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Die Autorin Irene Rodrian bewarb sich zunächst an der Kunstakademie München, um Grafikerin zu werden, wurde abgelehnt und arbeitete dann zwei Jahre bei einer Werbefirma und ein halbes Jahr bei einem Industrie-Unternehmen, bevor sie sich als Werbeberaterin und Graphikerin selbständig machte. Doch bald löste sie, weil ihr die Tätigkeit zu anstrengend war, das EinmannUnternehmen auf und begann zu schreiben. Einige ihrer Kurzgeschichten wurden veröffentlicht, doch um den Lebensunterhalt zu verdienen, mußte sie noch als Schaufensterdekorateurin und Verkäuferin jobben. Mit ihrem Krimi-Erstling TOD AUF ST PAULI errang sie im Wettbewerb um den "Edgar-Wallace-Preis" des Goldmann Verlages den ersten Platz (1967). An dem Wettbewerb hatte sie sich gleich mit zwei Manuskripten beteiligt, von denen eines nach einem klassischen Muster gearbeitet war und ausgezeichnet wurde, während das andere einen alternativen Ansatz hatte und nicht angenommen wurde, an dem dann aber der Rowohlt-Verlag Interesse zeigte. Nach verschiedenen Jugendbüchern veröffentlichte Irene Rodrian schließlich eine Reihe von Krimis in der thriller-Reihe des Rowohlt-Verlags, bevor sie schließlich zum Heyne-Verlag wechselte, wo sie mit ihren psychologisch orientierten Thrillern großen Erfolg hatte.
Klappentext Künstlerfeste in Schwabing, verträumte Romantik im sonnigen Süden: die Vision von einem Glück zu dritt... Kurt und Robert sind Freunde. Sie lieben dieselbe Frau. Gina. Gina heiratet Kurt. Er hat Erfolg, wird reich und berühmt Gina liebt auch Robert. Den Aussteiger, der sich auf eine kleine Insel im Mittelmeer zurückgezogen hat Die Freundschaft hält, und auch die Liebe Bis Neid, Eifersucht und Haß die Lunte an das trügerische Glück legen: Die tödliche Explosion kommt nicht unerwartet - sie wirft ihre Schatten voraus. Schlagschatten...
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Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
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IRENE RODRIAN
SCHLAGSCHATTEN
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE-BUCH Nr. 01/6209 im Wilhelm Heyne Verlag, München Copyright © 1983 by Autor und Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co KG, München Printed in Germany 1983 Umschlagfoto: Klaus Schmäh, München Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München Gesamtherstellung: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-453-01.740-4
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1 Sie hatte den Körper eines jungen Mädchens. Lange schmale Beine, ein runder Knabenarsch und Brüste wie Apfelhälften. Gleichmäßig dunkel gebräunt, das lange Haar von der Sonne ausgebleicht. Sie lief vor ihm in das Wasser, Lichtreflexe im kristallklaren Türkis. Drehte sich zu ihm um und lachte. Er rannte hinter ihr her, packte sie, balgte mit ihr herum, küßte sie. Hob sie hoch, trug sie an den Strand zurück und liebte sie im heißen Sand. Robert wachte schweißgebadet auf und wußte im ersten Moment nicht, wo er war. Düstere Hitze. Der Gestank von billigem Gin und kaltem Zigarettenrauch. Sandkörner auf dem verkrumpelten Laken und etwas Pelziges in seiner Kniekehle. Vincent, der Kater. Schnurrte erfreut, als Robert sich bewegte und knabberte liebevoll an seiner Wade. Robert gab ihm einen Fußtritt, was Vincent jubelnd als Aufforderung zum Spiel verstand. Robert trat ihn so heftig, daß er durch das Zimmer flog. War endgültig wach, und der Ständer war auch weg. Robert hatte Durst. Das Vichy neben seiner Matratze war lauwarm und schmeckte widerlich. Vincent hockte beleidigt in einer Ecke und beobachtete ihn. Das im Kampf mit einem anderen Kater zerbissene Ohr warf einen grotesken Schatten auf die weiß gekalkte Wand. Robert bewegte sich nicht. Hatte Mühe, die verklebten Augen offenzuhalten. Staubwolken auf dem Boden, schmutziges Geschirr und ein zusammengeknülltes Handtuch. Trübe Gläser, leere Flaschen, übervolle Aschenbecher. Robert beugte sich halb aus dem Bett, kramte eine letzte Zigarette aus der Celtaspackung und goß sich einen Rest Mahon-Gin auf das Vichy. Hustete, ließ sich auf die Matratze zurückfallen. Vincent griff zur letzten Waffe, Robert dazu zu bringen, daß er sich mit ihm beschäftigte. Er machte sich mit Krallen und Zähnen über die Farbtuben her. Robert sah nicht hin. Er hörte das metallene Knirschen und Schmatzen und das triumphierende Grrr, es war ihm egal. Alles war egal und unwichtig. Gina, verdammt noch mal. Als er sie kennengelernt hatte, war sie siebzehn und dürr wie ein Zahnstocher. Und er war einundzwanzig und liebte sie. Und heute war er beknackte zweiunddreißig und liebte sie immer noch. Lag in 5
einer verwanzten Dreckbude im heißen Spanien und träumte von ihr als Wichsvorlage, und sein Kater zerstörte soeben sein Lebenswerk. Vincent, der Einohrige. Recht hatte er. Robert mußte kichern und bekam einen Hustenanfall. Stand auf, ging in den Hof und holte sich einen Eimer Wasser aus dem Brunnen. Eiskalt. Noch einen. So ein Schwachsinn. Nach zehn Jahren noch von Gina zu träumen. Träumen, haha. Wo es auf der Insel willige Weiber in allen Größen zuhauf gab. Er rasierte sich und zog ein sauberes T-Shirt zu seinen speckigen Jeans an. Zählte seine Peseten. 800, mehr als genug. Die Abendsonne glühte über rot ausgedörrten Feldern und blendete ihn. Das Fahrrad quietschte wie ein asthmatischer Bergsteiger. Oder waren das seine Lungen? Sollte vielleicht weniger rauchen. Was denn sonst als Tabak und Rum, das war wenigstens noch billig hier. Er schnaufte bei der Steigung vor dem Dorf. Schwitzte. Fühlte sich wie neunzig. Entweder Boutiquen-Gabi oder die blonde Helga aus Düsseldorf oder Jacqueline. Die standen doch schon Schlange nach ihm. Gabi würde ihn unter Garantie anpumpen, Helga hatte selber Mäuse und fuhr vor allem bald weg. War nur leider über vierzig. Und bei Jacqueline war man nie sicher, wer der Vorgänger gewesen war. So ein penicillinresistenter Marokkotripper war nun wirklich das Allerletzte, was er noch zu seinem Glück brauchte. Lieber so eine von diesen hungrigen Neckermannzuschen, die das ganze Jahr nichts anderes machten, als das Alpenveilchen im Büro vom Chef zu gießen, und sich dann für drei Wochen mit jedem Kellner ins Bett knallten. Ein Hauch von Romantik und eine Rolex als Andenken. Manolo und Juanito, Miguel, Pepe, Paco und Antonio, am Ende der Saison konnten sie alle kaum noch laufen. Schwarze Haare hatte er selber. Er schaffte die Steigung nicht. Stieg ab und pinkelte gegen die niedrige Natursteinmauer, als wäre das der einzige Grund, abzusteigen. Schob die letzten dreihundert Meter bis zu dem kleinen Bauernhaus am Straßenrand, in dem die Post war. Lehnte sein Rad an die Wand und stellte sich in der Reihe an. Gimmelmann, Forster, Dupont, Haidenrath, Mueller, Crommelin und Mayans. Klein. Robert Klein. Es geschehen noch Zeichen und Wunder, ein Brief für ihn. Großes Kuvert, teures Papier, Schreibmaschine. Absender Galerie. Er riß das Kuvert gleich vor der Post auf. Brockmann, die beste Galerie in München. Und denen hatte er nicht 6
mal geschrieben, die wandten sich von selbst an ihn. Seine Finger zitterten leicht. Ein doppelt gefalteter Prospekt auf Kunstdruckpapier. Glanzkaschiert, Vierfarbendruck. Eine Häuserschlucht in Blau, am Ende ein nacktes Mädchen. Gina mit kurzem Haar. VERNISSAGE. Wir laden Sie herzlich ein. Und darüber handbreit in Versalien: KURT HOMBERG. Robert fuhr in die nächste Kneipe und bestellte sich einen Killer. Palo con Ginebra. Soff zwei davon und machte dann mit Gin pur weiter. Zerschmiß etliche Gläser, beschimpfte die Weiber und bedrohte sowohl die Kellner als auch die Rentnertouristen mit Kastration, Folter und Mord. Einzelausstellung bei Brockmann. Kurt Homberg. Sein bester Freund. Ginas Mann.
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2 Um fünf Uhr war es schon stockdunkel. Eisiger Westwind klatschte Schneeregen gegen die Fenster. Gina überlegte, was sie anziehen sollte. Sie stand vor dem Schrank und kramte in den Kleidern herum. Der neue Folkrock war idiotisch bei dem Wetter, und die bestickten Stiefel würden die zehn Meter vom Auto zur Galerie nicht überleben. Die grünen Lurexhosen hatte sie schon zweimal angehabt. Das violette Samtkleid. Sie holte es heraus und hielt es vor den Spiegel. Unmöglich mit dem hennaroten Punkhaar. Sie ließ das Kleid fallen und starrte sich an. Die Hüften waren zu breit. Und die Oberschenkel. Das Höschen schnitt Falten ins Fleisch. Der Bauch war noch flach, die Taille schmal. Die Klarsichtbluse ohne BH. Gina klemmte sich den Augenbrauenstift unter den linken Busen. Er dachte nicht daran, runterzufallen. Löste sich erst, als sie sich streckte und die Arme hob. Mist. Die schwarzen Piratenhosen mit dem Samtwestchen. Netzstrümpfe. Sie zog sich an und schaute wieder in den Spiegel. Schnitt sich eine Grimasse. Setzte sich vor den Spiegel und legte das Make-up auf. Bürstete das streichholzkurze Haar hoch. Falten auf der Stirn. Strich das Haar wieder runter. Was hatte Coco Chanel mal gesagt? Eine Frau ist mit neunzehn zauberhaft, mit neunundzwanzig hinreißend und mit neununddreißig unwiderstehlich. Und eine Frau, die jemals in ihrem Leben unwiderstehlich war, wird nie älter als neununddreißig. Und Gina war erst achtundzwanzig. Sie dachte an Robert und hätte gern geheult. »Bist du endlich soweit?« Kurt stand in der Tür und war schön. Nachtblauer Samtanzug, weißes Rüschenhemd und ein roter Seidenschal. Dunkelblonde Locken und Solariumbräune. Lang und dünn und Mick-Jagger-Mund. Er sah aus wie ein Poet im Kostümfilm; oder wie ein Einserschüler bei der Abiturfeier. »Willst du etwa so gehen?« »Was dagegen?« Sie stand auf und wedelte an ihm vorbei zum Schrankspiegel. »Oder ist es dir nicht seriös genug? Ich dachte, wir gehen auf eine Vernissage. Aber sag mir’s, wenn ich das Datum verwechselt habe und wir heute in die Oper gehen.«
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»Ach, hör auf.« Er stand hinter ihr und zupfte seinen Schal zurecht. Im rosaroten Rüschenrock hätte sie besser zu ihm gepaßt, zugegeben. Sie stupste ihn mit dem Hintern an, und er umarmte sie. Küßte sie auf den Nacken und sah dabei in den Spiegel. Die Scheibenwischer schafften den Matsch kaum, und Kurt mußte fast Schritt fahren. Böige Schneeklumpen unter den Straßenlaternen. Geduckte Gestalten hinter Regenschirmen. Er schaltete, das Getriebe kreischte auf. Der Volvo war neu, Kurt war ihn noch nicht gewöhnt. Er war nervös. »Wir kommen zu spät.« Gina schwieg und trocknete ihre Schnallenschuhe an der Heizung. Natürlich waren sie viel zu früh dran. Hinter den hellerleuchteten Fenstern der Galerie nur ein paar Leute wie einsame Fische im Aquarium. Die Witwe, die Tochter, der Schwiegersohn vom alten Brockmann. Ein paar Journalisten am kalten Büfett und die üblichen Bildungsabhaker, die nichts ausließen. Kurt bremste und schaute in die Fenster. Zog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Das liegt an dem Scheißwetter, da kommt keine Sau!« Gina sah mit Befriedigung die scharfe Linie neben seinem Mund. Bei dem Licht sah er nun aus wie vierzig. »Die kommen schon noch alle«, sagte sie sanft. Er entspannte sich etwas und ließ sie direkt vor der Tür aussteigen. Lächelte und zeigte seine weißen Nichtraucherzähne. Aber kein Pressefotograf war draußen, kein Blitzlicht flammte auf. Sie kamen tatsächlich noch alle. Die Politik und die Industrie, die Schönen und die Reichen, die Eitlen und die Neugierigen. Und alle hatten sich fein gemacht, weil das Fernsehen kommen sollte. Und es kam. Die Abendschau, immerhin. Sie waren aufgehalten worden und brauchten zwei Stunden, um die Scheinwerfer aufzustellen. Bis dahin waren Hummersalat, Kaviar und Smörrebröd weggefressen. Auch der Rentierbraten mit Preiselbeergelee und die Palmherzen überlebten nicht. Smokings und Abendkleider drängten sich an der Theke wie die Ortsarmen im St.-Anna-Stift. Gina merkte, daß sie zuviel trank, und tauschte ihr leeres Glas bei einem der Frackboys gegen ein volles aus. Grinste eingefroren in die Kameras. Schultz, der Schwiegersohn, hielt die obligate Ansprache. Vergaß sein Manuskript und redete sich heiß in Rage. Farbrausch 9
und endlich wieder Emotionen. Die Jungen Wilden vorweggenommen und mit meisterhaftem Können verbunden. Sie hörte nicht hin, schon seit Jahren nicht mehr. Beobachtete Kurt. Knabenhaft jung im schattenlosen Scheinwerferlicht und mit dem bescheidenschüchternen Lächeln, auf das auch sie mal reingefallen war. Der Abend wurde ein Erfolg. Rundum ein Erfolg. Der Abendschauredakteur nahm Kurt zu einem Interview mit ins Nebenzimmer, Schultz hätte es auch geschafft, aus leeren Bierdosen ein hochinteressantes Investitionsobjekt zu machen, und Gina benahm sich nicht daneben. Das war sie Kurt schließlich schuldig. Sie holte sich einen Teller mit Maissalat, um nicht völlig betrunken zu werden, und lächelte und flirtete charmant und plauderte witzig und geistreich. Als ihr schlecht wurde, ging sie aufs Klo, steckte sich den Finger in den Rachen und erneuerte ihr Make-up. Das war’s doch, was sie sich immer gewünscht hatte. Allein an dem Abend verkaufte Schultz das Triptychon und vier andere große Bilder und ein gutes Dutzend Lithos. Er strahlte. Der Kunstmarkt stagnierte, aber Homberg war in. Achtzig Mille mindestens, und die Ausstellung sollte einen Monat laufen. Sie saßen noch zusammen, als die anderen längst gegangen waren, und feierten. Die Presse würde gut werden, das ZDF hatte sich für eine eigene Sendung angemeldet, und sogar die Franzosen zeigten Interesse. Guggenheim war noch nicht fest, aber das ließ sich alles machen, das Telex war so gut wie bares Geld. Paris, New York, die Welt lag Kurt zu Füßen. Er soff sich einen an, entspannte sich und küßte im Überschwang Brockmanns Tochter. Auf der Heimfahrt war er schweigsam. Der Regen hatte nachgelassen, die Straßen glänzten im bunten Schaufensterlicht. Er war müde. Geld, Erfolg, Anerkennung. Alles da. Eine Gartenwohnung in Schwabing und ein Sommerhaus am Mittelmeer. Und eine schöne Frau, die ihn liebte. Er berührte ihr Knie, und sie schmiegte sich an ihn. Zehn Jahre, und Hunderte von rauschenden Festen. Wirkliche Feste. In Jeans und Karohemden mit Brotzeit oder Linsensuppe aus dem Topf. Livemusic, Jazz und Swing. Er wurde melancholisch und hielt an, um Gina zu küssen.
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Der Kriminalbeamte wartete vor der Wohnungstür. Er sah aus wie ein alerter Steuerberater und entschuldigte sich für die späte Störung. Er habe verschiedentlich versucht, sie anzurufen. Sie baten ihn in die Wohnung; bemüht, verwirrt. Kribbeln im Magen. Er hieß Hofer oder so ähnlich und wollte sich nicht setzen. Trinken wollte er auch nichts. Das war ein schlechtes Zeichen. »Kennen Sie einen Robert Klein?« »Ja«, kurze Erleichterung, dann messerscharf der Schreck. »Was ist mit ihm?« »Er wohnt in Spanien?« »Ist ihm was passiert?!« »Sie kennen ihn gut?« »Er ist unser Freund.« Gina vermied es, zu Kurt zu sehen. Es ging um Geld. Der Anruf war aus Spanien gekommen, sehr schlechte Verbindung. Robert saß im Gefängnis, er hatte einen Mann niedergeschlagen. Oder erschlagen? Polizei, Anwalt, Konsulat. Kaution. Hofer war längst wieder weg, als Gina einen Anfall bekam. Sie heulte und schrie und war nicht mehr ansprechbar. Kurt lehnte am Barschrank und ließ die Eiswürfel in seinem Whiskyglas klirren. Beobachtete Gina. Schwarze Schminkstreifen liefen ihr über das Gesicht. Sie plärrte wie ein Kind. Was erwartete sie eigentlich von ihm, verdammt. Robert war schon immer ein undisziplinierter Choleriker gewesen. Irgendwann mußte es ja soweit kommen. »Ich dachte, Robert verachtet Geld.« Sofort jaulte sie wieder auf. Sabberte unverständliche Beschimpfungen. Er ging zu ihr hinüber, setzte sich neben sie, legte ihr den Arm um die Schultern und flößte ihr einen Schluck Whisky ein. Sie hustete, er klopfte ihr auf den Rücken, stellte das Glas weg und umarmte sie. »Du mußt ihm helfen«, schluchzte sie, »er ist doch dein Freund!« Er drückte ihren Kopf so fest an sich, daß sie nicht mehr sprechen konnte. Küßte ihr Haar. Ja, dachte er, Robert ist mein Freund. Und Gina liebt ihn immer noch. Und beide halten mich für blöd genug, von ihrem Verhältnis nichts zu merken.
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3 Die Zelle war ein ursprünglich einmal weiß gekalkter Raum von drei mal drei Metern mit einer offenen Gittertür, die auf den Innenhof des Cuartel hinausging. Früher war hier auch die Polizeiwache gewesen, aber die war jetzt im neuen Verwaltungsbau neben der Kirche untergebracht. Niemand goß die staubigen Geranien, die zwischen Sand und Zigarettenstummeln vor sich hin kümmerten. Ab und zu kamen zwei Arbeiter und hackten die Mauern auf, um neue Zellen einzurichten. Mit dem Touristenstrom nahm nicht nur das Geld zu, auch das Verbrechen. Der eine Arbeiter hieß Paco, ein zahnloser alter Mann mit einem verwitterten Kasperlegesicht. Am zweiten Tag kam er an Roberts Zelle vorbei und ließ ein kleines Päckchen aus zusammengeknülltem Zeitungspapier fallen. Ein Krümelchen Afghan. Gabi vermutlich. Gute alte Gabi, er hatte sie doch unterschätzt. Das Essen brachte ihm Toni, der jüngste Guardia. Ein freundlicher, etwas tumber Bauernjunge, der einzige, der sich bei Roberts Verhaftung nicht an der Prügelei beteiligt hatte. Mehr wußte er nicht. Nur, daß sie plötzlich über ihm waren, ihn zusammenschlugen und im Rover ins Cuartel karrten. Aber es war keine Razzia gewesen, sie waren nur wegen ihm gekommen. Das war nicht das erste Mal. Einmal hatte er nach der Polizeistunde noch die Internationale gesungen. Aber daran konnte er sich erinnern. Diesmal volles Blackout. Robert trank einen Schluck von dem abgestandenen Zisternenwasser, drehte sich einen Joint und legte sich auf das Feldbett zurück. Fliegen, Mücken, Flöhe. Er schloß die Augen und zog den Rauch in die Lungen. Er war auf der Post gewesen, hatte die Glanzpapiereinladung von Kurt bekommen und hatte sich dann systematisch besoffen. Blende. Als er in der Zelle aufgewacht war, hatte er Blut an den Kleidern. Das konnte nicht allein von ihm stammen. Sie sagten ihm nichts. Aber irgend etwas war passiert. Am vierten Tag kam dieser Advokat. Wenn er überhaupt einer war. Jacquelines Idee vermutlich, diese Anglos glauben unerschütterlich an die Allmacht der Botschaften und Konsulate. Der Advokat ließ ihm eine angeschmuddelte Visitenkarte da und verlangte erst mal Geld. Viel Geld. Robert gab ihm Namen, Telefonnummer und Adresse von Kurt. Kurt war reich. Kurt war sein Freund. Robert kratzte einen Flohstich 12
auf und kicherte vor sich hin. Das war aber auch zu komisch. Ein Jammer, daß er Kurts Gesicht nicht sehen konnte. Falls sie ihn überhaupt verständigten. Und was würde er tun. Zahlen oder nicht zahlen, das war hier die Frage. Am letzten Zug verbrannte Robert sich die Fingerspitzen. Es tat nicht weh. Auf seinem Arm saß eine dicke grüne Schmeißfliege. Schimmernd. Funkelnd. Violett und golden. Wie eine riesige Kupferkuppel im Sonnenlicht. Zarte Seidenflügel mit einem Filigrangerüst drin. Drachenflieger. Schwarz glänzende Facettenaugen, die alles verstanden, was er dachte. Wir zwei, dachte Robert, ließ den Jointstummel fallen und schlief ein. Er wachte auch nicht auf, als Toni ihm den Alutopf mit dem Fischreis neben das Bett stellte und das Wasser erneuerte. Er träumte. Gina. Ihre Haare, ihre Brüste, ihre kinderweiche Samthaut und ihr Geruch. Ihr großer Zeh, der ein bißchen zu lang war, und ihre Hände. Das Moosbett im Wald unter schattigen Tannen. Und er. Und alles in Eastman Supercolor.
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4 Robert hatte auf der Akademie nichts zu suchen. Er hatte weder Abitur, noch war er eingeschrieben oder zahlte Gebühren, er hatte seine Arbeiten auch nie dem Prüfungsausschuß vorgelegt. Er ging einfach hin, weil er ein paar Leute kannte und glaubte, dort Handwerk zu lernen. Und um Mädchen aufzureißen natürlich. Weder noch. In den Ateliers wurden Spruchbänder geschrieben, Diskussionsgruppen, Agitationsgruppen und feste Kader legten die Strategie für die nächste Demo fest. Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren. Ein mickriges Kerlchen, dessen Vater eine Keramikfabrik in Friesland hatte, setzte einen großen Scheißhaufen vor die Tür des Direktors. Bisher war er nur durch seine feinen Federzeichnungen von Rehen, Bisons und Auerhähnen aufgefallen. Die Akademie gehört jedem. Kunst ist Gesellschaft, und jeder ist ein Künstler. Die Mädchen liefen mit blanken Hängetitten durch die herbstkühlen Gänge und waren so erotisch wie Tempotaschentücher. Es war eine gute Zeit. Das Gefühl, eins zu sein mit der Masse, dazuzugehören. Lange Abende in verräucherten Arbeiterkneipen und ab und zu Schlägereien. Robert war einsneunzig, und wenn er zuschlug, dann akzeptierten sie auch, was er vorher gesagt hatte. Er war kein Intellektueller, er war ein Mann. In den Sälen tat er, als würde er hingehören, er benützte das Material und machte das Maul auf. Erst, als sie ihn zum Sprecher wählen wollten, merkten sie, daß er nicht mal eingeschrieben war. Aktzeichnen. Das Modell war eine Soziologiestudentin mit Birnenarsch und Blaubeerbrüsten. Gänsehaut. Sie hockte wie eine zusammengerollte Menükarte auf dem abgewetzten Podest und hielt die Hände vor die Möse. Winter. Eisiger Nordwind pfiff durch die klapprigen Atelierfenster, und Robert fror sogar in seinem Norwegerpullover. Der Professor trug Schafwolle unter einem blauen Künstlerkittel und hatte die schütter weißen Haare bis auf die Schultern hängen. »Entspann dich endlich«, dröhnte er, »nimm die Hände da weg, spreiz dich, gib dich den Blicken hin!« Robert stand auf, zog den Pullover aus und legte ihn dem Mädchen über die Schultern. Nannte den Professor einen verklemmten Schleimscheißer und hatte alle auf seiner Seite. Der Kurs wurde ab14
gebrochen. Jemand hatte eine Zweiliterflasche algerischen Rotwein dabei. Auch ein Modell ist ein Mensch. Robert bekam Akademieverbot. Da lernte er Kurt kennen. Er hatte ihn schon oft gesehen, er fiel jedem auf, weil er die Haare kurz trug und graue Gabardinehosen statt Jeans. Er mischte sich nie ein, hielt sich aus allem raus und war zu jedermann höflich. Pinselte vor sich hin und machte nicht mal die Weiber an. Robert saß an dem Tag mit seiner Mappe und einem Kasten mit allen Farben und Werkzeugen, die er hatte mitgehen lassen können, in einem Café an der Leopoldstraße, trank Bier und fühlte sich als Ausgestoßener, Underdog, Proletarier und Robin Hood. Der Rächer der Enterbten. Da kam Kurt herein, schaute sich kurz um, sah ihn und kam an den Tisch. »Entschuldige, ich hab dich gesucht, kann ich mich kurz setzen?« »Wieso? Hast du Hämorrhoiden?« Kurt glotzte verständnislos. Robert gab dem nächsten Stuhl einen Tritt. »Weil du nur kurz sitzen willst.« Kurt grinste dünn und klemmte eine halbe Arschbacke auf die Stuhlkante. Bestellte sich einen Kaffee und schaute Robert nicht an. »Ich wollte dir nur sagen, daß ich das unheimlich gut fand. Und daß ich genau dasselbe gedacht hab, aber ich hab mich nicht getraut, was zu tun. Oder was zu sagen.« Er sah plötzlich auf. »Ich schäm mich richtig, verstehst du. Und das wollte ich dir sagen.« Robert sah ihn an. Blonde Kringellocken und ein glattes unschuldiges Gesicht mit zwei blauen Augen drin. Er grinste. »Trinkst du ein Bier mit mir?« Kurt nickte eifrig, und Robert konnte ihm ansehen, daß er Bier nicht mochte. Von da an waren sie unzertrennlich. Sie hatten beide kein Geld und jobbten nebenher in Kneipen und bei der Zeitung. Austragen war Streß, aber die Pakete für die Post zusammenschnüren, das war Akkord und gut bezahlt. Sie standen die halbe Nacht nebeneinander am Band und hockten sich dann in eine der Kneipen. Und Kurt trank Tee und Saft und schaffte Robert heim, wenn der besoffen war. Sie rollten die Weltgeschichte auf und erfanden den Dadaismus. Sie waren sich einig, und Robert war stark genug, um das auch den anderen klarzumachen, wenn sie Kurts Bered15
samkeit zu widerstehen wagten. Kurt hatte Marx und Engels gelesen, zitierte Adorno, Marcuse und Horkheimer und konnte jeden in Grund und Boden quatschen, der so vermessen war, sich mit ihm auf eine Diskussion einzulassen. Einmal machte Robert eine Bemerkung, Kurt sah ihn an und meinte anerkennend: »Du denkst wie ein Marxist.« Robert hatte längst vergessen, was er da gesagt hatte, aber diesen Satz von Kurt trug er wie eine Auszeichnung über der Brust. Roberts Vater war Beamter bei der Bundesbahn. Er stilisierte ihn zum Eisenbahner hoch, die Vierzimmerwohnung in Perlach zur Wohnküche und das Wochenendhäuschen zur Arbeiterklitsche. Nicht Begonien, Astern und Rosen zog seine Mutter, sondern Salat, Kartoffeln und Blumenkohl. Kurt imponierte das. Er hatte das Pech, in einem Akademikerhaushalt mit Büchern und den üblichen Verklemmungen aufgewachsen zu sein, und hatte eine abgebrochene Psychoanalyse hinter sich. Er konnte Klavier und Geige spielen und schämte sich dessen; Mozart und Beethoven verschwanden im Schuhschrank. Aber wenn Robert heiser und falsch zur geliehenen Gitarre Songs von Woody Guthrie oder Pete Seeger grölte, dann kannte seine Bewunderung keine Grenzen. Aber ein Problem hatten sie beide gemeinsam. Sie waren aufgewachsen mit den Expressionisten, Kubisten, Surrealisten. Bei Kurt waren es sonntägliche Pflichtbesuche im Museum gewesen, bei Robert die fanatische Sammelleidenschaft seiner Mutter nach allem, was bunt war und glänzte. Kunstdruckbände, einen jedes Weihnachten, und Kunstkalender in Superformat. Als er das erste Mal in die Pinakothek kam, war er enttäuscht. Nur die Faszination blieb und die wachsende Verachtung für seine Eltern. Der Vater sah ihn schon als ›mein Sohn, der Herr Doktor‹, als Robert ein halbes Jahr vor dem Abitur den Krempel hinschmiß und zu Hause auszog, um Maler zu werden. Der Vater bekam einen Tobsuchtsanfall, geiferte von Hippies, Gammlern und Gosse und verweigerte von Stunde an jede finanzielle Zuwendung. Die Mutter war viel schlimmer, sie war glücklich. Ihr Sohn würde ein berühmter Künstler werden. Robert fand ein Zimmer in einer WG und zwei Jobs. Vormittags bei Tengelmann Dosen und Gläser auspacken, etikettieren und einordnen, nachmittags und abends Bademeister im Hallenbad. Das war perfekt, Gesundheit und Ernährung waren gesichert, und ab und zu 16
fiel ihm noch eine pummelige Bademütze auf die Matratze. Malen konnte er nachts. Er brauchte das Tageslicht nicht; seine düsteren Tusche- und Kohlezeichnungen, seine monströsen Szenerien und seine frimeligen Schattierungen wucherten nur so im kahlen Licht der Hundertwattbirne. Bis sie ihn raus schmissen. Vielmehr raus diskutierten. Sie arbeiteten alle tagsüber und konnten nachts keine Rockmusik vertragen, weil sie ihren wohlverdienten Proletarierschlaf brauchten. Elli studierte Sinologie, Chris Soziologie, Mike Psychologie, und ihre gemeinsamen Schecks von daheim beliefen sich auf fast zwei Mille. Und Robert nahm nicht an den abendlichen Gesprächen teil und wusch das Geschirr nie ab und kochte immer nur dann, wenn er Lust dazu hatte, und nicht, wenn er an der Reihe war. Die Säcke mit Würsten, Käsen, Gemüsedosen und Seifenpaketen, die er aus dem Mehrwert abzweigte und mit heimbrachte, wurden nicht angerechnet. Robert zog aus und zu einer WG, die einen weniger reglementierten Tagesablauf hatte. Aber das Zimmer war so winzig, daß er seine Klamotten kaum unterbringen konnte, es kostete Mühe, den zwei knochigen WG-Mädchen klarzumachen, daß man freie Liebe auch außerhalb der Wohnung erproben kann, und den drei Typen, daß er, selbst, wenn er unbewußt schwul und mutterfixiert war, es halt im Moment verdammt noch mal lieber mit vollbusigen Weibern trieb. Das Schlimmste aber war, daß er seinen Tengelmannjob verlor, weil die Wohnung am anderen Ende der Stadt lag. Kurt wohnte immer noch zu Hause. Er hatte einen ausgebauten Dachboden für sich allein. Glasziegel und eigener Eingang. Die Eltern waren verständnisvoll und taten alles für ihn, in der Hoffnung, daß er immer noch Kunsterzieher werden konnte. Viel Geld hatten sie nicht übrig, Kurt hatte Geschwister. Aber es war angenehm, unter den dunkel gebeizten Dachbalken auf Fellkissen zu liegen und über die Veränderung der Welt und insbesondere der Malerei zu reden. Franz Marc, Picasso und selbst Salvatore Dali waren out. Der Dadaismus, wenn man unter sich war, auch. Happenings und die Mülltüten von Franz Beckenbauer hatte auch schon ein anderer erfunden, Margarine auf Stühlen und Heftpflaster in Badewannen brachte nur einem was ein, und Hundertwasser trat sogar schon im Fernsehen auf. 17
Es mußte etwas völlig Neues sein. Publikum stört, da waren Kurt und Robert sich einig. Kurt sprach von der Reinheit einer Idee, Robert dachte an seine Mutter, wenn man ihr nur die Gelegenheit geben würde, in Bildern rumzukritzeln. Video. Kurt brachte seine Eltern dazu, eine Anlage zu kaufen, und sie filmten die Entstehung eines Kunstwerkes in allen Phasen. Fanden heraus, daß sie by far nicht die ersten mit dem Einfall gewesen waren, und überließen das Gerät Kurts Vater zum Aufzeichnen von Krimis und Fußballspielen. Straßenzirkus. Die Idee stammte von Robert, und er kotzte literweise Petroleum, bis er endlich Feuer spucken konnte. Weiter kamen sie nicht, die Polizei schritt ein. Robert überlegte, ob er sich nackt, in Plastiktüten verpackt, dem Haus der Kunst anbieten sollte, scheiterte aber an seinem kleinbürgerlichen Schamgefühl, noch bevor er eine Ablehnung riskierte. Reagierte sich an Kurt ab, indem er seine breitflächigen Farbexplosionen niedermachte. Bourgeoise Emotionskleckserei. Falsches Jahrhundert, fehlendes Bewußtsein. Er selber begann einer Art von psychedelischem Realismus zu verfallen, wozu seine zarten SchwarzGrau-Pastell-Zeichnungen nicht passen wollen. Kurt machte eine Serie von Pop-beeinflußten Erotikärschen mit Eistüten und Colaflaschen. Sie nannten es einen Rückfall und versuchten es mit LSD. Robert wurde rechtzeitig schlecht, er schaffte es eben noch, Kurt daran zu hindern, aus der Dachluke zu klettern, und schaufelte ihm Valium 10 aus Mamas Badezimmerschränkchen ein. Sie hatten es erlebt. Bewußt, intensiv. Sie gehörten dazu. Sie konnten es sich jetzt leisten, bei Hasch, Bier und Wein zu bleiben. Es wurde Sommer, die Akademie schloß, die Studenten fuhren heim. Kurt und Robert hockten in den Cafés an der Leopoldstraße, tranken Apfelschorle und Rotwein und machten die Mädchen an. Ließen die anderen demonstrieren, Unterschriften sammeln und agitieren. Rettet den Leopoldpark, rettet den Nikolaiplatz, raus mit den Banken und Büros aus unserem Schwabing. Sie machten bei einem Bürgerfest mit. Freibier und Pamphlete, Dixieland und Blasmusik, Flohmarkt und Kinderspiele. Studenten, Rentner, Türken und Künstler. Wir sind alle eine große Familie, wir lieben uns, auch wenn es regnet. Robert spuckte Feuer, tanzte Tango 18
mit einer Apfelbäckchenoma und soff mit einem türkischen Gastarbeiter, der sich hinterher als spanischer Grandensohn entpuppte, der in München Wirtschaftswissenschaften studierte. Kurt kleckste mit kleinen Kindern Fingerfarbenclowns auf die Wände und soff Bier, weil es nichts anderes gab. Zu welchem Zweck das Bürgerfest initiiert worden war, erfuhren sie erst viel später, als sie die Flugblätter lasen. Alte Häuser sollten abgerissen werden. Das war aber nicht neu. Eine Architektengruppe hatte ein originelles Passagenprojekt eingereicht und gewonnen. Wohnungen, Apartments und Ateliers für Künstler, Cafés, Läden und Boutiquen. Springbrunnen und Bäume. Kein Platz für kinderreiche Arbeiterfamilien. Dagegen protestieren wir. »Und ich sag dir eins«, lallte Robert, als sie mit den letzten Pennern auf den regennassen Holzbänken hockten, »eines Tages machen die das doch, nur viel, viel teurer.« »Und Kinder gehören eh aufs Land«, brabbelte Kurt und schloß einen unverständlichen Monolog über das Glück und Heil der Familie an. Kinderferien auf Sylt, Sandburgen und eine Mami, die ständig Zitronenlimonade und Schinkenbrote aus der Tasche holt. Robert war in seiner Kindheit nie weiter als zu einem Zeltlager am Waginger See gekommen. »Scheißrolle für eine Frau«, meinte er, »dauernd nur Mama sein.« Sie gingen Arm in Arm zur Akademie rüber und pißten einträchtig an die Mauer. Dann kotzten sie Bratwürste, Fischsemmeln und Bier in die Büsche und fühlten sich wieder fit. Standen schwankend zwischen den Anlagebäumen und fielen schließlich auf eine Bank. »Das Meer«, murmelte Robert, »ich hab’s nur einmal gesehen, mit fünfzehn, da bin ich abgehauen. Bis Genua. Mittelmeer und Sonne und Süden, verstehst du, das ist das Glück.« »Dolce far niente«, artikulierte Kurt übergenau und war nah dran, einzuschlafen. Robert rüttelte ihn hoch. Zerrte ihn mit in die nächste Studentenkneipe. Fing mit dem Erstbesten Rabatz an; Kurt war wieder wach. Drohte mit Anwalt und Ministerpräsident, wenn jemand sich wehren wollte. Bestellte irgendwann großkotzig ein Taxi und schleppte Robert mit. Sie stritten um den Fahrpreis und laberten sich in Schlaf. Wochen- und monatelang brachten sie keinen Strich auf die Leinwand. 19
5 Es war einer von diesen völlig irren Zufällen. Robert suchte eine alternative Fahrradwerkstatt, von der er gehört hatte, kam in den falschen Hinterhof und fand statt dessen einen alten Drucker, der noch mit richtigen Steinplatten arbeitete. Eine Idylle wie im 19. Jahrhundert. Verrußte Hausmauern mit blumenberstenden Schmiedeeisenbalkons, übervolle Mülltonnen, zwei alte Rentnerinnen beim Ratschen und italienische und türkische und deutsche Kinder. Ein Autowrack aus den fünfziger Jahren, ein OZMotorrad mit Beiwagen, knallrot gestrichen und ein Berg von alten Lattenkisten. Eine Werkstatt mit zugeschmutzten Kassettenfenstern und dahinter drei Druckmaschinen. Echte Pressen mit Rad und Hebel. Der Geruch von Farbe und Lösungsmitteln. Ein weißhaariger Schnauzbart mit gebeugtem Rücken und blauem Kittel. Rahmen gab es auch und blinde Spiegel. Kunstdruckerei Joh. Baptist jun. stand in kaum noch leserlicher Schreibschrift über dem Eingang. Johann Baptist der Urenkel arbeitete weiter, grunzte ab und zu und bedankte sich nicht einmal für das Bier, das Robert ihm brachte. Trank es aber, und die halbe Schlacht war gewonnen. Nach vier Stunden und sechs weiteren Bier war er bereit, Robert das Drucken beizubringen, echt so, wie man’s vormals konnte, und ihm die Hinterkammer der Werkstatt zu vermieten. Billig war es nicht, aber Robert zog mit einer Euphorie um, als hätte er ein Penthouse in der Lotterie gewonnen. Kurt half ihm. Sie legten einen neuen Fußboden, isolierten die Wände, reparierten die Wasserleitung und putzten die Fenster. Kalkten die Wände weiß und schlossen Kühlbox und Plattenspieler an. Zur Einweihungsfeier kam Johann Baptist herüber, trank Bier und betrachtete lange und ausgiebig die Bilder von Robert. Grunzte, nickte und ging wieder. Er wußte und konnte alles. Siebdruck, Kupferdruck, Radierung, Kaltnadel und Lithographie. Er behandelte Robert wie einen Lehrbuben, scheuchte ihn und ließ ihn fegen. Zeigte ihm alles und wurde fuchsteufelswild, wenn Robert es nicht auf Anhieb richtig machte. Er war gnomenhaft klein und mindestens Mitte siebzig. Seine Hände waren verkrümmt, und sein Atem keuchte beim Drucken wie eine Dampfmaschine. 20
Als er Robert das erste Mal selbst drucken ließ und er zuviel Farbe nahm, schlug er ihm die verhunzte Radierung um den Kopf, bis das teure Papier riß. Trotz all dem schien er Robert aber zu mögen, denn schon nach wenigen Wochen gab er ihm eine Steinplatte und forderte ihn auf, ein Litho selbst zu machen. Robert begann mit den ersten Entwürfen, verzichtete auf Abstraktion und Dadaismus und gab sich völlig diesem Relikt aus dem letzten Jahrhundert hin. Der Hinterhof, die Blumenkästen, die Werkstatt. Zerbrochene Fensterscheiben und eine dicke fette Tigerkatze. Er atmete die Farbdämpfe ein wie Weihrauch und verbrannte sich die Fingerkuppen an der Säure. Gab nicht auf, ließ den Alten nicht über die Schulter schauen. Wandte alles an, was er gelernt hatte. Legte das Blatt auf die Farbplatte, drückte es fest, zog den Hebel herunter und hatte das Gefühl, zum erstenmal mit einer Frau zu schlafen. Das satte Schmatzen, mit dem sich der fertige Druck ölig glänzend von der Platte löste. Robert wagte kaum, ihn mit seinen farbschwarzen Fingern zu berühren. Hörte Johann Baptists Keuchen hinter sich und machte einen Schritt zur Seite. Robert wartete auf den Urteilsspruch und wußte doch schon, daß er positiv ausfallen mußte. »Solang’s noch junge Leute gibt wie dich«, grunzte es hinter ihm, »so lang war doch nicht alles umsonst.« Dann lud er Robert zu einem Bier ein und erließ ihm ab nächstem Ersten hundert Mark von der Miete. Robert war so glücklich wie noch nie zuvor in seinem Leben. Kurt beschimpfte ihn wegen seinem Egotrip und barst vor Energie. Neu-neu-neu. Wenn die Revolution nicht in der Kunst begann, wo denn sonst?! Er hatte eine Gruppe von jungen Leuten aufgetan, die kreativ raus wollten aus der Scheiße. Ein Drogerielehrling, ein Bauarbeiter, ein Anstreichergeselle, ein Schreiner, zwei Akademiekollegen, eine Friseuse und das Soziologiemodell. Jeder ist ein Künstler. Kunst ist Aktion. Aktion ist Leben. Leben ist Kunst. Die erste Aktion sollte EIN HAUS heißen. Nach gemeinsamen Wanderungen wurde mit knapper Mehrheit ein supermodernes Apartmenthaus in der Unigegend als Modell ausgewählt. Die Leinwand vier mal sieben Meter gemeinsam grundiert und aufgespannt. Farben und Werkzeuge in der Akademie geklaut. Jeder sollte sich und sein Haus malen. Das Ganze erst ergab eine Einheit. ZUSAMMEN. 21
Robert war gerade an seinem ersten Farblitho und hatte keine Zeit für Aktionen. Kurt war sauer und sprach drei Wochen nicht mit ihm. Er gestand Robert auch nie, daß die ganze Aktion ein Flop wurde. Nur die beiden Kollegen von der Akademie, der Schreiner und die Friseuse akzeptierten ihren Quader. Pinselten eifrig vor sich hin. Auch der Anstreicher begnügte sich mit seiner Ecke und malte eine kleine Dürerwiese an den unteren Rand. Der Drogerielehrling versuchte die ganze Leinwand mit himmelblauen Röschen zu überziehen, und die Soziologiestudentin klebte BILD-Schlagzeilen über jede Andeutung von Harmonie. Kurt griff ein, solange seine Geduld ausreichte, aber die anderen waren längst nicht mehr ansprechbar, tobten Kreativitätsfreiheit und Selbstdarstellung auf der gestohlenen Leinwand aus und hielten das Maul, als Kurt alles an sich riß und ein Gemälde aus dem Bild machte. Überdeckte, verband, ausglich. Alle fanden es schön und wollten es im Haus der Kunst und in der Presse sehen und hatten das Gefühl, es sei IHR Werk. Der Bauarbeiter übergoß es eines Nachts mit Petroleum und zündete es an. Kurt war ihm aus tiefstem Herzen dankbar dafür. Aber durch die ganze Aktion war einer der Professoren auf Kurt aufmerksam geworden und vermittelte ihm ein Atelier in SchwabingMitte. Sechster Stock ohne Lift, Nordlicht, Holzboden, Ölheizung, Kochnische. Neunzig Quadratmeter. Keine Ablösung und weniger Miete, als Robert für sein feuchtes Kabuff zahlen mußte. Robert freute sich für ihn, half ihm beim Umzug und erklärte Kurts Eltern, weshalb ein guter Maler Nordlicht braucht. Schaffte Leberkäs, algerischen Rotwein und Brot für die Party ran und drehte den ersten Joint. Fand sich in dem Gewimmel nicht mehr zurecht und suchte Kurt. Entdeckte ihn in der Garderobe mit einem nackten Mädchen auf den Mänteln und Jacken herumbolzend. Am nächsten Tag blieb die Werkstatt leer, und Johann Baptist jun. kam die ganze Woche nicht. Nach zehn Tagen kam eine Mittfünfzigerin, schloß auf und kramte überall herum, listete auf kariertem Papier und begutachtete. Robert beobachtete sie. Als sie sein Litho in die Hand nahm, ging er hinüber. Der alte Drucker war tot. Sie war seine Nichte und erbte alles. Robert riß ihr das Litho aus der Hand und schrie sie an. Er hätte sie am liebsten geschlagen, um seiner Trauer um den alten Mann Luft zu 22
machen, aber es war noch früh am Morgen; er war verkatert, aber nüchtern, er zwang sich zu Charme und Höflichkeit. Er hatte nicht geahnt, daß der Alte überhaupt eine Familie hatte, und er hatte ihn immer für arm gehalten. Das ganze Haus hatte ihm gehört, und er hatte es all die Jahre durchsetzen können, daß nichts modernisiert wurde, daß die alten Mieter zu den alten Mieten wohnen bleiben konnten. Die Nichte stand bereits in Verhandlung mit einer großen Versicherung. Weg mit dem Ramsch, her mit Glas und Beton. Bis zum Abriß konnte Robert wohnen bleiben, und er beschloß sofort, eine Bürgerinitiative anzustacheln. Die Werkstatt, die Pressen. Er redete ununterbrochen und glühte sie an, als wäre sie Marilyn Monroe, um wenigstens einen Aufschub zu erpressen. Sie blieb zäh wie Schuhsohle, schickte am nächsten Tag einen Kastenwagen vorbei, der alles abräumte, was sich wegschleppen ließ. Die Druckerpressen waren zu unhandlich, sie bot ihm höhnisch das Erstkaufsrecht an. Robert radelte nach Schwabing zu Kurt. Traf ihn mit einem Krawattentyp bei Tee und Gebäck über die Situation der Malerei im allgemeinen und eine Ausstellung im besonderen plaudernd. Krakeelte rum und holte sich eine angebrochene Flasche DDR-Wodka aus dem Besenschrank. Der Typ verabschiedete sich etwas übereilt, und Kurt war sauer. »Weißt du überhaupt, wer das war?!« Robert drückte ihm ein Wasserglas Wodka in die Hand und erzählte. Vom alten Mann, von der Nichte und von den Druckerpressen. Eine einzige wenigstens, wozu hatten Kurts Eltern das Eingemachte. Dreitausend, das war doch ein Klacks für die. Und die Werkstatt, bis das Haus abgerissen wurde, das konnte noch Jahre dauern. Kurt quasselte von Privateigentum und Ödipus. Robert wurde deutlicher. Malte Kurt aus, was es gerade heute hieß, nicht Unikate für kleine elitäre Gruppen zu machen, sondern Drucke mit hoher Auflage. Kaufhäuser, Möbelgeschäfte, Kalender und Versandhäuser. Die preiswerte Kunst für jedermann. Nach dem dritten Wodka griff Kurt zum Telefon und rief seine Mutter an. »Hallo, Mama, wie geht’s euch, ja, mir geht’s gut, was macht Papa, alles gesund, ach du Ärmste, ja gern, klar doch…« Robert konnte sich das Geschmeiß nicht länger anhören. Fuhr zum Chinaturm und holte sich ein Bier. Setzte sich an einen langen Tisch
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mit Studenten und Rentnern und trank gierig den ersten langen Schluck durch den Schaum. Da sah er Gina zum ersten Mal.
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6 Gina fühlte sich ein bißchen betrunken. Sie vertrug nicht viel, und die erste Hälfte ihrer Radlermaß hatte sie zu schnell runtergekippt. Als sie ankam, fühlte sie sich frisch und unabhängig und unternehmungslustig, aber jetzt wurde das alles ein bißchen schlaff. Sie hockte mit ihren vormals schneeweißen Jeans auf der fleckigen Holzbank (ein Taschentuch unterzulegen wäre ja nun wirklich zu spießig gewesen), schwitzte, und der trottelige Alkoholiker neben ihr hatte ihr bei einem plumpen Anbandelversuch mit seiner Zigarette ein Loch in ihre bulgarische Bluse gebrannt. Das sah jetzt voll beknackt aus. Entweder gleich Gammellook und Flickenjeans oder Super-Suwa. Aber Gina fand es fad, rumzulaufen wie alle. Sie hatte sich schon mit vierzehn ihre Bluejeans mit Chlor ausgebleicht und selber Blümchen und Herzchen draufgenäht, als die anderen noch gar nicht an so was dachten. Aus drei alten Jeans hatte sie sich eine neue genäht, die nur aus Flicken bestand, und sich das Anti-Atom-Zeichen auf den Hintern gemalt. Und genau an der Stelle platzte die Hose natürlich auch. Sie war eben nicht so wie alle anderen. Und es machte Spaß, aufzufallen. Hier im gebügelten Jungfrauenweiß zwischen all den unrasierten und ungewaschenen Pennern zu sitzen. Der Typ gegenüber sabberte in sein leeres Glas und fiel mit dem Kopf auf den Tisch. Schnarchte. Die Studenten links neben ihr quatschten schon seit Stunden über Politik. Spanien, Portugal und Griechenland. Sie hätte locker mitreden können, natürlich war auch sie gegen faschistische Diktaturen. Aber verdammt noch mal, sie hätte sonstwas drum gegeben, jetzt im Pinienhain auf einer griechischen Insel zu sitzen, Retsina zu trinken, Salat mit schwarzen Oliven und Schafskäse zu essen und hinterher mit einem glutäugigen Naturburschen in die Dünen zu springen. Heiße Sonne auf brauner Haut. Vollmond und das Rauschen der Brandung. Statt Bier und schlappen Bubis, die nur über Scheiß reden konnten. Brabbel, brabbel, brabbel. Die zwei auf der anderen Seite mußten sich noch nicht mal rasieren und planten schon ihre Altersversorgung. Nein, dafür hatte sie nicht alles hingeschmissen. Ein Jahr vor dem Abitur. So würde sie nicht werden. Sie schlug den zwei Knaben vor, sich schon jetzt mal für alle Fälle im Seniorenheim anzumelden. Mit 25
Alpenblick und Vollpension. Die hörten nicht mal her, der Penner schnarchte. Gina holte ihren Skizzenblock heraus und fing ein Gedicht an. LEBEN Stein sein unter deinen Füßen spüren wie der Regen fällt und die Hagelkörner den Zement von Jahrhunderten bersten lassen. Gina las es noch einmal durch und fand es wunderschön. Echt gelungen. Das drückte es aus. Bloß der Anfang. Der war irgendwie pubertär und unemanzipiert. Sie zerriß das Blatt und stopfte die Schnipsel in ihre Tasche. Was ihr fehlte, war Erfahrung. Leben. Sie war fast achtzehn und hatte noch nie einen richtigen Orgasmus mit einem Mann erlebt. Gefummel unter der Schulbank und so eine kleine provokative Clinchnummer im Pausenhof. Und dann die Sache mit Ferdi, der keinen hochbrachte und ihr dauernd in die Titten biß. Oder Sabberkuß-Oskar. Richtig gebumst hatte sie nur einmal. Mit Axel aus der Dreizehnten. Der hatte eine eigene Bude und rammelte sich ab, als müßte er für die olympischen Spiele trainieren. Spannte nicht mal, daß sie noch Jungfrau war; als er das winzige Blutströpfchen auf seinem angeschmutzten Laken bemerkte, meinte sie, das seien wohl die Tage, und fuhr mit der Straßenbahn heim. Beim nächsten Mal wollte sie Axel zu sich mit heim nehmen, um die Eltern zu schocken. Das wäre ein Spaß geworden. Paul und Erika, die Psychagogen. Die ja für alles Verständnis hatten. Die ihr schon mit zwölf die Pille einreden wollten. Die Gesichter! Sie war so dumm das Axel auszumalen, und natürlich kniff er. Sie würde ihr Leben der Dichtung widmen. So wie die Schwestern Bronté. Unberührt und dem Irdischen fern. Schade, daß sie keine Schwester hatte. Nur diesen bescheuerten Bruder. Olaf, der nichts Besseres zu tun hatte, als Automaten zu knacken und Mopeds zu klauen. Das Geld allein, das Paul, ihr 26
schwachsinniger Vater, in diesen debilen Bruder gesteckt hatte, würde ausreichen, um nach Acapulco zu fliegen und sich dort mit den Ölmillionären an den Swimmingpool zu legen. Gina beschloß, nach Indien zu gehen. Allein, in einer gelben Kutte, sich der Mystik des Fernen Ostens hingeben. Sie bemerkte Robert. Groß und breitschultrig mit schwarzem Zottelhaar und wildem Schnauzbart. Löchriges T-Shirt und abgewetzte Jeans. Ein morscher Riß am Knie, braun behaarte Haut. Eckige Hände mit geraden Fingernägeln. Er sah aus wie ein Zigeuner. Oder wie ein Grieche. Funkelaugen unter buschigen Augenbrauen. Er stellte sich in der Schlange vor dem Zapfhahn an und ließ alle anderen klein und mickrig neben sich aussehen. Kam zurück und suchte an den Tischen nach einem freien Platz. Die Maß in seiner Hand. Der glatte Bizeps unter seinem kurzen T-Shirt-Ärmel. Muskeln am Hals. Schmale Hüften. Schenkel, die kaum in die Jeans reinpaßten. Nackte Füße in Jesussandalen. Gina starrte ihn an, aber er reagierte nicht. Suchte nach einem freien Platz. Die Studenten mit der Sorge um die Altersversorgung standen auf und gingen. Gina hatte das Gefühl, sie verhext zu haben. Es gab so was. Robert setzte sich ihr schräg gegenüber an den Tisch. Er sah sich kurz um, ohne etwas wahrzunehmen, hob seinen Seidel und trank. Seine Augen hinter Preßglas. Setzte den Bierkrug ab. Sah sie an. Er zog den schnarchenden Penner von der Bank, rollte ihn ein Stück in die Wiese und ließ ihn weiterschlafen. Saß jetzt direkt ihr gegenüber. Sagte nichts. Trank sein Bier und sah sie an. Als er aufstand, dachte sie, er wolle sich ein neues Bier holen. Aber er kam um den Tisch herum auf ihre Seite, packte sie am Ellbogen und zog sie hoch. Nebeneinander schoben sie ihre Fahrräder durch den Englischen Garten, seins uralt und verrostet, ihrs neu und aluschimmernd. Sie berührten sich noch immer nicht, sprachen nicht. An der Leopoldstraße stieg er auf und forderte sie mit einer Kopfbewegung auf, ihm zu folgen. Er flitschte zwischen den Autos und Bussen hindurch, als wäre er unsichtbar. Und unverletzlich. Gina folgte ihm. Kein Auto, keine Ampel konnte sie aufhalten. Es war, als würde sie fliegen.
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Eine vergammelte Einfahrt zu einem vergammelten Hinterhof. Kreischende Kinder und glotzende Weiber. Er stieg ab und wartete auf sie. »Ich heiße Robert.« Er war ein Maler, ein echter Maler. Überall waren seine Bilder und Zeichnungen, und sie drückten genau das aus, was sie in ihren Gedichten sagen wollte. Melancholie und Erotik. Leben und Tod in einem: There’s nothing left to lose. Freiheit. Sie ging auf ihn zu, legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn. Holte die Schnipsel aus der Tasche und gab sie ihm. Er strich sie glatt und legte sie auf dem Fußboden zusammen. Lächelte nicht, grinste nicht. Las, stand auf und küßte sie. Hob sie auf und trug sie auf seine Matratze. Sie blieb liegen, und er sah sie an. Dann knöpfte er langsam ihre Bluse auf und zog die Hosen herunter. In den Fenstern vom Haus gegenüber spiegelte sich das Licht der untergehenden Sonne. Gold und Purpur. Er berührte sie an Stellen, von denen sie gar nicht gewußt hatte, daß sie auf ihrem Körper vorhanden waren, küßte sie, liebte sie, schob sich in sie hinein und blieb bei ihr. Spreizte sie, öffnete sie, ließ sie schreien. Hielt sie fest und war da. Stunden. Es wurde dunkel, und er machte ein paar Kerzen an. Brachte eine Flasche Wein und Zigaretten und Erdnüsse. Sie waren ranzig. Lachen. Küsse. Augen. Wieder und wieder. Kein Gedanke an die Zeit, an die Eltern oder an sonstwas. Es donnerte, blitzte, Regen peitschte in den Hinterhof wie die Brandung gegen die Felsen am Mittelmeer. Sie hätte alles für ihn getan. Irgendwann schliefen sie ein. Dicht aneinandergeschmiegt. Bewegten sich im Rhythmus wie siamesische Zwillinge, berührten sich, sahen sich an. Schliefen. Wachten auf, als die Sonne Strahlen von Staubpartikeln im Raum tanzen ließ. Lächelten. Waren allein auf der Welt. Liebten sich. Robert machte Kaffee und ein Omelette mit Kräutern, Knoblauch und Käse. Sie aßen im Bett, kicherten, quatschten, liebten sich. Er erzählte ihr seine Geschichte und die vom Haus und vom Atelier. Sie erzählte von Paul und Erika, und er wußte nicht mal, was Psychagogen sind. 28
»So eine Mischung aus Psychologen und Pädagogen?« fragte er, sie lachte. »So was ähnliches«, und dann berichtete sie. Wie sie noch klein waren, Olaf und sie, und die Eltern auf dem Selbstfindungstrip. Dann mußten sie immer raus. Wurden ausgesperrt. Paul und Erika meditieren. Die Erinnerung. Die Wohnzimmertür. Das Klacken vom Türschloß. Flüsterstimmen innen. Außen nur die Garderobe und der Flurspiegel. Gina versuchte an der Tür zu lauschen, Olaf ging in die Küche und fraß sich voll. Trank Bier. War besoffen. Schmiß ein Fenster ein. Infantile Aggressionen, diagnostizierte Erika und sperrte ihn in sein Zimmer, weil er auf ihre Erklärungen nur mit Gebrüll reagierte. An dem Abend zertrümmerte er alle Möbel und legte ein Feuer. Das wurde rechtzeitig entdeckt, und Olaf bekam eine neue Zimmereinrichtung. Sie verstanden eben alles. Das Sorgenkind war eher Gina, weil sie sich nicht artikulierte. Robert lachte, küßte sie, und alles fing wieder an. Er gab ihr ein schwarzes T-Shirt, das ihr bis zu den Knien reichte, und schickte sie heim. Gina wußte, daß sie jetzt wußte, was Liebe ist.
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7 Als sie endlich weg war, schnaufte Robert erleichtert auf. Good grief, war die heavy. Er wusch und rasierte sich. Räumte ein bißchen auf. Meine Herren, unersättlich! und dann diese Jungmädchengedichte! Er spülte die Gläser und die Aschenbecher, etwas, was er bisher noch kaum je getan hatte. Kinderkram. Er trug die übervollen Mülltonnen hinaus. Was sie über seine Bilder gesagt hatte, war ja im Prinzip nicht dumm. Für so ein Küken. Er seufzte. Wäre trotzdem besser gewesen, sie hätte wenigstens das Abitur noch fertiggemacht. Indien, haha. Der Kastenwagen schob sich in den Hof und lud zwei der Druckerpressen auf. Robert vergaß Gina und warf sich mit Leib und Leben vor die Lithopresse. Schrie, brüllte und drohte mit Verhaftung, Folter und Pfändung. Die beiden Muskelprotze kamen aus Anatolien und verstanden kein Wort. Robert hätte schwören können, daß die alternde Nichte diese Raritäten von voll funktionsfähigen Museumsstükken als Alteisen verscherbeln wollte. Als sie mit ihrem VW-Käfer vorfuhr, stürzte er sich auf sie. Versprach ihr Himmel und Erde und Bargeld und wäre sogar bereit gewesen, sie zu küssen, zu vögeln, zu heiraten, wenn Allah nicht Erbarmen gezeigt hätte. Die Lithopresse ging beim besten Willen nicht mehr auf die Karre, und die Nichte bot sie ihm für einsfünf an. Zweihundert Werkstattmiete, drei Tage Bedenkzeit. Robert warf sich auf die Matratze, rauchte seinen letzten Joint und trank lauwarmen Wein dazu. Wonne! Gina war ein verdammt nettes Mädchen. Ein bißchen sehr jung und überkandidelt, okay. Aber nicht dumm, keineswegs. Und irgendwie hatte dieser magere Knabenkörper mit dem Apfelarsch und den Aprikosentitten auch seine Reize. Schon wie sie sich bewegte. Und wie sie schrie. Robert reckte sich wollüstig. Er hatte sie erweckt. Haha. Und sie liebte ihn, keine Frage. Robert sprang auf, als jemand stürmisch an seine Tür klopfte. Es war Kurt, schweißtriefend, stammelnd, taumelnd. Er schwenkte einen Papierfetzen in der hocherhobenen Hand. Robert schleppte ihn rein, bettete ihn auf einen Stuhl und flößte ihm Wein ein. Nahm ihm vorsichtig das Papier aus der Hand. Ein Scheck. Frau Martha Hom30
berg, Raiffeisenbank. 5 Mille (in Worten: fünftausend DM). Er brüllte, warf sich auf Kurt, riß ihn vom Stuhl, wälzte sich mit ihm über die rissigen Holzbohlen und küßte ihn voller Inbrunst. Kurt weinte vor Glück. Sie kauften die Lithopresse (Kurt konnte die Nichte um dreihundert runterhandeln), mieteten die Werkstatt und machten sich an die Arbeit. Putzten, weißelten, planten. Als Gina auftauchte, hatte Robert sie fast vergessen. Sie stand plötzlich dürr und schüchtern in der Tür, hatte an den Nähten geplatzte Flickenjeans an und ein viel zu kurzes Blümchen-T-Shirt. Fehlte nur noch die Schultasche. Er stellte sie nebenbei Kurt vor, er fand sie süß. In diesem euphorischen Zustand hätte er sogar die Nichte süß gefunden. Gina fand Kurt spießig, aber auf so eine niedliche Art. »Wir machen eine alternative Galerie«, sagte sie. Wir, sagte sie. Und schon gehörte sie dazu. Sie war handwerklich geschickt und hatte Einfälle. Schwarze Rahmenleisten, sonst alles weiß. Laufschienen, Wechselrahmen, Leuchtspots. Xerox-Kataloge und Kaffeeausschank. Ein Bücherregal zum Schmökern, jeder bringt mit, was er daheim hat. Bequeme Korbsessel, Fleckerlteppich. Kunst zum Wohnen und zum Wohlfühlen. Robert sah sie mit neuen Augen. Sie war ein Kätzchen. Eigene Persönlichkeit. Er war gerührt, küßte sie und sah in ihren Augen, daß sie ihm gehörte. Kurt lächelte, als er mit einem vollen Farbkübel an ihnen vorbeiging, knuffte Robert in den Rücken und verkleckerte Farbe. Sie lachten, Gina machte Spaghetti. Ihr Paps hatte gute Verbindungen, er war wer. Zeitungen und Fernsehen. Robert hatte die Idee, die Presse an junge Künstler zu verleihen. Jeder kann hier arbeiten und ausstellen. Keine Unkosten, die fünftausend von Kurts Mama reichten noch lang. Sie würden reich werden, Lithos konnte man in fast unbegrenzter Auflage drucken, Kleinvieh macht auch Mist. Jedem Arbeiter sein Homberg oder Klein in die Wohnung. Originallithos für fünfzig Mark. Hunderte, Tausende, Millionen. Sie grölten, tranken, umarmten sich farbtrunken. Irgendwann pennte Kurt auf einem Sessel ein, Robert nahm Gina mit auf die Matratze und liebte sie. Leise und lieb und ehrlich. 31
Sie schufteten über ein halbes Jahr. Ritzten, ätzten, druckten. Malten, deckten, druckten. Stanken nach Chemie und liebten sich alle miteinander. Sprachen mit Freunden und Bekannten, hockten in Kneipen und Bars und hängten Laufzettel aus. Kauften Gina ein langes Kleid und einen Taschenrechner. Strichen die Werkstatt auch von außen. Weiß, schwarz und lila. Und die halbe Hausfassade gleich mit. Es war nun offiziell ein Abbruchhaus, sie durften alles. Gina malte Schäfchen und Blumen, Kurt knallte feuerwehrrote Schlachtfeldszenen dazwischen, und Robert umrahmte das Ganze mit Fabrikschloten und genormten Massensiedlungen. Alle wollten mitmachen. Die Kinder aus dem Block, die Frauen, die Kollegen. Und jeder durfte. Farbe war genug da, Kurts Mama schob nach. So verbreiterte sich das Kunstwerk über den ganzen Innenhof, weiße Malzäune sprießten geranienumwuchert aus grauem Zement. Kaninchen und Palmen, verschleierte Moslemfrauen und überdimensionale Bananen, Maschinengewehre und Zeitungscollagen, Autos, Busse, eine Giraffe und tropische Blumen und Früchte rund um alle Fenster. Es war wie ein großes Fest. Sie hängten Lampions auf und stellten eine Rentnerband zusammen: zwei Harmonikas, ein Banjo und eine Trommel ein Saxophon, eine Tuba und ein Klavier. Die erste Vernissage wurde ein voller Erfolg. Ginas Vater hatte alles mobil gemacht, was er kannte. Eine Brauerei stiftete Freibier, eine Metzgerei Leberkäs, Brezen und Bohnensuppe. Ein Winzer aus Franken kam mit Weinfässern angerollt, und das Fernsehen mit einem Ü-Wagen. Blitzlichter und Schrammeln. Feuerwerk und Beat. Walzer und Rock. Muttis und Kinder, Opas und Liebespaare, Türken und Italiener. Sie gingen auf fünfunddreißig Mark runter, und Gina ließ die Kasse klingeln. Als es zu regnen begann, quetschten sie sich, soweit es ging, in die Werkstatt. Ruinierten einen Teil der Bilder, die sie eben verkauft hatten, und gaben das eingenommene Geld für Bier aus. Steinhäger, Wodka, Cognac. Versprachen, das verregnete Klavier zu ersetzen, und waren die Kings der Stunde. Irgend jemand hielt ihnen Mikrofone unter die Nase, und Robert quatschte Blödsinn hinein. Hörte Kurt zu, der mit der Klarheit und Treffsicherheit von Besoffenen seine Thesen druckreif von sich gab, als hätte er den Text einstudiert. Er rettete Gina aus den Fängen eines betrunkenen Rundfunkheinis und versuchte, die Leute höflich und diskret rauszuschmeißen. 32
Es wurde schon hell, als die letzten gingen. Kurt schlief schon seit Stunden auf dem Boden zusammengerollt in einer Ecke der Galerie. Robert ging mit Gina in seine Bude hinüber und packte sie ins Bett. Er war zu betrunken, um noch etwas anzustellen, fühlte nur Sehnsucht nach Wärme und nahm sie in den Arm. Sie kuschelte sich schnurrend an ihn, und sie schliefen erschöpft und glücklich ein. Gina schnarchte. Und war über Nacht verdammt fett geworden. Robert hing mit dem halben Körper auf dem Boden, robbte sich auf die Matratze zurück. Draußen schien die Sonne. Nicht Gina schnarchte. Irgendwann in der Nacht war Kurt zu ihnen gekommen und hatte sich drangerollt. Robert schlief wieder ein. Das Chaos und der Dreck waren unvorstellbar. Wenn es nach Robert gegangen wäre, er hätte den ganzen Kram gekündigt und wäre in die Südsee umgezogen. Aber Gina und Kurt räumten, putzten, wischten. Robert ging Semmeln holen. Er trödelte herum, um den beiden Zeit zu geben, bis zum Frühstück mit dem Aufräumen fertig zu werden. Auf dem Asphalt waren noch Regenflecken, aber die Sonne schien, und in den Bäumen zwitscherten die Spatzen. Im Kiosk an der Ecke kaufte Robert die Morgenzeitung und eine Schachtel Zigaretten. Ging hinüber in die Bäckerei. Der Duft von Kaffee und frischem Hefegebäck war unwiderstehlich. Er stellte sich an den Tresen, trank eine Tasse Kaffee, aß ein Kissinger Hörnchen dazu und las die Zeitung. Sie wurden zweimal erwähnt. Einmal das Fest im Münchner Teil und einmal die Galerie im Feuilleton. Robert legte das angebissene Hörnchen hin. Kurt Homberg, das junge Genie, der Name, den man sich merken mußte. SEINE Galerie, SEINE Druckerpresse, SEINE Bilder und SEIN Vorschlag, den Nachwuchs, jedermann sozusagen, in der Werkstatt arbeiten zu lassen. Roberts Namen wurde nicht einmal erwähnt. Viele Freunde des Künstlers hieß es nur. Einer davon war wohl er. Er zahlte und rannte heim. Im Hof war schon wieder Betrieb. Die Frauen aus dem Block ratschten, putzten, hatten eine Flasche Sekt und Pappbecher dabei. Gina 33
karrte leere Flaschen in einem Schubkarren zu den Mülltonnen. Sah ihn, strahlte, ließ den Schubkarren stehen und lief auf ihn zu. Umarmte ihn so heftig, daß er die Tüte mit den Semmeln verlor. Er küßte sie und vergaß die Zeitung.
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8 Robert zeigte Kurt alles, was der alte Drucker ihm beigebracht hatte, und Kurt begriff schnell. Er nahm Kontakte mit Kalenderverlagen, einer Zigarettenfirma und einem Kunstmagazin auf. Obwohl seine Arbeiten technisch noch ziemlich unvollkommen waren, begann er zu verkaufen. Sammelmappen, Möbelhäuser, Versandgeschäfte und kleine Galerien. Die Zeitungsmeldungen hatten Ströme von jungen Malern und Möchtegerns in die Werkstatt gelockt. Robert wunderte sich über seine eigene Geduld, mit der er über den geballten Dilettantismus hinwegsah. Sauer wurde er nur, wenn sie vergaßen, die Presse zu putzen, und Dreck hinterließen. Es wurden sowieso immer weniger, der Rest war lustig, und die Tage waren wie eine Art Dauerparty. Wein, Brot, Musik und Diskussionen. Und Gina. Gina hatte sich mit den anderen Mietern zusammengetan, machte, organisierte, koordinierte. Ließ sich vom Mieterschutzbund beraten und stärkte oder bequatschte die anderen. Die Versicherung, die den Block gekauft hatte, wollte abreißen und einen neuen Verwaltungsbau hinstellen. Zuerst fing es ganz harmlos an, sie bot Prämien für schnellen Auszug. Die ersten resignierten. Gastarbeiterfamilien mit vierzehn Kindern zogen ein. Die Wasserleitung brach, wurde nicht repariert, einmal fiel der Strom aus, in die Mansardenwohnungen regnete es rein. Weitere Mieter zogen aus, ein paar kurzlebige WGs nisteten sich ein. Das Haus verfiel, am Schluß waren von den alten Parteien nur noch sieben übrig. Die hatten Angst, inzwischen auch vor Gina, grüßten nicht mehr und zuckten schon bei dem Wort Prozeß oder Zeitung zusammen. Gina gab auf. Sie hatte sich verändert, war selbständiger geworden, machte bei einer Frauengruppe mit und arbeitete halbtags in einem Kinderladen. Robert liebte sie wie nie zuvor, und die Intensität dieses Gefühls irritierte ihn. Wenn sie nicht da war, vermißte er sie, und wenn sie da war, konnte er auch nicht arbeiten. Er sah sie immer wieder an, berührte sie und dachte an sie. Fühlte sie. Versuchte, sie zu malen. Als das Bild fertig war, war es ein Porträt von Kurt. Kurt, Kurt, Kurt; in der Mitte der nackte Rücken von Gina, kein Gesicht.
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Pflanzen und Tiere, die alle aussahen wie Kurt. Robert verbrannte das Bild. Von den Maleleven waren nur noch drei übriggeblieben, ein Junge und zwei Mädchen. Sie waren begabt und besessen, Robert mochte sie. Als er eines Tages mit einer Tüte Spaghetti, Tomaten, Knoblauch und Wein vom Einkaufen heimkam, waren sie verschwunden. Kurt stand an der Presse und wich seinen Fragen aus. Robert fand sie in der nächsten Kneipe. Kurt hatte sie rausgeekelt. Er würde die Miete für die Werkstatt zahlen, und er müsse auch jederzeit über seine Presse verfügen können. Außerdem warf er ihnen hundert Jahre alte Rostflecken und Abnutzungserscheinungen an der Maschine vor. Damit fiel auch die Möglichkeit, im Herbst auf der Buchmesse einen kleinen Stand mit eigener Druckgraphik zu mieten, ins Wasser. Robert hatte noch achtundvierzig Mark in der Tasche; sie soffen, bis das Geld weg war. Als Robert heim taumelte, war es dunkel. Licht in der Werkstatt und in seinem Atelier. Knoblauchduft. Kurt arbeitete noch. Sah nicht auf, als Robert reinkam. Zog ein fertiges Blatt ab. Robert wartete, bis er es aus der Hand gelegt hatte, dann schlug er zu. Ließ Kurt am Boden liegen und ging in seine Bude hinüber. Gina stand an der Herdplatte und kochte die Spaghetti. Lächelte nicht, umarmte ihn nicht, küßte ihn nicht. Fauchte ihn an, daß sie es satt habe, dauernd und immer und ewig nur zu kochen, bloß weil sie die Frau sei. Robert knallte sich ins Bett und pennte. Er wachte auf und war allein. Sonnenlicht und glitzernde Staubkörnchen. Reißwolle im Maul und Sodbrennen. Keine Gina. Das erste Mal, seit sie sich kannten. Robert verstand nicht. Die erste Reaktion war Angst. Er stand auf, ging aufs Klo und wusch sich. Bruchstücke von Erinnerungen. Er ging in die Werkstatt. Leer. Nach zwei Tagen kamen sie beide wieder. Sie versöhnten sich, aßen, tranken, lachten. Robert und Kurt arbeiteten wieder zusammen, Robert und Gina schliefen wieder zusammen. Nichts war mehr wie vorher. Sie wollten es alle drei nicht wahrhaben. Kurt druckte wie besessen seine Auflagen, ab und zu half ihm Gina. Meistens war sie unterwegs, hatte einen Spanischkurs belegt und traf sich regelmäßig mit einer Gruppe von chilenischen Studenten. 36
Robert schloß sich in seinem Atelier ein und malte. Kohle und Aquarell, Tempera und Öl. Finstere Visionen von Weltuntergang und Apokalypse, Krieg, Hunger und Impotenz. Intellektuelle Aussagen, die sich verselbständigten, wenn der Bauch sie zu malen begann. Noch vor ein paar Monaten hätte Kurt ihn deshalb übel beschimpft. Rückzug ins Ego, Flucht in die Resignation, bourgeoise Dekadenz. Sie sprachen nicht mehr miteinander. Sie redeten, aber sie sagten nicht viel. Wetter, Kino, SPD, Leben, Liebe, Marcel Proust. Und Kochrezepte, stundenlang. Haus der Kunst, große Herbstausstellung, documenta und Biennale. Sie reichten ein und halfen sich beim Verpacken der Bilder und Ausfüllen der Formulare. Robert lag mit Gina im Bett. Liebte sie, sagte ihr, wie schön sie sei, und daß er sie bewundere. Daß er sie brauche, daß er ohne sie nicht leben könne. Konnte erst kommen, wenn auch sie schrie. Konnte sich nicht satt sehen an dem weichen Ausdruck in ihren Augen. Dicht. Intensiv. Allein auf einer einsamen Insel. Er war der einzige, der sie kannte, der wußte, wer sie wirklich war. Ein kleines Mädchen. Lieb und mager und hilflos. Weiblein, wissend, kennend. Und weil er es wußte, liebte er auch die knochige Emanze der Tagesstunden. Die diskussionssüchtige Aktivistin, die bebrillte Intellektuelle, die die Bilder auseinandernahm, als wären es mißglückte Analysen und Dokumente. Kunst. Robert hörte auf zu denken. Weigerte sich. Malte. Machte bei zwei Demos nicht mit, weil er keine Zeit zu haben glaubte. Kurt würde auf die Buchmesse gehen. Frankfurter Hof. Der größte Kunstverlag hatte ihn eingeladen, Kurt zeigte die Einladungen zu verschiedenen Partys vor und überlegte, was er anziehen sollte. Bekam den Auftrag, ein Kinderbuch zu illustrieren, einen Fortsetzungsroman in einer großen Illustrierten, und das Porträt vom ältesten Sohn eines Politikers. Lehnte ab. Schob Weltanschauung vor. Bot die Jobs großzügig Robert an. »Du kannst das«, sagte er, »ich hab die Zeit nicht.« Kurt verdiente gut. Graphik ging. Und noch vor einem Jahr hätte er zugegeben, daß es Sachen gab, die er nicht konnte. Heute war er sich schon zu gut dafür. Robert versuchte, mit ihm darüber zu reden, aber Kurt blockte ab. 37
Er sah sich als anerkannter Künstler, er machte Geld, er würde berühmt werden, in die Geschichte eingehen. Arbeitete rund um die Uhr. Wurde zu Partys eingeladen und nahm manchmal Gina mit. Kaufte ihr ein Kleid und fragte Robert ob er etwas dagegen habe. Natürlich nicht. Gina kam spät nachts heim, aufgekratzt und voller bissiger Beobachtungen und Berichte. Schlief mit Robert, liebte ihn leidenschaftlich und ging das nächste Mal wieder mit Kurt. Die beiden Luftpostbriefe aus Venedig kamen gleichzeitig. Absagen. Das hatten sie nicht anders erwartet. Die Biennale wurde von den Etablierten gemacht und geführt und gesteuert. Kurt machte ein Riesenfest in seinem Atelier, Champagner, Salate und ein Haufen Münchner Journalisten. Mädchen für jedermann. Joints free. Robert spielte Gitarre und sang Bob Dylan. Ein richtiges Künstlerfest, hieß es am nächsten Tag in der Zeitung, wie in den alten Tagen von Schwabing. Robert zerhackte seine Gitarre und bereute es im gleichen Moment schon wieder. Saß vor den Trümmern und heulte. Kurt bot ihm an, eine neue zu kaufen, eine schönere, eine bessere. Gina küßte ihn tröstend auf den Hals. Robert schlug zu, brüllte und rannte aus dem Haus. Traf im Hof den Briefträger. Vier Briefe, zwei für ihn, zwei für Kurt. München und Kassel. Er brachte sie zurück, und sie machten sie auf. Kurt war abgelehnt, Robert angenommen.
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9 Der Anruf kam um drei Uhr morgens. Robert lag mit Gina im Bett (sie hatten jetzt ein richtiges Bett, verschnörkelter Messing vom Sperrmüll) und wußte zuerst nicht, woher das Läuten kam. Es wollte und wollte nicht aufhören. Die Hausklingel war kaputt, und Telefon hatte er keins. Die Werkstatt. Also für Kurt. Oder doch für ihn? Gina wurde wach und lief automatisch hinüber. Nackt, wie sie war. Kam zurück. »Für dich.« Er wollte sie an sich ziehen. »Deine Mutter.« Er ließ sie los und zog Hosen an. Die Stimme klang so verheult, daß er nichts verstehen konnte, dann kam eine andere. Schwabinger Krankenhaus. Sein Vater, Unfall. Sehr ernst. Im Taxi dachte er immer noch an Gina und die Nachtwärme ihres Körpers. Er fror. Wußte nicht, was ihn erwartete und was man von ihm erwartete. Was für ein Unfall. Auto? Seiner Mutter schien nichts zu fehlen. Grausige Bilder und Vorstellungen von blutzerfetzten Körpern, zerquetschten Hirnschalen und Krüppeln in Rollstühlen. Die Nachtschwester schien auf ihn gewartet zu haben. Die unpersönliche Hohlheit von nächtlichen Fluren. Stöhnen hinter einer Tür. Rote Blinklichter. Das Schmatzen seiner Tennisschuhe auf dem grünlichen Linoleum. Die Intensivstation. Schläuche und Sauerstoffzelt. Flimmernde Skalen und blinkende Apparate. Paravents aus pflegeleichtem Plastik. Glas. Sie ließen ihn ohne Vorsichtsmaßregeln hinein, und Robert wußte, was das bedeutete. Die Mutter saß heulend neben dem Stahlrohrbett. Bekam einen hysterischen Anfall, als sie ihn sah, stammelte von einem losen Eisenträger und Versicherung und »von uns gehen«. Es gelang ihm nicht, sie zu beruhigen, die Schwester gab ihr eine Beruhigungsspritze und brachte sie in ein Zimmer nebenan. Robert saß am Bett seines Vaters. Er war kahlgeschoren und hatte einen dicken Verband um den Kopf. Kein Blut, alles weiß. Auch das Gesicht. Schlafend, eingefallen, um Jahrzehnte gealtert. Milchig durchsichtige Röhrchen, die ihn 39
festnagelten, tröpfelnde Blasen, die sich ihren Weg in seinen Körper erzwangen. Blutleere Hände wie tote Tiere auf dem farblosen Laken. Dunkle Haarbüschel zwischen den Fingergelenken. Zucken. Robert nahm eine Hand und hielt sie so fest er konnte. Hatte Tränen in den Augen, weil das, was da lag, sein Vater war. Der Mann, der alles konnte. Alles wußte. Alles richtig machte. Der ihm die erste Lokomotive seines Lebens gezeigt hatte, die funkelnden Lichter der Signalanlagen, die Weichen und die Stellwerke. Der ihn als kleinen Jungen mit in die Lok genommen hatte und ihm mit einem ölstinkenden Taschentuch die Tränen weggeputzt hatte, als er vor Angst losheulte. Der ihm gezeigt hatte, wie man mit Kohle, Tusche und Zirkel umgeht, und der ihm nie verziehen hatte, daß er nicht Arzt oder Jurist geworden war. Daß er nicht mal das Abitur hatte. Die Augen öffneten sich und zwangen Robert, den Blick zu erwidern. Starr. Grau. Durchsichtig. Schwarze Pupillen. Riesig. Die Hand schien so etwas wie eine Botschaft übermitteln zu wollen, die Lippen bewegten sich. Robert beugte sich tief unter das Polyesterdach, bis ihre Gesichter sich ganz nah waren. »Ist aus«, flüsterte die Stimme, die Robert noch nie gehört hatte, »sag nichts, ich weiß es besser. Meine Schuld. Hätte mich absichern müssen, hatte da nichts zu suchen, verdammte Neugier…« Keuchen, Blubbern. Und so etwas wie ein Lächeln. Händedruck. »Mein Junge.« Robert schluckte, ließ die Hand nicht los. »Muß dir das noch sagen. Bewundert. Dich. Nie selber das gemacht, was ich wirklich wollte. Nie. Träume. Du ja. Weiter. Egal, ob richtig oder falsch. Nur du. Du selber. Selber…« die Augen schlossen sich wieder. Rasselnd schwerer Atem. Robert wollte aufspringen, die Hand hielt ihn fest. Blaue Lichtpunkte auf dem Schirm über dem Bett, Zirpen, Ticken. Die Schwester hinter der Glasscheibe las einen Krimi. Es dauerte noch fast eine Woche. Robert blieb in der Klinik. War kaum dazu zu bringen, das Bett wenigstens ab und zu zu verlassen, bekam von den Schwestern zu essen und zu trinken und vom Arzt einen Rasierapparat. Die Mutter schien sich durch seine Anwesenheit beruhigt zu haben, fuhr heim, holte Kleider zum Wechseln und sprach, wenn sie nicht gerade weinte, von Anzeigen, der Beerdigung und ihrer Rente, als wäre er schon tot. 40
Er sprach nicht mehr und machte die Augen nicht mehr auf. Nur seine Hände irrten über das Laken, bis Robert sie nahm und festhielt. Die Zickzackkurve auf dem grünen Schirm wurde langsamer, flacher. Und ausgerechnet, als sie zur geraden Linie einschlief, war Robert nicht im Zimmer. Als er aus dem Bad zurückkam, standen Arzt, zwei Schwestern und die Mutter am Bett. Drehten sich nicht nach ihm um. Stöpselten ihn ab und deckten ihn zu. Gaben der Mutter eine Viertelstunde und wunderten sich, daß Robert mit ihnen hinaus auf den Gang ging. Den Rest merkte er erst viel später. Als die ganzen Formalitäten, das Begräbnis, die öligen Ansprachen und der Leichenschmaus vorbei waren, als die Kollegen, Cousinen, Vettern, Nichten, Neffen und die unverheiratete Schwester abgereist waren, da merkte er, daß seine Mutter als völlig gesichert annahm, daß er jetzt wieder heimkehren und den Platz seines Vaters einnehmen würde. Zuerst fing es ganz harmlos an. Es gab immer noch einen Haufen Papierkram, und natürlich half er ihr dabei. Sein Vater hatte alles penibel geordnet, er hatte sogar ein Testament hinterlassen. Die Mutter bekam alles. Das Sparguthaben und die Wohnungseinrichtung, den Fernseher und den VW. Das Wochenendhaus und die Werkzeuge. Alles. Bis auf die Modellbahnsammlung, die sollte Robert bekommen. Das Vermögen belief sich auf DM 8779,-, Robert verzichtete auf Pflichtteil und Anwalt. Die Mutter begann, das Geld auszugeben, und die Wohnung neu einzurichten. »Jetzt kommt schließlich ein junger Mann ins Haus.« Er sollte das Wohnzimmer bekommen, sie würde ins Schlafzimmer ziehen, alte Frauen brauchen nicht viel. Sie war noch nicht mal fünfzig. Robert packte die Kistchen und Kästen mit den Loks und Zügen, den Schienen und Weichen (Spur 0) zusammen und verschwand über Nacht. Er hatte es mit Bitten, Reden und Brüllen versucht, stieß immer nur gegen die weiche Mauer aus Mutterliebe und Witwenschaft. Brachte es nach einiger Zeit fertig, nicht einmal mehr ihre Briefe oder die der anderen Familie zu öffnen. Erfuhr durch Zufall, daß sie nach Dortmund zu ihrer Schwägerin gezogen war. Der Frau, mit der sie nie Kontakt gehabt, mit der sie sich nie verstanden hatte.
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Die Wohnung aufgelöst, alles verkauft, versteigert oder mitgenommen. Auch seine ersten Zeichnungen, Schulalben und Sportabzeichen. Seine ganze Kindheit. Robert war frei.
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10 Der Winter war kalt, naß und grau. Er fing im Oktober an und schien nicht vorzuhaben, jemals wieder aufzuhören. Wenn es einmal schneite, schmolz das bißchen Weiß sofort wieder zu schmutzigem Eisschlamm, und die Feuchtigkeit fraß sich durch die alten Mauern. Alles schniefte, hustete und fieberte, und Robert schnitt sich die Fingerkuppen von einem alten Paar Handschuhe ab, um wenigstens etwas arbeiten zu können. Im April sollte das Haus abgerissen werden. Endgültig, die Genehmigung war erteilt. Die Werkstatt stand leer. Gina war jetzt fast dauernd bei Kurt, wegen ihrer Grippe, wie sie sagte. Auch Robert fuhr, so oft es ging, hinüber, um mal wieder gut zu essen oder einfach nur, um sich aufzuwärmen. Kurt ging es bestens. Eine Bank und eine Strumpffabrik hatten ihm Verkaufsausstellungen eingerichtet, eine Ausstellung in Düsseldorf und eine in Würzburg. Er hatte seinen Stil etwas geändert, nicht mehr die explosiven Farbkonzentrationen, Details aus der Alltagswelt zu Poprastern vergrößert. »Du liegst voll im Trend«, bemerkte Robert, »von Vasarely über Andy Warhol nahtlos zu Rauschenberg und Hundertwasser. Erstaunlich, wie du das schaffst.« Kurt überhörte die Ironie, nickte nur, lächelte in sich hinein und malte weiter. Es gab Lammkeule, französischen Wein, Salat und eine Käseplatte. Gina hatte sich die Haare kürzer schneiden lassen und trug einen weiten Folklorerock mit einer Rüschenbluse und einem bestickten Westchen. Sie hatte etwas zugenommen, wirkte weicher, fraulicher, erwachsener. Sie lachte, als Robert seinen dritten Pullover auszog und noch einen vierten darunter anhatte. Gab ihm ein homöopathisches Grippemittel, das phantastisch sein sollte, und sich, wie sich später rausstellte, nicht mit Alkohol vertrug. Nach der dritten Flasche Wein überredete Kurt Robert, bei ihm zu übernachten. Oder hatte er bei uns gesagt? Er fragte ihn nach dem Haus und dem Abrißtermin, machte einen Witz über Ginas alten Plan, aus der Werkstatt eine Galerie zu machen, schien vergessen zu haben, daß er es gewesen war, der die Sache einschlafen ließ, angeblich wegen der mangelnden Qualität der anderen Bilder. Schade ei43
gentlich, jetzt könnte man das gut in den Zeitungen ausschlachten. Er meinte es gar nicht so witzig, aber Robert war zu betrunken, um richtig antworten zu können. Am nächsten Morgen konnte sich Robert nicht mehr an die Einzelheiten erinnern. Sie frühstückten zusammen, legten Don McLean auf und unterhielten sich friedlich und freundlich wie immer. Daß die Stimmung trotzdem angespannt war, fiel Robert nicht auf; seine Erkältung hatte sich tatsächlich merklich gebessert, sogar die Zigaretten schmeckten wieder. Plötzlich sah Kurt auf die Uhr, sprang auf, murmelte etwas von einer dringenden Verabredung und stürzte hinaus. »Sehr taktvoll«, grinste Robert und wollte Gina umarmen. Sie wich ihm aus, drehte den Plattenspieler leise. »Wir werden heiraten«, sagte sie. »Na ja«, Robert grinste immer noch, »danke für die Information, aber bist du nicht noch ein bißchen jung?« »Ich werde zwanzig.« »Das wird fast jeder mal. Und ich hab’ ja auch nichts dagegen, aber wovon sollen wir leben? Und vor allem, wo?« Gina kam zu ihm, legte ihm von hinten die Arme um den Hals und schmiegte sich an ihn. »Robert, ich werde Kurt heiraten.« Robert lief zu Fuß nach Hause. Schneewasser drang durch seine Schuhsohlen und tropfte durch den Parka. Er war wie narkotisiert. Legte sich daheim ins Bett, ohne sich umzuziehen oder den Ofen anzuheizen. Er bekam einen Gripperückfall und lag fiebernd und von Schüttelfrost gebeutelt tagelang in einer wirren Welt aus alles verschlingenden Phantasieungeheuern. Als Kurt kam, mußte er das Türschloß aufsprengen. Er erschrak. Es stank, Robert war abgemagert und unrasiert, lag hohläugig in einem verdreckten Bett und lallte vor sich hin. Kurt wusch ihn, rasierte ihn, bezog das Bett frisch, schleppte warme Kleidung, Daunendecken, zwei Elektroheizer und eine Tüte voller Medikamente an. Kochte Fleischbrühe und flößte sie Robert ein wie einem kleinen Kind. Weinte. Rief Gina an, verbot ihr, auch zu kommen, und blieb bei Robert. Zehn Tage, zehn Nächte. Sie sprachen wenig in der Zeit, es war nicht
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nötig. Als Robert wieder aufstehen und rumlaufen konnte, bat er Kurt zu gehen. »Was wirst du jetzt tun?« fragte Kurt. »Ich weiß es nicht«, log Robert. Sie umarmten sich. Robert war allein. Er teilte das Zimmer in zwei Hälften. In die eine Hälfte kam alles, was er brauchte. Die Bilder und Graphiken, die Mappen und Farben, die Werkzeuge und Unterlagen. Die wichtigsten Bücher und Platten, die notwendigsten Kleidungsstücke, ein paar Fotos und Andenken. In die andere Hälfte der ganze Kram, der sich in den letzten drei Jahren angesammelt hatte. Er verkaufte alles, was auch nur irgendeinen Wert hatte, und verschenkte den Rest an die letzten Jungfreaks, die es noch in dem alten Haus ausgehalten hatten. Es war einfach, fast lustvoll. Nur die Modelleisenbahnsammlung von seinem Vater kostete eine Flasche Wodka, bis er sich auch von ihr trennen konnte. Sie brachte fast fünftausend Mark. Robert war reich. Er kaufte einen alten 2 CV, kündigte die Wohnung, hinterließ eine Nachricht für Kurt und fuhr los. Im Allgäu war noch alles weiß verschneit, und ein eisiger Wind pfiff durch das Flatterdach des 2CV. Am Bodensee waren die Wiesen schon grün, und in Como blühten die Bäume. Er aß Spaghetti und trank Rotwein und Espresso, fuhr weiter, die Nacht durch. Frankreich, La Douce France, das Mittelmeer. Er saß übernächtigt und überwach in einem Bistro am Straßenrand und stippte Croissants in den bauchigen Topf mit Café au lait. Bestellte einen Pastis hinterher und fragte, ob man auch Zimmer vermiete. Ein überbreites Plüschbett, ein Bidet und schmale Jalousien auf die Autoroute. Hinter dem Haus gab es einen Parkplatz und ein Flüßchen. Platanen und Boule spielende Männer mit Baskenmützen. Er legte sich ins Bett, stützte den Kopf auf die ungewohnte Rolle, strampelte die festgezurrte Decke frei und schlief ein. Nizza, Cannes, Vallauris. Provence, das Land Picassos. Robert lief durch denselben Sand, durch den auch Picasso gelaufen war, es gab Fotos als Beweis dafür, er sah das Haus, in dem Picasso gewohnt hatte, und er kaufte einen Keramikteller mit der Taube darauf.
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Auf dem Weg nach Marseille verlor er den Auspuff und wartete in einer weinüberwucherten Werkstatt bei Muscat auf den neuen. Marseille. Hafen, Bouillabaisse, Fischmarkt und braune Mädchen, Zuhälter und Dealer. Sonne. München war sehr weit weg. Er fand eine kleine Dachbude in der Nähe vom alten Hafen, richtete sich ein und genoß den tosenden Lärm in den Straßen. Kaufte morgens seinen Nice Matin und seine Baguette wie jeder Franzose, kochte sich Milchkaffee und stöberte auf dem Markt nach frischen Tomaten, Knoblauch und Fisch. Saß pünktlich zur Apéritifzeit in den Straßencafés herum und freute sich, wenn die Kellner ihn wiedererkannten. Außer ein paar Skizzen malte er nichts. April, Mai. Die Luft wurde heiß und stickig, die Sonne drang kaum noch durch die Wolken von Abgasen hindurch. Das Wasser wurde knapp, man schwitzte schon, wenn man nur atmete, und alles stank nach verfaultem Fisch. Das ist sehr ungewöhnlich für die Jahreszeit, sagten alle und stöhnten, wenn sie nur an den Sommer dachten. Roberts Geld schmolz, und er beschloß, mit dem Arbeiten anzufangen. Spannte ein Blatt auf. Schweiß tropfte vom Ellbogen auf die Tusche. Er gab auf. In der Nacht lernte er Claire kennen. Sie war jung, mager, hatte blondes Haar und erinnerte ihn an Gina. Auch sonst. Nicht schüchtern oder was. Sprach ihn an und lachte und kam mit auf sein Zimmer. Trinken wollte sie nichts, sie hörte auch nicht auf seine in Schulfranzösisch gebrabbelten Erklärungen. Zog sich aus und legte sich flach. Er bekam keinen hoch, und sie zog sich wieder an. Quatschte unverständlich schrill auf ihn ein, bis er sie rausschmiß. Sie hieß Claire und war siebzehn Jahre alt. Am nächsten Tag wischte er die Schweißflecke vom Papier und skizzierte eine Hafenszene. Legte Kleenex unter und hielt den Ellbogen hoch. Château d’If und die Festungsmauern. Bleigrau das Meer und der quirlende Markt im Vordergrund. Die Gesichter der Marktfrauen, die Glotzaugen der Fische. Er malte ohne zu essen und zu trinken durch und hörte erst auf, als es zu dunkel wurde. Ging auf eine Fischsuppe in die Kneipe nebenan und angelte das berühmte 46
schwarze Haar mit der Lässigkeit eines Südfranzosen aus der Suppe. Fühlte sich high und schlenderte noch auf einen Drink in die Cannebière. Claire kam an seinen Tisch. Sie war nicht allein. Hinter ihr stand ein Zwei-Meter-Neger mit gestreiften Hosen und knappem T-Shirt. Sie war auch nicht blond und auch nicht siebzehn. Sie war eine algerische Kinderhure mit gefärbtem Haar. Robert zahlte dem Neger die verlangten fünfzig Franc, trank sein Glas hastig aus und ging. Wurde drei Ecken weiter überfallen. Die Straße war hell erleuchtet, auf den Trottoirs flanierten Playboys, Nutten und Touristen. Platanen und Bars, Straßenhändler und Kioske. Sie waren plötzlich um ihn herum. Mindestens sechs oder sieben. Junge Kerle, mit dunkler Haut und Schnappmessern. Robert schaffte zwei. Er trat, boxte und schlug. Er hatte nicht genug getrunken. Er sah auch keinen rechten Anlaß, sein Leben für Papiergeld zu opfern. Sie nahmen alles, was er dabei hatte, und ließen ihn liegen. Prellungen, ein zuschwellendes Auge, ein verstauchtes Handgelenk und ein wackelnder Schneidezahn. Er schleppte sich heim. Die Zimmertür war aufgebrochen, alles durchwühlt und übereinandergeworfen. Die Matratze aufgeschlitzt und seine Zeichnung zerfetzt. Alles war weg. Die Travellerschecks, das Bargeld, der Wecker, der Kofferradio, der Fotoapparat, zwei Jeans und eine 80-Gramm-Tafel grüner Afghan in unschuldiger Silberfolie. Die Farben und den Paß hatten sie ihm freundlicherweise zurückgelassen.
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11 Die Hochzeit wurde ein rauschendes Künstlerfest. Ein sonniger Maitag mit föhnblauem Himmel. Gina trug ein Trachtenkostümchen aus hellem Leder mit grünen Stickereien. Midi mit Spenzer und Spitzenbluse. Ein überdimensionaler Strauß bunter Wiesenblumen. Kurt trug einen dunkelgrünen Lodenanzug mit hellrosa Bauernschal. Ginas Mutter stellte gerührt fest, daß sie aussahen wie ein junges Grafenpaar. Vor dem Standesamt in der Mandlstraße spielte eine Schwabinger Dixieband, und Freunde und Kollegen ließen Millionen bunter Konfetti vom Himmel regnen. Dann fuhr die Autokolonne zum Haus von Ginas Eltern, wo man dank des schönen Wetters im Garten weiterfeiern konnte. Lange Tische mit weißblauen Rautendecken und eine Originalbrotzeit mit Bier vom Faß. Ginas Vater zapfte gekonnt an und hielt eine launige Rede. Applaus. Kurts Eltern fühlten sich sofort wie zu Hause, verstanden sich großartig mit Ginas Eltern und konnten ihr unverhofftes Glück kaum fassen. Kurts Geschwister hatten eine handgeschnitzte Wiege aufgetrieben und restauriert, Ginas Bruder Olaf hatte aus zwei alten Fahrrädern ein popig bemaltes Tandem gebastelt. Von Kurts Eltern bekamen sie ein schneeweißes VW-Cabrio, das die Geschwister mit Blumen, Fähnchen und Blechbüchsen präpariert hatten. Just married. Die Stimmung stieg, ein paar Besoffene wurden lächelnd toleriert, man schmauste, plauderte, trank und tanzte. Kurts Mutter gab ein Liedchen zum besten. Und dann kam der Clou. Ginas Vater (nenn mich Paul, du bist ja jetzt auch unser Sohn) nahm Kurt auf die Seite und überreichte ihm feierlich einen Cognacschwenker und ein großes steifes Manilakuvert. Sie stießen an, Kurt öffnete das Kuvert. Eine Eigentumswohnung. Grundbucheintragung, alles da. Auf ihrer beider Namen. Sie fuhren sofort los. Die Elternpaare und Kurt und Gina. Eine verträumte Villenstraße nördlich vom Feilitzschplatz, ein neues Sechs-Parteien-Haus, die Parterrewohnung mit Gartenanteil. Drei 48
Zimmer, modern eingerichtete Küche und Keller. Aber das war noch nicht alles. Nebendran gab es ein Ein-Zimmer-Appartement, das man leicht als Atelier herrichten konnte. Paul hatte eine Anzahlung geleistet und Option in der Tasche. Wenn Kurts Vater vielleicht? »Tja, wir normalen Lehrer verdienen nicht ganz soviel wie ihr Psychos, haha.« »Dafür steht ihr vorn an der Front, haha.« Kurt nahm einen hohen Kredit auf, kombiniert mit einem vorfinanzierten Bausparvertrag. Sie verzichteten auf die Flitterwochen in Venedig und richteten sich ein. Freunde, Bekannte, Kollegen, Eltern und Geschwister, alle halfen mit. Das Nordfenster im Studio wurde vergrößert, Teppichböden, Wasserbett, Leinenvorhänge, eine Mahagonikommode und zwei Bauernschränke. Stereoanlage, Infrarotgrill, Waschmaschine und Tiefkühltruhe. Fernseher wollten sie keinen. Die Lithopresse wurde aufgestellt und eine alte, wacklige offensichtlich schon von Monet oder Toulouse-Lautrec bekleckste Staffelei. Die Wände kalkweiß und Bilderleisten. Die Party nahm kein Ende, und nach dem Sekt floß der Rotwein. Kurt und Gina waren glücklich. Sie stimmten ihre Kleidung aufeinander ab, strahlten sich an, schmusten und turtelten, bis die Eltern feuchte Augen bekamen und die Freunde neidisch wurden. Sie waren wirklich ein schönes Paar. Dann wurde es schlagartig ruhiger. Kurts Schwester stand mitten im Abitur, Olaf hatte wieder mal Scheiß gebaut und mußte vor den Jugendrichter, die Freunde ertrugen das junge Glück nicht mehr. Außerdem mußten sie alle arbeiten. Kurt konnte nicht richtig schlafen, bekam immer wieder stechende Magenschmerzen und fraß ganze Berge von bunten Chemiekapseln. Beruhigend, magenfreundlich, unschädlich. Zwei Galerien sagten Ausstellungen ab, weil Kurt nicht genügend Bilder fertig hatte. Die Zahlungen an die Bank und ans Finanzamt waren immens hoch, und sogar das sogenannte Wohngeld für die Eigentumswohnung war höher als die Miete für das alte Atelier. Haftpflicht, Kranken- und Altersversicherung (darauf hatten Ginas Eltern bestanden), Unfall, Einbruch, Feuer, Wasser, Hagelschlag – Kurt hatte das Gefühl, stranguliert zu werden. Konnte nicht mehr malen, schrie Gina an, wenn sie nur den Mund aufmachte, warf ein Glas mit Hummer49
cocktail an die frisch gekalkte Wand. Heulte und half ihr, den Dreck wegzumachen, und neues Weiß aufzutragen. Wollte sich im Bett mit ihr versöhnen und schaffte nur müdes Fingergefummel. Hockte am nächsten Tag allein in seinem neuen Atelier und starrte trübsinnig auf die Stapel von frisch aufgespannten Leinwänden, Farbkästen und die Lithopresse. Schluckte einen Upper. Spülte mit Bier nach. Das mußte man eben anpacken. Richtig. Dem Trend nach. Er war doch in, verdammt noch mal. Und diese naive Art und Weise, wie sie sich da bei den großen Kunstausstellungen beworben hatten. Lachhaft. Allein das Gesicht von Robert. Ja, sicher, die Jury hatte seine Pinseleien genommen, nur leider aufgehängt hatte sie kein Schwein, staubten da in irgendwelchen Ecken vor sich hin. Das mußte man doch ganz anders anfangen. Diese Ausschüsse, das waren doch auch alles nur Menschen. Und Kurt kannte inzwischen einige von ihnen. Das ging doch gar nicht nach Qualität, das ging doch alles nach Markt, wenn man mal ehrlich war. Und der wurde von den paar Leuten gemacht, die gerade in der Scene was zu sagen hatten. Und die mußte man zu Freunden haben. So einfach war das. Kurt machte ein neues Bier auf. Gina war unterwegs, er fühlte sich großartig und aktiv wie schon lange nicht mehr. Video, Performance und der ganze Happening-Mist waren out. Auch der Politrealismus ließ deutlich nach. Kein Raum für seine vom Expressionismus beeinflußten Farborgien. Robert, diese Sau. Hatte sich einfach davongemacht. In den Süden, wo die Sonne scheint. Arschloch. Er wünschte, er könnte zeichnen wie Robert. Kurt beschloß, sich mit Collagen zu befassen. Kaufte sich ein Epidiaskop und entwarf und sammelte Szenen aus dem Landleben. Das war gut. Reines, losgelöstes Handwerk. Er hatte etwas zu tun. Er tat wieder was. Schloß sich tagelang im Atelier ein und klebte märchenhafte Farbvisionen. Die Reaktion kam fast zu schnell. Eine überhastete Ausstellung, alles in den ersten drei Tagen verkauft. Kaum Berichte in den Zeitungen, und wenn, dann negativ. Aber das Bankkonto beruhigte sich und schwoll sogar an. Gina sagte er nichts davon. Er wollte sie überraschen. Sie war in der letzten Zeit seltsam still geworden, traf sich nicht mehr mit den 50
Frauengruppen, und einen Kinderladen gab es in der Gegend auch nicht. Es war seine Schuld. Sie war seine kleine Kindfrau, und er mußte sie verwöhnen. Wenn sie nichts anderes als Spaghetti kaufen durfte, mußte sie ja frustriert sein. Einmal schrieb sie sich sogar an der Volkshochschule ein, für einen Keramikkurs. Kurt fand das rührend, meinte aber, das könne sie auch bei ihm lernen. Sie sprach nie wieder davon. Er lud sie zum Essen beim Humplmayr ein und bestellte Kaviar und Hummer satt. Champagner. Schob ihr unter dem Tisch ein kleines Päckchen zu. Die Cartier-Uhr, die sie sich schon so lange gewünscht hatte. Bekam einen Ständer von ihrem Jauchzen und hätte sie am liebsten über dem schimmernden Damast vernascht. Nachts wurde ihm kotzübel, er nahm an, daß die Mayonnaise verdorben gewesen war, und wollte sich handfest beschweren. Konnte nur mit zwei Valium einschlafen und spuckte am nächsten Morgen Blut ins Waschbecken. Er stand vor dem beschlagenen Spiegelschrank, und starrte in sein Gesicht. Falten neben dem Mund, düstere Gräben mit schmutzigblonden Bartschatten. Husten. Würgen. Rotbrauner Schleim. Zahnfleischbluten? Neues Würgen und ein ganzer Schwall von Karminrot. Er versuchte es wegzuspülen, aber es hörte nicht auf. Schmerzen. Messer krümmten ihn auf die feuchten Fliesen herunter. Er schrie. Sie kamen mit Blaulicht und schleppten ihn auf einer Bahre ins Maltheserauto. Heulten mit ihm los. Der Wunschtraum jedes kleinen Jungen erfüllte sich, und Kurt war nicht mal in der Lage, aus dem Fenster zu schauen. Bäumte sich schweißgebadet auf, wurde von einem weißgekleideten Zivildienstler runtergedrückt. Ruhig, ganz ruhig, wir sind gleich da. Schwarze Locken bis auf die Schultern. Gina war auch da. Ein schönes Paar. Er verlor das Bewußtsein.
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12 Alles weiß. Weiß-weiß mit einem leichten Blaustich. Oder grün? Pelziger Geschmack auf der Zunge und ein unbeschreiblicher Durst. »Wasser!« Gina. Wieso hatte er sie nicht vorher schon gesehen. Sie hatte ein schwarzes T-Shirt an. War das etwa seine Beerdigung. Er bewegte den großen Zeh. Nein, er lebte noch. Sie hatte Tränen in den Augen. Wie nett. »Du darfst nichts trinken.« Jetzt erst sah er den Schlauch, der von einer umgestülpten Ginflasche in seinen rechten Arm führte. Lachte. Schmerzen. Bauchdecke. Sie hatten ihn aufgeschlitzt. Angestochen wie eine Wassermelone. Er dämmerte wieder weg. Als er aufwachte, saß Gina immer noch da. Hatte nur was anderes an. Lächelte. Hielt ihm eine Schnabeltasse mit kühlem Kamillentee an den Mund. Aufgebrochenes Magengeschwür. Letzte Rettung. Tralala im Magenraum. Er bat sie, aufzuhören. Nachts war er allein. Er schlief, wachte auf und schlief wieder ein. Lichter hinter dem Fenster. Er hätte sterben können. War nah dran gewesen. Wieso hatte er nie etwas gemerkt. Krebs? Er schrie. Niemand kam. Er schrie wieder und drückte auf die Klingel. Die Nachtschwester war noch keine zwanzig und stammte vermutlich aus Vietnam. Lispelte. Versicherte ihm, daß alles negativ war und daß morgen der Chefarzt sowieso kommen würde. In dieser Nacht schlief Kurt nicht mehr. Zwei Monate vielleicht? Ein Jahr? Was würde er tun. Abhauen. Irgendwo am Mittelmeer auf den Tod warten. Morphium und Wein? Junge Mädchen, die erst voll erblühen würden, wenn er schon unter der Erde vermoderte. Allein mit seinen Bildern in einem alten Bauernhaus. Tag und Nacht malend, um ein Werk zu hinterlassen. Ein kleines, gelbgeringeltes Kätzchen, das ihm um die Beine strich und selber Junge haben würde, wenn es ihn schon gar nicht mehr gab. Er hatte nicht mal einen Sohn. Eine andere Schwester weckte ihn, also hatte er doch noch geschlafen. Es regnete. Der Chefarzt kam mit seinem Gefolge und blieb an 52
seinem Bett stehen. Negativ bezog sich auf das Ergebnis, er hatte nur ein Magengeschwür gehabt und keinen Krebs. Das war’s, keinen Krebs. Er konnte hundert Jahre alt werden, sein Magen war etwas kleiner jetzt, würde sich aber wieder ausdehnen. Ein Jahr lang Diät, kleine Portionen. Er war jung und gesund und würde lange schlank bleiben. Es half nicht viel. Er lag im Bett, schaute an die Decke und versuchte, die Schmerzen wegzudenken. Sie hatten die Medikamente reduziert und gaben ihm auch kein Valium mehr. An dem Tag, als die Fäden gezogen wurden, sah er seinen Bauch zum erstenmal. Eine blutrote Wulstnarbe mit einer kleinen Quaddel an einem Ende. Entstellt bis ans Ende seiner Tage. Sterblich. Und er war eben erst ein Vierteljahrhundert alt. Gina brachte ein Radio, einen Kassettenrecorder mit seinen Lieblingsbändern und einen Stapel Krimis mit. Sie fand die Narbe niedlich, und wenn sie braun wäre, würde man sie überhaupt nicht mehr sehen. Zum erstenmal wunderte er sich, daß er in einem Einzelzimmer lag, und machte sich Sorgen, wer das alles wohl zahlen würde. Die Versicherung. Er bekam sogar Taschengeld. Es hatte sich doch gelohnt. Als er entlassen wurde, ging er gekrümmt wie ein alter Mann. Die Narbe zog und fühlte sich an, als würde sie bei der ersten richtigen Bewegung reißen. Gina fuhr ihn im VW heim und hatte schon einen Diätplan aufgestellt. Viel gekochter Fisch mit Wasserkartoffeln. Tee und später mal ein Gläschen Rotwein. Sie packte ihn ins Bett und stellte ihm eine Art schiefen Tisch auf den Bauch. Zum Lesen. Oder Malen. Er warf das Zeug weg und machte sich an seine Übungen. Ignorierte die Schmerzen und das Ziehen, trainierte die durchgetrennten Bauchmuskeln und kaufte sich ein Solarium. Wurde braun und mußte nach einiger Zeit im Spiegel sehr genau hinsehen, um die Narbe noch zu erkennen. Er abonnierte und studierte die internationalen Kunstzeitschriften auf das genaueste, legte sich einen Arbeitsplan zurecht und stellte Listen von allen wichtigen Leuten zusammen, die man einladen mußte.
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Das Leben ging weiter. Und wenn es in diesen Zeiten für einen Künstler auch nur andeutungsweise so etwas wie Sicherheit gab, Kurt wollte alles dafür tun. Geld. Das war Macht und Zeit und Raum und Freiheit. Kurt arbeitete und malte und druckte wie noch nie zuvor in seinem Leben. Verkaufte, gab Partys und erschien auf Vernissagen. Kontrollierte jeden Morgen im Bad, ob Gina auch die Pille genommen hatte. Hatte panische Angst davor, daß sie ein Kind bekommen könnte. Sprach von Atombomben und Kernkraftwerken, von verseuchter Milch und sterbenden Wäldern. Bezahlte sein Atelier ab und fuhr einen BMW.
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13 Robert kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Er klammerte sich an der Bartheke fest und hatte Mühe, den Cognac nicht zu verschütten. Trank ihn aus und schwankte hinaus an die Reling. Ein Brecher schwappte über Bord und durchnäßte ihn. Er holte tief Luft und fühlte sich etwas besser. Fixierte den Horizont. Auf und ab. Wellen, Täler, das kleine Schiff stieg, senkte sich, hob sich wieder. Ein fast glühendes Blau, soweit man sehen konnte. Durch einen weißen Dunststreifen in zwei Schattierungen geteilt. Eine Felseninsel, das Schiff änderte den Kurs, die See wurde ruhiger. Vigoleis Thelen, die Insel des zweiten Gesichts. Robert hatte das Buch vor Jahren gelesen und sich plötzlich wieder daran erinnert. Spanien, Insel im Mittelmeer. Das überirdisch klare Licht, das die Maler faszinierte. Vino, Gastfreundschaft und Gitarrenklänge. Er verkaufte den 2CV für knapp zweitausend Mark und reduzierte sein Gepäck auf das Allernötigste. Nahm den Bus nach Barcelona. Vermutete, daß sie ihm den Paß absichtlich gelassen hatten. Damit er nicht zur Polizei gehen mußte. Damit er verschwinden konnte. Gaunerpsychologie. Robert hatte genug von Städten und Menschenansammlungen und suchte sich die kleinste Insel auf der Landkarte aus. Sie war wirklich verdammt klein. Flach wie eine Schuhsohle mit einem grünen Buckel am Ende. Braune Felsen und eine weiße Hafenmole. Beton, Lastkräne, Ausflugsboote mit kurzhosigen Touristen und Berge von Coca-ColaKisten. Ganz Natur und Idylle. Robert schleppte sein Gepäck an Land. Fragte den marinero, der die Laufplanke festhielt, wann das Boot wieder zurückführe. Der lachte zahnlos und winkte einem Taxifahrer. Eine schnurgerade Asphaltstraße, direkt vor ihnen ein dickbäuchiger Bus, dessen Dieselwolken durch die offenen Fenster ins Taxi quollen. Telefonmasten und Lagerhäuser im flachen Stein. Grüne Weinfelder, hellgelber Weizen, dunkelgrüne Feigenbäume, von Hunderten von Jahren zu Schattendächern gebeugt. Schafe, Ziegen, eine alte Bäuerin in schwarzer Tracht. Weiße Würfelhäuschen, eine Windmühle. Roberts Abneigung verwandelte sich in Interesse, Neu-
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gier, Sympathie. Als das Taxi vor der kleinen Pension hielt, wußte er, daß er zu Hause angekommen war. Das Zimmer war ebenerdig und winzig, und die einzige Aussicht war ein staubiger Eukalyptusbaum. Dusche und Klo waren auf dem Flur draußen. Die Kneipe gegenüber. Ein paar junge Leute auf der Mauer. Lange Haare, Pluderhosen, Fleckenjeans. Wein und Hasch und eine Gitarre. Robert setzte sich hin, sie sahen kaum auf. Später kamen noch eine Flöte und eine Mundharmonika dazu. Die Flöte hieß Ali und trug ein indisches Hemd, die Mundharmonika hieß Helen und war sehr hübsch. Robert holte eine Runde und fragte, wo man hier wohnen könnte. Nun ja, man mußte ein Haus finden. Noch eine Runde. Das war gar nicht so einfach. Zwei Bier, eine Cola und ein Hierbas. Und verdammt teuer. Ein Cognac, drei Wein. Die Bodega hat noch offen, wenn du eine Karaffe Wein kaufst, gehen wir zu uns und kochen Spaghetti. Das Haus, in dem sie wohnten, lag nicht weit vom Dorf. Uralt und teilweise verfallen, aus braunen Natursteinen, verwinkelt, flach geduckt hinter einem mannshohen Kaktusgarten. Vom Kerzenlicht verrußte Wände, Matratzen auf dem gestampften Lehmboden, mexikanische Decken. Ali und die Gitarre hatten einen Job, sie spielten bei einer Touristenparty mit Paella und Sangria auf. Es gab noch einen Chris aus England, einen Pablo aus Argentinien und eine Susie aus der Schweiz. Robert verstand nicht ganz, wovon sie eigentlich lebten, er nahm nur wahr, daß Helen allein in ihrem Anbau lebte und daß er bei ihr bleiben konnte und daß sie noch ein Extrakrümelchen Gras für nachher hatte. Sie aßen die Spaghetti und tranken den Wein dazu, rauchten ein paar Joints und erzählten sich was. Pablo wußte vielleicht ein kleines Haus für Robert, weiter weg, er würde ein Fahrrad brauchen. Zwei Räume mit Zisterne und offenem Kamin. Aus dem Haus konnte man was machen. Viertausend Peseten Miete, das waren etwa hundert Mark. Der Bauer, dem es gehörte, war in Ordnung, wenn Robert sich ein Oberlicht in die Decke machen wollte, hatte er sicher nichts dagegen. Sonst war es zu dunkel zum Malen. Pablo malte auch. Es gab sogar eine Galerie auf der Insel, und zwei Lithopressen, die man mal benutzen konnte. Die Hausbesitzer aus Düsseldorf oder Zürich, die mit Geld, die kauften schon mal ganz gern was für ihre Villen mit 56
Meeresblick. Und andere Jobs halt. Häuser weißeln, Holzarbeiten, putzen, je mehr einer konnte, desto einfacher war es. Viel braucht man ja nicht. Deswegen sind wir schließlich hier und nicht in Frankfurt. Sie wurden albern, kicherten. Susie und Chris schmusten ein bißchen. Robert sah eine alte spanische Gitarre mit gerissenen Saiten an einer Wand hängen, nahm sie herunter und spielte ein bißchen auf den restlichen drei Saiten. »Du kannst sie für sechstausend kaufen«, sagte Susie, und einen mit einem alten Fahrrad kannte sie auch. Robert zahlte zweitausend und lehnte seinen Kopf gegen Helens Busen. Es wurde schon hell, als sie endlich allein waren. Sie hatte ein rundes Herzgesicht mit einem spitzen Kinn, hellrote Kräusellocken, und der ganze Körper war braun von Sonne und Sommersprossen. Weicher Silberflaum auf den Armen und Beinen. Sie roch nach Moschus. Sie war nackt, noch bevor er seine verschwitzten Jeans runter hatte, und zog ihn ungeduldig zu sich herunter. Er war müde, aber gleichzeitig überwach und geil, er hatte seit Monaten mit keiner Frau geschlafen und wollte nicht gleich wie ein Eber drübergehen. Er küßte sie, streichelte sie, knabberte an ihrem Ohr herum. Sie packte ihn grob und warf sich auf ihn, als wäre sie der Mann und er die Frau. Verwirrt blieb er auf dem Rücken liegen und ließ sie die ganze Arbeit machen. Sie war ein muskulöses Energiebündel von einem unermüdlichen Bewegungsdrang. Ihre Brüste wippten, daß die Schweißtropfen flogen. Er hielt es nicht mehr aus, packte ihre Arschbacken, drehte sie herum, bog sie zu einem Paketchen und vergewaltigte sie. Sie lächelte. »Hey«, flüsterte er, »du bist ja gar kein Pavian. Du bist ja ein kleiner Masochist. Das trifft sich gut.« Er nahm sie in den Arm, küßte sie, hielt sie fest und zog das Laken hoch. Er wachte davon auf, daß zwei Fliegen es ausgerechnet auf seiner Nase miteinander trieben. Es war stickig heiß, Sonnenstreifen glühten durch ein winziges Fenster ohne Glas und entkleideten die Romantik der letzten Nacht zu schäbiger Kahlheit. Das Laken war verrutscht, und das Mädchen neben ihm klebte an seinem Körper, als wären sie für alle Ewigkeit miteinander verschweißt. Robert hatte Mühe, sich an ihren Namen zu erinnern. Helen. Sie schlief mit leicht 57
geöffnetem Mund. Lautlos wie ein kleines Kind. Sie schien nicht einmal zu atmen. Robert fühlte Panik aufsteigen und machte sich vorsichtig von ihr los. Sie bewegte sich nicht. Starr. Kalter Schweiß. Sie hatte keinen Puls und keinen Herzschlag. Er schlug sie. Sie knurrte unwillig und drehte sich auf die andere Seite. Ihre Fußsohlen waren schwarz. Robert brauchte dringend ein Glas Wein, Whisky oder Arsen und eine Zigarette. Er stand auf, tappte zwischen vollen Aschenbechern und schmutzigem Geschirr herum, bis er seine Hosen fand. Zog sich an. Eine Tasse mit einem abgestandenen Teerest, eine bröselige Zigarette. Kein Streichholz. Wut. Tränen. Er hörte Stimmen auf der anderen Seite vom Haus und ging hinüber. Unter einem Dach aus trockenen Pinienzweigen saßen die anderen beim Frühstück. Ali und Chris, Pablo und Susie. Pulverkaffee, altes Brot und Ziegenkäse. Chris gab ihm ein Glas Zisternenwasser mit der Bemerkung, daß er als Newcomer vermutlich Durchfall davon bekommen würde, und Susie suchte für ihn nach Zigaretten und Streichhölzern. Fand weder noch. Robert nahm seine Gitarre und ließ sich den Weg ins Dorf erklären. Felsen, Mauern, Sonne. Ein Arbeiter auf einem Moped überholte ihn, und zwei Radfahrer mit Freizeitshorts und schwarz gerösteter Haut. Benzingestank und eine Wolke von Delial. Ihm wurde schlecht, und er hockte sich unter einen Feigenbaum am Straßenrand. Eine Ziege mit dickem Bauch und zusammengebundenen Beinen glotzte ihn schwermütig an. Mummelte. Irgendwo schlug eine Kirchenglocke, blechern wie ein Sterbeglöckchen. Glasblauer Himmel. Ein staubig-grauer Unkrautstreifen an der Mauer, rot oder ocker die klobigen Steine, Maserungen und eine Vielfalt von Grüns. Das satte Dunkel der Feigen, das matte Hell der Mandeln, das silbrige Filigran der Oliven, ein berstend violetter Bougainvillea vor einer weißen Hauswand und weit weg auf dem Hügel das dunstige Blaugrün der Pinienwälder. Robert stand auf und ging weiter.
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14 Es war kühl und sah nach Regen aus, aber noch konnte man gut unter dem weit vorgezogenen Terrassendach sitzen. Gina hatte einen Pullover an und legte ihrer Mutter eine dicke handgestrickte Jacke um die Schultern. Sie tranken Tee aus einer Thermoskanne, den Schokoladenkuchen hatte Gina selbst gebacken. Er troff von Rum, und Gina nahm sich das dritte Stück, obwohl sie sich nicht viel aus Süßem machte. »Du hast zugenommen«, sagte ihre Mutter zwischen einem detaillierten Bericht über ein verhaltensgestörtes Kind, bei dem sich schon nach kurzer Therapie erstaunliche Fortschritte zeigten, einer Schilderung aller Beschwerden, die Vater Paul mit seinen Gallenkoliken hatte, und der Aufzählung aller homöopathischen Medikamente, die er nicht regelmäßig einnahm. Olaf hatte jetzt eine Lehrstelle bei einem Schmied in Niederbayern. Ganz alternativ. Vermutlich würde das auch nicht lange gutgehen. Schwere Arbeit und viel Bier. Der abwesend kritische Blick intensivierte sich plötzlich. »Oder erwartest du was Kleines?« Gina schwieg. Dieser grotesk altmodische Mutterausdruck stand im krassen Gegensatz zu Erikas sonstigem Gehabe. Französische Jeans, T-Shirt, Schal und Westchen. Oil of Olaz. Lidschatten. Sonst ganz Natur und erhaltene Jugend. Die Tennisschuhe sahen aus, als wären sie von Olaf ausgeborgt. Die Praxis wuchs, sie kamen kaum nach. Die höchste Erfolgsquote erzielten sie bei kleinen Kindern, vor allem, wenn die Eltern mitmachten. Aber jetzt, mit zunehmendem Schulstreß, öffneten sich völlig neue Möglichkeiten. Ein guter Freund, früherer Kollege von Paul – du erinnerst dich doch noch an Klaus, der Dicke mit der komischen Brille – hatte den Staatsdienst quittiert und eine eigene Privatschule aufgemacht. Er hat Geld geerbt, paar Häuser oder so, war eh frustriert im normalen Schulbetrieb. Weil man da eben so wenig machen kann. Er nahm jetzt gerade Problemkinder. Übergangsklassen. Haupt zu Real, Real zu Gymnasium, Kolleg zu Abitur. Die Bruchstellen, die Hauptstreßpunkte. Natürlich ein Jammer, daß sich das wieder nur die Eltern mit Geld leisten konnten.
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»Jetzt sag doch, wann kommt es? Ich hoffe, du gehst regelmäßig zum Arzt. Bei welchem bist du eigentlich?« Kurt war nebenan in seinem Atelier. Er hatte seine erste große wichtige Einzelausstellung und arbeitete wie ein Idiot. Jammerte über schwarze Fingerkuppen, er hatte Acryl entdeckt. War im Moment gerade an einem übergroßen Triptychon mit Stadt, Land und Politik. Körper, Gesichter, Schlagzeilen. Das Jahr sollte es heißen. Gina war oft bei ihm, wenn er arbeitete, und las ihm vor. Zeitungen oder Krimis. Einmal einen ganz komischen Italo-Porno. Ein Teil in dem Bild wurde von drei reitenden Cowboys erobert. Die Hüte sahen aus wie verbeulte Pimmel, die Berge von Arizona oder Texas wie Schaumstoffvulvas. Gina konnte später nicht mehr erkennen, was ausgeschnitten und geklebt und was gepinselt war. Kurt hatte in verstaubten Büchern eine alte Lasurtechnik ausgegraben, die die Farben transparent leuchten ließ. Er war sehr zuversichtlich. »Aber die Hauptsache ist, daß ihr es wirklich wollt. Die meisten Kinder sind ungewollt. Unfälle eben. Ein Kind spürt das. Die kleine Lily zum Beispiel zieht immer ihre Hosen im Kindergarten aus. Weil sie spürt, daß die Mutter eigentlich lieber einen Sohn gehabt hätte. Das ist richtig tragisch, weißt du, Lili wünscht sich nichts sehnlicher, als beim Krippenspiel einen Engel machen zu dürfen. Aber dafür braucht sie langes Haar. Blond ist sie. Aber kurz wie ein Junge, so hat sie auch neulich die Bäckersfrau angeredet. Unverantwortlich, diese Erwachsenen. Dabei hat sie so strohschütteres Schnittlauchhaar, daß es grotesk aussehen würde. Die Mutter ist nicht verheiratet. Sie arbeitet aber besser mit als viele andere. Schuldgefühle. Zieht sie immer an wie für den Laufsteg.« »Mama!« Erika zuckte zusammen. Gina konnte sich nicht erinnern, ihre Mutter jemals anders als Erika genannt zu haben. Und immer diese Scheiß-Jugendfummel. Konnte sie denn nicht zu ihren gottverdammten Vierzig stehen und auch nur wenigstens einmal einen Rock anziehen?! »Ist ja schon gut, Ginakind, es geht mich ja auch nichts an. Nein, das meine ich ehrlich. Es ist euer Leben, und ihr müßt wissen, was ihr tut. Ich will mich nicht einmischen, und ich werde es nicht tun. Nur, du bist noch sehr jung, und Kurt hat viel Arbeit und wenig Zeit. Weißt du, ein Kind braucht…« 60
»Ich bin nicht schwanger!« »…mehr als nur Essen und Trinken und Kleidung.« Pause. Mutterblick. Forschend: »Wieso? Klappt es nicht? Was nicht in Ordnung?« Gina lächelte und holte eine Flasche Wein. Erika zog den Korken und schenkte ein. »Wir haben eigentlich schon lange nicht mehr miteinander gesprochen. Wirklich. Ich bin doch deine beste Freundin. Das hoffe ich jedenfalls. Ich wollte nie eine landläufige Mutter sein. Ich habe viele Fehler gemacht. Das weiß ich. Aber es ist eben so, wie immer du es machst, du machst es falsch. Oma hat mir nicht einmal gesagt, was das ist, wenn man seine Tage bekommt. Sie war eben selber so erzogen.« Pause, dann der große Blick. »Sag mal, hast du das Gefühl, daß wir uns zu wenig um dich gekümmert haben. Körperkontakt? Streicheleinheiten? Bevorzugung von Olaf, weil er immer schon ein Problemkind war?« Pause. Blick. »Wieso hast du nicht die Pille genommen, wenn du kein Kind willst?!« Gina zerkrümelte die Zigarette in ihren Fingern, um nicht die Teekanne nach der Mutter zu schmeißen. Hoffte auf ein Ungewitter oder auf Katzen, die vom Himmel hagelten. Der Himmel klarte sich auf, und einmal kam sogar die Sonne heraus. Kurt holte sich ein Glas Tee und lächelte geschmeichelt, als Erika ihn umarmte und ihm gratulierte. Erst am Spätnachmittag kam Paul, holte Erika ab und erlöste Gina. Gina war so erleichtert, daß sie die beiden noch ans Gartentor brachte. Sah sie turtelnd und kichernd zum Volvo gehen, miteinander flüsternd. Gina bekommt was Kleines. Paul sah noch einmal zu ihr zurück, bevor er den Motor anließ. Verständnisvoll. Wir helfen dir schon. Sie ging auf die Terrasse zurück und räumte auf. Kurt arbeitete noch. Gina setzte sich mit einem randvollen Weinglas wieder hin. Terrakotta, dann Rabatten mit bunten Blumen, Wiese (nicht Rasen), ein paar Büsche und die Mauer. Zwei Meter zwanzig, weiß verputzt. Als sie gerade eingezogen waren, hatte Kurt davon gesprochen, die Mauer zu bemalen, und als sie den ersten Brief von Robert bekamen, hatte er es tatsächlich gemacht. Eine Berglandschaft mit Seen, Hügeln und Wäldern. Am Anfang wirkte das fast natürlicher als die beiden Birken im Garten. Nach dem ersten Regen wurden die Fugen zwischen den Steinen wieder sichtbar. Die Mauer blieb eine Mauer. 61
Gina stand auf und ging ins Haus, um das Essen zu kochen. Griechischen Salat, Lammkoteletts mit grünen Böhnchen und Knoblauch, Salzkartoffeln, eine Flasche Demestica. Über ihnen wohnte ein Computerfachmann mit Frau und Baby. Sie hatten wenig Kontakt, grüßten sich höflich, einmal machte die Frau eine witzige Bemerkung über den Gastarbeitergeruch. Im letzten Urlaub, in Jugoslawien, da gab’s auch dauernd Knoblauch, haha. Kurt kam herüber, klatschte Gina die verkleckste Hand auf den Hintern und ging ins Bad. Gina deckte den Tisch mit Blumen und Kerzen. Kurt strotzte vor Zufriedenheit. Aß für zwei und merkte nicht, daß Gina nur trank und ein bißchen im Salat herumstocherte. »Das wird gut, sag ich dir. Hat sogar deine Mutter gesehen«, mampf, »sie hat mir herzlich gratuliert.« »Nicht zu deinen Bildern.« »Vor allem das Triptychon. Ich schaff’s auch, ich bekomm es fertig. Da ist alles drin. Friede und Aggression, Hektik und Ruhe, Genuß und Konsum, Kommen und Gehen, Erotik und Tod. Ich glaube, das wird das Beste, was ich je gemacht habe.« »Erika war heute überhaupt nicht drin in deinem Atelier.« »Wie?« Er wischte sich den Mund ab, trank einen Schluck Wein und prüfte, ob er auch keinen Fettrand am Glas hinterlassen hatte. »Aber sie muß doch dagewesen sein, sonst hätte sie doch gar nichts sagen können. Sie hat mich sogar umarmt.« Er kam großartig mit Ginas Eltern aus, er verstand nicht, was sie immer an ihnen auszusetzen hatte. Das war doch infantil. »Sie hat dir gratuliert, weil sie glaubt, daß du Vater wirst.« Er verschluckte sich, bekam einen Hustenanfall, starrte sie an. Offener Mund, ein Schneidezahn stand schief. Sehr leise: »Ist das wahr?« Gina nickte, beobachtete das nackte Entsetzen in seinem Gesicht, das mühsam verkrampfte Lächeln, nachdem Minuten verstrichen waren. »Du bekommst ein Kind?« »Das habe ich nicht gesagt. Meine Mutter glaubt, daß wir eins bekommen. Wir, nicht ich allein.« Er schwieg, sah sie jetzt nicht mehr an, füllte sein Glas nach.
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»Würdest du dich nicht darüber freuen? Platz genug haben wir doch und den Garten. Du wärst ja auch überhaupt nicht gestört in deinem Atelier drüben.« »Ich dachte, du nimmst die Pille. Ich seh doch immer die Schachtel im Bad liegen, du hast noch nie eine vergessen.« »Du kontrollierst das, wie?« Gina begann, den Tisch abzuräumen, Kurt sprang auf und half ihr eifrig. »Aber doch nur, um dir zu helfen, ich mein, jeder kann mal was vergessen. Du wolltest doch auch kein Kind. Wir waren uns doch einig. Gina!« Er nahm ihr das Tablett aus der Hand, stellte es ab und umarmte sie, legte sich ihre schlaffen Arme um den Hals. »Gina, Liebling, du bist doch meine kleine Muse. Wir gehören doch zusammen, wir sind doch eins. Wir werden immer beieinander bleiben. Wir werden reisen, wir werden die Welt sehen. Wir werden berühmt werden. Ich hab jemand vom DAD kennengelernt. Wir könnten vielleicht ein Jahr nach Paris gehen oder Rom. Oder New York! Mein Gott, New York, stell dir vor! Guggenheim, und der ganze Globus gehört dir!« Er küßte sie auf den Hals. »Kleines, sag, daß es nicht wahr ist!« Sie bewegte sich nicht. »Es ist nicht wahr. Nichts Kleines ist wahr.« Er küßte ihr Haar und ihr Kinn und versuchte, ihren Mund zu treffen. Zog sie mit ins Schlafzimmer. Sie lag unter ihm und schaute über seine Schulter an die Decke. Dünne Spinnweben neben der Lampe. Die Putzfrau war kurzsichtig und zu eitel, eine Brille anzuziehen. Er rollte sich runter. »Entschuldige. Ich war zu schnell, oder?« Küßchen. Er ging ins Bad. Als er zurückkam, hatte er seinen Schlafanzug an. Sie wartete, bis er eingeschlafen war. Dachte an Robert.
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15 Es klappte nicht. Der Mann vom Deutschen Austauschdienst hatte doch nicht soviel zu sagen, und für die nächsten Jahre war schon alles verplant. Brüssel höchstens oder vielleicht Mailand. New York war endgültig gestorben, das konnte er ja vielleicht mal privat machen oder San Francisco, warum auch nicht. Madrid oder Austin, Texas. Das Dumme war, daß er einerseits kein Anfänger mehr war, andererseits noch nicht bekannt genug. Kurt hörte sofort auf zu arbeiten. »Ich bin nicht originell genug, ich bin ihnen nicht europäisch genug. Ich bin wie alle. Ich bin ein Nichts.« Gina tröstete ihn, so gut sie konnte, bewunderte sein endlich fertiges Triptychon und konnte gerade noch verhindern, daß er die Ausstellung platzen ließ. Organisierte das Rahmen, Hängen, die Einladungen und den Katalog. Setzte es bei der Galerie durch, daß auf Prozentbeteiligung Postkarten von einigen Bildern gedruckt wurden. Am Tag der Vernissage war Kurt krank. Magenkrämpfe und Brechdurchfall. Gina holte einen Arzt, der ihm eine Spritze gab. Sie schleppte ihn ins Bad, rasierte ihn und zog ihn an. Fuhr ihn in die Galerie. Die Räume waren überfüllt, auf einem Tisch standen Käse, Oliven, Brötchen und Rotwein. Kurt bewegte sich nicht. Stand bleich und mager in einer Ecke, grüßte, wenn man ihn ansprach, antwortete, wenn man ihn etwas fragte. Gina war überall. Sprach, lachte, erklärte. Verkaufte. Der zweite Bürgermeister war da, jemand vom Kultusministerium und zwei Museumsdirektoren mit ihren Frauen. Vertreter der führenden Zeitungen. Das Interesse war groß, man sprach über einen Ankauf. Nein, nicht gleich das Triptychon, eher etwas Kleineres, Spezifischeres, der Vollständigkeit halber. Das Jahr ging trotzdem weg. An einen Privatsammler aus Essen. Kurt blieb apathisch, man legte es ihm als Erschöpfung und Bescheidenheit aus. Einer von den KuMi-Fritzen fragte Gina, wie alt Kurt sei. Man könnte ihn für die Villa Massimo vorschlagen, die Chancen stünden nicht schlecht, und die Familie dürfe er nach neuesten Bestimmungen auch mitnehmen. Ob sie Kinder hätten?
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Zu Hause igelte Kurt sich ein. Er wollte niemanden sehen, ging nicht ans Telefon. Gina brachte ihm das Essen ins Atelier hinüber, wo er stundenlang vor einer Skizze saß, die er schon vor Jahren angefangen hatte. Die Reaktionen in der Presse waren fast durchweg positiv, einige sogar euphorisch. Zwei freundlich interessierte Schreiben vom Folkwang Museum und einigen Privatgalerien. Eine höfliche Anfrage von einem Verlag, der ein modernes Kunstlexikon herausgeben wollte. Kurt begann wieder zu essen. Auf der Akademie hatte er von der Villa Massimo geträumt. Ein Jahr lang mit anderen Künstlern frei leben und malen können, Rom, südliche Sonne, Pinien und Zypressen. Aber jetzt. So. Er hatte Berichte im Fernsehen und Bilder in Zeitungen gesehen. Primitiv, eng, spießig. Wie soll ein Künstler sich frei entfalten können, wenn überall Kinder herumkreischen und Muttis regelmäßig die Bohnensuppe auf den Herd stellen. Nein, er war nicht einer von denen, die selber schon arriviert sind und trotzdem den weniger bekannten Kollegen das Brot wegfressen. Er lehnte ab, noch bevor er eingeladen wurde. Gina schwieg. Eines Tages brachte er einen Stapel bunt glänzender Prospekte, Kataloge, Reiseführer und Fotobände mit. Spanien, die Kanarischen Inseln, die Balearen. »Wir besuchen Robert, was hältst du davon?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er zum Telefon und gab ein Telegramm durch. Postlagernd. Breitete Landkarten aus, erkundigte sich beim ADAC nach den Autofähren und allem, was man sonst noch wissen sollte. Ginas Paß mußte verlängert werden, Kurt kaufte einen Dachträger für den BMW und gab Gina Geld für neue Sommer- und Badeklamotten. Nach vierzehn Tagen war noch immer keine Antwort von Robert da. Kurt schien das nicht weiter zu kümmern. Alles war bestellt und fertig, ein Telefonanrufbeantworter angeschlossen, ein Freund sollte ihnen die Post nachschicken. Kurt war aufgekratzt wie ein kleiner Junge kurz vor den großen Ferien. »Wir deklarieren es als Studienreise, dann können wir es von der Steuer absetzen.« »Irgendwas ist mit Robert. Sonst hätte er längst geantwortet.«
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»Ach der, hängt in irgendeiner Pinte und geht nicht auf die Post. Wir finden ihn schon, soviel Möglichkeiten kann es da ja gar nicht geben.« »Vielleicht ist er krank«, sagte sie leise, aber sie dachte etwas ganz anderes. Er hat eine Frau gefunden. Das Gefühl, das sie dabei empfand, irritierte sie. Angst? Schmerz? Sie war doch bei Gott nicht eifersüchtig, haha. Mit welchem Recht auch. Eine Spanierin. Gina kaufte sich Bräunungscreme und schluckte Carotinpillen. Bekam eine Allergie und hörte wieder auf damit. Das Antworttelegramm kam kurz vor ihrer Abreise. »WOW – Robert.« Gina konnte sich plötzlich auf die Ferien freuen. Kaufte noch hastig ein und stopfte die sowieso schon überfüllten Koffer bis zum Platzen voll. Pumpernickel, saure Gurken, Salami, Camembert, Farben für Robert und einen Haufen anderes Zeug, von dem sie annahm, daß es das da unten in Spanien nicht gab. Kurt beobachtete sie lächelnd und packte heimlich die Sachen wieder aus, von denen er sicher war, daß sie die Reise nicht überstehen würden. Den Karton mit den Farben stellte er neben den Koffer, um ihn später wieder hineinzutun, und vergaß es. Er hatte die schnellste Route zusammengestellt, fast nur Autobahn. Sie fuhren um fünf Uhr morgens los und waren am Nachmittag schon in Südfrankreich. Gina war enttäuscht, sie hatte sich auf die Reise gefreut, hatte sich eine Bummeltour durch die Schweiz, Italien und Frankreich vorgestellt mit verträumten Restaurants am Straßenrand und Übernachtungen in nostalgischen Familienpensionen, in denen die Oma noch selber kochte. Statt dessen nur Quicksnacks, wenn Kurt tanken mußte, und Schokakola aus der Büchse. Nicht einmal Brot und Käse ließ er sie kaufen. »Das ist sehr gefährlich!« »Ich bin topfit.« »Aber wir haben doch massenhaft Zeit!« »Haben wir nicht. Beim ADAC haben sie extra gesagt, daß man mit der Autofähre aufpassen muß, sehr frühzeitig die Bestätigung holen, sonst ist es Essig um die Jahreszeit. Und wenn was mit dem Auto ist, dann brauch ich die Zeit noch. Dringend.« »Ich hab Durst.« »Wenn man trinkt, muß man nur dauernd pinkeln.« 66
Gina schwieg. Betrachtete mit wachsender Abneigung die vorbeiflitzende südliche Landschaft, die Pinien, die grünen Weinberge, die braunen Bauernhäuser und die kleinen Dörfer, die heimelig, aber unerreichbar hinter den Hügeln auftauchten. Und wieder verschwanden. Sie schlief ein und wurde erst an der Grenze wieder wach. Es gab Probleme, die Zöllner wollten das Auto und Kurts Malsachen auseinandernehmen, Kurt argumentierte lautstark in allen Sprachen außer Spanisch, Gina reckte sich genüßlich und ließ ihn hampeln. Die Einfahrt nach Barcelona entsprach genau ihrer Stimmung. Grau und schmutzig. Stinkende Fabriken, stinkende Autos, schäbige Wohnsilos. Sogar das Meer bewegte sich träge und giftig wie Bleibrühe. Kurt legte ihr eine Hand aufs Knie. »Wart nur, die Stadt selber ist traumhaft schön, und wir haben drei Tage Zeit!« Er mußte die Hand wieder wegnehmen, der Verkehr wurde dichter, lauter, aggressiver. Gina entdeckte Schweißtropfen auf Kurts Stirn. »Das ist das südliche Temperament«, meinte sie, Kurt fluchte, konnte eben noch einem Laster ausweichen, der mit Überschallgeschwindigkeit aus einer Seitenstraße geprescht kam. »Die rennen auch nicht gleich wegen jeder Beule zur Polizei, die sind eben anders.« Kurt wurde hysterisch. »Wie heißt diese verdammte Avenida? Müssen wir rechts oder links! Schau doch verdammt noch mal in den Stadtplan!« Er umkreiste ein Rondell, bis der Polizist in der Mitte aufmerksam wurde, nahm die breiteste Straße, es war die richtige. Er blieb angespannt. Das Hotel war modern, teuer und nichtssagend. Selbstbedienungsbar und Plastikfrühstück. Aber es hatte eine Garage. Und Safes für die Wertsachen. Gina kicherte, als sie sah, wie Robert die Pässe, die Euroschecks und die Autopapiere in eins dieser lächerlich klapprigen Eisenkästchen einschloß. Sorgsam den Schlüssel umdrehte. »Das bekomm ich mit einer Haarnadel auf«, sagte sie. »Quatsch!« »Und hier kann keiner die Dinger bewachen, aber jeder kommt hier durch. Die Gummipalme ist auch als Sichtschutz hervorragend geeignet.« Kurt schloß die Sachen wieder aus und verteilte sie auf Brustbeutel und Unterhose. Hatte die ganze Zeit panische Angst, sie könnten 67
überfallen und ausgeraubt werden. Blieb auf den Ramblas mitten im Touristenstrom und ließ Gina nicht in die schmalen engen Nebenstraßen gehen, in denen es von Leben und Gerüchen wimmelte. Schaute dreimal am Tag nach dem Auto und weigerte sich, nach Sonnenuntergang überhaupt noch auf die Straße zu gehen. Das einzige, was sie machten, war die Schiffspassage zu bestätigen und zwei Museen. Miro und Picasso. Vormittags. Gina wollte allein losziehen, ohne Paß, ohne Geld. Den Markt, die Kneipen, die Bars, die katalonischen Restaurants. Den Hafen, die Cafés, die Läden mit Schuhen und Lederjacken, Andenken und Kitsch. Kurt war zu besorgt, er hatte Angst um sie, sie war eine Frau, und Barcelona war zu gefährlich. Das Schiff sollte um elf Uhr abends abfahren, Kurt stand schon um neun am Kai. War stolz, daß sie nach zweistündigem Warten die ersten waren, die an Bord rollen durften. Gina ließ eine Bemerkung darüber fallen, daß bei der Ankunft die ersten die letzten sein würden, er hörte nicht zu, sah nur, daß es keine Boxen und Stellplätze für die Autos gab, daß der ganze Schiffsbauch völlig ungesichert war. Kurz vor zwölf röhrten endlich die Motoren auf, das Schiff begann zu vibrieren. Die Lichter der Stadt entfernten sich. Einen eleganten Speiseraum wie in Filmen gab es nicht, nur eine Bar mit eingepackten Sandwiches und Fernsehen. Gina trank viel zu schnell drei Cognacs hintereinander und taumelte dann die schmalen Treppen zu ihrer Kabine hinauf. Dieselgestank. Erste Klasse. Zwei schmale Betten, zwei Decken und eine Dusche mit einem Bretterrost, der nach Fußpilz aussah. Schwanken. Kein Fenster, kein Bullauge. Licht und Dusche funktionierten nicht. Kurt hatte eine Taschenlampe im Handgepäck. Gina ging aufs Klo und merkte, daß ihr schlecht wurde. Würgte, schaffte es eben noch ins Bett zurück. Schwanken. Fallen ins Nichts. Es wurde saukalt. Gina hätte sich gern einen Pullover angezogen, wagte es aber nicht, aufzustehen. Hörte nebendran Kurt schnarchen. Sie rollte sich zusammen und dachte an Robert. Sah nur die Spanierin. Olivhäutig, langhaarig, feurig. Zierlich, feminin, elegant und stolz. Vermutlich hieß sie Carmen.
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16 Sie hieß Rita. Aber sie nannte sich Gigi. Robert überlegte, wie er sie loswerden konnte. Sie lag neben der Matratze auf dem nackten Fußboden, weil es da angeblich kühler war. Anfang zwanzig, dunkelblond, kurzsichtig und Arsch und Schenkel wie ein Brauereipferd. Sie hatte einen eiternden Abszeß am Knie und Mitesser im Gesicht. Seit Francos Tod hatte sie sich nicht mehr gewaschen, und ihre Haut war von Sonne und Salzwasser zu dunklem Ziegenleder gegerbt. Ihre Joints waren dick wie Blockflöten und ihre Augen unter dunklen langen Wimpern durchsichtig türkis. Zuerst hatte er sich in die Augen verliebt. Manchmal bei Kerzenlicht oder wenn sie sich liebten, sahen sie fast violett aus. Ihr Vater war ein stinkreicher Bankier in Madrid mit Ländereien und Latifundien zuhauf. Sie war zwischen Damast und schimmerndem Mahagoni aufgewachsen, unter Velazquez, El Greco und Zurbaran oder zumindest Dali, Juan Gris und Ribiera. Goldene Lüster, Domestiken und ein erzstrenges Klosterinternat. Auch einen Verlobten gab es schon, gute Familie. Musik- und Sprachenunterricht. Alles so schön vorausgeplant. Und alles im Eimer. Die ganze Clique, mit der sie hergekommen war, stammte aus diesen Kreisen. Francos Tod hatte wie ein loser Sektkorken auf sie alle gewirkt. Knall, flusch, frei. Aufgestaute Jahrhunderte. Sie machten alles, was verboten war, und sie machten es bis zum Exzeß. Geld war da und Zeit en masse. Vino, Haschisch, Koks und Drogen, bumsen, vögeln, rammeln, ficken. Kreuz und quer, und ein unrasierter ausländischer Gammelmaler, der nicht mal genug Peseten für die Leinwand hatte, war der exotische I-Punkt zur endgültigen Emanzipation. Sie war noch Jungfrau. Als Robert das merkte, hörte er auf und begann mit ihr zu reden. Er verstand sie, und er mochte sie, und er versuchte ihr zu helfen. Sie trennte sich von den anderen und blieb bei ihm. Nach Tagen schliefen sie auch zusammen, und sie war im Bett wie ein betäubtes Nilpferd. Robert mochte sie trotzdem. Er mochte sie wirklich. Aber jetzt kamen Gina und Kurt her, und er mußte sie loswerden. Er mußte das Haus putzen, er mußte einkaufen, er mußte den Reifen 69
an seinem Fahrrad flicken. Er mußte ein Haus für sie finden, und er mußte sich dringend rasieren. Rita wachte auf und sah ihn an. Türkis und Kristall. »Bad vibrations, hm?« Er brauchte nichts weiter zu sagen. Seine albernen Erklärungen vom Vetter aus Alemania und seiner novia hörte sie gar nicht erst an. Sie stand nur auf, wickelte ihren Sarong um sich herum und ließ ihm fünftausend Peseten zurück. Küßte ihn. Du weißt, wo du mich finden kannst, wenn du wieder frei bist. Frei! Robert putzte und fegte wie ein Irrer. Legte die Decken auf die saubere Seite und setzte frische Kerzen in die Glashalter. Frei, haha, er wußte nicht einmal, für wen er das alles tat. Für Gina, verehelichte Homberg, oder für Kurt, seinen erfolgreichen Freund. Er kaufte Brot und Käse, Tomaten und Spaghetti, Schinken, Öl und Wein. Wusch sich die Haare, goß sich drei Eimer Wasser über den Buckel und rasierte sich. Fand noch ein sauberes T-Shirt und schnitt kurzentschlossen die bekleckerten Beine von einem Paar Jeans ab. Flickte sein Rad und fuhr zum Hafen. Er fuhr langsam, um nicht durchgeschwitzt anzukommen. Das letzte Stück war kein Problem, da ging es bergab. Überlegte noch einmal, ob er an alles gedacht hatte. Kurt kam sicher mit dem Auto. Sie konnten bei der tienda vorbeifahren und den Champagner vom Eis holen. Zwei Häuser konnte er ihnen anbieten. Er wußte, daß Kurt einen Haufen Geld verdiente, aber nicht, wieviel. Das eine hatte mehr Komfort, war aber nur vier Wochen frei, das andere hatte die volle Romantik, war teurer und unter Umständen das ganze Jahr über zu mieten. Robert wußte nicht, ob er Kurt und Gina wirklich für immer hier haben wollte. Ein Bauer grüßte ihn, der Schreiner, der Wassermann. Zwei Hippies und ein Freak, mit dem er sonst immer Schach spielte, der Bäcker und ein kleines Mädchen. Robert war hier zu Hause. Er versuchte, sich Kurt auf der Insel vorzustellen, es gelang ihm nicht. Plötzlich wußte er nicht einmal, wie Gina ausgesehen hatte. Punkt, Punkt, Komma, Strich. Aus. Er schloß sein Rad ab und rannte zur Mole vor. Das Boot legte gerade an. Rotgesichtige Touristen, Kofferberge, Pappkisten. Robert sprang hoch, an der Reling ein dick gepackter Rahmen von bleichen 70
Gesichtsovalen. Ein paar junge Leute mit Rucksack. Weder Kurt noch Gina. Es gab nur zwei Anschlußfähren am Tag, die Autos mitnehmen konnten. Robert hatte viel Zeit. Er setzte sich in ein Café am Hafen und holte sich ein Mineralwasser und ein Tomatenbocadillo an der Theke. Er wollte nüchtern sein, wenn sie kamen. Er schwätzte mit ein paar Leuten, die er kannte, über das Wetter, die Preise und das Leben schlechthin. Einer der Fischer lud ihn zu einem Cognac ein, es wäre unhöflich gewesen, abzulehnen. Die nächste Runde übernahm Robert, andere kamen dazu, einer berichtete von einem Mero, den er gefangen hatte, und der, wenn man ihm glauben wollte, so groß war wie ein Stier. Sie lachten, tranken, einer stellte Tapas mit Oliven auf den Tisch. Es war heiß, Robert ging zu Bier über. Um vier Uhr war sein frisches T-Shirt durchgeschwitzt, und die abgeschnittene Hose hatte Flecken. Betrunken fühlte er sich nicht. Im Gegenteil, wohl und entspannt. Er hatte den totalen Durchblick. Kurt und Gina kamen aus der Großstadt, aus einem vollklimatisierten Leben. Sie waren an Telefon, Fernsehen, elektrisches Licht und volle Badewannen gewöhnt. Sie würden es schmutzig und primitiv hier finden, pittoresk im besten Fall. Sie würden naserümpfend auf seine Freunde und sein Leben hier herabsehen. Sagen würden sie es natürlich nicht, er würde es trotzdem merken. Er kannte sie beide lange genug. Vor allem Kurt. Er ging zur Anlegemole hinüber und sah alles mit Kurts Augen. Die grellen Touristenboote, die abgeblätterte Veteranoreklame, die Plastiktüten im Wasser. Die Kargheit der Landschaft, die ihre Schönheit nur dem erschloß, der sehen konnte. Und Kurt war blind. Das Schiff tuckerte um den Leuchtturm herum und kam näher. Der Himmel hatte sich weiß verschleiert, es war feucht und drückend schwül. Er sah sie sofort. Sie standen vorn im Bug neben einem nachtblauen BMW und schienen ihn nicht zu erkennen. Kurt in einem weißen Leinenanzug, ganz der große Gatsby, und Gina im geblümten Sommerkleidchen wie für eine illustre Barbecueparty rausgeputzt. Robert winkte nicht. Stand neben einem Gabelstapler und wartete.
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17 »Siehst du, das ist der Unterschied. Zu Francos Zeiten hätte es hier von Guardias und Lackhüten gewimmelt.« Kurt hatte einen Teerfleck auf seinem weißen Leinenhintern, er würde durchdrehen, wenn er ihn entdeckte. »Woher weißt du, daß das nicht trotzdem alles Polizisten sind. Der Dicke da drüben mit dem Ringelhemd, oder der in der Badehose mit der Aktentasche unterm Arm.« Kurt hörte nicht zu. Zwei Männer zerrten eine sperrige Kiste von der Fähre und schrappten leicht an das Auto. Er warf sich dazwischen. Gina war enttäuscht. Sie konnte Robert nirgends entdecken und war doch so sicher gewesen, daß er sie abholen würde. Vielleicht war er bei der ersten Fähre gewesen, dem direkten Anschluß. Aber auf der hatten sie keinen Platz für das Auto bekommen, obwohl es ihnen zugesichert gewesen war. Kurt hatte weder für die Burg, die weißen Häuser auf dem Hügel, die malerische Altstadt Augen gehabt noch für das quirlige Leben der bunten Paradiesvögel am Hafen. Er fand alles nur heiß und laut und bestand darauf, in einem Lokal zu essen, von dem aus er den BMW im Auge behalten konnte. Die Kneipe sah schon nach dem typischen Touristennepp aus, und die Paella war fettig, schwer und teuer. Gina schmeckte sie trotzdem. Sie war wild entschlossen, alles zu probieren, was sie noch nicht kannte, und alles schön zu finden. Der Typ neben dem Gabelstapler sah aus wie Robert. Gleiche Größe, gleiche Haltung. Es war Robert. Schwarzbraun unter dem weißen T-Shirt, üppig wuchernder Schnauzbart und von der Sonne fast blond gebleichte Haare. Schlanker. Mit muskulösen Oberschenkeln unter fransig abgeschnittenen Hosen. Sie schrie und winkte, er hob die Hand und kam einen Schritt nach vorn. Gina quetschte sich durch die anderen Passagiere hindurch, rannte zu ihm hin und warf sich in seine Arme. Küßte ihn, preßte sich an ihn und roch den wilden Duft von Schweiß und Salzwasser. Und Bier. Er schob sie von sich, grinste. »Nur kein Überschwang, immer schön cool bleiben.« Hielt sie immer noch am Ellbogen fest, zog sie zurück, als der Gabelstapler in Bewegung gesetzt wurde.
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Zusammen beobachteten sie das Theater, das Kurt aufführte, um seinen BMW von dem Schiff zu bekommen. Zwei Holzplanken. Viel zu steil, der arme Auspuff. Das Schiff schwankte in der Dünung, die Spanier schrien ihm Kommandos zu. Als der Wagen endlich unbeschädigt unten war, hatte Kurt dunkle Flecken unter den Achseln. Fuhr das Auto sorgsam aus dem Gewühl heraus und kam erst dann zu Robert und Gina. Umarmte Robert, schlug ihm auf den Rücken. »Mann, du siehst aus wie der letzte authentische Fischer!« Robert schlug zurück. »Und du wie Playboy himself on holidays.« Dann sagte er ihnen, daß er mit dem Fahrrad da war, und ob man es noch auf den Dachträger schnallen oder in den Kofferraum hängen könnte. Kurts Gesicht sagte alles. Er konnte sie schon förmlich sehen, die blutig weißen Schrammen und Kratzer in seinem mitternachtsblauen Hochglanzlack. Aber er schwieg. Zog sein versautes Leinenjackett aus und packte mit zu. Half Robert, das Rad auf den Dachträger zu wuchten, zog selbst die Spinne nach und kontrollierte, ob alle Haken fest saßen. Legte ein Handtuch unter das Vorderrad, das sich möglicherweise trotz aller Vorsicht beim Fahren doch bewegen konnte. Er verlor keine Bemerkung über die Insel, die Landschaft, das Wetter, den Verkehr, die unglaublich schlechte Straße zu Roberts Haus, für die der BMW viel zu tief gebaut war. Fuhr umsichtig und langsam und machte sogar ein paar Witze über ihre Reise und wie sehr Gina unter ihm gelitten hatte. Gina saß neben Kurt, und Robert hinten, zwischen Koffer und anderes Gepäck eingeklemmt. Er beugte sich vor, um Kurt den Weg zu erklären, und hielt sich in den Kurven am rechten Vordersitz fest. Spürte den Druck von Ginas Schulter an seinen Fingerknöcheln. Ertappte sich bei dem Wunsch, seine schmutzigen Fingernägel in die blümchenbedruckte Seide zu krallen. Lehnte sich zurück. Gina fand alles traumhaft schön und romantisch. Kurt ließ das Auto in der prallen Sonne stehen und deckte nur die Reifen mit alten Lappen ab. Sie sahen sich um, schleppten zwei Koffer ins Haus und zogen sich um. Packten halb aufgeweichte Fressalien aus und machten sich kommentarlos über den starken Landwein her. Den Champagner hatten sie vergessen. Aber sie hatten ja viel Zeit. Zwei Monate, vielleicht sogar drei. Arbeitsurlaub. In Deutschland gab es doch schon 73
seit Jahren keinen richtigen Sommer mehr. Nein, es machte ihnen überhaupt nichts aus, für ein paar Nächte in Roberts Haus auf dem Fußboden zu schlafen. Luftmatratzen hatten sie dabei und Schlafsäkke auch. Alles andere würde sich finden. Schön, dich wiederzusehen. Und sie taten alles, um es glaubhaft zu machen. Kurt, in karierten Ami-Untershorts und T-Shirt, holte Wasser aus der Zisterne und zwei Kartons Dosenbier aus dem Auto. Vielleicht können wir die irgendwo kühlen lassen. Gina ließ sich erklären, wie der Butanherd funktionierte, und fing an zu kochen, als wäre sie hier aufgewachsen. Sie aßen (Spaghetti mit Thunfischsoße, Tomatensalat, Käse und Brot), tranken und redeten. Wie es in München war und wie hier. Unverbindlich, freundlich, bescheiden. Großartig, daß du es geschafft hast. – Ich wünschte, ich wäre auch so mutig, auszusteigen und hier zu leben. – Meine Finca statt Villa Massimo, ich fühle mich ja richtig geschmeichelt! – Das hier ist der Ursprung. Die Wiege. Sie waren wieder Freunde wie früher. Und Gina liebte sie beide, und sie beide liebten Gina. Spät am Abend kamen Ali, Helen, Chris, Pablo und Susie vorbei, hier irgendwo war eine Fullmoon-Fete. Sie blieben, tranken mit und ließen ihre Joints kreisen. Kurt und Gina sprachen gut Englisch und ein bißchen Französisch, Italienisch und Gina sogar ein paar Brocken Spanisch. Robert holte die Gitarre heraus und Kurt einen Kassettenrecorder mit jeder Menge Bänder. Rita und ihre Clique kamen von dem anderen Fest, weil sie die Musik gehört hatten, brachten zwei geklaute Karaffen Wein mit. Und brockenweise grünen Afghan. Die Mücken trieben sie ins Haus hinein, sie zündeten die Kerzen und die Petroleumlampen an und lagerten auf dem Fußboden. Ali und Chris machten Trommeln aus Töpfen und Pfannen, Helen schlief ein, Susie küßte Kurt, Pablo und Gina kochten eine Art Suppe. Amigos de Roberto. Kurt und Gina waren akzeptiert. Robert war sicher, daß das alles nicht lange halten konnte. Er hatte Kurt unterschätzt. Am nächsten Morgen fuhr er mit Helen ins Dorf und kaufte ein. Gina und Susie räumten auf, die anderen schliefen noch. Kurt kam zurück. Sie hatten Schinken und Eier, Kaffee und Filter, eine Plastikwanne mit Eisbalken und Champagner, frisches Brot und Wassermelonen.
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Sie machten Frühstück und Musik, und Robert war Fremder im eigenen Haus. Zwei Wochen später hatte Kurt selbst ein Haus. Nicht gemietet, gekauft. Er hatte Leute kennengelernt, die Robert nicht einmal dem Namen nach kannte, darunter auch einen Grundstücksmakler aus Düsseldorf. Kurt wollte nichts mieten, er wollte sich hier niederlassen, er wollte hierbleiben. Und eine gute Geldanlage war es außerdem, hier würde der große Boom erst noch kommen. Zeit und Raum, das waren die letzten großen Luxusgüter unserer Zeit. Er hatte die Auswahl zwischen einer alten Finca, in die man noch einiges hätte reinstecken müssen, zwei Terrenos mit fertiger Baugenehmigung und einem Bungalow im Pinienwald am Hang. Blick aufs Meer. Zwei Terrassen, offener Kamin, drei Schlafzimmer, voll eingerichtete Küche, Bad, Brunnen und Zisterne. Und viertausend Quadratmeter Grund. Notverkauf. Für das Geld bekommst du doch in München nicht mal eine klapprige Garage. »Nicht mal eine Großgarage unter dem Stachus«, meinte Robert, aber Kurt war schon wieder unterwegs. Er machte den notariellen Kaufvertrag, die Anzahlung und die Escritura ohne Roberts Hilfe. Er kaufte einen Durchlauferhitzer und einen Kühlschrank und ein paar alte spanische Möbel. War schon per du mit dem Schreiner und bekam in für Inselverhältnisse Überschallgeschwindigkeit Einbauschränke, Tische und Türen. Auch Gina sah Robert selten in den zwei Wochen. Sie kaufte und plante und begeisterte sich. Ein Arbeitsstudio auf dem Dach und ein Gästehäuschen im Garten. Die Zisterne mußte vergrößert werden, dann konnte man einen richtig tropischen Garten anlegen. Und ein Generator für Stromerzeugung. Die Leitung war schon geplant, aber sonst konnte man sich auch noch Windenergie oder Solar überlegen. Robert ließ sein Haus wieder vergammeln und malte. Rita kam nicht vorbei, sie mußte bei Kurt und Gina dolmetschen.
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18 Im August fand die house-warming-party statt. Das Haus war natürlich noch nicht fertig (so wie Kurt es geplant hatte, würde es eine Lebensversorgung für die Baufirma, den Installateur und den Schreiner werden), aber man konnte schon drin wohnen. Ein Generator (geräuschisoliert) erzeugte Licht und betrieb die Wasserpumpe, den Kühlschrank und den Plattenspieler. Schneeweißer Rauhputz, dunkel gebeizte spanische Möbel, Bastteppiche und Perlenvorhänge. Das Atelier in einer Art Türmchen, karg wie eine Mönchszelle. Kurts Bilder und eine kleine Lichtmaschine aus farbigem Glas. Weißwein, Rotwein, Gin, Tonic, Rum und Cognac und ein Tisch, der sich unter verschiedenen Salaten, Pasteten, eingelegtem Ziegenfleisch und gebratenen Wachteln, Brot, Käse und und und nur so bog. Lampions (wo immer Kurt die aufgetrieben hatte) an den Terrassenbalken. Ein Kühler mit Eiswürfeln für die Longdrinks. Robert hatte so etwas noch nicht einmal in Deutschland erlebt und empfand widerwillige Bewunderung. Es war protzig, aber es wirkte nicht so. Es sah alles selbstverständlich, geschmackvoll und großzügig aus. Und er beobachtete die Faszination, die all diese Üppigkeit auf die anderen ausübte, auf die, die ausgestiegen waren, die genug hatten vom Konsumterror und der ewigen Jagd nach dem Dollar. Und sie alle hatten sich schön gemacht. Bunt, aber schön. Lange Kleider, weiße Hosen, bestickte Hemden, silberne Ketten, schillernde Seidentücher. Sogar Rita hatte sich gewaschen und duftete nach Patschuli. Sie trug einen weiten Rüschenrock, und Robert fiel zum ersten Mal auf, daß sie eine schmale Taille hatte. Auch ihr Haar wirkte dunkler, sie sah fast spanisch aus. Die anderen Leute kannte Robert zum größten Teil nicht, obwohl er ihre Gesichter schon oft gesehen hatte. Ein Arzt, ein Zahnarzt, ein Regisseur, ein Immobilienmakler, ein Staatsanwalt, ein Architekt. Deutsche, Schweizer. Kurt war clever, Kurt machte es richtig. Er hatte überall nur kleine Summen angezahlt und große Aufträge erteilt. Das nächste Mal würde er mit Schwarzgeld herkommen, für einen Maler war das einfach. Robert saß in einer Ecke auf der Terrassenmauer, den Rücken zum märchenhaft schönen Blick über die Insel, das Meer und den Hafen. 76
Es war wie im Kino. Die Leute mit Geld und Häusern trugen Jeans und drängten sich wie Bettler am kalten Büfett, die hungrigen Paradiesvögel flatterten etwas verloren durch das Gemenge, bis sie sich in der Ecke beim Grillfeuer zusammenfanden. Kurt und Gina waren die perfekten Gastgeber, freundlich, liebevoll besorgt. Roberts Glas war immer voll, obwohl er dauernd trank und sich kaum bewegte. Kurt war glücklich. Alle hatten ihm gesagt, daß so etwas in so kurzer Zeit in Spanien nicht möglich sei. Aber er hatte es geschafft. Aus dem Boden gestampft. Er unterhielt sich mit Jens, dem Dänen, der die Galerie betrieb. Versprach ihm eine Ausstellung, Presse, Kataloge, Werbung. Einer von der Zeitung, der Architekt, der einige der Häuser hier entworfen hatte, und Club-Kurti, ein Mann von etwa sechzig mit Bauch und Glatze; angeblich ein sogenannter Bauträger, der mit der Konkursmasse hier ein Ferienparadies für reiche Leute aufgebaut hatte. Bungalows mit Meerblick, Telefon, Swimmingpool, Tennisplatz und eigenen Surf-, Tauch- und Segellehrern. Ja, die Ökologie, das war schon ein Problem, woher mit dem Wasser und wohin mit der Scheiße. Haha. Aber heute ist heute, und vielleicht könnte man von den Israelis dieses System zur Süßwassergewinnung aus Meerwasser übernehmen. Eines Tages. Na ja. Was hier noch fehlte, das war Kultur. Kino, Musikabende, Vorlesungen, Ausstellungen mit richtigen Künstlern. Wenn Kurt ein Wandbild für die Eingangshalle machen könnte oder vielleicht ein Litho für Stammkunden. Kurt hatte einen Namen. Und er hatte jetzt ein Haus hier, also hatte er auch eine gewisse Verantwortung. Über den Preis konnte man reden. Kurt hatte innerhalb von weniger als einer Stunde die Kosten für die Party wieder drin und dazu noch die Aussicht, daß man in Madrid oder Barcelona auf ihn aufmerksam würde. Robert spürte plötzlich, daß jemand neben ihm saß. Sie berührte ihn nicht, aber er erkannte den keuschen Duft von Kölnisch Wasser. »Ich liebe dich«, sagte Gina leise, und Robert stand auf, ohne sie anzusehen, und kletterte mit ihr über die Mauer, hinaus in den Pinienwald. Eine kleine Lichtung, weicher Sand von einem Teppich aus Piniennadeln bedeckt, Mondlicht und der Duft von Rosmarin; und natürlich 77
mußte gerade jetzt drüben in Kurts Haus jemand Leonard Cohen auflegen. Sie sagten nichts und sahen sich immer noch nicht an. Bauten ein Lager aus ihren Kleidern und legten sich nebeneinander. Neben Robert wirkte Ginas Haut immer noch hell mit kalkweißen Bikinistreifen dazwischen. Sie sahen sich an, als wären sie sich eben erst begegnet, berührten sich, küßten sich. Waren zusammen. Vertraute Fremde. Vergaßen die Welt und die Vorsicht und liebten sich. Sie konnten sich nicht voneinander lösen. Die Jahre, die sie getrennt hatten, schmolzen zusammen, die Erfahrungen, die sie in der Zeit gemacht hatten, gehörten nur ihnen. Ein besoffener und bekiffter Partygast stolperte auf der Suche nach einem Platz zum Pinkeln über sie, entschuldigte sich wortreich, rumste gegen einen Baum, fiel hin und schlief ein. Es war sehr ruhig, nur die Vögel zwitscherten, und vom Haus her dröhnte Tom Jones Lipps and Tscherries. Sie standen auf, zogen sich an und klopften Sand und Piniennadeln von ihren Kleidern. Standen nah beieinander und sahen sich an. Ovale mit dunklen Augen. Und Robert sagte, was er ihr noch nie gesagt hatte. Ich liebe dich. Viele waren nicht mehr übrig. Ein paar pennten auf den Bänken, zwei Paare tanzten noch, als würden sie im Stehen schlafen, und eine kleine Gruppe hockte im Haus und quatschte über Steuern, Preise, Bautechniken und indische Gurus. Robert fand noch zwei kalte und verbrannte Lammstücke auf dem Grill, Gina holte einen Teller mit Salatresten und Wein. Kurt setzte sich zu ihnen. Er wirkte nüchtern und frisch. Übernahm auch das Einschenken. »Versteh mich nicht falsch«, begann er, »wir sind Freunde, aber das hat nichts damit zu tun.« Robert kaute an seinem Lammknochen, Gina schob ihm eine Gabel mit Thunfischsalat in den Mund. »Ich mag deine Bilder wirklich, und ich möchte ein paar kaufen.« Robert stellte das Glas ab und warf den Knochen in den Wald. Steckte sich eine Zigarette an. Gina wollte auch eine, Kurt nahm sie ihr aus der Hand, zog. »Eigentlich habe ich mir ja das Rauchen abgewöhnt.« Gab die Zigarette zurück. »Für mich und für das neue Kulturzentrum.« Einer der Lampions fing Feuer, Kurt stand auf und löschte ihn. Blies die wenigen anderen aus, die noch brannten. Stellte den Generator ab. Abbey Road starb. Der Himmel färbte sich zitronengelb, 78
rosa und dann türkisblau. Hellviolette Wolkenstreifen. Tieforange stieg der Sonnenbubbel aus dem Wasser, als würde er extra für diese eine Postkarte vom Fremdenverkehrsbüro hochgezogen. Sie saßen nebeneinander auf der Mauer, und Kurt wollte seine Bilder kaufen. Nicht nur, weil er Geld hatte und weil er ihm helfen wollte. »Ich hab mal gesagt, daß du wie ein bourgeoiser Nihilist malst, das ist nicht wahr, du bist ein Fatalist aus dem 19. Jahrhundert. Aber das war Büffet auch. Und du kannst malen, verdammt noch mal, ich mein das so. Und eines Tages werden sie dich tonnenweise aufkaufen, und ich will dabei sein. Kapierst du das? Es ist nichts anderes als gesunder Geschäftssinn, langfristige Finanzplanung und nackte Geldgier.« Kurt war besoffen, auch wenn man es ihm nicht ansah. Robert wußte nicht, wie er reagieren sollte. Gina lehnte an seiner Schulter und schlief friedlich. Sie hatten gestöhnt und geschrien, als wären sie allein auf der Welt. Alle mußten es gehört haben. »Ich liebe sie«, sagte er leise. Kurt nahm ihm die Zigarette aus der Hand. »Du kannst malen, aber sonst kannst du nichts. Ich werde dich sponsern. Ich werde es dir beibringen. Alles. Ich hab mir den Mist angesehen, den die sogenannten Maler hier auf der Insel absondern. Hat nichts mit der Insel zu tun, nichts mit dem Licht, nichts mit der Natur und den Menschen hier. Weißt du, warum ich dieses idiotische Haus angefangen hab? Weil ich hier nicht malen kann. Weil es mich überwältigt und vergewaltigt. Weil ich im Moment nicht viel mehr sein kann als ein Schwamm.« Er trat die Zigarette aus und trank aus der Flasche. »Die glühenden Felsen, oder die Frau am Brunnen, was verlangst du dafür. Ich zahl dir tausend. Okay?« Robert überlegte, ob Kurt Mark oder Peseten meinte, und wie er ihn ins Bett bringen konnte und Gina mit zu sich heim.
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19 Robert war aus dem Schneider. In der Nacht, oder dem Rest, der noch davon blieb, schliefen sie zusammen auf dem großen Doppelbett dem letzten bequemen Platz, der in dem Haus noch übrig war. Trunken von Wein, Hitze und Diskussionen bis in den frühen Nachmittag hinein. Friedlich zu dritt, Gina in der Mitte, wie in alten Zeiten. Als sie aufwachten, hatten sich die meisten Gäste schon verdrückt, die anderen gingen, als sie merkten, daß es kein Frühstück gab, das Kurt, Gina und Robert zuerst aufräumten. Erst dann machten sie schwarzen Kaffee, rösteten das Brot von gestern und holten eine Flasche Champagner. Fuhren zusammen zu Roberts Haus, und Kurt kaufte fast alles, was Robert da hatte. Drei Aquarelle, zwei Öl, acht Radierungen und eine Mappe mit Zeichnungen und Skizzen. Fast vierhunderttausend Peseten. Genug Geld für Robert, um ein Jahr sorgenfrei zu leben, sich ein altes Moped zu kaufen und sich ein Oberlicht ins Dach zu bauen. Zuerst wollte er nicht. Konnte sich von einigen Arbeiten nicht so recht trennen und mißtraute Kurts Begeisterungsausbrüchen. Ärgerte sich, als er erkannte, daß der eigentliche Grund für sein Zögern das klischeeschlechte Gewissen war, das man hat, wenn man mit der Frau seines besten Freundes schläft. Lang hielt es nicht an. Kurt machte eine Anzahlung, indem er fünf Euroschecks einlöste, versprach, den Rest überweisen zu lassen. Zuerst einmal auf sein eigenes Konto in Spanien, da brauchte er dringend Devisen und Bewegung, und Bilderkäufe konnte er vermutlich von der Steuer absetzen. »Ist doch klar«, sagte Kurt, »schau, ich will dir helfen. Weil es der pure Zufall ist, wenn ich heute einen Namen und Geld habe und du nicht. Ich hab doch nie was wirklich Neues gemacht. Nachempfunden, oder knapp vorausgerochen. Du kannst ja über Beuys denken, was du willst, aber der hat das alles doch mal aufgebrochen. Und wenn die Millionen für einen Fettkloß zahlen, dann ist das doch mehr Ausdruck unserer Zeit als meine albernen Lichtmaschinen.« Er wurde sentimental und machte eine Karaffe mit billigem Landwein auf. »Wir kleben doch beide noch an den Expressionisten, weiter sind wir im Grunde nie gekommen, und wenn, dann nicht aus eigenem Antrieb. Nein, du auch nicht, du hast nur den Vorteil, daß du dir selber 80
treu geblieben bist. Du hast immer nur dich selber gepinselt. Weißt du, irgendwo beneide ich dich.« Er sah Robert groß und blauäugig an. Erwartete offensichtlich eine Antwort. Robert fühlte sich ertappt. Er hatte die ganze Zeit nur daran gedacht, wie er Gina für ein paar Stunden von Kurt loseisen konnte. Bekam schon bei dem Gedanken allein einen hoch. »Ich doch auch«, sagte er, »verdammt, wenn schon Mittelmaß, dann doch wenigstens mit Erfolg. Oder glaubst du im Ernst, ich halt mich für ein Genie? Nüchtern jedenfalls nicht. Und besoffen bin ich ja so gut wie nie.« Er nahm Kurt das Glas aus der Hand, trank einen Schluck, verschüttete den Rest, weil Kurt ihn plötzlich heftig umarmte. Ihn küßte. Little Robert dachte gar nicht daran, zu schrumpfen. Robert war irritiert, Kurt hatte Tränen in den Augen. Alles klar, wir sind Freunde. Kurt hatte eine Verabredung mit Jens um neun und eine mit irgendeinem Günther danach zum Essen. Doch ja, Robert würde sich um Gina kümmern, sie konnten von hier aus auch zu Fuß ins Dorf laufen, oder er nahm sie auf dem Fahrrad mit. Wenn er nur keinen Platten hatte, haha. Bis später dann. Robert und Gina warteten nicht einmal ab, bis das Geräusch des BMW-Motors verklungen war. Fielen übereinander her und liebten sich und brauchten keine Worte mehr. In den nächsten Tagen trafen sie sich, wann immer es möglich war. Tags, nachts, am frühen Morgen. Wenn sie mit Kurt und anderen Leuten zusammen waren, berührten sie sich unter dem Tisch und küßten sich hinter den Toiletten. Kurt sah nichts und sagte nichts. Er war voll in Action. Reorganisierte die Galerie, sammelte Gelder für den neuen Kulturclub, mietete einen Raum und beschaffte eine Videoanlage. Plante Anbauten an sein Haus und legte mit gekauftem Wasser einen tropischen Garten an. Kannte nach knapp vier Monaten mehr Leute auf der Insel, als Robert in all den Jahren überhaupt gesehen hatte. War ständig unterwegs. Robert und Gina bemühten sich, diskret zu sein. Eine Insel ist wie ein Dorf, jeder weiß alles über jeden. Sie wollten Kurt nicht weh tun. Anfang September bekam er das Telegramm.
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Das ZDF wollte ihn in einer Kultursendung haben, eine TVTalkshow fragte an, sein Galerist wollte das Ganze mit einer großen Herbstausstellung ergänzen. Kurt mußte nach Deutschland. Es war klar, daß Gina mit ihm fliegen würde. Er brauchte sie, er konnte nicht leben ohne sie. Aber da war das neue Haus und der neue Außenkamin und die große Zisterne und das Gästehaus. Diese Spanier konnte man nicht ohne Aufsicht lassen. Gina würde nachkommen. Spätestens zur Fernsehsendung. Robert und Gina brachten ihn zum Hafen. Den BMW nahm er mit, der war sowieso durchgerostet, er würde ihn verkaufen und mit einem Rover zurückkommen. Brauchst du irgend etwas, Robert. Gina, ich liebe dich. Die Insel war wieder leer. Das Wasser war noch warm, die Erde vertrocknet und die Bäume gelb. Gina probierte eine halbreife Olive vom Baum und spuckte sie würgend wieder aus. Sie lagen am Strand, aßen Feigen und dunkle Trauben und jagten sich in der Brandung. Gina hatte abgenommen, war dunkelbraun und sah wieder aus wie mit siebzehn. Gebleichtes Haar. Robert küßte ihr die Salzwassertropfen von der Haut. Liebe. Glück. Der erste Herbststurm kühlte das Meer spürbar ab. In den Pensionen wohnten nur noch ein paar alte Rentner, die großen Hotels schlossen bereits. Vor den Straßencafés wurden die Markisen eingezogen, die Kinder mußten wieder in die Schule gehen. Standen morgens beim Bäcker Schlange, um ihre aufgeschnittenen, mit Ölsardinen belegten Schulbrote in Empfang zu nehmen. Das Öl für die Armen, die Sardinen für die Reichen. Zuckergebäck für die ganz Privilegierten. Neue Hosen und Röcke und Blusen und bunte Schulmappen aus Nylon. Die Residents und Überwinterer schlossen sich wieder zusammen, luden sich gegenseitig ein und soffen gemeinsame Runden. Die Barkeeper, Kellner und Sommerarbeiter hatten Zeit und die Taschen voller Geld. Ficki, ficki und Tod allen Ausländern. Vier Monate Liebedienern vor dem Westerwald und Warum-ist-es-am-Rhein-soschön hatten die Aggressionen hochgestaut, und wer kann schon zwei Cognacs gleichzeitig trinken. Nix Wiener Schnitzel und alles fihl ßu teuer.
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Nachts in der Bar von Toni Petit grapschte einer Gina an. Juanito war klein, mager und hühnerbrüstig. Im Sommer hatte er einen Strandkiosk, und im Winter ackerte er auf seinen Feldern oder beim Bau. Schwarze Haare, Glutaugen und schmale Hüften. Er kannte die Weiber, sie waren doch jedes Jahr gleich. »Pago bien«, sagte er, und Robert schlug zu. Sie fielen alle über ihn her. Der Wirt, weil er nicht zusehen konnte, daß ein Zweimeterschrank sich an einem Zwerg vergriff, noch dazu in seiner Bar, ein Murciano, dem das Messer schon seit Wochen locker saß, ein paar Freunde aus Spaß an einer Keilerei. Und ein Andalusier, der eben erst angekommen war, weil er Arbeit suchte und es nicht anders kannte. Er schlug einen Flaschenhals ab und ging mit gezacktem Rand auf Robert los. Robert lag schon am Boden. Trat zu. Überlebte. Keine Polizei. Sie schafften ihn heim, entschuldigten sich bei ihm und brachten ihm Brot und Schafskäse und eigenen Wein. Tortilla mit wildem Spargel und Fischsuppe mit Langostinos drin. Kümmerten sich um ihn, strichen sein Haus und reparierten die Terrassenmauer. Gina übersahen sie, als wäre sie nicht vorhanden. Sie mußte nach dem neuen Haus sehen, es wurde wieder daran gearbeitet. »Ja, geh nur, ich bin voll okay!« Robert mußte sie fast aus dem Haus werfen, sie kam trotzdem noch zweimal, um ihm saubere Wäsche und eine Aladdinlampe zu bringen. Robert gab ihr sein Moped. Endlich verschwand sie. Er war erleichtert.
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20 Jahre. Kurt war erfolgreich, er verkaufte sich gut. Er war der geborene Selbstdarsteller. Älter und selbstsicherer, aber immer noch mit dem jungenhaften Charme und einer inzwischen perfektionierten und ironisierten Schüchternheit. Die Talk-Shows rissen sich um ihn, er fehlte bei kaum einer Quizsendung, bei keinem Prominententreff. Eine Dozentur an der Akademie, Vorlesungen an der Fachhochschule, Reisen und Vorträge im In- und Ausland. Er hatte wieder zu seinen expressionistischen Farbräuschen zurückgefunden, und als plötzlich die Jungen Wilden von den Medien entdeckt wurden, da war er mit seinen knapp dreißig Jahren fast so etwas wie ein Vorläufer und Klassiker. Gina war seine schöne Muse, die liebevolle Künstlerfrau. Sie war immer da, schützte ihn, schirmte ihn ab, half ihm, lobte ihn, baute ihn auf und kritisierte ihn nur ganz vorsichtig. Nie drängte sie sich in den Vordergrund, nicht einmal, wenn er von anderen Frauen regelrecht belagert wurde. Sie waren verrückt nach ihm: matronenhafte Fabrikantengattinnen, Journalistinnen, Schauspielerinnen, Studentinnen und Kunstgroupies. Für Kurt gab es nur Gina, und er kam immer wieder zu ihr zurück. Das Haus in Spanien war inzwischen fertig, und Kurt lud großzügig Leute mit auf die Insel ein und stellte es Freunden und wichtigen Bekannten auch dann zur Verfügung, wenn er selbst nicht dort sein konnte. Manchmal flog Gina für ein paar Wochen allein runter. Robert wartete auf sie. Auch seine Situation hatte sich verändert. Es kamen weniger Touristen, und die kamen, hatten weniger Geld. Die Preise waren immens gestiegen, und der Bauboom war gestoppt. Die Arbeiter aus Murcia und Andalusien, die der Goldrausch hergelockt hatte, mußten zum großen Teil in ihre Heimatdörfer zurückkehren, und es gab so gut wie keine Jobs mehr, mit denen man sich über Wasser halten konnte. Einen Sommer lang hatte Robert Fleischbällchen für einen Kiosk gebraten, aber jemand zeigte ihn an, er hatte keine Arbeitserlaubnis. Dann spielte und sang er zweimal die Woche in einem Grillrestaurant. Eine Mahlzeit und Sammeln mit dem Hut. Er packte es nicht, 84
den Stehgeiger für lachende, kreischende und schmatzende Urlauber zu spielen, er konnte die geballte rheinische Fröhlichkeit nicht mehr ertragen. Kam eines Abends schon betrunken an und wartete nur auf einen der üblichen Witze, um zuzuschlagen. Die Galerie verkaufte so gut wie nichts mehr, nur ein paar von Kurts Bekannten hängten sich Roberts Bilder in ihre Sommerhäuser, wenn sie sie billig bekamen. Er hatte das Moped verkauft und fuhr wieder mit dem Fahrrad. Hatte Tomaten, Kartoffeln und Salat im Garten gepflanzt und hielt ein paar Hühner, für mehr reichte das Wasser in seiner Zisterne nicht. Die meisten der alten Hippies und Freaks waren verschwunden, heim in die Jobs, aufs billige Festland oder gleich nach Kolumbien oder Sri Lanka. Neue Gesichter, zu denen er selten Zugang fand. Jacqueline. Sie kam aus Cleveland, Ohio, war lang, dünn und schwarzhaarig, hatte grüne Augen und eine milchweiße Haut, die keine Sonne vertrug. Sammelte Kräuter, konnte Brot backen, nähte witzige Sommerfummel für Boutiquen und brannte kleine Tonfiguren, die sie in den Bars zu verkaufen suchte. Ihre Vorfahren waren Mormonen, und sie war von unbesiegbarem Optimismus erfüllt. In der Nacht, in der Robert sie kennenlernte, war er nah dran, sich von den Klippen zu stürzen. Er hatte Tage und Nächte in der letzten Kneipe, die ihm noch Kredit gab, durchgesoffen, konnte nicht mehr, wand sich in Depressionen. Unfähig, zu malen, zu lieben, zu leben. Unrasiert, ungewaschen und stinkend fiel er irgendwann von der Mauer und pennte in Straßenstaub und Hundekot. Gelächter. Eine weiche Stimme. Eine Hand an seinem Gesicht. Er wachte in ihrem Bett auf, schwitzte, schrie, sah grausig verstümmelte Tiere und blutige Monster, die auf ihm herumkrochen und sich in ihn hineinfraßen. Kühles Wasser, einmal ein weiches Ei und ein Stück Brot. Nach drei Tagen war es vorbei. Er blieb. Er reparierte ihr Moped, ihre uralte Nähmaschine und ihr Haus. Weißelte alles, schreinerte einen Tisch und zog ein Spalier für ihre Morning Glory an der Hauswand hoch. Sie teilte ihr Essen und ihr Geld mit ihm, und sie schliefen miteinander. Ihr Körper war hart und knochig wie der eines siebzehnjährigen Jungen, und wie alles, was sie machte, war auch ihr Liebesspiel von pragmatischer Nüchternheit. Erotik war es nicht, eher so eine Art von 85
kumpelhaftem Sichmögen und Sichhelfen. Sie waren beide allein, und sie hatten Angst vor Bindungen und Verletzungen. Als Robert Ginas Telegramm bekam, gab ihm Jacqueline ihre letzten fünfhundert Peseten und schenkte ihm einen kleinen, gelbgetigerten Kater. Er nannte ihn Vincent. Sein Haus sah schlimm aus, die Pflanzen waren vertrocknet, die Hühner hatte der Bauer geholt. Robert räumte auf, soweit es möglich war, und nahm Vincent mit ins Bett. Vincent hatte ein seidenweiches Fell, schmiegte sich in seine Achselhöhle und schnurrte. Zum erstenmal seit Monaten schlief Robert tief und fest und völlig entspannt. Robert wartete auf Gina. Das Schiff kam, sie stand vorn an der Reling und winkte. Sie war schon braun, trug Stiefel und Röhrenjeans und war schöner denn je. Sie umarmten sich, sahen sich an, waren sich fern und nah zugleich. Nahmen ein Taxi, das sich bereit erklärte, Roberts Fahrrad in den Kofferraum zu packen. Küßten sich mit der immer wieder neuen Leidenschaft nach langer Trennung. Vincent war eifersüchtig. Sprang im Bett herum und störte. Gina sperrte ihn aus, er fiepte so lange, bis Robert ihn wieder reinließ. Zuerst konnten sie noch beide darüber lachen. Gina fuhr zu ihrem Haus, Robert wollte Vincent nicht so lange allein lassen. Er war ja noch so winzig. Sie trafen sich am Tag, es war alles anders. Kurts Haus, Kurts Bett, Kurts Wein. Gina bekam Besuch, Freunde von Kurt, Robert sah sie kaum noch, er arbeitete wieder. Gina reiste ab und kam wieder. Vincent wuchs und trieb sich draußen auf den Feldern herum. Gina kannte er und akzeptierte sie inzwischen. Jacqueline liebte er. Von ihr nahm er sogar altbackenes Brot an und tat so, als wäre es rohe Hühnerleber. Gina kam drei- bis viermal im Jahr, und jedesmal freute sie sich auf Robert. Träumte von ihm und bekam Herzklopfen, wenn sie ihn am Hafen stehen sah, schwarzgebrannt, verwildert und finster. Sie liebte ihn, lachte über seine Witze und soff mit ihm. Als er das erstemal für Tage verschwand, hatte sie Angst, er hätte einen Unfall gehabt, suchte ihn im Hospital und fütterte Vincent. Einmal brachte sie ihm Gordon’s vom Duty-free-Shop mit und sah ihn die ganze Flasche in einer halben Nacht leeren. Erlebte zum er-
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stenmal seine Anfälle und schreienden Depressionen mit und floh in die geflieste Ruhe ihres eigenen Hauses. Sie lernte Jacqueline kennen, mochte sie und kaufte Kaffee ein. Robert durchschaute das Spiel und soff eine Flasche Fernet Branca. Bekam Streit und provozierte eine Schlägerei. Blutete danach, grinste verblödet und zog mit einer Neckermannblondine ab. Es tat ihm leid, sie versöhnten sich, Gina gab ihm Geld, und Robert schlug ihr ein blaues Auge. Sie fuhr zwei Wochen früher ab, Linie, schminkte das Auge vor der Ankunft in München mit Make-up zu und bereute schon in dem Moment, in dem Kurt sie umarmte, ihr den Koffer abnahm, und zu erzählen begann. Er fragte nicht, war nur da und brachte sie heim. Das Haus war aufgeräumt, ein Essen vorbereitet, der Wein gekühlt. Erika, Paul und Olaf würden auch noch kommen. Kleine Willkommensparty im engsten Familienkreis. Kurts Eltern kamen auch, sie brachten eine kuschelige Lamadecke als Geschenk mit und zwei Fläschchen Champagner, falls er euch ausgeht, haha. Olaf kam in Uniform. Er war beim Bund, und da gefiel es ihm. Alles sicher, ruhig und in Ordnung. Sie gingen früh, weil sie alle morgen arbeiten mußten, und Kurt half ihr beim Abwasch. Er duschte, bevor er zu ihr ins Bett kam, und roch nach Seife und Rasierwasser. »Ich bin so froh, daß du wieder da bist«, sagte er, »willst du nicht auch noch duschen, du mußt ja ganz erschöpft sein.« Sie heulte, und er bemerkte das Veilchen. »Ich bin gestolpert«, erklärte sie, und Kurt war viel zu lieb und zu gutmütig, um Verdacht zu schöpfen. Bedauerte sie nur, und tröstete sie und ließ sie schlafen.
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21 Robert fror. Es regnete, und wenn der Wind drehte, stäubten kalte Wassertropfen durch das offene Zellengitter. Robert zog die schweiß- und schmutzverkrustete Armeedecke über die Schultern hoch. Nein, Kurt würde nicht zahlen. Nicht, weil er das Geld nicht hatte oder weil es ihn reute. Nein, nur, weil er ein eifersüchtiger Spießer war, der es sich nicht einmal vorstellen konnte, dem ganzen Dollarkram den Rücken zu kehren und auch mal mit einer anderen Frau zu bumsen. Und er mußte es wissen. Das konnte sogar der berühmte Blinde mit dem Krückstock sehen. Gina liebte Robert und nicht Kurt. Er war ihr erster Mann, und er hatte Feuer im Pint. Weshalb sonst kam sie denn dauernd angeschissen. Er hätte sie gern hier gehabt. Sich an sie gerollt und sich an ihr gewärmt. Sie war nie richtig erwachsen geworden. Er liebte sie auch. Was für ein Idiot war er doch. Gina gab ihm Geld, und er schlug sie dafür. Nur weil er ein schlechtes Gewissen wegen Jacqueline hatte. Dabei war es Kurts Geld. Absoluter Schwachsinn. Zehntausend, die könnte er jetzt schon mal ganz gut brauchen. Vincent würde ihn vermissen. Wenigstens jemand. Robert schlief ein. »Buen dia, buen dia«, Toni rasselte mit den Schlüsseln über das Gitter wie über eine Harfe. Sperrte auf und schwenkte ein blaues Telegramm in der Luft. »Bien amigos, tu. Äh?!« Er freute sich wie ein Kind. »Muy ricos? Mucho dinero? Muy bien amigos!« Lachte und schüttelte die Decke aus. Robert war frei. Alles war halb so schlimm. Kein Mord, kein Totschlag, Robert hatte irgendeinen besoffenen Heinz zusammengeschlagen, der Advokat hatte einen Zeugen aufgetan, der gesehen hatte, daß Heinz angefangen hatte. Vorbestraft war er auch, und Geld hatte er keins. Heinz mußte von der Insel, der Advokat hatte seine Peseten, Zwistigkeiten unter Ausländern waren nicht so wichtig. Die Sonne schien wieder, auf der Straße glitzerte noch die Feuchtigkeit. Robert ging in die nächste Bar, bestellte sich etwas zu essen und ein Bier. Kurt hatte tatsächlich gezahlt. Ziemlich viel vermutlich. 88
Im Telegramm stand, daß er und Gina demnächst kommen würden, daß sie ihn liebten und daß auf der Post eine telegrafische Geldanweisung auf ihn wartete. Noch mal zwanzigtausend Peseten. Robert kaufte ein, fuhr zu Kurts Haus, räumte auf, putzte, ölte die Holzbalken und Türen neu ein und schloß den Kühlschrank an. Er war gerührt. Hatte ein schlechtes Gewissen, weil er Kurt nicht getraut hatte. Und fühlte sich auf nicht klar definierbare Weise abhängig. Wollte Gabi etwas Geld geben, sie sah ihn nur verständnislos an. Also doch Jacqueline. Sie wollte kein Geld. Hatte ganz gut verkauft und außerdem etwas von zu Hause bekommen. Lebte jetzt mit einem Argentinier zusammen, von dem behauptet wurde, daß er Dealer war, und der nicht wissen durfte, daß Jacqueline Robert geholfen hatte. Vielleicht würde sie heiraten. Warum nicht. Robert blieb die drei Wochen bis zur Ankunft von Kurt und Gina trocken, ging kaum aus, malte wieder. Verzerrt düstere Folter- und Kerkerszenen in einer hauchfeinen Stricheltechnik. Verspielte Filigranarabesken, die auf den ersten Blick fast romantisch wirkten und erst beim näheren Hinsehen die Grausigkeit des Motivs erkennen ließen. Er hatte abgenommen, und seine Haut hatte einen ungesunden Gelbton. Er sah selbst aus wie eine der gemarterten Figuren auf seinen Bildern. Gina erschrak, als sie ihn sah, Kurt umarmte ihn wie einen lange vermißten Bruder. »Ich bin froh, daß du dich an mich gewandt hast, ich bin immer für dich da.« Sie fuhren zusammen zum Haus, und Gina kochte gleich, Robert mußte aufgepäppelt werden. Robert trank Wasser zum Essen, und Kurt erklärte ihm stolz seinen tollen Plan. Das Fernsehen drehte einen Halbstundenfilm über ihn, in München waren sie schon fertig, die Redakteurin wollte mit dem Team für ein paar Tage herkommen, um auch hier zu drehen. Und weil das ja eine schöne PRGelegenheit war, hatte Kurt gleich noch ein paar Leute dazu eingeladen. Seine Galeristen, einen Kunstbuchverleger, einen jungen Kulturreferenten und eine Journalistin, die ihm einen Farbbericht in einer großen Zeitschrift versprochen hatte. Billige Chartertickets und die Bungalows von Kurti. Mann, das Geld würde zehnfach wieder reinkommen. Und der Clou, Kurt machte das alles gar nicht für sich sel-
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ber, das hatte er nicht mehr nötig. Nein, er würde ihnen Robert verkaufen. Der freie Maler, der Unabhängige, der Aussteiger in seiner südlichen Einöde. Kurt machte die Cognacflasche auf. »Verstehst du, was das bedeutet, Robert! PR, kapiert? Das ist heute doch alles, ohne Klappern und Rasseln kannst du doch das größte Genie aller Zeiten sein, keine Sau nimmt Notiz von dir.« Robert verkrampfte sich vor Gier nach einem Cognac. Riß die dritte Zigarettenschachtel auf, deutete auf die Holzkoffer, in denen Kurt seine Bilder mitgebracht hatte. »Hast du was Neues dabei?« Kurt zögerte unmerklich, machte die Koffer dann aber doch auf und stellte die Bilder heraus. Sah Robert von der Seite her an, wartete auf einen Kommentar. Robert wußte nicht, was er sagen sollte. Kurt malte wieder wie vor zehn Jahren, aber was damals spontan und direkt gewesen war, wirkte heute gekünstelt und überperfektioniert. Handwerkliche Glätte überdeckte die Emotion. »Das hat viel mit dir zu tun«, sagte Robert vorsichtig, um nicht lügen zu müssen, und merkte an Ginas Gesicht, daß er den Punkt unter der Gürtellinie voll getroffen hatte. Er zog hastig das einzige Bild hervor, das anders war. Ein Selbstporträt. Eine Staffelei mit einer Leinwand darauf, auf der Leinwand wieder eine Staffelei mit einer Leinwand. Harte, grün und violette Schlagschatten, roter Hintergrund. Im Mittelpunkt klein als Gemälde im Gemälde das Gesicht von Kurt. Fotografisch genau mit Falten und Ringen unter den Augen. Blauschwarz. Rot und brennend nur die Pupillen. Kurt sah darauf älter aus, als er war. Irgendwie gemein und böse und doch gleichzeitig ängstlich und unsicher. Das Bild war von einer fast selbstzerstörerischen Ehrlichkeit. Aber es war ein hervorragendes Bild. »Das ist unglaublich gut«, sagte Robert und meinte es so. »Das ist mit das Beste, das du je gemacht hast.« Kurt riß ihm das Bild aus der Hand und drehte es zur Wand. »Das ist Scheiße!« »Ein Sammler in London hat ihm einen Haufen Geld dafür geboten«, Gina setzte sich dicht neben Kurt und schmiegte sich an ihn, »und ein Museum in Mailand wollte es unbedingt haben, aber Kurt gibt es nicht her.« Kurt entspannte sich etwas und lachte. 90
»Dafür bin ich noch zu jung«, er küßte sie, »eines Tages wirst du es erben, und dann kannst du damit machen, was du willst.« »Blödmann«, Gina begann Kurt den Rücken zu massieren, Kurt grunzte zufrieden, Robert fühlte sich überflüssig. Aber als er aufstehen wollte, hielten sie ihn zurück. »Nein, du darfst jetzt nicht gehen. Ich mach uns einen Kaffee.« »Wir müssen doch die Party planen«, Kurt drückte Robert ein volles Glas in die Hand, und Robert merkte erst, als er schluckte, daß es Cognac war. Er hustete, schüttelte sich, trank weiter. »Was für eine Party?« »Na, für alle die wichtigen Kunstfreaks. Wir machen eine Ausstellung. Platz genug ist da und Licht und weiße Wände. Deine Bilder und ein paar von mir. Ein richtiges Fest, verstehst du, so wie früher. Du hast ja keine Ahnung, wie das heute bei Vernissagen zugeht. Steif und gezwungen. Zum Einschlafen langweilig.« »Nein, davon hab ich keine Ahnung.« Robert schenkte sich nach. Gina brachte den Kaffee, aber außer ihr wollte ihn keiner trinken. »Musik wäre schön, live mit allem Drum und Dran. Oder Kostüme. Irgendwas Verrücktes.« »Robert, laß dir was einfallen.« »Nur Ausländer, meint ihr?« »Nein, wenn du ein paar Spanier kennst, klar, lad sie ein, international, ist doch logisch. Vielleicht kann uns einer eine große Paella kochen, das wär doch mal was anderes.« »In Spanien ist Paella nicht so wahnsinnig originell.« »Komm, du weißt doch, was ich meine, wir beeindrucken die, wir zeigen denen mal, was eine echte alternative Künstlerfete ist. Leben, verstehst du? Leben! Die wissen doch schon gar nicht mehr, was das ist.« Kurt versank in nostalgischen Erinnerungen an die heißen Schwabinger Sommer der sechziger und siebziger Jahre und ließ sich von Robert immer wieder bestätigen, wie schön das gewesen war und daß sie genau so etwas machen würden.
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22 Robert wollte nicht hingehen. Er hatte mit Gina zusammen angefangen, das Fest zu organisieren, aber dann hatten Kurt und Club-Kurti ihnen alles aus der Hand genommen. Robert dachte, daß er jetzt mit Gina allein sein könnte, aber sie ließ sich nicht sehen. Fuhr in einem Leihwagen über die Insel und klebte Einladungen an die Kneipentüren. Das Fest sollte am Nachmittag beginnen, nur für die wichtigen Leute, damit das Fernsehteam drehen konnte und jeder die Bilder sah, am Abend Sangria und Paella für die Freunde, Musik und Tanz, und am nächsten Tag dann Ausstellung für jedermann. Roberts Stammkneipe war leer. Anscheinend war jedermann auf dem Superfest. Robert war schon betrunken, als er sich doch noch auf sein Fahrrad setzte und zu Kurts Haus hinauffuhr. Trommeln und ein Saxophon. Scheinwerfer. Das weiße Haus und der chemiegrüne Wald sahen so unwirklich aus wie das Bühnenbild für eine Märchenoperette. Robert lehnte sein Rad an einen Baum und ging zu Fuß näher. Blieb im Schatten. Das Stück lief. Kurt und Gina, die Hauptdarsteller, beide in Weiß. Club-Kurti als Butler im Safari-Look. Ein paar Hofschranzen in nachgemachten Hippiefummeln. Ein paar Bäuche und Glatzen, Popelineröcke und indische Tücher, Cordhosen und Lacoste-Hemden. Ein junger Mann im Tennisdreß, ein Mädchen oben ohne. Die Kamera lief. Der Kameramann hatte abgeschnittene Jeans an und sah aus wie ein Mensch. Irgendeine Gabi lief dauernd kichernd mit Tellern durchs Bild, die sie von dem Platz holte, an dem ein mürrisch dreinschauender Spanier in einer Fünfzig-Personen-Paella herumrührte. Das Fleisch war noch roh, der Reis hart. Öl spritzte in die Glut, Flammen, er stank nach verbranntem Fett. Kreischen. An den Trommeln saßen zwei Neger, das Saxo spielte ein Weißer. Sie rumpelten immer wieder den gleichen Rhythmus runter. Schrumm, schrumm, schrumm. Zwei höchstens zehnjährige Kinder rauchten Pot, zwei andere knutschten miteinander. Robert erkannte kein Gesicht wieder. Er wäre abgehauen, wenn Gina ihn nicht entdeckt hätte. Sie rannte auf ihn zu und küßte ihn, als wollte sie ihn hier und gleich vergewal92
tigen. Schleppte ihn mit hinein ins Licht. Stellte ihn vor. Beate Schultz, die Tochter vom alten Brockmann, ihr Mann, Kuhse, der Verleger, Wendrich, der Kulturreferent, Dr. Wendrich. Lili Presch, die Journalistin mit den tollen Beziehungen, ihr Freund Stefan, ihre kleine Tochter. Die Redakteurin, die den Film machte. Birgit Krannhals. Vierzig rum, hager, sportlich. Sie war zu beschäftigt, um sich Roberts Namen merken zu können. Schmierige Pappteller, abgenagte Knochen, lippenstiftverschmierte Gläser und Zigarettenstummel im Sand. Robert ließ Gina stehen und ging ins Haus. Fand noch ein sauberes Glas und eine volle Flasche, legte sich in einem Sessel zurück und trank. An den Wänden hingen nur die Bilder von Kurt. Die Mappe mit Roberts Arbeiten stand in einer Ecke an der Wand. Kurt hatte sich entschuldigt, er hatte ganz einfach nicht mehr die Zeit gehabt, aber gleich morgen früh würde er umhängen. Robert merkte, daß er nicht allein war. Gina stand hinter ihm. »Das ist ja eine grausige Stimmung da draußen, die meisten haben sich schon verdrückt.« Robert stellte sein Glas weg, zog Gina auf seinen Schoß und küßte sie. Fraß sie fast auf, zerdrückte ihre Bluse und hinterließ Flecken auf ihrer weißen Leinenhose. Schritte. Sie schreckten hoch. Kurt grinste. »Laßt euch nur nicht stören.« Er schenkte sich einen dreifachen Whisky ein und holte Eiswürfel aus der Küche. »Wenigstens jemand, der sich auf dieser Scheißparty amüsiert.« Er ging wieder hinaus. Gina zog ihre Bluse zurecht und setzte sich auf einen anderen Stuhl. Sie schwiegen. Als die Frau hereinkam, bemerkte sie sie nicht. Sie sah die Bilder an. Ruhig, nachdenklich, aus verschiedenen Blickwinkeln und Abstand. Sie war gut Mitte vierzig, schlank, streng und sehr gepflegt. Sie kam zu der Ecke, in der die Mappe von Robert stand. Machte sie auf und blätterte drin herum. Stutzte, kniete sich hin und nahm einige Blätter heraus. Legte sie vor sich auf den Boden, lehnte sie gegen die Wand. Stand auf, ging einen Schritt zurück. Rief über die Schulter zur Tür: »Martin!« Ein Mann kam herein, und Robert erinnerte sich wieder daran, wer sie war. Beate Schultz, die Tochter vom alten Brockmann. Er bewegte sich nicht, spürte, daß Gina ihn ansah. 93
Schultz ging zu seiner Frau, sie deutete auf Roberts Blätter und machte ihm Platz. »Hast du das schon gesehen?« »Das ist ja unglaublich.« »Homberg ist es jedenfalls nicht.« »Wer hat das gemacht?« »Keine Ahnung, R. Klahn oder Klein oder so ähnlich.« »Nie gehört.« »Wer immer das ist, der kann malen. Und zeichnen. So was gibt’s ja heute kaum noch.« »Na ja.« »In Deutschland hab ich jedenfalls in den letzten zwanzig Jahren nichts Derartiges gesehen. Vielschichtig und besessen.« »Und gekonnt.« »Und das eine sage ich dir, und du kennst meine Nase. Das kommt. Romantischer Surrealismus mit perfide beobachteter Realität, die man auf den ersten Blick gar nicht wahrnimmt.« Sie lachte plötzlich auf. »Hast du das zum Beispiel gesehen, diese Ecke da! Witzig ist er auch noch!« »Du meinst, wir sollten da mal nachfragen?« »Unbedingt. Dann hat diese schwachsinnige Reise wenigstens einen Sinn gehabt.« Robert wandte den Kopf und sah Gina an. Ihre Augen waren groß und dunkel. Er liebte sie sehr. Stand lautlos auf, streckte ihr eine Hand hin, zog sie hoch und ging mit ihr zur Tür. In der Tür stand Kurt. Es sah aus, als hätte er schon lange da gestanden. Sein Gesichtsausdruck war starr, er ließ Gina und Robert vorbei, ohne sie anzusehen, ohne etwas zu sagen, schaute nur zu Beate Schultz und ihrem Mann, die sich noch immer auf Roberts Bilder konzentrierten. Auf der Terrasse sah es aus wie nach einem Wirbelsturm. Aber alle Gäste waren verschwunden. In einer Ecke hockten nur noch die Krannhals, Kuhse, Dr. Wendrich und die Presch-Familie beisammen und redeten und tranken, während die Kinder auf der Mauer schliefen. Robert nahm Gina zu der kleinen Lichtung unter den Pinien mit und legte seine Kleider über die Piniennadeln. Sie zog sich aus und kam zu ihm.
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Sie gehörten zusammen wie vor zehn Jahren. Gina und Robert. Sie zogen sich wieder an und hockten sich an einen Baumstamm, dicht aneinandergeschmiegt, rauchten eine Zigarette. Robert fühlte sich glücklich, ausgeglichen und stark wie nie zuvor und wagte es nicht, daran zu denken, daß dieses Gefühl etwas mit der so eindeutigen Anerkennung seiner Bilder zu tun haben könnte. Oder daß Gina ihn deswegen anders sah. Er wollte nicht denken. Vom Haus her kam Stimmengewirr, dann Musik, erst hektisch laut, dann wieder leise. Stimmen. »Ich wußte es die ganze Zeit«, sagte Gina. »Dann hast du mehr gewußt als ich.« »Das ist nicht wahr. Und daß ich dich liebe, weißt du auch.« »Stimmt.« »Ich war dumm.« »Stimmt.« »Ich will immer mit dir zusammen sein.« »Reich werde ich nie sein.« »Das ist doch mir so egal wie nur sonstwas.« Sie küßte ihn, und weil er ihr glauben wollte, schwieg er.
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23 Kurt brüllte. »Haut endlich ab! Ich will euch nicht länger sehen! Ich kann euer Geschwätz nicht mehr ertragen! Schmarotzer, Widerlinge, Trittbrettfahrer, Arschlöcher!« Robert und Gina kamen auf die Terrasse und schauten ins Haus wie auf ein Bühnenbild. Kurt stand an der Bar und schenkte sich Whisky warm und pur ein. Die anderen waren in der Ecke bei den Sesseln, tranken Wein, starrten Kurt verdutzt an. Eins der Kinder weinte. Kurt brüllte weiter, er war betrunken. Robert ging hinein, versuchte ihn zu beruhigen. Kurt ging auf ihn los. »Verpiß dich! Scheißfreund! Vögel meine Frau, aber nicht in meinem Haus!« Dann ging er wieder auf die anderen los, aber die tuschelten schon und packten ihre Sachen. Quetschten sich in ihre Leihautos und preschten davon, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Kurt lachte und grölte. »Feiglinge! Konsumfetzen, greisliche…«, bemerkte Robert, der immer noch auf der Terrasse stand. Sah ihn an, hatte plötzlich Tränen in den Augen. »Scheiße, was?« Robert schwieg, die Scheinwerferlichter der Autos verschwanden hinter den Kurven der Serpentinenstraße. Ließen die Bäume grün aufleuchten und rissen für Sekunden weiße Bungalows aus der Dunkelheit. Robert schaltete die Außenbeleuchtung aus und ging auf Kurt zu. Kurt wich vor ihm zurück. Bleich, Schweißtropfen auf der Stirn. »Nein«, murmelte er, »bitte…«, stolperte über einen Sessel, fiel hinein und blieb hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken mit zappelnden Beinen drin liegen. »Es tut mir leid. Robert, bitte, das hab ich doch nicht so gemeint!« Er hob abwehrend die Hände, ließ sie wieder sinken, als er sah, daß Robert an ihm vorbei zur Bar ging. Wein, Cognac und Whisky gab es nicht mehr, das einzige war eine fast volle Flasche Mahon-Gin. Robert goß sich ein Glas voll, Kurt schaute zu ihm hoch und hielt ihm dann vorsichtig sein Glas hin. Robert füllte es. Kurt nahm seine Beine von der Sessellehne. »Wir sind doch noch Freunde, oder?« »Sicher, warum nicht.« Der warme Gin schmeckte grauenhaft nach all dem anderen Zeug, Robert merkte, daß er nahe dran war, wirklich
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betrunken zu werden. Mußte aufpassen. Ruhig bleiben, ganz ruhig. »Klar sind wir Freunde.« »Genau. Wie Brüder. Zwillingsbrüder sozusagen«, Kurt trank auch und hatte Mühe, klar zu sprechen. »Und es macht mir auch nichts aus, wenn du mit meiner Frau schläfst, es macht mir wirklich nichts aus. Lieber du als jeder andere. Du bist mein Bruder.« »Und Gina ist deine Frau.« »Und Gina ist meine Frau. Richtig.« Kurt machte Anstalten, sich aus dem Sessel zu stemmen, rutschte mit der Hand von der Lehne und verschüttete einen Teil von seinem Gin. Sank zurück und starrte plötzlich auf die Tür. »Komm her.« Robert drehte sich um. In der Tür stand Gina. Sie hatte sich umgezogen, trug einfache Jeans und ein T-Shirt. »Ich gehe.« »Du sollst herkommen, verdammt noch mal!« »Nein.« Sehr leise, ruhig. Ihr Gesicht war frisch geschminkt und sah aus wie eine Maske. »Nein.« Robert ging langsam auf sie zu und streckte eine Hand nach ihr aus. »Komm.« »Faß mich nicht an!« Sie schrie. »Ihr kotzt mich an! Alle beide kotzt ihr mich an! Mit eurer verlogenen Freundschaft und dem ganzen Scheiß!« Sie wandte sich um und rannte hinaus. »Dann hau doch ab, du blöde Schnalle!« Kurt warf sein Glas hinter ihr her, es prallte gegen den Türstock, zersprang und fiel in einem glitzernden Tropfenregen auf den Boden. Robert machte eine Bewegung zur Tür hin. Kurt war mit erstaunlicher Behendigkeit aus dem Sessel draußen und bei ihm. Packte ihn am Arm. »Du bleibst da!« Draußen sprang das Moped an und tuckerte davon. »Ich gehe!« Kurt äffte Ginas Stimme nach und ging zur Bar. »Die wird schon sehen, wo sie bleibt, ohne einen Penny in der Tasche, die kommt schneller zurückgekrochen, als du dein Glas austrinken kannst.« Er merkte, daß er kein Glas mehr hatte, und trank aus der Flasche. Behielt sie in der Hand, setzte sie wieder an den Mund, sabberte. Robert wollte ihm die Flasche wegnehmen. Kurt schlug zu. Knallte den Flaschenboden gegen Roberts Handgelenk. »Nimm deine Pfoten von meiner Flasche, du stinkiger Parasit!« Robert schwieg. Hielt die Luft an. Rieb sein Handgelenk. Den ersten Schmerz hatte er kaum gespürt, das pelzig taube Gefühl, das 97
sich jetzt ausbreitete, versetzte ihn in Panik. Er drehte das Gelenk. Schmerz. Krümmte die einzelnen Finger, Schmerzstiche bis hinauf in den Ellbogen. Der Knöchel rötete sich und schwoll leicht an. Kurt beobachtete ihn. Lächelte versonnen. »Ach, richtig, du bist ja Linkshänder. Das hatte ich vergessen. Man denkt gar nicht dran, aber angeblich sind vierzig Prozent der Weltbevölkerung Linkshänder. Tut mir leid, ehrlich. Aber gebrochen ist es ja wohl nicht. Tut es sehr weh?« Robert antwortete nicht. Kurt sah sich nach Roberts Glas um und schenkte es voll. »Hat ja vielleicht auch was Gutes. Ich mein, es zwingt dich jetzt, großzügiger zu malen, verstehst du. Was immer die anderen sagen, ich finde deine fieseligen Stricheleien richtig ekelerregend. Weißt du, was das für mich ist? Beschäftigungstherapie für den Kopf. Kein Bauch, kein Gefühl.« Kurt stieß sich von der Bartheke ab und stapfte mit langen Schritten in die Ecke, in der neben Roberts Mappe noch seine Blätter auf dem Boden lagen. »Da! Schau dir das doch mal an! Grau in grau in grau. Das hat doch nichts mehr mit Malerei zu tun! Darf ich ja wohl sagen als Freund, oder. So eine verquälte Kopfscheiße will sich doch keine Sau ins Zimmer hängen!« Kurt hatte plötzlich einen breiten roten Glasschreiber in der Hand. Seine Stimme war sanft und klar. »Laß dir das sagen von deinem Bruder.« Robert stand unbeweglich da, das Glas in der rechten Hand. Trank einen Schluck. Glaubte nicht daran, daß Kurt es wirklich tun würde. Die Bewegung war so schnell, daß Robert als erstes nur das häßliche Quieken wahrnahm, mit dem der Filzschreiber über das Papier fetzte. Ein breiter roter Strich wie eine offene Wunde. Quiek – quiek – quiek. Schattierungen über das ganze Blatt. Kurt sah nicht auf, kolorierte schon wie besessen das zweite Bild. Robert ließ das Glas fallen und stürzte sich auf ihn. Riß ihn zurück, schlug ihn. Brüllte. Kurt fuhr mit unerwarteter Kraft auf ihn los. Schlug, boxte, trat. Robert stolperte, fiel, Kurt war über ihm, hackte mit dem Stift nach seinen Augen. Rot. Blut. Robert war nah daran, die Besinnung zu verlieren, rollte sich im letzten Moment weg. Sah Kurt breitbeinig über sich stehen, den roten Stift lose wie ein Messer in der Hand. »Ich darf das, verstehst du. Es 98
sind meine Bilder. Ich habe sie gekauft und bezahlt, und ich kann alles damit machen, was ich will. Alles.« Kurt wandte sich ab, beugte sich über die anderen Blätter, nahm das erste hoch, als wollte er es von nahem ansehen. Zerriß es. Einmal. Zweimal. Warf die Fetzen weg, nahm das nächste Blatt hoch. Ritsch. Pffft. Robert sprang auf und warf sich auf ihn. Schlug mit der Handkante zu und schlug die Faust voll in die sich ihm verwundert zuwendende Fresse. Noch einmal. Immer wieder. Der Schmerz brannte bis in die Schulter hinauf, Robert spürte ihn nicht. Kurt stand da, ein verblödetes Grinsen im Gesicht, die zerrissenen Teile von Roberts Zeichnung in beiden Händen. Weiß gezackte Ränder wie wuchernde Narben. Robert schlug wieder zu. Kurt schwankte. Wollte zurücktreten, fiel. Krachen. Der Tisch kippte um, schmutzige Gläser und übervolle Aschenbecher klirrten auf den Boden. Stille. Nur das Zirpen der Zikaden im Wald draußen. Kurt lag auf dem Rücken. Bewegte sich nicht. Das Blut, das aus seiner Nase quoll, war fast schwarz und sah unnatürlich aus neben den feuerroten Wunden, die der Filzschreiber in die Bilder geschlagen hatte.
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24 Irrsinnige Kopfschmerzen. Sand im Maul und trockener Hustenreiz. Unerträgliche Hitze. Robert versuchte, die Augen zu öffnen. Grelles Sonnenlicht blendete ihn. Er stöhnte. »Na endlich«, sagte eine Stimme, die er noch nie gehört hatte. Er wachte endgültig auf. Er war ausgezogen und lag im Bett. Wenigstens das. Unter einem sauberen Laken. Es war nicht sein Bett. Zitronengelbe Wände und ein kitschiger Sonnenuntergang über einem gekachelten Tisch mit Rohrsesseln. Es war nicht mal sein Haus. »Hier, nimm das«, eine Hand gab ihm ein Wasserglas mit einem sprudelnden Alka-Seltzer drin. Viel half es nicht, aber er konnte immerhin den Kopf heben. Das Mädchen war Anfang zwanzig, pummelig, stupsnäsig und sommersprossig. Wasserblaue Augen hinter einer Nickelbrille, die ständig über die schweißnasse Nase herunterrutschte. »Wer bist du denn?« »Kennst du mich nicht mehr?« Die Augen wurden größer als die Brillengläser und schimmerten feucht, was aber vermutlich an der Hitze lag. »Ich bin doch die Britta.« »Aha. Die Britta also.« Robert hustete, bis sich ihm der Magen umstülpte. Britta brachte ihm ein Glas Eiswasser, Britta steckte ihm eine Zigarette an. Nichts auszusetzen an Britta. »Tag, Britta.« »Du erinnerst dich an nichts, was!« Vorwurf, Schmollmund. Sie setzte sich auf die Bettkante. Ein rosa Hängerchen über winzigen Shorts, mächtige Schenkel und runde Kinderknie. Robert rückte an die Wand und legte zum Ausgleich eine Hand auf das Knie. Die Hand schmerzte. Sah komisch aus. Fremd. Dick. Robert zog sie zurück und hielt sie sich vor das Gesicht. Öffnete sie, schloß sie. Schmerzen. Angst. »Was ist passiert?« »Du hast mir gesagt, daß du mich schön findest und daß du mich liebst, und daß du mich malen willst, und daß du mich…«, sie brach ab, wartete auf eine Reaktion. Robert war noch mit seiner Hand beschäftigt. »Wann soll das gewesen sein?« »Heute nacht im Los Arcos.« 100
»Und?« Panik. »Was und?« »Haben wir?« Er hielt ihr das Glas hin, sie stand auf und füllte es mit neuen Eiswürfeln und Mineralwasser. »Nein, du warst zu besoffen.« Die Panik steigerte sich. Er hatte keine Ahnung, wo er war, wie er hergekommen war und was passiert war. Etwas war passiert. Etwas Mieses, etwas Gemeines. Etwas Böses. Das war es auch, was ihn geweckt hatte. Nicht die Kopfschmerzen und der Kater. Das untrügliche Gefühl, daß irgend etwas Schreckliches passiert war. Er hatte nicht die geringste Ahnung. Totales Blackout. Schweißblasen traten gleichzeitig aus allen Poren, er bekam keine Luft. Setzte sich halb auf, lächelte unsicher. »Ist das dein Haus?« »Gehört meinen Eltern. Aber die sind nicht da.« »Ja, ich find dich auch wirklich schön. Aber wie bin ich hergekommen?« Ihr Lächeln schrumpfte so schnell, wie es gekommen war. Aber sie war der Mamityp, der für alles Verständnis hat. Sie erzählte es ihm. Um drei Uhr nachts war er ins Arcos gekommen, zu Fuß, das Fahrrad auf der Schulter. Zu besoffen, um noch zu fahren, hatte er gesagt und eine Runde ausgegeben. Er hatte kein Geld dabei. Britta legte es für ihn aus. Er sagte, daß er sie liebte und sie heiraten wollte, und sie nahm ihn im Jeep ihrer Eltern mit heim. So einfach war das. Und Robert hatte noch immer keine Ahnung, was vorher passiert war. »War ich aggressiv? Hab ich mich geprügelt?« Er rieb sein Handgelenk. Sie lachte und gab ihm ein Kinderküßchen auf die Backe. »Nein, du warst richtig lieb. Und daß du dein Fahrrad den ganzen Berg hochgeschleppt hast, das find ich toll, ehrlich!« Berg. Kurt. Er hatte unten im Dorf in seiner Stammkneipe gesessen. Und er wollte nicht zu Kurts Party rauf. Er war doch rauf gefahren. Die Erben von Münchens wichtigster Galerie hatten seine Bilder gesehen und für gut befunden. Er hatte mit Gina geschlafen. Und danach? Aus. Absoluter Filmriß. Das letzte Bild war die Lichtung im Pinienwald. Gina und Robert. Robert und Gina. Und danach nichts. Nichts. 101
Robert stand auf. Britta stand auf. Britta gab ihm seine Hosen und das T-Shirt. Er zog sich an. Dunkle, hart verkrustete Flecken. Blut. Er rannte. Britta schrie noch hinter ihm her, daß sie ihn doch überall hin fahren könnte und daß sie doch noch zusammen frühstücken wollten, und daß sie ihn mochte, er hörte nichts mehr. Erwischte auf der Hauptstraße einen Lieferwagen, der ihn ein Stück den Berg mit hochnahm, und fand sein Fahrrad vor dem Los Arcos an einer Pinie. Er hatte es sogar noch abgeschlossen. Kurt. Robert fuhr immer langsamer. Die Abzweigung. Bucklige Wurzeln unter dem felsigen Sandweg. Er stieg ab und schob. Angst. Panik. Horror. Die dunkel gebeizten Terrassenbalken gegen die kalkweiße Hauswand. Fenster und Türen offen. Türen. Wie gähnende Mäuler. Überall noch unverändert der Dreck von gestern. Fliegenschwärme, eine Ratte. Sonne. Fäulnis. Das Sirren der Zikaden. Robert ließ sein Rad fallen und stieg die Stufen zur Terrasse hoch. Der Postkartenblick über die Küste und das Meer. Eine zottig verwilderte Katze an einem halbvollen Paellateller. Sie fauchte, fraß mit gesträubtem Fell weiter. Robert ging langsam ins Haus. Düster. Kalter Zigarettenrauch. Er sah Kurt sofort. Er hatte es nicht anders erwartet. Halb auf dem Rücken liegend, dick eingetrocknetes Blut auf dem Maisteppich und ein dunkler Faden von der Nase über das Kinn. Aus dem einen Ohr. Fliegen. Robert machte noch zwei Schritte in das Haus hinein. Erstarrte. Gestank wie eine Mauer. Dumpf, süßlich. Er würgte, wollte wegrennen, sich übergeben, sich in Luft auflösen. Konnte sich nicht bewegen. Erst als er ein Geräusch hinter sich hörte, wandte er sich langsam um. Maria. Die Schwester von dem Bauern, dem der Wald früher einmal gehört hatte. Sie putzte in einigen Häusern und war für heute bestellt. Auch sie bewegte sich nicht. Stand in der Tür, schwarz gegen das gleißende Sonnenlicht, das nur auf ihrem bestickten Kopftuch bunte Reflexe aufleuchten ließ. Ihr Mund war stumm geöffnet, und ihre Augen sahen nur Kurt, dann zu Robert und wieder zu Kurt. »Muerto?« flüsterte sie tonlos. Robert nickte. »El medico? Policia?« Sie fragte es in einem Ton, als erwarte sie, Robert würde nein sagen. Würde irgend etwas tun, was den ganzen Spuk erklären und ihm ein 102
Ende bereiten würde. Irgend etwas, was sie von der Notwendigkeit befreien würde, hier mit hineingezogen zu werden. Robert nickte wieder und hob gleichzeitig die Schultern. Versuchte, in ihrem Gesicht zu erkennen, ob sie verstand. Ob sie ihn für schuldig hielt. Aber alles, was er sah, war ein rundes mütterliches Gesicht mit einem schwarzen Oberlippenbart und einem dichten Geflecht von tiefen Falten. Dunkle Augen, in denen nichts zu lesen war als Mitleid. Und Angst. Sie erschraken beide, als sie plötzlich den Automotor hörten, der die Serpentinen hochgeröhrt kam, kurz verstummte, dann in die Einfahrt zum Haus bog, näherkam, bremste, hielt. Sie sahen sich an, bewegten sich gleichzeitig wie synchron geschaltete Automaten, gingen hinaus und blieben links und rechts neben der Tür stehen wie zwei Austragsbauern auf einem Wandgemälde. Ein Miet-Seat. Lachen, Stimmen, Türenknallen. Beate Schultz, ihr Mann. Und Gina. Sie sah schmal, bleich und übernächtigt aus. Folgte den beiden anderen schweigend über den Hügel zur Terrasse herauf. Sie hatten Tüten mit frischem Brot, Käse, Schinken und Orangensaft dabei. Zwei Sektflaschen. »Mann, ist das eine Sauerei!« »Pfui Teufel, bei der Hitze.!« »Zuerst werden wir mal aufräumen!« »Der schläft wohl noch.« »Kurt!« Sie bemerkten Robert und Maria, lächelten immer noch. Blieben stehen, ließen Gina vorbei. Gina wirkte wie eine Schlafwandlerin. Nickte Maria kurz zu, nahm Robert nicht wahr. Ging ins Haus. Blieb stehen. Sah Kurt. Sie schrie. Stürzte sich hin und wollte sich auf ihn werfen. Robert war mit drei Sätzen bei ihr und riß sie zurück. Sie schrie, heulte, schlug um sich. »Er ist tot! Kurt ist tot! Ich hab ihn getötet! Ich hab ihn umgebracht!« Er preßte ihr die Hand auf den Mund. »Sei still. Gina, sei ruhig! Bitte. Gina!« Sie biß so fest zu, daß es blutete. Er ließ nicht los. Die anderen standen in der Tür und schauten herein.
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Schultz, Beate und Maria. Schultz murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Endlich wurde Gina schlaff, Robert wollte sie in den Arm nehmen. Sie riß sich los. »Wir müssen den Arzt holen«, ihre Stimme klang beherrscht und ruhig, »und die Polizei. Martin, Beate, könntet ihr das bitte machen? Maria, würdest du mitfahren und ihnen zeigen, wo es ist.« Maria zögerte, ging aber doch mit, als sie sah, daß nur Beate fahren wollte, daß Schultz hierblieb. Gina wartete, bis das Auto mit Beate und Maria gewendet hatte und verschwunden war. »Ich hätte hierbleiben müssen. Ich hätte nicht weggehen dürfen.« Sie wandte sich an Robert, als wäre er der Kommissar. »Ich habe bei Beate und Martin übernachtet.« Robert schwieg und vermied es, Schultz anzusehen.
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25 Sie kamen nach anderthalb Stunden. Zu dritt und in Uniform. Der Jefe, der Capo und Toni. Sie brachten Maria mit, die völlig verschüchtert im Auto sitzen blieb, bis Pepe, ihr Bruder, auf seinem Motorrad angefahren kam. Irgend jemand hatte ihm Bescheid gesagt; er war ein weißhaariger Bulle von einem Mann, der sich schweigend vor Maria stellte und abwartete. Toni und der Capo folgten dem Jefe wie zwei Rockzipfel. Gingen mit ihm auf die Terrasse, blieben hinter ihm stehen, sahen wie er auf die stinkenden Partyüberreste und auf das luxuriöse Haus. Begrüßten knapp Schultz und Gina und übersahen Robert. Robert war nicht mehr der versoffene artista, den sie in die Zelle gesperrt und verprügelt hatten, Robert war plötzlich einer von den ricos, den reichen Ausländern, die das Geld auf die Insel bringen. Das Haus hatte noch keiner betreten. Sie warteten. Drehten sich um, als der weiße Cruz-Roja-Kombi ankam und Don José mit seiner Arzttasche und zwei Krankenträgern mit Bahre ausstieg. Dann erst gingen sie hinein. Als erste der Jefe und Don José. Robert folgte ihnen wie im Sog. Die anderen warteten an der Tür. Don José kniete neben Kurt auf den Boden, bestätigte mit einer Kopfbewegung, daß er tot war, und machte sich an die Untersuchung. Steckte sich eine Zigarette dazu an. Der Jefe wollte dazugehen, blieb stehen, verzog angewidert das Gesicht. Ausländer! Toni kicherte unterdrückt und zwinkerte Robert zu. Der Capo knurrte etwas, Toni erstarrte. Robert bemerkte davon nichts. Für einen Moment vergaß er sogar Kurt und den Arzt. Er hatte etwas anderes entdeckt, das ihm die ganze Zeit vorher nicht aufgefallen war. Seine Bilder. Auf dem Boden verstreut, zerrissen, zerfetzt, zerstört. Er ging hin und wollte sich bücken, als er zurückgerissen wurde. Der Jefe. »Que no toques nada.« Nichts berühren. Er ließ ihn wieder los. Roberts Handgelenk schmerzte. Er ging zu den anderen hinaus. Birgit Krannhals war mit dem Kameramann gekommen, sie wurden sofort wieder verscheucht, Kuhse, Wendrich und Lili Presch hatten es offenbar auch schon erfahren. Lili fotografierte mit einer Minox. Der Capo riß sie ihr aus der Hand und steckte sie ein. Sie 105
wetterte auf deutsch, englisch und französisch auf ihn ein, er reagierte nicht. Schultz kam mit Club-Kurti zurück. Kurti beruhigte, organisierte, übersetzte. Ja, später durften sie auch fotografieren, auch filmen, die Kamera bekam sie auch zurück. Sie sollten bitte zurücktreten, sie behinderten die Untersuchung. Jemand lachte. Ein anderer ließ die sonnenwarme Orangensaftflasche kreisen. Toni holte eine supermoderne Polaroidkamera für den Jefe aus dem Auto. Er stellte sie ein und setzte den Blitz auf. Kurt. Sssst. Das Zimmer. Sssst. Das Haus. Sssst. Die Terrasse. Sssst. Die Spuren. Sssst. Er verknipste drei Kassetten. Das Klima. Die Leiche mußte weg. Erst ins Hospital, in einen Zinksarg, dann aufs Festland für die autopsia. Don José wollte sich die Hände waschen, Gina zeigte ihm das Bad. Die Todeszeit konnte er nur schätzen, so etwa zwischen ein und zwei Uhr nachts. Es sah so aus, als wäre dem Toten der Schädel eingeschlagen worden. Die blutige Ginflasche hatten sie gefunden, fotografiert und in eine Plastiktüte gesteckt. Genaue Laboruntersuchungen waren auf der Insel nicht möglich. Bis die Kriminalpolizei verständigt war und kommen konnte, konnten zwei Tage vergehen. Nein, bei der Hitze konnten sie nicht warten. Es gab ja noch andere Gäste hier. Sie bekamen die Erlaubnis, aufzuräumen und zu putzen. Kurti flitzte hin und her, vermittelte und dolmetschte. Ja, da war gestern eine fiesta gewesen. Nein, sie waren alle schon viel früher heimgefahren. Sie hatten alle Alibis. Sicher, es war laut hergegangen, aber Streit hatte es nicht gegeben. Gäste alles Touristen. Gina hatte bei Martin und Beate Schultz übernachtet, Robert, du warst doch auch schon längst weg?! Einbrecher vermutlich. Die Zellen der Insel waren voll mit Fixern und Dealern, die sie erwischt hatten. Nur die Pässe. Sie wollten die Pässe von Gina und Robert. Nur so. Zur Sicherheit. Von einer Insel kommt sowieso keiner ungesehen runter. Robert spürte, daß ihn jemand in die Seite stieß. Schultz. »Ich habe angerufen. Der Konsul ist verreist, er kommt, sobald er kann. Sein Sekretär hat mir die Adresse von einem wirklich guten Anwalt gegeben. Ich konnte ihn nicht erreichen, aber ich versuche es wieder. Kopf hoch. Ihre Bilder sind großartig.« Es klang fast so, als würde er Robert zur Ermordung von Kurt gratulieren. Als wäre das Ganze nur 106
ein kleines dummes Mißverständnis, das man eben aus dem Weg räumen mußte, bevor man zum geschäftlichen Teil des Tages kommen konnte. Beate kümmerte sich um Gina, die wieder in ihre Lethargie zurückgefallen war. Maria wollte hier nicht mehr putzen. Pepe hatte es ihr verboten. Sie hatte nichts gesehen, nichts gehört, wußte nichts. Wenn man sie nicht mehr brauchte, konnte sie ja wohl gehen. Pepe ließ den Motor an, schaute zurück, als Maria auf den Sozius stieg. Sah Robert. Machte ihn verantwortlich für das ganze Unglück, das die Ausländer über seine schöne Insel gebracht hatten. Pepe fuhr ab, auch der Krankenwagen mit Kurts Leiche. Gina rannte hinterher, Beate und Birgit hielten sie auf. Britta. Robert dachte plötzlich an Britta und daran, daß er selber so etwas wie ein Alibi hatte. Es war sinnlos, mit dem Jefe zu reden, für den war er immer noch nicht vorhanden. Robert ging zu Kurti und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Kurti umarmte ihn. »So eine verdammte Scheiße, was?!« »Kurt war mein bester Freund.« »Ich weiß, Robert, ich weiß. Wenn ich was für dich tun kann…« »Brauchst du nicht, ich hab’ ein Alibi. Kennst du Britta?« »Welche Britta?« Jetzt war ihm Kurtis ungeteilte Aufmerksamkeit sicher. »Weiß ich nicht genau. So ein kleiner Haschischpummel. Die Eltern haben ein Haus auf dem Cap.« »Ach, Bade-Britta. Pappi hat eine Fabrik für Badezimmereinrichtungen. Und bei der warst du heute nacht?!« »Ich find’ sie niedlich.« Robert senkte die Stimme, Kurti bekam sofort seinen Verschwörerblick. »Und ich dachte, du und Gina…?« »Wir sind Freunde, weiter nichts. Mann, wir kennen uns schon vom Sandkasten her.« »Klar.« Kurti hatte alles verstanden. Und er würde es weitererzählen. Kurti war die Buschtrommel. Das absolut verläßliche elektronische Pressegehirn der Insel. Sie wollten Robert trotzdem mitnehmen. Gina hatte ihren Paß abgegeben, fügsam sogar noch den Personalausweis dazugelegt, obwohl Schultz sie gewarnt hatte. Kurt war ihr Mann, sie hatte ihn geliebt, 107
sie hatte ihn verloren. Sie war unschuldig, außer, daß sie nicht dagewesen war. Sie hätte bei ihm bleiben müssen. Sie hätte ihn nicht mitten in der Nacht verlassen dürfen. Kurti übersetzte nicht, die Polizei war sowieso nicht interessiert. Sie taten nur ihre Pflicht. Den Rest konnte der comisario übernehmen. Statt dessen bot Kurti dem Jefe an, Robert mitsamt seinem Fahrrad in seinem Rover runterzubringen. Das war okay. Er war Club-Kurti, er hatte das größte Hotel am Platze. Robert saß neben Kurti im Rover und sprang unkontrolliert auf und nieder, als Kurti den kaum gefederten Rover über die löchrigen Straßen und Wege jagte. Hörte sich sein Geschwätz an und schwieg. Kurt war tot. »Dieser Schultz hat mir gesagt, daß du absolut Spitze bist. Im Kommen. Der Tip. Hör mal, wenn du Geld brauchst, dann finden wir eine Lösung. Klar?« Und er hatte ihn getötet. Mit einer Ginflasche den Schädel eingeschlagen. »Die kümmern sich doch nicht um so Ausländerscheiße. Die haben doch eine panische Angst vor schlechter Presse. Leben doch vom Tourismus. Haben sich doch alle neue Autos und neue Häuser gekauft von unserem Geld. Die haben doch vor paar Jahren noch nach Seeigeln gefischt, und jetzt sind sie Millionäre. Nicht Peseten, Mann. De-Mark. Dollar. Mehrfach!« Tot. Kurt war tot. Das endgültige Nieder. Ein paar Pressefotos und -artikel, Skizzen und Acrylschinken. Sonst nichts. Ende. Aus. Gina. Kurti war schlau genug, das Polizeiauto nicht zu überholen. Parkte ein Stück dahinter auf dem Feld. Der Jefe blieb sitzen. Capo und Toni stiegen aus und kamen mit in Roberts Haus. Sahen sich um. Robert kramte nach seinem Paß. Kurti bot Wein an, der abgelehnt wurde. Riß Robert endlich den Paß aus der Hand und gab ihn dem Capo. Nein, Personalausweis hat er keinen. Sie glaubten es nicht. Gingen trotzdem. Es war heiß. Und die Insel war klein.
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26 Es war kein Problem, Club-Kurti schnell wieder loszuwerden. Er war begierig darauf, sofort über die Insel zu jagen und jedem die letzten Einzelheiten der schauerlichen Bluttat zu berichten. Robert ging mit ihm zum Rover. »Sag mal, hab’ ich eigentlich einen Deckel bei dir?« »Mach dir doch darüber keine Sorgen. Jetzt!« »Hab’ ich oder nicht?« »Von wann denn bitte? Du warst ja seit Wochen nicht mehr im Toca Disco.« »Und gestern?« Er gab sich Mühe, es beiläufig klingen zu lassen, aber in seinen eigenen Ohren klang die Stimme belegt und atemlos. Kurti war mit der Rovertür beschäftigt. Irgend etwas klemmte. Er fluchte und stieg dann auf der rechten Seite ein. »Gestern? Da waren nur die anderen da.« »Welche anderen?« »Na, eure ganze eingeflogene Prominentenclique. Die Krannhals mit ihrem Team, die Schultzens, die Presch, sogar der alte Kuhse und der verklemmte Wendrich haben sich ins Flimmerlicht gestürzt.« Er kicherte. »Ich glaube gesehen zu haben, daß die beiden zusammen sogar was aufgerissen haben. Fummel-Henny, wenn du verstehst, was ich meine.« »Versteh’ ich nicht.« »Na, die Henny, die die Fummel näht und sich nebenbei noch ein bißchen Nadelgeld verdient, haha. War eine Mordsstimmung. Umsatz von einem Monat. Hab’ nur Gina und dich vermißt. Darum dachte ich ja auch… oh, Scheiße!« Er versuchte Robert auf die Schulter zu klopfen, bekam das Fenster nicht runter, stand halb auf, aber Robert wich zurück. Kurti fuhr endlich los und ließ Robert in einer Staub- und Abgaswolke allein zurück. Robert ging in sein Haus, wieder raus, wieder rein, stellte einen Stuhl um und leerte einen Aschenbecher. Vincent mienzte und strich ihm um die Beine, er kraulte ihn und machte eine Dose Ölsardinen für ihn auf. Vincent fraß schnurrend, Robert sah ihm zu und beneidete ihn.
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Er hätte gern geheult oder geschlafen oder sich besoffen. Er hatte weder die Kraft noch die Zeit dazu. Stand auf, zog sich aus und rasierte sich. Kippte sich im Hof drei Eimer kaltes Zisternenwasser über den Kopf und trocknete sich ab. Fand noch saubere Klamotten und brühte sich einen schwarzen Kaffee auf. Seine Hände zitterten, und die Käfer und Reptilien in seinem Kopf kratzten und fiepten. Aber es war nicht mehr die bodenlos schwarze Angst und alles lähmende Panik von vorhin, eher so eine Art in Watte verpackte Nervosität. Er drehte sich einen Joint und inhalierte vorsichtig. Zeit. Er hatte Zeit. Zwischen acht und achtundvierzig Stunden. Bis sie alle da waren, bis sie die Ergebnisse hatten, bis die richtigen Verhöre begannen. Und auch dann noch würde es lange dauern, denn niemand hatte etwas gesehen, niemand etwas gehört. Die Spanier wollten in so was nicht hineingezogen werden, für sie war die Polizei noch immer die alte, die von Francos Zeiten. Und die Ausländer zogen schon die Köpfe ein, wenn an der Kreuzung ein Verkehrspolizist stand. Sie waren übervorsichtig. Entweder sie machten ihr Geld hier oder sie hatten keins. Permisos und multas, Kontrollen und Schikanen, sie hatten es gelernt, blind, taub und stumm zu sein. Aber darauf kam es nicht an. Und auch nicht, ob sie ihn nun verdächtigten, verhafteten und einlochten. Darum ging es nicht. Er mußte es wissen. WISSEN. Das, wovon er Hunderte von Malen geträumt hatte, wenn er schweißgebadet aus seinem Rausch aufgewacht war. Mit einem Black-Out. Und einem miesen Gefühl. Daß er etwas getan hatte, was nicht wieder gutzumachen war. Das war jetzt geschehen. Robert stand auf, drückte den Joint aus, trank einen letzten Schluck Kaffee und stellte Vincent den Rest der Ölsardinen für später hin. Setzte sich aufs Rad und fuhr ins Dorf. Toni Petit spülte Gläser. Wollte Robert ein Bier abzapfen, zog die Brauen hoch, als der nur ein Wasser bestellte, gab ihm liebevoll einen Eiswürfel und einen Zitronenschnitz dazu. Ja, klar erinnerte er sich, daß Robert gestern abend hier gesessen hatte. Bis elf etwa, dann war er um kurz vor halb zwei wiedergekommen. Mamma mia, voll wie ein Haus. Und dann hatte er sich prügeln wollen. Mit El Alemán. Ja, sicher, El Alemán war ein Nazi, aber er war auch ein alter kranker Mann. Und Toni Petit war ein communista und haßte die Nazis. Aber 110
er war auch Wirt und er konnte es nicht zulassen, daß ein junger Mann in seiner Bar einen alten Mann verprügelte. »Du hast mich also rausgeschmissen?« »Si, aber das tut mir leid. Cognac?« Robert lehnte ab und fuhr im Très Erres vorbei. Irina Zanca hockte hinter dem Tresen und las einen zerfledderten Raymond Chandler. Nein, hier hatte er sich gestern überhaupt nicht sehen lassen. Dasselbe hörte er im Sa Volta, im Café Central und im Cinq Polls. Aber in der Fonda Morna war er gewesen. Ja, betrunken war er schon gewesen, aber friedlich. Er hatte Schmerzen im linken Handgelenk gehabt, und Morna hatte ihm einen Kräuterumschlag gemacht. Sie schimpfte mit ihm, weil er ihn verloren hatte, und erneuerte ihn trotz seiner Proteste. Während er wartete und gekühlten Tee trank, holte eins der vielen Kinder die Kräuter aus dem Garten, die die alte Morna dann mit Spucke in ein Tuch drückte. Als er ging, tat das Handgelenk tatsächlich nicht mehr so weh. Vielleicht lag es auch nur daran, daß der Verband so fest war, daß Robert die Hand kaum noch bewegen konnte. Es war egal. Im Ses Cançons hatte er versucht, die Internationale zu singen, im Sa Carabassa hatte er eine verheiratete Touristin angemacht, und das El Torre war um die Zeit schon zu. Lang war er nirgends geblieben, aber gesoffen hatte er überall. In der Carabassa war er vom Hocker gekippt, sie hatten ihn rausgelegt. Von dort war er dann irgendwann verschwunden. Er mußte wie ein Irrer gefahren sein. Bergauf. Und wenn Britta recht hatte, dann war er mindestens das letzte Stück mit dem Rad auf der Schulter gerannt. Die meisten der Kneipen lagen nah beieinander oder zumindest an der Straße. Trotzdem. Von halb zwei Uhr an war da keine Sekunde Luft. Und wenn er die Fahrt runter ins Tal sehr knapp mit zehn Minuten dazurechnete, blieben immer noch zwanzig leere Minuten übrig. Wenn der Arzt recht hatte und Kurt zwischen eins und zwei gestorben war. Ermordet. Gina. Robert fuhr auf der Serpentinenstraße den Berg hinauf. Mußte absteigen und ein Stück schieben. Hatte den Geschmack von Bier auf der Zunge. Bitter und eiskalt perlend. Stieg wieder auf und quälte sich weiter. Das Haus schien leer und unbewohnt. 111
Alles war sauber und aufgeräumt, der Sand geharkt, die Terrasse gefegt. Fenster und Türen waren offen. Robert stellte sein Rad ab und rief. Keine Antwort. Er ging näher. Rief wieder. Stand vor der Tür. Die Sonne ging hinter den Pinien unter, und drin war es schon dunkel. Flackernder Kerzenschein. Robert ging hinein. Gina war allein, sie hockte mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, vor sich das Selbstporträt von Kurt. Kerzen wie auf einem Altar. Kerzen auf der Bar, auf dem Tisch, auf der Staffelei. Kerzen auf dem Boden. Da, wo Kurt gelegen hatte. Der blutige Maisteppich war verschwunden und auch die Flaschen, Gläser und Aschenbecher. Sonst war alles unverändert. Er blieb hinter ihr stehen. »Gina«, sagte er leise, »Gina.« Sie reagierte nicht. »Gina, entschuldige, aber es ist wichtig. Kannst du dich noch erinnern, wann ich gestern nacht hier weggegangen bin?« Sie bewegte sich nicht, und seine Frage kam ihm plötzlich idiotisch vor. Er hockte sich neben sie. »Gina, es tut mir so leid.« Sie sah ihn nicht an, starrte nur auf das Bild von Kurt und bewegte die Lippen, als würde sie Kaugummi mummeln. Im Wald vor dem Haus zwitscherten Dutzende von Vögeln hysterisch auf, vermutlich hatten sie eine Katze entdeckt. »Gina«, er hob die Hand, »ich bin doch da. Ich liebe dich. Wir sind zusammen. Sie können uns nichts anhaben.« Er berührte sie. Sie zuckte zusammen, als hätte sie sich verbrannt, warf sich auf den Boden und wälzte sich weg von ihm. Schrie. »Faß mich nicht an. Ich liebe ihn. Ich habe immer nur ihn geliebt. Und außerdem bin ich vor dir gegangen. Du warst noch da, und ihr habt euch gestritten.« Sie stand auf, wich vor ihm in eine Ecke zurück, tastete hinter sich und fand über einen Stuhl gehängt die weiße Jeansjacke von Kurt. Nahm sie hoch und drückte sie an sich. »Du hast ihn gehaßt.«
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27 Robert stand auf. »Ja, du hast recht. Ich habe ihn gehaßt. Ich habe ihn gehaßt, weil du ihn geheiratet hast, weil er immer mit dir zusammensein konnte, weil ich nie aufgehört habe, dich zu lieben.« Er ging zu seinen Bildern hinüber, die immer noch wie ein wirrer Haufen Puzzlesteinchen auf dem Boden lagen, und kniete sich hin. »Das ist ja nicht wahr«, zischte sie hinter ihm her, »du hast mich nie wirklich geliebt, du wolltest nur mit mir schlafen, dich hat es doch überhaupt nicht interessiert, wer ich bin. Er hat mich verstanden. Er war ein Teil von mir.« Robert nahm einen der weißgeränderten Fetzen, suchte einen anderen, legte ihn an, einen dritten, einen vierten. Drückte sorgfältig die Kanten zusammen. Es war sinnlos. Sobald er den Finger hob, verrutschten sie wieder. Narbig gezackt. »Du hast ihn gehaßt, weil er besser war als du. Weil er ein echter Maler war, weil er Erfolg hatte, weil er einen Namen hatte und Geld.« Robert setzte ein zweites und ein drittes Bild zusammen. Legte die Teile so aneinander, wie sie einmal gewesen waren, akribisch sorgsam, konzentriert. »Und deshalb hast du ihn getötet.« Die Bilder lagen jetzt ordentlich nebeneinander an der Wand. Es waren sieben Blätter, vier rot verschmiert, drei zerrissen. Die besten, die Robert in den letzten Jahren gemalt hatte. Robert selbst lag da. Zerfetzt und zerschnitten. Aber das Blut war eingetrocknet, und die Narben schmerzten nicht mehr. Er wandte sich langsam um und sah Gina an, die wieder vor Kurts Porträt hockte und sich wie in Trance hin und herwiegte. »Nein«, sagte er leise, »es war genau andersrum. Er war es, der mich gehaßt hat. Weil ich mir selbst treu geblieben bin, weil ich frei war. Lächerlich. Ich habe nie darüber nachgedacht, ich hab’ das alles doch nicht absichtlich und bewußt gemacht, es ist ganz einfach so gekommen.« Er ging zum Kühlschrank, aber das einzige, was er fand, waren zwei Flaschen Sekt. Er machte eine auf und goß zwei Gläser voll. Brachte eins zu Gina und stellte es neben sie, steckte sich eine Zigarette an. »Ich habe ihn nicht getötet. Wir waren besoffen und haben 113
uns geprügelt. Er ist wie ein Irrer auf mich losgegangen, ich hab’ zugeschlagen, er ist gestürzt und auf den Tisch geknallt. Er hatte Nasenbluten und war bewußtlos. Aber er hat noch gelebt.« Es war alles wieder da, die ganzen verlorenen Stunden der Nacht, zusammengefügt mit fast unsichtbaren weißen Nähten. »Ich habe die Ginflasche nicht angerührt. Ich habe eine panische Angst vor Flaschen, sie können tödliche Waffen sein. Ich hatte auch Angst vor mir selbst. Ich bin weggerannt, um nicht noch einmal zuzuschlagen.« Er leerte das Glas mit einem Schluck und schenkte sich nach. Fühlte sich ausgelaugt und zu Tode erschöpft, als hätte er Tage und Nächte hindurch gearbeitet. Das endgültige Vakuum. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Kein Jetzt mehr. Gina kicherte plötzlich. »Wenn du ihn nicht getötet hast, dann war es eben keiner«, ihre Stimme klang schrill und hoch, »oder ein Einbrecher oder ein Unfall.« Robert setzte sich auf einen Stuhl in ihrer Nähe und füllte sein Glas nach. »Oder du.« »Ich habe ein Alibi!« Sie rollte sich auf die Seite, warf das Glas um und stellte es vorsichtig wieder auf. »Ich habe bei Martin und Beate übernachtet.« »Die waren alle noch im Toca Disco. Sind erst um vier Uhr morgens heimgekommen. Bis dahin hattest du genug Zeit, um noch einmal herzukommen und wieder zurückzufahren.« »Aber das weiß doch niemand.« Sie zog die Knie an und umschlang sie mit beiden Armen. »Die werden mich nicht verraten.« »Ach, Gina«, sie tat ihm leid, aber er brachte es nicht fertig, aufzustehen und zu ihr hinzugehen, sie zu berühren. Sie war ihm fremd, und sogar das Gefühl des Mitleids war nicht faßbar. Weniger real zum Beispiel als damals, als Vincent nach seinem ersten Kampf mit einem zerbissenen Ohr heimgekommen war. »Kurt war bekannt, er war prominent. Wenn sich die Polizei hier noch zurückhält, dann doch nur, weil sie sich fürchten, einen Fehler zu machen. Aber die sind doch nicht blöd. Sie haben Fotos gemacht, und sie werden auf der Flasche deine Fingerabdrücke finden. Sie werden herumfragen und alles herausbekommen. Sie haben deinen Paß und deinen Ausweis, und in wenigen Stunden wird es hier von Presse und Polizisten wimmeln. Interpol, deutsche Kripo, ein Vertre114
ter vom Staatsanwalt. Sie haben Kurts Eltern benachrichtigt, und die Presch und die Krannhals haben ihre Kollegen heiß gemacht. Ich schwör’ dir, die ersten Schlagzeilen sind schon raus.« »Du mußt mir helfen«, sie begann zu wimmern, »hilf mir doch!« »Das kann ich nicht mehr.« »Aber du liebst mich doch!« Aufschrei. »Ich weiß es nicht. Ich fühle nichts mehr.« »Aber alles ist doch deine Schuld!« Sie setzte sich plötzlich auf und schrie mit verzerrtem Gesicht. »Deine Schuld! Weil du mich nie gefragt hast, ob ich dich heiraten will. Weil er dich immer beneidet hat, weil er eifersüchtig war. Glaubst du denn, er hat nicht genau gewußt, was zwischen uns war? Und daß es mir nur mit dir im Bett was bringt, verdammt noch mal! Der war doch eh so gut wie impotent.« »Gina, bitte, hör auf!« »Ich denk gar nicht dran! Jahrelang hab’ ich das Maul halten müssen. Immer nur die liebe kleine süße Kindfrau sein. Immer hat er mich künstlich klein gehalten. Ich durfte ja nicht mal selber entscheiden, was ich mir zum Anziehen kaufe. Ich war so eine Art niedliches Dekorationsstück für ihn, das er auch selber rausputzen wollte. Und bloß keine eigenen Gedanken. Meine Freundinnen hat er der Reihe nach alle rausgebissen. Gelobt wurde nur, wer ihm nach dem Maul plapperte!« »Gina…« »Er hat mir sogar verboten, den Kurs auf der Volkshochschule fertigzumachen, alles hat er mir vermiest, was mich auch nur einen Millimeter von ihm entfernt hätte. Nur die Ferien mit dir. Die gab’s als Bonbon. Damit er mich nachher um so mehr quälen konnte. Schuldgefühle, Anspielungen. Abhängigkeit.« Sie saß jetzt steil aufgerichtet mit verkrampftem Rückgrat. Starrte ihn an und starrte durch ihn hindurch. Die Stimme wieder leise, fast verträumt. »Ich habe mir seinen Tod gewünscht. Dutzende, Hunderte von Malen. Wenn er mit dem Auto allein unterwegs war, dann habe ich mir grausige Unfälle ausgemalt, wenn er nach Mailand oder London flog, hab’ ich in der Tagesschau auf die Meldung von einem Flugzeugabsturz gelauert. Einmal hab’ ich ihm sogar seine albernen Magenpillen gegen ein echt brutales Schlafmittel ausgetauscht. Aber 115
er hat es gemerkt, er war ein Hypochonder, und die hatten auch nicht ganz genau die gleiche Form. Gesagt hat er nie was.« »Warum hast du ihn nicht verlassen? Warum bist du nicht weg, zu mir oder sonstwohin. Warum?« Sie sah ihn an. Zum erstenmal direkt und großäugig. »Ich konnte nicht. Ich hab’s ja versucht, ganz am Anfang. Er hat es nicht zugelassen. Ich hab’s nicht geschafft.« Ihre Stimme hob sich wieder. »So wie gestern. Ich hab’s ja wieder versucht. Ich wollte nicht zurückkommen. Ich wollte es wirklich nicht. Dann hab’ ich mir eingeredet, daß ich wenigstens ein paar Klamotten brauche. Und da lag er da. Mit blutverschmierter Schnauze. Besoffen. Schnarchend, röchelnd. Ekelerregend. Ich hab’ versucht, mich an ihm vorbeizuschleichen. Er hat mich gehört. Und war so gemein wie noch nie. Daß ich nur von seinem Ruhm und von seinem Geld lebe. Und daß ich ohne ihn gleich ins Hurenhaus gehen könnte. Ich hab’ nicht gewußt, was ich tu’, ich hab’ nur plötzlich die Flasche in der Hand gehabt.« Sie fiel plötzlich hin und begann zu weinen. »Und dann war alles voller Blut. Aber er hat nichts mehr gesagt.« Robert ging ins Bad und holte ein Glas Wasser und zwei Valium. Er trug Gina ins Bett, deckte sie zu, redete leise auf sie ein und wartete, bis sie eingeschlafen war. Als ihr Atem schon ruhig ging, quollen immer noch Tränen unter ihren Wimpern hervor. Robert ging ins Wohnzimmer zurück, packte die zerfetzten und verschmierten Bilder in die Mappe zurück und stellte sie wieder in die Ecke. Blies die Kerzen aus und drehte Kurts Portrait an die Wand. Lehnte die Haustür nur an. Stieg auf sein Rad und fuhr davon. Auf den engen Serpentinen den Berg hinunter. Ohne zu bremsen. Schneller und schneller. Kurven, das Meer, ein entgegenkommender Bus. Schatten. Licht. Das Ende. Die lange Gerade. Er mußte wieder treten.
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28 Sie hatte den Körper eines jungen Mädchens. Lang und schmal und dunkel gebräunt lief sie vor ihm her ins Wasser. Lachte. Er rannte hinterher und versuchte, sie zu fangen. Ich liebe dich! Wasser. Violett-Schwarz. Robert wachte schweißgebadet auf und wußte im ersten Moment nicht, wo er war. Dunkel und der Gestank von kaltem Zigarettenrauch und abgestandenem Bier. Es war kalt. Die Schafwolldecke kratzte, und Vincent, der Kater, quäkte empört auf, als Robert sich umdrehte und ihn dabei aus dem Bett schmiß. Robert versuchte wieder einzuschlafen. Es gelang ihm nicht, er schlief schlecht seit einem halben Jahr. Fror. Stand auf und zog sich an, ohne sich zu waschen oder zu rasieren. Cordjeans, zwei Pullover und Parka. Schal und Lederhandschuhe. Er radelte ins Dorf. Die Kälte wich nicht. Es fing an zu nieseln. In der ersten Bar machte er halt und ging hinein. Feuchtigkeit und auf dem Steinboden die Nässe von Gummistiefeln. Er bestellte sich einen Kaffee, einen Cognac und ein Käsebrot. Schluckte den ranzigen Geschmack im Mund weg und spülte mit einem zweiten Cognac nach. Und einem dritten, einem vierten. Noch ein Kaffee, noch ein Cognac. Schreib’s auf, ich zahle morgen. Die Kälte blieb. Um fünf Uhr machte die Post auf, Robert rannte über die Straße und quetschte sich mit den anderen in den schmalen Vorraum. Der Geruch von nassen Pullovern und durchweichten Lederjacken. Fischer, Bauern, kaum Ausländer. Maria bekam einen Versandhauskatalog, den sie gleich durchblätterte. Juan vom Hotel Es Figs stopfte lässig den Stapel mit Luftpostbriefen in die Tasche und unterbrach seinen Vortrag über das Wetter und die steigenden Preise nur für Sekunden. Drei andere bekamen nichts, blieben aber im regengeschützten Vorraum stehen und diskutierten in unverständlichem Dialekt. Jacqueline. Strähnig naß und verfroren in einer gelben Segeljacke. »Hey, Robert.« »Hallo.« »Wie geht’s?« »Bestens. Und dir?« 117
»Prima. Sag mal, ich bin ein bißchen knapp. Könntest du mir was leihen?« »Sorry, aber ich hab’ keine müde Pesete mehr. Ich könnte dich höchstens bei Toni Petit zu einer Bohnensuppe einladen, da hab’ ich Kredit.« Roberto Klein. Zwei Briefe. Ein großer, ein kleiner. Der eine aus glattem Kunstdruck, der andere aus gelbem Bütten. Mit schwarzem Rand. Robert wog sie beide in der Hand. Sah den Stempel von der Galerie Brockmann auf dem einen und die etwas ungelenke Frauenschrift auf dem anderen. Kein Absender. Brockmann. Sie wollten, sie buhlten, sie boten. Robert zerriß das Kuvert ungeöffnet und warf es in den Papierkorb. Ging mit dem anderen zur Tür und öffnete es. Völlig unerwartet. Viel zu früh. In der Blüte des Lebens von uns gegangen. Tragische Umstände. Unsere geliebte Tochter, Schwester etc. Und unten noch ein paar an den Rand gekritzelte Zeilen von ihrer Mutter. Wir haben alles nur Menschenmögliche getan, Gina. Überdosis. Von allem und jedem. Beschafft mitten hinein in die geschlossene Psychiatrische. Trotz Aufsicht und Kontrolle. Der erste, einzige und letzte eigene Entschluß in ihrem Leben. Robert zerriß die doppelt gefaltete Büttenkarte in winzige Fetzchen und warf sie zu Brockmanns Einladung in den Papierkorb. Ging hinaus in den Regen. Besoff sich in irgendeiner Bar mit irgendwelchen Bauarbeitern und vergaß Jacqueline und die Bohnensuppe bei Toni Petit. Stritt sich, schlug sich, kam irgendwie wieder heim zu seinem Bett und Vincent, dem Einohrigen. Gina. Kurt. Gina. Robert konnte nicht schlafen. Er stand auf, fand noch eine halbe Flasche Vichy und trank sie aus. Ein Rest Mahon-Gin. Gerade ein Glas voll. Er drehte sich einen Joint. Vincent knabberte an den eingetrockneten Farbtuben. Robert ließ ihn. Zündete eine Kerze an und legte sich auf die Matratze zurück. Rauchte. Trank. Es stank. Er mußte eingeschlafen sein. Die Kerze hatte ein Loch in den Tisch gebrannt, und der Jointstummel war auf dem Lehmboden verkohlt. Wind heulte ums Haus, aber es regnete nicht mehr. Hinter dem winzigen Fenster färbte sich der Himmel blaß rosa. Robert lebte. Vermutlich würde er älter werden. 118