Zyklus der Nebelreiche
Band 8
Roman-Reihe von
Renate Steinbach Otto-Stabel-Str.2 67059 Ludwigshafen Alle Rechte vorbe...
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Zyklus der Nebelreiche
Band 8
Roman-Reihe von
Renate Steinbach Otto-Stabel-Str.2 67059 Ludwigshafen Alle Rechte vorbehalten © 1986 - 1998
M
an nannte es das Jahr dreihundertzwanzig der neuen Zeit und hatte seit deren Anbruch keine großen Kriege mehr erleben müssen. Natürlich gab es in allen sieben Königreichen der bekannten Welt immer wieder politische Spannungen, doch seit der neuen Zeitrechnung herrschte auf der schönen Insel Amarra stets ein Mann als Souverän der Könige, der es verstand, die einzelnen Herrscher immer wieder miteinander auszusöhnen. Dieser Mann, der den Titel des Than trug, galt als der jeweils stärkste inkarnierte Geist, der derzeit in den Nebelreichen lebte und er war ein starker Priester. Doch auch alle Herrscher der Lande mußten stets Priester sein. Ein Erbe der Macht wurde als Tempelkind geboren - von seinem Vater in Trance mit einer Priesterin in demselben Zustand gezeugt; nicht gerufen durch karmische Bindungen, sondern inkarnierend aus freiem Willen des eigenen Geistes. Ehe ein solcher Erbe der Macht nicht zumindest die erste Priesterweihe erfuhr, welche ihn der Gottheit Tabalke, dem Gott des Schweigens und der Hoheit, nahebrachte, konnte er nicht wirklich herrschen. Im allgemeinen wurde er nicht nur als Tempelkind gezeugt, sondern wuchs auch im Tempel auf und besuchte das Haus seines Vaters nur selten. Eine Ausnahme gab es nur im Königreich Nodher, in dem der junge Prinz Ilkonys in der Burg seines Vaters Ariston aufwuchs. Im Königreich Sarai herrschte Feststimmung. Das Volk erwartete die Ankunft seines künftigen Herrschers und tat dies in angespannter Freude. Hier regierte König Wharhan als beliebter Herrscher. Den Prinzen Delaros kannte man kaum; es war lange her, seit er im Haus seines Vaters weilte.
Doch nun kam die Nachricht, daß er Amarra verließ, um für immer in seiner Heimat zu bleiben. Vor allem am Weg, der von der Hafenstadt Kirlis zur Burg des Herrschers führte, zeigten sich die Orte in geschäftigem Treiben. Man gab sich alle Mühe, die flachen Häuser schön zu schmücken und auf den angrenzenden Weiden nur die besten Tiere zu dulden. Sarai war berühmt für seine Pferde, die nirgendwo feuriger und edler gezüchtet wurden. Das Land besaß saftige Wiesen, die sich in endlose Fernen dehnten, nur hier und da von dichtem Forst unterbrochen. Der fruchtbare Boden ernährte auch die Bauern mühelos und brachte stets reiche Ernten. Aber das Land gehörte wenigen Großgrundbesitzern, die es unter sich aufteilten und dem einfachen Volk nicht viel Raum ließen. Trotzdem herrschte Frieden. Wharhan erwies sich als ein umsichtiger Herrscher, der dafür zu sorgen verstand, daß keine größere Unzufriedenheit aufkam und auch der abhängige Teil der Bevölkerung sein Auskommen besaß. Einzig die Schäfer wurden mehr geduldet denn gelitten. Sarais TargaSchafe lebten in losen Gruppen. Sie bildeten keine sehr dichten Herden, sondern liefen oft weit voneinander. Ihr stetes Mähen, mit dem sie Rufkontakt untereinander hielten, war lästiger als ein Froschkonzert zu Beginn der warmen Nebel. Die Targas lieferten eine sehr feine, weiche Wolle, die ungemein begehrt war. Aber sie machten ihre Besitzer nicht reich. Kein Großgrundbesitzer in Sarai duldete die Schafe gern auf seinem Land und keiner hätte eine große Herde geduldet. So war es den Schäfern nur erlaubt, kleinere Gruppen zu halten und mit diesen mußten sie stets auf Wanderschaft sein. Solange sie sich an diese Weisung hielten und nirgendwo länger als zwei Tage verweilten, ließ man sie in Frieden. Auf der ganzen Wegstrecke von Kirlis zur Burg fand man in diesen Tag vermehrt königliche Wachen auf der Suche nach Schäfern, um diese weiter ins Land zu treiben. Die halbwilden Schafe sollten unter keinen Umständen den Weg
des nahenden Prinzen kreuzen. Ihr Mähen und Blöken würde die Feststimmung stören und ihr etwas aufdringlicher Geruch war ganz dazu angetan, die Festgesellschaft zu beleidigen. Es gab kaum Zwischenfälle, doch in diesen Tagen kam ein Schäfer ums Leben, der sich weigerte, seine Tiere fortzuführen. Es hieß, daß es ein Unfall gewesen sei und niemand forschte weiter nach. Die Hirten waren nicht wichtig. "Entweder du schaffst deine Tiere hier weg oder wir werden sie töten," drohte zwischen den Hügeln ein Soldat einem Hirten, den er hier im Gras liegend fand. "Du hast bis zum Abend Zeit dazu." Der Hirte erhob sich langsam. In seinen achtundzwanzig Jahren erlebte er es nicht das erste Mal, daß man ihm mit Hochmut und Arroganz begegnete. Er war hochgewachsen, besaß einen schlanken, durchtrainierten Körper voll großer Kraft und war dem Soldaten durchaus überlegen, obgleich dieser vorsichtshalber seinen Säbel zog. In den glatten Zügen des jungen Mannes regte sich kein Muskel. Der Sitte gemäß hielt er das lange, hellbraune Haar fest gebunden. Nur den Mächtigen stand es zu, dies offen zu tragen. Um seine schmalen Lippen spielte ein sanftes Lächeln, als er ruhig auf sein Gegenüber sah. Grüßend legte er die Rechte auf die Brust und neigte flüchtig das Haupt. "Du hast ja anscheinend Manieren," spottete der Soldat, der seine Arbeit als langweilig empfand und sich gern mit einem kleinen Streit eine Abwechslung verschaffen wollte. "Was man von euch nicht sagen kann," antwortete der Hirte langsam. "Man kann sich seine Lehrer oft eben nicht auswählen." Er trat einen halben Schritt zurück, blieb aber scheinbar völlig ruhig.
"Und du hattest gute Lehrer, wie?" fauchte der Bewaffnete. "So ist es," erwiderte der junge Mann lächelnd und er dachte flüchtig daran, daß er zumindest in dieser Beziehung viel Glück im Leben hatte. "Stinkende Schafhirten," höhnte der Soldat nun. Der junge Mann antwortete nichts darauf, aber eine gewisse Heiterkeit konnte er bei diesen Worten nicht verbergen. Sein Name war Thyrian und nicht immer lebte er als Hirte in den weiten Ebenen des Reiches. Es gab eine Zeit, da diente er in den Tempeln, wo er auch seine Weihen erhielt. Das schien ihm nun unendlich lange her zu sein, obgleich er doch erst vor zwei Jahren den Tempel für immer verließ. Thyrian ergriff seinen Hirtenstab, einen zwei Meter langen, armdicken, gerade gewachsenen Ast. Ruhig wandte er sich den Tieren zu, um nach dem Leithammel Ausschau zu halten. Wenn er den Hammel wegtrieb von hier, würden die andern Schafe folgen. "Mann!" Der Soldat wurde zornig, nicht zuletzt, weil seine Kameraden im Sattel sich bereits über die Situation amüsierten. "Du hast mich beleidigt." Thyrian war schon einige Schritte entfernt. Mit fester Hand griff er ins Fell des Leithammels und befestigte ein dünnes Seil um dessen Hals, dessen Ende er an seinem Stab festknüpfte. Ruhig begann er, das Tier mit sich zu führen. Der Soldat wurde nun wirklich wütend. Er sprang herbei, riß Thyrian herum und hieb ihm die Faust ins Gesicht. Der Mann stürzte. "Entschuldige dich," drohend den Säbel.
fauchte
der
Soldat
und
hob
Ohne sich zu erheben, richtete Thyrian seinen Blick auf den
andern. Seine dunklen Augen schienen fast schwarz zu werden, als er sie fest auf die des Soldaten richtete und auf diese Weise eine geistige Brücke erschuf, wie sie nur den Priestern bekannt war. Der Soldat wurde sichtlich unruhig. Aber da ließ ihn Thyrians Blick schon wieder los. Die andern Männer lachten, als der Hirte sich jetzt erhob und ihr Kamerad etwas verwirrt dabei stand. Das machte diesen rasend. "Ich zeig dir, was für ein Stück Dreck du bist," rief er und hieb mit dem Säbel nach Thyrian. Doch der wich dem Hieb mit einer blitzschnellen Bewegung aus. "Beherrsche dich," rief einer der Reiter. "Willst du ihn umbringen? Das ist er nicht wert." Der Soldat krampfte die Faust um seine Waffe, bis die Knöchel weiß hervor traten. Er wollte wirklich töten - aber das Leben galt als heilig in den Nebelreichen und nur wirklich Mächtige durften es enden. Man würde ihn zur Verantwortung ziehen dafür. Hinter ihm blökte der Leithammel und es klang fast wie ein gehässiges Lachen. Da fuhr er herum und stieß seine Waffe tief in das Fleisch des Tieres, das mit einem jämmerlichen Schrei zusammenbrach, mehrmals noch zuckte und dann reglos liegen blieb. "Schaff deine Tiere weg," fuhr er Thyrian an, "und beeil dich damit." Der Hirte sah betroffen zu dem toten Tier. Dann antwortete er mit ruhiger Stimme: "Da es euch gefiel, den Leithammel zu töten, werdet ihr nicht umhinkommen, das mit der ganzen Herde zu tun. Ohne Leittier gehen die Tiere nur, wohin es ihnen selbst beliebt und es wird viele Tage dauern, bis sich ein neues
Leittier in der Herde behaupten kann. Sagt mir euren Namen." "Wozu?" fauchte der Mann. "Der geht dich nichts an." Thyrian hatte schon seinen Hirtenstab wieder aufgenommen und löste nun das Seil davon. "Schon gut," lenkte er ein, "niemand zwingt euch. Wir sind nicht sehr weit von der Burg entfernt; ich nehme an, ihr kommt von dort. Und da werde ich meinen Verlust einzuklagen wissen." Mit einem Mal wurde es still. Die Soldaten lachten nicht mehr und jener, der den Hammel tötete, erbleichte. Man ging mit den Schäfern allgemein nicht gut um und die Stadthalter sahen darin kein Vergehen. König Wharhan aber würde auch einem Hirten zu seinem Recht verhelfen, daran gab es keinen Zweifel. "Hör zu," suchte der Mann nach Worten, "das lohnt den Aufwand nicht." "Es ist kein Aufwand," erwiderte Thyrian mit ernster Stimme. "Ich habe gerade nichts anderes zu tun, da mir ja soeben meine Herde genommen wurde." "Die Herde lebt doch noch," rief der Soldat aus. Ohne die Rufe des Leithammels fingen die Targa-Schafe aber schon an, sich immer weiter voneinander zu entfernen. In kurzer Zeit würden sie so verstreut sein, daß es unmöglich wurde, alle Tiere zu finden und dann war es auch möglich, daß ein solches Schaf in eine Pferdeherde geriet und dort Panik auslöste. Das war schon vorgekommen und hatte manches der edlen Tiere das Leben gekostet. Die Pferde auf Sarai mochten die Schafe so wenig, wie es ihre Besitzer taten.
Die berittenen Soldaten hielten sich nicht weiter auf. Sie rissen hart an den Zügeln und trieben ihre Tiere den Schafen nach. Noch immer hielt Thyrians Gegenüber seinen blutigen Säbel in der Hand. Fast bittend sah er den Hirten an; er fürchtete harte Strafe für seine Tat. Doch Thyrian hielt sich nicht weiter mit ihm auf. Er ging einfach an ihm vorbei und schritt immer tiefer in die sanften Hügel hinein. Die Soldaten arbeiteten, bis die sinkenden Nebel das Land einhüllten und keinen Ritt mehr erlaubten. Sie hofften, alle Tiere gefunden und getötet zu haben. Doch in der Dunkelheit lagernd war es ihnen, als hörten sie aus der Ferne ein leises Blöken. Thyrian übernachtete am Ufer eines schmalen Baches, wo er sich und seine Kleidung gründlich wusch. Da er keine Schafe mehr besaß, gab es auch keinen Grund, weiterhin wie ein Schaf zu riechen - eine Voraussetzung, um ein guter Hirte zu sein und von den Tieren akzeptiert zu werden. Er lag im hohen Gras, das ihn wie die Wogen des Meeres umgab. Er überlegte, was er nun tun wollte. Sein Recht vor dem König einzuklagen, stand ihm zu, doch er sah keinen Gewinn darin. Die Schafe sorgten für seinen Lebensunterhalt, aber den würde er auf andere Art ebenso bestreiten können. Überdies, wenn sein mußte, so würde er in den Weiten des Reiches durchaus wieder wilde Schafe finden können und diese zur Grundlage einer kleinen Herde machen können. Aber es könnte ihm durchaus auch gefallen, auf einer der großen Pferdefarmen zu arbeiten. Er liebte die feurigen Pferde und verstand sich auf den Umgang mit ihnen. Er dachte auch daran, wieder in einen Tempel zu gehen. Er besaß die sechste und damit die höchste aller Weihen und dies garantierte ihm fast überall Aufnahme. Natürlich entschied ein Falla, der Vorsteher eines Tempels, allein, wen er im Tempel dulden wollte, doch Thyrian ließ sich nie etwas zuschulden kommen und die Jahre der Wanderschaft galten nicht als Versagen. Es war ja auch nicht so, daß er sich im Tempel nicht wohl fühlte. Früher traf das wohl auf ihn zu, doch seit er lange
Zeit in Raakis Tempel in Nodher verbrachte, hatte sich manches geändert. Seither gefielen ihm auch Sarais Tempel. Er atmete tief durch und schloß die Augen. Nein, er wollte keinen Tempel aufsuchen. Aber, so überlegte er, es konnte vielleicht interessant sein, den Festzug zu betrachten, der ja bald die Burg erreichen mußte.
P
rinz Delaros hielt die Zügel seines Pferdes etwas zu fest. Auf Amarra gab es keine Reittiere und er war so lange dort gewesen, daß ihm der Sattel nun nicht mehr vertraut vorkommen konnte. Auch weilte er zuvor nie lange auf Sarai und so wurde er nie ein guter Reiter. Er lächelte beim Gedanken daran, daß sich das nun bald ändern würde. Er war noch nicht ganz dreissig Jahre alt, doch im Moment hatte er das Gefühl, als würde sein Leben erst nun beginnen. Die festliche Kleidung, bestehend aus engen Beinkleidern und weichem Hemd, darüber ein festes Wams und um die Schultern einen weit wallenden Umhang von hellgrüner Farbe, das gefiel ihm besser als eine Priestertunika. Er fühlte sich durchaus noch als Priester und das wollte er auch nicht ändern. Doch auf Amarra war er einer von vielen gewesen und sein Rang galt nichts. Hier war er Erbe der Macht und Herr über Leben und Tod. Glücklich lächelte er seinem Vater zu, der neben ihm ritt und er wußte nicht, wie gut er nun aussah. Seine langen, hellbraunen Locken umrahmten ein ebenmäßig geformtes Gesicht. Viele der Frauen, die ihm aus der Menge heraus zujubelten, würden sich ihm gern ergeben und das hatte nichts mit seiner Macht zu tun. Wharhan genoß das Bad in der Menge nicht minder als sein Sohn. Sein Volk liebte ihn, er wußte es. Auch Königin Myrna, wie ihr Gemahl Anfang der Fünfzig, die ebenfalls neben dem Tempelsohn ihres Gemahls ritt, empfand ähnlich. Aber sie fragte sich auch, wie sie mit dem fremden jungen Mann auskommen würde, den sie zwar manches Mal sah, mit dem sie aber nichts verband. Von nun an war sie ihm Gehorsam schuldig und dieser Gedanke befremdete sie.
In der Ferne tauchte die Burg am Horizont auf. Unzählige Menschen säumten den Weg und riefen ein freudiges Willkommen. Das Volk warf sich vor seinem Herrscher nieder und erhob sich, sobald er vorbei geritten war. Manches Mal mußte das Gefolge die Menschen zurückdrängen, um den Weg freizuhalten. Es herrschte eine gelöste, freudige Stimmung. Thyrian lehnte am Stamm eines jungen Molbaumes und betrachtete alles mit Interesse. Schließlich schob er sich nach vorn. Die Menschen versperrten ihm die Sicht und man hörte, daß der Reisezug gleich hier sein würde. Fast vorn hob er einen kleinen Knaben auf seine Schultern, damit auch dieser etwas sehen konnte und der Kleine stieß einen Freudenruf dabei aus. Dann sah der junge Mann seinen König, seine Königin und zwischen ihnen Prinz Delaros und das erste, was ihm auffiel, war die Tatsache, daß der Erbe des Reiches ein miserabler Reiter war. Auf der anderen Seite des Pfades entstand Unruhe. Thyrian erschauderte, als er das klagende Rufen eines verlassenen Targas hörte. Dann sah er das Tier, das sich soeben zwischen den Menschen hindurch auf den Pfad schob. Die Leute wichen zurück, als sei der Gestank unerträglich. In diesem Moment war der Reisezug heran. Die vorderen Pferde bäumten sich auf. Myrna und Wharhan beruhigten ihre Tiere mühelos, doch Delaros stürzte fast aus dem Sattel und krampfte sich erschrocken in die Mähne seines Pferdes. Irgendwer schrie auf, das Schaf blökte verwirrt und da brach das Pferd des Prinzen aus und jagte in vollem Galopp nach vorn. Die Menschen konnten sich gerade noch zur Seite werfen, ehe sie von den Hufen getroffen wurden. Thyrian handelte impulsiv, als er den Knaben auf den Boden stellte, nach vorn sprang und einen der Männer des Gefolges einfach aus dem Sattel hob. Er schwang sich auf den Rücken des Pferdes, feuerte das Tier an und folgte dem Prinzen.
Das schien die Leute zur Besinnung zu bringen, denn auch ein Teil des Gefolges ritt nun Delaros nach. Delaros war schon weit voraus. Er hing mehr auf dem Pferd, als daß er es ritt und er krampfte sich angstvoll an dem Tier fest, das sich dadurch bedroht fühlte und noch schneller lief. Thyrian kam nur langsam näher. Aber er fühlte das Tier unter sich, als gehöre es zu ihm und er empfand den schnellen Ritt trotz der Dringlichkeit nicht als Belastung. Es war gut, nach all der Zeit wieder einmal zu reiten und dabei zu wissen, daß er nichts verlernte. Anscheinend hatte der Hengst begriffen, wohin sein Reiter wollte. Thyrian ließ die Zügel locker. Das Pferd versuchte von sich aus, den Prinzen zu erreichen. Er mußte es nicht anfeuern. Fast war er heran, als Delaros in seiner Furcht selbst nach dem Zügel griff und heftig daran riß. Sein Pferd bockte, warf sich herum und suchte eine andere Richtung. Thyrian fiel etwas zurück, holte aber langsam wieder auf. Ganz langsam schob sich sein Pferd näher und näher heran. Endlich kamen sie auf gleiche Höhe. Thyrian wollte die Zügel des anderen Tieres greifen, doch Delaros hielt sie fest umkrampft und gab sie trotz seines Rufens nicht frei. Da griff Thyrian nach dem Gewand des Prinzen, packte endlich seinen Oberarm und riß ihn mit einer gewaltigen Kraftanstrengung zu sich. Die unerwartete Gewichtsverlagerung brachte sein eigenes Tier aus dem Tritt. Das Pferd wollte sich aufbäumen, doch da ließ sich Thyrian mit seiner Beute schon aus dem Sattel gleiten. Sie fielen weich ins Gras und die Pferde liefen noch ein ganzes Stück weit, ehe sie langsamer wurden. Delaros atmete schwer und blieb im Gras sitzen. Thyrian rappelte sich auf die Knie auf, legte die Rechte vor die Brust und senkte das Haupt. "Im Allgemeinen muß sich ein Landmann ganz unterwerfen," stellte Delaros, noch immer keuchend, fest.
Da Thyrian nicht mehr nach Schafen roch, mußte er in seiner Gewandung für einen Bauern gehalten werden. Als der junge Mann sich anschickte, dem Wunsch seines Gebieters zu entsprechen und sich gänzlich zu Boden zu werfen, hielt ihn der Prinz aber an der Schulter fest. "Im Allgemeinen," meinte er, "reitet ein Landmann auch nicht so gut." Thyrian schwieg, verharrte und hielt den Blick gesenkt. Schließlich stieß Delaros ein leises Lachen aus. "Schon gut, Mann," meinte er leichthin, "du kannst keinen Umgang mit Mächtigen gewohnt sein. Entspanne dich. Womöglich hast du mir soeben das Leben gerettet." Thyrian hob nun den Blick und schaute den Erben Sarais freundlich an. Delaros konnte nicht wissen, daß er vor Jahren dem Than selbst begegnet war, mit ihm auch sprach. Eine größere Macht war in keinem anderen Menschen zentriert. Er lächelte. Damals hatte es sich ergeben, daß er einige Zeit im Gefolge von Nodhers Herrscher auf dem Weg von Khyon nach Nodher reiste. Aber in einem hatte der Prinz recht, gewohnt war er den Umgang mit Menschen der Macht deshalb wirklich noch nicht. Er dachte kurz an Gerrys. Raakis Falla in Nodher war sein Lehrer und Leiter gewesen und er trug den Titel 'Pala des Than'. Gerrys war wirklich ein Mann der Macht und in dieser Delaros und wohl auch Wharhan überlegen. Diesen Umgang war er gewohnt gewesen, doch Gerrys erschien ihm stets als Priester. Von seiner Macht war kaum etwas zu sehen. "Ich danke den Göttern, daß euch kein Leid geschah," sagte er endlich. "Ein ruhigeres Tier wäre wohl besser für euch gewesen, Herr." "Angeblich war das eine ausgeglichene Stute, die selbst ein Kind reiten kann," antwortete Delaros mit gewisser Heiter-
keit. "Mein Volk würde es mir kaum verzeihen, wenn ich auf einem Musk reiten würde." Thyrian lachte leise bei der Vorstellung, daß der Erbe Sarais einen Esel als Reittier nehmen könnte. Er setzte zu einer freundlichen Erwiderung an, doch da nahte das Gefolge und der Prinz erhob sich. Da sein Retter verharrte, bückte er sich zu ihm und hob ihn an den Schultern auf. "Keine Angst," raunte er Thyrian zu, "die sind alle ganz harmlos." Sie sprangen von den Pferden, ignorierten den Fremden und erkundigen sich besorgt nach dem Wohlbefinden des Prinzen. Delaros hatte seinen Schreck schon verwunden und nichts mehr an ihm verriet die soeben noch ausgestandene Angst. Er trat auf einen reich gekleideten Mann zu. "Euren Umhang, Fürst," befahl er in einer Tonlage, die keinen Widerspruch duldete. Und als der Angesprochene ihm sichtbar widerwillig das kostbare Kleidungsstück überreichte, legte der Prinz es um Thyrians Schultern. "Heute verändert sich dein Leben," versprach er ernst. "Was du mir heute getan hast, das wird nicht ohne Lohn bleiben. Komm mit mir." Aber er blieb stehen und betrachtete skeptisch die Pferde, auf denen das Gefolge kam. Thyrian spürte seine Unsicherheit und nahm ihm die Entscheidung ab, indem er nach den Zügeln einer weißen Stute griff und dem Prinzen so bedeutete, daß dies wohl das geeignete Reittier für ihn sei. Delaros überwand sich und stieg in den Sattel. "Such dir ein Pferd aus," erlaubte er Thyrian, wartete, bis dieser selbst im Sattel saß und ritt dann langsam an.
"Wie ist dein Name, Mann?" "Man nennt mich Thyrian, Herr." "Und was ist dein Handwerk?" "Was immer sich ergibt." "Und wo wohnst du?" Er stellte seine Fragen in ehrlichem Interesse an seinem Retter und kümmerte sich nun nicht um sein Gefolge. Der Prinz ritt sehr langsam. Er wirkte völlig gelassen und sehr selbstsicher, doch Thyrian wußte genau, daß er jetzt jede schnellere Gangart des Pferdes fürchtete. Das Erlebnis eben hatte der Erbe der Macht noch nicht verwunden. "Kein Handwerk, keine Wohnung, kein Vermögen, keine Familie," stellte Delaros eben heiter fest. "Du kannst alles haben, wenn du willst. Ich stehe in deiner Schuld." "Das werdet ihr ertragen müssen, Gebieter," antwortete der junge Mann gelassen. "Ich habe alles, was ich will." Sie erreichten den Pfad und wurden sofort von unzähligen Menschen umdrängt. Die Garde des Königs hatte Mühe, das Volk zurück zu drängen. Wharhan dankte Thyrian in wohl gesetzten Worten für seine Tat. Etwas entfernt entstand Unruhe, als einige Soldaten zum Teju des Königs drängten. Er, der Führer der Garde, hörte ihnen kurz zu und lenkte dann sein Pferd nach vorn. Es dauerte lange, bis Wharhan ihn bemerkte und ihm zu reden erlaubte. "Ich bitte um Vergebung, mein Herr," sagte der Teju mit lauter Stimme, "doch dieser da hat keinen Dank verdient." "Mann," fuhr ihn Delaros herrisch an, "überlege deine Worte."
"Verzeiht, doch dieses Targa dort," er deutete auf den Leichnam des Tieres, das inzwischen von den Soldaten getötet wurde, "gehört diesem Mann. Er hatte sich geweigert, seine Herde fortzuführen und jeden entsprechenden Befehl mißachtet." Stimmen wurden laut. Thyrian, eben noch hoch gelobt, wurde nun vom Volk beschimpft und jemand warf gar einen Stein nach ihm. Delaros hob die Hand und augenblicklich entstand fast völlige Stille. Im Sattel wandte sich der Prinz seinem Retter zu. "Verteidige dich," verlangte er. Thyrian wich seinem Blick nicht aus. "Bin ich denn angeklagt?" fragte er leise. "Habt ihr nicht auf Amarra gelernt, Lüge von Wahrheit zu trennen und notfalls im Geist eines Menschen Aufrichtigkeit zu suchen?" Bei diesen Worten schirmte er seinen Geist ab und es war Delaros unmöglich, ihn so durch priesterliches Wirken zu berühren. Erstaunen zeichnete sich in den Zügen des Prinzen. Die Technik, den eigenen Geist abzuschirmen, beherrschten im allgemeinen nur die Priester selbst. "Man sucht nur dort, wo man mißtraut," mahnte Thyrian. "So glaubt ihr den Worten des Teju?" "Ist es dein Targa?" wollte Wharhan da herrisch wissen. "Eure Männer haben meine Herde abgeschlachtet," antwortete Thyrian langsam. "Sie waren wohl nicht gründlich genug bei ihrem blutigen Werk." "Lüge," rief eine Männerstimme in den hinteren Reihen. Delaros hob den Kopf, fand aber in der Menge den Rufer nicht. So wandte er sich wieder Thyrian zu:
"Deine Herde? So bist du ein Hirte?" "Ich war es," erwiderte Thyrian, äußerlich noch immer ganz gelassen, "bis zu der Stunde, da man mir meine Tiere nahm." "Und weshalb wurden sie getötet? Doch wohl nur, weil du dich tatsächlich dem Befehl deines Königs widersetzt hast," fuhr ihn Delaros da an. "Es gibt sonst keinen Grund zu solch einer Tat." Thyrian ließ langsam den wertvollen Umhang des Fürsten von seinen Schultern gleiten. "Ihr sagtet es, Herr: heute verändert sich mein Leben." "Steig vom Pferd," befahl ihm der Prinz mit leicht zitternder Stimme, der man anhören konnte, daß ihm diese Worte nicht leicht fielen. "Die Menge wird dich von diesem Ort prügeln." Das Volk stimmte laut zu, irgendwer warf wieder einen Stein. Thyrian hielt den Blick fest auf Delaros gerichtet, so lange, bis dieser den Kopf senkte. Und dann handelte Thyrian mit einer unerwarteten Schnelligkeit. Noch ehe ihn ein Mensch hindern konnte, trieb er sein Pferd die wenigen Schritte bis zum Erben Sarais, wechselte hinter diesen auf dessen Tier, zog gleichzeitig Delaros' Dolch und legte rasch drohend die Schneide an den Hals des Prinzen. Augenblicklich herrschte völlige Stille. "Zurück jetzt, alle," befahl Thyrian laut. "Er stirbt, wenn mir auch nur einer zu nahe kommt." Wharhan hob die Hand und langsam wich die Menge zurück. Auch die Garde trieb ihre Reittiere zur Seite. Eine breite Gasse entstand.
"Die Zügel," verlangte der Priester. Zögernd und langsam reichte ihm Delaros die Zügel in die freie Hand. "Wenn uns jemand folgt, Thyrian mit erhobener Stimme.
ist er des Todes," drohte
Dann ritt er an. Die breite Klinge lag drohend nahe an Delaros' Hals und der Prinz saß steif und regte sich nicht. Thyrian lenkte das Tier quer durch die Hügel. Bald waren sie den Blicken des Volkes entzogen. Doch der Priester ritt weiter, schweigend, den Dolch fest umklammert.
D
ie Nebel sanken und als sie dann das Land einhüllten und jede weite Sicht verboten, zügelte Thyrian das Pferd und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Delaros' Hand zuckte zum Degen, doch er zog die Waffe nicht. Stur hielt er den Blick geradeaus gerichtet, als er leise sagte: "Warum hast du mich nicht getötet?" "Das war nie meine Absicht, Herr," versprach Thyrian sofort, "und wenn euer Gefolge nicht gewichen wäre, würde ich mich ergeben haben." "Das sagt sich leicht," murmelte Delaros in unveränderter Haltung. Thyrian lachte ganz leise und nun wandte sich ihm der Erbe der Macht doch zu. "Verzeiht, Herr," meinte der junge Mann wie beiläufig, "ihr seid nicht nur ein miserabler Reiter, ihr seid, wie mir scheint, auch ein ebensolcher Priester. Mein Geist ist seit langem weit geöffnet und ihr habt nicht einmal versucht, ihn zu berühren. Ich fürchte fast, ihr werdet auch kein besserer
Herrscher sein, da ihr urteilt, ohne die Wahrheit zu suchen." Halb zog der Prinz nun doch den Degen, während er sich nun selbst aus dem ungeliebten Sattel gleiten ließ. "Wie kannst du es wagen..." "Ich habe Hand an euch gelegt und für dieses Vergehen gibt es kein Verzeihen," unterbrach ihn Thyrian. "Was könnt ihr mir schlimmeres androhen als den Tod? Das erlaubt mir, sehr frei zu sprechen. Aber ihr habt einen weiten Rückweg vor euch und Zeit zum Überlegen. Und wenn ihr eure Leute im Dunkeln findet, dann schaut ihr euch vielleicht die Soldaten an, die mich verklagten. Schaut sie als Priester an, nicht als Prinz." "Selbst, wenn sie deine Herde aus Bosheit töteten, das würde dir nicht mehr helfen," drohte Delaros, aber seine Stimme klang nicht feindselig. "Du hast mich mit der Waffe bedroht und dafür wirst du büßen müssen. Man wird dich jagen wie ein Tier und es gibt keinen Ort in den Nebelreichen, an dem du von nun an sicher sein wirst. Nicht einmal die Tempel werden dir Unterschlupf gewähren. Nicht wahr, du bist doch ein Priester?" Thyrian nickte zur Bestätigung. "Du bist verloren," stellte Delaros fest. "Du weißt es nicht, aber eigentlich bist du schon tot." "Steigt auf euer Pferd," mahnte Thyrian aber nur, "reitet weiter. Sie werden euch sicher bald finden." "Du bittest nicht einmal um Gnade," stellte Delaros mit Erstaunen fest. "Das wäre deine einzige Chance." "Nein," antwortete der Priester, "da ihr kein gnädiger Mann seid, wäre es nur eine sinnlose Demütigung."
"Ich will deinen Tod nicht," gab der Prinz unruhig zu. "Was bietet ihr mir an? Ein Leben auf der Insel der Läuterung? Das wäre nicht besser. Und ihr seid nicht stark, nicht mutig genug, um mir gegen den Willen eures Vaters und die Blutgier des Volkes die Freiheit zu bieten." "Das würde auch niemand verstehen," nahm Delaros diese Beurteilung hin. "Man erwartet von mir, daß ich die Einhaltung der Gesetze vertrete und ein harter, aber unparteiischer Richter bin." "Vielleicht," erwiderte Thyrian mit einer Spur von Hoffnung, "vielleicht sind euch die Erwartungen der anderen in einiger Zeit nicht mehr so wichtig." Er ging langsam in die Dunkelheit. "Ich werde es wissen, wenn diese Zeit kommt. Mögen die Götter euch geleiten." "Warte!" Doch Thyrian reagierte nicht mehr. Zu lange durfte er sich nicht aufhalten. Das Gefolge des Prinzen suchte ihn ja schon und wenn er gefunden würde, dann wollte er möglichst weit entfernt sein. Trotz der Dunkelheit lief er rasch über das weite Grasland und als er endlich erschöpft unter einem breiten Busch rastete, fühlte er feucht die Nebel auf seiner Haut. Er mußte versuchen, bald einen Platz zu finden, wo ihn niemand kannte. Die Zeit der kalten Nebel nahte und dann war es unmöglich, im Freien zu leben. Er brauchte einen Unterschlupf, wußte aber nicht, wohin er sich wenden solle.
N
odhers Erbe, Prinz Ilkonys, stand mißmutig auf der Brüstung der Mauer, welche Burg Nodher umgab. Der junge Mann, nun dreiundzwanzig Jahre alt, zog den dichten, warmen Umhang fester um seinen schlanken Leib. Es war kalt geworden und er mochte die Zeit der kalten Nebel nicht. Irgendwie kam in diesen Wochen das Leben fast zum Stillstand. Es gab in der Burg nicht mehr das geschäftige Kommen und Gehen, keine Feste fanden statt, keine Ausflüge wurden unternommen. Während der kalten Nebel beschränkte sich alles auf das Nötigste. Es reiste nur, wer unbedingt mußte und mit dem Ausbleiben der Reisenden blieben auch Nachrichten und damit Geschichten und Ereignisse aus. Ilkonys mochte diese Zeit wirklich nicht. Aber an diesem Tag beschäftigten ihn andere Gedanken. Er war als Tempelkind gezeugt und er mußte, ehe er herrschen konnte, ein Priester werden. Daß er im Haus des Vaters leben durfte, war ein Zugeständnis des Than an den König und eine Ausnahme in den Reichen. Niemand hatte ihn je gedrängt, er solle endlich ein Priesterschüler werden. Es galt als selbstverständlich, daß ein Tempelkind im Laufe seines Lebens aus sich selbst heraus einmal diesen Wunsch verspüren würde. Der Prinz wartete selbst auf einen Keim dieses Wunsches. Der Vater war ein starker Priester, befand sich auf der fünften Ebene und war damit ein Mann des Gottes Raaki. Und sein vertrautester Freund, Orales aus Moras, war einst Falla des Lichts in seinem Heimatland gewesen. Ilkonys kannte so manchen Priester und viele von ihnen liebte er wirklich. Er wünschte sich durchaus, in ihre Welt einzutreten und ihr Empfinden und Wissen zu teilen. Doch das war nie zum Wollen geworden.
Ihn fröstelte. Der junge Prinz ging zurück, suchte seine eigenen Räume in der Burg auf und freute sich über das Feuer, das sein Page Naryll für ihn entfachte. Er ließ sich auf dem weichen Teppich vor dem Kamin nieder, schaute den Flammen bei ihrem Tanz zu und hing seinen Gedanken nach. Als der Than ihn damals bei seinem Vater ließ, befahl er, daß der Prinz nach Amarra kommen müsse, sobald er von dort gerufen wurde oder selbst das Verlangen verspürte, dorthin zu gehen. Ilkonys kannte die Bedeutung dieser Worte. Ein Erbe der Macht mußte seine erste Weihe in einem Tempel des Lichts erhalten - ihm stand nicht einmal die Wahl dieses Tempels frei. Für ihn mußte es Amarra selbst sein. Er kannte die schöne Insel, auf der nie ein kalter Nebel wehte, da sie, umgeben von warmen Meeresströmen stetig ein blühender Garten blieb. Es gefiel ihm dort durchaus, nur, er konnte sich einfach nicht vorstellen, hinzureisen und sich der Leitung eines ihm fremden Priesters zu unterstellen. Er schob ein Stück Holz ins Feuer und lächelte dabei. Es war üblich in den Nebelreichen, daß sich stets der Schüler den Lehrer, der Chela den Leiter erwählte. Auch er besaß das Recht der freien Wahl. Aber er kannte auf Amarra kaum einen Priester näher. Außer Seymas natürlich. Seymas war ein Jahr jünger als er und dennoch bereits ein starker Priester, der alle Weihen erfahren hatte. Er mochte ihn sehr, auch wenn sie bei ihren spärlichen Begegnungen fast immer in Streit gerieten. Er vertraute Seymas auch. Doch er konnte sich nicht vorstellen, von ihm zu den Weihen geführt zu werden. Er kannte Seymas als einen lebenslustigen Kerl, der gern und viel lachte, oft zu Streichen aufgelegt war und der anscheinend nichts wirklich ernst nahm. Und eine Weihe, so nahm Ilkonys an, war eine sehr ernste Angelegenheit. Seine Gedanken schweiften ab. Da war noch Gerrys, den er liebte und dem er blind vertraute. Auch Gerrys besaß alle Weihen und ihm könnte sich der Prinz rückhaltlos jederzeit
anvertrauen. Doch Gerrys war Falla des dunklen Gottes und er mußte seine Weihe in einem Tempel des Lichts erhalten. Der Gedanke stimmte ihn fast ein wenig traurig. Er hielt inne, als fiele ihm erst jetzt auf, womit er sich in Gedanken schon den ganzen Tag beschäftigte. Und dann erhob er sich, kleidete sich fast hastig um und verließ den Raum. Es galten feste Regeln in der Burg und eine dieser Regeln besagte, daß man den Herrscher in seinen Arbeitsräumen nicht zwanglos aufsuchen durfte. So hatte er fast ein schlechtes Gewissen, als er das große Zimmer seines Vaters betrat. Ariston sah nur flüchtig auf, wandte sich sofort wieder seinem Freund Orales zu und vollendete seinen begonnenen Satz. Dann legte er die Papiere sorgsam beiseite, mit denen sie sich wohl soeben beschäftigten. "Was gibt es denn so wichtiges?" wollte der König wissen. Ilkonys zuckte leicht mit den Schultern, als wisse er es nicht, trat aber nun näher und setzte sich zu den beiden Männern. Ariston schob ihm einen Becher Wein zu. Er spürte eine Ernsthaftigkeit in seinem Sohn, die er so nicht an ihm kannte. "Was beschäftigt dich, mein Junge?" "Amarra." Das war alles, was der Prinz sagte und es war auch genug. Orales sah erfreut auf, während sich Ariston zurücklehnte und kurz die Augen schloß. Irgendwann, das wußte er, würde sein Sohn den Ruf verspüren und immer hatte er diese Stunde gefürchtet, da sie einen langen Abschied bedeutete. Doch als er dann den Prinzen ansah, leuchteten seine braunen Augen voll Freude und Stolz. "Ist die Zeit gekommen?" fragte er fast liebevoll.
"Ehe ich geboren wurde," wich der Prinz einer direkten Antwort aus, "erhielt ich vom Than einen Amethysten mit dem Siegel Amarras und er sagte, daß ich in seinem Land Leitung erfahren werde. Aber vor fünf Jahren nahm er mir das Siegel wieder weg und sagte, daß ich es mir erst wieder verdienen muß." "Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun," versprach Orales ruhig. "Das habe ich befürchtet," gab Ilkonys unumwunden zu. Er richtete seinen Blick fest auf den Herrscher. "Was soll ich tun, Vater? Muß ich nach Amarra gehen?" "Müssen? Amarra hat dich nicht gerufen und wenn du es nicht selbst willst, wer sollte dich zwingen?" erwiderte der König erstaunt. "Wo ist dein Problem? Fühlst du dich zu den Weihen gerufen, wirst du diesem Ruf gehorchen." "Aber wählt nicht immer der Chela den Lehrer aus?" wandte Ilkonys fast kleinlaut ein. "So ist es und so bleibt es," versprach Orales mit fester Stimme. "Du wirst dort deine Wahl unbeeinflußt treffen können." "Dort," murmelte Ilkonys mit einem Anflug von Bitterkeit. "Ich will aber nicht dort hin." Ariston neigte sich dem Sohn entgegen. Er war sehr ernst geworden. "Wem willst du deinen Geist anvertrauen?" wollte er wissen. "Als Kind dachte ich immer, daß es Gerrys sein würde," erwiderte Ilkonys mit schiefem Lächeln, "ich dachte, daß nur er das tun kann. Aber das wäre irgendwie nicht richtig, ich weiß es."
Ariston entspannte sich. "Wer ist es?" erkundigte er sich noch einmal. Ilkonys trank einen kleinen Schluck. Er war sich seiner Sache selbst nicht sicher und wußte nicht, wer ihn leiten sollte. Fast nahm er an, seine Gedanken seien aus der Langeweile der Zeit geboren und nicht wirklich ein Ruf zur Weihe. Er dachte wieder an Seymas und ihre letzte Begegnung in Khyon. Das war fünf Jahre her. Seymas war damals Gerrys' Chela, er und Thyrian. Ilkonys lächelte begreifend. "Habt ihr beide Khyon vergessen?" fragte er langsam. "Was meinst du?" "Es waren viele starke Priester dort, als Raakis Tempel geweiht wurde," antwortete Ilkonys. "Caryll, der Pala des Than, Jostur, Sathor, Drakan und all die andern." "Ja, und wer noch?" erkundigte sich Orlaes, der begriff, wie sich Ilkonys selbst erst dem eigenen Erkennen annähern mußte. "Wir waren in den Bergwerksstollen eingeschlossen," erinnerte sich der Prinz, "Seymas, ich und Thyrian. Ich habe Thyrian nicht gemocht und hätte ihn ohne Bedauern im Berg sterben lassen. Deshalb verlor ich ja das Siegel Amarras." "Du mochtest ihn auch hinterher nicht," stellte Ariston ruhig fest. "Noch lange Zeit später hast du gern darüber geredet, wie wenig er dir gefiel." "Ich habe meine Meinung über ihn nicht geändert," versprach der Erbe Nodhers, "er ist viel zu ernst in allen Dingen und legt zu viel Wert auf Äußerlichkeiten."
"Warum sprichst du über ihn?" drängte Ariston, der aber nun die Antwort schon kannte. "Dort im Berg hat Thyrian sein Leben gewagt, um Seymas zu helfen. Ohne ihn wäre Seymas vielleicht gestorben, als ihn der Berggeist überschattete. Ich glaube nicht, daß Thyrian sehr mutig ist - aber er ist ein treuer Freund und man kann sich ganz auf ihn verlassen. Ihm will ich meinen Geist anvertrauen, Vater. Ich bin überzeugt, daß er mich sicher führen kann." Ariston und Orales sahen sich an. Beide konnten diese Wahl nicht nachvollziehen, aber beide kannten Thyrian nicht, obgleich sie ihn in Khyon sahen. Auf der Heimreise von Khyon aus begleitete sie dieser junge Mann zwar und sie erinnerten sich daran, wie er mit dem Priester Parcylen darum wetteiferte, Gerrys den Leibdienst zu leisten, den ein Priesterschüler zu leisten hatte. Auf der ganzen Reise war ihnen der Schüler des Freundes aber fremd geblieben. "Dieser Thyrian..." brach ihn lächelnd:
sagte Ariston da, doch Orales unter-
"Der Chela wählt den Lehrer. So ist es und so bleibt es. Nachdem Gerrys ihn zu Raakis Kraft leitete, verließ er Nodher und kehrte nach Sarai zurück, wenn ich mich recht entsinne. Gerrys sagte, daß er dort im Tempel des Lichts leben wolle." "Ja, ich weiß," bestätigte Ilkonys, "und ein Tempel des Lichts muß es ja wohl sein. Aber wird Amarra das erlauben?" "Willst du um Erlaubnis fragen?" wunderte sich Ariston und stand dem Sohn so in dessen Entscheidung bei. "Wenn du sagst, daß dies dein Weg ist, dann mußt ihn gehen. Sobald die kalten Nebel enden..." "Nein, nicht erst dann," unterbrach ihn Ilkonys drängend.
"Wenn bis dahin Amarra ruft, muß ich gehorchen. Sie rufen nie zur Zeit der kalten Nebel und wenn ich die nütze und gleich nach Sarai gehe, kann mich niemand aufhalten." Er besaß die besseren Argumente. Zwar reiste niemand freiwillig in der kalten Zeit, doch besaß die Sache hier durchaus Gewicht und mit der richtigen Ausrüstung sollte es machbar sein. Natürlich würde der Erbe der Macht nicht allein reisen, sondern ein Gefolge um sich haben, das ihm alle Annehmlichkeiten verschaffte, die möglich waren. Noch war er ein Herr. Erst im Tempel, wenn Thyrian ihn als Schüler annahm, begann für ihn eine Zeit des Dienens und es war Sitte, daß der Chela seinen Lehrer durch Leibdienst entlohnte. Sie planten schon die Reise. "Du wirst in Raakis Tempel rasten," vermutete der Herrscher, doch der Sohn lehnte hastig ab. "Nein, Vater," wandte er ein, "ich werde mit dem Boot den Riatha hinabfahren und von dort aus übers Meer reisen." "Ein reichlicher Umweg," stellte Orales trocken fest, "hast du es so wenig eilig?" "Das nicht," gab Ilkonys leise zu, "aber ich kann nicht an Raakis Tempel vorbeiziehen, ohne Gerrys zu besuchen. Und wenn er weiß, wohin ich will, dann kann ich genauso Amarra um Erlaubnis fragen." Ariston mußte nachgeben. Gerrys war dem Than so tief verbunden, daß er keine Geheimnisse vor ihm verbergen konnte und wohl auch nicht wollte. Das gefiel ihm zwar nicht und gern hätte er Gerrys' Meinung zu allem gehört, doch Ilkonys war sich seiner Sache so sicher, daß darüber nicht weiter diskutiert werden konnte. Sie würden zwei Tage der Vorbereitung brauchen, dann konnte der Prinz seine Reise beginnen. In dieser Zeit
begann er, sich auf den neuen Lebensabschnitt zu freuen und als er endlich die Burg verließ, kannte er kein Bedauern. Und sein Vater freute sich mit ihm, da er seinen Erben irgendwann dann als priesterlichen Bruder begrüßen konnte.
W
ährend überall in den Nebelreichen die Menschen Mühe aufwenden mußten, um sich vor der Kälte zu schützen, grünte und blühte es auf Amarra wie immer. Hier würde wohl niemand verstehen, weshalb Nodhers Erbe eine beschwerliche Reise nach Sarai während der kalten Nebel einem Aufenthalt auf der schönen Insel vorzog. Aber hier wußte auch niemand davon. Der junge Seymas schwamm in weiten Zügen durch die Brandung, die in sanften Wellen am Sandufer auslief. Er war weit ins Meer hinaus geschwommen und freute sich nun darauf, auf dem warmen Sand zu liegen und seinen eigenen Gedanken zu lauschen. Der warme Wind vom Meer her trocknete rasch seine Haut. Sein Blick folgte dem Flug eines Seevogels, der unter den hohen Nebeln seine Bahn zog. Ein alter Mann kam an den Strand, erblickte den jungen Mann und blieb zögernd stehen. Dann wandte er sich wieder um. Seymas hatte ihn schon erspürt und er spürte nun auch, wie der andere gehen wollte. So setzte er sich auf. "Wohin des Weges, Bruder?" rief er freundlich. Der Alte blieb stehen, schien zu zaudern und kam dann mit langsam schlürfenden Schritt näher. Seymas stand auf und grüßte mit leichter Verneigung. "Ich bitte um Vergebung, wenn ich störe," sagte der Alte nach einiger Überwindung, "es lag mir fern, euch lästig zu sein." Seymas lachte fröhlich.
"Ich glaube, wehrte er ab.
ich
war gerade nicht sehr beschäftigt,"
Und mit flüchtigem Bedauern dachte er daran, daß sich sein Leben in den letzten Jahren sehr änderte. Er war immer der fröhliche Junge gewesen, den die Menschen mochten und in dessen Nähe sie sich gern aufhielten. Seit er denken konnte, achtete der mächtigste Mann der Reiche auf seinen Weg, doch die befremdliche Scheu, die man diesem gegenüber an den Tag legte, wurde früher nie auf Seymas übertragen. Seit aber der Than und dessen Pala Caryll ihn immer mehr auch zur Mitarbeit heranzogen, änderte sich dies stetig. Seymas besaß keine Macht und im Grunde galt sein Wort weniger als das der Priester im engeren Umkreis des Than. Aber zwischen ihm und dem Than Nymardos herrschte eine tiefe Zuneigung und die blieb nicht verborgen. So galt die Scheu, der er begegnete, auch weniger ihm als vielmehr seinem Beschützer. Er wußte es und es gefiel ihm nicht, doch vermochte er es auch nicht zu ändern. Seymas streifte sich seine einfache, braune Tunika über; ein Gewand, wie es jeder Priester ungeachtet seines Standes tragen konnte und das nichts verriet über den Grad der Weihe und die Art des Dienstes. "Ihr habt die Einsamkeit gesucht," stellte der junge Mann mit natürlicher Offenheit fest. "Hier ist ein guter Ort dafür - aber," so fügte er fast schelmisch hinzu, "eigentlich ist es kein guter Ort, um traurig zu sein." Der Alte wandte den Kopf, damit Seymas nicht sehen sollte, wie es in seinem Antlitz schmerzhaft zuckte. "Manchmal ist es schwer, einfach zu bejahen," murmelte er. "Manchmal ist es auch unnötig," versprach Seymas eifrig. Er hatte unbemerkt des Geist des alten Mannes berührt
und wußte schon in etwa, was diesen beschäftigte. Doch anstatt sich nun ernsthaft zu geben und dessen Sorgen zu lauschen, plauderte er fröhlich und erzählte Geschichten und tat ganz einfach so, als sei das Leben eine angenehme Sache. Ganz langsam gingen sie nebeneinander und der Junge überschwemmte den Alten mit vielen Nebensächlichkeiten. Der hörte zunächst nicht einmal zu. Später dann tat er aus Höflichkeit und schließlich wurde er gefangen von der Weltsicht des Jüngeren und lauschte geradezu andächtig. Sie waren den schmalen, blumengesäumten Weg hinauf gegangen, der zum Haupttempel Amarras führte und erreichten jetzt die ersten Häuser, in denen auserwählte Priesterinnen und Priester lebten. Hier stand unter einem mächtigen Pejuk-Baum ein kleiner Bau. Seymas bewohnte dieses Haus seit vielen Jahren; eine Auszeichnung, die er sich nie verdienen mußte. Er nahm den Alten mit in sein Haus, bewirtete ihn und plauderte munter weiter. Seine hellen Locken hingen wirr um sein weiches Antlitz; das Band, das sie hielt, hatte sich halb gelockert. Er lachte und scherzte und als die Nebel sanken, fand er noch kein Ende damit. Vom Tempel her rief es zum heiligen Ritual der Weisheit und nach dieser Stunde wurde es für kurze Zeit laut im Garten, als die Menschen ihren Wohnräumen zustrebten. Seymas saß noch immer bei dem alten Mann, doch nun schwieg er. Der Alte hatte alle Scheu überwunden und erzählte nun aus seinem eigenen Leben und in diesem langen Leben hatte er vieles gesehen und erfahren, das er berichten konnte. Der Tempel rief zum Ritual der Antares, der Göttin des Lichts, und noch immer saßen sie beisammen. Noch ehe die Nebel sich hoben, wurde zu Tabalkes Ritual gerufen und in dem kleinen Haus brannte noch immer das Licht einer Kerze. Sie erlosch erst, als das Morgenlicht ihren Schein übertraf. Seymas öffnete die Tür und das Fenster und atmete tief durch. "Das wird ein guter Tag," versprach er seinem Gast.
Schlagartig wurde der Alte sehr ernst. "Es wird der traurigste Tag meines Lebens sein," widersprach er. "Aber ich habe die beste Nacht davon eben verbracht. Ich danke euch sehr, Seymas." Der junge Priester lachte nur. Er stand in der Tür und sah den Pala des Than kommen. Caryll war nun siebenundvierzig Jahre alt und in sein Gesicht zeichneten sich die ersten Falten ein. Das dunkle Haar trug er offen. Als Pala des Than war er ein Mann der Macht und sein Titel schloß nicht nur die Bedeutung des Verwalters ein, sondern auch jene des Freundes. Auf Amarra war sein Wort Befehl. Seymas ging zurück in sein Haus und zwang Caryll so, ihm zu folgen. Der Alte erschrak, als er den Pala sah und erhob sich hastig, um dann langsam auf die Knie zu sinken. Erstaunt und etwas unwillig sah Caryll den Besucher des jungen Priesters. "Steh auf," verlangte er ruhig. "Ich hatte nicht erwartet, dich hier zu sehen, Sondor. Ich nahm an, daß du den Tempelbereich bereits verlassen hast." Der Alte wollte sich entschuldigen, doch Seymas mischte sich mit fröhlicher Stimme ein: "Es ist meine Schuld, wenn er säumte," versprach er. "Aber wir haben uns so angeregt unterhalten, daß wir die Zeit aus dem Blick verloren. Ich habe heute Nacht sehr viel von Sondor gelernt." Caryll warf ihm einen skeptischen Blick zu, doch Seymas beharrte: "So umfassendes Wissen ist eigentlich unersetzlich, Pala." Jetzt lächelte der Pala des Than ein wenig und als er sich an Sondor wandte, klang seine Stimme sehr freundlich:
"Dann ist es wohl an der Zeit, daß du deine Arbeit wieder aufnimmst." Und zu Seymas gewandt, fügte er hinzu: "Ich will dich sehen." Nach diesen Worten ging er hinaus und durchquerte den parkähnlichen Garten. Seymas lachte fröhlich. Sondor starrte ihn sprachlos an. "Was habt ihr getan?" murmelte er. "Gar nichts," erwiderte Seymas. "Aber ich will den Pala nicht warten lassen. Es wird sicher auch für euch ein schöner Tag." Er war schon bei Tür, als der Alte antwortete: "Es ist ein schöner Tag." Auch Caryll bewohnte hier ein eigenes Haus, das mehrere Räume besaß. Sein Rang würde ihm erlauben, im Tempel selbst zu leben, doch er wählte diesen Ort für sich. Seymas suchte ihn nun sofort auf. Caryll deutete nur auf den Tisch, auf dem heißer Körnerbrei in Schalen bereit stand und frischer Kräutertee in den Bechern dampfte. Erfreut nahm Seymas die Einladung zum gemeinsamen Frühmahl an, setzte sich ungeniert und aß. "Woher kennst du Sondor Caryll mit ruhiger Stimme.
so genau?" erkundigte sich
"Ich kenne ihn nicht," wehrte Seymas kauend ab. "Wir sind uns am Strand begegnet. Nun, er war traurig und ich war es nicht und so haben wir uns eben unterhalten. Hattet ihr Streit mit ihm?" "Warum sollte ich mit ihm streiten? Nein, Seymas, das gewiß nicht. Er arbeitet seit vielen Jahren für mich."
"Das ist mir sehr schnell bewußt geworden," gab Seymas zu. "Aber mit Verlaub, Herr, weshalb wollt ihr seinen Dienst nicht mehr?" Caryll schob die leere Schale etwas zurück und griff nach einer Pejuk-Frucht. "Sondor ist alt geworden," antwortete er offen, "und er beginnt, Fehler zu machen und zu viel Zeit zu benötigen. Er sollte von allen Pflichten entbunden sein." "Dann käme er sich überflüssig vor," behauptete Seymas. "Jeder Mensch braucht eine Aufgabe." "Jeder?" Caryll warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Seymas seufzte ein wenig. Seit Jahren stritten sie um dieses Thema und fast wäre es Anlaß der Entzweiung gewesen. Der Pala des Than vertrat stets die Meinung, daß ein Mann einen festen Dienst leisten müsse und Seymas wehrte sich gegen diese Einstellung. Da der Than ihm beistand, mußte er sich nie in festen Dienst begeben und auch kein Handwerk erlernen oder sonstige stete Alltagstätigkeiten verrichten. Seit langem nun arbeitete er schon für Nymardos und auch für Caryll, doch bei allem behielt er seine Freiheit und auch wenn er oftmals viele Stunden am Tag sein Werk versah, so fehlte diesem doch der feste Rahmen. Denn es konnte jederzeit geschehen, daß sich Seymas der Pflicht entzog, um etwas anderes zu tun. "Ich bin jedenfalls froh," lenkte der junge Priester von diesem Thema ab, "daß ihr Sondor nun doch wieder arbeiten laßt." "Genau das wolltest du doch, nicht wahr?"
"Natürlich," gab er offen zu. "Ich habe nur befürchtet, daß ihr schwerer zu überzeugen seid." "Du solltest wissen, daß ich stets auf deiner Seite bin und für dich tue, was möglich ist," antwortete Caryll sehr ernst. Seymas lachte leise und schob seine Schale zurück. Er erhob sich und verneigte sich auf spielerische Weise. "Das weiß ich, Herr," versicherte er, "ich weiß schon, daß ihr mich liebt." Und ehe Caryll etwas erwidern konnte, verließ er schon das Haus. Seymas wollte darüber bestimmt nicht reden. Er wußte sehr genau, daß Caryll keine körperliche Nähe und keine offene Zuneigung duldete. Das hatte nichts mit ihm zu tun. Der Than war der engste Freund des Pala und auch diesem gestattete Caryll keine Nähe. Es lag einfach nicht in seinem Wesen. Es war ihm schon unangenehm, wenn in seiner Gegenwart auch nur von Liebe gesprochen wurde, vor allem dann, wenn es dabei um seine Liebe ging, die er durchaus tief empfand. Der junge Priester suchte sein Haus auf, schabte sich den Bart, wusch sich und kleidete sich neu ein. Danach lief er zum Tempel, blieb aber dann bei dem geöffneten Tor stehen. Es war Gesetz, daß niemand ungerufen zum Than ging und obgleich Nymardos ihm schon vor Jahren erlaubte, diese Regel zu umgehen, so fiel ihm das doch immer noch sehr schwer. Er kannte eigentlich keine Scheu vor dem Mächtigen und in der gemeinsamen Arbeit wie auch den gemeinsamen Stunden des Redens bewahrte er meist seine natürliche Heiterkeit. Nur dieser eine, erste Schritt, der kostete ihn stets Überwindung. Meist wartete er dann, daß ein Bote zu Nymardos ging und nahm diesem den Gang ab. Da aber nun niemand dem Tempel zustrebte, trat er endlich doch ein und ging durch den weiten Gang zu den privaten Räumen seines Herrn.
Es gab keine Wächter hier und niemanden, der ihn aufhielt. Der junge Priester pochte an die breite, zweiflügelige Tür und wartete auf einen Zuruf, ehe er eintrat. Nymardos saß in einem tiefen Sessel und las in einer Schrift. Da er seinen Besucher sah, leuchtete es in seinen Augen erfreut auf. Seymas verneigte sich tief, ging dann auf die Knie und legte sich endlich längs auf den Boden, die Arme ausgebreitet. Dieser vorgeschriebene Gruß fiel ihm nicht schwer, obgleich er ihn nur selten leistete. Der Than legte die Schrift beiseite. "Warum so unterwürfig?" erkundigte er sich ruhig. Seymas erhob sich auf die Knie. "Bin ich nicht," versprach er, "aber ich habe heute keine Ausrede gefunden, die mein Eindringen entschuldigen könnte." Nymardos lächelte und bedeutete ihm, sich zu erheben. "Du bist immer willkommen, Seymas." "Aber ihr ward bestimmt gestört."
sehr
vertieft,
Herr.
Ich
habe euch
"Nun, ich habe hier eine sehr interessante Schrift," erwiderte der Than und reichte Seymas die Rolle, "schau sie dir an." In den Nebelreichen waren nicht viele Menschen des Lesens und Schreibens kundig und auch die Priesterschaft stellte hier keine Ausnahme dar. Doch es gab große und kostbare Bibliotheken, die das Wissen der Zeit hüteten. Und die Gelehrten und Forscher und Priester ergänzten das Wissen, wo sich neue Erkenntnisse auftaten. Seymas las die Schriftrolle, die mit kleiner, sehr gleichmäßiger und ruhiger Schrift über die Wechselwirkungen der Kräfte innerhalb
der Natur resümierte. Der Inhalt faszinierte ihn und er vertiefte sich darin, merkte selbst kaum, wie er lesend ungefragt Platz nahm und ganz vergaß, wo er sich befand. Endlich legte er die Schrift beiseite. "Kluge Worte," meinte er nachdenklich. "So habe ich vieles bisher nicht betrachtet, aber es ist sehr einleuchtend. Die Schrift ist neu. Wer ist der Gelehrte, der sie verfaßt hat, Gebieter?" Nymardos lächelte. "Ein Magier," erwiderte er. Nun war die Gilde der Magier in den Reichen im Grunde das Gegenstück zur Priesterschaft. Es gab wohl keine Feindschaft, doch durchaus einen gewissen Argwohn und man ging sich möglichst aus dem Weg. Seymas wunderte sich darüber, wie die Schrift eines Magiers nach Amarra gelangen konnte. "Es ist nicht die erste Arbeit dieses Mannes, die ich lese," erklärte ihm Nymardos. "Wenn du willst, kannst du die anderen Schriften gern einsehen." "Das will ich gern," versicherte der junge Mann. "Es muß ein besonderer Magier sein." Nymardos lachte leise. "Du verdankst ihm dein Leben," entdeckte er. "Es ist Tibra, der dich einst in Khyon rettete, als er den Berggeist beschwor." Seymas erinnerte sich oft an diese Zeit, die ihm vor allem deshalb wertvoll wurde, weil er dort der Kraft Raakis begegnete und die fünfte Weihe erfuhr. An den Magier selbst erinnerte er sich kaum, sah er ihn doch nur kurz und
sprach nur wenige Worte mit ihm. Doch Khyon war für ihn auch fest verbunden mir dem Namen Thyrian. Seymas dachte an den jungen Priester aus Sarai, der am selben Tag wie er in Raakis Tempel in Nodher auftauchte und Gerrys um Leitung bat. Sie verbrachten viel Zeit miteinander und in den wenigen Wochen, die ihnen blieben, wurden sie durchaus Freunde. Der Abschied war Thyrian, der nie zuvor mit einem Menschen Freundschaft schloß, sehr schwer gefallen. "Ich hatte immer gehofft, murmelte er leicht betrübt.
ihn
wieder
zu sehen,"
Nymardos neigte sich nach vorn. Er wußte, daß sein Schützling jetzt nicht von Tibra sprach. "Wenn ich ihn rufe, muß er kommen," bot er an. Seymas sah auf und schüttelte etwas betrübt den Kopf. "Es ist zu lange her," befürchtete er, "und wir haben uns nicht gut genug gekannt." "Er liebt dich," widersprach Nymardos ernst. "Nun ja, niemand kann ungerufen nach Amarra kommen," erwiderte Seymas ruhig, "und ich würde euch bestimmt bitten, ihn zu rufen, wenn ich wüßte, daß er sich das wünscht. Aber er denkt nicht mehr an mich." "Er kann es sich nicht wünschen," erklärte der Than. "Deine Nähe zu mir macht ihm das unmöglich." "Mir auch," grinste Seymas, schon wieder heiter. "Ich hätte Thyrian sehr gern hier und würde mich freuen, wenn ich ihn sehen dürfte. Aber so nahe am Tempel würde er sich nicht wohl fühlen - und ich will nicht weg."
Er lenkte das Gespräch auf Tibra. Daß dieser Mann solche Schriften verfassen konnte, imponierte dem jungen Mann. Bald vertiefte er sich mit Nymardos ins Gespräch über die Erkenntnisse und Gedankengänge des Magiers, der im fernen Nodher lebte.
D
ie Zeit der kalten Nebel hatte ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, doch die Nächte zeigten sich bedrohlich kalt und das Fieber erfaßte viele Menschen, die sich zu lange im Freien aufhielten. Thyrian war es gelungen, in einer kleinen Stadt als Schreiber Arbeit zu finden und da er einen anderen Namen annahm, blieb er zunächst unentdeckt. Doch als die kleine Tochter seines Herrn am Fieber erkrankte und er sie durch die Kraft seiner Hände heilte, da wurde allen gewahr, daß dieser angebliche Schreiber ein Priester sein mußte und man erinnerte sich daran, daß der Erbe des Reiches diesen Mann haben wollte. Thyrian mußte fliehen. Delaros hatte eine hohe Summe ausgesetzt als Belohnung für die Ergreifung Thyrians und viele Kopfjäger suchten den Priester im ganzen Land. Der Mann, der es wagte, den Erben des Reiches mit der Waffe zu bedrohen, durfte nicht in Freiheit leben und solange er es tat, galt Delaros als bedroht. Der Prinz ärgerte sich selbst über diese Anschauung, denn er wußte ja, daß Thyrian ihm niemals schaden wollte. Im Gegenteil fühlte sich Delaros dem Priester verpflichtet, doch er wagte nicht, das zu laut zu sagen. Es gab Dispute deshalb mit seinem Vater und dessen Gemahlin, aber auch mit den Ratgebern des Königs. Und Delaros war noch fremd in seinem eigenen Land und mußte sich Achtung und Respekt erst erkämpfen. Wenn er für Thyrian einstand, konnte ihm dies nicht gelingen und so ließ er diesen halbherzig suchen, um die Menschen seines Umfeldes zufrieden zu stellen. Es war sehr schwer gewesen, wenigstens durchzusetzen, daß das Kopfgeld nur dann Gültigkeit besaß, wenn Thyrian lebend ausgeliefert wurde.
Delaros hoffte insgeheim, daß diese Einschränkung dem Priester helfen würde. Laut aber sprach er nicht über seine Gedanken, sondern verschloß seine Empfindungen tief in sich und versuchte, den Priester durch Abwechslung und Zerstreuung zu vergessen.
T
hyrian erreichte mit den sinkenden Nebeln eine einsam gelegene Herberge und trat ein. Neben dem Feuer saß ein einsamer Gast. Die Wirtin reichte Thyrian heißes Wurzelgemüse und Brot, dazu einen Becher Wein und als er ihr seinen letzten Solar reichte, erlaubte sie ihm, in einer Ecke der Herberge auf einer Lage Stroh zu nächtigen. Der andere Gast hatte inzwischen viel mehr Wein getrunken, als er vertragen konnte. Er begann lärmend ein Schlachtlied zu singen. Eine Tür öffnete sich und ein schlaftrunkener, aber wohl gut bezahlender Gast schimpfte aus dieser Schlafkammer heraus. Die Wirtin kam gelaufen und versuchte, den Trunkenen zu beruhigen. Da ihr dies nicht gelingen wollte, zerrte und schob sie ihn zur Tür. Aber als sie diese öffnete und die Kälte der Nacht eindrang, wurde er fast nüchtern. Er hieb der Frau ins Gesicht. "Niemand schmeißt mich hinaus," rief er lallend. Thyrian hatte sich inzwischen erhoben und trat nun herbei. "Dann gebt Ruhe und schlaft," schlug er vor. Der Angetrunkene fuhr herum und starrte den Fremden an. Thyrian wich seinem Blick hastig aus, konzentrierte sich aber zugleich auf dessen Geist und blieb aufmerksam. "Ich tue nur, was ich will," rief der Mann übertrieben laut. "Dann hinaus mit dir," schimpfte die Wirtin und öffnete erneut die Tür.
Der Mann schlug nach ihr, verfehlte sie aber, da Thyrian sie rechtzeitig beiseite zog. Mit einem Mal lag ein Dolch in der Hand des Fremden und drohend wies die Klinge auf den Priester. Im flackernden Schein des Feuers begegneten sich die Blicke der Männer und während sie sich fixierten, hielt Thyrian den andern fast mühelos in seinem Blick gefangen. Langsam streckte er die Hand aus und entwaffnete sein Gegenüber. Der Mann sprang zurück. "Ein Priester," entfuhr es ihm und nun war er fast nüchtern, "das ist der Mann, den unser Herrscher sucht." Der Gast aus dem Schlafraum griff nach seinem Säbel und kam heran. Thyrian wich etwas zurück. "Den Dolch weg," forderte der andere. Thyrian schüttelte langsam den Kopf. "Ich werde mich sicher nicht kampflos ergeben," versprach er. Erstaunt stellte er fest, daß diese Bemerkung seinen Gegner beunruhigte. Dieser Mann war ein Kopfjäger und ihn lockte der hohe Lohn, den er für Thyrians Ergreifung erhalten konnte. Da verstand der Priester, daß Delaros ihn zwar jagen ließ, doch zugleich sein Leben zu schützen suchte. Kalt wehte der Nebel hinter ihm. Diese Erkenntnis konnte nun nicht viel helfen, denn er durfte nicht verweilen. Den Umgang mit Waffen beherrschte Thyrian nicht. Mit flüchtigem Bedauern dachte er an die Wochen in Nodher, als der Tempelhelfer Rhagan in Raakis Bereich ihm oft anbot, ihn genau dies zu lehren und er dieses Angebot stets freundlich ablehnte. Jetzt wäre es ein großer Vorteil, kämpfen zu können. Thyrian verharrte angespannt. Gäbe es nur einen Gegner, so wüßte er sich durchaus zu helfen und könnte sich auch durch priesterliche Macht schützen. Aber der Betrunkene durfte nicht unterschätzt werden
und erforderte das gleiche Maß an Aufmerksamkeit wie der bewaffnete Mann. In einem der hinteren Räume wurde Geräusche hörbar. Thyrian atmete tief durch. In wenigen Minuten würde er sich einer Übermacht gegenüber sehen, gegen die es nichts auszurichten gab. Er hatte keine Wahl, er mußte die Flucht antreten. Der Priester sprang zurück und verbarg sich in der Dunkelheit, lief im Nebel davon und sehnte sich nach seinem Mantel, der in der Herberge verblieb. Er lief und lief und wußte mit Sicherheit, daß kein Mensch es wagen würde, ihm in der Nacht zu folgen. Die kalten Nebel hingen schwer und naß in seinen Kleidern. Thyrian ging weiter, doch viel langsamer nun. Er konnte kaum zwei Schritte weit sehen und verspürte zudem schmerzhaft die Kälte in den Gliedern. Es war, als leuchte vor ihm, doch weit entfernt, ein Flammender Kristall. Doch er konnte nicht sicher sein. Thyrian ging weiter, stolperte über eine gefrorene Erdkrume und stürzte. Er wollte sich aufraffen, doch die Kälte und die Erschöpfung wirkten in ihm. Vor allem aber gab es ohnehin keinen Ort, wohin er gehen konnte. So blieb er einfach liegen und ergab sich seinem Schicksal, das wie eine schwarze Dämmerung in seinem Geist wehte und sein Bewußtsein umschloß. Er wunderte sich selbst darüber, daß ausgerechnet in dieser Stunde sein Denken Amarra suchte. Er dachte nicht an Seymas, sondern an den Than selbst, der ihm einst versprach, daß immer alles für ihn getan sein würde. Irgendwie war er erleichtert in der Erkenntnis, daß nun jedes Tun für ihn überflüssig wurde.
G
enau zu dieser Stunde entsann sich auf Amarra Nymardos des Wortes, das er Thyrian einst gab und auf der Burg in Sarai dachte Prinz Delaros, wie so oft, an den Priester, dessen Leben sich in ihrer ersten Begegnung veränderte. Delaros trank. Wie so oft seit dieser Begegnung versuchte er, sein unruhiges Empfinden im Geist des Weines zu ersticken. Am Tag erstickte er sich in Arbeit und er
kannte keine Ruhe darin. Doch in der Nacht schloß er sich in seinen Räumen ein und verfiel in dumpfes Grübeln. Eigentlich gab es keinen Anlaß für ihn, unzufrieden zu sein. Der Vater zeigte offen den Stolz, den er bei seinem Anblick empfand und die Ratgeber hörten auf seine Worte. Viele junge Männer buhlten um seine Freundschaft und schmeichelten ihm bei jeder Gelegenheit. Die jungen Frauen in der Burg versuchten, seine Aufmerksamkeit zu erringen. Aber all dies machte ihn nicht glücklich und immer dann, wenn er annahm, er könne anfangen, die Burg als Heimat zu betrachten, hörte er Rufe, die das Nahen eines Reisenden oder Boten verkündeten. Dann fürchtete er stets, es käme die Nachricht von Thyrians Ergreifung und immer fühlte er tiefe Erleichterung, wenn er erfuhr, daß der Priester in Freiheit war. Sollte man jemals Thyrian zu ihm bringen, so mußte er ihn verurteilen und Delaros wußte genau, daß jedes Urteil ungerecht sein mußte. Er war dem letzten Rat des Priesters gefolgt und kannte nun die Wahrheit. Die Soldaten, welche Thyrians Herde töteten, entließ er aus seinem Dienst, verurteilte sie aber nicht weiter. Eines Tages, so fürchtete er, würde er Thyrian begegnen und ihn verurteilen und er wußte nicht, wie dieses Urteil aussehen sollte. Spätestens dann mußte er sich entscheiden, ob er dem Wunsch des Vaters entsprechend oder dem eigenen Wesen gemäß leben wollte.
T
hyrian erwachte in einer kleinen Kammer. Durch die halb geöffnete Tür drang Wärme eines Feuers herein. Er wunderte sich, hier zu sein, wunderte sich noch mehr, keine Hitze im Leib zu spüren und sich bei bester Gesundheit zu finden. Neben seinem Lager stand ein Becher mit Saft und lagen einige Molnüsse. Thyrian richtete sich auf, aß und trank. Er fand alles, was er benötigte, um sich zu reinigen. Eine braune Tunika lag bereit. Er spürte es schon die ganze Zeit, doch nun vernahm er den vertrauten, lauten Klang des Gonges, mit dessen Ton in jedem Tempel kurz vor Tagesmitte zu Minosantes Ritual gerufen wurde. Er
wartete und nach einiger Zeit betrat ein ihm fremder Priester die Kammer und bedeutete ihm wortlos, ihm zu folgen. Thyrian gehorchte. Da er den flachen Bau verließ und sich umsah, erschrak er fast. Er kannte den Garten, die Häuser, den Tempel und wohl auch die meisten Menschen hier. In diesem Tempel diente er zwei Jahre hindurch, hier fand er einst den Zugang zur sechsten Weihe. Diesen Ort verließ er vor zwei Jahren und hier also erwachte er, nachdem er sich schon aufgegeben hatte. Sein Führer brachte ihn in den Tempel und schob ihn dort in den Raum des Fallas. Thyrian legte sich vor dem Tempelherrn schweigend zu Boden und breitete die Arme aus. Der Falla Trinarys diente in den sechzig Jahren seines Lebens treu seinem König und treu seinem Than. Nun schaute er auf den Priester nieder. Noch schwieg er. Thyrian lebte in seinem Haus, doch er kannte ihn nicht. Der Tempel des Lichts war ein großer Bau und besaß viele Häuser. Es lebten fast dreihundert Priester hier. Er konnte sie nicht alle kennen. Dieser Mann hier beunruhigte ihn. Trinarys trat einen knappen, nur angedeuteten Schritt nach vorn zum Zeichen für Thyrian, daß er sich auf die Knie erheben durfte. Der Priester gehorchte. Langsam hob er den Kopf. Es verwunderte ihn sehr, daß der Falla seinem Blick auswich. "Du also bist Thyrian, der den Erben unseres Reiches bedrohte," stellte er fest und es war ihm anzuhören, daß er Thyrian gern ausliefern wollte. "Das bin ich," erwiderte Thyrian ruhig, "und wenn ihr erlaubt, Herr, so werde ich euch berichten." Der Falla hob kurz die Hand zum Zeichen dafür, daß er nichts über die Sache hören wollte. Auch rührte er Thyrians geöffneten Geist nicht an, was den Priester sehr erstaunte. "Zu viele kennen dich hier, als daß du wirklich sicher
sein könntest," erklärte der Falla, "sobald die kalten Nebel enden, wirst du diesen Tempel verlassen. Bis zu diesem Zeitpunkt verharrst du in dem Haus, das man dir zeigen wird und wirst es nicht verlassen. Ich will, daß du dein Haar durch den Saft der Karbawurzel aufhellst und den Namen Kywar trägst. Niemand darf dich erkennen und niemand darf wissen, daß du hier bist. In einigen Wochen wirst du Sarai verlassen." Thyrian senkte ergeben den Kopf. Er faßte es kaum, daß der Tempel ihm Zuflucht bot. "Wohin befehlt ihr, daß ich gehen soll?" Trinarys sog tief und hörbar den Atem ein, ehe er antwortete: "Amarra hat dich gerufen." Er schlug das Triangel auf dem Tisch und befahl dem eintretenden Priester, Kywar in das angewiesene Haus zu bringen. Thyrian blieb nichts anderes übrig, als dem Mann zu folgen, obwohl er viel lieber unzählige Fragen stellen wollte. Nachdem er ging, trat Trinarys zum Fenster und starrte lange hinaus. Seine Pflicht dem Herrscher gegenüber befahl ihm die Auslieferung dieses Mannes und als in der Nacht ein paar Priester Thyrian brachten, war er dazu auch entschlossen. Diese Männer kehrten zurück aus einem Dorf, wo sie den Kranken halfen und sie fanden den Bewußtlosen. Einer von ihnen kannte Thyrian. Dem Mann wurde Schweigen geboten und ganz sicher verriet er Thyrian nicht. Der Falla fand seine Gleichmut wieder. In erster Linie war er ein Mann Amarras und als in den frühen Morgenstunden von dort der Rapport geschlossen wurde, nahm er jede Weisung an. Wie jeder und jede Falla in den Reichen stand er mit einem der ausgewählten Priester auf Amarra in zwingender geistiger Verbindung und konnte so
stets von dort erreicht werden. An diesem Tag war die Botschaft einfach und klar: für Thyrian solle alles Nötige getan werden, bis die Zeit es erlaube, daß er nach Amarra komme. Er empfing die Nachricht als klares, verständliches Wissen, ohne Beimengung und ohne jede Erklärung und er diente Amarra ohne Hinterfragung und fügte sich.
T
hyrian blieb in dem winzigen Haus, das man ihm bot und trat niemals auch nur einen Schritt hinaus. Ein Knabe brachte täglich etwas Nahrung und Wasser, sprach aber nicht mit ihm und hielt sich auch nicht auf. Der Priester akzeptierte dies. Es war gut, wenn ihn keiner sah und keiner kannte. Jeder, der ihm Unterschlupf gewährte, machte sich eines Verbrechens schuldig. Thyrian begriff nicht, weshalb der Falla so handelte. Es war ihm klar, daß dies nicht Trinarys' freie Entscheidung sein konnte. Und weshalb mochte Amarra ihn gerufen haben? Er dachte flüchtig an Seymas, doch verwarf er diesen Gedanken rasch. Bei ihrem Abschied auf Khyon versprach Seymas zwar, daß sie sich wiedersehen würden. Doch er kam nie mehr nach Nodher und auch nie nach Sarai und sicher vergaß er die gemeinsame Zeit schon. Überdies konnte er trotz seiner Nähe zum Than nicht nach Amarra rufen. Ein solcher Ruf ging nur von Nymardos selbst aus, zumindest dann, wenn er in dem Tonfall übermittelt wurde, den Trinarys gebrauchte. Doch weshalb sollte der Than ausgerechnet ihn rufen? Bei ihrer mehr flüchtigen Begegnung auf Khyon genoß er nicht unbedingt das Wohlwollen des Mächtigen, der ihm nur um Seymas' Willen Schutz versprach. Thyrian erkannte, daß er den Grund dieses Rufes wohl nur auf Amarra erfahren konnte und bis er diese Reise antreten konnte, mußte er in dem kleinen Haus verharren. Er nutzte die Zeit zu priesterlichen Übungen und nahte sich weiter den göttlichen Kräften, wie er es zuvor als einsamer Hirte in den Weiten des Landes tat.
I
lkonys hatte sich die Reise angenehmer vorgestellt. Solange er auf dem Schiff verweilte, war es recht erträglich. Nie zuvor sah er das Land zur Zeit der kalten Nebel auf so weite Strecke hin so kahl. Die Wälder an den Küsten wirkten gespenstisch und die kleinen Hafenstädte menschenleer. Aber innerhalb der Kabine war es wenigstens warm. Nun reiste er quer durch Sarai und die weite Steppe wirkte trostlos und öde. Sein Gefolge reiste mißmutig an seiner Seite. Den Männern gefiel die Kälte nicht. Der junge Prinz hielt sich in allem genau an die Reiseroute, die sein Vater festlegte und wich nie vom vorgegebenen Pfad ab. Auf diese Weise kam er zwar nicht unbedingt schnell voran, doch war er auch kaum gezwungen, im Freien zu nächtigen. Fast immer erreichten sie vor der Dunkelheit ein Dorf oder wenigstens eine Herberge. Und wenn dies unmöglich war, da dieses Gebiet nicht sehr dicht besiedelt wurde, dann bauten die Männer kleine, aber winddichte Zelte auf und wenn sich darin auch die Kälte nicht gänzlich abhalten ließ, so war man doch wenigstens vor der Feuchtigkeit geschützt. Ein paar Tage noch, dann war der Tempel des Lichts erreicht. Ilkonys begann erst nun, darüber nachzudenken, ob Thyrian überhaupt bereit sein würde, ihn als Schüler anzunehmen. In diesem Sinnen überprüfte er auch intensiv die Ernsthaftigkeit seines Wunsches nach den Weihen. Es beruhigte ihn, als er begriff, daß dieser Wunsch tief aus seinem Innern kam. Sollte Thyrian ihn wirklich ablehnen, was durchaus geschehen konnte, dann wollte er nach Amarra gehen und dort um Leitung bitten. Aber er hoffte sehr, dies würde nicht nötig sein.
S
eymas hatte nun schon einige Tage hindurch ernsthaft Caryll bei all dessen Werken unterstützt. Amarra war ein großes Land und Caryll hatte wirklich viel zu tun damit, dieses Reich zu verwalten und im Sinne des Than zu regieren. In Tagen wie diesen lernte Seymas viel und Caryll hoffte,
er würde nun endlich auch beständiger werden. Aber, wie immer, irrte er sich. Seymas schloß seine Arbeit ab, erstattete Caryll Bericht und erklärte dann freimütig: "Das wird langweilig, Pala. Ich werde eine Weile bei der Steilküste sein." "Du willst schon wieder der Pflicht entfliehen," begriff Caryll. "Als wenn steter Müßiggang weniger langweilig wäre." "Warum kommt ihr nicht einfach mit," schlug Seymas vergnügt vor, "dann werdet ihr sehen, wie aufregend es ist, Amarra zu erkunden. Alle Menschen haben so viel zu sagen und es gibt so unendlich viel zu sehen. Bei der Steilküste wird bald eine Mesa erblühen." Dieser Strauch galt in den Nebelreichen als heilig. Er war Raaki geweiht, entsprang der Legende nach mit der Onik-Viper, die in seinen Wurzeln nestete, aus den Tränen und dem Blut des Gottes. Die Mesa war nicht selten; selten war nur ihre Blüte. Ein einziges Mal im Jahr und für einen einzigen Tag zeigte sich diese in der Größe eines Kinderkopfes in allen Farben schillernd. Es war ein berauschender, aber auch gefährlicher Anblick, denn die grüne Viper mit goldenem Zackenband auf dem Rücken belauerte den Betrachter und ihr Biß tötete jeden, der dem Strauch zu schaden versuchte. "Nahe des Tempels ist ein Mesa-Garten," brummte Caryll mißmutig, "dort blüht die Mesa auch." "Schon," gab Seymas zu, "aber bei der Küste soll eine Mesa mit zwei Knospen stehen. Habt ihr je eine Mesa mit zwei Blüten gesehen? Das muß ein gewaltiger Anblick sein." "Und wenn dich nicht die Mesa lockt, dann ist es eine Tama-Blüte," schimpfte Caryll, von dieser Nachricht keineswegs beeindruckt.
Die rote Tama wuchs überaus häufig in den Gärten und auf den Wiesen und blühte überreich viele Wochen lang. Seymas lachte. "Die Tama ist wunderschön," behauptete er. "Aber ihr seid zornig, Pala." "Das bin ich," gab Caryll unwirsch zu. "Ich hatte gehofft, du würdest ein wenig mehr arbeiten wollen." "Ihr wollt, daß ich bleibe," begriff Seymas mit einem Anflug von Traurigkeit. "Wenn ihr befehlt, muß ich gehorchen." Da scheuchte ihn Caryll mit einer Handbewegung hinaus und Seymas ging ohne weiteres Wort. Der Pala des Than schloß die Tür und bekämpfte seinen aufsteigenden Zorn. Caryll beherrschte ganz Amarra und sein Befehl kannte keinen Widerspruch. Aber es war Nymardos' ausdrücklicher Wille, daß Seymas in allem frei sein sollte. Alle Menschen hier mußten sich Carylls Willen beugen. Es gab nur zwei Ausnahmen. Die eine war Gerrys, Raakis Falla in Nodher, der oft auf Amarra weilte. Die tiefe Liebe, die ihn und Nymardos verband, hob ihn aus Carylls Machtbereich. Auch Gerrys trug den Titel des Pala. Lange Jahre hindurch hatte Caryll diese Freundschaft mit Argwohn und Mißtrauen beobachtet und auch eifersüchtig jeden Besuch des Falla verfolgt. Seit ein paar Jahren, als sie gemeinsam in Khyon um den Than bangten, war das anders. Caryll akzeptierte Gerrys nun und freute sich schon fast über dessen Besuche. Er verstand durchaus, daß Nymardos ihm keine Gewalt über diesen vertrauten Freund einräumte. Doch auch Seymas war letztlich außerhalb seines Machtbereiches, auch wenn es über ihn keine so klare Anweisung gab. Nur eben das strikte Verbot des Than, den jungen Mann in festen Dienst zu zwingen, das mußte Caryll beachten. Er verstand diese Entscheidung nicht, doch Nymardos war
nicht der Mann, mit dem man diskutieren konnte und der seinen Willen hinterfragen ließ. Er gab so gut wie nie eine Erklärung für das, was er tat oder wollte und er forderte unbedingten Gehorsam. Caryll wußte, daß er Seymas nicht hindern durfte, aber es gefiel ihm nicht. Er liebte den jungen Mann fast wie einen Sohn und er war überzeugt, daß ein Leben in Müßiggang nicht erfüllt sein konnte. Seymas gefiel der verhaltene Zorn des Pala nicht. Gern wäre er nun zu der Steilküste gelaufen, doch er blieb und hoffte, er könne es in Frieden mit Caryll tun. Er wagte es nicht, nun unaufgefordert bei Caryll einzutreten und ließ sich anmelden wie ein Fremdling. Caryll aber empfing ihn nicht. Er verließ wenig später sein Haus und strebte dem Tempel zu. Seymas, der abseits wartete, gönnte er weder Wort noch Blick. Wie meist, empfing der Than seinen Pala in seinen privaten Räumen. Er beachtete nicht einmal die Schriften, die Caryll mit sich trug und hinderte sogar seinen Kniefall mit einer fast herrischen Handbewegung. Er winkte Caryll zu seinem Sessel, in dem er ruhte, heran. "Schon wieder Ärger über Seymas," stellte er mit sehr ruhiger Stimme fest. "Willst du ihn wieder halten?" "Ihr habt befohlen, ihn gehen zu lassen," erwiderte Caryll in einer Tonlage, die durchaus verriet, wie wenig ihm dies gefiel. "Er weiß um eure Entscheidung, Gebieter, und wird sich nie aufhalten lassen." Nymardos lächelte sacht. "Es ist gut, wenn er das weiß," stellte er fest. "Dadurch kann er verhindern, daß du dich gegen mich stellst." Caryll erschrak und kniete rasch nieder.
"Mein Leben gehört euch," stammelte er. "Ich habe immer versucht, euch ein gehorsamer Diener zu sein." Nymardos sah ihn aus dunklen Augen mit einem Blick voll Zuneigung an. "Du bist stets mehr gewesen," versicherte er. "Ich wünschte nur, du wolltest auch Seymas ein wahrer Freund sein." "Das bin ich," antwortete Caryll sehr leise. "Und nur deshalb bin ich besorgt um seinen Weg. Er besitzt alle Fähigkeiten, die nötig sind, um weite Bereiche Amarras zu verwalten und könnte euch und den Menschen hier so viel Gutes tun. Es ist nicht richtig, daß er seine Tage unnütz vertut." "Verwalter Amarras," wiederholte Nymardos leicht amüsiert. Er lächelte. "Seymas ist noch nicht einmal seiner eigenen Kraft begegnet." Caryll sah auf. Man sprach nicht über diese Begegnung in den Reichen, die nur sehr wenigen Menschen wiederfuhr, ungeachtet ihres Standes und Ranges. Man konnte sich nicht einmal vorstellen, was dabei geschah, doch ein Mensch, der seiner eigenen Kraft begegnete, lebte nicht mehr wie zuvor. Nymardos war dies einst wiederfahren und nur dadurch war er fähig, so fest in sich zu ruhen und zugleich stets ganz geöffnet zu sein für seine Umwelt. "Hat Gerrys das erlebt?" erkundigte sich Caryll vorsichtig. Sie sprachen nicht viel über Gerrys und Caryll wollte nun nicht den Anschein erwecken, als sei er immer noch eifersüchtig auf den vertrauten Freund seines Freundes. Nymardos blieb sehr ruhig. "Nein, Caryll," gab er offen zu, "du kennst außer mir keinen,
der weiß, wovon ich rede. Aber es gibt ein paar Männer und Frauen in den Reichen, die ihrer Kraft begegnet sind. Ich habe auch nicht gesagt, daß Seymas ihr begegnen wird." "Aber ihr hofft darauf," stellte Caryll verwundert fest. "Ich will nur, daß du seinen Weg nicht behinderst," wich der Than einer klaren Antwort aus. "Seymas arbeitet und das, was dir als Spiel und Mäßiggang erscheinen mag, ist seine Art, sein Werk zu tun. Laß ihn ziehen, Freund. Wenn er seinen Weg erkennt, wird er keinen Müßiggang mehr kennen und mehr zu tun haben, als du ihm jetzt wünschen magst. Gönne ihm die kurze Zeit der Freiheit, die wir beide ihm einräumen können." "Ich wollte ihm nie schaden," murmelte Caryll da. "Das weiß ich und das weiß er auch," beschwichtigte der Than seine Unruhe. "Aber du bedrängst ihn. Wie kann er seine Freiheit genießen, wenn er bei alledem stets wissen muß, daß du ihm diese Freiheit mißgönnst? Du hast viel für ihn getan, mein Freund. Aber nie wirst du mehr für ihn tun können, als wenn du ihm endlich ohne jeden Vorbehalt erlauben wolltest, seinen Weg selbst zu suchen. Es ist nicht gut, wenn ihr streitet." "Und was befehlt ihr, das ich nun tun soll?" Nymardos lehnte sich zurück, schloß die Augen und schwieg. Caryll wartete. Aber da der Freund nicht mit ihm sprach, erhob er sich nun und trat zum weit geöffneten Fenster. Er wußte, daß Seymas unter diesen Zwisten litt, aber er wußte auch, daß der junge Mann sich nie lange bedrücken ließ und stets sehr schnell seine Heiterkeit wieder erlangte. Seymas ließ sich nie aufhalten und tat stets, was er wollte. Nur dem Wort Nymardos' würde er sich wirklich beugen und von diesem empfing er keine Befehle.
"Wenn er wieder einmal gehen will," versprach Caryll endlich, "dann werde ich kein Wort dagegen sagen." "Er ist noch nicht fort," entdeckte ihm da der Freund. "Wenn du ihm helfen willst, dann tue es gleich." Da ging Caryll hinaus und verließ den Tempel. Er fragte nach Seymas und erfuhr, daß dieser in seinem eigenen Haus verweilte. Die Nebel sanken langsam. Caryll verhielt den Schritt. Seymas würde nicht in der Dunkelheit reisen. Er konnte eine Aussprache bis zum Morgen hinauszögern. Da war zu viel, über das er zuvor nachdenken wollte. Früh am andern Morgen betrat der Pala des Than das kleine Haus unter dem Pejuk-Baum, öffnete die Tür zur Schlafkammer und setzte sich an die Seite des jungen Mannes, der eben erst erwachte. Als Seymas Caryll sah, wollte er sich hastig erheben, doch da war der Pala schon an seiner Seite und drückte ihn sacht an der Schulter nieder. Seymas entspannte sich. "Es geziemt sich nicht, den Pala empfangen," stellte er trotzdem fest.
des Than so zu
"Soll ich gehen?" bot ihm Caryll offen an. "Nein, Herr," hielt ihn der junge Mann rasch zurück, "bitte bleibt. Gestern habt ihr mich abgewiesen. Ich dachte schon, ihr wollt mich nicht mehr sehen." "War es schlimm?" "Natürlich war das schlimm für mich, Herr," erwiderte Seymas ernsthaft. "Wir haben so oft deshalb gestritten, aber ihr habt mich nie abgewiesen. Ich werde nicht fortgehen, Pala. Dieses Mal nicht und auch nie mehr." Der letzte Satz klang traurig, aber dennoch sehr überlegt.
Seymas hatte sich zum Gehorsam entschieden und war jetzt endlich bereit, in festen Dienst zu treten. Caryll war kein starker Priester, die die Empfindungen anderer Menschen erspüren konnte. Aber er liebte Seymas aufrichtig und er fühlte dessen grenzenlose Enttäuschung und seinen Kummer. Für den jungen Mann war es, als ende hier fast sein Leben. Er fühlte sich angebunden, eingesperrt, aber er wehrte sich nicht mehr dagegen und wollte lieber dies ertragen, als auf immer die Nähe Carylls verlieren zu müssen. Der Pala des Than wunderte sich darüber. Wenn Seymas ein solches Opfer für Nymardos bot, dann war dies verständlich. Aber er bot dieses Opfer ihm an. Caryll vermied es sein ganzes Leben hindurch, die Menschen anzurühren, doch in dieser Stunde ergriff er die Hand des jungen Priesters und umschloß sie mit beiden Händen. "Ich werd's schon lernen, damit zu leben," versprach Seymas. Er lag noch immer längs auf seinem Lager und fühlte erfreut die Wärme von Carylls Händen. Der Pala des Than hielt ihn fest und Seymas wußte das Außergewöhnliche dieser Geste durchaus zu schätzen. "Gestern war ich sehr zornig," sagte Caryll leise. "Ich wies dich ab, um unsere Freundschaft zu schützen." Er ließ Seymas' Hand wieder los. "Nun sieht es so aus, als habe ich sie gerade dadurch zerstört." Seymas setzte sich auf. "Ihr freut euch ja gar will," stellte er erstaunt fest.
nicht darüber, daß ich bleiben
"Natürlich nicht," stimmte Caryll betrübt zu. "Ich habe mir genau das immer für dich gewünscht. Aber nun ist es nicht deine eigene Entscheidung. Es ist ein Opfer. Glaubst du wirklich, unser Gebieter läßt das zu? Denkst du, ich werde es
dulden?" "Was wollt ihr denn, das ich machen soll?" erkundigte sich Seymas verwundert. "Wenn ich sage, ich gehe fort, dann seid ihr zornig. Und wenn ich sage, daß ich bleibe, dann seid ihr traurig. Ich will aber, daß ihr glücklich seid, Herr. Was soll ich tun?" "Wenn du mich liebst, wirst du meinen Zorn hoffentlich leichter ertragen können als meinen Kummer," erwiderte Caryll lächelnd, ehe er sich erhob und die Schlafkammer verließ. Seymas erhob sich hastig, warf sich eine Tunika über und folgte ihm rasch. Er wollte Caryll aufhalten, ihn so nicht gehen lassen, doch der Pala des Than wartete im Wohnraum auf ihn. Seymas wollte vor ihm niederknien, doch dann sah er das Bündel auf dem Tisch liegen. Fragend sah er Caryll an. "Ich habe dir einpacken lassen, was du auf deiner Wanderschaft brauchst," beantwortete Caryll die ungestellte Frage. "Ihr laßt mich gehen?" vergewisserte sich der junge Mann. "Ich wäre ein schlechter Freund, wollte ich dich hindern," bejahte Caryll. "Es ist gut, daß ich auch nicht die Macht dazu habe. Du kommst wieder, nicht wahr?" "Ich kam stets zurück," erinnerte ihn Seymas. "Ich habe mich immer darauf gefreut, wieder hier zu sein. Ich bin gern hier. Nur..." Er brach ab. "Nur?" drängte Caryll.
"Na ja, ich habe das Gefühl, als wenn irgendwo da draußen etwas sei, das ich finden müsse. Ich kann es nicht erklären, Pala. Aber irgendwann werde ich finden, was ich suche und dann bleibe ich hier." "Und wenn du es nicht findest, was dann?" "Dann werden wir wohl streiten, bis ich ein alter Mann bin," antwortete Seymas grinsend. "Das werden wir nicht," versprach Caryll. "Laß uns damit aufhören, denn wenn ich gewinne, verliere ich dich dabei." Seymas strahlte ihn an. "Ich weiß, daß ihr mich liebst," meinte er fröhlich. "Aber ihr habt schon eine komische Art, das zu sagen. Dabei ist es so einfach, Herr." Er kniete vor den Pala des Than, ergriff dessen Hände und küßte sie. "Ich liebe euch." Caryll hob ihn auf. Er verspürte fast den Wunsch, den jungen Mann zu umarmen. Doch er sagte nur: "Komm bald wieder, Seymas." Der junge Mann sah ihn fest an. "Warum sagt ihr es nicht, Herr?" wollte er wissen. "Ich möchte es hören." Caryll lachte leise auf. "Du bist ein Schelm," stellte er fest, "irgendwann wirst du vielleicht einmal erwachsen. Obwohl, ich bin mir nicht sicher, ob ich das wünschen soll. Nun mach dich auf den Weg."
Er ging zur Tür, öffnete sie. Aber ehe der Pala des Than das Haus verließ, wandte er sich noch einmal um. Seine Stimme klang nicht sehr fest, doch die Worte meinte er ehrlich: "Ich liebe dich sehr."
W
ieder war ein Bote in die Burg Sarai gekommen und Delaros eilte, um zu hören, welche Nachricht er brachte. Der Prinz atmete auf, als er begriff, daß es nicht um Thyrian ging. Auf einem unweit gelegenen Gestüt hatte es Ärger gegeben. Ein Schäfer suchte dort Schutz vor der Kälte der Nacht und seine Tiere folgten ihm. Eine Herde brach aus und bei der haltlosen Flucht brach sich eines der Pferde ein Bein. Es mußte getötet werden. Die Pferdepfleger fielen über den Hirten her, lynchten ihn fast und hielten ihn nun gefangen. Das Urteil stand allein dem Herrscher zu. "Tod," entschieden die Ratgeber. Wharhan zögerte. Er versuchte, sein Land mit Güte zu regieren und das Volk dankte ihm dies mit Ergebenheit. Allerdings stellten die Pferdefreunde den wichtigeren Teil seines Volkes dar. Delaros trat zum Vater. "Die Nächte sind kalt," mahnte er, "der Mann suchte nur Wärme." "Und tötete ein Pferd," schimpfte einer der Ratgeber. "Er wußte, was seine Herde anrichten wird. Ihr seid den Schäfern sehr zugetan, Herr." Das klang wie ein Vorwurf und es war auch so gemeint. Delaros trat nahe zu dem Sprecher. "Auch die Schäfer sind Menschen in Sarai," entschied er knapp. "Gerechtigkeit muß allen widerfahren."
"Dann muß er sterben," beharrte der Fürst. Delaros wandte sich um. "Einen Wagen," befahl er. "Ich rede mit dem Mann." Wharhan hob den Kopf und setzte zu einer scharfen Erwiderung an. Doch er schwieg, um den Sohn und Erben nicht zu brüskieren. Nachdem die Ratgeber aber entlassen waren und er allein beim Prinzen verweilte, tadelte er ihn doch: "Wie willst du dir je die Achtung deines Volkes erkämpfen, wenn du seine Wünsche nicht respektierst?" "Bin ich Herrscher oder Diener," erwiderte Delaros rauh. "Beides nicht," stellte der König gelassen fest. "Ein Herrscher fände die Kraft zu einem Urteil. Und er würde reiten." "Ich bin mit dem Wagen schneller," wehrte Delaros unwirsch ab, der wirklich noch immer jeden schnellen Ritt fürchtete. Wharhan legte ihm mahnend die Hand auf den Unterarm. Als der Sohn endlich nach Hause kam, erfüllte sich sein sehnlichster Wunsch. Doch seither enttäuschte ihn Delaros beständig. Der Prinz gab sich zwar alle Mühe, wie ein Herrscher zu leben, zu denken und zu handeln, doch eben diese Mühe war ihm anzusehen. Wharhan stellte ihm fähige junge Männer zur Seite, die ihm als Gefährten, aber auch als Ratgeber dienen sollten und Delaros öffnete sich ihnen nicht, wies sie so zurück und zog die Einsamkeit vor. Wharhan stellte ihm manche junge Frau vor, um den Sohn zu erfreuen, doch Delaros blieb reserviert und abweisend. Wharhan gab viele Feste, obwohl dies zur Zeit der kalten Nebel nicht üblich war in den Reichen. Und Delaros nahm
daran teil, ohne sich zu erfreuen. Er lachte nie, benahm sich fast wie ein Gefangener im eigenen Haus. "Was kann ich noch tun, um einen Herrn aus dir zu machen," stöhnte der König. "Gib Thyrian frei," verlangte Delaros sofort. Wharhan zog seine Hand zurück. "Dieser Hirte geht dir also noch immer nicht aus dem Sinn," stellte er fest. "Es wird Zeit, daß er gefunden wird." "Warum gierst du so nach seinem Tod?" "Er hat dich mit der Waffe bedroht," fuhr ihn der König an. "Er hat es gewagt, Hand an dich zu legen." "Nachdem er mir zuvor das Leben rettete und ich ihn lynchen lassen wollte," erwiderte Delaros fest. "Er hat sich nur verteidigt." "Ein Hirte hat sich zu fügen! Jeder Hirte! Wenn du heute gnädig verfährst, ist das nichts, das du Thyrian tun kannst." "Ich kann es für mich tun," stellte Delaros fest. "Vielleicht werde ich danach gut schlafen." "Nimm wenigstens ein Pferd," lenkte Wharhan ein. Delaros schüttelte den Kopf. "Gib Thyrian frei," verlangte er noch einmal. "Dann, und erst dann, werde ich für dich und Sarai leben. Du hast mich gezwungen, ein Kopfgeld auf ihn auszusetzen. Du bist der Gebieter und ich der Diener. Aber ich werde dir nicht als Possenreißer dienen, Vater. Da ich gezwungen bin, gegen meine Überzeugung nach dem Leben eines Menschen zu
trachten, den ich lieber erhöhen möchte, werde ich mir erlauben, ansonsten etwas mehr zu meinen Überzeugungen zu stehen." "Wenn du diesen Mann rettest, hat das nichts mit deinen Überzeugungen zu tun," vermutete Wharhan. Ein feines Lächeln umspielte die Lippen des Prinzen, als er erwiderte: "Doch, das hat es, mein Gebieter. Denn es ist meine Überzeugung, daß du dich darüber ärgern wirst. Und mein Leben wird ein Ärgernis für dich sein." "Was gewinnst du damit?" "Du tust alles, um es mir leichter zu machen," stellte Delaros bitter fest, "alles, außer das eine, um das ich dich bitte. Möglich, daß ich kein Herrscher bin. Aber du solltest wenigstens wissen, wer mich zum Diener macht." Er ging aus dem Raum. Noch ehe er die Burg verließ, brachten Diener den Mantel und den Degen. Delaros ließ sich ausstatten. Als er auf den zweirädrigen Wagen stieg, dachte er voll Bitterkeit daran, daß er den Degen so wenig beherrschte wie die Pferde.
G
roßgrundbesitzer Tornor warf sich mit seinen Söhnen vor dem Erben der Macht nieder. Nachdem der Prinz ihn begrüßte, ließ er ein festliches Mahl auftragen. Tornor sah wohl den Wagen, doch es war bereits bekannt, daß der Prinz nicht gut zu reiten vermochte. Obgleich Tornor seine Pferde über alles liebte und einen schnellen Ritt für ein Geschenk der Götter hielt, erschien es ihm nur zu natürlich, daß der Prinz den Wagen noch vorzog. Delaros hatte nicht erwartet, ausgerechnet hier Verständnis zu finden. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, daß sich Sarai
vielleicht nicht im Leben innerhalb der Burg spiegelte. Womöglich dachte und fühlte sein Volk ganz anders, als man ihn glauben machte. Tornor, der den hohen Besuch nicht erwarten konnte, improvisierte mit Geschick und veranstaltete für Delaros ein Fest. Heitere, gelöste Stimmung kam auf. An der Seite des Landgrafen schaute Delaros interessiert den Kunstreiters zu und er lauschte Tornors Worten, der ihm die Techniken erklärte. Delaros fühlte den Vaterstolz Tornors, als dessen Söhne auf wilden Pferden waghalsige Kunststücke ausführten. Reiter und Pferd bildeten dabei fast eine Einheit und in beiden floß dasselbe ungestüme, nach Freiheit gierende Blut. Zum ersten Mal erschienen Delaros die Tiere nicht mehr so ganz bedrohlich. Der Erbe der Macht verweilte. Einige Tage blieb er auf dem Gestüt und genoß alles, was Tornor ihm an Annehmlichkeiten und Lehrreichem bot. Der Landgraf fand Gefallen an seinem Herrn und schätzte dessen umgängliches Wesen, das keinen Hochmut kannte und ihn nie herablassend behandelte. Er durfte jede Unterwerfung fordern, doch er verlangte nicht einmal den Kniefall, sondern nahm kaum die Verbeugung zur Kenntnis, mit der Tornor ihn grüßte. Sie saßen beim Schein des prasselnden Feuers beisammen. Tornor erzählte in leichtem Plauderton von den Pferden, die wild das Land bewohnten. Und er sprach nun auch von den Targas und deren Eigenheiten. Es war der Gestank der Schafe, der die Pferde scheu machte und ihr Blöken, das die edlen Reittiere in Panik versetzte. Tornor wußte ja, daß sein Herr nicht in Sarai aufwuchs und nur selten zu Besuch hier verweilte. Es gab so vieles, das Delaros nicht wissen und kennen konnte und er fühlte sich geehrt, da der Prinz ihm so freimütig lauschte. "Wie war es, als der Hirte kam?" erkundigte sich Delaros und kam so endlich auf den Grund seiner Anwesenheit zu sprechen.
"Er kam aus den Hügeln," antwortete Tornor sofort, "und nahte sich den Mannschaftshäusern. Ich denke nicht, daß er in die Nähe der Stallungen wollte." Überrascht hob Delaros den Kopf und sah seinen Gastgeber an. "Das klingt nicht so, als wäret ihr von Haß erfüllt," stellte er fest. Tornor lachte leise. Er schenkte die Becher wieder voll und meinte dabei: "Targa-Wolle ergibt gutes Tuch. Weshalb sollte ich die Schäfer hassen? Mir ist es nur lieb, wenn sie mir nicht zu nahe kommen. Sie stinken." Delaros dachte an Thyrian, der nicht nach Schaf roch. Doch diesem war ja die Herde schon genommen, als sie sich begegneten. "Das ist alles, was ihr wider die Schäfer habt?" Als Erbe der Macht durfte er den Landgrafen durchaus duzen, doch Delaros gab ihm von Anfang an die ehrende Anrede. Zunächst nur, weil er sich in seiner Rolle unsicher fühlte, doch sehr schnell dann, weil er Tornor wirklich achtete. "Wir haben Gesetze," erwiderte sein Gastgeber leichthin. "Sie bestimmen, daß die Schäfer nirgendwo verweilen dürfen und es ist erträglich, wenn sie über jene Weiden ziehen, auf denen sich keine Pferde befinden." "Aber dieser Mann kam zu eurem Haus." "Nein, nicht zu mir. Er ging, wie gesagt, zu den Häusern meiner Leute und bat dort um Aufnahme für die Nacht. Nun ja, der Leithammel seiner Herde folgte ihm. Er hätte das
Tier anbinden müssen. Dieses Versäumnis war der Grund für das Unglück, das dann geschah. Die Schafe kamen an einem Pferch vorbei, in dem dreissig wilde Pferde leben. Die Tiere brachen aus und eines mußte getötet werden. Ein herber Verlust, denn es war ein sehr edles Tier." "Und danach?" "Ich kümmerte mich um die Pferde und half, sie wieder einzufangen. Ihr solltet eine solche Jagd einmal erleben, mein Prinz. Es ist eine Begegnung mit purer Kraft. Als ich zurückkehrte, konnte ich eben noch verhindern, daß meine Leute den Hirten zu Tode prügeln." "Wo ist er nun?" "Er liegt in einem der Vorratshäuser gefangen," erwiderte Tornor, "seine Wunden sind verbunden, aber er hat wohl noch große Schmerzen." "Der König und seine Ratgeber sind der Meinung, daß dieser Mann den Tod verdient hat," entdeckte Delaros jetzt. "Ihr seid anderer Ansicht?" erkundigte sich Tornor in verbindlichem Ton. "Seid ihr nicht gekommen, um das Urteil selbst zu sprechen?" "Warum immer ich kam, ist nicht mehr wichtig," gab Delaros zu. "Die vergangenen Tage haben mich sehr bereichert und ich stehe in eurer Schuld. Wenn ihr den Tod dieses Mannes wollt, sollt ihr ihn haben." "Ich bin euer ergebener Diener," versprach Tornor rasch. "Und ich habe keinen anderen Wunsch, als in Frieden zu leben." Delaros schaute ins Feuer.
"Ein guter Platz dazu ist hier. Es ist viel Frieden um euch." Der Landgraf lächelte bei diesem Kompliment. "In euch, mein edler Herr, ist er aber nicht," stellte er fest. "Wenn euch längeres Verweilen gefallen sollte, wäre es mir eine Freude." "Als ich nach Sarai kam, begegnete ich einem Hirten," sagte Delaros leise. "Das ganze Land bedrohte euer Leben."
weiß
davon," gab Tornor zu. "Er
"Er rettete es," widersprach Delaros leise und erzählte dem Landgrafen nun alles, was sich zutrug. Danach schwiegen sie lange. Delaros befand sich im Alter des jüngsten Sohnes Tornors und der Landgraf hegte fast väterliche Gefühle für den Prinzen. Auf alle Fälle vermochte er mühelos nachzuvollziehen, wie sich das Leben zwischen König Wharhan und seinem Erben gestaltete. Auch er war nicht immer einverstanden mit den Gefährten, die seine Söhne wählten. Aber er ließ sie stets gewähren. Unschwer begriff Tornor, daß Delaros diesen Thyrian als Gefährten wünschte und zumindest seiner Dankbarkeit Ausdruck geben mochte. Statt dessen war er gezwungen, seinen Retter wie ein Tier jagen zu lassen. Ja, mehr noch, man vermittelte ihm den Eindruck, als wenn dies der Wille seines Volkes sei und als könne er es damit erfreuen. "Was lernt ein Erbe der Macht auf Amarra," murmelte Tornor bitter. "Amarra ist das Land der Priester," erwiderte Delaros freundlich, "und es lehrt die Priesterschaft." Der Prinz lächelte. Amarra war ihm Heimat, dort lebte er erfüllt. "Aber den Erben der Macht lehrt Amarra auch die Gesetze
seines Reiches. Sarai ist mir so vertraut, als sei ich hier aufgewachsen." "Ein Land besteht nicht aus Gesetzen, Städten und Bauwerken," antwortete Tornor düster. "Es besteht aus seinen Menschen. Aber es steht mir nicht zu, euch zu raten." Delaros lehnte sich entspannt zurück. "Euch steht alles zu," versprach er aufrichtig. Da ergriff der Landmann die Hand seines Herrn und drückte sie fest. "Dann erlaubt mir," bat er, "sehr offen zu reden. Ihr solltet mit kleinem Gefolge durch Sarai reisen. Redet mit eurem Volk, Herr. Seht euch die Menschen an. Es ist ein gutes Volk und es wird euch lieben." "Einen Herrn, der nicht einmal gut zu reiten vermag," wehrte Delaros ab. "Mein Vater hat schon recht. Es gibt einiges, das ich vor einer solchen Reise lernen muß." "Nein," widersprach Mornor heftig. "Ihr seid nicht hier, um Pferde zu zähmen oder zuzureiten. Ihr seid hier, um dieses Volk zu lenken. Hat hier jemand euren Wagen mißbilligt? Man mißbilligt einen schlechten Reiter, der sich den Anschein geben will, dies nicht zu sein. Irgendwann ist euch der Sattel sicher vertraut. Aber wollt ihr wirklich darauf warten? Ich bitte euch sehr, mein edler Herr: tut das nicht." Er wollte nun niederknien, doch Delaros umfaßte seine Schultern und hielt ihn auf. "Ich habe einen Freund gefunden," stellte der Erbe der Macht fast mit Erstaunen fest. "Und ich fange an, zu mir selbst zu finden. Ich werde euren Rat befolgen."
Am andern Tag verließ er das Gestüt, ohne ein Urteil gesprochen zu haben. Tornor gab Anweisung, daß der Hirte gesund zu pflegen sei und danach in die Freiheit zu entlassen. Niemand sprach ein Wort dagegen.
D
ie Tage der Abgeschiedenheit bedeuteten für Thyrian endlose Stunden der Versenkung, in denen er das Wirken der göttlichen Kräfte immer wieder finden und sich auf sie einstimmen konnte. Er hielt Tür und Fenster geschlossen und begnügte sich mit dem schmalen Lichtstrahl, der unter dem unverglasten Fenster und dessen Verhang in die Kammer drang. Der Priester achtete nicht auf das, was draußen vor sich ging. So sah er nicht, wie in den sinkenden Nebeln ein Reitertrupp durch das äußere Tempeltor kam.
P
rinz Ilkonys wußte sich endlich am Ziel seiner Reise. Die letzten beide Nächte mußte er im Freien verbringen und nun freute er sich auf ein bequemes Lager in einem der Gasthäuser, die jedem Tempel zugehörten. Er sprang aus dem Sattel und gab seinen Männern Anweisung, bei den Pferden zu warten. Sein Blick richtete sich auf den hohen, runden Tempelbau. Ein Priester mittleren Alters trat zu ihm. "Seid gegrüßt in Antares' Haus," sagte er mit abweisender Stimme. "Mein Name ist Alkym. Ihr seid auf der Wanderschaft?" Ilkonys neigte grüßend das Haupt und erwiderte: "Man nennt mich Ilkonys und hier findet meine Wanderschaft ein Ende, wenn es den Göttern gefällt. Ist es mir erlaubt, den Falla des Tempels zu sehen?" "Er wird erfahren, daß ihr hier seid," erwiderte Alkym, "und wenn es ihm gefällt, wird er nach euch verlangen."
"Weshalb so mißtrauisch?" wunderte sich Ilkonys. "Ich habe manchen Tempel gesehen, doch überall werden Gäste freundlicher begrüßt." "Manchen Tempel? Und stets seid ihr bewaffnet eingedrungen?" Der Prinz lachte leise. Er gab seinen Leuten einen Wink und da nahmen diese ihre Waffen vom Gürtel und befestigten sie hinter den Sätteln. Ilkonys zog seinen Degen und hielt ihn Alkym hin. Der sah voll Erstaunen auf die schmale Klinge. "Wer seid ihr?" forschte er. "Ich nannte meinen Namen," antwortete der Prinz leichthin. "Ich bin hier auf der Suche nach einem Leiter." Dann lachte er, weil er den Anlaß von Alkyms Erstaunen begriff. "Ach so," fuhr er fort, "ihr wundert euch über den Degen, der die Waffe der Mächtigen ist. In Sarai bin ich Gast und Fremdling. In Nodher aber der Erbe der Macht." Alkym trat einen halben Schritt zurück. Er wußte nun nicht, wie er sich verhalten mußte und ob es angemessen sein konnte, sich vor dem Prinzen zu demütigen. Ilkonys enthob ihn der Entscheidung, da er sich nun umwandte und seinen Degen am Sattel befestigte. Danach erst trat er zu Alkym und legte ehrergiebig die Rechte auf die Brust. "Ich bin nicht als Erbe der Macht hier," versicherte er, "sondern ich hoffe, ich kann als Schüler verweilen. Ist es möglich, daß meine Männer Quartier erhalten, bis dies entschieden ist? Wenn ich bleiben kann, werden sie allein nach Nodher gehen." Alkym winkte einen Tempelhelfer herbei und gab ihm entsprechende Anweisungen. Für Ilkonys' Gefolge würde bestens gesorgt werden. Der Prinz sah, wie die Männer in
ein großes, flaches Gebäude geführt wurden. Sie hatten sich eine kräftige Mahlzeit und ein wärmendes Feuer wahrhaftig verdient. "Kommt mit mir," bat Alkym und führte den Prinzen mit sich. Er zeigte ihm ein kleines Gasthaus, befahl einem Priesterschüler, den Gast zu bewirten und blieb unschlüssig unter der Tür stehen. "Man wird sogleich ein Feuer entfachen," versprach er, "und sich eurer Tiere annehmen. Habt ihr noch Wünsche?" "Ich danke euch," wehrte Ilkonys ab. "Laßt es mich nur bitte wissen, wenn der Falla mich empfangen will." Alkym trat hinaus. Irgendwie gefiel es ihm nicht, einen Erben der Macht im Tempel zu wissen. Sein Blick glitt wie beiläufig über eine unweit stehende Hütte, riß sich aber sofort von ihr los. Er, nur er wußte, wer dort eingesperrt darauf wartete, daß die Wärme wiederkam. Vor vielen Tagen fand er Thyrian in der Dunkelheit und brachte ihn hierher. Er kannte ihn aus vergangenen Jahren, in denen sie beide als Priester in diesem Tempel lebten. Alkym erschien es nach wie vor unfaßbar, daß Thyrian zum Verräter wurde. Er wünschte, es wäre erlaubt, mit ihm zu sprechen. Doch der Falla hatte ihm streng geboten, Thyrian nicht zu sehen und kein Wort über ihn zu verlieren. Dem mußte er sich fügen. Das äußere Tempeltor wurde geschlossen und mit schwerem Riegel gesichert. In allen Reichen öffneten sich die Tempel nur am Tage. Die hohe Mauer und das schwere Tor bildeten bei Nacht sicheren Schutz. Thyrian erzählte früher, daß Raakis Tempel in Nodher weder Mauer noch Tor besaß. Alkym wunderte sich sehr darüber. Einst war dies ein Tempel des Lichts gewesen, der in den Tagen der Feindschaft zwischen Nodher und Amarra seine Macht verlor. Damals
wurde die Mauer eingerissen. Aber das war viele Jahre her. Nodhers Herrscher galt als starker Priester, Amarra treu ergeben. Alkym verstand nicht, weshalb man die Mauer nicht mehr errichtete. Er jedenfalls fühlte sich sicherer mit einem solchen Schutz. Trinarys gefiel es gar nicht, als er erfuhr, wer der späte Neuankömmling im Tempel war. Es mochte schmeichelhaft sein, wenn ein Erbe der Macht in seinem Tempel nach Leitung verlangte und sicherlich lebten hier viele zur Leitung befähigte Priester. Als Falla entschied er allein, wer bleiben durfte und im Grunde schickte er keinen Menschen fort, der den Göttern begegnen wollte. Doch Ilkonys war ein Erbe der Macht. Wenn es sich herumsprach, daß er in diesem Tempel verweilte, erregte der Bau mehr Aufmerksamkeit, als Trinarys jetzt lieb sein konnte. Er schob die Begegnung und die Entscheidung hinaus.
I
lkonys weilte nun schon drei Tage im Tempelbereich. Mit Begeisterung hatte er die edlen Pferde hier gesehen und voll Interesse den Garten erforscht. Es gefiel ihm sehr, daß Alkym viel Zeit mit ihm verbrachte und ihm ohne Scheu begegnete. Ohne es zu wissen, bereicherte der Prinz den Priester. Ilkonys hatte viel erlebt und erfahren und in seinem Erzählen zeigte er Alkym eine Welt, die dieser nicht kennen konnte. Die Nebel hingen tief an diesem Tag, doch die schneidende Kälte blieb aus. Ilkonys ging mit Alkym durch den Garten. Der Erbe der Macht erzählte in leichtem Plauderton von seinem Abenteuer auf Khyon. Alkym lauschte wie immer sehr begierig, als der Prinz vom Than sprach. Auch von Thyrian redete Ilkonys, doch es entging ihm, daß Alkym dabei immer verschlossener wurde. "Der Falla will mich wohl nicht sehen," meinte Ilkonys schließlich. "Ob es möglich ist, Thyrian zu sprechen?"
Alkym verhielt den Schritt. Er wollte etwas sagen, irgendwie darauf hinweisen, daß der Priester den Tempel vor zwei Jahren verließ und hoffen, daß Ilkonys nicht weiter fragte. Doch da kamen Soldaten des Königs in großer Zahl durch das Tor geritten und der Lärm lenkte die beiden Männer ab. Sie gingen näher, doch auf halbem Weg legte Alkym dem Prinzen die Hand auf den Arm. "Bleibt hier, ich bitte euch," sagte er leise. Dann ging er weiter und sah nicht mehr zurück. Ilkonys verharrte. Er befand sich bei einer niederen Hütte, die Tür und Fenster verschlossen hielt. Und er beachtete das Haus nun auch nicht. Der Lärm ebbte nicht ab. Die Männer schienen aufgeregt und zornig. Aus dem Tempel kam mit eiligen Schritten eine in eine weiße Tunika gehüllte Gestalt. Ilkonys lehnte sich gegen die Holzwand der Hütte und wartete ab. Wenigstens bekam er den Falla nun zu Gesicht. Es gab ein heftiges Wortgefecht zwischen dem Falla des Tempels und dem Führer der Soldaten. Ilkonys verstand nicht alle Worte, doch er begriff, daß der Tempel beschuldigt wurde, einen Verräter zu beherbergen. Sein Gefolge kam aus dem Gasthaus und wollte zu ihm. Ilkonys hielt die Männer mit einem Wink zurück. Thyrian hörte den Lärm ebenfalls und da es nicht mehr still wurde, ging er zum Fenster und schob den Verhang ein wenig beiseite. In diesem Moment trat der Prinz einen Schritt nach vorn. Thyrian preßte in hastiger Geste den Handrücken gegen seinen Mund, um einen erstaunten Ruf zu unterdrücken. Das war fünf Jahre her, aber er hatte Nodhers Erben nicht vergessen. Thyrian erkannte den Prinzen auf den ersten Blick, obwohl er ihn nur von hinten sah. Er glaubte schon, Ilkonys beteilige sich an der Jagd nach ihm. Dann aber bemerkte er, daß das Gefolge des Prinzen sich ruhig verhielt.
"Durchsucht die Häuser," befahl der Soldatenführer jetzt mit laut brüllender Stimme. Die Männer zerstreuten sich. Thyrian erschauderte. Er fürchtete jetzt weniger um sein Leben als um den Tempel. Wenn man ihn hier fand, konnte auch Amarra die Leute hier nicht schützen vor dem Zorn des Königs. "Ilkonys." Thyrian flüsterte nur. "Ich bitte euch, Prinz, wendet euch nicht um." Ilkonys spannte jeden Muskel, doch er rührte sich nicht. "Thyrian?" "Ich bin es." Der Priester sprach sehr leise. "Ich habe die Hand gegen meinen Herrscher erhoben. Wenn die Soldaten mich hier finden, ist der Tempel verloren. Helft mir." Der Prinz stand unbeweglich. Wie würde sein Vater reagieren, sollte ein Tempel sich derart gegen ihn stellen und einen Verräter decken? Ilkonys folgte diesem Gedanken nicht weiter. Der Vater konnte kaum in eine solche Situation kommen, zu sehr waren die Tempel auch ihm ergeben. Aber wenn Thyrian wirklich ein Verräter war und vom Tempel beschützt wurde, dann mußten die politischen Folgen unermeßlich übel sein. "Helft mir," flehte Thyrian, "verschafft mir Zeit, heimlich zu fliehen." "Ich habe dich gesucht," murmelte Ilkonys. Aber er zögerte nicht weiter. Es ging jetzt nicht um ihn und seine Wünsche, es ging noch nicht einmal um Thyrian. Der Tempel mußte geschützt werden. Ilkonys löste den Beutel von seinem Gürtel und ließ ihn einfach fallen. Langsam ging er vorwärts, gesellte sich wie zufällig zu seinen Männern.
"Holt unauffällig unsere Waffen," befahl er. "Du bringst mir aus meinem Haus meinen Umhang und du, du behältst die Hütte dort im Auge. Wenn sich Sarais Soldaten ihr nähern, rufst du mich." Betont langsam ging er weiter. Seine Leute reagieren rasch, doch umsichtig. So erweckten sie keine Aufmerksamkeit, als sie zu den Ställen gingen. Auch ihr Kamerad fiel nicht weiter auf, der mit einem Bündel zu Ilkonys kam. Trinarys versuchte, die Soldaten mit Worten zu beschwichtigen, doch sie hörten ihm nicht einmal zu. Lärmend durchsuchten sie die Häuser und bedrängten die Priester mit harten Fragen. "Bewaffnet euch," befahl Ilkonys seinen Leuten, während er selbst den Degen am Gürtel seiner Tunika befestigte. "Ich will keinen Kampf, aber wenn es sein muß, zeigt, daß Nodhers Männer die besseren Kämpfer sind. Es darf aber keine Toten geben, das ist ein Befehl." Der Führer seiner Garde trat zu ihm und legte ihm seinen kostbaren Umhang über die Schultern. "Mein Prinz, was geschieht hier?" "Keine Ahnung," behauptete Ilkonys, "aber es ist ein Spiel, das ich nach meinen Regeln spielen möchte. Achte mit deinen Leuten auf mich und verhaltet euch mir entsprechend." Dann ging er mit festem Schritt zu Trinarys. Der Falla versuchte noch immer, den Führer der Soldaten zu beschwichtigen. Der zeigte sich wuterfüllt. "Hohle Worte," rief er laut, "ihr schwafelt wie ein altes Weib. Geht zur Seite." Und dabei hob er die Hand und war wirklich gewillt, den
Falla ins Gesicht zu schlagen. Ilkonys sprang vorwärts. Seine Faust umklammerte das Handgelenk des Mannes. Mit der anderen Hand hielt er drohend die Degenspitze vor das Gesicht des Soldaten. "Mann," fuhr er ihn mit harter Stimme an, "wozu erdreistest du dich? Auf die Knie!" Unzählige Augenpaare hefteten sich nun auf Ilkonys. Der Prinz stieß den Soldaten von sich, stand breitbeinig und mit erhobener Waffenhand. Man kannte ihn nicht, doch der prachtvolle Umhang und der Degen sowie das offene Haar ließen ihn machtvoll erscheinen. "Auf die Knie!" Ilkonys brüllte den Mann an. "Ich bin es nicht gewohnt, zu warten." Verwirrt gehorchte der Soldat und beinahe hätte Ilkonys aufgelacht. Würde er sich in Nodher so hochmütig gebärden, der Vater würde ihn wohl zu strafen wissen für diese Anmaßung. Aber es war nicht die Zeit für Träumereien. Für den Moment besaß er alle Aufmerksamkeit und das mußte er ausnutzen. "Du kniest vor Nodhers Erben," stellte er sich vor, "aber es würde dir zukommen, auch vor dem Falla des Lichts zu knien." Er winkte Trinarys herbei. "Waffenlärm in einem Tempel wird Amarra nicht gefallen." "Der Tempel deckt einen Verräter und wird dafür büßen," fauchte der Kniende. Da erklang vom Tempel her ein sanfter umstehenden Priester wurden unruhig.
Ton und die
"Liaras Stunde," murmelte Trinarys. "Nie zuvor wurde ein Ritual ausgelassen."
"Das wird auch nie geschehen," versprach Ilkonys in einer Tonlage, als könne er über alles befehlen. "Dies ist die Stunde des Friedens. Haltet das Ritual ab." "Die Priester bleiben..." Ilkonys unterbrach den Soldaten mit einem gezielten Fußtritt vor dessen Brust. Trinarys gab der Priesterschaft ein Handzeichen und einige der Männer und Frauen strebten dem Tempel zu. Ein paar Soldaten Sarais wollten sie aufhalten, doch die Säbel der Männer aus Nodher hoben sich drohend. Da ließ man die Priesterschaft gehen. Ilkonys hielt alle Aufmerksamkeit auf sich gerichtet. Er schritt mit großen Schritten zwischen den Soldaten hindurch und schwang große Reden. Seine Worte besaßen eigentlich keinen Sinn, aber den Männern erschien es, als belehre er sie. Sie alle hatten Delaros gesehen, als er nach Sarai kam. Doch ihr eigener Erbe erschien ihnen im Vergleich mit diesem machtbewußten, jungen Mann wie ein Schwächling. Sie bewunderten Nodhers Erben fast, der sie doch nur hochmütig beschimpfte. Das Ritual endete und die Priesterschaft trat wieder aus dem Tempelbau. Ilkonys wußte, daß er Sarais Soldaten nicht mehr lange aufhalten konnte. "Die Tempel schützen den Frieden," rief er laut und näherte sich wie unabsichtlich einem seiner Leute. "Und sie dienen ihrem Herrscher. Haben sie dafür nicht etwas mehr Respekt verdient?" Er sah seinen Gardisten an. "Ist er weg?" erkundigte er sich leise und hob sofort wieder die Stimme, um Sarais Männer weiter zu belehren. "Der Mann, der in der Hütte war, hat den Tempel verlassen," raunte ihm sein Gardist zu.
Ilkonys atmete auf. Allmählich wurde es anstrengend, den machtvollen Mann zu spielen. Er lenkte den Schritt zu Trinarys und schaute den Führer der Soldaten Sarais frech an. "Hast du das jetzt verstanden, Mann?" fauchte er. Der Mann kreuzte die Arme vor der Brust. "Ich habe verstanden, Herr," behauptete er, obwohl er nicht so recht wußte, was Nodhers Erbe überhaupt sagen wollte. Ilkonys steckte den Degen ein und sah aus den Augenwinkeln heraus, wie seine Leute es ihm gleich taten. "Dann beweise es," verlangte er. Irritiert hob der Soldat den Kopf. "Wie kann ich das, Gebieter?" forschte er. "Nun," schlug Ilkonys grinsend vor, "benimm dich, wie es sich für einen Mann deines Standes geziemt. Du bist Gast in einem Tempel. Also trage dein Anliegen dem Falla vor und er wird dich anhören. Und wenn du Befehl hast," fügte er nachdrücklich dazu und sah dabei zu Trinarys, "den Tempel zu durchsuchen, dann wird dich der Falla dabei unterstützen, solange dies in Ruhe und Würde geschieht." Der Soldat fügte sich Ilkonys' Wünschen. Die Männer durchsuchten bald alle Häuser im Tempelbezirk. Thyrian war nicht zu finden. Der Anführer der Eindringlinge wurde unruhig. Sein Blick hing am Tempelbau selbst. Ilkonys grinste. "Da willst du auch nachsehen," vermutete er.
Der Mann senkte den Kopf und schwieg. "Es wird Zeit, daß du mit deinen Leuten verschwindest," stellte Ilkonys fest. "Du hast den Tempel und in ihm Amarra genug beleidigt." "Ich habe Befehl, alles zu durchsuchen," sagte der Mann leise. "Dir droht Strafe, wenn du den Tempel ausläßt?" staunte Ilkonys. Er sah zu Trinarys. "Mit eurer Erlaubnis, Falla?" Trinarys, ansonsten befehlsgewohnt und durchaus ein Mann der Macht, hatte alles geschehen lassen und das Schicksal des Tempels in die Hände dieses hochmütigen Burschen gelegt. Verwirrt nickte er nun und da führte Ilkonys den Soldatenführer und nur diesen allein in den Tempel. Er begleitete ihn über den Säulengang bis aufs Dach und von dort wieder hinunter durch die heiligen Hallen. Der Mann fühlte sich sichtlich unwohl. Innerhalb des Tempels glaubte er sich von den Göttern selbst bedroht. Die wenigen Wohnräume im untersten Stockwerk durchsuchte er fast schon nachlässig und er war froh, als er den Bau verlassen konnte. Nachdem Sarais Soldaten durch das äußere Tempeltor ritten, bestürmte die Priesterschaft ihren Falla mit Fragen. Ilkonys legte Waffe und Umhang ab, befahl seinen Männern, sich wieder wie Gäste des Tempels zu verhalten und ging langsam zu der Hütte, aus der Thyrians Stimme drang. Alkym folgte ihm. "Ihr habt es gewußt," stellte Ilkonys fest. "Ihr wußtet, daß Thyrian hier lebt. Aber weshalb hier?" Die spärliche Einrichtung befremdete nicht der Wohnraum eines Priesters.
Ilkonys.
Das war
"Thyrian verließ den Tempel vor Jahren," gestand Alkym. "Daß er sich hier verbarg, war nur mir und dem Falla bekannt. Ihr habt uns alle gerettet, Herr. Ich danke euch." Ilkonys trat ins Freie. Sein Blick glitt zum Tempel hinüber und er verstand, daß er hier nicht bleiben konnte. Er hatte Thyrian gefunden und sogleich wieder verloren. Der Prinz empfand dies als tiefen Verlust, mehr, als er eigentlich selbst erwartet hatte. Er lenkte langsam den Schritt zu dem ihm angewiesenen Gasthaus. Alkym blieb zurück. Er spürte die Traurigkeit des Prinzen und wollte ihn nun nicht stören.
S
eymas hatte die Steilküste erklommen und genoß den weiten Blick übers Meer, das sich endlos zu dehnen schien. Irgendwo hinter dem Horizont lag Nodher, doch so weit konnte kein Auge sehen. Viel weiter unten wuchs die Mesa, von der man ihm berichtete. Er hatte sie aufgesucht, kam aber zu früh. Die Knospe zeigte sich stark angeschwollen, doch sie würde erst in drei oder vier Tagen erblühen. Und der Strauch besaß seiner Art gemäß nur diese eine Knospe; im Grunde hatte Seymas nichts anderes erwartet. Er klettete über den nackten Fels und lief danach den schmalen Pfad entlang, der oben zum Abstieg führte. Neben ihm ging es senkrecht in die Tiefe und der Pfad war sehr, sehr schmal, doch Seymas lief wie auf ebenem Grund. Das Rauschen der Brandung drang herauf. Er fühlte sich frei und glücklich wie selten. Er übernachtete auf einer Wiese, wo er sich einfach niederlegte und schlief. Am andern Morgen ging er ziellos weiter. Seymas kannte weite Bereiche Amarras, war oft wochenlang unterwegs und nahm gierig alle neuen Eindrücke in sich auf. Er folgte einem schmalen Bach, an dessen Ufer buntschillernde Insekten die reichhaltige Blütenpracht besuchten. Der junge Mann beobachtete die Flieger ein wenig, richtete danach die Aufmerksamkeit auf kleine, silberne Fische im Wasser und ließ sich dann von einem Tagfalter quer über die Wiesen locken. Es gab keine Eile für ihn und es spielte keine Rolle, wohin er den Schritt lenkte. Er pfiff eine kleine Melodie vor sich hin, naschte von den Wiesenbeeren, die er fand und legte sich bäuchlings nieder, um zwei grüne Käfer bei ihrem Kampf zu beobachten.
Am Mittag hörte er den klang eines freudigen Flötenspiels und folgte dem Ruf. So kam er zu einer kleinen Siedlung. Der Flötenspieler hatte sich am Fuß eines Baumes auf der nahen Anhöhe nieder gelassen. Es gab eine kleine, gefaßte Quelle hier, aus der Seymas trank. Nur wenige Häuser befanden sich auf dem freien Platz und hinter ihnen begann das Feld, auf dem der junge Mann die Menschen arbeiten sah. Seymas schlenderte zu ihnen hinüber, verneigte sich artig und begrüßte die Leute. Ein kräftiger Mann erhob sich, wischte die Erdkrumen an der Tunika von seinen Händen und kam zu ihm. "Ich bin Parlar, der San hier," stellte er sich vor. "Wenn es euch beliebt, unser Gast zu sein, Bruder, so seid willkommen." Sie pflanzten Nispen. Seymas schaute interessiert zu. Aus dem großen Samenkorn wuchs in wenigen Wochen eine stattliche Pflanze heran. Die Nispenblüte verwandelte das Feld dann in ein gelb-wogendes Meer. Später würden die Menschen die halbreife Frucht der Pflanze ernten, deren Geschmack nach Nuß und Süße so manches Mahl bereicherte. Ein paar der Frauen summten die Melodie des Flötenspielers mit. Seymas warf achtlos sein kleines Bündel beiseite. "Ich habe noch nie Nispen gepflanzt," gestand er freimütig. "Zeigt es mir, San, denn ich würde es gern erlernen." Und ehe der Mann ihn hindern konnte, kniete Seymas schon in der Reihe der Pflanzer und versuchte, es ihnen gleich zu tun. Er drückte den Pflanzstab fest in die aufbereitete Erde und senkte dann ein Samenkorn in das Loch, das er mit der bloßen Hand verschloß. Nach kurzer Zeit ging ihm die Arbeit leicht von der Hand. Es erforderte Aufmerksamkeit, die Pflanzlöcher im selben, richtigen Abstand zu bohren. Der San zu seiner Rechten und der junge Mann zu seiner Linken hatten damit weniger Schwierigkeiten.
Mit diesen beiden Männern rastete Seymas dann auch und nahm gern von ihren angeboteten Speisen zu sich. "Es ist nicht richtig, wenn ein Gast arbeitet und Hatun faulenzt," brummte der junge Mann, der sich als Nosyl vorstellte. Parlar sah zur Anhöhe hinauf. "Vielleicht ist er als Musikant einfach besser wie als Pflanzer," warf Seymas kauend ein. "Man sollte immer das tun, was man am besten kann." "Er tut nichts," murrte Nosyl. "Er spielt auf der Flöte, wenn er Lust dazu hat, nicht, wenn wir ihn dazu auffordern." Das Flötenspiel brach ab. Hatun hatte sich auf den Rücken gelegt und sah zu den hohen Nebeln auf. Seymas erhob sich, sah lange in seine Richtung. "Kein Hunger mehr?" erkundigte sich Parlar. Da setzte sich Seymas wieder zu ihnen und aß weiter. Nosyl schimpfte noch ein wenig über Hatun und als er endlich merkte, daß Seymas nicht beabsichtigte, sich diesem Tadel anzuschließen, schwieg er beleidigt. Seymas nutzte die Stille, um Parlar viele Frage über das Nispen zu stellen. "Und die Samen sind ungenießbar?" hakte er nach. "Sie sind sogar giftig," erwiderte der San. "Aber das ist die reife Frucht auch. Man muß das Nispen innerhalb von zwei Tagen ernten." Nosyl erhob sich. "Ich hole Hatun," entschied er. "Unser Gast weiß jetzt schon mehr über unsere Arbeit als er. Er soll mithelfen."
"Laß ihn," befahl Parlar, "ich rede am Abend mit ihm." Mißmutig ging Nosyl zu ein paar wenig abseits rastenden Kameraden. Parlar entschuldigte sich für dessen Benehmen. "Er ist nicht immer so," versicherte er. "Die Tage der Pflanzung sind wie jene der Ernte etwas mühselig. Er ist müde." "Er ist auf Hatun böse, weil er gern wie er leben würde," behauptete Seymas vergnügt. "Und weil er das nicht kann." "Ihr meint das Flötenspiel?" Semyas lachte vergnügt. "So gut ist das auch wieder nicht," wehrte er ab. "Aber es schafft eine gute Stimmung. Ich finde es schön. Nein, ich dachte nur daran, daß Nosyl nicht den Mut hat, anders zu leben, als man von ihm erwartet und sich darum den Erwartungen beugt. Da ist es ärgerlich, wenn nebenan jemand ist, der das nicht tut." "In einer Gemeinschaft ist es wichtig, daß alle gemeinsam zum Wohl aller arbeiten," antwortete Parlar mit ruhiger Stimme. "Ich kann es nicht dulden, wenn Hatun weiterhin nur an sich denken mag. Dann ist es besser, wenn er uns verläßt." Auf Amarra entschieden die jeweiligen Verwalter der Siedlungen, Dörfer und Bereiche, wer innerhalb ihres Arbeitskreises bleiben durfte. Fügte sich ein Mensch nicht in die gegebene Gemeinschaft ein, so war es durchaus üblich, ihn an einen anderen Ort zu senden. Es galt als besser, lange zu suchen und zu reisen, als auf Dauer an einem festen Ort unglücklich zu sein.
"Ich glaube aber, daß Hatun sehr gerne hier ist," gab Seymas offen zu. "Nun, auch ihr seid auf Wanderschaft," stellte Parlar gelassen fest. "Habt ihr euren vorigen Platz gern verlassen? Wollt ihr bleiben? Ich würde mich freuen." Seymas lachte fröhlich auf. Der San hielt ihn für heimatlos. "Ich habe meine Wurzeln," versprach der junge Mann freundlich, "aber ich weiß auch, daß ich überall auf Amarra guten Grund fände, um neue Wurzeln zu schlagen. Nein, ich suche keinen Platz für mich. Ich wandere, um Erfahrungen zu sammeln und zu lernen. Hatun gehört zu euch, nicht ich." "Dann sollte er zum Wohl der Gemeinschaft beitragen," entschied Parlar. Seymas sah wieder zur Anhöhe hinauf, wo der Flötenspieler ruhig im Gras lag und seinen Gedanken nachhing. "San," sagte Seymas sehr leise, "seid ihr nur noch Landmann und nicht mehr auch Priester? Spürt ihr es nicht? Könnt ihr es nicht fühlen?" Parlar folgte mit den Augen seinem Blick. "Was meint ihr?" "Es ist nicht sehr schwierig, Löcher in die Erde zu drücken und Samen hinein zu geben," behauptete Seymas. "Es ist auch nicht sehr schwierig, einer Flöte eine heitere Melodie zu entlocken." "Ich bezweifle, daß ihr ein Flötenspieler seid." "Das, was Hatun da oben macht, das ist viel mehr als Pflanzung und Musik," fuhr Seymas unbeirrt fort. "Er ver-
strömt sich selbst. Er umgibt die ganze Siedlung hier mit tiefen, wahren, guten Gedanken voll Frieden und Eintracht. Er schafft eine Schwingung an diesem Ort, die ihn sehr angenehm macht. Ihn wollt ihr fortschicken, San? Wenn das euer Ernst ist, dann sendet ihn zum Pala des Than. Ein so ernsthafter geistiger Arbeiter wird beim Haupttempel immer willkommen sein." Parlar wandte sich langsam Seymas zu. Einen Anflug von dem, worüber der junge Mann sprach, hatte er selbst bei dessen Worten gespürt. Und dann sprach der Fremde vom Pala des Than, als kenne er diesen Mann. Da aber nun die andern Menschen ihre Arbeit wieder aufnahmen und Seymas sich zu ihnen gesellte, fand er keine Gelegenheit, Fragen zu stellen. Seymas blieb über Nacht. Am Abend, als die Menschen beim Schein eines kleinen Feuers beisammen saßen, um zu plaudern und zu singen, gesellte sich Hatun zu ihnen. Er ignorierte Nosyls Sticheleien, schien etwas abwesend und sehr schweigsam. Seymas begriff schnell, daß dies ganz dem Wesen dieses Mannes entsprach. Er bat ihn um seine Flöte. Zögernd nur reichte ihm Hatun sein kleines, geschnitztes Meisterwerk. Seymas blies ein paar Töne. "Wollt ihr tanzen?" rief er vergnügt und dann spielte er Stunde um Stunde auf der Flöte viele fröhliche Melodien. Als kleiner Knabe erhielt er seine erste Flöte von einem freundlichen Priester geschenkt und seither spielte er oft und gern das Instrument. Er kannte die gängigen Melodien der Reiche, doch er fand ebenso Gefallen daran, während des Spielens selbst neue Melodien zu erschaffen. Seymas erwachte vor allen anderen und verließ leise die Siedlung. Er wollte die vielen Fragen, die er in Parlar erweckte, nicht beantworten. Und er spürte ein Gefühl der Sicherheit beim Gedanken an Hatun. Parlar würde den
Mann wohl nicht fortschicken und wenn doch, dann gebot ihm die Pflicht, ihn zu Caryll zu senden. Noch hingen die Nebel sehr tief und hüllten das Land in einen unwirklichen, weichen Schein. Seymas ging langsam über die nebelfeuchte Wiese. Seine Tunika durchnäßte, doch es war angenehm warm und so störte dies nicht. Ein halbhoher Strauch faszinierte den jungen Mann. Fleisige Spinnen hatten ein Netz über ihn gewoben und an diesem schillerten in dieser frühen Stunde die Nebeltröpfchen gleich aufgereihten Perlen. Die Nebel hoben sich langsam. Auf einer Anhöhe erblickte Seymas einen kleinen Tempel und nahm ihn zum Ziel. Überall in den Reichen fanden sich verstreut diese kleinen Rundbauten aus weißem Stein, welche die eine einzige Halle jener Gottheit aufwies, der der Tempel geweiht wurde. Seymas betrat Tabalkes Heiligtum zu jener frühen Morgenstunde, in der in den großen Tempeln Tabalkes Ritual aufgeführt wurde. Der Gott des Schweigens und der Hoheit lockte den Priester auf seine eigene Ebene der Kraft, wo Seymas die Tiefe und die Fülle suchte und fand.
S
eymas wanderte weiter. Er fühlte sich unbeschreiblich leicht und in ihm wehte die Ahnung einer Schwingung, von der er nicht wußte, ob er sie freudig begrüßen oder durch Konzentration enden wollte. Bei einer Gruppe junger, schlanker Bäume verhielt er den schon sehr verlangsamten Schritt und hob lauschend den Kopf. Er vernahm das Zirpen im Gras und hörte das Huschen eines kleinen Säugers. In den hohen Wipfeln sangen verschiedene Vögel, doch Seymas vernahm kein Konzert, sondern hörte mit deutlicher Unterscheidung jedes einzelne Lied. Er wußte oder hörte das nagende Geräusch, das eine fette Made unter der Rinde des Baumes hervorrief und er vernahm ebenso den lautlosen Flügelschlag des Falters, der ihn umkreiste. Seymas hielt fast den Atem an und beinahe wollte er durch eine hastige
Bewegung sein Bewußtsein zu größerer Wachsamkeit rufen, in der ein normales Hören zum Alltag gehörte. Doch der junge Priester ließ dies nicht zu. Er hockte sich mit weit geöffnetem Sinn auf seine Fersen. Das leise Rauschen der Blätter und das sanfte Wogen der Gräser schufen eine Fülle an Einzeltönen. Langsam öffnete Seymas die Augen. Ein Grashüpfer hielt sich unweit an einem Halm fest und Seymas sah alle Einzelheiten seines Panzers, wie er auch die Fliege über ihm gewahrte und deren metallisch schimmerndes Kleid. Zugleich erkannte er jeden einzelnen Grashalm der Wiese. Er schaute in die Wipfel der Bäume und unterschied jedes einzelne Blatt, jede Knospe in den Zweigen, jeden einzelnen Zweig und zugleich die Blattnarben und die Rindenzeichnung. Er befand sich in einem nie gekannten Zustand erhöhter Wahrnehmung und die zuvor nur erahnte Schwingung breitete sich aus, ließ seinen Körper vibrieren und wirkte zugleich tödlich bedrohend wie auch alles verheißend. Seymas ertrug es. Der Duft der Erde stieg in seine Nase und all die Gerüche, die hier wehten, drangen wie ein fremder Atem in ihn ein, salbten ihn, erfüllten ihn ganz. Seymas sah die Baumwipfel und die Wiese, die Ameise am Boden und den Vogel in der Luft und er begriff, daß er alles zugleich sah, ohne den Kopf zu bewegen oder den Blick zu wenden. Und dann sah er den Männerleib, der mit vor der Brust gekreuzten Armen am Boden hockte und reglos verharrte. Aber er betrachtete ihn mit derselben gleichmütigen Ruhe, mit der er den Grashüpfer beschaute und das Blatt im Baum; wie einen Teil seiner geliebten Mitund Umwelt. Es gab nun kein Oben und Unten, kein Vorn und Hinten, kein Rechts und Links und kein Innen und Außen - Seymas sah,
roch, hörte alles in Einem und es schien ihm, als sei dies ganz natürlich so. Er hatte den Standpunkt des Betrachters verloren und war nicht mehr Mittelpunkt der Welt, seiner Welt, von dem aus sie sich beschauen ließ. Er verlor jedes Gefühl für die Zeit, die in diesem Zustand nicht existieren konnte. Es endete nicht abrupt, sondern klang ganz langsam und sacht aus. Irgendwann fand er sich wieder auf dem Boden hockend und den Grashüpfer anstarrend, der ihn argwöhnisch beäugte. "Du bist ein häßlicher Kerl," sagte er ganz leise zu dem Tier, "aber du hast wunderschöne Augen." Um seine Lippen spielte ein tiefes Lächeln und in seinem Sein wehte ein unendlicher Frieden. Seine hellen Augen leuchteten klar und als er sich erhob und den Heimweg antrat, da war ihm, als ginge er über heiliges Land. Erst gegen Abend verebbte die tragende Schwingung in ihm, lief aus wie die Meereswellen am flachen Strand, endete wie ein sanfter Wind in endloser Weite. Zurück blieb ein Gefühl tiefen, wahrhaftigen Glücks. Er wollte dieses Glück teilen und nur darum rief er im Geist nach seinem Gebieter, den er so liebte. Als habe der Than auf diesen Ruf gewartet, so rasch öffnete sich der Kontakt. "Ich komme heim," versprach Seymas mit jeder Faser seines Seins.
T
hyrian sah mit Erstaunen, daß Ilkonys etwas fallen ließ und als er sich dann aus der Hütte schlich und danach griff, konnte er nicht fassen, welch Vermögen der Prinz ihm so einfach hinterließ. Er hatte nicht die Zeit, um Nodhers Erben zu beobachten, doch berührte ihn dessen hochmütiges Verhalten sehr seltsam. So hatte er ihn in Nodher und Khyon nicht erlebt und er konnte nicht wissen, daß dieses
Benehmen in der Zeit davor durchaus in der Natur des Prinzen lag. Thyrian schlich sich unter den Augen eines Gardisten aus Nodher aus dem Tempel und dann lief er, so weit ihn seine Füße trugen, denn er wollte unter allen Umständen verhindern, in der Nähe des Tempels gefaßt zu werden.
F
alla Trinarys sandte Alkym, ihm Ilkonys zu bringen. Wie es üblich war, empfing er den Prinzen in Tabalkes Halle. Wie überall, so fand sich auch hier auf dem Boden Tabalkes Symbol - ein Kreis, der von einer waagrechten Linie durchtrennt wurde. Trinarys stand inmitten dieses Symbols, als Nodhers Erbe bei ihm eintrat. Ilkonys kreuzte die Arme vor der Brust. In Nodher neigte er sich vor den Fallas der Tempel, mit Ausnahme von Gerrys, der ihm Freund war, doch er ging nie auf die Knie. Die Fallas knieten vor seinem Vater, er aber besaß noch keine wirkliche Macht. Er war sich nicht ganz sicher, wie er sich hier verhalten sollte, beschloß dann aber, den Falla durch einen Kniefall zu ehren, zumal er ja als Priesterschüler kam. Er näherte sich Trinarys und noch ehe er sich neigen konnte, kniete der Falla schon vor ihm. "Nodhers Erbe hat Amarra gestern einen großen Dienst erwiesen," sagte der Mann mit fester Stimme. "Mögen die Götter stets mit euch sein, mein Prinz." "Erhebt euch," bat Ilkonys rasch. "Es geziemt sich nicht, wenn ein Falla vor einem Sohn der Tempel kniet, der noch keine Weihe sah." Trinarys kam dieser Aufforderung nach und sagte dabei: "Das war kein Tempelsohn, der die Soldaten bezwang. Das war in allem ein Mann der Macht."
"Wenn dem so ist," entgegnete Ilkonys freundlich, "dann war es jedenfalls nicht sehr wahrhaftig." "Wie dem auch sei, ich bin euch dankbar. Da ihr während der kalten Nebel reist, habt ihr wohl ein dringliches Ziel. Seid Gast des Tempels, solange es eure Zeit erlaubt." Ilkonys ließ die bisher gekreuzten Arme sinken und trat einen halben Schritt zurück. Für den Falla war alles gesagt, stellte er fest. "Dieser Tempel war mein Reiseziel," gab er ruhig zu. "Ich suchte den Priester Thyrian, den ich um Leitung bitten wollte." Der Falla schien zu erschrecken und da begriff der Prinz, daß Alkym nicht weiter mit seinem Herrn sprach. Vermutlich gab es keine Nähe zwischen diesen Männern. "Thyrian hat vor zwei Jahren den Tempel verlassen, um durch Sarai zu wandern und seinen Weg zu erkunden," erklärte der Falla eindringlich. "Eure Reise war also vergeblich, Prinz." Er wollte tatsächlich die Halle verlassen. Da lachte der Prinz leise auf und meinte: "Falla, und ihr glaubt wirklich, mich damit abspeisen zu können? Habe ich nicht ein offeneres Wort verdient?" "Es gibt nicht mehr zu sagen, Prinz. Ich wünsche eine gute Reise," blieb Trinarys stur und ging jetzt wirklich mit raschen Schritten hinaus. Ilkonys blieb allein zurück. Er faßte es kaum, so behandelt zu werden. Ihn störte weniger die Tatsache, daß der Falla sich über ihn erhob und ihn wie einen Tempelhelfer
behandelte als vielmehr das unverhohlene Mißtrauen, das aus dessen letzten Satz ersichtlich wurde. Trinarys zeigte ihm deutlich, daß er den Tempel möglichst bald verlassen und keine Fragen stellen sollte. Ilkonys suchte seine Männer auf und gab ihnen Anweisung, alles für die Heimkehr vorzubereiten. Am andern Morgen wollte er sich auf den Weg machen. Danach begab er sich in sein Gasthaus. Der Tempel rief zu Saakes Ritual. Ilkonys grübelte. Weshalb berührte der Falla eigentlich nicht seinen Geist? Dann wüßte er, daß er Thyrian sprach. Weshalb gab er nicht zu, daß Thyrian hier war? Nahm er an, ein Erbe der Macht würde ihn verurteilen, weil er einen Verräter deckte? Glaubte er denn, er habe sich mit Sarais Soldaten allein um des Tempels Willen auseinander gesetzt? Ilkonys kleidete sich um. Er trug nun enge Beinkleider, ein fein besticktes Hemd und ein enges, edel gearbeitetes Wams darüber. Grinsend legte er sich die Schärpe um und bürstete das lange Haar. "Manche Leute wollen geblendet sein," murmelte er vor sich hin. "Dann spiele ich das Spiel eben noch einmal." Sorgsam legte er den Umhang über die Schultern, als das Ritual endete. Er wartete noch etwas, bis sich der Tempel leerte, dann trat er durch das breite Tor dort ein. Die Tempel in den Reichen wurde alle nach demselben Bauplan errichtet. Ilkonys wußte genau, wohin er sich wenden mußte, um die privaten Räume des Falla zu finden. Er zögerte. Das, was er nun tat, würde dem Vater sicher nicht gefallen. Es würde keinem gefallen können. Ilkonys dachte an Seymas und lächelte. Ihn würde die Geschichte amüsieren. Nodhers Erbe trat ohne Anmeldung beim Falla an. Trinarys befand sich in einem der angrenzenden Räume und als er den größeren Wohnraum betrat und Nodhers Erbe wartend sah, kniete er langsam nieder. Ilkonys stand
breitbeinig, mit in die Seiten gestützten Armen und zeigte in seiner ganzen Aufmachung, daß er nun als Erbe der Macht und nicht als Sohn der Tempel kam. "Ich warte," sagte Ilkonys herrisch nach einiger Zeit der Stille. "Worauf, Prinz?" "Ihr habt mir einiges zu erzählen, Falla," beharrte Nodhers Erbe. Trinarys schloß die Augen. "Ich darf nicht reden," bekannte er leise. Ilkonys wollte ihn schon aufheben, doch er entschloß sich anders. Als seien dies seine Gemächer, so selbstverständlich nahm er in einem der hohen Sessel Platz. "Was hat Thyrian angestellt?" wollte er nachdrücklich wissen. Hierin gab ihm der Falla bereitwillig Antwort und schilderte, was er über den Vorfall erfuhr. Das war aber nicht viel mehr als die Bedrohung Delaros' mit dem Messer und alles, was danach geschah. "Und wann kam er hierher?" "Er verließ den Tempel vor zwei Jahren," wich Trinarys aus. Ilkonys beugte sich vor und hob die Stimme: "Mann, lügt mich nicht an," fauchte er. "Ich habe mich nicht eingemischt, damit ihr euer Ritual abhalten könnt. Was interessiert mich euer Tempel? Es ist euer Amt, den Bau zu schützen, nicht das meine. Wenn ihr dazu nicht fähig seid,
soll Amarra einen fähigeren Mann berufen." Er tat viel zorniger, als er war und schüchterte den mächtigen Falla dadurch tatsächlich ein. "Was ich tat, geschah, um Thyrian zur Flucht zu verhelfen." Trinarys hob überrascht den Kopf. "Alkym," begriff er und seine Stimme klang bedrohlich. "Alkym?" Ilkonys lachte böse. "Was hat der Priester mit der Sache zu schaffen? Ich sagte euch, daß ich allein wegen Thyrian kam. Ich habe ihn gesprochen." Der Falla erhob sich nun ungefragt. Nur mühsam konnte er seine Erregung verbergen. Demnach also hielt sich Thyrian nicht an das Gebot der Abgeschiedenheit. Er brachte den Tempel bewußt in Gefahr, schloß der Falla und das sprach er auch aus. Ilkonys sprang auf. "Ihr seid ein Narr," fuhr er den Falla an, "wenn ihr solche Gedanken hegen könnt. Thyrian ist ein starker Priester, auf Amarra wohl bekannt." Er wußte, daß er übertrieb, aber das konnte der Falla nicht ahnen. "Glaubt ihr, ich suche mir einen schwachen Leiter aus?" "Amarra darf seine Tat nicht decken," murmelte Trinarys, der nicht mehr wußte, was er glauben sollte. "Aber das erklärt manches." "Was erklärt es?" forderte der Prinz herrisch Aufklärung. Nun berichtete der Falla, wie Alkym Thyrian in den Tempel brachte und wie er in dieser Nacht Befehl von Amarra erhielt, alles für den Priester zu tun und ihn später zur schönen Insel zu senden. "Weiß er, daß Amarra ihn rief?" drängte Ilkonys.
Der Falla bejahte. Ilkonys atmete auf. Wenn Thyrian einen Weg und ein Ziel hatte, dann würde er es sicher auch erreichen. Er ging zur Tür. "Gebieter," hielt ihn Trinarys zurück, "wenn unser Herrscher erfährt, daß Thyrian hier verweilen durfte..." Ilkonys unterbrach ihn mit leisem Lachen. Er wandte sich noch einmal um. "Falla, was geht mich euer Herrscher an? Um Thyrian zu schützen, werde ich alles tun, das nötig ist." Er trat einen Schritt auf den Tempelherrn zu. "Dafür betrete ich einen Tempel auch in solcher Kluft und erhebe mich über einen Mann, vor dem ich knien sollte. Wenn ihr den Fallas aus Nodher begegnet, erzählt ihnen besser nichts von dieser Stunde." "Weshalb?" Trinarys staunte. weniger ehren, als sie es tun?"
"Sollte
ich
ihren Erben
Ilkonys lächelte ihm versöhnlich zu. "Sie ehren mich, indem sie mich als Tempelsohn anerkennen und mich als solchen belehren," versprach er jetzt ganz freundlich. "Ich sagte euch, daß ich wahrhaftig noch keine Macht besitze."
D
er volle Beutel erleichterte Thyrians Tage sehr. Er konnte sich unerkannt neu einkleiden und das Äußere eines Zureiters geben. Sarai suchte einen Hirten, keinen Pferdekenner. Er vergaß nicht, daß Amarra ihn rief, doch der Weg zur Küste war weit. Thyrian erwarb einen kleinen Ledersattel und alles Handwerkszeug, das ein Zureiter üblicherweise besaß. In der kleinen Stadt, die er erreichte, fiel er auf, denn zur Zeit der kalten Nebel kamen sonst keine Fremden. Er wog den Beutel. Für ein gutes Pferd mochte der
Inhalt noch reichen. Thyrian strebte den Stallungen der Pferdehändler zu. Um diese Zeit gab es nicht viele Tiere hier. Ein paar Stuten befanden sich auf der Koppel. Er betrachtete sie lange. Sarai war berühmt für seine edlen Pferde, aber diese Tiere trugen sicher nichts zu dieser Berühmtheit bei. Er beschloß, die Solare zu sparen. Die Überfahrt nach Amarra wollte bezahlt sein und die kommenden Tage mochten noch so manchen Solar auf brauchen. In der nahen Herberge wollte er speisen und dann weiterziehen. Auf dem Weg entschied er sich dafür, ein kleines Zelt zu erwerben und lenkte den Schritt in die Seitengasse. Da mußte irgendwo ein Händler sein. Thyrian fand ihn rasch, denn vor dessen Haus sah er drei Pferde angebunden, die ihn begeistern konnten. Die Hengste waren halbwild und von feurigem Wesen. Sie trugen trotzdem nur lockere Lederzügel. Thyrian trat etwas näher. Wer diese Tiere so ritt, der mußte im Sattel sicherer sein als auf den Beinen. Der schwarze Hengst in der Mitte schnaubte laut auf, als Thyrian näher kam. Unruhig scharrte das Tier mit den Hufen. Der Priester ließ seinen Sattel zu Boden gleiten. Langsam hob er beschwichtigend die Hand, leise redete er auf das Tier ein. Der Hengst wieherte auf und zerrte am Halfter. "Noch einen Schritt und du hast meinen Dolch im Rücken," ertönte da hinter Thyrian eine belustigt klingende Stimme. "Wenn du den Hengst verdirbst, reite ich auf deinen Schultern." Thyrian ließ die Hand sinken und drehte sich betont langsam um. In der geöffneten Ladentür lehnte ein Mann, nur wenig älter als er, mit verschränkten Armen und musterte ihn amüsiert aus tiefschwarzen Augen. Die Kapuze seines Umhang bedeckte halb die dunklen Haare. Das markante Antlitz und die dunkle Haut verrieten einen Menschen, der sich viel im Freien aufhielt. Der schlanke Körper in der engen Kleidung aus feinster Targawolle schien durchtrainiert und stark. Am Gürtel steckte ein Dolch, doch nicht in der Art, wie man eine Waffe trägt, sondern so, wie ein Mann ein
Werkzeug mit sich führte. Thyrian entspannte sich. Der Mann lachte leise und betrat wieder den Laden. Thyrian hob seinen Sattel auf und folgte dem Fremden. Der Händler packte soeben die Waren zu einem kleinen Bündel. Thyrian sah außer dem, der ihn bedrohte, zwei weitere Männer, etwas jünger und weniger edel gekleidet. Einer von ihnen hielt fein gearbeitete Lederschuhe in Händen, stellte sie nun mit leisem Seufzer zurück. "Willst du sie haben, Ingmar?" erkundigte sich der Schwarzhaarige freundlich. "Das nächste Mal, Herr," erwiderte der Angesprochene. "Zu teuer, hhm," stellte sein Herr lächelnd fest. Aber er nahm die Schuhe zur Hand und warf sie dem Händler zu. "Und du, Dalson?" wollte er dann von dem dritten Mann wissen. Der schüttelte nur den Kopf und trat zur Tür, die Pferde betrachtend. Völlig unerwartet sprach der Fremde da Thyrian an: "Stell dir vor, du hast einen ziemlich eigensinnigen Herrn, dem nichts besseres einfällt, als bei diesem Wetter zur Stadt zu reiten, nur, weil seine Verwalter zu dumm waren, genug Honigvorrat für die kalte Zeit zu besorgen. Und stell dir weiter vor, du begleitest freiwillig deinen Herrn trotz der beißenden Kälte. Wärst du dann auch zu stolz, dich belohnen zu lassen?" Auffordernd sah er Thyrian an. Der Priester hielt seinem dunklen Blick stand, als er leise lächelnd erwiderte:
"Wenn ich meinen Herrn aus freiem Willen und nicht auf Befehl hin begleite, dann liegt mir wohl viel an seinem Wohlergehen." "Und was hat das eine mit dem anderen zu tun?" "Nichts," erwiderte Thyrian gelassen, "solange nicht, wie mein Herr nicht vielleicht mit einem Geschenk mangelnde Dankbarkeit ausgleichen will." Die Augen des andern verengten sich kurz zu schmalen Schlitzen. Dann lachte er leise auf. "Wie ist dein Name?" Fast sprach Thyrian die Wahrheit, doch im letzten Moment entsann er sich seiner Lage und so antwortete er äußerlich völlig ruhig: "Man nennt mich Kywar." "Du bist Zureiter?" wollte der Fremde mit kurzem Seitenblick auf den Sattel wissen. Thyrian nickte. "Bist du gut?" "Das entscheiden die Pferde," erwiderte der Priester langsam. "Und dein Dienstherr," ergänzte der Mann etwas spöttisch. Er musterte Thyrian nun unverhohlen. Dann wandte er sich unvermittelt ab, trat zu Dalson und drohte leise: "Such deiner Liebsten jetzt eine hübsche Gabe aus, die du ihr bringen kannst. Wenn du dich weigerst, werde ich es tun." Wieder musterte er Thyrian, dann warf er Ingmar seinen Beutel zu und befahl: "Kommt in die Herberge, wenn
alles fertig ist. Und bringt seinen Sattel mit." Er deutete auf Thyrians Eigentum. "Komm," sagte er dann zu dem Priester, "laß uns speisen." Thyrian wollte erst ablehnen, doch dann gab er achselzuckend nach. Er besaß keinen Grund zur Eile und nach der langen Zeit der Einsamkeit im Tempel war ein anregendes Gespräch wie ein Geschenk der Götter. Man kannte den dunklen Fremden hier, der in der Herberge sofort den besten Tisch und den besten Wein erhielt und mit größtem Respekt behandelt wurde. Er schob Thyrian den Becher zu. "Trink, Kywar," lud er ihn ein. "Woher kommst du?" "Aus der Gegend um Kosta," log der Priester mit gelassener Stimme. "Sagt ihr mir, wer mich zum Mahl einlud?" Der Fremde lachte leise auf. Er schien gern zu lachen und trübe Gedanken leicht zu meistern. "Mein Name ist Xymenar," stellte er sich vor. "Mein Gestüt liegt zwei Tagesritte entfernt. Ich züchte Pferde, aber wir fangen auch die wilden Tiere und zähmen sie. Es ist ungewöhnlich, zur kalten Zeit einen Zureiter auf Wanderschaft zu sehen." "Ich hatte Ärger mit meinem Herrn," log Thyrian weiter. "Dann fällt es dir schwer, gehorsam zu sein," stellte Xymenar fest. "Solche Leute sind nicht sehr brauchbar." Thyrian lehnte sich zurück. Er wußte, daß seine nächsten Worte über seine nähere Zukunft entscheiden konnten. Aber er machte sich nicht einmal die Mühe, Xymenars Geist zu berühren. Der Mann war wohl kein Priester, aber er schien
stark im Geist zu sein und konnte so eine Berührung womöglich erahnen. Andererseits, es gab Dinge, die er nicht mochte und die er auch um ein paar Tage der Wärme in einem festen Haus nicht akzeptieren wollte. "Wilde Pferde zähmt man Peitsche," sagte er langsam.
mit
Geduld, nicht mit der
Der Wirt brachte nun ein sehr reichhaltiges Mahl und zum Erstaunen Thyrians waren viele süße Speisen dabei. Ingmar und Dalson betraten den Raum und setzten sich auf Wink ihres Herrn hin an einen anderen Tisch, wo sie sofort bewirtet wurden. "Iß," forderte Xymenar seinen Gast auf und als er sah, mit welchem Heißhunger Thyrian über die Speisen herfiel, wußte er, daß dieser Mann sich lange nicht mehr satt essen konnte. Er selbst aß nur wenig, sah danach Thyrian grinsend zu und stellte nun keine Fragen mehr. Thyrian schob den Teller von sich und leerte den Becher. Ihre Blicke trafen sich erneut. "Warte hier," entschied er dann mit einer Stimme, die keinen Widerspruch kannte. Er erhob sich, sprach kurz mit seinen Begleitern, nahm auch seinen Beutel wieder an sich und ging hinaus. Nach einiger Zeit kam er zurück und entlohnte den Wirt recht großzügig. "Kywar." Thyrian reagierte etwas zu langsam auf diesen Namen. Er erhob sich. "Willst du mit mir kommen?" "Ihr bietet mir Arbeit und Lohn?"
"Wenn du gut bist, wirst du zufrieden sein," versprach Xymenar. "Bist du es nicht, wirst du die Ställe misten. Aber sie sind wenigstens warm." Das war in Thyrians Ohren ein unglaublich offenes Angebot. Sollte Xymenar sein Werk nicht schätzen, so drohte ihm noch nicht einmal Ausstoßung. Dann konnte er trotzdem bleiben und die Art, wie der Mann dies sagte, klang wie ein Versprechen. Thyrian trat zu ihm. "Ich danke euch," sagte er einfach. "Ich hoffe, daß ihr es nie bereuen werdet." Xymenar lächelte sacht. "Ich bereue es jetzt schon," versprach er. Als sie die Herberge verließen, stand neben den drei feurigen Pferden eine der Stuten aus den Ställen der Stadt. Xymenar hatte alles für den Heimritt vorbereitet und er beobachtete auf diesem genau, wie sich Thyrian im Sattel hielt.
D
elaros erreichte eine kleine Stadt und widmete sich seinem Volk, indem er allen Mensch sein Ohr öffnete und den Leibeigenen nicht weniger lauschte als den Mächtigen. Einen Boten des Vaters, der ihn um Heimkehr bat, schickte er zurück. Doch die beiden jungen Männer, die mit ihm kamen, duldete er in seiner Nähe. Sie gehörten zu jenen, die Wharhan als seine Gefährten auswählte und die er zuvor abwies. Jetzt hörte er auch ihnen zu.
W
eit entfernt reiste Ilkonys mit seinem Gefolge durch Sarai. Er suchte nach Thyrian, doch tat er es sehr unaufdringling und ohne viele Fragen zu stellen. Er hoffte noch, den Priester irgendwo nahe des Tempels finden zu können und da er ein Ziel hatte, begann ihm die Reise nun mehr zu gefallen wie auf dem Weg zum Tempel. Er lernte Land und Leute kennen und fand sich sogar mit der Kälte ab, die immer mehr zunahm.
T
hyrian folgte den Männern durch die weite Ebene. Nachts kristallierte der Nebel an den Halmen und verlieh ihnen ein unwirkliche, weiße Gestalt. In einer Mulde errichteten die Männer zwei kleine Zelte. Sie entfachten Feuer und gaben sich Mühe, alles erträglich zu gestalten. Xymenar brachte die Pferde in dichtes Buschwerk, das sie vor dem Nebel etwas schützen konnte. Thryrian half ihm, die Tiere abzusatteln und zu füttern. "Was denkst du?" wollte Xymenar wissen.
"Etwas viel Aufwand für ein wenig Honig," antwortete Thyrian freimütig. Xymenar lachte schallend. Sie kamen zurück ans Feuer, wo schon eine warme Mahlzeit auf sie wartete. Ingmar und Dalson blieben erstaunlich zurückhaltend und so bestimmte Xymenar ihr Reden. Er erzählte von seinem Besitz, seinen Leuten, seinen Pferden und aus jedem Wort klang purer Stolz. Als er in sein kleines Zelt kroch, verweilten die beiden Männer noch ein wenig. "Er nimmt keinen Mann in Dienst, der nicht zuerst sein Können bewies," erklärte Ingmar. "Du bist eine Ausnahme." "Aber er ist ein guter Herr," ergänzte Dalson rasch. "Als ein Kamerad vom Pferd stürzte und sich das Bein brach, entlohnte er ihn weiter, obwohl er lange nicht arbeiten konnte. Wenn du deine Arbeit tust, wird es dir an nichts fehlen." Sie wünschten ihm schuldbewußt eine gute Nacht. Das Zelt war zu klein für drei Männer. Thyrian mußte beim Feuer bleiben. Er zog die Decke fester an sich. Es wurde kälter und die Nebelnässe verstärkte sich. Thyrian schob einen Ast in die Glut. Das Holz wurde feucht, es brannte nicht mehr, aber es glomm noch und wärmte etwas. "Kywar." Er hörte den fremden Namen und seufzte. Anscheinend hatte Xymenar noch einen Wunsch. Thyrian kroch zu seinem Zelt. "Komm rein." Er gehorchte zögernd. Xymenar schob ihm einen kleinen Wasserschlauch zu.
"Trink," verlangte er, "aber langsam. Das ist kein Wasser." Der Priester nahm einen kleinen Schluck. Tratta! Der Schnaps vermittelte seinem frierenden Körper ein Gefühl von Wärme, aber Thyrian wußte, daß das nicht anhalten konnte. "Leg dich hin." Thyrian wollte sich zurückziehen, doch da schnellte Xymenars Faust nach vorn, packte ihn am Wams und zog ihn mit einem einzigen Griff nieder. "Was meinst du, was Ingmar und Dalson und was die Pferde tun?" fuhr er den Priester an. "Sie wärmen sich gegenseitig." Er schob einen Teil seiner Decke über Thyrian. "Heute Nacht ist man ohne Schutz draußen verloren. Schlafe." Thyrian blieb bäuchlings liegen, doch es dauerte lange, bis er sich entspannte. Er hörte Xymenars leises Lachen. "Vergebung, Herr," bat er leise. "Hast du gedacht, ich will dich vergewaltigen?" Xymenar schien erheitert. "Ich will nur nicht, daß du erfrierst. Schlafe nun." Doch ehe die Nebel sich hoben, stieß er Thyrian in die Seite und weckte ihn. Fast vergnügt raunte er ihm zu: "Rauß mit dir. Ingmar und Dalson könnten dasselbe denken wie du. Den Ruf möchte ich lieber nicht erhalten." Als diese beiden Männer ihr Zelt verließen, brannte schon das Feuer wieder und heißer Kräutertee wartete, um ihnen die Kälte aus den Gliedern zu treiben. Am
Abend
erreichten
sie ein weites Tal. Ein Fluß schlän-
gelte sich träge hindurch. An seinem Ufer fanden sich eine Reihe von Häusern, Stallungen und großen Koppeln, auf denen Pferdeherden ihren Raum fanden. Thyrian sog tief den Atem ein. Von der Anhöhe aus bot sich ihm ein friedvolles Bild. Das hatte er nicht erwartet. Xymenar mußte einer der reichsten Männer des Landes sein, so groß zeigte sich sein Gestüt. Der gab seinen Begleitern nun einen Wink und so ritten Dalson und Ingmar voraus, um sein Kommen zu künden. Xymenar wandte sich im Sattel nach Thyrian um, der immer hinter ihnen ritt. "Gefällt es dir?" Jetzt wich der Priester seinem Blick zum ersten Mal aus. "Ihr seid nicht nur Pferdezüchter," vermutete er, "ihr seid mehr. Was ist euer Stand?" Xymenar streifte seine Kapuze ab. Er trug das Haar offen, was aller Sitte nach nur Menschen der Macht zustand. "Ich bin Pecha," gab er sich als Landesfürsten zu erkennen, "Herr über, ich weiß es nicht genau, viele tausend Menschen. Erschreckt dich das?" Thyrian nickte langsam, lenkte zugleich sein Pferd aber neben seinen neuen Herrn. Er war verloren, wenn Xymenar je erfahren sollte, was er dem Erben des Reiches antat. "Ich bin noch mehr," offenbarte Xymenar heiter. "Zum Beispiel Priester des ersten Grades. Oder einer der Ratgeber unseres Herrschers, den ich zwei, drei Mal im Jahr aufsuche. Oder Vater einer wunderbaren Tochter. Ändert das etwas für dich?" "Das tut es, Herr," antwortete Thyrian langsam. "Ihr habt Macht über Leben und Tod eurer Leute."
"Ja, und was weiter?" "Wenn ihr unzufrieden seid..." Xymenar lachte fröhlich. "Dann lasse ich dich vierteilen," drohte er gutmütig. "Du bist Zureiter oder Stallbursche, ich habe es dir gesagt." Er ritt an und Thyrian hielt sich wieder hinter ihm. Die Menschen im Tal begrüßten ihn freudig; nicht wie einen Fürsten, sondern wie einen endlich heimkehrenden Hausherrn. Ein paar Männer spotteten über Thyrians Pferd, das von seiner Art nicht zu den Tieres des Gestütes passen konnte. Xymenar glitt aus dem Sattel, nahm den Becher heißen Weines, dem ihm eine junge Frau bot und trank in kleinen Schlucken. Ingmar reichte Thyrian einen solchen Trunk, den dieser dankbar annahm. Der Pecha ging auf das größte der flachen Häuser zu, umringt von Menschen. Ingmar blieb bei Thyrian und führte ihn in eines der Mannschaftshäuser. Hier fand sich ein Kamin mit prasselndem, wärmenden Feuer. Zehn Ruhestätten standen an der Wand. Ingmar deutete auf eines der Lager und Thyrian ließ sich einfach darauf fallen. Er schlief ein, noch ehe die neuen Kameraden irgendwelche Fragen stellen konnten. Als er erwachte, hingen die Nebel schon hoch. Der Raum war leer. Hastig erhob er sich. Auf dem Tisch fand er Brot und Milch. Er aß, trank, trat hinaus. Unweit sah er die Tränke. Thyrian ging hin und wusch sich. Niemand beachtete ihn. So kehrte er zurück, schabte sich den Bart und bürstete das Haar, das er dann fest zusammen band. Wieder verließ er das Haus. Er sah die Männer bei der Arbeit, konnte aber weder Dalson noch Ingmar entdecken. Ein Wiehern erweckte seine Aufmerksamkeit. Thyrian folgte dem Geräusch und fand zwischen Mannschaftshaus und Herrenhaus eine
kleinere Koppel, an deren Ende sich ein halboffener Stall befand. Fasziniert trat er näher. Da war ein wilder Schimmel, der nie einen Menschen trug und der seine Gefangenschaft mit heftigem Aufbäumen und bösen Tritten gegen das Holz beklagte. Thyrian lehnte an der Umzäunung und ließ keinen Blick von dem Tier, dessen kraftvolle Bewegungen ihm majestätisch schön erschienen. Er vergaß seine Umwelt bis zu dem Moment, da ein Mann über den Zaun stieg. Das Pferd bäumte sich auf. Der Mann trug eine lange Peitsche und ihr kalter Klang trieb das Tier zurück. Der blanke Riemen traf den Hals des Tieres, das angstvoll aufschrie. Es lief beiseite. "Du gibst schon noch nach," drohte der Mann und rollte den langen Riemen ein, um erneut zum Schlag auszuholen. Thyrian sprang über die Umzäunung und rannte auf den Mann zu, riß ihm die erhobene Peitsche aus der Hand und schleuderte ihn zu Boden. Der Schimmel bäumte sich auf und lief zum andern Ende der Koppel. Für den Moment war er vergessen, denn der Mann hechtete Thyrian entgegen und gleich darauf rangen die beiden Männer am Boden. Thyrian mußte heftige Hiebe einstecken, doch er wehrte sich mit aller Kraft. Sie belauerten sich und plötzlich hielt sein Gegner einen Dolch in der Hand. "Das wirst du bereuen," drohte er und hob die Waffe an. Als er Thyrian anspringen wollte, ertönte kalt der Klang einer Peitsche und deren Riemen wickelte sich um die Waffenhand des anderen und zerriß dessen Haut. Der Mann schrie auf und ließ die Waffe fallen. Xymenar, der gekommen war, warf die Peitsche seinem Begleiter zu. "Runter von der Koppel," befahl er knapp.
Er kletterte selbst gewandt über den Zaun und wartete auf dann auf seine Männer. Da sein Gegner vor dem Pecha niederkniete, tat Thyrian es ihm gleich. Wieder erklang das amüsierte, heitere Lachen des Pecha. "Steh auf," verlangte er von Thyrian, "vor mir kniet hier nur, wer Grund hat, sich zu fürchten." Der andere senkte den Kopf. Das Blut tropfte von seiner Hand, die er schmerzhaft umklammert hielt. Xymenar scheuchte alle Männer mit einer Handbewegung fort. "Du bleibst," hielt er Thyrian zurück. Er stellte einen Fuß auf das untere Umzäunung und betrachtete den Schimmel.
Brett
der
"Du hast ein Problem, Kywar," stellte er gelassen fest. "Polurk ist ein guter Mann und ich habe ihn deinetwegen verwundet. Wenn ich ihn bestrafe, werden die Leute es dir anlasten, nicht mir." "Dann straft ihn nicht weiter, Herr," bat Thyrian voll Unruhe. "Das geht nicht," wehrte Xymenar ab. "Ich dulde keine Peitsche bei den ganz wilden Tieren. Es ist ein herrlicher Schimmel, nicht wahr?" "Wie lange ist er hier?" "Nicht lange," erklärte der Pecha. "Er ist ungebrochen und greift jeden an, der ihm zu nahe kommt. Bisher hat ihn noch keines Menschen Hand berührt. Schaffst du ihn?" Thyrian zuckte zusammen bei diesen Worten. Wollte der Pecha wirklich ausgerechnet ihm dieses wertvolle Tier anvertrauen? Es war immerhin eine reizvolle Herausforderung, sich
mit der Wildheit des Schimmels zu messen. "Es ist mir lieber, du sagst jetzt nein als daß du versagst," meinte Xymenar freimütig. "Das ist jetzt übrigens auch deine einzige Chance, mich um einen anderen Dienst zu bitten." Ihre Blicke trafen sich. Der Pecha wirkte sehr freundlich und ohne jedes Mißtrauen. "Ein anderer Dienst?" vergewisserte sich Thyrian. "Du solltest mich nicht unterschätzen," warnte Xymenar mit freundlicher Stimme. "Dein Sattel ist so neu wie deine Kleidung. Du hast lange kein Pferd mehr zugeritten - falls du es je getan hast." "Trotzdem würdest ihr mir diesen Schimmel anvertrauen?" "Wenn du ihn verdirbst, töte ich dich," warnte Xymenar. "Diesen Schimmel habe ich Jahre hindurch verfolgt. Ich wollte ihn immer haben. Er ist das beste Tier, das ich je gesehen habe und nun, da er mir gehört, ist er stärker als jeder meiner Männer." "Haben sie ihn gequält, Herr?" "Wie Polurk es tat? Nein, sicher nicht. Sie sehen ihn an und erkennen, daß sie ihn nicht bezwingen können. Ich akzeptiere ein Nein, aber ich kein Versagen. Das gilt nicht nur für dich." "Wieviel Zeit habe ich?" Xymenar sah ihn leicht erstaunt an, ehe er antwortete: "Ich grenze deine Zeit nicht ein."
Thyrian ging am Gatter entlang, näherte sich dem Tier, das bei seinem Anblick zurück wich. Es beäugte ihn argwöhnisch. Langsam ging der Priester zum Pecha zurück. "Ich werde ihn zähmen," versprach Thyrian mit fester Stimme. "Aber das kann ich nur tun, wenn es auf meine Art geschieht." "Geduld statt Peitsche," erinnerte sich Xymenar lächelnd. "Die einzige Art, die ich bei ihm dulden werde." Er wandte sich Thyrian zu. "Knie nieder," verlangte er. Irritiert gehorchte der Priester. Xymenar hielt ihm die Hand hin und Thyrian ergriff sie gehorsam und küßte sie. Der Pecha zog ihn hoch. "Das haben alle gesehen," stellte er befriedigt fest. "Ich werde behaupten, daß du dich gedemütigt hast, um für Polurk um Gnade zu bitten." Er lachte leise. "Also werde ich ihm großmütig vergeben und die Männer haben es leichter, dich zu respektieren." Er nickte Thyrian kurz zu, schritt über den Platz zu Polurk, sprach kurz mit ihm und ging danach in sein Haus. Von da an widmete Thyrian seine ganze Zeit dem Schimmel, den er unbedingt für seinen Herrn und Helfer zähmen wollte. Er empfand Dankbarkeit gegenüber Xymenar und hoffte, sie durch ein gutes Werk beweisen zu können.
S
eymas sah das große Tempelrund in der Ferne und verfiel in Laufschritt. Er rannte bald, als gäbe mit einem Mal große Eile. Caryll trat aus seinem Haus, aber Seymas sah ihn nicht einmal und lief an ihm vorbei, dem inneren Tempeltor zu, aus dem nun Nymardos trat. Der junge Mann sah seinen geliebten Herrn und hielt auf ihn zu. Dann warf er sich aus dem Laufen heraus vor dem Than
längs auf den Boden, ergriff dessen Füße und preßte sein Gesicht dagegen. So verharrte er mit weit geöffnetem Geist, ganz ausgerichtet auf den väterlichen Freund. Bewohner des Tempelbereichs sahen die Szene, hielten sich aber nicht auf. So ungewöhnlich war es nicht, daß sich ein Mann vor dem Than demütigte. Caryll kam langsamen Schrittes herbei. Ihn verwirrte das Bild, doch das beruhigende Lächeln des Than vermittelte ihm Ruhe. Er neigte sich zu Seymas, ergriff ihn bei Schultern und hob ihn mit festem Griff auf. Seymas wehrte sich fast dagegen und stand dann wie schuldbewußt mit hängenden Schultern. Nymardos nickte Caryll dankbar zu, legte die Hand um die Seite des jungen Freundes und führte ihn mit sich durch den Tempelgarten hinüber zum Bereich der Mesa. Hier wuchs der Strauch in großer Anzahl und in seinen Wurzeln nestete die Onik. Das war ein Platz der Stille und der Ruhe, an dem sich kaum einmal ein Mensch aufhielt. "Ihr wißt, was mir geschah?" erkundigte sich Seymas endlich. "Du hast es mir gezeigt," bejahte Nymardos mit ruhiger Stimme. "Was beunruhigt dich daran?" Er deutete auf ein weiches Moospolster, ließ sich dort nieder und wartete, bis Seymas an seiner Seite kniete. "Herr," sagte der junge Priester leise, "ich habe alle Ebenen der Kraft gesehen und mich oft in ihnen gestärkt. Ich dachte, ich sei ein guter Priester und den Göttern nahe." "Das bist du," bestätigte der Than. "Man hat mich gelehrt, in diesen Kraftbereichen zu bestehen und in allem mein Sein nie zu verlieren - es einzustimmen auf diese Kräfte und auch aus dem Sinn zu
verlieren, wenn eine größere Einheit dies erfordert. Aber bei allen priesterlichen Übungen war ich doch immer das Zentrum der Kraft." "So soll es auch sein." "Was habe ich nun falsch gemacht?" Seymas' Stimme klang gequält. "Und wieviel habe ich verloren, Herr? Wo muß ich jetzt neu anfangen? Verzeiht, ich habe so viele Fragen." Nymardos lächelte und legte ihm sacht die Hand auf das gesenkte Haupt. Mit zärtlicher Geste strich er dem Jüngeren übers Haar. "War es denn so entsetzlich?" erkundigte er sich, die Antwort schon kennend. "Nein, Herr," gab Seymas zu, "es war schön und erhebend, wie ein Einstimmen auf Antares' Bereich. Ich habe nie zuvor einen tieferen Frieden gefühlt und nie zuvor so klar meine Umwelt geschaut. Erst dachte ich, ich sterbe darin - aber dann waren mein Ich und mein Leib nicht mehr verbunden. Ich wollte, daß es nie aufhört. Ich hätte dieses Erleben anfangs hindern können. Ein ruckartige Bewegung oder so was, dann wäre es vorbei gewesen. Ich habe es zu lange geduldet, nicht wahr? Das war mein Fehler darin." "Also bereust du, daß es geschah?" Jetzt hob Seymas den Kopf. Feucht schimmerte es in seinen hellen Augen, als er seinen Herrn ansah und mit zögernder Geste nach dessen Hand griff. Er hielt sie fest, als suche er Beistand, während er eingestand: "Ich wünschte, es würde immer wieder geschehen." Nymardos legte sich längs ins Moos, stützte den Kopf auf die eigene Hand und hielt mit der anderen Seymas weiter fest.
"Das wird es," versprach er, "doch nur sehr, sehr selten." Seymas entspannte sich etwas. "Ihr kennt es," begriff er endlich. "Manche kennen es," bestätigte Nymardos in leichtem Plauderton, "viele haben den Anfang der erhöhten Wahrnehmung erlebt und das leichte Vibrieren in ihrem Innern. Wie du es sagtest: eine einzige rasche Bewegung endet es sofort und meist geschieht es danach nicht wieder. Einige Menschen halten es aus. Und manche von ihnen stehen es durch. Nun bist auch du einer von ihnen." "Aber..." Nymardos legte ihm die Hand auf den Mund. "Manches Erleben verliert an Wert, wenn darüber gesprochen wird," sagte er leise, "Worte können vieles zerstören. Antares' Symbol, du kennst es: der Kreis mit dem Punkt in der Mitte. Auf der höchsten Ebene findest du den Mittelpunkt und darin ruhend das Gleichgewicht aller Kräfte." "Ihr habt mir nie gesagt, daß es noch etwas anderes gibt," murmelte Seymas ohne jeden Vorwurf. "Auch die Schriften sprechen nicht davon." "Seine eigene Mitte finden in der sechsten Weihe, das ist ein Ziel, über das sich zu sprechen lohnt," erwiderte Nymardos sanft. "Darüber habe ich mit dir geredet, davon sprechen die Schriften, das hast du auch vor langem erreicht. Bis dahin kannst du jeden suchenden Geist leiten und jede Stufe zu diesem Ziel ist ein großer Schritt. Aber alles andere kannst du weder lernen noch lehren." "Die Schriften schweigen, um keine Sehnsucht zu wecken, die nicht gestillt werden kann," begriff Seymas.
"Den eigenen Mittelpunkt zu verlieren, das ist wie ein Sterben," stimmte ihm der Than zu. "Das ist wahrlich nichts, nach dem man Sehnsucht wecken sollte. Der Tod in Raakis Weihe ist schon schwer genug zu ertragen und das Ruhen in Antares mehr, als erträglich erscheint. Die Mitte des Kreises ist groß; aber selbst zum alles umfassenden Kreis zu werden, das ist kein Gegenstand für Worte. Also vertiefe es schweigend in dir." Seymas Herr gab Erleben werden. gewann.
senkte mit geschlossenen Augen den Kopf. Sein ihm guten Rat. Im Schweigen erst konnte das sich in ihm verfestigen und Teil seines Seins Er ahnte nun, daß er nichts verlor, sondern viel
S
ehr viel später suchte Seymas das Haus des Pala auf, ließ sich melden und trat nach Aufforderung ein. Artig kreuzte er die Arme und kniete nieder. Caryll lehnte sich entspannt zurück in seinem Stuhl. "War es schön?" erkundigte er sich. "Ich habe gelernt, Nispen zu pflanzen," antwortete Seymas, der sich dabei erhob. "Sicherlich eine sehr bereichernde Erfahrung für einen Schützling des Than," spöttelte Caryll. "Verwandeln wir nun den Garten in ein Feld? Ob das unserem Herrn gefallen könnte? Wohl kaum, nicht wahr? Also wirst du wohl andere Erfahrungen suchen müssen, um ihm zu dienen. Aber zunächst bist du wieder hier. Ich freue mich." Seymas lachte fröhlich. "Lehrt ihr mich euer Werk?" bat er. "Umfassend?"
"Ja, Herr," antwortete Seymas vergnügt, "ich will alles lernen." "Dazu müßtest du ein wenig länger bleiben wollen," warnte Caryll heiter. "Wenigstens bis zur Lichtgleiche solltest du es dann hier aushalten." "Ich gehe nicht mehr auf Wanderschaft," versprach Seymas mit ernster Stimme ohne jedes Bedauern. "Ich werde nun bleiben." Erstaunt hob Caryll den Blick und musterte den Jüngeren forschend. Dann begriff er, daß Seymas nicht scherzte. "Ich wußte nicht, daß Nispen so wichtig sein kann," stellte der Pala des Than leicht verwundert fest.
I
lkonys inzwischen erreichte mit seinem Gefolge eine Stadt nahe des breiten Flusses Tharia, der das Land tränkte, aber aufgrund seiner vielen Stromschnellen für die Schiffe nicht befahrbar blieb. Die Häuser zeigten sich geschmückt, die Menschen geschäftig und die Stimmung aufgeregt. "Was ist denn hier los?" wunderte sich sein Teju Grardas. "Wir werden es erfahren," vermutete Ilkonys leichthin. "Schau, dort ist eine Herberge und im Moment interessiert mich ein Becher heißer Wein mehr als alle Neuigkeiten." Sie ließen sich bewirten und das reichhaltige Mahl entschädigte die Männer für die Entbehrungen der letzten Tage. Obgleich sie alle in etwa dieselbe warme Reisekleidung trugen, war Ilkonys doch unschwer als Führer der Gruppe zu erkennen, da sich die Männer alle nach ihm ausrichteten. Der Wirt freute sich auf ein anregendes Gespräch, setzte sich ungefragt zu Nodhers Erben und erkundigte sich neugierig
nach dessen Weg und Ziel. "Ich besuchte einen Freund," wich Ilkonys aus. "Aber sagt, guter Mann, weshalb ist die Stadt so in Aufregung?" "Ihr wißt das nicht?" Der Wirt staunte. "Ihr habt wohl einen weiten Weg hinter euch. Der Erbe des Reiches ist heute eingetroffen und wir alle fühlen uns sehr geehrt über seinen Besuch." "Prinz Delaros? Er reist während der kalten Nebel?" Der Wirt wurde vertraulich. Ilkonys erfuhr, daß Sarais Erbe im Wagen reiste und zunächst nur ein kleines Gefolge besaß, das aber immer größer wurde. Und nun weilte er hier, sprach mit den Leuten, zeigte sich an allem interessiert und gab sich freundlich und offen. Aber bei alledem sei er doch von Haß erfüllt gegen einen Hirten, den er in Wirklichkeit suche. Das klang bewundernd. In den Augen des Wirtes mußte Delaros ein starker Mann sein, da er selbst seinen Widersacher suchte. Ilkonys gefiel das alles nicht. Er lag lange wach auf seinem Lager und dachte besorgt daran, daß Delaros Thyrian vielleicht näher war, als er wußte. Er faßte einen Entschluß und erst danach gelang es ihm, endlich einzuschlafen. Früh am morgen suchte er seine Männer auf, die bei den Pferden schliefen und befahl ihnen, sich wie Gardisten Nodhers zu kleiden. Er selbst kleidete sich in die Gewandung seines Standes, hielt das Haar offen und trug den Degen am Gürtel. "Wir sind Gäste in Sarai," erklärte er seinen Männern, "und haben keinerlei Befugnisse. Niemand darf den wahren Grund unserer Reise erfahren, also schweigt darüber. Wenn man euch fragt, so habe ich einen Freund besuchen wollen, mich aber wegen der Kälte zur Umkehr entschieden. Das ist
alles." Als er dann den Gastraum der Herberge betrat und seine Gardisten ihm folgten, zeigte sich der Wirt mehr als nur scheu und unterwürfig. Daß er am vergangenen Abend so vertraulich mit einem Mann der Macht plauderte, gefiel ihm gar nicht und er war froh, als Ilkonys nicht davon sprach. Er nahm den reichen Lohn des Prinzen, atmete aber auf, als dieser sein Haus verließ. Nodhers Erbe ritt betont langsam durch die Stadt. Er wußte, daß sich alle Blicke auf ihn richteten und daß niemand das Zeichen auf seiner Satteldecke übersah. Hier zeigte sich eine Welle auf gelbem Grund, aus der sich, von einem Baum gekrönt, ein Berg erhob. Dies war Nodhers Zeichen, das jeder gebildete Mensch kannte. Ilkonys achtete sorgsam darauf, daß sein langer kostbarer Umhang dieses Zeichen nicht verdeckte. Er nickte befriedigt, als Soldaten aus dem Haus des Stadthalters eiligen Schittes zu ihm kamen und sich erst tief verneigten, dann niederknieten. "Vergebung, Gebieter," sagte einer von ihnen, sichtlich unruhig, "wir sind gehalten, nach eurem Namen zu fragen." Ilkonys gab seinem Teju einen kaum sichtbaren Wink und so trieb der rasch sein Pferd neben seinen Herrn. "Wer belästigt Nodhers Erben?" fragte er laut und drohend. Die Männer wichen zurück, eilten ins Haus. Ilkonys ritt sehr langsam wieder an und gab sich ein würdiges, ruhiges Aussehen. Wie er es erwartete, kam nach kurzer Zeit der Stadthalter gelaufen. Er zügelte sein Tier und nahm die Ehrbezeugung des Mannes hin, als sei er nichts anderes gewohnt. "Seid mein Gast."
Das war keine bloße Einladung, sondern die fast ängstliche Bitte, das Angebot nicht auszuschlagen. Ilkonys unterdrückte ein Grinsen. Wenn er nun weiter ritt, würde der Stadthalter schwerlich vor Delaros bestehen können. Ilkonys folgte dem Stadthalter zu dessen Haus. Wie bei offiziellen Anlässen gingen seine Männer in Zweierreihen hinter ihm. Ihr fester Schritt hallte in den Gängen des Hauses wieder. Es gab eine Empfangshalle hier, nicht übermäßig groß, aber von Art und Ausstattung durchaus beeindruckend. Ilkonys trat ein. Am andern Ende sah er Delaros. Er kannte ihn nicht, doch die Kleidung entdeckte seinen Stand. Ilkonys sah sich kurz um. Weder Würdenträger noch Bewaffnete befanden sich in diesem Raum. Da gab Nodhers Erbe seinem Teju einen Wink und seine Männer blieben zurück. Die Tür schloß sich. Mit ruhigem Schritt ging Ilkonys nach vorn. Kurz, bevor er Delaros erreichte, legte er die Rechte suf die Brust und neigte sich. Dann sah er, sich aufrichtend, Delaros mit festem Blick an. "Ich grüße Sarais Erben," sagte er mit fester Stimme, nachdem Delaros versäumte, ihm den Gruß zu geben. Der hatte ihn angespannt erwartet und sich gefragt, was Nodher hier wollen möge. Er sah Ilkonys vom Fenster aus und sandte nach ihm. Und während er wartete, überlegte er sich viele Formeln der Begrüßung. Er wußte, daß Ilkonys im Haus seines Vaters lebte und noch keine Weihe sah. Und er hatte manche Geschichte gehört, die sich um den jungen Mann rankte. Nach allen Erzählungen war Ilkonys ein tapferer Kerl, der treu zu seinen Freunden hielt. Delaros dachte daran, daß er auf Amarra viele gute Gefährten besaß, aber hier in Sarai eher in einsamer Macht zu leben gezwungen war. Ilkonys würde diese Einsamkeit wohl nie kennen lernen. Delaros beneidete ihn ein wenig, noch ehe er ihn sah. Und als Nodhers Erbe nun zu ihm kam, da starrte er ihm nur entgegen und hoffte, daß es eine angenehme Begegnung sein
würde, die keine politischen Spannungen nach sich zog. "Verzeiht, Prinz," erkannte er jetzt sein Versäumnis, "ihr findet mich überrascht. Ich hatte nicht erwartet, euch in Sarai zu sehen." "Dann bitte ich um Vergebung," erwiderte Ilkonys gleichmütig, "wenn es geboten war, mein Kommen in euer Reich zu künden. Nodhers Grenzen sind offen." "So war es nicht gemeint," lenkte Delaros rasch ein. Er schalt sich, da er annahm, Nodhers Erben gekränkt zu haben. "Ich fürchte nur, mein Land erwies sich als weniger gastfreundlich, da es euren Rang nicht kannte." Ilkonys betrachtete sein Gegenüber abschätzend. Das also war wie er ein Erbe der Macht und im Grunde mußten sie viel gemeinsam haben. Die Anspannung Delaros' entging dem Prinzen nicht und ganz richtig deutete er sie als Vorsicht und nicht als Bedrohung. Es lag ihm viel daran, die Situation zu entschärfen. Mit langsamer Geste löste er den Umhang von seinen Schultern und warf ihn dann fast achtlos über die Lehne eines der hohen Stühle im Raum. "Kommt einfach einmal nach Nodher," meinte er lächelnd, "dann werdet ihr sehen, daß es nur wenige Unterschiede gibt. Und mein Rang," er lachte leise, "er hat nicht jeden eurer Soldaten beeindruckt." "Ich hoffe, ihr hattet keine Schwierigkeiten," entfuhr es Delaros besorgt. "Wer wagte es, sich in euren Weg zu stellen?" "Ich habe nicht die Absicht, jemanden zu verklagen," antwortete Ilkonys gelassen. Er ging an Delaros vorbei und trat zum Fenster, sah dort aus auf den Marktplatz der Stadt.
von
"Sarai ist ein weites, schönes Land," sagte er ehrlichen Sinnes. "Ich wünschte, Vater würde es sehen." Delaros trat neben ihn. Die Menschen auf dem Marktplatz wurden auf sie aufmerksam. Ein Rufen setzte ein und da trat Delaros zurück und Ilkonys tat es ihm gleich. "Ihr seid ein Tempelkind," sagte Delaros mit etwas unsicherer Stimme, "aber ihr lebt in der Burg eures Vaters." Ilkonys sah ihn forschend an. In diesen Worten klang kein Vorwurf, eher eine ungestellte Frage. Nodhers Erbe ahnte, daß Sarais Herrscher den Sohn bedrängte. Er lächelte versonnen. "Der Sitte gemäß wurde ich von Priesterin und Priester im Trance gezeugt," gab er zu, "und kam als Sohn der Tempel ins Leben. Der Priester, Nodhers Herrscher, hat der Sitte damals nur sehr ungern nachgegeben. Er wußte nicht einmal, daß jene Priesterin seine Gemahlin Cynesta war." "Des Königs Gemahlin ist eure Mutter?" staunte Delaros. "So ist es," bestätigte Ilkonys. "Daß ich nicht auf Amarra verblieb, nun, ich denke, daß Vater das dem Than irgendwie abtrotzen mußte. Ich bin ihm sehr dankbar dafür." "Ihr kennt Amarra nicht?" wunderte sich Sarais Erbe. "Doch, ich kenne das Land," widersprach Ilkonys, "ich bin als Gast dort gewesen. Aber ich liebe meine Heimat." "Und Nodhers Herrscher," vermutete Delaros. "Ja." Ilkonys strahlte. "Ich liebe meinen Vater sehr." Delaros Mundwinkel zuckten etwas. Er schenkte sich einen Becher voll und trank rasch.
"Eure Nähe schafft sicher viel Verständnis füreinander," vermutete er, während er nun auch Ilkonys einen Becher reichte. "Wir streiten häufig," gab Ilkonys heiter zu. "Vater ist in vielen Dingen sehr streng und unnachgiebig. Aber was hat das mit Liebe zu tun? Wohl nichts und in wichtigen Sachen finden wir auch immer eine gemeinsame Basis. Er mag es eben nur nicht, wenn ich vergesse, daß ich die Macht noch nicht besitze." Er lachte leise. "Und er mag es gar nicht, wenn ich versuche, einen Priester zu beherrschen." Delaros spannte sich sichtlich an. "Alle Herrscher sind auch Priester," sagte er langsam. "Eben drum," antwortete Ilkonys offen. "Vater ist Raakis Mann und ich glaube, ihm ist die Priesterschaft wichtiger als die Herrschaft. Er würde niemals einen Priester bedrohen." Ilkonys überlegte, ob Delaros denn wissen konnte, daß Thyrian ein Priester sei. Eigentlich verlief das Gespräch nicht so, wie er es plante. Er wollte versuchen, von Hirten zu sprechen, aber das mußte unbemerkt geschehen. "Hat ihn denn je ein Priester bedroht?" forschte Delaros. "Er würde es sich nicht bieten lassen und seine Macht anwenden, die ihn über die Priester erhebt." "Vielleicht," lenkte Ilkonys ein, "würde er das tun. Aber ich glaube, er würde einen solchen Mann Amarra überlassen. Oder ihn Gerrys ausliefern. Aber er würde ihn kaum selbst zum Tode verurteilen." "Gerrys? Ihr meint Raakis Falla?" "Ja, natürlich."
"Er ist Pala des Than." Delaros wußte es. "Seine Macht ist ohne Grenzen. Ein großer Mann." Ilkonys lachte heiter. "Er ist kleiner als ich," verriet er fröhlich. "Und wie ein Mann der Macht sieht er eigentlich auch nicht aus. Aber das soll ihn nicht abwerten, Prinz. Ich bin glücklich, weil er meine Freundschaft duldet." "Der Pala des Than ist euer Freund?" vergewisserte sich Delaros. "Bei allen Göttern," rief Ilkonys da aus. "Was erstaunt euch daran und was ist daran so bedeutsam, daß ich in eurem Ansehen steige? Erwiesene Freundschaft bereichert mich, aber sie wertet mich nicht auf." "Das kommt wohl auf die Freunde an," schränkte Delaros ein. Ilkonys sah ihn offen an. "Habt ihr welche?" wollte er unverblümt wissen. Delaros schwieg. Es gab Gefährten auf Amarra und mit einigen von ihnen war er sehr vertraut. Erst jetzt überlegte er, ob es nicht gut sei, einige nach Sarai einzuladen. Er dachte an die Berater, die ihm der Vater schickte und die sich als aufrechte Männer erwiesen. Aber da gab es keine Nähe. Er dachte an Tornor und dessen väterlichen Rat. Sarais Erbe beschloß, nach seiner Heimkehr diesem Mann viel Zeit zu widmen. Und dann dachte er wieder an Thyrian. Die Begegnung mit diesem Mann war nur sehr kurz gewesen und es war nicht nur das Unrecht des Urteils, das Delaros diesen Mann nicht vergessen ließ. Von Thyrian war etwas ausgegangen, das
ihn anrührte und viele Sehnsüchte in ihm weckte. Die Freundschaft dieses Mannes würde ihn über die Maßen bereichern, das wußte er. Sie würde ihn nicht aufwerten vor den Augen anderer, aber sie würde seinem Leben ein Maß an Erfüllung bringen, das er sich nicht vorstellen konnte. "Es gibt einen Mann, nach dessen Freundschaft ich mich sehne," gab er leise zu. Das klang so traurig, daß Ilkonys fast vergaß, mit wem er sprach. "Dann sagt es ihm," schlug er vor, "widmet ihm eure Zeit, werbt um seine Liebe." "Um seine Liebe werben?" wiederholte Delaros erstaunt. "Aber sicher," beharrte Ilkonys, "als Erbe der Macht müßt ihr euch mehr Mühe geben wie zum Beispiel ein Hirte." Er hatte endlich das Gespräch da, wo er es haben wollte. "Eure Macht wirkt abschreckend, ihr müßt sie selbst überspielen. Gehört er zu eurem Gefolge?" "Er bedrohte mich mit der Waffe," stieß Delaros da aus. Nodhers Erbe preßte die Lippen zusammen. Das hatte er wahrlich nicht erwartet. Delaros jagte den Mann, nach dessen Freundschaft er sich sehnte. Die Sache schien viel komplizierter zu sein, als er annahm. "Das ist übel," gab er schließlich zu. "Das erinnert mich an Seymas. Er ist jetzt Priester auf Amarra. Als ich ihn kennenlernte, da bedrohte ich ihn mit dem Messer und war so wütend, daß ich ihn wohl auch getötet hätte." Delaros hörte mit weit aufgerissenen Augen zu. "Wir stritten auf einem Schiff miteinander und als ich die Waffe zog, griff Gerrys ein und hielt mich auf. Seymas hat mich weder vor Gerrys noch vor dem Than verklagt, sondern war froh, daß
beide mich nicht straften. Seine Großmut damals hat mich gerettet, aber sie hat mehr bewirkt. Wir sind vermutlich keine engen Freunde, aber wir haben danach manches gemeinsam erlebt und ich würde für ihn jederzeit alles wagen." "Jener Seymas, der in der Nähe des Haupttempels auf Amarra lebt?" vergewisserte sich Delaros unsicher. "Ja, ich rede vom Ilkonys freundlich.
Schützling
des
Than,"
bestätigte
"Und ihr bedrohtet ihn mit der Waffe?" Delaros konnte es nicht fassen und Ilkonys hütete sich, zu erwähnen, daß das viele Jahre zurück lag und sie damals Kinder waren. "Eine unverzeihliche Tat?" begriff Nodhers Erbe lächelnd und er freute sich insgeheim, weil sie zwar über Seymas und ihn sprachen, aber mit jedem Wort Thyrian meinten. "Der Than sah es?" forschte Delaros weiter. Ilkonys nickte langsam. König Wharhan war wohl Zeuge von Thyrians Tat gewesen. Sarais Erbe zog Vergleiche. "Er sah es," gab Ilkonys zu. "Aber er sprach nie darüber und Seymas tat es auch nicht. Ich hoffe ihn bald zu sehen und ich freue mich darauf. Der Mann, der euch bedrohte, Prinz, ist er euer Feind?" "Alles andere als dies," versprach Delaros. "Es war ein Unglück." "Wo ist dann das Problem?" rief Ilkonys aufatmend. "Zeigt euch großmütig und ihr werdet darin gewinnen."
Er blieb nicht mehr lange in dieser Stadt, aber als er mit seinem Gefolge durch die Tore ritt, da besaß er berechtigte Hoffnung darauf, Thyrians Weg erleichtert zu haben.
T
hyrian hielt sich fast durchgehend bei dem prächtigen Schimmel auf, den er zähmen wollte. Er wußte es nicht, aber Xymenar beobachtete ihn genau. Der Priester ließ sich den feinen Spott der Reiter gefallen, die seinen mangelnden Erfolg verlachten. Er konnte nichts vorweisen, noch nicht. Stunde um Stunde stand er vor dem Schimmel, nur getrennt durch die hohe Umzäunung. Und alles, was er erreichte, das war, daß das Tier sich langsam an seine Gegenwart gewöhnte. Wenn es hier auf der endlosen Suche nach Freiheit seine Kreise drehte, so hielt es jetzt eng an der Umzäunung und schlug auch keinen Bogen, wenn es an Thyrian vorbei kam. Dieser stille, ernste Mensch stellte keine Bedrohung dar. Es gab auch sonst keinen Menschen, der sich der Koppel näherte. Thyrian selbst brachte Stroh, Heu und Futter in den halboffenen Stall, mistete ihn mit eigener Hand aus und erlaubte keinem Helfer, ihm beizustehen. Wer immer den Schimmel bewundern wollte, mußte einige Schitte Abstand halten. Wenn ihn die Kälte ins Mannschaftshaus trieb, legte er sich auf sein Lager und lauschte den Gesprächen der Männer, an denen er sich nicht beteiligte. Er zog es vor, keine Bindung einzugehen, denn er wußte, daß ihm hier nur eine kurze Ruhepause gegönnt war und er nicht bleiben konnte. Nun hingen die Nebel hoch. Der Tag war klar, wenn auch kalt. Thyrian hielt sich ein wenig am Flußufer auf, sah dem trägen Wasser zu und stimmte sich auf dessen Bewegung ein. Doch er konnte sich nicht loslassen und bedauernd dachte er daran, daß in dem Lärmen des Tales kein ruhiger Ort war,
an dem er seine priesterlichen Übungen vollziehen konnte. Der laute Schrei einer Frau erweckte seine Aufmerksamkeit. Thyrian sprang auf, spurtete los. Die Menschen drängten zur Koppel des Schimmels und hielten doch Abstand. Dann sah er es. Er sah das edle Tier, das in raschem Lauf seinen Kreis zog und sehr erregt und angriffslustig immer wieder den Lauf für ein kurzes Aufbäumen unterbrach. Und inmitten der Koppel saß ein kleines Kind, ein Mädchen, keine zwei Jahre alt. Es hockte auf dem Boden und weinte und hielt eine Stoffpuppe umklammert. Männer mit langen Peitschen kamen gelaufen. "Nicht!" Thyrian schrie es ihnen entgegen. Die Peitschen verdarben das Tier, aber sie gefährdeten jetzt auch das Kind in der Koppel. Er sprang über den Zaun. Augenblicklich herrschte völlige Stille. Nur das Scharren der Pferdehufe war noch zu vernehmen. Der Schimmel stellte sich Thyrian entgegen. Die Menschen rührten sich kaum, bildeten schweigsam eine Gasse und ließen Xymenar durch, der jetzt gelaufen kam. Der Pecha verhielt den Schritt erst an der Umzäunung. Sein Blick haftete fest auf dem Kind. Der Schimmel wieherte auf und seine Hufe scharrten nervös im nassen Gras. Thyrian hob die Hände auf Brusthöhe, streckte sie langsam aus, sprach beruhigende Worte und stand noch still. Xymenar hielt die Lippen fest zusammen gepreßt, aber er winkte die Menschen hinter dem Schimmel beiseite. Sie traten alle weit zurück. Thyrian ging langsam einen Schritt und der Schimmel wich ihm aus, ging rückwärts. Bogenschützen traten zu Xymenar, legten Pfeile ein und zielten auf das Pferd. Sie warteten auf einen Befehl. Thyrian sah dies alles nicht. Er sah nur den Schimmel, der durch seine Nähe verunsichert wurde und zwischen Flucht und Angriff schwankte. Und er sah das Kind, das nur leise weinte und sich zum Glück nicht regte. Langsam schob sich
Thyrian immer näher zu dem Mädchen. Breitbeinig stand er über dem Kind und hielt weiterhin mit Wort und Geste das Pferd unter Kontrolle. Wenn er sich nun bückte, um das Mädchen aufzuheben, dann würde der Schimmel ihn angreifen. Er wußte es und er überlegte, ob er schnell genug sein würde, das Kind aus der Gefahrenzone hinauszuwerfen. Da hörte er Xymenars Stimme, die ganz ruhig und sanft klang: "Steh auf, Allira." Das Weinen des Mädchens verstummte sofort. Die Kleine faßte nach Thyrians Beinkleidern und zog sich hoch. "Nicht bewegen, Allira," riet Xymenar leise. Thyrian ließ eine Hand sinken, faßte nach dem Gewand des Kindes und ergriff es bei der Schultern. Er zog die Kleine langsam hoch. Er tat ihr weh dabei und sie weinte wieder, aber sie strampelte und schrie nicht. Dann hielt er das Kind im Arm. Allira klammerte sich um seinen Hals fest. Langsam ging Thyrian rückwärts. Der Schimmel bäumte sich auf. Thyrian sprach mit ihm, gab ihm leise, beruhigende, sanfte Worte. Als er den Zaun erreichte, ließen die Bogenschützen ihre Waffen sinken. Xymenar zog Allira an sich. Er wartete, bis Thyrian die Koppel verließ, beachtete ihn aber dann nicht weiter. Er redete leise mit dem Kind und übergab es einer Frau, die eilig kam und es ins Haus brachte. Xymenar streckte wortlos die Hand aus. Einer seiner Männer legte den Griff einer langen Peitsche hinein. Die Menschen wichen zurück und isolierten einen Mann aus ihrer Mitte. Thyrian spannte sich an. Diesen Mann sah er manchmal. Man nannte ihn Salvornal und sein Amt bestand darin, Allira zu lehren und zu schützen. Xymenar liebte dieses Mädchen,
seine einzige Tochter. Der Pecha schlug noch nicht zu. Er scheuchte Salvornal mit knappen Gesten vor sich her, hinaus auf den freien Platz und weg von der Koppel. Dann erst knallte die Peitsche und riß Salvornal die Haut auf. Der Mann warf sich nieder. "Gnade, Herr," wimmerte er. "Du solltest auf sie aufpassen," antwortete Xymenar grimmig. "Wie kam sie in die Koppel? Wo warst du?" Er erwartete keine Antwort, denn er würde keine Entschuldigung akzeptieren. Er hieb zu. Niemand sagte ein Wort. Die Schreie des Gepeinigten gellten über den Platz, nur unterbrochen vom Klang der Peitsche. Was hier geschah, mochte gerecht sein, doch es war auch grausam. Die ersten der Zuschauer wandten den Blick. Thyrian begriff, daß der Pecha den Mann zu töten gedachte. Salvornal schrie nicht mehr. Sein Körper zuckte noch zusammen unter den unbarmherzigen Hieben, ansonsten regte er sich nicht mehr. Niemand durfte es jetzt wagen, den Mächtigen aufzuhalten. Thyrian wußte, wenn er nun auch nur ein beschwichtigendes Wort sagte, so würde Xymenar ihm dies nicht verzeihen. Er trat nach vorn. Thyrian sah den Weg des Peitschenriemens und bewußt ging er nun so, daß er diesen Weg kreuzte. Als Xymenar zum nächsten Hieb weit ausholte, traf der zurückschwingende Riemen mit Wucht Thyrians Hals und riß ihm schmerzhaft die Haut auf. Xymenar fuhr herum. Zorn funkelte in seinen Augen, als er Thyrian sah. "Geh zurück," befahl der Pecha knapp. Da kniete Thyrian nieder. Seine Rechte preßte er auf die Wunde, doch er konnte nicht verhindern, daß das Blut zwischen seinen Fingern hindurch sickerte. Ihre Blicke trafen sich und hielten einander fest. Dann senkte Thyrian
ergeben das Haupt, erhob sich jedoch nicht. Ingmar kam gelaufen, um ihn aus dem Wirkungsbereich der Peitsche zu bringen. Thyrian schüttelte seine Hand ab. Da eilte Dalson herbei. Sie packten Thyrians Oberarme und hoben ihn auf. "Laßt ihn los," entschied Xymenar, während er die Peitsche wegwarf. Er trat zu Thyrian, zog dessen Rechte vom Hals und sah die Wunde, aus der das Blut strömte. "Du bist ein Narr," stellte er fest, während er Thyrian ein Tuch reichte. "Komm mit mir." Sie betraten das Herrenhaus. Die Eingangshalle war reich geschmückt und mit kostbaren Teppichen an Wänden und auf dem Boden verziert. Thyrian ging nicht weiter. Xymenar wandte sich nach ihm um. "Was ist?" Das Blut tropfte auf die Türschwelle. Thyrian wollte die Teppiche nicht beschmutzen und zeigte dies durch eine Geste. Xymenar lachte erheitert. Er winkte Thyrian, doch da dieser nicht folgte, rief er nach der Kräuterfrau und wartete, bis diese Thyrians Wunde im Türstock verband. Er nickte nur befriedigt, als er von einer Bediensteten vernahm, daß Allira friedlich schlief. Ein Diener nahm ihm den Mantel ab. Ein anderer zog ihm die Stiefel aus und kleidete seine Füße in warme, weiche Sandalen. Auf einen Wink hin tat er Thyrian denselben Dienst. "Kommst du nun?" Das klang einladend und geduldig. Thyrian folgte ihm in den Wohnraum. In einer Ecke lag Kinderspielzeug, auf dem Tisch sah Thyrian Schriften und Karten. Vor dem Kamin, in dem Feuer Wärme verströmte, lagen weiche Teppiche und Decken. Xymenar ließ sich dort nieder. Thyrian
verharrte sprach.
voll Unbehagen. Er wartete, bis Xymenar endlich
"Ich dulde keinen Ungehorsam," sagte er leise. "Und ich gebot dir, zurück zu treten." "Ja, Herr." "Bittest du mich um Vergebung?" "Nein, Herr." Xymenar wandte langsam den Kopf und lange an. Dann lagerte er sich bequem nieder.
sah Thyrian
"Komm her," verlangte er knapp. Er wartete, bis Thyrian bei ihm kniete, ehe er weitersprach: "Du bittest wirklich nicht um Vergebung? Schade, das würde es mir erleichtern. Wäre Allira so stur wie du, dann hätte der Schimmel euch vermutlich angegriffen. Sie immerhin erhob sich sofort auf mein Wort hin, während dir mein Wort wohl nichts bedeutet." "So ist es nicht," murmelte Thyrian. "Aber ihr wolltet diesen Mann töten. Ich habe niemals zuvor so viel Zorn in einem Mann gesehen." "Wenn du einen Menschen mit der Peitsche töten willst, mußt du zornig sein," erwiderte Xymenar gelassen. "Ansonsten bist du nur ein Schlächter." "Was wird aus Salvornal?" Thyrian hielt den Blick gesenkt bei dieser Frage, denn er fürchtete, der Pecha könne sie übelnehmen. "Darüber denke ich nach, wenn ich weiß, ob er seine Wunden überleben wird," meinte Xymenar gelassen. "Was aber wird aus dir?"
Thyrian preßte die Lippen zusammen und schwieg. "Keine Antwort?" grinste Xymenar. Der Priester schwieg weiter, aber er fühlte sich sehr bedroht. Xymenar hockte sich auf, griff in rascher Geste nach Thyrians Haar und bog dessen Kopf beiseite. Ein stechender Schmerz breitete sich von der Halswunde aus; Tränen schossen Thyrian in die Augen. Da ließ ihn Xymenar los. "Du hattest keinen Hieb verdient," gab er zu, "denn du hast mir Allira gerettet. Andererseits, für deinen Widerspruch verdientest du mehr als nur einen Hieb. Warum erwähnst du Allira nicht?" Jetzt sah Thyrian ihn doch an. "Ich hätte versucht, jeden Menschen aus der Koppel zu holen," gab er zu. "Das geschah nicht für euch, Herr. Warum sollte ich es erwähnen?" Xymenar musterte ihn kurz, ehe er antwortete: "Um mich dankbar zu stimmen." "Dafür?" Thyrian wehrte mit einer Handbewegung ab. "Wofür sonst?" "Ich hinderte euch, im Zorn einen Menschen zu töten," sagte Thyrian leise. "Wenn ihr darin ein Vergehen seht, bin ich schuldig." Xymenar lachte leise und erheitert.
"Du meinst, daß ich dafür dankbar sein sollte?" forschte er leicht amüsiert. Als Thyrian bejahte, erhob sich der Pecha. Auf seinen Zuruf hin kamen Diener gelaufen und er verlangte nach Reitkleidung und befahl, aufzusatteln. Obwohl er es nicht erwähnte, kleideten die Männer auch Thyrian ein und als der Pecha das Haus verließ, folgte ihm der Priester verwirrt nach. Neben dem schwarzen Hengst des Pecha wartete ein feuriger Schecke. Xymenar sah Thyrian lange an, dann stieg er auf. Der Priester schwang sich in den Sattel des Schecken. Er konnte nicht damit rechnen, daß das Pferd sich aufbäumen würde und er schaffte es kaum, sich im Sattel zu halten. Sein Pferd war kaum gezähmt. Es bockte, brach aus und jagte dann im Galopp den Hügel hinauf. Jahre vergingen, seit Thyrian ein wildes Pferd ritt und nun behinderte ihn die Halswunde. Er mußte alle Kraft aufwenden, um sich im Sattel zu halten und während des schnelles Rittes stürzte er fast mehrere Male. Es dauerte sehr, sehr lange, bis sich der Schecke ergab und endlich dem Zügel gehorchte. Zitternd stand das Tier und schnaubte. Thyrian sah sich um. Er kannte diese Gegend nicht. Schemenhaft zeichnete sich im fernen Nebel ein Wald ab. Hufschlag erklang und wenig später sprengte Xymenar allein zu Thyrian. Seine schwarzen Augen leuchteten, der schnelle Ritt gefiel ihm sehr. "Ich habe nicht erwartet, daß du das Tal im Sattel verläßt," rief er Thyrian zu. "Komm, wir reiten nach Hause." Als Thyrian sein Pferd hinter dem seines Herrn halten wollte, ließ der Pecha das nicht zu. Er bestand darauf, daß sie Seite an Seite ritten.
"Du blutest wieder," stellte er fest. "Der Verband taugt wohl nicht viel." "Der Verband schon," wehrte Thyrian mit unsicherer Stimme ab. "Es heilt sicher bald." "Du hast Angst vor mir," stellte Xymenar erstaunt fest. "Ja, Herr," gab Thyrian unumwunden zu. "Ich fürchte, was ihr mir antun werdet. Dieser Schecke war eine Falle. Ihr spielt mit mir und amüsiert euch über mich." "Ein echter Zureiter würde den Schecken kaum als Falle bezeichnen," stellte Xymenar gelassen fest. "Aber mit dem Schimmel kommst du gut voran." "Eure Leute sind vom Gegenteil überzeugt und spotten darüber." "Im Tal ist nur meine Meinung von Bedeutung," erinnerte ihn der Pecha fast heiter. "Was deine Furcht betrifft, so leg' sie ab. Ich werde dir kein Leid zufügen." Thyrian zügelte den Schecken. "Herr, ihr zürnt mir nicht?" vergewisserte er sich. Xymenar ritt weiter und Thyrian folgte ihm, hielt sich an seiner Seite. "Du bist mißtrauisch," stellte der Pecha gelassen fest, "aber du wirst Gründe dafür haben. Das geht mich jedoch nichts an. Ob es dir gefällt oder nicht: ich bin dir dankbar, da du Allira aus der Koppel gerettet hast." Sie schwiegen einige Zeit, ehe Xymenar anfügte: "Und daß du meinen Zorn beendetest."
Thyrian wandte sich ihm zu und Xymenar grinste ihn heiter an. Der Priester verstand, daß es dem Mächtigen wirklich gefiel, Salvoral nicht getötet zu haben. Nun lächelte auch er. Xymenar schaffte es, seine letzten Bedenken zu zerstreuen und als sie das Tal erreichten, plauderten sie wie vertraute Gefährten miteinander. Der Pecha entließ Thyrian nicht aus seiner Nähe. Er ließ seine Wunde erneut versorgen, ließ ihn bewirten und und hielt ihn in allem mehr wie einen Freund denn wie einen seiner Arbeiter oder wie einen Gast. Thyrian nächtigte weiter im Mannschaftshaus und verbrachte viel Zeit bei dem Schimmel. Doch er freute sich, nun oft von Xymenar gerufen zu sein und genoß dessen Gesellschaft, die ihn vergessen ließ, daß er in Sarai dem Tode geweiht blieb. Es war ein großer Tag, als der Schimmel es zum ersten Mal gestattete, daß Thyrian seine Nüstern berührte. Diese eher flüchtige Berührung mochte jedem Außenstehenden als unwichtig erscheinen, doch das Tier und der Mann wußten, daß eine tiefe Kluft überwunden wurde. Thyrian zog seine Hand wieder zurück und entfernte sich langsam von der Koppel. Xymenar hatte ihn, wie so oft, beobachtet. Er nickte dem Priester befriedigt zu. "Das ging schneller, als ich hoffte," gestand er. "Wenn die kalten Nebel enden, wird er einen Reiter dulden." "Man muß geduldig sein," mahnte Thyrian. "Jede Eile könnte alles verderben." "Sorge dich nicht," versprach der Pecha, "niemand macht dein Werk hier zunichte. Hast du Lust auf einen Ausritt?" Xymenar lud ihn oft ein, ihn auf weiten und schnellen Ritten zu begleiten und wie stets, so nahm auch nun Thyrian diese Einladung mit Freuden an. Am Abend saßen
sie im Herrenhaus zusammen und vertrieben sich die Zeit mit dem komplizierten Brettspiel Majana, dessen strenge Regeln und strategischen Möglichkeiten stets als Herausforderung galten. Meist gewann Xymenar, aber Thyrian schenkte ihm nie den Sieg. Sie spielten und plauderten miteinander, bis dem Pecha ein Bote gemeldet wurde. Da entließ er Thyrian, um den Mann zu empfangen.
D
elaros dachte viel nach über die Worte, die ihm Nodhers Erbe gab. Die Begegnung wirkte in ihm nach, vor allem aber die Erzählung des Prinzen. Delaros kannte Seymas nicht, doch auf Amarra wurde viel über den jungen Mann und seine Nähe zum Than gesprochen. Wenn Seymas einen Angriff so großmütig übergehen konnte, dann durfte solches Handeln nicht falsch sein. Wenn der Than selbst dies gut hieß, dann durfte sich auch Wharhan nicht dagegen sträuben. Sarais Erbe beschloß, nach Hause zu reisen. Er übernachtete mit seinem inzwischen recht großen Gefolge in einer kleinen Siedlung und wunderte sich laut darüber, daß das angebotene Mahl viele süße Speisen beinhaltete. "Das Land gehört dem Pecha Xymenar," erklärte ein ihn begleitender Gelehrter. "Er schätzt solche Kost über alles. Die Leute hier ehren euch, wenn sie euch wie ihn bedienen." "Den Namen kenne ich," erinnerte sich Delaros, "mein Vater sprach von ihm als einem seiner vertrauten Ratgeber. Anscheinend sind sie oft geteilter Meinung. Trotzdem hört er auf ihn. Es muß ein seltsamer Mann sein." "Seine Leute mögen ihn." "Wie weit ist es bis zu seiner Burg?"
"Er besitzt keine Burg, sondern züchtet Pferde Ufer des Flusses, etwa zwei Tagesreisen entfernt."
am
Delaros schob sich ein süßes Backwerk in den Mund. Der Geschmack war ihm fremd, doch nicht unangenehm. "Sende ihm Botschaft, daß ich ihn sehen will," entschied er impulsiv. "Er wird kommen, so rasch es möglich ist," versprach sein Gegenüber. Delaros lachte vergnügt, als er abwehrte: "Nein, ich werde zu ihm gehen. Laß ihn das wissen, damit er nicht unvorbereitet ist, wenn ich eintreffe."
D
ie Nebel hüllten das Land ein und schneidende Kälte bedrohte das Leben eines jeden, der nun ungeschützt im Freien verweilte. Thyrian schlief tief und fest, in eine wärmende Decke gehüllt. Jemand rüttelte an seiner Schulter und er wehrte die lästige Hand im Halbschlaf ab. Dann schlug er doch die Augen auf. Im Schein eines Flammenden Kristalles erkannte er Xymenar und richtete sich hastig auf. Der bedeutete ihm, nun zu schweigen. Verwirrt erhob sich Thyrian und folgte dem Pecha ins nahe Herrenhaus. "Sei leise, damit kein Schläfer geweckt wird," befahl Xymenar, während er Thyrian in den Wohnraum führte. Fest verschloß er die Tür. Dann legte er Feuerholz nach, schenkte schließlich Wein für sich und den Priester ein und bedeutete Thyrian, sich zu ihm ans Feuer zu lagern. "Du weißt, daß der Erbe unseres Reiches Amarra verließ und nach Hause gekehrt ist," begann er ohne Umschweife. "Delaros ist auf dem Weg hierher und wird morgen abend
wohl eintreffen." Thyrians Hand klammerte sich um den Becher, aus dem er eben noch trank. Er schwieg mit halb angehaltenem Atem. Xymenar legte ihm in hilfloser Geste die Hand auf den Unterarm, ehe er erzählte: "Als wir uns trafen und du so frech Dalson in Schutz nahmst, da sah ich deine neue Kleidung und deinen neuen Sattel. Und ehe ich dich mit mir nahm, habe ich den Sattelmacher besucht." Thyrian sah ihn ungläubig an. "Ich wußte stets, daß du kein Zureiter bist. Du kamst in einer Tunika ins Dorf; gekleidet wie ein Priester. Du bist Priester." Thyrian nickte langsam und ergeben, doch Xymenar zog seine Hand nicht von ihm zurück. "Dein Name ist Thyrian, nicht Kywar," stellte Xymenar fest. Der Priester erschrak. "Ihr wißt es, Herr? Warum habt ihr dann..." Xymenar lächelte versonnen. "Wharhan ist mein König, aber ich denke nicht, daß er ein starker Priester oder prächtiger Herrscher sei. Er ist leicht zu beeinflussen und diesen Einfluß würde ich später schon geltend gemacht haben. Daß Delaros hierher kommt, damit konnte ich nicht rechnen. Erzähle mir, was geschah." Mit leiser Stimme kam Thyrian dieser Aufforderung nach. Er berichtete von seiner Zeit als Hirte, erzählte, wie sie seine Herde abschlachteten und was danach geschah. Seine Stimme klang sachlich, fast so, als ginge ihn das alles nichts an. Dann sprach er vom Tempel des Lichts und Ilkonys, der ihm zur Flucht verhalf.
"Weshalb sucht dich Nodhers Herrscher?" wollte Xymenar wissen. "Wessen bist du in diesem Reich angeklagt?" "Er jagt mich nicht," antwortete Thyrian, "sonst hätte er mir kaum geholfen. Ich weiß nicht, weshalb er nach Sarai kam. Ich habe ihn fünf Jahre lang nicht gesehen." "So kennst du ihn? Berichte mir auch davon." Xymenar sprach leise und gefaßt. "Ich frage nicht aus Neugier, sondern hoffe, daß es in deiner Sache hilfreich sein kann." "Wie sollte dies helfen?" wehrte Thyrian ab, doch er berichtete dem Pecha nun auch von seiner Zeit in Nodher und Khyon, den Abenteuern, die er bestand und den Menschen, denen er begegnete. Xymenar hörte ihm schweigend zu. Er unterbrach ihn nicht, stellte aber danach einige Fragen. "Amarra rief dich," stellte er anschließend fest, "und vermutlich ist dort der sicherste Platz für dich. Oder, wenn du dort verurteilt wirst, dann gibt es keinen sicheren Platz in den Reichen." "Dieser Ruf geschah nicht wegen Delaros," vermutete Thyrian. "Das ist gut," behauptete Xymenar. "Mit viel Glück kannst du zur Lichtwende dort sein und unser größtes Fest da verbringen, wo es keine kalten Nebel gibt." "Ihr, ihr laßt mich gehen?" "Nein," wehrte Xymenar nachdrücklich ab, "ich lasse dich nicht gehen. Ich versuche, dir zu helfen. Es gefällt mir nicht, daß die Herrschaft Delaros mit Unrecht beginnen soll. Das wäre nicht gut für Sarai, also versuche ich, es zu verhindern." Er lächelte. "Wie sollte ich wissen, daß mein neuer
Zureiter ein Verräter ist? Wenn der in seiner Undankbarkeit wider mich auf den Gedanken kommen sollte, den Schecken aus dem Stall zu stehlen, dann ist das natürlich ärgerlich. Aber diesen Verlust werde ich ohne Lärm ertragen. Verstehst du, was ich sage?" Thyrian starrte ihn an, als spräche er unverständliche Laute. Xymenar war ein Fürst, ein Mann großer Macht. Und er stellte sich auf seine Seite. "Der Schecke?" "Er ist das schnellste Tier, das ich habe. Und er trägt mein Zeichen. Wenn du ihn irgendwo zurück lassen mußt, findet er schon wieder zu mir. Denke nicht darüber nach. Es ist nur ein Pferd." "Nur ein Pferd?" "Natürlich," bestätigte Xymenar. "Pferde kann man kaufen. Freunde nicht," fügte er bezeichnend hinzu. "Für einen geplanten Ausritt habe ich alles vorbereiten lassen. Im Stall findest du ein Bündel mit Proviant und einer Zeltplane. Übersieh es besser nicht. Es ist auch eine Karte darin. Reite zunächst den Fluß entlang. Du hast ein gutes Pferd und einen Tag Vorsprung. Kann ich mehr tun?" Thyrian ergriff seine Hand und zog sie an seine Lippen. Bewegt sah er den Pecha an. "Was ihr mir hier tut, Herr," gestand er leise, "das ist mehr, als mir je ein Mensch zuvor an Gutem erwies. Aber ihr bringt euch in Gefahr." "Das Risiko ist gering." "Es ist trotzdem annehmen darf."
gegeben.
Ich weiß nicht, ob ich das
"Du hast keine andere Wahl," entschied Xymenar. "Wenn sie dich hier finden, habe ich größere Schwierigkeiten. Sorge nicht um mich, aber achte auf deinen Weg. Ich hoffe sehr, wir sehen uns wieder." Sie standen einander gegenüber und fürchteten umeinander. Thyrian wußte, daß er nicht bleiben durfte. "Mögen die Götter mit euch sein," wünschte er Xymenar von Herzen. Da breitete der Pecha die Arme aus und umschloß Thyrian in herzlicher Geste. Er hielt ihn nicht lange fest, doch zeigte er mit dieser Umarmung mehr Zuneigung, als er in den Tagen zuvor entdeckte. Die Nebel hoben sich langsam. Thyrian hüllte sich in den dichten Mantel, den Xymenar ihm gab, schlich zum Stall und fand das versprochene Bündel. Der Schecke wartete gesattelt und ließ sich willig ins Freie führen. Thyrian saß auf. Dieses Pferd war eine Kostbarkeit; selbst Ilkonys' gefüllter Beutel hätte es nicht bezahlen können. Der Priester ritt langsam an. Hinter den muskovitverglasten Scheiben des Fensters stand Xymenar im Herrenhaus und folgte ihm mit den Augen, bis er in den Nebelschwaden entschwand. "Ich hoffe," murmelte der Pecha düster, "die Götter sind auch mit dir, mein Freund. Du wirst ihren Schutz nötig brauchen."
W
ährend Ilkonys quer durch Sarai reiste, um in der Hafenstadt Toga nach Nodher überzusetzen, ritt Thyrian dem Fluß entlang und richtete seinen Weg danach anhand der Karte aus, die Xymenar ihm zukommen ließ.
D
er Pecha hörte sich den Bericht vom Verschwinden des Schecken und des Zureiters an, den seine Leute aufgeregt übermittelten. Dann rief er Ingmar und Dalson. "Ihr folgt dem Dieb," befahl er, "nehmt alles mit, das für ein paar Tage der Jagd nötig ist. Sucht ihn flußaufwärts." Ingmar wollte widersprechen. Die Spur führte flußabwärts, auch wenn sie sich im feuchten Gras kaum ausmachen ließ. Dalson hielt ihn zurück. Er neigte sich langsam vor seinem Herrn und sah ihn dabei wissend an. Xymenar grinste. Auf Dalson konnte er sich unbedingt verlassen, das wußte er. Es wurde ein geschäftiger Tag im Tal, da alles für die Ankunft des Prinzen vorbereitet werden mußte. Xymenar gab seine Befehle und behielt in allem die Übersicht. Als dann die Nebel sanken, erblickte er den Wagen des Prinzen auf der Anhöhe. Auch seine Leute sahen den Erben der Macht und viele liefen ihm entgegen, ihn freudig begrüßend, sich an seinem Weg niederwerfend. Xymenar wartete, bis der Wagen des Herrschers bei ihm zu stehen kam. Als Delaros dann zu ihm trat, kreuzte er die Arme und kniete nieder.
Delaros durfte größte Unterwerfung fordern, doch er demütigte den Pecha nicht vor seinen Leuten, sondern bedeutete ihm, daß er sich erheben möge. Xymenar kam dieser Aufforderung gern nach. "Euer Besuch ist eine große Ehre, Gebieter," grüßte er. "Im Haus warten ein warmes Feuer, heißer Wein und eine gute Mahlzeit. Wenn ihr es wünscht, so wird alles zu eurer Zerstreuung und Erbauung getan." Unwillkürlich verglich Delaros diese reservierte Begrüßung mit seinem Eintreffen bei Tornor, wo er gern gelitten war. Xymenar war von anderem Wesen. Die Art, wie er leicht mißbilligend auf den Wagen sah, sein bloßer Kniefall und auch seine Worte hießen Sarais Erben nicht wirklich willkommen. Aber eigentlich erwartete Delaros nichts anderes, stand dieser Mann doch in der Gunst des Vaters. Er wollte Xymenar schon ins Haus folgen, als ein Ruf ertönte: "Schafe!" Xymenar vergaß seinen Gast und rief Polurk. "Nimm drei Männer," befahl er mit herrischer Stimme, "sorge dafür, daß die Targas hinter der Anhöhe angebunden sind. Wenn der Hirte dir hilft, ist es gut. Dann gib ihm Nachtquartier und sorge für sein Wohl. Hilft er nicht, nimm die Peitsche, damit er mit seinen Tieren von hier verschwindet." Polurk saß schon im Sattel. Er sprengte dem Hirten entgegen. Einige Männer folgten ihm. Verwirrt folgte Delaros dem aufgeregten Geschehen und noch mehr verwirrte ihn, daß der Pecha nun wieder ganz gelassen schien und ihn mit ruhiger Geste ins Haus bat. "Ihr sorgt euch nicht," stellte er verwundert fest.
"Wegen eines Hirten?" Xymenar lachte. "Meine Männer wissen, was zu tun ist und der Hirte wird sich hüten, seine Schafe näher heranzutreiben." Er ließ Delaros nun bewirten und plauderte mit ihm auf eine leichte Weise, die den Erben der Macht erneut verwirrte. "Eure Reise war sicher anstrengend, Gebieter," meinte Xymenar dann, "es ist euch ein heißes Bad bereitet und ein bequemes Lager. Wenn es euch gefällt, so ruht euch aus." Wiederum war der Erbe der Macht verwirrt. Xymenars Worte klangen einladend, aber eigentlich besagten sie, daß er nun genug geplaudert habe. Die Sitte gebot, daß stets der Herr eine Gesellschaft auflöste, nie der Untertan. Xymenar hielt sich nicht an diese Regel und Delaros fügte sich. Die Nebel hoben sich eben, als Xymenars Männer die Diener des Prinzen weckten und sie zu ihrem Herrn schickten. Delaros schlief noch tief, als sie bei ihm eintraten, erwachte von den Geräuschen und ließ sich für den Tag vorbereiten. Aber es ärgerte ihn, daß Xymenar entschied, wann seine Ruhe endete. Sie saßen beim Frühmahl zusammen, das Xymenar reichhaltig auftragen ließ. Die Diener achteten sorgsam darauf, daß Delaros' Teller sich nicht leerte. "Mein Vater gibt viel auf euer Wort, Pecha," sagte Delaros nach langer Zeit. "Aber ich habe kein bedeutsames Wort bisher von euch gehört." Xymenar schob seinen Teller beiseite. "König Wharhan weiß, daß die Ohren der Diener immer offen sind," erwiderte er lächelnd.
Da scheuchte Delaros alle Anwesenden mit einer Handbewegung hinaus. Er sah Xymenar unruhig an und fragte sich insgeheim, ob dieser Mann wirklich ein enger Vertrauter des Vaters war. "Ihr seid Priester," stellte er erstaunt fest. "Euer Geist ist abgeschirmt." Xymenar lachte leise. "Da ihr dies wißt, wolltet ihr ihn berühren," meinte er heiter. "Was sucht ihr auf diesem Weg, das ihr nicht durch Worte zu erkunden wagt, mein Herr?" "Eure Treue," gab Delaros mit harter Stimme zu. Sein Teller war noch gefüllt, doch er aß nicht mehr. Er belauerte seinen Gastgeber, der ihm so wenig Ehre erwies. Xymenar lachte wiederum. "Meine Treue?" vergewisserte er sich. "Ja," rief Delaros aufspringend. "Falls sie vorhanden ist, verbergt ihr sie gut. Ihr laßt mich spüren, daß ihr meine Art des Reisens mißbilligt. Ihr verweigert mir die Unterwerfung. Ihr entscheidet, wann die Ruhe beginnt und wann sie endet. Und ihr langweilt mich mit euren Geschichten." Xymenar erhob sich bei diesen Worten ebenfalls. Es war ihm also gelungen, Sarais Erben zu kränken. Nun, dann wollte er es doch sofort noch einmal versuchen. Er neigte den Kopf. "Ich bitte meinen Gebieter um Vergebung und erwarte eure Befehle," sagte er im unterwürftigsten Tonfall und warf sich nieder, streckte sich längs in der vorgeschrieben Geste vor Delaros aus und verharrte.
Delaros wich einen Schritt zurück. Mit dieser Bewegung bannte er Xymenar am Boden fest, doch war dies nicht die Absicht des Prinzen. Ihn erschreckte die Veränderung des Pecha, der sich wie ein Sklave verhielt. Das hatte er nicht gewollt und es gefiel ihm nicht, obwohl es ihn erhöhte. Wütend schleuderte er den aus kostbarem Achat geschliffenen Becher gegen die Wand, wo er mit lautem Geräusch aufprallte, dann zu Boden fiel und zerbrach. Der Lärm rief seine Männer. Zwei Bewaffnete stürmten herein. "Hinaus!" fuhr er sie an und sie verließen hastig den Raum. Delaros umkreiste Xymenar, der unverkrampft und reglos am Boden lag. Dann endlich setzte er sich wieder. "Auf die Knie," verlangte er. Xymenar gehorchte unverzüglich, kreuzte die Arme und hielt den Blick in Demut gesenkt. Delaros musterte ihn. "Es ist doch so, nicht wahr? Ihr mißbilligt meinen Wagen?" "Wenn ihr es wünscht, Gebieter," antwortete Xymenar ergeben, "so wird ganz Sarai auf den Sattel verzichten." "Danach habe ich nicht gefragt," fuhr ihn der Prinz an. "Ihr seid mein Herr," beharrte Xymenar und verlieh seiner Stimme dabei einen demütigen Klang, "ich werde billigen und mißbilligen, was immer ihr befehlen mögt. Verfügt über mich." Delaros ballte die Hand zur Faust in ohnmächtigem Zorn. Auf die Worte dieses Mannes sollte sein Vater hören? Es erschien ihm unverständlich, daß dieser jetzt so unterwürfige Pecha seinem Vater etwas bedeutete. Wharhan mochte die Männer nicht sonderlich, die ihm in allem nach seinem Sinn redeten.
"Steht auf," verlangte Delaros endlich. Xymenar gehorchte ohne Zögern, hielt aber weiter die Arme gekreuzt und den Blick gesenkt. Er stand unbeweglich und wartete. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht und nichts verriet den raschen Flug seiner Gedanken. Delaros beschloß, diesen Ort wieder zu verlassen. Er hatte zwar Xymenar bezwungen, aber dies erschien ihm nicht als Gewinn. Eben wollte er dem Pecha dies mitteilen, als unangemeldet einer der Zureiter in den Raum stürmte. Er verneigte sich sehr hastig und ungeschickt in Richtung des Prinzen und wandte sich sofort an Xymenar: "Herr," berichtete er drängend, "Es gibt Schwierigkeiten. Sne brüllt vor Schmerzen." Augenblicklich fiel die lähmende Unterwürfigkeit von Xymenar ab. Er schaute Delaros frei und selbstbewußt an, als er sagte: "Verzeiht, Herr, ich werde gebraucht. Sne ist eine edle Stute, deren Zeit gekommen ist. Das Fohlen wehrt sich wohl ein wenig." Er lief, gefolgt von dem Reiter, hinaus. Delaros schaute ihm verwirrt nach, ging dann selbst aus dem Haus. Vor einem der Ställe standen einige Männer und Frauen. Man hörte das angstvolle Wiehern eines Pferdes. Delaros schob die Leute beiseite, trat leise ein. Mit geblähtem Leib lag ein großes, braunes Pferd im Stroh. Es litt unendliche Schmerzen und hob unter Krämpfen immer wieder den Kopf an, dabei entsetzliche Laute ausstoßend. Zwei Männer knieten bei ihm, hielten es an der Mähne fest. Andere wechselten feuchte, mit Kräuteressenzen getränkte Tücher über dem gespannten Körper. Xymenar kniete mit nacktem Oberkörper beim Hinterleib der Stute. Er
hob den Kopf und sah Delaros an. "Kommt her." Es klang wie eine Einladung. Wenn Delaros nun verharrte, konnte niemand ein Versagen darin sehen. Die Stute wimmerte. Sarais Erbe sah nie zuvor ein Tier so leiden. Er empfand tiefes Mitleid und dieses Gefühl bestimmte sein Handeln, als er zu Xymenar trat und sich bei ihm niederhockte. "Haltet den Schwanz fest," verlangte Xymenar und nun lud er den Prinzen nicht mehr ein, sondern befahl auf eine sehr unpersönliche Art. Und Delaros gehorchte. Er hielt den Pferdeschwanz mit beiden Händen fest und verhinderte so, daß dieser Xymenar schlagen konnte. Der Pecha sog tief den Atem ein, spannte sich an und nach kurzer Überwindung führte er seine Hand tief in den Leib des Pferdes, als dieses erneut im Wehenschmerz aufschrie. Nun ging alles sehr schnell. Xymenar zog das Fohlen aus dem Mutterleib und die Stute stieß es mit der nächsten Wehe ab. Die Männer wußten, was zu tun war. Sie rieben das Fohlen mit Stroh ab. Andere kümmerten sich um die Stute. Jemand reichte Xymenar ein Tuch, damit er wenigstens etwas die Spuren von Blut und Schmutz vom Körper wischen konnte. Delaros stand wenige Schritte entfernt und starrte auf das Fohlen im Stroh, dessen große Augen kostbarer leuchteten als jeder Kristall. "Auf die Beine mit ihr," befahl Xymenar. Die Männer zerrten an der Mähne der Stute. Delaros wollte ihr schon beistehen, für sie um Ruhe bitten, aber da lachte ihn Xymenar frech an und er schwieg, weil ihm klar wurde, daß er sich ansonsten lächerlich machte.
"Pferde ruhen im Stehen," raunte Xymenar dem Prinzen zu. "Wenn sie sich nicht erhebt, stirbt sie." Er widmete sich jetzt selbst der Stute und endlich gab das Tier nach und erhob sich schwerfällig. Zitternd stand das Tier, schnaubend, erschöpft. Dann wieherte Sne ganz leise und lockend. Das Fohlen hob den Kopf. Xymenar gab seinen Leuten ein Zeichen und da griffen sie zu und halfen dem Kleinen. Das Fohlen stand mit zitternden Beinen, versuchte einen tapsigen Schritt, knickte ein, stand aber sofort wieder und dann fand sein Maul die Mutter und die Milch, nach der es suchte. Xymenar schickte alle Menschen hinaus. Er trat zu Delaros, legte die Rechte auf die Brust, zeigte nun aber keine Spur von Unterwürfigkeit. Frei sah er den Erben der Macht an. "Bitte, geht ins Haus zurück," sagte er offen. "Ich folge euch, sobald ich mich gereinigt habe." Sein Blick glitt über Delaros. Pferdekot beschmutzte des Prinzen Tunika. "Ihr solltet euch auch umkleiden," schlug Xymenar grinsend vor. Delaros fügte sich wortlos. Er ließ sich waschen, umkleiden und wartete dann auf Xymenar in der warmen Wohnhalle. Der Pecha ließ sich Zeit, doch als er kam, tat er dies mit sicherem Schritt. Wieder legte er zum Gruß die Rechte an die Brust. Delaros atmete unmerklich auf, als Xymenar nun das Knie nicht beugte. "Ihr habt die Wahl," bot ihm der Pecha in frecher Aufrichtigkeit an. "Ihr könnt in mir einen demütigen, gehorsamen Diener finden." "Wenn ich eine Wahl habe, muß es auch eine andere Möglichkeit geben," erwiderte Delaros erstaunt. "Die gibt es," versprach Xymenar.
"Den ungehorsamen, aufrührerischen Rebellen?" Xymenar trat einen Schritt auf ihn zu und nun kniete er doch, aber nicht still ergeben, sondern mit erhobenem Antlitz. "Nein, mein Gebieter," sagte er mit fester Stimme, "aber ich biete euch ein offenes Wort, einen ehrlichen Rat und die Wahrheit auch da, wo sie nicht schmeichelhaft ist." "Ein verlockendes Angebot," stellte Delaros unumwunden fest. Der Prinz ließ sich auf den Polstern am Kamin nieder und bedeutete Xymenar, es ihm gleich zu tun. "In wenig schmeichelhaften Wahrheiten ist mein Vater geübt," gab Delaros zu. "Wo ist der Gewinn?" Xymenar sah ihn ernst an. "Wahrheit ist ohne Offenheit nicht brauchbar," gab der Pecha zu. "König Wharhan verübelt euch den Wagen, nicht wahr?" "Wie ihr, Pecha," bestätigte Delaros bitter. "Ich weiß, daß es auf Amarra keine Pferde gibt und ihr kein geübter Reiter sein könnt," hielt sich Xymenar nun an die versprochene Offenheit. "Aber der Herr von ganz Sarai auf einem Zweispänner ist lächerlich. Die Burg hat gute Pferde und gute Rittmeister und auf dem Weg dorthin solltet ihr einen Einspänner bevorzugen und das Pferd, das ihn zieht, selbst versorgen. Es ist wichtig, daß euch die Pferde vertraut werden, Herr." "Ich kann mich schon im Sattel halten," meinte Delaros unsicher.
"Ihr fürchtet euch aber davor," stellte Xymenar fest. "Weshalb?" Thyrian hatte ihm alles erzählt, doch das wollte er nicht entdecken. Je größer der Vorsprung des Priesters wurde, desto sicherer konnte er die Küste hoffentlich erreichen. Es war Delaros, der von Thyrian sprach, als er nun erzählte, wie sein Reittier ausbrach und durchging. Er verschwieg die grenzenlose Angst nicht, die er auf dem dahinjagenden Pferderücken empfand, als er ständig den Sturz fürchtete und er verschwieg auch nicht das Gefühl der Erleichterung und Dankbarkeit, das er nach seiner Rettung empfand. Von dem, was danach geschah, sprach er noch nicht. Xymenar sah in die Flammen. Das hatte er nicht erwartet. Der Prinz empfand keinen Haß wider Thyrian, sondern fühlte Dankbarkeit. Es erschien dem Pecha unverständlich, weshalb er ihn jagen ließ. Delaros wollte wohl seine Macht demonstrieren und stellte diese Möglichkeit über sein eigenes Empfinden. Das gefiel Xymenar nicht. Sie sprachen über Pferde, nicht über Thyrian. Und sie sprachen von Wharhan und den Menschen in der Burg. Delaros erfuhr vieles, das er bisher nicht wußte und innerhalb kürzester Zeit schätze er die Offenheit des Pecha deutlich höher als jede mögliche Unterwerfung. Delaros verbrachte einen angeregten Tag. Bot ihm Tornor Zerstreuung und Unterhaltung, so bezog ihn Xymenar ungefragt in das Tagesgeschehen ein. Am andern Morgen traten sie gemeinsam aus dem Haus. Delaros sah den Hirten, wie er die Anhöhe hinauf stieg und wunderte sich. "Er war mehr als eine Nacht hier," staunte der Prinz. Xymenar nickte gelassen. "Zwei Tage Aufenthalt erlaubt Schäfer," erinnerte er seinen Herrn.
das
Gesetz
jedem
"Und seine Tiere?" "Immer noch hinter der Anhöhe. Solange der Leithammel angebunden ist, laufen sie nicht fort. Sie haben Wasser erhalten und Gras wächst dort ohnehin genug. Der Hirte wird sie nun fortführen." "Er trägt ein Bündel." "Gewiß," erwiderte Xymenar heiter. "Soll ich den Mann ohne Proviant ziehen lassen?" Delaros starrte dem aber bei Thyrian.
Hirten
nach,
weilte
in
Gedanken
"Wenn ihr die Herde töten wollt, Pecha," fragte er langsam, "wie tut ihr das?" Xymenar wurde ernst. Er wußte, wohin das Gespräch führen würde. Aber Thyrian besaß nun zwei Tage Vorsprung. Der Prinz konnte ihn unmöglich noch einholen. "Welchen Grund sollte es geben, eine Herde Targas zu schlachten?" antwortete er ausweichend. "Wie geschieht es?" bestand Delaros düster auf einer Antwort. "Man bindet den Hammel an, damit die Schafe verweilen," gab Xymenar unwillig Auskunft. "Jedes Tier muß geschlachtet sein, ehe er stirbt. Ein Targa ohne Leittier ist schwer zu fangen." "Wie kommt es, daß ein Pferdemann das weiß?" "Das weiß jedes Kind in Sarai."
Der Schäfer verschwand hinter der Anhöhe und Delaros wandte sich nun dem Pecha zu. "Ein versprengtes Targa ließ mein Pferd durchgehen," erinnerte er sich düster, "die Menschen wichen vor ihm zurück und gaben seinen Weg frei." "Targas stinken," meinte Xymenar nur. "Das Schaf gehörte dem Mann, der mich rettete." "Das Tier war versprengt, also lebte der Leithammel nicht mehr. Wenn ihr Schuld zuweisen wollt, dann an jenen, der den Hammel tötete. Der Hirte ist unschuldig." "Was macht euch so sicher?" Xymenar lachte leise und deutete mit der Hand über seinen Besitz. "So wenig, wie ich eines meiner Pferde schlachte, so wenig tötet ein Hirte sein Leittier," wußte er. "Die Herde ist unwichtig für ihn; ihr Wert liegt in diesem Hammel. Hat man euch das wirklich nicht gelehrt?" Delaros senkte den Blick. In den Jahren auf Amarra lernte er wirklich alles über sein Land und sein Volk, das es an theoretischem Wissen gab. Nicht alle Themen gefielen ihm, doch er wurde gezeugt, um über Sarai zu herrschen und er war gewillt, diese Aufgabe zu meistern. So blieb er ein gelehriger Schüler auch in diesen Belangen. Zwei Reiter kamen vom Fluß her geritten. Xymenars dunkle Augen verengten sich. Seine Männer liefen den Reitern laut rufend entgegen und aus dem Schreien war auch für Delaros leicht zu erkennen, daß sie einen flüchtenden Dieb verfolgten und ohne Erfolg heimkehrten. Sie glitten aus dem Sattel und verharrten abwartend. Fragend richtete
der Prinz seinen Blick auf Xymenar. "Ingmar und Dalson," sagte der darum, "zwei meiner besten Männer." "Ihr seid bestohlen worden?" "Ich hatte einen neuen Mann in Dienst genommen," erwiderte Xymenar langsam. "Als die Kunde von eurem Eintreffen kam, nahm er ein Pferd und verschwand." "Dafür ist der Tod eine noch zu geringe Strafe," entfuhr es Delaros. Aber da lachte Xymenar böse auf und der Prinz wich erstaunt einen Schritt zurück. "Strafe dafür, mein edler Herr?" höhnte Xymenar. "Wie oft wollt ihr Thyrian noch töten? Glaubt ihr wirklich, es gibt ein Pferd auf Sarai, das den Wert dieses Mannes übertrifft?" "Thyrian? Er war hier?" Delaros Stimme wurde laut. "Meine Männer, rasch!" Seine Bewaffneten eilten herbei, sein Gefolge brachte die Pferde. "Thyrian ist in der Nähe," rief der Prinz. "Eilt und bringt ihn zu mir. Reicher Lohn für den, der ihn bringt!" Sie sprangen in die Sättel. Xymenar lachte auf und trat nach vorn. "Laßt es," rief er den Reitern zu, "mit diesen Pferden holt ihr ihn nicht einmal dann ein, wenn ihr den Weg wißt. Was sind das für Pferde? Zahme, faule Tiere ohne Feuer! Wie die Reiter," fügte er verächtlich an.
Delaros reagierte ärgerlich ob der Verzögerung. Er glaubte Thyrian nahe und wollte ihn nun endlich sehen. Er trat nach vorn. "Dann reitet ihr," befahl er Xymenar. "Und wagt es nicht, ohne diesen Mann wieder hierher zu kommen." "Kein Pferd ist gut genug, ihn einzuholen," versprach der Pecha. "Und das da!" Delaros rief es fast, während er zur Koppel des Schimmels deutete. "Ihr werdet dieses Pferd nehmen. Das ist ein Befehl." Xymenars Männer kamen immer näher. Ihre Haltung verriet, daß sie bereit waren, ihren Herrn auch gegen ihren Herrscher zu verteidigen. Das Gefolge des Prinzen griff nach den Waffen. "Der Schimmel ist ungezähmt," versicherte Xymenar reglos. "Dann brecht ihn ein," fuhr ihn Delaros an. "Tut es sofort!" Der Pecha sah seinen Herrn kurz an. Der Prinz hatte wirklich keine Ahnung von Pferden, stellte er fest. Natürlich konnte man ein wildes Tier einbrechen und ihm damit Feuer und Persönlichkeit rauben. So ritt man Pferde für alte Männer und schwache Frauen zu und nie erwählte man dazu ein edles Tier. Diesen Schimmel einzubrechen, das würde ganz Sarai als Verbrechen empfinden. Und der Versuch allein konnte manchen braven Zureiter das Leben kosten. Aber Delaros war nicht bereit, Argumente zu hören. Und die blanken Säbel seiner Soldaten drohten ein Blutbad unter den Männern an, die nur auf einen Wink des Pecha warteten. Xymenar neigte in leicht spöttischer Haltung das Haupt vor Delaros, dann ging er zur Koppel. Er winkte zwei Männer herbei.
"Öffnet das Gatter," befahl er knapp. Sie sahen ihn ungläubig an, aber sie gehorchten ohne Zögern. Die Männer zogen die Bretter aus den Verstrebungen. Der Schimmel stand still, wieherte leise und beäugte argwöhnisch das Geschehen. Das letzte Brett fiel. "Brecht ihn ein," befahl Delaros erneut. Xymenar trat in die Koppel. Der Schimmel stand noch still, zitterte aber nun. "Nun lauf schon," raunte ihm Xymenar zu. Da wieherte der Schimmel hell auf, erhob sich auf die Hinterhufe und galoppierte dann durch das geöffnete Gatter in die unerwartete Freiheit. Delaros sah die betretenen Gesichter der Zureiter und fassungslos sah er Dalson, dem hemmungslos die Tränen über die Wangen liefen. "Was heulst du?" fuhr er Dalson an. Der warf sich vor ihm auf die Knie, ehe er gequält antwortete: "Er hat den Schimmel geliebt." Und dann knieten Xymenars Leute alle in stummem Vorwurf vor Delaros nieder. Keiner sagte ein Wort und die Stille wurde nur von manchem Stöhnen oder Schluchzen unterbrochen. Unsicher sah Delaros zu Xymenar, das sich mit langsamem Schritt näherte. Der Pecha zeigte keinerlei Gefühl, aber seine Stimme klang etwas rauh, als er ein wenig zu laut zu seinen Männern sprach.
"Es gibt viel zu tun. Geht an eure Arbeit." Delaros raunte er zu: "Ihr solltet eure Leute nicht sinnlos in die Kälte jagen." Die Menschen im Tal erhoben sich still und nahmen ihr Tagwerk wieder auf. Delaros gab seinem Gefolge einen Wink. Da steckten die Männer die Waffen ein und stiegen wieder ab. Xymenar ging zurück ins Herrenhaus, ohne sich nach dem Prinzen umzusehen und als Delaros ihm endlich folgte, da fürchtete er, der Pecha werde sich vor ihm niederwerfen und die bisherige Offenheit enden. Doch er irrte sich. Xymenar leerte einen Becher mit Tratta und fühlte die lähmende Wärme des scharfen Schnapses als beruhigende Wirkung. Er sah Delaros nicht an, als er mit leiser Stimme erklärte: "Der Schimmel ist ein besonderes Tier. Ich habe ihn Jahre hindurch gejagt. Ich wollte ihn immer haben und ich habe mir nie mehr gewünscht, als einmal auf seinem Rücken über das Land zu jagen. Aber so ein Tier, das ist wie die Liebe einer Frau oder die Treue eines Freundes. Man kann es nicht erzwingen. Mit viel Geduld, vielleicht, kann man es erreichen, daß Vertrauen wächst. Den Schimmel einzubrechen, das hieße, die Geliebte zu vergewaltigen. Es ist besser, wenn er in Freiheit ungezähmt lebt." Delaros trat zu ihm. Zögernd legte der Prinz dem Pecha die Hand auf die Schulter. "Es tut mir leid," gestand er unruhig. "Ich wollte euch keinen solchen Schmerz zufügen." Unwillig schüttelte Xymenar die Hand. "Was wolltet ihr dann?" entfuhr es ihm vorwurfsvoll. "Mich von meinem Land verbannen? Das könnt ihr immer noch tun."
"Nichts liegt mir ferner," erwiderte Delaros beschämt. "So?" Xymenar höhnte. "Ihr verbietet meine Wiederkehr, wenn ich Thyrian nicht bringe. Wo ist der Unterschied?" "Ich muß Thyrian haben," murmelte Delaros. "Ihr bekommt ihn nicht," versprach Xymenar mit drohendem Unterton. "Sein Schecke ist stark und schnell und er trägt einen gefüllten Beutel, Proviant und Zeltplanen mit sich. Ich hoffe sehr, er kann das Land verlassen, noch ehe eure Häscher ihn ergreifen." Delaros wurde aufmerksam. "Er hat das Pferd nicht gestohlen," begriff er. "Das habe ich auch nie gesagt," gab Xymenar zu. "Ihr schützt einen Verräter?" Delaros staunte. Dieser Pecha verwirrte ihn immer wieder und trotzdem empfand er keinen Zorn auf diesen Mann. "Ich schütze einen Mann, dem der Than selbst seinen Beistand versprach," erwiderte Xymenar unwillig. "Ich schütze einen Mann, der meinem Prinzen das Leben rettete. Ich schütze einen Mann, dessen aufrichtiger Sinn ihn als Freund begehrenswert macht. Ich wünschte, ich könnte mehr tun für ihn." "Er zog die Waffe wider mich," murmelte Delaros, der bei diesen Worten an Nodhers Erben und dessen erste Begegnung mit Seymas dachte. "Dankt den Göttern dafür," fauchte Xymenar böse. "Dankt ihnen, daß Thyrian euch hinderte, dieses Unrecht zu begehen."
"Mein Vater..." "Euer Vater ist ein alter Narr," schimpfte Xymenar, "der in geblendetem Vaterstolz euch eine Härte andichtet, die er selbst nicht besitzt." "Er hält euch für einen Freund," entfuhr es Delaros, der diese Meinung über den Herrscher bisher von niemandem hörte. "Ich bin ihm Freund genug, um ihm die Wahrheit zu sagen," murrte Xymenar. "Wie auch euch, mein Prinz." Ihre Blicke kreuzten sich und es war Delaros, der wie nach stummem, langen Kampf das Haupt neigte. Sarais Erbe trat zum Fenster und starrte schweigend hinaus. "Ich ersetze euch versprach er endlich.
den
Verlust
des
Schimmels,"
"So reich seid ihr nicht," wehrte Xymenar leise ab. "Was kann ich dann tun?" murmelte Delaros. "Was kann ich tun, um euch zu versöhnen?" Xymenar trat hinter ihn. Jetzt war er es, der die Hand auf die Schulter des anderen legte. "Gebt mir Thyrian," verlangte er mit harter Stimme. Delaros fuhr herum. "Wie das?" "Ihr verklagt ihn als Verräter," antwortete Xymenar ruhig. "Also verurteilt ihn als solchen. Laßt ihm Kupfer anlegen und versklavt ihn. Das ist eine Strafe, die den Gesetzen entspricht. Dann gebt ihn mir."
"Was wollt ihr mit ihm tun?" Xymenar lächelte. "Ich gebe ihm die Freiheit," versprach er, "und bitte ihn, die Feigheit seines Herrschers zu verzeihen." Wieder maßen sie sich mit Blicken. Das Angebot Xymenars war verlockend. Delaros konnte ihm nachgeben und Thyrian als Sklaven ausliefern. Dadurch entstand seinem Retter kein Nachteil und er würde sich nicht mehr um ihn sorgen müssen. Wharhan würde stolz auf ihn sein. "Nein," lehnte er dann doch ab. "Feigheit kann man nicht verzeihen. Man muß sie überwinden. Ich reise nach Hause und dann lasse ich verkünden, daß ich in Thyrians Schuld stehe und niemand es wagen darf, ihn anzurühren." Da trat Xymenar einen halben Schritt zurück, berührte mit nur einem Knie den Boden, ergriff Delaros' Hand und küßte sie. "Das Land hat einen Herrscher erhalten," sagte er ernst. "Das ist den Preis eines Schimmels durchaus wert. Ich danke euch." Delaros hob ihn auf. "Ich habe dankbar zu sein," erkannte er. "Kniet nie wieder vor mir, Pecha. Wenn ihr später zur Burg kommt, werde ich euch mit allen Ehren empfangen." "Im Sattel?" wollte Xymenar grinsend wissen. "Im Sattel," versprach Delaros und er war entschlossen, dieses Wort einzulösen.
S
eymas sah manchen starken Priester nach langer Reise durch Amarra zum Haupttempel kommen. Die dunkle Lichtwende nahte. Weniger als fünfzehn Tage vergingen noch, bis die heiligste der Nächte anbrach. Danach hörten die Tage auf, immer kürzer zu werden und das Licht gewann neu an Macht. Nymardos hatte ihm versprochen, daß er am heiligen Ritual der Antares in dieser Nacht teilnehmen dürfe und in dieser einen Nacht war die Teilnahme eine Auszeichnung, die jeder zu schätzen wußte, der sie erfuhr. Seymas wünschte, auch Thyrian könne dabei sein. Er brachte Schriften von Caryll zum Tempel und er freute sich, als Nymardos ihn nicht sofort entließ. "Ich sehe viele fremde Gesichter," meinte er leichthin. "Schade, daß Gerrys nicht kommen kann." "In dieser Nacht muß er als Falla in seinem Tempel sein," erwiderte der Than heiter. "Du weißt ja, was geschieht." Seymas kniete voll Zuneigung an der Seite des Than nieder. "Ja, Herr," sagte er ernst. "Ich weiß, daß alle Fallas nach dem Ritual ihren Geist aussenden, um zu suchen, ob es nicht einen Stärkeren als euch gibt. Aber ich glaube nicht, daß Gerrys sehr ernsthaft forschen wird." Nymardos lächelte sacht.
"Er ist mein Freund," mahnte er. "Niemand wird ernsthafter suchen als er." Seymas sah auf. Mit unsicherer Stimme murmelte er: "Wenn sie einen stärkeren Geist finden, dann wird dieser der neue Than sein. Gerrys kann nicht wollen, daß ihr alle Macht verliert." Nymardos wurde nun sehr ernst. "Es ist Sitte, daß immer nur der stärkste Geist herrschen soll. Täusche dich nicht, Seymas. Reichtum und Macht sind kein Gewinn. Sie sind eine mühsame Bürde. Ich warte voll Sehnsucht auf den Tag, an dem ein anderer kommen wird, um mein Amt zu übernehmen. Jede dunkle Lichtwende ist eine große Hoffnung für mich." Seymas schmiegte sein Gesicht in die Handfläche Nymardos'. Er kannte die Regeln. Der Priesterkönig auf Amarra kam nicht als Tempelsohn zu diesem Amt gezeugt wie die anderen Herrscher der Nebelreiche. Er erhielt seine Macht, weil alle Fallas der Reiche vereint ihn als den stärksten derzeit inkarnierten Geist erkannten. Nymardos war neunzehn Jahre alt gewesen, als fremde Priester zu ihm kamen, sich vor ihm niederwarfen und ihm huldigen. Völlig unvorbereitet legten sie ihm das Geschick der Reiche in die Hände und hoben ihn auf eine einsame Macht, die ihn so weit von allen Menschen trennte, daß er unerreichbar blieb. Nur Gerrys durchbrach später diese Mauer. Nymardos übte sein Amt beständig aus, doch welches Maß an geistiger Kraft und Belastung dies erforderte, das konnte niemand ahnen. Eines Tages würde ein neuer Than erkannt werden und dann erst endete sein Amt. Dann würde er sich zum ersten Mal vor einem Menschen niederwerfen und dulden, daß dieser über ihn hinwegschritt, um auf seinem Thron zu herrschen. Seymas gefiel dieser Gedanke gar nicht,
aber Nymardos hoffte auf diesen Tag, der für ihn Freiheit und Ruhe bedeutete.
D
as Nahen der dunklen Lichtwende brachte die Möglichkeit eines neuen Than in das Denken vieler Menschen und nur sehr wenige hofften, dies würde nun geschehen. Ariston Nodher gehörte nicht zu ihnen. In frühen Jahren lebte er als Feind der Tempel und Nymardos begegnete er mit Mißtrauen und voller Vorbehalte. Aber das lag lange zurück. Inzwischen war er dem Than treu ergeben und schätze ihn nicht nur als Herrn, sondern auch als Mann. Sein vertrauter Freund Orales aus Moras teilte diese Empfindungen, doch nicht die Sorge des Königs. "Wenn es geschieht, sei es jetzt oder in späteren Jahren," versicherte er, "dann wird es kein Verlust sein für die Reiche." "Wohl nicht," lenkte der Herrscher ein. "Vermutlich ist es nur ein Verlust für mich." "Für dich?" Orales lachte heiter. "Wenn du je einen neuen Herrn erhalten wirst, wirst du ihn lieben. Also laß uns hoffen, daß die Zeit irgendwann kommt. Gerrys zumindest wartet darauf." Jetzt lächelte auch Ariston. "Das glaube ich dir gern," gab er zu. "Gerrys liebt den Than seit so vielen Jahren und sieht ihn doch nur so selten. Die Vorstellung, einmal viel Zeit mit ihm verbringen zu können, muß ihm gefallen. Auch ich würde Gerrys gern öfter sehen." "Ich irre mich," hoffte Orales. Irritiert hob Nodhers Herrscher den Blick.
"Was meinst du?" Orales lachte vergnügt. "Oh nein, mein Freund," wehrte er ab, "ich werde jetzt deine unausgegorenen Gedanken bestimmt nicht zur Reife bringen. Wenn du irgendwelche dummen Ideen hast, dann brüte sie allein aus." So freche Worte erlaubte Ariston nur diesem Freund, vor dem er seine Macht nie zeigte. Das Band zwischen ihm und Orales erlaubte die größte Nähe und duldete keine Vorbehalte. Der Herrscher lehnte sich entspannt zurück, trank ein wenig des herben Weines seines Landes und sann seinem Wünschen nach. "Kommst du mit?" fragte er endlich. Orales setzte den Becher ab, den er eben erst erhob. "Während der kalten Nebel?" vergewisserte er sich. "Es sind nur wenige Tagesreisen." "Gerrys erwartet seinen König nicht zur kalten Lichtwende," mahnte Orales, der den Freund zur warmen Lichtwende stets zu allen Tempeln begleitete. "Raakis Falla wird Raakis Priester sicher gern begrüßen," wehrte Ariston heiter ab, dessen Entschluß fest gefaßt war. "Ich habe das Gefühl, als sei ich dort Ilkonys näher." "Kein Priesterschüler nimmt erinnerte Orales den Freund.
an
diesem Ritual teil,"
"Thyrian wird teilnehmen und er war Gerrys' Chela. Laß es gut sein, Orales. Es ist vielleicht wirklich ein törichter Gedanke, aber ich möchte zur Lichtwende im Tempel sein."
"Nun," entschied Orales, "dann werde ich dich mit Freuden begleiten. Hoffen wir, daß Cynesta nicht traurig ist." Aber des Königs Gemahlin war selbst Priesterin und obwohl sie die enge Freundschaft zwischen Ariston und Gerrys nicht teilte, so gönnte sie dem Gemahl doch jede Liebe und sprach kein Wort gegen eine Reise zum bevorstehenden Fest.
T
hyrian verhielt sich so unauffällig, wie er nur eben konnte. Doch das nutzte nicht viel, denn der Schecke erweckte jede Aufmerksamkeit. Das edle Tier lenkte jeden Blick auf sich und erweckte den Neid der Betrachter. Thyrian fühlte sich nicht wohl. Er wollte die Stadt lieber umgehen, doch er besaß keinerlei Vorräte mehr und mußte einen Händler aufsuchen. Er wußte sich seinem Ziel nahe. Noch drei, vier Tagesreisen trennten ihn von der Küste und sobald er seine Vorräte auffrischte, wollte er den Weg wieder aufnehmen und dann allen Menschen ausweichen. Als er das Handelshaus verließ, umstanden Soldaten den Schecken. Thyrian spannte sich an. Trotzdem ging er zu dem Pferd und befestigte sein Bündel hinter dem Sattel. "Ein edles Tier," sagte einer der Männer lauernd. "Das ist es," bestätigte Thyrian. "Ich kenne das Zeichen, das es trägt," fuhr der andere fort. "Ihr kennt den Pecha gut?" Thyrian nickte langsam. "Der Pecha würde so ein Tier niemals verkaufen," erklärte der Soldat seinen Kameraden. "Er züchtet und zähmt Pferde, aber die Besten behält er immer für sich selbst. Und der Schecke ist wirklich gut."
"Wenn das Pferd nicht verkauft wurde, wurde es gestohlen," vermutete ein anderer Mann und tastete nach seinem Säbel dabei. "Xymenar würde kaum einen Dieb entkommen lassen," warnte Thyrian. Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Thyrian durfte nicht zu viel von Xymenar reden, er wußte es. Daß er ihm half, das konnte ihm gefährlich werden und der Zorn des Prinzen vermochte mühelos einen Pecha zu entmachten. Ein anderer Soldat musterte Thyrian unverhohlen. "Wenn ich mir dein Haar betrachte, deine Gestalt, dein Alter - sucht unser König nicht einen Verräter, dessen Beschreibung so ganz auf dich zutrifft," überlegte er mit lauter Stimme. "Wie ist dein Name?" Bewohner der Stadt wurden aufmerksam. Immer mehr Menschen kamen herbei. Thyrian wußte, daß er keine Zeit besaß. Er mußte rasch handeln, wenn er überhaupt eine Chance haben wollte. Er lächelte den Soldaten freundlich an, als er auf ihn zuging und das Lächeln wirkte noch nach, als er ihm die Faust ins Gesicht hieb, ihn so zu Boden warf. Dann rannte Thyrian los. Die Überraschung half ihm, denn die Menge stand sich gegenseitig im Weg. Thyrian spurtete durch eine schmale Gasse, kletterte über Zäune, warf sich vorwärts. Die Stadt besaß weder Mauer noch Tor. Hinter den Häusern begann die weite Steppe in sanften Wellen. Sie bot kaum Deckung, nur vereinzelt wuchs einmal ein Busch oder Strauch. Thyrian duckte sich hinter einer Bretterwand. Bei Tage durfte er nicht weiter. Er hoffte, unentdeckt auf die fallenden Nebel warten zu können. Man suchte ihn. Er hörte überall Lärmen und Rufen. Es dämmerte. Thyrian schien es, als zögere die Nacht ihr Kommen hinaus. Schritte nahten. Er preßte sich gegen den Verschlag und hielt den Atem an. Da fiel ein Brett laut krachend zu Boden. Eine junge Frau starrte ihn. Er hob die Arme, wollte ihr zeigen, daß er
unbewaffnet und nicht gefährlich war. Da stieß sie einen gellenden Schrei aus und Thyrian blieb nichts weiter übrig, als loszulaufen. Die Nebel wehten noch nicht dicht genug. Der Fliehende war als Schemen durchaus sichtbar und die berittenen Soldaten verloren ihn nicht aus den Augen. Sie holten ihn ein, ritten ihn einfach nieder. Thyrian stürzte und nur ein rasches Wenden des Kopfes bewahrte sein Gesicht vor einem Hufschlag. Da schloß er die Augen, blieb reglos liegen und ergab sich in sein Schicksal. Sie banden ihn mit Stricken und zwangen ihn, am Seil hinter den Pferden herzulaufen. Die Soldaten ritten zur Stadt. Schmerzhaft eng verschnürt verbrachte Thyrian die Nacht im Stall zwischen den unruhigen Pferden. Am frühen Morgen dann brachen die Soldaten auf. Der Schecke blieb in der Stadt zurück und würde, sobald die kalte Zeit endete, zu seinem Besitzer gebracht. Die Männer besaßen nun ein anderes Ziel und obwohl sie sich über ihre begehrte Beute freuten, so murrten sie doch, weil es mit dem Gefangenen nun langsamer vorwärts ging. Sie nahmen keine Rücksicht auf Thyrian. Als er stürzte, zügelten sie die Tiere nicht, sondern schleppten ihn über die Steppe weiter. Gegen Abend tauchte eine kleine Festung im Nebel auf. Thyrian sah es nicht, denn er schlug mit dem Kopf gegen einen Stein und verlor das Bewußtsein schon vor einiger Zeit. Als er zu sich kam, fand er sich eingekerkert. Thyrian lag auf einem Bündel schmutzigem Stroh in der Ecke eines kleines Raumes, dessen schwere Holztür fest verschlossen war. Ein schmaler Schlitz unter der Decke erlaubte das Eindringen von nur wenig Licht. Er war nicht allein. Ein Wimmern erweckte seine Aufmerksamkeit. Als er sich mühsam aufrichtete, überflutete ihn eine Schmerzwelle. Er stöhnte und tastete nach der Platzwunde an seinem Kopf. Das Haar war blutverkrustet.
"Die Götter sind gnädig," vernahm er eine heisere Stimme, "daß sie mir noch ein Spielzeug geben." Thyrian starrte den Sprecher an. Der Mann war groß, breit und sein Körper bestand mehr aus Fett denn aus Muskeln. Das Haar hing ihm wirr um den breiten Kopf. Er grinste und entblößte dabei ein lückenhaftes Gebiß. Nahe bei ihm ertönte erneut das leise Wimmern. Thyrian ließ den Sprecher nicht aus den Augen. Er spürte Gefahr. "Komm zu mir," verlangte er jetzt lüstern. Thyrian begriff. Sie hatten ihn gefangen und eingekerkert und sie verachteten ihn genug, um ihm dies anzutun. Sie sperrten ihn in eine Zelle mit einem brutalen, lüsternen Kerl, der Vergnügen daran fand, Männer zu vergewaltigen und ihnen, dem Wimmern nach zu urteilen, wohl alle Schmerzen zuzufügen. "Komm her!" Jetzt klang es drohend. Der Mann kniete im Stroh, zwei Schritte entfernt und jede seiner Gesten im Halbdunkel der Zelle verriet seine Absicht. Jetzt wagte Thyrian einen raschen Rundblick. Die Zelle war niedrig, man konnte darin nicht stehen, sondern mußte gebeugte Haltung einnehmen. Außer dem verwesenden Stroh gab es keine Einrichtung. Neben seinem Gegner lag ein verkrümmter Körper. Nirgendwo gab es ein Gefäß mit Nahrung oder Wasser. Es roch entsetzlich nach Kot und Urin. "Komm her!" Thyrian lehnte sich gegen die gemauerte Zellenwand, zog die Knie an und legte die Arme darum. "Denke nicht einmal daran," warnte er leise.
Der andere lachte laut und böse. Er klatschte sich auf die Schenkel und dann streckte er verlangend die Hände aus. Thyrian rührte sich nicht. Äußerlich wirkte er untätig, doch im Geiste arbeitete er. Er tat es nicht gern, doch er dachte auch nicht darüber nach. Er berührte den Geist seines Gegners, drang mühelos in ihn ein und formte dort Bilder aller Schrecknisse, die er als Bilder der Angst in dem andern fand. Die ausgestreckten schwieligen Hände hielten inne. Der Mann riß die Augen auf und starrte auf seine Finger. Eitrige Beulen sah er, faulende Haut, verwesendes Fleisch. Er schrie auf und zuckte zurück. Thyrian ließ seinen Geist los. "Versuche es nie wieder," warnte er. "Krieche jetzt dort rüber, neben die Tür." Es verwunderte den Priester, daß dieses eine Blendwerk den andern schon besiegte. Doch der Mann kroch wirklich an die angewiesene Stelle und kauerte dort angstvoll nieder. Thyrian widmete sich nun dem wimmernden Jüngling, der bei der ersten Berührung angstvoll aufstöhnte, dann aber still alles erduldete, was der Priester tat. Seine Schmerzen ließen nach. Irgendwann kamen Wächter mit Brot und Wasser. Sie fanden einen angstvoll in der Ecke niedergekauerten Gefangenen, der wirre Worte sprach und lautstark darum bat, daß man seinen Leib nicht weiter verfaulen ließ. Thyrian saß mit angezogenen Beinen an der Wand. Die Angst dieses Mannes, der er ein Bild verlieh, wirkte noch immer nach und ohne Unterlaß deutete der auf scheinbare Faulstellen seines Körpers. Der Jüngling aber schlief in der anderen Ecke und als die Wächter ihn mit einem Fußtritt weckten, konnten sie nicht fassen, daß er sich ohne Schmerzen auf die Knie erheben konnte. Sie starrten Thyrian an. "Das ist ein mächtiger Magier," stieß einer von ihnen angstvoll aus, "das muß der Teju wissen."
Sie verließen den Kerker als Flüchtende. Zehn bewaffnete Männer kamen danach, winkten Thyrian mit sich. Sie hielten die Säbel fest umklammert. Keiner wagte, Thyrian auch nur anzurühren. Sie führten den Priester einen langen, schmalen Gang hinunter, vorbei an vielen Kerkerzellen, die aber leer zu sein schienen. Endlich blieben sie stehen. Einer der Soldaten bückte sich und zog eine Bodentür auf. Ehe Thyrian begriff, was ihm geschah, wurde er schon gestoßen. Er stürzte nach vorn und fiel in ein tiefes Loch. Hart schlug er unten auf. Nur die Lage Stroh bewahrte ihn vor schweren Verletzungen, denn er fiel an die fünf Meter tief. Die Tür wurde geschlossen. Völlige Dunkelheit umfing den Priester, dessen neuer Kerker gerade groß genug war, um sich längs hinzulegen. Thyrian gab sich keinen falschen Hoffnungen hin. Der muffige Geruch des feuchten Erdloches würde ihn nun nie mehr verlassen. Er erkannte in diesem Gefängnis sein Grabmal, denn hier hinein gab man keinen Gefangenen, den man nur aufbewahren wollte.
A
riston Nodher rüstete zum Aufbruch. Manches Mal weilte er in Raakis Tempel als Gast und stets kam er ohne großes Gefolge. Ein paar seiner Männer hatten im Tempelbereich Gefährten gefunden und diese baten um Erlaubnis, mit ihrem König reisen zu dürfen. Zur selben Zeit weilte sein Erbe in Sarai in einem einsamen Gehöft. Einer von Ilkonys Gardisten wurde von der Hitze heimgesucht und der Prinz ließ den Mann nicht zurück, sondern hielt sich auf und wartete, daß dieser wieder zu Kräften kam. Sie sprachen nicht darüber, doch seine Männer liebten ihn dafür.
W
ie in der Abgeschiedenheit des Lichttempels, wo ihn Trinarys verbarg, so vollzog Thyrian auch in diesem Gefängnis die ihm bekannten priesterlichen Übungen. Das bewahrte seinen Geist vor Umnachtung und seinen Sinn vor Todesangst und Verzweiflung. Er fastete oft in seinem Leben und konnte mühelos lange Zeit auf jede Nahrung
verzichten. Doch der Durst quälte ihn. Die ihn umgebende Erde war feucht, doch nicht naß. An einer einzigen Stelle der Wand tropfte ab und zu etwas Wasser. Thyrian hatte dort den Schuh hingeschoben, um jeden Tropfen zu gewinnen. Doch es war zu wenig, um ihn am Leben zu erhalten. Er lag auf dem Rücken und schaute hinauf. In der Dunkelheit konnte er weder die Wand noch die Tür oben erkennen. Er erwartete das auch nicht. Ein Wassertropfen löste sich von der Krume und fiel mit tosendem Rauschen zu den andern Tropfen in Thyrians Schuh. Es knisterte in der Wand. Thyrian sah die Tür, durch die er fiel und das Stroh, auf dem er lag. Jetzt erst sah er auch die tiefen Kratzspuren, die Hände in Todesangst in das runde Erdloch meißelten. Voll tiefer Erleichterung sah er seinen geschwächten Körper auf dem Stroh liegen. Er wollte ihn ohne Bedauern zurücklassen und den Tod freudig begrüßen. Es war alles ganz logisch und richtig und daß er nun seinen Leib zugleich mit der Tür sah, das verwunderte ihn nicht einmal. Er schloß die Augen. Leise fiel wieder ein Tropfen Wasser. Thyrian richtete sich mühsam auf. Der Tod, den er nahe glaubte, mied ihn noch und der Durst quälte seinen Leib. Inzwischen war er zu schwach, um sich noch auf Antares' Ebene zu begeben. Er führte nur noch einfache Übungen aus und auch diese ohne Intensität.
R
aakis Tempel in Nodher entsprach in vielen Dingen nicht den Regeln und die Sitten, die hier herrschten, besaßen in anderen Tempeln keine Gültigkeit. Es gab keine Vorschrift, die besagte, daß sich die Priesterschaft ihren Weihen gemäß zu kleiden hatte und außerhalb der Rituale trugen Frauen und Männer bevorzugt einfache, schwarze Gewänder, in denen sie sich nicht voneinander unterschieden. Hier spielten Tempelkinder mit den Kindern der Tempelhelfer und kannten in ihren jungen Jahren
einen Standesunterschied. Hier lebte ein ehemaliger Sklave Tharas als Tempelhelfer so geachtet, als sei er ausgebildeter Priester. Dieser Mann trug den Namen Rhagan. Er hatte die vierzig längst überschritten. Er bildete die Jugendlichen aus und wies sie in Sport- und Kampfspielen an. Daß Priesterschüler und Tempelkinder Kampfspiele aufführten, das gab es sonst nirgendwo in den Reichen. Keine hohe Mauer umgab den Tempel, doch dies gründete auf der Vergangenheit und es hatte einfach nie einen Anlaß gegeben, diese Mauer neu zu errichten. Ariston Nodher zügelte sein Tier nahe des Tempels und ließ den Blick über den hohen, weißen Bau gleiten. Seine braunen Augen leuchteten. Es war gut, hier zu sein und er freute sich auf das Wiedersehen mit dem Falla. "Du wirst Gerrys aber wohl nicht verschweigen, wohin Ilkonys ging," erkundigte sich Orales, der dieselbe Freude empfand. "Gewiß nicht, " versprach Ariston, der nun wieder anritt, "Ilkonys hat Thyrian längst gefunden und eine begonnene Leitung wird auch der Than nie unterbrechen." Man wurde auf sie aufmerksam. Priester eilten herbei, grüßten ihren König mit tiefer Verbeugung. Sie führten die Pferde zu den nahen Stallungen. Frauen brachten Krüge mit heißem Wein, um den Herrscher und auch sein Gefolge aufzuwärmen. Fröhliches Plaudern verströmte Heiterkeit. Ariston liebte es wirklich, diesen Tempel aufzusuchen. Hier wurde er nie unterwürfig als Herrscher empfangen, sondern stets mit einer offenen Herzlichkeit, die ihn ungemein bereicherte. Er gab den Becher einem der Priester zurück. Aus dem Tempeltor trat eine schmächtige Gestalt mit hellem, fast weißem, dünnen Haar. Ariston sah Gerrys und lief ihm entgegen. Dann standen sie sich gegenüber und wie immer, so war auch nun der erste Augenblick der Begegnung
ein zögerndes Tasten. Als Priester hatte sich Ariston vor dem Falla zu neigen, doch als Herrscher durfte er dessen völlige Unterwerfung fordern, die er jedoch niemals vom Pala des Than, der Gerrys auch war, verlangen konnte. Es lag an ihm, zu zeigen, ob er als Herrscher oder als Priester kam. Gerrys hielt ihm lächelnd die Hände entgegen. "Stets dieselbe Überlegung," stellte er fest. "Doch dieser Tempel hat seinen Herrscher nie gesehen. Willkommen in Raakis Haus." Ariston ergriff Gerrys Hände zum festen Druck. Wirklich kam er nie als Herrscher, immer nur als Gast und als Freund. Orales kannte hier keine Scheu. Als Gerrys zu ihm trat, umfing er den schmächtigen Freund zu einer herzlichen Umarmung und zeigte deutlich die Freude, die ihm das Wiedersehen bereitete. Gerrys begrüßte das Gefolge des Herrschers und ließ den Männern Gasthäuser anweisen. Orales und Ariston würden wie immer im Tempel wohnen und bis ihre Räume bereitet waren, wollte er sich gerne mit ihnen unterhalten. Sie saßen in Gerrys' Gemächern zusammen und der Falla war begierig, alle Neuigkeiten des Reiches zu erfahren. Aber es gab nur eine Neuigkeit und diese würde den Abend füllen. "Ilkonys hat den Ruf zu den Weihen gehört," entdeckte Ariston lächelnd, während er sich gemütlich in dem tiefen Sessel räkelte, in dem er ruhte. Gerrys sah überrascht auf. Er erhob sich und setzte sich auf die Armlehne des Sessels. Er faßte den Herrscher bei den Schultern. "Ich habe mich schon gefragt, warum er nicht bei dir ist," gab er zu. "Und du hast diese Stunde stets gefürchtet. Und nun? Ist es dir nicht eine Freude, ihn in Amarra zu wissen?"
Ariston und Orales tauschten einen raschen Blick, was dem Falla nicht entging. Er trat einen Schritt zurück. "Was verschweigt ihr beide mir?" wollte er wissen. "Nun ja," nahm Orales dem Freund die Antwort ab, "Ilkonys hörte keinen Ruf nach Amarra. Die Weisung damals war klar und eindeutig: sende ihn, sobald er selbst es will oder Amarra ihn ruft. Amarra rief nicht und Ilkonys wollte nicht, das ist alles." Gerrys setzte sich wieder. Versonnen spielte er mit dem kleinen Lebenden Kristall, den er an einer goldenen Kette um den Hals trug. Er fühlte sich Nodhers Erben mehr als nur verbunden und ihn nun unter Leitung zu wissen, das erfreute ihn sehr. "Ihr habt erheitert fest.
beide
ein schlechtes Gewissen," stellte er
"Wir waren nicht sicher, wie du darauf reagieren wirst," gab Ariston zu. "Ihr seid nicht sicher, wie Nymardos regieren wird," berichtigte Gerrys wissend. Ariston nickte bestätigend. Gerrys lächelte ein wenig und Orales atmete auf. "Es wird ihm gefallen, daß Nodhers Erbe seinen Weg selbst erkannte," versprach Gerrys. "Welchen Tempel hat er sich ausgesucht?" "Sarai." "Sarai? Nicht Nodher? Nicht Sion? Weshalb Sarai?"
"Ilkonys wählte einen Leiter, keinen Tempel," erwiderte Ariston. "Hast du Thyrian vergessen?" Gerrys ließ den Kristall los. "Soweit ich mich entsinne, hat dein Sohn diesen Priester nicht unbedingt geliebt," meinte er nachdenklich. "Diese Wahl ist erstaunlich." Er sah Ariston an. "Eine gute Wahl," entschied er dann, "die mehr Weisheit in Nodhers Erben entdeckt, als man vermuten möchte." "Du billigst es also?" freute sich der König. "Wenn sich ein Chela einen Leiter erwählt, dann steht niemandem eine Beurteilung der Wahl zu," lächelte Gerrys. "Als Priester denke ich über diese Wahl nicht einmal nach. Aber als Freund freue ich mich für Ilkonys, der den Göttern unter weiser Leitung begegnen wird." "Du hast noch Kontakt zu Thyrian?" "Seit er diesen Tempel verließ, sah ich ihn nicht wieder. Ich hörte nur, daß er Antares begegnete und im Tempel des Lichts auf Sarai dient. Ich habe oft bedauert, daß er nicht genug Zeit hatte, um seine Freundschaft zu Seymas zu vertiefen. Und eigentlich habe ich auch bedauert, daß er zurück nach Sarai ging." Sie sprachen lange über Thyrian und Ilkonys. Spät in der Nacht, als Raakis Stunde begann, baten Ariston und Orales, zum Ritual zugelassen zu sein und sie ließen sich von der dunklen Kraft an der Seite ihres Freundes überfluten. Die Freunde begaben sich zur Ruhe. Nur der Falla stand noch am geschlossenen Fenster seines Gemaches. Für einen Betrachter wäre er versunken erschienen, doch sein wacher Geist durchmaß alle Entfernungen, um den geliebten Freund auf Amarra zu finden. Mühelos wie selten zuvor fand er
Nymardos. "Du hast gewartet," wußte Gerrys da. In der Verbindung gab es nicht wirklich Worte, nur das sichere Übermitteln von Wissen und Fühlen. "Lichtwende. Nie ist das innere Licht stärker, nie das äußere Licht schwächer. Wenn du mich morgen suchst, dann hoffe ich wieder, daß du mich nicht finden wirst." "Ich fürchte, ich werde dich finden." "Seymas hat zu seiner eigenen Kraft gefunden." Dieses Wissen traf Gerrys so unerwartet, daß er die Verbindung nicht zu halten vermochte. Er atmete tief durch. Viele Jahren waren vergangen, seit ihm Nymardos entdeckte, daß er in Seymas seinen Nachfolger erkannte. Daß der junge Mann zu seiner eigenen Kraft fand, das bedeutete nicht zwangsläufig, daß er nun stärker war als Nymardos. Aber es bedeutete, daß es möglich war. Gerrys suchte den Kontakt erneut. "Das muß nichts bedeuten und bewirken," wußte auch der Than. "Wenn die Kraft des Lichtes sich wendet, werden wir es wissen. Aber dich beschäftigt etwas anderes, Geliebter. Nodhers Erbe?" Gerrys hielt sich ganz geöffnet, doch Nymardos las nie in seinem Geist und belauschte nie sein Denken. Aber sie waren sich so nahe, daß er dies erspüren mußte. "Ilkonys hat den Ruf zu den Weihen verspürt und zog nach Sarai, um dort Thyrian um Leitung zu bitten." Der Than schien amüsiert zu sein.
"Er wird den Göttern auf Amarra begegnen." "Ein weiter Weg von Sarai nach Amarra. Er wollte nicht auf deine schöne Insel kommen." "Er hat keine andere Wahl. Nodhers Erbe wird hier seine Weihe empfangen. Ich habe es seinem Vater schon vor seiner Geburt gesagt." "Er wird sich deinen Wünschen fügen." Gerrys war enttäuscht und ihm war, als sei da ein leises Lachen in ihm. Trotz all der Nähe war dem Than unbedingter Gehorsam zu leisten und keine Fürsprache konnte Ilkonys hier hilfreich sein. "Ich habe Thyrian nach Amarra gerufen." "Da wird Nodhers Erbe ihn wohl begleiten." Gerrys verstand. "Hat sich Seymas endlich des Kameraden erinnert?" "Seymas vergaß ihn nie. Es ist wie bei uns beiden, Gerrys. Auch dich habe ich nie gerufen und immer mußtest du aus eigenem Antrieb zu mir kommen. Auf deinen ersten Besuch hast du mich vier Jahre warten lassen." "Ich wußte es nicht. Ich wußte damals nicht, daß ich ungerufen kommen darf. Thyrian weiß es wohl auch nicht." "Er wird es erfahren. Ich rief ihn nicht für Seymas. Doch er hat mein Wort auf Beistand und im Geist forderte er dessen Einlösung." "Er forderte?" "Er erinnerte sich daran. Das ist dasselbe."
Die Verbindung hielt noch eine Weile an und als sie erlosch, da hoffte der Falla wirklich, in der kommenden Nacht einen neuen Than zu finden. Er hoffte es immer um diese Zeit.
D
er kürzeste Tag des Jahres brach an, um in der längsten Nacht zu enden. Ilkonys hatte die Reise wieder aufgenommen und bedauerte sehr, die Lichtwende in Sarai erleben zu müssen. Tief in der Erde lag Thyrian, dessen längste Nacht keinen Morgen mehr erwartete.
G
errys hatte den Tempel verlassen. Der schnelle Ritt tat ihm gut, doch er währte nicht sehr lange. Er glitt aus dem Sattel und lief mit großen Schritten auf das einsam gelegene Haus unter den hohen Molbäumen zu. Noch ehe er die Tür erreichte, wurde sie von innen geöffnet. Tibra lebte seit fünf Jahren in der Nähe des Tempels. Sein weiches Gesicht und sein tiefer, klarer Blick ließ ihn jünger erscheinen, als er, nun Mitte der Dreissig, eigentlich war. Das lange, braune Haar umspielte seine Schultern. Er trug es offen wie ein Mann der Macht; ein Recht, daß ihm der Than einst zugestand. Er war Tuchmacher und manchmal arbeitete er auch in der Tuchmacherei, die zum Tempel gehörte. Aber er mußte es nicht tun, denn Gerrys ließ dem Freund alles zukommen, das er benötigte. Gerrys lächelte, als er sah, daß er erwartet wurde. Auf dem niederen Tisch standen zwei Schalen mit heißem Tee und eine kleine Mahlzeit zeigte sich bereitet. "Hey, man muß kein Magier zu sein, um zu wissen, daß du heute kommst," grinste Tibra. "Es ist jedes Jahr dasselbe mit dir, hhm? Wieder voll Unruhe, Gerrys?" Der Falla setzte sich und griff gern nach den angebotenen Speisen. Tibra nahm neben ihm Platz. Er war wirklich Magier und genoß innerhalb seiner Gilde ein hohes Ansehen. Doch sein Interesse galt weniger dem magischen Wirken, sondern mehr dem Suchen nach den großen Zusammenhängen. Seit es ihm erlaubt war, selbst in den Tempelschrif-
ten zu forschen, widmete er diesen sehr viel seiner Zeit. "Du machst mich nervös," hielt er Gerrys fast zärtlich vor. "Deine Hoffnung auf einen neuen Than kann ich nicht teilen." "Sei nicht selbstsüchtig," bat Gerrys. "Nymardos hat dir das Zeichen gegeben, das dir alle Türen öffnet und dir erlaubt, in jeder Bibliothek der Reiche zu forschen. Du hattest Zeit genug, das auszukosten. Wenn du das Zeichen einem neuen Than zurück gibst, bleiben dir immer noch die Schriften meines Tempels." "Sehr beruhigend," meinte Tibra spöttelnd. "Aber weißt du, es ist mir ziemlich gleichgültig, was auf Amarra geschieht und wer dort regiert. Von dir kann ich das nicht sagen und deine Unruhe gefällt mir nicht." Gerrys lachte leise. "Du erträgst es aber jedes Jahr." "Habe ich eine Wahl? Ich lebe voll auf deine Kosten und wenn ich dir helfe, indem ich dir einmal im Jahr zuhöre, dann ist das ein schwacher Ausgleich." "Du mußt nichts ausgleichen." Tibra stöhnte in komischer Übertreibung auf. "Bei allen Göttern, du bist ja noch schlimmer dran als sonst," stellte er fest. "Wo bleibt dein Humor? Der König ist da, nicht wahr? Ist es das?" "Aber nein," wehrte Gerrys ab. "Ariston ist mein Freund und ich freue mich sehr über seinen Besuch. Er und Orales sind immer willkommen."
"Na ja," meinte Tibra leichthin, "Macht hat dich ja wohl nie erschreckt. Wer sich Pala des Than nennen kann, der kann auch einen König zu seinem Freund machen." "Und einen Magier," fügte Gerrys frech ergänzend hinzu. Es tat ihm gut, mit Tibra zu plaudern. Tatsächlich kam er stets am kürzesten Tag des Jahres zu diesem Freund, um hier seine innere Unruhe zu bezwingen. Sie sahen sich oft, doch an diesem Tag brauchte Gerrys stets den Freund um sich. Als Magier besaß Tibra genug Wissen, um priesterliches Wirken zu verstehen, aber auch genug Abstand, um dieses Wirken ohne Ehrfurcht zu betrachten. Daß die Fallas zur kalten Lichtwende forschten, ob ein anderer Than erkannt werden könne, wußte er und es war ihm wirklich fast gleichgültig, ob ihr Forschen ein neues Ziel fand. Er war Nymardos in Khyon begegnet, wo er für ihn einen mächtigen Berggeist beschwor und der Than hatte sich als dankbar erwiesen. Da er ihm freundlich begegnete, wünschte ihm Tibra alles erdenklich Gute. Er hatte nur Schwierigkeiten damit, etwas Gutes darin zu sehen, wenn dieser Mann seine Macht verlor. Aber Gerrys hoffte darauf, also würde wohl auch der Than dies für sich wünschen. Viel später drängte Tibra den Freund dann aber zum Aufbruch. "Ich denke, du mußt es einfach wieder durchstehen," schlug er vor, "und ich denke, es wird dir, wie jedes Jahr, gefallen, dich mit allen Fallas zu vereinen. Und jetzt eile zu deinem Tempel. Diese Nacht ist auch für uns Magier heilig." "Du wirfst mich hinaus?" "Natürlich." Tibra strahlte ihn an. "Du führst dein Ritual auf und ich meine Zeremonie. So verschieden sind wir gar nicht."
Gerrys umarmte ihn kurz voll Herzlichkeit. Er lud ihn für den nächsten Tag in den Tempel, doch Tibra wehrte ab. Er wollte Nodhers Herrscher nicht begegnen. Er reiste zwar in dessen Nähe mit Gerrys von Khyon zurück, aber er kannte ihn nicht wirklich und suchte auch keinen Umgang mit der Macht. Überdies hatte er Nachricht erhalten, daß Sions Herrscher Thylenon verbot, daß weiterhin das jährliche Treffen der Gilde der Magier auf der kleinen Insel Silsa stattfinden solle, die zu Sion gehörte. Es mußte ein anderer Treffpunkt gefunden werden und Tibra erklärte dem Freund, daß er sich damit zu beschäftigen gedachte. Da Gerrys aber beharrlich blieb, gab er endlich nach. Die Nacht brach an. In den Häusern vor dem Tempel feierten die Menschen. Ihre Lieder erklangen leise und sanfte Musik schwebte zwischen den Nebeln. Seryna, die Falla des Tempels, weilte bei Ariston und Orales. Gerrys wollte nun allein sein und sie respektierten das. Als Antares' Stunde begann, kam aber auch er in die oberste heilige Halle des Tempels, nun in metallisch schimmerndes Schwarz gekleidet, das seinen Rang auswies. Auch Ariston und Orales trugen die Gewandung ihrer Weihen, wie alle, die dem Ritual beiwohnten. Seryna leitete das Ritual, führte es in die Tiefe und rief die Kraft reinen Lichtes herbei. Auf Amarra leitete der Than selbst das Ritual und als es ausklang, verließ die Priesterschaft schweigend das weite Hallenrund. In allen Tempeln geschah nun dasselbe. Es blieben nur die Fallas zurück, um sich im Geist zu vereinen und um den stärksten inkarnierten Geist zu suchen, der zu finden war. Seymas allein folgte nicht der Priesterschaft aus dem Tempel. Er fürchtete diese Stunde, die seinen Herrn aller Macht berauben konnte. Er stieg aufs Tempeldach, schirmte sich ab und weinte leise vor sich hin. Gerrys stand Seryna gegenüber. Sie befanden sich inmitten des Lichtzeichens und stimmten sich auf die anderen Fallas der Reihe ein. Da geschah kein Rapport, keine
wirkliche Verbindung. Sie hoben sich nur auf dieselbe Schwingungsebene und vereinten ihre Kraft zu einem Suchen über Grenzen und Länder hinweg. Vorsichtiges Tasten. Es gab noch kein Ziel, noch kein Erkennen. Noch verströmte er mit weit geöffnetem Geist, hoffend, sein Ziel werde nicht Nymardos sein, damit dieser endlich frei sein Leben gestalten könne. Aber diese Hoffnung trug ihn nun nicht, sie blieb zurück bei allem Wollen und Sinnen. Er löste sich davon und schwang seinen Geist weiter hinauf, in Kraftströme eintauchend, die alle gemeinsamen erfaßten.
T
hyrian führte keine Übungen mehr aus. Er lag nur noch still und unbeweglich. Sein Körper trocknete aus, die Zunge klebte geschwollen am Gaumen. Er wußte, daß sein Leiden bald endete. Seine Gedanken versuchten mühsam, sich die Gesichter der Menschen vorzustellen, die sein Leben bereicherten. Es gelang ihm nicht. Xymenars schwarzer Blick war noch lebendig, aber schon Seymas klare Augen konnte er sich nicht mehr vorstellen. Es gab noch jemand, der denselben wasserhellen Blick besaß. Daß er Seymas als Tempelkind zeugte, war ohne Bedeutung. Für Thyrian zählte nur, daß Gerrys ihn einst auf Raakis Ebene hob. Damals standen sie in einer zwingender Rapportverbindung. Thyrian wußte um Gerrys' innere Kraft. Es wunderte ihn, wie leicht er sich dessen Blick vorzustellen vermochte, aber er besaß nicht mehr die Kraft, erstaunt zu sein, als er auch das Gesicht zu diesem Blick erkannte. "Gerrys." Das war mehr ein Stöhnen denn ein Krächzen. Thyrian wollte sich aufrichten, doch er war zu keiner Bewegung mehr fähig.
G
errys erkannte Nymardos als einen Teil der gemeinsamen Suche und im Weitersuchen verströmte er mehr denn je seines Seins. Schmerzhaft ruckartig verlor er den Kontakt. Er wankte, doch er fiel nicht. Er schaute einen ausgemergelten Körper. "Gerrys." Das war kein Ruf, noch nicht einmal ein Erkennen. Das war ein Abschied. Der Falla nahm nicht mehr teil an der Suche, aber er schüttelte die Ablenkung nicht ab, sondern hielt sie im Geist fest. "Thyrian!" Er wußte, wer ihn im innersten Sein berührte. "Was ist mit dir?" "Gerrys, ich sterbe." Gerrys wußte um das eingefallene Gesicht, die hohlen Wangen, die hervorquellenden Augen. Er wußte es, ohne zu schauen, doch mit derselben Klarheit und Sicherheit. "Wo bist du? Ich hole dich da raus." "Zu spät." "Gib nicht auf. Wo bist du?" Es dauerte unendlich lange, bis Gerrys die Antwort empfing. "Freisa." Er kannte diesen Ort nicht, doch wo immer Freisa auch sein mochte, es gab keinen Weg, den er nicht gehen wollte. Und er wußte, daß er sich beeilen mußte. "Thyrian, wie weit ist das?"
Wieder schien es, als habe er den Kontakt verloren, aber dann kam das Wissen doch noch zu ihm. "Sieben Tage. Zu weit." "Fünf Tage. Ich werde in fünf Tagen bei dir sein. Halte aus, Thyrian." "Zu spät." Gerrys drängte, suchte, forschte, aber er mußte endlich einsehen, daß er den Kontakt verlor. Langsam kehrte er in sich selbst zurück. Serynas Augen schimmerten feucht. Sie sah Gerrys an und verstand nicht, weshalb er nicht mit ihr zurück ins Bewußtsein kehrte. Sie wartete und als er nun kam, da sah sie mit wehem Blick auf den Freund. Gerrys verstand ohne Worte. Die Fallas hatten einen anderen Geist gefunden. Impulsiv umarmte er Seryna. Sie war Falla wie er und den Fallas eines Tempels war die Vereinigung verboten. Er liebte sie, wie sie ihn liebte. Im Grunde war diese Umarmung schon zuviel. Sie löste sich rasch von ihm. "Wo warst du?" erkundigte sie sich leise. "Du hast ihn nicht gespürt." "Wer ist es?" "Wir kennen ihn nicht," gab sie zu. "Es ist Sache unseres Gebieters, den Menschen zu finden, der zu dem erkannten Geist gehört." Gerrys schloß die Augen. Diese Nachricht traf ihn unerwartet. Wen immer die Fallas erkannten, es konnte nicht Seymas gewesen sein. Nymardos würde es sie wissen lassen, wenn der erkannte Geist bekannt in seiner Nähe lebte. Seryna griff zögernd nach seiner Hand.
"Gerrys, wo warst du?" Er öffnete wieder die Augen und sah sie an. "Ich habe euch verloren," gab er zu, "weil ein einstiger Chela in großer Not sich an mich klammerte. Ich muß ihm helfen." "Wie?" "Ich muß ihn suchen," antwortete Gerrys und führte Seryna zum Ausgang und dort den Säulengang des Tempels hinab. "Ariston und Orales und die ganze Priesterschaft erwarten Nachricht. Bitte, sage du ihnen, daß sie einen neuen Gebieter haben. Ich muß allein sein." Er wartete ihr Einverständnis nicht ab, sondern eilte in seine Gemächer und verschloß die Tür. Kaum allein, da wußte er sich schon im Geist gerufen und wenn Nymardos die Verbindung aufnahm, dann war sie klarer und fester als im umgekehrten Fall. Gerrys öffnete sich dem Freund. "Seymas ist wohl noch nicht so weit." Gerrys wunderte sich, warum er den Freund trösten wollte. "Aber deine Macht endet." "Wo warst du?" Gerrys zeigte ihm sein Schauen und Wissen in einem bewußten Akt. Es war wenig genug und vermutlich noch nicht einmal eine Entschuldigung. "Wo oder was ist Freisa," wollte er wissen. "Sarai," empfing er die Nachricht, "ein Drittel auf dem Weg von Toga zum Lichttempel. Eine kleine Stadt mit etwas Landwirtschaft."
"Aber dir doch bekannt." "Es ist - noch - mein Amt, zu wissen. Eine der Priesterinnen hier wurde dort geboren. Doch der dich rief, wird nicht mehr auf dich warten können." "Ich muß es versuchen." "Das mußt du," bestätigte Nymardos. "Ist es ohne Hoffnung?" "Er stirbt, Gerrys. Nur die Götter wissen, wie lange ein Sterben dauern kann. Und du weißt, daß du zur Lichtgleiche auf Amarra sein mußt, um dich neu in deinem Amt bestätigen zu lassen." "Wer ist es? Wem wirst du dein Amt übergeben?" "Es ist meine letzte große Aufgabe, diesen Geist zu finden." "Du kennst ihn also nicht?" "Ich erkenne ihn nicht, aber er ist wie eine Quelle der Kraft, die ich finden werde. Ruhe ein wenig, deine Reise wird viel Kraft erfordern." Gerrys wollte die Verbindung halten, doch der Than endete sie und zwang ihn so einer Ruhe, die er jetzt ohnehin nicht finden konnte. Gerrys ergriff einen dichten Umhang und verließ den Tempel. Er suchte seinen Tempelhelfer und er fand Rhagan schlafend auf dem Lager. Der Hüne hielt seine zierliche Gemahlin Shuny im Arm und gab ein Bild des Friedens ab. Gerrys weckte ihn nur ungern, aber als er leise seinen Namen nannte, schlug Rhagan die Augen auf. Geräuschlos folgte er Gerys in das angrenzende Zimmer.
"Tharas Sklaven erwachen stets beim Klang ihres Namens," meinte der Hüne grinsend, während er sich ein Tunika überzog. "Ich brauche die Hilfe eines Freundes, nicht den Dienst eines Sklaven," erwiderte Gerrys mit ernster Stimme. Rhagan sah seine große Sorge und unterließ jeden Scherz. "Falla, was immer ich für euch tun kann," versprach er fest, "das wird geschehen." "Ich reite mit den weichenden Nebeln nach Nurs und setze dort nach Sarai über," erklärte Gerrys fast etwas hastig. "Was immer ein Mann für eine Reise während der kalten Nebel braucht, ich bitte dich, Rhagan, bereite es für mich vor. Wenn ich einen Priester darum bitte, wird er wohl eher an Wein als an eine Zeltplane denken." "Wer wird mit euch reisen, Herr?" "Niemand, ich reite allein." "Herr?" "Nein, Rhagan, auch du nicht. Es ist zu kalt, um zum Vergnügen zu reisen," wehrte Gerrys bestimmt ab. "Finde ich morgen ein gesatteltes Pferd?" "Ihr findet alles, was ihr braucht, Herr," versprach Rhagan. Gerrys dankte und ging hinaus. Ein Gang stand ihm noch bevor. Er mußte Ariston von Thyrian berichten und ihm gestehen, daß er nicht wußte, wo sich Ilkonys befand. Rhagan sah seinem Herrn nach, bis ihn die Dunkelheit einhüllte. Dann verließ auch er das Haus. Unweit entfernt lag der Schlafsaal seiner Schützlinge und als er die schlafenden
Jugendlichen weckte, murrten sie nicht einmal. "Ich brauche euch," erklärte der Hüne, "zumindest ein paar Freiwillige brauche ich." "Zu was denn?" "Einer Wanderung durch die Kälte der Nacht." Das klang für die Jugendlichen eher aufregend als gefährlich und sie drängten Rhagan, ihnen die Sache zu erklären. Bald darauf schlichen fünf Jünglinge durch den Tempelgarten, in festes Tuch gehüllt. Auch ohne Licht würden sie es in der Dunkelheit schaffen, das Haus des Magiers zu finden. Ariston vernahm erstaunlich gefaßt die Kunde. Gerrys hatte sein Schauen eindringlich geschildert und der Herrscher begriff durchaus, daß kein Fragen nach Ilkonys darin möglich war. "Ich hoffte auf ein paar gesellige Tage mit euch," gestand Gerrys den Freunden, "aber ich kann mich nicht aufhalten." "Du redest nur von dir," stellte Orales fest. "Ich meine auch nur mich," bestätigte Gerrys nachdrücklich. Der Mann aus Moras wollte etwas erwidern, doch Ariston hielt ihn mit einem raschen Blick davon ab. "Du solltest noch etwas schlafen, Gerrys," mahnte er. Der Falla dankte für das Verständnis und verließ die Freunde, um wirklich jetzt noch etwas Ruhe zu suchen. Ariston sah Orales an. "Du bleibst?" vergewisserte sich der Freund.
"Es hat wenig Sinn, jetzt mit Gerrys zu rechten," erklärte der Herrscher. "Er kann es nur nicht hindern, wenn wir denselben Weg nehmen. Seltsam," fügte er nachdenklich hinzu, "eben noch war es die wichtigste Sache für uns, daß ein anderer Than regieren wird und nun, nun ist das ohne Bedeutung. Geh schlafen, mein Freund." Und nachdem Orales ihn verließ, begab er sich in das Gasthaus seines Gefolges und erteilte den Männern seine Befehle. Sie würden früh am andern Tag bereit sein. Ariston Nodher sah einen Mann im Dunkel. "Wohin des Weges?" rief er ihn an. Es war schon ungewöhnlich, wenn um diese Stunde sich noch jemand im Garten aufhielt. Er näherte sich dem Wartenden. Als sie sich nahe genug standen, um trotz der Dunkelheit etwas zu sehen, ging der Hüne auf die Knie, doch noch ehe er den Boden berührte, hielt Ariston schon seine Schultern fest. "Rhagan, was treibst du?" Er kannte den Hünen, der seinem Sohn mehr als einmal beistand. Der Herrscher achtete diesen Mann ungeachtet seines geringen Standes. Rhagan beantwortete seine Frage umfassend und gab nach kurzem Zögern auch zu, nach Tibra geschickt zu haben. "Eine weise Entscheidung," lobte der König. "Gerrys wird Tibras Begleitung gern hinnehmen." "Ich hoffe es," gab Rhagan besorgt zu. "Der Falla wird auch Orales' und meine Gesellschaft ertragen," versprach Ariston lächelnd. "Und wenn du mit mir kommen willst, dann wird dich niemand hindern."
"Gebieter, ich sollte mich euch anschließen dürfen?" "Ich nähme deinen Dienst gern umfassend und beständig in Anspruch," gab Ariston fast heiter zu, "aber ich weiß wohl, daß du nicht von Gerrys' Seite weichen wirst. Und das wirst du auch in den kommenden Tagen nicht." Rhagan bedankte sich hocherfreut und was er nun für die Reise vorbereitete, das tat er in freudiger Erwartung trotz der kalten Jahreszeit.
N
ymardos verließ den Tempel. Im Garten warteten zwischen den Feuern seine Leute auf ihn und lauschten still dann seinen Worten, mit denen er ihnen das Nahen eines neuen Herrn kündete. Seine Stimme klang tragend und seine Worte wählte er mit Bedacht. Es gelang ihm wirklich, jede bedrückte Stimmung zu vertreiben und den Menschen Amarras freudige Erwartung zu vermitteln. Nur Caryll empfand diese Freude nicht. Da ging er zu ihm und ergriff kurz seine Hand. Ruhig sprach er: "Mein Amt endet, Freund, nicht das deine. Der Pala des Than auf Amarra wird weiterhin wirken." "Euch gehört mein Leben," murmelte Caryll unsicher. "Du wirst es ihm widmen," erwiderte Nymardos freundlich, "und es wird kein Verlust für dich sein. Sei unbesorgt. Hast du Seymas gesehen?" "Er hat den Tempel nicht verlassen, Herr." "Dann ist er oben auf dem Dach. Sende ihn zu mir, Caryll, ich will ihm allein sprechen." "Herr, wer ist es?"
Diese bange Frage bewegte nun viele Gemüter. Nymardos lächelte sacht. "Ich habe es euch allen gesagt: der neue Than ist erkannt von den Fallas, aber noch nicht erkannt im Leib. Er wird zu finden sein." Da er nun wieder zum Tempel ging, schickte Caryll einen Priester aufs Dach, um Seymas zum Than zu senden. Irritiert sah der junge Mann, daß sein Herr ihn nicht in seinen privaten Gemächern erwartete. Aber er hatte ihn gerufen und wollte ihn also sehen. Zum Haupttempel auf Amarra gehörte eine große Empfangshalle, in welcher der Than thronend offizielle Begegnungen abhielt. Die Halle besaß breite Eingangstore zum Garten hin und eine kleinere Tür, die in den Tempel führte. Durch diese Tür trat Seymas. Nymardos saß, noch immer in schillerndes Weiß gewandet, auf dem Thron. Seymas kam von der Seite her zu ihm, doch noch ehe er seinen Herrn erreichte, deutete dieser schon mit der Hand auf den Bereich unterhalb der Stufen, die seinen Thron etwas erhöhten. Seymas preßte die Lippen zusammen und gehorchte. "Unterwirf dich," forderte der Mächtige in sachlichem Tonfall. Seymas legte sich auf den Boden, breitete die Arme aus und wartete. Nymardos schwieg. Der junge Mann ertrug die Stille kaum. Tränen traten in seine Augen. "Herr, ich..." "Schweig," donnerte ihm Nymardos entgegen. Seymas zuckte wie unter einem Hieb zusammen und rührte sich nicht mehr. Der Than saß reglos und ließ keinen Blick von dem schlanken Körper. Nach mehr als einer Stunde erst
erhob er sich. Ganz langsam ging er die Stufen hinab, um dann vor Seymas stehen zu bleiben. "Auf die Knie," verlangte er mit unpersönlicher Stimme. Seymas gehorchte unverzüglich. "Schließe Rapport mit mir." Jetzt sah der junge Mann doch auf. "Warum, Herr?" Seine Stimme klang gequält. "Ihr habt meinen Geist immer erreichen können." "Gehorche." Das klang drohend und warnend zugleich. Von Nymardos ging nun eine spürbare Macht aus, die Seymas nie zuvor an ihm sah. Ihre Blicke trafen sich. Seymas öffnete seinen Geist ganz und fügte ihn in den Rapport ein, der, solange er bestand, eine zwingende geistige Verbindung bildete, die ein gegenseitiges Erreichen zu jeder Zeit ermöglichte. Nymardos ging wieder die Stufen hinauf und im Gehen spürte er, daß Seymas sich erheben wollte. "Wage es nicht, in meiner Gegenwart zu stehen," warnte er. Er setzte sich, wartete wieder und marterte den jungen Mann durch die Stille. Endlich sprach er. "Die Fallas haben einen stärkeren Geist erkannt. Aber es war nicht jeder starke Geist in dieser Stunde geöffnet und nur ein geöffneter Geist kann gefunden werden. Es kann kein Freund sein, der wünscht, daß ich die Bürde meines Amtes länger als notwendig trage. Du wirst Amarra verlassen." "Herr, bitte nicht."
Flehend sah Seymas seinen Gebieter an, doch der blieb unerbittlich. "Bis ich mein Amt übergebe, bin ich dein Herr und du wirst gehorchen," entschied er. "Ein schnelles Schiff wartet im Hafen. Es bringt dich nach Wyla, wo du im Tempel der Weisheit dienen wirst." Seymas warf sich wieder ganz zu Boden und weinte nun hemmungslos. Von allen Reichen war Wyla, das Land der Frauen, das einzige, in dem er gewiß nicht leben wollte. Aber das war nicht einmal wichtig. Er wurde aus Amarra verbannt und sein Herr entzog ihm gleichzeitig Zuneigung und Schutz. Er sollte den neuen Than nicht einmal sehen dürfen. Es war gut, wenn er nicht Zeuge sein mußte an dem Tag, an dem Nymardos sich demütigte. Aber es konnte nicht gut sein, den jetzigen Than auf immer verlieren zu müssen. Und doch gab es kein Wort dagegen. Seymas spürte die Ablehnung, die ihn nun traf und er wußte nur zu genau, wie wenig der Mächtige über seine Entscheidungen diskutierte. Nymardos erhob sich. "Gib mir den Kristall," befahl er. Seymas besaß seit Jahren einen Lebenden Kristall. Diese Steine, in denen sich ein menschlicher Geist zentrieren ließ, verströmten warmes Licht, wann immer ihr Träger es wollte. In den Reichen gab es nur zehn Stück davon. Vor Jahren erhielt Seymas diesen Kristall für Verdienste, die er sich in späteren Jahren um Amarra erwerben sollte. Ein solcher Lebender Kristall war eine unbezahlbare Kostbarkeit. Niemand konnte ihn kaufen. Er blieb immer nur eine Leihgabe des Than und durfte jederzeit zurück gefordert werden. Seymas verkrampfte sich. Der Stein selbst bedeutete ihm nicht viel. Er hatte ihn sich noch nicht verdient und darum nutzte er dessen Licht auch nicht. Aber indem Nymardos den Kristall nun forderte, löste er sich ganz von ihm. Seymas blieb liegen, aber er tastete nach der Falte
seines Gewandes, ergriff den Stein und hielt ihn auf ausgestreckter Hand. Nymardos trat noch einmal zu ihm. Da erhob sich der junge Mann auf die Knie und gab den Stein zurück. "Begib dich unverzüglich zum Hafen," befahl Nymardos ohne jede persönliche Beimengung. "Verabschiede dich von keinem Menschen. Du wirst mit keinem Menschen sprechen, bis ich es dir erlaube. Aus meinen Augen nun." Seymas ging rückwärts zum großen Tor. Flehend hielt er die Hände dem väterlichen Freund entgegen, der ihn nicht mehr kennen wollte. Er begriff nicht wirklich, was geschah, aber er ahnte, daß er Nymardos auf eine Art enttäuschte, die kein Vergeben kannte. Er schlüpfte durch das Tor ins Freie und wich im Garten allen Menschen aus. Trotz der Dunkelheit folgte er dem gewundenen Pfad zum Hafen hinab, wo er wirklich wartend einen Segler fand. Seymas ging an Bord. Niemand sprach ihn an. Als sich die Nebel hoben, glitt der Segler aus dem Hafen und führte Seymas seiner Verbannung zu.
E
s war noch dunkel, als Tibra sich dem Tempel näherte. Das letzte Stück des Weges zeigte ihm das Licht eines Flammenden Kristalles, der im Nebel leuchtete. Der Magier hielt inne. Vor dem Tempeltor standen Pferde, warteten Reiter. Die schemenhaften Gestalten verhielten sich schweigend. Einer der Reiter saß ab. Er trug den Flammenden Kristall und näherte sich, aber erst, als er sehr nahe bei Tibra stand, erkannte dieser seinen Herrscher. Die Jungen sagten ihm, daß der Falla ihn brauche und deshalb eilte er noch in der Nacht zum Tempel. Nun den König zu sehen, verwirrte ihn. Dann entsann er sich seines Standes und kniete nieder. "Steh auf," bat Ariston sofort. "Wenn Gerrys das sieht, wird er sich sehr wundern. Seine Freunde knien nicht vor mir." Tibra erhob sich. "Alle seine Freunde?" wollte er argwöhnisch wissen. Der Herrscher lächelte. "Ich versuche gerade, das Rhagan abzugewöhnen," meinte er leichthin. "Es ist gut, daß du hier bist." Tibra sah zu den Reitern. "Wo ist Gerrys?"
"Noch im Tempel." "Was ist geschehen, Gebieter? Man sagte mir, daß er mich braucht." "Er hat nicht nach dir gesandt," gab der König ruhig zu. "Das war Rhagans Idee und ich denke, es war ein guter Gedanke. In dieser Nacht empfing Gerrys das Bild Thyrians. Er ist wohl irgendwo in Sarai gefangen und er liegt im Sterben. Gerrys ist entschlossen, allein nach seinem früheren Chela zu suchen." Tibra näherte sich der Reitergruppe. "Ihr habt noch ein Pferd für mich?" wollte er wissen. "Natürlich," versprach Ariston. "Und einen Mantel? Es ist kalt und für eine weite Reise bin ich nicht ausgerüstet." "Es ist alles vorbereitet." Rhagan kam herbei und reichte Tibra ein Bündel. Der Magier lachte leise, als er es öffnete und ohne Umschweife begann, sich umzukleiden. "Ich dachte schon, es gäbe einen neuen Than," meinte er leichthin, "und diese Entdeckung würde Gerrys nicht gefallen." "Es gibt einen neuen Than," bestätigte Orales. "Und? Kennen wir ihn?" Orales grinste. Der Magier nahm die Sache von der heiteren Seite.
"Noch nicht," erwiderte er, "aber das wird sich ändern." "Hey," begriff Tibra erst jetzt, "das heißt ja dann wohl, daß der Than Nymardos abdanken wird." "Das scheint dir zu gefallen," wunderte sich Ariston laut. "Gerrys meint, ihm gefällt es," schob Tibra jeden schuldbewußten Gedanken weit von sich. "Und, nun ja, mir gefällt es jetzt auch. Ich dachte, es geht mich nichts an. Ich habe mich geirrt." "Inwieweit?" Orales konnte folgen. "Es betrifft dich nicht."
dem
Gedankengang nicht
"Falsch, Pala," gab ihm Tibra den Titel seines Amtes in Nodher, "denn wenn ich mich nicht sehr irre, dann wird Nymardos künftig sehr viel Zeit hier verbringen und ich glaube, ich fange an, mich auf ein Wiedersehen zu freuen." Da öffnete sich das innere Tempeltor ein Stück weit und Gerrys trat in Reisekleidung ins Freie. Er erwartete ein gesatteltes Pferd und fand nun zehn Reiter, die ihn schweigend ansahen. Sein Lebender Kristall übertraf den Flammenden Stein des Herrschers an Leuchtkraft, als er ihm nun die Fülle des Lichtes entlockte. Die Gardisten verhielten sich abwartend. Rhagan senkte schuldbewußt den Kopf. Ariston und Orales lächelten ihm verlegen zu. Einzig Tibra überspielte die Situation, indem er sich einfach in den Sattel schwang und Gerrys fragte: "Wohin?" Der Falla stieg in den Sattel und ritt an. "Freisa," sagte er nur.
"Ah ja, also geradeaus und am nächsten Baum links," grinste Tibra. Nun lächelte Gerrys doch, wandte den Kopf und sah seine Gefährten an. "Ich wollte keinem von euch diese Reise zumuten," gab er zu. "Ich habe keine Zeit zu verlieren und werde, so möglich, bei Tag wie bei Nacht reiten. Ich kann auf niemanden Rücksicht nehmen." Ariston wollte ein beruhigendes Wort sagen, doch Tibra kam ihm zuvor, indem er zum Herrscher sagte: "Das hieß soviel wie 'vielen Dank'. Gerrys drückt sich manchmal etwas seltsam aus, Gebieter." Sie ritten schnell, zu schnell, um sich viel zu unterhalten. Gerrys gönnte weder den Menschen noch den Tieren eine Rast und forderte das letzte an Kraft. Auf dem halben Weg zwischen der Hafenstadt Nurs und Raakis Tempel lag eine große Sajik-Plantage nahe des Tylt. Man brauchte einen ganzen Tag, um die Plantage zu erreichen. Die Reitergruppe war schon am frühen Nachmittag von den Rebstöcken umgeben. Ariston drängte sein Pferd neben Gerrys. "Du willst weiter?" stellte er fest. "Ich hatte nicht die Absicht, auf der Plantage zu rasten," erwiderte Gerrys im Ritt. "Allein der Umweg zu den Häuser kostet uns mehr als eine Stunde." "Die Pferde sind erschöpft." "Die Männer auch, ich weiß es, Ariston."
Ariston griff ihm in die Zügel und zwang ihn so, im Ritt einzuhalten. Die Tiere schnaubten müde. "Laß uns die Pferde wechseln," schlug der Herrscher vor. "Die Zeit, die wir damit verlieren, gewinnen wir mit neuen Tieren. Du bist doch sonst nicht so unbesonnen, Gerrys." Gerrys riß den Zügel herum, lenkte sein Tier aber doch zu den Häusern der Plantage. Er ritt nun langsamer. "Es ist gut, dich dabei zu haben," meinte er endlich. "In mir ist ein Drängen zur Eile, das ich so nicht kenne. Aber Eile ohne Überlegung bringt nicht zum Ziel." Tibra kannte die Plantage. Manches Mal war er auf dem Tylt gewesen, dem Berg der Götter und der Legenden. Dann rastete er hier. Die Plantage war Tempelbesitz und wer hier arbeitete, stand in Gerrys' Dienst. So war ihnen allen eine kurze Rast gegönnt, während die Arbeiter sich um die erschöpften Pferde kümmerten und neue Reittiere sattelten. Sie lagerten beim Brunnen, nur Rhagan ging ins Haupthaus hinein. Er blieb nicht lange und als er das Haus wieder verließ, da wirkte er sehr erregt. Ariston reichte Tibra ein Stück Fladenbrot, als er Rhagan sah. "Sie haben wohl gestritten," vermutete er ganz richtig. Tibra folgte seinem Blick. In der Tür der Haupthauses erschien jetzt der Verwalter, der dort verharrte. "Kaum zu glauben, daß sie Brüder sind," gab Tibra zu. "Attor verwaltet die Plantage seit Jahren. Er hatte wahrlich Zeit, in Gerrys nicht nur den Bruder, sondern auch einen Freund zu finden. Der Falla ist alles andere als unnahbar." "Mag sein, aber er ist ein Priester und Attor mag die Priester nicht. Du kennst die Geschichte?"
"Ich hörte davon, daß Attor ein verwaistes Tempelkind als sein eigenes anerkannte und nicht zugeben wollte, daß das Mädchen den Tempeln gehört." "Er hat wohl nie einen Menschen außer Maike wirklich geliebt," bestätigte Ariston. "Nur, um sie nicht zu verlieren, wurde er Verwalter hier. Gerrys sagte mir, daß Maike inzwischen im Tempel des Friedens lebt und die Weihen begehrt. Attor ist verbittert, weil sie ihn verließ." "Kein Grund, deshalb Rhagan zu kränken," stellte Tibra fest. "Er sollte froh sein, daß Rhagan ihn liebt und ihm die Treue hält." "Du weißt, daß Rhagan als Sklave Tharas geboren wurde? Attor erhielt ihn dort und sie zogen zusammen drei Jahre durch die Reiche. Attor verdiente sein Brot als Kopfjäger. Sie haben viele Abenteuer gemeinsam bestanden. Das verbindet." Rhagan setzte sich in ihre Nähe, ergriff Brot und Trank. "Die Pferde sind gleich soweit," versprach er kauend. "Attor will mitkommen." Gerrys sah nicht einmal auf. "Nein," entschied er, als sei damit alles gesagt. Tibra stand auf und setzte sich nahe zu Rhagan. "Betrübt dich das?" wollte er wissen. "Nicht wirklich," gab Rhagan unumwunden zu. "Attor ist bequem geworden und würde die Anstrengungen nicht einfach ertragen. Außerdem, nun ja, Herr, sein Mißtrauen und seine schlechte Laune würden uns alle belasten." Er lächelte etwas unbeholfen. "So, wie eure Fröhlichkeit uns
alles erleichtert," hinzu.
fügte
er
dann
mit unsicherer Stimme
Arbeiter brachten die gesattelten Pferde herbei und da der Falla sich sofort in den Sattel schwang, taten sie es ihm alle nach. Sie ritten über den freien Platz. Attor stand noch immer unter der Tür, folgte ihnen mit sehnsüchtigem Blick. Dann rief er: "Rha, nimm mich mit." Niemand sah sich nach ihm um, nur Rhagan zuckte bei diesem Ruf etwas zusammen. Die Sklaven auf Thara trugen wie überall in den Reichen einsilbige Namen zum Zeichen ihren geringen Standes. Dieser Ruf weckte in Rhagan schmerzhafte Erinnerungen an eine Zeit, in der er Rha hieß und an sich selbst nie in der ersten Person zu denken vermochte. Tibra zog etwas am Zügel, sein Pferd wurde langsamer. "Was ist?" rief ihm Ariston zu. "Nichts weiter, Gebieter," antwortete der Magier. "Ich komme euch nach." Er ritt ein Stück zurück und glitt aus dem Sattel. Sein Blick fraß sich an Attor fest, der ihn kommen ließ. Vor Jahren hatte Attor gemeinsam mit Rhagan seine Schwester Erynia auf die kleine Insel Silsa begleitet, wo sie an einem Magiertreffen teilnehmen wollte. Erynia liebte Gerrys, seit jener Zeit auch Tibra. Ihn lehnte sie in aller Offenheit ab und ließ ihn durchaus spüren, daß er zwar ihr Bruder, aber ansonsten ein Fremder für sie war. Dann kam Gerrys nach Silsa und Erynia und Tibra begleiteten ihn nach Khyon auf den Tempelberg, wo sie gemeinsam gegen Kräfte der Magie kämpften. Attor ärgerte sich immer darüber, daß dieser Magier so leicht die Freundschaft des Bruders gewann. Auch Rhagan sprach bei seinen Besuchen seither viel von Tibra, den er sehr achtete. Aber Attor erschien es,
als nähme ihm dieser Magier die Freundschaft des Hünen und beraube ihn. Tibra stand jetzt ganz dicht vor Attor. Sie waren etwa gleich groß. Tibra war zehn Jahre jünger, etwas geschmeidiger und schlanker. Doch sie waren sich ebenbürtige Gegner, zumindest dem Äußeren nach. "Wie hast du ihn genannt?" erkundigte sich der Magier mit gefährlich freundlicher Stimme. "Was geht's euch an?" fauchte Attor. "Er gehört mir." "Dir gehören Prügel, mehr nicht," berichtigte ihn Tibra fast heiter. Attor trat einen halben Schritt zurück. "Ich schlage mich mit keinem Mann der Macht," wehrte er ab. Tibra grinste böse. "Wann hast du dir das abgewöhnt?" forschte er spöttisch. "Als man dich selbst bei deinem letzten Versuch hierbei auf Jahre versklavte? Aber das ist kein Problem, wirklich nicht." Er zog ein Band aus seinem Gewand und flocht es in ruhiger Geste ins Haar, bis sich dieses fest gebunden zeigte. "Und leg deinen Dolch ab," verlangte er. "Ich ziehe keine Waffe bei einem Faustkampf," murrte Attor unbehaglich. Tibra schien noch immer sehr freundlich, zu freundlich. "Es wäre nicht das erste Mal, daß du unfair wirst," erinnerte er Attor an einen längst vergangenen Kampf mit Gerrys. "Die Waffe weg!"
Aber auch er nahm das Messer vom Gürtel und warf es fast achtlos zu Boden. Arbeiter standen schon um sie herum und beobachteten das Geschehen. Attor sah sich in die Enge getrieben. Er verwaltete diese Plantage, gab den Leuten Anweisungen. Wenn er nun als feige erschien, würden sie ihm jede Achtung verweigern. Da ließ auch er das Messer fallen. Tibra lachte leise, drehte sich um und ging ein paar Schritte auf den freien Platz hinaus. Während er noch ging, hechtete ihn Attor von hinten an, riß ihn zu Boden. Wütend hieb er zu. Tibra zog die Knie an, stieß ihn mit den Füßen von sich und kam auf die Beine. Sie schlugen sich voller Zorn. Tibra zeigte sich Attor nun doch an Stärke überlegen. Er steckte die Hiebe ein und gab sie mit doppelter Kraft zurück. Attor warf sich ihm erneut entgegen, sie fielen zu Boden und rangen weiter. Attor kam über Tibra, kniete auf dessen Achseln. Ihre Blicke kreuzten sich. Da erkannte Gerrys' Bruder, daß er diesen Mann nicht bezwingen konnte. Der Magier blutete aus dem Mundwinkel, aber sein Atem ging regelmäßig und sein Gemüt war nicht einmal erregt. Attors Faust umschloß einen Stein. Jetzt wollte er nicht mehr siegen, jetzt wollte er töten. Er hob die Hand, um den Stein in Tibras Gesicht zu schmettern. Tibra sah es. Er hatte es geradezu erwartet, denn dies war Attors Art, auf aussichtslose Situationen zu reagieren. Sein Blick hielt Gerrys' Bruder fest. Der Stein in Attors Hand besaß das Gewicht eines Berges, die Kälte Tharas und die Schärfe des Feuersteins. Er fraß sich förmlich in Attors Hand, zerschnitt deren Haut. Blut tropfte zu Boden. Attor stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, als er den Stein fallen ließ. Tibra schob ihn einfach beiseite und erhob sich. Er wischte den feuchten Staub von seinen Kleidern, holte sein Messer und steckte es an den Gürtel. Attor saß noch immer am Boden und umklammerte seine eigene Hand. Tibra grinste ihn frech an.
"Ein Magier kann einen Stein sehr viel leichter manipulieren als ein Messer," erklärte er höhnisch, während er das Band aus seinem Haar zerrte. Attor starrte ihn argwöhnisch an. "Warum?" wollte er wissen. "Was ist an Rhagan, daß jeder ihn mir vorzieht?" Tibra neigte sich ihm zu, als er fast heiter antwortete: "Das wirst du wohl nie verstehen. Das sind Dinge wie Treue, Großmut, Aufrichtigkeit, Tapferkeit und Edelmut. Wenn du des Schreibens kundig bist, dann notiere diese Worte, lerne sie auswendig und versuche, ihren Sinn zu verstehen." Er richtete sich auf. "Rhagan wird dich nicht mehr besuchen." Attor sprang auf. "Das könnt ihr ihm nicht verbieten," rief er. "Er kommt nicht mehr," beharrte Tibra. Dann ging er zu seinem Pferd, sprang in den Sattel und galoppierte den Gefährten nach. Attor starrte ihm mit verwundertem Sinn und schmerzender Hand nach und verwünschte seinen Griff nach dem Stein. Ariston hatte immer wieder gelauscht und sorgte sich um den Magier. Als er nun das Nahen des Pferdes hörte, atmete er unmerklich auf. Tibra hielt sich neben ihm und so sah der Herrscher die aufgesprungene Lippe. "War das nötig?" wollte er wissen. "Nein," gab Tibra heiter zu, "aber es hat gut getan. Wo ist eigentlich euer Erbe, Gebieter?"
Ariston freute sich insgeheim darüber, daß ihm der Magier ohne alle Scheu begegnete und das lag nicht nur daran, daß Gerrys diesen Mann liebte. Tibra verbreitete eine gelöste Stimmung, wie der Herrscher dies sonst nur von dem jungen Priester Seymas kannte. Diese Stimmung würde ihre Reise gestalten, er wußte es. Und er täuschte sich auch nicht in Tibra, den er keineswegs für machtlos oder unbedacht hielt. So gab er ihm gern Auskunft. Die Nebel sanken und Gerrys ritt im Schein seines Kristalles weiter. Die Gardisten hielten Fackeln. Doch kein Licht vermochte es, die dichten Nebelschleier zu durchdringen. Sie mußten langsam reiten und die zunehmende Kälte ertragen. Orales hielt sich lange bei den Soldaten, die solche Art des Reisens nicht kannten. Aber die Männer murrten nicht. Wenn ihr König und dessen Pala es für richtig hielten, dann mußte es eben so sein. Sie durchquerten einen kleinen Wald, der so licht blieb, daß Ariston sein Pferd neben Gerrys lenken konnte. "Es ist genug," riet der Herrscher. Gerrys sah ihn an, fand aber nicht dessen Augen, sondern nur den Schemen seines Gesichtes im Nebel. "Du willst rasten," stellte er fest. Der König erwartete einen zumindest kurzen Wortwechsel, doch zu seiner Überraschung zügelte Gerrys das Tier und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Wortlos nahm er das Gepäck vom Rücken des Pferdes, sattelte es ab und rieb dessen schweißnasses Fell mit der Decke. Die Männer sahen erfreut, daß ihnen eine Pause vergönnt war und schlugen das kleine Lager auf. Einer der Gardisten nahm Gerrys das Pferd ab. In der Kälte der Nacht mußten die Tiere eine Möglichkeit haben, sich gegenseitig durch Nähe zu wärmen. Sie entfachten ein Feuer und bereiteten heißen Tee.
Die Gardisten des Königs wurden laut und schimpften auf Rhagan. Ariston kam rasch näher. "Was gibt es?" wollte er wissen. "Verzeiht, Gebieter," antwortete sein Teju Mirkyn, "aber der Bursche hat unser Gepäck vertauscht." Rhagan senkte schuldbewußt den Kopf. "Der Bursche," sagte Ariston da nachdrücklich, "hat einen Namen und ist ein treuer Gefährte, kein Diener." "Aber die Zelte sind weg," wehrte sich Mirkyn. Auf Reisen führten die Männer stets Zelte aus dichtem Tuch mit sich. Bei einem Aufenthalt war es ihre erste Pflicht, dem Herrscher zur Bequemlichkeit ein solches Zelt zu errichten. Rhagan warf sich vor seinem König auf die Knie und hob den Blick. Tibra schlenderte wie zufällig herbei und meinte zu Ariston: "Wolltet ihr ihm das nicht abgewöhnen?" Die Situation entspannte sich sofort. Rhagan auf, verlangte aber eine Erklärung.
Der König hob
"Herr," sagte der Hüne aufrichtig, "große Zelte wärmen nicht." "Das mag schon sein," brummte Mirkyn, "aber du hast nicht einmal Lederplanen zum Ersatz eingepackt. Was hattest du an unserem Gepäck zu schaffen?" "Der Falla gab mir den Auftrag, alles für die Reise zu bereiten," antwortete Rhagan mit fester Stimme.
"Er hätte einen besseren Mann beauftragen sollen," murrte einer der Soldaten. Gerrys saß bei dem ganzen Wortwechsel ruhig am Feuer und mischte sich nicht ein. Auch jetzt erhob er sich nicht, sondern sagte nur: "Es gibt keinen Besseren." "Das denke ich auch," stimmte Rhagan selbstbewußt zu. "Zelte benutzen Reisende in der warmen Zeit. In der kalten Zeit nimmt man Lederplanen. Aber auf Thara ist diese Zeit viel kälter als hier und man erfriert in den Bergen leicht, auch wenn man diesen Schutz hat." "Und was benutzen Tharas Leute?" erkundigte sich Ariston. Rhagan deutete auf den Boden, wo das Gepäck lag. "Das sind gefütterte Lederrollen. Man kann hineinschlüpfen und wenn man sie richtig aufbaut, dann sind sie auch dicht." "Zeige es," bat der König interessiert und dann schaute er Rhagan zu, wie er das Gewirr aus Haken und Ösen und Bändern zu einem Ganzen verband, das am Ende wie eine winzige Wohnröhre aussah. "Dann hilf nun bitte meinen Männern beim Aufbau," entschied er. "Und wenn sie nicht gelehrige Schüler sind, laß es mich wissen." Rhagan grinste. Er zeigte den Gardisten, wie diese Höhlen zu errichten waren und er freute sich, als der Teju sich später ungeschickt mit ein paar Worten bei ihm entschuldigte. Sie brauchten Ruhe, aber da Gerrys' Eile während der Reise keine Unterhaltung duldete, sprachen sie jetzt am Feuer noch ein wenig miteinander. Tibra stellte viele Fragen nach dem Geschehen der vergangenen Nacht, nach
Thyrian und auch nach Ilkonys. Er ließ sich von Gerrys Thyrians Bild mehrfach beschreiben. "Was denkst du?" wollte der Falla "Welche Krankheit streckt Thyrian nieder?"
endlich
wissen.
Tibra starrte mißmutig ins Feuer, als er langsam antwortete: "Er ist nicht krank. Krankheit kann ein Mensch niederzwingen. Thyrian war zumindest in Khyon nicht der Mann, der sich aufgab - oder einen anderen. Wenn das Bild, das du empfangen hast, der Wirklichkeit entspricht, dann leidet er an Auszehrung." "Er stirbt," murmelte Gerrys düster. "Er verdurstet." präzisierte Tibra, "Aber warum rief er dich, Gerrys? Es wird doch auch in Sarai Priester geben, die er gut genug kennt, um sie zu erreichen. Weshalb du?" "Er war mein Chela." "Das ist fünf Jahre her," wehrte Tibra ab. "Ein anderer Mann hat ihn danach in Sarai geleitet. Du sagtest doch, daß er noch eine Weihe erhielt. Weshalb also du?" "Ich weiß es nicht," gestand Gerrys ein. "Er hat mich erreicht und darum muß ich ihm helfen. Das Warum ist nicht wichtig. Das ändert nichts an den Tatsachen." "Für mich schon," widersprach Tibra, aber er erklärte seine Gedanken nicht, sondern kroch nun in seine Schlafrolle und suchte die Ruhe. Noch vor dem ersten Schrei des Morgenvogels saßen sie alle wieder im Sattel. Gerrys bestimmte weiterhin das Tempo und verweigerte jede Rast, bis am Mittag endlich Nurs in Sicht kam und sie nun ein Schiff finden mußten, das sie nach
Toga brachte. Drei Handelsschiffe lagen im Hafen, doch befand sich deren Besatzung nicht an Bord und ein solches Schiff war auch nicht auf die Schnelle reisefertig. Ariston entschied sich für einen schlanken Segler. Das Schiff gehörte einem Pecha, der derzeit nicht in Nurs weilte. So hinterließ der Herrscher eine Nachricht beim Hafenmeister und beschlagnahmte kurzerhand den Segler. Eile war geboten. Der Küstenwind versprach noch eine schnelle Fahrt, aber wenn sie zögerten, mußten sie bis zum andern Tag warten. Bei Nacht wagte sich niemand aufs Meer hinaus. Sie ließen die Pferde, nicht aber ihr Gepäck zurück und gingen an Bord.
I
lkonys ärgerte sich zunächst darüber, daß er die Küste noch immer nicht erreichen konnte, doch fand er mit seinen Leuten auf einem einsamen Gehöft so gastliche Aufnahme, daß er seinen Unwillen vergaß und bis lange in die Nacht hinein mit seinen Gastgebern plauderte. Sie wußten nicht, daß die Reisenden aus Nodher einen Prinzen mit sich führten und da Ilkonys sich nicht zu erkennen gab, wurde es ein heiterer Abend; fast schon ein Fest für alle Beteiligten. Von dort aus war es nicht mehr weit bis Toga. Sie hatten endlich die Hafenstadt erreicht und hörten die Brandung des Meeres. "Jetzt brauchen wir nur noch ein Schiff, das uns nach Hause bringt," freute sich der Prinz. "Was meinst du, Grardas, wollen wir uns zuvor irgendwo erfrischen?" "Ihr seid der Gebieter," wehrte der Teju ab. "Dann suchen wir zuerst ein Schiff," entschied Nodhers Erbe und sprengte dem Hafen zu. Fassungslos sah er den Segler, der das Banner Nodhers trug. Er hatte nicht erwarten können, hier ein Schiff der Heimat
zu sehen und er nahm an, daß ihm dies die Heimreise gern gestattete. Während seine Männer die Pferde verkauften, handelte er den Preis für die Überfahrt aus. "Ihr habt Glück," meinte der Kapitän dabei, "daß mein Herrscher mir nicht befahl, auf ihn zu warten." Ilkonys schnellte förmlich vom Stuhl auf. "Ariston Nodher ist hier?" vergewisserte er sich hastig. "Beim ersten Schrei des Morgenvogels gingen er und sein kleines Gefolge von Bord," bejahte der Seemann. "Wer ist bei ihm?" "Was gehts euch an?" Ilkonys lachte schallend. Der Mann wußte nicht, mit wem er sprach und der Prinz hatte nicht die Zeit, es ihm zu erklären. Er verließ den Segler. "Grardas!" Der Teju kam rasch gelaufen. "Die Pferde sind zu gutem Preis verkauft," berichtete er. "Dann kauft Neue," befahl Ilkonys fröhlich. "Ihr wollt noch einmal durch Sarai?" Ungläubig starrte der Soldat seinen Herrn an, entsann sich dann seines Standes und eilte, um den Befehl zu befolgen. Ilkonys schwang sich wenig später in den Sattel. Die fragenden Blicke seiner Männer erheiterten ihn. Er wollte sie nicht im Unklaren über seine Absichten lassen.
"Unser Herr und Gebieter hat heute Sarai betreten," erklärte er. "Sie können noch nicht weit sein. Vater hat nur wenige Männer bei sich. Ich halte es für einen guten Gedanken, ihm sicheres Geleit zu geben. Kommt ihr mit?" Er lachte fröhlich. Das war zwar eine Frage, aber die Männer besaßen keine Wahl. Sie mußten bei ihm bleiben und wenn er wieder quer durch Sarai ritt, so war es ihre Pflicht, bei ihm zu sein. Für die Gardisten war es jedoch keine unangenehme Pflicht. Während der ganzen Reise verhielt sich der Prinz nie herrisch oder herablassend und behandelte sie wie gute Kameraden. Sie begleiteten ihn gern und die Aussicht, nun auch ihrem König dienen zu können, gefiel ihnen sehr. Sie fragten in der Stadt nach dem Weg der Reisegruppe aus Nodher. Um diese Jahreszeit fiel jeder Reisende auf und wurde von unzähligen Augen verfolgt. Man wies ihnen den Weg und als sie Toga verließen, hatten sie seit langem wieder ein festes Ziel für ihre Reise. Die Spur des Vaters war im feuchten Grasland nicht zu übersehen, doch Ilkonys wunderte sich sehr über dessen Eile. Am Nachmittag erst erkannten sie den Reitertrupp vor sich. Eine letzte Kraftanstrengung der Pferde war nötig, um den Vater endlich einzuholen. Ariston zügelte mit hartem Ruck sein Tier und sprang aus dem Sattel. Noch ehe er etwas sagen konnte, war Ilkonys schon heran und warf sich in die Arme des Vaters. Auch Gerrys hatte sein Tier gezügelt, sah nun die freudige Begrüßung der beiden und atmete auf, da er nun jeden Überlegens ob Ilkonys enthoben war. Dann ritt er wieder an. "Gerrys!" Ariston rief es mit lauter Stimme. "Eine kleine Rast ist nicht zuviel verlangt." Der Falla ritt weiter. Betreten schwiegen die Soldaten. Orales fluchte leise. "Holt ihn zurück," befahl Ariston seinen Männern.
"Nein," mischte sich da Tibra ein. Ariston hob die Hand und die Soldaten warteten. "Nodhers Erben wohlbehalten zu sehen ist eine große Freude," fuhr Tibra nachdrücklich fort, "doch er ist nicht der Anlaß unserer Reise. Verzeiht, Gebieter, doch Gerrys muß weiter." "Er muß? Es kommt auf eine Stunde nicht an," schimpfte Ariston. Tibra blieb gelassen. "Ihr irrt," widersprach er mit fester Stimme, "jeder Augenblick zählt." Er wandte sich an Ilkonys. "Ihr seid sein Freund, Prinz. Reitet ihm nach." "Worum geht es hier überhaupt?" wunderte sich Nodhers Erbe. Er spürte nur, daß der Vater jetzt Gerrys zürnte und daß Tibras unverblümte Aufforderung ihm den Ausgang des Zwistes auferlegte. Sein Blick glitt über die Gesichter der Männer. Dann zuckte er nachgebend mit den Schultern, schwang sich in den Sattel und ritt hinter Gerrys her. Tibra lächelte befriedigt. Ilkonys holte Gerrys ein, ritt in schnellem Lauf neben dem Falla. Sie sahen sich an. Der Prinz strahlte seine ganze Wiedersehensfreude aus. "Vergib mir," bat ihn der Falla. "Ich kann mich nicht aufhalten." Im galoppierenden Laufen der Pferde war kein Gespräch möglich. Gerrys mußte seine Worte laut rufen. Ilkonys hielt die Zügel fester. "Dann weiter," rief er zurück und trieb das Pferd an.
Die Nebel sanken und Gerrys ritt immer noch weiter. Ilkonys wunderte sich sehr, hielt sich aber an der Seite des Falla und ließ diesen die Geschwindigkeit bestimmen. Sie wurden langsamer, doch es gab keine Rast. "Gerrys, sag' doch was," bat Ilkonys endlich. "Du bist müde?" "Ja," gab der Prinz zu, "und wie. Aber es geht schon noch. Wenn man nur etwas sehen könnte." "Laß die Zügel locker," riet der Falla. "Die Pferde finden den Weg allein besser." "Warum hast du es denn so eilig?" "Irgendwo da draußen stirbt ein Mann," erklärte Gerrys knapp. "Ich hoffe, ich kann es verhindern." Irgendwann strauchelte eines der Pferde und warf seinen Reiter ab. Mann und Tier erhoben sich unverletzt, doch nun erlaubte Gerrys für den Rest der Nacht eine Rast. Sie befanden sich in weitem Grasland, nirgendwo zeigte sich Feuerholz. So aßen sie schweigend beim Schein der Kristalle und tranken kaltes Wasser. Zwischen Ariston und Gerrys herrschte eine spürbare Spannung, die jede Plauderei verbot. Tibra beobachtete die beiden Männer kopfschüttelnd und wunderte sich über deren Verhalten. "Ihr benehmt euch wie Kinder," stellte er schließlich in der Stille der Nacht fest. Ariston fuhr herum und hieb ihm ungewollt und impulsiv die Faust ins Gesicht. Gerrys wollte sich einmischen, aber Orales ergriff rasch seine Hand und hinderte ihn so.
"Ist euch jetzt wohler," erkundigte sich Tibra, während er sein Kinn rieb. Ariston starrte auf die Hand, die den Hieb führte. Ilkonys tastete nach ihr und hielt sie mit bittender Geste fest. Da der König schwieg, erhob sich Tibra, suchte seine Schlafrolle und legte sich hin. Sie sahen das befriedigte Lächeln nicht, das um seine Lippen spielte, als sie das Gespräch aufnahmen. "Er ist mein Freund," murmelte Gerrys düster. "Es tut mir leid," gab Ariston zu. "Ich wollte ihn nicht schlagen. So wenig, wie ich dich heute bedrängen wollte, Gerrys. Ich hoffte nur auf etwas Zeit, um mit meinem Sohn reden zu können." "Jetzt ist doch Zeit," mischte sich Ilkonys ein. "Ich habe euch so viel zu erzählen." "Weshalb bist du nicht im Tempel?" wollte nun Orales wissen. Ilkonys berichtete ausführlich von seiner Reise durch Sarai und dem Tag, an dem er Thyrian fand. Er erzählte, wie er danach tagelang versuchte, den Priester zu finden und endlich bereit war, die Heimreise anzutreten. "Ich hoffe nur, Thyrian hat Sarai verlassen können," schloß er. "Nun muß ich doch nach Amarra gehen und ihn dort um Leitung bitten." "Thyrian stirbt," gestand Gerrys. Ilkonys hörte schweigend und aufmerksam nun dem Bericht des Fallas zu. Ariston hielt den Arm um den Sohn gelegt und spürte dessen tiefe Sorge.
"Vater," bat der Prinz, "wir müssen ihn finden." Der Herrscher hielt ihn fester. "Wir versuchen es," versprach er, aber da war Ilkonys schon in seinem Arm eingeschlafen.
L
ängst hatte Delaros das Haus seines Vaters erreicht und wurde dort mit Festen und Feiern empfangen. Sie langweilte ihn immer noch, diese unermüdliche Fülle der Ablenkung und Zerstreuung, mit der König Wharhan ihn zwar erfreuen wollte, ihn aber letztlich an der Erfüllung seiner Aufgaben hinderte. Ein paar Tage hindurch ließ Delaros es geschehen, fügte er sich ein und gab in allem nach. Dann wehrte er sich. Er schlug die Einladung zum kameradschaftlichen Spiel in der großen Halle aus und während man ihn dort vergeblich erwartete, ließ er die Rittmeister der Burg zu sich kommen, um aus ihnen seinen Lehrer zu wählen. Er entschied sich für einen alten, umsichtigen Mann, dessen Dienstjahre eigentlich endeten, der aber hochgeehrt durch das Vertrauen des Prinzen weiter in der Burg verblieb. Sie verbrachten einige Stunden in den Stallungen. An diesem Tag saß Delaros noch nicht auf, aber er erwählte bereits das Pferd, das er zunächst als Reittier nehmen wollte. Dann wurde er zum König gerufen. Delaros nickte grimmig. Er wußte, daß eine unerfreuliche Aussprache folgen sollte, aber er war gewillt, dies durchzustehen. Wharhan empfing ihn in der großen Halle, aber er verzichtete wenigstens auf die Gegenwart von Mächtigen und Ratgebern. "Du nimmst nicht mehr an den Geselligkeiten teil," stellte der Herrscher vorwurfsvoll fest. "Ich bin zu beschäftigt, um nur zu spielen," erwiderte Delaros mit fester Stimme.
Wharhan war die Veränderung des Sohnes nicht entgangen, der seit seiner Rückkehr entschlossener und selbstsicherer erschien. Jetzt horchte er auf. "Beschäftigt womit?" wollte er wissen. "Ich habe mir soeben einen Reitlehrer erwählt," gab Delaros fast heiter zu. "Und morgen werde ich mir Mitarbeiter erwählen, denen mein Wort etwas gilt." "Ich gab dir genügend Männer." "Deine Männer!" fuhr ihn Delaros an. Wharhan erschrak fast bei diesem Wutausbruch des Sohnes. Erstaunt sah er ihn an und forschte: "Was hat dich auf deiner Reise so verändert?" Delaros lächelte grimmig. "Die Begegnung mit zwei Männern," gab er zu. "Der eine war Nodhers Erbe." "Nodhers Erbe auf Sarai? Warum weiß ich das nicht? Man muß ihn mit Ehren empfangen. Ich hoffe, du hast wenigstens dafür Sorge getragen." "Das habe ich nicht," wehrte Delaros ab. "Ich habe mich eine Stunde mit dem jungen Mann unterhalten und ihn dann ziehen lassen. Ich habe einiges von ihm gelernt, mehr, als er selbst ahnen mag." "Nun ja, er soll etwas hochmütig sein," erinnerte sich Wharhan so mancher Erzählung, "aber er weiß, was er will. Wer war der andere Mann, dem du begegnet bist?" "Der Pecha Xymenar."
"Xymenar?" Wharhan faßte es nicht. "Du hast dich nicht gescheut, mit einem Wagen bei Xymenar einzutreffen? Ganz Sarai wird über dich lachen." "Xymenar lacht nicht," wehrte Delaros ruhig ab. "Er ist nicht so, wie du ihn geschildert hast, Vater." "Du bist ihm hoffentlich mit Achtung begegnet." Delaros lachte leise und entsann sich der Stunde, in der er Xymenar zu Boden und damit zu völliger Unterwerfung zwang. "Ich ihm?" vergewisserte er sich. "Nicht er mir? Ich bin Sarais Erbe und sein Herr. Er schuldet mir Respekt, nicht umgekehrt." "Xymenar erweist niemandem unverdient Respekt," behauptete Wharhan. "Unterschätze diesen Mann nicht, Delaros. Das halbe Land hört auf sein Wort. Es ist wichtig, daß du dich gut mit ihm stellst." "Er nannte mich einen Feigling," grinste Delaros, dem es sehr gefiel, daß der Vater den Pecha so hoch einschätzte. "Dann hast du dich wie ein solcher benommen," urteilte der König hart. "Er meinte den Wagen dabei, nicht wahr?" "Er meinte Thyrian," widersprach Delaros mit harter Stimme. "Bis zu ihm ist die Kunde des Verrats schon gedrungen? Hast du vor Xymenar gejammert, weil du ihn jagen läßt? So töricht kann mein Sohn nicht sein." "Er hatte einen prachtvollen Schimmel," erinnerte sich Delaros an das edle Tier. "Es war das beste Pferd, das ich je gesehen habe. Schneller als jeder Hengst in deinem Stall
ist dieser Schimmel, feuriger und lebendiger als jedes andere Pferd. Er ließ ihn frei. Er hat dieses Tier aufgegeben, nur, um Thyrian nicht darauf jagen zu müssen. Und er bestand darauf, daß Thyrian den Wert dieses Schimmels übersteigt." "Du sprichst nicht von Xymenar?" "Nur von ihm," versicherte Delaros. "Der Pecha hat mein Wort erhalten. Ich gebe Thyrian frei. Ich habe schon alles vorbereitet. Boten werden es in jeder Stadt des Landes verkünden. Thyrian steht unter meinem Schutz. Wer ihm einen Dienst erweist, erweist mir einen Gefallen." König Wharhan starrte den Sohn sprachlos an. Delaros wirkte so selbstbewußt und überzeugt, wie er sich den Erben Sarais nur wünschen konnte. Wenn er jetzt noch reiten könnte, wäre er ein richtiger Mann. Wharhan empfand ein Gefühl des Stolzes. Delaros hatte sich einen Reitlehrer erwählt, er würde dieses letzte Manko ausgleichen. Das Schicksal Thyrians interessierte den Herrscher nicht. Sein einziger Wunsch galt einem starken Erben und nun zeigte sich Delaros stark genug, um ihm zu trotzen. Das gefiel dem Herrscher. Der Erbe des Reiches registrierte erfreut das Nachgeben des Vaters. Er spürte, daß er nun endlich nach Hause fand.
N
ach nur wenigen Stunden der Ruhe rüsteten Nodhers Männer schon wieder zum Aufbruch. Tibra wollte eben aufsteigen, doch da der König ihn nun anrief, wandte er sich um und wartete, bis Ariston nahe bei ihm war. Dann berührte er mit einem Knie den Boden und legte die Rechte auf die Brust. Der Herrscher sah es mit Unbehagen. Er suchte noch nach Worten, als Tibra bemerkte: "Wenn ihr mich jetzt nicht aufhebt, werfe ich mich ganz nieder."
Ariston griff nach seinen Schultern und der Magier erhob sich. "Ich bitte dich um Vergebung für den unverdienten Hieb," sagte er König mit fester Stimme. "Ich bedauere meine Tat sehr." Tibra grinste. "Ich weiß es, Gebieter," gab er zu. "Aber irgendwie mußte ich das Gespräch ja in Gang setzen. Danke." "Wofür?" staunte der Herrscher. "Für die offenen Worte," erklärte der Magier gelassen. "Ich weiß nun, daß ihr eure Macht überwinden könnt und wenn ich je wieder das Gefühl habe, euch von etwas überzeugen zu müssen, suche ich mir einen weniger schmerzhaften Weg dazu aus." Gerrys ritt schon an und so folgte ihm Tibra nach. Ilkonys hielt sich zu Nodhers Herrscher. "Vater," staunte er, "du hast dich bei Tibra entschuldigt." "Gewiß." "Alle haben es gehört. Warum hast du das getan?" "Weil ich im Unrecht war, mein Sohn." "Aber - du bist der König!" Ariston sah seinen Sohn ernst an, als er ruhigen Gemütes erwiderte: "Ja, Ilkonys, jetzt bin ich es wieder. Bis zu diesem Moment war ich nur ein Tyrann."
Nodhers Erbe ließ den Magier nicht mehr aus den Augen an diesem Tag. Er kannte ihn nur flüchtig, wußte jedoch, daß Gerrys ihn liebte und allein das wertete ihn schon in den Augen des Prinzen auf. Es war Tibra, der dafür sorgte, daß Rhagan nie allein reiten mußte und sich wie ein gleichwertiger Gefährte fühlen konnte. Ilkonys sah es staunend. Rhagan mochte er sehr und wer dem Hünen gegenüber sich freundlich verhielt, der stieg in des Prinzen Achtung. Als die Pferde ermüdeten und Gerrys deshalb viel langsamer ritt, lenkte Ilkonys sein Pferd an Tibras Seite. "Ihr seid recht frech," stellte der Prinz fest. "Es ist keine Schande, sich vor dem König zu demütigen." "War das nun eine Kränkung oder ein Kompliment?" erkundigte sich der Magier heiter. "Wohl letzteres, da ihr mir eine zu ehrende Anrede gewährt." "Man duzt nur Untergebene und Freunde," murrte Ilkonys. "Auf euch trifft wohl beides nicht zu." "Und das ist euch unangenehm? Dann ändert es, Prinz." "Geht nicht," wehrte Ilkonys ab. "Gerrys würde es mir verübeln." Tibra lachte leise. "Nur den Untergebenen," meinte er leichthin und trieb sein Pferd zu schnellerer Gangart an. Es herrschte schon völlige Dunkelheit, als Gerrys endlich sein Tier zügelte und aus dem Sattel glitt. Die erschöpften Männer begrüßten freudig die Rast und wollten absatteln. "Wartet," hielt sie Gerrys zurück.
Ariston trat zu ihm. "Ich bitte dich," sagte er eindringlich, "gib ihnen etwas Ruhe. Wir sind alle müde." "Ein Stück kann ich schon noch," versprach Ilkonys. "Ich habe Angst um Thyrian." Orales legte ihm tröstend den Arm um die Schultern. Tibra hob den Kopf und lauschte. "Ich denke, heute Nacht haben wir ein warmes Lager," vermutete er dann. "Da vorne ist eine Stadt." Gerrys nickte. "Das ist Freisa," erklärte er, "ihr werdet wohl nicht vor der Stadt im Freien übernachten wollen." Die Aussicht auf warme Speisen und einen heißen Trank, auf ein prasselndes Feuer und ein gemütliches Nachtlager trieb sie voran. Gerrys besaß bisher weder Auge noch Ohr für seine Gefährten. Erst hier, in der Herberge, sah er ihre Erschöpfung. Er setzte sich zeitweilig an die Tische der Soldaten und dankte ihnen für ihre Ausdauer und ihren Beistand. Rhagan saß bei Grardas und wie diese Männer, so empfand auch er den Dank des Fallas als Auszeichnung. Die Männer legten sich bald nieder. Orales, Ariston, Ilkonys, Tibra und Gerrys allein wachten noch. "Freisa haben wir erreicht," stellte Orales fest. "Aber wie kann ein Mensch inmitten einer Stadt verdursten? Wo ist Thyrian?" Gerrys sah ihn mit wehem Blick an. Er wußte es nicht. Seit jener Stunde der Lichtwende gab es keinen Kontakt mehr zu dem Priester, obwohl er ihn verzweifelt im Geist suchte.
"Er wurde bestimmt gefangen genommen," überlegte Ilkonys. "Morgen suchen wir, ob es hier einen Kerker gibt." "Es gibt keinen," entdeckte Tibra, "ich habe den Wirt schon gefragt. Er erzählte übrigens auch, daß Priester schon nach Thyrian hier gesucht haben und ihn nicht finden konnten. Ich denke, Amarra wollte unsere Suche unterstützen. Jetzt vermute ich, daß Thyrian gar nicht hier ist. Freisa war nur eine ungefähre Ortsangabe. Wir hören uns morgen um und werden erfahren, wohin er sich von hier aus wandte. Und wir sollten die Zeit nutzen, um wieder zu Kräften zu kommen." Da gaben sie ihm nach und legten sich zur Ruhe. Der Schlaf kam rasch zu jedem von ihnen. Noch ehe sich die Nebel hoben, weckte der Magier Ariston. Der Herrscher hatte Mühe, zu erwachen. "Seid leise," bat Tibra, "die andern schlafen noch. Ich will mich nur gleich um Pferde kümmern. Unsere Tiere sind nicht mehr brauchbar. Vertraut mir bitte euren Beutel an." Im Halbschlaf schob ihm Ariston seinen gefüllten Beutel zu. Als Tibra die Herberge verließ, schlief er schon wieder tief und fest. Tibra ging zu den öffentlichen Stallungen des Ortes. Dort wurde schon gearbeitet. Tibra erwartete nicht, hier sonderlich edle Tiere zu finden. Aber dann sah er einen Schecken in einer Einzelbox, der eines Königs würdig war. Als er nach dem Tier fragte, wurde er unwirsch abgewiesen. Der Stallmeister war nicht bereit, über dieses Pferd auch nur zu reden. Da gab Tibra zunächst nach und sprach von den eigenen Pferden. Der Stallmeister nahm die Tiere des Reitertrupps zwar in Zahlung, doch forderte er einen hohen Preis für den Ersatz. Tibra handelte mit ihm unnachgiebig und gerade dadurch wurde der Mann zugänglich. Nachdem
das Geschäft getätigt wurde, betrachtete Tibra den Schecken wieder. "Nicht zu kaufen," rief ihm der Stallmeister zu. "Ein edles Tier," stellte Tibra fest, "aber sicher nicht unbezahlbar. Wem gehört es?" "Pecha Xymenar. Wenn es etwas wärmer ist, bringen wir ihm den Schecken zurück. Der Pecha verkauft so ein Tier nicht." "Er versteht wohl nicht viel von Pferden," behauptete Tibra. Der Magier erkannte durchaus, daß der Stallmeister diesen Pecha sehr hoch einschätze und er wußte, daß seine Worte für einen Mann in Sarai eine Beleidigung darstellten. Er hatte immerhin sein Ziel schon erreicht; der Stallmeister sprach offen mit ihm und würde sicherlich auch auf Fragen nach Thyrian antworten. Der Stallmeister reagierte in der erwarteten Form. Er beschimpfte Tibra für seine falsche Meinung und lobte Xymenar über die Maßen. Der Magier grinste. "Wenn der Pecha wirklich soviel von Pferden versteht, weshalb duldet er dann, daß dieser Schecke so lange in einem Stall dieser Art untergebracht ist? Das Tier gehört auf eine Koppel." Der Stallmeister stimmte ihm sofort zu. Nun erzählte er unaufgefordert davon, daß vor Tagen ein Mann auf diesem Schecken kam und berichtete, wie dieser Fremde als ein Feind des Volkes entlarvt und von Bewaffneten des Königs zur nahen Festung geschleift wurde. Tibra hatte es plötzlich sehr eilig. Er stellte ein paar hastige Fragen nach der Festung und gab dann dem Stallmeister einige zusätzliche Solare und hieß ihn, die Pferde aufzusatteln.
Im Laufschritt eilte er dann zur Herberge und schlug polternd die Tür auf. Er riß den Männern die Decken weg, stieß den noch schlafenden König in die Seite und zerrte Gerrys vom Boden hoch. "Wir haben ihn," triumpfierte er. "Beeilt euch, Leute, die Pferde warten schon." Plötzlich waren sie alle hellwach. Der Wirt jammerte, weil sie auf ein Frühmahl verzichteten, zeigte sich dann aber doch befriedigt, als Gerrys ihn entlohnte. Tibra warf Ariston dessen Beutel zu, was ihm einen erstaunten Blick des Prinzen eintrug. Sie eilten zu den Ställen und duldeten es, daß Tibra jetzt Tempo und Richtung bestimmte, ohne sein Drängen zu erklären. Am Mittag erreichten sie die kleine Festung. Das gemauerte Gebäude mochte fünfzig oder sechzig Soldaten beherbergen, war gut befestigt und besaß vor allem ein fest verschlossenes Tor. Ein paar einsame Bäume wuchsen abseits. Dort zügelten sie ihre Pferde und saßen ab. "Und nun?" Ilkonys starrte zu dem Gebäude hinüber, das allein in der weiten Ebene die Steppe zu beherrschen schien. "Sarai hat einen Gefangenen und wird den sicher nicht an Nodher ausliefern. Er hat Delaros bedroht." "Versuchen wir es zumindest," entschied Ariston. "Kleidet euch um, damit wir nicht länger wie einfache Reisende erscheinen." Dieser Aufgabe waren zumindest Rhagan und Tibra enthoben. Dem Magier erschienen die Männer fast fremd, als sie bald wie Soldaten und nicht mehr wie Gefährten aussahen. "Das kann Probleme mit Sarai bringen," warnte Orales. "Wir haben hier keinerlei Rechte."
"Er klärt das soeben," vermutete Ariston und deutete auf Gerrys, der sich weit von der Gruppe entfernte. Der Falla hatte sich schon in das Gewand seines Amtes gehüllt, lehnte sich jetzt gegen einen Baum und suchte die Verbindung. Sehr schnell kam der ersehnte Kontakt zustande. Dem mächtigen Freund auf Amarra übermittelte er das Bild der Festung und die Hoffnung, darin Thyrian noch lebend zu finden. "Nicht Nodher fordert den Gefangenen. Amarra tut es. Sarai wird sich fügen müssen. Also fürchte keine Gewalt, die du anwenden mußt." "Wenn sie sich weigern, ist die Übermacht zu groß," entdeckte Gerrys. "Handle rasch," empfing er den Rat des Freundes. "Du wirst einen Weg finden." Gerrys war sich dessen nicht so sicher, aber er ging neben Ariston den anderen voran zum Tor und pochte. Eine Luke öffnete sich. "Was wollt ihr?" fragte unfreundlich ein Soldat. "Ihr habt einen Gefangenen hier, der Amarra gehört," erwiderte Gerrys mit fester Stimme. "Also öffnet das Tor und übergebt uns den Mann." "Es gibt keine Gefangenen hier," behauptete der Soldat und schloß die Luke. Sie pochten wieder, aber niemand öffnete mehr. Fragend sahen sich die Freunde an. Gerrys fürchtete, zu spät gekommen zu sein.
"Gebieter," durchbrach Tibra die lähmende Stille, "tretet bitte beiseite." "Was hast du vor?" Der Magier hielt das Zeichen in der Hand, das ihm Nymardos in Khyon gab. Dieser klar geschliffene Amethystanhänger trug eingraviert den Siebenstern, Amarras Zeichen, und in dessen Mitte in einer Vertiefung einen kostbaren Opal. Tibra lächelte sinnierend. "Er sagte, daß das Ding mir alle Türen öffnen wird." "Er meinte keine Festungstore," warnte Gerrys, der spürte, wie der Magier einen Entschluß faßte. "Er sagte, es gibt keine Ausnahmen," beharrte Tibra. "Aber ich werde ein wenig nachhelfen müssen. Kannst du das Licht deines Steines lenken?" "Was meinst du?" Ariston trat langsam beiseite. Gerrys stand noch neben dem Tor und Tibra wenige Schritte davor. "Ich brauche eine gewaltige Kraft," erklärte der Magier. "In deinem Lebenden Kristall ist genug davon. Gib mir sein Licht, aber nicht als verströmenden Schein, sondern lenke es auf den Opal wie einen Pfeil." "Ich weiß nicht, ob ich das kann," gab Gerrys zu. Das Licht gehorchte seinem Geist, der im Kristall zentriert wurde. Er konnte seine Intensität durchaus bestimmen. Aber was Tibra verlangte, das hatte er nie versucht. "Probier es einfach aus," schlug der Freund vor.
Gerrys konzentrierte sich. Sein Kristall pulsierte, als atme er. Das Licht verströmte und kehrte zurück, um gleich danach wieder in kleinerem Umkreis zu leuchten und zu verströmen. Tibra wartete. Er stemmte sich förmlich gegen die Erde und hielt den handtellergroßen Amethysten mit beiden Händen fest. "Jetzt!" rief er. Das Licht schoß wie ein Pfeil aus dem Lebenden Kristall des Fallas, traf den kleinen Opal und wurde von diesem umgelenkt auf das Tor zu, wo es wie ein feuriges Geschoß einschlug. Es gab einen gewaltigen Knall und das Tor brach entzwei. Tibra stieß den Atem laut hörbar aus. Bewaffnete kamen gelaufen. Orales zerrte Gerrys beiseite. Nodhers Männer zogen die Säbel. Ein Mann ging ein paar Schritte auf sie zu. "Ich bin Vronas, Teju dieser Festung," rief er laut mit erhobenem Säbel. "Wie kann Nodher es wagen, Sarai anzugreifen? Ergebt euch, oder ihr seid des Todes." Tibra hatte sich keinen Schritt bewegt. Nun kam er Ariston mit der Antwort zuvor: "Mann," rief er, "bist du von Sinnen? Glaubst du fester zu sein als dein Tor? Das Feuer der Magie kann auch dich verzehren." Aus der bloßen Hand schleuderte er zur Unterstreichung seiner Worte eine Flamme in Richtung des Teju, die jedoch erlosch, noch ehe sie den Mann erreichte. Der sprang trotzdem einen gewaltigen Schritt zurück. Sarais Soldaten schienen erst jetzt zu begreifen, daß ihr starkes Tor zerbrach. Sie wurden unsicher. Sie mußten die Gunst der Stunde nützen und durften sich keine Schwäche zeigen. Ilkonys überwand seine Vorsicht. Er ging mit raschem Schritt zu Vronas und entwaffnete ihn, stieß ihn in Richtung seiner
Leute. Grardas reagierte schnell. Noch ehe Sarais Männer etwas unternahmen, war ihr Führer schon in Nodhers Gewalt. "Zeig uns den Kerker," verlangte Ariston von dem Gefangenen. "Und ihr," rief er Sarais Männern zu, "geht in eure Quartiere." Sie zogen sich tatsächlich zurück. Tibra atmete auf, Gerrys entspannte sich. Mit einem so leichten Sieg hatten sie nicht rechnen können, nicht einmal darauf hoffen dürfen. Vronas führte sie in die Festung. Gerrys ging neben Tibra, der den Amethysten wieder unter dem Gewand trug. "Das mit dem Öffnen der Tore war anders gemeint," sagte der Falla. "Gut, daß ich das nicht wußte," erwiderte Tibra grinsend. Sie sahen sich an. Gerrys begriff den Scherz des Magiers und lachte leise. Tibra hätte wohl jeden glänzenden Gegenstand benutzen können. Er fragte aber nicht, wie Tibra sein Werk tat. Es war ihm genug, daß der Freund seine Macht beherrschte. Ein langer schmaler Gang war ihr Ziel. Viele schwere Holztüren führten hier zu den kleinen, engen Kerkerzellen. Stroh bedeckte den Gang und die Zellen. Sie ließen jede Tür öffnen, doch wirklich fanden sich hier keine Gefangenen. "Ich sagte doch, daß niemand hier ist," schimpfte Vronas. "Zur Lichtwende wurde der letzte Gefangene in Freiheit entlassen." Sie bedrängten den Mann mit Fragen, doch er konnte ihnen nichts anderes sagen und wußte auch nichts von Thyrian. Sie gingen zur Wachstube zurück.
"Es ist in Sarai Sitte, zur Lichtwende harmlose Gefangene zu entlassen," erklärte er. "Ich kam mit meinen Männern an diesem Tag zur Ablösung und wir haben die Kerker geöffnet. Was wollt ihr also noch hier?" Gerrys wußte, daß er die Wahrheit sprach, denn er hatte seinen Geist berührt. Er ging noch einmal zu den Kerkers und suchte nach einer Spur des Lebens, doch er fand nichts, das ihm Hoffnung gab. Als er zu seinen Kameraden kam, wirkte er hoffnungslos und müde. "Es war alles vergeblich," murmelte er aufgebend. "Da unten ist kein Leben zu finden." Tibra saß auf dem Tisch und hielt den Kopf auf die Faust gestützt. Er grübelte. Vronas stand gebunden zwischen Mirkyn und Grardas und hoffte, die Eindringlinge würden endlich gehen. Nodhers Männer hielten Wache, während Orales und Ariston leise beratschlagten. Ilkonys kämpfte mit aufsteigenden Tränen, da er nun Thyrian verloren wußte. Tibra stand auf und verließ sie. "Was tun wir nun?" wollte Ariston wissen. "Wir verlassen Sarai wieder," erwiderte Gerrys mit gequälter Stimme. "Ich wüßte nicht, wo wir jetzt noch suchen könnten." "Wen habt ihr denn gesucht?" wollte Vronas da wissen. Orales gab ihm Antwort: "Einen Priester, der den Namen Thyrian trägt." "Den Mann, der den Erben unseres Reiches bedrohte?" Auch Vronas wußte von dieser Tat. "Prinz Delaros wollte ihn lebend haben und wenn er gefangen wurde, dann ist er auf dem Weg zur Burg."
Da ertönte Tibras lauter Ruf aus dem Kerkergang und sie eilten zu ihrem Gefährten, der sie ganz am anderen Ende erwartete. "Ihr Priester," meinte er fast fröhlich zu Gerrys, "seid gewohnt, das Leben zu finden. Ein Magier kennt den Geruch des Todes. Schau her." Er schob mit dem Fuß das Stroh beiseite. Im Licht der Kristalle wurde die Falltür sichtbar. Orales und Rhagan wuchteten gemeinsam das schwere Holz beiseite. Gerrys kniete an dem dunklen Loch nieder, doch sein Kristall vermochte nicht, die Dunkelheit bis zum Grund zu durchdringen. "Das ist tief," vermutete er. "Ich wußte gar nicht, daß das da ist," murmelte Vronas betreten. Ilkonys beschloß, ein Seil zu suchen. Ariston gab seinen Leuten einen Wink und sie lösten die Fessel des Teju der Festung, erlaubten ihm jedoch nicht, zu gehen. "Steckt die Waffen ein," schlug Vronas da vor. "Ich bekämpfe und hindere euch nicht." Ilkonys brachte ein starkes Seil, dessen Ende Gerrys hastig ergriff. Es waren keine Worte nötig. In stillem Einverständnis ließen Rhagan und Orales den Falla gemeinsam in das Erdloch hinunter. Sein Lebender Kristall leuchtete die tiefe Grube aus. Nun erkannten sie auch von oben den ausgemergelten Köper, den Gerrys eben erreichte. "Gerrys," flehte Ilkonys, "sag doch was. Lebt er noch?" "Er lebt," kam die dumpf klingende Antwort. "Aber wir sind zu spät gekommen. Thyrians Geist ist unerreichbar. Der Tod hat ihn fest umschlungen. Holt uns hoch."
Er hob den Körper des Priesters an und dessen Leichtigkeit erschreckte ihn. Mühelos vermochte er ihn zu halten, während Rhagan und Orales sie beide nach oben zogen. Ariston nahm Thyrian an sich, während Tibra dem Falla aus der Öffnung half. Sie betteten den Sterbenden auf das Lager, das sich in der Wachstube fand. "Geht hinaus," verlangte Gerrys. Schweigend ließen sie ihn mit Thyrian allein. Gerrys sah nie zuvor einen so ausgemergelten Körper und ein solch grausames Sterben. Er fühlte sich entsetzlich ohnmächtig und es lag keine Hoffnung in seinem Handeln, als er ein Tuch befeuchtete und damit Thyrians ausgetrockenetes Gesicht abwischte. Da wurde er mit fast schmerzhafter Gewalt in die rapportähnliche Verbindung gezwungen, die er sofort ohne Widerstreben geschehen ließ. Nur auf diese Weise konnte Nymardos wissen, was er sah, aber zugleich mußte er auch fühlen, was er empfand. "Verzweiflung ist niemals sinnvoll," empfing er den Tadel. "Thyrian leidet nicht mehr und empfindet keine Schmerzen. Sein Körper ist ihm fremd geworden." "Er stirbt." "Er stirbt seit langem, Gerrys. Viel zu lange schon. Halte ihn auf." Gerrys zuckte zusammen und verlor die Verbindung, die er jedoch rasch wieder aufleben ließ. "Was kann ich tun? Mesa?" Einst, als er vor Jahren dem Sterben nahe war, nahm er Mesablüte, deren Gift ihn am Leben wie am Sterben
hinderte und so die Möglichkeit schuf, daß man ihn nach Amarra bringen konnte, wo Nymardos ihn zu retten vermochte. "Mesa tötet," begriff er die Ablehnung. "Du hast es nur überlebt, weil du von Raakis Kraft umgeben warst. Thyrian ist nicht auf göttlichen Ebenen." "Ich kann seinen Geist nicht erreichen. Ich kann nichts mehr für ihn tun." "Bitte Tibra um Hilfe. Er weiß einen Weg. Aber er weiß wohl nicht, daß er es weiß. Hilf ihm." Der Kontakt erlosch so rasch, wie er entstand. Gerrys begriff nicht, was der mächtige Freund auf Amarra von ihm wollte. Doch er rief leise nach Tibra. Der Magier kam sofort, schloß die Tür hinter sich und widmete sich Thyrians Leib. "Das ist übel," stellte er fest. "Wäre das Erdloch etwas weniger feucht, hätte seine Qual längst ein Ende." "Nymardos glaubt, du kannst ihm helfen," offenbarte Gerrys. "Er überschätzt meine Kraft," wehrte Tibra düster ab. "Niemand holt ihn ins Leben zurück." "Das Leben ist Sache der Priester, hast du gesagt," erinnerte ihn der Falla. "Der Tod ist Sache der Magie." "Ich habe einmal für deinen Than getötet," schimpfte Tibra leise. "Ich werde es nicht wieder tun. Thyrian hat keine Schmerzen mehr und braucht keine Hilfe beim Sterben. Laß ihn gehen." "Das darf ich nicht. Ich muß ihn aufhalten."
"Das verlangt dein Than?" Skeptisch musterte Tibra den Freund. "Was sollte das helfen?" "Ich weiß es nicht," gab Gerrys hilflos zu. "Wenn wir Thyrians Sterben hinauszögern können, bis wir Amarra erreichen, dann gibt es vielleicht einen Weg." "Amarra ist weit, Gerrys, viel zu weit." "Und wenn es näher wäre?" "Vergiß es, Gerrys. Du verlangst zuviel." Trotzdem griff Tibra nach dem Krug Wasser, schüttete etwas davon in seine Hand und mischte ein weißes Pulver unter, um dann einen Finger in dieses Gemisch zu tauchen und damit Thyrians Lippen und Mundinnenraum sacht zu bestreichen. "Was ist das?" wollte Gerrys leise wissen. "Keine Magie," wehrte Tibra ab, "nur Steinpulver. Gut für jeden, der lange gedürstet hat. Nicht mehr als eine hilflose Geste. Ich wüßte nicht, was ich für diesen Mann tun könnte." "Du sollst ihn nur am Sterben hindern." Tibra schüttelte den Kopf. "Der Tod ist das Recht jeden Lebens," beharrte er. "Nur ein Schurke würde versuchen, dieses Recht zu nehmen." Gerrys griff nach seiner Hand. "Bitte, tue es," drängte er. Tibra schüttelte ihn ab.
"Hast du nie Miska gesehen?" fuhr er den Freund an. "Einen Körper ohne Geist, der motorische Arbeiten ausführen kann, aber nicht fühlen, denken oder hoffen. Willst du ihm das antun? Niemand kann Miska überwinden und wenn er in diesem Zustand ist, dann holt ihn keiner mehr zurück. Willst du das?" Gerrys schüttelte langsam den Kopf. Das konnte er nicht wollen und das konnte auch Nymardos nicht gemeint haben. "Ein Geist, der danach seinen Körper wieder gewinnen will, müßte stärker sein als jeder Geist, der mir bisher begegnet ist," trotzte Tibra weiter. "Viel stärker, Gerrys. Nicht einmal dein Than würde das schaffen." "Es muß einen anderen Weg geben," hoffte Gerrys. "Nymardos sagt, du weißt eine Möglichkeit tief in dir. Bitte, Tibra, in dir muß ein Wissen sein, das dir selbst verborgen ist. Suche es." Der Magier starrte ihn aus großen Augen an. Ganz langsam fragte er dann: "Ist es möglich, daß Nymardos auf Khyon eine Verbindung zu meinem Geist schuf, die mir entgangen ist?" "Möglich schon," gab Gerrys erstaunt zu, "aber ich glaube nicht, daß er das tat. Er achtet die Freiheit des menschlichen Geistes zu sehr, um hier bloße Macht auszuüben. Warum fragst du?" Tibra winkte ab und sann nach. "Ich will es wissen," entschied er dann. "Also frag ihn, Gerrys. Und dann sage mir, ob ich frei bin. Und ob ich mich irre."
Nach diesen Worten ging er hinaus und ließ den verwirrten Freund zurück. Der Falla öffnete sich der Verbindung nach Amarra. "Tibras Lösung wäre Miska für Thyrian," entdeckte er. "Diese Lösung gefällt ihm nicht." "Warum handelt er nicht in seiner Macht?" "Er will eine Antwort." "Er will zwei," kam der Widerspruch. "Die erste lautet Ja und die zweite heißt Nein. Wie kommt es, daß ein Magier einen Falla zu übertreffen vermag - und einen Than?" Nymardos schien erheitert. "Eile, mein Freund, damit ihr alle bald den Hafen erreicht." Tibra nahm die Nachricht mit einer Mischung aus Erleichterung und Heiterkeit hin und Gerrys sah erfreut, daß der Magier sich nicht weiter weigerte, sein Werk zu tun. "Du hast auf eine Frage zwei Antworten erhalten," wunderte sich Gerrys. "Welche der beiden hat dich denn umgestimmt?" Tibra grinste fröhlich, während Utensilien seines Bündel kramte.
er
in
den magischen
"Es waren zwei Fragen," meinte er vergnügt, "und beide Antworten waren richtig. Eine ohne die andere hätte mich nicht überzeugen können. Und jetzt verschwinde hier, Gerrys, und halte mir jeden Störer fern." Da ging der Falla hinaus und wartete vor der Tür. Als Tibra später die Gefährten einließ, da atmete Thyrians Leib flach, doch regelmäßig.
Ilkonys sah es erfreut und wollte Tibra mit Dankesworten überschütten, doch Orales beugte sich über den schwachen Leib und richtete sich dann abrupt wieder auf. "Miska," entfuhr es ihm. "Das ist schlimmer als der Tod."
D
ie Menschen auf dem Segler wußten wohl, daß Seymas das Reden verboten war, denn niemand sprach ihn an oder schenkte ihm Beachtung. Sie sahen wie durch ihn hindurch. Kam er in ihre Nähe, verstummten die Gespräche. Seymas fühlte sich einsam und verzweifelt. Fast durchgehend blieb er in seiner kleinen Kabine. Anfangs hatte er sich noch sehnende Gedanken nach Nymardos erlaubt, die aber durch den bestehenden Rapport stets in einen ungewollten Ruf ausarteten, für den er im Geist hart getadelt wurde. Er wußte es nun. Das Verbot, mit einem Menschen zu sprechen, galt sehr umfassend. Es war ihm auch untersagt, eine geistige Verbindung zu knüpfen und er mußte sich in bewußtem Akt mit seinen Gedanken beschäftigen, denen kein freies Wehen erlaubt war. Der Segler glitt unglaublich schnell an Moras' Küste entlang. Die Kälte erstaunte Seymas, der die kalten Nebel nur aus Berichten kannte. Das kahle Land schien ihm wie ein Hinweis auf sein kommendes Leben, das genauso trostlos und leer verlaufen mußte. Er weinte nicht mehr, sondern ergab sich in sein Schicksal, ohne auch nur zu ahnen, wodurch er sich die Zuneigung des Than verscherzte. Das Schiff nahm eine Kurskorrektur vor. Er sah es, aber er schenkte dem keine Beachtung. Nach Wyla führten viele Wege.
P
lötzlich wichen die Gefährten Tibra voll Scheu aus. Miska war die entsetzlichste Tat, die starke Magier vollbringen konnten und nur wenige waren überhaupt fähig, dies zu tun. Gerrys stellte sich schützend zu seinem Freund,
doch seine Worte überwanden nicht die entstandene Kluft. "Laß es gut sein," mahnte Tibra, "die erste Antwort war die Tat. Die zweite wird die Sache regeln. Vergiß nicht, wir müssen zum Hafen." "Amarra will ihn noch immer haben?" wunderte sich Orales. "So ist es," bestätigte Gerrys, "und es ist immer noch Eile geboten. Es tut mir leid, aber ich muß euch wieder durch die Kälte hetzen." Sie wollten die Festung verlassen, doch nun stellte sich ihnen Vronas doch in den Weg. Sarais Erbe verlangte diesen Mann und da er irgendwie doch am Leben war, sollte er ihn auch bekommen. Ein offener Kampf mit diesem Magier erschien dem Soldaten zu gefährlich. Mit Nodhers Männern konnte er es durch die Überzahl an Waffenleuten jederzeit aufnehmen. Als sie die Wachstube verließen, hieb einer von Sarais Männern Tibra einen schweren Gegenstand über den Schädel. Der Magier sank bewußtlos zu Boden und nun war Nodher kein Gegner mehr. Die blanken Waffen drohten ein Blutbad an. In diesem Augenblick sprengte ein Reiter durch das geborstete Tor. Vronas gab seinen Männern ein Zeichen, mit dem Angriff noch zu warten. "Was willst du?" herrschte er den Reiter ein. "Ich bringe Botschaft unseres Herrn," rief der. "Er läßt im ganzen Land verkünden, daß Thyrian frei sein soll und ihm jede Hilfe widerfahren muß, derer er bedarf." Er sprang aus dem Sattel. "Gewährt mir Quartier. Morgen reite ich weiter." Vronas ließ den Säbel sinken. Verlegen berührte er vor Ariston mit einem Knie den Boden. "Das konnte ich nicht wissen," murmelte er.
"Schon gut, Mann," verzieh ihm der Herrscher. "Halte uns nun nicht weiter auf." In einer ähnlichen Situation würde er von jedem seiner Leute dasselbe Verhalten erwarten. Vronas verhielt sich korrekt, als er sie bedrohte. Es gab nichts dazu zu sagen. Sie gingen zu den Pferden. Orales trug Thyrians Leib mit sich. Keiner achtete auf Tibra. Nur Gerrys kniete bei dem Bewußtlosen. Da kam Rhagan zu ihm. "Ich nehme ihn, Herr," versprach er und hob Tibra auf. Er hielt ihn vor sich im Sattel, bis dessen leises Stöhnen entdeckte, daß er erwachte. Rhagan zügelte sein Pferd. Tibra grinste ihn schief an und tastete nach der Beule an seinem Kopf. Er hatte Schmerzen, aber er war durchaus in der Lage, selbst zu reiten. Rhagan blieb neben ihm. "Das nehmen sie dir übel," warnte Tibra. "Nicht der Falla," vermutete Rhagan. "Nein, der sicher nicht," gab Tibra zu. "Aber die andern tun es." Rhagan blieb trotzdem. Nach einiger Zeit sagte er: "Ich werde es ohnehin nicht verstehen, Herr, was ihr getan habt. Miska ist schlimm. Der König sagte zu seinem Pala, daß nur die übelsten Magier sich für so etwas hergeben. Ich fürchte, er bedroht euch." "Seine Meinung über Magier, die Miska schaffen, ist durchaus richtig," versicherte Tibra mit ernster Stimme. "Aber danke für die Warnung, Rhagan. Ich werde mich vorsehen." "Könnt ihr es rückgängig machen?"
"Vermutlich nicht," gab Tibra zu. "Miska ist ein Zustand, der sich sehr schnell verfestigt. Wäre Thyrian gesund, dann könnte man ihm noch so zwei, drei Tage lang vielleicht helfen. Danach ist es ein Zustand auf immer. Außerdem würde es ihn töten." "Aber Miska ist ein Tod," murmelte Rhagan düster. "Trotzdem reitest du neben mir," stellte Tibra fest. "Gerrys sagte doch, daß der Than es befahl. Jeder beugt sich seinem Willen. Es ist nicht gerecht, wenn sie euch deshalb mit Verachtung strafen." Ilkonys rief nach Rhagan, um ihn aus dem Bannkreis des Magiers zu ziehen. Doch der Hüne hielt nur die Zügel fester und blieb. Ilkonys rief nochmals. "Du solltest Nodhers Erben gehorchen," riet ihm Tibra da. "Wir gewinnen beide nichts, wenn er zornig wird." Rhagan warf ihm einen traurigen Blick zu, aber er lenkte sein Pferd nun an die Seite des Prinzen. Sie waren wieder gezwungen, im Freien zu übernachten und nun fehlte ihnen ein wärmender Schutz vor der Kälte der Nacht. Niemand fragte nach Tibra. Sie bargen Thyrians Leib in dessen Schlafrolle und duldeten nicht, daß sich der Magier dem Miska näherte. Der Magier kam nicht zu ihrem Feuer, sondern entfachte einige Schritte entfernt die Flammen und bereitete sich ein Mahl. Gerrys geriet in heftigen Wortwechsel mit seinen Freunden, als er für Tibras Wirken um Verständnis bat. "Genug nun," herrschte ihn Ariston an. "Ich will nichts weiter darüber hören. Auf Tibras Handeln steht der Tod und er kann froh sein, daß ich ihn nicht mit meiner Klinge durchbohrte."
"Amarra war einverstanden," beharrte der Falla. "Es war wider jedes Gesetz. Das Einverständnis Amarras rettet ihm das Leben, aber es entschuldigt ihn nicht. Er wird Nodher nie wieder betreten." "Er ist mein Freund." "Das ändert nichts, Gerrys. Und nun bitte nicht weiter für ihn. Ich will nicht, daß auch wir uns entzweien." Der Falla atmete tief durch. Mit Ariston war in dieser Stimmung wirklich nicht zu reden und wem er sein Reich öffnete, das entschied er allein. Gerrys erhob sich und ging zu dem kleinen Feuer des Freundes. "Du hast alles gehört?" "Es war laut genug," bestätigte der Magier. "Und nun?" Tibra legte Holz nach und zog seine Decke enger an sich. "Und nun solltest du etwas besonnener sein," riet er, "und dich nicht mit deinem König überwerfen. Was Amarra begann, das soll auch Amarra beenden, meinst du nicht?" "Und ich soll schweigend die Verachtung ertragen, die dir begegnet?" "Genau dies, mein Freund. Wenn du Ariston weiter herausforderst, werde ich euch nicht einmal bis Toga begleiten können. Mir liegt wenig daran, in Sarai zu bleiben." "Nun gut. Aber was soll in dieser Nacht geschehen?" Tibra grinste im Schein des niederbrennenden Feuers.
"Ich werde nicht erfrieren," versprach er. "Ich gehe ein wenig in die Dunkelheit und werde mich dann mit einem Erdschwein um dessen Höhle streiten. Du kannst versichert sein, daß in dieser Nacht ein Schwein frieren wird, nicht ich." Gerrys atmete erleichtert auf. Seine größte Sorge wich, denn er wußte, daß niemand diese Nacht ohne Schutz überleben konnte. Die Männer begaben sich zur Ruhe. In der Nähe der Glut suchten sie etwas Wärme und in ihrem Schein schlich Ilkonys zu Tibra und warf ihm die eigene Decke zu. Ohne ein Wort entfernte er sich. Die nächste Nacht verbrachten sie in einer kleinen Siedlung, wo es zwar keine Herberge, aber einen gastfreundlichen Landmann gab, der ihnen erlaubte, in der Scheune Quartier zu nehmen. Tibra hatte Gerrys seit dem frühen Morgen, als er ihm das Steinpulver und ein paar Anweisungen zur Pflege Thyrians gab, nicht mehr gesprochen und freute sich, daß der Falla sich nun ein wenig bei ihm aufhielt und den mißbilligenden Blick des Königs ignorierte. Doch lange duldete der Magier den Freund nicht in seiner Nähe. Es lag ihm nicht daran, Ariston noch mehr zu erregen und die Verachtung vermochte er durchaus zu ertragen. Was er tat, war letztlich wirklich unverzeihlich und im Grunde hielt er sich diese Tat selbst vor. Am folgenden Tag kamen sie immer langsamer vorwärts. Die Kälte wich nicht mehr aus ihren Gliedern. Pferde und Reiter waren erschöpft und die Überanstrengung forderte ihren Tribut. Aber Gerrys trieb die Gruppe unbarmherzig weiter und sie folgten ihm in dem Wissen, daß am Ende ein Hafen wartete und dort die Heimat nahe lag. Dann, als sie weit vor Tagesanbruch durch die sich hebenden Nebel ritten, strauchelte das Reittier eines der Gardisten und stürzte. Der Mann rollte sich im letzten Moment noch ab und erhob sich unverletzt. Das Bein des Pferdes war nicht gebrochen, doch es humpelte nur mehr und
konnte keinen Reiter mehr tragen. Ariston sah zu Tibra. "Steig ab," verlangte er. "Das wirst du nicht tun," rief Gerrys und trieb sein Tier zu Nodhers Herrscher. "Du wirst Tibra nicht hier zurück lassen wollen." "Wir können uns nicht aufhalten und ich lasse keinen meiner Leute zurück," entschied der König. Gerrys atmete tief durch. Dann glitt er, noch vor Tibra, aus dem Sattel. "Der Weg nach Toga ist bekannt," sagte er entschlossen, "beeilt euch, Thyrian so schnell als möglich nach Amarra zu bringen. Ich bleibe hier, also nehmt mein Pferd." Ariston beugte sich zu ihm. "Steig auf," verlangte er mit dunkler Stimme. "Das ist ein Befehl." Gerrys hob unwillig den Kopf. Er war Pala des Than und letztlich jedem Herrschaftsanspruch enthoben. Das wußte auch Ariston. Alles, was der König ihm gegenüber verlangen konnte aufgrund seines Amtes, das war, daß er Nodher verließ. Andererseits war der neue Than erkannt, dessen Pala er nicht sein würde. Ariston besaß das Recht, seine Macht auszuüben. "Tibra ist mein Freund," beharrte er nach seinen Überlegungen, "und ich werde niemals einen Freund in der Not allein lassen." "Vater!"
Ilkonys wollte sich fürbittend einmischen, doch der Herrscher donnerte ihm ein 'Schweig' entgegen und duldete kein Widerwort. Orales schwieg. Er verachtete Tibra für dessen Tat und wollte lieber diesen als einen Gardisten in Sarai lassen. Rhagan sah verwirrt von einem zum andern. Dann blieb sein Blick an seinem Falla hängen. Doch als auch er aus dem Sattel gleiten wollte, hielt ihn Gerrys mit einer raschen Geste zurück. Da senkte er den Kopf und hielt die Zügel etwas fester. "Gerrys," warnte Ariston, "füge dich meinem Urteil." "Ein Todesurteil," hielt ihm der Falla entgegen, "denn nichts anderes bedeutet es, einen Mann in dieser Kälte fernab jeder Behausung zu lassen." "Sein Urteil, nicht das deine." "Nein, Ariston," wehrte Gerrys ab, "ein solches Urteil kann ihn nicht allein treffen." "Ich befehle dir..." "Du hast mich gelehrt, daß man Freunden nicht befehlen darf," mischte sich Ilkonys nun doch ein. Tibra war längst vom Pferd gestiegen und hatte sein Bündel geschultert. Er trat nun zu Gerrys und legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter. "Laß es gut sein," bat er, "und halte dich nicht auf. Es ist noch immer Eile geboten und Toga ist bis zum Abend zu erreichen. Du kannst nicht mehr für mich tun, als Thyrian so schnell als möglich nach Amarra zu bringen." "Miska auf Amarra," entfuhr es Orales. "Das hilft dir nicht."
Gerrys schüttelte den Kopf, doch Tibra blieb fest. Einzig das Argument, daß der Falla ihm vom Hafen aus Hilfe senden könne, brachte Gerrys' Entschluß ins Wanken und schließlich sah er ein, daß es keine andere Lösung gab. Er bestieg sein Pferd erneut, aber er fühlte sich nicht wohl dabei. Der Gardist schwang sich in Tibras Sattel. Sie ritten an. Ilkonys sah zurück, aber da griff Ariston nach seinem Zügel und hielt diesen auch fest, verhinderte so, daß der Sohn sich von der Truppe entfernen könnte. Tibra blieb in den Nebeln zurück, verwischte zum Schemen und entschwand jedem Blick. Sie erreichten Toga noch vor dem Abend, denn Gerrys forderte jetzt das Letzte von Mensch und Tier und trieb sie zu solcher Eile, daß er damit die Pferde vielleicht auf immer verdarb. Es interessierte ihn nicht. Thyrians Zustand duldete kein Verweilen und die Chance, Tibra vor der kommenden Nacht noch zu retten, war ohnehin klein genug. "Jetzt muß ein Schiff gefunden werden, das für uns die weite Reise unternimmt," murmelte Orales, der noch immer Thyrians Körper trug. Sie kamen um eine Wegbiegung und sahen die Küste. Und dort sahen sie ein Schiff ankern, das sie fast für ein Trugbild halten wollten. In Toga befand sich ein weißer Eineinhalbmaster von schnittiger Bauart. Solche Schiffe, nicht zum Handel tauglich, gab es nur auf Amarra. "Amarra ist hier," wunderte sich Gerrys laut. "Wie kann das so schnell möglich sein?" Die Besatzung hatte den Reitertrupp schon gesehen. Fünf Männer verließen das Deck und kamen ihnen entgegen. Sie neigten sich tief vor Gerrys, der müde aus dem Sattel glitt. "Es ist alles bereitet, Falla," versprach ihr Wortführer. Zwei der Männer nahmen bereits Orales seine Last ab. "Für
Nodhers Männer ist der kleine Frachter dort gekauft, der sie sicher in die Heimat bringen wird." Er sah sich suchend um. "Verzeiht, Herr, doch wir erhielten Weisung, euren Gefährten Tibra mit an Bord zu nehmen. Wo ist er?" "Bis sich die Nebel heben, bin ich mit ihm zurück," versprach Gerrys und wandte sich der Stadt zu, um dort ein kräftiges Pferd zu erwerben, das einen schnellen Ritt erlauben konnte. "Ich komme mit dir," bot Ariston ihm sofort an. "Dafür haben wir jetzt Zeit, denke ich." Gerrys warf ihm einen bösen Blick zu und nahm dann seinen Weg auf. Ariston eilte ihm nach. "Ich will seinen Tod nicht," versprach er. "Aber ich konnte nicht hoffen, daß wir Toga so schnell erreichen." Gerrys verhielt den Schritt und sah ihn fast traurig an. "Du solltest auf deinen Sohn hören," riet er mit fester Stimme. "Man befiehlt seinen Freunden nicht, denn man verliert sie dadurch. Laß mich allein." Schon ging er weiter. Ariston wollte etwas erwidern, doch der Falla beachtete ihn nicht weiter. So ging der Herrscher zurück. Er wollte mit seinen Männern zum Frachter, aber der Priester des Schiffes hatte auf ihn gewartet und sagte nun mit freundlicher Stimme: "Amarra hat euch gerufen." Orales nahm sich der Männer an. Er brachte die Gardisten zum Frachter, wo er wirklich alles geregelt fand für die Heimkehr der Soldaten. Rhagan stand noch bei dem weißen Schiff und unterhielt sich mit einem der Priester. Ilkonys war bereits an Bord, denn er wollte seine Reise nach
Amarra sofort beginnen. Orales war zwar nicht gerufen, doch als einstiger Falla des Lichts in Moras durfte er den Freund sicher begleiten. So blieb er bei Ariston. Gerrys hatte zwei starke Pferde gefunden und jagte nun wieder übers Land. In der nebelfeuchten Steppe war die Spur des Reitertrupps gut zu erkennen. Er hoffte, Tibra folgte dieser Spur, denn nur so war er in den weiten Ebenen überhaupt schnell genug zu finden. Gerrys hatte das Gefühl, inzwischen jeden einzelnen Knochen in seinem Leib zu spüren. Er fühlte sich erschöpft und grenzenlos müde. Doch die Sorge um den Freund trieb ihn vorwärts. Die Nebel sanken und er mußte Tibra schnell finden. Die Kälte erreichte ein Maß, das unerträglich schien.
D
er Magier verlor die Richtung nicht. Seine einzige Chance bestand darin, von Gerrys rechtzeitig gefunden zu werden und er wollte dem Hafen so nahe als möglich kommen, obwohl er wußte, daß er ihn zu Fuß nicht erreichen konnte. Er vermochte sich kaum mehr auf den Beinen zu halten. Die Anstrengungen der letzten Tage wirkten nach. Der Nebel, der ihn umgab, kristallisierte zu feinen Nadeln, die sich schmerzhaft in die Haut seines Gesichtes bohren. Ihm war, als gefröre der Atem auf dem Weg zur Lunge. Jeder Schritt fiel ihm schwer und schließlich blieb er einfach stehen, stand lange, schleppte sich ein Stück weiter und ließ sich dann zu Boden fallen. Es war kalt und er war müde. Er wollte etwas schlafen. Er wußte, daß er das nicht tun durfte. Er wußte, daß er dann nicht wieder aufwachen konnte. So wollte er nur ein wenig ausruhen und doch mußte jede Ruhe im todbringenden Schlaf enden. Er riß sich zusammen, zwang sich auf die Beine. Schritt für Schritt schleppte er sich vorwärts. Er suchte kein Ziel mehr, aber er wollte wach bleiben. Ein Schimmern zeigte sich entfernt im Nebel. Er wußte es und er wollte rufen. Das war das Licht eines Lebenden
Kristalles. Gerrys war ganz nahe. Tibra öffnete den Mund, aber er brachte keinen Ton heraus. Er sah die Bewegung des Lichtes, als er auf die Knie ging und dann ohne Bewußtsein sich der Kälte ergab.
I
n der Dunkelheit war die Spur nicht mehr auszumachen. Gerrys mußte langsamer reiten und mehrfach absteigen, um sich im Schein des Kristalles zu versichern, daß er nicht vom Weg abkam. Jetzt war er unsicher. Das konnte die Spur der Reiter oder die von Tieren sein. Gebückt ging er etwas und atmete auf, als er sah, daß er den Weg wohl doch nicht verlor. Ein paar Schritte weit überprüfte er die Spur und da stieß sein Fuß unerwartet gegen einen Körper. "Tibra," rief er erschrocken. Er schlug den Freund ins Gesicht, schüttelte ihn, mühte sich ab und hatte endlich Erfolg. Der Magier schlug die Augen auf. Es gelang ihm nicht, allein in den Sattel zu kommen; Gerrys mußte ihn förmlich aufs Pferd heben. Tibra zitterte am ganzen Leib und je mehr er versuchte, dieses Schütteln zu unterdrücken, desto stärker wurde es. Er krallte sich am Sattel fest und ließ es zu, daß Gerrys den Zügel seines Pferdes nahm. Langsam ritten sie zurück. Als sie die Hafenstadt erreichten, sank Tibra beiseite und Gerrys mußte hinter ihn in den Sattel steigen, um ihn halten zu können. An der Reeling des weißen Schiffes standen schweigend die Priester und warteten auf den Falla. Gespenstisch leuchteten ihre Kristalle in der Nacht, die den dichten Nebel nicht mit ihrem Schein zu durchdringen vermochten. Als der Hufschlag erklang und Gerrys endlich das Schiff erreichte, kamen sie eilig herbei, nahmen ihm Tibra ab und trugen ihn an Bord. Gerrys war völlig fertig. Die Gefährten schliefen schon vor Erschöpfung, während er sich in eine der wenigen Kabinen führen ließ, die der kleine Segler besaß. Er sah, daß sie Tibra hier auf ein Lager
betteten und er fühlte sich sehr beruhigt, als ihm klar wurde, daß die beiden Männer, die sich des Freundes annahmen, in der Heilkunde unterwiesen wurden. Da ließ er es geschehen, daß ein anderer Priester ihm aus den nebelnassen, halb gefrorenen Kleidern half und auch ihn auf ein Lager bettete. Er nahm noch den Becher mit dem heißen, stärkenden Trank, doch noch ehe er ihn zum Munde führen konnte, schlief er bereits ermattet ein. All die vielen Fragen, die in ihm brannten und von denen er einige stellen wollte, sollten warten müssen. Gerrys wußte nicht, wie lange er schlief, aber es war sicher nicht lange genug. Das Schiff bewegte sich sanft auf den Wellen und ein kräftiger Wind wies ihm den Weg, als einer der Priester Gerrys sanft bei der Schulter rührte und ihn weckte. Gerrys brummte etwas im Halbschlaf und drehte sich beiseite. "Falla." Die Stimme des Priesters klang drängend. "Euer Gefährte stirbt." Gerrys war, als habe man ihm ins Gesicht geschlagen. Rasch kniete er an Tibras Seite nieder. Der Magier lag ganz ruhig. Er stöhnte nicht. Sein ganzer Körper schien unter der Hitze zu glühen, doch er zitterte noch immer am ganzen Leib. Man fürchtete die Hitze in den Nebelreichen, die manchen starken Mann zur kalten Zeit dahinraffte. Tibras Blick flackerte, seine Augen glänzten fiebrig. Er erkannte nichts und niemanden. Sie flößten ihm einen Heiltrank ein, doch er schluckte nicht hinunter. Ganz apathisch ließ er alles mit sich geschehen. Gerrys preßte die Hände vors Gesicht und stöhnte im Bewußtsein seiner Ohnmacht und Hilflosigkeit. Laute Stimmen drangen aus einer der anderen Kabinen herüber. Unwillig hob der Falla den Kopf. "Nodhers Herrscher liegt mit seinen Begleitern im Zwist," erklärte der Priester bei ihm leise. "Sie lärmen seit
langem." Gerrys erhob sich müde. "Sie werden schweigen," versprach er und ging zur Tür. "Wenn Tibra gehen muß, dann soll es in Ruhe und Würde sein."
N
odhers Herrscher mußte seine Kabine mit Orales und Ilkonys teilen. Der Raum besaß ein kleines, unverglastes Fenster, das wegen der Kälte mit Lederplanen verschlossen wurde. Drei Lagerstätten standen bereit, dazu ein kleiner Tisch und eine Bank. Eine am Boden fest verankerte Truhe in der Ecke nahm ihre Habe auf. Sie ließen sich schweigend auf den Lagerstätten nieder. Ariston war nicht einmal wütend darüber, daß Gerrys seine Begleitung nicht duldete. Ilkonys hatte sich in seinen Kleidern aufs Lager fallen lassen. Er schlief schon, als sein Vater eintrat. Orales kam nicht lange nach Ariston in die Kabine. Auch er freute sich auf Ruhe und Schlaf. Sie sprachen nicht miteinander, doch sie dachten beide an Gerrys, der noch einmal durch die Kälte eilte und sie sorgten sich um ihn, dessen Kraft nicht unerschöpflich sein konnte. Ilkonys erwachte als erster und schlüpfte aus der Kabine, wurde jedoch sofort von einem der Priester aufgehalten. Der gab dem Prinzen zwar freundliche Worte, bedeutete ihm jedoch, daß er sich im Schiff jetzt nicht frei bewegen dürfe und schickte ihn zurück. Wenig später jedoch brachte er saubere Kleidung für die Passagiere und auch eine kräftige Mahlzeit. Ilkonys bedankte sich mit leiser Stimme. Er wollte den Vater nicht aufwecken. Der Priester lächelte nur und ging wieder hinaus. Als Ariston und Orales erwachten, saß der Prinz am Tisch, aß und trank und trug bereits die dicht gewobene Tunika, die man ihm gab. Das Haar hielt er fest gebunden.
Ariston erhob sich, schabte sich den Bart, kämmte sein Haar und kleidete sich an. Orales tat es ihm gleich und meinte dabei zu Ilkonys: "Dein Leiter wird entscheiden, ob du dein Haar binden mußt." Der Prinz schob die Schüssel von sich, setzte sich auf sein Lager, damit am Tisch Platz für den Vater und dessen Pala entstand. "Es gibt Entscheidungen, die ich durchaus allein treffen kann," wehrte er etwas unfreundlich ab. "Schlecht geschlafen?" wunderte sich Ariston. "Ja," murrte sein Sohn, "das habe ich. Und ich frage mich, wie man gut schlafen kann, wenn man nicht weiß, was aus Gerrys und Tibra wurde." Sie verstanden beide den Vorwurf, der in diesen Worten lag. "Das Schiff befindet sich auf See," erwiderte Ariston leise. "Ohne Gerrys hätten sie Sarai nie verlassen." "Und Tibra?" fragte Ilkonys trotzig. "Was geht mich dieser Magier an," fauchte der Herrscher da. Ehe sie es sich versahen, gerieten sie in heftigen Streit, der zunächst nur zwischen Ilkonys und Ariston ausgetragen wurde. Orales hielt sich zurück, solange es nur um Tibra ging. Doch als Ilkonys dem Vater vorhielt, Gerrys durch Macht bedroht und ihn durch Befehl gezwungen zu haben, da stand er dem Prinzen bei. Es wurde laut in der kleinen Kabine.
Sie merkten nicht einmal, daß Gerrys eintrat und beschimpften sich noch einige Sätze lang. Der Falla blieb bei der Tür stehen. Er hatte sich nur hastig eine einfache Tunika übergeworfen und spürte die Kälte schon wieder, die draußen auf Deck herrschte. "Ich werde so lange in Amarra bleiben, bis ich sicher sein kann, daß ich nicht so werde wie du," hielt Ilkonys dem Vater vor. Der Falla staunte. Daß der junge Prinz so tapfer mit dem Vater stritt, das hatte es bisher nicht gegeben. Es gab wohl viele Zwistigkeiten, doch beendete diese der König entweder durch Macht oder durch Überzeugung. Die beiden liebten einander viel zu sehr, um sich lange zu zürnen. Aber jetzt war Ilkonys wirklich erbost. "Dann wirst du sehr lange bleiben," mischte sich Gerrys fast amüsiert ein. Ariston, der zu einer scharfen Antwort ansetzte, schwieg betroffen. Ilkonys warf sich vor Gerrys auf die Knie, ergriff dessen Hand und küßte sie, hielt sie danach mit beiden Händen fest. "Verzeih mir," bat er mit aufrichtiger Stimme, "ich hätte Tibra niemals allein lassen dürfen. Ich hatte nicht den Mut dazu, Gerrys." Der Falla zog ihn auf die Beine. Ilkonys war wohl irgendwann ganz unbemerkt ein Mann geworden. Mut besaß er schon immer und auch Aufrichtigkeit zeichnete ihn durchaus aus. Daß er sich aber derart demütigte und so um Verzeihung bat, das war neu an ihm. Gerrys zog ihn an sich, umarmte ihn und hielt ihn lange fest. "Du konntest allein nichts tun," versprach er dem Prinzen. "Und du hast es zumindest versucht. Warum bindest du dein
Haar? Niemand klagt dich an." "Nicht deshalb," erklärte Ilkonys bewegt, "nicht wegen dir. Aber ich will nicht mehr als Erbe der Macht gelten." "Du bist es, Ilkonys." "Gewiß, aber es ist nicht mehr wichtig. Jetzt nicht mehr." "Für dein Volk ist es wichtig," widersprach der Falla. "Denke darüber nach in den nächsten Tagen. Und nun hört damit auf, auf Amarras Schiff solchen Lärm zu machen." Er wollte die Tür öffnen, aber Aristons Frage hielt ihn zurück: "Was hätte ich tun sollen, Gerrys? Einer meiner Männer zurück lassen?" Der Falla sah ihn traurigen Blickes an. "Natürlich nicht," wehrte er ab. "Die Gruppe hätte sich teilen können und die stärksten Tiere wären um Thyrian geblieben. Auch er ritt nicht allein - da waren zwei auf einem Pferd. Aber es war dir ja auch schon in den Nächten zuvor gleichgültig, ob er erfrieren wird." "Den Tod hat er allemal verdient," beharrte Ariston. "Warst du zu feige, das Todesurteil, das du so leichtfertig sprichst, mit dem Degen zu vollstrecken?" fuhr ihn da Gerrys unerwartet an. "Das wäre eines Herrschers würdig. Einen Mann dem Kältetod auszusetzen, das ist nichts anderes als ein feiger Hinterhalt." "Du hast ihn doch gefunden und nach Toga gebracht?" wollte Orales nun aufhorchend wissen.
Gerrys nickte nur. Er preßte die Lippen zusammen und unterdrückte ein leises Stöhnen. "Und er ist auf dem Schiff?" hakte Orales nach, der spürte, daß nicht alles so sein konnte, wie es sollte. "Er ist hier," bestätigte Gerrys. "Von Amarra aus wird er eine neue Heimat finden," vermutete Ariston, "warum immer er auch mit auf diese Reise soll. Es geht uns nichts an, wir schulden diesem Mann nichts." "Nein," bestätigte Gerrys voll Hohn, "wir schulden ihm nichts. Khyon ist fünf Jahre her und es ist vergessen, daß er dort half, einen ganzen Tempel aus magischer Gefangenschaft zu befreien. Es ist vergessen, daß er deinem Sohn Ilkonys das Leben rettete. Daß er ferner Thyrian und Seymas gerettet hat, auch das zählt nicht mehr. Rede du nicht von Schuld, Ariston, denn du wirst ihm nie vergelten können, was er dir und deinem Sohn tat. Ohne seine Hilfe hätten wir Thyrian nicht einmal rechtzeitig hier in Sarai gefunden." "Das wäre besser," murmelte der König. "Alles ist besser als Miska." Ilkonys preßte die Lippen zusammen. Der Vater hatte in dieser Hinsicht nicht Unrecht. Nach dem geltenden Glauben in den Nebelreichen verließ nur im Tod der Geist eines Menschen auf immer den Körper, um dann später neu zu inkarnieren. Miska aber war ein Zustand, der den Geist zwang, außerhalb des Körpers zu verharren und das Leiden, das er so erfuhr, war grenzenlos. "Gerrys, was ist mit dir?" fragte Ilkonys nun leise, da er sah, daß die Augen des Fallas feucht schimmerten.
"Ich bitte euch drei nur, still zu sein," antwortete der leise. "Gebt einfach nur Ruhe und streitet nicht unablässig." "Das wird sich nicht machen lassen," vermutete Ariston. "Thyrian wird es nicht stören, wenn wir miteinander rechten." Gerrys atmete tief durch. "Ariston," warnte er mit leiser Stimme, "dieses Schiff ist nicht Nodher, dies ist Amarra und hier gilt mein Wort. Ich fordere Ruhe im Angesicht des Todes und wenn du sie nicht halten willst, dann lasse ich dich an Land bringen, wo immer die Küste ein Anlegen erlaubt." Der Herrscher starrte ihn sprachlos an. Von Gerrys war er keine Drohungen gewohnt und er spürte, daß der Falla entschlossen war, ihn wirklich von Bord bringen zu lassen, wenn er nicht nachgab. Gerrys hielt seinem Blick stand und nun erst sah auch Ariston, daß der Freund mit den Tränen kämpfte. "Was ist los?" fragte er überrascht. Gerrys öffnete die Tür. Er war schon halb an Deck, als er sich nochmals umwandte. Seine Stimme zitterte leise, als er den Gefährten offenbarte: "Tibra stirbt."
S
eymas verstand nicht, weshalb das Schiff so lange vor Anker lag und man ihn trotzdem nicht an Land brachte. Seit der Kurskorrektur war es ihm nicht mehr erlaubt, seine kleine Kabine zu verlassen, vor der zunächst ein Priester geradezu Wache stand. Er ergab sich in sein Schicksal und versuchte nicht weiter, an Deck zu kommen. Die Priester an Bord waren ihm fast alle unbekannt, nur zwei von ihnen kannte er vom Sehen. Einen dritten gab es noch, der manches Mal kam und ihm eine Mahlzeit brachte. Er hieß Sasaran und lebte seit Jahren in der Nähe des Than. Auch er sprach nicht mit Seymas, doch ging von ihm viel Zuneigung, Freundlichkeit und Annahme aus. Seymas besaß keine andere Hoffnung und Freude mehr als die wenigen Augenblicke der Begegnung mit diesem Mann, dessen liebevoller Blick verhinderte, daß er an sich selbst verzweifelte. Es war Sasaran, der Thyrians Körper in Seymas' Kabine trug und dort niederbettete. Den kurzen, erstickten Aufschrei den Jüngeren quittierte er mit einem vorwurfsvollen Blick, der Seymas verstummen ließ. Sasaran begann, die klamme Kleidung von Thyrians Körper zu schälen. Seymas sah ihm so lange in verkrampfter Haltung zu, bis ihn ein auffordernder Blick traf. Als Seymas dann begann, sich um Thyrian zu kümmern, ging Sasaran hinaus. Er kehrte rasch zurück und brachte alles, was hilfreich sein konnte - Kleidung, Wasser, Kräutersubstanzen, Steinsalze und auch einen kleinen Flammenden Kristall, der von un an die Kabine etwas erleuchtete. Seymas nickte dankend, als Sasaran ihn wieder verließ.
Der junge Priester konnte es nicht fassen, den Freund vergangener Tage in solchem Zustand zu sehen. Der Körper schien geradezu ausgetrocknet, die Haut zeigte eine grünliche Färbung und das Gesicht war eingefallen. Thyrian bot ein Bild des Jammers. Und er war Miska! Seymas täuschte sich nicht über den Zustand des Freundes hinweg. Der Körper, den man ihm brachte, besaß keinen Geist, der ihn beseelte. Ein Miskakörper verhielt sich in allen Dingen so wie der Leib eines sehr alten Menschen; er reagierte nicht schnell und besaß wenig Kraft. Thyrians Körper konnte, wenn überhaupt, dann nur sehr langsam gesunden. In den Jahren auf Amarra besuchte Seymas auch manches Mal die Priesterärzte und lernte von ihnen mit der Neugier, mit der er alles lernen wollte. Das kam ihm nun zugute, denn er wußte ohne Überlegung, was er zu tun hatte. Er sprach leise auf den geistlosen Körper ein. Thyrian war Miska. Das hier war kein Mensch und deshalb konnte das Redeverbot nicht gelten. Ihm aber half das Sprechen, sich ganz auf Thyrian zu konzentrieren und endlich gab es auch für seine Gedanken ein Ziel, auf das er sie ausrichten durfte. Stunde um Stunde mühte er sich ab, ehe er sich ein wenig Schlaf erlaubte. Nicht lange danach erwachte er jedoch und kümmerte sich erneut um Thyrian. Unerwartet trat Sasaran ein. Er gab ihm ein Zeichen und so folgte ihm Seymas in eine der Kabinen auf Deck. Während Sasaran die Tür schloß, starrte Seymas entsetzt auf den zitternden Körper, der sich in der Hitze auf dem Lager quälte. Tibra! Diesen Mann kannte Seymas nur flüchtig. Er wußte, daß er ihm in Khyon das Leben rettete, ohne die Umstände zu kennen, denn er befand sich dort in einem Zustand der Besessenheit, an den es kein Erinnern geben konnte. Aber Seymas wußte, daß Tibra nicht nur Gerrys' Freund, sondern auch ein großer Magier war und er wußte ferner, daß es einer mächtigen Magie bedurfte, um Miska zu schaffen. Tibra starb in der Hitze, das war auf den ersten Blick zu sehen.
Sasaran stieß Seymas leicht in die Seite und nickte ihm aufmunternd zu. Aber der junge Priester schüttelte langsam den Kopf. Was immer geschehen sein mochte, es gab keinen Zweifel daran, daß Tibra an Thyrians Zustand wirkend beteiligt war. Sasaran schob den Widerstrebenden zum Lager und als Seymas nun den fieberdurchglühten Leib aus der Nähe sah, beugte er sich doch über ihn. Fast unbewußt tastete Seymas nach Tibras Geist und es erschreckte ihn nun doch, zu sehen, daß dessen Rückverbindung zu seinem Körper immer schwächer wurde. Aber die Hitze war viel zu stark, als daß er hier noch so leicht eingreifen könnte. Seymas unterhielt sich nur ein einziges Mal mit Tibra. Damals, vor fünf Jahren, beantwortete der Magier seine Fragen nach der Kraft des Berggeistes und den Naturgeistern allgemein. Er schien genau zu wissen, wovon er sprach und er wirkte nicht wie jemand, der ein anderes Leben freiwillig bedrohen würde. Und doch gab es Thyrians Zustand. Seymas verstand es nicht. Er wollte die Kabine wieder verlassen und erhob sich. Der latente Rapport nach Amarra tat sich da mit Wucht auf und er verstand: "Es genügt nicht, hier die Heilungsenergien eines Körpers auf die Krankheit zu richten, das hast du richtig erkannt. Du verdankst ihm dein Leben, also gib ihm das seine zurück, indem du die Hitze auf dich überträgst. Du wirst sie in dir besiegen können." Deshalb also hatte Sasaran ihn zu Tibra geführt. Der Than wollte, daß dem Magier geholfen würde und Seymas verfügte über erstaunliche Heilkräfte. Da diese hier nicht genügten, erhielt er den Befehl, die Krankheit selbst zu übernehmen. Priester, welche die Heilkunft erst erlernten, begingen anfangs meist den Fehler, genau das zu tun und wurden dafür stets getadelt. Sie schwächten sich dadurch nicht nur, sondern verhinderten auch das Wachsen einer geistigen
Mauer, die solche Übertragung verhindern sollte. Seymas hatte sich die letzten Tage über nichts mehr gewünscht, als daß der Rapport aufleben möge und er Kontakt erhielt zu seinem Herrn. Und nun, da es geschah, empfing er nur eine klare, sehr unpersönliche Anweisung ohne das geringste Zeichen der Zuneigung oder auch nur des Erkennens. Er ahnte, daß er darauf nicht mehr hoffen durfte. Enttäuscht ließ er die Schultern sinken, dann aber atmete er tief durch und kniete an Tibras Seite nieder. Er tastete nach dessen heißer Hand, legte seine Rechte auf dessen Stirn und schloß die Augen. Die Hitze kroch spürbar seine Arme hinauf. Sasaran sah es und regte sich nicht. Erst, als Seymas langsam den Atem ausstieß und sich von Tibra löste, trat er herbei. Aber der junge Priester brauchte seine Hilfe nicht. Er ließ sich in seine Kabine bringen und legte sich nieder. Seymas fühlte die Hitze in sich und fröstelte zugleich. Sasaran schien besorgt. Seymas warf ihm einen beruhigenden Blick zu. Er war jung und kräftig und würde die Hitze in sich besiegen können. Da nickte der Ältere verstehend und ging hinaus.
G
errys wußte, daß die Gefährten nun Ruhe gaben und zumindest kein lautes Streiten mehr Tibra berührte. Er eilte zurück zu seinem Freund, um in den letzten Stunden bei ihm zu wachen. Der Falla setzte sich auf den Rand des Lagers. Tibra lag still, hielt die Augen geschlossen. Er zitterte nicht mehr und Gerrys fürchtete schon, er sei still gegangen. Er neigte sich über ihn, strich ihm das Haar aus der Stirn. Das Fieber war gewichen! Gerrys, nun sehr aufmerksam, griff nach Tibras Hand, suchte den Pulsschlag des Lebens und fand ihn regelmäßig, wenn auch nicht sehr stark. Erleichtert beugte er sich vor und küßte Tibra voll Zuneigung auf die Augen. Da wurde die Tür geöffnet.
Sasaran trat ein, sah die zärtliche Geste des Fallas und lächelte. Als Gerrys sich nach ihm umwandte, trat er zu ihm und kniete vor ihm nieder. "Verzeiht die Störung, Pala," sagte er leise. Auch Gerrys dämpfte die Stimme. sollte nun nicht geweckt werden.
Tibra schlief und er
"Ich wußte nicht, daß du an Bord bist," gab er zu. Sasaran war ihm auf Amarra oft begegnet und sie führten manches offene Gespräch miteinander. "Aber ich weiß vieles nicht und verstehe nicht einmal, wie dieses Schiff in Sarai sein konnte." Sasaran sah ihn offenen Sinnes an. "Wenn ihr euch gekräftigt fühlt, Herr," riet er, "so werdet ihr alle Antworten erhalten. Aber nicht von mir." Er lächelte dabei und auch Gerrys verstand mit Freuden. Nymardos wartete darauf, daß er die geistige Brücke öffnete und den Kontakt aufnahm. Sasaran ließ ihn allein. Gerrys versicherte sich nochmals, daß Tibra in tiefen Schlaf verfallen war. Dann suchte er den fernen Freund und, wie erwartet, fand er sehr schnell Kontakt zu ihm. "Ich weiß, was ich wissen muß," wurde er jeder Erklärung enthoben, "und empfinde deine Freude. Tibra wird gesundet erwachen, sei unbesorgt." "Thyrian?" "Thyrian ist Miska, doch sein Körper wird gut gepflegt. Du wunderst dich über das Schiff? Es war auf dem Weg nach Wyla und nahe der Küste Sarais." "Und dein Nachfolger?"
"Er kann noch nicht im Leib gefunden werden, Gerrys. Das ist nicht ungewöhnlich. Mich haben sie damals drei Tage vor der Lichtgleiche gefunden. Die Suche kann sehr lange dauern, aber sie wird Erfolg haben. Du wirst Thyrian sehen wollen, ich weiß es. Bei ihm findest du Seymas. Ich habe ihn nach Wyla verbannt und ihm verboten, mit einem Menschen zu sprechen." "Du hast ihn geliebt," wunderte sich Gerrys. "Er schirmte seinen Geist zur Lichtwende ab. Törichte Sentimentalität ist keine Liebe. Ich will, daß er nun auf sich selbst zurück geworfen wird." "Ich darf nicht mit ihm reden?" "Du bist verletzt, weil dir ein Freund befahl. Also ziehe ich es vor, dich in dieser Sache nur zu bitten." Gerrys war sicher, daß Nymardos jetzt sehr heiter war. "Ruhe dich von den Strapazen der letzten Tage aus. Wenn du hier bist, sollst du alles erfahren, was du wissen willst." Der Kontakt erlosch. Gerrys war noch nicht gekräftigt genug, um ihn lange aufrecht halten zu können. Er vergewisserte sich nochmals, daß Tibra schlief. Dann streifte er die Tunika ab und legte sich selbst nieder. Sasaran trat ein und brachte ihm eine heiße Kräutersuppe. Schon bei deren Duft krampfte sich Gerrys zusammen. Er hatte lange nichts gegessen, spürte jetzt stark den Hunger in sich und nahm dankbar die Speise an. Sasaran kniete an seinem Lager, bereit, alle Wünsche des Pala des Than zu erfüllen. "Ich sah dich nie Leibdienst verrichten," meinte Gerrys, dem die Gegenwart des Priesters sehr angenehm war. "Das ist der einfachste Weg, ungerufen in eure Nähe zu gelangen," gab Sasaran offen zu. "Wir waren alle in großer Sorge um euch, als ihr allein in die Dunkelheit auf Sarai
gegangen seid. Jeder von uns hätte euch begleitet, Pala." "Und keiner von euch kann reiten," wehrte der Falla ab, "ich durfte nicht säumen. Nodhers Männer sind wohl versorgt?" "Ihr Schiff hat Nodher schon erreicht." "Rhagan ging mit ihnen?" "Nein, Falla," kam die fast erstaunte Antwort. "Er ist unter Deck bei meinen Gefährten und fühlt sich wohl. Euer Tempelhelfer ist ein erstaunlicher Mann, der sich durchaus mit Priestern zu unterhalten versteht." Gerrys lachte leise. "Du hattest Order, ihn an Bord zu nehmen?" "Dies nicht," gab Sasaran gelassen zu, "doch war er so besorgt um euch und vor allem auch um Tibra, daß er nicht weichen wollte. Habe ich falsch gehandelt?" Gerrys beruhigte ihn rasch. Es war ihm lieb, Rhagan auf dem Schiff zu wissen. Nodhers Soldaten begegneten dem Hünen zwar mit Achtung, doch gehörte er nicht wirklich zu ihnen und eine Reise in deren Gesellschaft würde Rhagan kaum genießen können. Gewiß, Rhagan gehörte auch nicht zur Priesterschaft, doch fühlte er sich bei diesen Männern sicherlich wohl und in seinem Sein ganz angenommen. "Weiß er, daß Tibra überleben wird?" "Es wäre Unrecht, ihn länger in Sorge zu belassen, als es Grund zu dieser Sorge gibt," erwiderte Sasaran mit fester Stimme. "Er weiß es also," lächelte Gerrys. "Und Ariston?"
"Wenn ihr es wünscht, lasse ich Nodhers Herrscher unterrichten," bot der Priester an. Gerrys reichte ihm die nun leere Schüssel zurück. Er zog die warme Decke über sich und hüllte sich ein. "Ich denke darüber nach, wenn ich ausgeschlafen habe," meinte er leichthin. "Noch eines, Sasaran: es ist schön, dich zu sehen. Wenn du zu mir kommen willst, sind dazu keine Vorwände nötig. Ich danke dir." Sasaran verließ die Kammer. Gerrys schloß die Augen. Er wußte, daß ihn niemand stören würde und er jetzt endlich so lange schlafen durfte, wie sein Körper die Ruhe benötigte.
D
as Schiff hielt sich erstaunlich fern der Küste, die eben noch am Horizont zu sehen war. Ariston genoß den Blick über die Weite des Meeres. Orales hielt sich bei ihm auf, während Ilkonys trotzig in der Kabine verblieb. Es war kalt, doch die Priester gaben ihnen dichte, warme Decken, in die sie sich hüllten, um einige Stunden an Deck zu verbleiben. Sie hatten sich nach Gerrys erkundigt, doch man ließ sie nicht zu ihm. "Freundliche Leute," stellte Orales trotzdem fest. "Sie sind mehr als nur reserviert," begriff Ariston. "Verständlich, da Gerrys ihnen sehr nahe steht. Es wird schwer sein, ihn wieder zu versöhnen." "Dein größter Wunsch derzeit, nicht wahr?" "Ja, mein Freund, eigentlich mein einziger Wunsch," gab der Herrscher zu und starrte düsteren Blickes aufs Meer. Er dachte dabei auch an Ilkonys. Ariston war sicher, daß er den Sohn nur dann wieder gewinnen konnte, wenn es ihm
gelang, Gerrys mit sich auszusöhnen. Und dahin sah er momentan keinen Weg. Während sie sich unterhielten, kam Sasaran zu Ilkonys, der mit angezogenen Beinen auf seinem Lager hockte und trüben Gedanken nachhing. Beim Eintreten des Priesters erhob er sich aber sofort und verneigte sich. "Nodhers Erbe ist noch kein Priesterschüler, der Achtung erweisen muß," quittierte Sasaran diese Geste in so freundlicher Art, daß der Prinz sich irgendwie erleichtert fühlte. "Es ist nicht gut, nie an Deck zu gehen." "Sagt mir bitte, wie es Gerrys geht," flehte Ilkonys. "Leidet er sehr?" "Ihr solltet..." "Nennt mich beim Namen," bat Ilkonys, ihn unterbrechend, "es fällt mir im Moment sehr schwer, und sei es nur durch die Anrede, an meinen Vater erinnert zu werden." Sasaran lächelte verstehend. "Du wirst dich stets an ihn erinnern," vermutete er sanft. "Laß niemals den Zorn größer werden als die Liebe. Wir haben keine Möglichkeit, dir eine andere Kabine anzubieten. Das Schiff ist nicht groß genug und wenn du für eine Zeit aus der Nähe des Herrschers willst, mußt du neben Rhagan nächtigen. Würde dir das gefallen?" Zu seiner Überraschung reagierte der Prinz wirklich mit großer Freude. "Ich wußte nicht, daß Rhagan an Bord ist. Ich mag ihn sehr und ich glaube, er ist ein echter Freund. Wäre es wirklich möglich?"
Sasaran nickte nur und begann, Ilkonys Bündel zu packen. Der Prinz half ihm mit raschen Bewegungen, um so schnell als möglich umzusiedeln. "Raakis Falla schläft," beantwortete Sasaran nebenbei die offene Frage. "Er leidet nicht, sondern ruht sich aus. Tibra gesundet rasch." Ilkonys ließ sein Bündel fallen und starrte den Priester an. "Gerrys sagte, Nachricht an.
daß er stirbt," zweifelte er offen die
"Manchmal geschehen wundersame Dinge. Tibra wird Amarra bei bester Gesundheit erreichen. Jedoch bin ich nicht sicher, ob Nodhers Herrscher das wissen sollte." "Soll er nicht," entschied Ilkonys trotzig. "Ich hoffe, er bekommt wenigstens Schuldgefühle." Erklärend fügte er hinzu: "Ich glaube nicht, daß er Tibra sonst je wieder nach Nodher gehen läßt." Als Ariston und Orales später ihre Kammer aufsuchten und diese leer fanden, erhielten sie Nachricht, daß der Prinz auf eigenen Wunsch in das Mannschaftsquartier übersiedelte.
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ie Nebel sanken, als Gerrys endlich erwachte. Er fühlte sich ausgeruht und ausgesprochen wohl. Tibra lag noch in heilsamem Schlaf. Der Falla kleidete sich an und verließ leise die Kabine. Draußen traten sofort Priester zu ihm, bereit, jeden seiner Wünsche zu erfüllen. Aber er wollte zunächst nur Rhagan aufsuchen, fand dort zu seiner Überraschung auch Ilkonys und verweilte einige Zeit bei ihnen. Danach wollte er Thyrian sehen und als Sasaran ihm stumm seine Begleitung anbot, wehrte er ab.
"Ich bin nicht sicher, daß sich Seymas an seine Weisung halten wird, wenn er mich sieht," gab er zu. "Es ist unverkennbar, daß du in Rapport stehst mit unserem Herrn und er kann in dir nur finden, was in dir ist." "Findet er nicht alles auch in euch, Falla?" Das klang betrübt. "Wenn ihr wünscht, lasse ich Seymas entfernen, so daß ihr Thyrian allein sehen könnt." "Das klingt nicht so, als fiele dir das leicht," stellte Gerrys fest. "Es ist gut, wenn du Seymas nicht verachtest. Aber laß mich beide sehen und halte dich zurück." Als er die kleine Kabine betrat, fand er Seymas, der Thyrians Körper wusch. Er wandte sich nicht einmal um, erwartete wohl einen der Priester. Gerrys schloß die Tür. Thyrians Zustand war unverändert, aber er hatte nichts anderes erwartet. Was ihn etwas erschreckte, das war der unverändert schlimme Zustand seines Körpers, der noch immer deutlich die Spuren des Wassermangels aufwies. Gerrys trat einen Schritt nach vorn. Das verursachte Geräusch ließ Seymas herumfahren. Dann riß der die hellen Augen auf und starrte den Falla sprachlos an. Und ehe Gerrys reagieren konnte, sprang Seymas auf, warf sich in seine Arme und klammerte sich wie angsterfüllt fest. "Gerrys, ich wußte nicht, daß du auch hier bist. Ich bin so froh, dich zu sehen. Bitte, hilf mir. Ich bin verstoßen, Gerrys." Er wollte weiterreden, doch da legte der Falla eine Hand unter Seymas' Kinn, hob seinen Kopf und bedeckte seinen Mund mit der Hand. Seymas verstummte in der Erinnerung an sein Schweigegebot. Aber Gerrys hielt ihn noch fest umschlungen, stieß ihn nicht von sich. Tränen traten in die Augen des jungen Mannes. Er kämpfte sie zurück, unterlag dann aber bei diesem Versuch und weinte endlich leise vor sich hin. Gerrys drückte ihn auf sein Lager nieder. Seymas hatte die Hitze im Leib, das spürte er. Und er ahnte die
Zusammenhänge mit einem Mal genau. Daß Tibra so ruhig schlief, das mußte an Seymas' Wirken liegen. Voll Dankbarkeit dachte Gerrys an Nymardos, der ihm ja wirklich nicht verbot, mit Seymas zu sprechen. Darum versprach er nun mit leiser Stimme: "Ich wache bei Thyrian, während du schläfst." Da erst ließ Seymas es zu, daß er ihn ganz niederdrückte und eine Decke über ihn breitete. Er schlief fast augenblicklich ein. Gerrys sah sich um und fand alles, das Thyrians Körper dienen konnte. Doch er fand auch alles, das Seymas half, die Hitze zu bekämpfen. Die Priester sorgten gut für ihn. Als Seymas nach Stunden erwachte, schien er gekräftigt. Gerrys nickte ihm zu und nahm noch seinen wehen Blick wahr, ehe er ging. Tibra lag noch immer still auf seinem Lager. Gerrys neigte sich über ihn. Im allgemeinen gab es zwischen ihnen keine zärtliche Nähe, doch solange Tibra schlief, konnte er nichts dagegen haben. Gerrys küßte ihn auf die Wange, sah ihn liebevoll an und neigte sich erneut. "Wenn du mich noch einmal küßt, schreie ich um Hilfe." Gerrys fuhr zurück. Tibra grinste ihn vergnügt an, schien ausgeruht und stark. Der Falla packte ihn bei den Schultern, hob ihn an und umarmte ihn, dabei all seine Freude und Erleichterung zeigend. Tibra erwiderte diese Geste fast vergnügt. Aber dann löste er sich von seinem Freund und setzte sich auf. "Wie ich sehe, hast du ein Schiff gefunden," stellte er fest. "Ob es hier etwas zu essen gibt?"
Gerrys erhob sich rasch und öffnete die Tür. Wie immer wartete draußen ein Priester, was Gerrys in der Kälte des frühen Morgens nicht begrüßen konnte. Trotzdem bat er um Nahrung. Dann setzte er sich neben Tibra und drückte fest dessen Hand. "Hey, was ist mit dir? War ich so lange ohne Bewußtsein oder gibt es sonst einen Anlaß, mein Erwachen derart zu begrüßen?" wollte Tibra heiter wissen. "Ich fürchtete, du wachst überhaupt nicht mehr auf," gestand der Falla. "Also doch lange," stellte Tibra fest. "Na, dann sollten wir uns ankleiden, denn wenn das Schiff so lange schon unterwegs ist, werden wir Nurs wohl in Kürze erreichen." Ehe Gerrys antworten konnte, öffnete sich die Tür. Es war Sasaran, der es sich nicht nehmen ließ, den Pala des Than wieder selbst zu bedienen. Tibra hob erstaunt die Brauen, aber er zog zunächst nur den kleinen Tisch herbei, auf dem der Priester die Speisen abstellen konnte. Dann musterten sich Tibra und Sasaran auf recht unverhohlene Weise. Es war der Priester, der schließlich den Blick senkte und sich leicht vor beiden verneigte. Er wollte gehen, doch Tibra hielt ihn zurück. "Nicht so hastig," rief er. "Eure Kluft, euer Verhalten sagt, wem gehört dieses Schiff?" Sasaran lächelte ihn freundlich an. "Es gehört euch, wenn ihr es wünscht." Tibra griff nach dem Becher mit heißem Tee. "Ich bin kein Seemann," wehrte er ab. "Aber ihr wohl auch nicht, nicht wahr?" Er warf Gerrys einen Seitenblick zu
und verstand. "Amarra ist hier. Das habe ich nicht erwartet, aber ich denke, es gefällt mir." Sasarans Lächeln vertiefte sich. "Laßt es mich wissen, wenn ihr Wünsche habt," bot er Tibra an, neigte sich nochmals leicht und verließ den Raum. Tibra lachte leise. Er trank ein wenig und griff nach den Speisen. "Ich denke, Gerrys, du wirst mir jetzt erst einmal eine Menge erzählen müssen," meinte er vergnügt, "und wehe, du läßt die halbe Geschichte aus. Ich bin neugierig genug, um dir Stunden zuzuhören." Sie aßen und tranken gemeinsam und Gerrys erzählte dem Freund dabei alles, was geschehen war. Er wollte den Zwist mit Ariston übergehen, doch Tibra spürte das sofort und ließ nicht locker, bis der Freund ihm auch davon berichtete. Als die Rede auf Seymas kam, wurde Tibra sehr still. "Nymardos hat den Jungen wegen eines Regelverstoßes aus Amarra verbannt und ihm alle Liebe entzogen?" vergewisserte er sich nach einiger Überlegung. "Was verwundert dich daran?" Tibra starrte vor sich hin. Als er Nymardos und Seymas auf Khyon begegnete, da sah er, welche Liebe der mächtige Mann für den Jungen empfand. Und er hielt den Than für alles andere als wankelmütig. Er grübelte, aber dann hellten sich seine Züge auf und er meinte leichthin: "Nichts weiter. Er ist einfach ein erstaunlicher Mann. Du siehst übrigens scheußlich aus, Gerrys. Du solltest dir den Bart schaben."
Er fuhr sich selbst übers Kinn und grinste. In dieser Hinsicht machte er bestimmt den verwahrlosteren Eindruck und dagegen wollte er schnellstens etwas unternehmen. Sie verbrachten den Tag zusammen. Gerrys sorgte dafür, daß Tibra alle Priester auf dem Schiff kennenlernte und freute sich, als es dem Freund so leicht gelang, mit den Männern eine kameradschaftliche Beziehung einzugehen. Das Schiff schien sich neu mit Leben zu füllen. Tibra verbreitete eine heitere Gelöstheit. Er ließ sich den Umgang mit dem Segel zeigen und wollte selbst das Ruder führen. Als eine starke Welle das Holz herumriß und er das Ruder nicht zu halten vermochte, sondern von diesem zur Seite gestoßen wurde, lachten die zuschauenden Priester mit ihm. In der Kabine vernahmen Orales und Ariston das Lachen und sie wunderten sich sehr darüber, daß die Priesterschaft so heiter sein konnte, wo sie doch, wie sie immer noch glaubten, Tibras Leichnam an Bord hatten.
D
er nächste Tag zeigte sich sehr klar. Die Nebel hingen hoch und der Blick fand ohne Trübung Moras' Küste. Tibra und Gerrys befanden sich an Deck und sahen fasziniert die Sumpflandschaft. Das weiße Schiff glitt pfeilschnell übers Meer, der kräftige Wind blies kalt in das Segel. Sie hatten sich in große, warme Decken gehüllt. Tibra wunderte sich über die Weisung, ihn an Bord zu nehmen. "Nymardos weiß wohl, wie Ariston auf dein Handeln reagierte," vermutete Gerrys. "Da auch er gerufen ist, hoffe ich darauf, daß der Than deine Verbannung aus Nodher verhindern kann." "Du zürnt deinem König sehr," stellte Tibra fest. "Aber du hast nichts wider Orales. Wie kommt das?"
Gerrys erinnerte sich an eine längst vergangene Zeit und erzählte dem Freund davon. "In der Zeit, als Sion seinen Schwarzen Tempel bekam, verweigerte Orales dem Than den Gehorsam und wurde dafür auf immer nach Moras verbannt. Damals befand ich mich in derselben Situation wie Orales heute. Wenn du einen sehr mächtigen Freund hast, kannst du dich nicht offen gegen seine Entscheidungen stellen. Vor allem dann nicht, wenn das Urteil dem Gesetz entspricht." "Und du hast nicht versucht, für Orales sprechen?" vergewisserte sich der Magier erstaunt.
zu
"Nun, ich sah Nymardos nach Jahren das erste Mal wieder," erklärte der Falla, "unsere Freundschaft war jung und besaß nicht die Offenheit, die uns heute verbindet. Überdies kann man mit ihm nicht diskutieren." "Hast du es versucht?" wollte Tibra es genau wissen. "Der Than grenzte die Verbannung auf zehn Jahre ein und Ariston mußte es ertragen, daß er den Freund verlor. Mehr konnte ich nicht erreichen. Ich versuche nur, dir zu erklären, weshalb ich von Orales kein anderes Verhalten fordere und ihm seine Treue zu Ariston nicht verüble. Es wäre mir lieb, wenn Ilkonys ähnlich vernünftig sein wollte." "Der Prinz leidet sehr unter dem Zerwürfnis mit seinem Vater." Tibra wußte es aus den Gesprächen mit Nodhers Erben. "Aber er wird den Herrscher nicht in seinem Tun bestätigen, indem er sich ihm naht. Solange du Ariston nicht verzeihst, wird er es auch nicht tun." Sie gingen unter Deck, wo sie den Tag mit Ilkonys, Rhagan und den Priestern verbrachten.
Die Priesterschaft achtete darauf, daß Ariston und Orales nur dann an Deck gehen konnten, wenn sich weder Gerrys noch Tibra oder Ilkonys dort befanden. Und Nodhers Herrscher fügte sich in diese Beschränkung, ohne ein Wort dagegen zu sagen.
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asaran hielt sich gern in Gerrys' Gegenwart auf und besuchte die Freunde häufig in ihrer Kabine. Tibras Anwesenheit hinderte den Priester nie daran, sehr offen zu reden und als sich Sasaran und Gerrys nun in einem Gespräch über Amarra verloren, verließ Tibra den Raum. Draußen bedeutete ihm ein wartender Priester, nicht an Deck zu gehen, doch der Magier war nicht der Mann, der sich aufhalten ließ. Er sah Ariston allein im Bug stehen und lehnte sich abwartend gegen den Segelmast. Der König hatte ihn verbannt, aber er bedrohte sein Leben nicht und so dachte Tibra eher sorglos an eine Begegnung. Dieses Schiff gehörte Amarra und war auf dem Weg dorthin, also besaß der Herrscher hier keine Hoheitsgewalt. Ariston stand unbeweglich. Sein Blick haftete irgendwo auf fernen Wellen. Seine Gedanken kreisten um Gerrys. Die Kälte kroch in seine Glieder. Da wandte er sich um, um erneut seine Kabine aufzusuchen. Und dann sah er Tibra. Ariston spannte jeden Muskel an und ballte die Hände zu Fäusten. Seit Tagen sorgte er sich um Gerrys, den er in tiefstem Leid glaubte und nun sah er den Magier bei bester Gesundheit am Segelmast. Niemand unterrichtete ihn von Tibras Genesung. Gerrys beließ ihn in dem Glauben, der Magier sei gestorben und zeigte ihm so, daß es keine Brücke mehr gab zwischen ihnen. Es schmerzte, die Tiefe der Kluft zu verstehen, die sie nun trennte.
Tibra sah das Erstaunen und den Schmerz des Herrschers und begriff, daß der nicht erwarten konnte, ihn lebend zu sehen. Wenn Gerrys ihn aber noch nicht einmal davon unterrichtete, mußte die Verachtung des Fallas noch tiefer sein, als er durch seine Worte zu erkennen gab. Tibra stieß sich vom Mast ab und schlenderte dem König entgegen. Ariston sah keinen Grund, weshalb er sich mit dem Magier auf ein Gespräch einlassen sollte. Er würdigte ihn keinen weiteren Blickes und wollte an ihm vorbei. Da streckte der Magier einfach die Hand aus und hielt ihn am Oberarm fest. Erst, nachdem Ariston stehen blieb und ihn ansah, zog er die Hand zurück. "Wann habt ihr Gerrys zuletzt gesprochen?" Tibra mit eindringlicher Stimme wissen.
wollte
"Am Abend, nachdem wir Sarai verließen, als er mir sagte, daß du im Sterben liegst," antwortete Ariston etwas unwirsch. "Im Sterben lag ich wohl schon in Sarai," vermutete Tibra. "Ich ging, solange ich konnte, aber die Kälte zwang mich nieder und ich verlor das Bewußtsein. Irgendwie haben die Leute hier die Hitze in mir besiegen können. Gerrys hätte euch das sagen müssen. Aber ihr hättet auch danach fragen können, Gebieter." "Warum sollte ich?" Ariston hob die Stimme. "Dein Schicksal ist für mich nicht von Interesse, Mann." "Dafür nehmt ihr aber erstaunlich viel Einfluß darauf," hielt ihm Tibra grinsend vor. Er ging nun selbst zum Bug und ließ den Herrscher stehen. Ariston hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß er nicht bereit war, das Urteil neu zu überdenken und zumindest
jetzt war es wohl besser, sich nicht weiter mit ihm zu befassen. In drei Tagen würden sie Amarra erreichen und Tibra wartete gespannt, was sich dort ereignen würde.
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ie Priester lichteten den Anker und lenkten das Schiff weg von Nodhers Küste. Es zeigte sich nur wenig Wind, doch er genügte, um die Überfahrt nach Amarra zu wagen. Nach einiger Zeit verschwand die Küste hinter dem Horizont. Gerrys stand mit den Gefährten im Bug und ließ den Blick schweifen. Jetzt gab es ringsum nur Wasser, doch nicht lange danach lichteten sich die letzten Nebelschleier des Tages und es wurde spürbar wärmer. Wenig später sahen sie weit entfernt Amarras Küste. Tibra ließ die Decke von der Schulter gleiten. Die Kälte blieb hinter ihnen zurück. "Du hast immer gesagt, daß es auf Amarra keine kalten Nebel gibt," meinte er zu seinem Freund, "aber ich konnte es mir nicht einmal wirklich vorstellen. Das da vorn ist Amarra, nicht wahr?" Gerrys nickte nur. Er freute sich auf das Inselreich und ein Wiedersehen mit Nymardos. Die Freude war ihm anzusehen. "Wie warm ist das Wasser?" wollte Tibra impulsiv wissen. "Sehr warm," versprach Sasaran, der bei ihnen stand. Da streifte der Magier in rascher Geste seine Tunika ab und sprang über Bord. Fröhlich rief er ihnen zu, nachdem er wieder auftauchte. Er plantschte vergnügt in den hohen Wellen und genoß die Wärme des Wassers und der Luft. Sasaran rief seinen Kameraden ein Kommando zu und sie begannen, die Segel zu einzuholen. Das Schiff verlor an
Fahrt und wartete bald auf den Schwimmer. Tibra hatte es nicht eilig, wieder an Bord zu kommen und seine spürbare Heiterkeit lockte die anderen nun ebenfalls zu einem erfrischenden Bad. Zurück an Bord riet Gerrys dem Freund, sich nun andere Kleidung geben zu lassen und schulterzuckend willigte Tibra ein. Gleichmütig streifte er eine bodenlange, braune Tunika über und grinste, als er wenig später Ilkonys und Rhagan in derselben Gewandung sah. Das Schiff bewegte sich schon wieder seinem Ziel zu. Gerrys trat zu Tibra in den Bug. Der Falla trug nun das schwarze Gewand seines Amtes und wirkte, wie immer, in diesem sehr blaß, wie von schwerer Krankheit eben genesen. Die Priesterschaft, die sich bisher in allem so verhielt, als sei sie völlig gleich gestellt, entdeckte nun durch die verschiedenen Farben der Bekleidung ihren Stand. Sasaran wies sich in seiner roten Tunika als Minosantes Mann aus und Tibra wunderte sich etwas über die Führerrolle des Priesters, als er auch weißgekleidete Priester des Lichts unter den Leuten entdeckte. "Der beste Mann für eine Sache hat nicht immer die höchste Weihe," erklärte Gerrys lächelnd. Das Schiff ankerte nun an einem bevorzugten Platz beim Landungssteg. Aber niemand ging von Bord. Tibra grinste erfreut. Wenn die Priester warteten, dann konnte es dafür nur einen Grund geben und er hoffte, daß er eine Möglichkeit fand, mit Nymardos zu sprechen, wenn er kam. Ariston, schwarz gekleidet, kam neben dem weißgekleideten Orales an Deck. Auch sie warteten, hielten dabei aber Abstand zu Gerrys und Tibra. Ilkonys sah düster zum Vater hinüber, löste dann aber den Blick von ihm und unterhielt sich mit einem der Priester weiter. Das Haar hielt er noch immer gebunden.
Ein blumengesäumter, schmaler, gewundener Pfad führte den Hügel hinauf zum Haupttempel Amarras. Der große Bau zeigte sich in der Ferne. Tibra ließ keinen Blick von ihm. "Der größte Tempel der Reiche," vermutete er. "Das ist er," stimmte Gerrys zu, "es gibt ebenerdig mehr Räume als woanders. Und um ihn ist der wohl größte Garten, der denkbar ist." "Du liebst dieses Land," stellte Tibra fest. "Allein die Wärme hier macht es liebenswert." "Nicht nur diese," erwiderte Gerrys lächelnd. Eine Gruppe von Priestern kam den Pfad herunter. Sie begleiteten eine in schillerndes Weiß gekleidete Gestalt. Nymardos kam selbst zum Hafen und als er das Schiff betrat, legten sich die Menschen mit ausgebreiteten Armen vor ihm nieder. Auch Ariston und Orales grüßten so den Than. Verwirrt sah Tibra diese Unterwerfung. Er wußte wohl, daß dies der Regel entsprach, doch auf Khyon wurde er dessen aufgrund der besonderen Ereignisse nie Zeuge. Die braunen Augen des Than ruhten nur auf ihm. Da wurde dem Magier sein Versäumnis bewußt. Er kniete rasch nieder und wollte sich niederlegen, aber da trat Nymardos einen Schritt auf ihn zu und gab ihm ein kleines Handzeichen. Tibra zögerte. Der Schritt war wohl für alle die Erlaubnis, sich wieder zu erheben, denn sie richteten sich auf die Knie auf. Gerrys hatte sich als Einziger nicht bewegt. Es würde ihn nicht belasten, den Freund so zu begrüßen, doch Nymardos duldete dies seit Jahren nicht mehr. Nun rührte er Tibra leicht an der Schulter an und forderte ihn so auf, sich zu erheben. Der Magier ließ keinen Blick von Nymardos, der ihn noch immer freundlich ansah und nun, da Tibra sich erhob, sacht lächelte.
Er gab seinen Begleitern einen Wink und diese holten Thyrians Leib, den sie still von Bord trugen und zum Tempel brachten. Seymas folgte ihnen, ohne den Blick auf Nymardos zu richten. Ilkonys sah ihn, wollte ihn anrufen, doch Sasaran hinderte ihn mit einer schnellen Geste daran. Nymardos wartete und niemand regte sich. Nach geraumer Zeit erst, Seymas und Thyrian waren schon weit entfernt, winkte er Tibra zu sich heran. Sie standen nebeneinander an der Reeling und schauten auf das Inselreich. Ariston sah mit verkniffenen Lippen die Bevorzugung des Magiers, dem der Than seine Aufmerksamkeit noch vor Gerrys widmete. Der Falla aber gesellte sich zu ihnen, hielt die Arme verschränkt und freute sich für den Freund. "Willst du mit zum Tempel kommen," bot Nymardos dem Magier mit ruhiger, aber sehr einladender Stimme an. Tibra zuckte ein wenig zusammen. "Bei allen Göttern, nein," rief er aus. "Amarra ist das Land der Priester." "Auch Gerrys betrat es zu einer Zeit, da er Adlatus des Königs und fern jeder Weihe war," erwiderte Nymardos amüsiert. "Eben darum," beharrte Tibra gelassen. "Denn was ist aus ihm geworden!" "Falla des dunklen Gottes," kam die ernste Antwort. Tibra wandte das Haupt und lächelte den Than offen an. "Verzeiht, Gebieter," meinte er ruhig, "aber mein Weg ist ein anderer und ich würde ihn gern unbelastet gehen. Ich warte auf dem Schiff, wenn ihr erlaubt."
"Kein guter Platz für einen sehr gern gesehenen Gast," wehrte Nymardos ab. "Es gibt vorgelagerte, kleine Inseln weiter oben, von denen ich dir eine bereiten ließ. Du wirst dort alle Annehmlichkeiten finden und wenn du Wünsche hast, wird man sie dir unbegrenzt erfüllen." "Und Rhagan, Herr?" Nymardos sah ihn fragend an und da bat der Magier, daß der Hüne bei ihm bleiben dürfe. Der Than nickte nur zum Einverständnis. "Wenn es möglich ist," bat Tibra dann und diese Worte fielen ihm sichtlich schwer, "dann erlaubt mir ein offenes Wort." "Nicht jetzt, nicht hier," mahnte der Than. "Wir reden zu gegebener Zeit in Ruhe und Offenheit miteinander." Tibra ließ den Blick über Amarras Küste schweifen und schwieg. Es drängte ihn danach, über Thyrian reden zu dürfen, doch er begehrte nicht auf vor den Zeugen und fügte sich. "Es ist gut, dich zu sehen," versprach ihm Nymardos und dämpfte damit seine Betrübnis. "Ich komme zu dir, sobald ich kann." Nun erst wandte er sich an Gerrys, ergriff dessen Hände zum festen Druck und sah ihn liebevoll an. Dann ging er von Bord. Gerrys folgte ihm mit Ilkonys und den Priestern, denen sich auch Ariston und Orales anschlossen. Tibra und Rhagan blieben allein zurück und betrachteten das Land. "Ich kenne diese Inseln, Herr, von denen unser Gebieter sprach," durchbrachen Rhagans Worte die Stille.
"Du bist schon einmal hier gewesen?" staunte Tibra. "Ja, Herr," gab der Hüne zu. "Damals habe ich einige Tage mit Attor auf einer der Inseln verbracht. Sie sind klein, aber es steht ein Haus darauf und der Strand ist weich und angenehm. Dort hat mich meine Gemahlin das erste Mal geküßt." Er lächelte. "Es wird euch sicher gefallen." Tibra grinste vergnügt. "Du willst mich trösten, wie?" stellte er verwundert fest. "Das ist nicht nötig, Rhagan. Im Moment bin ich mit allem sehr zufrieden. Ich frage mich nur, wie wir so eine Insel erreichen sollen. Wohl kaum mit dem Schiff hier." Rhagan deutete die Küste hinauf. Von dort kam eben ein Katamaran, der sie über die Wellen bringen sollte. Nicht lange danach befanden sie sich auf einer kleinen Insel, in deren Mitte sich wirklich ein flaches Gebäude befand, das mehrere Kammern besaß. Große Bäume wuchsen hier, hohes Gras und eine Unzahl an farbenprächtigen Blüten. Der Strand führte Richtung Amarra flach ins Wasser; ein geübter Schwimmer konnte das Inselreich unschwer erreichen. Tibra betrat das Haus nicht sofort. Er genoß es, festen Boden unter den Füßen zu haben und er atmete wie befreit den Duft der Blüten ein. Der Magier legte sich im Gras auf den Rücken hin, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah hinauf zu den hohen Nebeln. Rhagan fand im Haus einen gefüllten Weinkrug, nahm diesen und Achatpokale und brachte alles zu Tibra, bei dem er sich niederlagerte. Amarras Wein war süß und schwer, nicht so herb wie jener, der in Nodher wuchs. Aber Tibra stellte fast erstaunt fest, daß dieser Wein von besonderer Güte sein mußte, denn er mundete noch weitaus mehr als jener, den er auf dem Schiff während der Reise erhielt.
"Wir werden wohl einige Tage hier sein," vermutete er. "Ich denke, es wird uns gefallen, im Gras zu liegen, zu schwimmen, zu tauchen und den Müßiggang zu pflegen." "Für mich ist es ungewohnt, nichts zu tun," gab Rhagan zu, "aber ich fürchte, ich werde euch nicht einmal bedienen dürfen." Auf Tibras fragenden Blick hin fuhr er fort: "Im Haus warten zwei Priester, um euch jeden Wunsch zu erfüllen, Herr." "Gut," nickte Tibra befriedigt, "ich habe deinen Dienst auch nicht gewollt. Ich wollte nur deine Gesellschaft," fügte er grinsend hinzu. "Ihr ehrt mich," erwiderte Rhagan. "Seid versichert, daß ich gern in eurer Nähe bin. Das war schon in Khyon so, Herr." "Gerrys ist dein Herr, nicht ich," murrte Tibra da unwillig. "Verzeiht," erwiderte Rhagan mit fester Stimme, "doch ihr seid ein Mann der Macht, seit der Than euch erlaubte, das Haar offen zu tragen. Es steht mir nicht zu, euch anders anzureden." Tibra lachte leise. "Nodhers Erbe ist mir an Macht weitaus überlegen." "Ihn kenne ich, seit er ein Knabe war," wehrte Rhagan fast vergnügt ab. "Er wollte mir niemals ein Herr sein und ich denke, er hat dadurch nur gewonnen." "Erzähle mir von ihm," forderte Tibra den Hünen auf und dann lauschte er dem Abenteuer, das Rhagan in Sion erlebte, als er Ilkonys das erste Mal sah. "Nicht lange danach," schloß er den Bericht, "erhielt ich dann in Gerrys' Tempel meine Freiheit."
"Ich wollte dich nicht an die Zeit deiner Sklavschaft erinnern," entschuldigte sich Tibra halb betroffen. "Ich habe sie nie vergessen," erwiderte der Hüne offen, "und es fällt mir nicht schwer, darüber zu reden. Dies ist ein Teil meines Lebens, der zu mir gehört wie jede andere Zeit darin auch." Tibra setzte sich auf. "Aber es schmerzte, als Attor dich bei deinem Sklavennamen anrief?" "Nein," widersprach Rhagan mit fester Stimme, "damit kann mich heute niemand mehr verletzen. Es schmerzt nur Attors überhebliche Art, mit der er mir manches Mal begegnet." "Trotzdem ist er dein Freund," lächelte Tibra. "Er hat viel für mich getan, als ich sein Sklave war," erklärte Rhagan gelassen. "Es waren gute Jahre damals. Und auch danach gab es oft gute Zeiten für uns beide. Ich besuche ihn auf der Plantage, wenn ich meinem Alltag entfliehen will oder einfach etwas reden. Leider ist er kein guter Zuhörer." Rhagan lächelte etwas unbeholfen. "Vermutlich ist er nicht einmal ein guter Freund." "Nun ja," schlug der Magier da vor, "wenn sich die Sache nach meinen Wünschen regelt, dann werde ich wieder in Nodher leben. Und mein Haus ist viel näher als die Plantage, wenn du es willst, Rhagan. Ich bin ein guter Zuhörer. Und nun komm', laß uns das Haus anschauen."
N
och ehe sie den Tempel erreichten, traten Priester herbei und lösten Ariston und Orales aus der Gruppe, um ihnen entfernt ein Gasthaus zuzuweisen. Ein kräftiger
Mann rief Nodhers Erbe zu sich und führte ihn mit sich. Ilkonys kannte diesen Priester, der Jostur hieß, aus Khyon und war froh, daß ein bekanntes Gesicht in seiner Nähe blieb. Beim Tempeltor verhielt Nymardos den Schritt. Seine Begleiter zerstreuten sich und nahmen ihr Tagwerk wieder auf. Gerrys blieb allein beim Than. "Ich habe mich nach dir gesehnt," gab er leise zu. "Und nun, da wir uns endlich sehen, schließe ich dich nicht einmal in meine Arme," erwiderte Nymardos heiter. "Ich werde es tun, wenn wir allein sind. Doch zunächst muß ich Thyrian sehen." "Er ist Miska. Du kannst ihm nicht helfen." "Gerrys, ich werde tun, was möglich ist, aber ganz gewiß keine törichte Hoffnung in dir wecken," versprach der Than. "Meine Männer haben Thyrian in deine Räume im Tempel gebracht. Ich will ihn in meiner Nähe haben." Gerrys lächelte sacht. "Solange ich dich sehen kann, ist es gleichgültig, wo ich wohne," versprach er. "Mir genügt durchaus ein kleines Gasthaus." Nymardos lachte leise. "Der Pala des Than wird kein kleines Haus haben. Und noch bin ich der Than. Wenn du willst, teile ich meine Zimmer mit dir, das weißt du. Ich bitte dich nun aber, Thyrian nicht aufzusuchen, bis daß ich es dir gestatte. Begrüße Caryll, der dich sicher schon erwartet. Hilf ihm ein wenig. Es ist schwer für ihn, den Gedanken an einen neuen Than zu ertragen."
Gerrys nickte verstehend. "Du willst mich einige Stunden beschäftigen, damit ich dich nicht stören kann," begriff er. "Laß mich rufen, wenn es deine Zeit erlaubt." Nymardos wandte sich dem Tempel zu, drehte sich dann aber noch einmal um und schloß den geliebten Freund nun doch ungeachtet aller Zeugen in die Arme. Gerrys hielt ihn fest und fühlte dessen Liebe. "Berühre meinen Geist," bat er dabei. Er öffnete sich ganz und wußte, daß Nymardos ihn nun im Geist anrührte und so alles in ihm las, was ihn jetzt beschäftigte. Und das war wirklich nicht nur die Freude über das Wiedersehen, sondern auch die Sorge um Thyrian und Tibra und die Betrübnis ob Aristons Verhalten. Nymardos löste sich rasch von ihm. "Geh nun, bevor drängte er liebevoll.
ich
dich auf offenen Platz küsse,"
Dann betrat er wirklich den Tempel und Raakis Falla richtete seinen Schritt zu Carylls Haus, um dort den Freund seines Freundes zu sehen.
D
ie Priester betteten Thyrians Leib auf das Lager, das bisher einzig Raakis Falla bereitet war. Seymas sah ihnen schweigend zu. Seine Augen schimmerten feucht. Wie sehr hatte er gewünscht, Amarra wieder zu sehen und nun, da es geschah, war dies keine Heimkehr, sondern nur eine Verzögerung seiner Verbannung. Die Männer bedeuteten ihm mit einem Wink, daß er hier zu warten habe und verließen den Raum. Die Nebel sanken und hüllten alles in einen diffusen Schleier. Seymas kümmerte sich um das Miska, das man ihm anvertraute und es quälte ihn sehr, zu
wissen, daß dieser Körper einst einem Freund gehörte. Als sich die Tür öffnete, sah er nur flüchtig auf, erkannte jedoch das schillernde, weiße Gewand und warf sich darum wortlos ganz nieder. Nymardos sah kurz auf ihn hinab. Man mußte wirklich kein Priester sein, um zu erkennen, wie sehr Seymas litt. Der Than ging mit einem großen Schritt über den jungen Mann hinweg, erlaubte ihm nicht, sich zu erheben, und setzte sich auf den Rand des Lagers. Mit kundiger Hand betastete er den schwachen Leib, befühlte er die Haut, die langsam wieder Farbe gewann, untersuchte er Gaumen und Augen Thyrians. Befriedigt sah er, daß er Körper gesundete und nicht mehr lange der Pflege bedurfte. In wenigen Tagen mußte die Motorik zurückkehren und dann konnte dieser Leib auf Befehl hin Speise zu sich nehmen, leichte Arbeiten verrichten oder auch ruhen. "Hast du versucht, seinen Geist zu erreichen?" Nymardos sah Seymas bei diesen leisen, ruhig gesprochenen Worten nicht einmal an, aber er wußte durchaus, daß sie den Jungen unerwartet wie Peitschenhiebe trafen. Seymas schwieg. "Antworte mir," hob der Than nun das Redeverbot auf. Seymas krallte die Hände in den dichten Teppich und preßte die Stirn dagegen. "Ich versuchte es," gab er zu und bemühte sich dabei vergeblich, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. "Niemand kann den Geist von Miska finden, Gebieter. Ich habe es auch nicht vermocht." "Er ist dein Freund." Nymardos Stimme klang völlig teilnahmslos und unpersönlich. "In einem Meer des Nichterkennens mußt du ihn erkennen können."
"Ich kann nicht zu ihm." Seymas schluchzte leise. "Willst du es?" "Er ist tot und doch nicht-tot," stöhnte Seymas, "aber ich würde den Tod dem Schicksal vorziehen, das ihr mir bestimmt habt, Gebieter." "Dann hole ihn zurück, und wenn es dein Leben kostet," kam die knappe Antwort. Seymas verkrampfte sich. Ein wenig Hoffnung besaß er immer noch bis zu diesem Moment, daß es vielleicht einen Weg geben könne, auf dem Nymardos' Liebe wieder zu erringen war. Und nun bot er ihm die Selbstaufgabe. Ein sinnloser Tod war alles, das der Than noch für ihn übrig hatte. Er wäre zu allem bereit, wenn es wenigstens Thyrian noch helfen könnte. Aber er war auch ohne jede Hoffnung bereit, denn sein Leben besaß so keinen Sinn mehr für ihn. Nymardos erhob sich. "Steh auf," verlangte er ohne Nachdruck und ohne sichtbare innere Beteiligung, "setze dich zu ihm." Seymas gehorchte nur sehr langsam, sehr zögernd. Aber er erhob sich und als er bei Thyrian saß, drangen ihm die Tränen ohne Unterlaß aus den Augen. Er wollte seinen Schmerz dem Than nicht zeigen, aber er konnte nicht verhindern, daß seine Verzweiflung so sichtbar wurde. Seymas legte die Rechte auf die kalte Stirn Thyrians und ergriff die rechte Hand dieses leeren Körpers. So verharrend wartete er auf einen Befehl, eine Anweisung. Es war sinnlos, Thyrians Geist zu suchen. In den vergangenen Tagen hatte er es immer und immer wieder versucht und doch nur Leere gefunden. Nymardos wußte es.
Die Leere war ein Bereich, vor dem jeder ausgebildete Geist, der sie zu erreichen vermochte, zurückschreckte. Dort endete jedes Wirken und Bewußtsein. "Laß dich in diese Leere fallen," verlangte Nymardos mit weiterhin teilnahmsloser Stimme. "Durch den geöffneten Rapport begleite ich dich, soweit ich kann. Geh weiter. Der Rapport wird dabei zerreißen. Geh weiter. Du mußt ihn finden, ehe die Rückverbindung zu deinem Körper zerreißt, zumindest, ehe dein Geist das begreift." "Und wenn ich ihn nicht finde?" wagte Seymas nun doch eine Frage. "Dann findet Thyrians Geist die Freiheit im Sterben seines verwaisten Körpers. Er hat nur diese eine Chance, also nutze sie." Seymas preßte die Lippen zusammen und schloß kurz verzweifelt die Augen. Was der Than hier forderte, das war eine Unmöglichkeit, aber immerhin war er nicht bereit, Thyrian in diesem Zustand zu belassen und der Tod war allemal besser als Miska. Der junge Priester öffnete seinen Geist weit, verfestigte angstvoll noch einmal den Rapport und richtete sich dann auf geistige Ebenen aus, die dem normalen Alltag entzogen sind. Er suchte Thyrians Geist und fand doch nur Leere. Hier war die Grenze, die niemand überschreiten durfte. Er ging weiter, viel weiter. Der Rapport verlor an Macht und die letzte Verbindung, die es noch zwischen ihm und dem geliebten, väterlichen Freund gab, wurde immer dünner. Nymardos hatte die Hand auf Seymas Schultern gelegt. Der Junge wußte nichts davon und er wußte auch nicht, daß der Than ihn nun voll Sorge begleitete. Als der Rapport immer dünner wurde, spürte er das Zögern des jungen Mannes und die Gewalt, mit der er sich selbst weiter trieb.
Nymardos befand sich innerhalb des Rapportes und die Leere dort traf ihn nicht. Sein Geist blieb frei von Bedrückung und Gefahr, doch ihm entging nicht, daß es kein Weiter mehr gab. Der Rapport zerbrach. Seymas ging weiter. Immer tiefer drang er in Bereiche, die keines Menschen Geist finden darf. Die Rückverbindung zu seinem Körper verlor an Kraft. Er ging weiter. Es war fast wie in der Stunde jenes Schauens, da er den Mittelpunkt verlor und zugleich oben und unten, innen und außen weilte. Mit dem kleinen Unterschied nur, daß er auch sich selbst nicht mehr fand. Er ging weiter und als er wußte, daß jedes Mehr die Verbindung zu seinem Körper zerbrechen würde, empfing er ein vertrautes Ahnen, als käme es aus ihm selbst. Er umschloß es mit seinem Geist, als sei dies das Ich, das er eben verlor. Seymas' Körper sank ohne Bewußtsein vornüber. Nymardos griff nach ihm, untersuchte ihn rasch und trug ihn dann in das angrenzende Zimmer, wo er ihn in einen Sessel bettete. Ein leiser Laut rief wartende Priester herbei, die den leblosen Körper nach draußen brachten. Nymardos wachte bei Thyrian, untersuchte den reglosen Körper immer wieder und ließ nicht nach in seinem Beobachten. Er hob die Augenlider Thyrians an und erst, als er ein leichtes Zucken sah, atmete er unmerklich auf. Es war spät in der Nacht, doch nun durfte er sich etwas Ruhe gönnen. Thyrians Geist kam zurück und es blieb jetzt nichts weiter zu tun, als auf ihn zu warten. Geräuschlos verließ er den Schlafraum, winkte einen Priester in das angrenzende Zimmer und gab leise seine Befehle. Der Mann würde wachen und beim geringsten Geräusch sofort seinen Herrn verständigen. Nymardos suchte seine eigenen Gemächer auf. Gerrys hatte es vorgezogen, kein Gasthaus zu beziehen. Er lag auf Nymardos' Lager in tiefem Schlaf. Der Than lächelte
beim Anblick des Freundes, kleidete sich aus und legte sich zu ihm. Es war gut, einen Menschen zu lieben, der jede Nähe erlaubte.
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och ehe sich die Nebel hoben, erwachte der Than. Er brauchte nicht viel Schlaf und die kurze Zeit der Ruhe genügte ihm. Gerrys schlief noch immer. So verließ Nymardos leise das Zimmer und ließ sich im angrenzenden Raum den Bart schaben und ankleiden. Ein Frühmahl lehnte er ab. In Gerrys' Gemächern wachte nun Sasaran, der sich beim Eintreten des Than sofort erhob und niederkniete. Nymardos ging zu Thyrian, setzte sich zu ihm und untersuchte ihn erneut. Der Priester schlief. Nymardos lächelte erfreut, denn Thyrians Geist war zurückgekehrt. Er nahm den noch immer geschwächten Körper in den Arm und hielt ihn fest, gab ihm so Wärme und lenkte fast wie nebenbei die Heilungsenergien des Körpers, damit Thyrian schneller zu Kräften kommen sollte. Als sich der Priester mit der Zunge über die spröden Lippen fuhr, bettete er ihn sanft zurück. Er mußte ihn erschrecken, wenn er im Arm seines Herrn erwachte. Nymardos öffnete die Tür und gab Sasaran Anweisungen, wandte sich dann wieder Thyrian zu und wartete, an dessen Lager sitzend. Wenig später schlug der Priester aus Sarai die Augen auf. Sein Blick flackerte. Das letzte, woran er sich zu entsinnen vermochte, war ein dunkles, tiefes Erdloch und quälender Durst, gefolgt von einer unendlichen Leere, die ihn aufnahm. Und nun befand er sich in einem großen, weiten Raum, auf einem weichen, angenehmen Lager. Er sah seinen Herrn und erschrak. Thyrian wollte sich aufrichten, den Than gebührend begrüßen, seine Schwäche überwinden. Doch sein Gebieter drückte ihn sacht an den Schultern zurück aufs Lager.
"Willkommen im Leben," sagte er dabei mit warmer Stimme. "Sei ohne Sorge, Thyrian, und errege dich nicht. Du hast viel erlitten und mußt dich schonen." Die Tür öffnete sich und so erhob sich Nymardos, ging zu Sasaran und nahm ihm die verlangte Schüssel mit cremiger Kräutersuppe ab. Thyrian war ausgehungert, doch viel zu schwach, um die Schüssel zu halten. Seine Kraft reichte auch nicht, um sich wehren, als sein Gebieter sich zu ihm setzte und ihm hilfreich die Suppe zu trinken gab. Er schämte sich, so hilflos zu sein, konnte aber nichts dagegen tun. Nachdem er sich gesättigt fühlte, bettete ihn Nymardos erneut nieder. "Schlafe nun," riet er. beschirmen deine Ruhe."
"Wir
wachen über dich und
Thyrian schloß die Augen. Er wollte etwas sagen, doch noch ehe er Worte zu formen vermochte, schlummerte er schon ein.
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ibra konnte noch immer nicht fassen, daß Amarra keine kalte Zeit kannte. Das warme Wasser, die warme Luft und die Blütenfülle begeisterten ihn ungemein. Die kleine Insel gefiel ihm. Rhagan verstand sich prächtig mit den beiden Priestern. Er befand sich bei ihnen im Haus, wo sie plauderten. Tibra war aufs Meer hinaus geschwommen. Er tauchte nach Muscheln, die er erbeutete und wieder in die Tiefe entließ. Er schwamm zurück und lief den Strand hinauf zu dem hohen Gras, in das er sich bettete. Hier lag er gern auf dem Rücken und schaute dem Flug der Wasservögel zu. Seine Gedanken schweiften zu Gerrys, zu Ariston, zu Thyrian. Wenn es ihm verwehrt blieb, nach Nodher zu gehen, so wollte er in Sarai eine Heimat suchen. Die Menschen und die Pferde dort gefielen ihm, die Weite des Landes und die endlose Steppe. Er schloß die Augen und malte sich ein Leben in Sarai aus. Er dachte, es sei Rhagan, der sich zu ihm setzte und kümmerte sich nicht weiter
darum. Andererseits war es sinnlos, von Sarai zu träumen. Sollte Ariston laut den Grund seiner Verbannung verkünden, so gab es kein Land in den Nebelreichen, das bereit war, ihm Heimat zu bieten. Er seufzte. "So verzagt?" erklang heiter die Stimme neben ihm. Tibra zuckte zusammen und richtete sich rasch auf. Er wollte sich auf die Knie drehen, aber Nymardos, der bei ihm lagerte, griff nach seinen Händen und ließ es nicht zu. "Ich sagte dir schon in Khyon, daß ein Kniefall nicht ausreicht und ein Mehr von dir nicht erwartet wird," meinte er vergnügt. "Ich bedauere, daß ich nicht eher kommen konnte." "Ich habe nicht erwartet, daß ihr so schnell kommt," antwortete Tibra langsam. "Ist es nun die richtige Zeit für ein offenes Wort?" "Weshalb so scheu, Tibra? Fürchtest du mich?" Jetzt lächelte der Magier ein wenig. "Nein, Herr, alles andere als dies. Als ich erfuhr, daß ein anderer Than erkannt ist, fing ich schon an, mich darauf zu freuen, euch oft in Nodher zu sehen." "Eine durchaus beiderseitige Hoffnung," bekannte Nymardos offen. "Unsere Begegnung in Khyon war nur kurz und die Pfade, die wir beide beschreiten, sind zu verschieden, als daß es eine Möglichkeit gäbe, sie hier einander anzunähern." "Sie werden sich niemals annähern," vermutete Tibra, "nicht die Pfade, aber vielleicht die Männer. Bitte sagt mir, was ihr mit Thyrians Leib tun wollt."
"Ehe du ihn zu Miska machtest, hast du mir zwei Fragen gestellt," erinnerte ihn Nymardos mit ruhiger Stimme. "Ich fürchtete wirklich, daß ich irgendwie unter eurem Bann, eurer Beeinflussung stehe," gab Tibra zu. "Ich mußte wissen, ob ihr meinen Geist berührt habt." "Die Antwort darauf ist noch immer Nein. Ich habe deinen Geist nie berührt; weder damals noch hier, Tibra. Da war noch eine zweite Frage." "Die ihr aber nicht kennen konntet," murmelte Tibra verstört. Er zog die Knie an und stützte die Ellbogen auf, legte das Kinn in die Hände und grübelte. Nymardos lachte leise. "Gerrys kannte sie nicht," gab er zu. "Er ließ mich nur deine Überlegungen und deine Handlungen wissen, so, wie du sie ihm gezeigt hast. Darum ließ ich dich durch ihn wissen, daß du dich nicht irrst." "Also wirklich Thyrian," begriff Tibra. "Seit wann wißt ihr es, Herr?" "Seit jener Stunde," gab Nymardos offen zu. "Als die Fallas nach dem stärksten Geist suchten, gingen sie an mir vorbei. Ich wußte also, daß ein anderer Geist zu seiner eigenen Kraft fand und nun erkannt sein konnte. Gerrys ging mit den Fallas. Thyrian lag im Sterben und in diesem Zustand hat kein Mensch die Kraft, willentlich einen anderen Geist mit Macht zu erreichen. Er dachte wohl an Gerrys in dieser Stunde und Gerrys suchte ihn, ohne es zu wissen. Dadurch kam ihre Verbindung zustande, die Gerrys natürlich von den Fallas trennen mußte, die nur einen reinen Geist fanden und dessen Kraft. Sie konnten Thyrian nicht erkennen, zumal er sich auf Gerrys allein ausrichtete."
"Dann ist der neue Than Miska," murmelte Tibra düster. "Und ich habe es getan." "Du tatest es, weil du wußtest, daß ein sehr viel stärkerer Geist dein Werk vielleicht wenden kann," erinnerte ihn der Than und ergriff dabei wieder seine Hände, hielt sie nun aber mit sanftem Druck fest. "Auch wenn er stärker ist als ihr, Herr, das kann er nicht schaffen." Nymardos lächelte sacht. "Gerrys bat mich, seinen Geist zu berühren und so weiß ich etwas mehr, als dir vielleicht lieb ist. Du hast verstanden, weshalb ich Seymas verstieß. Solltest du nicht auch begreifen können?" Zögernd hob der Magier den Blick. "Ich war mir nicht sicher, Herr," gab er zu. "Du irrst dich wiederum nicht," versicherte Nymardos. "Seymas hat Thyrian erreicht. Es gibt kein Miska auf Amarra." Tibra richtete forschend den Blick auf sein Gegenüber. Der Zweifel, den er empfand, wich und machte Raum für eine übergroße Erleichterung. Die Tat, die er sich selbst vorhielt und die ihn mehr bedrückte als Aristons Urteil, fand jetzt Rechtfertigung auch vor ihm selbst. Nymardos blieb lange auf der Insel. Sie redeten miteinander und niemand störte sie. Rhagan ließ es sich nicht nehmen, ihnen ein Mahl zu bringen und dankbar nahm er die freundlichen Worte des Than an. Danach ließ er die beiden Männer aber wieder allein.
Tibra griff nach frischen Sajik-Beeren und genoß ihre Süße. Alle seine Fragen waren beantwortet, alle seine Zweifel besiegt und seine Unruhe verschwunden. "Ich werde mit Ariston sprechen," gab Nymardos sein Wort. "Er wird sein Urteil aufheben und einen Weg finden, sich mit Gerrys auszusöhnen." "Miska war der einzige Weg, Thyrians Sterben zu verhindern. Der Herrscher wird wohl nicht weiter zürnen, nachdem so sein neuer Than gerettet wurde." "Das aber, Tibra, darf er noch nicht wissen." Überrascht hielt der Magier inne. "Niemand darf es wissen?" forschte er. "Thyrian sollte der erste sein, der es erfährt, denkst du nicht?" "Und Gerrys?" Nymardos lächelte. "Thyrian ist noch sehr schwach. Die Pflicht befiehlt mir, ihm seine Berufung zu nennen. Die Verantwortung verbietet es. Ehe er es nicht weiß, darf es keiner wissen." "Ich weiß es, Herr." "Du wußtest es vor allen anderen," lächelte Nymardos. "Deine Lippen werden mein Geheimnis hüten und wenn du es erlaubst, dann lege ich eine Schranke um deinen Geist, die keinem Priester erlauben wird, ihn zu berühren." Fragend hob der Magier den Blick. "Gerrys belauscht deinen Geist nicht und Ariston wird es wohl auch nicht tun. Doch schon bei Orales bin ich nicht ganz sicher und in Raakis Tempel auf
Nodher sind viele starke Priester." "Ich würde es aber wissen, wenn sie in mich dringen," vermutete Tibra. "Und es doch nicht verhindern können. Die Schranke bedrängt dich nicht und schafft keine Verbindung zu mir. Ich kann dich sonst nicht gehen lassen, Tibra. Nicht, ehe es Thyrian erlaubt. Aber Ariston und Gerrys werden nur noch einen Tag bleiben." Tibra gab nach, obwohl ihm der Gedanke nicht gefiel. "Dann muß es wohl sein," meinte er. "Wie wird Thyrian die Wahrheit erfahren, Herr?" "Was meinst du?" "Ich meine, daß nur ein Narr annehmen kann, dies sei eine rein freudige Botschaft. Es wird schwer zu tragen sein für ihn." "Deshalb zögere ich," gab der Than offen zu. "Als sie mich erkannten, kamen fremde Männer und warfen sich vor mir nieder und gaben mir keine Gelegenheit, mich an diesen Gedanken auch nur zu gewöhnen. Nun müßte ich zu Thyrian gehen und mich vor ihm demütigen und meine Getreuen mit mir. Und ihn dann allein lassen in seinem neuen Amt." "Das überfordert ihn," warnte der Magier nachdenklich. "Und es ist kein guter Anfang. Tut ihm das nicht an, ich bitte euch. Führt ihn langsam der Wahrheit zu und helft ihm, sie zu tragen." Nymardos lächelte tief und seine braunen Augen strahlten. "Ich bedenke deinen Rat," versprach er.
Als sich Nymardos später verabschiedete, wollte ihm Tibra das Amethystzeichen mit dem eingelassenen Opal zurückgeben, doch der Than wehrte ab: "Du behältst es, solange ich regiere, wie ich es dir versprach. Gerrys wird zur Lichtgleiche wieder hier sein und kann es bringen. Danach hoffe ich dich zu sehen, Tibra." "Ich freue mich darauf," versprach der Magier, kreuzte die Arme vor der Brust und verneigte sich tief.
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hyrian schlief noch immer, als Nymardos den Tempel betrat und noch immer wachte Sasaran. So ging der Than wieder hinaus. Im Geist rief er den vertrauten Freund und Gerrys kam gern zu ihm. Mit Freuden vernahm er die Kunde, daß Thyrians Zustand verüber sei und er genesen würde. Er verstand nicht ganz, weshalb Nymardos ihm nicht erlauben wollte, den Priester zu sehen, nahm es aber hin und genoß die Stunden vertrauter Zweisamkeit. In der Nacht erwachte Thyrian und Sasaran gab ihm Speise und Trank, wusch seinen Körper und sein Haar und blieb still bei ihm, bis er wieder einschlief. Mit dem ersten Schrei des Morgenvogels erwachte Gerrys. Er fand sich allein auf dem Lager, bedauerte dies ein wenig, erhob sich jedoch, um sich auf den Tag vorzubereiten. Nymardos befand im Zimmer nebenan, hörte die Geräusche und rief ihn. Gerrys ließ sich bedienen, während Nymardos eine Schrift las. Als sie endlich allein waren, erklärte der Than: "Ich muß mit Ariston reden. Er wird Tibra nicht weiter bedrängen, aber genügt dir das?" "Mehr kann ich nicht erwarten," vermutete Gerrys. "Ariston wird dir nachgeben, aber deshalb sein Sinnen nicht ändern und im Geist weiterhin meinem Freund grollen. Aber es ist genug, wenn Tibra in Nodher bleiben darf." "Dann komm mit mir," schlug Nymardos vor.
Er empfing Gäste nicht in seinen Privatgemächern. Es gab einen kleinen Raum, den er hier vorzog. Dieses schmucklose Zimmer wies nur einen Sessel auf und daneben, auf einer Säule stehend, einen Flammenden Kristall. Es bot keine Ablenkung und ermöglichte dadurch intensive Gespräche. Hier wartete Ariston auf das Eintreffen seines Herrn. Man hatte nicht erlaubt, daß Orales mit ihm kam. Als der Than nun eintrat, warf sich der Herrscher gleichmütig nieder. Nymardos trat einen knappen Schritt auf ihn zu und erlaubte ihm so, sich auf die Knie zu erheben. Aber er hob ihn nicht auf. "Es ist erstaunlich, daß Raakis Priester Amarra weniger Vertrauen schenkt als ein Magier," sagte Nymardos mit ruhiger Stimme. Indem er Ariston nicht als Herrscher, sondern als Priester ansprach, deutete er bereits an, auf welcher Ebene er sich zu unterhalten gedachte. "Du könntest viel von Tibra lernen, Ariston." "Ein Magier, der Miska schafft, muß am Lehren gehindert werden." "Ich sprach von Vertrauen," mahnte Nymardos. "Was Tibra tat, war ein Opfer für mich, das er fürwahr nicht gern gebracht hat. Macht dich dein Zorn so blind, daß du sein Leiden nicht siehst?" "Es entschuldigt ihn nicht," beharrte der Herrscher. "Ich entschuldige ihn," fuhr ihn Nymardos da überraschend laut an. Mit schon wieder ruhiger Stimme fuhr er fort: "Thyrian ist nicht mehr Miska und wird von den Entbehrungen, die er auf Sarai erlitt, gesunden." Ariston hob irritiert den Kopf. Ihre Blicke kreuzten sich kurz, ehe der Herrscher wieder das Haupt senkte. "Ein
Magier,
der unwiderruflich Miska erschafft, unter-
steht dem Gesetz und dem Urteil eines Königs," fuhr Nymardos ruhig fort. "Ein Magier, der Amarra die Zeit verschafft, die nötig ist, um einem Sterbenden zu helfen, erweist Amarra einen Dienst und ist damit von jedem Gesetz ausgenommen. Du kannst Tibra nicht mehr verklagen, denn du kannst kein Miska vorweisen als Beweis für seine Tat. Wenn Thyrian gesundet ist, wird er selbst für Tibra sprechen. Also nimm dein Urteil zurück, Ariston. Ich verlange es." "Ich beuge mich eurem Befehl, Gebieter," erwiderte Ariston mit fester Stimme, "wie ich es stets getan habe. Ich konnte nicht ahnen, daß Thyrian zu retten ist." "Du konntest es hoffen, wie Tibra es tat," wies ihn der Than kühl zurück. "Aber ist genug, wenn du ihn nicht weiter bedrohst. Steh auf." Ariston erhob sich. Nun durfte er den Than ansehen, aber sein Blick glitt nur zu Gerrys. Nymardos verließ das Zimmer und Gerrys folgte ihm, ohne ein Wort mit dem Herrscher gesprochen zu haben. "Du zürnst ihm wirklich sehr," stellte Nymardos fast heiter fest, als er mit Gerrys durch die weiten Gärten ging. "Das kann nicht seine herrische Art allein bewirken und wohl auch nicht, daß er dir befahl, ihm zu gehorchen." "Ich bin es von ihm nicht gewohnt." "Von mir auch nicht, mein Freund," erklärte der Than heiter, "und doch mußtest du so manchen Befehl von mir hinnehmen und auch ertragen, der dir nicht gefiel. In all den Jahren unserer Nähe hat dich mein Amt nie so sehr erschreckt, daß es uns entzweien konnte. Es ist Aristons Amt, zu richten und sein Urteil über den miskaschaffenden Magier ist gerecht."
"Nicht aber die Brutalität, mit der er ihn in Sarai dem Tode überließ," beharrte Gerrys. "Das willst du ihm also nicht verzeihen." Nymardos verstand. "Ich vermute, Tibra wird es tun." "Ich werde es sehen," wich Gerrys einer Antwort aus. Nymardos hatte den Schritt zu einem der kleineren Gasthäuser gelenkt und sah sich nun um. Unweit befand sich ein kleiner Weiher, an dessen Ufer Ilkonys saß. Gerrys verhielt den Schritt. "Was willst du tun?" erkundigte er sich. "Nodhers Erben begrüßen," erwiderte der Than ruhig, "und ihn dann nach Hause schicken." Gerrys ergriff hastig die Hand des Freundes. "Er verlangt nach Leitung." "Thyrian ist nicht in der Verfassung, ihm jetzt diesen Dienst zu erweisen," wehrte Nymardos ab. "Aber doch wohl in der Lage, ihn als Chela anzunehmen." Nymardos schüttelte den Kopf. "Er wird ihn nicht fragen können," gab er zu, "da ich das nicht dulden werde. Der Prinz grollt seinem Vater noch weitaus mehr als du und niemand kann eine Weihe erhalten, der solchen Zorn empfindet." "Der Weg zur Weihe glättet die Wogen der Erregung. Ich bitte dich, tue ihm nicht weh. Schicke ihn nicht fort, Nymardos, nicht jetzt."
Ilkonys hatte die Männer bemerkt und sich umgesehen. Da er bei Gerrys nun den Than erkannte, erhob er sich, kam ihnen etwas entgegen und legte sich vor Nymardos auf die Erde. Der Than sah den Freund an, trat dann auf Ilkonys zu und erlaubte ihm, aufzustehen. "Trauere nicht weiter um Thyrian, der wieder gesunden wird," begann er. "Der Priester ist noch sehr schwach und niemand darf jetzt zu ihm. Du wirst morgen mit deinem Vater nach Nodher reisen." Ilkonys ballte die Hände zu Fäusten, um sich selbst an einem aufbegehrenden Wort zu hindern. Gerrys starrte auf das Wasser des Weihers und fühlte sich ohnmächtig, da der geliebte Freund nicht seiner Bitte entsprach. Nymardos berührte unbemerkt den Geist des Prinzen, tastete ihn kurz ab und sagte dann mit ruhiger Stimme: "Auf Sarai hast du tapfer für Thyrian und Tibra gestritten und beide sind es wert, für sie einzustehen. Es ist gut, in Nodhers Erben einen aufrichtigen, edlen Mann zu finden. Trage dies wieder, denn nun hast du es dir verdient." Er reichte Ilkonys ein Schmuckstück. Dieses Schutzzeichen, einen Amethysten mit eingraviertem Siebenstern nahm er ihm vor Jahren auf Khyon ab, als Ilkonys weniger Treue zu seinen Gefährten beweis. Nur zögernd nahm der junge Mann den Stein an sich, der ihn jetzt zwar ehrte, der aber doch nicht verhindern konnte, daß er Amarra verlassen mußte. Seine Mundwinkel zuckten. "Dein Vater hob das Urteil über Tibra auf," fuhr Nymardos fort. "Der Magier wird auf demselben Schiff wie Nodhers Herrscher reisen und es ist mir lieb, dich dabei zu wissen. Denn ich vertraue darauf, daß du Tibra auch künftig vor jeder Willkür schützen wirst, Ilkonys."
"Ich verspreche es euch, Gebieter," rang sich der Prinz die Worte ab. "Wenn dir die Nähe des Herrschers unerträglich ist, verweile in Raakis Tempel," empfahl der Than freundlich. "Gerrys wird zur Lichtgleiche wieder hier sein, wie es jeder Falla und jeder Herrscher tut. Den einen oder den anderen wirst du dann nach Amarra begleiten." "Ich darf wieder kommen?" Jetzt sah Ilkonys auf und bittend richtete er den Blick auf seinen Herrn. "Amarra wartet auf dich," versprach Nymardos sehr freundlich. "Du erweist Thyrian einen Dienst, wenn du jetzt etwas wartest und wenn du wiederkehrst, wirst du geleitet werden." Gerrys hörte die Worte und richtete nun erfreut den Blick auf den Freund. Ilkonys kniete nieder. "Die Götter sind mit dir," grüßte Nymardos den Prinzen. Dann nickte er Gerrys kurz zu, wandte sich um und ging weiter durch die Gärten. Der Falla blieb bei Ilkonys, der nun, da er wußte, daß er wiederkommen durfte, keine Bedrückung mehr empfand. Daß Thyrian gesundete, vermochte er kaum zu fassen und es gab viele Fragen, mit denen er Gerrys nun bestürmte. Es leuchtete ihm durchaus ein, daß Thyrian in seinem geschwächten Zustand viel Ruhe und wohl auch noch lange Zeit Pflege brauchte. Die Zeit bis zur Lichtgleiche wollte er gern warten, wenn es dem Priester helfen konnte. Und da es ihm erlaubt war, in Gerrys Tempel zu verweilen, nahm er die Abreise mit erstaunlicher Leichtigkeit hin. Während sie sprachen, löste er selbst das Band aus seinem Haar. Als Erbe der Macht besaß er mehr Möglichkeiten, Menschen wie Tibra vor Willkür zu schützen und
diesen Auftrag nahm er durchaus erst. Gerrys fand den Freund später wieder in den Gärten, wo er mit einigen Priesterinnen sprach, diese bei seinem Nahen aber entließ. Nymardos lächelte Gerrys heiter an. "Du wirkst zufrieden, also hat Nodhers Erbe meine Entscheidung akzeptiert," stellte er fest. "Mehr als dies," gab Gerrys zu. "Er ist von Stolz erfüllt wegen dem Lob, das du ihm gabst und überzeugt, daß sein Warten Thyrian helfen wird." "Das tut es," versprach Nymardos mit ernster Stimme. Sie nahmen den Weg wieder auf und kamen in der Nähe von Carylls Haus vorbei. Gerrys zögerte, aber da Nymardos den Schritt nicht verhielt, folgte er ihm. "Caryll ist nicht sehr glücklich," entdeckte Gerrys. "Der Gedanke an einen neuen Than belastet ihn," bestätigte Nymardos. "Aber wenn er ihm begegnet, wird er ihm wohl gern dienen. Und anfangs wird er so viel Arbeit haben, daß ohnehin kein Raum bleibt für trübe Gedanken." "Das ist es nicht allein." Gerrys zögerte, überwand sich dann und sagte: "Er sorgt sich um Seymas." Nymardos berührte ihn leicht am Arm und meinte dabei: "Du wirst deine Scheu nie ablegen, wenn du versucht, über Dinge zu reden, von denen du annimmst, sie gefallen mir nicht. Natürlich bedrückt Seymas' Schicksal meinen Pala. Er liebt ihn, wie du weißt." "Er würde dich gern für ihn bitten," gestand Gerrys.
"Das wagt er nicht," lächelte Nymardos. "Caryll stellt meine Entscheidungen nicht laut in Frage. Er wird meinen Nachfolger bitten, Seymas das Reden zu erlauben und ihn auf Amarra zu halten." "Du hast ihn nach Wyla verbannt," erinnerte der Falla. "Gilt das nicht mehr?" "Nachdem das Schiff sein Ziel nicht erreichte, lasse ich ihn nun hier. Aber das ist schon alles, Gerrys. Ich mache keine weiteren Zugeständnisse." "Ist sein Vergehen für dich so unverzeihlich? Selbst Tibra wunderte sich sehr darüber, daß der Junge deine Liebe verlor." Nymardos lachte leise beim Gedanken an den Magier, dessen Kombinationsgabe und Einfühlungsvermögen sogar ihn immer wieder in Erstaunen versetzen konnten. "Hast du mit Seymas gesprochen?" wollte er wissen. "Du weißt, was auf dem Schiff geschah," gestand Gerrys. "Hier habe ich ihn nicht aufgesucht." "Du solltest Überraschung.
es
tun," riet ihm der Than da zu seiner
"Er wird sich an sein Redeverbot halten," vermutete Gerrys. "Seymas wird dir nicht den Gehorsam verweigern." "Wenn mein Pala es vorübergehend erlaubt, wird er reden," meinte Nymardos bedeutsam. Einer seiner Getreuen kam zu ihnen und da der Than ihm seine Aufmerksamkeit widmete, ging Gerrys beiseite. Er suchte Seymas nicht sofort auf, sondern durchstreifte den parkähnlichen Garten einige Zeit, ehe er seinen Schritt dann
doch zu dem kleinen Haus lenkte und dort eintrat.
S
eymas lag auf seinem Lager. Er hörte wohl das Kommen eines Menschen, nahm aber an, ein Priesterschüler bringe Nahrung. So reagierte er nicht sofort. Und dann wußte er doch, wer zu ihm kam. Er sprang auf und verließ rasch die Schlafkammer. Gerrys öffnete eben den Fensterverschlag und ließ das helle Licht des Tages ein. Nun sahen sie sich an. Der Jüngere kreuzte die Arme vor der Brust. Er wollte niederknien, doch Gerrys faßte rasch nach seinen Schultern und zog ihn an sich. Seymas genoß die Umarmung. So viel Nähe gab ihm nun kein Mensch mehr und jetzt bedeutete ihm diese Geste mehr als alle Worte. Als er sich von Gerrys löste, war er sehr ruhig und es wunderte ihn nur, daß der Falla nicht sofort wieder ging. "Thyrian gesundet," versprach Gerrys. Seymas nickte nur. Er wußte es bereits, obwohl ihm niemand Nachricht davon brachte. Gerrys drückte ihn auf einen Stuhl nieder, setzte sich sich zu ihm und sagte leise: "Wenn du willst, Seymas, dann gilt jetzt kein Verbot für dich." Seymas sah ihn fragend an und so versicherte er: "Unser Gebieter weiß, daß ich hier bin. Er hat es wohl um Carylls Willen erlaubt, der sehr um dich besorgt ist." Seymas tastete nach der Hand des Falla und hielt sie fast krampfhaft fest. Aber er sprach. Er erzählte leise, wie er in der Nacht der Lichtwende auf das Dach des Tempels stieg und weinend befürchtete, sein Herr könne alle Macht verlieren. Er schirmte sich ab, damit sein Kummer niemanden erreichen und stören solle und er hoffte, daß die Fallas keinen stärkeren Geist fänden. Diese Hoffnung hegte er jedes
Jahr, doch in dieser Nacht war sie viel schwächer als sonst. "Und nun verliert er alles, was er je besaß," schloß er düster. "Diese Regel ist grausam." Gerrys drückte seine Hand. "Er verliert nur seine Macht," wehrte Gerrys ruhig ab. "Nymardos hat nie mehr gewollt, als daß ein anderer sein Amt übernehmen wird und es ihm endlich erlaubt sein wird, sich selbst zu leben. Du hast diese Stunde jedes Jahr gefürchtet, für ihn war sie immer nur Hoffnung. Als er mich vor Jahren zur Weihe des Lichts führte, erklärte er mir Antares' Symbol derart, daß ich in der Weihe den Punkt in der Mitte, meinen Mittelpunkt nicht verlieren dürfe. Verstehst du, was ich meine?" Seymas nickte nur und so fuhr er fort: "Damals gestand er mir, daß es sein Amt sei, den Kreis zu bilden und daß ihm dieses Amt verbiete, in der Mitte zu ruhen." Seymas hob ruckartig den Kopf. Diese Erklärung erinnerte ihn an Nymardos' Worte, mit denen er ihm jenes verwirrende Schauen erleichterte, bei dem er zu seiner eigenen Kraft fand. "Es ist gewiß nicht leicht, den Kreis bilden zu müssen. Ich freue mich für unseren Herrn, daß ihm nun ein anderer diese Last abnehmen wird." Seymas hielt Gerrys' Hand jetzt mit schmerzhaften Druck fest. Er merkte es nicht einmal, so verkrampft war er nun. "Ich dachte immer, er liebt sein Amt." "Das tut er," gab Gerrys zu. "Wenn man etwas tun muß, kann man es besser mit Freuden tun als nur im Dienste einer Pflicht." "Ich
verstehe schon, Gerrys. Ich verstehe nun auch,
warum er mir seine Nähe verbietet und seine Liebe entzieht." Seymas lockerte den Griff und zog seine Hand zurück. "Jetzt bin ich bereit, nach Wyla zu gehen." "Diese Weisung gilt nicht mehr," entdeckte der Falla. "Der neue Than wird bestimmen, wie du zu leben hast." "Ich will ihm nicht begegnen," beschloß Seymas. "Wenn ich nicht verpflichtet bin, hier zu bleiben, werde ich mir selbst einen Tempel und einen Dienst wählen." "Das Redeverbot gilt noch," warnte Gerrys mit leiser Stimme, "und du wirst warten, was man über dich entscheidet. Der Pala des Than wird dich wohl in Dienst nehmen wollen." "Für Caryll ist es sehr schwer," begriff Seymas. "Aber er wird nicht den Mut haben, für mich zu bitten. Er begehrt nicht gegen unseren Gebieter auf und wird auch dem neuen Than nur in stiller Demut dienen. Caryll würde ich sehr gerne helfen. Ich werde also warten, was geschieht." Gerrys erhob sich. Nymardos hatte ihm erlaubt, mit Seymas zu reden, aber das sollte nicht in leichte Plauderei ausarten. Es gab nichts mehr zu sagen.
N
ymardos hatte Caryll in seinen Gemächern empfangen, ihn aber sofort allein gelassen, als Sasaran Nachricht sandte. So fand Gerrys den Freund des Freundes allein vor und sah mit Betrübnis dessen Anspannung. Die Menschen auf Amarra gewöhnten sich schon an den Gedanken, einen neuen Herrn zu erhalten und empfanden mehr Neugier und Erwartung. Caryll empfand Kummer. Er liebte Nymardos seit den Tagen seiner Kindheit, wenn er es auch nicht vermochte, dieser Liebe durch Nähe Ausdruck zu verleihen. Ihn nun bald verlieren zu müssen, schmerzte ihn.
Wurde ein neuer Than erkannt, so verlor der Vorige nicht nur alle Macht und Befugnisse, sondern auch alle Rechte und Bevorzugungen. Er übergab sein Amt und verließ danach den Tempel, um irgendwo auf Amarra seinen Platz nach freiem Willen zu suchen. Daß Nymardos Amarra verlassen und es vorziehen würde, in Raakis Tempel auf Nodher zu leben, darüber gab es keinen Zweifel. Caryll wußte es, obwohl sie nicht darüber sprachen. "Der Pala des Than wird in meinem Tempel stets willkommen sein," versprach Gerrys. Caryll verstand die Anspielung. Er hatte Gerrys' Tempel nie gesehen. Vor fünf Jahren reiste er einmal nach Khyon, als Nymardos in Gefahr geriet. Ansonsten verließ er Amarra niemals und bisher dachte er über eine solche Möglichkeit auch nicht nach. Nun erschien ihm dieser Gedanke mit einem Mal sehr verlockend. "Ich wünschte," erwiderte er aufrichtig, "daß es möglich wäre, mein Amt zu enden." "Um auch in Nodher zu leben?" Gerrys staunte. Bis vor wenigen Jahren waren sie eher Feinde denn Gefährten gewesen und erst die Ereignisse in Khyon söhnten sie einander aus. "Ich würde es begrüßen. Doch ich denke, unser neuer Gebieter wird eure Hilfe benötigen, Pala. Es wartet ein schweres Amt auf ihn und wer immer es sein mag, er verdient unsere Unterstützung in allen Belangen." "Ich werde ihm dienen," versprach Caryll. "Aber ich werde auch die Zeit finden, Nodher aufzusuchen, Falla. Ich danke für die Einladung." Nymardos kam zurück. Er fand seine Freunde ins Gespräch vertieft und als er sah, wie sehr Caryll die Vorstellung gefiel, auf Reisen zu gehen und wie sehr ihn dieser Gedanke stärkte, zeigte er seine Freude über diesen
Beschluß. Er wollte mit Caryll die Dinge seines Amtes besprechen, stellte diese Absicht aber nun hintenan und verschob sie auf den anderen Tag. Als die Nebel sanken, verabschiedete sich Caryll und die Art, wie er sich dabei leicht vor Gerrys neigte, zeigte mehr als Worte, wie dankbar er dem Falla war. Endlich erlaubte die Zeit den Freunden vertraute Gespräche und die Nähe, nach der sie sich beide sehnten.
D
ie Nebel hoben sich. Ein Katamaran brachte Tibra und Rhagan auf das wartende Schiff. Wenig später kam Ilkonys. "Unser Gebieter wünscht, daß ich noch einmal nach Nodher gehe, ehe ich Leitung erhalte," erklärte er Tibra freimütig. "Mein Vater bedroht euch nicht länger und es steht euch jeder Weg frei." Er suchte die Kabine auf, die ihm einer der Priester anwies und kleidete sich um. In Reisekleidung fühlte er sich wohler, zumal die Wärme bald wieder der kalten Zeit weichen mußte. Tibra lehnte in der Tür und sah ihm unverfroren zu. "Ihr zürnt eurem Vater noch immer," stellte er gelassen fest. "Als Erbe der Macht solltet ihr durchaus sehen, daß sein Urteil gerecht ist und er mir eigentlich das Leben nehmen müßte. Keine Gnade für einen Magier, der Miska erschafft." "Warum tun sich der Prinz.
Leute
wie
ihr das eigentlich?" erkundigte
Tibra lachte leise auf. Seine Stimme klang verächtlich, als er Antwort gab: "Sklaven
sind
teuer, mein Prinz. Ein Miska kann ein
Magier ohne Kosten erschaffen und in ihm dann einen brauchbaren Handlanger finden, der einfache Arbeiten verrichten kann und keine Ansprüche stellt. Darüber hinaus ist die Erschaffung von Miska ein Weg, magische Kraft zu finden." "Ihr habt aber keinen Ersatz für einen Sklaven gewollt," stellte Ilkonys fest. "Ihr tatet es für Amarra, eigentlich auch für Thyrian." "Ich habe ein Sterben verhindert," gab Tibra zu. "Und ich habe gehofft, daß der Than einen Weg finden wird, Thyrian aus diesem Zustand zu befreien." "Und wenn es ihm nicht gelungen wäre? Thyrians Geist wäre für viele Jahre leidend gefangen." "Gewiß nicht," wehrte Tibra ab. "Unser Gebieter hätte sich nicht gescheut, in diesem Fall den geistlosen Körper zu töten." "Das denke ich auch," stimmte der Prinz zu. "Deshalb war Vaters Urteil in eurem Fall nicht gerecht. Er hat mich nie zuvor so sehr enttäuscht." Sie hörten Rufe und wußten, daß Nodhers Herrscher mit Orales nahte. Als Tibra an Deck die Arme kreuzte und vor seinem König niederkniete, blieb Ilkonys an der Seite des Magiers und tat es ihm gleich. So mußte Nodhers Herrscher beiden erlauben, sich zu erheben. Gerrys befand sich noch nicht hier und das Schiff wartete auf Raakis Falla. Ariston sprach leise mit Orales und versuchte, dabei den Sohn und den Magier zu ignorieren. Nodhers Erbe begrüßte Rhagan mit freudigen Worten. Tibra trat zur Reeling und genoß den blühenden Anblick, den sein Auge fand. Er stand keine zwei Schritte von Ariston entfernt. Der Herrscher sah zu ihm.
"Daß ich gehalten bin, dich in meinem Reich zu dulden, bedeutet nicht, daß ich dein Handeln verzieh," warnte er mit leiser Stimme. "Dein Anblick beleidigt mich. Ich will dich nicht sehen, Tibra, und solange wir auf Reisen sind, wirst du in deiner Kabine bleiben und später, an Land, hinter mir reiten oder einen anderen Weg nehmen." Ilkonys hörte die Worte. Das war die Willkür, vor der er Tibra zu schützen hatte. Eilig ging er in seine Kabine und legte den Degen an. Rasch kam er zurück. Tibra zuckte inzwischen gleichgültig mit den Schultern. Die Verachtung des Königs berührte ihn nicht, wußte er doch, daß sein Handeln in allem mehr als nur gerechtfertigt war. Er wandte sich um und wollte seine Kabine aufsuchen, aber da erklangen Rufe. Gerrys kam den gewundenen Pfad herunter, begleitet von einigen Priestern, mit denen er sich unterhielt. Tibra bedauerte fast, den Than nicht sehen zu können. "Verschwinde," herrschte Ariston den Magier an, als dieser wieder auf Amarra sah. Da wandte sich Tibra dem Herrscher zu. "In Nodher werde ich euch in allem gehorchen," versprach er mit fester Stimme. "Aber dies ist Amarra und hier bin ich nicht nur geduldet, sondern ein gern gesehener Gast. Es wäre dem Gastgeber gegenüber unhöflich, wollte ich nicht jeden Augenblick genießen, den ich hier sein kann." Ariston spannte sich an. Als seine Faust vorschnellte, rief Ilkonys laut: "Paßt auf, Tibra." Der Magier wich dem Hieb aus. Ilkonys zog die Waffe und sprang an seine Seite. Orales faßte mit hartem Griff nach
Aristons Schulter und hielt ihn so von einem weiteren Hieb ab. Die Mannschaft des Schiffes stellte sich hinter Tibra. Ariston schüttelte Orales' Hand ab. Aber er hatte sich schon wieder in der Gewalt und hieb nicht mehr zu. Sein Blick krallte sich an Ilkonys fest. "Du bedrohst mich?" Das klang nicht herrisch, sondern tief verletzt und sehr enttäuscht. Ilkonys hielt die Waffe fester. "Ich habe Order, Tibra vor Willkür zu schützen," antwortete er mit fester Stimme. "Amarras Wille steht über deinem Befehl, Vater." Gerrys sah die Situation von weitem und beeilte sich. Er kam an Bord und griff nach Ilkonys' Waffenhand. "Weg damit," verlangte er. Nodhers Erbe schleuderte den Degen von sich, blieb aber lauernd vor dem Vater stehen. Tibra grinste. Rhagan hatte den Degen aufgehoben, hielt ihn nun aber nicht wie eine Waffe. Er gesellte sich zu Gerrys. Orales hielt sich zu Ariston, aber ansonsten standen sie alle auf einer Seite und gaben dem Herrscher so deutlich zu verstehen, daß sie einen Magier einem König vorzogen. Tibra legte die Rechte auf die Brust und verneigte sich spielerisch vor Ariston. "Gebieter," sagte er dabei freimütig, "Amarra ist ein seltsames Land. Hier zählt das Urteil eines Herrschers nicht sehr viel, und sei es noch so gerecht." Der König horchte überrascht auf. Er tastete im Geist nach Tibra und stellte erstaunt fest, daß eine Schranke ihn an der Berührung hinderte. So mußte er nachhaken: "Es ist gerecht?"
"Eigentlich nicht," schränkte Tibra frech ein. "Gerecht wäre nur das Todesurteil, das ihr nicht gesprochen habt." "Dann war ich deiner Meinung nach zu milde?" stellte Ariston fest und er wunderte sich selbst darüber, daß er nun so ruhig mit dem Magier sprach. "Nun," gab der gelassen zu, "ich hoffte, daß eure Liebe zu Gerrys es euch ermöglichen wird, die Erfüllung des Gesetzes in seiner ganzen Härte zu umgehen." Ariston wandte sich zur Reeling und sah auf das Land. Die Anspannung fiel von den Leuten ab und die Mannschaft holte den Anker ein, setzte die Segel, brachte das Schiff auf Kurs. "Was hoffst du nun, Tibra?" erkundigte sich der Herrscher. "Daß ich dir danke für deine Tat?" Tibra lachte leise. "Das werdet ihr sehr viel später einmal tun," behauptete der Magier frech und er dachte daran, daß Ariston zur Lichtgleiche dem neuen Than begegnen mußte. "Jetzt hoffe ich eher, daß die tiefe Liebe, die ihr für euren Sohn empfindet, euch ermöglichen wird, zuzugeben, daß Nodhers Erbe seinen Vater in meinem Fall an Weisheit übertrifft." Er lachte leise und ging in den Bug des Schiffes. Gerrys gab Orales einen Wink und der Mann aus Moras kam zu ihm und ließ sich beiseite führen. Ilkonys blieb allein bei seinem Vater. "Was die Liebe betrifft, irrt er sich nicht," sagte Ariston leise. "Bei der Weisheit bin ich mir nicht so sicher." Ilkonys trat neben ihn und sah wie er zur sich entfernenden Küste.
"Ich bin nicht weise," wehrte er leise ab. "Aber ich denke, der Than ist es und er hat mir Tibra anvertraut." "Deshalb mußt du Amarra verlassen?" Ariston wandte sich nun dem Sohn zu. "Du verzichtest auf Leitung, um den Magier vor mir zu schützen? Ich bitte Gerrys, das Schiff nach Amarra zu lenken, damit sich dein Wunsch erfüllt, mein Sohn." "Und Tibra?" Ariston sah zum Bug. Tibra trug noch immer die braune Tunika. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, drehte sich aber um, als Ariston näherkam. Ilkonys ließ keinen Blick von ihnen. Tibra lächelte, als er die Arme vor der Brust kreuzte. "Ich schätze, euer Sohn wird es euch verübeln, wenn ich mich jetzt niederwerfe," meinte er mit der unverfrorenen Offenheit, die ihn auszeichnetete. "Das würde jeder an Bord tun," stimmte Ariston zu. Tibra entspannte sich und ließ die Arme sinken. "Ich sagte es ja, Amarra ist ein seltsames Land. Was befehlt ihr mir, Herr?" Ariston suchte nach Worten. "Ich habe mich schon einmal bei dir entschuldigt," begann er, "und damals war ich wirklich im Unrecht." "Nun müßt ihr euch entschuldigen, obwohl ihr durchaus im Recht seid," erwiderte Tibra ruhig. "Das kann weder euch noch mir gefallen, Gebieter. Aber da keiner uns hören kann, nennt mich ruhig einen Schurken. Wenn ihr mir trotzdem wie versöhnend die Hand reicht, ist es für Ilkonys und für Gerrys genug und ihr werdet die Liebe beider behalten."
Ariston starrte ihn sprachlos an. Aber dann streckte er doch die Hand aus und als Tibra diese zum festen Druck ergriff, sagte er nur: "Ich nenne dich nicht einen Schurken, wohl aber einen unverschämten Kerl ohne jeden Respekt. Ich danke dir trotzdem." Als er danach zu Ilkonys ging und von seinem Sohn freudig umarmt wurde, fühlte er sich seit langem zum ersten Mal wieder wohl.
N
ymardos begleitete den Freund nicht zum Hafen. Sasaran ließ ihn wissen, daß Thyrian erwachte und so zog er es vor, sich dem Mann aus Sarai zu widmen, der nicht ahnen konnte, welches Amt ihn erwartete. Thyrians Körper war noch geschwächt, doch sein starker Geist zwang diese Schwäche zusehens nieder. Er wußte nicht, weshalb man ihn in dieses große Zimmer brachte, er wußte nicht einmal, daß er sich im Tempel befand. Er ahnte es aber und er dachte mit Unbehagen daran, dem Than erneut auf dem Lager liegend begegnen zu müssen. Mühsam erhob er sich. Sasaran, stets schweigsam in seiner Nähe, wollte ihn hindern, aber als Thyrian unbeirrt blieb, stand er ihm bei. Er half dem Priester bei der Waschung, schabte ihm den Bart und kleidete ihn an. Die weiße Tunika lag schon lange bereit und sie war das angemessene Gewand für einen Priester des Lichts. Sasaran führte Thyrian in das angrenzende Zimmer und drückte ihn dort in einen der hohen, weichen Sessel. Er ließ nahrhafte Speise kommen und bediente den Priester voll Umsicht. Er wußte nicht, daß Thyrian erkannt wurde und er fragte auch nicht danach. Ihm war es genug, daß Nymardos den Priester umsorgt wissen wollte. Thyrian sah sich um. Der Raum war prachtvoll ausgestattet und eines Königs würdig. Neben dem großen Fenster stand eine mannshohe Kristallspitze, die keinerlei Trübung aufwies. Der Kristall verströmte Frieden und Harmonie. Nymardos trat ein und Sasaran verneigte sich tief, ehe er
den Raum verließ. Thyrian wollte sich erheben und niederwerfen, aber der Than trat zu rasch zu ihm. Es war Nymardos' Pflicht, sich nun vor Thyrian zu demütigen und ihm sein neues Amt zu nennen. Aber Thyrians Blick flackerte und fast angstvoll sah er den Mächtigen an. Da setzte sich Nymardos auf die Armlehne des Sessels und sprach nur belanglose Worte. Thyrian wurde ruhiger, als er die Zuneigung und Wärme des Than verspürte. "Wo bin ich? schließlich wissen.
Und wie komme ich hierher?" wollte er
Nymardos beantwortete seine Fragen. Er begann bei der Lichtwende und dem Kontakt, den Thyrian zu Gerrys wob, erzählte von der Reise des Fallas und seiner Gefährten und dem Wirken Tibras. Er sprach das Wort Miska nicht aus dabei, aber Thyrian ahnte, was wirklich geschah. "Wo ist dieser Magier?" wollte er wissen. "Auf dem Weg nach Nodher," erwiderte Nymardos. "Das ist bedauerlich," bekannte Thyrian offen. "Ich würde mich gern bei ihm bedanken. Er hat schon einmal viel für mich getan. Ich habe in Nodher manche Stunde mit ihm verbracht, aber nicht erwartet, ihm wieder zu begegnen. So ist auch Raakis Falla nicht mehr auf Amarra?" Nymardos bejahte. Die Unterhaltung strengte Thyrian an, doch er zwang ihn nicht zur Ruhe, sondern beantwortete seine Fragen und widmete ihm seine Zeit, bis Thyrian selbst ermüdete. Er wollte nicht im Tempel bleiben, sondern seinem Stand gemäß ein Gasthaus erhalten. "In Khyons Tempelberg hast du mir dein Leben und die Gesundheit deines Geistes anvertraut," erinnerte ihn Nymardos aber mit sanfter Stimme.
"Ich vertraue euch immer noch," murmelte Thyrian matt. "Dann bleibe hier und dulde meine Fürsorge für dich," schlug der Than vor. "In wenigen Tagen wirst du erstarkt sein und dann deinen Platz selbst wählen." Thyrian gab nach und fügte sich. Einige Tage hindurch blieb er im Tempel und hielt sich ausschließlich in Gerrys' früheren Gemächern auf. Er sah nur Nymardos und Sasaran und er freute sich auf jedes Gespräch, das sie ihm erlaubten. Sasaran beantwortete alle seine Fragen nach Amarra und den Sitten und Gebräuchen auf der weiten Insel. Die verschiedenen Töne, die zu den einzelnen Ritualen in den Tempel riefen, erklangen ihm wohl vertraut. Thyrian fühlte sich geborgen und auch sein Körper gewann die alte Kraft zurück. Er wünschte sich nur, nicht länger eingesperrt zu sein. "Ich möchte den Garten sehen," bat er, als Nymardos wieder bei ihm weilte. Inzwischen grüßte er seinen Herrn kniend und akzeptierte freudig, daß er sich nicht ganz unterwerfen mußte. Als der Than seinem Wunsch jetzt entsprach und ihn aus dem Tempel führte, da sah er mit Staunen, daß die völlige Unterwerfung nicht so üblich war, wie er angenommen hatte. Die Menschen neigten sich tief vor Nymardos und nahmen dann ihre Arbeit wieder auf. Der offizielle Gruß galt wohl nicht bei jeder Begegnung. Thyrian sah aber mehr. Er sah, wie sehr die Menschen ihren Than liebten und daß nicht alle große Scheu vor ihm empfanden. Der Anblick eines der kleinen Teiche bezauberte ihn und lange verweilten sie an dessen Ufer, den Vögeln lauschend und die Insekten beobachtend. Nymardos lagerte im Gras und Thyrian kniete an seiner Seite. Als den Than dürstete, schöpfte er ihm Wasser und Nymardos trank aus seiner hohlen Hand, hielt sie danach fest.
"Die Schönheit Amarras bezaubert dich," sagte er ruhig. "Aber du bist nicht glücklich. Was bedrückt dich, Thyrian?" "Sasaran sagte, daß ein anderer Than erkannt wurde," gab der Priester zu. "Es ist so viel Frieden hier und ich fürchte fast, wenn ein anderer regiert, wird sich das ändern." "Ein stärkerer Geist wird stärkeren Frieden schaffen," versprach Nymardos ruhig, aber er dachte daran, daß er Thyrian nicht mehr länger täuschen durfte. "Ich wünschte, ich könnte mehr von Amarra sehen," murmelte Thyrian voll Sehnsucht und gab mit diesen Worten den Ausschlag dafür, daß Nymardos weiter schwieg. Er nahm Thyrian mit sich und wanderte mit ihm in weit ausholenden Schritten durch das Land, wie er es in den vergangenen Jahren so oft tat. Manchmal war dann Gerrys an seiner Seite. Jetzt begleitete ihn Thyrian, der nach und nach alle Scheu verlor und sich als guter Gefährte erwies. Sie führten viele Gespräche und kamen einander immer näher. Thyrian sah das ruhige Wirken seines Herrn, wenn sie in Siedlungen rasteten und Nymardos sein Amt ausübte als Ratgeber, Richter und oberster Leiter der Priesterschaft. Sie rasteten am Ufer eines schmalen Baches. Es gab keine weitere Begleitung und Thyrian wunderte sich etwas darüber, daß der Than allein so weite Reisen unternahm. Aber er freute sich auch, weil er so unbelauscht mit ihm sprechen konnte. "Könnte es dir gefallen, für immer auf Amarra zu leben?" wollte Nymardos unvermittelt wissen. Thyrian horchte auf. Das klang ernst und er spürte die Gewichtung dieser Frage deutlich. "Ein Land ohne Pferde ist seltsam," erwiderte er langsam,
"aber es ist ein schönes Land. Ihr habt mich gerufen, Gebieter, und ich werde tun, was immer ihr befehlt. Darf ich wissen, warum ich gerufen bin?" "Du wolltest es so," antwortete Nymardos. "In Sarai hast du dich daran erinnert, daß ich dir versprach, es sei stets alles für dich getan. Dieser Gedanke berührte mich." "Ohne diesen Ruf hätte mir der Tempel des Lichts keinen Beistand gewährt," vermutete Thyrian. "Man hätte mich Delaros sicher ausgeliefert." "Sarais Erbe bedroht dich nicht mehr," erzählte ihm der Than nun. "Er ließ verkünden, daß er in deiner Schuld steht und ganz Sarai dir dienstbar sein soll." Thyrian lächelte erfreut. "Das hat Xymenar getan," begriff er. "Xymenar ist ein mächtiger Fürst auf Sarai. Ich dachte, ich könne ihn täuschen, doch er wußte immer, wer ich war. Trotzdem gab er mir Arbeit und Unterkunft und behandelte mich nie wie einen Verräter. Als Delaros nahte, verhalf er mir zur Flucht. Nie zuvor hat ein Mensch mehr für mich getan als er. Ich würde ihn gerne wiedersehen und ihm danken." Er wurde ernst. "Ich bin ungerecht, denn was Gerrys tat, als er mich suchte, war nicht weniger. Er und seine Gefährten haben viel erlitten meinetwegen." "Zur Lichtgleiche versprach Nymardos.
werden
sie
alle auf Amarra sein,"
"Aber für euch ist dies ein trauriger Tag," vermutete Thyrian. Der Than lachte in heiterer Gelöstheit.
"Gewiß nicht," versprach er. "Ich übergebe mein Amt einem Stärkeren und bin frei, nach meinen Wünschen zu leben." "Aber wird der neue Than euch nicht in seiner Nähe halten wollen und eure Hilfe in Anspruch nehmen?" Nymardos wich der Antwort aus. Sie waren schon so lange unterwegs und er durfte die Wahrheit nicht länger verheimlichen. Aber es fand sich keine Gelegenheit, Thyrian jetzt seine Berufung zu entdecken, denn es nahten Menschen, die ihren Than erkannten.
S
ie kehrten zum Tempelbezirk zurück und Thyrian verlangte wieder nach einem Gasthaus. "Es ist nicht richtig, wenn ich im Tempel wohne," meinte er aufrichtig. "Ich bin nur ein Priester, der bereit ist, euch zu dienen, Gebieter." "Laß es heute noch geschehen," bat Nymardos. "Morgen dann werde ich deinem Wunsch entsprechen." Da gab Thyrian nach. Er übernachtete nochmals im Tempel und Nymardos beschloß, ihm am anderen Tag sein neues Amt zu nennen. Als sich die Nebel hoben, suchte er den Mann aus Sarai auf. Thyrian war bereits für den Tag vorbereitet und begrüßte den eintretenden Than mit einem raschen, aber gelassenen Kniefall. Nymardos lächelte. Wenn er sich nun vor Thyrian ausstreckte, mußte das mehr als nur seltsam wirken. "Komm," sagte er darum, "ich will dir etwas zeigen." Er führte Thyrian den gewundenen Säulengang des Tempel hinauf auf das Dach des hohen Bauwerks. Auf dem Weg
weilten seine Gedanken bei Tibra. Der Magier hoffte, daß Thyrian sanft seine Berufung erfahren solle und er würde das Tempeldach als einen guten Platz bezeichnen. Damals, in Khyon, war es auch das Dach des Tempels gewesen, das ein offenes Wort zwischen dem Magier und dem Than ermöglichte. Der Anblick war überwältigend. Thyrian schaute auf die Küste und das Meer und über weite Bereiche Amarras, die in saftigem Grün ihre Fruchtbarkeit verrieten. Er trat zur niederen Brüstung und nahm den Anblick in sich auf, als empfange er ein kostbares Geschenk. "Das ist ein voll Ergriffenheit.
wunderbares
Nymardos stand hinter ihm. Er Brust, wollte sich unterwerfen, trat neben Thyrian. Er legte ihm Arm um die Schultern, als er leise
Land," sagte er endlich
kreuzte die Arme vor der doch dann lächelte er und in fürsorglicher Geste den offenbarte:
"Das ist dein Land." Thyrian versteifte sich. Seine Hände krallten sich in die Brüstung und sein Blick fraß sich in der Ferne fest. Nymardos wollte sich von ihm lösen und ihm nun die schuldige Unterwerfung geben, doch der Priester griff nach der Hand auf seiner Schulter und hielt sie drängend fest. Thyrian lehnte sich gegen Nymardos und war froh, daß dieser ihn umschlungen hielt. Die Nachricht traf ihn mit Wucht, doch er wehrte sich nicht. Ganz tief in seinem Innern erkannte er die Wahrheit dieser Worte, die er in vollem Umfang nicht zu fassen vermochte. Dankbarkeit erfüllte ihn, als Nymardos ihn nur festhielt und das Schweigen nicht durchbrach. Die Stille wurde ihm wichtig. Sie gab ihm Zeit, seine Gedanken zu ordnen, seine Ruhe neu zu erwerben und seinen eigenen Weg zu bejahen. Mehr als eine Stunde verharrte er reglos im Leib, aber sehr bewegt im Geist. Als sich Thyrian endlich
entspannte, lockerte Nymardos den Griff. "Wer weiß es?" wollte Thyrian leise wissen. "Nur Tibra, Gebieter. Er wußte es vor mir, doch sein Geist ist abgeschirmt, so daß niemand die Wahrheit in ihm finden kann." Thyrian lächelte wehmütig. "Eine seltsame Anrede aus eurem Mund," stellte er fest. "Die einzig richtige, Herr," beharrte Nymardos, während er wieder etwas fester die Schultern den Jüngeren umfaßte. "Ich bin euer erster Diener." Thyrian schloß kurz die Augen und atmete tief durch. "Euren Dienst begehre ich nicht," gestand er leise. "Ich bitte euch um euren Beistand." Er wandte sich erst jetzt Nymardos zu und sah ihn an. "Ich werde ein paar Tage brauchen, bis ich mich zurecht finde." Nymardos lächelte ihn beruhigend an. "Es ist viel Zeit bis zur Lichtgleiche," versprach er. "Wenn ich mein Amt übergebe, wird es euch schon vertraut sein. Ihr solltet jetzt meine Huldigung entgegen nehmen und mir vergeben, daß ich euch so lange die Wahrheit verschwieg." Aber er neigte sich immer noch nicht. Thyrian hatte seine Hände ergriffen und hielt ihn fest. "Vergeben?" wiederholte er ungläubig. "Ich danke euch, daß ihr so nachsichtig gewesen seid und mir die Bürde dieses Amtes nicht in der ersten Begegnung auf die Schultern legtet. Was wird nun geschehen?"
"Wenn ihr erlaubt," erwiderte Nymardos freundlich, "dann erfahren die Menschen nun, wer ihr Herr ist. Auch mein, euer Pala sollte es erfahren. Caryll ist ein guter Verwalter Amarras und wird euch in allem hilfreich zur Seite stehen." "Ihr liebt ihn," stellte Thyrian fest. "Wenn auch er euch liebt, wird er sein Amt nicht behalten wollen." "Es ist Sitte, daß der Pala sein Amt weiter versieht," wehrte Nymardos ruhig ab. "Und es hilft ihm wie euch. Aber es ist eure Entscheidung, Gebieter. Gehen wir hinunter?" "Noch nicht," bat Thyrian. "Laßt mir Zeit." Sie blieben fast den ganzen Tag auf dem Tempeldach. Es gab vieles zu bereden und Thyrian stellte Fragen ohne Ende. Nymardos blieb bei ihm und antwortete geduldig und ausführlich. Thyrian, der seinen Weg schon erkannte und auch bejahte, wurde lockerer und fand sogar zu einer gewissen Heiterkeit, die eigentlich nicht seinem ernsten Wesen entsprach. Er fragte nun auch nach Seymas und als er erfuhr, was geschah und wie Nymardos reagierte, nickte er nur schweigend dazu. Gegen Abend versprach er: "Die Lichtgleiche wird euch alle Wege öffnen, Nymardos." Er sprach ihn schon mit Namen an, konnte sich aber noch nicht zum Du durchringen, das er von nun an allen Menschen geben mußte. "Bis dahin aber bitte ich um euren Beistand in allen Dingen." "Danach bin ich frei?" "Es wird euch in Raakis Tempel gefallen," vermutete Thyrian lächelnd. "Und ihr werdet in Tibra einen Freund finden, der eurer Liebe würdig ist. Ich hoffe trotzdem, daß ihr Amarra nicht vergessen werdet und ich euch oft begrüßen darf. Bis zur Lichtgleiche bleibe ich in Gerrys' Gemächern und ihr in euren."
"Ein Gasthaus wäre für mich angemessener," stellte Nymardos fest. "Aber alles geschieht nach euren Wünschen." Sie gingen gemeinsam hinunter. Nymardos rief Caryll, der nicht lange auf sich warten ließ. Wie stets, so begrüßte er auch nun seinen Herrn mit einem Kniefall. Den bei Nymardos sitzenden Thyrian bedachte er nur mit einem kurzen Nicken des Kopfes zum Gruß. Thyrian lächelte. "Heute genügt dieser Gruß nicht, mein Freund," mahnte Nymardos. "Der neue Than ist hier." Caryll wandte ruckartig den Kopf, sah Thyrian an und begriff die Wahrheit. Eine befremdliche Scheu befiel ihn, als er sich nun vor dem Mann aus Sarai niederlegte. "Steh auf," verlangte Thyrian mit ruhiger Stimme. "Der Pala des Than empfängt Unterwerfung, aber er gibt sie nicht." Caryll erhob sich auf die Knie. Thyrian sprach weiter mit ihm und Nymardos sah mit großem Erstaunen, daß der Freund bei diesen Worten seine Scheu ablegte. Er wich dem Blick seines neuen Herrn nicht aus, beantwortete seine Fragen mit ungeahnter Natürlichkeit und zeigte in seinem ganzen Verhalten, daß er bereit und willens war, diesem Mann mit aller Kraft zu dienen. Als Thyrian ihn zum Mahl lud, wehrte sich Caryll nicht. Nymardos und er waren Freunde seit ihrer Kindheit und als man Nymardos alle Macht aufbürdete, da wurde diese Macht zu einer Mauer zwischen ihnen, die Caryll nie überwand. Thyrians Macht empfand er als natürliches Wirken, mit dem er umgehen konnte. Ihm würde er unverkrampft dienen können. Als Thyrian sich spät zur Ruhe begeben wollte, wartete der treue Sasaran, um ihm zu dienen. Thyrian nahm seinen
Dienst hin und unterhielt sich dabei auf lockere Art mit ihm. Er lag schon nieder, als Sasaran ein Tuch über den Flammenden Kristall im Schlafgemach legte, um das Licht zu dämpfen. "Sasaran," hielt ihn Thyrian vom Gehen ab. Der Priester setzte sich auf den Rand des Lagers und wartete darauf, daß Thyrian einen Wunsch äußern würde. "Was ist ansonsten dein Werk auf Amarra?" wollte Thyrian wissen. Sasaran ignorierte die ungewohnte Anrede und antwortete offen: "Was immer mein Herr befiehlt. Ich bin glücklich darüber, dem Than auf vielfältige Weise dienen zu dürfen - sei es als Bote, Leibdiener, Ratgeber oder Gefährte auf Reisen." Thyrian ergriff seine Hand. "Der Than wird glücklich sein, wenn er in dir einen Gefährten findet," sagte er mit ernster Stimme. "Der Leibdienst ist Sache der Priesterschüler und Tempelkinder." "Ich verstehe nicht," gab Sasaran zu. Thyrian drückte seine Hand etwas fester und da begriff er durchaus. Er neigte sich über die Hand des Mannes aus Sarai und küßte sie. "Die Götter sind mit euch," murmelte er bewegt.
P
echa Xymenar wunderte sich sehr, als ein Priester in enger Reitkleidung seinen Besitz aufsuchte und ihm Nachricht brachte, daß er nach Amarra gerufen sei. Als
Priester mußte er diesem Ruf gehorchen. Die kalten Nebel wichen schon und es war ein gefahrloses Reisen durch das Reich möglich. Bis zur Lichtgleiche konnte er ohne Eile Amarra erreichen. An der Amtseinführung des neuen Than teilnehmen zu können, erschien ihm höchst reizvoll. Die ganz großen Feste besaßen ihren eigenen Zauber und dies war zweifellos ein Fest, das sich so schnell nicht wiederholen würde. Überdies hoffte er natürlich, etwas über Thyrian dort erfahren zu können. Jede und jeder Falla in den Reichen rüsteten zum Aufbruch oder befanden sich schon auf Reisen. Auch die Herrscher waren gerufen. Amarra erwartete viele Gäste, nicht nur die Menschen der Macht, sondern auch verdiente Glieder der Priesterschaft. Gerrys und seine Falla Seryna wollten über Burg Nodher reisen, damit sich Ariston, Königin Cynesta, Ilkonys und Orales ihnen anschließen konnten. Gerrys wußte aus einer geistigen Verbindung mit Nymardos, wer der neue Than sein sollte und er wußte auch, daß Tibra noch einmal mit nach Amarra kommen mußte. Sie hatten sich lange darüber unterhalten. Tibra war nicht gezwungen, diesem Ruf Folge zu leisten, aber er freute sich auf die Reise und hielt es für durchaus natürlich, daß Thyrian ihn sehen wollte. Xymenar staunte über die bevorzugte Behandlung, die ihm auf Amarra zuteil wurde. Die Priesterschaft begegnete ihm mit ausgesuchter Höflichkeit und großem Respekt. Seine Macht endete an der Grenze seines Bereiches, hier konnte er nicht viel mehr gelten als jeder einfache Priester des ersten Grades. Doch die Menschen behandelten ihn wie einen hohen Eingeweihten. Das Gasthaus, das man ihm anwies, zeigte sich geräumig und gemütlich und die Priester, die ihm Gesellschaft leisteten, erwiesen sich als vortreffliche Unterhalter. Die Lichtgleiche nahte und im Tempelbezirk entstand fast hektische Geschäftigkeit. Caryll behielt die Übersicht.
Seine Anordnungen hallten durch die Gärten und seine Weisungen sorgten für einen reibungslosen Ablauf der Vorbereitungen. Thyrian verließ den Tempel nicht mehr. Die Menschen, die hier wohnten, kannten ihn nun. Aber noch war er nicht der Than. Dankbar sah er, daß Nymardos nicht von seiner Seite wich. Er zeigte dem Mann aus Sarai die große Empfangshalle, in der er sein Amt erhalten sollte. Skeptisch betrachtete Thyrian den etwas erhöhten Thron und den weiten Raum. Nymardos schilderte ihm mit ruhigen Worten, was am übernächsten Tag geschehen sollte und wie der übliche Ablauf war. "Ich will Seymas sehen," unterbrach ihn Thyrian nachdenklich. Nymardos hielt inne. Bisher waren sie sich nicht begegnet und er nahm schon fast an, Thyrian habe die alte Freundschaft vergessen, die ihn mit Seymas verband. Er verneigte sich leicht und verließ die Halle durch das große Tor zum Garten. Seymas hatte seit Wochen sein Haus nicht mehr verlassen. Er erschrak sehr, als Nymardos bei ihm eintrat, kniete dann aber stumm nieder. "Kleide dich um," befahl Nymardos mit unpersönlicher Stimme. "Der Than wünscht dich zu sehen und man läßt ihn nicht warten." Seymas preßte die Lippen zusammen und gehorchte. Er legte die weiße Gewandung der Priesterschaft des Lichts an, bürstete sein Haar, band es sorgsam und folgte Nymardos dann schweigend. Der bedeutete ihm stumm, durch das breite Tor einzutreten. Seymas seufzte und gehorchte. Er wußte, wer auf ihn wartete mit einer Sicherheit, die
keiner Nachricht bedurfte. Aber als er Thyrian dann am andern Ende der Halle auf dem Thron sah, krampfte er sich doch zusammen. Thyrian trug das schimmernde Weiß, das nur dem Than zustand. Langsam ging er durch den breiten Mittelgang nach vorn. Wenige Schritte vor dem Thron verharrte er. Thyrian sah ihn reglos an und da beugte Seymas das Knie und legte sich zu Boden, breitete vorschriftsmäßig die Arme aus und wartete. Nymardos blieb vor dem Tor, wußte aber nach kurzer Zeit, daß er eintreten solle. Er sah Seymas am Boden und Thyrian thronend über ihm. Der neue Than gönnte dem Liegenden kein Wort. Er gab Nymardos ein Zeichen und der befahl Seymas, die Halle zu verlassen und auf weitere Weisung zu warten. Der junge Mann erhob sich langsam, schritt rückwärts zur Tür, neigte sich tief und verließ sie. Thyrian erhob sich. Er deutete Nymardos an, daß er den Thron einnehmen solle, doch der wehrte gelassen ab. "Ich sitze dort nur noch einmal," versprach er, "und auch nur so lange, bis ihr durch die Halle geschritten seid. Dann unterwerfe ich mich und ihr werdet über mich hinweggehen und diesen Platz einnehmen." "Was kommt dann?" wollte Thyrian wissen und wieder hörte er Nymardos lange Zeit aufmerksam zu. "Die Fallas in ihrem Amt bestätigen," rekapitulierte er. "Ist dies meine Pflicht oder mein Recht?" "Euer Amt," schränkte Nymardos ein. "Wenn ihr eine Frau oder einen Mann als nicht fähig für dieses Amt erkennt, werdet ihr es nehmen und einem Besseren übertragen." "Ich denke an Klerdas, Minosantes Falla in Sarai," gab Thyrian unumwunden zu. "Seit ich Gerrys kenne, weiß ich, wie ein Falla handeln soll."
Nymardos lächelte bei der Bestätigung seines Freundes, erklärte aber: "Klerdas hat sein Amt vor Jahren zurückgegeben." "Freiwillig?" forschte Thyrian aufmerksam. Das Lächeln Nymardos' vertiefte sich und Thyrian wußte, daß Klerdas Amarra Gehorsam leistete, ohne eigene Wünsche zu äußern. Sie unterhielten sich weiter. Thyrian forschte, wie Nymardos in sein Amt eingeführt wurde und begriff, daß es ihm nun durch seinen Vorgänger sehr viel leichter gemacht wurde und er mehr Hilfe erhielt, als Nymardos damals empfing. Als die Nebel sanken, verließen sie die Halle durch den kleinen Eingang, der in den Tempel führte. "Ich danke euch für alles, das ihr mir tut," verabschiedete sich Thyrian, "und ich hoffe, die Zeremonie wird euch nicht beschweren. Mögen die Götter mit euch sein." Er suchte seine Gemächer auf, wo ihn, wie stets, Sasaran erwartete. "Die Reisenden aus Nodher sind eingetroffen," verkündete dieser. "Wo ist Gerrys?" "Raakis Falla erhielt ein großes Gasthaus nahe des Tempels zugewiesen, wie ihr es gewünscht habt," erwiderte Sasaran. "Nodhers Herrscher lebt mit seiner Familie in einem Haus bei den Tamawiesen." Thyrian trat zum Fenster und sah hinaus. Gerrys würde nicht in den Tempel kommen und Nymardos würde ihn nicht rufen. Der Tempel gehörte nun ihm und nur er entschied,
wem darin außerhalb der Rituale zu verweilen gestattet war. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. Bisher wohnte Gerrys in diesen Räumen und Nymardos schätze die Nähe von Raakis Falla sehr. Ihre tiefe Freundschaft suchte immer Nähe und fand sie in den vergangenen Jahren doch nur selten. Thyrian wandte sich um. "Sende Raakis Falla Gerrys zum Than," bat er Sasaran. "Er wird mich dort zu finden erwarten und eine angenehme Überraschung erleben. Mir sende Nodhers Erben." Sasaran verneigte sich und eilte, die Wünsche seines neuen Herrn zu erfüllen. Gerrys erwartete wirklich, in den vertrauten Räumen nun Thyrian anzutreffen. Er trat ein, sah nur das schimmernde Weiß der Gewandung und warf sich nieder. Nymardos, der eben noch am Fenster stand, wandte sich um. Sein Blick ruhte liebevoll auf Gerrys, als er heiter sagte: "Das war nie unnötiger als heute, Gerrys. Seit wann unterwirfst du dich vor mir." Gerrys richtete sich fast hastig auf. "Du hier?" wunderte er sich. "Ich dachte, Thyrian..." Nymardos zog ihn auf die Beine und umarmte ihn herzlich. Seine Hände umfaßten das Haupt des Falla. Dann küßte er ihn voll Zärtlichkeit. "Unser Gebieter ist ein gütiger Mann," stellte er dann erfreut fest. "Wenn er dich zu mir sendet, darfst du auch bleiben. Ich habe mich sehr nach dir gesehnt." "Ich fürchtete schon, wir werden uns vor der Zeremonie nicht sehen," gab Gerrys zu. "Wie nimmt er seine Berufung auf?"
In dieser Nacht blieb Gerrys im Tempel und genoß jede Stunde der vertrauten Nähe des Freundes.
I
lkonys empfand etwas Furcht, als ihn Sasaran zum neuen Than führte und als er sich vor dem schlanken Mann niederlegte, wußte er zwar, wer er war, doch erschien ihm Thyrian nun als Leiter unerreichbar. Thyrian schickte Sasaran mit einer Handbewegung hinaus, trat einen knappen Schritt auf Nodhers Erben zu und erlaubte ihm so, sich auf die Knie zu erheben. Ilkonys hielt den Blick gesenkt. "Willkommen auf Amarra," grüßte ihn Thyrian mit freundlicher Stimme. "Ich bedauere, daß ich bei unserer Begegnung auf Sarai keine Gelegenheit fand, dich anzuhören. Und ich danke dir für deine Hilfe im Tempel des Lichts." Jetzt sah Nodhers Erbe auf. Thyrian lächelte ihm beruhigend zu und nahm ihm so seine Scheu. "Ich suchte einen Priester, keinen Herrn," erwiderte der Prinz unbehaglich. "Ich hoffte, ihr würdet mich zu den Weihen führen." "Du hoffst es nicht mehr?" Ilkonys schüttelte langsam den Kopf. "Nein, Gebieter," gab er offen, wenn auch etwas traurig zu. "Euer neues Amt läßt euch für Kleinigkeiten sicher keinen Raum. Aber wenn ihr erlaubt, daß ich auf Amarra bleibe, wird mir ein anderer Mann wohl diesen Dienst erweisen." "Steh auf," verlangte Thyrian. Als Ilkonys vor ihm stand, fuhr er fort: "Wenn sich ein Mann wie ein Freund verhält, so soll er auch so behandelt werden. Der Schüler wählt den Lehrer und wenn ich es bin, auf den deine Wahl fällt, so fühle
ich mich geehrt." "Ihr weist mich nicht ab?" "Nach der Lichtgleiche wirst du mein Chela sein," versprach Thyrian mit fester Stimme. "Bis dahin bist du mein Gast und wirst jeden Menschen hier dienstbar finden." Ilkonys verneigte sich dankbar. Er wollte nun gehen, aber Thyrian sagte: "Wenn es dir gelingt, deine Scheu abzulegen, dann bleibe und teile mein Mahl mit mir." Da blieb Nodhers Erbe bei ihm. Er legte seine Scheu erst nach geraumer Zeit ab, doch dann plauderte er unbefangen und vergaß dabei, daß der Mann an seiner Seite der mächtigste Mann der Reiche war.
T
ibra gefiel es, allein auf der vorgelagerten Insel zu bleiben. Er fand hier eine Fülle an geheimen Tempelschriften, die er lesen durfte und in seinen Studien verflog die Zeit. Er lagerte unter den Bäumen und versuchte, eine Schrift zu entziffern, deren Symbole aus alter Zeit stammten. Ein Katamaran strandete. Tibra sah die weiße Gestalt und hoffte schon auf ein vertrautes Gespräch mit Nymardos. Dann begriff er, daß nicht dieser zu ihm kam. Er legte die Schrift beiseite und grüßte den neuen Than mit völliger Unterwerfung. Thyrian sah zu ihm nieder. Inzwischen kannte er jede Bewegung und jedes Wort, mit dem er reagieren konnte, aber er verwarf all diese Möglichkeiten und setzte sich in Gras. Tibra erhob sich ungefragt auf die Knie und sah ihn forschend an. Thyrian lächelte ein wenig schief. "Ich verdanke dir ein weiteres Mal mein Leben," sagte er ruhig. "Du solltest vor mir nicht einmal knien." Das gefiel Tibra, der sich sofort bequem hinlagerte und Thyrian nun ohne jede Scheu musterte. "Es ehrt euch, Dankbarkeit zu zeigen," meinte er unverblümt. "Ich habe auch noch etwas, das nun euch gehört." Er reichte Thyrian den Amethysten mit dem eingelassenen Opal auf der offenen Handfläche. "Behalte ihn," schlug Thyrian vor. "Es ist wenig genug. Sage mir, was ich für dich tun kann und welche Wünsche du hegst."
"Keine, die ihr erfüllen könnt," wehrte Tibra ab. "Ich wünsche mir, Nymardos etwas näher zu kommen. Und ich wünsche mir das Verstehen vieler Kräfte, die wirken. Beides muß ich mir selbst erarbeiten." "Nymardos legte eine Schranke um deinen Geist," erinnerte ihn Thyrian. "Soll ich sie aufheben?" "Nicht nötig," wehrte Tibra heiter ab. "Ich merke nichts davon und es gefällt mir durchaus, wenn ich sicher sein kann, daß priesterliche Macht an mir unwirksam bleibt." "Manches Mal ist es sehr angenehm und leicht, wenn durch eine geistige Berührung Worte überflüssig werden," erklärte Thyrian. "Worte sind oft unvollkommen." Tibra horchte auf. Er griff nach den Sajik-Beeren hinter sich, schob sich eine in den Mund und dachte kurz nach. "Ihr habt Seymas gesprochen," stellte er fast erstaunt fest. Jetzt war es Thyrian, der aufhorchte. "Ich sah ihn, ich sprach aber nicht mit ihm," erwiderte er. "Nymardos ließ mich wissen, daß du meine Berufung noch vor ihm erkannt hast. Wie konnte das geschehen?" Tibra zuckte leicht mit den Schultern zum Zeichen, daß das schwerlich zu erklären sei. "Ich bin kein Priester," gab er zu, "und das priesterliche Wirken ist mir nur aus Erzählungen bekannt. Aber ich kenne Kraft und deren Wirken. Der Kontakt zwischen euch und Gerrys konnte nur auf diesem Weg geschehen." "Und du hast auch verstanden, weshalb Nymardos Seymas verstieß?"
Tibra lachte leise. "Damals, in Khyons Tempelberg, da haben wir beide gesehen, wie sehr er den Jungen liebt," erinnerte er Thyrian. "So etwas hört nicht einfach auf, nicht wahr? Seymas erhält von ihm die letzte Lektion, die ein Schüler erhalten kann." "Welche?" "Daß Liebe sich eher selbst aufgibt und erstirbt, als daß sie den anderen auf seinem Weg behindert," erwiderte Tibra mit ungewohntem Ernst in der Stimme. "Seymas war der erste wirkliche Freund, den ich fand," gab Thyrian zu. "Das spricht nicht unbedingt für euch," erwiderte Tibra mit unverblümter Offenheit. "Aber ihr habt euch sehr verändert in den letzten Jahren, Herr. Heute gibt es wohl manchen, für den ihr freundschaftliche Gefühle hegt." Thyrian stimmte dem ohne Worte zu, denn er dachte nicht nur an Seymas, sondern auch an Xymenar, Nymardos, Gerrys, Ilkonys, sogar Sasaran und Tibra. Menschen bedeuteten ihm inzwischen sehr viel. Er erhob sich. "Hey," hielt ihn Tibra zurück, der spürte, daß das Gespräch nicht den Verlauf nahm, den sich der neue Than wünschte, "wollt ihr wirklich schon gehen? Im Tempel brauchen sie euch wohl heute nicht." "Ich muß mir noch über manches klar werden," gab Thyrian zu. "Ich weiß," meinte Tibra leichthin, "nicht zuletzt deshalb seid ihr ja wohl gekommen. Laßt uns schwimmen gehen, Herr." Er sprang auf die Beine. "Klares Wasser hat die Kraft,
klare Gedanken zu schaffen." Thyrian sah zum Strand, war in Versuchung, nachzugeben, lehnte dann aber doch ab. "Ich bitte euch um eine Stunde," beharrte Tibra. "Sagtet ihr nicht, daß ich einen Wunsch frei habe?" Er grinste Thyrian an und der Priester lächelte nun auch. Sie gingen zum Strand, streiften die Kleider ab und wateten ins Meer. Weit schwammen sie hinaus, fast bis zur Küste Amarras. Es war Tibra, der es dann vorzog, wieder umzukehren, denn das Inselreich wollte er unter keinen Umständen betreten. Zurück auf der Insel lagerten sie beieinander. Thyrian blieb bei dem Magier bis zum Abend. Er erzählte aus seinem Leben, aber weit mehr hörte er den Erzählungen Tibras zu, dessen Gedankengänge ihm eine Sicht des Lebens zeigten, die er so nicht kannte. Als die Nebel sanken, wurde er dann unruhig. "Zeit zu gehen," stellte Tibra fest. "Erlaubt ihr mir noch ein offenes Wort?" "Waren deine Worte bisher nicht offen?" wunderte sich Thyrian. "Sprich nur, ich höre dir zu." "Seymas sollte eurer Amtseinführung beiwohnen," riet der Magier, "und er sollte dabei nahe des Thrones stehen." "Weshalb? Es wird ihn quälen, wenn er zusehen muß, wie Nymardos sich demütigt." "Er wird sich jedenfalls wünschen, daß sein geliebter Herr das nicht vor euch tut," grinste Tibra. "Das wünsche ich mir auch," gab Thyrian zu. "Es läßt sich nicht umgehen. Es herrscht immer der, den die Fallas gemeinsam erkennen."
"Ihr seid der Than," meinte Tibra leichthin, "und die Fallas richten ihren Geist, wohin ihr wollt." Thyrian sah ihn aufmerksam an. Nymardos' Sperre um den Geist des Magiers war noch wirksam. Er könnte sie durchbrechen, doch er hielt sich zurück und bedrängte Tibra nicht. Tibra geleitete ihn zum wartenden Katamaran. Er wollte zum Abschied die Arme kreuzen und niederknien, doch Thyrian hielt ihm beide Hände entgegen und so ergriff er sie zum festen Druck. "Die Götter sind mit dir," grüßte Thyrian, "und werden dich auf deinem Weg beschirmen." "Mögen sie eure Schritte lenken," erwiderte Tibra ernst.
D
er Tag der Lichtgleiche begann. Die große Empfangshalle füllte sich mit den geladenen Gästen. Carylls Leute wiesen den Menschen ihre Plätze zu. Je näher es erlaubt war, beim Thron zu stehen, desto größer war das Ansehen, das man genoß. Xymenar wunderte sich, daß er seinen Platz vor Wharhan und Delaros erhielt, sprach aber nicht darüber. Auch er hatte den Namen des neuen Than schon vernommen und so wußte er, daß Thyrian ihm auf diese Art seine Dankbarkeit erwies. Gerrys wurde ein Platz ganz vorn zugewiesen und Caryll geleitete ihn selbst zu dieser Stelle. "Ich hatte nie gehofft, daß dies ein freudiger Tag sein wird," gab er dabei zu. "Aber er ist es." Er ließ sich den Lebenden Kristall des Fallas geben und legte ihn zu den anderen Kostbarkeiten auf dem kleinen Tisch neben dem Thron. Die Gaben des Than gehörten ihm und nur er konnte sie als Leihgabe einem verdienten Menschen überreichen. Zehn Lebende Kristalle fanden sich hier, denn
auch Nymardos' Stein befand sich bereits in der Halle. Viele Siegelsteine lagen dabei und manches Schutzzeichen, das Amarra gehörte. Sasaran schloß die Tore der Halle. Daß er überhaupt hier sein durfte, war eine Ehrung und daß man ihm das Tor anvertraute, das hob ihn über die anderen hinaus. Es wurde still. Die kleine Seitentür öffnete sich und Nymardos trat ein. Mit ruhigem Schritt ging er zum Thron. Sein Blick schweifte über die Menschen, die sich nun zum ersten Mal nicht vor ihm neigten. Die wenigsten kannten Thyrian und kaum einer freute sich, daß ein neuer Than jetzt sein Amt erhielt. Nymardos setzte sich. Seine Stimme klang ruhig. Er sprach von dem Wirken seines Amtes, dem Geschehen während der kalten Lichtwende und der Notwendigkeit, daß nur der stärkste inkarnierte Geist die Reiche beherrschen solle, um sie in Frieden zu einen. "Nun fand ein Stärkerer denn ich zu seiner eigenen Kraft," endete er schließlich. "Ihm übergebe ich mit Freuden mein Amt. Die Götter haben gnädig entschieden und uns in Thyrian einen weisen Herrn gegeben." Er erhob sich und dies war für Sasaran das Zeichen, nun das große Tor zu öffnen. Draußen wartete Thyrian, umgeben von einer großen, aber stillen Menschenmenge. Ruhigen Schrittes trat er ein. Hinter ihm schloß sich das Tor erneut. Thyrian ging langsam durch die Halle. Die Menschen rechts und links knieten vor ihm nieder, kreuzten die Arme und senkten den Blick. Er sah es kaum. Sein Blick hing an Nymardos' dunklen Augen, als könne dieser ihm Kraft geben. Aber er brauchte keine Stärkung, er hoffte vielmehr, daß auch Nymardos sie nicht benötigte. Bei jedem Abschnitt, den Thyrian durchquerte, schritt Nymardos eine der Stufen hinab. Seymas krampfte sich zusammen. Caryll stand nahe bei ihm und warf ihm einen warnenden Blick zu. Thyrian ging weiter.
Er trug dasselbe schillernde Weiß, in das auch Nymardos gekleidet war und er bewegte sich in dem Gewand, als sei er nichts anderes gewohnt. Sein Blick suchte Seymas und nun lächelte er ein wenig. Dann trennten ihn nur noch drei Schritte von Nymardos, der die Stufen inzwischen hinter sich ließ. Bis auf diese beiden Männer knieten nun alle Anwesenden in der vorgeschriebenen Weise. Sie sahen sich an. Nymardos warf Thyrian einen beruhigenden, aufmunternden Blick zu. Er kreuzte die Arme vor der Brust, um niederzuknien und sich dann zu unterwerfen. Aber da verwarf Thyrian die Regel. Er trat einen raschen Schritt nach vorn und ließ ihm so nicht mehr den Raum, um sich auf die Erde zu legen. Unwillig hob der noch stehende Nymardos den Kopf. Aber Thyrian erklärte mit ruhiger Stimme: "Der Than der Reiche unterwirft sich keinem Menschen." Seymas sah überrascht auf. Was Thyrian da tat, das konnte nicht richtig sein. Er mußte sein Amt über Nymardos hinweg annehmen. Die Sitte verlangte es. Ähnliche Gedanken hegten sie alle in der Halle. Thyrian trat neben Nymardos. Sein Schritt war erstaunlich fest und seine ganze Haltung verriet, daß er sich seiner Sache sicher war. Nacheinander sah er jede Falla und jeden Falla einzeln an, dann bekannte er mit volltöniger Stimme: "Ihr habt den Falschen erkannt." Die eintretende Stille offenbarte nicht nur bloße Betroffenheit, sondern zugleich die ersten zögernden Überlegungen, ob dies möglich sein könne. Aber keiner wagte ein Wort. Nymardos richtete den Blick auf Thyrian, doch der sah nicht zu ihm, sondern richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Fallas und die Herrscher. Er wartete, bis die Menschen ihre innere Unruhe soweit bezwangen, daß sie in der Lage waren, sich wieder ganz auf ihn auszurichten. Dann trat er einen
knappen Schritt nach vorn und erklärte: "Es ist Sitte, daß nur der stärkste inkarnierte Geist die Reiche einen soll und als Than das Land regieren. Den Göttern hat es gefallen, nun einen noch stärkeren Geist zu seiner eigenen Kraft zu führen und nur dieser ist würdig und wohl auch fähig, das Amt des Than auszuüben. Die Gäste mögen sich nun in die Gärten begeben und sich am Reichtum Amarras erfreuen. Die Fallas aber begeben sich in die Halle des Lichts. Wenn der Ruf zu Minosantes Ritual der Kraft ertönt, dann eint euch im Geist und forscht, wen ihr als neuen Than der Reiche finden könnt." Unruhe wurde spürbar. Thyrian hob kurz die Hand und die Menschen schwiegen wieder. "Findet ihr mich, Fallas, dann werde ich euch dienen. Findet ihr einen anderen, diene ich diesem. Geht nun alle hinaus." Die Menschen erhoben sich von den Knien und strebten still und betroffen dem großen Tor zu, das Sasaran nun öffnete. Thyrian nutzte den Moment der Nichtbeachtung und raunte Nymardos rasch zu: "Schafft Seymas aufs Dach." Dann verließ er die Halle durch die Seitentür, ohne Seymas oder sonst einen Menschen auch nur eines Blickes zu würdigen. Er suchte seine Räume auf, nahm seine Tunika an sich, fand in einer Truhe einen schwarzen Umhang, der wohl Gerrys gehörte und benutzte ihn als Hülle für sein Bündel. Die Fallas waren schon auf dem Weg nach oben und so wartete er ein wenig und ging dann selbst den gewundenen Säulengang hinauf.
N
ymardos hatte Seymas, der sich auf dem Weg nach draußen immer wieder traurig nach ihm umsah, einen Wink gegeben und der junge Mann wartete nun hinter einer Säule, bis sich die Halle leerte. Danach folgte er Nymardos,
der ihn schweigend aufs Dach des Tempels führte.
D
ie Fallas waren alle sehr betroffen. Sie befanden sich in Antares Halle und unterhielten sich leise. Es war nie zuvor geschehen, daß ein Than sein Amt nicht übernahm. Und sie alle waren inzwischen sicher, in der Nacht der Lichtwende Thyrian erkannt zu haben. "Ihr habt ihn doch gehört," erinnerte Gerrys sie alle, "er wird unser Than sein, wenn wir noch einmal seinen Geist finden. Was sorgt ihr euch also?" "Und was geschieht, wenn es doch einen noch stärkeren Geist gibt?" murmelte Drakan, Raakis Falla in Sion. "Dann werden Nymardos und Thyrian gemeinsam das Amt verwalten, bis er kommt, um es zu übernehmen," vermutete Gerrys. Er lächelte wissend. "Aber vielleicht ist er auch nahe und wir haben ihn nur nicht erkannt."
T
hyrian kam kurz nach Nymardos und Seymas auf das Dach des Tempels, warf sein Bündel achtlos beiseite und trat mit großen Schritten auf Seymas zu. "Schließe Rapport mit mir," verlangte er fast herrisch. Der Jüngere sah ihn völlig verstört an, öffnete aber seinen Geist und wob die Verbindung. Thyrian lächelte befriedigt. "Nun werde ich es wissen, wenn du deinen Geist wieder abschirmen willst," erklärte er zufrieden. Seymas hob zu einer Antwort an, schwieg dann und senkte den Kopf. Thyrian wandte sich an Nymardos:
"Ich bitte euch, Gebieter, nehmt das Redeverbot von ihm und zieht alle Beschränkungen zurück." "Ihr seid der Than," wehrte Nymardos begreifend ab. "Ihr könnt jede meiner bisherigen Entscheidungen widerrufen." "Diese nicht," beharrte Thyrian. Nymardos nickte nachgebend, trat zu Seymas und legte die Hand unter sein Kinn, hob seinen Kopf an und forderte ihn so zu einem offenen Blick heraus. "Du hast unseren Herrn gehört," sagte er mit freundlicher Stimme. "Es gibt keine Beschränkungen mehr für dich." Seymas konnte nicht verhindern, daß seine wasserhellen Augen feucht wurden. "Herr, ich wollte euch nie kränken," murmelte er gequält. "Das weiß ich," antwortete Nymardos ruhig. Er sah zu Thyrian, der abwartend an der Brüstung lehnte und als dieser ihm geradezu aufmunternd zunickte, legte er die Arme um Seymas und zog ihn an sich. "Ich weiß es, mein Junge," wiederholte er. "Geh deinen Weg und sei meiner Liebe gewiß." Rasch löste er sich von Seymas und trat zu Thyrian. "Ich danke euch," sagte der Mann aus Sarai einfach. "Bitte, laßt uns jetzt allein. Es wird dann leichter für ihn." Nymardos lächelte, fügte sich aber wortlos und verließ das Dach des Tempels, um allein in der großen Empfangshalle das weitere Geschehen abzuwarten. Thyrian winkte Seymas an seine Seite.
"Er liebt mich immer noch," begriff der Jüngere bewegt. "Er wird dich lieben, solange du deinen Weg gehst und dir alle Liebe entziehen, wenn du nicht tust, weshalb du in dieses Leben gekommen bist." "Ich verstehe euch nicht, Herr." "Seltsam," wunderte sich Thyrian laut, "unser Gebieter weiß es, ich weiß es, sogar der Magier auf der kleinen Insel dort drüben weiß es. Nur du scheinst nichts zu begreifen. Du hast deinen Geist während der Lichtwende abgeschirmt. Nur, damit dein Weinen niemand stören soll?" "Ich fürchtete, daß unser Herr es spürt und mir zürnt," gab Seymas zu. "Er hofft, was ich fürchte. Niemand soll je über ihn hinweggehen." "Heute tut es einer," versprach Thyrian mit fester Stimme. "Ihr habt nicht erlaubt, daß er sich demütigt. Ihr werdet es auch nachher nicht erlauben," hoffte Seymas. "Du verstehst wirklich nicht," begriff Thyrian nun. Da ertönte der tiefe Gong, der zu Minosantes Ritual rief und die Fallas in Antares' Bereich begannen, sich im Geist zu vereinen. Thyrian deutete mit der Hand über das Inselreich. "Öffne deinen Geist weit," verlangte er. "Verströme dich über ganz Amarra und darüber hinaus. Und schau das Land an. So wie heute wirst du es nie wieder sehen." Der geöffnete Rapport zeigte es Thyrian. Seymas öffnete seinen Geist, doch zugleich mißdeutete er diese Worte, denn er nahm an, daß er nun doch aus Amarra verbannt sei und das Land nicht mehr sehen solle. Auch Thyrian hielt seinen
Geist geöffnet. Er war durchaus bereit, als Than herrschen, wenn die Fallas nun ihn finden sollten.
zu
Doch die Fallas gingen im Geist an ihm vorbei. Da er dies wußte, richtete er sich auf Nymardos aus und ließ ihn wissen, daß die Fallas ihn nicht wieder erkannten. Dann schaute er erneut auf den Rapport. Seymas stand an der Brüstung und ließ den Blick schweifen, um noch einmal Amarras ganze Schönheit in sich aufzunehmen. Er sah zu der kleinen Insel hinüber, auf der Tibra lebte und er schaute die Küste entlang bis hinauf zu ihrer steilsten Stelle. Nur am Hafen, der von hier oben zu sehen war, verweilte er etwas länger und fragte sich unwillkürlich, welches der vielen Schiffe dort ihn fortbringen würde. Der kleine Hafen erlaubte nicht allen Schiffen, anzulegen. Viele kreuzten vor der Küste, manche ankerten ihr entfernt. Es war ein schönes Bild. Sein Blick flackerte etwas und er sah Thyrian wie um Vergebung bittend an, öffnete seinen Geist weiter und sog den Anblick in sich auf. Thyrian ließ ihn nicht aus den Augen und entließ ihn auch nicht aus dem geöffneten Rapport. Trotzdem hörte er, wie sich das Tor zu Antares' Halle öffnete. Er wartete noch ein wenig, dann stieß er Seymas leicht in die Seite. "Verzeiht, Herr," bat der Jüngere rasch. "Ich wollte meinen Geist nicht eingrenzen, als ich Gedanken der Bitterkeit hegte." Er sah Thyrians fragenden Blick und erklärte: "Ihr habt meinen Geist doch angerührt, um mich zu tadeln?" Gerrys inzwischen suchte geistigen Kontakt zu Nymardos. Zum ersten Mal in seinem Leben schaffte er es, diese Verbindung im Gehen aufzunehmen, denn er schritt nun hinter den Fallas den Säulengang hinab. Und Nymardos' geöffneter Geist wurde wenig später auf sehr leichte Weise von Thyrian gefunden.
Thyrian ging an der Brüstung entlang und genoß nun selbst den Rundblick. Seymas folgte ihm dabei langsam nach. "Ich habe deinen Geist nicht angerührt," versprach Thyrian. "Du kannst nun auch den Rapport zu mir zerbrechen, wenn du willst. Ich wollte in ihm nur sicher sein, daß du deinen Geist geöffnet hältst." "Es ist doch ohnehin verboten, sich in Gegenwart des Than abzuschirmen," wunderte sich Seymas. "Das hätte ich nie gewagt, Herr." Thyrian lachte leise, fast heiter. "Seymas," sagte er dann aber sehr ernst und sah den Jüngeren fest an, "nicht ich habe deinen Geist angerührt. Die Fallas haben den Stärksten gefunden, der zu finden ist." "Aber doch nicht mich," wehrte Seymas das Erkennen ab. Thyrian sah ihn nur still an und Seymas begriff, daß er seine Worte wirklich so meinte. Und als Thyrian sah, daß Seymas verstand, kreuzte er die Arme vor der Brust und kniete nieder. Seymas kniete ruckartig zu ihm und griff nach seinen Händen. "Tu das nicht," bat er drängend, "du nicht, Thyrian, bitte." Der Mann aus Sarai lächelte erfreut. "Dann ist die gemeinsame Zeit in Nodher und Khyon nicht vergessen?" wollte er wissen. Seymas schüttelte hastig den Kopf. "Ich habe mir immer gewünscht, daß du nach Amarra kommst," gestand er. "Und ich habe immer gehofft, daß wir Freunde sind. Sind wir es?"
"Ich diene dem Than, als was immer er will," versprach Thyrian. "Damit meinst du mich," begriff Seymas. Er sprang auf die Beine und zog Thyrian hoch. "Sind wir noch Freunde?" wollte er drängend wissen. "Ich weiß nicht einmal, welche Anrede jetzt passend ist und soll so eine Frage beantworten," wich Thyrian aus. "Gebieter und Herr sind die einzig passenden Anreden," meinte Seymas leichthin und lehnte sich gegen die Brüstung, um erneut das Land zu sehen. "Wie der Kniefall und die Unterwerfung der einzig passende Gruß ist." Er ließ den Blick schweifen. "Du hattest recht. Ich sehe Amarra nun mit anderen Augen. Ich werde nie wieder dieses Land verlassen müssen." Ruckartig wandte er sich Thyrian zu, der bereits wieder die Arme kreuzte. "Wenn du mein Freund bist," drohte er verschmitzt, "wirst du nicht niederknien und mich niemals deinen Herrn nennen." Er lachte fröhlich. "Gerrys hat Nymardos auch immer geduzt, das weißt du doch." Thyrian ließ überrascht die Arme sinken. Seymas lachte! Er kannte ihn wohl als heiteren, fast verspielten Burschen, doch daß er nun, da er um seine Berufung wußte, diese so locker hinnahm und fröhlich zu lachen verstand, das erstaunte den Mann aus Sarai über die Maßen. "Fein," stellte Seymas vergnügt fest, "du kniest nicht nieder. Mal sehen, ob du das in der Halle da unten auch schaffst. Ob sie schon auf uns warten?" "Sie warten, aber nicht unbedingt auf uns. Auf mich vermutlich schon." "Er muß es wissen, überlegte Seymas.
er
muß
es
als Erster wissen,"
"Nymardos weiß es schon," entdeckte ihm Thyrian lächelnd. Er streifte die weiß schimmernde Tunika ab und reichte sie Seymas. "Zieh das an. Ich habe meine normale, weiße Tunika mitgebracht." Während er sein Bündel öffnete, beobachtete ihn Seymas. "Mitgebracht? Du wußtest es?" "Ich sagte dir doch, daß einige Menschen es wissen," erwiderte Thyrian gelassen und kleidete sich an. Dann half er Seymas in die Gewandung seines neuen Amtes und löste das Band aus dessen Haar. "Ist etwas zu lang für dich," stellte er fest und zog die Schärpe enger, um die Tunika oben halten zu können, "aber es wird schon gehen. Wie fühlst du dich?" "Prima," versprach Seymas gelöst. "Ich habe den Leuten immer gern einen Streich gespielt. Aber das ist mein größtes Schelmenstück." Für einen Moment wurde er ernst. "Ich werde ein guter Than sein, Thyrian. Aber ich will nicht, daß mein Herr weggeht." "Du mußt ihn nach Nodher gehen lassen, wie er es sich immer gewünscht hat," drängte der Priester. "Das meine ich nicht," wehrte Seymas ab. "Er soll heute bei mir bleiben." Sie gingen gemeinsam den Säulengang hinab. Thyrian legte Seymas den schwarzen Umhang auf halbem Weg über die Schultern. Wenn er vor dem Tor wartete, sollten die Menschen ihn nicht an seinem Gewand erkennen und
Unruhe bringen können. Thyrian beantwortete die Fragen nach dem Ablauf der Amtseinführung, aber er hatte das Gefühl, als sei Seymas nicht sehr an den Regeln interessiert. Unten angekommen warnte er deshalb: "Du mußt über Nymardos hinweg, Seymas." Die Heiterkeit fiel wie eine Maske von ihm ab. "Es wird ihm nicht gefallen." "Es wird ihm gefallen," widersprach Thyrian, "du wirst seine Freude spüren können. Warte vor dem Tor." Dann eilte er durch den breiten Gang zu der kleinen Seitentür und trat in die Halle ein, in der die Menschen wieder warteten. Nymardos saß auf dem Thron und wollte sich nun erheben, doch Thyrian war zu rasch bei ihm und kniete an seiner Seite nieder. "Seymas ist bereit," sagte er leise. "Nun könnt ihr euer Amt übergeben, Herr." Alle Augen richteten sich auf sie, doch Nymardos ignorierte dies nun und neigte sich zu Thyrian. "Wie nimmt er es auf?" wollte er leise und sehr besorgt wissen. "Wie einen Scherz," erwiderte Thyrian und zeigte sein Erstaunen darüber. "Er lacht und ist sehr vergnügt. Er bittet euch nur, heute an seiner Seite zu bleiben." Nymardos lächelte. Dieser Wunsch entsprach nicht der Regel, aber er würde ihn gern erfüllen. Thyrian trat zurück. Da er nun die weiße Tunika der Lichtpriester trug, wußte jeder in der Halle, daß er nicht als Than erkannt sein konnte.
Nymardos bestätigte dies mit ruhigen Worten, lobte die Weisheit Thyrians und nannte Seymas seinen rechtmäßigen Nachfolger. Er erhob sich und Sasaran öffnete das Tor. Seymas sah in die Halle. Er atmete tief durch, ließ den Umhang von den Schultern gleiten und trat ein. Viele der Menschen hier kannte er, die anderen würde er kennenlernen. Seymas ging langsam und sah sich die Niederknienden aufmerksam an. Im letzten Drittel des Weges erst richtete er den Blick auf Nymardos. Drei Schritte trennten sie noch. Nymardos lächelte seinem Schützling beruhigend und aufmunternd zu, als er die Arme kreuzte und langsam niederkniete. Seymas verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, dann aber strafften sich seine Schultern. "Die Götter wissen, daß ich mich niemals über dich erheben wollte, Nymardos," sagte er mit lauter Stimme, noch ehe dieser sich niederwerfen konnte. "Und ich werde dies auch keinem anderen erlauben." Nymardos sah ihn warnend an. Er durfte die Unterwerfung nicht verhindern. Gerrys verstand die Worte und freute sich. Es war Sitte, daß der bisherige Than sich vor seinem Nachfolger niederwarf und die Zeugen dies auf ihren Knien sahen. Seymas wollte nicht die Unterwerfung verhindern, er wollte etwas ganz anderes. Gerrys legte sich nieder und breitete die Arme aus. Seryna an seiner Seite tat es ihm gleich und da verstanden die Menschen in der Halle und warfen sich still alle nieder. Nymardos sah es mit Staunen und als er sich unterwarf, stand allein Seymas über ihm. Seymas wollte nicht über ihn gehen, aber vor allem wollte er, daß sein geliebter, väterlicher Freund sich so schnell als möglich wieder erheben konnte. Darum trat er ohne ein weiteres Wort nach vorn und ging über Nymardos' Schultern und Beine hinweg zu seinem neuen Thron. Als er sich umdrehte, hatte sich Nymardos schon erhoben und ging nun
mit ruhigem Schritt zum Tor, wo ihn Sasaran ins Freie entließ. Seymas starrte ihm nach. Nymardos wandte sich nicht um und sah nicht zurück. Die Regel befahl, daß er nun sein Gewand ablegte und sich an einen Ort seiner Wahl begab. Die Gäste sollten sich allein auf ihren neuen Herrn konzentrieren können. Sie knieten wieder und hörten Seymas zu, der nun das Wort ergriff und Thyrians Rat folgend von seinem Amt sprach und dem Frieden, den er den Reichen wünschte. Er wirkte blaß und ernst. Als seine Stimme leicht zitterte, trat Thyrian still neben ihn und seine Nähe stärkte den Jüngeren. Nymardos ging in den Tempel und kleidete sich fast hastig um. Er war schon bei der Tür, als er nochmals zurück ging, ein Band ergriff und es in seine Haare wob. Dann aber eilte er zur Halle und trat durch die Seitentür ein. Seymas bemerkte es nicht einmal. Thyrian legte ihm die Hand auf die Schulter, was die Gäste mit großem Erstaunen sahen. Es war eigentlich nicht erlaubt, den Than zu berühren. Seymas beendete seine Rede nun rasch und jetzt erst war es den Menschen erlaubt, sich zu erheben. Fast mißbilligend sahen einige zu Nymardos hinüber, der seinen Blick fest auf Seymas gerichtet hielt. Der neue Than wandte sich nicht nach ihm um, aber er hob leicht die Hand und winkte ihn herbei. Nymardos kam zu ihm und als er die Arme kreuzte, stand Seymas rasch auf. "Der Pala des Than," sagte er mit lauter Stimme und betonte das Wort in der Weise, die nicht ein Amt, sondern eine tiefe Freundschaft bedeutete, "trägt sein Haar offen, Nymardos, denn er ist ein Mann der Macht. Gib mir das Band." Nymardos gehorchte und unwillkürlich streckte Thyrian die Hand aus, dem erst jetzt einfiel, daß auch er das Haar noch immer offen trug. Seymas lachte heiter und ohne jede Scheu.
"Ich sagte es doch, Thyrian," meinte er leichthin, "der Pala des Than trägt es offen. Das gilt auch für dich." Er setzte sich wieder auf seinen Thron. Nymardos und Thyrian standen bei ihm. Beide hatte er seinen Pala genannt und ihre Nähe stärkte ihn nun. Der offizielle Teil, bei dem ihm Caryll die Namen einzelner Menschen nannte, die dann zu ihm kamen und sich einzeln unterwarfen, bereitete ihm keinerlei Mühe. Er fand für jeden Herrscher und jeden Falla die richtigen Worte und gab jedem Menschen, den Caryll ihm sandte, das Gefühl, einen starken Herrn zu besitzen, der ihn voll anerkannte und damit erhob. Danach erst öffnete sich das breite, zweiflügelige Tor zum Garten wieder und entließ die Menschen nach draußen, wo festlich gedeckte Tische zum Mahl und zu heiterem Verweilen luden.
N
ur wenige Menschen weilten jetzt noch in der großen Empfangshalle des Tempels. "Puh," stöhnte Seymas vergnügt, "war das anstrengend." Er stand auf und setzte sich auf die Stufen, die den Thron erhöhten. "Aber es gefällt mir, Than zu sein." Nymardos, Thyrian und Caryll waren auf seinen Wink hin noch bei ihm geblieben und Nymardos setzte sich ihm. "Es soll dir gefallen," sagte er ernst. "Aber dein Amt ist auch eine Bürde und verlangt viel Kraft. Die nächsten Tage wirst du deine ganze Zeit den Gästen widmen müssen." "Ich geh ja gleich zu ihnen," versprach Seymas. "Außerdem habe ich Hunger. Aber Caryll ist der einzige hier, den ich nicht gesondert begrüßt habe und eigentlich ist das nicht richtig so." "Er ist dein Pala," erwiderte Nymardos und betonte das Wort im Sinne seines Amtes. "Das hebt ihn über die anderen hinaus. Darf ich jetzt gehen?" Seymas wurde sehr ernst. "Muß es so schnell sein? Könnt ihr nicht noch ein wenig warten?"
"Wie lange?" forschte Nymardos aufmerksam, der fürchtete, Seymas werde ihm nicht erlauben, Amarra zu verlassen. "Bis morgen, bitte." Nymardos lächelte erfreut. "Ich möchte zu Gerrys gehen. Ein paar Tage wird Raakis Falla sicher noch verweilen." Seymas grinste erleichtert. "Wenn ich dich sehen will," sagte er und das vertraute Du kam ihm ausgesprochen leicht über die Lippen, "werde ich Gerrys nach Amarra rufen." Er lachte. "Es wäre schöner, wenn du manchmal freiwillig kommst." Während Nymardos die Halle verließ, kniete Caryll vor Seymas nieder. "Nun hast du dir jahrelang gewünscht, daß ich endlich in festen Dienst gehen soll," meinte Seymas leichthin, "und jetzt erfüllt sich dein größter Wunsch." "Herr, ich bedauere sehr, euch in der Vergangenheit so oft bedrängt zu haben," murmelte Caryll unruhig. "Du schaust so bedrückt," wunderte sich der Than. "Wäre es dir lieber gewesen, du müßtest künftig Thyrian dienen?" Caryll sah ihn offen an. "In gewisser Weise, ja," gab er zögernd zu. "Du denkst, er ist ein besserer Than als ich?" forschte Seymas aufmerksam, ohne bei diesen Worten gekränkt zu sein.
"Sicher nicht, Gebieter," antwortete Caryll. "Doch ist euer Pala ein steter, verläßlicher Mann, dessen Weisungen klare Richtlinien sind." Seymas wandte den Kopf und sah zu dem stehenden Thyrian auf. "Er hat dich gelobt," meinte er vergnügt. "Er mag dich. Wie hast du das geschafft, Thyrian?" Dann lachte er Caryll an. "Thyrian wird schon aufpassen, daß ich meine Sache richtig mache. Und du wohl auch, nicht wahr?" "Ich werde euch dienen, so gut ich es vermag," versprach Caryll. "Ich habe nur nie erwartet, euch als meinen Herrn zu finden." "Ich auch nicht," gab Seymas fröhlich zu. "Kommt, gehen wir hinaus und essen etwas. Oder komme ich wegen der Leute nicht dazu?" "Niemand geht ungerufen zum Than," beruhigte ihn Caryll. "Seid unbesorgt, ich achte auf euch." Die wenigen, die in Seymas noch nicht so ganz den Than erkennen konnten und wirklich zu ihm wollten, hielten Carylls Leute aufmerksam und umsichtig davon ab. Seymas lagerte sich mit Thyrian in der Nähe eines großen MesaStrauches nieder. Er aß mit dem Freund und plauderte vergnügt. Er sprach über die Menschen in der Halle, die er nicht alle kannte. "Komisch," meinte er leichthin, "vor Wharhan war ein schwarzhaariger Mann, den ich nie zuvor sah. Trotzdem hat Caryll ihn nicht aufgerufen. So nahe beim Thron müßte er doch eigentlich etwas Besonderes sein." Thyrian lächelte.
"Das ist er," sagte er ernst. "Du meinst sicher Xymenar, Pecha in Sarai." "Was ist an diesem Pecha besonderes dran? Es waren viele Fürsten da, aber viel weiter hinten. Du bist so ernst geworden. Kennst du ihn?" Da erzählte ihm Thyrian von seinem Leben in Sarai und sehr ausführlich von den Tagen nach seiner Begegnung mit Delaros. "Du hast wirklich Schafe gehütet?" "Zwei Jahre lang." "Prima," urteilte Seymas fröhlich, "dann hat sich für dich nicht viel geändert. Nur daß ich jetzt der Leithammel bin und du mich hüten mußt. Warte auf mich." Er sprang auf und wollte durch den Garten laufen, besann sich dann seines Amtes und ging zwar mit großen Schritten, aber doch etwas angemessener. Es war nicht schwer, Gerrys und Nymardos zu finden, die in vertrautem Gespräch beieinander lagerten. Er setzte sich einfach zu ihnen. "Ich habe ein Problem," bekannte er freimütig. Nymardos wurde sofort ganz aufmerksam. "Ich brauche einen Lebenden Kristall." "Du hast zehn Stück davon," erinnerte ihn Nymardos und entspannte sich dabei, da er sah, daß Seymas nicht wirklich seine Hilfe brauchte. "Einen zu wenig," entschied der. "Ich muß sie doch später in den Einzelgesprächen ihren Trägern zurückgeben, wie auch die Siegel und alles andere."
"Das müßt ihr nicht," wehrte Gerrys ab. "Die Gaben des Than gibt er aus freiem Willen." "Aber wenn ich es nicht tue, dann kritisiere ich Nymardos damit und das will ich nicht. Außerdem klingt es komisch, wenn du mich so anredest, Gerrys. Von dir will ich das nicht." Der Falla lächelte. "Ihr werdet euch daran gewöhnen, Gebieter," vermutete er. "Die Steine gehören dir," mahnte Nymardos. "Es ist keine Kritik, wenn du sie anderen Menschen gibst und es ist kein Lob, wenn du sie ihren vorigen Trägern überreichst. Es wäre mir lieber, wenn du dein Amt ohne falsche Rücksicht auf mich versiehst." "Ich glaube, ich muß noch vieles lernen," erwiderte Seymas offen. "Eigentlich wollte ich, daß einer von euch beiden auf seinen Kristall verzichtet. Ich dachte, ihr seid so nahe beisammen, daß einer reichen wird. Aber das ist wirklich dumm gewesen. Verzeiht die Störung." Und schon sprang er auf und gab sich wieder Mühe, nicht zu schnell zu laufen. Er schlüpfte in die Halle und betrachtete die Steine. Gerrys und Nymardos würden beide ihren Lebenden Kristall wieder erhalten, einen wollte er Thyrian geben und einen behalten. Er griff nach einem faustgroßen Stein und steckte ihn ein. Die anderen Kristalle wollte er verwahren und sie nicht in diesen Tagen weitergeben. Der Lebende Kristall war die größte Gabe, die der Than einem verdienten Menschen reichen konnte. Er würde im Laufe der Zeit sicherlich die richtigen Träger für die Steine finden. Caryll lagerte bei Thyrian und führte ein ernstes Gespräch mit ihm. Seymas sah es im Näherkommen und freute sich. Die
beiden verstanden sich prächtig und das würde verhindern, daß Caryll ihm mit zu großer Scheu begegnete. Er setzte sich zu ihnen, ergriff den schweren Pokal, den Thyrian ihm reichte und stillte seinen Durst. "So," entschied er, "jetzt will ich Xymenar sehen." Thyrian griff rasch nach seiner Hand, wie bittend, den Pecha nicht zu belasten. Seymas lachte nur. Caryll hatte sich schon erhoben, seine Anweisungen gegeben und es dauerte nicht lange, bis Xymenar zögernd zu ihnen kam, die Arme kreuzte und niederkniete. Er wollte sich niederlegen, aber Seymas sagte nur: "Das reicht schon, Pecha." Xymenar war bemüht, den Than anzusehen, doch sein Blick glitt immer wieder beiseite und traf Thyrian. Unweit entfernt standen Wharhan und Delaros und beobachteten sie. Delaros freute sich über die Auszeichnung, die Xymenar dadurch zuteil wurde, daß er vor allen anderen zum Than gerufen war. Wharhan teilte diese Empfindung nicht. Er schätze den Pecha zwar hoch ein, doch es störte ihn, daß der in der Halle näher beim Thron seinen Platz fand. Seymas legte sich ungeniert auf den Rücken, bettete den Kopf in die Armbeuge und meinte vergnügt: "Habt ihr euch nichts zu sagen?" "Sehr vieles," widersprach Thyrian ernst. "Aber deine Gegenwart verlangt, daß man sich auf dich ausrichtet. Laß ihn gehen." "Noch nicht," beharrte Seymas stur. "Sag mir, Xymenar, was aus dem Schimmel wurde, von dem Thyrian sprach. Trägt er jetzt einen Reiter?" Xymenar zögerte. Thyrian trug das Haar offen, wurde vom
Than als Pala bezeichnet und gab ihm eine sehr vertraute Anrede. Demnach mußte er dem Than nahestehen und Seymas' Frage vielleicht sogar auf ehrlichem Interesse gründen. Nach diesen Überlegungen antwortete er und als Seymas nachhakte, erzählte er von dem Tag, an dem Delaros auf seinen Besitz kam. "Fängst du den Schimmel wieder ein?" wollte Seymas wissen. "Ich habe es mehrfach erwogen, Herr," erwiderte der Pecha offen. "Er war ein Sinnbild für mich." "Ein Sinnbild für Thyrian?" forschte Seymas und setzte sich auf. "Ja, Gebieter," antwortete Xymenar. "Ich konnte nicht in Erfahrung bringen, was aus eurem Pala wurde und meine Nachforschungen brachten kein Ergebnis. Ich fürchtete, ihm sei ein Leid geschehen und ich hoffte, solange der Schimmel frei ist, werde er es auch sein." "Weißt du," meinte Seymas und zog die Beine an, entschied dann, daß der Than wohl doch besser nicht mit angezogenen Knien im Gras sitzen sollte und streckte sie wieder aus, "wenn der Schimmel ein so großartiges Tier ist, wie du sagst und wie Thyrian jetzt denkt, dann sollte er wirklich in Freiheit leben dürfen." "Dann, mein Gebieter," versprach Xymenar und neigte das Haupt, "gebe ich euch mein Wort, daß er nie einen Sattel tragen wird." Seymas strahlte Thyrian förmlich an, als er nun sagte: "Du bist einer der wichtigsten Menschen im Leben meines Pala, Xymenar. Ohne deine Hilfe war er verloren und du hast ihm selbstlos beigestanden und ihm etwas gegeben, das ihm
niemand zuvor gab." "Der Schecke war nicht so wichtig." Seymas lachte laut und erregte dadurch viel Aufmerksamkeit. Es störte ihn nicht, daß so viele Menschen keinen Blick von ihm ließen. "Ich meine nicht das Pferd," wehrte er heiter ab. "Du hast Thyrian gezeigt, wie wichtig Menschen sind und daß ein Freund alles andere im Leben aufwiegt." Thyrian gefiel es nicht, daß so über ihn gesprochen wurde, aber im Grunde gab er Seymas recht. Darum nickte er dazu und gestand: "Ich verdanke Xymenar mein Leben und ich verdanke ihm die Fähigkeit, menschliche Nähe zu wollen. Das meinst du doch, nicht wahr?" "Genau das," bestätigte Seymas grinsend. "Du hast dich über die Maßen um Amarra verdient gemacht, Xymenar, denn ein Than ohne Pala ist eine sehr traurige Sache. Schau, ein Lebender Kristall. Thyrian wird dir zeigen, wie du darin deinen Geist zentrieren kannst und sein Licht beeinflussen. Nimm ihn als ein Zeichen meiner Dankbarkeit." Sprachlos starrte Xymenar auf den Kristall und in seinen Zügen malte sich dasselbe ungläubige Erstaunen wie in den Zügen Thyrians. Seymas lachte wieder. "Lasse ihn hell leuchten, wenn Wharhan es sieht. Das wird ihn ärgern." Seymas sprang auf und ließ die beiden allein. Als er zurück sah, saßen sie nebeneinander und unterhielten sich. Er spürte, wie glücklich sie waren und stellte fest, daß ihm sein neues Amt gefiel.
T
ibra sah den Katamaran kommen und dachte zuerst, die Zeit der Abreise sei da. Dann schaute er die weiß gewandete Gestalt und glaubte, Thyrian käme nochmals zu ihm. Im Näherkommen aber begriff er, was auf Amarra geschah und als er vor Seymas niederkniete, setzte sich dieser auf natürliche Weise zu ihm und verlor kein Wort über die richtige Haltung. "Wieso hast du es gewußt, Tibra," wollte der Than ohne Umschweife wissen. "Wovon redet ihr?" forschte der Magier mißtrauisch. Seymas griff nach einer der Sajik-Beeren, die sich Tibra bereit stellte und schob sie in den Mund. Kauend erklärte er: "Thyrian sagt, du wußtest, daß ich stärker bin als er. Wie kann das sein, wenn nicht einmal Gerrys das geahnt hat? Ich hab es ja auch nicht gewußt." "Thyrian war Miska," antwortete Tibra da düster, "und im Grunde war er verloren." "Du hast ihn dazu gemacht, nicht wahr?" "Ja, Herr." Der Magier stieß die Worte widerwillig aus. "Der Than Nymardos wollte sein Sterben verhindert wissen." "Er war von den Fallas erkannt, er mußte leben," nahm Seymas Nymardos sofort in Schutz. "Ich habe auf dem Schiff immer und immer wieder versucht, seinen Geist zu erreichen." "Das hat verhindert, daß sich das Miska verfestigen kann," erwiderte Tibra leise. "Allein konnte er aber nicht zurück. Ihr mußtet ihn holen." "Ich wäre fast gestorben dabei," bejahte Seymas. "Hast du es gewußt, weil Thyrian nicht mehr Miska war?"
"Ich wußte, daß ihn nur ein Stärkerer holen kann," schränkte Tibra ein. "Und ich wußte, daß der Than Nymardos euch seine Liebe entzog. Wie anders könntet ihr ihn so enttäuschen, als indem ihr euch dem Amt verweigert, in das ihr berufen seid?" "Keine Vision oder so was? Einfach nur pure Überlegung?" Seymas staunte. "Keine Magie?" Jetzt lachte Tibra leise auf. "Nichts von alledem, Gebieter. Ich fürchte, in diesen Bereichen kann nur priesterliches Wirken ein Erkennen schaffen." Seymas grinste. "Das beruhigt mich." gab er zu. "Es würde mir gar nicht gefallen, wenn Magie das erkennen könnte. Gefällt es dir hier?" "Sehr," gab Tibra zu, der sich langsam fragte, warum Seymas zu ihm kam. "Ein guter Platz für Studien und Überlegungen." Seymas griff nach der Schrift, die Tibra bis zu seinem Kommen studierte und betrachtete sie eingehend. "Verstehst du die Symbole?" wollte er wissen. "Nicht alle," gestand der Magier. "Die Schrift ist sehr alt." "Ich erklär's dir," beschloß Seymas. Dann legte er sich auf den Bauch, nahm die Schrift vor sich und während er mit den Fingern über die alten Symbole glitt, erklärte er Tibra die Bedeutungen. Der Magier saß nun unverkrampft bei ihm und hörte aufmerksam und begeistert zu. Schließlich legte der Than die Schrift beiseite.
"Nymardos kennt das alles besser als ich," behauptete Seymas dabei. "Künftig kannst du ja ihn fragen. Bist du eigentlich ein großer Magier?" Tibras gelockerte Aufmerksamkeit wich. Angespannt überlegte er, was der junge Than mit seinem Kommen beabsichtigte, während er sehr vorsichtig antwortete: "Im allgemeinen weiß ich, was ich tue und beherrsche die Kräfte, die ich rufe." Seymas lachte heiter. "Es sei denn, du rufst einen Berggeist oder erschaffst Miska." "Beides tat ich für Amarra," fauchte Tibra, der jetzt fast zornig wurde. "Sieht so aus, als wenn du nicht mal deine eigene Kraft beherrschst," stellte Seymas bei dem ungebührenden Tonfall gelassen fest. "Bist du ein Führer deiner Gilde?" "Was geht's euch an?" Tibra reagierte ärgerlich. "Magier sind Einzelgänger, sie haben keine Führer. Und nun verlaßt mich bitte." Er erhob sich abrupt und ging einige Schritte. Die wartenden Priester sprangen vom Katamaran an Land, blieben aber stehen, als sie Seymas' heiteres Lachen vernahmen. "Der Gast wirft den Gastgeber hinaus?" wunderte er sich vergnügt. Tibra fuhr herum und sah ihn böse an. "Ihr
seid
der dritte Than, der mir hier auf der Insel
begegnet, Herr," sagte er, mühsam seine Beherrschung wahrend. "Aber ihr seid der erste, der mich zweifeln läßt, daß Amarra es wert ist, dafür gegen die eigene Überzeugung zu handeln." "Tut es dir leid, daß nicht Thyrian zum Than erhoben wurde?" forderte Seymas ihn weiter heraus. "Ja, das tut es," fuhr ihn Tibra böse an. "Er wäre ein würdiger Nachfolger Nymardos' gewesen." Seymas grinste. "Stimmt," gab er unumwunden zu. "Aber es ist eben nicht sein Amt. Da, ich hab dir 'was mitgebracht. Wenn ihr Magier Führer hättet, würdest du es nicht bekommen haben." Er warf Tibra fast achtlos ein kleines Päckchen zu und ließ ihn dann einfach stehen. Auf halbem Weg zum Katamaran drehte er sich um und rief vergnügt: "Ich mag Thyrian auch." Tibra starrte ihm nach und bereute es schon, so zornig zu sein. Seymas mußte sich dies nicht bieten lassen und konnte mit jeder Härte reagieren. Statt dessen gab er ihm ein Geschenk. Tibra wunderte sich leicht darüber, daß es in Pergament eingeschlagen war, entfernte hastig die Hülle und ließ diese fallen. In der Hand hielt er einen kleinen Flammenden Kristall. Seymas hatte den Katamaran fast erreicht. "Tibra," rief er nun laut, "bei einer Nuß ist der Kern das Wichtigste, bei Früchten gilt das nicht. Du verwechselst etwas. Lauf, sonst fällt die Schrift ins Meer." Der Küstenwind hatte das Pergament schon angehoben und trieb es spielerisch vor sich her dem Wasser zu. Wollte er die Schrift vor ihrem Ziel erreichen, mußte er wirklich
laufen. Tibra rannte die Wiese hinab und bekam das Schriftstück nach einem großen Hechtsprung in den Sand im letzten Moment zu fassen. Der Magier hockte am Strand, sah den davoneilenden Katamaran und hörte das heitere Lachen des Jungen, der von nun an der mächtigste Mann der Reiche war. Schließlich besah er die Schrift. Er sprang auf, eilte dem Ufer entlang und hoffte, Seymas wenigstens rufend noch zu erreichen. Doch der war schon zu weit entfernt. Er hielt krampfhaft das Stück Pergament fest, in dem ihm der Than die kleine Insel Silsa übereignete, welche zuvor Sion gehörte. Das jährliche Treffen seiner Gilde konnte weiterhin am gewohnten Ort stattfinden. Und er erhielt dieses Geschenk trotz seines Aufbegehrens. Er konnte es nicht fassen und hoffte, daß es eine Möglichkeit gab, sich über Gerrys oder Nymardos bei dem jungen Than zu entschuldigen.
D
ie nächsten Tage verbrachten die Menschen auf Amarra als ein lange währendes Fest. Sie feierten, aber Seymas mußte seinen Pflichten nachkommen. In der großen Halle empfing er einzeln die Herrscher der Reiche und führte lange Gespräche mit ihnen, gab ihnen Weisung und Rat und teilte seinen Willen mit. Manche Begegnung gefiel ihm durchaus. Sehr lange sprach er mit Ariston, der ihm ja kein Fremder war. Sehr lange auch mit Wylas Herrscherin Santysa, der er als Kind begegnete und die er damals so fröhlich beschämte. Vor Wharhan hob er Xymenar in deutlichen Worten empor. Den Herrschern war danach die Abreise erlaubt, aber einige blieben und verweilten noch auf Amarra. Ariston genoß die letzten Tage mit seinem Sohn, den er für lange Zeit nicht mehr sehen sollte. Seymas empfing danach einzeln jede Falla und jeden Falla. Er mußte entscheiden, ob er sie in ihrem Amt bestätigen oder ihnen einen anderen Dienst zuweisen wollte. Bei alledem blieb Thyrian treu an seiner Seite. Er verhielt sich
still. Da Seymas aber den Rapport zwischen ihnen nicht zerbrach, blieben sie in Verbindung und wenn es Thyrian notwendig erschien, Seymas ein wenig auszubremsen, so tat er es auf diesem unbemerkten Weg. Nur als der Falla des Lichts auf Sarai, Trinarys, gerufen war, entfernte er sich. Trinarys hatte ihn schon Tage zuvor erkannt und er konnte in seiner Gegenwart unmöglich unbeeinflußt sein vom vergangenen Geschehen. Raakis Falla in Khyon, Sathor, weilte lange bei seinem neuen Than. Er kannte Seymas schon als Knaben und sie hatten viel zusammen gelacht. Auch den Fallas war die Abreise nach diesem Gespräch erlaubt. Gerrys und Nymardos verbrachten viel Zeit miteinander. Wann immer Caryll es ermöglichen konnte, weilte er bei ihnen, doch für ihn gab es in diesen Tagen viel zu tun. "Es sollte mir mißfallen, daß ausgerechnet Raakis erster Falla als Letzter zum Than gerufen wird," überlegte Nymardos, während er mit Gerrys durch die Gärten ging. "Die Reihenfolge entspricht nicht der Sitte." "Solange ich hier bin, wirst auch du hier sein," entgegnete Gerrys heiter. "Es ist verständlich, daß er so entscheidet. Und er genießt jede Stunde, die er noch mit dir verbringen kann." "Und doch werde ich nach Nodher gehen. Es wäre nicht gut, bliebe ich in seiner Nähe." "Er wird dich nicht aufhalten," versprach Gerrys. Caryll kam herbei. Er wirkte sehr ernst. "Ihr seid gerufen, Falla," sagte er unruhig. Gerrys lächelte und folgte ihm. Niemand nahm diese Begegnung mit dem Than anfangs ernst. Doch als er Minosantes Fallas in Thara entmachtete, änderte sich dies. Die Sklaven
in dem Tempel dort lebten der Sitte des Landes gemäß und Seymas wußte von Rhagan, was dort der Sitte entsprach. Es gefiel ihm nicht und so entschied er, daß ein Tempel, der immer auch Amarra war, sich anders verhalten müsse. Dafür verantwortlich blieben die Fallas und beide enthob er ihres Amtes. Es war allgemein bekannt, daß auch Raakis Tempel in Nodher nicht die allgemeinen Tempelsitten in allem auslebte. Caryll fürchtete wirklich, Gerrys könne sein Amt verlieren. Thyrian kam ihnen entgegen und Caryll entfernte sich. Sie gingen nebeneinander. "Ich werde nicht dabei sein," sagte Thyrian ruhig. "Der Than will euch allein begegnen. Er war euer Chela." "Heute ist er mein Gebieter," erwiderte Gerrys gelassen. "Auch ihr seid mein Chela gewesen und als Pala des Than seid ihr nun mein Herr." Sie standen vor dem Tor. Thyrian gab Sasaran einen Wink, daß er noch nicht öffnen solle. "Ich habe es bisher versäumt, euch zu danken," erklärte Thyrian. "Was ihr als mein Leiter tatet, Falla, das ist eine Sache. Eine andere ist euer Einsatz in Sarai. Ich verdanke euch mein Leben." "Wir müssen nicht darüber reden," bot Gerrys mit freundlicher Stimme an. "Ihr sollt es nur wissen," fuhr Thyrian fort. "Wenn Raaki seinen Falla verliert, verliert Seymas seinen Pala. Dann diene ich euch." Gerrys legte ihm begütigend die Hand auf den Unterarm. "Das habt ihr ihm hoffentlich nicht gesagt, Pala. Was er als
Than entscheidet, das wird geschehen und von mir nicht kritisiert. Ihr seid Pala des Than. Glaubt mir, es wird euch oft nicht leicht fallen, seine Entscheidungen zu akzeptieren und eure Freundschaft zu ihm wird manche harte Probe bestehen müssen. Es ging mir mit Nymardos nicht anders. Wenn ihr ihn liebt, dann trennt den Mann von seinem Amt und haltet beiden die Treue." "Ich kann mir nicht vorstellen, daß ihr als Pala solche Proben bestehen mußtet," gab Thyrian staunend zu. "Ihr seid Nymardos so tief verbunden, daß es keine Mißverständnisse geben kann." "Die kann es immer geben," widersprach Gerrys. "Nymardos traf manche Entscheidung, die ich nur erduldete, aber nicht billigte. Ich habe ihn trotzdem immer geliebt. Wenn der Than seinen Pala verlieren kann, dann, Thyrian, dann liebt ihr noch nicht." Thyrian gab Sasaran ein Zeichen. "Ich werde es lernen," versprach er, während das Tor aufschwang. Gerrys trat ein. Seymas saß allein entfernt auf dem Thron. Es gab keine Zeugen, als Gerrys nun zu ihm ging und sich der Sitte gemäß unterwarf. Seymas begann mit den offiziellen Begrüßungsworten, sprach ein paar Sätze und unterbrach sich dann selbst: "Eigentlich ist das alles langweilig, was ich da sage. Steh auf, Gerrys." Raakis Falla erhob sich auf die Knie. Seymas rutschte vom Thron, setzte sich auf die dritte Stufe und grinste. "Bloß gut, daß jetzt keiner da ist," meinte er heiter.
"Ich bitte meinen Gebieter, sich den Bericht über meinen Tempel anzuhören," versuchte Gerrys aber, den Than an die Regel zu erinnern. "Hat sich dort in den letzten fünf Jahren so viel verändert?" wollte Seymas leichthin wissen. "Das glaube ich nicht. Wenn der Tempelhelfer Rhagan und der Priester Parcylen zusammen ausreiten, weiß bestimmt immer noch keiner, wer von beiden die Weihe erhielt. Und wenn der Magier Tibra zum Tempel geht, sieht man ihm in seiner Tunika auch nicht an, daß er dort eigentlich fehl am Platz ist. Und die paar Sklaven, die da leben, die wissen nicht einmal, was sie in ihrem Stand von einem Tempelhelfer wirklich unterscheidet. Und die Tempelkinder und Priesterschüler lernen bestimmt immer noch, wie man mit einem Bogen oder einem Säbel oder auch mit der bloßen Faust umgeht. Also ist alles so wie früher." "Das ist es," bestätigte Gerrys mit ernster Stimme. "Warum willst du es mir dann erzählen? Ich habe dort als dein Chela gelebt und kenne das alles." "Und wie soll es künftig sein, Gebieter?" Seymas legte den Kopf ein wenig schief und schien zu überlegen. "Man könnte einiges ändern," schloß er dann. "Keine Kampfspiele mehr, den Weihen angemessene Kleidung, mehr Respekt vor der Priesterschaft von denen, die keine Weihe erhalten. Und man könnte eine große, hohe Mauer um den Tempel ziehen mit einem breiten Tor. So, wie es eben woanders auch ist." Gerrys verkrampfte sich bei diesen Worten etwas. Er kannte viele Tempel in den Reichen und wußte, daß in seinem Bereich vieles anders war, als es sein sollte. Doch was
Seymas ihm da schilderte, gefiel ihm nicht. "Und wer soll euch dort als Falla dienen?" erkundigte er sich nun vorsichtiger, als er eigentlich sein wollte. "Ich glaube," gab Seymas zu, "das wäre ein Tempel, der Thyrian dann gefallen würde." "Ihr wollt euren Pala nach Nodher entsenden?" wunderte sich Gerrys. "Du fragst, wer mir dort dienen soll und das heißt ja, daß du es nicht sein willst," faßte Seymas zusammen. "Thyrian sagt es nicht, aber wenn du dein Amt verlierst, wird er weggehen und wenn er gehen will, dann wird er als Falla gehen. Ist doch alles ganz einfach, oder?" "Und was befehlt ihr mir?" Gerrys hielt nun die Arme gekreuzt und nahm innerlich eine starke Abwehrhaltung ein. Das hatte er wahrlich nicht erwartet. "Wohin wünscht ihr, daß ich gehen soll?" "Du könntest auf Amarra bleiben," überlegte Seymas. "Aber ich denke, Nymardos wäre dann böse auf mich. Minosantes Tempel auf Thara braucht einen neuen Falla. Würde es dir dort gefallen?" "Ich diene und gehorche," erwiderte Gerrys mühsam beherrscht, denn ob ihm eine Wahl gefiel, war vor dem Than nicht entscheidend. "Die Götter sind mit dir, Falla," grüßte Seymas da und damit war Gerrys entlassen. Er erhob sich und ging langsam rückwärts zum Tor. Auf halben Weg rief ihm Seymas zu:
"Man könnte natürlich auch auf die Mauer und den ganzen anderen Unsinn verzichten, Gerrys." Gerrys hob den eben noch gesenkten Blick. Seymas saß noch immer auf den Stufen, grinste ihn jetzt aber fröhlich an. Er lachte leise. "Bist du böse auf mich?" wollte er in fast kindlicher Offenheit wissen. Gerrys kam langsam, fast zögernd wieder zu ihm. Er wußte nicht so recht, was Seymas eigentlich bezweckte. Der Than erhob sich und kam auf ihn zu. Dann hielt er Gerrys beide Hände entgegen. "Ich habe deinen Tempel immer geliebt," gestand er fröhlich. "Vielleicht werden irgendwann alle Tempel der Reiche nur noch offene Tore besitzen. Ach, Gerrys, die Fallas sind so ernste Menschen. Du bist der einzige, mit dem ich einen Scherz machen kann." Gerrys ergriff seine Hände nun, hielt sie aber so, als müsse er sie jetzt küssen. Er wollte niederknien. "Nicht, Gerrys," hielt ihn Seymas zurück und wurde sehr ernst. "Hast du wirklich gedacht, ich tue dir das an?" "Ich hielt es für möglich," erwiderte der Falla leise. "Du bist nicht mehr der Schützling des Than, über dessen Streiche ganz Amarra lacht. Du bist nun der Geist Amarras. Dein Wort und Wille sind Gesetz." "Bist du sehr verletzt?" Das klang nun aufrichtig besorgt. "Ich wollte dir nicht weh tun, Gerrys. Es tut mir leid." Er zog seine Hände zurück. "Warum verändern sich die Menschen plötzlich so?" fuhr er betrübt fort. "Ich bin nicht anders als vor der Lichtwende und schon gar nicht anders seit der Lichtgleiche. Trotzdem sieht mich jeder anders an. Sogar Caryll ist nicht mehr so wie früher. Nur mein Herr," er meinte Nymardos damit, "er behandelt mich wie immer. Und
Thyrian sieht nicht zu mir auf. Aber alle anderen, sogar du..." Er brach ab und ging zu seinem einsamen Thron zurück. Gerrys sah ihm betroffen nach. Die Macht, die Seymas übergeben wurde, veränderte zuerst sein Umfeld und darunter litt er. Sie würde auch ihn verändern, später. Aber vor allem machte sie ihn einsam. "Seymas!" Er rief laut seinen Namen und dann eilte er zu ihm und schloß ihn einfach in die Arme. "Sollen wir noch etwas länger auf Amarra bleiben?" bot er einen weiteren Aufenthalt für sich und Nymardos an. Seymas löste sich von ihm. Er wirkte schon wieder gefaßt. Es entsprach seinem Wesen, nie lange den Kummer zu dulden. Seine wasserhellen Augen strahlten. "Das würdest du tun?" wollte er wissen. "Wenn es euch hilft, dann sagt es nur," bestätigte Gerrys. Seymas lachte. "Also, wenn ich traurig bin, dann bleibst du da und dann erinnerst du dich sogar daran, wie ich heiße und daß du mich immer geduzt hast. Wenn ich fröhlich bin, wirfst du dich zu Boden und machst mich damit traurig. Auf die Art kommst du nie mehr nach Hause, Gerrys." "Dann muß ich wohl bleiben," vermutete der Falla. Seymas sah überrascht auf, begriff, daß Gerrys nun mit ihm scherzte und wieder lachte er heiter. Die Menschen draußen hörten den Than lachen und fragten sich, was wohl in der Halle vor sich ginge.
"Verhindere einfach, daß ich traurig werde," schlug Seymas grinsend vor. "Laß mich wissen und spüren, daß ich einen Freund habe, der vom fernen Nodher aus nicht vergißt, wer ich wirklich bin." "Du hast mehr als einen Freund," blieb Gerrys nun bei der vertrauten Anrede. "Was Minosantes Tempel betrifft..." "Ach, laß nur," wehrte Seymas heiter ab, "das ist kein Problem. Ich denke da an den Priester Jostur aus Thara, der hier lebt. Er ist Rhagan auf Khyon mit so viel Achtung begegnet, daß ich seinen Geist in der Sache einmal anrühren werde. Komm, laß uns zu Nymardos gehen. Er wartet sicher auf dich." Sie verließen gemeinsam die Halle und wirklich fanden sie den wartenden Nymardos, bei dem Thyrian weilte.
Z
ehn Tage später verließen sie Amarra. Es war Gerrys, der die Abreise immer wieder hinausschob, denn er widmete viel Zeit nun Thyrian, der in langen Gesprächen mit dem Falla seine Freundschaft zum Than ergründete. Nymardos verbrachte diese Zeit dann mit Seymas, dem er noch so manches zeigen und erklären konnte. Ariston und seine Gemahlin, aber auch Orales und Tibra befanden sich schon an Bord des Schiffes und warteten nur noch auf Gerrys und Nymardos. Als sie endlich kamen, ging Ilkonys, der seine Eltern begleitete, an Land, um sich nun unter die Leitung Thyrians zu begeben. Für Ariston war es sehr ungewohnt, in Nymardos nicht seinen Herrn zu erkennen. Er kreuzte schon die Arme zum Gruß. Nymardos trat rasch zu ihm. "Da ich in Nodher lebe, bin nun ich es, der Gebieter sagen muß," meinte er freundlich.
"Eine Anrede, die mir der Pala des Than nie gegeben hat," erwiderte der Herrscher ruhig, "und die ich auch nie vom Pala des Than empfangen möchte." Trug bisher Gerrys diesen Titel, so gehörte er nun Nymardos. Aber es war nicht der Titel, der Gerrys daran hinderte, in Ariston nur den König zu sehen. Nymardos nickte verstehend. "Der Freund eines Freundes ist irgendwie immer auch ein eigener Freund," stellte er gelassen fest. Tibra stand an der Reeling und sah den gewundenen Pfad hinauf. "Wartest du auf den Than?" erkundigte sich Gerrys heiter. "Ich hatte gehofft, ihn noch einmal zu sehen," gab der Magier zu. "Da ist noch etwas, das ungesagt blieb." Nymardos trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Nichts, das er nicht ohnehin weiß," versprach er mit fester Stimme. "Aber wenn es dich belastet und dir wichtig ist, dann bitte ich ihn, zu kommen." Tibra lächelte etwas wehmütig. "Ich habe ihn gekränkt," gab er zu. "Soll ich ihn rufen?" bot Nymardos noch einmal an. "Zürnt er mir?" wollte Tibra da wissen. "Gewiß nicht. Er empfindet für dich Dankbarkeit und Achtung, mein Freund."
Der Magier atmete unmerklich auf, zog aber bei der unerwarteten Anrede die Brauen in die Höhe. Nymardos lachte leise. "Wenn dir die Anrede nicht gefällt," meinte er freimütig, "werde ich um deine Freundschaft zu werben wissen." Jetzt lächelte Tibra sehr offen und erfreut. "Ich nahm an, daß dies meine Aufgabe in der nächsten Zeit sei," bekannte er fast vergnügt. Die Mannschaft setzte die Segel und das Schiff gewann an Fahrt. Die Küste Amarras entfernte sich. Nymardos sah auf das Land, das seine Heimat war. Seine Hand ruhte noch auf der Schulter des Magiers, den er als Freund gewinnen wollte. Gerrys war in den Bug gegangen und Nymardos folgte ihm nun dorthin. Er legte den Arm um die Seite des Falla und hielt ihn fest. Gerrys empfand ein tiefes Glücksgefühl. Er lehnte den Kopf gegen die Schulter des geliebten Freundes. Künftig würden die Stunden der vertrauten Nähe keine kostbare Seltenheit mehr sein. Das Amt, das sie trennte, übte nun ein anderer aus und sie beide wußten, daß Amarra darin nichts verlor. Es war ihnen, als wehe der Wind das leise Lachen des Than herüber, das über Amarra erscholl und das sie über das Meer begleitete.