Geisterfänger Band 21
Schöpfer des Bösen von Mike Burger Auf schreckliche Weise nahmen sie das siebte Opfer.
»Still...
4 downloads
372 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Geisterfänger Band 21
Schöpfer des Bösen von Mike Burger Auf schreckliche Weise nahmen sie das siebte Opfer.
»Still!« Andy Manning riss seine rechte Hand hoch und verharrte stock steif. Mit angehaltenem Atem lauschte er in die Nacht hinein. »Was - was ist denn, Andy?«, hauchte Michelle Lecrois, seine Freundin. »Hast du es nicht gehört? Dieses Flüstern und Kichern?« »Nein!« »Es war ganz nahe«, hauchte Andy. »Ganz nahe und - unsagbar bösartig!« Andy presste seine Lippen aufeinander. Aus schmalen Au genschlitzen starrte er in die Dunkelheit, die wie ein bösartiges Unge tüm außerhalb des Lichtkreises lauerte. Die zuckenden Flammen des Lagerfeuers ließen sie lebendig erscheinen. Dazu das Prasseln und Kni stern der brennenden Holzscheite... Eine Gänsehaut bildete sich auf Andys Rücken. Er war beileibe kein Feigling und auf Gerüchte und Altweibergeschwätz hatte er noch nie etwas gegeben. Die alte Selma hatte sie davor gewarnt, im Colocoan Forest zu campen. »Der Sumpf ist viel zu nahe«, hatte sie unheilvoll gesagt. »Und im Sumpf — im Sumpf herrschen die bösen Geister...« Er hatte sie ausgelacht. Jetzt aber bedauerte er dies. Vielleicht war doch etwas Wahres dran an den alten Sagen...? »Ach was«, sagte er laut, wie um sich selbst zu beruhigen und entspannte sich wieder. Lässig warf er den dicken, knorrigen Ast, den er in der Rechten hielt, ins Feuer. Die Flammen loderten auf. Funken stoben davon. Michelle sah ihn aus großen, fast schwarzen Augen an. Der Wider schein des Feuers war darin zu sehen. Und noch etwas... Andy verzog unwillig sein Gesicht, als er es erkannte. Michelle hat te Angst! Verflixt, das war ihm überhaupt nicht recht. Er hatte sich auf ein unbeschwertes Abenteuer gefreut. Deshalb hatte er schließlich vorgeschlagen, das Weekend hier draußen in einem kleinen Zelt zu verbringen. »Alles klar, Baby«, sagte er weltmännisch und machte eine weg werfende Handbewegung. »Ich habe mich geirrt. Hier ist alles okay. Wahrscheinlich war es das Feuer...« 4
»Ich weiß nicht...« Michelle zog ihre endlos langen Beine an und legte ihre Arme darum. Den Kopf legte sie auf ihre Knie. So, wie sie jetzt auf dem Boden saß, wirkte sie wie ein kleines, verängstigtes Mädchen. Andy ließ sich neben ihr nieder und zog sie zu sich heran. »Aber ich bin doch bei dir, Liebes. Da kann dir so schnell nichts passieren. Und außerdem: Wer sollte schon ein Interesse daran haben, ein harm loses Liebespaar zu stören?« Jetzt lächelte sie wieder. Andy atmete auf. Er mochte die zierliche Französin, die erst vor drei Tagen nach Pitlochry gekommen war. Auf Anhieb hatten sie sich verstanden - und als logische Folge hiervon hat te sich ein netter Flirt ergeben. Michelle hatte noch zwei Wochen Fe rien und diese Zeit gedachte Andy zu nutzen. Pitlochry war Kurort und Tummelplatz des Jet-Sets. Ein so hübsches Girl wie Michelle tauchte da trotzdem nur alle hundert Jahre einmal auf. Sie schwiegen. Andy schloss die Augen und genoss die Nähe und Wärme des Mädchenkörpers. Da hörte er es wieder! Ein geheimnisvolles, unheimliches Raunen und Wispern, das aus dem Prasseln des Feuers aufzusteigen und sich mit der Dunkelheit zu vereinigen schien, immer nachdrücklicher und drängender wurde! »Andy... Andy Manning! Komm! Komm zu uns! Wir erwarten dich! Komm!« Andy schluckte hart. Ganz deutlich hatte er die Stimmen jetzt ge hört. Sie riefen ihn... Ein würgender Kloß bildete sich in seiner Kehle. Guter Himmel, was hatte das alles bloß zu bedeuten? Michelle zeigte keinerlei Reaktion. Also hatte sie es wieder nicht gehört. Aber das gab es doch nicht! Spielten ihm seine Nerven einen Streich. Oder - wurde er wahnsinnig? »Komm, Andy... Denk nicht nach! Komm zu uns! Was kann dir dieses Mädchen schon bedeuten! Lass es sein! Wir werden uns seiner annehmen! Komm... Komm...« »Ich - ich will nicht!«, krächzte er. »Andy!« Michelle zuckte zusammen, wie unter einem Fausthieb. 5
Er hörte nicht auf sie. Ruckartig, wie ein Roboter, erhob er sich. Die Stimmen, die er hörte, waren so befehlend, so herrisch, dass er ihnen nicht mehr widerstehen konnte. Er musste ihnen gehorchen! »Komm!«, geiferten sie. »Komm zu uns, Andy!« Und Andy Manning setzte sich in Bewegung. Michelle versuchte, ihn festzuhalten. Ihre schlanken Finger krallten sich in die Ärmel seines Flanellhemdes. »Nicht, Andy! Wo willst du denn hin? Warum - warum bist du denn so komisch? Andy! Bleib bei mir...« Panik zitterte in ihrer hellen Stimme. Andy Manning ging unbeirrt seinen Weg. Mit einer wilden Geste riss er seinen Arm frei. Ratschend zerfetzte der Stoff. Michelle wimmerte. »Andy, bitte, tu das nicht! Lass mich nicht al lein! Ich habe Angst! Andy - bitte!« Andy hörte es, sein Herz krampfte sich vor lauter Verzweiflung zu sammen. Michelle, dachte er. Ich - ich will es doch nicht! Aber ich
muss... Sie sind stärker als ich! Sie wollen...
»Still, Andy, nicht nachdenken! Komm zu uns! Komm! Alles wird gut und schön sein!«, flüsterten die bösen Stimmen. Michelle ohrfeigte ihn. Tränen standen in ihren Augen. »Du Feig ling!«, stieß sie hervor. »Und ich dachte... dass du mich liebst! Feig ling!« Er schlug zurück. Es war eine Reflexbewegung - aber er hatte sie nicht veranlasst. Die Stimmen waren es gewesen... Die Stimmen, die, wie er unvermittelt wusste, nur in seinem Kopf existierten. Michelle wurde zurückgeschleudert. Nur ein oder zwei Yards vom Feuer entfernt, brach sie zusammen. Schluchzend blieb sie liegen. Andy wollte seine Verzweiflung hinausschreien, aber er konnte es nicht. Wie eine menschliche Marionette setzte er Schritt vor Schritt. Immer weiter entfernte er sich von dem kleinen Zelt, dem Lagerfeuer und Michelle. Dunkelheit umfing ihn. Nebelschleier schwebten dicht über dem Gras der kleinen Waldlichtung, schlängelten sich zwischen den nahen, gewaltigen Stämmen der Bäume umher - bewegten sich wie zu einer für menschliche Ohren unhörbaren Melodie. 6
»Komm! Schneller, Andy, schneller!«, hechelte es in seinem Kopf. Es gab sie wirklich, die bösen Sumpfgeister! Jetzt wusste er es. Jetzt - da es zu spät war! Andy Manning tauchte in den finsteren Wald ein. Ein kühler Nachtwind säuselte klagend. Unter Andys Schritten zerbrachen Äste mit dumpfem Knacken. Der Humusboden dämpfte jeden Laut. Die Zeit verging. Andy verlor jeden Sinn dafür. Wie lange war er jetzt schon unter wegs? Eine Sekunde - oder eine Ewigkeit? Michelle... Was würde mit ihr geschehen? »Wir kümmern uns um sie...«, wisperten die Stimmen in seinem Geist. Abgrundtiefe Bosheit und Verschlagenheit strahlte von ihnen aus. - Und Gier! Der Wald lichtete sich. Hier wogte der Nebel noch dichter. Wie ei ne graue, schlierige Wand. Der Sumpf war nahe. Man konnte ihn rie chen - und hören. Der Gestank von Fäulnis und Moder wurde betäu bend schwer. Unwillkürlich musste Andy an einen Friedhof denken und an den Tod. Gespenstisch blubberte und brodelte es. Andy Manning schritt weiter. Er musste es tun. Die Stimmen ließen ihm keine Wahl. »Du wirst es nicht bereuen, Andy. Komm zu uns und du findest das höchste Glück der Welt...«, raunten sie machtvoll. Andy fühlte, wie sie seinen eigenen Willen mehr und mehr aus schalteten. Eine schleimige Masse schien sich um sein Gehirn zu legen. Alles wurde ihm gleichgültig. Er machte sich keine Gedanken mehr. Vor ihm plätscherte pechschwarzes, brackiges Wasser gegen eine schlammige Uferbank. Die Büsche, die an diesem Ufer gediehen, wirk ten bizarr. Dunkle, drohende Schatten in der Düsternis. Andy stiefelte hinein, ohne sich weiter Gedanken darüber zu ma chen. Das Wasser war nur wenige Zentimeter tief. Darunter lauerte der Morast... * 7
Michelle zitterte am ganzen Leib. Die Angst in ihr explodierte. Sie glaubte, ihr Herz würde von fürchterlichen Klauenhänden zerrissen. »Andy«, hauchte sie. »Andy...« Aber er hörte sie nicht, das wusste sie. Sie gab sich keinen fal schen Hoffnungen hin. Irgendetwas war mit ihm geschehen, er war nicht mehr er selbst gewesen, als er sie geschlagen hatte. Er liebte sie, das hatte sie doch gefühlt. Niemals hätte sie sich so sehr täuschen können. Und plötzlich diese Veränderung... Wie war das nur möglich? Bebend richtete sie sich auf. Das Feuer war beinahe niederge brannt. Nur mehr schwach züngelten kleine Flämmchen. Die Glut wa berte wie ein böses Auge. Die Schatten der Nacht waren näher an das kleine Lager herandrückt. Michelle spürte die Drohung, die wie ein körperliches Gewicht außerhalb des Lichtkreises lastete. Eine Drohung, die von Wesenheiten ausstrahlte, die nicht von die ser Welt stammten! Tausend Augenpaare schienen auf sie gerichtet zu sein. Wie spitze Nadeln waren die Blicke - gierige, böse Blicke - zu spüren. Aus dem Nichts heraus entstand eine Gestalt! Die Konturen ver festigten sich. Wie gebannt starrte Michelle darauf. Ihr Mund trocknete aus. Wie ein Fremdkörper klebte ihre Zunge am Gaumen. Jetzt war ein beißender Geruch wahrnehmbar. Moder. Fäulnis. Bedrückend legte er sich auf ihre Lungen. Das brachte die junge, bildhübsche Französin wieder zu sich. Der Bann, der sie festgenagelt hatte, zersplitterte! Mit einem schrillen Angstschrei wirbelte sie herum und rannte los. Es war ihr egal, dass sie beinahe nackt war. Sie trug nur einen winzigen Tanga-Bikini. Der Tag war so wunderschön gewesen. Sie hatte neben Andy in der Sonne gelegen und mit ihm hatte sie ge träumt. Vergessen waren jetzt die schönen Stunden. Das Grauen wischte alles aus. Michelle spürte, wie die Tränen kamen. Tränen der Angst und der Hilflosigkeit. Wie von Furien gehetzt rannte sie. Ihre nackten Füße flogen über das feuchte Gras. Nur weg! Weg von diesem verfluchten Ort! 8
Sie sah nicht zurück. Sie brauchte es auch nicht. Instinktiv fühlte sie, dass die geisterhafte Erscheinung die Verfolgung aufgenommen hatte. Dass sie hinter ihr her schwebte. Rasselnd flog Michelles Atem. Lieber Himmel, lass es nicht wahr sein, dachte sie inbrünstig. Lass mich alles nur träumen... Aber es war kein Traum! Es war Wirklichkeit! Dicht hinter ihr brandete höhnisches Kichern auf. »Lauf nur, Kind chen, lauf nur... Du entkommst uns nicht!« Im gleichen Augenblick stolperte Michelle. Mit ausgestreckten Ar men fiel sie hin. Schwer krachte sie zu Boden, wirbelte zwei-, drei-, viermal um ihre Achse und blieb schließlich krampfhaft nach Atem rin gend liegen. »Arme kleine Michelle...«, raunten die Stimmen. Aber es klang überhaupt nicht mitfühlend. Nur zynisch - und böse. Da wusste Michelle plötzlich, dass sie verloren war. Von den We senheiten, denen diese Stimmen gehörten, durfte sie keine Gnade erwarten. Ganz langsam drehte sie sich um. Jegliches Gefühl in ihr war ab gestorben. Sie hatte keine Angst mehr, nein, jetzt nicht mehr. Sie schwebten über ihr. Sieben silbern flimmernde Erscheinungen. Alte Frauen waren es, untersetzt, dick, bucklig, hässlich, angetan mit modernden Fetzen. Geister-Hexen! Ihre Gesichter waren zu bösartigen Grimassen verzerrt. In dunk len, katzenhaften Spaltaugen loderte es hinterhältig. Die strähnigen Haare hingen zerzaust um die groben, aufgedunsenen Gesichter. »Nun, Kindchen, hast du es eingesehen?«, fragte die Anführerin der Hexen. Ihre Stimme drang wie eine glühende Messerspitze in Mi chelles Bewusstsein. »Was - was wollt ihr von mir?«, presste sie hervor. »Ich habe euch doch nichts getan!« »Nein, natürlich hast du uns nichts getan«, erwiderte die Alte. »Und - wir wollen dir auch gar nichts tun. Unser Hunger wurde bereits gestillt...« Michelle wusste, worauf die Alte anspielte. »Andy...«, würgte sie hervor. »Ihr habt ihn umgebracht.« 9
Sie lachten ihr böses Lachen. »Umgebracht? Nein, Kindchen, nicht direkt. Er kam freiwillig zu uns, in den Sumpf...« Heiß schossen Michelle die Tränen in die Augen. Mit einer beinahe trotzigen Geste wischte sie sie weg. »Und was soll mit mir gesche hen?«, wollte sie dann wissen. Ihre Stimme war ganz rau, aber sie wollte vor diesen schrecklichen Wesen keine Angst mehr zeigen. Sie wollte ihnen den Triumph einfach nicht gönnen. »Du wirst es erfahren, Kindchen. Wir nehmen dich mit uns - zu ei nem guten Freund. Er wird sich deiner annehmen. Du musst wissen, dass er große Dinge zu tun gedenkt. Deshalb braucht er dich.« Im nächsten Sekundenbruchteil lohte ein kurzer, ziehender Schmerz durch Michelles Bewusstsein - und zerschmetterte es! * »Da kommen sie!«, raunte Mike Logan. Unwillkürlich spannte er sämt liche Muskeln an. Ben Murray, der neben ihm stand und ebenfalls in die Dunkelheit hinausstarrte, brummte etwas Unverständliches. »Siehst du sie, Ben?«, vergewisserte sich Mike. »Bin ja nicht blind!« Mike nickte. Vorsichtig tastete seine Rechte an die Schulterhalfter. Der Druck der Walther PPK, die darin steckte, wirkte irgendwie beruhi gend. Aber Mike hoffte, dass er sie nicht benutzen musste. Er war beileibe kein Mann, der alles nur mit der Waffe in der Faust regelte. Ein Wortgefecht zog er einer Schießerei allemal vor. Er war ganz ein fach der Ansicht, dass man über alles reden konnte. Auch mit Gau nern. Und mit solchen und noch schlimmeren Typen hatte er es tag täglich zu tun. Er war Privatdetektiv. In letzter Zeit allerdings immer seltener. Seit er den Geist Baltha sar Rufus Schwarzschwert, eigenen Angaben zufolge vierzehnter un ehelicher Sohn des Magiers Merlin, kannte, war er wesentlich häufiger hinter bösen Geistern und Dämonen her. Das Böse an der Wurzel be kämpfen - das war seine und Balthasars Parole. 10
Balthasar hatte ihm sehr eindringlich klargemacht, wie wichtig es war, diesen Kampf zu führen. Immer mächtiger wurden die Mächte der Finsternis und ihre menschlichen Vasallen. Nun, Mike war entschlossen, seinen Weg zu gehen. Mit einem Partner wie Balthasar war das zwar nicht immer einfach, denn der vierzehnte uneheliche Sohn Merlins hatte mehr Macken als ein ausran gierter Eisenbahnwaggon, aber... Aber das gehörte jetzt nicht hierher. Momentan hatten sie es mit ganz normalen menschlichen Verbre chern zu tun. Mit geschmacklosen Burschen, die sich seit einigen Ta gen einen Spaß daraus machten, die Friedhöfe Londons heimzusu chen, Gräber zu schänden und die Türen von Leichenhallen einzutre ten. Einen Friedhofswärter, der sie dabei überraschte, hatten sie um gebracht. Das hatte Ben Murray, Mikes Duzfreund von Scotland Yard, auf den Plan gerufen. Er hatte sich auf die Fährte der Mörder geheftet. Und Mike mischte ganz einfach deshalb mit, weil er momentan keinen eigenen Fall zu bearbeiten hatte. Außerdem hielt er sehr viel auf den Spruch: Wer rastet, der rostet. Er wollte fit bleiben und nicht rosten. So hatten sie sich die vergangenen beiden Nächte um die Ohren geschlagen - allerdings ohne Erfolg. Vor vier Stunden war dann der Anruf gekommen. Ein Bursche, der seinen Namen nicht hatte nennen wollen, hatte Murray - der sich, ein gedenk der Tatsache, dass er mit seinem Beruf verheiratet war, immer noch im Yard-Building aufhielt - den Tipp gegeben, dass in dieser Nacht der Hampstead Heath Cemetery das Ziel der Friedhofsbande sei. Dies konnte natürlich ein Bluff sein - vielleicht aber auch nicht. Sie mussten jeder Spur, jedem auch noch so vagen Hinweis nachgehen. Deshalb waren sie hier. Mike konzentrierte sich auf die schemenhaften Gestalten, die am schmiedeeisernen Portal des Friedhofs aufgetaucht waren. Die Silhou etten hoben sich wie Scherenschnitte vor dem sternenklaren Nacht himmel ab. Vier Männer waren es. 11
Das Portal schwang auf. Ein leises Quietschen war zu hören. Gleich darauf leises, hartes Gelächter. Die vier Burschen betraten den Friedhof. Kies knirschte unter schweren Schritten. Gleichzeitig verzog sich der einsame Wolkenfetzen, der bisher die bleiche Scheibe des Mondes getarnt hatte. Ungehindert konnte er jetzt sein milchiges Licht zur Erde herunterschicken. Mike erkannte Einzelheiten. Die Burschen trugen Sturzhelme mit hochgeklapptem Visier. Dazu passend schwarze Lederjacken und Ho sen. Auf der Brustseite war jeweils ein grinsender Totenkopf aufge näht. Rocker! Hin und wieder klirrte eine Fahrradkette - neben Schlag ring und Dolch die beliebteste Waffe dieser Kerle. »Hoffentlich ist Roy auf seinem Posten«, hauchte Murray. Er meinte Roy Porter, rechte Hand Murrays. Er hatte Anweisun gen, rechterhand von der Leichenhalle in Stellung zu gehen. Bei ihm war Constabler Tom Downer. »Du hast vielleicht Sorgen«, flachste Mike sarkastisch. »Eben!«, gab Murray zurück. Die Rocker kamen näher. Wie Mike und Ben vorausgesehen hat ten, war die Leichenhalle ihr erstes Ziel. Dass sie hier erwartet wurden, ahnten sie nicht. Sie fühlten sich sehr sicher, erzählten sich Witze und lachten lauthals. Aber das sollte ihnen sehr schnell vergehen. Gleich würden sie die Überraschung ihres Lebens erleben. Mike drückte die Tür der Leichenhalle einen Millimeter weiter auf. Eine Minute verging. »Los, packen wir uns die Kerle!«, sagte Murray hart und stürmte los. Die Tür knallte zurück, gegen die weiß gekalkte Mauer. Und dann überschlugen sich die Geschehnisse! * »Stehen bleiben und Hände hoch! Ihr habt keine Chance!«, brüllte Murray in astreinem Kasernenhofton. Zwei Schritte von der Leichenhal 12
le stand er, seinen Dienstrevolver beidhändig auf die vier geschockten Rocker gerichtet. Mike schlenderte gemächlich zu ihm. Die Friedhofsbande hatte keine Chance. Also war es unnötig, einen derart hektischen Wirbel zu veranstalten. Aber Murray hatte schon immer ein ziemlich cholerisches Temperament gehabt. »Habt ihr was mit den Ohren?«, dröhnte Murray. Die Rocker machten noch immer keine Anstalten, seinen Befehlen Folge zu leisten. Im Gegenteil! Plötzlich spritzten sie auseinander, als sei eine Handgranate neben ihnen hochgegangen. In alle vier Himmelsrichtungen hetzten sie da von. »Stehen bleiben, oder wir schießen!« Er feuerte einen Warnschuss in die Luft. Auch das beeindruckte die Rocker nicht. Sie rannten nur noch schneller. Mike war bereits unterwegs. Er hetzte einem hochgeschossenen, breitschultrigen Burschen nach, der sich Richtung Friedhofsmauer ab setzte. Der Rocker bemerkte ihn und verdoppelte seine Laufgeschwindig keit. Mike blieb ihm auf den Fersen. Hinter sich hörte er Schüsse. Hart rollten die Echos durch die stille Nacht. Murray fluchte, dann Roy Por ter. Hastige Schritte. All das nahm Mike nur beiläufig wahr. Für ihn zählte jetzt nur der Bursche, den er verfolgte. Der hatte nämlich zwischenzeitlich erkannt, dass er ihn nicht ab schütteln konnte. Immer öfter blickte er über die Schulter zurück. Dann blieb er stehen, seine Hand zuckte an den breiten, nie tenbeschlagenen Ledergürtel - und kam wieder hoch. Mondlicht brach sich gleißend auf blankem Stahl. Der Kerl hatte einen Dolch gezogen. Jetzt kreiselte er herum. »Komm nur her, Bulle!«, reizte er. Den Dolch hielt er in seiner rechten Hand, während die linke leicht angewinkelt vom Körper abgespreizt war. Breitbeinig stand der Rocker 13
da. Jede Faser seines Körpers war angespannt. Kein leichter Gegner, durchzuckte es Mike. Er hatte ebenfalls abgestoppt. Langsam, lauernd ging er auf seinen Gegner zu. Der Kerl war mächtig nervös. Tänzelnd bewegte er sich. Mike starrte wie hypnotisiert auf die Dolchklinge. Es war eine lan ge Klinge, eine Klinge, die höllisch spitz zulief. »Du solltest aufgeben«, rief Mike. »Du bist wohl wahnsinnig, was?«, versetzte der Rocker verächt lich. »Ich weiß doch genau, was mir blüht. Ihr steckt mich in den Knast...« »Hast du den Friedhofswärter umgebracht?« »Und wenn ich das getan hätte«, antwortete der Rocker verschla gen. »Nun, dann müsstest du für eine ziemlich lange Zeit hinter Git ter«, versetzte Mike lakonisch. »Siehst du und genau das will ich nicht!« Mike zuckte die Schultern und machte einen weiteren Schritt. Jetzt trennten ihn höchstens noch zwei Yards von seinem Gegner. »Keinen Schritt mehr!«, drohte der Rocker. »Du siehst doch, dass ich keine Waffe in der Hand habe«, erwi derte Mike. Er streckte seine Hände vor. »Eben deshalb solltest du vorsichtig sein, Bulle. Ich bring' dich um...« »Der Friedhofwärter wurde auch mit einem Dolch umgebracht.« »Weiß ich doch!« Der gemeine Unterton in der Stimme des Mannes gefiel Mike ü berhaupt nicht. Er war auf der Hut. Der Rocker lachte hämisch. »Jetzt hast du wohl weiche Knie be kommen, was?« Seine rechte Hand hob sich kaum merklich. Mike begann zu schwitzen. »Ja, vielleicht sollte ich dir mal zeigen, dass man mit mir nicht so einfach umspringen kann wie mit einem Penner. Du wolltest doch un bedingt herauskriegen, wer den Alten umgebracht hat. Also gut, du 14
sollst es wissen. Ich war es... Ja, ich. Und damit du das nicht ausplau dern kannst, wirst du ebenfalls zur Hölle fahren, verdammter Bulle!« Er fühlte sich völlig als Herr der Situation. Mike musste einsehen, dass eine gütliche Einigung so unmöglich war wie eine Hochzeitsnacht ohne Braut. Unmerklich versteifte er sich. Jetzt musste er höllisch aufpassen. Keine Sekunde ließ er die Messerhand des Rockers aus den Augen. »Das war ein Geständnis«, sagte er gedehnt, nur, um etwas ge sagt zu haben. »Tote Zeugen sind schlechte Zeugen«, philosophierte der Bursche zynisch. Reizen, du musst ihn reizen, dachte Mike. Wer wütend ist, macht Fehler... Er deutete auf die schwarzen Cowboy-Stiefel des Rockers. »Viel leicht solltest du dir das Ganze doch noch einmal überlegen. Ich sehe, du hast prächtige Gehwerkzeuge in diesen Dingern da versteckt. Ei gentlich wären die genau richtig, um einen schnellen Sprint hinzulegen und so einer Tracht Prügel zu entgehen. - Ein bisschen Bewegung wird dir ohnehin gut tun, denn im Gefängnis...« Weiter kam Mike nicht mehr. Mit einem Wutschrei, der nichts Menschliches mehr an sich hatte, stürzte der Mörder vor. Die Hand mit dem Dolch fuhr hoch, um im nächsten Sekundenbruchteil schon wieder nach unten zu fahren - in Mikes Brust! Aber Mike Logan war auf diesen Angriff vorbereitet! Blitzartig fe derte er zur Seite. Der Rocker lief ins Leere. Von seinem eigenen Schwung wurde er vorwärts gerissen. Mike setzte ihm nach - und trümmerte ihm seine Handkante in den Nacken. Genau zwischen Helm und Jackenkragen. Das genügte. Mit einem dumpfen Gurgeln brach der Messerheld in die Knie. Sein Dolch wirbelte blitzend durch die Luft. »Das war's dann wohl, Freundchen«, dozierte Mike, ließ Hand schellen um die Handgelenke seines benommenen Gegners schnappen und zog ihn dann unsanft auf die Füße. 15
»Mike! He, Mike - wo steckst du?« Das war Ben Murrays kräftiges Organ. »Hier, Ben!« Murray stampfte im Eilschritt heran. »Alles in Ordnung, Mike?«, fragte er besorgt, als er in Sichtweite war. »Das ist typisch«, versetzte Mike boshaft. »Die Polizei, dein Freund und Helfer, taucht natürlich erst dann auf, wenn andere für ihn die Kastanien aus dem Feuer geangelt haben! - Aber wie du siehst: ich lebe noch.« Murray hüstelte gekünstelt. »Na ja, Unkraut vergeht eben nicht! Ich wusste es!« Dann ständen sie sich gegenüber, Murray grinste und Mike eben falls. »Prima gemacht, Mike«, lobte der Inspektor. »Nimm ihn, er gehört dir«, meinte Mike und hielt ihm die Hand schellen hin. Der Rocker zerquetschte einen Fluch zwischen den Zähnen. * Ziemlich genau zwei Stunden später schloss Mike die Tür seiner Pent house-Wohnung in Queen's Gate 25 auf. Big Ben schlug gerade ein Uhr. Seltsam dünn und verzerrt hallte der Glockenschlag durch die Nacht. Mike gähnte und streckte sich, marschierte in den Livingroom, zog seine Lederjacke aus und warf sie nachlässig über ein Element der Wohnlandschaft, auf die er sich so gern hinlümmelte. Er war hunde müde. Murray hatte es sich natürlich wieder einmal nicht verkneifen können, den Fall total durchzuziehen. Er hatte die vier Rocker ins Y ard-Building in der Victoria-Street gebracht und sie den Kollegen vom Nachtdienst anvertraut. Dann hatte er das Protokoll aufgesetzt und auch noch seine, Mikes, Aussage aufgenommen. Murray war eben ein Arbeitstier. Mike seufzte und stellte sich im Bad vor den Spiegel. Er sah über nächtigt aus. Dunkle Ringe lagen um seine Augen. 16
Und dazu noch Strohwitwer, sagte er sich. Dezent wie ein Früh
lingshauch im Winter hing Ingars Parfüm in der Luft. Aber sie selbst war nicht hier. Sie war Fotoreporterin und eine sehr gute dazu. Inter nationale Spitzenmagazine rissen sich um sie. Erst vor einer Woche hatte sie für eine Bildreportage über deutsche Kernkraftwerke einen begehrten Preis eingeheimst. Die prämierten Bilder hatten die unheim liche Drohung, die von derartigen Bauwerken ausstrahlte, so eindring lich widerspiegelt, dass sogar ihm ein Eisschauer übers Rückgrat ge ronnen war. Das wollte schon einiges bedeuten, denn er war immerhin einiges gewohnt... Momentan jedenfalls hielt sich Ingar in Schottland auf, in Pitloch ry, dem vornehmsten aller Sommerkurorte der Highlands und arbeitete bereits wieder an einer neuen Reportage. Diesmal über die Highsocie ty, die sich in den palastartigen Hotels des Kurortes ein Stelldichein gab. Mike seufzte wieder. Ingars Beruf - an dem sie mit Leib und Seele hing - stand dem seinen in nichts nach. Auch er sorgte mit schöner Regelmäßigkeit für Hektik. * Über dem Loch Tummel ging die Sonne auf. Wie eine golden gleißende Kristallkugel stieg sie aus dem blaugrünen Wasser empor und fächerte zartes Pastelllicht über den See. Die Nebel, die zwischen den mächti gen Tannen der kleinen Insel im Zentrum des Loch Tummel wallten, lösten sich auf. Erste blaue Flecken waren am Himmel zu sehen. Es würde ein schöner Tag werden. Ingar Thorssen genoss diesen herrlichen Ausblick über den See. Ihr Blick schweifte in die Ferne, hin zu den bewaldeten Hängen, die beidseits der Ufer emporstiegen. Irgendwo dort hinten musste auch die Inverness-Straße liegen. Ingar wischte sich über die Stirn und wandte sich ab. Gemächlich schlenderte sie weiter. Es war erst sieben Uhr. Die Morgennebel be deckten den Boden. 17
Ingar war schon in aller Frühe aufgestanden und hatte sich auf den Weg hinauf zur Queen's View gemacht. Was sie in den drei Tagen, die sie bisher in Pitlochry verbracht hatte, alles erlebt hatte, das genügte ihr. Schlimmer als hier ging es nicht einmal in Londons City während der berüchtigten Rushhour zu. Ein fürchterlicher Rummel. Das saftige Grün der Wiesen schimmerte durch den schlierigen Bodennebel. Einige Dutzend Yards vor Ingar erhob sich düster der Colocoan Forest. Dahinter lag - so wusste sie dank den überaus blumi gen Erzählungen ihres Hotel-Managers Craig Ronfield - der Sumpf. Geister-Sumpf nannten ihn die alten Leute in Pitlochry und wenn sie davon sprachen, so flüsterten sie unwillkürlich. Ingar dachte daran, als sie immer näher an den Wald herankam. In jedem Gerücht, in jeder Legende steckte ein Körnchen Wahrheit. Vielleicht war das auch hier der Fall? Ein Windstoß, der überhaupt nicht zu dem frühlingshaften Wetter passen wollte, strich über die Ebene heran und ließ sie frösteln. Wolken jagten über den Himmel, bizarre pechschwarze Gebilde, die noch vor wenigen Minuten nicht zu sehen gewesen waren. Schlag artig wanderten Schatten über die Wiesen und Felder. Der Himmel verdunkelte sich. Das sanfte Licht des Morgens verschwand. In der Ferne war Donnergrollen zu hören. Noch nie hatte Ingar erlebt, dass ein Gewitter derart schnell he raufzog. Der Wind wurde heftiger. Ungestüm fuhr er in ihr langes Blondhaar und zerzauste es. Ingar schluckte den Kloß hinunter, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte. Der Wald vor ihr wirkte mit einem Mal bedrohlich, wie ein zum Sprung nieder gekauertes Ungetüm... Unsinn, sagte sie sich energisch. Sie hob ihre Kamera hoch und drückte auf den Auslöser. Diese Stimmung war so ungewöhnlich - sie musste sie einfach festhalten. Die Baumkronen rauschten. Irgendwo schrie ein Käuzchen. Es klang wie eine drängende Warnung. Ingar hatte ihre Bilder im Kasten. Jetzt galt es, einen Unterschlupf zu finden. Der nachtschwarze, unheil 18
schwangere Himmel ließ keinen Zweifel daran, was in den nächsten paar Minuten geschehen würde. Sie hatte ihren Mini-Cooper unten, an der Bridge of Garry, abge stellt und war - vorbei am Wasserfall von Tummel zur Queen's View herauf spaziert. Für den Rückweg würde sie mindestens zwanzig Minu ten benötigen und das war viel zu lange. Immer wütender zerrte der Wind an ihren Kleidern. Jetzt war Ingar froh, dass sie trotz des frühlingshaften Wetters ihre Jeans angezo gen hatte und den Blouson. Die ersten schweren Tropfen fielen vom Himmel. Ingar zerbiss ei nen ziemlich undamenhaften Fluch. »Komme, was da kommen will«, seufzte sie sodann achselzu ckend. Gemächlich ging sie den Weg zurück, den sie gekommen war. Rennen hatte keinen Sinn. Um diese Dusche kam sie nicht herum. Dann brach der Regen los! Gleichzeitig zuckten Blitze am nacht dunklen Firmament, verästelten sich. Donner toste. Und inmitten dieses Tohuwabohus vernahm sie plötzlich die sanf te, lockende Stimme! »Bleib stehen, Ingar Thorssen. Bleib stehen! Warum kehrst du um? Komm zu uns...« Sekundenlang wühlte diese Stimme in ihrem Geist! Es war eine te lepathische Stimme - eine Stimme von unglaublicher hypnotischer Macht! In solcherlei Dingen kannte sich Ingar aus. Sie war selbst Telepa tin. Es war eine phantastische Fähigkeit, die sie da ihr eigen nannte und sie hütete ihr Geheimnis wie einen wertvollen Schatz. Nur Mike wusste davon. Ingar stand im strömenden Regen und lauschte in sich hinein. Ih re Umgebung versank einfach. Momentan existierte für sie nur die Stimme in ihrem Kopf. Diese unheimliche, machtvolle, lockende Stim me. »Ah, ich sehe, du kannst dich bewusst mit uns in Verbindung set zen, Kindchen«, wisperte es. »Wie gut. Wie interessant! Ja, das macht dich noch interessanter für uns... Komm! Komm zu uns! Wir erwarten dich!« 19
»Wer - wer seid ihr?«, keuchte Ingar mühsam. Ihr Gesicht ver zerrte sich. Es fiel ihr fürchterlich schwer, diesen Gedanken zu formu lieren. Um es überhaupt schaffen zu können, sprach sie ihn laut aus. Die Stimme in ihrem Kopf lachte - ein hämisches, böses Lachen! »Wir sind deine Freundinnen und wollen nur dein Bestes. Deine Fähig keiten müssen genutzt werden, Kindchen...« »Komm!«, geiferte und tobte und hallte es in ihr. Mit steifen, ungelenk wirkenden Schritten ging Ingar durch den strömenden Regen auf die drohend hochragende Mauer des Colocoan Forest zu. * »Sie kommt!«, wisperte und raunte es von überall her. Der brodelnde Sumpf strahlte regelrecht Erregung aus! Die Luft, von Blitz und Donner zerrissen, zitterte. Eine unheimliche, bösartige Stimmung beherrschte den düsteren Ort. Und da erschienen sie über dem Sumpf. Sie - die Geister-Hexen! Sieben waren es... Alt und bucklig und abgrundtief hässlich! Sie hielten sich an den Händen und bildeten einen Kreis. »Sie kommt! Sie kommt!«, jubelten sie mit ihren hohen, schrillen Stimmen, die sogar den rumorenden Donner übertönten. Und sie tanzten, tanzten wie irrsinnig auf der trügerischen Fläche des Sumpfes. Dreck spritzte hoch, der zähflüssige Brei hob und senkte sich... Aber die Geister-Hexen versanken nicht darin. Der Sumpf war ihre Heimstatt, er erhielt sie am Leben, gewährte ihnen Schutz vor jedweder Verfolgung. »Ein hübsches Opfer für unseren Meister!«, kreischte Sandralja, die Anführerin der Hexen. Und ihre Gefährtinnen stimmten ein: »Ja, ja, ein sehr hübsches Opfer! Jung und schön — und vital.« »Und begabt! Sehr begabt!« »Unser Meister wird sich freuen -und uns reichlich belohnen! Das nächste Opfer wird dann wieder uns gehören - uns ganz allein!« 20
»Die nächsten beiden Opfer!« »Ja, wir müssen es von unserem Meister fordern! Die nächsten beiden Opfer für uns... Als Belohnung!« Und Sandralja hob ihre dicken, fleischigen Arme zum nacht schwarzen Firmament empor, ballte ihre Hände zu Fäusten und schüt telte sie. Die Konturen ihres Körpers verschwammen, flirrten, wandel ten sich zu einem silbrig schillernden Etwas. Die anderen sechs Hexen taten es ihr gleich. Ihre bösen Geister vereinigten sich zu einem mächtigen psychi schen Block - und strahlten ihre bösen Lock-Gedanken ab! Die Hexen wussten: Niemand vermochte ihnen zu widerstehen! Niemand! * Mit einem berstenden Krachen fuhr der Blitz in den morschen Baum, dessen kahle, verkrüppelten Äste wie eine gespreizte Skelettfaust zum Himmel hochgereckt waren. Irrsinnig schnell fing das Holz Feuer. Eine wilde, tobende Flam menlohe zuckte hoch. Der Weltuntergang! Dies ist der Weltuntergang! Mit der Wucht ei nes Prankenschlages materialisierte dieser Gedanke in Ingars Geist. Sie wich vor dem brennenden Baum zurück. Die Benommenheit, die die geisterhaften Stimmen in ihr erzeugt hatten, fiel sekundenlang von ihr ab. Blitzschnell reagierte Ingar. Instinktiv erkannte sie, dass dies ihre letzte Chance war, dem Bösen zu entkommen! Die Stimmen hatten momentan keine Macht mehr über sie. Ingar riss ihre sämtlichen Ener gien zusammen und legte einen undurchdringlichen parapsychischen Schutzschild um ihren Geist. »Kindchen... Warum... tust... du das?«, hallte der Gedankenschrei in ihr nach. Dann war alles still. Die unheimlichen Stimmen hatten keine Gewalt mehr über sie. 21
Heftig atmend blieb Ingar stehen. Sie zitterte. Ihr war kalt. Noch immer prasselte der Regen in Strömen auf sie herunter. Die ganze Welt war untergegangen, ertrunken in einem Meer aus Schwarz und zuckenden, grellen Blitzen und tobenden Donnerschlägen. Und doch hatte sie das gerettet. Ja, gerettet. Denn wenn sie den Stimmen weiter gefolgt wäre... Eine Knochenhand schien über Ingars Rücken zu streicheln - be drückend langsam. Sie befand sich im Geister-Sumpf! Hergelockt von der Gedanken stimme! Die gespenstische Wildnis kam ihr wie ein Dschungel vor. Nichts erinnerte hier mehr an die romantisch-schöne Landschaft auf Queen's View, die nicht allzu weit entfernt sein konnte. Hüfthohes Schilf wiegte sich im heftigen Regenwind. Dazwischen gab es trügerische Sandbänke und - den Sumpf. Überall raschelte und knackte es im Unterholz. Das monotone Prasseln des Regens wurde von schaurigen Vogelrufen gestört. Der Boden war höllisch glitschig, aber wenigstens trug er sie. Vor sichtig wandte sich Ingar um. Hinter ihr lag ein knapp zwei Yards brei ter Wasserlauf. Morsches Holz schaukelte darauf. »Guter Himmel«, flüsterte Ingar. Gehetzt suchte sie nach einem Ausweg aus dieser Falle. Da, rech ter Hand! Das musste der Weg sein, auf dem sie gekommen war. Das Schilf war niedergetreten. Sie zögerte keine Sekunde mehr. Eine innere Stimme riet ihr, sich zu beeilen... Jeden Augenblick konnten die Inhaberinnen der Gedan kenstimmen hier auftauchen und dann... Wieder zerfetzte ein Blitz die Finsternis. Darauf folgte rumorender Donner und ließ die Erde erbeben. Ingar ging schneller. Ringsum brodelte das Moor, als wittere es ih re Angst. Hier und da stiegen Luftblasen aus der schleimigen Flüssig keit. Wie Geisterfinger griffen Schilf und Astwerk nach Ingar. Als woll ten sie sie am Entkommen hindern. Atemlos kämpfte sie sich durch 22
Gestrüpp und Schilf. Zudem musste sie aufpassen, wohin sie trat. Ü berall konnten Sumpflöcher lauern. Immer wieder rutschte sie aus und konnte ihr Gleichgewicht nur in allerletzter Sekunde bewahren. Verzweiflung breitete sich in ihr aus. Sie hob ihren Kopf, starrte in die aufgewühlte Finsternis des Un wetters hinein. Dort vorn... Täuschte sie sich, oder sah sie dort tat sächlich den Wald? Das gab ihr neue Kraft. Sie arbeitete sich weiter vor. Schweiß strömte ihr übers Gesicht. Die Zeit schien für sie stillzustehen. Ununterbrochen blitzte und donnerte es jetzt. Die Natur war in greller Aufregung. Ingar biss die Zähne zusammen. Ihr Haar hing in Strähnen in ihr Gesicht. Sie war völlig verdreckt, am Ende ihrer Kräfte. Aber sie durfte nicht aufgeben! Nicht einmal daran denken! In ihrem Kopf drehte sich alles. Die psychische Anstrengung, mit der sie immer noch die geistige Barriere aufrecht erhielt, raubte ihr buchstäblich die Luft, schwächte sie noch mehr. Die geistigen Impulse der Unheimlichen prasselten dagegen - und wurden abgewehrt. Aber - wie lange noch? Nur Gefühle waren zu spüren: Hass, grenzenloser Hass - und Jagdleidenschaft! Ingar registrierte dies, aber sie empfand nichts dabei. Nachdenken konnte sie später, wenn es für sie überhaupt noch ein Später gab. Wer hatte sie in diesen Sumpf gelockt? Und warum? Hinter ihr flimmerte und flirrte es. Wabernde Linien verflossen in einander... rasend schnell und doch irgendwie spielerisch anmutend. Durch das Toben des Unwetters flog ein hämisches Kichern. Ingar wirbelte herum, rutschte aus - und fiel hin. Rücklings krach te sie in brackiges, stinkendes Wasser. Wie von Sinnen schlug sie um sich. Prustend kam sie wieder an die Oberfläche. Halbblind war sie. Das Dreckwasser brannte in ihren Augen. Ingars Hände flogen hoch, krallten sich in weiche, gras bewachsene Erde - und packten zu. Eine Uferböschung! Ingar begriff, dass sie gerettet war, wenn sie sich daran hochziehen konnte. 23
Wieder dröhnte ein Donnerschlag über den Sumpf. Und in diesen Schlag hinein mischte sich erneut dämonisches Gekicher. Ingar wusste, dass sie verloren hatte. Sie wusste es, obwohl alles in ihr sich dagegen sträubte. Nein! Nein!, schrie es. Bedächtig hob sie ihren Kopf. Keine fünf Schritte von ihr entfernt standen sieben alte Frauen im Sumpf. Ganz ruhig standen sie, von einer silbrig flirrenden Aura umge ben und das Tohuwabohu der Naturgewalten ließ sie noch drohender und gespenstischer erscheinen. Die zuvorderst stehende Alte hob ihre linke Hand und richtete ih ren knochigen Zeigefinger auf sie. »Warum machst du es dir und uns so schwer, Kindchen?«, fragte sie sanft und mitleidsvoll. »Wir sind deine Freundinnen, wir wollen dir nichts Böses...« »Ihr könnt mich nicht täuschen!«, schrie Ingar hysterisch. »Ich weiß genau, was ihr für Kreaturen seid. Dienerinnen des Bösen! Ich falle nicht auf euch herein!« »Nun, wenn du nicht freiwillig zu uns kommen willst, so müssen wir dich halt holen...« Die Geister-Hexen setzten sich in Bewegung. Dicht über dem blubbernden, schmatzenden Sumpf schwebten sie heran. Ingar riss sich förmlich aus dem brackigen Wasser. Glücklicher weise war es an dieser Stelle ziemlich tief gewesen, so dass sie nicht vom sumpfigen Untergrund gefangen worden war. Ihr Oberkörper glitt über die Böschung. Sofort zerrte sie sich wei ter vor. Sie überschlug sich, wirbelte ein, zwei Mal um ihre eigene Ach se. Hinter ihr wurde wütendes Gezeter laut. Die alten Weiber fluchten und schrieen. Ihre Schreie gellten in Ingars Ohren. Aber sie achtete nicht dar auf. Obwohl sie völlig entkräftet war, rappelte sie sich hastig hoch und rannte los. Der Wald, ich muss in den Wald hinein fliehen..., hämmerte es in ihrem Kopf. Vielleicht verlieren sie meine Spur... 24
Der weiche Humusboden federte unter ihren Schritten. Äste und dornenbewegte Zweige peitschten in ihr Gesicht, zerfetzten ihre Klei der. Aber Ingar hetzte weiter. Die Stimmen der Hexen blieben hinter ihr zurück. Ingar rannte und rannte und rannte. Stechende Schmerzen wühl ten in ihren Lungen. Vor ihren Augen wirbelten rote Fiebernebel. Und obwohl sie sich bewegte, obwohl ihr der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief, fror sie. Eisige Kälte kroch in sie hinein. Dann brach sie durch dichtes Gestrüpp, ihr Fuß verfing sich in ei ner Luftwurzel - und sie fiel hin. Schwer kam sie auf dem Boden auf. Sekundenlang blieb sie liegen. Weiter, du musst weiter!, sagte sie sich gehetzt. Und wieder erhob sie sich. Der Waldrand lag vor ihr. Das Unterholz lichtete sich. Die mächtigen Tannen standen nur noch vereinzelt. Weiches Moos be deckte den Boden. Ingar hetzte in großen Sprüngen weiter. Die Gegend kam ihr be kannt vor. Diese Wiesen und Felder... und dort drüben, die Büsche. Das musste der Queen's View sein! Wilde Hoffnung flackerte in ihr auf und das gab ihr neue Kraft. Plötzlich hatte sie das Gefühl, in eine neue Welt gelangt zu sein, in eine neue, gute Welt, die nichts mehr mit der gemein hatte, die sie hinter sich ließ. Sie war dem Sumpf entkommen. Und die Hexen? Waren sie noch immer hinter ihr her? Ingar wischte sich ihre nassen Haare aus der Stirn und stoppte. Rasselnd flog ihr Atem. Ihre Brust hob und senkte sich krampfartig. Eine Sekunde verging. Dann wagte es Ingar, sich umzudrehen. Der Colocoan Forest lag still und dunkel hinter den schräg wehenden Regenschleiern. Kein Laut war zu vernehmen. Keine Bewegung wahr zunehmen. Die Geister-Hexen waren verschwunden. Und sie ging weiter. Schritt für Schritt... Eine Ewigkeit lang... Unsichtbare, grausame Augen starrten ihr nach. Aber das bemerk te sie nicht. 25
*
Mike Logan trommelte ein paar Takte auf die Armlehne des bequemen Ledersessels und gähnte. Er war erst vor fünf Minuten aufgestanden. Viel zu spät. Wenn ihm das passierte, ging es ihm immer mächtig schlecht. Dann war er den ganzen Tag über nicht richtig wach. Verflixt auch, sagte er sich. Wieder sah er auf seine Armbanduhr. In drei Minuten war es halb neun Uhr. Normalerweise rief Ingar immer um acht Uhr an. Damit der Tag auch nett begann, sozusagen. Mike wurde nervös. Langsam, aber sicher. Unruhe flammte in ihm hoch. Eine unangenehme innere Stimme sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte. Instinkt war das - jener Instinkt, den man als selbstän diger Schnüffler verdammt nötig brauchte, wollte man nicht nur mit telmäßig sein. »Vielleicht duscht sie heute länger«, murmelte er vor sich hin und erhob sich. Dann ging er im Livingroom auf und ab. »Oder sie hat ganz einfach beschlossen, heute den Schönheitsschlaf der letzten paar Tage nachzuholen... Hmmm.« Die Müdigkeit fiel von ihm ab. Mike hüstelte und setzte sich wieder hin. Da rasselte das Telefon los! Unwillkürlich zuckte Mike zusammen. Seine Hand flog zum Hörer und hob ihn ans Ohr. »Logan!«, meldete er sich eine Spur zu hastig. Es knackte in der Leitung. Erstickte Atemzüge waren zu hören. »Hallo!«, brüllte Mike in die Muschel. Seine Nackenhärchen stell ten sich auf. »Mike...« »Ingar! Ingar, bist du das?« »Ja, Mike. Du - du musst kommen - so schnell wie möglich! Pit lochry... Colocoan Forest... Der Sumpf! Geister-Hexen... Sie verfolgen mich!« »Ingar, um Gottes willen! Bist du okay? Sag doch etwas! Ingar!« 26
»Ich bin ihnen entkommen. Aber ich spüre, dass sie mir schon wieder auf den Fersen sind. Sie verfolgen mich, Mike... Komm schnell... Ich... Hier geht etwas Schreckliches vor sich! Ich... kann nicht länger reden, Mike. Sie sind da! Sie holen mich... Ahhh...« Ein schrecklicher Schrei gellte durch die Leitung. Dann war das Splittern von Glas zu hören, ein dumpfer Laut, als würde ein menschli cher Körper zu Boden fallen. »Ingar!« Mike drehte schier durch. Seine Rechte verkrampfte sich so fest um den Hörer, dass die Knöchel schneeweiß hervortraten. Wieder knackte es in der Leitung. Ein höhnisches Kichern war zu hören. Dann nichts mehr. Es war vorbei. Die Verbindung war unterbrochen. Schweiß perlte auf Mikes Stirn. Langsam, bedächtig ließ er die Hand mit dem Hörer sinken. Unnatürlich sanft legte er ihn auf die Ga bel. Seine Gedanken überschlugen sich. Ganz ruhig, sagte er sich, aber das war einfacher gesagt als getan. Ingars Worte gellten in ihm nach. Immer und immer wieder. Geister-Hexen... Mike ballte seine Fäuste. Sein sympathisches, jungenhaftes Gesicht war jetzt wie aus Stein ge meißelt. Eisenhart funkelten seine rauchgrauen Augen. Komm schnell, hatte Ingar gesagt. Okay, sein Entschluss stand bereits fest. Er nahm den Hörer wieder ab und wählte. Es war die Di rektwahl von Murrays Büro im Yard-Building. Der Inspektor meldete sich umgehend, als habe er geradezu auf Mikes Anruf gewartet. Mike meldete sich und erzählte in fünf Sätzen, was passiert war. »Verdammt!«, kommentierte Ben Murray impulsiv. Der dumpfe, schmetternde Laut, der dieses eine Wort begleitete, zeugte davon, dass er wieder einmal seine Faust auf die Tischplatte gedonnert hatte. Das machte Murray nämlich für sein Leben gern, wenn er erregt war. »Ich brauche einen Hubschrauber, Ben«, sagte Mike knapp. »Geht klar, Junge. Ich komme gleich persönlich. In fünfzehn Minu ten hole ich dich in Kensington Gardens ab - bei der Albert Memorial. Okay?« »Okay!« 27
»Alles klar. Dann - bis gleich!« Mike räusperte sich. »Ben...« »Ja, was ist denn noch?«, schnappte der Inspektor ungeduldig zu rück. »Danke!« »Schon gut, Mike, Verlass dich auf mich. Ich fliege - im wahrsten Sinne des Wortes. Wir werden deine Ingar schon aus dem Schlamassel herausziehen.« Wie geschmolzenes Blei lastete die böse Ahnung in seinem Ma gen. Irgendwie glaubte er zu wissen, dass er zu spät kam. Zu spät, um Ingar noch helfen zu können... * »Herr Professor! Sie sind wieder da! Sie haben wieder ein Opfer für uns... Herr Professor - hören Sie mir überhaupt zu? Die Geister-Hexen aus dem Sumpf... Sie wollen mit Ihnen sprechen! Sie sagen...« Mit einer herrischen Bewegung unterbrach der Professor seinen Gehilfen Henry Parker. Erschrocken schwieg der untersetzte, gnomenhaft wirkende Mann. Hündisch ergeben war der Blick, mit dem er seinen Herrn bedachte. »Sag ihnen, ich komme gleich«, sagte der Professor. Seine Stim me klang eiskalt. »Ich werde es ihnen sagen. Natürlich, Herr!«, versprach der Zwerg und verneigte sich. Dann verließ er rückwärtsgehend das düste re Studierzimmer des Professors. Professor Yrmaahl lächelte böse, als er ihm nachblickte. Er genoss die Ergebenheit des kleines Mannes... und die Macht, die er über ihn hatte. Es gab nichts, was Henry nicht für ihn tun würde. Professor Julien Yrmaahl war ein Teufel in Menschengestalt - und genauso sah er auch aus. Er hatte sich dem Bösen verschrieben, schon vor vielen Jahren und das hatte ihn immer mehr verändert. Äußerlich aber noch viel mehr innerlich. Groß und breit war er gebaut, mit mächtigen Schultern und mus kulösen Armen. Seine Hände waren langgliedrig, wie die Beine einer 28
großen Spinne - die Haut unnatürlich bleich. In sein asketisch schma les, knochiges Gesicht hatten sich die Spuren eines harten, von Jäh zorn bestimmten Lebens eingefressen. Scharfe Linien lagen um den schmallippigen, stets zu einem grausamen wölfischen Lächeln verzo genen Mund. Die Augen waren rotgerändert und loderten in grellem Feuer - wie die eines Besessenen. Und Yrmaahl war tatsächlich besessen. Besessen von der Idee, mit seinen Forschungen die Welt zu verändern. Eine neue Welt wollte er erschaffen, eine Welt, wie sie ihm in seinen ausschweifenden Wahnsinnsträumen vorschwebte. Felsenfest war er davon überzeugt, dass ihm sein großes Vorha ben gelingen würde... Sein Lächeln verbreiterte sich. Ein Lächeln, das niemals die Augen erreichte. Die blickten unverändert kalt - und böse. Geschmeidig erhob sich der Professor und durchquerte den Raum. Die schweren, hölzernen Läden waren vor den Fenstern geschlossen wie immer. Yrmaahl hasste die Helligkeit des Tages. Er war ein Diener der Finsternis - und nur in der Finsternis fühlte er sich wohl. Mit einer energischen Bewegung öffnete er die Tür und trat in den finsteren Korridor hinaus, in dem es muffig roch. Soso, die Hexen haben also bereits ein neues Opfer für mich, dachte er. Er war zufrieden. Seine Verbündeten waren zuverlässig. Auf sie konnte er sich verlassen. Wenn sie weiterhin so schnell lieferten, konnte er noch in dieser Nacht mit dem großen Experiment begin nen... Die Erregung pulste in ihm hoch und schwappte schier über. Nur mühsam beherrschte er sich. Völlig lautlos stieg er die schmale Wen deltreppe hinunter, die in die Katakomben unter dem Keller seiner Villa führte. Dort unten war es finster und feucht und kalt. Schimmelpilze wucherten an den Wänden. Hin und wieder platschten Wassertropfen von der niedrigen Decke. Hier unten war sein Reich. Seine Operationsräume... Hier forschte und experimentierte er und niemand hörte die ver zweifelten Schreie seiner menschlichen Opfer. 29
Er betrat den Raum, in dem er die Geister-Hexen stets zu emp fangen pflegte. Es war ein großer Raum, mit gewölbter Decke. Die Wände waren aus Ziegelsteinen gemauert und nur nachlässig verputzt. Sieben schwarze Kerzen spendeten trübes, flackerndes Licht. Schatten tanzten an den Wänden. Eine unheimliche Stimmung herrschte. Aus strahlungen der Geister-Hexen... Aus katzenhaft schmalen Augen heraus starrten sie ihn an. Sandralja, die Anführerin der Geister-Kreaturen, räusperte sich. »Willkommen, Yrmaahl«, sagte sie. Der Spott in ihrer Stimme war unüberhörbar. Unwillig verzog der Professor sein Gesicht. Es gefiel ihm nicht, wie die Hexe mit ihm sprach. Aber er hielt sich unter Kontrolle. Er brauchte sie. »Willkommen, Sandralja. Wie ich hörte, bringst du mir ein neues Opfer?« »Du hast richtig gehört, Yrmaahl.« Sie kicherte. »Ein wertvolles Opfer, ein interessantes Opfer.« Sie deutete auf eine reglose Mäd chengestalt, die zu ihren Füßen lag. Yrmaahl nickte und ließ sich neben dem Mädchen auf die Knie nieder. Routiniert untersuchte er sie, ohne die Geister-Hexen zu be achten. Das Mädchen war ausnehmend hübsch. Sie war höchstens sechs undzwanzig, schlank, mit endlos langen Beinen. Ihr langes blondes Haar lag wie ein Schleier auf dem Boden ausgebreitet. Flach atmete sie. »Sie scheint ziemlich mitgenommen«, meinte Yrmaahl und richte te sich wieder auf. Er zeigte auf die zerrissene, schmutzige Kleidung des Mädchens. »O ja, das ist richtig. Sie hat uns Schwierigkeiten gemacht. Beina he wäre sie uns entkommen.« Yrmaahl sah seine Verbündete fragend an. »Sie ist stark«, erklärte die Hexe und machte mit ihrer rechten Hand eine anerkennende Geste. »Kein schwaches Schäfchen, wie die anderen. Sie ist telepathisch begabt. Ihre Energien sind gewaltig. Gu tes Material für dein Vorhaben.« 30
»Soso, telepathisch begabt ist sie...«, echote Professor Yrmaahl gedehnt. Sein Blick tauchte in den der Geister-Hexe. Mühelos hielt sie ihm stand. »Du kannst es glauben oder nicht, Yrmaahl«, versetzte sie. »Und wenn ich es glaube?« Lauernd stellte er diese Frage. Er glaubte schon zu wissen, was nun kam. »Wir wollen die nächsten beiden Opfer für uns behalten. Für uns allein!«, sagte Sandralja kalt. »Du weißt, was ihr mir alles verdankt! Ich war es, der euch aus eurem todesähnlichen Schlaf erweckte und ich habe euch gestärkt. Mir allein verdankt ihr es, dass ihr wieder auf die Jagd gehen könnt und mächtig und stark seid!« »Das wissen wir. Aber wir wissen auch, dass wir dir äußerst wert volle Dienste leisten. Allein dieses Mädchen hier ist für dein großes Experiment mindestens so viel wert wie zwei normale Mädchen.« »Also gut«, räumte Yrmaahl ein. »Wenn sie tatsächlich Telepathin ist, so sollt ihr euren Willen haben.« »Ich wusste, dass du großzügig sein würdest.« Yrmaahl winkte ab. »Werdet nicht unverschämt. Noch habe ich Macht über euch...« »Du brauchst uns nicht zu drohen. Wir sind dir treu ergeben. Au ßerdem...« Die Hexe legte eine wirksame Pause ein. »Außerdem sind deine Forschungen ganz in unserem Sinne. Wir wollen dich auch wei terhin darin unterstützen. Wenn dein Vorhaben tatsächlich gelingt, dann...« »Es wird gelingen!«, fauchte der Professor. »Sämtliche Versuchs reihen sind erfolgreich verlaufen! Ich werde euch eine Königin erschaf fen - erschaffen aus der psychischen Energie von sieben sterblichen Mädchen! Nichts kann fehlschlagen! Ich beherrsche die Wissenschaft und die Schwarze Magie!« Seine Stimme hatte sich schier überschlagen. In Yrmaahls Augen lag jetzt mehr denn je ein fiebriger Glanz. »Ja, ich glaube auch, dass du es schaffen wirst, Yrmaahl«, räumte Sandralja, die Geister-Hexe, ein. »Immerhin ist es dir auch gelungen, uns zu befreien und das war beileibe nicht einfach. Nun, wir werden ja 31
sehen.« Mit einer nachlässigen Kopfbewegung deutete sie auf das Mädchen am Boden. »Nimm sie. Und achte gut auf sie...« »Wo habt ihr sie aufgetrieben?« »Sie kam dem Sumpf zu nahe«, kicherte Sandralja. »Ich verstehe.« »Trotzdem... Vergiss nicht, dass sie gefährlich ist. Sie konnte un serem Lockruf widerstehen. Und sogar aus dem Sumpf entkam sie. Wir erwischten und überwältigten sie in letzter Sekunde, bevor sie Hilfe herbeirufen konnte. In einer Telefonzelle...« »Verdammt, das gefällt mir gar nicht!« Yrmaahl starrte auf das Mädchen. Sie sah so harmlos aus... und doch sollte sie über eine derart ernstzunehmende Fähigkeit wie Ge dankenlesen verfügen? Kaum zu glauben. Andererseits - es gab für die Hexen keinen Grund, ihn zu belügen. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Yrmaahl«, versicherte Sandralja. »Wir passen schon auf, dass dir niemand zu dicht auf den Pelz rückt!« Der Professor ging nicht auf den spöttischen Ton ein. »Gut. Wie heißt sie?« »Ingar Thorssen«, antwortete Sandralja. »Sie ist Fotoreporterin... und sehr hübsch. Ich sehe es dir an: Sie gefällt dir, Yrmaahl...« Ein hämisches Lachen folgte diesen Worten. Der Professor sah sie nur stumm an. Eiskalt strahlten seine hölli schen Augen - und die Geister-Hexe verstummte augenblicklich. Sie wusste genau, dass sie es nicht wagen durfte, zu weit zu gehen. Yr maahl hatte sie in der Gewalt. Diesbezüglich hatte er vorhin keinesfalls geblufft. »Verzeih mir, Yrmaahl«, krächzte Sandralja mit belegter Stimme. »Schon gut. Verschwindet jetzt. Lasst mich allein. - Und sorgt da für, dass es von dieser Ingar Thorssen keine Spuren mehr gibt. Ihr wisst schon, was ich damit meine...« »Selbstverständlich, Yrmaahl!« Die Geister-Hexen entmaterialisierten. Es war ein gespenstischer Anblick, aber der Professor war daran gewöhnt. Er empfand ihn nicht einmal mehr als ungewöhnlich. 32
In bizarren Lichtlinien und grellen energetischen Entladungen ver gingen sie. Ihre buckligen, fetten Körper wurden durchscheinend. Schwefeldämpfe wallten. Rötliche und violette Flämmchen tanzten und wirbelten. Dann war der Spuk vorbei. Yrmaahl rief nach Henry. Augenblicklich tauchte der Gnom wie aus dem Boden gewachsen hinter ihm in der Türöffnung auf. »Sie haben mich gerufen, Herr?« »Bring das Mädchen in den Versuchssaal, zu den anderen. Und achte mir gut auf sie. Sie ist wertvoll. Du haftest mir mit deinem häss lichen Schädel für sie. Ist das klar?« »Ja, Herr! Ich passe auf. Sie können sich voll auf mich verlassen.« »Das will ich auch hoffen. - In deinem Interesse...« Yrmaahl wandte sich ab und begab sich wieder in sein Studien zimmer hinauf. Aufatmend ließ er sich in den wuchtigen Ohrensessel fallen und starrte aus brennenden Augen auf die Papiere, die auf sei nem Schreibtisch ausgebreitet lagen. Fünf Mädchen, dachte er schließlich, als sich seine Gedanken eini germaßen beruhigt hatten. Bald kann mein großer Plan verwirklicht werden. Bald, sehr bald... Und wenn es ihm erst einmal gelungen war, einen künstlichen Geist zu erschaffen, so gelang es ihm immer wieder. Dann konnte er sich eine Armee Geister aufstellen. Eine Hexen-Armee, die von nichts und niemandem auf der Welt aufgehalten oder gar besiegt werden konnte! Nur ihm würden die Geister-Kreaturen gehorchen! Ihm, ihrem Herrn und Meister, dem Schöpfer des Grauen! Yrmaahl kicherte böse. Ja, seine Zukunftsträume waren in ein ent scheidendes Stadium getreten. Wenn weiterhin alles planmäßig verlief, dann würde er sie schon in wenigen Stunden verwirklicht haben! * Geduckt, mit großen, federnden Schritten, rannte Mike zu dem Yard-
Hubschrauber hinüber. Es war ein massiges, stabil gebautes Sikorsky
33
Modell. Einen Augenblick lang übertönte das laute Knattern der Roto ren jeden anderen Laut. Mike kletterte die Trittleiter hoch, riss die Luke zurück und enterte das Cockpit. Murray saß im Pilotensitz und nickte ihm grüßend zu. »Du hast drei Minuten Verspätung, Freund!«, empfing er ihn - wie immer brummig. Mike winkte ab und ließ sich auf den Sitz des Co-Piloten fallen. Rasch schnallte er sich an. »Reg dich ab, Ben.« »Pünktlichkeit ist eine Zier...« »Bitte, Ben.« »Schon gut«, nuschelte der Inspektor und zog den großen Vogel hoch. Mike warf ihm einen Seitenblick zu. Sein Freund hatte sich seit seiner großen Hungerkur vor einem halben Jahr kaum verändert. Es war ihm tatsächlich gelungen, sein Gewicht zu halten. Murray war untersetzt und der unvermeidliche Trenchcoat, den er nicht einmal als Pilot ablegte, ließ ihn massiger erscheinen, als er war. Sein Gesicht war ein typisches Polizisten-Gesicht: Hart, kantig, mit kalten, stechenden Froschaugen. Alles in allem sah Murray genauso mürrisch aus, wie er sich zu geben pflegte. Dass unter dieser rauen Schale dennoch ein weicher Kern saß, das wusste Mike. Murray war ein feiner Kerl - und der beste Freund, den er sich vorstellen konnte. Sie schwiegen. Murray kaute auf seinem Kaugummi herum - das Rauchen hatte er ebenfalls aufgesteckt - und wirkte mächtig konzentriert. Die Arma turen lagen in einem grünlichen Schein. Mike kannte sich auch ein bisschen aus. Höhenruder, Seitenruder, Öldruck und Benzinpumpe alles musste im Auge behalten werden. »Du fliegst wie ein junger Gott«, kommentierte er schließlich, um das Schweigen zu brechen. »Dank für die Blumen.« Murray wandte seinen Schädel und grins te verwegen. Dann wurde er wieder ernst und wechselte das Thema. »Hoffentlich kommen wir noch rechtzeitig. Ich meine - das, was du mir 34
am Telefon gesagt hast, lässt nicht viel Aussicht auf Hoffnung. Wenn diese Geister-Hexen sie gekidnappt haben...« »Vorausgesetzt, sie haben sie nur gekidnappt«, schränkte Mike düster ein und starrte auf seine Fingerspitzen, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. In der letzten Minute hatte er sich verzweifelt abgemüht, nicht an das zu denken, was Ingar passiert sein konnte. Mit aller Kraft riss er sich zusammen. Sagte er sich, dass er erst mal nach Pitlochry musste. Dort würde er dann schon Einzelheiten in Erfahrung bringen. Sie ließen Manchester und den Yorkshire Dales National Park hin ter sich zurück. Schon längst hatte sich Mike an das monotone Knat tern der Rotoren gewöhnt, das im Cockpit als unablässiges, gedämpf tes Rumoren zu hören war. Die Maschinen liefen sauber und rund. Das war es auch nicht, was Mike beunruhigte. Immer massiger blähten sich die pechschwarzen Gewitterwolken vor ihnen auf. Hin und wieder wetterleuchtete es. Das ganze Land schien von einem grau schwarzen Schleier überzogen. Unheimliches, schwefelgelbes Licht war vorherrschend. Und sie flogen direkt auf dieses Gewittergeschwür zu, das über dem Horizont kauerte. Mike holte tief Luft und räusperte sich frei. »Was sagt eigentlich der Superintendent zu deiner Exkursion?«, fragte er, nur um etwas gesagt zu haben. Er musste auf andere Gedanken kommen. Nicht im mer an Ingar denken... Du machst dich verrückt, sagte er sich. »Russel? Ach, der...« Murray winkte lässig ab. »Seit er den Dämp fer vom Comissioner bekommen hat, ist er lieb und umgänglich wie ein neugeborenes Lämmchen. Er hat wohl oder übel eingesehen, dass ich zwar unkonventionell - jedoch mit einer recht ordentlichen Erfolgsquo te arbeite. Na ja... Das hat wohl den Ausschlag gegeben. Wenigstens ein Vorteil, den unsere Leistungsgesellschaft hat.« »Und wenigstens eine gute Nachricht«, versetzte Mike und lächel te knapp. Kurz musste er daran denken, dass der Superintendent frü her keine Mühe gescheut hatte, Murray ein Bein zu stellen. Das hatte die Arbeit des Inspektors mächtig behindert. Er hatte es immer mit 35
zwei Gegnern zu tun gehabt - und einer davon war eben stets der Su perintendent Russel gewesen. »Wie gehen wir vor?«, stellte Ben nun eine andere Frage. »Wir müssen wohl oder übel erst einmal herausfinden, von wo aus Ingar mich angerufen hat. Dann können wir ihre Spur zurückverfolgen. Sie hat vom Colocoan Forest gesprochen und vom Sumpf...« »Das ist ziemlich vage. Soviel ich weiß, ist der Colocoan Forest nicht gerade klein.« »Der Sumpf auch nicht, ich weiß. Aber vielleicht kann uns der Ma nager des Pitlochry Hilton etwas sagen. Die Burschen hören doch das Gras wachsen.« »Hhm. Schon. Aber deine Ingar scheint mir nicht der Typ Frau zu sein, der sich morgens beim Manager ihres Hotels abmeldet und auch noch sagt, wohin sie zu gehen vorhat.« »Da hast du auch wieder Recht. Aber ich - ich halte mich an jedem Strohhalm fest.« Ben nickte. »Kann ich doch verstehen. - Pitlochry Hilton, das hört sich ziemlich großspurig an.« »Das dürfte ja wohl auch der Sinn der Sache sein.« »Aha.« »Du machst eben zu selten Urlaub.« »Ich gelobe Besserung.« »Wenn wir in Pitlochry angekommen sind, werde ich versuchen, zu Balthasar Kontakt zu bekommen«, meinte Mike nachdenklich. »Du hast schon lange nichts mehr von ihm gehört, nicht wahr?« Murray warf ihm einen raschen, lauernden Blick zu. Er mochte den kleinen Geist - auch wenn er dies natürlich nicht offen zugab und eine gepflegte Hassliebe zu ihm unterhielt. Balthasar Rufus Schwarzschwert war aber auch ein Bursche, der es einem nicht leicht machte. Seine Zunge war mindestens ebenso scharf wie ein Ra siermesser - und sein Humor so schwarz wie die unterste Sohle eines Kohlenbergwerks. Dazu war er so ziemlich der respektloseste Zeitgenosse, den man sich denken konnte. 36
Und gerade diese letzte Charaktereigenschaft war es, die Murrays Blutdruck schon mehr als einmal hatte gefährlich in die Höhe schnellen lassen. An all das musste Mike denken und deshalb ließ er sich mit seiner Antwort Zeit. Ben Murray legte das natürlich falsch aus. »Du verheimlichst mir doch etwas!«, grollte er. »Nein!« Mike schüttelte den Kopf. »Unser kesser Geister-Freund hält tatsächlich schon ziemlich lange Sendepause.« »Na ja, vielleicht hat er Besseres zu tun, als uns armseligen Men schen zu helfen.« »Das letzte Mal erzählte er mir etwas von hübschen GeisterMädchen...« Murray verdrehte die Augen. An den Gedanken, dass Balthasar ein waschechter Geist war, konnte er sich einfach nicht gewöhnen. Auch wenn er als Brite durchaus, geneigt war, Gespenster, Geister und der gleichen ernst zu nehmen und durch mehrere entsprechende Aben teuer - unter anderem auch - an Mikes Seite sogar hieb- und stichfeste Beweise für die Existenz derselben erhalten hatte. Aber mit Balthasar Rufus Schwarzschwert war das eben so eine Sache. Der Bursche war zu menschlich! Mike deutete Bens Schweigen als Aufforderung, weiter zu spre chen und so fuhr er fort: »Weißt du, er ist noch immer der Ansicht, dass er seinem Vater, dem altehrwürdigen Merlin, Konkurrenz machen muss. Der hat es nämlich auf siebzehn uneheliche Nachkömmlinge gebracht.« »Sag mal - das glaubst du Balthasar?« »Er hat eigentlich keinen Grund, mich anzuschwindeln.« »Na, ich weiß nicht!« Murray schüttelte seinen kantigen Schädel und schürzte die Lip pen. Ein leiser Pfiff ließ Mike aufmerksam werden. »Jetzt geht es los!«, murmelte Murray erschrocken. Vergessen war die entspannte und lockere Atmosphäre, die in den letzten paar Minuten zwischen ihnen aufgekommen war - und ihre Sorge um Ingar verdrängt hatte. 37
Die Gewitterwolken waren jetzt allgegenwärtig. Düsternis herrsch te. Blitze zuckten. Es sah so aus, als hätten sich sämtliche Naturgewalten gegen sie verschworen - als hätten sie sich zusammengefunden, um den, vergli chen mit ihnen winzigen Metallvogel der Menschen mit Blitz und Don ner zu vernichten! Wütend fauchte ein Sturmwind heran. Die Wolken gerieten in hek tische Bewegung - und sekundenlang glaubte Mike, fürchterliche Hor ror-Fratzen darin zu erkennen. Fratzen, die zu triumphierendem Grin sen verzerrt waren! Murrays Gesicht wurde grau. Seine Hände umfassten den Steuer knüppel fester. Dann lief ein Ruck durch den Hubschrauber. Die Maschine stemm te sich den tobenden und heulenden Gewalten förmlich entgegen. Ü bergangslos prasselten riesige Regentropfen gegen das Plexiglas des Cockpits und überzogen es mit milchigem Schleier, der die Wolken noch düsterer und drohender erscheinen ließ. Murrays Blick heftete sich auf die Kontrollen. Jetzt flog er nicht mehr ausschließlich auf Sicht, das wäre lebensgefährlich gewesen. Unter ihnen gab es nur noch aufgewühltes, brodelndes, schwar zes, graues Nichts! Die Erdoberfläche war darunter begraben! »Glaubst du, dass das Sauwetter natürlichen Ursprungs ist?«, knirschte Murray. »Keine Ahnung... Die Fratzen vorhin...« »... können eine Einbildung gewesen sein«, vollendete Murray. »Bei dir und bei mir?« »Ach...« Es hörte sich wie ein Fluch an. Dann hatte Murray wieder genug damit zu tun, den Hubschrauber zu halten. Mikes Nerven spannten sich an. Die Zeit verstrich langsam, un heimlich langsam! Und jetzt noch dieses Unwetter... Das kostete zu sätzlich Zeit. Immer vorausgesetzt, sie überstanden es heil - und da nach sah es momentan überhaupt nicht aus. 38
Murray bewies, dass er seinen Pilotenjob beherrschte. Im Krieg hatte er unzählige Einsätze geflogen - allerdings stets im Heimatland. Er war im Nachschub tätig gewesen. Glücklicherweise, wie er immer sagte. Murray hasste nichts so sehr wie den Krieg. »Ich gehe tiefer«, sagte er, halb zu sich selbst. Die Rotoren wirbelten - dunkle Schemen vor einem noch dunkle ren Himmel. Wieder wurde der Hubschrauber durchgeschüttelt. Das Metall ächzte. Immer schlechter wurde das Wetter. Der Druckkörper dröhnte und knarrte unter dem wütenden Ansturm der Naturgewalten. Donner grollte. Blitze rissen den Himmel auf, verästelten sich und rasten bodenwärts. In Mikes Herzgegend entstand ein eisiges Gefühl. »Schaffst du es?«, fragte er. Murray verzog sein Gesicht zu einer wüsten Grimasse. In seinen Froschaugen glomm ein harter Funke. »Es wäre vielleicht nicht übel, wenn du ein bisschen beten würdest«, meinte er sarkastisch. Dann kam der nächste Schlag. Jaulend, kreischend, heulend fegte die Sturmbö heran! Der Hubschrauber wurde davon erfasst und wie ein welkes Blatt herumgewirbelt! Aus!, schoss es durch Mikes Sinn. Aus und vorbei! * Da! - Da war es wieder, dieses scheußliche Gefühl! Als würde er von unsichtbaren Dämonenaugen beobachtet werden. Craig Ronfield blickte sich gehetzt um, aber er konnte niemanden sehen. Die große Empfangshalle des Pitlochry Hilton war völlig leer. Die geschmackvoll platzierte Sitzgruppe aus echtem Leder - noch vor ein paar Minuten Zentrum einer kichernden und lautstark diskutierenden Gruppe älterer Damen und Herren - ebenfalls. Er war ganz allein. 39
Craig Ronfield wischte über die blitzsaubere Teakholzplatte seiner Rezeption und leckte sich über die Lippen, die sich plötzlich wie blut leer anfühlten. Richtig spröde waren sie geworden. Seine hellen, wässerigen Augen, die in einem haarlosen, rundli chen Gesicht saßen, dem etwas von einer Bulldogge anhaftete, husch ten hierhin und dorthin. Das Ergebnis aber blieb nach wie vor das glei che. Er war allein. Niemand beobachtete ihn. Trotzdem... Ronfield hüstelte. So unangenehm wie jetzt hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Vielleicht ist es das Wetter, dachte er besorgt. Der plötzliche Wet
terumschwung vorhin, das hält ja niemand aus.
Dabei hatte der Tag heute Morgen so viel versprechend angefan gen. Herrlich blauer Himmel, dazu ein leichter Frühlingswind. Und dann - urplötzlich - dieses Unwetter! Ronfield schüttelte empört den Kopf. »Unmöglich!«, murmelte er. »Wirklich unmöglich!« Er seufzte und trat vor seine Rezeption. Momentan konnte er sich dies erlauben. Das Haus war leer. Das Wetter hatte sich wieder eini germaßen gefangen und am Horizont zeigte sich sogar wieder schüch tern blauer Himmel. Es war zwar nicht mehr so warm wie vor einer Stunde, aber seine Gäste hatten den neuerlichen Umschwung sofort genutzt - und waren ausgeschwärmt. Gemessenen Schrittes marschierte Craig Ronfield - Teilhaber und Empfangschef des Pitlochry Hilton in Personalunion - durch die Halle, wischte hier, ein imaginäres Stäubchen fort und ruckte da eine Boden vase mit kunstvoll arrangierten Seidenblumen zurecht. Ein paar Minuten verstrichen und über seiner Arbeit vergaß er so gar das Gefühl des Beobachtetwerdens. Er war Hotelier mit Leib und Seele. Das Pitlochry Hilton war sein Leben. Dafür opferte er sich auf nun, wenigstens sah Craig Ronfield dies so. Er beendete seinen Rundgang. Nichts Verdächtiges ließ sich fest stellen. Aufatmend wollte er hinter seine Rezeption zurückkehren und sich wieder der Lektüre der Times widmen. 40
Das war der Augenblick, in dem er das Kichern hörte! Hinter ihm war es verklungen! Wie von einer Tarantel gebissen, kreiselte Craig Ronfield herum. Er war vierundfünfzig, aber das sah man ihm nicht an. Seine Reflexe waren auch noch okay. In Rekordzeit brachte er die Drehung hinter sich - und starrte in den im Dunkel liegenden Korridor, der in den großen, freundlich einge richteten Speisesalon führte. Von dort drüben war das Kichern gekommen. Craig Ronfield wuss te, dass er sich nicht täuschte. Er hatte es deutlich gehört. Unheimlich und boshaft war es gewesen. Aber zu sehen war nichts. Dennoch setzte er sich in Bewegung. Eine unbestimmte Angst fla ckerte in ihm hoch. Wieder musste er an das komische Gefühl von vorhin denken. Sein Vergleich mit den unsichtbaren Dämonenaugen fiel ihm ein... Ronfield schluckte tapfer. Obwohl ihm überhaupt nicht wohl war in seiner Haut, achtete er auch jetzt noch auf korrekte Bewegungen. Er schritt dahin, als gelte es, den ersten Preis im Stolzieren zu gewinnen. Dann erreichte er den Korridor. »I-ist da jemand?«, hauchte er. Dann, als keine Antwort erfolgte, räusperte er sich und fragte lauter: »Hallo? Wer ist dort?« Mühelos durchdrangen seine Blicke das milde Zwielicht. An den holzgetäfelten Wänden hingen großformatige Ölbilder in prächtigen Goldrahmen. In regelmäßigen Abständen waren Blumensäulen plat ziert. Von der ebenfalls holzgetäfelten Decke hingen schwere Kristall leuchter. Ronfields Rechte tastete nach dem Lichtschalter. Meine Nerven, dachte er nervös. Himmel, meine Nerven! Er drehte den Schalter um. Aber es flammte kein Licht auf. Dafür ertönte die eiskalte Frauenstimme! Direkt neben ihm! »Bleib stehen! Und keinen Laut, Ronfield, sonst stirbst du!« Ronfield erstarrte. Jäh raste die Angst durch seinen hageren Kör per. 41
»So ist es brav, Ronfield. Ganz ruhig...«, wisperte die fürchterliche Stimme wieder. »Ich werde tun, was Sie sagen«, hauchte der Hotelier atemlos. Ganz vorsichtig bewegte er seinen Kopf nach rechts, dorthin, wo die Stimme erklang. Seine Neugier war beinahe noch mächtiger als seine Angst. Him mel, er hatte doch niemanden in dem Korridor stehen sehen. Und doch gab es jetzt diese Stimme. Als er die Erscheinung sah, traf ihn fast der Schlag! Schwarzer Nebel wallte vor der Wand. Und aus dieser Wand heraus - trat eine in zerfetzte Lumpen gehüllte alte Frau. Strähnig hing ihr langes Haar auf ihre gebeugten Schultern nieder. Bosheit und Verschlagenheit prägten das breitflächige Gesicht mit der großen, vorspringenden Adlernase. Ihre Arme waren vorgestreckt, die Hände zu Klauen gespreizt. Deutlich sah Craig Ronfield die überlangen, spitz zulaufenden Finger nägel der Alten. Er starrte sie nur an. Kein Ton kam über seine Lippen. Er war total geschockt. Dann baute sich die Alte vor ihm auf. Widerlicher, süßlicher Mo dergeruch stieg in Craig Ronfields Nase. Pikiert verzog er sein Gesicht. Seine Fassung kehrte zögernd zu rück. »D-darf ich fragen...« Er brach verzweifelt ab, weil ihm die un freiwillige Komik seines Verhaltens bewusst wurde. Er stand einem Phantom gegenüber! Einer Geister-Hexe aus dem Sumpf! Nur zu gut kannte er die alten Legenden, die von diesen fürch terlichen Kreaturen berichteten. Nicht zuletzt ihretwegen hatte er sein Leben lang den Colocoan Forest, den Sumpf - überhaupt die ganze Gegend auf Queen's View oben gemieden, obwohl sie landschaftlich äußerst reizvoll war. Aber - wie er jetzt sah - hatte das alles nichts genutzt. Jetzt stand eine dieser Geister-Hexen vor ihm! Craig Ronfield fühlte sich hundeelend. Er starrte das unheimliche Wesen an - und es erwiderte seinen Blick. Wie eine Schlange, die ihr Opfer hypnotisiert. 42
»Hör mir zu, Ronfield«, sagte die Alte sodann mit einer nervzer reißenden Krächzstimme. Ihr ausgestreckter Zeigefinger tippte auf die Brust des Hoteliers. »Hör mir gut zu...« »Ja, ich... Natürlich!«, würgte er hilflos hervor. »Eine gewisse Ingar Thorssen wohnte hier...« Es war eine klare Feststellung, keine Frage. Ronfield nickte. »Ja«, versetzte er, »ja, sie wohnt hier.« »Sie wohnte!«, berichtigte die Hexe eiskalt. »Sie ist abgereist, heute morgen. Du wirst alles veranlassen, dass dies auch offiziell so aussieht.« »Aber das geht doch nicht!« »Du wirst ihre Koffer packen und verschwinden lassen. Niemand darf erfahren, dass sich das Kindchen hier aufhielt«, sagte die Hexe unbeirrt und mit einer erschreckenden Bestimmtheit. Immer zwingender wurde ihr Blick. Ihre Augen schienen förmlich aufzuleuchten - blut rot, wie die eines unsagbar bösartigen Monsters. Ronfields Widerstand zerbröckelte. »Ich - ich werde alles tun, was Sie verlangen!« * »Festhalten, Mike!«, brüllte Murray. Die Realität verging in einer irren Symphonie aus Krachen, Bersten, Kreischen, Jaulen und Tosen. Metall knackte und knisterte. Das Prasseln des Regens, das Rumoren des Donners und das brutale Gleißen der Blitze vermischten sich darin. Und dann - ganz plötzlich - herrschte Ruhe! Waren sämtliche Geräusche wie - abgeschaltet! Mike konnte es nicht fassen. Seine weit aufgerissenen Augen starrten hinaus, erfassten, dass das Tohuwabohu nach wie vor rings um den trudelnden Hubschrauber wütete. Angst wühlte sich in Mikes Magengrube - eine Angst, die er noch nie in derartiger Intensität empfunden hatte. Trotzdem begriff er eines: Dies war weder ein normales Gewitter noch eine normale Ruhe! Irgendjemand manipulierte beides! 43
»Ich hab' ihn, Mike!«, schrie Murray so laut, dass es schmerzte. »Verdammt, ich habe ihn wieder in einer stabilen Flugbahn! Ein Wun der!« Mike hatte es schon mitbekommen. Aber die Geschehnisse liefen jetzt so schnell ab, dass sie das Wunder mühelos ausstachen - bedeu tungslos machten. Vor ihnen entstand ein heller, violett umrandeter Fleck, der sich rasch vergrößerte... Plötzlich zog er sich auseinander wie ein riesiges Maul! Die Helligkeit wurde noch mächtiger - und der Hubschrauber glitt darauf zu, wie an unsichtbaren Fäden gezogen. Dann glitt er hinein... Und im nächsten Augenblick durchbrach er die brodelnde Gewit terküche! Ebenso schlagartig, wie vorhin die Stille gekommen war, war jetzt das Unwetter verschwunden! Ja, regelrecht verschwunden! Zarte Dunstschleier wogten. Über dem Land, das in saftigem Grün erstrahlte, lagen wunderschöne Farbtöne. In der Ferne spannte sich ein Regenbogen über einem gewaltig großen See. »Verdammt, verdammt, Mike. Ich kapiere das nicht! Wenn mich nicht alle guten Geister im Stich lassen, dann ist das da unten...« »... das Loch Tummel!«, vollendete eine raue, krächzende Stimme hinter ihm. »Und wo das Loch Tummel ist, da ist auch Pitlochry nicht mehr weit!« Murray riss seinen Schädel herum. Seine Froschaugen drohten vollends aus den Höhlen zu quellen. »Nein!«, stöhnte er in komischer Verzweiflung. Mike konnte den Inspektor mehr als gut verstehen. Er brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um zu wissen, wer da hinter ihnen er schienen war. Solcherlei Kunststückchen brachte nur einer in derarti ger Vollendung fertig: Balthasar Rufus Schwarzschwert. Nur er verstand es, derart wirkungsvoll aufzutreten, wenn man ihn am wenigsten erwartete! »Balthasar!«, krächzte Murray endlich. »Klar, Inspektor«, tönte Balthasars Reibeisenstimme im Brustton der Selbstverständlichkeit. Von Bescheidenheit hatte der Geist ohnehin noch nie sonderlich viel gehalten. »Ich konnte doch nicht zulassen, 44
dass meine besten Freunde einfach bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kommen. Das wäre doch wirklich... Na ja, ihr wisst schon.« »Deine besten Freunde«, echote Murray. Seine Gesichtsfarbe wechselte von einem mehligen Weiß zu kräftigem Rot. »Dann warst du das also... Ich meine, dieses Gewitter...« »Quatsch, Ben. Ich hab' euch aus dem Gewitter herausgeholt und, um Zeit zu sparen, gleich hierher, nach Pitlochry befördert. Na ja, meine Freunde aus dem Geisterreich haben auch ein bisschen zuge langt. Aber ansonsten haben wir mit diesem Gewitter nichts zu tun. Das verdankt ihr sozusagen der Konkurrenz.« »Den Mordgeistern, was?« »Genau denen. Du darfst nicht vergessen, dass wir auf deren Ab schussliste ganz oben stehen, weil wir ihre Prinzessin Parashthaar dorthin geschickt haben, wohin sie gehört, in die allertiefste Hölle! So, aber nun genug geplaudert, Ben. Du solltest dich um deine Instrumen te kümmern. Ein zweites Mal kann ich euch nämlich nicht retten. Schließlich bin ich ein Geist - und kein Supermann!« Murray fluchte und wandte sich um. »Immer diese Flucherei«, schimpfte Balthasar empört. »Dabei hilft die auch nichts. Du solltest froh sein, dass du noch lebst. Ach ja... Un dank ist der Lohn! Da fragt man sich wirklich, wofür man sich so abra ckert!« »Wenn du nicht ganz schnell aufhörst, werde ich...« Balthasar unterbrach den Inspektor. »Da unten, Ben. Ein prima Landeplatz...« »Aufgehoben ist nicht aufgeschoben«, brummte Murray grimmig. »Hört endlich auf!«, mischte sich jetzt Mike ein und drehte sich jetzt doch um. »Hi, Mike!«, sagte Balthasar zuckersüß und lehnte sich zurück. Das konnte er sich trotz des engen Cockpits erlauben. In seinem mate riellen Körper brachte er es nämlich lediglich auf eine Größe von eins zwanzig. So, wie er sich jetzt hinlümmelte, war er wirklich ein un scheinbares Kerlchen. Aber dieser erste Eindruck täuschte ganz gewal tig. Man erkannte es, wenn man in die großen, unergründlichen Äuglein blickte. 45
Sein Gesicht war rundlich, die Haut leicht gebräunt und runzelig. Zahllose Furchen waren darin eingegraben. Und um die Augen und den Mund herum waren sie besonders tief. Sie verrieten am deutlichs ten, dass Balthasar Rufus Schwarzschwert ein Bursche war, dem der Schalk im Nacken saß, der gern lachte. Wäre da nicht der gewaltige schlohweiße Rauschebart, der sofort an den Nikolaus denken ließ, so hätte man Balthasar für eine gelungene Mischung zwischen Jean Paul Belmondo und Louis de Funes gehalten. So aber erkannte man diese Ähnlichkeit erst auf den zweiten Blick. Balthasars Gesicht wirkte ehrlich und hintergründig zugleich. Wie alt er war, das war unmöglich zu schätzen. Balthasar war weder alt noch jung - sondern höchstens beides. »Du siehst mich an, als würdest du mich gleich auffressen wol len«, versetzte er unvermittelt und grinste höchst unverschämt. »Wir haben uns ja auch lange nicht gesehen. Außerdem bist du nun mal der schönste Geist, den ich kenne!« »Waugh!« »Nun und dazu hast du uns gerade das Leben gerettet«, fuhr Mike - nun ebenfalls grinsend - fort. »Eben, eben. Endlich wird das auch mal entsprechend gewür digt.« Balthasar nickte eifrig. Seine Äuglein rollten. Murray fluchte wieder. »Banause!«, versetzte Balthasar übertrieben giftig. Dann wandte er sich wieder Mike zu, ein liebenswürdiges Lächeln auf dem Gesicht. »Aber nun genug der Lobeshymnen. Du weißt ja, dass ich immer ge waltig verlegen werde, wenn du ›danke‹ sagst.« Ben Murray stöhnte lästerlich. »Hör dir das nur an, Mike! Muss ich mir das gefallen lassen? Hat man als anständiger Geist nicht einmal das Recht auf eine gewisse Achtung?« Mike bemühte sich, ein nachdenkliches Gesicht zu produzieren. »Hör einfach nicht hin«, riet er dann. »Keine schlechte Idee. Ich werde den Burschen einfach mit Ver achtung strafen. Jawohl, genau das!« 46
Mike nickte und kam zur Sache. Sein Gesicht wurde wieder ernst. »Wer genau hatte es auf uns abgesehen, Balthasar.« »Ich sagte es euch doch schon: Die bösen Geister, die Untertanen der Prinzessin Parashthaar. Die mögen uns nämlich nicht besonders. Schon seit langem suchen sie nach einer Gelegenheit, uns eins auszu wischen. Und vorhin war diese Gelegenheit eben gekommen.« »Dann hat die ganze Sache also nichts mit Ingars Entführung zu tun?« »Ingar entführt? Hey, das höre ich gerade zum aller ersten Mal! Sag bloß...« Balthasar richtete sich kerzengerade auf. Sein Gesicht chen wurde so weiß wie der Rauschebart. »Es ist leider die Wahrheit, Balthasar. Deshalb sind wir ja auch nach Pitlochry unterwegs...« Mike erzählte ihm kurz, was sich zugetra gen hatte. »Geister-Hexen...«, wiederholte Balthasar, nachdem sein Freund und Kampfgefährte fertig war. »Ich weiß natürlich, dass es die Hüb schen gibt, aber dass sie wieder aktiv sind... Nein, davon hatte ich wirklich keine Ahnung! Großes Gaunerehrenwort!« »Und so was schimpft sich Geist!«, polterte Murray boshaft. In ei ner weiten Schleife ließ er den schweren Vogel niedersinken. Balthasar ging überhaupt nicht darauf ein. »Der Anschlag auf euch hat jedenfalls nichts damit zu tun, das weiß ich genau. Das war allein Sache von Parashthaars Mordgeistern. Sie werden es immer wieder versuchen. Aber Ingar - Ingar wurde nicht von ihnen entführt. Das wüsste ich doch. Also: Jemand anders muss dahinter stecken. Ich kriege es raus, Mike, ganz bestimmt. Verlass dich nur auf deinen alten Kumpel Balthasar!« »Sowieso!« »Gut und noch etwas, Mike...« »Was denn?« »Kauf deinem Freund Ben Murray endlich einen Maulkorb. Er wird immer bissiger, finde ich!« * 47
Ingar erwachte übergangslos. Sekundenlang war sie nicht in der Lage, einen vernünftigen Ge danken zu fassen. Sie lag einfach da, starrte an eine weißgekalkte De cke, die von silbrig glänzenden Spinnennetzen überzogen war und von seltsamen schwärzlichen Pilzen und lauschte in sich hinein. Eine seltsame Leere herrschte in ihr! Endlich registrierte sie das schmerzhafte Ziehen in ihren Beinen. Jetzt breitete es sich aus, griff auf ihren Bauch, ihre Arme und Finger über, als sei es dadurch, dass sie es bemerkt hatte, zu irrsinniger Akti vität angespornt worden. Ganz langsam begriff Ingar, das sie lebte, dass die Geister-Hexen sie nicht umgebracht hatten. Die letzten Sekunden vor dem wuchtigen Schlag, der ihr die Besinnung geraubt hatte, liefen noch einmal blitz schnell vor ihrem geistigen Auge ab. Sie hatte eine Telefonzelle ausgemacht, auf jenem Parkplatz, auf dem sie ihren Mini-Cooper abgestellt hatte. Mit letzter Kraft hatte sie Mikes Nummer gewählt... Er hatte abgenommen, mit ihr geredet. Was - das konnte sie jetzt nicht mehr sagen. Sie hatte es vergessen. Dann waren die Sumpf-Hexen gekommen. Wie eine fürchterliche schwarze, flimmernde Woge waren sie herangebraust. Der Glaskasten der Telefonzelle war zersplittert. Ein Scherbenregen war auf sie nie dergeprasselt. Und inmitten dieses Regens waren die Geister über sie hergefallen... Und jetzt? Wo war sie jetzt? Wo hatten sie sie hingebracht? Ingars Lebenswille erwachte. Wie eine grellrote Flamme loderte er empor, peitschte Adrenalin durch ihren Körper und verjagte die bleier ne Lethargie, die sie umfangen gehalten hatte. Sie versuchte, ihren Kopf zu heben, wollte sich umsehen - aber es ging nicht. Irgendetwas hielt sie. Ein lederner Gurt, ein Gurt, der um ihre Stirn gelegt war. Weitere Gurte lagen um ihren Hals, ihre Brust, ihre Beine. Alles in Ingar drängte danach, ihrem Entsetzen, ihrer Panik mit ei nem Schrei Luft zu machen. Aber sie blieb stumm. Es half ihr nichts, 48
wenn sie schrie. Eher im Gegenteil. Dann machte sie die Geister - oder ein noch schlimmeres Wesen - auf sich aufmerksam. Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Kalter Schweiß - Angstschweiß. Vorsichtig drehte sie ihren Kopf. Der Ledergurt behinderte sie auch hierbei ganz gewaltig, aber sie schaffte es doch, ihren Kopf nach rechts zu drehen. Ihr Genick schmerzte. Es war eine höllische Qual. Das, was Ingar sah, ließ sie zusammenzucken. Ihr Herz über sprang einen Schlag. Etwas Scharfes, glühend Heißes fuhr in ihr In nerstes. Nur knapp zwei Meter von ihr entfernt stand ein Katafalk. Darauf lag eine Frau. Sie war bis zum Hals mit einem weißen Leinentuch zu gedeckt. Breite Ledergurte fesselten sie auf das mit einem schwarzen Tuch bedeckte Holzgestell. Dahinter und daneben gab es weitere der artige Gestelle. Insgesamt sieben. Und Ingar sah noch drei Frauen. Alle schienen sie tief zu schlafen. Flache Atemzuge hoben und senkten ihre Brüste. Über den Katafalken waren blitzende Apparaturen angebracht. Feine Drähte verbanden sie mit den Stirnpartien der Frauen. Ein dumpfes Summen lag in der Luft. Ein Laboratorium!, gellte es in Ingars Kopf. Ich befinde mich in ei
nem Laboratorium! Hilflos angeschnallt wie ein Versuchskaninchen!
Plötzlich übermannte sie die Panik! Sie bäumte sich in ihren Fes seln auf, riss und zerrte an den Gurten. Tief schnitten sie in ihr Fleisch. Der Schmerz war fürchterlich. Das Ziehen, das sie vorhin registriert hatte, wurde intensiver. Heftig atmend entspannte sich Ingar wieder. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Es hatte keinen Sinn! Sie drehte ihren Kopf wieder in seine ursprüngliche Lage zurück und sah zur Decke hinauf. Als sie sich dann wieder stark genug fühlte, drückte sie ihn nach links. Dort ragte eine aus großen Steinen gemau erte Wand auf. Feuchtigkeit glitzerte auf den rohen Steinen. Kälte strahlte davon aus. Guter Himmel, wo war sie nur hingeraten? Verzweifelt kreisten In gars Gedanken um diese Frage. 49
Da hörte sie die Schritte. Sie kamen von rechts - und näherten sich ihr rasch. »Ah, ich sehe, dass mein wertvolles Versuchskaninchen aufge wacht ist«, stellte eine dunkle Männerstimme fest. Hörbare Zufrieden heit schwang darin. Ingar riss ihren Schädel herum. Stechende Schmerzen waren in ihrem Genick. Die Anstrengung ließ feurige Punkte vor ihren Augen lodern. Der Mann beugte sich über sie. »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle«, sagte er spöttisch. »Ich bin Professor Julien Yrmaahl.« Ingar hörte, was er sagte, aber sie konnte es nicht begreifen. Alles hatte sie erwartet - nur das nicht! Was hatte dieser Mann mit den Geister-Hexen zu schaffen? Was hatte das alles zu bedeuten? Sie biss sich auf die Lippen, versuchte, ruhig zu bleiben, be herrscht, eiskalt der Dinge zu harren, die auf sie zukamen. Der Professor lächelte böse. Das ließ sein knochiges Gesicht vol lends wie eine Horror-Fratze aussehen. In den hellen Augen tanzten boshafte Funken. Und noch etwas schimmerte darin... Interesse. Ein Interesse, das ein Forscher seinem Versuchstier entgegenbrachte. »Du scheinst nicht neugierig zu sein«, meinte der Professor. »O der liest du meine Gedanken?« Schwach schüttelte Ingar den Kopf. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihre Fähigkeit vor ihm zu verleugnen. Er wusste davon. Wusste definitiv davon. Woher? - Immer unheimlicher wurde ihr der Mann. »Rede endlich!«, fauchte er unvermittelt. Seine Rechte zuckte vor, berührte sie am Kinn und drückte ihren Kopf hoch, so dass sie ihm direkt in die Augen sehen musste. Der Ledergurt um ihren Hals spann te sich schmerzhaft an. »Ich kann es nicht...« »Was kannst du nicht?« »Gedankenlesen...«, stöhnte Ingar. »Vorbei. Es geht nicht mehr... Ich habe es vorhin bereits festgestellt. In mir herrscht nur noch - Lee re. Grenzenlose Leere und Stille. Etwas herum, mich...« 50
Er ließ sie los. Rasselnd sog sie den Atem in ihre schmerzenden Lungen. Dann, ruhiger werdend, bedachte sie ihre Worte. Sie hatte nicht gelogen. Ihre Fähigkeit, die Gedanken anderer Menschen zu lesen, schien vol lends erloschen zu Sein. Warum hatte sie es vorhin, als sie erwacht war, nicht gleich bemerkt? Die Gedankenimpulse der anderen vier Frauen - ihrer Leidensgenossinnen - sie hätte sie wahrnehmen müs sen! Professor Yrmaahl blickte sie forschend, nachdenklich an. »Nun, wir werden ja sehen, ob du die Wahrheit sagst, Ingar Thorssen«, meinte er gelassen. »Wenn du mich belogen hast, so macht es auch nichts aus. Es ist bedeutungslos, ob du meine Ge danken - und somit meine großen Pläne kennst. Du kannst nichts ver hindern. Nichts...« Gehässig lachte er. Unruhe und Angst verdichteten sich in Ingar. »Was verhindern? Was haben Sie vor?« »Aha, nun scheint deine Neugier doch erwacht...« »Sie wollen mich töten, nicht wahr?«, hauchte sie tonlos. Er nickte bedächtig. »Ja, dein Tod wird leider unumgänglich sein. Allerdings will ich dich nicht töten, du hast mir nichts getan. Aber - es muss sein, des Fortschritts und der Wissenschaft wegen.« Ingar schluckte trocken. »Bitte, sagen Sie mir alles, Professor. Wenn - wenn ich schon sterben muss, dann will ich auch wissen, wa rum!« »Du bist ziemlich mutig«, sinnierte er. Ein süffisantes Lächeln um spielte seine schmalen Lippen. »Die anderen haben nur geschrieen und gezetert und gefleht. Du aber fragst nach dem Warum. Das ist interessant... Aber gut. Ich will dir deine Frage beantworten. Du - und deine Gefährtinnen - ihr sterbt, weil ich mit eurer Lebensenergie neues Leben schaffen will! Gespenstisches Leben, unsterbliches Leben! Ich will einen Geist erschaffen, einen künstlichen Geist! Und es wird mir gelingen! So wahr ich hier stehe!« Er reckte beide Fäuste wie in einem unheiligen Schwur über den Kopf und schüttelte sie. In diesen Augenblicken war Ingar Thorssen völlig sachlich. Ihre Neugier war stärker als ihre Angst. 51
»Und die Hexen?«, erkundigte sie sich. »Welche Rolle spielen sie dabei?« »Sie sind meine Verbündeten, meine - Dienerinnen. Sie besorgen mir das Material, das ich so dringend brauche, soll mein Vorhaben ge lingen. Frauen... Nur sie haben jene ganz besondere Energie, die ich benötige...« Er lachte. »Ja, du hast richtig gehört: Nur Frauen haben diese Energie. Du siehst, ich praktiziere die Gleichberechtigung...« Wieder ein hässliches Lachen. Dann fuhr er fort: »Meine Lieblinge werden für ihre treue und zuverlässige Mitarbeit natürlich belohnt. Ich lasse sie leben. Ich bin ihr Herr und Meister. Ich habe sie zum Leben erweckt - und ich kann sie töten, wenn ich das will. Aber hierzu be steht vorläufig kein Grund. Sie tun alles, was ich von ihnen verlange. Nur hin und wieder wollen sie ein zusätzliches Opfer.« »Ein Opfer...«, echote Ingar. »Ja, ein Menschenopfer«, bestätigte Yrmaahl ungerührt. Dann konkretisierte er: »Für jede Frau, die sie mir liefern, dürfen sie sich einen Mann in den Sumpf locken. Er gehört ihnen. Ein Opfer für mich eines für sie. Eine gerechte Sache. Und ab und zu wollen sie eben sozusagen für besondere Verdienste – darüber hinaus noch ein Op fer.« Das Grauen schnürte Ingar die Kehle zu. Die ganze Ungeheuer lichkeit von Yrmaahls Eröffnungen traf sie wie ein Keulenschlag ins Gesicht. Gleichsam aber wusste sie, dass sie weitere Fragen stellen musste. Sie musste alles wissen - alles! Vielleicht fand sie irgendwie eine Möglichkeit, ihr Wissen Mike zuzuspielen. »Aber - die Hexen...«, flüsterte sie. »Sind sie auch künstlich von Ihnen erschaffen worden?« »Nein!« Yrmaahl schüttelte bedauernd den Kopf. »Sie sind natür lich entstanden. Es sind die Geister jener Hexen, die vor Jahrhunder ten hier im MOOR hingerichtet wurden. Mein Verdienst ist es lediglich, sie aus ihrem tiefen, magischen Schlaf geweckt zu haben, sie gefüttert und gestärkt zu haben. An ihnen konnte ich quasi Quellenstudium betreiben. Schon immer war es mein größter Plan, ein Geistwesen künstlich zu erschaffen. Jetzt ist dieser Plan bereit, verwirklicht zu werden. 52
Aber genug davon, Ingar Thorssen. Ich habe keine Zeit mehr, um noch weiter mit dir zu plaudern. Nur soviel noch: Bald wird es soweit sein. Bald wird mein Geschöpf erstehen, sich erheben... Und dann werden ihm weitere folgen. Hunderte... Tausende! Eine ganze Armee - Legionen! Sie werden meine Herrschaft begründen und für mich durchsetzen. Die Herrschaft über die Welt!« Ein fanatisches Feuer loderte in seinen Augen. Laut hallten seine begeistert ausgestoßenen Worte von den kahlen Wänden des Labora toriums wider. Ingar zitterte am ganzen Körper. Wie verrückt wirbelten die Ge danken in ihrem Kopf. Sie suchten nach einem Ausweg. Wie konnte sie diesem Wahnsinnigen entkommen? Guter Himmel, es musste doch einen Ausweg geben, eine Chance! Oder wenigstens eine Möglichkeit, Mike zu benachrichtigen, zu warnen...! Lauernd sah Yrmaahl sie an. Ahnte er, was in ihr vorging? Ja, wahrscheinlich. Seinem durch dringenden Blick schien nichts verborgen zu bleiben. Bis auf die Seele hinunter schien er sie taxieren zu können. »Die Hexen hatten Recht. Du bist wirklich ein wertvolles Opfer«, sagte er anerkennend. »Eine gute Basis für das Gelingen meines gro ßen Experiments.« Er entfernte sich. Sein hämisches Lachen gellte in Ingars Ohren. Mike, dachte sie. Mike, bitte, hilf mir! * »Nein, tut mir Leid, Sir. Ich kenne keine Miss Thorssen. Ich meine, will sagen: Hier hat sie jedenfalls nicht gewohnt. Sie müssen sich irren. Tut mir Leid, ehrlich!« Der hagere Mann mit dem Bulldoggengesicht versuchte ein unver bindliches Lächeln. Es misslang ihm kläglich. Seine peinlich korrekt manikürten Finger zitterten. In den Augen wetterleuchtete es. Der Mann war ein verdammt schlechter Lügner - und er hatte Angst. Das konnte man förmlich riechen, fand Mike Logan. Er sagte es ihm. 53
»Aber wenn ich Ihnen doch sage...« »Hören Sie endlich auf!«, unterbrach Mike den Hotelier ungehal ten. Über seiner Nase erschien eine steile Falte. »Ich weiß ganz genau, dass Miss Thorssen hier, im Pitlochry Hilton, gewohnt hat. Sie hat ein paar Mal mit mir telefoniert und mir das Hotel genau geschildert. Ver flixt, Mann, warum lügen Sie.« Craig Ronfield hob beschwörend beide Hände. »Ich bitte Sie...« »Abgelehnt! Miss Thorssen ist in Gefahr - in Lebensgefahr. Wenn Sie das nicht endlich kapieren und mit der Sprache herausrücken, dann passiert ein Unglück!« Mike wurde ärgerlich. Die Zeit brannte ihm nur so unter den Nä geln und dieser Bursche schwindelte ihm das Blaue vom Himmel her unter. Craig Ronfield schluckte. Sein großer Adamsapfel hüpfte hin und her. Die wässrigen Augen richteten sich beschwörend auf Mike Logan. »Ich - ich kann es Ihnen nicht sagen!«, flüsterte er dann erstickt. »Verstehen Sie doch. Es geht nicht! Sie haben es mir verboten!« »Wer - sie?«, hakte Mike nach. Aschgrau wurde Ronfields Gesicht. Er musste mit seinen Nerven völlig am Ende sein. Gehetzt flog sein Blick in die Runde. Aber die Ho telhalle war nach wie vor leer. Sämtliche Gäste waren ausgeflogen. Murray, der bis jetzt geschwiegen und - scheinbar völlig unbetei ligt und gelangweilt - auf das Gästebuch gestarrt hatte, auf dem Ron fields Finger immer wieder einige nervöse Takte trommelten, mischte sich ein. Blitzschnell schoss seine Hand vor, griff das Buch und zog es zu sich heran. Er schlug es auf. »Aber - Sir!«, entrüstete sich Ronfield. »Still!«, fauchte Ben Murray, »Mir reicht es jetzt. Noch ein Wort, Ronfield und ich sorge höchstpersönlich dafür, dass dieser Laden ge schlossen wird!« Und mit diesen Worten angelte er mit seiner Linken den Scotland-Yard-Ausweis hervor und hielt ihn dem verblüfften Hote lier unter die Nase. »O Gott!«, ächzte Ronfield. Er sank regelrecht in sich zusammen. »Reden Sie!«, bohrte Mike unnachgiebig. Er konnte und wollte einfach keine Rücksicht auf das komische - und unverständliche Geha 54
be des Mannes nehmen. Jede Sekunde, die verstrich, verringerte seine Chance, Ingar noch lebend zu finden und helfen zu können! »Ingar war hier!«, sagte Ben. Sein Zeigefinger deutete auf die entsprechende Eintragung. »Sie halten uns wirklich für mächtig zurückgeblieben!« Mike Logan fixierte Ronfield scharf. Der Hotelier wich seinem Blick aus. »Es tut mir leid. Es - tut mir wirklich leid. Ich - ich hätte das nie getan, wenn...« Er brach ab. »Vor wem - oder was - haben Sie Angst, Ronfield?« »Vor den Geister-Hexen?« Ben Murray hatte einen Schuss ins Blaue abgefeuert - und prompt ins Schwarze getroffen. Ronfield zuckte wie elektrisiert zusammen. »Sie wissen?« »Das sehen Sie doch, Mann!«, schnauzte Mike aufgekratzt. »Los, erzählen Sie uns endlich Ihre Geschichte!« Ronfield nickte plötzlich. Er schien um Jahre gealtert. »Ja, Sie sollen es wissen. Ich werde Ihnen alles erzählen...« Und er legte los. Wie ein Wasserfall sprudelte er alles aus sich heraus, was er wusste. Dass Miss Thorssen heute morgen zu einem Spaziergang aufgebrochen war - hinauf, zur Queen's View. Dass dieser Aussichtsort ganz in der Nähe des geheimnisumwitterten Colocoan Forest - und damit des Sumpfes - liege. Dass er sie gewarnt habe und dass sie bis jetzt noch nicht zurückgekehrt sei. Er erzählte von der Hexe, die plötzlich neben ihm aus der Wand hervorgetreten war - von ihrer Drohung... Und von den alten Legen den, die sich um die Sumpfhexen rankten. Schließlich schwieg er. Heftig rasselte sein Atem. Sein Blick war hilfesuchend auf Mike gerichtet. »Verstehen Sie jetzt, dass ich Angst hatte? Ich bin nur ein einfacher Hotelier...« »Okay, Mr. Ronfield«, sagte Mike. »Mehr wollten wir nicht wissen. Sie haben uns sehr geholfen.« »Nachdem Sie uns eine Menge kostbarer Zeit gestohlen haben!«, brummte Murray unversöhnlich. Mike sah zu seinem Freund hinüber und schüttelte kaum merklich den Kopf. Das hieß soviel wie: Lass es gut sein, Ben. 55
»Was werden Sie jetzt unternehmen?«, erkundigte sich Ronfield schwach. Und verzweifelter, lauter fügte er noch hinzu: »Was können Sie überhaupt gegen die Geister-Brut schon tun? Nichts! Diese Wesen sind ja nicht aus Fleisch und Blut! Wie könnte man ihnen da etwas anhaben! Sie werden Sie umbringen...« Mike wischte seine Worte beiseite. »Das lassen Sie mal unsere Sorge sein, Mr. Ronfield.« Murray wechselte das Thema. Seine Stimme machte die Ungeduld deutlich, die auch in ihm brannte. »Schluss jetzt mit der Debattiererei!«, bestimmte er. Mike schoss seine nächsten Fragen ab: »Sind außer Miss Thorssen noch andere Menschen verschwunden? Gibt es diesbezügliche Gerüch te?« »Ich weiß es nicht. Gehört habe ich jedenfalls nichts.« »Gut.« »Eben nicht!«, korrigierte Mike seinen Freund. »Zeigen Sie uns Miss Thorssens Zimmer.« »Ja, ich, sofort, Mr. Logan.« Ronfield nickte so eifrig, dass Mike schon befürchtete, er würde sich dabei das Genick brechen. Offenbar hatte er einen höllischen Respekt vor ihm und Murray - und natürlich vor Scotland Yard. »Sie bewohnte Appartement 218, Sir. Die Hexe, sie hat mich be auftragt, ihre Sachen verschwinden zu lassen. Niemand sollte erfah ren, dass Miss Thorssen hier wohnte.« »Das sagten Sie uns bereits«, erinnerte Murray. »Natürlich, Sir. Aber - ich habe Miss Thorssens Sachen noch nicht beiseite geschafft. Nur zusammengeräumt...« »Und wenn wir nicht so schnell hier aufgekreuzt wären, hätten Sie sie heute Nacht aus dem Hotel geschafft«, vollendete Mike hart. Ronfield sagte nichts und in diesem Fall war keine Antwort eine sehr deutliche Antwort. Sie stiegen die mit wertvollen Teppichen belegten Treppen empor. Im Pitlochry Hilton atmete alles gediegene Eleganz. Wände und De cken waren holzgetäfelt. Bilder in schwere, protzige Rahmen gespannt. 56
Trotzdem wirkte dies alles nicht einmal unverschämt aufdringlich. Mike hatte schon wesentlich schlechtere - und geschmackloser ausges tattete - Hotels erlebt. Jetzt aber nahm er seine momentane Umgebung lediglich beiläufig in sich auf. Er machte sich Sorgen um Ingar. Das ließ sein Herz häm mern. In seiner Magengrube hielt sich ein dumpfes Gefühl der Unbe haglichkeit. Er musste an Ronfields Bericht denken. Demnach gab es die Geis ter-Hexen also tatsächlich... Aber hatte er - nach Ingars Worten - je daran gezweifelt? Nein! Schließlich hatte er schon öfter mit derartigen Wesenheiten zu tun gehabt. Aber in diesem Fall ging es Schlag auf Schlag. Ingar entführt. Dann der heimtückische Angriff der Mordgeister auf Murray und ihn. Die Gegenseite verlor wirklich keine Zeit. Er war gespannt, was als nächstes passieren würde. »So, hier ist es, meine Herren«, machte sich Ronfield bemerkbar. Er riss eine Tür auf und deutete in das dahinter liegende Zimmer. »Hier wohnte Miss Thorssen.« »Gut. Dürfen wir uns umsehen?«, fragte Murray. »Ich muss Sie um Ihre Erlaubnis fragen, denn ich habe keinen Durchsuchungsbefehl bei mir.« »Bitte, sehen Sie sich nur um.« »Danke.« Ronfield nickte. Er räusperte sich. »Inspektor... Mr. Logan...« »Ja?« Mike sah den blassen Mann an. »Ich weiß, dass ich einen gewaltigen Fehler gemacht habe, vor hin. Ich hätte Ihnen gleich die Wahrheit sagen müssen. Aber ich hatte Angst, fürchterliche Angst und - wenn ich ehrlich bin - die habe ich noch immer. So weit ich zurückdenken kann - stets gab es die GeisterHexen. Sie sind gefährlich... Ich weiß, dass ich mir ihren Hass zuge zogen habe, weil ich doch geredet habe. Aber ich bereue es nicht. Ich bin kein Lügner. Bitte, glauben Sie mir das!« »Schon gut, Mr. Ronfield«, sagte Mike schnell, bevor Murray daz wischenschlagen konnte. »Ich glaube Ihnen. Sie sind ein anständiger 57
Kerl. Und was die Hexen betrifft: Wir werden uns schon um sie küm mern, keine Bange!« »Danke, Mr. Logan«, versetzte Ronfield und lächelte zaghaft. »Ich hoffe, dass Sie gegen diese Wesen eine Chance haben. Ich hoffe es wirklich.« Er presste seine Lippen aufeinander und sein Blick wechselte von Mike zu Ben Murray. Ben seufzte. »Alles klar, Mr. Ronfield«, sagte er. »Aber das nächs te Mal...« Er vollendete den Satz nicht, aber das war auch gar nicht notwendig. Ronfield hatte verstanden. Nur zu gut. »Ja, Mr. Murray. Danke.« Er sah sie an, schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. »Was ist denn noch?«, brummte Murray - bereits wieder in seinem ›normalen‹ Umgangston. »Nichts. Ich wollte nur fragen, ob Sie mich momentan noch benö tigen.« »Nein.« »Dann erlauben Sie mir, dass ich mich zurückziehe?« »Ja!« Craig Ronfield ging und schloss die Tür hinter sich. Murray schniefte, dann wandte er sich zu Mike um, der sich bereits darange macht hatte, Ingars Zimmer zu untersuchen. Er wusste selbst nicht so recht, was er hier eigentlich zu finden hoffte. So, wie sich der Fall für ihn darbot, war Ingar durch puren Zu fall mit den Geister-Hexen konfrontiert worden. Aber sicher war eben sicher. Er wollte keine Unterlassungsfehler begehen, die er später be reuen musste. Murray war stillschweigend derselben Meinung. Auch er sah sich in dem geräumigen, hübsch eingerichteten Appartement um. Fünf Minuten vergingen. Weder Mike noch Ben wurden in irgendeiner Weise fündig. Mike richtete sich auf und sah Murray an. Der Inspektor hob beide Hände. Eine resignierende Geste. »Dann werden wir uns jetzt also in den Sumpf begeben«, sagte er geschwollen, als handelte es sich hierbei um die aufregendste Sache der Welt. 58
Mike nickte. »Und du meinst, wir finden Ingar so einfach wie das Pitlochry Hil ton?« »Immerhin hatten wir dabei einen guten Riecher.« Sie hatten das Hotel wirklich auf Anhieb gefunden, ohne auch nur einmal nach dem Weg fragen zu müssen. Nachdem sie den Hub schrauber abgestellt hatten, waren sie einfach losmarschiert, zur Stadt hinüber. Zehn Minuten später hatten sie das große, kunstvoll ge schmiedete Schild des Pitlochry Hilton ausgemacht. Ben Murray hatte kurz nachgedacht. Jetzt schien er damit fertig zu sein. Er hüstelte, zog einen seiner unvermeidlichen Kaugummis aus der Tasche seines Trenchcoats, schälte ihn bedächtig aus dem Silberpapier und platzierte ihn sodann in seinem Mund. »Alsdann. Brechen wir auf«, versetzte er schließlich. Und fügte im gleichen Augenblick hinzu: »Aber ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache.« »So plötzlich?« »Na ja...« Verlegen zuckte der Inspektor seine massigen Schul tern. Einer definitiven Antwort wurde er enthoben. Plötzlich gellte ein fürchterlicher Schrei durch das Pitlochry Hilton! In irrsinnige Höhen kletterte er hinauf - um dann abrupt - wie abge schnitten - zu zerfasern. »Ronfield!«, keuchte Mike. Und bevor Murray etwas sagen konnte, war er auch schon an der Tür, riss sie auf. Mit großen Schritten hetzte der durchtrainierte Privat detektiv in den Korridor hinaus. * »Ich habe Angst, Brian!«, flüsterte Anna Weither erstickt. Brian Lumley unterbrach den Disco-Hit, den er bereits seit ein paar Tagen immer wieder vor sich hin summte und sah seine Freundin erstaunt an. 59
»Angst?«, wiederholte er lächelnd. »Aber wovor denn, Anna?« Sie zuckte mit ihren schmalen Schultern und starrte mit großen Augen durch die Windschutzscheibe. Der schmale Waldweg lag in sanftem Dämmerlicht vor ihnen. Durch das dichte, ineinander verfilzte Blätterdach sickerte nur spärliche Helligkeit. Aber das reichte völlig, fand Brian. Gerade richtig für ein verliebtes Pärchen. Er sagte es ihr. Anna wandte ihm kurz ihr hübsches, schmales Gesicht mit den großen, ausdrucksstarken Rehaugen zu, ihre Lippen bebten. Brian nahm seinen Fuß vom Gaspedal. Sofort wurde der Wagen, ein flacher Spitfire, langsamer. »Baby«, sagte Brian sanft. »Was ist denn bloß los mit dir? So ken ne ich dich ja gar nicht!« »Dieser Wald«, flüsterte Anna bedrückt, »er ist mir unheimlich. Mir kommt es so vor, als würden wir von tausend unsichtbaren Augen beobachtet. Merkst du es denn nicht?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich denke bloß immer an dich und mich - und daran, dass wir jetzt ganz allein sind... Und genau das woll ten wir doch schließlich.« Auch dieses Bekenntnis schien sie nicht aufzuheitern. Brian ver wünschte sich und seine Idee, hierher in den Colocoan Forest zu fah ren. Er hatte mit seiner Anna allein sein wollen, ja. Ganz allein. Dass sie derart zimperlich war, das hatte er nicht ahnen können. Er kannte das hübsche Girl seit zwei Monaten. Für ihn und für sie war es die ganz große Liebe. Die Liebe auf den ersten Blick. Dass sie beide bereits verheiratet waren - er mit einer bezaubernden und schwerreichen Unternehmerin, sie mit einem sensiblen Kunstmaler - das bedeutete ihnen kein Hindernis. Sie wollten nur noch füreinander da sein. Dieser Urlaub in Pitlochry sollte der, letzte heimliche sein. Sie hat ten alles besprochen. Nach ihrer Heimkehr nach London wollten sie feinen Tisch machen und sich von ihren momentanen Ehepartnern scheiden lassen. Das alles ging Brian in Sekundenschnelle durch den Sinn. 60
Wieder warf er Anna einen kurzen Seitenblick zu. Zusammenge kauert, wie ein Häufchen Elend, saß sie heben ihm. Brian fühlte sich irgendwie hilflos. Er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Äste und Zweige wischten über das Dach des Flitzers. Immer dich ter wurde das Unterholz zu beiden Seiten des Weges. Tief hing das Blätterdach darüber. »Hier ist lange niemand mehr gefahren«, meinte Brian, nun eben falls unruhiger werdend. »Und sicher aus gutem Grund«, hauchte Anna. »Ich kann es jetzt ganz deutlich spüren, Brian. Etwas Böses lauert hier... Es ist allgegen wärtig. Bitte, lass uns umkehren!« Flehend hatte, sie die letzten Worte hervorgestoßen. Der Spitfire rumpelte über Schlaglöcher. Das Bodenblech fetzte über den lehmigen Boden. Brian schüttelte den Kopf. »Ich Verstehe dich zwar nicht, Anna... Wie kann eine moderne, aufgeschlossene Frau wie du an solcherlei Unsinn glauben... Aber gut, du sollst deinen Willen haben. Wir kehren um. Du weißt doch, dass ich alles für dich tun würde, Liebling!« »Danke, Brian!« Ihre schmale Hand legte sich auf seinen linken Unterarm. Warm und weich war die Berührung. Brian durchlief ein angenehmes Kribbeln. »Alles klar«, meinte er verwegen. Er bremste. Der Spitfire rollte aus. Brian spähte in die Dämmerung hinaus, um eine Stelle zu finden, wo er wenden konnte. Rechter Hand war der Weg ein bisschen breiter. Brian seufzte. »Hoffentlich bleiben wir nicht stecken...« »Brian!«, keuchte Anna plötzlich. »Was ist denn?« »Schnell! Wir müssen uns beeilen! Ich spüre, dass es kommt...« »Was, um Himmels willen?« »Ich weiß es doch auch nicht. Aber es ist böse, so unsagbar bö se!« Jetzt vibrierte die Angst in Annas Stimme. Gepresst kam ihr Atem. Wie gebannt starrte sie auf den Waldweg hinaus, der sich unweit vor aus in absoluter Finsternis verlor. 61
»Bitte, Anna, du darfst nicht hysterisch werden...« »Das werde ich nicht, Brian! Bitte, glaub mir doch! Hör auf mich...« Brian nickte. Jetzt war es ihr doch vollends gelungen, ihn mit ihrer Angst anzustecken. Seine Nervenenden vibrierten. Eine Gänsehaut bedeckte seinen Rücken. Er kurbelte an seinem Lenkrad und versuchte, den Wagen zu wenden. Es war eine Mordsarbeit. Der Weg war schmal und der Lehm nass und klebrig. Kein Wunder: heute Morgen hatte es geregnet. Der Spitfire stand quer. Brian fluchte. Die Hinterräder drehten durch, wühlten sich förmlich in den Lehmboden hinein. Noch einmal versuchte er es. Diesmal mit viel Gefühl. Langsam ließ er die Kupplung kommen. Der Spitfire ruckte und bockte. Der Motor jaulte auf. »Verdammt!« Brian schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Anna schluchzte. »Da, Brian...«, keuchte sie kaum hörbar. »Sieh doch nur!« Brian Lumleys Kopf ruckte herum. Nebel waberte über dem Waldweg... Nebel, der jetzt rasend schnell Form - Gestalt! - annahm! »Aber das gibt es, doch nicht!«, stieß er beinahe trotzig hervor. »Du musst etwas tun, Brian!« Das brachte ihn wieder zu sich. Noch einmal gab er Gas. Der Spit fire zog an. Sekundenlang sah es so aus, als käme er frei, aber dann glitt er wieder in die Lehmkuhle zurück. Brian würgte den Motor ab. »Wir sind verloren«, schluchzte Anna. »Lauf weg! Ich versuche, sie aufzuhalten!« »Nein, Brian, das darfst du nicht! Du darfst dich nicht opfern! Ich erlaube es nicht! Die bringen dich um...« Aber Brian Lumley hörte sie schon nicht mehr. Wie der Blitz feder te er aus dem Spitfire und rannte los. Direkt auf die unheimlichen Ges talten zu, die jetzt nur mehr sechs Schritte entfernt schwebten. Rasch kamen sie heran. 62
Brian kniff die Augen zusammen. Fünf alte Frauen waren es... He xen! Geister-Hexen! Er wusste, dass sie es waren, obwohl er noch nie von ihnen gehört hatte. »Ja, Brian Lumley, so ist es brav. Komm her zu uns! Komm her...«, wisperte und raunte es in seinem Schädel. Seine Schritte wurden unbeholfener. Die fünf Hexen bildeten einen Kreis um ihn, ergriffen sich an den Händen und begannen zu tanzen. »Brian! Briaaannn!« Das war Anna! Brian wollte herumkreiseln, nach ihr sehen, feststellen, ob ihre Flucht gelang, aber er schaffte es nicht. Die Hexen umringten ihn. Nur ihre fetten, schwammigen Leiber konnte er sehen. Ein grässlicher Modergestank strahlte von ihnen aus, raubte ihm den Atem. Ihre boshaften Gesichter zeigten einen höchst zufriedenen Ausdruck. Die großen Augen funkelten gierig. »Du gehörst uns, Brian Lumley!«, sangen sie im Chor. »Uns ganz allein! Der Meister hat es versprochen!« »Nein!«, schrie Brian: Der Mann, der seinen Geist wie Watte um schlossen und jeden eigenen Gedanken verhindert hatte, wich. Aber nur für eine Zehntelsekunde. Er begriff... erkannte, was sie mit ihm vorhatten. Sein Mut zersplitterte. Er wollte fliehen, davonlaufen - leben! Aber es war längst zu spät! * »Hilfeee!« In einem gurgelnden Röcheln brach Craig Ronfields neuerlicher Hilfeschrei ab. Stille! Dann, plötzlich ein dumpfer Laut. Als wäre ein menschlicher Körper zu Boden gefallen. Ein boshaftes Kichern wurde laut. »Ich habe dich gewarnt, elender Sterblicher! Du hättest uns nicht verraten dürfen!« Mike verdoppelte seine Geschwindigkeit. Mit einem Panthersatz übersprang er die letzten sechs Stufen. Geschmeidig kam er auf dem 63
Hallenboden auf. Drei weitere Schritte katapultierten ihn zur Rezepti on. Murray fluchte irgendwo hinter ihm. Mike achtete nicht darauf. Er hatte nur Augen für die fürchterliche Erscheinung! Eine große, korpulente alte Frau hatte sich auf den am Boden liegenden, Verzweifelt zappelnden Craig Ronfield geworfen und würgte ihn. Es stank nach Friedhof und Tod - und nach Boshaftigkeit und Schlechtigkeit! Mike schrie: »Loslassen!« Unterwegs hatte er bereits seine Walther PPK aus dem Schulter halfter gerissen. Jetzt ruckte seine Rechte hoch. Die Alte wandte ihm ihr hässliches Gesicht zu. Ärger zeichnete sich darin ab. Aber sie ließ Ronfield nicht los. Die Bewegungen des Hoteliers wurden immer schwächer... Schon längst war in Mikes Gehirn ein Begriff eingerastet: GeisterHexen! Er stand einer dieser Unheimlichen gegenüber! »Loslassen!«, schrie er noch einmal. Schneidend und eiskalt war seine Stimme. Er würde nicht zulassen, dass die Hexe den wehrlosen Mann so einfach vor seinen Augen umbrachte! Die Alte lachte. Ein schwefelgelber Blitz zog rings um sie herum auf... Sie tauchte darin unter, war sekundenlang nicht mehr zu sehen. Die Helligkeit stach in Mikes Augen. Geblendet taumelte er zurück. Die Geister-Hexe griff an! Wie ein bizarrer, von heftigem Wind ge peitschter Brautschleier fegte sie heran. Ihr Körper besaß keine feste Gestalt mehr - nur die Klauen, die waren nach wie vor ausgeprägt. Sie schossen auf Mike zu! Die Hexe wollte ihm die Augen auskratzen! Aber da handelte Mike auch schon! Irrsinnig schnell warf er sich zur Seite. Gut zwei Yards weit flog er. Glücklicherweise stand ihm nichts im Weg. Dann kam er auf dem Parkettboden auf, rollte sich schulmäßig über beide Schultern ab - und stand schon wieder auf den Füßen. 64
Die Hexe hatte ihn verfehlt. Aber sie war mindestens ebenso schnell wie er. Mit einem irrsinnigen Wutgeheul raste sie wieder heran. Mike erwartete sie. Sein Gesicht war verkantet. Unheimlich be dächtig hob er seine Walther PPK, die er mit beiden Händen hielt. Wie im Zeitraffer sah er die Hexe heransausen, die Krallenhände gespreizt. Aus dem weißen Nebelgebilde kam kreischendes Gelächter. Die Wesenheit musste sich sehr sicher fühlen! Jetzt! Mike drückte ab. Seine Walther spie die geweihte Silberkugel aus. Peitschend hallte der Schuss in Mikes Ohren. Der Rückschlag riss die Waffe hoch. Die Geister-Hexe zerplatzte wie eine faulige Tomate. Ihr ParaKörper konnte der geballten Macht des geweihten Silbers nichts ent gegensetzen. Nebelfetzen wirbelten durch die Luft - und lösten sich in grellen Lichterscheinungen auf, die kaskadenförmig zu Boden regneten und erloschen. Ein höllischer Gluthauch traf Mike und schleuderte ihn zurück. Mit ausgestreckten Armen ging er zu Boden. Hart kam er auf. Aber diesen Preis bezahlte er gern. Er hatte die Hexe erledigt, nur das zählte jetzt für ihn. Sie existierte nicht mehr. Murray schnaufte heran. Sein Gesicht hatte sich krebsrot verfärbt. »Sag mal«, japste er. »Kannst du nicht auf mich warten? Musst du immer alles allein machen?« Mike rappelte sich auf und schritt zu Craig Ronfield hinüber, der sich halb aufgerichtet hatte und ihn schreckensbleich musterte. »Nur die Ruhe, Ben«, sagte er. »Das nächste Mal kommst du zum Zug. Gleiches Recht für alle.« »Will ich auch hoffen.« »Na, Mr. Ronfield, alles okay?«, erkundigte sich Mike und half dem völlig perplexen Hotelier auf die Füße. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll!«, stammelte der Mann. »Dann sagen Sie besser nichts!«, schnauzte Murray. Mike grinste. Er kannte Ben zu gut, um ihn nicht zu durchschauen. Das war eben seine Art, seiner Erleichterung über den glücklichen Ausgang der Episode Luft zu machen. 65
»Jetzt - jetzt glaube ich wirklich, dass Sie es mit den Bestien auf nehmen!«, ächzte Ronfield, ohne Murray zu beachten. Mike klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schultern. »Na prima. Und wenn Sie uns dazu noch die Daumen drücken, dann kann eigent lich gar nichts mehr schief gehen.« »Das werde ich tun, Mr. Logan. Und wie!«, versprach der Hotelier. »Und vielen Dank! Wenn Sie nicht gewesen wären...« »Schon gut«, wehrte Mike ab. Er wollte keinen Dank. Für ihn war es selbstverständlich, einem Menschen zu helfen, der in Not war. »Trotzdem, Mr. Logan. Wenn ich noch irgend etwas für Sie tun kann?« »Besorgen Sie uns einen geländegängigen Wagen«, mischte sich Murray ein. »Sie wollen...?« »Genau. Wir wollen dem Colocoan Forest einen Besuch abstatten und den Hexen einen guten Tag sagen.« Ronfield stellte keine Fragen mehr. So langsam schien er begriffen zu haben, dass Mike Logan und Ben Murray Männer waren, die wuss ten, was sie taten. Er eilte hinter die Rezeption, hob den Telefonhörer ans Ohr und begann zu wählen. Murray feixte und wischte sich ein paar Schweißtröpfchen von der Stirn. »Du weißt, dass das ins Auge hätte gehen können«, sagte er leise zu Mike. »Und du weißt, dass ich keine andere Wahl hatte.« Murray seufzte. »Wenn du Recht hast, hast du recht«, gab er zu. »Meinst du, es hat Sinn, wenn wir unsere Suchaktion mit dem Wagen angehen? Vielleicht wäre es besser, wenn wir den Hubschrau ber einsetzen?« »Glaube ich nicht. Von oben siehst du nämlich nur ein grünes Dach aus Ästen und Blättern und was weiß ich noch alles. Und du glaubst doch wohl selbst nicht, dass die Geister-Hexen ihr Versteck einfach mitten in eine kleine Lichtung setzen, damit wir zwei Hübschen es auch ja recht schnell finden?« Mike zog es vor zu schweigen. 66
»In zehn Minuten steht ein Jeep vor der Tür«, meldete Ronfield glückstrahlend. Er freute sich, ihnen helfen zu können. »Prima. Und in der Zwischenzeit könnten wir einen Whisky vertra gen. Was meinst du, Ben?« »Bin im Dienst, das weißt du doch ganz genau!« Mike seufzte. Manchmal konnte er wirklich nicht sagen, wer schlimmer war: Balthasar Rufus Schwarzschwert oder Ben Murray! * Hass! Nur dieses eine Gefühl beherrschte sie. Hass, grenzenloser Hass auf Brian Lumley, ihren Mann! Kathleen Lumley stieß ihren Atem durch die Nase aus. Ihr Blick irr te für eine Mikrosekunde von dem miserablen Waldweg ab zu dem Revolver, der entsichert neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Sie würde Brian töten. Ihn und seine Geliebte, dieses kleine Luder Anna Wolther. Sie würde es nicht so einfach hinnehmen, dass sie ihr den Mann wegnahm. Brian und sie, Kathleen, hatten drei Jahre lang eine gute Ehe geführt. Sie war ihm treu gewesen - und er ihr. Und jetzt sollte sie einfach abgeschoben werden? O nein! Sie hasste Brian für das, was er ihr angetan hatte. Gedemütigt hatte er sie. Und sie würde sich rächen! Kathleen Lumleys Augen richteten sich wieder geradeaus. Schlag löcher und Pfützen übersäten den Weg. Sie fuhr langsamer. Ihr Wagen - ein unauffälliger Morris - war für derartige Strecken nicht besonders gut geeignet. Kathleen biss sich auf die Lippe. In ihren Augen brannten Tränen, aber sie unterdrückte sie. Sie wollte nicht schwach werden und wei nen. Nicht jetzt. Sie würde tun, was sie tun musste und anschließend würde sie sich der Polizei stellen. Ohne Brian hatte ihr Leben sowieso keinen Sinn mehr. Was nützte es ihr da, dass sie reich war, reich und erfolgreich? Seit drei Wochen wusste sie, dass es aus war. Aus und vorbei. Brian war immer öfter abends fortgeblieben. Wenn sie ihn darauf an 67
gesprochen hatte, hatte er ihr lediglich plumpe Ausreden präsentiert. Sie hatte begriffen. Und als er vor ein paar Tagen schließlich gekom men war und ihr erzählt hatte, dass er unbedingt geschäftlich nach Manchester müsse, hatte sie gewusst, dass er mit der anderen weg fahren wollte. Sie hatte ihn bis nach Pitlochry verfolgt. Hatte mit ansehen müs sen, wie er sich mit diesem Flittchen vergnügte, wie sie glücklich und Händchen haltend durch die schmalen Straßen des Kurortes schlender ten... Das alles war zuviel gewesen. Sie wollte sieh rächen! Und jetzt schienen ihre Chancen gut zu stehen. Dieser Wald... die Einsamkeit... Nicht einmal Vögel zwitscherten. Vorhin war ihr das schon aufge fallen, aber sie hatte sich keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Ein tödlicher Fehler... In sicherem Abstand folgte sie dem Spitfire ihres Mannes. »Dieser gemeine Kerl! Und diese Schlampe!«, flüsterte sie immer wieder voller Hass. Hart umspannten ihre Finger das lederbezogene Lenkrad. Die Knöchel traten weiß hervor. Der Weg wurde noch schlechter, je weiter sie in den unheimlichen Wald vorstieß. Nebel wallte über dem Boden, so dass es ihr vorkam, als fahre sie auf Wolken. Ein Eisschauer rann über ihren Rücken. Kein Ort für ein romanti sches Schäferstündchen, dachte Kathleen Lumley. Sie trat das Gaspe dal wieder durch. Der Morris zog an. Jetzt war es ihr plötzlich gleich gültig, ob der Wagen Schaden nahm oder nicht. Sie musste handeln jetzt! Jetzt gleich. Sie hielt es einfach nicht mehr aus! Der Wagen hüpfte förmlich über den Weg. Es war mächtig schwer, ihn in der Spur zu halten. Der Boden war vom Regen aufge weicht und trügerisch. Plötzlich drehten die Hinterräder durch. Der Wagen schlingerte. Kathleen fing ihn gerade noch ab, brachte die Schnauze wieder in die richtige Richtung. »Zuviel Vorsprung«, murmelte sie, »sie haben einen zu großen Vorsprung. Ich hätte dichter dranbleiben müssen.« 68
Da sah sie die Kurve. In letzter Sekunde reagierte sie. Sie riss am Lenkrad. Wieder drohte der Morris auszubrechen. Sie fuhr viel zu schnell. Der Wagen wurde wie von einer Titanenfaust herumgewirbelt. Kathleen schrie und hieb ihren Fuß aufs Bremspedal. Die Räder blo ckierten. Der Morris schlitterte in die Kurve. Unwillkürlich zählte Kath leen Lumley die Sekunden. Mit einem hässlichen, mahlenden Knirschen kam der Wagen endlich zum Stillstand. Kathleens Herzschlag setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus! Ihr Verstand weigerte sich, das zu verarbeiten, was sie sah! Vor ihr... Vor ihr stand Brians Sportwagen quer auf dem Waldweg! Nur zehn Yards entfernt! Von Brian war keine Spur zu sehen! Und Anna Wolther... »Nein!«, presste Kathleen Lumley heraus. Das, was sie sah, schien der Phantasie eines Wahnsinnigen entsprungen! Drei, vier, fünf gei fernde Wesen umflatterten das Mädchen, das sich stumm, verbissen wehrte. Es schlug nach den Wesen... Allerdings, ohne etwas gegen sie auszurichten. Gebannt starrte Kathleen Lumley auf die gespenstische Szene. Die alten Frauen begruben Anna Wolther unter sich. In einem ge waltigen, zappelnden, sich überschlagenden Knäuel wälzten sie über den schmierigen Waldboden. Ein Schrei gellte auf. Ein Schrei, der höchste Todesnot verriet. Kathleen zuckte zusammen. Sie starrte auf die alten Frauen. He xen, schoss es ihr durch den Sinn. Das müssen die Geister-Hexen vom
Sumpf sein...
Sie hatte von ihnen gehört, in der kleinen Pension, in der sie ab gestiegen war. Ein alter Mann hatte eine gruselige Geschichte zum Besten gegeben. Nie hätte sie gedacht, dass sie wahr sein könnte. Sie war es ge wohnt, rationell zu denken - und logisch. Aber jetzt sah sie das Un fassbare mit eigenen Augen! Kathleen schüttelte die Benommenheit von sich. Sie begriff plötz lich, dass diese Wesenheiten ihre Rache vollzogen hatten. Brian und 69
Anna war nicht mehr zu helfen. Sie waren tot - umgebracht von Geis tern... Kathleen rammte den Rückwärtsgang hinein und gab Gas. Der Motor des Morris' heulte laut auf. Aber der Wagen bewegte sich nicht! Die Räder hatten sich in den weichen Boden gegraben! Die Geister-Hexen wurden aufmerksam! Wie ein Schwarm aufgeschreckter Aasvögel rissen sie sich in die Luft und ließen Anna Wolthers verkrampften, blutleeren Körper unter sich zurück, der sich binnen eines Herzschlags in Staub verwandelte und zerfiel. Dieser fürchterliche Vorgang brannte sich noch in Kathleens Ge dächtnis ein. Wie verrückt hämmerte ihr Herz. Sie war ebenfalls verloren. Auch sie würde auf diese Art enden... Die Hexen waren viel zu schnell! Schon rasten sie auf sie zu! Schon gellte ihr schauriges Geschrei in ihren Ohren! »Packt sie!«, kreischte die Alte, die an der Spitze der GeisterHexen flog und sie riss ihre Krallenhand hoch und zeigte in Kathleens Richtung. Die Horde tobte und heulte und johlte. Wie eine dämonische Springflut schossen die fürchterlichen Wesen heran! Die Luft um sie herum schäumte und flimmerte und brodelte! Kathleen Lumley schloss mit ihrem Leben ab. Aber zugleich loder te der Trotz in ihr hoch. Nein, sie würde sich nicht so einfach in ihr Schicksal ergeben. Vielleicht gab es doch noch eine Chance... Wie von einer Natter gebissen fuhr sie herum und drückte die Türverriegelung. Aber die Geister-Hexen konnte sie nicht aussperren! Für sie gab es keine Hindernisse! Plötzlich waren sie im Wageninnern. Kathleen schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrieen hatte. Ihre Rechte umkrampfte den Revolver. Da spürte sie auch schon, wie scharfe Fingernägel über ihre Haut kratzten, sich in ihrem Kleid verkrallten. 70
Kathleen schoss. Wummernd entlud sich die Waffe. Die Hexen a ber schrieen und verhöhnten sie nur. Mit normalen Kugeln war ihnen nicht beizukommen. Die Luft ringsum flimmerte. Immer heller, immer intensiver. Kath leen fühlte sich hochgehoben... »Los, beeilt euch!«, kreischte die Anführerin der Hexen. »Unser Meister wird sich freuen, so schnell ein neues Opfer zu bekommen!« Kathleen schrie nicht mehr. Wie ausgetrocknet war ihre Kehle. Ih re aufgerissenen Augen starrten in die Fratzen der Hexen und nahmen sie doch nicht richtig wahr. »Nein!«, flüsterte die verzweifelte Frau. Immer wieder: »Nein!« Das hämische Lachen der Hexen übertönte ihr Gestammel. Sie ris sen sie hoch - immer höher. Der Wagen - er existierte plötzlich nicht mehr. Nur dieses Flimmern - das war allgegenwärtig. Noch heller wur de es. Eine Helligkeit, die sich wie ein glühendes Messer in ihr Hirn hineinbohrte. Dann zerriss etwas in Kathleen Lumley. Sie verlor das Bewusst sein. * »Tot!«, flüsterte Professor Yrmaahl ungläubig. »Sandralja ist tot!« Völlig außer sich starrte er auf den ersten Kontrollmonitor, der bis vor ein paar Sekunden die Para-Energie der Geister-Hexe Sandralja angezeigt hatte. Jetzt war der kleine, rhythmisch pulsierende Licht punkt erloschen. Schlagartig. Und das konnte nur eines bedeuten: Sandralja war - vernichtet worden! Yrmaahl riss seinen Blick gewaltsam vom ersten Bildschirm los. Gehetzt kontrollierte er die sechs anderen Anzeigen. Sie waren ein wandfrei. Also arbeitete das Parameter zuverlässig. Es gab keinen Zweifel. Yrmaahl überlegte. Sandralja hatte den Auftrag gehabt, den Hote lier Ronfield zum Schweigen zu bringen. Konnte es möglich sein, dass Ronfield...? 71
Nein, ausgeschlossen. Kein normaler Mensch wurde mit einer sei ner Hexen so einfach fertig! Außerdem war Ronfield ein Feigling, ein jämmerlicher Kriecher. Nicht die Luft wert, die er Tag für Tag atmete. Ich hätte ihn gleich eliminieren lassen sollen, dachte Yrmaahl eis kalt. Dann hätte der Kerl nicht mehr reden können. Seine Finger wischten über den rauen Leinenstoff seines weißen Arztkittels. Er war nervös geworden in der letzten halben Stunde. Seine Geis ter-Hexen waren über alles unterrichtet, was in Pitlochry vorging. Und eine von Sandraljas letzten diesbezüglichen Informationen war gewe sen, dass zwei Männer - Mike Logan und Ben Murray - angekommen waren. Die beiden kannten Ingar Thorssen. Sie hatten im Pitlochry Hilton herumgeschnüffelt. Fragen gestellt. Und Ronfield hatte sie ihnen beantwortet. Deshalb musste er sterben. Sandralja hatte das übernommen. Of fenbar war sie bei der Ausführung dieses Auftrags vernichtet worden. Das alles hatte die Situation zu seinen, Yrmaahls, Ungunsten ver ändert. Logan und Murray wussten jetzt, dass etwas nicht stimmte und wo sie mit ihren Nachforschungen ansetzen mussten. Und wenn er den Worten seiner Geister-Hexen glauben konnte - so waren die beiden gefährliche Gegner, Gegner, die sogar bereits Erfahrungen hat ten im Kampf gegen die finsteren Mächte der jenseitigen Sphäre. Mehrmals sollten sie schon gegen Vertreter des Schattenreiches vor gegangen sein -und zwar mit Erfolg. »Verdammt!«, murmelte Yrmaahl. Er erhob sich und warf Sandraljas Monitor noch einen letzten Blick zu. Er hatte eine wertvolle Verbündete verloren. Aber er glaubte jetzt sehr genau zu wissen, wer für ihr Ende verantwortlich war. Mike Logan. Ben Murray. Einer dieser beiden Männer musste es gewesen sein. »Ich werde dich rächen, Sandralja«, stieß Yrmaahl düster aus. »Niemand tötet eines meiner Wesen, ohne dafür grässlich bestraft zu werden!« Ja, er würde herausfinden, wer die Geister-Hexe auf dem Gewis sen hatte und dann - dann würde er skrupellos zuschlagen. Er stand 72
jetzt unter Zugzwang und er würde seiner Verpflichtung nachkommen. In jeder Hinsicht. Er war flexibel. Seine Hexen erledigten für ihn die Schmutzarbeit. So wurde er in seinen wissenschaftlichen Forschungen nicht gestört. Denn das große Experiment musste ebenfalls so schnell wie mög lich durchgeführt werden. Keine Sekunde sollte ungenutzt verstrei chen. Yrmaahl war zuversichtlich, dass er bereits in dieser Nacht - zur Geisterstunde - beginnen konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt würden ihm seine Hexen die noch fehlenden beiden Opfer besorgt haben. Und dann... Dann gab es kein Hindernis mehr. Plötzlich lächelte Yrmaahl wieder. Sein Gesicht nahm einen raub tierhaften Ausdruck an. Mit einer harten Bewegung wandte sich der Professor ab und schritt zu der Stahltür hinüber, die Unbefugten den Zutritt zu seiner unterirdischen Kommandozentrale verwehrte. Yrmaahl wusste, dass er sicher war. Nicht nur hier unten... Auch die Villa war nicht so einfach zu finden. Sie lag auf einer Festlandinsel mitten im Sumpf und wer wagte sich dort schon hin? Kurz dachte er an diesen Logan und dessen Freund Murray. Aber dann schüttelte er den Kopf. Nein, die beiden auch nicht. Er würde dafür sorgen, dass sie nicht zum Zuge kamen. Er öffnete die Stahltür und eilte in den Korridor hinaus. Henry Parker, sein Faktotum, kam ihm entgegen. »Herr Profes sor!«, keuchte er aufgeregt. »Die Hexen brachten uns soeben das sechste Opfer. Eine gewisse Kathleen Lumley.« »Gut«, sagte Julien Yrmaahl zufrieden. Seine Zunge glitt über die schmalen Lippen und befeuchtete sie. »Haben Sie Befehle für mich, Herr Professor?«, erkundigte sich der Gnom. Der fürchterliche Ausdruck auf Yrmaahls Gesicht flößte ihm Angst ein, aber er ließ es sich nicht anmerken. »Ja, Parker, ich habe Arbeit für dich. Bereite alles vor. Schließe die Mädchen an den Wandler an. Heute Nacht wird unsere große Stunde schlagen!« »Heute Nacht schon?« 73
»Freust du dich etwa nicht?« »D-doch, Herr Professor, natürlich. Denken Sie bitte nicht, ich wä re...« »Ach, sei still! Kümmere dich um die Mädchen!« »Jawohl, Herr Professor«, erwiderte der Gnom demütig und wollte sich entfernen. Yrmaahl hielt ihn zurück. »Parker!«, zischte er gefährlich. »Ja, Herr?« »Bevor du mit deiner Arbeit im Versuchssaal beginnst, rufst du unsere hübschen Verbündeten. Die Hexen sollen zu mir kommen und zwar verdammt schnell. Ich habe mit ihnen zu reden.« Der Gnom verneigte sich. »Ich werde alles zu Ihrer Zufriedenheit erledigen, Herr Professor!« »Das will ich auch hoffen, du jämmerliche Person!« Mit diesen Worten wandte sich Yrmaahl ab, ging zur Wendeltrep pe, die in den Keller und ins Erdgeschoß seiner Villa hinaufführte und stieg sie rasch empor. Noch war es heller Tag. Er musste die Dunkelheit abwarten, die Nacht - die Geister-Stunde zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens. Sie würde zugleich auch die Stunde seines größten Triumphes sein! Aber die Zeit bis dahin erschien ihm endlos... * »Wenn du so weiterfährst, dann haben wir es bald hinter uns!«, ver setzte Ben Murray sarkastisch. »Was denn?«, erkundigte sich Mike harmlos, ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. »Unser irdisches Dasein!«, räumte Ben ein. »Dann können wir nämlich wie der gute Balthasar als Geister herumspuken und anständi ge Menschen ärgern.« »Lass ihn das besser nicht hören!« Mike grinste und riss geistes gegenwärtig das Lenkrad des Jeeps herum. Nur um Haaresbreite schoss der Wagen an einer gewaltig hohen Birke vorbei. 74
Murray stieß den Atem aus. Es hörte sich an, als würde Luft aus einem defekten Fahrradschlauch entweichen. Mike bemerkte es natürlich, aber er dachte nicht daran, auf derlei Dinge Rücksicht zu nehmen. Seit fünf Stunden waren sie jetzt unter wegs. Sie hatten nach Ingars Mini-Cooper Ausschau gehalten, weil sie gehofft hatten, dort ihre Spur aufnehmen zu können. Aber der kleine Flitzer war wie vom Erdboden verschluckt. Weder auf dem großen Parkplatz bei der Bridge of Garry noch auf dem kleineren Waldpark platz unweit von der Queen's View hatten sie mit ihrer Suche Glück gehabt. Und genauso wenig hatten sie eine zertrümmerte Telefonzelle ausfindig machen können. Die einzige in näherer Umgebung zum Co locoan Forest war die auf dem Parkplatz bei der Bridge - und die war okay. Also hatten sie die Suche ausgeweitet. Kreuz und quer durch den Colocoan Forest und mehr als einmal bis dicht an den tückisch blub bernden und brodelnden Sumpf heran. Das Ergebnis all ihrer Bemü hungen war dennoch gleich null. Das nervte gewaltig. Die Zeit zerrann regelrecht unter ihren Fingern. Wie Butter in der Sonne. Mike sah hoch. Die Sonne stand als glutroter Ball tief im Westen und schickte ihre Strahlenbündel über das Land. Graublaue Wolkenfet zen zogen gemächlich über den Himmel. Der Abend kündete sich an. Es wurde wieder kühler. Immer öfter hatte Mike im Verlauf der letzten dreiviertel Stunde zum Firmament hochgesehen. Und jedes Mal hatte ihn der Anblick der rasch wandernden Sonne aufs Neue angespornt. Er ahnte, dass die Dinge einem Höhepunkt zustrebten. Welchem Höhepunkt? Mike lauschte in sich hinein und ließ seine rhetorische Frage un beantwortet. Er musste sich eingestehen, dass es ihm bis jetzt noch nicht gelungen war, dieses verflixte Spiel zu durchschauen. Ingar war entführt worden. Nur das wusste er definitiv. »Es hat keinen Sinn«, brummte Murray ärgerlich. »Wir vergeuden nur Zeit. Zeit und Sprit.« »Hast du einen besseren Vorschlag?«, schnappte Mike heftiger als beabsichtigt. »Sollen wir vielleicht ins Pitlochry Hilton zurückfahren, 75
uns dort ein gemütliches Zimmer nehmen und Däumchen drehen, bis sich von selbst irgendetwas tut?« »Du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe, Mike«, sagte Mur ray ganz ruhig. »Ich kann es nicht richtig erklären, weißt du, aber ir gendetwas sagt mir, dass wir hier verdammt weit im Abseits sind.« Mike seufzte und trat auf die Bremse. Ben hatte exakt das ausge sprochen, was er auch schon die ganze Zeit über gespürt hatte. »Vielleicht eine Taktik?«, meinte er halb zu sich selbst. »Warum nicht?«, warf Murray ein. »Wenn ich ein Gangster wäre, der irgendwo in einem sicheren Versteck sitzt und merken würde, dass irgendjemand hinter mir herschnüffelt, dann würde ich einfach stillhal ten und den jemand ins Leere laufen lassen. Alles andere wäre Blöd sinn.« Mike dachte darüber nach. Murrays Argumente waren ziemlich gewichtig. »Weißt du, Ben«, sagte Mike endlich, »ich glaube, dass du ganz verdammt recht hast. Unser Gegner - wer immer das auch, sein mag ist auf uns aufmerksam geworden. Und zwar in jenem Augenblick, in dem ich die Geister-Hexe im Pitlochry Hilton erledigt habe.« »Geister sehen viel«, philosophierte Ben Murray. »Und in diesem speziellen Fall haben sie uns gesehen. Und jetzt warten sie erst einmal ab und lassen uns an der langen Leine laufen.« »Und wenn es ihnen schließlich passt, schlagen sie zu. Fang!« Ben Murray hämmerte seine rechte Faust in die Handfläche seiner Linken. »Und Ingar? Was passiert in der Zwischenzeit mit ihr? Ihre Ent führung muss doch einen Grund haben!« »Frag mich bitte etwas Leichteres.« Mike spekulierte weiter. »Vorausgesetzt, es sind auch noch andere Mädchen entführt worden, dann wirft sich doch die Frage nach dem Warum auf. Wir kennen uns doch mit den Mordgeistern und Wesen heiten aus der jenseitigen Spähre aus, Ben. Die tun nichts aus Spaß an der Freud'. Die verfolgen stets ein ganz gewisses Ziel.« »Und meistens steckt noch ein menschlicher Teufel mit ihnen un ter einer Decke.« »Ja.« 76
»Und jetzt fragst du dich, um was es dieses Mal wohl geht«, stell te Murray fest. Mike nickte nur. In der Ferne schrie ein Käuzchen. Mike sah sich um. Seit einiger Zeit waren sie durch eine üppige Heidelandschaft gebraust, die entfernt an die um Hampstead Heath erinnerte. Ein dicker Gras- und Erikateppich erstreckte sich vor ihnen. Fahl blühende Ginster- und Wacholderbuschgruppen und Birken leuch teten darauf. Die untergehende Sonne badete sie in goldenem Licht. Der Colocoan Forest lag zu ihrer Rechten. Vorhin waren Mike und Ben übereingekommen, nunmehr den Waldrand abzufahren. Schwarz ragte die Front des Waldes empor. Schwarz - und un heimlich und drohend! Das zwischen den Tannenstämmen wuchernde Gestrüpp wirkte bösartig. Die dornenbewehrten Ranken der Brom beerbüsche streckten sich wie Klauen zu ihnen her. Kein Laut war zu hören. Im Colocoan Forest schien es keine Tiere zu geben. Nur Kälte - und diese bedrohliche Aura des Bösen. Zwischen Mikes Schulterblättern bildete sich Gänsehaut. In diesen Augenblicken kam er sich wie ein Schatten seiner selbst vor. All die Zuversicht, die er normalerweise in sich trug, war verschwunden, ver pufft. Jetzt regierte da nur noch die Sorge um Ingar - und die Gewiss heit, dass er ihr nicht helfen konnte, machte alles nur noch viel schlimmer. »Shit!«, machte sich Mike Luft. »Und von Schwarzschwert keine Spur«, nahm Murray die Unter haltung nach dreiminütigem Schweigen wieder auf. »Der Kerl könnte sich auch ein bisschen mehr beeilen.« »In der jenseitigen Sphäre gelten andere Gesetzmäßigkeiten, Ben. Er ist ihnen unterworfen.« »Ach was, ich neige eher zu der Ansicht, dass der gute Bursche al le Zeit der Welt zu haben glaubt, bloß weil er ein Geist ist.« Mike zuckte die Schultern. Wieder spähte er zum Waldrand hin über. Ein leichter Wind bewegte die mächtigen Tannenkronen. Es sah aus, als würden sie sich vor einem übermächtigen Wesen verneigen. 77
Da stand Mikes Entschluss plötzlich fest. Er rammte den ersten Gang hinein, nagelte das Gaspedal ins Bodenblech. Der Jeep machte einen wilden Satz nach vorn. »He, was ist denn plötzlich in dich gefahren?«, schnauzte Murray aufgeregt. »Bluff, alles Bluff. Und wir sind brav darauf hereingefallen!«, erwi derte Mike, halb zu sich selbst. Ja und plötzlich war sie wieder da, seine Selbstsicherheit. Plötzlich wusste er, dass er es schaffen könnte... Mit einem Wahnsinnstempo jagte er den Jeep am Waldrand ent lang. Murray sagte nichts mehr. Er hielt sich an der Halterung fest. Sein Gesicht wirkte verkniffen. Offenbar zweifelte er an Mikes Verstand. Mike grinste verwegen. Sein mittellanges Haar flatterte um sein Gesicht. Er zeigte zum Wald hinüber. »Da, Ben, sieh es dir an!« »Was denn, verdammt?« »Sieh genau hin - und vor allem: sag dir, dass dort etwas zu se hen ist!« »Sag mal, ich glaube, ich hör die Ewigkeit tickern!« »Sieh genau hin, Ben!« Der Inspektor tat ihm den Gefallen. Er kniff die Augen zusammen und starrte in die Richtung, in die Mike deutete. »Verdammt«, entfuhr es ihm da. »Also siehst du ihn jetzt auch«, stellte Mike fest. »Ja!« Mike nickte und steuerte genau auf den Wagen zu, der am Wald rand abgestellt war. Es war ein Citroen mit französischem Kennzei chen. Noch vor ein paar Sekunden war er nicht an diesem Platz gestan den. Dann war Mike auf die Idee gekommen, dass ihm und Ben mögli cherweise eine falsche Umgebung vorgegaukelt wurde. Eine Umge bung, in der etwas Wesentliches fehlte! Er hatte sich voll konzentriert, hatte sich immer wieder eingehämmert, die Realität sehen zu wollen! 78
Und dann war plötzlich dieser Wagen aus dem Nichts aufgetaucht. Ein grauer, flimmernder Schleier schien von ihm gezogen zu werden... »Wenn du vielleicht die Güte hättest, mir dieses Kunststückchen zu erklären...«, brummte Ben Murray ärgerlich. Er war sichtlich beein druckt und sein Blick hing noch immer wie festgeklebt an dem Citroen. »Kann ich. Der Wagen dort war magisch getarnt. Deshalb konnten wir ihn nicht sehen.« »Magisch getarnt«, echote Murray hilflos. »Ja. Irgendjemand hat ihm eine hübsche kleine Tarnkappe aufge setzt, weil er nicht wollte, dass wir ihn finden.« »Und warum funktioniert die hübsche Tarnkappe jetzt nicht mehr, he? Kannst du mir das sagen?« »Es war eben nur ein schwacher magischer Schutz. Man hat uns unterschätzt.« »Und wie bist du darauf gekommen?« Mike zuckte seine Schultern. »Intuition. Siebter Sinn. Was weiß ich. Du und ich - wir haben beide gespürt, dass hier etwas nicht stimmt.« Murray sagte nichts mehr. Im dumpfen Schweigen brütete er vor sich hin. Sie erreichten den Citroen. Mike stoppte den Jeep dicht daneben. Mit einem vernehmlichen Quietschen kam er zum Stillstand. Mike fe derte aus dem Geländewagen und rannte zu dem Citroen hinüber. Murray folgte ihm. Die huschende, schattenhafte Bewegung am Waldrand bemerkten sie nicht... * »Abgeschlossen«, sagte Mike trocken, als Ben herangekommen war. »Wie es sich gehört«, meinte der Inspektor und umrundete den Wagen. »Sieht alles ganz harmlos aus.« Ben Murray spuckte seinen Kaugummi aus. »Zu harmlos, um wirk lich harmlos zu sein«, sagte er gedehnt. 79
Dieser Ansicht war auch Mike. Es musste doch einen Grund dafür geben, dass der Citroen mit einem magischen Tarnschleier versehen worden war. Mike entfernte sich von dem Wagen, hin zum Waldrand. Deutlich war die davon ausgehende Kälte zu spüren. Ein kühler Wind fauchte heran und zerzauste Mikes Haar. Es war wie eine letzte stumme War nung. Aber Mike Logan war fest entschlossen, sie nicht zu berücksichti gen. Die Dinge mussten endlich in Fluss geraten. Wenn der Gegner im Verborgenen entschlossen war, sie an der Nase herumzuführen, mit ihnen zu spielen, sie ins Leere laufen zu lassen, wie Murray sich vorhin ausgedrückt hatte, dann musste man ihn eben so lange provozieren, bis er diese Taktik aufgab. Mike Logan ahnte nicht, dass er auf dem besten Weg war, den Gegner aus der Reserve zu locken. Er stach beharrlich in ein Wespen nest, dessen wirkliche Größe er nicht einmal annähernd kannte... Er hatte den Waldrand erreicht. Nichts geschah. Beinahe ent täuscht stieß er den Atem aus und wandte sich zu Ben um. Der Inspektor stand drei Schritte entfernt, seinen Dienstrevolver in Combat-Stellung. Er hatte ihm Rückendeckung gegeben. Beim gerings ten Anzeichen einer Gefahr hätte er geschossen. Auf Ben konnte man sich verlassen. Mike nickte ihm zu. Im gleichen Sekundenbruchteil hörte er das trockene Knacken! Wie ein Peitschenknall hallte es durch den totenstillen Wald! * »Sie haben den Wagen entdeckt, Professor! Wie Sie vorausgesagt ha ben!« Die telepathische Stimme der Hexe Selmala gellte durch Yrmaahls Schädel. Überschäumende Begeisterung und wilder Vernichtungswille begleiteten diese gedankliche Botschaft. Yrmaahl keuchte erstickt und blockte ab. Die Impulse wurden auf ein erträgliches Maß gedämpft. Seine Hände pressten sich gegen die heftig pochenden Schläfen. Der Professor entspannte sich wieder. 80
»Gut, Selmala«, murmelte er vor sich hin. »Sehr gut. So haben sie also angebissen.« Das konnte die Geister-Hexe nicht hören, aber es war auch gar nicht notwendig. Sie wusste, was jetzt zu tun war. Vorhin, während der einstündigen Besprechung, hatte er, Yrmaahl, seinen Verbündeten detaillierte Anweisungen gegeben. Einen teuflischen Plan hatte er ih nen erläutert. Jetzt war es soweit. Jetzt wurde dieser Plan verwirklicht. Seine Lieblinge waren zuverlässig. Yrmaahl kicherte irr. Er war der Schöpfer des absolut Bösen! Nie mand konnte ihn stören - oder gar von der Verwirklichung seiner Träume abhalten. Niemand! Und jeder, der es doch versuchte, war des Todes! Rücksichtslos würde er jeden aus dem Weg räumen, der es wagte, sich gegen ihn zu erheben. Nahrung für seine Lieblinge, die Geister-Hexen... Mike Logan und Ben Murray waren so gut wie tot! Yrmaahl lachte meckernd und blickte auf seine Uhr. Die Zeiger standen auf 18 Uhr 24. Noch knapp sechs Stunden. Alles war bestens vorbereitet. Die Opfer an den Wandler ange schlossen, jene Maschine, die ihre Lebensenergien absaugen und zu neuem Leben verdichten würde. Der Maschinen-Check vorhin war e benfalls positiv verlaufen. Ja, alles war bereit. Und bald würde auch das letzte, das siebte Opfer auf dem Kata falk liegen. Sabina und Annra waren bereits unterwegs, um diese, ihre vorläufig letzte, Mission zu erfüllen. Er brauchte jetzt nur noch abzuwarten. Alles andere ergab sich ganz von selbst. Aber es war so verdammt schwer, zu warten, geduldig zu sein. Übelkeit pulsierte in ihm wie ein schwarzes Herz. Die Gier war es, die diese Übelkeit verursachte. Die fürchterliche Gier, die ihn förmlich peitschte, sein Werk endlich zu vollenden! Seine Macht damit gleich sam zu vervielfachen! Yrmaahl erhob sich. Mit auf dem Rücken gefalteten Händen schritt er in seinem düsteren Arbeitszimmer auf und ab. Seine Gedanken jag ten sich. Brauchte er denn überhaupt bis Mitternacht warten? Alles 81
war doch bereit! Seine Opfer waren jung und vital und voller Lebens kraft. Gute Opfer. - Gutes Rohmaterial! Und er, Yrmaahl, verstand sein Handwerk! Er hielt es nicht mehr länger aus. Nein, er würde nicht mehr län ger abwarten, er konnte es nicht mehr! Er brauchte Gewissheit! Und er würde sie sich beschaffen! Sobald er im Besitz des siebten Opfers war, würde er sich an die Arbeit machen! Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, fühlte er sich endlich erleichtert. Ein gigantischer Druck wich von ihm. Yrmaahl atmete ein paar Mal tief durch, dann setzte er sich wieder hinter seinen gewalti gen Schreibtisch. Blicklos starrte er auf die Aufzeichnungen, die vor ihm lagen. Er kannte sie ohnehin auswendig. Seine Gedanken weilten bei seinem grausigen Experiment. Er sah die Frauen, sah, wie sie vergingen, um neuem Leben Platz zu machen. Geisterleben. Er hörte ihre Schreie und sie erschienen ihm wie Musik. Yrmaahl war sehr zuversichtlich. Er wusste, dass sein Werk gelingen würde. An einen gewissen Mike Logan und dessen Freund Ben Murray verschwendete er keinen Gedanken mehr. Seine Hexen kümmerten sich um die beiden Schnüffler, die es gewagt hatten, sich auf seine Fährte zu setzen. Ihr Schicksal war besiegelt. Yrmaahl gab sich weiter seinen Wahnsinnsträumen hin. Er wartete auf die Ankunft der Geister-Hexen Sabina und Annra. Auf das siebte Opfer, das sie ihm bringen würden. * Mike Logan kreiselte herum. Seine Blicke suchten das Dickicht, das vor ihm aufwuchs, zu durchdringen. Es war jedoch unmöglich. Das knackende Geräusch wiederholte sich! Schritte!, durchzuckte es Mike. Da drin schleicht einer herum! Seine Rechte zuckte zu Schul terhalfter hoch und angelte die Walther PPK heraus. Binnen einiger Sekundenbruchteile schaffte er das. Und dann warf er sich vorwärts. 82
Direkt in die grüne, dornige, verfilzte Mauer hinein. Beide Arme vor sein Gesicht gehoben, brach er durch. Es ging leichter, als er gedacht hatte. »Warte«, keuchte Ben hinter ihm. »Ich komme mit. Und pass auf, das könnte eine ganz verdammte Falle sein.« Mike arbeitete sich weiter in das verflixte Unterholz hinein. Noch immer waren die Schritte zu hören. Sie entfernten sich rasch. Morsche Äste brachen, Gestrüpp wurde machtvoll beiseite gewischt. Ein Geist macht keinen derartigen Lärm, durchfuhr es Mike. Es sei
denn, er will, dass man ihn hört - und ihm folgt!
Dennoch verlangsamte der Geisterjäger nicht. Drei, vier Yards weiter und er hatte es geschafft. Das Unterholz lichtete sich. Dafür standen jetzt die mächtigen Tannen dicht an dicht. Mike blieb stehen und horchte. Stille. Die Schritte waren ver stummt. Ben schnaufte heran und wischte sich mit dem Arm übers Gesicht. »Weg?«, fragte er überflüssigerweise. »Weg!«, antwortete Mike. »Dort drüben... Das scheint eine Art Weg zu sein.« Murray zeigte nach rechts. »Möglich, dass der Kerl dorthin gerannt ist.« Tatsächlich standen dort die Tannen nicht ganz so dicht beieinan der. Sogar spärliches Sonnenlicht vermochte einzufallen. Kleine Parti kelchen tanzten in den milchigen Strahlen. Auf dem Waldboden zeich neten sich tausend kleine und große Flecken ab. Das Grün der Tannen leuchtete förmlich. Mike und Ben rannten los. Sie erreichten den Weg und folgten ihm. Der Humus unter ihren Sohlen dämpfte jeden ihrer Schritte. Dann tauchte knapp elf Yards voraus ein heller, ovaler Fleck auf. Wie ein Tor zu einer anderen Welt. Und der Waldweg, dem sie folgten, war ein mannshoher Tunnel... »Eine Lichtung«, sagte Mike. Murray hatte das auch schon bemerkt und nickte lediglich knapp. Er schwitzte, obwohl es merklich kühl war. Mit ungeduldigen Bewe gungen zog er seinen Trenchcoat aus und warf ihn sich über die Schulter. 83
Seinen Revolver trug er nach wie vor in der rechten Hand. Mike ebenso. Auch er dachte nicht daran, ein Risiko einzugehen. In seinem Beruf lernte man es sehr, sehr schnell, auf der Hut zu sein. Sie traten in die Lichtung hinaus. Auf der gegenüber liegenden Seite, nur ein paar Yards vom Waldrand entfernt, war ein kleines blau es Zweipersonen-Zelt aufgebaut. »Sieht verlassen aus«, kommentierte Murray unwirsch. Die Stille des Waldes, das allgegenwärtige Gefühl drohender Gefahr nervten ihn. Jederzeit konnte das Böse aus dem Hinterhalt heraus zuschlagen. Dann standen sie vor dem Zelt. Es war tatsächlich verlassen. Die Feuerstelle war kalt. Die verkohlten Holzscheite feucht. Mike ließ sich auf die Knie nieder und sah ins Innere des Zeltes. Ein heilloses Durcheinander herrschte. Zwei große Taschen waren um gestürzt, ihr Inhalt hatte sich auf den Boden ergossen. Lebensmittel, mehrere volle Weinflaschen, Gebäck, Naschereien. Auf den beiden Schlafsäcken lagen Kleidungsstücke. Jeans. Ein Flanellhemd, eine bun te Seidenbluse. Das ungute Gefühl, das Mike nun schon seit Stunden mit sich her umschleppte, verdichtete sich. Hier war etwas passiert, das - direkt oder indirekt - mit Ingars Entführung zusammenhing. Er wusste, dass er sich nicht täuschte. In den Jeans fand er schließlich die Ausweispapiere der beiden Camper. Er nahm sie mit und zeigte sie Ben. Der blätterte sie auf und las. »Michelle Lecrois. Andy Manning.« »Sie sind ebenfalls entführt worden«, sagte Mike bestimmt. Seine Blicke suchten den Waldrand ab. Unweit mündete ein schmaler Pfad. Mike setzte sich in Bewegung. Leicht vornüber geneigt, suchte er den Boden nach Spuren ab. Nach drei Schritten fand er einen Schuh. Dann einen Stofffetzen. Er war auf der richtigen Fährte. Ben folgte ihm schweigend. Nach zehn Minuten brach er sein Schweigen allerdings. »Hier riecht es wie in einer Leichenhalle«, konstatierte er und rümpfte die Nase. 84
»Der Sumpf«, versetzte Mike kurz angebunden. »Der Sumpf muss ganz in der Nähe sein.« Er fühlte sich hundeelend. Eine innere Stimme sagte ihm, dass auch diese Spur im Nichts enden würde - im Nichts und das war in diesem Fall gleichbedeutend mit dem Sumpf. Weiter hetzte Mike. Der Wald lichtete sich, ging über in morastiges Gelände. Und dann hatte er Gewissheit. Im lehmigen Boden waren tiefe Fußabdrücke eingegraben. Fußabdrücke, die direkt in den Sumpf hin ausführten. Abrupt blieb Mike stehen und ließ seine Blicke der Spur folgen. Seitwärts davon ragten Büsche auf, Sträucher, Schilfgestrüpp. Dazwi schen hin und wieder ein verkrüppelter Baum. Linkerhand schwappte schwarzes Brackwasser träge gegen das Ufer. Und dort... Mike Logan holte tief Luft. Sein Herz hämmerte wie verrückt. Nur ein paar Yards vom Ufer entfernt ragte etwas aus der stinkenden Brü he, das er zuerst für einen bizarr geformten Ast gehalten hatte. Aber es war kein Ast! Es war eine im Augenblick des Todes zur Klaue geformte mumifizierte Hand! * Ohne Warnung schlug das Grauen zu! Urplötzlich, wie hingezaubert, standen die beiden unheimlichen alten Frauen in Tina Yorks Wohnung. Übler Gestank verbreitete sich. Flimmernde Körperkonturen verfestig ten sich. Tina starrte auf die beiden Wesen. Ihr Mund war halb zum Schrei geöffnet, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie war förmlich ge lähmt. Total geschockt hatte sie das Auftauchen der beiden Alten. Sie schwebten heran! Ihre Klauen hoben sich, streckten sich nach ihr aus. In den unheilvoll glühenden Augen der Alten stand das Ver derben geschrieben - und der Tod! Das ließ den Bann zersplittern, der Tina York eingehüllt hatte. Die junge Lehrerin riss sich hoch. Polternd stürzte der Stuhl um. 85
»Gib dir keine Mühe, Kindchen!«, hechelten die Wesenheiten. »Du entkommst uns nicht!« Tina hörte nicht darauf. Das Grauen ließ ihr Blut hart und überlaut in ihren Schläfen pochen. Wie gewaltige Gongschläge hallte dies durch ihren Sinn. In fliegender Hast kam sie hinter dem Schreibtisch hervor, an dem sie soeben noch die Aufgabenhefte ihrer Schüler korrigiert hatte. Aber sie kam nicht weit! Zwei Schritte... Drei Schritte... Greifbar nahe war die Tür, die in die kleine Diele hinausführte. Aber die Geister-Hexen waren dicht hinter ihr. Viel zu dicht! Schon konnte Tina ihren furchtbaren Moderatem in ihrem Nacken spüren! Lieber Himmel!, durchzuckte es sie. Dann traf sie ein harter Schlag zwischen die Schulterblätter, sie wurde nach vorn geworfen. Mit einem Aufschrei krachte sie gegen die Tür. Die Hexen kicherten und lachten und geiferten. »Wir haben dich gewarnt, Tina York! Alles was nun geschieht, hast du dir selbst zuzu schreiben«, kreischten sie. Schläge prasselten auf Tina nieder. Verzweifelt versuchte sie, ihre Arme vor ihr Gesicht zu bekommen. Es gelang ihr. Tina schrie. »Still!«, zischten die Hexen drohend. Tinas Herz verkrampfte sich. Eine fürchterliche Last drückte auf ih re Brust. »Hört auf«, stöhnte sie. »Bitte, hört doch auf! Ich werde mich nicht mehr wehren!« »Dann nimmst du also endlich Vernunft an.« »Ich werde mich nicht mehr wehren...«, wimmerte Tina noch einmal. Eine knochige Hand umklammerte ihr Handgelenk und zerrte sie auf die Füße. »Hoch mit dir, Kindchen!«, sagte eine boshafte Stimme. Tina schluchzte trocken. Entsetzt starrte sie in das aufgedunsene Gesicht, das von langen, fettigen Haaren eingerahmt wurde. Auf der vorspringenden Nase saßen große giftgelbe Eiterbeulen. Über dem 86
schmallippigen Mund wuchs ein Männerbart. Es war ein fürchterliches Gesicht. Jetzt verzog es sich zu einem überaus zufriedenen Lächeln. Noch einmal wallte Tinas Überlebenswille auf. Ruckartig versuchte sie, sich loszureißen, aber die Frauenhände hielte sie eisern fest. Die Hexe lachte nur. Tinas Brust hob und senkte sich unter krampfartigen Atemzügen. »Ich gebe auf«, keuchte sie. »Es bleibt dir auch nichts anderes mehr übrig!« »Was habt ihr mit mir vor? Warum ausgerechnet ich?«, stieß sie tonlos hervor. »Und - wer seid ihr...?« »Fragen... Fragen!«, höhnten die Hexen. Tina York hatte das Gefühl, bei lebendigem Leibe ausgehöhlt zu werden. Benommenheit breitete sich in ihr aus. Eine Benommenheit, die sie apathisch machte. »Bitte, sagt mir doch... Wo bringt ihr mich hin?« »In die Hölle, Kindchen, direkt in die Hölle!«, antworteten die He xen zynisch. »Du bist das siebte Opfer! Das wichtige siebte Opfer!« Tina verstand überhaupt nichts. Ihre Welt, die vor wenigen Minu ten noch hell und schön gewesen war, war brutal zertrümmert wor den. Das Böse war gleich einer schmutzigen Sintflut über sie hereinge brochen. Jetzt zog es sie in die Tiefe... Tina Yorks Augen weiteten sich. Beginnender Irrsinn flackerte un stet darin. »Es gibt keine Geister! Euch gibt es nicht!«, stammelte sie verzweifelt. »Du wirst es auch noch lernen, Dummchen!«, sagte die Hexe, die sie festhielt. Die andere lachte teuflisch und berührte Tinas Stirn. Eine Sonne flammte auf - und explodierte. Gleißende Strahlen zuckten hoch, ver einten sich und erloschen. Die Dunkelheit, die einen Herzschlag später über ihn hereinbrach, war schrecklicher als der Tod. Tinas panische Gedanken zersplitterten! 87
In einem grellen Leuchtblitz, der von hektisch wirbelnden Schwe feldämpfen begleitet wurde, verschwand sie, als habe es sie niemals gegeben. Und mit ihr die beiden Geister-Hexen. Träge sank der bestialisch stinkende Nebel zu Boden und versi ckerte darin... * Die Geister-Hexen griffen buchstäblich aus heiterem Himmel heraus an! Grellrot schillernde Schleier wischten durch die Luft, eitergelbe Blasen lösten sich davon und fielen kometenhaft zu Boden. Diese ma kabre Szene wurde von einem infernalischen Zischen und Brausen begleitet. Und dann erschienen sie - die Geister-Hexen! »Obacht, Mike!«, brüllte Ben Murray aus Leibeskräften. Aber Mike hatte sich bereits aufgerichtet. Seine Rechte kam hoch. Kalt brach sich das letzte Licht des Tages auf dem Metall der Walther PPK. Da griffen die Hexen an. Vier waren es. Vier fürchterlich anzusehende alte Frauen, dick, in zerfetzte Gewänder gehüllt, die ihre aufgedunsenen Körper umflatter ten, als sie in irrsinnigem Sturzflug auf ihn herunter rasten! Mike Logan blieb stehen. Flucht war sinnlos. Er wäre nicht weit gekommen. Plötzlich war er eiskalt. Er hatte die Konfrontation mit dem unheimlichen Gegner gesucht - jetzt ging sein Wunsch in Erfüllung. »Mensch, Mike! Deckung!«, brüllte Murray, der zum Waldrand zu rückgelaufen war und sich dort hinter einem Baumstumpf niederge worfen hatte. Mike hörte nur mit halbem Ohr hin. Er war vollkommen auf die angreifenden Hexen konzentriert. Und da kamen sie. Schneller, als das Auge ihnen zu folgen ver mochte, sausten sie heran... und teilten sich. Mike feuerte. In einer orangefarbenen Feuerlohe raste die geweih te Silberkugel aus dem Lauf der Walther PPK. Die Geister-Hexe aber, 88
auf die Mike gezielt hatte, wich aus. Gedankenschnell zuckte sie zur Seite. Und dann waren die vier Furien über Mike Logan! Von überall her kamen sie. Krallenhände fetzten über ihn weg. Mike warf sich verzwei felt zur Seite. Der sumpfige Boden federte unter ihm. Wieder stießen die Hexen herunter. Mike rollte behände beiseite, stets darauf bedacht, dem Sumpf nicht zu nahe zu kommen. Er musste zu Murray hinüberkommen... Wieder feuerte er. Und wieder verfehlte er seine Gegnerin aus dem Schattenbereich! Beiläufig nahm er das Donnern mehrere Schüsse wahr. Also hatte Ben in den Kampf eingegriffen. Schrecklich schrieen und tobten die Hexen. Mikes Ohren hallten davon wider, als er sich aufrappelte. Irgendwie schaffte er es. Die He xen waren zurückgewichen. Aber jetzt kamen sie wieder. Mike wartete nicht mehr. Er rannte los. Da hörte er den triumphie renden Schrei hinter sich. Blitzschnell warf er sich im Lauf herum und zog den Stecher seiner Pistole durch. Die Kugel stanzte in den GeisterLeib der heranjagenden Hexe. In einer grellen Lichtexplosion verging die Wesenheit! »Hierher, Mike! Los, ich halte sie dir vom Leib!«, schrie Ben Mur ray und winkte ihm. Mike hatte jedoch genug mit sich selbst zu tun. Durch das Herum kreiseln hatte er sein Gleichgewicht verloren und war gestürzt. Heftig atmend wälzte er sich herum. Hoch über sich sah er die drei Hexen! Sie schwebten über dem Sumpf, formierten sich neu. Er hatte somit eine Atempause bekommen und die nutzte er. Geschmeidig kam er wieder auf die Füße und hetzte zu Ben hinüber. »Uff!«, ächzte er, als er sich neben ihn fallen ließ. »Du weißt hoffentlich, dass du ein irrsinniges Glück gehabt hast«, empfing ihn Murray. »Normalerweise wärst du jetzt nämlich ein ziem lich toter Geister-Jäger!« Mike boxte ihm gegen die Schulter. Murray brummte etwas und sah wieder zu den Geister-Hexen hin auf. Nach wie vor kreisten zwei von ihnen über dem Sumpf. Vor dem 89
rasch dunkler werdenden Firmament waren sie nur als kleine Punkte zu erkennen. »Wo mag die dritte herumschwirren?«, überlegte Mike halblaut. »Ich denke, das werden wir bald erfahren.« Mike lud seine Walther nach, dann prophezeite er: »Sie warten die Dunkelheit ab...« »... und dann nehmen sie uns in die Mangel«, fühlte Murray sei nen Gedankengang weiter. Nervös blickte er sich um. Düsternis lauerte zwischen den Bäumen. Kälte und Feuchtigkeit krochen aus dem Boden und durch die Kleider. Mike starrte zu den Hexen hinauf und fragte nach, was sie be zweckten. Im Grunde gab es darauf nur eine Antwort. »Hinhaltetaktik«, sprach er sie halblaut aus. »Die genießen es eben, uns umzubringen«, versetzte Murray iro nisch. Dann schwiegen die beiden Freunde. Jeder von ihnen wusste, dass Rückzug nicht zur Debatte stand. Sie mussten hier ausharren, mussten die Hexen besiegen - und eine zumindest zum Reden brin gen. Nur so konnten sie das Versteck finden, in dem Ingar gefangen gehalten wurde. Aber davon abgesehen, dass ihre Siegeschancen höchst zweifel haft waren... Wie brachte man einen Geist zum Reden? Die letzten rotgoldenen Sonnenstrahlen versickerten und darauf schien die Dunkelheit nur gelauert zu haben. Verstohlen kroch sie über das Land. Und plötzlich überstürzten sich die Ereignisse! * »Ich will nicht sterben!« Schaurig hallte dieser verzweifelte Schrei durch den Versuchssaal und riss Ingar Thorssen aus ihrer Teilnahmslosigkeit. Das kalte, elekt rische Licht flammte auf. Ingar registrierte es, aber sie fühlte sich so schwach, dass sie nicht einmal den Versuch unternahm, ihren Kopf zu drehen. 90
Wieder schrie die Frau. Lang gezogen und schrill gellte der Schrei. Ein kurzes Handgemenge folgte. Ein klatschendes Geräusch. Ein Wimmern. Dann wurde ein schlaffer Körper auf ein Katafalk gelegt und festgeschnallt. Schritte entfernten sich. Ingar lauschte ihnen nach. Wo war sie? Warum war sie hier?, fragte sie sich. Ihre Erinnerung war völlig verworren. Als würde sie durch schmutziges Fensterglas auf sie zurückblicken. Definitiv wusste sie eigentlich nur noch, dass vorhin - irgendwann - ein gnomenhafter Mann gekommen war und ihr eine Spritze gegeben hatte. Daraufhin war sie eingeschlafen. Und jetzt? Träumte sie? Oder war sie wach? Sie fand keine Ant wort auf die Fragen. Wie viel Zeit mochte vergangen sein? Auch das wusste sie nicht. Aber dafür sickerte etwas anderes in ihren Geist. Die Gewissheit, dass sie in redlicher Gefahr schwebte. Dass sie verloren war, wenn kein Wunder geschah! Sie grübelte daran herum - und hätte beinahe die geschmeidigen Schritte überhört, die sich ihr näherten. Sekunden später tauchte über ihr ein Gesicht auf, das dem Leibhaftigen persönlich zu gehören schien. Schlagartig setzte Ingars Erinnerung wieder ein. »Professor Yr maahl!«, hauchte sie. Unwillkürlich spannte sie sich an. »Sieh an, du kennst mich also noch. Erstaunlich.« Er tätschelte ih re Wangen, dann richtete er sich wieder auf. »Es ist soweit«, sagte er andächtig. »Die große Stunde ist gekommen. Sieben Opfer... Sieben Frauen, die mir die nötige Lebensenergie für mein Kunstgeschöpf lie fern...« Zeit gewinnen!, schrie es in Ingar. Du musst ihn in ein Gespräch
verwickeln...
»Professor«, begann sie, während sie noch fieberhaft überlegte, womit sie ihn hinhalten konnte. »Was ist denn?«, fragte er unwillig. »Professor, ich glaube, ich sterbe...«, keuchte sie und verdrehte die Augen. 91
»Das funktioniert nicht, Ingar«, sagte er spöttisch. »Du kannst mich nicht bluffen. Ich werde dich nicht losbinden... In ein paar Minu ten spürst du nichts mehr...« Er gab seinem Faktotum einen Wink. »Gib ihr eine Spritze. Ihr Kreislauf lässt zu wünschen übrig...« Parker wieselte heran. Alles in Ingar verklumpte sich. Fehlgeschlagen! Gescheitert! Ein kaum merklicher Stich in ihren rechten Unterarm ließ ihre Ver zweiflung zersplittern. Plötzlich hatte sie keine Kraft mehr. Ein heller Ton war zu hören. Wildes, von panischer Furcht geprägtes Entsetzen loderte in ihr hoch. Dann entspannte sie sich. Als Parker ein letztes Mal die Gurte überprüfte, sah er in ihr toten bleiches Gesicht. Wie das Gesicht einer Puppe, dachte er. Fast wollte so etwas wie Mitleid in ihm aufwachsen, aber er unterdrückte es. Er war nur seinem Herrn verantwortlich. Und nur ihm allein diente er. Diese Frau war dem Tod geweiht... »Fertig, Herr Professor«, meldete er. Yrmaahl wandte sich ihm zu. »Gut«, lächelte er satanisch. »Dann wollen wir beginnen!« Gemessenen Schrittes trat er an den Wandler und legte die rechte Hand auf einen großen, silbern schimmernden Hebel. »Ein großer Augenblick, Parker!«, sagte er ehrfürchtig. »Ein Augenblick, mit dem Sie den Lauf der Welt verändern wer den, Herr Professor!« »Ja, du hast Recht, Parker. Ab heute wird die Welt nicht mehr so sein, wie sie war... Nie wieder!« Mit einer ruckartigen, entschlossenen Bewegung riss Yrmaahl den Hebel nach vorn. Ein metallisches Knacken zeigte, dass er eingerastet war. Jetzt gab es kein Zurück mehr! Der Wandler erwachte zum Leben. Irgendwo knisterte Energie! Ein helles, entnervendes Summen schwoll an, wurde lauter, immer lauter. Kontrolllichter blinkten, blinkten hektisch. Skalen leuchteten. Dann fiel ein zweiter Summton in die Geräuschkulisse ein... * 92
Es war eine sternenklare Nacht. Der Mondschein überzog die bizarre Sumpflandschaft im Colocoan Forest mit einem silbrigen Gespinst. Fei ne Nebelschleier wallten über der Oberfläche des Morastes, ständig in Bewegung, so dass es den Anschein hatte, als lebe der Boden. Die Zeit verging. Mike Logan und Ben Murray verhielten sich still, atmeten mit offe nem Mund und achteten auf jedes Geräusch. Sie wussten: Dies war die Ruhe vor dem Sturm. Die Dunkelheit schenkte den Vasallen des Bösen Stärke und Einfluss. Jeden Augenblick konnte ihr Angriff erfol gen. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Mike den Waldrand rechter Hand ihrer Deckung. Hin und wieder schien sich dort jemand zu bewegen... Aber das mochte Einbildung sein. Die Geister-Hexen würden kaum noch einmal so dumm sein und einen offenen Angriff starten. »Wie lange sollen wir hier bloß noch liegen bleiben!«, stieß Murray hitzig hervor. Überlaut klangen seine geflüsterten Worte. Mike gab ihm keine Antwort. Vorhin waren ihm die gleichen Ge danken durch den Kopf gegangen – und natürlich hatten ihn Zweifel geplagt. Aber er war mit sich selbst ins Reine gekommen. Hier befan den sie sich am Puls des Geschehens. Und von hier aus musste es einen Weg zu Ingar geben. Flüchtig dachte er an Balthasar... Hof fentlich kam er dieses Mal nicht zu spät! Tief sog er den schweren, süßlichen Moderduft der feuchten Erde ein. An die Ausdünstungen des Sumpfes hatte er sich mittlerweile ge wöhnt. Da spürte er das sanfte Tasten in seinem Gehirn! Und - dieses Tasten kannte er! Auf diese Art und Weise hatte sich Ingar bemerkbar gemacht, wenn sie ihm etwas telepathisch hatte mitteilen wollen. Und jetzt... Genau das gleiche Tasten! Wärme sickerte in seinen Geist, In gars Wärme. Er konnte sich nicht täuschen! »Ingar!«, flüsterte er. Murrays erstaunten Blick bemerkte er nicht. 93
»Ja, Liebling, ich bin es... Ingar...«, flüsterte die Stimme in seinem Kopf. »Wo steckst du? Wo halten sie dich gefangen?«, stieß Mike her vor. »Ich werde dich führen, Mike. Komm! Komm zu mir... Hilf mir! Sie wollen mich töten!« Tausend Gefühlsimpulse begleiteten diese Botschaft, umschwirr ten sie wie ein Fliegenschwarm. Erschreckende Szenen purzelten in Mikes Gehirn: Ingar auf einem Katafalk festgeschnallt. Silberne Drähte schienen mit ihrer Stirn verwachsen. Sie bäumte sich auf. Sie schrie. Mike glaubte, ihren Schrei zu hören. Er gellte in seinen Ohren. »Mike!« Murray schüttelte ihn, aber Mike bemerkte es nicht. Seine Umgebung war - ausgeschaltet. Sie existierte nicht mehr für ihn, war unwichtig geworden. Nur die Stimme in seinem Kopf, Ingars Stimme, war wichtig. Mike richtete sich auf. Langsam, mit eckigen, ungelenken Bewe gungen. Als würde ein anderer sie koordinieren. »Komm, Mike! Bitte, komm zu mir. Ich habe solche Angst!« Und Mike setzte sich in Bewegung. »Großer Gott, Mike!«, stieß Murray aus. »Was haben sie mit dir gemacht! Wo gehst du hin? Was soll der Unsinn! Mike, da vorn liegt der Sumpf!« Mike Logan wischte die Hand beiseite, die ihn festhalten wollte. Murray wurde herumgewirbelt und fluchte verbittert. »Die locken dich in den Tod, Mike! Verflixt, kapierst du denn nicht, dass sie dich - wie auch immer - bloß bluffen?« Wieder kam er heran. Wieder krallten sich seine Hände in Mikes Lederjacke. »Lass dich nicht aufhalten, Mike! Komm zu mir! Komm!« Tief in Mikes Innerem bäumte sich sein Verstand auf. Er begriff, dass Ben Recht hatte, dass es die Hexen waren, die seinen Körper kontrollierten, lenkten... Aber es war vergebens. Zu machtvoll waren die telepathischhypnotischen Impulse, die ihn voranpeitschten. 94
Ben Murray hielt ihn fest. Und der Inspektor verfügte über gewal tige Kräfte. »Wenn du nicht endlich Vernunft annimmst, dann muss ich dich eben mit der Holzhammermethode überzeugen...« Er holte aus. »Lass dich nicht aufhalten! Er darf dich nicht niederschlagen! Das wäre mein Ende, Mike!«, schrillte die Gedankenstimme. Ingars Stim me! Der Bann war wieder vollkommen. Mike reagierte. Reagierte viel schneller, als Ben es vermutet hätte. Seine Rechte kam hoch - und sauste vor. Murray grunzte erschrocken auf und pendelte zur Seite. Mikes Schlag verfehlte ihn um Haaresbreite. Murray zuckte vor, bekam Mikes Hände zu fassen, packte zu und riss sie herum. Mike musste dieser Drehung folgen. Rasender Schmerz zuckte in seinen Armen hoch, als Murray sie ihm auf den Rücken bog. »Du musst ihn besiegen, Mike!«, hetzte die Gedankenstimme. »Er will dich aufhalten! Er ist ein Vertreter des Bösen!« Mike schrie. Schaurig hallte der Schrei über den Sumpf. Das Bro deln des Morasts schien lauter zu werden. Mit einer unglaublichen Kraftanstrengung kam Mike frei. Murray taumelte. »Verräter!«, keuchte Mike Logan - und schlug zu! Wie ein Schmiedehammer knallte seine Linke gegen Murrays Kinnpartie und warf ihn von den Füßen. Rücklings stürzte er zu Boden - und schmet terte mit seinem Schädel gegen etwas unheimlich Hartes. »Nein, Mike...«, keuchte er noch, dann wurde es schwarz um ihn herum. In einer gewaltigen Schmerzexplosion verging die Umgebung vor seinen Augen. Die Gewissheit, dass er Mike Logan nicht mehr le bend sehen würde, nahm er mit sich... * Der Boden unter Mikes Füßen wurde weich, gab nach. Wasser schmatzte und gurgelte um seine Füße. Immer tiefer sank er ein. Im mer schwerer war es, die Füße zu heben, einen weiteren Schritt vor wärts zu machen. Mike spürte es, wusste, was dies zu bedeuten hatte, doch er konnte nichts dagegen tun. Er war nicht Herr seines Willens. 95
Die Gedankenstimme jenes Wesens, das vorgegeben hatte, Ingar zu sein, leitete ihn, leitete ihn direkt in den Tod! Mike wusste es, aber er war machtlos. Die Stimme war stärker. Er war ihr ausgeliefert. Die letzten Minuten - oder Ewigkeiten? - waren wie ausgewischt. Er wusste nicht, wie er überhaupt in den Sumpf geraten war. Und - wo steckte Murray? Die Sorge um seinen mürrischen Freund und Kampf gefährten wollte überhand nehmen, aber Mike würgte sie ab. Momen tan hatte er genug mit sich selbst zu tun. Wieder ein Schritt. Der Gestank, der über dem Sumpf hing, war unerträglich. Das gespenstische Blubbern und Gurgeln ließ die Angst wie mit eisigen Fingern nach seinem Herzen greifen. »Bald wirst du deiner Ingar Gesellschaft leisten«, geiferten nun mehrere Gedankenstimmen. Hohn perlte darin. »Ihr werdet euch wie der sehen... Im Reich der Toten! Hahahaaaa...« Mike versuchte sich zu wehren. Versuchte, seine restlichen Ener gien zusammenzureißen, die Gedankenstimmen aus seinem Schädel zu verbannen. Die Geister-Hexen bemerkten seine Bemühungen und lachten. »Gib dir keine Mühe, Mike Logan. Du bist verloren. Verloren.« »Nein!«, keuchte er verbittert und trotzig. Und weiter musste er gehen. Immer weiter. Schilf streifte über sein maskenhaft starres Gesicht. Äste schienen nach ihm zu greifen. »Wir werden dich jetzt verlassen, Logan! Unser Meister befahl, dich deinen Tod genießen zu lassen! Du sollst spüren, wie du immer tiefer sinkst, tiefer und tiefer... Bis sich der stinkende, zähflüssige Brei über dir schließt! Ja, du sollst alles ganz genau miterleben!« Erneut gellte das Höllengelächter in ihm. Dann wich der Druck, der auf seinen Gedanken gelastet hatte. Ein feiner silbriger Schleier schien zerrissen. Mike verlor schier die Besinnung. Der Schock, der das Verschwin den der fremden Willen begleitete, war fürchterlich. Aber Mike riss sich zusammen. Er wusste, dass ihn jede unbedachte oder hastige Bewe gung tiefer in den Sumpf einsinken ließ. Bis zur Brust steckte er im Morast. Wie eine stählerne Klammer umschloss er ihn. Das Dreckwasser schwappte gegen ihn. 96
Mike sah sich um. Ganz ruhig, sagte er sich. Keine hastige Bewe gung... Dünne Äste ragten zu ihm herunter. Knapp zwei Yards entfernt stand ein verkrüppelter Baum. Vorsichtig streckte Mike seine Hände nach den Ästen aus. Er glaubte nicht, dass sie sein Gewicht tragen konnten, aber es war die einzige Chance, die sich ihm bot. Er musste sie nutzen. Es wenigstens versuchen! Er war einfach nicht der Typ Mann, der jammernd und wehkla gend auf sein Ende wartete. Nicht einmal dann, wenn es unabänder lich festzustehen schien. Seine Finger berührten den Ast. Behutsam umklammerten sie ihn. Dann zog er daran. Mit einem trockenen Knacken brach der Ast. Er war morsch gewesen. Der heftige Ruck trieb Mike noch tiefer in den Sumpf. »Das war deine letzte Chance!«, kommentierte eine Geisterstim me spöttisch. Mike versteifte sich unwillkürlich. Die Geister-Hexen triumphierten, kosteten seinen Todeskampf aus. Ben, dachte Mike. Aber dann fiel ihm wieder ein, was geschehen war. Sein Freund konnte ihm auch nicht helfen. Wahrscheinlich hatte er sich bei dem Sturz das Genick gebrochen... Und er, Mike, war daran schuld! Etwas in seinem Magen ver krampfte sich. Verzweiflung sprang ihn an wie ein wildes Tier. Und gleichzeitig kroch der Nebel heran, wallte um Mike herum. Tausend Augen schienen ihn aus der grauen Masse heraus zu beo bachten, sich an seinem Todeskampf zu ergötzen. Mike biss die Zähne zusammen. Der Sumpf saugte ihn tiefer und tiefer in seinen stinkenden, schwammigen Leib hinein... * Ben Murray wälzte sich stöhnend auf den Rücken. In seinem Genick schienen tausend kleine Teufel zu sitzen und mit glühenden Nadeln auf ihn einzustechen. Sein Herz klopfte einen rasenden Trommelwir 97
bel. Sein Verstand funktionierte einfach nicht so, wie er sich das wünschte. Irgendeine dämonische Macht lähmte ihn. Er lag auf dem Rücken und starrte zum dunklen Himmel hinauf. Der Mond stand wie ein dicker gelber Ballon dort, umgeben von Tau senden von Sternen. Und vor dieser romantischen Kulisse schwebten drei Schatten! Bi zarre Schatten, die jetzt rasch größer wurden! Die Geister-Hexen, durchzuckte es Murray! Sie lachten! »Jetzt stirbst du, elender Schnüffler!«, kreischten sie. Die Höllen augen leuchteten in düsterem Rot. Ihre Krallenhände spreizten sich. So kamen die Hexen näher. Sie ließen sich Zeit. Sie glaubten sich ihres wehrlosen Opfers sicher. Sie konnten nicht ahnen, dass sie sich täuschten. Und eine Sekun de später war es zu spät! Ein greller Lichtblitz zuckte heran, umfing die Wesenheiten. Sie schrieen. Namenloses Entsetzen lag in ihren grellen Stimmen. Rasend schnell veränderte sich die Aura, die sie umgab, wurde violett, dann golden. Die Hexen glühten auf. Ihre Para-Körper faserten auseinander, barsten, zersplitterten. Kreischend hallten die Todesschreie der Un heimlichen durch die stille Nacht. Rauch wallte, stinkender gelblicher Rauch und das Brodeln und Zischen der Luft umgab ihn. Dann war es vorbei. Der Rauch wurde von einem heftigen Wind stoß auseinandergetrieben. Der Aufruhr der Luft verging ebenfalls. Murray bekam das alles nur halb mit. Immer wieder fielen ihm die Augen zu. Er war völlig erschöpft, konnte nicht begreifen, dass er ge rettet war. Sein Kopf sank nach vorn. Er merkte, dass er sich besser fühlte, leichter. Nicht mehr behindert... Dann registrierte er die Schläge! Jemand ohrfeigte ihn. Benom men stöhnte er. »Das dachte ich mir doch!«, krächzte eine aufgeregte Stimme. »Liegt hier im Dreck und schläft! He, Murray!« Wieder klatschte ihm ein Schlag ins Gesicht. »Hoch mit dir, Faulpelz!« 98
Der Inspektor ächzte und schlug die Augen auf. »Schwarz schwert!«, quetschte er hervor und er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Ganz deutlich sah er das Gesicht des kleinen Geistes über sich. Seine Augen waren besorgt auf ihn gerichtet. Sie verrieten Balthasar. Er flachste lediglich, um Murray wieder hochzubringen. Er provozierte ihn, damit seine Lebensgeister wieder erwachten. »Du kannst dir deine Liebesmühe sparen, du - du Geist!«, keuchte Ben. »Na, na!« »Kümmere dich um... Mike! Die Hexen... Sie haben ihn in den Sumpf gelockt!« »Geht klar«, versetzte Balthasar knapp. »Und du versprichst mir, dass du dich zusammenreißt. Wir brauchen dich nämlich noch, Freund Murray!« »Ich verspeise dich zum Frühstück, wenn du nicht endlich auf hörst und abzischst!« »Du musst den Hubschrauber holen, Ben!«, sagte Balthasar unna türlich ernst. »Und dann?« »Dann kreist du über dem Sumpf. So lange, bis wir dir ein Zeichen geben.« Ben stellte keine unnötigen Fragen. »Okay!«, sagte er nur. »Und jetzt hau schon ab! Mike braucht dich sicher nötiger als ich!« »Bin schon unterwegs. Ein Geist ist schließlich kein Eilzug!«, ver setzte er empört. Dann, schon halb in der Auflösung, setzte er hinzu: »Unmöglich, diese Menschen! Und besonders ein gewisser Inspektor von Scotland Yard! Ich werde dir doch noch einmal einen Maulkorb verpassen, Ben!« Murray schickte ihm eine unfeine Verwünschung nach. Aber die hörte Balthasar schon nicht mehr. Lautlos war er verschwunden. Murray lächelte. Hoffnung keimte in ihm hoch. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Dann hatte er sich soweit erholt, dass er sich aufrappeln konnte. 99
Auf ziemlich unsicheren Füßen tappte er los, in den finsteren Wald hinein. * Er steckte bis zum Hals im Sumpf. Jeder Atemzug schmerzte höllisch. Der zähflüssige, stinkende Brei drückte seinen Brustkorb zusammen. Eine unbarmherzige Titanen faust. Mike konnte sich ausrechnen, wie lange er noch zu leben hatte. Drei Minuten, höchstens. Eine verflixt kurze Zeit. Feurige Kreise loder ten vor seinen Augen. Aber plötzlich zerplatzten sie. Ein silberhelles Leuchten entstand. Eine Gestalt schälte sich aus dem Nichts. Ein Zwerg mit langem wei ßem Bart... »Balthasar«, keuchte Mike. »Bist du das wirklich? Oder sehe ich jetzt schon - Gespenster?« »Na ja, wie man's nimmt«, versetzte Balthasar betont lässig. »Wie kann man nur in deinem Alter noch im Dreck spielen?« Mike grinste gequält. In seiner momentanen Situation hatte er verständlicherweise sehr wenig Verständnis für Balthasars Galgenhu mor. »Hol mich hier raus!«, krächzte er heiser. »Oder kannst du das etwa nicht?« »Pah! Was diese komischen Geister-Hexen können, das kann ein Balthasar Rufus Schwarzschwert schon lange! Nicht umsonst war mein Vater der große Merlin und...« »Das hast du mir doch schon hundertmal erzählt, zum Donnerwet ter!«, keuchte Mike aufgebracht. »Schon gut!«, sagte Balthasar pikiert. »Ich habe verstanden. Mein Seelenleben interessiert dich keinen Deut! Schon gut. Ich werde es mir merken, Mister Logan!« Dann fühlte sich Mike hochgehoben. Schmatzend gab ihn der Sumpf frei. Im gleichen Augenblick veränderte sich die Umgebung! 100
*
Fasziniert starrte Professor Yrmaahl auf die Anzeigen des Wandlers. Alles funktionierte einwandfrei. Das hektische Summen schwoll an, bohrte sich förmlich in seinen Geist hinein. Gleich musste der Wandler-Prozess einsetzen. Die Energie der Mädchen würde abgesogen werden, ihre Körper zu Staub zerfallen. Eine Kettenreaktion. Zuerst das Mädchen auf dem ersten Katafalk, dann das auf dem zweiten... Und ihre Energie würde seinen künstlichen Geist, sein Geschöpf, beleben! Yrmaahls irrlichternder Blick glitt zu Ingar Thorssen hinüber. Sie lag auf dem fünften Katafalk. Ein böses Lächeln verzerrte Yrmaahls Gesicht. Beiläufig wischte er den Schweiß von seiner Stirn. Dann pendelte ein roter Zeiger wie verrückt hin und her. Das war das Zeichen! Der Wandler begann zu arbeiten! Das erste Opfer veränderte sich. Rasend schnell fiel das Gesicht des Mädchens ein. Die Wangenknochen stachen bizarr daraus hervor. In den Augen des Mädchens zeichnete sich die gläserne Starre des nahen Todes ab. Immer schneller verfiel sie... * Mike Logan rematerialisierte! Ein fürchterliches Summen und Tosen erfüllte die Luft, machte ihn halb taub. Dieses Mal schien Balthasar ihn direkt in die Hölle befördert zu haben. Ein ziehender Schmerz riss Mike wieder in die Realität zurück. Er öffnete seine Augen und mit einem einzigen Blick erfasste er die Situa tion. Ein Laboratorium. Sieben Katafalke. Sieben Mädchen. An der Stirnseite des Raumes: eine gewaltige Apparatur. Davor standen ein hoch gewachsener Mann und ein Gnom. Sie hatten noch nichts be merkt. Zu sehr waren sie auf die Anzeigen konzentriert. 101
»Das ist der Kerl, der hinter diesem schmutzigen Spiel steckt, der Drahtzieher! Der so genannte Meister der Geister-Hexen! Los jetzt, Mike! An die Arbeit!« Balthasars Stimme kam von überall und nirgends. Er war nicht zu sehen. Dafür aber lag plötzlich wie hingezaubert jenes magische Silber schwert in Mikes Rechten, das bis jetzt immer dann erschienen war, wenn er zum letzten Kampf gegen die Vertreter des Bösen angetreten war. »Professor!« Die beiden Männer kreiselten herum. Über ihnen erschienen die beiden letzten noch lebenden Geister-Hexen. Das Tosen der Maschinen schwoll an. Ein irrsinniges Geräuschcha os herrschte. Mike starrte in Yrmaahls lodernde Augen. »Packt den Kerl!«, schrie der Professor mit sich überschlagender Stimme. »Er darf mein großes Experiment nicht stören! Tötet ihn!« Und die Geister-Hexen griffen an! * Das totale Inferno brach los. Mit fürchterlichem Kreischen rasten die Hexen auf Mike Logan zu. Aber der war seinerseits bereits unterwegs. Er hatte Ingar ausge macht. Die Verzweiflung schnürte ihm die Kehle ab. Auf dem fünften Katafalk lag sie... Und das Mädchen auf dem ersten Katafalk verfiel soeben, wurde zu Staub! Der Professor lachte gellend! Dann hatten die Hexen Mike erreicht. Sie stürzten sich auf ihn. Aber damit hatte er gerechnet. Das silberne Breitschwert, das er in der Rechten hielt, vermittelte ihm eine unheimliche Ruhe und Sicherheit. Er riss es hoch. Die erste Hexe jagte direkt in den vernichtenden Schlag. Das Schwert gab einen hellen, singenden Ton von sich. Die Hexe verging in einer glühenden, spritzenden Explosion. 102
Die Klauen der zweiten Hexe schrammten über Mikes Schädel. Eis kalte Finger, Totenfinger, krallten sich in sein Genick. Schon kroch eine lähmende Kälte durch Mikes Körper. Er warf sich vorwärts. Die Hexe schrie überrascht auf. Mike zuckte herum, riss seine Rechte hoch. Blitzend fuhr das Silberschwert durch den Para-Leib der unheimlichen Wesenheit. Auch sie explodierte. Yrmaahl schrie wie verrückt. Mike federte los. Das Faktotum Yrmaahls, Parker, kam ihnen entgegen. Zwei Schrit te vor Mike verging es in einer lautlosen Explosion. Balthasars Werk! Weiter hetzte Mike Yrmaahl entgegen. Der Bursche riss einen Re volver aus seinem Arztkittel und legte an. Mike schleuderte sein Schwert. Der Knauf schmetterte gegen Yrmaahls Stirn. Die vernichten de Wucht dieses Schlages schickte ihn ins Reich der Träume! Mike setzte über den reglosen Körper hinweg. »Du musst den Hebel umlegen, Mike! Den silbernen Hebel!«, gell te Balthasars Stimme in seinem Kopf. Das zweite Mädchen zerfiel zu Staub. In einer grauen Zinkwanne rührte sich ein nebelhaftes Wesen. Fürchterliche Augen entstanden. Schwefelgelb waren die Dämpfe, die es umwallten, sich rasch verdichteten. Blitze züngelten in der Luft. Mike erreichte den Hebel. Verzweifelt warf er sich darauf und drückte ihn in die Ausgangsstellung zurück! Schlagartig brach das Summen, Tosen, Wummern ab. Geisterhafte Stille breitete sich aus. Das Nebelwesen in der Zinkwanne verging. Grässlicher Gestank breitete sich aus. Yrmaahls künstlicher Geist war vernichtet! Die Wahnsinnsträume eines Besessenen ausgeträumt! Eine Explosion bellte auf. Dann noch eine. Irgendwo begann es zu brennen. Wattige Russschwaden wogten durch den Raum. Mike hetzte zu den Katafalken. In fliegender Hast befreite er die Mädchen. »Ingar«, flüsterte er, als er sie losband. 103
Sie schien zu schlafen, wie die anderen. Er spürte die Tränen in seinen Augen und schämte sich ihrer nicht. Dann band er die letzten beiden Mädchen los. Balthasar tauchte hinter ihm auf und beförderte die Besinnungslo sen per Teleportation ins Freie. Drei Sekunden vergingen. Im Laboratorium des Professors Yrmaahl herrschte eine Gluthölle. Alles brannte. Fürchterliche Explosionen erschütterten den Raum. Rauchschwaden krochen über den Boden. Steine rieselten von der Decke, in der sich tiefe Risse abzeichneten. Mike hielt sich beide Arme vors Gesicht. Krampfartiger Husten schüttelte ihn. Er wich bis an die Wand des Laboratoriums zurück. Dann tauchte Balthasar wieder auf. Sein weißer Rauschebart war versengt. Sein Ge sicht rußverschmiert. Der Geist bemerkte Mikes anzügliches Grinsen. »Was tut man nicht alles für euch Menschen!«, philosophierte er. Dann packte er Mikes Hand. »Festhalten, Junge. Jetzt geht's rund!«, tönte er. Mike nickte. Ringsum brach das Laboratorium in sich zusammen. Gesteinsmassen und feurige Gluten begruben Yrmaahls reglosen Kör per unter sich. Im nächsten Augenblick stand Mike im Freien. Kühler Nachtwind fächelte in sein erhitztes Gesicht. Die fünf Mädchen lagen im feuchten Gras. Scheue, verständnislose Blicke trafen Mike. »Mike!« Ingar richtete sich auf. Zuerst zögernd, so, als könnte sie es nicht fassen, ihn hier zu sehen, setzte sie sich in Bewegung. Dann schluchz te sie laut auf. »Mike! Gott sei Dank, dass du hier bist!« Sie fiel ihm um den Hals und erdrückte ihn beinahe. Er küsste sie. Fuhr über ihr Haar. Spürte, wie sie zitterte. Er redete auf sie ein, lauter beruhigende Worte und dann lachten und weinten sie gemeinsam. Zwanzig Yards entfernt brach Professor Yrmaahls Villa in einem Funkenregen in sich zusammen. Eine gigantische, weithin sichtbare Feuerlohe stach in den Nachthimmel. 104
Und dort War jetzt das sich rasch nähernde Wummern eines Hub schraubers zu hören. »Das ist dein großmäuliger Busenfreund Murray«, sagte eine höchst zufriedene Stimme in Mikes Gedanken. »Er wird dir alles erklä ren. Er und Ingar. Sie hat eine Menge durchgemacht, ebenso wie die anderen Girls. Kümmere dich um sie... Jetzt hast du endlich einmal die Gelegenheit, zu zeigen, dass du auch als Pascha deinen Mann stehst. Ein guter Geisterjäger muss in sämtlichen Disziplinen fit sein. Aber das weißt du ja selbst, Mike. Kopf hoch... Und - äh - bleib sauber, Junge, auch wenn du momentan fürchterlich stinkst... Das Bad im Sumpf, du weißt, was ich meine...« Mike schwieg. Und, verflixt, diesmal gönnte er seinem Freund aus dem Geisterreich die Genugtuung, das letzte Wort gehabt zu haben. Er hatte es sich beileibe verdient! Ende
105