Linda Budinger
Schattentheater Version: v1.0
»Macht’s gut, ihr Versager«, rief Lars von draußen. Die schwer...
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Linda Budinger
Schattentheater Version: v1.0
»Macht’s gut, ihr Versager«, rief Lars von draußen. Die schwere Glastür der Aula fiel ins Schluss. Ein Schlüssel wurde zweimal herumgedreht. Mark zuckte bei dem Geräusch zusammen. Er griff in die Jackentasche, doch der Schlüsselbund war verschwunden. Wie ärgerlich, gerade hatte er die Schlüssel noch in der Hand gehabt. Er fasste die Taschenlampe fester. Julian fuhr herum. »Das war nicht abgemacht«, krächzte er. Seine Stimme klang ängstlich. »Der schließt uns hier ein!«
Lars stand auf der anderen Seite der Tür und feixte. Demonstrativ hielt er den Schlüsselbund hoch. »Wehe, ihr holt uns nicht rechtzeitig raus!«, rief Julian, obwohl Lars ihn sicherlich nicht mehr hören konnte. Seine verzagte Stimme wehte verloren durch das dunkle Foyer. Mark versuchte, Julian zu beruhigen, obwohl er selbst über den geklauten Schlüsselbund aufgebracht war. »Ist doch kein Problem. Die wollen nur sichergehen, dass wir uns nicht drücken und abhauen.« Er klopfte seinem Freund aufmunternd auf die Schulter. »Die verrückte Wette war immerhin deine Idee. Eine Nacht in der Spuk‐Aula …« »Ja. Ich hab die Sprüche satt.« Julian war wasserscheu. Er hatte sogar ein Attest, das ihn von der Teilnahme am Schwimmunterricht freistellte. Das war jahrelang kein Problem gewesen – bis Lars neu auf die Schule gekommen war und einige Mitschüler um sich geschart hatte. Diese Clique zog Julian seitdem ständig auf. Sie spotteten über seine Angst, fragten bei Regen, ob er nicht lieber daheim bei Mami bleiben wollte. Sie machten ihm die Schulstunden zur Hölle. Julian hatte deswegen, außer sich vor Wut, eine Wette angeboten, um seinen Mut unter Beweis zu stellen: Eine Nacht wollte er in der verrufenen Schulaula verbringen, wo es angeblich spukte. Julian schimpfte immer noch. »Ich bin kein Feigling. Das beweise ich denen ein für alle Mal!« Er ballte die Fäuste, und Mark zog ihn ein Stück von der Tür fort, damit Lars Julian nicht beobachten konnte und noch mehr über ihn lachte. Es war besser, sie machten, dass sie schnell weiterkamen. Es war Marks größte Sorge, dass der Hausmeister sie entdecken würde, während sie das Foyer durchquerten. Lichtstrahlen geisterten über den Marmorboden, streiften die Garderobenhaken und wurden von einem Spiegel zurückgeworfen. Von der Reflexion der eigenen Lampe erschreckt, keuchte Mark
leise auf. Sein Herz klopfte fast schmerzhaft heftig. Julians Furcht war ansteckend. Beunruhigt über den verschwundenen Schlüssel, zweifelte Mark an seiner Entscheidung. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich das hier mitmache«. In seiner Stimme schwang ein leiser Vorwurf. Julian blieb auf Höhe der Toiletten stehen und sah Mark ins Gesicht. »Ich dachte, wir sind Freunde, he? Außerdem wäre ich ohne dich nie drauf gekommen.« »Nur weil ich mich bei den abendlichen Proben manchmal beobachtet fühle, heißt das noch lange nicht, dass ich an Spuk glaube.« Julian blickte ihn durch die runden Gläser seiner Brille an wie eine Eule. »Davon rede ich doch gar nicht! Aber du bist bei der Theater‐ AG und kommst am einfachsten an einen Schlüssel ran. Und du bist der Beste, um die Alarmanlage auszuschalten.« Mark hatte ein Händchen für alles, was mit Strom zusammenhing. Deshalb arbeitete er als Beleuchter und Techniker bei der Theater‐ AG. Er war häufig alleine in der Aula, wenn es um die Einstellung der komplizierten Lichtanlage ging. Die Lehrer vertrauten ihm. »Ja, und weil ich dafür verantwortlich bin, muss ich erst recht aufpassen, dass du hier keinen Unfug anstellst. Die Elektronik ist ziemlich teuer.« Mark seufzte. »Na, komm weiter« Er zog die Tür zum Zuschauerraum auf und schob den zögernden Julian hinein. »Keine Sorge, ich mache es gleich ein bisschen heller. In der Aula selbst sind keine Fenster, durch die man das Licht bemerken könnte.« Mark warf noch einen prüfenden Blick in das dunkle Foyer, dann schloss er die Tür. In der Finsternis wirkte das Theater fremd. Der Strahl der Taschenlampe glitt über die dunklen Ränge, die aussahen, als hätte jemand ein Leichentuch über die Reihen gebreitet. Im Schatten der Klappsessel konnte sich so manches verbergen. Der Samtvorhang, ein staubiges Relikt alter Tage, verhüllte die
Bühne, und darunter erstreckte sich ein schattiger See aus Dämmerung. Jetzt schauderte auch Mark ein wenig. Er tastete sich die Wand entlang zum Lichtschalter und erweckte die Lampen zum Leben. Gedämpftes, sanftes Licht erhellte plötzlich den Zuschauerraum. Mark atmete aus und fühlte sich irgendwie erleichtert. Julian hatte sich inzwischen auf einen der Stühle gesetzt. »Besser so. Auf dich kann man sich wirklich verlassen«, sagte er lächelnd. Er hatte sich Mark vor einer Woche anvertraut. Julian wollte die Schule schmeißen, wenn die Quälereien weitergingen. Mark hatte eine tiefer liegende Verzweiflung in seinem Freund gespürt und Angst um ihn bekommen. Und nur deswegen half Mark bei Julians verrückter Wette. Es ging für diesen um alles oder nichts. Lars und seine Freunde hatten hoch und heilig versprochen, dass sie Julian in Ruhe lassen würden, wenn er wirklich eine Nacht in der Aula verbrachte, und ›danach noch lebte‹, wie sie mit verzerrten Stimmen gespottet hatten. Mark wollte gerne helfen. Aber er war weder Kampfsportler noch ein Held, kein einsamer Rächer – aber auch keine Petze. Deswegen hatte er zugestimmt, als Zeuge den rechtmäßigen Verlauf der Wette zu beobachten. Das war sein Versuch, die Quälereien zu beenden. Auch wenn das bedeutete, die ganze Nacht bei dem schreckhaften Julian Händchen halten zu müssen …
* Julian blickte auf die Uhr. »Fast Elf. Du hast ganz schön lange für die Alarmanlage gebraucht.«
»Ich musste auf den Hausmeister warten. Eberts macht gegen halb elf immer seinen Kontrollgang und schaltet dann erst den Alarm an«, erklärte Mark säuerlich. Eberts hatte Mark und die anderen von der Theater‐AG bei der Stellprobe schon mal kurzerhand aus der Aula geworfen, weil er rechtzeitig abschließen wollte. Hoffentlich holte Lars sie raus, ehe Eberts zum morgendlichen Rundgang aufbrach. Für einen Abschlussstreich war es nämlich ein halbes Jahr vor den Prüfungen zur mittleren Reife noch zu früh. Wenn Lars den Schlüssel nicht zurückgab, dann war Ärger vorprogrammiert. Und den konnten sich weder Mark noch Julian so kurz vor dem Abschluss erlauben. Kalte Luft streifte Marks Gesicht, und er schaute unruhig umher. In dem alten Gebäude zog es immer wie Hechtsuppe. Es war kein Wunder, dass da Gerüchte aufkamen. Vor über dreißig Jahren sollte sich angeblich ein Schüler in der Aula umgebracht haben. Mark fröstelte. »Und jetzt?«, wollte er wissen und ließ sich neben Julian in einen Sessel fallen. Der Angesprochene zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. »Ich genehmige mir erst mal eine, und dann spielen wir eine Runde. Karten habe ich …« Das Licht erlosch von einem Moment auf den anderen. »Was ist denn jetzt?« Julian klang beinahe hysterisch. Mark sprang erschrocken auf. Wie ein boshafter Köter schnappte der Klappsitz nach seinem Jackenzipfel und hielt ihn fest. Verzweifelt zerrte der Junge an dem Stoff. Ein eisiger Luftzug strich wie eine aufdringliche Geisterkatze um seine Beine. Etwas polterte mit dem Geräusch eines herabsausenden Fallbeiles auf den Boden. »So ein Mist«, schimpfte Julian.
Mark hörte ihn umhertasten und gegen etwas stoßen. Hoffentlich verlor er nicht die Nerven. Er war kaum einen halben Meter von ihm entfernt gewesen, aber in dem hohen Raum hallte es derart, dass Mark plötzlich nicht mehr sagen konnte, wo Julian genau war. Ihm schwindelte in dieser absoluten Finsternis. Doch dann hatte er die Taschenlampe in der verdrehten Jacke gefunden. »Keine Panik«, sagte er. »Das war nur die Sicherung. Die springt manchmal raus.« Er knipste den Strahler an, und das Licht traf seinen Freund mitten ins Gesicht. Mit großen Augen starrte ihn Julian einen Sekundenbruchteil an, bevor er geblendet den Arm vors Gesicht riss. »Leuchte lieber mal da unten hin!«, maulte er. »Hab meine Lampe verloren«. Er trat ein Stück vor – und etwas knirschte unter seinen Füßen. Mark befreite den eingeklemmten Jackenzipfel und hob Julians Lampe auf. Sie leuchtete nicht mehr. »Es muss mehr kaputt gegangen sein als nur das Glas«, sagte er und reichte Julian die Überreste. »Ich schau mir das gleichnoch mal genau an, aber erst kümmere ich mich um die Sicherung.« »Vielleicht liegt es nicht an der Sicherung. Vielleicht hat Lars uns das Licht abgedreht«, meinte Julian mit besorgtem Unterton. Mark stutzte. »Da könntest du Recht haben.« Das wäre ganz schön durchtrieben, sie hier im Dunkeln sitzen zu lassen. Lars hoffte wohl, dass Julian jetzt vor Angst verrückt wurde und zum Ausgang lief, damit er ihm gnädig die Tür aufschließen konnte. Bei Lars konnte man sich nie sicher sein, wie der Vorfall mit dem Schlüssel zeigte. Menschen waren kompliziert und unberechenbar. Darum beschäftigte Mark sich lieber mit Elektronik. Da gab es nur positiv oder negativ, der Strom floss oder floss nicht.
»Also«, setzte Mark an. »Egal, was die da draußen gemacht haben – ich kann eine richtige Festbeleuchtung anschalten, wenn es sein muss.« Er lachte. Es klang von dem Schrecken noch etwas zittrig. »Schließlich haben wir hier eine Theaterbühne. Notfalls setze ich dich ins Rampenlicht wie einen Rockstar. Und wenn wir wirklich einen Geist treffen, dann engagieren wir ihn für die nächste Hamlet‐ Vorstellung!« Julian kicherte aufgedreht. Aber er blieb Mark auf seinem Weg hinter die Bühne dicht auf den Fersen. Am Sicherungskasten zog Mark die durchgeschmorte Sicherung heraus und hielt sie Julian unter die Nase. »Siehst du? Das ist der Übeltäter!« Dann tastete er nach den Ersatzsicherungen. Vergeblich. Er versteifte sich. »Ist was nicht in Ordnung?«, fragte Julian alarmiert. »Alles okay, ich muss nur eine neue Sicherung einbauen«, beschwichtigte ihn sein Freund. »Routine – hier knallen uns die Dinger andauernd um die Ohren.« Mark hatte dem Hausmeister gesagt, dass die Ersatzsicherungen knapp wurden. Aber das war vor den Ferien gewesen und musste im allgemeinen Trubel untergegangen sein. Er kratzte sich am Kopf. »Hinten in der Garderobe sind noch welche. Ich geh mal suchen.« »Ich komme mit«, sagte Julian rasch. Sie gingen hinter der Bühne in ein einzelnes Zimmer, das wie eine Rumpelkammer aussah. Wenn hier nicht gerade ein auswärtiges Theater‐Ensemble gastierte, diente die Gästeumkleide als Fundus für Requisiten, Kulissen und Kostüme. Das letzte Gastspiel musste vor einer Ewigkeit gewesen sein. Die Glühbirnen vor den Schminkspiegeln fehlten. Außerdem würde nicht einmal eine Truppe von Schneewittchens sieben Zwergen in diesem voll gestopften Raum noch Platz zum Schminken und Umziehen finden.
Mark zog eine Schublade nach der anderen auf, während Julian oberflächlich einige Kisten durchwühlte, die der Schein von Marks Taschenlampe zufällig aus dem staubigen Dunkel hob. Julian hustete. »Mann, was ist denn hier für ein Gerümpel?« »Das hast du der Wegers von der Elterninitiative zu verdanken. Die schleppt allen möglichen Kram an, vom Flohmarkt oder Sperrmüll.« »Hey!«, rief Julian erfreut. »Nicht nur Gerümpel! Ich habe eine Petroleumlampe gefunden.« Mark drehte sich um und erhaschte einen Blick auf einen verstaubten Glaszylinder. »Mal sehen, ob da auch Öl ist«, fuhr Julian fort. »Wäre doch gut, wenn wir noch eine Lampe hätten und nicht auf den Strom oder die Batterien angewiesen wären.« Das war ein Punkt für Julian. Mark zuckte mit den Schultern und suchte weiter nach den Sicherungen. Endlich, in der letzten Schublade lagen sie – noch zwei Stück. Julian betrachtete währenddessen im Licht seines Feuerzeuges den Fund. Er zog einen langen Schlauch aus der gepolsterten Kiste. »Hör mal«, sagte er nachdenklich, »das ist gar keine Lampe, das ist eine Wasserpfeife.« »Ach ja?« Mark stand bereits wieder an der Tür und wollte zurück an den Sicherungskasten. Julian nickte begeistert. »Ich hab bei meinem Bruder schon mal Wasserpfeife geraucht. Fehlt bloß noch … Moment.« Er kramte wieder in der Kiste und hustete erneut. »Mann, da ist echter Wüstensand drin. Und hier ist ein Stück Kohle. Wenn ich zwei Zigaretten zerkrümele, dann haben wir sogar Tabak.« Mark war daran weniger interessiert. »Ich setze jetzt erst mal die Sicherung ein«, sagte er. »Dann wird es richtig gemütlich.«
* Kurz darauf brannten überall wieder die Lampen. Auf dem Requisitentisch im Gang hinter der Bühne setzte Julian die Wasserpfeife zusammen. Mark beobachtete ihn und war zufrieden, dass sein Freund beschäftigt war. Er selbst breitete Werkzeug und Ersatzteile aus dem Aula‐Bestand vor sich aus und versuchte, Julians Taschenlampe zu reparieren. Aber etwas lenkte ihn von der Arbeit ab. Immer wieder wanderte Marks Blick zu der kunstvollen Pfeife. Ein leicht bauchiger Zylinder aus trübem Glas ruhte auf einem ziselierten Messingfuß. Deswegen hatte Julian das Ganze wohl auch anfangs für eine Lampe gehalten. Feine goldene Schriftzeichen wanden sich mit fremdartigem Schwung rings um den schwarzen Kolben. Vielleicht waren es arabische Buchstaben? Aber irgendwie schien es Mark, als habe er etwas Ähnliches noch niemals zuvor gesehen. Diese Schriftzeichen wirbelten wie dünne Rauchfäden umeinander und um den Wasserbehälter der Pfeife. Schaute man einen Moment zu lange hin, dann veränderten sie scheinbar ihre Position, und es flimmerte einem vor Augen. Oder war das nur die Müdigkeit? Mark warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr. In einer viertel Stunde schlug es zwölf! Wenn er Glück hatte, war Julian bis dahin so in seine Aufgabe vertieft, dass er nicht mehr an die Uhrzeit dachte und sich keine Sorgen wegen der Geisterstunde machte. »Alles noch tiptop in Ordnung«, sagte Julian gerade und stöpselte den Schlauch an das Gefäß. Er hatte den schwarzen und roten Lack abgekratzt, der alle Öffnungen der Pfeife versiegelt hatte. Er hob die Pfeife an und blickte sich suchend um. »Wasser ist da drüben«, sagte Mark hilfreich und zeigte zu dem
kleinen Raum neben den Umkleiden. »Wer kommt auf die Idee, hinter der Bühne noch ein Klo zu installieren?«, wollte Julian wissen. Mark grinste. »Was denkst du? Das ist vor der Vorstellung die wichtigste Einrichtung! Sollen die Schauspieler halb geschminkt und im Kostüm zwischen dem Publikum zu den Waschräumen ins Foyer rennen? Und glaub mir, die laufen oft.« Julian verschwand eine Weile in der Toilette. Mark gähnte ausgiebig, während er das Wasser plätschern hörte. Es waren nur noch ein paar Minuten bis Mitternacht. Sein Freund kam zurück und trug die gefüllte Pfeife vorsichtig mit beiden Händen zum Tisch. Er hatte schon alles Nötige bereit gelegt und sich häuslich eingerichtet. Mark fand es hier ebenfalls gemütlicher als im Zuschauerraum. Das lag vielleicht daran, dass der Gang hinter der Bühne überschaubarer war als die menschenleeren Stuhlreihen. Wie sich wohl Lars und die anderen die Zeit vertrieben? Eigentlich konnten sie getrost nach Hause gehen, nachdem sie ihre Mitschüler eingeschlossen hatten. Aber Mark wettete darauf, dass sie vor dem Ausgang herumlungerten, Bier tranken und dumme Witze auf ihre Kosten rissen. Mark ließ den Blick schweifen. Hoffentlich kamen die Kerle nicht auf die Idee, sich hier als Gespenst verkleidet hereinzuschleichen, um sie zu erschrecken. Jetzt, wo sie den Schlüssel besaßen, wäre das eine Kleinigkeit … Er zuckte zurück, musste einen Aufschrei unterdrücken. Für einen Moment sah er eine deformierte Gestalt in der Pfeife, die ihn mit riesigen Augen anstarrte wie ein Fisch aus einem Aquarium. Sie wirkte verzerrt, verbogen – und ganz und gar unmenschlich. Doch da sah Mark wieder nur sein eigenes Gesicht, das in der gekrümmten Oberfläche des Glases gespiegelt wurde. Der schwarze
Zylinder glänzte wie polierter Marmor. Wie der Marmor von Grabsteinen … Mark war eine Sekunde lang die Luft weggeblieben, doch jetzt atmete er wieder ein, schnell und tief. Sicherlich hatte ihm die Fantasie nur einen Streich gespielt hatte … Oder? »Hör mal, Julian, vielleicht ist das mit der Pfeife doch keine so gute Idee«, bemerkte er leise und rieb sich die Augen. Es kribbelte zwischen seinen Schulterblättern, wenn er den Glaskolben nur ansah. »Aber wieso denn? Du hast doch den Rauchmelder ausgeschaltet, oder?« Mark nickte. Ihm fiel auf, dass er damit eine Möglichkeit vertan hatte, im Notfall jemanden zu alarmieren. Da Lars die Schlüssel besaß, mussten sie möglicherweise regelrecht ausbrechen. »Außerdem bin ich schon fertig«, unterbrach Julian die Gedanken seines Freundes. Höflich bot er Mark den ersten Zug an, aber der verzichtete. Er hätte sich am liebsten in die Gastgarderobe zurückgezogen. Solange er hier im Gang saß, wanderte sein Blick unwillkürlich zu dem Glas zurück und suchte die Gestalt darin. Aber er wollte Julian nicht im Stich lassen … Mark fror. Er überlegte, wo dieser Luftzug herkommen könnte, denn schließlich gab es keine Fenster. Seine Gedanken schweiften ab, er wollte sich nicht mit diesem Ding beschäftigen, das er für einen Moment im Glas gesehen hatte. Oder zu sehen geglaubt hatte … Ein leises Blubbern riss Mark in die Wirklichkeit zurück. Zurückgelehnt saß Julian in seinem Stuhl und zog genießerisch am Mundstück der Pfeife. Er musste einige Male saugen, ehe die Pfeife richtig zog, und wurde schon ganz rot im Gesicht, als mit einem
weiteren Blubbern endlich Rauch bei ihm ankam. Das Geräusch ging Mark durch und durch. Es klang wie die letzten Atemzüge eines Ertrinkenden. Er schauderte. Julian sah plötzlich verstört aus. Er hatte die Backen aufgeblasen und lief dunkel an. Warum setzte er nicht einfach das Mundstück ab? Hast du dich verschluckt?, wollte Mark fragen. Doch er brachte kein Wort heraus. Seine Gedanken überschlugen sich. Vielleicht hatte sich ein Käfer in den Schläuchen versteckt – ein ägyptischer Skarabäus zum Beispiel – und war in Julians Lunge geraten. Diese Käfer konnten jahrelang wie tot daliegen, aber einmal erwachten sie doch zum Leben. Mark sah vor seinem inneren Auge, wie der Käfer seine Klauen ausbreitete und durch Julians fein verästeltes Lungengewebe kroch, seinen Weg bahnte und notfalls fraß, wo er nicht weiterkam. Als Kind hatte Mark einmal eine Wespe in den Mund bekommen, die in seinem Glas gesessen hatte. Seitdem verspürte er einen Horror vor Insekten. Er hörte ein Röcheln. Julians Augen traten hervor, er fuchtelte hilflos mit verkrampften Händen durch die Luft. Mark befürchtete plötzlich, dass seine Fantasien Wirklichkeit geworden waren. Er sprang auf, riss Julian vom Stuhl und schlug das Mundstück beiseite, das sein Freund noch immer zwischen den Lippen hielt. Heftig klopfte er ihm auf den Rücken. Julian spie in hohem Bogen aus. Aber aus seinem Mund kam kein Wasser, sondern Rauch! Im ersten Moment war Mark erleichtert. Julian hatte sich also wirklich nur verschluckt. Doch da registrierte er das Entsetzen in Julians Augen. Der Rauchfaden wollte kein Ende nehmen. So viel kann er unmöglich mit
einem Zug eingeatmet haben! Endlich hörte es auf, und Julian taumelte zurück in den Stuhl. Der schwarze Rauch ballte sich zu einer dichten Wolke vor ihm zusammen. Mark fühlte wieder den Blick der unmenschlichen Augen auf sich gerichtet. Endlich – es schien eine Ewigkeit zu dauern – bewegte sich die Rauchwolke Richtung Decke, wie von einer Absauganlage angezogen und verschwand. »Hey, alles in Ordnung?« Mark schüttelte Julian leicht. »Was war denn da los?« »Keine Ahnung. Der Rauch ist irgendwie in mich reingekrochen. Ich dachte, ich müsste platzen« Julian warf einen angeekelten Blick auf das Mundstück. Der Schlauch baumelte vom Tisch und pendelte leicht hin und her wie eine bunt gemusterte Schlange mit goldenem Kopf. Mark legte den Kopf in den Nacken und ließ seinen prüfenden Blick über die Decke gleiten. Wo war der Rauch geblieben? Eine solche Menge Qualm konnte sich nicht einfach in Luft auflösen, jedenfalls nicht so schnell. Es roch nicht einmal nach verbranntem Tabak. Doch er entdeckte nur einen dunklen Wasserfleck an der Decke, halb im Schatten verborgen. Wenn über die Ferien das Dach undicht geworden war, musste der Hausmeister das so schnell wie möglich erfahren. Aber im Moment gab es drängendere Probleme. »Du wirst mich jetzt vielleicht für verrückt halten, aber ich glaube, da war etwas in der Pfeife!«, sagte Mark bedächtig, als er sich langsam herumdrehte und Ausschau hielt … Julian wehrte ab. »Nein, Unsinn, das war mein eigener Tabak. Und ich halte nichts von Drogen.« »Ich meine nicht den Tabak, sondern etwas anderes. Ein … ein Ding!« Mark geriet ins Stottern. »Ich glaube, ich … habe da vorhin
etwas gesehen: ein Gesicht mit durchdringenden Augen. Und mach mir keine Vorwürfe, ich habe dich noch gewarnt.« Julian wurde totenbleich. »Der Geist!« »Du meinst, er lebt in der Pfeife wie ein Lampengeist aus dem Märchen?«, fragte Mark. »Was immer das war, ich habe nicht den Eindruck, dass er gekommen ist, um uns drei Wünsche zu erfüllen.« »Nicht alle sind so«, sagte Julian tonlos und holte weiter aus. »Es gibt da die Geschichte aus Tausendundeiner Nacht von dem Flaschengeist, den ein Fischer befreite. Und statt dankbar zu sein und dem Mann einen Wunsch zu erfüllen, erlaubte der Dschinn dem Fischer nur, sich seine eigene Todesart auszuwählen. Der Dschinn war nämlich so lange eingesperrt gewesen, dass er immer böser und wütender wurde und statt einer Belohnung den Tod brachte.« Julian verschränkte die Arme, sein Blick fiel auf seine Uhr. Erschrocken riss er den Kopf zurück und sprang auf. »Kurz vor Mitternacht!« In diesem Moment erloschen die Lichter …
* »Nicht schon wieder!«, grollte Mark. Doch die Deckenlampen gingen bereits wieder an. Leise quietschte es von der Bühne her, als öffnete sich ganz langsam der Vorhang. Der Schnürboden hoch oben über der Bühne knarrte leise. Waren da etwa Schritte zu hören? Die Kirchenglocke schlug Mitternacht. Dann war plötzlich Stille – Totenstille … Es wurde mit einem Mal eiskalt. Mark schlang die Arme um seinen Oberkörper und trat instinktiv näher zu Julian, der sich
angstvoll zusammenkrümmte. Aus den Augenwinkeln machte Mark eine Bewegung aus, doch als er genauer hinschaute, war da nichts mehr. Der überschaubare Platz hinter der Bühne war plötzlich alles andere als gemütlich. Mark fühlte sich erdrückt, fast erstickt von den grauen Wänden mit dem Wasserfleck … Sein Kopf fuhr herum. Mark blinzelte hinauf zur Lampe, doch der dunkle Fleck war verschwunden. Stattdessen befand er sich jetzt an der Mauer zwischen Umkleide und Fundus. Und er kroch weiter! Der Fleck floss im Schatten einer Pappsäule, die als Kulisse für einen griechischen Tempel gedient hatte, förmlich die Wand hinab. Er wanderte wie eine Amöbe, zog sich zusammen und kroch anschließend wieder auseinander. Wo er entlanglief, verschwand kurzfristig die Struktur des Putzes, als sei ein Stück aus der Wand herausgestanzt und mit Schatten gefüllt worden – mit einem Schatten, in dem es dunkelgrün schillerte wie auf dem Rücken einer Schmeißfliege. Endlich gewann Mark die Fassung zurück. »Ich weiß, wo der Geist ist«, stieß er atemlos hervor. »Siehst du ihn?« Julian folgte seinem ausgestreckten Finger und wich ein Stück zurück. Doch der unheimliche Fleck kam auf ihn zugeflossen, von dessen Schatten an der Wand wie von einem Magneten angezogen. Julian hechtete in die Mitte des Ganges, weg von der Mauer. Sein Körper warf jedoch immer noch einen Schatten halb über die Wand. Ehe der Junge sich versah, überwand das Etwas die Kante, sickerte in den Boden und huschte in Julians Schatten auf ihn zu. Er blieb starr stehen. Die Farbe des fließenden Fleckens spielte vom Grünlichen ins
Violette. Immer noch durch Julians Körper vor dem Licht geschützt, ringelte sich die ölartige Masse um dessen Füße. Julian schnappte nach Luft, als würde der wirbelnde Farbschatten ihn erdrücken. Er verdrehte die Augen, die Lider fielen zu. Irgendwie wurde er blasser, verlor an Substanz. Er wankte. Das brach bei Mark den Bann! Ohne weiter zu zögern, packte er seinen Freund an den Schultern und zog ihn auf sich zu. Julian stolperte aus dem Schattenwirbel, riss die Augen auf und schien aus einem Traum zu erwachen. »Weg, wir müssen hier weg!«, schrie er. Sie lief en durch den hell erleuchteten Gang hinter den Kulissen. Mark warf einen raschen Blick über die Schulter und sah ein gedämpftes Farbflirren hinter ihnen. Es war größer geworden! Das Phantom folgte ihnen, hielt sich dabei aber immer im Schatten und wurde so gebremst. Mark betete, dass die Sicherung hielt. Wenn jetzt der Strom ausfiel … Er stolperte über die eigenen Füße, prallte mit der Schulter gegen die Wand, rappelte sich wieder auf. Er war sekundenlang abgelenkt und suchte panisch nach dem höllischen Schatten. Julian vergrößerte den Abstand zwischen ihnen. Er hatte nicht gemerkt, was mit Mark passiert war, sondern rannte blindlings vorwärts, bis er eine verschlossene Tür erreichte. Dort bog er rechts ab. »Nein, Vorsicht!«, rief Mark noch. Aber Julian schlug nur einen Haken, der einem Hasen alle Ehre gemacht hätte, und verschwand zwischen den Kulissen Richtung Bühne. Marks Gedanken überschlugen sich. Das Schattenwesen scheute offensichtlich die Helligkeit. Wenn er genug Licht auf die Bühne bringen könnte, wären sie sicher – solange die Sicherung hielt …
Während er Julians Schritte über die Bühnenbretter poltern hörte, tauchte Mark unter eine Galerie und machte sich am Beleuchtungskasten zu schaffen. Das Hauptbedienpult lag am entgegengesetzten Ende des Ganges. Aber er konnte von seinem Standpunkt aus wenigstens einige Scheinwerfer am Bühnenrand anknipsen, um die Spielfläche zu erhellen. Er legte die Kippschalter um. Da erklang ein markerschütternder Schrei von der Bühne. Hatte der Schatten Julian eingeholt? Bitte nicht! Der Schrei ging in ein haltloses Kreischen über. »Ich komme!«, rief Mark und stürmte zwischen den Kulissen auf das lichtgeflutete Parkett. Julian war ängstlich und verwirrt am vorderen Ende der Bühne stehen geblieben. Jetzt rutschte auch Mark das Herz in die Hose. Er taumelte ein Stück zurück, in die weichen Stoffbahnen des Vorhangs, als er sah, was seinen Freund so ängstigte. Jemand baumelte an der Beleuchterbrücke. Marks Finger krallten sich in den Samtvorhang. Ein Erhängter schwang direkt vor Julian am Seil über der Bühne leicht hin und her. Der Tote wurde von den Rampenleuchten in blendende Helligkeit getaucht. Mark sah jede Einzelheit in dem verzerrten, dunkel angelaufenen Gesicht des toten Jungen: den offen stehenden Mund mit der leblosen, angeschwollen Zunge. Die aufgerissenen, blutigen Augen. Den Strick, nicht mehr als eine Wäscheleine, der um den Hals gezurrt war und tief in das aufgedunsene Gewebe einschnitt. Für Julian musste der Anblick noch schrecklicher sein. Schließlich stand er genau vor der Leiche. Als hätte er Marks Gedanken gehört, stolperte er ein paar Schritte zur Seite. Er fing sich, wirbelte herum –
und rannte los. »Nein!«, schrie Mark noch. Da versank Julian einfach im Boden …
* Mark blinzelte. Die Bühne war vollkommen leer. Der Erhängte war genauso verschwunden wie Julian. Er wandte sich nervös um, doch in den Schatten war kein verräterisches Farbenspiel erkennbar. Wachsam trat er auf die Bühne. An der Stelle, wo Julian verschwunden war, gähnte ein Loch. Mark hätte sich ohrfeigen können. Das war die Öffnung mit dem Versenktisch, einer fahrbaren Plattform, die – in der fantastischen Wunderwelt des Theaters – direkt in die Unterwelt führte. In Wirklichkeit ging es allerdings nur unter die Bühne. Dramatische Auf‐ und Abgänge fanden hier aber schon lange nicht mehr statt. Der Mechanismus der Plattform war defekt. Seit einem Unfall, der leicht schlimmer hätte ausgehen können, stellte die Theater‐AG zu den Proben oder Aufführungen stets ein großes Requisit dorthin. Mark schüttelte sich, doch nicht vor Kälte. Ihm war übel. Wenn Julian in dieses Loch gefallen war, konnte er sich wer weiß was dabei gebrochen haben. Oder noch schlimmer … Seine Beine kribbelten. Mark fuhr herum, aber immer noch war nichts von dem schillernden Schatten zu sehen. Das viereckige Loch vor ihm war komplett in Finsternis getaucht. Dorthin reichten die Scheinwerfer der Rampe nicht.
Die Taschenlampe!, dachte Mark. Irgendwo muss die Lampe sein. Für einen Moment glaubte Mark, er habe den Strahler im Flur vergessen. Sein Atem ging stoßweise – vor Angst, nicht vor Anstrengung. Endlich ertastete er die Lampe in seiner Jackentasche. Er trat an den Rand der Öffnung und leuchtete in die Tiefe. Etwas glänzte dort unten – ein Brillenglas. Marks Hand bebte, und zitternd glitt der Lichtstrahl über Julians weit geschnittene Jeans, streifte das Hemd und stoppte am Kopf. »O Scheiße!«, stieß Mark hervor. Sein Freund lag verkrümmt auf der fahrbaren Plattform. Er bewegte sich nicht. »Julian, sag doch was. Bist du in Ordnung?« Marks Knie wurden weich. Er hockte sich neben die Öffnung. Es war finster in diesem Loch – er musste Julian da herausholen, ehe der Schattendämon kam! Und das bedeutete, er musste selbst hinab in die lichtlose Tiefe. Er blickte sich um, doch nichts war zu sehen. Aber das muss ja nichts bedeuten. Mark stockte der Atem vor Furcht. Vielleicht war es besser, wenn er den Verletzten nicht bewegte und Hilfe holte. Doch so würde er Julian ungeschützt diesem fließenden Schatten überlassen. Mark schlang die Arme um die Knie. Er wusste nicht, was er tun sollte. Licht! Er brauchte Licht, um das Loch auszuleuchten. Dann konnte er Julian alleine lassen, um Hilfe zu holen … Er richtete sich auf und eilte zum Hauptbedienpult für die Bühnenbeleuchtung. Auf dem Weg durch den Flur schlugen Marks Zähne aufeinander. Er ballte die Fäuste so fest, dass die Fingernägel ins Fleisch
schnitten. Er durfte nicht an diesen lautlosen Killer denken, der das Leben aus einem heraussaugte und sich im Dunkel verbarg! Er wollte nicht daran denken, was passieren würde, wenn die Sicherung abermals versagte. Endlich hatte er sein Ziel erreicht. Hastig schaltete Mark alle Lampen an, die er von hier aus erreichen konnte, und eilte auf die Bühne zurück, so schnell er es mit seinen unsicheren Schritten schaffte. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Als er aus der Kulisse trat, schrak er zurück. Neben dem Loch kniete jemand. Ein Funke Hoffnung blitzte auf. »Julian?« Aber auf den zweiten Blick erkannte er Lars. Trotzdem, nie im Leben hatte er sich über den Anblick des bulligen Klassenkameraden mehr gefreut. Gemeinsam konnten sie Julian aus dem Loch helfen. Lars drehte sich langsam zu ihm um. Mark stürmte auf ihn zu. »Julian ist da reingefallen! Wir müssen ihn rausholen, oder … Es spukt hier wirklich. Vielleicht ist Julian schwer verletzt. Einer kann hier bleiben und auf Julian aufpassen, während der andere Hilfe holt. Ich bleibe hier, wenn du …« Lars blickte ihn immer noch an, als würde er nicht verstehen. »Ja, es spukt hier wirklich.« »Hast du nicht zugehört?«, fragte Mark. Lars äffte ihn nach. Er begriff nicht, worum es ging. Kein Wunder, sogar in Marks Ohren klangen die eigenen Worte wirr und unverständlich. Er musste seinen Mitschüler warnen. »Hier spukt ein Wesen«, erklärte Mark und bemühte sich darum, nicht völlig verrückt zu klingen. »Ein böser Flaschengeist. Wenn du rausgehst, dann pass auf, dass du dich nicht im Dunkeln bewegst.
Ich glaube, der Dschinn hat Angst vor dem Licht. Du kannst meine Taschenlampe mitnehmen, auf der Bühne ist es hell genug.« Wo blieb eigentlich der Rest von Lars’ Bande? »Ein Schattenghoul«, sagte Lars. Diese Worte klangen aus seinem Mund seltsam. Er sah unter den grellen Bühnenscheinwerfern irgendwie farblos aus. Das Licht war einer der Hauptgründe, warum Schauspieler immer geschminkt wurden. Scheinwerfer überstrahlten die Konturen ungeschminkter Gesichter, und man konnte die Mimik der Schauspieler schlecht erkennen. Lars war bleich wie ein Leichentuch. »Nimm schon die Lampe!«, forderte Mark und streckte dem anderen den Strahler entgegen. Lars reagierte überhaupt nicht. »Die benötige ich nicht.« Sein Tonfall war seltsam unbeteiligt. Zwischen Angst und Hoffnung brach sich ein anderes Gefühl in Mark Bahn – Wut! »Hör mal!«, fauchte er. »Ihr habt Julian schließlich mit euren Sprüchen in diese Lage gebracht. Jetzt kannst du dir verdammt noch mal wenigstens etwas Mühe geben, um ihm zu helfen. – Wenn das rauskommt, dann sind wir nämlich alle dran. Und wenn ich erzähle, wieso Julian diese Wette …« »Julian …«, wiederholte Lars wie ein seniler, alter Mann. Und er wirkte tatsächlich auf gewisse Weise alt. Mark konnte nicht sagen, wie er darauf kam. Es lag an Lars’ Blick, an der Art, wie er da hockte. »Tu nicht so unschuldig, Lars. Ich rede von Julian. Dem Julian, den ihr seit Wochen hänselt.« Mark zeigte auf den verkrümmten Körper. »Weißt du eigentlich, was ihr ihm damit angetan habt? Und jetzt liegt er da unten und ist vielleicht tot oder bleibt für den Rest seines Lebens gelähmt … Und das nur, weil ihr ihn nicht in Ruhe lassen
konntet.« Lars und seine Freunde hatten wahrscheinlich wirklich das Licht manipuliert, um sie noch mehr zu verängstigen. Waren sie auch für den »Erhängten« verantwortlich? Mark drückte Lars unsanft die Lampe in die Hand und berührte dabei dessen Finger. Sie waren eiskalt, wie die eines Toten. Mark zuckte zurück, als habe er sich verbrannt. Der Dämon hat ihn erwischt! »Ich gehe schon«, murmelte er, obwohl eine unbestimmte Furcht ihn davor warnte, Julian mit dem anderen alleine zu lassen. Aber eine sehr viel direktere Angst trieb ihn fort von hier. Trotz der Hitze der Scheinwerfer begann er wieder zu frieren. Er schlotterte wie ein Nackter im Winter. Lars stand in einer geschmeidigen Bewegung auf, die man seinem massigen Körper nicht zugetraut hätte. Da bemerkte Mark, dass es nur einen Schatten auf den Bühnenbrettern gab: seinen eigenen! Lars’ Körper warf keinen Schatten, obwohl er von mindestens drei Seiten angestrahlt wurde. »Du bleibst besser hier«, sagte Lars – wenn es denn Lars war. »Der Schattenghoul fürchtet meine Gegenwart, doch er lauert dort noch immer. Er ist hungrig.« Sein Gesicht verzog sich eine Spur, für einen Moment blitzte ein anderes Gesicht darunter hervor. »Du bist nicht Lars«, sagte Mark heiser und wich zurück. Er war vom Regen in die Traufe geraten. »Nein. Ich bin …« Mit diesen Worten berührte das Wesen Mark mit den Fingerspitzen …
*
Er fiel in lichtlose Tiefen, wusste nicht, was schlimmer war: die unverhoffte Berührung oder die Dunkelheit, in die er hinabstürzte. Aber eine Sekunde danach brachen diese Gedanken ab. Bilder flossen vor seinen geschlossenen Augen vorbei. Zuerst war es nur wie ein Film im Fernsehen, dann flimmerte es wie auf einer großen Kino‐Leinwand. Immer stärker zogen die Ereignisse sein Bewusstsein an, verwoben sich mit seinen Sinnen. Die zweidimensionalen Bilder bogen sich von der Wand herab und umhüllten ihn. Er tauchte in die Erlebnisse eines anderen, bis er schließlich selbst im Körper eines Fremden steckte und alles erlebte, was dieser erlitten hatte …
* Es musste irgendwann Anfang der sechziger Jahre sein, zumindest den Frisuren und der Kleidung nach zu urteilen. Es war die Heinrich Heine Realschule, auf die auch Julian und er gingen. Mark, der nicht mehr Mark war, erkannte sogar den einen oder anderen Lehrer wieder. Damals waren die Sitten noch strenger, die Schüler kamen mit bravem Seitenscheitel und hellem Hemd zum Unterricht. Aber eines war unverändert: Schon damals suchten ein paar von ihnen einen Schwächeren und hackten auf ihm herum. Bei dem Opfer handelte es sich um Mark – beziehungsweise um den Jungen, der Mark jetzt war. Die Lehrer schwiegen dazu. Nur wenn ihr Unterricht gestört wurde, verteilten sie Strafarbeiten an alle Beteiligten. Er beschwerte sich nicht, was hätte es gebracht? Einer seiner Peiniger war der Sohn des Schuldirektors, und vor dem Direx buckelte das ganze Kollegium.
Eines Tages umzingelten sie ihn und trieben ihn in die Aula, wo sie ungestört waren. Sie zwangen ihn, trotz seiner Höhenangst auf die Beleuchterbrücke zu klettern. Die fahrbare Plattform mit den Scheinwerfern wackelte und zitterte. Ihm wurde flau im Magen. Die Bühne sah so klein aus von hier oben. »Keine Angst, Muttersöhnchen, es kann nichts passieren«, lachte Paul, der Sohn des Rektors. Er verlagerte das Gewicht etwas nach außen, sodass die Beleuchterbrücke schaukelte. »Komm schon, du Feigling, wir seilen dich an.« Paul legte eine Leine um seinen Hals, wie einen Strick. Und seine Kumpel schubsten »Mark« fort, wann immer er sich am Geländer festhalten wollte. Er balancierte angstvoll auf der schmalen Fläche. Die Rabauken schaukelten heftiger. »Heul doch, du Memme!«, rief Paul. Da geschah es! »Marks« Fuß rutschte weg. Er verlor den Halt und kippte über das Geländer. Vielleicht hätte er den Sturz überlebt – aber das peitschende Ende der Leine verfing sich irgendwo, und der Fall wurde abrupt gebremst. Sein Kopf wurde festgehalten, der Rest des Körpers fiel weiter. Die Leine zog sich mit einem widerlichen Geräusch um seinen Hals zusammen. Die Kehle wurde ihm eng, ihm blieb die Luft weg. Atmen, er wollte doch nur atmen! Der dünne Reif aus Feuer um seinen Hals zog sich enger und enger und ließ ihm keine Luft. »Bitte«, krächzte er mit letzter Kraft, doch die Jungen oben standen da wie gelähmt. Als die Ersten endlich die Leiter hinabrutschten und ihm zu Hilfe eilten, war es schon zu spät. Einer versuchte, den Körper anzuheben, um den Hals zu entlasten, doch die dünne Wäscheleine
hatte sich schon zu eng um die Kehle gezogen. Irgendwann sahen sie ein, dass es zu spät war, und schlichen wie geprügelte Hunde aus der Aula … Mark verstand, dass er den Tod des Jungen miterlebte, in dessen Körper er steckte. Er sah in dem Traum auch, wie es weiterging … Er fühlte eine ungeahnte Leichtigkeit, als sei sein Körper mit Gas gefüllt und wollte aufsteigen. Aber gleichzeitig war er voller Zorn und Angst, die ihn am Boden hielten. Seine Seele blieb gefangen in dem Gebäude, gefesselt an den Ort seines Todes, auch nachdem sein Körper schon lange begraben war. Er hörte, wie sie in der Schule von Freitod sprachen – und die Schuldigen schwiegen. Er war ein stiller Gast auf der eigenen Totenfeier in der Aula, bei der auch seine Mörder zugegen waren. Und seine Wut wuchs. Er wollte nicht länger schweigen! Ein schwerer Kerzenleuchter, aufgestellt für den feierlichen Anlass, kippte um. Die Mitschüler schauten sich zwar erschreckt um, doch mehr geschah nicht. Aber im Lauf der kommenden Jahre verfeinerte er seine Fertigkeiten. Er brachte Kulissen zum Umsturz, ließ den Tisch der Versenköffnung im selben Moment herabstürzen, als ein junger Romeo‐Darsteller darauf trat. Er erschien zur Geisterstunde, der einzigen Zeit, wo sein Körper sichtbar wurde, und erschreckte ein knutschendes Pärchen beinahe zu Tode. Doch mit den Jahren verrauchte der Zorn und die Kräfte schwanden. Er wünschte sich, endlich von diesem Ort fortzukommen. Er wollte Erlösung … Und mit diesem Gedanken zogen sich die Bilder und Empfindungen aus Marks Gehirn zurück und ließen ihn zitternd auf
der Bühne erwachen.
* Der andere war fort. Mark hörte leises Stöhnen aus dem Schacht. Bei dem Gedanken an Julian und den Schattenghoul wurde er schlagartig munter. »Julian, bist du das?«, rief Mark. »Alles okay?« Er beugte sich über das Loch. Die Taschenlampe lag zu seinen Füßen, und er griff danach wie nach einem Rettungsseil. Das Licht geisterte über Julians bleiches Gesicht, als der sich vorsichtig auf der Plattform aufrichtete. »Oh Mann, was war denn los?«, wollte er wissen und tastete nach der Brille. »Das fragst du mich?«, fragte Mark mit vor Erleichterung überschnappender Stimme. Er reichte Julian die Hand, zog ihn ein Stück hoch und stützte ihn beim Hinaufklettern. »Hast du dich verletzt?«, wollte er wissen. »Ich bin noch ganz beduselt. Aber ich glaube, der Kopf ist noch dran. Sogar meine Brille ist heile geblieben.« Julian strich sich mit der Hand über das Gesicht, wischte ein paar Spinnweben fort. »Nur der Fuß, auf dem ich gelandet bin, tut saumäßig weh.« Er ließ sich am Rand der Bühnenöffnung nieder und zog den Schuh aus, um den Knöchel zu untersuchen. Mark sah es sofort, dass der Knöchel stark angeschwollen war. Damit konnte Julian unmöglich laufen, so viel stand fest. Mark blickte wieder nervös auf der Bühne umher, ob sich irgendwo etwas bewegte, was dort nicht hingehörte. Der Schattenghoul lauert dort noch immer. Er ist hungrig, hatte der
Geist gesagt. »Erinnerst du dich an irgendwas?«, fragte Mark seinen Freund behutsam. »Ja doch, du bist der amerikanische Präsident und ich die Königin von England«, witzelte Julian, doch dann kippte seine Stimmung. »Wie lange müssen wir eigentlich noch hier bleiben?« Seine Haare waren zerzaust, sein Gesicht wirkte müde. »Es ist gerade mal halb eins«, antwortete Mark, der sich ebenso erschöpft fühlte, wie Julian aussah. »Ich hatte einen komischen Traum von einem Jungen, der hier …«, begann Julian. »Ich weiß«, bremste ihn Mark. »Den hatte ich auch. Dieser Junge ist das Gespenst der Aula. Aber er will uns nichts Böses. Ich glaube, wir tun ihm Leid, weil Lars und die anderen dich so auf dem Kieker haben.« »Aber diesem Schattenfleck, dem tun wir wohl nicht Leid, oder?«, fragte Julian. Als wenn er sich gerade erst wieder daran erinnert hätte, schaute er sich mit weit aufgerissenen Augen um. »Bestimmt ni …«, meinte Mark. Die Lichter flackerten hell auf. »Das ist nur eine Spannungsspitze!«, beruhigte er Julian. Diese Unregelmäßigkeiten waren unter anderem dafür verantwortlich, dass die Beleuchtungsanlage so anfällig war. Die Sicherung würde nicht mehr allzu viele davon mitmachen, das wusste Mark aus Erfahrung. An manchen Tagen war es schlimmer als an anderen. Wieder flammte das Licht auf. Mark tastete mit schweißnassen Fingern nach der letzten Sicherung. Würde er es rechtzeitig zum Sicherungskasten schaffen, um sie einzusetzen, wenn nötig? Wenn dieser Schattenghoul intelligent war, dann würde er Julian als leichtere Beute auswählen, weil der wegen seines verknacksten
Fußes nicht rennen konnte. Ein Gedanke durchfuhr Mark wie ein Blitz. »Märchen haben doch immer ein gutes Ende!«, wandte er sich an Julian. »Wie ging denn dieses Märchen von dem mörderischen Flaschengeist aus?« »Was meinst du?«, fragte Julian zerstreut, doch dann verstand er Marks Frage. »Der Fischer hat schließlich den bösen Dschinn ausgetrickst. Er hat ihm weisgemacht, er würde nicht glauben, dass so ein riesiger Geist in eine kleine Flasche passt. Also ist der Dschinn wieder in die Flasche geschlüpft. Der Fischer hat schnell den Korken draüfgesetzt und die Flasche zurück ins tiefe Meer geworfen, wo sie herkam.« Das war die Lösung! Mark fühlte so etwas wie Hoffnung in sich aufsteigen. »Der Ghoul war auch in der Wasserpfeife gefangen. Der Lack, den du aus den Öffnungen gekratzt hast, hat das Gefäß versiegelt wie ein Korken die Flasche. Wir müssen den Ghoul nur wieder einsperren.« Julian blickte ihn an wie einen Irren – freundlich, aber ungläubig. »Ich habe eine Idee«, versicherte ihm Mark. »Aber dafür brauchen wir unbedingt die Wasserpfeife. Ich hole sie aus dem Flur. Kommst du kurz alleine klar.« Julian schaute hoch zu den Scheinwerfern. Mark folgte seinem Blick und konnte einen Schauder nicht unterdrücken. Die Erinnerung an den Erhängten war noch zu frisch. Nun, da er die Leiden und den Tod des Jungen quasi am eigenen Leib miterlebt hatte, war es noch schlimmer. »Ja«, sagte Julian leise und rückte ein Stück von dem schattendurchwirkten Loch ab. »Ich schaffe das schon – solange es hell genug auf der Bühne ist.« »Dann hole ich mal die Pfeife.« Mark zögerte einen Moment und drückte seinem Freund die Taschenlampe in die Hand. »Nur für den
Fall, dass das Licht ausfällt, während ich unterwegs bin.« Er nickte Julian zu und spurtete los. Die Sohlen seiner Turnschuhe quietschten auf dem glatten Bühnenparkett, als er die Richtung wechselte und in die Kulisse einbog. Zwischen den Vorhängen herrschte Zwielicht. Das Licht der Scheinwerfer reichte nicht aus. Mark hetzte durch die dämmrige Kluft und … Da lauerte es! Das Ding ließ sich auf ihn fallen wie ein Tropfen kochenden Teers. Mark spürte, wie ihm ein pelziges Gefühl die Beine nochkroch. Instinktiv schlug er danach, während er weiterrannte. Tausend Wespen krabbelten seine Knöchel hinauf, bis über die Knie. Sie stachen mit ihren Stacheln und pumpten Gift in sein Blut. Endlich erreichte er den Flur. Marks Beine wurden schwach, sein rechtes Knie knickte ein, und er stolperte. Mit den Armen rudernd, krachte er gegen die Wand. Alles drehte sich für einen Moment, aber der Kopf fühlte sich besser an als die Beine, die ihm den Dienst versagten. Der Oberkörper des Jungen beschattete die untere Körperhälfte, und genau dort labte sich der Ghoul. Mark kroch mit letzter Kraft unter die Lampe, die in einer neuerlichen Spannungsspitze hell aufflackerte. Hoffentlich hilft das Licht!, dachte er und zwang sich dazu, einfach loszulassen und zu entspannen. Er sackte rücklings auf den Boden, lang ausgestreckt, sodass er nur einen sehr kleinen Schatten bot. Der Ghoul schrumpfte im Licht förmlich zusammen. Mark konnte spüren, wie sich das taube Gefühl aus den Beinen löste und über die Innenseite der Oberschenkel in den Rücken wanderte. Wenn sich der Ghoul in seinem Rücken einnistete, dann war es
endgültig aus! Mark fand neue Kraft und kam auf die Füße, tat einen gewaltigen Satz nach vorne in den Kegel der nächsten Deckenlampe und betete, dass das Knie nicht wieder versagte. Frei, er war frei! Der Schattenghoul kroch durch eine dünne Schattenbrücke in einen finsteren Winkel und verschwand. Er war doppelt so groß geworden, nachdem er von Marks Substanz gezehrt hatte. Die Beine des Jungen kribbelten immer noch, aber er lief taumelnd zum Requisitentisch weiter. Hastig packte er Werkzeuge und Einzelteile von der Lampenreparatur in den Werkzeugkasten und schob die Prüfgeräte darauf. Zu guter Letzt klemmte er die Wasserpfeife unter den einen Arm, fasste den Kasten mit der freien Hand und lief zu Julian zurück. Unterwegs flackerte das Licht, aber es erlosch nicht. Mark überlegte eine Sekunde lang, ob er gleich zurück zum Elektrokasten rennen sollte, um auf gut Glück die Sicherung auszutauschen. Aber vielleicht verschenkte er damit wertvolle Zeit. Nein, er musste einfach die Daumen drücken und hoffen, dass alles klappte wie gedacht. Julian wartete in einem Lichterkranz. Mark schlitterte über die glatte Bühne und kam kurz vor der Versenköffnung zum Stehen. »Alles dabei!« »Hast du es irgendwo gesehen?«, fragte Julian und schaute sich ängstlich um. Mark nickte. »Es hat am Vorhang auf mich gelauert, aber ich bin ihm davongelaufen.« Er stellte die Wasserpfeife am Boden ab. »So, jetzt bauen wir die Falle auf.« Er blickte seinem Freund in die Augen. »Und du, Julian, bist der Köder!«
*
Mark erläuterte Julian seinen Plan, während er eine Leitung an ein pistolenähnliches Gerät lötete, mit dem er sonst die Tonköpfe der Musikanlage reinigte. Julian beobachtete ihn. »Du erinnerst mich an diese Fernsehserie. McGyver. Brauchst du das Ding für den Plan?« »Ich bastele da nur was …«, wiegelte Mark ab. »Nur so eine Idee.« Mark Gyver, na klar! In Wirklichkeit war er fürchterlich nervös, und er konnte sich am besten ablenken, indem er sich beschäftigte. Zu guter Letzt schob Mark das Gerät in die Tasche. Er war fertig. Wie auf Kommando setzten nach einer weiteren Spannungsspitze die Lichter aus. »Es geht los«, sagte Julian mit zittriger Stimme. Er knipste die Taschenlampe an und leuchtete in die Versenköffnung. Mark sprang in die Tiefe. Nicht an Wespen denken!, ermahnte er sich. Nicht an den Schattenghoul denken! Das Licht von Julians Lampe wies ihm den Weg. Mark wischte einige Spinnweben beiseite und eilte unter der Bühne entlang. Wie vereinbart, begann Julian jetzt, um Hilfe zu rufen in der Hoffnung, den Schattenghoul damit anzulocken. Mark hatte den Flur erreicht und musste nur noch fünf Meter bis zum Sicherungskasten zurücklegen. Einen Lidschlag später atmete er gepresst aus, als er den Deckel aufzog. Seine schweißfeuchten Finger glitten vom Griff ab, und er musste nachgreifen. Doch dann hatte er es geschafft und tauschte mit zwei schnellen Griffen die Sicherung aus. Im nächsten Augenblick lief Mark bereits weiter zum Inspizientenpult nahe der Bühne. Hier befanden sich auch die Schalter für die Beleuchterbrücke. Mit vor Aufregung zitternden
Fingern programmierte er die Lichtanlage – und wartete auf Julians Zeichen … »Ölfleck am Vorhang«, gellte dessen Stimme jetzt wie auf Kommando von der Bühne. Das war der vereinbarte Code. Der Schattenghoul war da. Mark kippte alle Schalter der Scheinwerferanlage und kletterte anschließend flink die Eisenleiter hoch auf die Beleuchterbrücke. Sekunden später schaute er über die Brüstung gebeugt in die Tiefe. Julian stand in einem Lichtermeer, an dessen Rand sich beinahe ängstlich ein violettgrüner Farbenwirbel herumdrückte: der Schattenghoul. Mark schwenkte den größten Spot wie einen Suchscheinwerfer. Der Lichtstrahl erfasste Julian und die Wasserpfeife, um anschließend in einer weiten Spirale nach außen zu kreisen und hinter dem Schattenghoul zum Stillstand zu kommen. Da erlosch der äußere Lichtkreis um Julian, und der Schattenghoul kroch ein Stück auf die Bühnenmitte zu. Mark nickte zufrieden. Das lief wie geplant. Ein weiterer Abschnitt des Lichtkreises erlosch, die Schatten auf der Bühne wurden dichter. Noch stand Julian gebadet vom Rampenlicht in einer sicheren Zone, aber der größere Teil der Bühne versank bereits in der Dunkelheit. Der dunkle Fleck floß zielstrebig wie eine pechschwarze Qualle über das Parkett auf Julian zu. Abermals schmolz der Lichtkranz, der den Jungen umgab, dahin wie Schnee im Glanz einer dunklen Sonne. Der Schattenghoul näherte sich Julian auf Körperlänge. Mark strich mit dem Hauptscheinwerfer über die Bühne und trieb den Schattenghoul mit dem Licht weiter in die gewünschte Richtung. Da zuckte eine Spannungsspitze durch die gesamte Anlage. Das
Licht gleißte auf, danach brannte es scheinbar für einen Moment fahler wie eine unwillkommene Erinnerung an die Dunkelheit. »Scheiße, mach voran!«, rief Julian von unten. Er stand jetzt in einem scharf umgrenzten Lichtkegel wie ein Rocksänger im Spotlicht. Mit dem Unterschied, dass Rocksänger selten mit angstverzerrtem Gesicht mühsam auf einem Bein balancierten. Der Schattenghoul hatte sich auseinander gezogen und wie ein Ring um die verbliebene Lichtfläche gelegt. Julian war im Kreis gefangen. Die Beleuchterbrücke schwenkte tiefer. Ihr Schatten hätte den schwachen Lichtfleck erstickt, aber die Rampenscheinwerfer waren so eingestellt, dass sie den Schatten der Tribüne überstrahlten. Julian reckte sich hoch, seine Fingerspitzen reichten beinahe an den Rand der Brücke heran. Er winkte Mark hektisch zu. »Noch ein Stück!« Mark gestikulierte zurück. »Weiter geht es nicht! Du musst springen!« »Mist, so ein Mist, wie soll ich das mit einem Bein …«, schimpfte Julian. Er ging in die Knie und katapultierte sich einige Handbreit hinauf. Es reichte gerade, um Halt an dem Gerüst zu finden. Die Plattform schwankte wild umher, und die verbliebenen Scheinwerfer wischten unkontrolliert über die Bühne. Die Hydraulik meldete sich mit einem hässlichen Knirschen zu Wort. Mark prallte gegen das Geländer und schlug sich das Schienbein an, aber er konnte den Arm seines Freundes fassen und ihn ein Stück hinaufziehen. Julian konnte nicht schwimmen, aber das hieß nicht, dass er unsportlich war. Er landete mit einem Aufschwung neben Mark auf der Brücke – und schrie vor Schmerz, als er den verknacksten
Knöchel belastete. »Ist er noch da?«, stieß er hervor, nachdem er sich von der harten Landung erholt hatte. Aber Mark war gerade zu beschäftigt, um zu antworten. Er schaltete alles an, was die Brücke hergab. Jetzt war der Schattenghoul von einem Lichtring eingekreist. Ein breiter, heller Korridor trennte ihn von jeglichem Schatten – mit einer Ausnahme. Die Wasserpfeife, die einstige Zuflucht des Geschöpfes, stand mitten auf der Bühne. Der dunkle Fleck zog sich zu seiner Amöbenform zusammen. Mark trieb den Ghoul mit dem Spot zu dem Gefäß und hielt anschließend genau auf die Flasche, bis der letzte Schatten verschwand. Das Monster verblasste unter dem hellen Licht und schien sich in Krämpfen zusammenzuziehen. Endlich tat er das Einzige, was ihn noch retten konnte: Pulsierend schlüpfte er zurück in den Glaskolben der Pfeife. »Ja!«, jubelte Julian. In dem Moment erzitterte das Licht in einer weiteren Spannungsspitze und erlosch. Mark schrie geschockt auf. In einer Reflexbewegung schaltete er die Hydraulik wieder ein, damit die Brücke hochfuhr. Er musste den Abstand zu dem Schattenwesen verringern. Aber die Beleuchterbrücke wurde elektrisch betrieben, die Winde reagierte nicht. Wenigstens war es nicht völlig dunkel. Vom Rand der Bühne strahlten noch die Frontalscheinwerfer. »Die Front hängt an einem anderen Stromkreis!«, erklärte Mark mit wummerndem Herzen, als Julian ihn fragend ansah. Leider strahlten die Rampenleuchten schräg nach oben, über die Wasserpfeife hinweg.
Mark zeigte auf die Bühne. »Richte die Taschenlampe immer auf die Wasserpfeife. Nur so können wir den Ghoul hineinzwingen. Ich gehe runter und stopfe die Öffnungen zu.« Aber Julians Bemühungen nutzten nichts. Mark befand sich bereits halb auf der Leiter, da erkannte er, dass es zu spät war. In dem Schatten, den die Wasserpfeife selbst warf, kroch die ölige Substanz des Schattenghouls bereits wieder heraus. Mark stöhnte. Es war aus! Sie hatten noch die ganze Nacht vor sich, und nur noch die Scheinwerfer am Bühnenrand und eine schwache Taschenlampe bewahrten sie vor der tödlichen Begegnung mit dem Dämon. Das Amöbenwesen zischte wie eine wütende Klapperschlange die Vorhangfalten hinauf. Es hielt genau auf Julian zu. »Mark, hau ab!«, brüllte der Junge. Er selbst konnte nicht klettern. Die Kreatur schlüpfte aus den Vorhangfalten auf die Plattform und huschte von Schatten zu Schatten. Die Farbe des Flecks pulsierte heftig von grün über violett zu schwarz. Julian richtete die Taschenlampe wie eine Laserpistole auf den Schattenghoul. Aber es war einfach zu finster dort oben. Der teerschwarze Schatten leckte bereits an Julians Füßen. Mark war gefangen zwischen Grauen und Verantwortung. »Aber was soll ich tun?« »Reparieren. Du bist doch der McGyver!« Julians letzte Worte klangen erstickt, als die ölige Masse über seine Beine floss. Marks Arme wurden schwach, und er hätte fast losgelassen. Aber der furchtbare Anblick bannte ihn an die Leiter. »Egal, was die behaupten, du bist kein Feigling«, sagte er. Was für letzte Worte gab man einem Freund mit auf den Weg, wenn es nur eine Frage der Zeit war, bis man selbst dran glauben musste?
Der grünviolette Wirbel hatte Julians Brustkorb erreicht und kroch jetzt zu seinem Hals hoch. Der Junge schnappte bereits nach Luft, die Taschenlampe polterte zu Boden. Doch da erschien etwas neben ihm auf der Beleuchtertribüne. Halb geblendet von den Frontscheinwerfern konnte Mark die Gestalt kaum ausmachen, doch er erkannte einen Jungen mit Seitenscheitel und in Cordhose. Dieser stand neben Julian und warf keinen Schatten – denn er war selbst nur ein Schatten. Er wischte die Substanz des Ghouls von Julians Körper ab wie Wasser. Der Schattenfleck krümmte sich fort, suchte Schutz am hinteren Teil der Plattform. Mark hörte von fern den einsamen Schlag der Kirchturmuhr – und der Geist verschwand. Es war ein Uhr, Ende der Geisterstunde. »Nein!«, heulte Mark auf, als er Julians entsetztes Gesicht sah. Der Fleck sammelte sich und glitt in einem siegessicheren Schwung über die Plattform. Er war nun so tiefschwarz, dass der Anblick Mark in den Augen schmerzte. Da blitzte es, und Mark musste zwinkern, um seine Sicht zu klären. Der Geisterjunge stand wieder direkt vor Julian. Der Schattenghoul, getrieben von blinder Gier, konnte nicht rechtzeitig ausweichen. Er floss in die geisterhafte Hülle hinein, nur um zu erkennen, dass es dort keinen Ausweg gab. Er saß buchstäblich in einem Körper gefangen, der weder Materie war, noch einen Schatten warf – in einem Gespenst, einem verlorenen Schatten seiner selbst. Der Junge schaute Mark sehnsüchtig an. Dieser erkannte den Schüler aus seiner Vision. Er spürte förmlich dessen Verzweiflung darüber, am Ort seines Todes gefangen zu sein.
Mark erinnerte sich, dass die Kirchturmuhr ungefähr eine Minute vorging. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit! Er schwang sich entschlossen von der Leiter zurück auf die Tribüne und zog das pistolenähnliche Gerät aus der Tasche. Das blanke Kabel, das daraus hervorragte, wickelte er um die eiserne Leitersprosse. Mark eilte an Julian vorbei direkt zu der gespenstischen Gestalt. Wenn – wenn! – es stimmte, was Mark jemals über Spukphänomene gelesen hatte, dann bestanden sie aus elektromagnetischen Feldern. Und die konnte man mit einer Entmagnetisierdrossel manipulieren. Der Geisterjunge schien seine Gedanken zu kennen, denn er nickte. Mark berührte ihn mit der Spitze der Drossel – und der schemenhafte Körper, in dessen Inneren der Schattenghoul tobte, zerstreute sich, wurde durch den Draht und die Leiter geerdet und aufgelöst. Von Geist oder Schattenghoul blieb keine Spur mehr …
* Sie verbrachten die restlichen Stunden der Nacht sehr schweigsam, spielten Karten und dösten. Keiner von beiden fand Schlaf. Gegen Sonnenaufgang begaben sie sich wie vereinbart zum Ausgang. Julian hinkte auf Mark gestützt durch das Foyer. Beim Seiteneingang lag etwas auf dem Boden, das am Abend noch nicht dort gewesen war. »Was ist denn das?« Mark hob es auf – ein Bettlaken. »Und das sieht doch wie Lars’ Collegejacke aus«, meinte Julian. Er wies in eine Ecke. Mark durchsuchte das Kleidungsstück und fand in der einen
Tasche zwei Dinge – Lars’ Brieftasche und Marks Schlüssel zur Aula. Auf der anderen Seite steckte eine Monstermaske aus Gummi. Mark nahm die Schlüssel mit einem zufriedenen Nicken wieder an sich. Dann drehte er abwägend die Brieftasche in der Hand, zog schließlich den Führerschein von Lars heraus und streckte ihn Julian entgegen. »Hier, eine kleine Rückversicherung, falls Lars sich nicht an die Vereinbarung hält und dich nicht in Ruhe lässt.« Julian machte große Augen, steckte aber den Führerschein ein. Mark ging voraus und warf durch die Glastür einen Blick auf den Schulhof. Von Lars und seinen Freunden war nichts zu sehen. »Warte mal kurz, ich bin sofort zurück«, sagte Mark. Er lief zur Bühne, wo er Lars’ Jacke an die ramponierte Beleuchterbrücke hängte und das Bettlaken daneben drapierte. Als Mark ins Foyer zurückkehrte, grinste er immer noch. »Nun muss ich nur noch die Schlüssel unauffällig zurückhängen, dann sitzt Lars ganz schön in der Tinte«, sagte er, nachdem er Julian berichtet hatte, was er getan hatte. »Diese Jacke war ein Glückstreffer!« »Wie kommen die Klamotten bloß hierhin?«, überlegte Julian leise, als sie gemeinsam die Aula verließen. »Wer weiß. Wahrscheinlich wollte Lars uns erschrecken – und hat selbst einen Geist gesehen«, vermutete Mark. »Einen echten!« Trotz des lockeren Tonfalls durchfuhr ihn ein Schauder. Wenn er aus der Sache unbeschadet herauskam, würde er den Namen des toten Jungen herausfinden und auf dessen Grab eine Kerze anzünden. So viel war er ihm schuldig … ENDE