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Rolf Torrings Abenteuer Band 242 Schlangengift von Hans Warren Neues Verlagshaus für Volksliteratur G. m. b. H. Bad Pyrmont, Postfach 125 (Mitglied des Remagener Kreises e. V.)
Nachdruck verboten
Alle Rechte, auch das der Übersetzung, Dramatisierung und Verfilmung, von der Verlagsbuchhandlung vorbehalten Copyright 1930, 1959 by Neues Verlagshaus für Volksliteratur G. m. b. H. Bad Pyrmont
Printed in Germany 1959 Scan by Brrazo 01/2006
Druck: Erich Pabel, Druck- und Verlagshaus, Rastatt (Baden) Die Auslieferung erfolgt nur durch Erich Pabel, Verlagsauslieferungen, Rastatt (Baden), Pabel-Haus
Verlagsauslieferung in Österreich: Buch- und Zeitschriftenvertrieb Wilhelm Swoboda, Wien XIV, Linzer Straße 22
„Rolf Torrings Abenteuer“ dürfen nicht in Leihbüchereien geführt und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden
1. Kapitel
S
ie brechen nach rechts aus! Vorsicht! Es sind ein paar anständige Keiler darunter!“ Der Ruf erreichte mich nur schwach, Rolf mußte ziemlich weit entfernt sein. Aber Ausbruch nach rechts, das war auf meine Position zu, das konnte brenzlig werden, denn Hirscheber sind nicht gerade das harmloseste Wild, das man sich aussuchen kann. Ein paar ergrimmte Keiler können einem Mann mächtig zusetzen, und ihre Hauer hatten – geradegebogen – gut die Länge eines Unterarmes! Keine schöne Vorstellung, mit diesen Waffen Bekanntschaft zu machen, denn wenn sie böse werden, und diese Wildschweine sind fast immer gereizt, dann greifen sie mit der Entschlossenheit eines Rhinos an und mit der Wildheit eines verwundeten Leoparden. Dabei sind sie schnell wie der Blitz und beweglich wie ein Eichhörnchen. Die reinsten Teufel. Ich horchte in den Dschungel hinaus, und da hörte ich schon das Prasseln der durchgehenden Schweine. Sie kamen spitz von links, und nach dem Geräusch zu urteilen, mußte es eine ganz anständige Rotte sein, die Pongo da für uns aufgespürt hatte. Ich schätzte auf zwanzig Schweine mindestens. Sie würden fast hundert Meter vor mir durchbrechen, also mußte ich losrennen, wenn ich zum Schuß kommen wollte. Aber durchgehende Wildschweine sind eine Sache im Dschungel, und Rennen ist eine andere. Es war nur ein Vorwärtsquälen, Dornen und Schlingpflanzen schienen sich mit den Schweinen verbündet zu haben. Sie hakten sich fest, rissen mir lange Striemen in die ungeschützte Haut der Hände am Gewehr. Das Trampeln der Schweine war ganz nahe, mit ein bißchen Jagdglück mußte ich zum Schuß kommen. Keuchend blieb ich stehen, die Büchse entsichert und halb erhoben, das Gesicht nach links gewendet, von wo jeden Moment das vorderste Tier der Rotte auftauchen mußte. Die erste Kugel mußte treffen, denn die Tiere waren schon in 4
Panik, als Rolf und Pongo sie aufgeschreckt hatten. Wenn jetzt eines von ihnen nur verletzt wurde und quiekend den Gegner suchte, dann würde die ganze Rotte explodieren, und die Richtung, in der sie durchbrechen würde, war dann meine Richtung. Vielleicht hätten wir doch lieber ein anderes Wild aussuchen sollen, schoß es mir durch den Kopf. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, länger war keine Zeit, denn in diesem Moment geriet das Unterholz zwanzig Meter von meinem Standplatz entfernt in Bewegung. Sie kamen! Gleich darauf brach der erste Hirscheber durch die Sangibüsche. Ein riesiger Kerl, über anderthalb Meter lang, mit einer Schulterhöhe, die gut und gern ihre sechzig Zentimeter betrug! Der Rumpf war grau und glatt, er hatte nicht eine einzige Borste auf der Schwarte. Ein alter Bursche, von dessen erfolgreich bestandenen Kämpfen manche Narbe im Nacken und an den Schultern erzählte. Weiß blitzten die riesigen Hauer im Halbschatten des Dschungels, dräuend und bösartig. Er war auf der Flucht, aber er raste nicht besinnungslos vor Entsetzen dahin. Kein Hirscheber tut das. Sie wissen viel zu genau, wie stark sie sind und wie furchtbar, wenn sie geschlossen mit der ganzen Rotte angreifen. Das waren alles die Überlegungen eines einzigen Augenblicks und zwar genau jenes Augenblicks, in dem die Büchse hochflog, der Kolben sich gegen die Schulter preßte, das Auge über das Visier das Blatt des alten Kämpen da vorn suchte und der Zeigefinger sich schon um den Abzug bog. In dem Augenblick vor dem Schuß. Aber ich schoß nicht! Ich schoß nicht, obwohl der riesige Keiler im gleichen Moment mich entdeckte und grunzend verharrte. Hinter ihm drängten sich andere graue Leiber, schoben sich neben ihn. Ich sah ihre stechenden, kleinen Augen, hörte ganz deutlich das Knatschen ihrer Hauer, als sie erregt zu kauen begannen, unschlüssig noch, ob sie sich auf den neuen Feind stürzen sollten oder fliehen. Es wäre genau 5
der richtige Augenblick für den tödlichen Schuß gewesen. Sie würden im selben Moment durchgehen, wenn ihr Anführer im Feuer zusammenbrach. Es wäre, aber es war nicht. Dieser Schuß wäre tödlich gewesen, einerlei, ob ich den Keiler getroffen hätte oder nicht. Tödlich für mich! Zuerst war es nur ein leises Zischen, kaum zu hören zwischen den Geräuschen, die die erregten Wildschweine machten. Aber dann wurde es deutlicher, und ich begriff plötzlich, was das für ein Geräusch war, das von schräg über mir aus den niedrigen Ästen der Tamarinde kam. Das warnende Zischen einer Schlange … Ganz langsam hob ich die Augen ein wenig, ganz vorsichtig. Und da sah ich sie! Ihr Kopf war nur ein paar Handbreit von meinem entfernt, sie ringelte sich langsam herab, ließ den vorderen Teil ihres Leibes langsam pendeln. Und die kleine, gespaltene Zunge züngelte zwischen den langen, gebogenen Giftzähnen. Aber das gab es doch gar nicht! Ich hätte mir am liebsten über die Augen gewischt, um diese Spukbild dort zu vertreiben. Die Schlange dort war eine Giftschlange, sogar eine der giftigsten, die die Welt kennt. Eine Jaracura. Deutlich war ihr kohlschwarzer Leib zu sehen, überdeutlich die leuchtend gelbe Rückenzeichnung. Aber Jaracuras gibt es nur im Gran Chaco, am Amazonas, in Brasilien. Hier war nicht Brasilien, hier war die Ewab-Insel, die schon zu Neu-Guinea rechnet. Hier konnte es eine Kobra geben, eine Hundsschlange oder sonstwas, aber keine Jaracura. Das alles waren die Überlegungen von Sekundenbruchteilen, nicht mehr. Der Kopf pendelte vor meinen Augen, vor und zurück, langsam, immer hin und her. Die kleinen, seltsam starren Augen schienen mich spöttisch zu mustern. Es war eine Jaracura, daran gab es keinen Zweifel. Eine Jaracura auf einer der Ewab-Inseln! Die Wildschweine begannen zu scharren, das Knatschen ihrer 6
Hauer wurde lauter, herausfordernder. Der Moment, sie mit einem Schuß in die Flucht zu schlagen und Beute zu machen, war verpaßt; es hörte sich so an, als hätten sie sich zum Angriff entschlossen, Zum Angriff auf mich, der ich ihnen wehrlos ausgeliefert war, denn wenn ich schoß, stieß die Schlange zu, schoß ich nicht, würden die Keiler kurzen Prozeß mit mir machen. Und ich konnte den Blick nicht einmal von dieser Schlange wenden, die mich in diese höllische Lage gebracht hatte. Von der Schlange, die es hier nicht gab, und die doch deutlich da vor meinen Augen hing. Langsam bog ich den Kopf zurück, einen Millimeter, zwei, einen Zentimeter. Sofort verstärkte sich das warnende Zischen, und der Schlangenkopf stieß ein wenig vor, den Rachen geöffnet, die tödlichen Giftzähne weit aufgespreizt. Bei der geringsten Bewegung würde sie zustoßen. Es war überhaupt ein Wunder, daß sie es noch nicht getan hatte. Man sagt der Jaracura nach, daß sie sich von den Bäumen auf ihre völlig ahnungslosen Opfer herabfallen läßt und im selben Moment schon zubeißt. Ich hatte in Südamerika Menschen sterben sehen, denen es so gegangen war. Das Gift der Jaracura tötet in knapp zwei Minuten unter gräßlichen Qualen. Der Biß selbst tut gar nicht weh, mußte ich denken. Es war ein irrsinniger Gedanke, aber das machte auch keinen Unterschied mehr. Wieder nahm ich den Kopf ein wenig zurück, wieder zischte sie warnend. Die Schweine grunzten dicht vor mir, es würde auch nur noch ein paar Sekunden dauern, dann nahmen sie an. Es war so und so egal. Ich hatte die Wahl: Schlangengift oder Keilerzähne! Ich hatte überhaupt keine Wahl, ich hatte gar nichts. Aber ich konnte hier nicht stehenbleiben und abwarten, auf weiche Weise mein Leben zu Ende gehen würde. Sicherlich war es nicht viel wert, aber ich hatte nun mal kein anderes und mußte schon mit dem zufrieden sein, das ich mir ausgesucht hatte. Und eigentlich gefiel es mir ganz gut. Diesmal setzte ich den rechten Fuß zurück, senkte mich ein wenig 7
in die Knie, ganz wenig nur, so viel, daß es die Schlange gar nicht merken sollte. Und dann warf ich mich zurück mit aller Kraft, die die Muskeln hergeben wollten. Es war wenig, lächerlich wenig. Jedenfalls kam es mir so vor. Irgend etwas fetzte vor meinem Gesicht vorbei, etwas Schwarzes, Zischendes. Es war die Jaracura. Ich konnte sie noch deutlicher erkennen als eben, und es gab keinen Zweifel, es war die gefürchtete Schlange vom Amazonas, hier, auf der anderen Hälfte der Erde! Aber ich hatte keine Zeit, mich jetzt darum zu kümmern. Ich mußte mich meiner Haut wehren, konnte überhaupt nichts anderes tun, als mich meiner Haut zu wehren. Die Schlange richtete sich halb auf, als wolle sie vom Boden her ihren Angriff wiederholen. Das war, als mein Gewehrlauf schon nach vorn stieß, der Finger fast automatisch den Abzug durchriß, und der donnernde Schuß losbrüllte. Die Schlange zuckte zurück, aber ich hatte nicht getroffen. Das wäre wohl auch reichlich viel verlangt gewesen. Aber der Luftzug der Kugel mußte sie erschreckt haben, vielleicht auch der Blitz des explodierenden Pulvers oder die sengende Hitze des Schusses, plötzlich glitt sie blitzschnell zur Seite, war im nächsten Moment verschwunden. Keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Moment prasselte es vor mir, die Keiler machten Ernst! Ich sah nur ein paar heranschnellende, graue Leiber, blitzende Hauer, und schoß. Ein entsetztes Quietschen war die Antwort, automatisch riß die Rechte den Kammergriff zurück, klirrend sprang die leere Hülse aus – Schloß zu – Schuß! Das Quietschen schrillte hoch, der vorderste Keifer, der alte Bursche von vorhin, drehte sich plötzlich um seine eigene Achse und fetzte mit den armlangen Hauern den Waldboden auf, daß große Stücke herumwirbelten wie welkes Laub im Herbst. Die dritte Kugel, ebenso ungezielt wie die anderen vorher, faßte ihn am Hals, warf ihn 8
um. Er strampelte wild, die Hauer knatschten, dann streckte er sich und lag ruhig, die anderen standen um ihn herum, die Waffen mir zugekehrt, aber da war kein Schwung mehr in ihnen. Sie standen da, unschlüssig, pendelnd, unsicher. Ich jagte die letzte Kugel hinaus, der Boden spritzte vor den Schweinen auf, das Tier unmittelbar dahinter warf sich herum, grunzte erschreckt und brach mitten durch die anderen hindurch. Und zwei Sekunden später war die ganze Rotte in wilder Flucht. Ich starrte hinterher und konnte es nicht begreifen. Wenn der wuchtige alte Keiler da nicht regungslos gelegen hätte, wäre mir alles wie ein böser Traum erschienen, und ich hätte darauf gewartet, daß mich jemand unsanft weckte, weil ich im Schlaf so laut gestöhnt hätte vor Entsetzen. Aber der Keiler lag da, und aus dem tödlichen Einschußloch am Hals sickerte langsam dunkles Blut. Plötzlich wurden meine Knie weich, jetzt, wo alles vorbei war. Ich setzte mich hin, wo ich gerade stand, und es wäre mir einerlei gewesen, auch wenn ich mich auf den Schwanz aller Jaracuras der Welt gesetzt hätte, von denen der Teufel wissen mochte, wie sie hierherkamen. Es gibt eine Grenze auch für gute Nerven, und diese Grenze war bei mir schon vor ein paar Minuten erreicht gewesen. Alles, was jetzt kam, ging ohne jeden Eindruck an mir vorüber. Ich setzte mich auf keine Jaracura, da war nur modriger, kühler Dschungelboden, nichts weiter. Ich saß da, hielt mich an meinem guten, alten Gewehr fest und starrte auf den Keiler, als könnte der jeden Moment wieder aufspringen und ich müßte aufpassen, daß er es nicht täte. Dabei hätte ich mit meinem leergeschossenen Gewehr nichts weiter tun können, als es auf ihn zu werfen, und ich bezweifele, daß ihn das sehr beeindruckt hätte. Aber er blieb reglos liegen! So lange, bis es wieder Geräusche gab, die ich bewußt wahrnahm, und da blieb er erst recht liegen. Es waren Rolf und Pongo, die auf der breiten Fährte, die die Schweine durch das Unterholz gebrochen hatten, herangestürmt 9
kamen. Mein Schnellfeuer hatte sie alarmiert. Sie hatten mit einem Schuß gerechnet, vielleicht noch mit zweien, aber nicht mit allen fünf aus dem Magazin. Ich pflege im allgemeinen ziemlich gut zu treffen und brauche keinen mittleren Krieg zu veranstalten, um einen Hirscheber auf die Schwarte zu legen. Hier hatte ich es aber gemußt. Rolf blieb überrascht stehen, als er mich da an der Tamarinde hocken sah, fünf Meter von dem toten Keiler. „Was ist?“ fragte er. „Etwas passiert?“ Ich schüttelte den Kopf. „Warum hockst du denn da, als wenn die Milch sauer geworden wäre?“ „Ich versuche herauszufinden, ob ich noch lebe und warum“, sagte ich langsam. „Hast du mal eine Zigarette für mich? Vielleicht komme ich dann schneller auf die Lösung.“ Rolf hielt mir seine Zigarettenpackung hin und gab mir sogar Feuer. Dann betrachtete er nachdenklich den toten Keiler und schüttelte den Kopf. „Den Braten wirst du allein essen müssen, mein Lieber“, grinste er. „Schweinefleisch ist ja sicher etwas Schönes, aber Schweinefleisch von so einem alten Kerl, der schon Großvater war, als die Holländer Insulinde entdeckten … Besten Dank auch!“ Pongo hatte sich schnell umgesehen; jetzt kam er zurück. „Warum Masser Warren nicht geschossen, als Schweine da vorn standen?“ fragte er ruhig. „Masser da suchen können schönen saftigen Schwein. Ein Schuß, jetzt schon Feuer brennen und Schweinsteak rösten.“ „Es ging gerade nicht“, sagte ich, zog lange an der Zigarette und spürte, wie meine Lebensgeister zurückkamen. Ich hatte inzwischen herausgefunden, daß ich tatsächlich noch lebte. „Masser zu lange gewartet“, erklärte Pongo. „So lange, bis alten Schwein da Masser sehen und angreifen. Da mußte Masser dann alten Schwein schießen. Aber warum? Masser Warren schon oft Schwein schießen in richtiges Moment. Masser Warren doch kennen Schwein, wenn böse.“ 10
„Ja, warum?“ fragte Rolf. „Wolltest du uns mit dem alten Zausel da ärgern, oder was?“ „Was hältst du von einer Jaracura?“ fragte ich und setzte mich endlich bequemer hin. Es war schön, so zu sitzen, schön, noch so sitzen zu können. Ich hatte nie gewußt, wie schön es war, oder ich hatte es schon wieder vergessen gehabt. „Nichts“, sagte Rolf. „Warum sollte ich auch. Aber sag mal, war es sehr schlimm mit den Schweinen?“ Er sah mich so an, als hätte er sehr ernsthafte Zweifel an meinem Geisteszustand, und vermutlich hatte er bei objektiver Betrachtung auch einigen Grund dazu. Jemand, der in Neu-Guinea neben einem toten Hirscheber sitzt und nach einer Jaracura fragt, der kann eigentlich nur verrückt sein! „Es ging so“, sagte ich grinsend. „Wenn sie keinen Schock bekommen hätten, als der alte Herr da das Zeitliche segnete, dann hättet ihr mich ziemlich zerknautscht vorgefunden. Viel hat jedenfalls nicht gefehlt.“ „Wie wäre es denn gewesen, wenn du rechtzeitig geschossen hättest?“ fragte Rolf behutsam. „Wir hätten wie geplant einen anständigen Braten, und dir ging es sicher besser.“ „Wird bestritten“, sagte ich und stand langsam auf. Die Knie zitterten nicht mehr, ich war soweit wieder in Ordnung. „Dann hättet ihr mich beerdigen können, vorausgesetzt, ihr hättet Lust dazu gehabt. Da war nämlich dieses Biest von Jaracura.“ Rolf sah mich schief an, dann zuckte er die Schultern. „Darf ich dich höflich darauf aufmerksam machen, daß wir hier auf einer der Ewab-Inseln sind, in ein paar Tagen Neu-Guinea anlaufen werden und Jaracuras ein paar tausend Meilen von hier entfernt vorkommen? Und zwar ausschließlich ein paar tausend Meilen von hier entfernt!“ „Das habe ich ihr auch gesagt“, grinste ich und reckte mich. „Aber meinst du, sie hat es mir geglaubt? Sie hat nur gezischt und deutlich die Absicht zu erkennen gegeben, daß sie mich trotzdem beißen würde. Ich hatte was dagegen, darum der ganze Zirkus und der 11
verdorbene Sonntagsbraten. Bedank dich bei der Jaracura, die es hier gar nicht gibt…“ „Wie soll ich mich bei etwas bedanken, das es nicht …“ Rolf hatte ärgerlich werden wollen, aber nun stutzte er doch. „Meinst du wirklich ernstlich – ich meine, bist du sicher, daß du dich nicht irrst?“ „Wie sicher würdest du sein, wenn du so ein Schlangenvieh zehn Zentimeter vor dem Gesicht hättest?“ fragte ich spöttisch. „Und das ein paar Sekunden lang, die von einer Seite der Ewigkeit bis zur anderen reichen?“ „Merkwürdig“, überlegte Rolf. „Wie mag sie hierhergekommen sein? Um die halbe Welt? Wenn hier ein großer Hafen wäre, den Schiffe mit Fracht aus Brasilien anlaufen, gäbe es vielleicht line Möglichkeit. Aber so? Und du bist wirklich ganz sicher?“ „Ich weiß nicht, wie weit Schlangen nach einem Schuß fliehen, der sie eine Handbreit verfehlt“, sagte ich langsam. „Wenn sie nicht sehr weit abhauen, könnten wir sie vielleicht noch finden, sie ist noch nicht lange unterwegs.“ „Sie gehen mit Vorliebe auf Bäume“, sagte Rolf. „Vielleicht sollten wir uns wirklich nach ihr umsehen. Wer weiß, was dahintersteckt?“ „Ein Ehrendoktor-Titel wegen Entdeckung einer zoologischen Sensation kaum“, grinste ich. Rolf musterte mich schief, aber er sagte nichts. Inzwischen war ihm die Situation aufgegangen, in der ich da gesteckt hatte. Und er begriff, daß es nicht die schönste Situation gewesen sein konnte. Wir suchten fast eine Stunde herum, aber wir fanden keine Spur der Jaracura. Es wäre auch ziemliches Glück gewesen, wenn wir noch einmal auf diese Baumschlange gestoßen wären. Sie war geflohen, hing vermutlich an den Stamm irgendeines der Urwaldriesen hoch oben im Wipfel gepreßt, und der Appetit auf überraschende Angriffe von oben war ihr im Augenblick wahrscheinlich ziemlich vergangen. Ebenso wie mir der auf Schweinebraten. Dabei war das eigentlich der Grund gewesen, warum wir diese Insel überhaupt betreten hatten. Unsere Jacht lag seit einigen Tagen 12
auf Generalkurs Neu-Guinea. Generalkurs bedeutete nach unserer alten Praxis aus vielen abenteuerlichen Jahren, daß wir alle möglichen kleinen Abweichungen und Abstecher machten und uns unterwegs umsahen, wo immer wir meinten, etwas zum Ansehen zu finden. Diese Insel hier aus der Ewab-Gruppe sah nun nicht gerade so aus, als ob es da für uns etwas zu holen gäbe. Aber Mr. Bird war am Morgen gekommen, hatte ein wenig herumgedruckst und dann entschlossen gefragt, ob wir nicht dazu zu bewegen wären, bei der nächsten Landsicht mal ein wenig auf Jagd zu gehen. Er hätte das ewige Dosenfleisch nachgerade satt. Wir hatten das auch. Wenn man sich schon in der Welt herumtreibt, wo sie noch nicht so langweilig geworden ist, daß es an jeder Ecke einen Laden gibt, in dem man alles haben kann, worauf man gerade Appetit hat, dann soll man wenigstens versuchen, sich der hübschen Dinge dieser noch wild gebliebenen Weltecken zu bedienen, und dazu gehört zweifelsohne frisches Fleisch von Wildschweinen. Das hatte uns sofort eingeleuchtet. Und die erste Insel, die im Glas so aussah, als könnte es Hirscheber auf ihr geben, das war nun diese hier. Von Jaracuras hatte Mr. Bird nichts gesagt, und wir hatten nichts davon gedacht. So lange nicht, bis sie mir unmittelbar vor der Nase auftauchte und der Erfolg eine Art Schweinebraten war, mit der niemand etwas anfangen könnte. Mr. Bird in seiner Kombüse am allerwenigsten, denn um den alten Kämpen da weich zu braten, würde es allen Petroleums bedürfen, das wir an Bord hatten, und auch dann dürfte man beim Hineinbeißen den Eindruck haben, auf Granit zu kauen. „Schade um den alten Burschen“, sagte ich. „Er hätte noch ein paar schöne Jahre als Herrscher über sein Volk gehabt.“ Rolf nickte lächelnd. „Und schade um unseren Braten. Die Rotte jetzt wieder aufzutreiben und zum Schuß zu kommen, könnte Tage dauern. Auf jeden Fall länger, als wir Zeit haben.“ „Vor abends rechnet an Bord niemand mit uns“, sagte ich und 13
hängte meine Büchse über die Schulter, nachdem ich sie vorher sorgfältig nachgeladen hatte. „Sehen wir uns noch ein wenig um. Vielleicht läuft uns etwas vor die Büchse, was Mr. Birds enttäuschte Hoffnungen ausgleicht.“ Die beiden Gefährten waren damit einverstanden. Leider. Sie hätten schreien und protestieren sollen, uns wäre manches erspart geblieben. Vielleicht hätten wir uns auch ein wenig mehr über die seltsame Jaracura wundern sollen und über die Tatsache, daß sie ausgerechnet hier auftauchte. Vielleicht dieses, vielleicht jenes. Wir taten nichts von alledem. Wir gingen los, langsam, nebeneinander, eine Art breiter, lockerer Kette quer durch den Dschungel. Die Gefährten hatten die Augen am Boden, suchten nach Fährten eines jagdbaren Wildes. Meistens tat ich das auch, aber alle paar Minuten ertappte ich mich dabei, daß mein Blick sichernd nach oben ging, zu den tief herabhängenden Zweigen großer Bäume. Die. Jaracura schien doch eindrucksvoller gewesen zu sein, als ich selbst es mir hatte eingestehen wollen … Auf diese Weise näherten wir uns langsam der Mitte der Insel. Zwei- oder dreimal machte Pongo Wildfährten aus, aber die waren zu alt, um eine erfolgreiche Pirsch zu versprechen. Einmal kreuzten wir die Spur der flüchtenden Wildschweinrotte. Obwohl wir hier schon gut drei Meilen von jenem Platz entfernt waren, wo der tote Keiler lag, waren die Schweine immer noch auf der Flucht gewesen. Im Grunde wäre es besser gewesen, jetzt umzukehren, denn eine Jagdbeute hier, so weit vom Ufer und Liegeplatz der, Jacht ab, war gar nicht mehr so günstig. Wir würden die vielleicht schwere Beute – Kaninchen nützen schließlich nichts für eine frischfleischhungrige Schiffsbesatzung – endlos weit schleppen müssen, selbst dann noch, wenn man einbezog, daß Pongo mühelos für zwei trug und Rolf und ich auch nicht gerade die schwächsten waren. Ich sagte es zu Rolf, und der nickte halb ärgerlich, halb resigniert. Schließlich ist es für Jäger nicht so sehr erfreulich, nach einer ganztägigen Pirsch mit leeren Händen zurückzukommen. Dabei hatten wir die Wildschweine so wunderbar angepirscht, daß einer 14
von uns beinahe mit Sicherheit zum Schuß hätte kommen müssen. Und ich war ja drauf und dran gewesen, zu schießen, wenn nicht diese verdammte Jaracura … „Da vorn die Lichtung noch“, meinte Rolf. „Vielleicht finden wir da was. Wenn nicht, kehren wir um. Wir werden die Küste ohnehin kaum vor Einbruch der Nacht wieder erreichen.“ Mir war es recht, ich glaube, mir wäre an diesem Tag alles recht gewesen. Es war eine kleine Lichtung, nicht breiter als zwanzig Meter. Sie bildete ein Dreieck, an dessen Spitze wir standen. Pongo kam zu uns, er hatte bisher den linken Flügel gebildet. Einen Moment standen wir da und suchten die- Lichtung ab. Vielleicht gab es da ein Stück Wild, das ohne große Schwierigkeiten unsere Beute hätte werden können. Aber die Lichtung war leer, es gab nichts. „Merkwürdig eigentlich“, sagte Rolf langsam. „Ich möchte wetten, daß es mehr Wild auf allen anderen Inseln gibt, als wir hier erlebt haben. Nimm die paar Schweine aus, dann scheint die Insel geradezu ausgestorben zu sein.“ Ich wollte irgend etwas antworten, ich weiß nicht mehr was, aber ich kam nicht dazu. „Massers sehen!“ sagte Pongo plötzlich, und etwas wie Staunen klang in seinen Worten. Er zeigte auf die Lichtung hinaus, auf einen großen, bemoosten Felsen, der etwa fünf Meter vor uns lag. Ich hatte ihn vorhin nur flüchtig angesehen. Wir suchten jagdbares Wild, keine Felsen. Aber jetzt, als Pongo hinzeigte, sah ich ihn mir genauer an. Er lag frei in der schon tief stehenden Sonne. Aber das war nichts Besonderes. Das, was Pongo aufgefallen war, mußte etwas anderes sein. Und dann sah ich es! Es war … Ich spürte, wie Rolfs Hand sich um meinen Arm krampfte. „Siehst du, was ich sehe?“ fragte er heiser. „Ich denke“, sagte ich und konnte trotz der Überraschung ein 15
Grinsen nicht ganz unterdrücken. „Und ich halte dich deshalb nicht einmal für geistesgestört, wie du mich vorhin.“ Er winkte hastig ab. „Wir müssen sie haben, Hans.“ „Okay“, sagte ich leise. „Ich habe an diesem Tag endlich einmal einen gezielten Schuß gut. Das vorhin war nur Notfeuer. Immer freiweg in die Luft, Mal sehen, wie es jetzt geht.“ Ich hob langsam die Mauser. Der Felsen wanderte ins Visier, der Lauf schwenkte ein wenig nach links. Ich ließ mir Zeit, denn das Wild, auf das ich, jetzt schießen würde, machte keinerlei Anstalten, davonzulaufen. Es tauchte jetzt ins Visier ein. Ich ließ das Perlkorn der Büchse langsam darüber hinwandern, halb unbewußt, wie um noch einmal zu kontrollieren, daß wir richtig gesehen hatten. Wir hatten es, da war kein Zweifel. Ich sah ganz deutlich den zusammengerollten Rumpf, erdbraun mit großen dunklen Quadraten, die seltsam hell gerandet waren. Ich sah den breiten, dreieckigen Kopf mit der stumpfen Nase, den Augenwülsten. Und ich sah den Schwanz mit diesen seltsamen Hornabsätzen, die ihr den Namen gegeben hatten. Denn das, was ich da im Visier hatte, war eine Klapperschlange! Eine Klapperschlange auf den Ewab-Inseln! Hilf Himmel, was war hier los? Spielte das ganze Weltall verrückt? Klapperschlangen gehören nach Nordamerika, meinetwegen noch nach Mexiko, aber nicht hierher. Sie sind noch typischer für einen bestimmten Landstrich als die Jaracura vom Morgen. Ich senkte die Waffe ein wenig, zielte jetzt genau auf den kurzen Halsansatz. Fast erschrak ich selbst, als der Schuß aufpeitschte. Ich erwartete, daß der Schlangenleib da vorn sich in Luft auflösen würde, sich als nichts anderes erweisen würde als die Vision überreizter Nerven. Aber er löste sich nicht in Luft auf. Er peitschte empor, als der Schuß knallte, fegte in wilden Zuckungen ringelnd über den Felsen hin, wurde langsamer in seinen Bewegungen und lag schließlich still, gerade, als ich das Gewehr langsam absetzte. 16
Wir rannten alle gleichzeitig los. Und wir sahen da vor uns eine erschossene Klapperschlange liegen, eine erschossene Klapperschlange im Inseldschungel! Ihre Kiefer klappten noch krampfhaft auf und zu, stellten damit die nadelscharfen Giftzähne auf. Es war wirklich eins von diesen Biestern, deren Biß ein ausgewachsenes Pferd töten kann, wenn man seine Qualen nicht abkürzt und es vorher erschießt. „Was, zum Teufel, ist hier los?“ fragte Rolf und sah mich an. Ich zuckte die Schultern. „Giftschlangen eines fremden Kontinents in einer Wildnis zu finden, in die sie nicht gehören, ist mehr, als ich verkraften kann“, sagte ich. „Friß mich auf, aber ich weiß keinen Reim auf die Geschichte. Nicht den kleinsten.“ Rolf sah zum Himmel auf, zog die Stirn kraus. „Wir haben noch zwei Stunden Licht“, sagte er langsam. „Gehen wir weiter und sehen uns um! Vielleicht finden wir heraus, was mit dieser Insel los ist. Jaracura am Morgen, Klapperschlange am Abend, das ist wirklich ein bißchen viel, denke ich. Mehr jedenfalls, um zum Schiff zurückzugehen und so zu tun, als käme man nur von einer erfolglosen Jagdpartie zurück.“ „Mir auch recht“, nickte ich. „Sehen wir uns halt um.“ 2. Kapitel Wir taten es, aber da war meilenweit nichts als Dschungel, unterbrochen von ein paar Lichtungen. Zweimal kamen wir Wildschweinen so nahe, daß es kaum eine Schwierigkeit bedeutet hätte, sie im Vorbeigehen zu schießen. Keiner von uns dachte daran. Was bedeutete schon Frischfleisch gegen das Geheimnis der Schlangen? Und dann gab es plötzlich eine große Lichtung. Vielleicht war es einmal eine echte, natürliche Lichtung gewesen, aber da hatte sie anders ausgesehen als jetzt. Sie war künstlich erweitert, hatte deutliche Rodungsränder. Und mitten auf dieser Lichtung stand ein 17
leichter, kleiner Bungalow mit einem großen, blechverkleideten Schuppen daneben. Man fragte sich unwillkürlich, ob der Schuppen ein Anbau des Bungalows oder ob der nur ein Anhängsel des Schuppens war. Vermutlich war diese Frage unwichtig. „Nach der Karte ist diese Insel unbewohnt“, sagte Rolf leise. „Nach der Karte gibt es hier auch keine Klapperschlangen“, war meine Antwort. „Aber eins von beiden ist falsch. Entweder die Karte oder die Schlangen.“ „Sieht aus, als ob es die Karte wäre, was?“ sagte Rolf. „Gehen wir hin und sehen wir nach, wer hier haust.“ Wir brauchten nicht weit zu gehen. Kaum waren wir aus der Dämmerung des Hochwaldes heraus, sprang auf der Veranda ein Mann auf. Ich sah zweimal hin, aber es blieb ein Mann. Ein mittelgroßer, schmaler Mann mit eisgrauen Haaren, europäisch gekleidet, aber dem Gesichtsschnitt nach offenbar ein Malaie. Und zwar ein reinrassiger. Ich meinte es deutlich zu sehen, als wir näher kamen. Wie sich später herausstellte, stimmte es. Im allgemeinen gibt es eine freudige Begrüßung, wenn man irgendwo in den Tropen einen Wohnsitz eines weit von der Zivilisation entfernt lebenden Menschen besucht. Besuch ist ein Feiertag für einsame Menschen, ein nur zu seltener Feiertag. Hier schien es anders zu sein. Der Malaie erhob sich und starrte uns entgegen, als sähe er Gespenster. Nun machten wir nach dem Tag im Dschungel vielleicht einen etwas abgerissenen, bestimmt aber keinen gespenstischen Eindruck. Ich habe noch nie von einem Gespenst gehört, das etwa die Robustheit und Muskulatur unseres Pongo hätte. Rolf schien dasselbe zu empfinden wie ich, denn als wir uns dem Haus genähert hatten, fragte er: „Hallo, kommen wir ungelegen, Mister?“ Der Malaie schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Entschuldigen Sie, ich war nur sehr überrascht, als ich Sie so plötzlich aus dem Dschungel auftauchen sah. Ich bin es seit Jahren nicht mehr gewöhnt, hier Menschen zu sehen. Herzlich willkommen! Was treibt Sie hierher?“ 18
Ich sah den Mann an, er schien sich nun wirklich zu freuen, aber ich konnte mir nicht helfen, ich hatte den Eindruck, daß er mehr Freude spielte als wirklich empfand. Vielleicht war das Voreingenommenheit, aber es ging mir nun einmal so. „Zufall“, erklärte Rolf. „Wir waren auf der Jagd, und als uns unsere Beute entkam, suchten wir ein wenig herum und kamen auf diese Weise hierher.“ „Seltsamer Zufall“, sagte der Malaie „Dieses Haus liegt so einsam, daß ich mich manchmal frage, ob es überhaupt noch andere auf der Welt gibt. Aber ich freue mich, einmal Menschen hier zu sehen. Sie bleiben doch sicher wenigstens über Nacht?“ Ich hatte jedes Wort deutlich gehört, aber ich hatte wieder das Gefühl, als ob es etwa heißen sollte: Es gefällt mir nicht, daß ihr gekommen seid, aber weil ihr es nun schon einmal getan habt, so bleibt in drei Teufels Namen auch hier. Vermutlich war das Unsinn, aber manchmal ergibt auch Unsinn einen Sinn. Es dauert immer nur seine Zeit, bis man es herausfindet. Manchmal ist diese Zeit lang, zu lang. „Ich heiße Rolf Torring“, sagte Rolf unbekümmert. Er schien nichts Ungewöhnliches an diesem Malaien und der Art seiner Begrüßung zu empfinden. „Und das ist Hans Warren. Der Schwarze dort ist unser Begleiter, Fährtensucher, Helfer in der Not und sonstwas. Er heißt Pongo.“ Der Malaie lächelte. „Ich heiße Tuhana“, er zögerte einen Moment, „Dr. Tuhana, wenn Sie wollen. Und das hier“ – er zeigte auf das Haus, die Lichtung – „ist mein Reich. Ein bescheidenes Reich, aber ich fühle mich ganz wohl darin. Ich hoffe, Sie werden es für die Zeit Ihres Aufenthaltes auch tun.“ „Es geht so“, sagte ich, weil ich gerade an die Jaracura denken mußte und an die Klapperschlange. Vielleicht war das nicht sehr höflich. Aber die Jaracura war auch nicht höflich gewesen. Höchstens ungeschickt, sonst hätte sie mich doch noch erwischt. Tuhana klatschte in die Hände. Er tat es auffallend laut und heftig, 19
und gleich darauf erschien ein farbiger Diener, der uns erstaunt musterte und die Augen niederschlug, als er sah, daß ich ihn auch ansah. „Das ist Legarta“, erklärte Dr. Tuhana. „Mein Nummer-1-Boy. Er ist stumm, und ich fürchte, er ist obendrein auch ein wenig taub. Man muß schon ziemlich schreien, wenn man sich ihm verständlich machen will. Seine Sprache ist Insel-Malaiisch. Aber er versteht auch etwas Englisch. Für den Fall, daß Sie einen Auftrag für ihn haben.“ „Danke“, sagte Rolf. „Wir wären Ihnen für ein Nachtquartier dankbar, es ist zu spät geworden, um heute noch zur Küste zurückzukehren. Aber wir wollen Ihr Reich nicht durcheinanderbringen, Doktor.“ „Aber ich bitte Sie“, sagte Dr. Tuhana. „Ich freue mich über Ihren Besuch und hoffe, Sie bleiben, solange es Ihnen hier gefällt.“ „Wir wollten gar nicht bleiben“, sagte ich. „Wir wollten eigentlich nur einen oder zwei Hirscheber schießen, damit wir Frischfleisch an Bord haben. Aber wenn wir etwas von Ihrem Legarta wollen, braucht er sich mit Englisch nicht herumzuquälen. Insel-Malaiisch beherrschen wir auch gut genug, um es dafür zu benutzen.“ Es war eine seltsame Reaktion, die es auf diese Worte gab. Dr. Tuhana zog die Augenbrauen hoch, und der stumme Diener sah mich erstaunt an. Ich hatte wieder dieses Gefühl, daß uns hier nicht reine Freundschaft umgab, und mußte es regelrecht abschütteln. Dabei war es offensichtlich Unsinn. Natürlich mußte dieser Dr. Tuhana überrascht sein, wenn er sich hier abgekapselt von der Welt aufhielt, und plötzlich kamen da drei Männer mit der größten Selbstverständlichkeit aus dem Dschungel in sein Haus. Und dann sprachen wir auch noch Insel-Malaiisch. Das waren schon Gründe, ein wenig verwundert zu sein. Als wir eine halbe Stunde später auf der Veranda des einfachen Bungalows zusammensaßen, war jedenfalls nichts von Ablehnung bei Dr. Tuhana zu spüren. Er unterhielt sich mit uns wie mit alten Freunden. Seltsam war nur, daß er an den Dingen der Welt jenseits des Dschungels recht heftig interessiert war. Seltsam für einen Mann, der sich von dieser Welt in die Einsamkeit des Dschungels zurückzog, meine ich. 20
„Und Sie kreuzen durch die Welt und tun das, was Ihnen gefällt?“ fragte er interessiert, als Rolf ein wenig von uns erzählte. „Dann müssen Sie über ziemlich viel Geld verfügen, nicht wahr?“ „Es geht so gerade an“, grinste ich. „Sie müssen nicht vergessen, Doc, daß auch bei der Art Leben, das wir führen, eine ganze Menge zu verdienen ist. Schön, es reizt uns nicht sonderlich, verborgene Schätze zu suchen, aber wenn wir sie finden, sind das für uns ein paar Jahre mehr Freiheit. Im Grunde leben wir ebenso wie Sie. Nur ist unsere Einsamkeit das Abenteuer, das einen Mann herausfordert. Aber am Ende ist der Unterschied gar nicht einmal so groß.“ „Also sind Sie auch hinter Beute her?“ fragte Dr. Tuhana gedehnt. Rolf zuckte die Schultern. „Nicht direkt, Doktor. Wir nehmen sie mit, wenn sie sich bietet. Was sollten wir sonst tun? Aber wir suchen nicht danach, jagen nicht von einem Platz zum anderen, um sie zu finden. Vielleicht ist das der Unterschied.“ „Vielleicht“, sagte der Malaie und sah uns durchdringend an. „Und was treiben Sie, Doktor?“ fragte ich beiläufig. „Ich könnte mir denken, daß ein Mann auf die Dauer nicht genug daran findet, einsam zu leben und den Dschungel anzusehen.“ „Ich experimentiere ein wenig“, sagte Dr. Tuhana. „Ich bin Chemiker und habe mir dort drüben“ – er zeigte auf den langen Schuppen hinter dem Bungalow – „so etwas wie ein Labor eingerichtet.“ Er lächelte dabei. „Es gibt so viele ungeklärte chemische Probleme auf dieser Welt, daß es genug für einen Wissenschaftler zu tun gibt, mehr als genug.“ „Schade, daß Sie nicht Zoologe sind“, sagte Rolf und sah dabei auf das Glas in seiner Hand. „Dann hätten wir ein Problem für Sie, das eine Untersuchung mehr als nur lohnte.“ „Und das wäre?“ fragte Dr. Tuhana seltsam erregt. „Schlangen“, sagte Rolf. „Was würden Sie davon halten, daß es auf dieser Insel Jaracuras gibt und Klapperschlangen, die nachweislich sonst nur auf der anderen Hälfte der Erdkugel vorkommen?“ 21
Dr. Tuhana sah uns lange an, dann zuckte er die Schultern. „Ich bin leider wirklich kein Zoologe“, sagte er bedächtig. „Aber das, was Sie da sagen, erscheint mir trotzdem reichlich merkwürdig. Ich möchte sagen, Sie sind einem Irrtum zum Opfer gefallen. So etwas ist einfach nicht möglich.“ „Haben wir auch gedacht“, nickte Rolf. „Zumindest, als mein Freund nur von einer Jaracura erzählte, die ihn um ein Haar gebissen hätte. Wir haben sie gesucht und nicht gefunden.“ „Typischer Fall einer“ – er sah mich lächelnd an –, „entschuldigen Sie, Mr. Warren, Angsthalluzination. Die Jaracura lebt in Südamerika, soviel ich weiß. Da war sicher irgendeine Schlange, und in dem Schreck meinten Sie, eine Jaracura zu sehen, obwohl es vielleicht eine ganz harmlose Schwarznatter war, wie sie hier häufig ist.“ „Er neigt nicht zu Halluzinationen“, grinste Rolf. „Schon gar nicht vor Angst. Man gewöhnt sich das einfach ab, wenn man zu oft in Situationen kommt, in denen eigentlich Angst angebracht wäre.“ „Und was ist mit der Klapperschlange?“ fragte ich gedehnt. „Klapperschlange?“ wollte Dr. Tuhana wissen. „Haben Sie die auch gesehen?“ „Haben wir“, nickte ich. „Und ich ganz besonders. Über das Visier meiner Büchse nämlich. Von Angsthalluzinationen kann da wohl kaum die Rede gewesen sein, oder? Zu Ihrer Beruhigung, Doktor, ich hatte den Finger am Abzug und damit die besseren Trümpfe gegenüber der Schlange.“ „Ein Irrtum?“ fragte Dr. Tuhana unsicher. „Ziemlich ausgeschlossen“, antwortete Rolf für mich. „Er hatte nicht nur den Finger am Abzug, er hat auch durchgezogen. Und was da mit durchschossenem Hals vor uns lag, war einwandfrei eine Klapperschlange. Und vor toten Schlangen hat niemand Angst, schon gar nicht so sehr, daß er zu Halluzinationen neigt.“ „Aber das gibt es doch gar nicht“, sagte Dr. Tuhana. „Das kann es doch gar nicht geben, meine ich. Was stießen Sie daraus, solche für diese Gegend ungewöhnlichen Tiere hier angetroffen zu haben?“ 22
„Die Tatsache, daß es noch mehr davon geben muß, als wir entdeckt haben“, sagte ich ruhig. Und als ich Tuhanas fragenden Blick spürte, führ ich fort: „Ganz einfach: Wir waren auf der Suche nach Wild. Meinen Sie, wir hätten etwas gefunden? Nicht die Spur. Nur Wildschweine gab es in Mengen. Wildschweine aber haben eine seltsame Widerstandskraft gegenüber den Bissen von Giftschlangen. Außerdem fressen sie diese Biester für ihr Leben gern auf. Sieht aus, als wenn das hier eine Art Paradies für alle möglichen Giftschlangen wäre. Vielleicht nicht ganz der richtige Aufenthaltsort für Ihre Zurückgezogenheit, Doktor. Eines Tages wird eine davon Sie einmal erwischen.“ Der Malaie schien wirklich beunruhigt zu sein. „Das gefällt mir gar nicht, was Sie da zu erzählen haben“, sagte er hastig. „Überhaupt nicht.“ „Wenn Sie sich ein wenig vorsehen“, meinte Rolf, „kann eigentlich nicht viel passieren. Allerdings wäre es vielleicht ganz klug, Sie würden sich Schlangenserum beschaffen. Wer weiß, was noch alles in diesem Dschungel herumkriecht?“ „Natürlich habe ich Serum“, sagte Dr. Tuhana. „Beide Seren sogar und in reichlichem Vorrat. Ich habe immerhin damit gerechnet, hier Schlangen vorzufinden, als ich mich vor drei Jahren hier niederließ.“ „Beide Seren?“ fragte ich. „Das ist sehr modern, Doktor. Wir haben wenige Menschen auf unseren Streifzügen gefunden, die sich diese Entdeckung schon zunutze gemacht hatten.“ „Vergessen Sie nicht, daß ich Chemiker bin“, sagte der Malaie. „Natürlich leuchtete es mir sofort ein, was es für eine Bedeutung hatte, als man entdeckte, daß man nur zwei Seren für alle bekannten Arten von Schlangengiften braucht. Eins für die Blutgifte und eins für die Nervengifte. Wie gesagt, ich habe beide vorrätig. Für alle Fälle.“ „Merkwürdig, daß alle Giftschlangen im Grunde nur über zwei verschiedene Gifte verfügen“, sagte Rolf im Plauderton. „Noch merkwürdiger, wenn Sie bedenken, daß es im Grunde nur ein einziges Gift ist, das nur verschieden wirkt“, sagte Dr. Tuhana. 23
„Schlangengift besteht aus drei Grundstoffen, die jeder für sich nicht einmal sonderlich giftig sind. Nur die verschiedene Zusammensetzung und die Mischung macht sie so gefährlich, selbst für Menschen.“ „Aber sie wirken doch ganz verschieden“, sagte ich. „Wenn ich daran denke, daß der Biß einer Jaracura in zwei Minuten tötet, der Biß einer Klapperschlange in ein paar Stunden und der Biß mancher anderer Giftschlangen überhaupt nicht? Man muß ein paar Tage ins Bett, hat Übelkeit oder sonstwas und ist dann wieder munter.“ „Die verschiedene Zusammensetzung“, sagte Dr. Tuhana hastig. „Das ist alles. Wenn der eine oder andere Anteil überwiegt, dann gibt es entsprechende Wirkungen. Laienhaft könnte man es so erklären: Mehr Grundstoff, das ist so etwas wie Firnis bei einer Ölfarbe, dann ist es dünner, weniger wirksam. Mehr gelbe Farbanteile, dann ist es gelber, wirkt mehr auf die Nerven. Und mehr Blau, dann wird es grüner, wirkt mehr auf das Blut. Manche Schlangengifte lähmen die Nerven, das der Jaracura zum Beispiel tut das. Darum der schnelle Tod des Opferst Andere zersetzen das Blut, wie das der Klapperschlange. Ihre Opfer sterben im Grunde an einer Blutkrankheit.“ „Egal, wie sie sterben, unangenehm bleibt es in jedem Falle. Ich werde ruhiger schlafen, seitdem ich weiß, daß Sie Serum im Haus haben, Doktor. Für meinen Geschmack waren es ein wenig viel Schlangen auf dieser Insel. Ich liebe sie nicht sonderlich.“ „Wer tut das schon?“ fragte Dr. Tuhana. „Man müßte ein Serum finden, das gegen alle Schlangengifte wirkt, nicht nur gegen die Nervengifte oder gegen die Blutgifte. Man kann beide nicht nacheinander anwenden, ohne den Patienten zu töten. Und dummerweise gibt es eine ganze Reihe Schlangen, deren Gifte gerade auf der Mitte liegen. Da wirkt das eine nicht genug und das andere kann man dann nicht mehr anwenden, ohne die Schlange noch nachträglich zum Sieger zu machen.“ Er sah uns bei diesen Worten wieder an, und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß es lauernde Blicke waren. Aber warum, zum Teufel, sollte er uns lauernd ansehen, wenn wir uns ganz harmlos über Schlangengift und Serum unterhielten? Ein 24
Thema, das ebensogut in einem Londoner Salon oder auf einer Party in Rio erörtert werden konnte, nicht nur auf einer der abgelegenen Ewab-Inseln. Hielt er uns für übergeschnappt, weil wir ihm von Klapperschlangen und Jaracuras auf seiner Insel erzählten, die er wahrscheinlich weit besser kannte als wir? Aber dann mußte er wohl einkalkulieren, daß wir alte Waldläufer waren und durchaus auch diesen Eindruck machten. Ein einziger Blick auf unsere Büchsen, die jetzt in unseren Zimmern standen, hätten jeden landeskundigen Menschen davon überzeugt, daß wir ein paar Dutzend harte Dschungelsafaris hinter uns hatten. Anfänger haben neue, blanke Waffen mit lackierten, hellen Schäften. Unsere Büchsen hatten dunkle, oft geölte Schäfte, und die Brünierung an Lauf und Schloß war von häufiger Benutzung abgescheuert. Außerdem wäre Anfängern wohl kaum aufgefallen, daß es auf dieser Insel mehr Hirscheber gab als woanders und dafür weniger Hochwild. „Das sind vorläufig Wunschträume“, sagte Rolf leise. „Ein einziges Serum für alle Schlangengifte, das wäre eine Sache, die einen Siegeszug um die Welt antreten würde wie Penicillin. Es war schon so ähnlich, als es der Wissenschaft gelang, mit zwei Seren die ganze Skala der möglichen Vergiftungen zu überdecken. Es ist Leichtsinn von uns, eigentlich sollte man das berühmte A- und B-Serum immer bei sich haben, wenn man in den Dschungel geht, und wenn es auch nur ist, um schnell und ohne große Mühe ein wenig Wild für die Kombüse zu schießen, Manchmal wird ein langer Ausflug aus so etwas, wie man an uns und heute sehen kann.“ „Es ist immer gut, für alle Dinge gewappnet zu sein“, nickte Dr. Tuhana. „Sehr gut sogar. Ich bin es, Mr. Torring. Ich bin es.“ Wieder schien mir ein eigenartiger Unterton in seiner Stimme mitzuschwingen, aber vielleicht sah ich heute überall Gespenster. Vielleicht war es ein wenig viel gewesen vorhin mit den angreifenden Hirschebern und der Jaracura vor dem Gesicht. Es ist selbst für gute Nerven nicht sonderlich gesund, den Tod in recht unangenehmen Formen gleich zweimal vor sich zu sehen und das noch gleichzeitig. 25
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht“, sagte ich darum, „würde ich mich gern hinlegen, Doktor. Dieser Tag, Sie verstehen?“ ; „Natürlich“, nickte Dr. Tuhana. „Schlafen Sie gut, Mr. Warren. Und träumen Sie das, was Sie wünschen.“ „Schönen Dank“, lachte ich. „Das eine wird nach diesem anstrengenden Tag mit Sicherheit besorgt, und bei dem anderen werde ich mir Mühe geben.“ Legarta, der stumme Diener des malaiischen Doktors, erschien wie hergezaubert und führte uns in unsere Zimmer. Es waren drei kleine, nebeneinanderliegende Räume, nicht gerade üppig eingerichtet, aber nach dem Tag im Urwald hatten sie geradezu paradiesischen Charakter für mich. Sie hatten weiße, weiche Betten, einen Stuhl und einen kleinen Tisch. Stuhl und Tisch brauchte ich nicht, das Bett war entscheidend. Ich ließ mich gleich hineinfallen und hätte am liebsten vergessen, mich auszuziehen. Jetzt merkte ich erst richtig, wie müde und kaputt ich war. Legarta schien noch einen Wunsch zu haben. Er gestikulierte mit den Händen, und seine Lippen formten Laute, die ich nicht verstand, denn er konnte diesen Lauten keine Stimme mitgeben. „Was möchtest du denn?“ fragte ich ihn in Insel-Malaiisch. Seine Handbewegungen wurden heftiger. Ich zuckte die Schultern, ich verstand wirklich nicht, was er noch wollte. Es war doch alles in Ordnung, mir fehlte nichts, und das einzige, was ich wollte, war, mich ins Bett zu legen und Ruhe zu haben. Aber Legarta war nicht damit einverstanden. Als ich schließlich überhaupt nicht reagierte, ging er schnell zum Fenster und schloß es. Und die Handbewegung, die er nun machte, verstand ich sehr gut. Sie sollte bedeuten, daß dieses Fenster geschlossen bleiben sollte. Geschlossen in einer Tropennacht nur ein paar Wochen vor Monsunwechsel! Diese Nächte sind so brühwarm und feucht, daß man meinen könnte, man läge in einem heißen Bad. Vor Jahren, als ich mich noch nicht an diese Temperaturen gewöhnt hatte, lag ich nächtelang bei solchem Wetter wach. Dabei aber auch noch das 26
Fenster geschlossen zu halten, ist mehr als selbst ein alter Buschritter ertragen kann. Aber Legarta schien größten Wert darauf zu legen. Er tat mir leid. Er gab sich solche Mühe, mir klarzumachen, daß das Fenster geschlossen bleiben mußte, und es sah so aus, als wolle er mir auch noch den Grund dafür verraten, denn er zeigte auf den Boden und machte eine hastige Bewegung über den Boden mit der Hand zum Bett hin. Mochte der Teufel wissen, was er mir damit sagen wollte, ich war zu müde, um lange darüber nachzudenken. Also nickte ich entschlossen, und als ich seinen zufriedenen Gesichtsausdruck sah, wußte ich, daß ich das Richtige getan hatte. Legarta schien förmlich erleichtert zu sein, als er ging. Kaum war er draußen, stand ich vom Bett auf, öffnete beide Fensterflügel, so weit es nur ging, löschte das Licht und zog mich aus. Es ist eine alte Angewohnheit von mir, den Revolvergurt immer so zu hängen, daß die Waffe griffbereit ist. Wenn man sich viel in der Welt herumtreibt, findet man bald heraus, daß es diese kleinen Dinge sind, von denen das Leben eines Mannes weit mehr abhängt als die großen Überlegungen. Diesmal hing der Gurt nicht ganz richtig über dem Stuhl. Die Lehne verdeckte den Griff des 38er-Revolvers halb, und ich würde Mühe haben, ihn schnell zu ziehen. Aber warum sollte ich das auch gerade hier, in einem Bett, in einem sicheren Haus, tun müssen? Draußen im Dschungel wäre das etwas anderes gewesen. Und als ich mich zurechtlegte und die Kerosen-Lampe löschte, war das letzte, was ich dicht vor Augen sah, der Griff meines Jagdmessers, das direkt vor meiner Nase hing. Meine Träume würden sicher nicht die besten werden mit diesem letzten Bild vor Augen. Messergriff, kleine Dinge, Träume, so ging es in meinem Kopf durcheinander. Hirscheber, Jaracura, Jagdmesser, Klapperschlange – und dann schlief ich tief und traumlos. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte. Auf jeden Fall war ich keineswegs ausgeruht, und ich brauche im allgemeinen nicht sehr 27
lange, um mich auch nach einem sehr strapapaziösen Tag zu erholen. Ich brauchte dann auch eine kleine Ewigkeit, ehe ich richtig wach wurde, und als ich es endlich war, starrte ich immer noch halb benommen in die Dunkelheit über mir und fragte mich, warum ich überhaupt aufgewacht war. Irgend etwas mußte da gewesen sein, das mich hochschrecken ließ. Aber was, zum Teufel? Vermutlich ein dummer Gedanke im Schlaf. Ich legte mich wieder zurecht. Dumme Gedanken sind kein Grund für einen Mann, sich die Nacht um die Ohren zu schlagen. Es war drückend heiß, und ich war froh, vorhin noch das Fenster geöffnet zu haben. Im geschlossenen Raum wäre es kaum auszuhalten gewesen. So war es das gerade eben. Mehr nicht. Ich legte mich zurück und machte die Augen wieder zu. Ich war noch immer müde genug, um sofort wieder einzuschlafen, aber wenn ich in diesem Moment eingeschlafen wäre, dann wäre das für immer gewesen, und es hätte kein Erwachen mehr gegeben. Mit dem letzten Rest Bewußtsein hörte ich plötzlich ein Geräusch! Ein Geräusch, so leise, daß es kaum zu vernehmen war. Ein sanftes Rascheln nur, so, als wenn ein Stück Papier über eine Wand streife Ich schreckte hoch! Das Geräusch verstummte sofort, aber ich brauchte es auch nicht zum zweitenmal zu hören, um zu wissen, was es war! Nur eine einzige Sache auf dieser Welt bringt ein solches, kaum wahrnehmbares Geräusch hervor: Eine Schlange, die über den Boden hingleitet! Greifbar nahe stand plötzlich das Bild der Jaracura vom Vortag vor meinen Augen und wurde verdrängt von der zusammengerollten Klapperschlange auf einem Felsen, die sich träge sonnte. Eben noch war es mir im Zimmer zu heiß gewesen, stickig heiß sogar. Jetzt plötzlich merkte ich, daß ich fröstelte und mir ein eisiger Hauch entgegenzuwehen schien. Der eisige Hauch des lautlosen, blitzschnellen Todes! Irgendwie fiel mir unser Gespräch vom Abend ein, Rolfs Bemerkung, daß wir kein Serum hätten, und ich versuchte herauszufinden, ob Dr. 28
Tuhanas Antwort gelautet hatte, daß er welches besäße. Ich versuchte es verzweifelt herauszufinden, aber das war natürlich ein unsinniger Gedanke in dieser Situation. Und wieder war das leise, scharrende Geräusch da Sie mußte dort rechts sein, die Schlange, rechts am Fenster, am offenen Fenster … Ich richtete mich im Bett auf, langsam, unendlich langsam und vorsichtig. Aber doch nicht langsam und vorsichtig genug. Das Rascheln erstarb, ein fauchendes, warnendes Zischen war die Antwort. Hilf Himmel! In völliger Dunkelheit allein mit einer Schlange, von der ich nichts weiter wußte, als daß sie rechts von mir und meinem Bett sein mußte, aber nicht die blasseste Ahnung hatte, wie weit entfernt. Zehn Zentimeter, oder drei Meter … Ich lauschte wieder in die Nacht hinaus, verfluchte innerlich die Zikaden, die draußen ungerührt ihren Gesang am Dschungelrand anstimmten, der mir unerträglich laut erschien, so laut, daß er sicher das Geräusch der gleitenden Schlange überdeckte, mir auch die letzte Möglichkeit nahm, herauszufinden, wo sie war. Sie, die hier im Zimmer eine tödliche, grauenhafte Gefahr bedeutete. Aber die Zikaden nahmen mir gar nicht das Wissen vom Aufenthaltsort der Schlange, sie nahmen mir gar nichts. Diesmal hörte ich es nicht, diesmal fühlte ich es! Ein sanftes, leises Gleiten, fast wie von einer streichelnden Hand, aber es war die Hand des Todes, die da über meine Beine hinglitt, langsam höher kam, auf dem Magen verharrte und sich dann zur Brust emporschob … Ich hätte schreien mögen, aufspringen und davonlaufen. Aber ich lag da wie gebannt, und nun sahen meine Augen auch in der Dunkelheit. Nur ein paar Handbreit weit, aber das reichte vollkommen aus, um zu sehen, was da auf meiner Brust lag. Ich sah fast überdeutlich den flachen Kopf mit der abgeplatteten Nase, die schmalen Augen mit den senkrechtstehenden Pupillen, sah den geöffneten Rachen und die gespaltene Zunge, die blitzschnell hin und her ging. Kaum zwanzig Zentimeter vor meinem Gesicht! 29
Ich hielt den Atem an, schloß die Augen und öffnete sie wieder. Aber das Bild blieb. Es mußte bleiben, denn ich spürte sie ja, die Schlange, spürte sie schwer und deutlich, und ihre paar Pfund Gewicht auf meiner Brust schienen mir Zentner zu sein, Tonnen sogar. Tonnen glühenden Bleies. Ich starrte wie hypnotisiert auf die Schlange, tausend verrückte Ideen schossen mir durch den Kopf. Ideen von Geschichten, die ich über Schlangen gehört hatte, Erinnerungen an Erlebnisse, die ich mit ihnen gehabt hatte. Kluge Ratschläge von anderen, wie man sich verhalten sollte. Aber das nützte alles überhaupt nichts. Die Schlange lag auf meiner Brust, den Kopf züngelnd erhoben. Sie brauchte sich nicht einmal groß zu bewegen, um mich zu beißen, in den Hals, ins Gesicht, auf jeden Fall in eine jener Körperpartien, bei denen selbst Serum meist zu spät kommt, denn wenn die Schlange eine Hauptader mit ihrem Biß erwischt, dann gute Nacht! Dann hilft kein Serum mehr, dann ist man tot, ehe der Arzt auch nur die Spritze aufziehen kann. Und hier gab es nicht mal einen Arzt, und wer weiß, ob es eine Spritze gab! Was es aber gab, war die Schlange da auf meiner Brust, und dann gab es noch etwas! Es war erst ganz am Rand meines Bewußtseins, und es sagte mir noch nichts. Ein Messergriff fiel mir ein, der Griff eines Jagdmessers! Was, zum Teufel, bedeutete der Griff eines Jagdmessers? Und dann wußte ich es plötzlich wieder. Dieses letzte Bild, das ich am Abend vor dem Einschlafen gesehen hatte. Mein Revolvergurt am Stuhl, unmittelbar neben dem Kopfkissen, hatte schief gehangen und den Griff des Jagdmessers direkt vor mein Gesicht gebracht. Das mußte jetzt nicht weiter von mir entfernt sein als diese verdammte Schlange da auf mir. Ich müßte … Unendlich langsam versuchte ich die Rechte unter der dünnen Bettdecke hervorzuziehen. Die Schlange merkte es sofort, sie richtete sich auf, stieß ihr Zischen aus, schien plötzlich unheimlich zu wachsen. 30
Aber das schien nur so, in Wirklichkeit stellte sie ihre breiten Halsschilder auf und verriet damit, auch in der Dunkelheit, daß sie eine Kobra war. Eine große, ausgewachsene Kobra, eine der gefährlichsten Schlangen der Welt. Aber wenigstens eine, schoß es mir durch den Kopf, die hierher gehört, die hier auf den Ewab-Inseln zu Hause ist. Dabei machte es ja nun wirklich keinen Unterschied, ob mich eine Klapperschlange biß, eine Jaracura oder eine Kobra. Der Erfolg würde in allen Fällen der gleiche sein, die Situation war' in allen Fällen gleich unangenehm. Ich hielt den Atem an und verhielt endlose Sekunden bewegungslos, bis sich die Kobra auf meiner Brust ein wenig beruhigt hatte, wieder ihr Halsschild zusammenlegte. Dann zog ich die Hand unendlich langsam, Millimeter für Millimeter, weiter. Diesmal schien es gut zu gehen, und ich begann so etwas wie Hoffnung zu schöpfen, aber als sie unter der Decke freikam, richtete sich die Schlange wieder zischend auf. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich die Hand seitlich strecken konnte, bis ich den Griff des Messers zwischen den tastenden Fingern spürte, fest zufaßte. Es war ein herrliches Gefühl, diesen harten, kühlen Holzgriff zu spüren, aber viel weiter brachte es mich immer noch nicht. Wenn ich jetzt das Messer aus der Scheide zog, dann konnte der Gürtel vom Stuhl gleiten, und sein Fallen hätte die Schlange sofort zubeißen lassen. Selbst wenn das nicht passierte, was würde passieren, wenn ich versuchte, die Schlange zu töten, solange sie immer noch auf meiner Brust lag? Würde sie nicht auch meiner schnellsten Bewegung zuvorkommen? Während meine Gedanken Karussell fuhren, zog ich unendlich vorsichtig und behutsam das Messer aus der breiten Lederscheide, jeden Moment darauf gefaßt, das polternde Fallen des Gürtels, das zischende, blitzschnelle Zustoßen der Schlange zu erleben. Aber dann war da gar nichts mehr, dann hatte ich plötzlich das Messer in der Hand … 31
Wie sollte ich die Schlange von meiner Brust herunter bekommen, wie konnte ich sie wenigstens auf einen solchen Abstand bringen, daß sie mich – und wenn es noch im letzten Zucken war, falls ich sie mit dem Messer richtig traf – nicht doch noch erwischte? Ich hatte die unglaubliche Zähigkeit selbst tödlich verletzter Schlangen mehr als einmal erlebt. Ein einziger Reflex ihrer Kiefermuskeln konnte bei dieser Nähe ausreichen, um mich ins bessere Jenseits zu befördern und nach dem verspürte ich noch immer keine Sehnsucht, obwohl mir das Leben im Moment alles andere als rosig vorkam. Ich lag mit dem blanken Messer in der Hand minutenlang still, und die Schlange tat es ebenso. Ab und zu hob sich züngelnd ihr Kopf, manchmal blähte sie dabei ihren Nackenschild ein wenig, und immer züngelte sie dabei in Richtung meines Gesichtes, als wollte sie mir sagen, daß sie genau wüßte, wohin sie ihren Stoß zu richten hätte. Langsam wurde die Situation unerträglich, so unerträglich, daß es mir schließlich einerlei war, was auch immer geschehen mochte, nur zu Ende sollte es gehen. So oder so! Ich bewegte die Hand mit dem Messer ein wenig, berührte den Stuhl damit und ließ die Klinge schleifend über das Holz hinzirpen… Die Schlange reagierte sofort! Sie richtete sich auf, blähte ihren Nackenschild weiter als vorher und züngelte offenbar interessiert in Richtung des neuen Geräusches. Im Grunde war es einfach zu erklären, wieso sie gerade auf meine Brust gekrochen war, denn Schlangen lieben Wärme, das war alles. Wenn sie in der Sonne liegen, auf für unsere Begriffe fast glühenden Steinen, dann weniger, weil es die Wärme der Sonne ist, die sie trifft, sondern vielmehr ist es die Wärme des Steines, auf dem sie liegen. Darauf sind sie scharf. Und diese Wärme versprach auch der menschliche Körper. Sie hatte offensichtlich gar nicht die Absicht gehabt, mich anzugreifen, aber allein ihre Anwesenheit genügte, denn eine Kobra, die überrascht wird, vielleicht durch eine plötzliche Bewegung des Schläfers, auf dem sie sich niedergelassen hat, stößt im ersten Reflex immer zu. 32
Jetzt aber, bei dem Rascheln am Stuhl, schien sie Beute zu wittern. Eine Ratte vielleicht. Und das interessierte sie noch mehr als eine warme Unterlage zum Schlafen. Ich raschelte weiter, und die Aufmerksamkeit der Schlange stieg. Plötzlich glitt sie mit ein paar windenden Bewegungen von meiner Brust herab an den Rand des Bettes, immer noch in Richtung des Stuhles züngelnd. Aber im selben Moment, als sie von mir herab war, warf ich mich herum, packte sie mit der linken Hand irgendwo und hieb mit dem Jagdmesser in der rechten Hand zu! Einmal, zweimal, zehnmal, zwanzigmal! Ich habe es nicht gezählt, ich schlug einfach zu, so, wie die Schlange zugestoßen hätte. Es war Reflex, es war die Reaktion der in den letzten Minuten einfach überspannt gewesenen Nerven. Der Leib bäumte sich zuckend auf, ihr Schwanz traf mit der Wucht eines Peitschenschlages, ringelte sich um meinen haltenden Arm, das Zischen schien sich zum Geräusch eines zischenden Teekessels zu steigern, und dann war es plötzlich vorbei. Zwar schien der Rumpf um meinen Arm noch immer zu leben, aber diese Art Leben kannte ich von Schlangen gut, das war nichts mehr als das Zucken ihrer Muskeln. Die Kobra war tot. Einige Hiebe mit dem Jagdmesser hatten ihr den Kopf vom Hals getrennt, ich sah es, als ich mit zitternden Knien und schweißbedeckt die Kerosenlampe entzündete. Das war das erste, was ich tat, und das zweite war, sofort und energisch das Fenster zu schließen. Jetzt verstand ich Legartas Warnungen vom Abend vorher so deutlich, als wenn er sie im schönsten Schriftdeutsch gesagt hätte und nicht mit den Gesten eines Stummen. Jetzt verstand ich sie, wo es um ein Haar zu spät gewesen wäre …
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3. Kapitel Es waren eine ganze Reihe Flüche und nicht gerade die leichtesten, die ich zornig ausstieß, als alles überstanden war. Ich muß es auch nicht gerade leise getan haben, denn unmittelbar danach polterte es nebenan, und gleich darauf flog die Tür meines Zimmers auf. Rolf stürzte herein, und wenige Sekunden später war auch Pongo da. Ich brauchte keinen Ton zu sagen, sie sahen beide auf den ersten Blick die Schlange am Boden und das Messer in meiner Hand. Nach ein paar Sekunden des überraschten Schweigens grinste Rolf: „Du scheinst einen Sex-Appeal für Giftschlangen zu haben, will mir scheinen“, sagte er. Ich zuckte die Schultern. Zum Scherzen war ich im Moment nicht gerade aufgelegt. Pongo offenbar auch nicht, denn wortlos machte er kehrt und verschwand nach draußen. Gleich darauf klopfte er ans Fenster, und als ich öffnete, verlangte er nach der Lampe. Ich reichte sie ihm hinaus, und er begann damit den Boden vor meinem und den benachbarten Fenstern abzusuchen. Er kam bald wieder zurück und zuckte die Schultern. „Spuren da“, erklärte er, „Spuren vor allen Fenstern. Meiste Spuren vor Masser Warrens Fenster. Mann da länger gewesen.“ „Sieh mal einer an“, pfiff ich durch die Zähne. „Also hat jemand dem Sex-Appeal ein wenig nachgeholfen.“ „Warum wohl?“ fragte Rolf und sah mich nachdenklich an. „Wem sind wir im Wege? Wir stolpern hier ganz zufällig herein und irgend jemand versucht auf reichlich unschöne Art und Weise uns unter die Erde zu bringen und reichlich schnell obendrein. Wir sind doch kaum da.“ „Warum er wohl eine Kobra genommen hat?“ fragte ich nachdenklich. „Sie hat es mir verdammt schwer gemacht, aber bei einer Jaracura hätte ich keine Chance gehabt, die hätte gebissen, als ich versuchte, das Messer zu ziehen.“ 34
„Aber Kobras sind hier zu Hause“, sagte Rolf. „Es wäre ein ganz harmloser Unfall gewesen, verstehst du? Einer von denen, die in Indien jedes Jahr ein paar tausendmal passieren. Biß, Schlangengift, aus! Friede seiner Asche!“ „In diesem Fall meiner Asche“, brummte ich unbehaglich. „Sieht so aus, als wenn wir uns mächtig vorsehen müßten“, meinte Rolf. „Am besten ist, wir machen, daß wir auf die Jacht zurückkommen“, erklärte ich. „Möglichst schnell und ohne großes Trara.“ Rolf legte den Kopf schief und sah mich an. „Mit jemand hinter uns, der vielleicht mit Giftschlangen nach uns wirft? Nicht mein Geschmack, Hans. Ich meine, wir bringen lieber erst mal heraus, wer etwas gegen uns hat und warum.“ Ich zuckte die Schultern wieder. „Die Auswahl ist ja nicht so sehr groß“, sagte ich. „Hier gibt es nur zwei Männer außer uns. Legarta und Dr. Tuhana.“ „Sieht jedenfalls so aus“, nickte Rolf. „Warten wir es ab, vielleicht verraten die Spuren draußen Pongo etwas.“ „Pongo nichts sagen können“, sagte Pongo. „Spuren schlecht, ganz verwischt. Aber sind von leichtem Mann, viel leichter als Massers.“ „Das hilft uns also nicht weiter“, sagte Rolf. „Wir werden sehen müssen, was sich nachher tut, wenn es Tag geworden ist.“ Zunächst tat sich gar nichts. Gleich nach dem Morgengrauen marschierten wir alle drei zusammen auf die Terrasse. Kaum waren wir draußen, tauchte auch Legarta auf. Er musterte uns, dann nickte er. „Hör zu, Freund“, sagte Rolf. „Da hat es heute nacht einigen Verdruß gegeben. Wir hatten Besuch, weißt du? Besuch von einer Kobra. Kein netter Besuch.“ Legarta zog die Stirn in Falten und sah uns nacheinander an. Dann schien er zu begreifen und klopfte ah eins der Fenster hinter der Terrasse zu den Zimmern hin, die Dr. Tuhana zu bewohnen oder zu benutzen schien, und die wir noch gar nicht gesehen hatten. Es war 35
überhaupt eigenartig, daß der kleine, malaiische Doktor sich noch nicht hatte sehen lassen. Rolf schien dasselbe zu meinen, denn er fragte Legarta: „Was ist mit dem Fenster? Rufst du Dr. Tuhana?“ Legarta verstand offensichtlich recht gut, wenn man ihn frage. Er hatte nur Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. Er schüttelte den Kopf und klopfte wieder an das Fenster und machte eine Bewegung, als wenn er es öffnete. Pongo verstand die Zeichensprache des stummen Malaien anscheinend am besten von uns, denn er erklärte sofort mit der Sicherheit eines Dolmetschers: „Er fragt, ob wir Fenster aufmachen.“ Ich nickte und zeigte auf mich. Legarta zuckte die Schultern und schüttelte bedauernd den Kopf. Dann zeigte er auf sich und wieder auf das Fenster. „Er meint, er hat gesagt, Fenster zu, Masser.“ Das hatte er allerdings. Offenbar schien Legarta einiges von dem geahnt zu haben, was mir diese Nacht passieren sollte. Geahnt oder gewußt? „Was ist damit?“ fragte ich ihn hastig. „Weißt du, wer die Schlange geworfen hat?“ Er sah mich an, dann schüttelte er den Kopf, machte ein paar hastige Handbewegungen und schüttelte wieder den Kopf, zuckte im Anschluß daran die Schultern. „Er meinen“, versuchte Pongo zu erklären, „er nicht genau wissen.“ „Ist ja wohl auch nicht nötig“, sagte Rolf. „Es gibt hier nur zwei Männer, einer davon ist Legarta, und der hat versucht, uns zu warnen. Bleibt der andere. Seltsame Art, seine Gäste zu behandeln. Ich denke, wir werden ihn sehr energisch fragen müssen, was er sich dabei vorstellt. Daß man Gästen Blumen ins Zimmer stellt, habe ich schon erlebt, Schlangen sind mir neu.“ „Und mir unangenehm“, ergänzte ich. Dann fragte ich Legarta: „Dein Tuan – wo ist er?“ 36
Legarta sah sich scheu um und zeigte dann auf den langgestreckten Schuppen, der ans Haupthaus angebaut war. Dazu brauchten wir keinen Dolmetscher, um das zu verstehen. Also war Dr. Tuhana dort drüben in diesem Schuppen. „Was macht er da?“ fragte Rolf. Legarta machte hastige Handbewegungen. „Legarta meinen, er arbeiten“, erklärte Pongo. Offenbar war der Instinkt eines Wilden eine Menge mehr wert beim Übersetzen der Zeichensprache Legartas, als unsere ganzen Überlegungen. „Statten wir ihm bei der Arbeit doch einen Besuch ab“, schlug Rolf vor. „Da können wir ihn gleich fragen, warum er mit Kobras um sich wirft.“ Legarta schüttelte hastig den Kopf. Er streckte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand aus und ließ sie einige Male heftig auf den daruntergehaltenen Daumen schnappen. Es sah aus, als wenn Zähne zubissen. Zwei Zähne? Giftschlangen haben zwei „Zähne. „Hat er Schlangen da?“ fragte Rolf sofort. Legarta nickte hastig und machte eine weitausholende Gebärde. Also offenbar viele Schlangen. Na, eine würde es jedenfalls heute morgen weniger sein als gestern abend. Die eine, deren Überreste noch in meinem Zimmer lagen. Auch das machte die Sache höchstens noch rätselhafter. Was hatte dieser Tuhana damit vor? Wir würden es wissen, wir würden es sogar sehr bald wissen, denn wenn wir auch Gäste in diesem Haus waren, ein Anschlag auf unser Leben war wohl etwas mehr, als die höflichste Höflichkeit von uns verlangen konnte. Wir würden diesen Dr. Tuhana nicht sonderlich sanft nach den Gründen fragen, wenn er es so haben wollte. Und es sah ganz so aus, als ob er es so haben wollte. Wir machten uns schnell auf den Weg hinüber zu dem langen, blechverkleideten Anbau, und als ich Legarta einen fragenden Blick zusandte, ob er uns nicht begleiten wolle, wehrte er mit entsetzten 37
Händen ab und gestikulierte heftig, um uns zu sagen, auch wir sollten es bleiben lassen. Aber davon konnte wohl nach dem Erlebten keine Rede mehr sein. Die Außentür des Schuppens, so muß ich ihn schon nennen, leistete keinen Widerstand, sie war nicht einmal verschlossen. Seltsam! Sollte sich dieser Dr. Tuhana so sicher vor uns fühlen, daß er es nicht einmal für nötig hielt, eine Tür zu verschließen? Wir traten hastig in den Raum dahinter und schlossen die Tür sofort hinter uns wieder. Wir standen in einer Dunkelheit, die mir absolut zu sein schien, denn es dauerte endlose Sekunden, in denen ich nichts, aber auch gar nichts sah; dann endlich begannen sich die Augen an die künstliche Nacht um uns zu gewöhnen, wenngleich es auch dann nicht viel zu sehen gab. Einen ganz schwachen, helleren Schimmer jenseits des Raumes auf der gegenüberliegenden Stirnwand. Ein Schimmer, der aussah, als gäbe es dort eine Tür. Wir machten uns wortlos auf den Weg. Und da war nun wirklich kein angenehmer Weg. Immer wieder stieß der eine oder andere von uns in der Dunkelheit gegen irgend etwas. Dann blieben wir schnell stehen, angespannt lauschend, ob uns die Geräusche des Anstoßens nicht verraten hätten. Aber es schien nicht so. In dem großen, dunklen Raum blieb es völlig still, nur von nebenan, wohl dem Raum dahinter, gab es ein paar leise, undeutliche Geräusche. Glas klirrte ein paarmal, und ich hörte ein Fauchen, das den Eindruck machte, als rühre es von der Flamme eines Bunsenbrenners her. Dr. Tuhana schien seelenruhig an irgendeinem Experiment zu arbeiten. Was war das für ein Mann, schoß es mir durch den Kopf. Eben hat er einen Mordversuch hinter sich, denn es gab ja kaum eine andere Auslegung für das, was ich in der Nacht erlebt hatte, und hier war er nun an seiner Arbeit, als wäre nichts geschehen, nie etwas gewesen. So konnte doch nur ein Wahnsinniger handeln, ein Besessener! Rolf, zwei oder drei Schritte neben mir, stieß wieder gegen irgend 38
etwas. Es gab ein leises Klirren, und dann war die Antwort ein rasselndes Klappern, ein seltsam trockenes, rasselndes Geräusch, so als schüttle jemand heftig eine Kinderrassel. Aber das da war keine Kinderrassel, das war ein Geräusch, das es nur einmal gibt auf der Welt: dann, wenn der Tod diese Rassel schwingt. Es war das unverkennbare Rasseln einer großen Klapperschlange, die in zorniger Erregung ihr Schwanzende schüttelt, wenn sie den Kopf über dem geringelten Körper schon zum Angriff erhoben hat! Wir erstarrten mitten in jeder Bewegung. Ich hatte plötzlich das heftige Gefühl der Übelkeit. Ich hatte nachgerade genug von allen Schlangen, genug, daß das einfache Rasseln einer Klapperschlange, das ich schon oft in meinem Leben gehört hatte, manches Mal in noch gefährlicheren Situationen als hier, ausreichte, um mich reagieren zu lassen wie eine alte Jungfer, wenn eine Maus plötzlich in den Raum kommt. Aber niemand fragte danach, wovon ich genug hatte und wovon nicht. Ein paar Minuten blieben wir reglos stehen, versuchten neben dem Klirren von nebenan und den Schritten, die dort hörbar wurden, noch etwas anderes zu hören. Aber die Geräusche, die von der Arbeit herrührten, die Dr. Tuhana ungerührt weiter machte, müssen alles andere übertönt haben. Da gab es kein Rasseln einer Klapperschlange mehr, da gab es gar nichts. „Weiter“, flüsterte Rolf neben mir. Ich zuckte die Schultern, obwohl es in der Dunkelheit niemand sehen konnte. Wir tasteten uns vorwärts und erreichten irgendwie die Stirnwand des großen, dunklen Raumes, in dem es so viele Ecken gab, an denen man sich stoßen konnte, und das Rasseln einer Klapperschlange obendrein. Ganz schwach schimmerten vor mir die Konturen der Tür, die wir schon von der anderen Seite des Raumes geahnt hatten. Eine Tür, die offenbar nicht ganz fest schloß. „Dann wollen wir mal“, sagte ich heiser und spürte so etwas wie Erleichterung. Jetzt gleich, in ein paar Sekunden, hatten wir es zwar mit einem heimtückischen, hinterhältigen Burschen zu tun, wie mir 39
scheinen wollte, aber doch immerhin mit einem Menschen, nicht mehr mit blitzschnell zustoßenden Schlangen. So jedenfalls stellte ich es mir vor, und das sollte der große Irrtum sein. Langsam streckte ich die Hand aus, berührte die Klinke, drückte sie nieder, riß mit einem Ruck die Tür auf. Es war wirklich ein Laboratorium, das da nun vor unseren Blicken lag. Nicht gerade das modernste und sicher nicht das zweckmäßigste, aber es schien doch seine Aufgabe zu erfüllen. An den Wänden gab es Regale mit Reagenzgläsern, ein paar Retorten, Chemikalienbehälter. Und an der gegenüberliegenden Wand gab es noch etwas. Einen großen Käfig aus Glas, Fliegendraht und einem Stahlrahmen. Und in diesem Käfig gab es – Schlangen. Im flüchtigen Hinblicken erkannte ich eine Jaracura in der oberen und zwei Kobras in der unteren Etage des Käfigs. Sicher waren noch mehr da, aber ich hatte keine Zeit, sie mir anzusehen und sie einzeln zu suchen. Es gab auch noch mehr Schlangenkäfige hier im Laboratorium. Eigentlich gab es überhaupt nichts anderes als Schlangenkäfige. Und sie waren alle besetzt. Ich hatte selten so viele Schlangen gesehen, so viele verschiedene und so viele Arten, die zu den giftigsten und gefürchtetsten der ganzen Welt zählten. Und plötzlich wußte ich, gegen was wir da draußen im dunklen Vorraum gestoßen waren! Es waren Schlangenkäfige, einer neben dem anderen! Und jetzt brauchten wir uns auch keine Gedanken mehr zu machen, woher die Jaracura im Dschungel gekommen war und die Klapperschlange auf dem sonnenwarmen Felsen. Ich brauchte mir auch keine Gedanken mehr zu machen, woher die Kobra in meinem Zimmer kam. Irgendeiner der Käfige würde jetzt leer sein. Der Käfig, in dem vorher eine Kobra gelebt hatte, die mir dazu hatte verhelfen sollen, daß ich nicht mehr lebte. Dr. Tuhana schien nichts von unserem Kommen gemerkt zu haben. Er hatte an seinem Arbeitstisch gestanden und ein Reagenzglas über die Flamme eines kleinen Bunsenbrenners gehalten. Ein heller Kristall schimmerte darin. Ich sah es ganz deutlich, deutlicher fast als Tuhanas entsetzt aufgerissene Augen, als er uns in der Tür stehen sah. 40
„Was wollen Sie hier?“ schrie er uns an. Ich konnte nicht anders, ich mußte einfach grinsen über soviel unverfrorene Dummheit. Ein Mörder fragt sein vermeintliches Opfer, was ,es bei ihm will, nachdem es um Haaresbreite seinem Anschlag entgangen war! „Dreimal dürfen Sie raten!“ knurrte Rolf. „Hier hat niemand etwas zu suchen!“ kreischte der Malaie aufgeregt. „Niemand, am allerwenigsten Sie!“ „Habe ich der Kobra in meinem Zimmer auch gesagt“, brummte ich. „Meinen Sie, sie wollte sich danach richten? Keineswegs, Doktor. Sie sagte zwar nichts, aber es war ziemlich deutlich, daß es ihr einerlei war, was ich von ihr hielt. Und mir geht es in diesem Moment genauso, verstehen Sie? Ich meine, es geht mir genauso mit Ihnen.“ Er schien überhaupt nicht auf mich zu hören. „Raus hier!“ schrie er. „Raus, sage ich! Ich habe gleich gewußt, was ihr hier wollt. Ich habe immer darauf gewartet, daß es einer versuchen würde. Beute am Rande des Weges, was? Ich werde euch etwas mit Beute! Ihr wollt die Millionen verdienen, den Ruhm haben!“ „Irrtum“, sagte ich kalt. „Wir wollen Sie haben, Doktor. Und wir wollen Sie fragen, was der Unsinn mit der Kobra in unserem Zimmer soll. Hören Sie auf zu schreien, und nehmen Sie die Hände hoch. Ein bißchen schnell!“ Ich zog einfach meinen Revolver. Dieser kreischende Malaie ging mir an die Nieren. „Ich würde tun, was er sagt“, verlangt Rolf ruhig und legte auch seine Hand auf den Griff des Revolvers, „sonst kann es mächtig viel Verdruß für Sie geben, Tuhana. Wir haben die Nase voll von Ihnen und Ihren Scherzen.“ „Ihr Narren!“ knurrte der schmächtige Malaie. „Mich bekommt Ihr nicht und meine Arbeit auch nicht. Ich habe euch gesagt, ich wäre auf alles vorbereitet. Ihr scheint es noch nicht begriffen zu haben.“ „Keine Bewegung!“ brüllte ich. Aber es war schon zu spät. Mit 41
einer blitzschnellen Bewegung, die ich diesem Kerl nie zugetraut hätte, schnellte er zur Seite. Sicher hätte ich ihn erschießen können, aber auf einen wehrlosen Mann zu schießen, war noch nie meine starke Seite. Ich drückte trotzdem ab, aber in diesem Moment zeigte der Lauf des 38ers ganz bewußt einen Meter seitlich neben diesen verrückten Tuhana. Der Schuß dröhnte auf, die Kugel fetzte irgendwo in die Regale, es gab einen Regen von zerspringendem Glas. Tuhana schrie irgend etwas, und im nächsten Moment fiel der große Schlangenkäfig um. Nicht von allein, Tuhana hatte es mit einer schnellen Handbewegung getan. Und klirrend zerbrachen die großen Frontscheiben, aufgeregt züngelte der bunte Kopf einer Jaracura hoch, mit einer blitzschnellen Bewegung folgte der Rumpf. Dieser Tuhana schien wirklich auf einiges vorbereitet zu sein. Rolfs Schuß peitschte neben mir, gleich darauf der zweite und der dritte. Der schwarzgelbe Schlangenleib bäumte sich empor, zuckte wild hin und her. Wieder Schüsse, es gab nicht nur eine Jaracura in diesem teuflischen Labor! Pulverdampf wölkte hoch, schwer legte sich der süßliche Geruch von verbranntem Cordit auf die Schleimhäute der Nase und des Mundes, überlagerte den faulig-süßen Moschusgeruch der Schlangenkäfige. Keiner von uns wurde gebissen, aber Tuhana hatte doch erreicht, was er wollte. Die durch den Sturz wildgewordenen Schlangen hatten seine Flucht besser gedeckt, als es ein ganzer Zug Militär hätte tun können. Auch jetzt, als sich nichts mehr rührte, schoben wir uns noch vorsichtig an dem umgestürzten Schlangenkäfig vorbei. Unsere Schuhe knirschten bei jedem Schritt laut auf zersplittertem Glas. Sehr viel würde Dr. Tuhana mit diesem Labor nicht mehr anfangen können, falls er jemals wieder Gelegenheit dazu bekam, überhaupt etwas anzufangen. Es gab eine kleine Tür neben einem intakt gebliebenen Wandregal mit Schachteln und Ampullen darin. Rolf stieß sie auf. Dahinter war nichts, das heißt, es war eine Menge dahinter, aber nichts, womit wir hätten etwas anfangen können. Es war nur die ganze Insel, die hinter 42
der Tür lag, denn sie führte auf die Lichtung hinaus, und der Dschungelrand war kaum mehr als zehn Meter entfernt. Und wie zum Hohn kroch gerade an diesem Waldrand langsam und gemächlich eine dunkle Schlange dahin. Es war Unsinn, besonders weil es nur eine harmlose Schwarznatter war, aber ich konnte nicht anders, ich hob den Revolver und jagte die letzten Schüsse aus der Trommel hinüber. Jetzt hatte sie es auf einmal sehr eilig, in Deckung der ersten Dschungelbäume zu kommen, fast so eilig wie Dr. Tuhana, als er vor uns floh. „Was hat er hier eigentlich herumgemurkst?“ fragte ich Rolf, als ich die Tür wieder geschlossen hatte. Der zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Irgend etwas mit den vielen Schlangen hier.“ „Verrückte Sache“, brummte ich und setzte mich vorsichtig auf den Experimentiertisch. „Wenn Giftschlangen noch nicht genügend bekannt wären, würde es vielleicht einen Sinn geben. Aber nachdem sie in Brasilien A- und B-Serum herausgebracht haben, hat die Sache doch überhaupt keinen Sinn mehr. Oder findest du einen darin?“ „A- und B-Serum, nicht“, sagte Rolf langsam. Er trat zu dem unversehrt gebliebenen Wandregal und nahm nacheinander ein paar der Pakete heraus. „Sieh dir das einmal an.“ Ich nahm die Pakete, sie waren klein und flach, wie Pakete von Medikamenten immer zu sein pflegen. Ich drehte eins herum, um die Aufschrift auf dem Etikett lesen zu können. Ich las es zweimal, aber es blieb dasselbe. „Schlangenserum, Gruppe A“, stand da ganz deutlich. Und dann der Name einer der bekanntesten Schlangenfarmen. Und auf einem der anderen Pakete stand „B-Serum“. In jedem dieser Päckchen waren fünfundzwanzig Ampullen, und im Wandregal gab es mindestens fünfzig solcher Päckchen. „Er hat sich wirklich auf alle Gegebenheiten vorbereitet“, sagte ich und warf das Päckchen beiseite. „Mit dem Zeugs da hätten ihn alle Schlangen der ganzen Insel und sämtliche aus seinen Käfigen dazu beißen können. Der Vorrat hätte ausgereicht, und er hätte noch eine Menge übrig behalten.“ „Vorbereitet?“ fragte Rolf gedehnt. „Wenn du dich man nicht irrst 43
und sogar mächtig irrst. Dem verrückten Dr. Tuhana ging es um andere Dinge, Hans. Sieh dir einmal den Arbeitsplatz an.“ Ich tat es. Die Reagenzgläser sagten mir nichts. Nicht einmal das mit dem klaren Kristall darin, das noch warm war von der Flamme des Bunsenbrenners. Aber Päckchen von der gleichen Art, wie ich sie eben in der Hand gehabt hatte, aufgerissene Päckchen, die sagten mir einiges. Sie und die Reagenzgläser dahinter. Die waren alle teilweise gefüllt, und die Flüssigkeiten darin waren glasklar. Ich nahm eins wahllos hoch, entkorkte es, roch am Inhalt. Geruchlos. Hatte ich erwartet. Ich schüttete das Glas aus, die Flüssigkeit war zäh und dickflüssig, so ähnlich wie farbloser Sirup. „Du meinst?“ fragte ich gedehnt. Rolf nickte. „Denk mal an unser Gespräch gestern abend“, sagte er. „Wir haben doch noch gesagt, daß man Millionen verdienen würde, wenn es gelänge, die beiden Seren zu einem einzigen zu vereinen, das dann bei allen Schlangengiften wirksam wäre.“ „Unsinn“, sagte ich. „Auf den großen Farmen und in den Instituten haben sie ganz andere Möglichkeiten, als dieses primitive Labor hier, und experimentieren seit ein paar Jahren ohne jeden Erfolg.“ „Einmal werden sie schon den Trick finden, Hans. Früher oder später sicher. Und Dr. Tuhana scheint sich das auch ausgerechnet zu haben. Und er hat weiter gerechnet, daß dieser Trick tatsächlich so etwas wäre, wie es die Erfindung von Penicillin war. Es würde einen armen Mann mit einem Schlag zu einem der reichsten dieser Welt machen.“ „Nur, daß man es nicht mit einem Trick erreichen kann“, sagte ich, „sondern nur mit jahrelanger, zäher Arbeit und immer neuen Versuchsreihen. Das ist eine Lebensaufgabe für ein modernes Labor voller Fachleute und mit einem am Ende immer noch ungewissen Erfolg. Nicht für einen Narren, der mit einem halben Hundert Giftschlangen und ein paar Paketen Serum einfach anfängt, zu experimentieren wie ein mittelalterlicher Alchimist.“ „Es gibt in dieser Branche ebensolche Glücksritter wie unter den 44
Goldsuchern“, sagte Rolf. „Jedenfalls ist dieser Dr. Tuhana einer davon. Er zählt zwei und zwei zusammen, und nachdem er herausgefunden hat, daß dabei vier herauskommt, glaubt er es hier ebenso machen zu können. Linke Hand A, rechte Hand B.“ „Man nehme zwei Eier, ein halbes Pfund Mehl und füge unter langsamem Rühren einen halben Liter Milch hinzu, lasse dann bei kleiner Flamme …“ „Aufhören!“ lachte Rolf. „Aber ungefähr nach dieser Methode muß Meister Tuhana hier gearbeitet haben.“ „Und dann nehme man“, fuhr ich fort, und meine Stimme kam mir gar nicht so lustig dabei vor, „eine Kobra, eine schöne große möglichst, und werfe sie durch ein offenes Fenster in das Zimmer eines Mannes, von dem man fürchtet, er könnte hinter dieses Geheimnis kommen. Am nächsten Morgen schreit man Zeter und Mordio, beklagt tränenreich den furchtbaren Unfall und macht mit seiner Mixerei weiter, wenn man den Besuch, von dem man nichts hält, wieder los ist.“ „Genau“, nickte Rolf. „Und um es so kommen zu lassen, geht man in sein bißchen Labor und tut so, als wenn nichts gewesen ist. Man hat zwar nur einen erwischt und nicht alle drei, aber die beiden anderen werden sowieso schnellstens verschwinden nach dem tödlichen Unfall ihres Kollegen. Vielleicht kennt dieser Doktor Schlangen ganz gut, aber von Menschen versteht er nicht die Bohne. Sonst hätte er unschwer erraten können, daß wir nicht klammheimlich mit Angstschweiß auf der Stirn davonschleichen würden, wenn einer von uns von einer Kobra gebissen wurde. Ich denke, keiner von uns ist dieser Typ.“ „Er weiß nichts von Typen“, sagte ich böse. „Er weiß nur, daß er hier die Chance seines Lebens wittert, ohne Rücksicht auf Verluste.“ „Und nicht mal das weiß er sicher“, sagte Rolf ruhig. „Er meint es nur, denn er wird es nicht schaffen. Auf diese Weise nicht.“ „Als wir ihm von der Jaracura im Dschungel erzählten, muß er angenommen haben, wir wollten auf den Busch klopfen. Wir wüßten, was er hier treibt, und wären hinter seiner Wundermedizin her.“ 45
„Wenn wir nichts von der Jaracura gesagt oder gesehen hätten“, meinte Rolf nachdenklich, „hätte er weder anderes gedacht noch sich anders verhalten. Es muß eine Art fixe Idee von ihm sein: Jeder, der hier in seine Einsamkeit kommt, tut das nur, weil er ihn berauben will.“ „Zwei fixe Ideen sind ein wenig viel für einen so kleinen Mann“, sagte ich ärgerlich. „Und was machen wir nun?“ „Hier weiter umsehen“, sagte Rolf. Während unserer Unterhaltung hatten wir angefangen, das Labor gründlich zu durchsuchen. Wahrscheinlich hatte das nicht viel Sinn. Es hatte doch Sinn. Als ich die unterste Schublade des Arbeitstisches aufzog, fand ich ein Buch. Es war nicht sonderlich dick, aber irgendwie hatte ich sofort das Gefühl, etwas Wichtiges gefunden zu haben. Ich klappte es auf und blätterte darin. Die Seiten bis zur Mitte waren mit einer kaum leserlichen, zerrissen wirkenden Handschrift eng bedeckt. Zwischen den einzelnen Eintragungen gab es immer einen kleinen Zwischenraum, und der nächste Absatz begann mit einer Ziffer. Diese Ziffern waren fortlaufend. Ich hatte offenbar Dr. Tuhanas Versuchskladde gefunden, das Buch, in das er das Ergebnis seiner jeweiligen Arbeiten eintrug und den Verlauf seiner Versuche. Es war keine sehr erfolgreiche Bilanz, man sah es auf den ersten Blick, denn fast jedes Kapitel schloß mit der lakonischen Feststellung: „Versuch negativ – Versuchstier gestorben.“ Es ging hundertmal so oder öfter. Dabei waren die Versuche stets ähnlich verlaufen. Die Versuchstiere zeigten starke Erschöpfung, nachdem sie mit Dr. Tuhanas Universal-Serum behandelt worden waren, wurden plötzlich unruhig und starben dann. Offenbar, meinte Dr. Tuhana, an einem Herzschlag. Vielleicht war das ein angenehmerer Tod als durch die direkte Wirkung von Schlangengift, ich weiß es nicht. Aber tot ist schließlich tot. Und außerdem hatte man genau dasselbe Ergebnis schon immer erzielt, wenn man A- und B-Serum nacheinander gab, weil der Gebissene nicht wußte, was für eine Schlange ihn gebissen hatte und ob ihr Gift Nervengift oder Blutgift war. 46
Es ging Seite um Seite so weiter. Und je weniger die Berichte von einem Erfolg sprachen, um so mehr sprachen sie von etwas anderem: Von einer unglaublichen, kaum vorstellbaren Zähigkeit dessen, der sie durchgeführt hatte. Dieser Tuhana mußte mit der Besessenheit eines wirklichen Forschers gearbeitet haben. Nur ging es ihm nicht um die Entdeckung des Wirkstoffes an sich, um Menschen zu helfen, die sonst unter grausamen Qualen starben, sondern um den wirtschaftlichen Erfolg, um die Millionen, die mit einem solchen Universalserum verdient werden mußten, wenn es von großen Fabriken hergestellt wurde und Tuhana nichts weiter zu tun brauchte, als seinen Anteil zu kassieren. Und das war der Grund seiner Zähigkeit, das und nichts anderes. Das war auch der Grund seines Verhaltens uns gegenüber. Darum hatte er versucht, uns schnell und als Unfall getarnt zu ermorden, damit wir keinen Einblick in seine Arbeit bekamen, damit wir nicht gefährlich für seinen Traum von den Millionen werden konnten. Plötzlich kam mir eine Idee. Sie zuckte auf wie ein Blitz, und ich ließ das Buch sinken. Das wäre ja, das müßte … „Was ist?“ fragte Rolf, der schon vor einer ganzen Weile herangetreten war und über meine Schulter mitgelesen hatte. „Wenn er uns fürchtet und loswerden will“, sagte ich langsam, „dann müßte er doch so etwas wie Erfolge haben, nicht? Wenn er so im Dunkeln tappte wie hier nach diesen Versuchen, dann könnte ihm doch niemand gefährlich werden.“ Rolf pfiff leise durch die Zähne. „Da ist was dran“, sagte er. „Sieh mal am Ende der Kladde nach, Hans. Vielleicht gibt es da etwas, was wir wissen sollten.“ Ich blätterte hastig weiter, bis ich die letzte der beschriebenen Seiten fand. Der Versuch, den Dr. Tuhana dort aufgeschrieben hatte, trug die Nummer 1742. Und ganz unten stand: „Versuch negativ – Versuchsobjekt gestorben, nach 6 Stunden 12 Minuten.“ Das war … Ich sah noch einmal hin. Aber die Zeit blieb. Nach den Versuchen weiter vorn im Heft hatte es immer nur Minuten gedauert, bis die Versuchstiere ihrem Herzschlag erlagen. Und hier waren es 47
viele Stunden gewesen. Sollte er trotz der Primitivität seines Labors solche Fortschritte gemacht haben? Natürlich war das noch kein Erfolg, denn wie gesagt, tot ist tot, ob nach sechs Stunden oder nach sechs Minuten, das macht nur einen sehr relativen Unterschied. Aber immerhin … Rolf faßte über meine Schulter und blätterte zurück. Die drei letzten Versuche zeigten alle solche langen Zeiten. Und der Versuch 1737 ließ mich durch die Zähne pfeifen. Da stand am Ende kurz und lakonisch: „Versuchstier lebt.“ Die nächste Eintragung trug ein zwei Tage jüngeres Datum und lautete ebenso kurz: „Versuchstier lebt.“ „Er hat …“, sagte ich und sah Rolf an. Der hatte die Stirn gerunzelt und starrte immer noch auf das Buch in meiner Hand. „Er hat wirklich Erfolg gehabt.“ „Hat er das?“ fragte Rolf heiser. „Warum schreibt er eigentlich bei den letzten drei Versuchen nur von Objekten und nicht von Versuchstieren wie vorher? Warum wohl?“ Das war – nein, das konnte nicht sein. Aber warum eigentlich nicht? Wir hatten doch selbst erlebt, wie rücksichtslos, wie brutal Dr. Tuhana mit dem Leben anderer Menschen umsprang, von denen er glaubte, eine Gefahr für seine Pläne zu sehen. Wenn er da so hart einstieg, warum sollte er bei seiner eigentlichen Arbeit, die noch viel dichter, viel direkter mit seinen Plänen zusammenhing, plötzlich rücksichtsvoll und verantwortungsbewußt werden? Und trotzdem war der Gedanke kaum faßlich. Wir waren nun wirklich auf unseren verschlungenen Wegen dem Tod oft genug und in seinen grausamsten Formen begegnet. Aber das hier? Ein Mensch, der andere in seiner Gier nach Reichtum ermordete und mit der Stoppuhr ihren Tod überwachte? Ich schüttelte mich bei dem Gedanken. Vielleicht war es nur Unsinn, aber wenn nun nicht? Dann war dieser Dr. Tuhana doch ein wahnsinniger Scharlatan, nichts weiter. Jemand, der daran gehindert werden mußte, auch nur noch einen einzigen Tag sein mörderisches Tun fortsetzen zu können, auch nur noch eine einzige Stunde. 48
„Pongo“, sagte Rolf heiser, „geh und suche die Lichtung ab! Es muß da so etwas geben wie drei Gräber. Nicht sehr auffällig mit Hügeln und Kreuzen, weißt du? Tuhana wird versucht haben, seine Opfer unsichtbar verschwinden zu lassen. Du mußt die Stelle trotzdem finden, wir müssen Gewißheit haben.“ Pongo nickte. Er machte sich auf den Weg, und wir konnten ziemlich sicher sein, daß er die Stelle finden würde, wenn es sie überhaupt gab. Ich weigerte mich immer noch, daran zu glauben. Aber trotzdem. Warum schrieb dieser Giftdoktor immer von Versuchstieren und auf einmal von Versuchsobjekten? Warum, wenn nicht … „Gehen wir“, sagte Rolf, „hier können wir nichts mehr ausrichten. Wir waren gekommen, um einen Mann wegen eines Mordversuches zur Rede zu stellen, und haben einen Teufel gefunden.“ Plötzlich drehte er sich noch einmal um, nahm jenes Reagenzglas auf, mit dem Dr. Tuhana gerade gearbeitet hatte, als wir eindrangen. „Wir werden es mitnehmen“, sagte er nachdenklich. „Einmal kann man nie wissen, was geschieht, zum anderen darf er es nicht behalten.“ „Du meinst, es ist jenes Serum, das die Ratten überlebten und an dem seine – seine Versuchsobjekte nach Stunden doch starben?“ „Woran sollte er sonst wohl arbeiten?“ fragte Rolf. Das war richtig. Vielleicht würde dieser Tuhana wirklich zurückkommen. Er hatte einigen Grund dazu. Einmal würde er wissen, daß wir ihn durchschaut hatten, seine Verbrechen kannten. Also würde er einiges daransetzen, dieses Reagenzglas, das Rolf da in der Hand hielt, wieder in seinen Besitz zu bringen, wenn es wirklich den bisherigen Höhepunkt seiner zähen, grausamen Arbeit enthielt. Wir würden uns sehr vorsehen müssen. Denn Tuhana hatte uns ja deutlich genug gezeigt, mit welcher Heimtücke er zuschlug. Unwillkürlich sah ich mich draußen um, als wir den Blechschuppen mit seinen unheimlichen Bewohnern und seinem teuflischen Herrn verließen. Die Lichtung ringsum lag verlassen, nur Pongo suchte herum wie ein Jagdhund, der die Fährte verloren hat und weiß, daß er sie hier herum irgendwo wiederfinden muß. 49
„Wenn wir klar sehen und Beweise haben, werden wir diesen Tuhana suchen“, sagte ich. „Wo?“ wollte Rolf wissen. „Sollen wir die ganze Insel abkämmen? Dazu ist sie zu groß und bietet zu viele Schlupfwinkel. Wir würden Jahre suchen können, ohne Erfolg zu haben.“ „Er ist geflohen, wie er gerade war“, meinte ich. „Er kommt nicht weit, wenn er überhaupt vorhatte, weit zu kommen. Er wird irgendwo hier lauern, vielleicht ganz in der Nähe. Er muß zurückkommen, so oder so. Entweder, um die Beweise gegen sich zu beseitigen oder auch nur, um sich für eine wirkliche Flucht auszurüsten. Und dann braucht er das hier.“ Ich klopfte auf die Kladde, die ich mitgenommen hatte. „Nötiger noch als dein Reagenzglas. Die Mischung darin kann er sich wieder herstellen, aber hier drin steht, wie er es tun kann.“ „Also warten wir“, sagte Rolf. „Kein sehr angenehmer Gedanke, auf einen Mann zu warten, dessen Waffe Giftschlangen sind und dessen Lebensregel Heimtücke und Grausamkeit ist Wir werden aufpassen müssen.“ „Werden wir“, nickte ich, „sehr sogar.“ Pongo suchte immer noch. Er hatte die linke Seite der Lichtung hinter sich, wandte sich jetzt der rechten zu. Aber er kam nicht mehr dazu, sie auch noch abzusuchen. Vom Haupthaus her tauchte plötzlich Legarta auf. Er entdeckte Pongo, stutzte, sah ihm einen Moment zu, dann eilte er hin. Pongo sah ihm entgegen. Merkwürdig, dieser Legarta spielte eine durchaus zwielichtige Rolle, und Pongo war sonst doch sehr vorsichtig und wachsam. Wenn ein Mann, dessen Absichten er nicht kannte, angerannt kam, war es eigentlich kaum seine Art, ihn mit hängenden Armen tatenlos zu erwarten. Aber hier tat er es. Legarta blieb unmittelbar vor dem schwarzen Riesen stehen und gestikulierte heftig mit den Händen. Pongo legte den Kopf schief, nickte ein paarmal. Es machte den Eindruck, als verstünde er jede der 50
Gesten des Stummen so deutlich, als wenn der sprechen würde. Seltsam, beide waren sie Eingeborene, wenn auch ganz verschiedener Kontinente. Aber beide waren sie noch Naturmenschen, nicht verbildet und der Natur entfremdet. Vielleicht hatten sie eine unsichtbare, bessere Möglichkeit, sich zu verständigen, als nur die schnellen Gesten Legartas. Pongo zeigte nach rechts hinüber, und Legarta nickte heftig. Er drehte sich um und ging vorweg, winkte Pongo nur eben mit der Hand zu, und der kam hinterher. Wir setzten uns beide in Bewegung. Es sah so aus, als wenn Legarta da etwas zu zeigen hatte, vielleicht genau das, was wir suchten. Das, woran wir bis eben immer noch nicht so ganz geglaubt hatten: Die Gräber dreier Menschen, die elend gestorben waren, gestorben als Versuchskaninchen eines Wahnsinnigen! Legarta blieb am Waldrand stehen, sah uns flüchtig an und zeigte dann auf den Boden. Er hob die rechte Hand, streckte drei Finger aus. Versuchsobjekte 1740–1742, mußte ich unwillkürlich denken, und etwas wie ein Schauder lief mir über den Rücken. Pongo kauerte sich nieder. Dichtes Gras wuchs an dieser Stelle, aber wenn man wußte, was zu suchen war, dann konnte man feststellen, daß an einigen schmalen Stellen das Gras nicht ganz so hoch war wie in der Umgebung. An den Stellen, an denen es in Soden herausgehoben und wieder eingepflanzt worden war … Es war also wahr. Dieser wahnsinnige Teufel von einem Pseudowissenschaftler hatte drei Menschen regelrecht als Versuchsobjekte umgebracht! „Warum ist Legarta hiergeblieben?“ wollte ich wissen. „Warum, wenn er wußte, was Tuhana auf dem Kerbholz hat?“ Der Stumme sah mich mit einem merkwürdigen Blick an. Ich hatte noch nie viel auf seine Augen geachtet. Jetzt tat ich es zum erstenmal, und mir fiel die Härte seines Blickes auf. Er zog die Lider zusammen, und diese Augen sprachen von Haß, von loderndem, wildem Haß. In was waren wir da eigentlich hineingeschliddert? 51
Legarta machte eine schnelle Handbewegung, aber ich verstand nicht, was er damit sagen wollte. Er begriff es und wandte sich an Pongo, der sich nach seiner Untersuchung des Bodens langsam wieder aufrichtete. Pongo sah ihm aufmerksam zu, nickte ein paarmal. Und einiges von der Gebärdensprache des Stummen verstand ich jetzt auch. Er zeigte auf sich und auf die drei unscheinbaren Gräber auf der Lichtung. Dann streckte er wieder die rechte Hand aus, krümmte Zeige- und Mittelfinger von oben herab und streckte ihnen den Daumen entgegen. Es war wieder diese Geste, die wirkte wie das Zubeißen einer Schlange. Er zeigte wieder auf die Gräber, die keine waren, und dann auf das Haupthaus, und der flammende Haß in seinen Augen verstärkte sich noch. „Er sagen“, erklärte Pongo, „er hierbleiben, bis Tuhana ebenso sterben wie die da in Gräbern. Einer von denen da muß Freund von Legarta gewesen sein. Sie wohl hier gelebt, und Tuhana sie irgendwie in Hand bekommen und töten da.“ Er zeigte auf den Blechschuppen. „Nun Legarta Tuhana töten ebenso wie der die anderen. Mit Schlange, die beißen.“ „Das ist aber kein freundlicher Zug von ihm“, sagte ich. Es war albern, jetzt so etwas zu sagen, aber es war Notwehr, um das Grauen zu zerstören, das sich in uns allen auszubreiten begann. Das Grauen über einen Wahnsinnigen, dessen Taten und die Rache, die er damit in einem einfachen Eingeborenen heraufbeschworen hatte. Wir konnten kein Grauen gebrauchen, das uns schüttelte. Nicht, wenn wir die Absicht hatten, diesen Ort wieder lebend zu verlassen und diesen Tuhana obendrein unschädlich zu machen. Ich sah zum Waldrand hinüber und hatte das Gefühl, daß uns brennende, lodernde Augen beobachteten. Aber ich konnte keine Augen entdecken, soviel ich den Waldrand auch absuchte. Unbehaglich zog ich die Schultern hoch, als wir zum Haus gingen …
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4. Kapitel Die Zeit ist eine seltsame Erfindung. Soviel ich weiß, soll sie immer und überall auf dieser Welt gleichschnell ablaufen. Eine Sekunde ist überall eine Sekunde und dauert gleichlang. In New York ebenso wie in Tokio, am Nordpol ebenso wie am Äquator. Aber das kann nicht stimmen. Auf den Ewab-Inseln mußte sie anders laufen als in der übrigen Welt. Ganz anders und viel langsamer. Irgend jemand mußte die Sache so verdreht haben, daß hier eine Sekunde so lange dauerte wie anderswo eine ganze Stunde. Oder noch länger. Als ich auf die Armbanduhr blickte, war gerade eine halbe Stunde vergangen, und ich hätte gewettet, ich säße schon einen Tag lang hier. Es war Rolfs Idee gewesen, und es war die beste Idee, die es unter diesen Umständen gab. Dr. Tuhana mußte zurückkommen, darüber waren wir uns im klaren, er hatte gar keine andere Wahl. Ohne die Dinge, die wir in seinem primitiven Labor gefunden hatten, war seine Arbeit umsonst gewesen, und ohne uns aus dem Weg zu bekommen, hatte er keine Chance, seine Träume zu verwirklichen. Wir wußten zuviel. Wenn wir jemals diese Insel lebend verließen, würde ihm nicht einmal genug Zeit für eine Flucht bleiben, bei der er viel mitnehmen konnte. Dabei ahnte er nicht einmal etwas davon, daß Legarta hinter ihm her war mit dem ganzen Haß, der ganzen Entschlossenheit, wie sie nur ein Eingeborener, noch dazu einer mit malaiischem Blut, aufbringt, der sich vorgenommen hat, der Rächer zu sein. Ahnte er es wirklich nicht? Auf jeden Fall würde Dr. Tuhana eine ziemlich böse Überraschung erleben, wenn er versuchte, sein Haus zu erreichen. Wir hatten uns verteilt und lauerten überall da, wo er auftauchen konnte. Rolf hockte irgendwo im Labor, wo er die Tür zum Wald hin gut im Auge behalten konnte. Ich kauerte in dem dunklen Raum, in dem Dr. Tuhana rund hundert Schlangen der verschiedensten Arten und Herkunftsländer in kleinen Käfigen hielt und ebensoviele Versuchs53
tiere. Wir hatten mit der Kerosenlampe alles abgesucht. Keiner dieser Käfige war offen oder undicht, aber ein angenehmes Gefühl war es trotzdem nicht, hundert verschiedene Schlangen hinter sich zu wissen, die nur eines gemeinsam hatten: sie waren alle giftig, ihr Biß tödlich. Bei der einen ein wenig mehr, bei der anderen ein wenig weniger. Das machte im Endeffekt wohl keinen so großen Unterschied. Pongo und Legarta lauerten an der Vorder- und Rückseite des Haupthauses. Es mußte alles gutgehen. Dieser Tuhana würde wahrscheinlich die Lichtung und die Gebäude sorgfältig beobachten. Er würde nichts sehen, keine Bewegung, kein Leben, nichts. Wahrscheinlich würde er annehmen, daß wir durch den Dschungel streiften und ihn suchten. Und er würde sich ins Fäustchen lachen über diese Narren, die ihn, den großen Dr. Tuhana, hereinlegen wollten. Die ihn überall suchten, nur nicht in seiner eigenen Höhle. Er würde kommen, er mußte kommen. Er mußte uns in die Falle gehen. Es konnte gar nicht anders sein, und dennoch … Ich hatte ein dummes Gefühl bei der ganzen Geschichte, und mir wäre wesentlich wohler gewesen, wenn ich statt in dieser Schlangenhöhle auf dem Achterdeck unserer Jacht gesessen und diese Insel hinter dem Horizont hätte versinken sehen. Aber davon konnte keine Rede sein. Ich hockte hier und lauschte auf die Sekunden, die sich nicht beeilen wollten. Da war ein Geräusch drüben im Haupthaus! Ich blickte schnell hinüber, aber da gab es nichts. Das Geräusch wiederholte sich nicht, und eine Bewegung war auch nicht zu sehen. Vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet. Wenn man so dasitzt und auf ein Ereignis wartet, das doch endlich kommen muß, dann kann es schon geschehen, daß man Dinge hört, die es gar nicht gibt. Ich suchte wieder das Stück Dschungelrand ab, das ich von meinem Platz aus überwachen konnte. Es war nicht sehr groß, und die Wahrscheinlichkeit, daß Tuhana gerade von dort kommen würde, auch nicht. Er kam wirklich nicht von dort, er war irgendwoher gekommen, 54
mochte der Teufel wissen, von wo. Als ich es merkte, war es zu spät. Dieser Bursche war noch gerissener, als wir erwartet hatten, noch viel gerissener! Es gab ein leises, schleifendes Geräusch schräg neben mir, ein Geräusch, an das ich mich in den letzten Tagen schon beinahe gewöhnt hatte. Irgendeine Schlange kroch da herum. Wieso eigentlich? Wir hatten doch alle Käfige abgesucht, keiner war offen gewesen, keiner hatte eine verrostete oder undichte Stelle. Wo kam dieses Biest da her? Gab es denn hier nichts außer Schlangen? Ich zog langsam meinen Revolver. Gleich mußte sie in das helle Viereck kommen, das die Tür in das Dunkel des Raumes warf. Ich würde sofort schießen, nach meinem nächtlichen Erlebnis hatte ich keine Lust, eine Giftschlange noch einmal zu dicht an mich herankommen zu lassen. Serum hin, Serum her, nicht gebissen werden ist auf jeden Fall besser. Jetzt mußte sie kommen. Das Rascheln war ganz dicht an dem hellen Fleck. Ich hob den Revolver, zielte, ohne schon ein Ziel zu haben. Dabei hätte es eins gegeben, eins, das gelohnt hätte, viel mehr als alle Schlangen der Welt, wie giftig sie auch immer sein mochten. Ich hatte den Revolver gerade hoch, den Finger schon um den Abzug. Da traf es mich. Die Welt schien einzustürzen, das ganze Haus mußte mir auf den Kopf fallen, es mußte mir schon auf den Kopf gefallen sein. Und dann krachte es noch einmal mit einer schmetternden, alles vernichtenden Wucht auf meinen Schädel. Ich fiel nach vorn, in den hellen Fleck hinein, in den die Schlange kriechen sollte. Mein Gott, dachte ich, jetzt erwischt sie mich doch! Ich muß hier weg, weg aus dem Licht! Dann dachte ich gar nichts mehr, überhaupt nichts … Ich wußte nicht, was mit mir war. Irgend jemand warf Steine auf meinen Kopf, große schwere Steine und immer wieder einen neuen. Warum hörte das nicht auf? Es war nicht auszuhalten Es war einfach nicht auszuhalten. Ich wollte die Hände über den Kopf halten. Steine, die Hände treffen, schmerzen nicht so irrsinnig, als wenn sie den Kopf treffen! 55
Aber ich konnte die Hände nicht heben, ich konnte mich überhaupt nicht bewegen, kein einziges Glied rühren. Im Gegenteil, jetzt zog noch ein anderer Quälgeist glühende Drähte um meine Hände. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf, die Schmerzen jagten schrille Stiche quer durch den Schädel, aber langsam begann ich zu begreifen, ganz langsam. Niemand warf Steine auf meinen armen Kopf. Der brachte diese irrsinnigen Schmerzen von ganz allein fertig, dazu brauchte es überhaupt keine Steine. Es brauchte nur die Schläge von vorhin, als ich im dunklen Vorraum hockte und mich darauf vorbereitete, eine Giftschlange zu erschießen. Ich Narr, die Schlange war ein harmloses Wesen gegen das andere, das hinter mir gelauert hatte. Langsam fiel mir alles wieder ein. Das, was mir da auf den Kopf gefallen war, das war nicht der ganze Bungalow gewesen, das war ein Schlag, irgendein Schlag. Darum wühlte jetzt die ganze Hölle in meinem Kopf herum. Siedendheiß fiel mir Tuhana ein, dieser Teufel Tuhana. Er hatte mich überlistet, er hatte mich hereingelegt. Die Schlange, die meine Aufmerksamkeit fesselte, das war ein Trick gewesen. Solange ich auf die Schlange achtete, hatte ich keinen Gedanken frei für das, was vielleicht hinter mir geschah. Also war Tuhana im Haus! Es würde ihm nichts nützen. Selbst wenn er mich erwischt hatte, blieben noch die anderen. Ich Versuchte, die Augen zu öffnen. Ein Stich wie mit einem Messer ging durch meine Augen. Ich stöhnte vor Entsetzen. Die Helligkeit war mehr, als mein armer Kopf ertragen konnte. Aber die Augen mußten auf, ich mußte sehen, was vorging, mußte sehen, mußte die Kameraden warnen. Wieso eigentlich Helligkeit? Es war doch dunkel gewesen in diesem verdammten Vorraum? Nur die Tür hatte ein helles Viereck geworfen, eines, in das jeden Moment die Schlange hineinkriechen mußte, die meine ganze Aufmerksamkeit gefesselt hatte. Und nun war es hell, schmerzend hell! 56
Ich riß die Augen wieder auf, verkrampfte dabei jede Muskel einzeln. Ich mußte es ertragen, ich mußte! Es ging. Unendlich schwer, aber es ging. Als ich die Augen aufzwang, ließen die Stiche nach, so sehr, daß ich langsam begann, etwas um mich herum zu erkennen. Einen hellen Raum, das war der erste Eindruck. Dann sah ich mehr. Es war ein großer Raum, und direkt vor mir sah ich Schlangen. Verdammt, bestand denn diese ganze Welt nur noch aus Schlangen, aus diesen dreimal verdammten, giftigen Vipern? Gab es denn gar nichts anderes mehr? Es gab anderes. Aber dieses andere gefiel mir um keinen Deut besser als die Schlangen! Es war vielleicht sogar noch schlechter. Ich sah Rolf. Er hockte auf einem Stuhl. Die Hände waren ihm mit groben Stricken auf die Rückseite der Stuhllehne gebunden. Die Füße mit ebensolchen Stricken an die Stuhlbeine. Also auch Rolf gefangen! Diese Erkenntnis war noch schmerzhafter als der Schmerz des grellen Lichtes in den Augen. Ich versuchte mich weiter umzusehen. Es ging sehr mühsam, aber es ging. Langsam begriff ich auch besser, die irrsinnigen Schmerzen im Kopf von den beiden schmetternden Schlägen ließen langsam etwas nach. Ich würde davon wohl noch ein paar Tage etwas spüren, wenn ich den Kopf schnell bewegte, aber das ließ sich ja vermeiden. Niemand braucht den Kopf schnell zu bewegen, wenn er von dieser Insel herunter war. Von dieser Insel, die nur aus Giftschlangen und Tuhanas zu bestehen schien. Das war der letzte verrückte Gedanke in meinem geschundenen Kopf. Denn ich sah plötzlich jenen Mann, der sich Dr. Tuhana nannte. Er lehnte gegen seinen Arbeitstisch, die Arme verschränkt. Und seine stechenden, dunklen Augen ruhten auf mir. Ich starrte ein paar Sekunden hin, dann drehte ich langsam den Kopf weg. Dieser Blick war nicht zu ertragen. Der triumphierende Blick eines wahnsinnigen Mörders! Das war mehr, als jemand in einer solchen Situation verkraften kann. Außer uns dreien war niemand in diesem Raum. Das ließ so etwas wie eine Hoffnung in mir emporlodern. Wenn er Pongo und Legarta nicht auch unschädlich gemacht hatte, 57
würden wir nicht sehr lange hier gefesselt bleiben. Und er würde nicht lange mit verschränkten Armen gegen seinen ehemaligen Arbeitstisch gelehnt bleiben. Ein winziger Gedanke traf mich wie ein Schock, oder eigentlich war es mehr eine Erinnerung. Eine flüchtige Erinnerung, die eigentlich gar keinen richtigen Eindruck hinterlassen hatte. Jenes Geräusch, das ich vorhin, bei meiner nutzlosen Wache, vom Haupthaus her gehört hatte? Wie, wenn dieses Geräusch das eines kurzen, heftigen Kampfes gewesen wäre? Eines Kampfes, den nur einer gewonnen haben konnte. Jener Teufel, der da vor uns stand! Ich öffnete die Augen wieder weit und sah mich nun sehr bewußt um. Ich sah ein kleines Labor, das früher einmal reichhaltiger gewesen war, ehe hier ein Dutzend Revolverschüsse ziemlich viel Scherben schufen. Und ich sah die Kladde auf dem Arbeitstisch, unseren Hauptbeweis gegen Dr. Tuhana. Sie lag friedlich neben dem Reagenzglas mit den durchsichtigen Kristallen, an dem Tuhana gearbeitet hatte, als wir ihn überraschten und dummerweise entkommen ließen. „Sehen Sie es sich auch gut an?“ fragte Dr. Tuhana höhnisch. Er war der Richtung meines Blickes gefolgt. „Ich würde es an Ihrer Stelle tun, denn Ihr Leben hängt davon ab, wenigstens fürs erste.“ „Sie meinen, wir werden diese ganze Geschichte ohnehin nicht überleben?“ fragte Rolf. Seine Stimme klang spöttisch dabei, aber ich sah gar keinen Grund für Spott. In dieser Situation nicht. „Kaum“, war Dr. Tuhanas kalte Antwort. „Ich denke, Sie wissen alles, was es hier zu wissen gibt, nicht wahr?“ „Wenn Sie die getarnten Gräber meinen, ja“, sagte ich, und meine Stimme kam von sehr weit her. Tuhana nickte. „Die zum Beispiel meine ich, Mr. Warren. Ich halte nicht viel davon, daß diese Gräber allgemein bekannt werden. Ich halte sogar überhaupt nichts davon. Es könnte mich doch ziemlich stören in meinen Plänen, oder meinen Sie nicht? Also werde ich verhindern, daß sie bekannt werden.“ 58
„Sie jagen doch einem Hirngespinst nach, Mann“, sagte Rolf. „Wir haben Ihre Versuchsberichte gelesen, Sie hatten nur Mißerfolge. Ihr Plan ist ein Wahnsinn, Sie werden es nie schaffen. Es geht nicht auf die Weise, wie Sie es versuchen! Große Laboratorien sind daran gescheitert; meinen Sie, daß ausgerechnet Sie mit Ihren primitiven Möglichkeiten die Lösung finden werden? Machen Sie sich doch nicht lächerlich!“ Das Gesicht Dr. Tuhanas veränderte sich vom höhnischen Lächeln zu einer verzerrten Grimasse des Hasses. „Lächerlich, sagen Sie?“ fauchte er. „Ich habe es herausgefunden, ich bin auf dem richtigen Weg. Ich habe die Verbindung gefunden, sie wird mir Millionen einbringen, viele Millionen.“ „Einen Dreck wird sie“, sagte ich wütend. „Ein paar neue Gräber im Winkel Ihrer Lichtung hier vielleicht, sonst nichts, Sie Narr!“ „Dann werden es Ihre Gräber sein“, fauchte Dr. Tuhana. „Ihre eigenen Gräber. Denn Sie werden meine nächsten Versuchsobjekte sein, Sie beide hier und nach Ihnen Ihr schwarzer Gehilfe und dieser Verräter, dieser Legarta. Was halten Sie davon?“ „Nichts“, sagte Rolf ruhig. „Eine Ratte scheint Ihre Experimente überlebt zu haben. In diesem Fall sind Menschen dummerweise keine Ratten. Kein Mensch wird Ihren Zauber hier überleben, aber die meisten Menschen überleben heutzutage Schlangenbisse, wenn sie die beiden Seren zur Hand haben, die eine verantwortungsbewußte Forschung entwickelt hat. Kein Mensch wird je einen Schlangenbiß überleben, wenn er Ihr Mistzeug da versucht, Dr. Tuhana.“ „Beten Sie darum, daß Sie Unrecht haben!“ fauchte der Malaie. „Beten Sie, kann ich Ihnen nur sagen, Sie werden der nächste sein, der es herauszufinden hat. Wenn das, was Sie eben Mistzeug genannt haben und was der Gipfel meiner langjährigen Arbeit ist, noch nicht so wirkt, wie es wirken sollte, dann werden Sie es nicht überleben!“ Dagegen konnten wir leider nichts tun, dieser verdammte Narr von einem größenwahnsinnigen Pseudowissenschaftler hatte alle Machtmittel in der Hand, er konnte mit uns tun, was er wollte, und das 59
würde uns aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht gut bekommen. „Wenn es wirken sollte, wohl auch, nicht“, sagte ich. Jetzt, als ich meine paar Sinne wieder beisammen hatte und die Ausweglosigkeit der Situation richtig begriff, schreckte sie mich nur noch halb soviel wie eben vorher. Wir hatten verloren, na schön, einmal mußten wir ja verlieren. Es war nicht ganz einzusehen, daß es gerade hier sein sollte, aber es gab für uns nichts dagegen zu tun. Also gut. Dr. Tuhana antwortete nicht. Er ging hinüber zu einem der erhalten gebliebenen Schlangenkäfige, öffnete ihn vorsichtig. Er benutzte einen ganz primitiven Gabelstock, drückte damit blitzschnell den Kopf einer hochzüngelnden Schlange nach unten, faßte im nächsten Moment zu, zog sie heraus. Es war eine Kobra, eine ausgewachsene, fast zwei Meter lange Schlange, deren böses Zischen mir in den Ohren dröhnte wie eine Sirene, obwohl es gar nicht einmal laut war. Der Malaie trat mit dem Reptil vor mich hin. „Sie wird Sie gleich beißen, Mr. Warren“, sagte er grinsend. „Schlangenbisse tun fast gar nicht weh. Wie Nadelstiche etwa, nicht mehr. Es ist die Giftwirkung, die eigentlich schmerzhaft ist. Sehr schmerzhaft sogar. Aber wenn Sie tüchtig den Daumen halten, werden Sie auch davon nichts merken. Wenn mein Serum wirkt, verstehen Sie? Dann bleibt nur der Schmerz der beiden blitzschnellen Zähne für Sie übrig, mehr nicht.“ „Ihre letzten Opfer haben sich über sechs Stunden herumgequält, Sie Wohltäter der Menschheit“, sagte ich empört. „Wenn es eine Todesstrafe gäbe, die auch so grausam wäre, Sie hätten sie verdient, Tuhana.“ Er verzerrte sein Gesicht, aber er streckte langsam den Arm mit der ringelnden, zischenden Kobra aus, dichter, immer dichter kam der Schlangenkopf. Ich sah die kleinen, starren Augen, es war fast dasselbe Bild wie vor endlosen Zeiten einmal, als eine Schlange von einem Baum herabhing. Das war eine Jaracura gewesen, und dieses hier war also eine Kobra. Im Grunde machte das wohl keinen Unterschied. Und trotzdem versuchte ich auszuweichen. Es ging nicht, ich war 60
fest an den Stuhl gefesselt, viel zu fest, um diesem todbringenden Reptil da in der Faust eines Wahnsinnigen ausweichen zu können. Unbewußt zerrten meine Hände an den Stricken. Die Fesseln schnitten tief in die Handgelenke ein, so tief, daß es brannte, als hielte ich sie ins Feuer. Ich zerrte weiter, mit angehaltenem Atem, mit verkrampften Muskeln und zusammengebissenen Zähnen. Der Schmerz war fast mehr, als ich ertragen konnte, ich merkte es gar nicht. Ich sah nur diesen züngelnden Schlangenkopf da vor mir, hatte nur das Bestreben, wegzukommen – einerlei wie. Plötzlich konnte ich meine rechte Hand bewegen, eine Winzigkeit nur, ein paar Millimeter. Ich spürte, wie das warme Blut von den aufgerissenen Gelenken über den Handrücken lief. Wahrscheinlich war es das, was die Hand beweglich machte. Die Feuchtigkeit lockerte die Stricke! Tuhana streckte die Hand weiter vor. Das alles dauerte nur Sekunden, vielleicht nur Bruchteile von Sekunden. Aber hinterher, als ich mich genau daran zu erinnern versuchte, kam es mir vor, als wäre das alles in langsamster Zeitlupe abgelaufen. Mit schmerzender, aufdringlicher, grausamer Langsamkeit. „Sie Schwein!“ keuchte Rolf von seinem Stuhl. „Sie elender, wahnsinniger Strolch!“ „Was haben Sie gesagt?“ schrie Tuhana auf. Er federte herum, die Faust mit dem Schlangenkopf verschwand vor meinem Gesicht. „Das sollen Sie büßen!“ Er holte aus und warf die Kobra vor Rolf hin. Sie prallte auf den Boden, bäumte sich auf, ihr Kopf züngelte empor, ihr Nackenschild breitete sich aus. Tuhana hatte die Hand, mit der er die Schlange geworfen hatte, noch ausgestreckt, da stieß sie schon vor, einmal, zweimal, dreimal. Ihre nadelscharfen Zähne gruben sich in Rolfs Oberschenkel. Er keuchte entsetzt und preßte die Zähne zusammen. Noch einmal richtete die Schlange sich vor ihm auf, aber ihre Wut schien mit den Bissen verraucht zu sein. Sie rollte sich zusammen und ließ sich widerstandslos von Tuhana einfangen. Nur gegen den pressenden 61
Griff seiner Hand wehrte sie sich mit peitschendem Schwanz. Aber der Malaie hob sie auf und brachte sie in den Käfig zurück. Er ließ sich Zeit dabei und tat es, als wäre es ungeheuer wichtig, daß die Kobra wieder gut versorgt würde, nachdem sie das getan hatte, was er offenbar hatte erreichen wollen. Rolfs Gesicht war weiß, und auf seiner Stirn bildeten sich winzige Schweißperlen. Kunststück! Er wußte ziemlich sicher, daß es kaum noch eine Rettung für ihn vor einem grausamen, quälenden Tod gab. „Nur keine Eile!“ grinste der Malaie. „Bei Kobrabissen hat man ziemlich viel Zeit. Über eine Stunde. Vorher spürt man gar nichts.“ Er ging zu dem anderen Käfig, öffnete ihn ebenso vorsichtig und begann umständlich, eine Jaracura herauszunehmen. „Bei der ist es anders“, sagte er und sah mich an. „Wenn sie lange nicht gebissen hat, kann ihr Gift in ein paar Minuten töten, und diese hier hat lange nicht gebissen. Bei Ihnen, Mr. Warren, werden wir uns mit dem Serum beeilen müssen.“ „Lassen Sie sich ruhig Zeit“, sagte ich und merkte, daß ich nun auch Schweißtropfen auf der Stirn hatte. „Ihr Zeug wirkt doch nicht. Nach dem Biß bin ich so und so tot.“ Er schüttelte den Kopf und tat so, als wäre er bekümmert. Die Schlange wand sich in seiner Faust, sperrte krampfhaft den Rachen auf und zu, richtete die zentimeterlangen Giftzähne immer wieder auf. Die Giftzähne, die sich gleich in meine Muskeln bohren würden. Dann blieben mir noch zwei Minuten. Nicht sehr viel, würde ich sagen. Vielleicht hätte ich diese zwei Minuten ruhig und gefaßt hinter mich bringen sollen. Aber ich bin nun eben kein Held. Und es fällt mir immer verzweifelt schwer, den Helden spielen zu müssen, wenn es sich einmal ergibt. Hier schien es sich zu ergeben. Ich zerrte trotzdem wie wild an den Handfesseln und hatte wieder das Gefühl, daß sich die Fessel der rechten Hand bewegte. Wahrscheinlich würde ich diese Hand früher oder später losbekommen. Aber nicht in zwei Minuten, und anschließend würde ich tot sein. Einem toten Mann nützt aber eine Hand, die er eben losbekommen hat, gar nichts mehr. 62
Dr. Tuhana nahm mit der linken Hand eine Spritze auf, die auf seinem Arbeitstisch neben dem unheimlichen Reagenzglas gelegen hatte. Er schien in der Zeit, als ich noch bewußtlos gewesen war, alles für sein nächstes Experiment vorbereitet zu haben. Ich konnte mir aussuchen, von welchem Gift ich sterben wollte. Von dem der Jaracura oder von dem in Dr. Tuhanas Injektionsspritze. Links oder rechts, fiel mir ein. Jenes Kinderspiel, das wir alle mal gespielt haben. Irgend jemand hatte etwas in der Hand und verbarg es in der Hand hinter dem Rücken. Man mußte dann raten, ob links oder rechts. Wenn man richtig traf, bekam man es. Hier würde ich es in jedem Fall bekommen, einerlei ob links oder rechts. Und Tuhana versteckte ja auch nichts hinter seinem Rücken. So human war der gar nicht, um auf eine solche Idee zu kommen. Aber auf die Idee, daß er doch noch nicht gewonnen hatte, kam er auch nicht. Wie sollte er auch? Die Tür hinter ihm ging auf, langsam, unendlich langsam. Eine braune Hand tauchte auf, ein Arm, ein Kopf. Es war Legarta. Er mußte sich an der Tür festhalten, so schwach war er. Und wenn man seinen Kopf sah, wußte man, warum. Tuhana mußte furchtbar zugeschlagen haben, als er seinen eigenen Diener überfiel. Die Haare des stummen Malaien waren naß und rot, über sein Gesicht liefen ein paar breite Blutstreifen. Es war unwahrscheinlich, daß er sich mit diesen Verletzungen auf den Beinen hielt. Es war beinahe unmöglich, daß er damit überhaupt noch lebte. Er schob sich langsam in das Labor herein. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, aber seine Augen flammten in demselben unbeherrschten Haß, den ich zum erstenmal an den Gräbern der drei früheren Opfer Tuhanas gesehen hatte. Tuhana merkte immer noch nichts. Er stand jetzt unmittelbar vor mir, die Schlange vorgestreckt in der Faust … Legarta schien zu sehen, daß er in jedem Fall zu spät kommen würde. Er richtete sich taumelnd auf, seine Hände tasteten über das Wandregal hin, faßten irgend etwas. Es war ein großer Glaskrug mit irgendeinem Präparat. Es war ganz gleichgültig, was es war. 63
Ich hielt den Atem an, meine Augen huschten zwischen dem Schlangenkopf vor meinem Gesicht und dem blutüberströmten Malaien hin und her. Wer von den beiden würde eher etwas unternehmen? Die Schlange vermutlich! Legarta keuchte plötzlich laut, seine Knie gaben nach, er rutschte langsam an der Wand zusammen. Aber diesmal hatte Tuhana es gehört! Er drehte sich blitzschnell herum, die Schlange verschwand vor meinem Gesicht. Und ich zerrte weiter an meinen Handfesseln, verbiß mir schweißnaß die Schmerzen. Ich hatte auf jeden Fall ein paar Sekunden gewonnen, aber für welchen Preis? Legarta war so zäh und hart wie alle Malaien. Er gab noch nicht auf, auch wenn ihn seine Beine schon nicht mehr trugen. Seine Hand hob sich, holte mühsam aus, warf das Glasgefäß mit einer unerwarteten Wucht. Ich mußte unwillkürlich daran denken, wie diese schon sterbende Hand ein Kriegsbeil schleuderte in wilder Auflehnung gegen das Schicksal, das einen Mörder weiterleben lassen wollte über den Rächer hinaus. Es war kein Kriegsbeil, es war nur ein Glas, mit Spiritus und einem Präparat gefüllt, eine harmlose Sache, keine Waffe für jemand, der töten wollte, der töten mußte, wenn er dem Ende seines eigenen Lebens noch einen Sinn geben wollte. Dr. Tuhana zuckte zurück, als dieses Glas ihn wuchtig traf. Einen Moment sah es so aus, als ob er auf meine gefesselten Knie stürzen wollte. Aber nur einen Augenblick lang. Dann öffneten sich seine geschlossenen Fäuste, die Spritze klirrte auf den Boden, die Schlange wirbelte zur Seite. Dr. Tuhana fing seinen eigenen Fall mit den Händen auf. Eigentlich konnte ihm gar nichts geschehen dabei. Aber er fing auch seinen eigenen Tod mit den aufgespreizten Händen auf! Die Linke traf die Jaracura, die eigentlich hatte fliehen wollen vor der Helligkeit und dem Lärm. Nun fühlte sie sich plötzlich angegriffen. Ihr Hals wölbte sich nach oben, der kleine, dreieckige Kopf schnellte herum, der Rachen öffnete sich und stieß blitzschnell vor. 64
Sie biß nur einmal zu, ein einziges mal … „Nein!“ schrie Tuhana gellend. Aber noch keine Giftschlange der Welt hat auf ein simples Nein gehorcht. Außerdem hatte sie schon zugestoßen, als er anfing zu schreien. Dabei vertrödelte er nur seine Zeit damit. Er hätte aufspringen sollen, schleunigst an die Vorräte von echtem, gutem Schlangenserum gehen, von denen wir wußten, daß er sie hatte. Viel Zeit blieb ihm nach dem Jaracura-Biß nicht. Jedenfalls nicht genug, um zu schreien und zu lamentieren. Keinem bleibt die, wenn eine Jaracura Ernst gemacht hat. Aber Dr. Tuhana mußte wirklich wahnsinnig sein. Er tastete herum auf dem Boden seines Labors. Seine Hände – eine zeigte zwei winzige runde Blutströpfchen. Genau dort, wo die Jaracura ihn erwischt hatte – fanden die Spritze! „Lassen Sie das, Sie Narr!“ keuchte Rolf. „Nehmen Sie gutes Serum, Mann. Das ist Wahnsinn!“ „Meinen Sie?“ schnaufte Dr. Tuhana. „Ich habe es verbessert. Es wirkt, es wirkt besser als jedes andere.“ Bei diesen Worten hatte er die Injektionsspritze schon angesetzt, drückte den Kolben nieder. „Es wirkt sogar sehr schnell“, sagte er langsam. „So schnell, daß ich noch zurechtkommen werde für Ihre Injektion, Mr. Torring, obwohl Sie lange vor mir gebissen wurden. Aber es war ja nur eine Kobra – nur eine Kobra – nur eine – Ko …“ Es wirkte unheimlich schnell. Nicht sein Serum, das wirkte überhaupt nicht. Aber das Schlangengift. Ich sah, wie sich Tuhanas Hände verkrampften, sie krallten sich förmlich in den Boden, obwohl es da gar nichts zu krallen gab. Er starrte mich an, seine Augen in ungläubigem Staunen geweitet. „Schnell!“ schrie ich. „Versuchen Sie es noch, Tuhana. Sie haben noch eine Chance. Eine winzig kleine. Stehen Sie auf, es sind nur ein paar Schritte bis zum Serum im Wandschrank. Versuchen Sie es, hören Sie mich, Sie müssen es versuchen! Sie müssen, Mann!“ Er starrte mich weiter an, schien nicht zu begreifen. Aber dann trat so etwas wie Verständnis in seine stechenden, kalten Augen. Er 65
nickte, versuchte, sich mühsam zu erheben, drehte sich herum, stemmte die Knie gegen den Boden. Es blieb bei dem Versuch. Das Gift war stärker und seine Wirkung schneller. Plötzlich gaben seine Arme nach, die Knie rutschten weg, er stürzte, drehte sich halb um sich selbst, versuchte verzweifelt, wieder hochzukommen. Aber dann bäumte sich sein Körper plötzlich auf, fiel zurück, und. er blieb reglos liegen. Völlig reglos … „Unfall oder Selbstmord?“ fragte Rolf heiser. Seine Stimme hing wie eine Rauchwolke im Raum, fühlbar, greifbar fast. Ich schüttelte mich. Schlangengift, dieser wahnsinnige Tuhana hatte nun am eigenen Leib erleben müssen, was Schlangengift bedeutet. Es war fast eine Überraschung für mich, als ich merkte, daß meine Hände noch immer an den Fesseln zerrten. Sie hatten sich weiter gelockert, aber Blut tropfte hinter meinem Stuhl auf den schmutzigen Boden. „Hast du eine Chance?“ fragte Rolf. Die Stimme schien durch eine Wand von Watte zu kommen, von ganz weit her. „Ich weiß nicht“, stöhnte ich. „Die rechte Hand kann ich schon bewegen. Ein bißchen, vielleicht …“ „Mach schnell“, verlangte Rolf. „Sie hat mich dreimal gebissen. Ich merke schon, wie es zu wirken beginnt, es ist so kalt und schüttelt mich. In ein paar Minuten dürfte es zu spät sein. Mach schnell, Hans! Mach schnell!“ Ich zerrte wie ein Wilder. Der Schmerz war kam auszuhalten. Aufhören, hämmerte es in meinem Kopf. Du brauchst weiter nichts zu tun, als aufzuhören. Dann ist dieser Schmerz vorbei, dann brennen deine Handgelenke nicht mehr so höllisch. Schnell, schrie eine andere Stimme in mir. Du mußt schnell machen, sonst ist alles vergeblich! Rolf ist schon gebissen. Rolf ist schon … Es zerriß mich fast, so fetzte der Schmerz durch meinen Körper, 66
aber ich hatte plötzlich die rechte Hand frei! Ich konnte sie bewegen, und da waren keine rauhen Stricke mehr, die sie festhielten! Der Rest war ein Kinderspiel. Ein paar Handgriffe, und die Handfesseln fielen ganz von meinen zerschundenen Gelenken. Die Fußfesseln machten kaum zwei Minuten Schwierigkeiten, und wenn meine Finger nicht so gezittert hätten, wären die Fesseln in der halben Zeit gelöst gewesen. Ich trampelte ein wenig mit den Füßen herum, aber ich tat es schon, während ich mich unsicher erhob. Schnell, hämmerte etwas in mir, du mußt schnell machen, ganz schnell! Irgendwie stand ich plötzlich vor dem Wandschrank. Ich riß eine der Serumpackungen auf, fingerte eine Ampulle heraus, suchte mir eine von den Injektionsspritzen, senkte die Nadel in die kristallklare, sämige Flüssigkeit, zog die Spritze auf. Die Injektion bekam Rolf noch, während seine Arme und Beine gefesselt waren und er regungslos auf seinem Stuhl hockte. Danach erst machte ich die Stricke los. Ich weiß nicht einmal, wie ich es geschafft habe. Rolf blieb erschöpft sitzen. Er würde einen harten Tag vor sich haben. Auch Serum macht Schlangengift nicht zu einer Lappalie. Und man steht nicht einfach nach einer Injektion auf und tut so, als wenn nichts geschehen wäre. „Legarta!“ sagte Rolf mühsam. „Kümmere dich um ihn. Ich schob mich durch den Raum, ich weiß nicht, woher ich noch die Kraft dazu nahm. Wahrscheinlich aus dem Bewußtsein, der einzige zu sein, der es überhaupt noch tun konnte. Legarta lag reglos so, wie er nach seinem Wurf, der mir das Leben gerettet hatte, zusammengesunken war. Ich kniete neben ihm nieder, hob vorsichtig seinen Kopf an. Er schlug die Augen auf, aber diese Augen sahen mich schon nicht mehr richtig. Sein Mund öffnete sich krampfhaft, versuchte Worte zu formen, heftig, immer heftiger. „Tuhana?“ krächzte der Stumme plötzlich. Es war wie ein 67
elektrischer Schlag für mich. Die Erregung gab ihm seine Stimme wieder! „Er ist tot!“ sagte ich heiser. „Schlangengift!“ Legarta nickte heftig. „Gut“, sagte er in Insel-Malaiisch, und es klang fast zufrieden. „Gut, er Teufel!“ Und dann sank sein Kopf zurück, haltlos. Ich ließ ihn sinken, ganz langsam, ganz vorsichtig und behutsam. Er hat sein Geheimnis für sich behalten. Nie würde jemand wissen, warum er Dr. Tuhana so verzweifelt gehaßt hatte. Ob vielleicht eines der drei Gräber am Dschungelrand einen Menschen barg, der ihm irgendwie nahegestanden hatte? Ich richtete mich langsam wieder auf, sah Rolf an und schüttelte den Kopf. „Pongo“, sagte Rolf leise. „Sieh nach Pongo, Hans!“ Die Worte trafen mich wie ein Schlag. Was war mit unserem Pongo geschehen? Legarta hatte sich bis hierher geschleppt, er hatte sich befreien können, warum hatte sich Pongo nicht helfen können? Er war weit stärker und wahrscheinlich auch zäher, als der kleine, stumme Malaie es gewesen war. Sollte er … Ich wagte nicht weiter zu denken, aber ich stolperte, so schnell ich konnte, durch den dunklen Schlangenraum, durch den wir gekommen waren. Ich fand Pongo im ersten Raum hinter der Terrasse des Haupthauses. Und dieser Raum erzählte auch auf den ersten Blick die Geschichte des Kampfes. Pongo selbst lag gefesselt in einer Ecke, er war noch ohne Bewußtsein. Tuhana mußte verdammt hart zugeschlagen haben. Aber wenigstens schien Pongos Schädel hart genug zu sein, es auszuhalten. Ich konnte außer einer Platzwunde über der Stirn keine ernsthafte Verletzung feststellen. Von der Klapperschlange an der Längswand des Raumes konnte man das nicht behaupten. Pongos schweres Messer hatte sie am Hals getroffen und ihr den bösartigen, flachen Kopf glatt vom Rumpf 68
getrennt. Das mußte gerade in jenem Moment geschehen sein, als Tuhana den Augenblick nützte, da Pongo völlig auf die gefährliche Schlange konzentriert war. Er hatte hier denselben Trick angewendet wie bei mir und hatte den gleichen Erfolg damit gehabt. Nur bei Legarta hatte er einen Fehler gemacht. Einen entscheidenden Fehler. Er hatte den stummen Malaien offenbar ungefesselt für tot liegenlassen. Nun war er selbst tot. Wir begruben am nächsten Tag Legarta neben den drei unscheinbaren Gräbern am Dschungelrand. Rolf stand daneben, als Pongo und ich den Malaien beerdigten. Er war blaß und noch unwahrscheinlich schwach. Er mußte sich schwer auf das Gewehr stützen, das er wie eine Krücke benutzte. Und Pongo hatte einen sauberen, weißen Verband um seinen Kopf. Wir errichteten ein einfaches, hölzernes Kreuz über Legartas Grabhügel. Und wir hatten nur seinen Namen mit dem Messer einkratzen können und den Tag seines Todes. Sonst wußten wir nichts von ihm, gar nichts. Hinterher begruben wir auch Dr. Tuhana, den Mann, der zum Teufel geworden war, weil er glaubte, etwas erzwingen zu können, was niemand erzwingen kann. „Eigentlich“, sagte Rolf mühsam, als wir zum Haupthaus zurückgingen, müde, zerschlagen, erschöpft, „eigentlich hatten wir wohl nur ein wenig Schweinebraten auf dieser Insel besorgen wollen …“ – ENDE –
Band 243: ,,Des Teufels Notausgang“
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Inselnamen verschwanden von den Landkarten und aus den Lexika Man liest eine Reisebeschreibung über ein fremdes, fernes Land, die ein paar Jahrzehnte alt ist oder auch erst kurz vor dem zweiten Weltkrieg entstand. Man freut sich über die farbigen, plastischen Schilderungen, die vielleicht nicht so knapp und konzentriert anmuten, wie Reiseschriftsteller sie heute niederschreiben würden. Beschaulich, fast behaglich werden Nebensachen und Begleitumstände selbst dann ausgemalt, wenn es sich um eine abenteuerliche Reportage handelt. Man hatte Zeit – damals! Selbst in den dreißiger Jahren noch. Heute triumphiert die Hetzjagd! Heute hat niemand – oder seien wir vorsichtiger: kaum jemand – noch Zeit! Das ist eigentlich schade. Reiseberichte von heute geben oft nur das nackte Gerippe. Das so wichtige Drum und Dran hat für die meisten Menschen keine Daseinsberechtigung mehr. Die Sensation allein, herausgeschält aus der sie erst ermöglichenden Umgebung, beansprucht allein und ausschließlich das Interesse des Lesers. In den älteren Reise- und Erlebnisschilderungen aus fremden, fernen Ländern findet man – für die südostasiatischen, malaiischen und melanesischen Inselgebiete trifft das in besonderem Maße zu – Insel-, Städte- und Bergnamen, die man selbstverständlich auf seinem Atlas sucht. Wenn man einen großen Atlas, der noch vor 1939 erschienen ist, zur Hand hat, findet man die Inseln und ihre Namen auf den Karten. Wenn man einen Atlas von heute aufschlägt, stellt man fest, daß zwar die Inseln eingetragen sind, aber keine Namensbezeichnung tragen. Man schaut in ein großes Lexikon, das – vielbändig – in den letzten Jahren, völlig neu bearbeitet, wieder erschienen ist. In vielen Fällen wird man betrübt feststellen, daß die Inselnamen der Südsee auch im Lexikon fehlen. Sind die neuen Atlanten, sind die neuen Lexika schlechter als die von der Jahrhundertwende bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges erschienenen? Keineswegs! Wo liegt die Erklärung? Die Gründe, daß Inselnamen verschwanden, sind vielfältiger Art. Sicherlich trifft bei den Lexika der Tatsachenkomplex in vollem Maße zu, daß in den letzten fünfzehn Jahren soviel neue Begriffe aufgekommen sind, soviel Entdeckungen und Erfindungen gemacht wurden, die ausführlich behandelt werden müssen, daß die Redaktionen der Lexika ganz einfach gezwungen waren, sich kürzer zu fassen, um die Bandzahl eines großen Nachschlagewerkes nicht über Gebühr anwachsen zu lassen. Material von geringerer Bedeutung mußte in den Papierkorb wandern. Der Materialüberfluß ist aber nicht der einzige Grund, daß in den neuen Lexika Inselnamen fehlen. Für die Landkarten der großen Atlanten träfe die analoge Erklärung sowieso nicht zu. Zwar hat sich weltpolitisch viel geändert, zwar findet man in den neuen Atlanten mehr Wirtschafts-, Verkehrs-, geologische und andere Spezialkarten als früher, aber diese Tatsache kann ja nicht die Ursache dafür abgeben, daß man Inselnamen einfach streicht. Gestrichen wurden von den Landkarten und aus den Lexika vor allem die Namen kleiner, kleinster oder auch mittelgroßer Inseln, die zur Bedeutungslosigkeit hinabgesunken sind, die vor dem zweiten Weltkriege außer von Eingeborenenstämmen
auch von weißen Siedlern und von gelben Händlern bewohnt waren, die heute auf diesen Inseln nicht mehr anzutreffen sind. Wie kommt es, daß diese Menschen – und mit ihnen zahlreiche Arbeiterkolonnen zivilisierter Eingeborener mit ihren Familien – die Inseln verließen? So seltsam es klingt, ist es doch wahr: die moderne Verkehrsentwicklung trägt die „Schuld“. Immer stärker konzentriert sich der Verkehr in Südostasien, im gesamten malaiischen, melanesischen und australischen Raum auf das Flugzeug als Transportmittel für Menschen und Frachten. Auch für Frachten! Aber Massengüter befördern die Luftfahrtgesellschaften nicht, weil sie durch den Lufttransport zu sehr verteuert würden. Mit der Zunahme des Luftverkehrs sank der Schiffsverkehr. Auch der Schiffsverkehr von Insel zu Insel, auch der Frachtverkehr vom Festlande zu den Inseln und von den großen zu den kleinen Inseln. Eine ganze Anzahl kleiner, dünn besiedelter Inseln werden von den Frachtschiffen überhaupt nicht mehr angelaufen. Aber die weißen und die gelben und die dunkelhäutigen Menschen dieser Inseln sind – soweit es sich nicht um primitive Eingeborene handelt – auf Einfuhren an Reis und Mais und an anderen Bedarfsgütern des täglichen Lebens, die von den Flugzeugen nicht mitgenommen werden, angewiesen. Einzelne Plantagenbesitzer kauften selbst einen Frachter und holen damit heran, was für die eigenen Familien und die Arbeiterkolonnen gebraucht wird. Aber so ein Frachter braucht geschultes Personal und ist in den wenigsten Fällen mit dem Heranschaffen des eigenen Bedarfs ausgelastet. Den Siedlern blieb in sehr vielen Fällen gar nichts anderes übrig, als abzuwandern, sich ein neues Domizil auf einer anderen, möglichst größeren Insel zu suchen, bei der in absehbarer Zeit kaum die Gefahr besteht, daß sie vom Zubringer-Schiffsverkehr entblößt wird. Mit den Plantagenbesitzern wanderten die zivilisierten Eingeborenen mit ihren Familien ab. Reismangel! Das ist der Grund! Die Atlanten- und Lexikaredaktionen kennen den Grund und strichen deshalb viele Namen solcher Inseln, die nur noch von Primitiven bevölkert werden, von den Karten und aus den Spalten der Lexika. In den meisten Fällen führte die wachsende Technik zur vermehrten Besiedelung, in Sonderfällen kann sie – wie am vorliegenden Beispiel nachgewiesen – auch zur Entvölkerung kleinerer Inseln wesentlich beitragen. –oooDie Kei-Inseln Die Kei-Inseln, auch Kai-Inseln geschrieben, bilden eine Inselgruppe im Malaiischen Archipel südlich von Neu-Guinea. Alle Inseln zusammen nehmen nur eine Fläche von 1482 Quadratkilometern ein. Die größten und wichtigsten Inseln der Gruppe sind Nuhul Jut und Tual. Nuhul Jut wird von einem Gebirgskamm durchzogen, dessen Spitzen bis 800 Meter aufragen. Die fast durchweg mit dichtem Regenwald bedeckte Insel 'st reich an Erdbeben. Plantagen Weißer finden sich auf den Inseln der Kei-Gruppe kaum. Die Eingeborenen stehen zumeist auf sehr primitiver Kulturstufe. Die zu den Alfuren zu rechnenden Stämme halten zahlenmäßig den Stämmen der Papuas die Waage. Die Papuas wohnen ausschließlich in Pfahlbausiedlungen.