Schatten und Feuer von Oliver Fröhlich
Eric Thomson strich mit zittrigen Fingern über das Fotopapier. Der gelbliche Na...
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Schatten und Feuer von Oliver Fröhlich
Eric Thomson strich mit zittrigen Fingern über das Fotopapier. Der gelbliche Nagel des Daumens zeichnete die Konturen der abgebildeten Personen nach. Eine Frau mit langen roten Haaren und durchtrainierter Figur. Gutaussehend, wenn sie natürlich auch nicht an Thomsons große Liebe Thelma heranreichte. Neben der Rothaarigen stand ein Mann im weißen Anzug, nicht älter als vierzig. Seit über einem Jahr starrte Eric die Aufnahme täglich an. Seit dem Tag, als er beinahe gefunden hätte, wonach er sich so lange sehnte. »Irgendwann spüre ich euch auf«, krächzte er. Die Flügel seiner Geiernase blähten sich vor Wut. »Und dann hole ich mir zurück, was mir gehört …!«
Thomson klemmte sich eine Marlboro zwischen die Lippen. Seine Hände zitterten jedoch so stark, dass er mit der Feuerzeugflamme die Zigarettenspitze nicht traf. Er versuchte, die Rechte mit der Linken zu stabilisieren. Ohne durchschlagenden Erfolg. Er schleuderte das Feuerzeug in die Ecke, riss sich das Tabakstäbchen aus dem Mund, zerbrach es und warf es auf den Boden. Dort reihte es sich in das Arrangement aus leeren Bierdosen, Schnapsflaschen und Pizzakartons ein. Verfluchte Scheiße, was war nur aus ihm geworden? Ein jämmerlicher Junkie. Ein Süchtiger. Aber nicht nach den Stoffen, die der Müllteppich vermuten ließ. Diese dienten nur dazu, das eigentliche Verlangen zu überdecken. Das gelang jedoch nur, wenn Thomson volltrunken und besinnungslos im Bett, auf der Couch oder in der nächsten Ecke lag. Sobald er aber das Bewusstsein zurückerlangte, fiel die Gier über ihn her und biss sich an ihm fest. Das Sehnen nach dem Schattenreif! Eric Thomson warf dem Foto mit den verhassten Menschen einen vorerst letzten Blick zu, stand vom Tisch auf und kramte zwischen den Scotchflaschen nach dem Feuerzeug. Er versuchte erneut, sich eine Zigarette anzuzünden. Diesmal schaffte er es. Er ging zum Fenster, achtete nicht auf das Klirren der Flaschen, gegen die er stieß, und sah hinaus. Der Garten vor dem Haus spiegelte Thomsons innere Verfassung wider: verwildert, ungepflegt, von Unkraut überwuchert. Es liefen nicht viele Menschen an seiner Einfahrt vorbei. Die meisten wechselten vorher die Straßenseite, weil sie vermeiden wollten, dem verrückten Alten zu nahe zu kommen. Als fürchteten sie, der Wahnsinn lauere im kniehohen Gras darauf, aus seinem Versteck zu springen und auch sie zu befallen. Schwachköpfe!
Keiner von ihnen wusste, was er seit dreißig Jahren erlitt. Sie konnten nicht im Ansatz erahnen, wie sich eine Sucht anfühlte, die seit drei Dekaden ungestillt blieb und Tag für Tag schlimmer wurde. Die an seinen Knochen nagte, ihn innerlich auffraß, aushöhlte und stets wieder ausreichend auffüllte, sodass er die Tortur dennoch überlebte. Wie oft hatte er sich umbringen wollen, um dem Verlangen auf diese Art zu entkommen? Aber nicht einmal das hatte er geschafft, weil eine fürchterliche Macht ihn davon abhielt. Manchmal hörte er die Kinder wispern, die es als Mutprobe ansahen, seinen Garten zu durchqueren, an der Haustür zu klopfen und davonzulaufen. »Da wohnt der verrückte Alte mit der riesigen Nase«, sagten sie. »Er hat seine Frau umgebracht und ihre Leiche gefressen. Deshalb konnte man ihm nichts nachweisen. Das erzählt zumindest Opa.« Oder: »In seinem Schlafzimmer hängen die Köpfe der Kinder, die einen Football in den Garten geworfen haben.« »Nachts heult er den Mond an.« »Er stopft Menschen aus und schafft sich so eine künstliche Familie.« »Er ist der Teufel!« Wie satt er all das hatte. Er war kein schlechter Kerl, verdammt noch mal, sondern ein verzweifelter! Er schlurfte zum Fernsehgerät und schaltete es ein. Vielleicht lenkte ihn das Hintergrundrauschen aus Nachrichten, Talkshows und Reportagen ein wenig ab. Dann setzte er sich wieder an den Tisch und betrachtete das Foto. Er schraubte eine Flasche auf, kippte den letzten Fingerbreit billigen Scotch in sich hinein und ließ die Pulle zu ihren Kollegen auf den Boden fallen. Er machte sich nicht die Mühe, sie vorher zuzuschrauben. »Wer seid ihr?«, flüsterte er dem Mann und der Frau auf dem Bild zu. »Wie seid ihr an den Schattenreif gekommen? Wer von euch bei-
den trägt ihn?« Auch, wenn die vergangenen Monate zum Großteil im Nebel seines Bewusstseins verborgen lagen, verschüttet unter Alkohol und Gier, erinnerte er sich genau an die Ereignisse davor. Dreißig Jahre! So lange war es nun schon her, dass er die vernünftigste und zugleich dümmste Tat seines Lebens begangen hatte. Er hatte den Schattenreif verschenkt! Er wollte sich von dem Ding befreien, sich nicht länger als dessen Sklave fühlen. Deshalb gab er das Armband einem Dämonenjäger namens Steigner. Diesen umgab eine Aura, die Thomson nicht erklären konnte, die ihn aber als geeigneten Träger erschienen ließ. Doch als Steigner den Schattenreif anlegte und die Waffe ihn als neuen Herrn anerkannte, erlosch ihre Ausstrahlung für Thomson. Er vermochte sie nicht mehr zu spüren. Stattdessen breitete sich ein Gefühl des Verlusts in ihm aus. Am liebsten hätte er das Band Steigner vom Arm gerissen und gebrüllt: »Gib mir mein Eigentum zurück!« Aber er widerstand dem Drang – und bereute es seit diesem Augenblick in jeder einzelnen Sekunde seines unwerten, verkorksten, stinkenden Lebens. Er hoffte, die Trostlosigkeit, innere Leere und Sehnsucht nach dem Schattenreif würden eines Tages nachlassen. So, wie ein Junkie clean wurde, wenn er seinen Stoff nicht mehr bekam. Er hätte sich nicht gewaltiger täuschen können. Das Verlangen nahm zu. Tag für Tag für Tag. Aber das Armband war für ihn verloren. Er wusste nicht, wo Steigner lebte und konnte sich sein Eigentum nicht zurückholen. Und dann, nach Jahren des Entzugs, spürte er ihn plötzlich wieder. Den Ruf des Schattenreifs! Thomson saß in der New Yorker Bibliothek und versuchte genauso verzweifelt wie vergeblich in Legenden mehr über die Herkunft des Armbands herauszufinden. Getrieben von der Hoffnung, auf eine Möglichkeit zu stoßen, wie man das Schmuckstück orten konnte.
Der Ruf traf ihn so unvermittelt, dass er einen Stapel Bücher mit sich riss und zu Boden ging. Doch als er sich wieder aufgerappelt hatte, gab es für ihn kein Halten mehr. Er machte sich auf den Weg und folgte der unsichtbaren Lockung. Von New York nach Deutschland, weiter mit der Bahn von Frankfurt nach Hamburg und von dort mit einem Leihwagen nach Schleswig. Er kam dem Schattenreif immer näher. Der Impuls wurde stetig drängender. Während der Reise versuchte sein suchtzerfressener Verstand, die Situation zu analysieren. Hatte Steigner das Armband abgelegt? Reichte das aus, um den Ruf für Thomson wieder hörbar zu machen? Oder bedurfte es dazu einschneidender Ereignisse? Beispielsweise den Tod des Dämonenjägers. Oder einen schlichten Besitzübergang auf jemanden, der nicht über Steigners geheimnisvolle, den Ruf dämpfende Ausstrahlung verfügte. Eric Thomson wusste es nicht, aber war entschlossen, es herauszufinden. Er erreichte ein Krankenhaus und spürte, dass sich das Armband darin befand. Bald würde er es wieder anlegen können! Er brauchte nur noch die Hand danach auszustrecken und … Ausgerechnet in diesem Augenblick verstummte der Ruf! Thomson fühlte sich, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Tränen der Verzweiflung schossen ihm in die Augen. Doch während er noch mit dem Schicksal haderte und zu verstehen versuchte, was sich gerade abspielte, nahm er etwas anderes wahr. Eine Ausstrahlung, wie Steigner sie besessen hatte! Er musste nicht lange suchen, um die Quelle zu entdecken. Ein Mann im weißen Anzug verließ mit seiner schönen Begleiterin das Krankenhaus. Ihn oder sie umgab die Aura, die er von dem Dämonenjäger kannte. Genauer konnte Thomson es nicht feststellen. Hektisch schoss er mit dem Handy einige Aufnahmen des Paars, bevor es in ein Taxi stieg. Er oder sie? Wer trug den Schattenreif? Thomson schwor sich, die Spur aufzunehmen und sein Eigentum
zurückzuholen.* Um auf Nummer sicher zu gehen, erkundigte er sich im Krankenhaus am Empfang zunächst nach einem Patienten namens Steigner. Eine resolut aussehende Schwester mit Damenbart erklärte ihm, dass die Klinik derzeit niemanden behandle, der so hieß. An den Mann im weißen Anzug und seine Begleiterin konnte sich die Bärtige nicht erinnern. Bei jedem Wort, das sie mit Thomson sprach, sah sie ihn an, als bedürfe er selbst dringend einer Untersuchung. Da erst wurde ihm sein Auftreten bewusst. Der unmoderne Lodenmantel und die viel zu weite Hose, das ausgezehrte Gesicht mit den tief in den Höhlen liegenden Augen. Dazu sein gereizter Tonfall. Kein Wunder, dass Schwester Damenbart sicher schon überlegte, ob sie nicht besser einem Arzt Bescheid sagen sollte. Eric Thomson machte sich aus dem Staub, bevor es dazu kommen konnte. Vor dem Krankenhaus zeigte er noch ein paar Leuten die Fotos auf seinem Handy, doch niemand vermochte ihm die zu dem Pärchen gehörenden Namen zu nennen. Also trollte er sich, flog nach Hause zurück – und stellte dort fest, wie schwer es für einen Normalsterblichen war, nur anhand eines Bildes die Identität des Aufgenommenen herauszufinden. Jemand vom Geheimdienst besäße vielleicht Zugriff auf eine Gesichtserkennungssoftware. Die Polizei könnte das Foto über alle denkbaren Datenbanken laufen lassen. Aber ein Mann wie Eric Thomson? Aussichtslos. Er überlegte, ob er sich in Internetforen oder sozialen Netzwerken Hilfe suchen sollte. Das Bild einstellen und hoffen, dass ein User das Pärchen erkannte. Aber das war ihm zu heikel, schließlich wollte er den Mann im weißen Anzug oder seine Begleiterin nicht darauf aufmerksam machen, dass jemand sie zu finden versuchte. Außerdem quoll das weltweite Netz beinahe über von Foren. Bei welchen hätte *siehe PZ 966: »Der Weg des Jägers«
Thomson sich anmelden sollen? Einem für Gartenfreunde? Einem für Literatur und Film? Einem für Träger weißer Klamotten? Nein, solange er nicht den geringsten Hinweis besaß, in welchem Umfeld sich das Pärchen tummelte, erschien ihm das Vorhaben aussichtslos. So geschah nur wenige Tage nach seiner Rückkehr in die USA das, was er hatte vermeiden wollen. Er verkroch sich erneut in seinem verwahrlosten Heim und versank in einem Meer aus Verlangen, Verdrängung und Verzweiflung. Tag für Tag glotzte er die Aufnahmen an, die er inzwischen ausgedruckt hatte. Tag für Tag schwor er dem Pärchen, sich sein Eigentum zurückzuholen. Und Tag für Tag unternahm er nichts, um diesem Ziel näher zu kommen. Ein scharfer Schmerz zuckte durch seinen rechten Zeigefinger. Thomson wurde sich bewusst, dass er minutenlang mit dem Nagel über die Tischplatte gekratzt hatte. Vor, zurück, vor zurück. Immer wieder. So lange, bis der Fingernagel abbrach und das empfindliche Fleisch darunter blutete. Er steckte die Fingerspitze in den Mund und leckte das Blut ab. Was war nur aus ihm geworden? Wie ein Geist stand er seit Jahren neben sich, betrachtete die Müllhalde, in der er lebte, sah sich selbst dabei zu, wie er körperlich und seelisch verfiel. Er wollte sich anschreien, wollte sich zwingen, von seinem Suchtverhalten wegzukommen, doch es gelang ihm nicht. Hätte er damals doch nur geahnt, wie sich sein Leben entwickeln sollte, nachdem Harrington ihm die Scheiße aus dem Leib geprügelt hatte. Vielleicht hätte er dann den Mut besessen, gleich zum Strick anstatt zum Motorrad zu greifen. Aber wie hätte er es ahnen sollen? Er war doch nur ein …
* … kleiner, hässlicher Botenjunge.
Glaubte er ernsthaft, dass sich eine Frau wie Thelma Sanderhoff für jemanden wie ihn interessierte? Er wischte die feuchten Hände an der Hose ab, bekam die Aufregung aber nicht in den Griff. Thelma war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Ihre grünen Augen schimmerten wie Edelsteine. Ein schmaler brauner Ring um die Pupillen verlieh ihnen eine unfassbare Tiefe, in der man liebend gerne versinken würde. Das dunkelrote Haar umschmeichelte ihre zarten Gesichtszüge und ergoss sich bis zwischen die Schulterblätter wie flüssiges Feuer. Eric Thomson ging vor dem Haus der Familie Sanderhoff auf und ab. Thelmas Vater Richard verdiente sein Geld mit einem Unternehmen, das Fahrzeugteile herstellte. Genauer wusste Eric es nicht. Er hatte sich nie für Autos interessiert, weil er sich ohnehin keines leisten konnte. Im Gegensatz zu den Sanderhoffs. In der Auffahrt standen gleich zwei große Schlitten. Und mindestens einen weiteren fand man vermutlich in der Garage. Unwillkürlich musste Thomson an seine Mutter denken, die sich Tag für Tag in der Wäscherei den Buckel krumm schuftete, um sich und ihren Sohn wenigstens einigermaßen über die Runden zu bringen. Was aber nicht gelänge, würde Eric nicht auch zum Lebensunterhalt beitragen. Der alte Sallinger unten an der Ecke beschäftigte ihn in seinem Lebensmittelladen und ließ ihn den betuchten Menschen der Stadt ihre Einkäufe ausliefern. Zweimal in der Woche tat er das Gleiche mit den frisch gewaschenen und gemangelten Laken aus der Wäscherei, in der Mom arbeitete. So kam es, dass er mindestens jeden Dienstag, manchmal aber auch noch donnerstags, bei den Sanderhoffs klingelte und ihnen Wein, Schinken, teuren Käse oder Tischtücher und Bettwäsche brachte. Meistens öffnete Thelma die Tür und nahm die Sachen entgegen. Anfangs hatte sie ihn wortlos bezahlt. Dabei wirkte sie, als nehme
sie ihn gar nicht zur Kenntnis. Doch nach einigen Wochen lächelte sie ihn zum ersten Mal an und raubte Thomson damit den Atem. Als sie eines Tages die Einkäufe mit einem freundlichen »Danke, Eric!«, in Empfang nahm, glaubte er, sein Herz müsse zerspringen. Sie weiß, wie ich heiße! Beim nächsten Mal sprach sie ihn wieder mit Namen an. Und beim darauf folgenden Mal ebenso. Also nahm er all seinen Mut zusammen und würgte ein »Schöneshaushabtihr« hervor. Sie strahlte ihn an. »O danke! Mein Vater ist sehr stolz darauf, weißt du? Seine Firma stellt Bauteile für Autos her.« Dann folgte eine genauere Erklärung, die Thomson nicht verstand und deshalb sofort vergaß. »Meiner ist tot«, antwortete er. Thelmas Lächeln erlosch, und Eric hätte sich am liebsten geohrfeigt. »Das tut mir leid«, sagte sie. Er glaubte ihr. »Was ist geschehen?« »Im Krieg. Ich hab ihn nie kennengelernt. Zumindest kann ich mich nicht erinnern. Er ist 1944 gefallen. Da war ich zwei Jahre alt.« »Wie schrecklich!« O ja, das war es. Kurz war er versucht, ihr zu erzählen, dass er mit seiner Mutter in Armut lebte, dass das Erbe seines Vaters aus einem alten, klapprigen Motorrad bestand, das sie selbst heute, zwanzig Jahre später, noch besaßen, und dass er noch nie auch nur ein neues Kleidungsstück besessen hatte. Dass ihn die Nachbarskinder wegen seines gebückten Gangs, seiner Brille, seiner abgerissenen Klamotten und vor allem wegen seiner riesigen Nase ständig verspottet hatten. Er stellte sich vor, wie sie ihn in die Arme nahm und tröstete. Wie sie ihn hineinbat, ihrem Vater vorstellte und Eric diesen mit seiner empfindsamen Art für sich einnahm. Wie sie später heirateten, drei Kinder bekamen und Seite an Seite ein schönes Leben führten. »Alles in Ordnung mit dir?«, riss sie ihn aus den Wunschträumen. »Ja«, sagte er. Mehr brachte er nicht heraus.
»Prima! War toll, mal mit dir zu reden.« Eric konnte nur nicken, dann drehte er sich um und ging davon. Er bemühte sich um einen langsamen, selbstsicheren Gang, der jedoch völlig misslang. Als er zuhause ankam – wenn man das feuchte, verschimmelte Loch so nennen mochte, in dem der Chef der Wäscherei die Familie Thomson freundlicherweise vegetieren ließ –, verkroch sich Eric im Bett und dachte an Thelma. Wie hatte er sich nur so unbeholfen anstellen können? Warum war ihm nichts Geistreiches eingefallen? Wieso hatte er sich in Tagträumen verloren, anstatt sich vernünftig mit ihr zu unterhalten? Er beschloss, es beim nächsten Mal besser zu machen. Tatsächlich gelang ihm dies, auch wenn er von der witzigen Brillanz, die er sich vorgenommen hatte, weit entfernt blieb. Die Wochen vergingen. Doch leider nahm Thomsons Unsicherheit nicht im gleichen Maß ab, wie seine Liebe zu Thelma zunahm. Sie unterhielten sich über Romane wie Steinbecks Früchte des Zorns, über den Literaturnobelpreis, den man dem Autor vor zwei Jahren verliehen hatte, über klassische Musik, aber auch über Bands wie die Beatles, von denen die ganze Welt sprach. Eric fand den stillen George Harrison am besten, während Thelma für Paul McCartney schwärmte. Die wenigen Minuten, die ihnen jedes Mal blieben, vergingen stets viel zu schnell. Und obwohl er es sich ständig vornahm, gelang es Thomson einfach nicht, der Angebeteten seine Gefühle zu offenbaren. Inzwischen war er sich sicher, dass sie ihm keinen Korb geben würde. Dennoch begann er immer zu stammeln, wenn er davon anfangen wollte. Also schwieg er lieber. Bis zu seinem gestrigen Besuch. Da hatte er es zwar auch nicht gewagt auszusprechen, was er schon so lange dachte. Stattdessen hatte er ihr mitsamt dem Stapel Laken ein selbst geschriebenes Gedicht überreicht. Natürlich so, dass sie das Blatt nicht gleich entdeckte,
sondern erst, wenn sie die Wäsche in den Schrank räumte. Und heute hatte er all seinen Mut zusammengenommen, vom Lohn der letzten Woche einen Strauß Rosen gekauft und sich auf den Weg zur Frau seiner Träume gemacht. Doch als er nun vor dem Haus der Sanderhoffs auf und ab ging, war von dem Mut nichts mehr übrig geblieben. Bestimmt hatte er sich die Zeichen ihrer Zuneigung während der vergangenen Monate nur eingebildet. Ihre Freundlichkeit mit Schwärmerei verwechselt. Im Zehn-Sekunden-Takt wanderte der Blumenstrauß von einer Hand in die andere. Die freie wischte den Schweiß an die Hose, nur um sich kurz darauf so feucht wie zuvor anzufühlen. Sein Blick heftete sich wieder an die Tür und den bronzenen Klingelknopf daneben. Sollte er es wagen und einfach läuten? Aber würde heute überhaupt Thelma öffnen? Schließlich erwartete die Familie an einem Mittwoch keine Lieferung. Er sah sich schon vor Richard Sanderhoff stehen, dem Hausherrn. Ein bulliger Kerl mit zusammengewachsenen Augenbrauen und donnernder Stimme. Würde Thomson ihm gegenüber die richtigen Worte finden oder sich in hoffnungslosem Gestammel verheddern? Er befürchtete Letzteres. Nein, wahrscheinlich war es besser, bis morgen zu warten. Dann lieferte er eine frisch gewaschene Ladung Gardinen aus und sah Thelma ohnehin. Er wandte sich ab. Ignorierte die innere Stimme, die ihm zubrüllte, sie könne sich nicht mehr so lange gedulden. Fügte sich seiner Unsicherheit, seiner Schüchternheit. »Eric?« Thomson verharrte. Thelma! Sein Herz setzte einige Schläge aus, um anschließend umso wilder zu hämmern, als er sie an diesem einzigen Wort erkannte. Sie hat auf dich gewartet. Hat aus dem Fenster gesehen, bis du kamst.
Du weißt, was das heißt? Sie hat das Gedicht gelesen. Und es hat ihr gefallen. Langsam drehte er sich um. Hin zur Tür. Und da stand sie. Schön wie eine Göttin, ein Lächeln auf den Lippen. »Hallo, Thelma«, sagte er. Sie streckte den Kopf nur durch einen Türspalt hindurch. In seiner Euphorie maß Eric dieser Tatsache nicht sofort eine Bedeutung bei. »Hast du mein Gedicht gefunden?« Sie nickte. Schimmerten da Tränen in ihren Augen? »Hat es dir gefallen?« »Es war … traumhaft. Ich habe noch nie etwas so Schönes gelesen.« Tatsächlich, sie weinte. Ihr Unterkiefer bebte und der Blick huschte unstet hin und her. Aber warum? »Das freut mich.« Er wurde sich des Blumenstraußes in der Hand bewusst und reckte ihn ihr entgegen. »Ich habe dir etwas mitgebracht. Ich hoffe, du …« »Eric«, sagte sie. Ihr Tonfall brachte ihn sofort zum Schweigen. »Ja?« »Du darfst nicht mehr kommen. Auch nicht zum Ausliefern.« Er glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Aber … du hast doch gesagt, dass … das Gedicht … es hat dir gefallen. Und …« »Bitte!«, beharrte sie. Thomson fiel auf, dass sie schon die ganze Zeit über nur geflüstert hatte. »Mach es nicht schwerer, als es ohnehin ist. Wenn du …« Jemand riss ihr die Tür aus der Hand. Thelma kiekste entsetzt auf. Ihre Augen weiteten sich und verliehen ihr den Ausdruck eines aufgeschreckten Kaninchens. Hinter ihr baute sich der Schattenriss eines breitschultrigen Mannes auf. Im ersten Moment glaubte Thomson, es handele sich um ihren Vater. Er erkannte seinen Irrtum, als er eine quäkende Stimme vernahm, die kein bisschen zum Körperbau des Kerls passte.
»Ist er das?«, fragte der Mann. »Dein Sirius de Berberak?« »Cyrano de Bergerac«, korrigierte Eric ganz automatisch. Verglich Thelma ihn tatsächlich mit dieser Figur aus dem Versdrama von Edmond Rostand? Denn dass der grobschlächtige Kerl von selbst darauf gekommen war, konnte Thomson sich beim besten Willen nicht vorstellen. Der Mann schob Thelma beiseite und stemmte bratpfannengroße Hände in die Hüften. »Ach! Wir sind nicht nur ein Schöngeist, sondern auch noch ein kleiner Klugscheißer, wie?« »Nein, ich wollte nur … ich meine, äh, ich bin …« »Halt die Klappe!« Der Kerl trat aus der Tür und baute sich vor Eric auf. Ein Berg aus Muskeln, Sehnen und spürbar schlechter Laune. »Niemand, wirklich niemand macht sich an die Verlobte von Michael Harrington heran, verstehst du? Und schon gar nicht so ein hässlicher Gnom wie du.« »Mike, bitte«, flehte Thelma von der Tür aus. »Lass ihn in Ruhe. Er wusste doch nicht, dass …« »Halt’s Maul, Schatz, sonst fängst du dir ein paar.« Die Frau verstummte. Michael Harrington! Der Name sagte Eric mehr als genug. Missratener Spross einer Anwaltsfamilie mit viel Einfluss und noch mehr Geld. In unregelmäßigen Abständen in den Schlagzeilen, weil er in Kneipenschlägereien verwickelt war. Man erzählte sich, dass er einmal im Rausch einen Mann erschlagen hatte, weil dieser eine abfällige Bemerkung über Harringtons Freundin fallen gelassen hatte. Zu einer Anklage kam es dennoch nie, was die Flüsterparolen der Stadt auf eine gehörige Summe Schmiergeld zurückführten, die von Papa Harrington in Richtung der ermittelnden Polizei genossen sei. Nun kannte Eric Thomson also auch das Gesicht zu den Geschichten, die man so hörte. Wie war Thelma nur an solch einen Verlobten geraten? Natürlich, seine Familie besaß Geld, passte standesgemäß also zu den Sander-
hoffs. Aber kam es denn nur darauf an? Oder liebte sie diesen Scheißkerl etwa? Eric warf Thelma einen Blick zu. Aus verquollenen Augen sah sie ihn an und schaute dann verlegen zu Boden. Er ließ die Blumen fallen und wandte sich ab. Da legte sich ihm Harringtons Pranke auf die Schulter und hielt ihn zurück. »Nicht so schnell, mein kleiner, hässlicher Freund. Wer wird denn so unhöflich sein, mir den Rücken zuzuwenden? Du glaubst doch nicht etwa, ich lass dich so einfach davonkommen, oder?« »Mike, nein!«, erklang Thelmas entsetzter Schrei. »Zu dir komme ich gleich, mein ungezogenes Täubchen. Aber erst …« Eine Kraft, der Thomson nichts entgegenzusetzen hatte, riss ihn herum. Harringtons Faust flog auf ihn zu. Ein weiterer Schrei. Sein eigener? Oder der von Thelma? Er wollte ausweichen, schaffte es aber nicht. Der Hieb traf seine Brille, zersplitterte das Glas und trieb einige der Bruchstücke in die Haut um das Auge. Ein Schleier aus Blut und Schmerz senkte sich über die Welt. Eric riss die Arme hoch, wagte es, selbst einen Schlag zu führen, doch Michael Harrington fing ihn mit erschreckender Mühelosigkeit ab. Ein Schraubstock spannte sich um Thomsons Hand und drückte zu. Feuerlanzen durchbohrten seine Finger, sein Fleisch, seine Knochen und setzten den gesamten Arm in Brand. Er schrie, da flog die nächste Faust heran und verschloss ihm den Mund. Zähne splitterten, seine Lippen platzten auf. Es sollte nicht der letzte Schlag bleiben. Thomsons Körper bestand nur noch aus Schmerzen. Längst spürte er nicht mehr, wo ihn die Hiebe und Tritte trafen. Es machte keinen Unterschied, ob Harrington ihm noch drei oder vier Knochen brach. Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Nur noch besser. Selbst
der Tod bot eine verlockende Aussicht. Doch der Schnitter verschmähte ihn. Später vermochte Eric nicht mehr zu sagen, was ihn am Leben gehalten hatte. Seine Konstitution ganz gewiss nicht, denn sein jämmerlich dürrer Leib hatte früher schon beim kleinsten Lufthauch mit einer Erkältung reagiert. Vielleicht waren es ja Thelmas Schreie, die in dem Sturm aus Schmerzen und Schlägen wie vereinzelte Sonnenstrahlen leuchteten. Sie stellten das letzte Licht dar, das er für lange Zeit sah. Denn als ihn endlich gnädige Dunkelheit umfasste, gab diese ihn für Monate nicht mehr frei. Das Erste, was er sah, als er die Augen wieder öffnete, war das ausgezehrte Gesicht seiner Mutter. Sie saß an seinem Krankenbett und hielt ihm die Hand. Sie erzählte ihm, was er verpasst hatte – und am liebsten wäre er zurück ins Koma geflohen. Halloween, Thanksgiving, Weihnachten, Silvester hatten ohne ihn stattgefunden. Inzwischen schrieb man das Jahr 1965. Mom hatte den Job in der Wäscherei verloren und die Wohnung aufgeben müssen. Auch, wenn sie es nicht aussprach, gab sie ihm die Schuld. Denn nach dem Vorfall vor dem Anwesen von Richard Sanderhoff rief dieser erbost bei Moms Boss an und beschwerte sich über den unverfrorenen Boten, der sich an seine Tochter herangemacht hatte. »Wer weiß, was ohne den Einsatz meines zukünftigen Schwiegersohns geschehen wäre, hat er bei der Polizei ausgesagt«, berichtete Mom. »Du kannst von Glück reden, dass sie dich nicht anzeigen.« »Du … du glaubst ihnen doch nicht etwa?«, brachte Thomson hervor. »Nein … natürlich nicht«, antwortete sie. Aber das kurze Zögern, das er hörte, zerbrach etwas in ihm. Er verbrachte noch zwei Wochen im Krankenhaus. Jedes Mal, wenn sich die Tür zu seinem Zimmer öffnete, hoffte er, Thelma käme ihn besuchen. Aber stets betraten nur Schwestern, Ärzte, Pfle-
ger oder seine Mutter den Raum. Tag für Tag wurde er sich seines körperlichen Zustands bewusster. Die Finger der rechten Hand schmerzten und ließen sich kaum bewegen, auf dem linken Auge sah er nur noch Schatten. Michael Harrington hatte ganze Arbeit geleistet. Warum hat er mich nicht gleich umgebracht? Dieser eine Gedanke ließ Eric nicht mehr los. Als man ihn endlich entließ – nein, als man ihn rausschmiss, weil die Wohlfahrt seine Behandlung nicht länger bezahlte –, setzte er sich auf das Motorrad, das Vater ihnen hinterlassen hatte. Zu seinem Erstaunen hatte Mom es nicht verkauft. Vermutlich, weil es ohnehin kaum noch etwas wert war. Er fuhr nach Westen. In Richtung der Berge. Ohne Plan, ohne Ziel. Oder doch, er besaß einen Plan. Er wollte fahren, bis ihm der Sprit ausging. Danach laufen, bis ihm die Kraft ausging. Und anschließend liegen, in den Himmel schauen, ein letztes Mal von Thelma träumen und eins mit der Natur sein, bis ihm das Leben ausging. Doch dann kam alles ganz anders.
* Etwas riss Eric Thomson zurück in die Gegenwart. Unsicher blickte er sich um. Was war geschehen, das ihn in seiner täglichen Reise in die Vergangenheit störte? Das Hintergrundrauschen des Fernsehers, dieser stete Fluss aus Geräuschen, Musik und Stimmen, der sonst durch sein Bewusstsein strömte, ohne haften zu bleiben, erregte seine Aufmerksamkeit. Aber warum? Er wandte den Blick zur Glotze – und sein Herz setzte einen Schlag aus. »Das gibt es nicht!«, japste er. Das Fernsehbild zeigte verlassene Häuser und Straßen aus der Vogelperspektive. Aus dem Off erklärte eine Frau, dass die Aufnah-
men bereits drei Monate alt seien, die Regierung von Jordanien sie aber erst jetzt freigegeben habe. Ein Team berichtete von der Stadt Kerak, in der 20.000 Menschen spurlos verschwunden waren, zuletzt auch einige Reporter und Soldaten. Nichts, was Thomson auch nur ansatzweise interessiert hätte, wenn nicht im Augenblick ein Mann im weißen Anzug das Fernsehbild ausfüllen würde. Der gleiche Mann, den Thomson vor der Klinik in Schleswig fotografiert hatte! Er blickte nach oben, sah direkt in die Kamera, deutete auf ein Funkgerät oder Handy in seiner Hand, tippte dann gegen das Headset auf seinem Kopf und schüttelte selbigen, als wolle er andeuten, dass es Probleme mit der Verbindung gebe. Die Stimme aus dem Off berichtete, dass das Verschwinden der Menschen so unerklärlich sei, dass man sogar einen Professor für Parapsychologie in die Stadt geschickt habe, um das Phänomen zu erforschen.* Die Welt drehte sich um Eric Thomson. Er musste sich an der Tischkante festhalten, um nicht vom Stuhl zu sinken. Beinahe fühlte er sich wie vor einem Jahr in der Bibliothek von New York, als er den Ruf des Schattenreifs zum ersten Mal seit langer Zeit wieder vernommen hatte. Aufregung erfasste ihn. Die Aussicht, endlich einen Schritt voranzukommen. Die weiteren Worte, die aus dem Fernsehgerät drangen, schwebten durch sein Bewusstsein, ohne großen Sinn für ihn zu ergeben. Thomson starrte noch immer zum Bildschirm, als auf diesem schon eine Reportage über die anstehenden Bürgermeisterwahlen in New York und Präsidentschaftswahlen im ganzen Land flimmerte. »Professor für Parapsychologie also«, hauchte er. Er ging ins Schlafzimmer. Hier stand sein Computer. Zuletzt hatte er ihn eingeschaltet, um die Fotografien des Handys auszudrucken. Auch wenn er sich für sein Alter erstaunlich gut mit dem Rechner auskannte – insbesondere, wenn man bedachte, dass er sich alles *siehe PZ 994: »Das Herz von Eden«
selbst beigebracht hatte –, verwendete er ihn kaum. Seit es das Internet gab, hatte er zwar immer wieder versucht, mehr über den Schattenreif herauszufinden, als er ohnehin schon wusste, oder eine Spur zu Steigner zu entdecken, es war ihm aber nie gelungen. Hoffentlich erzielte er mit den neuen Erkenntnissen einen größeren Erfolg. Thomson fuhr den PC hoch und setzte sich davor. Seine Hand zuckte zu der Scotchflasche neben dem Monitor, doch er widerstand der Versuchung. Stattdessen zündete er sich eine weitere Zigarette an. Die Finger zitterten noch stärker als vorhin. So kam es, dass er sich zunächst auch mehrfach vertippte, als er Google mit seiner Suche nach »Professor« und »Parapsychologie« beauftragte. Die stattliche Anzahl von 373.000 Suchergebnissen schüchterte ihn ein. Wahllos klickte er sich durch die Ergebnisse. Er erreichte Wissenschaftsblogs, Wikipedia-Artikel, Forumseinträge oder gelangte auf Seiten dubioser Wunderheiler und Wahrsager. Er wollte schon fast aufgeben, als er auf einer Homepage landete, die sich ausschließlich mit Büchern beschäftigte. Sein Finger zuckte zur Maus, um den Browser zu schließen. Doch dann sah er es! Das Gesicht des Mannes im weißen Anzug. Thomsons Herz beschleunigte. Offenbar war der Professor der Autor eines Werkes mit dem Titel »Parapsychologie – Verkannte Wissenschaft«. Erschienen Mitte der siebziger Jahre und längst nicht mehr im Handel. Zumindest behauptete das die Website. Wie Thomson weiter erfuhr, hatten es sich die Betreiber zur Aufgabe gemacht, die wichtigsten Bücher zu erfassen, die sich mit dem Thema »Grenzwissenschaften« beschäftigten. Dann sah er den Namen. Zamorra. Innerhalb der nächsten Stunden fand er alles heraus, was es über den Professor herauszufinden gab. Was, wie er feststellen musste,
für einen Autor erstaunlich wenig war. Mied der Parapsychologe etwa weitestgehend die Öffentlichkeit? Das würde zumindest erklären, warum er so unglücklich in die Kamera geschaut hatte. Nicht einmal den Vornamen des Professors vermochte er herauszufinden. Dafür stieß er in einem Autorenporträt auf die interessante Info, dass Zamorra ein Schloss im Loire-Tal bewohnte. Château Montagne. Er hoffte inständig, dass diese Information nicht genauso falsch war wie die persönlichen Angaben, die er sonst noch gefunden hatte. Wenn es nach denen ginge, müsste Zamorra etwa Thomsons Alter aufweisen. Und dieser Gedanke erschien natürlich absurd. Oder? Erinnere dich an die Ausstrahlung, die du gespürt hast! Hielt diese Aura den Professor etwa jung? Aber was kümmerte es ihn, wie alt der Kerl war? Hauptsache, er wusste endlich, wo er ihn finden konnte. Er beschloss, eine Reise nach Frankreich zu unternehmen. Und dann würde er Zamorra – oh, Entschuldigung: Professor Zamorra – oder seiner Freundin den Schattenreif abnehmen. Wie auch immer er das anstellen wollte.
* Professor Zamorra streckte sich, seufzte wohlig auf, biss in sein Croissant und spülte mit einem Schluck Kaffee nach, den andere aufgrund seiner Konsistenz als Teer bezeichnen würden. Doch was scherten ihn andere? Er mochte ihn so – und William kochte ihn so. »Es geht nichts über einen Samstagmorgen«, sagte er zu Nicole Duval, seiner Lebens- und Kampfgefährtin, die auf der gegenüberliegenden Seite des Frühstückstischs saß. Die Sonne strahlte vom Himmel und bescherte Frankreich eine Hitzewelle, was den Vorteil besaß, dass sie das Frühstück draußen neben dem Pool einnehmen konnten. Und dies wiederum besaß den Vorteil, dass Nicole bis auf
einen Hauch von Stoff gewordenem Nichts kein Textil am Leib trug. Früher hätte sie auch auf den fingernagelgroßen Bikini verzichtet, was den Professor bereits veranlasst hatte, über ihre neue Züchtigkeit zu schimpfen. »In deinem Alter darf ich dich dem Anblick nicht mehr aussetzen.« Sie grinste ihn an. »Du musst auf dein Herz achten.« Daraufhin drohte Zamorra ihr scherzhaft mit der Faust, krächzte mit über die Zähne gestülpten Lippen »Schrecklich, dieses junge Gemüse« und setzte anschließend das Frühstück fort. Er genoss diese Momente des Herumalberns, waren sie in der letzten Zeit doch fürchterlich selten geworden. Zu viel hatte sich ereignet, was ihm nicht gefiel und was Frotzeleien als unangemessen erscheinen ließ. Am meisten beschäftigte ihn die Tatsache, dass Asmodis LUZIFERS Tränen sammelte, und sie nicht wussten, zu welchem Zweck er das tat. Gut, sie hatten ein paar Ideen entwickelt, die über das Stadium von unbewiesenen Theorien aber nicht hinauskamen. So vermuteten sie beispielsweise, dass der ehemalige Fürst der Finsternis mit den Teufelstränen LUZIFER wieder erwecken wollte. Aber wie sollte er das bewerkstelligen? Immerhin hatten Zamorra und Nicole vor gut zwei Jahren verhindert, dass sich der Höllenherrscher in JABOTH erneuerte, und somit für die Erfüllung eines uralten Fluchs gesorgt, die LUZIFERS Vernichtung nach sich zog. Oder verfolgte Asmodis mit dem Sammeln der Tränen ein anderes Ziel? Kochte er wieder mal sein eigenes, nicht gerade wohlschmeckendes Süppchen? Zu gerne hätte Zamorra ihm selbiges versalzen – wenn er nur gewusst hätte, wo sich die Küche befand. Hinzu kam, dass der Ex-Teufel den Professor auf dem Planeten Karenja nicht allzu gut hatte dastehen lassen. Als Asmodis sich die dort befindliche Träne schnappte, tat er das nämlich in Zamorras Gestalt. Überhaupt war das so eine Sache mit diesen Tränen. Sie waren Äonen alt und dennoch hatten sie nie etwas von ihnen gehört. Bis
zur Erfüllung des LUZIFER-Fluchs. In der letzten Zeit hingegen stolperten sie so häufig darüber, dass es unmöglich Zufall sein konnte. Außerdem sorgte er sich um Dylan McMour. Ob wieder einmal oder immer noch, vermochte er nicht zu sagen. Den Schotten hatte eine Rückkopplung verschiedenartiger Magien in die Vergangenheit versetzt. Eine Rückkehr auf dem gleichen Weg war ihm nicht möglich, sodass er etwa achthundert Jahre lang hatte abwarten und leben müssen, bis er in seiner Originalzeit ankam. Da es ihn dadurch während der zurückliegenden drei Jahrzehnte doppelt gab – nämlich den Dylan vor der Zeitreise und den, der sich allmählich auf seine Heimatzeit zulebte –, litten der Geist und die Erinnerung des Letzteren, je mehr er sich dem Augenblick näherte, in dem sein anderes Ich in der Vergangenheit verschwand. In der Folge irrte er wochenlang ohne Gedächtnis umher. Auf der Suche nach sich selbst. Erst, als er seinem Instinkt folgend nach Hause zurückkehrte und ein Nachbar Zamorra darauf hinwies, konnte der Professor ihm mittels magischer Hypnose zumindest die Erinnerungen an die Jahre vor Dylans Zeitreise zurückgeben. Von den Dingen, die er während seiner Odyssee durch die letzten achthundert Jahre Menschheitsgeschichte erlebt hatte, wusste er jedoch bestenfalls Bruchstücke. Das war es aber nicht, was Zamorra Sorgen bereitete. Früher oder später würde der Schotte auch in dieser Hinsicht das Gedächtnis zurückerlangen, dessen war sich der Parapsychologe sicher. Nein, vielmehr machte er sich Gedanken über Dylans geistige Gesundheit. Nur kurz, nachdem er ihm zumindest die Erinnerung an sich selbst zurückgegeben hatte, gingen sie miteinander auf Gosh-Jagd. Zwar schien ihr Verhältnis ungetrübt zu sein, dennoch war Zamorra eine Veränderung im Wesen des Schotten aufgefallen. Von der Unbekümmertheit, der jugendlichen Neugier eines Dämonenjägerfrischlings und dem losen Mundwerk, also von all den Eigenschaften, die Dylan ausmachten, war nicht mehr viel zu spüren gewesen.
Das mochte daran liegen, dass er eben kein Dämonenjägerfrischling mehr war. Dylan konnte sich zwar nicht erinnern, was während der letzten Jahrhunderte geschehen war, aber dass er sich als Kämpfer gegen die Finsternis verdingt hatte, erschien nur allzu wahrscheinlich. Schließlich besaß er mit dem Tattooreif, diesem geheimnisvollen Armband aus dem Nachlass des Dämonenjägers Jo Steigner, eine mächtige Waffe. Wenn man es so sieht, stellt sich die Frage, wer von euch beiden der Dämonenjägerfrischling ist. Immerhin hat er dir achthundert Jahre Erfahrung voraus. Litt er so sehr unter dem Gedächtnisverlust? Oder belastete ihn, dass er es vor Jahrhunderten geschafft hatte, die Seelensplitter der Sha’ktanar an sich zu bringen, sich nun aber nicht mehr erinnerte, was er mit ihnen angestellt hatte? Dabei hegten sie große Hoffnung, mit diesen Artefakten die Heilung der Quelle des Lebens zu beschleunigen oder zumindest das magische Band zwischen Zamorra und dem Erbfolger Rhett Saris ap Llewellyn zu lösen. Oder besaß Dylans Niedergeschlagenheit einen anderen Grund? Der Professor wusste es nicht, denn seit ihrem letzten gemeinsamen Abenteuer hatte er kaum mit dem Schotten gesprochen. Zwar rief er ihn gelegentlich an, doch Dylan beendete das Gespräch stets schnell wieder. Er sei auf dem Sprung und habe keine Zeit, sagte er dann. Oder er fühle sich nicht wohl, müsse sich ausruhen, wolle sich über ein paar Dinge klar werden. Doch worum es sich dabei handelte, verriet er nie. Zamorra hätte ihm gerne geholfen, doch Dylan ließ es nicht zu. Knirschte da Sand im Getriebe ihres Verhältnisses? Der Professor nahm einen weiteren Schluck vom Kaffee. O ja, die vergangenen Wochen und Monate waren nicht gerade ereignisarm gewesen. Wenigstens stand nach ihrem letzten Abenteuer das Château wieder an Ort und Stelle, nachdem es einen Ausflug nach Eden hinter
sich gebracht hatte! Nur, dass Carrie Bird dort geblieben war, schmerzte ihn. Er hatte die Kleine wirklich ins Herz geschlossen. »Was gefällt dir so an einem Samstagmorgen?«, ging Nicole auf Zamorras ursprüngliche Äußerung ein. »Wir können ausschlafen.« »Sagt der Mann, der glaubt, Frühstück dürfe man erst ab elf Uhr einnehmen, weil alles davor noch als Nachtmahl zählt.« Er verdrehte die Augen. »Das schwere Los der freischaffenden Dämonenjäger. Wir müssen uns nun mal an die Bürostunden unserer vampirischen, werwölfischen und sonstigen höllischen Klienten anpassen.« Zamorra schob sich das letzte Stückchen Croissant in den Mund, wischte sich die Lippen mit einer Serviette ab und lehnte sich zurück. Sein Rücken hatte die Stuhllehne noch nicht berührt, da tauchte William neben ihm auf. »Darf ich abräumen?« »Gerne.« Nicole stand auf. »Zeit für ein paar Runden im Pool.« Sie ging zu einem Schränkchen nahe der Terrassentür und öffnete es. »Nanu? Haben wir keine Badetücher mehr?« »Die waren in der Wäscherei und sind erst heute Morgen angeliefert worden«, erklärte William. »Wegen der Zubereitung des Frühstücks habe ich mir erlaubt, das Ausräumen des Wäschewagens als weniger dringlich anzusehen. Er steht noch vor dem Gebäude. Wenn Sie wünschen, hole ich Ihnen gerne ein Tuch.« Sie winkte ab. »Nicht nötig, das mach ich selbst. Kümmern Sie sich ruhig um den alten Mann.« Mit einem kecken Hüftschwung drehte sie sich um und verschwand im Château. Zamorra sah ihr nach und genoss den Anblick. »Ich glaube, wenn sie zurückkehrt, werde ich ihr zeigen, wie junggeblieben der alte Mann noch ist.« O ja, er liebte Samstagmorgen.
Die trüben Gedanken, die sich eben noch beinahe in ihm breitgemacht hätten, schob er zur Seite. An diesem prachtvollen Tag wollte er das Leben genießen. Wer wusste schon, wie lange das Schicksal ihm diese Gnade gewährte.
* Nach der Hitze am Pool fröstelte Nicole, als sie in die Kühle des Châteaus eintauchte. Sie ging in die Halle des Schlosses, wo es gleich noch eine Spur kühler wurde. Vorbei an der Küche, die an diesem Samstag in Williams Zuständigkeit fiel, da Madame Claire freihatte. Und hinaus zum Vordereingang. Endlich wieder Sonne. Der Wäschewagen stand einige Meter vom Fuß der Treppe entfernt, prall gefüllt mit Badetüchern und Bettwäsche. Sie tänzelte die Stufen hinunter. Der Kies unter den nackten Füßen störte sie nicht, daran hatte sie sich längst gewöhnt. Mit wenigen Schritten war sie bei dem Wagen und zupfte das größte Tuch hervor, das sie entdeckte. Nicole drehte sich um und wollte sich auf den Rückweg machen. Sie erstarrte. Über die wie fast immer heruntergelassene Zugbrücke taumelte ein Mann in den Schlosshof. Sein linker Arm stand in Flammen! Hektisch schlug er mit der unversehrten Hand danach, versuchte sie zu löschen, scheiterte aber daran. Stattdessen breitete er das Feuer sogar noch aus. Plötzlich griff es auch auf den rechten Arm über. Sein Gesicht war eine Grimasse des Schmerzes, zu dem sich nun auch noch Überraschung und Entsetzen gesellten. Als Nicole ihren Schrecken überwand, gab es für sie kein Halten mehr. Sie hatte keine Ahnung, was dem armen Kerl widerfahren war, aber das spielte im Augenblick auch keine Rolle. Sie musste
ihm helfen! »Zamorra! Hilfe!«, brüllte sie, während sie auf den Flammenmann zulief. Sie zweifelte jedoch an, dass ihr Lebensgefährte den Ruf über das Château hinweg hörte. Egal. Sie verfluchte ihren sonst so geliebten knappen Bikini, bot er doch keinerlei Platz für einen Dhyarra. Mithilfe des Sternensteins hätte sie das Feuer in Sekundenschnelle gelöscht. Doch wenigstens hatte ihr das Schicksal in Person von William und der Wäscherei ein Badetuch zur Verfügung gestellt. Der Brennende drehte sich um die eigene Achse wie ein Flammenkreisel. Wie ein Besessener schlug er auf sich ein, torkelte, drehte sich, taumelte weiter, drehte sich wieder. Dann ging er zu Boden. »Zum Brunnen!«, rief Nicole ihm zu. Er hörte nicht auf sie. »Wälzen Sie sich!« Auch diesen Rat nahm er nicht an. Offenbar war ihm in der Panik jegliche vernünftige Verhaltensweise abhandengekommen. Nur unterbewusst nahm die Französin wahr, dass der Mann keine Schmerzensschreie von sich gab. Merkwürdig. Aber eine Frage, deren Lösung Zeit haben musste. Sie rannte weiter. Gelegentlich gerieten Kiessteinchen zwischen ihre Zehen und bohrten sich in die empfindliche Haut. Nicole achtete nicht darauf. Endlich erreichte sie den Brunnen im Zentrum des Schlosshofs. Sie tauchte das Badetuch darin ein und hetzte auf den Brennenden zu. Sie warf das tropfende Tuch auf den Mann, hüllte die Flammen ein und klopfte sie aus. »Keine Sorge«, ächzte sie. »Alles wieder unter Kontrolle.« Doch das sollte sich nur Sekunden später als Irrtum herausstellen.
*
Kurz vorher Eric Thomson stand außerhalb des Châteaus im Schutz eines Baumes und beobachtete über die Zugbrücke hinweg das Schloss. Hier wohnte er also, der Herr Professor. Der Parapsychologe. Der Dieb des Schattenreifs. Den Lodenmantel hatte Thomson auf der Rückbank des gemieteten Peugeots liegen lassen. Dafür war es an diesem Tag zu heiß. Auch, wenn er die Hitze kaum spürte. Denn neben der Gier nach seinem Eigentum hatte kaum ein anderes Gefühl ihn ihm Platz. Dort, hinter diesen Schlossmauern, wartete es darauf, dass er es abholte, es wieder um sein Handgelenk schmiegte und eins mit ihm wurde. So wie früher. Eine leise Stimme im Hinterkopf versuchte ihn daran zu erinnern, warum er den Schattenreif überhaupt weggeben hatte. Zu leise, als dass er auf sie achtete. Was nützte ihm das Wissen um die Gefahren, wenn doch das Verlangen so stark war! Noch immer hatte er sich keinen Plan zurechtgelegt, wie er sich das Armband zurückholen sollte. Er wusste nur, dass er vorsichtig sein musste, denn er hatte sich im Dorf am Fuße des Châteaubergs nach dem Schlossherrn erkundigt – in einer Gastwirtschaft mit dem einprägsamen Namen Zum Teufel. Offenbar genau die richtige Adresse, denn die Gäste und der Wirt wussten viel zu erzählen. Dass Zamorra ein Dämonenjäger war, zum Beispiel. Dann stießen sie sich gegenseitig an und lachten, als wollten sie seine Reaktion darauf testen. Dämonenjäger. Das passte ja! Damit war zu rechnen gewesen. Als der Wirt, der sich als Mostache vorstellte, Thomson fragte, was er denn vom Professor wolle, erzählte Eric, dass er früher selbst Dämonen gejagt habe. »So einen berühmten Kollegen wie Zamorra muss ich einfach kennenlernen, verstehen Sie?«
Mostache verstand. Thomson war froh, nach einem Gläschen Rotwein und einem viel zu teuren Whisky die Kneipe verlassen zu können. Diesen Ort des gesellschaftlichen Frohsinns, der ihn so anwiderte. Er war erleichtert, sich endlich nicht mehr verstellen, seine Nervosität und sein Verlangen nicht länger verstecken zu müssen. Er fürchtete, vor allem am Ende war es ihm ohnehin nicht mehr besonders gut gelungen. Er fuhr mit dem Peugeot zum Schloss hinauf, parkte den Wagen einige Straßenbiegungen, bevor er das Château erreichte, und legte den Rest der Strecke zu Fuß zurück. Er wollte vermeiden, dass man das Auto sah und sich wunderte, wem es gehörte. Und nun stand er schon eine geschlagene Nacht und ein paar Vormittagstunden hinter den Bäumen und beobachtete. Waren der Professor und seine Gefährtin überhaupt zuhause? Das Einzige, was sich bisher ereignet hatte, war die Ankunft des Lieferwagens einer Wäscherei. Ein Bediensteter sprang aus dem Auto, mühte sich ab, einen Wäschewagen aus dem Laderaum zu bugsieren, und plauderte anschließend ein paar Sätze mit dem gerade heraneilenden Butler, einem stocksteif wirkenden Typen, der einem alten englischen Roman entsprungen sein könnte. Ein schmerzvolles Lächeln huschte über Thomsons Gesicht, erinnerte die Szene ihn doch an seine eigene Vergangenheit. An Thelma. Als der Lieferwagen verschwand, machte sich der Butler daran, die Wäsche auszuräumen. Doch er hatte noch nicht richtig angefangen, da unterbrach er die Arbeit, sah auf die Uhr und kehrte zurück ins Schloss. Seitdem war nichts mehr geschehen. Immer wieder strich sich Thomson über die Geiernase, rieb die Fingerspitzen aufeinander oder kaute so lange an den Fingernägeln und der Nagelhaut, bis sie blutete. Er musste den Schattenreif zurückbekommen. Er musste einfach!
Aber er wusste, dass der unrechtmäßige Besitzer ihn nicht freiwillig zurückgeben würde. Wenn der Träger es jedoch nicht selbst abnahm, gab es nur eine Möglichkeit, an das Armband zu gelangen. Der Dieb musste entweder den Arm oder das Leben verlieren, denn von totem Gewebe fiel der Schattenreif ab. Doch Zamorra war ein Dämonenjäger! Also niemand, den man allzu leicht überrumpeln konnte, zumindest wenn man den heroischen Geschichten glaubte, die die Kerle in der Wirtschaft erzählten. Also musste er sich etwas anderes ausdenken. Aber was? Wenn er sich doch nur ein bisschen besser konzentrieren könnte! Er zog sich an den Haaren, riss sich sogar ein Büschel aus, in der Hoffnung, der reinigende Schmerz lasse ihn strukturierter denken. Vergebens. Es gab nur eines, was ihn zu retten vermochte, was ihn ruhiger werden ließ. Nur eines! Er rieb mit der rechten Hand über den linken Unterarm. Bald schon, dachte er, seid ihr wieder vereint. Seine Gedanken glitten in die …
* Vergangenheit Eric Thomson fuhr und fuhr und fuhr. Er scherte sich nicht um die Schmerzen in den Fingern oder um sein fast blindes Auge. Es war ihm gleichgültig, ob er mit dem Motorrad stürzte oder gegen einen Baum krachte. Er wollte nur noch weg von allem. Von Thelma, von seiner Mutter, von der Erinnerung an Michael Harringtons Fäuste. Von seinem Leben. Die Sonne stand hoch über den Bergen, strahlte auf ihn herab und trocknete ihn aus. Er spürte es nicht. Thomson bog von der Straße ab, die ihn am Fuß der Hügel ent-
langgeführt hätte, und fuhr stattdessen auf einem bestenfalls zu erahnenden Weg zwischen dürren Büschen über lockeres Geröll auf die Berge zu. Als das Gelände immer unpassierbarer wurde, stieg er vom Motorrad ab, obwohl das Benzin noch nicht zur Neige gegangen war, verabschiedete sich vom Erbstück seines Vaters und setzte den Weg zu Fuß fort. Bald zierten Blasen seine Zehen, die Sohlen brannten, als habe man ihnen die Haut abgezogen, und die geschwollenen Füße schienen förmlich mit den Schuhen zu verwachsen. Eric nahm es wohl wahr, dennoch drangen die Schmerzen nicht bis in sein Innerstes vor. Der Marsch verlief wie in Trance. Er glaubte, sich an die Begegnung mit einem Indianer zu erinnern, der plötzlich vor ihm auf dem Weg stand. Das Gesicht von der Sonne gegerbt und voller Runzeln. Eine Feder zierte den breitkrempigen Hut. Über der groben Lederjacke … Bei dieser Hitze?, zuckte es Thomson durch den kurzfristig klaren Teil seines Bewusstseins. … hingen etliche Ketten mit kleinen Steinchen und großen, geschnitzten Symbolen aus Horn. »Geh nicht weiter«, forderte der Indianer ihn auf. »Kehr um.« Eric leckte sich über die rissigen Lippen. »Warum?« »In diesen Bergen spuken die Geister eines längst vergessenen Stamms.« Jeder Gedanke fiel Thomson schwer. »Wie kann man davon wissen, wenn sie längst vergessen sind?« Er fragte sich, ob dieser Einwand scharfsinnig oder dämlich war. »Wenn du weitergehst, wartet auf dich der Tod«, erwiderte der Indianer, von der vermeintlichen Argumentationskunst des Weißen gänzlich unbeeindruckt. »Oh!«, machte Eric. »Sehr gut. Er ist es, den ich suche.« Dann schob er sich an der skurrilen Gestalt vorbei und ging weiter. Als er sich nach etlichen Metern noch einmal umdrehte, war von
dem Alten nichts mehr zu sehen. Nur wenige Minuten später fragte er sich, ob er sich die Begegnung nur eingebildet hatte. Er stapfte voran. Schritt für Schritt. Stetig bergauf über lose Steine und tückisch hervorstehende Wurzeln. Vorbei an Sträuchern und senkrecht abfallenden Hängen. Er wusste nicht, wie weit die Beine ihn noch trugen, aber war entschlossen, es herauszufinden. Aus den Augenwinkeln nahm er eine huschende Bewegung wahr. Träge wandte er den Kopf nach rechts. Eine durchscheinende Gestalt wischte auf ihn zu. Formgewordener Nebel. Lange Nebelhaare, ein bulliger Nebelkörper – und ein ganz und gar real erscheinender Knochenschädel. Der Geist eines Indianers. Wie der Alte es angekündigt hatte! Welcher Alte? Erics Gedanken taumelten durcheinander. Ein eiskalter Hauch kroch seinen schweißüberströmten Rücken hinab und ließ ihn frösteln. Der Atem kondensierte vor seinem Mund. Wie aus dem Nichts tauchten weitere Geister auf. Die Totenschädel verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. FLIEH, DU NARR!, brüllten sie ihm entgegen, ohne dass dabei ein Laut erklang. FLIEH, BEVOR ES FÜR DICH ZU SPÄT IST! Sie umschwebten ihn, strichen ihm mit eisigen Fingern über die Haut, zupften an seiner Kleidung und seinem Verstand. Ein Reigen des Wahnsinns, der stetig an Geschwindigkeit gewann. Und dennoch lächelte Eric Thomson. Ein winziger, klarer Teil seines Bewusstseins erklärte ihm, dass er die Erscheinungen, die selbstverständlich gar nicht existierten, nur wegen seines körperlichen, Halluzinationen fördernden Zustands sah. FLIEH ODER STIRB!
Der viel größere Teil jedoch, der mit dem Leben längst abgeschlossen hatte, scherte sich nicht darum. Für ihn stellte die Todesdrohung eine Verheißung dar. Thomson breitete die Arme aus und lachte. »Tut, was ihr nicht lassen könnt!«, schrie er. Oder glaubte er, zu schreien. Denn aus seiner staubigen Kehle drang nur ein Krächzen. Lag es daran, dass die Geister nicht auf ihn hörten? Oder daran, dass sie ihm nur Angst einjagen wollten, ihm in ihrer körperlosen Gestalt tatsächlich aber gar nichts anzuhaben vermochten? Oder womöglich daran, dass sie wirklich nicht existierten? Was auch immer der Grund dafür sein mochte, von einem Augenblick auf den nächsten verschwanden die Geister. Stattdessen griff eine ungeahnte Lockung nach ihm. Komm zu mir. Versuchten es die Indianergeister auf einem anderen Weg? Oder spielte ihm sein Geisteszustand Streiche? FLIEH! Auch ohne die Gespenster zu sehen, glaubte er, ihre Drohung wahrzunehmen. ODER STIRB! Komm. FLIEH! Komm. STIRB! Eric torkelte voran. Verlor die Orientierung. Hörte nur noch die Stimmen. Sah nichts mehr von seiner Umgebung. Egal. Wenn er einen Steilhang hinunterfiel, wen kümmerte es? Und dennoch bohrte sich ein eisiger Dorn der Panik in sein Herz, als plötzlich das Geröll unter seinen Füßen nachgab. Er rutschte weg, knallte auf den Allerwertesten und schlidderte in die Tiefe. Die Stimmen im Kopf verstummten, weggespült von dem Adrena-
lin, das seinen Körper durchflutete. Mit einem Mal sah er zumindest mit dem guten Auge die Umgebung klar vor sich. Kein Steilhang, aber immerhin eine Schräge. Von Geröll übersät, aus dem vereinzelt Sträucher wuchsen. Er griff danach, versuchte auf diese Art, das Rutschen zu bremsen, doch es gelang nicht. Da! Endlich bekam er einen trockenen Strang zu fassen. Er riss ihn mitsamt der Wurzel aus dem Erdreich, ohne dass er langsamer wurde. Was tust du da?, fragte eine Stimme in ihm. Diesmal keine fremde, sondern seine eigene. Du willst doch sterben! Also gib dich dem Sturz hin und heiße das willkommen, was am Ende auf dich wartet. Er konnte es nicht. Der Überlebensinstinkt übernahm die Kontrolle. Thomson breitete Arme und Beine aus, um mehr Widerstand zu bieten. Steinchen prasselten auf ihn ein, sein Rücken schien nur noch aus rohem Fleisch zu bestehen. Warum zum Teufel wurde er nicht langsamer? Vorsichtig hob er den Kopf, um zu sehen, wohin die Reise ging. Er konnte nichts erkennen. Staub drang ihm in Nase, Mund und trotz Brille auch in die Augen. Sein Körper wehrte sich gegen die Partikel und schüttelte Eric mit einem Hustenanfall durch. Dabei krümmte er sich so, dass er plötzlich nicht mehr mit den Füßen voranrutschte. Er geriet in Seitenlage – und überschlug sich. Mit einem Mal bestand die Welt nur noch aus einem rasenden Wechsel zwischen Himmel und Geröll und Himmel und Geröll. Und dann: Dunkelheit. Der wilde Ritt nahm ein Ende und ging über in einen kurzen Fall. Eric schrie, hustete und keuchte in einem. Aufprall! Ein Schmerzgewitter tobte durch sein Bein, ließ ihn aufjaulen. Dann lag er still. Er lebte noch und stellte zu seiner Überraschung fest, dass er sich darüber freute. Als habe die Fahrt mit dem Motorrad und die lange
Wanderung zu einer Reinigung seiner Gedanken geführt. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er stemmte sich in eine sitzende Position und zuckte zusammen, als er sich auf die von Schrammen übersäten Handflächen stützte. Steinchen regneten auf ihn herab. Erst in heftigen Schauern, die aber rasch in ein Nieseln übergingen und schließlich ganz endeten. Thomson sah sich um. Nackte Felswände, so weit das Auge reichte – was nicht sonderlich weit war. Käfer oder Spinnen krabbelten ihm über die Hände. Er schüttelte sie ab. Ein Blick nach oben zeigte ein Loch im Fels und außerhalb davon den Abhang, den er gerade mit dem Hintern poliert hatte. Am Ende der Rutschpartie war er in eine Höhle gestürzt! Eric stemmte sich hoch, doch sofort bohrten sich glühende Nadeln in sein linkes Bein. Tränen schossen ihm in die Augen. Er konnte von Glück reden, wenn er sich das Bein nur verstaucht oder ein paar Sehnen überdehnt hatte. Vielleicht war es aber auch gebrochen. Wackelig stand er da, das Gewicht ausschließlich auf das nicht ganz so geschundene Bein verlagert. Sein Blick flirrte noch einmal umher, lieferte aber kein anderes Ergebnis als beim ersten Mal. Die Erkenntnis traf ihn hart: Er saß fest! Der Eingang lag vielleicht drei Meter über ihm. Keine weite Strecke, aber dennoch unerreichbar, da das Loch in einer glatten, senkrechten Wand lag. Offenbar war er nicht der Erste mit diesem Problem. Nur eine Armlänge von ihm entfernt lag das blanke Skelett eines kleinen Tieres. Eric vermochte nicht zu erkennen, worum es sich zu Lebzeiten gehandelt haben mochte, aber es schien ihn einzuladen, sich danebenzulegen. Was für ein Hohn! Er hatte sterben wollen, doch nun, da er nichts weiter tun brauchte, als sich in sein Schicksal zu fügen, war der Lebenswille wieder erwacht. Vergebens, wenn er seine Situation recht überdachte.
Vielleicht gibt es einen zweiten Ausgang! Aber den hätte das skelettierte Tier doch auch gefunden. Nicht, wenn es sich beim Sturz so schwer verletzt hätte, dass es gleich starb oder sich zumindest nicht mehr wegbewegen konnte. Er durchsuchte die Hosentasche und war erleichtert, als er sein Zippo fand. Mit zittrigen Fingern fischte er es hervor. Der Deckel hatte zwar ein paar Dellen davongetragen, ließ sich aber noch leicht öffnen. Er betätigte das Zündrädchen, und sofort spendete die Feuerzeugflamme zusätzliches Licht zu dem, das durch den Höhleneingang fiel. Thomson humpelte in den dunklen Bereich der Höhle. Jedes Mal, wenn er das verletzte Bein belastete, schickte es Schmerzbeben durch seinen Leib und drohte, unter ihm nachzugeben. Aber er biss die Zähne zusammen. Er, der sich zeit seines Lebens schwach gefühlt hatte, musste stark sein, wenn er verhindern wollte, dass der nächste Besucher auch sein Skelett fand. Also vorwärts. Tatsächlich erstreckte sich die Höhle wesentlich weiter ins Berginnere, als er es zunächst vermutet hätte. Er stieß sogar auf einen schmalen Gang, der ihn wiederum in eine große unterirdische Kuppel brachte, von der aus erneut Stollen ins Gestein abgingen. Welchen sollte er wählen? Welcher führte in den Tod und welcher in die Freiheit? Besaß die Höhle überhaupt einen zweiten Ausgang? Und falls ja, wer sagte ihm, dass dieser nicht genauso unerreichbar war? Plötzlich überkam ihn die Angst, sich zu verlaufen. Na und? Klar, vielleicht verirrst du dich und verhungerst. Doch wen kümmert es, wo dein Skelett liegt? Also, geh weiter, denn darin besteht die einzige Chance, zu überleben. Er gehorchte der inneren Stimme, von der er nicht einmal mit Gewissheit sagen konnte, ob es sich tatsächlich um seine handelte. War es nicht eher die, die ihn vorhin schon gelockt hatte? Ohne darüber nachzudenken, entschied er sich für einen der Stol-
len und stapfte voran. Ignorierte die Schmerzen in seinem Bein und in jeder Faser seines Körpers. Ihm war, als schütte sein Leib Schmerzmittel aus, um ihm das Überleben zu ermöglichen. Die Wirkung des Adrenalins? Oder die der Stimme, die ihn zu sich holte? Wie lange reichte das Benzin im Feuerzeug aus? Was würde er tun, wenn das Zippo erlosch und er plötzlich in absoluter Finsternis stand? Wie lange konnte er noch ohne Wasser aushalten? Er verscheuchte die trüben Gedanken, sobald sie aufkamen. Weiter, immer weiter. Nicht anhalten, nicht grübeln. Nur vorwärts, tiefer in den Berg, stetig tiefer. Nach links, nach rechts, nach unten, nach oben. Bei Abzweigungen dem Instinkt (der Lockung!) gehorchen und … Wie angewurzelt blieb er stehen. Vor ihm erstreckte sich eine Halle, deren Ausmaße den Leuchtradius der Feuerzeugflamme bei Weitem überstiegen. Dennoch konnte er sie in voller Pracht bewundern, weil schwach leuchtende Moose die Innenwand der gewaltigen Höhle mit einem grünlichen Schimmer überzogen. Auf dem Boden lagen vermoderte Leichen. Keine Skelette wie von dem kleinen Tier sondern verschrumpelte, mumifiziert wirkende Tote. Indianer! Mindestens fünfzig, wenn nicht mehr. Aufgereiht wie in einem Schlafsaal. Der Alte fiel ihm wieder ein. Hatte er ihn sich doch nicht nur eingebildet? Die Geister des vergessenen Stammes. Nun, so wie es aussah, hatte Eric den Stamm gerade gefunden. Die Kleidung der Leichen war gut erhalten, fast so, als hätten sich die Männer – Krieger? – erst gestern hingelegt. Nur das Mumienhafte der Körper zerstörte diesen Eindruck. Wo war er gelandet? Auf einem Indianerfriedhof? Seit wann lagen die Toten hier? Warum waren sie nicht verwest? Und weshalb
leuchtete dieses Moos? Da wurde ihm bewusst, dass er die falschen Fragen stellte. Die richtige musste lauten: »Glaubst du, sie kamen alle auf dem gleichen Weg hierher, den du genommen hast?« Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Und das wiederum bedeutete: Es musste tatsächlich einen weiteren Ausgang geben. Langsam schritt er durch eine Gasse zwischen den Leichen. Leise, vorsichtig. Darauf bedacht, keinen der Indianer zu berühren. Er redete sich ein, dass er das tat, um die Ruhe der Toten nicht zu stören. Vielleicht fürchtete er aber auch, er könne sie aufwecken, wenn er sie anstieß. FLIEH!, ertönte plötzlich wieder die geistige Aufforderung. Fünfzig oder mehr verschiedene Stimmen, die sich zu einer vereinten. Die der Leichen. FLIEH, BEVOR ES ZU SPÄT IST. Und dann erneut die Lockung: Hör nicht auf sie. Komm zu mir, wenn du überleben willst. Endlich hatte er die Halle durchquert und erreichte den Ausgang auf der anderen Seite. Noch einmal drehte er sich nach dem Totenfeld um. Ein Schauer perlte ihm über den Rücken. Der schmale Gang, der sich an die Halle anschloss, lag in tiefer Finsternis, sodass er wieder das Zippo bemühen musste. Brannte die Flamme nicht schon flackernder als noch vorhin? Bereits nach wenigen Metern mündete der Pfad in eine kleinere, kuppelförmige Höhle. In ihrem Zentrum stand eine flache aus Knochen gefertigte Schatulle. Rissen denn die Überraschungen und Entdeckungen gar nicht mehr ab? Dabei war das Einzige, was er endlich zu entdecken wünschte, der Ausgang aus diesem Labyrinth. Du hast es geschafft, flüsterte die Stimme. Auch, wenn sie in seinem Kopf erklang, stammte sie eindeutig aus dem Behälter. Komm zu mir, dann werde ich dich beschützen. Beschützen? Wovor? Er zögerte nicht. Mit zwei Schritten erreichte er die Schatulle. Ne-
ben ihr ging er in die Knie. Sogar die Schmerzen in seinem verletzten Bein nahm er nicht mehr wahr. Er stellte das Feuerzeug auf den Boden, streckte die Hände nach dem Knochenbehälter aus und … »Tu das nicht, wenn du nicht verflucht sein willst!«
* Die Stimme ging Eric durch Mark und Bein. Er erkannte sie sofort wieder. Als er sich im Knien umwandte, sah er seinen Verdacht bestätigt. Der alte Indianer mit der Feder auf dem Hut. »Du!«, stieß Thomson hervor. Hieß das, der Kerl war ihm die ganze Zeit gefolgt? Hatte sein Elend miterlebt, ohne zu helfen? Und wollte ihm nun gute Ratschläge erteilen? »Ich«, bestätigte der Runzelige. Bei genauerer Betrachtung haftete auch ihm etwas Mumienhaftes an. Und da, an diesem einen Wort, bemerkte Eric, dass der Indianer nicht Englisch sprach. Und dennoch verstand er ihn. Aber wie …? »Denk nicht über Dinge nach, die du nicht verstehst«, sagte der Alte in kehligem Kauderwelsch, immer wieder unterbrochen von angestrengtem Atmen. Also doch keine Mumie, dachte Eric, sondern ein lebender Mensch. »Du hast recht. Ich lebe. Und zwar schon sehr lange. Meine Mutter brachte mich zur Welt, lange bevor der weiße Mann unsere Heimat raubte.« Eric wusste nicht, was er sagen sollte, also schwieg er. Seine Hand schwebte noch immer nur wenige Zentimeter über der Knochenschatulle. »Lass den alten Fluch ruhen, wenn du nicht den Zorn der Wahyukalla verspüren willst.« »Warum … warum kann ich dich verstehen?« Der Indianer sah ihn sekundenlang schweigend an, als überlege
er, ob er Eric die Frage doch beantworten sollte. »Weil die Geister dir ermöglichen wollen, diesen Ort zu verlassen. Sie möchten dich nicht töten oder strafen. Das ist nicht mehr ihr Weg! Sie wollen nur, dass du weggehst und schlafen lässt, was schlafen muss. Deshalb erlauben sie dir, mich zu verstehen.« Hör nicht auf ihn. Natürlich werden sie dich umbringen. Niemand darf ihr Geheimnis kennen. Aber ich kann dich retten. Lass mich dir helfen. Seine Hand sank tiefer. Berührte den Deckel der Schatulle. Ein Stöhnen ertönte. Von draußen. Von dort, wo die Indianer lagen. »Sie erwachen«, sagte der Alte. »Die Wahyukalla stehen auf, um eine Rückkehr des Fluchs zu verhindern. So, wie sie es den Geistern geschworen haben. Du musst widerstehen!« Ein Kribbeln durchlief Thomsons Fingerspitzen. Er wollte nachgeben. Den Deckel öffnen und sehen, was sich darunter verbarg. Doch er zögerte. Etwas in der Stimme des Indianers hielt ihn zurück. »Ich habe noch nie von ihnen gehört, von diesen Waya… Waku…« »Wahyukalla«, wiederholte der Alte. »Du kannst sie nicht kennen. Denn sie sind der vergessene Stamm. Du hast ihn gesehen. Draußen, in der Halle. Sie sind seit über siebenhundert Jahren deiner Zeitrechnung tot. Und so soll es auch bleiben.« »Und du?«, fragte Eric. »Wer bist du?« »Ich heiße Kanrys-Than, was in deiner Sprache so viel bedeutet wie Sehender Vater. Ich bin … war der Schamane der Wahyukalla. Jetzt bin ich nur noch ein alter Mann, ein Wächter der Schatulle, ein Bewahrer des Schwurs.« Eric Thomson verstand kein Wort. »Von welchem Schwur sprichst du?« »Die Wahyukalla waren ein kleiner Stamm. Wir lebten im Einklang mit den Geistern, ernährten uns von ihren Gaben und dem, was das Land uns schenkte. Wir schätzten den Frieden, liebten unsere Frauen und Kinder. Doch wir waren umgeben von Feinden.
Stämmen, zu denen das Land nicht so großzügig war. Stämmen mit wenig Frauen, die um ihren Fortbestand fürchteten. Immer wieder griffen sie uns an, töteten unsere Männer und Kinder, raubten die Frauen, die Ernte und das Fleisch. Wir erholten uns nur langsam von den Überfällen, doch nur kurz danach begann alles von vorn. Da brach der Häuptling zu einer Geistwanderung in die Berge auf. Er wollte Weisheit erlangen und die Großen Geister um Rat fragen. Als er zurückkehrte, war er wie verwandelt. Zuversichtlich und voller Kraft. Er berichtete, dass die Geister ihn erhört hatten. Sie liebten die Wahyukalla, so sagte er, und deshalb hätten sie ihm eine Waffe gegen die Rivalen ausgehändigt. Mit ihr und der Unterstützung der Geister wären wir unbesiegbar, sagte er. Der Stamm glaubte ihm, aber völlig überzeugt war er erst, als der Feind erneut angriff. Es herrschte großer Jubel, als wir sie zurückschlugen. Unterstützt von flirrenden Schwaden und dem feurigen Atem der Geister töteten wir einen Teil von ihnen und vertrieben den Rest. Die Macht des Häuptlings wuchs. Und verführte ihn schließlich. Er gab sich nicht damit zufrieden, dass die Rivalen uns in Ruhe ließen. Er zog aus, unsere Frauen zurückzuholen. Als er das vollbracht hatte, ließ er den Stamm über die Feinde herfallen, um den weiteren erlittenen Schaden auszugleichen. Und am Ende ließ er sie überrennen, ohne dass es dafür einen vernünftigen Grund gab. Er wollte Krieg. Er wollte Rache. Er wollte töten. Und er bekam all das. Doch die Wahyukalla wurden unruhig. Sie führten nicht mehr das Leben, das sie kannten und schätzten. Sie litten darunter, sich zu einem kriegerischen Stamm entwickelt zu haben. Der Häuptling jedoch war keiner Argumentation zugänglich. Er war völlig außer Kontrolle geraten. Als er eines Tages einen Krieger vor aller Augen tötete, weil dieser sich erdreistete, dem Obersten der Wahyukalla zu widersprechen, besiegelte er sein eigenes Ende. Khouril-Sottrin, der Sohn des Häuptlings, ermordete seinen Vater im Schlaf, weil er keine Ehre
mehr in dem sah, was dieser tat. Im Augenblick seines Todes fielen zwei Armbänder unter der Kleidung des Häuptlings hervor. Die Waffe der Geister, die er bisher keinem Stammesmitglied gezeigt hatte.« Mit den letzten Worten war die Stimme des Schamanen immer leiser und brüchiger geworden. »Khouril-Sottrin brachte mir die Streifen und fragte mich um Rat. Als ich sie berührte, verspürte ich das Verlangen, sie anzulegen. Doch ich widerstand. Stattdessen zog ich mich in ein Schwitzzelt zurück und flehte die Geister um Weisheit und Kraft an. Sie verrieten mir, dass in den Armbändern die Ursache für das unehrenhafte Verhalten des Häuptlings lag.« »Ich dachte, sie hätten ihm die Waffe erst ausgehändigt«, unterbrach Eric Thomson. Er konnte es kaum fassen, dass er der Geschichte des Schamanen Glauben schenkte. Und doch war es so. »Du sprichst wahr! Das taten sie.« »Aber warum?« »Um ihn zu prüfen. Um seine Standhaftigkeit zu erkennen. Sie statteten ihn mit großer Macht aus, um zu sehen, ob er sich von ihr verleiten ließ. Er versagte! Mehr noch, er riss damit den ganzen Stamm ins Verderben. Die Geister teilten mir mit, dass die Wahyukalla verflucht seien. Es gab für uns nur eine Möglichkeit, ihre Gunst zurückzugewinnen. Wir mussten dafür sorgen, dass die schrecklichen Armbänder nie mehr an Menschenarme gelangten. Wir versuchten, sie zu vernichten, und übergaben sie mit der Leiche des Häuptlings dem Feuer. Doch sie trugen keinen Schaden davon. Wir wollten sie zerreißen. Zerschneiden. Kochen. Löcher hineinstechen. Nichts gelang. So leicht machten es die Geister uns nicht. Sie nur zu vergraben oder zu verstecken reichte jedoch nicht aus. Wer hätte sagen können, ob nicht irgendwann jemand sie fand? Also leisteten wir einen Schwur. Wir verschwanden mit den Armbändern unter der Erde. In diese Höhle. Einer nach dem anderen tö-
teten sich die Stammeskrieger gegenseitig und betteten die Toten zur Ruhe. Der letzte, Khouril-Sottrin, starb von meiner Hand. Dann wirkte ich einen Zauber, der mich am Leben hielt bis ans Ende der Zeiten. Ich achte darauf, dass die Armreife in Sicherheit bleiben. Und wenn Gefahr droht, dass ihr Fluch erneut auf einen Menschen übergreift, werden die wiedererwachenden Krieger das zu verhindern wissen.« Das Kribbeln in Erics Fingern wurde immer stärker. Was redete der Schamane da? Warum sollten so wunderbare, mächtige Gegenstände wie die Armbänder für alle Ewigkeit verborgen bleiben, nur weil ein Häuptling, der seit Hunderten von Jahren nicht mehr lebte, der Versuchung erlegen war? »Seit dieser Zeit«, fuhr Kanrys-Than fort, ohne dass Thomson ihm zuhörte, »verlasse ich gelegentlich die Höhle, um zu sehen, wie sich die Welt entwickelt. Sie ist kein Ort mehr, der mir gefällt. Mit der Ankunft des weißen Mannes wurde alles nur immer schlimmer. Wenn es so weitergeht, werde ich nicht mehr lange wachen müssen.« Du hast recht, flüsterten die Armbänder. Der Häuptling war schwach. Nicht wie du! Denk nur an all das Gute, das du tun könntest. O ja! Mit der Kraft der Armreife könnte er sich endlich einmal im Leben durchsetzen. Er würde Michael Harrington die Grenzen aufzeigen und Thelma aus dessen dreckigen Fingern befreien. Er könnte diesem widerlichen Muskelprotz die Fresse zu Klump schlagen oder wozu auch immer einen die Armbänder befähigten. Und wenn er mit ihm fertig war, dann … Thomson zog die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Was zum Teufel dachte er da? So kannte er sich gar nicht. Natürlich, er hatte viel einstecken müssen in seinem Leben. Aber deshalb erging er sich doch nicht in Gewaltfantasien! Ihm fiel auf, dass Kanry-Than aufgehört hatte zu reden. Eric wandte ihm den Blick zu und sah in ein Gesicht mit entsetzt aufge-
rissenen Augen. »Was …?«, begann er, doch er begriff sofort. Seine Gedanken! Schon vorhin hatte der Schamane gewusst, was Thomson dachte. Also hatte er nun gewiss auch mitbekommen, welches Verlangen ihn kurzfristig überkommen hatte. »Hey, keine Sorge«, sagte er. »Ich glaube, du hast recht. Diese Armbänder sind fürchterlich gefährlich. Ich will sie nicht und …« Das Stöhnen und Jammern von außerhalb der kleinen Höhle zeigte ihm, dass es zu spät war. Die Wahyukalla waren erwacht! »Nein«, hauchte er. Flehentlich sah er den Schamanen an. »Es tut mir leid«, flüsterte dieser. »Aber ich spüre, wie schwach du bist.« »Ich will doch gar nicht …« Da torkelten die ersten Indianermumien in die Höhle. »Es tut mir leid«, sagte der Schamane noch einmal. Auf allen vieren wich Thomson zurück. Er drückte sich gegen die Felswand, wäre am liebsten mit ihr verschmolzen. Die toten Indianer gaben schauerliche Laute von sich. Es hörte sich an, als litten sie selbst unter dem, wozu der alte Schwur sie zwang. Immer mehr der Bestien quollen in die Höhle. Das Zucken der Feuerzeugflamme verlieh ihren Augen ein gespenstisches, grauenvolles Leben. Das Ziel, das Eric bei seinem Aufbruch hatte erreichen wollen, stand unmittelbar bevor. Sein Tod! Doch er wollte ihn nicht mehr. Er wollte leben! Du weißt, wie du das erreichen kannst. Dir bleibt nur eine Chance. Thomsons Blick fiel auf die Zippoflamme. Und auf die Schatulle daneben. Die Armbänder! Die Waffen, deren Macht ein Indianerhäuptling erlegen war. Die so viel Leid über die Menschen gebracht hatten. Und die so verlockend sangen.
Tu es! Der Gedanke, sie aus ihrem Gefängnis der Schatulle zu befreien, widerte ihn an. War die Gefahr nicht zu groß? Sollte er nicht besser hier sterben und den Fluch ruhen lassen? Aber er wollte leben, verdammt! Vielleicht besaßen die Armbänder auch gar nicht mehr die Macht von einst. Schließlich waren siebenhundert Jahre vergangen. Und falls doch, wer sagte denn, dass er der Verlockung genauso erliegen musste wie der Häuptling? Er war nicht so schwach, wie alle dachten. Er konnte widerstehen. Und er würde widerstehen. Tu es! Er wusste nicht, wem die Stimme gehörte – ihm selbst oder den Armbändern. Aber es kümmerte ihn nicht. Er wollte leben! Eric warf sich vor, ignorierte den Schmerz, der sofort in seinem Bein aufflammte, und stürzte zu der Schatulle. »Nein!«, brüllte der Schamane. »Tu das nicht!« Tu es! Er riss den Deckel auf. Und da lagen sie: zwei Streifen von der Größe eines Blattes Papier. Einer hell mit dunklen Schlieren darin, der andere umgekehrt. Thomson streckte die Hand danach aus, da sprang ihn der Schamane von der Seite an. Doch wenn es einen Menschen auf der Welt gab, der körperlich noch harmloser war als Eric Thomson, dann war es der uralte Kanry-Than. Eric stieß den Indianer weg, der erst über das Feuerzeug und anschließend gegen die Felswand stürzte. Das Zippo erlosch und Dunkelheit flutete die Höhle. Thomson glaubte aber nicht, dass das die Wahyukalla aufhalten würde. Das Jammern, die Schrittgeräusche, das Schlurfen kamen immer näher. Hastig tastete Eric den Boden ab. Wo war nur diese blöde Schatulle? Tu es! Da! Links von ihm.
Er fasste hinein, zerrte die Stoffstreifen heraus – die sich nicht im Geringsten wie Stoff anfühlten – und grübelte, wie er sie sich im Dunkeln anlegen sollte. Doch kaum berührte das Material die Haut seines Handgelenks, erübrigte sich diese Frage. Im ersten Augenblick fühlte es sich an, als greife ihn jemand mit klammen, toten Fingern am Arm. Er fürchtete schon, die Indianer hätten ihn erreicht, doch dann bemerkte er, dass es der Armreif war, der sich selbsttätig um den Unterarm schlang. Schnell legte er den anderen auf die gleiche Art an. Und nun? Was bewirkten sie und was musste er selbst dazu beitragen? Da packte ihn eine Hand in den Haaren und riss ihm den Kopf zurück. Ein Schwall modriger Luft schwappte über ihn hinweg. Die Panik wurde fast übermächtig. Doch mit ihr kam der Überlebenswille. Plötzlich stand sein linker Arm in Flammen! Was …? Hektisch wedelte er mit dem Arm, wollte das Feuer löschen, doch es breitete sich immer weiter aus. Da erst fiel ihm auf, dass er keine Hitze spürte. Und dass sich der Griff in seinen Haaren gelöst hatte. Im Schein der Flammen sah er, wie die Indianermumien zurückwichen. Sie wirkten ratlos. Das Feuer löste sich von Thomsons Arm – nein, von dem Armband, dem Feuerreif! – und bildete ein käfigähnliches Gitter um ihn. Eine Schutzzone. Die untoten Indianer kamen näher, wollten ihn packen, konnten das Flammengitter jedoch nicht durchdringen. Es schadete ihnen nicht, stellte aber immerhin eine Barriere für sie dar. Eric staunte mit offenem Mund. Wie hatte er das nur zustande gebracht? Doch kaum dachte er darüber nach und machte sich bewusst, dass er etwas tat, das er eigentlich gar nicht konnte, geriet das Gitter ins
Flackern. Sofort drängten die Indianer auf ihn zu. »Nein!«, brüllte er. »Verschwindet!« Er riss den rechten Arm hoch. Plötzlich flirrten die schwarzen Schwaden des Armbands von seinem Handgelenk davon, rasten auf eine der Mumien zu, hüllten sie ein und vernichteten sie. Die nächsten Minuten vergingen wie im Rausch. Ohne richtig zu begreifen, was er tat, zuckten Flammenzungen durch die Höhle, hielten ihm die Indianer vom Leib, während die Schatten einen nach dem anderen zerstörten. Feuer- und Schattenreif arbeiteten in perfekter Harmonie zusammen. In die Klagelaute der Wahyukalla mischte sich ein Lachen. Es verstrichen einige Sekunden, bis Thomson klar wurde, dass er selbst es ausstieß. Aber als er es bemerkte, konnte er nicht mehr an sich halten. Er lachte, bis ihm die Luft wegblieb. Es war aber auch zu bizarr! Hätten die Indianer nicht versucht, ihn von der Öffnung der Schatulle abzuhalten, hätte er es niemals getan. Bist du dir da so sicher? Als der letzte Krieger des vergessenen Stamms sein untotes Leben aushauchte, war es auch um den Schamanen geschehen. Mit verdrehtem, vermutlich gebrochenem Bein lag er auf dem Boden und starrte Thomson mit vorwurfsvollem Blick an. Tränen rannen ihm über die Wangen. »Du Narr«, flüsterte er. Dann starb auch er. Der in ihrer Vergangenheit begründete, selbst auferlegte Wunsch, erst dann Gewalt anzuwenden, wenn es nicht mehr anders ging, hatte ihn das Leben gekostet. Eric jedoch breitete die Arme aus und lachte weiter. Er fühlte sich stark. So stark!
*
Gegenwart Der Schmerz holte Eric Thomson aus der Erinnerung. Während die Fingerspitzen der rechten Hand unbewusst fortwährend gegen den Handballen schlugen, kratzten die der linken über die Borke des Baums, hinter dem er Deckung gesucht hatte. Über die Rinde zogen sich bereits vier parallele Blutspuren. Er strich über den Feuerreif an seinem Unterarm. »Wenigstens du bist mir geblieben«, wisperte er. »Wenigstens dich habe ich behalten.« Reiß dich zusammen! Du musst dich konzentrieren. Da sah er sie. Über die Zugbrücke hinweg. Sie stand vor dem Wäschewagen. Obwohl sie ihm den Rücken zuwandte und kaum Kleidung am Leib trug, erkannte er sie auf Anhieb. Die Frau von dem Foto. Die Begleiterin des Professors in Schleswig. Die mögliche Diebin seines Armbands. Da sie die Arme vor dem Körper hielt, konnte Thomson nicht erkennen, ob sie den Schattenreif trug. Noch ehe er sich bewusst wurde, was er tat, lief er los. Hinein in den Schlosshof. Die Frau war allein, das musste er ausnutzen! Er zündete den Feuerreif und täuschte sein Brennen vor. Als sich die Frau umdrehte, schossen ihm Zweifel durch den Kopf, ob dieser instinktiv gefasste Plan – wenn man es denn überhaupt so nennen mochte! – eine allzu gute Idee war. Doch dann reagierte die Diebin genau so, wie er es erhofft hatte. Sie wollte ihm helfen und rannte auf ihn zu. Leider hielt sie das Badetuch dabei so, dass er nur einen ihrer Unterarme sehen konnte. Nackt. Ohne Armband. Am anderen Arm. Bestimmt trägt sie ihn am anderen Arm. Es muss einfach so sein!
Im nächsten Augenblick verfluchte er sich selbst. Ihre Ausstrahlung stimmte nicht! Ja, auch sie umgab eine unerklärliche Aura, aber es war nicht die, die er von Steigner kannte. Die, die er vor dem Krankenhaus in Schleswig wahrgenommen hatte. Die, die den Ruf des Schattenreifs unterdrückte. Sie hat ihn nicht! Und du hättest es eher bemerken können, wenn du nur ein bisschen nachgedacht hättest! Da war sie heran. Sie warf das Badetuch über ihn. »Keine Sorge«, sagte sie. »Alles wieder unter Kontrolle.« Oh, wie er hoffte, dass sie recht hatte! Er ließ die Flammen auf sie übergreifen.
* Zwischenspiel in Schottland Die Frau war wunderschön. Aus tiefbraunen, fast schwarzen Augen sah sie Dylan McMour an. Flehentlich. »Bitte, tu es nicht! Wir gehören doch zusammen.« »Das hättest du dir vorher überlegen müssen, Kalisi.« Obwohl er sie nicht kannte, sprach er sie mit Namen an. »Ich verstehe nicht, was du …« »Du verstehst sehr wohl!« Er schleuderte den Arm nach vorne, an dem er den Reif trug. Die schwarzen Schlieren lösten sich und rasten auf die Frau. »Nein!«, schrie sie. Noch bevor die tödlichen Schatten sie erreichten, stand ihr Arm in Flammen. Innerhalb eines Lidschlags sprang das Feuer auf den Boden über, hüllte sie ein, setzte sogar ihre Haare in Brand. Bereits beim nächsten Atemzug konnte man nicht mehr erkennen, wo die Flammen endeten und das rote Kleid begann, das ihre Figur so traumhaft zu Geltung brachte.
Du hast es ihr zum letzten Hochzeitstag schneidern lassen, erinnerst du dich? »Nein!«, brüllte Dylan. Enttäuschung und Wut packten ihn, als sie sich rechtzeitig hinter dem magischen Brand verbarg. Nein!, brüllte auch eine Stimme in Dylan. Ich erinnere mich nicht! Ich weiß nicht, was hier geschieht. Ich kenne diese Frau nicht. »Komm zu dir«, schrie die Frau (Kalisi?) über das Feuergetöse hinweg. »Lass es nicht so enden!« Die Schlieren aus Dylans Armband trafen auf die Flammen und vermischten sich mit ihnen zu tanzendem, schmutzigem Feuernebel. Gesichter formten sich darin, die Gestalten von Tieren. Ein Khirrhylbulle, erkannte Dylan. Und eine Khirrhylkuh. Aber woher zum Teufel weiß ich das? Dann neutralisierten sich Schatten und Feuer gegenseitig … … und Dylan zuckte hoch. Desorientiert sah er sich um. Es dauerte einige Sekunden, bis er die Schwaden des Schlafs abgestreift hatte und das Wohnzimmer seines Hauses in Glasgow erkannte. Das Regal voller Horrorromane, den großen Fernseher, die DVD-Sammlung. Das Sofa, auf dem er lag. Er schmatzte ein paar Mal, bis er das pelzige Gefühl auf der Zunge vertrieben hatte. In seinem Schädel hämmerte es, als fände darin die Weltmeisterschaft der Steinmetze stand. Vorsichtshalber hielt er ihn fest, als er sich aufsetzte und bemühte, vollständig in die reale Welt zurückzufinden. Was für ein eigenartiger Traum! Aber war es das wirklich? Oder versuchte eine verschüttete Erinnerung, sich an die Oberfläche zu kämpfen? Es wäre nicht die erste, die das tat! Seit Zamorra ihm das Gedächtnis zumindest an die Ereignisse vor seiner Reise in die Vergangenheit wiedergegeben hatte, suchten ihn
immer wieder derartige Gedankenfetzen heim. Leider nicht jedes Mal im Schlaf als Traum, sondern viel zu häufig auch tagsüber bei vollem Bewusstsein. Zuerst hatte er befürchtet, den Verstand zu verlieren, wenn er plötzlich Menschen sah, die nicht vor ihm standen, oder Stimmen hörte, die nicht existierten. Fetzen von Bildern, Geräuschen, ja selbst Gerüchen trieben dann zusammenhanglos durch sein Gehirn. Doch dann tauchten manchmal auch Eindrücke auf, die länger währten und die er zuordnen konnte. Wie zum Beispiel den Bau des Eiffelturms, den Sturm auf die Bastille oder die Ermordung von Abraham Lincoln. Historische Ereignisse. War er während seiner Odyssee durch die Zeit etwa bei allen anwesend gewesen? Da erst wurde ihm klar, dass er nicht den Verstand verlor, sondern das Echo seiner Erlebnisse vernahm. Es wäre so leicht gewesen, sämtliche Visionen darauf zurückzuführen. Aber da gab es ein Problem! Denn manchmal prasselten Eindrücke auf ihn ein, die unmöglich aus der Geschichte der Menschheit stammen konnten. Fremdartige Gebäude, seltsame Gewänder, merkwürdige Tiere. Pflanzen, Klima, der Geruch der Luft, ja selbst die Sonne und die Sterne wirkten wie aus einer unbekannten Welt. Hieß das, dass er während der letzten achthundert Jahre nicht nur die Historie der Erde durchwandert hatte, sondern auch die fremder Welten? Oder gab es einen anderen Grund für diese … Visionen? Dylan schüttelte den Kopf, aber er vermochte nicht, sich von seinem Traum, seiner Erinnerung zu lösen. Er bekam einfach das Gesicht dieser unbekannten Frau nicht mehr aus dem Kopf. Er lachte auf. Unbekannte Frau? Nein, er wusste ja sogar ihren Namen. Sie hieß … hieß … Für einen Augenblick glaubte er, nach dem fremdartig klingenden Wort greifen zu können, doch dann verwehte es. Und diese sonderbaren Tiere? Wie nannte man sie gleich wieder? Auch dieser Begriff war ihm plötzlich entfallen.
Also doch nur ein Traum, der kurz nach dem Aufwachen noch auf einem festen Fundament errichtet zu sein schien, sich aber Minuten später bereits verflüchtigte? Doch dafür fühlte es sich … zu echt an. Auch wenn er die Namen inzwischen wieder vergessen hatte, des Gesichts der Frau würde er sich immer entsinnen. Eine Sekunde lang überkam ihn das absurde Gefühl, er habe sich in sie verliebt. Aber warum hatte er sie dann angegriffen? Nein, wurde ihm bewusst, das warst nicht du. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Der Angreifer hatte nicht seine, also Dylans, Züge getragen, sondern die eines Fremden. Der Schotte konnte es nur an Winzigkeiten festmachen. Die raspelkurz geschnittenen Haare, der schmale Vollbart. Und da er sich während der letzten achthundert Jahre nicht ein einziges Mal hatte rasieren müssen, war er sich ganz sicher. Nicht er hatte das wunderschöne Mädchen angegriffen, sondern … sondern … Thomas? Taromus? So ähnlich, aber nicht ganz. Es war zum Verrücktwerden! Dylan sprang auf und brüllte seinen Frust hinaus. Mit dem Arm fegte er den Wohnzimmertisch leer. Die Fernbedienung, ein halb volles Whiskyglas, die dazugehörige, nicht mehr ganz so volle Flasche, ein Buch und die Fernsehzeitung klatschten an die Wand. Ein Klirren ertönte. Nur Augenblicke später schwängerte Alkoholgeruch die Luft. Doch Dylan störte es nicht. Er schrie weiter, bis seine Stimme heiser wurde und schließlich erstarb. Danach stand er mit hängenden Schultern da und starrte minutenlang geradeaus. Was war das denn für ein Leben, in dem man keinen klaren Gedanken fassen konnte, weil Erinnerungsfetzen auf einen einhagelten?
Vielleicht wäre es besser gewesen, Zamorra hätte ihm das Gedächtnis an den kleinen Teil seiner Existenz vor der Zeitreise nicht zurückgegeben. Womöglich wären dann diese irrsinnig machenden Eindrücke ebenfalls nicht erwacht. Dann hätte er in seligem Unwissen und geistig umnachtet vor sich hin leben können, bis er starb. O ja, bis er starb! Denn das dies eines Tages geschehen würde, dessen war er sich inzwischen sicher. Seit der Rückkehr in seine Zeit musste er sich seit achthundert Jahren nämlich zum ersten Mal rasieren. Merkwürdig, dass er sich ausgerechnet daran erinnerte, dies während der Zeitenodyssee nie getan zu haben. Die Folgerung war zwingend: Nach einer vorübergehenden Phase der Unsterblichkeit alterte er wieder. Und auch, wenn er sich an kaum etwas aus dieser langen Zeit erinnern konnte, wurde er das Gefühl nicht los, einen schweren Verlust erlitten zu haben. Das hätte nicht sein müssen!, flüsterte eine Stimme in ihm. Hättest du damals an der Quelle des Lebens nicht Zamorra den Vortritt gelassen, als die Hüterin den letzten Schluck ausschenkte … Aber wie hätte er auch ahnen sollen, welches große Opfer der Verzicht bedeutete? Vor zwei Jahren – nein, vor über achthundert Jahren! – hatte er noch nicht gewusst, wie sich Unsterblichkeit anfühlte, auch wenn er für einige Wochen von ihr hatte kosten dürfen. Wie widersinnig, flüsterte eine andere Stimme in ihm. Ein weiterer Punkt, der Dylan schier wahnsinnig machte: die Überbevölkerung in seinem Kopf. Du verzweifelst, hältst das Leben, das du führst, für nicht mehr lebenswert, bedauerst aber zugleich, dass es nicht ewig währt! »Na und?«, schnauzte er. »Darum geht es doch gar nicht!« Worum denn dann? »Darum, dass Zamorra mir etwas weggenommen hat. Nur, weil er der große Dämonenjäger mit der ach so langen Erfahrung war!« Er hat es dir nicht weggenommen. Du hast freiwillig darauf verzichtet. Dylan winkte ab. »Weggenommen – verzichtet. Scheiß drauf! Was
für einen Unterschied macht das? Er hat etwas, das mir gehört. Das ist es, was zählt! Ich … hasse diesen Kerl!« In der nächsten Sekunde runzelte er die Stirn. Was dachte er da nur? Zamorra hassen? Was für ein Unsinn. Sie waren doch Freunde! Er seufzte. Wenn das so weiterging, musste er sich Hilfe suchen. Du brauchst keine Hilfe. Bei einem Psychiater. Oder bei Zamorra. Nein, niemals. Und bei Zamorra schon gar nicht. Dylan schlurfte ins Bad, kramte aus dem Medizinschränkchen die Aspirinpackung und nahm zwei Tabletten. Er kaute sie trocken, weil er gelesen hatte, dass sie so schneller wirkten. In einer medizinischen Zeitschrift? Oder in einem Horrorroman? Wen kümmert’s? Nach einigen Minuten ließen die Schmerzen ein wenig nach. Nicht jedoch die Empfindung des Verlusts. Aber betrauerte er tatsächlich nur den Wegfall seiner Unsterblichkeit? Wenn das zutraf, warum fühlte es sich dann so an, als gebe es dort draußen in der Welt etwas, nach dem er sich sehnte und das er dringend brauchte, um Vollständigkeit zu erlangen? Etwas? Oder vielleicht jemand? Womöglich die Frau aus seinem Traum? Er hatte keine Ahnung. Aber er konnte es unmöglich finden, wenn er nicht wusste, worum es sich handelte, und erst recht nicht, wo er danach suchen sollte. Schon seit Zamorra sein Gedächtnis geweckt hatte, plagte dieses schreckliche Gefühl den Schotten. Zunächst hatte er es als Folge der Strapazen abgetan, als Nachhall seiner Identitätslosigkeit. Doch dann wurde die Empfindung stetig drängender, der Ruf immer lauter. Er betrachtete sich im Spiegel. Tiefe Ringe unter den Augen, graue Haut. Was für ein jämmerlicher Anblick. Einen Tag noch, beschloss er. Wenn es morgen nicht besser ist, suche
ich mir Hilfe. Genau. Morgen. Ein guter Plan. Was es vielleicht tatsächlich gewesen wäre, wenn er diesen Vorsatz nicht auch schon während der letzten Wochen Tag für Tag gefasst hätte. Er wandte sich von seinem schauderhaften Spiegelzwilling ab, wollte zurückkehren ins Wohnzimmer, um noch ein wenig auszuruhen und womöglich von der schönen Frau zu träumen, da sägte eine Schmerzattacke durch seinen Schädel, ignorierte die Wirkstoffe des Schmerzmittels in Dylans Blut, ließ ihn aufstöhnen und schickte ihn auf die Knie. Bevor er nach vorne umkippte und in der Dunkelheit versank, loderte ein Gefühl in ihm auf. Der Hass auf Zamorra.
* Eric Thomson ging auf das Château zu. In seinem Inneren tobte eine Mischung aus Enttäuschung darüber, dass die Frau den Schattenreif nicht getragen hatte, und Gier. Geh rein und hol ihn dir vom Herrn Professor, diesem widerlichen Dieb. Er musste sich zusammenreißen, diesem Verlangen nicht blind nachzugeben. Warum denn? Mit der Frau bist du doch auch fertig geworden. »Weil ich sie überrascht habe«, murmelte er. »Weil ich ihren Instinkt angesprochen habe, einem Schwachen zu helfen.« Dann tu das auch bei Zamorra! Doch er fürchtete, dass das nicht funktionieren würde. Nicht, wenn er im Schloss erst den Professor suchen musste. Ein brennender Mann, der über die Zugbrücke auf den Schlosshof taumelte, vermittelte Hilfsbedürftigkeit. Ein brennender Mann jedoch, der dem Hausherrn in den Gängen des Châteaus entgegenkam, bedeutete
eine Bedrohung. Vor allem, wenn dieser Hausherr ein erfahrener Dämonenjäger war. Nein, er musste auf anderem Weg an ihn herankommen. Und er musste dafür sorgen, dass der Professor den Schattenreif nicht gegen ihn einsetzte. Er stapfte die Treppen zum Schlosseingang hinauf, blieb dann jedoch stehen. Sobald er diese Tür durchschritt, betrat er fremdes Gelände. Unübersichtliches Feindgebiet mit so vielen Räumen, Gängen und Nischen, in denen sich Zamorra aufhalten mochte. Befand er sich da nicht zwangsläufig auf verlorenem Posten? Krampfhaft versuchte er, sich eine andere Lösung zu überlegen. Eine, bei der er das Schloss nicht betreten musste. Aber diese unentwegt an ihm nagende Gier ließ keinen klaren Gedanken zu. Da öffnete sich die Tür und zwang ihn zu einer Reaktion.
* William stellte den Croissantkorb, die Butter und die Marmeladengläschen auf das Tablett. »Wünschen Sie noch einen Kaffee, Monsieur?«, fragte er, als er feststellte, dass die Kanne leer war. »Sehr gerne«, antwortete Zamorra. »Danke.« Der Butler trug das Geschirr in die Küche, erledigte dort seine Aufgaben inklusive der Zubereitung eines weiteren Kaffees. Texanische Art, wie der Professor es auszudrücken pflegte. Das Hufeisen schwamm oben. »Wo bleibt eigentlich Nicole so lange?«, fragte sein Arbeitgeber, als William das Getränk servierte. »Tut mir leid, Monsieur, das weiß ich nicht. Ich bin Mademoiselle Duval im Château nicht begegnet.« »Wie lange kann es denn dauern, ein Badetuch zu holen?«
»Ich kann gerne nachsehen, wenn Sie es wünschen.« »Tun Sie das. Und sagen Sie ihr, dass ich einstweilen in den Pool hüpfe und sie den ganzen Spaß versäumt, wenn sie nicht bald kommt.« »Ich werde es ihr ausrichten, Monsieur.« William durchquerte das Château, öffnete den Vordereingang, um zu sehen, ob im Wäschewagen bereits eines der Badetücher fehlte – und starrte in das ausgezehrte Gesicht eines skurrilen Männleins mit Geiernase. Kann ich Ihnen helfen?, wollte er fragen. Doch da riss der Fremde schon den Arm hoch und ein Flammenstrahl schoss auf den Butler zu.
* Einige Minuten später Thomson war zufrieden. Zumindest vorerst. Der Blick über die Schulter des Butlers, als dieser vor ihm auftauchte, hatte ihn auf die Idee gebracht, nach der er so verzweifelt gesucht hatte. Etwas schräg vielleicht, aber gewiss geeignet, den Professor unter Kontrolle zu halten. Und er musste dazu nicht mal lange ins Schloss. Nur kurz in die Halle des Châteaus, das war’s. Wie der Butler ihm nach eingehender Befragung versicherte, geruhte der Herr Professor, die Sonne auf der Terrasse zu genießen, welche sich auf der Rückseite des Anwesens befand. Himmel noch mal, wer drückte sich denn so geschraubt aus? Tatsächlich lief alles wie geschmiert. Rein, holen, was er brauchte, wieder raus. Dann noch ein paar schnelle Vorbereitungen treffen, von denen das Ausheben und Zuschütten zwei kleiner Löcher auf der Wiese die langwierigste darstellte. Jetzt musste er nur noch warten, bis Zamorra auftauchte. Und das
würde er, dessen war sich Thomson sicher. Aus seinem Versteck heraus beobachtete er das Château. Noch immer zeterte die Stimme in seinem Inneren, er solle es nicht so kompliziert machen, sondern einfach reingehen, dem Professor den Hals umdrehen und ihm das Armband abnehmen. Doch das Wissen, bald am Ziel anzulangen, machte es Thomson leicht, die Stimme zu ignorieren. Nun ja, vielleicht nicht gerade leicht, aber immerhin leichter als sonst. Einmal mehr wurde ihm bewusst, was für ein jämmerlicher Junkie aus ihm geworden war. Nicht, dass er etwas dagegen zu unternehmen vermochte. Das hatte er schließlich oft genug versucht. Aber nur, weil er nicht anders konnte, bedeutete das nicht, dass er diesen Zustand auch schätzte. Vielleicht hätte er sich vor fünfzig Jahren den Indianerzombies nicht widersetzen sollen. Er hätte sich viel erspart. Aber war ihm überhaupt eine Wahl geblieben? Hatten ihn die Armbänder nicht förmlich gezwungen, sich ihrer zu bedienen? Das mochte stimmen. Doch auch, wenn mit ihnen das Elend begonnen hatte, stellten sie noch nicht den schlimmsten Wendepunkt in seinem Leben dar. Er hätte ihnen widerstehen können! O ja, ganz bestimmt hätte er das. Wenn das Schicksal keine anderen Pläne für ihn gemacht hätte.
* Vergangenheit Eric konnte sich nicht erinnern, wie er aus der Höhle entkommen war. Er musste Wasser gefunden haben, anders vermochte er es sich nicht zu erklären. Sonst wäre er sicher verdurstet. Aber was danach geschehen war, lag im Dunkeln.
Das Nächste, dessen er sich entsinnen konnte, war das Lächeln der Krankenschwester, als er aufwachte. Ein Krankenhaus. Schon wieder! »Was … was ist passiert?«, fragte er. »Man hat sie gestern ein paar Meilen außerhalb der Stadt gefunden«, erklärte sie. »Dehydriert und mit schwerem Sonnenbrand. Aber sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Die Ärzte können sich Ihre schnelle Genesung zwar nicht erklären, aber spätestens morgen dürfen Sie wieder nach Hause gehen.« Besitze ich so etwas überhaupt noch?, dachte er. »Die Geduld der Wohlfahrt ist nicht unendlich, nicht wahr?« Sie zuckte mit den Schultern und lächelte unsicher. Sie wissen ja, wie das ist, schien die Geste zu sagen. »Es gibt aber auch wirklich keinen Grund, Sie länger hierzubehalten.« Sie drehte sich um und ging hinaus. Bevor sich die Tür hinter ihr schloss, entdeckte Eric in ihrem Nacken ein entzückendes herzförmiges Muttermal. Bei dem Anblick legte sich ein Lächeln auf seine Lippen, das ihm aber nur Sekunden später gefror. Da bemerkte er nämlich die Brille auf der Ablage neben seinem Bett. Dicke Gläser, eines davon verkratzt, das andere – das Ersatzglas nach Michael Harringtons Fausthieb – neu und unversehrt. Der eine Bügel mit Heftpflaster repariert. Wie hatte er, der ohne Brille sonst kaum die eigene Nasenspitze einigermaßen scharf sah, das Muttermal erkennen können? Oh, und wenn wir schon dabei waren, Fragen zu stellen: Warum bekam er auch auf dem fast blinden Auge ein klares Bild? Die Ärzte können sich Ihre schnelle Genesung nicht erklären. Das hatte die Schwester gesagt. Und offenbar ging diese Genesung einige Schritte weiter, als den Medizinern bewusst war. Ihm fielen die Finger ein, die Harrington ihm zerquetscht hatte. Er hob die Hand und betrachtete sie. Verheilt und schmerzfrei. Aber wie …?
Dann fiel sein Blick auf den Reif dieses Arms. Die Erinnerungen an die Ereignisse in der Höhle spülten über ihn hinweg wie ein reißender Strom. Sein verstauchtes oder gebrochenes Bein, das inzwischen ebenfalls verheilt war, die Wanderung durch das Felslabyrinth, der Kampf gegen die Wahyukalla. Er hob den zweiten Arm und betrachtete auch den dortigen Reif. Hatten diese angeblich so bösen Armbänder für seine Genesung gesorgt? Sie, die ihn darüber hinaus gegen eine Horde untoter Indianer hatten bestehen lassen? Wie konnte etwas so Wundervolles böse sein? Dennoch beschloss er, die Worte des Schamanen niemals zu vergessen und seine Warnung ernst zu nehmen. In der Höhle hatte er sich geschworen, der Verführungskraft zu widerstehen, und er war gewillt, diesen Schwur zu halten. Beim Kampf gegen die Wahyukalla hatte er bereits einen Vorgeschmack dessen erfahren. Er hatte sich so stark gefühlt, als könne er die ganze Welt beherrschen. Aber da war es um sein Überleben gegangen. Und seine »Opfer« waren schon seit siebenhundert Jahren tot. Nun gut, wenn man von dem Schamanen absah. Aber der hatte ihm die Bestien letztlich auf den Hals gehetzt. Eric hatte sich nur verteidigt. Und doch hatte es sich so unendlich gut angefühlt. Nun, da er um die Gefahr der Verführung wusste, konnte ihm das nicht mehr passieren. Am nächsten Tag ließ er seine Brille, seine Mutter, seine Heimatstadt und sein altes Leben zurück. Er ging nach New York, um dort ganz von vorne zu beginnen. Den Wunsch nach Rache schob er zur Seite. Er würde diesen Armreifen schon zeigen, wer der Stärkere in ihrer Beziehung war! Die Armbänder legte er dennoch nicht ab. Sie gaben ihm etwas, das er zuvor noch nie verspürt hatte: Selbstvertrauen. Außerdem
fühlte er sich seinen Mitmenschen alleine dadurch überlegen, dass er als Einziger vom Wirken übernatürlicher Kräfte wusste. Er hatte gegen sie gekämpft und gewonnen! Das machte ihn zu etwas Besonderem. Statt gebückt, ging er nun aufrecht. Niemand wagte es mehr, sich über seine schmächtige Statur oder die Größe seiner Nase lustig zu machen. Die Menschen schienen ihn mit anderen Augen zu sehen. Ein Gefühl, das er genoss. Trotzdem blieb er sich stets der Tatsache bewusst, dass er diese Änderung den Armbändern verdankte. Eine gefährliche Gratwanderung, denn er spürte in sich das Verlangen nach mehr. Doch er konnte es genauso unterdrücken, wie den leisen Wunsch, nach Hause zurückzukehren und Michael Harrington mit dem neuen Eric Thomson bekannt zu machen. Er nahm eine Stelle als Tellerwäscher an, schaffte es aber nicht zum Millionär. Während der nächsten zwei Jahre führte er ein ruhiges, beschauliches Leben. Er lernte, mit der Lockung der Armbänder umzugehen und nahm sie irgendwann gar nicht mehr wahr. Der Wunsch nach Rache schrumpfte zu einer unbedeutenden Winzigkeit. Er nahm sich eine kleine Wohnung. Nichts Besonderes, aber purer Luxus im Vergleich zu dem feuchten Loch , in dem er mit seiner Mutter gehaust hatte. Eric pflegte keine Freundschaften, weil er sich nicht auf tiefere emotionale Bindungen einlassen wollte. Zu groß erschien ihm die Gefahr, dabei die Kontrolle über seine Gefühle und somit über die Armbänder zu verlieren. Dennoch mochte und achtete man ihn. Ja, er lernte sogar, Auto zu fahren, und kaufte sich einen billigen Gebrauchtwagen. Auch wenn sein Leben keinerlei Aufregung bot, war er damit zufrieden. Bis zu dem Tag, an dem er Thelma wiedersah.
* Im Nachhinein fragte sich Eric, wie es dazu hatte kommen können. Hatten die zwei zufriedenen Jahre seine Vorsicht abgeschmolzen? Oder hatte er schon so lange nicht mehr an Thelma gedacht, dass er zu arglos war? Eines Tages kam der Restaurantchef in die Spülräume gerannt. Ein kleiner dicker Mann mit lichtem Haar, das er über die kahlen Stellen kämmte. »Eine Katastrophe!« Er tänzelte hin und her, während er die fleischigen Finger knetete. »Unser Auslieferjunge hatte auf der letzten Tour einen Unfall. Ich habe es gerade erst erfahren. Er liegt mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus. Und das ausgerechnet heute, wo wir noch einen so wichtigen Auftrag erledigen müssen.« Die Spüler sahen ihn aus fragenden Augen an, als verstünden sie nicht, was das mit ihnen zu tun hatte. Doch Eric begriff. »Ich habe früher regelmäßig Botendienste erledigt«, sagte er. »Wenn Sie wollen, kann ich fahren.« »Das würdest du tun? Du bist ein Schatz!« Eine Stunde später war er unterwegs. Die Pastetchen, Suppen und Braten in Spezialbehältern im Kofferraum, die Warmhalteplatten auf dem Rücksitz und den Zettel mit der Anschrift auf dem Beifahrersitz. TH. HARRINGTON, stand dort zu lesen. Später fragte sich Eric oft, ob in diesem Augenblick nicht bereits die Alarmglocken hätten läuten müssen. Sie taten es nicht. Der Name Harrington war alles andere als selten, außerdem vermutete er Thelma Sanderhoff und ihren Verlobten nicht in New York, sondern Hunderte von Meilen entfernt. Erst als er vorfuhr und ein verschreckt schauendes Mädchen in Bedienstetenkleidung zu seinem Wagen eilte, kam ein merkwürdiges
Gefühl in ihm auf. Er stieg aus und erkannte die Wahrheit. Die Harringtons feierten eine Gartenparty, zu der Eric das Essen lieferte. Er ließ den Blick über die Gäste gleiten. Männer in Anzügen oder sportlich legerer, aber teuer aussehender Kleidung. Frauen in edlen Kleidern und mit Schmuck behängt, von dem vermutlich ein einzelnes Stück mehr kostete, als Eric Thomson im Jahr verdiente. Und unter all diesen Leuten sah er sie: die Harringtons. Während Michael mit einem Glatzkopf plauderte, stand seine Frau Thelma – geborene Sanderhoff – etwas abseits und hielt sich an einem Martiniglas fest. Ihr Blick wirkte leicht glasig. Keiner der beiden bemerkte Eric, und er beabsichtigte dafür zu sorgen, dass es so blieb. Auch wenn das rachsüchtige Biest in seinem Inneren den Kopf ein wenig hob und leise knurrte. Er reichte dem Dienstmädchen die Warmhalteplatten. Da eilten auch schon weitere Bedienstete heran und nahmen die Speisen in Empfang. Im Stimmengewirr der Gäste schnappte er Satzfetzen auf. »… Einzugsparty feiern …« »… sind erst vor Kurzem nach New York gezogen …« »… reichen Vater in der Automobilindustrie …« »… um seinen Schwiegersohn nicht beneiden. Ich hab Gerüchte gehört, dass …« Die Leute lächelten, solange Harrington mit ihnen plauderte, sobald er sich aber einem anderen Gast zuwandte, erlosch die Miene der guten Laune. Thelmas Gatte schien nicht den besten Eindruck zu hinterlassen. Das Dienstmädchen trug die Platten zu einem Tisch und beugte sich nach vorne, als sie sie darauf aufbaute und zurechtrückte. Ein sichtlich angetrunkener Gast fasste das als Einladung auf, ihr mit der flachen Hand auf den Hintern zu schlagen. Michael Harrington besaß also anscheinend nicht als Einziger zweifelhafte Manieren. Das Mädchen erschrak, richtete sich ruckartig auf und stieß an den
anderen Arm des Lüstlings, woraufhin dieser sich den Drink über das Jackett schüttete. Für den Gast stellte das offenbar einen Mordsspaß dar, denn er lachte lauthals auf, doch Michael Harringtons Humorzentrum zeigte sich unbeeindruckt. Plötzlich tauchte er neben dem Dienstmädchen auf und schubste es zur Seite. Er brüllte sie an, wobei er bei der Auswahl der Schimpfwörter eine erstaunliche Kreativität an den Tag legte. Dann tupfte er mit einem Tuch an dem Sakko des Gastes herum, drehte sich noch einmal um und schrie das Mädchen erneut an. Die Kleine zuckte unter jedem Wort zusammen. Und trotzdem fühlte sich keiner der Gäste berufen, der Gescholtenen – und nebenbei völlig Unschuldigen – beizustehen. Alle sahen verlegen weg oder täuschten vor, so in ein Gespräch vertieft zu sein, dass sie nicht bemerkten, was um sie herum vorging. Eric konnte es verstehen. Keiner wollte sich mit Michael Harrington anlegen. Den imposanten Brustkorb und die Muskelmassen konnte man sogar unter dem Jackett deutlich erkennen. Und schließlich war er selbst den Fäusten schon einmal in den Weg geraten und wusste, welchen Schaden sie anrichteten. Umso erstaunter war Eric, als plötzlich doch jemand eingriff. Doch das Erstaunen verwandelte sich schnell in Entsetzen und Wut. Thelma stellte das Glas ab, ging zu ihrem Mann und baute sich vor ihm auf. »Lass sie in Ruhe«, sagte sie. Ihr Zungenschlag zeigte, dass der Martini nicht der erste dieses Tages gewesen sein dürfte. »Geh mir aus dem Weg, Schatz«, antwortete Harrington. »Nimm dir noch einen Drink und kümmer dich um deinen eigenen Kram.« »Das ist mein Kram!« Eric fragte sich, ob Thelma es häufiger wagte, sich gegen ihren Mann zu stellen, ob der Alkohol ihr Mut verlieh oder ob in dieser Sekunde ein sich stetig füllendes Fass überlief. »Das ist auch mein Haushalt!« Sie zeigte auf den betrunkenen Gast, der das Dienstmädchen angetatscht hatte und nun dümmlich grins-
te. »Wenn du jemanden anschreien musst, dann ihn! Sally kann nichts dafür. Sie hat nur …« Ein lautes Klatschen ließ Thelma verstummen. Ihr Kopf flog zur Seite unter Michaels Schlag. Selbst die Gäste, die bisher weitergeplaudert hatten, hielten nun die Luft an. Ein Blutfaden rann von Thelmas Lippe. »Sprich nie mehr so mit mir«, sagte Harrington, ohne dabei die Stimme zu erheben. »Hast du verstanden?« »Du Scheißkerl«, schrie Thelma und kassierte die nächste Ohrfeige. So heftig diesmal, dass sie zur Seite taumelte und auf die Knie fiel. »Noch ein Wort, mein Täubchen, und du wirst deines Lebens nicht mehr glücklich.« »Das bin ich schon längst nicht mehr«, schluchzte sie. Michael Harrington holte zum nächsten Schlag aus – und plötzlich stand Eric Thomson zwischen ihm und Thelma. Egal, was er sich geschworen hatte, er konnte nicht dabei zusehen, wie dieser Drecksack Thelma misshandelte. »Lass die Finger von ihr«, stieß er hervor. »Na, wen haben wir denn da?«, höhnte Harrington. »Sieh mal, Schatz, wer zu Besuch gekommen ist! Sirius de Berberak.« Eric verspürte keinerlei Angst und war darüber keineswegs erstaunt. »Lass sie in Ruhe«, forderte er noch einmal. »Oder was? Willst du mich sonst schlagen? Soll ich dir schon mal eine Leiter holen lassen, dass du mich auch triffst?« Er lachte laut auf und schaute Beifalls heischend in die Runde. Keiner lachte mit. Das Grinsen in Harringtons Gesicht erlosch. Ansatzlos schoss seine Faust auf Eric zu. Wie bei ihrer ersten Begegnung. Doch diesmal trug Thomson die Armbänder! Der Feuerreif warnte ihn vor dem Hieb, noch bevor der Schläger ihn ausführte. Eric zuckte mit dem Kopf zur Seite und Michaels Faust raste an ihm vorbei. Einen Wimpernschlag lang fragte er sich, ob er diese Bewegung
selbst ausgeführt oder ob der Reif die Kontrolle übernommen hatte. Er ließ Harrington keine Zeit, sich von der Überraschung zu erholen. Der Arm mit dem Schattenreif schleuderte vor und traf den Kontrahenten im Bauch. Anders als beim Kampf gegen Wahyukalla lösten sich zu Erics Erleichterung die Schlieren nicht von den Armbändern. Dieses Phänomen wäre den Gästen, die mit großen Augen das Geschehen beobachteten, nicht zu vermitteln gewesen. Dennoch unterstützten sie ihren Träger bei seinen Aktionen. Sie verliehen ihm Kraft, Reaktionsschnelligkeit, Gnadenlosigkeit und eine unerklärliche Ahnung dessen, was der Gegner als Nächstes tat. Michael Harringtons Augen quollen beinahe über, als ihn der Stoß in den Magen traf. Pfeifend stieß er die Luft aus. Automatisch krümmte er sich zusammen, beugte sich nach vorne und musste einen Schlag mit der flachen Hand auf die Nase einstecken. Das Nasenbein brach mit einem Knacken. Mach ihn fertig! Zeig ihm, was du kannst. Harrington ächzte, stieß aber zugleich ein Knurren aus. Vermutlich zeigte es seine steigende Wut. Er führte einen unkontrollierten Hieb, den Eric mit dem Feuerreif arm abblockte, ohne sich bewusst darauf konzentriert zu haben. Er kann mir nichts anhaben. Ich bin besser als er. Schneller. Stärker. Gefährlicher. Thomsons nächster Hieb traf den Gegner in den Solarplexus. Japsend ging Harrington zu Boden. Jetzt hast du ihn dort, wo du ihn haben wolltest. Und nun gib ihm den Rest! Schlag ihn zu Brei! Eric hob den Schattenreifarm … und stockte. Was dachte er denn da? So eine Brutalität kannte er gar nicht von sich. Das sehen die Wahyukalla sicher anders. Da ging es um mein Überleben. Außerdem waren sie schon tot. Aber hier …
Ein Schatten tauchte links von ihm auf. Harringtons Faust! Zu schnell, als dass Eric reagieren konnte. Der Zauber ist verflogen! Nun trag die Konsequenzen. Es fühlte sich an, als treffe ihn ein Dampfhammer am Schädel. Sterne platzten vor seinen Augen auf und schütteten Schmerz über ihn aus. Ein Hieb, der nächste, dann noch einer. Gegen den Kopf, in den Bauch, in die Nieren. Schlag um Schlag prasselte auf ihn ein. Eric versuchte sich zu wehren, aber er hatte keine Chance. Die Wirkung der Armbänder war wie weggeblasen. Irgendwann – er konnte nicht sagen, ob nach Sekunden oder nach Jahren – ließen die Hiebe nach und die Welt bestand wieder aus mehr als nur Schmerzen. »Hör auf damit, du bringst ihn ja um!« Thelmas Stimme. O süße Thelma, eigentlich wollte ich dich retten und nicht umgekehrt. »Schluss jetzt, Harrington!« Eine Stimme, die Eric nicht kannte. Vermutlich ein Gast. Mühsam bekam er die zugeschwollenen Augen auf. Tatsächlich hielten einige Gäste Michael Harrington gepackt und zerrten ihn weg. Dieser versuchte immer wieder, sich loszureißen und auf Thomson loszugehen, aber die Übermacht war zu groß. Warum hatten diese Leute nicht vorher eingegriffen? Weil sie ein kleines, hageres Männlein brauchten, das ihnen zeigte, was Mut bedeutet. In den Blicken der Menschen las Eric Abscheu und er wusste, dass sie Harrington galt. Das, was vermutlich als Versuch gedacht war, in die New Yorker High Society aufgenommen zu werden, war gründlich gescheitert. Obwohl Thomson blutend auf dem Boden lag, hatte er Harrington besiegt, wenn auch anders als erhofft. Als Eric lächelte, taten seine aufgeplatzten Lippen nur für einen Augenblick weh.
* Gegenwart Zamorra tauchte aus dem Wasser des Pools auf und hielt sich am Beckenrand fest. Nicole war noch immer nicht zurückgekehrt. Und auch William ließ sich nicht mehr sehen. Langsam wurde der Professor unruhig. Heckten die beiden etwas aus? Eine Geburtstagsüberraschungsparty? Schließlich war er vor zwei Wochen … ja, wie alt war er eigentlich geworden? Seit er von der Quelle des Lebens getrunken hatte, konnte er das nicht mehr aus dem Stegreif beantworten, sondern musste immer nachrechnen. Aber der Gedanke an eine Party war zu absurd. Er stemmte sich aus dem Pool, trocknete sich ab und schlüpfte in ein Hemd. »Nici?«, rief er, erhielt aber keine Antwort. Er betrat das Château und rief erneut. Mit dem gleichen Ergebnis. »Das gibt’s doch gar nicht«, murmelte er. »William?« Auch der Butler ließ nichts von sich hören oder sehen. Plötzlich meldete sich sein Bauchgefühl. Hier stimmte etwas nicht. Aber was? Er rief das Amulett, das er beim Schwimmen abgelegt hatte. Sofort erschien es in seiner rechten Hand. Mit einem geistigen Befehl schaltete er es auf Alarmmodus, doch es blieb kalt. Natürlich, was hatte er auch anderes erwartet? Er befand sich innerhalb der M-Abwehr des Châteaus. Sie ließ keinen Dämonen oder Schwarze Magie herein. Worauf sollte Merlins Stern also reagieren? Und doch musste etwas passiert sein. Ein weltlicher, kein bisschen übernatürlicher Einbrecher vielleicht? Ihn würde Zamorra mit der magischen Waffe allerdings nicht beeindrucken können. Er blieb stehen und lauschte in die Stille des Schlosses hinein.
Nichts. Der Professor verschob einige Symbole auf dem Amulett und startete die Zeitschau. War sie aktiv, zeigte die Silberscheibe ihm innerhalb des Pentagramms im Zentrum wie auf einem Bildschirm, was sich zuletzt ereignet hatte. Dabei wurden die Bilder sogar in sein Bewusstsein projiziert. Nur auf einen Ton musste er leider verzichten. Im Schnellsuchlauf raste er in die Vergangenheit. Zunächst sah er William rückwärts von der Halle Richtung Terrasse flitzen, kurz danach folgte Nicole. Zamorra hielt die Zeitschau an und ließ sie vorwärts laufen. Keine Besonderheiten. Zumindest in diesem Raum nicht. Er spulte noch einmal zurück, bis Nici auftauchte. Dann stellte er auf normale Geschwindigkeit und ging ihr um einige Minuten zeitlich versetzt nach. Er gelangte in die große Halle, ohne dass etwas Auffälliges zu beobachten wäre. Der Professor sah, wie seine Lebensgefährtin zum Hauptausgang ging und … Halt! Da fiel ihm etwas auf. Nicht im Bild der Zeitschau, sondern in der gegenwärtigen Welt. Bei zwei der alten Rüstungen, die die Halle säumten, fehlten die Schwerter! Ein Blick auf das Vergangenheitsbild zeigte ihm, dass sie sich noch an Ort und Stelle befunden hatten, als Nicole an ihnen vorbeigekommen war. Zamorra gab die Verfolgung fürs Erste auf und beobachtete weiter, was sich in der Halle abgespielt hatte. Er sah Nici durch das Portal verschwinden und nicht zurückkehren. Nach einigen Minuten erschien William, der den gleichen Weg nahm. Er öffnete die Tür. Plötzlich hüllten Flammenzungen ihn ein und zerrten ihn nach draußen. Der Professor widerstand dem Drang, sofort hinterherzulaufen. Schlimmstenfalls liefe er ebenfalls in eine magische Falle, deshalb musste er zuerst weiter beobachten.
Eine magische Falle? Innerhalb der M-Abwehr? Wie sollte das möglich sein? Außerdem hatte sie bei Nicole noch nicht zugeschnappt. Sie hatte die Halle auf normalem Weg verlassen. Merkwürdig. Wieder vergingen einige Minuten. Dann trat durch das noch immer offen stehende Portal ein Mann, den Zamorra noch nie gesehen hatte. Klein, schmächtig, mit gebücktem Gang. Das Auffälligste an ihm war die riesige gebogene Nase. Er sah sich hektisch um und rannte dann zielstrebig auf eine Rüstung zu. Nach einem weiteren prüfenden Blick durch die Halle zerrte er das Schwert aus der Scheide und bediente sich anschließend bei dem danebenstehenden Körperpanzer auf gleiche Weise. Ein letzter Blick, dann eilte er zum Portal hinaus und schloss die Tür hinter sich. Zamorra schluckte. Das skurrile Männlein sah alles andere als gefährlich aus, aber dennoch war es ihm offenbar gelungen, Nicole und William zu überwältigen. So sehr er es sich auch wünschte, stellte es also keine gute Idee dar, blind rauszurennen. War der Geiernasenmann alleine oder wartete draußen eine ganze Geiernasenarmee? Vorsichtshalber ließ Zamorra die Zeitschau noch einmal rückwärts laufen. Über den Eindringling, William und Nicole hinweg. Doch die nächste Person, die auftauchte, war erneut der Butler, der gerade das Frühstück servierte. Das mochte anderthalb Stunden her sein. Der Professor löste sich aus der Halbtrance und beendete die magische Vergangenheitsschau. Eines war klar: Dieses harmlos wirkende Männchen konnte kein Dämon sein, sonst hätte er es nicht in die M-Abwehr geschafft. Also musste Zamorra sich anders bewaffnen. Er hastete hinauf in sein Arbeitszimmer im Nordturm und holte aus dem Safe einen E-Blaster und seinen Dhyarra-Kristall. Dann trat
er an das Panoramafenster und blickte hinaus. Dank einer magischen Tarnung wirkte es von außen wie normales Mauerwerk mit einem kleinen Fenster. Wenn er nicht gerade hinter diesem vorgetäuschten Fenster auftauchte, konnte ihn der Geiernasenmann nicht sehen. Allerdings sah Zamorra ihn auch nicht. Die Loire, das Dorf im Tal und – wenn er senkrecht nach unten schaute – ein Teil des Schlosshofs. Er blickte auf die Spitzen der Bäume hinab, die vor dem Nordturm standen, und auf die Garagen. Aber keine Spur von Nicole, William oder dem Fremden. Doch dann stutzte er. Was war das? Schimmerte auf dem Rasen nicht etwas? Wie Rubine, die in der Sonne glitzerten, angeordnet in konzentrischen Kreisen. Deutlicher vermochte Zamorra es nicht zu sehen. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als hinunterzugehen und den Feind zu suchen. Da er dabei möglichst nicht bemerkt werden wollte, griff er auf einen Trick zurück, den er einst von einem tibetischen Mönch erlernt hatte: Er hinderte die körpereigene Aura daran, über die Grenzen seines Leibs hinauszutreten. Dadurch konnten ihn seine Mitmenschen nicht mehr wahrnehmen, was im Ergebnis dazu führte, dass man ihn ignorierte. Er wurde quasi unsichtbar. Glücklicherweise schloss der Effekt auch seine Kleidung und kleinere Gegenstände wie das Amulett oder den E-Blaster mit ein. Er atmete noch einmal tief durch, dann verließ er das Arbeitszimmer, ging hinunter in die Halle und hinten auf die Terrasse. Denn was nützte ihm die Unsichtbarkeit, wenn er sich dem Fremden mittels einer wie von Geisterhand aufschwingenden Eingangstür offenbarte? Er umrundete das Château. Kurz, bevor er den Nordturm erreichte, blieb er stehen. Lauschte. Nichts zu hören. Noch einige Schritte, bis er den Schlosshof einsehen konnte. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Nur kein Geräusch
verursachen. Noch einmal kontrollierte er die Einstellung des EBlasters, den er selbst natürlich zu sehen vermochte. Die Energiewaffe aus dem Arsenal der DYNASTIE DER EWIGEN stand auf Betäubung. Gut. Der letzte Schritt. Da entdeckte er sie, die Vermissten. Und zwar alle. Nicole, William – und die Schwerter. Zamorra blieb beinahe das Herz stehen, als er die Szenerie überblickte. »Du verfluchter Dreckskerl«, spie er aus.
* Vergangenheit Das Gesicht, das Eric Thomson aus dem Spiegel entgegensah, besaß Ähnlichkeit mit seinem eigenen. Was gemessen an der Tatsache, dass sich erst am Tag zuvor Michael Harringtons Fäuste darin ausgetobt hatten, einem Wunder glich. Die Ärzte können sich Ihre schnelle Genesung nicht erklären. Da war er wieder, dieser eine Satz, den die Schwester nach seiner Rückkehr aus den Bergen im Krankenhaus zu ihm gesagt hatte. Nun, Thomson kannte inzwischen den Grund für die Heilung, deshalb verzichtete er nach der ruhmreichen Gartenparty auch darauf, dass man ihn in eine Klinik brachte. Einer von Harringtons Gästen erklärte sich bereit, ihn nach Hause zu fahren. Nach wenigen Stunden Schlaf sah er aus, als läge die Schlägerei schon etliche Tage zurück. Den Armreifen sei Dank. Merkwürdig, wie man so geschunden werden und sich dennoch als Sieger fühlen konnte. Und das tat er, denn er wusste, dass er Harrington auch körperlich hätte überwältigen können, wenn er nur gewollt hätte. Außerdem war Thelmas Mann in der New Yorker Ge-
sellschaft erledigt, und dieser Erfolg schmeckte am süßesten. Eric tat es nur leid, dass das auch für Thelma gelten dürfte. Ja, am Ende des Tages war er als Gewinner aus der Konfrontation hervorgegangen. Etwas, das ihm ein Gefühl der Erhabenheit und Unbesiegbarkeit verlieh, ihm zugleich aber auch Angst einjagte. Angst vor sich selbst. Wozu war er fähig, wenn er es darauf anlegte? Wie weit konnte er es bringen? Bestimmt zu mehr als nur zum Tellerwäscher. Wenn er nur wollte. Aber wollte er auch? Lief er dann nicht Gefahr, der Verlockung der Armreife zu erliegen? Unsinn! Schließlich lebte Harrington noch. Er hatte seine Überlegenheit nicht ausgespielt und sich sogar zusammenschlagen lassen. Wenn das kein Zeichen von Widerstandsfähigkeit darstellte, was dann? Eine besserwisserische Stimme flüsterte ihm aus den Tiefen seines Unterbewusstseins zu, dass er keineswegs freiwillig darauf verzichtet hatte, seine Überlegenheit auszuspielen. Es war nur geschehen, weil er über sich selbst erschrocken war. Na und? Macht das einen Unterschied? Ich habe widerstanden, das ist es, was zählt. Ja? War das so? Er war sich nicht sicher. Deshalb beschloss er schweren Herzens, New York zu verlassen. Die Stelle als Tellerwäscher würde er ohnehin verlieren, wenn sein Boss von dem Benehmen seines Lieferjungen bei Harringtons erfuhr. Dass er jederzeit woanders von Neuem beginnen konnte, hatte er schon bewiesen. Seine Gedanken wanderten zu Thelma. Bildete er es sich nur ein oder hatte er in ihrem Blick tatsächlich Bewunderung und Zuneigung gelesen, als er sich ihrem Ehemann in den Weg gestellt hatte? Doch was auch immer er entdeckt zu haben glaubte, er musste ihr aus dem Weg gehen. Ihr und Michael Harrington.
Es klopfte. Eric zuckte zusammen und fuhr herum. Er starrte die Wohnungstür an, als könne er sie mit Blicken durchdringen. Er hatte noch nie Besuch bekommen. Nur sein Chef wusste, wo er wohnte. Es pochte erneut. Stand draußen die Polizei, die ihn festnehmen wollte? Wegen Körperverletzung oder welchem Grund auch immer, den ihnen Michael Harrington mitsamt einem Geldbündel überreicht hatte? »Wer ist da?«, rief er. »Telegramm für Mister Thomson«, antwortete eine nasale Stimme. »Von Robert Lacroix.« Also nicht die Polizei. Stattdessen ein Bote mit der Kündigung. Denn Lacroix war sein Chef im Restaurant. Oder sollte er sagen, sein ehemaliger Chef? Eric öffnete die Tür. Ein Schatten flog auf ihn zu, traf ihn an der Brust und schleuderte ihn zurück. Er fiel auf ein niedriges Tischchen, dessen Holzbeine unter dem Aufprall nachgaben. Die Flasche darauf zersplitterte, Biergeruch durchdrang die Luft, Schmerztabletten flogen ihm um die Ohren. Dann lag Eric still. Michael Harrington betrat die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Er hielt eine kleine schwarze Pistole, deren Lauf direkt auf Eric wies. Er streckte die Faust, mit der er Eric niedergeschlagen hatte, in die Luft. »Ich betrachte das Telegramm hiermit als zugestellt.« Wegen der schiefen, geschwollenen Nase – ein Andenken an den Vortag – klang seine Stimme so nasal, dass Thomson sie nicht erkannt hatte. »Keine hastige Bewegung, Sirius, sonst stanzt dir mein kleiner Freund hier ein Loch in die Stirn. Klar?« »Es heißt Cyrano, du Schwachkopf«, konnte Eric sich nicht verkneifen zu sagen.
Harrington lachte. »Mut hast du ja, das muss man dir lassen. Aber du scheinst nicht zu kapieren, dass du dich auf der gefährlichen Seite der Pistole aufhältst.« Eric starrte in die Mündung der Waffe. Dieses unscheinbare Loch, das jederzeit eine todbringende Kugel ausspeien konnte, abhängig von der Nervosität von Harringtons Zeigefinger. Würde ihm der Feuerreif rechtzeitig eine Ahnung vermitteln, wann der Gegner abdrücken wollte? Und konnte diese Warnung ausreichen, sich zur Seite zu werfen und den Schattenreif einzusetzen? Oder einfacher gefragt: Wer war schneller? Die Armbänder oder eine Kugel? »Was willst du?«, fragte Eric. »Ist das nicht offensichtlich?« Harrington klang, als habe er außerordentlich gute Laune. »Ich will Genugtuung. Du hast mir mein Leben versaut. Hast du mitbekommen, wie die Leute auf meiner Party gelacht und applaudiert haben, als du auf mich einschlugst?« Nein, das hatte er nicht mitbekommen. Und er zweifelte an, dass das tatsächlich geschehen war. Aber dass Harrington eine andere Auffassung von Realität besaß, wunderte Eric nicht. »Du hast mich gestern überrascht. Ich hätte nicht mit deiner Schnelligkeit und Kraft gerechnet. Alle Achtung! Na ja, genützt hat es dir aber doch nichts. Und hätten mich meine verehrten Gäste nicht zurückgehalten, während du auf dem Boden gelegen und die Titten meiner Frau angestarrt hast, wärst du heute schon nur noch eine lästige Erinnerung.« »Ich habe Thelma nicht auf die Brü…« »Halt’s Maul.« Eric schwieg. Warum sollte er auch versuchen, sich zu rechtfertigen? Harrington bog sich ohnehin alles so zurecht, wie es ihm am besten in den Kram passte. »Tut mir leid, Sirius«, fuhr Thelmas Mann fort. »Aber ich muss dich leider erschießen. Niemand pfuscht mir ungestraft ins Leben
und macht meiner Frau schöne Augen, verstehst du? Und so eine hässliche Type wie du schon gar nicht. Damit du etwas hast, worüber du nachdenken kannst, bevor du vor einen Schöpfer trittst, will ich dir noch sagen, was nach deinem Tod passiert. Ich werde dem Miststück, das du so zu vergöttern scheinst, ein Kind machen. Ob sie will oder nicht. Und wenn sie meinen Erben erst mal in die Welt gesetzt hat … Nun ja, es könnte sein, dass ich sie dir dann hinterherschicke.« Thomson hörte fassungslos zu. Wie hatte sich Thelma nur mit so einem Stück Dreck einlassen können? »Hältst du die Polizei für dämlich?«, fragte er. »Wenn man meine Leiche findet, was glaubst du, wen man da verdächtigt? Einen dahergelaufenen Einbrecher? Oder doch eher den Mann, für dessen gesellschaftliches Aus ich gesorgt habe?« »Die Frage ist doch eher, ob du mich für dämlich hältst. Natürlich habe ich mir ein Alibi besorgt. Mein Kumpel George wird gerne bestätigen, dass er den ganzen Tag an meinem Krankenbett gesessen hat, in dem ich mich von den Verletzungen erhole, die du mir zugefügt hast.« »Woher hast du meine Adresse?« »Die hat mir der Boss des Restaurants gegeben, in dem du arbeitest. Oh, übrigens, du bist gefeuert.« »Ein weiterer Hinweis für die Polizei, der auf dich als Täter deutet.« Harrington zögerte kurz, doch dann wischte er den Einwand weg. »Darauf lasse ich es ankommen. Außerdem habe ich mit meinem Vater einen verdammt guten Anwalt bei der Hand.« Auch wenn Eric versuchte, sich äußerlich gelassen zu geben und Thelmas Ehemann dadurch zu verunsichern, suchte er innerlich fieberhaft nach einem Ausweg. Aber er fand keinen, der nicht auf die gleiche Frage hinauslief: Wer ist schneller, du oder die Kugel? »Genug geplaudert«, sagte Harrington. »Hat mich nicht besonders
gefreut, dich kennenlernen zu müssen.« Im nächsten Augenblick wusste Thomson, dass der Eindringling abdrücken würde. Instinkt oder eine Warnung des Feuerreifs? Panik raste über ihn hinweg. Innerhalb eines Sekundenbruchteils wurde ihm klar, dass er niemals schneller sein konnte als die Kugel. Doch plötzlich änderte sich alles! Er hörte noch den Knall, dann schien die Szenerie zu gefrieren. Der Unterarm mit dem Schattenreif fühlte sich eiskalt an, der mit dem Feuerreif heiß, jedoch ohne ihn zu verletzen. Dann sah er das Projektil, das unendlich langsam auf ihn zuflog. Dahinter, wie eingefroren, stand Michael Harrington mit hassverzerrtem Grinsen. Thomson wollte der Kugel ausweichen. Mit Schrecken musste er feststellen, dass er sich ebenfalls nicht bewegen konnte. Verdammt! Was hab ich denn davon, dass die Zeit langsamer abläuft, wenn ich auch betroffen bin? Dass ich es länger auskosten kann, das tödliche Metall auf mich zuschleichen zu sehen? Dann erkannte er den Irrtum. Nicht die Zeit lief langsamer, sondern sein Bewusstsein war schneller geworden. Doch was brachte es ihm, wenn er nicht … Der Gedanke riss ab, denn unvermittelt starrte er Harrington nicht mehr ins Gesicht, sondern auf den Rücken. Was zum Teufel …? Die Armreife hatten ihn versetzt. Im Bruchteil eines Wimpernschlags hatten sie ihn hinter den Kontrahenten gebracht, um ihm ein Überleben zu gewährleisten. Und plötzlich konnte er sich bewegen, obwohl Harrington noch immer wie eingefroren dastand. Eric dachte nicht lange nach. Er schleuderte den Arm mit dem Schattenreif nach vorne. Die Schlieren lösten sich, rasten selbst im verlangsamten Zeitablauf auf Thelmas Mann zu und hüllten ihn mitsamt der Pistolenkugel ein. Da lief die Zeit normal weiter. Der Knall des Schusses verhallte und Eric wurde bewusst, dass
während der letzten gefühlten Sekunden totale Stille geherrscht hatte. Harringtons Lachen erklang, das sich schlagartig in einen Schrei verwandelte. »Nein! Was hast du Scheißkerl mit mir gem…« Der Rest des Satzes blieb für immer unausgesprochen. Die Schlieren zogen sich zusammen wie ein Netz. Und sie zerstörten alles, was sich in ihrem Inneren befand. Michael Harrington, die Pistole, ja selbst das Projektil. Nichts blieb übrig. Kein Staub, kein Blut. Nichts. Nur Sekunden später war es vorüber. Schwer atmend und mit pochendem Herzen stand Eric Thomson da. Nur noch der zerbrochene Tisch und der Biergeruch legten Zeugnis von den Ereignissen ab. Er hatte es getan! Er hatte Michael Harrington getötet! Und es fühlte sich verdammt gut an. In diesem Augenblick beschloss er, in New York zu bleiben. Sein Konkurrent war beseitigt. Thelma war frei. Für ihn.
* Gegenwart Trotz der Hitze schlich eine Gänsehaut über Thomsons Rücken, als er daran zurückdachte, wie Michael Harrington ihn gezwungen hatte, eine weitere Grenze zu überschreiten. Zumindest war es das, was er sich damals eingeredet hatte. Er habe in Notwehr gehandelt, rechtfertigte er sich selbst gegenüber. Schließlich habe er den Harringtons aus dem Weg gehen wollen, sagte er sich. Wäre Thelmas Mann nie aufgetaucht, dann wäre alles ganz anders gekommen, redete er sich ein. Vielleicht stimmte das zum Teil sogar. Dennoch fragte er sich inzwischen, ob die Armreife Einfluss auf Michael Harrington genom-
men hatten. So, wie sie Thomson zu sich in die Höhle gelotst hatten, mochten sie auf den Kontrahenten eingewirkt haben, die Schmach der Gartenparty nicht auf sich sitzen zu lassen. Waren sie also alle nur Figuren in dem Spiel, das die Armbänder mit ihnen veranstalteten? Und das alles nur, um Eric Thomson zu verführen wie vor Hunderten von Jahren den Indianerhäuptling? Doch warum sollte er sich jetzt noch Gedanken darüber machen? Ändern konnte er ohnehin nichts mehr. Ob aus eigener Schwäche, Fügung des Schicksals oder wegen der Macht der Reife, inzwischen war er ihnen verfallen. Und nach drei Jahrzehnten wollte er den Schattenreif endlich zurückbekommen. Koste es, was es wolle! Unzählige Male hatte er in dieser Zeit versucht, noch einmal den Effekt wie bei der letzten Begegnung mit Harrington hervorzurufen, sich blitzschnell an einen anderen Ort zu versetzen. Es klappte nicht. Nicht, als er noch beide Armreife besaß, und schon gar nicht, als er nur noch den Feuerreif trug. Vermutlich war er dazu nur in seiner Panik und Todesangst fähig gewesen. Welche Qualen wären ihm erspart geblieben, hätte er einfach nur die Augen schließen und sich zum Schattenreif versetzen können! So aber hatte er dreißig Jahre warten müssen, sein Eigentum zurückzuholen. Er saß in der Garage von Château Montagne auf dem Fußboden. Im Rücken spürte er das kühle Metall eines sündhaft teuer aussehenden Wagens. Er hatte keine Ahnung, um was für ein Modell es sich handelte. Es interessierte ihn auch nicht. Seine Einstellung zu Autos hatte sich in den letzten fünfzig Jahren nicht geändert, auch wenn er die Dinger nun fahren konnte. Die Augen hielt er geschlossen. Bald würde der Professor kommen, das wusste er. Er hoffte, Zamorra machte es ihm nicht zu schwer. Aber falls doch,
würde er auch damit umzugehen wissen. Er durfte keine Gnade walten lassen. Langsam atmete er ein und aus und ein und aus. Versuchte, die Stimme der Gier zu ignorieren, das Nagen in seinem Inneren zu verdrängen. Es fiel ihm nicht leicht, die Geduld zu bewahren. Dann war es so weit. Das Alarmsystem schlug an. Der Professor war da!
* Zamorras Herz schlug schneller, als er die Szenerie erfasste. Der Fremde hatte die Schwerter eingegraben. Die Griffe und griffnahen Klingenstücke steckten im Boden, sodass vierzig oder fünfzig Zentimeter der Klinge gen Himmel wiesen. Oder besser: Sie wiesen gen Nicole! Verschnürt von Fäden aus Flammen hing sie mit dem Gesicht nach unten an einem waagrechten Ast eines Baumes vor dem Nordturm. Drei Meter über dem Rasen – und über den Schwertern. Nur ein dünner Feuerstrang hielt sie an dem Ast. Ein magisches Phänomen, das für sie den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachte. Nicis Blick wanderte emsig hin und her, als suche sie nach einem Ausweg. Da sie außer ihren Augen aber nichts bewegen konnte, würde sie keinen finden. Sie musste sich fühlen wie die Beute einer Spinne, die darauf wartete, auf den Mittagstisch zu kommen. Am Stamm des Baums stand William, ebenfalls eingepackt in Feuerschnüre und zur Regungslosigkeit verdammt. Gefesselt wie ein Indianer am Marterpfahl. Vom Arbeitszimmer aus hatte Zamorra nur die Baumkrone sehen können und nicht geahnt, was sich darunter abspielte. Nun, aus der Nähe, erkannte er auch, dass er sich bei den konzentrischen Kreisen im Rasen geirrt hatte. Sie bestanden nicht aus sonnenbestrahlten Ru-
binen, sondern aus winzigen Flammen. Im Zentrum der Flammenringe erhoben sich die Schwertspitzen. Auch sie umzüngelte ein schmales Feuerband. »Keine Sorge«, presste Nicole hervor. Zamorra zuckte zusammen, weil er im ersten Augenblick glaubte, sie spreche mit ihm. Versagte die Unsichtbarkeit? Hatte ihn die Hinterhältigkeit des Fremden so schockiert, dass er sich nicht mehr genügend auf das tibetische Ritual konzentrieren konnte? »Der Chef wird uns retten, da bin ich mir sicher.« »Ich hoffe inständig, dass sich Ihre Zuversicht als begründet erweist«, antwortete William. Der Professor erlaubte sich ein innerliches Aufatmen. Bisher hatte niemand seine Ankunft bemerkt. Er bewunderte die nach außen getragene Gelassenheit des Butlers. Schließlich litt er bereits zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit unter dem Beruf seines Arbeitgebers. Schon in Eden war ihm von den dortigen entarteten Kriegern übel mitgespielt worden. »Wenn ich nur wüsste, was dieser Kerl von uns will«, fuhr Nicole fort. »Ich habe versucht, ihn telepathisch zu belauschen, als er Sie an den Baum fesselte. Aber es ist mir nicht gelungen.« »Verfügt er über eine mentale Sperre wie Sie und der Herr Professor?« »Nein. Aber in seinen Gedanken war keine Ordnung zu erkennen. Außerdem schien sich alles hinter Flammen und schwarzen Schlieren zu verbergen. Ehrlich gesagt befürchte ich, der Mann ist wahnsinnig.« William seufzte. »Ich wünschte, ich hätte ihm nicht mitgeteilt, dass sich außer dem Professor niemand mehr im Schloss aufhält. Aber er hat mir keine Wahl gelassen. Er schob mir einen Feuerstrang in den Rachen. Ich habe geglaubt, ich müsse sterben, wenn …« »Machen Sie sich keine Gedanken«, versuchte Nicole ihn zu trös-
ten. »Jeder hätte so gehandelt.« Schweigen kehrte ein. Zamorra wagte es nicht, sich den Gefangenen gegenüber bemerkbar zu machen. Schließlich wusste er nicht, wo der Fremde lauerte. Vermutlich beobachtete er aus einem Versteck heraus das Geschehen. Er überlegte, wie er die beiden befreien konnte, ohne Nicoles Leben aufs Spiel zu setzen. Auf jeden Fall durfte er nichts unternehmen, was die Stabilität der Feuerfessel beeinträchtigte, denn dann würde Nici unweigerlich in die Schwerter stürzen. Mit dem Amulett prüfte er die Umgebung auf Schwarze Magie. Innerhalb der M-Abwehr sollte es sie zwar nicht geben, aber es kam schon häufig genug vor, dass Dämonen ihre Handlangerbeauftragt hatten, die Symbole zu verwischen und den Schutzschirm so durchlässig zu machen. Doch Merlins Stern zeigte nichts an. Selbst die Flammenstränge schienen keinen schwarzmagischen Ursprung zu besitzen. Auch verborgene Zauber, die die Fesselung lösten, sobald man sich ihr näherte, entdeckte er nicht. Was aber nicht zwangsläufig bedeutete, dass es sie nicht dennoch gab. Und irgendeinen Zweck mussten die konzentrischen Feuerkreise schließlich erfüllen. Zamorra zog in Erwägung, mit dem E-Blaster die Schwertspitzen zu beschießen. Doch da er nicht wusste, ob er ihnen dadurch schnell genug ihre Tödlichkeit rauben konnte, verwarf er den Gedanken wieder. Blieb der Dhyarra. Doch wo sollte er damit angreifen? Da der Einsatz des Sternensteins eine hohe bildliche Vorstellungskraft erforderte, war es ihm zu riskant, auf Nicole einzuwirken. Eine kleine Unkonzentriertheit, und die Liebe seines Lebens konnte sterben. Nein, es erschien ihm sicherer, sich die Schwerter vorzunehmen. Er stellte sich vor, wie sich die Klingen aus dem Boden erhoben, bis auch der Griff freilag, und dann umkippten. Doch nichts davon
geschah! Die Dhyarra-Magie versagte. Offenbar schirmten die Flammenbänder die Schwerter davor ab. Zamorra blieb nicht einmal die Zeit, sich darüber zu ärgern. »Zeigen Sie sich, Professor«, ertönte eine Stimme. »Wo auch immer Sie sich verbergen.« Der Mann mit der Geiernase trat aus der Garage und baute sich so auf, dass er in Richtung Nicole schaute. Wäre der Meister des Übersinnlichen nicht unsichtbar gewesen, hätte der Fremde auch ihn sehen müssen. Fieberhaft überlegte Zamorra. Wusste der Kerl tatsächlich von seiner Anwesenheit oder bluffte er nur? »Ich habe nicht beobachtet, was genau Sie getan haben«, sagte der Mann, »aber Sie haben die Flammen berührt. Deshalb weiß ich, dass Sie hier sind. Also, zeigen Sie sich.« Der Professor dachte gar nicht daran. Er hob den E-Blaster, richtete ihn auf den Geiernasentypen aus und … »Falls Sie darüber nachdenken, mich anzugreifen oder zu erschießen, rate ich Ihnen davon ab. Selbst bei einer Ohnmacht würden die Flammen erlöschen. Was dann geschähe, brauche ich Ihnen wohl kaum zu verraten.« Nein, das wusste Zamorra auch so gut genug. Nicole würde in die Schwerter stürzen. Vielleicht log der Fremde, aber das Risiko durfte der Professor nicht eingehen. Er ließ den Blaster sinken. Plötzlich verlor der Geiernasenmann die Geduld. »Zeigen Sie sich!«, brüllte er. »Oder …« Statt eine Drohung auszusprechen, löste er die Fesseln ein wenig. Nici sackte ein paar Zentimeter nach unten. Vor Schreck schrie sie auf. Gleichzeitig schob Williams Flammenverschnürung den Butler am Baumstamm nach oben, bis er etwa auf gleicher Höhe mit Nicole hing. Einer der Stränge legte sich um seinen Hals und schnürte ihm die Luft ab. Er röchelte. »Halt!«, rief Zamorra. »Sie haben gewonnen.« Er ließ seiner Aura
freien Lauf und wurde dadurch wieder sichtbar. Der Mann mit der Geiernase grinste. »Sie sind echt gut! Solche Tricks hatte ich früher nicht drauf. Respekt.« Der Professor hatte keine Lust auf ohnehin nicht ernst gemeinten Small Talk. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« »Nennen Sie mich Rick. Mein richtiger Name braucht sie nicht zu interessieren. Und jetzt geben Sie mir den Schattenreif, wenn Ihnen etwas am Leben Ihrer Freundin liegt.« Mit allem hatte Zamorra gerechnet, aber nicht mit einer Forderung, von der er beim besten Willen nicht wusste, was sie bedeutete. »Ich verstehe nicht. Was für ein Schattenr…« »Verkauf mich bloß nicht für dumm«, spie Rick ihm entgegen. Aufgeregt fuchtelte er mit den Armen. »Jetzt lässt du erst mal brav deine Ausrüstung fallen!« Der Professor zögerte nicht. Dhyarra und E-Blaster purzelten ins Gras. Der Kerl schien nicht zurechnungsfähig zu sein. Ein Eindruck, den auch Nicole mit dem Versuch des telepathischen Belauschens gewonnen hatte. Besser, ihn nicht unnötig zu provozieren. »Und jetzt krempel die Ärmel hoch!« »Was? Ich …« Wieder sackte Nicole ein paar Zentimeter herab. Sofort zog Zamorra den Hemdstoff nach oben, auch wenn er sich ein bisschen albern vorkam, nur mit Badehose und offenem Hemd bekleidet. Er präsentierte Rick seine Unterarme und sie waren …
* … nackt. Eric Thomson konnte es nicht fassen. Das war unmöglich! Er spürte doch die Ausstrahlung dieses diebischen Professors. Diese widerliche Aura, die auch Steigner umgeben und den Ruf des Schattenreifs geschluckt hat.
»Du hast ihn abgelegt!«, brüllte er. »Denk bloß nicht, dass dir das etwas hilft.« Aber hätte er den Reif nicht spüren müssen, wenn Zamorra ihn doch nicht mehr trug? Nein, korrigierte er sich sofort selbst. Nicht, solange der Schattenreif jemanden mit so einer Ausstrahlung als Träger akzeptierte. Als Steigner das Armband noch besaß, hatte Thomson den Ruf auch nie vernommen, obwohl dieser das Stück vermutlich nicht ununterbrochen getragen hatte. Zumindest, wenn er sich an Thomsons Empfehlungen gehalten hatte. Er musste nachdenken. Unbedingt. Doch es fiel ihm so verdammt schwer. Zamorra hat den Schattenreif abgelegt. So muss es sein! Er hat von Anfang an bemerkt, worum es geht, also hat er ihn abgenommen und … und … versteckt. Genau. Im Schloss. In einem Safe oder so. Doch wie hätte der Professor von Eric wissen können? Die Antwort war so einfach wie erschütternd. Er spürt den Feuerreif. Schließlich besitze ich sie nicht, diese verfluchte Aura. Er wusste, dass ich komme. Und jetzt stellt er sich dumm. Ja, so musste es sein. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, sagte Zamorra. Und dieser Scheißkerl benutzte doch tatsächlich einen Tonfall, als rede er mit einem kleinen Kind! »Wirklich nicht! Vielleicht kann ich Ihnen helfen, wenn Sie mir erklären, was …« »Halt’s Maul!«, plärrte Thomson. Im nächsten Augenblick erschrak er darüber, wie sehr er sich nach Michael Harrington anhörte, wenn dieser die Kontrolle über sich verloren hatte. Und er war im Begriff, gerade das Gleiche zu tun. Aber das durfte nicht passieren! Nicht hier und nicht ausgerechnet jetzt! »Lass mich nachdenken.« Reiß dich zusammen. Kämpf gegen die Gier an! Und vor allem: Lass dich nicht gehen.
Oh, wenn es doch nur so einfach wäre! Verdammt, warum musste er denn nur just in diesem Augenblick an Thelma denken? An den Tag ihres Streits. Tränen stiegen ihm in die Augen und spülten ihn in die …
* Vergangenheit Eric Thomson saß im Lesesessel des Wohnzimmers, blätterte die Zeitung zum siebzehnten Mal durch und rauchte die achte Zigarette. Es konnten auch ein paar Blätterdurchläufe oder Glimmstängel mehr gewesen sein. Seine Augen tasteten die Zeilen ab und erweckten den Anschein des Lesens, während er in Wirklichkeit nur darauf wartete, dass Thelma zu Bett ging. Aber an diesem Abend dachte sie mal wieder nicht im Traum daran, ihn allein zu lassen, sodass er seiner Berufung nachgehen konnte. Manchmal war sie echt lästig! Im nächsten Augenblick schämte er sich dieses Gedankens und ermahnte sich, dass er froh sein solle, eine Frau wie Thelma Thomson an seiner Seite zu wissen. Vor allem, wenn man bedachte, welche Verwicklungen damit verbunden gewesen waren. Natürlich war das Verschwinden von Michael Harrington vor über zehn Jahren nicht unbemerkt geblieben. Und als die Polizei der Sache nachging, tauchte sie selbstverständlich auch bei Eric auf. Schließlich besaß der nach der Prügelei und dem Verlust seines Arbeitsplatzes allen Grund, sich an dem Vermissten zu rächen. Doch Thomson stellte sich harmlos, was ihm wegen der Armreife erstaunlich schwerfiel. Letztlich glaubte man ihm aber, dass er nichts mit der Sache zu tun hatte. Harringtons Besuch hatte kaum Spuren hinterlassen. Den kaputten Tisch hatte Eric längst notdürftig repariert und die Splitter weggesaugt. Der Biergeruch war verflogen. Und von Thelmas Mann samt Waffe und Kugel war nichts,
aber auch gar nichts übrig geblieben. Außerdem stellte die Polizei bei ihren Ermittlungen fest, dass der Vermisste bis zur Hüfte in einem Sumpf aus illegalem Glücksspiel, Drogengeschäften und Prostitution Minderjähriger steckte. Die Vermutung, dass sich der Heißsporn Harrington mit den falschen Leuten angelegt hatte, drängte sich förmlich auf. Als sich dann noch herausstellte, dass er einen seiner Spießgesellen um ein erlogenes Alibi gebeten hatte, weil er, wie der Kerl später aussagte, mit einem Geschäftspartner eine Meinungsverschiedenheit ausräumen wolle, war die Sache für die Behörden klar. Eric war erleichtert, dass Harrington sogar seinem Freund die Wahrheit verschwiegen hatte. Ansonsten hätte es noch einmal eng für ihn werden können. Thelma hingegen war entsetzt, als sie davon erfuhr. Dass ihr Gatte alles andere als ein Engel war, hatte sie schon am eigenen Leib erfahren müssen. Aber dass sie an der Seite eines Schwerverbrechers gelebt hatte, ließ ihre Welt in sich zusammenstürzen. Natürlich tauchte Harrington nicht mehr auf, auch nicht als Leiche. Thelma wollte jedoch nicht abwarten, bis man ihn für tot erklärte. Also griff ihr Vater, der reiche Fabrikant, in die Portokasse und engagierte den besten Anwalt für Familienrecht, den er finden konnte. Ein Jahr danach wurde die Ehe annulliert. Thomson wusste nicht, mit welchen juristischen Spitzfindigkeiten das gelang. Auch später hatte Thelma es ihm nie erzählt. Aber natürlich beobachtete er die gesamte Entwicklung mit zunehmender Freude. Er nahm einen neuen Job an und sorgte dafür, dass er Thelma immer wieder über den Weg lief. Sie griffen ihre alten Themen auf: Musik, Literatur, Kunst. Eric stellte fest, dass er nicht mehr die gleiche Begeisterung wie früher für derlei Profanitäten aufbringen konnte, doch er schaffte es, dies vor der Frau seiner Träume zu verbergen. Denn die Begeisterung für sie war ungebrochen.
So geschah nach einer angemessenen und größtenteils geheuchelten Trauerzeit über das Verschwinden und mutmaßliche Ableben von Michael Harrington das, was Eric so lange gehofft hatte: Sie gab seinem Werben nach. Ein Jahr nach der Annullierung von Thelmas erster Ehe heirateten sie. Früher hatte er ein Leben in Armut geführt, danach eines in Bescheidenheit. Dank seines Schwiegervaters verfügte er nun zwar nicht über Reichtum, hatte es aber zumindest zu Wohlstand gebracht. Richard Sanderhoff war von seinem neuen Schwiegersohn außerordentlich eingenommen. Thomson hatte es damals nicht bemerkt, aber Thelmas Vater hatte zu den Gästen der Gartenparty gezählt. Und so hatte er gesehen, wie sich der schmächtige Eric dem Muskelprotz Harrington in den Weg stellte, um seine Tochter vor dem zornigen Ehemann zu schützen. So etwas vergaß ein Vater nie! Eric Thomson war am Ziel seiner Träume angekommen. Glaubte er. Doch die Armbänder hatten offenbar anderes mit ihm vor. Immer wieder sandten sie ihm Erinnerungen, die nicht aus seinem eigenen Gedächtnis stammten. Fetzen nur, unzusammenhängende Bilder und Eindrücke, und dennoch zutiefst verstörend. Die Rachezüge der Wahyukalla. Das Gefühl der Macht, das den Häuptling erfüllte. Der Kitzel, einen Feind zu besiegen. Aber auch unerklärliche Visionen wie von schrecklichen drachenartigen Tieren, die unmöglich etwas mit den Indianern zu tun haben konnten. Und dann gab es noch die Geistesbilder einer Frau von exotischem Flair. Traumhaft schön mit ihrem fließenden schwarzen Haar und einem figurbetonten roten Kleid, noch schöner fast als Thelma. Manchmal überkam Thomson sogar der absurde Eindruck, er habe sich in diese Frau verliebt – was natürlich Unsinn war, schließlich kannte er sie nicht. Aber nicht nur Bilder durchspülten ihn, sondern auch Gefühle.
Liebe, Hass, Eifersucht, Triumph, Wut, Angst. In diesen Augenblicken war er sich sicher, dass die Geschichte der Armreife wesentlich weiter zurückreichte, als die Wahyukalla geahnt hatten. All diese Impressionen beängstigten Thomson. Zugleich erinnerten sie ihn aber auch immer an die Macht, die er bei seinem Sieg gegen die Zombie-Indianer oder gegen Michael Harrington verspürt hatte. Ein Gefühl, das er vermisste. Hinzukam, dass der Wohlstand durch die Ehe mit Thelma es überflüssig machte, einer regelmäßigen Beschäftigung nachzugehen. Und so erschien Eric das Leben, das er sich einst erträumt hatte, schnell langweilig. Das änderte sich jedoch schlagartig, als er bei einem seiner ausgiebigen Nachtspaziergänge auf eine Gruppe von Vampiren stieß, die sich ihren Spaß mit einem jungen Mädchen erlaubten. Er konnte es kaum fassen. Den wenigsten Menschen begegnete das Übersinnliche in Form von Dämonen und Monstern, er aber traf es bereits zum zweiten Mal in seinem Leben an. Ein kurzer Kampf gegen die Blutsauger schloss sich an, in dem er die Kreaturen der Nacht mit den Armbändern besiegte. Endlich spürte er es wieder, dieses erhabene Gefühl der Macht. Er genoss die Schreie der sterbenden Geschöpfe, die Angst derjenigen, die zu entkommen versuchten, ihr Entsetzen, als es ihnen nicht gelang, und ihre Resignation, als sie in ihm ein Wesen mit größerer Stärke erkannten. Als er nach Hause kam, fühlte er sich wie aufgeputscht. Er hatte seine Bestimmung gefunden: die Dämonenjagd. In ihr sah er die einzige Möglichkeit, all den Lockungen der Armbänder nachzugeben, ohne ihnen wirklich zu erliegen. Anfangs bezweifelte er zwar noch, dass er recht viel zu jagen finden würde, denn Kreaturen der Finsternis existierten gewiss nicht an jeder Straßenecke. Doch er täuschte sich. Dank der magischen
Armreife wirkte er offenbar wie ein Magnet auf die Dämonen. Vielleicht war es auch umgekehrt und die Schwarzblüter zogen Thomsons Waffen an. Doch sein Plan ging nicht auf. Ein Doppelleben zu führen, strengte fürchterlich an. Bei den Dämonenjagden hielt er sich so gut es ging im Hintergrund, aber wie sollte er seiner Frau die Armbänder erklären? Er versuchte, Thelma sie gar nicht sehen zu lassen, was aber verschlossene Badezimmer, langärmlige Kleidung selbst bei größter Hitze und Sex bei zugezogenen Vorhängen und ausgeschaltetem Licht bedeutete. Auch kam er gelegentlich mit Verletzungen nach Hause, die dank der Armreife zwar schnell heilten, aber dennoch neugierige Fragen nach sich zogen. So entstand im Laufe der Jahre eine Spannung in ihrer Ehe, die ihn zunehmend wütend machte. Einerseits liebte er Thelma von ganzem Herzen, andererseits stand sie ihm nur allzu oft im Weg, wenn er auf Tour gehen wollte. Durch die Dämonenjagd wurde er immer härter, unnachgiebiger und gnadenloser. Oft genug ließen ihm die Schwarzblüter keine andere Wahl. Es fiel ihm schwer, diese Veränderung seines Wesens zuhause zu verbergen. Er konnte nicht im einen Augenblick knietief in Werwolfblut waten und sich im nächsten an der Schönheit eines Gedichts erfreuen. Es kam zu Streitereien, erst gelegentlich, dann häufiger, inzwischen fast täglich. Etwas, das Thomson zutiefst verabscheute. Er wollte doch nicht mehr, als Thelma glücklich zu machen. Zugleich wollte er dabei aber nicht selbst auf der Strecke bleiben. Doch wenn es nicht anders ging, war er auch dazu bereit. Er hatte in den vergangenen Wochen viel nachgedacht und beschlossen, sein Dämonenjägerdasein an den Nagel zu hängen und nur noch für seine Frau da zu sein.
Eine letzte Jagd noch, auf eine Bande von Ghouls, die auf einem Militärfriedhof ihr Unwesen trieb. Und dann war Schluss! Aber ausgerechnet heute, am Abend seiner Abschiedsvorstellung, wollte Thelma einfach nicht zu Bett gehen. Sie schlich durch das Wohnzimmer, las in einem Buch, kochte Tee, machte sich ein Käsesandwich, las weiter, schaute in der Glotze die neuste Folge von »Die Straßen von San Francisco«, trank ein Glas Wein, las, strickte, aß ein Thunfischsandwich. Jetzt fing sie sogar an, seine Hemden zu bügeln, obwohl sie ein Hausmädchen beschäftigten, das dafür zuständig war. Eric seufzte, schlug die Zeitung zu und begann mit der vorgetäuschten Lektüre von vorne. Er steckte sich die nächste Zigarette an. »Musst du unbedingt hier rauchen?«, fragte sie. »Da riecht die frische Wäsche gleich wieder nach Qualm.« »Musst du unbedingt hier bügeln?«, erwiderte er. »Warum bist du überhaupt noch wach? Es geht schon auf Mitternacht zu und spielst hier plötzlich die Hausfrau?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Was heißt hier spielen? Ich bin eine Hausfrau.« »Soweit dir das Hausmädchen was zu tun übrig lässt.« Er ärgerte sich über seinen provokanten Tonfall. Eigentlich sehnte er sich nach Harmonie und ihrem Lächeln. Aber er konnte nicht anders. »Es ist gemein, so etwas zu sagen. Ich versuche doch nur, dir eine gute Frau zu sein.« Ein Stich durchzuckte Thomsons Herz. »Ich weiß. Aber kannst du das nicht bitte morgen versuchen. Dann weiß ich es auch bestimmt zu würdigen.« Sie raffte einige Hemden aus dem Wäschekorb und warf sie ihm ins Gesicht. »Weißt du was? Von mir aus brauchst du es gar nicht würdigen. Mir würde schon reichen, wenn du mir zeigst, dass du mich noch liebst.«
Er verdrehte die Augen. Ausgerechnet so eine Diskussion konnte er nun gar nicht gebrauchen. Die Ghouls auf dem Friedhof warteten bestimmt nicht auf ihn. Er musste sich beeilen. »Thelma«, sagte er so eindringlich wie möglich. »Natürlich liebe ich dich noch. Wie kannst du etwas anderes denken? Es ist im Augenblick nur ein bisschen … nun ja, schwer für mich. Aber morgen wird alles wieder werden, wie es war. Das verspreche ich dir.« »Morgen ist mir zu spät! Ich werde erst zu Bett gehen, wenn du mitgehst.« Er stand aus dem Sessel auf. »Gut, wenn du darauf bestehst. Aber zuerst muss ich noch einmal weg.« »Kommt nicht infrage!« »Ich muss.« »Wohin kann man denn um diese Zeit gehen müssen?« Thomson zögerte. »Das geht dich nichts an«, entfuhr es ihm dann schärfer als beabsichtigt. »Nein? Ich bin deine Frau, Eric!« »Richtig. Und nicht meine Mutter. Ich muss mich dir nicht erklären!« Tränen schossen ihr in die Augen. »Wie kannst du nur behaupten, dass du mich noch liebst?« »Weil ich es tue, Herrgott noch mal. Bitte, lass uns morgen darüber reden.« Eine kurze Pause entstand und Thomson glaubte schon, die lästige Diskussion hinter sich zu haben. Ein Irrtum. »Du hast dich verändert«, sagte Thelma in resigniertem Tonfall. »Was ist nur aus dem feinfühligen Mann geworden, in den ich mich verliebt habe?« »Der existiert immer noch, glaub mir.« Eric sah auf die Wanduhr. Verdammt, das würde knapp werden! »In was für eine Sache bist du da nur gerutscht? Was verbirgst du vor mir?«
»Ich kann es dir nicht sagen. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« »Bitte geh nicht! Ich habe Angst um dich.« »Vertrau mir.« Sie schluchzte. »Ich habe schon einmal einem Mann vertraut, der sich dann als Verbrecher entpuppte.« Sie warf sich ihm an die Brust. Harsch stieß er sie weg. »Wie kannst du mich nur mit Michael Harrington vergleichen?« Eric spürte, wie eine Woge des Zorns in ihm aufbrandete. »Mit diesem Stück Dreck!« »Ich will doch nur, dass wir keine Geheimnisse voreinander haben.« »Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen.« »Hat es mit deinen Tätowierungen zu tun, die du versuchst, vor mir zu verstecken? Gehörst du einer Sekte an?« Zuerst wusste er nicht, wovon sie sprach. Doch dann wurde es ihm klar. Sie musste die Armbänder meinen. »Woher weißt du von den … Tätowierungen?« »Ich habe sie gesehen. Nachts, als der Ärmel deines Schlafanzugs hochgerutscht war.« »Du spionierst mir nach?« Sie riss die Augen auf. »Was hat es denn mit Spionieren zu tun, wenn ich nachts das Licht anmache und deine Arme sehe? Meinst du nicht, dass du etwas übertreibst?« »Keineswegs! Und nun sage ich es zum letzten Mal: Lass uns morgen darüber reden. Ich muss gehen.« »Wenn du jetzt gehst, brauchst du gar nicht mehr wiederkommen.« Thomson fasste es nicht. Warum ersparte ihm das Schicksal nicht einmal diesen klischeehaften Satz? Was bildete sich Thelma eigentlich ein? Sie drohte ihm? Ihm? Sie, die sich den ganzen Tag dem Müßiggang hingab, wollte jemandem, der im Interesse seiner Mitmenschen gegen Dämonen kämpfte, sagen, was er zu tun und zu
lassen hatte? »Wenn ich gewusst hätte«, brüllte er sie an, »dass du so eine Ziege bist, hätte ich Michael Harrington nicht töten müssen, um mir dir zusammen sein zu können!« Im nächsten Augenblick hätte er die Worte am liebsten zurückgeholt. Thelmas Augen weiteten sich vor Entsetzen. Die entstehende Stille wies eine solche Dichte auf, dass man sie hätte schneiden können. Selbst die Welt um sie herum schien die Luft anzuhalten. »Du … du hast was getan?«, flüsterte sie nach unendlichen Sekunden des Schweigens. »Ich – ich … es tut mir leid«, sagte er, ohne zu wissen, was er damit meinte. »Du bist ein Monster.« Die Ruhe, mit der sie diesen Satz aussprach, wirkte auf Thomson bedrohlicher, als wenn sie ihn angeschrien hätte. »Versteh doch! Es war Notwehr. Er kam zu mir, um …« »Verschwinde.« »Was?« »Verschwinde aus meinem Haus! Ich will dich nie wieder sehen.« »Aber …« Sie hob die Hand und er verstummte. »Michael war ein widerlicher, arroganter, gewalttätiger Kotzbrocken, auf den ich mich nie hätte einlassen dürfen. Aber er war ein Mensch mit einem Recht auf Leben. Und du hast es ihm genommen.« »Es war Notwehr«, wiederholte er. »Das interessiert mich nicht. Weil ich dich geliebt habe, werde ich für mich behalten, was du gerade gesagt hast. Ich besuche eine alte Schulfreundin und frage sie, ob ich eine Woche bei ihr unterkommen kann, weil wir uns getrennt haben. Wenn ich wiederkomme, bist du verschwunden. Solltest du doch noch hier sein, alarmiere ich die Polizei. Ist das klar?«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern drehte sich um und ging zur Tür. »Warte doch«, rief er ihr nach. »Tu das nicht. Bitte, bleib bei mir!« Thelma ging weiter. Langsam zwar, aber unbeirrbar. »Ich liebe dich. Ich habe es doch nur für uns getan. Lass mich jetzt nicht einfach so stehen.« Sie hörte nicht auf ihn. »Bleib – hier!« Er streckte die Arme nach ihr aus. Da geschah es. Die Armbänder interpretierten sein Flehen als Befehl. Eine Feuerlohe und ein Schattenstrang zuckten auf sie zu und umhüllten sie. Wie magische Arme schlangen sie sich um ihren Leib und wollten sie zum Bleiben zwingen. Als sie erkannte, was mit ihr passierte, kreischte sie auf. »Lass mich los!« Panik schwang in ihren Worten mit. Sie strampelte und zerrte, wollte sich von den Bändern losreißen, schaffte es aber nicht. Stattdessen stemmten sich die Stränge Thelmas Widerstand entgegen und zogen sich immer weiter zu. Thomson konnte nur mit großen Augen zusehen. Er war vom Schock wie gelähmt. Das wollte ich nicht!, schrie alles in ihm. Das wollte ich doch nicht! »Tu was!«, brüllte sie. »Mach, dass es aufhört. Um Himmels willen, wenn du mich liebst, lass es aufhören!« Das riss ihn aus seiner Schockstarre. Doch er war zu verzweifelt, um klar zu denken. Er zerrte mental an dem Schatten und dem Feuer, ohne zu bedenken, dass er auf diese Art nur Gewalt über die Flammen hatte. Sie kamen zurück und vereinten sich mit dem Armreif. Die schwarzen Schlieren jedoch ließen nicht von Thelma ab. Das würden sie erst tun, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hatten – und das konnten sie nun, da das Feuer nicht länger ihre Wirkung aufhob, endlich tun. Bereits in der nächsten Sekunde wurde Thomson klar, was er ge-
tan hatte. »Neeeiiin!«, brüllte er. Der Arm mit dem Feuerreif schnellte vor und entließ einen Flammenstrang. Doch zu spät! Innerhalb eines Wimpernschlags fächerten die Schattenstränge um Thelma auf, formten ein Netz und zogen sich blitzartig zusammen. Übrig blieb – nichts. Thomson stöhnte auf. Sekundenlang starrte er auf die Stelle, an der eben noch seine Frau gestanden hatte. Dann sank er auf die Knie, verfluchte die Armreife und weinte.
* Ab diesem Tag lebte Eric Thomson in der Hölle. Wieder war ein Mensch in seinem Umfeld verschwunden und wieder konnte ihm die Polizei nichts nachweisen, wenn er diesmal auch ernsthafter unter Verdacht geriet. Seine Schwiegereltern waren vor einigen Jahren gestorben und hatten einen beträchtlichen Teil des Familienvermögens ihrer Tochter hinterlassen. Davon erbte Thomson zwar zunächst nichts – schließlich galt Thelma nur als verschwunden und nicht als tot –, aber er blieb in dem gemeinsamen Haus wohnen und verfügte zumindest über genügend Mittel für einen luxuriösen Lebensunterhalt. Als er seine Frau nach einiger Zeit doch für tot erklären ließ, fiel ihm eine imposante Lebensversicherung zu, von der er für den Rest seiner Tage zehren konnte. Außerdem erbte er das Haus. Der Rest des Vermögens hingegen ging an Thelmas Onkel, so wie es im Testament ihres Vaters für den Fall ihres kinderlosen Sterbens vorgesehen war. Thomson entließ sämtliches Personal, mied gesellschaftliche Kontakte, wurde zu einem Einzelgänger. Und er führte einen erbitterten Kampf gegen sich selbst. Denn so schrecklich Thelmas Tod war, stellte er mit Entsetzen fest, dass er
berauscht gewesen war von der Macht, die er in diesem Augenblick verspürt hatte. Dieser innere Konflikt drohte ihn in den Wahnsinn zu treiben. Als er es nicht länger aushielt, beschloss er, die Armbänder loszuwerden. Was hatte der Wahyukalla-Schamane berichtet? Sein Stamm hatte versucht, die verfluchten Waffen zu zerstören, es aber nicht geschafft. Das lag allerdings schon Jahrhunderte zurück. Dem heutigen Menschen standen ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung. Schnell musste er einsehen, dass er sich irrte. Weder ein Reißwolf noch hochkonzentrierte Säure vermochten die Armreife zu vernichten. Er rückte ihnen mit einem Schweißgerät zu Leibe, tauchte sie in flüssigen Stickstoff. Ohne Erfolg. Er vergrub sie am Stadtrand. Als er am nächsten Tag erwachte, lagen sie wieder um seine Unterarme und seine Hände waren von Erde verdreckt, obwohl er sich nicht erinnern konnte, sie ausgegraben zu haben. Er warf sie ins Meer oder einfach nur in den Müll, doch sie kehrten wie durch Geisterhand immer wieder zu ihm zurück. Es schien, als wollten sie ihren Eigentümer nicht loslassen. Das Schlimmste aber war: Jedes Mal, wenn er scheiterte, freute er sich darüber, die Armreife doch nicht verloren zu haben. Ein widerliches Gefühl, voller Schuldbewusstsein und Scham. Und doch so unglaublich süß. Doch nur kurz darauf folgten stets Tage, an denen er sich dafür hasste, den Geschmack der Macht zu genießen. Dann wollte er sich wieder von ihnen befreien und das Spiel begann von vorne. Wie hatten es die Wahyukalla nur geschafft, die Dinger loszuwerden? Er brauchte nicht lange, die Antwort auf diese Frage zu finden: Die Armbänder waren herrenlos gewesen. Ihr vorheriger Träger, der Indianerhäuptling, war tot und einen neuen hatte sie noch nicht verführen können.
Hieß das, er musste ebenfalls sterben? Keine echte Alternative. Außerdem vermutete er, dass die Armreife ihn daran hindern würden, freiwillig in den Tod zu gehen. Also resignierte er und lebte sein Leben. Jeden Tag eine Mischung aus Euphorie, Trauer, Versuchung und Selbsthass. Er ging weiter gelegentlich auf Dämonenjagd, schon alleine um die innere Anspannung zu lösen, die das Tragen der Armbänder verursachte. Er ließ sich von ihnen leiten, erledigte die Höllenkreaturen und verschwand wieder. Stets so unauffällig wie möglich. Thomson wusste nicht, ob es außer ihm noch andere Dämonenjäger gab. Falls ja, wollte er sie gar nicht kennenlernen. Er hatte Angst davor, zu viel erklären zu müssen. Nur ein einziges Mal machte er eine Ausnahme – und auch die nur versehentlich. Anfang der Achtziger Jahre erledigte er einen Vampir im Central Park. Der Blutsauger flehte um sein schwarzes Leben und versprach Informationen über einen ganzen Clan, wenn Thomson ihn nur nicht vernichtete. Der Dämonenjäger ging zum Schein darauf ein. So erfuhr er von einer Langzahnfamilie in Chicago inklusive der Lage ihres Verstecks. Vermutlich Widersacher des Typen, den er gerade in Flammenfesseln hielt. Der Reifträger dankte dem Schwarzblüter für die Auskunft und tötete ihn. Zwei Nächte später machte er sich auf den Weg nach Chicago. In einer Waldhütte in der Nähe eines Campingplatzes spürte er die Blutsauger auf, drang in ihr Versteck ein – und entdeckte einen Mann, der gerade im Begriff war, sich von den Biestern aussaugen zu lassen. Thomson zögerte nicht und vernichtete die Hungrigen. Entweder hatte der Vampir aus dem Central Park gelogen oder die Größe der Familie tatsächlich unterschätzt. Auf jeden Fall quollen aus allen Türen plötzlich weitere der Bestien und fielen über den Dämonenjäger
und den just Geretteten her. Die Verblüffung stand dem anderen ins Gesicht geschrieben, als das kleine, schmächtige Männlein wie ein Wirbelwind durch die Hütte fegte, Feuerstränge und Schattennebel verschoss und Blutsauger um Blutsauger vernichtete. Dennoch wäre es eng für Thomson geworden, wenn sich das vermeintliche Opfer nicht ebenfalls als Kämpfer erwiesen hätte. Seite an Seite rotteten sie die gesamte Vampirfamilie aus. Thomson mit den Armbändern, sein Mitstreiter mit Pflock und Kruzifix. Als sie danach im Staub der Kreaturen standen, grinste der Fremde ihn an und reichte ihm die Hand. »Danke. Ich verdanke Ihnen mein Leben. Mein Name ist Steigner.« Das Englisch des Mannes war akzentbehaftet, Thomson konnte ihn aber nicht zuordnen. Aufgrund des Namens vielleicht ein deutschsprachiges Land, aber sicher war er sich da keineswegs. Er ergriff die dargebotene Hand und schüttelte sie. Gerade wollte auch er sich vorstellen, da stockte er. Schlimm genug, dass er die Blutsauger nicht aus dem Hintergrund heraus hatte vernichten können. Da musste Steigner nicht auch noch erfahren, wie er hieß. »Angenehm.« »Wie ich sehe, gehen sie derselben Berufung nach wie ich. Diese elenden Kreaturen haben mich doch tatsächlich in eine Falle gelockt! Ist denn das zu glauben? Einen von ihnen habe ich so lange verfolgt, von meiner Heimat …« Thomson hob die Hand. »Halt! Ich will gar nicht mehr wissen. Das … das wäre nicht gut für uns.« Steigner schaute verwirrt. Doch dann zuckte er mit den Achseln. »Faszinierende Armbänder haben Sie da! Ich muss gestehen, ich beneide Sie ein bisschen um die Dinger.« Gesättigt vom Gefühl der Macht, das er gerade hatte ausleben dürfen, angewidert von sich selbst und seiner Lust am Töten, erkannte Thomson eine Chance, auf die er seit Jahren gewartet hatte: die Armbänder loszuwerden, ohne sterben zu müssen. Vielleicht akzep-
tierten sie Steigner als neuen Träger, denn offenbar ging es ihnen nur darum, nicht herrenlos zu sein. Außerdem schien der Kämpfer ein geeigneter Kandidat zu sein, denn Thomson nahm eine geheimnisvolle Aura wahr, die von ihm ausging. Er wusste nicht, warum er fähig war, sie zu erkennen. Womöglich hatten ihn die Armbänder im Laufe der Jahre sensibilisiert. Aber wer wusste, dass diese Aura es Steigner ermöglichen könnte, der Verlockung zu widerstehen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Kurz entschlossen nahm er den Schattenreif ab und reichte ihn dem anderen Dämonenjäger. »Hier, nehmen Sie, wenn Sie wollen.« Steigners Hand zuckte nach vorne, hielt dann aber wieder inne. »Das ist nicht Ihr Ernst.« Ist es auch nicht!, wollte Thomson schreien. Vergessen Sie es. »Doch«, sagte er stattdessen. »Sie können ihn haben.« Er sah dem anderen an, dass dieser das Angebot normalerweise ablehnen würde. Und doch griff er zu. Gelockt vom Schattenreif? »Danke, das ist sehr großzügig.« »Behalten Sie es nicht dauernd an, sondern gönnen sich ab und zu eine Pause.« Ich war zu schwach dafür. »Warum?« »Nur so.« Obwohl er sich nun nicht mehr um seinen Unterarm schmiegte, war sich Thomson der Anwesenheit des Schattenreifs bewusst. Er konnte ihn spüren, hören, fühlen. Bis zu dem Augenblick, als Steigner ihn anlegte. Plötzlich erlosch der Ruf. Thomson wollte jubeln. Das Armband hatte den Dämonenjäger als Träger akzeptiert! Zugleich traf ihn aber das Gefühl des Verlustes wie ein Keulenschlag. Mit einem Mal brachte er es nicht mehr über sich, Steigner auch noch den Feuerreif zu schenken. Vielmehr wollte er den Schattenreif zurückhaben. Und doch auch wieder nicht. »Erweisen Sie sich als würdig«, stieß er noch hervor, dann rannte
er aus der Hütte und tauchte im Wald unter, bevor er es sich anders überlegen konnte. Bereits am nächsten Tag bereute er seine Tat. Ein Tag voller Trauer, Verlustschmerz und Sehnsucht. Ein Tag, gefüllt mit Gier. Ein Tag, dem noch viele wie dieser folgen sollten.
* Gegenwart »Halt’s Maul!«, plärrte Rick. »Lass mich nachdenken.« Zamorra verstummte. Dieser Kerl schien ihm absolut unberechenbar zu sein. Da wollte er ihn nicht noch gegen sich aufbringen. Er schielte zu Nicole, versuchte ein aufmunterndes Lächeln zu produzieren, war sich aber nicht sicher, wie gut es ihm gelang. Nicis Blick wanderte zwischen ihm und dem Dhyarra hin und her. Außerdem schob sie den Kopf leicht nach vorne, als wolle sie sagen: Na, mach schon! Der Professor ging ein paar unauffällige Schritte seitlich zu dem Sternenstein, bis er direkt davor stand. Und nun? Ihn einzusetzen hielt er für keine gute Idee. Er müsste sich nach ihm bücken, um Körperkontakt herzustellen, sich dann konzentrieren, um die Bilder, die er in die Realität umsetzen wollte, vor sich zu sehen. Rick hingegen kostete es vermutlich nur einen einzigen Gedanken, die Fesseln zu lösen. Wie machte er das mit den Flammensträngen überhaupt? Schwarze Magie hatte Zamorra schon ausgeschlossen. Was war stattdessen das Geheimnis des Männleins? Der Meister des Übersinnlichen sah Rick an, doch dessen Blick ging in die Ferne, als habe er sich aus der Wirklichkeit ausgeklinkt. Sollte er es doch wagen, sich nach dem Dhyarra zu bücken? Nein, eine hastige Bewegung konnte den Kerl aus seiner Trance
reißen. Selten hatte er sich so hilflos gefühlt. Da stand ihm ein Gegner gegenüber, der keine übermächtige Bedrohung ausstrahlte, und den er dennoch nicht anzugehen vermochte, ohne Nicole zu gefährden. Und was, beim eingewachsenen Zehennagel der Panzerhornschrexe, wollte er überhaupt von ihnen? Was hatte es mit diesem Schattenreif auf sich, von dem Rick sich so sicher war, dass Zamorra ihn besaß? Wie kam er nur auf diesen Gedanken? Da kehrte das Leben in den Mann mit der Geiernase zurück. »Schluss jetzt mit der Hinhaltetaktik. Gib mir, was mir gehört!« Der Professor atmete durch. Sollte er noch einmal sagen, er habe keine Ahnung, wovon Rick rede? Aber das hatte er schon beim ersten Mal nicht geglaubt. Okay, andere Herangehensweise. »Woher wissen Sie davon?« »Aha!«, machte Rick. »Also gibst du zu, dass du ihn hast!« Zamorra grinste schief, ohne eine Antwort zu geben. Das Hemd klebte ihm am Rücken, so stark schwitzte er wegen der Anspannung. »Ich hab dich gesehen«, sagte Rick. »Und deine Aura gespürt.« »Gesehen? Wo?« »Vor der Klinik.« Nicht sehr erhellend. Zamorra trieb das Risiko noch einen Schritt weiter und tat so, als wisse er, was Rick meinte. »Tatsächlich? Dort können Sie aber den … den Schattenreif nicht an mir entdeckt haben.« Weil ich ihn nämlich gar nicht besitze, Mann! Rick schmunzelte und wirkte für einen Augenblick fast schon sympathisch. Er klopfte sich an die Nase. »Ich hatte den richtigen Riecher. Ich bin dem Ruf des Schattenreifs bis zur Klinik gefolgt. Dort erlosch er aber. Deine Aura hat ihn zum Verstummen gebracht.« »Meine Aura?« Allmählich wurde Rick wieder ungeduldig. »Bist du ein Papagei,
oder was? Ja, deine Aura! Die gleiche, wie sie auch Steigner besaß. Von ihm hast du den Schattenreif doch bekommen, oder etwa nicht?« Und plötzlich rastete es in Zamorras Gehirn so laut ein, dass halb Frankreich das Geräusch hätte hören müssen. Steigner! Der Dämonenjäger aus Deutschland, der sein Ende an der Quelle des Lebens fand, weil ihn – einen Auserwählten und somit potenziellen Kandidaten für die Unsterblichkeit – ein Vampir missbrauchte, den Zugang zur Quelle zu öffnen. Am Portal legte er vorher noch seine Waffe gegen Dämonen ab, einen hautfarbenen Armreif, in dem schwarze Schlieren zu treiben schienen. Dort fand ihn Dylan McMour. Oder sollte man besser sagen, das Armband fand ihn? Denn als der Schotte während eines Kampfes auf den Reif fiel, schloss dieser sich selbstständig um Dylans Handgelenk und half ihm gegen den Gegner. Er behielt ihn und nannte ihn Tattooreif. Dass es sich dabei um das Objekt handelte, hinter dem Rick her war, bezweifelte Zamorra nicht. Der Schotte war zu diesem Zeitpunkt ein Unsterblicher und folglich ein ehemaliger Auserwählter gewesen. Er besaß also die gleiche Aura wie Steigner, die – wenn man Rick glauben konnte – den Ruf des Schattenreifs unterdrückte. Aber wie hatte Rick den Ruf dann dennoch vernehmen können? Die Klinik! Jetzt wurde dem Professor auch klar, was damit gemeint war. Bei dem Versuch, mehr über seine neue Waffe herauszufinden, war Dylan an einen Kerl namens Leon Kerth geraten, der ihm den Armreif mit einem billigen Trick abnahm, um ihn für sich selbst zu behalten. Da Kerth nicht über die Aura des Auserwählten verfügte, musste der Ruf für Rick wieder hörbar geworden sein. Er folgte ihm bis zu der Klinik in Schleswig, in der Dylan seine Verletzungen auskurierte – und den Schattenreif erneut anlegte. Der Ruf verstummte, und da Rick den Professor sah und dessen
Aura erkannte, ging er davon aus, dass Zamorra das Armband trug. Eine logische, wenn auch falsche Annahme. Damit war das Geheimnis gelüftet. Es würde Rick allerdings gar nicht gefallen, wenn er hörte, dass sich der Schattenreif in Schottland befand. Und ob Dylan, der ihn wegen seiner Reise in die Vergangenheit bereits seit achthundert Jahren trug, ihn hergeben wollte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Aber es geht um Nicoles Leben! Ricks magische Alarmanlage, die Flammen der konzentrischen Kreise und die um die Schwertklingen, erlosch. »Die brauche ich wohl nicht mehr.« Schweiß stand auf seiner Stirn. Strengten ihn die Feuerstränge etwa so an? Wie lange konnte er dann Nicoles und Williams Fesselung noch aufrechterhalten? Er ging an den Gefangenen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und blieb vor Zamorra stehen. »Also? Wo hast du den Schattenreif versteckt?« Der Professor atmete tief durch. »Ich habe ihn nicht.« Rick riss die Augen auf. »Okay, du hast es nicht anders …« »Warte! Aber ich weiß, wer ihn hat. Das, was du von Steigner gesagt hast, brachte mich auf die Idee. Ein Freund aus Schottland trägt den Schattenreif. Er …« »Schottland, ja? Wie praktisch, dass er so weit entfernt ist. Du musst mich schon für arg beschränkt halten, wenn du denkst, dass ich dir das glaube. Außerdem hast du vorhin zugegeben, dass du ihn …« »Das habe ich nicht!« Rick bückte sich, hob den E-Blaster auf, richtete ihn auf William und drückte ab. Ein trockenes Knackgeräusch ertönte und ein blauer, sich verästelnder Blitz flirrte auf den Butler zu. Sein Körper erschlaffte und der Kopf sackte nach vorne, mehr ließ die Fesselung nicht zu. Der Paralysemodus der Waffe überlud die Körperelektrizität des
Getroffenen und knockte ihn für einige Zeit aus. Rick löste die Feuerfessel. William stürzte zu Boden – und verfehlte eine der Schwertklingen mit dem Kopf nur um Zentimeter. »William!«, schrie Nicole mit sich überschlagender Stimme. »Neeeiiin! Warum hast du das gemacht, du Mistkerl. Er hat dir nichts getan!« Zamorra wunderte sich über die Verzweiflung, die aus seiner Lebensgefährtin sprach. Schließlich wusste sie doch, dass der Butler nur ohnmächtig war. Aber schnell begriff er, was sie damit zu erreichen versuchte. »Da hast du es!«, brüllte Rick den Professor an. »Wenn du nicht willst, dass deine Freundin auch stirbt, sag endlich die Wahrheit!« Er hielt William für tot! Diese Chance musste Zamorra nutzen. Der Meister des Übersinnlichen hob die Arme und bemühte sich um einen resignierten Gesichtsausdruck. »Du hast gewonnen. Der Schattenreif liegt oben im Safe.« »Hol ihn!« Merde! Zamorra hatte gehofft, Rick würde ihn begleiten und so William und Nicole allein lassen. Er zögerte. »Worauf wartest du?«, brüllte der alte Mann. »Auf nichts.« Der Parapsychologe drehte sich um und wollte losgehen, da hielt ihn Ricks Stimme zurück. »Halt!« Zamorra wandte sich ihm noch einmal zu. »Was ist?« »Was hast du vor?« »Den Schattenreif holen. Wie Sie gesagt haben.« »Lüg mich nicht an! Ich seh dir doch an, dass du planst, mich reinzulegen.« »Nein, ich …« »Halt’s Maul!« Rick sah noch einmal zu dem vermeintlich toten
William, dann grinste er Zamorra an. »Ich glaube, ich werde dich begleiten, dass du nicht auf dumme Ideen kommst!« Er wedelte mit dem Blaster. »Vorwärts!« Dem Professor fiel es schwer, sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Er ging ins Château und Rick folgte ihm mit vorgehaltener Waffe.
* Nicole wartete, bis Zamorra und dieser skurrile Typ um die Ecke verschwunden waren. Dann gab sie noch einmal einen Sicherheitszuschlag von ein paar Sekunden. Aber länger hielt sie es nicht aus. »William!«, flüsterte sie. Der Butler regte sich nicht. »William!« Schon lauter diesmal. Aber wieder ohne Ergebnis. Mist! Hektisch sah sie sich um. Der Dhyarra-Kristall. Wenn sie ihn doch nur irgendwie erreichen könnte. Aber wie sollte das aus gut drei Metern Höhe gelingen, wenn man der Telekinese nicht mächtig war und der einzige Helfer ohnmächtig im Gras lag? »William«, sagte sie in normaler Lautstärke. »Wachen Sie auf.« Ohne Erfolg. Da verspürte sie einen kleinen Ruck. Sie sackte um ein paar Zentimeter ab. Gleichzeitig glaubte sie, die Fesselung habe ein wenig an Festigkeit verloren. Erloschen die Flammenstränge allmählich, weil dieser Rick zu schwach dafür war, sie über längere Zeit bestehen zu lassen? »William!« Es hatte keinen Sinn. Der Butler würde ohnmächtig bleiben, bis sich sein Körper von der Überladung erholt hatte.
Der nächste Ruck. Das nächste Absacken. Sie musste etwas unternehmen. Und zwar so schnell wie möglich. Aber was?
* Zamorra beeilte sich nicht besonders, ins Arbeitszimmer zu kommen. Er musste versuchen, Rick hinzuhalten, solange es ging. Bis William wieder das Bewusstsein erlangte und die Schwerter ausgrub. Oder bis er Nicole den Dhyarra in die Hand drückte. Oder bis er eine Leiter unter sie geschoben hatte. Oder was auch immer sie sich einfallen ließen. Dumm nur, dass der Professor keine Ahnung hatte, wie lange das dauern würde. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf sein Gefühl zu verlassen. Bedächtig stieg er die Stufen des Châteaus hinauf. »Trödel nicht!«, bellte Rick. Zamorra blieb kurz stehen und schnappte nach Luft. »Tut mir leid, aber diese Unsichtbarkeit ist wahnsinnig anstrengend«, log er. »Ich bin völlig außer Atem.« »Wie außer Atem wird erst deine kleine Freundin sein, wenn sich die Schwertspitzen durch ihre Lungen bohren?« Der Professor stöhnte auf und ging weiter. Bis zu seinem Arbeitszimmer. »Wo ist der Safe?«, fragte Rick, als sie den Raum betraten. Zamorra zeigte auf die Stelle, wo sich der Tresor so gut hinter der Tapete verbarg, dass man ihn nicht sehen konnte. Er überlegte, ob er den Eindringling selbst hinter die schwere Stahltür greifen lassen sollte. Da sich diese bereits nach kurzer Zeit eigenständig wieder schloss und jedem die Hand abtrennte, der sie nicht schnell genug herauszog, könnte er Rick so womöglich außer Gefecht setzen.
Aber es war noch zu früh! William war bestimmt noch nicht erwacht, oder? Nein, er und Nicole kannten sich so gut, dass sie häufig wussten, was der andere dachte und erwartete. Er war sich sicher, dass sie ihm ein Zeichen schicken würde, wenn sie sich nicht mehr in Gefahr befand. Zum Beispiel, indem sie das Amulett zu sich rief. Aber das war noch nicht geschehen. Also durfte er nichts unternehmen, was Rick als Bedrohung ansehen mochte. »Aufmachen!« Rick winkte Zamorra mit dem E-Blaster an die Wand, hielt sich dabei aber ein gutes Stück vom Professor fern. Offenbar traute er ihm nicht. Was nun? Sollte er gestehen, dass er gelogen hatte und den Schattenreif nicht besaß? »Aufmachen, hab ich gesagt!« »Hören Sie, Rick, ich würde nichts tun, um Nicoles Leben zu gefährden. Glauben Sie mir das?« »Was soll dieser Scheiß?« »Der Schattenreif liegt nicht im Safe.« »Mach das Scheißding auf!«, brüllte Rick. Sein Gesicht lief knallrot an. Geifer rann ihm über die Lippen. »Ich habe vorhin nicht gelogen, als ich sagte, ein schottischer Freund …« »Los!« Zamorra seufzte. Er tippte die Kombination in die hinter der Tapete verborgenen Tastatur. Die Tür schwang auf und erlaubte einen Blick ins Innere des Safes. »Rausholen!« »Er liegt nicht da drin«, sagte Zamorra. »Glauben Sie mir.« Da schloss sich die Tür auch schon wieder. »Was soll diese Scheiße?«, kreischte Rick. Er fuchtelte mit dem Blaster herum. Seine Nerven waren erkennbar bis zum Zerreißen gespannt. Sein Blick fiel auf den Wahlhebel der Strahlenwaffe, mit
dem man zwischen Laser- und Paralysemodus hin- und herschalten konnte. Die Augen des Mannes weiteten sich. Er schaltete in den anderen Modus und feuerte. Zamorra zuckte zusammen, da wurde ihm klar, dass Rick auf die Tapete zielte. Ein blassroter Strahl zischte mit peitschendem Geräusch aus dem Abstrahldorn und brannte ein unschönes Loch in die Wand. Spätestens in diesem Augenblick musste Rick zumindest vermuten, dass er William nicht getötet hatte. »Ihr habt mich reingelegt!«, schrie er. »Dafür wirst du büßen!« Er riss den Strahler herum und legte auf Zamorra an. Dieser warf sich zur Seite, aber da erklang schon wieder das peitschende Geräusch. Und dann wurde alles rot.
* Er träumte erneut von dieser Frau. Kalisi. Diesmal wusste er, dass es sich um einen Traum handelte, und er nahm sich vor, ihren Namen nicht wieder zu vergessen. Was für ein unglaublich schönes Geschöpf! Als er die Augen aufschlug, wunderte er sich, nicht die Wärme und Weichheit seines Betts zu spüren. Dann kehrte die Erinnerung mit einem Schlag zurück. Dylan McMour lag im Badezimmer. Auf den kalten, harten Fliesen. Er war ohnmächtig geworden. Eine Woge der Depression überspülte ihn. Und sie brachte mörderische Kopfschmerzen mit sich. Der Schotte stöhnte auf, kniff die Augen zusammen. Was passierte da nur mit ihm? Warum erschien ihm das Leben mit einem Mal so grausam und sinnlos? Du weißt, warum! Weil Zamorra dich belogen, betrogen und bestohlen hat.
War er vorhin von der Erkenntnis noch überrascht gewesen, akzeptierte er sie nun: Er hasste den Professor. O ja, das tat er. Mit voller Inbrunst. Er stemmte sich hoch. Ächzte. Was sollte er nun mit seinem Hass anfangen? Zamorra saß weit entfernt in seinem Schloss und erfreute sich an etwas, das Dylan gehörte. Oder er trieb sich irgendwo in der Welt herum. Wahrscheinlich war es besser so, dass der nicht greifbar war. Wer weiß, was sonst geschehen wäre. Hätte er dem Hass nachgegeben und den Professor für seinen Diebstahl bestraft? Auf ihn eingeprügelt, bis sein Gesicht nur noch eine blutige Masse war? Alleine die Vorstellung ließ in ihm das Verlangen wachsen, genau das zu tun! Vielleicht würde dann auch endlich dieser unerträgliche Ruf erlöschen, der ununterbrochen an ihm zerrte, nach ihm verlangte, ihn zu sich holen wollte. Er drehte sich um, hin zur Badezimmertür – und stand plötzlich im Gang eines Schlosses. Er erkannte es auf den ersten Blick: Château Montagne! Lange genug hatte er hier gelebt, geduldet von diesem Dieb, diesem Widerling, diesem … Durch eine offene Tür hörte er Stimmen. Eine kannte er nicht, die andere jedoch gehörte dem Professor. Er wusste nicht, wie er es vollbracht hatte, plötzlich hier aufzutauchen. Wahrscheinlich hatte der Tattooreif ihm diesen Wunsch erfüllt. Er konnte sich nicht an viel erinnern, aber sie waren achthundert Jahre lang ein unzertrennliches Paar gewesen, er und das Armband. Die Tattooschlieren gingen bereits weit über die Abmessungen des Reifs hinaus und erreichten schon seine Schulter. Ein Zeichen inniger Verbundenheit. Warum sollte es ihm also nicht seinen Wunsch erfüllt haben? Sein Verlangen, den Professor zu töten! Er ging die wenigen Meter zur Tür des Arbeitszimmers. Wie er-
starrt blieb er darin stehen, als er die beiden Männer sah. Zamorra und ein kleiner alter Kerl mit einer schrecklichen Geiernase. Sie waren so aufeinander und ihr Streitgespräch konzentriert, dass sie ihn nicht bemerkten. Aber Dylan bemerkte etwas! Der Ruf, dieser widerliche, ziehende Ruf, den er seit seiner Rückkehr in die Gegenwart verspürte, stammte von dem Geiernasentypen! »Was soll diese Scheiße?«, plärrte der Kerl. In der Hand hielt er einen E-Blaster, den er abfeuerte. Ein kokelndes Loch erschien in der Tapete. Dylan konnte den Hass förmlich spüren, den der Mann ausströmte. Ein Hass auf Zamorra, der etwas besaß, was ihm gehörte, der ihm den Schattenreif gestohlen hatte, dieses wertvolle Ding, das die Wahyukalla so lange verbargen, bis er es auf seiner Flucht vor dem Leben und Thelma und Michael Harrington in einer Höhle fand und es an sich nahm, was nicht einmal dieser Schamane verhindern konnte und die Indianer-Zombies schon gar nicht, dieses wundervolle Schmuckstück, das ihm Macht und Kraft verlieh, das aber nur zusammen mit dem Feuerreif komplett war und die wahre Stärke entfaltete, wie hatte er nur so dumm sein können, die Armbänder zu trennen, nur weil es ein paar Unfälle gegeben hatte, die aber samt und sonders nicht seine Schuld waren, sondern aus Notwehr, Liebe und Verzweiflung geschahen. Wie von einem Wasserfall rauschten innerhalb eines Sekundenbruchteils Bilder, Namen und Eindrücke durch sein Bewusstsein, die ihm das Leben des Geiernasenmannes (Eric Thomson, sein Name lautet Eric Thomson) näher brachten. Er verstand sie nicht, dazu fehlte der Zusammenhang. Aber er begriff eines: Der Hass, den er auf Zamorra verspürt hatte, war nicht sein Hass gewesen. Durch eine Verbindung, die er nun instinktiv als die zwischen seinem und einem zweiten Armreif erfass-
te, hatten sich Thomsons Gefühle auf ihn übertragen. Es war der Ruf dieses anderen Reifs, den er an sich zerren spürte. Aber warum erst jetzt? Wieso nicht bereits vor seiner Reise in die Vergangenheit? Da hatte er den Tattooreif … nein, den Schattenreif auch schon getragen. Nicht lange genug! Du warst noch nicht richtig eins mit ihm. Das mochte stimmen. Aber weshalb dann nicht während seiner Zeitodyssee? Achthundert Jahre dürften doch ausgereicht haben, mit dem Armband eins zu werden. Und plötzlich war er sich ganz sicher, den Ruf während seiner Wanderung tatsächlich nicht vernommen zu haben, auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte. Auf deiner Reise hast du nicht den Originalschattenreif getragen, sondern nur eine … Zeitkopie. Erst, als du wieder in der Gegenwart ankamst, empfing der Reif den Ruf seines Bruders. Nein, wusste Dylan mit einem Mal ganz instinktiv. Nicht den Ruf seines Bruders, sondern den seiner Geliebten. Den Ruf von Kalisi! Was auch immer das bedeuten mochte. Aber die Armreife schienen einander sehr tief verbunden zu sein. All diese Gedanken zuckten ihm im Bruchteil von Sekunden durch den Kopf. Als er sah, dass Thomson den Blaster herumriss, um auf Zamorra zu schießen, zögerte er keinen Augenblick. Eine schlenkernde Bewegung mit dem rechten Arm, als werfe er eine Frisbeescheibe, und die Schatten lösten sich und schossen auf den Eindringling zu. Diesmal blieb jedoch eine Verbindung zu Dylan bestehen, dass er sich an eine Peitsche erinnert fühlte. Und wie ein Peitschenriemen umschlang der Schattenstrang Thomsons Waffenarm. Der Schotte riss daran. Zwar zuckte noch ein Strahl aus dem Blaster, aber der schlug weit neben Zamorra in der Wand ein. Thomson ließ die Strahlenwaffe los. Sie rutschte über den Boden und blieb vor Dylan liegen.
»Du hast ihn!«, zischte der Mann mit der Geiernase. »Den Schattenreif!« Plötzlich schossen Flammen unter seinem Hemdsärmel hervor und rasten auf den Schotten zu. Der reagierte instinktiv, ohne zu wissen, was er da tat. Ich muss während meiner Zeitodyssee ganz schön viel gelernt haben! Gedankenschnell löste er den Schattenstrang vom Arm des Mannes und warf ihn dem Feuer in den Weg. Schatten und Flammen trafen aufeinander und neutralisierten sich gegenseitig. Dylan ächzte. Es kostete ihn außerordentlich viel Kraft, sich gegen das Feuer zu stemmen. Doch auch Thomson stöhnte auf. Es wirkte wie eine Form des mentalen Armdrückens. »Dylan!«, schrie Zamorra. »Tu ihm nichts!« Was war das denn für eine merkwürdige Bitte? Für einen Augenblick brachte sie ihn so aus der Konzentration, dass die Flammen die Schatten zurückdrängten, doch sofort hielt er wieder dagegen. »Zu spät, Zamorra«, keuchte Thomson. »Ich … kann – nicht mehr.« Das Feuer erlosch und die Schatten hüllten den Mann ein. »Nein!«, brüllte der Professor. »Nicole!« Die Schlieren formten sich zu einem Netz, das sich in Sekundenschnelle zusammenzog. Thomson gab noch einen letzten Schrei von sich, dann starb er. Es blieb nichts von ihm übrig. »O mein Gott«, hauchte Zamorra. »Hoffentlich hast du sie nicht umgebracht.«
* »William!«
Nicole gab nicht auf. Inzwischen war es ihr gleichgültig, ob Rick sie hörte. Vielleicht schob er es ja auf ihre Verzweiflung, dass sie nach dem toten Butler rief. Endlich gab er ein Stöhnen von sich. »William«, schrie sie noch einmal. »Wachen Sie auf. Los jetzt!« Ein Ächzen. Seine Augenlider flatterten, öffneten sich aber nicht. »Auf die Beine mit Ihnen! Was ist denn das für eine Arbeitsauffassung, hier im Garten zu liegen und zu schlafen?« »Was …?«, keuchte William. Er drehte sich zur Seite, weg von den Schwertern, und blieb dann wieder stillliegen. »Hoch mit Ihnen! Los, Sie fauler Sack!« Wenn sie das überlebte, würde sie sich ausgiebig bei ihm entschuldigen müssen. Aber sie hoffte, ihn so bei der Ehre zu packen, dass nicht einmal die Ohnmacht eine Chance gegen ihn hatte. Der Butler drehte sich wieder zurück. Endlich schlug er die Augen auf. »Mademoiselle?«, fragte er. Zum ersten Mal wirkte er verwirrt und kein bisschen so wie der Fels in der Brandung, den er sonst darstellte. »Kommen Sie zu sich, William. Ich brauche Ihre Hilfe, und zwar schnell!« »Was … ich … aber …« Da erfasste er die Situation. Mühsam ging er auf alle viere und kroch zu den Schwertern. Er legte die Hände um die Klingen, achtete nicht darauf, ob er sich schnitt, und ruckelte an ihnen. Sie bewegten sich nicht. »Sie stecken zu tief. Ich benötige eine Schaufel zum Ausgraben.« Er stemmte sich hoch. »In der Garage dürfte sich eine befinden.« Er machte sich auf den Weg. »Warten Sie«, rief Nicole. »Geben Sie mir den Dhyarra.« Der Butler holte ein Tuch aus der Jackentasche, fasste damit den Sternenstein und hob ihn auf. Unter Nicole blieb er stehen und ver-
suchte, ihr den Kristall hochzureichen. »Es geht nicht, Mademoiselle. Sie hängen zu hoch!« Sie wackelte mit den Fingern, die aus der Fesselung herausragten und kaum Bewegungsspielraum besaßen. »Springen Sie!« Wer hätte gedacht, dass sie dem Butler jemals einen derartigen Befehl geben würde? William gehorchte. Mit nach oben gerecktem Arm sprang er. Beim ersten Mal gelang es nicht. Nicole spürte zwar den Kristall unter den Fingern, doch der Kontakt riss sofort wieder ab. Auch beim zweiten und dritten Mal konnte sie den Stein nicht packen. Aber beim vierten Versuch bekam sie ihn zwischen Mittel- und Ringfinger. »Haben Sie ihn?« »Ja.« »Dann hole ich jetzt die Schaufel.« Nicole schloss die Augen und konzentrierte sich. Sie stellte sich vor, dass die Schwerter unter ihr … Da rutschte der Sternenstein zwischen ihren Fingern hervor. Hastig presste sie sie fester zusammen, doch es war zu spät. Der Kristall fiel ins Gras. Sie hätte vor Wut heulen können. »William!«, rief sie. »Ich hab den Dhyarra fallen lassen.« »Ich komme sofort!« Da geschah es! Erst ein Ruck, ein weiteres Absacken, dann verschwand die Feuerfesselung. Nicole versuchte, sich im letzten Augenblick in Schwingung zu versetzen, doch es gelang nicht. Während des kurzen Falls in den Tod blieb keine Zeit, sich Gedanken zu machen. Sie riss die Arme nach vorne, in der Hoffnung, sich so abstützen zu können, dass ihr Oberkörper über den Schwertklingen zur Ruhe kam. Ein aussichtsloses Unterfangen aus dieser Höhe. Sie bekam die Arme zwar noch unter sich, doch der Aufprall ließ sie in den Ellen-
bogen nachgeben. Der Länge nach auf den Boden. Und auf die Schwerter. Dann kam der Schmerz. In den Händen, den Schultern, der Brust. Ihr blieb der Atem weg. Sie japste nach Luft, doch diese quoll nur mühsam in die Lungen. Tränen füllten ihre Augen. Warum lebte sie noch? Hatten die Klingen keine lebenswichtigen Organe getroffen? Nicole rollte zur Seite und war überrascht, als es gelang. Kein Schwert hielt sie zurück. Sie tastete den Brustraum und den Bauch ab. Suchte nach den Stichen, nach Blut. Doch außer etlichen empfindlich geprellten Stellen fand sie nichts. »Mademoiselle!« William tauchte neben ihr auf. »Mit Freude stelle ich fest, dass Sie noch leben.« Sie hustete eine Antwort, was ihre Rippen mit widerlichem Ziehen quittierten. Dann setzte sie sich auf und blickte zu den Schwertspitzen. Sie ragten noch immer aus der Erde, mit der Länge von Unterarmen. Mit der Hand drückte sie dagegen. Die Klinge ließ sich ohne jeden Widerstand zu Seite biegen und schnellte in die Ausgangslage zurück, als Nicole sie losließ. So, als handele es sich um Gummischwerter. Williams Augen weiteten sich. »Als ich sie herausziehen wollte, bestanden sie noch aus Stahl!« Der Dhyarra! Nicole hatte versucht, die Schwerter mit ihren Gedanken aufzulösen. Das war ihr nicht gelungen. Aber offenbar hatte dennoch ein bisschen Magie gewirkt, bis ihr der Kristall aus der Hand fiel. Genug jedenfalls, um den Klingen die Festigkeit zu rauben. Sie ächzte. »Das war knapp.« »Das war es in der Tat, Mademoiselle. Erlauben Sie mir bitte, mich
bereits jetzt gegen die Bezeichnung als fauler Sack zu verwahren.« Nicole lächelte. »Ich erlaube.« Dann rief sie das Amulett zu sich.
* Als Merlins Stern von Zamorras Brust verschwand, atmete er erleichtert auf. Das Zeichen, auf das er gewartet hatte. Verdammt spät, wenn es nach ihm ging! Er lief zum Fenster, öffnete es und schrie hinaus: »Alles in Ordnung hier oben. Übrigens: Dylan ist zu Besuch gekommen.« Nicole trat unter dem Baum hervor und sah nach oben. »Okay.« Mehr brachte sie nicht heraus, bevor ein Husten sie durchschüttelte. Dann reckte sie ihm den Daumen entgegen und lächelte. Er lächelte zurück und wandte sich wieder Dylan zu. »Wo kommst du so plötzlich her?« Der Schotte betrachtete den Schattenreif. »So genau weiß ich das nicht. Ich glaube, Thomsons Hass hat mich hergeführt.« »Thomson?« Dylans Augenbraue zuckte in die Höhe. »Kleiner schmächtiger Mann mit Geiernase? Kann Feuer mit dem Arm verschießen? Klingelt da was bei dir?« Zamorra grinste. »Oh! Der Thomson. Uns hat er sich als Rick vorgestellt. Er dachte, ich besäße deinen Armreif, und wollte ihn an sich bringen. Weiß der Teufel, warum!« »Er war der frühere Träger.« »Woher weißt du das?« Der Schotte zuckte mit den Schultern. »Ist mir kurz nach meiner Ankunft so zugeflogen.« »Er scheint den Verlust nicht allzu gut verwunden zu haben.« »Offenbar nicht.« Dylan bückte sich und hob etwas auf. »Was ist das?«
»Ich habe mich geirrt. Es ist doch etwas von Thomson übrig geblieben.« Er reckte einen Streifen in die Höhe, der Ähnlichkeit mit seinem Armband besaß. Nur waren die Farben vertauscht: Auf schwarzem Stoff trieben hautfarbene Schlieren. »Der Feuerreif.« »Willst du ihn behalten?« Dylan sah Zamorra mit einem Blick an, der ganz klar bedeutete: Wie kannst du nur so dumm fragen? »Natürlich. Die beiden Reife gehören zusammen. Wer weiß, wozu sie gemeinsam fähig sind?« Der Professor nickte. »Ja. Wer weiß?« Dabei überkam ihn ein komisches Gefühl, das er sich nicht erklären konnte. ENDE
Die Totengöttin von Christian Schwarz Schon lange haben sich die Historiker und Archäologen den Kopf zerbrochen, was es mit Ötzi auf sich hat. Doch nicht nur die Menschen machen sich Gedanken, was es mit dem Leben der Gletschermumie auf sich hat: Auch Stygia hat dieses Rätsel für sich entdeckt. Die Dämonenfürstin ist aktiver denn je und will die Scharten ihrer jüngsten Niederlagen auswetzen. Und bei den höllischen Archivaren findet sie schließlich eine Möglichkeit, sich einer Kraft zu bedienen, die schon den Steinzeitmenschen auf dem Gewissen hat. Doch damit beschwört sie Kräfte herauf, mit denen sie nicht gerechnet hat …