorrichtung aktivierte. Ihre Anzeige zoomte auf Gallaghers Brust und zeigte an, wo der Laserpunkt getroffen hatte. Aber die Zielvorrichtung des Gewehres übermittelte eine schlechte Botschaft: OBJEKT AUSSER REICHWEITE. Bowman schob die Waffe zur Seite und blickte nach oben, zum Robotergreifarm des Raumschiffs; ein hochentwickeltes, elektronisches Hilfsmittel zum Einholen, Reparieren und Andocken, welches von der kanadischen Raumfahrtbehörde und deren Partnern entwickelt worden war. Sie war damals sogar
273
nach Saint-Hubert in Quebec geflogen, um sich die Fabrik anzuschauen und sich mit den Ingenieuren, die an dem System gearbeitet hatten, zu beraten. Die primäre Funktion des Greifarms war, das Habitat nach Abschluss der Mission wiederzugewinnen. Nun, das konnte er nicht mehr tun, aber Bowman hatte eine andere Aufgabe für ihn. Sie schoss auf den Arm zu – eine zwanzig Meter lange Metalllegierung, die wie ein Akkordeon in sich selbst zusammengefaltet war, wobei die letzten beiden Segmente in Ruhestellung seltsam verwinkelt waren. Der gesamte Anhang war an der Startlinie einer geradlinigen Beschleunigungsbahn befestigt, die die gesamte Oberseite des MEV-Decks entlangführte. Als Bowman den RGA erreichte, drehte sie sich um und machte sich zu dem Jetpack auf, welches an dem Arm festmontiert war. Das Jetpack war etwa so breit wie ihr Rücken und mit winzigen Wasserstoffdüsen ausgestattet. Es klinkte sich in die Halterung zwischen ihren Schultern ein und befestigte sich so an sie. »Neueste Berechnung«, sagte sie zu der Künstliche Intelligenz des Schiffes, die ohne Verzögerung die momentane Geschwindigkeit und die Koordinaten der Cosmos berechnete. »Leine los. Volle Geschwindigkeit.« Nach drei metallischen Klopfgeräuschen schoss der Arm die Bahn entlang, presste Bowman in ihren Anzug und trieb sie mit dem Kopf zuerst in die Leere hinaus. Keine Achterbahn konnte diesem Gefühl gleichkommen. Als sich die Gravitation anstaute, musste sie die Zähne zusammenbeißen, die Querwände neben ihr verschwammen und die Sterne stürzten auf sie zu. Sie blinzelte zweimal und der Roboterarm stieß gegen die zum Bremsen vorgesehenen Beläge. Das plötzliche Drosseln der Geschwindigkeit warf Bowman in ihrem Anzug nach vorne, dann wurde sie in das Weltall hinausgeschleudert, wobei das Jetpack zwischen ihr und der Leine des Roboterarms befestigt war.
274
Wie eine Pistolenkugel schoss sie auf die Cosmos zu, vorbei an der Hülle der Mars-1 und einem Paar runder Treibstofftanks. Zwei der vier Sonnenkollektoren lagen vor ihr, breiteten sich zu einem riesigen V aus, durch das sie schwebte. Jetzt war sie im offenen All. Sie würde nicht nach unten schauen. Das würde nur Schwindel hervorrufen. Laut ihrer Anzeige war sie fünfzig Meter von dem Schiff entfernt. Fünfundsiebzig. Einhundert. Sie bewegte sich schnell auf die Cosmos zu. Einhundertfünfundzwanzig. Einhundertfünfzig. Sie musste sich vorbereiten. Sich umdrehen. Die Düsen zünden, um die Geschwindigkeit zu drosseln. Aber dann tat sie es doch. Sie schaute nach unten. Riesige rote Flächen verschwommen vor ihren Augen und zogen sie in einen Strudel. Ein Blick zur Cosmos. Wo war sie? In den Strichen und Linien der Sterne verschwunden. Kein Weltraum mehr. Nur – Die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst, als sie auf der Cosmos aufprallte, zurückschnellte, zu Sinnen kam und sich an der Ecke eines Fachs festhielt, das sich an der übrig gebliebenen Hälfte der Startkuppel befand. Sie zog sich nach oben, sah die Spitze von Gallaghers Helm, dann setzte sie ihre ganze Kraft ein, sich auf ihn zuzubewegen. Er lag reglos in der vernarbten Oberfläche des Sammelcontainers. Dünne Fäden getrockneten Blutes klebten zwischen seinen Augen und Ohren. Rötlicher Staub bedeckte sein Haar und seine mit Bartstoppeln bedeckten Wangen waren in Richtung seiner Nase eingesunken. Bowman schüttelte ihn, dann drückte sie ihren Helm an den seinen in der Hoffnung, dass vielleicht die gedämpften Schwingungen zwischen ihren Glasflächen ihn zum Leben erwecken könnten. »Gallagher! Gallagher!« Sie hob seinen Arm an, checkte die Anzeige seines Lebenserhaltungssystems. Kein Sauerstoff. Kein Puls und keine Atmung. Herzstillstand
275
»Computer. Leine einholen. Volle Geschwindigkeit.« Ihre Hände umklammerten den Rand des Containers. Bowmans Geschwindigkeitsanzeige schnellte nach oben: Zwanzig Stundenkilometer, dreißig, fünfundvierzig, sechzig, fünfundsiebzig. Sie rasten an den Sonnenkollektoren vorbei, dann sank die Cosmos plötzlich ab und prallte an einem der Treibstofftanks mit einer Wucht ab, die Bowmans Hände beinahe von dem Rand weggerissen hätte. Glücklicherweise begradigte sich der Kurs der Sonde wieder und innerhalb weniger Sekunden flog sie in den weit aufgerissenen Rachen der Bucht. Bowman wusste, dass sie mehr tun musste, als die immer näherkommende Bucht und den Roboterarm, der sich bereits zum Einholen gesenkt hatte, anzugaffen, denn die Leine fing bereits an, durchzuhängen und die Geschwindigkeit war bei über neunzig Stundenkilometer. »Computer. Bremssalven!« Das runde Jetpack gab zwei Wasserstoffstöße ab, welche die Leine plötzlich straff anspannten, während Bowman einen weiteren Stoß per Hand auslöste, der die Cosmos auf ihre Seite kippte, so dass sie auf den immer näherkommenden Roboterarm gerichtet und damit geschützt war. »Computer. Bremssalven!« Drei weitere Stöße verringerten die Geschwindigkeit der Sonde kaum. In Bowmans Anzug ging ein Alarm los. Sie zuckte zusammen, hielt sich aber weiter fest. Sie tauchten in die Schatten der Bucht ein. Der Roboterarm kam auf sie zugeschossen. Näher. Näher. Mit einem dumpfen Schlag, der ihr den Atem nahm, kamen sie krachend auf, gefolgt von einem knirschenden Zittern, als zwei Teile des Arms in einem langsamen Hagel von zerrissenen Rohrkabeln, die aus dem Fahrgestell der Cosmos gezerrt worden waren, abbrachen. Von der Kollision freigesprengt, fing Bowman sofort damit
276
an, auf die Sonde zuzuschwimmen, stellte aber fest, dass der Zusammenstoß sie fast völlig gestoppt hatte. Die Cosmos schwebte langsam in die Bucht hinein, auf die gegenüberliegende Querwand zu. »Computer! MEV-Deck versiegeln! Sofort Notfallatmosphäre aufbauen!« Während hinter ihr die Türen zurollten, schoss Bowman auf den Wartungskasten in der Querwand zu. Sie riss die Klappe auf und zog eine Laserklinge, die etwa so groß wie eine Taschenlampe war, hervor. Dann zog sie eine Laserklinge heraus, ein Instrument, das dazu benutzt wurde, präzise Einschnitte in Thermoplastik und anderen Verpackungsmaterialien durchzuführen. Sie machte sich in Gallaghers Richtung auf, während sich die Bucht mit weißem Nebel füllte, der aus Hunderten von nahegelegenen Ventilationsschächten drang. Zitternd stellte sie sich breitbeinig über Gallagher, schnallte die Lebenserhaltungsweste ab und zog sie ihm aus. Danach stellte sie den Kontrollknauf des Lasers ein, der die Tiefe des Strahls bestimmte. Sie brannte eine zittrige Linie über die Schnallen des Helms, dann eine weitere vom Adamsapfel bis hin zum Bauchnabel. Sie zerrte den schwelenden Anzug auf, drehte den Helm ab, packte Gallagher an seinem Thermalanzug und zog daran, um seine Hosen und Stiefel loszubekommen. Sein Kopf rollte zur Seite und die Arme hingen leblos an den Seiten. »Nicht nach all dem, verdammt noch mal«, rief sie, spürte, dass sie einem Nervenzusammenbruch nah war. Nein. Nicht aufgeben. Nachdenken. Nachdenken. O.K. Die Zeit war gekommen, sich die Sanitäterausbildung ins Gedächtnis zu rufen. Sie musste ihm Sauerstoff geben und seinen Herzmuskel stimulieren, musste einen Elektroschock durch sein Herz jagen, um die Zellen zu depolarisieren und
277
ihnen ermöglichen, sich einheitlich zu repolarisieren. Sie musste seinen Herzrhythmus wiederherstellen. Bowman schoss nach vorne, zerrte Gallagher an seinem Thermalanzug hinterher. Die erste Hilfe Station befand sich genau außerhalb des Vorraums. Ihr Blick fiel auf ein Paar bereits vorbereiteter Herzdefibrillatoren, die an einem rechteckigen Kondensator hingen. Sie zitterte jetzt heftiger, weil ihr einfiel, dass es schwieriger war, Ventrikulärfibrillation bei Sauerstoffmangel und Unterkühlung zu behandeln, insbesondere, weil wahrscheinlich eines davon für den Zustand von Gallaghers Herz verantwortlich war. Sie kam an der Station an, drückte Gallagher auf das niedrig gelegene Deck herunter, legte ihm die automatische Beatmungsmaske an und schaltete daraufhin den drahtlosen Elektrokardiographen ein, der sich über dem Kondensator befand. Sie hielt die Griffe in der Hand und stellte mit dem Daumen den Knauf des Defibrillators auf zweihundert Joule, versuchte sich dabei zu entsinnen, wie sie die Griffe aufzulegen hatte. Es fiel ihr nicht mehr ein. Einer höher, der andere ein wenig darunter, irgend so etwas. Jetzt war nicht die Zeit, sich darüber Sorgen zu machen. Sie übte stetigen Druck auf die Griffe aus und gab einen zwölf Millisekunden langen Gleichstromstoß ab. Der Bildschirm des EKG zeigte Gallaghers unregelmäßigen Herzschlag auf. Dreihundertjoule. Kontakt. Sein Rücken bäumte sich auf. Dreihundertsechzig Joule. Höher konnte sie nicht gehen. Sie berührte ihn, fühlte, wie sich der Stromstoß durch ihre Finger wand – Dann flog sie rücklings durch die Bucht, die Griffe auf sie zutaumelnd. Gnadenlos hart stürzte Bowman gegen die Querwand und schloss die Augen, von dem Stoß durchgeschüttelt. So schwebte sie einige Sekunden lang pochenden Herzens umher, leise weinend, bis sie sich mit den Stiefeln zu Gallagher
278
hin abstieß – Dessen Augen sich blinzelnd öffneten. Er atmete ein wenig Luft ein, hustete und hustete erneut, als sein Gesicht langsam eine rosa Färbung annahm. Als sein Atem sich beruhigt hatte, blinzelte er mit den Augen, versuchte seinen Blick zu klären. »Hier bin ich«, sagte sie sanft, dann schaute sie auf ein Display. »Deine Körpertemperatur ist viel zu niedrig. Ich muss dich zur Krankenstation bringen. Dich mit warmer Luft anstrahlen. Dir einen Tropf verpassen und dich gegen Unterkühlung einwickeln. Gott, siehst du beschissen aus.« Er versuchte zu lächeln, aber seine Lippen platzten auf und ein Zittern durchfuhr ihn. Sie streichelte ihm mit ihrem dicken Handschuh durch das Haar. »Entspann dich. Mach die Augen zu. Träum was schönes.«
279
Epilog MARS-1, RAUMFAHRTKONTROLLZENTRUM JOHNSON SPACE CENTER, HOUSTON 184. TAG DER MISSION »Houston, Mars-1. Streichen Sie meine letzte Mitteilung. Sie werden’s kaum glauben, aber es ist Gallagher gelungen, die Sonde vom Boden aus zu starten. Er hat AMEEs Energiequelle angezapft, um Strom für die Zündung zu bekommen. Sein Zustand hat sich momentan stabilisiert, aber er leidet an schwerer Hypothermie. Bitte um medizinische Beratung. Bitte um neue Berechnungen und Rekalkulationen für den Heimflug. Tut mir leid, Jungs, aber ich musste den A-Tank anzapfen, um meine Umlaufbahn beizubehalten. Im Moment ist sie zwar noch stabil, aber kleiner. Weitere Neuigkeiten werden folgen. Telemetrie wird geladen. Warte auf Antwort. Mars-1, over.« Russert klappe sein BPM hoch, nahm seinen Kopfhörer ab, dann lachte er über sich selber, dass er den Tränen so nahe gewesen war. Diese verdammte Närrin hatte es tatsächlich geschafft. Mit zittriger Stimme ordnete Russert an, die Botschaft über die Sprechanlage zu senden. Während Commander Kate Bowmans Stimme durch das Kontrollzentrum hallte, stand er von seinem Schreibtisch auf und kam von hinten auf Lowenthal zu, der geistesabwesend in sein BPM starrte. Borokovski saß neben ihm, schnaufte erschöpft, seine Augen geschlossen, sein Kopf auf der eingesackten Brust ruhend. Als Bowman vom Versagen der zweiten Diagnose berichtet und Gallagher als missionsunfähig eingestuft hatte, hatte Russert zu Borokovski gesagt, dass sie ihn nach Brooklyn zurück280
fliegen und für seine Zeit großzügig entschädigen würden. Doch der alte Russe hatte nur mürrisch geguckt und gesagt: »Ich gehe erst, wenn diese Mission beendet ist.« »He, Doktor Borokovski, aufwachen«, rief Lowenthal und stieß seinen Ellbogen in den Bauch des Mannes. »Die Cosmos ist gestartet.« »Was? Was? Ist das ein Traum?«, fragte Borokovski, seine Augen zu Schlitzen verengt. Mit einem Schlag war er wach, reckte seinen Kopf Lowenthal entgegen. »Sonde gestartet?« »So ist es, Sir«, erwiderte Russert. »Die Zündungsbatterie war leer. Unser Astronaut hat eine andere Batterie gefunden.« Borokovskis Gesicht öffnete sich zu einem breiten, mit Zahnlücken übersäten Grinsen. »Molodets! Also feiern wir!« In diesem Augenblick war Bowmans Nachricht zu Ende und es war, als ob die Raumfluglotsen Borokovski gehört hätten und abrupt in Freudengeschrei und lautes Gebrüll ausbrachen. »Das ist alles etwas verfrüht«, sagte Lowenthal. »Ich muss mir die Telemetrie gar nicht erst anschauen, um zu wissen, dass sie viel zu viel Treibstoff verbrannt hat. Und ihre Lebenserhaltungssyteme sind ganz schön angeschlagen. Wir müssen eine Rettungsmission starten. Sie unterwegs treffen. Das Rettungsteam muss sofort aufbrechen. Was uns vor ein neues Problem stellt – das nächste Raumfahrzeug der Lockheed wird erst in acht Monaten einsatzbereit sein.« »Was ist mit den Kanadiern?« fragte Russert. »Ich glaube, ich habe gelesen, dass sie nächsten Monat ein RFZ starten wollen.« »Das stimmt«, bestätigte Lowenthal. »Aber ich weiß, dass es verzögert wurde. Die Chinesen könnten uns eins leihen, wenn wir sie nicht verärgert hätten.« Borokovski winkte ab. »Gentlemen. Ich weiß, dass ein Freund von mir ein Raumfahrzeug in Usbekistan besitzt« Lowenthal starrte den Ingenieur misstrauisch an. »Das Be-
281
triebssystem dieses RFZ wird doch nicht etwa Win 2020 benötigen, oder doch?« »Ich weiß nicht. Es ist eine alte Rakete. Aber sie kann repariert werden. Vielleicht. Aber mit einer Kopie der Software dürfte das kein Problem sein. Außerdem kann die Rakete von der Meeresplattform in Hawaii aus starten. Ich gehe jetzt. Ich muss telefonieren.« Borokovski stand unsicher auf. »He, Miguel?«, rief Russert in seinen Kopfhörer. »Ich schicke Ihnen Doktor Borokovski zu Ihrer Station. Seien sie so gut und halten ihm eine Leitung nach außen frei. Und buchen Sie mir bitte einen Flug nach Galveston, wenn Sie die Gelegenheit dazu haben. Ich möchte hier noch vor dem Abendessen abfliegen.« »Halten Sie das für klug?« »Ich denke, dass mir die Verwaltung nach den jüngsten Ereignissen mindestens einen halben freien Tag schuldet.« »Ich will Jessica besuchen. Sie ist wirklich sauer. Ich habe gestern zwanzig Minuten mit ihr telefoniert.« »Um Gottes Willen, erzählt sie es denn allen?« »So ziemlich.« »Buchen Sie mir einfach diesen Flug. Und sagen Sie Frau Direktorin, dass ich mit ihr sprechen muss, wenn sie Zeit hat.« »Alles klar.« Russert ließ einen gedankenverlorenen Blick über das Kontrollzentrum schweifen. Die PROP- und SNK-Teams kauerten über Schreibtischen und diskutieren Bowmans Anfrage nach neuen Kursberechnungen. Flugärztin Palladino und ihr Stab von sechs Doktoren betrachteten SD-Querschnitte von Gallaghers Körper. Greg Sudmanskis EECOM-Team bereitete Bildschirmprojektionen vor, die Sauerstoffmenge und Nahrungs-
282
mittelvorräte auf dem großen Monitor anzeigen sollten. All diese Aktivitäten bestätigten das, was Jessica gesagt hatte. Wenn er ging, würde hier nichts zusammenbrechen. Es würden keine Raketen auf den Mars fallen. Er betete nur, dass es nicht zu spät war, ihr das zu sagen. US-RAUMFÄHRE MARS-1 MARSUMLAUFBAHN 186. TAG DER MISSION Gallagher legte Burchenals Lebenserhaltungsweste auf dem einzigen Labortisch ab, der den Luftabzug überstanden hatte, dann zog er die Titanampulle mit dem gefrorenen Insekt und das Glasröhrchen mit der Algenprobe heraus. »He, du solltest noch nicht auf den Beinen sein«, sagte Bowman. »Und deinen Tropf hast du auch rausgezogen? Also wirklich …« »Machst du Scherze? Es ist schon zwei Stunden her, dass ich von den Toten auferstanden bin.« »Du solltest wieder unter die warme Decke.« »Ich will dir nur das hier zeigen.« »Das hätte ich doch für dich erledigen können.« Er hielt die Ampullen hoch. »Das hier sind Burchenals Trophäen und ich fühle mich dafür verantwortlich.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Deren Inhalt soll die Welt retten?« »Meinte er zumindest.« Gallagher wandte sich einem Ablagefach zu, das in der Querwand eingebaut war und zog eine schwere Metallkiste heraus, die dazu benutzt wurde, Algen aufzubewahren. Er machte die Kiste auf, steckte die Röhren in ein Schaumbett, versiegelte die Kiste und brachte sie zu dem
283
Ablagefach zurück. »Wenn wir zurückkommen, kann sich jemand anderes darum kümmern.« Wehmütig schaute er die Lebenserhaltungsweste an. »Hast du es ihnen schon gesagt?« »Noch nicht.« »Worauf wartest du?« »Um ehrlich zu sein, wenn es einmal bekannt wird, dass wir Leben auf einem fremden Planeten entdeckt haben, wird unser eigenes Leben nicht mehr uns gehören. Ich wollte nur noch ein paar Stunden Freiheit genießen, bevor die Kommsysteme pausenlos zu klingeln anfangen.« »Sie werden wissen wollen, warum du gewartet hast.« »Ich werde ihnen sagen, dass ich zuerst frühstücken wollte.« »Sehe ich ein. Nach dir.« »Natürlich haben wir immer noch keinen Speck.« Grinsend folgte er ihr aus dem Labor durch den nahe gelegene Zugangstunnel. Beim Erreichen der Küche hielt sie an. Auf einmal konnte er sie auch sehen. Die Geister verschollener Freunde. Als Gallagher zögerlich in den Raum hineinging, konnte er noch immer die sanfte Musik hören, die von Buds Stimme ausging, die Intensität Burchenals, den kurz angebundenen Santen, die stockende Unsicherheit Pettengills. Es blieb so viel von ihnen übrig. »Wir haben eine lange Reise vor uns«, sagte Bowman mit schwacher Stimme. Er hielt ihrem Blick stand, trat vor, hielt sie an den Schultern fest und zog sie an sich. »Keiner von uns war darauf vorbereitet. Wir haben alle Fehler gemacht. Dinge getan, die wir ungeschehen machen würden, wenn wir könnten.« Er starrte auf den leeren Küchentisch. »Vier Menschen haben ihr Leben gelassen. Aber letztendlich haben wir es geschafft. Und, wie bereits gesagt, das ist es, woran sich die Leute erinnern werden … dass jeder dieser Männer da unten als Held gestorben ist.«
284
Sie fuhr mit ihrem Finger seine Brust entlang, machte Kreise um sein Herz. »Du hast den Glauben nicht aufgegeben.« »Ja. Bud hat mir da durchgeholfen. Er hat uns alle durchgebracht. Weißt du, er war der glücklichste Mensch, den ich jemals kennen gelernt habe.« »Gallagher. Ich bin auch glücklich. Gerade jetzt. In dieser Minute.« Ihre Augen wurden größer. »Das ist alles, was man tun kann … es von einer Minute zur anderen angehen. Und wenn man Glück hat, kriegt man eine zweite Chance.« Es war ein sanfter Kuss, elegant und altmodisch, einer, der ihr zu Verstehen gab, dass sie begehrt wurde. Ein Kuss, der seine aufgeplatzten Lippen nicht weiter aufreißen würde. Sie erwiderte ihn. Viel härter. Dann zog sie sich zurück, außer Atem und mit gerötetem Gesicht. »Hast du Lust auf einen Spaziergang?«, schlug er vor. Ihr Lächeln brachte ihn ebenfalls zum Lächeln. »Klar. Aber ich dachte, du wolltest etwas essen.« »Das kann warten.« Sie nickte und sie gingen an einem Bullauge vorbei, das einen Ausblick auf einen rosafarbenen Streifen des Acidalia Planitia, den riesigen Nordebenen des Mars, gewährte. Gallagher berührte mit seiner Stirn das Perma-Glas und lauschte dem einsamen roten Planeten, dessen Stimme er jetzt verstand.
285