Mark Helprin Schwanensee
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Mark Helprin
SCHWANENSEE Aus dem Amerikanischen von...
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Mark Helprin Schwanensee
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Mark Helprin
SCHWANENSEE Aus dem Amerikanischen von Hans Heinrich Wellmann
S. Fischer Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel ›Swan Lake‹ bei Ariel Books, Houghton Mifflin Company, Boston Copyright © 1989 by Mark Helprin Für die deutsche Ausgabe: © 1993 S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main Satz und Druck: Wagner GmbH, Nördlingen Einband: G. Lachenmaier, Reutlingen Printed in Germany 1993 isbn 3-10-030205-2
Für Alexandra und Olivia M. H.
Einst bargen die Berge zwischen ihren silbergrauen Wänden einen Wald, der so abgeschieden und der Erinnerung so sanft entrückt war, daß er über den Sorgen der Welt thronte – leicht wie die blendendweißen Wolken, die manchmal an zerklüfteten Gipfeln hängenbleiben und sich wie eine Melodie auflösen. In dem Grün verstreute kalte Seen waren so tief, daß sie sich nicht ausloten ließen, und die im Licht schwebenden Wiesen an der Baumgrenze waren glatt und grün wie Jade-Tafeln. Hier suchten die Vögel Zuflucht vor den Jägern in der Ebene und fanden höhere Reiche in Ruhe und Vollkommenheit. Und wenn auch die Kaiser- und Königreiche unten immer wieder auf ihn Anspruch erheben mochten, war doch der Wald auf seine Weise unverletzlich – eine Domäne des Herdrauchs, der vor einem makellos blauen Himmel in unbewegten Säulen aufstieg, der Berge, die mit Eis, glatt vom Wind, überzogen waren, der zartesten Luft, der weißschäumenden und sauerstoffreichen Flüsse. Vielleicht habt ihr die Gegenwart eines solchen Ortes schon einmal gespürt, wenn in einem abgedunkelten Konzertsaal die Musik den Mond aufgehen läßt, vollkommen neu und hell, als ob das Dach 7
sich über euch geöffnet hätte, oder wenn die Bäume in einem plötzlichen Windstoß erschauern und die Sonne unverhofft die Unterseite ihrer raschelnden Blätter aufleuchten läßt. Es gibt sie, diese Orte, wenn sie auch so schwer zu finden sind, daß man gern geneigt ist, sie für eine Illusion zu halten. Aber sie können nicht alle völlig gleich sein. Einige sind etwas besser als die anderen; einige sind viel besser; einige unvorstellbar viel besser. Wenn die Welt überall gleich wäre, könntet ihr eine Stecknadel nicht von einer Nähnadel unterscheiden. Aber das könnt ihr natürlich. Und wie steht’s mit einer Stecknadel und einem Flußpferd? Und das ist erst der Anfang. Was diejenigen betrifft, die leugnen, daß es verborgene Wälder zwischen den Bergkronen gibt, geschützte Orte, mesmerische Landschaften, die zerbrochene Herzen wieder zusammenfügen oder zumindest davor bewahren können zu zerspringen – fragt sie nach den Flußpferden und den Stecknadeln. Der Wald war der Zufluchtsort eines alten Mannes und eines kleinen Mädchens. Sie glaubte, daß ihre Mutter und ihr Vater noch unten in der Ebene seien, in Kämpfe verstrickt, von denen sie kaum eine Vorstellung hatte. Obgleich sie sich nicht an sie erinnerte, liebte sie sie; auch hatte sie gerade ein Alter erreicht, in dem sie nichts sehnlicher wünschte, als bei ihnen zu sein. Da der alte Mann verstand, 8
daß sie wenig mehr kannte als ihre Kindheit, gedachte er ihr etwas von der Welt zu erzählen, die sie entschlossen war zu sehen. Das ist lange her, und in vielerlei Hinsicht war die Zeit so anders damals, daß ihr sie kaum wiedererkennen würdet, außer tief in eurem Herzen – denn euer Herz würde euch sagen, daß alle Dinge, auf die es im Leben ankommt, mehr oder weniger so sind, wie sie immer waren und immer sein werden, und daß ihr, wie jung ihr auch seid, wie glücklich ihr auch sein mögt, diese Dinge irgendwie kennt, irgendwie die Trauer kennt, irgendwie mit dabeigewesen seid.
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Der alte Mann erzählte dem kleinen Mädchen oft Geschichten, wenn es in einem kleinen, mit duftendem Zedernholz getäfelten Zimmer in ihrem Bett lag. Geschichten, die zum Träumen anregten. Aber diese Geschichte hier war bestimmt für das helle Tageslicht, und er wollte sie ihr erzählen und tat es an einem späten Sommernachmittag, als die Rosen warm waren und sich ganz geöffnet hatten und das Heu in trockenen, blonden Garben stand. Sie hatten seit dem Morgengrauen gearbeitet. Sie waren erschöpft. Die schwere Arbeit, sommers wie winters, hatte das kleine Mädchen immer für etwas Selbstverständliches gehalten, und sie war stets mit der Sonne aufgestanden und war ins Bett gegangen, wenn die Sonne unterging. Doch er hatte Mädchen gekannt, mit genauso blauen Augen und flachsfarbenem Haar wie sie, die nicht eine Minute ihres Lebens gearbeitet hatten und nicht daran dachten, es jemals zu tun. Deswegen sah er ihr manches nach, wenn sie sich neben ihm abmühte. Sie wußte schließlich, daß die Milch, die sie trank, und der Käse, den sie aß, von ihren Kühen stammten und daß die Kühe das Heu fraßen, das sie geschnitten und aufgeworfen hatte. So erschien ihr die Arbeit nicht nur durch die Gewohnheit, sondern auch durch die wirtschaftliche Notwendigkeit gerechtfertigt. Dennoch war er gerührt und stolz, wenn er sie in 10
einer Ecke der Veranda sitzen sah, wo sie sich, Spuren von Salz auf dem sonnengebräunten Gesicht, von der Hitze erholte. Obgleich sie Stürme, Hagelschloße und dunkle Tage erlebt hatte und obgleich sie Einsamkeit, Kälte und Hunger kannte, war sie doch nie dem Betrug, der Bosheit oder der Habsucht begegnet und war überzeugt, sie gegebenenfalls leicht besiegen zu können. Ihr Vertrauen spiegelte sich in dem reinen und offenen Ausdruck ihres Gesichtes. »Hast du immer noch die Absicht, in die Ebene hinabzusteigen, um nach deiner Mutter und deinem Vater zu suchen?« fragte er, da er nicht, besonders jetzt nicht, wollte, daß sie wegging. »Ja«, antwortete sie. »Also gut«, sagte er. »Nächstes Jahr, Anfang des Sommers, schicke ich dich mit Anna hinunter.« »Wer hilft dir dann bei der Ernte?« fragte sie. »Ich schaffe es allein. Anna nimmt dich mit. Im übrigen bist du bis zur Erntezeit vielleicht schon wieder zurück.« »Warum nimmst du mich nicht mit? Warum muß ich mit Anna gehen? Ich möchte nicht mit ihr gehen. Ihre Augen wollen ja nichts anderes sehen als das Ende ihres Besenstiels.« »Sag das nicht über Anna. Das ist nicht nett. Ich kann ohnehin nicht hinuntergehen.« 11
»Warum nicht?« »Ich will nicht.« »Willst du nicht, oder kannst du nicht?« »Beides. Wenn man älter wird«, sagte er, »geht das eine leicht in das andere über. Du wirst manche Dinge leid, vor allem, wenn sie sich wiederholen – sei es in Wirklichkeit oder in deinen Gedanken. Mir wäre unerträglich, mein Leben dort noch einmal aufnehmen zu müssen. Hier brauche ich all meine Kämpfe nicht noch einmal zu kämpfen.« »Aber du hast große Dinge vollbracht«, beharrte sie. »Du kanntest den Kaiser. Anna hat es mir gesagt.« »Anna hätte nicht darüber sprechen sollen.« »Stimmt es denn nicht?« »Ja, ich kannte den Kaiser. Aber er ist nicht mehr Kaiser, und obwohl die Menschen seiner Umgebung glaubten, an seinem Glanz teilzuhaben, wachten sie eines Tages auf, um zu entdecken, daß alles vergeblich gewesen war. Mein Leben hatte keinen Sinn, bis ich hier herkam und mich von meinem Ehrgeiz befreite.« »Wie alt warst du da?« »Fast sechzig.« Sie sah ihn ausdruckslos an, da sie sich einen Zeitraum von sechzig Jahren nicht vorstellen konnte. »Du solltest vielleicht etwas darüber wissen, was 12
in meinem Leben geschah, bevor du geboren wurdest«, sagte er, »jetzt, da du dort hinunterziehen willst, wo alles so anders ist.« Als er zu sprechen begann, zog sie die Knie an die Brust und ließ – geschmeidig, wie nur ein Kind unter zehn Jahren sein kann – völlig entspannt das Kinn auf ihnen ruhen. Die Grillen sangen in der Hitze des Nachmittags, und der Hintergrund, den sie seiner Geschichte gaben, war wie golddurchwirkter Brokat.
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»Ich werde dir berichten, wie ich den Kaiser kennenlernte, aber du darfst es nie jemandem weitererzählen. Das sage ich nicht, um mich zu schützen, sondern um dich zu schützen. Ich bin sicher vor Vergeltungsmaßnahmen, und seine Herrschaft ist lange vorüber. Ich bin in meinem Leben immer meiner eigenen Nase gefolgt und hatte nichts dagegen, arm zu sein und verachtet zu werden, da mein Vater mich in der Überzeugung großgezogen hatte, daß Einigkeit zwischen mehr als zwei Menschen, mögen sie noch so vernünftig oder gerecht sein, rasch zu einer gefährlichen Form der Illusion wird und bald in Anmaßung und Machtlust ausartet. So ließ ich meinen Meinungen in den Büchern und Artikeln, die ich schrieb, freien Lauf – ein großer Luxus, zugegeben –, und ich konnte das tun, weil ich die Strafen mißachtete, die denen drohten, die nicht mit der öffentlichen Meinung übereinstimmten. Ich war immer bereit, körperlich zu arbeiten – wie ich es auch getan habe –, da ich seit meiner Kindheit die Freude kannte, die einem ein guter Arbeitstag auf dem Felde beschert.« »Aber er ist sehr schwer«, sagte das kleine Mädchen, und sie sprach aus Erfahrung. »Natürlich ist er schwer, aber je härter du arbeitest, desto besser fühlst du dich – vorausgesetzt, du hast, wie wir, ein Stück Land und kannst eine gute Ernte erwarten.« 14
Sie nickte ernst. »Wenn du in der Sonne arbeitest, auf deinem eigenen Feld, gibt es keine Illusionen, die wertvolle Zeit kosten, keine Meinungsverschiedenheiten, keine Intrigen – nur unfehlbare Naturgesetze, und sie verraten dich nie …« »Und wenn du krank bist?« »Das ist kein Verrat. Gott und die Natur verheißen Sterblichkeit, und Krankheit ist eine Probe der Sterblichkeit.« Er hielt einen Augenblick inne. Obgleich sie aufmerksam zuhörte, verstand sie ihn nicht, was wahrscheinlich ihrem Alter angemessen war. So fuhr er fort. »Wie die Dinge lagen, hatte ich es schwer im Leben, und in nur wenigen Jahren schaffte ich es, fast jedem in der Hauptstadt fremd zu werden; und doch bat ich niemanden um Hilfe oder Schutz. Wie du weißt, empfinde ich die bloße Tatsache, daß Menschen in bequemer Übereinkunft leben, als fragwürdig. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, daß afrikanische Termiten über meinen ganzen Körper krabbelten – dasselbe Gefühl, das ich habe, wenn ich Gesellschaftskleidung tragen muß. Je älter ich wurde, desto ärmer wurde ich, bis ich mich schließlich gezwungen sah, auf dem Dachboden einer Scheune, auf einem Truthahnhof am Stadtrand, zu hausen. Das Dach war so niedrig, daß ich nur in der Mitte des Bodens aufrecht stehen 15
konnte, und ich stieß immer mit dem Kopf gegen die Balken.« »Das ist ja schrecklich!« »Ich kam zurecht. Ich hatte gelernt, über den Tellerrand hinauszuschauen, und ich war nicht enttäuscht von dem, was ich sah.« »Ich meine die Sache mit den Balken.« »Oh. Nur ein paar blaue Flecken, nichts Ernstes. Wie dem auch sei, als ich eines regnerischen Abends beim Licht einer Truthahnfettlampe zu arbeiten versuchte – ich konnte kaum etwas sehen: Truthähne sind nicht gerade bekannt für die Leuchtkraft ihres Fetts –, hörte ich, wie Pferde auf die Scheune zu galoppierten. Es klang wie eine Dragonerpatrouille. Ich dachte, es seien Vertreter der Finanzbehörde, die gekommen wären, die Truthähne zu zählen. Sie taten das, weißt du, sogar mitten in der Nacht. Dann pflegten sie in meine Dachkammer zu kommen, um meine Möbel auszumessen und meine Tintenfässer zu wiegen. Einmal zählten sie die Federn in meinem Kopfkissen und erhoben Steuern auf alle Federn über fünfhundert, plus Zinsen und einer Geldstrafe für jede Nacht, in der ich nicht mit einem indonesischen Wörterbuch auf der Brust schlafen würde. ›Warum?‹ fragte ich. ›Sie müssen davon ausgehen‹, sagten sie mir, ›daß wir alles von Ihnen verlangen können und Sie nur das tun dürfen, was wir ausdrücklich genehmigt haben. Wir haben 16
alle anderen Körperteile und alle anderen Materialien von der nächtlichen Abgabe befreit. Sie haben allerdings das Recht, das indonesische Wörterbuch durch fünf aufeinanderfolgende Ausgaben der Zeitschrift der Brasilianischen Liga zur Bekämpfung des Stotterns zu ersetzen. Doch wenn Sie das tun, müssen Sie die entsprechenden, in unseren Bulletins spezifizierten Formulare ausfüllen und sind gehalten, die Formulare stets auf den neuesten Stand zu bringen, da ihr Format sich ändert.‹ Aber in jener Nacht hörte das Getrappel der Stiefel in der Scheune nicht auf. Sie kamen die Treppe herauf. Ich hörte ein Klopfen an meiner Tür, ein höfliches Klopfen, fast ein französisches Klopfen. Ich öffnete. Ein Oberst und seine Untergebenen nahmen auf dem Treppenabsatz Haltung an. Ihre Laterne blendete mich. ›Was wollt Ihr?‹ fragte ich mit der dünnen Stimme, die wir Steuereinnehmern gegenüber annehmen. ›Der Kaiser verlangt, Euch die Ehre zu geben, ihn sehen zu dürfen‹, sagten sie. ›Seid Ihr das Genie, das kürzlich eine Ballonbrücke über die Donau vorgeschlagen hat?‹ ›Ja.‹ ›Dann seid Ihr es.‹ ›Welcher Kaiser?‹ ›Es gibt nur einen, mein Herr.‹
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Als sie sahen, daß ich in einem ungläubigen Staunen erstarrt war und mich nicht mehr rühren konnte, nahmen sie mich bei den Armen. Auf dem Weg nach unten fragte ich, ob ich nicht einen besseren Anzug anziehen sollte. ›Habt Ihr einen?‹ fragten sie. ›Nein‹, sagte ich und schüttelte den Kopf. Wir galoppierten durch die Hauptstadt, ließen die Fenster der Kaffeehäuser erklirren und löschten die Straßenlaternen mit dem Sog der kalten Luft, den unsere mächtigen Damawand-Pferde hinter sich zurückließen. Ich war immer zu Fuß durch die Stadt gegangen. Jetzt flog ich. Ich fragte mich, was ich getan haben mochte, um den Kaiser zu erzürnen – verabscheute er Ballonbrücken? –, und während ich mich das so fragte, wuchs mir wieder ein Gefühl der Stärke zu. Ich würde ihn nicht fürchten, wenn er beschlossen hätte, mich zu bestrafen. Ich würde nicht vor ihm katzbuckeln oder mich bei ihm lieb Kind machen, wenn er zu dem Entschluß gelangt wäre, mich zu belohnen. Ich würde nicht in eine der materiellen Fallen gehen, welche die Mächtigen auslegen, um die zu blenden, über die sie Herrschaft ausüben. Kurz, ich beschloß, mich zu erinnern, wo wir beide in den Augen Gottes standen, und ich selbst zu bleiben, anstatt eine Rolle anzunehmen, um ihm zu gefallen oder ihm zu trotzen. 18
Im Palast führten sie mich durch zehntausend reichvergoldete Räume und Flure – erleuchtet von Kaminen, die so groß waren wie Brauereitore, und von Kandelabern, die aussahen wie flammende Bäume. Aus mehreren Richtungen drangen Orchesterklänge. Ich spähte aus dem Fenster einer langen Halle und sah in einem Ballsaal an der anderen Seite eines Innenhofes wenigstens tausend Männer und Frauen eine Quadrille tanzen.« »Was ist eine Quadrille?« »Ich weiß es nicht. Immer wenn ich viele Leute tanzen sehe, nehme ich an, daß sie eine Quadrille tanzen. Stell dir vor, wie es in den Köpfen all dieser privilegierten Leute tickte, welche Berechnungen sie anstellten, während sie tanzten! In den Kontoren Bessarabiens konnte es nicht geschäftiger zugehen. Und sie alle planten, Gunst in den Augen derer zu erlangen, deren Augen den Kaiser persönlich erblickt hatten. Inzwischen wurde ich, in meinen Hosen mit den durchlöcherten Knien, an ihnen vorbei zu eben dem Mann geführt, von dem sie träumten. Und wie war ich in diese beneidenswerte Lage geraten? Ich hatte nichts getan. Ich hatte nur gesagt, was ich für die Wahrheit hielt, ohne irgendeine Berechnung damit zu verbinden. Und ich hatte nie den Wunsch gehabt, bei dem Kaiser gut angeschrieben zu sein, da ein Mann meiner Profession, wenn er nicht Verrat an 19
dem geübt hat, was ihm erst die Berechtigung gibt zu dieser Profession, keiner Gunst bedarf. Nun glaubst du wohl, daß der Kaiser eine Art Riese in phantastischer Kleidung gewesen sei, der auf einem Thron in einem hohen Turm irgendwo in seinem labyrinthischen Palast saß, umgeben von einer aufgeregten Schar schöner junger Frauen und Offizieren, die ihre Brust herausstreckten wie Kampftauben. Weit gefehlt. Man führte mich zu einem weißbärtigen, kahlköpfigen alten Kerl, der vor einem halb erstorbenen Feuer auf einem türkischen Teppich lag. Er hatte ein Buch neben sich liegen, ein Verzeichnis seiner Eisenbahnbrücken, und er hielt einen Federhalter zwischen den Zehen. Er benutzte seine prächtigen, schläfrigen, burgunder- und goldfarbenen Jagdhunde – Dutzende von ihnen, Anatolier, Purgamanier, Zywynier, Bosterolier und Wuhlenhäuser – als Kopfkissen und Teppich. Selbst wenn er seinen Ellenbogen auf einen ihrer Köpfe stützte, zog das Tier nur die Augen zusammen und träumte weiter davon, Vögel im Schilf zu jagen. Es war eine seltsame und friedliche Szene. Und aus der Tiefe des Palasts hörte man verwehte Walzerklänge. ›Seid Ihr der Kaiser?‹ fragte ich, da ich zunächst annahm, er sei ein Hundehändler oder ein Reitknecht. Das schien ihn zu amüsieren. Er war es: Ich erkannte ihn von den Briefmarken wieder. 20
›Kein Wunder, daß Ihr der Kaiser seid‹, sagte ich. ›Ihr könnt mit dem Fuß schreiben.‹ ›Eigentlich nicht. Ich halte nur manchmal meinen Federhalter mit ihm‹, antwortete er. ›Aber wartet, vielleicht kann ich es wirklich. Ein ausgezeichnetes Verfahren, meinen Fußsoldaten einen Befehl zu erteilen. Ruft nach einer Tafel.‹ ›Wie?‹ ›Ruft einfach.‹ ›Einfach nur Tafel sagen?‹ ›Ja, meine Stimme ist erschöpft.‹ ›Ich bin nicht gewohnt, Befehle zu erteilen.‹ ›Aber ich. Nur zu!‹ ›Tafel!‹ rief ich. Die Tür flog so schnell auf, daß ich überrascht zurücksprang, und ein livrierter Diener erschien mit einer Pergamenttafel. Während ich sie hielt, versuchte der Kaiser mit dem Federhalter zwischen den Zehen zu schreiben. Es gelang ihm nicht sehr gut. Dann wollte er, daß ich es versuche. Es gelang mir auch nicht sehr gut. Jetzt, da ich wußte, daß wir etwas gemeinsam hatten, atmete ich etwas leichter. ›Wildpastete und Brombeersaft!‹ rief er. Die Tür ging auf, und beides erschien. Wir begannen zu essen und zu trinken. Ich konnte seine Kleidung nicht länger übersehen. ›Ist das ein Pyjama?‹ fragte ich. ›Natürlich nicht! Das ist militärisches Unterzeug! 21
Ich habe heute ein Regiment meiner Husaren inspiziert.‹ ›Im Unterzeug?‹ ›Ja, im Unterzeug, mit einer Uniform darüber.‹ Er wies auf eine Uniform, die an einem Holzpflock neben dem Kamin hing, und warf ein Stück Holz in die erlöschenden Flammen. Als ich die schwere Pistole am Gürtel seines Uniformrocks sah, fragte ich: ›Braucht Ihr einen Waffenschein, um das zu tragen?‹ ›Ich?‹ ›Ja.‹ ›Ich glaube nicht. Ich glaube, soweit ich weiß, daß ich persönlich tun und lassen kann, was ich will.‹ ›Könnt Ihr verkehrswidrig die Straße überqueren?‹ ›Wenn ich in der Nähe bin, gibt es keinen Verkehr. Man sperrt alle Straßen ab.‹ ›Das heißt, Ihr habt noch nie einen Verkehrsstau gesehen.‹ ›Nur aus der Ferne‹, sagte er. Und dann, wohl aus einer gewissen Sorge heraus, daß ich denken könnte, er habe ein abgeschirmtes Leben geführt (als ob er es nicht hätte!), fügte er hinzu: ›Aber ich habe eine Menge Truppen gesehen und eine Menge umherfliegender Vögel. Fasane, wißt Ihr, wenn sie in großer Zahl aufgescheucht werden, kommen 22
sich oft in die Quere und stoßen zusammen. Wie nennt Ihr das?‹ ›Ich hätte große Schwierigkeiten, dafür eine Bezeichnung zu finden.‹ Und dann, als ob er das Thema wechseln wollte, sagte er: ›Ich finde diese Pastete ein bißchen zu reichhaltig. Sie scheint zu siebzig Prozent aus Trüffeln zu bestehen, und es sollten fünfzig Prozent sein. Die Pastetenköche müssen ausgewechselt worden sein.‹ ›Ich finde sie phantastisch‹, sagte ich. ›Jedenfalls besser als Truthahnfüße.‹ ›Für mich‹, sagte er mit einem Seufzen, ›ist es dasselbe wie Kartoffeln. Ich bekomme sie dauernd. Ich befehle es, und die Pastete ist da. Es ist langweilig, aber wie kann das Volk ohne diese Pasteten leben?‹ ›Es hat sie nie gehabt; das ist die Antwort.‹ Nach einem Moment des Schweigens fragte er: ›Habt Ihr schon einmal le grand choisule gespielt?‹ Ich schüttelte den Kopf. Le grand choisule war das heimliche kaiserliche Kartenspiel. Er unterwies mich in den Farben, den Sequenzen, den Trumpfkarten und den Regelverstößen, und wir spielten bis vier Uhr morgens. Dann schrie er: ›Kissen!‹, und einige sorgfältig gekleidete Diener eilten herbei, um ein mit Satin bezogenes Daunenkissen zwi23
schen seinen Kopf und einen Hund zu legen. Als er einschlief, wurde ich hinausgeführt. In den nächsten anderthalb Jahren besuchte ich ihn mindestens zweimal die Woche. Wir hielten es geheim; niemand wußte davon.« »Warum?« fragte das kleine Mädchen. »Warst du nicht stolz darauf, den Kaiser zu besuchen?« »Ich war weder stolz darauf, noch schämte ich mich dessen. Darum geht’s nicht. Ich hatte nicht gewußt, in welchem Maße der Kaiser von Ratgebern und hochrangigen Speichelleckern umgeben war, die ihr Leben danach bemaßen, wie sehr sie seine Entscheidungen beeinflussen oder seine Pläne kontrollieren konnten. Diese Leute, besonders einer namens von Rothbart, wären durchaus in der Lage gewesen, mich ermorden zu lassen, nur um ihre Stellung bei Hofe zu sichern. Von Rothbart selbst hätte mich ohne weiteres ermorden lassen können, wenn er gewußt hätte, wie gut ich beim le grand choisule wurde. Er hatte einmal einen Kellner köpfen lassen, weil keine Pfefferkörner in der Pfeffermühle waren. Da die ganze Macht des Staates in der Person des Kaisers konzentriert war, hatten selbst die unbedeutendsten Dinge – wem er beim Nachtisch einen Blick zuwarf, ob er gähnte, wenn er mit diesem oder jenem Edelmann sprach, seine plötzliche Vorliebe für die Farbe Blau – weitreichende und unver24
hältnismäßige Folgen. Wenn seine Ratgeber oder die Adligen gewußt hätten, daß ich ihm Rat erteilte, hätte ich nicht sehr lange überlebt.« »Du hast ihm Rat erteilt?« »Sicher. Wir hatten bald genug davon, Karten zu spielen und über Fasane zu reden. Der Kaiser wußte tausend Dinge über Fasane. Aber was dann? Die Unterhaltung wandte sich bald anderen Themen zu – der Semantik, der Etymologie, der Landwirtschaft, der Militärstrategie, der Ästhetik, der Diplomatie und natürlich der Politik –, Themen, mit denen ich mich mein ganzes Erwachsenenleben lang beschäftigt hatte, ohne an irgendeinen Gewinn dabei zu denken. Er hatte mich überhaupt nur zu sich kommen lassen, weil er meine Artikel gelesen hatte – besonders den, in dem ich vorschlug, einen Fahrradweg durch das Reich zu legen –, und er wollte reden. Und geredet haben wir, achtzehn Monate lang. Ich wurde Zeuge, wie einige meiner Ideen verwirklicht wurden – Stände mit heißem Kakao an der Straße nach Innsbruck, verschiedene Landreformen, kostenloser Haarschnitt für Knappen –, aber nicht alle.« »Warum nicht alle?« fragte das Kind. »Er war der Kaiser und konnte machen, was er wollte.« »Persönlich. Aber in Fragen des Staates war er sehr eingeschränkt, nicht zuletzt durch diesen von Roth25
bart, der fast ein Schattenkaiser war. Von Rothbart kontrollierte mehrere Divisionen und Schlüsselgarnisonen der Armee, er hatte seine Finger tief in den Staatsfinanzen, und er war Chef der Geheimpolizei. Jeder im Kaiserreich fürchtete ihn. Schon seine äußere Erscheinung war erschreckend. Er war größer als jeder andere Mann, den ich je gesehen habe. Er trug schwarze Umhänge und Dreispitze, und oft erschien er in einem Domino, einem Maskenmantel mit Kapuze.« »Warum tat er das?« »Um die Menschen in Angst zu versetzen. Um seine Macht auszubauen, zerstörte er mehr als ein Menschenleben und vernichtete manches andere.« Das Kind schien den einfachen Satz, den der alte Mann gerade geäußert hatte, nicht zu verstehen. »Du kannst nicht verstehen«, sagte er, »daß ein Mann, um seine Position zu stärken und sich selbst zu erhöhen, anderen Schaden zufügen kann – und nicht nur Konkurrenten, sondern auch Unschuldigen.« »Was für Unschuldigen?« fragte sie. Bei diesen Worten wandte der alte Mann sich um und sah hinaus auf die Reihen goldener Garben, die überall auf den Feldern standen. Er hob die Hände, um seine Augen vor dem hellen Sonnenlicht zu schützen. »Was für Unschuldigen?« beharrte sie. 26
»Mußt du das wissen?« Obgleich sie nicht antwortete, war die Antwort unmißverständlich durch die Art, wie sie schwieg. »Ja, du mußt es wissen«, sagte er und wandte sich ihr wieder zu, das Gesicht von Röte überflammt in dem starken Licht. »Ich verstehe gut, daß du es wissen mußt, und ich werde es dir erzählen. Genau im Osten der Hauptstadt, hinter den beiden Flußläufen der Donau, liegt ein großer See, den du nie gesehen hast. Er ist so breit, daß du, wenn du an einem Ufer stehst, nicht ein am anderen Ufer stehendes weißes Pferd erkennen könntest, und er ist so lang, daß das schnellste Paketboot zehn Tage braucht, um vom einen Ende zum anderen zu gelangen. Er windet sich da und dort, wird flach und glatt unter Bergen wie unseren, deren weißes Eis sich in seinem Wasser spiegelt. Nach zehn Tagen auf dem Boot steigst du mitten zwischen den Bergen aus, wo ein langes Tal sich weiter nach Osten erstreckt. Das ist das Tal der Damawand. Wenn du drei Wochen von morgens bis abends durch die Talsohle geritten bist, kommst du zum östlichsten Teil des Reiches. Dort, auf Hochebenen bar aller Wälder und Seen, lebt ein unvergleichliches Reitervolk, die Damawand. Sie sind mit ihren Pferden verheiratet und scheinen im Sattel aufgewachsen zu sein. Manchmal kannst du einen 27
von ihnen auf dem Rücken seines Pferdes stehen und eine Zeitung lesen sehen, während es in vollem Galopp dahinjagt und über hohe Mauern oder Hekken setzt. Nicht zuletzt wegen dieser außergewöhnlichen Begeisterung für Pferde und Reitkünste ist ihre Provinz wirtschaftlich nicht sehr entwickelt. Aber es versteht sich von selbst, daß sie die beste Kavallerie stellen, welche die Welt je gesehen hat, und sie sind es, welche die Ostgrenze des Reiches gegen die Goldene Horde verteidigen. Ohne dazu verpflichtet zu sein, sind sie äußerst loyal, und aus Dankbarkeit wie aus Notwendigkeit ist ihnen immer gestattet worden, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Denn man kann sie nicht unterwerfen; es sind Reiter, die mit einem blauen Horizont in den Augen geboren wurden, und dieser Horizont, wie schnell sie auch reiten mögen, verliert sich immer in der Ferne. Die Fürsten der Damawand führen ihren Ursprung auf jene erstaunlichen Männer zurück, die vom Boden aus mit ansehen mußten, wie die Goldene Horde ihr Land eroberte und ihre Wohnungen niederbrannte, und die dann tapfer und findig selbst zu Reitern wurden und ihre Eroberer überraschend von hinten und von der Seite angriffen, sie zwischen den Wänden ihrer Berge in die Enge trieben und vernichteten. Was war es, was seßhafte Bauern 28
veranlaßte, sich in den Sattel zu schwingen und von heute auf morgen zu fabelhaften Reitern zu werden? Es war ein Wunder, und als ihre Freude darüber, die eigenen Erwartungen übertroffen zu haben, sich von Truppe zu Truppe fortpflanzte, wurden selbst die geraubten nomadischen Pferde von dieser Begeisterung angesteckt und waren froh, gegen ihre früheren Herren angetreten zu sein. Anders als die westlichen Fürsten lebten die der Damawand nicht in zerfallenden Palästen, sondern in leuchtend bunten Zelten. Sie bewegten sich frei unter ihren Untertanen und waren selbst geschickte Reiter. Ihr Reichtum lag in ihren Pferden, ihren Herden und in den großen Klöstern, die sie stifteten. Alle Kaiser hatten sie von Anfang an mit großem Respekt behandelt. Die Ostprovinz war immer fruchtbar, friedlich und wunderbar stark gewesen. Von Rothbart jedoch konnte der Versuchung nicht widerstehen, in diese Provinz einzufallen. Ohne daß der Kaiser es wußte, schickte er Füsilierbrigaden in die Ebenen und richtete dort Garnisonen ein; er erhöhte nach und nach die Steuern, und er hob Reitertruppen der Damawand aus, um sie an so abgelegenen und unwirtlichen Plätzen wie den Westgletschern und der Baltischen Heringsebene zum Kriegsdienst heranzuziehen. Zunächst ließen die Damawand sich das widerspruchslos gefallen, da sie in ihrer Loyalität dem 29
Reich gegenüber vieles tolerierten. Aber als der Druck zunahm, kam bei Fürst Esterhazy, ihrem Herrscher, der Verdacht auf, daß alles das ohne Billigung des Kaisers geschah. Er beschloß daraufhin, in die Hauptstadt zu reisen, um selbst beim Kaiser vorstellig zu werden, und seine Frau – die groß, schön und blond wie ihre kasachischen Vorfahren war – sowie seine kleine Tochter, die Prinzessin Odette, mit sich zu nehmen. Die Damawand-Fürsten waren von alters her zu Selbständigkeit und Genügsamkeit erzogen worden. Deswegen – und weil er schneller vorankommen wollte – verzichtete Fürst Esterhazy auf sein Gefolge und brach zur Hauptstadt auf. Die kleine Prinzessin war am Rücken ihrer Mutter festgebunden, als diese und ihr Vater auf zwei Pferden, einem Schimmel und einem Falben, nach Westen ritten. Nachdem sie mehrere Tage unterwegs gewesen und zu den steilen Felswänden gekommen waren, welche die Westgrenze der Provinz bilden, wurden sie in einem Hohlweg, in dem der schmale Pfad sich fast zu einem Nichts verengte, von einer Horde Banditen aufgehalten. Die Banditen standen neben ihren Pferden und versperrten ihnen den Weg – wohl in der Erwartung, daß der Fürst und seine Gemahlin umkehren und fliehen würden. Schwere Felsbrocken und Baumstämme lagen auf dem Abhang bereit, ihnen den Fluchtweg abzuschneiden. 30
Aber der Fürst spornte sein Pferd an, seine Frau tat es ihm gleich, und ihre kräftigen Tiere prallten gegen die Bergponys der Banditen und schickten drei von ihnen samt ihren Reitern in einen tief unten schäumenden Fluß, aus dem sie nie wieder auftauchen sollten. Während seine Frau und das Kind weiterritten, blieb der Fürst hinter ihnen zurück und drehte sich im Sattel um. Als sein Pferd in einen langsamen Galopp fiel, zog er ruhig einen kurzen und starken mongolischen Bogen aus seinem Köcher. Die Banditen hatten Feuerwaffen, und während sie ihn einzuholen versuchten, feuerten sie wie wild. Doch erst als sie in Reichweite waren, spannte er seinen Bogen und sandte den ersten Schuß ab. Ein aus Hartholz und Stahl gefertigter Pfeil durchbohrte mit dem Geräusch eines einen Apfel spaltenden Hackbeils die Brust eines der Banditen und hob ihn fast aus dem Sattel. Diese Aktion ging so schnell und unbemerkt vonstatten, daß die anderen Banditen gar nicht die Zeit hatten, sie als das zu erkennen, was sie war, und so dachten sie immer noch, daß der Fürst ihnen den Rücken zugekehrt hätte. Sie setzten ihre Verfolgung fort. Wenn sie feuerten, zuckte er nicht zusammen, denn das wäre für ihn nicht gut gewesen. Statt dessen spannte er den Bogen ein zweites Mal. Der Bogen war so kurz, daß er kaum zu erkennen war, aber der zweite Pfeil, schwer und 31
gerade, flog durch die Luft und fällte einen der vier übriggebliebenen Banditen, als ob er mit einem über dem Pfad hängenden Eichenast zusammengestoßen wäre. In dieser Sekunde war er noch auf dem Pferd, weniger als eine Sekunde später schon nicht mehr. Plötzlich hielten die anderen ihre Pferde an. Je weiter nach Westen Fürst Esterhazy, seine Gemahlin und das Kind auf dem Dampfer über den See fuhren, desto fremder und eigenartiger erschienen sie in ihrer halb nomadischen Kleidung. Als Pferdezüchter und Waldheger in den östlichen Häfen das Schiff verließen, verschwand mit ihnen etwas von der Aura der Damawand und wurde ersetzt durch die von Bauern, die in Sennhütten auf ihren wohlbestellten Matten lebten, und dann von Kaufleuten und Beamten, die aus ihren Ferienhäusern mit weißen Zäunen, Geranienbeeten und an den See grenzenden Terrassen zurückkehrten. Stadtbewohner in Maßanzügen, Lackschuhen und metallgefaßten Brillen starrten den Fürsten an, als ob er seine Kleidung an jenem Morgen eigens dazu angelegt hätte, bei ihnen Anstoß zu erregen. Zwei Kopf größer als jeder der neuen Passagiere, erfüllte der Fürst sie mit ehrfürchtiger Bewunderung, erschrecktem Staunen und einem Gefühl der Verachtung, denn sie waren aufgewachsen, um ›zu sehen und gesehen zu werden‹, während er und seine Frau Pferdereiter und Wolkendeuter waren. 32
Er beachtete die Blicke und Bemerkungen nicht, von denen einige recht gehässig waren. Das sollte zu seinem Verderben beitragen. In Großstädten mußt du auf Gerede und modische Dinge achten, als ob sie auf dich zufliegende Pfeile wären. Die kleinen Gehässigkeiten, die bei vornehmen Abendessen und in den Cafés geäußert werden, haben eine unverhältnismäßige Macht, aber der Fürst aus der fernen Provinz hätte die versteckten Anspielungen und Spitzen gar nicht verstanden, selbst wenn er sie bemerkt hätte. In Damawand war der Horizont schließlich gleichbedeutend mit der Krümmung der Erde, und beide waren immer zu sehen. Der Fürst suchte nicht sofort den Kaiser auf. Nach der zweiwöchigen Reise wollte er sich erst einmal ausruhen, und er und seine Gemahlin fanden Unterkunft in einem bescheidenen Gasthaus. Sie verbrachten Tage damit, die Boulevards entlangzugehen – erstaunt darüber, daß Pferde riesige Kästen auf Rädern nach sich zogen, in denen Menschen Bücher und Zeitungen lasen und aus winzigen Tassen Kakao, Kaffee und Tee tranken. Im Damawand wurde der Tee in einem Glas serviert. In der Hauptstadt tranken sie aus Fingerhüten. Die kleine Prinzessin war entzückt über die Tiere im Zoo. Obgleich sie völlig vertraut mit Pferden war, hatte sie doch noch nie ein Flußpferd oder eine Giraffe gesehen, die sie beide ungeheuer faszinie33
rend fand, da sie sie für Pferde hielt, die ihr richtiges Maß nicht gefunden hatten. Ihre Eltern ließen sie auf der kleinen Reitbahn im Kinderpark reiten. Am Bogenstand sammelte der Fürst alle Preise ein bis auf einen, eine Artischocke aus Gummi, da er nicht wußte, was er damit anfangen sollte. Sie nahmen das kleine Kind sogar mit in die Oper. Das war unerhört und zog empörte Blicke auf sich. Aber was kümmerte es sie? Sie hatten noch nie von der Oper gehört. Doch es gefiel ihnen, denn es erinnerte sie an die offenen Ebenen, die sie so gut kannten, obgleich das Geschehen sich in einem Raum mit einer Decke abspielte. Sie hielten das für ein Wunder, das näherer Erforschung wert gewesen wäre. Aber sie zahlten teuer für diese vergnüglichen Tage. Von Rothbarts Agenten waren überall und konnten nicht verfehlen, eine so eigenartige Familie zu bemerken. Ihre Berichte blieben eine Woche in einem Fach in der Zentrale der Geheimpolizei liegen, fanden aber schließlich ihren Weg durch die Bürokratie, als ein mittlerer Beamter ihre Bedeutung erkannte. Von Rothbart war entzückt. Er wußte, daß der Fürst den Kaiser noch nicht gesehen hatte, denn er wußte genau, wen der Kaiser sah (das heißt, mit Ausnahme von mir), und er schickte einen kleinen Spion in einem schwarzen, rotgefütterten Umhang – der Mann sah aus wie eine Fleder34
maus – in das Gasthaus, tief in einem Kiefernwäldchen, wo der Fürst und seine Gemahlin sich aufhielten. Der Spion bestätigte die Berichte. Im Laufe mehrerer Tage schickte von Rothbart fünf Bogenschützen, jeder als Reisender verkleidet, in das Gasthaus. Diese ›Handelsleute‹ und ›Anwälte‹ bezogen in Räumen Stellung, deren Fenster auf einen Innenhof hinausgingen. Dort warteten sie und spähten durch die Ritzen der Fensterläden. Eines Abends kehrten der Fürst und seine Gemahlin, die die Prinzessin Odette in den Armen trug, in der Dämmerung aus der Stadt zurück und gingen durch den Innenhof zu ihren Zimmern. Als der Anführer der Bogenschützen seine Fensterläden aufstieß, folgten die anderen seinem Beispiel. Der Fürst hörte das Geräusch, blickte erschreckt auf und sah die Schützen mit ihren gespannten Bogen in den Fenstern. Bevor er noch die Arme um seine Frau und seine Tochter werfen konnte, schwirrten die Pfeile von den Sehnen, und jeder fand mit schrecklicher Genauigkeit seinen Weg. Der Fürst selbst wurde von drei Pfeilen getroffen, und seine Gemahlin wurde von zwei weiteren durchbohrt. Sie fielen zu Boden, und sobald ihre Körper auf den Fliesen aufschlugen, kam ein zweiter Hagel von Pfeilen, um ihre Wunden zu verdoppeln, und dann, als sie bewegungslos dalagen, ein 35
weiterer, und dann, selbst als sie schon tot waren, noch einer – so schnell die Bogenschützen ihre Pfeile auf die Sehnen legen und abschießen konnten. Obgleich der Fürst sich zu spät über seine Frau geworfen hatte, hatte sie doch das Kind beschützen können. Sie starben nicht so sehr in körperlichem Schmerz als in der weit größeren Angst, nicht zu wissen, was mit ihrer Tochter geschah. Das Kind selbst war zu entsetzt, um laut zu schreien, und lag zusammengekrümmt unter seiner Mutter, von Blut überströmt und in einem Zustand, den ich mir, trotz allem, was ich in meinem Leben gesehen habe, nicht vorstellen mag. Die Meuchelmörder flohen – nicht so sehr aus Angst, ergriffen zu werden, sondern weil selbst sie vor dem Schrecklichen, das sie angerichtet hatten, fliehen mußten. Sie waren angewiesen worden, auch das Kind zu töten, und als ihr Pfeilhagel alles in dem kleinen Hof zum Verstummen gebracht hatte, nahmen sie an, daß ihnen das auch gelungen sei, denn kleine Kinder schreien. Sie berichteten von Rothbart, daß er von keinem rächenden Erbe behelligt werden würde. Doch was von Rothbart auch denken mochte, das Kind lebte und war unverletzt. Sobald die Mörder geflohen waren, eilte eine Küchenmagd, die – ohne eine Vorstellung von dem zu haben, was ei36
gentlich passiert war – den Mord beobachtet hatte, herbei, um das Kind unter seiner Mutter und seinem Vater hervorzuziehen. Die Magd verließ auf der Stelle, mit dem Kind im Arm, den Schauplatz des Geschehens. Ohne auch nur einen Augenblick zu rasten, wanderte sie die ganze Nacht durch den Wald und setzte ihren Weg danach tagelang fort, um nie mehr in die Hauptstadt zurückzukehren. Die kleine Prinzessin Odette, deren Namen zusammen mit einer Krone auf ihrem Kleidchen eingestickt war, weinte weder in dieser schrecklichen Nacht noch in einer der folgenden, denn alle ihre Tränen waren versiegt.
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Gerüchte verbreiteten sich durch die Hauptstadt, und die Leute – sei es, weil sie es hofften oder weil sie die Wahrheit ahnten – sagten, daß das Kind des ermordeten Paares verschont geblieben und in den Wald gebracht worden sei. Tag um Tag schickte von Rothbart nun Soldaten aus, um das Land zu durchkämmen. Patrouillen durchsuchten jede Scheune in einer Entfernung von zehn Tagesreisen von der Josefstädterstraße. Sie durchsuchten den riesigen Wald, seine Seen, Schluchten und gewaltigen Baumbestände. Sie entdeckten eine fast unendliche Zahl möglicher Verstecke. Einmal hörten die Frau und das Kind, wie Reiter über eine Wiese galoppierten. Sie hörten das Gras rauschen und die Halme brechen und die Pferde schnauben, und sie zogen sich in den Schatten einer dicht von Bäumen umstandenen Lichtung zurück. Die Reiter ritten vorbei. Um eine Entschuldigung dafür zu finden, daß sie das Kind nicht aufspüren konnten, behaupteten die Soldaten, daß seine Retterin es in einen weißen Schwan verwandelt habe. Dies wurde bereitwillig in der Hauptstadt geglaubt – nicht, weil die Menschen meinten, es sei wahr, sondern weil sie so Hoffnungen hegen konnten und ihnen die Verwandlung in ein so anmutiges Tier ebenso schön wie gerecht erschien. Dennoch hätte von Rothbart seine Soldaten noch monatelang weitersuchen las38
sen, wenn sich nicht alles durch den Tod des Kaisers verdüstert hätte. Der Kaiser war ein alter Mann, und doch war jeder zutiefst betroffen, als er starb, denn Kaiser werden für so unerschütterlich gehalten wie der Staat, den sie verkörpern. Er spielte gerade Schach mit der Kaiserin, als er plötzlich – alle Figuren umwerfend – den Arm auf das Brett fallen ließ, als ob er Halt suche. Obwohl seine letzten Worte angeblich lauteten: ›Möge der, der nach mir kommt, weise und mit aufopfernder Gerechtigkeit regieren‹, hatte er tatsächlich gesagt: ›Ich bitte meine Fasane um Vergebung!‹ Niemand wußte, ob er Reue verspürte oder glaubte, daß die Kaiserin den Bewohnern seiner Jagdgefilde ein Leid angetan habe. Es machte keinen Unterschied. Für ihn war alles vorbei. In den Wirren, die seinem Tod folgten, vergaß von Rothbart die Prinzessin Odette. Als das Frühlingseis auf allen Seen im Reich brach, bemühte er sich verzweifelt, seine Position auszubauen; und nach monatelangem politischen Taktieren, nach Bestechungen und Gewalttaten gelang es ihm schließlich, die Regentschaft für den neugeborenen Sohn des Kaisers zu übernehmen, den Kronprinzen, das erste männliche Kind in den vierzig Jahren kaiserlicher Vaterschaft. Obgleich Dutzende von Kindern des Kaisers überall auf dem Kontinent leb39
ten, einige bereits weise und im mittleren Alter, war der Erbe des Throns ein kleines schielendes Baby, nicht viel größer als ein Ochsenfrosch. Soweit von Rothbart sah, hatte er achtzehn oder zwanzig Jahre vor sich, in denen er seine Macht befestigen konnte. Aber der Kaiser war kein Narr gewesen. Er wußte, daß von Rothbart zwanzig Jahre Zeit hatte und die Entwicklung des Knaben mit großem Interesse verfolgen würde. Deshalb hatte er, um von Rothbarts Argwohn zu zerstreuen, einen Erzieher bestellt, der keine politischen Verbündeten hatte und sich auf keine Partei stützen konnte. Diesen wies er an, sich in der Öffentlichkeit als pedantischer und harmloser Gelehrter zu geben, völlig gleichgültig gegenüber machtpolitischen Fragen und nur interessiert an obskuren Erörterungen zu Fragen der Kosmologie und Taxonomie. Er befahl ihm, den Prinzen in den Grundwissenschaften zu unterrichten und darauf zu achten, daß nicht nur Mitleid, sondern auch Mut in ihm erweckt werde; sicherzustellen, daß der Prinz heimlich in der Kriegskunst unterwiesen werde; und schließlich den richtigen Zeitpunkt abzuwarten, um den Prinzen dann mit der Aufgabe zu betrauen, von Rothbart – oder wer immer sein Nachfolger sein mochte – zu stürzen. In einem Brief, der die notwendigen Einzelheiten regelte, fügte er hinzu, daß der Erzie40
her den Anschein erwecken sollte, als ob er gern ins Glas schaue, denn es konnte von Rothbart nur angenehm sein, wenn er sah, daß der Lehrer des Prinzen infolge ständigen Verzehrs von Alkohol seinen Pflichten nur ungenügend nachkam.« »Woher weißt du das?« fragte das Mädchen und strich sich eine Locke aus der Stirn. »Woher kannst du das überhaupt wissen?« »Ich war der Erzieher.« »Ach!« rief das Kind. »Ach, in der Tat! Ich mußte mich als Alkoholiker ausgeben, was mir schwerfiel, denn mein Magen verweigert sich dem Alkohol in jeder Form. Ich nahm Stunden bei einem ungarischen Schauspieler und war bald imstande, ständig betrunken zu erscheinen. Ich wurde so gut darin, daß ich manchmal Schwierigkeiten hatte, nüchtern zu werden. Von Rothbart hatte nie von mir gehört und wußte nichts von meiner Verbindung zum Kaiser. In den fünf, sechs Gesprächen, zu denen er mich bestellte, offenbarte ich eine große Leidenschaft für Frösche. Als er mich über politische Angelegenheiten ausfragte, erzählte ich ihm etwas über das Verdauungssystem von Fröschen. Ich bot ihm an, ihn in diesem äußerst faszinierenden Zweig der Wissenschaft zu unterrichten, und obgleich er sehr erfreut schien, lehnte er höflich ab. Er schien auch über die Tatsache erfreut zu sein, daß ich in seiner Gegen41
wart stotterte, grundlos lachte und es nicht fertigbrachte, ihm in die Augen zu schauen. Diese demütigenden Gespräche verschafften mir zwanzig Jahre Zeit, einen jungen Mann zu erziehen, auf dem die Hoffnungen des Reiches ruhen konnten. Du hättest ihn gemocht, ich weiß es, als Knaben und als jungen Mann. Ich mußte ihn unverzüglich mit der Traurigkeit und dem Unglück in der Welt vertraut machen, denn wenn ich das nicht getan hätte, wäre er nicht imstande gewesen, die in ihm schlummernden Kräfte zu entwickeln, die versprachen, ihn eines Tages zu einem Kaiser aus eigenem Willen zu machen. Er war die meiste Zeit ein ernstes Kind, so ähnlich wie du. Ich glaube, ich tat wohl an ihm, obgleich er, anders als die meisten Prinzen, mit einem gebrochenen Herzen aufwachsen mußte.«
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»Der junge Prinz war fast eine Waise. Natürlich hatte er alle materiellen Vorteile und schlief sogar in einer goldenen Wiege. Aber wenn sie nicht durch die Dummheit ihrer Eltern angesteckt werden, können Kinder solchen Äußerlichkeiten keinen Wert beimessen und begehren sie nicht. Tatsächlich war Prinzessin Odette, die zur selben Zeit unter einem armseligen Dach aus Kiefernästen aufwuchs, wahrscheinlich besser dran als er, dessen Kinderzimmer so groß war wie ein Bahnhof.« »Und was war mit seiner Mutter, der Königin?« »Der Kaiserin.« »Dann eben der Kaiserin.« »Sie war die Tochter eines kleinen Landedelmannes in Tirol. Ihre Leute waren das, was man unter dem Boden eines Fasses findet. Sie statteten ihre Tochter mit einer reichen Garderobe aus, um ihr Gelegenheit zu geben, die Aufmerksamkeit irgendeines Mannes in der Hauptstadt auf sich zu ziehen, und wurden in ihren kühnsten Erwartungen übertroffen; denn als die erste Frau des Kaisers starb, war er so verwirrt, daß er sich an das Mädchenunter-dem-Faßboden hängte, als ob sie der Himmel gesandt hätte. Sie war schön, zugegeben, doch ihre Interessen beschränkten sich auf Kleider, Juwelen und die Schmeicheleien Dutzender von Höflingen. Als sie schwanger war, schämte sie sich derart we43
gen ihres Aussehens, daß sie sich in die oberen Stockwerke des Palastes zurückzog und sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigte. Und als der Prinz geboren war, übergab sie ihn einer Amme und verlegte den Hof nach Bogdelice-am-Meer. Sie befahl, ihn gut zu kleiden, und sah ihn fast nur bei zeremoniellen Anlässen. Alles andere wurde Dienern überlassen. Noch ehe der Kaiser zwei Wochen unter der Erde war, begann sie, Liebesaffären zu unterhalten. Und weißt du, mit wem sie sich am beständigsten einließ, weil er ihr am falschesten zu schmeicheln und ihr die kostbarsten Juwelen zu beschaffen wußte?« »Mit wem?« »Rate.« »Nein!« »Doch. Von Rothbart. Meine Aufgabe war nicht gerade leicht. Der Junge hatte keinen Vater und in gewissem Sinne auch keine Mutter. Ich mußte ihn vor den Machenschaften von Rothbarts bewahren, ihn stark werden lassen und ihn darauf vorbereiten, eines Tages mit Gewalt das Reich an sich zu nehmen, dessen rechtmäßiger Erbe er war. Das Traurigste und Schwerste dabei war, nicht zulassen zu dürfen, daß er mich wie einen Vater liebte, das heißt, ich durfte ihm nicht zeigen, daß ich ihn – was ich aber doch tat – wie einen Sohn liebte. Immer, wenn wir uns einem solchen Punkt 44
näherten – etwa, wenn er spielte und die Arme ausstreckte, um mich an sich zu ziehen –, mußte ich ihn abweisen.« »Aber warum?« fragte das Kind, denn der Alte hatte es selbst nicht so aufwachsen lassen. »Weil ich, vielleicht irrtümlicherweise, glaubte, daß ich einen großen Platz in seinem Herzen für den Vater bewahren müßte, den er nie gekannt hatte. Wenn er dereinst von Rothbart und dessen Verbündete bekämpfte, würde der Prinz es seines eigenen Blutes wegen tun müssen, um einem Vater Genüge zu tun, dem nie Genüge getan werden konnte. Da ich kein Reich zu retten hatte, konnte ich diesen Platz nicht ausfüllen. Es gelang mir jedoch, einen ernsten und besorgten jungen Mann aufzuziehen, was meine Absicht war, denn Weisheit kann nicht in schönem Wetter, sondern nur aus Stürmen erwachsen. Und als er achtzehn Jahre alt war, beherrschte er ein halbes Dutzend Sprachen und kannte sich in den Klassikern, der Mathematik und der Kriegskunst aus. Natürlich hatte er auch die Geschichte der Königund Kaiserreiche studiert. Von klein auf hatte ich ihn mit hinaus aufs Land genommen. Niemand vermißte ihn. Seine Mutter war zu sehr mit dem Hofleben beschäftigt, um zu wissen, daß wir zu Fuß nach Klagenfurt gewandert waren, nur wir beide, ich in meinen zerlöcherten 45
Hosen und er in den groben Sachen, die er zum Spielen trug. Wir waren mehrere Monate des Jahres unterwegs, vor allem, wenn das Wetter gut war und alle sich im Sommerpalast aufhielten. So lernte er die Sorgen und die Nöte einfacher Menschen kennen und wurde weder leichtgläubig noch herrisch. Er wußte, daß er nicht verraten durfte, wer er war. Doch das spielte ohnehin keine Rolle; niemand hätte es ihm geglaubt. Einmal kampierten wir an einem Fluß mit einigen Jungen – den Söhnen von Kaufleuten in Immelstädt –, die ausgerissen waren, um zu jagen und zu klettern. Drei Wochen waren sie unter sich, der Prinz als Gleicher unter Gleichen. Sie erklommen die Gipfel einiger nahe gelegener Berge, sie schwammen im Fluß und schwangen sich von einem Seil in einen tiefen Teich. Und sie jagten, obwohl es den Prinzen bekümmerte, wehrlose Tiere zu töten. Es war schwer für mich, ihn wieder nach Hause zu bringen. Er hätte lieber ein Leben wie die anderen geführt. Aber er hatte keine Wahl. Als er älter war, errichtete ich im Wald ein Lager, in welchem ich ihn unter größter Geheimhaltung militärisch ausbilden ließ. Ich gewann Fechter, Reiter und Bogenschützen für ihn unter den Damawand, die inzwischen schon gegen das Reich rebelliert hatten. Es waren dies die besten Soldaten, die 46
sich finden ließen, geübt in Kämpfen gegen Truppen, die im Namen des Prinzen fochten. Und sie riskierten ihr Leben, um ihn so gut auszubilden, wie sie konnten. Von Rothbart und die Kaiserin standen unter dem Eindruck, daß der Prinz körperlich nicht in der Lage sei, eine Waffe zu schwingen, die schwerer als eine Feder wäre. Wir stellten deutlich unser Desinteresse an der Jagd und am Kampfsport zur Schau. Er hatte weder einen Fechtmeister, noch jagte oder ritt er. Verstehst du, was das für einen Eindruck machte? Selbst die Milchmädchen hatten Fechtmeister. Man dachte, der Prinz hätte keinen Schneid, was von Rothbart ausnehmend gut gefiel. Aber es hätte ihm nicht gefallen, wenn er den Prinzen, der von seinem vierten Lebensjahr an im Umgang mit Waffen geschult worden war, mit einem Bogen, auf einem Pferd oder bei seinen Übungen mit dem Säbel gesehen hätte. Kein Säbelfechter besaß seine Kraft und seinen Eifer, kein Reiter konnte sich so gewandt im Sattel umdrehen oder mit dem Schwert kämpfen, während er unter seinem Pferd hing. Und mit seinem schweren Bogen konnte der Prinz von einem Ufer der Donau zum anderen so schnell die Kerne aus Äpfeln schießen, daß man hätte meinen sollen, drei Bogenschützen, viel dichter am Ziel, seien am Werk. Jungen kurz vor dem Mannesalter, selbst wenn 47
sie keine Kronprinzen sind, selbst wenn sie sich nicht durch Treffsicherheit im Schießen und dergleichen auszeichnen, sind oft erstaunlich selbstgefällig. Und warum auch nicht? Sie stehen in voller Kraft. Die Natur selbst will sie singen und tanzen lassen. Und im allgemeinen kennen sie noch keinen schmerzlichen Verlust. Wenn er wie jeder andere gewesen wäre, hätte dieser natürliche Übermut ihm geholfen, durch die schwierigen Jahre seiner Mannbarkeit zu kommen. Aber er trug eine besondere Verantwortung. Ich mußte ihn darauf vorbereiten, und das tat ich, indem ich ihn, bevor es nötig war, mit den großen und unlösbaren Fragen in Berührung brachte, die im normalen Verlauf eines Lebens als Erfahrung des Leids und als Prüfstein unserer Intelligenz an uns herantreten. Ich konfrontierte ihn zum Beispiel (denn wir hatten die Mittel, nach solchen Beispielen zu suchen, und es war die richtige Zeit in der Geschichte unseres Landes) mit dem Tod und dem Sterben – zwei völlig unterschiedliche Dinge –, mit dem Leid von Kindern, dem Mord an Unschuldigen und ähnlich ernsten Dingen, die mich mit zunehmendem Alter nicht weniger, sondern immer mehr entsetzen und schmerzen. Zunächst hatte er auf meine Fragen, wie ich erwartet hatte, nur nichtssagende Antworten. Und 48
wie ich mich hatte zurückziehen müssen, wenn er als Kind mit offenen Armen auf mich zugekommen war, nahm ich ihm jetzt etwas von seiner Jugend und gab ihm dafür nur Trauer, Verwirrung und Bitterkeit zurück. Ich ernüchterte ihn. Das war kurz bevor er volljährig wurde – ein Tag, der, wie ich wußte, der Kaiserin am Herzen lag, denn da konnte sie so recht ihrer Vorliebe für Zeremonien frönen und konnte ihn zwingen, eine Frau zu nehmen, die ihr ähnelte. Ich wußte auch, daß mit der Volljährigkeit des Prinzen von Rothbart, inzwischen alt geworden, doch immer noch unberechenbar und dreimal gefährlicher, gewisse Maßnahmen ergreifen würde, obwohl er den jungen Mann für verweichlicht hielt. Die Kaiserin und von Rothbart wunderten sich darüber, daß der Prinz so melancholisch war. Obgleich er alles tat, was von ihm erwartet wurde – er ging zu den Bällen und Festlichkeiten, und er tanzte –, war er melancholisch und konnte es nicht verbergen.«
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»Als der Prinz volljährig wurde, veranstaltete man eine Reihe gräßlicher Feste und Aufführungen, die niemandem Freude machten außer den Bäckern, Floristen und den Dichtern und Komponisten, welche den Auftrag erhalten hatten, Oden zu schreiben. Bevor ich aus meiner Dachkammer auf dem Truthahnhof in den kaiserlichen Palast umzog, war ich aufgefordert worden, Oden für den untergehenden Adel zu schreiben – Ode auf den Geburtstag Baron Stumpfs, Ode auf die Tochter der Principessa Tantovini, Ode auf die Wiedererrichtung der Pergola auf dem Landsitz der Herzogin von Tukisheim. Ich nannte sie Oden, nun gut. Ich sagte immer: ›Verdammte Ode‹, wenn ich eine zu schreiben hatte. Du zerbrichst dir zwei Wochen lang den Kopf, und dann bekommst du ein Honorar, für das du höchstens eine Spinne zum Essen einladen kannst.« Das kleine Mädchen war entzückt über diese Berufsklage, da sie zeigte, daß die Welt voller Überraschungen war, wenn der Bauer, den sie so lange kannte, wie sie sich erinnern konnte, einmal ein so anderes Leben geführt hatte. »Und wie waren die Zimmer, die du im Palast bewohnt hast?« fragte sie. »Waren sie so groß wie unser Haus oder größer?« Sie bezog sich auf eine Hütte aus gutem Zedernholz mit einem unvergleichlichen Ausblick, die gerade groß genug für sie beide und Anna war, die Frau, mit der sie nicht hinunter in die Ebene gehen wollte. 50
»Na hör mal!« antwortete er. »Wir sprechen vom größten Palast, der je erbaut wurde. Als ich dort wohnte, hatte er etwa siebzehntausendfünfhundert Räume, von denen einige bequem zehntausend sich in ihren grotesken, ballonähnlichen Kleidern frei bewegende Menschen aufnehmen konnten. Acht gewaltige Hallen dienten allein zur Aufbewahrung der Schlüssel für die Zigtausende von Türen. Ich kannte einen alten Kerl, dessen Titel Kartograph des Palastes und dessen Aufgabe es war, Lehrer in der Geographie des Palastes zu unterrichten, die dann Diener, Mechaniker und die kaiserliche Familie selbst darin unterrichteten. Um eine Nachricht vom einen Ende des Palastes zum anderen zu befördern, steckte man sie in eine kleine Schachtel und schickte sie über den Speiseaufzug zu berittenen Kurieren auf dem Dach. Es gab ein System von Straßen und Brücken dort oben, das eine Länge von vier Tagesreisen hatte. Im Inneren des Gebäudes befanden sich unsichtbare, nur den Dienern vorbehaltene Flure, über die von Pferden gezogene Wagen mit Feuerholz, Kerzen, Asche, Bettwäsche und Blumen rollten. Der Von-Blimpen-Fluß trat am nördlichen Ende des Palastes ein und im Süden wieder aus. Man konnte in der obersten Etage mit einem Boot durch einen Tunnel fahren, der Waschkessel, Badewan51
nen, Brunnen, Teiche und Spülsteine mit Wasser versorgte. Es gab eigene Jagdgefilde im Palast, riesige Bekken, in denen Seegefechte simuliert wurden, Kliniken für Jagdvögel, Galerien zum Rupfen von Moorhühnern und Apparate zum Ausbrüten von Fasaneneiern. Einmal stieß ich zu meiner Überraschung auf eine Akademie zur Ausbildung von Trüffelschweinen. Jedes Schwein hatte seinen eigenen Stallburschen und zwei Hirten und lebte in einem großen Schlafzimmer mit trompe-l’ æil-Darstellungen eines Eichenwaldes. Die Klassenzimmer und Hörsäle dieser Akademie waren in dem Palastflügel untergebracht, der auch die Spargelspeisekammern für die Frühlingsgemüseküche beherbergte. Meine Wohnräume entsprachen all dem in vollkommener Weise. Ich hatte zehn Schlafzimmer. Was sollte ich mit zehn Schlafzimmern anfangen? Eines der Badezimmer hatte sein eigenes Badezimmer, und in einem stand eine Badewanne, die so groß war, daß sie einem Blauwal als Bassin hatte dienen können, der von Gibraltar in einem riesigen, mit Salzwasser gefüllten Spezialwaggon herbeigeschafft worden war. Noch so eine Geschichte war die Bibliothek – fünf Millionen Bände und zweihundert Bibliothekare. Ich hatte Dutzende von Bediensteten: Köche, Schneider, Lakaien, Bootsleute, 52
Jäger, Gondolieri und sogar Akrobaten, die ich dazu einsetzte, dem Prinzen die Gesetze der Schwerkraft und der Bewegung zu veranschaulichen. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß diese Umgebung zu pompös für echte Studien war, und so pflegte ich mit dem Prinzen hinaus in den Garten zu gehen, wo wir uns auf eine Stufe niedersetzten und die Lektionen durchnahmen. Im Winter zündeten wir eine Lampe an und arbeiteten an einem schweren hölzernen Tisch in der leeren Erdbeerküche. Ich begann zu verstehen, warum der Kaiser in einem kleinen Zimmer mit einem zerschlissenen türkischen Teppich gelebt hatte. Es gehört zur Größe des Menschen, daß Größe ihn rasch ermüdet. Ja, ich mag gelegentlich Wachteleier. Aber jeden Tag achthundert Pfund? Jedenfalls, als der Prinz volljährig wurde, veranstaltete man eine endlose Reihe aufwendiger Partys für ihn. Ich hasse Partys. Bei all dem Durcheinander muß man auf der Hut sein und wird ständig abgelenkt. Alles zerfällt in winzige Stücke, die keine Beziehung mehr zueinander haben, und das einzige Gegenmittel, das alles zusammenhält, ist der Alkohol, den ich aus medizinischen Gründen nicht zu mir nehmen kann. Außerdem habe ich keine Lust, von der phantastischen Badeparty im Palast der Herzogin von Tukisheim zu hören, vielen Dank. 53
Und ich habe auch keine Lust, mich mit dem Marquis von Steubenplotz darüber zu unterhalten, wie er sich die Zähne an den Schrotkugeln in den von ihm erlegten Straußen ausgebissen hat, während er die ganze Zeit über die andere Seite des Raumes im Auge behält, um einen Blick der Kaiserin zu erhaschen – wie ein Stellwerkswärter der Eisenbahn, der in einen Tunnel starrt, in dem jeden Augenblick der Schnellzug nach Saarbrücken zu explodieren droht. Diese Veranstaltungen waren unerträglich, und bei jeder zweiten hatte ich den Betrunkenen zu spielen. Ich nahm es für meinen Prinzen auf mich, und er wußte es. Bei der letzten Party vor der großen Festivität, auf der er sich eine Frau wählen sollte, bemühte er sich, so charmant wie möglich zu sein. Weißt du, er war nicht der artige Jüngling mit den geschliffenen Manieren, der er hätte sein sollen. Es fiel ihm schwer, Leuten gegenüber höflich zu sein, die er am liebsten mit beiden Armen hochgehoben und geschüttelt hätte. Wenn er nicht lächelte, waren seine Augen zu tief, und sein Gesicht war zu wettergegerbt, um das eines verwöhnten jungen Nichtsnutzes zu sein. Ich glaube, das verwirrte von Rothbart, der nicht wußte, was er davon halten sollte. Die Kaiserin erschien, und der Prinz bezeugte ihr seine Ehrerbietung, obgleich er sie kaum kannte. 54
Wenn er und ich sie anschauten, sahen wir immer wie eine Hummel von Rothbarts Dreispitz hinter ihrem Kopf auftauchen. Offensichtlich war sie gekommen, um dem Prinzen mitzuteilen, daß ihm auf dem nächsten Ball die heiratsfähigen Prinzessinnen vorgestellt würden, damit er eine von ihnen für alle Ewigkeit wähle – oder jedenfalls für jenen kleinen Teil der Ewigkeit, in dem wir zu wissen meinen, was mit uns geschieht. Es bereitete ihr große Freude, das zu tun, ihm aber überhaupt nicht. Jeder kannte das Programm. Sie wünschte es nur zu bestätigen. Als sie ging, konnte der Prinz nicht verbergen, wie unglücklich er war. Um ihn aufzumuntern, schlug einer der Höflinge vor, daß wir alle auf die Jagd gehen sollten. Da es nur noch eine Stunde bis zum Sonnenaufgang war, wurde dieser Vorschlag begeistert aufgenommen, denn die Tiere würden im Morgengrauen sorglos und verschlafen sein und es den Jägern leichtmachen, sie zu erlegen. Der Prinz wollte nicht seine Zeit vergeuden, aber man zog ihn fast gewaltsam mit fort. Ich war alt genug, um von solchen Pflichten entbunden zu sein, und ging nicht mit, aber viel später, bei seiner Rückkehr, erzählte mir mein Schüler eine wunderbare Geschichte, mit der ich, ohne es zu wissen, bereits zum Teil vertraut war. Die halbe Freude an der Jagd besteht darin, mit 55
hundert Berittenen, die Waffen griffbereit, über Holzbrücken zu donnern, die über donnernde Flüsse führen. Die andere Hälfte kenne ich nicht. Die Jagd ist nur ein Vorwand, um eine Armee zu bilden und den Krieg zu proben, und eines der Dinge, die man vor allem in der Erinnerung schätzt. Die heftigen Bewegungen eines galoppierenden Streitrosses werden in dieser Erinnerung so sanft wie ein Walzer. Wie die Höhen und Tiefen des Galopps zu weichen Wellen geglättet werden, weiß ich nicht; ich weiß nur, daß das Gedächtnis der größte Dichter ist. Wenn der Prinz bei einem solchen Ausflug an der Spitze seiner Höflinge und Soldaten ritt, mußte er sich und sein Pferd zügeln, um nicht davonzupreschen, da jeder glauben sollte, daß er Angst vor Pferden habe. Niemand wagte, an ihm vorbeizureiten, bis er ihnen durch einen Wink den Weg freigab, und diesmal gab er ihnen den Weg recht früh frei. Als sie ihn überholten, kamen sie überein, rechts abzubiegen, wenn sie die Abzweigung in den Wald erreicht hätten; denn rechts lagen die Lichtungen, auf denen die wilden Eber sich aufhielten, und anstatt Vögel zu jagen, ließen sich die Soldaten lieber auf einen tödlichen Kampf mit den gedrungenen, Beeren fressenden Schweinen ein, die das Bein eines Mannes wie einen Selleriestrunk abbeißen können. 56
Als der Prinz, jetzt allein, die Abzweigung erreichte, nahm er den linken Weg. Seine Entfernung von den anderen erlaubte ihm, so schnell zu reiten, wie er wollte – wobei er, meinen Anweisungen folgend, den Eindruck erweckte, als habe er Angst vor einer Begegnung mit den Ebern –, um in ein wirklich unberührtes und einsames Land vorzudringen und die Vögel und das Wild nur zu beobachten, das er in der Gesellschaft der anderen hätte töten müssen. Er hatte nicht den Wunsch, Tiere zu töten. Das war nicht so sehr einem Gefühl des Mitleids als dem der Achtung zuzuschreiben, denn nicht einmal die Erinnerung vermag eine elegantere Linie zu zeichnen als der Flug eines Vogels, der stumm im Sonnenschein über blauem Wasser seine Kreise zieht. Und wenn Rehe zaghaft den Waldsaum verlassen, ist die Achtsamkeit ihrer Bewegungen reine Kunst – ganz zu schweigen von den vollkommen aufeinander abgestimmten, raketenhaften Bewegungsabläufen bei ihrer Flucht. Wenn sie schneller wären, wäre das Ergebnis nicht so glücklich, und wenn sie langsamer wären, würde nicht ersichtlich, mit wie großer Selbstbeherrschung sie sich ihrer Flucht überantworten. Der Prinz ritt mehrere Stunden in scharfem Galopp. Als er abstieg, war er an das Ufer eines großen Sees gelangt, auf dem es von smaragdgrünund -grauen Enten, weißen Schwänen und schwarz57
weiß gefleckten Seetauchern nur so wimmelte. Er ließ sein Pferd grasen und begann, eine Granitklippe hinaufzusteigen, die sich fast senkrecht aus dem See erhob. Hinaufkletterte er, an knorrigen, in den Felsspalten wurzelnden Kiefern vorbei und über stufenähnliche Vorsprünge, die schmal wie Balkonbrüstungen waren, hangelte sich, gefährlich über dem glitzernden Wasser schwebend, hoch, bis er oben war – auf einem trockenen, mit Flechten bewachsenen Plateau, das die ganze Welt zu überblicken schien. Ein Kamm führte nach Süden zu einem in keiner Karte verzeichneten Gebirge, doch obgleich er lange die hohen und verlockenden Matten betrachtete, wandte er sich schließlich dem See zu. Der See war wie ein blauer Edelstein, der im Sonnenlicht in zahllosen Pailletten funkelte. Der Prinz mußte seine Augen abschirmen, da Millionen glitzernder Reflexe sich in der Wasseroberfläche brachen. Obgleich das Licht ihn schmerzte, konnte er den Blick nicht von dem abwenden, was er sah. Tausende wolkenweißer Schwäne erhoben sich in den blauen Himmel. Sie bildeten eine kreisende Säule, die aus dem Feuer des Sees emporragte, und fast ohne ihre breiten Schwingen zu bewegen, stiegen sie auf in die Morgenluft, in einer atemberaubenden Spirale, deren Spitze nichts anderes als die Sonne selber krönte. 58
Ob der Prinz nach oben oder nach unten blickte – er wurde von einem Licht geblendet, dessen Helligkeit zu stark war, als daß das Auge es hätte ertragen können. Und doch hielt die Bewegung der Schwäne, vollkommen in ihrer Harmonie, ihn in Bann, bis sein Schmerz übermächtig wurde und er auf dem warmen Fels zusammenbrach. Die Sonne schlug auf ihn nieder, und als sie höher am Himmel emporstieg, wurde alles zu einem Tanz aus Gold und Bernsteingelb in wirbelnden Strömen weißen Lichtes und heller silberner Funken. Als die Dämmerung hereinbrach, brannte es in ihm wie Feuer, aber der Abend war kühl. Zuerst wurde der Himmel blaßblau und dann schwarz, und dann kam das Mondlicht, und am Rand des Sees stiegen Nebel aus unbekannten Tälern empor. Er wußte nicht, ob er wach war oder träumte, aber als er die Augen öffnete und auf den See hinunterschaute, schien dieser nicht mehr so fern zu sein. Es war, als ob das Wasser gestiegen sei oder als ob er auf magische Weise weiter sehen könnte. Als wollten sie ihre Bewegung dem Rund des Mondes angleichen, der sie in sein Silberlicht tauchte, begannen die Schwäne im Kreis zu tanzen. Ihr Tanz war die vollkommene Einheit von Taumel und Beherrschung, von Klarheit und Ausgelassenheit, von Natur und Formung. Wie konnten sie etwas so Sanftes mit soviel Kraft, etwas so Kraft59
volles mit soviel Anmut verbinden? Es war fast wie ein östlicher Ritus, und doch waren es Schwäne, und doch … Dann glaubte er seinen Augen nicht zu trauen, und obgleich er sich sagte, daß er träume, war der Traum so schön, daß er ihm mehr glaubte als dem, was wirklich war. Die Schwäne waren zu Frauen geworden, und dann waren die Frauen zu Schwänen geworden, bis er sie nicht mehr voneinander trennen, ihre Gestalten nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Er rieb sich die Augen. Er räusperte sich. Wer waren sie, daß sie in ihrem Schweigen so beredt und in ihrer Zerbrechlichkeit so stark sein konnten? Er wußte, daß Träume und Wahn gleich Feuer Wärme und Fieber hervorrufen können, sich aber letztlich nicht begreifen lassen. Aber er wußte auch, daß das, was er vor sich sah, so schön war, daß es körperlichen Bestand haben mußte, denn keine Phantasie konnte etwas so Kostbares erschaffen. Und obgleich er die Grenze des Verstehens überschritten hatte, weigerte er sich, seinem Traum nicht die Tiefe der Welt zuzuschreiben. Dann erwachte er. Er war nicht im Palast, sondern immer noch im Wald, doch der Schrei der Seetaucher verriet ihm, daß er nicht mehr auf dem Felsen lag. Er lag in einer kleinen Hütte. Er konnte kaum etwas sehen. Das einzige Licht kam von den 60
glühenden Kohlen in einem kleinen Ofen, wie Bergbauern ihn haben. Das Bett war aus Zedernholz, die Bettdecke handgewebt. ›Wo ist mein Pferd?‹ fragte er eine schöne junge Frau, die an der Tür stand. ›Draußen‹, sagte sie. Während die Tage vergingen und der Prinz sich erholte, beobachtete er sie von seinem Bett aus. Zuerst wurde er eingenommen von ihrer körperlichen Schönheit, dann von ihrer Anmut. Aber er wußte erst, daß er sie liebte, nachdem er ihre Hände beim Nähen und ihre Augen beobachtet hatte, wie ihr Blick den Händen folgte. Erst als er sie so ganz in eine Aufgabe vertieft sah, erkannte er ihre wahre Schönheit, und als er es tat, erfuhr er zum erstenmal, was wirkliche Liebe ist. Du weißt, wer sie war, obgleich sie selbst es nicht wußte und nur ihren Namen kannte, und so konnte er es auch nicht wissen. Sie war Odette, und sie war diejenige, die in seinem Traum die Schwanenmädchen beim Tanz angeführt hatte. Dafür hatte er eine einfache Erklärung. Er hatte sie gesehen, als sie ihn hereingebracht hatte, deswegen kannte er ihr Gesicht. Und da das letzte, an das er sich erinnerte, die Schwäne gewesen waren, hatte er nur die beiden Bilder miteinander verbunden. Es ergab durchaus Sinn – wenn man von der Tatsache absieht, daß gar nicht sie, sondern ihre Gefährtin ihn hereingebracht hatte. 61
Als er in die Stadt zurückkehrte, erzählte er mir sehr wenig über seinen Aufenthalt bei ihr. ›Wo bist du gewesen?‹ fragte ich. ›Am Ufer eines Sees, mit einer Frau‹ war alles, was er sagte. ›Wer war sie?‹ Er zuckte die Achseln. ›Ein Milchmädchen? Wieder ein Milchmädchen?‹ ›Nein.‹ ›Wer dann?‹ Er sah mich ausdruckslos an. ›Sag mir wenigstens‹, sagte ich, ›wie sie aussah.‹ ›Ich kann es nicht‹, antwortete er. ›Ihr selbst habt mir gesagt, daß nur ein Maler ein Gesicht beschreiben kann – und vielleicht nicht einmal er. In Gesichtern, habt Ihr gesagt, liegt ein Zauber. Sie haben nicht zehn Eigenheiten oder zwanzig oder zweihundert, sondern Tausende, Millionen, und es gibt keine Möglichkeit, sie hinreichend zu erfassen.‹ ›Aber man versteht sie leicht und sofort mit dem Herzen. Das habe ich dir auch gesagt.‹ ›Ja, das stimmt.‹ ›Und wie hat dein Herz sie verstanden?‹ ›Es hat mir von Anfang an gesagt, und dann mit jedem Tag, der verging, wieder und wieder, daß ich sie liebe.‹ 62
›Sie ist eine Bürgerliche?‹ fragte ich. Natürlich hatte ich nichts gegen Bürgerliche, ich bin ja selbst einer, aber wenn ein Prinz sich in eine Bürgerliche verliebt, tauchen viele Probleme auf. ›Ich weiß es nicht‹, sagte er. Da der Prinz mehrere Wochen fort gewesen war, waren alle Zeremonien verschoben worden. Von Rothbart war überzeugt, daß der Prinz eine Armee gegen ihn aufstellte. Die ausländischen Prinzessinnen am Hofe warteten nervös, und sie aßen so viel, daß sie kaum noch in ihre Ballkleider paßten. Als der Prinz zurückkehrte, war seine Mutter so wütend, daß er ihr, um sie zu beruhigen, erzählte, wo er gewesen war. Ich hätte ihn daran gehindert. Doch vielleicht hätte von Rothbart es ohnehin herausgefunden, durch die Liebe in den Augen des Prinzen, oder weil er vielleicht imstande gewesen wäre, die Zeichen eines Grams darin zu erkennen, der nach Gerechtigkeit verlangte. Zum zweitenmal rückten die Truppen von Rothbarts aus, um Odette zu suchen. Aber nach seiner ersten Vertrauensseligkeit war der Prinz klug genug, zu erkennen, daß er einen Fehler gemacht hatte, und klug genug, darauf zu beharren, daß er seinen Soldaten und Höflingen gefolgt sei und wie sie die rechte Abzweigung in den Wald genommen habe.«
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»Als der Prinz zu Odette zurückkehrte«, fragte das Kind, »wurde er da verfolgt? Ich hoffe nicht!« »Die Sache ist viel komplizierter«, sagte der alte Mann. »Was meinst du damit?« »Der Prinz kehrte nicht zu Odette zurück.« »Aber er liebte sie doch.« »Das tat er. Er hatte sie sofort geliebt – und sie ihn –, was unter den gegebenen Umständen verständlich ist.« »Warum ist er dann nicht zu ihr gegangen?« »Er war einfach alt genug, um von den Netzen der Pflicht und des Zweifels zurückgehalten zu werden.« »Den Netzen?« »Mir fällt kein besseres Wort ein.« »Ich kenne solche Netze nicht«, sagte sie verächtlich. »Ich weiß«, erwiderte der alte Mann. »Aber ich weiß nicht, wie ich dir klarmachen soll, wie der Geist eines Kindes allmählich in einen Käfig gesperrt wird.« Sie war entrüstet. »Reg dich nicht auf«, beschwichtigte er sie. »Eine der großen Prüfungen im Leben besteht darin, diesem Käfig zu entkommen, ohne ihn zu zerstören. Man muß nicht notwendigerweise in ihm bleiben. Aber das braucht noch nicht deine 64
Sorge zu sein – du bist noch nicht einmal zehn Jahre alt.« Er nahm seine Erzählung wieder auf. »Die Welt des Hofes und der Diplomaten ist faszinierender, als du dir vorstellen kannst. Ihre Annehmlichkeiten sind nicht etwa weniger angenehm, weil sie ausschließlich auf Macht und Privilegien beruhen, und wenn sie auch korrupt sind, ist es doch schwer, ihnen zu widerstehen. Wie kann ich dir das erklären? Sehr oberflächlich betrachtet, können wir davon ausgehen, daß der Mensch in zwei Welten lebt: in der Welt Gottes und der Natur und in derjenigen, die er sich selbst geschaffen hat. Ausschließlich in der ersten zu leben und dort zufrieden zu sein ist völlig hinreichend. Tatsächlich ist sie so etwas wie ein Paradies, das die Tiere besser als jedes andere Lebewesen kennen, und wenn er nicht immer wieder Zuflucht in ihr findet, ist der Mensch nichts weiter als eine Maschine, die er selbst ersonnen hat. Aber während es unerträglich ist, ausschließlich in der Welt des Menschen zu leben, ist es in gewissem Sinne ebenso unerträglich, ohne sie zu leben. Es muß Spaß machen, ein Eichhörnchen zu sein, aber denk nur an die Musik und die Mathematik und Schokoladenkuchen! Die Welt des Menschen mag unvollkommen sein, da sie auf Unvollkommenheit gegründet ist, aber gerade das ist es, was sie so ver65
führerisch macht – all die Mißgeschicke und Fehltritte. Weißt du übrigens, warum Menschen lachen und Tiere nicht?« »Nein«, sagte sie und versuchte sich zu erinnern, ob sie jemals ein Tier hatte lachen sehen. »Weil Menschen in einer verdrehten und unvollkommenen Welt leben, voll von Ungereimtheiten und Widersprüchen. Tiere lachen nicht, weil sie es nicht nötig haben: Die Natur ist vollkommen. Wir müssen lachen, wenn wir uns ansehen, was wir daraus gemacht haben und was aus unseren so klug ins Werk gesetzten Plänen geworden ist. Das Lachen rettet uns, indem es uns unseren Stolz bewahrt angesichts dessen, was wir wirklich sind. Tiere – abgesehen von Katzen – haben dieses Bedürfnis nicht. Manchmal vermisse sogar ich hier oben, wo die Zeit langsam und ereignislos verstreicht, wo mein Herz, obwohl seit langem gebrochen, irgendwie immer erfüllt ist, die Welt dort unten. Nun, die Welt der Diplomaten fand in sich selbst Genüge. Jede Einzelheit war darauf angelegt, einem das Gefühl zu vermitteln, wie auf Wolken zu schweben. Die Frauen, auch wenn sie nicht schön waren, brachten es fertig, phantastisch auszusehen, und die Mittel, die sie dazu anwandten, verfehlten nicht ihre Wirkung. Puder, Parfüms, Salben, Tinkturen, Juwelen, Mieder, Polster und farbenprächtige Kleider 66
in Verbindung mit einem geschulten Auftreten können Wunder wirken. Diejenigen, die schon von Natur aus wohlgestaltet waren, brachten atemberaubende Ergebnisse zustande. Auch die kulinarischen Genüsse dieser Welt – und ich bin kein Liebhaber einer Kost, die nicht einfach wäre – übten einen bestimmten Zauber aus. Ich kann es nicht erklären, aber die feinsten Gerichte, fachmännisch zubereitet und serviert, gaben jedem Wort, das bei Tisch gesagt wurde, eine höhere Bedeutung. Über den Wein kann ich nichts sagen, da ich ihn nie trinken konnte. Von dem Palast selbst habe ich schon gesprochen. Die vielen Kamine, Blumen und Kristallüster in den mit Marmor und Parkett ausgelegten Räumen trugen das Ihre zu der Wirkung bei. Aber nichts von alledem ließ sich mit der Musik vergleichen. Die Musik bewirkte den erlesensten und stärksten Rausch. Wie sie es machten – all die Musiker, Komponisten und Zigeuner –, geht über mein Verständnis, aber ihre Musik gab mir das Gefühl, schwerelos zu schweben, leichter als Luft. Für meine Generation und für die, die ihr unmittelbar vorangingen und folgten, war es die größte Annäherung an die reine und heitere Sprache Gottes, die wir uns vorstellen konnten. Der Prinz wurde nicht nur durch die Netze der Pflicht, sondern auch durch sein Verlangen nach der 67
Welt des Hofes und der Diplomaten zurückgehalten, denn diese besaß einen Glanz, der dem Glitzern der Sonnenstrahlen auf dem See nicht unähnlich ist.«
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»Die Prinzessinen versammelten sich im größten Saal des Palastes – in dem, den der Herzog von Tukisheim sonst benutzte, um mit seinem Segelflugzeug herumzufliegen. Der Prinz hätte sie ebensogut nacheinander in einem kleinen Zimmer in einer seiner Suiten empfangen oder sie zu einem Spaziergang in einem der vielen Gärten einladen können. So hätte ich es gemacht. Oder wenn es schon ein gemeinschaftliches Unternehmen sein mußte, hätte ich sie alle mit dem Prinzen Feuerholz aufstapeln oder einen Baumkuchen backen lassen. Die beste Art, einen Menschen kennenzulernen, besteht darin, ihn bei der Arbeit oder bei einem Kampf zu beobachten, denn dann vergißt er sich selbst und seine Qualitäten werden entweder sichtbar, oder sie bleiben verborgen. Aber nein, das Verfahren war von der Kaiserin und von Rothbart festgelegt worden. Das bedeutete vierzigtausend Pfund Petits fours und dreißigtausend Magnumflaschen Champagner. Alle Kräfte des Reiches, der Hirten im Osten, der Fischer im Norden, der Förster im Westen und der Bauern im Süden, die gesamte Produktion der Fabriken und Werkstätten, der Dienst der Soldaten und das Genie der Architekten und Komponisten sammelten sich in einem winzigen goldenen Tröpfchen. Aber es war bezaubernd. Man mußte es nicht billigen, um zuzugeben, daß es bezaubernd war. 69
Tausende und Abertausende aufgeputzter Menschen drängten sich im Segelflugsaal. So viel Parfüm lag in der Luft, daß die in einem abgelegenen Flügel gefangen gehaltenen Palastbienen sich befreiten und durch das Entlüftungssystem herbeiflogen, um wie wild über den Tänzern hin und her zu schwirren, wobei das helle Gaslicht sich an ihnen brach, so daß sie aufleuchteten wie goldenes Konfetti. Aus den vergoldeten Gaslaternen stiegen Flammen auf, groß wie Grenadiere, und wiegten sich mit der Musik, als ob auch sie tanzten. Das Orchester war so gewaltig, daß es die Galerien einnahm, und damit er von all seinen Musikern gesehen werden konnte, mußte der kleine Maestro Nahaag, der Dirigent, auf einem beleuchteten Kristallpodest stehen, das an Ketten von der Decke hing. Da die Kaiserin Ketten für unansehnlich hielt, waren sie mit Perlenschnüren umwunden worden. Die Kellner sahen aus wie Generäle, und die Generäle waren bunt wie Ostereier: sie waren so gewaltig mit Orden, Litzen und Troddeln behängt, daß von ihnen nur die beiden Äuglein zu sehen waren, die über die Brustwehr ihrer hohen Kragen lugten wie Backenhörnchen über eine Steinmauer. Aus dem Inneren ihrer Uniformen drangen gedämpft Berichte tapfer geschlagener Schlachten. Der junge Prinz saß auf dem Thron seines Vaters, 70
eingezwängt in eine rote Jacke mit zu vielen goldenen Litzen. Dennoch beugte er sich zwanglos vor, als die fünf Prinzessinnen erschienen. Sie sahen wirklich entzückend aus. Und das nicht nur, weil sie vier Tage zum Anziehen gebraucht hatten, sondern weil sie entzückend waren – bis auf eine, die aber trotz ihrer Reizlosigkeit die Charmanteste von allen war. Nachdem sie ihm vorgestellt worden waren, tanzte er nacheinander mit jeder von ihnen, und während sie tanzten, sprachen sie miteinander. Da ich sah, welche Wirkung sie auf ihn ausübten, ließ ich ihn zu mir bitten und sagte ihm, daß auch Odette, obwohl sie ihre Herkunft nicht kannte, eine Prinzessin sei, daß nur ihr Stand, anders als bei ihren Konkurrentinnen, noch unentdeckt sei, noch geheimgehalten werde. Aber eine Prinzessin nach der anderen machte ihm den Hof, von Rothbart drängte ihm Champagner auf, und die Musik wie die Wolken parfümierter Seide, die seine Tanzpartnerinnen umhüllten, ließen ihn schwindelig werden. Unterstützt vom Zauber ihrer Csárdásmelodien, schien die Ungarin sein Herz zu erobern, was nicht heißen soll, daß nicht auch die Russin, die Tscherkessin, die Polin und das Mädchen aus Neapel mit ihren glockenhellen Stimmen Erfolg bei ihm gehabt hätten. Fünf Stunden vergingen, Geigensaiten begannen 71
zu reißen, und Kellner brachen unter dem Gewicht der mit Kaviar und Hummerschwänzen beladenen Tabletts zusammen. Aber die Feiernden, die Creme der Aristokratie, kamen jetzt erst in Stimmung. Über zolldick eingewachste Fußböden zu tanzen, gewaltige Mengen teurer Gerichte in sich hineinzuschaufeln und unbeweglich stundenlang dazusitzen, während dicke Frauen in fremder Sprache schrill auf sie einredeten, war ihr Beruf. Solche Leute stehen um sieben Uhr abends auf, und bei gesellschaftlichen Anlässen können die Schwächsten von ihnen, die neunzigjährigen Grafen, die nicht imstande wären – und gälte es ihr Leben –, einen Hühnerknochen zu zerbrechen, oder die fettleibigen, pferdegesichtigen Herzoginnen, die nach Luft schnappen, als hätten sie ihre Perlenketten verschluckt, länger durchhalten als die stärksten Athleten. Unter dem Vorwand, zuviel Champagner getrunken zu haben, ließ ich mich in einen Sessel sinken, todmüde und zutiefst enttäuscht. Ich hatte jede Möglichkeit verloren, den Prinzen zu beeinflussen. Er hatte nicht immer auf mich gehört, aber jetzt konnte ich nicht einmal in seine Nähe gelangen. Dann begann der große Walzer. Zehntausend Paare kreisten in wogenden Wellen, drehten sich langsam, voranstrebend wie eine vom Wind getrie72
bene Flut. So schön das Schauspiel anzusehen war – erinnerte es mich doch an die Autoskooter in einem Vergnügungspark. Von Zeit zu Zeit sah ich den Prinzen vorbeischweben, umschlungen von den Armen einer wunderschönen Frau. Auf dem Höhepunkt des Taumels sprang von Rothbart auf einen marmornen Treppenabsatz, zog eine Pistole und feuerte in die Luft. Ich konnte nur bedauernd zuschauen, als sich im Saal eine Gasse öffnete und zwischen zwei Reihen verblüffter Aristokraten die an Gestalt schönste Frau erschien, die ich je gesehen hatte. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, als ob sie sagen wollte: ›Beurteilt mich nur nach meinen eigenen Vorzügen.‹ Selbst jetzt bin ich noch verwirrt, wenn ich an die Vollkommenheit und Sinnlichkeit ihrer Züge denke. Als sie über das Parkett schritt, zog sie alle Blicke auf sich. Ihre Bewegungen waren so gleichmäßig und rhythmisch aufeinander abgestimmt wie im Tanz. Sie war so anmutig, daß niemand überrascht gewesen wäre, wenn der Wind sie getragen und sie sich elegant wie ein Vogel in ihm gedreht hätte. Was ich damals noch nicht wissen konnte: sie sah Odette sehr ähnlich; doch während Odette offen und unschuldig war, war sie verschlossen wie ein Edelstein. Selbst ihr Name war ähnlich. Ich stöhnte auf, als von Rothbart sie als Odile vorstellte. Inmitten dessen, was eine Ansammlung pochen73
der Herzen geworden war, trat der Prinz vor, sich selbst vergessend, all die anderen vergessend, Odette vergessend, und streckte die Arme aus, um mit Odile zu tanzen. Als seine Hand die ihre berührte, kam es uns im Saal fast so vor, als waren wir selbst in einer Umarmung befangen. Und als er zu tanzen begann und ihrer beider Körper sich berührten, empfand sogar ich, in der Tiefe meiner Niederlage, so etwas wie Freude. Von Rothbart gab dem Dirigenten ein Zeichen, und dieser intonierte einen Walzer, der so sanft und betörend war, daß er die Zeit zum Stillstand brachte und die Schwerkraft aufhob. Eine riesige Fläche tat sich zwischen den Tanzenden auf. Die Umstehenden, hingerissen und entzückt, unter ihnen auch ältere Leute, die gescheiter hätten sein sollen, sahen wie gebannt zu, als der Prinz und Odile sich langsam auf dem Parkett drehten. In dieser Nacht erwählte er sie zu seiner Braut, und damit wählte er die Welt des Hofes und der Diplomaten anstelle der Welt der Wälder und der Seen.« Als es das hörte, stiegen dem Kind Tränen in die Augen. Der alte Mann jedoch wußte, daß die meisten Geschichten nie wirklich enden, sondern nur eine neue Form annehmen, und er fuhr fort. »Ich konnte nur an Odette denken«, sagte er. »Ich hatte dem Prinzen nichts von ihrer Geschichte erzählt, da 74
ich fürchtete, er würde sie aus Mitleid lieben. Aber nun war es zu spät. Einmal hatte ich geglaubt, daß von Rothbarts Bogenschützen das letzte Wort haben würden. Dann hatte ich gehofft, daß es nicht so sein würde. Und jetzt, obgleich ich mit Odette fühlte, als wäre ich ihr eigener Vater, konnte ich ihr nicht mehr helfen. Ich war tiefbewegt bei dem Gedanken an Odette, die im Wald auf den Prinzen wartete, ohne zu wissen, was er getan hatte, und ihn nie wiedersehen würde. Aber ich wußte überhaupt nichts, denn ich konnte nicht ahnen, daß sie bald sein Kind gebären würde.«
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»Zwei Jahre vergingen. Der Prinz vergaß die einfachen Dinge, die er einst geliebt hatte, und verbrachte seine wachen Stunden mit Odile, seiner Mutter und von Rothbart, völlig in Anspruch genommen von den Vergnügungen des Hofes. Unablässig damit beschäftigt, das Auf und Ab der Macht zu kontrollieren, seine Reichtümer zu genießen und die kalte Schönheit Odiles anzubeten, wurde er mir fremd, und ich blieb meinen Büchern, Geräten und Globen überlassen, die ihn – und, wie ich gestehen muß, auch mich – nicht mehr interessierten. Auch Odile nicht, um es gleich zu sagen. Abgesehen von ihrer atemberaubenden Gestalt, konnte ich nicht begreifen, was der Prinz an ihr fand. Sie war fast leblos, wie ein Stein in einem Schaukasten oder ein Porträt, das mißglückt war, weil der Maler nicht ein Maler von Menschen, sondern von Dingen war. Hätte es nicht einen Zwischenfall etwa anderthalb Jahre nach seiner Hochzeit mit Odile gegeben, hätte ich denken können, daß der Prinz seine Seele verloren habe. Ich saß auf einer der Stufen, auf denen ich ihn früher unterrichtet hatte, unter einem Dachvorsprung im Küchenhof. Es regnete heftig, wie es im Frühling sein muß, damit der Schnee schmilzt und der Sommer in Grün und Blau über die Steppen fegen kann. Während ich zusah, wie der Regen in einem spitzen Winkel auf die Ziegelmauer 76
fiel und dann in ihr hinunterlief, versuchte ich herauszufinden, warum das Wasser bei einem bestimmten Volumen und einer bestimmten Kraft abprallte und warum es das nicht tat, wenn beide Größen gering waren. Ich kam zu dem Schluß, daß die Wirkung unmittelbar der molekularen Struktur des Wassers zuzuschreiben war und daß die Schwelle der Adhäsion von der Affinität der Teilchen zur Gruppenbildung bestimmt wurde. Ich glaube, ich war meiner Zeit etwas voraus. Jedenfalls war ich tief von dem Phänomen in Anspruch genommen und rechnete laut vor mich hin. Als ich aufsah, stand der Prinz neben mir. ›Ich hab’ dich nicht gesehen‹, sagte ich. ›Ich weiß‹, erwiderte er. ›Ihr habt Zahlen vor Euch hingemurmelt.‹ ›Vergib mir‹, sagte ich kalt. ›Schon vergeben‹, sagte er, doppelt so kalt, denn er war schließlich ein Prinz. Das verletzte mich, denn in Wahrheit liebte ich ihn wie einen Sohn. ›Was habt Ihr gemacht?‹ fragte er. ›Die Kraft des Aufpralls zwischen einer gegebenen Wassermenge und einer porösen Oberfläche wie der eines Ziegels berechnet, die nötig ist, um das Wasser nicht zu binden, sondern abzuweise.‹ ›In welchen Einheiten?‹ ›In Kubikarmanden pro Hundertfüßer.‹ ›Wie könnt Ihr das ohne Instrumente?‹ 77
›Wie kann man das mit Instrumenten? Schätzung – es ist alles eine Sache der Schätzung. Wie man sich in eine Stimme oder in ein Gesicht verliebt: alles ist am genauesten, wenn die Genauigkeit fehlt. Und da Messungen, wie exakt sie auch immer sein mögen, nichts anderes sind als eine Analogie unbestimmbarer Mengen, habe ich, mein Prinz, keine Angst vor Schätzungen.‹ ›Ihr habt vor nichts Angst, Lehrer, oder?‹ ›O doch.‹ ›Ich dachte, Ihr wärt furchtlos. Ach, kommt. Ihr seid furchtlos. Ich glaube, Ihr könntet mir in die Augen sehen und mir sagen, daß ich gewissenlos sei. Ihr würdet sogar von Rothbart aufs Korn nehmen, nicht wahr?‹ ›Bist du von Rothbarts Spion geworden?‹ fragte ich, erstaunt über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. ›Aber ja, sicher würde ich das. Das ist es nicht, was ich fürchte. Ich bin alt, und mein Leben liegt hinter mir, so daß ich keine Angst davor habe, was aus mir werden könnte. Ich habe umgekehrt viel mehr Angst um andere und leide mit ihnen.‹ ›Die Welt im allgemeinen?‹ fragte er, als ob ich eine politische Behauptung aufgestellt hätte. ›Du weißt, daß ich nicht so bin. Alle zu lieben heißt keinen lieben.‹ ›Um was geht es Euch dann?‹ 78
›Um die, die rein sind‹, erwiderte ich, und es traf ihn, denn er wußte, wen ich meinte. ›Um die, die leiden. Um die, die warten.‹ Das darauffolgende Schweigen wurde unterbrochen, als eines der Orchester in einem nahe gelegenen Saal die Instrumente zu stimmen begann. Wenn ein erstklassiges Orchester seine Instrumente stimmt, ist mir das immer vorgekommen wie ein Spielzeugladen für das Ohr. Wir hörten zu, wie die Trompeten, Geigen, Trommeln und Holzbläser ihre Tonleitern spielten, während wir die ganze Zeit den Regentropfen zusahen, wie sie an den vollgesogenen Ziegeln herunterliefen. Dann begann das Orchester, fast zögernd, kurze, aber kraftvolle Abschnitte aus den schönsten Symphonien zu spielen. Der Wind und der Regen wurden stärker, bis das Wasser die Schwelle der Oberflächenspannung und der molekularen Adhäsion überschritt und von der Mauer abzuprallen begann. Ich wandte mich, wie früher, an den Prinzen, um eine Bemerkung darüber zu machen, und als ich das tat, sah ich, daß er starr geradeaus blickte und daß Tränen über sein Gesicht liefen.«
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»Bald war der alpine Sommer wieder ins Land gezogen, jene kühle Jahreszeit, die keiner anderen gleicht. Frag mich nicht, wie es möglich ist, daß sie die Freiheit und Freude des Sommers zusammen mit der Schwere und Tiefe des Winters enthalten kann. Frag die Berge.« »Das werde ich«, sagte das Kind, denn die Berge lagen vor ihm, Wächter der Schönheit, der Ruhe und des Friedens. »Der Prinz bat mich, ihn auf die Jagd zu begleiten. Ich sagte ihm, daß ich nicht den Wunsch hätte, etwas anderes zu töten als von Rothbart. Das war einer jener Witze, die man damals besser nicht machte. Er lachte jedoch und bat mich noch einmal. Ich sagte ihm, daß ich es ernst gemeint hätte und daß es viel zuviel im Palast zu essen gäbe, um das Jagen zu rechtfertigen. Ich sagte ihm, daß ich den Vorschlag bedaure. Ich sagte ihm ein halbes Dutzend anderer Dinge. Aber ich ging mit. Wir brachen früh am Morgen auf, etwa fünfzig Mann, auf den besten Pferden, die wir den Damawand hatten abnehmen können. Wir donnerten über die Brücken und preschten über die Waldwege, selbst die Kiefernzweige einschüchternd, die im Luftzug schwankten, wenn wir vorbeikamen.« »Hattest du keine Angst?« »Wovor?« 80
»Vom Pferd zu fallen, vor den Pfeilen und Bogen, vor den Soldaten.« »Natürlich nicht. Ich wußte, wie man ein Pferd reitet. Ich war selbst einmal Soldat gewesen, vertraut mit Schwert und Bogen.« »Wirklich?« fragte sie erfreut. »Ja. Überrascht dich das?« »Wann war das?« »Als ich ein junger Mann war.« »Du hast wirklich alles schon gemacht, Großvater.« »Nicht alles«, sagte er. »Noch nicht. An jenem Tag ritt ich mit großem Bedauern fort, aber nicht ohne Mut und Können. Der Prinz hatte lange den Anschein erweckt, linkisch und unbeholfen zu sein, doch obwohl er seine Fähigkeiten nur zu einem geringen Teil einsetzte, hatte der Rest der Truppe Schwierigkeiten, mit ihm Schritt zu halten. Diese Männer – die besten Soldaten des Reiches – waren so gewandt, daß sie ihre Pfeile, links und rechts, im Galopp abschießen konnten und die Tiere zur Strecke brachten, die das Donnern der Hufe der Damawand-Pferde aus ihren Zufluchtsorten aufgescheucht hatte. Manchmal töteten die Pfeile die Vögel und Rehkitze sofort, aber manchmal verletzten sie sie nur. Als wir weiterritten, ließen wir Hunderte tödlich verwundeter Tiere zurück – Geschöpfe der größten Schönheit und Anmut, dem Nichts überlas81
sen. Ich hatte natürlich schon vorher derartiges gesehen. Und Schlimmeres. Der Prinz nahm daran teil. Ich war überzeugt, daß er verloren war, wenn er so mutwillig tötete. Aber ich ritt weiter. Als wir den dunklen Wald und seine hohen, duftenden Bäume verließen, stürzte uns Sonnenlicht entgegen. Verwirrt und entzückt von der Helligkeit, machten wir halt an einem See, um die Tiere zu tränken und uns auszuruhen. Die fünfzig Damawand-Hengste standen jetzt in einer Reihe, die Hälse zum Trinken gebeugt, mit den Schwänzen schlagend, die seidenen, feuchten Flanken glänzend im Licht. Man braucht Damawand-Pferden an einem See oder Fluß nicht die Vorderbeine zu fesseln. Sie laufen weder fort, noch werden sie von den Gewässern angezogen, da sie von einem Ort kommen, der trocken ist. Die Soldaten, Jäger und Höflinge lagerten am Ufer. Einige schliefen in der grellen Sonne. Wir waren alle müde, da wir früh am Morgen aufgebrochen und schnell geritten waren. Auch ich war nahe daran einzuschlafen, als ich sah, wie der Prinz sich plötzlich aufrichtete. Er sprang auf die Füße, den Bogen noch in der Hand, und trat einen Schritt vor. Als ob ihre Anzahl vorherbestimmt worden sei, sammelten sich so viele Schwäne, wie es Jäger gab, wie eine Schlachtflotte 82
um einen nahe gelegenen Punkt im See. Ohne der Gefahr zu achten, schwammen sie geradewegs auf uns zu. Andere wurden jetzt wach und standen auf, zogen die Pfeile aus ihren Köchern und spannten ihre Bogen. Bald waren alle auf den Beinen, verharrten stumm am Ufer und erwarteten die Prozession der Schwäne. Als die Schwäne in Schußweite kamen, blickte ich traurig den Prinzen an. Aber er hatte seinen Bogen nicht gespannt. Er wartete wie angewurzelt, bis die Schwäne für einen fairen Abschuß zu nahe gekommen waren. Dann drehte er sich um und verbot allen, einen Pfeil abzuschießen. Zu sehen, daß die Schwäne vorbeizogen und die Pfeile auf den Sehnen blieben, war für mich eine großartige Sache. Ich sah, wie das Gesicht des Prinzen sich vor meinen Augen veränderte. Ich glaubte, er wisse nun, was er liebte, wen er liebte und was aus ihm werden würde. Er war nicht unglücklich, und er muß in der Entdeckung einer großen Schönheit Trost gefunden haben – wenn du einräumst, was ich immer getan habe, daß Schönheit das ist, was uns selbst im Wissen um unseren sicheren Tod glücklich macht. Was dann geschah, mußte geschehen. Einige der Vertrauten von Rothbarts, gewohnt, den Prinzen nicht zu respektieren – was teilweise meine Schuld 83
war –, konnten sich angesichts eines so verlockenden Zieles nicht zurückhalten und mißachteten seinen Befehl. Sie spannten ihre Bogen. Drei Pfeile schwirrten tief über das Wasser und senkten sich in die Brust von drei Schwänen. Es war, als ob der Prinz selbst getroffen worden wäre. Auch die anderen, an das Töten gewöhnt, zuckten bei dem Anblick der Schwäne zusammen, die in dem von ihrem eigenen Blut geröteten Wasser starben. Sie starben nicht nur an ihren Wunden, sondern ertranken, von der Wucht der Pfeile umgeworfen, so daß sie sich nicht wieder aufrichten konnten, die langen Hälse hilflos ausgestreckt. Das Gesicht des Prinzen spannte sich in einem Ausdruck, den ich nur im Kampf gesehen habe, und selbst da nur selten. Ich wußte, daß jetzt etwas Gewaltsames geschehen würde und daß es unvermeidlich war – als ob er nicht mehr er selbst, sondern eine sich brechende Woge oder ein Blitz wäre, der sich in einer Gewitterwolke aufgeladen hatte, um im nächsten Augenblick zur Erde zu zucken. Er legte den ersten Pfeil so schnell auf die Sehne, daß kein Auge der Bewegung folgen konnte, und schickte ihn in das Herz des ersten Vertrauten von Rothbarts. Bevor der zweite sich umwenden konnte, hatte auch sein Herz aufgehört zu schlagen. Der dritte Mann schoß auf den Prinzen, doch der 84
ließ sich fallen, um dem Pfeil auszuweichen. So flog er unsichtbar zwischen uns hindurch, aber wir konnten ihn hören. In einem einzigen Bewegungsablauf erhob sich der Prinz, legte einen weiteren Pfeil auf die Sehne und spannte seinen Bogen. Der Pfeil traf sofort sein Ziel. Jetzt war die Welt zerbrochen, und das Herz des Reiches würde zweigeteilt sein, wie der Kaiser vorhergesehen hatte: von Rothbart gegen den Prinzen. Beide waren fähige Männer und für den Kampf gewappnet. Keiner von uns, die wir damals dort standen, hatte den geringsten Zweifel, daß der Krieg lang und schrecklich sein würde. Tatsächlich erwarteten wir alle, Soldaten und ehemalige Soldaten, unseren baldigen Tod. Fassungslos und ohne Bewegung standen wir da am Ufer des Sees, überwältigt von dem Eindruck, Zeugen der Ablösung eines Zeitalters durch ein anderes gewesen zu sein. Es war, als ob mitten im Sommer der tiefste Winter eingefallen wäre – unerwartet wie ein Donnerschlag im Schneetreiben. In der Lähmung und Verwirrung des Augenblicks bestieg der Prinz, jetzt frei, sein Pferd und ritt davon. Einige der Männer von Rothbarts folgten ihm. Ich selbst blieb, wo ich war, nicht wissend, was ich tun sollte.«
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»Ich hoffe, daß es der beste Ritt seines Lebens war. Ich habe oft darüber nachgesonnen, wie es wohl gewesen ist, an was er gedacht und wie er sich gefühlt haben mag. Ich zweifle, daß er einen Aufstand plante. Die Klarheit jener letzten Stunden mußte ihm vor Augen geführt haben, daß er kaum eine Chance hätte – nicht, weil er unfähig gewesen wäre, sondern weil seine Interessen sich anderen Dingen zugewandt hatten. Die Zeit, die er am Hofe gefangen war, war nicht spurlos an ihm vorübergegangen und hatte ihn verändert. Um von Rothbart zu stürzen, hätte er ein Feldherr werden müssen, hätte er sich vordringlich mit objektiven Faktoren auseinandersetzen müssen – Strategie, Logistik und Politik. Aber ich bin überzeugt, daß er von der Welt des Herzens und all den Möglichkeiten, die sie birgt, besiegt worden war. Er hatte gesehen, daß kleine und anscheinend belanglose Ereignisse – oder einfache Verbindungen von Licht, Klang und Farbe – äußerst mächtig sein konnten, wenn es um die Seele des Menschen ging, und ihn in andere Welten entrücken konnten. Und er hatte gesehen, daß sie, wenn auch manchmal verborgen, zu Legionen, zu Heerscharen, zu Unmengen in dieser Welt vorkamen. Ich bin überzeugt, daß er, als er die Schwäne um jenen Punkt kreisen sah, ein anderes Reich wahrnahm, wie es einem manchmal passiert, und daß er bereit war, ihnen weit über die Grenzen sei86
nes Bewußtseins hinaus zu folgen, mochten sie ihn in die Dunkelheit führen oder ins Licht. Ein solcher Entschluß läßt ein Freiheitsgefühl in uns aufbranden, wie wir es nie zuvor gekannt haben. Und wenn du das mit einer Flucht auf dem Rücken eines Pferdes durch Gehölz und Wiesen eines Bergwaldes im Sommer verbindest, mit Wolken, die im Gegenzug langsam über einen azurblauen Himmel wandern, kannst du dir vielleicht vorstellen, wie er sich fühlte. Ich sehe die scharfen Ohren seines DamawandPferdes hoch aufgerichtet im Wind, während die Wege und Pfade schnell unter seinen Hufen verschwinden. Ich sehe die immergrünen Bäume vorbeifliegen und sich hinter dem Prinzen und seinem Pferd zu einer dunkelgrünen Mauer zusammenschließen. Ich spüre den Wind, die Geschwindigkeit, das Gefühl, zu fliegen und aufzusteigen. Er mochte gewußt haben, daß von Rothbarts Männer ihm hart auf den Fersen waren, denn um ihm auf den gewundenen Wegen und im tiefen Dickicht des Waldes zu folgen, mußten sie dicht hinter ihm bleiben. Vielleicht war es ihm gleichgültig, oder vielleicht achtete er nicht darauf. Wenn er gewußt hätte, was ihn erwartete, wäre er wohl umgekehrt und hätte seine Verfolger getötet. Als er die Hütte erreichte, wandte er sich tatsächlich um und blickte seine Verfolger an. Und sie 87
hielten an und ritten fort. Dann ging er hinein. Stell dir vor, was für ein Gefühl er hatte, als er nicht nur Odette, sondern auch ein kleines Kind in ihren Armen fand – sein eigenes. Und als er sich niederbeugte, hellte sich das Gesicht des Kindes auf. Ein Kind zu haben, das es zu schützen galt, ließ die Überlegungen, die er auf seinem Ritt angestellt haben mochte, gegenstandslos werden, die Gefahren und Ehren und was sie an Opfern und Blutzoll forderten. Mit einem Baby, für das du zu sorgen hast, mußt du umsichtig sein wie ein Krämer. Aber er hatte die Herausforderung bereits vergessen, und sie waren so tief im Wald, wie man nur sein konnte, ohne daß sie eine Möglichkeit zur Flucht gehabt hätten: die anderen Teile des Reiches boten kein so schützendes Terrain. Es blieb ihm nur ein Tag mit dem Kind und Odette, und er und Odette mußten wissen, was sie und ihr Baby erwartete.«
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»Mit einhundertundfünfzig seiner besten Männer verließ von Rothbart die Stadt. Abgesehen von den Damawand-Kriegern, die erst in Wochen eintreffen konnten, gab es keine Streitmacht, die ihnen hätte Paroli bieten können. Die Armee stand verstreut in allen Teilen der zerfallenden Provinzen, und die Kavallerie, verdorben durch unregelmäßigen Kriegsdienst in festen Garnisonen, hatte schon seit langem ihren Kampfgeist verloren. Selbst wenn es eine Truppe gegeben hätte, die imstande gewesen wäre, von Rothbart entgegenzutreten, hätte ich sie nicht schnell genug mobilisieren können, um ihn abzufangen. Er hatte einen beträchtlichen Vorsprung, und er war nicht ins Feld gezogen, um einen Kampf auszutragen, was ihn nur aufgehalten hätte, sondern um zu töten. Ich ritt hinter ihnen her, in der Hoffnung, den Prinzen und Odette warnen zu können. Doch da ich keine Ahnung hatte, wo der Prinz und Odette sich aufhielten, konnte ich den Männern nur folgen. Ich träumte davon, im letzten Augenblick durch von Rothbarts Reihen zu preschen, aber ich wußte, daß ich zu alt für solche Dinge war und daß seine Soldaten mich niedermachen würden. Ich dachte daran, ihn durch einen Schuß von meinem Bogen aufzuhalten, aber ich war nicht mehr der Schütze, der ich einmal gewesen war. Dennoch folgte ich ihm beharrlich, obgleich ich so wenig Kontrolle darüber 89
hatte, was mir bevorstand, wie wenn ich mit meinem Pferd einen Abhang heruntergefallen wäre. Die Soldaten sammelten sich nur kurz auf der Lichtung vor der Hütte. Dann schwenkten sie weit aus und spornten ihre Pferde an. Sie hatten den Prinzen und Odette oben auf einem hohen, sich nach Süden erstreckenden Hang erblickt. Ich fragte mich, warum die beiden nicht beritten waren und warum sie sich an einen so ungeschützten Ort begeben hatten, wo sie von allen gesehen werden konnten. Dort hatten sie, zu Fuß, nicht die mindeste Chance. Ich konnte das einfach nicht verstehen, bis die Soldaten die Lichtung verlassen hatten, denn dann sah ich eine alte Frau mit einem Baby im Arm aus der Hütte stürzen. Zunächst war ich verwirrt, doch als sie im Wald verschwand, verstand ich alles, und ich war so bewegt und so stolz auf den jungen Mann, den ich erzogen hatte, daß ich kaum weiterreiten konnte. Aber ich mußte weiterreiten. Ich jagte so schnell ich konnte die Wiese hoch – so langsam, schien es mir, daß ich mich fragte, ob ich träumte. Von Rothbart wagte nicht, sich dem Prinzen zu nähern, bevor seine Bogenschützen abgesessen waren und ihre Bogen zur Hand genommen hatten. Dann ritt er auf sie zu und machte vor ihnen halt. Der Prinz und Odette standen am Rande eines Fels90
vorsprungs so hoch über dem See, daß dessen Oberfläche aussah wie eine dünne Ölschicht, die das Sonnenlicht widerspiegelt. Das mußte die Stelle gewesen sein, an der er die Schwäne in goldenen und weißen Säulen hatte aufsteigen sehen. Als ich eintraf, zitterten die Arme der Schützen, die ihre Pfeile eingelegt und ihre Bogen gespannt hatten. Ich stand hinter ihren Reihen, doch nicht weit von meinem Jungen und Odette entfernt. Er lächelte mir zu, als ob er jedes Eingreifen abwehren wollte, als ob er mir sagen wollte, daß er zufrieden sei, und als ob er mir Lebewohl sagen wollte. Aber wie konnte er zufrieden sein, wenn nicht in dem Wissen, daß sein Kind in Sicherheit war? Ich konnte nichts gegen einhundertundfünfzig Bogenschützen mit schußbereiten Pfeilen ausrichten. Der Wind, der sich vom See erhoben hatte, wehte nach seinem schwindelerregenden Aufstieg über den Felsen, bauschte Odettes handgewebtes Kleid über ihren Knöcheln und trug mir ihre Worte zu. Dies war das erste Mal, daß ich sie sah, und das letzte Mal. Sie war sehr schön; das solltest du wissen. Es ist wichtig, daß du es weißt. Sie lag in seinen Armen, sah ihn an und sagte leise: ›Ich fürchte nichts, aber ich kann es nicht ertragen, von Pfeilen getötet zu werden.‹ Ohne es zu wissen, hatte sie sich an ihren Vater und ihre Mutter erinnert. 91
Dann sahen sie sich, mit dem traurigsten Ausdruck, den ich je gesehen habe, in die Augen, hielten sich fest und lehnten sich in den Wind. Für einen schrecklichen Augenblick sahen wir sie fallen, bis sie unseren Blicken entschwanden. Möge Gott mir vergeben, wenn dies nicht mehr ist als eine Illusion, die ich mir selbst geschaffen habe, aber sie stürzten nicht, taumelten nicht in ihrem Sturz, sondern sie fielen so, daß ihr Fall immer langsamer zu werden schien. Sie fielen, als ob sie wüßten, wie sie sich von der Luft tragen lassen könnten. Sie fielen in sanften, gedämpften Kurven, die an einen Flug gemahnten.«
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»Als von Rothbart auf jener Wiese sein Pferd wendete, wußte er, daß das Reich ihm gehörte. Obgleich er wegen des Todes des Prinzen zur Rechenschaft gezogen werden würde, konnte er ihn doch glaubhaft erklären, und tatsächlich hatte er den Prinzen ja auch nicht getötet. Und soweit von Rothbart weiß«, sagte der alte Mann und wandte seinen Kopf, um dem Kind in die Augen zu sehen, »gibt es keinen Thronfolger.« »Aber es gibt einen!« rief sie aus. »Ja. Es gibt jemanden, der eines Tages kommen kann, um Ansprüche auf einen Thron und ein Kaiserreich zu erheben, obgleich ich mir keineswegs sicher bin, daß es das ist, was der Prinz und Odette gewünscht hätten. Nichtsdestoweniger liegt es an ihrem Kind, sich zu entscheiden, welchen Weg sie gehen will.« »Sie?« fragte das Kind, dem rechtmäßigen Erben bereits tief ergeben. »Sie«, wiederholte er. »Woher weißt du das?« Der alte Mann nickte, bevor er sprach. »Die anderen waren schon fort, als ich mich noch immer nicht von der Stelle rühren konnte. Etwa eine Stunde blieb ich da oben über dem See und wagte nicht hinunterzuschauen. Statt dessen versuchte ich, mir so gut ich konnte das Bild der beiden jun93
gen Menschen ins Gedächtnis zurückzurufen. Jeder Tod, der dich tief berührt, beschleunigt deinen eigenen, und wenn es der Tod von jemandem ist, der so jung sterben mußte – nun, für einen alten Mann wie mich ist das fast unerträglich. Ich gestehe, daß ich in jenen Augenblicken daran gedacht habe, mich ihnen anzuschließen, und ich glaube, daß es nicht schwer gewesen wäre, ihnen zu folgen. Wie ich so darüber nachsann, hart am Abgrund stehend, hörte ich plötzlich ein Rauschen in der Luft wie von mächtigen Schwingen. Das Stärkerwerden des Windes hatte mir das Geräusch früh zugetragen. Ich wagte nicht aufzublicken, und ich brauchte es nicht, denn das Geräusch kam näher. Ich warf mir Wunschdenken vor und sagte mir, daß selbst wenn ich mir dieses Geräusch nicht einbildete, seine Bedeutung nur in dem liegen könnte, was ich ersehnte, und nicht in dem, was wirklich war. Es gibt gewisse große und schöne Dinge, die allem Anschein nach in dieser Welt zum Scheitern verurteilt sind. Alle Beweise, alle Vernunft zeigen das, und fast immer ist unsere Hoffnung nur unsere Strafe. Aber in dieser Welt gibt es auch schmerzliche und große Überraschungen, die uns über das hinausführen, was wir mit der Vernunft erklären und beweisen können. Ich habe nur meine Hoffnung, aber ich habe sie immer noch. Ich habe sie nicht aufgegeben und 94
werde sie nicht aufgeben. Das Geräusch war das Rauschen von Schwingen. Es stieg höher, und das Schlagen wurde so laut, daß es mich fast betäubte. Ich erschauerte, bevor sie hinter dem Rand des Felsens auftauchten. Sie kamen schnell. Dann stiegen sie wirklich über den Felsrand auf, standen am Himmel – zwei Schwäne mit ausgestreckten Schwingen. Sie ließen sich vom Wind tragen und bewegten sich mit mächtigen Flügelschlägen voran. Sie flogen mit großer Geschwindigkeit über mich hinweg und verschwanden hinter den Bäumen, als ob sie ein sehr bestimmtes Ziel hätten, das sie um keinen Preis verfehlen durften. Und ich blieb zurück mit nichts als dem Rauschen von Schwingen, das in meinen Ohren widerklang. Weit entfernt, auf dem Kamm der Matten, die in die hohen Berge führten, sah ich die Gestalt der Frau, die aus der Hütte geflohen war. Obgleich ich hinuntersteigen und um den See reiten mußte, wußte ich, daß ich sie vor Einbrach der Dunkelheit einholen konnte, denn mein Pferd war ein gutes Pferd.« Das Kind, das er so liebte, hatte angefangen zu weinen. »Ich habe immer gewußt, aus der Art, wie Odette sich ohne Erinnerung erinnerte, daß selbst ohne Erinnerung ihre Tochter davon träumen würde, ihre Eltern zu finden, und daß auch sie treu 95
sein würde. Aber sie sind verschwunden, und sie kann sie nicht mehr finden, es sei denn im Schlag ihres eigenen Herzens oder in der Stille des Waldes, wenn ein Schwan sich zum Flug erhebt und das weiße Schimmern seiner Schwingen sie in ihren Augen wieder zum Leben erweckt.« Jetzt schluchzte sie. Er nahm sie in die Arme und streichelte ihren Kopf. »Du mußt nicht traurig sein«, sagte er, »denn die Geschichte ist an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt, und du kennst das Ende. Mein Pferd war ein gutes Pferd. Ich konnte sie vor Einbruch der Dunkelheit auf einer hohen Matte einholen – die Frau und das Kind –, und seitdem bin ich immer bei ihnen geblieben.«
Mark Helprin hat die berühmte Geschichte von Schwanensee neu erzählt und der romantischen Fassung des Stoffs, wie sie in Peter Tschaikowskis Ballett zum Klassiker geworden ist, eine tiefere Bedeutung hinzugewonnen. »Elegant und wunderschön.« Publishers Weekly
isbn 3-10-030205-2