Geister-
Krimi � Nr. 56 � 56
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Geister-
Krimi � Nr. 56 � 56
Andrew Hathaway �
Schreie aus der � Unterwelt �
2 �
Seit vier Jahren schlief das Ehepaar Shepperton in getrennten Räumen. In dem Zehnzimmerhaus im Londoner Stadtteil Leyton bereitete das keinerlei Schwierigkeiten. Mrs. Elma Shepperton hatte darauf bestanden, und bis zu dieser Nacht war sie sehr zufrieden mit dieser Regelung gewesen. Doch in dieser Nacht erlebte sie etwas, das sie noch nie gekannt hatte: panische Angst. Es hatte schon am Abend begonnen, als sie auf ihre Schlaftabletten verzichtete, weil sie fürchtete, bei einer Gefahr nicht sofort wach zu werden. Trotz ihrer Gewöhnung an die Tabletten war sie nach wenigen Minuten eingeschlafen und schreckte erst um Mitternacht hoch. Es war totenstill im Haus. Im Nachbargarten heulte ein Hund. Gegen den vom Mond erhellten Himmel sah Elma Shepperton die bizarren Umrisse einer wild umherflatternden Fledermaus. Unten in der Halle schlug die Standuhr ein Viertel nach zwölf. Und plötzlich war sie da, die Angst, die grauenhafte Angst vor etwas Unheimlichem, Drohendem. Elma Shepperton verkrampfte ihr Hände in die Bettdecke, preßte den Stoff gegen ihren Mund, um nicht hysterisch aufzuschreien. Nichts hatte sich im Zimmer verändert, alles war nach wie vor ruhig. Und doch hatte sich das Grauen bei ihr eingeschlichen. Elma Shepperton wollte aus dem Bett springen und in das Zimmer ihres Mannes hinüberlaufen, der nur durch eine Tür von ihr getrennt schlief. Sie hörte seine regelmäßigen Atemzüge, aber sie konnte nicht einmal den kleinen Finger bewegen. Von einer unheimlichen Macht gelähmt, lag sie reglos und wehrlos dem Grauen ausgeliefert in ihrem Bett. Ein quälender Druck legte sich auf ihre Brust, nahm ständig an Stärke zu, bis sie zu ersticken meinte. Gepreßtes Stöhnen drang aus ihrem Mund, als langsam vor ihren Augen eine Gestalt ent3 �
stand, eine Ausgeburt der Hölle, ein widerliches Scheusal. Ein gedrungener Gnom hockte auf ihrer Brust, ähnlich einer riesigen Kröte, nackt und feucht und kalt, sie aus glühenden Augen anstarrend. Elma Shepperton versuchte, ihre Arme zu bewegen. Es gelang! Mit aller Kraft wollte sie das Scheusal von ihrem Körper stoßen, doch ihre Hände drangen durch die Erscheinung hindurch, trafen auf keinen Widerstand, konnten dieses eklige Wesen nicht ertasten. Das unförmige Scheusal senkte einen langen Saugrüssel auf die Brust der Frau. Entsetzt beobachtete Elma Shepperton, wie sich das Ende des Rüssels in ihren Körper senkte. Sie fühlte, wie sich eine klamme, naßkalte Faust um ihr Herz preßte. Sie stieß einen wilden Schrei aus, als ihr das Ungeheuer das Herz im Leib zerdrückte. Ein letztes Mal bäumte sie sich auf, dann fiel sie tot zurück in die Kissen. * Es kam nicht oft vor, daß Rick Masters gründlich ausschlafen konnte. An diesem Morgen konnte er, und das kam seiner angeborenen Bequemlichkeit entgegen, die manche Leute bereits als Faulheit bezeichneten. Rick Masters hatte es jedoch verstanden, die angeborene Faulheit durch angelernte Arbeitswut und Tüchtigkeit zurückzudrängen, ansonsten hätte er es nicht zu einem derartig guten Ruf als Privatdetektiv gebracht, schon gar nicht in einer Riesenstadt wie London, die immerhin bereits neunundneunzig Prozent aller berühmten Detektive hervorgebracht hatte. Das stimmte zwar nicht, dachte Rick Masters, während er sich 4 �
auf die andere Seite drehte und herzhaft gähnte, aber er fühlte sich seiner Heimatstadt London verpflichtet, weshalb er es bei den neunundneunzig Prozent beließ und sich nur den Kopf darüber zerbrach, wieso ihn an diesem Tag niemand störte. Meistens riß ihn das Telefon aus dem Schlaf, oder irgendein wildgewordener Klient hämmerte gegen seine Tür. Nicht einmal der ewige Störenfried Hempshaw ließ sich blicken. Chefinspektor Kenneth Hempshaw war einer der engsten Freunde Rick Masters, obwohl die beiden Männer einander so wenig glichen wie ein fliegender Fisch einem Adler – wobei Rick sich natürlich für den Adler hielt. Bescheidenheit ist eine großartige Tugend, doch Rick ließ sie ausnahmsweise beiseite. An diesem Morgen fühlte er sich wohl und wollte sich keinerlei Fesseln anlegen, auch keine charakterlichen. Gerade beschloß er, seinen Traum von einem Badestrand voller knappest bekleideter Mädchen fortzusetzen, begann auch bereits damit, indem er sich eine: süßen Blondine näherte, als Sturmwarnung gegeben wurde. Rick Masters schreckte hoch. Es war nicht Sturmwarnung, wie er im Halbschlaf vermutet hatte, sondern dieses ver… das Telefon. Er hatte sich zu früh gefreut. Zwei Sekunden schwankte er, ob er einfach weiterschlafen sollte, dann siegten Neugierde und Berufsethos. Rick Masters faßte den heldenhaften Entschluß, den Hörer abzuheben, was immer auch daraus entstehen mochte. »Ich hasse Sie«, sagte er in das Telefon, »bevor ich überhaupt weiß, wer Sie sind.« »Kenneth Hempshaw«, hörte er die altbekannte Stimme. »Warum hassen Sie mich? Soll ich Ihnen einen guten Psychiater schicken, damit Sie Ihre aus frühester Kindheit stammenden Haßkomplexe überwinden können?« »Sie sollen mich weiterschlafen lassen«, konterte Rick grinsend. »Dann schwindet der Haß von selbst. Was gibt es, Kenneth?« 5 �
»Ich möchte nicht am Telefon darüber sprechen«, sagte der Chefinspektor von Scotland Yard, der nach der anfänglichen freundschaftlichen Flachserei ungewöhnlich ernst wurde. »Kommen Sie in den Yard, dann zeige ich Ihnen etwas.« »Kenneth!« jammerte Rick in übertriebener Verzweiflung. »Sie wissen doch, wie schwer ein armer Privatdetektiv…« »Lassen Sie das«, unterbrach ihn Hempshaw schroff. »Kommen Sie so schnell wie möglich her! Sie werden es nicht bereuen. Die Sache ist ernster, als Sie es sich vorstellen können.« Hempshaw übertrieb gelegentlich ganz gern, aber wenn er so redete, mußte wirklich etwas dahinterstecken. Rick Masters wurde augenblicklich aus seiner fröhlichen Stimmung herausgerissen. Er ahnte bereits, daß er die längste Zeit Grund zur Fröhlichkeit gehabt hatte. »Ich komme«, sagte er rasch, legte den Hörer zurück und sprang mit beiden Beinen gleichzeitig aus dem Bett. Auf die allmorgendliche Dusche verzichtete er nicht, aber das Frühstück ließ er unter den Tisch fallen – wenn auch nicht wörtlich genommen. Mittlerweile hatte er sich schweren Herzens entschlossen, für seinen dunkelgrünen Morgan, einen offenen Sportwagen im Oldtimerlook, eine Garage zu mieten. Es wurde immer schwerer, in der City von London einen Parkplatz zu finden, so daß es Rick zu sehr auf die Nerven ging, abends stundenlang herumzukurven. Die hohe Garagenmiete nahm er seufzend in Kauf, dafür hatte er nur eine halbe Minute von seiner Wohnungstür aus zu seinem Auto zu laufen. An diesem Morgen schaffte er die Strecke in zwanzig Sekunden, weil er um so besorgter wurde, je länger er über Hempshaws Andeutungen am Telefon nachdachte. Er konnte sich nicht erinnern, daß der Chefinspektor es schon einmal so strikt abgelehnt hatte, am Telefon über etwas zu sprechen. Das klang fast 6 �
schon nach allerhöchstem Staatsgeheimnis. Auf der Fahrt in den Yard spann Rick Masters diesen Gedanken weiter, und als er bei einer Ermordung der gesamten Königsfamilie und aller Angehörigen des Oberhauses angekommen war, rief er sich zur Ordnung. Ganz so schlimm konnte es nicht sein, ein oder zwei Lords waren sicherlich noch am Leben. Der junge erfolgreiche Privatdetektiv war bei den meisten im Yard Beschäftigten so gut bekannt, daß er seinen Wagen anstandslos im Hof des riesigen Bürogebäudes abstellen konnte. Er fuhr mit dem Aufzug zu Hempshaws Etage hinauf und platzte ohne Anklopfen in das Büro des Chefinspektors. Hempshaw mußte wirklich etwas Tolles auf dem Herzen haben, weil er sich überhaupt nicht über diese formlose Art beschwerte, was er normalerweise sofort getan hätte. Er nickte Rick nur kurz zu und sagte: »Kommen Sie mit!« Auf Fragen reagierte er nicht, während er mit dem jungen Privatdetektiv hinunter in das Kellergeschoß fuhr. Unten angekommen, ging er zu einem der Flurtelefone und wählte einen Hausanschluß. »Dr. Sterling?« fragte er. »Ja, Doktor, können Sie herunterkommen? Rick ist jetzt hier.« Er nickte und hängte den Hörer zurück. Wieder ging er schweigend voran. Rick Masters fühlte sich unbehaglich. Er kannte sich gut genug aus, um zu wissen, daß sie zu den Leichenkammern unterwegs waren. Hier unten arbeitete Dr. Sterling, der erfahrene alte Pathologe der Mordkommission, die dem Chefinspektor unterstand. Daß er auch dabeisein sollte, bewies, daß er sich als Mediziner mit einer Leiche beschäftigte, die Hempshaw als Kriminalisten Rätsel aufgab. In dem kleinen Vorraum warteten sie auf den Pathologen. Als Dr. Sterling hereinkam, merkte Rick sofort, daß es noch ernster 7 �
sein mußte, als er befürchtete. Dr. Sterling, der im ganzen Yard wegen seiner spitzen Zunge gefürchtet war, verzichtete nämlich zur Begrüßung auf jede bissige Bemerkung, beschränkte sich ebenfalls auf ein knappes Kopfnicken und schloß den angrenzenden Arbeitsraum auf. Kalte Luft schlug Rick entgegen. Sterling drückte einen Schalter. Bleiches Neonlicht flackerte auf, stabilisierte sich, erhellte den einem Operationssaal gleichenden Raum. Auf dem Tisch in der Mitte lag eine Leiche, von Kopf bis Fuß von einem Laken verdeckt. Dr. Sterling trat an das Kopfende, griff nach dem Laken, wartete aber noch. Chefinspektor Hempshaw stellte sich zu den Füßen des Körpers und nickte dem Pathologen zu. Mit einem Ruck zog Dr. Sterling das Laken zur Seite. * Durch seinen Beruf als Privatdetektiv, der sich fast immer mit Gewaltverbrechen beschäftigte, war Rick Masters schon oft gezwungen gewesen, eine Leiche zu sehen. Er hatte auch oft genug bereits obduzierte Leichen gesehen, so daß es nicht dieser Anblick war, der ihm den kalten Schweiß auf die Stirn trieb. Es war das Gesicht der Frau, das in so grauenhafter Angst entstellt war, das ein so unfaßliches Entsetzen ausdrückte, daß sich Ricks Nackenhaare sträubten und er unwillkürlich an die schützende Wand zurückwich. »Mein Gott!« stieß er erschrocken hervor. »Was muß diese Frau vor ihrem Tod erlebt haben.« »Auf jeden Fall nichts, was Sie sich vorstellen können«, sagte Chefinspektor Kenneth Hempshaw mit spröder Stimme. »Sie wurde nicht erschossen, erstickt, erwürgt, erstochen, vergewaltigt – und doch wurde sie ermordet. Ach ja, ich vergaß, eine Ver8 �
giftung auszuschließen.« »Was sollen diese seltsamen Reden?« fragte Rick gereizt. »Wurde sie ermordet oder nicht?« »Sie starb keines natürlichen Todes«, antwortete Hempshaw vorsichtig. »Sie hat kein Herz«, bemerkte Dr. Sterling leise. »Was sagen Sie da?« staunte Rick. Hätte er diese beiden Männer nicht schon so lange und so gut gekannt, hätte er auf einen sehr üblen Scherz getippt. »Sie hatte…« »… kein Herz«, bestätigte Dr. Sterling. »Natürlich hatte sie einmal eines, sonst hätte sie nie gelebt, aber als sie gefunden wurde, fehlte das Herz.« »Als wurde es ihr herausgeschnitten.« Rick schüttelte sich angewidert über diese Grausamkeit. * »Nein, es wurde nicht herausgeschnitten«, wehrte Chefinspektor Hempshaw ab. »Ihr Körper wies keine einzige äußerliche Verletzung auf. Nicht mal einen Kratzer.« »Wir entdeckten das Fehlen des Herzens erst bei der Obduktion«, ergänzte Dr. Sterling. Schweigen senkte sich über den kalten Raum, in dessen Mitte die mysteriöse Leiche im mitleidlos grellen Licht der starken Arbeitslampen lag. Chefinspektor Hempshaw und Dr. Sterling schauten Rick Masters so erwartungsvoll an, als wären sie davon überzeugt, daß er eine Antwort auf die unausgesprochen im Raum hängende Frage wissen müßte. Auf die Frage, wieso das Herz eines Menschen fehlen konnte, ohne daß es herausoperiert worden wäre. * 9 �
Rick Masters atmete erleichtert auf, als sie wieder das Büro des Chefinspektors betraten. Das Licht strahlte durch die breiten Fenster herein, und der Anblick lebendiger Menschen unten auf der Straße weckte in Rick die Hoffnung, daß alles nur ein schlechter Traum gewesen war, was er unten im Keller des Yard gesehen hatte. Es war kein Traum, sondern grausame Wirklichkeit. Rick zweifelte keinen Augenblick daran, daß die Angaben der beiden Männer stimmen, auch wenn sie wie eine phantastische Lüge klangen. Hempshaw schenkte drei Gläser voll Whisky. »Wir können es brauchen«, bemerkte er, nachdem er die Flasche wieder in seinem Schreibtisch verstaut hatte. »Wenn es danach geht«, sagte Rick, »müßten Sie mir die ganze Flasche geben.« Er leerte sein Glas auf einen Zug, obwohl er sonst so früh am Tag noch keinen Alkohol trank. Vergeblich wartete er auf eine erleichtende Wirkung. Der Druck blieb, dieses scheußliche Bewußtsein, daß im Keller… Rick schüttelte sich. »Uns ist es auch schwer an die Nieren gegangen«, sagte Dr. Sterling, der das Verhalten des jungen Privatdetektivs beobachtet hatte. »Und wir haben keine Erklärung für dieses Phänomen.« »Strahlen?« Rick Masters runzelte seine Stirn. »Irgendwelche Strahlen, die im Körper eines Menschen Organe auflösen können, ohne äußerlich sichtbare Spuren zu hinterlassen und ohne andere Gewebeteile anzugreifen. Ich denke dabei an Gehirnoperationen mittels Strahlen. Ich bin kein Fachmann, aber manchmal werden Tumore und ähnliches durch Strahlen zerstört.« »Es stimmt so ungefähr, was Sie sagen«, gab Dr. Sterling zu. »Aber erstens ist es noch nie vorgekommen, daß ganze Organe 10 �
durch Strahlen in Nichts aufgelöst werden, und zweitens müßte man dafür eine riesige Maschine haben. Reinste Utopie.« »Wir haben bereits an die Möglichkeit gedacht«, ergriff Chefinspektor Hempshaw. »Doch sie ist sehr unglaubwürdig. Die Frau wurde heute morgen von ihrem Ehemann, Mr. Robert Shepperton, in ihrem Bett aufgefunden. Sie hieß Elma Shepperton. Der Mann ist Grundstücksmakler, Mrs. Shepperton leitete bis zu ihrem Tod eine bekannte Anwaltskanzlei.« »Warum erzählen Sie mir das alles?« fragte Rick Masters mißtrauisch, während er nach seinen Zigaretten griff. Hempshaw und Dr. Sterling wechselten einen bedeutungsvollen Blick, dann gab sich der Chefinspektor einen Ruck. »Wir wollen, daß Sie sich um diesen Fall kümmern, Rick«, sagte er. »Und nicht nur wir, auch der Secret Service.« »Ach nein, die Brüder stecken also dahinter.« Rick grinste unlustig. »Was wollen sie denn?« »Der Secret Service geht von der Überlegung aus, daß vielleicht doch neuartige Strahlen angewendet wurden«, erklärte Hempshaw. »Streng vertraulich sollen Sie nachforschen, ob diese Theorie stimmt.« »Und unserem Geheimdienst das Rezept für die Strahlen besorgen, falls die Theorie stimmt, nicht wahr?« ergänzte Rick. »Die Burschen sollten mich doch gut genug kennen, daß ich ihnen eine so teuflische Erfindung niemals in die Hände spielen würde.« »Man hält auf Sie, Rick«, erklärte der Chefinspektor feierlich. »Und es gibt wieder einen dicken Scheck – steuerfrei.« Er griff in die Schreibtischschublade und holte das wertvolle Stück Papier heraus. Er wedelte damit Rick vor der Nase herum. »Wie ist es? Nehmen Sie an?« »Den Scheck?« Der Detektiv grinste breit, schnappte nach dem Papier und ließ es nach einem prüfenden Blick in seiner Jacken11 �
tasche verschwinden. »Haben Sie schon mal erlebt, daß ich einen Scheck ausgeschlagen habe?« »Ich habe schon erlebt«, konterte der Chefinspektor, »daß Sie einen Scheck vom Secret Service genommen haben, ohne das Verlangte zu liefern.« »Irrtum!« verbesserte ihn Rick Masters. »Ich habe mich immer streng an die Abmachungen gehalten. Das werde ich auch diesmal tun. Ich werde herausfinden, wodurch Mrs. Sheppertons Herz verschwand. Ich habe nicht versprochen, daß ich eine gefährliche Erfindung an den Secret Service ausliefern werde. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Hempshaw und Sterling nickten wie zwei Verschwörer. »Sehr klar«, bestätigten sie. * Der erste Weg führte Rick Masters logischerweise zu Mr. Shepperton, dem Ehemann, der auf so seltsame Weise ums Leben gekommenen Elma Shepperton. Rick war sich absolut nicht klar darüber, wie er sich dem Grundstücksmakler gegenüber verhalten sollte, er hatte auch keine Ahnung, in welcher Richtung er seine Ermittlungen durchführen mußte. Also beschloß er, sich so allgemein wie möglich zu halten. Zuerst rief Rick von unterwegs in Sheppertons Büro an, weil die Möglichkeit bestand, daß der Makler trotz des plötzlichen Todes seiner Frau arbeitete. Rick hatte in dieser Hinsicht schon die tollsten Überraschungen erlebt. Im Büro wurde ihm jedoch mitgeteilt, Mr. Shepperton fühle sich nicht wohl und wäre zu Hause. Zu Hause – das bedeutete für den erfolgreichen Geschäftsmann ein Zehnzimmerhaus in einem parkähnlichen Garten. Rick stoppte seinen dunkelgrünen Morgan beeindruckt an der Ein12 �
fahrt und musterte den Garten genauer. Er interessierte sich aber weder für die Schönheit von Bäumen und Sträuchern, noch für den Landhausstil des Hauptgebäudes Der Detektiv wollte sich nur ein Bild von der näheren und weiteren Umgebung des Tatortes machen. Vorausgesetzt, die Theorie von den bisher unbekannten Strahlen stimmte, dachte der junge Rick Masters, während er seinen Wagen langsam auf das Haus zurollen ließ, dann mußte der Täter über ein tragbares Gerät verfügt haben. Das war ein zwingender Schluß. Außerdem mußte er nachts heimlich in das Haus eingedrungen sein, wenn man nicht annehmen wollte, daß er im Einvernehmen mit Mr. Shepperton gehandelt hatte. Ideal für einen Einbruch erschien das villenartige Gebäude auf jeden Fall, weil es abgeschieden und gegen jede Sicht von der Straße her gedeckt war. Rick änderte seine Meinung jedoch sehr schnell, als er sich Mr. Shepperton vorgestellt und den Fall mit ihm besprochen hatte. Der Witwer öffnete selbst. »Ich habe das Dienstpersonal für einige Tage weggeschickt«, erklärte er mit einer halben Entschuldigung. »Ich kann Ihnen daher nur etwas aus der Hausbar anbieten.« »Nicht nötig, danke«, wehrte Rick ab. »Ich wurde von Chefinspektor Hempshaw von Scotland Yard über den Tod Ihrer Frau informiert.« Wie ein gebrochener Mann sieht er nicht aus, dachte der Privatdetektiv. Shepperton schien seine Gedanken erraten zu haben. »Sie halten mich vielleicht für gefühllos«, sagte er mit einem Achselzucken. »Ich will nicht behaupten, daß mir der Tod meiner Frau gleichgültig ist, aber ich gestehe, daß wir uns völlig auseinandergelebt haben. Es trifft mich also lange nicht so hart…« 13 �
»Bitte, Mr. Shepperton!« fiel ihm Masters ins Wort. »Ich interessiere mich nicht für ihre persönlichen Dinge, das ist ganz allein Ihre Angelegenheit und geht mich nichts an. Was mich beschäftigt, ist die Art des Todes Ihrer Frau.« Der Grundstücksmakler starrte seinen Besucher erstaunt und verständnislos an, und Rick begriff, daß die Polizei ihm bisher noch nichts von dem fehlenden Herz verraten hatte. Er selbst fühlte sich an keine Schweigepflicht gebunden, weshalb er Shepperton unterrichtete. »Mr. Masters!« rief der Geschäftsmann, als Rick geendet hatte, und musterte ihn mit einem kühlen Blick seiner grauen Augen. »Ich habe bereits einiges von Ihren Erfolgen gehört, aber ich glaube, daß Sie diesmal zu weit gehen.« »Soll das bedeuten«, fragte Rick zurückhaltend, »daß Sie mir nicht glauben?« Shepperton war sichtlich um eine Antwort verlegen. »Erwarten Sie, daß ich eine so phantastische Geschichte glaube?« wich er geschickt einer direkten Antwort aus. »Rufen Sie im Yard an und verlangen Sie Dr. Sterling oder Chefinspektor Hempshaw«, sagte Rick gleichmütig. Shepperton starrte ihn noch einige Sekunden lang unschlüssig an, dann schlug er mit der flachen Hand auf den Glastisch, an den sie sich gesetzt hatten. »Also gut, ich will meine übliche Skepsis vergessen und Ihnen vertrauen. Aber wie, frage ich Sie, soll das geschehen sein?« »Deshalb hat man mich in die Ermittlungen eingeschaltet, Mr. Shepperton. Ich soll es herausfinden. Wollen Sie mir einige Fragen beantworten?« Der Grundstücksmakler nickte, holte eine Flasche Gin und zwei Gläser und schenkte ein, obwohl sein Besucher vorher abgelehnt hatte. »War Ihre Frau krank? Stand sie in ärztlicher Behandlung? 14 �
Hatte sie Medikamente im Haus?« Bei jeder der drei Fragen schüttelte Shepperton den Kopf. »Halt!« sagte er hastig. »Medikamente im eigentlichen Sinn hatte sie keine, aber sie nahm regelmäßig Schlaftabletten.« Er nannte die Marke. »Ein harmloses Mittel, das man in jeder Apotheke kaufen kann.« »Also scheiden ärztliche Behandlung und Medikamente als Ursachen schon einmal aus.« Rick klopfte mit dem Rand seines Glases gegen seine Zähne und nickte zufrieden. »Ein kleiner Schritt, aber immerhin etwas. Weiter, Mr. Shepperton! Haben Sie Kinder? Nein? Dann sagen Sie mir, wer sich normalerweise im Haus aufhält.« »Ein Mann und zwei Frauen«, antwortete der Geschäftsmann prompt. »Borg man ist Butler, Gärtner und Chauffeur in einer Person, die beiden Frauen kümmern sich um Küche und Haus. Alle drei wurden bereits von der Polizei verhört. Ich habe ihnen heute freigegeben, weil ich allein sein wollte.« »Und jetzt störe ich Sie«, bemerkte Rick lächelnd. Plötzlich war sein Lächeln wie weggewischt. Ohne sich um die erstaunten Blicke des Hausherrn zu kümmern, drehte er sich rasch um, stand auf und öffnete die drei Türen, die von dem Aufenthaltsraum abgingen. Er konnte niemanden sehen, und doch wurde er das Gefühl nicht los, intensiv beobachtet zu werden. Es war ihm, als starrten ihn glühende Augen an. »Was haben Sie denn, Mr. Masters?« fragte Shepperton unwillig. »Fühlen Sie nichts?« Und als der Hausherr den Kopf schüttelte, fuhr Rick fort: »Sind Sie sicher, daß niemand hier ist?« »Wer sollte hier sein? Mr. Masters, ich glaube, Sie sind überreizt.« »Wenn Sie meinen«, sagte Rick achselzuckend und setzte sich wieder. Er wollte das Thema nicht weiterverfolgen, weil er sich 15 �
keinen Aufschluß davon versprach, wenn Shepperton nichts fühlte. Er selbst jedoch wäre am liebsten aus dem Haus gelaufen, um dieser schrecklichen feindseligen Beobachtung zu entgehen. »Was ich Sie noch fragen wollte, Mr. Shepperton«, zwang sich der junge Privatdetektiv zu einer sachlichen Fortsetzung seiner Ermittlungen. »Existiert ein Testament Ihrer Frau?« »Ganz sicher.« Der Makler nickte. »Sie war schließlich Anwältin, also nehme ich an, daß sie Wert darauf gelegt hat, ihre persönlichen Dinge mit den Mitteln des Gesetzes zu regeln. Wenn Sie aber wissen wollen, was in diesem Testament steht, so muß ich Sie enttäuschen. Ich habe es nie gesehen.« »Ich weiß, es ist auch nur eine Vermutung von Ihnen, daß eine letztwillige Verfügung existiert.« Rick griff zu seinen Zigaretten, um sich irgendwie abzulenken. Dieser Druck, der Blick dieser feindlichen Augen, die er nicht sehen konnte, machten ihn immer unruhiger. »Hat Ihre Frau ein Tagebuch geführt?« »Nicht daß ich wüßte, Mr. Masters.« Shepperton hob in einer hilflosen Geste die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Ich sagte schon, daß sich meine Frau und ich…« »Ich weiß, Sie hatten sich auseinandergelebt«, unterbrach Rick ihn grob. Er sprang auf. »Vielen Dank, Mr. Shepperton. Wenn Ihnen etwas einfallen sollte, dann rufen Sie mich bitte an. Auch wenn ich nicht daheim sein sollte, der automatische Telefonbeantworter ist immer eingeschaltet. Auf Wiedersehen.« Damit lief der junge Privatdetektiv aus dem Haus, sprang in seinen Morgan und ließ den Motor aufheulen. Mit durchdrehenden Reifen startete er und raste hinaus auf die Straße. Um ein Haar hätte er einen Lastwagen gerammt. In letzter Sekunde konnte er das Steuer herumreißen. Schleudernd kam der offene Roadster zum Stehen. »Wohl zuviel getrunken, was?« brüllte der Lastwagenfahrer wütend. 16 �
Rick wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er zitterte am ganzen Körper. Er wußte nicht, was ihn in diesem Haus so verrückt gemacht hatte, aber eines war klar: es hatte auch Mrs. Sheppertons Tod herbeiführt. Rick fühlte es. Diese Kraft-Strahlen oder was immer es auch war – war tödlich. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn es länger auf Rick eingewirkt hätte. Gleichzeitig drängte sich dem jungen Privatdetektiv eine wichtige Frage auf: Wieso fühlte Mr. Robert Shepperton es nicht? * Bisher war Rick Masters keinen einzigen Schritt weitergekommen. Er hatte erfahren, daß sich das Ehepaar Shepperton nicht mehr verstanden hatte. Das war der einzige Anhaltspunkt. Bei einem nochmaligen Besuch im Yard schaute er sich die Vernehmungsprotokolle der Hausangestellten an, die in der vergangenen Nacht weder etwas gesehen noch gehört hatten. Also brachte ihn auch das nicht weiter. Chefinspektor Hempshaw hatte sich die Mühe gemacht, das Vorleben Mr. Borgmans, der bei Shepperton als«Mädchen für alles« arbeitete, und der beiden Frauen genau zu durchleuchten. Es war sehr einfach gewesen, weil alle ein völlig normales Leben geführt hatten. Borgman hatte eine Dienerschule besucht, die beiden Frauen waren ungelerntes Hauspersonal. Sie hatten bei verschiedenen Familien gearbeitet und waren niemals in irgendeiner Weise aufgefallen. Rick Masters entschloß sich dazu, sich nicht weiter um das Personal zu kümmern, um seine Kräfte ganz auf eine einzige Aufgabe zu konzentrieren. Er mußte herausfinden, was es war. Vorläufig blieb er bei die17 �
ser allgemeinen Bezeichnung, solange er nicht mehr darüber wußte. Dem Chefinspektor gegenüber erwähnte er nichts von dem Gefühl der Angst und der Bedrückung, das ihn im Hause Shepperton befallen hatte, weil er fürchtete, sein Freund könne ihn für nervös und überarbeitet halten. Rick brauchte einen Beweis, etwas Greifbares, doch vorläufig blieb es bei der Absicht. Der junge Privatdetektiv ging einen Schritt weiter als die Polizei. Er stellte genaue Erkundigungen über alle Nachbarn der Sheppertons an. In dieser Gegend Leytons wohnten zahlreiche Geschäftsleute und Rechtsanwälte, aber kein einziger Arzt hatte sich in unmittelbarer Nähe des Mordhauses angesiedelt. Rick entdeckte auch keinen Physiker oder anderen Wissenschaftler, der irgend etwas mit Strahlen zu tun gehabt hätte. Völlig erschöpft und entmutigt kehrte Rick Masters gegen acht Uhr abends sein Wohnbüro in einem der ältester Häuser der Londoner City zurück. Wie ein Stück Holz fiel er in sein Bett. Im Einschlafen dachte er noch, daß diese Müdigkeit nicht normal sein konnte. Er hatte schon viel härtere Erlebnisse mit weniger Erschöpfung durchgestanden, Auseinandersetzungen und Kämpfe. Der vergangene Tag war aber ausschließlich mit routinemäßigen Ermittlunger angefüllt gewesen. Es mußte also einer besonderen Grund für seine Erschöpfung geben. Rick dachte an diese geheimnisvolle Kraft, der er im Hause Shepperton ausgesetzt gewesen war und die der Ehemann der Toten nicht gefühlt hatte. Sollte es einen Teil von Ricks Energien verzehrt haben? Ein undefinierbares Gefühl des Grauens beschlich den jungen Privatdetektiv, während ihm vor Müdigkeit die Augen zufielen. *
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Robert Shepperton dachte noch lange über den Besuch des Privatdetektivs nach. Er konnte verstehen, daß sich Scotland Yard an Masters gewendet hatte, um Licht in den rätselhaften Todesfall zu bringen. Masters besaß in London einen hervorragenden Ruf, und es war auch bereits durchgesickert, daß er sich besonders solcher Fälle annahm, in denen bisher nicht bekannte Faktoren eine Rolle spielten. Selbstverständlich gehörte der Tod seiner Frau zu der Art von Fällen, in denen die Polizei gegen eine rätselhafte Macht ankämpfen mußte – und es nicht konnte, weil sie diesbezüglich keine Erfahrung hatte. Es war auch Shepperton klar, daß das Herz seiner Frau nicht auf natürliche Weise entfernt worden war, wenn man das so nennen wollte. Andererseits war der Makler ein nüchterner Verstandesmensch, der zwar keine Erklärung für dieses einmalige Phänomen hatte, der aber davon überzeugt war, daß es eine solche Erklärung geben mußte. In diesem Sinne beschloß er, sich nicht weiter den Kopf zu zerbrechen, um sich nicht unnötig anzustrengen. Auch in diesen Dingen war er sehr vernünftig. Was nichts einbrachte, war auch keiner Mühe wert. Robert Shepperton ging zeitig ins Bett. Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er sich plötzlich in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachen befand. Wirklichkeit und Traum verschwommen ineinander, doch dann war er überzeugt, daß es ein Traum sein mußte. Er sah nämlich seine Frau. »Robert«, flüsterte sie. Setzte er sich tatsächlich in seinem Bett auf, oder bildete er sich das nur in seinen Phantasien ein? »Elma?« fragte er halblaut. »Robert, kannst du mich hören?« drang ihre leise, kaum verständliche Stimme zu ihm. Er merkte ihrem Gesicht an, daß sie sich anstrengte. Es sah so aus, als würde sie mit aller Kraft 19 �
schreien, als wäre sie weit von ihm entfernt und müßte Welten mit ihrer Stimme überbrücken. »Ja, ich kann dich hören, Elma«, krächzte er. »In meinem Schreibtisch ist ein Geheimfach«, hauchte sie an seinem Ohr. »Hinter der rechten Schublade. Du mußt es finden!« »Elma!« Robert Shepperton wollte aufstehen, doch er glaubte, Bleigewichte würden an Armen und Beinen hängen. Mit einer fast übermenschlichen Anstrengung schaffte er es, aus dem Bett zu steigen. Zwei taumelnde Schritte machte er auf die blasse Gestalt seiner Frau zu, doch sie wich zurück und hob abwehrend die Hände. »Nein, Robert, du darfst mich nicht berühren!« Wieder verzerrte sich ihr Gesicht, als würde sie gegen einen Orkan anbrüllen, und doch blieb ihre Stimme nicht mehr als ein Lufthauch in der Stille. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden. Robert Shepperton blieb noch einige Momente stehen, dann fiel der Druck von seinem Körper ab. Er hörte sich entsetzt aufstöhnen, wankte und mußte sich an der Wand abstützen, sonst wäre er zusammengebrochen. Minutenlang verharrte er in dieser Stellung, dann schleppte er sich zum Lichtschalter. Die Helligkeit vertrieb augenblicklich die letzten Ängste des seltsamen Traumes. Traum? Robert Shepperton nagte ungeduldig an seiner Unterlippe. War das wirklich nur ein Traum gewesen? Konnte man sich im Schlaf so lebhaft etwas einbilden, daß man es mit solcher Deutlichkeit vor sich sah? Und was sollte diese Mitteilung über das Geheimfach bedeuten? Seine Frau hatte nie von einem solchen Geheimfach gesprochen, und er hatte sich nie um ihren Schreibtisch gekümmert. Das war ihr Reich gewesen, in das er sich nicht einmischte. Tief beunruhigt von dem Vorgefallenen, ob Traum oder nicht 20 �
Traum, ging Shepperton in das Wohnzimmer im Erdgeschoß hinunter und suchte nach Zigaretten. Er fand welche auf der Hausbar und steckte sich nervös eine an. Er kämpfte gegen den Wunsch an, in das Arbeitszimmer seiner Frau zu gehen und ihren Schreibtisch zu durchsuchen. Er hätte sich nämlich damit eingestanden, daß er daran glaubte, keinen Traum gehabt zu haben, sondern wirklich mit seiner toten Frau zusammengetroffen zu sein – mit ihrem Geist, ihrer Seele. Er wußte nicht, wie er die Erscheinung nennen sollte. Mit einer wütenden Handbewegung zerstieß er die Zigarette im Aschenbecher. Er wollte wieder ruhig schlafen können, und dazu mußte er den für ihn unangenehmen Schritt tun. Entschlossen betrat er Elmas Arbeitszimmer. * Als das Telefon schrillte, warf Rick Masters automatisch einen Blick nach der Uhr. Es war wenige Minuten nach Mitternacht. Der junge Privatdetektiv fühlte sich, als wäre er erst vor wenigen Minuten schlafen gegangen – müde, zerschlagen, ausgelaugt. Dreimal schlug die Klingel an, ehe er den Lichtschalter gefunden hatte und endlich abhob. »Masters«, meldete er sich. »Können Sie sofort kommen?« fragte eine Männerstimme, ohne den Namen zu nennen. Rick brauchte einige Sekunden, bis er sich erinnerte. Robert Shepperton war in der Leitung, und er sprach so angespannt und gepreßt, daß Rick sofort vermutete, daß etwas geschehen war. »Wollen Sie mir nicht sagen…«, setzte er an, doch Shepperton fuhr wütend dazwischen. »Halten Sie keine langen Reden, kommen Sie her!« schrie der Makler. »Glauben Sie, ich rufe mitten in der Nacht an, wenn es 21 �
nicht wichtig wäre?« »Ist ja schon gut«, entgegnete Rick und schwang die Beine auf den Boden, um vor Erschöpfung nicht wieder umzusinken. »Ich bin schon unterwegs.« Er beeilte sich nach Kräften, und bereits eine dreiviertel Stunde nach dem Anruf fuhr er vor dem Zehnzimmerhaus in Leyton vor. Er brauchte nicht zu klingeln, da die Haustür offenstand. »Kommen Sie herein!« ertönte von innen die Stimme Sheppertons. Rick folgte seiner Aufforderung und betrat die große Diele. Der Hausherr saß im angrenzenden Wohnzimmer über irgendwelche Schriften gebeugt. Als Shepperton den Kopf hob, erschrak Rick über dessen Aussehen. Auf seinem Gesicht mischten sich Angst, Ratlosigkeit und völlige Unsicherheit. Der junge Privatdetektiv setzte sich zu ihm und nickte ihm auffordernd zu. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, Mr. Masters«, begann Robert Shepperton. Er berichtete kurz von seinem Traum. »Ich wollte mich davon überzeugen, daß alles nicht stimmte, daß ich einfach vor dem Einschlafen zu intensiv an den Tod meiner Frau gedacht hatte. Ich durchsuchte ihren Schreibtisch und fand das Geheimfach, von dem ich noch nie etwas gehört hatte. In dem Geheimfach lag dies hier.« Er deutete auf die Papiere. Sie waren alle mit der Hand geschrieben. Die Schrift wies eine sehr charakteristische Schräglage nach links auf. »Was ist das?« fragte Rick gespannt. »Ein Tagebuch Ihrer Frau?« »Ja, genau.« Shepperton nickte. »Ich wußte nicht, daß sie seit Beginn unserer Ehe ein Tagebuch führte. Es hat mich sehr erschüttert, wie sie das Leben mit mir gesehen hat, aber das kann Sie nicht weiter interessieren. Aber hier!« Er deutete auf einen Stapel Blätter, die er ein Stück vor den anderen abgerückt 22 �
hatte. »Hier beginnt das Rätsel.« Er schob dem jungen Privatdetektiv die Aufzeichnungen Elmas zu. Auf den erster Blick fiel Rick auf, daß sich die Schrift veränderte, unsicherer, undeutlicher wurde. Die Buchstaben wichen von der einheitlichen Schräglage ab. Auf manchen Blättern standen nur ein paar Sätze, und sie waren manchmal so geschrieben, daß er hätte meinen können, ein Kind oder ein zittriger Greis hätte versucht, mit letzter Kraft etwas aufzuschreiben. »Lesen Sie!« forderte Shepperton ihn auf. »Und sagen Sie mir dann, ob Elma verrückt war, ob ich es bin oder was sonst passiert ist! Na los, lesen Sie!« drängte er ungeduldig. Bis vor einem Monat hatte Elma Shepperton zwar nicht täglich Eintragungen in ihr Tagebuch gemacht, aber doch zwei- bis dreimal die Woche. Und jeder Vermerk trug ein Datum. Dann setzten diese sonderbaren Aufzeichnungen ein, und von diesem Zeitpunkt an fehlte auch die Datumsangabe. Rick blätterte die Papiere rasch durch. Eine Veränderung geht mit mir vor, las er. Ich weiß nicht, ob ich lange durchhalten werde. Es hat Besitz von mir ergriffen. Ich komme nicht mehr los. Wer hilft mir? Sobald ich mit jemandem darüber sprechen will, versagt mir die Stimme. Es ist zu übermächtig in mir. Es muß eine Macht aus der tiefsten Hölle sein, sonst könnte sie mich nicht so quälen. Das hält kein Mensch aus. Ich sehne den Tod herbei, obwohl ich fürchte, daß auch er mich nicht erlösen kann. Erschüttert hob Rick Masters den Blick und schaute dem Makler in das grau gewordene Gesicht. »Verstehen Sie jetzt meine Aufregung?« fragte Shepperton. »Alles deutet darauf hin, daß meine Frau wahnsinnig geworden ist. Aber…« »Ich verstehe, was Sie mit Ihrem ›aber‹ sagen wollen«, unter23 �
brach der junge Privatdetektiv. »Hätte Ihre Frau zum Beispiel Selbstmord begangen, dann würden ihre tagebuchartigen Aufzeichnungen den Wahnsinn beweisen. Aber da ist dieses rätselhafte Verschwinden ihres Herzens.« »Vergessen Sie nicht, daß mich meine Frau im Traum auf das Geheimfach aufmerksam gemacht hat«, sagte Robert Shepperton tonlos. »Mr. Masters, was geht hier vor? Was hat sich in meinem Haus abgespielt?« »Das möchte ich auch herausfinden«, versicherte Rick. »Schließlich wurde ich von Scotland Yard beauftragt.« Dann erhalten Sie jetzt einen zweiten Auftrag«, erklärte der Grundstücksmakler. »Ich bin bereit, jedes von Ihnen geforderte Honorar zu zahlen, wenn Sie Licht in diese Sache bringen.« Rick wollte etwas erwidern, doch er hielt erschrocken inne. »Was haben Sie?« fragte Shepperton. »Schon bei Ihrem ersten Besuch waren Sie plötzlich so seltsam.« Diesmal verzichtete Rick Masters auf eine Antwort. Er sprang auf und stürmte aus dem Haus, als hätte es in hellen Flammen gestanden. Shepperton lief hinter ihm her. Schwer keuchend ließ sich Rick gegen seinen Wagen fallen. Nach einigen Minuten fühlte er sich wieder besser. Der Druck, der drinnen im Haus über ihn gekommen war, hatte aufgehört. »Ich glaube«, sagte Rick erschöpft, »daß ich jetzt genau weiß, wovon Ihre Frau in ihrem Tagebuch geschrieben hat. Seit ich Ihr Haus zum erstenmal betreten habe, fühle ich eine entsetzliche Beklemmung, einen Angstzustand, dem jedesmal körperliche und geistige Erschöpfung folgt. Sie werden davon verschont?« »Ja, ich spüre nichts«, versicherte Shepperton erstaunt. »Und ich habe auch mein Personal noch nicht klagen gehört.« »Sind alle Ihre Angestellten wieder von ihrem Ausgang zurück?« wollte Rick wissen. Und als der Hausherr nickte, bat er: »Dann sehen Sie doch nach allen und fragen Sie, ob jemand 24 �
etwas gespürt hat, Angst oder Beklemmung.« Sheppertons Gesicht ließ zwar erkennen, daß er von Ricks Bitte nicht viel hielt, doch er erfüllte sie. Nach zehn Minuten kam er wieder aus dem Haus. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Sie waren nur sehr überrascht und auch ungehalten, daß ich sie geweckt habe. Sie schliefen friedlich.« Rick stieg in seinen Morgan und startete den Motor. »Ich nehme Ihr Angebot, für Sie zu arbeiten, an, Mr. Shepperton«, entschied er. »Aber gleichzeitig muß ich Sie auf eines aufmerksam machen. Ich hatte noch keinen Fall, in dem ich mir so wenig Erfolg erhoffte wie diesmal.« Grußlos fuhr Rick Masters davon. Er hatte das Empfinden, mit knapper Not der Hölle entkommen zu sein. * Hinterher wußte Rick Masters nicht mehr, wie er es geschafft hatte, seinen Wagen zurück in die City zu steuern und in der Garage abzustellen. Er wußte auch nicht mehr, wie er in sein Bett gelangt war. Im Laufe des folgenden Tages versuchte er mehrmals verzweifelt aufzuwachen, wenn er im Unterbewußtsein wahrnahm, daß das Telefon klingelte. Er schaffte es nicht. Als jemand mit aller Kraft gegen seine Tür hämmerte, schlug er endlich die Augen auf. Draußen war es schon wieder dunkel, er hatte den Rest der Nacht und den ganzen Tag verschlafen. Kraftlos kletterte der junge Privatdetektiv aus dem Bett und schleppte sich zur Tür. Als er öffnete, fiel Chefinspektor Hempshaw buchstäblich mit der Tür ins Haus, weil er bereits mit aller Kraft an der Klinke gerüttelt hatte. »Na endlich!« rief Hempshaw erleichtert. »Ich wollte bereits die Tür einschlagen lassen. Seit einer halben Stunde klopfe ich 25 �
wie verrückt. Sie haben sich auch am Telefon nicht gemeldet. Sind Sie krank, Rick?« Der Detektiv antwortete nicht, sondern ging zurück ins Wohnzimmer und ließ sich in einen Sessel fallen. Vor seinen Augen drehte sich alles, das Zimmer wirbelte im Kreis herum. Nach ein paar Minuten war der Schwächeanfall vorbei. Rick setzte sich etwas kräftiger auf. Hempshaw legte gerade den Hörer wieder auf das Telefon. »Wen haben Sie angerufen?« erkundigte sich Rick erstaunt. »Dr. Sterling«, erwiderte Hempshaw ernst. »Sie sehen schrecklich aus, Rick. Ich will, daß sich ein Arzt um Sie kümmert. Jetzt erzählen Sie mir erst einmal, wieso Sie sich in diesem Zustand befinden. Ich sorge inzwischen dafür, daß Sie etwas Stärkendes in den Magen bekommen.« Das Stärkende bestand aus Whisky pur, der Rick soweit belebte, daß er von seinen zwei Besuchen bei Robert Shepperton berichten konnte. »Ich kann nicht erklären, welcher Art diese Kraft ist, die zuerst Mrs. Shepperton halb wahnsinnig machte und jetzt auch mich gepackt hat, aber es handelt sich um etwas Böses, Gefährliches. Mich kriegen keine zehn Pferde mehr in dieses verfluchte Haus.« Hempshaw erwiderte nichts. Er saß grübelnd in einem der Ledersessel und hatte die Stirn in Falten gelegt. »Sie glauben mir wohl nicht, Kenneth?« fragte Rick herausfordernd. »Sie halten mich wohl für überspannt?« »Das habe ich nicht gesagt«, wehrte Hempshaw sofort ab. Noch ehe sich eine harte Diskussion über diesen Punkt entspinnen konnte, klingelte es an der Tür. Dr. Sterling, den der Chefinspektor aus seiner Wohnung geholt hatte, kam hereingestürmt, als ginge es um ein Menschenleben. Als er Rick sah, atmete er erleichtert auf. »Ich habe schon geglaubt, Sie würden im Sterben liegen«, sagte 26 �
er mit einem vorwurfsvollen Blick auf Hempshaw. »Kenneth hat den Teufel an die Wand gemalt.« »Es ist mir auch erbärmlich gegangen, Doktor«, sagte Rick und streckte sich auf der Couch aus. Er wehrte sich nicht gegen die Untersuchung, weil er selbst neugierig darauf war, was der Arzt sagen würde. Dr. Sterling ging sehr gründlich vor. Eine halbe Stunde brauchte er, um ein abschließendes Urteil zu fällen. »Ich kann nicht die geringsten Anzeichen einer Krankheit feststellen«, sagte er schließlich. »Alle Körperfunktionen sind normal, ich möchte sogar sagen, Sie befinden sich in einem hervorragenden Zustand, Rick.« »Davon merke ich nichts«, stellte der Privatdetektiv sarkastisch fest. Dr. Sterling zuckte die Schultern. »Tut mir leid, ich kann von meinem Urteil nicht abgehen. Wenn Sie sich erschöpft und elend fühlen, dann hat es sicherlich keine körperlichen Ursachen.« »Schlafen Sie sich aus, Rick«, rief Chefinspektor Hempshaw. »Morgen geht es Ihnen wieder besser.« Sie plauderten noch eine Weile über belanglose Dinge, dann verabschiedeten sich Hempshaw und Sterling. Rick schloß grinsend hinter ihnen die Tür. Ganz offensichtlich glaubten sie ihm kein Wort über die unheimlichen Kräfte, die er in Sheppertons Haus gefühlt hatte. Ihm konnte es gleichgültig sein. Er hatte zwar schon viele Fälle gemeinsam mit Hempshaw gelöst, in denen übernatürliche und übersinnliche Phänomene eine Rolle gespielt hatten, aber der Chefinspektor sträubte sich jedesmal, diese Phänomene anzuerkennen. Er suchte stets krampfhaft nach einer »natürlichen« Erklärung, nach einem gewöhnlichen Verbrechen, und nur in Ausnahmefällen gab er zu, daß Übersinnliches im Spiel war. Rick machte sich nichts aus dem Unglauben seines Freundes. 27 �
Ihm genügte, wenn er die Ursachen der geheimnisvollen Vorfälle klärte, mehr verlangte er nicht. Von bleierner Müdigkeit überwältigt, sank der junge Privatdetektiv wieder in sein Bett und schlief augenblicklich ein. * Ein Stöhnen drang an Rick Masters Ohren. Es dauerte lange, bis er begriff, daß er selbst dieses Stöhnen aus seinen gequälten Lungen stieß. Auf seiner Brust lastete ein unerträglicher Druck, der sich von Sekunde zu Sekunde verstärkte. Er hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, griff sich an die Kehle und riß den Mund weit auf, doch es half nichts. Rick bäumte sich auf, dann fiel er zurück. Er schwebte in einem Dämmerzustand, in dem er gleichzeitig die Gegenstände seines Zimmers wahrnahm und schleierartige Bilder einer fremden Welt sah. Ein Gesicht schälte sich aus der Dunkelheit, ein bekanntes Gesicht. Es war Elma Shepperton, die er in der Leichenkammer von Scotland Yard gesehen hatte. Der Mund bewegte sich, die Augen waren hilfeflehend auf Rick gerichtet. Kein Ton drang an Ricks Ohr, er konnte nicht verstehen, was ihm die Frau sagen wollte. Sie strengte sich ungeheuerlich an, sich ihm verständlich zu machen. Rick hatte den Eindruck, als wollte sie ihm eine Warnung zukommen lassen. Helfend streckte er ihr die Hände entgegen, doch er erreichte sie nicht. Immer weiter trieb sie von ihm weg, bis er nicht nur ihr Gesicht, sondern ihren ganzen Körper sah. Das Grauen sprang Rick Masters mit voller Wucht an. Elma Sheppertons Körper wurde von Schlangen, schleimigen Molchen und anderem Getier gepeinigt. Ihr Gesicht verzerrte 28 �
sich schmerzlich, ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, der ungehört in der Welt verhallte, in der sie sich aufhielt. Schlagartig begriff Rick Masters, daß er nicht träumte. Irgendwie hatte sich ein Kontakt gebildet zwischen der Welt, in der er lebte, und einer jenseits von Zeit und Raum existierenden Welt, in der Elma Shepperton schwebte. Der junge Privatdetektiv, der sich vorwiegend mit Übersinnlichem beschäftigte, hatte schon mehrmals Kontakt zum Jenseits gehabt, aber noch nie so klar und deutlich. Die Erkenntnis erschreckte und faszinierte ihn gleichzeitig. Die erhofften Aufschlüsse, die er sich von diesem Kontakt versprach, blieben aus. Mit aller Kraft bemühte er sich, Elma Sheppertons Worte zu verstehen, aber es gelang ihm nicht. Dennoch schaffte er es, eine gedankliche Brücke herzustellen, über die er begriff, was den Geist dieser ruhelosen Frau quälte. Sie war dazu verdammt, Böses zu tun. Schon bald sollte sie einigen Menschen Verderben bringen. Mit einem gellenden Schrei fuhr Rick Masters in seinem Bett hoch und schaltete das Licht ein. Der Spuk war vorbei. Zurück blieb die Gewißheit, daß schon sehr bald neues Unglück geschehen würde. Schweißgebadet ließ sich Rick wieder auf das Bett zurücksinken. Noch nie war er sich so hilflos und verloren vorgekommen. Er stand ohnmächtig dem Bösen gegenüber. * Am folgenden Morgen erwachte Rick Masters erfrischt und gekräftigt, als wäre nichts geschehen. Sein Körper hatte sich von den unheimlichen Einflüssen freigemacht, nicht aber sein Geist. Die Erinnerung an die Erscheinungen der Nacht war geblieben und ließ Rick nicht mehr los. 29 �
Sein erster Weg führte ihn in die Küche, in der wie immer ein heilloses Durcheinander herrschte. Die Junggesellenwirtschaft trieb arge Blüten, doch Rick hatte jetzt keine Zeit, sie zu beseitigen. Er räumte den Eisschrank aus und stellte ein reichliches Frühstück zusammen, um wenigstens körperlich wieder fit zu sein. Die dritte Tasse Kaffee nahm er mit in den Büroraum seiner Wohnung und stellte sie neben das Telefon. Sheppertons Nummer hat er auf einem Zettel notiert, der neben dem Apparat lag. Er mußte also nicht lange nach der Nummer suchen, und Shepperton meldete sich auch sehr rasch. Es hatte fast den Anschein, als hätte er neben seinem Telefon auf Ricks Anruf gewartet. »Ich habe geahnt, daß Sie mit mir sprechen wollten«, erklärte Shepperton, als der Privatdetektiv eine Andeutung machte. »Um ehrlich zu sein, ich wollte Sie auch schon anrufen, doch dann hatte ich nicht den Mut dazu.« »Warum denn das?« staunte Rick. »Sehe ich so fürchterlich aus, daß Sie Angst vor mir haben müssen?« »Ach, Unsinn!« fuhr der Grundstücksmakler nervös auf. »Ich habe Angst, daß ich mich lächerlich mache. Ich habe nämlich heute nacht wieder so verrückte Sachen geträumt.« Rick Masters horchte auf. »Das müssen Sie mir genauer erklären«, sagte er. »Ging es dabei wieder um Ihre Frau?« »Ja, Elma erschien mir«, bestätigte Robert Shepperton. »Ich zweifle langsam selbst an meinem Verstand. Stellen Sie sich vor, Mr. Masters, meine Frau wollte mit mir sprechen, aber ich hörte sie nicht und brachte keinen Ton aus der Kehle. Und dann sah ich, daß sie von Schlangen und Würmern und anderen Tieren gequält wurde. Es war schrecklich. Als ich erwachte, hatte ich die Zähne ganz tief in das Kopfkissen vergraben.« Sekundenlang saß Rick wie erstarrt, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Gleichzeitig faßte er einen Entschluß. Er hielt es 30 �
nicht für sinnvoll, Shepperton zu erzählen, daß er die gleiche Vision gehabt hatte. »Es ist selbstverständlich«, sagte er daher ausweichend, »daß Sie solche Träume haben. Schließlich starb Ihre Frau auf rätselhafte Weise. Ich möchte Sie nur um eines bitten, Mr. Shepperton. Berichten Sie mir alle Ihre Träume. Irgendwie können sie mir weiterhelfen. Versprechen Sie es mir?« »Einverstanden, ich verspreche es.« Die Stimme des Maklers klang erleichtert. »Es ist gut, wenn man sich aussprechen kann, Mr. Masters.« »Ja, das stimmt.« Nur ich kann mich nicht aussprechen, dachte Rick verbittert. Er beendete das Gespräch mit dem Makler und wollte die Nummer von Scotland Yard wählen, als sein Telefon klingelte. Sofort hatte er den Hörer am Ohr. »Rick, kommen Sie schnell!« rief Chefinspektor Kenneth Hempshaw durch den Draht. »Was ist denn passiert?« fragte Masters aufhorchend. So hatte er Hempshaw noch nie gehört. »Dr. Sterling ist lebensgefährlich verletzt!« keuchte Hempshaw atemlos. »Beeilen Sie sich!« * Sekundenlang war Rick Masters zu keiner Reaktion fähig. Kraftlos ließ er den Hörer auf den Apparat fallen, ohne dem Chefinspektor zu antworten. Dr. Sterling – lebensgefährlich verletzt! Sein alter Freund Dr. Sterling! Riß die Unglückskette denn nicht ab? Zuerst dieser schreckliche Todesfall, dann die unheimliche Kraft aus dem Jenseits, und jetzt Dr. Sterling. Ganz kurz dachte Rick an einen Zusammenhang zwischen der Verletzung des alten Pathologen und Elma Shepperton, doch 31 �
dann verwarf er diese Idee wieder. Sie war zu phantastisch. Er mußte etwas tun. Er konnte nicht einfach dasitzen, während sein alter Freund mit dem Tod rang. Rick raffte alle Energie zusammen, schnellte von seinem Stuhl hoch und lief aus der Wohnung. Jetzt kam ihm ein Privileg zugute, das er nur aufgrund seiner engen Zusammenarbeit mit Scotland Yard erhalten hatte. Da es bei den Fällen, in denen er der Kriminalpolizei half, manchmal um Minuten ging, durfte Rick Masters Blaulicht und die schrille Alarmglocke einsetzen, die von den Streifenwagen der Polizei verwendet wurde, obwohl er Privatperson war und auch einen Privatwagen fuhr. Selbstverständlich durfte der junge Privatdetektiv von seinem Vorrecht nur in dringenden Fällen Gebrauch machen, doch wenn das jetzt kein dringender Fall war, dann gab es überhaupt keine. Die Kunststoffkuppel des Blaulichts steckte er mit einem raschen Griff auf eine eigens dafür neben der Windschutzscheibe montierte Metallstange, dann schaltete er die Hupe auf Alarm um und fuhr aus der Garage. Immer wieder bewunderte Rick die Londoner Autofahrer, die dem mehr als seltsamen Einsatzwagen bereitwillig Platz machten, wo immer er auftauchte. Er schaffte es in Rekordzeit in den Yard, wobei er sich wunderte, daß Hempshaw ihn nicht in irgendein Krankenhaus gerufen hatte. Sollte das etwa bedeuten, daß man Dr. Sterling nicht mehr transportieren konnte, oder daß es keinen Sinn hatte, ihn in ein Krankenhaus zu bringen? Rick biß die Zähne aufeinander und konzentrierte sich ganz auf das Fahren. Im Yard angekommen, mußte er nicht erst lange fragen. Der Torposten kannte ihn und war auch über das Vorgefallene informiert. »Sektionsraum!« rief der Polizist Rick Masters zu. Das war jener Raum, in dem Rick zum erstenmal die Leiche von Elma Shepperton gesehen hatte. Während er über die 32 �
Treppe hinunter in den Keller lief, weil es mit dem Lift zu lange gedauert hätte, verdichtete sich Ricks Vermutung, daß Sterlings Verletzung doch etwas mit dem gegenwärtig aktuellen Fall zu tun hatte. Dann stand er am Eingang des Sektionsraums. Auf dem Tisch in der Mitte lag noch immer die Leiche der Mrs. Shepperton. Vor dem Sektionstisch bemühten sich gleich drei Ärzte um eine verkrümmte Gestalt. Dr. Sterling! Das weiße Haar des alten Pathologen war blutverschmiert. Seine Brille mit dem Goldrand lag neben ihm. Die dicken Gläser waren zerbrochen – nicht nur einfach zerbrochen, richtiggehend pulverisiert. Ein mit unvorstellbarer Wucht geführter Schlag mußte sie getroffen haben. Außer den drei Ärzten befanden sich noch Chefinspektor Hempshaw im Raum und ein Mann, den Rick zwar noch nicht, persönlich zu Gesicht bekommen hatte, in dem der junge Privatdetektiv jedoch sofort den obersten Leiter von Scotland Yard erkannte. Und noch jemand lehnte in einer Ecke und beobachtete alles scheinbar äußerst gelangweilt. Rick kannte den richtigen Namen dieses Mannes nicht. Wegen seiner roten Haare nannte der Detektiv ihn Red, den Roten. Er hatte ein Durchschnittsgesicht und wirkte plump und massig. Er war jener Mann, der mit Rick Masters Kontakt aufnahm, wenn der Secret Service – der Geheimdienst – etwas von ihm wollte. Rick beachtete niemanden, sondern starrte entsetzt auf den alten Pathologen. Die Ärzte versuchten gerade, den unnatürlich verrenkten Körper Dr. Sterlings in eine solche Lage zu bringen, daß sie ihn auf eine Tragbahre heben konnten. »Schwerer Schädelbruch«, flüsterte Chefinspektor Hempshaw 33 �
Rick ins Ohr. »Hm, es sieht sehr schlimm aus.« »Wie ist es geschehen?« flüsterte Rick Masters zurück. Er zitterte am ganzen Körper vor Aufregung und in Erwartung der Antwort. Hempshaw zuckte verstört die Achseln. »Das weiß noch niemand«, hauchte er. »Von einem Sturz kann die Verletzung nicht stammen, sagen die Ärzte. Sie behaupten, es müsse ein Schlag gewesen sein. Aber er war allein hier drinnen.« »Nein«, knirschte Rick, »er war nicht allein. Sie war bei ihm.« Er deutete mit bebenden Fingern auf die Leiche Elma Sheppertons. * Dr. Sterling wurde auf die Tragbahre gelegt, und schon wollten die Sanitäter sie hochheben, als einer der Ärzte eingriff. »Moment, er scheint zu sich zu kommen!« sagte er mit verkrampfter Stimme. »Wir sollten warten, ob sich bei ihm ein Schock auswirkt.« Die Träger nahmen die Hände von den Griffen der Bahre und traten wieder ein Stück zurück. Chefinspektor Hempshaw, Red vom Geheimdienst und Rick Masters näherten sich dem alten Pathologen, dessen Lider unruhig flatterten. Sein leises Stöhnen klang in die atemlose Stille hinein, und dann schlug er die Augen auf. Rick war überrascht, wie klar Dr. Sterling um sich blickte, obwohl er ohne seine Brille nichts sehen konnte. Dennoch schien er plötzlich über die Fähigkeit zu verfügen, alles deutlich zu erkennen. »Kenneth«, sagte er mit lauter Stimme. »Rick, und der alte Hai vom Secret Service! Das ist ja eine Festversammlung.« Die drei Ärzte blickten sich verwundert und ratlos an. Ihrer 34 �
Meinung nach hätte der Verletzte offenbar nicht mehr in der Lage sein dürfen, zusammenhängend zu sprechen. Rick wiederum wunderte sich über die Sicherheit, mit der Sterling die Personen anredete, obwohl er sie nach menschlichem Ermessen nicht sehen konnte. »Dr. Sterling!« rief der Detektiv eindringlich und stieß die anderen zur Seite. Er beugte sich über die Tragbahre. »Dr. Sterling, was ist geschehen?« Die verschwommenen Augen des Arztes richteten sich auf Rick Masters. Es ging Sterling schlechter, sein Gesicht fiel zusehends ein, seine Haut wurde blasser. Auch seine Stimme klang nicht mehr so deutlich wie zuvor. »Rick«, sagte er beschwörend, »Sie müssen sie isolieren!« »Wen?« fragte Rick Masters, obwohl er sich schon denken konnte, wen der alte Arzt meinte. »Dieses Ungeheuer dort auf meinem Sektionstisch!« flüsterte Dr. Sterling mit schwindendem Bewußtsein. »… isolieren… Energie!« Kaum war er wieder bewußtlos geworden, als die Ärzte die Träger herbeiwinkten. Vorsichtig wurde der Schwerverletzte aus dem Sektionsraum getragen. »Wir können uns dieses Aufflackern seiner Energien nur so erklären«, sagte einer der Ärzte, »daß er in seinem Unterbewußtsein den dringenden Wunsch hatte, uns etwas mitzuteilen. Was hat er zu Ihnen zuletzt gesagt, Sir?« wandte er sich an Rick Masters. »Er sprach bereits wieder so leise, daß wir es nicht verstanden.« Rick schüttelte den Kopf. »Ich konnte es auch nicht mehr verstehen«, schwindelte er. »Wahrscheinlich phantasierte er bereits. Wie sehen seine Chancen aus, Doktor?« Der Arzt wäre sichtlich gern der Antwort ausgewichen. »Zwanzig Prozent, daß er durchkommt«, sagte er, dann folgte er 35 �
eilends den Trägern. »Kenneth«, gab Rick Masters dem Chefinspektor einen Wink,«wir haben etwas zu besprechen.« »Zuerst müssen wir beide uns unterhalten«, sagte eine Stimme neben Rick. Der Privatdetektiv blickte sich um und sah den Mann vom Secret Service. »Hinterher können Sie mit Hempshaw sprechen. Gehen wir hinaus auf den Hof, dort sind wir ungestört.« »Ich warte in meinem Büro auf Sie, Rick!« rief der Chefinspektor und verließ ebenfalls den Sektionsraum. Auf dem Hof von Scotland Yard angelangt, drehte sich Red voll zu Rick Masters um und sah ihm fest in die Augen. »Masters«, sagte er gepreßt, »ich weiß, was Sie von mir und meinem Verein halten. Ich weiß auch, daß Sie nicht bereit sind, uns irgendwelche Erfindungen zu verschaffen, die zur Vernichtung von Menschen eingesetzt werden können.« Rick wollte ihn unterbrechen, doch Red wehrte den Einwand mit einer heftigen Handbewegung ab. »Warten Sie doch erst mal, was ich zu sagen habe«, fauchte er unbeherrscht, obwohl er sonst stets die Ruhe in Person war. »Ich werde Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, eines der am besten gehüteten Geheimnisse, die es im Augenblick in der westlichen Welt gibt.« Wie zwei Verschwörer zogen sie sich ein Stück von den Polizisten zurück, die zu ihren Wagen gingen oder aus eingetroffenen Streifenwagen stiegen und das Gebäude betraten. »Seit etwa einem Monat werden in mehreren westlichen Ländern ähnliche Fälle untersucht, wie der von Elma Shepperton.« »Soll das heißen«, fuhr Rick Masters auf, »daß Mrs. Shepperton nicht der erste Mensch war, der auf unerklärliche Weise ein inneres Organ verlor?« »Genau das soll es heißen.« Red nickte. »In den Staaten drüben war es ein Mann, dessen Gehirn sich scheinbar in Nichts auf36 �
löste. In Frankreich verschwanden aus der Bauchhöhle eines Mannes alle Organe. In Italien und in Schweden wurden ähnliche Ereignisse gemeldet. Die Untersuchungen laufen natürlich streng geheim. Stellen Sie sich vor, zu welcher Panik es führen könnte, wenn das bekannt würde!« »Also nicht nur in London, nicht nur bei Elma Shepperton.« Rick rieb mit dem rechten Zeigefinger über die weißliche Narbe auf seiner rechten Wange, die von einem Einsatz in Schottland stammte. Seine hellbraunen Augen wurden hart und kühl. »Was haben die Wissenschaftler bisher herausgefunden?« Red breitete die Arme aus, als wollte er jemanden umarmen, und ließ sie in einer übertriebenen Geste sinken. »Nichts«, sagte er in einem Ton, als hinge davon das Schicksal der Menschheit ab. »Dann verraten Sie mir eines«, verlangte Rick Masters. Seine Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, ein Zeichen, daß er seinem Gesprächspartner mißtraute. »Wenn sich fähige Wissenschaftler vergeblich bemühen, das Rätsel zu lösen, wieso wendet sich der Secret Service dann ausgerechnet an mich, einen wissenschaftlich ungebildeten Privatdetektiv?« Auf dem fleischigen Gesicht Reds erschien ein verlegenes Grinsen. »Wenn die Wissenschaft versagt, greifen wir eben zu anderen Methoden«, behauptete er. »Sie haben schon mehrmals für uns Fälle gelöst, in denen parapsychologische, übersinnliche, übernatürliche Phänomene mitwirkten, wie immer man das auch nennen will.« »Und Sie meinen, daß auch diesmal Übersinnliches mitspielt?« fragte Rick und dachte an seinen Traum, in dem er Elma Shepperton gesehen hatte, gequält von unbeschreiblichen Ungeheuern. »Das sollen Sie eben herausfinden.« Red blickte auf seine Armbanduhr. »Ich habe Sie lange genug aufgehalten. Chefinspektor 37 �
Hempshaw wird schon ungeduldig auf Sie warten. Wir sehen uns wieder, Mr. Masters.« Rick lachte unlustig auf. »Wenn Sie mich mit Mister anreden, dann muß es schon sehr ernst sein.« Red nickte. »Sie ahnen gar nicht, wie ernst es ist«, sagte er und stampfte hinaus auf die Straße. * »Sie haben nicht alles gesagt, was Sie wissen«, empfing Chefinspektor Kenneth Hempshaw den jungen Privatdetektiv, als er sein Büro im Yard betrat. »Sie kennen mich eben viel zu gut, als daß ich Ihnen etwas vormachen könnte«, seufzte Rick und setzte sich auf den Stuhl vor Hempshaws Schreibtisch. »Dabei will ich Ihnen gar nichts vormachen. Ich hatte nur keine Lust, Red alles auf die Nase zu binden.« »Ich weiß«, sagte der Chefinspektor. »Sie stehen mit Geheimdiensten nicht unbedingt auf gutem Fuß. Aber jetzt packen Sie aus, Rick! Was hat Dr. Sterling zu Ihnen gesagt? Ich habe noch verstanden, daß wir jemanden isolieren sollen, aber was er Ihnen zuflüsterte, bevor er wieder ohnmächtig wurde, das weiß ich nicht.« Rick mußte sich einen innerlichen Ruck geben, bevor er antwortete: »Er meinte die Leiche von Elmar Shepperton. Dr. Sterling sprach von diesem Ungeheuer auf dem Sektionstisch. Wir müßten es isolieren. Und dann sagte er noch etwas, worauf ich mir im Augenblick keinen Reim machen kann: Energie.« »Energie?« echote der Chefinspektor verblüfft. »Was soll denn das heißen?« »Das weiß ich eben nicht«, erwiderte Rick gereizt. Die schwere Verletzung des alten Arztes war ihm arg an die Nerven gegan38 �
gen. »Wahrscheinlich steckt in Dr. Sterlings Mitteilung die Lösung.« »Wie sollen wir die Leiche isolieren?« Chefinspektor Hempshaw spielte ratlos mit einem Federhalter. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gemeint ist.« Rick Masters grübelte lange, dann hellte sich sein Gesicht auf. »Ich bin meiner Sache natürlich nicht sicher, aber ich würde vorschlagen, Sie lassen die Leiche in einem Bleisarg luftdicht einschließen.« »Rick!« Hempshaw starrte den jungen Privatdetektiv durchdringend an. »Ich weiß, woran Sie jetzt denken. Bestimmt nicht an ansteckende Krankheiten.« »Nein, bestimmt nicht«, antwortete Rick Masters und erhob sich. »Werden Sie meinen Rat befolgen?« Chefinspektor Hempshaw nickte schwer. »Ja, Rick, ich gebe sofort die Anweisung durch.« »Dann bin ich wenigstens teilweise beruhigt«, seufzte Masters und verließ das Büro. Ja, sie hatten sich verstanden. Nicht umsonst hatten sie schon zahlreiche Fälle gemeinsam gelöst, in denen Übersinnliches die Hauptrolle gespielt hatte. Der Bleisarg sollte als Abschirmung aller bösen übernatürlichen Kräfte dienen, die von der Leiche Elma Sheppertons ausgingen. Daß Rick Masters nur teilweise beruhigt war, hatte einen sehr triftigen Grund. Er war sich seiner Sache nämlich keineswegs sicher. Sie hatten es mit einem bisher nicht bekannten Phänomen zu tun, gegen das es noch kein sicheres Mittel gab. Der Bleisarg war ein Versuch, dessen Erfolg nicht garantiert war. Rick Masters fühlte, wie eine Gänsehaut über seinen Rücken lief, als er sich die Auswirkungen vorstellte, falls seine Maßnahme keinen Erfolg haben sollte.
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Selten hatte Rick Masters so sehnsüchtig auf die Nacht gewartet wie diesmal. Er freute sich nicht auf das Schlafen, sondern er fieberte darauf, vielleicht wieder durch eine Traumvision Kontakt mit Elma Shepperton aufzunehmen wie in der Nacht zuvor. Das war sicherlich nichts, worauf man sich normalerweise freuen konnte, aber Rick versprach sich von einer solchen Kontaktaufnahme wertvolle Aufschlüsse, die ihm bei der Lösung des Falles helfen konnten. Lange wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Rick lag wach und dachte an Dr. Sterling, dem es nach Auskunft des Krankenhausarztes weder besser noch schlechter ging. Er mochte sich nicht vorstellen, daß er in Zukunft unter Umständen den alten Pathologen bei seinen ständigen Besuchen in Scotland Yard missen müßte. Schlafmittel haßte der junge Privatdetektiv, weshalb es bis Mitternacht dauerte, bis er endlich in einen leichten Schlummer fiel. Irgendwann im Verlauf der Nacht bekam Rick Atembeschwerden. Er fühlte sich eingeschlossen, beengt. Es war ihm, als hätte jemand eine gewaltige Glaskuppel über ihn gestülpt. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr, er konnte nicht mal den kleinen Finger rühren. Einige Zeit lag Rick unbeweglich auf seinem Bett, bis er vor sich Elma Shepperton zu sehen glaubte. Das Gesicht der Frau war friedlich entspannt. Sie versuchte nicht, in Kontakt mit ihm zu treten, wie sie das bei ihrer letzten Erscheinung getan hatte. Sie schien zu schlafen. Aber auch sie war eingeschlossen und in ihrer Bewegungsfreiheit behindert. Rick Masters begriff, daß sie sich in dem gleichen Zustand befand wie er in seinem Wachtraum. Der Bleisarg! 40 �
Die Erkenntnis durchzuckte ihn so heftig, daß er beinahe aufgewacht wäre, doch unbekannte Kräfte hielten ihn gefangen und ließen nicht zu, daß sich sein Geist selbständig machte. Dennoch wußte er mit aller Klarheit, daß der Bleisarg auf Elma Shepperton so wirkte, wie er es gehofft hatte. Sie war von der Umwelt restlos abgeschnitten. Dr. Sterling hatte die Tote als Ungeheuer bezeichnet, und wahrscheinlich war sie für seine schwere Verletzung verantwortlich. Durch welche Kraft sie zum Verderben der Menschen wirken und sich mit Rick in Verbindung setzen konnte, wußte der Privatdetektiv noch nicht, aber er erhoffte sich weitere Aufschlüsse. Rick bedauerte immer wieder, daß er selbst nicht über besondere Kräfte verfügte, mit denen er mit Wesen aus dem Jenseits in Kontakt treten konnte. Es war ihm nicht möglich, Elma Shepperton aus ihrem Ruhezustand zu wecken und sie dazu zu zwingen, ihm ihr Geheimnis preiszugeben. Doch auch ohne sein Zutun geschah etwas, das über Rick wie eine Katastrophe hereinbrach. Plötzlich bemächtigte sich seines Körpers eine ungeheure Spannung, die sich immer weiter steigerte, bis er glaubte, sie nicht mehr ertragen zu können. Gleichzeitig erwachte Elma Shepperton, die er im Halbschlaf zu sehen glaubte, und drehte ihm ihr Gesicht zu. Es war häßlich entstellt und zu einer Fratze des Bösen verzerrt. Ihre Lippen glitten von den Zähnen in einem widerlichen Grinsen zurück. Die Spannung erreichte einen Höhepunkt und schien zu explodieren. Rick hatte das Gefühl, in den leeren Raum geschleudert zu werden. Funken tanzten vor seinen Augen, Blitze zuckten auf ihn nieder. Gleichsam wie in einem utopischen Film erlebte er die Entladung ungeheurer Energiemengen mit, als schwebte er mitten in einem Gewitter. Mit einem donnernden Krachen brach die Erscheinung ab. Um 41 �
Rick wurde alles schwarz. Er fiel in tiefe Bewußtlosigkeit. * Wenn Chefinspektor Kenneth Hempshaw auch nur für seinen Beruf zu leben schien, so war er doch nicht vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr in Scotland Yard erreichbar. Rick mußte sich mit der Auskunft zufriedengeben, Hempshaw wäre zu Hause, als er aus seiner Betäubung erwachte und einem ersten Impuls folgend den Yard anwählte. Rick Masters unterbrach die Verbindung und wählte Hempshaws Privatnummer. Zwei Minuten lang mußte er das Telefon läuten lassen, ehe der Chefinspektor abhob. Dessen Stimme hörte Rick sofort an, daß er tief und fest geschlafen hatte und den Anrufer zur Hölle oder an einen noch unangenehmeren Platz wünschte, falls es den überhaupt gab. Ein Blick auf die Uhr ließ Rick erkennen, daß Hempshaw allen Grund dazu hatte. Es war knapp über drei Uhr. Der Chefinspektor war jedoch sofort hellwach, als er Ricks Stimme erkannte. »Sagen Sie nicht, daß schon wieder etwas passiert ist«, rief Hempshaw fast flehend. »Ich weiß nicht, ob etwas passiert ist«, antwortete Rick, »aber ich möchte es gern feststellen. Dazu brauche ich Ihre Hilfe, Kenneth.« Ein abgrundtiefer Seufzer drang durch den Draht, dann ergab sich Hempshaw in sein Schicksal. »Schießen Sie schon los!« forderte er den Privatdetektiv auf. »Wo befindet sich die Leiche Elma Sheppertons?« »In einem Bleisarg, wie wir besprochen haben«, gab der Chefinspektor Auskunft. »Und dieser Sarg steht noch immer im Sezierraum, weil ich es für das Beste hielt, keine großen Veränderungen vorzunehmen.« 42 �
»Gut, Kenneth«, entschied Rick. »Dann fahren Sie jetzt sofort zum Yard! Ich komme auch hin. Eigentlich könnte ich allein nachsehen, ob meine Befürchtung stimmt, aber ich glaube nicht, daß man mich so einfach um drei Uhr nachts im Yard Spazierengehen läßt.« »Welche Befürchtung?« fragte Hempshaw und schnaufte aufgeregt durch die Nase. »Ich glaube, daß etwas mit Leiche und Sarg geschehen ist, aber das möchte ich mit eigenen Augen sehen. Kommen Sie, Kenneth?« »Natürlich!« Hempshaw legte auf, und auch Rick machte sich rasch zum Ausgehen fertig. Auf das Blaulicht verzichtete er, weil es seiner Meinung nach jetzt nicht mehr auf große Schnelligkeit ankam. Die Straßen waren ohnehin frei, so daß er es bis zum Yard innerhalb kurzer Zeit schaffte. Chefinspektor Hempshaw erwartete ihn am Haupteingang. Rick lenkte seinen offenen Sportwagen mit zwei Rädern auf den Bürgersteig und schaltete Motor und Scheinwerfer aus. Die beiden Männer nickten sich zu und betraten den Yard. Hempshaw schlug sofort den Weg hinunter in den Keller ein und blieb vor der Tür des Sektionsraumes stehen. Erwartungsvoll sah er Rick Masters an. Der junge Privatdetektiv ging an Hempshaw vorbei, stieß die Tür auf und schaltete das Licht ein. Hinter ihm stieß der Chefinspektor einen erschrockenen Ruf aus. Der Bleisarg hatte auf dem Boden vor dem Seziertisch gestanden. Von seiner ursprünglichen Form war nichts mehr zu erkennen. Er war geschmolzen. Das flüssige Blei hatte sich über den Steinboden verteilt und war inzwischen zu bizarren Gebilden erstarrt. Inmitten dieser verrückten Bleilandschaft lag die Leiche von 43 �
Elma Shepperton — unversehrt und in genau derselben Haltung, in der man sie in den Sarg gelegt hatte. Rick Masters drehte sich langsam zu Chefinspektor Hempshaw um. Er war bleich, und seine Lippen bebten, als er sagte: »Kenneth, ich habe einen schweren Fehler gemacht. Ich weiß nur noch nicht, welchen.« * In dieser Nacht hatte es keinen Sinn mehr, schlafen zu gehen. Rick besprach mit Hempshaw noch eine Weile die seltsamen Vorgänge um die Leiche Elma Sheppertons. Sie beschlossen, vorläufig nichts an der Toten zu verändern. Der Chefinspektor gab nur den Befehl heraus, daß niemand ohne ausdrückliche Genehmigung die Kellerräume betreten dürfe. »Ich werde es auch übernehmen, den Geheimdienst zu verständigen«, bot Hempshaw an. »Wie ich Sie kenne, Rick, legen Sie keinen gesteigerten Wert darauf.« »Ich habe schon einmal gesagt, daß Sie mich gut kennen«, erwiderte der junge Privatdetektiv und zwang sich zu einem Lächeln. »Nicht wahr, Kenneth, das haben wir uns auch nicht träumen lassen, daß wir beide eines Tages vor einem Fall stehen würden, in dem wir absolut nicht weiterkommen?« »Nein«, bestätigte Hempshaw. »Das hätten wir nie angenommen.« »Man soll eben nie ›nie‹ sagen«, seufzte Rick Masters. Er verließ den Yard und fuhr in sein Wohnbüro zurück, das über dem ältesten Café der City von London in einem schönen alten Haus untergebracht war. Er hatte sich gerade an seinen Schreibtisch gesetzt und begonnen, alles bisher Geschehene genau aufzuschreiben, als das Telefon anschlug. Rick griff ungehalten nach dem Hörer, weil er 44 �
keine Störungen liebte, sobald er sich intensiv mit einem Gedanken befaßte. Dementsprechend unfreundlich meldete er sich auch. »Habe ich Sie gestört, Mr. Masters?« fragte Robert Shepperton, der Grundstücksmakler. »Das sollte mir leid tun. Es ist doch schon acht Uhr.« Rick schaute auf die Uhr. Tatsächlich, die Zeit war enorm schnell vergangen. »Schon gut, Mr. Shepperton«, antwortete er versöhnlicher. »Ich war nur gerade in Gedanken. Was gibt es denn? Ist wieder etwas geschehen?« »Sie haben doch gesagt, ich sollte Ihnen alles berichten, was ungewöhnlich ist«, begann der Makler umständlich. »Kommen Sie zu mir, dann zeige ich Ihnen etwas! Wenn ich es am Telefon sage, glauben Sie es mir ja doch nicht.« Rick wollte eine heftige Erwiderung machen, weil er keine Lust hatte, den weiten Weg nach Leyton zu fahren, doch dann hielt er sich zurück. »Ich komme in einer halben Stunde«, entschied er. Shepperton erwartete ihn bereits. Zu Ricks Überraschung war auch Chefinspektor Hempshaw anwesend. »Ich habe Sie nicht verständigt«, erklärte Hempshaw, »weil Mr. Shepperton mir sagte, er hätte Sie schon angerufen, Rick.« »Was gibt's denn?« fragte der Privatdetektiv, dessen Spannung immer stärker anstieg. »Kommen Sie!« Shepperton ging in das Haus voraus. Hempshaw und Masters folgten. Der Grundstücksmakler betrat den ehemaligen Arbeitsraum seiner Frau. Seine beiden Besucher blieben betroffen stehen. »Meine Frau war einmal sehr religiös, das hatte sie von ihrer Mutter«, erklärte Robert Shepperton. »Deshalb hingen auch immer Kreuze und Heiligenbilder – sie war katholisch – hier in ihrem Zimmer. Sehen Sie sich das jetzt an!« forderte er sie auf. Alle Gegenstande, die Mr. Shepperton erwähnt hatte, waren zu 45 �
einer formlosen Masse verschmolzen. »Wie der Bleisarg«, murmelte Chefinspektor Hempshaw so leise, daß nur der neben ihm stehende Rick Masters es hören konnte. »Religiöse Gegenstände?« fragte Rick erstaunt. Irgendwie paßte das nicht in sein Konzept, das er sich von dem Fall gemacht hatte. »Haben Sie schon in den anderen Räumen des Hauses nachgesehen, Mr. Shepperton?« »Wonach nachgesehen?« fragte Shepperton zurück. »Sie meinen, ob auch dort etwas geschehen ist? Nein.« Sie zuckten unwillkürlich zusammen, als ein entsetzlicher Schrei durch das Haus gellte. »Das ist Borgman!« rief Shepperton fassungslos. »Der Butler.« Rick rannte los. Der Mann schrie noch immer. Es klang nicht nach Schmerzen, sondern nach ungeheurem Entsetzen. Die Schreie führten Rick in den hinteren Teil des Erdgeschosses. Eine Tür stand offen, dahinter sah Rick einen Mann stehen. Das mußte Borgman sein, der bei Shepperton als »Mädchen für alles« arbeitete. Borgman stand in der Küche. Zitternd starrte er in eine Ecke des Raumes, die Hände gegen den Mund gepreßt. Rick folgte der Richtung seines Blicks und prallte zurück. In dieser Ecke der Küche war ein fast vom Boden bis zur Decke reichendes Regal befestigt, auf dem eisernes Kochgeschirr gestanden hatte. Die Töpfe und Pfannen waren ebenso wie die religiösen Gegenstände aus Metall in Mrs. Sheppertons Arbeitszimmer und wie der Bleisarg geschmolzen. In dem Augenblick, als sie flüssig gewesen waren, hatte eine Frau vor dem Geschirregal gestanden. Das flüssige Metall war über die Frau geronnen, so daß nur ihr Gesicht freiblieb, das in unaussprechlicher Todesangst verzerrt war. Der Anblick der von Metall umhüllten Leiche war für Mr. 46 �
Borgman zuviel. Er brach bewußtlos zusammen. * Alle Angehörigen der Nachtschicht, die in der Schaltzentrale von London Dienst getan hatten, meldeten sich im Laufe des Vormittags krank. Elektrizität und Telefon gehören in jeder Großstadt und in jedem Land zu den Dingen, die auch für den Verteidigungsfall von unerhörter Wichtigkeit sind, weshalb sich sofort der Secret Service in die Untersuchung einschaltete. Auf diesem Umweg erfuhren Rick Masters und Chefinspektor Kenneth Hempshaw gegen Abend von der rätselhaften Krankheit, von der die Mitarbeiter des Elektrizitätswerkes befallen worden waren. »Alle klagen über Erschöpfungszustände«, sagte Hempshaw zu Rick. Sie saßen in Hempshaws Büro im Yard. »Die Ärzte können keine körperlichen Ursachen feststellen.« »Das erinnert mich an meine eigene Erschöpfung während des gestrigen Tages«, grübelte Rick laut. »Sollte es sich um eine bisher unbekannte Krankheit handeln, die sich langsam ausbreitet?« »Weshalb ausgerechnet in der Schaltzentrale, die für ganz London zuständig ist?« hielt ihm der Chefinspektor dagegen. »Das ergibt doch keinen Sinn.« »Vielleicht doch.« Rick warf dem Chefinspektor einen forschenden Blick zu. »Sind schon andere Fälle von Erschöpfung bekanntgeworden?« Und als Hempshaw den Kopf schüttelte, fuhr der Detektiv fort: »Also war nur Mrs. Shepperton davon befallen, danach ich, nachdem ich in ihrem Haus gewesen war, und jetzt die Leute von der Nachtschicht in der Schaltzentrale des E-Werkes. Interessant, finden Sie nicht auch?« »Ich kann nichts Interessantes daran bemerken«, fauchte 47 �
Hempshaw nervös. »Mich beunruhigt es.« »Wie geht es Dr. Sterling?« schwenkte Rick plötzlich auf ein anderes Thema ab. »Unverändert«, brummte Hempshaw. »Er schwebt zwischen Leben und Tod.« Rick schlug so unerwartet mit der Faust auf den Schreibtisch, daß Chefinspektor Hempshaw erschrocken von seinem Stuhl hochfuhr. »Nehmen Sie doch Rücksicht auf meine Nerven!« fauchte er den Privatdetektiv an. »Es muß ein System hinter allen diesen Ereignissen geben«, sagte Rick Masters, ohne auf den Vorwurf seines Freundes einzugehen. »Kenneth, ich bin überzeugt, daß Sterling die Zusammenhänge kennt, oder daß er uns zumindest weiterhelfen könnte.« »Wie kommen Sie darauf?« fragte Hempshaw erstaunt. »Überlegen Sie doch!« fuhr Rick eifrig fort. »Ich habe Ihnen von meinen Visionen erzählt, die ich nicht für Träume, sondern für geistige Verbindungen zu Elma Shepperton halte. Sie wollte mich warnen, wollte mir etwas mitteilen, konnte es aber nicht.« »Träume sind Schäume«, zitierte Hempshaw. »Meinetwegen, glauben Sie nicht daran«, knirschte Rick. »Aber das Tagebuch der Mrs. Shepperton ist eine Tatsache, an der Sie nicht rütteln können mit Ihrer ewigen Skepsis. Mrs. Shepperton fühlte schon seit etwa einem Monat diese Schwäche, diese unheimliche Macht, die von ihr Besitz ergriffen. Können Sie sich noch erinnern, was sie schrieb?« »Veranstalten Sie mit mir keinen Quiz«, murrte Hempshaw. »Sagen Sie einfach, was Sie sich denken.« »Sie schrieb, daß sie mit niemandem darüber sprechen könne. Diese Macht würde es verhindern.« »Na und?« Hempshaw zuckte verständnislos die Schultern. »Was sollen wir damit anfangen?« 48 �
»Dr. Sterling kam ebenfalls in Berührung mit dieser Macht, die alles ausgelöst hat. Wahrscheinlich weiß er etwas oder sogar alles, aber er kann nicht sprechen. Ich werde ihn jetzt besuchen, Kenneth. Rufen Sie im Krankenhaus an, damit man mich zu ihm läßt! Vielleicht gelingt es mir, etwas von ihm zu erfahren.« »Ich halte, ehrlich gestanden, nichts von Ihrer Idee«, sagte Chefinspektor Hempshaw freimütig. »Aber bitte, wir haben sowieso keine große Auswahl. Fahren Sie!« »Sie könnten sich inzwischen um die Angestellten des Elektrizitätswerkes kümmern«, schlug Rick vor, während er zur Tür ging. »Keine Angst«, rief Hempshaw hinter ihm her. »Mir geht die Arbeit schon nicht aus.« Und wahrscheinlich wird sich bald noch mehr Arbeit anhäufen, dachte Rick Masters, während er mit dem Aufzug in das Erdgeschoß von Scotland Yard hinunterfuhr. Denn er war überzeugt, daß der Fall noch lange nicht auf seinem Höhepunkt angelangt war. * Der Anruf des Chefinspektors im Krankenhaus bewirkte nur, daß Rick Masters zu Dr. Sterling vorgelassen wurde, obwohl es keine offizielle Besuchszeit gab. Er konnte natürlich nicht erreichen, daß Dr. Sterling auch ansprechbar war. Der alte Polizeiarzt lag noch immer in tiefer Bewußtlosigkeit. »Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan«, erklärte der behandelnde Arzt, der Rick in das Krankenzimmer führte. »Leider ist es nicht viel. Ich habe die Besuchserlaubnis insofern sehr leicht gegeben, weil ich nicht befürchten muß, daß Sie den Patienten aufregen oder mit Fragen strapazieren könnten. Sehen Sie selbst!« 49 �
Er deutete auf das Bett, in dem Dr. Sterling schmal und vertrocknet lag. Durch den Verband um seinen Kopf wirkte sein Gesicht winzig. Rick hätte ihn beinahe nicht erkannt. »Ich muß solange dabeisein, das werden Sie sicher verstehen, Mr. Masters«, sagte der Arzt und untersuchte kurz das Befinden seines Patienten. »Wir haben einen hoffnungslosen Kampf aufgenommen, und wir wollen ihn durchstehen. Kollege Sterling wird ständig überwacht.« Tatsächlich saß in einer Ecke des Zimmers eine junge Krankenschwester. »Doktor, es wäre lebenswichtig, daß ich mit Sterling sprechen könnte«, flehte Rick. »Und es wäre lebensgefährlich für den Patienten«, erwiderte der Arzt entschieden. »Sie haben Dr. Sterling jetzt gesehen, gehen Sie bitte wieder.« »Fünf Minuten noch«, bat Rick. Zögernd nickte der Arzt. Rick Masters zog sich einen Stuhl an das Bett heran, setzte sich und nahm Dr. Sterlings Rechte zwischen seine Hände. Beschwörend starrte er dem Bewußtlosen ins Gesicht. Rick war verzweifelt. Er hatte sich in die Idee verrannt, daß Dr. Sterling etwas wissen müßte. In dem Augenblick, als er durch Elma Sheppertons Leiche diese Verletzungen erlitten hatte, konnte ihm eine Erkenntnis gekommen sein. Rick hätte nicht sagen können, warum er auf den Gedanken gekommen war, doch er war überzeugt davon. Hätte er den alten Pathologen doch auf irgendeine Weise ins Bewußtsein bringen können. Das war wieder eine der Gelegenheiten, bei denen es Rick Masters bedauerte, daß er zwar gegen übersinnliche Kräfte ankämpfen mußte, selbst aber nicht über solche Fähigkeiten verfügte. Doch dann schreckte er hoch. Er hatte sich so auf seine Gedanken konzentriert, daß er zuletzt gar nicht mehr auf Dr. Sterlings Gesicht geachtet hatte. Das 50 �
Zucken von Sterlings Hand machte ihn darauf aufmerksam, daß mit dem Verletzten eine Veränderung vor sich ging. »Er kommt zu sich!« rief der behandelnde Arzt erstaunt und alarmiert zugleich. »Das kann…« Er sprach nicht weiter. Rick wußte auch so, was er meinte. Es konnte das letzte Aufflackern vor dem Tod sein. Rick verkrampfte sich innerlich. Dr. Sterlings Hand schloß sich um seine Finger. In dem eingefallenen Gesicht des Kranken zuckte es. Dann schlug Sterling die Augen auf. Der Blick, den er auf seinen Freund richtete, war leicht verschleiert, sein Flüstern kaum hörbar, als er krächzte: »Rick?« »Dr. Sterling«, sagte Rick Masters und rückte näher. »Wie fühlen Sie sich?« »Rick!« Es kostete Sterling offenbar ungeheure Anstrengung zu sprechen. »Er darf nicht reden!« befahl der Arzt, der ebenfalls an das Bett getreten war. »Das ist gefährlich in seinem Zustand.« »Ich muß reden!« sagte Sterling unerwartet laut und kräftig. »Rick, haben Sie die Leiche isoliert?« »Ja, in einem Bleisarg. Aber…« »Blei!« Einen Moment sah es so aus, als wollte Dr. Sterling laut loslachen, doch dann lief ein schmerzliches Zucken über sein Gesicht. »Energie, Strom, Isolierung – doch nicht Blei«, hauchte er. Es war klar, daß er wieder schwächer wurde und nur mehr wenige Sekunden bei Bewußtsein sein würde. »Dr. Sterling!« drängte Rick Masters. »Was steckt dahinter? Was wissen Sie?« »Urkraft«, stöhnte der Schwerverletzte. »Saugt Energie auf! Sie müssen – i s o l i e r e n!« Das letzte Wort schrie er, dann fiel er schlaff in die Kissen zurück. Seine Hand glitt aus Ricks Griff. Der Privatdetektiv wurde von 51 �
dem Arzt zur Seite gestoßen. »Ist er…?« fragte Rick Masters beklommen. Der Arzt untersuchte seinen Kollegen und schüttelte den Kopf. »Er ist wieder ohnmächtig geworden. Wir müssen…« In diesem Moment ging das Licht aus. * Es dauerte nur Bruchteile von Sekunden, bis die Notstromaggregate des Krankenhauses die Versorgung mit elektrischer Energie übernahmen. Für Dr. Sterling bestand keine unmittelbare Gefahr, er war bewußtlos und konnte Rick Masters nicht mehr weiterhelfen. Der Arzt kümmerte sich nicht um den Privatdetektiv, sondern bemühte sich gemeinsam mit der Krankenschwester um den Verletzten. Rick verließ das Zimmer, in dem es für ihn nichts mehr zu erfahren gab. In den übrigen Teilen des Krankenhauses herrschte die übliche Verwirrung, die bei Stromausfall ausbricht. Notsituationen entstanden keine, weshalb Rick das Gebäude verließ und über den finsteren Parkplatz zu seinem Wagen ging. Die rote Kontrollampe im Armaturenbrett brannte und zeigte an, daß er über Funk gewünscht wurde. Er öffnete das mit einem Spezialschloß versehene Handschuhfach, in dem sein Funkgerät untergebracht war, und schaltete sich in den Polizeifunk ein, auf dessen Wellenlänge der Apparat eingestellt war. »Bleiben Sie einen Moment dran, Mr. Masters«, sagte der Mann in der Funkzentrale. »Hier will jemand mit Ihnen reden. Ich gebe das Gespräch weiter.« Sekunden später hörte Rick die Stimme von Red, dem Geheimdienstmann. »Kommen Sie in die Schaltzentrale des E-Werks, Masters!« sagte Red kurz angebunden. 52 �
»Was soll ich dort? Hat es etwas mit den seltsamen Ermüdungser…« »Fragen Sie nicht so viel, und sprechen Sie vor allem nicht offen über Funk«, fauchte Red. »Es ist ernst. Kommen Sie schnell!« »Na gut, weil Sie mir so sympathisch sind«, knurrte Rick Masters und startete seinen Wagen. Nach einigen Straßenzügen kam ihm langsam zum Bewußtsein, was sich tatsächlich in London abspielte. Er hatte zuerst an einen Stromausfall im Krankenhaus, danach in dem betreffenden Stadtteil geglaubt. Doch je weiter er kam, desto deutlicher erkannte er, daß es in der ganzen Stadt keinen Strom gab. Es schien sich eine ähnliche Katastrophe wie vor einigen Jahren in New York anzubahnen. Da begriff Rick auch die Aufregung Reds. Er sah nur nicht ganz ein, was er damit zu tun hatte. Die Hauptschaltzentrale für ganz London war in einem von außen sehr unscheinbar wirkenden Haus untergebracht, in dem man gewöhnliche Büros vermutet hätte, nicht aber das lebenswichtige Herz einer Riesenstadt. Rick zeigte seinen Ausweis am Tor und wurde im Schein von Kerzen und rasch hervorgesuchten Petroleumlampen in den Hauptraum geführt. Red erwartete ihn bereits. Bei ihm war Chefinspektor Kenneth Hempshaw. »Sie sind aber auch überall, Kenneth«, konnte sich Rick nicht verkneifen. »Wollen Sie mir endlich verraten, weshalb Sie mich gerufen haben?« Hempshaw machte eine entschuldigende Geste. »Ich habe unserem Freund vom Secret Service erzählt, daß Dr. Sterling von Energie gesprochen hat«, antwortete er. Ricks Gesicht verdüsterte sich. »Ich weiß, daß Sie es nicht gern haben, wenn man über Ihre Überlegungen spricht, Rick, aber es war wichtig.« 53 �
»Vergessen Sie Ihre Abneigung gegen unseren Verein, Masters«, redete ihm Red zu. »Sehen Sie, Strom ist auch Energie. Und die Nachtbelegschaft dieser Schaltzentrale wurde von der Energiekrankheit befallen.« »Was ist denn das schon wieder?« entfuhr es Rick. »Wir bezeichnen jetzt den Erschöpfungszustand, unter dem auch Sie gelitten haben, als Energiekrankheit«, setzte der Geheimdienstmann auseinander. »Die Lebensenergien des Körpers schwinden, als würden sie einfach von einem anderen Wesen aufgesaugt. Also, die Angestellten der Schaltzentrale werden von der Energiekrankheit befallen, und jetzt verschwindet die gesamte für London bestimmte elektrische Energie ebenfalls hier in der Schaltzentrale.« »Es klingt unglaublich, Rick«, bestätigte Chefinspektor Hempshaw, »aber es ist so. Es handelt sich um kein Versagen von Leitungen oder Sicherungen. Der Strom fließt bis hierhin und verschwindet spurlos.« »Eine Urkraft saugt Energie auf, und wir müssen sie isolieren«, murmelte Rick Masters. »Wie bitte?« fragte Hempshaw irritiert. »Ach nichts«, wehrte der Detektiv ab. »Ich habe lediglich laut gedacht.« Er wollte nicht darüber sprechen, was Dr. Sterling bei seinem Besuch im Krankenhaus gesagt hatte. Das erschien ihm noch zu früh. »Chefinspektor!« schrie draußen auf dem Korridor plötzlich ein Mann. »Chefinspektor Hempshaw! Schnell, kommen Sie!« Hempshaw rannte, dicht gefolgt von Masters und Red, hinaus und überließ die Schaltzentrale wieder den ratlosen Technikern. Ein aufgeregter Polizist stürmte ihnen entgegen. »Kommen Sie schnell ans Fenster!« stammelte er keuchend. Auf seiner Stirn stand Schweiß, seine Augen flackerten. »Was ist denn?« rief Hempshaw. 54 �
»Sehen Sie selbst!« Der Polizist zeigte aus dem Fenster auf den nachtschwarzen Himmel über London. »Das Ding ist vor wenigen Sekunden hier aus dem Gebäude gekommen.« Rick sah über der völlig dunklen Stadt einen hellen Fleck schweben, der sich langsam entfernte. Irgendwie erinnerte ihn das Gebilde an eine Qualle, die mit flatternden Bewegungen durch das Meer treibt. Es strahlte und leuchtete aus sich heraus. Rick schätzte den Durchmesser der Erscheinung und kam zu dem Schluß, daß sie nicht größer als ein normales Personenauto sein konnte. »Ein UFO!« behauptete der Polizist. Hempshaw enthielt sich einer Bemerkung, aber Rick Masters schüttelte den Kopf. »UFO im üblichen Sinn ist das keines, also kein Flugkörper aus dem Weltraum.« »Sie reden so«, sagte Hempshaw leise zu ihm, »als wüßten Sie genau, was das da draußen ist.« Rick hob abwehrend die Hände. »Da das Gebilde aus diesem Gebäude gekommen ist, hat es etwas mit den Phänomenen zu tun, mit denen wir uns beschäftigen. Bei diesen Phänomenen spielen Wesen von anderen Sternen und solches utopische Zeug keine Rolle. Im Gegenteil, ich glaube eher…« Er wurde unterbrochen, weil in diesem Moment das Licht wieder anging. Es gab Strom – in ganz London, wie Rick mit einem Blick aus dem Fenster sah. Er nutzte die anschließende Verwirrung aus, um sich unbemerkt davonzustehlen, ehe er unzählige Fragen von Hempshaw und Red beantworten mußte. Er wollte allein sein, um über seine Erlebnisse und über die geheimnisvollen Andeutungen Dr. Sterlings nachdenken zu können. Rick fuhr nach Hause in sein Wohnbüro. * 55 �
Durch den Stromausfall war totales Chaos entstanden. Auf den Straßen stauten sich die Autos, weil nach Wegfall der Ampelregelung die Kreuzungen verstopft waren. Es würde noch lange dauern, bis sich die Verwirrung legte. Der Einwohner Londons hatte sich eine begreifliche Unruhe bemächtigt, gegen die während der energielosen Zeit auch Rundfunk und Fernsehen nicht hatten ankämpfen können. Und jetzt, daß der Strom wieder durch die Leitungen floß, dauerte es auch noch lange, bis sich der Betrieb in den Sendeanstalten normalisierte. Von dem allen unberührt saß Rick Masters in seinem Wohnbüro, stierte auf ein leeres Blatt Papier, neben dem ein Stapel mit Aufzeichnungen lag, und versuchte, eine Gedankenverbindung zwischen allen Ereignissen herzustellen. Dr. Sterling hatte von einer Urkraft gesprochen, was immer das auch sein mochte. Rick konnte sich nichts darunter vorstellen. Diese Urkraft saugte Energie in sich auf. Der junge Privatdetektiv mußte an die leuchtende Erscheinung denken, die sich von der Schaltzentrale des E-Werkes entfernt hatte. War das die Urkraft gewesen? War es ein Gebilde, das eine Form von Leben darstellte? Das Metall zum Schmelzen brachte wie den Bleisarg, in den sie Elma Sheppertons Leiche gelegt hatten, oder wie die Metallgegenstände in Robert Sheppertons Haus? Rick dachte an die Leiche der Haushälterin Sheppertons, die von dem geschmolzenen Kochgeschirr eingehüllt worden war. Shepperton – immer wieder tauchte der Name auf. Mit Mrs. Sheppertons Tod hatte alles angefangen, wenigstens hier in England. Von Red wußte Rick Masters ja, daß es schon früher in anderen Ländern zu ähnlichen Erscheinungen gekommen war. Er konnte seine Überlegungen nicht weiterführen, weil ihn das Telefon störte. Robert Shepperton sprach sehr aufgeregt. 56 �
»Ich muß Sie schon wieder bitten, Mr. Masters, zu mir zu kommen«, drängte der Grundstücksmakler. »Ich weiß mir keinen Rat mehr. Wäre ich kein so vernünftiger und moderner Mensch, würde ich sagen, daß mein Haus seit dem Tod meiner Frau verhext ist.« »Was ist denn nun schon wieder passiert?« Es gelang Rick nicht, die Ungeduld in seiner Stimme ganz zu unterdrücken. »Vor einer halben Stunde etwa, knapp nachdem der Strom wieder kam, sah ich ein helles Gebilde auf mein Haus zuschweben«, berichtete Robert Shepperton. Sofort dachte Rick an die Erscheinung, die er vor dem E-Werk beobachtet hatte. »Der helle Fleck am Himmel verschwand, und jetzt – jetzt leuchtet mein Haus.« »Was tut es?« Rick mußte an sich halten, um nicht in nervöses Gelächter auszubrechen. Es wurde immer verrückter. »Ihr Haus leuchtet?« »So ist es«, bestätigte der Makler. »Jeder Gegenstand, jede Mauer – alles strahlt aus sich heraus. Kommen Sie und sehen Sie es sich an, Mr. Masters!« »Haben Sie schon mit jemand anderem darüber gesprochen?« wollte der Privatdetektiv wissen. »Oder ist Ihr Hauspersonal informiert?« »Borgman hat gekündigt, und auch das Hausmädchen ist weggelaufen«, sagte Shepperton. »Ich bin allein im Haus. Und Sie sind der erste, dem ich von dem geheimnisvollen Leuchten erzähle.« »Gut«, sagte Rick. »Dann sprechen Sie mit niemandem darüber. Ich komme gleich zu Ihnen.« Er verließ rasch sein Wohnbüro. Zu seinem Glück hatte sich das Verkehrschaos bereits gebessert, so daß er zügiger vorankam, als er befürchtet hatte. Er benötigte für die Strecke in den Stadtteil Leyton eine halbe Stunde, so daß er kurz vor Mitter57 �
nacht eintraf. Von der Straße aus konnte er Sheppertons Haus nicht sehen, das hinter Bäumen und Büschen verborgen lag. Doch als er die Auffahrt hinaufrollte, drang ein heller Lichtschein zwischen den Blättern durch. Rick bog um die letzten Sträucher, die die Sicht versperrten, und stieg kräftig auf die Bremse. Es war ein unwirklicher Anblick. Als bestünde das Haus aus Milchglas, in dessen Zentrum eine starke Glühbirne brannte, leuchtete und schimmerte das Gebäude in einem weichen Licht. Rick starrte fassungslos auf das Bild, bis neben ihm eine Gestalt auftauchte. Robert Shepperton öffnete die Seitentür des Wagens und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Ich habe es in diesem Teufelshaus nicht mehr ausgehalten«, sagte er. »Drinnen ist der Effekt noch viel stärker. Ich habe einmal gelesen, daß bläuliches Licht erscheint, wenn der Blitz in ein Haus einschlägt, aber wir haben doch kein Gewitter gehabt.« »Ein Blitz ist Energie«, überlegte Rick Masters laut. »Sie beschäftigen sich nicht zufällig mit Physik, Mr. Shepperton?« Der Makler sah ihn verblüfft an. »Physik ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln«, gestand er. »Ich habe nie etwas kapiert, was damit zu tun hat. Warum fragen Sie?« »Oder Ihre Frau«, bohrte der Privatdetektiv weiter. »Hat sie sich mit Physik beschäftigt?« »Elma?« Shepperton lachte trocken auf. »Elma kannte nur ihre Gesetzesbücher, sonst nichts.« »Dann kann es sich nur um einen Zufall handeln, daß ausgerechnet Ihr Haus betroffen ist.« Rick Masters griff nach dem Funkgerät und stellte eine Verbindung mit Scotland Yard her. Er verlangte Chefinspektor Hempshaw. Der mußte erst im Haus gesucht werden, aber nach fünf Minuten kam seine Stimme über den Lautsprecher. 58 �
»Was haben Sie auf dem Herzen, Rick?« Masters verschwieg das Leuchten von Sheppertons Haus, das zusehends schwächer wurde. »Sie müssen sich mit Red in Verbindung setzen«, verlangte Rick Masters. »Ich möchte ihn morgen vormittag sprechen. Er soll mich anrufen.« »Und was soll ich ihm sagen, worum es geht?« fragte Hempshaw. »Sagen Sie ihm, es geht um Leben und Tod«, erwiderte Rick Masters ernst, und er meinte jedes Wort genauso, wie er es sagte. Als er den Hörer zurück in die Halterung hängte und das Handschuhfach verschloß, erlosch das Leuchten vollständig. »Sie können wieder hineingehen, Mr. Shepperton«, sagte Rick und zeigte auf das Haus. »Sie sind drinnen sicher.« »Ich betrete dieses Spukschloß nicht mehr«, rief der Makler heftig. »Ich ziehe in ein Hotel.« »Sie Glücklicher!« seufzte Rick. »Damit ist für Sie alles erledigt. Aber für mich fängt es erst an.« Er wartete, bis Robert Shepperton ausgestiegen war, dann startete er und fuhr zurück in die City. Unterwegs zuckte er plötzlich zusammen. Er hatte eine Idee. Vielleicht bedeutete sie die Rettung vor einer drohenden, in ihrer ganzen Ausdehnung noch unbekannten Gefahr. * Chefinspektor Hempshaw war ziemlich erstaunt, als der junge Privatdetektiv in sein Büro stürmte. »Ich dachte, ich sollte Sie erst morgen vormittag wiedersehen«, sagte er. »Übrigens, ich bin noch nicht dazu gekommen, mit Ihrem Freund vom Geheimdienst zu sprechen, Rick. Aber ich kann das gleich nachholen.« Er wollte zum Telefon greifen, doch der Detektiv hielt ihn 59 �
zurück. »Warten Sie noch, Kenneth, ich habe mir etwas überlegt«, sagte Rick Masters hastig. »Da bin ich neugierig«, erwiderte Hempshaw grimmig. »Spannen Sie mich nicht lange auf die Folter, Rick. Was hat Ihr Supergehirn denn diesmal ausgebrütet?« »Wie wäre es erst mal mit einem kleinen Schluck zur Stärkung?« schlug Masters mit einem anzüglichen Blick auf die bewußte Schreibtischlade vor. »Um ein Uhr nachts kann man das brauchen.« Seufzend holte Hempshaw die Whiskyflasche hervor, schenkte ein und stellte die Flasche wieder weg. »Damit wir nicht in Versuchung kommen, unseren Kummer zu ertränken«, kommentierte er mit einem bitteren Lächeln. »Hören Sie zu, Kenneth«, begann Rick. »Alles hat mit Elma Sheppertons Tod angefangen. So unwahrscheinlich es auch klingen mag, aber sie hat nach ihrem Tod versucht, mit mir Kontakt aufzunehmen und mich zu warnen. Wieso gerade mich? Ich besitze keine übernatürlichen Kräfte, also muß es zwischen ihr und mir eine andere Brücke geben. Ich weiß auch jetzt, worin diese Brücke besteht. Sie fühlte im ihrem Haus eine unerträgliche Spannung, und mir ging es ebenso.« »Das ist doch Einbildung«, bemerkte der Chefinspektor abfällig, doch Rick ließ sich nicht beirren. »Die Erschöpfung, die Elma Shepperton und später mich befiel, war keine Einbildung«, beharrte Rick auf seinem Standpunkt. »Dr. Sterling sprach von einer Urkraft, die Energie in sich aufsaugt. Elmas Lebensenergie, und zum Teil auch meine, wurde von dieser Urkraft aufgesogen – und auch der Strom, der London versorgen sollte.« »Rick«, rief der Chefinspektor und hob beschwörend die Hände, »hören Sie auf! Das ist doch der reinste Unsinn!« »Treten Sie den Gegenbeweis an«, erwiderte Rick Masters kühl. 60 �
»Ich habe lange darüber nachgedacht, und jetzt bin ich davon überzeugt, daß ich mich nicht irre. Denken Sie an das helle Gebilde, das sich aus dem E-Werk entfernte. Irgendwie – wie, das werde ich noch herausfinden – ist eine Energiezelle entstanden, eine Form von unintelligentem Leben, das nur aus Energie besteht und auch Energie zum Fortbestand braucht. Diese Energiezelle hat sich im Hause Shepperton festgesetzt und sich Elma Sheppertons bemächtigt. Elma starb, weil die Energiezelle begann, ihre Organe in sich aufzunehmen. Die Leiche wurde weggeschafft, steht aber weiterhin mit der Energiezelle in Kontakt. Auch ich hatte kurze Zeit Kontakt mit dieser Energiezelle, das ist das gemeinsame Bindeglied zwischen Elma Shepperton und mir. Deshalb konnte sie Verbindung mit mir aufnehmen.« »Das sind reine Hirngespinste, Rick«, stöhnte Hempshaw. »Das haben Sie schon oft gesagt, Kenneth«, konterte der Privatdetektiv. »Und hinterher stellte sich heraus, daß ich recht hatte, wenn Sie sich noch erinnern können.« »Aber diesmal ist es zu phantastisch.« »Wie Sie meinen. Ich bin gleich fertig. Die Energiezelle gibt Elmas Leiche nicht frei, das beweist Dr. Sterlings Verletzung, die ihm von der Leiche zugefügt wurde. Sterling bestand darauf, daß wir Elma isolieren sollten, und ich dachte, isolieren gegen übersinnliche Einflüsse. Jetzt habe ich erkannt, daß Sterling eine Isolierung gegen Energie meinte.« »Worte, die ein Schwerverletzter zwischen Wachen und Ohnmacht sagte«, tat Hempshaw die Theorie seines Freundes ab. »Sie sind und bleiben ein alter Skeptiker«, seufzte Rick Masters. »Zweifeln Sie weiter, aber erfüllen Sie mir eine Bitte. Lassen Sie Elma Sheppertons Leiche gegen Energie isolieren! Ich bin kein Techniker und weiß nicht, wie das gemacht wird, aber ich könnte mir vorstellen, daß man sie in einen Kunststoffblock aus Isoliermasse eingießen kann. Wollen Sie das veranlassen?« Der 61 �
Chefinspektor überlegte lange, dann hatte er sich zu einem Entschluß durchgerungen. »Also gut, ich will auf Ihren Rat hören«, sagte er mit einem Achselzucken. »Es kann nicht schaden, und manchmal hatten Sie ja wirklich recht mit Ihren verrückten Einfallen. Energiezelle!« Er schüttelte den Kopf. Dann schaute er auf die Uhr und griff zum Telefon. »Rick, es ist erst zwei Uhr morgens. Vielleicht erreiche ich jemanden im Labor. Ich glaube es aber nicht.« Es klappte trotzdem, und der Chefinspektor erläuterte seine Wünsche. Zwar stieß er auf einige Verwunderung, doch zuletzt konnte er verkünden: »In einer Stunde wird alles bereit sein, um die Leiche in die Isolierung einzuschließen, die Sie verlangen, Rick.« »Sehr gut«, freute sich der Privatdetektiv, der jetzt erst merkte, wie müde er inzwischen geworden war. »Dann könnten wir beide einstweilen schon hinunter in den Sektionsraum gehen«, schlug Hempshaw vor. »Ich habe Wachen aufstellen lassen, damit niemand zu nahe an die Leiche herankommt.« Sie benutzten den Aufzug, in dem außer ihnen niemand mitfuhr, und verließen die Kabine im Kellergeschoß. Dort unten war es immer still und einsam im Gegensatz zu dem lebhaften Betrieb auf den oberirdischen Korridoren. Rick fröstelte, als sie die Räumlichkeiten betraten, in denen normalerweise Dr. Sterling und die anderen Pathologen vom Yard arbeiteten. Er hatte plötzlich das Gefühl, Hempshaw und er wären die einzigen Lebewesen auf der ganzen Welt. Der Chefinspektor blieb abrupt stehen und stieß einen erschrockenen Ruf aus. Rick trat zur Seite, um an ihm vorbeisehen zu können. Zwei Polizisten – wahrscheinlich die Wachtposten, von denen 62 �
Hempshaw gesprochen hatte – lagen auf den Steinfliesen des Bodens. Sie waren tot, wie ihre aufgedunsenen, völlig verquollenen Gesichter bewiesen. Ihre Körper bildeten nur mehr formlose Klumpen. * Chefinspektor Hempshaw wandte sich mit einem Würgen ab. Auch Rick Masters wäre am liebsten davongelaufen oder hätte wenigstens in eine andere Richtung schauen wollen, doch er konnte den Blick nicht von der grauenhaften Szene lösen, die er sein Leben lang nicht vergessen würde. Die toten Polizisten wirkten wie Bleifiguren, die man längere Zeit über eine Flamme gehalten hatte, so daß sie ihre ursprüngliche Form verloren hatten und zu einem Klumpen zusammengeschmolzen waren. Dabei waren ihre Kleider und ihre Haare nicht einmal angesengt, deshalb konnte man nicht von verkohlten Leichen sprechen. Wachspuppen, die man der grellen Sonne ausgesetzt hatte, mußten ähnlich aussehen. Es war makaber und unwirklich, und doch sah Rick Masters kein Trugbild vor sich, sondern schreckliche Wahrheit. »Das kann nicht sein«, flüsterte Chefinspektor Hempshaw immer wieder. »Das kann es einfach nicht geben.« »Kenneth!« fuhr Rick ihn scharf an. »Fassen Sie sich! Kommen Sie zu sich!« Als der Freund nicht auf seine Zurufe reagierte, faßte er ihn bei den Schultern und rüttelte ihn mit einem harten Griff. Hempshaws Augen hatten einen glasigen Schimmer angenommen, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Seine Lippen bebten, und er stammelte zusammenhanglose Sätze. Erst allmählich beruhigte er sich und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. 63 �
»Warum?« flüsterte er und sah Rick hilfesuchend an. »Was ist hier geschehen?« »Einen Augenblick«, sagte Rick grimmig. »Ich bin gleich wieder zurück.« Er ließ den Chefinspektor stehen, der es krampfhaft vermied, die beiden so gräßlich zusammengeschmolzenen Leichen anzusehen, und betrat den Sektionsraum, den die Polizisten hatten bewachen sollen. Es überraschte Rick nicht, daß der Raum leer war. Er hatte es so erwartet, es bestätigte seine Theorie. Als er wieder auf den Korridor trat, konnte der Chefinspektor bereits aus eigener Kraft stehen und brauchte nicht mehr die Stütze der Wand. Sein Gesicht war aschfahl, was nicht nur von der kalten Neonbeleuchtung auf dem Flur herrührte. »Elma Sheppertons Leiche ist weg«, meldete Rick Masters nüchtern. »Wie denken Sie jetzt über meine Theorie, bezüglich der Energiezelle und ihrer Beziehung zu Elma?« Hempshaw schüttelte kraftlos den Kopf. »Ich weiß es nicht, Rick. Verschonen Sie mich mit Überlegungen.« »Sie sind aber wichtig«, ließ Rick nicht locker. »Ich glaube, daß Elma Shepperton durch diese Energie, von der wir noch nichts wissen, sozusagen zu einem zweiten Leben erweckt wurde. Sie befreite sich aus dem Sektionsraum und tötete die beiden Polizisten durch die ungeheurem Energiemengen, die in ihrem Körper steckten.« »Aber wo ist sie jetzt?« warf der Chefinspektor ein. »Oder hat sie sich in Luft aufgelöst?« Er stellte diese Frage ironisch, doch man hörte deutlich heraus, daß er es insgeheim hoffte. Dann wäre das Problem aus der Welt geschafft gewesen. »So leicht macht sie es uns nicht, fürchte ich«, entgegnete Rick Masters bedauernd. »Ich kann mir schon denken, wo sie jetzt ist. Kommen Sie, Kenneth, wir fahren hin!« 64 �
»Und diese beiden hier?« fragte Hempshaw. Er deutete über seine Schulter auf die Leichen, denen er den Rücken zukehrte. »Überlassen Sie die dem Geheimdienst«, schlug Rick vor. »Damit verhindern Sie gleichzeitig, daß etwas an die Öffentlichkeit gelangt und Unruhe unter der Bevölkerung auslöst. Das hätte uns gerade noch gefehlt.« »Malen Sie nicht den Teufel an die Wand!« rief Hempshaw entsetzt. »Ich werde alles veranlassen. Gehen Sie meinetwegen schon zu Ihrem Wagen. Ich komme gleich nach.« Zehn Minuten später kam er auf die Straße und setzte sich mit einem verbissenen Gesichtsausdruck zu Rick Masters. »Alles erledigt«, sagte er. »Red und seine Leute sind gerade dabei, die Leichen wegzuschaffen.« »Das ging aber rasch«, bemerkte Rick Masters, während er startete und sich in den bereits einsetzenden Morgenverkehr einfädelte. »Sie waren schon auf dem Weg in den Yard«, erklärte der Chefinspektor. »Wohin fahren wir eigentlich?« Rick wich einem ausscherenden Fahrzeug aus. »Haben Sie das noch immer nicht erraten?« fragte er erstaunt. »Ich erklärte Ihnen doch ausführlich, daß sich diese Energiezelle in Elma Sheppertons Haus festsetzen wollte. Genau dort vermute ich Elmas Leiche, die von der Energieladung sozusagen ein zweites Leben erhalten hat, und die Energiezelle selbst. Die beiden sind wahrscheinlich bereits zu einer untrennbaren Einheit verbunden. Was das bedeutet, haben Sie ja vorhin gesehen.« Hempshaw schwieg erschüttert. Er wirkte innerhalb von wenigen Minuten um Jahre gealtert. Rick Masters beneidete seinen Freund nicht um die Schwierigkeiten, in denen er steckte, aber er war sich auch über etwas anderes im klaren. Er selbst schwebte, wenn er sich weiterhin mit dem Fall Shepperton befaßte, in höchster Lebensgefahr. 65 �
»Warum fahren wir eigentlich zu Sheppertons Haus, wenn wir nichts gegen dieses Ungeheuer unternehmen können?« fragte Chefinspektor Hempshaw nach einer Weile. Sie hatten sich bereits dem Stadtteil Leyton genähert. In etwa fünf Minuten mußten sie am Ziel sein. »Es stimmt«, gab Rick zu, »daß wir nichts gegen dieses Monster tun können, aber wir müssen wenigstens wissen, wo Elma ist. Ich nenne dieses Wesen der Einfachheit halber weiterhin Elma«, fügte er hinzu. »Wir müssen wissen, wo sie sich aufhält, und sobald wir das festgestellt haben, müssen wir sie beobachten. Mehr können wir nicht tun.« »Verdammt wenig«, brummte Hempshaw. Das Funkgerät in Ricks Morgan meldete sich. Auf einen Wink des Privatdetektivs griff Hempshaw nach dem Hörer, weil er beide Hände frei hatte. Red meldete, daß die Leichen in ein Labor des Secret Service gebracht worden waren. »Was machen Sie und Masters jetzt?« fragte er anschließend. »Wir versuchen herauszufinden, wo sich Elma Shepperton aufhält«, sagte Hempshaw. »Oder eben das, was aus ihr geworden ist.« »Wohin fahren Sie?« hakte Red nach. Rick machte Hempshaw ein Zeichen, vorläufig noch nichts zu verraten. »Bleiben Sie im Yard!« sagte Hempshaw daraufhin ausweichend. »Wir melden uns, sobald wir etwas Genaueres wissen. Ende.« Er unterbrach den Funkkontakt und klappte das Handschuhfach wieder zu. »Manchmal bin ich froh, daß es die Burschen vom Geheimdienst gibt«, sagte er. »Und manchmal wünsche ich sie zum Teufel. Ich kann mich nicht entscheiden.« »Wir sind da«, sagte Rick und ging nicht weiter auf Hempshaws Betrachtungen über den Geheimdienst ein. Er neigte sich 66 �
weit über das Lenkrad, als könnte er dadurch eher etwas erkennen. Der Morgan fuhr langsam in den Park ein, der das prachtvolle Haus Sheppertons umschloß. Jetzt kam ihnen der Umstand zu Hilfe, daß Mr. Shepperton in ein Hotel gezogen war. Auf diese Weise sparten sie sich alle lästigen Erklärungen und Fragen. »Bleiben Sie hier im Wagen«, schlug Rick vor und brachte den Morgan ein Stück von dem Haus entfernt zum Stehen. »Ich gehe allein hinein und sehe nach.« »Und warum sollen wir nicht beide gehen?« begehrte Hempshaw auf. »Halten Sie mich für feige?« »Um Himmels willen, Kenneth!« rief Rick wütend. »Fangen Sie nicht so an! Natürlich halte ich Sie nicht für feige, aber Sie wissen, welche Gefahr dieses Monster darstellt. Wenn Elma da drinnen ist und angreift, genügt es doch wohl, wenn einer von uns draufgeht, oder etwa nicht? Der andere kann dann wenigstens vor dem Ungeheuer warnen. Außer uns beiden weiß doch niemand Bescheid.« Chefinspektor Hempshaw sah die Richtigkeit von Ricks Argumenten ein. Er wiegte seinen kantigen Schädel, ein Zeichen, daß er doch noch einen Einwand vorbringen wollte. Rick ging dem aus dem Wege, indem er aus dem Wagen sprang und auf das Haus zulief. Hatte er bisher noch die geringsten Zweifel gehabt, ob Elma, wie er die durch Energie neu erweckte Leiche weiterhin nannte, hier war, so wurden diese Zweifel beim Anblick der Haustür zerstreut. Er konnte sich noch deutlich daran erinnern, daß er insgeheim die herrliche Arbeit bewundert hatte. Es hatte sich um eine doppelflügelige Tür gehandelt, die aus einem mit Ornamenten verzierten Metall bestanden hatte. Von der Tür war nur noch ein Klumpen Asche übrig, als wäre sie unter ungeheurer Hitze geschmolzen und richtiggehend ver67 �
brannt worden. Es mußte sich um unvorstellbare Energiemengen handeln. Zum erstenmal tauchte in Rick der Gedanke an Atomenergie auf, doch dann mußte er seine Überlegungen auf später verschieben. Sofern es für ihn überhaupt noch ein Später geben sollte. Er hatte das Haus betreten und blickte sich in der Diele um. Überall sah er Spuren der Zerstörung. Verschiedene Gegenstände, die in Berührung mit dem Monster gekommen waren, hatten sich aufgelöst oder deformiert. Die Spur führte hinauf in den ersten Stock und in das ehemalige Schlafzimmer Mrs. Sheppertons. Die Türklinke fehlte. An ihrer Stelle klaffte ein riesiges Loch im Holz, als hätte jemand mit einem Schneidbrenner das Schloß herausgeschweißt. Rick Masters versetzte der Tür einen Fußtritt, daß sie nach innen aufschwang und gegen die Wand prallte. Sein Blick fiel auf das Bett. Trotz der heruntergelassenen Jalousien reichte das Licht aus, um die Gestalt zu erkennen, die auf dem Bett lag. Es war Elma Shepperton. Wie sie unbemerkt hierher gekommen war, konnte sich Rick nicht erklären, bis er bemerkte, daß sie vollständig bekleidet war. Wahrscheinlich hatte sie ihre eigenen Kleider angezogen, in denen sie in den Yard gebracht worden war. Dann wiederum fiel ihm ein, daß sie im Schlaf getötet worden war. Es wurde immer mysteriöser. An dieser Stelle wurden seine Überlegungen unterbrochen. Durch die reglose Gestalt lief ein Zittern, als würde sie durch seine Anwesenheit im Raum aktiviert. Im Zeitlupentempo richtete sie sich auf, so daß Rick sie genau sehen konnte. Mit einem heiseren Schrei taumelte der junge Privatdetektiv zurück. Das Gesicht des Monsters begann zu glühen und zu leuchten, zu schillern und intensive Farben auszustrahlen. Rick spürte die 68 �
Kraft, die von diesem Wesen ausging. Doch das Schrecklichste waren die Augen. Sie glichen glühenden Kohlen, die immer stärker leuchteten. Sie gingen von Dunkelrot zu Hellrot über, und als sie die Farbe von flüssigem Stahl annahmen, glaubte Rick, seine Haut würde von einem heißen Windhauch versengt. Er warf sich herum und rannte um sein Leben. Laut hallten seine Schritte durch das menschenleere Haus, das einem unbeschreiblichen Ungeheuer als Zufluchtsort diente. * Außer Atem und mit letzter Kraft nach Luft ringend, kam Rick Masters wieder bei Chefinspektor Hempshaw an, der ihrer Vereinbarung gemäß den Wagen des Privatdetektivs nicht verlassen hatte. »Mein Gott, Rick!« rief Hempshaw entsetzt. »Wie sehen Sie denn aus?« »Sie ist da drinnen«, keuchte Rick. »Kenneth, das ist das Schrecklichste, was ich je gesehen habe.« Stockend und immer wieder Pausen einlegend, berichtete er seinem Freund, was er in dem Haus erlebt hatte. »Also dürften Ihre Vermutungen stimmen«, gab Kenneth Hempshaw zu, als Rick geendet hatte. Er gestand also ein, daß der Privatdetektiv mit seiner verrückt klingenden Theorie recht hatte. »Was machen wir aber, um diese Energiebombe zu entschärfen?« »Keine Ahnung«, gestand Rick Masters offen. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich würde aber vorschlagen, daß wir meine ursprüngliche Idee durchführen, nämlich das Haus unter Beobachtung zu stellen, damit wir über jede Bewegung des Monsters informiert sind. Setzen Sie Leute vom Yard ein, schärfen Sie 69 �
ihnen aber auch ein, daß sie auf keinen Fall eingreifen dürfen! Sie sollen sich immer auf Distanz halten und auch vermeiden, dem Monster in die Augen zu schauen.« »Und den Geheimdienst muß ich ebenfalls verständigen«, sagte Chefinspektor Hempshaw. Er griff zum Funkgerät in Ricks Wagen und stellte die Verbindung mit der Zentrale her. Red hatte offenbar am Gerät gelauert, denn er meldete sich sofort. Als er hörte, was sie in dem Hause der Sheppertons vorgefunden hatten, sagte er gar nichts, sondern gab das Gespräch an einen der Polizisten in der Zentrale weiter. Chefinspektor Hempshaw erteilte seine Befehle. Einige seiner zuverlässigsten Mitarbeiter sollten die direkte Bewachung des Hauses übernehmen. Einen Offizier stellte er ab, der die Verbindung zwischen den »Belagerungstruppen«, dem Yard und den in der Umgebung verstreut liegenden Polizeistationen aufrechterhalten sollte. Außerdem wurde ein Bus der Bereitschaft nach Leyton beordert, in dem ständig fünfundzwanzig Mann zur Verfügung standen. Hempshaw und Rick Masters glaubten bereits, alles Nötige in die Wege geleitet zu haben, als auch schon die ersten Helfer eintrafen. Zwei Wagen vom Yard folgten allerdings noch ungebetene Gäste – vier schwere Lastwagen des Militärs. Chefinspektor Hempshaw hob unwillig die Augenbrauen und runzelte die Stirn, als er den kleinen Truppenverband von etwa dreißig Mann anrücken sah. »Kein Mensch hat die hierherbestellt«, sagte er zu Rick Masters, der nicht minder ratlos das Anrücken der Truppe verfolgte. Dann löste sich jedoch das Rätsel sehr schnell. Die Lastwagen rollten in den Park der Villa Shepperton, hielten, und die zurückgeschlagenen Planen gaben den Blick auf Maschinengewehre, Flammenwerfer und anderes schweres Vernichtungsgerät frei. Aus dem Jeep, der den Konvoi begleitete, 70 �
stiegen zwei Offiziere und Red, der Geheimdienstmann. Red kam zu Hempshaw und Masters gelaufen. Jetzt waren nicht nur seine Haare, sondern auch sein Gesicht von der Aufregung rot. »Bevor Sie Fragen stellen«, keuchte er, sobald er Rick und den Chefinspektor erreichte, »hören Sie mir erst einmal zu!« Er wischte den Schweiß von seiner Stirn und nahm dankend eine Zigarette entgegen, die ihm Rick anbot. »Ich mußte natürlich Bericht erstatten«, erzählte er. »Wissen Sie, was ich gerade noch verhindern konnte?« Er blickte abwartend von Rick zu Hempshaw und wieder zu Rick, dann platzte er heraus: »Es sollte der Notstand für London ausgerufen werden!« »Das darf doch nicht wahr sein!« fuhr Chefinspektor Hempshaw auf. »Das wäre doch der Anfang vom Ende gewesen. Die Panik, die ein Notstand auslöst, hätte Schutzmaßnahmen unmöglich gemacht.« »Eben«, sagte Red. »Ich habe alles darangesetzt, den Notstand zu verhindern. Wir einigten uns schließlich darauf, daß die Leute vom Yard durch diese Spezialeinheit unterstützt werden.« »Wieso ist das eine Spezialeinheit?« wollte Rick Masters wissen und machte eine Geste, die die etwa dreißig Soldaten einbezog, die inzwischen in Stellung rund um das Haus gegangen waren. Red tat Ricks Frage mit einer weit ausholenden Handbewegung ab. »Diese Männer gehören zu einer Elitetruppe, die in schwierigen Fällen eingesetzt wird«, erklärte er. »Entsprechend ist auch ihre Ausrüstung.« »Die vielleicht überhaupt nichts wert ist gegen das Ungeheuer, mit dem wir es zu tun haben«, warf Rick geringschätzig hin. »Was wir brauchen, das sind Leute, die etwas über elektrische Energie und auch andere Energieformen wissen.« Der Geheimdienstmann zuckte ein wenig ratlos die Schultern. »Solche Experten sind natürlich nicht dabei, aber seien Sie froh, 71 �
daß der Notstand nicht ausgerufen wurde, und sich die Regierungsbehörden mit der Entsendung der Soldaten zufriedengegeben haben.« »Wir müssen das Beste aus der Situation machen«, betätigte sich Chefinspektor Hempshaw als Vermittler. Er merkte deutlich, daß Rick Schwierigkeiten von den Soldaten befürchtete. Sie beide hätten den Fall lieber gemeinsam und ohne Einmischung Dritter ausgetragen, aber das war nun nicht mehr möglich, und sie mußten sich mit den Gegebenheiten abfinden. »Red«, sagte Rick Masters in versöhnlicherem Ton zu dem Geheimdienstmann, »schärfen Sie den Soldaten ein, daß sie auf keinen Fall etwas gegen Elma Shepperton unternehmen dürfen! Wenn sie herauskommen sollte, müssen sie sich zurückziehen. Überlassen Sie es uns, Kenneth und mir, die Entscheidungen zu treffen. Sind Sie einverstanden?« Red überlegte nur kurz, dann nickte er. »Gut, einverstanden. Ich sehe schon, daß ich als Verbindungsmann zwischen den Soldaten und Ihnen fungieren muß.« »Sie haben die Leute schließlich gebracht«, konterte Rick bissig. »Also, sehen Sie zu, wie Sie mit ihnen fertig werden. Sorgen Sie dafür, daß sie uns nichts verderben!« Mit einem nicht sehr freundlichen Blick auf den jungen Privatdetektiv entfernte sich der Agent des Secret Service und sprach einige Minuten lang intensiv mit dem Offizier, der die Leitung der Spezialtruppe übernommen hatte. Der Offizier hörte mit einem herablassenden Lächeln zu, dann nickte er großzügig. »Er ist mit allem einverstanden«, berichtete Red, nachdem er wieder zu Rick und Hempshaw zurückgekommen war. »Hoffentlich.« Der junge Privatdetektiv blieb skeptisch. Er nahm sich nicht die Zeit, sich um die Soldaten zu kümmern. »Red, während Sie mit dem Offizier sprachen, haben der Chefinspektor und ich einen Plan entworfen. Holen Sie uns Leute vom E-Werk, 72 �
die sich in Leyton gut auskennen! Das heißt also, die über alle Leitungen, Verteiler, Umspannwerke und was es da alles gibt, bestens informiert sind. Glauben Sie, daß Sie das in kurzer Zeit schaffen?« Hempshaw mischte sich ein, ehe der Geheimdienstmann antworten konnte. »Wir würden es auch selbst übernehmen, diese Leute herbeizuschaffen, aber wir denken, daß Sie vielleicht aus Ihrer eigenen Mannschaft die entsprechenden Fachkräfte besorgen können.« Red war sofort einverstanden. »Ich mache mich gleich auf den Weg«, versprach er. »In einer Stunde könnte ich wieder zurück sein.« Er lief zu einem der Wagen und stieg ein. Hempshaw blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Er hat überhaupt keine Fragen gestellt, wozu wir diese Fachleute brauchen«, sagte er verwundert. »Ob er uns plötzlich blindlings vertraut?« »Ein Geheimdienstmann und Vertrauen?« Rick Masters schüttelte ablehnend den Kopf. »Das paßt nicht zusammen. Nein, Kenneth, er sagt sich, daß er es noch früh genug erfahren wird.« »Hoffen wir, daß es früh genug sein wird.« Chefinspektor Hempshaw richtete seinen Blick wieder auf das Haus, dessen prachtvolles Aussehen im heraufdämmernden Licht des Morgens leicht über das Grauen hinwegtäuschen konnte, das sich in seinem Inneren verbarg. »Hoffen wir, daß es nicht zu spät sein wird!« Rick Masters schlug ihm leicht auf die Schulter. »Hören Sie auf mit Ihren pessimistischen Prophezeiungen, Kenneth«, rief er ungeduldig. »Es wird ohnehin schlimmer kommen, als wir uns das vorstellen können.« *
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Red, der Mann vom Secret Service, hielt sein Versprechen. Nach einer Stunde kam er mit zwei Männern in blauen Monteuranzügen zurück, die er als leitende Techniker des E-Werkes vorstellte. Rick Masters kam ohne Umschweife auf seinen Plan zu sprechen. »Können Sie feststellen, wie hoch gegenwärtig der Stromverbrauch in diesem Haus ist?« fragte er die beiden Techniker und deutete auf die Villa Sheppertons. Die beiden waren offenbar nicht über die wahren Vorgänge innerhalb des Hauses informiert, weil sie den jungen Privatdetektiv anstarrten, als hätten sie einen Schwachsinnigen vor sich. »Natürlich, nichts leichter als das«, sagte einer der Männer. »Wir müssen nur hineingehen und…« »Nein, nein!« unterbrach Masters ihn ungeduldig. »Ich meinte doch, ohne daß Sie das Haus betreten.« »Auch das geht«, erklärte der Monteur. »Aber es ist schon schwieriger.« »Tun Sie es, und tun Sie es schnell«, verlangte der Privatdetektiv aus London. Die beiden Techniker kamen seinen Wünschen nach. Nach einer Viertelstunde waren sie wieder zurück. Ihre Gesichter zeigten fassungsloses Erstaunen. »Da drinnen«, sie zeigten auf das Haus, »wird so viel Strom verbraucht, wie eben noch durch die Leitungen geht, ohne daß die Sicherungen ausfallen«, sagten sie. »Der Besitzer muß schwere Maschinen aufgestellt haben, anders ist das nicht möglich.« »Wie ich vermutete«, sagte Rick Masters leise zu Chefinspektor Hempshaw. »Irgendwie hat sich das Ungeheuer in den Stromkreis eingeschaltet, um seine Spannung konstant zu halten. Das Monster braucht ständig Energie.« Dann wandte er sich wieder den Technikern zu. »Unterbrechen Sie die Stromzufuhr für das 74 �
Haus!« verlangte er. Die Leute vom E-Werk warfen einen zweifelnden Blick auf Red, den sie offenbar für zuständiger hielten, Befehle zu geben, als den jungen Mann mit den krausen blonden Haaren. Red zuckte die Schultern und deutete auf Rick Masters. »Na schön, wie Sie wollen«, sagte einer der Techniker. Wieder verließen sie das Grundstück. Rick Masters sah, wie sie sich an einem Schaltkasten in der Nähe zu schaffen machten. Er war froh, daß er nichts mit dem Technischen zu tun hatte, weil er sich nur selbst gebraten hätte. Er verstand zu wenig von diesen Dingen, um erfolgreich etwas unternehmen zu können. Die Techniker hatten ihre Vorbereitungen für die Abschaltung getroffen. Sie blickten zu der kleinen Gruppe von Leuten, die für den Einsatz verantwortlich waren. »Sollen wir?« riefen sie herüber. »Halten Sie es für wirklich gut, wenn wir den Strom unterbrechen?« fragte Red. »Wissen Sie etwas Besseres?« fauchte Rick Masters nervös und gereizt. »Wollen Sie, daß sich das Monster immer mehr auflädt und dadurch stärker wird?« Red biß die Zähne aufeinander. »Wahrscheinlich haben Sie recht«, gab er knirschend zu. Zwischen den beiden Männern herrschte beständig eine unterschwellige Spannung, doch ging sie nie soweit, daß sie das sachliche Urteil trübte. »Schalten Sie ab!« rief Rick Masters den Technikern zu, die daraufhin in den Verteilerkasten griffen und daran herumhantierten. »Abge…!« wollte ein Monteur melden, doch das Wort blieb ihm im Hals stecken. In dem Augenblick, als die Stromzufuhr zu dem Haus Shepperton unterbrochen wurde, ertönte aus dem Inneren des Gebäudes ein markerschütterndes Wutgeheul. Es hatte nichts 75 �
Menschliches mehr an sich, klang aber auch nicht so, als würde es von einem gereizten Tier ausgestoßen. Es war der Ausdruck von Feindseligkeit und Bösartigkeit, hervorgebracht von einer gefährlichen Macht, die sich eines menschlichen Körpers für ihre Zwecke bediente. Die meisten rund um das Haus zusammengezogenen Männer wußten gar nicht genau, gegen wen sie zu kämpfen hatten. Außer Rick Masters, Chefinspektor Hempshaw und Red ahnte keiner auch nur im entferntesten, daß sie es mit einer durch Energie zu einem zweiten Leben erweckten Leiche zu tun hatten. Doch auch ohne dieses Wissen gefror den Männern das Blut in den Adern. Und in einem von ihnen reifte bei diesem fürchterlichen Gebrüll ein verhängnisvoller Entschluß. * Sergeant Geoffrey Miller gehörte der Spezialtruppe an, die auf Veranlassung des Secret Service eingesetzt worden war, um die Ausrufung des Notstandes für London zu verhindern. Er hatte nicht das Kommando der Truppe erhalten, und das ärgerte ihn genauso wie es ihn verletzte und kränkte, daß er bei Beförderungen immer wieder übergangen wurde. Außerdem hatte er das Gefühl, nicht ausreichend über den Zweck des Einsatzes informiert worden zu sein. Es war nur die Rede davon gewesen, daß seine Einheit unter allen Umständen verhindern sollte, daß sich ein gefährliches Ungeheuer in Menschengestalt aus diesem Haus entfernte – mehr wußte er nicht. Miller glaubte, von dem Lieutenant zurückgesetzt worden zu sein, der das Kommando führte. Der Sergeant hatte keine Ahnung, daß auch sein Vorgesetzter nicht über die wahren Hintergründe Bescheid wußte. Red, der Geheimdienstmann, war sehr verschwiegen gewesen. 76 �
Der krankhafte Ehrgeiz Millers war seinen Vorgesetzten bekannt, doch niemand konnte ahnen, daß diese Eigenschaft Millers eines Tages gefährlich werden könnte. An diesem frühen Morgen zeigten sich verhängnisvolle Folgen seines übertriebenen Geltungsbedürfnisses. Seit Beginn der Aktion grübelte Sergeant Miller darüber nach, wie er sich bei dem Einsatz besonders hervortun könnte, so daß er befördert werden mußte. Als das scheußliche Brüllen in dem Haus erscholl, zuckte er genauso erschrocken wie alle anderen zusammen, doch gleich darauf richtete er sich mit leuchtenden Augen auf. Es war wie ein Geistesblitz über ihn gekommen. Er, Geoffrey Miller, würde ganz allein in das Haus eindringen und das Ungeheuer zum Kampf stellen – wer oder was dieses Ungeheuer auch immer sein mochte. Kaum war das Brüllen verstummt, als sich über das Grundstück lähmende Todesstille breitete. Niemand wagte zu sprechen, vielen stockte sekundenlang der Atem. Die Angst hatte alle mit eisernen Klauen gepackt. Nicht so Sergeant Miller. Er umklammerte die Maschinenpistole mit einem festen Griff, sprang auf und hetzte geduckt auf das Haus zu, als würde er einen richtigen Angriff in einer bewaffneten Auseinandersetzung führen. Hinter sich hörte er laute Schreie, jemand rief scharf seinen Namen. Er hörte auch etwas von »Lebensgefahr« und »keine Chance«, doch darum kümmerte er sich nicht. Nur mehr wenige Schritte bis zum Haupteingang des Hauses. Erst jetzt, aus der Nähe sah er die geschmolzene Eingangstür und stutzte. Doch noch ehe er begriff, was das zu bedeuten hatte, tauchte in der Diele eine dunkle Gestalt auf. Eine Frau! Sergeant Miller blieb betroffen stehen. Er hatte mit allem 77 �
gerechnet, nur nicht damit, einer Frau Anfang Dreißig, schlicht gekleidet, mit bleichem, aber schönem Gesicht gegenüberzustehen. Unschlüssig ließ er seine Maschinenpistole sinken. In diesem Moment kam er sich unglaublich dumm und lächerlich vor. Er hatte sich vor den Augen seiner Kameraden blamiert. Noch ehe er den Rückzug antreten konnte, kam die Frau aus dem Haus. Hinter Miller schrie und tobte ein Mann. Der Stimme nach war das dieser Privatdetektiv, der sich in alles einmischte. Miller begriff nicht, was der Mann eigentlich wollte. Die Frau trat über die Türschwelle. In ihrem Gesicht zuckte kein Muskel, keine menschliche Regung war zu erkennen. Ihre Augen richteten sich starr auf den Sergeant. Es waren diese Augen, die dem Sergeant verständlich machten, in welcher Gefahr er sich befand. Sie kündeten von Tod und Verderben, von gnadenloser Vernichtung. Er stand dem Ungeheuer auf Armeslänge gegenüber! Die Augen der Frau begannen zu funkeln und zu glühen. Ihr tödlicher Strahl erfaßte den Mann, der wie unter einem heftigen Schlag zurücktaumelte. Sergeant Miller riß in einer verzweifelten Anstrengung seine Maschinenpistole hoch und drückte den Abzug. Die Waffe war auf Dauerfeuer eingestellt, ratterte und spuckte tödliches Blei. Die Geschosse durchbohrten den Körper der Frau, doch das Unfaßliche geschah. Sie brach nicht zusammen. Sie wankte nicht einmal. Miller schoß und schoß, bis das Magazin der Maschinenpistole leer war. Unter dem funkelnden Blick desUngeheuers schmolz der Stahl der Waffe in den Händen des Mannes, versengte ihn, verletzte ihn schwer. Er schrie und brüllte vor Schmerzen, fiel zu Boden und wand sich zuckend. 78 �
Es war für Sergeant Miller beinahe eine Erlösung, als sich die Strahlen aus den Augen des Ungeheuers in seinen Kopf bohrten und sein Gehirn auslöschten. Elma, die durch die Vereinigung mit der Energiezelle zu einem Monster ohne Beispiel geworden war, stieg über die Leiche hinweg und hob den Kopf. Ihre glühenden Augen suchten nach einem neuen Opfer, nach einem weiteren Feind, der es wagte, ihren Plan zu durchkreuzen. Aber es fand sich niemand, der sich ihr in den Weg stellte. Schritt für Schritt entfernte sie sich von dem Haus, in dem sie einst als lebender Mensch gewohnt hatte. * Rick Masters war von dem Wutgeheul des Monsters bei der Abschaltung des Stroms ebenso gepackt worden wie alle anderen. Er erschrak vielleicht sogar noch mehr, weil er am ehesten vorausberechnen konnte, was das Ungeheuer unternehmen würde. In diesem Geheul lag das Verlangen nach Rache! Rache an den Menschen, die der Energiezelle den Nachschub gesperrt hatten, den sie zum Existieren benötigte. Rick überlegte gerade fieberhaft, ob sie nicht doch einen Angriff gegen Elma unternehmen sollten, als sich aus den Reihen der Soldaten eine Gestalt löste und auf das Haus zulief. Rick sah die Uniform und die Maschinenpistole. Der Mann wollte mit einer Schußwaffe gegen dieses Energiemonster vorgehen. Reiner Wahnsinn! »Bleiben Sie stehen!« brüllte Rick dem Mann zu. Auch der befehlshabende Offizier schrie ihm etwas zu, doch der Mann kümmerte sich nicht darum. Blindlings hetzte er auf die Haustür zu, blieb aber so plötzlich stehen, daß Rick schon im vorhinein 79 �
wußte, was geschehen würde. Der Mann mußte Elma gesehen haben. Da er in die Diele starrte, konnte es nur bedeuten, daß Elma das Haus verlassen wollte. Der Soldat stand im Weg, mußte also sterben. »Sie mit Ihren Soldaten!« fauchte Rick wütend Red, dem Geheimdienstmann, zu. Dann unternahm er einen letzten Versuch, den Soldaten vor dem sicheren Tod zu retten. Er schrie ihm zu, er solle so schnell wie möglich weglaufen. Unternehmen konnte Rick nichts. Es gab keine Waffen gegen das Ungeheuer. Der Soldat, der die Abzeichen eines Sergeant trug, kümmerte sich nicht um die Warnrufe. Er stand bereits ganz im Bann Elmas, die gleich darauf in der Türöffnung sichtbar wurde. Als Rick Masters das Leuchten in ihren Augen wahrnahm, wußte er mit letzter Sicherheit, daß der Mann verloren war. Alle anderen waren vor Schreck und Staunen erstarrt, als die Kugeln aus der Maschinenpistole der Frau nichts anhaben konnten. Rick wunderte sich nicht. Sie war schließlich kein lebendes Wesen, sondern eher mit einem Roboter zu vergleichen, obwohl auch dieser Vergleich arg hinkte. Noch während die Männer wie gelähmt beobachteten, wie die Maschinenpistole schmolz und der Sergeant unter den Blicken des Ungeheuers verglühte, lief Rick Masters zu dem leitenden Offizier. »Bringen Sie die Flammenwerfer in Stellung!« schrie er den Offizier an. »Wenn wir sie aufhalten können, dann höchstens durch die Flammenwerfer.« Viel versprach er sich von diesem Versuch auch nicht, aber sie mußten es wenigstens probieren, ehe sie tatenlos zusahen, wie sich das Ungeheuer auf die belebten Londoner Straßen begab. Rick mußte seine Aufforderung mehrmals wiederholen, und auch dann dauerte es scheinbar noch eine Ewigkeit, bis der Befehl befolgt wurde. Zwei Flammenwerfer richteten sich auf 80 �
Elma, auf das Energiemonster. »Feuer frei!« schrie Rick Masters, als Elma über die Leiche Millers hinwegstieg und mit tödlich funkelnden Augen auf die Männer zukam. Die Flammenwerfer fauchten. Augenblicklich glaubte Rick, keine Luft mehr zu bekommen. Er wurde von der Hitze zurückgetrieben. Elma verschwand in einer Feuersäule. Die brüllende Lohe wälzte sich über sie hinweg. Was von dieser Vernichtung getroffen wurde, hörte auf zu existieren. Doch als sich die Flammen zurückzogen, stand Elma noch immer an derselben Stelle, hoch aufgerichtet, die funkelnden Augen unverändert tödlich und gefährlich. Eine Steinstatue an ihrer Stelle wäre geborsten – sie aber war von jeder Verletzung verschont geblieben. Verzweifelt blickte sich Rick Masters um. Chefinspektor Hempshaw rief über ein tragbares Funkgerät die Feuerwehr, weil der Einsatz der Flammenwerfer eine schreckliche Nebenwirkung hatte. Das Haus stand in hellen Flammen. Nur diese Ausgeburt der Hölle setzte sich wieder in Bewegung und ging mit kleinen, torkelnden Schritten auf den Ausgang zu, der vom Park hinaus auf die Straße führte. Dabei drehte das Monster den Kopf von einer Seite auf die andere. Rick erkannte, daß sie ihre Augen nicht zum Sehen brauchte. Sie blickte nicht ein einziges Mal auf den Weg, den sie nahm, und wich doch geschickt jedem Hindernis aus. Die Augen versprühten Blitze. Wer von diesen Blitzen getroffen wurde, schrie schmerzlich auf. Mehrere Soldaten wälzten sich auf dem Boden und preßten ihre Hände auf verbrannte Hautstellen. Niemand unternahm mehr einen Versuch, das Ungeheuer zu stoppen. Es war sinnlos. Sie hatten keine geeignete Waffe gegen 81 �
Elma, das Energiemonster. Rick Masters gab Chefinspektor Hempshaw das für den Notfall vereinbarte Zeichen. Sie hatten einen gemeinsamen Einsatzplan ausgearbeitet, falls sich Elma aus ihrem Versteck in dem Haus entfernen sollte. Dieser Plan trat nun in Kraft. Über Funk rief der Chefinspektor die im Hintergrund gehaltenen Einheiten von Scotland Yard und von den umliegenden Polizeistationen ab. Dazu gehörten auch zwei Lautsprecherwagen, durch die Passanten und Autofahrer aufgefordert wurden, schnellstens die Straßen zu räumen, durch die das Monster kommen würde. Natürlich vermied man es, von einem Ungeheuer zu sprechen, sondern wies ganz allgemein auf eine drohende Gefahr hin. Die Angehörigen der Bereitschaftspolizei halfen dabei, die Straßen zu sperren, damit nicht ahnungslose Fahrer aus Seitengassen in die Gefahrenzone eindrangen. Kaum hatte Elma das Grundstück verlassen, als die Wagen der Feuerwehr eintrafen. Rick Masters hatte jedoch keine Gelegenheit mehr, sich um die Löscharbeiten zu kümmern. Er hatte sich die Aufgabe vorbehalten, sich ständig in der Nähe des Monsters aufzuhalten, um in extremen Notfällen eingreifen zu können. Und der erste extreme Notfall trat bereits nach einer Strecke von einer Viertelmeile auf. Das Monster begann, Tod und Chaos in London zu verbreiten. * Rick Masters wäre unter anderen Umständen darauf stolz gewesen, wie gut sein gemeinsam mit Hempshaw erstellter Notplan funktionierte. Die Angehörigen verschiedener Polizeieinheiten arbeiteten dank Hempshaws souveräner Leitung so gut zusammen, als bildeten sie schon seit langer Zeit eine aufeinander eingespielte Gruppe. 82 �
Der Privatdetektiv hielt sich ständig einige Schritte hinter Elma, um jederzeit zur Stelle zu sein, wenn sein Eingreifen erforderlich wurde. Die Straße, auf die das Ungeheuer eingeschwenkt war, lag leergefegt vor Rick. Die Lautsprecherwagen hatten die erste Warnung der Bevölkerung übernommen. Wer daraufhin noch nicht geflüchtet war, wurde von den nachrückenden Männern der Bereitschaftspolizei und den Polizisten der Reviere in Häuser und Geschäfte gedrängt. Verkehrspolizisten auf Motorrädern leiteten die Autos in Querstraßen ab und sperrten bereits weit voraus den Verkehr. An jeder Querstraße stand ein Posten und ließ niemanden mehr durch. Falls alle die Nerven behielten und keine Panik ausbrach, hatte Rick Masters die Hoffnung, daß nichts geschehen würde. Dabei half, daß Elma Shepperton für einen flüchtigen Beobachter harmlos wirkte, sofern er nicht in den Bannkreis ihrer tödlichen Augen geriet. Sie sah so aus wie eine Frau, die etwas steif und ungelenk in der Mitte der Straße ging, auf beiden Seiten in einem respektvollen Abstand von Polizisten und Männern in Zivil begleitet. Gleichzeitig barg der Umstand, daß Elma von weitem so harmlos wirkte, eine große Gefahr in sich. Es bestand die Möglichkeit, daß irgend jemand glaubte, sicher von einem Haus zum anderen oder zu seinem Fahrzeug gehen zu können und Elma genau in die Arme lief. Dazu waren die seitlich auf den Bürgersteigen aufgestellten Posten eingeplant, doch die Überwachung konnte natürlich nur lückenhaft ausfallen. Rick Masters fühlte sich wie auf einem Pulverfaß. Einerseits mußte er sich selbst vor Elma hüten. Er durfte sich nicht ihrem alles vernichtenden Blick aussetzen, um nicht verletzt oder gar getötet zu werden. Also durfte er nicht zu nahe an das Ungeheuer herangehen und mußte ständig hinter ihm bleiben. Ande83 �
rerseits aber hielt er sich bereit, sofort einzugreifen, falls jemand durch die Absperrungen der Polizei schlüpfte. Er wußte nicht, wie lange dieser fürchterliche Marsch dauern würde, aber ihm war klar, daß er diese Minuten niemals vergessen würde. Jede Sekunde dehnte sich zu einer halben Ewigkeit. Schweiß lief über Ricks Körper. Gleichzeitig durchflutete ihn die Hitze der Aufregung und schüttelten ihn kalte Schauer. Nur mit äußerster Selbstbeherrschung hielt er seine Fassung aufrecht. Fünf Minuten waren sie nun schon unterwegs, wie Rick mit einem raschen Blick auf seine Uhr feststellte, und noch hatte sich kein Zwischenfall ereignet. Fast ging alles zu glatt ab, fand der junge Privatdetektiv, der nicht glauben konnte, daß die Energiezelle, die von Elmas Körper Besitz ergriffen hatte, ihre vernichtende Wirkung verloren hatte. Die erste Komplikation kündigte sich an, als Elma Shepperton unvermutet und scheinbar ohne jeden Grund stehenblieb. Auch Rick Masters verharrte sofort auf der Stelle und beobachtete das Monster mit gesteigerter Spannung. Elma streckte gleichsam tastend ihre Arme aus, dann drehte sie sich zu den Häusern auf der rechten Straßenseite und ging ganz langsam weiter. Rick Masters suchte verzweifelt nach dem Grund dieser plötzlichen Richtungsänderung. Am Straßenrand standen geparkte Autos — Gegenstände aus Metall, von denen sich die Energiezelle vielleicht angezogen fühlte. Doch auch bisher waren die Bürgersteige von abgestellten Fahrzeugen flankiert worden, also schieden die Autos aus. Rick suchte mit den Augen den Bürgersteig ab und atmete erleichtert auf, als er keinen Menschen entdecken konnte. Die seitlich folgenden Polizeiposten zogen sich schnellstens und dem Plan entsprechend sofort weit zurück, um nicht von den Strahlen aus Elma Sheppertons Augen getroffen zu werden. 84 �
Und dann sah Rick, was das Ungeheuer anzog. Es war das Schaufenster eines Elektrogeschäfts, in dem mehrere Fernsehapparate aufgestellt und auch eingeschaltet waren. Je näher Elma an die Scheibe herankam, desto undeutlicher wurden die Bilder auf den Apparaten, weil der Empfang durch die elektrische Ladung des Ungeheuers gestört wurde. Fernsehapparate – das bedeutete Strom aus dem normalen Leitungsnetz und vor allem Strom unter sehr hoher Spannung in der Bildröhre. Rick Masters erkannte im Hintergrund des Ladens einige Gestalten, darunter eine Frau in einem weißen Arbeitsmantel, wahrscheinlich die Besitzerin oder Verkäuferin. Er machte ihr heftige Zeichen, sie solle die Geräte sofort ausschalten, doch entweder sah ihn die Frau gar nicht, oder sie verstand die Bedeutung seiner Gesten nicht. Das für das Monster so anziehende Flimmern der Bildschirme blieb. Dann stand Elma dicht vor der Auslage. Rick hielt den Atem an, als sie den Fuß hob, um weiterzugehen. Für sie schien das Hindernis der dicken Glasscheibe nicht zu bestehen, sie trat einfach hindurch. Ungefähr den Umrissen ihres Körpers entsprechend entstand ein Loch in der zolldicken Scheibe. Die Energiezelle hatte das Glas geschmolzen. Elma Shepperton berührte den ersten der eingeschalteten Fernsehapparate. Augenblicklich sprang ein gewaltiger Blitz von der Bildröhre auf sie über. Durch Elmas Körper ging ein Ruck, sie schien an Kraft zu gewinnen. Der Apparat zerbarst in unzählige Trümmer. Mit den anderen Fernsehgeräten geschah das gleiche, und nur die nicht in Betrieb befindlichen Apparate wurden verschont. Aus dem Laden drangen die Entsetzensschreie der Besitzerin, einiger Kunden und Straßenpassanten, die nach den Warnungen der Polizisten in dieses Geschäft geflüchtet waren. Rick Masters 85 �
konnte sich das Grauen dieser Leute vorstellen, doch solange Elma Shepperton damit beschäftigt war, aus den Geräten Energie in sich aufzunehmen, drohte den Menschen keine unmittelbare Gefahr. Der junge Privatdetektiv drängte sich zwischen zwei Polizisten näher an die geschmolzene Schaufensterscheibe heran und konnte einen Blick in das Innere des bereits teilweise zerstörten Ladens werfen. Zu seiner Überraschung hatten die Sicherungen des Geschäfts bisher den Explosionen der Fernsehapparate standgehalten. Einige Glühlampen waren noch immer eingeschaltet. Das war nicht schlimm, doch dann sah Rick etwas, das ihm den Atem stocken ließ. Elma stand mitten im Laden. Vor ihr drängten sich am Verkaufstisch fünf Personen, darunter eine Frau mit zwei kleinen Kindern. Und hinter dem Ladentisch lief auf einem Regal ein kleiner tragbarer Fernseher – eine Energiequelle, die unweigerlich das Ungeheuer anlocken mußte. Was bei der Berührung Elmas mit anderen Menschen geschah, hatte Rick bereits miterlebt. Er mußte unter allen Umständen verhindern, daß sich das Monster einen Weg zwischen den Menschen hindurch zu der letzten Energiequelle in diesem Laden bahnte, sonst blieben wieder einige Leichen auf dem Weg des Grauens zurück. Rick handelte impulsiv und ohne lange zu überlegen. Er wußte nicht, wo sich die Hauptsicherung des Geschäfts befand, und an einer der Steckdosen einen Kurzschluß hervorzurufen, hätte zu lange gedauert. Seine rechte Hand fuhr unter die Jacke. Er riß seine 38er Automatik hervor. Von der Pistole trennte er sich nur in den seltensten Fällen und praktisch nie während eines Einsatzes. Gegen Elma selbst konnte er mit der Waffe nichts ausrichten, aber er zielte kurz auf den flimmernden Bildschirm und drückte ab. Die Leute schrien erschrocken auf, als der Schuß durch den 86 �
engen Laden krachte. Mit einem ohrenbetäubenden Knall zersprang der Bildschirm des tragbaren Fernsehers, und endlich schlugen auch die Sicherungen durch. Bis auf das Tageslicht wurde es dunkel im Raum, sämtliche Energiequellen waren unterbrochen. Noch wußte Rick Masters nicht, ob sein Unternehmen Erfolg haben würde. Elma Shepperton stand reglos wie eine Statue nicht mehr als zwei oder drei Schritte von den Menschen entfernt, denen jede Fluchtmöglichkeit genommen war. Wenn sie zum Angriff überging, waren sie alle verloren. Bange Augenblicke verstrichen, bis das Ungeheuer die bis dahin erhobenen Arme sinken ließ, sich im Zeitlupentempo umdrehte und dem Ausgang zustrebte. Rick Masters sprang rechtzeitig zur Seite und folgte Elma wieder in geringem Abstand hinaus auf die Straße. Sie versuchte nicht, ihn zu attackieren, sondern setzte in der Straßenmitte ihren Gang fort – den Weg des Schreckens. * Nach wie vor funktionierten die Absperrungen der Polizei hervorragend, so daß nicht ein einziges Auto auf den Straßen fuhr, durch die Elma Shepperton, das Energiemonster, ging. Dennoch ereignete sich der nächste Zwischenfall mit einem Wagen, und er war geeignet, Rick vor Grauen fast zu lahmen, obwohl er harmlos verlief. Als Elma stehenblieb, erkannte der junge Privatdetektiv schon, daß sie wieder eine Energiequelle aufgespürt haben mußte, obwohl er sich diesmal bei aller Anstrengung nicht ausmalen konnte, was das Ungeheuer anlockte. Zu beiden Seiten zogen sich Lagerhallen hin, nackte Ziegelwände entlang der Straße. Elma strebte auf eine Stelle der Mauer zu, und Rick vermutete 87 �
bereits, daß sich dahinter ein mit Elektrizität betriebener Apparat befinden mußte, als er merkte, daß sie es gar nicht auf das Gebäude abgesehen hatte. Sie blieb vor einem der geparkten Autos stehen, hob die Hände in der bereits einmal beobachteten Geste und berührte mit den Fingerspitzen den Wagen. Den Bruchteil einer Sekunde, bevor sich die Katastrophe ereignete, sah Rick Masters auch, was Elma ausgerechnet zu diesem Wagen hinzog. Der Fahrer hatte vergessen, die Scheinwerfer auszuschalten. Der Strom aus der Autobatterie war zwar vergleichsweise zu anderen Energiequellen schwach, reichte aber doch aus, um die Energiezelle zu aktivieren. Mit einem Zischen und Fauchen, das Rick an den Flammenwerfer erinnerte, löste sich der Wagen in eine Feuersäule auf. Dicker Rauch wälzte sich über die Straße, drang ätzend und beißend in Ricks Lungen und brannte in seinen Augen. Hastig wischte er sich die Tränen weg, um genauer sehen zu können, welches Ziel Elma als nächstes ansteuerte. Sie ging nicht wie zuvor in der Straßenmitte weiter, sondern blieb auf dem Bürgersteig und strebte einen bestimmten Punkt an. Einen leichten Vorsprung vor dem Detektiv hatte sie dadurch erreicht, daß Rick für einige Minuten nichts sehen konnte, und Rick rannte mit Rekordschnelligkeit los, sobald er begriff, daß es diesmal nicht so einfach um einen leeren Wagen ging, sondern um Menschenleben. Die Polizei hatte über Lautsprecher gewarnt und hielt die Straßen gesperrt, weshalb kein Wagen hereinkommen konnte. Niemand jedoch hatte an die verhängnisvolle Möglichkeit einer Garage gedacht und daran, daß jemand die Lautsprecherdurchsage nicht gehört oder nicht verstanden hatte. In der Ziegelmauer hatte sich ein breites Metalltor geöffnet und gab den Blick auf eine Großgarage frei, die offenbar zu einem Industriebetrieb gehörte. Lärm drang aus der Halle, der vermut88 �
lich die Polizeiwarnung übertönt hatte. Aus dem geöffneten Tor war ein Kleintransporter gerollt, der anhalten mußte, weil ein falsch vor der Einfahrt geparkter Wagen den Weg versperrte. Rick mußte mit Schrecken einsehen, daß er nicht mehr vor Elma Shepperton den Wagen erreichen konnte. Fahrer und Beifahrer betrachteten verwirrt das Großaufgebot an Polizei, konnten es sich aber nicht erklären. Dann drehten sie wie auf ein geheimes Kommando die Köpfe, sahen die Frau dicht vor ihrem Wagen und dahinter den jungen Mann, der ihnen wilde Handzeichen machte. Sie kannten sich überhaupt nicht mehr aus und begannen zu beraten. Sie konnten nicht mehr viel sagen. Der Motor ihres Wagens lief, also war die Zündung eingeschaltet, und somit stand ihr Auto unter einer leichten Spannung, die genügte, um ihren Tod zu besiegeln. Unter Elma Sheppertons Berührung verwandelte sich der Transporter in eine wabernde Lohe. Die Flammen erfüllten augenblicklich auch die Fahrerkanzel, so daß den beiden Männern keine Zeit mehr blieb, sich in Sicherheit zu bringen. Für wenige Augenblicke sah Rick noch die Gestalten aufrecht sitzen, dann wurde alles von Flammen und Rauch verdeckt. Hinter dem jungen Privatdetektiv rief ein Polizist den Feueralarm in sein tragbares Funkgerät. Die Garage drohte in einem Großbrand aufzugehen, und noch immer hatte das Energiemonster nicht genug Unheil angerichtet. Kaum war der Kleinlastwagen vernichtet, kehrte Elma Shepperton auf die Straße zurück. Aus brennenden Augen starrte Rick Masters hinter der schmalen Gestalt her, von ohnmächtiger Wut geschüttelt. Seine absolute Hilflosigkeit diesem Scheusal gegenüber lahmte ihn, und doch mußte er sich zusammenreißen. Sich innerlich einen Stoß gebend, lief er hinter Elma Shepperton her, die ihren Schritt immer mehr beschleunigte, als käme sie 89 �
ihrem eigentlichen Ziel näher. Zuletzt begann sie sogar zu laufen, so daß Rick Masters nur mit Mühe mithalten konnte, obwohl er voll trainiert und ein guter Sportler war. Die Erinnerung an das erlebte Grauen verdrängte er, um sich nicht von seiner Aufgabe ablenken zu lassen. Die Mühen nahm er gern auf sich, um vielleicht noch einmal wie in dem Fernsehergeschäft rettend einzugreifen. Was ihn quälte, war die Ungewißheit. Die Ungewißheit, wen oder was sich Elma Shepperton, das Energiemonster, als nächstes Opfer ausgesucht hatte. * Waren es schon fünf Minuten, zehn Minuten? Rick Masters wußte es nicht mehr. Er fühlte nur mehr das Stechen in seinen von Rauch erfüllten Lungen, die sich noch nicht erholt hatten, und das Brennen von Schweiß in seinen Augen. Mit einem kurzen Wenden seines Kopfes hatte er gesehen, daß die Polizisten bereits zurückblieben. Lange würde auch er nicht mehr durchhalten, das bewies ihm das Zittern seiner Beine und das Stechen in seiner Brust. Nicht einmal die Lautsprecherwagen der Polizei und die motorisierten Männer des Einsatzkommandos schafften es mehr, die Straße vor dem Herannahen des Ungeheuers freizubekommen. Sie konnten nur mit Blaulicht und Alarmklingeln eine Gasse in der Mitte bilden, die sich nicht so schnell schloß, daß der Durchgang versperrt würde. Unter den bisherigen Umständen hätte es zu unglaublichen Katastrophen kommen müssen. Hätte Elma Shepperton jedes Auto, das durch seinen laufenden Motor eine Energiequelle darstellte, wie bisher berührt, wären Dutzende von Todesopfern zu beklagen gewesen. Auch Fußgänger befanden sich mehr als ein90 �
mal in Reichweite des Monsters. Doch Elma zeigte für nichts mehr Interesse. Rick durchzuckte der Gedanke, daß sie ein für sie viel lohnenderes Ziel ansteuern mußte, als es Autos und Menschen darstellten. In der Fahrbahn war eine schmale Querrinne eingelassen, in der sich Ricks Schuh fing. Der Detektiv fiel wie von einem Katapult geschleudert vorwärts und konnte die ärgste Wucht des Sturzes noch dadurch abfangen, daß er beide Hände vor das Gesicht riß, sonst wäre er mit dem Kopf voran auf den Asphalt geknallt. Aber durch den Fall hatte er den Anschluß verloren. Sein Schuh hing verklemmt in der Rinne. Es war wie ein Wunder, daß er sich nicht den Fuß gebrochen hatte, sondern noch rechtzeitig aus dem Schuh geschlüpft war. Sein Schädel brummte von dem Sturz. Grelle Kreise tanzten vor seinen Augen. Trotzdem sah Rick, wie Elma Shepperton die Richtung wechselte und in eine Seitenstraße einbog. Er hatte bereits jede Hoffnung aufgegeben, das Monster weiterhin verfolgen zu können, als neben ihm ein Motorrad der Polizei hielt. Der Fahrer kannte Rick Masters schon von früheren Einsätzen her, da er normalerweise im Yard Dienst tat. Er begriff, in welcher Lage sich der Privatdetektiv befand, und er vermutete, daß Rick auch diesmal wieder eng mit Chefinspektor Hempshaw zusammenarbeitete. Ohne ein Wort zu verlieren, sprang der Polizist von seinem Motorrad, Rick schwang sich in den Sattel und gab Gas. Es war schwierig, nur mit einem Schuh zu fahren, aber es ging. Ein Motorrad war auch das einzige Fahrzeug, das durch den von dem unerwarteten Polizeieinsatz hervorgerufenen Verkehrsstau schlüpfen konnte. Der Wagen von Chefinspektor Hempshaw, der als Befehlszentrale gedacht gewesen war, hatte sich rettungslos schon ein ziemliches Stück weiter hinten festgefahren. 91 �
Mit dem Motorrad war es für den jungen Privatdetektiv kein Problem, den Anschluß zu Elma Shepperton wieder herzustellen. Sobald er dicht aufgerückt war, konnte er über Funk Verbindung zu dem Chefinspektor aufnehmen. »Ich möchte wissen, wohin das Monster so schnell unterwegs ist«, rief Rick in das am Lenker angebrachte Mikrofon. »Mir stehen die Haare zu Berge, wenn ich mir ausmale, was sie alles vorhaben könnte.« »Ich glaube, daß es nicht so schlimm sein wird«, ertönte die dröhnende Stimme Hempshaws aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. »Ich habe die Zwangspause hier in dem Verkehrsstau ausgenutzt und mir den Weg angesehen, den Elma bisher zurückgelegt hat. Auf dem Stadtplan zeichnet sich ein Ziel ab. InNähe liegt ein Umspannwerk. Wahrscheinlich…» »Gibt es noch andere Einrichtungen in einem kleinen Umkreis, die unter Hochspannung stehen?« fiel Masters dem Chefinspektor ins Wort. »Augenblick!« murrte Hempshaw. Kick hörte das Rascheln von Papier, dann kam die Antwort. »Nein, das Umspannwerk ist…« »Schalten Sie es ab!« verlangte Rick, dem es auf jede Sekunde ankam. »Wir müssen verhindern, daß sich die Energiezelle weiter auflädt und dadurch an Kraft dazugewinnt. Wir verlieren sonst die allerletzte Kontrolle über das Ungeheuer.« »Das wird nicht so schnell gehen«, wandte Hempshaw ein. »Verlieren Sie keine Zeit mit Reden!« schrie Rick ins Mikrophon. »Sie wissen, was zu tun ist und worum es geht!« Sofort brach der Kontakt zum Kommandowagen des Chefinspektors ab. Hempshaw leitete die Abschaltung wahrscheinlich sofort in die Wege. Kenneth muß sich beeilen, dachte Rick Masters verbittert, denn er sah bereits den Maschenzaun vor sich auftauchen, der das 92 �
Gelände des Umspannwerkes umgab. Elma Shepperton hatte ihre Schnelligkeit bis an die äußerste Grenze gesteigert. Es überraschte Rick Masters nicht mehr, daß sie den Zaun durchbrach, als wäre er gar nicht vorhanden, indem sie ihn einfach durchschmolz. Mit einem wilden Aufschrei warf sich Elma Shepperton in die nicht isolierten Starkstromleitungen, die einen normalen Menschen auf der Stelle getötet hätten. Sie jedoch zuckte und wand sich nicht unter Schmerzen oder im Todeskampf, sondern unter dem Zufluß neuer Energien, neuer Kräfte. Rick verhielt sich auf seinem Motorrad abwartend. Er hatte es in einiger Entfernung geparkt und betrachtete mit zusammengebissenen Zähnen das makabre Schauspiel. Rick Masters zählte die Sekunden bis zum Abschalten des Stroms. Jede Sekunde konnte über unzählige Menschenleben entscheiden, über das Schicksal einer ganzen Stadt. * Endlich trat der sehnlichst erwartete Erfolg ein. Chefinspektor Hempshaw mußte es gelungen sein, über Funk an die maßgeblichen Leute vom Elektrizitätswerk zu kommen, die dann die Abschaltung veranlaßten. Rick Masters erkannte die Wirkung nur daran, daß Elma Shepperton sich plötzlich von den Starkstromleitungen löste, in denen sie gehangen hatte wie in einem Fangnetz. Kurze Zeit standen sie ruhig bloß von einem leichten Zittern geschüttelt, dann entlud sich ihre ganze Wut. Die Energiezelle, die von ihrer Leiche Besitz ergriffen hatte, war um den Erfolg gebracht worden. Sie hatte sich an der Starkstromleitung aufladen, hatte bereits verbrauchte Kräfte regenerieren wollen, doch die Abschaltung hatte es verhindert. 93 �
Bisher hatte sich Elma Shepperton nur dann aggressiv verhalten, wenn sie auf einen elektrisch geladenen Gegenstand getroffen war. Doch nun griff sie alles an, was sich ihr in den Weg stellte. Auf dem Gelände des Umspannwerkes befanden sich keine Menschen, da die Polizei für eine sofortige Räumung der Anlage gesorgt hatte. Nur Rick Masters und die Polizisten hielten sich in der Nähe auf, und sie wurden von der vollen Wucht der Wut des Ungeheuers getroffen. Rick stieß einen gellenden Warnschrei aus, als er sah, wie die Augen des Monsters zu funkeln begannen. Sie waren eine der fürchterlichsten Waffen Elmas, da durch sie die Energie freigesetzt wurde, die sie in ihrem Körper speicherte. Die Polizisten verstanden zum Teil gar nicht, was vor sich ging und wovor sie der junge Privatdetektiv warnte. Das war aber auch gar nicht nötig. Sie alle hatten von Anfang an diesen Einsatz mitgemacht und kannten die Gefährlichkeit der Frau. So schnell es ging, warfen sie sich zu Boden und robbten zur nächsten Deckung, doch sie hatten ebensowenig wie Rick Masters darauf geachtet, sich stets in der Nähe eines schützenden Gegenstandes aufzuhalten. Die Augen des Monsters hatten die volle Helligkeit erreicht, bei der die Blicke verletzen konnten. Wie tastende Finger suchten sie nach ihren Opfern. Rick Masters hörte neben sich einen Polizisten aufschreien. Mit einem knappen seitlichen Blick sah er, daß die Haut auf der Stirn des Mannes verschmorte. Getötet wurde er nicht, dazu reichte die Kraft der Energiestrahlen aus Elmas Augen nicht aus, aber es entstand eine Wunde. Gedankenschnell ließ sich Rick von dem Polizeimotorrad fallen und rollte sich zur Seite, doch auch er wurde von einem Energieblitz getroffen. Er hatte in letzter Sekunde erkannt, daß sich das Ungeheuer in seine Richtung drehte, und versuchte noch durch eine Rolle dem Strahl auszuweichen, aber es war schon zu spät. 94 �
Ein stechender Schmerz zuckte durch seine linke Schulter, die sofort höllisch wie Feuer brannte. Rick hatte das Gefühl, in glühendes Metall gefallen zu sein. Er schrie auf, biß die Zähne zusammen und robbte weiter. Neben ihm traf zischend ein Blitz den Betonboden, ohne weiteren Schaden anzurichten. Und dann hatte es der junge Privatdetektiv vorerst einmal geschafft, aus dem verderblichen Bereich von Elmas Blicken zu kommen. Mit einem Hechtsprung warf er sich hinter eine kniehohe Betonmauer und drückte sich keuchend gegen den kühlen Stein. Seine Hände und Knie bluteten, wo sie über die rauhe Fläche geschrammt waren. Aus einiger Entfernung hörte Rick einen Schmerzensschrei. Wieder war einer der Polizisten getroffen worden. Seine eigenen Schmerzen verbeißend, richtete sich Masters auf Hände und Knie auf und wagte es, seinen Kopf über den Rand der Betonmauer zu heben, da er sich nicht unmittelbar gefährdet glaubte. Das Zischen des Energieblitzes und der brennende Schmerz des Treffers blieben aus. Der junge Privatdetektiv sah Elma Shepperton, die ihm den Rücken zukehrte und auf der gegenüberliegenden Seite versuchte, möglichst vielen ihrer Widersacher tiefe Wunden beizubringen, wenn sie sie schon nicht töten konnte. Sie gab den Menschen, die ihr vor die Augen kamen, offenbar die Schuld an dem Stromausfall, der den weiten Weg unnütz machte, den sie von ihrem Haus bis zu dem Umspannwerk zurückgelegt hatte. So plötzlich, wie sie ihre Angriffe begonnen hatte, so überraschend beendete Elma sie auch wieder. Ihre Augen verloren an Leuchtkraft, als sie sich zu Masters umdrehte, dann setzte sie sich in Bewegung und verließ das Gelände des Umspannwerkes auf demselben Weg, auf dem sie gekommen war. Nachdem Rick Masters sich davon überzeugt hatte, daß er sich 95 �
ohne unmittelbare Gefahr aus seinem Versteck hervorwagen konnte, sprang er auf und hetzte zu dem umgestürzten Polizeimotorrad hin, um das sich im Augenblick niemand kümmerte. Seine Hand griff nach dem Funkgerät. Er rief dringend Chefinspektor Hempshaw an. »Ja, Rick, ich höre Sie«, kam sofort die Stimme Hempshaws. »Was ist los bei Ihnen? Ich komme mit meinem Wagen noch immer nicht durch. Der Verkehr ist in weitem Umkreis völlig zusammengebrochen.« Rick Masters atmete auf, als er feststellte, daß das Funkgerät noch immer funktionierte. »Kenneth!« rief er außer Atem. »Sorgen Sie dafür, daß die Straßen schnellstens frei werden! Ich weiß es nicht sicher, aber ich bin überzeugt, daß Elma jetzt wieder in ihr Haus zurückgeht. Bringen Sie Menschen und Autos weg von den Straßen, die sie auch auf dem Herweg benutzt hat, sonst geschieht garantiert wieder ein Unglück! Die bisherigen Todesopfer haben genügt.« »Okay, Rick! Ich werde alles versuchen«, knurrte der Chefinspektor. »Ich habe auch schon Verstärkung angefordert, die jeden… Ach ja, da sind die Burschen schon. Jetzt wird es gleich weitergehen.« »In Ordnung«, fiel Rick Masters ins Wort. »Ich mache Schluß, weil ich sonst Elma aus den Augen verliere. Ich hänge mich mit dem Motorrad an sie und gebe Ihnen sofort Beschied, wenn sich etwas Unvorhergesehenes ereignet.« Das Motorrad hatte keinen Schaden erlitten, als Rick abgesprungen war. Masters startete und rollte hinaus auf die Straße. Zu seiner Befriedigung stellte er fest, daß es den durch Verstärkung vergrößerten Polizeitruppen inzwischen gelungen war, alle Personen aus der Gefahrenzone zu entfernen. Elma Shepperton schlug tatsächlich genau die Straßen ein, auf denen sie zum Umspannwerk gegangen war. Nach einer Viertel96 �
stunde rief Rick Masters wieder den Chefinspektor über Funk und gab seine Meldung durch. »Ich stehe bereits vor dem Haus der Sheppertons«, antwortete Hempshaw. »Der Feuerwehr ist es bisher nicht gelungen, den Brand zu löschen, den die Flammenwerfer ausgelöst haben. Das ist sehr seltsam, weil sie die modernsten Geräte eingesetzt haben.« »Wundert Sie in diesem verrückten Fall noch etwas?« fragte Rick dagegen. »Stellen Sie nur Posten aus, damit sich die Feuerwehr rechtzeitig zurückziehen kann, bevor Elma kommt!« »Wofür halten Sie mich?« rief Hempshaw bissig. »Für einen Anfänger? Ich habe die Männer längst postiert.« »Schon gut, Kenneth«, beruhigte Rick ihn. »In etwa einer Viertelstunde werden wir beim Haus eintreffen. Dann wird sich entscheiden, was Elma macht.« Würde sie in das brennende Haus gehen? Das war die Frage, die den jungen Privatdetektiv bewegte. Wenn das Ungeheuer nämlich seinen Rückzug versperrt vorfand, entlud sich seine Wut möglicherweise wieder an unschuldigen Menschen, ohne daß er etwas dagegen hätte tun können. * Es dauerte etwas länger, als der junge Privatdetektiv vermutet hatte. Das kam daher, daß Elma Shepperton den Rückweg langsamer zurücklegte. Es hatte fast den Anschein, als wären ihre Kräfte erschöpft und als müßte sie sich schonen. Rick Masters war nicht so unvorsichtig, allzuviel auf den äußeren Schein zu geben. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sich die Kraft der Energiezelle durch den relativ kurzen Weg verbraucht hatte. Deshalb gab er auch eine Warnung an die begleitenden Polizisten durch, als sie sich an die immer langsamer werdende 97 �
Frau heranschoben. »Die Posten melden die Annäherung von Elma«, quäkte die Stimme Hempshaws aus dem Lautsprechen des Funkgeräts. »Die Feuerwehr zieht sich zurück.« »Und das Haus?« wollte Rick Masters wissen. »Brennt es immer noch?« »Wie eine Fackel«, lautete die Antwort. »Es ist wie verhext, es hat überhaupt nichts genützt, was immer die Fachleute auch ausprobiert haben, um den Brand einzudämmen. Es stehen praktisch nur mehr die nackten Mauern.« »Weiß eigentlich schon Mr. Shepperton, was alles vorgefallen ist?« erkundigte sich Rick. Eine Weile blieb es still, dann schnaufte Hempshaw überrascht und auch verärgert. »Das habe ich doch tatsächlich vergessen«, bekannte er. In Anbetracht der Umstände war dieses Versäumnis zu entschuldigen. »Ich werde ihn gleich in dem Hotel verständigen, wo er sich eingemietet hat.« »Sorgen Sie aber dafür«, riet Rick, »daß er uns nicht in die Quere kommt! Wenn er seine tote Frau als wandelndes Monster sieht, dreht er unter Garantie durch und erschwert uns die Arbeit.« »Ich bin schon mit ganz anderen Leuten fertig geworden, Rick«, erwiderte Hempshaw. Dann war keine Zeit mehr für eine Unterhaltung, da die Entscheidung anstand, ob sich Elma wieder in ihr Haus zurückziehen würde oder nicht. Rick folgte ihr bis zur halben Auffahrt zum Portal, dann hielt er das Motorrad an. Elma Shepperton kümmerte sich nicht um die Männer, die das Haus umstellt hielten und nur eine Lücke zur Straße hin ließen, damit sie hindurchgehen konnte. Sie schritt mit unverminderter Geschwindigkeit auf das Haus zu. Red, der Geheimdienstmann, war in der Nähe der Brandstelle 98 �
zu sehen, und auch die Soldaten hatten ihre Stellungen nicht verlassen. Hempshaws Bemühungen hatten in dieser Hinsicht also keinen Erfolg gehabt. Am liebsten wäre es Rick gewesen, die Soldaten wären abgezogen worden, da sie bisher mehr Verwirrung gestiftet als Nutzen gebracht hatten, doch daran konnte er auch nichts ändern. Nur mehr wenige Schritte trennten Elma von dem brennenden Haus. Ein gewöhnlicher Mensch hätte die Hitze der prasselnden Flammen nicht ausgehalten, doch sie war nicht mit normalen Maßstäben zu messen, das hatte sie mehr als einmal bewiesen. Ihr Fuß berührte die Schwelle der Eingangstür, dann verschwand sie in den Flammen. Ringsum herrschte angespannte Erwartung. Jeder rechnete damit, daß etwas Ungewöhnliches geschehen würde. Rick Masters wurde kurz abgelenkt, als hinter ihm ein Wagen in die Einfahrt bog und dicht neben ihm zum Halten kam. Aus dem offenen Fenster beugte sich Chefinspektor Hempshaw. Er hatte bisher die Stellung draußen vor dem Grundstück gehalten und von dort aus den Einsatz überwacht. »Sie ist hineingegangen«, meldete Rick lakonisch. Hempshaw nickte nur und starrte verbissen auf das mit unverminderter Heftigkeit brennende Haus. Und dann geschah das von allen erwartete Ungewöhnliche. Gleichsam als würden sie von einem ungeheuer starken Ventilator abgesaugt, zogen sich die Flammen aus den leeren Fensterund Türhöhlen zurück, verschwanden im Inneren des Hauses. Rick Masters sah, wie sich innerhalb weniger Sekunden das Feuer aus dem ersten Stock in das Erdgeschoß hinunterschob, in dem sich wahrscheinlich Elma aufhielt. Der junge Privatdetektiv schwang sich von dem Motorrad und lief auf den Eingang zu. Hempshaw rief eine Warnung hinter ihm her, doch Rick hielt sich nicht daran. Er wollte sehen, was 99 �
dieses plötzliche Weichen des Feuer hervorrief. In der Halle des Hauses loderte der Brand mit unverminderter Heftigkeit, weshalb Rick nicht allzu nahe herankonnte. Doch schlagartig brach auch dieser Flammenvorhang in sich zusammen, und Rick hatte freie Sicht auf Elma Shepperton. Das Energiemonster stand in der Mitte der Halle, die Arme seitlich von sich gestreckt. Von allen Richtungen schwebten die Flammen auf sie zu, verschmolzen mit ihr, wurden von ihr aufgesogen wie Flüssigkeit von einem trockenen Schwamm. Rick Masters nickte. Auch Feuer war eine Form von Energie und wurde daher von der Energiezelle aufgenommen. Kaum fünf Minuten nachdem Elma das Haus betreten hatte, war der Brand erloschen. Elma Shepperton aber, das Energiemonster, zog sich in die Räume im ersten Stock zurück, so daß sie den Blicken der Männer entzogen wurde, die jeden ihrer Schritte belauerten. Das große Warten begann. * Mittag war vorüber, und es hatte sich nichts an der Lage verändert. Weiterhin hielten Polizei und Militär die Brandruine unter strengster Bewachung, weshalb niemand damit rechnete, Elma Shepperton könnte unbemerkt aus ihrem selbstgewählten Gefängnis ausbrechen. Am frühen Nachmittag ergab sich dann eine unerwartete Schwierigkeit, die Rick Masters sehr gern vermieden hätte: Robert Shepperton tauchte auf. Er hatte sich nicht länger mit Ausreden und vagen Erklärungen hinhalten lassen, sondern wollte an Ort und Stelle sehen, was sich in seinem Haus ereignet hatte. Er wollte mit einem Taxi in den Park fahren, doch die Polizei 100 �
stoppte den Wagen am Portal. Shepperton kam auf Rick Masters zugelaufen, den er unter den überall verteilten Männern erkannte. Plötzlich blieb er so abrupt stehen, als hätte jemand eine Mauer direkt vor seinem Gesicht errichtet. Er hatte das ausgebrannte Haus entdeckt, und der Verlust seines Besitzes traf ihn offensichtlich schwer. Rick Masters ging auf Robert Shepperton zu. »Sie hätten nicht herkommen sollen, Mr. Shepperton«, sprach er den Fassungslosen an. »Wir haben uns schon etwas dabei gedacht, warum wir es auf später verschieben wollten, Ihnen alles mitzuteilen.« »Aber – aber – warum?« konnte Shepperton nur stammeln. »Es hat ja niemand mehr darin gewohnt. Wie hätte Feuer entstehen können?« »Die Brandexperten suchen noch nach der Ursache«, erwiderte der junge Privatdetektiv und machte dabei eine vage Handbewegung, die alle Sicherheitsposten umschloß. Er hoffte, Shepperton würde von seinem zerstörten Haus so abgelenkt, daß er die Waffen der »Brandexperten« nicht bemerkte. Um den Grundstücksmakler nicht erst zum Nachdenken kommen zu lassen, hakte sich Rick bei ihm unter und führte ihn hinaus auf die Straße. Dabei redete er ununterbrochen auf Shepperton ein und winkte gleichzeitig verzweifelt einem von Chefinspektor Hempshaws Mitarbeitern. Der sollte sich weiter um den Makler kümmern. Endlich hatte Rick es geschafft, Robert Shepperton in einen Einsatzwagen zu schieben. Hempshaws Mitarbeiter setzte sich zu dem Makler, und der Wagen fuhr ab, um Robert Shepperton wieder in sein Hotel zu bringen. »Das war knapp«, seufzte Rick Masters auf, als er zu Hempshaw trat, der an seinem Dienstwagen lehnte. »Ich wollte es dem Mann auf jeden Fall ersparen, die Leiche seiner Frau in einer so grauenhaften Weise zu sehen. Wer weiß, welchen Schock das bei 101 �
ihm ausgelöst hätte.« »Ich habe schon veranlaßt, daß unser Mann bei Shepperton im Hotel bleibt«, erklärte der Chefinspektor. »Ein total hysterischer Hausbesitzer und Ehemann fehlte uns noch.« Rick setzte zu einer Erwiderung an, doch in diesem Moment klatschte ein schwerer Tropfen auf seine Stirn. Er blickte hoch und sah, daß sich der Himmel während seines Gesprächs mit Mr. Shepperton überzogen hatte. Schwarze Gewitterwolken hingen tief über London, und durch die Straßen fauchte ein kühler Wind. Rick Masters warf einen unbehaglichen Blick über seine Schulter zurück auf die Brandruine. Chefinspektor Kenneth Hempshaw hatte diesen Blick aufgefangen und richtig gedeutet. »Warum machen Sie sich plötzlich mehr Sorgen als zuvor, Rick?« erkundigte er sich. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß uns das Wetter helfen oder schaden könnte – abgesehen davon, daß wir vielleicht naß werden.« »Dann haben Sie entweder keine Phantasie oder in der Schule gefehlt, als von Gewittern gesprochen wurde«, entgegnete der Privatdetektiv. Hempshaw runzelte die Stirn und holte tief Luft, um in seiner bekannten Art loszupoltern, doch zwei Dinge kamen ihm dazwischen: ein greller Blitz und Rick Masters Erklärung. »Hat Ihnen der Blitz die Erleuchtung gebracht, Kenneth?« fragte Rick leicht spöttisch. »Blitze – elektrische Entladungen – Energie! Funkt es?« Während er sprach, wandte Rick Masters noch immer dem Haus den Rücken zu, so daß er nicht sehen konnte, was sich dort ereignete. Aber noch ehe der Chefinspektor zu antworten vermochte, wurde sein Gesicht von einem bläulich-weißen Licht verzerrend erhellt, und im nächsten Augenblick krachte ein so ohrenbetäubender Donner, daß Rick den Erdboden beben fühlte und für Sekunden fast taub war. 102 �
Der junge Privatdetektiv wirbelte herum. Ein geisterhafter Anblick bot sich seinen entsetzten Augen. Der Blitz hatte in die Brandruine eingeschlagen, sie zwar nicht entzündet, aber eine andere Erscheinung hervorgerufen. Rick dachte sofort an das Elmsfeuer, das sich bei starker elektrischer Aufladung der Luft an Schiffen bildet. An allen Kanten der rußgeschwärzten Mauern, an den leeren Öffnungen der Fenster und Türen züngelten kleine blaue Fläminchen. Sie huschten rings um das Haus herum, strebten jedoch alle einem Mittelpunkt zu. Rick konnte sich schon denken, was dieser Mittelpunkt war. Elma Shepperton, das Energiemonster. Noch ehe er seine Überlegungen aussprach, zuckten drei Blitze gleichzeitig vom schwarzen Himmel und tauchten alles in so grelles Licht, daß der Privatdetektiv geblendet die Augen schloß. Es war trotz der frühen Nachmittagsstunde so dunkel wie am späten Abend geworden, und der Kontrast zwischen dem normalen Tageslicht und den Blitzen war zu stark. Das Rollen und Krachen des Donners schien überhaupt nicht mehr aufhören zu wollen. Als es schließlich doch verebbte, hob Rick Masters erschrocken den Kopf. Aus der Hausruine erscholl ein brüllendes Heulen, das aus keiner normalen menschlichen Kehle stammte. Schon einmal hatte Rick diese Schreie gehört. Das war im Umspannwerk gewesen, als sich Elma an den ungeheuren Strommengen aufgeladen hatte. Auch diesmal lag in den Schreien nichts Schmerzliches, sondern es war ein Freudengeheul. Etwas daran erschreckte Rick Masters besonders. Das Heulen war lauter und kräftiger, wilder und ungezügelter als beim erstenmal. Die Energiezelle gewann an tödlicher Kraft und geriet immer mehr außer Kontrolle. Und schon schlugen weitere Blitze in die Ruine, von allen Sei103 �
ten angezogen wie Metall von einem Magnet, und jedesmal folgte dem Donner das Freudengeheul des Monsters. Über den Londoner Stadtteil Leyton war die Hölle hereingebrochen. * »Wie mag diese Energiezelle entstanden sein?« hörte Rick Masters neben sich die gepreßt klingende Stimme von Chefinspektor Hempshaw. Der Kriminalist war zu ihm gekommen und betrachtete gemeinsam mit ihm das schaurige Schauspiel. »Wie ist das nur möglich?« fuhr Hempshaw fort. »Bisher gab es derartige Phänomene nicht.« Rick wandte seinen Blick keine Sekunde lang von der Brandruine, während er antwortete. »Ich möchte mich nicht als düsterer Prophet aufspielen, Kenneth, aber ich fürchte, daß wir den wirklichen Grund nie erfahren werden. Eines ist sicher: daß Energiezellen wie diese hier in London auch schon in anderen Städten der westlichen Welt entstanden sind, wahrscheinlich auch im Ostblock, nur daß die Brüder da drüben nicht gern über solche Dinge reden.« »Dann verraten Sie mir«, ließ Hempshaw nicht locker, »was aus den anderen Energiezellen geworden ist.« Mit einer hilflosen Geste hob Rick die Schultern und ließ sie dann sinken. »Vielleicht haben sie sich wieder aufgelöst, vielleicht lauern sie noch irgendwo. Wer kann das schon sagen. Die Welt hat sich besonders in den letzten Jahren so stark verändert, daß heute schon alles möglich erscheint, sogar die Bildung dieser seltsamen Energiezellen. Atomkraft? Umweltverschmutzung? Die Reaktion chemischer Verbindungen, die bei der Industrieproduktion entstehen? Vielleicht kommen die Wissenschaftler eines Tages dahinter, im Moment haben wir andere 104 �
Sorgen als…« Rick verschluckte den Rest des Satzes, den er hatte sagen wollen. So rasch, wie es gekommen war, verschwand das Gewitter wieder, wenn auch die düsteren Wolken blieben. Das Elmsfeuer an der Gebäuderuine ließ nicht nach, auch wenn es nicht mehr von der elektrischen Ladung der Luft ausgelöst wurde, sondern von der ungeheuren Energiemenge, die Elma Shepperton in sich gespeichert hatte. Und inmitten der bläulichen Flammen erschien das Monster auf dem einzigen Balkon im ersten Stock, der noch heil geblieben und nicht heruntergestürzt war. Er lag genau über dem Haupteingang und führte in jenen Teil des Gartens, in dem sich Rick, Hempshaw, Red und einige Yard-Beamte sowie Elitesoldaten aufhielten. »Auf Kommando alles in Deckung werfen!« schrie Rick Masters aufgeregt. Nicht ohne Grund zeigte sich das Ungeheuer den Menschen, und dieser Grund konnte nur eine Gefahr für die Männer in sich bergen, die den Sperring bildeten. Atemlose Stille hatte sich über den Park gesenkt, während alle wie gebannt hinauf zu Elma Shepperton starrten, die in einem schwarzen Kleid wie eine Göttin der Unterwelt auf dem Balkon stand, die Augen geschlossen, die Arme locker seitlich herunterhängend. Doch das harmlose Äußere täuschte. Sie öffnete die Augen, und ehe Rick noch seine Warnung den anderen zurufen konnte, zischte bereits ein Energiestrahl aus den Augen des Ungeheuers auf die Soldaten hinunter. Drei von ihnen stürzten getroffen mit rauchenden Kleidern zu Boden. Sie schrien und stöhnten, weil ihnen der Energiestrahl in Sekundenbruchteilen schmerzhafte Brandwunden zugefügt hatte. Ein Soldat blieb aufrecht stehen. Rick Masters hätte schwören 105 �
können, daß auch er getroffen worden war, daß er sogar im Zentrum des leicht gefächerten Strahls gestanden und somit die meiste Energieladung abbekommen hatte. Dennoch zeigten sich an diesem Soldaten keine Verletzungen. Er reagierte auch nicht, als ihm seine Kameraden zuriefen, er solle doch auch endlich in Deckung gehen. Der Soldat war noch jung, vielleicht Mitte Zwanzig, sehr groß – etwa so wie Rick – und ebenfalls blond. Rick Masters veränderte seinen Standpunkt, um den Soldaten besser beobachten zu können, und erschrak, als er das Gesicht des Mannes zu sehen bekam. Es zeigte einen völlig stumpfsinnigen Ausdruck, als wären alle seine Gedanken ausgelöscht, als würde er nur mehr eine Maschine aus Fleisch und Blut darstellen. Rick wollte sich Gewißheit verschaffen, ob sein Verdacht stimmte, der angesichts dieser stumpfsinnigen Züge in ihm auftauchte. Er tastete auf dem Rasen herum, bis er einen kleineren Stein fand, und schleuderte das Wurfgeschoß gegen den Soldaten. Es traf ihn am Hals an einer sehr schmerzempfindlichen Stelle, so daß jeder andere aufgeschrien oder wenigstens eine kleine Reaktion gezeigt hätte. Nicht aber der Soldat. Er blieb stocksteif, den Blick zu dem Balkon erhoben, auf dem Elma Shepperton noch immer stand, jetzt aber mit geschlossenen Augen. Es war für Rick klar, daß sich der Soldat völlig unter dem Einfluß des Ungeheuers befand und daß es nur eine Frage der Zeit war, bis Elma den nächsten Schritt einleitete. Der Privatdetektiv brauchte nicht lange zu warten. Ein zweiter Energiestrahl brach zischend über den Soldaten herein. Rick konnte sich gerade noch rechtzeitig zurückwerfen, um nicht ebenfalls in den Bereich der Strahlen zu gelangen. Er fühlte die Hitze auf seiner bloßen Haut brennen, erlitt jedoch keine Verletzungen. 106 �
Kaum war das Glühen aus Elmas Augen verebbt, als sie sich umdrehte und wieder im Haus verschwand. Den Körper des Soldaten erfaßte ein Zittern wie bei einer anlaufenden Maschine, dann setzte er sich in Bewegung und ging zielstrebig auf das Haus zu. Da verstand Rick Masters, was die Energiezelle in Elma vorhatte. Sie wollte sich einen zweiten Körper verschaffen, um sich teilen zu können. Während des Gewitters hatte sie genug gespeichert, um zwei gleichwertige Ungeheuer zu bilden, die in nichts der schrecklichen Kraft Elmas bei ihrem Weg zum Umspannwerk nachstanden. Rick Masters mußte unter allen Umständen verhindern, daß der Soldat das Haus – besser die Ruine – erreichte und seinen Teil der Ladung von Elma übernahm. Rick hätte nicht gezögert, auf den Soldaten zu schießen, wenn er sich davon einen Erfolg versprochen hätte. Der Mann lebte nämlich nicht mehr, die zweimalige Einwirkung der Energiestrahlen hatte ihn längst getötet. Wie Elma Shepperton war er nur mehr ein Leichnam, der von den unglaublich starken Gewalten in seinem Körper angetrieben und aufrechterhalten wurde. Schießen hatte keinen Zweck. Rick mußte den Mann aufhalten, zu Fall bringen oder sonstwie am Weitergehen hindern. Es war schon fast unmöglich, ein Energiemonster halbwegs unter Kontrolle zu halten, bei zwei derartigen Wesen war das ausgeschlossen. Rick Masters stellte sich dem wie ein Roboter mechanisch Gehenden in den Weg, leicht geduckt und jederzeit bereit, die geringste Chance auszunutzen. Rick bekam keine Chance. Der Soldat schritt auf ihn zu, und als der Privatdetektiv versuchte, ihm die Beine unter dem Körper wegzuschlagen, fegte ihn der Mann mit einem einzigen Schwung seines rechten Armes zur Seite. Rick flog durch die 107 �
Luft, als wäre er von einem Katapult geschnellt worden, und landete hart in einem Zierstrauch. Gegen die Kraft des Soldaten konnte man nichts ausrichten. Ehe sich Rick aus den Zweigen befreit und die Wirkung des Schlages überwunden hatte, war der Mann bereits im Haus verschwunden. Das Unglück war nicht mehr aufzuhalten. * Rick Masters erwog blitzschnell die Chancen, die er bei einem Eindringen in die Ruine haben würde. Die Idee verwarf er gleich wieder, es war viel zu riskant, sich in der Nähe dieser beiden Wesen zu begeben, die ganz der Macht und Gewalt der Energiezelle verfallen waren. Doch Rick wollte wenigstens beobachten, was sich weiter drinnen im Haus abspielte. »Es sieht schlecht aus für uns, stellte Chefinspektor Hempshaw fest, als Rick sich wieder zu ihm gesellte. »Jetzt haben wir zwei von diesen Bestien am Hals.« »Helfen Sie mir auf diesen Baum dort«, verlangte Rick, ohne auf Hempshaws Bemerkung einzugehen. Es gab ohnehin nichts zu sagen, da sie noch kein Mittel gefunden hatten, um die Energiezelle zu bekämpfen. »Elma hält sich nach wie vor in den oberen Räumen auf, und der Soldat geht wahrscheinlich zu ihr hinauf. Ich möchte sehen, was jetzt geschieht.« Hempshaw verzichtete auf Einwände, weil er wußte, daß der Privatdetektiv seine Wünsche immer durchsetzte. Der Chefinspektor stellte sich mit dem Rücken an den Baumstamm und bildete aus seinen Händen einen »Steigbügel«, über den sich Rick auf den untersten Ast der mächtigen alten Tanne schwang. Von da an stieg er von einer Verzweigung zur anderen wie auf einer Treppe höher, bis er einen guten Blick in alle Fenster der Brandruine hatte. 108 �
Es dauerte auch gar nicht lange, dann kamen Elma Shepperton und der Soldat in sein Blickfeld. Der Mann stand am Eingang eines Zimmers. Elma streckte ihm die Hände entgegen, die Augen weit geöffnet und den Energiestrahl, der aus ihren Pupillen hervorbrach, genau auf ihn gerichtet. Gleichsam von einer zentnerschweren Last niedergedrückt, schob der Soldat sich näher an die Frau heran, hob die Hände und reckte die Finger den ihren entgegen. Als sich die Fingerspitzen der beiden berührten, sprang ein gewaltiger Blitz über, und der darauf folgende Knall war so stark, daß dagegen der Donner des heftigen Gewitters wie ein leises Murmeln wirkte. Für Sekunden waren beide Gestalten in helles Licht gehüllt. Rick Masters sah und hörte nichts mehr. Die Entladung beim Übersprung der Energie hatte ihn fast betäubt. Nur mit Mühe konnte er sich in den Zweigen festhalten. Vor seinen Augen tanzten feurige Punkte, in seinen Ohren klirrte und summte es. Erst allmählich klärte sich sein Blick soweit, daß er von dem Baum heruntersteigen konnte. Das letzte Stück ließ er sich einfach fallen. Keuchend blieb er liegen, noch immer ganz unter dem Eindruck des Erlebten stehend. »Rick! Rick!« Chefinspektor Hempshaw mußte schreien, damit ihn der Privatdetektiv überhaupt hörte. Müde stemmte sich Rick Masters hoch. Er nickte Hempshaw zu. »Es ist geschehen, was wir befürchtet haben«, sagte er überlaut, da er sich selbst kaum hören konnte. »Wir haben es nicht mehr mit einem Ungeheuer zu tun, sondern mit zwei von diesen scheußlichen Wesen.« »Und was sollen wir jetzt tun?« fragte Chefinspektor Hempshaw ratlos. »In Deckung gehen!« rief Rick und warf sich hinter eines der Autos. Noch während Hempshaw seine Frage ausgesprochen 109 �
hatte, waren Elma und der Soldat auf den Balkon getreten. In der nächsten Sekunde fauchten bereits wieder die Energieblitze in den Park hinein, forderten diesmal jedoch keine Opfer, weil die Männer aus dem Schicksal ihres Gefährten gelernt hatten. Sie hatten sich gute Deckungen gesucht, die sie nicht mehr verließen. Büsche und Bäume gingen unter dem Beschüß mit Energie in Flammen auf, das Gras verdorrte und verbrannte, bis ein Großteil des Gartens nur mehr aus verkohlten Pflanzen bestand. Chefinspektor Hempshaw und Red vom Geheimdienst hatten hinter demselben Wagen Schutz gesucht, hinter dem sich Rick in Sicherheit gebracht hatte. »Ich könnte aus der Haut fahren!« knirschte Red zwischen zusammengebissenen Zähnen. Über ihnen schlug der Energiestrahl in das Auto und ließ die Scheiben zerspringen. »Das Aus-der-Haut-fahren besorgt Elma oder der Soldat für Sie, wenn nicht bald ein Wunder geschieht«, versetzte Hempshaw bissig. »Warum rufen denn die Leute?« fragte er gleich darauf verwundert und wagte es, den Kopf ein wenig anzuheben. Die Soldaten und Polizisten kamen aus ihren Verstecken hervor. Und als Rick Masters zu dem Balkon hinauf schaute, war dieser leer. Elma und der Soldat hatten sich in das Innere der Brandruine zurückgezogen. »Eine kleine Verschnaufpause für uns, mehr nicht«, verkündete Rick. »Ich will nicht mehr als Privatdetektiv arbeiten, wenn die beiden nicht bald zu einem noch viel größeren Schlag ausholen als bisher.« »Sie gehen wohl nie ein Risiko bei einer Wette ein, wie?« brummte Hempshaw und putzte seine Hose ab. Er schüttelte pessimistisch den Kopf. »Wenn nur wenigstens Dr. Sterling hier wäre. Der alte Fuchs weiß doch meistens einen Rat.« 110 �
Chefinspektor Hempshaw zuckte erschrocken zusammen, als ihm Rick Masters mit aller Kraft auf die Schulter schlug. »Das ist endlich die Idee!« rief Rick. »Dr. Sterling!« * »Sind Sie übergeschnappt, Rick?« erkundigte sich der Chefinspektor unfreundlich und rieb sich die schmerzende Schulter, wo ihn Ricks Hand getroffen hatte. »Warum schreien Sie hier herum, wenn ich Dr. Sterling erwähne?« »Weil Sie damit genau den Nagel auf den Kopf getroffen haben«, rief Rick Masters erregt. »Ich würde eher sagen«, konterte Hempshaw, »Sie haben mich auf die Schulter getroffen.« »Ich breche gleich in Tränen aus«, stichelte Red, der Mann vom Secret Service. »Was ist nun, Masters, haben Sie eine Idee, wie wir diesen Ungeheuern beikommen können, oder haben Sie keine?« »Natürlich habe ich eine«, antwortete Rick überzeugt, »und Dr. Sterling hat sie geliefert.« Noch immer starrte Hempshaw ihn an, als zweifelte er an Ricks Verstand, doch je weiter der Privatdetektiv seine Idee erläuterte, desto mehr hellte sich Hempshaws Gesicht auf. »Dr. Sterling sprach immer wieder, wenn er aus seiner Ohnmacht erwachte, davon, daß wir isolieren sollten. Ich hatte anfänglich geglaubt, wir sollten Elma Sheppertons Leiche gegen übersinnliche oder übernatürliche Kräfte isolieren, weshalb ich den Bleisarg vorschlug. Das hat nicht geklappt, weil Sterling eine Isolierung gegen Energie gemeint hatte. Red, jetzt sind Sie an der Reihe!« Der Geheimdienstmann steckte sich eine Zigarette an und nickte Rick aufmunternd zu, weiterzusprechen. 111 �
»Red, Sie müssen schnell feststellen, ob es ein Isoliermaterial gibt, das man in einem Tankwagen in flüssigem Zustand transportieren kann und das an der Luft schnell hart wird! Vergleichen Sie es mit den Schaumlöschern auf den Flughäfen, nur eben, daß die Masse erstarren muß. Und sie muß geeignet sein, ungeheure Energiemengen zu isolieren.« Red tippte nur kurz mit dem Zeigefinger gegen seinen Haaransatz, was wohl eine Zustimmung sein sollte, denn er verschwand hinaus auf die Straße und steuerte die nächste Telefonzelle an. Wahrscheinlich erkundigte er sich in seiner Zentrale nach einem solchen Material. »Langsam beginne ich zu verstehen«, murmelte Chefinspektor Hempshaw, der abwechselnd zu Rick Masters und zu der Brandruine schaute. »Sie wollen den Isolierschaum aus einer Feuerwehrspritze auf die beiden Monster spritzen. Der Schaum erstarrt, sobald er sich mit Sauerstoff verbindet, und wir haben sie unter Kontrolle.« »So ungefähr stelle ich mir das vor«, bestätigte der junge Privatdetektiv, auf dessen Stirn sich eine steile Falte bildete. »Die Frage ist nur noch, ob es dieses Material überhaupt gibt und ob wir es rechtzeitig in einer ausreichenden Menge erhalten.« »Die Antwort werden wir gleich wissen.« Hempshaw deutete auf die Straße, wo Red gerade die Telefonzelle verließ. »Warum macht der Bursche immer ein solches Pokergesicht?« fragte sich Hempshaw nervös. Tatsächlich sah man Red nicht an, wie die Auskunft ausgefallen war. Erst als er dicht bei Masters und Hempshaw war, nickte er. »Es klappt«, sagte er einfach. »In einer Stunde ist der Transport hier.« Rick Masters wollte erleichtert aufatmen, doch dann stellte er sich vor, was noch alles auf sie wartete, und der Seufzer der 112 �
Erleichterung blieb ihm im Hals stecken. * Reds Voraussage erfüllte sich fast auf die Minute genau. Es dauerte nur etwa eine Stunde, bis ein Pritschenwagen in die Einfahrt einbog. Auf der Ladefläche war ein Tank montiert, daneben der Motor, der die Spritzenpumpe in Betrieb setzte. Der Schlauch hing aufgerollt an einem Haken. »Manchmal ist der Secret Service doch zu etwas zu gebrauchen«, bemerkte Rick grinsend und winkte den Wagen heran. Der Fahrer bremste vor ihnen, stieg dann aus und verschwand auf ein Zeichen Reds. »Wie verteilen wir die Rollen?« fragte Hempshaw mit neu erwachter Energie. Das untätige Warten hatte an seinen Nerven gezehrt, obwohl in der Zwischenzeit nichts geschehen war. Rick wechselte mit dem Geheimdienstmann einen Blick des Einverständnisses, dann entschied er: »Red fährt den Wagen und bedient die Spritze, wenn es soweit ist, und ich betätige mich als Lockvogel und hole die beiden aus der Ruine.« »Das ist doch…«, setzte Hempshaw zu einem scharfen Protest an, weil auch er sich aktiv beteiligen wollte, doch Red schnitt ihm das Wort ab. »Wir brauchen jemanden, der unseren Rückzug deckt, falls etwas schiefgeht, und auf den wir uns verlassen können«, sagte der Secret Service Agent ebenso diplomatisch wie wahrheitsgemäß. »Sie haben das Kommando über die Leute, während wir beide zum Haus fahren, Chefinspektor. Machen Sie uns keine Schwierigkeiten mit langen Diskussionen, die Zeit drängt.« Red hatte recht, das bewies ein kurzer Blick zum Himmel. Die Dämmerung war nicht mehr weit. Noch etwa zwei Stunden, dann mußten sie mit Scheinwerfern arbeiten und wurden 113 �
dadurch schwerfälliger. »Bringen wir es bei Tageslicht noch hinter uns«, bekräftigte Rick. »Kenneth, lassen Sie uns nicht im Stich, übereilen Sie aber auch nichts.« »Ich bin ja kein Anfänger.« Hempshaw klopfte den beiden Männern auf die Schulter. »Macht's gut!« »Fertig, Red?« Rick Masters beobachtete, wie der Geheimdienstmann den Motor der Spritze anwarf, um jederzeit die Isoliermasse aus dem Tank pressen zu können. Dann klemmte sich Red hinter das Lenkrad des Wagens. »Ich fahre rückwärts an die Haustür heran«, rief er Rick zu. »Sie gehen am besten neben dem Wagen. Können Sie im Notfall die Spritze bedienen? Ich meine, wenn die beiden herauskommen, ehe ich mich an das Gerät setzen kann?« »Keine Sorge, ich kenne mich damit aus«, beruhigte Rick ihn und ging los. Der Pritschenwagen folgte im Rückwärtsgang. Immer näher kamen sie dem Haus, immer deutlicher roch Rick die Asche und die verkohlten Trümmer der Ruine. Alles blieb still, und das war unheimlicher, als wenn die beiden Monster hinter den geschwärzten Mauern getobt und einen Angriff versucht hätten. Außer dem Tuckern des Spritzenmotors und dem Brummen des Wagens war nichts zu hören. Der junge Privatdetektiv mußte seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht auf der Stelle umzukehren. Statt dessen trat er über die einstige Schwelle des Hauses und sah sich in der zerstörten Diele um. Red hatte inzwischen den Platz an der Spritze eingenommen und hielt das Ende des Schlauchs bereit. Auch auf seinem Gesicht zeichnete sich verbissene Anspannung ab. Rick Masters gab sich einen Ruck und begann, vorsichtig einen Raum des Erdgeschosses nach dem anderen abzusuchen. Nirgendwo war eine Spur der beiden von Energie angetriebenen 114 �
Wesen zu entdecken. Er kehrte zu Red zurück, um ihm das Ergebnis seiner Suche zu berichten. »Dann müssen Sie es im ersten Stock versuchen«, sagte der Geheimdienstmann ungerührt. »Ich gebe Ihnen nur einen Rat, Masters: wenn Sie die beiden oder einen der beiden sehen, dann kommen Sie so schnell herunter, wie Sie nur können, sonst habe ich vielleicht das seltene Vergnügen, auch noch Sie isolieren zu müssen.« »Ich werde mich hüten.« Rick zwang sich zu einem verkrampften Lächeln. Es verschwand, sobald er wieder das Haus betrat. Eine Viertelstunde später war die Verwirrung perfekt. Elma Shepperton und der Soldat waren verschwunden – spurlos. * »Das ist unmöglich!« behauptete Chefinspektor Hempshaw, als er hörte, daß die beiden Ungeheuer nicht mehr in der Ruine waren. »Sie hätten auch noch den Keller und den Dachboden durchsuchen müssen, Rick.« »Dachboden existiert nicht mehr«, erwiderte der Privatdetektiv ungerührt, »weil der Dachstuhl von dem Feuer vernichtet wurde. Und der Zugang zum Keller ist verschüttet.« Hempshaw schüttelte heftig den Kopf. »Da kann etwas nicht stimmen. Unsere Leute halten das Haus seit Stunden unter Beobachtung. Und ich glaube nicht, daß sich unsere Freunde, in Luft aufgelöst haben. Dahinter steckt was anderes, wohl weniger Erfreuliches.« Rick Masters nagte nachdenklich an seiner Unterlippe, dann leuchteten seine Augen auf. »Haben Sie einen genauen Plan dieser Gegend, Kenneth?« fragte er. »Selbstverständlich.« Der Chefinspektor nickte. »Gleich zu Beginn der Aktion besorgt.« Er holte einige Karten aus dem 115 �
Wagen und entfaltete sie. Eine Weile starrte Rick interessiert auf die Karten, dann tippte er auf zwei Punkte. »Hier und hier befindet sich jeweils eine Sation der Underground, der Untergrundbahn«, sagte er. »Wenn wir eine Verbindungslinie ziehen, dann stellen wir fest, daß das Haus der Sheppertons genau über einem Underground-Tunnel liegen muß.« Die drei Männer sahen sich an, zutiefst betroffen von den Schlußfolgerungen, die daraus entstanden. »Aber Sie sagten doch, Rick«, hielt Hempshaw ihm entgegen, »daß der Zugang zum Keller des Hauses verschüttet ist.« »Das ja«, räumte Masters ein. »Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß Ella und der Soldat den Zugang erst verbarrikadierten, nachdem sie in den Keller gestiegen waren, um von dort aus weiter in den Tunnel einen Zugang zu öffnen. Mit ihrer Energie können sie jeden beliebigen Stollen herstellen, besser als eine Maschine.« »Worauf warten wir dann noch?« fragte Red. Wie auf Kommando sprangen sie in Hempshaws Wagen, dem die Scheiben vom letzten Angriff Elmas fehlten. Drei Minuten brauchten sie zur nächsten Station der Underground. »Im Tunnel fließt Strom«, erklärte Rick unterwegs. »Sogar Starkstrom, und der lockte wahrscheinlich die beiden Ungeheuer an.« »Ich wage nicht, mir auszumalen, was passiert, wenn ein Zug auf Elma oder den Soldaten trifft«, seufzte Hempshaw. »Dann tun Sie es auch nicht, verdammt noch mal!« fauchte Red. Hempshaw zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Ich wußte gar nicht, daß Sie Nerven haben«, spöttelte er. »Ich verliere manchmal die Nerven, wenn ich mit Polizei zu tun habe«, schlug Red zurück. 116 �
Die kleine Auseinandersetzung fand ein rasches Ende, als sie die Station erreichten. Der Eingang wurde von Polizei blockiert, was unabhängig von ihrem eigenen Einsatz geschah. Also mußte sich ein Unglück ereignet haben. »Was ist geschehen?« fragte Hempshaw einen der Polizisten und zeigte gleichzeitig seinen Ausweis. Der Mann salutierte und meldete: »Zwei Züge sind überfällig, Sir!« »Gleich zwei!« Mit einem Fluch auf den Lippen sprang Hempshaw aus dem Wagen. Rick überholte ihn auf dem Weg zum Einstieg zur Underground. Hier konnten Sekunden über zahlreiche Menschenleben entscheiden. Falls es nicht schon zu spät war. * Rick Masters und seine Helfer waren besonnen genug, nicht ohne einige Vorbereitungen in den Tunnel einzusteigen, der unter dem Haus der Sheppertons durchlief. »Zwei Züge sind nicht angekommen«, faßte Hempshaw zusammen, was er innerhalb weniger Minuten herausgefunden hatte. »Sie müssen ungefähr unter dem Haus der Sheppertons steckengeblieben sein. Ich habe veranlaßt, daß von der anderen Seite vorläufig noch keine Rettungsmannschaften in den Stollen einsteigen.« »Sehr gut«, lobte Rick. »Wir gehen jetzt voran. Hinter uns kann ein Bergungstrupp nachkommen, aber die Leute müssen sich genau an unsere Anweisungen halten.« »Was ist mit der dritten Schiene, der Stromschiene?« fragte Red. »Vorläufig noch eingeschaltet lassen«, entschied Rick. Dann bildete er die Spitze des kleinen Trupps, der – mit starken Hand117 �
scheinwerfern ausgerüstet – den Weg ins Ungewisse aufnahm. Sie brauchten nicht weit zu gehen. Schon nach zehn Minuten hörten sie angstvolle Schreie und ein merkwürdiges Zischen. Sie beschleunigten ihre Schritte, bogen um eine Kurve und stockten. Dort standen die beiden Züge der Underground, vorläufig noch unversehrt. Und dort waren auch Elma Shepperton und der Soldat. Sie klammerten sich an der stromführenden Schiene fest, und das Zischen kam von den Funken, die von der Schiene auf die beiden Energiezellen übersprangen. Deshalb hatten auch die Züge halten müssen, Elma und der Soldat verbrauchten den gesamten Strom. »Sollen wir abschalten?« fragte ein Techniker der Underground über ein tragbares Funkgerät bei Hempshaw an, nachdem ihm der Chefinspektor mit vorsichtig gewählten Worten die Lage geschildert hatte. »Auf keinen Fall«, antwortete Rick anstelle Hempshaws. Und zu seinen Gefährten gewandt, fuhr er fort: »Wenn wir den Kontakt unterbrechen, werden sich die beiden wahrscheinlich sofort an den Menschen in den Zügen rächen wollen. Dieses Risiko können wir nicht auf uns nehmen.« »Schon zu spät für irgendwelche Maßnahmen!« Red deutete auf die beiden Monster. Sie hatten offenbar genug Energie aufgeladen, lösten sich von den Stromschienen und wandten sich den Zügen zu. »Evakuiert die Wagen!« schrie Rick Masters den Leuten von den Bergungstrupps zu, die in einem größeren Abstand gewartet hatten. Die Menschen in den Zügen schrien vor Angst, weil sie im Tunnel steckengeblieben waren und sich die beiden seltsamen Menschen draußen auf den Gleisen und den Funkenregen nicht erklären konnten. Jeden Moment konnte eine Panik ausbrechen. 118 �
Zu den ersten Tumulten kam es, als sich Elma und der Soldat jeweils dem ersten Wagen eines Zuges näherten. Ihre Augen hatten wieder den unheimlichen Glanz angenommen, Energiebündel sprangen auf die Wagen über. Drinnen schrien und tobten Menschen, die verbrannt oder geschockt wurden. Die Angehörigen der Bergungstrupps arbeiteten wie besessen. Rick, Hempshaw und Red beteiligten sich nicht an der Evakuierung der Züge. Sie hatten sich vorgenommen, Elma und den Soldaten unter Beobachtung zu halten und notfalls in einer besonders kritischen Situation einzugreifen. Zwischen den Ungeheuern und den Zügen bestand eine richtige Strombrücke, und daß es noch nicht zu Toten gekommen war, verdankten sie nur dem Umstand, daß die metallene Außenhaut der Wagen einen Großteil der Energie sofort ableitete. Dennoch gab es zahlreiche Verletzte, die erst einmal aus der Gefahrenzone gebracht werden mußten, ehe man sie behandeln konnte. »Verdammt, ich sehe die beiden nicht mehr!« rief Hempshaw erschrocken. Sanitäter mit Tragbahren, Polizisten und freiwillige Helfer und die Menschen aus den Zügen versperrten ihnen die Sicht. »Wir müssen näher heran!« Rick Masters bahnte sich verbissen einen Weg durch das Chaos der in Panik flüchtenden Passagiere. »Es wäre eine Katastrophe, wenn wir sie aus den Augen verlieren würden.« Fünf Minuten später mußten sie sich ihre neuerliche Niederlage eingestehen. Der Platz zwischen den beiden angehaltenen Zügen war leer. Elma Shepperton und der Soldat waren und blieben verschwunden. Rings um Rick Masters und seine Begleiter stöhnten und schrien noch immer Verwundete und unter Schock stehende 119 �
Fahrgäste, tobte weiterhin die Panik. Es war schwer, unter diesen Umständen einen Überblick zu behalten, doch Rick glaubte, mit Sicherheit eines behaupten zu können: »Auf unserer Seite sind sie nicht durchgekommen, also können sie nur in die andere Richtung gegangen sein.« »Nichts wie nach!« Red stapfte schon voran, Rick und Hempshaw folgten. Der Chefinspektor unterrichtete über sein tragbares Funkgerät seine Leute an der nächsten Underground-Station darüber, daß sie wahrscheinlich bald mit den beiden Monstern zusammenstoßen würden. »Da sind sie schon!« schrie eine Stimme aus dem Funkgerät. Unwillkürlich hielten die drei Männer den Atem an. »Sie greifen uns an, wir müssen fliehen!« Damit brach der Funkkontakt ab. Rick und seine Helfer rannten, so schnell es die Bahnstrecke erlaubte, erreichten die nächste Station, verließen das Schienenbett und hasteten die Treppen hinauf auf die Straße. Hempshaws Leute und die Elitesoldaten Reds waren zerstreut worden. Einer von ihnen gab einen kurzen Lageüberblick. Danach hatten die beiden Gesuchten den Weg zur nächsten Parkanlage eingeschlagen. »Das sind nur fünf Minuten zu Fuß«, gab Hempshaw Auskunft, nachdem er sich am Stadtplan orientiert hatte. »Red, rufen Sie über Funk den Wagen mit der Spritze ab, er soll zum Park kommen! Vielleicht haben wir diesmal etwas mehr Glück.« »Hoffen wir es«, versetzte der Geheimdienstmann düster. »Sonst sind nicht nur wir verloren, sondern auch…« Er sprach nicht weiter, aber Rick Masters wußte auch so, was er meinte. London wurde von einem nicht einzudämmenden Grauen bedroht, das immer mehr anwuchs und bald unbesiegbar sein würde.
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Rick Masters hatte gemeinsam mit der Chefinspektor und seinem Verbindungsmann zum Secret Service einen Plan ausarbeiten wollen, wie sie ohne Verluste und mit möglichst geringem Risiko an die beiden von der Energiezelle besessenen Körper herankommen konnten. Doch dann überstürzten sich die Ereignisse, so daß sie sich nicht mehr besprechen konnten. Der Wagen mit dem aufmontierter Tank traf gleichzeitig an der Parkanlage ein wie das Trio, das Elma Shepperton und den Soldaten jagte. Der Park war im Stil von Hyde Park gehalten, wenn auch nicht so weitläufig und schön. Die Polizei hatte ihn rechtzeitig von Besuchern geräumt, die noch knapp vor Einbruch der Dämmerung einen Spaziergang hatten machen wollen. Menschen wurden nicht direkt gefährdet, wenigstens nicht, solange sich Elma und ihr Schicksalsgefährte innerhalb der Grenzen der Grünfläche aufhielten. Tiefe Schatten hatten sich bereits zwischen den Bäumen und Büschen eingenistet, als der erste Versuch anlief, die beiden Monster unschädlich zu machen. Noch ehe Rick Masters die Rollen richtig verteilen konnte, sichteten sie an einem kleinen Weiher den Soldaten. In der leichten Dämmerung verrieten seine funkelnden Augen, die gelbliches Licht ausstrahlten, genau seinen Standpunkt. »Red!« rief Rick hastig. »Sie fahren, ich bediene die Spritze!« Der Geheimdienstmann löste seinen Kollegen am Steuer des Pritschenwagens ab, der auf den ersten Blick wie ein Lieferauto für Heizöl aussah. Rick Masters überzeugte sich davon, daß der Motor der Pumpe einwandfrei arbeitete, und kontrollierte die Hebel und die Anzeigegeräte. In der Zwischenzeit hatte Red Kurs auf den Soldaten genommen. Ein kurzes Hupsignal veranlaßte Rick, von der Pumpe auf121 �
zusehen. Neben dem Soldaten tauchte aus den Büschen Elma Shepperton auf, doch während der Soldat stehenblieb, lief sie wie ein gehetztes Wild davon. Es würde schwer sein, sie wieder aufzuspüren, obwohl einige Polizisten sofort die Verfolgung aufnahmen. Rick konnte nur hoffen, daß sie die Spur nicht verloren. Dann mußte er seine ganze Aufmerksamkeit auf den Soldaten richten, der das Herannahen des Autos ebenfalls bemerkt hatte, aber nicht wie Elma die Flucht ergriff, sondern sich zum Kampf stellte. Rick Masters duckte sich hinter die Fahrerkanzel des Wagens, brachte das metallene Endstück des Schlauches in die richtige Stellung und legte die vor Aufregung feuchte Hand an den Auslösehebel der Anlage. Red hatte ihm versichert, daß sich in Sekundenschnelle der Inhalt des Tanks über den Mann ergießen und ihn einmauern würde. Es kam darauf an, daß diese Voraussage stimmte – und natürlich auch, daß Rick gut zielte. Aus den Augenwinkeln heraus sah der Detektiv, daß Hempshaw in der Zwischenzeit einen dichten Ring von Polizeibeamten um den Weiher hatte ziehen lassen. So hatten sie wenigstens die Sicherheit, daß sofort Verfolger auf der Spur des Soldaten sein würden, falls ihm der Durchbruch noch einmal gelang. Red ging taktisch richtig vor. Er lenkte den Wagen auf einen der schmalen Zufahrtswege zum Weiher, um nicht auf der Wiese an einer Unebenheit des Bodens zu scheitern. Dann trat er plötzlich das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Motor des Wagens heulte auf, und das Fahrzeug schoß mit zunehmender Geschwindigkeit auf das Monster zu. Fast sah es so aus, als wollte Red den Soldaten über den Haufen fahren. »Festhalten!« schrie er, als sie nur mehr wenige Wagenlängen von dem Ungeheuer mit den glühenden Augen entfernt waren. Im gleichen Augenblick trat er mit voller Wucht auf die Bremse. Er hatte das Manöver so berechnet, daß er wenige Schritte vor 122 �
dem Soldaten zum Stehen kam. Dadurch geriet Red zwar in Gefahr, von den Energieblitzen aus den Augen des Mannes getroffen zu werden, aber andererseits hatte Rick Masters das beste Ziel. Während Rick den Auslösehebel für den Tank herumriß, bewunderte er insgeheim Reds Mut. Dann zischte auch schon ein weißer Strahl aus dem Schlauch. Ehe jedoch der Soldat von der schaumförmigen Isoliermasse getroffen wurde, funkelten seine Augen auf. Rick kannte dieses Phänomen bereits. Die Augen erhielten die Farbe von flüssigem Stahl und schleuderten ihre todbringenden Energien auf den Feind. Die Strahlenbündel schnitten zischend in das Führerhaus des Wagens. Red brüllte auf. Rick konnte nicht darauf achten, ob der Geheimdienstmann verletzt war oder nicht. Er umklammerte mit beiden Händen das Schlauchende, hielt es auf den Soldaten gerichtet und schwenkte es kurz von oben nach unten und wieder zurück. Dann versetzte er dem Regulierhebel einen Stoß, daß er wieder auf die Ausstellung zurückschnappte. Mit einem flüchtigen Blick auf die Kontrollinstrumente stellte Rick mit Befriedigung fest, daß er nur knapp die Hälfte des Tankinhalts verbraucht hatte. Es blieb also noch genug für Elma Shepperton übrig. Der Soldat war nicht mehr sichtbar. Ein dicker Schutzmantel aus Isoliermasse umgab ihn. Der Schaum war wirklich innerhalb von Sekunden in Verbindung mit dem Luftsauerstoff erstarrt. Ein unregelmäßiger Block stand dort im Gras, wo zuvor das Ungeheuer seine tödlichen Blitze verschickt hatte. Noch ehe sich Rick um den Geheimdienstmann kümmerte, sprang er von der Ladefläche und lief zu dem Block aus Isolierstoff. Im Moment war es wichtiger, ob die Gefahr vollständig beseitigt war. Zögernd streckte Rick einen Arm aus. 123 �
Seine Fingerspitzen berührten die rauhe Oberfläche des erstarrten Schaums. Nichts geschah, und der junge Privatdetektiv stieß die Luft mit einem hörbaren Seufzer der Erleichterung aus. Der Schaum isolierte perfekt und war steinhart geworden. Rick Masters drehte sich zu dem Tankwagen um. Er war böse erwischt worden. Der Energiestrahl hatte die Vorderfront zerfetzt und nicht viel mehr als einen Haufen geschmolzenes Blech und zersplittertes Glas übriggelassen. Reds Körper lag quer über den Vordersitzen, von denen leichter Rauch aufstieg. Mit einem Satz war Rick an der auf den Boden herunterhängenden Seitentür, stieß sie fort und zog den halb Bewußtlosen heraus. Red glitt schwerfällig ins Gras, versuchte aber schon wieder, sich aus eigener Kraft aufzurichten. Er war zäher, als Rick angenommen hatte. »Es geht schon«, stöhnte Red. »Das war nur die augenblickliche Hitze, und dann kam noch der Schock dazu. Ich bin nicht so leicht umzubringen. Was ist, Masters, hat es geklappt?« Rick nickte stumm, warf einen bedauernden Blick auf das schrottreife Vehikel und sagte: »Damit kommen wir nicht mehr weit. Andererseits können wir such nicht den Tank abmontieren, und gerade den brauchen wir.« »Gratuliere!« dröhnte Hempshaws Stimme in diesem Moment hinter den beiden. »Ich werde sofort veranlassen, daß der Block mit dem Soldaten abtransportiert wird.« »Dann rufen Sie doch gleich bei dieser Gelegenheit nach einem Abschleppwagen«, schlug Rick Masters vor, »damit wir wieder mobil sind. Wir müssen die Verfolgung von Elma aufnehmen.« Sofort verdüsterte sich das Gesicht Hempshaws. Er wirkte wie ein Hund, der Prügel fürchtete. »Ich muß Ihnen ein Geständnis machen, Rick«, sagte er kleinlaut. »Meine Leute haben Elma Shepperton aus den Augen verloren. Sie ist uns entkommen.« 124 �
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»Sie ist geflohen, als Red und ich mit dem Wagen kamen«, sagte Rick Masters in möglichst gleichmütigem Ton, obwohl er innerlich kochte. »Warum erwähnen Sie, Rick, daß Elma Shepperton geflohen ist?« fragte Chefinspektor Hempshaw erstaunt, aber auch sichtlich erleichtert darüber, daß Rick die Nachricht wenigstens äußerlich so ruhig aufgenommen hatte. »Das ist doch nicht weiter wichtig.« »Im Gegenteil, das ist sehr wichtig«, widersprach der junge Privatdetektiv entschieden. »Wäre sie mit einem bestimmten Ziel unterwegs, dann würden wir erst davon erfahren, wenn sie eingetroffen ist, das heißt, sobald ein neues Unglück geschehen ist. So aber ist sie vor uns davongelaufen und versteckt sich jetzt wahrscheinlich irgendwo in der Nähe.« »Wir werden Elma aus ihrem Versteck holen und an einen ganz bestimmten, von uns vorher ausgesuchten Platz locken, wo wir sie dann unschädlich machen.« Rick schaute seine beiden Helfer erwartungsvoll an. Dann erläuterte Rick Masters seinen Plan, und am Ende nickten Hempshaw und Red anerkennend. * Glücklicherweise war auch bereits der Abschleppwagen eingetroffen, der das Pritschenauto mit dem Isolierschaum ziehen mußte. Chefinspektor Hempshaw hatte entsprechenden Druck dahintergesetzt. Der Pritschenwagen wurde vorne hochgezogen, Rick und Red stiegen in den Abschleppwagen, und dann dirigierte der Privatdetektiv den Fahrer an seinen Zielort: das 125 �
Umspannwerk von Leyton. Chefinspektor Hempshaw hatte auch hier ausgezeichnete Vorarbeit geleistet. Er war dem langsameren Abschleppwagen vorausgefahren und hatte den Technikern vom Umspannwerk Ricks Wünsche erklärt. Und Rick konnte sofort sehen, daß auch die Techniker sich sehr bemüht hatten. In der Mitte einer freien Fläche zwischen den einzelnen Transformatoren war in aller Eile eine kleine Wellblechgarage aufgestellt worden, wie man sie oft in den Gärten von Siedlungshäusern findet. Das doppelflügelige Tor stand weit offen, und hinter den beiden Flügeln gab es genug Platz, daß sich ein Mann verstecken konnte. Das war die Falle, die rechtzeitig zuschnappen mußte. Rick Masters vergewisserte sich, daß in der Tür ein Loch aufgeschnitten war, durch das er leicht den Schlauch der Pumpe stecken konnte. Auch das stimmte. Der technischen Einrichtung, die man nach seinen Angaben in der Mitte der Wellblechgarage aufgebaut hatte, schenkte er nur einen flüchtigen Blick. Er hatte verlangt, man solle eine möglichst intensive und offenliegende Energiequelle schaffen, und die Isolatoren und Drähte waren für Rick so unverständlich wie die technische Einrichtung eines Raumschiffes. Es fand noch eine kurze Lagebesprechung statt, an der außer den bisherigen drei Verbündeten auch noch zwei Techniker von der Elektrizitätsgesellschaft teilnahmen. »Warten wir nicht zu lange«, mahnte Rick Masters, als sich die Besprechung in die Länge zog. »In der Zwischenzeit kann viel geschehen sein. Aktivieren Sie die Anlage!« Mit angehaltenem Atem beobachteten die Männer, wie der Cheftechniker einen Hebel umlegte. Auf dem ganzen Gelände wurde es dunkel, das Summen der Transformatoren erstarb. Überall war der Strom abgeschaltet worden. 126 �
Dafür entstand in der Mitte der Garage ein gewaltiger Lichtbogen — der Köder für Elma Shepperton, für die Energiezelle. * Chefinspektor Kenneth Hempshaw hatte rings um das Umspannwerk Posten verteilt, weil man nicht wußte, aus welcher Richtung Elma Shepperton kommen würde – falls sie überhaupt kam. Jeder der Posten trug ein Funkgerät bei sich. Rick Masters wartete sofort nach dem Einschalten des Lichtbogens angespannt an einem Empfänger darauf, die erste Meldung über Elma zu hören. Sie kam nach drei Minuten. Elma mußte unmittelbar nach Einschalten ihr Versteck verlassen haben, in dem sie sich vor der Polizei in Sicherheit gebracht hatte. »Das gesuchte Objekt bewegt sich in gerader Linie auf das Ziel zu«, lautete die lakonische Mitteilung des Beobachtungspostens. Trotz ihrer Nüchternheit löste sie einen kleinen Begeisterungssturm aus. Rick Masters steckte sich noch eine Zigarette an, um seine Nervosität zu überspielen, und kaum hatte er die Kippe am Boden zertreten, da tauchte Elma auf. Wie aus dem Boden gewachsen stand sie plötzlich vor dem Tor des Umspannwerkes. Im Gegensatz zu ihrem ersten Besuch lief sie nicht sofort auf die Energiequelle zu, sondern verhielt wie ein Wild, das an der Tränke den Jäger wittert. Vereinbarungsgemäß erhöhten die Techniker in diesem kritischen Moment die Spannung am Lichtbogen noch weiter, und da gab es für die Energiezelle kein Halten mehr. Elma lief auf die Garage zu und verschwand in ihrem Inneren. Rick sah noch flüchtig, wie sie sich genau in den gleißenden 127 �
Strahl stellte, der sich von einem Pol zum anderen spannte und sowohl eine ungeheure elektrische Spannung als auch eine unglaubliche Hitze aufwies, und er hörte ihr zufriedenes Stöhnen. Dann klappten auch schon die Tore der Garage zu, bewegt von zwei Männern, die bisher hinter den Flügeln gelauert hatten. Natürlich konnte die Wellblechgarage das Ungeheuer nicht eine Sekunde lang aufhalten. Rick wollte sie nur dazu benutzen, um sozusagen eine Form für den Isolierschaum zu erhalten. Ein Wink des jungen Privatdetektivs, und der Abschleppwagen schob das Auto mit dem Schaumtank rückwärts an die Garage heran. Rick sprang auf, setzte die Pumpe in Betrieb und steckte das Schlauchende durch das Loch im Tor. Er gab das Ventil frei, und zischend strömte der Isolierschaum in die Garage und erfüllte sie innerhalb von wenigen Sekunden. Elma Sheppertons zufriedenes Stöhnen verwandelte sich augenblicklich in Wutgeheul, doch sie konnte nichts mehr unternehmen. Die Falle war zugeklappt, sie saß fest. Noch gab sie sich nicht ganz geschlagen. Rick Masters sah den glühenden Punkt an der Außenwand der Wellblechgarage erscheinen. »Der Energiestrahl aus Elmas Augen!« schrie er, dann brach auch schon zischend der gleißende Strahl durch. Ein Polizist, der in der Nähe der Garage gestanden hatte, brach lautlos zusammen. Entsetzt sah Rick, daß der Strahl ein Loch durch dessen Brust gefressen hatte. Ein zweiter Mann schrie unter den Verbrennungen, die ihm der Strahl zufügte. Rick riß den Schlauch aus der Halterung, sprang von dem Spritzenwagen und lief zu der undichten Stelle in der Isolierwand. Hitze wie aus einem Hochofen schlug ihm entgegen, als er das Mundstück an das Loch hielt. Die Haut auf seinen Fingern glühte und brannte, doch der junge Privatdetektiv biß stöh128 �
nend die Zähne aufeinander und hielt aus, bis auch diese Lücke gestopft war. Rick Masters hatte ausdrücklich Anweisung gegeben, sofort nach Beendigung der Isolierung die Leitungen zu der Apparatur in der Garage zu kappen, doch die Techniker waren vor Schrecken und Grauen wie gelähmt. Sie führten die Anordnung nicht durch, was sich bitter rächte. Kaum war Elma restlos von der Außenwelt abgeschnitten, als die Energiezelle in ihrem Körper einen Stromstoß ungeheuren Ausmaßes in entgegengesetzter Richtung durch die Leitungen jagte. Im nächsten Augenblick verwandelte sich das Umspannwerk in eine Hölle. Rick Masters lief um sein Leben. Trümmer der explodierten Transformatoren krachten neben, vor und hinter ihm auf die Erde, einige kleinere Stücke trafen ihn auch, verletzten ihn aber nicht ernstlich. Endlich hatte er eine sichere Entfernung zwischen sich und den Großbrand gelegt. Dann erst sah er, daß Hempshaw und Red dicht bei ihm geblieben waren. »Keine Angst«, kam Red keuchend einer Frage zuvor, »der Isolierstoff ist unbrennbar.« Rick warf einen düsteren Blick auf das Inferno der Flammen. Auch dieser Einsatz hatte Menschenleben und Verwundete gekostet. Der hohe Preis verhinderte ein Gefühl des Triumphes über den Erfolg, daß die Gefahr gebannt war. Es war Wochen später. Dr. Sterling hatte nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus darauf bestanden, die beiden Blöcke aus Isoliermasse zu sehen, in denen Elma Shepperton und der Soldat eingeschlossen waren. »Noch immer keine Ergebnisse«, erklärte der Geheimdienstmann gleich bei ihrem Eintreten in die Halle, in der die zwei Blöcke auf Sockeln ruhten. »Sieht so aus, als wollten sie nie mehr ihr 129 �
Geheimnis preisgeben.« »Wie ich vorausgesagt habe«, ließ sich Rick Masters vernehmen. »Ausnahmsweise hat Ihr Pessimismus recht behalten«, sagte der Chefinspektor mit einem Achselzucken. Dr. Sterling vergaß angesichts der unheimlichen Steinblöcke seine Schwäche, die noch von seiner schweren Verletzung stammte. »Rick«, wandte er sich an den jungen Privatdetektiv, »Sie haben mir etwas von Stimmen erzählt, die man hören kann, wenn…« Rick Masters führte Dr. Sterling zu einem der Blöcke und reichte dem Arzt ein Stethoskop. Dr. Sterling hängte es in die Ohren ein und hielt die Hörmuschel an die Isoliermasse. Alle sahen, wie der alte Arzt erbleichte. Rasch ging er zu dem zweiten Block und horchte auch diesen ab. »Tatsächlich«, hauchte er. »Man hört deutlich die Schreie! Wie schrecklich!« »Ja«, sagte Rick Masters, »es ist schrecklich. Und wenn man bedenkt, daß die beiden Körper tot sind und nur ungeheure Energiemengen in ihnen pulsieren, dann sind es wirklich Schreie aus der Unterwelt, die uns das Grauen vergangener Tage nicht vergessen lassen.« ENDE
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