Das Buch Dan und seine Frau Evie wollen die Vergangenheit vergessen und ihren Traum von einem sicheren, bürgerlichen Vo...
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Das Buch Dan und seine Frau Evie wollen die Vergangenheit vergessen und ihren Traum von einem sicheren, bürgerlichen Vorstadtleben verwirklichen. Längst ist Dan kein Dichter mehr, sondern Besitzer eines Horror-Buchladens, und seine frühere Geliebte, die einem vom FBI verfolgten Sektenkult anhing, hat sich selbst verbrannt. Dans und Evies dreizehnjähriger Sohn Eddie liest das Schockzone-Magazin und träumt davon, selbst Horrorfilme zu drehen. Da steht plötzlich eine Frau vor der Tür, die behauptet, Dans totgeglaubte Ex-Freundin zu sein. Und mit ihrem Auftauchen wandelt sich für jedes Familienmitglied die Wahrnehmung der Wirklichkeit auf dramatische Weise. Grauen im sonnigen Kalifornien ... Der Autor Dennis Etchison gilt als »der originellste lebende Horrorautor Amerikas« (The Penguin Encyclopedia). Wie die meisten Autoren des Genres kommt er von der Kurzgeschichte. Er hat vier wichtige Anthologien veröffentlicht - im Heyne Taschenbuch erschien 1996 Metahorror (01/9773) - und erhielt für seine Werke den British Fantasy und den World Fantasy Award. Schockzone ist sein vierter Roman. Dennis Etchison lebt mit seiner Frau in Los Angeles und unterrichtet an der Universität.
DENNIS ETCHISON
SCHOCKZONE Roman
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Laszlo
Deutsche Erstausgabe
Scanned by Binchen71
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/10662 Titel der Originalausgabe CALIFORNIA GOTHIC
Umwelthinweis Das Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt Redaktion Werner Bauer Copyright © 1995 by Dennis Etchison Published by Arrangement with Author Copyright © 1999 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co KG, München Printed in Denmark 1999 Umschlagillustration IFA-Bilderteam/BCI, Tauflurchen Umschlaggestaltung Atelier Ingrid Schutz, München Satz (3227) IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck und Bindung Norhaven, Viborg ISBN 3-453-13750-7 http://www heyne.de
Für Kristina Es ist falsch zu glauben, Horror sei zwangsläufig mit Dunkelheit, Stille und Einsamkeit verbunden. Mir begegnete das Grauen an einem sonnigen Nachmittag ... H. P. Lovecraft Cool Air
Windstill war es in dem Tal. Die Pinien auf den Hügeln wirkten, als hätte man sie an den Rand des Horizonts gemalt. Weiter unten hing der Morgentau in den immergrünen Eichen, Nebelschwaden verdeckten die Büsche, bis der Dunstschleier sich hob. Dann wurde der spanische Flieder sichtbar. Die grauen Schatten färbten sich purpur, magentarot und blaßblau. Als die Sonne höher stieg und der Wald zum Leben erwachte, leuchteten die Sandelholzbäume in verschiedenen Braun- und Grüntönen. Die Spuren des Feuers waren kaum zu sehen und veränderten die natürlichen Grenzen des Nationalparks nur unwesentlich. Lediglich in den Canyons war der Schaden größer. Auf der schmalen Zufahrtsstraße lagen Baumstümpfe und Büsche. Quarz- und Granitsplitter glitzerten auf dem ungeteerten Weg, für die Reifen der Jeeps oder Lastwagen, die hier entlangfuhren, eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Doch heute war der erste Mai und daher Zeit für eine weitere Inspektion. Für gewöhnlich waren zwei Förster gemeinsam unterwegs; eine Grippewelle hatte jedoch vierzig Prozent der Belegschaft vorübergehend außer Gefecht gesetzt, also fuhr der Mann an diesem Tag allein in seinem Lastwagen. Er war dünn, hatte schmale, sonnenverbrannte Lippen, glattes Haar, eine fliehende Stirn und wirkte scheu und zurückhaltend - ein junger Mann, dem man ansah, daß er einen Job bevorzugte, bei dem er sich von Städten und Fremden fernhalten konnte und keine Fragen gestellt bekam, auf die er nicht sofort eine Antwort parat hatte. Sein Werkzeug hatte er auf den Rücksitz gelegt. Schaufeln, Sägen, ein Seil, Ketten, Ersatzreifen, eine Winde, Verbandskasten, Feuerlöscher im Fahrerhaus, eine Landkarte mit geologischen Aufnahmen und sein Mittagessen, das er in eine Kühlbox gepackt hatte, wurden von einem schwarzen Retriever bewacht. Er hieß Jimbo und war sein bester Freund. Der junge Mann hatte die Aufgabe, den Zugang zur Straße
freizuhalten, das Gebiet auf Erosionen zu prüfen und auf alles zu achten, was ungewöhnlich war. Auf seiner Route lagen etliche Ferienhäuser. Er hatte die Anweisung, sich zu vergewissern, daß dort alles in Ordnung war. Das bedeutete, er mußte sich die Häuser kurz ansehen und dann eine Eintragung in sein Dienstbuch machen. Einige Parzellen waren auf Lebenszeit verpachtet und hatten den Besitzern schon lange gehört, bevor das Innenministerium das Land erworben hatte. Andere wurden von den Eigentümern während der Sommermonate oder in einigen Fällen sogar das ganze Jahr über vermietet. Den Förstern war es gleichgültig, was in den Häusern vorging, solange die Büsche geschnitten und ohne ordnungsgemäße Genehmigung keine Neubauten erstellt wurden. Rauch aus einem Kamin, Pferde, Esel oder ein Gemüsebeet gingen niemanden etwas an. Nur ein Erdrutsch, ein Schuppen, der drohte, sich aus seiner Verankerung zu lösen und abzustürzen, oder offensichtliche Anzeichen eines Einbruchs waren Gründe stehenzubleiben. Sonst fuhr er nur in einiger Entfernung vorbei. Er hatte nicht einmal eine Waffe bei sich. Nur selten bekam er Gelegenheit, das Funkgerät in seinem Wagen zu benützen. Einmal hatte er einen Kassettenrecorder mitgenommen, doch schien die Musik hier fehl am Platz zu sein. Der mechanische Rhythmus von Popsongs paßte nicht zu dem Panorama; künstlich erzeugte Laute konnten mit dieser überwältigenden Landschaft nicht konkurrieren. In diesem Park war respektvolles Schweigen angebracht. Nur die Geräusche eines rollenden Steins, eines fallenden Zweigs oder das Rauschen des Windes in einer Baumkrone hörte man meilenweit aus allen Richtungen - die Elemente einer unvergleichlichen, natürlichen Symphonie. Der Schuß ließ ihn zusammenzucken. »Ruhig, mein Junge«, sagte er zu seinem Hund. Er nahm den Fuß vom Gaspedal. Das Echo verhallte rasch, ließ aber Rückschlüsse auf den Ort zu. Der Schuß mußte in der
Nähe abgegeben worden sein, in dem schmalen Canyon unterhalb. Dem kurzen, scharfen Knall folgte ein metallisches Klingen, das darauf schließen ließ, daß jemand Schießübungen machte und wahrscheinlich auf Blechdosen zielte. Etwa hundert Meter unter ihm neben dem alten Strom lag eine Hütte. Weitere Schüsse folgten. Die kleine Pause dazwischen deutete darauf hin, daß ein Spannschloßgewehr nachgeladen wurde. Jedes Mal ertönte danach ein metallisches Geräusch. »Hört sich nach einer .22er an«, murmelte er und streichelte den Hund. »Nicht wahr, Jimbo?« Er hielt den Wagen an und wartete darauf, daß das Gewehr wieder nachgeladen wurde. Eine Eidechse verharrte einen Augenblick zwischen den Vorderreifen und huschte dann in den Fichtenwald. Der Hund legte seine Vorderpfoten auf das Armaturenbrett. »Ruhig«, wiederholte er. Der nächste Schuß glich einem Donnerschlag. Dieses Mal war das Geräusch nicht blechern. Es mußte sich jetzt um ein Schnellfeuergewehr handeln. Die Pausen zwischen den Schüssen waren so kurz, daß man beinahe glauben konnte, es handle sich um eine einzige Detonation. Der Klang war tiefer und härter. Das bedeutete, daß jemand mit einer großkalibrigen, halbautomatischen Feuerwaffe schoß. Es war verboten, sie hier im Park zu benützen, doch fielen Jagdlizenzen nicht in den Aufgabenbereich der Förster; damit beschäftigten sich die Ranger. Er griff nach dem Mikrophon seines Funkgeräts. Unter einer Tanne raschelte es leise, als die Eidechse den Kopf hob, wieder senkte und mit einem hervorquellenden Auge ins Tal schielte. Jimbo sprang aus dem Wagen. »Hey!« Der Hund scharrte an der Stelle, wo die Eidechse gesessen hatte. Dann hob er den Kopf und richtete seine Aufmerksamkeit
auf einen bestimmten Punkt im Tal. Der Mann seufzte, legte das Mikrophon zurück, stieg aus und überquerte die Straße. Er versuchte den Hund zu beruhigen, doch das Tier war angespannt und nervös. »Was ist los mit dir, mein Junge? Du hast doch schon öfter Schüsse gehört ...« Er folgte Jimbos starrem Blick und sah, daß sich in dem Gestrüpp unter ihm etwas bewegte. Durch die Zweige eines Pfefferbaums schimmerte ein Körper. »Das ist doch nur jemand, der hier nackt badet«, sagte er leichthin und wandte sich ab. Als er versuchte, seine Finger unter das Halsband des Hundes zu schieben, riß das Tier sich los und sprang über die Böschung. Wenige Sekunden später hörte er ein gequältes Winseln. »Jimbo?« Er lief bergab und gewann so rasch an Geschwindigkeit, daß er erst an dem Stamm eines alten Erdbeerbaums zum Stehen kam. Als er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, rieb er sich die rote Rinde von den Händen und rief noch einmal nach seinem Hund. »Hierher, mein Junge!« Dann sah er sie und war sprachlos. Sie kniete unten in der Schlucht und kümmerte sich um den Hund. Jimbo hatte sich gesetzt und streckte ihr bereitwillig seine Pfote entgegen, beinahe so, als machte er einer Königin seine Aufwartung. Sie hatte eine schlanke Figur und einen muskulösen Rücken. Ihre Schultern und die kräftigen Beine waren leicht gerötet, und ihre Pobacken schimmerten wie weißes Gold. »Alles in Ordnung«, rief sie ihm zu. »Er ist nur auf eine Glasscherbe getreten.« Sie stand auf. Nur ihr glattes schwarzes Haar bedeckte sie - es war so lang, als hätte sie es noch nie schneiden lassen. »Danke«, erwiderte er und vermied es, sie direkt anzusehen.
»Wer sind Sie?« Ihre Stimme klang nicht verlegen, nur neugierig. »Sam«, brachte er hervor. »Hallo, Sam.« Sie drehte sich um und ging zu dem Ferienhaus zurück. Er entdeckte einen Schubkarren und eine Schaufel neben einem großen Loch in der Erde sowie zwei Pferdesattelständer auf der Veranda. Der Hund folgte ihr, legte sich neben den Gewehrlauf und leckte sich die Pfote. »Es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe«, erklärte er, weil er das Gefühl hafte, etwas sagen zu müssen. »Ich bin hier nur gerade vorbeigekommen. Komm, mein Junge.« Der Hund rührte sich nicht. Er ging über den Hof. »Passen Sie auf das Glas auf«, sagte sie. Er sah auf seine Schuhe hinunter und bemerkte die Scherben unter seinen Füßen. Bei seinem nächsten Schritt knirschte es, und die Splitter bohrten sich in seine Schuhsohlen. Der ganze Hof glitzerte, als wäre er mit Diamantstaub überzogen. Überall lagen Flaschen, die sie aufgestellt und zerschossen hatte. Neben den Baumstümpfen sah er Dutzende, vielleicht sogar Hunderte durchlöcherter verformter Blechdosen. Dann entdeckte er eine deutliche Spur, die durch den Unrat von dem Hügel zur Veranda führte. Erstaunlicherweise waren ihre Füße unverletzt. Sie waren vollkommen - flach, rosafarben und ohne Narben. Anscheinend kannte sie den Weg genau. An der Veranda blieb sie mit gespreizten Beinen stehen und streckte sich. Dann bückte sie sich und holte etwas aus dem Schatten. Als sie sich umdrehte, hielt sie ein Maschinengewehr in der Hand. »Das dachte ich mir«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »45er Colt, eine Armeewaffe. Ich hörte das bereits oben
auf der Straße.« Sie zog das Magazin heraus und schob ein neues in die Kammer des Gewehrs. »Sie sollten vorsichtig sein«, meinte er. »Die Waffe ist entsichert.« »Ich weiß.« Als sie das Gewehr hob, trat er zur Seite, doch sie folgte seiner Bewegung mit der Mündung, zielte zuerst auf seine Brust und dann auf eine Michelob Bierflasche, die neben seinem linken Fuß auf dem Boden stand. Er erstarrte, als sie feuerte. »Guter Schuß«, sagte er, während der Knall verklang. Sie hielt das große Gewehr ganz ruhig in den Händen. »Werden Sie mich verhaften?« »Nun, es gibt kein Gesetz gegen Schießübungen.« »Sind Sie denn kein Bulle?« »Meine Güte, dieses Wort habe ich schon lange nicht mehr gehört.« Er lächelte gezwungen, holte tief Luft, blies die Backen auf und atmete langsam wieder aus. Dann deutete er auf das Abzeichen auf seinem kurzärmligen Hemd. »Keine Sorge. Ich bin nur vom Forstamt.« »Ach ja«, sagte sie. »Ich habe Ihren Lastwagen schon gesehen.« »Tatsächlich?« »Ja. Einmal im Monat. Ich habe vergessen, an welchem Tag das war.« Sie legte den Kopf fragend zur Seite und musterte ihn. Das Gewehr hielt sie immer noch in der Hand, aber ganz locker und ohne auf etwas zu zielen. Schließlich drückte sie den Hahn mit ihrem Daumen nach unten. »Sam wie?« »Carlisle. Und wie heißen Sie?« »Judy.« »Judy. Und mit Nachnamen?« »Susie. Ich wollte sagen Susan ... Jones.«
»Okay. Hi, Susie. Wohnen Sie hier?« Sie nickte. »Aber sicherlich nicht allein«, fügte er hinzu. »Doch. Allein.« »Ich verstehe.« Er nickte, als würde er ihr glauben. »Das ist das alte Haus von Miller, nicht wahr?« »Miller?« »Der Besitzer. Er hat es wohl an Sie vermietet.« »Richtig.« Er nickte wieder. Sie standen sich im Hof gegenüber. Das Sonnenlicht fiel jetzt auf ihren Rücken, so daß ihr Körper im Schatten lag. Es gelang ihm nun, sie zu betrachten. Sie machte keine Anstalten, sich zu bedecken - ihre Nacktheit schien für sie vollkommen natürlich zu sein. Neben den Sätteln auf der Veranda lag das .22er Gewehr und eine Schachtel mit Munition. Die Steigbügel waren verrostet und offensichtlich schon lange nicht mehr benützt worden. »Wo ist Ihr Pferd?« erkundigte er sich. »Ich mußte es einschläfern.« »Oh. Das ist schlimm.« »Nein. Es war ganz einfach.« An dem Spaten, der neben der Veranda lag, klebte feuchte Erde. Der Hügel neben dem Loch war ungefähr einen Meter hoch, und die Spitze des Walls begann auszutrocknen wie von Würmern aufgeworfene Erdhäufchen. »Graben Sie deshalb?« »Was?« »Ein Grab. Für das Pferd.« »Stimmt.« »Das ist harte Arbeit.« »Ich schaffe das schon.« »Was ist mit dem anderen?«
»Mit welchem anderen?« »Sie haben zwei Sättel.« »Es starb vor langer Zeit.« Sie konnte noch nicht sehr alt sein. Ihr Körper war fest und geschmeidig. »Sie brauchen hier ein Pferd, wenn Sie keinen Wagen haben«, meinte er. »Wie besorgen Sie sich Vorräte?« »Ich war in der Stadt. Im Supermarkt Safeway, und wir haben eine Menge mitgebracht.« »Wir?« »Ich meine ich.« »Wie lange ist das schon her?« »Warum?« »Ich habe mir nur gedacht, es muß sehr schwer sein, so abgeschieden zu leben.« »Ich komme zurecht.« »Das sehe ich.« Ein großer brauner Falke kreiste in dem Luftstrom über ihnen und schraubte sich langsam nach unten. »Nun, ich sollte jetzt besser gehen.« Er trat vorsichtig zurück und achtete so sorgfältig darauf, auf dem Weg zu bleiben, als würde er durch ein Minenfeld gehen. »Komm, Jimbo.« Der Hund saß nicht mehr auf der Veranda. »Wo ...?« Aus der Hütte erklang Jimbos Gebell. Sie drehte sich rasch um und ging hinein. Das Gewehr hielt sie in der Hand, als wäre es eine Taschenlampe. Als er die Veranda erreicht hatte, hörte er ein Klicken. Das Geräusch war unverkennbar - das Spannen des Hahns einer .45er. Er spähte zur Tür hinein. Zuerst schien die Hütte dunkel wie die Nacht zu sein. Dann zeichneten sich Schatten ab, und die Umrisse der Möbel wurden
erkennbar - zwei Stühle mit geraden Lehnen, ein alter, handgeschreinerter Tisch, leere Küchenregale und ein Läufer auf dem staubigen Boden vor einem Kanonenofen. Sie stand an einer Tür an der Wand gegenüber, hielt den Hund am Halsband fest und richtete die Mündung der Waffe auf seinen Kopf. »Was ist los?« fragte er. Sie richtete sich auf und ließ die Waffe sinken. Der Hund kratzte an der verschlossenen Tür. Mit einem ihrer perfekt geformten Beine schob sie ihn zurück. Der Hund schnüffelte an ihrer Haut und legte sich dann zu ihren Füßen. »Nichts«, erwiderte sie. »Komm her, Jimbo. Es ist schon spät ...« »Nein, das stimmt nicht.« »Wie spät ist es?« Er konnte die Zeiger auf seiner Schweizer Armeeuhr nicht sehen. In der Hütte war es düster. Durch die Fenster drang nur ein schwacher Lichtschein; sie waren mit einem schweren dunklen Stoff verdeckt, der aussah wie die Vorhänge, die man im allgemeinen zum Verdunkeln benutzt. »Ich muß weiterfahren.« »Haben Sie Durst?« »Na ja ...« Anscheinend wollte sie, daß er noch blieb. »Vielleicht ein wenig.« Auf dem Weg zur Kochnische ging sie ganz nah an ihm vorbei. Er wandte den Blick ab und sah sich um. Auf dem Boden unter den leeren Regalen standen Pappkartons. Außer dem Tisch, den Stühlen und dem Teppich neben dem Holzofen war wohl alles in dem Haus verpackt worden - sogar die Uhr. Wäre er allein hereingekommen, hätte er wohl bezweifelt, daß jemand hier wohnte. Er betrachtete den Karton, der am nächsten stand. Der Deckel war offen. In dem Lichtstrahl, der zur Tür hereinfiel, sah er alte Magazine aus den 6oer und 70er Jahren -
hauptsächlich Ausgaben von Eye, Other Scenes und Mother Jones, sowie einige zusammengefaltete Zeitungen wie The Berkeley Barb, The East Village Other, The Avatar und Homefires. Als er sie durchblätterte, fielen einige Ausschnitte heraus. Er entdeckte einen dicken Aktenordner mit handgeschriebenen Briefen. Ein Foto von ihr ragte heraus. Es zeigte sie neben einem jungen Mann mit Koteletten und langem Haar. Außerdem waren da noch einige Bücher: You Are All Sanpaku, The Anarchist's Cookbook und Public Works ... Einige Flaschen mit homöopathischer Medizin waren in ein T-Shirt eingewickelt, ein altes Grateful Dead-Shirt, auf dem hinten mit Seidenfäden die Aufschrift LIVE FROM THE MARS HOTEL in umgekehrter Schrift aufgestickt war. »Haben Sie etwas gefunden, das Ihnen gefällt?« fragte sie. Sie bückte sich, holte zwei Zinnbecher aus einem anderen Karton, stellte sie auf das Spülbecken und schenkte Wasser aus einer 4-Liter-Plastikflasche ein. »Das ist ein Sammlerstück«, sagte er. »Mein Vater hatte so ein Shirt.« »Nehmen Sie es sich«, erwiderte sie. »Hier.« Sie reichte ihm einen Becher. »Danke.« Er nahm einen tiefen Schluck. »Das Wasser schmeckt gut.« »Es ist von dem Strom, der aus den Bergen kommt. Nicht von der Umweltverschmutzung belastet.« Sie nahm ihre Tasse, ging zu dem Läufer vor dem Ofen und setzte sich mit gekreuzten Beinen. Er schob sich einen Stuhl zurecht und ließ sich darauf nieder. »Ich nehme an, Sie haben hier oben nicht oft Gesellschaft«, sagte er. »Werden Sie jemandem davon erzählen?« »Sie meinen die .45er? Machen Sie sich darüber keine Sor-
gen.« »Ich meinte mich.« Sie sah ihm in die Augen. »Dazu besteht kein Grund«, erwiderte er. »Üben Sie oft?« »Das muß ich.« »Ja, das kann ich mir vorstellen. Wölfe, Bären ...« »Die stören mich nicht.« Sie streckte sich auf dem Teppich aus. »Es sieht aus, als wollten Sie ausziehen.« Er wandte den Blick ab. »Sobald ich alles losgeworden bin.« »Haben Sie ein Fahrzeug?« »Nicht mehr.« »Sie brauchten einen Lastwagen.« »Das habe ich mir auch schon gedacht.« »In der Stadt können Sie sich einen mieten. Aber der Weg dorthin ist sehr weit.« »Ich weiß.« »Vielleicht könnte ich Sie hinbringen. Ein paar der Kisten könnten wir auch mitnehmen.« »Ich brauche sie nicht. Ich fahre heim. In ein richtiges Haus.« »Ja? Wo ist das?« »L. A.« »Wohnen dort Freunde von Ihnen?« »Mein Mann.« »Oh.« Er trank aus und stellte den Becher auf den Boden. »Danke für den Drink.« »Ich habe ihn schon sehr lange nicht mehr gesehen.« Der junge Mann schwieg eine Weile. »Wenn ich Sie mitnehmen soll, könnte ich später zurückkommen. Nachdem ich meine Arbeit beendet habe«, sagte er dann. »Wissen die anderen, wo Sie sind?« »Nicht genau.«
Auf ihren Ellbogen gestützt, musterte sie ihn und hob leicht ein Knie an. »Sie könnten also irgendwo sein. Oder nirgends.« »So könnte man es sagen.« Ihre Knie bewegten sich, als sie ihre Beine öffnete, schloß und wieder öffnete. »Vielleicht sollten Sie sich das überziehen«, schlug er vor und warf ihr das T-Shirt zu. »Ich will es nicht. Alles, was ich brauche, befindet sich in meinem Gepäck.« Sie streckte einen ihrer langen Arme aus und deutete auf einen Reiserucksack neben dem Ofen. »Was werden Sie mit den Kisten tun?« »Sie vergraben.« »Warum?« »Damit niemand weiß, daß ich hier war. Außer Ihnen.« »Kommt denn nie jemand vorbei?« »Nur die Camper. Manchmal lassen sie sich am Fluß nieder, und ich hole mir dann ihre Büchsen und Flaschen.« »Wie alt sind Sie?« fragte er. »Wie alt sehe ich aus?« »Wie achtzehn. Aber von hier aus kann ich das nicht genau erkennen.« Sie legte sich auf das Tierfell zurück und schwenkte das T-Shirt wie eine weiße Fahne. »Du bist eben zu weit weg.« Er stand langsam auf, ging zu ihr hinüber und nahm ihr das TShirt aus der Hand. Dann kniete er sich neben sie. »Zieh zuerst deine Schuhe aus«, befahl sie. »Bist du wirklich schon achtzehn?« Sie setzte sich auf und löste einen seiner Schnürsenkel. Ein wenig verlegen faßte er nach dem Rucksack und zog den Reißverschluß auf. Darin lagen Jeans, Sandalen, ein Baumwollunterhemd, einige Packungen gefriergetrockneter Nahrung und ein Buschmesser mit einem Kompaß am Ende und einem Hohlraum im Griff für Streichhölzer. Er legte
das T-Shirt auf das Messer und zog den Reißverschluß zu. »So«, sagte er. »Jetzt wirst du in L. A. nicht frieren müssen.« »Dort ist es immer warm. Das sagt man zumindest.« Sie zog an dem anderen Schnürsenkel und versuchte, ihm beide Schuhe auszuziehen. Er sah zu ihr hinunter. »Was ist mit deinem Ehemann?« »Ich weiß nicht einmal mehr, wie er aussieht.« Sie legte sich zurück und breitete ihre Arme aus. »Wie lange ist es her?« »Zehn Jahre. Zwölf. Mindestens.« »Das ist unmöglich«, meinte er. »Damals warst du noch ein Kind.« »Vielleicht bin ich schon älter und habe mich nur nicht verändert.« Zögernd ließ er seine Hand über ihre Brüste und ihren Bauch hinunter zu ihren Beinen gleiten. »Vielleicht. Wenn du es sagst.« Der Hund winselte erneut vor der geschlossenen Tür. »Was ist dort?« fragte er. »Das Schlafzimmer.« »Möchtest du hineingehen?« »Nein.« »Warum nicht?« Sie entzog sich seiner Hand und setzte sich auf. »Was ist los?« Sie gab ihm keine Antwort. »Okay«, sagte er. »Ich muß sowieso gehen.« »Ja, das mußt du.« Sie stand auf und ging zur Küche. Der Hund hob den Kopf, schnüffelte und kratzte wieder an der Tür. »Was ist das für ein Geruch?« fragte er. »Öffne die Tür nicht.« »Warum nicht?«
Er erhob sich, ging zu Jimbo hinüber und drückte die Türklinke hinunter, bevor sie ihn daran hindern konnte. Die Tür schwang auf. »Ich habe dich gewarnt«, sagte sie. »Mein Gott, was ist das? Wer ...?« Der Hund knurrte. Er hielt Jimbo zurück, schlug die Tür wieder zu und drückte sich die Hand auf den Mund. Als er sich umdrehte, war sie nicht mehr da. Der Rucksack war verschwunden, und das Gewehr befand sich nicht mehr in der Küche, wo sie es hingelegt hatte. Er lief zur Vordertür und betrachtete das Loch, das sie gegraben hatte. Es war tief genug für alle Gegenstände in der Hütte, so daß nichts Wichtiges zurückbleiben würde. Dann entdeckte er den 15-Liter-Benzinkanister - alles, was nicht vergraben wurde, konnte damit verbrannt werden. Durch die zerbrochenen Flaschen führte der Fußweg auf die Straße zu seinem Wagen, in dem sich das Funkgerät befand. Aber er hatte keine Schuhe an. Als er sich umdrehte, um sie zu holen, hob sie hinter der Tür, wo sie gewartet hatte, das lange Messer und schnitt ihm die Kehle durch. Der Hund bellte, sprang hoch und flog winselnd durch die Luft, als die Waffe losging. Bis die Feuerwehr eintraf, war sie bereits meilenweit entfernt.
1. Kapitel Eine Brise wehte über den Garten hinter dem Haus. Markham wischte sich den Schmutz von den Augenlidern und reckte seinen Kopf über den Erdwall. Die Sonne brannte auf das Dach, erzeugte scharf umrissene Schatten unter den drei Stangen, an denen die Schaukel hing, bleichte das Gras und ließ die Blätter der verkümmerten Palmen und der Aloe verwelken, die näher am Haus bereits vertrocknet waren und eine gelblichweiße Farbe angenommen hatten - eine Farbe, die an Gelbsucht und Verwahrlosung denken ließ. Der Wind kühlte für einen Moment sein Gesicht, als wäre es mit Rasierwasser und nicht mit Schweiß bedeckt. Er stellte einen Fuß auf die Schaufel und lächelte. Es war beruhigend zu sehen, daß es über der Erde noch Lebenszeichen gab und einige Dinge noch nicht vergraben waren. Auf der anderen Seite des Gartens wurde die Gittertür aufgestoßen. Eddie kam aus der Küche. Er trug einen Gegenstand, der aussah wie ein kleiner dunkler Sarg. Auf der Veranda zögerte der Junge und senkte den Blick. Dann ging er langsam zur Garage. »Hi!« rief Markham ihm zu. Der Junge drehte sich um. »Oh, hi, Dad.« Markham stellte sich mit beiden Füßen auf das Blatt der Schaufel, um seinen Kopf ganz über das trockene Gras zu heben. »Was ist das?« »Nur Kram.« Der Junge ging weiter. Es war kein Sarg, sondern eine dieser langen, flachen, holzgemaserten Pappkartons, mit denen man Dinge unter dem Bett aufbewahrte. Ein Magazin rutschte heraus und fiel auf den Boden - eine Ausgabe von Shock Zone, die rot aufblitzte. Eine ganzseitige Aufnahme eines Gesichts war zu sehen, das mit geronnenem Blut bedeckt war.
Stechende, blutunterlaufene, tiefliegende Augen starrten aus verwesendem Fleisch. »Mom sagte, ich soll es rausbringen.« »Tatsächlich?« Markham drehte seinen Kopf wie eine Schildkröte, um dem Jungen nachzusehen. »Wieso?« »Damit du mein Zimmer streichen kannst.« Das bedeutet, sie wird ungeduldig, dachte Markham. Sie greift zur Selbsthilfe. Der Junge stellte den Karton auf den Rasen, hob die Ausgabe von Shock Zone auf und öffnete den Deckel. Sorgfältig vergewisserte er sich, daß alle anderen Zeitschriften noch darin lagen. »Ich denke, du solltest den Karton zunächst auf das Regal unter die Plane stellen. Brauchst du Hilfe?« »Nein.« »Sicher?« »Ja.« Der Dreizehnjährige hob den Karton auf und trug ihn über den Rasen. Er ist sauer, dachte Markham. Ich kann es ihm nicht verübeln. Er mag keine Veränderungen. Wie wird er wohl mit dem Umzug fertig? Wahrscheinlich nicht besser als ich. Gott möge ihm helfen. Ein orangefarbener Sonnenstrahl wanderte über die Veranda und folgte dem Jungen zur Garage wie ein Nachbild, eine Sinnestäuschung des Morgenlichts. Das Bild verschwamm, als Markham der Schweiß in die Augen lief. Er rieb sich mit dem Ärmel über die Stirn. Jetzt sah er wieder klar und bemerkte das Kätzchen, das mißtrauisch Eddie hinterhertapste. Der Kater konnte Veränderungen ebenfalls nicht leiden. Wie sollten sie ihn befördern? In einer Schachtel? In ein paar Monaten würde er zwar älter sein, aber nicht alt genug, um das zu verstehen.
Das Kätzchen wich einem Büschel Löwenzahn aus, duckte sich, machte dann einen Buckel und stürzte sich kampflustig auf die Pflanzen. Die Blüten, die bereits Samen trugen, explodierten und stießen weiße Bällchen hervor. Markham sah zu, wie sie sich auf das vertrocknete Laub herabsenkten, an den Trichtern der Bromelien, den ausgedörrten, schwertförmigen Aloen und den schlaffen Efeublättern hängenblieben, die wie auf dem Kopf stehende Dreiecke aussahen. Das Kätzchen jagte einem der Samen durch den Garten bis zum Rand des Lochs nach, das Markham gegraben hatte. Genieße es, solange du noch kannst, dachte er. Wo immer wir auch hinziehen, es wird dort keinen Garten wie diesen geben. Der Löwenzahnsame blieb auf einem Erdhügel liegen. Zwischen den Klumpen versuchte ein vertrocknender Regenwurm sich durch Ausscheiden von Flüssigkeit zu schützen und ringelte sich, verzweifelt nach Hilfe suchend, zusammen. Markham nahm den Wurm vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ ihn neben seinen Füßen in die Dunkelheit fallen. Dann fing er die Spore ein und hielt sie sich dicht ans Gesicht. Sie vibrierte wie ein einzelliges Meerestier unter einem Mikroskop, paßte sich in der Bewegung seinem Herzschlag an, bevor sie sich von einer Brise davontragen ließ. Er hielt das Gleichgewicht, den Kopf in der Sonne, den Körper unter der Erdoberfläche, und starrte auf seine leere Hand. Aus dem Nachbargrundstück ertönte das Surren einer Klimaanlage. Einige Häuser weiter erklang das Lachen der Samstags-Spielgruppe der Grundschule und das Aufprallen von Gummibällen auf Asphalt. Ein Auto wurde heruntergeschaltet und fuhr langsam die Straße vor dem Haus entlang. Er hörte Vögel in den Bäumen zwitschern und einen Insektenschwarm summen, während sein Sohn in der Garage eine Trittleiter aufklappte. Irgendwo bellte ein Hund. Der kleine Kater verhielt sich ganz ruhig. Er lag nur wenige Zentimeter von ihm
entfernt auf der Seite und umfaßte mit seinen durchsichtigen Krallen Markhams Daumen. Als die Gittertür sich wieder quietschend öffnete, erstarrte er. »Dan?« »Hier drüben«, antwortete er und blickte über seinen Daumen. Evie hielt die Tür mit einer Schulter auf. In ihren Armen hatte sie einen unhandlichen Stapel Aktenordner. Sie trug ein ärmelloses blaßrosa T-Shirt und weiße Shorts, und ihr Haar war zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden. Eine einzelne, lange Haarsträhne fiel ihr in die Stirn. Mit ihrem Knie verschob sie das Gewicht des Stapels, um ihn besser halten zu können. »Was tust du da?« fragte sie. »Graben«, erwiderte er. »Brauchst du Hilfe?« »Nein, danke. Willst du das hier behalten?« »Was ist das?« »Alte Einkommensteuererklärungen. Warum heben wir sie auf?« »Das müssen wir tun.« »Wie lange?« »Sieben Jahre. Das ist gesetzlich so vorgeschrieben.« »Wer hat dir das gesagt?« »Unser Steuerberater.« »Sagte er sieben oder drei Jahre?« »Ruf ihn an und frag ihn.« Evie blies sich die Haarsträhne aus der Stirn. »Egal. Uns kann nichts mehr passieren.« Sie ging zur Mülltonne hinüber, hob den Deckel und warf die Akten hinein. Die vergilbten Blätter rutschten nach unten. Sie legte den Deckel wieder auf die Tonne und sah ihn an. »Wie wäre es mit Mittagessen?« »Noch nicht«, sagte er. »Warum gräbst du dort?«
»Komm her, dann zeig ich es dir.« Vorsichtig näherte sie sich auf bloßen Füßen und versuchte, nicht auf die Erdklumpen zu treten. Am Rand der Grube bückte sie sich und hob das Kätzchen auf. Markham erhaschte in dem tiefen Ausschnitt ihres T-Shirts einen flüchtigen Blick auf ihre Brüste. Ihre Haut glänzte. Man könnte sie für vierundzwanzig halten, dachte er. Ob sie das weiß? Wahrscheinlich nicht. Wenn ich ihr das sagte, würde sie mir nicht glauben. Sie drückte das Kätzchen an ihre Wange wie ein Baby und küßte es. »Was willst du uns zeigen?« Er senkte den Kopf. Das Loch war so schmal, daß er sich kaum umdrehen konnte. Jetzt, wo er nicht mehr in der Sonne war, konnte er für einige Sekunden nichts sehen, und die Geräusche aus der Nachbarschaft wurden schwächer. Er spürte, wie seine Fingerknöchel über die bröckelige Erdschicht streiften und ertastete dann ein glattes, rund gewölbtes Glasstück. Er zog es heraus, richtete sich auf und hielt seinen Schatz hoch. »Was ist das?« »Eine Original Royal Crown-Colaflasche«, erklärte er stolz. Sie war alt, aber nicht zerbrochen, und das Logo in Form einer gelbroten Pyramide war noch gut erkennbar. »Null komma drei Liter. Sie werden nicht mehr hergestellt.« »Tatsächlich?« erwiderte sie, wenig beeindruckt. Aus einer anderen Schicht weiter oben grub er eine flachgedrückte Milchkanne aus, dann eine Yoo-Hoo-Flasche, ein Tablett aus Aluminium und eine verkrustete Spielzeugpistole, an der die Hälfte der Griffs aus imitiertem Perlmutt fehlte. Als er sich wieder aufrichtete, kehrten die Geräusche des Morgens zurück. »Sieh dir das an.« »Sehr hübsch«, sagte sie. »Genau das, was wir brauchen. Noch mehr Plunder.«
»Das sind Sammlerstücke, Evie. Ich hatte eine solche Pistole, als ich zehn war ...« »Das ist Gerümpel.« Sie hatte natürlich recht, aber er wollte nicht aufgeben. »Ich wünschte, du könntest dir das hier unten ansehen. Das muß über vierzig Jahre alt sein.« »War das einmal eine Müllkippe?« »Nein, nur der Garten von irgend jemandem. Du weißt doch, wie es ist. Dinge fallen auf den Boden, gehen verloren, verschwinden aber nicht. Wie Fossilien. Das sind die Überbleibsel der Menschen, die vor uns hier gelebt haben - die Sachen, die ihnen etwas bedeutet haben.« »Hast du meinen Smaragdring gefunden?« Er erinnerte sich daran. Eines Tages, kurz nachdem sie hier eingezogen waren, harten sie im Garten gearbeitet, und der Ring war ihr vom Finger gerutscht. Manchmal warf sie sich im Schlaf immer noch neben ihm hin und her und sprach davon, unruhig und zerknirscht. Der Ring hatte ihrer Mutter gehört. »Ich suche danach.« Ein blauer Eichelhäher zeterte in einer Baumkrone. Die Ohren des Kätzchens drehten sich wie winzige Radarschüsseln, um sich auf das Geräusch einzustellen. Die Sperlinge verstummten. Der Kater öffnete seine Augen weit und schlug nach einer neugierigen Biene. Ein Mückenschwarm zerstreute sich, um sich dann neben der ältesten Palme wieder neu zu formieren. Der Eichelhäher stieß einen weiteren Warnruf aus, und das Kätzchen sträubte die Nackenhaare. Die roten Härchen an seinem Rücken richteten sich ebenfalls auf, als Evie versuchte, es festzuhalten. Auf der Straße quietschten abgefahrene Bremsen. Eine mißtönende Glocke läutete im Schulhof, und die Kinder hörten auf zu lachen. Die Spielsrunde war vorüber. Evie ging in die Hocke, das Kätzchen beschützend an sich gedrückt.
»Du gräbst doch nicht etwa einen neuen Fischteich, oder?« »Ich repariere die Rohre.« »Welche Rohre?« »Die für die Sprinkleranlage.« »Wozu die Mühe?« fragte sie ernst. »So werden wir das Haus leichter verkaufen können. Wir können es mit einem Garten wie diesem nicht besichtigen lassen.« Sie blickte an ihm vorbei auf die wuchernden Rosen, Farne und die Bäume, die er gepflanzt hatte. Sie waren nun mit vertrockneten Kletterpflanzen und verwelktem Efeu überwuchert. Die Pflanzengitter aus dem Holz der Redwoods waren ausgeblichen und verzogen. Über dem Lavastein hatte einmal ein Wasserfall im Sonnenlicht geglitzert und geplätschert. Der Garten hinter dem Haus sollte einem tropischen Paradies gleichen, damit sich ihr Grundstück in dieser vorstädtischen, vertrockneten Wohngegend von den anderen abhob. Es hätte gelingen können, wären im letzten Jahr nicht die Rohre unter der Erde geplatzt. Für eine Weile hatte der Regen alles am Leben gehalten, doch dann kam die nächste Dürreperiode. Der Laden nahm so viel Zeit in Anspruch, daß sie beide nicht daran dachten, regelmäßig zu gießen. Der Schlauch der Sprinkleranlage lag eingeschrumpft wie eine Schlangenhaut im Unkraut. Er folgte ihrem Blick und erkannte, wie töricht er war. Auf der Straße quietschen wieder die abgefahrenen Bremsen des Wagens, der nun näher kam. Das Kätzchen sprang davon und suchte Deckung. »Es ist dein freier Tag«, sagte sie und betrachtete ihn aus der Nähe. Ihre Knie waren so weiß wie ihre Fingerknöchel. »Ich weiß, aber das muß erledigt werden, und wir können es uns nicht leisten, jemanden dafür einzustellen ...« Ein leises Lächeln umspielte ihren Mund. Sie befeuchtete ihre Lippen. »Dan ...«
»Mach dir keine Sorgen. Ich werde später mit Eddies Zimmer anfangen. Ich brauche einen neuen Pinsel. Und Rollen.« Sie beugte sich weiter vor und schloß halb die Augen. »Danny ...« »Ich habe mir gedacht, ich könnte auch gleich die Küche streichen. Sobald ich hier fertig bin, werde ich bei Builders Bonanza einige Abdeckplanen kaufen. Morgen ist Sonntag, also wenn ich in beiden Räumen einen Anstrich machen kann ...« »Danny«, flüsterte sie. »Hältst du jetzt endlich den Mund?« Sie stützte ihre Ellbogen auf den Boden und drehte ihr Gesicht seitwärts, so daß es beinahe die Erde berührte. Dann küßte sie ihn. Als sie zurückwich, verband ein silberner Faden wie bei einer Spinnwebe ihre Lippen mit seinen. »Wofür war das?« »Dafür.« »Warum?« »Weil du jemand Besonderes bist«, erwiderte sie mit einem Blick auf seinen Mund. Er ließ den Spaten los und griff nach ihr. Eddie kam aus der Garage. Die Bremsen quietschten wieder - dieses Mal direkt vor ihrem Haus. »Das ist der Postwagen.« Sie stand auf. »Ich werde mal nachsehen.« »Sag ihm bei der Gelegenheit, er soll seine Bremsen richten lassen.« Sie ging ins Haus. »Was ist das?« Eddie stieß mit der Spitze seines NikeTurnschuhs gegen die schmutzige Spielzeugpistole. »Das ist eine Fanner Fifty«, erklärte Markham. »Was ist eine Fanner Fifty?« fragte Eddie, als wollte er prüfen, ob sein Vater seinen eigenen Namen, den heutigen Wochentag und das Jahr wußte.
»Es ist dieselbe Pistole, die ich besaß, als ich in deinem Alter war.« »Dieselbe Pistole?« »Na ja, die gleiche Marke.« »Als du in meinem Alter warst?« »Vielleicht war ich ein wenig jünger. Siehst du, wie flach der Hahn ist? So konnte man eine ganze Ladung abfeuern fünfzig Schüsse hintereinander.« »Toll, Dad«, sagte Eddie ein wenig verlegen und wechselte rasch das Thema. »Ich habe die Shock Zone-Hefte auf das Regal gelegt. Wird es regnen?« »Ich glaube nicht. Warum?« »Die Plane ist löchrig. Und das Dach ebenfalls. Wenn es regnet, sind meine Zeitschriften kaputt.« »Das wird nicht passieren. Ich muß ohnehin neue Planen kaufen, bevor ich dein Zimmer streiche.« Eddie stöhnte. »Wann willst du das tun?« »Vielleicht heute nachmittag. Willst du zu Builder's Bo nanza mitfahren?« »Nein, danke.« Eddies Stimme klang, als würde er lieber seine Großmutter im Sarg küssen. »Ich treffe mich mit Tommy.« »Hast du das Mom gesagt?« »Ja.« »Bist du zum Abendessen zurück?« »Ich weiß nicht. Wir wollen ins Einkaufszentrum.« »Braucht ihr jemanden, der euch hinfährt?« »Sein Bruder setzt uns dort ab.« »Beim Cineplex?« »Ja.« »Was läuft dort?« »American Zombie II.« Markham zuckte zusammen. »Klingt gut.«
»Tommys Bruder sagt, er ist nicht so gut wie der erste Teil. Aber der versteht nichts davon.« Eddie erwärmte sich für das Thema und kniete sich neben das Loch. »Stefan J. meint, er sei besser.« »Stefan?« »Der Herausgeber von Shock Zone.« »Oh.« »Er wird in Dolby-Surround gespielt.« »Du meinst in Stereo?« »Klangliche Dreidimensionalität«, erklärte der Junge beigeistert. »Der Ton kommt von allen Seiten - du hörst ihn von hinten und sogar über deinem Kopf. Im ersten Teil, wo Justin Travis - das ist der amerikanische Zombie - am Ende mit der Achterbahn fährt, kannst du die Kugeln pfeifen hören!« Das liebt er, dachte Markham. Und er weiß, wovon er spricht. Er sollte auf die Filmhochschule gehen, vielleicht zur UCLA oder zu Cal Arts. Ich würde mir die Filme gern ansehen, die er macht. »Wann kommt der dritte Teil heraus?« fragte er. »Wahrscheinlich im nächsten Jahr.« »Vielleicht können wir ihn uns gemeinsam ansehen.« Wie wir das früher getan haben, dachte Markham und erinnerte sich an die John Carpenter-Retrospektive im vergangenen Jahr. Oder war es bereits zwei Jahre her? Evie würde natürlich nicht mitkommen, aber er schon. »Das ist okay, denke ich«, meinte Eddie. Die Tür zum Garten wurde geöffnet. »Hier bin ich wieder«, sagte Evie. »Hi, Mom.« Eddie lief rasch an ihr vorbei ins Haus. »Ich habe nach dir gesucht ...« »Auf Wiedersehen, Mom.« »Wohin geht er?« fragte Evie und durchquerte den Garten. »Zu Tommy«, erklärte Markham. »Du weißt schon, drüben
in Bradfield.« »Hm. Ich bin in ein paar Minuten mit Jean verabredet. Will er nicht, daß ich ihn hinfahre?« »Jetzt nicht mehr«, erwiderte er. »Na gut«, sagte sie. »Das sind nette Leute. Hat er dich um Geld gebeten?« »Nein.« »Gut. Er hat bereits einen Zehner von mir bekommen. Einen Vorschuß auf seinen Artikel.« Sie seufzte und erinnerte sich an den Stapel Kuverts, die sie in der Hand hielt. »Hier ist die Post.« »Irgend etwas Erfreuliches?« »Citibank, Discover, American Express ...« »Außer Rechnungen.« »Laß mich nachsehen. Lloyd Curry's neuer Katalog, einer von Robert Gavora, Dreamhaven Books ... Und hier ist ein Brief für dich.« »Von wem?« »Es steht kein Absender auf dem Kuvert. Vielleicht ist er von deiner Freundin.« »Riecht der Brief nach Parfüm?« Sie roch daran. »Nein, tut mir leid.« »Riecht er nach Geld?« »Ich weiß nicht. Das ist schon so lange her.« »Mach ihn auf.« Als sie das Kuvert öffnen wollte, klingelte in der Küche das Telefon. »Meine Güte«, sagte sie. »Das ist Jean. Wie spät ist es? Hier.« Sie ließ die Post fallen und rannte zur Tür zurück. Die Kataloge und Rechnungen fielen zu Boden und ließen Erde in das Loch prasseln. Er suchte das Kuvert heraus und öffnete es. Die Sonne stand jetzt höher, und auf dem Erdhügel bildeten sich körnige Klumpen. Sand rieselte über die Kante und
bedeckte seine Schuhe. Das Kuvert enthielt ein einziges Blatt Schreibpapier, das dreifach gefaltet war. Es schien zusammengeklebt zu sein. Als die Sonnenstrahlen darauffielen, sah er, daß etwas an die fleckige Rückseite geheftet war. Es handelte sich um eine Collage aus Ausschnitten eines alten Magazins, die auf ein weißes Blatt geklebt waren. Die Bilder stammten aus einer Modezeitschrift aus den siebziger Jahren und zeigten mehrere Mannequins in schicken Kleidern. Einige Stücke fehlten - der Rest war wie ein Puzzle zusammengesetzt worden, fügte sich jedoch an einigen Stellen nicht ganz aneinander. Er dachte unwillkürlich an die fehlenden Glieder einer Papierpuppe. Oben auf der Seite stand in schiefen Buchstaben: LIEBER DANNY, ICH KOMME NACH HAUSE. WARTE AUF MICH! IN LIEBE, JUDE Seine Hand, in der er das Blatt hielt, begann zu zittern. Eine warme Brise strich durch den Garten. Er lehnte sich gegen den Erdhügel und las den Brief noch einmal. Die Sonnenstrahlen fielen nun in das Loch, das er gegraben hatte und zeigten jedes Detail des Mulchs, der Erde, des Gerölls, des feuchten Lehms und die Kanten der in Schichten liegenden, längst vergessenen Trümmer, die schon so lange hier vergraben lagen.
2. Kapitel Evie lief durch das Haus, das Morgenlicht folgte ihr. In jedem Fenster blitzte ein weißer Funke auf, als hätte sie beim Vorübergehen draußen eine Reihe Glühbirnen angeknipst. Neben dem Schlafzimmer glaubte sie einen großen dunklen Schatten von einer Fensterscheibe zur nächsten gleiten zu sehen, doch das Glas war so alt, daß es alles verzerrt widerspiegelte, und sie war sich nicht sicher, ob wirklich jemand hier war. Als sie ihr T-Shirt und die Shorts ausgezogen hatte und unter die Dusche steigen wollte, klingelte es an der Tür. »Eddie, könntest du ...?« Natürlich nicht. Ihr Sohn war längst gegangen, um sich mit seinen Freunden zu treffen und ins Einkaufszentrum zu fahren. »Dan?« rief sie, in der Hoffnung, ihr Mann würde sie hören. Mit einer Hand am Heißwasserhahn und der anderen am Rand des Duschvorhangs wartete sie. Dan war anscheinend noch im Garten. Zu weit weg. Wieder ertönte die Türklingel. Sie griff nach ihrem Morgenmantel, aber er hing nicht an der Tür. Natürlich, dachte sie, ich habe ihn in den Wäschekorb gelegt. Es blieb ihr nicht genügend Zeit, um sich anzuziehen. Sollte sie das Klingeln einfach ignorieren? Nein, es könnte der Paketdienst sein, der eine Lieferung für den Laden brachte -dann müßten sie oder Dan losfahren, nur um das Paket abzuholen. Sie fand seinen Frotteebademantel zerknüllt am Fußende des Betts. »Ich komme schon!« rief sie, verknotete den Gürtel und tappte durch das Wohnzimmer. Zuerst ging sie zum Fenster und spähte am Vorhang vorbei hinaus. Sie sah nur die Hälfte der Veranda - bis auf den langen Schatten der Markise schien sie leer zu sein. Dann glitt etwas über den Rasen. Evie drehte rasch ihren Kopf und bemerkte
einen kleinen Laubhaufen, der über den Gehsteig geweht wurde. Weiter unten auf der Straße bog gerade der Postwagen um die Ecke, und ein Auto hielt vor dem Stoppschild. Es kam ihr irgendwie bekannt vor. War das nicht Dans Wagen? Das bedeutete, er war weggefahren, ohne ihr Bescheid zu sagen. Sie ließ den Vorhang fallen und öffnete die Tür. »Ja?« Eine junge Frau stand halb abgewandt vor ihr, so als hätte sie gerade beschlossen, aufzugeben und wieder zu gehen. Hinter ihr raschelten Eichenblätter auf dem Rasen. Wie aus dem Nichts war ein leichter Wind aufgekommen. »Bitte verzeihen Sie die Störung«, sagte sie unsicher. »Aber ich ...« Evie hatte sie nie zuvor gesehen. Zumindest hatte sie keinen Musterkoffer in der Hand und wollte ihr daher hoffentlich nichts verkaufen. Das war eine Erleichterung. »Schon gut«, erwiderte Evie und entspannte sich ein wenig. »Was kann ich ...?« »Na ja, sehen Sie ...« Das Mädchen war entweder noch ein Teenager oder höchstens Anfang Zwanzig, aber da die Nachmittagssonne auf ihren Rücken schien, war das schwer zu sagen. Ihr Haar war kurz und einfach geschnitten. Sie trug ein loses, knielanges Baumwollkleid ohne Gürtel, das ihr viel zu groß war. Es wirkte, als wolle sie ihre Figur verbergen. »Welche Straße ist das?« fragte sie schließlich. »Stewart Way.« »Oh. Ich habe befürchtet, falsch abgebogen zu sein.« Bedeutete das nun, daß es so war? Oder nicht? »Nach welcher Adresse suchen Sie denn?« Sie hatte keinen Grund, ihren Körper zu verstecken. Soweit Evie das nach den langen, sehnigen Armen, dem flachen Bauch und den rosa Füßen mit den kurzen Zehen beurteilen konnte, trug sie Größe 38.
»Ich weiß nicht. Nach der Schule.« »Greenworth Grundschule?« War sie etwa zu Fuß unterwegs? Ohne Schuhe? »Sie sind fast schon dort. Biegen Sie an der Ecke links ab und dann noch einmal links. Sie können sie nicht verfehlen.« »Danke.« Sie machte keine Anstalten zu gehen, sondern zögerte, als hätte sie noch nicht gesagt, was sie eigentlich auf dem Herzen hatte. Wollte sie wirklich zur Schule? Vielleicht trägt sie sogar Größe 36, dachte Evie. So dünn war ich auch einmal. »Sonst noch etwas?« Wo war nur ihre Armbanduhr? Sie hatte sie im Badezimmer abgenommen. »Ich bin spät dran. Um halb eins bin ich zum Mittagessen verabredet.« Sie lächelte die junge Frau - das Mädchen? - freundlich, aber unmißverständlich an und schob die Tür zu. »Ist es weit?« »Gleich um die Ecke.« »Ich meinte den Ort, wo Sie zu Mittag essen wollen.« »Was?« Evie fragte sich, was die junge Frau das anging. »Nein, eigentlich nicht. Auf der anderen Seite des Hügels.« »Das ist gut.« Das Mädchen sah auf seine Armbanduhr. »Es ist erst viertel nach elf.« »Tatsächlich?« Evie war überrascht. »Ich dachte, es wäre mindestens schon zwölf Uhr.« Das Mädchen blieb weiter in den gelblich-weißen Lichtstrahlen stehen. Von den Eichen auf der anderen Straßenseite fielen wieder Blätter. Evie hörte ein Kratzen auf dem Dach, das entweder von Zweigen oder kleinen Krallen stammte. Das Kätzchen? Ein heißer Luftstrom kam von der Veranda herein, blies ihr das Haar aus der Stirn und blähte ihren Bademantel auf. Dans Bademantel. Sie zog den Gürtel fest. »Glauben Sie, daß ...?« »Was?« fragte Evie.
»Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben? Der Wind ist so heiß ...« »Das ist der Santa Ana.« »Wie?« »Er kommt immer um diese Jahreszeit.« »Warum?« Sie war nicht von hier. »Ich bin nicht sicher. Es ist ein warmer Wind vom Süden - aus Mexiko, glaube ich. Auf jeden Fall kommt er von jenseits der Grenze.« Die Bäume rauschten und schwankten hin und her. Evie öffnete die Tür weiter. »Sie müssen nicht draußen stehenbleiben. Kommen Sie herein.« Als sie die Tür schloß, verstummte der flüsternde Chor der Blätter. Evie fühlte sich besser. Das Geräusch hatte sie nervös gemacht. Dann hörte sie einen Deckenbalken knarren und laut aufschlagen. Im Kamin raschelte es leise, als der Wind die Asche unter dem Rost aufwirbelte. Er hatte sich einen Weg ins Haus gebahnt. Sie mußte Dan bitten, den Rauchfang zu schließen. »Ich hole Ihnen Wasser.« Evie machte sich auf den Weg in die Küche und sah sich dabei noch einmal um. Das Mädchen stand unbeholfen neben dem Sofa. Suchte sie einen Platz, um sich zu setzen? Evie blieb stehen und nahm die Morgenausgabe der Zeitung von den Kissen. »Ich heiße übrigens Eve. Eve Markham.« »Ich weiß.« Ihre Haut war dunkel getönt - wahrscheinlich war sie spanischer Abstammung. Oder war sie nur tief gebräunt? »Woher?« »Vom Briefkasten.« Der seltsame Moment ging so rasch vorüber wie ein verzögerter Herzschlag. Evie dachte, das Mädchen würde ihr nun
seinen Namen nennen und wartete. »Oh«, sagte sie nach einigen Sekunden. »Also, hallo.« »Hi.« Sie ging in die Küche, holte eines der großen Gläser, füllte es rasch und kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Ich habe vergessen zu fragen, ob Sie Eis wollen.« »Was? Oh, nein. Das ist schon in Ordnung so.« Das Mädchen trank nur einen kleinen Schluck und stellte dann das Glas vor sich auf den Tisch. Sie hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht, und die hastig zu einem Stapel zusammengeschobenen Zeitungen waren nicht mehr zu sehen. Hatte sie sie weggeräumt? Wohin? Evie fragte sich, ob sie vielleicht eine Stellung als Hausmädchen suchte. Aber das ergab keinen Sinn. Warum gerade in diesem Haus? Evie verwarf diesen Gedanken. »Wohnen Sie in der Nähe?« fragte sie und setzte sich auf den Sessel. »Ich werde bald hierherziehen. Sobald ich das richtige Haus gefunden habe.« Evie hörte, wie ein Wagen an der Kreuzung um die Ecke bog und sich dann entfernte. Während sie überlegte, was sie noch sagen könnte, senkte sie den Blick und sah, daß ihre Knie unter dem Bademantel herausragten, so als wäre es nicht Dans, sondern ihr eigener, viel kürzerer. Sie bedeckte ihre Beine und bemerkte dabei die Venen an ihren Handrücken -sie ließen sie älter aussehen, wie eine Frau mittleren Alters. Evie spürte das Blut in ihren feuchten Handgelenken pulsieren und fuhr sich mit der Hand über die Stirn und den Nacken. Ihre Haut fühlte sich heiß an. Das mußte der Wind sein. Mehr denn je zuvor brauchte sie jetzt eine Dusche. Warum gab es im Wohnzimmer keine Uhr? »Besucht Ihr Kind diese Grundschule?« fragte sie. »Noch nicht. Ich möchte mir zuerst die anderen Kinder dort ansehen. Wird dort um zwölf Uhr gegessen?«
Es war schon so lange her, daß ihr Sohn auf diese Schule gegangen war. Ein Jahr? Nein, länger. Evie konnte sich kaum mehr daran erinnern. Das Schulgebäude lag nicht weit entfernt, und Eddie war deshalb meistens zum Mittagessen nach Hause gekommen, selbst wenn sie und Dan gearbeitet hatten. »Ich denke schon. Aber heute findet kein Unterricht statt -nur die Spielgruppe.« Das Mädchen trank wieder einen winzigen Schluck Wasser. Stimmte damit etwas nicht? Tut mir leid, aber ich habe kein Wasser aus der Flasche, dachte Evie. »Sie müssen mich jetzt entschuldigen«, sagte sie. »Ich muß wirklich ...« Im Garten knirschte es laut, und dann fiel etwas mit einem ohrenbetäubenden Krachen zu Boden. Evie hastete durch das langgestreckte Haus zur hinteren Veranda. Der Garten sah irgendwie verändert aus. Zuerst war sie nicht sicher, woran das lag. Das Stück Himmel, das man sehen konnte, schien mit einemmal größer zu sein. Dann sah sie, daß einer der Bäume, die Dan zwischen dem Haus und der Garage gepflanzt hatte, umgefallen war. Nein, er war abgebrochen. Die obere Hälfte bildete neben zwei kleinen Palmen einen Haufen aus trockenen, mißgestalteten Zweigen und verdorrten, unreifen Früchten. Der Stamm war gespalten, und die Rinde hatte sich abgelöst, so daß man das weiche weiße Innere sehen konnte, wie ein faseriges, vom Knochen abgelöstes Stück Hühnerfleisch. Das Mädchen stand dicht hinter ihr. »Der Baum«, sagte Evie. »Ich kann es nicht glauben. Na ja, wenigstens hat er das Haus nicht getroffen.« »War das der Wind?« »Ja, das nehme ich an. Was sonst?« »Das tut mir leid.« »Schon gut. Es ist ja nicht Ihr Fehler. Er hätte ihn mehr gie-
ßen sollen.« »Wer?« »Dan, mein Mann.« »Ich habe seinen Namen am Briefkasten nicht gesehen.« Aber er war da. Dan & Eve Markham. Sie erinnerte sich noch an den Tag, an dem er die selbstklebenden Buchstaben dort angebracht hatte. Das hatte er doch getan, oder? Vielleicht hatten sie sich abgelöst. Sie betrachtete den abgebrochenen Baum. Seit langem vernachlässigten sie den Garten. Früher war er einmal üppig und voll Leben gewesen. Wie viele Jahre war das schon her? Die toten Pflanzen und nun das hier ließen ihn eher wie einen von Unkraut überwucherten Friedhof aussehen. Aber es gab nichts, was sie jetzt dagegen hätte unternehmen können. »Dan wird nicht gerade begeistert sein, wenn er nach Hause kommt.« »Was macht Ihr Mann?« fragte das Mädchen. »Er, nein, wir betreiben einen Buchladen. Neue und gebrauchte Bücher. Minor Arcana, an der Main und Second Street.« »Ist er jetzt dort?« »Ich hoffe nicht. Heute ist sein freier Tag.« Und meiner auch, dachte sie. Zumindest war es so gedacht gewesen. Trotzdem war sie erleichtert, nicht allein zu sein. Hätte sie die Tür nicht geöffnet, wäre sie unter der Dusche gewesen, als es passierte. Sie stellte sich vor, wie sie nach dem lauten Krach vor Nässe tropfend durch das Haus gelaufen wäre ... »Ich bin froh, daß Sie hier waren«, sagte Evie. »Ich auch.« »Möchten Sie noch etwas Wasser?« »Ihr Mann muß sehr klug sein.« Evie lachte und entspannte sich. »Er ist der intelligenteste Mann, den ich kenne. Deshalb habe ich ihn geheiratet. Nun, das
war zumindest einer der Gründe.« »Hat er einen Universitätsabschluß gemacht?« »Nein. Er hat zwar jahrelang studiert, aber nie graduiert. Er suchte sich immer nur die Fächer heraus, die ihn interessierten.« Die Frage kam ihr seltsam vor. »Und Ihr Mann?« »Er hat ein eigenes Geschäft. Und er ist auch sehr klug. Wir werden bald ein hübsches Haus mit vielen Fenstern haben, so wie dieses hier. Sobald wir uns hier niedergelassen haben.« Evie lehnte sich zurück und musterte die junge Frau. Vielleicht war sie gar nicht mehr so jung; schwer zu beurteilen. Ihr Haar war unmodisch geschnitten - es wirkte, als hätte sie selbst zur Schere gegriffen und würde nun warten, wie es aussah, wenn es wieder nachwuchs. Die Fenster befanden sich hinter dem Sofa, so daß ihre Gesichtszüge im Schatten lagen, aber Evie war sich sicher, daß sie kein Make-up trug. Ihre Beine waren fest und wohlgeformt, ihre Fußgelenke sehr schmal. Am linken Arm trug sie eine Uhr - eine Schweizer Armeeuhr, die eigentlich für Männer gemacht war. Aber keinen Ring. Evie traf jeden Tag mit Dutzenden von Menschen zusammen. Viele der Leute, die auf der Suche nach einem Buch in den Laden kamen, waren ihr völlig fremd. Einige wußten weder den Namen des Autors noch den Titel des Buchs, oder waren sich nicht sicher, wonach sie überhaupt suchten. Evie verstand sich darauf, mit ihnen zu sprechen, bis sie sich unbefangen und wohl fühlten. Es gelang ihr, sie aus der Reserve zu locken und festzustellen, was sie wirklich wollten. Manchmal wünschten sie sich nur ein wenig Unterhaltung. In solchen Fällen versuchte Evie, sie trotzdem zufriedenzustellen, bevor sie sich von ihnen verabschiedete, damit sie wiederkommen würden. Jetzt befand sie sich allerdings nicht im Laden, und diese junge Frau war keine Kundin. Was sie wollte, war unklar. Evie hatte das Gefühl, im Nachteil zu sein. Diese Frau kannte die Macht des Schweigens. Es war eine Art, die Oberhand zu behalten. Aber
zu welchem Zweck? »Sie haben also Kinder?« Natürlich hat sie welche, dachte Evie. Sie hatte es zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber warum sollte sie sonst an der Schule interessiert sein? »Und Sie?« »Einen Sohn«, erwiderte Evie. »Sein Name ist Edward. Er ist gerade dreizehn geworden.« Sie beschloß, es dabei zu belassen. Normalerweise hätte es ihrer Art entsprochen, der Frau jetzt alles über Eddie zu erzählen, bis diese nichts mehr über ihn hören wollte. Sie hätte darüber gesprochen, wie scharfsinnig und frühreif er war. Doch aus irgendeinem Grund hatte sie instinktiv das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Sie war erleichtert, daß er nicht hier war. »Ist er in der Schule?« »Heute nicht. Es ist Samstag. Haben Sie das vergessen?« »Wo ist er dann?« Evie spürte plötzlich einen kalten Luftzug. Sie zupfte am Kragen des Bademantels und zog ihn am Hals zusammen. »Bei einem Freund.« Ja, bei dem Jungen der Oshidaris, drüben in Bradfield. Das stimmte doch, oder? »Kommt Ihr Mann zurück?« »Natürlich. Warum sollte er nicht?« »Ich würde ihn ... gern kennenlernen.« Evie stand auf. »Entschuldigen Sie mich. Ich muß mich jetzt zurechtmachen.« »Sind Sie sicher?« Was sollte das bedeuten? »Ja, tut mir leid. Es ist schon spät.« »Tatsächlich?« Danny, dachte sie. Wo bist du? »Was sagt Ihre Uhr dazu?« Die Frau warf einen Blick auf ihr Handgelenk und klopfte auf das Uhrglas. »Sie ist stehengeblieben.« »Wann?« »Das weiß ich nicht.«
Evie ging zur Schlafzimmertür und warf einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. »Es ist halb eins!« rief sie. »Sie sollten eine Uhr tragen.« »Das tue ich auch«, erwiderte Evie barsch. »Ich habe sie abgenommen, als ich duschen wollte. Dann haben Sie an der Tür geläutet.« »Sie brauchen eine Uhr im Wohnzimmer. Ich werde in meinem neuen Haus eine haben.« Evie riß die Haustür auf. »Sicher«, sagte sie. »Auf Wiedersehen«, fügte sie unmißverständlich hinzu. Im Schlafzimmer sah sie sich nach der Kleidung ihres Manns um, aber nicht einmal seine Socken lagen neben dem Bett. Sie waren in der Schmutzwäsche, oder? Am liebsten wäre sie zur hinteren Veranda gegangen, wo die Waschmaschine und der Trockner standen, um nachzusehen, aber sie hatte keine Zeit mehr. Doch dann könnte sie auch einen Blick in das Zimmer ihres Sohns werfen. Warum? Um zu sehen, ob seine Kleider, seine Sachen noch da waren? Hektisch sah sie sich in dem leeren Schlafzimmer um. Wo waren die Zeichnungen ihres Sohns aus seiner Kindheit? Sie hatte sie doch vor Jahren an die Wand geklebt, oder nicht? Das hatte sie doch getan, oder? Sie spürte, wie ein Gefühl der Angst durch ihren Körper von unten nach oben kroch und ihr die Kehle zuschnürte. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, und die Knöchel an ihren schmalen Fingern traten weiß hervor und schienen beinahe die Haut zu sprengen. Wo war ihr Ring? Hatte sie ihn im Badezimmer abgelegt? Mit großer Anstrengung formte sie ihre Lippen zu einem Wort. Dan, dachte sie. Das war der Name ihres Mannes. Edward. So hieß ihr Sohn. Wo waren sie? Ein warmer Wind fegte durch den Raum und färbte ihre
Wangen rot. Die Vordertür. Sie hatte sie offen gelassen. Sie ging ins Wohnzimmer zurück. An der Türschwelle stand die Frau. Wieder zeigte sie ihr Profil. Der heiße Wind fuhr an ihr vorbei ins Haus und blähte ihr Kleid auf. Durch das gebauschte Kleid wirkte sie um mindestens zwanzig bis dreißig Pfund schwerer. Die flirrende Luft schuf ein Trugbild zwischen Evie und der Tür, so daß die Beine der Frau plötzlich dick wirkten - stark genug, um das zusätzliche Gewicht zu tragen. Die Knöchel waren plötzlich angeschwollen und unförmig. Evie wurde schwindlig. »Was wollen Sie von mir?« fragte sie. Der Wind legte sich, fuhr hinaus, und irgend etwas verließ das Haus. Das Kleid der Frau glättete sich und hing ihr nun wieder lose am Körper. Doch Evie konnte deutlich erkennen, daß die Frau jetzt nicht mehr schlank war. Das Vorderteil des Kleids wirkte immer noch aufgeblasen wie ein Ballon und spannte sich über einen runden, eindeutig geschwollenen Bauch, der zuvor noch vollkommen flach gewesen war. »Nichts«, erwiderte die Frau und drehte den Goldring an ihrem Finger. Dann drehte sie sich um und wandte sich endlich zum Gehen. Dabei lächelte sie, als habe sie ein Geheimnis, etwas, das zu neu, zu persönlich und zu privat war, um es mit jemandem zu teilen - schon gar nicht mit einer Fremden. Zumindest noch nicht.
3. Kapitel Justin Travis ist ein junger Forschungsassistent bei der Olympia Chemical Company. Eines Nachts macht er Überstunden und entdeckt einen Fehler im Programm des Computers. Er gibt die Zahlen noch einmal ein, aber es gibt keinen Zweifel: Irgend etwas läuft hier auf gefährliche Weise falsch. Er muß mit seinem Boß, dem Geschäftsführer der Olympia Chemical, sprechen, bevor es zu spät ist. Unterwegs ruft er seine Freundin aus einer Telefonzelle an. Stacey ist Sekretärin und arbeitete bei Olympia am Zentralcomputer. Jetzt ist sie zu Hause und wartet auf ihn. »Wo bist du, Justin?« »Tut mir leid. Ich wurde aufgehalten. Mit den Zahlen stimmt etwas nicht ...« »Das Essen ist kalt!« »Ich werde das wieder gutmachen!« »Du solltest einfach keine Verabredungen treffen, die du nicht einhalten kannst.« »Das ist wirklich das letzte Mal, das verspreche ich dir. Ich mußte mich einfach nur vergewissern ... Bis später.« »Justin, wir müssen miteinander reden. Aber nicht jetzt. Es ist schon spät.« Sie legt auf Er hat vergessen, daß sie für ihn gekocht hat. Aber diese Zahlen sind wichtig. Er holt sich einen Hot dog mit Chili an einem Imbißstand und beißt hinein. Dann fährt er weiter ... Er fährt zu einer Baustelle im San Fernando Valley, wo Olympia Chemical an einem Wohnungsbauprojekt beteiligt ist. In dem Wohnwagen, der als Büro dient, sieht sich sein Boß,
Robert Marston, mit Ben, dem Bauleiter, gerade die Entwürfe an. »Mr. Marston, ich muß Ihnen etwas zeigen.« »Kann das nicht warten?« »Nein, Sir!« Justin reicht Marston einen Ausdruck. »PCB, Blei, Radon - alle Werte scheinen in Ordnung zu sein ...« »Und nun sehen Sie sich bitte die Analyse der letzten Bodenprobe an.« »Aber ich selbst habe diese Probe genommen«, erwidert Marston. »Richtig!« Die neuen Zahlen zeigen, daß der Baugrund nicht sicher ist. »Das bedeutet Krebserkrankungen«, erklärt Justin ihm. »Geburtsschäden, Mutationen, genetische Verbindungen mit organischem Material ... Wir müssen den Bau sofort einstellen!« Marston kann das nicht glauben. Seine Firma hat ein Vermögen mit der patentierten Methode erworben, die jedes Landstück - sogar eine Gißmülldeponie - sicher und bewohnbar für die menschliche Bevölkerung macht. »Wir haben einen Fehler gemacht. Die LKWs waren mit einer falschen Mischung beladen. Anstatt die Gegend zu neutralisieren, haben wir noch mehr Giß in den Boden gespritzt!« Justins Stimme überschlägt sich fast. Marston bedeutet dem Bauleiter mit einer Geste zu gehen. »Wer weiß sonst noch davon?« fragt er erschüttert. »Niemand - bis jetzt.« »Fahren Sie nach Hause, Justin. Ich werde mich um alles kümmern!« »Ich bin froh, daß ich Sie noch rechtzeitig erreicht habe,
Sir.« »Ich auch!« Als Justin das Gelände verläßt, setzt sich ein anderer Wagen neben seinen ... Und versucht, ihn von der Straße abzudrängen. Justin reißt das Steuer herum, aber es ist zu spät. Vor ihm stehen die mit tödlichen Chemikalien beladenen Tankwagen der Firma Olympia. Er prallt auf einen der Laster auf, und die Chemikalien ergießen sich Über sein Auto! Justin steigt aus dem Wrack. Völlig verseucht stolpert er noch einige Meter weiter, dann bricht er zusammen ... Sein Wagen verschmilzt mit einer gelb-grünen Wolke aus gißigen Dämpfen. Bei seiner Ankunft im Krankenhaus wird Justin für tot erklärt. Marston berät sich mit Dr. Winter, dem Chefarzt der chirurgischen Abteilung. »Warum soll ich das geheimhalten, Bob?« »Es ist einiges ausgelaufen. Wenn die Presse davon Wind bekommt, könnte das unserem Ansehen sehr schaden!« »Es verstößt aber gegen die Politik der Klinik ...« »Denken Sie an den Flügel für die Kinder, Doug. Ich würde nur ungern die Stißungsgelder zurückziehen!« Später bringt ein Pfleger Justins Leiche in den Keller. In der Leichenkammer kann er dem Drang nicht widerstehen, einen kurzen Blick unter das Laken zu werfen. Justins Leiche ist mit Verbrennungen übersät. An seinen Lippen klebt eine klumpige braune Masse - der Hot dog mit Chili, den er kurz vor seinem Tod gegessen hat. »Was ist denn das für ein Dreck?« murmelt der
Krankenpfleger. »Du solltest aufpassen, Mann. Du bist, was du ißt. Schweinefleisch wird dich noch umbringen ...« Aber Justins DNA ist bereits mit dem organischen Material verschmolzen, das sich in seinem Magen befand, und die Mutation hat begonnen. Während der genetische Code des Schweins in Justins Gehirnzellen eindringt, betrachten wir seine Wahrnehmungen: Wir sehen Bilder eines Schlachthofs ...wo Schweine geschlachtet und zu Wurst verarbeitet werden ... Diese Erinnerungen sind nun ein Teil von Justin. Der Pfleger spritzt die Leiche mit einem Schlauch ab. Ungläubig starrt er auf Justins Wunden, die plötzlich vor seinen Augen heilen. Und dann setzt Justin sich auf. »Hilfe ...« »Ganz ruhig, Mann! Ich hole einen Arzt!« »Bitte ...«Er greift nach der Hand des Pflegers. »Sie sind warm ... Helfen Sie mir. Ich brauche ...« »Was?« »Ich muß ... muß alles wissen.« Justin steckt die Finger des Pflegers in den Mund ... Und beißt sie ab! Justin ist von den Toten zurückgekehrt - und er ist gierig nach Wissen. Nachdem er die Erinnerungen des Pflegers aufgesaugt hat, kann er sich im Krankenhaus zurechtfinden. Er versenkt die Leiche in einem Säurefaß und macht sich auf den Weg nach draußen. Am nächsten Morgen geht Stacey zu Olympia Chemical, um zu arbeiten. Sie betritt das Labor ... Justin sitzt an seinem Schreibtisch, als sei nichts gesche-
hen. Er kann sich nicht an alles erinnern, was am Abend zuvor geschehen ist. Nur Bruchstücke sind ihm im Gedächtnis geblieben. Er weiß nur, daß er in einen Unfall verwickelt war, in einem Krankenhaus aufgewacht ist, den Weg nach draußen gesucht hat und nach Hause gegangen ist. Als Marston an der Tür zum Labor vorbeikommt, traut er seinen Augen nicht. Er ruft Justin in sein Büro. »Was wissen Sie noch?« »Nicht viel.« Marston ist erleichtert. »Es muß der Schock gewesen sein, Katalepsie ... Gehen Sie zu meinem Arzt, Dr. Winter. Lassen Sie mich die Ergebnisse des EEG wissen. Und dann nehmen Sie sich ein paar Tage frei.« Marston kann nicht begreifen, was geschehen ist, aber er befürchtet, Justin könnte sich an die Baustelle erinnern, und an das, was ihn letzte Nacht dorthin geführt hat. Heute kommt Justin pünktlich zum Abendessen in Staceys Wohnung. Er ist irgendwie anders - verändert. Sie weiß nicht warum, aber es gefällt ihr. Sie hat ihm sein Lieblingsgericht gekocht - Steak Bourguignon. Schon mit dem ersten Bissen nimmt er sofort die genetischen Informationen des Fleisches auf Er erinnert sich an einen Schlachthof, in dem Rinder geschlachtet werden ... »Geht es dir gut, Justin?« Er kaut und schluckt dann. »Es tut mir leid, ich bin noch etwas durcheinander!« Als sie sich später lieben, benimmt er sich stürmisch und
ein wenig grob. Das ist nicht der Justin, den sie kennt - aber es erregt sie. »Mmm, hör nicht auf ...« »Ich will dich«, sagt er. »Ich will eins mit dir sein, alles wissen, was du weißt ...« Seine Zähne bohren sich in die Haut an ihrer Schulter, und er schmeckt ihr Blut. Rasch nimmt er ihre DNA auf Jetzt weiß er alles, was sie weiß ... Auch die im Hauptcomputer der Firma gespeicherten Informationen kennt er nun. Als Stacey ihre Fingernägel in seinen Rücken gräbt, quillt ein glitzernder Tropfen einer gelb-grünen Flüssigkeit aus dem Kratzer ... Am nächsten Tag stehen die Zementmischer auf der Baustelle bereit, damit das Fundament gegossen werden kann. Justin fährt in einem neuen Firmen wagen vor. Ben, der Bauleiter, ist zu Tode erschrocken, als er sieht, daß Justin noch lebt. Er versteckt sich in seinem Trailer, aber Justin folgt ihm. »Mr. Travis! Ich habe von dem Unfall gehört. Willkommen zurück ...« »Von den Toten?« »Nein, ich meinte damit nicht ...« »Die Erde mußte gar nicht entgiftet werden, nicht wahr? Der Boden war sicher - bevor wir hier anfingen.« »Wovon sprechen Sie?« Aber Justin weiß jetzt Bescheid. Die Baufirma sucht ein Gelände aus, Olympia führt die Bodentests durch, stellt fest, daß die Erde mit Schadstoffen belastet ist und erklärt das Grundstück für unbewohnbar - unabhängig davon, ob es wirklich verseucht ist oder nicht. Notfalls vergiftet Olympia den Boden zuerst, damit die Eigentümer billig verkaufen. Mit dieser
Gaunermethode bereichern sich sowohl Olympia als auch die Baufirma. Ben nimmt den Telefonhörer in die Hand, um Marston anzurufen. »So einen Mist können Sie nicht verbreiten ...« Justin drückt auf die Gabel. Ben nimmt eine Pistole aus der Schreibtischschublade. Justin stürzt auf ihn zu. Die Waffe geht los ... In Justins Brust klafft ein Loch, aus dem eine gelb-grüne Flüssigkeit sickert. »Sie können mich nicht umbringen«, erklärt Justin. »Das haben Sie bereits getan!« Dann beißt er Ben die Nase ab. Er nimmt Bens Erinnerungen in sich auf und findet seinen Verdacht bestätigt. Marston gab Ben ein Zeichen, als Justin am Abend zuvor wegfuhr ... Ben folgte Justin, drängte ihn von der Straße ab, bis er gegen den mit Chemikalien beladenen Laster prallte ... Als die Mannschaft Mittagspause macht, zieht Justin Bens Leiche nach draußen zu einem frisch zementierten Fundament und wirft ihn hinein. Zurück im Bürogebäude der Olympia geht Justin zu Marstons Tür. Er weiß alles, was Ben wußte. Auch, daß Marston derjenige ist, der Ben den Auftrag gab, ihn zu töten. »Justin! Ich sagte Ihnen doch, Sie sollten sich ein paar Tage freinehmen.« »Ich brauche keinen Urlaub.« »Kommt Ihr Erinnerungsvermögen wieder zurück?« »Nach und nach.« »Ich muß jetzt wirklich gehen ...«
»Ja, das müssen Sie.« Justin geht auf Marston zu. »Sie wissen also Bescheid«, sagt Marston. »Was wollen Sie? Geld?« »Ich will, daß Sie damit aufhören, bevor Sie noch jemanden umbringen.« »Und Sie glauben, Sie könnten das so einfach erreichen? Die Sache ist zu groß. Wir schaffen ein Imperium. Nach mir ...« Plötzlich wird die Tür geöffnet. Eine schöne junge Frau steht vor ihnen. »Oh, entschuldige, Daddy! Ich wußte nicht, daß du in einer Besprechung bist!« Marston stellt sie vor. »Meine Tochter Shannon. Die Erbin des Imperiums.« Jetzt versteht Justin die Zusammenhänge. Es gibt mehr zu tun, als er dachte. Mit Marstons Tod könnte er sich rächen, aber die Firma würde dadurch nicht vernichtet. Und genau das will er. In den folgenden Wochen verbringt Justin weniger Zeit mit Sta-cey - und mehr mit der Tochter des Chefs. Shannon hat eine Wirtschaftsschule im Osten besucht, um das Geschäft übernehmen zu können, wenn Marston in Pension geht. Sie ist klug, ehrgeizig ... Wie Justin. Die Sache hat nur einen Haken: Sie ist verlobt. Ihr Verlobter ist ein Polospieler namens Greg. Er hat die richtige Erziehung genossen, paßt genau zu ihren Plänen und wird der neue Vizepräsident von Olympia Chemical werden. Es ist kein Problem, ihn loszuwerden. Justin folgt ihm nach einem Polospiel in die Scheune und schlägt ihn mit seinem eigenen Poloschläger tot. Dabei kostet er von Gregs Blut.
Und lernt, wie er sich benehmen muß. Bei der nächsten Vorstandssitzung hebt Shannon die Hand. »Daddy?« »Ja, Liebes?« »Ich habe heute morgen jemanden mitgebracht. Was er zu sagen hat, wird dir sicher gefallen.« »Um wen geht es?« Sie führt Justin in das Büro. Ihr Vater ist wütend. »Shannon!« »Hör ihn an, Daddy. Bitte!« Justin ist kaum wiederzuerkennen, weil er sich Gregs Stil angeeignet hat: glattes, zurückgekämmtes Haar, einen Dreiteiler, Krawatte. In seinen Augen liegt ein Ausdruck der Entschlossenheit -ein kaltes Feuer scheint darin zu flackern. Er setzt sich Marston gegenüber und fängt an zu sprechen. »Meine Damen und Herren, hier geht es um Macht. Und die Medien haben diese Macht. Ich schlage eine durchschlagende PR-Kampagne vor. Werbezeit, Interviews im Fernsehen ... Gebt den Leuten Brot und Spiele, wenn es das ist, was uns Erfolg bringt. Stellen Sie auf jeden Fall sicher, daß alle ihre Aufmerksamkeit auf die große Eröffnung der Grundstücke von Olympia richten.« Die Vorstandsmitglieder applaudieren. Marstons Gesicht rötet sich. Justin hat die Kontrolle über das Meeting übernommen. Niemand bemerkt es, als Justin sich an der Wange kratzt ... und sein Ohr dabei abfällt. Er fängt an, innerlich zu verfaulen. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit. Justin faßt unauffällig unter den Tisch, findet ein Stück Kaugummi und klebt damit sein Ohr wieder fest. Der Applaus ebbt immer noch nicht ab.
Der Tag der Eröffnung rückt immer näher, und Justin und Shannon stehlen sich davon, um ein Wochenende in Palm Springs zu verbringen. Sie liegen am Pool in der Sonne, aber Justins totenblasse Haut wird nicht braun. Als es Shannon zu heiß wird, springt sie ins Wasser. Justin folgt ihr ... Und auf seiner Brust klafft plötzlich ein Riß, aus dem eine gelbgrüne Flüssigkeit sickert. »Schau, Mommy«, sagt ein kleiner Junge. »Der Mann dort drüben hat ins Wasser gepinkelt!« »Psst, so etwas sagt man nicht.« »Aber es stimmt doch!« Justin steigt rasch aus dem Pool. Im Hotelzimmer läßt er sich wie ein Toter aufs Bett fallen. Shannon kommt herein und versucht seine Aufmerksamkeit zu erregen, doch sogar als sie ihren Badeanzug abstreiß, rührt er sich nicht. »Was ist los mit dir? Willst du mich nicht mehr?« Schließlich streckt Justin seinen Arm nach ihr aus. »Ich will deine Wärme«, sagt er. »Ich möchte alles über dich wissen, einfach alles ...« »Brr! Deine Haut ist kalt!« Als er sich über sie beugt, kriecht eine Made aus seiner Nase, windet sich und fällt auf Shannons Bauch. Sie schreit und versucht, sich loszureißen. Als sie Justin mit ihren Fingernägeln kratzt, tropft eine gelb-grüne Flüssigkeit aus den Wunden. »Was ist hier eigentlich los ...« Sie knipst die Nachttischlampe an. Als Justin sie wieder ausschaltet, scheint das Licht der Glühbirne durch seine Hand. Die Knochen sind deutlich zu erkennen, und die Adern wirken vertrocknet und dunkel.
»Gib mir eine Antwort!« fordert sie. »Hast du irgendeine verdammte Krankheit? Was bist du eigentlich?« »Ich bin dein Gewissen«, sagt er und hält ihr den Mund zu, bevor sie wieder schreien kann. »Und du bist das typische amerikanische Mädchen ...« Er senkt seinen Kopf. Als er ihn wieder hebt, ist sein Mund mit Blut verschmiert. Der Eröffnungsabend: Auf dem Baugelände findet ein Medienspektakel statt. Im Hintergrund ist ein Volksfest in vollem Gange. Fernsehkameras fangen die Achterbahnfahrten ein. Das war Justins Plan - damit will er die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregen. Auf dem Podium bereitet sich der Bürgermeister darauf vor, das Band zu zerschneiden, während Marston in die Kameras der Fotografen lächelt. »Diese großartige Firma«, beginnt der Bürgermeister, »die so viel für unsere schöne Stadt getan hat ...« Jetzt betritt Justin die Tribüne. »Wie war es in Palm Springs?« flüstert Marston ihm zu. »Lügen Sie mich nicht an. Ich weiß, daß ihr beide dort wart!« »Es war eine lehrreiche Erfahrung!« Marston kann den Gedanken nicht ertragen, daß seine Tochter mit Justin zusammen ist. Aber was kann er dagegen unternehmen? Justin weiß genug, um die Firma zu ruinieren. Das ist Erpressung. »Glauben Sie ja nicht, Sie könnten die Tochter des Chefs heiraten. Das kommt nicht in Frage!« »Zu spät«, erwidert Justin. »Ich werde nicht länger warten!« »Wo ist Shan?« »Sie ist in Gedanken bei Ihnen.«
Jetzt ist es Zeit für die erste Fahrt auf der Achterbahn >Cyclone Racer<, die für diese Veranstaltung aufgebaut worden ist. Der Bürgermeister bietet Marston den vordersten Sitz an. »Nur zu«, sagt Justin. »Keine Angst, ich werde während der Fahrt immer neben Ihnen bleiben.« Der Wagen fährt die schwankenden Gleise hinauf. Als er sich dem Gipfel nähert, holt Justin eine Papiertüte aus seiner Manteltasche. Sie enthält eine Flasche der gelbgrünen Flüssigkeit, bestehend aus den Chemikalien, die ihn zu dem gemacht haben, was er jetzt ist. Er schraubt den Verschluß ab, trinkt einen Schluck ... Dann schüttet er den Rest über den Sicherheitsgurt, der sie in ihren Sitzen festhält. Das Gewebe löst sich zischend auf. »Was tun Sie da?« fragt Marston. »Wir werden beide umkommen!« »Jetzt sind Sie an der Reihe, Bob. Nach diesem Abend wird Olympia erledigt sein. Lächeln Sie - die ganze Welt sieht Ihnen zu!« »Nein!« Der Wagen ist jetzt ganz oben angekommen. In letzter Sekunde gelingt es Marston, hinauszuspringen und auf einer Planke zu landen. Der Wagen rast nach unten und in den ersten Looping. Justin wird herausgeschleudert. Er fällt und prallt mit Wucht auf dem Boden auf. Die Menschenmenge schreit auf. Oben auf der Planke winkt Marston, um zu signalisieren, daß ihm nichts geschehen ist. Unten öffnet Justin die Augen. Seine Knochen sind gebrochen. Gelb-grüner Schleim tropft aus seinem gespaltenen Schädel. Aber das kann ihn nicht aufhalten. Mit übermenschlicher Kraß und Entschlossenheit klettert er, eine Hand vor die
andere setzend, das Gerüst empor. Er besitzt die Willenskraft der lebenden Toten. Er zieht sich immer weiter nach oben. »Wer bist du?« brüllt Marston. »Verstehst du denn nicht?« erwidert Justin. »Ich bin du!« Er kämpft mit Marston - und reißt ihm das Gesicht ab. Dann hebt er Marston über seinen Kopf. Als er seine Arme hochreißt, platzt seine Kleidung, zerfressen von der gelbgrünen Säure, die aus seinem Körper tropft. Seine Rippen verschwinden und entblößen die Fäulnis in seinem Brustkorb. Blitzlichter beleuchten Justin von hinten, so daß sein Körper für einige Sekunden durchsichtig wird und den Verfall unter seiner Haut sichtbar macht. Er schleudert Marston wie eine Stoffpuppe hinunter. »Hört mir zu!« schreit er und stellt sich auf die Gleise. »Eure Vorgesetzten sind nicht das, wofür ihr sie haltet ...« Die Menge zerstreut sich rasch. Aber eine Person tritt vor. Stacey. »Justin!« Er hört ihre Stimme und zögert. »Justin, bitte ...« In diesem Augenblick zieht ein Sicherheitsbeamter seine Waffe und feuert. Die Kugeln bohren sich in Justins verfaulendes Fleisch. Gelb-grüne Schleimklumpen fliegen durch die Luft. Justin schwankt, als er getroffen wird, hält sich aber noch auf den Beinen. »Hört zu ...!« ruft er wieder. Er bemerkt den Wagen nicht, der immer noch schwankend seine Runden auf den Gleisen dreht, jetzt in die letzte Kurve geht und seine Geschwindigkeit verringert. Dann beginnt der Wagen in die andere Richtung zu fahren, um die gleiche Strecke rückwärts zurückzulegen. Er
beschleunigt auf dem Weg zu seinem Ausgangspunkt. Die Passagiere kreischen ... Justin wird von den Rädern des Wagens erfaßt und zerstückelt. Sein gelbgrünes Blut spritzt dem Bürgermeister über den Hinterkopf und in seinen Schoß. Die Menschenmenge läuft schreiend zum Ausgang, während Justins Körperteile durch die Luft nach unten fliegen ... Eine Person bewegt sich gegen den Strom. Stacey. Sie wirkt seltsam ruhig wie eine Schlafwandlerin. Im Gras entdeckt sie Justins abgetrennten Kopf. Leise weinend bückte sie sich und hebt ihn auf... Dann küßt sie ihn auf die Lippen. Als sie ihren Kopf zurückzieht, hängt ein einzelner dünner Faden zwischen ihnen in der Luft und verbindet ihre Lippen miteinander. Sie legt den Kopf vorsichtig auf die Erde zurück und geht weg. Der Rest des gelbgrünen Schleims auf ihren Lippen beginnt schwach zu glühen und zu pulsieren, als sei er lebendig! »Willst du Vor- und Nachspann sehen?« »Kenne ich schon«, erwiderte Eddie. »Aus Shock Zone.« Tommy richtete seine Fernbedienung auf den Videorecorder und drückte auf einen Knopf, um den Ton abzustellen. Dann schaltete er zuerst auf STOP und dann auf REVERSE, um das Band zurückzuspulen. »Gute Aufnahmen, oder? Die Kameraführung und die Schwenks ...« »Die Nahaufnahmen von den einzelnen Körperteilen sind schlecht«, maulte Eddie und schlug sein Notizbuch zu. »An welchen Stellen?« »Zum Beispiel in der Szene, die in dem Hotelzimmer spielt. In der Totale sieht man keine Risse in seiner Haut. Und die
Latexmaske löst sich ab.« »Ich habe eigentlich nur auf Shannons Brüste geschaut.« Eddie lachte. »Die sind doch nur mit einer fleischfarbenen Masse hingekleistert.« »Aber nicht in der Nahaufnahme.« »Das ist ein Double.« »Auf keinen Fall!« »Am Standbild kannst du das genau sehen. Sie sieht aus wie Michelle Bauer.« »Wie oft hast du dir diesen Film schon angesehen?« »So oft wie du«, erwiderte Eddie. »Tommy?« »Ja, Mom« Tommy zog rasch die Kassette heraus und steckte sie unter sein Kopfkissen. Eddie hörte Schritte im Gang, die näher kamen. Die Tür ging auf. »Seid ihr Jungs immer noch hier?« Tommys Mutter war eine schmächtige Frau mit gebeugten Schultern und einem außergewöhnlich freundlichen Gesicht. Sie blieb zögernd an der Türschwelle stehen und spielte nervös mit dem Türknauf, beinahe so, als hätte sie sich in verbotenes Gebiet vorgewagt. »Hallo, Edward«, begrüßte sie ihn herzlich. »Wie geht es dir?« »Hi, Mrs. Oshidari. Mir geht es gut.« »Tommy, ich dachte, ihr wolltet ins Kino gehen.« »Das tun wir auch«, erwiderte Tommy und schlüpfte so rasch und ohne Probleme wieder in die Rolle des Dreizehnjährigen, als würde er sich einen Handschuh überstreifen. »Wir haben uns nur noch Musikclips auf MTV angesehen.« In diesem Augenblick erschien auf dem Bildschirm von Tommys Fernseher jedoch das Bild einer Frau in einem schwarzen Negligè auf einer Bettcouch, deren Hand mit den lackierten Fingernägel über den Tasten eines Telefons
schwebte. Ein örtlicher Sender strahlte Fragen Sie Livia aus, eine Sendung, in der die Zuschauer aufgefordert wurden, anzurufen. Eddie warf einen Blick zur Decke und bemühte sich, nicht zu lachen. Unbekümmert wie immer angelte Tommy sich die Fernbedienung und drückte die Taste für die Programmwahl, bis er einen Kanal fand, in dem ein Musikvideo ausgestrahlt wurde. »Dein Bruder wartet ...« »Ich weiß. Tut mir leid, Mom.« »Lange wird er nicht mehr warten.« »Wir sind gleich da«, erwiderte Tommy und schaltete das Gerät ab. »Ich muß nur noch meine Jacke holen.« »Ich möchte, daß du um sechs Uhr wieder zu Hause bist. Will Edward zum Abendessen bleiben?« »Nein, danke, Mrs. Oshidari.« »Grüß bitte deine Mutter von mir.« Sie begann, die Tür langsam Zentimeter für Zentimeter zuzuziehen - es hatte den Eindruck, als würde es noch eine Ewigkeit dauern. »Mach ich.« »Ich richte Mike aus, daß du schon unterwegs bist«, sagte sie zu Tommy. Endlich wurde die Tür ganz geschlossen. Sie warteten einige Sekunden und brachen dann in Gelächter aus. »Erwischt!« rief Eddie. »O nein. Ohne ihre Brille sieht sie nichts.« Tommy zog die Videokassette unter seinem Kopfkissen hervor und schob sie in eine leere Hülle, auf der stand: WWF präsentiert: Ringen - die besten Ausheber, die größten Fehler. »Um sechs Uhr?« fragte Eddie. »Ich werde von der Telefonzelle im Einkaufszentrum anrufen«, erklärte Tommy, »und ihr sagen, daß wir die erste Vorstellung
verpaßt haben. Dann können wir uns Ninja Cop auch noch anschauen.« »Was glaubt sie denn, was wir uns ansehen?« »Return to Fern Gully.« Eddie stöhnte. »Was hätte ich ihr denn sonst sagen sollen? American Zombie II ist ohne Begleitung eines Erwachsenen eigentlich erst ab 18 Jahren erlaubt.« »Meine Eltern wissen Bescheid. Zumindest mein Vater. Er mag Horrorfilme.« Sobald Eddie den Satz beendet hatte, bereute er, das gesagt zu haben. Tommys Vater war erst vor sechs Monaten gestorben. Sein Freund zuckte jedoch nicht mit der Wimper. »Danke, daß du mir Teil I noch einmal gezeigt hast.« »No es problema.« Tommy verknotete die Schuhbänder seiner Turnschuhe und nahm seine Windjacke in die Hand. »Das ist ein Klassiker. Wirst du die beiden Teile in deiner Kolumne miteinander vergleichen?« »Vielleicht. Wenn der zweite Teil gut läuft.« Tommy warf sich seine Windjacke über die Schulter und wartete, bis Eddie sich vom Bett gerollt hatte und zu ihm an die Tür kam. »Wie ist die Handlung bei diesem Teil?« Eddie versuchte, sich an die Zusammenfassung aus der Zeitschrift Shock Zone zu erinnern. »Warte mal. Shannon kehrt aus dem Reich der Toten zurück und übernimmt die Firma. Aber auch Stacey verwandelt sich in einen Zombie und bekämpft sie, weil sie die Kontrolle haben will. Seine ermordete Freundin kommt zurück und kämpft gegen die Frau, die er wirklich geliebt hat.« »Und wer gewinnt?« Eddie grinste listig. »Das ist die große Frage, nicht wahr?«
4. Kapitel Als Markham rückwärts die Auffahrt hinunterfuhr, glitten Schatten wie schwarze Spinnweben über die Motorhaube des Wagens. Er rollte noch ein kleines Stück unter den Bäumen dahin und erreichte dann die Straße. Sonnenstrahlen wanderten über die Windschutzscheibe. Er klappte die Sonnenblende herunter und sah in den Rückspiegel. Die Vorderfront des Hauses glich einem wettergegerbten Gesicht, die Tür einem Mund, die Fenster glasigen Augen. Beobachtete Evie ihn hinter einem dieser Augen? Ich habe mich nicht von ihr verabschiedet, dachte er. An der Ecke hielt der Postwagen mit quietschenden Bremsen an. Er setzte sich hinter ihn und wartete, welche Richtung der Wagen nehmen würde. Als er nach rechts abbog, fuhr Markham über die Kreuzung nach links und wandte sich in die entgegengesetzte Richtung, so schnell er konnte. Dann bog er sofort noch einmal nach links ab, hatte aber immer noch das Gefühl, beobachtet zu werden. Der Spielplatz war verlassen, und die gekippten Fenster der Schule blitzten in der Sonne auf. Eine Seite der Cafeteria war mit Sprüchen beschmiert, die in einem so merkwürdigen Stil abgefaßt waren, daß man sie möglicherweise - wie da Vincis Tagebücher - nur entziffern konnte, wenn man sie rückwärts las. Sie waren ihm bisher noch nie aufgefallen, vielleicht waren sie wie diese Kreise in den Getreidefeldern während der Nacht plötzlich aufgetaucht. Er drehte den Rückspiegel so, daß ein Teil der Botschaft darin zu sehen war, aber sie war immer noch unverständlich. Er fuhr weiter. Als er plötzlich unruhig wurde, sagte er sich, das müsse am Santa Ana-Wind liegen. Er kam jedes Jahr und war ein Zeichen für die Veränderung
der Jahreszeit. Eigentlich gab es keine richtigen Jahreszeiten hier, nur eine Verschiebung der Schwerpunkte als Anpassung an die Anzahl der Stunden, während denen es hell war. Wenn der warme Märzwind zu wehen begann, packten die Leute ihre Baumwollpullover weg und machten Pläne für lange Ausflüge nach Disneyland und an den Strand. Teenager dachten sich neue, kreative Methoden aus, um ihre Grenzen auszuprobieren, und rastlose Schulkinder weigerten sich einfach, bei der Zählung sitzenzubleiben, so als würden sie bereits für die Sommerferien üben. Dann zog der Wind weiter, und das Klima blieb bis Juni oder Juli beständig, bis die Hitzewelle begann. Jetzt im Mai war das Wetter jedoch auf gewisse Weise aufreizend. Er überquerte die Eisenbahnschienen. Sollte er versuchen, Eddie einzuholen und ihm vorschlagen, ihn mitzunehmen? Er ließ seinen Blick über den Boulevard schweifen, vorbei an dem Holzplatz und dem Tor zum Parkplatz des Ladens Pick-A-Part, konnte seinen Sohn aber nicht entdecken. Er fuhr weiter, vorbei an Fatburger's, Weenie Wig-wam drivethru, Los Tacos Locos und El Polio Muerto. Die Imbißstuben lagen alle direkt nebeneinander, und die Schilder waren wie Schirmdächer über einem Kino angebracht, um ihn hineinzulocken. Er hatte keinen Appetit. Dann entdeckte er am Ende des Blocks Reggae Rat's Cheesy Pizza Parlor. Dort wurde Bier ausgeschenkt, oder? Er packte das Lenkrad so fest, daß er hörte, wie seine Knöchel knackten, und bog rasch in den Parkplatz von Builder's Bonanza ein. Einige Minuten wanderte er ziellos durch die Gänge, bis ihm einfiel, warum er hier angehalten hatte. Er bahnte sich seinen Weg durch ein Labyrinth aus Plastikmülleimern, im Preis ermäßigte Gartenmöbel, Grills und Kühlboxen und suchte nach Farbe und Pinseln. In der Abteilung für Sanitärbedarf schwangen
wassersparende Duschköpfe wie Kobras gegen die Wand, die anscheinend vorhatten, ihm ins Auge zu spucken. Bei den elektrischen Geräten befanden sich so viele Rollen mit Draht, daß man damit die ganze Nachbarschaft im Umkreis von einigen Meilen in die Luft sprengen könnte. In den unfertigen Bücherschränken und Schrankwänden hätte man sich verstecken können, wenn die Schiebetüren und die herunterklappbaren Verkleidungen bereits angebracht gewesen wären. Am Informationstisch zeigte ein Verkäufer einem Heimwerker, wie er einen Rauchmelder mit Batterien von der Größe einer Gewehrkugel laden konnte. Markham ging weiter zur Abteilung für Gartenbedarf, in der junge Pärchen Frühlingsblumen und Säcke mit Düngemittel auf einen Einkaufswagen luden. Er spürte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach, und drehte sich um, in der Hoffnung, einen Ausgang zu entdecken. Eine Verkäuferin mit einem gepflegten Kurzhaarschnitt kam auf ihn zu. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?« »Äh, nein, ich ...« Er warf einen verstohlenen Blick auf ihr Namensschild, das an ihrer schlechtsitzenden, viel zu großen Uniform befestigt war. War es wirklich unbeschrieben, oder würde ein Name erscheinen, wenn er nur lange genug darauf starrte? »Alles in Ordnung, Sir?« »Etwas zu trinken«, sagte er. »Wo kann ich ...?« »Gleich dort drüben.« Sie deutete auf einen Wasserspender in der Ecke unter den Insektenvernichtungsmitteln. Rasch drängte er sich an ihr vorbei und floh. Der Brief in seiner Hemdtasche drückte gegen seine Brust. Er parkte hinter dem Buchladen. Soweit er das an der Hintertür sehen konnte, waren keine Kunden im Laden. Kein gutes Zeichen, aber dieses Mal war er froh darüber.
Katie war damit beschäftigt, die Abteilung für junge Erwachsene aufzufüllen. Len telefonierte und nickte dabei, so daß das spiralenförmig gewundene Telefonkabel die auf dem Ladentisch aufgeschichteten Blätter in Unordnung brachte. Als Len die Klingel hörte, sah er auf, zuckte mit den Schultern und lächelte Markham neugierig an. Katie stand ganz oben auf der Leiter. »Hi, Dan«, sagte sie. »Du kannst es wohl einfach nicht aushalten ohne den Laden, oder?« Markham erwiderte ihren Gruß, sah dann zu Len hinüber und deutete mit dem Daumen auf das Hinterzimmer. »Bitte bleiben Sie in der Leitung«, sagte Len. »Ich werde nachsehen.« Er ging um den Ladentisch herum und folgte Markham nach hinten. »Wonach suchst du?« rief Katie ihm hinterher. »Nach der Erstausgabe von Autumn Angels.« »Wir hatten eine«, sagte sie. »Wären sie vielleicht auch mit An East Wind Coming zufrieden?« »Warum fragst du sie nicht?« »Oh, Dan? Wann willst du die Birdwell-Sammlung schätzen?« »Später«, erwiderte Markham. »Ich weiß, aber es war heute schon jemand deswegen hier. Ich glaube, es war seine Tochter«, meinte sie. »Ich sagte später.« Len betrat hinter ihm das Büro. Markham schloß sofort die Tür und begann, einige Kisten beiseite zu schieben. »Was ist los?« fragte Len. »Hast du das Bier besorgt?« Len sah ihn durch seine metallgefaßte Brille verständnislos an. »Welches Bier?«
»Das Heineken. Für den Tag, an dem Bradbury sein Buch signiert.« »Noch nicht.« Markham setzte sich schweratmend auf die Tischkante. Seine Haut kribbelte, als würden Ameisen seine Arme hinauflaufen; seine Lippen waren so trocken, daß sie aufsprangen. »Warum nicht?« »Hey, das findet doch erst in einer Woche statt.« Len lächelte breit und wartete auf die Pointe des Witzes. »Was ist los, Danny? Willst du etwa eins trinken?« Markham ließ sich auf einen Stuhl fallen. Lens Lächeln erstarb. »Mein Gott, du willst wirklich eins haben.« Er versicherte sich, daß die Tür geschlossen war. »Was ist passiert?« Markham zog seine Brieftasche heraus und begann, seine Visitenkarten und Zettel mit Telefonnummern durchzublättern. »Wie geht es deiner Frau?« fragte er knapp. »Jean? Ihr geht es gut. Warum?« »Ich möchte dich etwas fragen, Len. Erzählst du ihr eigentlich alles?« »Was zum Beispiel?« »Lügst du sie jemals an?« »Natürlich«, erwiderte Len und ging auf das Spiel ein. »Wenn es darum geht, was sie zum Geburtstag bekommt oder wie oft ihre Mutter angerufen hat. Solche Dinge.« »Sonst noch etwas?« »Warte mal. Nein. Ja, ich denke, manchmal. Worauf willst du hinaus?« »Ich habe Evie noch nie angelogen.« Markham dachte an die Zeiten, als das Geschäft kurz vor dem Bankrott stand und als er die Herzschmerzen hatte, wegen denen ihm Dr. Bowker dann eine medikamentöse Behandlung verordnet hatte. »Hin
und wieder erwähne ich bestimmte Dinge nicht ...« »Aha, eine Unterlassungssünde«, sagte Len. »Aber wenn sie mir eine direkte Frage stellt, dann beantworte ich sie ihr. Das ist eine Sache des Prinzips. Ich möchte jetzt nicht anfangen, sie anzulügen.« »Was hat sie dich denn gefragt?« »Nichts.« »Aber du fürchtest, sie könnte ... Hmm. Weißt du, was ich glaube? Ich denke, du solltest es ihr sagen, bevor sie danach fragen kann - was immer es auch sein mag. Auf diese Weise wirst du keine Schuldgefühle bekommen.« Markham schwieg. »Tu es einfach. Ein Geständnis erleichtert die Seele.« Len schien sich seine Gedanken zu machen, denn er fügte hinzu: »Du hast doch nicht etwa eine Freundin, oder?« »Ich hatte früher eine.« »Wann?« »Nach dem College lebte ich mit jemandem zusammen.« »Ach ja?« Wieder blieb Markham stumm. »Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?« »Vor langer Zeit.« Len lachte leise. »Du hast also von ihr geträumt, während du mit Evie zusammen warst ...« »Sie ist tot.« »Oh, das tut mir leid.« »Schon seit siebzehn Jahren. Sie hat sich mit Benzin übergossen und dann ein Streichholz angezündet.« »Meine Güte.« Es klopfte an der Tür, und Katie streckte ihren Kopf herein. Goldblonde Locken und makellosen Teint, wie immer. »Hast du Autumn Angels gefunden?« »Noch nicht«, erwiderte Len.
»Na ja, diese Frau am Telefon ...« Len gab ihr ein Zeichen. »Nicht jetzt, Katie.« »Was soll ich ihr sagen?« »Ich werde mich darum kümmern«, erklärte Markham. »Okay?« fragte Len sie. »Alles klar, Jungs. Hab schon verstanden. Das ist eine private Unterhaltung. Entschuldigt mich!« Katie zog sich zurück und schloß vorsichtig die Tür. Am Telefon blinkte immer noch das rote Licht der Nebenstelle. Markham hob den Hörer ab und drückte auf Leitung eins. »Versuchen Sie es bei Dangerous Visions in Sherman Oaks. Nein, die Nummer habe ich leider nicht.« Er legte auf. Dann fragte er Len: »Erinnerst du dich an die CSR?« Len rieb sich das Kinn. »Spielten die nicht mal mit Neil Young zusammen?« »The Church of Satan the Redeemer - die Kirche Satans des Erlösers.« »Ach ja. Es war eine revolutionäre Vereinigung. So etwas wie die Symbionese Liberation Army, nicht wahr?« Markham nickte. »Als die Sache außer Kontrolle geriet, wurde sie von der Polizei zerschlagen.« »Sie hätten Patty Hearst als Mitglied haben sollen.« »Das hat die SLA auch nicht gerettet.« Len nahm seine Brille ab und wischte sie sorgfältig an seinem T-Shirt ab. »Willst du damit sagen, du hattest eine Freundin, die Mitglied dieser Kirche war?« fragte er stirnrunzelnd. »Wir lebten vier Jahre zusammen. Dann verließ sie mich und schloß sich ihnen an.« Len setzte sich auf einen staubigen Karton von Borderlands Press, der mit eingeschweißten Büchern gefüllt war. »Das
wußte ich nicht«, sagte er. »Niemand weiß es. Das Gericht hat die Akten versiegelt.« »Nicht einmal Evie?« Markham schüttelte den Kopf. »Also warum solltest du es ihr dann jetzt erzählen?« Markham spürte den Brief an seiner Brust, der sich zu entfalten schien. Er nahm ihn aus der Hemdtasche und stellte ihn wie einen Origami-Vogel auf den Schreibtisch. »Das war heute in der Post.« Len faßte das Blatt so vorsichtig an, als handle es sich um eine Seite aus einem seltenen Manuskript. »Jude?« fragte er, als er den Brief gelesen hatte. »Judy Rios«, sagte Markham. »Woher weißt du das?« »Sie war die einzige Jude, die ich jemals kennenlernte. Zumindest nannte ich sie so.« »Mann!« Len schüttelte verblüfft den Kopf. »Das war doch die Frau, die sich verbrannte, als sie ins Gefängnis sollte. Ich erinnere mich jetzt wieder daran.« »Ich habe mich immer gefragt, was sie wohl empfand, eine Sekunde, bevor sie das Streichholz anzündete. Manchmal habe ich noch Alpträume deswegen.« »Wer, zum Teufel, hat dir das geschickt?« »Das würde ich auch gern wissen.« »Ich dachte, sie hätten damals alle erwischt.« »Der Meinung war ich auch.« »Dann handelt es sich um schlechten Scherz. Jemand hat den Fall verfolgt, alle Bücher darüber gelesen ...« »Mein Name taucht in keinem dieser Bücher auf.« »Nun, jemand hat ihn herausgefunden. Irgendein kranker Scheißkerl.« Len schob den Zettel angewidert von sich. »Du solltest das dem FBI übergeben.« »Warum, wenn es nur ein schlechter Scherz ist? Und was
soll ich ihnen sagen? Daß eine tote Frau mir einen Brief geschrieben hat?« »Das glaubst du doch nicht etwa, oder?« »Ich bin nicht verrückt, Lenny. Schließlich habe ich Fotos von ihrer Leiche gesehen.« »Dann gibt es ja nichts, worüber du dir Sorgen machen müßtest.« Einen Augenblick lang vermieden sie es, sich anzusehen. Len stand auf, ging zum Schreibtisch, hob den Brief auf und zerriß ihn in kleine Fetzen. »Das war irgendein beklopptes Arschloch.« Es tat gut, das noch einmal von Len zu hören. »Ja«, stimmte Markham ihm zu. Er spielte mit den Kärtchen, die er aus seiner Brieftasche geschüttelt hatte. Sie lagen jetzt mit den Schnipseln des Briefes vermischt auf dem Schreibtisch. Er schob sie hin und her, sortierte sie und fand dann das Stück Papier, das er gesucht hatte. Es war alt, zerknittert und vergilbt, weil er es schon so lange mit sich herumtrug. »Danke, Len.« »Wofür?« »Wir sehen uns gleich im Laden. Ich möchte noch ein paar Minuten hier sitzen bleiben.« »Laß dir Zeit. Du hast heute deinen freien Tag.« »Richtig.« An der Tür zögerte Len. »Solltest du mit dem Gedanken spielen, Evie Blumen mitzubringen, laß dir von mir einen Rat geben. Tu es nicht. Sie wird dann wissen, daß etwas nicht stimmt, und du wirst ihr schließlich alles erzählen. Das willst du aber eigentlich nicht, denn es hat keinen Sinn.« »Wie wäre es, wenn ich heute abend mit ihr ausginge?« »Perfekt. Abendessen und dann ein Kinofilm. Nimm deinen Jungen auch mit. Mach einen Familienausflug.«
»Er ist bereits im Kino.« »Recht hat er.« »Aber ich sollte mir heute abend den Nachlaß von Birdwell ansehen.« »Vergiß es. Katie und ich können das machen.« »Hat sie denn keine Verabredung?« »Doch, jetzt schon.« Lenny grinste endlich wieder, als er die Tür hinter sich schloß. Das Büro erschien ihm kalt, isoliert mit so vielen Kartons voll mit Büchern. Jetzt, wo Lenny gegangen war, hatte er das Gefühl, daß sie ihn erdrückten und ihn von der Außenwelt abschlossen. Hatten sich die letzten, schmutzverschmierten Mitglieder der CSR, die sich im Keller dieses Wohnhauses versteckten, auch so gefühlt, als das Sondereinsatzkommando das Haus stürmte? Er stellte sich vor, wie sie zwischen den Kisten saß. Die anderen waren alle tot oder lagen mit Schußverletzungen im Sterben. Er sah den Benzinkanister und das Streichholz vor sich. Dann kam der Funke und das Tosen der Flamme. Die Haut warf Blasen und löste sich von den Knochen, die nach vorn in das Feuer fielen. Er hörte das pfeifende Zischen des verbrennenden Fleisches ... In dem Bemühen, die Flammen zu ersticken, kniff er die Augen fest zusammen. Als er sie wieder öffnete, sah er den gefalteten Zettel unter seiner Hand. Ein Name und eine Telefonnummer war darauf notiert. Er nahm den Hörer ab und wählte. »Hallo?« sagte eine Männerstimme. Markham zögerte einen Moment. »Hallo ...« Es gelang ihm schließlich, die Handschrift zu entziffern. »Bill?« »Ja?« »Sie kennen mich nicht. Ich habe Ihre Telefonnummer von einem Freund bekommen, falls ich sie einmal brauchen sollte.«
»Freut mich, daß Sie angerufen haben. Wie heißen Sie?« Markhams Kehle war wie zugeschnürt. Er konnte nicht antworten. »Also, mein Name ist Bill, und ich bin Alkoholiker.« »Hi, Bill. Hier spricht ...« Markham schob die Papierschnitzel auf dem Schreibtisch zu einem Häufchen zusammen. Ein schlechter Scherz, dachte er. Das ist alles. Er hatte keinen von ihnen gekannt. Und jetzt waren sie tot, so wie sie. Die Fingerabdrücke ... Es gab keinen Zweifel daran. »Ich ... ich heiße Dan. Ich bin auch Alkoholiker.« Es war seltsam, das nach so langer Zeit wieder auszusprechen. »Hi, Dan.« »Aber es geht mir gut. Wirklich.« »Sind Sie sicher? Wir können darüber reden, wenn Sie möchten ...« »Ich bin ganz sicher.« Er legte auf. Dann fegte er die Schnipsel vom Tisch in den Papierkorb. Bevor er ging, kamen drei Kunden in den Laden, aber er wartete nicht ab, bis sie sagten, was sie wollten. Auf dem Heimweg herrschte kaum Verkehr. Der Himmel war blau-weiß und schimmerte in den Regenbogenfarben wie Bleiglas in der Sonne. Der Duft nach gegrilltem Schweinefleisch und mit Zitronensaft bestrichenen Hähnchen zog durch die Straße. Einige Familien betraten das Reggae Rat's, um sich am Samstagnachmittag eine Pizza und einige alkoholfreie Getränke zu gönnen. Sie hielten sich an den Händen und lachten. Auf dem Boulevard liefen herrenlose Hunde hin und her. Im Radio sprach ein Mann über das Sein und das Nichts. Markham erkannte, daß er aus einer der Lesungen von Alan Watts aus den Pacifica Archives zitierte, die immer wieder hörenswert waren. Im Augenblick hatte er jedoch das Gefühl, bereits alles zu wissen, was er über Form und Formlosigkeit, Yin und Yang,
Sein und Nichtsein und die Dynamik des Wandels wissen wollte. Ohne jegliche Gewissensbisse schaltete er von dem Sender KPFK zu KPCC um. Es war an der Zeit, ein wenig Jazz zu hören. Der heiße, trockene Wind war weitergezogen. Evies Wagen stand in der Auffahrt. Er parkte dahinter ein, während die Töne aus John Handys Tenorsaxophon anschwollen und ein letztes Mal die gleichen zwölf Takte in flottem Rhythmus wiederholt wurden. Er stellte den Motor ab und ging zum Haus. Die Vordertür war verschlossen. Warum? Sie war doch zu Hause, oder? »Evie?« Er durchquerte das Wohnzimmer. Die Sonne hatte mittlerweile den Zenit überschritten, und die Fenster lagen im Schatten des Dachsimses. Die Dunkelheit war auf gewisse Weise angenehm. Er lauschte eine Weile und ging dann hinüber zu den Bücherregalen, die wie das gesamte Haus stützende Säulen wirkten. War sie auf der hinteren Veranda? Ihm fiel ein, daß er in dem Korb eine Menge Wäsche gesehen hatte, die gewaschen werden mußte. »Liebling?« Da war sie auch nicht. Er wollte in die Küche gehen, als sein Blick auf den hinteren Teil des Gartens fiel. Wo ist mein Baum? fragte er sich. Er stellte sich vor, wie Evie mit einer Kreissäge unbarmherzig auf den alten Baum losging. Hätte sie damit nicht noch warten können? Aber der Baum war noch da. Er war in der Mitte gespalten, als hätte ihn ein Blitz getroffen. Die Zweige lagen verstreut auf dem Weg zur Garage. Der Wind? Nein, das Holz mußte morsch gewesen sein. Ich hätte ihn gießen müssen, dachte er. Ich hatte es auch immer vor, habe es
aber nie getan. War sie verletzt? »Evie!« Er lief durch das Haus und entdeckte sie schließlich im Schlafzimmer. Sie hatte sich zusammengerollt, sich die Bettdecke über den Kopf gezogen und schlief. Am Sonntagmorgen hatten sie sich so immer wie in einem Zelt gefühlt. Die Form stimmte irgendwie nicht. Wo waren ihre Beine? Er griff nach der Decke. Ihr Haar wirkte dunkler. Ihr Nacken war feucht. Das war es - sie hatte anscheinend Fieber und schwitzte unter der Decke in seinem dicken Bademantel. Sie hatte die Knie angezogen und lag wie ein Fötus zusammengekrümmt auf der Seite. Sie schlief am Nachmittag? »Liebling ...?« Bei seiner Berührung und dem Klang seiner Stimme zuckte sie zusammen und drehte sich mit erschreckender Geschwindigkeit um. Ihr Gesicht trug einen anderen Ausdruck als sonst. Die Augen wirkten glanzlos und verschleiert, so als wären sie mit einer transparenten inneren Membran überzogen. Sie schlief nicht, sondern döste nur und schwebte in einem Wachtraum. »Geht es dir gut?« Sie schmiegte sich rasch an ihn. Erstaunlicherweise schien sie jetzt zu frösteln. »Oh, Danny ... »Ich habe die Bescherung im Garten hinter dem Haus gesehen. Was ist passiert?« Sie drückte ihn an sich. »Der Baum«, erinnerte sie sich, aber es schien im Augenblick nicht wichtig für sie zu sein. »Es war der Wind ...« »Mach dir keine Sorgen. Ich werde mich darum kümmern.«
»Danny, ich hatte einen Traum. Es war einfach schrecklich.« Er streichelte ihr den Rücken durch den dicken Stoff des Bademantels hindurch, schob sie dann von sich und schaute sie an. Er wollte ihr Gesicht sehen. Wußte sie es? Aber woher? Nun, wenn es so war, und sie gespürt hatte, daß etwas nicht stimmte, sich ins Bett gelegt und sich die schlimmsten Dinge vorgestellt hatte, dann konnte er jetzt mit den richtigen Worten ihre Befürchtungen zerstreuen. Sie sollte wissen, daß es nichts gab, worüber sie sich Sorgen machen müßte. »Evie«, begann er. »Ich habe einen Brief bekommen.« Sie sah ihn verständnislos an. »Es ist nicht wichtig, aber ich wollte es dir trotzdem sagen. Jemand spielt uns einen Streich.« »Was ist das für ein Brief?« Vielleicht wußte sie es doch nicht. Zu spät. Er zwang sich zu einem Lächeln, als ob die Sache wirklich komisch wäre. »Lange bevor ich dich traf, kannte ich dieses Mädchen ...« »Wie sah sie aus?« »Das spielt keine Rolle.« »Ich will es wissen ...« Sie schien es ernst zu meinen. »Evie, ich kann mich kaum mehr daran erinnern ...« »Sag es mir!« »Na ja, sie war sehr schlank - eigentlich dünn - und hatte langes Haar. Warum ist das von Bedeutung?« »Sie schnitt sich die Haare ab, nicht wahr?« Plötzlich begann sein Herz heftig zu klopfen. »Ich glaube schon.« Kurz bevor sie auszog, dachte er. »Na und? Evie, sie starb vor einigen Jahren, und ...« Evie schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht.«
»Was meinst du damit?« Er spürte, wie sein Blutdruck stieg und es hinter seinen Augen zu pochen begann. »Ich versuche dir zu erklären, daß sie tot ist. Sie beging Selbstmord. Sie ...« »Nein, das hat sie nicht getan«, widersprach Evie. »Sie war hier.«
5. Kapitel Ich sollte besser aufstehen, bevor es zu spät ist, dachte Evie, während sie auf die Kreissäge lauschte. Sie streckte ein Bein und ihre Zehen. Das Bettlaken kratzte wie eine grobe Wolldecke an ihrer Haut. Ein Wunder, daß sie sich wenigstens soweit bewegen konnte. Es sei wohl nur ein Traum gewesen, hatte sie Dan gesagt, und nach einer Weile hatte er ihr das geglaubt und den Griff seiner Arme gelockert. Jetzt war er draußen und bearbeitete den Baum mit seinem Werkzeug. Sie hörte, wie sich die metallenen Zähne durch weiches Holz bohrten, und dann das Geräusch eines fallenden Zweigs. Wo war Eddie? Sie ließ einen Arm sinken und schob das Laken zur Seite -so als würde sie eine Hautschicht abstreifen. Sie spürte den Luftzug und das Blut, das schmerzhaft in ihre Venen schoß. Wieder fiel ein Zweig auf den Boden, und die Kettensäge stotterte und verstummte. Sie ließ ihre Beine über die Bettkante baumeln und zwang sich dann aufzustehen. Ihre rechte Körperhälfte war taub, weil sie so lange in ein-und derselben Position gelegen hatte. Sie umfaßte eines ihrer Knie und versuchte es zu lockern. An der Badezimmertür hielt sie mühsam das Gleichgewicht, bis sie ihr Bein wieder spüren konnte. Es fühlte sich an, als ob das Gewebe wie ein Schwamm einen Strom von Blut, gemischt mit Glasscherben, aufsaugte. Shorts und T-Shirt lagen immer noch neben der Badewanne. Sie zog beides an, beschloß aber dann, daß diese Kleidungsstücke viel zuviel Luft an ihre Haut ließen. Sie warf einen Blick in den Schrank. Wo war ihre langärmlige Bluse? Auf dem Weg zur hinteren Veranda ging sie an Eddies Zimmer vorbei. Es sah nicht so aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Was war mit
den verstreuten Blättern, den Magazinen und den zusammengeknüllten Socken auf dem Boden geworden? Von seinem Schreibtisch und seinem Stuhl sah man nur die Form, da sie unter einer Plastikplane versteckt waren, so als wären sie verpackt worden, um sie für unbestimmte Zeit zu lagern. Sogar sein Bett war wie ein Sauerstoffzelt in einer Intensivstation verhüllt. Wie lange war es schon nicht mehr benützt worden? Ich komme zu spät, dachte sie. Sie hörte, wie die Hintertür geöffnet und geschlossen wurde und sich jemand mit schweren Schritten näherte. »Ev? Wie fühlst du dich?« Sie wußte, was das bedeutete. Dan wollte wissen, ob es ihr gutging; wenn nicht, würde er darauf bestehen, daß sie zu Hause blieb, sie vielleicht sogar daran hindern, wegzugehen. Sie versteifte sich und wartete auf die rauhe Berührung seiner Hände an ihren Armen. »Gut.« Sie spürte die Wärme seines Körpers. Warum roch er nach Erde? Hatte er schon wieder gegraben? Sie löste sich rasch aus seinem Griff. »Du siehst ein wenig zittrig aus«, stellte er fest. »Ich hatte einen schlechten Traum, aber jetzt bin ich wieder in Ordnung.« »Ich habe mir Sorgen gemacht.« »Ich sagte, es geht mir gut. Was ist mit dem Baum?« »Mit dem Baum?« Es schien ihm Mühe zu bereiten, das Thema zu wechseln. »Er ist völlig kaputt. Ich fälle ihn erst einmal knapp über dem Boden. Wir werden dann wohl eine Menge Feuerholz haben.« »Das ist gut«, erwiderte sie. Sie drehte sich um und ging zu dem Wäschekorb auf der Veranda. »Hast du meinen weißen Hosenanzug gesehen?« »Nein. Warum?«
»Ich brauche ihn.« »Vielleicht hast du ihn in die Reinigung gebracht.« Log er, damit sie hierblieb? Sie wühlte in dem Korb und entdeckte schließlich ihre schwarze Stretchjeans von Levi's und eine geblümte Bluse auf der Waschmaschine. Beides war verknittert, aber das konnte sie jetzt nicht ändern. Sie zog sich die Jeans über die Shorts und stützte sich dabei an der Wand ab. Dann knöpfte sie sie zu und streifte die Bluse über ihr T-Shirt. »Warum ziehst du dich an?« »Ich muß noch weg.« »Jetzt?« »Ich habe eine Verabredung mit Jean.« »Dafür ist es aber reichlich spät, oder?« »Ich habe sie gerade angerufen«, log sie. »Sie wartet auf mich.« Sie steckte die Bluse in die Hose und ging an ihm vorbei. »Evie?« »Ich habe es eilig.« »Denkst du nicht, wir sollten miteinander reden?« »Worüber?« »Über das Mädchen.« »Welches Mädchen?« »Das Mädchen an der Tür.« »Es war ein Traum, Dan.« »Alles?« »Ja.« »Aber du hast doch gesagt ...« Sie ging vor ihm durch das Haus. An der Vordertür fragte sie: »Wo sind meine Autoschlüssel?« »Wo hast du sie hingelegt?« »Ich weiß es nicht. Gib mir deine.« Er griff in seine Hosentasche. »Liebling, bist du sicher ...?«
»Ich bleibe nicht lange weg.« Sie sah ihn an und bemerkte den Schmutz auf seinem Gesicht und seinem Hemd. Wonach hast du gegraben? Die Frage blieb ihr im Hals stecken. Wenn ich ihn frage, was wird dann geschehen? »Wo ist Eddie?« Sie versuchte, ihre Stimme so beiläufig wie nur möglich klingen zu lassen. »Er ging zu Tommy hinüber. Weißt du das nicht mehr?« »Doch, natürlich.« Sie nahm ihm die kalten, harten Schlüssel aus der Hand und ließ ihn stehen. »Also, dann bis später.« Dann schlüpfte sie in flache Schuhe und lief mit klappernden Absätzen die Stufen zur Auffahrt hinunter. Als sie den Wagen anließ, begann das Radio zu rauschen. Dan hatte einen seiner Lieblingssender eingestellt. Ein Streichorchester war zu hören, doch die Musik wurde durch ein billiges, mißtönendes Saxophon verdorben, das nicht die richtigen Töne traf. Warum hält der Musiker sich nicht einfach an die Melodie? dachte sie gereizt und stellte das Radio ab. Sie fuhr rückwärts die Auffahrt hinunter und schlug dann das Lenkrad so stark ein, daß die Servolenkung zu ruckeln begann und kurz aussetzte, so als ob sie ein Kind unter den Reifen mitschleifen würde. Im Rückspiegel sahen die anderen Vorgärten ordentlich und leer aus. Es gab keine Fahrräder oder Spielsachen. In dieser Straße wohnten keine Kinder. Sie trat das Gaspedal durch, hinterließ schwarze Spuren auf der Straße und schlitterte am Randstein vorbei. An der Kreuzung konnte sie weder links noch rechts Fußgänger entdecken. Neben dem nächsten Häuserblock vor ihr lud ein Mann einen Leichensack auf einen Lastwagen. Nein, es war nur ein Gärtner, der sich abmühte, ein Bündel Gras auf die Rückfläche seines Pickups zu heben. Ohne darauf zu warten, bis die Ampel umschaltete, bog sie nach links ab und fuhr Richtung Bradfield. Die Uhr am Armaturenbrett mußte kaputt sein. Es konnte doch
unmöglich schon 14 Uhr 30 sein, oder? Sie bemühte sich, ihre Angst zu unterdrücken. Angst wovor? Sie hatte keine Zeit, ihre Gefühle auf vernünftige Weise zu analysieren. Nicht jetzt. Sie wußte nur, daß sie ein beschütztes Leben geführt hatte - bis vor einigen Stunden, als es geklingelt und sie die Haustür geöffnet hatte. Jetzt herrschte Chaos. Sie spürte, wie ein rastloser Wind vorbeistrich, der drohte, alles zu entwurzeln und umzuändern. Geordnete Verhältnisse waren nur eine Illusion, das wurde ihr jetzt klar. Die Häuser, die Autos, das Straßennetz, die Gesetze und Verordnungen, die von verzweifelten und angsterfüllten Menschen erfunden worden waren - nichts davon war von größerer Bedeutung als ein primitiver Schutzwall um ein Lagerfeuer. Es bestand jederzeit die Möglichkeit, daß dunkle Wogen heranrollten und alles vernichteten. Das Unglück stand schon seit langem vor der Tür und wartete darauf hereinzukommen. Wie dumm es war zu glauben, man könne sich davor schützen. Als sie rechts nach Bradfield abbiegen wollte, entdeckte sie in der Nähe der Eisenbahnschienen eine Gruppe von Teenagern. Sie beschloß, sie sich näher anzuschauen. Als sie auf gleicher Höhe mit ihnen war, kurbelte sie das Fenster herunter und hörte ihre hohes, heiseres Gelächter. Es waren drei Mädchen und zwei Jungen. Die Beine der Mädchen waren nackt und ihre Figuren durch übergroße T-Shirts verhüllt. Alle drei hatten unnatürlich glänzendes Haar. Ihre Frisuren waren so identisch, daß man den Eindruck hatte, sie hätten alle das gleiche Bild eines bestimmten Models am Spiegel ihres Schlafzimmers befestigt. Evie fuhr an den Straßenrand, blieb stehen und beobachtete, wie sie über die Schienen stolperten. Die Jungen waren schlaksig und plattfüßig, trugen lange Hemden und Baseballkappen, die sie sich verkehrt herum aufgesetzt hatten. Sie waren beide älter als Eddie.
Sie legte den ersten Gang ein und fuhr an den Eisenbahnschienen entlang, bis sie abbiegen konnte, um nach Bradfield zurückzufahren. Die Oshidaris lebten in einem großflächigen Haus aus den fünfziger Jahren, das an eine Ranch erinnerte. Die gewundene Auffahrt war mit Steinplatten gepflastert und auf beiden Seiten von Rasen und makellos zugeschnittenen Hecken umgeben. Evie hatte vergessen, daß es viel schöner war als ihr eigenes Heim. Sie parkte vor dem Gitterzaun und ging um den Kombiwagen herum, der vor der Auffahrt stand. Als sie einen Blick zurückwarf, bemerkte sie, wie schmutzig Dans Toyota war. Die zwei bogenförmigen Stellen an der Windschutzscheibe, an denen die Scheibenwischer das Glas gesäubert hatten, wirkten wie zwei dunkle Augen, die sie beobachteten. Hatte sie den Wagen abgesperrt? »Willkommen!« sagte eine Stimme. »Hallo ...?« »Sie glauben also zu wissen, wo Ihre Kinder sich aufhalten?« Es war die Stimme eines Mannes. Sie kam aus dem Haus. »Sie sehen sich einen Film an, während Sie wohlbehütet in Ihrem Bett liegen, nicht wahr?« Hinter dem Zauntor öffnete sich eine Tür und eine Frau kam rückwärts aus der Küche. Sie schleppte einen schwarzen Plastiksack heraus. »Verzeihen Sie«, sagte Evie. »FALSCH!« Der Sack war mit etwas Schwerem, Sperrigem gefüllt und schien jeden Moment aufzuplatzen. Die Frau zog ihn über die Schwelle und begann, ihn über die Auffahrt zur Garage zu schleifen. »Was sie sich ansehen, könnte gewalttätig sein ... pornographisch ... oder sogar SATANISCH!« Evie begriff, daß die Stimme von einem Fernsehgerät in der
Küche kam. Es war eine dieser auf Sensationen ausgerichteten Talkshows, die nachmittags gesendet wurden. Sie erkannte, daß die Stimme einem Schauspieler gehörte, der die Hauptrolle in einer Fernsehserie über Polizisten auf Motorrädern gespielt hatte. Wie hieß er noch gleich? Er hatte ständig sein Pferdegebiß gezeigt. »Und das alles nur wegen digitaler Verschleierung! Geheime Botschaften können auf JEDE Videokassette aufgenommen werden ... um den Geist der Jugendlichen negativ zu beeinflussen!« »Mrs. Oshidari?« Wegen des verdammten Fernsehers kann sie mich nicht hören, dachte Evie und entriegelte das Tor. »Ist das wirklich möglich? Die Experten sagen ja! Wenn Sie eine Mutter sind, der ihre Kinder am Herzen liegen ...« »Oh!« Die Frau zuckte zusammen und ließ den Sack los, als Evie sie leicht berührte. Sie blickte über die Schulter, als erwarte sie, einen Geist zu sehen. »Entschuldigen Sie, ich ... ich bin Eddies Mutter.« »Eddie?« Die Augen der Frau waren so groß und schwarz wie die einer Katze im Zwielicht, die zu allem bereit war. Ihre Schultern waren abwehrend hochgezogen. »Sie kennen doch Edward.« Evie spürte, wie ihr Herz begann, schneller zu schlagen und dann für einen Schlag aussetzte. »Markham. Er ist ein Freund Ihres Sohnes. Ich habe ihn ein paar Mal hier abgesetzt. Und ich glaube, wir haben schon miteinander telefoniert.« »Dann sind Sie es sich schuldig, unseren ganz besonderen Gast kennenzulernen, einen anerkannten Fachmann, was unterschwellige Botschaften betrifft ...« »Oh, Edward!« Mrs. Oshidaris Miene hellte sich auf, und ihre Lippen verzogen sich zu einem breiten, warmen Lächeln. »So ein
netter Junge. Er ist in unserem Haus jederzeit willkommen.« Auch Evie entspannte sich ein wenig. Den Namen aus dem Mund der Frau zu hören, schien ihr die Bestätigung geben zu können, die im Augenblick so wichtig für sie war. In der Küche applaudierte ein unsichtbares Publikum. »Es tut mir leid, Sie zu stören ...« »Das tun Sie nicht. Ich war nur gerade beim Frühjahrsputz.« Evie warf einen Blick auf den Sack. Er war halb so groß wie Mrs. Oshidari und schien mindestens so viel wie sie zu wiegen. Was mochte wohl darin sein? Etwas Großes, Unförmiges, sehr Schweres. Am unteren Ende entdeckte Evie die Form eines langen, gerundeten Gegenstands. Es hätte ein Schuh sein können. Befand sich ein Fuß darin? »Tommys Vater«, erklärte Mrs. Oshidari. »Was?« »Der Rest seiner Sachen. Das, was die Heilsarmee nicht wollte. Tommy sollte mir eigentlich helfen, aber er ist schon wieder im Kino.« »Sagen Sie mir«, forderte der Sprecher, »was sich Ihre Kinder anschauen.« »Wann ist er gegangen?« »Ungefähr vor einer Stunde.« »Und mein Sohn war bei ihm?« »Ich hoffe, das ist in Ordnung ...« »Hauptsächlich Science-fiction und Horrorfilme«, sagte eine Frau im Publikum. »Natürlich. Sind sie zu Fuß zum Einkaufszentrum gegangen?« Ein mißbilligendes Raunen ging durch das Publikum. »Nein.« »Dann haben Sie sie hingefahren?« fragte Evie. »Ich hätte es selbst getan, aber ...« »Mike hat sie mitgenommen.«
»Mike?« »Tommys Bruder. Er hat jetzt seinen Führerschein.« »Ich verstehe.« »Können Sie sich an irgendwelche Titel erinnern?« »Hat Edward Ihnen nicht gesagt, wohin er geht?« erkundigte sich Mrs. Oshidari. »Warten Sie. Die hungrigen Toten. American Zombie ...« »Doch, natürlich.« »Sie haben es ihm also erlaubt?« »Ja«, bestätigte Evie. »Er hatte meine Erlaubnis.« Einige Frauen stöhnten im Chor entsetzt auf. Mrs. Oshidari lächelte noch breiter, aber sie sah Evie nicht in die Augen. Über ihren Köpfen bewegte sich etwas Unsichtbares in den Bäumen und schüttelte Laub vor ihre Füße. »Ich hoffe, es wird endlich regnen«, meinte Mrs. Oshidari. »Was noch?« »Ja«, sagte Evie. »Wie hieß dieser Film mit Freddy und Jason?« »Aber heute sicherlich nicht.« »Nein.« Evie trat einen Schritt zurück. Ein vertrocknetes Blatt knirschte unter ihrem Absatz - ein Geräusch wie von einem winzigen Skelett, das zermahlen wurde. »Wissen Sie, welchen Film sie sich ansehen wollen?« »Ich habe keine Ahnung. Ich kann da nicht mehr Schritt halten. Diese vielen Schießereien und Morde ... Mein Tommy mag so etwas allerdings nicht. Diese Filme verursachen ihm Alpträume.« »Da haben Sie Glück«, murmelte Evie. »Finden Sie?« »Wer weiß, wofür das gut ist.« »Ich verstehe, was Sie meinen. Nun, ich hoffe, Sie haben recht ...«
»Übrigens - mein Name ist Evie.« Sie streckte ihre Hand aus. »Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich schaue kurz vorbei.« »Das freut mich. Ich heiße Dotty.« Sie verfehlte Evies Hand, packte statt dessen ihr Handgelenk und schüttelte es. »Ich werde mich darum kümmern, daß Edward gleich zu Hause anruft, wenn sie zurückkommen.« Sie ist kurzsichtig, dachte Evie. »Würden Sie das tun? Ich wäre Ihnen dafür sehr dankbar.« »Natürlich.« »Es ist nur, weil ...« Sie versuchte, sich eine Entschuldigung auszudenken. »Wir wollen heute abend ausgehen. Ich möchte nur sichergehen, daß Eddie daran denkt, damit er nicht zu spät kommt. Ich hole ihn dann ab.« »Mike kann ihn nach Hause fahren. Das macht keine Umstände.« »Das ist sehr freundlich. Wir wollen zum Abendessen ausgehen. Mit meinem Mann. Wir drei. Hin und wieder tun wir das sehr gern. So oft wir können.« Evie zögerte. Wann waren sie denn eigentlich zum letzten Mal miteinander ausgegangen? »Das war bei uns auch so«, sagte Mrs. Oshidari. »Als Tommys Vater noch lebte.« O nein. Evie dachte nach. Das war es, was die Frau gemeint hatte. Die Sachen in dem Plastiksack ... Jetzt erinnerte sie sich daran, daß Tommys Vater gestorben war. Wann war das gewesen? Erst vor kurzem, dachte sie entsetzt. Eddie hatte es ihr erzählt, aber sie hatte es nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Bis jetzt. Weil sie zu beschäftigt gewesen war, um ihm Aufmerksamkeit zu schenken. »Es tut mir sehr leid«, sagte Evie. Mrs. Oshidari ließ ihren Blick über die Auffahrt in den Garten schweifen. »Es war besser so. Zumindest mußte er nicht leiden. Möchten Sie eine Tasse Kaffee, Eve?«
»Nein, danke. Ich muß jetzt wirklich los.« Sie ging durch das Tor und verriegelte es von außen. »Ein anderes Mal.« »Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte Mrs. Oshidari. »Bitte?« »Was sie sich ansehen wollten.« »Wir wissen alle, daß es Filme gibt, die sich Jugendliche nicht ohne Begleitung Erwachsener anschauen dürfen. Aber was ist mit den sogenannten jugendfreien Filmen ? Sie sind doch sicher, oder?« »Ja?« »Es ist dieser Zeichentrickfilm. Return to the Gully, heißt er, glaube ich. Ja, genau.« »Wußten Sie, daß diese Filme am gefährlichsten sind? Sie werden durch digitale Technik verschleiert. Wirkungsvolle Botschaften können selbst in Disney-Filmen im Text verschlüsselt werden! Lassen Sie uns dazu einige Beispiele ansehen ...« »Ich habe gehört, dieser Film ist sicher - ich meine, er ist gut«, sagte Evie. Sie ging einige Schritte rückwärts und zertrampelte dabei einige Pflanzen. »Tut mir leid, aber ich muß jetzt gehen.« »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte Mrs. Oshidari. »Ja ...« »Kommen Sie doch bald wieder einmal vorbei.« »Das werde ich tun.« Sie ist einsam, dachte Evie. Ich wünschte, ich könnte ihr helfen. »Versprochen.« Am Eingang des Kinozentrums stand niemand, also ging sie einfach hinein. Ein junges Mädchen, dessen Haare wie elektrisierte Nervenenden nach oben standen, zupfte hinter dem Süßigkeitenstand ihre Uniform zurecht. »Sie können Ihr Ticket dort drüben abgeben.« »Schon gut«, sagte Evie. »Ich habe keines.« Sie sah sich in der Lobby um und versuchte, die Titel auf
den Lichtreklamen über den Türen zu lesen. Die Schrift war jedoch zu klein, um sie entziffern zu können. »Madam ...?« Sweet Violation, stand auf dem ersten Schild. Nein, das ist es wohl nicht, dachte sie und ging weiter. »Madam?« Das Mädchen holte sie ein, als sie vor der zweiten Tür stand. Lethal lnjection hieß es da. Evie ignorierte sie und griff nach der Türklinke. »Madam, Sie können da nicht hineingehen ...« »Ich bleibe nicht lang«, erklärte Evie ihr. »Ohne ein Ticket?« »Ich brauche keine Eintrittskarte.« »Stehen Sie auf der Liste?« fragte das Mädchen verblüfft. »Auf welcher Liste?« »Na ja, von den Leuten, die eingeladen sind. Ihr Name?« »Eve Markham.« »Einen Augenblick. Ich werde nachsehen.« »Sparen Sie sich die Mühe. Ich stehe nicht auf Ihrer Liste. Wo läuft Rain Gully?« »Return to Fern Gully? Kino vier ...« »Danke«, sagte Evie und ging weiter. Am Süßwarenstand entstand eine kurze Diskussion, und dann folgte ihr ein junger Mann mit einem militärischen Bürstenschnitt und einem Namensschild, das ihn als Manager auswies, zur dritten Tür und stellte sich ihr in den Weg. »Wo wollen Sie hin?« fragte er. »Dort hinein. Haben Sie etwas dagegen?« »Sie brauchen eine Eintrittskarte, wenn Sie sich den Film ansehen wollen«, erklärte er so langsam und deutlich, als wäre sie geistig zurückgeblieben oder schwerhörig. »Ich will mir den Film nicht ansehen.« »Nein?«
»Ich suche jemanden.« »Das tun wir doch alle, Lady. Mir ist es scheißegal, was Sie dort drin vorhaben, okay? Aber Sie müssen bezahlen.« »Es geht um meinen Sohn«, sagte Evie und starrte ihn böse an. »Na gut«, erwiderte er. »Okay, Sie können reingehen. Aber nur für eine Minute.« Als sie die vierte Tür öffnete, sprühten Funken vor ihr. Eine strahlende Märchenfee schwebte über die Leinwand und zog eine magische Staubwolke hinter sich her. Evie ging den kurzen Gang entlang und sah sich um, aber die Kinder saßen zusammengesunken und halb versteckt in ihren Sitzen, und ihre Köpfe wirkten wie kleine aufgereihte Kohlköpfe. Die Märchenfee war eine kleine Badenixe, eine Schönheit im Westentaschenformat mit vollen Brüsten, einer Wespentaille und wohlgeformten Hüften. Ihr glitzernder Bodysuit hatte einen aufsehenerregenden, halbmondförmigen, tiefen Ausschnitt, und sie trug einen Gürtel aus dunkelgrünem Weinlaub. »Eddie?« Keiner der kleinen Jungen wandte den Blick von der Leinwand ab. Der junge Manager wartete auf sie. »Haben Sie ihn gefunden?« »Nein, aber das werde ich schon noch.« Die fünfte Tür, an der das Remake von Lolita angekündigt war, ließ sie aus. Sie bezweifelte, daß Eddie jemals von Dustin Hoffman gehört hatte. Der sechste Saal war fast leer. Nur zwei Frauen in der letzten Reihe warteten auf den Film Rubyfruit Jungle mit Jodie Foster. Evie beschloß, zur Tür Nummer drei zurückzugehen. »Hören Sie, Lady«, sagte der Manager. »Für welchen Film hat er denn bezahlt? Wenn er nämlich keine Eintrittekarte hat, dann ...« »Für diesen«, erwiderte sie und schauderte, als sie den Titel las:
American Zombie II. »Waren Sie schon dort drin?« »Noch nicht.« »Ich habe Sie aber gesehen.« Versuchte er etwa, sie von ihrem eigenen Sohn fernzuhalten? In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und Dutzende von Menschen kamen aus dem Kinosaal gestürmt - es waren hauptsächlich Teenager, die sich in die Toiletten und zum Ausgang drängten. Ein Junge legte seinen Arm um die Schulter seiner Freundin und führte sie an den Aschenbechern aus Blech vorbei. Seine dicken Finger krallten sich besitzergreifend nur wenige Zentimeter über ihrer Brust in ihre Haut. Was stimmte mit seinem Mund nicht? Seine Lippen waren rot und geschwollen, als wären sie mit Blut verschmiert. Dann stießen zwei kleinere Jungen gegen Evie. Einer von ihnen blieb lange genug stehen, um sich gegen den Ansturm der Menschenmenge zu behaupten. »Mom?« Sie packte Eddies Arm und zog ihn an den Leuten vorbei in die Lobby. »Was tust du hier, Mom?« »Komm mit.« Er machte ein langes Gesicht - es sah aus, als würde seine Haut schmelzen. »Aber Tommy ...« »Das spielt jetzt keine Rolle.« Er riß sich von ihr los und gab dem anderen Jungen, der an der Wand neben den Postern mit der Ankündigung für die neuen Filme Look Who's Dead und C.H.U.M.P - The Movie lehnte, mit der Hand ein Zeichen. »Was hattest du dort drin zu suchen?« fuhr sie ihn an. »Wo?« »Tu nicht so unschuldig«, sagte sie. »Ich weiß, welchen Film du dir angesehen hast.«
»Es ist ein guter Film«, verteidigte er sich. Der Manager folgte ihnen. »Die Eintrittskarte.« »Welche Eintrittskarte?« fragte Eddie. »Deinen Kontrollabschnitt.« »Den habe ich nicht mehr.« »Hier«, sagte Evie, zog ihre Geldbörse heraus und reichte ihm einen Zehn-Dollar-Schein. »Das ist für diese beiden Jungs.« Der Manager nahm das Geld wortlos entgegen und verschwand so rasch im hinteren Teil des Kinos wie ein Bettler im Gewand eines Hare-Krishna-Jüngers. Evie packte Eddie an der Schulter und drückte ihm ihren Daumen in den Nacken. Obwohl es ihm sicher weh tat, versteinerte sich seine Miene, und er preßte die Lippen zusammen. »Ich habe bezahlt«, sagte er. »Das glaube ich dir nicht.« »Dad hat mir das Geld dafür gegeben und mir erlaubt, ins Kino zu gehen.« »Das glaube ich dir auch nicht. Keine einzige Minute lang.« Er starrte sie an, und seine Wangen röteten sich. »Warum fragst du ihn nicht?« Die Leute wurden auf sie aufmerksam, und Evie ließ Eddie los. »Bis dann, Tommy«, sagte Eddie so laut, daß alle in der Lobby es hören konnten. »Sie will mit mir reden.« Er versuchte, sie zu demütigen, es so hinzustellen, als würde sie sich wie eine Verrückte verhalten. Vor dem Kino im Einkaufszentrum strömten die Menschen jedoch vorbei, ohne etwas davon zu bemerken. Es war, als wäre nichts geschehen. Sie setzte sich auf eine Bank. Als sie schließlich Eddie ins Gesicht sah, war seine Miene wie versteinert und seine Augen schienen Funken zu sprühen. »Was willst du?« »Mit dir reden«, erwiderte sie leise und versuchte, in dem
geschäftigen Treiben ganz ruhig zu bleiben. »Worüber?« »Ich wollte dich sehen.« »Warum?« Jetzt wurde ihr klar, daß es ihm gut ging, und der innere Druck ließ nach. Warum war sie hierhergefahren? Es gab dafür keinen Grund, den sie hätte in Worte fassen können. Zumindest nicht auf eine Weise, die er verstehen könnte. »Du hast mir nicht gesagt, wohin du gehst«, sagte sie. »Doch, das habe ich.« Er hatte recht. Aber darum ging es nicht. Wie sollte sie ihm das erklären? »Ich wollte mich nur vergewissern, daß es dir gutgeht.« »Was denkst du eigentlich, wie alt ich bin?« Evie bemerkte, daß Tommy immer noch in der Lobby stand, aber den Blickkontakt mit ihnen vermied. »Ich wollte dich nicht bloßstellen«, erklärte sie. Aber genau das hatte sie getan. Sie hatte ihn vor seinem Freund gedemütigt. »Was hast du denn gedacht, wo ich hingegangen sein könnte? In eine Bar?« »Ich weiß, daß du mich nicht angelogen hast«, sagte sie. Das hatte er noch nie getan. Es war nicht seine Art - er war der Sohn seines Vaters. Eine Bar? Hatte er das wirklich gesagt? Das war irgendwie komisch, aber auch anrührend. »Ich wollte dir sagen, daß ... daß wir heute abend zum Abendessen ausgehen.« »Prima.« »Mit Daddy. Er führt uns aus. Ich wollte nicht, daß du zu spät kommst.« »Muß ich jetzt schon nach Hause?« Er spielte den Märtyrer. Sie empfand tiefes Mitleid für ihn und hätte ihn gern in den Arm genommen und geküßt, wußte aber, daß er das jetzt nicht zulassen würde.
»Nein, noch nicht, aber ich wollte, daß du Bescheid weißt.« Ein junges Pärchen schob einen Kinderwagen aus dem Laden Miller's Outpost um die Aufzüge herum zu einem Imbißstand auf der anderen Seite. Kinder mit am Saum aufgekrempelten, ausgewaschenen Jeans spielten an einem Geländer Fangen. Ein Sicherheitsbeamter drehte ein Funksprechgerät mit einer Gummiantenne in seiner Hand hin und her und zwinkerte einer Mutter zu, die ein Neugeborenes in ihren Armen hielt, das erst einige Wochen alt war. Vom unteren Stockwerk zog der Duft von frischgebackenen Schokoladenplätzchen nach oben, und durch die Fenster im Dach fielen blau-weiße Lichtstrahlen. Evie sah, daß das Einkaufszentrum an diesem Samstagnachmittag gut besucht war. Und sie war ein Teil dieser Menschenmenge; umgeben von den Bildern, Geräuschen und Gerüchen des Lebens - von Details, die sie lange Zeit nicht wahrgenommen hatte. Selbst durch das Glas war das einfallende Licht noch warm genug, um das Kältegefühl aus ihren Armen zu vertreiben. »O Eddie ...« sagte sie. »Eddie, es tut mir leid.« Ich weiß nicht, was mit mir los ist, dachte sie. »Geh zurück zu Tommy. Er wartet auf dich. Wir sehen uns dann gegen sechs Uhr. Soll ich dich abholen?« Er war schon wieder im Kino verschwunden. Als sie im Aufzug nach unten zur Parkgarage fuhr, fragte sie sich, ob es wirklich ein guter Film gewesen war. Sie hoffte, er hatte Eddie gefallen. Es gab ohnehin viel zu wenig Dinge, die seine Wißbegier stillen konnten. Wenn er in dem üblichen Kulturkreis etwas fand, das ihm dabei half, war das in Ordnung. Natürlich war es das. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Später würde er auf die High School gehen und dann auf ein College. Sicherlich würde er ein Stipendium bekommen und sich die von ihm bevorzugten Fächer aussuchen können. Aber bis dahin würde noch einige Zeit vergehen. Jetzt sollte er sich so verhalten, wie es seinem Alter entsprach, und es genießen. Sie
würde ihn nicht anders haben wollen. Ein schlechter Traum, dachte sie. Das war alles. Ein wahrer Alptraum. Auf dem Heimweg klarte der Himmel auf und bot ihr eine Fläche, auf die sie alles hätte schreiben können, was ihr in den Sinn kam. Ja, ein Abendessen und anschließend ein Film, dachte sie. So wie früher. Wenn Dan damit einverstanden ist. Oder vielleicht nur ein Abendessen. Morgen ist Sonntag, da können wir ausschlafen. Wir werden in unserem Bett liegen -in unserem Zelt. Sie näherte sich dem Stoppschild auf der anderen Seite der Schienen, wollte schon weiterfahren, beschloß aber dann stehenzubleiben. Ein weiteres Strafmandat würde ihre Versicherungsprämie in die Höhe treiben. Sie trat auf die Bremse, hielt an und sah sich nach links und rechts um, so wie es sich für einen verantwortungsbewußten Autofahrer gehörte. Die Schienen waren frei. Sie fragte sich, ob sie überhaupt noch benutzt wurden. Weiter unten bei dem Schrottplatz waren die Gleise mit Unkraut überwuchert. Trotzdem bereitete es ihr Unbehagen, auf den Schienen zu stehen. Sie fühlte sich dann verletzlich - das kam wohl von den Meldungen über Autos, bei denen der Motor abstarb und sich nicht wieder starten ließ, und die dann von Lokomotiven, die aus dem Nichts auftauchten, in zwei Hälften gerissen und mitgeschleift wurden. Aber hier war diese Gefahr nicht vorhanden. Sie legte den ersten Gang ein, fuhr los und bog von Remar nach Stewart ab. Dann warf sie einen Blick in den Rückspiegel. Etwa hundert Meter hinter ihr ging jemand in Richtung des Schrottplatzes zwischen den Schienen über die Schwellen. Irgend etwas an der Gestalt veranlaßte sie, die Hand zu heben und den Rückspiegel so einzustellen, daß sie sie besser sehen konnte. Evie trat mit aller Kraft aufs Bremspedal, kurbelte das Fenster ganz herunter, lehnte sich hinaus und sah zurück.
Es war das Mädchen in dem langen, gebauschten Kleid - das Mädchen, das in ihrem Traum an die Tür geklopft hatte.
6. Kapitel Eddie und sein Freund wußten beide nicht, was sie sagen sollten. Es fiel ihnen schwer, darüber zu sprechen, was da in diesem Kino passiert war. Aber jetzt hatte sich alles verändert. Eddie hatte das Gefühl, angestarrt zu werden - er wurde beobachtet. Von den Leuten auf dem Parkplatz und in den Restaurants gegenüber. Sie saßen im Fatburger's, im Weenie Wigwam, in den Wagen, die davor parkten, und in den Autos, die am Reggae Rat's Cheesy Parlor vorbeifuhren. Ihre Windschutzscheiben blitzten im Sonnenlicht auf. Auch auf dem Gehsteig fühlte er sich verfolgt. Die Bäume an der Ecke, das schmutzige Laub und die knorrigen Baumstümpfe vermittelten ihm den Eindruck, als würde jemand auf ihn lauern, um ihn zu packen, fortzuschleppen und ihn in sein Zimmer einzusperren, damit er dort über die Verbrechen nachdenken sollte, die er begangen hatte, an die er sich aber nicht mehr erinnern konnte. Er wußte nur, daß jemand, der ihm einmal vertraut hatte, das jetzt nicht mehr tat, und das verletzte ihn und machte ihn wütend. Mit diesem Gefühl wußte er nichts anzufangen, also richtete er es gegen sich selbst. Aus Gründen, die er nicht begreifen konnte, fühlte er sich mit einemmal sich selbst überlassen. Sie waren nur noch einige Blocks von Tommys Haus entfernt, aber Eddie hätte es nichts ausgemacht, wenn sie niemals dort angelangt wären. »Es tut mir leid«, sagte er schließlich. »Was?« »Wir hätten noch bleiben können.« »Ach, Ninja Cop ist sowieso ein beschissener Film.« »Woher weißt du das?« »Jim Wynorski ist der Regisseur.« »Na ja«, meinte Eddie. »Robyn Harris spielt mit. Erinnerst du dich an Hard to Die?«
»Klar. Aber Joe Bob wird den Film bestimmt im Autokino zeigen. Wart nur ab.« Ein Dodge Capri in der Farbe eines kandierten Apfels fuhr vorbei. Das Schiebedach war geöffnet, und aus dem Autoradio ertönte laute Rapmusik. Ohne erkennbaren Grund zeigte ihnen der Teenager, der den Wagen fuhr, den Vogel und schrie ihnen etwas Obszönes zu. Das Auto fuhr an ihnen vorbei, und der Schrei verklang so rasch wie der Ton der Sirene eines Rettungswagens. Eddie widerstand dem Verlangen, sich umzudrehen und starrte statt dessen bei seinen nächsten Schritten auf seine Schuhe, auf die Risse im Zement, auf das Unkraut, das dort wuchs, auf Kaugummipapier, auf das silberfarbene Zellophan von Zigarettenpackungen, das in einer Abflußrinne steckte, auf den Schutt einer ungeplanten, verwesenden Landschaft. »Bist du mit >Scoops< schon fertig?« erkundigte Tommy sich. Eddie hatte Cinema-Scoops, die wöchentliche Kolumne, die er für Valley Sun schrieb, schon beinahe vergessen. »Noch nicht.« Ich werde über American Zombie II schreiben, dachte er. Eine Zusammenfassung der Handlung, die ich mit dem Original vergleiche. Das sollte leicht zu machen sein. »Vergiß nicht, daß wir am Freitag unsere Facharbeit abgeben müssen.« »Das weiß ich.« Spionierte auch Tommy ihm jetzt hinterher? »Welches Thema hast du gewählt?« Eddie stieg der Geruch von überbackenem Käse und heißem, öligen Teig in die Nase. Er hob den Kopf. Vor ihnen zeichnete sich die Silhouette der Statue vor dem Reggae Rat's mit den Mäuseohren in Form einer Pizza und den schwarzen Dreadlocks gegen den Himmel ab, und ihre kleinen, runden, glänzenden Augen schienen die beiden Jungen
anzustarren. Die Sonnenstrahlen fielen auf die riesige Plastikstatue, und es wirkte so, als würde sie sich langsam um ihre eigene Achse drehen und den beiden nachschauen. »Dario Argento«, erwiderte Eddie. »Und das hat Miss Rippell erlaubt?« »Nein. Zuerst habe ich ihr vorgeschlagen, etwas über Carpenter zu schreiben. Dann über Romero, und schließlich über Cronenberg. Aber sie hat sowieso keine Ahnung, wer die sind. Also heißt mein Thema >Horrorfilme<. Die Arbeit handelt trotzdem von Argento. Sie wird den Unterschied gar nicht bemerken.« »Du hättest von Hitchcock reden sollen. Jeder weiß, wer er war.« »Langweilig.« »Er hat einige gute Aufnahmen gemacht«, widersprach Tommy. »Die Wendeltreppe in Vertigo ...« »Was war da schon dran?« Sie hatten sich erst in der vergangenen Woche die Fassung mit dem neuen Ende angesehen, die von der Criterion Collection herausgegeben worden war. Eddie hob die Hände, formte damit ein Quadrat und betrachtete zwischen seinen Fingern wie durch einen Sucher die Straße und die anderen Fast-Food-Restaurants. »Nur ein Kameratrick, wie ihn Spielberg in Jaws gemacht hat - und nach ihm noch einige hundert Leute.« »Aber Hitchcock hat das erfunden.« »Pah!« sagte Eddie. »Ich frage mich, wie die Einstellung andersherum aussehen würde.« »Du meinst, wenn man zuerst mit der Kamera heranfahren und dann rückwärts zoomen würde?« Das würde die Perspektive abflachen, dachte Eddie. Oder nicht? Er versuchte, sich die Einstellung vorzustellen. »Vielleicht sollte das jemand mal versuchen«, meinte er.
»Möglicherweise wird Jim Wynorski das tun.« »Oder Charles Band.« »Oder Fred Olen Ray«, sagte Tommy. »Oder Anthony Hickox.« »Oder Albert Pyun.« »Oder Harley Cokliss!« Eddie krümmte sich vor Lachen. »Ich werde es versuchen«, erklärte Tommy. »Mit der Hi-8 meines Vaters.« »Kannst du sie bekommen?« »Natürlich. Er hat sie mir hinterlassen.« Eddie hob wieder die Hände, formte sie wie einen Sucher und stellte sich vor Tommy. »Also gut. Wir fangen damit an, daß wir mit der Kamera heranfahren ...« »Die wir in der Hand halten«, ergänzte Tommy. »Und dann einen Schwenk«, sagte Eddie und war in diesem Augenblick seines Lebens mit Zustimmung seines Freundes ein Kameramann. Hitzewellen flimmerten dort über den Asphalt, wo er in eine Schotterstraße überging. Eddie schwenkte im Halbkreis herum und betrachtete die Straße als Set in einem Filmgelände. Die Autos fuhren wie auf ein Stichwort hin zu dem Restaurant El Pollo Muerto und verließen es dann wieder, einige Kunden ließen sich an den Tischen im Freien nieder, um eine Pause zu machen und etwas zu essen. Er schwenkte zurück auf den Trampelpfad und die Schatten, die darüber lagen. Dann blies ihm der Santa Ana-Wind ins Gesicht, und das Trugbild verschwand. Zurück blieb nur das eintönige, zweidimensionale Bild des San Fernando Valley, dessen Pastellfarben wirkten, als wären sie von der Sonne ausgeblichen. »Und dann?« fragte Tommy. »Eine Montage. Szenenwechsel.« »Zu welcher Szene?« »Zu dem Beginn von American Zombie III.« Eddie ließ seine Fantasie spielen, lenkte seine Gedanken weg von dem zusam-
menhanglosen Film, den sie eben gesehen hatten, und versuchte, den Faden wieder aufzunehmen, der stark genug war, um sie durch das Labyrinth der Möglichkeiten zu führen, die nächste Folge zu drehen. Warum auch nicht? Der tiefere Sinn dieser Geschichte mußte erst noch erklärt werden. »Den Film hat aber noch niemand gemacht.« »Das werden sie schon noch.« »Und wer wird ihn sich anschauen?« »Wir haben uns doch auch diesen angesehen, oder nicht?« »Sie bringen ihn bestimmt gleich als Video heraus.« »Dann können wir ihn uns ansehen, ohne viel dafür zu bezahlen«, meinte Eddie. »Unser Film wird allerdings viel besser sein.« »Vielleicht. Und wie stellst du dir die Handlung vor?« »Na ja ...« Eddie dachte nach. »Zuerst sieht man, wie die Körper mutieren ...« »Welche Körper?« »Die von Stacey und Shannon. Ihre Körperteile mutieren und bilden sich neu. Zu einer Person!« »So wie am Ende von Scanners?« »Nein«, erwiderte Eddie. »Es gibt keine zwei Körper mehr. Nur noch einen.« »Sie sind beide tot, oder?« »Richtig.« Eddie ließ in Gedanken noch einmal die letzte Szene von Zombie II an sich vorbeiziehen, den dramatischen Kampf zwischen den beiden Frauen, der so gestellt und unglaubwürdig gewirkt hatte. »Aber wenn sie miteinander kämpfen, beißen sie sich, und deshalb verschmilzt ihre DNA miteinander. Wenn sich dann der neue Körper bildet, kann man nicht mehr sagen, welches Körperteil von wem kommt.« »Also doppelt so klug und stark?« fragte Tommy. »Ja, und auf zweifache Weise tot.« »Das gefällt mir. Welchen Ort hast du dir für die Aufnahmen
vorgestellt?« Einen Block weiter schien die Straße mit den Eisenbahnschienen zusammenzulaufen, die hinter dem Parkplatz lagen wie zwei parallele Linien, die sich an einem unbestimmbaren, verschwommenen Punkt trafen. Es war nur eine optische Täuschung, aber die Schienen führten anscheinend direkt durch das verkommene Gelände. »Dort«, antwortete Eddie. »Beim Pick-A-Part?« »Warum nicht? Das könnte doch der Ort sein, wo die Autos hingebracht werden, nachdem sie explodierten. Es weiß nur niemand, daß sich Körperteile von Stacey in dem Wrack befanden. Und von Shannon.« »Raul läßt uns dort nicht hinein.« »Wir könnten nach Einbruch der Dunkelheit drehen.« Tommys Augen blitzten auf - es sah aus, als hätte er leuchtende Staubpartikel darin. »Das geht nicht.« »Warum nicht?« »Warst du schon einmal nachts hier?« »Nein«, gab Eddie zu. »Und du?« »Mein Dad hat mich einmal dabei erwischt, als ich über den Zaun klettern wollte. Er hatte eine Scheißangst.« Da war es wieder. Mein Dad. Immer wenn Tommy seinen verstorbenen Vater erwähnte, wollte Eddie so schnell wie möglich das Thema wechseln. Es klang so, als wäre Mr. Oshidari immer noch am Leben. Aber das ist er nicht, dachte Eddie. »Warum?« »Raul besitzt scharfe Wachhunde.« »Oh. Dann kommt das Pick-A-Part wohl nicht in Frage.« »Genau. Deine Mutter würde einen Anfall bekommen.« »Das ist mir egal«, sagte Eddie wahrheitsgemäß. Sie gingen an den Zaun. Die Kette, mit der der Platz abgesperrt
war, klirrte. Es sah aus, als wären stählerne Diamanten zu einem Drahtgeflecht miteinander verbunden worden. Die Glieder der Kette wirkten wie ein aus Lamellen geflochtener Korb, der mit schlaff herabhängenden, leuchtenden Aluminiumstreifen verstärkt war; einige von diesen Streifen waren verbogen oder von Vandalen oder kleinen Tieren abgebrochen worden, die versucht hatten, dort einzudringen. Oder herauszukommen. Tommy holte einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche und fuhr damit an dem Zaun entlang. Die Kette vibrierte und rasselte. »Wenn wir Jacken mitbringen, könnten wir hinüberklettern«, meinte Tommy. »Wie?« »Ich habe das in Filmen gesehen, die von Ausbrechern handeln.« Tommy deutete auf die rasiermesserscharfen Spitzen an dem Draht. »Man wirft seine Jacke über den Stacheldraht.« Sie entdeckten eine Lücke zwischen den unter Strom stehenden Stahlrohren, die den Zaun stützten. Es war immer noch hell, also war das lange, rechteckige Tor noch nicht verschlossen - es stand weit offen. Auf einem Schild war zu lesen: PICK-A-PART Wir haben, was Sie brauchen! Es war niemand zu sehen. Auch der Wohnwagen am Ende des Trampelpfads, in dem sich das Büro befand, schien leer zu sein. An dem Caravan hingen Hunderte alter Radkappen, die matt schimmerten - eine Ansammlung von verbeulten Schutzschilden gefallener Armeen. Der Schreibtisch über den Radkappen war verlassen. »Wo ist Raul?« fragte Eddie. »Wahrscheinlich mußte er mal.« »Und die Hunde?«
»Es ist noch nicht dunkel.« Eddie ging die Auffahrt zum Büro hinauf. »Um welche Zeit mußt du zu Hause sein?« wollte Tommy wissen. Eddie warf einen kurzen Blick auf die Uhr im Büro. Sie trug das Bild eines Mädchens, das Monique Gabrielle ähnelte, dem Star in Evil Toons. SNAP-ON WERKZEUGE lautete die Aufschrift neben ihrem Gesicht. Es war halb sechs. »Mach dir darüber keine Sorgen.« Auf dem Grundstück hinter dem Wohnwagen standen überall kreuz und quer Schrottwagen - verbeultes Metall aus einer verlorenen Schlacht. Auf diesem Friedhof für Verbrennungsmotoren färbte rostiges Eisen die Erde so rot wie getrocknetes Blut. An manchen Stellen war sie auch durch Motoröl schwarz geworden. Motorhauben standen offen und gaben mit klaffenden Kiefern den Blick auf die Motorblöcke frei. Die Luftfilter wirkten wie Hüte, die die kleineren Münder der Vergaser sichtbar machten. Reifen verrotteten und lösten sich im Unkraut auf. Sie waren an den Seiten aufgerissen und zeigten die ausgefaserten Ränder der verschiedenen Schichten. Zerbrochene Zylinder lagen tropfend im hohen Gras. Die Kotflügel im Löwenzahn daneben sahen aus wie achtlos hingeworfene Schutzschilde. Überall roch es nach Schmiere, getrocknet in der grellen Sonne, die sich wie ein langsam verschwindender, silberner Ball nun am Horizont nach unten bewegte, so als schwebte sie an der Naht des zerrissenen Handschuhs eines Zauberers. »Das ist der Ort, wo die alten Terminatoren hingehen, um zu sterben, nicht wahr?« meinte Tommy. Eddie hob wieder die Hände vor die Augen, formte ein Quadrat und betrachtete die Landschaft, als würde er langsam eine Kamera fahren. Zuerst schwenkte er kurz auf einen zertrümmerten Volks-
wagen, der auf einem Cadillac stand, dann auf einen Haufen Blech aus Detroit, der von einem Toyota gestützt wurde, und auf einen Hyundai, der sich in den zerbrochenen Kühlerblock eines Peterbilts festgebissen hatte. Exotische Sportwagen standen friedlich neben Buicks und Pontiacs, während Fords und Chevies sich mit zerbrochenen Scheinwerfern anscheinend unerschrocken auf eine Machtprobe vorbereiteten. Ein Mercedes hatte sich neben einen Yugo gelegt. Neben dem Zaun im hinteren Teil des Grundstücks bewegte sich etwas auf der Ladefläche eines beschädigten Datsun Pick-ups. Eddie schwenkte zurück, bis er den Schatten fokussieren konnte. Das war kein Schatten. Eddie sah etwas Weißes aufblitzen, und dann erhob sich ein Mann auf der Ladefläche. Er zog sich seine khakifarbene Hose über die nackten Hinterbacken, drehte sich um und entdeckte die beiden Jungen in dem tristen Meer aus Blech. »Hey!« Der Mann kletterte von dem Lastwagen, kam auf sie zu und verschränkte seine kräftigen Arme vor der mächtigen Brust. »Raul«, flüsterte Tommy. »Ich weiß.« »Hey, was wollt ihr Jungs hier?« Bevor sie antworten konnten, sahen sie wieder etwas Weißes aufblitzen, und eine zweite Figur setzte sich auf der Ladefläche des Pick-ups auf. Die Kante der Klappe verbarg ihr Gesicht zur Hälfte und gab nur einen kurzen Blick auf einen kurzen Haarschopf preis, der sich wie eine dunkle Ramme in die Luft hob. »Wir ... wir haben uns nur umgesehen«, sagte Tommy. »Wenn ihr sonst nichts wollt, dann verschwindet von hier!« schrie Raul. Hinter ihm tauchte in dem halb verborgenen Gesicht ein Auge auf, das sie aufmerksam beobachtete.
»Schon in Ordnung«, sagte eine Mädchenstimme. »Das sind Freunde von mir.« Wer ist das? fragte sich Eddie. Raul näherte sich ihnen. Er war ein großer Latino, der einmal sehr kräftig gewesen sein mußte, mittlerweile aber viel zu dick geworden war, einen Stiernacken und fette, dicht behaarte Arme hatte. Auf seinem T-Shirt stand: WIE ICH AUTOFAHRE? RUF 1-800-VERPISS DICH. Die Jungen wichen einige Schritte zurück, doch Raul änderte seine Richtung und ging auf das Büro zu. »Freunde«, brummte er und spuckte auf den Boden. »Kennst du sie?« fragte Tommy, sobald Raul verschwunden war. »Ich glaube, ich habe sie schon einmal gesehen«, erwiderte Eddie. »Lois Shaw«, sagte Tommy langsam. »Die Neue?« Eddie erinnerte sich an die Schülerin, die erst vor kurzem in die achte Klasse gekommen war und im Schulorchester Flöte spielte. »Das ist sie nicht. Das ist ... Eileen.« »Eileen Larson? Auf keinen Fall!« Tommy hatte recht. Aber ihre Augen - beziehungsweise das eine, das sie sehen konnten - war ihm irgendwie vertraut. Es glich dem einer Katze, rund und klar; die Art von Auge, in dem man viel Weiß sah und von dem man in seinen Träumen im Scharten beobachtet wird. »Dann ist es Sandy«, meinte Eddie. »Du weißt schon - die vom Gemeinschaftsraum.« »Vielleicht«, erwiderte Tommy ungläubig. Aus dieser Entfernung hätte sie jedes der Mädchen sein können. Als sie die Jungen zu sich winkte, gingen die beiden so vorsichtig auf sie zu, als befänden sie sich auf einem Minenfeld. Einen Moment lang war sie nicht mehr zu sehen, und Eddie
fragte sich, ob sie wirklich da gewesen war. Doch dann erreichten sie den Lastwagen, und das Mädchen tauchte direkt vor ihnen auf. »Hi«, sagte sie. »Hi.« Wer hatte das jetzt gesagt? Eddie war sich nicht sicher. »Ich habe euch vorher schon gesehen.« »Tatsächlich?« »Du bist Edward, nicht wahr.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Edward? Außer seiner und Tommys Mutter nannte ihn niemand so. Aber dieses Mal machte es ihm nichts aus. »Ja.« Jetzt, wo er so nah vor ihr stand, wurde ihm klar, daß sie nicht von der Junior Highschool war. Es war ihre Stimme, die ihn zu diesem Entschluß brachte - sie klang so, als wisse sie viele Dinge, die er noch lernen mußte. Er konnte ihre Gesichtszüge nicht sehen; die Sonne war inzwischen durch die zerrissene Wolkendecke gesunken und hinter dem Reggae Rat's verschwunden. Das Mädchen hielt den Kopf gesenkt, so daß ihr das Haar in die Stirn fiel. Ihre Stimme klang jedoch nicht schüchtern, sondern in ihr schwang das Versprechen auf eine tiefere, doppelsinnige Bedeutung, die Eddie nicht so recht verstand. Auch ihr Alter konnte er nicht einschätzen - wie bei den Mädchen, die er abends vor den Kinos und Fast-FoodRestaurants hatte stehen sehen; Mädchen, die immer allein waren, sich nie an ein Ausgangsverbot halten mußten, ganz rasch erwachsen wurden und dieses Image aufrechterhielten, solange sie konnten, bis sie eines Tages so plötzlich verschwunden waren wie die Bilder in den Wolken. Sie zogen immer weg, bevor er die Chance hatte, sie kennenzulernen. »Wie heißt dein Freund?« »Tom.« »Hi, Tom.«
»Hi.« »Was machst du ...?« begann Eddie. »Wie?« Sie sah ihn so belustigt an, als hätte er versucht, einen Scherz zu machen. »Was tust du hier?« »Ich habe gewartet.« »Worauf?« »Auf euch.« Das stimmte natürlich nicht, aber Eddie mochte das Gefühl, das ihre Worte in ihm auslösten: es war berauschend und gefährlich wie der Geruch nach Benzin. »Ja, natürlich«, sagte er. »Und warum seid ihr hier?« »Wir drehen einen Film.« Eddie wünschte sich, seine Worte rasch in der Luft auffangen und zurückholen zu können. Jetzt würde sie Tommy und ihn bestimmt auslachen. »Welche Art von Film?« erkundigte sie sich, ohne mit der Wimper zu zucken. »Na ja, wir drehen noch nicht«, erklärte Tommy. »Aber ihr werdet es tun«, stellte sie fest. »Ja.« »Wo ist eure Kamera?« »Zu Hause«, erwiderte Eddie. »Ich meine, bei ihm.« Er mußte einfach weitersprechen. »Wir werden erst heute nacht zu drehen anfangen. Wenn es dunkel wird.« »Wie wollt ihr das machen?« »Die Kamera hat eine sehr schnelle Blende«, erklärte Tommy. »Oh«, sagte sie. »Ich verstehe.« Tat sie das tatsächlich? Eddie hatte jetzt das Gefühl, daß sie sich über sie beide lustig machte. »Was tust du wirklich hier?« fragte er sie. Sie schwieg eine Weile, bevor sie antwortete. Eddie emp-
fand das Gewicht der Stille wie eine Naturgewalt. »Wenn ich es euch sage, könnt ihr mir dann versprechen, ein Geheimnis für euch zu behalten?« »Klar«, antwortete Tommy. »Ich wohne im Augenblick hier«, erklärte sie. »Raul läßt mich in seinem Lastwagen schlafen. So lange, bis ich in mein neues Haus einziehen kann.« Eddie fiel plötzlich etwas ein. »Wie spät ist es?« fragte er. »Viertel vor sechs«, sagte Tommy, ohne einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen. »Ich muß gehen.« »Wohin?« wollte sie wissen. »Ich ... ich treffe mich mit jemandem.« »Mit wem? Mit deiner Freundin?« »Nein«, erwiderte er hastig. »Nur mit einem Freund.« »Ich dachte, er sei dein Freund.« Spielte sie mit ihm? »Das ist er ja auch.« »Und was ist mit mir?« »Ich kenne nicht einmal deinen Namen«, sagte Eddie. »Heute nacht werde ich ihn dir sagen.« »Heute nacht?« fragte Tommy. »Wenn ihr zurückkommt, um euren Film zu drehen. Ich werde euer Star sein.«
7. Kapitel Nachdem Evie weggefahren war, ging Markham langsam durch das leere Haus. Was stimmte nicht? Eigentlich schien sie wieder in Ordnung zu sein. Und sie würde bald zurückkommen. Eddie war mit dem Jungen der Oshidaris im Kino ... Aber irgend etwas fehlte. Was? Alles war so wie immer - zumindest alles, was er wahrnehmen konnte: das Sofa und die Sessel, deren Polster sich ihren Körperformen angepaßt hatten; der Winkel, in dem das Licht durch die Fenster fiel; die abgetretenen Stellen auf den Teppichen und den glänzenden, abgestoßenen Dielen; das abendliche Knarren der Holzbalken, die Luftströme, die von einem Raum durch den nächsten zogen und verschiedene Gerüche mit sich trugen - ein unsichtbares Zeichen, daß sie hier so lange gelebt hatten, bis sich der Klang ihrer Worte und ihr Lachen im Stoff der Vorhänge und in den Poren des Holzes festgesetzt hatten. Er hätte dieses Haus mit verbundenen Augen erkannt. Die vielen Bücher in den Regalen, die vom Fußboden bis zur Decke reichten und die Wände dicker und solider erscheinen ließen, stellten gewissermaßen eine Landkarte ihrer geistigen Interessen dar. Zwischen Wohn- und Eßzimmer befand sich eine Sammlung der bekanntesten Science-fiction-, Fantasy- und Kriminalromane, in der Diele standen die Bücher über Geschichte und Politik, im Arbeitszimmer die Werke über Kunst und Psychologie, und die Berichte über Filmgeschichte, Essays und die humorvollen Erzählungen waren irgendwo dazwischen zu finden. Seltene Erstausgaben von Romanen, Kurzgeschichten und Poesie wurden sorgfältig im vorderen Schlafzimmer aufbewahrt, die Kochbücher vor der Küche, und
ein Stapel von vermischten Schriften, die in keine Kategorie einzuordnen waren, lagen im Vorbau. Unzählige Kisten, in denen sich seit der Collegezeit gesammelte Taschenbücher mit Eselsohren befanden, waren schon vor langem in die Garage verbannt worden, um zu vermeiden, daß Schimmel sich ausbreitete. Und Eddies Zimmer? Filmposter bedeckten jeden Quadratzentimeter zwischen den bausteinartigen Bücherregalen, deren Bretter sich unter dem Gewicht von Videokatalogen und Tageszeitungen bogen, darunter einige Ausgaben, die er irgendwo im Haus aufgeklaubt und nicht mehr zurückgelegt hatte. In einem Teil des Regals waren Plastikmodelle aufgestellt, darunter eines von Michael Myers, dem killenden Rächer aus Halloween, und ein Behältnis aus Acryl, in dem sich ein echtes Teilstück eines 35-mm-Films aus American Zombie befand, das den Abonnenten von Shock Zone als Prämie überreicht worden war. Markham hatte die ersten Ausgaben gelesen, die er im Briefkasten gefunden hatte. Er war von dem hohen Niveau, dem Wissen über die Geschichte des Kinos und dem Sachverstand überrascht gewesen, mit dem die bekannten Filme in den Artikeln analysiert wurden. Er hätte sich niemals Gedanken über die Beziehung zwischen Mario Bava und Martin Scorsese oder zwischen Howard Hawks und John Carpenter gemacht, aber der Scharfblick des bemerkenswerten Stefan J. hatte ihn eines Besseren belehrt. Er hatte sogar seinen Sohn angespornt, für das Magazin zu schreiben, aber Eddie blieb wegen der Schule kaum Zeit dafür. Vielleicht im Sommer, dachte er. Vorausgesetzt, Eddie verbringt nicht jeden Tag im Kino oder vor dem Videorecorder. Zumindest, bevor wir umziehen und unsere Welt für eine Weile stillstehen wird. Das Zimmer war jetzt mit den Plastikfolien verhüllt, die Markham auf der Veranda gefunden hatte. Das Bett, der
Schreibtisch und die Bücherregale verschwammen unter den durchsichtigen Planen, als läge alles unter Wasser. Markham fiel ein, daß er die erste Schicht Farbe auftragen mußte, bevor der Junge zurückkam. Wie spät war es? Der gefällte Baum hatte eine Lücke hinterlassen, an die er sich erst noch gewöhnen mußte. Er warf einen Blick durch die Gittertür und versuchte abzuschätzen, wieviel Holz er gehackt hatte. Selbst wenn er die Kreissäge wieder anwerfen und die Scheite zerkleinern würde, wäre in den Mülltonnen nicht genug Platz dafür, und die kleineren, spitzeren Stücke würden Löcher in die Müllsäcke bohren. Er ließ die Tür hinter sich zufallen und betrachtete die Früchte seiner Arbeit. Sägemehl hing wie Nebel in der Luft. Die frischen, weißen Partikel senkten sich auf alles, was sich im Garten befand und leuchteten in den Sonnenstrahlen wie radioaktiver Staub. Der kräftige, durchdringende Geruch des Pflanzensafts erfüllte die Luft. Nein, dachte er, wenn ich das Holz noch kleiner schneide, kann ich es nicht mehr hinausschaffen. Es mußte einen anderen Weg geben ... »Auuu!« Der Schrei kam von der Stelle, an der er die Überreste des Baums zerteilt hatte wie die Segmente eines riesigen Regenwurms. War irgend jemand - ein Kind? - unter den Holzscheiten begraben? Das war doch nicht möglich. Oder doch? Er hob die Zweige hoch, konnte aber außer vertrockneten, zusammengerollten Blättern und der nackten Erde darunter nichts entdecken. »Auuu ...« Jetzt wurde ihm klar, daß das Geräusch aus der Garage kam. Er stieg über die Kreissäge und die Scheiben des Baumstamms mit dem weichen, schwammigen Kernholz. Die Seitentür zur
Garage stand offen, aber Markham sah nur Finsternis. Es dauerte eine Weile, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Auuuu ...!« Nach und nach konnte er die Umrisse der aufgetürmten Karteikästen und der losen Holzplanken erkennen. Er sah das furnierte Sperrholz, die Rollen Teerpapier und Dachpappe, alte Farbeimer und einen Generator sowie den konvexen Bildschirm eines kaputten Fernsehers auf einem wackeligen Metallgestell, der mit einer derart dicken Schicht Staub und Schmutz bedeckt war, daß Markham sich nicht darin spiegelte, als er näher herantrat. Er hörte, wie sich auf den Dachbalken etwas bewegte. Die Leiter stand vor einem Regal. Sein Sohn hatte sie dort hingestellt, als er die Kiste mit seinen Zeitschriften unter der alten Abdeckplane verstaute. Dann hatte Eddie die Garage verlassen, um Tommy zu treffen. Oder etwa nicht? Markham stellte seinen Fuß auf die erste Stufe der Leiter. Über ihm raschelte die rissige Plane. Oben angelangt, hob er sie an und sah ein Paar Augen vor sich, die ihn anstarrten. Er erschrak und verlagerte sein Gewicht. Die Leiter schwankte und drohte umzukippen. Das Kätzchen legte seine Ohren an und streckte den Kopf heraus. »Miau!« Markham versuchte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Die Leiter schwankte, und er preßte seine Knie zusammen. Er fuchtelte mit den Armen, bis es ihm gelang, sich mit einer Hand an das Regal zu klammern. Als er dabei die Nase des Kätzchens berührte, versetzte es ihm einen Schlag und machte einen Satz auf seinen Kopf. Er spürte, wie sich die messerscharfen Krallen
in seine Kopfhaut bohrten, und dann, wie das federleichte Tierchen über seinen Rücken kletterte und auf den Boden sprang. Markham drehte sich herum, weil er sehen wollte, wie es aussah, doch war ihm nur ein kurzer Blick vergönnt auf den roten Pelz und den Schwanz, der wie ein Ausrufezeichen in die Höhe gereckt war, als das Tier aus der Garage flüchtete. Dann schwankte die Leiter wieder und kippte nach hinten. Markham konnte gerade noch herunterspringen, bevor sie mit lautem Krachen zusammenklappte. Er landete auf den Füßen, und trotz des stechenden Schmerzes in seinen Knöcheln gelang es ihm, das Gleichgewicht zu halten. Verdammte Katze, dachte er und saugte an dem Kratzer auf seinem Handrücken. Und jetzt ... Was hatte er vorgehabt? Das Holz. Was sollte er damit tun? Er sah sich eine Weile in der Garage um. Da standen die Sägeböcke, der Küchenstuhl, den er versprochen hatte zu reparieren, ein Behälter mit Motoröl und sein Werkzeugkasten. In einer Ecke lehnte ein Gerät an einem Stahlkasten, das einer großen Schubkarre mit hohen Seitenwänden glich. Der Häcksler war schon seit Jahren nicht mehr benützt worden - zum letzten Mal, als er die alte Bepflanzung beseitigt und den Garten neu angelegt hatte. Ob er wohl noch funktionierte? Er räumte Gerümpel zur Seite und fuhr das Gerät um die Farbkanister herum auf den Hof hinaus. Das Starkstromkabel war unter einem Stapel von Fensterscheiben zusammengerollt. Markham holte es hervor und steckte das Kabel in den Häcksler, drückte auf den Schalter und trat einen Schritt zurück. Nichts geschah.
War die Maschine blockiert? Er fuhr mit der Hand über die Stahlseiten und faßte dann in den Trichter, doch dann fiel ihm ein, daß sich dort drin die Rotationsblätter befanden. Also holte er sich die Leiter und stellte sie so auf, daß er den Mechanismus sehen konnte. Am Boden des Geräts lag ein Schraubenzieher, dessen Griff zwischen den Hobelmessern verklemmt war. Er zog die Schnur aus der Dose und stieg dann wieder auf die Leiter. Beinahe hätte er es geschafft, den Schraubenzieher zu packen, doch die Kante des Trichters verhinderte es, daß er sich weit genug nach unten beugen konnte. Er versuchte, das Ding mit einem Ast zu bewegen, doch dann drehte sich der Schraubenzieher so um seine Achse, daß die Klinge nach oben zeigte und wie eine Rakete, die jeden Moment losschießen konnte, auf sein Gesicht gerichtet war. Markham beugte sich noch weiter vor, bis seine Beine die Leiter kaum mehr berührten, umklammerte mit zwei Fingern den Schraubenzieher und zog ihn ganz vorsichtig zu sich heran. Jetzt hatte er ihn. Er stieg von der Leiter, steckte das Kabel wieder ein und drückte noch einmal auf den Startknopf. Als die Blätter sich zu drehen begannen, steckte er den ersten Ast in die Maschine. Er hörte einen dumpfen Schlag und dann, wie die Messer das Stück Holz zersplitterten. Eine Wolke von Sägespänen fiel wie Schneeflocken auf der Seite heraus. Die Erde im Garten mußte sowieso gemulcht werden. Markham steckte noch einige Zweige in den Häcksler. Sie wurden sofort zermalmt und in kleinen Stücken ausgespuckt, die die trockene Erde bedeckten. Er warf zwei Armladungen Blätter hinterher. Der Motor wurde nur kurz ein wenig lauter, dann warf die Maschine bereits Konfetti aus. Er versuchte es mit größeren Brocken. Nachdem der Motor kurz aufheulte, wurden
auch sie zerstückelt. Markham stieg immer wieder auf die Leiter, holte Nachschub und schloß dabei halb seine Augen, wenn sich die Staubwolke auf sein Gesicht senkte. Schließlich hörte er nur noch das Surren des Häckslers und nahm den Geruch der Sägespäne wahr, die sich auf seine Wangen legten, während das tote Holz in die Luft flog. »Miau!« Er wischte sich sein Gesicht am Ärmel ab und sah nach unten. Das Kätzchen war neugierig geworden. Es machte einen Buckel und rieb sich an der Leiter. Sein gestreifter Schwanz war wie ein Fragezeichen neben der Kettensäge und dem Gastank hochgereckt. »Geh da weg!« sagte Markham. Er konnte das Tier nicht einmal bei seinem Namen nennen, denn sie hatten sich immer noch nicht entscheiden können. Eddie hatte das Kätzchen Justin nennen wollen, aber Evie war dagegen gewesen. Sie hatte darauf bestanden, zuerst zu sehen, wie es sich entwickeln würde - immerhin war es erst einige Wochen alt. Zögernd tastete es mit einer Pfote auf die unterste Sprosse der Leiter. »Verschwinde!« Das sagte man doch zu einer Katze, oder? Aber wußte sie denn auch, was das bedeutete? Anscheinend nicht, denn das Tierchen begann die Leiter hinaufzuklettern, während der Motor leer lief und leise summte. Markham fragte sich, ob das Tier dies vielleicht für ein Schnurren hielt. Er hatte keinen Ast mehr zur Hand, um dem Tier damit einen Stoß zu versetzen, also streckte er einen Fuß aus, um es daran zu hindern, weiter hinaufzuklettern. Es wand sich jedoch an seinem Knöchel vorbei, schmiegte sich dabei kurz an seinen Schuh und wollte ganz offensichtlich weiter nach oben. Hilflos sah Markham zu. Als er mit seiner Ferse die rosafarbene
Nase des Kätzchens berührte, packte es seinen Fuß und biß in seine Schnürsenkel. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es die Spitze der Leiter erreicht hatte. Er mußte den Motor abstellen, konnte aber den Schalter nicht erreichen. Rasch schwang er ein Bein vor und versuchte, das Kabel herauszuziehen. Vergeblich. Das Kätzchen sah, daß eine weitere Sprosse der Leiter frei war und zog sich mit geschickten Bewegungen ganz nach oben. Dann ließ es seine Pfoten über den Rand des Häckslers baumeln und starrte in den Trichter. Markham beugte sich vor, um es hochzuheben, doch es wand seinen pelzigen Bauch aus seiner Hand und kletterte noch höher. Es zog sich auf den stählernen Rand hinauf und versuchte, auf seinen vier Pfötchen balancierend, das Gleichgewicht zu halten. Markham konnte sich ausmalen, was jetzt passieren würde. Das Kätzchen würde versuchen, auf den gegenüberliegenden Rand zu springen. Mit seinen Vorderpfoten würde es sich noch festklammern, während die Hinterbeine nur wenige Zentimeter über den Klingen schweben würden. Dann würde sich sein Schwanz darin verfangen und hineingezogen werden. Das Tierchen würde nicht einmal mehr einen Laut von sich geben können, bevor ein roter Regen auf ihn fallen würde ... »Nein!« Er warf sich auf den offenen Behälter und erwischte das Kätzchen im Sprung. Es wand sich in seinen Händen, sein kleines Herz pochte dabei heftig. Markham drehte sich um, hielt das Tier nach oben und rollte sich von der Maschine herunter. Die Leiter kippte zur Seite um. Er landete mit dem Rücken auf dem Boden, aber zuvor schlug sein Kopf so hart gegen die Leiter, daß ihm Hören und Sehen verging. Ihm war nicht bewußt, wie lange er dort lag. Als er seine
Augen öffnete, verspürte er einen heftigen Schmerz in seiner Hand. Er streckte seine Finger aus, und das Kätzchen hörte auf, ihn zu beißen und lief davon. Von seiner Perspektive aus schien es, als würde sich der Boden oben befinden, und das Tierchen würde direkt in den Himmel laufen. Als er versuchte, sich aufzusetzen, drehte sich alles um ihn. Sein Kopf schmerzte stark, also blieb er auf dem Rücken liegen und wartete darauf, seine Sehkraft wiederzuerlangen. Doch alles wirkte verschwommen; er stützte sich auf einen Ellbogen, und die Szene veränderte sich. Jetzt war der Himmel wieder oben, und der Boden unten. Eigentlich hätte ihm das vertraut sein sollen. Was ist das hier? dachte er. Ein Garten. Wie versteinert starrte er auf die Schicht goldfarbenen Staubs, die die Steine auf dem Weg zwischen dem Haus und der Garage gelb gefärbt hatte. Der Garten war mit einemmal so lebendig so etwas hatte er noch nie gesehen. Die Akazien und die Palmen schienen mit einem Metallüberzug bedeckt zu sein, die anderen Pflanzen und vor allem die Bromeliengewächse mit Erz aus einer in einem Bergwerk gesprengten Hauptader. Er hörte das Dröhnen eines Düsenflugzeugs, das über ihm am Himmel vorüberflog und dann hinter einem Felsen verschwand, wo ein Wasserfall herabstürzte. Die Steine stießen ratternd gegeneinander, und das Laub rauschte und stieß noch mehr des kostbaren Staubs in die Luft. Ich wünschte, Evie könnte das sehen, dachte Markham. Wenn ich versuche, ihr das zu beschreiben, wird sie mir dann glauben? Dann dachte er: Wer ist Evie eigentlich? Er zwang sich dazu, aufzustehen. In seinem Kopf klingelte es immer noch, während die Neurotransmitter in seinem Gehirn arbeiteten und dann wieder aussetzten, da sie mit der Flut neuer Informationen überlastet waren. Das Läuten wirkte so
dringlich, als wäre Gott persönlich in der Leitung. Dann verlagerte sich das Klingeln aus seinem Kopf nach draußen jetzt kam es von hinter der Haustür. Es schien eine rein willkürliche Unterscheidung zu sein. Als er seine Kleidung abklopfte, verlor der goldfarbene Staub seinen Glanz. Traurig wandte er sich um. Er ging ins Haus, nahm den Telefonhörer ab und hielt ihn einige Zentimeter von seinem Ohr entfernt, während er darauf wartete, daß er eine Nachricht erhielt, die für ihn auf irgendeine Weise sinnvoll sein könnte. »Hallo?« sagte eine Stimme. »Ist dort jemand?« »Hi«, erwiderte er schließlich. »Hey, Dan.« »Hallo.« Die Stimme kam ihm bekannt vor, aber er konnte sie nicht einordnen. »Was ist denn los?« Markham gefiel der außergewöhnliche Witz, der in einer solchen Frage lag. »Alles«, erwiderte er. »So schlimm?« »Ja, so schlimm.« Markham spürte, wie sich seine Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen. »Du hast es ihr also erzählt, nicht wahr? Du Armleuchter! Wie ist es gelaufen?« Wer auch immer am anderen Ende der Leitung war, benahm sich sehr ausgelassen. »Ich bin mir nicht sicher.« »Führst du sie zum Abendessen aus?« »Das weiß ich noch nicht.« »Geht ihr ins Kino?« Das war ein Anhaltspunkt. Er erinnerte sich daran, daß es eine Person gab, die Kinofilme genauso liebte wie er und die auch jederzeit bereit war, sich mit ihm eine Wiederholung anzusehen, wenn er sie darum bat. Sie vertraute seinem Geschmack. Auch
bei Büchern. Nein, nicht bei Büchern - das war die andere, später. Die andere? »Ich habe keine Ahnung, was läuft«, erklärte er wahrheitsgemäß. Truffaut? Bergman? Oder der neue Antonioni. Der sollte sehr gut sein. Er hatte so viel über diesen Film gehört, daß er das Gefühl hatte, ihn bereits gesehen zu haben. »Vielleicht der mit Jack Nicholson.« »Soll das ein Witz sein? Terms of Endearment II, oder wie der Streifen heißt? Er hat seit The King of Marvin Gardens keinen anständigen Film mehr gemacht.« Mag sein, dachte Markham. Aber so lange ist das doch noch nicht her, oder? Was sind schon ein paar Jahre? Der gute Jack braucht eben eine Pause. »Was auch immer«, sagte er. »Wann fahrt ihr los?« »Erst wenn sie ...« Seine Gedanken überschlugen sich, als er versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern. Er wollte ganz sichergehen, den richtigen zu nennen. »Wenn sie zurückkommt.« »Ich frage deshalb, weil Katie mich angerufen hat. Sie hat bereits mit der Birdwell-Sammlung angefangen. Ich fahre gleich rüber, aber sie meinte, du solltest dir das besser auch ansehen. Anscheinend sind einige erstklassige Sachen dabei. Hast du eine Stunde Zeit? Oder sollen wir das verschieben?« »Nein.« »Nein? Hast du keine Zeit, oder willst du nicht, daß wir es für heute abblasen?« »Ist es weit von hier entfernt?« »Im >Stor-Ur-Self<, erinnerst du dich nicht mehr daran? In der San Fernando Road? Du wirst zurück sein, bevor sie nach Hause kommt.« Da war es wieder. Sie. Zumindest weiß er Bescheid. Ich muß
mit ihm reden, dachte Markham. Ich habe einige Fragen. »Wie kommst du dorthin?« Die Stimme lachte. »Nun, ich könnte auf meinen fliegenden Teppich springen, aber ich denke, ich nehme den Wagen. Der hat zumindest ein Tapedeck.« Er weiß Bescheid, dachte Markham wieder. »Gut. Ich meine, das ist in Ordnung.« »Treffen wir uns dort?« »Ich weiß nicht, ob ich fahren kann«, erwiderte er. »Hey, geht's dir gut?« »Ich glaube schon.« »Okay. Ich hol dich ab.« Woher weiß ich, daß er das sagen würde? fragte sich Markham. Als sie in den Laurel Canyon Boulevard einbogen, begann Markham zu verstehen. Unter dem Himmel, der wie Aluminium glänzte, fügte sich das Bild Stück für Stück zusammen. Es war Samstag, und jetzt am späten Nachmittag herrschte in den Baumärkten, in den Möbelhäusern und auf den Holzplätzen geschäftiges Treiben. Viel zu viele alte Chevies und Fords waren zwischen Lastwagen gefangen, die mit Maschinen überladen waren. Wie unvollendete Pyramiden aus der Zeit vor Kolumbus schimmerten die mit Sägezähnen versehenen Abschlußblöcke der Hochöfen matt durch einen Drahtzaun. In der Ferne lief eine Reihe von aufeinander abgestimmten Ampeln zusammen, als wollten sie die Landebahn für ein ankommendes Flugzeug kennzeichnen. Endlich begriff Markham es. Er konnte sich nur im San Fernando Valley befinden, und zwar in den neunziger Jahren. Die Überfüllung und die heruntergekommene Gegend hatte ihn zu dieser Erkenntnis gebracht, aber das war auch alles. Die Luft im Wagen war stickig und feucht. Er öffnete das Fenster auf der Beifahrerseite und betrachtete die bemalten
Seiten der Fast-Food-Restaurants, die an Lens VW vorbeiflogen. Er befand sich weder im Jahr 1973, noch in 1974 oder 1975. Vieles - all das - hatte sich seitdem ereignet. Allmählich kam er wieder zurück in die Realität. »Alles in Ordnung mit dir?« fragte Len, während er in den zweiten Gang zurückschaltete. »Ja, jetzt schon.« »Hat sie dir diese Beule am Kopf verpaßt?« Markham sah das Gesicht seiner Frau vor sich, und dann tauchten Schnappschüsse vor ihm auf: Evie in einem Sommerkleid mit zurückgebundenem Haar, in einem bodenlangen Mantel, in einer Jacke mit Pelzkragen. War das an dem Skilift in Big Bear gewesen? Oder während der Flitterwochen? Und dann sah er sie in einem tief ausgeschnittenen T-Shirt, mit gebräunten Beinen, die von der Kakaobutter glänzten. So war sie jetzt - und sie hatte sich kaum verändert. »Ich habe es ihr nicht gesagt«, erklärte er. »Gut! Das hast du richtig gemacht, mein Freund.« Habe ich das? überlegte er. Um die Dinge noch weiter in die richtige Perspektive zu rücken, konzentrierte er sich auf die überfüllte Vorstadt, in der er sich im Moment befand. Er erinnerte sich daran, daß das Tal einmal ein verschlafener, sonniger Ort gewesen war, der aus einer Verzweigung von menschenleeren, langen, engen Straßen bestanden hatte. Die Ansiedlungen waren durch die neuen, frisch markierten Schnellstraßen miteinander verbunden, die bei den Orangenplantagen, Bauernhöfen, Brauereien und Fabriken endeten. Es war ein Ort gewesen, an dem es so viele Fluchtwege in der dichtbevölkerten Innenstadt gab wie Venen in einem menschlichen Körper. Folgte man einem davon weit genug, landete man in einer friedlichen Gegend, wo kaum Verkehr herrschte, wo es keine Banden gab, wo man einen Job bekam, ein Haus mit staatlicher Unterstützung kaufen und seinen Wagen
unverschlossen in der Auffahrt stehen lassen konnte. Hier gab es genug Platz für den verzweifelten Individualismus, der so viele Menschen während der Wirtschaftskrise hierhergebracht hatte. Es war ein Ort, an dem man unter eigenen Bedingungen noch einmal von neuem beginnen, oder, wenn nötig, sich etwas ganz anderes einfallen lassen konnte. Doch das war zu einer Zeit gewesen, als die Straßenbahnschienen noch nicht abgebaut und durch Autobusse ersetzt worden waren, die qualmten und Reifen und die Luft verschmutzenden Treibstoff brauchten. Damals gab es noch keine Fusionen, keine größeren Fabriken, die plötzlich überall hervorschossen, bis die kleinen Smogwölkchen zu einer einzigen Wolke verschmolzen, die Hunderte von Quadratkilometern bedeckte und die ganze Stadt einzunehmen schienen, bis die Schnellstraßen sich wie die Arme eines Tintenfisches ausbreiteten, die alles an sich reißen wollten und keine Siedlung verschonten. Markham fragte sich, ob diese Veränderungen auf einen bestimmten Grund zurückzuführen waren - auf eine Art Urknall, der dieser Entartung verursacht hatte. Sah er hier nur eine Stufe von ziellosem Wachstum, oder gab es einen Faden, der sich irgendwo gelöst hatte und nun das gesamte Gewebe auftrennte? Er las die Schilder, an denen sie vorüberfuhren, um einen Hinweis zu erhalten, doch waren sehr viele in Sprachen abgefaßt, die er nicht verstand: spanisch, japanisch, koreanisch, vietnamesisch, thailändisch, austronesisch. Irgendwann hatte sich etwas verändert - nur ein Detail, das die meisten Menschen nicht bemerkten, so wie ein neuer Bestandteil, den man einer atomaren Struktur beifügte und der dann die bisherigen Substanzen veränderte und umwandelte, so daß eine Kettenreaktion entstand. Die Form und die Oberfläche der Gegenstände würden dann unerkennbar für ihn, bis er mehr über Alchimie wußte. Oder wäre er in diesem neuen System nutzlos - egal, ob er es verstand oder nicht?
»Erinnerst du dich noch an Bewitched?« fragte Len. »Die Fernsehshow?« Das war doch mit Elizabeth Montgomery, dachte Markham und stellte sich damit selbst auf die Probe. »Was ist damit?« »Wer war der Kerl?« »Welcher Kerl?« »Samanthas Mann.« »Warum willst du das wissen?« »Ich habe gestern abend den Kanal angestellt, wo die Wiederholungen laufen. An alles konnte ich mich erinnern, nur nicht daran, wer Darrin gespielt hat.« Also reden wir jetzt über Trivialitäten, dachte Markham. Na gut, ich spiele mit. »Warte mal. Tante Clara und Onkel Arthur. Agnes Moorehead spielte Endora. Und Serena die böse Zwillingsschwester. Und ihr Mann war Darrin. Wie hieß er noch?« Len kratzte grübelnd seinen dünnen Bart. »Das wollte ich doch von dir wissen.« »Jetzt weiß ich es. Dick York.« »Nein. Er spielte in Our Miss Brooks.« »Wie sieht er aus?« »Dunkles glänzendes Haar. Mittelgroß. Immer ein falsches Grinsen auf dem Gesicht, als würde er sich gerade überlegen, wie er jemandem eins auswischen kann.« »Das ist er«, meinte Markham. »Nein, warte. Jetzt fällt es mir ein. Es ist Dick Crenna.« »Er war der Schauspieler in Our Miss Brooks. Der, der den vertrottelten Kerl spielte. Später trat er noch in dieser Serie über einen Senator auf und machte einige Fernsehfilme. Dann war er noch in Rambo zu sehen.« »Genau, Dick Crenna«, sagte Len. »Die Rolle in Bewitched spielte Dick York.« »Auf keinen Fall! Dick Crenna spielte sie, und nach einer Weile wurde er von einem anderen Dick ersetzt. Ich glaube,
er hieß Sargent. Schlag es nach.« »Das werde ich tun.« Während sie an den nächsten Häuserblocks vorüberfuhren, glaubte Markham Len beinahe. Wenn das nun tatsächlich stimmte? Es war nur eine Nebensächlichkeit. Dick York spielt eine Nebenrolle in Our Miss Brooks, Dick Crenna bekommt die Rolle in Bewitched. Er macht damit genügend Geld, steigt dann aus, tritt im Osten irgendeiner Kirchengemeinschaft bei und stirbt dann in den Achtzigern an einem Emphysem. Währenddessen spielt Dick York weiterhin Polizisten und Senatoren und wird schließlich Stallones Boß. Hätte das etwas geändert? Würde dann heute alles anders sein? Es könnte sich auch um zwei Schmetterlinge im Känozoikum handeln. Einer würde aussterben, der andere weiterleben und sich vermehren. Das würde die Nahrungskette, die chemischen Bestandteile des Erdbodens und die Luft verändern. Auf allen Schildern würden sich andere Schriftzeichen befinden; anstelle von Hamburgern, Pommes frites und Hot dogs würde es Falafel, Gyros und Reisgerichte geben. Und ich wäre hier an einem Ort gefangen, wo niemand meine Sprache spricht und alles - die Moralbegriffe, die Gesetze, das Sozialverhalten, das zum Überleben unabdingbar ist -wäre vollkommen anders. Es wäre eine Welt, in die ich nicht passen würde, dachte Markham. Nur wegen eines solchen dummen, kleinen Details, weil Dick York und Dick Crenna auf zwei Fernsehsendungen ihre Rollen tauschten. Und das würde dann die Geschichte verändern. Wäre das tatsächlich so? Markham senkte den Kopf und vermied es, aus dem Fenster zu sehen. Es war besser, sich die Dinge nicht allzu genau zu betrachten - zumindest nicht im Augenblick. »Ich wette fünf Mäuse darauf, daß ich recht habe«, sagte Len und schaltete in den dritten Gang. Mäuse, dachte Markham. Woher kam dieser Ausdruck? »Ich glaube dir«, erwiderte er.
»Nein, du solltest es wirklich nachprüfen. Im Laden, im Actors' TV Credits.« »Du hast wahrscheinlich recht.« Ich bete zu Gott, daß das nicht so ist, dachte Markham und preßte seine Hände zwischen den Knien so fest zusammen, daß seine Fingerknöchel weiß wurden. Len warf Markham einen Blick zu und bemerkte, daß er mit hängenden Schultern dasaß. »Mach mal das Handschuhfach auf.« »Warum?« »Ich habe mir bei Aron's ein bißchen was fürs Ohr besorgt.« Musik, dachte Markham. Genau das, was wir jetzt brauchen. »Was zum Beispiel?« »Sieh es dir an - Al und Zoot sind auch dabei.« Len beugte sich vor und klappte das Handschuhfach auf. Darin lagen Dutzende von Kassetten - nicht einmal eine Landkarte hätte dort noch Platz gehabt. Gut, daß es die AchtSpur-Bänder nicht mehr gibt, dachte Markham. Was war damit eigentlich geschehen? Er entdeckte Motoring Along, eine neue Aufnahme der alten Session mit Al Cohn und Zoot Sims, auf der sich die Songs >My Funny Valentinen >The Yard-bird Suite< und >What the World Needs Now< befanden. Die Kassette in seiner Hand war so wichtig wie sein Paß. Es war gut zu wissen, daß es noch Jazz gab. Er atmete tief aus, nachdem er eine Weile die Luft angehalten hatte. »Na los, spiel sie ab. Sie ist wirklich spitze.« »Auf dem Heimweg«, erwiderte Markham. Wen wollten sie eigentlich treffen? Ach ja, das Mädchen mit den Sommersprossen und dem freundlichen Lächeln, das für sie arbeitete. Jetzt war die Realität wieder faßbar. »Wie lange wartet Karte schon?« »Ein paar Stunden. Sie hat sich nur dazu bereit erklärt, weil
Birdwells Tochter immer wieder auftauchte und sich nach dem Ergebnis der Schätzung erkundigte. Ich bin in der Nähe des Ladens geblieben, um abschließen zu können.« Die Uhr am Armaturenbrett war kaputt und um sieben Minuten nach drei Uhr stehengeblieben. Nachts oder nachmittags? fragte sich Markham. Zumindest stimmte die Zeit jetzt zweimal am Tag. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Später, als er gedacht hatte. »Wann wird der Lagerraum geschlossen?« »Um sechs Uhr«, erwiderte Len. »Das werden wir nicht schaffen.« »Aber natürlich. Wir sehen uns die Sachen gemeinsam an, und dann schicken wir Katie nach Hause, damit sie sich hinlegen kann.« »Um sechs Uhr?« »Sie hält gern ab und zu ein Schläfchen.« »Und das weißt du?« »Nicht aus persönlicher Erfahrung.« »Verstehe«, meinte Markham. »Das ist mein Ernst. Sie ist verrückt nach einem anderen Typen.« Und du bist verheiratet, dachte er. »Nach welchem Typen?« »Ich glaube, er ist Schriftsteller.« »Genau, was die Welt braucht. Noch einen Poeten.« Vor ihnen bog ein unbeladener LKW mit klappernden Ladeklappen aus einer Seitenstraße von einer Mülldeponie ein. »Du hörst dich sehr eifersüchtig an.« »Ich?« »Wie geht es übrigens Jean?« »Gut«, erwiderte Len seufzend. »Ich habe ihr gesagt, daß ich länger arbeiten muß. Evie leistet ihr Gesellschaft.« Natürlich, dachte Markham. Meine Frau ist zu ihr gefahren.
Die beiden hatten sicher viel miteinander zu besprechen - wie Samantha und Serena, die insgeheim hinter dem Rücken ihrer Ehemänner Pläne ausheckten, damit alles so verlief, wie sie wollten. Es spielte keine Rolle, ob Darrin Dick York oder Dick Crenna war. Conjure Wife als Situationskomödie. Warum nicht? Es war Fiktion - so wirklich wie alles andere auch. »Hat er schon etwas veröffentlicht?« fragte Markham. »Wer?« »Karies Poet.« »Jetzt bist du eifersüchtig.« »Nur neugierig.« »Ich glaube nicht. Wäre das der Fall, hätten wir sicher eines seiner Bücher in unserem Sortiment.« Markham sah zwei weitere LKWs die Mülldeponie verlassen - riesige, verbeulte Fahrzeuge von der Gesundheitsbehörde. An den Dächern der Fahrerhäuser baumelten hydraulische Baggereimer. »Ich wette, er wohnt in Box City«, meinte Len grinsend. »Was ist das denn?« »Liest du Mother Jones nicht?« »Schon lange nicht mehr.« »Da wurde ein Artikel darüber veröffentlicht. Box City war eine Kommune im Norden.« »Ich wußte nicht, daß es überhaupt noch Kommunen gibt.« »Sie aßen ständig Pilze. Der Sohn des Polizeichefs in Santa Mara lebte dort mit ihnen neben der Mülldeponie. Deshalb verschonte man sie. Bis jetzt.« »Du meinst diese Pilze, die Halluzinationen hervorrufen?« »Was sonst? Aber es ging nicht nur um die Pilze. In der Stadt wurden einige Jugendliche umgebracht.« »Niemand tötet, nur weil er Psilocybin im Körper hat.« »Das stimmt, aber sie sind trotzdem getürmt. Niemand weiß, wo sie jetzt sind. Ihr Anführer war der Universitätsprofessor,
der das Buch mit den Anleitungen zur Kultivation geschrieben hat.« »The Fruiting Body?« Das darf nicht wahr sein, dachte Markham. Dr. Barton Langstrom, der unter einem Pseudonym schrieb. »Ich hatte es im Sortiment, als wir den Laden aufmachten.« »Und? Konntest du es verkaufen?« »Zwei Kisten. Dann machte der Verleger in Berkeley Pleite, und wir konnten nicht mehr nachbestellen.« Markham dachte an einen anderen kleinen Verlag und an sein einziges Buch The Fire Inside and Other Poems. Press On hatte seine Geschäfte auch einstellen müssen, bevor sein Buch eine wirkliche Chance bekommen hatte. Zumindest redete er sich das ein. Er hatte immer noch drei Kartons von den 750 Ausgaben in seiner Garage. Len bremste ab, als die zwei Lastwagen aus der Mülldeponie sich vor ihm einordneten und setzte dann zum Überholen an, ohne den Blinker zu betätigen. Markham hörte das Quietschen der abgefahrenen Bremsen und die Hupe so laut, als kämen die Geräusche direkt vom Rücksitz. Er drehte sich rasch um und sah einen verbeulten Kombiwagen, dessen Fahrer sich bemühte, einen Zusammenstoß mit Lens VW zu vermeiden. »Meine Güte, wo kommt der Olds denn her?« Len riß das Lenkrad herum, fand aber keinen Ausweg. Rechts von ihnen schnauften die Müllwagen Stoßstange an Stoßstange dahin. Die Bremsen des Olds blockierten, und der Fahrer versuchte den große Wagen, der jetzt ins Schleudern geriet, wieder unter Kontrolle zu bekommen. Markham legte seinen Arm über den Sitz und beobachtete, was geschehen würde. »Gib Gas!« schrie er. Als Len daraufhin das Gaspedal durchtrat, dauerte es eine Weile, bis das Getriebe reagierte. Schließlich knirschte es, als Len in den nächsten Gang schalten und den VW beschleunigen
konnte. Der Motor klingelte - es hörte sich an, als würde man Schrotkugeln in eine Kaffeekanne werfen. Sie reihten sich vor dem vorderen LKW ein und verlangsamten das Tempo, während der Olds links vorbeizog. Der Fahrer warf Len einen bösen Blick zu. Die Frau auf dem Beifahrersitz bekreuzigte sich und umklammerte einen schwarzen Rosenkranz. Hinten saßen einige kleine Kinder und starrten verblüfft durch die hin- und herschwingenden Quasten, mit denen das Rückfenster geschmückt war. Markham fing den intensiven, bohrenden Blick eines kleinen Mädchens mit durchstochenen Ohrläppchen und einem Spitzenkragen am Kleid auf. Sie lutschte an ihren Fingern, saß so ruhig da wie eine Prinzessin aus dem Aztekenreich auf dem Weg zur Opferung und hielt ihn in ihrem Bann. Vor ihnen tauchte das alte Lagergebäude auf, das früher der Spedition Red Ball gehört hatte und jetzt >Stor-Ur-Self< hieß. Es war nur noch einen Häuserblock entfernt, aber so langsam wie der VW jetzt fahren konnte, würde es wahrscheinlich noch eine Ewigkeit dauern, bis sie dort ankamen. Das Gebäude wirkte wie ein von hinten beleuchteter Monolith vor einem ständig zurückweichenden Horizont. »Dieser Mistkerl«, fluchte Len, während der Olds noch überholte. »Nimm's nicht so schwer. Jetzt ist ja alles in Ordnung.« »Woher willst du wissen, daß wir nicht angefahren wurden?« Wovon redete er? Es war knapp gewesen, aber Markham war sicher, daß sie die LKWs nicht berührt hatten. Sie bogen um die Ecke, und Markham sah, wie Lens spärlich behaartes Kinn einen gespenstischen Schatten auf das Armaturenbrett warf, der dann auf die staubigen Stellen auf seine Hose fiel, wo seine Knie sich durchdrückten, auf seinen Unterarm weiterwanderte und sich schließlich wie die schwarze Tätowierung einer Spinne auf seinem Handrücken niederließ. Die Haare auf Markhams Armen
legten sich wieder an, als der Adrenalinschub abflaute und das Pochen in seinen Nieren nachließ. Aber das Bild von Lens bärtigem Kinn blieb auf seiner Haut, bis sie wieder abbogen und das Auto in den Schatten getaucht wurde. »Wir sind in Ordnung, Lennie.« »Wirklich?« »Nein, wir stecken immer noch zwischen diesen beiden LKWs, zusammengepreßt wie ein Akkordeon.« Markham sah durch die Bäume auf den nächsten Häuserblock und die Rückseite des Gebäudes. Len schaltete herunter und parkte am Randstein. Seine Hände umklammerten das Lenkrad. »Wir sind überfahren worden. Der Krankenwagen wird in den nächsten Minuten eintreffen.« »Vielleicht.« Sie fuhren durch ein Tor in dem Drahtzaun, der das Gelände umgab, und parkten hinter einem Pick-up. Markham zerrte an dem Griff und stieß die Tür auf. Len stieg langsam aus und streckte seine Beine so vorsichtig aus wie eine Heuschrecke. »Komm schon, Len. Der Krieg ist vorüber.« »Bist du sicher?« Sie gingen zum Hintereingang. Die Tür war so breit, daß ein Klavier oder große Möbelstücke hineingeschafft werden konnten. Sie stammte noch aus der Zeit, als das Gebäude benutzt wurde, um Güter zu lagern, die in Speditionen nicht abgeholt worden waren. Schon vor Jahren war das Lager Privatleuten zur Verfügung gestellt worden, aber die Tür war in diesem Zustand geblieben und immer noch zweckmäßig. Und es gab immer noch eine Verladebrücke, um große Gegenstände hochzuhieven. An der Wand auf den verwitterten Ziegeln konnte man noch das alte Emblem von Red Ball sehen. Darunter war noch etwas geschrieben - vielleicht der Name eines Lieferanten oder einer Firma, die Flaschen abfüllte. Man konnte die Schrift nur noch teilweise unter der abblätternden Farbe erkennen. Es war schwer
festzustellen, was ursprünglich dort gestanden hatte und was später verfälscht worden war. Len stand im Schatten des Gebäudes, streckte sich und massierte mit den Daumen seinen Rücken. »Ich glaube, das ist einfach nur, was wir uns jetzt vorstellen.« »Wie bitte?« »Natürlich leben wir noch - aber das ist nur eine Möglichkeit. Wie auf einer CD-ROM. Du suchst dir eine aus, und schon bist du drin. Aber wo bist du dann? Es gibt immer verschiedene Möglichkeiten, ein theoretisches Szenario. Das Problem ist nur, daß wir das nicht wissen.« Sie gingen hinein und standen vor einem Büro mit einer Glastür, durch die man einen Schreibtisch, Aktenschränke und einen Sicherungskasten sehen konnte, aus dem eine Menge Drähte wie vertrocknete Adern herausragten. Hinter der Glasscheibe saß ein Mann, der die Kleinanzeigen einer Zeitung studierte, sich mit einem Bleistift Notizen machte und dabei ein Sandwich aß. »Birdwell«, sagte Markham zu ihm. »Sie ist schon oben«, erwiderte der Mann. »Ich weiß.« »Sie ist gerade gekommen.« »Schon vor ein paar Stunden, oder?« fragte Len. »Miss Birdwell?« »McKenna.« Der Wachmann sah auf die erste Seite seines Clipboards. »Wer?« »Da.« Markham deutete mit seinem Finger auf die Stelle auf dem Anmeldeformular, wo Katies Unterschrift stand. »Ach so, McKenna. Sie ist um zwölf Minuten nach drei Uhr hier angekommen.« »Stimmt«, sagte Len. »Und wer sind Sie?«
»Wir sollen den Nachlaß von Birdwell schätzen«, erklärte Markham. »Wir haben bereits telefoniert. Erinnern Sie sich an das Gespräch?« warf Len ein. »Sie ist schon da.« »Das weiß ich«, erwiderte Len gereizt. »Also werden wir uns jetzt auch eintragen. Wir sind hier, um ihr zu helfen. Welche Zimmernummer?« »Sechshunderteinunddreißig.« Markham warf einen Blick auf die Steinstufen an der anderen Seite, die in die Dunkelheit hinaufführten. »Wo ist der Lift?« »Einen Moment. Ich muß ihn herunterholen.« Sie warteten vor einem leeren, geziegelten Schacht, während der Pförtner am Sicherungskasten einen Schalter betätigte, um den Aufzug für Frachtgut ins Erdgeschoß zu befördern. Schwarze, schmierige Kabel hingen in dem offenen Tunnel in der Luft wie schmutzige Seile, die an einem Glockenturm baumelten. »Hast du tatsächlich gedacht, wir wären dort gestorben?« fragte Markham. »Nein, das nicht, aber es gibt so viele verschiedene Arten zu sterben, so viele Möglichkeiten des Todes, und wir kennen die Wirklichkeit nicht. Erst wenn etwas geschehen ist, wissen wir Bescheid.« »Dann spielt es ja keine Rolle.« The Dead Are Alive, dachte Markham. Sometimes They Come Back. Gute Titel. Aber der Gedanke daran bereitete ihm Unbehagen. »Vielleicht - vielleicht aber auch nicht«, erwiderte sein Freund. Die Kabel bewegten sich ruckartig, und eine hölzerne Plattform fuhr nach unten. 15 Zentimeter vor dem Boden stoppte der Aufzug.
»Soll ich das aufschreiben und an Omni schicken?« fragte Len und rülpste. Sein Gesicht trug jetzt wieder den üblichen schelmischen Ausdruck. »Natürlich«, erwiderte Markham. »Sobald du dir eine Handlung dazu ausgedacht hast.« »Stimmt. Die wollen sie natürlich haben. Diese Schwachköpfe fahren immer auf derselben Schiene. Sie wollen auf Nummer sicher gehen, also geht es immer um das Gleiche.« »Das kann ich nicht beurteilen«, sagte Markham. »Ich lese keine Science-fiction-Romane mehr.« »Ich auch nicht - ich finde sie schrecklich.« Sie betraten den Aufzug, schlossen das Sicherheitsgitter und drückten auf den Knopf für den sechsten Stock. Die Kabel strafften sich und zogen sie nach oben, vorbei an Gängen, in denen sich mit Stahltüren verschlossene Lagerräume befanden; das Licht der Glühbirnen an den Decken spiegelte sich darin wider. Als sie sich dem oberen Teil des Schachts näherten, wurde das Quietschen des Mechanismus über ihnen lauter. Markham und Len warfen beide einen Blick nach oben. Das Hauptkabel war so trocken wie eine verknöcherte Wirbelsäule, und einige Stränge waren ausgefranst. Metallteilchen rieselten von oben herab und Eisensplitter fielen auf ihre Füße, als würden sie dort von einem Magneten angezogen. »Ich hoffe, dieses Ding bricht nicht zusammen«, sagte Markham. »Vielleicht ist das schon geschehen. Wir werden es nie erfahren.« »Witzig. Wirklich sehr komisch.« »Nur eine meiner Visionen.« Len zwinkerte ihm zu. Sie öffneten das Gitter und betraten den Gang im sechsten Stock. Die vielen Türen sahen alle gleich aus und waren nur
durch die daran befestigten Nummern zu unterscheiden. Die verbeulten Stahlplatten klapperten, und Markham dachte an die blinden Spiegel in einem Bordell, die angebracht waren, um die Illusion zu erzeugen, man hätte eine Wahl, während sie einen dazu zwangen, die einzig mögliche Richtung einzuschlagen. Einige der Türen schlugen gegen die vernieteten Angeln, als würde jemand auf der anderen Seite immer wieder dagegentreten. Zu hören war jedoch nur das Geräusch ihrer Schritte. »Sechshundertneunzehn, sechshunderteinundzwanzig ...« »Hör mal«, sagte Markham. Im Gang ertönte gedämpfte Musik. Markham sah eine Abzweigung vor sich, die in dem sich wiederholenden Bild von Riegeln und Vorhängeschlössern beinahe zu übersehen war. Die Türen, an denen sie vorbeigingen, schienen sich in den Gang hineinzuwölben und wie Trommelfelle bei verzerrten Basstönen zu vibrieren. »Diese Band kenne ich doch«, meinte Len. »Wo ...?« »Dort oben. Um die Ecke.« Als sie abbogen, wurde die Musik lauter. Eine der Türen stand offen, festgeklemmt von einem Stapel Enzyklopädien. »Hier ist es - sechshunderteins. Katie?« Len klopfte. Ein Tenorsaxophon ertönte kraftvoll im Zweitaktrhythmus. Er ging voran in einen Lagerraum, in dem überall Regale standen. Die Musik kam aus einem krachenden Lautsprecher und klang hier noch verzerrter. Sie blieben am Ende des ersten Gangs stehen. »Was, zum Teufel, ist das?« »Steely Dan«, antwortete Markham. »Wayne Shorter. Aja.« »Nicht das. Dort drüben.« Len deutete auf die verschmierte Farbe an der Wand. Das Zeichen war eine Art Symbol - ein Fleck mit gebogenen Linien, die strahlenförmig von dessen Mittelpunkt ausgingen. Die Farbe
war rot und noch naß - so als hätte jemand eine riesige Wanze an der Wand zerdrückt. »Diese verdammten Gangs«, meinte Len. »Die kommen aber auch überall rein.« »Das ist kein Zeichen von einer Gang.« »Was dann?« Markham zählte die Linien. »Acht Beine wie bei einer Spinne«, sagte er. »Das habe ich schon einmal gesehen ... Wo ist Katie?« Markham bog in den nächsten Gang ein. Dort waren einige Regale umgekippt. Bücher lagen in wirrem Durcheinander auf dem Boden. Bei Whom the Bell Tolls war der Schutzumschlag zerrissen, und The Grapes of Wrath, The Outsider and Others, Without Sorcery, Dark Carnival und Now Wait for Last Year stapelten sich dort wie aufgehäuftes Brennmaterial für ein Lagerfeuer. In einer Ecke lag ein tragbares Radiogerät, aus dessen zerbrochenem Gehäuse immer noch Musik plärrte. Markham stieß mit dem Fuß dagegen. Die Batterien fielen heraus, und die Musik verstummte. Dann sah Markham, daß das Radio in einer Lache lag, die sich langsam ausbreitete und die gleiche Farbe hatte wie das verschmierte Zeichen an der Wand. Er stürzte sich auf den Bücherstapel und schleuderte die Ausgaben von Updike, Bellow, Pynchon, Faulkner, Bukowski, Patchen, Salinger, Sterne und King zur Seite, die alle so aufeinanderlagen, als sollten sie eingestampft werden. Ein auf Velinpapier gedrucktes Werk von Fielding saugte die Flüssigkeit vom Boden auf. Eine klebrige Spur führte zu einer sommersprossigen Hand, die noch warm war. Katies Haar war verfilzt und so rot, als hätte sie es mit Henna gefärbt. Sie lag an der Stelle, wo sie auf den Boden gefallen war wie ein Chrysippusfalter mit gebrochenen Flügeln.
»Die Bücher!« rief Len und nahm sie in die Arme. Er strich ihr das Haar aus der Stirn. »Diese verdammten Bücher ...!« Katies Augen waren geöffnet, und ihre Kehle war von der Luftröhre bis zur Halsschlagader duchschnitten. Markham stützte sich gegen die Wand. Seine Hände wurden klebrig und so rot wie das Blut, mit dem das Zeichen aufgemalt worden war. »Das waren nicht die Bücher«, sagte er. Im Gang setzte sich der Aufzug ächzend in Bewegung. Markham sah sich den Heck an der Wand genauer an. »Aber was dann?« rief Len. »Was?« »Eine Tarantel.« Markham sprach so leise, daß Len ihn nicht verstehen konnte. Genau das war es. Eine Spinne mit acht Beinen. Ein Symbol der CSA, eines Kultes, den es nicht mehr gab.
8. Kapitel Bei dem Anblick der roten Ampel dachte Evie, daß die Sonne noch nicht untergegangen, sondern nur hinter dem Gebäude verschwunden war und Feuerstrahlen auf die Ziegel und den Mörtel warf. Dann sah sie die Streifenwagen, die mit Blaulicht dicht aneinander vor dem Eingang standen, und beschleunigte ihren Schritt. Sie wollte ganz ruhig wirken, doch anscheinend war sie einfach losgelaufen, denn als sie ankam, war Jean noch weit hinter ihr am Zaun des Parkplatzes und bemühte sich, sie einzuholen. Dan saß neben Lennie im Büro. Die beiden erzählten dem diensthabenden Polizeibeamten, was sich ereignet hatte. Evie klopfte ans Fenster, um Dans Aufmerksamkeit zu erregen. Er warf ihr einen Blick zu und nickte. Sein Gesicht wirkte so ausdruckslos, daß es ihr eiskalt über den Rücken lief. Dann hörte er zu sprechen auf, stand auf, runzelte die Stirn und zwang sich zu einem Lächeln. Er sagte etwas zu dem Polizisten und kam dann zu ihr heraus. Sie umarmte ihn und strich ihm über den Kopf. »Geht es dir gut?« Er nickte. »Wir kamen so schnell her, wie es nur möglich war. Wie geht es Katie?« Er wandte sich ab, schüttelte den Kopf und sah an ihr vorbei, als Jean das Gebäude betrat. »Was ist hier los?« fragte Jean, doch die Polizisten ignorierten sie. »Wo ist mein Mann?« rief sie aufgeregt. Lennie kam heraus und nahm ihre Hand in seine. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Wir sind gleich fertig.« »Worum, zum Teufel, geht es hier eigentlich?« Jean atmete heftig, und ihre Augen traten hervor. »Am Telefon hast du mir nichts sagen wollen!«
»Alles in Ordnung.« Lennie legte einen Finger auf seine Lippen. »Sie wollten uns hier nur ein paar Fragen stellen.« »Ist mit deiner kleinen Schlampe etwas passiert?« »Meine Güte, Jeannie!« Die Polizisten verstummten, und Len zwang sich zu einem Lachen. »Katie hatte einen Unfall. Sie ist tot. Hast du das verstanden?« Evie drehte sich zu Dan um und trat so nahe an ihn heran, daß sich ihre Gesichter beinahe berührten. »Ist das wahr?« Er antwortete nicht. Sie sah die kleinen Falten um seine Augen und die weißen Haare zwischen seinen braunen - es waren mehr, als sie in Erinnerung hatte. Er sah nervös an ihr vorbei durch die breite Tür, die zum Parkplatz führte. Mein Gott, dachte Evie. Ich weiß nicht, ob ich damit fertigwerde. Ich will es auch gar nicht wissen. Nicht jetzt. Später. Das ist zuviel für mich. »Du mußt sehr müde sein«, sagte sie. »Ich werde dich nach Hause fahren.« »Ist Eddie hier?« fragte er. Sie sah den Schmerz in seinen Augen und verstand, wie wichtig diese Frage für ihn war. Er war ein guter Vater. Evie brachte es nicht übers Herz, ihn zu enttäuschen und überlegte, was sie ihm antworten könnte - etwa, was er jetzt hören wollte. Bevor sie etwas sagen konnte, ging der Wachmann in Begleitung eines Polizisten an der Glastür vorbei. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß sie sich eingetragen hat. Ihr Name steht auf meinem Block.« »Sind Sie sicher, daß es tatsächlich sie war?« fragte der Polizeibeamte. »Ich habe sie doch gesehen! Jeder muß sich bei mir eintragen, und die Uhrzeit wird auch aufgeschrieben.« »Wie hat sie ausgesehen?« fragte Dan.
»Jung, recht hübsch. Eine von diesen ...« »Ich meine die andere«, unterbrach Dan ihn. »Die zweite.« »Von der spreche ich doch. Eine Miss Bird-so-und-so. Sie kennen sie doch, oder?« »Nein«, erwiderte Dan so laut, daß alle ihn verstehen konnten. »Das tue ich nicht.« »Sie muß vor uns hinaufgegangen sein«, meinte Lennie. »Der Güteraufzug war bereits oben, und er mußte ihn erst herunterholen. Also ...« »Jemand hätte auch die Treppe hinaufgehen können, nicht wahr?« fragte der Polizist. »Der Lift war nicht da, als wir das Zimmer verließen«, erwiderte Dan. »Das bedeutet, daß jemand damit nach unten gefahren ist.« »Und im Flur sind Sie niemandem begegnet?« »Dort oben gibt es so viele Gänge. Offensichtlich hat sie einen anderen Weg gefunden.« »Sind Sie sicher, daß es eine Frau war?« fragte der Polizist. »Das haben Sie doch gesagt.« Dan packte den Arm des Wachmanns und drehte ihn zu sich herum. »Sie haben sie doch gesehen, oder?« »Ja, Miss Birdwell. Die zweite - nicht die erste«, erwiderte der Wachmann. »Es gab nur eine Birdwell«, erklärte Lennie. »Die erste Frau hieß Katie McKenna. M-C-K ...« »Und Sie haben nicht gesehen, daß jemand mit dem Aufzug herunterkam?« fragte der Polizist. »Waren Sie in Ihrem Büro?« »Verdammt, ja!« antwortete der Nachtwächter. »Ich arbeite bis sechs Uhr, und ich erledige meinen Job immer gut. Da laß ich mir nichts vorwerfen!« »Vielleicht war er eingenickt«, meinte Len. »Ganz sicher nicht!«
»Wir stellen hier die Fragen«, sagte der Polizist. »Ich hoffe, daß Sie meinem Mann keine mehr stellen wollen«, warf Jean ein. »Ich war den ganzen Tag auf den Beinen. Er weiß nichts. Wenn Sie ihn nicht mehr brauchen, dann ...« »Setzen Sie sich«, sagte der Polizist. »Wohin? Ich sehe hier keinen freien Stuhl. Lennie, ich hole jetzt den Wagen, und dann gehen wir alle etwas trinken. In Ordnung, Eve?« »Na ja, ich ...« »Wie sah sie aus?« fragte Dan den Wachmann beharrlich und folgte ihm. Evie stand allein auf dem Zementboden, der so kalt war, daß sich Risse wie im Eis eines zugefrorenen Flusses darin gebildet hatten. Sie spürte die Kälte durch die dünnen Gummisohlen ihrer Schuhe nach oben steigen. Als sie ein Rasseln hinter sich hörte, und sich die Kabel in dem offenen Schacht des Aufzugs strafften, zuckte sie zusammen. »Wie ein Mädchen aus einem College«, erwiderte der Wachmann. Die Plattform des Aufzugs senkte sich. Einige Männer mit lederbesohlten Schuhen standen dort mit einer Bahre auf Rollen. Darauf lag ein schwerer Plastiksack mit einem Reißverschluß. Evie begriff, daß es sich um einen Leichensack handelte. Der Reißverschluß war zugezogen. Ihr traten Tränen in die Augen, und sie wandte sich rasch ab. Irgendwo ertönte eine Sirene. »Dann war es nicht Birdwell«, sagte Dan zu Lennie. Sie versuchten, ganz leise zu sprechen, aber Evie hörte ihr Flüstern so klar wie das Rascheln von Blättern auf einem Marmorboden. »Könnte doch sein«, meinte Lennie. »Du hast Birdwell kennengelernt«, sagte Dan. »Ja.«
»Sie ist nicht mehr so jung.« »Mir kam sie sehr jung vor.« »Wann?« »Im Laden. Sie kam heute zweimal vorbei und sprach mit Katie.« »Worüber?« »Na ja, sie wollte wissen, wo du bist. Katie sagte ihr, du würdest dich hier mit uns treffen. Sie hat sich dann die Adresse geben lassen ...« »Wozu brauchte sie die Adresse, wenn ihr Vater hier seine Sachen gelagert hat? Sie hätte sie doch wissen müssen.« »Möglicherweise hat sie sie vergessen.« »Lennie, ich habe Birdwells Tochter vor einem Monat getroffen. Sie ist etwa vierzig Jahre alt - vierzig, verstehst du? Sie ist kein Mädchen, das noch aufs College geht.« »Aber wenn das nicht Birdwell war, wer war es dann?« fragte Lennie. Die Sirene wurde lauter und dann wieder leiser. Der Rettungswagen näherte sich und parkte hinter den Streifenwagen. Dan wandte sich von Lennie ab und ging zur Tür. Er ließ seinen Blick über den Parkplatz schweifen, als suche er etwas. Der Himmel färbte sich hinter den flackernden roten Lichtern allmählich dunkel. Evie trat neben ihn, legte ihre Arme um seine Hüften und ihren Kopf an seine Schulter. Doch seine Armmuskeln versteiften sich so, als würde er versuchen, eine Fliege zu verscheuchen, die sich dort niedergelassen hatte. »Ich habe dich etwas gefragt«, sagte er. Sie mußte jetzt stark sein. »Laß uns nach Hause fahren, Liebling, okay?« »Hör auf damit«, fuhr er sie an. »Gib mir endlich eine Antwort. Wo ist Eddie?« »Das weiß ich nicht. Ich habe ihm eine Nachricht hinterlas-
sen ...« Und dann kam die Furcht wieder, und dieses Mal konnte sie nicht dagegen ankämpfen.
9. Kapitel Tommy holte die Kamera, und Eddie machte sich auf den Heimweg. Er verließ den Schrottplatz und ging am Zaun entlang, bis er zu der Kreuzung kam, wo die Wege sich gabelten. Einige Teenager, die eine Verabredung hatten, und Familien, die nach einem frühen Abendessen bei Carrow's, Marie Callender's oder bei Two Dollar Bills auf dem Heimweg waren, fuhren in ihren Autos an ihm vorbei. Er bemerkte, daß er hungrig war. Im Cineplex hatte er keine Zeit mehr gehabt, sich etwas zu kaufen, und als er mit seinem Freund das Kino verlassen hatte, hatten sie beide nicht an Essen gedacht. Aber wenn er sich jetzt vorstellte, mit seinen Eltern auszugehen, sich vielleicht eine Pizza zu bestellen, aber nicht die Möglichkeit zu haben, ein Stück davon mit auf sein Zimmer zu nehmen, verging ihm der Appetit. Vor ihm entstand ein Bild; er würde das Haus betreten, in dem seine Mutter und sein Vater auf ihn warteten. Sie würden natürlich so tun, als täten sie das nicht, würden sich so passiv verhalten wie die Hippies in The Trip oder in Psych-Out, zu rücksichtsvoll, um zu sagen, was sie wirklich dachten. Es wäre ihm lieber, sein Dad würde ihn anschreien, anstatt sich von ihm abzuwenden, als sei etwas mit seinem Gesicht, seiner Kleidung oder der Art, wie er sein Haar frisiert hatte, nicht in Ordnung. Es war, als würden sie damit rechnen, daß er gegen ein Möbelstück stieß oder mit seinen großen, ungeschickten Füßen ein Loch in die Wand schlug. Schuld daran war seine Mutter. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie sein Vater vor einigen Jahren gewesen war. Immer wenn seine Mutter schlechte Laune gehabt und das an ihm ausgelassen hatte, war ihm ein Scherz oder eine witzige Bemerkung eingefallen. Doch dann war irgend etwas mit seinem Vater geschehen. Er machte keine Späße mehr und konnte sich nicht mehr gegen sie
durchsetzen. Und es wurde immer schlimmer. Eddie sah das Gesicht seines Vaters vor sich - blaß und erschöpft. Er hatte Tränensäcke unter den Augen, und die Falten auf seiner Stirn wurden immer tiefer, so als würde er wie bei einer Überblendung in einem Film ganz rasch altern, bis seine Wangen einfielen und seine Haut sich ablöste. Wenn ich nicht aufpasse, passiert das gleiche mit mir, dachte Eddie. Jetzt, bei Sonnenuntergang, war die Stunde gekommen, die Kameraleute als magisch bezeichneten. Die Schatten warfen Halbtöne, und der Hinter- und Vordergrund waren nicht mehr eindeutig voneinander zu unterscheiden. Die Umrisse der Gegenstände leuchteten wie auf einem Fernsehschirm, wenn man die Schärfe auf die höchste Stufe gestellt hatte, und die ganze Szene wirkte wie elektrisch aufgeladen. Als er die Schienen überquerte, schienen sie mit den Schwellen und dem Kies zu verschmelzen und in den flachen, körnigen Tiefen zwischen dem Boulevard und der Wohngegend dahinter zu verschwinden. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er weitergehen sollte. Als er ein Prickeln auf der Haut spürte, blieb er stehen. Mit einem Fuß stand er bereits auf den Gleisen und wartete auf die Vibration des Zuges, der in der Dunkelheit noch meilenweit entfernt war. Dann sah er das Fuchsschwanzgras, das neben den Schienen wucherte. Ihm fiel ein, daß diese Strecke nicht mehr befahren wurde. Das Prickeln fühlte er nicht in seinen Turnschuhen, sondern in seinen Knochen. Es war ein Zeichen, daß etwas auf ihn zukam - nicht von der Ferne, sondern von seinem Inneren. Es war ein Moment, wie man ihn bei Frühlingsende und Sommeranfang empfand ein Versprechen, aber gleichzeitig auch eine Warnung, wie sie mit dem Santa-Ana-Wind und dem Wechsel des Lichts einherging. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, überquerte die Gleise und ging weiter. Die Fenster waren dunkel. Es schien, als sei dieses Haus das
einzige im Stewart Way, das nicht bewohnt war. In allen anderen Häusern herrschte fröhliches Treiben hinter den Vorhängen, Küchengeräte summten, während die Tische gedeckt wurden, und aus den Wohnzimmern hörte man Werbeund Nachrichtensendungen. Nur sein Zuhause schien verlassen zu sein. Im Zwielicht wirkte der Rasen ungemäht, die Veranda war von den Blättern aller Bäume in der Gegend bedeckt. Das Auto seiner Mutter stand vor dem Haus. Warum brannten keine Lichter? Schlief sie bereits und hatte sich wie gewohnt bei einem ihrer ausgedehnten Nickerchen am Wochenende hingelegt? Oder wartete sie in der Dunkelheit auf ihn, um ihm weitere Fragen zu stellen? Er lauschte am Fenster des vorderen Schlafzimmers, konnte aber nichts hören, weil die Abendnachrichten, die aus den Fernsehern in der Nachbarschaft von dem Nachrichtensprecher verkündet wurden, so laut waren, als würden sie durch einen Tunnel verstärkt. »... Die Polizei vermutet Brandstiftung. Die beiden Personen, die in dem Haus verbrannten, konnten nicht mehr identifiziert werden ...« Er ging zur Rückseite des Hauses. Wenn die Hintertür nicht verschlossen war, mußte seine Mom zu Hause sein. So konnte er es herausfinden. Er legte die Hand auf den Türknauf und wollte ihn drehen, als er etwas hörte - nein, fühlte. Er spürte, daß etwas auf ihn zukam. Doch als er sich umdrehte, konnte er niemanden sehen. Das überraschte ihn nicht. Er hatte nicht wirklich erwartet, jemanden zu sehen. Aber irgend etwas ... Er bemerkte, daß niemand hinter ihm war, aber daß da etwas fehlte. Ein Bestandteil des Gartens. Die Büsche waren noch da, aber in der Dunkelheit zeichnete sich eine Lücke ab, die bis zum Zaun führte. Die Sträucher daneben schienen sich im Licht der
Straßenlaternen zu neigen, das die Konturen ihrer Blätter hervorhob. Als er seinen Blick darauf richtete, bewegten sich die Zweige. Der Wind kam wie ein unsichtbarer Eindringling in den Garten, wehte über den Zaun zur Hintertür und blies dabei den Staub weg, der auf dem Unkraut und den Pflanzen lag, irgend etwas flog ihm ins Gesicht. Er zwinkerte und wischte sich über die Augen. Dann rieb er sich die Hände ab. Sägespäne. Er öffnete die Hintertür, drückte auf den Schalter für das Licht auf der Veranda und sah sich noch einmal um. Wo war der Baum? Als er noch ein kleiner Junge war, hatte er an den Ästen geschaukelt, und später war er auf den Baum geklettert. Und jetzt war der Baum verschwunden. Dort, wo er gestanden hatte, war eine leere Stelle, die den Garten noch häßlicher aussehen ließ. Hatte sie Dad gezwungen, ihn zu fällen? Er sah die Kettensäge auf dem Boden und den alten Häcksler neben der Garage liegen und wußte, daß er hier nie wieder spielen würde, Er wollte nicht weiter gehen als bis zur Küche, falls sie zu Hause sein sollte. Zögernd öffnete er den Kühlschrank und fand die Reste eines Auflaufs mit Thunfisch, einen Laib Rosinenbrot, fettarme Milch und Käse ... Er nahm den Käse und den Rest einer einpfündigen Schokoladentafel von Trader Joe's heraus und ging zum Tisch. Dann beschloß er jedoch, nicht länger hierzubleiben und stopfte sich den Käse und die Schokolade in seine Jackentasche. Ich werde eine Nachricht hinterlassen, überlegte er. An der Kühlschranktür war ein Notizblock mit einem Magneten angeheftet, aber wo war der Stift? Er war nie zu finden, wenn er ihn brauchte. Eddie ging in den Flur, ohne das Licht anzuknipsen. Im Haus herrschte Grabesstille. Kaum zu glauben, aber seine Mutter hatte vergessen abzuschließen, obwohl sie ihn ständig darauf hinwies! Sie waren mit Dads Wagen gefahren und hatten nicht
auf ihn gewartet. Ich sagte doch, daß ich nach Hause kommen würde, dachte Eddie. Sie glaubt mir nicht mehr. Wie spät ist es eigentlich? Sieben? Sie hätte warten können. Vielleicht wäre ich ja mitgefahren, aber im Grunde genommen hatte ich keine Lust dazu. Im Flur hörte er ein Geräusch. Es klang wie das Flattern der Flügel eines Vogels und schien aus seinem Zimmer zu kommen. Wie war der Vogel hereingekommen? Die Jalousien an den Fenstern waren heruntergelassen. Er schauderte, als er die Tür aufstieß. Alles - das Bett, die Bücherregale, der Schreibtisch und der Computer - waren mit Plastikfolien bedeckt und sahen aus wie Ausstellungsstücke in einem Kaufhaus. Das Fenster stand einige Zentimeter offen, so wie er es hochgeklappt hatte, und jetzt fegte der Wind durch das Zimmer und brachte die Abdeckplanen zum Flattern. Eddie wurde zornig. Dad hatte gesagt, er würde das Zimmer streichen - das war Moms Idee gewesen. Er hatte es noch nicht erledigt, aber trotzdem hatte sie ihn dazu gebracht, einfach wegzufahren. Und wo soll ich jetzt schlafen? Darunter etwa? Auf keinen Fall! Er hob eine Plane hoch und holte sich von seinem Schreibtisch einen Stift. Dann schlug er die Tür hinter sich zu, marschierte in die Küche, kritzelte eine Notiz auf den Block und verließ das Haus. Was wäre, wenn ich heute noch an meiner Kolumne hätte arbeiten wollen? Was hätte ich dann tun sollen? In die Bücherei gehen? Interessiert es überhaupt noch jemanden, daß ich hier wohne? Auf dem Schrottplatz rührte sich etwas. »Tommy?« Die einzige Antwort war ein leises Rascheln in den Büschen, so als würde ein bereits begrabenes Wesen langsam wieder zum Leben erwachen - wie in The Plague of the Zombies. Aber
offensichtlich war es noch nicht bereit, sich zu zeigen. Er schwenkte die Kamera hin und her. Links von ihm knarrte das ausgeschlachtete Chassis eines Buick Regal, das in der Nachtluft abkühlte. Rechts schienen sich die Motorblöcke ein paar Zentimeter vorwärts zu schieben, wie die Bruchstücke eines entgleisten Zugs, der sich im Zwielicht seinen Weg bahnte, bis er zum Stillstand kam. Direkt vor Eddie befand sich eine ungefähr 2000 Quadratmeter große, ungemähte Wiese, auf der noch keine Wagen standen. »Ist hier jemand?« Er spürte das Gewicht der schweren Gegenstände hinter ihm und fühlte die Hitze, die von dem Schrott tagsüber gespeichert worden war und jetzt abgestrahlt wurde. Hastig drehte er sich um, aber die aufeinander gestapelten Autos hatten sich nicht bewegt. Der Wind hatte ihn auf das Grundstück begleitet und trug die Auspuffgase über den Zaun - es war, als würde die Stadt alle Giftstoffe, die sich an diesem Tag gebildet hatten, jetzt ausatmen. Die Luftschichten zogen durch das Tal und bildeten einen unsichtbaren Sog, der durch das Tor floß, wo er noch einmal von den Schrottwagen aufgeheizt werden würde, bevor die Nacht hereinbrach. Der Wind wehte über Eddie hinweg, fuhr über die Büsche vor ihm und teilte sie wie einen unbekannten Fluß, der sich auf eine verborgene Bucht zuschlängelte. Auch das Unkraut in einiger Entfernung schwankte hin und her, und es entstand eine breite Lücke an dem Zaun, der die andere Seite des Grundstücks begrenzte. Die Gasse wurde immer breiter, ein Pfad entstand, und dann ein Weg zwischen den aufeinander getürmten Autos, auf dem zwei parallele schwarze Schatten sichtbar wurden. Das Gras wurde immer schneller niedergedrückt, als die Schatten direkt auf ihn zukamen. Und dann hörte er das Knurren.
Er trat einen Schritt zur Seite, aber die Schatten folgten ihm und steuerten direkt auf ihn zu. Eddie drückte sich gegen die Tür eines Peterbilt. Die Schatten schossen wie Torpedos durch die Wiese. Er versuchte den Atem anzuhalten, aber genau in diesem Moment bekam er wieder einen Asthmaanfall. Es schnürte ihm die Kehle zu, und er begann zu keuchen. Wo war Raul? Er könnte die Hunde zurückrufen. Das würde er doch sicher tun - innerhalb der nächsten Sekunden. Eddie stieg auf das Trittbrett und versuchte, die Tür des Wagens zu öffnen. Sie klemmte. Er rüttelte daran, aber das verbeulte Blech klapperte nur und machte noch mehr Lärm. Die Hunde würden das hören und ihn finden. Mit der Faust schlug er gegen die Scheibe auf der Fahrerseite, aber seine Hand war nicht stark genug. Er spürte, daß er sich die Knöchel verletzt hatte. Sein Gesicht schwoll an. Er schloß die Augen und fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren. Seine Brust schmerzte, und seine Lungen brannten, als wären sie von seinen Rippen durchbohrt worden. Rasch verschränkte er seine Hände und benützte sie wie den Griff eines Beils. Die Windschutzscheibe färbte sich zwar weiß, als sich Risse in dem Sicherheitsglas ausbreiteten, zerbrach aber nicht. Dann hörte Eddie hinter sich das Geifern und Schnappen der Zähne des einen Hundes, der jetzt an dem Wagen hochsprang. Ein Pfiff ertönte. Die beiden Hunde ließen sich auf die Wiese nieder und beobachteten ihn blutdürstig. »Eddie ...!« Tommys Stimme. Dann das Geräusch von Gummisohlen auf harter Erde und Gelächter. »Hey, Ed, was machst du denn da oben?« Eddie sah nach unten und entdeckte Tommy neben dem Lastwagen. Auf dem Gesicht seines Freundes lag ein eigen-
artiges Grinsen. »Und was tust du da unten? Paß auf ...!« Die Wachhunde saßen vor Anspannung bebend im Gras, bereit zum Angriff. Tommys Arme hingen locker herunter anscheinend machte er sich keine Sorgen um seine Finger. Seine Kameratasche hatte er sich lässig über die Schulter gehängt. Neben ihm erschien eine andere Person. Das Mädchen bückte sich und streichelte den muskulösen Nacken des einen Hundes. Dann sahen sie und Tommy sich amüsiert an - beinahe wie ein Paar. Eddie zwang sich durchzuatmen und setzte einen Fuß auf die schwarze Erde. »Wer hat gepfiffen?« »Das war ich«, sagte das Mädchen. Sie hörte auf, das schweißbedeckte Fell des Hundes zu streicheln. Im Halbdunkel öffnete sich der Ausschnitt ihres weiten Kleides. Sie stand auf. Tommy schien es nichts auszumachen, daß sie mindestens fünf Zentimeter größer war als er. »Oh«, sagte Eddie. »Ich dachte, es wäre Raul gewesen.« »Er ist nach Hause gegangen«, erklärte Tommy mit einem schiefen Grinsen. In dem grauen Licht sah man seine feuchte Zahnspange aus Metall und Plastik schimmern. Dann schloß er den Mund wieder, bevor er genüßlich hinzufügte: »Für die restliche Nacht.« »Wie hast du das gemacht?« fragte Eddie das Mädchen. »Was meinst du?« »Wie hast du sie aufgehalten?« »Das war einfach. Ich habe nur gepfiffen.« »Ja«, lachte Tommy. »Du weißt doch, wie man pfeift, oder? Man spitzt die Lippen und bläst!« Eddie rührte sich nicht von der Stelle. Er bemerkte, wie nahe die beiden nebeneinanderstanden. Das Mädchen kniete wieder nieder. Der Saum ihres Kleids rutschte nach oben und entblößte
ihre Knie, die beinahe ihren Brustkorb berührten. Sie wirkten wie ein zweites Paar fester Brüste. Dann neigte sie ihren Kopf und flüsterte den Hunden etwas ins Ohr. »Gib mir deine Hand«, forderte sie. Wen von ihnen hatte sie jetzt damit gemeint? Die Jungen streckten beide ihre Arme aus. Sie nahm jeweils eine Hand in ihre langen, kühlen Finger und zog sie an die Nasen der Hunde. Eddie spürte den heißen Atem auf den Haaren seines Handgelenks. Dann liefen die Hunde davon. »Jetzt seid ihr sicher«, erklärte das Mädchen. »Woher weißt du das?« fragte Eddie. »Sie kennen jetzt euren Geruch.« »Na und?« »Sie töten nur Fremde.« Sie hielt immer noch Eddies Hand fest. Ihre Haut war ganz anders, als er es erwartet hatte: in der Handfläche ganz fest, und weich am Handrücken. Tommy nahm die Tasche von seiner Schulter, holte die Hi-8Kamera heraus und reichte sie Eddie. »Hier. Mach eine Aufnahme von uns, okay? Drück einfach auf den kleinen Knopf.« Die Kamera. Der Film. Warum hatten sie ihr nur davon erzählt? Es war doch nur ein Spiel, ein Spaß, ein Zeitvertreib, sonst nichts. Aber jetzt konnten sie nicht mehr zurück - wegen ihr. Natürlich konnten sie keinen richtigen Film drehen ... Obwohl sie ihn möglicherweise an die Firma verkaufen könnten, die die ersten beiden Versionen gemacht hatte, wenn ihnen eine gute Handlung für American Zombie III einfiel. Oder dachte er noch wie ein Kind? Diese Überlegung hing wie ein Fragezeichen in der Luft. Eddie wußte nicht, ob diese Vorstellung ein letztes hartnäckiges Festhalten an seiner Kindheit war, oder ob es sich um etwas Bedeutenderes handelte, das Versprechen auf eine Zukunft, die ihren Schatten in die Vergangenheit warf - eine
Gelegenheit, die man beim Schopf ergreifen sollte. Ihm war allerdings klar, daß Tommy ihn nicht darum gebeten hatte, mit ihm einen Horrorfilm zu drehen. Sein Freund wollte eine Aufnahme von sich und dem Mädchen. Es gäbe keine klare Erinnerung daran, wenn er sich den Film nicht immer wieder ansehen könnte - so oft, bis das Bild Wirklichkeit wurde. Eddie nahm die Kamera in die Hand und hob sie an sein Auge. Er sah nur Tommy durch den Sucher. Wo war sie? Tommys schiefes Lächeln, das seine schimmernden Zähne und sein Zahnfleisch entblößte, verschwand. »Hey, wo ...?« Keiner der beiden Jungen vollendete den Satz. »Hier drüben«, antwortete sie. »Wo?« »Hier.« Sie stand hinter dem Lastwagen. Wie war sie so schnell dorthin gekommen? »Bitte«, sagte Tommy. »Das ist doch nur ein Test ...« »Zuerst müßt ihr mich fangen.« Eddie sah einen Schatten neben dem Peterbilt, eine dunkle Gestalt, die wirkte, als sei sie mit Kohlestaub bedeckt. Wieder hob er die Kamera und stellte die Linse ein. Dann verschwand Tommy hinter dem Wagen, und das Bild wurde grau. »Ich krieg sie schon!« rief Tommy laut und rannte los. Seine Stimme klang seltsam heiser. Eddie ging um den Peterbilt herum und lauschte dem Geräusch der sich entfernenden Schritte. Er lief an der Längsseite des großen Sattelschleppers entlang und hielt dabei immer noch die Kamera vor sein Gesicht. Eigentlich hatte er erwartet, sie am anderen Ende zu finden, aber weder sie noch Tommy waren zu sehen. Sie konnte sich an vielen Orten versteckt haben. Es war zu
dunkel, um einen Blick in die anderen Autos werfen zu können. Glassplitter hingen auf den zerbrochenen Windschutzscheiben wie zerrissene Spinnweben, Kotflügel schwankten hin und her, Stoßstangen verschmolzen miteinander. Eddie drückte auf den Knopf für Aufnahme und vergewisserte sich, daß nichts davon auf das Band kam. Er wollte nur den schmalen Lichtstreifen filmen, der ihm zu folgen schien. Es war die Reflexion seiner Linse, die über die Autos wanderte und die beleuchtete Statue vor dem Reggae Rat's widerspiegelte, die sich am anderen Ende des Häuserblocks hinter dem Zaun des Grundstücks in den Himmel erstreckte. Ich muß mit einem abstrakten Bild beginnen, dachte er und ließ seine Fantasie spielen. Ich filme zuerst die unbestimmten Umrisse eines Schrottplatzes bei Nacht ... Außenaufnahme - Nacht - Schrottplatz Kameraführung mit der Hand (Schwenk) Schatten in den Autos. Zerrissene Sitze, aus denen scharfe, rostige Federn gesprungen sind. Lenkräder, die sich in einem seltsamen Winkel befinden. Rücksitze, die so dunkel sind, daß sie alles verbergen könnten. Aber die Autos sind alle leer - soweit wir das erkennen können ... Eddie stieg über eine zerbrochene Trommelbremse und ging weiter in die nächste Reihe. Wir fahren auf einen Wagen, um uns zu vergewissern, daß sich niemand darin befindet. Ton: ein Kratzen. Rascher Schwenk ... Man sieht noch mehr Wracks. Dicht an eines der Wracks heranfahren, um ... eine Bewegung zu zeigen. Die Ladefläche eines Pick-ups. Was liegt da? Eine Gasflasche,
ein Schlafsack, eine Kiste ... Die Kiste ist offen. Irgend etwas bewegt sich darin. Einstellung noch näher. Man sieht eine Ratte, die an verfaulten Nahrungsmitteln knabbert. Hatte jemand in dem Wagen gewohnt? Wenn ja, ist er inzwischen verschwunden. Oder etwa nicht? Der Schlafsack wirkt unförmig, so als würde er einen langen Gegenstand verbergen. Oder ist es ein Mensch? Eine Hand kommt hinter der Kamera hervor und öffnet den Schlafsack. Und man sieht: ein verfaulendes Gesicht! Die Augäpfel treten hervor, das Fleisch über der offenen Schädeldecke verwest bereits. Eddie ließ die Kamera sinken. Es gab keinen Schädel, keine Leiche. Nur eine Kiste und ein paar Decken. Keine Ratte. Aber jemand hatte hier geschlafen. Ich habe ihr Versteck gefunden, dachte er. Den Ort, an den sie jede Nacht zurückkehrt, um Nahrung zu sich zu nehmen. Schläft sie auch? Nein, natürlich nicht. Sie ist ja ein Zombie, hast du das etwa vergessen? Aber wem gehört dieser Lastwagen? Er ist nicht so abgewrackt wie die anderen Autos hier. Dem Nachtwächter. Genau. Wir werden ihn Raul nennen. Sie ist ihm begegnet und hat sich von ihm ernährt. Jetzt weiß sie alles über diesen Ort, was er weiß. Für eine Weile wird das hier ihre Welt sein. Bis sie bereit ist weiterzuziehen, um Rache zu üben ... Er sah wieder durch die Linse. REPORTER (im Off): O mein Gott! KAMERAMANN (im Off): Los, mach weiter. REPORTER (räuspert sich): Wir haben soeben eine schreckliche Entdeckung gemacht. Die Leiche eines ...
KAMERAMANN: WO ist Bob? Sag ihm, er soll zum Wagen zurückgehen und die Polizei anrufen ... REPORTER: Das glaube ich einfach nicht! Wir kamen doch nur hierher, um eine Fortsetzung zu drehen ... KAMERAMANN: Mach weiter. Das wird eine Exklusivstory. REPORTER: Jesus, Josef und Maria, was ist das denn? KAMERAMANN: Nur ein menschliches Wrack. Fang noch einmal an, bevor die Polizei kommt. >Hier sehen Sie alles, was nach dem Großbrand übriggeblieben ist<, und so weiter. Mach die Ansage, damit wir sie aufzeichnen können. Den Rest schneiden wir dann im Studio zusammen. REPORTER: Ich kann nicht. Dieser Geruch ... KAMERAMANN: Verdammt, wo steckt Bob? Ich werde zum Telefon gehen. Jerry, du übernimmst das hier. Ich treffe dich dann am Tor. Wir brauchen eine Weitwinkeleinstellung, wenn die Cops eintreffen. Die Kamera schwankt, als sie von einer Hand zur anderen wandert. Dann stolpert der Reporter ins Bild und würgt. REPORTER: Um Himmels willen, mach die Kamera aus. Mir ist schlecht. KAMERAMANN: Warte einen Augenblick. Was, zum Teufel, ist das? Hinter dem Reporter auf der anderen Seite des Lastwagens bewegt sich etwas. REPORTER: Eine Leiche. Du hast doch schon tote Menschen gesehen. Zoom. Hell, verschwommen. Unbestimmbar. KAMERAMANN: Nicht das. Dort. Siehst du es denn nicht? REPORTER: Für dich mag das einen künstlerischen Aspekt haben. Ich versuche jetzt allerdings lieber, ein Alka-Seltzer zu finden.
Rascher Schwenk über den Lastwagen ... Die Kamera erfaßt einen weißen Blitz. KAMERAMANN: Licht an! Die Strahlen der tragbaren Lampen folgen dem Blitz und fangen das Gesicht eines Mädchens ein. Sie bleibt abrupt stehen, wie ein junges Reh, das von Scheinwerfern bestrahlt wird, aber sie ist ganz ruhig. Unerschrocken. KAMERAMANN: Hallo, würden Sie sich ein paar Minuten mit uns unterhalten? Wir sind von >Eyeball News<. Sie entfernt sich von dem Wrack und kommt auf uns zu -und wir sehen, daß sie völlig nackt ist. Rascher Schwenk zu dem Reporter, der mit aufgerissenen Augen die Szene verfolgt. REPORTER: ES tut mir leid, daß ich euch das sagen muß, aber das können wir nicht verwenden. KAMERAMANN: Sie vielleicht nicht. Ich filme weiter! Also los! REPORTER: Er zuckt mit den Schultern und spielt mit. Ihren Namen, bitte. Das Mädchen ist sehr schön - wie ein Modell auf einem Titelblatt. Ihre Haut ist gebräunt und hat einen goldfarbenen Ton. Aber sie lächelt nicht. In ihren Augen liegt ein Ausdruck der Entschlossenheit. MÄDCHEN: Stacey. REPORTER: Würden Sie das buchstabieren? Für unseren Bericht. MÄDCHEN: S-h-a-n-n-o-n. REPORTER: Das ist also Ihr Nachname? Er tritt näher an sie heran und streckt seine Hand mit dem Mikrofon aus. MÄDCHEN: Nein. REPORTER: Also wie lautet denn jetzt nun Ihr Vorname? MÄDCHEN: Das sind meine beiden Vornamen. Mein Nachname ist Marston.
REPORTER: So wie Marston von Olympia Chemical? Wie Robert Marston, der ums Leben gekommen ist? Sind Sie mit ihm verwandt? MÄDCHEN: SO kann man es nennen. Ich leite jetzt die Firma. Sie streckt ihre Hand aus, als wolle sie dem Reporter das Mikrofon abnehmen, umklammert aber statt dessen sein Handgelenk. Sie zieht ihn so heftig zu sich heran, daß er das Gleichgewicht verliert und ihr in die Arme fällt. Einen Augenblick lang hält sie sein Gesicht gegen ihre Brust gedrückt. Dann schlingt sie ihre Arme um seinen Kopf und drückt zu. Ton: Man hört, wie sein Genick bricht. Bevor er zu Boden fallen kann, hebt sie ihn hoch und schleudert ihn durch die Luft. Sein Körper landet auf dem Dach des Lkws und bleibt dort verrenkt und leblos liegen. Dann blickt sie in die Linse der Kamera. Sie kommt näher, bis ihr Gesicht das gesamte Bild ausfüllt MÄDCHEN: Sie wollen eine Erklärung? Gut ich werde sie Ihnen geben. KAMERAMANN: Schon gut. Jerry! Bob! Schnitt! Enschuldigen Sie mich, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, verschwinde ich jetzt von hier ... Die Kamera läuft immer noch, als er sie seitwärts dreht. In dem Teilbild sehen wir, daß der Kameramann zu fliehen versucht, sie ihn aber an den Haaren packt, seinen Kopf zurückzieht, sich von hinten über ihn beugt und ihn heftig küßt ... So, als wolle sie etwas aus ihm heraussaugen. Er stöhnt und wehrt sich, aber sie läßt ihn nicht los. Sie zieht seinen Kopf an den Haaren noch weiter zurück ... bis schließlich seine Wirbelsäule zerbricht. Langsam löst sie ihre Lippen von seinen, zerrt immer noch an seinem Haar ... bis sein Kopf vom Körper abgetrennt ist. Aus seinem Hals schießt heißes Blut. Sie hält den Kopf mit einer Hand in die Luft und leckt sich genießerisch die Lippen.
Dann läßt sie den Kopf ins Gras fallen wie einen faulen Apfel. Sie steigt über die Kamera ... Und verschwindet. Ja! Eddie nahm die Kamera zur Seite und sah sich um. Ihm wurde bewußt, daß er sich soeben die Eröffnungsszene für American Zombie III ausgedacht hatte. Aber es gab keinen Weg für ihn, solche Effekte zustande zu bringen. Was taten sie also hier eigentlich? Spielten sie immer noch wie Kinder? Aber das waren sie nicht mehr. Ich werde das Drehbuch selbst schreiben, dachte er. Wer weiß? Einen Versuch ist es allemal wert. Er hatte keine Ahnung, was dann passieren würde. Aber es war ein Anfang. Im Moment war das alles nur eine Idee von ihm. Oder etwa nicht? Warum sah er immer noch verschwommen die weißgoldene Haut vor sich? Sie stand am hinteren Ende des Trailers, weit entfernt von dem verbeulten Kühler. »Hi«, sagte er. »Wo ist Tommy?« Sie antwortete ihm nicht. Wie war ihr Name? Sie hatte ihnen immer noch nicht gesagt, wie sie hieß. Das war ein Teil des Geheimnisses, das sie noch aufklären mußten. Wer war sie wirklich, und was tat sie hier? Und was wollte sie von ihnen? Sie war älter als sie beide - warum wollte sie irgend etwas mit ihnen zu tun haben? Vielleicht will sie wirklich von uns gefilmt werden, dachte Eddie. Oder sie führt uns nur an der Nase herum und macht sich einen Scherz daraus. Es war an der Zeit, das herauszufinden. »Also, willst du in unserem Film mitspielen oder nicht?« Jetzt entfernt sie sich von dem Wrack und kommt auf ihn zu ... nackt.
Das war natürlich nicht sehr wahrscheinlich. Aber er konnte nicht aufhören, sich vorzustellen, wie ihr Körper aussehen würde. Im Schatten verschwand der weißgoldene Schimmer. Also gut, dachte er. Wenn du mit mir spielen willst ... Er lief in den Gängen zwischen den Schrottautos entlang, wo die Lichter von außerhalb des Grundstücks hereinfielen. Je schneller er rannte, um so heftiger flackerten sie. Der Wind fegte über löchrige Ölwarmen und offenstehende Motorhauben. Es hörte sich an, als würde ihn jemand verhöhnen und auslachen. Er kniete nieder und versuchte, ihre Knöchel in der nächsten Reihe zu entdecken, aber das Gras dort stand zu hoch und war so dunkel, als hätten die Erde und die Autos eine Einheit gebildet, um dort eine neue Landschaft zu schaffen, wo es keine Trennlinie zwischen Organischem und Anorganischem mehr gab, wo kein Unterschied zwischen Lebendigem und Totem gemacht wurde. Eddie stand wieder auf. Am Ende des Gangs sah er einen gelblichen kreisförmigen Lichtschein, der immer heller wurde. Was war das? Und wo war es? Er bemerkte, daß er wieder neben dem Peterbilt stand - an dem Ort, an dem er losgelaufen war. »Tom-my!« Der Wind blies über seine Lippen, und er berührte sie. Sein Mund war leicht geöffnet, aber das war nicht seine Stimme gewesen. Er stieg auf einen Stapel Kotflügel, die dort wie Löffel aufeinanderlagen, und sah, daß in dem Trailer, in dem sich das Büro befand, immer noch Licht brannte. In der Nähe des Tors stand eine kleine, dünne Gestalt, die ihre Hände um die Lippen legte und wieder rief: »Tom, verdammt! Komm endlich da raus!« Es war Mike, Tommys älterer Bruder. Er stand auf dem Grundstück, und seine Jacke schimmerte im Licht des Trailers.
Vor dem Tor hatte er seinen Explorer am Randstein geparkt. Eddie duckte sich und begann hinunterzuklettern, aber es war zu spät. »Tommy? Bist du das?« Eddie versteckte sein Gesicht hinter der Kamera und ging auf ihn zu. Außenaufnahme, nachts - Eingang zum Schrottplatz Ein junger Polizist fährt vorbei, sieht das offene Tor und parkt seinen Streifenwagen. Er betritt das Grundstück und entdeckt den Wagen der Presseleute ... Jerry, der Fahrer, läuft ihm entgegen. FAHRER: Gleich dort drüben. POLIZIST: Was? FAHRER: Die Leiche. Ich habe doch angerufen ... POLIZIST: Wir haben keinen Anruf erhalten. Wer sind Sie? FAHRER: Wir sind von >Eyeball News< und drehen hier, um die Nachrichten über Olympia auf den neuesten Stand zu bringen. POLIZIST: Meinen Sie das durch Chemikalien verursachte Feuer? Das war doch gar nicht hier. FAHRER: Weiß ich! Aber hierher hat man danach die Autos gebracht. Also sind wir der Sache nachgegangen und haben diesen Lkw gefunden - mit einer Leiche auf der Ladefläche! POLIZIST: Wessen Leiche? FAHRER: Keine Ahnung! Das wollte ich Ihnen ja gerade sagen! Kommen Sie mit ... Der Polizist mustert den Fahrer von oben bis unten. POLIZIST: Halt! Zeigen Sie mir zuerst Ihren Ausweis. »Ist das die Kamera meines Dads?« Eddie ließ die Hi-8 sinken. »Ich glaube schon. Tommy hat sie mir gegeben. Ich ich soll sie für ihn halten. Und er hat mir
erlaubt, sie zu benützen.« »Ach ja?« »Er sagte, das sei in Ordnung. Hi, Mike.« »Hi. Also, wo ist dieser kleine Mistkerl?« »Er ist...« Eddie hätte am liebsten geantwortet: »Er ist nicht hier«, aber wie hätte er dann erklären sollen, warum er die Kamera in der Hand hielt? Er deutete auf den Schrottplatz. »Dort drüben.« »Was tut ihr denn hier?« »Wir machen Filmaufnahmen.« »Von diesem Schrott?« »Ja. Ich meine nein. Wir ... wir helfen Raul. Er hat gesagt, er werde uns dafür bezahlen. Wir sollen Aufnahmen machen. Für die Versicherungsgesellschaft oder so.« Das hätte wahr sein können. Und Mike schien ihm zu glauben. Er hatte schon seltsamere Erklärungen für das Verhalten seines kleinen Bruders gehört. »Weiß deine Mutter, wo du bist?« Eddie richtete sich zu seiner vollen Größe von einem Meter sechzig auf und versuchte, seine Stimme so erwachsen und verantwortungsbewußt wie nur möglich klingen zu lassen. »Ja, natürlich.« »Dann ist es ja gut. Sie kam nämlich vorher bei uns vorbei, um dich zu suchen.« »Tatsächlich?« Eddie war nicht überrascht. »Mein Bruder sagte, er würde sich mit dir treffen, aber es ist schon spät, und Mom wartet auf ihn. Dieser kleine Stinker. Ich habe eine Verabredung!« »Ich werde ihn holen«, sagte Eddie. »Sag ihm, er soll seinen Hintern nach Hause schieben!« »Okay, Mike.« Eddie betrat wieder die dunklen Zwischenräume. Er war sich bewußt, daß Mike ihm nachsah. Wenn Mike uns nicht hätte
auffliegen lassen, wäre es Raul gewesen, dachte er. Eddie war so in Eile gewesen, daß er das Licht im Büro und das offene Tor gar nicht bemerkt hatte. Wo steckte Raul? Er stand inmitten des Schrotts und hörte das Röhren des Explorer, als Mike die Straße hinunterraste. Gerade wollte er wieder die Kamera heben und durch die Linse schauen, als er Gelächter hörte. Dieses Mal direkt vor ihm. »Eddie? Bist du das?« Die Stimme klang beinahe wie die seines Freundes, aber irgenwie verfremdet und höher. Außenaufnahme, nachts. Der Schrottplatz Der Polizist geht mit seiner Taschenlampe voran. Einen Augenblick lang bleibt der Fahrer in der zunehmenden Dunkelheit zurück. FAHRER: Bitte warten Sie auf mich. (Dann zu sich selbst) Wo ist er denn hingegangen? Er biegt an einer Ecke in diesem Labyrinth falsch ab. Jetzt ist er völlig hilflos. Er tastet sich an den scharfen Kanten entlang und stößt einen Fluch aus, als er sich in die Hand schneidet. Er bleibt stehen, leckt sich das Blut ab und geht dann weiter ... Schwenk Das gelbe Licht der Taschenlampe des Polizisten leuchtet wie ein Glühwürmchen. Am Ende des großen alten Umzugswagens mit den eingedrückten Türen sehen wir, wie sich das Licht auf die Ladefläche eines viel kleineren, alten Modells eines Pick-ups richtet. Der Fahrer tritt von hinten an den Polizisten heran. FAHRER: Die Leiche ist dort drin. POLIZIST: Ach ja? Schwenk zum Führerhaus des Pick-ups: eine Gasflasche, eine Kiste, eine leere Pizzaschachtel, ein Rucksack ... und ein Schlafsack.
FAHRER: Öffnen Sie ihn. Zögernd greift der Polizist nach dem Schlafsack ... Ton: Gelächter Die Kamera fährt auf das Mädchen Sie kommt hinter dem Lastwagen aus dem Schatten hervor. Ihre Bewegungen gleichen denen einer Katze. Ihr Gelächter klingt hohl. Der Polizist richtet den Strahl seiner Taschenlampe auf sie und sieht, daß sie nackt ist. POLIZIST: Ich nehme an, auch Sie können sich nicht ausweisen. Der Fahrer tritt zurück, der Polizist wendet sich ihm zu. POLIZIST: Halt! Ich habe Ihnen nicht erlaubt zu gehen. Das Licht seiner Lampe folgt dem Fahrer und fällt dann auf den Boden - dort sieht man: Den enthaupteten Torso des Kameramanns, der in einer Lache aus geronnenem Blut liegt. POLIZIST: Verdammte Scheiße ...! Hinter ihm steigt das Mädchen mit einer raschen, geschickten Bewegung über den Pick-up. Sie ist aber nicht hinter dem Polizisten her. Statt dessen folgt sie dem Fahrer, der durch die Wunde an seiner Hand eine Blutspur hinterlassen hat. Sie dreht ihm den Arm auf den Rücken, preßt ihre Lippen auf die Wunde, zieht ihre Wangen nach innen und schluckt das Blut. POLIZIST: Keine Bewegung! Er hält die Spezialausführung einer .38er in seinen zitternden Händen. Sie läßt den Fahrer los und stößt ihn mit dem Gesicht voran in den Schmutz. Dann wendet sie sich dem Polizisten zu. Ihr Kinn ist blutverschmiert. Als er den Hahn spannt, lacht sie nur. POLIZIST: Ich sagte ... In Sekundenschnelle wirft sie sich auf ihn und schleudert ihn
gegen den Pick-up. Sein Kopf prallt auf kaltes Metall. Seine Schädeldecke zerbricht, und dampfendes Blut strömt heraus ... Der Schlafsack öffnet sich. Darin liegt eine verwesende Leiche! »Du hast uns gefunden«, sagte sie. Uns? Eddie senkte die Kamera und öffnete beide Augen, um besser sehen zu können. Doch ohne den Sucher nahm er nur Schatten und verschwommene Konturen wahr. Dann entdeckte er die rechteckige Ladefläche des Pick-ups, so lang und dunkel wie ein offenes Grab. Darüber erhob sich ihr weißgoldenes Gesicht. »Ist das dein Wagen?« fragte er, nur um irgend etwas zu sagen. »Irgend jemandem hat er einmal gehört«, erwiderte sie und kletterte auf der anderen Seite herunter. »Jetzt ist er Schrott -wie alles andere. Niemand wird das jemals erfahren.« »Oh. Ich dachte, du wohnst vielleicht hier.« »Ich habe ein richtiges Haus. Ein sehr schönes Haus. Bald werde ich dort einziehen.« »Wann?« »Komm her. Ich möchte dir etwas zeigen.« Eddie hatte immer noch die Bilder des Films vor Augen. Sie wackelten hin und her, wurden dann wieder ganz klar und rasten schließlich an ihm vorbei. Er schützte die Kamera mit der Hand - sie fühlte sich an wie ein zerbrechlicher Totenschädel. Am Lastwagen angelangt, spürte er die Klappe der Ladefläche an seiner Brust, direkt unter seiner Kehle. Er spähte über die Kante und erwartete, Tommy dort wie eine Leiche liegen zu sehen. Dann würde er lachend aus seinem Versteck hervorspringen. Eddie konnte jedoch nur die Gasflasche, die Kühlbox, den karierten Schlafsack sehen. Daneben lag etwas, was wohl einmal ein Rucksack gewesen war. Es hatte in etwa die Größe einer Sporttasche und war so vollgepackt, daß der Reißverschluß zu platzen drohte. Was hatte sie da hineingestopft?
»Was willst du mir zeigen?« fragte er. Als er den Kopf hob, sah er, daß sie auf dem Ersatzreifen an der Ladefläche stand. Ihr Körper zeichnete sich gegen den Himmel ab. Einen Moment lang tauchte ihr Kopf und ihr zerzaustes Haar schemenhaft vor ihm auf. Hinter ihr stieg der Mond auf und erhellte den Horizont. Die Winde und der Haken an Rauls Kran schwankten im Wind hin und her. »Mich«, antwortete sie. Sie streckte die Hand aus, aber er wich zurück. Er hatte Angst, ins Dunkle zu fallen. »Ich kann dich auch von hier aus sehen.« »Was siehst du denn?« Sie stieg in den Lkw. Der warme Wind blies ihr das Kleid gegen den Körper, so daß es so eng anlag wie ein Taucheranzug. Unter dem dünnen Stoff wurde jede Rundung und jeder Muskel sichtbar - sie hätte ebensogut nackt sein können. Jetzt standen zwei Monde am Nachthimmel - eine übergroße Scheibe, die durch die schwüle Luft noch gewaltiger wirkte und leichenblaß war, und daneben ihr Gesicht, umgeben von dem Kranz ihres Haars, das im Wind flatterte. Dann verschwand einer der Monde vom Himmel und schwebte direkt über ihm. Sie ging so nah vor ihm in die Hocke, daß er sie hätte berühren können. »Wer bist du?« fragte Eddie. »Weißt du das nicht?« »Ich kenne noch nicht einmal deinen Namen.« »Später. Würde ich ihn dir jetzt sagen, würdest du mir nicht glauben.« Der Wind frischte auf, strich durch lose, klappernde Metallteile, hob modernde Polster von den Sprungfedern, fuhr pfeifend durch löchrige Auspuffrohre, fegte dann über die mit Sägezähnen versehenen Reihen und schien ihn auszulachen, als er weiterwirbelte. »Wo ist Tommy?«
»Spielt das eine Rolle?« Ja, dachte er. »Ich soll ihm etwas ausrichten.« »Vergiß ihn. Er gehört nicht zur Familie.« »Er ist mein Freund.« »Das bin ich jetzt auch.« »Aber ich kenne dich doch gar nicht.« »Bist du da sicher?« Sie berührte seine Schulter, ließ dann ihre Hand unter seine Achsel gleiten und schob seinen Ellbogen auf die Seitenklappe des Lkws. Dann beugte sie sich vor, nahm seine Hand und legte sie an ihre Wange. Ihre Haut war kühl, nicht so warm wie der Wind, der sie hierhergebracht hatte. Dann führte sie seine Hand zurück, so daß ihre und seine Fingerspitzen sein Gesicht berührten. Er ließ es zu, daß sie dann seine Hand wieder auf ihre Stirn legte und damit über ihre Wange, ihr Ohr und ihr Kinn strich. »Spürst du es?« fragte sie. Sie legte seine und ihre Hand wieder auf sein Gesicht, zeichnete damit die Konturen seines Kinns nach und fuhr dann über die feinen Härchen über seinem Mund und seine Lippen. Dann nahm sie seinen Zeigefinger und berührte damit die Innenseite ihrer Unterlippe, dort wo die Haut so glatt und zart war, daß er Angst hatte, sie zu verletzen. »Wir gleichen einander«, sagte sie. Sie hatte recht. Die Form und die Beschaffenheit des Gewebes war ihm so vertraut, daß seine Haut sich beinahe in ihre einfügen könnte - sie schien genauso geformt zu sein wie seine. Soweit er sich erinnern konnte, wurde zum ersten Mal nichts von ihm gefordert. Es war, als wäre er Teil eines natürlichen Prozesses, und das war alles, was er brauchte. »Wir sind gleich«, betonte sie. Plötzlich befand er sich in dem Lkw, ohne zu wissen, wie er dorthin gelangt war. Die Metallklappe war jetzt nicht mehr zwischen ihnen, aber der Schlafsack lag schwer auf seinen Füßen,
und der Rucksack drückte gegen seine Beine. »Es ist Zeit«, sagte sie. »Wofür?« »Zeit zu gehen.« Und dann war in einer Sekunde die Brücke zwischen ihnen abgebrochen. Eddie blinzelte, als wäre er gerade aufgeweckt worden. Die scharfen Bilder ihrer Gesichtszüge, die die Poren ihrer Haut und die Sprenkel in der Iris ihrer Augen gezeigt hatten, verschwanden, und ihm blieb nur noch seine Vorstellungskraft, um zu sehen, was nicht mehr vorhanden war. Jetzt war sie wieder nur noch ein Mädchen, das er nicht kannte. »Dann geh«, sagte er. »Es ist Zeit für uns beide, zu gehen.« »Okay. Ich habe sowieso noch einiges zu erledigen«, erwiderte er. Als er von dem Lastwagen steigen wollte, stieß er mit dem Fuß wieder gegen den Rucksack. »Welches Zeug hast du denn da eingepackt?« fragte er, um ihr zu zeigen, daß es ihm eigentlich egal war. »Hier.« Sie öffnete den Rucksack und zog ein Kleidungsstück heraus. Es war ein T-Shirt. »Das gehörte einmal ihm.« »Wem?« fragte Eddie. »Du kannst es jetzt haben.« Sie war verrückt. Und er auch. Bei dem Versuch, aus dem Lastwagen zu klettern, stolperte er über den Schlafsack. War da wirklich irgend etwas drin? Das war doch nur eine Aufnahme aus dem Film, sagte er sich. »Was hast du mit Tommy gemacht?« stieß er hervor. »Nichts.« »Aber wer ...? Ich meine, was ...?« Er zog den Reißverschluß des Schlafsacks auf. »Verstehst du das denn nicht?« hörte er sie sagen, als er das Oberteil zurückschlug. »Es ist nicht von Bedeutung ...« Eddie sah das Gesicht eines schlafenden Mannes. Zumindest
war es nicht Tommy. Er wollte sich gerade entschuldigen, doch dann fiel sein Blick auf die Augen des Mannes im Schlafsack. Es war Raul. Er war nicht wach. Aber er schlief auch nicht. »Nur die Familie zählt«, sagte sie und deckte den Körper wieder zu. Er wich zurück. Das Bild von Raul stand immer noch vor seinen Augen und wurde immer deutlicher, bis sich die Farben abzeichneten: Rot und Braun rund um die breite, klaffende Wunde an seiner Kehle. Bildete er sich das nur ein? Das ist ein Film, dachte er, nur ein Film ... »Du hast nichts gesehen«, erklärte sie, und beinahe glaubte er ihr. Er stolperte weiter rückwärts, bis er gegen den Benzintank des Peterbilt stieß. Sie konnte ihn in der Dunkelheit jetzt nicht mehr sehen, aber er verhielt sich ganz still, denn sie würde ihn vielleicht hören, ihm folgen und sich im Mondlicht nackt und hungrig auf ihn stürzen. »Das zählt alles nicht«, sagte sie. »In wenigen Minuten wird es schon Geschichte sein ...« Was hat sie vor? fragte er sich. Will sie alles anzünden? Der Schrottplatz, auf dem sich eine Menge Öl und Gas befand, würde explodieren und zu einem Flammenmeer werden ... Sie würde verschont bleiben, denn sie vereinigte jetzt beide in sich und war doppelt so stark - und auch doppelt so tot. Nichts konnte sie töten. Sie ist hier, um sich an dem System zu rächen, das sie zu dem gemacht hat, was sie ist, dachte er. In den Nächten spukt sie hier ... Er wußte nicht genau, ob er tatsächlich sah, wie sie ein Streichholz anzündete und es auf den Boden warf, oder ob er sich das nur einbildete. Vor seinem geistigen Auge entstanden neue Bilder. Er sah lodernde Flammen, die zum Himmel aufstiegen. Das Mädchen sprang mit übermenschlicher Kraft herunter. Ihre Kleidung begann zu brennen. Sie kam immer näher. Niemand
konnte sie aufhalten. Ihre durchsichtige Silhouette tanzte vor den Flammen, und während die Kamera in seiner Hand immer heißer wurde, sah er den Tod in ihr.
10. Kapitel »Hast du eine Waffe?« fragte Markham. »Natürlich«, erwiderte Len. »Sie liegt unter dem Sitz. Ohne meine Sechsschuß gehe ich nie aus dem Haus.« Die Ventile des VWs klapperten, als sie um die Kurve in den Stewart Way einbogen. »Glaubst du, daß ich sie brauche?« »Ich weiß es nicht. Aber du solltest vielleicht beim Laden halten und dir die .38er holen.« »Ja, ja. Möglicherweise regnet es Scheiße, weil Pferde auf einmal Flügel bekommen haben.« »Du hast es doch selbst gesehen«, sagte Markham. »Schon, aber ich kann das einfach nicht glauben. Katie. Ka-tie!« Len schaltete in den Leerlauf und steuerte auf das Ende der Sackgasse zu. »Diese verdammten Gangs! Ich hätte Katie begleiten sollen ... Ich werde nach Oregon ziehen und mich den Boxern anschließen. Wo, zum Teufel, auch immer sie jetzt sein mögen.« »Gangs?« sagte Markham. »Du glaubst also, das war eine Bande?« Len verstellte den Rückspiegel, so daß er in der Dunkelheit nicht mehr von den Scheinwerfern des Toyota hinter ihm geblendet wurde. »Was glaubst du denn? Etwa, daß die verdammte CSR aus ihrem Grab auferstanden ist?« »Ich habe das Zeichen an der Wand gesehen, Len.« »Verdammt, ich auch.« Len nahm einen Joint aus dem Aschenbecher, zündete ihn an und zog wütend daran. Die Glut färbte sein Gesicht rot. »Das haben sie aus einem Buch. Sie wissen bestimmt nicht einmal, was es bedeutet ... So ist es doch auch mit Hakenkreuzen und Pentagrammen. Dieser Mist bedeutet doch nichts mehr. Einige Leute finden es anscheinend toll, so etwas aufzuzeichnen - wie Kinder, die ein grinsendes Gesicht auf ihr Lunchpaket malen. Nur darum geht es.«
»Bist du da sicher?« Len schaltete die Zündung ab und zog die Handbremse an, während der Motor noch tuckerte. Dann zog er ein letztes Mal an seinem Joint und kaute an dem Papier. »Was, zum Teufel, sollte das sonst bedeuten? Daß die CSR immer noch da ist? Sie sind alle tot - das hast du selbst gesagt.« »Ich hoffe es.« Evies Auto stand bereits mit geöffneten Türen in der Auffahrt. »Aber ich finde, du solltest dir die .38er holen, nachdem du Jean heimgebracht hast.« »Ich brauche das Ding nicht, Dan. Und du brauchst es auch nicht. Es geht nicht um dich. Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt, verstehst du?« Nein, dachte er, das bin ich nicht, aber vielleicht glaubt irgend jemand, ich sei es. Sie war hier. Dann ist sie in den Laden gegangen. Katie hat ihr von der Schätzung erzählt, also hat sie dort nach mir gesucht. Vielleicht glaubte sie, Katie wäre meine Geliebte, und wollte ihre Konkurrentin loswerden. Es wäre durchaus möglich, daß es sich so abgespielt hat. Und wenn das tatsächlich stimmt, wer ist dann der Nächste? »Nimm Evie mit«, sagte er. »Ich will nicht, daß sie hierbleibt. Es könnte noch etwas geschehen.« »Was denn?« »Ich kenne ihre Gedankengänge.« »Wovon sprichst du? Du glaubst doch nicht wirklich an diesen Brief, oder?« Markham sah zur Seite. Jean lief auf ihren kurzen Beinen hastig Evie auf der Auffahrt hinterher, die bereits an der Haustür angelangt war. »Meine Güte, du tust es tatsächlich!« Len seufzte resigniert. Die Fenster des Hauses blitzten gelblich auf, als Evie von Zimmer zu Zimmer lief und auf die Lichtschalter drückte. »Also gut«, sagte Len. »Was war die CSR eigentlich? Ein
Haufen von idiotischen Revolutionären. Sie haben ein Manifest entworfen, aber es hat niemanden interessiert, denn in den Siebzigern kamen sie damit zehn Jahre zu spät. Und dann? Sie bastelten einige Bomben, das FBI griff ein und ließ sie alle hochgehen. Und das war's. Wie bei US Move, dieser verdammten Möchtegern-Armee. Wie viele Mitglieder hatten sie? Fünf? Zehn? Ist ja egal, denn es wurden alle geschnappt.« »So war es nicht. Das stimmt nicht.« »Ach ja? Wie war es dann? Und woher willst du das wissen? Du hast mir erzählt, sie sei dem Verein erst nach eurer Trennung beigetreten.« »Richtig.« »Trotzdem kanntest du diese Leute?« »Nein, aber wir verfolgten die Sache. Ihr gefielen die Argumente dieser Gruppe. Eigentlich war alles nur Propaganda. Die CSR war auch kein satanischer Kult - nur in der Anfangszeit, als die Polizei das so auslegte. Sie waren Provokateure, die bezahlt wurden, um die Verrückten wegzufegen, die noch aus den alten Zeiten übriggeblieben waren. Doch dann drehten sie den Spieß um, bildeten eine Gruppe und zogen in den Krieg. Deshalb mußten sie vernichtet werden.« »Und warum bist du kein Mitglied dieser Gruppe geworden?« »Weil sie ihre Anliegen mit Gewalt durchsetzen wollten. Deshalb haben Jude und ich uns dann getrennt.« »Alle wurden geschnappt, nicht wahr?« »Jude war die letzte. Sie hat niemals aufgegeben.« »Bist du da sicher?« »Ja, natürlich.« »Dann sag es.« »Sie sind alle tot. Auch sie. Okay?« »Also haben wir das, was heute passiert ist, irgendeinem
Verrückten zu verdanken, den man am besten an seinen Eiern aufhängen sollte.« »Der Wachmann sagt aber, es sei eine Frau gewesen.« »Dann war es eben ein Mädchen aus einer Gang. Wer, zum Teufel, soll das wissen? Es hat nichts mit dir zu tun. Verdammt, wirklich gar nichts, oder?« »Beruhige dich, Len.« »Habe ich nicht recht?« »Doch«, erwiderte er schließlich. Es war leichter, als zu versuchen, irrational zu argumentieren. Jean ging im Wohnzimmer ans Telefon. »Welche Pizza wollt ihr haben?« fragte sie. Wie immer sprach sie viel zu schnell, während ihre Augen so starr wirkten wie die Plastikperlen in dem Haar einer Puppe - ausgeblichen von der Sonne, ohne Farbe oder Ausdruck. Ihre Augen waren so viele Jahre dem Licht ausgesetzt worden, daß sie nicht mehr sehen konnte, was hier geschehen war - und es interessierte sie auch nicht mehr. Markham verstand trotzdem, warum Len sich damals während seiner Rituale der Läuterung von Jean angezogen gefühlt hatte. Auch Evie fand jetzt Gefallen an der Unkompliziertheit eines solchen Moments. Leider gab es keinen todsicheren Weg, um den Unterschied zwischen Zen und einfacher Leere festzustellen. »Sag ihnen, sie sollen die Pizza zu euch liefern«, meinte er. »Warum?« Ohne ihr zu antworten, ging er durch das Wohnzimmer und sah seinen Besitz endlich so, wie er war. Es schien, als fielen ihm Schuppen von den Augen. Er hatte Evie in ein langgezogenes Fertighaus gebracht, das in den Vierzigern von einem hoffnungsvollen Menschen zusammengehämmert worden war und jetzt aussah wie ein Boot. Nicht einmal damals war es ein Traumhaus gewesen. Und jetzt zerfiel es allmählich -obwohl er sein Bestes getan hatte, das Unvermeidliche zu verhindern, die dünnen, engen Wände zwischen den Fenstern mit gerahmten
Kartonagen, Lithographien und Bücherkisten abzudichten, die er wie kostbare Weine aufbewahrte, so als könnten sie diese Dinge in ein nächstes Leben mitnehmen, so als würde das Wissen, das hier gespeichert war, sie unabhängig von der physischen Ebene für immer durch Raum und Zeit begleiten. Er hatte zu lange in der abstrakten Welt seiner Gedanken gelebt, aber das würde sie nicht länger beschützen. Vielleicht hatte Jean recht, und Evie schätzte ihre Freundschaft, weil sie in all dem, was nicht von Dauer war, einen Anker fand. Er sah Evie vor sich, wie sie um die Stapel herumging, die im Weg standen. Sie suchte nach etwas, das greifbarer und kostbarer als diese Dinge hier waren. »Eddie ...?« rief sie. Er bahnte sich seinen Weg durch die Werke über Kunst und Psychologie und trat neben sie. »Er ist nicht zu Hause«, erklärte sie. »Hast du in seinem Zimmer nachgesehen?« Die Tür zu Eddies Schlafzimmer stand offen. Unter den milchigen Planen zeichneten sich keine Konturen ab, die auf seine Anwesenheit hoffen ließen. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie sich sicherlich darüber beschwert, daß er die Malerarbeiten noch nicht beendet hatte, aber jetzt war das etwas anderes. Sie schloß die Tür und lief in die Küche. Die Nachricht, die sie ihm hinterlassen hatte, lag unberührt auf dem Tisch. Markham entdeckte einen Zettel am Kühlschrank und schwenkte ihn wie einen Lottoschein durch die Luft. »Er hat sich mit Tommy getroffen und kommt später.« Sie las die Notiz. Das war alles, was er geschrieben hatte. Sie sah auf die Uhr am Herd. 21 Uhr 51. »Es ist aber schon sehr spät«, meinte sie. Evie ließ ihren Blick immer wieder zwischen der Notiz, der Uhr und Markhams Gesicht hin- und herwandern und betrachtete
diese drei Dinge so lange, bis sie wieder klar sehen konnte. »Evie ...« »Ich werde ihn abholen«, erklärte sie. »Ruf an.« Er nahm den Hörer von der Wand. »Wie ist die Nummer?« Sie riß ihm den Hörer aus der Hand, preßte ihn ans Ohr und sah auf der Liste nach, die neben dem Apparat hing. Gereizt verzog sie ihre Lippen. »Leg schon auf, Jeannie!« Die digitale Küchenuhr zeigte jetzt 21 Uhr 52, und Evie drückte immer schneller auf die Tasten des Telefons. Markham hörte die elektronischen Impulse aus dem defekten Hörer, den Evie sich ans Ohr preßte. Es klang wie das Summen von Insekten. Um 21 Uhr 53 hob Evie ihren Blick. »Keine Antwort.« »Sie sind wahrscheinlich ausgegangen.« »Ich fahre hin.« Er erhob keine Einwände. Das vereinfachte den Umgang miteinander. »Ich werde hier warten, für den Fall, daß er in der Zwischenzeit nach Hause kommt.« »Gut«, rief sie aus dem Flur und drehte sich noch einmal um. »Wo ist der Kater?« »Weiß ich nicht.« »Ich habe ihn seit heute morgen nicht mehr gesehen! Er kommt doch sonst abends immer ins Haus! Aber es war ja niemand hier ...« »Keine Sorge«, beschwichtigte er sie. »Er wird schon zurückkommen. Das verspreche ich dir. Er ist ein Überlebenskünstler.« »Wie kannst du so etwas versprechen?« Ihre Lippen bewegten sich einen Augenblick lang lautlos, und ihre Augen wurden feucht. »Er wird durchdrehen, wenn wir ihn nicht ins Haus holen!« »Ich werde ihn finden.«
»Das möchte ich dir auch raten!« Sie preßte ihre Lippen zusammen, drehte sich um und ging zur Vordertür. Er folgte ihr durchs Wohnzimmer. »Ich hoffe, sie haben die Bestellung richtig aufgenommen«, sagte Jean. Markham sah mit einemmal alles ganz klar vor sich: Wände aus Sperrholz, die man mit einem kräftigen Druck des Daumens durchbohren könnte. Bilderrahmen, die durch Nägel festgehalten wurden, die bereits verbogen waren, als er sie eingeschlagen hatte. Bücherregale, die aus dünnem Furnier auf durchhängenden Fiberholzplatten bestanden. Möbelstücke, die mit billigem Stoff verhängt waren, der so trocken war wie das Material, in dem man Mumien einband und der jederzeit in Flammen aufgehen konnte. Und die Bücher? Sie waren wie Gefäße, die Wissen enthielten, aber eigentlich nur ein Mittel zu dessen Überlieferung, nicht bedeutungsvoller als ein Funksignal oder laut in die Luft gesprochene Worte - sie waren nur schwache Symbole, die in einer Zeit wie dieser keinen Schutz boten. Warum hatte er das nicht schon früher erkannt? »Wenn sie nicht innerhalb der nächsten dreißig Minuten liefern, brauchen wir nichts dafür zu bezahlen«, fuhr Jean fort. »Dann solltet ihr euch besser auf den Weg machen«, sagte Markham zu ihr. »Und was ist mit euch? Wir können ja mit zwei Autos fahren. Wo ist denn euer Junge?« »Ich muß auf ihn warten.« »Dann fahre ich mit Eve.« »Nein.« Evie ging zur Vordertür und verließ das Haus. »Aber wie ...?« »Fahrt nach Hause«, sagte Markham. »Bitte.« »Können wir nicht wenigstens einen Drink haben?« »Tut mir leid«, antwortete Markham. »Ich trinke nicht mehr und habe deshalb nichts im Haus.«
Lennie verstand den Wink. Es war Zeit, sie zum Schweigen zu bringen. »Laß doch schon den Motor an, Jeannie«, bat er. »Ich komme gleich nach.« »Das verstehe ich nicht«, beklagte sie sich. Kein Problem - ich auch nicht, dachte Markham. Lennie schob sie zur Tür hinaus und führte sie die Treppe hinunter. Evie stand bereits bei ihrem Toyota. »Wo ist Eddie?« fragte er Markham, als er wieder ins Haus zurückgekehrt war. »Evie will ihn abholen. Ich bleibe hier, falls er in der Zwischenzeit nach Hause kommt.« »Brauchst du meine Hilfe? Jeannie kann allein zurückfahren.« Markham dachte kurz darüber nach, und ihm wurde klar, daß er seinen Freund um alles bitten könnte. Seine Gefühle schienen durch den Joint sensibilisiert zu sein. Len war ungewöhnlich mitfühlend und verwirrt von der unendlichen Menge an Möglichkeiten. Wenn er etliche ausschloß und sich auf eine konzentrierte, tat er es nur in dem Versuch, die Wogen zu glätten und die Zweifel der anderen auszuräumen. Dieser Mechanismus, der es ihm möglich machte, auszuwählen und sich dann für einen bestimmten Weg zu entscheiden, schien seit so langer Zeit nicht mehr funktioniert zu haben, daß er angesichts der unglaublichen Absurdität der Umstände nur noch eine Art sarkastischer Belustigung empfinden konnte. Darum blieb er auch bei seiner blassen, bissigen Ehefrau und gab sich mit der Position eines passiven Partners in dem Laden zufrieden, anstatt ein eigenes Geschäft aufzumachen oder die Bücher auf Papier zu bringen, die in seinen Gedanken bereits geschrieben waren. Deshalb gab er sich damit zufrieden, ein Botenjunge zu sein, anstatt eigene Botschaften zu übermitteln. Er könnte tun, was er wollte, aber er war glücklich dabei, sich treiben zu lassen. Markham liebte ihn für das, was er war - ein Teil seiner eigenen Vergangenheit und Persönlichkeit, aber das konnte ihm im
Augenblick nicht helfen. »Schon gut«, sagte er. »Fahr nach Hause.« »Die Bullen werden sie schnappen. Schalt den Fernseher an. Wahrscheinlich haben sie sie bereits. Diese verdammte Irre aus irgendeiner Gang.« »Ja.« Markham war, wie bereits vorher im Auto, von Lens heftiger Reaktion überrascht. Wo blieb der Witz, der ironische Kommentar, der alles wieder in die richtige Perspektive rücken würde? Damit hätte sein Freund ihm jetzt helfen können. Er hatte darauf gewartet. »Sie werden sie kriegen«, sagte Len zornig. »Diese verdammte Irre ...« Seine Augen röteten sich. Er begann zu zittern und zu schluchzen. Er hat Katie wirklich geliebt, dachte Markham. Jeannies Instinkt hatte sie nicht getrogen. Er hatte sich in das zweiundzwanzig Jahre alte blonde Mädchen verliebt, das noch ein perfektes Leben vor sich hatte, und in die Möglichkeiten, die das mit sich brachte. Wie Len hatte sie daran geglaubt, immer ihre eigene Wahl treffen zu können. Jetzt tat er das nicht mehr. Er begann zu lernen. Bei diesem Gedanken empfand Markham Mitleid mit Katie, Lennie, Jean, Evie und sich selbst. Und auch mit seinem Sohn, der jetzt irgendwo dort draußen war und tapfer versuchte, einen Sinn im Leben zu sehen, und sich fragte, ob er für diese Welt stark genug sein würde. Markham schluckte hart. Wenn sie sie nicht schnappen, dann werde ich es tun, dachte er. Er wollte das seinem Freund sagen, bemerkte aber, daß Len bereits gegangen war. Nachdem die Autos abgefahren waren, ging er zurück in das leere Haus und löschte alle Lichter. Komm schon und hol mich. Aber wer eigentlich? Auf wen warte ich? überlegte er. Auf eine Frau in einem langen Gewand, die sich ihren Weg aus einer Gruft bahnt wie Madeline Usher? Oder wie die Schauspielerin in
Isle of the Dead? Wie war noch ihr Name? Barbara Steele. Sie spielte in einer dieser romantischen italienischen Horrorfilme mit, hatte einen unglaublich starren Blick, einen Teint so blaß wie der Mond, trug ein durchsichtiges weißes Kleid und ein Lächeln wie eine Gottesanbeterin. Natürlich, dachte er. Ich befinde mich bereits in einem Horrorfilm - nur hat dieser Horror nichts mit Nekrophilie, schwarzen Messen oder Kreuzen zu tun, die verkehrt herum aufgehängt wurden. Auch nicht mit Vampiren, die nicht schwimmen konnten, oder mit Zombies, die auf Zuckerrohrfeldern arbeiteten und sich von Klippen stürzten, wenn ihnen das von irgend jemandem mit einem zungenbrecherischen Akzent befohlen wurde. Nein, was sich hier abspielte, war das wirkliche Leben - geprägt von den Fußspuren von Attentätern und Neofaschisten, von Regierungsbeamten, die einiges zu verbergen hatten, von Privatarmeen, die auf Schiffen trainierten, welche nach den Ehefrauen von Ölmagnaten benannt waren, von betrunkenen Präsidenten, die sich in den Betten des Pöbels wälzten, und von Kartellen, die die Welt in Stücke teilten und diese dann mit Schildern versahen, auf denen stand: ZU VERKAUFEN. Die wahren Könige dieser Welt vermoderten inzwischen in ihren Gräbern, ihre Gehirne waren ihnen bei Nacht gestohlen worden, und ihre Schußwunden so verändert, daß sie in die Handlung eines Romans paßten, über den selbst die Kinder in der Vorschule lachen mußten. Und das alles, während Milliarden von Menschen sich abplagten und wie die lebenden Toten dabei alterten, während ihnen von jenen das Blut ausgesaugt und die Seele geraubt wurde, die ihre Arbeitskraft brauchten, um ihre unstillbare Machtgier zu befriedigen. Die Untoten? Eine billige Erklärung für so viel Elend. Es gab viel mehr, wie man das alles begründen konnte, ohne auf das Namenlose zurückgreifen zu müssen. Man mußte es nur erkennen und durfte nicht davor zurückschrecken. Es hatte
keinen Sinn, etwas abzuleugnen. Es war ganz einfach und gleichzeitig ungeheuerlich. Die Wahrheit war zwar traurig, aber beinahe beruhigend. Warum habe ich dann immer noch Angst? fragte Markham sich. Eddie. Er ist jetzt dort draußen, aber er wird nach Hause kommen. Es geht ihm gut - das muß einfach so sein. Er weiß, daß er sich von dunklen Ecken fernhalten, sich nicht in Prügeleien einmischen und nicht zu Fremden in ein Auto einsteigen soll; daß er immer frische Unterwäsche tragen muß und sich nicht mit Polizisten anlegen darf. Und er ist klug - ein Wunderkind, das bereits besser schreibt und wahrscheinlich auch mehr Verstand besitzt als ich. Ich habe ihn gelehrt, was ich weiß, und seine Mutter hat ihm die Dinge beigebracht, an die ich nicht gedacht habe. Durch uns beide ist er in der Lage, mit allem fertig zu werden. Oder? Eddie, dachte er. Um Himmels willen, bitte komm nach Hause. Es ist alles in Ordnung, Junge. So schlimm ist es nicht. Wir werden uns einen Film ansehen - vielleicht ein altes Video mit Ray Dennis Steckler oder Coffin Joe. Einen dieser Klassiker, über die wir in Shock Zone gelesen haben. Wir werden uns halbtot lachen. Vielleicht setzt sich Mom sogar zu uns. Es wird ihr besser gehen, wenn sie dich wiedersieht. Sie wird sich gut fühlen. Und später werde ich mich zu ihr ins Bett legen, und wir werden uns näher sein als in den letzten Monaten. Ganz nah, weil wir wissen, daß es dir gutgeht. Wir werden in ein schöneres Haus ziehen und ein Zimmer mit einem großen Fernseher und einem CD-Player haben, der auf dem neuesten Stand der Technik ist. Evie hat recht. Wir sind aus diesem Haus herausgewachsen - so wie ein Baby irgendwann zu groß für den Mutterleib wird und zur Welt kommen muß. So war es auch bei dir. Schließlich ist das alles nicht so schlimm - es gibt einige Mittel und Wege zur Finanzierung. Zum Teufel,
notfalls verkaufe ich Minor Arcana an Len. Er kennt den Laden und kann den Rest abzahlen. Es ist möglich. Ich habe mich bisher nur nicht damit auseinandersetzen wollen. Schließlich lebten wir hier nicht im Paradies. Es war nur eine Zwischenstation, bis wir erwachsen genug waren, um weiterzuziehen. Jetzt ist die Zeit gekommen. Ich werde es schaffen. Es ist noch nicht zu spät ... Heute nacht würde dieses Haus jedoch gut genug für sie sein. Es verkörperte die Realität. Ohne Schwierigkeiten bewegte er sich im Dunkeln durch die Zimmer. Rechts neben ihm befand sich der Herd. Die Digitaluhr zählte die Sekunden und Minuten und tickte mit der Regelmäßigkeit eines schlagenden Herzes in den langen Stunden vor der Dämmerung. Der Kühlschrank daneben summte leise. Langsam legte er einen Finger um den Griff und zog die Tür auf. Kaltes weißes Licht fiel auf den gefliesten Boden und beleuchtete das Schachbrettmuster, das zur hinteren Terrasse führte. Im zweiten Fach sah er einen unförmigen Klumpen, der in eine zerknüllte Folie eingewickelt war - irgend etwas, was er so oft aus und wieder eingepackt hatte, daß er vergessen haben müßte, was es war. Daneben stand der Rest des Thunfischauflaufs, den niemand mehr hatte essen wollen, eine halbe Banane, die sich in der Kälte schwarz färbte, ein Becher Joghurt mit klebriger Flüssigkeit am Rand und eine Packung Milch, auf der drei Kinder abgebildet waren, die Zahnlücken und ein gezwungenes Lächeln auf dem Gesicht hatten. Darüber stand:. HABEN SIE DIESE KINDER GESEHEN? BITTE HELFEN SIE UNS! Eddie war nicht vermißt. Natürlich nicht. Evie würde ihn in den nächsten Minuten nach Hause bringen. Sie würde sich verhalten, als wäre nichts geschehen, und er würde ihr helfen einzuschlafen, bis sie am morgigen Sonntag Zeit haben würden, darüber zu sprechen, was
vorgefallen war. Was würde sie zuerst sagen, wenn sie hereinkam? Irgend etwas über das Abendessen. Sie hatten noch nichts gegessen, und es war kaum noch etwas im Kühlschrank, aber zumindest würde sie sich nicht mehr um ihren Sohn sorgen müssen. Er würde eben eine Pizza besorgen. Wichtiges mußte zuerst erledigt werden. Es war an der Zeit, etwas zu essen. Was war mit dem Kater? War er nach Hause gekommen? Darum sollte er sich besser kümmern, bevor Evie ihn danach fragte. Markham holte die Milchtüte aus dem Kühlschrank, goß ein Schälchen voll und trug es auf die Veranda. »Miez, miez ...« Er stellte das Schälchen an die Hintertür und wartete auf das Kätzchen. Draußen bewegte sich etwas. Er öffnete die Tür einen Spalt, um es hereinzulassen. Irgend etwas schlüpfte rasch herein, aber als er nach unten sah, konnte er nichts entdecken. Wahrscheinlich der Wind, dachte er. Er knipste das Außenlicht an und hörte in der Ferne eine Sirene heulen. Der Garten sah jetzt wirklich ganz anders aus, aber zumindest wußte er wieder, wo und in welchem Zeitalter er sich befand. Es gab noch einige Plätze in der Nähe des Hauses, wo das Kätzchen sich versteckt haben könnte. Die Hecken waren nicht beschnitten, und wild wuchernde Pflanzen rankten sich an dem Zaun empor, über dem gerade der Mond aufstieg. Durch den Nebel, der über der Stadt hing, wirkte er verzerrt und übergroß. Markham legte seinen Kopf in den Nacken und ließ die milden Strahlen über sein Gesicht wandern. Dann hörte er erneut eine Sirene heulen. Durch die verschleierte Luft waren nur einige wenige Sterne zu sehen - ein Teil des Großen Bären, der Venus oder des Jupiters funkelten am Horizont, und darüber schimmerte das blasse, konturlose Gesicht des Mondes ... Des Mondes? Was war dann der gelbe, sich orange färbende Ball hinter dem
Zaun? Markham schaltete das Außenlicht ab, um das Bild besser wahrnehmen zu können. Ein dritter Wagen fuhr mit Sirenengeheul durch die Nacht. Ein Feuer? Das mußte es wohl sein. Es erleuchtete den Himmel dort, wo Bradford lag, und auch die andere Seite der Stadt jenseits der Eisenbahnschienen. In dieser Richtung war das Sirenengeheul verklungen. Er hoffte, daß es nicht allzu schlimm war, glaubte aber bereits die Hitze selbst aus dieser Entfernung zu spüren. Nach Sonnenuntergang war der Santa-Ana-Wind stärker geworden. Das bedeutete, daß sie heute nacht bei offenen Fenstern schlafen und auf eine Brise warten würden ... Bradfield, dachte er. Das Haus der Oshidaris. Dort war Eddie. Als er den Telefonhörer in die Hand nahm, hörte er, wie irgendwo im Haus etwas mit lautem Krachen zu Boden fiel. »Evie?« Er hatte sie nicht kommen hören. Markham ging in den Flur und nahm plötzlich ein leises Scharren wahr, wie von einem kleinen Vogel. Das Geräusch kam aus Eddies Zimmer. »Hey, Ed? Bist du hier ...?« Wenn es Eddie wäre, würde er antworten. Wie war er hereingekommen? Er benützte immer den Hintereingang. Etwa durch das Fenster? Hatte er sich hereingeschlichen, weil es schon so spät war? Kein Problem. Markham war froh, daß er wieder zu Hause war. Er legte die Hand auf den Türknauf, zögerte dann aber. Ich sollte anklopfen, überlegte er. Ich habe es immer gehaßt, wenn mein Dad bei mir ins Zimmer platzte. »Ist da jemand?« Die Tür ließ sich nicht öffnen. Er lehnte sich dagegen und
kämpfte scheinbar gegen einen unsichtbaren Geist an. Dann schlüpfte etwas unter der Tür durch - wieder der Wind. Eddies Fenster stand wohl offen. Das war die Erklärung. Plötzlich legte sich der Wind, und die Tür schwang mit einem Ruck auf und schlug gegen die Wand. Die Plastikfolien flatterten im Luftstrom und legten sich dann wieder über das Zimmer. Saß da jemand am Schreibtisch? Nein, das war nur ein Schatten. Markham tastete an der Wand nach dem Lichtschalter, aber er war durch die Falten der Plane verdeckt. Auf dem Bett schien jemand zu liegen. Vorsichtig ging er darauf zu. Ein Einbrecher? Die Schranktür stand offen, aber darum kümmerte er sich nicht. Argwöhnisch blickte er auf das Bett. Wie immer war es ungemacht. Durch die undurchsichtige Plane wirkte die zerwühlte Bettwäsche jedoch unförmiger und schwerer als sonst. Er streckte seine Hände aus und wollte gerade ein Loch in die Folie reißen, als ihn jemand von hinten ansprach.
11. Kapitel Zuerst bemerkte Evie nicht, daß sie ganz allein war. Weder in dieser, noch in der Gegenrichtung fuhren andere Autos. Es schien, als wären die Straßen zwischen Stewart und Bradfield für sie geräumt worden, damit sie das Haus der Oshidaris in Rekordzeit erreichen konnte. Sogar der Schulhof der Grundschule war verlassen. Von den Kindern, die sonst unermüdlich rund um die Uhr dort Basketball spielten, war nichts zu sehen. Die von der Sicherheitsbeleuchtung erhellte Asphaltstraße war menschenleer. Niemand kletterte auf dem flachen Dach herum, lauerte im Schatten und versuchte, mit einer Spraydose sein magisches Zeichen auf die verputzte Wand zu sprühen. Die verlassene Kreuzung verleitete sie dazu, das Stoppschild zu mißachten. Sie gab Gas, warf nur einen flüchtigen Blick auf die Gleise vor sich und fuhr über den ersten Hügel. Links und rechts von ihr war nur Dunkelheit - kein Anzeichen einer Lokomotive. Trotz des Rotlichts wollte sie abbiegen, als hinter ihr ein so ohrenbetäubendes Hupen ertönte, daß sie beinahe von der Straße abgekommen wäre. Sie trat auf die Bremse, packte mit gestreckten Armen das Lenkrad und sah in den Rückspiegel. Hinter ihr erstreckte sich der Spielplatz wie ein schwarzer Korridor, in dem nur die Umrisse beleuchtet waren. Die scharfen, gezackten Konturen wirkten wie das Ende eines Kaleidoskops. Dann entdeckte sie einen Feuerwehrwagen, der nur wenige Zentimeter von ihrer vorderen Stoßstange entfernt über die Kreuzung raste. Erst dann ging die Sirene los. Evie sah den rot-silberfarbenen Blitz an sich vorbeischießen. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad so heftig, daß sie beinahe erwartete, es würde zerbrechen. Als sie losließ, sah man an der Haut weiße Furchen an den Stellen, wo sie das Steuer
gepackt hatte. Ihre Finger fühlten sich taub an, und unter ihren Fingernägel befanden sich schwarze Plastikteilchen. Tief durchatmen, befahl sie sich. Einige Häuserblocks weiter bremste der Feuerwehrwagen und bog nach links ab, um die Schienen zu überqueren. Dort waren keine Wohnhäuser - also schien er zumindest nicht auf dem Weg zu den Oshidaris zu sein. Sie beobachtete, wie das lange Fahrzeug um die Kurve fuhr und dann quer stehenblieb, so daß die Straße blockiert war. Wie viele kostbare Sekunden oder Minuten würde es sie kosten, um daran vorbeifahren zu können? Das Risiko wollte sie nicht eingehen. Sie konnte die Eisenbahngleise auch hier überqueren, in den Boulevard einbiegen und dann an der nächsten Ampel in die entsprechende Richtung weiterfahren. Sie sah sich nach beiden Seiten um, fuhr vorsichtig über die Schienen und bog rechts ab. Auch hier herrschte kein Verkehr. Die Restaurants waren alle hell erleuchtet. Auf den meisten Parkplätzen davor standen Autos, aber niemand schien zu kommen oder wegzufahren. Alle vier Spuren der Straße waren frei. Allerdings konnte sie wegen des Nebels nicht sehr weit sehen. Nebel? Wie konnte das sein? Der Wind hatte die Wolken vom Himmel geblasen. Außerdem war das nicht die übliche Jahreszeit für Nebel. Trotzdem lag über den Verkehrszeichen ein milchiger Schleier, der sich jetzt auch auf ihrer Windschutzscheibe niederschlug. Sie stellte die Scheibenwischer an, aber die Wischerblätter verschmierten das Glas nur. Streifen bildeten sich und kleine Partikel fielen auf die Motorhaube. Evie sah, daß es sich um Asche handelte. Der Himmel färbte sich gelb. Jetzt bemerkte sie auch die Polizeiwagen, die jede Kreuzung absperrten. Dahinter, wo die Straßen zum Einkaufszentrum führten, konnte man verschwommen die Scheinwerfer von Autos erkennen, die Stoßstange an Stoßstange standen. Die
Lichter wirkten wie schwach flackernde Kerzen in einem Sandsturm. An dem eingezäunten Grundstück, wo sich der alte Schrottplatz befand, standen mehrere Feuerwehrwagen, und darüber färbte sich der Himmel orangefarben. Das Pick-A-Part brannte! Als sie um die Fahrzeuge herumfuhr, rollten Männer in Schutzanzügen gerade einen Schlauch aus, der sie an eine verhungerte Boa Constrictor erinnerte, und schlossen ihn an einen Hydranten an. An der ersten Ecke am Ende des langen Blocks änderte sie die Richtung und versuchte, einen Weg über die Gleise zu finden, aber ein Polizist trat auf die Straße, schwenkte die Arme und schüttelte den Kopf. Sie winkte ihm zu und fuhr weiter, mußte aber feststellen, daß auch die nächste Kreuzung blockiert war. Sie hielt an und kurbelte das Fenster herunter. »Weg von der Straße!« schrie der Polizist, bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte. »Ich habe nur versucht ...« »Sofort!« Sie beugte sich aus dem Fenster und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich wohne hier. In ...« Wie war doch noch der Name der Straße, in der sich das Haus der Oshidaris befand? »In Bradfield«, log sie. »Ich muß nach Hause. Ich ...« Das ließ ihn völlig kalt. »Fahren Sie weiter, Madam, oder ich werde Sie sofort verwarnen.« »Sie haben mich nicht verstanden. Ich habe das Feuer gesehen und bin hierhergefahren. Jetzt versuche ich, wieder nach Hause zu kommen. Wenn Sie mir sagen könnten, wo ich umdrehen kann ...« »Nirgendwo.« Hatte er tatsächlich seine Hand auf das Pistolenhalfter gelegt? Sie lächelte ihn wieder an. »Wenn Sie mir nicht erlauben
umzukehren, wie kann ich dann zurückkommen?« »Das können Sie im Augenblick nicht. Machen Sie die Straße frei!« Evie deutete in Richtung des Einkaufszentrums. »Ist Wib-berly auch gesperrt?« Aber noch während sie diese Frage stellte, sah sie vor sich weitere Polizisten auftauchen. »Welche Straße kann ich nehmen?« Er legte eine Hand auf den linken Kotflügel ihres Wagens, als wolle er sie mit roher Gewalt aufhalten. Seine andere Hand schloß sich um den Griff seiner Waffe. »Warten Sie in der Pizzeria«, befahl er. »Wir werden Ihnen Bescheid geben, wenn die Straßen wieder frei sind.« Es hatte keinen Sinn, weiter zu versuchen, ihn zu überzeugen. Er war noch jung und spielte seine Position aus. Seine Augenhöhlen wirkten wie dunkle Tunnels, an deren Ende kein Licht zu sehen war. Wenn sie die Straßensperren durchbrach, würde er möglicherweise instinktiv in die Hocke gehen, das Feuer eröffnen und einige Kugeln in ihren Wagen jagen. Es war absurd, aber sie hatte sich ohne entsprechende Befugnis in besetztes Gebiet vorgewagt. Sie konnte ihm nicht einmal ihre Papiere zeigen, weil sie behauptet hatte, in Brad-field zu wohnen, die Adresse in ihrem Führerschein jedoch Stewart Way lautete. Sie hatte keine Chance. »Danke, Officer«, sagte sie und stieß 100 Meter zurück, um zu Reggae Rat's zu gelangen. Ich werde parken und Mrs. Oshidari noch einmal anrufen, überlegte sie. Bestimmt gibt es dort drin ein Telefon. Oder ich verschwinde heimlich und versuche es zu Fuß. Sie würden doch wohl nicht auf eine unbewaffnete Frau schießen, oder? Auf eine Mutter? Zuerst werde ich jedoch zu Hause anrufen und fragen, ob Eddie inzwischen da ist. Der Parkplatz war überfüllt mit Wagen, die auf die Weiterfahrt warteten. Über die Autodächer liefen bernsteinfarbene Wellen.
Sie fuhr vorwärts auf einen Behindertenparkplatz - die einzige Stelle, die noch frei war - und stieg aus. Ihre Hände und Arme nahmen eine unnatürlich blasse, gelbliche Farbe an. Auf der anderen Straßenseite glühte der Himmel über dem alten Schrottplatz, als würde eine zweite Sonne aus dem Boden aufsteigen. Jenseits des Zauns ertönten Rufe, und weitere Sirenen begannen zu heulen. Dann verdunkelten Rauchfahnen den Himmel, Asche wurde herübergeweht, und ein Schwarm Glühwürmchen senkte sich auf die riesigen Flügelohren der Statue vor dem Rat's. Evie holte rasch ihre Handtasche aus dem Wagen und lief hinein. Das Restaurant war überfüllt. Sie sah einige Familien und Arbeiter, aber hauptsächlich lümmelten Teenager auf den Sitzgruppen, rissen aufgeregt Witze, schluckten lange Fäden Pizzakäse und schlürften Cola. Am Eingang befand sich ein Schild mit der Aufschrift: >Bitte warten Sie, bis Ihnen ein Platz zugewiesen wird<, aber daneben stand niemand. Die Angestellten drängten sich in ihren lächerlichen braungrauen Uniformen hinter der Theke zusammen. Ein kleines Mädchen - das einzige Kind im Restaurant - versuchte in der Mäusegalerie entschlossen, sich an dem Automaten mit dem steuerbaren Metallarm ein Plüschtier aus einem Rattennest herauszuholen, das aus künstlichen Käseecken bestand. »Wo ist hier das Telefon?« fragte Evie laut. Die Angestellten ignorierten sie, die Teenager machten weiter ihre Scherze, und das kleine Mädchen warf noch einen Chip in Form einer Maus in den Automaten. Evie entdeckte einen Gang und ein Schild, auf dem die Ratte Reggae Rat mit entblößten Zähnen und zwinkernden Augen abgebildet war. Sie deutete auf die Toiletten für >Mäuseriche< und >Mäuse<. Dort mußte das Telefon sein. Evie steuerte auf den Gang zu. In der letzten Sitzecke entdeckte sie einen Jungen, der eine Ausgabe von Shock Zone Magazine las.
Sie riß es ihm aus der Hand, um sein Gesicht sehen zu können. »Oh, Tommy«, sagte sie enttäuscht. Er wich ihrem Blick aus und sah an ihr vorbei. »Hallo, Mrs. Markham. Wo ist Eddie?« »Ich dachte, er sei mit dir unterwegs.« »Das war er auch.« »War?« »Er wollte sich mit mir treffen, ist aber nicht gekommen.« Evie glaubte ihm kein Wort. »Wie lautet deine Nummer?« fragte sie scharf und griff in ihre Geldbörse. »Meine Telefonnummer? Warum?« »Weil ich deine Mutter anrufen möchte.« »Das habe ich schon versucht«, erwiderte Tommy. »Sie scheint wohl schon zu schlafen.« Er verkroch sich in seinen Sitz und blätterte in dem Magazin, ohne auf die Seiten zu schauen. Daraus schloß Evie, daß zumindest das wahrscheinlich stimmte. Tommys Gesicht war schmutzig und seine Kleidung zerknittert. Die Aufschläge seines Hemds waren zerrissen, und ein Knopf fehlte. Auf seiner Schulter befand sich ein dunkler Fleck - Schmiere oder Ruß. »Wenn er nicht bei dir zu Hause ist und auch nicht hier, wo steckt er dann?« wollte sie wissen. »Sind Sie böse auf ihn?« »Nein«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Ich will nur wissen, wo er ist.« »Ich auch.« »Was tust du denn hier?« »Sie lassen niemanden weg«, erklärte er. »Ich habe es versucht, aber sie haben mir einen Tritt in den Arsch versetzt. In den Hintern, wollte ich sagen.« »Bleib, wo du bist«, sagte sie. »Ich will mit dir reden.« Sie ging weiter zum Flur, sah aber, daß sich vor dem Telefon
eine Schlange gebildet hatte. Das würde zu lange dauern. Enttäuscht kehrte sie zu der Sitzecke zurück. Sie sollte den Jungen nicht mit Vorwürfen überhäufen. Er sah aus, als hätte er bereits genug durchgemacht. »Wo seid ihr heute hingegangen?« fragte sie. »Du und Eddie. Noch einmal ins Kino?« »Ja. Nein. Wir sind einfach nur ... weggegangen, verstehen Sie?« »Und was ist dann passiert?« Tommy zuckte mit einer übertriebenen Geste die Schultern, wie ein kleiner Junge, der beim Schuleschwänzen erwischt worden war. Evie fand das sehr liebenswert - sie wollte nicht seine Lehrerin spielen. »Wir ... wir mußten uns eine Weile verstecken. Wegen dieser Jungs von der High School.« Evie erstarrte. »Was haben sie mit euch gemacht?« »Nichts. Wir konnten abhauen.« Wenn er wieder log, um sie zu beruhigen, mußte die Wahrheit viel schlimmer sein. »Wo habt ihr euch versteckt?« Tommys aufgesetzte, ausdruckslose Miene hielt ihrem Blick nicht stand. Er schien zu wissen, daß sich das selbst für einen Erwachsenen zu simpel anhörte, um es glauben zu können. Zögernd suchte er nach den richtigen Worten -er schien bemüht zu sein, nur möglichst belanglose Details hinzuzufügen. »Wir wollten zu mir nach Hause gehen. Da sahen wir diese Jungs, die wir kannten. Sie sagten: >Unser Wagen springt nicht an<, und wir erklärten, wir würden ihnen helfen. Ich ... ich schob das Auto an, aber es ließ sich nicht starten. Dann waren sie stinksauer - ich meine, sie waren verärgert. Sie hat uns verfolgt, aber wir konnten sie abhängen.« Das soll also das Ende der Geschichte sein, dachte sie. Erzähl mir lieber eine andere Version. Das war kompletter Blödsinn. Was dachte der Junge eigentlich, mit wem er hier sprach? War seine
Mutter wirklich so einfältig, wie sie zu sein schien? »Oh? Und was ist mit Eddie geschehen?« »Eddie?« Das verunsicherte ihn. Er hatte einen wichtigen Punkt in der Handlung seines kleinen Melodramas vergessen. »Du weißt es also nicht.« »Nein.« Tommy gab sich so arrogant und unschuldig wie ein hervorragender Schüler, der dabei erwischt wurde, wie er ein Guckloch in die Umkleidekabinen der Mädchen bohrte. »Er ging nach Hause. Das dachte ich zumindest.« Die dünne Schicht, mit der Tommy versucht hatte, etwas zu übertünchen, begann abzubröckeln. Er verstrickte sich in Widersprüche, und das unbarmherzige Licht der Lampe über seinem Kopf zeigte die Schwachpunkte seines Versuchs, etwas zu vertuschen. »Ich dachte, er wollte sich mit dir treffen.« »Ja. Ich meine, das wollte er auch. Ursprünglich.« Der Junge der Oshidaris sah sich verzweifelt um und schien ausreißen zu wollen. In der Sitzecke nebenan legte ein magerer Siebzehnjähriger in einem zerknitterten T-Shirt seinen Arm um den Nacken eines Mädchens mit schwarz gefärbtem Haar, das seine Blässe bewußt zur Schau trug. Evies Blick hinderte Tommy daran aufzustehen. »Du hast gesagt >sie<.« »Wann?« Der magere Junge zündete sich mit einer Hand eine Zigarette an und ließ die andere mit der gleichen entschlossenen Berechnung auf die Brust des blassen Mädchens gleiten, wie das Kind, das neben der Tür den Greifarm des RattennestAutomaten bearbeitete. »Sie hat euch verfolgt. Wer ist sie?« »Das weiß ich nicht, Mrs. Markham.« »Ich glaube schon.« Evie spürte wieder eine nervöse Spannung, und das lag nicht nur an den Sirenen, dem Rauch oder den Flammen am Himmel. Diese ermüdende Befragung war ebenso
unerträglich wie das offenkundig laszive, passive Verhalten des Mädchens in der Sitzecke nebenan. »Wir wollen es kurz machen, okay? Welches Mädchen?« »Nun, ich kenne ihren Namen nicht ...« Ich auch nicht, dachte Evie. Ich habe sie nicht danach gefragt. »Wie sah sie aus?« »Nur wie irgendein Mädchen.« »Hatte sie lange Haare?« »Kurze.« Also hatte er sich entschieden, ihr die Wahrheit zu sagen. »Und sie trug ein langes Kleid«, fuhr Evie fort. »Früher bezeichnete man so etwas als Hänger. Dünnes Material mit einem einfachen, verschwommenen Muster. Und ihre Augen wirkten ...« Wie sollte sie das ausdrücken? »Tot.« Tommys Augen weiteten sich. Hinter den Brillengläsern wirkten sie kleiner, waren aber weit geöffnet, und ihr Blick war wachsam, furchtlos und intelligent. Frühreif. Wie Eddie. »Sie war nett«, erzählte er Evie. »Dann brach das Feuer aus. Also verschwand ich so schnell wie möglich. Eddie auch, nehme ich an. Ich habe nicht gesehen, in welche Richtung er gelaufen ist.« »Eddie fand sie also nett?« fragte sie. »Es war nicht so, wie Sie denken«, erwiderte er, wurde aber rot, und das verriet Evie mehr, als ihr lieb war. »Das war nur ein Spiel.« »Wo?« Sie drückte sein Handgelenk auf den Tisch, falls er auf den Gedanken kommen sollte, davonzulaufen. »O Scheiße«, entfuhr es ihr. »Du meinst das Pick-A-Part, nicht wahr? Mein Gott!« Tommy gab keine Antwort. Aber deshalb saß er wohl hier, wartete und beobachtete die Tür. Er hatte ebenfalls Zweifel, ob Eddie in Sicherheit war. Draußen erschütterte eine Explosion die Straße. Die Plat-
tenglasfenster bogen sich unter den Druckwellen nach innen und drohten zu zerbersten. Auf der anderen Straßenseite schoß eine Feuersäule in den Himmel, umgeben von einem Ring aus Rauchwolken, der immer weiter nach oben stieg. »Echt extrem«, sagte das Mädchen nebenan. Evie war bereits zur Tür hinausgelaufen. Das Feuer geriet jetzt außer Kontrolle und warf seinen grellen Schein auf die Überreste der Kette, die das Grundstück umzäunte. Schwarzer Rauch zog über den Himmel. Ein heißer Wind schlug ihr entgegen und trocknete ihre Haut aus. Sie rieb ihre Arme, um sie vor der Hitze zu schützen, und spürte, wie gekräuselte, verbrannte Haare abfielen und sich wie Eisenspäne an ihre Handflächen preßten. Tommy stand direkt neben ihr. Von anderen Stadtteilen kamen noch mehr Feuerwehrwagen, Sirenen wurden lauter und leiser. Irgendwo heulten Hunde wie wilde Kojoten. Türen wurden zugeschlagen, Menschen schrien auf. Autos prallten aufeinander, als der Verkehr überall plötzlich zum Erliegen kam. Es roch stark nach verbranntem Gummi, brodelndes Öl prasselte herunter. Die glühenden Partikel, die darin schwammen, ergossen sich über die Helme der Männer in den Segeltuchmänteln und der Polizisten, über deren Autos und über die schwarze Statue des Reggae Rat's, füllten deren Hände mit einer Ladung Asche und überzogen die Straße mit großen Flocken. Der Horizont erhellte sich blitzartig, als ob die Stadt, der Landkreis und die ganze Welt in Flammen aufgehen wollten. Auf der anderen Straßenseite wurden Schläuche aufgerollt, bis sie sich windend und zischend Wasser spuckten. Einige Männer liefen auf das Grundstück des Schrottplatzes, aber niemand kam heraus. Beim Anblick des Feuermeers, der Absperrungen an beiden Seiten des Boulevards und der riesigen, aufgerichteten Ratte auf dem erhöhten Wachturm dachte Evie unwillkürlich an ein Gefängnis oder ein Konzentrationslager mit grellen
Suchscheinwerfern, die eine Flucht unmöglich machten. Ihre Chancen waren wohl gleich Null. Die Feuerwehrleute und die Polizisten hatten sich an dem offenen Tor vor dem Inferno versammelt; im Augenblick beobachtete niemand die Straße. Evie entschloß sich, es zu versuchen. »Mrs. Markham, tun Sie das nicht!« Das war Tommy. Er sollte warten, dachte sie. Hier ist er sicher. Sie erreichte den gegenüberliegenden Bordstein und dann das Ende des Zauns; er führte im rechten Winkel zurück zum Boulevard und begrenzte die westliche Seite des Schrottplatzes. Auf dem Grundstück erwachten schlafende Motoren in dem Feuersturm, ein langer Lastwagen spuckte Flammen aus seinem Drachenmaul, Reifen zerschmolzen zu Lachen aus Magma, Schwaden verdunstenden Benzins wehten wie eine Fata Morgana aus Zellophan herüber. Evie rief den Namen ihres Sohns, doch wurde ihre Stimme von dem Tosen verschluckt. Als Evie den Zaun berührte, brannten ihr die glühenden Glieder das Muster einer Diamantenkette in die Hände, und sie roch verbranntes Fleisch. Hatte sich das Feuer schon bis zum anderen Ende des Grundstücks ausgebreitet? Oder kauerte Eddie dort in einer Luftblase und wartete auf eine Chance, herauszuklettern? Sie konnte nicht auf die andere Straßenseite. Funken hinterließen heiße Rauchspuren auf den Wegen; vor den darunterliegenden Häusern hatten bereits Ginsterbüsche und wildes Gras Feuer gefangen. Evie trat auf den Boulevard zurück. Die Gruppe der Polizisten und Feuerwehrmänner drängte sich am Tor zusammen. Auf dem Grundstück diente ein Gerätewagen als Operationsbasis. Alle Gesichter waren auf den Großbrand gerichtet. Würde sie jedoch versuchen, an ihnen vorbeizukommen, würden sie sie bestimmt entdecken und aufhalten.
Evie hörte laute Rufe hinter sich. An der westlichen Straßensperre kam es zu einem Tumult, dann durchbrach ein Ford Explorer die Blockade. Einige Polizisten sprangen zur Seite, als das Auto an der Frontseite eines Einsatzwagens vorbeischrammte und dann beschleunigte. Vor der Pizzeria trat Tommy vom Bürgersteig auf die Straße. Der Wagen machte einen Schlenker. »Hier!« schrie Tommy. Der Fahrer bremste so scharf ab, daß der Van mit dem Vorderteil nach unten ruckte und über den Asphalt scharrte. Tommy sprang auf den Beifahrersitz. Evie schwenkte ihre Arme: »Wartet!« Der Fahrer trug eine High-School-Jacke. Er packte das Lenkrad mit ausgestreckten Armen und drückte das Gaspedal durch. Der Wagen schoß vorwärts. Stiefel stampften auf dem Asphalt hinterher, und Evie glaubte, eine Waffe aufblitzen zu sehen, als einige der Polizisten losliefen, um das Auto einzuholen. Die Straße vor dem Schrottplatz wurde von einer ganzen Mannschaft blockiert. Tommys Bruder drückte auf die Hupe. »Überfahr sie nicht, Mike ...!« schrie Tommy. »Aus dem Weg, ihre blöden Arschlöcher!« Die Polizisten stoben auseinander, als der Van auf sie zu raste. Nur einer blieb stehen - der junge Cop, der Evie vor wenigen Minuten aufgehalten hatte. Er zog seine Waffe aus dem Halfter und hob sie mit beiden Händen hoch. Im letzten Moment riß der Fahrer das Lenkrad herum, fuhr so dicht an dem Cop vorbei, daß er ihn beinahe gestreift hätte, und beschleunigte noch mehr. Die Straßensperre in Remar war noch nicht ganz geschlossen. Die meisten Officer nahmen wieder ihre Position an den Blockaden ein, der junge Polizist jedoch ging in die Hocke, nahm die Stellung eines Schützen ein und stützte sein Hand-
gelenk auf das Knie. Evie sah das Mündungsfeuer, und dann platzte einer der Hinterreifen. Der Van geriet ins Schleudern und fuhr schwankend auf zwei Rädern weiter. Wären noch beide Hinterreifen intakt gewesen, hätte er sich wieder gefangen, aber eine der bloßen Felgen berührte den Asphalt. Funken sprühten, der Wagen kippte um und blieb auf der Straße liegen. Hatte Tommy es geschafft, rechtzeitig abzuspringen? Evie lief los, um ihm zu helfen. »Tommy ...!« Er stand mühsam auf und schleppte sich von dem Van weg. »Wo ist Mike?« Sie lehnte sich schwankend gegen den umgekippten Wagen. Dann ging sie um die rauchende Vorderseite herum und entdeckte den Fahrer. »Hier!« rief sie. Er lag ausgestreckt auf dem Boden neben dem offenen Fenster. Sein Gesicht ruhte auf den Armen - es sah aus, als würde er schlafen. Tommy zog an seiner Jacke und drehte ihn um. Mike setzte sich stöhnend auf. »Das war's ... Verdammt, du kleiner Scheißkerl! Mom will, daß du sofort nach Hause kommst. Jetzt gleich!« »Beweg ihn nicht«, sagte Evie. »Wer ist sie?« fragte Mike. »Eddies Mom.« »Ich hole einen Krankenwagen ...« »Er ist in Ordnung«, erklärte Tommy. »Gehen Sie nur. Ich werde mich um ihn kümmern.« Evie hörte, wie das Stampfen der Stiefel näher kam. Noch ein paar Sekunden, und sie würden hier sein. Sie würden sie alle festnehmen, und das konnte Stunden dauern. »Ich kann doch nicht einfach weggehen«, wandte sie ein. »Gehen Sie nur«, wiederholte Tommy. »Und was ist mit dir?«
»Ich muß bei meinem Bruder bleiben.« Er hat recht, dachte sie. Nur die Familie zählt, sonst niemand. Wir müssen zusammenbleiben. Eddie. Und Dan. Und ich. Wir haben nur uns. Das ist alles. In der Nähe des Vans befanden sich keine Polizisten - noch nicht. Im Norden, bei den Eisenbahnschienen, führte ein Pfad durch eine Senke und dann auf der anderen Seite wieder hinauf, zurück nach Remar, der Grundschule und den Straßen, die sie nach Hause führen würden. Sie erkannte, daß es vor morgen keine Möglichkeit mehr geben würde, herauszufinden, was mit ihrem Sohn geschehen war, wenn sie jetzt nicht sofort ging.
12. Kapitel Alles, was er jetzt wollte war, endlich schlafen zu können. Er zwängte seine Schultern durch das Fenster und wand sich hindurch, die Kamera fest an sich gedrückt. Das Kissen federte seinen Sprung ab. Die Laken fühlten sich kühl an, aber das würde nicht lange so bleiben. Die Luft in seinem Zimmer würde bald so heiß sein wie die Nacht dort draußen. Sie war ihm gefolgt. Eddie vergrub sein Gesicht im Kissen und verharrte so lange, bis er keine Luft mehr bekam. Dann rollte er sich auf den Rücken. Wo waren die Sterne an seiner Zimmerdecke, die im Dunkeln leuchteten? Als er noch ein Kind war, hatte er sie mit Hilfe einer Leiter und Unterstützung seines Vaters dort angeklebt. Sie stellten keine der Konstellationen aus einem Buch dar, sondern bildeten ein Muster, das nur er kannte. Für ihn waren sie ein Bezugspunkt, ein Anker, wenn er die Lampe ausknipste. Selbst wenn er sich auf den Bauch oder auf die Seite legte, wußte er, daß sie da waren und während der Nacht ihre Position nicht verändern würden. Jetzt schien der Himmel über ihm bedeckt - keine Sterne bestätigten ihm, daß er wirklich zu Hause war. Kam das daher, daß das Licht so lange nicht gebrannt hatte und die Leuchtfarbe neu aufgetragen werden mußte, oder lag der Ruß nicht nur draußen, sondern auch in seinem Zimmer in der Luft? Es war die Schuld seines Vaters. Die Plastikfolie war immer noch da und bedeckte alles - wie ein Baldachin mit einem Moskitonetz hing sie über seinem Bett. Dad hatte schon so viele Versprechen gegeben und sie dann nicht gehalten -nun kam wieder eines dazu. Eddie wollte jetzt nicht darüber nachdenken, sondern nur schlafen. Sie würden es gar nicht bemerken, daß er hier war, wenn sie nach Hause kamen. Um so besser. Er schloß die Augen und ließ sich treiben. Hinter seinen Augenlidern entstand eine Montage aus Bildern
und Farben. Decken. Ein Werkzeugkasten. Ein Rucksack. Ein Benzinkanister. Und in einem Schlafsack das Gesicht eines alten Säufers, so rot wie Hackfleisch. Die verschwommenen Züge verwandelten sich in Rauls Gesicht. Der Nachtwächter, nein, der Besitzer des PickA-Part war kalt und tot. Seine Augen fixierten die Sterne über dem Schrottplatz, die alle nach und nach immer blasser wurden, bis sie ganz verschwanden. Nur Rauch wehte am Himmel und färbte alles gelb. Und dann schimmerte über ihm dieses andere weiche und wunderschöne Gesicht. Er konnte ihr nicht entkommen. Egal, wohin er ging, sie war ihm dicht auf den Fersen und wurde dabei immer heller - wie die glühenden Autos um ihn herum. Sie folgte ihm bis nach Hause ... Jetzt hörte er die Schritte ihrer nackten Füße im Gang auf der anderen Seite seiner Zimmertür. Wie lange hatte er geschlafen? Eine Sekunde? Eine Minute? Er drehte sich auf die Seite. Die Tür buchtete sich aus und atmete. Oder? Durch den Luftstrom vom Fenster blähte sich die Plastikplane kurz auf und senkte sich dann wieder. Seine Tür war immer noch geschlossen, und im Gang war niemand. Seine Eltern waren nicht nach Hause gekommen. Er hätte sie gehört, wenn sie die Auffahrt heraufgefahren wären. Aber warum bewegte sich dann der Türknauf? Er drehte sich wie ein kleiner runder Planet, der in der Dunkelheit rotierte. Dann kam wieder ein Windstoß herein, fegte über Eddie hinweg, wirbelte durch den ganzen Raum und drückte gegen die Tür. Aber von der anderen Seite versuchte jemand, sie zu öffnen und gab nicht auf. Die Türangeln quietschten. »Was willst du von mir?« fragte er.
Der Wind legte sich, die Tür ging auf und eine dunkle Gestalt kam herein. »Bist du das?« Die Gestalt sprach mit der Stimme seines Vaters. »Ja.« Wann waren Mom und Dad nach Hause gekommen? Eddie rutschte rasch nach oben und drückte sich am Kopf des Betts wieder in die Kissen. »Laß mich allein.« Der Schatten glitt näher, setzte sich auf den Stuhl und dehnte die Membran aus Plastik zwischen ihnen bis zur Zerreißgrenze. Durch die gestraffte Plane und in dem glühenden Schein, der durch das Fenster fiel, traten die Augen der Plastikmodelle auf den Regalen hinter seinem Schreibtisch noch deutlicher hervor - nur die von Michael Myers nicht. In seiner Killermaske waren statt Augen nur leere Höhlen zu sehen. »Wo warst du?« »Mit Tommy zusammen, okay?« »Wo?« Eddie hörte die Anspannung und die unausgesprochene Anklage in der Stimme seines Vaters. »Das sagte ich doch - bei ihm zu Hause.« »Dort ist aber niemand.« »Woher weißt du das?« »Deine Mutter hat dort angerufen.« Natürlich, dachte Eddie. Sie spioniert mir nach. Falls sie sich tatsächlich die Mühe gemacht hat. »Wir sind eben weggegangen. Das habe ich doch gesagt.« »Nein, du hast gesagt, du warst bei Tommy gewesen.« »Wir haben einen Spaziergang gemacht.« Laß mich in Ruhe, dachte er. Bitte. »Hast du das Feuer gesehen?« Das war eine Fangfrage. Er weiß, wo ich war, dachte Eddie. »Ja. Und?« »Nun, was ist passiert?«
Jetzt beschuldigt er mich tatsächlich. Ich bin ein Feuerteufel. Soll ich jetzt etwa sagen: Wir haben mit Streichhölzern gespielt. Wir sind doch nur zwei kleine Jungs. Was erwartest du denn von mir? »Ich habe keine Ahnung, Dad. Und ich liege schon im Bett. Gute Nacht.« »Sprich mit mir.« Das Fenster war jetzt so hell, als wäre es bereits Morgen. Er hatte das Gefühl, schon lange nicht mehr geschlafen zu haben. Weil sein Vater ihn nicht schlafen ließ. »Ich will nicht reden.« »Aber ich, verdammt!« »Warum? Was kümmert es dich?« »Was hast du gesagt?« »Ich sagte: >Na und?< Ich kann selbst auf mich aufpassen.« Sein Vater stand auf und riß ein Loch in die Plane. Sein Gesicht war wutverzerrt. Draußen färbte sich das Licht rot, und eine heißer Windstoß, der Rauchgeruch mit sich brachte, fegte über sie hinweg. Die Luft wurde dunstig. Eddies Augen brannten. »Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht.« Sein Vater atmete mühsam und versuchte, ein Husten zu unterdrücken. »Mir geht's gut. Warum besorgt du dir nicht einen Drink?« Ein Faustschlag traf Eddie an der Seite seines Kopfs. Schockiert wich er in die Ecke zurück, um jederzeit aus dem Fenster klettern zu können. »Es tut mir leid«, sagte sein Vater, aber es war nicht ernst gemeint. »Ich hätte das nicht tun sollen. Es ist nicht deine Schuld - du weißt nichts darüber ... Hör mir zu. Deine Mutter war verrückt vor Sorgen ...« Du aber nicht, dachte Eddie. Sein Vater setzte sich aufs Bett. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll - ich bin mir nicht
mehr sicher, was real ist ...« Draußen heulten weitere Sirenen auf. Das rötliche Glühen jenseits des Zauns wurde immer intensiver, und der Luftstrom brachte Rauch und Aschepartikel ins Zimmer. »Ich weiß nichts über das Feuer, okay? Als ich es gesehen habe, bin ich nach Hause gegangen. Alles klar?« Sein Vater warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. »Ich habe nicht behauptet, du hättest es gelegt. Ich weiß, daß das nicht stimmt. Aber ich möchte wissen, wer es war. Weißt du das?« »Irgendein Mädchen.« »Welches Mädchen?« Er glaubt mir nicht. Ob er mich noch einmal schlagen wird? »Das weiß ich nicht. Ich habe sie dort gesehen ...« »Wo?« »Beim Pick-A-Part. Ich weiß nur, daß ...« »Wie sah sie aus?« »Sie sah nicht so aus wie ...« »Eine Haut so zart wie Butter, und Augen ... Augen, die ...« Der Rauch hatte sich immer weiter ausgebreitet und nahm in der Luft vom Boden bis zur Decke eine Form an, die so echt wirkte, als würde jetzt jemand auf halbem Weg zwischen dem Bett und der Tür hinter seinem Vater stehen. Und dann die Augen ... Eddie entdeckte ein Paar Augen in der Rauchwolke. »Meine Augen haben dir schon immer gefallen, nicht wahr, Danny?« fragte sie.
13. Kapitel »Was willst du von mir?« »Bist du das?« Er erkannte die Stimme - sie gehörte natürlich Eddie. »Ja.« Jetzt sah er die verschwommene Silhouette von Eddies Kopf. Gott schütze ihn, dachte Markham. Er wäre gern durch das Zimmer gegangen, hätte die Plastikplane weggezogen und seinen Sohn umarmt, aber das wäre ihnen beiden peinlich gewesen. Nun, zumindest war Eddie in Sicherheit. »Wo warst du?« fragte er freundlich. Warst du mit einem Mädchen zusammen? Bei diesem Gedanke mußte er grinsen. Und bist du dann so spät durch das Fenster gestiegen, damit es niemand bemerkt? Das ist nicht nötig. Du kannst es mir ruhig erzählen. Ich habe Verständnis dafür. Und wenn deine Mutter es nicht versteht, werde ich es ihr erklären. »Ich habe mich mit Tommy getroffen, okay?« Er geht in die Defensive. Na ja, das würde ich auch tun. Ich verhielt mich ebenfalls abwehrend, wenn ich etwas vor meinen Eltern verbergen wollte. »Wo?« fragte er weiter, um das Gespräch in Gang zu halten. Er wollte seinen Sohn wissen lassen, daß alles in Ordnung war. »Bei ihm zu Hause. Das sagte ich doch schon.« Komm schon, Eddie, mein Junge. Raus mit der Sprache. Ich werde die Wahrheit ganz bestimmt vertragen. »Bei Tommy ist niemand zu Hause.« Er lächelte verstohlen. Siehst du? Du kannst deinen alten Herrn nicht an der Nase herumführen. »Woher weißt du das?« »Deine Mutter hat dort angerufen.« Das war sicher verständlich, wenn man bedachte, wie spät es war. Daran hättest du denken sollen. Laß mich dir bei deiner Geschichte
helfen, damit du die Antworten parat hast, die sie hören will. Eddie beschloß, ihn weiterhin abzuwehren. »Ich sagte, wir sind weggegangen.« Er folgt schon meiner Logik. Das ist eine gute Vorbereitung für die Art von Fragen, die man dir ab jetzt viel öfter stellen wird. »Nein, du hast gesagt, du wärst im Haus deines Freundes gewesen.« »Wir haben eben einen Spaziergang gemacht!« Der Junge gab nicht nach. Es wurde Zeit, das Thema zu wechseln. »Hast du das Feuer gesehen?« »Ja. Und?« Das hatte keine Anschuldigung sein sollen. Meine Güte, sie mußte wirklich toll sein. »Nun, was ist passiert?« »Das weiß ich nicht, Dad. Ich liege schon im Bett. Gute Nacht.« »Willst du mit mir reden?« schlug er vor. »Nein, will ich nicht!« »Aber ich möchte mit dir reden.« Er hört sich an wie ich. Allerdings zeige ich mich so auch nicht von meiner besten Seite. Warum muß das immer so sein? »Verdammt«, sagte er zu sich selbst. »Warum? Was kümmert es dich?« Der Junge versuchte nur, unabhängig zu werden. Das war normal. Aber Markham wollte ihm in die Augen schauen und ihm zeigen, daß er verständlicherweise wirklich besorgt um ihn war. Eddie war intelligent. Er würde das in seinen Augen sehen können. »Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht ...« Dann sagte Eddie etwas Dummes über ein altes Problem, das es nicht mehr gab. Markham erinnerte sich nur noch daran, daß er daraufhin die Barriere zwischen ihnen einriß und seinem Sohn einen Schlag auf den Kopf versetzte. Sobald es geschehen war, tat es ihm leid. Er wölbte seine Hand
über den Kopf des Jungen, um dieser Geste die Schärfe zu nehmen, aber Eddie wich ihm aus. Im Augenblick mag er mich nicht besonders, dachte Markham. Es war nicht die Schuld des Jungen. Wie sollte er ihm alles erklären? Er wußte nicht, wo er beginnen sollte. Nach dem heurigen Tag war es schwer zu beurteilen, was real war. Einen Schritt nach dem anderen. Die Sirenen waren wirklich. Und das Mädchen, von dem Eddie ihm nichts erzählen wollte. Er versuchte, sie sich vorzustellen und war bestürzt. War das etwa das Bild, das Eddie vor sich sah? Es konnte nicht das gleiche sein. Das war unmöglich. Eddies Mädchen würde anders aussehen. Keine Haut so zart wie Butter, oder Augen, die ... »Meine Augen haben dir schon immer gefallen, nicht wahr, Danny?« sagte eine Stimme, die er nicht kannte. Es war nur eine Stimme in seinem Kopf. Aber wohin starrte Eddie? Auf irgend etwas hinter ihm, im Gang. »Wie ist sie hereingekommen?« murmelte er, sichtlich beunruhigt. »Dad ...?« Markham legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete Eddie, sich ruhig zu verhalten, und um Himmels willen zu bleiben, wo er sich befand, bis er herausfinden konnte, wie real sie war. Der Flur schien leer. Sie ist real. Sie ist nicht real. Wie auch immer - du mußt dich dem stellen. Was immer es auch sein mag. Hier endet es. Er ging zur Küche und knipste das Licht an. Die Hintertür stand einige Zentimeter weit offen - so wie er sie verlassen hatte. Die Gittertür ebenfalls. Also war sie hier hereingekommen.
Warum gerade durch die Hintertür? War sie schon einmal hier gewesen? Sie? überlegte er. Wer ist sie? Er konzentrierte sich auf die Einzelheiten vor ihm. Der Garten war durch das Feuer auf der anderen Seite der Stadt in Orange getaucht, und eine Rauchfahne zog über den Horizont wie der pinkfarbene, lila wollweiße Kondensstreifen einer Rakete, deren Start bei Sonnenaufgang abgebrochen worden war. Neben der Schüssel mit Milch, die er dem Kätzchen hingestellt hatte, hielt ein kleiner dunkler Gegenstand die Gittertür offen. Ein Rucksack. Eddies? Er hatte ihn noch nie gesehen. Neugierig hob er ihn am Riemen hoch, trug ihn in die Küche und wollte ihn gerade öffnen, als er irgendwo im Haus etwas hörte. Es klang wie Gelächter. Die Tür zum Zimmer seines Sohns war noch geschlossen. Wieder erklang spöttisches Lachen - es kam aus der Richtung, wo das Eßzimmer lag. Die Bücher und Videokassetten waren immer noch an ihrem Platz in den dunklen Regalen, und der Klumpen auf dem Tisch entpuppte sich als Obstschale. In der Ferne schrillten Sirenen. Die Vordertür am anderen Ende des Wohnzimmers war verschlossen. Wieder kicherte jemand, dieses Mal in der Nähe. Er betrat das große Schlafzimmer. Ich könnte das Licht anschalten, dachte er. Der Schalter ist hier an der Wand - direkt unter meiner Hand. Was werde ich sehen, wenn ich es tue? Er berührte den Schalter, spielte damit und streichelte ihn wie ein Stück warme Haut. Nach oben heißt an, nach unten heißt aus ... Dann wurde ihm die Entscheidung abgenommen, denn er sah ihre Augen. Im Licht der Flammen, das auf dieser Seite durch
das Haus zuckte, waren sie gelb. Solche Augen habe ich schon einmal gesehen - in einem Buchladen auf dem Campus. Sie wanderten über verschiedene Titel, bis sie am Rand der Abteilung für politische Wissenschaft hängenblieben, wo man Bücher wie Steal This Book, Soul on Ice, The Glass House Tapes und The Anarchist's Cookbook finden konnte. Sie zog ein Buch nach dem anderen heraus, prüfte alle kritisch und stellte sie dann wieder zurück, so als würde sie nach etwas suchen, das noch nicht geschrieben worden war. Er hielt lediglich Rilkes Briefe an einen jungen Dichter, eine kritische Ausgabe von Maughams The Summing Up sowie William Carlos Williams' Paterson in Taschenbuchausgabe in den Händen - mehr konnte er sich nicht leisten, und diese Bücher würden ihr wohl kaum weiterhelfen. Später sah er sie auf einem Treffen der RCP, an dem fast niemand teilnahm. Sie kam auf ihn zu und fragte ihn ganz offen, ob er ihr folge, weil er ein Cop sei. So begann alles. Fünf Tage danach packte sie alle ihre Sachen in den Wagen und zog zu ihm. In den folgenden vier Jahren waren sie unzertrennlich. Wenn sie nicht im Kino waren, lasen sie sich gegenseitig etwas vor, er aus The Essential Lenny Bruce oder Philip K. Dick oder eine von David Thompsons geschliffenen, ironischen Essays aus Film Comment; sie aus Fire in the Streets oder Fanon oder Camus, vor allem Resistance, Rebellion and Death - das mochte sie am liebsten. Als sie sich dann dem Kollektiv anschloß, wäre er beinahe mit ihr gegangen, brachte es aber dann doch nicht über sich. Sie stritten und weinten und versprachen sich, es würde nur für eine gewisse Zeitspanne sein. Er wollte ihr nicht im Weg stehen und ihre Freiheit beschneiden - sie würde ja wieder zurückkommen. Und dann ging sie. Als er sie in dem Lagerhaus besuchen wollte, fand er heraus, daß sie dort im zweiten Stock mit jemandem zusammenwohnte, und ging nie wieder dorthin.
Später glaubte er, sie einmal auf einer Demonstration vor einem Kino in Century City gesehen zu haben, in dem ein Film über den Vietnamkrieg gezeigt wurde, und dann noch einmal bei einem Pink Floyd-Konzert. Während der Lightshow tanzten ihre Augen von einem Laserstrahl zum nächsten, doch sie hatten sich damals schon verändert. Das helle Braun war nun mit gelben Streifen durchzogen, jetzt, wo ihre Augen nicht mehr hinter ihren langen Haaren verborgen waren, wirkten sie viel starrer. Dann erschienen in den Zeitungen Artikel über die CSR und deren Ausräucherung, über Napalm und einen Panzer von der Art, wie er in Vietnam eingesetzt und durch einen Sturmbock verändert worden war. Schließlich trat Evie in Erscheinung. Aber es hatte nie einen klaren Bruch zwischen ihm und Jude gegeben, und, wie der Phantomschmerz eines amputierten Glieds, blieb die Erinnerung an sie bestehen. Erst als Eddie geboren wurde, war es endgültig vorbei ... Das hatte er zumindest geglaubt. »Jude?« flüsterte er kaum hörbar. Die Laken raschelten, und eine Gestalt mit langen Beinen wurde auf dem Bett sichtbar - in dem gelben Licht so weiß wie Ektoplasma. »Ich habe dir versprochen zurückzukommen ...« »Aber wie ...?« »Du hast doch die Geschichte von dem Feuer nicht geglaubt, oder?« Sie schien sich von dem Bett zu erheben, oder setzte sie sich nur auf? Dann kicherte sie, kindlicher und mädchenhafter, als er sie in Erinnerung hatte. Jetzt erkannte er, was an ihrem Gelächter so seltsam klang - es war humorlos. »Aber die Leiche ...« »Nur irgendein Mädchen. Eine Ausreißerin. Die Fingerabdrücke auf der Waffe stammten von ihr. Alles andere ist verbrannt.« Eine Geisel? Davon hatte er nichts gewußt. Niemand hatte eine
Ahnung davon gehabt. Er betrat das Zimmer und näherte sich ihr. »Was willst du?« »Nur das, was mir gehört.« Aber hier gab es keinen Platz für sie. Seine innere Leere war verschwunden, die Wunden geheilt worden. Ihren Platz hatten andere Wesen eingenommen, lebendige Wesen, die ihn wieder gesund gemacht hatten. Jeder Versuch, das zu ersetzen, was er jetzt besaß, käme einer Invasion von etwas Außerirdischem gleich - einem Krebsgeschwür, das man herausschneiden mußte. »Ich habe jetzt eine Familie.« Sie kniete sich auf das Bett, und er sah, daß sie nackt war. »Ich nicht«, erwiderte sie. »Ich habe nichts. Und ich habe sehr lange gewartet ... Du schuldest mir etwas, Danny.« Wo hast du dich versteckt? überlegte er. Oben in den Bergen? In einer Höhle? Oder unter falschem Namen hier in der Stadt? Und jetzt trittst du wieder in mein Leben. Als ob du das einfach so tun könntest. »Das war vor vielen Jahren«, sagte er. »Jetzt ist alles anders.« »In deinen Briefen klang das aber nicht so.« »Welche Briefe?« »Die du mir geschrieben hast, nachdem du weggegangen bist.« »Nachdem ich weggegangen bin?« »Sie sind alles, was ich habe«, fuhr sie fort. »Und dein Bild. Du hast dich verändert, Danny.« Natürlich, dachte er. Aber du hast dich nicht verändert. Deine Augen, dein Gesicht, deine Figur ... wie früher. Genau so. Er betrachtete sie in dem gelben Lichtschein und wußte, daß sie nicht war, was sie zu sein schien. Unmöglich! »Wer bist du?« »Ich bin das Feuer in deinem Herzen. Das Feuer, das niemals verlöscht!« Wenn es nun wahr war? Wärst du zurückgekommen, bevor ich
Evie begegnet bin, wäre mein Leben dann ganz anders verlaufen? Hätten wir auf der Flucht gelebt, uns ständig versteckt wie Schattengestalten? Wären wir so geblieben, wie wir waren, während sich alles um uns herum veränderte? Was für ein Leben wäre das gewesen? Mit dir, die du töten konntest als wäre das dein Geburtsrecht, die ein unschuldiges Mädchen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und seine Finger um eine Automatik gelegt hat, die dir gehörte, bevor du geflüchtet bist. Wozu? Du hättest überall deine Spuren hinterlassen. Ein Bankraub hier, eine Prügelei da, ein Mord, wenn er zum Überleben nötig war ... Hätte das die Welt verändert? Wäre sie besser geworden? Tatsächlich? Woher willst du das wissen? Und du? Was wäre aus dir geworden? Das Leben auf der Flucht hätte dich verändert. Glaubst du, du wärst dabei so schön geblieben? Wärst du nicht anders geworden - so, daß du dich selbst nicht mehr im Spiegel erkannt hättest? Nein, dachte er. Das ist nicht möglich. »Ich habe dich etwas gefragt. Wer bist du?« »Erinnerst du dich nicht, mein Liebling?« »Du warst ein Mädchen, von dem ich glaubte, es zu kennen. Aber das stimmt nicht.« »Du irrst dich. Ich bin mehr als das. Mehr, als du weißt.« Sie legte sich im Halbdunkel wieder auf das Bett. »Und jetzt bin ich nach Hause gekommen, Danny, an den Ort, wo ich hingehöre ...« »Würdest du dafür töten? Für das, was deiner Meinung nach dir gehört?« »Würdest du das nicht?« »Nein, aber du hast es getan, nicht wahr? Es geschah erst vor ein paar Stunden. Ihr Name war Katie. Sie war auch ein junges Mädchen. Du dachtest, sie würde dir im Weg stehen.« »Das war ich nicht.« »Lügnerin«, sagte er.
»Ich war den ganzen Tag ständig in deiner Nähe und habe gewartet ...« »Lügnerin!« Er durchquerte den Raum und packte sie. Ihre Haut fühlte sich so kühl, so glatt und viel jünger an als seine oder Evies. »Lügnerin!« Sie legte ihre Arme um seinen Nacken und zog ihn zu sich herunter. Die Haut besitzt eine gewisse chemische Zusammensetzung. Sie liegt in den Poren, in dem Gewebe unterhalb der Poren und in den Molekülen, durch die sich jeder Körper von allen anderen unterscheidet - mit Ausnahmen von denen, die einen gemeinsamen Ursprung haben. Ein Fluß kann noch so lang und breit sein und sich in kleinere Bäche verzweigen - das Wasser riecht überall gleich und schmeckt ebenso süß, unabhängig davon, wo die Ströme es hintragen ... Er kannte Evies Geruch, den Duft ihrer Haut, und, obwohl er ihn liebte, war er doch anders als sein eigener. Sein Sohn hatte jedoch den Geruch seines Vaters - trotz der vielen Jahre, in denen er sich schmutzig gemacht, geschwitzt und gebadet hatte. Sein Duft war zwar abgeschwächt, aber Markham würde ihn jederzeit erkennen, so wie er auch den Geschmack seines eigenes Bluts erkannte, wenn er sich an einem Papier geschnitten hatte, oder den Geruch seiner Hemden im Schrank. Er hatte ihn wahrgenommen, als er Eddie in seinem Kinderbett geküßt hatte, und auch später, als der Junge zwischen ihnen in dem großen Bett geschlafen hatte. Judes Duft hatte er vergessen - bis jetzt. Die Lippen, die sich unter seinen öffneten, schmeckten nach Rauch und Kupfer und nach noch irgend etwas, das ihm vertraut war - ein Echo des Originals in der nächsten Generation. Er kannte diesen Geruch beinahe so gut wie den von Eddies Haut. Und das konnte nicht möglich sein. Er kannte sie.
Aber er kannte sie nicht. Es war unmöglich, daß beides zutraf. »Ich würde dich niemals anlügen«, sagte sie und drückte ihn an sich. »Ich bin deine einzige ... deine einzige ...« Er schob sie von sich. »Meine was?« »Deine Geliebte.« Er versetzte ihr eine Ohrfeige. »Dein kleines Mädchen.« Er schlug noch einmal zu. »Erkennst du mich denn nicht?« fragte sie. Die Schläge schien sie gar nicht gespürt zu haben. Er wich vom Bett zurück. »Wie heißt du? Sag es mir!« forderte er. »Meine Mutter nannte mich Susan. Sie sagte, das würde dir gefallen.« »Sie war nicht schwanger«, sagte er, betroffen von der gewichtigen Bedeutung ihrer Worte. »Das hätte ich gewußt.« Sie kicherte wieder mechanisch. »Bist du sicher?« »Wo ist sie? Wo ist deine Mutter?« »Sie ist gestorben. Ich habe dann ihre Leiche verbrannt. Nachdem ich alles gelernt hatte - alles, was sie wußte. Vor allem über dich. Ich mußte stark werden, um bereit zu sein. Nun, jetzt bin ich bereit ...« Sein Leben, das Gebilde, das er mit so viel Sorgfalt errichtet hatte, und auf das er die letzten Jahre gebaut hatte, brach über ihm zusammen und zerfiel in Einzelteile, die vom Wind verweht werden würden. Er brauchte Zeit, um diese neue Wirklichkeit zu begreifen, aber ihm war klar, daß er diese Zeit nicht mehr hatte. »Ich gebe dir ein paar Minuten, bevor ich die Polizei rufe«, erklärte er. »Das ist alles, was ich tun kann. Vielleicht schaffst du es.« Aber sei auf der Hut vor einem Kerl namens Lennie, fügte er in Gedanken hinzu. Ihm ist es egal, wer du bist.
»Ich muß mich nicht mehr verstecken«, erwiderte sie. »Wir können jetzt eine richtige Familie sein. Und es gibt noch andere ... Sie warten auch. Wir werden beenden, was sie begonnen hat ...« Ihre Stimme war flach und ausdruckslos - die Parodie eines kalifornischen Mädchens. Sie sprach, als lese sie ein Rezept oder einen Abschnitt aus TV Guide vor. Sie wollte etwas und handelte danach. Letzten Endes kam nichts anderes in Frage. Wie Jude. »Verschwinde«, sagte er. »Was? Du kannst doch nicht einfach ...« »Nein?« Wenn du dich weigerst, versohle ich dir den Hintern, bis das rohe Fleisch herausschaut, Kleine, dachte er. Und zwar mit meinen Händen - mit diesen Händen hier. So wie deine Mutter es hätte tun sollen. Aber deine verrückte Mutter hat es nicht getan, und nun erfährst du zum ersten Mal in deinem Leben, wie es ist, wenn man die Suppe auslöffeln muß, die man sich eingebrockt hat. Verstehst du das? Wir werden ja sehen. Er stürzte sich quer über das Bett auf sie. »Hör gut zu, du kleines Miststück!« »Was tust du da?« Ohne zurückzuzucken setzte sie beide Beine fest auf den Boden. »Du kannst mir nicht weh tun! Ich bin deine ...« Er schlug sie auf den Mund. Blut quoll hervor. Sie berührte ihre Lippen, betrachtete ihre Finger und richtete dann ihren Blick auf ihn. »Du hast mich verletzt«, sagte sie erstaunt. Er spürte Zorn in sich aufsteigen. Sein Puls raste, und sein Nacken und seine Kopfhaut prickelten. Er packte sie am Handgelenk und schleuderte sie quer durch das Zimmer, aber sie war groß und stark - es gelang ihr, auf den Füßen zu bleiben. Sie legte den Kopf zur Seite.
»Warum?« »Raus!« »Wohin? Hier ist mein Zuhause.« Er glaubte, zu hören, wie die Vordertür geöffnet wurde. »Zuhause?« fragte Evie und näherte sich ihr von hinten. »Wessen Zuhause? Verschwinde aus meinem Schlafzimmer!« Evie holte so weit aus, wie sie konnte, und schlug dem Mädchen mit der Faust in den Rücken. Das Mädchen stolperte, straffte die Schultern und drehte sich um. Sie öffnete eine Hand und schloß ihre Finger um Evies Kehle. Evie wehrte sich nicht, sondern verlagerte geistesgegenwärtig ihr Gewicht nach vorne, so daß das Mädchen gezwungen war, zurückzuweichen. Sie stürzten auf das Bett. Evie lag oben und zog das Mädchen so lange an den Haaren, bis es seine Hand öffnete. Sie ließ das Haar nicht los, zog und schob und schlug dann den Kopf des Mädchens gegen das obere Brett des Betts. Plötzlich hatte das Mädchen ein Messer in der Hand. »Laß es fallen!« Markham half Evie, den Arm des Mädchens nach hinten zu drehen. Mit der freien Hand stieß es Evie die Finger in die Augen. Evie ließ los, aber Markham schlug das Handgelenk des anderen Arms so lange gegen das Kopfbrett, bis das Mädchen das Messer losließ. Evie stürzte sich wieder auf sie, doch das Messer tauchte plötzlich in der anderen Hand auf. Die lange, scharf geschliffene Klinge sauste durch die Luft und hinterließ eine Schnittwunde in Evies Bauch. Bevor das Messer sie noch einmal treffen konnte, wurde Markham plötzlich so ruhig wie Schilfgras im Auge eines Wirbelsturms. Er sah alles so klar und deutlich, als würde es sich in Zeitlupe abspielen: Evies Körper im Vergleich zu dem des Mädchens, die Handgelenke und Arme, den Winkel ihrer
Ellbogen und die Haltung ihrer Gesichter. Beide waren Kobra und Mungo zugleich. Er drängte sich zwischen sie - er war sicher, daß das Mädchen ihn nicht umbringen würde. Und tätsächlich erstarrte die Hand auf halber Höhe, und die Klinge hing so schlaff herunter wie an einem Gummimesser. Ohne mit der Wimper zu zucken, sah sie ihn mit ihren gelben Augen forschend an und registrierte sein Kopfschütteln. Nein. Einen Augenblick lang bewegte er sich nicht von der Stelle, um die beiden voreinander zu schützen. Das Licht des Feuers fiel von draußen herein. Ohne seinen Kopf zu drehen, wußte Markham, daß Evie aus dem Bett kletterte - er konnte von den kupferfarbenen Scheiben in den irren Augen seiner Tochter jede Bewegung ablesen. Das Mädchen, das sich Susan nannte, bewegte sich nach rechts, er nach links, wie in einem perfekten Tanz. Wer führte und wer folgte? Die Synchronisation war so ausgezeichnet, daß er zum ersten Mal die Bedeutung des Worts >simultan< wirklich verstand - ein Begriff, der sich nicht in Worte kleiden ließ. Er verleibte ihn sich ein, und seine Koordination war präziser als je zuvor. Seine Frau war inzwischen vom Bett geklettert, er ebenfalls. Das Mädchen ging auf sie zu, und wieder schob er sich dazwischen, um das Messer abzuwehren. Er bekam das Gefühl, ewig so weitermachen zu können und so das Gleichgewicht zwischen ihnen halten zu können. Doch plötzlich verlor er die Kontrolle über seinen linken Arm. Er hing steif und geschwollen herab und zerrte an seinem Schultergelenk, bis Markham zwischen Kinn und Schlüsselbein einen scharfen Schmerz verspürte. Seine Nackenmuskel waren zum Zerreißen gespannt. Er versuchte, den linken Arm mit seiner rechten Hand anzuheben, um den Druck abzuschwächen. Zu spät - der Schmerz wurde immer stechender und drückte seinen Brustkorb zusammen. Sein Blick verschleierte sich, die
Füße verloren den Kontakt zum Boden. Er fiel nach vorne - ein ungeplanter Körperschlag, mit dem das Mädchen nicht gerechnet hatte. Sie taumelte seitwärts und stieß gegen das Fenster. Dann gingen die gelben Lichter aus, und Markham konnte nur noch das Rauschen seines eigenen Blutes hören, das in seinen Ohren so laut klang wie explodierendes Glas. Als er wieder zu sich kam, war das Licht grellweiß, und er lag zitternd auf dem Boden. »Daddy?« Eddies Stimme. So hat er mich seit der dritten Klasse nicht mehr genannt, dachte Markham. Er hob den Kopf und sah nach oben. Sein Sohn beugte sich über ihn, packte ihn unter den Armen und versuchte, ihn hochzuziehen. Er konnte nur mit Mühe sprechen. »Wo ...?« Es war so kalt, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. War das Fenster zerbrochen? Eddie mußte das auch fühlen, denn er richtete seinen Blick auf die fehlenden Scheiben. Oder lauschte er den Tieren, die sich in den Büschen neben dem Haus bekämpften? Irgendwie gelang es Markham, allein aufzustehen. »Wo sind sie?« »Komm, Dad, leg dich hin.« Eddies Lippen zitterten. »Bitte ...!« In dem hellen Licht untersuchte er seine Hände und Arme und fuhr sich über die Brust. Sie hatte ihn nicht verletzt. »Ich bin in Ordnung. Es ist nur mein ...« Mein Herz, dachte er. Ausgerechnet jetzt. »Meine Tabletten. Ich brauche meine Tabletten.« »Wo sind sie?« »In der Küche«, log er. Er mußte unbedingt aus dem Haus kommen. »Hilf mir ...« Das Kribbeln in seinen Beinen zwang ihn dazu, langsam zu gehen.
Von der Küche aus konnte er draußen nichts bemerken. Es war still, nur in der Ferne dröhnten noch die Motoren. Das Feuer mußte inzwischen beinahe gelöscht sein - der Horizont jenseits des Zauns hatte sich schon fast wieder schwarz gefärbt. Dann hörte er ein leises Stöhnen. Er wankte um den Rucksack herum auf die Veranda hinaus. Er sah ein strampelndes Bein und hörte wieder ein Stöhnen. Die beiden Frauen mußten durch das Schlafzimmerfenster gefallen sein und setzten jetzt ihren Kampf im Garten fort. Welcher Teil dieses menschlichen Knäuels war Evie? Er schaltete die Außenbeleuchtung an. Die jüngere lag oben. Ihr Körper war schmutzig und mit Kratzern übersät. Anscheinend war sie aus dem Fenster gezogen und an diese Seite des Hauses geschleift worden. Markham sah, daß Holzstückchen und Sägespäne an ihren kleinen Brüsten klebten. Das bedeutete, daß ihr Gesicht dem Himmel zugewandt war. Evie lag unter ihr. Sie hatte das Verlängerungskabel des Häckslers um den Hals des Mädchens geschlungen und zog mit weißen Fingern daran. Die Lippen hatte sie so weit zurückgezogen, daß man ihre Zähne sehen konnte. Er mußte sie aufhalten, brachte aber keinen Ton hervor. Seine Kehle war trocken, seine Zunge so dick wie Leder. Das Mädchen wölbte den Rücken und versuchte, in die Brücke zu gehen. Evie hielt sie immer noch fest, aber das Kabel glitt ihr durch die Finger. Markham ging langsam die Terrassenstufen hinunter, um zu verhindern, daß sich das Band um seine Brust noch enger zusammenzog. Wenn er einen Schritt nach dem anderen machte, könnte er es schaffen. Er bewegte sich wie ein lebender Toter, aber nur ein wenig schneller, und er würde sein Ziel nie erreichen. Es gelang ihm, mit der heilen Hand die Kettensäge aufzuheben.
Allerdings gab es keine Möglichkeit, die Schnur zu ziehen und den Motor zu starten. Außerdem war der Tank leer. Vor wenigen Stunden hatte er alles verbraucht, bis der Motor nur noch geraucht hatte. „Selbst wenn es ihm gelänge, ihn zum Laufen zu bringen, was würde er dann tun? Die beiden auseinandersägen? Er brauchte Hilfe. Wo war Eddie? Das Mädchen befreite sich, richtete sich auf und wandte ihm ihr Gesicht zu. Sie hielt jetzt kein Messer mehr in der Hand. Fragend richtete sie ihren starren Blick auf ihn. Dann neigte sie den Kopf zur Seite. »Töte sie«, befahl sie ihm. Ohne sie zu beachten, ließ er sich neben Evie auf den Boden fallen. Der Schnitt, der sich über ihren Bauch zog, ging nicht tief, aber sie hatte weitere Wunden, und ihre Wangen bluteten. Sie konnte nur mit Mühe aufstehen - anscheinend war ihr Rückgrat verletzt. Er tat sein Bestes, aber das war nicht genug. »Also gut«, sagte das Mädchen. »Dann werde ich es tun.« Sie nahm ihm die Kettensäge aus der Hand und zog dreimal an der Schnur. Als der Motor nicht ansprang, sah sie sich um und entdeckte den Benzinkanister neben der Garage. Sie legte die Kettensäge neben den Häcksler, schraubte den Verschluß des Kanisters auf, kam zurück und schüttete den Inhalt über Evie aus. Die ätzenden Dämpfe machten Markham schwindlig. Er kniff seine Augen zusammen und griff blindlings in den Strahl. Evie schrie laut auf, als das Benzin in ihre Wunden floß. Die Flüssigkeit lief wie heißes Öl durch seine Finger. Die Dämpfe füllten seine Lungen, und das Band um seine Brust zog sich weiter zusammen. Das Mädchen trat mit dem nackten Fuß nach ihm und rollte ihn
beiseite. Endlich konnte er seine Augen wieder öffnen. Eddie stand auf der Veranda. Er hatte den Rucksack in der Hand, griff hinein und holte eine Pistole heraus. Die Mündung schwankte zwischen dem Mädchen und Evie hin und her, während er versuchte zu zielen. »Wenn sie nicht entsichert ist, geht sie nicht los«, erklärte das Mädchen nüchtern. Sie ließ den Kanister los und trat einige Schritte zurück. Der Kanister fiel in das Loch, das Markham gegraben hatte, und sie blieb direkt am Rand stehen. Markham kroch Zentimeter für Zentimeter auf sie zu, ohne ihre Fußknöchel aus den Augen zu lassen. Nur ein Stoß, und sie würde in die Dunkelheit stürzen ... Dann ging sie vorwärts, entfernte sich von dem Loch und starrte an Eddie vorbei in die hell erleuchtete Küche hinter ihm. »Hast du ein Streichholz?« fragte sie.
Epilog »Warum stehst du denn auf der Veranda?« In der Dunkelheit klang ihre Stimme gedämpft, aber dennoch klar. Markham zog die Knie an, schob sich nach oben, und konzentrierte sich auf den Lichtkegel vor ihm. »Das ist ein schlechter Zeitpunkt«, erwiderte die andere Stimme. »Nein, nein. Du gehörst doch zur Familie!« »Na ja ...« »Zumindest beinahe. Was ist das denn?« »Ich dachte, er könne es vielleicht brauchen. Für das Schlafzimmer.« »Oh, Lennie, das wäre doch nicht nötig gewesen! Komm rein ...« Die Sperrholzbretter klapperten im Nachhall der Schritte. Dann wurde die Schlafzimmertür geöffnet. »Hallo, Kumpel«, sagte Len. »Selber hallo.« Markharn zog das Schreibbrett aus dem Lichtkegel auf seinem Schoß. »Was hast du da?« Len trug einen kleinen, sperrigen Gegenstand in das Zimmer. »Nur meinen alten Fernseher. Damit du dir ein paar Filme ansehen kannst.« »Danke, Kumpel.« »Por nada. Wohin willst du ihn haben?« Evie stand nachdenklich hinter Len. Ihre Figur zeichnete sich an der offenen Tür verschwommen ab. Dann kam sie herein und brachte einen Schimmer des Tageslichts mit sich, das den Rest des Hauses erhellte. Sie begann, die Kommode abzuräumen. »Zuerst einmal hierher«, sagte sie. »Wo ist unser alter TVStänder?« »In der Garage«, antwortete Markham. »Er ist rostig, aber noch funktionstüchtig.«
»Ich werde ihn holen ... Lennie, setz dich doch.« Sie klopfte mit der Hand auf das Fußende des Betts. »Wie wäre es mit einem Imbiß? Ich wollte gerade etwas für Dan machen.« »Danke, aber ich kann nicht bleiben.« Sie beugte sich vor und küßte Markham auf die Stirn. »Was möchtest du haben, Liebling? Suppe oder ein Sandwich?« »Später.« Markham legte seinen Kopf zurück und berührte ihre Lippen mit seinem Mund. »Geh nur, wenn du möchtest. Ich bin nicht sehr hungrig.« Sie nickte, stand auf und trat von dem Schein der Lampe mit dem Schwingarm zurück ins Halbdunkel. Hinter ihr fiel ein dünner Lichtstrahl von draußen durch das verdeckte Schlafzimmerfenster herein wie ein blasser Blitz, der einige Zentimeter über ihrem Kopf zuckte und dann von ihrer Silhouette verschluckt wurde. Sie blieb stehen, drehte sich spontan um und umarmte Len. »Wofür war das?« erkundigte sich Len. »Muß ich dafür einen Grund haben?« Sie wandte sich an Markham. »Wenn du mich brauchst, dann pfeif einfach.« »Mach ich.« »Sie sieht großartig aus«, meinte Len, als sie gegangen war. »Wie die Bacall. The Big Sleep.« »To Have and Have Not«, sagte Markham. »Sie ist großartig sie hat sich um alles gekümmert.« Lennie entdeckte den Rollstuhl, der zusammengeklappt an der Schranktür lehnte. »Kann ich den ausprobieren? Ich habe noch nie in einem solchen Ding gesessen.« »Nur zu. Viel Spaß damit.« Lennie zog die Seitenlehnen auseinander, setzte sich in den Rollstuhl und rollte vor und zurück. »Marion Brando«, sagte er. »The Men.« »Und Bedtime Story. Mit David Niven.« »Das hätte ich auch gewußt.« Len probierte immer noch
sein neues Spielzeug aus. »Du brauchst das Ding doch nicht, oder?« »Du mußt einen Rollstuhl benützen, wenn du das Krankenhaus verläßt. Evie wollte ihn mieten.« Markham rückte sein Kopfkissen zurecht. »Sind Katies Eltern schon in der Stadt?« »Ja, im Day's Inn. Die Beerdigung findet morgen statt. « »Ich werde dort sein.« »Bist du sicher? Jeannie und ich holen sie ab. Wir können hier vorbeikommen.« »Ich bin sicher. Wir werden uns dort treffen.« Lennie stieß sich vom Boden ab und drehte sich im Kreis. »Das gefällt mir. Hell's Angels on Wheels.« »Fahr nicht in die Nähe des Fensters. Es könnten noch Splitter auf dem Teppich liegen.« »Hat sie sich so die Schnittwunden geholt?« Markham nickte. »Es war nicht so schlimm. Sie wollte nicht einmal zum Arzt gehen.« »Angst davor, genäht zu werden?« »Ich glaube nicht, daß sie sich jetzt noch vor irgend etwas fürchtet.« Von der ein paar Blocks entfernten Grundschule drang Kinderlachen durch die Ritzen der Spanplatten. »Hat sie das allein gemacht?« Len deutete auf das mit Holz verkleidete Fenster. »Allerdings. Sie hat alles ausgemessen, zugeschnitten und vernagelt - und sie wollte mich ihr nicht helfen lassen. Morgen kommt der Glaser.« »Das wird einiges kosten.« »Ja, ich weiß. Ich könnte es selbst reparieren, aber sie läßt mich nicht.« Markham lehnte das Schreibbrett gegen seine Knie und stellte die Lampe so ein, daß der Lichtschein direkt auf das weiße Papier fiel. »Es war meine Schuld. Eine blöde
Sache. Ich muß das Fenster eingeschlagen haben, als ich zusammengeklappt bin.« »Erinnerst du dich nicht mehr daran?« »Nur teilweise. Ich lag auf dem Boden, dann verlor ich das Bewußtsein. Ich habe keine Ahnung, wie ich in den Vordergarten gekommen bin. Sie sagen, ich lag auf dem Rasen, als der Krankenwagen kam. Vielleicht hat sie mich dorthin getragen. Sie will nicht darüber reden.« »Wozu auch? Du hast Glück«, erklärte Len. »Es ist doch besser, wenn man sich an eine derart beschissene Situation nicht mehr erinnern kann, richtig?« »Richtig.« »Na also. Brauchst du irgend etwas?« »Ich bin kein Invalide, Len. Es war ein Infarkt des Herzmuskels. Ich muß mich nur eine Weile schonen, kann aber jederzeit in den Laden kommen.« »Ich denke, wir sollten ihn noch für einige Tage geschlossen lassen.« Markham nickte. Dann fragte er: »Ist die Waffe noch da?« »Die Achtunddreißiger? In der Schublade. Willst du sie haben?« »Nein, ich wollte es nur wissen.« Len warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Sie werden sie schnappen.« »Ich weiß.« »Das mysteriöse Mädchen. Wenn sie versucht, ihr nächstes Ding zu drehen, werden sie sie kriegen. Sie haben den Laden nach Fingerabdrücken abgesucht. Und den Bücherschrank ebenfalls, um eventuell eine Übereinstimmung zu finden. Jetzt lassen sie alles durch den Computer laufen und warten, was sich ergibt.« »Falls sie ihre Fingerabdrücke gespeichert haben.« »Sie haben von jedem Fingerabdrücke. Selbst wenn sie nie
festgenommen wurde, sind ihre Abdrücke auf der Geburtsurkunde.« »Vielleicht besitzt sie keine Geburtsurkunde.« Len lachte. »Du hörst dich schon an wie ich.« Die Sonne Kaliforniens stieg höher und brannte gnadenlos auf das alte Haus herunter. Das Licht, das die Konturen der Spanplatten hervorhob, wurde heller und stärker. »Tatsächlich?« »Schreib es auf und schick es an Molher Jones. Die Agenten des Chaos. >Unsichtbare Terroristen mitten unter uns ...<« »Das überlasse ich dir.« In der Schule schrillte die Alarmglocke. Markham zuckte zusammen und fuhr mit seinem Stift unkontrolliert quer über das Blatt. Er versuchte es noch einmal. »Ich arbeite an etwas anderem.« »Woran?« »Ich dachte, ich versuche es mit einem Gedicht.« »Ja?« »Es ist schon eine Weile her.« »Allerdings.« Len grinste. »Ich sagte, ich werde es versuchen. Es geht um ein Gedicht, das ich vor langer Zeit begonnen habe. Ich möchte einige Veränderungen vornehmen, aber irgendwie gelingt mir das nicht so recht.« »Du wirst es schon schaffen. Nur nicht locker lassen. Ich habe dir ein paar Filme mitgebracht, die du dir ansehen kannst, wenn du fertig bist.« »Ach ja?« »Das Band ist im Videorecorder. Es ist die Sammelausgabe, die ich für Jean gekauft habe. Ich habe ihr inzwischen eine bessere besorgt, aber die sieht sie sich auch nicht an.« »Welche Filme?« »Gute Oldies. Hohe Lichtempfindlichkeit, aber man kann sie sich ansehen. Du wirst schon sehen.«
»Danke.« Zum zweiten Mal ertönte die Glocke in der Schule, um die Spielgruppe zum Mittagessen zu rufen. Dieses Mal war Markham darauf vorbereitet. Er zuckte nicht mehr zusammen und hielt seinen Kugelschreiber fest in der Hand. »Ein Glück, daß sich das Feuer nicht bis zur Schule ausgebreitet hat«, meinte Len. »Sie konnten es rechtzeitig löschen. Ich glaube, die Einsatzwagen kamen sogar bis von Northridge hierher.« »Wie in einem Kriegsgebiet. Wie viele Tote?« »Nur einer. Sie glauben, es war der Kerl, dem das Pick-APart gehörte.« »Wissen sie es denn nicht genau?« »Er ist verbrannt. Nicht einmal seine Finger sind übriggeblieben.« »Dann können sie sich an seinem Gebiß orientieren.« Markham starrte auf das Blatt Papier, das vor ihm lag, und klopfte mit dem Stift gegen seine Zähne. »Wie machen sie das, Len?« fragte er. »Weißt du das?« »Ich nehme an, sie überprüfen die Unterlagen aller Zahnärzte.« »Und wenn es keine Unterlagen gibt?« »Dann haben sie Pech gehabt.« Lens Gesicht verzog sich zu einem ironischen Grinsen. »Es könnte Jimmy Hoffa sein. Sie haben seine Leiche all die Jahre aufbewahrt, dann das Feuer gelegt und sie hineingeworfen. Wenn der Kerl allerdings die dritten Zähne von einem anderen getragen hat ...« »Das ist zu weit hergeholt. Selbst für dich.« »Na ja, dann ... jetzt hab ich's. Es ist die CSR! Vielleicht war der Brief wirklich echt! Jude wie-immer-sie-auch-heißt ist gar nicht gestorben. Sie hat in letzter Minute ihren Körper durch einen anderen ersetzt, damit man dessen Fingerab-
drücke finden sollte. Dann ist sie geflohen, und ihre Freunde haben sich all die Jahre versteckt - eine Bande Verrückter, die darauf warten, sich an dem System zu rächen und sich zu holen, was ihnen gehört. Wovon sie glauben, es sei ihr Eigentum ... Sie warteten den richtigen Augenblick ab, bis das verabredete Zeichen ...« »Welches Zeichen?« fragte Markham ausdruckslos. »Wer, zum Teufel, kann das wissen? Es könnte alles sein. Möglicherweise ein bestimmter Bericht in den Nachrichten. Wenn sie ihn hören, treten sie in Aktion und machen da weiter, wo sie aufgehört haben. Denn dann wissen sie, daß ihr Führer zurückgekommen ist! Sie überfallen Banken, Büros, die IRS ...« »Sie waren keine Terroristen. Das habe ich dir doch gesagt.« »Aber sie waren Revolutionäre ...« »Sie wären jetzt älter. Zu abgeklärt für eine Revolution.« »Unterbrich mich nicht«, sagte Len. »Ich bin gerade in Schwung gekommen! Sie sind komplett verrückt, nicht wahr? Also ...« »Sie haben ein Lagerhaus überfallen, Len. Wer sollte das tun? Jemand, der Bücher stehlen will?« »Die Nazis haben Bücher verbrannt, oder etwa nicht?« »Nun mal langsam! Sie sollen einen Schrottplatz in Brand gesteckt haben?« »Das war ein Fehler. Um ihre Spuren zu verwischen. Eigentlich waren sie hinter jemandem aus dem Buchladen her. Hinter der gleichen Person, die sie später in dem Lagerhaus vermuteten ...« »Meinst du Karte?« »Nein, dich!« In Markhams Gesicht zuckte es. »Warum?« »Das habe ich noch nicht herausgefunden. Vielleicht hast
du sie betrogen ...« »Nein, habe ich nicht.« »Dann hatte sie ein anderes Motiv. Vielleicht war sie insgeheim von irgend etwas besessen ... Oder sie war es gar nicht.« »Und wer war es dann?« »Woher, zum Teufel, soll ich das wissen? Einer ihrer Jünger. Sagen wir, ihre Tochter, die mittlerweile erwachsen ist ...« »Len ...« »Hör zu. Zuerst geht sie zu deinem Haus, aber dort bist du nicht. Also besucht sie den Buchladen, aber dort bist du auch nicht. Karte sagt ihr, wo du später zu finden sein wirst, und ein anderer geht dorthin. Wieder fehlt jede Spur von dir, aber Karte ist da. Und sie ist im Weg ...« »Weißt du was, Len?« »Was?« Len keuchte vor Aufregung. Sein Gesicht glänzte. »Du bist komplett verrückt.« Len zwang sich, ein paar Mal tief durchzuatmen. »Ja, ich weiß.« Er sah nach unten auf die Schatten neben seinen Füßen und starrte ins Nichts. »Aber ernsthaft.« Seine Stimme klang jetzt leiser und beherrscht. »Du hattest nichts damit zu tun. Es war ein verdammtes Mädchen aus einer dieser Gangs, die Haschisch für ihren Freund klauen wollte. Aber Karte wehrte sich, also mußte sie dran glauben. Warum? Es gibt keinen Grund. Ich wünschte, ich könnte einen finden, damit es irgendeine Bedeutung bekommt. Aber das kann ich nicht. Und deshalb tut es so weh.« »Ich weiß, Len, ich weiß.« »Mir sind einfach nur so ein paar verrückte Gedanken durch den Kopf geschossen. Vergiß es.« »Schon geschehen.« Len legte den Kopf zurück und schloß für einen Moment die Augen. Dann hievte er sich ein wenig unsicher aus dem
Rollstuhl. Er sah mit einemmal älter aus. »Ich muß los.« »Geh nur«, sagte Markham. »Vielen Dank für deinen Besuch. Sag auf Wiedersehen, Lennie.« »Auf Wiedersehen, Lennie.« »Noch was, Len.« »Ja?« »Bei einer Sache hast du dich getäuscht.« »Bei welcher?« »Jack Nicholson hat in den Siebzigern einige gute Filme gemacht - Marvin Gardens war nicht der letzte. Da gab es noch The Passenger, Cuckoo's Nest und The Last Detail« »Das stimmt wohl. Haben wir uns darüber unterhalten?« »Am Tag zuvor. Daran erinnere ich mich noch.« Lens Augen funkelten jetzt wieder. »Du hast recht. Die Siebziger waren das goldenen Zeitalter, wenn man es sich recht überlegt. Auf jeden Fall was Kinofilme betrifft.« »Zumindest das silberne. Wiedersehen.« Len ging zur Vordertür hinaus. Markham blieb mit angezogenen Knien im Bett liegen, bis die Ventile des VW Luft ansaugten und der Wagen sich tuckernd entfernte. Dann zwinkerte er und sah sich um, als sei er eben erst aufgewacht. Er schwenkte die Lampe über seine Arbeitsunterlage. In dem grellen gelblich-weißen Licht der Glühbirne wirkte seine Hand zerbrechlich, und er sah die vielen Adern, mit denen sie durchzogen war. Einige Sekunden lang betrachtete er sie distanziert, runzelte dann die Stirn, nahm seinen Stift wieder auf und führte ein paar Korrekturen an den Versen aus, an denen er gearbeitet hatte. Schließlich lauteten sie: Ich singe dieses Lied von dir Von falsch gewachsenen Knochen und Von Augen, die wieder zu Asche wurden
Ich singe dieses Lied von dir Ein verblaßtes Gesicht Wie auf einer Zeichnung angefertigt mit Kohlepapier Handgelenke so scharf wie Messer in einem Winkel, der sie auf dich selbst richtet ... Zerstreut gab er für den Augenblick auf. Er stellte den kleinen Tisch von seinem Schoß zur Seite und stieg aus dem Bett. Der Fernseher stand auf der Kommode gegenüber. Er entdeckte das Kabel und steckte es in die Buchse. Dann schaltete er das Gerät ein und wartete, bis es knisternd zum Leben erwachte. Noch bevor das Bild erschien, ertönte die Stimme eines Nachrichtensprechers. »Im Norden Kaliforniens wurde ein zweites Opfer des Waldbrands gefunden. Dieses Mal handelt es sich um einen Mann, der als Samuel David Carlisle identifiziert wurde. Er arbeitete seit vier Jahren als Förster. Die zahntechnischen Untersuchungen der weiblichen Leiche ...« Aufmerksam blickte er eine weitere Minute auf den Bildschirm. Als der Bericht endete, drückte er den Startknopf auf dem unteren Teil des Tastenfelds. Der eingebaute Videorecorder warf sofort eine Kassette aus. Markham schob sie wieder hinein und drückte auf >Start<. Dann ging er zum Bett zurück und lehnte sich gegen das Kissen am Kopfbrett. Der Ton klang schrill, und das Bild wackelte, bis der Film begann. Markham lächelte, als er den vertrauten Titel las. Während der Vorspann lief, blickte er wieder auf das Blatt Papier mit dem Gedicht. Er drehte es um und schrieb drei Wörter in Großbuchstaben auf die Rückseite: ES GIBT ANDERE
Weiter unten fügte er hinzu: WIE VIELE? Dann machte er sich am unteren Rand eine weitere Notiz: ANZAHL DER MITGLIEDER DER CSR Darunter schrieb er: ANZAHL DER AUFGEFUNDENEN LEICHEN Und darunter: ZAHNMEDIZINISCHE UNTERSUCHUNGEN? Er kreiste den letzten Satz ein, legte dann den Stift aus der Hand, lehnte sich zurück und starrte ins Leere. Aus dem Fernseher am anderen Ende des halbdunklen Zimmers ertönte eine Frauenstimme. »Ich begleitete einen Zombie ...Es scheint merkwürdig, so etwas zu sagen. Hätte vor einem Jahr jemand diesen Satz zu mir gesagt, hätte ich wahrscheinlich gar nicht gewußt, was ein Zombie ist! Vielleicht hätte ich mir vorstellen können, daß es sich um etwas Fremdes und Furchteinflößendes handelte, das aber sogar auch ein wenig komisch sein konnte. Als es begann, schien alles so alltäglich ...« Der Fernseher im Wohnzimmer lief ebenfalls, aber bis jetzt war auf dem Bildschirm nur körniges Flimmern zu sehen. Evie summte vor sich hin, als sie auf dem Weg zur Küche stehenblieb. »Wollt ihr Jungs etwas essen?« »Nicht jetzt, Mom«, erwiderte Eddie. »Nein, danke, Mrs. Markham«, sagte Tommy. Er hatte seine Videokamera an das Fernsehgerät angeschlossen. »Was seht ihr euch an?« »Oh, nur ein paar Aufnahmen, die Tommy gemacht hat.« »Warum legt ihr das Band nicht in den Videorecorder?«
»Es ist das falsche Format«, erklärte Eddie. »Aber wie schaut ihr es euch dann an?« »Man kann dazu die Kamera benützen und sie auf Wiedergabe stellen, wenn man kein HI-8-Deck hat.« »Tja, dann werden wir uns wohl so etwas besorgen müssen, oder? Das ist eine hübsche Kamera ... Wie geht es deiner Mutter, Tommy?« »Es geht ihr gut.« »Und deinem Bruder Mike?« »Alles in Ordnung. Er hat zwar einen Gips am Arm, aber er wurde nicht angezeigt.« »Das wäre ja auch noch schöner!« sagte sie. Es war die Schuld der Polizei von Los Angeles. Du hattest Glück, daß du nicht auch noch verletzt wurdest.« »Ich weiß.« »Ihr wißt ja, wo ihr etwas zu essen findet«, rief sie ihnen vom Gang aus zu. »Bedient euch ...« »Mom?« »Ja?« »Wohin gehst du?« »Nur in den Garten. Ich möchte gießen. Schon bald wird alles wieder schön grün sein. Der Anfang ist gemacht, und gegen Ende des Sommers wird alles überwuchert sein. Du wirst den Garten nicht wiedererkennen.« »Brauchst du meine Hilfe?« »Du hast schon mehr als genug getan, Baby - entschuldige. Eddie.« Nachdem sie gegangen war, steckte Tommy das Kabel in die Kamera und drückte auf einen Knopf. Am Schirm des Fernsehers erschien zuerst nur ein laufendes Bild, das sich allmählich zu einem körnigen, farblosen Schleier stabilisierte. Nur der Kopf der Ratte vor Reggae Rat's war so klar umrissen wie eine Götterstatue auf einer Insel bei Sonnenuntergang.
Der Rest war unterbelichtet. »Nichts«, stellte Tommy fest. »Stimmt«, bestätigte Eddie. »Ich habe sowieso keine Aufnahmen gemacht. Du kannst das Band löschen.« »Warte, ich glaube, ich sehe ...« »Du siehst gar nichts. Wir haben nichts gesehen. Okay?« Tommy musterte das Gesicht seines Freundes. »Okay.« Eddie schaltete die Kamera ab. »Du kannst sie dir ausleihen, wenn du möchtest«, bot Tommy ihm an. »Ich muß an meiner Facharbeit weitermachen. Hast du deine schon fertig?« »Ich habe noch gar nicht damit angefangen.« »Der Abgabetermin ist Freitag. Hast du das vergessen, Kumpel? Das ist morgen.« »Ich werde sie später schreiben. Heute abend bleibe ich sowieso zu Hause, falls meine Mutter mich braucht.« »Du hast wirklich Glück«, meinte Tommy. »Dein Dad ist cool, du hast keinen großen Bruder ... und deine Mom ist jetzt sehr nett.« »Sie hat mein Zimmer in Ordnung gebracht und wird mir noch einige Sachen kaufen. Alles, was ich haben will.« »Wieso?« »Weil ich ihr geholfen habe.« »Im Garten?« »Jemand mußte ja aufräumen«, erwiderte Eddie mit einem merkwürdigen, nichtssagenden Lächeln, so als wisse er etwas, das er nicht einmal seinem besten Freund erzählen wollte zumindest noch nicht. Evie schraubte die Düse an den Schlauch und drehte das Wasser an. Sie spritzte die Rückwand des Hauses ab, doch die Asche auf dem Dach konnte sie nicht erreichen - sie würde eine Leiter brauchen. Dann wässerte sie die Pflanzen und sogar das Unkraut. Alles sollte zusammenwachsen und den Boden so
dicht bedecken, daß man das häßliche Loch nicht mehr sah. Es war zwar mit Schutt aufgefüllt, aber dennoch ein Schandfleck, der jedem auffallen würde, der zu ihnen kam. Jetzt, wo alles vergraben war, konnte sich der Efeu zu einem dichten Geflecht ausbreiten. In ein paar Wochen würde es so aussehen, als wären die Pflanzen schon seit Jahren hier. Sie hob den Schlauch und spritzte einen bogenförmigen Strahl in die windstille Luft. In dem Sprühregen bildete sich ein Regenbogen über dem Garten, der den Weg zu einem Goldschatz zu weisen schien, den nie jemand entdecken würde, solange er nicht wußte, wo er danach graben mußte. Sie stellte die Düse anders ein und richtete den scharfen Strahl auf den Erdhügel. Das Wasser sollte tief in die Poren der Erde eindringen, die organischen Substanzen aufspalten, damit daraus fruchtbarer Lehm entstehen konnte. Dadurch würde neues Leben geboren werden, und ihre Welt hier neu gestalten, falls sie sich entschließen sollten, das Haus doch nicht zu verkaufen. Sie hörte, wie sich die Vordertür öffnete. Sie legte den Schlauch auf den Boden und ging ins Haus. Vom Flur aus sah sie, daß Eddie in seinem Zimmer am Schreibtisch saß. »Wo ist Tommy?« Beim Klang ihrer Stimme steckte er hastig einige Blätter Papier in einen Ordner. »Er mußte nach Hause.« »Oh, wie schade. Ich hoffe, er grüßt seine Mutter von mir. Ich sollte vielleicht anrufen ... Woran arbeitest du?« »An meiner Kolumne.« »Prima. Laß sie mich lesen, wenn du fertig bist.« »Mach ich.« Er drehte sich in seinem Stuhl herum und sah sie an. »Was tust du, Mom?« Sie erwiderte seinen Blick. Schließlich sagte sie: »Ich erledige die restliche Gartenarbeit.«
Eddies Nacken versteifte sich. »Brauchst du mich?« »Nicht jetzt. Schon bald wird alles wieder so sein, wie es einmal war.« »Wirklich?« Das Kätzchen kam unter Eddies Schreibtisch hervor und rieb sich an Evies Bein. Sie hob es auf und belohnte es mit einem Kuß. »Mein tapferes, kleines Kerlchen«, sagte sie. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf Eddie. »Du wirst schon sehen.« »Okay, Mom - wenn du es sagst.« Er senkte den Kopf und drehte seinen Stuhl wieder herum. »Ich werde nach deinem Vater sehen«, erklärte sie und trug das Kätzchen hinaus. Er blieb sitzen, bis er ihre Stimmen im Schlafzimmer hörte. Dann öffnete er den Ordner wieder. Darin lagen zwei Seiten aus dickem Papier, die so oft zusammengelegt und auseinandergefaltet worden waren, daß sie zu zerreißen drohten. Die Kuverts waren vor seiner Geburt abgestempelt worden und trugen keine Absenderangaben. Sie waren an jemanden namens Judy Rios geschickt worden. Bei dem ersten Blatt handelte es sich um einen maschinengeschriebenen Brief. Er war nicht unterzeichnet, in einem elliptischen Stil verfaßt und schien die Einzelheiten und Geschehnisse eines gewöhnlichen Tages zu schildern, als könne diese banale Beschreibung eine tiefere Bedeutung vermitteln, wenn sie zu Papier gebracht wurde. Es war kein richtiger Liebesbrief, aber es war eindeutig, daß die beiden Personen sich sehr gut kannten, möglicherweise sogar eine intime Beziehung hatten. Die Sprache war direkt, aber der Inhalt schwer faßbar. Der eigentliche Sinn schien nicht in den geschriebenen Worten, sondern zwischen den Zeilen zu liegen - in dem, was nicht gesagt wurde. Auf dem zweiten Blatt stand ein Gedicht - ebenfalls ma-
schinengeschrieben. Der letzte Teil lautete: Meine Finger berühren deine Schultern Sie sind Mottenflügel in diesem Licht Deine Haut dehnt sich und zerfällt unter meiner Berührung zu Staub Und doch singe ich dieses Lied von dir Von Lippen so kühl und süß Wie der Fruchtkelch einer Wüstenblume Ich singe dieses Lied von dir Wer wird im Schlaf den Schmerz des Atems küssen Bei unserer seltsamen Wiederkehr Auch das Gedicht war nicht signiert. Nachdem er es gelesen hatte, wartete er, bis er hörte, wie die Schlafzimmerrür ins Schloß fiel. Dann stand er auf und angelte hinter seinem Bett einen Rucksack hervor, den er dort versteckt hatte. Er legte den Brief und das Gedicht hinein und begann, die oberer Klappe zu schließen. Doch dann zögerte er, holte ein Grateful Dead-T-Shirt heraus, hob es an sein Gesicht und atmete tief ein, bevor er es wieder hineinstopfte und den Rucksack in seinem Versteck verstaute. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und öffnete die Schublade. Darin lag eine .45er Automatic. Er zog das Magazin heraus und vergewisserte sich, daß es noch voll war und nicht mit den losen Patronen aus der Schublade nachgeladen werden mußte. Methodisch und sorgfältig wischte er mit einem Zipfel seines T-Shirts alle Fingerabdrücke ab. Dann legte er die Waffe genau an die gleiche Stelle zurück, als wiederhole er ein oft praktiziertes Ritual, schloß die Schublade und sperrte sie ab.
Eddie verließ sein Zimmer und ging ins Wohnzimmer. Dort zog er den Anschlußstecker aus der Videokamera und trug sie gedankenverloren auf die hintere Veranda. Die Waschmaschine und der Trockner liefen wie bereits den ganzen Morgen und fast die ganze Woche über. Eine Ladung folgte der anderen - oder vielleicht war es auch immer die gleiche Ladung, die wieder und wieder behandelt wurde. Die Luft war unangenehm feucht und warm. Er ging zur Gittertür und sah auf den Garten hinaus. Der Hügel war überschwemmt von dem Wasser, das immer noch aus dem Schlauch spritzte. Frische, verkrustete Erdklumpen brachen auseinander und verwandelten sich in Rinnsale aus Schlamm. Er ging hinaus und drehte den Wasserhahn zu. Dann setzte er sich auf die Veranda und starrte auf den Erdhügel. Er hob die Kamera und betrachtete ihn durch den Sucher. AUSSENAUFNAHME, TAG - GRABSTELLE Kamera fährt auf ein Rechteck in der Erde. Nirgendwo in der Nähe dieser besonderen Stelle wächst Gras ... Jetzt nähert sich ein junger Mann - EDWARD - zögernd dem Grab. Er ist noch ein Teenager, wirkt aber reif attraktiv. Er trägt den Gesichtsausdruck eines jungen Poeten, sensibel und gequält. Er kniet nieder und greift nach einem der feuchten Erdklumpen auf dem Grab. Seine Hand schließt sich fest darum, als ihn seine Gefühle überwältigen. Der Schlamm quillt zwischen seinen Fingern hervor. E DWARD : (weinend) Warum ... warum ...? Weitwinkel - um einen Grabstein hinter dem Grab zu zeigen. Kamera fährt auf die Inschrift, die fast vollständig mit Schmutz bedeckt ist. Nur der erste Buchstabe des Vornamens ist zu lesen: >S<
Und darunter: >Ruhe in Frieden< Geburts- und Todestag sind unleserlich. Er schlägt mit der Faust gegen den Granitstein EDWARD: Es tut mir leid ...so leid ... Ich wußte nicht, wer du warst, und jetzt ist es zu spät! Ich habe dich nie wirklich kennengelernt ...! Jetzt beginnt die Erde auf dem Hügel sich zu bewegen und sich auszudehnen - so, als würde etwas, das dort vergraben ist, versuchen, nach oben zu gelangen und in diese Welt durchzubrechen ... Plötzlich schießt eine Messerklinge hervor und saust durch die Luft ... Und durchbohrt ihn -fährt durch seinen Adamsapfel und tritt am Nacken wieder aus! Er ließ die Kamera sinken. Die Erde hatte sich nicht bewegt. Der Hügel war unverändert. Er legte die Kamera in seinen Schoß und blieb sitzen. Seine Gesichtszüge wirkten angespannt, aber auch resigniert. Im Verlauf des Nachmittags wurde ihm klar, daß er wahrscheinlich noch sehr lange hier sitzen würde - wenn es nötig war, sogar noch nach Sonnenuntergang und in die Nacht hinein. Er wartete auf ein Zeichen.