Reed Arvin
Schwarze Diva
s&p 07/2006
Anfangs ist es nur so ein merkwürdiges Gefühl. Aber schon bald fragt sich Pflich...
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Reed Arvin
Schwarze Diva
s&p 07/2006
Anfangs ist es nur so ein merkwürdiges Gefühl. Aber schon bald fragt sich Pflichtverteidiger Jack Hammond ganz ernsthaft, wie der merkwürdige Selbstmord seines alten Kumpels mit der verdächtigen Versuchsreihe eines mächtigen Pharmakonzerns zusammenhängt. Doch als er sich dann in die bildschöne Operndiva Michele verliebt, kommt er dem Geheimnis ganz aus Versehen gefährlich nahe … ISBN: 3805207859 Original: The Last Goodbye Deutsch von Erika Ifang Verlag: Wunderlich Erscheinungsjahr: 1. Auflage Juli 2005
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Nach einem verhängnisvollen Fehler bei seinem letzten Fall stürzt der junge Anwalt Jack Hammond aus einer Spitzenposition ins Bodenlose. Er muss sein Leben nun als Pflichtverteidiger von hoffnungslosen Verlierern fristen. Eines Tages hört er vom Selbstmord seines alten Schulkameraden Doug durch eine Überdosis und wird misstrauisch. Denn der Junkie und Computerfreak war seit einiger Zeit clean und steckte voller Pläne. Doch wer hätte ein Interesse daran, Doug zu ermorden? Als sich Jack um die Auflösung von dessen Wohnung kümmert, entdeckt er im Schlafzimmer unzählige Fotos einer atemberaubend schönen schwarzen Frau, der berühmten Opernsängerin Michele Sonnier. War Doug nur ein besessener Fan? Oder existierte eine geheimnisvolle Verbindung zwischen ihm und dem Star? Und könnte das etwas mit seinem Tod zu tun haben? Als Jack sich in Dougs Computer einloggt, findet er Unterlagen über ein pharmazeutisches Experiment, das acht Menschen das Leben gekostet hat. Die offenbar dafür verantwortliche Firma gehört Michele Sonniers Ehemann …
Autor Reed Arvin wuchs auf einer Rinderfarm in Kansas auf. Sein Leben änderte sich, als seine Eltern ein altes Klavier kauften. Von dem Augenblick an wurde Musik zu seiner großen Leidenschaft, und er verfolgte eine Karriere als Musiker und brachte es bis zum bekannten Musikproduzenten. Dann entdeckte er seine Liebe zum Schreiben. Gleich mit seinem ersten Thriller »Erbfeind« bekam er hervorragende Kritiken. Mit »Schwarze Diva« gelang ihm der große Durchbruch.
Für Dianne Bella como la luna y las estrellas
1 Ich will es Ihnen also sagen. Ich erzähle es Ihnen, weil ein Geständnis der Seele gut tun soll, und unter den verschiedenen Muntermachern, die zur Wahl stehen – vom christlichen Beichten über Tony Robbins bis hin zu der freundlichen Nachtapothekerin –, scheint mir diese Gewissenserleichterung am risikoärmsten zu sein. Was meine Seele betrifft, halte ich es wie ein Arzt: Füge vor allem niemandem Schaden zu. Alle Prinzipien über den Haufen geworfen. Genau das habe ich getan. Ein kurzer Augenblick, und mein Leben – in dem ich zwar nicht unbedingt höchsten Ansprüchen genügte, aber doch weithin geachtet war – zerbrach in Scherben. Der Abstand zwischen Integrität und Verlust der Unschuld erwies sich als rasierklingendünn, eine Hand voll Entscheidungen, glatt, von Begierde geölt. Ich hatte gedacht, ich hätte mir eine Frau ausgewählt. Ich hatte gedacht – und daran habe ich schwer zu schlucken, aber es ist die Wahrheit, und hier geht es ja um Gewissenserleichterung –, dass ich sie verdient hätte. Und jetzt verfolgt sie mich als Gespenst und will mich zur Rechenschaft ziehen. Dies ist der Beginn des moralischen Untergangs: gefangen zu sein von den Augen einer Frau. Als ich ihr in die Augen schaute, war mein Kopf plötzlich leer. Ich weiß nur noch, dass sie in meinem Büro stand, dass sie weinte und dass ich sie irgendwann bat, Platz zu nehmen. Sie hieß Violeta Ramirez, und ich sah über ihre kunstlederne Handtasche, ihre Kleidung von Wal Mart und die Laufmasche in ihrem Strumpf hinweg. Dabei sind das eigentlich Zeichen dafür, dass sie hier am falschen Platz war, ebenso wie eine Timex deplatziert ist in einem Geschäft, das Jachten verkauft. Dafür sah ich ihre makellose karamellfarbene Haut, das nach hinten gebundene dicke schwarze Haar, die 5
unauslotbaren braunen Augen. In meinem Körper lief alles nach Drehbuch, Hormone überschwemmten die Zellen, Neuronen feuerten, und Jahrmillionen der Evolution reihten meine Gedanken aneinander wie Zinnsoldaten. Die Mandanten von Carthy, Williams & Douglas weinten im Allgemeinen nicht in meinem Büro. Vielmehr tobten sie meist und fluchten, hörten mir allenfalls zu, wenn ich Glück hatte. Wer 400 Dollar die Stunde für das Privileg bezahlt hat, auf dem Stuhl mir gegenüber Platz nehmen zu dürfen, der findet Klagen über sein Benehmen unangebracht. Eine weinende Frau war jedoch etwas anderes, und so sprang ich sofort auf und fragte sie, ob ich ihr irgendetwas bringen könne. Sie war außergewöhnlich schön, sie weinte, und sie konnte nicht einfach abgewiesen werden. Caliz sei der Vater ihres Kindes, erzählte sie mir. Es sei ein Fehler passiert; er habe die Polizei verärgert, und daraufhin hätten sie ihm las drogas untergejubelt. Er sei ein guter Mensch, wenn die Leute ihn nur verstehen würden. Er habe ein freches Mundwerk, und dafür habe ihn die Polizei bezahlen lassen. Er sei kein Waisenknabe, das wüsste sie – war das ein blauer Fleck dort unter ihrem dunklen Make-up? –, aber in diesem Fall sei er unschuldig. Ich weiß nicht, ob sie merkte, welche Wirkung sie auf mich hatte. Ich sah wie hypnotisiert zu, wie jede Träne ihr die Wange hinabrollte. Sie schlug die Beine übereinander, und mir stockte der Atem. Nicht, dass ich an den meisten anderen Frauen etwas auszusetzen hätte. Ich habe Frauen gemocht, seit ich denken kann, die warme Vollbusigkeit meiner Mutter ebenso wie den scharfen Verstand der Mitinhaberinnen dieser Firma. Nur hat Feminismus für den menschlichen Körper keinerlei Bedeutung, und es war etwas so Unkompliziertes, Verletzliches an dieser Frau, dass ich machtlos war und sie mit allen Fasern meiner Seele begehrte. Immerhin kam ich meinen Verpflichtungen nach und erklärte 6
ihr, dass wir keine Strafverteidigungen übernähmen und Drogenfälle schon gar nicht. Danach weinte sie noch haltloser, und am Ende brachte ich es nicht einmal fertig, ihr zu sagen, dass sie meine Gebühren wohl kaum bezahlen könne. Aber das war letztlich egal, denn Carthy, Williams & Douglas hätten eher den Todesengel in ihre Räume eingelassen, als einen Drogendealer zu verteidigen. Also sagte ich einfach, dass mir die Hände gebunden seien, was der Wahrheit entsprach. Es lag nicht in meiner Macht, die Firmenregeln aufzuheben. Daraufhin erhob sie sich, schüttelte mir die Hand und schlich geknickt und in Tränen aufgelöst aus meinem Büro. Noch Stunden später hatte ich ihr Bild vor Augen. Ich starrte den Stuhl an, auf dem sie gesessen hatte, und wünschte sie mir zurück. Zwei Tage lang konnte ich im Büro keinen Schlag tun. Dann rief ich sie an und sagte ihr, ich wolle sehen, was sich machen lasse. In Wahrheit hätte ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie wiederzusehen. Es war Schwerarbeit, meine Idee der Firma zu verkaufen. Carthy, Williams & Douglas waren bisher peinlich genau darauf bedacht gewesen, sich Rechtshilfefälle möglichst weit vom Hals zu halten. Ihre Büros nahmen die obersten drei Stockwerke des Tower-Walk-Gebäudes in Buckhead ein, jenem Viertel von Atlanta, in dem es ein Verbrechen ist, alt oder krank zu sein. Und wenn sich irgendjemand ein paar Tage in den Slums tummeln musste, dann wohl kaum ich, Jack Hammond. Mein Jurastudium lag erst drei Jahre hinter mir, und ich war eben nach Atlanta gezogen, dem Magneten, der versprengte Existenzen aus dem gesamten Südwesten der USA anzog, arbeitete 72 Stunden die Woche und lebte im Allgemeinen weit über meine Verhältnisse. Irgendwelche Abwege konnte ich mir gar nicht leisten. Trotzdem verabredete ich einen Termin mit dem Mitbegründer der Firma, Frank Carthy. Carthy war siebzig Jahre alt und hatte zu einer Zeit Karriere gemacht, als es noch zur Verantwortung jeder großen Firma 7
gehörte, sich auch ehrenamtlich zu betätigen. Bis Anfang der achtziger Jahre wurden solche Leistungen erwartet, und die Richter hatten sie immer als Verpflichtung des Berufsstandes ausgegeben. Ihm war es recht gewesen; er war ein Liberaler alter Schule aus dem Süden und hatte eine Schwäche für Bürgerrechtsfälle. Er erzählte noch immer gern davon, wie er in den sechziger Jahren Protestler aus dem Gefängnis geholt hatte, die meist nur deshalb eingelocht worden waren, weil sie sich im Restaurant auf einen Platz gesetzt hatten, für den sie die falsche Hautfarbe hatten. Auch wenn er wahrscheinlich einen Drogenfall ablehnen würde, reizte ihn unter Umständen der Fall einer weinenden Frau und einer auf Rassendiskriminierung beruhenden rechtswidrigen Inhaftierung. Ich sah Carthy nicht oft; innerhalb der Firmenhierarchie saß er auf dem Olymp und stieg selten zum Hades zwei Etagen tiefer hinab, wo die neuen Kollegen saßen. Obwohl ich wie ein Verrückter schuftete – vor allem, um die Jahre in Dothan, Alabama, zu vergessen, wo ich aufgewachsen bin, und eine Jugend, die so stinknormal war, dass man sie aus Karton hätte ausschneiden können –, hatte ich nicht viel mit den Göttern der Firma zu tun. Bei meinem Einstieg hatte ich noch den Eindruck gehabt, dass ich glänzende juristische Fähigkeiten besaß; bei Carthy, Williams & Douglas musste ich die Entdeckung machen, dass ich, der cleverste Junge von Dothan, Alabama, doch nur ein strahlender Diamant in einem absoluten Dreckloch gewesen war. Ein Gespräch mit einem der Firmengründer konnte folglich meine beruflichen Aussichten nur verbessern. Ich merkte gleich, dass ich ihn an einer schwachen Stelle erwischt hatte. Eine Zeit lang hatte ich sogar Sorge, er würde es mit mir versuchen wollen. Für Carthy, einen vielfachen Millionär, war ein Fall wie dieser so, als stelle er sich mit einer Sammelbüchse der Heilsarmee ein paar Stunden vor einen Lebensmittelladen, allerdings ohne dabei nass zu werden: Es tat der Seele wohl. Er nahm vermutlich an, dass dieser Ausdruck 8
anwaltlicher Großzügigkeit lediglich ein kleiner Extraschlenker sein und nur einige Stunden in Anspruch nehmen würde. Der Drogengerichtssaal – ein kleiner, der Polizeiwache angeschlossener Raum, in dem nur zehn Leute Platz fanden – war kaum mehr als eine Drehtür. Ich traf mich am nächsten Vormittag mit Caliz, wozu ich mich in die inneren Räumlichkeiten des Bezirksgefängnisses von Fulton begeben musste. Der Geruch dort spiegelt eine Atmosphäre wider, die mit allem Unangenehmen gesättigt ist, das sich ansammelt, wenn alles schief geht. Es riecht nach menschlichem Elend, Schweiß und kalter Bürokratie, nach eisernen Aktenschränken, Obdachlosen, übergewichtigen Cops und Neonleuchten, die nie ausgeschaltet werden. Ich folgte einem schweigenden Wärter in einen öden Raum mit zwei Eisenstühlen und einem langen Tisch. Caliz kam ein paar Minuten später, und es dauerte keine Sekunde, da wusste ich, dass ich ihn nicht mochte. Er war erst Anfang zwanzig, hatte aber schon den frech starrenden Blick des kleinen Ganoven. Seine Augen ließen abgrundtiefe Wut auf alles und jeden und soziales Außenseitertum ahnen. Was immer ihm auf seinem Gebiet noch fehlen mochte, das hatte er sicher nach ein paar Jahren in der Schule der Grausamkeit, genannt Staatsgefängnis, gelernt. Es war unmöglich, ihm einen klaren Bericht zu entlocken, da ihm die Kunst des Lügens bereits zur zweiten Natur geworden war. Er sah mir völlig ausdruckslos direkt ins Gesicht und sagte: »Nein, la policia hat las drogas in das Auto geschmuggelt. Ich nehme nie las drogas. Ich bleib weg davon.« Quatsch, dachte ich, aber eigentlich war es egal. Die wirkliche Frage war, warum er überhaupt mit seinem Wagen an den Straßenrand gewinkt worden war und warum nach einer kurzen, unfreundlichen Unterhaltung die Rückbank seines Wagens auseinander genommen und sein Kofferraum gründlich durchsucht worden war. Soziale Unangepasstheit setzte noch 9
lange nicht die Verfassung außer Kraft. Miguel Caliz gegen die Polizei von Atlanta zu vertreten war sicher kein Honigschlecken, doch dann lernte ich am Nachmittag die Beamten kennen, die ihn verhaftet hatten, und sie waren genau so, wie Caliz sie beschrieben hatte. Das war der Augenblick, in dem ich wusste, dass Caliz frei kommen würde, ob er schuldig war oder nicht. Die beiden Polizisten waren niederträchtige Arschlöcher, denen ihre Vorurteile ins Gesicht geschrieben standen. Im Grunde glichen sie Caliz: Sie waren Kerle, die ihren Lebensunterhalt aus dem Leid der Gesellschaft bezogen. Es war also einfach menschlich – jeder hasst es, an die eigenen Defizite erinnert zu werden –, dass Caliz das Schlimmste in ihnen zutage förderte. Ich konnte es ihnen an den Augen ablesen: Sie mochten Latinos nicht, sie mochten Caliz nicht, und vor allem mochten sie Leute nicht, denen sie keine Angst einjagen konnten. Wenn ich Geschworene mit der richtigen Einstellung zusammenbrachte, würde ein Blick auf diese beiden Beamten genügen, um Caliz frei zu kriegen. Nichts von alldem erklärte, was weiter geschah, wie ich seine Freundin zum Essen ausführte, wie wir uns stundenlang unterhielten und dabei in Bereiche abschweiften, von denen sie keine Ahnung hatte: das Jurastudium, den Sommer, in dem ich als Rucksacktourist Europa bereist hatte – nur drei Wochen lang, aber da hatten wir schon einiges getrunken –, und dass der Wert einer wirklich guten Flasche Wein nicht bloß nach dem Preis bemessen werden kann wie bei unbedeutenderen Dingen. Ich wusste im Grunde wenig von solchen Sachen, aber sie hatte mich mit ihren glänzenden dunklen Augen angeschaut, und das hatte genügt. Es war ein nasser Herbstabend, und sie hatte sich eng an mich geschmiegt, als wir an den Geschäften von Buckhead vorbeigingen, eine Welt, von der sie vernünftigerweise nie hoffen würde, dass es die ihre werden könnte. Sie trug das, was Ghettogirls immer tragen, wenn sie irgendwohin gehen, wo sie anständig aussehen müssen – etwas 10
Schwarzes, ein bisschen zu eng, ein bisschen zu kurz. Im Wort Verführung ist ein Opfer mit inbegriffen, aber das, was als Nächstes geschah, war zu verwirrend, als dass sich das Wort darauf anwenden ließe. Natürlich habe ich mich im Stillen gefragt, wie es wohl wäre, wenn ich ihrer Schönheit verfiele, wenn ich mich in ihren dunklen glänzenden Augen selber sähe. Und nach ein paar Stunden lud ich sie tatsächlich zu mir nach Hause ein – ich brachte die Einladung ein bisschen unbeholfen vor, aber sie schien es nicht zu bemerken –, und redete mir noch immer ein, wir würden ja nur ein wenig Zeit miteinander verbringen und uns unterhalten. Aber in meiner Wohnung stieß sie an mich und berührte mich dabei mit ihren Brüsten, und da zog ich sie an mich, entschlossen, sie wie den Engel zu behandeln, den ich in ihr erblicken wollte. Meine Sünde war nicht die Wollust. Meine Sünde war die Sünde Satans, der Gott gleich sein wollte. Ich wollte der Erlöser der erdhaften Violeta Ramirez sein, und dafür sollte sie mich anbeten. Am nächsten Morgen raschelten die Laken neben mir, und ein erlesener Duft von Weiblichkeit umschmeichelte mich, als ich erwachte, sodass mir fast schwindlig wurde. Sie seufzte schwer und drehte sich, wobei ihr hellbrauner Rücken meine Hüfte streifte. Ich schloss die Augen und empfand so etwas wie ein Hochgefühl, nur echter, erdverbundener. Sie schlief so tief, so unbekümmert, dass ich mich wieder einmal wundern musste, warum Gott mit seinem unendlichen Sinn für Ironie so oft Engel wie Violeta mit Verlierern wie Caliz vereinte. Vielleicht war ich ein Romantiker. Ich bin sicher, dass ich in jenem Lebensabschnitt noch romantisch veranlagt war. Vielleicht gab sie sich zwanghaft mit bösen Jungs ab. Vielleicht arbeitete sie Probleme mit ihrem Vater auf, indem sie sich mit Kerlen wie Caliz einließ. Vielleicht war sie wie ich und wollte einfach selber jemanden erlösen. Auf jeden Fall passte Caliz auch in dieses Schema. Der Geist ist unendlich komplex. Während ich wach neben ihr im Bett lag, wusste ich nicht 11
mehr, ob das, was zwischen uns geschehen war, Liebe oder eine billige Romanze war. Es gab wenig Anhaltspunkte zur Klärung, und ich hatte keine Chance, es herauszufinden. Einer von Gottes Tricks ist der, den menschlichen Geist im Augenblick der Paarung mit so viel Engelsstaub einzunebeln, dass einem erst in der Rückschau die wahre Bedeutung der Dinge aufgeht. Wir verlieben uns, und erst beim vierten Date fragen wir uns, mit wem zum Teufel wir da eigentlich zusammen sind. Ich weiß jedenfalls, dass Violeta, als sie schließlich erwachte und begann, sich anzukleiden, mir noch schöner erschien als am Abend zuvor. Mir ging schlagartig auf, wie außergewöhnlich der Sex mit ihr war, dass sie mich jetzt beim Herumlaufen in sich trug, mich, in der reinsten Essenz meines genetischen Codes. In ihrem warmen Leib war jetzt ich in allen Einzelheiten, und ich war maßlos, unglaublich glücklich. Wir sprachen kaum miteinander, bevor sie ging. Sie zog sich an und verschwand mit Grazie, unaufdringlich und ohne Forderungen zu stellen. Sie ließ mir allerdings meine Aufgabe zurück: Miguel Caliz aus dem Gefängnis zu holen. Das war das Mindeste, was ich ihr schuldete. Und nach dem, was eben geschehen war, schuldete ich es auch ihm. Ich musste ihm Kleidung kaufen, und ich bezahlte sie selbst, vielleicht als eine Art Buße. Ich wusste, dass ich eine moralische Grenze überschritten hatte, allerdings veränderten sich diese Grenzen seit kurzem dermaßen schnell, dass unklar war, wo sie eigentlich verliefen. Ich wusste nur eins sicher: dass Gewinnen den höchsten moralischen Stellenwert hatte. Ich überreichte Caliz den Anzug im Gefängnis, und er nahm ihn wortlos an. Ich wartete, bis er umgezogen war, ehe ich seine Aussage mit ihm durchging. Er sah jetzt gut aus, aber nicht stutzerhaft, und das war der Sinn der Sache. Die Geschworenen sollten nicht merken, dass ich Caliz eingekleidet hatte, deshalb hatte ich einen preiswerten, nicht zu modischen Anzug gekauft. Zehn Minuten nach Beginn der Verhandlung wurde mir klar, 12
dass es überhaupt keine Rolle spielte. Ich hatte alles sorgfältig geplant und war darauf vorbereitet, die aktuellsten juristischen Kommentare zum Verfassungsrecht anzuführen, was Durchsuchung, Verhaftung und die rassistischen Hintergründe dafür betraf. Ich bekam gar keine Gelegenheit dazu. Jeder im Gerichtssaal starrte wie gebannt auf den Polizeibeamten im Zeugenstand, wie er sich bloßstellte, während ihm der unverhohlene Abscheu vor allem, was in den ärmeren Stadtvierteln von Atlanta braun war, ins Gesicht geschrieben stand. Ich fragte mich tatsächlich, wie lange die Staatsanwältin das noch mit ansehen würde. Aber sie konnte nichts machen. Der Polizeibeamte hatte die Festnahme vorgenommen, und ohne seine Aussage gab es kein Verfahren. Sie musste ihn trotz seiner hasserfüllten Miene, seiner wütend zusammengekniffenen Augen und seines sarkastischen Tons weiter verhören. Die Jury – es war für mich überhaupt keine Frage gewesen, ob ich auf einer Jury beharren sollte oder nicht – bestand zur guten Hälfte aus Latinos, und von denen schlug ihm der geballte Hass entgegen, der sich in hundert und mehr Jahren aufgebaut hatte. Caliz’ Verhalten hatte auch geholfen; der Junge war, wie viele Ganoven, ein guter Schauspieler. Hatte er auf mich noch einen argwöhnischen, gefährlichen Eindruck gemacht, so verwandelte er sich jetzt in ein verschrecktes Opfer. Seine Stimme zitterte. Die Beamten hätten ihn wegen seiner Hautfarbe an den Straßenrand gewinkt. Es sei demütigend für ihn gewesen. Sie hätten ihn durchsucht, weil sie seinen Akzent nicht mochten. Natürlich seien ihm Drogen ein Begriff. Jeder in seinem Viertel wisse Bescheid. Aber er habe nie im Leben etwas genommen. Die Geschworenen brauchten keine Stunde, um ihn freizusprechen. Darin lag eine gewisse Genugtuung, glaube ich. Ich musste mir meine Befriedigung holen, wo ich sie kriegen konnte, denn von Caliz bekam ich kein Feedback. Er schüttelte mir nicht einmal die Hand, als er den Urteilsspruch hörte. Stattdessen drehte er sich um und sah 13
Violeta an, die still hinter uns beiden saß. Und das war der Augenblick, in dem ich mich zu fragen begann, wer eigentlich den Zug lenkte, in dem ich saß. In der Nacht dachte ich an sie; sie fehlte mir. Ich war ein bisschen wirr im Kopf, fragte mich, was sie wohl mache. Lag sie flach und ließ es fröhlich geschehen, dass Caliz mein Erbgut durch seines ersetzte? Oder bestand sie auf ihrer Unabhängigkeit und erklärte ihm, ein Mann, der immer wieder im Gefängnis sitze, sei nicht mehr akzeptabel für sie? Ich wünschte sie mir ins Bett zurück, wollte wieder fühlen, wie sie die Beine um mich schlang, mich wieder in ihren dunklen Augen und Haaren verlieren. Am nächsten Morgen, als ich ins Alltagsleben zurückgekehrt war, kam sie mir immer wieder in den Sinn und nahm Gestalt an in meiner Erinnerung. Ich war nahe daran, sie anzurufen, formulierte im Geiste schon ein paar banale Fragen, wollte sie bitten, ein paar Schriftstücke zu unterzeichnen, auf denen ich ihre Unterschrift benötigte. Ich begriff noch nicht, welch ein Abgrund zwischen normalem und kriminellem Denken liegt. Für Caliz spielte es keine Rolle, ob Violeta sich geopfert hatte, um ihm den Rechtsbeistand zu verschaffen, den er selbst sich nie hätte leisten können. Für ihn zählte nur, dass ein zorniger junger Mann wie er die Frau seines Lebens verprügeln kann. Hatte sie mich auf seine Anordnung hin verführt, hatte er vielleicht nur geargwöhnt, dass es ihr zu viel Spaß gemacht hatte? Ich habe es nie herausgefunden. Ich weiß nur, dass er sie, zwei Tage nachdem ich ihn aus dem Gefängnis geholt hatte, zu Tode prügelte. Der Gerichtsmediziner erklärte mir, sie habe wohl aufgehört, um Gnade zu betteln, als er ihr den Kiefer brach. Aber erst, als er ihr auch die Rippen brach, habe sie zu atmen aufgehört. Die Atmung habe sowieso nicht mehr lange funktionieren können wegen der Lungenverletzungen und der Flüssigkeit, die sich dadurch ziemlich schnell um das Herz herum angesammelt habe. Nach seiner Schätzung hatte sie 14
wahrscheinlich noch vier bis sechs Minuten gelebt. Niemand konnte etwas darüber sagen, was in Miguel Caliz’ Kopf vorgegangen war, während er Violeta Ramirez die Seele aus dem Leib prügelte. Vielleicht hatte er Rache an ihr genommen, weil sie die wichtigste Regel im Umgang mit einem Ganoven gebrochen hatte: ihn nie zu betrügen. Aber womöglich hatte er gar nichts gefühlt. Womöglich war er so ruhig gewesen wie ein heißer, stickiger Sommertag in Atlanta. So oder so, Violeta Ramirez war tot. Ich erfuhr es bei einem Mittagessen mit Mandanten in 103 West, einem trendigen, teuren Buckheader Restaurant, wo mir die Zeugenvorladung übergeben wurde. Ich lächelte entschuldigend wegen der Unterbrechung, stellte mein Glas Pinot noir ab und las die paar Zeilen, die meine Welt in Trümmer legen sollten. Diesmal war Caliz’ Rechtsanwalt billig – ich hatte noch nie etwas von der Kanzlei gehört –, aber nicht so billig, dass er nicht wusste, wie er die Tatsache, dass ich gerade mit dessen Freundin geschlafen hatte, für seinen Mandanten ausnutzen konnte. Es war also eine eidliche Aussage meinerseits nötig. Einige Wochen später legte ich meine Hand auf die Bibel und schwor, mein Name sei Jack Hammond, und ich hätte folgende Sünden begangen. Aber der Richter war kein Priester, er erlegte mir keine Buße auf. Da müsste ich selbst sehen, wie ich zurechtkäme. Allerdings benutzte er bei seiner Rüge das Wort verwerflich, bevor ich aus dem Zeugenstand entlassen wurde. Dieses Wort genügte der Firma Carthy, Williams & Douglas. Sie legte keinen Wert auf einen Angestellten, der diese Bezeichnung verdiente. Das, was der Frau zugestoßen sei, werfe ein schlechtes Licht auf die Firma – und damit saß ich auf der Straße. Mehrere Wochen lang ließ ich das Licht in meinem Schlafzimmer brennen. Ich saß nur da und schaute zu, wie die Stunden langsam vorübertickten. Irgendwann forderte mein 15
Körper sein Recht, und ich schloss die Augen. Aber es war ein gefährlicher Schlaf, der keinerlei Schutz gewährte. Es ist mir völlig gleichgültig, dass Miguel Caliz die nächsten Jahrzehnte in einem Bundesgefängnis verbringen wird. Caliz hinter Gittern zu wissen hat jedoch nicht vermocht, die Erinnerungen an Violeta Ramirez verblassen zu lassen. Diese Erinnerungen verfolgen mich weiterhin bei Tag und auch bei Nacht. Alle Prinzipien über den Haufen geworfen. Genau das hatte ich getan. Und hier habe ich nun gebeichtet, zu meinem Seelenheil. Doch auch wenn ich gebeichtet habe, wird die Narbe bleiben. Solange ich diese eine Sache in meinem Leben nicht in Ordnung bringe, werde ich keinen Frieden finden.
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2 ZWEI JAHRE SPÄTER Mit geschlossenen Augen erinnerte ich mich. Der ehrwürdige Judson Spence, mein Juraprofessor, wiederholte sich unermüdlich, um uns jungen Idealisten voller Leidenschaft einen guten Rat einzuhämmern: Meidet das Strafrecht wie die Pest. Es ist im Leben prinzipiell so: Wenn man sich einmal auf die Scheiße eines anderen Menschen eingelassen hat, zieht man magnetisch immer mehr Scheiße an. Indes steuerte er seine begabtesten Studenten zur viel profitableren, aber vergleichsweise sauberen Welt zivilrechtlicher Delikte hin. Der ganze Jahrgang musste einen Satz auswendig lernen: »Bring deine Zeit mit Erfolgreichen zu, und du wirst selbst erfolgreich sein.« Andernfalls werde, so sagte er warnend, zwangsläufig ein Regen menschlicher Exkremente nach dem anderen auf uns niedergehen, wenn sich die Geschädigten dieser Welt um den Retter in der Not scharten. Ich, Jack Hammond, bin der lebende Beweis dafür, dass Judson Spence, mein Juraprofessor, ein absolut genialer Mensch war. Nach einer langen Dienstreise durch die Welt, vor der er immer gewarnt hatte, habe ich festgestellt, dass meine eigene magnetische Anziehungskraft beträchtlich ist. Nicht, dass mich das reich gemacht hätte. Meine Büroräume sind zweckmäßig, bei der Lage angefangen – in einer wenig frequentierten Einkaufsstraße im Südwesten Atlantas – bis hin zum Mobiliar, billig geleast und wenig einladend. Die Wandfarbe – ein seidenmattes Eierschalenweiß mit der unangenehmen Tendenz, das harte Deckenlicht auf den Linoleumbelag zurückzuspiegeln –, setzt sich so einheitlich auf Türen und Decken fort, dass dem 17
Besucher schwindelig wird. Auf einem Schild an der fabrikgefertigten glatten Tür steht »Jack Hammond und Partner«. Das ist stark übertrieben, denn außer mir hat die Firma nur noch eine einzige weitere Angestellte, meine Sekretärin Blu McClendon. Partner machen sich immer gut im Telefonbuch, deshalb tue ich das. In diesem Abschnitt meines Lebens kann ich mir keine großen Skrupel erlauben. Es ist die Zeit zum Überleben. Blu als Sekretärin auszugeben ist, um ehrlich zu sein, auch beschönigend. Sie kann so gut wie nichts, aber dafür hat sie ein auskömmliches Gehalt und einen behaglichen Sessel, in dem sie sitzen und Vogue oder einen Versandhauskatalog lesen kann. Wie könnte ich sie beschreiben? Sie ist ein Kind der Liebe von Marilyn Monroe und jemandem, der nicht besonders gut Englisch spricht, jemandem wie Tarzan. Ihr Haar – dunkelblond mit hellen Strähnen, allerdings nur gerade jetzt, denn es ändert sich unentwegt – umrahmt ein Gesicht von mystischer Symmetrie. Angesichts der Art und Weise, wie die sanfte Abwärtskurve ihres Rückens mit der aufstrebenden Rundung ihres Hinterteils zusammentrifft, bekommt ein Mann sofort weiche Knie. Aber nur ein Paar Knie ist entscheidend für das Überleben von Jack Hammond und Partnern, und das sind die Knie von Sammy Liston, dem Justizsekretär von Richter Thomas Odom. Die Worte, die mich in die Lage versetzen, der wunderschönen Miss McClendon drei Dollar mehr als das Minimum zu zahlen, lauten: »Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird das Gericht Ihnen einen Pflichtverteidiger zuweisen.« Obwohl jeder in Atlanta die gleichen Chancen hat, mit Drogen in Berührung zu kommen, erfasst das Rechtssystem keineswegs alle gleich. Vielmehr konzentriert es sich auf einkommensschwache Schwarze. Da das Gericht von Richter Thomas Odom – übrigens genau jener Sumpf, in dem meine eindrucksvolle Karriere ihren Knick erhielt – mit solchen Fällen überlastet ist, 18
sieht sich der gute Richter gezwungen, diesen schönen, unsere Miete einbringenden Satz mehrmals täglich auszusprechen. Die Details überlässt er Sammy Liston, seinem bewährten Angestellten, der hoffnungslos in meine Sekretärin verliebt ist. Sammy und ich haben stillschweigend eine Abmachung getroffen: Ich stehe unermüdlich zur Verfügung, verhalte mich Verfahrensabsprachen gegenüber wohlwollend und mache, wenn er mir erzählt, er hätte Chancen bei Blu, ein Gesicht, als würde ich ihm glauben. Seine Liebe zu ihr ist ebenso verzehrend wie einseitig und aussichtslos. Blu McClendon würde nicht einmal nach einem nuklearen Holocaust mit Sammy ausgehen. Als Gegenleistung dafür, dass ich einfach darüber hinwegsehe, bin ich von der Bürde befreit, mein Konterfei auf Bushaltestellenbänke kleben zu müssen, und brauche auch nicht auszuknobeln, wie ich es fertig bringen kann, dass meine Telefonnummer mit S-O-S endet. Um es klar heraus zu sagen: Wenn bei Jack Hammond und Partnern das Telefon klingelt, hoffe ich immer, dass Sammy dran ist. Ein Anruf von Sammy ist im Schnitt 500 Grüne wert. Gegen zehn Uhr morgens an einem Tag im Mai, so heiß wie sonst im Juli, klingelte das Telefon. Blu verdrehte ihren perfekten Körper und sagte: »Sammy vom Gericht.« – »Unsere amtliche Zuteilung an Staatsknete«, bemerkte ich. Ich nahm den Hörer auf und sagte: »Sammy? Hoffentlich hast du gute Neuigkeiten, Kumpel. Mir sitzt die Stromgesellschaft im Nacken.« Bis auf Blus Meinung, er habe ein Gesicht wie ein Pferd, hatte ich keine Geheimnisse vor der rechten Hand von Richter Thomas Odom. Sammy Liston sprach mit dem starken Akzent des Südens. »Hast du die Nachrichten gehört?« »Die Nachrichten?« »Du hast sie also nicht gehört. Einer deiner Mandanten. Genauer gesagt, ein früherer Mandant. Er ist tot.« Ich habe ein Mantra, das ich bei solchen Nachrichten zu 19
rezitieren pflege; in letzter Zeit hatte ich es öfter aufsagen müssen, als mir lieb war. Hak’s ab, Jack. Lass los. »Wer denn?«, fragte ich. »Du wirst es nicht gern hören.« »Willst du damit sagen, bei manchen meiner Mandanten hätte ich nichts dagegen, zu hören, dass sie tot sind?« »Wären die meisten deiner Mandanten tot, wäre das ganze Justizsystem dankbar.« »Ich warte.« »Es ist Doug Townsend. Er ist rückfällig geworden, war wieder voll drauf und ist an einer Überdosis gestorben.« Dieser Witz, der sich mein Leben nennt, dreht sich also einen Zahn schneller. Doug Townsend, der Anlass für mich, Anwalt zu werden, ist nicht mehr. »Eine Überdosis?«, sagte ich. »Heißt dass, er wollte sich umbringen?« »Wer weiß das schon. Du kennst das doch, Jack. Der Körper stellt sich nach einer Weile um und verträgt dann nicht mehr viel.« »Ich habe vor drei Tagen noch mit seinem Bewährungshelfer gesprochen, Sammy. Der Typ war begeistert.« »Tut mir Leid, Jack.« »Tja.« »Hör mal, Jack, der Alte will wissen, ob du nicht bei Townsend vorbeischauen könntest.« »Wozu?« »Um seine Sachen durchzusehen. Vielleicht ist da noch irgendwas für den Nachlass zu holen.« »Kommt jemand von seiner Familie her? Er hat eine Cousine in Phoenix, das weiß ich sicher.« »Habe gerade mit ihr telefoniert. Sie will nichts damit zu tun haben.« »Reizend.« »Was soll ich dazu sagen? Bei schwarzen Schafen macht sich die Familie eben rar.« 20
»Na schön«, sagte ich, »vielleicht ist noch was zu finden bei ihm. Ich werd’s auf jeden Fall seiner liebenswürdigen Cousine schicken, die es nicht für nötig hält, in ein Flugzeug zu steigen und ihren Vetter ordentlich zu bestatten.« »Sie standen sich vielleicht nicht sehr nahe, Jack. Der Kerl ist ein Junkie.« »War ein Junkie, Sammy. War.« »Halt auf dem Weg kurz beim Gericht an und hol den Schlüssel ab. Und noch eins, Jack. Sei vorsichtig. Die Gegend ist nicht unbedingt die beste.« Das war stark untertrieben; Townsend war auf die viel begangene abschüssige Bahn geraten und immer weiter nach unten getrudelt, um seine Sucht bezahlen zu können, bis er schließlich in einem schäbigen Wohnblock namens Jefferson Arms landete. »Ich weiß, Sammy. Ich ruf wieder an.« Der sinn- und zwecklose Tod von Doug Townsend war eine Ironie des Schicksals, denn vor zehn Jahren hatte er einmal eine Tapferkeit bewiesen, die ich nie zuvor irgendwo erlebt hatte. Wir hatten uns am College – ich war frisch da, er schon länger – beim studentischen Tutorium kennen gelernt. Doug half mir in Mathematik, wofür ich keine Begabung und noch weniger Interesse hatte. Aber es war eine der Hürden, die genommen werden mussten, und so kniete ich mich rein. Wir waren beide sehr beschäftigt damals – ich als Neuling quälte mich durch die Pflichtkurse und Doug, der drei Jahre älter war, durch die Computerwissenschaft – und trafen uns meist erst spät am Abend gegen zehn. Doug hatte mir gestanden, dass er sich in seinem ersten Collegejahr bei allen Studentenverbindungen beworben hatte und von allen abgelehnt worden war. Seine Blauäugigkeit und sein Übereifer hatten ihn zur Einsamkeit verdammt. Er war so dünn wie ein Lineal und so unbeholfen wie ein einbeiniger Vogel. Aber auf ganz bestimmten, wenigen Gebieten hatte er 21
brilliert, und das war vor allem die Computertechnik gewesen. Er hatte ein Faible für Computer, hatte sie angebetet, sie aufgemacht, um ihr Innenleben zu enthüllen. Sie waren ihm Freund, Geliebte und Erlöser zugleich gewesen. Und das war gut so, denn seine Freunde in Menschengestalt ließen sich an einer Hand abzählen. Einmal gingen Doug und ich am späten Abend, nachdem er mir endlich den Unterschied zwischen Tangenten und Sekanten klar gemacht hatte, zusammen über den Campus nach Hause zu unserem Wohnheim. Ich starrte eben gedankenverloren auf den Asphalt, bemüht, zu verstehen, was er mir gerade erklärt hatte, als er plötzlich lospreschte. Er hatte, im Gegensatz zu mir, gesehen, dass vor uns ein Mädchen vom Weg in die Büsche gezerrt worden war. Während ich noch rätselte, was los war, sprang Doug mit dem ganzen Gewicht seiner sechzig Kilo und einem gellenden Schrei, bei dem einem das Blut in den Adern gefror, ins Gebüsch. Er war nur Arme und Beine ohne erkennbare Strategie, aber ein beeindruckender Anblick. Zwei Jungs aus einer Studentenverbindung waren bei dem Mädchen im Gebüsch. Unter normalen Umständen hätten sie nur zehn Sekunden gebraucht, um Doug Townsend umzupusten. Aber da sie betrunken waren, dauerte es ungefähr zwölf. Als ich schließlich zur Stelle war – und zwar schnell, das können sie mir glauben –, hatte Doug bereits ein paar schwere Hiebe einstecken müssen. Ich beförderte einen der Jungs mit einem anständigen rechten Haken zu Boden. Danach schaute ich mich nach Doug um und sah, dass sein Gegner gerade zu einem Schlag auf seine rechte Kopfseite ausholte. Als ihn der Schlag traf, erschien ein seltsames, fast entrücktes Lächeln auf seinem Gesicht, wie bei einem Baby im Arm seiner Mutter. Knochen knirschte auf Knochen, und Doug sackte mit seinem friedlichen, glücklichen Lächeln zu Füßen seines Angreifers in sich zusammen. Der beugte sich daraufhin vornüber, kotzte in die Büsche und fiel 22
lang hin, was mich der Mühe enthob, ihn fertig machen zu müssen. Das Mädchen war auch nicht nüchterner als die Jungs. Sie erhob sich taumelnd auf alle viere und krabbelte im Krebsgang zum Weg zurück, wobei sie wieder auf die Knie fiel. Ich wollte ihr helfen, aber sie sträubte sich. Dann riss sie sich zusammen, murmelte etwas Unverständliches und schwankte den Weg entlang in Richtung Wohnheim. Eigentlich hätte ich sie nach Hause bringen müssen. Ich tat es nicht, weil Doug Townsend, ihr vergessener, angeschlagener Retter, zu meinen Füßen stöhnte, und da ich zwischen beiden wählen musste, war klar, wem ich helfen wollte. Es wurde keine Anzeige erstattet. Das Mädchen ließ die Dreckskerle ungeschoren davonkommen, was nicht weiter überraschte. Aber für mich war dieser Abend ein Wendepunkt. Für mich beendete er meine Jugend, denn mir gingen zum ersten Mal die Gedanken eines Erwachsenen durch den Kopf, und ich entdeckte, dass es Dinge gab, die wirklich wichtig waren und für die zu kämpfen es sich lohnte. An jenem Abend ließ ich Dothan und die Schule hinter mir, denn wenn es auf dieser Welt Corpsstudenten, betrunkene Mädchen und so schwächliche, aber tapfere Menschen wie Doug Townsend gab, mussten sicherlich ein paar schlimme Ungerechtigkeiten ausgebügelt werden. Damals beschloss ich in einem Anfall von Selbstüberhebung – beim bloßen Gedanken daran zucke ich heute noch zusammen –, Rechtsanwalt zu werden, und seitdem versuche ich, Menschen zu retten. Doug und ich blieben sein letztes Collegejahr hindurch Freunde, aber nach seinem Studienabschluss verloren wir uns aus den Augen. Ich ackerte mich durch die Kurse, die mich auf das Rechtsstudium vorbereiten sollten, studierte dann Jura und landete schließlich in Atlanta. Ich hatte ihn schon fast vergessen, als er mich plötzlich völlig überraschend anrief. Er klang verändert – hektisch, als habe er zu viel Kaffee getrunken –, 23
aber inzwischen war viel Zeit vergangen, und ich selbst klang wahrscheinlich auch ganz anders. Wir verabredeten uns zum Lunch. Der Mann, der am vereinbarten Tag ins Restaurant kam, bestand nur aus Haut, aus einer dünnen Hülle, die kaum geeignet schien, eine menschliche Seele zu enthalten. Dank meinem neuen, unrühmlichen Aufgabenbereich dauerte es nur zehn Sekunden, bis ich sein Problem erkannt hatte: Doug Townsend war drogenabhängig geworden. Nach seinem zugedröhnten, erschöpften Blick zu urteilen, waren Aufputschmittel sein Problem. Meine erste Frage nach dem Wie und Warum wollte er nicht beantworten. Er hatte ein dringenderes Anliegen: Er war verhaftet worden. Die Kaution war auf 2000 Dollar festgesetzt worden, und er hatte die nötigen zehn Prozent für einen der Bürgen, die gewerbsmäßig Kautionen hinterlegen, zusammengekratzt und war wieder auf freiem Fuß. Allerdings hatte er kein Geld, um einen Anwalt zu bezahlen; ich erbot mich, ihn zu verteidigen. Schließlich war er der Anlass gewesen, dass ich überhaupt Anwalt geworden war. Es war sein erstes Delikt, und ich plädierte auf schuldig im Tausch gegen eine geringe Strafe, wie bei den meisten meiner Mandanten. Die Untersuchungshaft wurde angerechnet, es gab eine Standpauke und einen Handschlag. Nichts davon war angetan, ihm seine schlimme Speed-Sucht abzugewöhnen. Er wurde rückfällig; er wurde erneut rückfällig und stand kurz vor der nächsten Inhaftierung. Und dann hatte er plötzlich kehrtgemacht. Er hatte den alles entscheidenden Tiefpunkt erreicht und gemerkt, dass er Dinge fühlte, dachte und tat, die er zuvor für unvorstellbar gehalten hätte, und er wollte leben. Wochen waren vergangen, und seine guten Vorsätze hatten sich gefestigt. Die letzten paar Male, als ich ihn gesehen hatte, war er fast wieder der Alte gewesen, voller Träume und Optimismus. Jetzt war er tot, und ich konnte es noch immer nicht fassen. Das alles ging mir im Kopf herum, während ich durch Atlanta 24
zu Dougs Wohnung fuhr. Ich nahm die Ausfahrt von der I-75 und passte gut auf, dass ich die Crane-Street-Hochstraße erwischte. Verpasst man sie, landet man samt seinem ehemals wertvollen Auto in einem der schlimmsten Sozialbaughettos im Südosten des Landes: im McDaniel Glen. Ich fuhr über die Hochstraße und schaute auf meinem Weg weiter nach Süden zum Glen hinunter, wie das Viertel bei den bedauernswerten Bewohnern heißt. Ich war ein paarmal mit einem Uniformierten dort, um nach Zeugen in einem Drogenfall zu suchen. Aber ich bin nie ohne guten Grund hingefahren. Townsends Adresse war nur ein paar Straßen hinter dem Glen, was Ihnen einen guten Eindruck davon vermittelt, wo auf der Wunschskala sie anzusiedeln ist. Sie lautete Jefferson Arms und war so sicher wie die Hölle kein »Monticello«, Jeffersons Landhaus. Es handelte sich um eine traurige zweistöckige Mietskaserne, und die vielen zerbeulten Autos, die am helllichten Tag davor aufgereiht standen, sagten mir, dass die Miete überwiegend durch Sozialhilfe gedeckt wurde. Doch selbst hier gab es bessere und schlechtere Wohnungen, und Townsend hatte mir erzählt, dass er sich eine Dreizimmereckwohnung im zweiten Stock geleistet habe: Er hatte für den Hausverwalter Kabelfernsehen installiert, das nicht zu detektieren war. Auf dem Schwarzmarkt war eine Menge möglich, wenn man etwas konnte. Ich bog auf den Parkplatz ein und sah mich um. Doug war weit abgesunken von dem College-Jüngling voller Träume, an den ich mich erinnerte. Er hatte mehrere kleine Computergeschäfte eröffnet und war jedes Mal Pleite gegangen, denn seine schlimme Sucht untergrub jede Aussicht auf Erfolg. Ich stellte ihn mir vor, wie er sich gegen seine Dämonen auflehnte und gegen den Zwang ankämpfte, ehe er doch wieder schwach wurde. Ich konnte mir vorstellen, wie er ausging und sich den Stoff besorgte oder, schlimmer, seinen noch vorhandenen Geheimvorrat anbrach. Ich konnte ihn sehen, wie 25
er sich selbst Rede und Antwort stand, wie er sich vor sich selbst rechtfertigte und am Ende der Selbsttäuschung erlag. Und dann der Schock, das Entsetzen, die Atemnot. Ich stieg aus dem Auto und ging zu Dougs Wohnungstür. Ich holte Luft, drehte den Schlüssel um und betrat den sehr stillen, sehr ruhigen Raum eines Toten; ich blickte vorsichtig umher. Als Erstes fiel mir auf, wie sauber die Wohnung war. Die Polizei hinterließ die Räumlichkeiten im Allgemeinen schlimmer, als sie sie vorgefunden hatte, aber Dougs Wohnung war makellos. Es hatte etwas Trotziges, dass alles so ordentlich war, und das in so großer Nähe zum Glen. Ich sah förmlich, wie Doug die Zeitschriften auf dem Tisch geglättet hatte, bevor es ihn überkam und er es keine Sekunde länger ohne Speed mehr aushalten konnte. Die Möbel im Wohnzimmer waren erwartungsgemäß verschlissen: ein Sofa, ein paar Sessel, ein Couchtisch. Ich öffnete die Miniblenden, die zur Standardausstattung einer solchen Wohnung gehören. Die Klimaanlage am Fenster sprang an, wahrscheinlich reagierte sie auf den warmen Luftstrom beim Öffnen der Wohnungstür. Ich musste dafür sorgen, dass der Strom abgestellt wurde, eine der vielen Kleinigkeiten, an die niemand denkt, wenn ein einsamer Mensch stirbt. Strom, Telefon, Kabel-TV und Zeitschriftenabos, das alles läuft weiter, als sei nichts gewesen, als sei der Körper von Doug Townsend noch warm, noch voller zirkulierender Säfte, als erträume sich der Mann noch immer Geschäfte für sein kleines Unternehmen. Ich ging in die Küche und betrachtete die drei Geschirrteile und das Besteck, das aufrecht in der Ablage stand. Ich machte den Schrank auf: Puffreis, japanische Nudelsuppe, Couscous – durchaus stimmig, denn Townsend war, wie viele Computerfreaks, leicht gebaut und dünn wie ein Grashalm. Ich wanderte durch die Wohnung und knipste das Licht an. Das erste Zimmer war ziemlich groß und hatte ihm zugleich als Schlafraum und Büro gedient. Das Bett war einfach ein Rahmen 26
ohne Kopf- oder Fußteil, aber die Laken waren stramm gezogen. Auf der gegenüberliegenden Seite standen ein Schreibtisch mit einem Computer, ein Aktenschrank, ein paar Telefone. Ich ahnte, dass die Telefone wahrscheinlich nicht bei der Telefongesellschaft Southeastern Bell angemeldet waren, und falls doch, wurden sie wahrscheinlich von einer Firma bezahlt, die noch nie etwas von Townsend gehört hatte. Wir hatten uns ein paarmal über das Hacken unterhalten, und Townsend hatte es heruntergespielt, aber wie gesagt, er war Experte. Ich öffnete den Aktenschrank und ging das Inhaltsregister seiner Projekte durch. Ich wusste, dass Townsend gut zu tun gehabt hatte; im Rahmen seiner Verteidigung hatten wir ausführlich über seine Geschäftsaussichten gesprochen. Townsend war bis hin zu den billigen Rayonhemden und seiner schwarz geränderten Brille ein echter Computerfreak gewesen: Er hatte mir einmal erzählt, er könne Programme schreiben, wie andere Leute Melodien summen, sozusagen aus dem Stegreif. Wie erwartet, fand ich eine gute Anzahl von Ordnern, und ich schlug den einen oder anderen wahllos auf. Das meiste waren Angebote für Programmierarbeit: Kleinaufträge, die Pflege von Datenbanken oder die Vernetzung kleiner Firmen. Townsend wäre erheblich besser damit gefahren, für eine Firma zu arbeiten, die das Geschäftliche erledigt und ihm die Freiheit gegeben hätte, kreativ zu sein. Aber er hatte weiter davon geträumt, einen richtigen Treffer zu landen oder etwas Revolutionäres zu schaffen, das groß an der Börse herauskam. Junkies werden rückfällig. Das passiert Tag für Tag. Aber in den zwei Jahren, seit ich kleine Drogenkriminelle verteidigte, hatte ich so etwas wie einen untrüglichen sechsten Sinn dafür. Und nicht nur ich; jeder, der an Odoms Gericht arbeitet, hat ihn. Wir fragen uns: Ist dieser Typ fertig? Oder wird er das hier einmal als seine dunkle Stunde verbuchen, wenn er sicher und behaglich von der anderen Seite aus darauf zurückschaut? Ich kann es dem Angeklagten an den Augen, an seiner Haltung, an 27
seiner beschädigten oder nicht mehr zu rettenden Seele ablesen. Richter Odom konnte es sehen, so viel stand fest. Er tat sein Bestes, noch einen Funken Menschlichkeit zu bewahren, eine ziemliche Aufgabe für jemanden, der acht Stunden am Tag damit zubringt, Menschen in die Hölle zu schicken. Aber er wusste ebenso gut wie alle anderen, dass er einigen Angeklagten nur einen letzten Aufschub verschaffte. Vielleicht hat sogar das noch einen Sinn. Doug Townsend stand so fest auf der Seite des Lebens wie nur irgendjemand. Er hatte ja auch außer den Drogen noch eine andere Leidenschaft, was eine Schlüsselrolle für das Überleben spielte. Ihm zuzuhören, wenn er über Computer redete, war, wie Sammy Liston zuzuhören, wenn er von Blu McClendon sprach. Ich pflegte Doug einen Kaffee zu spendieren, nur um ihn darüber referieren zu hören, wie die Zukunft aussehen könnte. Er sah eine Welt voraus, in der überall, auch in den Menschen, Computer zum Einsatz kommen und Kranke gesund oder Alte wieder jung gemacht würden. Ich schüttelte die Erinnerungen ab und ging durch das Wohnzimmer in das Zimmer, das noch übrig war, das hintere Schlafzimmer. Ich öffnete die Tür und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Fast die ganze Wand vor mir war mit den Bildern einer Frau gepflastert. Magisch angezogen von den Fotos, trat ich ein. Die Frau war schwarz, Ende zwanzig und bemerkenswert schön. Wer zum Teufel ist das? Die Bilder stammten aus verschiedenen Quellen, einige vom Fotografen, andere aus Zeitungen und Zeitschriften. Zuerst dachte ich, es handle sich um eine Schauspielerin, weil mehrere Fotos auf einer Bühne aufgenommen worden waren und die Frau in verschiedenen fantasievollen Kostümen zeigten. Aber ein Foto war ein schlichtes Porträt, und darunter stand: Michele Sonnier, Mezzosopran. Ich starrte das Foto an und dachte: Michele Sonnier. Klingt französisch, nach Oberschicht. Oder ein Künstlername. 28
Ich riss mich von den Bildern los, um alles Übrige in Augenschein zu nehmen. Ein Doppelbett, eine kleine Kommode und ein alter Schreibtisch aus Holz samt Stuhl. Ich zog den Stuhl hervor und setzte mich. Auf dem Schreibtisch lagen Papiere, vor allem Geschäftliches, und ein paar Ausdrucke, die aussahen wie Quelltexte. Zu meiner Überraschung fand sich dort auch ein gerahmter Schnappschuss von der Frau – darauf war sie leger gekleidet, und im Hintergrund waren viele Menschen zu sehen. Sie lächelte, allerdings war nicht klar, ob sie den anlächelte, der die Aufnahme gemacht hatte. Ich suchte nach einer Beschriftung, aber da war nichts. Ich versuchte, das Gesicht irgendwo einzuordnen, auch nichts. Wenn du dieser Frau jemals begegnet wärst, würdest du dich auf jeden Fall daran erinnern, dachte ich. Ich stellte das Foto auf seinen Platz zurück und zog die mittlere Schreibtischschublade auf. Darin lagen die üblichen Stifte, Gummiringe und Büroklammern. Auf der linken Schreibtischseite waren mehrere Schubladen. Die erste barg weiteren undefinierbaren Papierkram; die zweite war nahezu leer. Ich machte die dritte, die unterste, auf und sah, dass sie ziemlich voll war; zuoberst lag ein rechteckiges Päckchen, das fest von Gummibändern zusammengehalten wurde. Ich nahm das Päckchen zur Hand und streifte die Gummis ab. Flugtickets. Jede Menge davon. Ich legte die Tickets vor mir auf dem Schreibtisch aus. Baltimore. New York. Miami. San Francisco. Ich zählte sie, dann lehnte ich mich verblüfft zurück. Townsend hatte im vergangenen Jahr mehr als zwanzig Reisen gemacht und jedes Mal bar bezahlt. Nachdem ich ihn so oft verteidigt hatte, wusste ich genauestens Bescheid über seine finanziellen Mittel – es gab keine. Was ist das? Wie zum Teufel hat er das bloß bezahlt? Ich griff in die Schublade und holte auch die anderen Papiere heraus. Vor mir lagen mindestens zwanzig weitere Aufnahmen von der Sonnier, wieder aus unterschiedlichen Quellen. Ich sah den Rest durch: noch mehr Sonnier, wohin ich auch schaute. 29
Nach den Fotos kamen Zeitungsausschnitte und Kritiken, fast alle euphorisch. Dazwischen gemischt waren Programmhefte, anscheinend alles Originale. Ich blätterte die Flugtickets noch einmal durch und überschlug im Geiste die Kosten. Vielleicht hat der Typ hierfür geklaut, nicht für den Stoff. Vielleicht war er in Wahrheit nach ihr süchtig. Vieles war doppelt und dreifach vorhanden; Townsend hatte sich mit einem einzigen Foto offenbar nicht zufrieden gegeben, sondern sich jeweils mehrere Abzüge besorgt. Ich stopfte Flugtickets und Fotos in meine Reisetasche und stand auf. Das geht weit über eine FanLeidenschaft hinaus. Das ist eindeutig eine Art Sucht. Die Computeranlage war das Einzige von Wert, und so lud ich sie in den Kofferraum meines Wagens. Da ich Doug kannte, wusste ich, dass nur ein Sicherheitsexperte herausfinden würde, was sich in ihrem Innern verbarg, und ich selbst hatte kein Geschick zu so etwas. Ich ging noch einmal zur Wohnung zurück und warf einen letzten Blick umher. Opern. Die Musik der Reichen. Deren Welt mit Doug Townsends Welt zu verbinden war ein Problem, von dem ich nicht wusste, wie ich es lösen sollte. Ich schloss die Tür ab, eine bloße Geste, die sicher nichts nützte. Es würde nicht lange dauern, bis den Leuten aufging, dass Townsend nicht mehr wiederkam, und sie seine Wohnung plünderten. Ich stieg ins Auto und fuhr in Richtung Stadt zurück. Vermutlich Selbstmord. Das hatte laut Sammy im Polizeibericht gestanden. Was mich erneut ins Grübeln brachte, warum Doug ausgerechnet jetzt sein Leben weggeworfen haben sollte. Wie sehr ich mich auch bemühte, ich konnte darin keinen Sinn erkennen. Das Problem mit Polizisten ist, dass die Hälfte von ihnen nicht ganz koscher ist. Auch nicht durch und durch schlecht, nur ein bisschen verbogen. Ich verurteile sie auch gar nicht. Und ich will Ihnen sagen, wer mir das mit den fünfzig Prozent gesagt 30
hat: ein Cop. Und darum läuft es so: Sie werden so schlecht bezahlt, dass die meisten nebenbei noch im privaten Sicherheitsdienst arbeiten, um über die Runden zu kommen. Sagen wir, du bist jung, hast ein paar Ausbildungsdarlehen abzuzahlen und hättest die Wahl zwischen 100 Stunden Nachtwache am Parkplatz einer Rowdybar oder 2000 Dollar in bar, die dir im Haus des Fixers, den du gerade verhaften willst, frech ins Gesicht lachen. Dann fängst du an zu rechnen, das steht fest. Womit ich nicht gesagt haben will, dass es nicht auch gute Polizisten gibt. Billy Little, der nach Dougs Tod den Papierkram erledigt hat, ist so einer. Hier ein Beispiel, wie groß mein Vertrauen in ihn ist: Ich würde ihm zwei Flaschen Scotch ausgeben, ihm sagen, dass ich seine Mutter vergewaltigt habe, ihm eine geladene Waffe in die Hand drücken und ihn anflehen, mich zu erschießen. Billy Little hält sich an die Regeln. Lassen Sie sich von seinem Namen nicht irreführen. Er ist Samoaner – 1,90 groß, zwei Zentner schwer und wahrscheinlich nur sechs Prozent Körperfett – mit dem typischen dunklen Haar und dem etwas breiten Gesicht. Er könnte einen durchschnittlich großen Mann niederhalten und dabei in aller Ruhe einen Cheeseburger essen. Er hat in den Sozialbauvierteln angefangen, bei der Bikertruppe; es ist kaum zu glauben, aber sie patrouillieren tatsächlich auf Fahrrädern durch diese Horrorviertel, zumindest tagsüber. Auf diese Weise können sie Gassen entlangsausen, durch die Autos nie fahren könnten. Nach drei Jahren Abendschule hat Billy seinen CollegeAbschluss in Betriebswirtschaft gemacht und ist Lieutenant geworden. Vier Jahre später war er Kriminalinspektor. Da war er knapp dreißig und wusste meines Erachtens mehr über den Drogenhandel in Atlanta als jeder andere in der Abteilung. Er war, wie man hier unten sagt, von der Sorte, die Elvis umbrachte. Billy arbeitete im Polizeipräsidium von Atlanta auf der 31
Ostseite des Stadtverwaltungskomplexes, und dahin fuhr ich nach meinem Besuch in Townsends Wohnung. Er sah immer untadelig aus, und so war es auch, als ich ihn wegen des Townsend-Falls aufsuchte. In seinen schön gebügelten gelbbraunen Freizeithosen, einem grünen Golfhemd und braunen Lederschuhen sah er aus, als sei er zu Probeaufnahmen beim Film bestellt. Als ich in sein Büro marschierte, blickte er vom Schreibtisch auf und lächelte. »Was treibt Sie denn in die Slums, Jack?«, fragte er. Ich schüttelte ihm die Hand und nahm auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz. »Sammy Liston hat mir erzählt, Sie seien mit dem Fall Townsend betraut«, sagte ich. »Irgendwas Besonderes, das ich wissen sollte?« »Außer der Tatsache, dass er tot ist?« »Townsend war ein Freund von mir.« Billys Lächeln verblasste. »Tut mir Leid, Jack. Das wusste ich nicht. Waren Sie eng befreundet?« »Wir waren zu College-Zeiten Freunde. Ich habe ihn dann aus den Augen verloren, bis vor kurzem. Mit seinem Leben ist etwas schief gelaufen, er brauchte einen Anwalt.« »Sie haben ihn also verteidigt?« »Ja.« Billy nickte. »Es ist noch nicht endgültig, aber es sieht so aus, als habe er sich selbst umgebracht.« Ich holte das Bild von Michele Sonnier aus meiner Tasche. »Sagt Ihnen das was?« Billy warf einen Blick auf das Foto. »Ja. Ich hab’s gehört. Anscheinend gibt’s jede Menge Bilder von ihr.« »Kennen Sie sie?« »Die Dame ist Opernsängerin. Vermutlich ist sie ein Ass in der Musikwelt. Außerdem ist sie die Ehefrau von Charles Ralston.« Ich schaute ihn verblüfft an. »Dem Millionen-DollarRalston?« 32
»Nein, dem Hundert-Millionen-Dollar-Ralston. Ja, genau dem.« »Das gibt’s doch nicht.« Ich starrte das Bild an. Ralston, Gründer und Hauptgeschäftsführer der Horizn Pharmaceuticals, war das Aushängeschild des neuen afroamerikanischen Südens. Mit Klischeevorstellungen hatte er gründlich aufgeräumt: Er war ein hervorragend ausgebildeter Naturwissenschaftler, ein eindrucksvoller Redner und ein brillanter, abgebrühter Geschäftsmann. Und er strebte mit großer Energie Lösungen für die sozialen Probleme Atlantas an, auch wenn er sich damit Feinde machte. Bei den Friedensaktivisten und Bürgerrechtlern der Stadt genoss er beinahe Heiligenstatus, weil er ein KanülenAustauschprogramm mit sauberen Nadeln in den Ghettos von Atlanta einführte – und offenbar auch selbst bezahlte, da sich niemand mit genügend Rückgrat fand, um es in der Stadtverwaltung durchzusetzen. Angesichts der Tatsache, dass er sein Vermögen mit einem Hepatitismittel verdient hatte, ließ sich kaum darüber streiten, ob seine Motive lauter waren oder nicht. Jeder gerettete Süchtige kostete ihn einen potenziellen Patienten, und das war ein Verhalten, das die Mehrheit der Bevölkerung nun überhaupt nicht mit Pharmaunternehmen in Zusammenhang brachte. Nicht zufrieden mit seinen Millionen – Geld, das den meisten Leuten genügen würde –, plante er, seine Firma in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln und aus diesem Deal mit knapp einer Milliarde hervorzugehen. Jeder anständige Mensch in Atlantas Geschäftswelt unterstützte ihn in seinen Plänen und hoffte, dass er einen Riesengewinn machen würde, einfach weil er immer einen Großteil seines Geldes in das Kultur- und Gesellschaftsleben Atlantas steckte. Billy beäugte mich argwöhnisch. »Und was hat seine Frau mit Doug Townsend zu tun?« »Überall in Dougs Wohnung hängen Bilder von ihr.« Ich zog die Flugtickets hervor und schmiss sie auf Billys Schreibtisch. »Die waren in einer Schublade. Es sind etwa zwanzig.« 33
Billy sah die Tickets kurz durch, dann sah er wieder mich an. »Das stand nicht im Bericht.« »Sagen Sie mir mal eins, Inspektor: Können Sie Ihre Leute nicht dazu bringen, sich zur Abwechslung mal für die Unterprivilegierten dieser Stadt stark zu machen? Und eine richtige Ermittlung durchzuführen?« »Gehen Sie bitte nicht auf mich los, Jack. Die Stadt ist pleite, und ich tue, was in meinen Kräften steht.« Aus Hochachtung vor Billy ließ ich es dabei bewenden. »Die Reisen stimmen mit ihren Auftritten überein«, sagte ich. »Sie sind alle bar bezahlt worden.« Billy trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Sieht so aus, als sei er ein Fan von ihr gewesen.« »Könnte man sagen. Er hat Santa Sonnier eine Kapelle gebaut.« »Meine Tochter hat vier Bilder von irgendeiner Rap-Gruppe in ihrem Zimmer aufgehängt.« »Ach, Billy, hier liegt die Sache doch anders.« Billy lehnte sich zurück und dachte nach. »Wollen Sie andeuten, dass Ihr Freund die Frau möglicherweise belästigt hat? Sich an sie rangemacht hat?« Meine Gedanken schweiften in die Vergangenheit zurück, als Doug von Corpsstudenten niedergeschlagen worden war, weil er eine Frau zu schützen versucht hatte. »Das bezweifle ich. Ist nicht seine Art.« »Okay. Wenn es nichts Ungesetzliches ist, ist es nicht mein Problem. Die Leute haben die seltsamsten Hobbys.« Ich schwieg und überlegte. »Was hat denn die Pathologie gesagt?« »Die Gerichtsmediziner haben vor Ort eine Untersuchung durchgeführt und die Todesursache festgestellt. Der Amtsarzt vom Dienst ist hingefahren und sah keinen Grund, dem zu widersprechen.« »Danach ist es also Selbstmord?« 34
»Nein, erst der offizielle Bericht, den wir in ungefähr einer Woche bekommen, macht einen Selbstmord daraus. Ob Sie’s glauben oder nicht, wir haben tatsächlich vorgeschriebene Verfahrensweisen für so was.« Ich nickte. »Bis dahin bleibt er im Leichenschauhaus?« »Wir behalten die Leiche so lange, bis der abschließende Bericht vorliegt. Aber sehen Sie, Jack, ich habe ein bisschen über sein Vorleben gelesen. Er hatte Depressionen, hat schon lange Drogen genommen. Seine Geschäfte liefen schlecht, und in seinem Privatleben war auch nichts los. Offen gestanden nicht viel, wofür es sich zu leben lohnt.« »Kein Abschiedsbrief?« »Ein reiner Mythos, das mit den Abschiedsbriefen. Die sind sehr selten. Meistens ist es ein TAD.« »Ein TAD?« »Tod aus Dummheit«, sagte Billy leise. »Mit anderen Worten: ein Unfall. Passiert dauernd.« Er schlug einen Ordner auf und blätterte bis zum Untersuchungsbericht. »Kein Hinweis darauf, dass etwas faul ist, keine Körperverletzungen. Kein Einbruch, kein ramponiertes Mobiliar, alle Wertgegenstände noch da. Natürlich tun wir unsere Pflicht. Aber wenn Sie keine Verbindung zwischen diesen Tickets und dem Tod Ihres Freundes herstellen können, treten Sie meines Erachtens auf der Stelle.« »Haben Ihre Leute irgendetwas vom Ort des Geschehens mitgenommen? Papiere oder Ähnliches?« »Mal sehen.« Billy blätterte weiter. »Ja, ein paar Sachen. Das Drogenbesteck natürlich. Aber Papiere … doch, ja, ein Notizbuch. Es lag auf dem Fußboden direkt neben der Leiche.« »Und was steht drin?« »Ist bis auf eine Seite leer.« Billy holte ein billiges Notizbuch aus einem Plastikbeutel. Er schlug es auf und zeigte mir die erste Seite. Ziemlich weit oben waren drei Druckbuchstaben. »Was heißt das?«, fragte ich. 35
»›LAX‹. Los Angeles Airport. Ergibt einen Sinn, wenn man bedenkt, wie oft er geflogen ist.« Ich betrachtete die Buchstaben sinnend. »Wer immer das geschrieben hat, war nicht gerade der beste Schönschreiber der Welt. Ziemlich übles Gekritzel.« »Ja.« »Gehen Sie der Sache nach?« »Welcher Sache? Als ich es das letzte Mal überprüft habe, war der Flughafen noch da.« Billy sah mich mitfühlend an. »Wenn der abschließende Bericht etwas zutage fördert, werden Sie der Erste sein, der es erfährt.« Er erhob sich. »Wir sollten demnächst mal ein Bier zusammen trinken, Jack. Vielleicht drüben bei Fado’s.« Ich stand ebenfalls auf. »Ja, machen wir«, sagte ich. Im Gehen wandte ich mich noch einmal um. »Sie haben was von Drogenbesteck gesagt, das gefunden wurde«, sagte ich. »Was war das denn?« Billy sah wieder im Ordner nach. »Anscheinend das Übliche, ein paar Fläschchen, eine Spritze …« Ich erstarrte. Eines hatte Townsend mir wiederholt gesagt: dass er sich noch nie im Leben einen Schuss gesetzt habe. »Was haben Sie als Letztes gesagt?« »Eine Spritze.« »Das muss ein Irrtum sein. Doug hatte einen Horror vor Nadeln. Das hat er mir selbst gesagt. Hunderte von Malen.« »Viele Menschen überwinden sich schließlich doch dazu, wenn sie süchtig sind«, sagte Billy achselzuckend. »Und vielleicht war es das Einzige, woran er kam.« »Er wohnte nur einen Block weit vom Glen entfernt, Billy. Er hätte nur den Kopf aus dem Fenster zu strecken und zu rufen brauchen: ›Stoff, bitte!‹« »Hören Sie, ich will mich nicht mit Ihnen streiten, aber Fakt ist, dass der Typ mit einem Loch im Arm und einer Spritze aufgefunden wurde.« 36
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist wie eine Phobie, Billy. Wenn ein Kerl sich das Leben nehmen will, versucht er nicht ausgerechnet in seinem letzten Augenblick, eine lebenslange Angst zu überwinden. Außerdem war Doug speedsüchtig. Himmel nochmal, das Zeug muss man nicht spritzen!« Jetzt blickte mich Billy Little erstaunt an und sagte die sechs Worte, die alles verändern sollten: »Wer hat etwas von Speed gesagt?«
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3 »Zwei Dinge können einen Mann dazu bringen, sich verpflichtet zu fühlen.« Justizsekretär Sammy Liston kaute gerade an einem Steak, was ihn immer in gute Laune versetzte. Noch hielt sich sein Alkoholkonsum in Grenzen, und dort, wo sein Gehirn sein musste, war noch keine Trägheit eingekehrt; vielmehr befand er sich in jenem Zwischenzustand, der ihn immer philosophisch werden ließ. Er referierte fortwährend darüber, warum ich Doug Townsends Tod auf den Grund gehen sollte. »Nummer eins: Intuition.« »Meinst du so was wie: ›In der Sekunde, in der ich sie erblickte, wusste ich, dass sie die Richtige für mich war‹?« »Nein, so was wie: ›In der Sekunde, in der ich es sah, wusste ich, dass es das richtige Auto für mich war. Oder meinetwegen das richtige Hündchen.‹« »Und das Zweite?« »Hä?« »Du hast von zwei Dingen gesprochen.« Sammy schnitt ein perfektes Scheibchen von seinem Lendensteak ab und hielt es mit der Gabel gegen das Licht. »Rindfleisch«, sagte er. »Da schmeckt das Essen.« »Wie bitte.« »Ach so. Loyalität, Jack. Der Ehrenkodex.« »Männerriten. Wenn sich jemand mit deinem Freund anlegt, schreitest du ein.« »Verdammt richtig.« Sammy aß das Scheibchen Fleisch, kaute langsam und genoss das Aroma. Plötzlich wurde seine Miene ernst. Er spülte das Fleisch mit einem Schluck Seagram’s hinunter. »Aber wieso bist du so sicher?«, fragte er. »Dass ihm übel mitgespielt wurde, meine ich. Der Typ war ein Junkie. Da passiert schon mal was.« 38
»Es war Fentanyl, Sammy. Fentanyl.« Sammy pfiff durch die Zähne. »Scheibe. Das wusste ich nicht.« Er steckte sich den nächsten Bissen in den Mund. »Und was ist Fentanyl?« Das Elend mit Alkohol – und das kann ich aus beträchtlicher eigener Erfahrung sagen – ist, dass die Leute das Gefühl haben, zur Hochform aufzulaufen, während in Wirklichkeit das Gegenteil passiert. »Fentanyl«, erwiderte ich, »bringt dich auf den Gipfel aller Gier und Menschenverachtung. Irgendein Apotheker kam auf die Idee, dass er durch leichte Veränderungen der Molekularstruktur von Morphium etwas herstellen konnte, was 400-mal stärker war. Das Zeug ist so stark, dass es nur eine legitime Anwendungsform gibt: die Anästhesie.« »Wow. Das heißt, es haut dich aus den Latschen.« »Ja. Aber dann hat ein erfindungsreicher Mistkerl angefangen, es zur Freizeitdroge zu verdünnen. Hat mit den Parametern herumgespielt. Und was dabei herauskam, war wirklich angenehm, keine Neben- oder Nachwirkungen. Die perfekte Droge, vor allem, weil man nicht mehr mit diesen unangenehmen Typen in Südamerika um die Rohstoffe verhandeln musste.« »Die einen umbringen, wenn man ihnen ans Bein pinkelt?« »Genau die.« Sammy zuckte die Achseln. »Aber?«, fragte er. Damit bezog er sich auf das eine unabänderliche Gesetz der Pharmakologie, nach dem es immer ein »Aber« gibt. Wie perfekt eine Droge auch zu sein scheint, sie hat trotzdem ihre Schattenseiten. So, als hätte Gott verfügt, dass sich Freud und Leid in einem kosmischen Gleichgewicht befinden müssen. Je besser du dich nach dem Genuss einer Droge fühlst, umso sicherer wird sie dich am Ende vernichten. »Aber sie ist so stark«, sagte ich, »dass eine normale Dosis gerade mal so viel wiegt wie eine Briefmarke. Sie kann kaum akkurat dosiert 39
werden, schon gar nicht von jemandem, der selbst süchtig ist. Und wenn man zu viel davon nimmt, wirkt es teuflisch.« Sammy zuckte erneut die Achseln. »Es bringt einen um.« »Nur, wenn man genug davon nimmt. Sonst wird man sich wünschen, man wäre tot.« »Wieso?« »Man erlebt einen Anfall von Parkinson-Krankheit im fortgeschrittenen Stadium.« Sammy starrte mich an. »Jesus, Maria, Jack. Ist das dein Ernst? Es ist aus der Gerüchteküche der Szene, stimmt’s? Du hast es auf der Straße aufgeschnappt, oder?« Ich schüttelte den Kopf. »Das hat mir Billy Little erzählt. Es gibt Leute, die fummeln mit Bausteinen des Universums herum, Sammy, mit kosmischen Kräften. Sie gehen in die Labore und machen Sachen, mit denen der menschliche Körper noch nie zu tun hatte. Dann bricht die Hölle los.« »Ja, eine Sauerei, Jack, aber Parkinson?« Ich nickte. »Das ganze Spektrum von Zittern und Zucken und unkontrollierbaren Körperfunktionen. Alles. Niemand weiß, warum, außer vielleicht der Sauhund, der das Zeug erfunden hat.« »So eine Scheiße.« »Das ist noch nicht alles.« »Noch nicht alles? Heiliger Himmel, Jack!« »Es lässt sich nicht von Heroin unterscheiden.« »Es sieht aus wie Heroin?« »Es sieht nicht aus wie Heroin, es sieht genau aus wie Heroin. Nur ist es 400- bis 600-mal stärker.« »Wenn du also denkst, dass es …« »Wenn du das denkst, ist alles vorbei, bevor die Spritze leer ist. Billy hat mir erzählt, er habe ein paar Leute gesehen, tot und starr, und sie hatten die Nadel noch im Arm stecken.« »Glaubst du, dass es Doug Townsend auch so ergangen ist?« Ich schüttelte zweifelnd den Kopf. »Das ist schwer zu 40
schlucken«, sagte ich. »Er hat nie Heroin genommen, warum sollte er ausgerechnet jetzt damit angefangen haben? Doug hatte gerade die Kehrtwende gemacht. Er war seit Monaten clean. Außerdem hatte er eine panische Angst vor Nadeln.« »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, dass er eine krankhafte Angst davor hatte. Niemand kann mir einreden, dass er das selbst getan hat.« Sammy nahm sein Glas Whiskey in die Hand. Er schwenkte es im Dämmerlicht des Restaurants und starrte gedankenverloren auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit. »Jack«, sagte er dann leise, »jemand hat deinen Freund kaltgemacht.« Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. »Verdammt richtig.« Am nächsten Tag erschien ich schon früh in meinem Büro, entschlossen, so viel wie möglich über Dougs letzte Lebenstage herauszufinden. Dabei war für mich die Frage einer geplanten Selbsttötung eigentlich irrelevant; letzten Endes nimmt niemand, wenn er nicht in seinem gestörten Unterbewusstsein Todessehnsucht hat, freiwillig Fentanyl. Und süchtig oder nicht, das glaubte ich einfach nicht von Townsend. Ich war kein Experte in Sachen Selbstmordtendenzen, aber Doug war in den letzten Wochen besser drauf gewesen, als ich ihn je zuvor erlebt hatte. Außerdem wusste ich, dass das größte Hindernis für einen Selbstmord Angst ist. Doug hätte eine andere Todesart gewählt und nicht versucht, seine lebenslange Phobie gerade in dem Augenblick zu überwinden, in dem er allen Mut zusammenraffen muss, um seinem Leben ein Ende zu machen. Auf dem Weg zum Büro war mir also schon klar, dass ich mehr über Michele Sonnier in Erfahrung bringen musste. Nicht dass ich dachte, sie habe irgendetwas mit Dougs Tod zu tun. Sie war ungefähr so weit entfernt von Fentanyl und der Jefferson-ArmsMietskaserne wie Duftkerzen. Aber das änderte nichts an der 41
Tatsache, dass sie alles war, was ich hatte. Ich sah zu Blu hinüber, die angestrengt in eine Zeitschrift starrte. Es erschien mir unfair, sie zu stören. Sie wirkte so vollkommen ruhig und zufrieden, wie sie sich da den Kopf mit Horoskopen und Artikeln à la »Wenn Schwestern den gleichen Mann lieben« füllte. Ich wollte sie noch ein Weilchen für zehn Dollar die Stunde gewähren lassen. Es schien mir fantastisch, dass man jemand mit so wenig glücklich machen konnte. Doch wenig später sagte ich: »Blu, stellen Sie mal ein paar Nachforschungen für mich an, ja?« Meine Sekretärin schaute mich an, ganz glänzendes Haar und perfekte Haut. »Worüber?«, fragte sie. »Über eine Opernsängerin. Michele Sonnier.« Blu neigte den Kopf schräg. »Ich kann mir Sie nicht gut im Opernhaus vorstellen.« Ich blinzelte ein paarmal, um mich selbst daran zu hindern, sie anzustarren. Die Wahrheit ist, dass ich nie ausmachen konnte, ob sie insgeheim ein Genie oder ein außergewöhnlich schönes Dummchen war. Manchmal stellte ich sie mir vor, wie sie das Büro verließ, sich eine Zigarette anzündete und zu sich selbst sagte: »Ich war verdammt gut heute.« – »Schön«, sagte ich, »und wo können Sie sich mich vorstellen?« Blu legte ihr Gesicht in nachdenkliche Falten. Selbst faltig war es noch schön. »Eher bei einem Baseballspiel«, sagte sie. »Baseballspiel.« »Ja. Wie Sie ein Würstchen essen.« Wir verfielen erneut in Schweigen. Blu, mit ihrer Leistung zufrieden, blickte wieder in ihre Zeitschrift und blätterte um. Ich schaute mir das noch einen Augenblick an und wollte schon etwas sagen, aber dann zuckte ich mit den Achseln und ging in mein Zimmer. Ich schaltete meinen Computer an und gab bei einer Suchmaschine den Namen »Sonnier« ein. Der Bildschirm wurde leer, und Sekunden später hatte ich das Ergebnis: 639 Einträge. Charles Ralstons Lady kommt eindeutig rum. Ich ging 42
die Einträge kurz durch, bis ich die Homepage der Sängerin hatte, wie ich vermutete: Michele Sonnier.com. Ich klickte auf den Link und sah zu, wie sich ein Foto der Sängerin auf meinem Bildschirm aufbaute. Es war eines von den Bildern, die ich in Townsends Wohnung gesehen hatte, Michele Sonnier in einem langen, fließenden Kleid aus Lamé, sehr elegant. Ich klickte weiter bis zur Biografie und begann zu lesen. Michele Sonnier ist die aufregendste Frauenstimme, die in den letzten zehn Jahren in der Opernwelt zu hören war. Als einzige Tochter eines Arztes und einer Lehrerin stellte sie schon sehr früh ihr erstaunliches Talent unter Beweis. Nach Abschluss ihrer Ausbildung an der Juilliard-Schule hatte sie im Alter von 21 Jahren ihr Debüt bei einem Wettbewerb der Metropolitan Opera und wurde Siegerin. Der Preis, ein Konzert in der Carnegie Hall, markierte den Beginn einer steilen Karriere. Ihre Opernpremiere ein Jahr später in San Francisco war ein Triumph. Trotz ihrer Jugend hat sie bereits an der New Yorker Met, der Mailänder Scala und am Kirow-Theater von St. Petersburg gesungen. Auf einer Europatournee vor kurzem wurde sie mit ihrem Idol Marilyn Horne verglichen. Ralston und Michele Sonnier zusammen waren sicher das absolute Power-Paar. Ralstons Geld verschaffte ihnen Einlass bei der neuen gesellschaftlichen Elite, während die künstlerischen Leistungen der Sonnier ihnen die alte Oberschicht erschlossen. Ich klickte weiter zum Terminplan der Sonnier. Ich ging die Konzertliste des laufenden Jahres durch und verglich die Daten mit denen der Flugtickets, die ich in Dougs Wohnung gefunden hatte. 17. Januar, Portland, Oregon. Ich blätterte die Tickets durch und stieß schließlich auf einen Flug von Atlanta nach Portland. Ich überprüfte das Datum: 17. Januar. Ich checkte noch verschiedene andere Daten – zwei im Februar, das eine Mal New York, das andere Mal Miami. Beide stimmten mit Townsends Tickets überein. Nachdem ich noch weitere Bestätigungen gefunden hatte, lehnte ich mich in 43
meinem Sessel zurück. Was zum Teufel hieß das? Ich ging die zukünftigen Termine der Sonnier durch; besonders ein Datum fiel mir ins Auge: 15. Juni, Atlanta Civic Opera. Das war in vier Tagen. Nach dem Termin in Atlanta kamen noch ein paar Konzerte hier und da, aber alle weit weg. Ich wählte die angegebene Nummer. Eine freundliche Frauenstimme, sehr höflich und gebildet, meldete sich. »Atlanta Opera.« »Sie haben eine Oper mit Michele Sonnier angesetzt, richtig?« »Ja, Sir. Die Capuleti und die Montecchi von Bellini nach dem Stück von Shakespeare.« Ich verstummte. »Sie meinen Romeo und Julia?« »Ja, Sir.« Das hörte sich vielversprechend an. Zumindest kannte ich die Story. »Auf Englisch?«, fragte ich. Die Stimme der Frau klang etwas bekümmert. »Nein, Sir, auf Italienisch, mit englischer Kommentierung.« »Und die Sonnier singt den Part der Julia?« »Mrs. Sonnier singt den Part von Romeo.« Ich verstummte wieder und ließ den Satz einsinken. »Romeo?« »Richtig, Sir. Es ist eine Hosenrolle.« Die Dame am Telefon erklärte es mir. »In manchen Opernszenarien werden die Männerrollen mit Frauen besetzt. Dazu gehört auch Bellinis Oper.« Ich schwieg und dachte, wie wenig ich doch von Opern wusste und wie wenig Interesse ich hatte, daran etwas zu ändern. Ich habe nichts gegen Musik, die von Herzweh handelt, aber ich sehe nicht ein, warum sie 200 Jahre alt sein muss. Man gebe mir eine alte John-Prine-Kassette und einen vollen Benzintank, und meine musikalischen Bedürfnisse sind vollkommen gedeckt. »Wie viel kosten die Karten?«, fragte ich. »Im preiswerteren Bereich, meine ich.« »Die billigsten Plätze sind bereits ausverkauft.« Das konnte ein echtes Problem werden; ich schlug mich 44
derzeit nur gerade so durch. »Und was gibt’s noch?« »Die preiswertesten Plätze, die noch da sind, kosten 46 Dollar.« Ich rechnete schnell: 92 Dollar plus Parkgebühren und Abendessen, das machte ein paar hundert für einen einzigen Abend. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich mal eben an einem Abend 200 Dollar ausgegeben, nur um mir in Erinnerung zu rufen, dass ich es mir leisten konnte. Nie war mir diese Zeit so weit entfernt erschienen. Aber ein Opernbesuch allein genügte nicht; ich brauchte den persönlichen Kontakt. »Steht Frau Sonnier für Autogramme zur Verfügung?«, fragte ich. »Bitte?« »Wenn jemand ein Autogramm haben will: Oder Fragen zu der Oper hat und so was?« »Aufrichtigen Bewunderern von Frau Sonnier bieten wir ein besonderes Highlight.« »Und das wäre?« »Sind Sie ein aufrichtiger Bewunderer von Frau Sonnier, Sir?« Ich blickte auf meinen Bildschirm und las laut: Michele Sonnier ist die aufregendste Frauenstimme, die in den letzten zehn Jahren in der Opernwelt zu hören war. Die Stimme im Telefon klang erfreut. »Ausgezeichnet. Frau Sonnier war so freundlich, in einen privaten Empfang nach ihrem Opernauftritt einzuwilligen, zu dem ein ausgewählter Teil ihrer größten Bewunderer zugelassen wird. Es handelt sich um ein Benefiz-Ereignis zugunsten der Operngesellschaft, zu dem Champagner und Horsd’œuvres gereicht werden. Ich glaube bestimmt, dass Sie Ihnen dort Ihr Programmheft signieren wird.« »Was kostet denn so etwas?« »250 Dollar pro Person«, erwiderte die Dame. »In den Preis einbegriffen sind allerdings beste Sitzplätze für die Oper.« »250. Pro Person.« »Richtig.« 45
Ich war drauf und dran, der Dame zu danken und weiterzuleben wie bisher. Wenn ich das getan hätte, wäre alles anders gekommen. Das Leben kann sich schlagartig ändern. Aber ich hatte ja gerade herausgefunden, dass in Doug Townsends Welt eine Frau, von deren Existenz ich nicht einmal etwas geahnt hatte, im Mittelpunkt gestanden hatte. Ein Blick auf den Terminkalender der Sonnier sagte mir, dass sie mindestens ein Jahr lang nicht mehr in Atlanta auftreten würde. Ich entschied mich rasch. »Okay«, sagte ich, »akzeptieren Sie auch Visa?« Zuerst einmal musste ich eine Begleitung für mich finden. Ich brauchte jemanden, der mir helfen konnte, ins Gespräch mit ihr zu kommen. Man kann nicht allein zu einem gesellschaftlichen Event auf so hohem Niveau gehen. Mein Gesellschaftsleben bestand damals aus ein paar Drinks mit Sammy Liston. Der Grund dafür, dass ich mich seit dem Verlust meiner Stellung mit keiner Frau mehr abgegeben hatte, war nahe liegend: Vor allem das musste ich in meinem Leben in den Griff kriegen. Diese Lektion hatte ich teuer bezahlt, denn das freie Ausleben meiner Gefühle hatte zwei Menschen alles gekostet, was sie besaßen. Ich schaute hinüber zu dem goldenen Haarschopf, der Blu McClendons Haupt zierte. Unwahrscheinlich.com, dachte ich. Obwohl sie perfekt wäre. Jung, aufregend und mit Sicherheit so gekleidet, dass alle Frauen über vierzig sich nach ihren besseren Tagen zurücksehnen würden. Ein Mädchen am Gericht kam mir in den Sinn; nicht übel, aber das gewisse Etwas fehlte, das Eindruck macht … Ich schaute wieder zu Blu hinüber. Obschon ich fast ebenso verliebt in den Anblick von Blu McClendon war wie Sammy Liston, war ich ihr nie zu nahe getreten. Ich nannte sie gelegentlich »Baby« oder »Süße«, steinzeitliche Beinamen, die sie standhaft ertrug. Das Großartige an Blu war, dass sie solche Dinge verstand. Eine Frau wie sie »Baby« zu nennen hielt mich gewissermaßen am Leben und 46
bestätigte mir, dass ich noch ein Mann war, auch wenn ich gerade mein Leben von vorn anfing. Ich betrat allerdings Neuland, wenn ich sie zu einem Date einlud. Es würde Verwirrung stiften und meiner Rolle ganz und gar nicht entsprechen. Ich wollte sie auch nicht auf falsche Gedanken bringen. Ich hatte ihr zwar noch nie Avancen gemacht, aber es war anzunehmen, dass ich, wenn ich schon nicht reich war, zumindest ein Bodybuilder sein musste. Natürlich hatte ich bei diesen Überlegungen auch im Hinterkopf, dass es noch schlimmer wäre, wenn sie mit falschen Vorstellungen im Kopf einwilligen würde. Eine Liebesaffäre zwischen uns beiden wäre spätestens beim Mittagessen am nächsten Tag nur noch Soap. In Wahrheit brauchte ich sie einfach. Meine Tätigkeit bei Carthy, Williams & Douglas hatte mich gelehrt, dass ein Mädchen wie Blu jedes Eis zum Schmelzen bringt. Man kann sich zu jeder Männerschar gesellen und sicher sein, dass sie einem ihren illustren Kreis öffnen, lächeln und sofort versuchen, rauszubekommen, was zum Teufel einen so attraktiv macht. Ich saß noch da und knobelte an dem Problem herum, als ich plötzlich den richtigen Einfall hatte, wie ich der wunderbaren Miss McClendon eine Einladung von solcher Vollkommenheit präsentieren konnte, dass sie von Michelangelo selbst hätte gemeißelt sein können. »Blu«, fragte ich sie, »wie würden Sie es finden, einen Haufen schwerreicher Männer kennen zu lernen?«
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4 Am Tag vor dem Opernbesuch fiel mir plötzlich ein, dass man sich zu einem Ereignis wie einem Empfang mit einer berühmten Diva womöglich in Schale werfen musste. Da ich während meiner Zeit bei Carthy, Williams & Douglas ungezügelt konsumieren konnte, besaß ich einen Hugo-Boss-Smoking, den ich erst zweimal getragen hatte. Ich zog ihn an und stellte mich in meinem Schlafzimmer vor den Spiegel. Ich kleidete mich immer gut, ein entscheidender Pluspunkt für einen Anwalt. Manche Typen tragen einen Anzug und sehen trotzdem so aus, als hätten sie gerade Urlaub. Aber in den heiligen Hallen von Carthy, Williams & Douglas musste man eine gute Figur machen, sonst konnte man gehen. Ich beschloss bereits an meinem allerersten Arbeitstag dort, mich so auszustaffieren, als ob ich nie etwas von Dothan, Alabama, gehört hätte, geschweige denn dort aufgewachsen wäre, und achtete peinlich genau darauf, dass meine Kleidung perfekt saß. Da stand ich also und beäugte mich, aber keineswegs aus Narzissmus. Vielmehr hatte der Augenblick eher etwas Unwirkliches. Wenn ich die Augen schloss und schnell wieder öffnete, konnte ich fast meinen, noch bei Carthy, Williams & Douglas zu sein. Ich sah noch ebenso betucht, erfolgreich und gefährlich aus. Am nächsten Abend gegen sechs fuhr ich nach Hunter Downs, wo Blu wohnte. Hunter Downs ist eine Wohnanlage für Leute, die noch nicht reich sind, aber immerhin so viel Kredit haben, dass sie sich einigermaßen überzeugend den Anschein geben können, sie wären es. Sie ist eingezäunt und besteht aus großzügig gegliederten, villenartigen Gebäudekomplexen mit südlichem Flair. Der Parkplatz war ein Meer von gewienerten, glänzenden Abschreibungsmodellen. Ich klopfte an Blus Tür, und sie machte nach ein paar 48
Sekunden auf. Irgendetwas passiert mit einer Frau, wenn sie sich elegant kleidet, selbst mit einer, die ohnehin schon so toll aussieht wie Blu. Ihr prachtvolles Haar war hochgesteckt, und feine blonde Strähnen ringelten sich auf ihrem zarten Nacken. Sie trug Perlen, die in dem vollkommensten zurückhaltenden, madonnenhaften Dekolleté zusammenliefen, das man je zu sehen bekommt. Und das Kleid – wenn man sich kostbaren azurblauen, fließenden Satin an einer Frau vorstellt, die einem idealerweise die Haare schneidet und sich dabei auch noch häufig über einen beugt, bekommt man eine Vorstellung davon. Beim Essen plapperte sie von Romeo und Julia, was mir gefiel. Ich beanstandete nicht einmal, dass sie auf einer 34Dollar-Flasche Wein beharrte, die ich zwei Tage vorher für 12 Dollar beim Weinhändler gesehen hatte. Etwas dagegen zu sagen hätte ihr Weltbild zerstört, und das wollte ich nicht. »Ich habe eine Schwäche für Romeo und Julia«, sagte sie eben. »Es ist das Tragischste, was es gibt.« Sie trank ein Schlückchen von ihrem 34-Dollar-Wein. »Warum können Menschen andere Menschen nicht lieben lassen, wen sie wollen?« »Ich weiß, Baby. Und wie schmecken Ihre Fettuccine?« »Hmm, gut.« »Schön.« »Jack, haben Sie nicht auch eine Schwäche für Romeo und Julia?«, fragte Blu. »Ich glaube, ja.« »Sie glauben?« Meine Unentschiedenheit schien sie zu verstimmen. Ich zuckte mit den Schultern. »Heutzutage würden Romeo und Julia einfach nach Las Vegas fahren und es hinter sich bringen. Sie würden ihren Eltern sagen, sie sollten zum Teufel gehen.« Jetzt war Blu vollkommen geknickt, und es tat mir Leid, dass ich ihr romantisches Luftschloss zum Platzen gebracht hatte. »Ihr Haar ist heute Abend wunderschön«, sagte ich. »Wie kriegen Sie das nur hin?« 49
Sie lächelte und vergab mir. »Warum gehen wir eigentlich in die Oper?«, fragte sie. »Ein Fall«, sagte ich. »Wir wollen dort etwas über die Sängerin in der Hauptrolle in Erfahrung bringen, die große Michele Sonnier.« »Die den Romeo singt, wie Sie gesagt haben.« Ich nickte. »Hören Sie, Blu, Sie gehen doch oft mit Männern aus, stimmt’s?« »Hm.« »Ich möchte Sie mal etwas fragen. Was würden Sie denken, wenn Sie in das Schlafzimmer eines Mannes kämen und würden lauter Bilder von sich dort vorfinden?« Ihre Miene umwölkte sich. »Wie viele Bilder?« »Sagen wir, etwa zwanzig.« Sie zog eine Grimasse. »Das würde mir gar nicht gefallen.« »Wären Sie denn nicht ein wenig geschmeichelt?« Sie schüttelte den Kopf. »Bei zwei, dreien vielleicht, aber nicht bei zwanzig.« »Und was ist mit den Typen, die sich schon hundertmal Cats angeschaut haben? Die sind harmlos, nicht wahr?« »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich würde nicht gern mit so jemandem reden. In deren Kopf muss etwas nicht ganz richtig sein.« So ging die Unterhaltung weiter während des ganzen Essens; Blu sagte mir ihre Meinung über Männerobsessionen, ein Thema, in dem sie sich, nach der Aufmerksamkeit zu urteilen, die sie im Restaurant erregte, vermutlich auskannte. Wir speisten fertig, und ich beglich die Rechnung. Dann fuhren wir die kurze Strecke zur Oper in Atlantas großem, altem Theater, dem Fox. Vor dem Eingang liefen scharenweise elegant gekleidete Leute herum, überwiegend Raucher, die vor der dreistündigen Show noch einen Kick brauchten. Ich gab dem Platzanweiser unsere 250-Dollar-Karten, und er geleitete uns den langen Gang entlang nach vorn. 50
Das Fox ist ein Wahrzeichen von Atlanta, ein Tribut an die Passion derer, die sich Künstler leisten können, um ihre Welt mit ihnen zu schmücken. Wenn man das Foyer betritt, wird man in ein marokkanisches Schloss entführt, und die Bühne ist von Türmchen und steinernen Mauern eingerahmt, die bis zur Decke reichen. Oben funkeln Sterne, und man fühlt sich wie in Tausendundeiner Nacht. Mit anderen Worten: Die Kluft zwischen der Welt innerhalb der Theatermauern und dem, was in jeder x-beliebigen Nacht in den übelsten Vierteln von Atlanta geschieht, beschreiben zu wollen hätte selbst einem theoretischen Physiker Schwierigkeiten bereitet. Womit ich nicht gesagt haben will, dass es verkehrt war, so viel Geld auszugeben, um einen so schönen Platz zu schaffen. Ich will damit nur sagen, dass man, wenn man in den Armenvierteln aufgewachsen ist und sich im Dämmerlicht des Sonnenuntergangs plötzlich im Fox wiederfindet, seine schlimmsten Befürchtungen über das Leben auf der anderen Seite bestätigt fände. Bei einem Ereignis wie diesem an Doug zu denken bedrückte mich irgendwie. Ich fand es verständlich, dass meine Junkies hart drauf waren und null Bock mehr hatten; man erwirkte eine milde Strafe für sie, sie saßen ihre Zeit ab, und das Leben ging weiter. Aber Opernmusik war etwas für Reiche, und ich stellte mir vor, dass Doug diese Kulturereignisse ebenso geliebt haben musste wie die Sonnier. Ich stellte ihn mir bei all diesen Veranstaltungen vor, anständig gekleidet, mit dem einzigen ordentlichen Jackett, das er besaß, wie er durch das Foyer ging, seinen Platz einnahm und sich ein paar Stunden lang so fühlte, als lebe er gar nicht im Jefferson Arms. Ich sah förmlich, wie er in der Pause ein Gespräch mit jemandem aufzunehmen versuchte und sagte: »Ist es nicht herrlich?« Mir war zum Heulen. Blu und ich nahmen auf roten Samtsesseln Platz und warteten darauf, dass die Show begann. In Anbetracht der Tatsache, dass 51
ich mir diesen Abend kaum leisten konnte, hoffte ich nur, mich wenigstens nicht zu Tode langweilen zu müssen. Immerhin sitzt man für 250 Dollar so dicht vor der Bühne, dass man fast die Luftbewegungen spürt, die der Gesang verursacht. Das Orchester spielte eine Ouvertüre, und plötzlich tummelten sich jede Menge Leute in prächtigen Kostümen auf der Bühne. Das Bühnenbild – Kulissen und riesige Gemälde im Hintergrund täuschten eine herrschaftliche Villa in Italien vor – war auch sehr wirkungsvoll. Ich machte es mir gemütlich und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Es dauerte einige Minuten, bis die Sonnier die Bühne betrat; sie erhielt frenetischen Beifall. Da sie ganz mit ihrer Rolle verschmolz, beachtete sie ihn nicht weiter. Das war meine erste Chance, sie genau zu betrachten: Zumindest in dieser Aufmachung wirkte sie ganz anders als auf den Bildern. Unter anderem deshalb, weil sie als Mann verkleidet war, das Haar glatt nach hinten gekämmt hatte, Hosen trug und dazu eine Weste, die ihre Brüste verbarg. Zu meiner Überraschung spielte sie wirklich überzeugend; sogar ihr Gang wirkte echt. Die meisten Frauen verfallen, wenn sie wie ein Mann gehen sollen, in einen übertriebenen Schaukelgang nach Art von John Wayne. Aber die Sonnier hatte die Feinheiten begriffen: Sich wie ein Mann zu geben heißt nicht, die Brust herauszudrücken. Es ist etwas Subtileres, das aus dem Bauch kommen muss. Ich nahm ihr die Rolle also fast ab, bis sie den Mund aufmachte. Denn sie hatte die schönste, unglaublich weibliche Stimme, die man sich vorstellen kann. Bellini hatte nicht einmal den Versuch gemacht, für diese Rolle tiefe Noten zu schreiben, die männlicher geklungen hätten. Die Sonnier sang also einfach drauflos und liebte Julia, und dabei hörte sie sich an wie die schönste Frau, die man sich vorstellen kann. Es lagen Welten zwischen dieser Oper und Dothan, Alabama, wo ich aufgewachsen bin. Ich gebe zu, dass ich keine Ahnung hatte, was ich empfinden sollte, als ich dort saß und zusah, wie 52
Schauspieler mit Schminke im Gesicht und Renaissancekostümen am Leib sich etwas zusangen. Zuerst störte es mich etwas, Romeo wie eine Frau singen zu hören, aber nach einiger Zeit hatte ich andere Gedankenassoziationen. Durch die hohe Stimme klang er wie der Jüngling, der er im Original ja auch war. Aus unerfindlichen Gründen wird er nie von Sechzehnjährigen gespielt. Normalerweise ist ein Zwanzigoder Dreißigjähriger auf der Bühne. Das ist ein großer Unterschied. Denn während ich dieser hohen Stimme von Michele Sonnier mit dem wunderschönen, zarten Gesicht lauschte, musste ich daran denken, dass Romeo nur ein Opfer des Systems war, naiv und machtlos. Er war im Grunde keineswegs stärker als Julia, waren sie doch beide noch Kinder. Er kämpfte gegen Mächte an, die erheblich stärker waren als er, und er wusste es nicht einmal. Jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, war einem gleich klar, dass er dem Untergang geweiht war. Die Rolle von Romeos Vater spielte ein großer Mann mit einer tiefen, dröhnenden Stimme, was alles noch schlimmer machte. Als Romeo mit ihm darüber stritt, wie dumm es doch sei, dass sich die Capuleti und die Montecchi immer bekämpften, hatte man den Eindruck, als pralle ein Kieselstein von einer Wand ab. Niemals würde Romeo seine Julia bekommen. Eine perfekte Story, was mich betraf. Das ganze Elend – sie machten das alles nur durch, weil sie nicht voneinander lassen konnten. Wenn sie einmal alles nüchtern betrachtet hätten, wäre es wahrscheinlich ganz anders ausgegangen. Sie hätten zwar eine Zeit lang Höllenqualen erduldet, am Ende jedoch jemand anders geheiratet und wären prima zurechtgekommen. Aber das konnten sie nicht, und so mussten zwei Menschen sterben. Obwohl jeder die Geschichte kannte, verloren viele Menschen die Fassung, als Romeo schließlich das Gift trank. Die Sonnier war nicht nur eine begabte Sängerin, sie war auch eine brillante Schauspielerin. Ihr Romeo war so zerbrechlich und verletzlich, 53
dass man einen wirklichen Menschen im Angesicht seines Todes zu sehen glaubte. Da war nichts Theatralisches, da wurde nicht zu dick aufgetragen. Sie sang mit tödlichem Ernst, und ihre Stimme stand wie eine Kerzenflamme im Saal. Sie kam zu der ernüchternden Einsicht, dass bisweilen so viel im Leben schief geht, dass es sich nicht länger zu leben lohnt. Das ist meiner Meinung nach der Kern der Story. Auch wenn es alles kostet, sich selbst treu zu bleiben, können manche Leute einfach nicht anders. Dann war es vorbei. Blu war völlig aufgelöst, deshalb gab ich ihr ein paar Minuten Zeit, sich wieder zu fangen. Die meisten Zuschauer drängten hinaus ins Foyer, nur Leute wie wir, die auf den teuren Plätzen saßen, nicht. Wir wurden durch einen Sonderausgang zum Parkplatz hinausgelassen. Ich führte Blu im Dunkeln zum Wagen, und dann fuhren wir zum Empfang im Four Seasons. Es war nur 15 Häuserblocks entfernt, sodass wir kaum fünf Minuten brauchten. Als wir dort ankamen, tat ich Blu einen Gefallen: Wir versagten uns den Service, den Wagen von einem Hotelangestellten einparken zu lassen. Ich wollte ihr keinen Strich durch die Rechnung machen, denn sie sah fantastisch aus. Es hätte ihrem Erscheinen den Glanz genommen, wenn sie vor aller Augen aus meinem verbeulten LeSabre gestiegen wäre. Wir folgten der Menschenmenge die breite Treppe hinauf, und ich konnte spüren, wie aufgeregt Blu wurde, als sie all die reichen Männer sah. Und die Männer hatten nur noch Augen für Blu, das kann ich wohl sagen. Ich habe noch nie so viele Männer beiläufig über den Rand ihres Cocktailglases blicken sehen. Wir tauchten ein in das Meer der Smokings und Abendkleider. Jeder ist äußerst zuvorkommend auf solchen Soirées. Es bilden sich auch Cliquen, aber nicht unbedingt in böser Absicht. Meist lässt es sich gar nicht vermeiden. Die Versammelten waren das finanzielle Rückgrat Atlantas, sie hatten also eine Menge 54
gemeinsam. Das konnte man spüren, wenn sie sich begrüßten. Zu jedem Handschlag gehörten unsichtbar eine Million Golfspiele, Cocktailpartys und Bankkredite. Auf die Ehefrauen – im Schnitt zehn Jahre jünger als ihre Männer – wollte das »Partygirl-Klischee« nicht passen. Sie wirkten höchst elegant und kultiviert. Aber ich wünschte, Sie hätten den McClendonEffekt an jenem Abend miterlebt. Sie hatte etwas Magisches an sich, und ich habe nie wieder so viel Smalltalk über mich ergehen lassen müssen. Auch wenn ich nichts dagegen hatte, war ich nicht hergekommen, um Blu in die feine Gesellschaft von Atlanta einzuführen. Eigentlich wollte ich so viel wie möglich über Michele Sonnier herausfinden. Es war erstaunlich schwer, das Gespräch auf dieses Thema zu bringen, meist deshalb, weil die Frauen Blus Kleid bewunderten und die Männer überlegten, wie sie es schaffen könnten, es ihr auszuziehen. Ich kriegte nur zu hören, dass die Sonnier als strahlender Stern am Opernhimmel galt, von Anfang an zum Erfolg bestimmt. Sie war in Manhattan aufgewachsen und als Wunderkind an der Juilliard-Schule aufgenommen worden, die sie zwei Jahre früher verlassen hatte, um ihre Karriere als Sängerin zu beginnen. Allerdings wurde verdammt viel über etwas anderes geredet: über Charles Ralston und Horizn. Die Männer fachsimpelten darüber, wie man Horizn-Papiere noch zum Sonderpreis vor dem Börsengang erwerben könnte, was eigentlich nur wirkliche Insider schafften. Man einigte sich allgemein darauf, dass es sich unbedingt lohnen würde, so früh wie möglich einzusteigen. Alle hatten ihre Broker am Drücker. Nach einiger Zeit fühlte ich mich verpflichtet, Blu ihre Chance zu geben. Sie konnte nicht immer hinter mir herzuckeln, und sie hatte alles getan, was ich von ihr erwartet hatte. Also tätschelte ich ihr den Arm und entließ sie, und sie lächelte wie ein Angler vor einer Badewanne voller Fische. Das Büffet war nicht schlecht; es gab köstliche Spinatnudeln 55
mit Pesto, gefüllte Champignons und kleine eingebackene Leckereien. Ich schlenderte ein paar Minuten umher, dann nahm ich mir ein neues Glas Champagner. Nach einer Weile bemerkte ich, dass ein untadelig gekleideter Mann Blu umkreiste. Er bereitete ganz offensichtlich einen Annäherungsversuch vor. Ich zählte von zehn rückwärts. Als ich bei sieben angekommen war, trat er einem der langsam herumgehenden Kellner in den Weg; bei fünf nahm er, ohne sein Tempo zu verlangsamen – und sehr gekonnt, wie ich zugeben muss –, zwei Gläser Champagner von dessen Tablett. Bingo. Irgendetwas an ihm kam mir bekannt vor; ich konnte mich dumpf erinnern, in der Zeitung etwas Unangenehmes über ihn gelesen zu haben, aber mir fiel nicht mehr ein, was. Woran kein Zweifel bestand, waren seine Absichten meiner Sekretärin gegenüber: Er war ein Spieler, in jedem Sinne des Wortes. Das konnte ich ihm ansehen, während er liebenswürdig mit Blu plauderte. Er war clever, und wahrscheinlich war er ein verteufelt guter Geschäftsmann. Aber wie sein Leben auch laufen mochte, jetzt interessierte ihn nichts anderes mehr, als mit dieser Frau ins Bett zu kommen. Ich blieb stehen und sah eine Zeit lang fasziniert zu. Blu wusste meines Erachtens so gut wie ich, was der Mann im Sinn hatte, aber das Umfeld tat seine Wirkung. Hier, auf dieser Opernsoiree, wirkte er mit seinem 2000-Dollar-Anzug wie ein geringfügig verkleinerter James Bond. Dollarmillionen haben nun einmal diese Wirkung. Ohne das Geld unterschied er sich in nichts von einem Kerl in Khakihosen mit einer fünf Jahre alten Corvette, der in einer Flughafenbar Mädchen anmacht. Ich gab Blu einige Minuten Zeit, sich bewundern zu lassen, dann gesellte ich mich zu den beiden. Das Lächeln des Mannes verwandelte sich, als wäre es aus Plastik. »Jack Hammond«, sagte ich. »Nett, Sie kennen zu lernen.« »Derek Stephens«, sagte der Mann. Er war etwa 45 Jahre alt und roch entfernt nach Zigarren. »Ich habe gerade mit Ihrer –« »Cousine«, sagte ich. »Blu McClendon, meine liebe Cousine 56
aus Arkansas.« Stephens Lächeln schrumpfte, und er rückte noch eine Spur näher an meine Sekretärin heran. »Mr. Stephens hat mir gerade erzählt, dass er Anwalt ist wie du, Jack«, sagte Blu. »Er ist für Horizn Pharmaceuticals tätig. Die Firma sponsert Frau Sonniers Tournee.« »Dann ist das ja ein großer Abend für Sie«, sagte ich. »Es ist ein großer Abend für die Oper von Atlanta, Jack«, sagte Stephens. Ich spürte förmlich, wie er mich einzuordnen versuchte. »Sie sind also auch Rechtsanwalt.« Seinem Akzent nach kam er aus Neuengland, Oberschicht. »Bei welcher Firma?« Auf diese Frage gab es für einen Typen wie Stephens nur vier korrekte Antworten, und Jack Hammond und Partner gehörte nicht dazu. »Solokanzlei«, sagte ich. »Überwiegend Strafrecht.« Schon während ich sprach, merkte ich, dass Stephens fieberhaft überlegte, wie er Blu mit möglichst wenig Aufsehen von mir wegschleusen konnte. Es gibt Menschen, die können einem direkt ins Gesicht blicken und Interesse vortäuschen, aber wenn man ihnen tief in die Augen schaut, sieht man, wie ihre Zahnräder surren und sie mit etwas ganz anderem beschäftigt sind. Obgleich ihm die Antwort völlig egal war, fragte er mich: »Sind Sie ein Freund der Oper, Jack? Oder speziell von Michele?« »Beide sind mir neu«, sagte ich. Mir machte es inzwischen irgendwie Spaß, mit dem Kerl zu plaudern. Er war so sehr auf der Überholspur des Lebens, dass er wie ein Rennwagen roch. »Und Sie?« »Ich gehöre zum Kuratorium der Oper«, sagte Stephens. »Eigentlich ein Witz, denn ich verstehe überhaupt nichts von Opernmusik.« »Offensichtlich haben Sie andere Qualifikationen.« Er wandte widerstrebend den Blick von Blu ab und richtete ihn wieder auf mich. »Der letzte Hinterwäldler könnte im Kuratorium einer Operngesellschaft sitzen, Jack, er muss nur 57
einen Scheck in angemessener Höhe ausstellen können.« Er warf einen Blick auf Blu, deren Glas nicht mehr ganz halb voll war. Die Zeit ist abgelaufen, dachte ich. »Miss McClendon«, sagte er, »lassen Sie mich für Nachschub sorgen.« »Ich komme mit«, sagte Blu strahlend. »Ich möchte unbedingt die kleinen Würfel mit dem Käse drin probieren.« Und weg waren sie. Ich hatte Beschützerpflichten Blu gegenüber, aber ich wusste, um ehrlich zu sein, nicht genug über Stephens, um mir Sorgen zu machen. Und ich hatte nie mit Blu über ihr Liebesleben gesprochen, vor allem deshalb nicht, weil es angenehmer war, sich vorzustellen, dass sie keines hatte. Ich hatte aber gar keine Gelegenheit, länger darüber nachzudenken, denn in diesem Augenblick veränderte sich die Atmosphäre im Saal. Etwas ging hinter mir vor, und ich drehte mich um; Applaus brach los, und dann teilte sich das Meer. Die Sonnier und Ralston betraten majestätisch den Saal. Ralston war groß, über 1,80 Meter, und athletisch gebaut. Sein grau gesprenkeltes Haar war der einzige Hinweis auf sein Alter; ich hatte gehört, er sei Anfang fünfzig, aber er sah erheblich jünger aus. Dass seine schokoladenfarbene Haut so glatt war, verdankte er der Tatsache, dass er sich selten im Freien aufhielt. Seine Frau war wie umgewandelt. Aus der tragischen Figur des Romeo war eine absolut wunderbare Frau geworden, die die Bekleidungsvorgaben der Gesellschaft mit erhabener Indifferenz behandelte. Sie trug die Ghetto-Mode, wie sie Designer-Twens bevorzugten, die sich einen Namen machen wollten, das heißt, sie trug 2000-Dollar-Kleider, die aussehen sollten wie 20Dollar-Schnäppchen. Umgeben von Frackschößen und Abendkleidern, erschien die Sonnier im Ballsaal des Four Seasons in engen, vulgären schwarzen Hosen, einem knapp sitzenden orangeroten Top, das die Arme sowie ein schmales Stück Bauch frei gab und weit genug ausgeschnitten war, um 58
den Ansatz ihrer mittelgroßen, aber perfekt geformten Brüste zu zeigen. Um die Hüften hatte sie eine silberne Kette geschlungen, und jedes Kettenglied war sorgfältig mit einer Patina künstlichen Alters versehen. Ihr Bauchnabel war gepierct, ihr linkes Ohr mit drei Ringen geschmückt, alles im gleichen matten Silberton wie der Gürtel. Es war schräg, aber sie zog ihren Auftritt mit solcher Unbekümmertheit durch, als hätte nur sie die Einladung richtig gelesen und als wären alle anderen Anwesenden overdressed. Und ihre Haut: Mein Eindruck von den Fotos in Townsends Wohnung war offenbar richtig gewesen. Sie war schokoladenbraun und leuchtete förmlich im Licht des Ballsaals. Wie sie da auf ihren schwarzen Schuhen mit Plateausohlen stand, hätte sie auch nicht mehr Aufsehen erregt, wenn sie auf einer Harley ins Four Seasons gedonnert wäre. Ralston wurde sofort von Wirtschaftsbossen mit Beschlag belegt; das im Saal versammelte Geld war von der nimmersatten Art, die sich immer gern von einer Flutwelle noch höher tragen lässt. Ralston schüttelte mit ziemlich desinteressierter Miene Hände, er war sich eindeutig seiner Stellung bewusst. Dies war die neue schwarze Elite: die Frau Nonkonformistin und Künstlerin, und der Mann in seinem tadellosen Armani-Anzug spielte die Spiele der Weißen bis zur Perfektion. Das Paar trennte sich bald: Ein Betreuer entführte Michele in die Menge, während Ralston die Gegenrichtung einschlug. Die Näherstehenden machten sich an die Sonnier heran, höflich, wie es kunstbeflissene Reiche tun, die 250 Dollar für die Gelegenheit ausgegeben haben, beweisen zu können, dass ihr guter Geschmack sie dazu berechtigt, reich zu sein. Ich ließ Ralston ziehen: Ich war wegen der Sonnier hier. Ich folgte ihr in einigem Abstand und beobachtete, wie sie Leute begrüßte, die das selbstsichere, gewollt Schrille an ihr liebten. Von meiner Perspektive aus – der Strafgerichtsbarkeit von Fulton County – war Michele Sonnier natürlich ebenso weit von der Gosse entfernt wie kleine Pfadfinderinnen. 59
Wer Opern singt, entführt kein Auto samt Insassen, falls Sie verstehen, was ich meine. Und da sie schwarz war, wusste sie das vermutlich genauso gut wie ich. Was mich auf den Gedanken brachte, dass das, was sich vor meinen Augen abspielte, vielleicht auch ein bisschen Oper war. Sie hätte auf der Stelle zu singen anfangen können, von der Schuld liberaler Weißer, einem Maultier und vierzig Morgen. Stattdessen arbeitete sie sich weiter durch den Saal und ließ sich von ihren neuen besten Freunden sagen, wie wunderbar sie war. Ich sah eine Zeit lang zu und sann über Doug Townsend und seine Obsession nach. Mit ihren Schuhen wirkte sie groß, aber ohne schätzte ich sie auf höchstens 1,67 Meter. Sie hatte schlanke, feste Arme, feine Gesichtszüge, zart und ebenmäßig, dunkle Augen und spektakuläres Haar – brünett mit kastanienroten Glanzlichtern –, das sie zum Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Mein Gott, dachte ich, der arme Doug, er hatte keine Chance. Endlich machte sie die Kurve zu mir herüber und blieb vor mir stehen. Ihr Betreuer sprach ein paar Meter entfernt mit jemandem; im Moment waren wir allein. Sie streckte mir eine schöne, glatte Hand entgegen. Ich ergriff sie und stellte mich vor. »Jack Hammond.« »Hallo, Mr. Hammond.« Sie klang kultiviert und gebildet. »Eine schöne Soiree für Sie.« Sie lächelte. »Ich hasse all den Wirbel.« »Immerhin wird er Ihnen zu Ehren veranstaltet.« Ihr Lächeln wurde weicher. »Kann schon sein.« »Wie finden Sie es denn, einen Mann zu spielen?« »Es ist eine Herausforderung, aber in diesem Fall der Mühe wert.« »Wegen der Musik?« Sie zuckte mit den Achseln. »Die Musik ist nicht schlecht.« Das versetzte mich ein bisschen in Erstaunen. »Nicht schlecht?« 60
Die Sonnier beugte sich vor. Ich konnte ihren Duft nicht recht einordnen; er war zitrusartig, edel und rein. »Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten, wenn Sie mir versprechen, es niemandem weiterzusagen«, sagte sie. »Ich glaube, das Versprechen könnte ich halten.« »Diese Oper gehört nicht zu meinen Lieblingswerken. Ich singe sie aus einem anderen Grund.« »Und der wäre?« »Die köstliche Ironie natürlich.« »Ich bin ein ziemlicher Neuling auf diesem Gebiet«, sagte ich. »Vielleicht können Sie mir etwas auf die Sprünge helfen.« Sie beugte sich noch näher zu mir. Das war verteufelt vertraulich. Ich durfte nicht vergessen, Blu zu fragen, was das für ein Duft war. »Das überrascht mich aber, Mr. Hammond«, sagte sie. »Sie machen den Eindruck eines Kenners.« Ich lächelte und war zugleich etwas verärgert, weil ich wusste, dass sie mit mir spielte und ich trotzdem auf sie flog. Und dass sie wusste, dass ich es wusste, machte es auch nicht besser. Wirklich schöne Frauen brauchen sich an keine Regeln zu halten. Ich konnte den Blick nicht von ihrem glänzenden, weichen Mund abwenden. Sie fing eben an, mir auf die Nerven zu gehen, als ich merkte, dass es Charles Ralston war, den ich hasste, nur weil er derjenige war, der sie küssen durfte. »Zu Shakespeares Zeiten wurde die Julia von einem Mann gespielt«, sagte sie. »Alle Rollen. Frauen durften nicht auf die Bühne.« »Ja, das habe ich gehört. Dann sind das in der Balkonszene …« »Zwei Engländer, die so tun, als wären sie ein italienisches Liebespaar.« »Richtig.« »Deshalb hat Bellini, der ja Italiener war, für den Ausgleich gesorgt. Er hat den Romeo mit einer Frau besetzt.« »Wollen Sie damit sagen, dass es eine Art Rache unter Künstlern war?« 61
Die Sonnier lachte, und die Lieblichkeit ihrer Stimme jagte mir einen Wonneschauer über den Rücken. Sie beugte sich noch näher zu mir und flüsterte: »Mr. Hammond, wenn Sie irgendetwas von Opern verstehen wollen, müssen Sie eines wissen: Was auch immer sonst noch geschehen mag, in der Hauptsache geht es um Rache.« Ehe ich etwas erwidern konnte, erschien ihr Betreuer. Er nahm ihren Arm und wollte sie wegführen. Jetzt oder nie war der Zeitpunkt für die Sache mit Doug Townsend, und so streckte ich die Hand aus und hielt die Sonnier fest. Einen Augenblick hing sie zwischen uns beiden, und wir zogen sie an den Armen in verschiedene Richtungen. »Ja, Mr. Hammond?«, sagte sie. »Ich habe mich gerade gefragt, ob Sie die Nachricht von einem gemeinsamen Freund schon gehört haben.« Sie sah mich erstaunt an. »Wer sollte das sein?« Ich wusste, das war’s. Wenn ihr der Name nichts sagte, saß ich wieder im Büro, und meine 500 Dollar hatten mir nichts eingebracht als ein paar eingebackene Hummerkrabbenschwänze, einen Abend lang italienische Musik und die Tatsache, dass ich zum ersten Mal in eine schwarze Frau verknallt war. Ich schaute ihr in die Augen und sagte: »Doug Townsend.« In ihrem Gesicht veränderte sich nichts. Nicht ein Muskel zuckte. Ihr Lächeln war nach wie vor einladend. »Ich glaube nicht, dass ich jemanden dieses Namens kenne«, sagte sie. »Tut mir Leid.« »Macht nichts«, sagte ich. »Eigentlich trifft es sich sogar gut.« Der Typ zerrte wieder an ihr, aber ich merkte an ihrem Arm, dass sie gegenhielt. Es war kaum zu sehen, aber man bekommt ein Gefühl dafür, wenn man Tag und Nacht von Lügnern umgeben ist. Sie wollte noch nicht weg. »Wieso?« »Weil Doug Townsend gestorben ist«, antwortete ich. »An einer tödlichen Überdosis, vor vier Tagen.« Ihr Lächeln, kurz vorher noch aus Fleisch und Blut, erstarrte 62
augenblicklich und gefror zu gefälliger Leblosigkeit. Sie kannte ihn, das stand fest. Die große Michele Sonnier kannte Doug Townsend, so wie ich.
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5 Nach zwei Jahren am Gericht von Richter Thomas Odom kann ich eines mit hundertprozentiger Sicherheit sagen: Die Leute lügen nicht, weil sie sich gern reden hören. Sie lügen, weil es etwas gibt, dass sie so vehement vor dir verbergen wollen, dass sie lieber ein bisschen von ihrer Integrität aufgeben, bloß um dich daran zu hindern, dahinterzukommen. So ging mir am nächsten Tag, als ich im Büro aufkreuzte, die Frage im Kopf herum, was das bei Michele Sonnier sein mochte und wie viel von ihrer Integrität sie einzusetzen bereit war, um es geheim zu halten. Natürlich traf ich zuerst einmal auf eine Wand, nämlich auf die unüberwindliche kulturelle und finanzielle Kluft, die zwischen Dougs und Michele Sonniers Leben bestand. Sie brachte ihr Leben mit Dirigenten aus Europa zu, die vier Sprachen sprachen, während Doug im Vorhof zur Hölle und mit einem Fuß im Knast gelebt hatte. Trotzdem war nicht abzuleugnen, dass er diese Kluft mehr als zwanzigmal durch Flüge überwunden hatte, die jeweils bar bezahlt worden waren. Das und die absolute Gewissheit, dass die Sonnier gelogen hatte, als sie behauptet hatte, ihn nicht zu kennen, war mehr, als ich ignorieren konnte. Die Verbindung zwischen der Sonnier und Doug aufzuschlüsseln verschaffte mir allerdings nicht die nötigen finanziellen Mittel, um am Monatsende Blus Gehalt zu bezahlen. Deshalb war ich trotz meines Verlangens, herauszufinden, was mit Doug geschehen war, froh über jede angesetzte Gerichtsverhandlung. Dank der Großzügigkeit von Sammy Liston standen an diesem Vormittag zwei Fälle von mir auf Richter Odoms Terminplan. Wie üblich traf ich beide Mandanten kurz vor Verhandlungsbeginn in der Eingangshalle. Im ersten Fall musste 64
die Beschuldigte, eine junge Frau – zwanzig Jahre alt, hübsch, mit den gleichen traurigen Augen wie fast alle meine Mandanten –, weil sie zum zweiten Mal im Besitz von Drogen erwischt worden war, Sozialarbeit leisten und sich eine Strafpredigt von Richter Odom anhören, die unter anderem so klassische Sätze enthielt wie: »Ich will Sie nicht mehr in diesem Gerichtssaal sehen, Miss Harmon«, oder: »Sollte mir zu Ohren kommen, dass Sie einen der Drogentests versäumt haben, muss ich Sie einsperren lassen.« Alles Sachen, die ich im Schlaf konnte. Wie sehr mich die Monotonie meiner Arbeit anödete, zeigte sich daran, dass ich meinem zweiten Fall an diesem Tag, der Verteidigung von Michael Harrod, freudig entgegensah. Sein Delikt konnte man eigentlich vergessen – ein Bagatelldelikt, auch Ladendiebstahl genannt –, aber es ging endlich einmal nicht um Drogen. Sein Erscheinen sorgte für ein bisschen Furore, was einiges heißen will, wenn man bedenkt, wer alles vor Richter Odom geschleppt wird. Harrods Haare glichen Josephs berühmtem bunten Rock: eine Stachelfrisur in Regenbogenfarben. Schon der Anblick seiner zahllosen Piercings tat weh. Sein T-Shirt, auf dem das Logo der Band »Nine Inch Nails« prangte, bedurfte dringend einer Wäsche. Doch trotz alledem war er etwa so furchterregend wie ein Messdiener. Bei 1,65 Metern und 60 Kilo verbarg das T-Shirt eine ziemlich eingefallene Brust. Seine Haut, der offenbar schon jahrelang das Sonnenlicht vorenthalten worden war, hatte ein teigiges Weiß wie ungebackenes Brot. Er war so nervös, als würde er bei einem lauten Geräusch sofort vom Boden abheben. Ich traf ihn etwa eine Stunde vor Beginn seiner Verhandlung vor dem Gerichtssaal. »Jack Hammond«, stellte ich mich vor. Er musterte mich argwöhnisch und nahm meine ausgestreckte Hand nicht an. »Sie sind Michael Harrod, stimmt’s?« »Nennen Sie mich Nightmare«, sagte er. Ich musste lachen. Ich wollte es gar nicht, aber »Albtraum« 65
passte bei seiner Erscheinung wie die Faust aufs Auge. »Mr. Nightmare?«, fragte ich. »Oder ist Night Ihr Vorname und Mare Ihr Nachname?« Harrod warf mir einen schrägen, finsteren Blick zu, der, wie ich annehme, alles war, was er an Arroganz aufbrachte. »Also«, sagte er, »was muss ich machen, um hier rauszukommen? Dafür sind wir doch hier, oder?« Ich habe eine fast unendliche Geduld mit kleinen Klugscheißern. Ich rufe mir einfach ins Gedächtnis, dass die meisten von ihnen nie einen Vater hatten und es nur noch Minuten dauert, bis sie auf Daddy treffen. Daddy, das ist in diesem Fall Richter Thomas Odom. Der Richter ist ein netter Mann, aber er kann auch andere Saiten aufziehen, wenn es sein muss, und da er die Macht hat, einen zur Hölle zu schicken, verfehlt das selten seine Wirkung. Es dauert in der Regel höchstens zwei Minuten, bis ein Neuling vor Gericht kein Scheißer mehr ist, dem das alles egal ist, sondern nur noch ein elendes kleines Baby. Er fühlt sich jäh in die Zeit vor seiner qualvollen Pubertät zurückversetzt, als ihm ein richtiger Vater noch den kleinen Hintern versohlt hätte für seine Frechheit. »Na schön, Nightmare«, sagte ich, »auch wenn ich persönlich Sie charmant finde, sollten Sie doch eine kleine Einstellungsänderung vornehmen, da Richter Odom es gern hat, wenn seine Opfer ein wenig Reue zeigen.« Nightmare musterte mich erneut und dachte nach. Ich sah förmlich, wie er ein paar Sachen zurechtrückte. »Ich kann lächeln«, sagte er. »Ich könnte mich auch verbeugen und vor dem Mann katzbuckeln.« »Dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür gekommen«, sagte ich. Ich schlug den Ordner auf. »Ich habe mir Ihre Akte angesehen. Offenbar waren Ihnen die Zahlungsmodalitäten für ein paar Teile aus einer Radio-Shack-Filiale nicht geläufig.« Nightmare zuckte die Achseln. »Ich brauchte sie«, sagte er. »Sie waren nicht viel wert.« 66
»Warum haben Sie sie dann nicht bezahlt?« »Konnte ich nicht. Die alte Wirtschaftsordnung ist sowieso längst überholt.« »Alte Wirtschaftsordnung?« Nightmare sah mich müde an. »Sie sind die alte Wirtschaftsordnung, Sie Dinosaurier.« Er zeigte auf die Wände des Gerichtsgebäudes ringsum. »Dieses ganze System.« »Wir sind Dinosaurier, was?« Allmählich wurde mir der Junge ernstlich unsympathisch. »Alles das – Regierungen, Justizapparate, Armeen, Kriege. Alles überholt. Alles am Absterben, und Sie merken’s nicht mal.« »Ich nehme an, nicht zu bezahlen ist die neue Wirtschaftsform?« »Haben Sie eine Vorstellung davon, wie schnell sich heute alles verändert? Glauben Sie, ich wollte wegen ein paar Elektronikteilen im Wert von lausigen fünf Dollar auf meine ganze Welt verzichten?« Ich sah in den Ordner. »Darum geht es? Um fünf Dollar?« »Yeah. Um einen Autodialer für fünf Dollar.« »Was ist ein Autodialer?« »Er wählt. Automatisch.« »Er wählt Computer an, meinen Sie.« »Zum Beispiel«, sagte er. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass Nightmare tatsächlich ein Dieb war, nur dass der Unterschied zum normalen Diebstahl der war, dass er sich elektronisch Einlass verschaffte. Zehn Sekunden später hatte ich einen Plan ausgeheckt, der im Wesentlichen darauf hinauslief, ihn mir zu Dankbarkeit zu verpflichten. Nach vergangener Nacht konnte ich die Kenntnisse, über die er möglicherweise verfügte, dringend gebrauchen. Da er nicht der Typ zu sein schien, der mir freiwillig einen Gefallen tun würde, musste ich es so hinkriegen, dass er mir etwas schuldig blieb. Ich rechnete mir 67
aus, dass es etwa fünf Minuten in Anspruch nehmen würde. Ich schaute durch die Halle zur stellvertretenden Staatsanwältin hinüber, die dem Fall zugeordnet worden war und gerade mit einem dicken, dunkelhaarigen Mann von ungefähr 35 Jahren sprach. Ich beobachtete sie ein paar Minuten lang und überlegte. Dann stand ich auf; Nightmare schrak bei dieser plötzlichen Bewegung ein ganzes Stück vor mir zurück. Ich blickte sinnend auf ihn – wie oft mochte er wohl in der Grundschule in den Arsch getreten worden sein? Aber ich hatte keinen Zweifel daran, dass er mit Computern genauso gefährlich war wie ein Preisboxer mit seinen Fäusten. So ungern ich es auch zugeben mochte, der Junge hatte Recht: Die Welt war dabei, sich zu verändern, und kleinen gefrusteten Albträumen wie ihm würde der Schlüssel zum Himmel auf Erden zufallen. Aber so weit war es noch nicht, und in der Zwischenzeit musste er mir einen Gefallen tun. »Also gut«, sagte ich, »die Welt, an der Sie und Ihre anarchischen Technofreaks basteln, ist bestimmt super. Aber jetzt wird die alte Wirtschaftsordnung erst mal Ihren spindeldürren kleinen Hintern ins Gefängnis stecken, falls Sie nicht genau – und wenn ich genau sage, meine ich auch genau – das tun, was ich Ihnen sage.« »Niemand steckt mich wegen fünf Dollar in den Knast.« »Michael …« »Nightmare«, korrigierte er mich. Ich lehnte inzwischen fast auf ihm. Ich war nicht wütend, ich hatte es nur eilig. Wenn der Fall aufgerufen wurde und wir vor Odom standen, war es zu spät. »Okay, Nightfuck, mir ist es egal, wie du heißt, aber du hörst mir jetzt zu, denn ich bin die alte Wirtschaftsordnung, und in deren Mauern befindest du dich gerade.« Ich zog meine Brieftasche hervor, holte einen Zehndollarschein heraus und drückte ihn Nightmare in die Hand. »Komm mit«, sagte ich, »und mach ein paar Minuten lang genau das, was ich dir sage.« Nightmare stopfte den Schein in seine Tasche und folgte mir 68
durch die Halle. Der dunkelhaarige Dicke machte ein finsteres Gesicht. »Das ist er«, sagte er. »Der kleine Dieb, der mich bestohlen hat.« »Sie?«, schnaubte Nightmare verächtlich. »Radio Shack ist ein multinationaler Konzern, für den Sie gar nicht existieren. Die geben mehr für Klopapier aus, als Sie im Jahr verdienen.« Ich packte Nightmare unsanft am Arm. Er krümmte sich, was mich nicht weiter wunderte, denn sein Arm war etwa so muskulös wie ein Zahnstocher. Ich begrüßte die Staatsanwältin mit einem Kopfnicken und wandte mich dann lächelnd dem dunkelhaarigen Dicken zu. »Und Sie sind?«, fragte ich. »Vincent Bufano«, erwiderte er. »Ich bin der Leiter der RadioShack-Filiale.« »Mr. Bufano«, sagte ich, »Mr. Harrod hier möchte Ihnen gern etwas geben, und außerdem möchte er Ihnen etwas sagen.« Bufano sah Nightmare an, der sich unter meinem Griff wand. »Gib ihm das Geld, Michael.« Nightmare wollte etwas sagen, aber ich presste ihm meinen Mittelfinger so fest mitten in den Bizeps, dass er beinahe zu Boden gegangen wäre. Daraufhin fischte er mit seiner freien Hand den Schein aus seiner Tasche und reichte ihn Bufano. »Und jetzt möchte Michael Ihnen noch etwas sagen«, sagte ich. »Sag dem Mann, dass es dir Leid tut, Michael.« Nightmare wollte weg, aber ich hatte ihn fest im Griff. Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, und der Dicke grinste spöttisch. Jetzt grub ich meinen Daumen seitwärts in Nightmares Arm, presste den Nagel genau zwischen die Sehnen und fuhr mit dem Daumen hin und her. Nightmare richtete sich auf. »Es tut mir Leid«, sagte er laut und deutlich. Ich drückte fester. »Es tut mir ganz schrecklich Leid.« »Und es soll nie wieder vorkommen, nicht wahr, Michael?« Ich filetierte ihm seinen Muskel langsam mit meinem Daumen. »Nein«, sagte er, »nie wieder. Nie und nimmer.« Bufano sah Nightmare eine Zeit lang aus seinen 69
Schweinsaugen an. Dann faltete er den Schein, schob ihn in seine Tasche und sagte: »Lass dich nie wieder in meinem Laden blicken, Junge.« Ich sah die Staatsanwältin an, die uns mit einem amüsierten Lächeln beobachtet hatte. Ihr lag ebenso wenig wie mir daran, ein paar Stunden mit dem Fall zu vergeuden. »Ich glaube, wir können die Anklage fallen lassen, falls Mr. Bufano nichts dagegen hat«, sagte sie. Bufano, dem es offenbar gefiel, selbst ein bisschen den Richter spielen zu dürfen, sah Nightmare an. »Er kann gehen«, sagte er. »Aber wie gesagt, in meinen Laden kommt er mir nicht mehr.« »Dann sind wir hier fertig?«, fragte ich die Staatsanwältin. Sie lachte. »Ja«, und fügte, indem sie Nightmare ansah, hinzu: »Sie können gehen.« Ich lockerte meinen Griff um seinen Arm noch nicht. »Bedank dich bei der alten Wirtschaftsordnung, Michael«, sagte ich. »Danke«, murmelte er. Jetzt ließ ich ihn los. Er stolperte zurück durch die Halle und rieb sich den Arm. Ich verabschiedete mich mit einem Achselzucken von der Staatsanwältin, schüttelte Bufano die Hand und gesellte mich zu Nightmare. Er sah zu mir hoch und zog eine Grimasse. »Das hat wehgetan, Sie Gurke«, sagte er. »Das war nicht nötig.« »Eine Frage«, sagte ich. »Zu welcher Wirtschaftsordnung gehört der Knast?« »Niemand wäre in den Knast gekommen. Nicht wegen fünf Dollar.« »Du magst ja die Zukunft sein, Nightmare, alter Freund, aber von der Gesetzgebung Georgias hast du keine Ahnung.« »Wieso?« »Weil ein Gutteil der alten Herrschaften hier fand, dass die Richter ein bisschen zu lasch sind, sodass jetzt auf Bagatelldiebstahl eine saftige Strafe steht. Du hättest 500 Dollar 70
und die Gerichtskosten bezahlen müssen.« »Ich habe keine 500 Dollar.« »Plus Gerichtskosten.« »Habe ich auch nicht.« »In dem Fall hättest du zehn Tage aufgebrummt bekommen und sechs abgesessen.« »Wegen fünf Dollar?« »Ist die alte Wirtschaftsordnung nicht gemein?« Ich sah, wie es in Nightmares Hirn arbeitete. Dankbarkeit war etwas relativ Neues für ihn, deshalb dauerte es eine Weile. »He, Mann«, sagte er schließlich, »danke.« »Keine Ursache.« »Nein, wirklich. Das wäre beschissen gewesen.« »Das finde ich auch.« »Ich hab bloß keine zehn Dollar.« »Du kannst es auf andere Art gutmachen.« Auf Nightmares Zügen zeigte sich desinteressierte Ablehnung. »Gutmachen? Sie haben sie wohl nicht alle, wie?« Mein Blick wurde abwesend, als schaute ich in weite Fernen. »Ich kann mir dich lebhaft im County-Knast vorstellen, wo sie mit dreißig auf Pritschen in einem Raum schlafen. Junge, magere weiße Kids wie du wären gegen zwei Uhr nachts sicherlich sehr beliebt.« Nightmare schauderte unwillkürlich. »Okay. Und wie?«, fragte er. »Hoffentlich nicht mit der letzten Scheiße.« »Es fällt in deinen Fachbereich«, sagte ich. »Ich möchte, dass du in einen Computer einbrichst, und ich möchte, dass du darüber Stillschweigen bewahrst.« Nightmares Gesichtsausdruck wechselte von ablehnend zu erstaunt und blieb dann beim Anflug eines listigen Grinsens stehen. »Teufel auch, yeah«, sagte er, »das kann ich.«
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6 Derek Stephens zu mögen wäre mir nicht leicht gefallen. Ich hatte für seine spezielle Art von weichlicher Arroganz nichts übrig. Es ist nichts Persönliches; aber früher, in Dothan, hätten wir ihm ein bisschen die Fresse poliert, um ihm zu zeigen, wo’s langgeht. Dann hätte er zwar immer noch davonrennen und die Welt regieren können, aber ohne sich anzumaßen, das sei sein gutes Recht. Ich wollte also wirklich keine Blumen von ihm auf dem Schreibtisch meiner Sekretärin vorfinden, als ich gegen Mittag wieder im Büro eintraf. Blu spielte es herunter und sagte, es sei einfach nett von ihm, und außerdem sei der Preis für einen Typen wie ihn wahrscheinlich ein Klacks. Sie hatte womöglich keine Ahnung, wie genau sie damit ins Schwarze traf; er war jetzt schon gut betucht, und man konnte sicher sein, dass er eine Option auf die Horizn-Aktien hatte, die ihn bald märchenhaft reich machen würde. Und nach meinen Erfahrungen sprechen 36 Rosen eine ziemlich deutliche Sprache, ob sie nun gelb sind oder nicht. Immerhin sah sie glücklich aus. Atlanta ist übersät mit Frauen, die ein Pappmaché-Leben inszenieren, ein fragiles Scheinleben, von dem sie annehmen, dass es auf geheimnisvolle Weise jeden Augenblick Wirklichkeit werden könnte. Sie sehen aus wie Millionärinnen, sie benehmen sich wie Millionärinnen, sie suchen die Gesellschaft von Millionären, wann immer sie können, nur haben sie keinen Pfennig Geld. Für solche Frauen hatten Kerle wie Derek Stephens einen Wert wie Plutonium. Sie waren unbezahlbar. Was, offen gestanden, nicht meinem eigenen derzeitigen Wert in dieser Welt entsprach. Anwälte, die in Ungnade gefallen sind und es mit knapper Müh und Not schaffen, ihre Lizenz zu behalten, rangieren irgendwo im Penny-Stock-Bereich. Ich 72
schaute mir eine Weile an, wie Blu an ihren Rosen schnupperte; dann ging ich mit Sammy zum Mittagessen ins Rectory, wo er früher die Drinks auszuschenken pflegte und jetzt selbst Kunde ist. Sammys Leben ist der Beweis für die Theorie: Wenn es dir schlecht geht, schlag dir deine Träume aus dem Kopf, und du wirst feststellen, dass es dir dann viel besser geht. So etwa lief es bei Sammy. Nachdem er ein paar Jahre lang Juristen Drinks serviert und ihre Unterhaltungen mit angehört hatte, wollte er unbedingt in ihre Reihen aufgenommen werden. Mit anderen Worten: Er machte sich Hoffnungen. Er hatte Träume. Leider fand das einzige juristische Studium, zu dem er zugelassen wurde, abends im Keller des CVJM statt. Bei all den gestrandeten Existenzen, die mit ihm studierten, hätte er es als böses Omen auffassen müssen, dass er von den 19 Kommilitonen als Neunzehnter die Abschlussprüfung bestand. In seinem ersten Jahr nach dem Studium fiel er dreimal durchs Anwaltsexamen. Damals nahm er in seiner Verzweiflung die Stellung als Sekretär am Kreisgericht von Fulton bei Richter Thomas Odom an. Binnen einer Woche machte er eine verblüffende Entdeckung: Alles, was er sich ursprünglich erträumt hatte, war in Erfüllung gegangen. Er hatte genügend Geld für einen anständigen Anzug und besaß eine gewisse Macht. Kurz: Er pries sich glücklich. Sehen Sie, was ich meine? Das ist mein Mantra: Hak’s ab und lass los. Sammy hält die Schicksale von mehreren hundert richtigen Anwälten in seinen whiskeyfleckigen Händen, und das gefällt ihm ganz ungemein. Als ich im Rectory auftauchte, war Sammy mir schon ein paar Drinks voraus. Es tat seinem Erscheinungsbild nicht gerade gut. Er hatte die Art von schlaffem Körper, der in der High School gerade noch passabel ist, danach jedoch immer unattraktiver wird. Mittlerweile sah er aus wie ein Corpsstudent 15 Jahre später, und genau das war er auch. Noch immer konnte er 73
plötzlich lächeln, aber man sah ihm die Hunderte von Nächten, die er bis zum Morgengrauen verzecht hatte, an dem in die Breite gehenden Gesicht, dem schütter werdenden braunen Haar und dem bleichen Schimmer seiner Wangen an. Er hatte so lange das Leben zum Gelage gemacht, wie es ein menschlicher Körper aushalten kann, aber wenn er nicht bald etwas unternahm, würde er in weniger als sechs Monaten wie nach der Lebensmitte aussehen. Als Erstes gab ich ihm einen Drink aus. Er trank sowieso, und ich versuche nach Möglichkeit, keine Werturteile zu fällen über das, was andere ihr Freizeitvergnügen nennen. Ich wollte Informationen aus ihm herausquetschen und dann seinen Tag ruinieren, ihm einen Drink zu spendieren war also das Mindeste, was ich tun konnte. Sammy, in glückseliger Unkenntnis der schlechten Nachrichten, die ich für ihn bereithielt, teilte seine Aufmerksamkeit gleichmäßig zwischen dem schmelzenden Eis in seinem Glas und der Kellnerin auf der anderen Seite der Theke. »Sammy«, sagte ich und setzte mich, »du solltest dich und deine Fantasie ein bisschen zügeln.« »Ich habe nur meine Träume, Jack. Nimm mir die nicht.« »Na ja, du könntest ein bisschen mehr rausgehen, dich vielleicht etwas mehr bewegen.« »Okay, wird gemacht.« Er nahm einen Schluck. Unser Gespräch würde beim dritten Drink enden, wenn ich die Sache nicht vorantrieb. »Bestellst du was?«, fragte er. »Ja, ich nehme das Club-Sandwich mit Roggenbrot«, sagte ich. »Hör mal, Sammy, ich muss dich Verschiedenes fragen.« »Was zum Beispiel?« »Zum Beispiel, wer im McDaniel Glen derzeit das Sagen hat.« Sammy schwieg und dachte nach. »Das müsste Jamal Pope sein.« »Pope? Ich dachte, der sei –« »Nein. Er ist auf freiem Fuß. Ist schwer im Geschäft, höre 74
ich.« Er nahm noch einen Schluck. »Hast du immer noch die Townsend-Sache im Kopf?« »Ja«, erwiderte ich, »ich will rausfinden, woher er das Fentanyl hatte, vielleicht auch etwas über seine Gemütsverfassung.« »Ich glaube nicht, dass Mr. Pope zu den gesprächigen Menschen gehört.« »Kann gut sein. Gibt’s irgendwas, wo man bei ihm den Hebel ansetzen könnte?« Sammy lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Zum Glück hatte er noch nicht so viel Seagram’s intus, dass sein Hirn schon vernebelt gewesen wäre. »Vielleicht«, sagte er nach einer Weile. »Vor ein paar Monaten hast du doch diesen dürren Mistkerl Keshan Washington rausgehauen, nicht wahr?« »Sammy, was kann ich denn dafür, dass ein kaputtes Rücklicht einem Cop kein Recht gibt, bei einem Kraftfahrer eine Leibesvisitation zu machen!« »Ja, und deine Mandanten sind alles arme Opfer. Der Punkt ist nur der, dass es dir zu verdanken ist, dass Mr. Washington wieder frei ist und in Atlanta herumläuft. Rate mal, was er mit seiner Zeit anfängt.« Ich sah Sammy an. »Er arbeitet für Jamal Pope?« »Bingo«, sagte Sammy. »Und wie ich es sehe, steht der König des Glen in deiner Schuld. Wahrscheinlich wird er dich zum Essen einladen.« »Danke, Sammy«, sagte ich. »Kann ich irgendwas für dich tun?« »Wie wär’s damit, die Grundrechte außer Kraft zu setzen? Wir haben hier eine Menge Halunken, die hinter Schloss und Riegel gehören.« »Ich will sehen, was sich machen lässt.« Sammy trank sein Glas in einem langen Zug leer. »Hör mal, Jack«, sagte er, »warum lässt du dir nicht von Billy Little einen Uniformierten schicken, der dich dorthin begleitet?« 75
»Gute Idee, Sammy. Dann würde Mr. Pope reden wie ein Wasserfall.« »Na schön, lass dich ruhig umbringen. Mir kann’s ja egal sein.« Sammy winkte die Bedienung herüber, und sie kam an unseren Tisch, ganz Minirock, lange Beine und markante Brüste. Im Gegensatz zu Sammy mit seinen 35 sah sie wie 20 aus. Ich bestellte mir das Sandwich, und Sammy sagte: »Noch zwei«, wobei er zwei Finger hoch hielt und das Victoryzeichen machte. »Und eins für dich, Süße.« Es war der Kellnerin hoch anzurechnen, dass sie nicht die Augen verdrehte. Sie lächelte bloß und schwebte davon; wahrscheinlich dachte sie gerade an ihren Leibwächterfreund. Sammy blieben ohnehin nur noch etwa 30 Sekunden, um sie zu vergessen, denn genauso viele Sekunden sollte es noch dauern, bis ich meine Bombe platzen ließ. »Sammy«, sagte ich, »erzähl mir doch mal, was du über Derek Stephens weißt.« Sammy zuckte die Achseln. »Stephens? Warum fragst du nach dem?« »Erzähl nur.« »Verbringt seine Zeit drüben am Bundesgerichtshof und haut im Auftrag von Horizn Pharmaceuticals Leute in die Pfanne. Es geht meist um geistiges Eigentum, um Leute, die Horizn-Patente verletzen.« »Ja, eine heiße Sache heutzutage.« »Er ist nicht oft da, aber es geht immer ein Raunen durch den Verhandlungssaal, wenn er kommt. Vor allem, weil ihn jeder hasst.« »Warum das?« Sammy hob den Blick zu mir. »Ein richtiges Arschloch. Behandelt alle anderen wie ein Stück Scheiße und kommt damit durch, weil er so brillant ist. Das ist etwas, was einen nach einiger Zeit ärgert. Und er macht sich an alles ran, was sich bewegt.« 76
»Dann ist er also nicht verheiratet?« Sammy schüttelte den Kopf. »Er hat eine Freundin, obwohl man das kaum glauben kann, wenn man weiß, wie er sich aufführt. Ich habe sie aber drei- oder viermal gesehen. Sie stolziert rum, als hätte sie ’nen Doktorhut am Arsch.« »Verklemmt?« »Bestimmt. Geht auf Zehenspitzen, so, als wollte sie sich die Füße nicht schmutzig machen. Sie trägt auch einen Ring.« »Soll das heißen, dass sie verlobt sind?« »Anzunehmen. Aber sie ist nicht gerade pflegeleicht, das kann ich dir flüstern. Wahrscheinlich kämmt er deshalb immer das Gericht nach Sekretärinnen ab.« Sammy trank einen Schluck. »Obwohl sie wissen, dass er ein Fiesling ist, laufen sie ihm alle nach wie kleine Hündchen. Und hinterher weinen sie.« »Vielleicht ist es eine Herausforderung. Ihn zu zähmen, meine ich.« »Ja, und vielleicht liegt’s auch daran, dass er reich ist. Wusstest du, dass er jemanden dazu gebracht hat, ihm einen Parkausweis für die Tiefgarage auszustellen, damit er seinen Ferrari nicht den Unbilden der Elemente aussetzen muss?« »Er fährt einen Ferrari?« »Nur an Tagen ohne jedes Wölkchen am Himmel. Aber das ist nicht das Schlimme.« »Was ist denn das Schlimme?« »Das Schlimme ist, dass Derek Stephens grundsätzlich jeden zu allem überreden kann.« Ich nickte und hatte dabei vor Augen, wie er seine Verführungskünste bei Blu spielen ließ. Ich hätte mich nicht einmischen dürfen. Zumindest hatte ich eigentlich kein Recht dazu. Aber eine so gute Gelegenheit ergibt sich selten. Und wenn sie da ist, fühlt man sich fast verpflichtet, sie zu ergreifen. Nachdem ich die erforderliche Sorgfalt hatte walten lassen, öffnete ich jetzt den Bombenschacht. »Sammy, alter Knabe«, sagte ich, »du kannst endlich wieder aufleben.« 77
»So?« Ich nickte. »Von jetzt an gibt es nur einen Grund für dich, morgens aufzustehen, nämlich Derek Stephens das Leben zur Hölle zu machen.« »Warum zum Teufel sollte ich das?« Ich fasste das Ziel scharf ins Auge und löste die Bombe. »Weil die Nächste, die er zum Weinen bringen wird, die Frau ist, die du liebst: Blu McClendon.« Sammy Listons Gesicht sagte mir alles, was ich wissen musste. Es würde Krieg geben. Meine Sekretärin hatte es verdient, über Stephens aufgeklärt zu werden, aber das war nicht unbedingt meine Aufgabe. Erstens setzte uns unsere Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung Grenzen, die wir einzuhalten pflegten. Und zweitens war sie 28 Jahre alt und sah fabelhaft aus, sodass ich davon ausgehen konnte, dass es immer fest vergebene Männer in ihrem Leben geben würde, die ihr nachstellten. Ich wusste, um bei der Wahrheit zu bleiben, auch nicht, wie ernst ich Stephens nehmen sollte. Vermutlich war er sehr beschäftigt, wenn er dauernd schwächere Konkurrenten von Horizn ausbootete und reihenweise Frauen flachlegte. Aber ich hatte immerhin Sammy auf ihn angesetzt, und das würde ihn eine Weile auf Trab halten. Ich selbst musste mich jetzt vor allem darum kümmern, so viel wie möglich über die Todesumstände von Doug Townsend herauszufinden. An einem Fall zu arbeiten, bei dem man absolut nichts in der Hand hat, ist simpel. Man kann bloß die Bäume schütteln, die man hat, und auf Gottes Hilfe hoffen, dass etwas herunterfällt. Ganz gleich, was mit Doug geschehen war, eines stand fest: Irgendwie war genügend Fentanyl in seine Hände gelangt, um seinem Leben ein Ende zu setzen. So fuhr ich am Nachmittag um halb drei auf der Interstate 75 an der RalphAbernathy-Ausfahrt raus, bog links auf die Pollard ein und fuhr weiter zum McDaniel Glen. Atlanta ist eine Stadt, die ständig mitten in Zerstörung und 78
Wiederaufbau steckt, und das zeigt sich am Glen ebenso wie anderswo. Während Unsummen in den Norden fließen, scheint alles, was in der Mittelstadt gebaut worden ist, bereits dem Verfall preisgegeben zu sein. Manche Viertel – weit entfernt von den Vororten mit ihren seelenlosen Aufsteigervillen und perfekt getrimmten Rasenflächen – sind typische Ghettos mit Gebäuden, die so aussehen, als gehörten sie ins ausgebombte Beirut. Dann kamen die Olympischen Spiele, und ein schwarzer Bürgermeister bestand darauf, dass die übelsten Viertel abgerissen und die Bewohner weiter in den Süden umgesiedelt werden müssten. Die Folge davon war, dass einige Weiße zurückgekehrt sind, um die größten, baulich noch intakten Monstrositäten der Mittelstadt wieder in Besitz zu nehmen und für die besseren Leute attraktiv zu machen. Alte Fabriken werden in schicke Wohneinheiten umgewandelt, und das nur einen Block entfernt vom Gammel baufälliger Häuser und schrottreifer Autos. Bevölkerungsschichten prallen aufeinander, und es fehlt der innere Zusammenhalt, eine eigentümliche Situation. Der McDaniel Glen hat von den Olympia-Investitionen nichts abbekommen; er hat einfach stoisch und unverändert überlebt, ein Relikt aus hässlicheren Zeiten. Glücklich wird dort keiner. Er ist eine Brutstätte der Hoffnungslosigkeit, und die Kriminalität breitet sich dort seuchenartig aus. Man kommt zum Glen, wenn man an der Pollard-Leichenhalle – dem ersten Anzeichen dafür, dass alles im Argen liegt – links abbiegt und Our Lady of Perpetual Help passiert, ein Alten- und Pflegeheim, dessen Name für die ganze Gegend passt. Dann überquert man die Pryor Street und fährt an den wenigen Glücklichen vorbei, die sich einen Platz in den neuen, für Olympia gebauten Wohnvierteln ergattern konnten, anständigen Reihenhäusern mit Kunststoffverkleidung und ordentlichen Grünflächen. Aber schon an der nächsten Kreuzung kommt das bedrohlich wirkende, zehn Stockwerke hohe Markenzeichen der stillgelegten Toby-Sexton-Reifenfabrik in Sicht. Die riesigen, 79
leeren, fensterlosen Gebäude unter dem Schild sind dem Verfall preisgegeben und mit Graffiti bedeckt. Das ist der Punkt, an dem jeder, der nicht im Glen lebt, leise murmelt: »Nein, nein, nein«, und nach einer Möglichkeit Ausschau hält, unauffällig wieder umzudrehen. Der Selbsterhaltungstrieb, durch Tausende von Fernsehdokumentationen und Nachrichtensendungen geschärft, pumpt ein Maximum an Adrenalin in den Blutstrom. Man steuert so locker und beiläufig den nächsten Wendeplatz an, als hätte man nur eben seinen Verwandten ein paar Muffins gebracht, um schleunigst in die sauberen, gut bewachten Viertel von Atlanta zurückzukehren. Das Adrenalin wäre in diesem Fall zum größten Teil verschwendet worden. Jeder weiß, dass städtische Sozialbauviertel zum Fürchten sind, aber Leute, die dort noch nie waren, haben meist vor den falsche Sachen Angst. Einmal angenommen, es ist heller Tag, und Sie fahren keinen Pick-up mit Vierradantrieb und Nummernschildern in den Farben der Konföderierten, dann besteht kaum die Chance, dass Sie alle gemacht werden. Wenn man, wie ich, einen zerbeulten Buick fährt, versuchen die Leute zehn Blocks lang, einem Drogen zu verkaufen, und danach halten sie einen nur noch für einen Sozialarbeiter und lassen einen weitgehend in Ruhe. Das Monströse am McDaniel Glen ist die abstumpfende, gefühlsverrohende Gleichförmigkeit. Die gesamte Anlage ist riesig, über elfhundert monotone rotbraune Backsteinbauten. Block um Block, Gasse um Gasse alles die gleichen bräunlichen, schmutzigen Backsteine, die gleichen rostigen Autos auf den Straßen, der gleiche traurige Anblick von Wäsche, die an Drähten aufgehängt ist. Wer dort lange genug lebt, dem fällt irgendwann sogar das Träumen von der Welt draußen schwer. Auf der Suche nach Pope fuhr ich die Hauptstraße des Glen entlang, und die Augen von Dealern und gelangweilten Jugendlichen folgten mir, bis ich am Straßenrand hielt und 80
parkte. Ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wo ich Pope finden würde. Sollten Sie sich Ihren derzeitigen Lebensstil aus unerfindlichen Gründen nicht mehr leisten können und eine Sozialwohnung brauchen, hier ein Tipp: Jeder große Wohnungsbaukomplex hat eine vom staatlichen Sozialamt unterhaltene Hausverwaltung, und je dichter ein Wohnblock bei deren Büro liegt, umso besser. Nahe liegende Wohneinheiten werden tatsächlich gelegentlich repariert, und auch die Straßenbeleuchtung funktioniert meist. Das liegt daran, dass hohe Tiere aus Washington bei ihren Besuchen gern sehen, wie paradiesisch es hier ist, wenn alle Menschen aller Rassen Arm in Arm herumspazieren. Also versuchen Sie es nach Möglichkeit gleich nebenan. Aufgrund seiner Position im lokalen Drogengeschäft steht Jamal Pope in seiner kleinen furchteinflößenden Welt sozusagen am Anfang der Nahrungskette. Er ist außerdem staatlicher Beamter, Sie können sich also in dem befriedigenden Gefühl wiegen, dass Sie sein Gehalt bezahlen. Er verdient 640 Dollar die Woche als Chef der Glen-Verwaltung, die für die Instandhaltung zuständig ist, und sein zweimal monatlich eingehender Gehaltsscheck trägt ein Wasserzeichen des Kapitols der Vereinigten Staaten und ist damit fälschungssicher. Dieses technische Wunderwerk ist allerdings an Jamal Pope verschwendet, denn im Vergleich zu den monatlichen 30000 Dollar, die er steuerfrei als Hauptgeschäftsführer der McDaniel Glen Pharmaceuticals verdient, sind die 640 nur ein Trinkgeld. Nun könnten Sie denken, dass es in der Welt des sozialen Wohnungsbaus keinen Job gibt, den Sie gern haben wollten. Aber wenn Sie lieber Fürst der Hölle als Sklave im Himmel wären, sollten Sie es sich noch einmal überlegen. Die Macht, die Sie als Chef einer staatlichen Hausverwaltung hätten, kommt der Allmacht so nahe, wie man ihr außerhalb gewisser Dritte-WeltLänder überhaupt kommen kann. Bedingung ist, dass man selbst in dem Gebäudekomplex wohnt – eindeutig ein Minus –, aber 81
als Plus könnten Sie verzeichnen, dass die traurige, zerfallende, gruselige Welt innerhalb dieser Mauern Ihre Goldader ist. Die Quelle Ihrer Macht ist ein Schlüsselbund. Hinter den Türen, die mit diesen Schlüsseln aufgeschlossen werden können, befindet sich jede einzelne Glühlampe, jeder Türknauf und jede Rohrmuffe, jeder Liter Wandfarbe und jeder Zentimeter Elektroleitung, jede Dichtungsmanschette fürs Klo und jede Baustoffplatte, nicht zu vergessen jede Klimaanlage – wir sind schließlich in Atlanta –, kurz: alles, was die Bewohner, über die Sie herrschen, ständig brauchen. Ihr Arsch wäre nicht groß genug für alle, die hineinkriechen wollen. Und das wäre erst das Anfangsstadium Ihrer Macht, denn es gibt noch einen zweiten Schlüsselbund. Dieser zweite Bund Schlüssel – eine weitere Quelle Ihrer Macht – öffnet Ihnen die Türen aller vermieteten Wohnungen. Sie könnten in jede Wohnung hinein, ganz nach Belieben. Es bliebe Ihnen unbenommen, anderen nach Lust und Laune das Leben zur Hölle zu machen – oder zu erleichtern. Aber auch das ist noch nicht alles, denn Sie hätten noch mehr Macht, und zwar durch den dritten Schlüsselbund, der Ihnen alle leer stehenden Wohnungen öffnet. Im Drogengeschäft müssen sowohl An- als auch Verkauf im Verborgenen bleiben. Sie hätten die Schlüsselgewalt und könnten für alles Raum schaffen: Vorführräume im Flügel links, einen Treffpunkt für Fixer im verlassenen Gebäude rechts. Sie wären Groß-, Einzel- und Zwischenhändler. Jamal Pope hatte überall seine Hand im Spiel. Ich stieg aus meinem Wagen und ging die Straße entlang, an der das Büro der Hausverwaltung liegt. Nach kaum zwanzig Schritten kam Pope, der Herr der Schlüssel im Glen, um die Ecke und sah mir argwöhnisch entgegen, wobei er überlegte, ob ich ein Kunde oder ein Problem war. Für beides hatte er sicher eine Lösung. Jamal sah nicht reich aus. Er war Ende dreißig und trug weite Arbeitshosen und ein hellblaues T-Shirt mit der 82
Aufschrift Clock Around the Clock. In etwa fünf Meter Abstand voneinander blieben wir stehen und beäugten uns. »Von Doug Townsend gehört?«, fragte ich. Pope ignorierte die Frage und starrte mich eine Zeit lang an. Es war keine Drohung; er kramte nur in seinem Gedächtnis. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln. »Ah, Sie sind’s, der Mann, der Keshan aus dem Knast geholt hat.« Reizend, dass jemand wie er mir Dankbarkeit entgegenbrachte, wenn ich meine Arbeit gut machte. Jedenfalls war er dadurch bereit, mir zuzuhören, und das war alles, was zählte. »Habe den Jungen länger nicht gesehen«, sagte er. »Ist wohl aus’m Verkehr gezogen.« »Ein halbes Gramm ist nicht gerade Ihre Größenordnung«, sagte ich. »Vielleicht könnten Sie mal etwas weiter am Ende der Kette nachfragen.« »Null Komma vier neun«, korrigierte mich Pope. Ich nickte; alles unter null Komma fünf wurde als Bagatelldelikt mit einer Minimalstrafe und Anrechnung der U-Haft geahndet. Bei den meisten Deals wurde sorgsam auf Einhaltung dieser Grenze geachtet. »Ich werde Rabbit fragen«, sagte er. »Der weiß es bestimmt.« Rabbit, Popes Hauptkurier, hatte sich seinen Job, seinen Spitznamen und seinen Ruf im Viertel damit verdient, dass er sofort jeden umbrachte, der in Jamals Revier einzudringen versuchte. Er verdiente tausend Dollar die Woche mit der Aufsicht über bis zu zehn Kuriere, die ständig unterwegs waren und Stoff gegen Bargeld tauschten. Außerdem war er 14 und der Sohn von Pope. Pope zog ein Handy hervor und tippte eine Nummer ein, offenbar zu einem Piepser. Etwa fünf Minuten später kam Rabbit auf einem Fahrrad um die Ecke. »Was gibt’s?«, fragte er. Er war das klassische aufgeweckte, aufgepeppte Söhnchen, nur dass seine Augen wie tot waren. Trotz der Hitze trug er ein schwarzes, langärmeliges Sweatshirt der Oakland Raiders. 83
»Beantworte dem Mann seine Fragen, Nigger«, sagte sein Vater, »bis ich stopp sage.« Die Zuneigung von Vater und Sohn griff einem ans Herz. »Hör zu, Rabbit«, sagte ich, »ich will rauskriegen, was mit Doug Townsend passiert ist.« »Tot.« Rabbit zuckte die Achseln. »Seit Tagen schon.« »Stimmt. Ich muss wissen, ob er in den letzten Monaten clean war oder nicht. Keine Sorge, es hat nichts mit dir zu tun. Ich will nur eine klare Antwort, was mit Townsend ist.« Rabbit sah Pope an, der mit dem Kopf nickte. »Er war clean«, sagte er, »ich hatte seinen weißen Arsch schon länger nicht gesehen.« »Du hast nie mitbekommen, dass er Fentanyl gekauft hätte, oder?« Jetzt schaltete sich Pope mit finsterer Miene ein. »Die Art von Stoff läuft bei mir nicht«, sagte er. »Es bringt nichts, seine Kunden ins Jenseits zu befördern.« »Ich will Ihnen was sagen«, sagte Rabbit. »Dougie-Boy war auf irgend ’ner abartigen Scheiße.« »Abartig?« »Ein Zeug, das ich nicht mal buchstabieren könnte. Echtes Arzneimittel. Törnt nicht an, ich weiß es sicher.« »Wie meinst du das?« »Ich kenne alles, was so ein Wichser nehmen kann, aber von der Scheiße habe ich noch nie was gehört. Gras, Crack, Speed, okay. Alles andere – nicht mit mir.« Rabbit kannte sich trotz seines jugendlichen Alters bestens aus und redete wie ein Getreidehändler über die Weizenpreise in der Ukraine. »Er hatte Fentanyl im Körper, als er starb«, sagte ich. »Du hast also nichts damit zu tun. Aber mal angenommen, jemand will das Zeug haben. Wohin geht er?« Rabbit dachte eine Minute nach. »Die Dilaudid Avenue rauf, vermute ich mal.« Ich nickte; die Seventh Street, im Volksmund »Dilaudid 84
Avenue« genannt, weil dort mit Medikamenten gedealt wurde, lag auf der anderen Seite der Stadt im Perry-HomesSozialbauviertel. »Kennst du da jemanden?«, fragte ich. Rabbit sah wieder seinen Vater an, aber diesmal schüttelte Pope den Kopf. »So was ist auf der Straße ziemlich schwer zu finden«, bemerkte Rabbit noch etwas vage. »Diese Rezeptscheiße ist nicht unser Ding.« Ich erwog die Möglichkeit, dass Townsend selbst gedealt hatte, eine Theorie, die bei einem Süchtigen nie ganz von der Hand zu weisen ist. Wenn Doug diesen Weg eingeschlagen hatte, war es mit Sicherheit richtig finster um ihn geworden. Ich wandte mich an Pope. »Wenn jemand im großen Stil ins Geschäft mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln einsteigen will, wie macht er das?« Pope überlegte einen Augenblick. Gott allein weiß, was für Erfahrungen und Verbindungen ihm durch den Kopf gingen. Seine Lösung für dieses Problem war jedoch höchst einfach. »Ich würde mir einen Arzt suchen«, sagte er. »Eine Abmachung mit ihm treffen, ihn mit soundso viel Prozent beteiligen. Noch besser wäre ein Apotheker. Kommt darauf an, wie viel man in Umlauf bringen will. Ein Apotheker könnte mehr Umsatz machen.« Ich nickte. »Sie kennen wahrscheinlich keinen –« »Zeit ist abgelaufen«, sagte Pope. Er schien nicht verärgert zu sein; es war bloß geschäftsschädigend, mit einem Weißen, der eine schäbige Aktenmappe trug, herumzustehen. »Noch eine letzte Frage«, sagte ich. »Jemals was von einer Frau namens Michele Sonnier gehört?« »Sonnier?« »Ja. Eine Sängerin. Opern.« Pope grinste. »Teufel auch, ja doch. Genau das Zeug, bei dem ich gern abchille.« Er warf einen Blick auf meinen Buick. »Siehst du das, Nigger?«, sagte er zu Rabbit. »Das bringt dir ein ehrbares Leben ein.« Beide lachten, und dann verschwanden sie wieder im Labyrinth der monotonen Backsteinklötze. 85
7 So weit ist es schon gekommen. Mein Leben als Warnung für den Sohn eines Drogendealers. Toll. Mit Popes Worten in den Ohren versetzte ich mich in jenen Zustand der Gleichgültigkeit, der nötig ist, um Atlantas Mittagsverkehr durchzustehen. Ich nahm die Auffahrt zu einer blutleeren, verstopften Verkehrsader aus Beton, in einer Zeit gebaut, als das Wort »Freeway« noch kein Witz war. Ich fuhr nach Süden zum Büro zurück, wollte aber noch einen Zwischenstopp einlegen. Einen Totenschrein besuchen. Einen Schrein, vor dem sich nur einer versammelte. Ich schlich mit 50 Stundenkilometern weiter und beobachtete, wie sich Atlanta unter meinen Reifen veränderte. Nach zehn Minuten bog ich auf die Martin Luther King ab, eine verkehrsreiche Stadtdurchfahrt, die tiefer in den älteren, abbröckelnden Teil Atlantas hineinführt. Vor einem kleinen Laden hielt ich an und kaufte das Übliche, meine Opfergabe. Wenig später ging es den langen, sanften Anstieg zur Oakland Avenue hinauf, und dann kam der Eingang meines Ziels ins Sicht. Der Oakland-Friedhof war wie die Straße nach den Eichen benannt und ist angelegt worden, bevor ein paar Morgen unberührten Weidelandes in Atlanta eine halbe Million Dollar kosteten. Wenn man dieses liebliche, weitläufige Gelände durchstreift, das mit anmutigen Schwarz- und Mooreichen, Hemlocktannen und sanft gekrümmten Weiden übersät ist, fühlt man sich dem lärmenden Getriebe der dreckigen Großstadt weit entrückt an einen Ort, wo die Seele Frieden findet. Es sind fast vierzig Hektar voller Ruhe und Einsamkeit, die in der Geschichte des Ortes begründet liegen. Was immer von der Stadt ringsum an Lärm herüberdringen mag, wird vom zitternden Laub der Bäume gedämpft, die so alt sind wie 86
Abraham Lincoln. Ich parkte, stieg aus dem Wagen und ließ den Frieden des Ortes in mich einsinken. Das dauerte ein paar Minuten, aber ich hatte auch keine Eile. Ich schritt über den grünen Rasen, den warmen Wind im Gesicht. Das Gelände war mir inzwischen vertraut, und ich überflog im Vorübergehen die Namen auf den flachen Grabsteinen. Sie gaben Einblick in die Geschichte des angloamerikanischen Südens: Andrews, Sullivan, Franklin, Peery. Reihe um Reihe, 150 Jahre Südstaatenblut. Einst war die Stadt Atlanta das Zentrum des Südens, und schon vor dem Bürgerkrieg ließen sich hier die Reichen und Mächtigen beerdigen. An einem großen Mausoleum – von einer Familie erbaut, die so reich war, dass sie ihre Toten in einer einsamen Festung zur letzten Ruhe betten konnte – bog ich nach links auf den kurzen Pfad zu meinem Bestimmungsort ab. Ich stieg einen kleinen Hügel hinauf, wobei ich sechs Grabsteine zählte, und blieb stehen. Rechts der Grabstein aus hellem Marmor trug die ausgefallene Inschrift: Ramirez, Violeta. 1977-2001. La flor innocente. Bella como la luna y las estrellas. Dieses Fleckchen Erde und der Stein hatten mich fast jeden Cent gekostet, den ich nach meiner Entlassung von Carthy, Williams & Douglas noch besaß. Aber egal. Für mich zählte nur, dass dort, inmitten von Atlantas Geldadel, Violeta Ramirez lag, die unschuldige Blume, so schön wie Mond und Sterne. Ich legte ihr Tulpen auf den Stein, leuchtend rot wie Blut. Ich schloss die Augen und sprach ein Gebet für ihre Seele und dann noch eines für meine. Wieder im Büro, wartete eine ganze Reihe von Nachrichten auf mich, die Blu aufgenommen hatte: Die Staatsanwaltschaft verlangte eine eidliche Aussage; die üblichen verzweifelten Mandanten hatten sich gemeldet, einige mit Grund, andere ohne; der besonders wütende Anruf einer Mutter, deren Sohn vor einer 87
Woche verurteilt worden war. Ich hatte den Jungen erst dreißig Minuten vor seinem Prozess kennen gelernt, es ist also durchaus möglich, dass er nicht ganz die Behandlung erfuhr, die ihm dem Gesetz nach zugestanden hätte. Aber jeder im Saal wusste, dass er schuldig war, alles andere war bloße Theorie. Ich hatte gewisse Schuldgefühle Blu gegenüber; all das Grübeln über die Moral hatte mich zweifeln lassen, ob es richtig gewesen war, Sammy auf ihren neuen Freund anzusetzen. Stephens betrog seine feste Freundin, und das machte ihn natürlich zum Hallodri. Und, bei Gott, er wusste, wie er für sich einstehen konnte. Aber Sammy war aus dem Süden und Stephens nicht, und das war für Stephens ein Nachteil bei dem bevorstehenden Kampf. Sollten Sie sich jemals als Dritter in einer Beziehung wiederfinden, dann beten Sie zu Gott, dass der andere aus Wyoming oder sonstwoher kommt. Wenn er nämlich aus Georgia – oder, was Gott verhüten möge, wie Sammy aus Alabama – stammt, wird es Zeit, in die Defensive zu gehen. Die Nachrichten interessierten mich nicht weiter, und so setzte ich mich und dachte nach. Rabbits Hinweis auf Arzneimittelmissbrauch gab der Sache eine neue Wendung. Mir fiel kein Grund ein, warum Doug so etwas genommen haben sollte, legal oder illegal. An seinem Abstieg war nichts außergewöhnlich gewesen: Er hatte mit Ecstasy angefangen, was gut zu seiner Persönlichkeit passte, und war dann mit Koks in Berührung gekommen, weil X immer häufiger damit versetzt wird. Das ist das Heimtückische am Drogenspiel; die Leute werden erfinderisch, während sie lieber die Finger davon lassen sollten. In Atlanta war Ecstasy mit Heroin, Ecstasy mit Koks, Ecstasy mit Speed und Ecstasy mit Gott weiß was in Umlauf, alles unter Fantasienamen wie Daffy Duck oder X-Men. Eines führte zum anderen, und Townsend merkte schließlich, dass er Koks lieber mochte und ohne Ecstasy auskam. Womit er vermutlich ein paar Monate lang glücklich war, bis sein Leben aus den Fugen ging. Von diesem Punkt an zog ihn die tragische 88
Arithmetik der Sucht immer tiefer nach unten. Doug Townsend konnte sich nämlich kein reines Kokain leisten und war auch nicht der Typ für Crack, die billigere Alternative. Deshalb fuhr er schließlich, wie viele Computerfreaks, auf Speed ab. Das war billig und besitzt für Leute, die gern die ganze Nacht aufbleiben und Computerprogramme schreiben, magische Kräfte. Nichts von alledem stellte eine Verbindung zwischen ihm und der Dilaudid Avenue oder dem Perry-Homes-Viertel her. Dahin wollte ich nun wirklich nicht. Ich hatte keine Kontakte dort, und es genügte, der falschen Person eine falsche Frage zu stellen, um ein ganzes Segment der Bevölkerung zum Schweigen zu bringen. Nachrichten verbreiten sich an solchen Orten so schnell, dass man sie schon verpasst, wenn man nur einmal blinzelt. Aber fürs Erste hatte ich noch eine Alternative, und es war in vieler Hinsicht vernünftig, sie zu verfolgen. Ich hatte Townsends Computer in meinem Büro auf einen kleinen Tisch gestellt. Darin mussten, wie ich vermutete, jede Menge Antworten auf meine Fragen warten. Und je mehr Informationen er mir lieferte, umso unwahrscheinlicher würde es sein, dass Doug sich selbst getötet hatte. Wenn er den Zeitpunkt seines Todes im Voraus gewusst hätte, würde mit Sicherheit alles, was ihm Kopfzerbrechen bereitete, gelöscht sein. Selbst zum Tode Verurteilten missfällt die Vorstellung, dass nach ihrer Hinrichtung noch etwas Nachteiliges über sie ans Licht kommen könnte. Ich nahm den Hörer vom Telefon und rief Michael Harrod an. Ein Anrufbeantworter sprang an. Harrods Stimme sagte: »Mach schnell, du bremst meinen Datentransfer.« Dann kam ein Signalton. »Michael?«, sagte ich. »Hör zu, es ist Zeit, mir den versprochenen Gefallen zu tun.« Stille. »Ich weiß, dass du da bist, Michael. Du gehst nirgendwohin, wenn du nicht gerade in einer Radio-Shack-Filiale klauen bist.« Weiterhin Stille. »Nightmare?« 89
Jetzt meldete sich Harrod. »Yeah«, sagte er, »was gibt’s?« »Erinnerst du dich an den Job, den ich für dich hatte?« »Ja.« »Na ja, es wäre wahrscheinlich erheblich besser, wenn du hier wärst.« »Kann sein.« »Ich will mal deine Erinnerungen etwas auffrischen. Ich habe dich davor bewahrt, im Country Club von Fulton den Lustknaben abgeben zu müssen. Jetzt darfst du dich revanchieren.« Wieder Stille. Nach einer langen Pause sagte Nightmare: »Wessen PC ist das überhaupt?« »Spielt das eine Rolle?« »Ja, ich will keine Scheiße am Hals haben.« »Von einem früheren Mandanten. Du wirst ihn kaum kennen.« »Wie heißt er denn?« »Er heißt Doug Townsend.« Mindestens fünf Sekunden lang Totenstille. Dann: »Ich sehe, woher Sie anrufen«, und das Freizeichen. Ich hatte keine Chance, herauszubekommen, was Nightmares Reaktion zu bedeuten hatte. Ehe ich den Hörer auflegen konnte, hörte ich Blu auf der anderen Seite der offenen Tür herumkramen. Ich legte den Hörer auf und ging neugierig hinüber; sie war dabei, ihr Zeug zusammenzusuchen, als wollte sie gehen. Ich sah auf die Uhr; es war noch fast eine Stunde bis Geschäftsschluss. Bei all ihren Fehlern war sie normalerweise sowohl im Kommen wie im Gehen pünktlich. Ich ging zu einem der Besucherstühle und ließ mich darauf fallen. Ich sah zu, wie sie eine Zeitschrift in ihre Handtasche schob, und dachte, wie sehr sich ihr Leben doch von meinem unterschied. Wie mochte es sein, fragte ich mich, so wenige Trümpfe zu besitzen, von denen aber gleich so spektakuläre wie sie? Wie mochte es sein, eine Frau wie sie zu sein, eine Bar zu betreten und zu erleben, 90
dass sich bei jedem anwesenden Mann der Puls beschleunigte? Und was mich besonders interessierte: Wie mochte es sein, zu wissen, dass man nur eine Hand voll Chancen hat – schicksalhafte Momente, in denen sich die eigenen Vorzüge mit denen eines der wenigen Männer überschneiden, die das Recht und die Macht haben, einem alle Träume zu erfüllen? Würde es, genau besehen, überhaupt eine Rolle spielen, ob der Kerl ein Riesenarschloch wäre? Blu hob den Kopf und sah mich lächelnd an. »Ich würde heute gern früher Feierabend machen, wenn nichts dagegen spricht«, gurrte sie. Selbst ihre Stimme war komprimierter Sex. »Es ist eigentlich noch kein Geschäftsschluss«, sagte ich. »Genau genommen.« Sie lächelte. »Aber Sie haben doch nichts dagegen, Jack, oder? Das Telefon hat die ganze letzte Stunde nicht mehr geklingelt.« Das stimmte, wie ich zugeben musste. »Jedenfalls habe ich eine Verabredung.« Sie steckte einen Fuß in eine marineblaue, hochhackige Sandalette. Mir war bis dahin gar nicht aufgefallen, dass sie barfuß war. »Gehen Sie mit diesem Stephens aus?« Ihr Lächeln vertiefte sich. Die Zeit schien still zu stehen, während ich darauf wartete, dass sie eine Erklärung abgab. Vier Worte sagten mir alles, was ich wissen wollte. »So ein netter Mann.« Sie nahm ihre Handtasche und ging zur Tür. »Wenn sonst nichts anliegt, sehen wir uns morgen früh wieder, ja? Auf Wiedersehen, Jack.« Damit schwebte sie aus der Tür. Ich blieb mit der Vorstellung allein, sie würde jetzt mit einem Firmenjet von Horizn mal eben zu einer Gratiseinkaufstour nach New York fliegen. Ruhelos ging ich in meinem Büro auf und ab, bis Nightmare erschien. Er hatte wider Erwarten sein T-Shirt gewechselt. Auf dem neuen prangte das Bild eines erstaunt dreinblickenden Schafes und das Logo: Dolly Lama – unser Guru. Auch sein 91
Gesichtsausdruck war völlig verändert; schon an der Art, wie er zur Tür hereinkam, konnte ich spüren, wie gespannt er war. »Wo ist er?«, fragte er, ohne mich zu begrüßen. Ich nickte mit dem Kopf in Richtung Büro. »Offenbar habe ich die Zauberformel gesagt.« »Yeah.« »Heißt das, du kennst Doug Townsend?« »Hab ihn nie kennen gelernt. Aber für Killah tu ich gern was.« »Killer?« »Doug.« »Doug Townsend?« »Hören Sie, Mann, das hier ist ein alternatives Universum. Killer heißt nicht, dass er eine Knarre besaß, es heißt file killer.« »Willst du damit sagen, dass Townsend in der HackerGemeinde einen Namen hatte?« Nightmare grinste. »Was für eine Hacker-Gemeinde?« Ich starrte ihn einen Augenblick an, dann sagte ich: »Der Computer steht da drüben.« Nightmare folgte mir in mein Büro, wo der PC auf einem kleinen Tisch stand. Er nahm Platz, dann öffnete er eine Reisetasche mit Dutzenden von CDs. Er brauchte nur fünf Minuten, um festzustellen, dass der Trip ins Innere des PCs meines Mandanten kein Zuckerschlecken war. »Scheiße«, sagte er. »Schwierigkeiten?« »Es ist fast nichts da. Er hat über einen fremden Mainframe gearbeitet. Wie es aussieht, ist es die Georgia Tech.« »Die Technische Universität? Warum gerade die?« »Weil die riesig ist und sie die Sache dort ziemlich entspannt sehen. Studenten managen die Rechner.« »Sind wir jetzt am Ende?« Nightmare grinste wieder. »Wir brauchen nur Zeit.« »Kann ich dir was holen?«, fragte ich. »Eine Cola?« »Haben Sie Quellwasser?« 92
»Nein.« »Dann bis später.« Nightmare war anscheinend ein Gesundheitsfreak, wenn es um Getränke ging. Ich stand auf und machte mich auf den Weg zu dem kleinen Laden an der Ecke. Als ich zurückkehrte, war Nightmares blödes Grinsen wie weggewischt. »Das hier ist ausgemachte Scheiße«, sagte er. »Und das heißt?« »Das heißt, es ist eine ausgemachte Riesenscheiße.« »Alles klar. Danke.« Nightmare machte ein finsteres Gesicht, und ich fragte: »Soll das heißen, dass diejenigen, zu denen er durchgedrungen ist, Schutzprogramme laufen haben oder so was?« »Ich habe keine Ahnung, wo er drin war«, erwiderte er, »aber wer immer es war, Killah hat sie ernst genommen. Das Schutzprogramm läuft andersrum.« »Was bedeutet das?« »Er wollte anscheinend um keinen Preis, dass sie seine DSLVerbindung zurückverfolgen und ihn identifizieren. Das ganze Zeug hier ist geschützt. Durch Passworte, wie ich annehme, da Killah sich kein Hardware-Lock leisten konnte, mit Abgleich der Iris oder der Fingerabdrücke zum Beispiel. Egal, wie, es ist totale Scheiße, Mann. Die meisten Passworte bestehen aus sechs Buchstaben, vielleicht auch acht. Dieses hier besteht aus sechsundzwanzig. Der helle Wahnsinn.« »Sechsundzwanzig?« »Ja. Es kommt aber noch schlimmer.« »Na wunderbar.« »Killah hat die neue 4096-bit-Chiffrierung benutzt. Die Zahl der Möglichkeiten steigt deshalb auf … Ich glaube nicht, dass Taschenrechner so hoch gehen. Auf eine Milliarde Milliarden.« »Na toll.« »Vielleicht noch mehr. Es ist so abstrus, dass ich es mir nicht einmal vorstellen kann.« 93
Ich starrte ihn an und versuchte, an irgendwelche magischen Fähigkeiten zu glauben, die Typen wie er hatten. »Und was machen wir jetzt?« Nightmare schwieg und dachte nach. »Ich könnte brutale Gewalt anwenden«, sagte er, »durch ein Programm, das alles probiert, einfach alles. Aber das hat einen Nachteil.« »Und welchen?« »Es würde 600 Jahre brauchen.« »Was ist denn mit dem, was sie in Spielfilmen immer zeigen, wo ein Typ auf ein paar Tasten rumhämmert und zosch, ist er drin?« Nightmares Gesichtszüge verzogen sich spöttisch. »Reines Hollywood. Man braucht Wochen, um so was wie das hier zu knacken. Um da reinzukommen, müssen wir sehr genau wissen, was wir tun, und dürfen uns nicht verausgaben. Ich installiere gerade die neueste Version von Crack, aber wahrscheinlich bringt’s nichts.« Nightmare gab mir keine Chance, eine Frage zu stellen. »Automatischer Wortsuchlauf. Da ist jedes Wort unserer Sprache gespeichert und wird in verschiedenen Kombinationen runtergehämmert. Aber für diese Verschlüsselung reicht’s nicht, und dabei ist mein PC zu Hause schon zugeschaltet.« »Das kann man?« »Ja, man kann Crack auf mehrere Plattformen verteilen und so die Leistung vervielfachen. Vielleicht würden wir es schaffen, wenn ich den Zentralrechner der TU nutzen könnte.« »Geht das?« »Hm, kann sein.« »Sag schon, Michael, meinst du, es funktioniert?« Nightmare zuckte mit den Schultern. »Sie machen zu viel Lärm, Mann. Lassen Sie mich doch mal nachdenken.« Vier Stunden später war es fast halb zehn. Nightmare sagte, er habe Hunger. Ich sagte, ich würde einen Pizzaservice anrufen. Er sagte: »Scheiß was auf diesen verfluchten Mist. Ich geh nach Hause.« 94
»Du gibst auf?« Nightmare sah mich an. »Killah war gut«, sagte er. »Aber Nightmare ist besser.«
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8 Wenn Sie Atlanta romantisch verklären möchten – und die meisten, die hier leben, wollen das –, sollten Sie es sich bei Sonnenuntergang ansehen. Im sanften Licht der Dämmerung – in diesen kostbaren paar Minuten – schwankt es zwischen seinen vielen Gesichtern und wirkt erhaben und unnahbar. Die Stadt ist mitten in den Wald gebaut worden, sodass sie an den Außenrändern nahtlos in die Wipfel von Hickorys, Amberbäumen, Weißeichen und Rotahorn übergeht. Ihre Schönheit hat etwas Zartes, besonders für diejenigen von uns, die Tag und Nacht mit dem Gestrüpp beschäftigt sind, das unter ihrer Oberfläche wartet. Kaum wird es dunkler, wird auch das historische Bild trüber; das Südstaatliche tritt hinter das Städtische zurück. Atlanta ist eine Stadt zwischen Sonnenlicht und Schatten, Vergangenheit und Zukunft. Die Vergangenheit der Stadt wird vom süßen Duft der Magnolienbäume festgehalten, der sich bisher trotz der Blechlawinen und Hochhäuser irgendwie erhalten hat. In dieser Welt ist die Fahne der Konföderierten tatsächlich so etwas wie der Inbegriff von Romantik. Sie ist zwar stark ausgefranst an den Rändern, aber ihre Unverwüstlichkeit hat viele Kulturkritiker, auch die wenigen aus dem Süden, zum Schweigen gebracht. In dieser Welt gibt es immer noch Debütantinnenbälle für junge Mädchen, vorausgesetzt, ihre Eltern sind wohlhabend und traditionsbewusst genug. Sie hängen an ihren Traditionen, weil sie spüren, was auf sie zukommt: Nightmares neue Wirtschaft. Er und seinesgleichen sehen Atlanta als High-Tech-Zentrum des Südens, als einen wichtigen Angelpunkt einer gesichts- und seelenlosen Welt ohne Grenzen und ohne Geschichte. Und diese Zeit bricht früh genug an. Wenn sie da ist, werden Worte wie »südstaatlich« und 96
»elegant« ebenso anachronistisch wirken wie die Zugehörigkeit zu den »Nachfahren der Konföderierten«. Doch genau dazwischen liegt, zart und zerbrechlich, Atlantas Gegenwart im hellen Licht des Tages: seine Stadtkultur im Süden der Vereinigten Staaten. Ich weiß besser um seine Vielseitigkeit als die meisten anderen. Ich bin im ländlichen Süden aufgewachsen und kenne die Welt, der die Menschen zu entfliehen versuchen, wenn sie nach Atlanta kommen, und die einen wichtigen Teil ihrer Psyche ausmacht. Ich war auf der Emory-Universität und weiß, wie die Kinder des Südens sind, die so behütet und privilegiert aufwachsen, dass sie es schon als Krise werten, wenn sie ihre goldenen Kreditkarten überziehen. Ich war bei Carthy, Williams & Douglas angestellt und kenne die besondere Art und Weise, in der die Eltern dieser Kinder sich dank des amerikanischen Rechtssystems gegenseitig fertig machen oder begünstigen. Und da meine Seele ihre wichtigste Prüfung nicht bestanden hatte, brachte ich jetzt meine Tage mit dem Auswurf der Stadt zu, Menschen, mit denen die vereinte Brillanz der herrschenden Klasse nichts anzufangen weiß, außer sie in ihren Vierteln einzusperren wie Vieh. So bin ich unversehens ein unerwünschter Experte für die zu Schaden gekommene Seele des Südens geworden. An alldem fuhr ich auf den 25 Kilometern zwischen meiner Wohnung und dem Fox-Theater vorbei. Von Südatlanta aus fahrt man im großen Bogen nach Nordwesten in die Industriegebiete hinein, von denen Atlanta umgeben ist und die sich alle paar Kilometer zu zwanzig Stockwerke hohen Ansammlungen aus Glas und Stahl verdichten; dann trifft man auf die Interstate 75 und fährt nach Norden an konvergierenden Eisenbahnschienen und Lastwagendepots vorbei, die Atlanta zum größten Warenumschlagplatz des Südostens machen; und weiter geht es hinaus zum McDaniel Glen, wo die Menschen eingepfercht sind wie Vieh, bis man schließlich an der Achten Straße nach Downtown abbiegt, wo die Banken und das alte 97
Geld ihre Geschäfte machen. Von da aus ist es nur noch ein Katzensprung bis zum Fox. Ich war aus dem gleichen Grund zum Fox unterwegs wie zuvor zum Glen: Es war das Einzige, was mir einfiel und was ich tun konnte. An diesem Abend war zum dritten und letzten Mal Die Caputeti und die Montecchi gegeben worden, und ich wusste, dass Michele Sonnier sich anschließend immer noch eine Weile in diesen Mauern aufhielt. Als ich am Fox vorbeifuhr, sah ich auf meine Uhr: Es war nach elf. Die Oper war vor einer halben Stunde zu Ende gegangen. Ich bog ohne jedes Problem auf den Privatparkplatz ein; der Parkwächter war längst weg. Ich parkte, stieg aus und ging zum Bühnenausgang. Dort wartete eine kleine Schar von etwa zwanzig Menschen, alle fein gekleidet, aber anders als die Leute im Four Seasons. Bei diesen hier handelte es sich um den harten Kern der Opernfans, überwiegend College-Studenten. Ich gesellte mich zu ihnen und fragte eine junge Frau, ob sie auf die Sonnier warteten. Sie strahlte und nickte. Sie wusste nicht, wie lange es noch dauern würde; die Sonnier ließ sich offenbar Zeit. Mir war das recht. Ich würde so lange warten wie nötig. Alle paar Minuten ging die Tür auf, und dann stürzten sich die Wartenden auf jemanden, der herauskam, um sich wie Champagnerbläschen rasch wieder zu zerstreuen, sobald sie merkten, dass es nicht ihr Star war. Ein paar Sänger, die lächelnd aus dem Haus traten und dann die Woge der Enttäuschung zu spüren bekamen, taten mir richtig Leid. Irgendwann öffnete sich die Tür jedoch erneut, und der Mann, der die Sonnier auf der Party im Four Seasons begleitet hatte, kam heraus. Ich blieb seitlich im Halbdunkel stehen und gab mich eine Zeit lang damit zufrieden zuzuschauen. Der Mann wirkte gelangweilt; er zündete sich eine Zigarette an und betrachtete die Schar der Wartenden geistesabwesend. Ein paar Minuten später erschien die Sonnier, trotz der Hitze mit einem 98
Baumwollschal um den Hals. Die Menge applaudierte, als sie herauskam, und sie lächelte, aber ihr Aussehen versetzte mich in Erstaunen. Sie sah sehr müde aus, viel erschöpfter als auf der Soiree. Dreimal hintereinander eine Opernrolle zu singen forderte offenbar seinen Tribut. Die Wartenden umringten sie. Ein paar Leute umarmten sie spontan, und der Mann, der sie begleitete, streckte den Arm aus und sorgte für etwas Luft. Sie sah auch so aus, als ob sie es brauchte. Sie war wirklich erschöpft. Einige der Fans stellten ihr Fragen, und ich sah die Müdigkeit in ihren Augen, während sie zuhörte. Sie hatte die Fragen womöglich schon hundertmal gehört. Aber sie stand allen Fans Rede und Antwort und gab Autogramme. Als nur noch drei oder vier Leute übrig waren, trat ich leise an den Rand ihres Gesichtskreises, hielt mich allerdings weiter halb im Schatten. Die Sonnier hatte gerade den Kopf gesenkt und gab ein Autogramm. Sie spürte aber, dass jemand dazugekommen war, und blickte kurz auf. Dann schrieb sie das Autogramm fertig und blickte wieder auf. Ich stand noch immer im Halbdunkel, und ich glaube nicht, dass sie mich erkannte. Sie signierte eine weitere Autogrammkarte, und ich merkte, dass sie mich im Dunkel spürte und sich wunderte. Sie hatte die Art von Antenne, die gefeierte Berühmtheiten haben, ein inneres Gespür für Leute, die etwas wollen. Ein Wagen fuhr vor, eine Limousine, die sie zum Hotel bringen sollte. Der Begleiter ging zum Wagen und sprach mit dem Fahrer, und ich trat links neben ihr voll ins Licht. Sie drehte sich um und hielt mitten im Schreiben ihres Namenszugs inne, als sie mich erblickte. Unsere Augen trafen sich sekundenlang; dann wandte sie den Kopf. Vielleicht war es der Schock, mich wiederzusehen. Falls sie sich der Illusion hingegeben hatte, sie hätte mich bei unserer ersten Begegnung getäuscht, war es damit jetzt vorbei. Sie erstarrte und verkrampfte sich. Ich blieb in etwa zwei Meter Abstand von ihr stehen, ohne ihr Druck zu machen. Sie 99
plauderte noch mit den letzten Fans, aber schon etwas ungeduldig, um es hinter sich zu bringen. Als nur noch eine Person übrig war, rief sie dem Mann an der Limousine zu: »Bob, können wir los?« Der Mann drehte sich zu ihr um und kam, als er mich sah, schnell auf uns zu. Ich weiß nicht, ob er sich daran erinnerte, mich im Four Seasons schon einmal gesehen zu haben, aber er reagierte ganz offensichtlich auf den Ton der Sonnier. Er ignorierte mich einfach, schenkte der letzten Wartenden ein Lächeln und sagte: »Begleiten Sie uns doch ein Stück weit, ja?« Die Sonnier gab ihr letztes Autogramm im Gehen; die Autotür stand offen, und plötzlich war sie in der Limousine verschwunden. Ich verfolgte sie nicht. Das hatte keinen Sinn. Ich wollte ihr nur eine Frage stellen, und die würde sie mir auf dem Parkplatz des Fox-Theaters bestimmt nicht beantworten: »Warum haben Sie gelogen, als ich Sie nach Doug Townsend gefragt habe?« Kaum war der Wagenschlag hinter der Sonnier zugefallen, fuhr die Limousine ab in Richtung Peachtree Street. Ich beobachtete, wie die Rücklichter des Wagens allmählich von der Dunkelheit verschluckt wurden, dann ging ich zu meinem Auto zurück. Im Four Seasons hatte die Sonnier ihre Deckung ziemlich gut aufrechterhalten, aber doch nicht gut genug. Ob es nun Erschöpfung von der Aufführung war oder der Schock, mich wiederzusehen, sie hatte mir jedenfalls in den wenigen Augenblicken hinter dem Fox eine Menge mehr enthüllt. Mochten auch Welten zwischen ihnen liegen, Doug Townsend war viel mehr als nur ein Fan von ihr gewesen. Als mein Telefon klingelte, war es ungefähr 1.30 Uhr in der Nacht. Ich war nicht direkt benommen. Ich befand mich lediglich in jenem gefährlichen Schwebezustand zwischen Schlafen und Wachen, in dem man sehr leicht zu beeinflussen ist. Trotzdem erkannte ich die Stimme sofort und spürte den 100
Schauer wieder, der mir schon einmal über den Rücken gelaufen war. »Mr. Hammond?« Meine Augen weiteten sich. Ich ließ den Klang in mir nachhallen, um ganz sicherzugehen. Eine Sekunde lang herrschte Stille, dann: »Ist dort Mr. Jack Hammond?« »Ja.« »Ich weiß, dass es spät ist. Hoffentlich stört es Sie nicht, dass ich Sie zu Hause anrufe.« »Überhaupt nicht.« Es trat eine längere Pause ein, bis ich schließlich fragte: »Haben Sie vielleicht etwas auf dem Herzen, über das Sie reden möchten?« Jetzt veränderte sich etwas in ihrer Stimme; nicht gerade, als hätte sie einen Sprung, aber sie hatte auf einmal einen tiefen, vibrierenden Beiklang. »Ja«, sagte sie, »mir liegt etwas auf dem Herzen.« »Vielleicht würde es Ihnen die Sache erleichtern, wenn ich Ihnen sagte, was.« Ein leiser Seufzer. »Ja, bestimmt. Sehr sogar.« »Sie wollen über Doug Townsend reden.« Ich konnte hören, wie sie leise zischend ausatmete. »Stimmt. Über Doug.« »Sie haben den Richtigen angerufen.« »Das alles ist so schrecklich.« »Da stimme ich Ihnen zu.« Den nächsten Satz brachte sie etwas zu hastig vor und nuschelte dabei. »Mr. Hammond, ich möchte eigentlich nicht am Telefon darüber sprechen. Können Sie nicht herkommen?« »Wohin?« »Ins Four Seasons. Die Ansley-Suite.« Ich drückte mir verwirrt den Hörer ans Ohr. »Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber ich wüsste gern, warum Sie nicht –« »Warum ich nicht zu Hause bei meinem Mann bin?« »Wenn Ihnen die Frage nichts ausmacht.« 101
»Sie macht mir was aus. Kommen Sie?« »In dreißig Minuten. Okay?« »Ja.« »Bis dann.« Es regnete, als ich auf den überdachten Parkplatz des Four Seasons einbog. Um diese Zeit war kein Portier mehr da, und so suchte ich mir selbst einen leeren Platz. Ich stieg aus dem Auto und tauchte erneut in die sorgfältig durchgestylte Illustriertenwelt ein. Allein die frischen Blumen kosteten so viel wie meine Miete. Die Ansley-Suite war im 19. Stock. Ich fuhr mit dem kirschbaumvertäfelten Fahrstuhl, sah zu, wie die Türen aufglitten, und stieg aus. Es war die dritte Tür links. Ich klopfte. Nichts. Ich klopfte noch einmal. Ein leises Geräusch, dann verdunkelte sich der Türspion. Schlösser wurden aufgeschlossen, eins oben und eins in der Mitte. Dann schwang die Tür auf, und ich schaute in das tränenverschmierte Gesicht von Michele Sonnier. Sie ging wortlos ins Zimmer zurück. Ich folgte ihr und schloss die Tür hinter mir. Sie führte mich in den hinteren Bereich einer extravaganten Suite mit zwei riesigen Panoramafenstern und Blick auf die Lichter von Atlanta. Dort ließ sie sich schwer auf ein langes, gemustertes Sofa sinken und fing leise an zu weinen. Ich postierte mich am anderen Ende des Sofas und wartete den richtigen Augenblick ab. Es dauerte etwa fünf Minuten, würde ich sagen. Wahrscheinlich würde Ralston gleich im Türrahmen stehen und wissen wollen, was zum Teufel ich um zwei Uhr früh bei seiner Frau zu suchen hatte. Als sie mich schließlich ansah, schien sie ein wenig überrascht zu sein, dass sie sich hatte ausweinen dürfen. Aber ich habe schon Hunderte von Stunden mit Leuten kurz vor einem Geständnis verbracht und deshalb einen Blick dafür, wann die Schuldgefühle nach außen drängen. Ich habe Mandanten gehabt, die mit aller Kraft, deren sie fähig waren, 102
gegen dieses Bedürfnis ankämpften und sich verzweifelt bemühten, ihrem eigenen Gefühl für Recht und Unrecht nicht nachzugeben. Ich habe gelernt, bei wem ich nachhelfen muss und bei wem ich einfach warte. Bei ihr drückten das Gesicht, die hängenden Schultern und der erschöpfte Blick Geständnisbereitschaft aus. Endlich strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Sie trug dunkelgrüne Hosen und einen gelbbraunen Pullover. »Bitte verzeihen Sie«, sagte sie. »Jetzt geht es mir ein wenig besser.« »Schon gut.« »Es tut mir Leid, dass ich so derangiert bin.« Sie war trotz ihrer Erschöpfung noch immer schön. Ihre Haut war so glatt und braun, dass es fast unmöglich schien, nicht hinzufassen und sie zu berühren, und sei es nur, um eine Bestätigung zu haben, dass sie real war. »Sie wollen also über Doug reden.« »Ja. Über Doug.« Sie starrte an mir vorbei auf die Wand. »Ich habe Sie angelogen. Ich dachte, ich könnte besser schauspielern.« Ich zuckte die Achseln. »Sie sind eine wunderbare Schauspielerin, aber ich bin eben ein scharfer Kritiker.« Die Sonnier musterte mich einen Augenblick, dann nickte sie. »Leute, die nicht lügen, stehen hoch im Kurs, und ihr Preis ist im Steigen begriffen.« Sie ging zur Bar, und die Konturen ihrer Schenkel zeichneten sich unter dem perfekt sitzenden Stoff ab. »Heutzutage kann man niemandem mehr trauen, vom Priester bis zum Präsidenten.« »Ist mir auch schon aufgefallen.« »Das reicht, um jemanden vom Glauben abzubringen – ich selbst war allerdings nie gläubig.« Sie goss sich ein Glas Mineralwasser ein. »Sind Sie sicher, dass Sie nichts trinken wollen?« »Ich will nur, dass Sie mir etwas von Doug erzählen.« 103
»Was sagt denn die Polizei?« »Sie sagt, dass er tot ist. Wahrscheinlich selbst verschuldet durch eine Überdosis.« Sie stellte die Flasche zurück und trank gesittet und kultiviert einen Schluck. »Die Polizei von Atlanta ist ausgezeichnet, Mr. Hammond, sie wird sicher das Richtige tun.« »Das ist eine ziemlich patriotische Einstellung.« Sie blickte auf. »Nicht jede Schwarze hasst die Polizei, Mr. Hammond.« »Es ist auch nicht jede Schwarze eine reiche Opernsängerin.« »Was meinen Sie damit?« Ich zuckte wieder die Achseln. »Damit meine ich, dass Rasse in dieser Stadt eine Trumpfkarte ist, und ich habe schon vor langer Zeit beschlossen, mich nicht auf dieses Spiel einzulassen. Bei mir kommen neun schwarze auf einen weißen Mandanten, und ich bin froh, dass ich sie habe. Wenn Sie mir also jetzt mit der Rassenkarte kommen, kann ich gleich nach Hause gehen.« Einen Moment lang dachte ich, sie würde mich rauswerfen. Aber nach einer spannungsgeladenen Sekunde lenkte sie ein. »Vielleicht habe ich Sie falsch verstanden«, sagte sie. »Ich bin es einfach Leid, mich immer verteidigen zu müssen, weil ich angeblich zu weiß bin.« »Mir geht es bei meinen Mandanten genauso, den ganzen Tag lang.« Sie lächelte matt. »Natürlich. Am besten lassen wir das Thema fallen.« »Gut. Ich bin aber noch immer hier in Ihrer 1000-Dollar-dieNacht-Hotelsuite und warte darauf, dass sie mir erzählen, worum es geht.« Sie sah weg. »Wissen Sie, was mich an Rechtsanwälten immer stört, Jack?« Mir war zum Lachen. Die Leute haben meist eine ganze Liste davon. »Nein.« »Die schreckliche Annahme, dass es auf jeden Fall das Beste 104
ist, wenn die Dinge an den Tag kommen. Sie drehen Steinchen für Steinchen um und wollen unbedingt das Leid anderer ans Licht bringen. Manchmal ist es aber besser, etwas im Dunkeln zu lassen, damit die Leute weiterleben können.« »Wenn jemand stirbt, verfällt das Recht auf Intimsphäre«, sagte ich. »So sieht es aus.« »Auch wenn es dabei unschuldige Opfer gibt? Wenn es jemanden gibt, der niemandem etwas getan hat und einfach nur in diese furchtbare Sache hineingezogen wird, ohne dass er sich etwas vorzuwerfen hätte?« »Sprechen Sie von sich?« Sie sah aufrichtig erstaunt aus. »Ich? Unschuldig? Sie verstehen offenbar rein gar nichts, oder?« »Klären Sie mich doch auf!« Sie sah an mir vorbei. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.« »Sie können damit anfangen, wie Sie Doug begegnet sind.« Sie nickte und sammelte sich. »Wir sind uns nicht direkt begegnet«, sagte sie. »Er ist mir allmählich näher gekommen, jedes Mal ein kleines Stückchen näher. Ich schaute ins Publikum, und ich sah ein Gesicht. Irgendetwas daran kam mir bekannt vor, aber normalerweise bin ich so sehr in meinen Gesang vertieft, dass ich nicht über Zuschauer nachdenken kann.« Sie konzentrierte sich auf die gegenüberliegende Wand. »Es dauerte eine ganze Weile, etliche Aufführungen lang. Aber irgendwann war kein Irrtum mehr möglich. Er war es – obwohl ich keine Ahnung hatte, wer er war. Zu Anfang war es sehr verwirrend. Jedes Mal war alles anders – die Stadt, die Garderobe, die Musik –, aber er war derselbe, aus einer Welt in eine andere versetzt. Einen Augenblick lang fragte ich mich dann, welchen Abend wir hatten und ob ich am richtigen Ort war.« »Hatten Sie Angst?« »Vor Doug?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Die Oper hat zwar ihre passionierten Fans, aber die sind nicht beängstigend. 105
Sie sind meist eher ein bisschen unbeholfen und sehr höflich. Aber so wie er war bisher noch niemand gewesen. Er war überall.« Sie atmete lange aus. »Er wirkte recht harmlos. Er hatte gute Musikkenntnisse, und das hat mich beruhigt. Ernsthaft. Morder, die mit der Axt zuschlagen, hören sich im Allgemeinen keine klassische Musik an.« »Irgendwann haben Sie miteinander gesprochen.« Sie nickte. »Ja, kurz vor der jetzigen Tournee. Ich bemerkte, dass er draußen vor dem Theater wartete, und das war neu. Er lächelte dieses halbe Lächeln, sehr schüchtern, ganz anders als andere. Weit davon entfernt, Angst zu erregen.« »Weiter.« »Ich sah ihn hier und da flüchtig, so wie Sie heute. Er hielt sich zurück, stand am Bühnenausgang immer hinter der Menge. Er hat mich nie um ein Autogramm gebeten. Ich glaube, er wollte nicht zu den anderen gezählt werden.« Sie machte eine Pause, in Erinnerungen verloren. »Dann endlich sagte er mal etwas.« »Und was hat er gesagt?« Sie lächelte weich. »›L’amore non prevale sempre.‹« »Was heißt das?« »›Die Liebe siegt nicht immer.‹ Es ist Italienisch, ein Satz aus Romeo und Julia.« »Aus der Oper, die Sie gerade gesungen haben.« Sie nickte. »Es war meine erste bedeutende Rolle, eine Art Markenzeichen. Man bittet mich immer wieder darum, aber ich versuche, es auf ein paar Aufführungen im Jahr zu beschränken.« »Wo war es?« »In San Francisco, glaube ich.« »Und was geschah dann?« »Es war irgendwie rührend. All diese Menschen, die sich herandrängten, und Doug, der geduldig wartete. Ich wollte eben gehen, da sagte eine freundliche Stimme aus dem Dunkel: 106
›L’amore non prevale sempre.‹ Ich schaute hin, und da stand er und betrachtete seine Schuhspitzen.« »Haben Sie etwas erwidert?« »Den nächsten Satz, den Romeo sagt. ›E c’è ancora nessun’altra maniera a vìvere.‹ ›Und doch besteht keine andere Möglichkeit weiterzuleben.‹« Sie stockte. »Sehen Sie, über das, was er machte – dass er mir folgte, meine ich –, wenn ich darüber nachdachte, war mir klar, dass er irgendein Problem hatte.« »Stimmt.« »Aber was soll man machen? Man ist auf ganz eigene Weise geschmeichelt, wenn man merkt, dass der Betreffende nichts Böses im Schilde führt. Sie wissen ja, wie er war. Die Freundlichkeit selbst. Von da an unterhielten wir uns nach und gelegentlich auch vor den Aufführungen ein bisschen. Er sagte, er sei Computerfachmann und wolle ein kleines Unternehmen aufziehen.« Sie lächelte traurig. »Ich glaube, ich sollte ihn dafür bewundern.« »Allerdings.« »Ja, in dieser Beziehung war er wie ein Kind. Also habe ich ihn ermutigt. Ich habe zugehört, wenn er mir seine kleinen Erfolge schilderte. Er sehnte sich nach Anerkennung. Das alles ist so traurig.« Ja, so traurig. Doug, zusammengesackt auf seiner Couch, tot, den Arm voll gepumpt mit Fentanyl. »Aber irgendetwas ist passiert«, sagte ich, »sonst wäre ich nicht hier.« Sie ging wieder auf Distanz, das sagte mir ihre Körpersprache. »Doug war auf seine Art brillant. Aber das war ihm einfach nicht genug. Er dachte, er würde mir helfen, dabei hat er Dinge in Bewegung gebracht …« Sie hing ihren Gedanken nach. Dann drehte sie mir den Rücken zu und erzählte so leise weiter, dass ich sie kaum verstehen konnte. »Eines Tages kam er zu mir, und ich spürte, dass er anders war. Es war noch im Theater. Er wolle mir etwas sagen, raunte 107
er mir zu. Ich erwiderte, schön, aber er legte nicht gleich los. Er trat erst näher, und dann flüsterte er mir etwas ins Ohr.« »Und was?« »›Ich würde alles tun, um Ihnen zu helfen.‹ Seine Augen bohrten sich in meine. Sein Blick war starr. ›Mit Ihrem Geheimnis, einfach alles.‹ So hatte ich ihn noch nie erlebt. Ich bin ehrlich überzeugt, dass ich ihn damals hätte bitten können, von einer Klippe zu springen, und er hätte es getan. Oder noch etwas Schlimmeres.« »Haben Sie eine Idee, warum er das gesagt haben könnte?« Sie schwieg eine Weile, dann nahm sie allen Mut zusammen. »Soll ich Ihnen mal meine Geschichte erzählen, Jack?«, sagte sie. »Soll ich Ihnen mein Leben erzählen?« Sie starrte auf den Fußboden und strich sich mit den Händen die Hose glatt. »Es fängt in einer Zweizimmerwohnung an, mit geliehenen Möbeln; das Telefon ist abgestellt, weil die Rechnung nicht bezahlt wurde. Ich bin sechs Jahre alt. Ich höre meine Mutter im Bad rumoren.« »Sie war Lehrerin, nicht wahr? Ich habe es auf Ihrer Website gelesen.« Sie lachte bitter, drehte die Augen nach oben und seufzte. »Lehrerin? Meine Mutter war Sekretärin. Und was für eine. Hätte ›Mutter des Jahres‹ werden können, nur dass sie drogensüchtig war. Ich glaube, dafür kriegt man Punkte abgezogen.« »Und Ihr Vater? Auf Ihrer Website heißt es, er sei Arzt gewesen.« Sie schloss die Augen. »Mein Vater hat einen Lkw gefahren. Das hat man mir jedenfalls erzählt. Ich habe ihn nie kennen gelernt.« Ich verstummte und versuchte zu sortieren, was ich gerade gehört hatte. »Ich glaube, ich muss mich setzen.« »Bitte. Wir sind erst am Anfang.« Ich nahm auf dem Sofa Platz, und sie fuhr fort. »Mutter war also Sekretärin, wenn sie 108
Arbeit hatte. Meistens war sie jedoch auf Valium und Percodan. Damals hatte sie noch nicht mit den wirklich üblen Drogen angefangen. Das kam später.« Wieder lachte sie bitter. »Ist es nicht erstaunlich, wie tief ein Mensch sinken kann? Dass jemand über lange Zeit hinweg mit dem Feuer spielen kann und es erst merkt, wenn es zu spät ist? Es kommt der Tag, an dem er endgültig verloren ist, und er ist sich dessen nicht einmal bewusst.« Sie sah mich an. »Natürlich ging uns das Geld aus. Sie behielt keinen Job länger, weil sie schon am helllichten Tag voll gedröhnt war. Aber –« Sie machte eine Pause, und ihre Miene drückte Abscheu aus. »Sie wusste sich zu helfen. Männer sind mitunter sehr großzügig, unter den richtigen Umständen jedenfalls.« »Wie alt waren Sie da?« »Da? Acht.« »Traurig.« »Ja, ja, ich finde es auch traurig, Jack. Ich finde es traurig, dass meine Mutter für nichts anderes mehr Sinn hatte als dafür, wie sie mehr aus den Drogen herausholen konnte, die sie so liebte, traurig, dass mein Anblick sie verrückt machte, weil er sie daran erinnerte, was für eine schreckliche Mutter sie war. Wenn ich etwas sagte, sah sie mich an, als wäre ich ihr fremd. Wenn man ein Kind hat, heißt es ›entweder – oder‹, aber sie konnte gewisse Dinge nicht aufgeben. Eines Tages kam ich nach Hause, und sie war weg. Wie vom Erdboden verschwunden.« »Sie hat sie einfach zurückgelassen?« »Mami ist mit einem ihrer so genannten Freunde verschwunden. Ein übles Subjekt. Je schlimmer es mit ihr wurde, umso schlimmer waren die Männer. Sie pendelte sich auf das passende Niveau ein. Herumtreiber, die nie in ihrem Leben gearbeitet hatten. Hübsch war sie natürlich auch nicht mehr so richtig. Nur in einem gewissen Licht …« Sie wandte sich ab. »Um mich loszuwerden, ist sie dem Kerl in die Drogenwelt gefolgt.« Sie machte eine Grimasse, als 109
müsste sie Galle runterschlucken. »Und was haben Sie dann gemacht?« Sie zuckte mit den Schultern. »Der Staat Georgia hat Mutterstelle an mir vertreten, war eine tolle Mami.« »Georgia? Ich dachte, Sie wären aus New York.« »Jeder denkt das.« Ich stutzte. »Jeder? Auch –« »Ja, Jack, auch Charles.« Ich starrte sie an. »Das ist nicht gut.« »Ich habe in vier Jahren in sechs Pflegefamilien gelebt. Ich war sogar einige Zeit im Glen.« Ich sah sie fassungslos an. »Im Glen? Ist das Ihr Ernst?« Sie nickte. »Ungefähr 18 Monate. Mit den Pflegeeltern hat es nie recht geklappt. Die Leute fanden mich … schwierig, um es sehr milde auszudrücken. Ich war ein Biest, und ich weiß gar nicht, warum, denn es lief alles bestens. Schließlich haben mich nur zwei von meinen sechs Pflegeelternpaaren missbraucht, darunter nur eine Frau. Da war es doch eigentlich undankbar von mir.« Das Bild der kultivierten Diva löste sich zusehends auf. Sie klang immer mehr wie eine meiner Mandantinnen. Sie zählte die üblichen Gräuel auf, denen Atlantas arme Seelen ausgesetzt sind: Missbrauch, Verlassenwerden, die Sünden einer verantwortungslosen Generation, die an die nächste weitergegeben werden. Aber irgendwie hatte es die Frau vor mir geschafft, das andere Ufer zu erreichen und im Luxus zu schwelgen. »Wie, zum Teufel, kann jemand das alles aushalten und unbeschadet auf der anderen Seite daraus hervorkommen?«, fragte ich. »Seien Sie nicht albern. Ich bin nicht unbeschadet davongekommen.« Ich zeigte mit weit ausholender Geste auf die Suite. »Na schön. Und wie sind Sie hierher gekommen?« Sie sah mich scharf an. »Ich war ungeliebt, Jack. Das hatte 110
aber nichts mit meiner Begabung zu tun. Die ist vielleicht sogar noch gewachsen dadurch. Jedenfalls habe ich mein Leben in zwei Teile geteilt. Den ersten habe ich zertrümmert. Selbst die Erinnerung daran habe ich zerstört. Ich habe eine völlig neue Existenz erfunden, als alles Schreckliche zu Ende war. Ich habe all das Traurige ungeschehen gemacht. Es blieb nicht einmal ein Schatten davon zurück. Es war einfach … weg. Nur deshalb bin ich nicht verrückt geworden.« »Sich daran zu erinnern muss furchtbar sein.« Sie nickte. »Diese Wunden gehen tief, und es hat seine Zeit gedauert, bis sie vernarbt waren. Ich musste es – wie nennen Sozialarbeiter das? – ausagieren. Das Jugendamt hat mich ganz schön herumgeschubst. Andererseits war es das Beste, was mir passieren konnte, um mich in meiner Kunst zu vervollkommnen.« »Im Gesang?« Sie schüttelte den Kopf. »In der Schauspielkunst. Man lernt, nett zu sein, den Leuten etwas vorzumachen. Wenn mich Paare begutachteten, nutzte ich meine Chance, um mindestens auf einen von beiden einen guten Eindruck zu machen, damit sie mich zu sich nach Hause mitnahmen. Mit der Zeit wurde ich richtig gut darin. Ich konnte mit züchtig gekreuzten Beinen dasitzen und wie ein artiges kleines Mädchen bei einer Teegesellschaft plaudern, als hätte es nie Tragödien oder schreckliche Momente gegeben. Ja, Madam, ich hätte gern noch ein Plätzchen. Nein, meine Mutter ist nicht unter Drogeneinfluss nach Hause gewankt und hat zwei Tage lang wie tot auf dem Sofa gelegen. Ich habe gar keine Mutter. Damals wusste ich es noch nicht, aber ich übte für mein späteres Leben. Ich lernte, etwas vorzutäuschen.« Während ich ihr zuhörte, musste ich mich wieder über die Unverwüstlichkeit mancher Menschen wundern. Ich hatte das auch in meiner Kanzlei erlebt; 19 von 20 gehen im System unter, aber einer ist nicht umzubringen. Für diesen einen 111
Menschen setzt man Himmel und Hölle in Bewegung, denn er hat trotz allem Charakter. »Wie ging es weiter?«, fragte ich. »Ein Paar hat mich zu sich genommen. Es war ein Versuch, sie wollten sich erst nach ein paar Probemonaten endgültig festlegen. Nette Leute. Schickes Auto, schöner Vorort. Ich war dreizehn.« »Es gibt nicht viele Leute, die ein dreizehnjähriges Mädchen zu sich nehmen«, sagte ich. »Schon gut, Jack, sprechen Sie es ruhig aus: eine dreizehnjährige Schwarze.« Ich nickte. »Wie auch immer, es war mutig.« »Kann man nicht unbedingt sagen.« »Wieso?« Ihr Gesicht wurde stählern. »Ich hatte das perfekte Alter, was die Absichten des Hausherrn betraf. Der Prozentsatz von Pädophilen ist bei den Liberalen genauso hoch wie bei anderen Gruppierungen.« Ich saß stumm da, addierte auch dies zu ihrer langen Leidensliste. Sagen konnte man nichts. Mitunter sammeln sich die Tragödien zum reißenden Strom, und dann muss man ein starker Schwimmer sein, um nicht unterzugehen. »Ich will nicht behaupten, dass er es wollte«, sagte sie. »Ich glaube sogar, er hasste sich deswegen. Ich ihn auf jeden Fall. Aber er konnte nicht anders. Er starrte mich einfach immer an, mit diesem komischen Blick. Und eines Nachts kam er in mein Zimmer.« Sie stand auf und ging hin und her. »Da habe ich das Problem auf meine Weise gelöst«, sagte sie. »Ich hatte einen genialen Plan. Alles hat perfekt funktioniert, und er hat mich nie wieder angefasst.« »Was haben Sie denn gemacht?« »Ich bin schwanger geworden«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. Eine lange Pause trat ein. Dann sagte sie: »Das hat gewirkt. Ich war gebrauchte Ware. Nicht mehr das hübsche junge Ding von vorher.« Sie lachte, und es klang so 112
tränenerstickt, wie ich es noch nie gehört hatte. »War der Hausherr der Vater?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, so weit ist er damals nicht gegangen, noch nicht. Er mochte es lieber, wenn ich ihn auf andere Weise verwöhnte.« »Wer dann?« »Ein bezaubernder Junge aus der Nachbarschaft. Ich hatte ihn erwählt, darauf kam es mir an. Er war siebzehn, ich dreizehn. Ich habe mich davongestohlen, um mich mit ihm zu treffen.« Sie schwieg. »Ich habe dem Jungen nie von dem Kind erzählt. Es hatte keinen Sinn. Ich wusste, was passieren würde. Er hatte sowieso schon eine Neue. Die paar Male, die ich ihn noch gesehen habe, hat er mich zu befummeln versucht.« »Was haben Ihre Pflegeeltern gesagt?« »Das liebende Paar?«, spottete sie. »Sie haben mich natürlich zurückgeschickt. So war es ja nicht ausgemacht gewesen. Es war ein rührender Abschied. Der Mann glänzte durch Abwesenheit.« »Haben Sie niemandem erzählt, was er getan hat?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil es keine Rolle spielte. Er war weg, ich war frei. Das Kind habe ich im Haus der Sozialfürsorge bekommen.« »Sie haben also ein Kind«, sagte ich. »Sie sind Mutter.« Sie atmete schwer. »Eine Tochter. Sie ist an einem Dienstag geboren. Das Zimmer war sehr hell. Es war sehr laut. Ich habe sie nie wiedergesehen.« Sie wollte keine unschuldigen Opfer mit hineinziehen. Ihre Tochter. Als ich den Blick wieder hob, sah ich, dass sich die gespielte Tapferkeit, mit der sie mir die letzten zarten Erinnerungen an das gefallene Mädchen erzählt hatte, auflöste und die Tünche von ihr abblätterte wie Schorf von einer Wunde, sodass sich nur noch Trauer und Selbsthass in ihrem Gesicht spiegelten. 113
»Verstehen Sie nun?«, sagte sie. »Ich habe sie verlassen, Jack. Ich habe Briah genauso allein gelassen, wie meine Mutter mich allein gelassen hat.« Sie wischte sich Tränen aus den Augen. »Briah«, sagte sie, »meine Kleine heißt Briah.« »Ein schöner Name.« Sie nickte, und als ihr Schluchzen abgeebbt war, kam sie leise auf mich zu und hielt mir die ausgestreckte Hand hin. »T’aniqua Fields«, sagte sie. »Nett, Sie kennen zu lernen.« Ich erhob mich und ergriff ihre Hand. »T’aniqua.« »Kein Name für die Bühne, was?« Während meiner Einsätze am Gericht von Richter Odom hatte ich schon viele gemarterte Seelen erlebt, aber diese Qual war kaum zu übertreffen. Wenn die Leute wüssten, welche Hölle sie ihren Kindern mit ihrem Wahnsinn bereiten, hätten sie vielleicht die Güte, anständig zu werden. »Sie haben das Kind bekommen«, sagte ich leise. »Und was geschah dann?« »Mit Briah konnte ich nicht wieder zu Pflegeeltern. Ich war erst wenige Tage vor der Geburt vierzehn geworden. Da haben sie sie mitgenommen.« Sie sah mich mit flehenden Augen an. »Sie haben sie mitgenommen.« »Dann haben Sie sie auch nicht allein gelassen. Sie wurde Ihnen weggenommen.« »Habe ich doch. Ich habe mich nicht gewehrt. Ich habe einfach im Bett gelegen und die Augen zugemacht, während sie sie mitnahmen.« »Es war zu viel für Sie. Sie waren ja erst vierzehn.« Sie drehte sich abrupt zu mir um, und ihre Augen funkelten zornig. »Kapieren Sie es denn nicht? Ich wollte, dass sie sie mitnehmen.« Sie wandte sich ab und fing wieder an zu schluchzen. »Ich habe gehofft, dass damit alles vorbei wäre, als wäre es nie geschehen, und ich könnte wieder meinen Kinderträumen nachhängen. Einfach Kind sein.« Sie rang schluchzend nach Luft. »Zwei Tage später bin ich 114
nachts geflohen. Ich habe einer Sozialarbeiterin Geld gestohlen und bin in den Bus gestiegen. Ich hab mich dann durchgeschlagen –« Sie verstummte, es fiel ihr offenbar schwer weiterzureden. Bleierne Stille trat ein – wie die Ruhe vor einem Sturm, der danach mit doppelter Kraft losbricht –, und danach war es wahrscheinlich um ihre Fassung geschehen. Womit sie sich auch gepanzert haben mochte, um ihr Geheimnis zu bewahren, jetzt zerfiel alles unwiderruflich und endgültig. Oder – und ich hatte zu viele einschlägige Erfahrungen gesammelt, um diese letzte Möglichkeit gänzlich auszuklammern –, oder ich erlebte gerade ein großartiges Schauspiel, besser noch als das Stück, das ich auf der Bühne gesehen hatte. Ich sprang auf und packte sie beschwichtigend am Arm. »Beruhigen Sie sich doch.« »Wo ist sie, Jack? Ich habe sie zur –« »Ich weiß«, sagte ich. »Sie haben sie der Hölle ausgeliefert.« »Und plötzlich kommt Doug zu mir. Und sagt, dass er alles tun würde, um mir zu helfen.« »Hat er es herausgefunden?« »Alles«, zischte sie. »Wie konnte er das bloß!« »Es gibt immer irgendwo Daten und Akten. Beim Sozialamt. Wenn jemand unbedingt will, kann er alles herausbekommen. Doug war eine Koryphäe, was Computer betrifft.« »Der verdammte Kerl.« »Er wollte Ihnen doch nur helfen.« »Ich hatte alles bis aufs i-Tüpfelchen ausgearbeitet«, sagte sie. »Er hat all meine Gefühle, all meine Reuegedanken wieder aufleben lassen. Ich hatte wieder vor Augen, wie sie von mir weggeholt wurde. Ich glaube wirklich, ich verliere noch den Verstand.« »Nehmen Sie es nicht so schwer.« »Ich habe ein neues Leben angefangen, Jack. Zuerst war es nur eine Überlebensmöglichkeit, ein Mittel, um nicht zu zerbrechen. Aber jetzt ist es mein wirkliches Leben.« 115
»Ich nehme an«, sagte ich sanft, »dass Ihr Mann sich das anders vorgestellt hat.« Sie lachte höhnisch. »Mein Mann? Er war erst in Groton, Jack. Dann in Yale, dann in Harvard an der medizinischen Fakultät. Himmel nochmal, er hat Bush mit Spenden unterstützt! Charles hält das Ghetto für die unausweichliche Folge einer Kultur der Abhängigkeit.« Sie schüttelte den Kopf. »Waren Sie jemals in den Büroräumen von Horizn?« »Nein.« »Sie blinken nur so von der Decke bis zum Fußboden. Im ganzen Gebäude gibt es kein einziges Staubkörnchen. Sogar die Luft ist rein, sie wird gefiltert. Alles ist perfekt.« Sie ging zur Bar und brachte damit Abstand zwischen uns. »Die Welt meines Mannes ist sehr geordnet«, sagte sie. »Meine ist leider ein Chaos.« Sie öffnete eine Flasche Armagnac und goss sich ein Glas ein. »Groton-Abgänger heiraten keine Herumtreiberinnen mit drogensüchtigen Müttern, Jack. Und sie heiraten keine Frauen, die sich ihre unehelichen Kinder vom Sozialamt wegnehmen lassen. Das hat es in der Weltgeschichte noch nie gegeben.« Ihre Logik brachte mich zum Schweigen. Was sie sagte, war offenkundig wahr. »Sind Sie sicher, dass er es nicht weiß?« Sie schüttelte den Kopf. »Als ich Charles kennen lernte, lebte ich schon sieben Jahre mein neues Leben. Mein Gott, ich glaubte selbst daran. Ich hatte meine Vergangenheit bis in die kleinsten Kleinigkeiten genau ausgetüftelt und alle Löcher gefüllt. Es passte alles wunderbar.« Ich schwieg und überlegte. »Wie haben Sie Ihren Mann kennen gelernt?« »Charles kam zu Beginn meiner Karriere in eine meiner Aufführungen. Ich hatte bis dahin nur kleine Rollen gesungen, aber es war klar, dass ich zu Höherem ausersehen war. Charles war umwerfend und offensichtlich ambitioniert, ich habe mich sofort in ihn verliebt. Ich war überwältigt, dass sich ein Mann 116
seines Ranges für jemanden wie mich interessiert. Er war die Bestätigung dafür, dass mein neues Leben Wirklichkeit war. Wie sollte er mich lieben können, wenn das nicht stimmte? Ich war angekommen, ich war frei. Ich würde den großen Charles Ralston heiraten, und die Vergangenheit würde mich nie mehr berühren.« Sie hielt inne. »Es dauerte einige Zeit, bis ich merkte, was dann weiter passierte.« »Und was?« »Ich hatte keinerlei Welterfahrung, und es ließ sich nicht vermeiden, dass ich irgendwann seinen Ansprüchen nicht mehr genügte. Aber ich konnte singen. Das war eine Realität – die einzige. Und das nutzte Charles voll aus. Ich war so etwas wie ein Zirkushund, der auf Befehl seine Tricks vorführt. Eine Zeit lang dachte ich, das sei Zuneigung. Aber nach und nach habe ich begriffen, dass meine Karriere nur dazu diente, ihm zum ersehnten gesellschaftlichen Prestige zu verhelfen. Es gibt nämlich Leute, denen macht ein Neureicher keinen Eindruck und ein schwarzer schon gar nicht. Die Kunst öffnet solche Türen.« Sie trank ihr Glas aus. »Eine Ironie des Schicksals, nicht wahr? Zuletzt bin ich ein gesellschaftlicher Gewinn!« Sie stellte das Glas an der Bar ab und füllte es noch einmal halb. »Als Gegenleistung dafür, dass ich keinen Ärger mache, genieße ich gewisse Freiheiten. Charles und ich leben getrennt, und keiner stört des anderen Kreise. Vor allem jetzt nicht.« »Wegen des Börsengangs.« Sie nickte. »Der Börsengang ist die Krönung all dessen, wofür mein Mann gearbeitet hat. Sie hatten Recht, als Sie sagten, mein Mann hätte sich das wohl anders vorgestellt. Als Frau empfinde ich nichts mehr für ihn. Aber ich habe kein Recht, wegen meiner Sünde sein Leben zu zerstören. Dass er keine ehelichen Gefühle aufbringen kann ist, ist nicht seine Schuld. Er ist einfach nicht so geartet.« »Vielleicht sollten Sie abwarten, bis sich der Sturm gelegt hat.« 117
»Ich werde keine Minute länger warten, Mr. Hammond. Meine Tochter lebt, sie ist irgendwo hier in Atlanta.« »Was soll das heißen? Hat Doug Ihnen etwas gesagt?« »Seine letzte E-Mail an mich. Er muss es eilig gehabt haben, denn es waren nur wenige Worte. Oder er hielt die Datenübermittlung nicht für sicher genug. Sie ist hier, wir müssen jetzt handeln. Mehr nicht.« Sie nahm ihr Glas, ging zum Fenster und schaute in den glitzernden Nachthimmel über Atlanta. Ich spürte, wie sie sich bemühte, die Dunkelheit zu durchdringen, wie sie die Millionenstadt nach einem einsamen, unbekannten Mädchen absuchte. »Eine solche Nachricht kann man nicht einfach übergehen. Aber was heißt ›hier‹? Irgendwo. Überall.« »Sie glauben doch nicht, dass er sie bei sich hatte, oder?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich seitdem von früh bis spät an meine Tochter denken muss. Ich habe nichts anderes mehr im Kopf. Also werde ich auf irgendeinen Weg sinnen, sie zu suchen und zu finden.« Sie drehte sich um und sah mich bittend an. »Sie wollen, dass ich Ihnen helfe.« »Als ich Sie heute Abend sah, wurde mir klar, dass ich es darauf ankommen lassen muss. Sie haben mir gesagt, Sie seien mit Doug befreundet gewesen, deshalb vertraue ich Ihnen. Ich muss jemandem vertrauen können. Mir selbst ist es unmöglich, sie zu suchen, ohne Argwohn zu erregen.« »Ich erwarte eine Gegenleistung«, sagte ich leise. Sie lächelte grimmig. »Natürlich. Wie viel kostet es?« »Kein Geld. Nur Ihre Hilfe bei meinen Nachforschungen. Ich kann nicht vergessen, weshalb ich hier bin; ich will herausfinden, was mit Doug geschehen ist.« »Und was könnte ich dazu tun?« »Ich muss alles erfahren, was zwischen Ihnen gelaufen ist. Alles.« Sie nickte zustimmend, dann betrachtete sie wieder die Stadt. 118
Eine lange Pause trat ein, in der wir beide schwiegen. Schließlich fragte sie leise: »Sie haben mich doch singen hören, nicht wahr?« »Ja.« »Wie fanden Sie es?« »Ich fand es herrlich. Sie haben jedem im Saal das Herz gebrochen.« Ihre Mundwinkel kräuselten sich belustigt. »Das ist immerhin etwas. Grund genug, um einen weiteren Tag zu leben.« Sie leerte ihr Glas. »Ich singe, um mein Leben zu rechtfertigen, Jack. Ich singe, damit Gott mich nicht in die Hölle verdammt.« Sie wandte sich wieder zum Fenster und starrte regungslos auf die Stadt hinunter. »Ich bin müde«, sagte sie. »Ich kann mich nicht erinnern, jemals so müde gewesen zu sein.« »Wir können morgen weiterreden, wenn Sie wollen.« »Ja«, sagte sie und schloss die Augen. »Das wäre besser.« Einen Augenblick später kam sie auf mich zu und streckte die Hand aus. Ich ergriff sie, und sie führte mich durch die Suite in Richtung Tür. An einem kleinen Pult blieb sie stehen und schrieb eine Nummer auf. »Das ist meine Handynummer«, sagte sie und drückte mir den Zettel in die Hand. »Eine Geheimnummer. Wir brauchen kein Blatt vor den Mund zu nehmen.« »Ich rufe Sie morgen an, wenn wir beide etwas geschlafen haben.« »Ich bezweifle, dass ich schlafen kann, vorerst jedenfalls.« Sie öffnete die Tür und legte mir die Hand auf den Arm, als ich hinausgehen wollte. »Sie haben jetzt eine kleine Bombe bei sich, Jack. Passen Sie auf, dass sie nicht hochgeht.« Ich nickte und trat auf den Gang. Die große Michele Sonnier, dachte ich, während hinter mir hörbar die Tür zuschnappte.
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9 Am nächsten Morgen konnte ich noch ihre Haut an meinen Fingerspitzen spüren, ihren Duft an meiner Kleidung riechen. Vielleicht war es Einbildung. Ich warf einen Blick auf den Nachttisch; dort lag ein zerknitterter Zettel mit ihrer Nummer. Ich gab mir einen Ruck und setzte mich im Bett aufrecht. Mein Gott, Doug hatte absolut keine Chance. Sie war fantastisch, so viel stand fest. Sie war schön, schöner, als ich es je gesehen hatte. Sie war exotisch, sie war gebildet, sie war … Verflucht nochmal, reiß dich zusammen. Hier geht es um Doug, sonst nichts. Nein, jetzt ist es mehr. Du hast ihr Leid auf dich genommen, und damit musst du dich jetzt auseinander setzen. Irgendwo, vermutlich in Atlanta, war eine Vierzehnjährige, die nichts von ihrer Mutter wusste. Die Frage war, ob sie überhaupt etwas von ihr wissen wollte. Vielleicht war sie längst, wie so viele andere, dem maroden Sozialsystem zum Opfer gefallen und abgestumpft bis zur Gleichgültigkeit. Oder sie war eine der wenigen Erfolgsgeschichten. An Michele und Doug zu denken brachte mich wieder zur Ausgangsfrage zurück, wie Doug gestorben war. Ich versuchte erneut, zwei Worte zusammenzufügen: Doug und Selbstmord. Ich ließ sie mir probeweise eine Zeit lang im Kopf herumgehen. Ich wusste, warum Billy Little fand, dass sie zusammenpassten: Es war einfach, und er hatte damit Townsend vom Tisch. Billy war ein guter Mensch, aber er war überarbeitet. Wenn Doug Selbstmord begangen hatte, trug Billy nicht mehr so schwer. Für mich war Doug Townsend keine Bürde. Er war ein tapferer, romantischer, chancenloser Mensch und früher einmal mein Freund. Daher war ich, als ich an diesem Morgen gegen neun ins Büro kam, erfreut, Nightmare im Wartezimmer sitzen 120
zu sehen. Er war stinksauer, weil Blu ihn nicht in mein Büro gelassen hatte. Danach zu urteilen, wie sich die beiden ansahen, fand hier ein Zusammenprall der Kulturen statt, so als wenn das Model Gisèle beim Schülerball auftauchte. Erst wenn verdammt viel von Nightmares neuer Wirtschaftsordnung etabliert wäre, würde er unter Umständen bei Blu landen können. Ich begrüßte Blu und nahm Nightmare mit in mein Büro. Er hatte wieder dasselbe T-Shirt, dieselben schwarzen Jeans an. Eigentlich war alles dasselbe, nur das Grinsen fehlte. Hacker mögen ja Freaks sein, aber sie gehören zu den widerstandsfähigsten Kreaturen auf der Erde. Einem Hacker macht es nichts aus, zwei Tage und zwei Nächte wach zu bleiben, um eine besonders sichere Site zu knacken. Ein Blick auf Nightmare genügte, und ich wusste, dass irgendwann in der Nacht, während er versuchte, sich Einlass in Doug Townsends Computer zu verschaffen, aus einem Job zur Begleichung seiner Schuld bei mir eine Passion geworden war. Offenbar war die Nacht sehr lang geworden, denn er sah so hundemüde aus, dass mir der Verdacht kam, er hätte gar nicht geschlafen. Ich war froh über sein Erscheinen, denn ich war mehr denn je am Innenleben von Dougs Computer interessiert. Nightmare hatte nicht viel für nette Worte übrig. Er setzte eine Tasche auf dem Boden ab und holte eine Zip Disk heraus. »Dies«, sagte er, »hat Blut gekostet. Ist wie eine Kreissäge zum Codeknacken.« »Und woher hast du sie?« Nightmare sagte bitterernst: »Vom Satan.« Ich beschloss, nicht nachzuhaken; so wie es von ihm kam, blieb dunkel, was es bedeutete. Es war mir auch egal. Ich wollte nur ins Innere des Kastens. Vier Stunden später warf er mich aus meinem Büro, und ich kann es ihm nicht verübeln, denn ich bin ihm schwer auf die Nerven gegangen. Ich gab ihm meine Handynummer und vertrat mir ein wenig auf der Poston Street, an der mein Büro liegt, die Beine. Ich trank in einem Eckladen einen Kaffee, ging ein Weilchen vor der Autowerkstatt 121
gegenüber auf und ab und schlenderte schließlich langsam wieder zurück, weil ich es nicht mehr aushalten konnte wegzubleiben. Nightmare war nicht gut drauf. »Wo liegt das Problem?«, fragte ich. Nightmare blickte mich finster an. »Ich habe das Ding zigmal durchlaufen lassen. Nichts geht. Was zum Teufel ist da los?« Ich betrachtete die kleinen Sternchen auf dem Bildschirm, die für etwas standen, was Nightmare nicht herausbekam. »Die stehen für Buchstaben, richtig?«, fragte ich. »Ich war mir ziemlich sicher, aber vielleicht liege ich völlig falsch.« »Wie bist du denn überhaupt auf die Idee gekommen?« »Es wäre Killahs Stil.« »Bitte mal Klartext. Doug war so bekannt, dass du über seinen Stil Bescheid wusstest?« Nightmare nickte. »Ist ja nur eine kleine Gemeinde. Klar kenne ich Killahs Ding. Er stand auf diese Art von Witzen – einmal hat er das Passwort eines eBay-Administrators durch eine Buchstabenfolge aus dem Wort evilhacker ersetzt.« »Er ist bei eBay eingedrungen?« Nightmare zuckte die Achseln. »Für etwa zehn Minuten, yeah. Killah war der Cypherpunk des amerikanischen Südostens, Mann. Vielleicht sogar der gesamten USA.« »Cyberpunk?« »Nein, Cypherpunk. Cypher wie Chiffre. Er hat Chiffren entschlüsselt.« Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. »Das kann doch nicht wahr sein.« »Doch. Killah hatte sich überall in der Hackergemeinde Stützpunkte eingerichtet. Darum ist das hier auch so irre schwer. Ein Typ, der Codes knackt, ist auch selbst ziemlich gut im Verschlüsseln. Und da bin ich nicht so firm.« »Worin denn?« »Ich? Im Phone-Phreaking. Telefonverbindungen anzapfen, 122
rerouten, alles das. Darin bin ich Weltmeister.« Er starrte auf den Bildschirm. »Keine Wortkombination der englischen Sprache öffnet dieses System. Das heißt, wir müssten auf Zufallsverbindungen zurückgreifen, und ich gehe mal davon aus, dass Sie keine paar hundert Jahre warten wollen.« Er machte eine Pause. »Wonach suchen wir denn eigentlich?« »Ich weiß es nicht genau. Alles, was uns Aufschluss darüber geben kann, warum Doug gestorben ist.« »Ziemlich vage.« »Da ist noch was.« Ich zögerte, wählte meine Worte sorgfältig. »Wir wollen jemanden suchen. Jemand, der vermisst wird.« Nightmare zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. »Na ja, wir werden nichts und niemanden finden, wenn wir nicht in diesen Scheißcomputer reinkommen.« »Und nichts funktioniert?« Er schüttelte den Kopf. »Nada.« Vielleicht war es dieses spanische Wort für »nichts«, das mich auf die Idee brachte. »Keine englische Wortkombination, hast du gesagt.« »Yeah.« »Und andere Sprachen?« Nightmares Miene verfinsterte sich wieder. »Na super, es gibt ja auch nur etwa fünfzehn große Weltsprachen, ganz zu schweigen von den fünftausend anderen, die außerdem noch existieren, und wenn wir die alle durchlaufen lassen, brauchen wir erst in ein paar Monaten wieder hier zu sein.« »Doug war ein Fan von Opern«, sagte ich. »Italienische, französische, all so was.« Nightmare hob den Kopf. »Opern? Wollen Sie mich verarschen?« »Nein. Kannst du es mal damit probieren?« Er schüttelte den Kopf. »Theoretisch ja, wenn ich Wörterbücher in diesen Sprachen runterladen würde. Ich müsste Crack rekonfigurieren.« 123
»Und? Was meinst du?« »Ich meine, dass alles andere Scheiße ist, also gut, probieren wir’s.« Ich ging wieder, weil ich nicht zuschauen wollte, wie Nightmare seine schwarze Kunst ausübte. Nach einer Stunde kam ich zurück, und da saß er zurückgelehnt auf meinem Sessel, die Augen geschlossen, die Beine auf meinem Schreibtisch. Ich stieß sie von der Schreibtischplatte und weckte ihn dadurch. »Hast du’s?«, fragte ich. Er schnaubte spöttisch. »Seien Sie nicht albern. Aber ich habe jetzt ein italienisches Wörterbuch installiert. Und Zugriff auf einen hübschen Teil des Großrechners der TU. Ich müsste ein paar Stunden aus ihm rausholen können, bevor sie mich abschießen.« »Könntest du nicht in der Zwischenzeit irgendwas tun?« »Und was?« »Weiß ich nicht, irgendwas.« Ich zeigte auf den Computer. »Ist das die ganze Glamourwelt des Hackens? Stundenlang rumzusitzen, während der PC die Arbeit tut?« Nightmare grinste. »Holen Sie mir doch was zu essen.« »Hör mal, Kumpel, ich frage mich langsam, ob dir der Knast nicht gut getan hätte.« »Ein Portobello-Champignon-Sandwich von Cameli’s. Mit Dreierlei-Bohnen-Salat. Ich brauche Protein.« Er winkte mich zur Tür wie ein Hollywood-Mogul. Ich starrte ihn eine Weile an, bedachte die negativen Auswirkungen, die es hätte, wenn ich ihn jetzt am Genick packte und hinauswürfe, und marschierte zur Tür hinaus. Nightmare rief mich zurück. »He, Alter!« »Ja?« »Den Kräutersenf, ja? Nicht den französischen.« Blu war bereits zur Mittagspause; ich ging, ohne noch ein Wort zu verlieren. Ich fuhr los, um Nightmare sein Sandwich zu holen; der Verkehr war die reine Hölle, und es war schon halb zwei, als ich wieder ins Büro kam. Ich klatschte ihm die Tüte 124
mit dem Zeug auf meinen Schreibtisch und sagte: »Und?« Nightmare überhörte die Frage und wühlte in der Tüte. Er zog ein Sandwich heraus, hob eine Seite hoch und inspizierte den Senf. Dann führte er das Sandwich zufrieden zum Mund und biss hinein. »Fleischliche Nahrung ist out«, sagte er mit vollem Mund. »Die Getreidemenge, die nötig ist, um ein Rind …« »Ich bin nicht in der Stimmung für Tierschutzgelaber, Michael.« Nightmare zuckte die Achseln und zeigte auf den Bildschirm. »Sagt Ihnen das irgendwas?« Ich trat an den Computer und schaute es mir an. L’amore non prevale sempre strahlte mir vom Bildschirm entgegen. Ein Schwindel erfasste mich. »Das kann doch nicht wahr sein.« »Was ist es denn?« »Ein Satz aus einer Oper. Doug hat ihn öfter benutzt.« »Er ist auch das Passwort für diesen PC.« »Willst du damit sagen, dass du drin bist?« »Ich bin drin.« Nightmare wirbelte mit dem Sessel herum und drückte auf »Enter«. Ich hörte, wie die Festplatte anlief, und dann betraten wir die geheime Welt von Doug Townsend. Ich glaube, dass der Mensch von Natur aus einsam ist. In unserer Isolation gefangen, gehen wir durchs Privat- und Berufsleben. Ich weiß nicht, wie ich das, was in Dougs Computerdateien schlummerte, in den binären Zahlen und unendlich kleinen Stromimpulsen, die sein inneres Chaos ausdrückten, sonst erklären sollte. Denn hier war die gehetzte Seite seines Geistes katalogisiert, schillernd in ihrer Perversität, eigenwillig in ihrem exzentrischen Selbstausdruck. Im Cyberspace waren seiner Obsession für Michele keine zeitlichen oder physischen Grenzen gesetzt. In seinem Computer konnte sie üppige, irrwitzige Blüten treiben. Das Wesen von Dougs Beziehung zu Michele zu beschreiben tut mir weh, denn es zerstört das trügerische Sicherheitsgefühl, 125
durch das normales Leben erst möglich wird. Ich sage selbst, dass es trügerisch ist. Ich weiß, dass es das ist. Aber ich weiß auch, dass es lebenswichtig ist. Es ist genauso, wie man die Risiken des Fliegens ignoriert. Mathematisch besteht die Möglichkeit eines Absturzes. Aber es nützt gar nichts, darüber nachzudenken. So ist es eben im Leben. Wenn Sie wüssten, was für Gedanken bei lieben, netten Menschen in Ihrer Umgebung auftauchen, sobald die Tünche der Normalität von ihnen abblättert, würden Sie nie mehr aus dem Haus gehen. Ich hatte Stunden im Gespräch mit Doug verbracht, und er hatte Michele Sonnier nicht ein einziges Mal erwähnt. Viele dieser Stunden waren sehr angenehm verlaufen und hatten unsere Freundschaft vertieft. Als wir noch auf dem College waren, deutete absolut nichts bei ihm auf emotionale Labilität hin, außer dass er als Computerfreak seine sozialen Kontakte etwas schleifen ließ. Natürlich musste ich davon ausgehen, dass jede Form von Obsession einen Anfang hat. Aber hieß das auch, dass alles, was zwischen uns beiden abgelaufen war, eine Lüge war? Selbst unsere Gespräche über seine Computerfirma, die zum Teil erst zwei Wochen zurücklagen? Hatte er es sich vielleicht nur mit enormem Willensaufwand verkneifen können, ihren Namen auszusprechen, und deswegen in jeder Sekunde Qualen gelitten? Hatte er vielleicht, während er von seiner Kindheit in Kentucky erzählte, ständig das sehnliche Verlangen gehabt, von ihr zu sprechen? Oder war er gespalten gewesen, hatte sein Denken zweigleisig funktioniert, war vielleicht alles, was ich mitbekommen hatte, zwar real, aber nur ein Teil des Ganzen gewesen? Darauf gab es keine Antwort mehr; Doug war tot. Er war völlig in der vorgestellten Person Micheles aufgegangen und hatte exzentrische Kunstwerke geschaffen, hatte ihr Bild zu neuen Bildern zusammengesetzt und in unrealistische Dimensionen übertragen. Sollte ich mich an ihn erinnern wie auf den Computerbildern von sich selbst, in die er ihr Gesicht 126
montiert und so ein Monstrum kreiert hatte, halb Mann, halb Frau? Was sollte ich mit dem Bild einer Kirche anfangen, die er vollständig aus ihren Augen zusammengesetzt hatte? Nachdem ich Einlass in seinen Wahnsinn gefunden hatte, kam ich nicht umhin zuzugeben, dass meine Gedanken über Dougs Tod graue Theorien waren. Es kam ja alles darauf an, welche Seite seines Gehirns die Entscheidungen traf. Der Doug Townsend, den ich gekannt hatte, hätte sich nie selbst umgebracht. Der in dem Computer versteckte Doug Townsend hingegen war zu Dingen fähig, die ich mir nicht einmal vorstellen konnte. Allerdings wäre die neu aus dem Verborgenen aufgetauchte Version wohl kaum still ins Dunkel der Nacht entschwunden. Bestimmt hätte sich diese Energie vor einem selbst gewählten Ende Ausdrucksmöglichkeiten verschafft. Nightmare schüttelte sichtlich erschüttert den Kopf. »Das ist total kaputtes Zeug.« Ich nickte. »Ich weiß. Aber … Na ja, es ist nichts Ungesetzliches.« »Sie müssen’s ja wissen.« »Deshalb also all die Sicherheitsmaßnahmen?«, fragte ich. Nightmare blickte erstaunt auf. »Nein doch, Mann. Hierfür waren die Sicherungen.« Er beugte sich über die Tastatur; nach ein paar Sekunden erschien das Logo »Grayton Technical Laboratories«, gefolgt von einer langen, mir unverständlichen Liste. Ich starrte eine Weile auf den Bildschirm. Ich hatte etwas über Micheles Tochter erwartet, nicht dies. »Grayton Technical Laboratories?«, sagte ich. »Da ist er eingedrungen?« »So könnte man es nennen.« »Wie würdest du es denn nennen?« »Ich würde es eine totale Obsession nennen.« »Wieso?« Nightmare tippte auf ein paar Tasten. »Weil das, grob 127
geschätzt, mindestens ein Terabite Infos sind.« »Du meinst, er hat jede Menge Informationen gesammelt?« »Ich meine, dass in der Firma keine Fliege scheißen konnte, ohne dass er es mitbekommen hätte.« Nightmare drückte sich vom Schreibtisch weg. »Hacken ist eine Sache, Alter. Da geht’s ums Reinkommen. Du schaust dich um, bringst ein bisschen Unordnung in ihre Köpfe. Aber das hier … Er hat die ganze Firma im Visier gehabt.« »Irgendwie zwanghaft-obsessiv?« »Ja, der größte Zwanghaft-Obsessive der Welt war auch ein super Hacker. Allerdings nicht so gut wie ich.« Nightmare rollte wieder näher und starrte auf den Bildschirm. »Mensch, Alter, ist das schön. Wenn man bedenkt, dass er ein Freak war!« »Was?« »Bewundernswerte Arbeit.« Er zeigte auf den Bildschirm. »Genau hiermit hat Killah direkten Zugriff wie ein Betriebsangehöriger. Das ist der Schlüssel, denn dadurch kann er mit dem Hintergrund verschmelzen, und alle senken die Waffen. Von da an ist es nur noch eine Frage der Eskalation.« »Drück dich mal verständlich aus.« Nightmare hatte etwas Ehrfürchtiges im Blick. »Killah besaß den heiligen Gral, Mann. Ich spreche von den Rechten des Systemadministrators. Wer diese Rechte hat, kann alles. Dann kann er sogar anderer Leute Passwort ändern. Er kann einen verdeckten Zugang einrichten, um jederzeit sofort Zugriff zu haben. Oder meinen persönlichen Favoriten installieren, einen Eingabelogger. Du verbirgst dich in irgendeinem Terminal des Systems und kannst dann jedes Zeichen ausdrucken, das jemand eingibt. Du bist der Weltherrscher.« »Und das konnte Doug?« Nightmare nickte. »Er hatte diese Firma im Griff. Er hätte sie vernichten können. Er hätte sie einschmelzen, hätte den firmeneigenen Administrator aussperren können, einfach aus 128
Gemeinheit. Der hätte nur noch zuschauen können, wie auf der Titanic.« Er lachte leise und sagte mit verhaltener Stimme: »Du Freak!« Es warf mich um; ich hatte zumindest ein paar Informationen über Micheles Tochter erwartet. Stattdessen erfuhr ich, dass Doug massiv in einen Konzern eingedrungen war, von dem ich noch nie etwas gehört hatte. »Was sind denn die Grayton Technical Laboratories?« »Keine Ahnung.« »Können wir uns das mal ansehen?« Nightmare nickte, dann betätigte er die Tasten, und wir machten eine geführte Besichtigungstour des Unternehmens. Aus den Seiten, die der Öffentlichkeit zugänglich waren, ging hervor, dass der Schwerpunkt der Firma die medizinische Forschung war; einige Web-Seiten klärten über Behandlungsmöglichkeiten mit Medikamenten auf, die die Firma gerade entwickelte. Aber schon nach wenigen Minuten flimmerten nur noch Buchstaben und Zahlen über den Bildschirm, die für uns keinen Sinn mehr ergaben. »Wie weit können wir gehen?«, fragte ich. »Wir haben die Rechte des Systemadministrators, Mann. Wir können überallhin, aber das heißt nicht, dass wir auch verstehen, was wir sehen. Was immer es ist, Killah wollte unbedingt da rein. Er hatte Zugriff auf alles.« »Wir wissen bereits, dass er unter einem Zwang stand. Vielleicht war das hier nur ein Ventil für seine Art von Besessenheit.« »Es ist eine Besessenheit, das ist so sicher wie die Hölle.« Ich starrte auf den Bildschirm. »Hör mal«, sagte ich, »Typen wie du –« »Hacker?« »Ja. Ich nehme mal an, dass es Leute gibt … die euch anzuheuern versuchen, damit ihr bestimmte Dinge macht, oder? Dinge, von denen niemand sonst etwas wissen darf?« Nightmare lächelte verhalten. »Meinen Sie, so wie Sie?« 129
»Ich meine Geschäftsleute. Manager.« »Ein boomender Wirtschaftszweig, wenn man mitmacht.« »Und Killah war gut.« »Sehr, sehr gut.« »Dann wäre es doch möglich, dass Doug für irgendjemanden arbeitete. Schwarz.« Ich sah Nightmare an. »Mit anderen Worten: innerhalb der neuen Wirtschaftsordnung.« »Yeah, das ist sicher ’ne Möglichkeit. Ein solcher Job kann ’ne Menge Geld bringen.« »Genügend Geld, um Flugtickets überallhin zu bezahlen und Michele Sonnier zu sehen.« Verständnis zeigte sich auf Nightmares Zügen. »Das ist es, Alter. Das passt.« Ich schaute wieder auf den Bildschirm. Also etwas rein Geschäftliches. Davon hat er seine Rechnungen bezahlt. Das Hilfsangebot an Michele kam erst später. »Okay. Wenn Doug für jemanden gearbeitet hat, sind die Fragen ziemlich klar. Wir müssen herausfinden, wer ihn bezahlt hat und warum der Betreffende so sehr an den Grayton-Labors interessiert war.« »Wer immer es war, ein Spaß war es nicht. Es war todernstes Hacken.« Nightmare saß einen Moment still, dann hörte ich ihn auf einmal japsen. Ich sah ihn an: Er war noch bleicher als sonst, falls das überhaupt möglich war. »Killah hat ihnen nachspioniert.« »Richtig.« »Und jetzt ist er tot.« Wir waren beide still, starrten auf die Worte Grayton Technical Laboratories, die auf dem Bildschirm prangten. Ich versuchte, mir etwas einfallen zu lassen, womit ich den schlotternden Nightmare beruhigen konnte, aber es war zu spät; er war bereits völlig ausgerastet. »Nichts wie raus aus dieser Website, Alter«, sagte er. »Nur keine Panik, Michael.« »Keine Panik? Killah ist tot.« »Das stimmt. Und deshalb ist das, was wir machen, immens 130
wichtig.« »Haben Sie sie noch alle? Ich werde diese Verbindung sofort kappen.« Nightmare wollte die Hände auf die Tastatur legen, aber ich packte ihn am Handgelenk. »Jetzt hör mal«, sagte ich, »ich möchte rauskriegen, worum es hier geht. Und dabei brauche ich deine Hilfe.« »Sie haben nicht genug Kohle, um mich dazu zu bringen.« Nightmare, du Feigling. »Ich habe kein Geld, Michael. Ich will aber trotzdem, dass du mir hilfst.« Nightmare rang nach Luft, seine eingefallene Brust hob und senkte sich unter dem T-Shirt. Er sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. »Das, was ich dir jetzt sagen werde, wird dich bestimmt anöden«, sagte ich leise, »aber es ist für einen guten Zweck.« »Spucken Sie’s aus, denn je eher Sie fertig sind, umso eher kann ich hier weg.« Ich drehte ihn auf seinem Stuhl zu mir um und sah ihn drohend an. »Du bist ein begabter Junge, Michael. Intelligent, erfindungsreich und auf deine ureigene freakige Art ehrgeizig. Ich will dir aber mal die ungeschminkte Wahrheit sagen. Du hast bisher verdammt wenig daraus gemacht.« Nightmare wollte aufstehen, aber ich drückte ihn wieder auf den Stuhl zurück. »Hör mir gut zu, Michael. In ein paar Websites einzubrechen, um dich vor deinen Kumpels irgendwo an einem geheimen Ort, wo ihr euch nicht mal bei eurem richtigen Namen nennt, damit brüsten zu können – das ist doch Pipikram.« »Für Sie vielleicht.« »Um bei deinem Jargon zu bleiben, Michael: Du und deine Hackergemeinde, ihr verbringt den lieben langen Tag damit, euch selbst einen runterzuholen. Ich biete dir die Chance, endlich mal eine richtige Nummer zu schieben.« »Und das heißt?« »Das heißt, dass du jetzt wirklich etwas machen kannst, statt immer nur so zu tun, als ob. Du bist gut darin, Michael.« 131
»Nicht gut. Spitze.« »Na schön. Du bist spitze. Aber dein bisheriges Leben hat dir keinen Erfolg beschert. Himmel nochmal, ich musste dich wegen eines Ladendiebstahls loseisen.« Nightmare senkte den Blick; er war wütend, aber zum ersten Mal konnte seine gespielte Schnodderigkeit nicht verbergen, dass er peinlich berührt war. »Gib deinem Leben einen Sinn, Michael. Mach etwas daraus.« Ich schüttelte resignierend den Kopf. »Oder vertue es weiterhin. Warum auch nicht? So hast du es ja bisher immer gehalten.« Michael sah mich misstrauisch an, aber er hatte augenscheinlich noch immer Angst. »Ihnen zu helfen macht also einen guten Jungen aus mir.« »Allerdings, Michael. Und Doug zu helfen. Beides zusammen macht einen guten Jungen aus dir.« »Killah braucht keinen Beistand mehr. Da kommt jede Hilfe zu spät.« »Was mit Doug passiert ist, hat etwas mit dem zu tun, was da auf dem Bildschirm ist. Was hast du denn gedacht, was wir hier vorhatten? Dass wir aus lauter Neugier in Dougs Privatleben herumschnüffeln?« »Ihre Gründe haben mich nicht interessiert, Mann. Ich war Ihnen etwas schuldig, und jetzt sind wir quitt.« »Komm aus deiner Höhle heraus, Michael. Mach etwas Sinnvolles. Sei mein Partner.« Stille, während Nightmares Hirn arbeitete. Ich konnte sehen, wie er trotz seiner Angst die Möglichkeiten abwog. »Sei ein Mann, Michael. Sei ein Mann statt eines Schattens.« Eine Zeit lang blieb es still zwischen uns. Doch irgendwann klickte es bei Nightmare. Vielleicht fürchtete er, nie ins Sonnenlicht zu kommen, wenn er diese Chance vergab. Vielleicht sah er sich selbst mit vierzig, bleich und auf dem besten Wege, vor einem flimmernden Computerbildschirm langsam verrückt zu werden. Ich weiß nur, dass er, nachdem 132
einige Minuten verstrichen waren, schließlich sagte: »Okay, werden wir Partner. Wie im Film. Wie Jackie Chan und der Schwarze.« Ich atmete auf, und eine Woge der Erleichterung durchlief mich. »Eher wie Abbott und Costello«, sagte ich leise. »Wer ist das denn?« Ich sah ihn an. »Ein paar Tote.«
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10 Das Profane ist es, das Film und Leben unterscheidet. Michael ging gegen zwei, eigentlich nur, weil ich Papierkram für Richter Odom zu erledigen hatte, der nicht warten konnte. Wenn ich die Formulare nicht ausfüllte, wurde ich nicht bezahlt. Danach hatte ich einen Termin mit einem 47 Jahre alten Wiederholungstäter, dem Beweis dafür, dass sich Drogenmissbrauch nicht nur auf Jugendliche beschränkt. Der Mann kam in mein Büro geschwankt und sah wie volle siebzig aus, aber sein Hunger auf chemische Zerstörung war offensichtlich noch immer nicht gestillt. Seinen Fall anzunehmen war mein Beitrag dazu, das amerikanische Rechtssystem, diese Drehtür, in Schwung zu halten. Es war schon nach drei, als ich Michele endlich anrufen konnte. Sie war sofort am Apparat. »Jack«, sagte ich. »Können Sie frei reden?« »Ja«, erwiderte sie. Sie klang besser als bei unserem nächtlichen Abschied, fast wieder normal. »Ich bin im Auto unterwegs.« »Gut. Ich wollte Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Wir können uns jetzt unterhalten oder –« »Haben Sie etwas herausgefunden?«, fragte sie voller Spannung. »Ich bin in Dougs Computer reingekommen«, sagte ich. »Aber ich habe nichts gefunden über … worüber wir gesprochen hatten. Noch nicht.« Die Enttäuschung war unüberhörbar. »Was haben Sie denn gefunden?« Bilder von Dougs Obsession blitzten vor meinem inneren Auge auf. Die würde ich jedoch für mich behalten, und sei es nur, um Dougs Privatsphäre zu schützen, da er es selbst nicht mehr konnte. Aber Grayton war etwas anderes. »Eine ganze 134
Menge«, sagte ich. »Wir müssen uns unterhalten.« »Ich bin auf dem Weg zu einer Probe.« Ich hörte den Verkehrslärm im Hintergrund. »Jetzt im Augenblick passt es nicht so gut.« »Vielleicht könnten wir uns danach treffen.« »Nein«, sagte sie bestimmt. »Treffen wir uns gegen fünf im Probensaal. Bis dahin müsste ich fertig sein.« »Ist es privat genug?« »Außer meinem Begleiter ist niemand dabei. Kennen Sie den Emory-Campus?« »Wie meine Westentasche.« »Gut. Auch die kleine Kirche in der Nähe des CallawayZentrums?« »Klar.« »Dort finden Sie ein Schild mit der Aufschrift ›Zutritt verboten‹. Kommen Sie einfach rein.« »Wunderbar.« Es war noch zu früh, um gleich zur Emory-Uni zu fahren, deshalb nutzte ich die Zeit für die kurze Fahrt vom Büro zu meiner Wohnung. Ich schaltete die Nachrichten ein, es war das übliche gesammelte menschliche Elend, und schaltete wieder ab. Ich dachte eine Weile über Michele nach und merkte, wie ich meine Abwehr in Stellung brachte. Es gibt Frauen, die ziehen, bewusst oder unbewusst, Tragödien an, und die gleiche Anziehungskraft kann auch auf einen Mann einwirken, sodass er an ihr kleben bleibt wie Eisen an Eisen. Das, rief ich mir in Erinnerung, brauchte ich nicht. Was ich brauchte, waren Informationen, und im Gegenzug für diesen Dienst war ich bereit, ihr zu helfen. Wenn dadurch Mutter und Tochter vereint wurden, umso besser. Anders als ihr Mann hatte ich genügend Zeit unter den Verdammten der Unterschicht zugebracht, um Verständnis für das zu haben, was geschehen war, und ich bewunderte die Entschlossenheit, mit der sie etwas wiedergutmachen wollte, auch wenn es sie teuer zu stehen 135
kommen konnte. Aber ich wollte mich weiterhin auf Doug konzentrieren. Ich fuhr zeitig zum Probensaal, weil ich es leid war, in meiner Wohnung auf und ab zu gehen. Ich parkte und ging zur Eingangstür. Ich stieß sie auf, schlüpfte ins Dunkel dahinter und war der Macht einer vollkommen ausgebildeten Stimme ausgeliefert, die gerade mitten im Gesang war. Es waren nur etwa hundert Sitzplätze da, und ich war keine zehn Meter von der Bühne entfernt. Sie trug Straßenkleidung, schwarze Hosen, ein blutrotes Top und wenig Make-up. Ihr Haar hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden. Ihre Stimme erfüllte den kleinen Saal und brachte mit ihrer Kraft die Luft zum Vibrieren. Was sie leistete, war absolut erstaunlich. Ein kleiner Mann mittleren Alters mit schütterem Haar saß gebeugt am Klavier und begleitete sie, aber das war belanglos. Mühelos und mit anmutiger Leichtigkeit setzte Michele mit ihrer Stimme die Gesetze der Physik außer Kraft. Es war nichts Mühevolles oder Grelles in ihrer Stimme zu hören, nur perlender Gesang von einer Kraft, die man nur jemandem zugetraut hätte, der dreimal so groß war wie sie. Ich ließ mich im Dunkeln auf einem Sitz nieder und lauschte. In ihrer Stimme lag so etwas wie Lebenshunger, eine fast körperliche Verzweiflung. Ich hatte sie als Romeo gesehen – in herzzerreißender Verzweiflung, voll unerschütterlicher Treue zu sich selbst. Mir fiel wieder ein, was sie gesagt hatte: Ich singe, um mein Leben zu rechtfertigen. Ich singe, damit Gott mich nicht in die Hölle verdammt. Diese Sätze, damals noch blutleer und rätselhaft, wurden jetzt vor meinen Augen lebendig. Woher ihre Größe kam, war keine Frage mehr. Warum war es unmöglich, die Augen von ihr abzuwenden, wenn sie sang? Weil in jedem Ton ihre unbeschreibliche, aber höchst reale Trauer lag. Sie litt Folterqualen und verwandelte ihren Schmerz in etwas Auserlesenes. Sie sang etwa zwanzig Minuten lang; ab und zu unterbrach sie, 136
sagte etwas zu dem Mann, der sie begleitete, und begann wieder von neuem. Ich sah, dass sie ins Dunkel spähte, ob sie mich entdecken konnte, deshalb stand ich während einer kleinen Pause auf. Sie kniff die Augen zusammen und lächelte, als sie mein Gesicht im Dämmerlicht erspähte. Dieses Lächeln, eingebettet in die tiefe Trauer ihres Gesangs, war so zerbrechlich wie Porzellan. Ich hatte erwartet, dass sie ihre Probe beenden würde, sobald sie mich sah, aber sie hielt nur kurz inne, drehte sich um und flüsterte ihrem Begleiter etwas zu. Er sah sie irritiert an und wühlte in seinen Noten. Sie trat langsam in die Mitte der Bühne und blieb dort mit geschlossenen Augen regungslos stehen, eine Statue aus Ebenholz. Nach einigen Sekunden hob sie ganz langsam den Kopf. Der Pianist begann zu spielen. Was kann ein Junge aus Dothan über solche Musik schon sagen? Ich bin mit Platten meines Vaters von Buck Owens und Waylon aufgewachsen und habe meine erste Freundin bei einer abgenudelten Kassette von Guy Clark geküsst. Das war Musik, die alles Trennende zwischen einem Menschen und seinem Herzeleid niederreißen konnte. Ich habe nicht mehr viel übrig für das, was heutzutage aus Nashville kommt, weil es kein Herz mehr hat. Aber als ich damals Michele singen hörte, wurde mir klar, dass Herzweh überall gleich aussieht und der Stil nur Augenwischerei ist. Reich oder arm, weiß oder schwarz, das alles spielt keine Rolle. Ob es himmlische Opernweisen sind oder die heiseren Gigs einer Barsängerin, das Herzeleid ist immer das Gleiche. Es ist eine allen Menschen gemeinsame Erfahrung, und wenn wir sie in musikalischer Form wiedererleben, sind wir tief betroffen. Ich stand da und lauschte, und ich wusste, dass eine der größten Sängerinnen der Welt für mich allein sang, und ich will nicht so tun, als wäre ich immun dagegen gewesen. Ich habe keinen Zweifel, dass manch einer sogar freiwillig solche Albträume auf sich nehmen würde wie 137
sie, nur um in den Besitz einer solchen Macht zu kommen, wie Michele sie in jenem Augenblick ausstrahlte. Wenn wahre Kunst aus Schmerz entsteht, dann entsprang ihre Kunst einer verwundeten, blutenden Seele. Die vielen aufeinander folgenden Konsonanten, die sie sang, konnten nur Russisch sein, ich verstand also nichts. Aber das spielte keine Rolle. Die Musik wechselte von großen, melodischen Partien zu zarten, seelenvollen Melodien. Ich stand im Dunkeln, und ihre Stimme brauste über mich hin. Als sie geendet hatte, blickte sie zu Boden, als fühlte sie sich schutzlos und suchte nach Halt. Dann küsste sie ihren Begleiter auf die Wange und bückte sich, um ein paar Taschen aufzuheben. Sie ging langsam die Stufen auf der linken Bühnenseite hinunter. Ich trat von meinem Sitz in den Gang und schob mich durch eine weitere Sitzreihe, um sie zu treffen. Als nur noch eine einzige Reihe zwischen uns lag, beugte sie sich zu mir und küsste mich nach europäischer Art auf beide Wangen. »Ist es Ihnen recht, wenn wir uns zu unserem Gespräch in meinen Wagen setzen?«, fragte sie. »Da sind wir ungestört.« Sie griff in eine ihrer Taschen, holte eine Brille mit dünnem Metallgestell und hellgrünen Gläsern hervor und setzte sie auf. Sie roch nach dem gleichen Zitrusduft wie im Four Seasons. Ich nickte, und wir gingen auf die hintere Saaltür zu. »Das letzte Lied, das Sie gesungen haben – was war das?« Sie lächelte. »Ich habe es Ihnen zu Gefallen gesungen.« »Und warum?« »Weil Sie denken, die Oper sei nur schwerverdauliches, melodramatisches Zeug für Reiche, und damit liegen Sie falsch.« Ich öffnete die Hintertür des kleinen Saals, und wir traten in den Vorraum. »Niemand, der Sie singen hört, denkt so etwas.« Sie lächelte wieder, und ich merkte, dass sie sich freute. »Der Text ist von Puschkin«, sagte sie. »Kennen Sie Puschkin?« 138
»Nicht persönlich.« »Du meine Güte, er ist –« »Ja, ich weiß. Der Schutzpatron russischer Seelenqual. Worum ging es denn?« Sie blieb stehen und sammelte sich kurz, bevor sie antwortete. »Eine Frau ist zwischen zwei Liebhabern hin und her gerissen«, sagte sie. »Den einen liebt sie leidenschaftlich, aber er ist arm, und seine Lage ist hoffnungslos. Er hat nichts.« Ich nickte. »Und der andere?« »Das ist ein reicher Mann mit viel Macht. Er hat alles, was sie sich nur wünschen kann. Aber ihn liebt sie nicht, jedenfalls nicht so wie den anderen.« »Lassen Sie mich raten. Der Reiche ist ein übler Bursche und der Arme herzensgut.« Sie schüttelte den Kopf und ging weiter. »Es ist Puschkin, keine Fernsehserie. Krasoju, znatnostju, bogatstwom, dostoinomu podrugi, ni takoi kak ja.« »Und das heißt?« »Frei übersetzt: Das Leben ist erheblich komplizierter, als uns lieb ist.« »Da stimme ich zu.« »Sie hält sich für unwürdig, die Frau eines so schönen, reichen und vornehmen Herrn zu werden«, sagte sie. »Deshalb fühlt sie sich zu dem Armen hingezogen. Es ist die Angst, in eine höhere Klasse einzuheiraten und den Ansprüchen nicht zu genügen. Das hat etwas von einem Psychodrama.« Wir erreichten den Ausgang und traten auf die Straße. »Und was geschieht dann?« »Sie beschließt, dem Armen zu vertrauen. Für ihn setzt sie alles aufs Spiel.« Sie ging ein paar Schritte, blieb stehen und wandte sich zu mir. »Der Arme jedoch begeht einen Treuebruch an ihr. Er verrät sie, um ein Kartenspiel zu gewinnen.« »Das gibt’s doch nicht.« »So viel zu Ihren Klischees.« 139
»Aber jetzt kommt der vornehme Herr angeritten und rettet die Situation, stimmt’s? Es gibt ein Happy End.« »Sie wirft sich in den Winterkanal. Ende.« Sie lächelte traurig. »Es heißt Pikovaja Dama. Pikdame – oder schwarze Dame.« Sie hielt meinen Blick sekundenlang gefesselt – gerade so lange, dass mir die Ironie des Titels aufging –, dann drehte sie sich auf dem Absatz herum, ließ mich stehen und ging auf dem Bürgersteig zu ihrem Wagen hinüber. Ich schaute ihr nach, bewunderte den sanften Schwung ihrer Hüften. Schließlich folgte ich ihr, und als ich bei ihrem Lexus ankam, entriegelte sie die Türen. Wir stiegen ein, und sie ließ den Motor im Leerlauf summen. »Dann erzählen Sie mal, was Sie herausgefunden haben«, sagte sie. Dass unser Freund Doug Townsend innerlich zerbrochen war und dass diese Gebrochenheit sich in eine grenzenlose, krankhafte Bewunderung für Sie verkehrte. »Lassen Sie mich zuerst eine Frage an Sie richten«, sagte ich. »Glauben Sie, dass Doug dazu fähig war, Sie zu lieben? Dass es mehr als nur eine Besessenheit war?« Sie starrte durch die Windschutzscheibe. »Wer weiß? Turandot, Tosca, Romeo, sie alle waren besessen. Und doch nennen wir sie die großen Liebenden dieser Welt. Ich lebe in einer Welt von Besessenen.« »Das sind aber Romanfiguren«, sagte ich. »Sie sind nicht real.« »Für Doug waren sie’s«, sagte sie. »Er lebte in diesen Welten. Vielleicht war er schon so kaputt, dass ihm sein Leben wie ein Bühnenstück vorkam.« »Dann sagen Sie mir eines: Würde eine von diesen Figuren einfach hingehen und sich in aller Stille umbringen, ohne jemandem gegenüber eine Andeutung zu machen?« Sie sah mich an. »Wie meinen Sie das?« »Sie haben gesagt, Doug habe in einer Art Opernwelt gelebt. 140
Aber wenn ich mich umbringen will, sorge ich doch hundertprozentig dafür, dass die Frau, die ich liebe, es erfährt.« »Die Frau, die Sie lieben?« »Sie, Michele. Doug hat Sie geliebt. Das müssten Sie eigentlich bemerkt haben. Ein Mann fliegt nicht kreuz und quer durch ganz Amerika hinter einer Frau her, wenn er sie nicht liebt.« Sie wandte den Blick ab. »Vielleicht denken Sie, er habe sich umgebracht, weil er Sie nie haben konnte, jedenfalls nicht so, wie er es ersehnte.« Als sie jetzt sprach, war ihre Stimme sehr leise. »Das kann schon sein.« »Keine Sorge«, sagte ich, »so war es nicht.« Ihr dankbares Gesicht sagte mir, dass ich einen wunden Punkt bei ihr getroffen hatte. »Ein Mann bringt sich nicht um, ohne es der Geliebten zu sagen. Es ist zu pathetisch. Er will ja, dass die Frau seine Qual bis in die Zehenspitzen nachempfinden kann.« »Falls es das war, was ihm vorschwebte, ist sein Wunsch in Erfüllung gegangen.« »Jetzt werden Sie theatralisch«, sagte ich sanft. Ich wollte sie nicht verletzten, aber ich hatte schon genug echtes Leid in meinem Leben gesehen, um zu wissen, dass ihre Gefühle nicht in diese Kategorie gehörten. Es ging ihr nahe, aber es ging bei weitem nicht so tief wie bei ihrer Tochter. Sie wollte etwas erwidern, beherrschte sich aber. »Na schön«, sagte sie, »wahrscheinlich haben Sie Recht. Es ist besser so als anders.« »Gut.« »Und was jetzt?« »Haben Sie je von einer Firma namens Grayton Technical Laboratories gehört?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« Ich verbarg meine Enttäuschung. »Dann beantworten Sie mir bitte eine Frage«, sagte ich. »Haben Sie Doug für seine Dienste bezahlt?« 141
»Er wollte nichts annehmen. Nicht einen Cent.« »Dann haben wir wohl einen Treffer gelandet.« »Wieso?« »Doug hat jede Menge Geld verdient mit Informationen über diese Grayton-Laboratorien. Ich nehme an, dass ein Konkurrent ihn angeworben hat, sie auszuspionieren. Das war illegal, folglich wurde es gut bezahlt.« »Spioniert? Doug?« »Unser Bild von Doug als einem armen, lebensuntauglichen Kerl stimmt offenbar nicht ganz«, sagte ich. »Er war nicht bloß gut am Computer, er hatte in Hackerkreisen einen Wahnsinnsruf.« Sie war offensichtlich schockiert. »Ich dachte, er sei Amateur gewesen wie all die Kids, die die ganze Nacht aufbleiben und sich E-Mails schreiben.« »Die Kids, wie Sie sie nennen, können eine Menge Schaden anrichten. Doug war außergewöhnlich begabt. Und nach meinen Erfahrungen wächst Talent, wenn es belohnt wird, und zwar sowohl im Normalleben wie im Untergrund. Seine Fähigkeiten wären an der richtigen Stelle ein Vermögen wert gewesen.« »Wie haben Sie all das herausbekommen?« »Durch einen Bekannten«, sagte ich. »Einen aus den erwähnten Kreisen. Er behauptet, dass Doug dort sehr bekannt war.« Ich machte eine Pause. »Was ich noch sagen wollte: Es wäre eigentlich nicht zu weit hergeholt, sich Ihren Mann als möglichen Auftraggeber vorzustellen. Horizn ist im gleichen Geschäft.« Sie sah mich betroffen an. »Charles? Er hat keine Ahnung von Doug.« »Sind Sie sicher?« »So sicher, wie ich nur sein kann. Doug hätte es mir auch weitererzählt, wenn Charles an ihn herangetreten wäre.« Sie seufzte und wirkte plötzlich sehr müde. »Ich muss morgen verreisen«, sagte sie. »Deshalb die Probe. Nach St. Louis.« 142
»Für länger?« »Nein. Ein kurzer Trip. Ganz bescheiden und nur ein Auftritt. Wir spielen La Bohème.« »Eine Oper – und das ganz bescheiden?« Sie lächelte. »Es ist ein Festival. Die Leute erscheinen nicht in Gala wie im Fox. Kein Smoking. Sie kommen in Shorts. Es ist eine abgespeckte Inszenierung, und hinter der Bühne laufen alle durcheinander.« Ihre Miene hellte sich plötzlich auf. »Kommen Sie doch mit«, sagte sie. »Ich fliege allein, und das mag ich gar nicht.« »Das ist nicht Ihr Ernst, oder?« »Doch, natürlich. Es sind ein paar Stunden hin und genauso viele wieder zurück. Kommen Sie mit?« Nein, und das aus den verschiedensten Gründen. »Ich bin kein guter Last-Minute-Ticketkäufer«, sagte ich. »Tut mir Leid.« »Seien Sie nicht albern. Ich fliege mit dem Horizn-Jet.« »Heiliger Himmel.« »Wir könnten über Doug reden.« »Über Doug.« »Ja. Wir könnten … Freunde werden.« Sie verstummte. »Ich brauche das jetzt sehr, Jack. Sie können sich nicht vorstellen, wie wohl es tut, mit jemandem über alles reden zu können. Wie frische Luft.« Ich wandte die Augen ab, nur um meinen Blick auf irgendetwas anderes zu richten als auf ihre wunderbare karamellfarbene Haut. »Ich weiß nicht recht, ob das eine so gute Idee ist«, sagte ich. »Kommen Sie mit, Jack. Ich singe etwas so Schönes, dass Ihnen das Herz brechen wird.« »Das ist das Letzte, was ich gebrauchen kann.« Kaum hatte ich das gesagt, wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Gott, steh mir bei, jetzt wird sie alles wissen wollen. Sie wird nicht eher ruhen, als bis sie weiß, was mir geschehen ist, und dass es an meinem Schmerz und meinen Schuldgefühlen Violeta 143
Ramirez gegenüber liegt, dass ich sie so gut verstehen kann. »Ich wusste doch, dass es da etwas gibt«, sagte sie. Sie schaute mir direkt in die Augen, und ich bereitete mich schon auf einen Angriff auf meine Intimsphäre vor. Aber zu meiner Überraschung ließ sie mich ungeschoren. »Es tut nichts zur Sache«, sagte sie leise. »Im Grunde läuft es immer auf das Gleiche hinaus.« Ich hob den Kopf und schaute sie an. »Und das wäre?« »L’amore non prevale sempre. Die Liebe siegt nicht immer.« Sie lächelte sanft, und ihre Lippen glänzten warm. »Überlegen Sie es sich bis morgen«, sagte sie. »Ich wünschte, Sie würden mitkommen. Wir könnten … Freunde sein.« Der gnadenlose Feierabendverkehr in Atlanta hatte sich gegen jede Art von Bewegung verschworen, und so hatte es vorerst keinen Zweck, nach Hause zu fahren. Im Umkreis der Universität sind viele preiswerte, recht ordentliche Restaurants zu finden; ich steuerte eines an zwecks eines frühen Abendessens. Ich hatte mich gerade drei Gabeln tief in etwas Billiges, das man getrost vergessen konnte, hineingearbeitet, als mein Handy klingelte; es war Sammy, der mir sagte, Odom habe ihn heute etwas früher gehen lassen und ob ich mich nicht im Rectory mit ihm treffen wolle. Dank seiner früheren Anstellung dort hat Sammy ein sehr erträgliches Arrangement mit dem derzeitigen Barmann getroffen, der ihm immer Chivas Regal zum Preis von Seagram’s einschenkt. Wenn man genügend trinkt, addieren sich solche freundlichen Gesten. Bis ich mein Essen verzehrt hatte und hingefahren war, hatte er bereits mehrere privilegierte Gläser Vorsprung. Für Sammy war der Abend perfekt, wenn sein Kreditkartenlimit und seine Trinkfreudigkeit in einer perfekten x-y-Achse konvergierten. Es war noch früh, aber bei dem Tempo, das er vorlegte, würde der Abend alle Träume eines Mathelehrers erfüllen. »Er hat sie ins Nikolia mitgenommen«, sagte er, bevor ich 144
mich setzen konnte. »Wer hat wen mitgenommen?«, fragte ich und zog mir einen Stuhl an den Tisch. »Er«, zischte Sammy. »Ins Nikolia.« »Das auf dem Dach vom Hilton?« »Himmelherrgott, Jack, es gibt nur ein Nikolia. Und er hat sie dahin ausgeführt.« Jetzt dämmerte es mir; Sammy sprach von Blu. »Verdammt, Sammy, woher weißt du das?« »Ein Typ war mir einen Gefallen schuldig«, erwiderte Sammy. »Es fällt in seine Sparte.« »Geh bloß nicht zu weit, Sammy.« Sammy starrte in sein Glas. »Die erste Regel bei einem Rachefeldzug lautet, sich ein genaues Bild vom Feind zu machen.« »Das weiß ich, aber den Kerl beschatten zu lassen …« Ich verstummte und fragte mich erneut, ob es richtig gewesen war, Sammy über Stephens’ Absichten im Hinblick auf Blu aufzuklären. »Hör mal, Sammy, das Nikolia ist doch sehr belebt«, sagte ich. »Vielleicht fliegt er auf. Jemand sieht ihn und sagt es seiner festen Freundin.« »Nein«, sagte Sammy kopfschüttelnd. »Ich habe mich umgehört. Er hatte ein kleines Chambre séparée. Nikolia scheint ein Kumpel von ihm zu sein oder so was.« »Sammy, der Typ ist doch nicht verheiratet. Rein formal ist er also noch zu haben.« »Ja. Rein formal wird er auch einen ganz schönen Tritt in den Hintern kriegen.« »Sammy, ich flehe dich an, werd bloß nicht psychopathisch! Halte es in vernünftigen Grenzen!« Sammy sah mich mit trüben Augen an. »Jack, alter Freund, weißt du, was das Ärgerliche an dir ist?« »Ich nehme an, dass da eine ganze Menge zusammenkommt. Du kannst bei A anfangen.« Ich fing einen Blick der Kellnerin 145
auf und bestellte einen Scotch. »Falsch«, sagte Sammy. »Ärgerlich ist nur eines bei dir. Du … wie heißt es noch? Du wirfst deine Perlen vor die Säue.« »Was du nicht sagst.« Sammy knallte sein leeres Glas auf den Tisch. Er versuchte vergeblich, Blickkontakt zu der Kellnerin aufzunehmen, um nachzubestellen, und wandte sich wieder zu mir. »Schau dich doch an, Jackie-Boy. Du bist ein Genie und hängst trotzdem den ganzen Tag in Odoms Gerichtssaal herum.« »Das bezahlt die Rechnungen«, sagte ich. »Ich bin jeden Tag dort und beobachte dich, und ich frage mich, was das für ein Kerl ist, der redet, dass es Millionen wert ist, der aussieht, als wäre er Millionen schwer, und der mehr über Strafverfahren weiß als jeder andere, den ich je erlebt habe … Mein Gott, Jack, das ist doch Scheiße. Du gewinnst neunzig Prozent deiner Fälle.« »Bei über der Hälfte der Angeklagten kann ich auf mildernde Umstände plädieren, Sammy«, sagte ich ruhig. Großartig. Jetzt hält Sammy mir die gleiche Standpauke, die ich Nightmare gehalten habe. Toll. »Ja, schon, aber sie sind alle schuldig.« »Sie sind nicht alle schuldig, Sammy.« »Sie sind alle durch die Bank schuldig, und du weißt das.« »Na gut. Die meisten sind schuldig.« »Und du kriegst sie frei, du Mistkerl von einem genialen Mistkerl.« Sammy sah mich mit leerem Blick an. Er war inzwischen ein paar Gläser über sprachliche Feinheiten hinaus. »Was ist los, ist heute der Tag, an dem Jack Hammond schikaniert wird? Ich habe wahrhaftig schon genug am Hals.« »Ich will damit ja nur sagen«, sagte Sammy und bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen, »dass ich im Vergleich zu dir ein Schwachkopf bin.« »Ach, Sammy–« »Nein«, unterbrach er mich, »ich bin ein Schwachkopf. Aber 146
trotz meiner verflucht begrenzten Fähigkeiten werde ich so schön an Stephens Rache nehmen, dass es einen erwachsenen Mann zum Weinen bringen wird.« Er senkte den Blick in sein leeres Glas. »Hoffentlich ihn.« »Was hast du vor?«, fragte ich. Ein mulmiges Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Stephens lag weit, weit außerhalb von Sammys Reichweite. »Geht dich absolut nichts an«, sagte Sammy. »Sammy–« »Lass das, Jackie-Boy«, sagte er. »Du hast nichts damit zu schaffen. Ich will dir nur noch eines sagen: Ich sehe sehr schwarz für Blus neuen Freund.«
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11 Nicole Frost hatte den falschen Namen. Für eine Effektenmaklerin war sie bemerkenswert menschlich und warmherzig. Sie und ich waren zusammen zum College gegangen, allerdings hatte sie Doug nicht gekannt. Sie hatte in einer anderen Liga gespielt, bei den Top-Schönen dieser Welt, die akademisch einigermaßen und gesellschaftlich hervorragend klarkommen. Man war von vornherein zu dem Schluss gekommen, dass sie Erfolg haben würde, und sie hatte niemanden enttäuscht. Sie hatte in besseren Tagen mein Anlagekonto geführt, bis ich gezwungen war, jeden Cent herauszuziehen, um überleben zu können. Ich rief sie am nächsten Morgen an, nachdem ich mit Michele gesprochen hatte, weil ich Informationen über die Grayton-Laboratorien haben wollte. »Hallo, Jack«, sagte sie mit gewohnter unerschütterlicher Fröhlichkeit, »schön, mal wieder von dir zu hören. Was gibt’s Neues?« »Ich muss einen Haufen Geld anlegen«, sagte ich. »Alles Zwanziger, und auf manchen Scheinen klebt noch ein bisschen Mohnsaft. Ich hoffe, das macht nichts.« »Ha, ha.« »Ich könnte doch die Seiten gewechselt haben. Man weiß ja nie.« »Dass du solche Typen verteidigst, ist schlimm genug, Jack, aber das ist eine andere Geschichte. Da du weder dir noch mir Geld einbringst, ist die Frage: Was willst du?« »Ein paar Informationen.« »Du bist pleite.« »Danke, das wusste ich schon. Aber egal, es geht nicht um mich.« »Schieß los.« 148
»Was weißt du über eine Firma namens Grayton Technical Laboratories?« Stille trat ein, während Nicole ihr unglaublich umfangreiches mentales Rolodex durchging. »Eine kleine Bio-Tech-Firma, hat bisher nicht viel von sich reden gemacht. Wenn sie nicht hier ansässig wäre, würde ich sie wahrscheinlich gar nicht kennen.« »Keine dunklen Geheimnisse?« »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte sie. »Ich habe keinen besonderen Draht zur Biotechnik.« »Hast du eine Ahnung, wer die Firma leitet?« »Hmm, ich glaube, im Vorstand sitzen jetzt Familienmitglieder. Grayton selbst ist nur noch Galionsfigur. Mit dem Kapital passiert nicht viel. Es ruht wohl einfach.« »Gut. Nächstes Thema: Wie steht’s mit Horizn?« Sie lachte. »Wie’s mit Horizn steht? Die Firma ist kurz davor, eine Menge Leute reich zu machen.« »Sie kommt groß raus?« »Riesig. Das Hepatitis-Patent wird sich noch Jahrzehnte auszahlen.« Sie machte eine Pause. »Ich will nicht herzlos sein, aber das ist die optimale Krankheit.« »Wie meinst du das?« »Du musst das Medikament des guten Dr. Ralston dein hoffentlich langes Leben lang einnehmen. Unter Investitionsgesichtpunkten phantastische Aussichten. Eigentlich ein bisschen zwielichtig.« »Wieso?« »Weißt du nicht, wie Ralston an seine Millionen gekommen ist?« »Ich habe keinen blassen Schimmer.« »Vor knapp zehn Jahren war er noch ein gewöhnlicher Sterblicher wie du und ich. Er leitete ein Forschungsteam an der Columbia-Universität.« »Ja, ich habe gehört, dass er Wissenschaftler war.« »Sein Team hat das Horizn-Hepatitismittel entwickelt«, 149
erklärte Nicole. »Natürlich hat die Universität das Patent für sich beansprucht. Ralston war nur Angestellter dort. Er sollte im üblichen Umfang beteiligt werden, aber er wollte alles.« »Er hat Klage erhoben.« »Ja. Niemand hat ihm auch nur die geringste Chance eingeräumt. Verträge dieser Art sind im Allgemeinen wasserdicht. Doch dann hat er sich mit einem Anwalt zusammengetan –« »Derek Stephens.« »Ja, mit Stephens. Der soll eine Koryphäe auf dem Gebiet des geistigen Eigentums sein. Die führende Autorität im Lande. Er wird immer in der Wall Street Week zitiert. Jedenfalls hat Ralston es ihm zu verdanken, dass er das Patent schließlich erhalten hat, und da waren sie beide Millionäre.« »Beide?« »Ralston hatte kein Geld, deshalb ist Stephens prozentual an dem Patent beteiligt. Daraufhin hat er seine Kanzlei dichtgemacht und sich mit Ralston auf eine gemeinsame Weltherrschaft verständigt.« »Sehr unternehmungslustig.« »Ja, und inzwischen ist der Preis des Medikaments aufs Dreifache gestiegen.« »Ich sag’s ja, immer werden die kleinen Leute beschissen.« »Die Welt ist schlecht, mein Schatz.« Nicole machte wieder eine kurze Pause. »Hör mal, Jack, verheimlichst du mir etwa was?« »Was denn?« »Irgendwas, das sich auf der Straße zusammenbraut und von dem du irgendwie durch deine farbigen Freunde Wind gekriegt hast.« »Hm, vielleicht«, sagte ich. »Ich bin nicht sicher.« »Es ist aber gar nicht nett, damit so hinter dem Berg zu halten, wenn man um einen Gefallen bittet, Jack. Nun erzähl Nicole mal, was du weißt.« 150
»Das kann ich nicht.« »Dann muss was dran sein«, sagte sie, wobei sie respektvoll die Stimme senkte. »Nichts würde mich glücklicher machen, als dir deine Freundlichkeit mit ein paar Insider-Infos zu vergelten. Aber ich tappe zurzeit selbst noch im Dunkeln.« »Mit Blick auf deine … hm … berufliche Klientel darf man wohl davon ausgehen, dass es sich um eine anrüchige Sache handelt. Dir ist hoffentlich klar, dass Horizn in knapp zwei Wochen an die Börse geht. Hiobsbotschaften wären äußerst unwillkommen.« »Immer mit der Ruhe, Nicole. Ich habe im Augenblick noch nichts Greifbares. Wenn du jetzt unbegründete Gerüchte verbreitest, wirst du bald in Sibirien makeln.« Ich spürte, dass Nicole sich wieder beruhigte. »Und was willst du dann?« »Ich will nur ein paar Antworten.« »Okay.« Erneut trat eine kurze Pause ein, dann wurde sie plötzlich lebhaft. »Jack, Ralston ist nächste Woche Freitag auf dem Campus der Georgia Tech. Ich habe es gerade in einer Pressenotiz gelesen.« »Und warum?« »Weil er brillant ist. Hör ihn dir einmal an. Er ist bis zum Börsengang zum Stillschweigen verpflichtet, darf sich also nicht über Horizn äußern.« »Die Regeln des Aktienmarktes.« »Genau. Aber bis zur öffentlichen Aufforderung zur Zeichnung der Effekten sind es nur noch Tage, und vorher will er den Namen Horizn noch jedem möglichen Investor im Land einhämmern. Und was macht er in dieser Situation, mein Schatz?« »Ich habe null Ahnung.« »Er stiftet etwas. Die Charles Ralston School for Biomedical Engineering. Das kostet ihn 4 Millionen, aber er gewinnt damit 151
Publicity für 20 Millionen. Und dann schreibt er die 4 Millionen auch noch ab. Ich sage dir, der Mann ist ein Genie. Jedenfalls gehen ein paar von uns hin. Wie ich Ralston kenne, wird er eine Möglichkeit finden, um eine Bemerkung über Horizn einzuflechten. Wir können ja zusammen hingehen.« »Du hättest nichts dagegen?« Nicole lachte. »Aber nein. Außerdem machst du dich so süß am Arm.« »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, Nicole.« »Im Gegenteil. Du scheinst kein Interesse an Frauen zu haben, und das macht dich unwiderstehlich. Außerdem ist ein hinreißender Mann bei Suntrust, der auch da sein wird und sich hundsmiserabel fühlen soll.« »Aha. Du benutzt mich.« »Er muss motiviert werden. Wenn ich also über dich herfalle, versteh mich bitte nicht falsch. Die Zeremonie fängt um elf an. Wollen wir uns um zehn vor draußen treffen – Ende offen?« »Abgemacht.« »Zieh was Nettes an. Bis Freitag. Ciao, Süßer.« Kommen Sie mit nach St. Louis, hatte die Stimme gesagt. Wir könnten Freunde sein. Ich verbrachte den Rest des Tages im Gericht und hatte immer die Stimme im Kopf. Ich hörte sie, als Odom mir während eines meiner Plädoyers einen gequälten Blick zuwarf, weil ich im Gegensatz zu dem Beamten, der die Verhaftung vorgenommen hatte, die Auffassung vertrat, dass das Angebot, einem Fremden, der gar nicht danach gefragt hat, Marihuana verkaufen zu wollen, als Anstiftung zu einer Straftat einzustufen sei. Ich hörte die Stimme, während ich mit leerem Blick ein Mädchen anstarrte, das den endgültigen Abstieg in die Hölle der Prostitution angetreten hatte, um seine Kokainsucht zu finanzieren. Und ich hörte die Stimme beim Lunch, während ich mich in eine Klage wegen Drogen am Steuer gegen jemanden, der nur Kroatisch sprach, einarbeitete. 152
Kommen Sie mit nach St. Louis, hatte sie gesagt. Wir könnten Freunde sein. Ich sah auf die Uhr; es war 14.40 Uhr, ich hätte also gerade noch genug Zeit, um das Flugzeug zu erreichen, falls ich vollkommen den Verstand verlor. Und ich verlor vollkommen den Verstand.
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12 Der Horizn-Jet war eine auf Hochglanz polierte schwarze Grumman, die bis auf den Cent nach den sieben Millionen oder mehr aussah, die sie kostete. Auf dem Heck prangte das HoriznLogo, ein kunstvolles weißes H auf rotem Grund. Ich parkte auf Brown Field, einem Privatflugplatz im Nordwesten Atlantas. Ich schloss mein Auto ab – eigentlich überflüssig, denn die Luxuskarossen, von denen mein betagter Buick umgeben war, wurden rund um die Uhr bewacht – und ging über die Straße zur Abfertigung. Kaum hatte ich die Tür aufgemacht, sah ich sie. Michele saß allein in dem Büro und war so nachlässig gekleidet, wie es nur jemand fertig bringt, der fabelhaft reich ist. Sie trug Jeans, die zerfleddert waren, und dazu ein einfaches Baumwoll-Shirt, das ihr lose um den hübschen Körper hing. Als ich eintrat, blickte sie auf und lächelte, sodass ich beinahe auf der Stelle geschmolzen wäre. Sie küsste mich, und ihr Mund fühlte sich warm und weich an auf meiner Wange. Wir gingen zusammen zum Flugzeug und stiegen ein. Eine private Grumman ist ein Maßstab, an dem man den Abstand zwischen den Reichen und den Superreichen messen kann. Leute, die in dieser Preiskategorie einkaufen, betrachten die kommerzielle erste Klasse als Geschmacksbeleidigung. Sie verbringen Stunden mit dem Designer der Flugzeugeinrichtung und treffen wichtige Entscheidungen der Art, ob die Badezimmerarmaturen aus Gold oder Titan sein sollen. Dank des großen Horizn-Vermögens war das die Welt, in der Michele zu Hause war. Zu Beginn der Reise war sie zum Plaudern aufgelegt wie ein kleines Mädchen. Sie lächelte und goss uns Champagner ein, und dann lehnte sie sich zurück und beobachtete, wie der gebirgige Norden Georgias unter uns vorbeiflog. Es war so 154
angenehm, als existierte Charles Ralston gar nicht. Aber er existierte, egal, welche Absprache zwischen den beiden herrschte. »Ich habe nachgedacht«, sagte ich. »Was Sie gemacht haben, ist großartig. Sie sollten es nicht herunterspielen. Wenn man bedenkt, wo Sie herkommen und was Sie aus sich gemacht haben.« Sie stellte ihr Glas ab und sah mich leicht irritiert an. »Das sagen Sie.« »Wie bitte?« Sie seufzte. »Es ist eine Macke der Schwarzen.« »Eine Macke der Schwarzen?« »Dass sie es hassen, wenn Weiße darüber entscheiden, welches hübsche schwarze Mädchen der Hausnigger wird.« Ich sah sie überrascht an. »Vielleicht können Sie mir das mal erklären.« »Wie Sie wissen, bin ich nach New York gegangen. Ich lernte ein paar Leute kennen und landete auf der anderen Seite des Flusses in New Jersey. In Elizabeth.« »Kenne ich nicht.« »Die Hölle des amerikanischen Ostens«, sagte sie nüchtern mit ausdrucksloser Stimme. »Dort gibt es viele Portugiesen. Gar nicht so übel. Die bleiben unter sich. Aber die Schwarzenviertel sind etwas ganz anderes.« »Wie ging es weiter?« »Ich habe mich auf der High School angemeldet. Ich war allein, und die Schule bietet Gemeinschaft.« »Richtig.« »Es gab ein Programm, durch das Orchester in die Schule eingeladen wurden. Mehrmals im Jahr kamen kleine Ensembles zu uns wie Care-Pakete nach Somalia.« »Ich nehme an, dass man die Nahrung in Somalia dringend gebraucht hat«, sagte ich leise. »Ich wusste, dass Sie es nicht verstehen würden.« »Und ich dachte, wir würden nicht in dieses Schwarz-Weiß155
Klischee verfallen.« »Ich weiß. Nur … warum haben wir selbst nichts? Man wird es leid, immer auf der Empfängerseite zu sein. Wir sahen, wie sie sich in der Schule umschauten und Mitleid mit uns hatten. Dass sie tapfer lächelten, als seien wir Krankenhauspatienten. Da fühlt man sich noch elender als vorher.« Sie sah an mir vorbei, in Erinnerungen versunken. »Aber die Musik. Solange Musik erklang, spielte es keine Rolle, wo ich war. Nur Töne zählten noch, nur Klänge. Die meisten Kinder hörten nicht einmal zu. Ich schlich nach vorn, wie in Trance. Ich hatte noch nie im Leben so etwas gesehen und gehört.« »Wurde gesungen?« »Ja. Ich weiß nicht, ob sie gut war. Es ist zu lange her, und ich war viel zu leicht zu beeindrucken. Aber sie war wunderschön in ihrer glitzernden Robe. Ich beobachtete sie lange Zeit, auch vor ihrem Auftritt. Wie sie sich setzte, die Beine kreuzte, den Rücken kerzengerade aufgerichtet. Sie lächelte uns zu, und ich dachte, sie müsse alles in der Welt verstehen. Schließlich erhob sie sich und trat in die Mitte der Bühne. Ich war von Ehrfurcht ergriffen.« »Wie die Leute heute bei Ihnen.« Sie lächelte. »Mag sein.« »Und dann?« »Es war nur ein kleines Kammerorchester, vielleicht zehn oder zwölf Musiker. Sie sang etwas auf Französisch. Französisch. Ich wusste zwar nicht viel, aber immerhin, dass man das nicht mögen darf. Es war etwas Europäisches. Und eines war mir eingehämmert worden: Was alt ist und aus Europa kommt, ist der böse Feind.« Sie hielt inne. »Für mich ein schreckliches Problem, denn in meinen Ohren war es die schönste Musik, die ich je gehört hatte.« »Was haben Sie daraufhin gemacht?« Ihre Miene verdüsterte sich. »Ich hörte mir noch mehr davon 156
an. Nicht wie eine Schülerin, sondern wie ein kleines Kind. In der Stadtbibliothek gab es alles. Absolut alles. Ich lauschte und lauschte und ahmte es nach. Ich hatte keine Ahnung, ob ich gut war oder nicht. Ich hielt es verborgen. Aber es verzehrte mich innerlich.« »Wie lange ging das so?« »Ein paar Jahre. Ich sang ständig und eignete mir ein Repertoire an, obwohl ich nicht einmal die Worte verstand. Einige Male habe ich Freunden etwas vorgesungen. Sie lachten über mich, und mehr als das. Am Ende konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich musste Menschen finden, die mehr so waren wie ich.« »Und?« »Ich war ja völlig naiv, müssen Sie bedenken. Ich wusste nur, dass die Leute am Lincoln Center sangen. Eines Tages habe ich mir ein Herz gefasst und bin mit dem Bus dorthin gefahren. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Vielleicht hatte ich erwartet, dass Opernsänger in Kostümen herumstehen und sich gegenseitig etwas zusingen würden. Jedenfalls bin ich in die Juilliard School hineinspaziert und wie in Trance auf den Fluren herumgelaufen. Ich hörte Musik hinter den geschlossenen Türen. Ich wäre am liebsten stundenlang auf den Fluren auf und ab gegangen und hätte mir alles angehört.« »Was passierte weiter?« »Ich blieb tatsächlich lange dort, drei oder vier Stunden. Ich hatte Angst, man würde mich hinauswerfen. Immer wenn jemand kam, von dem ich dachte, dass er etwas gegen meine Anwesenheit dort haben könnte, mich hier anzutreffen, drückte ich mich zur Seite. Doch zuletzt ging genau vor mir eine Tür auf, und ich kam nicht mehr rechtzeitig weg. Eine Frau kam heraus und hätte mich fast umgerannt. Ich weiß noch, dass ich schnell einen Blick in ihr Studio warf, das voll gepackt war mit Büchern, einem Klavier und kleinen Kunstgegenständen. Es war ein Blick in den Himmel.« 157
»Und was haben Sie gemacht?« »Ich bin erstarrt. Sie sah mich kurz an und fragte: ›Hast du dich verirrt?‹« Michele wandte sich um und starrte sinnend aus dem Flugzeugfenster. »Mir hatte es die Sprache verschlagen«, sagte sie. »Die Frau wollte schon gehen, da stammelte ich: ›Ja, Madam, ich habe mich verirrt.‹« Michele sah mich wieder an und lächelte ein befreiendes Lächeln. »Sie war nett«, sagte sie. »Ich erzählte ihr von der Sängerin in meiner Schule und von meinen täglichen Bibliotheksbesuchen. Ich nannte ihr meine Lieblingsarien und erzählte ihr, dass ich immer zu den Aufnahmen gesungen hätte. Vielleicht habe ich Eindruck auf sie gemacht, vielleicht auch nicht. Sie war schließlich an der Juilliard, und da herrscht kein Mangel an frühreifen Kindern. Es war etwas anderes, was sie bewog, mir zu helfen.« »Und was?« »Ich sagte, ich wisse, dass ich sie eigentlich hassen müsse, aber ich tue es nicht.« Michele schaute wieder aus dem Fenster. »Sie machte ein Gesicht, als würde sie am liebsten weinen.« »Hat sie sich erboten, Sie zu unterrichten?« Michele trank ihr Glas Champagner bis zur Neige aus. »Richtig, Jack. Sie sagte mir, ich könne kommen und in dem großen Haus des weißen Massah wohnen.« »Sie werden es mir verzeihen, wenn ich Ihre Haltung ein wenig undankbar finde.« »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass Sie es nicht begreifen werden.« »Wissen Sie, Michele, ich bin mir noch nicht ganz im Klaren darüber, weswegen Sie mir mehr Leid tun, ob wegen des Vermögens, das Sie mit Mozart-Arien verdienen, oder wegen des Privatflugzeugs. Aber ich komme später noch einmal darauf zurück.« Ihre Augen blitzten. »Ich habe Männer schon wegen weniger in die Verbannung geschickt!« »Erzählen Sie das jemandem, der nicht mit allen Kautionsstellern von Atlanta City auf du und du ist.« 158
Sekundenlang starrte sie mich an, dann brach sie in Gelächter aus. »Dass Sie die Schuld des weißen Mannes nicht einsehen wollen, bringt mich aber wirklich auf die Palme.« Ich zuckte die Achseln. »Hab ich alles schon gehört. Ich bin dagegen immun. Aber jetzt erzählen Sie mal, wie Sie hier oben angekommen sind.« Sie lächelte und beugte sich vor, um mich auf die Wange zu küssen. »Sie sind nicht leicht zu erschrecken. Das gefällt mir.« Damit lag sie falsch, aber sie wusste es nicht. Was mich im Augenblick erschreckte, war mein starkes Verlangen, sie zu küssen. Es bedurfte einer echten Willensanstrengung meinerseits, ihr nicht meinen Mund auf die makellosen Lippen zu drücken. »Eine Zeit lang bin ich jeden Dienstag hingegangen«, erzählte sie weiter, »dann kam der Donnerstag dazu, und am Ende war ich praktisch jeden Tag da. Es hat lange gedauert, bis ich mir dessen bewusst wurde, was sie schon bei meinem ersten Vorsingen herausgehört hatte.« »Was war das?« Sie sagte kaum hörbar: »Dass ich mein eigenes Leben singe, was immer ich auch singe.« Ich lächelte. »Genau wie Johnny Cash. Das habe ich immer schon für sein Erfolgsgeheimnis gehalten.« Sie sah mich entgeistert an. »Gott im Himmel, Jack!« »Wenn Sie diesen Mann in Schwarz nicht achten, werfe ich Sie aus dem Flugzeug.« Sie schüttelte den Kopf. »Na schön, Jack, genau wie Johnny Cash, nur auf Italienisch und in einem elisabethanischen Kostüm. Fein.« »Wie sind Sie wieder nach Atlanta zurückgekommen?« »Durch meinen Mann«, erwiderte sie. »Wenn Sie schwarz und ambitioniert sind, ist Atlanta der Nabel des Universums. Da passt es auch gut, dass Arbeitskraft hier billiger ist.« Sie drehte sich erneut zum Fenster um und starrte hinaus. Der Gedanke an 159
Ralston schien sie zu ernüchtern. »Ich muss meine Stimme schonen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, versuche ich ein wenig Schlaf zu bekommen.« Wir schwiegen, während das Flugzeug erst pfeilgerade über Nashville und dann nach Nordwesten in Richtung St. Louis flog. Michele hielt die Augen geschlossen, aber ich wusste nicht, ob sie wirklich schlief. Die Zeit verging schleppend, ich betrachtete die Schlummernde und fragte mich erneut, ob es richtig war, mitzukommen. Ihr Gesicht sah noch im Schlaf bekümmert aus, als würde sie sogar im Traum von schrecklichen Erinnerungen heimgesucht. Wir landeten auf einem kleinen Flugplatz in Spirit of St. Louis, einem Vorort von St. Louis dicht am Missouri. Es war Flachland, entstanden durch Abtragen des Schlamms und der fruchtbaren Sedimente des Flussdeltas. Das Flugzeug brachte uns direkt zu einer Limousine, die auf der Rollbahn bereit stand. Der Mann, den ich schon im Fox-Theater und auf der Party in Begleitung Micheles gesehen hatte, stieg aus, stellte sich neben den Wagen und beobachtete, wie das Flugzeug etwa dreißig Meter entfernt von ihm ausrollte und zum Stehen kam. Die Maschinen wurden gedrosselt, und das Dröhnen ging langsam in Stille über. »Wer ist das?«, fragte ich. »Bob Trammel«, erwiderte sie. »Er ist immer vor mir da und organisiert alles. Sieht zu, dass alles in Ordnung ist, solche Sachen.« Ich spähte aus dem kleinen Flugzeugfenster. Trammel war Anfang vierzig, knapp 1,80 Meter groß, stämmig gebaut und hatte kohlrabenschwarzes Haar, das stramm nach hinten gekämmt war. Wie das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, rauchte er auch jetzt. Der Pilot kam nach hinten zu den Sitzen, entriegelte die Tür und ließ die kleine Gangway zu Boden. Ich sah, dass Trammel mit gelangweilter Miene auf das Flugzeug zuging. Michele erschien zuerst im Ausstieg; ehe sie hinuntergeklettert war, entdeckte Trammel mich hinter ihr. Sein 160
Gesichtsausdruck wechselte auf unfreundlich. Da wir noch außer Hörweite waren, fragte ich Michele: »Ist dieser Trammel schon lange bei Ihnen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Es war Charles’ Idee. Er hat sich aber als nützlich erwiesen. Ist sehr effizient.« Wir stiegen die Stufen zum Boden hinab, und einer der Piloten trug uns Micheles Gepäck nach. Michele ging auf Trammel zu, und ob er nun von Horizn kam oder nicht, sie hatte ganz offensichtlich das Sagen. Ich hatte zwar keine Ahnung von Opernmusik, aber wie fast jeder andere hatte auch ich schon einmal das Wort »Diva« gehört. In den zehn Sekunden, die es dauerte, aus dem Flugzeug auszusteigen und zum Wagen zu gehen, hatte sie sich ganz und gar in eine solche verwandelt. Nach diesen wenigen Schritten wirkte sie größer, hielt sich aufrechter und hob das Kinn einen guten Fingerbreit höher. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, mich Trammel vorzustellen. »Nehmen Sie das Gepäck, ja, Bob?«, sagte sie, ohne ihn auch nur anzuschauen. Die Autotür stand offen, und sie schlüpfte in den Wagen – aber erst, nachdem sie meine Hand ergriffen und mich hinter sich hergezogen hatte. Es war eine Überraschung, ihre Haut auf meiner zu fühlen. Sie hatte alles im Griff; ich hatte noch nie eine Frau so mühelos Autorität ausüben sehen. Zumindest in dieser Welt war sie die souveräne Herrscherin. Ich hörte, wie Trammel den Kofferraum schloss, dann kam er um das Auto herum und nahm den Fahrersitz im Town-Car ein. »War der Flug gut?«, fragte er. Dabei betrachtete er mich im Rückspiegel, um sich ein Bild von mir zu machen. »Haben Sie mit Colin gesprochen?«, fragte Michele und überging seine Frage einfach. Trammel nickte. »Er hat die Änderungen akzeptiert. Kein Problem.« Ich wandte mich an Michele. »Colin?« »Colin Timberlake. Der Dirigent. Ein hervorragender Mann. Er schwingt den Taktstock wie einen Hammer – aber da sind 161
wir.« Sie wandte sich von mir ab und schaute aus dem Fenster, an dem gerade ein hässliches Industrieviertel von St. Louis vorbeizog. Ich merkte, wie sie mir entglitt und sich innerlich auf die Aufführung vorbereitete. Falls mir irgendwelche Intimitäten auf der Reise vorgeschwebt hatten, Fehlanzeige; von dem Augenblick an, in dem wir gelandet waren, war Michele nur noch die professionelle Sängerin. In wenigen Stunden würde sie wieder eine vollkommen andere sein und erneut einen Abend lang an ihrer kometenhaften Karriere bauen. Michele blieb während der ganzen Fahrt zur WebsterUniversität, wo sich das Loretto-Hilton Center befand, in sich gekehrt. Wir bogen zu der Konzerthalle ein, die erheblich kleiner war als das Fox. Dafür lag sie sehr schön inmitten von Rabatten mit exotischen Blumen und gepflegten Rasenflächen. »Hübsch hier«, sagte ich, als ich aus dem Wagen stieg. »Klein und eher intim«, sagte Michele. »Und eine herrliche Akustik.« Sie ging los zum Bühneneingang; ich hatte mich eben an ihre Fersen geheftet, als sich eine Hand auf meinen Arm legte. Es war Trammel. »Ich kenne Sie«, sagte er leise und zog mich zurück. »Sie waren auf der Soiree in Atlanta. Und dann am Künstlerausgang am letzten Abend im Fox.« »Das ist eine sehr lange Begrüßungsrede. Die meisten Leute nennen mich einfach beim Namen. Jack.« Trammels Augen verengten sich. »Hier gibt es jetzt eine Menge zu tun«, sagte er. »Ich weiß, dass Sie nicht stören wollen.« »Nein«, sagte ich, »gewiss nicht.« »Der Aufenthaltsraum der Künstler ist auf der anderen Seite der Bühne. Da gibt’s Cola, Obst und dergleichen. Warten Sie dort.« Ich ging über den Parkplatz zum Bühneneingang, in dem Michele bereits verschwunden war. Von der Tür aus blickte man 162
hinter die Kulissen in ein nur schwach geordnetes Chaos; Leute eilten über die Bühne und veränderten in letzter Sekunde noch dies und das. Kinder in zerlumpten Kleidern scharten sich um eine Frau, von der sie letzte Instruktionen erhielten, wahrscheinlich dazu, wie sie am authentischsten unterwürfig herumkrochen. Trammel winkte mich aus dem Weg zu einer Eisentür auf der gegenüberliegenden Bühnenseite. »Der Aufenthaltsraum ist da drüben.« Ich nickte und machte die Eisentür auf; dahinter war ein Flur mit Garderobentüren. Keine trug Micheles Namen, und so spazierte ich allein zum Aufenthaltsraum. Er war ziemlich spartanisch eingerichtet, nur ein paar Sofas und ein paar wahllos verteilte Blumendekorationen auf einem langen Tisch. Verschiedene Getränke und Häppchen standen bereit; ich nahm mir einen Softdrink und öffnete die Dose. An der Wand gab es einen Monitor mit einer Kamera, die ein Weitwinkelbild der Bühne lieferte. Alle paar Minuten kamen Ensemblemitglieder in den verschiedensten Stadien der Kostümierung in den Aufenthaltsraum, verschlangen ein Stück Obst oder einen Müsliriegel und schnappten sich eine Flasche Wasser. Niemand sprach, was mir recht war. Nach etwa einer Stunde warf ich einen Blick auf den Monitor; Michele war auf die Bühne gekommen. Es war kein Ton da, aber ich konnte sehen, dass sie mit einem großen, schlanken Mann mit vollem weißen, zurückgekämmtem Haar sprach. Vermutlich war er der Dirigent. Ob mit oder ohne Ton, ihm war jedenfalls anzusehen, dass er sie inständig um etwas bat. Michele sah ihn mit einer Art eigensinnigem Desinteresse an. Der Mann fing an, mit den Armen herumzufuchteln, sein Bitten verwandelte sich offensichtlich in flehentliches Betteln. Schließlich legte ihm Michele die Hand auf die Schulter, woraufhin er erstarrte. Sie sagte ein paar Worte und verließ die Bühne. Der Mann rief etwas hinter ihr her, dann machte er eine resignierende Geste mit den Händen und verschwand in die Gegenrichtung. 163
Da es noch eine Weile hin war bis zum Aufführungsbeginn, ging ich auf dem Universitätsgelände spazieren. Etwa eine Stunde bevor es losging, machte ich mich auf den Rückweg hinter die Kulissen. Ich sah mir den Garderobenflur noch einmal genauer an und fand eine Tür mit einem großen Stern und einem Schild, auf dem »Ms. Sonnier« stand. Ich klopfte. Eine Sekunde lang tat sich nichts; dann ging die Tür plötzlich auf. Michele stand in einem halb offenen Hausmantel im Rahmen, das Haar von einer Spange aus dem Gesicht gehalten. Ich sah, dass ihr Brustansatz nur knapp von den Falten des roten Mantels verhüllt wurde. »Wo ist Trammel?«, fragte sie. »Keine Ahnung. Wie läuft es denn?« »Der Regisseur ist unfähig, den Kostümbildner habe ich gerade in die Verbannung geschickt, und der Bariton ist nicht tonsicher und singt zudem so laut, dass ich falsch klinge.« »Da bin ich aber froh, dass ich gekommen bin.« Sie schenkte mir ein Lächeln, und die Primadonna war wie weggeblasen. »Sie tun mir gut, wissen Sie das nicht?«, sagte sie. »Danke,« »Würden Sie mir bitte hierbei helfen?« Sie drehte mir den Rücken zu und ließ den Hausmantel von ihren Schultern auf die Hüften hinabgleiten. Sie trug einen schwarzen BH aus reiner Spitze. Ihre Schultern verjüngten sich zu einer schlanken Taille, und ich konnte den Rand eines zum BH passenden StringTangas sehen. Ich riss mich von dem Anblick los. »Wobei soll ich helfen?« »Hierbei.« Sie ergriff einen schäbigen graubraunen Fummel. Er war fleckig und sah abgetragen aus. Sie streckte die Arme nach oben, und ich zog ihr das Gelumpe über den Kopf. Als es bis zur Taille herabgefallen war, ließ sie den Hausmantel von den Hüften gleiten. Das Kostüm rutschte über ihr Gesäß und reichte dann bis zur Mitte ihrer Schenkel. »Ich nehme an, dass Sie arm aussehen sollen.« 164
»Bettelarm.« Sie lachte. »Aber immerhin in Paris, falls Ihnen das was sagt.« »Ja, immerhin.« »Wissen Sie, wie es ist, bettelarm zu sein, Jack?« Das war nicht mehr die elegante Sprechweise der gehobenen Klasse. Sie hatte plötzlich den jugendlich-harten Tonfall der Ghettos drauf. Ich wusste nicht, ob es echt war oder ob sie sich diesen Stil nur anzog wie ein Kleid. »Ich habe nie gehungert. Aber ich weiß, was für ein Gefühl es ist, draußen zu stehen und nach drinnen zu schauen.« »Das dachte ich mir.« Sie drehte sich um und betrachtete sich im Spiegel. »Ich gehe schon«, sagte ich und nickte. »Trammel hat mir gesagt, wo der Aufenthaltsraum ist. Ich werde ein bisschen Käse knabbern.« Sie lachte, und es klang wieder silberhell. »Tun Sie das«, sagte sie. Ihre Stimme war die reine Musik, selbst wenn sie nur sprach. Sie wandte sich wieder mir zu und sagte: »Ich bin froh, dass Sie hier sind, Jack. Freunde tun gut.« Wie sie da in ihrem Straßenmädchenkostüm vor mir stand – eine unglaublich anziehende Mischung aus unschuldigem, verwahrlostem Kind und weitläufiger Verführerin –, hätte ich sie am liebsten in die Arme geschlossen und vor allen Unbilden eines bitterkalten Pariser Winters bewahrt. »Zeit zu gehen«, sagte ich leise. »Ja«, sagte sie. Dann küsste sie mich auf die Wange, weich und kindlich. Ich spürte den Kuss noch den ganzen Weg bis zum Aufenthaltsraum. Allmählich kamen die Zuschauer eingetrudelt, ein zusammengewürfeltes Publikum aus Studenten und älteren Leuten, alle viel lockerer als im Fox. Michele hatte mir einen Sitz in der fünften Reihe fast in der Mitte besorgt; ich nahm meinen Platz ein und wartete auf ihren Auftritt. Irgendetwas störte mich von Anfang an. Zuerst war es nur ein 165
vages Gefühl der Unzufriedenheit, das jedoch mit fortschreitender Handlung zunahm. Ich brauchte etwa dreißig Minuten, um herauszufinden, was mich ärgerte. Dann war es mir schlagartig klar: Falls Puccini Armut am eigenen Leibe erfahren hatte, war seine Erfahrung nicht in La Bohème eingeflossen. Im Programm stand, dass er zu Beginn seiner Karriere vollkommen mittellos war, diese Oper jedoch komponierte, als er schon reich und berühmt war. Das hatte ihm offenbar den Blick getrübt. Es ist immer das Gleiche: Sobald jemand das dicke Geld verdient, sieht er seine frühere Armut nur noch romantisch verklärt. Er lässt sich darüber aus, wie toll es war, als er noch nicht die Probleme der Reichen am Hals hatte. Ich weiß das, denn mir ging es genauso. Aber ich glaube, Puccini war in dieser Hinsicht der Schlimmste überhaupt. Paris im Winter, wie ich es auf der Bühne erlebte – trotz der Armseligkeit so farbenfroh und anrührend, dass es aus einem Disneyfilm hätte sein können – war meilenweit entfernt vom Ghetto in Atlanta. Und die Bohémiens – die Maler, die Dichter und alle anderen – zwitscherten auch herum wie Disneyvögel. Die meisten von ihnen genossen es anscheinend, arm zu sein. Die Einzige, zu der ich einen Draht bekam, war die sterbende Mimi. Nicht dass ich der Meinung wäre, es gäbe keine Glücksmomente im Ghetto. Die habe ich durchaus erlebt, Hunderte von Malen. Aber der Ghettohumor hat einen Stich ins Scharfe, Schrille und entspringt der Erkenntnis, dass einem in diesem Leben nichts geschenkt wird. Genau das hatte Puccini vergessen: Wenn Ghettobewohner lachen, lachen sie laut und wappnen sich damit gegen das Leben. Diese Art von Humor ist nicht herzerwärmend, sondern dient der Verteidigung. Die Charaktere in La Bohème sangen von Liebe und Poesie, als hätten sie keine Sorgen. Mit anderen Worten: Sie benahmen sich wie Reiche, die zufällig gerade mal kein Geld haben. In Wahrheit stinkt es einem, kein Geld zu haben, und die Leute, die keins haben, können ein Liedchen davon singen, wie sehr es 166
ihnen stinkt. Johnny Cash hätte diesen Fehler nicht gemacht, das ist so sicher wie die Hölle. Trotzdem war es wunderschön, und das sagt alles, möchte ich meinen. Es zeigt, dass etwas auf der einen Ebene ein Haufen Mist sein kann, während es einen auf der anderen Ebene vollkommen verzaubert. Die Musik war so schön, dass sie einen in die Knie zwang, wenn man nicht aufpasste. Und in der Mitte, von innen und außen beleuchtet, Michele Sonnier. Jesus, Maria und Joseph, wie sang sie an jenem Abend! Sie war gut gewesen als Romeo in Atlanta, aber das hier war etwas ganz anderes. Bisweilen sang sie mit der Zartheit einer Nippesfigur, als würde ihre Stimme bei Berührung in lauter leuchtende Scherben zerspringen. Ein andermal wieder sang sie mit handfestem, schamlosem Sexappeal. Glauben Sie mir, kein Mann im Saal konnte die Augen von ihr abwenden. Sie war ein Wunder. Ich nehme an, es ist eine ganz besondere Gabe, denn eigentlich leisteten die anderen Leute auf der Bühne genauso viel. Im Grunde sogar mehr. Man konnte es in ihren Augen lesen, dass sie Millionen Stunden in unschönen Probenräumen zugebracht und Tonleitern gesungen hatten oder was Sänger sonst tun. Aber es lag auch Angst und ein wenig Ehrfurcht in ihrem Blick, wenn Michele sang. Vielleicht sogar Hass. Denn mochten sie sich auch noch so anstrengen, keiner von ihnen würde Michele je das Wasser reichen können, was den Gesang betraf. Wer immer auch neben ihr auf der Bühne stehen mochte, alles hatte nur Augen für Michele. Man hielt den Blick auf sie gerichtet, auf ihr leuchtendes Antlitz. Es war genau so, wie sie gesagt hatte: Was sie auch sang, sie sang ihr Leben. Sie verstand es meisterlich, sich vollkommen hinzugeben, und so fielen, während ich dort im Dunkeln saß und lauschte, alle Schutzwälle, die ich zwischen uns errichtet hatte, allmählich in sich zusammen. Darauf bin ich zwar nicht stolz, aber es beschämt mich auch nicht. Im Lichte dessen, was später geschehen sollte, nahm das alles eine andere Bedeutung an, die ich nie ganz verstehen werde. Aber wenn ich 167
zurückschaue, weiß ich, was mich an sie fesselte: Wir wollten uns beide in etwas auflösen. Darunter verstanden wir zwar beide etwas anderes, aber seinem Wesen nach war es das Gleiche. Du bist verliebt. Das sagte ich mir an jenem Abend noch nicht, als ich dort im Dunkeln saß, denn dafür war die Zeit noch nicht reif. Aber auf manchen Wegen steht nach einem Schritt fest, wohin die Reise geht. Vielleicht wären mir die Worte ja an jenem Abend in den Sinn gekommen – verfrüht, aber prophetisch –, wenn sie nicht plötzlich wieder auf der Bühne gestorben wäre. Zweimal hatte ich sie singen hören, und beide Male war sie am Ende gestorben. Dieses Mal starb sie – dank der kalten Pariser Luft – an Tuberkulose, und ich fragte mich, ob all das Sterben vielleicht zur Opernwelt dazugehörte. Was immer es sein mochte, dieser Tod war jedenfalls völlig anders als der Tod Romeos. Es war ein harter, kalter Kampf ums Leben, und es fröstelte einen beim Zuschauen. Ihre Stimme erstarb langsam, aber sie blieb wunderschön, schwebte gefährlich im Raum über einem nur noch flüsternden Orchester. Und dann kam der letzte, zitternde Ton von ihren Lippen. Man spürte förmlich, wie das Publikum sich mit ihr verströmte, so sehr ging es in dem Geschehen auf. Ein kleiner Teil von jedem Zuschauer starb mit ihr, und wie im Fox fingen einige Leute um mich herum zu weinen an. Genau so hatte sie hinter der Bühne auf mich gewirkt, nur waren jetzt tausend Zuschauer davon ergriffen, alles vollkommen Fremde. Und dann war, wie die anderen Male, alles vorbei. Der Zauber verflog, zerbrach an dem Applaus. Hinter der Bühne gab es wieder ein Gedränge der Bewunderer, Dutzende von Blumengebinden und endlos viele Fans, die den Star berühren wollten. Ich hielt mich zurück und blieb auf Distanz. Es war nicht meine Welt, aber es war faszinierend, zuzuschauen. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, warum sie sich einsam fühlen sollte inmitten all der Menschen, die ihr sagten, wie großartig sie war, aber sie war einsam, das wusste ich 168
hundertprozentig. Sie war ebenso einsam wie ich, so einsam, dass wir beide mitten in der Nacht mit einem dumpfen Schmerz in unseren Seelen aufwachten. Einmal blickte sie mitten in diesem Chaos zu mir herüber, und ich lächelte und nickte ihr zu. Sie lächelte auch, aber der Kontakt dauerte nur eine Sekunde. Gleich darauf war sie wieder von Bewunderern umlagert. Ich ging zum Bühnenausgang, um dem Lärm ein wenig zu entgehen und frische Luft zu schöpfen. Trammel war draußen und rauchte eine Zigarette. »Eine gute Show«, sagte ich. Trammel sah mich an, als hätte ich gerade seinen neuen BMW zu Schrott gefahren. »Was machen Sie hier, Mr. Hammond?«, fragte er. »Das habe ich mich eben selbst gefragt«, erwiderte ich. »Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es wohl das Beantworten von Fragen ist.« Er schürzte verächtlich die Lippen. »Sie sind also das Spielzeug dieser Saison.« »Wie bitte?« »Das dürfte klar genug gesagt sein.« Ich musterte ihn: schmales Gesicht, intelligente Augen, dunkler, nicht ganz passender Anzug. »Mal ’ne Frage«, sagte ich und wechselte das Thema. »Was macht ein Tour-Manager eigentlich?« Trammel zuckte die Achseln. »In der Hauptsache kassiert er Geld. Sagt den Leuten alles, was Michele ihnen nicht selbst sagen will.« »Was zum Beispiel?« »›In meiner Garderobe ist es zu kalt. Das Mineralwasser ist die falsche Sorte. Der Dirigent ist inkompetent.‹ Und natürlich ›Adieu‹.« »Adieu?« Trammel sah mich anzüglich von der Seite an. »Ganz recht. Adieu.« Wir schwiegen; der Rauch von Trammels Zigarette kräuselte 169
sich im Licht der Straßenlaterne nach oben. »Wie oft sagen Sie das denn?«, fragte ich leise. Trammel warf mir einen Blick zu. »Wann immer es nötig ist.« »Sie sagt es nicht selbst?« Trammel schüttelte den Kopf. »Warum sollte sie? Sie hat ja mich.« »Aber was ist mit Ralston? Dem ist das alles doch bestimmt nicht recht.« Trammel zuckte wieder die Achseln. »Dazu kann ich nichts sagen. Mr. Ralston regelt seine Angelegenheiten selbst.« Hinter uns wurde es laut; die ersten Ensemble-Mitglieder flohen aus dem Saal und gingen zu ihren Wagen. Trammel ließ seine Zigarette auf den Asphalt fallen und zermalmte sie mit der Schuhsohle. Ehe er verschwand, sagte ich: »Noch etwas.« »Ja?« »Wer war denn das Spielzeug der letzten Saison?« Trammel verzog noch einmal verächtlich den Mund. Als Antwort sagte er nur ein einziges Wort: »Weg.« Im Flugzeug machte sich die Erschöpfung, die sich immer nach einer Aufführung bei Michele einzustellen pflegte, wieder bemerkbar. Es gab eine Bar, und sie bat mich um einen Drink. Ich schenkte uns beiden einen Scotch ein, und dann machten wir es uns für die Dauer des Fluges gemütlich. Das Flugzeug war so etwas wie ein Kokon, der mit seiner räumlichen Enge eine warme, behagliche Atmosphäre schuf. Wir saßen nebeneinander, und kaum waren wir in der Luft, schmiegte sie sich in meinem Arm. Sie schien Vertrauen zu mir zu haben, denn sie war ganz entspannt und atmete langsam und tief. Sie hatte die Augen halb geschlossen und war offenbar vollkommen zufrieden, wie sie da an mir lehnte. Sie war wunderbar, ein Engel, und sie drückte ihren schönen, exquisiten Körper an mich. Aber darüber hinaus war sie mit einem anderen Mann verheiratet, und deshalb musste ich den Frieden zerstören. Schließlich war das etwas, worin ich mich als Experten 170
betrachten konnte. »Trammel hat nach der Show eine interessante Bemerkung gemacht«, sagte ich. »Klang wie ein Stoppsignal.« Michele blickte unter meinem Arm her zu mir auf. Ihre Haut war so glatt und schimmerte so, dass ich mich nur auf diese Weise davon abhalten konnte, sie zu berühren. »So? Was denn?« »Er hat gesagt, ich sei das Spielzeug dieser Saison.« Ich gestehe, nicht damit gerechnet zu haben, dass sie lachen würde, aber sie tat es. »Ausgerechnet er.« »Wie bitte?« »So ein Herzchen!« »Was soll das nun wieder heißen?« »Seit drei Monaten etwa macht er erbarmungslos Jagd auf mich.« »Sie meinen, er ist einfach nur sauer?« »Als er es endlich kapiert hatte, wurde er grämlich. Typisch.« Sie sah mich an. »Deshalb mag ich Sie so gern.« »Weil ich eh schon grämlich bin?« Sie lächelte. »Weil Sie’s nicht darauf anlegen.« »Worauf anlegen?« »Darauf.« Sie schmiegte sich noch enger an mich, sodass mein Arm sie wie von selbst umfing. Meine Fingerspitzen lagen auf der oberen Hälfte ihrer Brust, direkt auf ihrer lieblichen braunen Haut. Es war zwei Jahre her, dass ich mit einer Frau geschlafen hatte, und als Haut an Haut rührte, wurde mir jeder Tag davon bewusst. Ich saß da, ohne ein Wort zu sagen, und sah zu, wie mein Entschluss zerbröckelte. Ich will die Schönheit von Treue nicht herabwürdigen, indem ich rechtfertige, was geschah. Ich bin im Schoß der Kirche aufgewachsen und kann Recht und Unrecht unterscheiden. Aber Verlangen spricht eine eigene Sprache. Man kann sich noch so sehr innerlich wehren, das, was im Innern lauert, bricht sich irgendwann Bahn. Auf jeden 171
Augenblick mühsam aufrechterhaltener, vollendeter Fassade kommt einer, in dem man die Kontrolle verliert. Oder vielleicht ist es auch so, dass man wieder zu sich selbst findet, zu seinem wahren Ich, das der Seele am nächsten ist. Ich weiß nur, dass wir uns eine Weile unterhielten, erinnere mich jedoch kaum noch, worüber. Ich weiß, dass ich mich in Sicherheit wiegte und dass es in der Wärme unseres gegenseitigen Verständnisses keine Rolle spielte, dass ich ein gebrochener Mann mit einer unbedeutenden Anwaltskanzlei war, der allenfalls noch ein paar gute Anzüge besaß. Und es spielte auch keine Rolle, dass sie in einer lieblosen Ehe gebunden war und eine schreckliche Schuld mit sich herumschleppte, mit der ich mich später einmal befassen sollte. Zwei Angeschlagene trafen aufeinander und knüpften daran die vergebliche, völlig aussichtslose Hoffnung, doppelte Schuld könnte die Seelenqual lindern. Das ist die Lüge hinter jeder Liebesgeschichte, sei sie nun geschrieben, gesungen oder erlebt. Ich will Ihnen mal etwas sagen, und darauf können Sie hundertprozentig bauen: Männer verhalten sich so, als sei die Vorstellung, ihr Innerstes preiszugeben, so hassenswert, dass sie lieber morden würden, als sich eine Blöße zu geben. Dabei sehnen sie sich in Wahrheit danach, entdeckt zu werden, und wünschen sich verzweifelt, dass ihre Schwäche akzeptiert wird. Wenn eine Frau das tut, erübrigen sich Worte, denn dann sind sie ihr verfallen. Wovor, erinnere ich mich gedacht zu haben, hast du bloß solche Angst? Warum hast du im Beruf nicht wieder Karriere gemacht? Warum hast du dich damit zufrieden gegeben, in Odoms Gericht Kroppzeug abzuhandeln? Warum hast du in über zwei Jahren niemanden mehr geliebt? Warum ist dein bester Freund ein gescheiterter Jurastudent und Trinker? Warum hast du dein früheres Niveau nicht wieder erreicht? Warum beugst du dich nicht nieder, um diese unglaubliche Frau zu küssen, und verschiebst das Darübernachdenken auf später? 172
Ich merkte, wie ich mich Stück für Stück auflöste. Während mir all diese Fragen durch den Kopf gingen, passierte äußerlich nicht viel, außer dass ich im Gesicht ein wenig rot wurde und ein bisschen schwerer atmete. Das hatte ich zwar nach wenigen Sekunden wieder unter Kontrolle, aber da war es bereits zu spät. Sie durchschaute mich. Sie beobachtete mich, ihre Künstleraugen blickten voller Wärme, aber auch scharfsichtig in die meinen, und da war’s um mich geschehen – Spiel, Satz und Sieg. Ich weiß nicht mehr, wann sie mit den Fingern mein Gesicht berührte. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dass sie sich meinem Mund entgegengestreckt hätte. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann die Augen schloss und ihre Fingerspitzen mich am Kinn streiften und mir über die Wange strichen. Als sie meine Lippen berührten, schlug ich die Augen wieder auf. Ihr Mund sah so warm aus mit den leicht geöffneten Lippen, dass er die Antwort auf alle Fragen zu sein schien. Ich beugte mich zu ihr und küsste sie, und, weiß Gott, im Hinterkopf hatte ich Angst, ich könnte vergessen haben, wie es geht, so lange war ich nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen. Jetzt, aus der Rückschau, hat alles eine andere Bedeutung. Nicht nur der Kuss – alles ändert sich, davon bin ich inzwischen überzeugt. Abstand verändert die Dinge. Aber ein Teil von mir verweilt noch immer gern bei diesem Kuss, bei jenem Augenblick. Ich kann es nicht einfach leugnen. Sie war verheiratet – ob mit oder ohne Liebe –, und es war falsch. Aber ich war wehrlos, ich war nicht dagegen gewappnet. Ihre Lippen zu spüren rief mir alles in Erinnerung zurück, was mir früher einmal zum Thema Schwarz und Weiß eingetrichtert worden war, warf es über den Haufen, deutete es um und spuckte es wieder aus, und ehe ich mich’s versah, steckte ich schon mitten im Sumpf und stürzte mich gierig auf ihre schwarze Haut, als sei ich zurückversetzt in eine Zeit, in der es keine Rassen, keinen McDaniel Glen und keinen amerikanischen Bürgerkrieg gab, 173
und, Jesus, es war, als würde mich Gaia persönlich küssen. Manche Lebensmomente gehören uns ganz allein, und niemand sonst ist berechtigt, ein Urteil darüber abzugeben. Ich weiß nur, dass mir kein Mensch, weder Mann noch Frau, jemals die weihevollen, heiligen Minuten nehmen wird, in denen mir die große Michele Sonnier meine Freiheit wiedergab.
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13 Nach der Liebeslust kommt die Schockwelle. Das Flugzeug landete, und gleich umfing uns wieder die feuchte Atmosphäre der Stadt mit ihren Realitäten und Sorgen, die auf 21000 Meter Höhe weit entfernt schienen. Aber eine starke Kraft half uns, uns unter den veränderten Umständen neu zu orientieren, und das war die Stadt Atlanta selbst. Sie verbündet sich bereitwillig mit Liebenden. Die parkähnlichen Viertel der gehobenen Mittelschicht sind so weitläufig, dass sie den illusorischen Eindruck vermitteln, als wären sie im Stand der Gnade und von allen Gefahren abgeschirmt. In diesem Zustand vorsätzlicher Blindheit ist die Stadt empfänglich für das weiche, südliche Licht der Spätsommernachmittage, ein Licht, das auch auf die Pflanzungen aus der Kolonialzeit fiel und die Debütantinnen auf der Promenade wärmte. Die natürliche Schönheit der Gegend hat sich irgendwie erhalten: Die leichten Winde sind noch immer erfrischend, die Kiefern schlank und hoch, und das Geißblatt duftet wie eh und je. In diesem sanften Licht gibt sich die Stadt bereitwillig ihren geheimsten Illusionen hin. Und was mit einer Stadt geschieht, kann auch mit Menschenseelen geschehen. Für frisch Verliebte kann die Schönheit Atlantas die Wirklichkeit ausblenden. Mit Michele an meiner Seite gab es keinen Ort auf dieser Welt, an dem ich lieber gewesen wäre. Wir hatten uns verändert; eine ganz neue Schicht von komplizierten Überlegungen legte sich auf die ohnehin schon ziemlich verwickelte Situation. Sie war verheiratet, ich ledig. Sie war schwarz, ich weiß. Sie war reich, ich schlug mich notdürftig durch. Sie war sehr gebildet, ich eher unkultiviert. Es gab mehr Gründe, davonzulaufen, als ich aufzählen kann. Doch nichts von alledem fiel auch nur halb so stark ins Gewicht wie 175
die Tatsache, dass sie den Schlüssel zu einer Tür gefunden hatte, die ich mit Erfolg verschlossen gehalten hatte, seit Violeta Ramirez gestorben war. Selbst für die verbotene Liebe gibt es Verhaltensregeln, und es war keine Frage für uns, dass wir uns wiedersehen wollten. Auch wenn es noch zu früh für uns war, um genau zu wissen, was uns verband, wussten wir doch beide, dass es viel mehr war als nur ein flüchtiger Verlust der Kontrolle. Und so erging es uns wie allen Liebespaaren von Romeo und Julia bis heute: Wir sehnten uns nach einer Schonfrist vor den Sorgen dieser Welt, nach einem freien Raum, in dem wir einfach nur fühlen konnten. Wir wollten uns am nächsten Tag wieder treffen, aber erst am Nachmittag. Ich brachte den Vormittag zu wie im Traum, sah in Gedanken ihre nackte Haut, fühlte den Druck meiner Fingerspitzen, während sie über ihre glatte Haut tasteten. Es stand eine kurze Verhandlung bei Odom an, für die ich glücklicherweise nur den halben Verstand brauchte. Ich kam dort an und traf auf einen Mandanten, der entschlossen war, bis zum bitteren Ende zu kämpfen; leider war er dabei gefilmt worden, wie er Crack von einem Undercover-Polizisten gekauft hatte, sodass er mit seiner Einstellung wahrscheinlich im Gefängnis landen würde. Er war zum ersten Mal straffällig geworden, und ich machte ihm klar, dass er schneller wieder auf der Straße war, wenn er sich schuldig bekannte und Reue zeigte. Für meinen Geistesfrieden wäre es besser gewesen, nicht mitzubekommen, dass ein tiefer gelegter Pontiac der späten achtziger Jahre, aus dem laute Rap-Musik dröhnte, auf ihn wartete, nachdem er ein Urteil auf Bewährung erhalten hatte, verbunden nur mit der Auflage zum Entzug. Aber ich hatte mich schon lange damit abfinden müssen, dass ich Anwalt und nicht Retter meiner Mandanten war, und außerhalb des Gerichtssaals konnte ich nichts am Leben meiner Schützlinge ändern. Ich nahm mich mit der gebührenden Sorgfalt ihrer an, und wenn sie das Glück hatten, danach in die Freiheit entlassen zu werden, 176
gingen sie mit Gott. Um drei machte ich mich auf den Weg, Michele in Virginia Highlands zu treffen, einem schicken Viertel nördlich der Innenstadt. Highlands ist ein wesentlicher Bestandteil der optischen Täuschung, die Atlanta bewirkt, eine Gegend, in der man sich tatsächlich einbilden kann, dass all die so unterschiedlichen Teile der Stadt am Ende doch in friedlicher Eintracht bestehen können. An jenem Tag tummelten sich auf der Hauptstraße alle Farben des Regenbogens, lauter Geschöpfe Gottes, die sich freundlich zulächelten und einander ein wohlgenährtes Lächeln schenkten: hoch gewachsene Rastafaris mit aufgetürmtem Haar unter den Strickmützen; Frauen in ihren Dreißigern mit selbstsicherer, feministischer Bekleidung; junge bärtige Muslime ganz in Weiß; biegsame, unglaublich dünne Frauen, die Bauch zeigten und Zigaretten rauchten. Wenn man hier herumlief, konnte man leicht zu der Überzeugung kommen, dass es gar keine McDaniel Glens auf der Welt gab. Michele sah selbst wie ein Regenbogen aus in ihrem weiten, locker fallenden Rock in Dunkellila, Orange und Schwarz, der fein knisterte, wenn sie sich bewegte. Dazu trug sie ein dünnes eierschalenweißes Top und drei Armreifen aus Metall, alle am linken Arm. Ihr Haar hatte sie straff nach hinten gebunden zu einem Pferdeschwanz, der sich in lauter geflochtenen Zöpfchen auffächerte. Sie hatte ihre Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, obwohl ich bezweifle, dass irgendjemand auf der North Highland Avenue eine Operndiva als solche erkannt hätte. Das Viertel hat einen ganz eigenen, etwas sterilen Schick, der es den Leuten ermöglicht, sich als progressiv zu empfinden, ohne ein Risiko einzugehen. New-Age-Boutiquen, vegetarische Restaurants und schummerig beleuchtete Bekleidungsläden, in denen Räucherstäbchen abgebrannt werden und Bambuswindspiele erklingen, reihen sich aneinander. Michele zog mich in verschiedene Läden hinein und wollte meine 177
Meinung zu diesem und zu jenem Kleidungsstück hören; ich war einigermaßen ratlos, denn es ist eigentlich mehr nach meinem Geschmack, die Frauen und nicht die Kleider zu bewundern. Sie hingegen war in ihrem Element: Hier probierte sie ein Paar asiatische Ohrringe an, dort einen Gürtel aus undefinierbarem Leder, dann ein Shirt mit leuchtend bunten Applikationen. Mir genügte es vollkommen, zu beobachten, wie glücklich sie war bei ihren kleinen Extravaganzen, wenn sie sich hingerissen mit exotischen Stoffen befasste oder Abscheu über ein Paar groteske Schuhe bekundete. Ich genoss jede einzelne Sekunde. Hier, wo Buddha, Jesus und Mohammed gut miteinander auszukommen schienen, waren wir nicht mehr schwarz und weiß. Hier durften wir in aller Freiheit Mann und Frau sein, und mehr wollten wir auch gar nicht. Ich kann mich noch an jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde erinnern, an das zerbrechliche, anonyme Glück, das wir genossen. Im Hintergrund stand unausgesprochen, aber lebendig das, was wir die Nacht zuvor erlebt hatten. Wie sie die Augen schloss, als ich meine Hände an ihrem Rücken niedergleiten ließ, welches Erlebnis ihre Schulter war, der jähe Augenblick der Selbstauslöschung – all das bildete den Hintergrund unserer Plaudereien, der flüchtigen Blickkontakte und kurzen Berührungen. Jeder Augenblick war vom stürmischen, betäubenden Sex der Nacht erfüllt und von der Vorfreude, uns wieder ineinander zu verlieren. Aber an jenem warmen Nachmittag bestand kein Grund zur Eile. Wir schlenderten durch das ganze Viertel, vielleicht fünfzehn Blocks weit, und ließen uns Zeit. Irgendwann schlüpften wir in die Darkhorse-Taverne, um ein frühes Abendessen zu genießen und ein Glas Wein zu trinken. Wir waren vor dem Massenandrang da, das Restaurant war noch fast leer. Wir setzten uns hinten ins Halbdunkel. Wir alberten herum und stibitzten uns gegenseitig etwas vom Teller. Die Zeit verrann, aber sie hatte keine Bedeutung für uns und kümmerte 178
uns nicht. Draußen brach allmählich die Dämmerung an. Manchmal ist die Erwartungsfreude so süß und erregend, dass es kaum zu ertragen ist. Wir wurden mit jeder Minute langsamer und genossen die unwiederbringlichen Augenblicke unserer jungen Liebe. Wir müssen ziemlich lange dort geblieben sein, denn das Restaurant füllte sich zusehends. Als wir uns endlich einmal umschauten, bemerkten wir erstaunt, dass etliche andere Paare ringsum Platz genommen hatten, und das gefiel uns gut. Die ganze Stadt atmete Frieden, und wir ließen es uns darin gut gehen. Beim Wein sagte sie: »Du bist dran.« »Womit?« »Mir deine Geschichte zu erzählen. Ich weiß im Grunde gar nichts über dich, und das ist unfair.« Sie lächelte. »Außer wie du küsst natürlich.« »Wie küsse ich denn?« »Sensationell.« »Ich denke, damit ist doch alles gesagt.« »Ich meine es ernst. Wo bist du zum Beispiel aufgewachsen?« »In Dothan, Alabama. Ist so ähnlich wie New York, nur kultivierter.« »Ich meine es wirklich ernst, Jack. Ich möchte es gern wissen.« »Kennst du das ganze Gesülze von den reizenden Städtchen in den Südstaaten?« »Ja.« »Es ist Gesülze.« Sie lachte. »Es muss aber auch etwas Gutes gehabt haben.« »Na ja, man würde uns vielleicht nicht mehr zu Brei schlagen, weil wir uns in der Öffentlichkeit geküsst haben. Vielleicht.« »Das ist doch immerhin ein Fortschritt.« Ich nickte. »Mein Großvater, ein prächtiger Mann, konnte sich mit knapper Mühe über Wasser halten mit dem, was dort als Lebensunterhalt gilt.« »Was hat er denn gemacht?« 179
»Er hat versucht, Geld aus ein paar Hektar Land herauszuholen«, erwiderte ich. »Er hat es auf zig Arten probiert, mit Hühnern, Schweinen und Alpakas.« »Alpakas? Aus denen man Pullover macht?« »Ich glaube, Pullover macht man nur aus ihrer Wolle.« »Du weißt schon, was ich meine.« »Er war kein Farmer, aber ich habe ihn nie klagen hören. Er ist zehn Kilometer zu Fuß gegangen, wenn es darum ging, einem Nachbarn zu helfen, und hat notfalls selbst nichts gegessen, damit andere satt wurden. Er war im Zweiten Weltkrieg Feldwebel bei der Artillerie, im Pazifik. Wenn ich an ihn denke, verstehe ich überhaupt nicht mehr, was mit unserem verdammten Land los ist. Im Gerichtssaal habe ich den Eindruck, dass eine ganze Generation von Männern einfach vergessen hat, erwachsen zu werden.« Sie nickte und starrte in ihr Glas. »Und deine Eltern?« »Gute Leute. Alabama-Farmer auf eigener Scholle, wie mein Großvater. Sie sind inzwischen gestorben. Aber sie haben noch mitbekommen, wie ich als Anwalt zugelassen wurde.« Sie lächelte. »Du bist wie ich.« »Wie meinst du das?« »Du bist ausgebrochen.« »Das bin ich wohl.« Ich bezahlte die Rechnung, und wir bummelten langsam wieder in Richtung unserer Autos zurück. In der Dämmerung berührten wir uns häufiger. Musik drang aus einem Hauseingang, an dem wir vorbeikamen; eine Band spielte Blues, und wir blieben stehen und lauschten eine Weile. Michele schmiegte sich an mich und wiegte sich im Takt der Musik. »Komm, lass uns reingehen«, sagte sie und drückte sich fester an mich. »Ich hätte nicht gedacht, dass das Musik für dich ist.« Sie bog sich nach hinten und küsste mich auf die Wange. »Alles ist Musik für mich, Liebster. Ausgenommen Johnny 180
Cash natürlich.« »Was hast du bloß gegen den Mann in Schwarz? Er liebt dich.« Während unserer kurzen Unterhaltung öffnete sich die Tür, und ein Pärchen kam heraus. Die Musik schallte auf die Straße, rau und seelenvoll. Wir konnten die Band auf der Bühne sehen und davor eine kleine Tanzfläche mit fröhlichen, herumwirbelnden Menschen. Wir traten ein, zwängten uns glücklich durch und mischten uns unters Volk. Wohin er auch reist, der Blues ist und bleibt im amerikanischen Süden beheimatet, und zwar aus einem unabänderlichen Grund: Er ist die einzige Musik, die zu gleichen Teilen Freude und Leid ausdrückt, und damit ist er zugleich eine kurze Lektion in der Geschichte dieser Weltgegend und ein fester Bestandteil ihrer Seele. Also fühlten wir uns geborgen dort, was auch immer uns sonst trennen mochte. Wir suchten uns im hinteren Bereich des Lokals einen Tisch, und ich bestellte uns etwas zu trinken. Michele schwang auf ihrem Stuhl sanft hin und her, und ich vergaß alles um mich her, während ich sie betrachtete. Sie bemerkte meinen Blick, erhob sich und forderte mich auf: »Komm tanzen.« »Mach keine Witze!« Sie lächelte mich breit an. »Lass mal sehen, wie du deinen Arsch bewegst, weißer Mann!« Ich stand auf und führte sie zur Tanzfläche. Sie war völlig ungezwungen und dabei wunderschön, eine verführerische Mischung mit starker Wirkung. Sie trat dicht an mich heran, und dann tanzten wir zusammen, gingen ganz auf in der pulsierenden Musik. Unsere Finger verschränkten sich ineinander, und wir bewegten uns synchron wie Spiegelbilder. Unser Geist hat die Fähigkeit, sich auf eine einzige Sache zu konzentrieren und alle Gefahren auszublenden, und in diesem Zustand befanden wir uns. Wir gehörten zu den glücklichen Menschen und hörten der Musik zu, die uns Südstaatler immer unsere Gemeinsamkeiten in Erinnerung bringt. Es kommt vor, 181
dass man die Wirklichkeit verdrängen muss, um wahrhaft glücklich sein zu können, und das taten wir an jenem Abend bereitwillig, und die vielen Leute und die Musik halfen uns dabei. Wir waren ausschließlich dem gegenwärtigen Augenblick hingegeben, dem Rhythmus der Musik, der Bewegung in der Menge und dem süßen Gefühl der Verliebtheit. Meinetwegen hätte es bis in alle Ewigkeit so bleiben können. Wir ließen ihr Auto in Highlands stehen und fuhren zu meiner Wohnung. Dort angekommen, blieben wir am Aufgang vor meinem Haus im Wagen sitzen. Ich warnte sie, nicht zu viel zu erwarten. »Es ist nicht unbedingt das Four Seasons«, sagte ich. Doch dann dachte ich, egal, sie ist wegen mir hier, nicht wegen der Möbel, und ich küsste sie so fest und leidenschaftlich auf den Mund, wie ich vermochte. Sie schloss die Augen und schlang die Arme um mich, und einige Minuten lang war mein zerbeulter Buick der schönste Platz auf Erden. Dann hielt ich ihr die Autotür auf und führte sie die Stufen zum Haus hinauf. Ich schloss die Wohnungstür auf; Michele trat ein in mein 90Quadratmeter-Reich und besichtigte es mit einem belustigten Gesichtsausdruck: den schäbigen hellgrauen Teppichboden, die zusammengewürfelten Möbel, darunter ein Esstisch mit vier Stühlen, gebraucht gekauft und auch neu nichts Besonderes, ein kleiner Fernseher, hässlich und unübersehbar auf einer schwarzen Konsole, und eine Couch samt Ruhesessel in Gelbbraun; vor allem aber mangelte es ganz entschieden an all den angenehmen Kleinigkeiten, die aus einer Wohnung erst ein Zuhause machen. Jetzt, wo ich meine Bleibe mit Michele zusammen betrachtete, sah sie nur noch traurig nach männlichem Single aus. »Schön hier«, sagte sie. »O ja«, sagte ich. »An manchen Tagen kann ich es gar nicht erwarten, endlich nach Hause zu kommen und in all diesem Luxus zu schwelgen.« Ich ließ sie auf der Couch Platz zu nehmen. »Darf ich dir etwas bringen?« 182
Sie schüttelte den Kopf. »Danke. Alles bestens bei mir.« »Wohl wahr. Entschuldige mich mal einen Augenblick, ja?« Ich ließ sie im Wohnzimmer sitzen und verschwand im Schlafzimmer. Als ich zurückkam, betrachtete sie gerade eine eingerahmte Urkunde aus früherer Zeit. »Hiermit wird Jack L. Hammond in den Anwaltsstand erhoben und am Obersten Bundesgericht von Georgia zugelassen«, las ich laut. »Unterzeichnet: die Bundesrichter«. »Sehr ehrenvoll, Jack. Warum hängt die Urkunde nicht in deiner Kanzlei?« »Ich bezweifle, dass sie auf meine derzeitige Klientel Eindruck machen würde.« Sie stand auf und trat mit wohliger Langsamkeit auf mich zu. »Du musst wirklich darüber hinwegkommen«, sagte sie und legte ihre Arme um mich. »Vielleicht kann ich dir helfen.« Sie küsste mich, zuerst ganz zart, dann nachdrücklicher. »Wobei?«, fragte ich. Sie bog sich ein wenig von mir weg und sah mir direkt in die Augen. »Bei allem«, flüsterte sie, und dann spürten wir wieder nur noch einer den anderen und nichts sonst. Im Flugzeug war unsere Leidenschaft gierig und ungestüm gewesen; jetzt war sie gemäßigter, ich konnte meinem eigenen Rhythmus folgen und war glücklich und zufrieden, Zeit für sie zu haben, mich in die Mulden ihres Körpers zu vertiefen und die Konturen ihrer Hüften, ihres Bauches und ihrer Rückseite nachzuzeichnen. Spät am Abend legte ich eine Billy-Joe-Shaver-CD mit einem Song über die Vergänglichkeit der Liebe auf. Michele setzte sich im Bett aufrecht, lauschte etwa 15 Sekunden lang und sagte: »Das ist so schrecklich, dass ich dir gar nicht sagen kann, wie schrecklich.« »Ich glaube aus deinem Mund gehört zu haben, dass alles Musik für dich ist.« Sie hörte erneut ein paar Sekunden zu, dann hielt sie sich die Ohren zu und sagte: »Nein, ich habe mich geirrt.« 183
»Quatsch«, sagte ich, »es ist genau wie La Bohème.« »Ich lass dich nicht mehr an mich ran, so viel ist sicher!« »Hör doch mal, er sagt ja nur, dass du dich den Freuden und Genüssen hingeben sollst, solange du kannst, weil sie nicht von Dauer sind.« »Nicht ewig währen, hat er meines Erachtens gesagt.« »Ja. Nicht ewig währen. Genauso wie bei Puccini diese albernen Bohémiens. Der Unterschied ist nur, dass er es so sagt, dass ich es ihm abnehme.« Jetzt lachte sie und ließ sich wieder in die Kissen zurückfallen. »Na schön«, sagte sie, »ich werde dich trotz des Gejaules lieben, aber nur, wenn du mir versprichst, da weiterzumachen, wo du vorhin aufgehört hast.« »Mit dem größten Vergnügen«, sagte ich und robbte näher an sie heran. Ich erkundete mit der Zunge ihre exquisiten dunklen Beine von den Knöcheln bis zu den Hüften und hielt erst hoch oben an der Innenseite ihrer Schenkel bei einem dezenten Buchstaben-Tattoo inne. Beim Liebesspiel im dunklen Flugzeug hatte ich es gar nicht gesehen. Die Buchstaben ergaben die Worte Pikovaja Dama. Sie atmete schwerer und kehrte sich durch eine Drehung von mir ab. Sie griff nach meiner Hand und zog mich zu sich, bis meine Arme sie umfingen. Dann wandte sie mir ihr Gesicht zu und küsste mich über die Schulter. Und schenkte mir ein Lächeln von so abgrundtiefer Traurigkeit, dass ich nur ihre Küsse erwidern und sie noch enger an mich ziehen konnte. »Es ist kein Geheimnis«, sagte sie. »Man sieht es, wenn ich einen Badeanzug trage. Aber nur einer von zehntausend weiß, was es bedeutet.« Sie drehte sich zu mir, presste ihren nackten Körper an mich und küsste mich heftig auf den Mund. In den nächsten Stunden vergaßen wir die Außenwelt und überließen uns bereitwillig einer dem Zauber des anderen. Eine Rhapsodie gegenseitiger Berührungen voller Lust setzte ein und gipfelte in dem Augenblick der Erlösung mit seinem zitternden, blendenden Licht, in dem sich die Augen jäh schließen. 184
Danach schliefen wir, und ich hatte Jahre nicht mehr so tief geschlafen. Ich habe nie zu den Männern gehört, die mit einer Frau im Bett nicht schlafen können. Im Gegenteil, bei Micheles sanftem Säuseln kam eine Ruhe über mich, deren Existenz ich fast vergessen hatte. Mein Schlaf war traumlos und dunkel, und alle alten Erinnerungen waren völlig ausgeblendet. Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, saß sie im Sessel und betrachtete mich still. Ich lächelte und setzte mich auf. »Du bist ja schon angezogen«, sagte ich. »Wie viel Uhr ist es denn?« »Ich habe mir ein Taxi bestellt«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht aufwecken.« »Sei nicht albern. Selbstverständlich bringe ich dich zu deinem Wagen.« Sie schüttelte den Kopf. »So ist es besser.« Ich lehnte mich zurück und ließ die Laken bis zur Hüfte heruntergleiten. »Ich könnte mir den Tag frei nehmen.« Sie lachte, und ihre Stimme hatte wieder die gewohnte heitere Melodik. »Ich habe einige Dinge zu erledigen.« Das war der Moment, in dem der erste Strahl der Realität durch meine Scheuklappen drang: Sie hatte ihr eigenes Leben, ein Leben, an das ich nicht rühren konnte. Ich konnte nicht fragen: Was für Dinge? Ich konnte es nicht fragen, weil ich damit alles ruiniert hätte. Es war einfach so und nicht anders. Draußen ertönte ein Hupen, und sie stand auf. Ich sprang aus dem Bett und stand nackt vor ihr, zog sie in meine Arme. Ich fragte sie nicht, wann wir uns wiedersehen wollten. Es gibt Zeiten, in denen Fragen nach der Zukunft die Gegenwart verderben. Den ganzen Morgen lang, beim Duschen und als ich mich für den Arbeitstag fertig machte, sagte ich ihren Namen vor mich hin. »Die große Michele Sonnier«, sagte ich zu den Badezimmerwänden, dem Kühlschrankinneren, dem Schrank, in dem mein Schirm war. Ich wiederholte ihn im Auto, während 185
die Scheibenwischer die Windschutzscheibe von einem Platzregen frei hielten. Ich setzte ihn an die Stelle der Frauennamen in den herzergreifenden Songs, die im WYAY liefen. Ich summte ihn, während ich durch den Flur zu meinem Büro ging. Doch meine Hochstimmung sollte nur so lange anhalten, bis ich die Tür aufgemacht hatte. Das erste Gesicht, das ich sah, war das eines Polizisten in Uniform, der eine ernste Sergeant-Friday-Miene aufgesetzt hatte. Das zweite gehörte seinem Kollegen, einem kugelrunden, übergewichtigen Mann, der fast aus seinen Kleidern platzte. Das dritte war das von Blu und wirkte sichtlich verärgert. Ihre Stimme schnitt durch den Nebel dieser Bilder. »Jack«, sagte sie, »haben Sie Ihr Handy nicht an? Ich versuche seit zwanzig Minuten, Sie zu erreichen.« Ich schaute mich benommen um. »Ich weiß nicht. Ich … wahrscheinlich nicht. Was ist denn hier los?« Der erste Cop antwortete. »Ein Raub«, sagte er in ausdruckslosem Amtston. »Oder zumindest ein Einbruch. Wir haben noch nicht feststellen können, was gestohlen wurde, wenn überhaupt.« »Ein Einbruch?« Ich sah mich verwirrt um. Die Tür zwischen Blus Zimmer und meinem Büro stand offen; die Luft war feuchtschwül, obwohl die Klimaanlage lief. Ich ging am Wartebereich vorbei in mein Büro. Das Fenster hinter meinem Schreibtisch war offen und ließ den Morgen herein. Auf meinem Schreibtisch verstreute Papiere verrieten mir, dass jemand hier gewesen war. Ich ging wieder zu Blu. »Alles in Ordnung, Baby?«, fragte ich. »Sind Ihre Sachen noch alle da?« Blu nickte, aber ich sah ihr an, dass ihr die Vorstellung, jemand könnte in ihren Sachen gewühlt haben, sehr unangenehm war. »Der Herr Anwalt hat eine farbige Klientel«, sagte der dicke Polizist. »Vielleicht war es einer davon.« 186
»Moment mal«, sagte ich leise. Nach meinem anfänglichen Schock machte sich jetzt ein Gefühl bei mir bemerkbar, dass etwas nicht stimmte. »Was ist?«, fragte Blu. Ich warf noch einmal einen Blick durch die Verbindungstür in mein Büro, und das Gefühl nahm zu. Ich ging durch die Tür und ließ die Augen schweifen. Alles schien normal zu sein. Dann sah ich den leeren Platz auf dem kleinen Tisch, an dem Nightmare gesessen hatte. Dougs Computer war weg.
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14 Angst ist etwas Undefinierbares. Wenn man weiß, wovor man Angst hat – wenn man es definieren kann –, verliert es seine Macht. Es ist das Unbekannte, das einem den Rücken hinaufkraucht, sich festsetzt und unheilvoll knistert wie elektrischer Strom. Durch einen Einbruch, der immer etwas Gewaltsames hat, kann es sich zu einem lauten Alarmton steigern. Auch Schuldgefühle erhöhen die emotionale Anfälligkeit; sie schärfen das Reaktionsvermögen und machen einen hypersensibel. Ich hatte vorübergehend das Empfinden, als bestände irgendeine Verbindung zwischen dem Einbruch und dem, was Michele und ich in der Nacht getan hatten. War es reine Koinzidenz, dass er während unseres Zusammenseins verübt worden war? Oder war er als karmischer Ausgleich gedacht und ein Mittel Gottes, Lust und Leid gegeneinander aufzuwiegen? Schuld. Das ist für den Strafverteidiger das Schlüsselwort. Es ist kein Zufall, dass Schwurgerichte den Angeklagten nicht unschuldig erklären. Sie sagen »nicht schuldig«, weil irgendwo im kollektiven Unbewussten die Erkenntnis schlummert, dass niemand wirklich fleckenlos und unschuldig ist. Diese Worte passen einfach nicht zum Menschen. Wenn man also mit der Frau eines anderen in eine Art Delirium gefallen ist, beginnt man – auch wenn man weiß, dass man sich in sie verliebt hat –, nach herabfallenden Steinbrocken Ausschau zu halten, nur wegen des Ausgleichs. Ich spürte also das Knistern, die Angst. So gab ich als Erstes Blu den Tag frei. Der Einbruch hatte sie sehr aufgeregt, und ich wollte sie nicht im Büro allein lassen, da ich vorhatte, wieder zu gehen. Sie sah mich dankbar an, nahm ihre Handtasche und trabte im Laufschritt davon. Als Nächstes rief ich Nightmare an, 188
um mir ein Bild vom Ausmaß des Schadens machen zu können, der durch den Verlust von Dougs Computer entstanden war; er ging nicht ans Telefon, was mich nicht weiter überraschte. Für ihn war neun Uhr morgens Schlafenszeit, nicht Aufstehzeit. Ich sprach eine Nachricht auf seinen Anrufbeantworter und fragte mich, welchem Cyberfreak von Atlanta er wohl diesmal einen nächtlichen Besuch abgestattet hatte. Dann kehrte ich allein zu meinem Büro zurück und setzte mich hin, um nachzudenken. Jemand hatte Dougs Computer haben wollen. Mein erster Gedanke war der nächstliegende: Wahrscheinlich hatte ihn einer von Dougs Auftraggebern gestohlen, um zu verhindern, dass die gesammelten Informationen an die Öffentlichkeit drangen. Und man brauchte kein Genie zu sein, um Horizn auf die Liste der möglichen Kandidaten zu setzen. Mit dem Diebstahl konnten sie ihre Spuren verwischen. Das war eine Theorie, die mir gefiel; sie war sauber, und sie war stimmig. Aber es gab noch eine zweite, eine finstere Möglichkeit: Vielleicht war Doug ermordet worden, bevor er seine Informationen an einen Auftraggeber weiterleiten konnte, und zwar von jemandem, der diese Transaktion um jeden Preis verhindern wollte. Wenn das stimmte, war noch eine dritte Partei im Spiel, jemand, der gefährlich und entschlossen war, dafür zu morden. Womit klar war, dass ich Billy Little aufsuchen musste. Für den Fall, dass sich die Dinge zuspitzten, hatte ich ihn gern auf meiner Seite. Industriespionage war eine Sache: Es war allgemein bekannt, dass sich Konzerne gegenseitig aushorchten. Wenn Horizn – oder eine andere Firma – in den GraytonDateien herumgeschnüffelt hatte, würde das die Geschäftswelt nicht besonders erschüttern. Selbst der Diebstahl einer Computeranlage würde nicht viel Wirbel verursachen. Aber seine Mitmenschen umzubringen war eine andere Sache. Deshalb machte ich mich auf den Weg zum Polizeipräsidium in der Stadtverwaltung Ost, eine Fahrt von zwanzig Minuten. Ich rannte ihn im Flur fast um, denn wir trafen an einer Ecke 189
aufeinander. Mit Billy zusammenzuprallen ist so, als würde man auf einen makellos gekleideten Ziegelstein treffen. »Hallo, Billy«, sagte ich, »wir müssen miteinander reden. Können wir kurz in Ihr Büro gehen?« »Ich hol eben Kaffee und komme gleich nach.« Ich ging den Flur entlang und postierte mich vor Billys Tür. Nach ein paar Minuten kam er wieder um die Ecke, in jeder Hand einen Becher Kaffee. Er reichte mir einen, und ich folgte ihm in sein Büro und schloss die Tür hinter uns. »Was gibt’s denn?«, fragte er. »Bei mir ist eingebrochen worden«, sagte ich. »Vergangene Nacht.« »Verdammt, Jack, das tut mir aber Leid. Waren Polizeibeamte da?« »Ja. Sie haben einen Bericht abgefasst.« »Eine beschissene Gegend.« »Ich glaube nicht, dass die Gegend viel damit zu tun hatte.« »Wieso nicht?« »Weil sich jemand sehr viel Mühe gemacht hat, wenn man bedenkt, dass er nur an einem einzigen Gegenstand interessiert war. An Doug Townsends Computer.« Billy runzelte die Stirn. »Ihr toter Mandant?« »Richtig. Mein eigener Computer stand anderthalb Meter weiter und wurde nicht angerührt.« »Sind die vielleicht mitten im Einbruch gestört worden?« »Das wäre möglich. Es sah ganz so aus, als wären sie in aller Eile verschwunden.« »Aha.« »Die Sache ist die, dass ich mir Dougs Computer von innen angeschaut habe. Und da habe ich etwas ziemlich Interessantes gefunden.« Billy setzte sich und bedeutete mir, ebenfalls Platz zu nehmen. »Vielleicht sollten Sie mal ganz von vorn anfangen.« »Doug war kein Drogenabhängiger wie jeder andere«, sagte 190
ich. »Er hatte besondere Fähigkeiten.« »Was für Fähigkeiten?« »Computerfähigkeiten. Er war Hacker und ist bei einer Firma namens Grayton Technical Laboratories eingedrungen. Er hatte jede Menge Daten über Unternehmensinterna gesammelt.« Billys Miene verdüsterte sich. »Ihr Freund war ein Hacker?« »Ja. Und ganz offensichtlich ein brillanter Hacker.« Billy wollte mich unterbrechen, aber eine Geste von mir stoppte ihn. »Sie brauchen nicht sauer zu sein; ich wusste vorher auch nichts davon.« Billy nickte. »Weiter.« »Doug war in alle Winkel des Grayton-Netzwerks eingedrungen. Und dann war er plötzlich tot.« Billy betrachtete mich eine Weile schweigend. »Süchtige sterben oft unvorhergesehen. Aber ich bin ganz Ohr.« »Dann wird auch noch in mein Büro eingebrochen, und das Einzige, was gestohlen wird, ist sein Computer. Das war kein Routinediebstahl, Billy. Jemand wollte den Inhalt des Kastens.« »Diese Grayton Technical Laboratories, was ist das für eine Firma?« »Ein Arzneimittelhersteller. Forscht in vorderster Front. Ich sehe sie mir mal an. Der springende Punkt ist, dass sie auf der gleichen Schiene arbeiten wie Horizn.« Billy zog eine Augenbraue hoch. »Mal langsam, Herr Anwalt. Um es gleich vorweg zu sagen: Industriespionage ist Sache des FBI. Die Kriminalpolizei befasst sich nicht damit.« »Und wie steht es mit Diebstahl? Der Computer ist ja nicht von allein davonspaziert.« Billy betrachtete mich wieder eine Zeit lang stillschweigend. »Mal eine Frage, Jack. Warum spucken Sie’s nicht einfach aus und erzählen mir, was Sie denken?« »Wie meinen Sie das?« »Sie wollen offenbar andeuten, dass Charles Ralston irgendwie in dieser Sache mit drinhängt und auch in der mit 191
Ihrem Freund. So was wie eine Verschwörungstheorie.« »Das wäre immerhin eine Möglichkeit.« »Aber eine unter tausend, und das ist mein Problem. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Wie viele Drogensüchtige sind Ihres Wissens in den letzten Jahren in Ihrer Kanzlei gewesen?« »Weiß ich nicht. Alle, die auf Kaution frei gelassen wurden. Vielleicht hundert.« »Hundert. Und wie viele von denen haben Ihrer Ansicht nach schon einmal einen Einbruch begangen?« »Verdammt, Billy …« »Sechzig? Siebzig? Ich will damit nur sagen, dass Ihr Büro für Leute, die Geld brauchen, ein Klacks ist. Sie haben eine schöne Computeranlage da stehen. Zack, schon sind Sie fällig.« Er zuckte die Achseln. »Ich sage nicht, dass es so gewesen ist. Ich sage nur, dass ich, wenn ich wetten müsste, auf die Leute setzen würde, die sowieso schon ihren Lebensunterhalt auf diese Weise verdienen.« »Ein interessantes zeitliches Zusammentreffen.« »Da stimme ich Ihnen zu. Aber Sie werden bestimmt nichts dagegen haben, wenn ich mir ein bisschen Zeit nehme und selbst ein paar Nachforschungen anstelle, ehe ich einen Mordfall eröffne, das FBI anrufe und eine der beliebtesten Persönlichkeiten Atlantas verdächtige, in den Tod eines Drogenabhängigen verwickelt zu sein, oder?« Ich erhob mich. »Nein.« Billy stand ebenfalls auf und schüttelte mir die Hand. »Danke. Aber ganz offiziell glaube ich trotzdem, dass Sie Gespenster jagen.« Ich blieb an der Tür stehen, aber nur sekundenlang. »Vielleicht. Aber vielleicht jagen sie mich.« Um elf war ich wieder in meinem Büro. Ich rief erneut bei Nightmare an, nur um nachzuprüfen, ob Dracula schon aus seinem Sarg gestiegen war. Noch immer Funkstille. Ich setzte 192
mich an meinen Schreibtisch und wusste, dass ich noch einen Anruf tätigen musste, einen, den ich mir weit weg wünschte, der mir aber nicht erspart blieb. Michele hatte ebenfalls ein Anrecht, über Dougs PC informiert zu werden. Es war gut möglich, dass irgendwo in den Tiefen des Computers auch Informationen über ihre Tochter schlummerten, die nun nach draußen gelangten. Vielleicht lag dem Dieb etwas daran, vielleicht auch nicht. Aber falls ihr Geheimnis publik wurde, war es mit ihrem Leben im bisherigen Stil vorbei. Ich wählte die Nummer auf meinem Handy, und Michele war am Apparat. Ihre Stimme brachte mir sofort wieder die Nacht in Erinnerung, und einen kurzen, kostbaren Augenblick lang vergaß ich alles um mich her. Ich ging wieder ganz in jenem verführerischen erotischen Tanz auf, der mich auslöschte, in dem die lange aufrechterhaltenen Barrieren fielen. Ich wünschte auf einmal, alles wäre viel einfacher. Ich wollte Zeit für diese Frau haben, Zeit ohne die Komplikationen eines toten Doug oder einer verheimlichten Tochter; und obendrein gab es noch einen Ehemann, Gott steh mir bei, was zum Teufel machte ich bloß! Sie wartete schweigend am Telefon, aber ich brachte keinen vollständigen Satz heraus. Ich war innerlich zu aufgewühlt. »Es hat einen Einbruch gegeben«, sagte ich schließlich. Sie wurde sofort ernst. »Was ist denn passiert?« »Dougs Computer«, sagte ich. »Er ist weg. Jemand ist in mein Büro eingestiegen. Letzte Nacht, als wir zusammen waren.« »Mein Gott, Jack«, sagte sie, »was ist, wenn …« »Ich weiß«, sagte ich, »aber du darfst jetzt keine voreiligen Schlüsse ziehen. Es besteht immerhin die Chance, dass Doug es dir erzählt hätte, falls er etwas in Erfahrung gebracht hat.« »Ich habe aber ein mulmiges Gefühl, Jack. Wir müssen sofort etwas unternehmen.« »Ich weiß ihren Namen und ihr Geburtsdatum! Das reicht für den Anfang. Du musst mir nur etwas Zeit lassen.« 193
»Das reicht nicht, Jack. Wir müssen sie finden. Ich fürchte … ich fürchte, sie lebt im McDaniel Glen.« »Im Glen? Was soll das heißen? Hat Doug dir doch schon etwas erzählt?« »Sie ist hier, hat Doug gesagt. Überleg doch mal, Jack. Doug hat gleich neben dem Ghetto gewohnt. Hier kann also durchaus die Gegend dort bedeuten.« »Woher weißt du, wo Doug gewohnt hat?« »Von ihm selbst natürlich. Wir müssen jetzt handeln, hat er gesagt. Als lauere eine Gefahr. Das klingt ganz nach dem Glen.« »Hast du schon einmal die Möglichkeit erwogen, dass sie irgendwo lebt und glücklich ist? Dass sie es gut hat und zur Schule geht, dass sie viele Freunde hat und alles wunderbar ist?« Ich glaubte selbst nicht daran; nur muss ich mir in meiner Branche ab und zu in Erinnerung rufen, dass manche Geschichten ein Happy End haben, damit ich nicht verzweifle. Michele gab sich nicht damit zufrieden. »Das habe ich mir auch schon unzählige Male gesagt. Aber ich weiß, dass es nicht stimmt.« »Lass dich von dieser Einbruchsgeschichte nicht zu sehr erschüttern.« »Sie erschüttert mich nicht, Jack. Aber wir müssen handeln. Sofort.« »Und wie stellst du dir das vor? Dass wir von Tür zu Tür gehen?« »Warum nicht?« »Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit vergeblich, und du bringst dich damit selbst in Schwierigkeiten. Wenn du dabei in Erscheinung trittst, wird dich früher oder später jemand mit dem Mädchen in Verbindung bringen. Du bist eine sehr bekannte Persönlichkeit, Michele. Wir können deine Identität unmöglich geheim halten. Dann kommen die Nachrichtenmedien mit ihren Kameraleuten, und die Hölle bricht los.« »Mein Gott, Jack, glaubst du wirklich, dass die 194
Ghettobewohner in die Oper gehen?« »Ich sage nur, dass die Möglichkeit besteht, dass du erkannt wirst. Bestimmt war schon öfter ein Bild von dir in der Zeitung. Es ist erstaunlich, woran die Menschen sich erinnern.« Es war einen Moment still. »Dann eben ohne mich«, sagte sie einfach. »Sei mir nicht böse, Michele, aber die Idee, dass ich allein losziehe, ist auch nicht berückend. Ein Weißer in einem Buick auf der Suche nach einem jungen Mädchen im Glen?« »Bist du um drei herum noch in deinem Büro?« »Das kann ich einrichten. Wozu?« »Sei einfach da.« Um fünf vor drei schaute ich aus dem Fenster: Das Auto, das gerade auf meinen Besucherparkplatz einbog, sah aus wie Micheles grauer Lexus. Mein Fenster war im zweiten Stock, und der Wagen hielt direkt darunter, sodass ich nicht sehen konnte, wer am Steuer saß. Wer immer es war, parkte ein und rührte sich nicht mehr, als warte er. Ich ging nach unten, um die Person näher in Augenschein zu nehmen; seit dem Einbruch passte ich auf, wer sich in der Gegend herumtrieb. Als ich an das Auto herantrat, öffnete sich das Fenster auf der Fahrerseite. »Hallo, Jack«, sagte eine Frau. Die Stimme war unverkennbar die von Michele. Nicht so die äußere Erscheinung. »Du meine Güte, was machst du denn bloß!« Sie sah ärmlich aus, nur täuschte sie diesmal nicht Armut mit irgendeinem teuren Fummel vor, sondern war wirklich so. Bei ihrer Verwandlung von der Diva zur Ghettobewohnerin hatte sie systematisch jedes Fitzchen Glitzerglanz weggelassen und durch die stillose Unbestimmbarkeit der Armut ersetzt. Sie hatte sackartige, verdreckte Hosen an und dazu ein übergroßes T-Shirt mit University-of-Miami-Aufdruck. Die Haare hatte sie unter einem schäbigen Hut versteckt. Sie trug kein Makeup, sondern nur eine billige Sonnenbrille. Wenn sie jetzt noch ein bisschen 195
voll gedröhnt gewesen wäre, hätte sie sich unter meine Klientel mischen können, ohne aufzufallen. Ich riss die Augen auf und sagte: »Du siehst schrecklich aus.« »Gut. Wir nehmen dein Auto.« Sie kurbelte das Fenster hoch, stieg aus und schloss ihren Wagen ab. Sie kam mir kleiner vor, als ich sie in Erinnerung hatte; dann sah ich, dass sic statt ihrer gewohnten Pumps abgetretene Turnschuhe trug. »Das ist nicht dein Ernst«, sagte ich. »Ich gehe ins Ghetto, Jack.« Sie sah mich durchdringend an. »Du kannst ja hier bleiben, wenn du willst. Aber ich gehe.« »Auf gar keinen Fall lasse ich dich allein in den Glen.« Sie musterte mich. »Ohne dich ist es wahrscheinlich sicherer für mich.« Das brachte mich zur Besinnung; sie hatte Recht, das musste ich zugeben. Mit mir an ihrer Seite war sie als Eindringling gebrandmarkt. »Ich glaube nicht, dass es so geht«, sagte ich. »Also immer mit der Ruhe, lass uns noch mal überlegen.« »Ich werde meine Tochter suchen, Jack. Ich habe vierzehn Jahre gebraucht, um diesen Entschluss zu fassen. Vielleicht bringt es nichts, in den Glen zu gehen, aber es ist ein Anfang.« Ich starrte sie an. »Ich komme mit«, sagte ich. Es war lange her, seit ich das letzte Mal an Professor Judson Spence’ Prinzip der magnetischen Anziehung gedacht hatte, aber allmählich hatte ich das ungute Gefühl, als säße es uns im Nacken. Was die anziehende Wirkung auf die übelsten Elemente aus dem kriminellen Milieu betraf, stand der McDaniel Glen den Ghettos im Norden so nahe, dass es praktisch keinen Unterschied gab. »Gottverdammich, ich komme mit.« Ich war noch in Berufskleidung, darum fuhren wir eben zu meiner Wohnung, sodass ich mich schnell umziehen konnte. Ich klemmte mich in ein Paar Jeans und stopfte das Handy in die Hosentasche. »Fertig?« »Ja. Auf geht’s.« Wir durchquerten die Stadt und kamen kurz nach vier an der 196
Peripherie des Glen an. Der Verkehr auf dem Freeway fing gerade an, zusammenzupappen wie angemischter Zement. Ich ließ den Wagen dicht vor den Eisentoren des Glen ausrollen und drehte mich zu Michele. Ich wollte sie etwas fragen, aber ihr Gesichtsausdruck brachte mich zum Schweigen. Sie starrte auf den Eingang zu einem Teil ihrer Vergangenheit, ihres Horrors. Erst in diesem Moment wurde mir klar, was es für sie bedeutete, noch einmal hierher zurückzukehren. »Warst du zwischendurch mal hier?«, fragte ich leise. Sie schüttelte stumm den Kopf. Sie war wie gelähmt, der Anblick der Ghettotore riss ein gähnendes Loch in fünfzehn Jahre Vergangenheit, die auf einer gigantischen Lüge aufbauten. »Es ist wie Auschwitz«, sagte sie im Flüsterton. »Ich hatte einen Auftritt in Warschau, und da habe ich es mir angesehen. Dort nennen sie es Oświęcim. Die Eisentore sahen genauso aus wie diese. Vorher ist mir das nie aufgefallen.« Ich betrachtete den Eingang; sie hatte Recht. Es fehlten nur noch die Worte Arbeit macht frei. Und dann verstand ich ihre Schuldgefühle ein bisschen besser: Sie hatte die Schuldgefühle der Überlebenden. Sie war der Hölle entflohen und wurde, wie es immer bei einer solchen Flucht geht, von Gedanken an die gemartert, die zurückgeblieben waren. »Gott weiß, ob das gut geht«, sagte ich. »Aber versuchen wir’s.« Ich lenkte den Buick wieder auf die Straße und hielt auf das Eingangstor zu. Eine erstaunliche Anzahl von Fahrzeugen fuhr in das Viertel hinein, ein Beweis dafür, dass zumindest einige Ghettobewohner Arbeit hatten. Aber daneben gab es die allgegenwärtigen Teenager, abwechselnd teilnahmslos oder aggressiv, je nachdem, wie der Wind stand. Das machte diese Gegend so gefährlich; man musste hier leben, um das Klima einschätzen zu können. Ein Scherz konnte binnen einer Sekunde ins Gegenteil umschlagen, und die Alarmsignale waren sehr unauffällig. Ein etwas anderer Ton, eine Haltungsänderung von jemandem, und schon konnte die Hölle losbrechen. Wer das 197
System kannte, konnte Konflikten aus dem Weg gehen und ein relativ sicheres Dasein fristen. Mit Glück konnte er es sogar zu etwas bringen. Ich weiß es, denn nach allem, was ich gesehen habe, kann das Leben erhebend sein in seiner Weigerung zu verzweifeln, und geadelt durch seine stille Würde ist es dann überall möglich, theoretisch sogar in Auschwitz. Leider brachte mich mein Beruf mit lauter Menschen zusammen, die sich anders entschieden. Ich sah auf die Uhr; es war nach vier, wir hatten also noch ein paar Stunden Tageslicht. »Fahr einfach langsam«, sagte sie. »Ich erkenne sie.« »Sei nicht albern.« Sie warf mir einen Blick zu. »Na schön, dann fragen wir eben. Wir wissen ja ihren Namen und ihr Geburtsdatum. Vielleicht kennt sie jemand.« Ich nickte, und wir rollten langsam an dem Gebäude der Verwaltung vorbei die Hauptstraße des Glen entlang. Ich nehme an, jeder hat romantische Erinnerungen an das Zuhause seiner Kindheit, aber beim Glen hätte ich das nicht gedacht. Zu Unrecht, denn ich merkte, dass Michele mit jedem Häuserblock, an dem wir vorbeifuhren, wehmütiger wurde. Während für mich die Straßenecken und Häuser alle gleich aussahen, besaßen sie für Michele tausend unterschiedliche Merkmale. Rein äußerlich war der Glen wie in Bernstein eingeschlossen und statisch wie ein Museumsrelikt. Das Leben, das in ihm pulsierte – Lachen, Weinen, Babys, Freundschaften, Chaos, Ordnung –, hatte keine sichtbare Wirkung auf die Gebäude, ebenso wie das Äußere eines Gefängnisses auch stets unverändert bleibt. Die Wohnblocks waren wie Gefängnisbauten und die einzelnen Wohneinheiten innen auf den verschiedenen Stockwerken Zellen, die von der Straße aus meist gar nicht zu sehen waren. »Hier hat der Schulbus gehalten«, sagte Michele und zeigte auf ein Haltestellenschild. »Wir mussten uns anstellen wie Schäfchen.« Sie bat mich, nach links abzubiegen, und ich nickte 198
zustimmend. »Das ist meine Straße«, sagte sie. Sie war so gespannt, dass sie ihre Augen nicht mehr abwenden konnte. »Da!«, rief sie und zeigte auf Block E. »O Gott, Jack.« »Dein Haus?« Ich hielt an, und sie starrte lange auf die Haustür. Ich hatte keine Ahnung, welche Geheimnisse hinter den braunen Ziegelsteinen und rostigen Eisenträgern verborgen sein mochten. »In diesen Mauern sind Dinge passiert, die nie hätten geschehen dürfen«, flüsterte sie. »Es tut mir so Leid.« Ich hatte keine Chance, das alles zu verstehen, das wusste ich. Wir gehörten verschiedenenen Kulturen an, und uns trennten abgrundtiefe Welten. Sie zeigte auf Block F auf der anderen Straßenseite. »Dort kannte ich ein Mädchen. Es war nett.« Sie wandte den Blick wieder Block E zu. Ein paar Jugendliche kamen aus der Haustür, sie lachten und redeten laut. »Mal hören, ob die etwas wissen.« »Warte …« Bevor ich sie zurückhalten konnte, hatte sie schon die Autotür geöffnet. Sie stieg aus, und die Jugendlichen blieben abrupt stehen. Sie musterten Michele mit den testosterontrunkenen, anzüglichen Blicken, der Jugendlichen eigen ist, besonders, wenn sie zu mehreren sind. »Is was, Baby?«, fragte einer von ihnen. Er hielt auf sie zu, maß sie von oben bis unten und versperrte ihr schon den Weg, noch ehe sie ganz ausgestiegen war. »Halt an dich«, sagte Michele. Ihre Stimme hatte sich von einer Millisekunde zur anderen völlig verändert. Ich fiel fast aus dem Auto. Sie war schrill, sie war hart, und sie forderte Respekt. Die Jungs lachten. »Die Tussi will nichts von Darius wissen«, sagte einer von ihnen. »Hat Geschmack, die Tussi.« Der Aufreißer grinste nicht. Stattdessen kam er noch näher und berührte sie fast. »Komm schon, Baby, warum biste denn so? Wirst mich schon mögen, wennste mich erst kennst.« Ihre Stimme war jetzt stahlhart. »Heb deinen Arsch da weg«, 199
sagte die Frau, die zum Broterwerb Arien sang. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Es war, als würde alles auf den Kopf gestellt. Oder auch richtig gerückt, da war ich mir nicht sicher. Ich weiß nur, dass Darius ein Blick in Micheles Augen genügte, um Bescheid zu wissen. Was er dann tat, lässt sich nur so beschreiben: Er hob seinen Arsch da weg. Ich wusste zwar nicht, ob es die Lage verbessern oder verschlechtern würde, aber ich öffnete die Autotür und stieg aus. Darius nickte zu mir herüber. »Dein Chauffeur, Baby?« Michele ignorierte ihn. »Ich suche jemanden«, sagte sie. »Fünfzig Bucks für jeden, der mir sagt, wo sie ist.« »Alles klar, Baby«, sagte Darius. »Wie heißt sie?« Michele redete ostentativ weiter mit der ganzen Gruppe. »Sie ist vierzehn«, sagte sie. »Sie heißt Briah. Briah Fields.« »Ich kenne niemanden, der so heißt«, sagte einer aus der Gruppe. »Klar doch, Briah«, sagte Darius langsam. »Kenne ich.« Michele wandte den Kopf zu dem Jungen. »Kennt sie noch jemand?« Kaum hatte sie gefragt, stiegen die anderen voll mit ein. »Teufel auch«, riefen sie jetzt. »Klar kennen wir sie. Drüben von der Trenton Street. Block M. Ha’m sie erst vor ’n paar Tagen gesehen.« Darius kam näher. »Komm schon, Baby, ich hab dir gesagt, dass ich sie gesehen habe. Ich bring dich zu ihr. Gib mir die fuffzig.« Michele zuckte nicht mit der Wimper. »Wenn ich sie sehe, kriegst du das Geld.« Als er merkte, dass Michele genügend Selbstachtung besaß, um seine Unverschämtheit mit Missachtung zu strafen, schlug die Stimmung des Jungen um. Ich stand untätig dabei; aber während ich noch überlegte, ob es unseren sicheren Tod bedeutete, wenn ich den Mund aufmachte, hörte ich links hinter mir etwas. Ich drehte mich um und sah, dass eine Polizeistreife 200
in unsere Straße eingebogen war. Sie war noch etwa vier lange Häuserblocks von uns entfernt. Sofort traten die Jugendlichen ein paar Schritt zurück, allerdings behielt Darius Michele drohend im Auge. Die Polizeistreife kam näher und rollte langsam an uns vorüber; zwei Beamte – einer schwarz, der andere weiß – spähten im Vorbeifahren aus dem Fenster und warfen schließlich mir einen fragenden Blick zu. Michele erstarrte. Sie fuhren noch ein Stück weiter und hielten. Ich sah Michele an; aber bevor ich ein Wort sagen konnte, war sie in einem der langen Wohngebäude verschwunden. Es bestand allerdings kein Zweifel, dass sie gesehen worden war. Scheiße, verfluchte Scheiße. Die Cops kamen langsam auf die kleine Menschenansammlung zu. Der eine Beamte, ein großer, stämmiger Mann, schien der Verantwortliche zu sein. Der kleinere, offenbar sein Untergebener, folgte ihm. »Was gibt’s?«, fragte der Große. »Is was?«, fragte einer der Jugendlichen zurück. Darius, vorher Anführer der Meute, war wieder in der Gruppe untergetaucht. Niemand sah den Polizisten in die Augen. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz in dieser Gegend, an das man sich hält: Polizisten wird unbedingter Respekt entgegengebracht, und das auch im Tonfall. Wenn man sie wie Götter behandelt – und wenn ich Götter sage, meine ich auch Götter –, machen sie einem keinen Ärger und geben vielleicht sogar eine Zeit lang Ruhe. Aber wenn man auch nur andeutungsweise eine dicke Lippe riskiert, machen sie einem die Hölle heiß. Es ist ein absolutes Muss für Ghettobewohner, Respekt zu zeigen. Die Kommunikation zwischen der Polizei und den Anwohnern ist überwiegend einseitig und beschränkt sich auf kurze Fragen und Antworten. Der große Beamte kam zu mir. »Ausweis?« »Aber ja, Sergeant«, sagte ich lächelnd. Ich holte meine Brieftasche hervor. Er schaute sich meinen Führerschein an, 201
dann sah er wieder mich an. »Und was führt Sie ins Paradies?«, fragte er mit einem scheißfreundlichen Grinsen auf dem Gesicht. »Ich bin Strafverteidiger«, sagte ich. »Ich brauche ein paar Informationen über einen Mandanten.« Der andere Beamte schaltete sich ein. »Ja? Wen denn? Vielleicht einer, den wir erwischt haben, meinst du nicht, Bobby?« »Es ist eine Sie, und ich glaube nicht.« Der erste Beamte schlängelte sich zu meinem Wagen durch. Die Jugendlichen wichen zurück, um ihm Platz zu machen. Er musterte mein Auto und wunderte sich wahrscheinlich, warum ein Anwalt eine solche Schrottkiste fuhr. »Sie sind nicht etwa aus pharmakologischen Gründen hier, Herr Anwalt, oder?« »Nein, Sergeant, bin ich nicht.« Er streckte den Kopf durch das offene Fenster auf der Fahrerseite und schnupperte. Er zog ihn wieder heraus und sagte: »Haben Sie was dagegen, wenn ich mich darin mal umschaue?« »Ja, Sergeant, allerdings.« »Wieso denn?«, fragte der kleinere Beamte. »Haben Sie etwas zu verbergen? Ich glaube, der verbirgt etwas, Bobby.« Die Jungs durchbohrten mich förmlich mit ihren Blicken und beobachteten genau, wie es mit unserem kleinen Zirkus weiterging. Ich war weiß, und da wollten sie natürlich sehen, was passieren würde. Ich war so etwas wie ein wissenschaftliches Experiment für sie, bei dem sie mit eigenen Augen Zeuge einer neuen chemischen Reaktion sein konnten. Fast wünschte ich mir, die Cops würden mich hochnehmen, nur um den Jungs zu zeigen, dass es nicht immer an der Rasse lag. Aber ich durfte sie nicht so provozieren, aus dem einfachen Grund, weil ich Anwalt bin, und ich hatte keinen Bock, mir von der Polizei von Atlanta an den Karren fahren zu lassen. »Wenn Sie mich offiziell auffordern, mein Auto durchsuchen zu lassen, 202
weigere ich mich«, sagte ich. Falls es möglich war, dass die Luft in unserer unmittelbaren Nähe plötzlich zum Schneiden dick wurde, dann jetzt. Die Jugendlichen starrten alle den Polizeibeamten an und warteten darauf, dass er hart durchgriff. Der Respekt stand auf dem Spiel, und der war, im Verein mit einer schusssicheren Weste, sein bester Schutz. Ich konnte nur hoffen, dass er die Situation nicht ausreizte. Aber wie vorauszusehen war, tat er genau das. »Du hattest Recht«, sagte er zu seinem Kollegen. »Ich glaube, er ist hier, weil er Dope kaufen wollte.« Er ging zum Auto und streckte erneut den Kopf hinein. Rühr bloß nicht an den Türgriff, dachte ich. Lass mal ein bisschen Luft ab und basta. »Ich frage Sie jetzt noch einmal«, sagte der Beamte, nachdem er den Kopf wieder aus dem Auto gezogen hatte. »Geben Sie uns Ihre Einwilligung, diesen Wagen zu durchsuchen?« »Nein.« Er legte die Hand auf den Türgriff. Im selben Moment sagte ich: »Ich werde jetzt in meine Hosentasche greifen, Sergeant. Ich sage es Ihnen, damit Sie mich nicht missverstehen. Ich hole mein Handy heraus.« Der Beamte richtete sich auf; er war sich der Drohung bewusst. Ich heftete den Blick fest auf seine Augen und bewegte die Hand langsam zu meiner Hosentasche. »Mein Handy«, wiederholte ich. Ich zog es heraus und schaltete es ein. »Hier mein Angebot«, sagte ich. »Sie können wählen. Wenn Sie glauben, im Recht zu sein, können Ihr Kollege und ich hier warten, während Sie in die Stadt fahren und einen Richter davon zu überzeugen versuchen, dass ein Durchsuchungsbefehl gegen mich erhoben werden muss, weil ich an einer Straßenecke herumgestanden habe. Da mich alle beim Namen kennen, dürfte das ein schweres Stück Arbeit sein. Wenn Sie’s aber versuchen wollen, bitte, ich habe Zeit. Oder Sie bleiben dabei, dass Sie 203
mein Auto durchsuchen wollen – in dem Fall gebe ich den LiveKommentar dazu an Detective Billy Little.« Der Beamte starrte mich wütend an. Er war stinksauer und verlegen. »Sie kennen Detective Little?«, fragte er. »Ich habe ihm im Irak das Leben gerettet«, sagte ich sarkastisch. »Und er hält sich im Gegensatz zu Ihnen strikt an die Verfassung. Wie gesagt, es bleibt Ihnen überlassen. Je länger ich überlege, umso weniger interessiert es mich, was Sie vorziehen. Aber wenn Sie die Autotür anfassen, rufe ich an.« Inzwischen hatte sich eine ansehnliche Zahl von Jugendlichen um uns geschart, was die Sache nicht leichter machte. Man spürte deutlich, dass sie sich genau merkten, was hier ablief und wie Weiße mit der Polizei umgingen. Ich hätte ihnen gern gesagt, dass es nichts mit Rassenzugehörigkeit zu tun hatte, sondern mit drei Jahren Jurastudium, aber sie hätten es mir nie geglaubt. Ich weiß bis heute nicht, wer damals Recht gehabt hätte. Der große Polizist nahm mit finsterem Gesicht Abstand von meinem Wagen. Ich sah ihm an, dass er sich entschieden hatte. »Ich behaupte trotzdem, dass Sie was kaufen wollten«, sagte er. »Aber gut. Wenn Sie schon mit dieser Verfassungsscheiße um sich werfen, dann verziehen Sie sich jetzt gefälligst.« »Ich kann nie genug davon kriegen, mit Verfassungsscheiße um mich zu werfen.« »Verschwinden Sie. Oder bleiben Sie, dann haben wir endlich eine Handhabe, Sie festzusetzen.« »Ich muss aber meine Mandantin finden.« »Es gibt Regeln über den Aufenthalt im Glen, Herr Anwalt. Wenn Sie kein Anwohner sind, müssen Sie von einem eingeladen worden sein. Wer ist Ihre Mandantin?« Er hatte Recht; der McDaniel Glen war Sperrgebiet. Ich warf einen Blick auf das schmutzige Gelände zwischen der Straße und dem ersten Gebäudekomplex, das eine Grünfläche sein sollte. Irgendwo da hinten drin war Michele. Sie würde allein 204
bleiben mit einer Meute Jugendlicher, die womöglich Jagd auf sie machten. »Einen Augenblick noch …« »Das hatte ich mir gedacht. Verschwinden Sie. Sofort.« »Sergeant …« »Noch ein Wort …«, sagte der Cop. Ich warf einen letzten Blick auf den Wohnblock, dann ging ich zu meinem Wagen. Mir blieb nichts anderes übrig. Mit einer Verhaftung meinerseits war Michele nicht gedient. Vom Gefängnis aus konnte ich ihr nicht beistehen, falls sie Hilfe brauchte. Also stieg ich ein, ließ den Motor an und fuhr mit blutendem Herzen langsam davon. Etwa die Hälfte der Menge zerstreute sich, der andere Teil blieb stehen und wartete ab, was die Cops machen würden. Die Beamten stiegen in ihren Wagen und hefteten sich bis zur Ausfahrt aus dem Glen an meine Fersen. Es war die längste Fahrt meines Lebens. Hätte ich auch nur kurz angehalten, um einen Blick in eine der Seitenstraßen zu werfen, hätten sie mich festgenommen. Irgendwann durchquerte ich wieder die Eisentore und ließ Michele drinnen zurück. Der Streifenwagen hielt außerhalb der Ghettoumzäunung; die Polizeibeamten behielten mich durch die Windschutzscheibe hindurch im Auge, um sicherzugehen, dass ich auch weiterfuhr. Es war unmöglich, wieder hineinzufahren, außer mitten in der Nacht, eine schaurige Vorstellung. Der nächste Schichtwechsel bei den Polizisten war nicht vor ein Uhr nachts zu erwarten, und um die Zeit war eine Fahrt in den Glen eine Sache auf Leben und Tod. Ich griff zum Handy in der Hoffnung, dass Michele ihres dabei hatte. Es meldete sich einen halben Meter neben mir in ihrer Handtasche. Ich klappte meines wieder zu, blieb still sitzen und fragte mich, ob ich den Mumm hatte, ihr zu folgen, obwohl mir klar war, dass ich gar nicht anders konnte, ob mit oder ohne Mumm. Das letzte Mal, als ich versucht hatte, eine Frau zu beschützen, war es schief gegangen. Verdammt. Ich glaube, Professor Spence Magnetismusprinzip hat mich kalt erwischt. 205
15 Bisweilen ist mir die Zeit so schnell vergangen, dass mir die Tage wie brennende Papierschnipsel vorkamen, die vor meinen Augen zu Asche wurden. Aber als ich zwei Straßenecken vom Glen entfernt in meinem Wagen saß, erschien mir jede Minute wie eine Ewigkeit. Ich konnte nicht wegfahren. Ich konnte nicht hinein. Ich konnte absolut nichts machen. Für meine Gedanken galten diese Schranken allerdings nicht. Sie jagten sich mit einer Affengeschwindigkeit und gaukelten mir ein Höllenszenario nach dem anderen vor, in dem sich Michele womöglich gerade befand. Es hätte mich nicht wundern dürfen, wie sie sich vorhin im Glen verhalten hatte; schließlich hatte sie in ihrer Jugend anderthalb Jahre dort verbracht und gelernt, sich in jenen tückischen Gewässern zu bewegen. Ohne dich ist es wahrscheinlich sicherer für mich, hatte sie gesagt und damit vermutlich Recht. Es war durchaus möglich, dass meine Ängste grundlos waren. Es war aber auch möglich, dass ich die Gefahren unterschätzte. Die Sozialghettos sind eine Welt, die sich vernünftigen Überlegungen entzieht. Manche verbringen dort ihr Leben ohne jeden Zwischenfall. Andere leben ständig unter einem solchen Unstern, dass sie sich nicht einmal einen dreißigsten Geburtstag vorstellen können. Der Glen war, wie ich gelernt hatte, ein eigenes Universum. Nachdem mir zehn oder zwölf unangenehme Situationen im Kopf herumgegangen waren, schloss ich frustriert die Augen. Sie darf ihr Gesicht nicht zeigen, denn die Cops wissen bis aufs i-Tüpfelchen genau, wer dorthin gehört und wer nicht. Sie werden sie festnehmen, ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse, die dann herumrätseln wird, warum die Gattin von Charles Ralston – noch dazu inkognito – in Atlantas übelstem Viertel aufgegriffen wurde. Ich durfte wohl annehmen, 206
dass Michele alles tun würde, um das zu verhindern. Es bleibt also doch an mir hängen, und wenn es auch ätzend ist, ich muss wieder rein. Eines habe ich durch Beobachtung meiner bedürftigen Klientel gelernt: dass Spinnen manchmal tatsächlich von Nutzen ist. Wenn man in der Klemme sitzt, kann man oft mit normalen Lösungen nichts erreichen. Man muss etwas völlig Durchgeknalltes tun, sonst ist man fertig. Also machte ich nach ein paar Stunden das Verrückteste, was ich je getan habe. Ich leerte meine Brieftasche aus und stopfte die Scheine ins Handschuhfach. Ich setzte eine Baseballmütze auf und zog sie so tief in die Stirn, wie es nur ging. Ich stieg aus dem Auto und schloss ab. Und dann ging ich im schwindenden Licht des Tages auf den Glen zu, bis ich die Einfahrt sehen konnte. Die Cops waren immer noch da, saßen faul auf ihrem Arsch rum. Ich ging ein paar Häuserblocks weiter und bog in eine Seitenstraße ein. Nach ein paar hundert Metern blieb ich stehen und holte so tief Luft wie nie zuvor. Ich schaute nach rechts und nach links, und dann kletterte ich an dem Eisenzaun hoch, der den McDaniel Glen vom Rest der Welt trennte. Dreißig Sekunden später war ich auf der anderen Seite. In dem Augenblick, als meine Füße den Boden berührten, war ich der weißeste Mann in ganz Atlanta. Punkt eins: Dein Mandant wird umgebracht. Punkt zwei: Du findest heraus, dass er in eine Opernsängerin der Spitzenklasse verliebt war. Punkt drei: Du willigst ein, der Frau zu helfen, ihr verlorenes Kind wiederzufinden. Punkt vier: Du spazierst bei zunehmender Dämmerung im Glen herum und suchst sie. Punkt fünf: Es ist durchaus möglich, dass du nicht magnetisch immer mehr fremde Scheiße anziehst, sondern umgekehrt, dass du selbst die Scheiße bist, mein Freund, und dich an alle heftest, denen du begegnest. Der Gebäudekomplex, wo ich Michele zurückgelassen hatte, war sieben oder acht Straßenecken weiter, und ich fiel in Trab. 207
Zwei Ecken weiter hatte ich keinen Grund mehr zu fürchten, dass Darius und seine Kumpel Michele etwas antaten. Sie kamen eben um die Ecke und stießen praktisch mit mir zusammen. Sie bogen in meine Richtung ein und liefen mit federnden Schritten grinsend neben mir her. Wie es aussah, konnten sie tagelang mit dieser Geschwindigkeit weiterrennen. »He, Stinker«, sagte Darius, »was machste? Trainierste für Olympia?« »Ja«, sagte ich und lächelte entgegenkommend. »Ich trainiere für Olympia.« »Du bist aber beschissen langsam«, sagte ein anderer Junge. Sie tänzelten neben mir her, und ihre Motoren drehten im Leerlauf. Nach meinem plötzlichen Sauerstoffbedarf zu urteilen, konnte ich vielleicht noch sechs Blocks durchhalten, ohne heiß zu laufen. »Ich glaube kaum, dass du irgendwelche Scheißmedaillen gewinnst«, sagte der Junge. »Mein Foto kommt auf die Cornflakes-Packung«, sagte ich und hielt nach Michele Ausschau. »Ich werde ’ne Million durch Werbung verdienen.« Der zweite Jugendliche – nicht Darius – lachte. Er fand das richtig lustig. »Du bist ein komischer Arsch«, sagte er. Mir fiel eine Tätowierung auf seinem rechten Unterarm auf; sie war selbst gemacht, ein sechszackiger Stern. Gar nicht gut. »Ich versuch’s jedenfalls«, sagte ich, ohne langsamer zu werden. In diesem Augenblick überholte mich einer der Jungs und lief immer zwei Schritt vor mir her. Sein rechtes Hosenbein war hoch gekrempelt, ebenso wie der Stern ein Markenzeichen von Folks Nation, einer landesweiten Gang mit starker Anhängerschaft im Glen. Für sie war es eine Sache des Prinzips, mir die Seele aus dem Leib zu prügeln, nicht weil ich weiß war, sondern einfach nur weil ich unerlaubt in ihr Revier eingedrungen war. Glauben Sie mir, die Folks Nation sind Meister der Einschüchterung. Mayday. Himmel, ich sitze voll in 208
der Scheiße. Ich schaute auf; wenn meine Orientierung stimmte, näherten wir uns jetzt der Stelle, wo Michele verschwunden war. Inzwischen konnte sie natürlich ganz woanders sein. Ich rannte weiter, in Formation mit den Jugendlichen, wie eine Kampftruppe. »Gefällt mir, die Mütze«, sagte ein etwas kleinerer Junge. Merkwürdig, was für eine Hölle sich bei einer so harmlos klingenden Bemerkung auftun kann. »Gefällt mir, die Mütze.« Zwischen zwei Menschen, die sich zufällig begegnen, ist das ein Kompliment. In einer Bar kann man damit eine Unterhaltung eröffnen. Unter den gegenwärtigen Umständen jedoch hieß es: Du bist dran. Wenn du mir die Mütze gibst, bist du dran, weil du schwach bist und wir dich dafür bezahlen lassen. Wenn du mir die Mütze nicht gibst, bist du erst recht dran, weil du keinen Respekt zeigst. Ich stand jetzt, im Sinne von Judson Spence, voll im Scheißeregen und sah die Flut kommen. Ich hörte auf zu rennen. Verrücktheit hatte mich in den Glen hineingebracht und half mir vielleicht auch, Michele zu finden und heil mit ihr zusammen wieder herauszukommen. Der ganze Trupp blieb stehen, und die Jungs umringten mich. Sie waren mager, erschreckend lebendig und sehr kräftig, und was sich in ihren Köpfen abspielte, war reiner Zufall und schloss alle Möglichkeiten von Großmut bis hin zu unvorstellbarer Gewalt mit ein. Zum Teil waren sie auch einfach neugierig – das konnte ich in ihren Augen lesen –, wie jemand so wahnsinnig sein konnte, sein Schicksal herauszufordern wie ich. Eine Zeit lang dachte ich, das könnte mir helfen, denn ich wollte auf jeden Fall den Verrückten weiterspielen. Was man einmal begonnen hat, soll man auch zu Ende bringen. Alles oder nichts. »Magst du Haferflocken?«, fragte ich Darius. Er war verblüfft. »Was?« »Haferflocken«, sagte ich noch einmal. »Ich habe mich gerade gefragt, ob du die magst.« Alle lachten nervös. »Ich persönlich mag sie sehr. Ich finde, sie sind eine wahre Götterspeise.« 209
»Wovon redste eigentlich?«, fragte Darius. »Meine Mütze«, sagte ich und klang hoffentlich irre. »Ich esse nämlich jeden Morgen meine Haferflocken daraus. Dafür ist sie sehr nützlich.« »Das is der letzte Scheiß«, sagte der Junge, der meine Mütze haben wollte. »Ja«, pflichtete ein anderer Junge bei, »der Arsch is vollkommen balla balla.« Der Junge, der meine Mütze haben wollte, ließ nicht locker. »Is mir egal, ob er balla balla ist, seine Mütze gefällt mir.« »Ich brauch sie aber«, sagte ich. »Ich brauch sie, weil ich jeden Morgen meine Haferflocken daraus esse.« Der Junge, der meine Mütze haben wollte, maß mich mit einem spöttischen Blick, dann trat er ein paar Schritte zurück. Einen herrlichen, lichtvollen Augenblick lang atmete ich befreit auf. Sie kauften mir mein Theater ab. Sie würden den armen weißen Teufel in Ruhe lassen, und dann konnte ich Michele suchen und im Mondschein mit ihr zu meinem Buick zurückgehen. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich solchen angenehmen Gedanken nachhing, dass ich den linken Schwinger, der mir galt, erst bemerkte, als es zu spät war. Alles um mich her versank.
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16 Zum Klang des Star-Spangled Banner, schräg und verstimmt, blitzten Sterne auf. Feuerwerk explodierte in unglaublicher Nähe. Funken regneten auf mich herab und brannten Löcher in meine Haut. Ich konnte spüren, wie sie sich einer nach dem anderen einbrannten. Ich schlug die Augen auf. Licht blendete mir rasiermesserscharf die Pupillen. Ich schloss die Augen wieder. »Aufwachen. Alles in Ordnung.« Ich öffnete probeweise ein Auge einen Spalt. Da erst wurde mir bewusst, dass ich auf dem Rücken lag. »Pffff.« »Einfach still liegen. Sie warn ’ne Weile weggetreten.« Ich stöhnte erneut und gab etwas Unverständliches von mir. Etwas in meinem Mund war warm und nass. Dann spürte ich einen stechenden Schmerz im Rücken, der sich pulsierend in den Nacken fortsetzte und schließlich ein Loch in meine Schädeldecke bohrte. Die letzten paar Minuten kamen mir wieder in den Sinn, obwohl ich sie nicht wahrhaben wollte. Mir war gerade jeder Knochen im Leib zusammengeschlagen worden. Ich versuchte, mich aufrecht hinzusetzen, brachte es nur halb fertig und gab auf. »Alles in Ordnung«, sagte die Stimme. »Nur die Ruhe.« Ich schaffte es, beide Augen aufzureißen und mich an das Licht zu gewöhnen. Ich sah mich um; ich war irgendwo innen, saß auf einem Sofa in einem kleinen, sauberen Zimmer. Woher die Stimme kam, konnte ich nicht sehen. »Ich hätte Sie ins Krankenhaus gebracht«, sagte die Stimme, »aber dann hätten Sie fünf Stunden in der Notaufnahme warten müssen, bis Sie drangekommen wären. Und dafür ging es Ihnen nicht dreckig genug.« »Gut zu wissen«, sagte ich, und das war mein erster 211
zusammenhängender Satz. Ich schaute nach links, wo die Stimme herkam. Dort saß Jamal Pope und lächelte mir freundlich zu. Nichts wie weg, sangen alle Synapsen in meinem Hirn im Chor. Mein Körper hatte allerdings eine andere Partitur. Meine Gliedmaßen fühlten sich an wie zerkleinertes Eis, nur kälter. »Wie bin ich denn hierher gekommen?« Pope lachte. »Mir entgeht nichts, was vor meiner Haustür geschieht«, sagte er. »Rabbit hat Sie hergebracht.« »Erinnern Sie mich dran, dass ich ihm ’ne Postkarte schicke«, sagte ich. »Aber ich muss wirklich los.« Ich sandte weiter neurale Botschaften an meine Beine, aber sie reagierten nicht darauf. »Immer mit der Ruhe«, sagte Pope. »Überstürzen Sie nichts. Sie brauchen noch ein Weilchen.« Er stand auf und ging zur Küche, die außerhalb meines Gesichtsfeldes lag. Ich ließ wieder die Augen schweifen; offensichtlich gab er sein Geld nicht für die Wohnungseinrichtung aus. Das Mobiliar war passabel, unterschied sich aber nicht besonders von anderen Wohnungen. Ich fragte mich tatsächlich, wofür er eigentlich so viel Geld scheffelte. Dann sorgte ein neuerlicher stechender Schmerz dafür, dass ich eine Zeit lang an nichts anderes mehr denken konnte. Pope kam zurück und reichte mir ein Glas Wasser. »Trinken Sie«, sagte er, »das brauchen Sie nach einer Schlägerei.« Ich nahm das Glas und trank ein paar Schlucke. »Danke. Wie viel Uhr ist es?« »Mitternacht.« Er blickte mich an. »Sie sollten sich nicht mit der Folks Nation anlegen. Die mögen keine Weißen.« »Das haben sie mir klar gemacht, danke.« Pope lachte wieder. »Es heißt, sie wär’n mit ’ner Frau da gewesen«, sagte er. »Soll ihr gut gehen.« »Ja«, sagte ich zurückhaltend. »Ich habe Nachforschungen in einem Fall angestellt.« 212
»Es heißt, dass sie nicht von hier ist.« »Sie ist von Bowen Homes«, sagte ich. »Hilft mir bei einer Sache.« »Bowen? Dann kenne ich sie wohl nicht.« »Nein, wahrscheinlich nicht.« Pope sah mich an, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Er wusste offenbar, dass ich log. Leider war ihm nicht anzusehen, wie gut er informiert war. Ich musste unbedingt hier raus, bevor er noch mehr Fragen stellte. »Wie heißt sie?« Verdammt. Lass mich in Frieden, Pope. Und lass sie in Frieden. Lass uns alle in Frieden, du mitleidsloser Mistkerl. »T’aniqua«, sagte ich. »T’aniqua Fields.« Popes Miene war undurchdringlich. »Na ja, vermutlich haben Sie Recht«, sagte er. »Ich kenne sie nicht.« Er kam näher und schob seine Hände unter mich. »Ich sag Ihnen was«, sagte er. »Ich helf Ihnen bei der Suche.« »Uhh …« Ich wollte etwas sagen, aber die Schmerzen, die das Aufrichten auslöste, verwandelten es in ein dumpfes Stöhnen. »Langsam«, sagte Pope. »Sie sind in Ordnung. Stehen Sie jetzt auf. Reißen Sie sich zusammen.« Ich lehnte mich an Pope und versuchte, mich wieder in der Senkrechten zurechtzufinden. Als das Drehen aufhörte, ging es mir besser. Mein Kopf wurde klarer. Ich machte einen Schritt, dann noch einen. »Es geht«, sagte ich. »Danke.« »Ja«, sagte Pope. Er nahm ein paar Schlüssel. »Dann wolln wir mal T’aniqua suchen. Habe gehört, dass es ihr gut geht.« »Wirklich, Pope, ich möchte nicht –« Popes Griff um meine Schulter, bis eben freundlich und helfend, wurde plötzlich schmerzhaft. Die Veränderung war nicht drastisch, aber sie sagte alles. Die Botschaft war klar: Ich habe dich vollkommen in der Hand. Ich kenne ungeahnte Mittel, dich zu überzeugen. Ich schaute zu Pope hoch, der nach wie vor lächelte. »Ja«, sagte ich, »vielleicht ist sie noch in der Gegend.« »Ich will nicht, dass ihr etwas zustößt«, sagte er. »Nachts wird 213
es hier gefährlich.« Dann übte er noch mehr Druck aus und lenkte mich unerbittlich zur Tür. Wir gingen nach draußen; ich humpelte zwar, hatte jedoch mein Gleichgewicht wiedergefunden. Ein paar Jungs erschienen aus dem Nirgendwo; einer von ihnen war Rabbit, Popes Sohn. »Was gibt’s?«, fragte Pope. Anders als bei unserer ersten Begegnung machte Rabbit jetzt seinem Spitznamen alle Ehre. Er war ein sehniges Energiebündel. »Nichts mehr von ihr zu sehen«, sagte er. »Und zu hören.« Pope wandte sich zu mir. »Sieht so aus, als spielte Ihre Freundin Verstecken. Wir sollten ihr beistehen.« Er führte mich zu seinem Wagen. Hier bekam man endlich den richtigen Eindruck von der Höhe seines Einkommens. Ein schöner schwarzer Mercedes wartete auf der Straße. Er hatte jedem Versuch widerstanden, ihn nach Art der Halbwelt protzig aufzupeppen, sah grundsolide aus und war auf Hochglanz gewienert. Selbst im Licht der Straßenlaternen glänzte er. Ein Junge materialisierte sich aus dem Äther und stand plötzlich neben mir; zuerst ging Popes Tür, dann meine auf. Ich setzte mich auf teures Leder, und der Druck machte sich schmerzhaft in meinen Knochen bemerkbar. Pope nahm seinen Platz ein und fuhr die Fenster herunter. »Wir finden sie«, sagte er. »Wir müssen nur fragen.« »Bestimmt ist sie schon seit Stunden raus«, sagte ich. »Sie hat keinen Grund, sich zu verbergen.« Pope ließ den Wagen an, und wir glitten die Hauptstraße des Glen entlang. Nach wenigen Kreuzungen wusste ich, was Respekt im Ghetto bedeutete. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass Pope wie ein Staatsoberhaupt behandelt wurde. Wir konnten keine dreißig Meter fahren, ohne dass ihn jemand überschwänglich begrüßte und ihm in den Arsch kroch. Die einen wollten sich anscheinend sein Wohlwollen schon vorab für alle Fälle sichern; andere versprachen sich Arbeit davon oder einen günstigen Deal, Er begrüßte alle namentlich und gab ihnen einen Augenblick lang Gelegenheit zu einer Audienz, bei der sie 214
seinen Segen erhielten. Der McDaniel Glen um Mitternacht sprühte vor Leben. Sogar kleine Kinder saßen noch auf den Veranden und spielten oder alberten herum. Niemand wirkte verängstigt. Die meisten hatten ihren Spaß. Sie blieben, wo sie waren, und hielten sich an die Spielregeln, aber sonst ging es ihnen blendend. Da war sie in all ihrer Pracht: die Gesellschaft. Menschen, die einfach nur Menschen waren und miteinander plauderten und lachten. Fast hätte ich gelächelt, nur war das, was sich durch so viel Freundlichkeit schlängelte, ein schwarzer Mercedes, der mit menschlichem Elend bezahlt worden war. Niemand schien Michele gesehen zu haben. Pope stellte seine Fragen während der Fahrt, und sein Ton wurde immer schärfer, woran ich merkte, dass es in seinem Hirn arbeitete und er sich fragte, wer diese T’aniqua Fields eigentlich sei und was sie und der weiße Anwalt wohl in seinem Revier machten. Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten, bis wir den ganzen Glen abgefahren hatten. Als wir wieder vor Popes Haus hielten, klingelte sein Handy. Pope knurrte ein paarmal etwas ins Telefon, dann sah er mich an. »Sie ist nicht mehr hier«, sagte er. »Jemand behauptet, sie sei schon vor ein paar Stunden auf und davon.« »Hab ich mir gedacht«, sagte ich nonchalant. Pope für dumm verkaufen zu wollen war im Grunde Zeitverschwendung, aber ich hoffte, dass er mich in Ruhe lassen würde, wenn ich meine Lügen nicht zu dick auftrug. Es war, wie alles in seiner Welt, nur eine Frage des Respekts. Und ich war unendlich dankbar, dass Pope schließlich die Notbremse zog, bevor es wieder Scheiße regnete. »Sie gehen jetzt besser«, sagte er und sah mich an. »Sie wartet wahrscheinlich schon auf Sie.« Eine Sekunde lang durchschauten wir einander, dann war ich weg.
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17 Sie hat es also nach draußen geschafft, wahrscheinlich sogar schon vor Stunden. Sie ist in Sicherheit. Pope war davon überzeugt, und eines war gewiss: dass im Glen nichts geschah, ohne dass er davon erfuhr. Diese Gewissheit – und zumindest mein Verstand sagte mir, dass sie berechtigt war – hielt mich jedoch nicht davon ab, mindestens eine Stunde lang um den Glen herumzufahren und jede Häuserzeile nach ihr abzusuchen. Aber am Ende war nicht mehr daran zu deuteln: Michele war verschwunden. Ich gab es auf und fuhr heimwärts; als ich zu Hause ankam, war es gegen zwei. Es gab keine Möglichkeit, zu prüfen, ob Michele bei sich daheim angekommen war, denn die einzige Telefonnummer, die ich hatte, war die von ihrem Handy, und das lag auf meinem Esstisch. Ich erwog sogar, die Polizei anzurufen, obwohl ich damit ihre Identität preisgegeben hätte, verwarf den Gedanken aber wieder. Das waren Überreaktionen, und sie waren im Hinblick auf die vergangenen Stunden auch verständlich. Die Entfernung von da, wo ich Michele zurückgelassen hatte, bis zur Grenze des Glen betrug nicht ganz fünfzehn Häuserblocks, und sie war diesen Weg als junges Mädchen vermutlich oft gegangen. Ich konnte getrost annehmen, dass sie einfach durch die Tore wieder ins andere Atlanta geschlüpft war. Alles dummes Zeug, denn ich schlief in den nächsten fünf Stunden ganze zehn Minuten. Der Samstagmorgen brach an, und das Wochenende dehnte sich wie eine Ewigkeit. Ich schlich die meiste Zeit in meiner Wohnung herum, frustriert, dass es mir unmöglich war, Michele zu erreichen. Ich starrte mein Telefon an, in der Hoffnung, dass sie mich wenigstens anrufen würde. Ich ging auf und ab. Ich schlief, ohne Ruhe zu finden, und spürte, wie die Nervosität, die sich durch Erschöpfung 216
einzustellen pflegt, zunahm. Ich betrachtete mich im Spiegel, verfolgte aufmerksam, wie die Topographie meines dick angeschwollenen Gesichts allmählich von Schwärzlich ins Blaue spielte und die Schwellung am Sonntagnachmittag langsam nachließ. Aber mir zwei Tage lang all das Schlimme auszumalen, das ihr zugestoßen sein konnte, war mindestens einen Tag zu lang; Montagvormittag konnte ich es nicht länger ertragen. Ich musste etwas tun, und so rief ich Nightmare an. Das war immerhin besser, als mich im Spiegel zu begaffen. Wieder einmal sprach ich mit dem Piepton von Nightmares Anrufbeantworter. »Wach auf, Michael. Wir müssen in die Gänge kommen.« Nichts. Ich war nicht in Stimmung für so was. »Verdammt, Jack hier«, sagte ich. »Dougs Computer ist gestohlen worden.« Nightmare war dran. Ich hörte ihn schnaufen, während er langsam zu sich kam. »Was?«, murmelte er. »Dougs Computer. Er ist vor ein paar Tagen aus meinem Büro gestohlen worden.« Nightmare sprach jetzt deutlicher. »Und wer hat ihn gestohlen?« »Jemand, der nicht will, dass wir herausfinden, was da gespielt wird.« Stille. Nightmare dachte über das Gehörte nach. Offenbar gefiel ihm nicht, was es bedeutete. »Das ist gar nicht gut.« Dann: der Amtston. Es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, was geschehen war: Er hatte einfach aufgelegt. Ich rief erneut an. Nightmare ging ran, schwieg jedoch. »Nicht die Nerven verlieren, Partner«, sagte ich leise. »Ich brauche dich.« Wieder Stille, aber ich konnte spüren, wie Spannung an Nightmares Schädel hochkroch. »Du und ich. Wie Jackie Chan.« »Killahs Desktop ist gestohlen worden?« »Ja, Michael.« Dass ich von Abgesandten der Folks Nation zusammengeschlagen worden war, verschwieg ich lieber, auch 217
den Trouble mit Michele; das war das Letzte, was Michael jetzt brauchen konnte. Nightmare senkte die Stimme zu einem Flüstern, als wenn jemand im Nebenzimmer lauschte. »Sie sind wirklich total bescheuert, Mann.« »Mag sein.« »Das heißt, sie wissen, dass wir in ihrem System waren. Sie wissen, wer der Hacker war.« »Der Anruf kam von meinem Büro. Es besteht keine Verbindung zu dir.« »Dann bleibt es am besten auch so.« »Michael, erklär mir das mal. Du hast gesagt, die Daten würden alle über den Zentralcomputer vom Georgia Tech laufen.« »Tun sie ja auch. Aber Doug hatte den Zugang. Ich hatte damit gerechnet, dass sie an der Uni gestoppt würden, falls sie den Zugriff entdeckten und zurückverfolgten. Sie haben’s aber bis auf die andere Seite geschafft und Sie von da aus lokalisiert.« »Wie denn?« Wieder eine lange Pause. »Das weiß ich nicht«, sagte er leise. »Was soll das heißen, du weißt es nicht? Ich dachte, du seist der Cyberkönig oder -gott oder so was!« »Sie sind so gut wie tot, Mann. Ernsthaft.« »Sachte, Michael. Wenn jemand mich umbringen wollte, wäre ich ein leichtes Ziel gewesen. Sie wollten aber den Computer, und den haben sie jetzt. Vielleicht wollten sie nur sicherstellen, dass wir nicht mehr reinkommen.« »In dem Fall sind sie angeschmiert, denn ich kann jederzeit wieder rein, wenn ich will.« Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Ist das dein Ernst? Du kannst wieder rein?« »Sicher, kein Problem. Wenn ich so bekloppt wäre, heißt das.« »Michael, wir müssen noch mal rein.« »Yeah, Mann, wir klinken uns noch mal richtig rein, und dann 218
lehnen wir uns zurück und warten, bis sie kommen und uns umlegen. Ich muss jetzt weg.« »Erzähl mir einfach nur, wie man reinkommt.« »Ich kann Dougs Zugriff nachbilden.« »Und das merken die nicht?« »Nee.« »Was hatte es dann für einen Sinn, Dougs Computer zu stehlen?« »Sie haben’s selbst gesagt: Die wissen nichts von mir. Im Augenblick wollen sie wahrscheinlich nur rausfinden, wie Sie reingekommen sind.« »Und können sie das?« »Dass sie Dougs PC haben, bedeutet noch lange nicht, dass sie sein Sicherheitssystem knacken können. Wenn Sie nicht auf das italienische Zeugs gekommen wären, würden wir noch immer blöd den Bildschirm anglotzen.« »Bist du sicher?« »Ziemlich.« »Gut. Dann müssen wir wieder rein, und zwar so, dass wir nicht aufgespürt werden. Es muss doch eine Möglichkeit geben. Denk mal nach, Michael. Lass dir was einfallen.« Wieder eine lange Pause. Ich war darauf gefasst, dass er wieder auflegen würde, und entschlossen, in diesem Fall zu ihm zu fahren, an seine Tür zu hämmern und ihm den Hals zuzudrücken, bis er einwilligte, mir zu helfen. »Wo sind diese Grayton-Laboratorien eigentlich?«, fragte er schließlich. »Wie lautet die Adresse?« »Ich weiß es nicht. Bleib mal dran.« Ich schlug Grayton im Telefonbuch nach. »Auf der Mountain Industrial Avenue. Ich weiß, wo das ist. Sie geht von der Interstate 285 ab. Zwei Ausfahrten hinter Stone Mountain.« Wieder Stille. »Na schön«, sagte er. »Treffen wir uns in der Zweigstelle der Stadtbibliothek in Sandy Spring. Die Adresse finden Sie im Telefonbuch. Um elf.« 219
»In der Bibliothek?« »Yeah.« »Warum?« »Das sag ich Ihnen nicht am Telefon. Kommen Sie einfach hin.« Die Bibliothek von Sandy Spring liegt im Norden Atlantas, etwa 45 Minuten Fahrt von meiner Wohnung aus. Als ich dort ankam, ging Nightmare schon vor dem Gebäude auf und ab; er wirkte gehetzt. Kaum sah er mein Gesicht, wäre er beinahe auf dem Bürgersteig zusammengeklappt. »Sie sehen ja beschissen aus«, sagte er. »Eine kleine Meinungsverschiedenheit«, sagte ich. »Die Schwellung ist in ein paar Tagen weg.« Nightmare starrte mich etwa fünf Sekunden lang an, dann marschierte er auf sein Auto zu. »Bleib sofort stehen«, sagte ich. Er drehte sich um. »Was mit Ihnen passiert ist, will ich auch nicht im Entferntesten an mir erleben, Mann.« »Hör mir endlich zu, verdammt noch mal«, sagte ich. Ich war aufgebracht und nicht in Stimmung für Nightmares Geschwafel. »Ich habe gerade ein paar lausige Tage hinter mir. Mir ist die Seele aus dem Leib geprügelt worden, weil ich jemanden zu schützen versucht habe. In mein Büro ist eingebrochen worden, und ich wurde bestohlen. Ganz davon zu schweigen, dass ich mich auch noch in die falsche Frau verliebt habe. Du könntest also wenigstens deinen verfluchten Computer einschalten und ein paar Befehle eintippen. Jetzt heb endlich deinen Arsch da rein und hilf mir, sonst raste ich aus!« Nightmare starrte mich mit aufgerissenen Augen an. »Sie drehen durch.« »Mag sein.« »In die falsche Frau verliebt?«, wiederholte er. »Richtig. Und das verdirbt mir die Laune. Also tu endlich, was ich dir sage, bevor ich meinen Frust an dir auslasse!« 220
Nightmare wandte sich widerstrebend der Bibliothek zu. »Ich hoffe, Sie haben dem, der Ihnen das angetan hat, auch ein paar Andenken verpasst.« »Nicht dass ich wüsste. Also los jetzt.« Ich folgte Nightmare in die Bibliothek, einen unscheinbaren, einstöckigen Backsteinbau mitten unter lauter Holzhäusern. Bis auf vier oder fünf Angestellte war sie ziemlich leer. Nightmare führte mich zu einer Reihe von Computern im hinteren Teil des Gebäudes. »Gute Breitbandverbindung hier«, sagte er. »Und niemand passt auf. Später kommen vielleicht ein paar alte Käuze und laden sich Pornos runter.« »Unsere Steuergelder machen’s möglich«, sagte ich. »Besser gesagt, meine, denn du bezahlst wahrscheinlich keine Steuern.« »Verdammt richtig«, sagte Nightmare. Er setzte sich an den letzten Computer, zog ein kleines Plastikteil hervor, nicht größer als ein Schlüsselanhänger, und schob das eine Ende in eine Schnittstelle auf der Vorderseite des Computers. »Flash Memory«, sagte er und fing an zu tippen. »Passen Sie einfach auf, ob irgendwelche komischen Vögel kommen«, fuhr er fort. »Aber nicht solche wie Sie. Hab ich Ihnen schon gesagt, dass Sie beschissen aussehen?« »Ja. Sag mir lieber, was du machst.« »Ich stelle die Verbindung zur TU her. Die Bibliotheken haben ihre eigenen Router, und darin kann man unmöglich einen einzelnen PC ausmachen. Wenn sie die Datenverbindung zurückverfolgen, werden sie feststellen, dass sie aus einer Bibliothek kommt, aber sie können nicht in Erfahrung bringen, aus welcher. Es gibt etwa dreißig Filialen, und sie sind überall in der Stadt verteilt. Diese hier ist die Nebenstelle, die am weitesten von ihnen entfernt liegt. Für alle Fälle.« »Nightmare, du bist ein Genie.« »Ich weiß. Halten Sie jetzt die Augen offen. Es kann eine Weile dauern.« Ich nahm ein paar Tische weiter Platz und ließ Nightmare 221
arbeiten. Auf einem Nachbartisch lag die Morgenausgabe der Atlanta Journal-Constitution, und ich ging den Wirtschaftsteil nach Neuigkeiten über den Horizn-Börsengang durch. Als ich ein paar Seiten weitergeblättert hatte, sah ich unter der Schlagzeile »Enorme Gewinne zu erwarten« ein Bild von Charles Ralston. Ich überflog den Artikel; im Wesentlichen stand da, dass in einer Woche ein paar Leute superreich werden würden, vor allem Ralston und Stephens, die viel mehr absahnen würden als alle anderen. Der Ausgabepreis war auf 31 Dollar festgesetzt, es wurde jedoch erwartet, dass er höchstens 15 Sekunden dabei bleiben würde. Wer kein institutioneller Anleger oder Firmenangehöriger war, hatte keine Chance. Der Reporter meinte, dass die Aktie am ersten Tag bei vierzig schließen und übers Jahr ein Kursziel von fünfzig habe. Die Börsenkontrollbehörde sagte, Ralston und Stephens seien jeder mit fünfeinhalb Millionen Aktien beteiligt. Während ich schwindelerregende Berechnungen anstellte, kam Nightmare an meinen Tisch. Er wirkte nervös, aber er hielt noch durch. »Alles okay?«, fragte ich. »Yeah. Wir sind drin. Wonach soll ich suchen?« Ich überlegte kurz. »Nach Briah«, sagte ich. »Briah Fields.« Nightmare verschwand für fünf Minuten, dann kam er kopfschüttelnd zurück. »Nichts«, sagte er. »Bist du sicher?« Er zuckte die Achseln. »Ja. Jedenfalls ziemlich sicher. Ist das alles? Kann ich jetzt gehen?« »Noch eins«, sagte ich. »LAX.« »Wie der Flughafen?« »Nur die Buchstaben. LAX. Das stand in einem Notizbuch in Dougs Wohnung.« Nightmare schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie wollen mich wohl verarschen.« »Nein. Gib’s mal ein.« »Ich gebe uns noch zwanzig Minuten«, sagte er. »Dann kappe 222
ich die Verbindung.« Ich begleitete ihn zu dem Computer. Er startete die Suche, fand aber nichts. »Was sind denn die Hauptabteilungen?«, fragte ich. »Gibt es überhaupt eine Unterteilung?« »Ja«, erwiderte Nightmare. »In Finanzen, Kommunikation, klinische Versuche –« »Klinische Versuche«, sagte ich, »probier’s damit.« Nightmare machte sich achselzuckend an die Suche. Lange Zeit tat sich gar nichts, dann sagte er plötzlich: »Verflucht.« »Was ist?« »Da ist es.« Auf dem Bildschirm waren zwei Spalten zu sehen, und in jeder standen fünf Namen. Bei jedem Namen waren Adresse und Telefonnummer angegeben. Die Überschrift oben auf der Seite lautete: Test 38, LAX: klinischer Doppelblindversuch mit Lipitran AX. Ein Medikament zur Heilung von Hepatitis C. Auftraggeber: Atlanta Mercy Hospital. Forschungsleiter: Dr. Thomas Robinson. Ich starrte auf den Bildschirm. »LAX. Es hat also nichts mit dem Flughafen zu tun. Ein Medikament. Lipitran AX. Dann sind das die Namen von Leuten, die an dem Versuch teilgenommen haben.« Ich ging die Liste durch, ob ich jemanden davon kannte. Auf einmal blieb die Erde stehen. Der dritte Name in der rechten Spalte war Doug Townsend, darunter seine Telefonnummer. Ich blinzelte, weil ich dachte, der Name würde dann vielleicht verschwinden. Nightmare brach den Zauberbann. »Killah«, sagte er. »Er hat dieses Medikament eingenommen?« In meinem Hirn gingen alle Lichter an. Hepatitis, damit hat Charles Ralston sein Vermögen verdient. Vielleicht versucht Grayton, bei dem Geschäft mitzumischen. »Hepatitis? Ich glaube nicht, dass Doug Hepatitis hatte.« »Vielleicht hat er es Ihnen nie erzählt.« »Vielleicht«, sagte ich zögernd. »Aber Dougs Tod war für die Leute, die den Versuch durchgeführt haben, bestimmt Anlass 223
genug, nachzuforschen, was zum Teufel passiert ist. Er wäre einfach aus der Liste verschwunden.« Eine Zeit lang hingen wir beide unseren Gedanken nach, dann hatte ich eine zündende Idee. »Wir können herausfinden, was da los ist«, sagte ich. Ich schaute mich um; es war niemand in unserer Nähe. Ich holte mein Handy hervor und wählte die erste Nummer auf der Liste. Eine bedrückte Frauenstimme meldete sich. »Ist Brian da?«, fragte ich. Die Antwort war ein tiefer Seufzer. »Brian Louden?«, hakte ich nach. »Kann ich ihn sprechen?« »Brian ist tot«, sagte die Frau mit erstickter Stimme. »Mein lieber Junge ist letzten Donnerstag vor einer Woche gestorben.« Ich merkte, wie sich mein Magen zusammenkrampfte. »Das tut mir unendlich Leid,« sagte ich. »Wirklich, es tut mir unendlich Leid, dass ich Sie belästigt habe.« Ich legte auf. »Was ist?«, fragte Nightmare. »Sag mir mal den zweiten Namen.« Chantelle Weiss, 4239 Avenue D. Ich wählte die zugehörige Telefonnummer. Ein Mann war am Apparat. »Kann ich bitte Chantelle sprechen?«, fragte ich. »Wer ist denn da?«, fragte der Mann zurück. »Dr. Robinson.« »Zum Teufel mit ihm!« »Wie bitte?« »Soll das ein abartiger Witz sein? Sind Sie nicht der Mann, der sie umgebracht hat? Warum rufen Sie dann hier an und fragen nach ihr? Sind Sie nicht ganz richtig im Kopf?« »Tut mir Leid«, sagte ich schnell. »Ich habe mich wohl verwählt.« Ich schaltete das Handy aus und lehnte mich wie betäubt zurück. »Und?«, sagte Nightmare. Trotz der Klimaanlage schwitzte er. Übelkeit überkam mich. »Sag mir noch eben den dritten Namen.« Jonathan Mills, 225 Trenton Street. Ich wählte die Nummer. Ein Mann meidete sich. 224
»Ich störe Sie ungern, aber hier ist Henry Chastain vom MercyHospital.« Die Stimme sagte: »Ja?« »Es ist mir sehr peinlich, bitte entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereite.« »Schon gut. Was wünschen Sie denn?« »Ich arbeite im Auftrag des Krankenhauses an einer Untersuchung und vermisse Jonathans Akte. Es ist mir schrecklich unangenehm, Ihnen diese Frage zu stellen, aber können Sie mir sagen, weswegen Jonathan behandelt wurde?« »Hepatitis C.« »Jonathan hat an den klinischen Versuchen von Dr. Robinson teilgenommen, ist das korrekt?« »Ja. Wie war doch Ihr Name?« »Henry Chastain vom Mercy-Hospital.« Pause. »Können Sie mir sagen, worum es geht?« »Ich untersuche die Todesraten bei verschiedenen Erkrankungen.« Mein Trick kam mir von Mal zu Mal schäbiger vor, aber es gab keine andere Möglichkeit. »Wenn Sie lieber nicht darüber reden wollen«, sagte ich, »verstehe ich das vollkommen.« Wieder eine Pause. »Jonathan ist nicht an der Hepatitis gestorben«, sagte der Mann. »Er ist an der Behandlung gestorben.« »Oh. Das tut mir sehr Leid. Wollen Sie mir nicht sagen, was passiert ist?« »Ich habe es Ihnen gerade gesagt. Er hat das Medikament bekommen und ist eine Woche später gestorben.« Die Stimme verstummte einen Augenblick. »Kann ich Sie zurückrufen?« »Das wird nicht nötig sein«, sagte ich. »Sie haben mir sehr geholfen.« Ich legte auf. »Was ist los?«, fragte Nightmare. »Was ist mit all diesen Namen?« 225
Ich starrte auf die Liste, und Furcht und Trauer krochen mir den Rücken hinauf. »Tot«, sagte ich und sah Nightmare an. »Alle tot.« Ich brauchte gute zwanzig Minuten, um Nightmare, der in der Stadtbücherei von Sandy Spring, Atlanta, hoch gegangen war wie eine Rakete, wieder auf den Boden herunterzuholen. Nach vielen geflüsterten Flüchen konnte ich ihn endlich zu seinem Wagen bringen, einem Toyota Corolla, der in einem noch schlechteren Zustand war als mein Buick. Ich legte ihm die Hände auf die Schultern. »Willst du mich tatsächlich jetzt, wo es hart auf hart kommt, im Stich lassen?«, sagte ich und fasste ihn scharf ins Auge. Er starrte mich an, hin und her gerissen zwischen Angst und einem Adrenalinstoß, der stärker war als alles, was ihm seine öde Online-Welt je geboten hatte. »Mann, ich sage ja nur, dass es hier jetzt ernst wird«, sagte er. »Bullenernst. Was haben Sie denn vor?« Gute Frage. Wenn man lange genug Stein für Stein umdreht, fördert man irgendwann etwas wirklich Übles zutage. »Angefangen hat alles damit, dass ich dachte, ich hätte nur ein paar Habseligkeiten aus der Wohnung eines unglücklichen Mandanten abzuholen«, sagte ich. »Mir gefällt es genauso wenig wie dir, dass die Dinge außer Kontrolle geraten sind«, sagte ich. »Dann muss ich ja auch nicht erklären, warum ich weg vom Fenster bin.« »Du bist noch nicht weg, und ich sage dir auch, warum nicht.« »Da müssen Sie sich schon was einfallen lassen.« Ich holte tief Luft und trug richtig dick auf. Ich weiß nicht, ob ich es mir aus den Fingern saugte oder ob es das Wahrste war, was ich je gesagt habe. Ich weiß nur, dass es für mich einleuchtend war und folglich auch ihm einleuchten musste. »Weil es das ist, was wir tun müssen«, sagte ich. 226
»Wir müssen einfach. Es ist eine verdrehte Fügung des Schicksals, die einen in den Wahnsinn treiben kann, und trotzdem weiß man, dass sie real ist.« Nightmare starrte mich an. »Wovon zum Teufel reden Sie?« »Von dir und mir«, sagte ich. »Wer sonst sollte Licht in dieses Dunkel bringen? Glaubst du, dieses Jackie-Chan-Ding ist nur ein Spaß? Ich brauche dich, gottverdammich. Und du brauchst mich. Denn wir sind unterschiedlich begabt, und das macht uns gefährlich. Sieh mal, Michael, Doug Townsend war mein Freund. Und es sind noch sieben andere Leute auf der Liste, alle tot. Ich bin also nicht hier, um ein paar Auffälligkeiten bei zwei Arzneimittelherstellern aufzuklären. Ich bin hier, um diejenigen, die dahinterstecken, zu Fall zu bringen, wer immer es auch sein mag.« Nightmare betrachtete mich eine Zeit lang, dann lachte er. »Sie sind wirklich ein verrückter Arsch«, sagte er. »Und wenn schon.« »Es geht um das Mädchen.« »Das Mädchen?« »Die Frau, Mann. Haben Sie selbst gesagt. Sie haben sich in die falsche Frau verliebt.« Ich sah ihn erstaunt an. »Weiß ich, verdammt nochmal, weiß ich.« Ich schickte Nightmare nach Hause und sah ihm nach, als er mit seinem klapprigen Toyota vom Bibliotheksparkplatz abfuhr und im Straßenverkehr untertauchte. Ich blieb noch ein Weilchen allein auf dem Parkplatz stehen, mit starker Schlagseite. Mein Gesicht schmerzte. Meine Rippen schmerzten. Mein rechtes Bein schmerzte – ich musste mir irgendwie das Knie gequetscht haben, während mir die Seele aus dem Leib geprügelt wurde, was ich erst merkte, als die anderen Schmerzen etwas abgeklungen waren –, und mir ging immerfort im Kopf herum, was Nightmare gesagt hatte. Die Frau. Es gibt Zeiten, in denen einem das Leben etwas sagen 227
will. Doug war tot. Jetzt noch sieben andere. Nicht der richtige Zeitpunkt für Scheuklappen. Als Anwalt des sozialen Bodensatzes lernt man eine Menge über die Psychologie eines Täters, der auch Opfer ist. Man kann die charakteristischen Merkmale tatsächlich in der Menge ausmachen: den kalten Blick eines Jungen, der kurze Zeit später auf seine Freundin losgeht und sie blau und grün schlägt; der Groll, der einem Mädchen anzumerken ist, das wenig später eine Brief- oder Handtasche klaut. Nachdem ich zwei Jahre lang das Elend mitangesehen hatte, das durch Richter Odoms Gerichtssaal paradierte, hatte ich ungewollt Antennen dafür entwickelt. Ich hatte bisweilen das Gefühl, lauter Gespenster zu sehen, wenn ich eine Straße voller Menschen entlangging. Dort zynische Geringschätzung, die sich in der Haltung eines Mannes ausdrückte; und da drüben die glasigen Augen und abgedröhnten Vibes eines Süchtigen. Auch Polizisten haben ein Radar dafür und nutzen es als Werkzeug. Aber für einen Strafverteidiger, der sich auf die Unterprivilegierten spezialisiert hat, lässt dieser Röntgenblick die übelsten Stadtviertel mitunter wie eine Unfallstation aussehen. Während ich, am ganzen Körper blau und grün, da draußen vor der Bibliothek stand, kam ich nicht umhin, mir etwas einzugestehen, das mich zutiefst wurmte: Wie sehr ich auch meine Antennen auf Michele ausrichtete, sie blieb unergründlich. Sie war nicht zu durchschauen. Ich war bei meinen Entscheidungen bisher immer davon ausgegangen, dass sie ohne jeden Zweifel ein Opfer war, ein Unschuldsengel, der unverdient Seelenqualen litt. Für diesen Typ Mensch setzt man Himmel und Hölle in Bewegung. Es ist der kleine Traum im Hirn eines jeden optimistischen Anwalts, der so lange anhält, bis das Leben ihn abwürgt: Mach das Böse wieder gut. Sie hatte einen schweren Fehler begangen, aber da war sie eigentlich noch ein Kind gewesen, und jetzt saß sie fest in einer Welt, die ihr diese Entgleisung nie verzeihen würde. Vielleicht war sie 228
aber auch ein Magnet für seelische Erschütterungen, eine Frau, die ständig in Angst lebte und jeden in ihrem Umkreis in ihr Leid hineinsog. Eine Diva. Das war die Klientel, die wir laut Judson Spence um jeden Preis vermeiden sollten. In Wahrheit wusste ich allerdings noch immer nicht, in welche Kategorie ich Michele einordnen sollte. Was mich langsam verrückt machte, weil es üble Folgen haben konnte, sich falsch zu entscheiden. Unter Umständen brachte man sein Leben damit zu, Leute aufzurichten, die es gar nicht wollten oder nicht verdienten, bis man am Ende so fest in ihre spezielle Neurose eingesponnen war, dass man nicht mehr atmen konnte. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe Dutzende davon verteidigt. Es waren diejenigen, die – nachdem ich an guten Tagen mein Bestes für sie gegeben hatte – in ihre alten Gewohnheiten zurückfielen, noch ehe sie den Gerichtssaal verlassen hatten. Ich stieg in mein Auto und betrachtete mich im Spiegel. Nicht die blauen Flecken lähmten mich, sondern meine Unentschlossenheit. Wenn ich mich für sie in Stücke reißen ließ, musste ich wenigstens den Grund dafür kennen. Warum, musste ich mich endlich fragen, hatte ich das Gefühl, mich in sie verliebt zu haben? War es die Macht ihres Gesangs, jene unbeschreibliche Stimme, die einem das Gefühl gab, sie lege ihre Seele bloß? Oder war es – was ich nicht hoffte – ihre gemarterte Schönheit, ihre Verletzlichkeit, die um Erbarmen flehte? Denn wenn das der Fall war, konnte ich gleich Violeta Ramirez zu ihr sagen und mich mit meinem Wagen von einer Klippe stürzen. Ich starrte mein verschwollenes Spiegelbild an und zog die Notbremse. Nein, dachte ich, bevor ich mich von einer Klippe stürzte, müsste ich erst Charles Ralston mein tiefes, aufrichtiges Mitgefühl aussprechen: erstens, weil ich Sex mit seiner Frau hatte, und zweitens wegen der verteufelten Lage, in die er sich selbst gebracht hat. Ja, er war kultiviert und gebildet und stand in dem Ruf ein Snob zu sein – was schließlich kein Verbrechen 229
war –, aber vielleicht war er ihr ebenso verfallen wie Doug. Vielleicht hatte erste in einer Aufführung an der Juilliard gesehen und war mitten in sein kleines Wissenschaftlerherz getroffen worden, und jetzt hing er an dieser wunderschönen, hoch begabten Femme fatale fest. Verdammt, sie werden nicht umsonst »Diva« genannt. Falls er einen Tag ungeschehen machen wollte, dann vielleicht jenen, den Tag, an dem er den Kopf zur Saaltür hineinstreckte und sie sah: jung, brillant und äußerst wartungsintensiv. Vielleicht hätte ich eine klare Entscheidung fällen können, wenn ich genügend Zeit gehabt hätte. Wenn ich zehn oder fünfzehn Minuten Zeit gehabt hätte, um mich still zu besinnen, hätte ich mich vielleicht sogar so entschieden, dass alles anders gekommen wäre. Aber ich hatte nicht so viel Zeit, denn mein Handy, das in meiner Manteltasche steckte, meldete sich und katapultierte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich klappte es auf und stellte fest, dass die nächsten Stunden meines Lebens alles andere als besinnlich werden würden. Während Nightmare und ich in den elektronischen Raum der Grayton-Laboratorien eingedrungen waren, hatte Sammy sehr persönlich und sehr wirkungsvoll Rache an Derek Stephens genommen. Und wie immer beginnt die Story damit, dass eine Frau weint.
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18 Blu versuchte, mit mir zu reden, während sie noch nach Luft schnappte, aber es klappte nicht so recht. »Mr. Stephens … Derek … tobt … Sammy …« »Schon gut, Baby. Setzen Sie sich erst mal hin.« Ich war sehr schnell zum Büro gefahren und hatte auf dem Weg durch die Stadt alles aus dem Buick herausgeholt, was noch in ihm steckte. Als ich eintrat, sah ich meine Sekretärin mit verschmierter Wimperntusche und rot verquollenen Augen auf meinem Schreibtischsessel sitzen. »Was ist denn los?« »Er hat gerade angerufen«, sagte sie. »Derek. Er hat angerufen und hat gebrüllt.« »Wieso?« »Das weiß ich nicht. Es war irgendwas mit Sammy, und er war sauer auf mich, ich weiß aber nicht, warum.« »Und was war mit Sammy?« Sie schniefte. »Das weiß ich auch nicht. Er hat irgendetwas getan, worüber Mr. Stephans wütend ist.« »Warum sollte Stephens das Ihnen anlasten?« »Weil er weiß, dass Sammy in mich verknallt ist.« »Woher weiß er das denn?« »Ich hab’s ihm erzählt.« »Warum, um Himmels willen, haben Sie das gemacht?« »Ich habe mich mit Mr. Stephens unten vorm Gericht getroffen, und da kam Sammy an uns vorbei. Er hat Mr. Stephens einen schrägen Blick zugeworfen, und ein paar Minuten später konnten wir sehen, dass er hinter einer Säule stand und hinter uns herspionierte.« »Na so was!« »Deshalb habe ich Mr. Stephens erzählt, dass Sammy in mich verknallt ist, und wir haben darüber gelacht. Wahrscheinlich hat 231
Sammy uns lachen sehen.« »O je.« »Und jetzt ist etwas Schreckliches passiert, aber ich weiß nicht, was.« »Gut. Bleiben Sie hier, Baby. Ich fahre mal eben rüber zum Gericht und suche Sammy, falls Stephens ihn noch nicht umgebracht hat.« Auf der Fahrt zum Gericht hatte ich reichlich Gelegenheit, mir grässliche Szenarien auszumalen. Ich stellte mir vor, wie Sammy – mit seinem Übergewicht, die Lunge infolge ungenügender Atemtätigkeit über Jahre hinweg kurz vor der Explosion, die Reaktionen verlangsamt, weil er sich mit einigen Gläsern Seagram’s Mut angetrunken hatte – plötzlich merkte, dass Stephens nicht nur ein hervorragender Anwalt war, sondern unglücklicherweise auch noch einen schwarzen Gürtel in Taekwondo besaß. Ich sah Sammy vor mir, wie er im Gericht jäh rücklings auf dem blank gebohnerten Linoleumfußboden gelandet war und nun gedemütigt auf der Seite lag, widerstandslos hingestreckt durch einen perfekt ausgeführten Karatetritt in den Solarplexus. Diese Sorgen waren, wie sich herausstellte, eine Verschwendung meines ohnehin schon ziemlich erschöpften Adrenalinspiegels. Es dauerte nicht lange, und ich wusste genau, wie Sammy Stephens verhackstückt hatte, weil dieser die Tollkühnheit besaß, reich zu sein, gut auszusehen und noch dazu die Zuneigung von Blu McClendon zu besitzen. Im Gericht summte es davon wie bei einem elektrischen Kurzschluss. Ich denke gerne, dass die Eleganz dessen, mit der Sammy vorging, aus den Tiefen seiner Südstaatenseele kam, aber vielleicht romantisiere ich damit ein wenig. Vielleicht hatte er einfach neue, verschlungene Denkweisen gelernt, weil er sich den ganzen Tag mit der Strafgerichtsbarkeit von Fulton County herumschlagen musste. Woher es auch gekommen sein mochte, es war ein Paradebeispiel dafür, wie Rache sein kann: einfach, 232
effektiv und vollkommen legal. Sammy hatte, seit ich ihm von Stephens erzählt hatte, mit dem Fall eines gewissen Burton Randall herumjongliert, bis das Timing genau richtig war. Burton war schon zu Lebzeiten eine Legende im Gericht, ein echter objektspezifischer Kleptomane und Atlantas Top-Autodieb. Man war sich darüber einig, dass ihm nicht zu helfen sei. Er liebte es, Autos zu stehlen, er musste einfach Autos stehlen, und er lebte nur dafür, Autos zu stehlen. Und er hatte, wie alle Connoisseure, einen erlesenen Geschmack. Je rassiger das Auto, umso verzweifelter wollte er es haben. In einem Allerweltsauto mochte ruhig der Schlüssel stecken, er ging vorbei, aber für einen Wagen, den er unbedingt haben wollte, ging er höchste Risiken ein. Burton wartete schon seit Tagen auf seine Verhandlung, aber Sammy, als Justizsekretär mit absoluter Terminhoheit ausgestattet, blockierte die Amtskanäle und ließ ihn in der Luft hängen. Randalls Anwalt war stinksauer darüber, aber da es meist unangenehme Folgen hat, wenn man sich den Justizsekretär zum Feind macht, kam Sammy damit durch. Er wartete auf eine ganz bestimmte Konstellation: Erstens musste Derek Stephens zur Wahrnehmung juristischer Belange von Horizn Pharmaceuticals im Gerichtsgebäude sein, und zweitens musste das Wetter perfekt sein. Stephens war zwar schon die ganze Woche über im Gericht gewesen, aber das Wetter hatte nicht mitgespielt. Der heutige Tag war jedoch strahlend angebrochen und so klar, dass man Diamanten damit schleifen konnte, und Sammy hatte dafür gesorgt, dass Richter Odoms Terminplan für den Vormittag auf magische Weise eine Lücke aufwies, sodass der Fall Georgia gegen Randall endlich verhandelt werden konnte. Gleichzeitig hatte Sammy ans Tiefgeschoss die Nachricht weitergegeben, dass der Herr Richter keinerlei Verständnis dafür habe, dass gewisse Rechtsanwälte im Hinblick auf das Parkplatzproblem bevorzugt behandelt würden. Der betreffende Wagen müsse sofort auf die Straße, sonst würde Odom ihn abschleppen lassen. 233
So kam es, dass der knallrote Ferrari 360 Modena von Derek Stephens gut sichtbar und ungeschützt auf dem Parkplatz des Bezirksgerichts von Fulton County stand, als Burton Randall, zum siebten und bestimmt nicht letzten Mal bis zu einem künftigen Gerichtstermin auf Kaution freigelassen wurde. Es sei fairerweise erwähnt, dass Sammy sich gerade ganz allgemein, aber nicht ohne Hintergedanken über den Autotyp und den genauen Standplatz äußerte, als Burton den Gerichtssaal verließ. Als Derek Stephens’ Ferrari nach drei Stunden aufgefunden wurde, hatte er über dreihundert rasante Fahrtkilometer hinter sich. Aber der Kilometerstand fiel kaum ins Gewicht. Hingegen bedeuteten die umfassenden Karosseriereparaturen, die jetzt nötig waren – infolge eines kurzen, aber spektakulären Zwischenspiels mit der Polizei von Atlanta, anschließenden Entlangschrammens an der Leitplanke einer Ausfahrt und eines letzten und endgültigen Zusammenstoßes mit einem großen, massiv einbetonierten Verkehrsschild –, dass Stephens den Wagen nie mehr als »Ferrari 360 Modena in tadellosem Zustand« inserieren konnte. Jetzt war »Ferrari 360 Modena zum Ausschlachten« angemessener. Ich hielt in den nächsten Stunden Ausschau nach Sammy, fand ihn aber erst gegen fünf Uhr nachmittags im Captain’s, einer Bar, die bei unseren Stammkneipen etwa an fünfter Stelle rangierte, wo er sich verkrochen hatte. Dort saß er, freundlich in sich hineinlächelnd, eine Reihe leerer Gläser triumphierend vor sich aufgestellt. Als ich an seinen Tisch trat, legte er den Kopf in den Nacken und schaute zu mir hoch. »Jackie-Boy«, sagte er, und sein Lächeln wurde noch breiter. »Du bist sicher hier, weil du an meinem Triumph teilhaben willst.« Ich musterte ihn prüfend, ob er vielleicht Anzeichen von Irrsinn zeigte. Seine Anzugjacke hing über dem Stuhl gegenüber, als würde gleich ein Freund von der Toilette zurückkehren. Ich wusste aber, dass er allein war. Er war immer allein, wenn ich ihm nicht Gesellschaft leistete. Er hatte seine Krawatte gelockert und den obersten Hemdenknopf geöffnet. 234
»Ich bin nur gekommen, um dir den Arsch zu retten«, sagte ich. »Du hast einem sehr mächtigen Mann ans Bein gepinkelt.« Sammys Erwiderung war göttlich in ihrer Präzision. »Scheiß drauf«, sagte er, und dann lehnte er sich schwer und zufrieden auf seinem Stuhl zurück und lächelte wieder. Ein Weilchen später wurde er nachdenklich, um schließlich seiner Äußerung noch etwas hinzuzufügen. »Scheiß drauf«, sagte er, »der kann mich mal.« »Sammy«, sagte ich, »du bist dabei, die Elementarkräfte des Universums zu stören. Derek Stephens wird dich zermalmen.« »Wie denn?«, sagte Sammy. »Ich habe doch nichts getan, Jackie-Boy. Gar nichts. Ich habe einen Verhandlungstermin anberaumt. Da soll er mich mal verklagen.« Einen Augenblick schien es mir, als könnte Sammy ungeschoren bleiben. Das Gefühl hielt sich allerdings nur Sekunden. »Aber Sammy, Stephens ist nicht der Typ, der sich unbedingt an die Regeln hält. Er wird die Sache persönlich nehmen.« »Soll er doch«, erwiderte Sammy. »Er weiß ja, wo ich arbeite. Dann werde ich ihm die Fresse polieren.« »Ich spreche nicht von einer Schlägerei.« »Jackie«, sagte er, »du verwechselst mich mit jemandem, der etwas zu verlieren hat.« Ich sah ihn argwöhnisch an. »Und was heißt das?« »Das heißt, ich habe nichts zu verlieren, Jackie-Boy. Meine Wohnung ist gemietet. Mein Wagen ist noch nicht abbezahlt. Ich besitze eine recht ordentliche Stereoanlage und fünf Anzüge. Ich verdiene 36000 Dollar im Jahr. Aber ich habe einen wundervollen Augenblick lang einem der reichsten und mächtigsten Männer des amerikanischen Südens einen Tritt verpasst. Glaubst du, dass ich auch nur eine Sekunde lang darüber nachdenke, wie er reagieren wird?« Während ich da saß, Sammy im Blick, hatte ich plötzlich eine Erleuchtung. Durch ihn wurde ich genau zur richtigen Zeit daran erinnert, wo ich falsch lag. Sammy war an einem Punkt 235
angelangt, an dem ein vollkommener existenzieller Frieden herrschte, anders ausgedrückt: an dem alles scheißegal war. Ich hatte auf einmal ein Gefühl, als würde auf mich aufgepasst, als hätte das Universum ein Auge auf mich und die meinen. Auf mich, Nightmare und Sammy. Vater, Sohn und heiliger Geist. Wir waren alle auf Kollisionskurs mit irgendetwas, und wir mussten jeder unsere Lektion lernen. Ein freundliches, gütiges Universum hatte gerade dafür gesorgt, dass es mir an nichts fehlte. Sicher, ich wusste nicht, wem ich glauben sollte. Ich war mir auch nicht ganz sicher, ob ich überhaupt die Wahrheit über Michele Sonnier herausfinden wollte. Aber Sammy hatte wieder einmal die Gültigkeit der einen reinen Lebensphilosophie unter Beweis gestellt: Hak’s ab und lass los. Sobald man so frei ist, ist man so gefährlich und unberechenbar wie eine Splitterbombe. Sammy, innerlich bewegt von den tiefsinnigen philosophischen Erkenntnissen, die er auf dem Boden einer Flasche Seagram’s gefunden hatte, sah mich an und lächelte. »Belassen wir es also dabei, Jackie-Boy«, sagte er. »Ich habe mich mit Derek Stephens angelegt, und ich habe es für die Frau getan, die ich liebe. Ich bin glücklich.« In dem Augenblick kam ich zu der Überzeugung, dass Sammy überleben würde, was immer auch geschehen mochte in diesem ganzen Schlamassel. Vielleicht war er erfolglos und ein Trinker, aber wenn es zu einem Rivalitätskampf kam, wusste er genau, was er tat. Ich hätte am liebsten ein Dankgebet gesprochen. Stattdessen beschloss ich, Sammy einen Drink zu spendieren. »Sammy«, sagte ich, »das ist dein Abend heute.« »Verdammt richtig.« Ich machte eine Pause. »Er wird dich womöglich deswegen umbringen.« Sammy nickte. »Mag sein.« Ich hielt die Hand hoch, und die Kellnerin kam zu uns, um unsere Bestellung entgegenzunehmen. »Das Gleiche, was er hat, nochmal«, sagte ich, »und bringen Sie die Flasche.« 236
19 Strahlend und unwillkommen brach der Donnerstag an; Vogel-, Verkehrs- und Menschenlärm durchbrach störend die Schallmauer meines wohlverdienten Katers. Ich machte ein Auge auf und sah auf die Uhr: viertel vor neun. Ich rief Blu an, nur um zu hören, wie sie sich hielt. »Alles okay, Baby?«, fragte ich. »Was für eine Marter hat Stephens denn nun für Sammy ersonnen?« Es dauerte ein bisschen, bis sie antwortete. »Ich habe seit gestern nicht mehr mit Derek gesprochen.« »Wie in ›Er reagiert nicht auf meine Anrufe‹ oder in ›Wir hatten noch keine Gelegenheit, miteinander zu reden‹?« Wieder eine kleine Pause. »Das Erste«, sagte sie dann mit belegter Stimme. »Baby, es wird alles wieder ins Lot kommen. Immerhin sehen Sie, dass er ein Mistkerl ist.« »Sagen Sie doch so etwas nicht, Jack. Sie kennen ihn nicht.« »Hoffe auch, dass es so bleibt«, sagte ich. »Aber im Augenblick will ich eigentlich nur wissen, wie es Ihnen geht.« »Mir geht’s gut. Michele Sonnier hat angerufen.« Sie sagte es beiläufig, dabei hatte ich seit unserer letzten Begegnung jede Sekunde an sie gedacht. »Sie hat angerufen? Was hat sie gesagt?« »Sie hat gesagt: ›Richten Sie Mr. Hammond aus, dass es mir gut geht und dass ich mich wieder melde.‹« »Sonst nichts? Dass es ihr gut geht und sie sich wieder meldet?« »Ja.« »Sind Sie sicher?« »Ja. Kommen Sie her?« Ich lehnte mich im Bett zurück. Es geht ihr gut. Sie meldet 237
sich wieder. Erleichterung und Verlangen zugleich überschwemmten mich und auch Ärger über mich selbst, dass ich so fühlte. Dies, redete ich mir ein, ist ein Test. Das Universum ist belustigt, weil ich noch vor wenigen Stunden beschlossen hatte, mich um nichts mehr zu scheren, und ruft jetzt meine Nummer auf. »Jack?« Blu, die noch am Telefon war, wurde ungeduldig. »Haben Sie mich gehört?« »Ja, sicher. Wie war noch mal die Frage?« »Kommen Sie her, oder was?« »Nicht gleich«, sagte ich. »Ich suche jemanden.« »Wen denn?« »Darüber brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen«, sagte ich. »Ich rufe nachher noch mal an.« Ich legte auf und zog mich an. Ich rief an diesem Vormittag doch nicht mehr an, weil ich fast den ganzen Tag damit zubrachte, den Mann zu finden, den ich brauchte. Er war nicht in seinem Büro. Er war nicht zu Hause. Sobald ich seinen Namen Leuten gegenüber erwähnte, die ihn kannten, bemühten sie sich, so schnell wie möglich das Thema zu wechseln. Der Typ war offensichtlich radioaktiv. Ich hatte es schon fast aufgegeben, als mich gegen drei seine Sekretärin auf meinem Handy anrief. Auch sie flüsterte, als hätte sie Angst, es würde jemand mithören. Besorgt sind Sie? Wie meinen Sie das?, fragte ich sie. Ich bin besorgt, sagte sie. Mehr will ich nicht sagen. Aber wenn ich zum Orme-Park ginge, würde ich ihn vielleicht dort finden. Er sei klein, habe braunes Haar und sehe ein wenig mitgenommen aus. Mehr war nicht aus ihr rauszuquetschen. »Thomas? Thomas Robinson?« Der Mann trug Trainingshosen, einen dünnen Pulli und hatte sich seit Tagen nicht rasiert. Er sah schrecklich aus. Zumindest passt er zu seiner Beschreibung. »Dr. Robinson? Könnte ich Sie wohl kurz sprechen?« Der Mann blickte mit teilnahmsloser Miene zu mir auf. 238
»Es hält Sie nichts davon ab«, sagte er. Dann beugte er sich auf der Parkbank vor und suchte den Rasen nach Vögeln ab. In der Hand hatte er eine kleine Tüte Futter, aber es waren keine Abnehmer da. Selbst die Vögel hielten Abstand. »Ein schöner Tag«, sagte ich und setzte mich neben ihn. »Sind Sie oft hier draußen?« »In letzter Zeit ja«, sagte Robinson. Er war relativ klein, etwa 1,70, und schmächtig. Sein Haar war auf konservative Art kurz geschnitten, aber etwas zerzaust, und es sah aus, als hätte er es länger nicht gewaschen. Er wühlte mit den Fingern in dem Futter herum und blickte geistesabwesend über die Wiese, ob nicht doch Vögel auftauchten. »Sie sind ziemlich schwer zu finden«, sagte ich. »Ihre Sekretärin sagte, Sie würden Ihre Dienstzeiten nicht regelmäßig einhalten.« »In letzter Zeit nicht«, sagte er leise. Er wandte sich ab, als wollte er von jetzt an schweigen, bis ich endlich wieder verschwunden war. »Dr. Robinson, ich will ohne Umschweife zur Sache kommen. Ich habe ein paar Fragen zu Lipitran AX.« Eine Pause trat ein, dann sagte er noch leiser: »Was sind Sie? Anwalt?« »Woher wissen Sie das?« Robinson lachte leise. »Weil nach dem Unglück die Aasgeier kommen.« Er schaute zu den Baumwipfeln empor. »Sie verschwenden Ihre Zeit.« »Wieso?« »Weil es keinen Prozess geben wird, diesmal nicht.« Obwohl das gar nicht in meiner Absicht gelegen hatte, beschloss ich, darauf einzugehen. »Wie können Sie da so sicher sein?« »Weswegen denn? Die Behandlung hat nicht angeschlagen. Na und?« Er senkte den Blick und drehte die Papiertüte mit dem Futter fest zu. »Na und?«, sagte er nochmals leise. »Sie hatten 239
eine Verzichterklärung unterzeichnet. Alles wasserdicht. Von Leuten wie Ihnen abgefasst. Dann also auf ein andermal. Hier sind keine Leichen, an denen Sie sich laben könnten.« Ich betrachtete sein Gesicht. Er sah schlecht aus, wie zerbrochen. Wir schwiegen eine Zeit lang, bis er mich ansah. »Noch da?«, sagte er. »Ich hab’s Ihnen doch gesagt. Da ist kein Gold zu holen. Versuchen Sie Ihr Heil lieber mit der Jagd auf Opfer in den Rettungswagen.« Er wandte den Blick ab. »Kümmern Sie sich nicht um mich«, sagte er. »Ich habe gerade sieben Menschen umgebracht.« »Sieben? Ich dachte, es waren acht.« Robinson hob den Kopf und schaute mich an. Er war ausgebrannt, voller Sarkasmus und wurde von bitteren Schuldgefühlen zerfressen. »Sieben«, sagte er. »Einer ist am Leben geblieben. Er heißt Lacayo.« Er schwieg nachdenklich. »Er ist nicht richtig tot, um genau zu sein. Aber auch nicht richtig gesund. Im Grunde ist er mehr tot als lebendig. Unten im Grady Memorial, da hält er sich an dem kleinen bisschen Leben fest, das ihm geblieben ist.« »Warum erzählen Sie mir nicht, was geschehen ist?«, fragte ich ruhig. »Ja, warum nicht«, erwiderte er, »täte mir ja so gut, alles noch einmal durchzukauen.« »Tut mir Leid. Aber es ist wichtig, sonst wäre ich nicht mehr hier.« Robinson schloss die Augen. »Lipitran AX sollte die Wunderwaffe im Kampf gegen Hepatitis C sein«, sagte er. »Das wäre eine ganz große Sache geworden.« Er öffnete die Augen wieder und richtete sie auf mich. »Die Hep breitet sich aus wie ein Lauffeuer, müssen Sie wissen.« »Hab ich gehört.« »Wissen Sie, dass wir schon bei E sind?« »Hepatitis E? Nein, das wusste ich nicht.« Robinson nickte. »Die Leute vögeln weiter ungeschützt, und 240
sie fixen, das ist der Grund«, sagte er finster. »Wie gefährlich ist denn die C? Tut mir Leid, aber ich bin kein Fachmann.« »Sie Glücklicher«, sagte Robinson. »Hep A und B sind die gewöhnlichen. Sie verlaufen bei den meisten Menschen glimpflich. Unter Umständen machen sie einem das Leben zur Hölle, wenn nicht rechtzeitig eingegriffen wird, aber sie sind nicht tödlich. Über D und E wissen wir noch zu wenig. Aber Hepatitis C ist äußerst gefährlich, nur wissen viele Menschen das gar nicht.« »Wie gefährlich?« »Etwa zwanzig Prozent der Infizierten erkranken an Leberkrebs. Und dieser Krebs ist vollkommen immun gegen jede auf unserem Globus bekannte Behandlung. Er entwickelt sich sehr schnell und ist tödlich. Wer ihn bekommt, stirbt.« Er ließ den Blick in die Ferne schweifen. »Unter Hepatitis C zu leiden ist wie Russisches Roulette. Jedes Mal, wenn Sie zum Arzt gehen, drehen Sie die Trommel. Bei einem von fünf Schüssen lautet der Befund, dass Sie bald sterben werden. Das macht nicht gerade Mut.« »Ein Mittel zur Heilung von Hepatitis C wäre also unglaublich gewinnbringend.« »Und würde viele Menschenleben retten.« »Ich weiß nicht recht, wie ich die Frage vorbringen soll, aber wie oft kommt ein solcher GAU vor?«, fragte ich. »Bei dem alle –« »Sterben?«, beendete Robinson meinen Satz. »Nicht allzu oft. Meist geben wir uns damit zufrieden, den Leuten nicht helfen zu können.« Er schaute wieder über die Rasenflächen. »Die meisten unserer Versuche bringen nichts.« »Das wusste ich nicht.« Er nickte. »Natürlich nicht. Wir hängen es nicht an die große Glocke, denn wenn wir das täten, fänden wir niemanden mehr, der sich bei unserem nächsten grandiosen Einfall als 241
Versuchskaninchen zur Verfügung stellen würde.« Er schaute zu Boden. »Aber diesmal hat es uns nicht gereicht, ihnen nicht helfen zu können. Diesmal mussten wir sie auch noch umbringen.« Er sah mich hilflos und sichtlich gequält an. »Sie sind geplatzt«, sagte er. »Es kam aus jeder Körperöffnung. Massive Blutungen. Aus den Augen, der Nase, den Ohren, überall heraus. Es sah aus … heiliger Himmel, es sah aus wie Ebola. Sie kamen alle nach der zweiten Behandlung an. Schreiend, voller Qual, mit aufplatzenden Körpern.« »Großer Gott.« Robinson räusperte sich und spuckte einen großen Schleimpfropf ins Gras. Er gab nichts mehr um gute Umgangsformen. Sein Ton wurde beißend. »Dabei ließ es sich nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten hervorragend an«, sagte er. »Von Anfang an war alles perfekt. Man tat das Zeug in ein Reagenzglas und sah, dass es wie verrückt Hepatitisviren fraß. Man gab es Mäusen, und es wirkte Wunder. Wir dachten wirklich, wir könnten es mit einer kleinen Testreihe bis zur Marktreife bringen. Darum gab es keine Versuche mit Primaten. Es sah so gut aus, dass die Arzneimittelbehörde es auf schnellstem Wege für Menschen zulassen wollte.« Er sah mich an. »Was wieder einmal eines zeigt.« »Was denn?« »Dass ein Mensch keine Maus ist.« Endlich kam ein Spatz angeflogen und landete etwa fünf Meter von uns entfernt. Robinson lebte auf und begann den Vogel zu locken. »Komm, mein Piepmätzchen«, sagte er. Er benahm sich wie ein kleines Kind. »Nun komm schon, hol dir ein paar Körnchen.« Der Vogel drehte den Kopf, dann hüpfte er näher an uns heran. Robinson streute vorsichtig ein wenig Futter auf den Boden. Der Vogel huschte flink herbei, pickte das Futter auf und flog davon. Robinson folgte ihm mit den Augen, bis er zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann schaute er plötzlich mich an. »Jedem«, sagte er, »jedem Einzelnen von ihnen habe ich gesagt, 242
dass es Wunder wirken würde.« »Ihre Patienten wussten aber doch, dass sie ein Risiko eingingen.« Robinson starrte mich an, und die Wellen seiner Qual waren spürbar. »Lange Zeit konnten wir keine Leute finden, die sich zur Verfügung stellten«, erwiderte er. »Wir machten Anschläge und schalteten Anzeigen. Nichts.« »Warum?« Robinson zuckte die Achseln. »Drogensüchtige, die spritzen, sind nicht unbedingt Gesundheitsapostel. Auf jeden Fall misstrauen sie dem Gesundheitssystem. Sie sind ausnahmslos davon überzeugt, dass wir sie der Polizei übergeben.« Er machte eine Pause. »Dann meldeten sich urplötzlich ein paar. Nur wenige, und sie waren total nervös.« »Weil sie dachten, dass sie angezeigt würden?« »Ja, vielleicht. Und weil nur eine Chance von zwanzig Prozent bestand, den Krebs zu bekommen. Die Leute standen also vor einer verflucht schweren Entscheidung. Aber ich habe sie weich geklopft. In meiner Forscherarroganz habe ich einfach behauptet, ich würde sie heilen.« »Und dann ging etwas schief.« Robinson sprach mit versteinerter Miene weiter. »So könnte man es nennen.« Er stand auf und schlenderte langsam über den Rasen. Ich folgte ihm in einigem Abstand. Nach ein paar Schritten murmelte er etwas Unverständliches. »Was haben Sie gesagt?«, fragte ich. »Meine glänzende Karriere«, sagte er, »so könnte man es nennen: ›Meine glänzende Karriere.‹« Er lachte bitter. »Eben denkt man noch, schlimmer könnte es nicht mehr werden«, sagte er, »aber Pustekuchen.« Er blieb stehen und sah mich an. »Schauen Sie mich ruhig an, mein Freund. Ich bin Mitglied im Club der Doppelverlierer.« »Doppel?« »Nicht jeder kann zweimal im Leben auf so hohem Niveau 243
Mist bauen. Es ist eine Art Begabung. Ich habe einen Doktortitel im Scheißebauen.« »Was war das erste Mal?« Robinson blieb wieder stehen. »Ich bin eigentlich nicht in der Stimmung für einen Aderlass, deshalb sollten Sie endlich zur Sache kommen. Dann kann ich mich wieder meinem Schmerz widmen.« »Ich brauche Ihre Hilfe.« »Ich soll einem Anwalt helfen? Warum sollte ich das?« »Weil ich nicht glaube, dass das, was bei Ihrem Versuch geschehen ist, von selbst passiert ist. Ich glaube, da ist nachgeholfen worden.« Robinson kniff die Augen zusammen. »Was zum Teufel reden Sie da?« »Ich glaube, dass jemand dabei die Hand im Spiel hatte. Hinter den Kulissen.« Robinsons Gesicht wurde hart. »Dieser Jemand müsste der skrupelloseste Schuft sein, der je auf dieser Erde herumgelaufen ist. Sie haben hoffentlich einen guten Grund für Ihre Vermutung! Die Versuchspersonen sind nämlich tot.« »Wussten Sie, dass das Sicherheitssystem Ihrer Firma undicht war?« Alles Blut wich aus Robinsons Gesicht. »Jemand hat sich über einen Hacker Zugang verschafft«, sagte ich. »Zu Operationen, Versuchsreihen, E-Mails, einfach allem. Alles, was in den Grayton-Laboren vorging, ist in einen Computer außerhalb Ihrer Firma runtergeladen worden.« Robinson streckte die Hand aus und umfasste mein Handgelenk wie ein Schraubstock. »Wer?«, fragte er. »Sagen Sie mir, wer.« »Ein Mandant von mir.« »Ich bringe ihn um.« »Dazu ist es zu spät.« Robinson ließ mich wieder los. »Er ist tot?« »Ja. Er hieß Doug Townsend.« 244
Robinson sah mich mit großen Augen an. Dann fing er an zu zittern. »Ich erinnere mich an ihn. Groß, teigige Haut. Der war Ihr Mandant?« »Richtig. Sie brauchen ihn also nicht zu hassen. Außerdem bin ich sicher, dass er einen Auftraggeber hatte.« Robinson schwankte ein wenig, er war sichtlich erschüttert. »Habe ich ihn getötet? Habe ich den Kerl getötet, der unsere Geheimnisse gestohlen hat?« Ich schüttelte den Kopf. »Er ist an einer Überdosis Fentanyl gestorben.« Robinson starrte mich an. »Fentanyl? War er im Krankenhaus?« »Er war in seiner Wohnung. Er hat sich anscheinend selbst eine ganze Wagenladung davon gespritzt. Niemand weiß, warum.« Robinson schüttelte den Kopf. »Das ist sehr unwahrscheinlich«, sagte er. »Er musste praktisch gefesselt werden, damit wir ihm die Injektionen geben konnten.« »Mir hat er auch erzählt, er habe eine Spritzenparanoia.« »Es war das Schlimmste für ihn. Mir vorzustellen, er könnte sich dazu aufgerafft und eine Vene gesucht haben … Na ja, höchstens wenn er zwanzig Löcher im Arm gehabt hätte.« »Das dachte ich mir. Der springende Punkt ist der, dass er sich nicht mit Fentanyl hätte umzubringen brauchen. Er musste ohnehin am Lipitran sterben.« Robinson starrte mich an. »Was wissen Sie denn noch alles?« »Dass Doug nur eine Marionette war. Aber in den letzten Monaten hatte er eine ordentliche Menge Geld. Das war offensichtlich sein Hackerlohn für das Ausspionieren Ihrer Firma. Und ich glaube, ich weiß auch, für wen er gearbeitet hat.« Ich machte eine Pause und überlegte mir genau, was ich sagen wollte. »Wenn ich Recht habe, dann ist es mit großer Wahrscheinlichkeit die gleiche Person, die auch mit dem Misserfolg Ihres klinischen Versuchs in Zusammenhang zu 245
bringen ist.« »Wer?« »Der Name, der mir unablässig durch den Kopf geht, lautet Charles Ralston.« Robinson taumelte, als hätte ihn ein Schlag getroffen. Er wandte die Augen gequält zum Himmel und sagte: »Du gibst dich wohl nicht damit zufrieden, mich nur zu vernichten«, sagte er. »Nein, du musst auch noch das in den Staub treten, was von mir übrig ist.« »Ihren Worten entnehme ich, dass Sie ihn kennen.« Robinson richtete den Blick auf mich. »O ja, ich kenne ihn«, erwiderte er, als speie er Gift aus. »Und es würde perfekt in eine chaotische Welt passen, dass er so etwas macht. Er hat mich schon einmal fast vernichtet, es ist also nichts Neues mehr.« »Sie hatten schon einmal Streit mit Ralston?« Robinson nickte, und es war ihm vom Gesicht abzulesen, dass er litt. »Dann habe ich nur noch eine letzte Frage an Sie«, sagte ich. »Werden Sie mir helfen?« Jetzt ließ Robinson zum ersten Mal von seiner Leichenbittermiene ab. Er lächelte sogar und zeigte sich beutegierig wie ein Raubvogel. »Ralston zu liefern? Dafür würde ich mein Blut hingeben!« Robinson dahin zu bringen, dass seine Wut abkühlte und er wieder klar denken konnte, war wie das Ausnüchtern eines Betrunkenen. Er war ganz und gar von ihr durchdrungen und brauchte Zeit, um davon loszukommen. Ich nahm ihn mit zu Trent’s, einem Café am Rande des Parks, in dem ich ihn gefunden hatte. Er zitterte tatsächlich ein wenig, als er saß und seine Finger eine Tasse Sumatra umschlossen. Was immer zwischen ihm und Ralston vorgefallen war, es ging tief. Ich brauchte ihn nur anzustoßen, und er ging los wie ein kaum noch zu kontrollierender Flächenbrand. »Lassen Sie mich erst mal eines richtig stellen«, sagte er. 246
»Ralston ist kein bedeutender Wissenschaftler. Er spielt ihn nur gerne. In Wahrheit ist er gerade mal Durchschnitt. Sein Talent ist das Stehlen.« »Wie meinen Sie das?« Robinson stellte seine Tasse ab. »Ich gehörte zum Forschungsteam der Emory-Universität. Das muss so etwa 1986 gewesen sein. In den großen Städten breitete sich Hepatitis explosionsartig aus, und ich war entschlossen, etwas dagegen zu tun. Ich habe mich krumm gebuckelt und uns ein RO1 erwirkt …« »RO1?« »Die Forschungsgelder der staatlichen Gesundheitsbehörde NIH, die in die Millionen gehen. In diesem Fall waren es 4,1 Millionen.« »Das ist viel Geld.« »Ja. Mir standen sechzehn Studenten zur Verfügung, die wie verrückt hepatitisinfiziertes Blut zentrifugierten. Die Universität stand dahinter, die Mittel waren da, und wir machten Fortschritte. Es ging darum, ein bestimmtes Enzym im Blut zu isolieren, das eine Affinität zu Hepatitis hat.« »Affinität?« »Fachjargon. Wenn sich Zellen verbinden, sagen wir, dass sie eine Affinität zueinander haben.« Ich nickte. »Hatten sie aber nicht. Sonst hätten sich nämlich T-Zellen an die Hepatitiserreger geheftet, und Hepatitis wäre wie eine Erkältung verlaufen, die einfach überwunden wird.« »Was haben Sie gemacht?« Robinson zuckte die Achseln. »Im Idealfall findet man ein Enzym, das natürlich vorkommt und mit dem man arbeiten kann. Man bastelt daran herum, verändert es gentechnisch. Wenn man es dazu bringt, anzudocken, ist man schon halb am Ziel. Dann versucht man, den Wirkstoff, der das Virus abtötet, mit dem Enzym zu verbinden, das sich an den Erreger heftet, und hat so etwas wie eine ferngesteuerte Waffe gegen die Erkrankung.« 247
»Die Wunderwaffe.« »Wunderwaffe, Wunderdroge, wie auch immer. Das ist der Traum, mit dem die Wissenschaft in der Öffentlichkeit hausieren geht. Gebt uns Geld, und wir heilen euren Krebs mit einer einzigen Spritze. Das Problem ist nur: Wir zwei sitzen hier in einem Lokal und unterhalten uns darüber. Und es scheint einfach zu sein, ein Enzym dazu zu bewegen, an ein Virus anzudocken. In Wirklichkeit ist es unglaublich schwierig. Viel ist schon damit gewonnen, wenn man von Anfang an mit dem richtigen Enzym arbeitet und es an die Gegebenheiten anpasst. Leider gibt es Hunderte davon.« »Wie ging es weiter?« Robinson beugte sich vor. »Wir sind genau so vorgegangen, und es war Schwerarbeit. Wir haben so lange rund um die Uhr geschuftet, dass einige Studenten ausgestiegen sind. Ich war ein richtiger Sklaventreiber. Aber schließlich haben wir einen enormen Durchbruch erlebt. Es gibt nämlich im Körper bereits ein Enzym, P137, das dem Ideal sehr nahe kommt. Niemand hatte es in Betracht gezogen, weil es in kaum nachweisbaren Spuren auftritt. Es verbirgt sich im Blutstrom und nimmt einfach nur Platz weg. Soweit man weiß, hat es keinerlei Funktion. Es ist ein Überbleibsel aus unserer genetischen Vergangenheit, etwas, das wir vor hunderttausend Jahren womöglich brauchten. Es ist also, tief im molekularen Dunkel vergraben, in unvorstellbar winzigen Spuren vorhanden.« »Und?« »Wir brauchten mehr davon. Viel mehr. Eine Zeit lang habe ich versucht, die natürliche Enzymproduktion im Körper entsprechend anzuregen, aber das hat uns nicht weit gebracht. Der Durchbruch kam, als wir herausfanden, wie wir es synthetisch herstellen konnten. Sobald das geht, braucht man sich nicht mehr darum zu scheren, wie viel der Körper davon produziert. Wir konnten einfach so viel herstellen, wie wir wollten, und es in jeder gewünschten Weise manipulieren.« 248
»Wunderbar.« Robinson schaute mich an. »Das kann man wohl sagen. Wir lieferten uns damals ein Wettrennen mit dem Tod, und dann sahen wir plötzlich das Ende des Tunnels.« Er verstummte. »Sie müssen sich bitte Folgendes vor Augen führen: Bei uns gingen die wirklichen Zahlen aus den einzelnen Stadtteilen ein. AidsTests wurden schon auf breiter Basis durchgeführt. Wir begriffen allmählich, dass Hepatitis C letzten Endes genauso viel Schaden anrichtet wie Aids. Sie fand nur nicht so viel Gehör im öffentlichen Bewusstsein, weil Aids allgemein viel mehr Angst erregt. Dabei besteht – zumindest in Nordamerika – durchaus die Möglichkeit, dass Hepatitis C mehr Menschen ins Jenseits befördert als Aids. Es sind bereits drei Millionen Menschen damit infiziert, ich weiß nicht, ob Ihnen das bekannt ist.« »Nein.« »Sehen Sie. Wir hatten es also noch nicht ganz geschafft, standen aber kurz davor. Wir konnten es spüren. Als wenn nur noch eine kleine Nebelwolke vor uns läge, und innerhalb weniger Sekunden würde sich genau der richtige Nebelfetzen zur Seite schieben, und da wäre es – das, wonach wir jahrelang gesucht haben.« Robinsons Augen waren weit aufgerissen. Er empfand offenbar wieder die alte Leidenschaft für seine wissenschaftlichen Arbeit und geriet regelrecht in Verzückung. »Und dann«, sagte er, »beging ich einen entscheidenden Fehler.« »Und welchen?« Robinson wirkte plötzlich völlig abgeschlafft; er sah aus dem Fenster. Seine Augen spiegelten seine Erschöpfung, die lange Leidenszeit nach einer vernichtenden Niederlage. »Ralston«, sagte er, »der König der Diebe.« »Erzählen Sie mir, was passiert ist.« »Hybris. Selbstüberhebung. Dummheit. Meinerseits, wie sich herausstellen sollte.« Den Blick auf seinen Kaffee gerichtet, 249
driftete er in die Vergangenheit ab. »Ich war wegen eines Seminars oben in Columbia.« »Wo Ralston arbeitete.« »Richtig. Ich war in freudiger Hochstimmung, nicht wahr? Ich meine … Wir konnten vielleicht bald eine Menge Menschen vor dem sicheren Tod retten. Es ist schwer, so etwas für sich zu behalten.« »Großer Gott, Sie haben –« »Nicht viel«, unterbrach mich Robinson. Er rieb sich schuldbewusst die Schläfen. »Nur ein ganz kleines bisschen. Aber ich muss den Verstand verloren haben. Ich kann mich noch genau daran erinnern, was ich gesagt habe: ›Mein wichtigster Lebensinhalt ist inzwischen P137.‹ Ich glaube, ich habe sogar dabei gelächelt. Ich glaubte wahrscheinlich, eine wunderbar kryptische Bemerkung gemacht zu haben.« »Stimmt ja auch.« Robinson schüttelte den Kopf. »Nicht für Ralston. Er hatte, was ich nicht wusste, an der Columbia-Universität an der gleichen Sache gearbeitet. Sie waren dort aber kein Stück weitergekommen. Er war natürlich auf einer völlig falschen Spur. Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass er mittelmäßig ist.« »Das haben Sie gesagt.« »Mittelmäßig, aber kein Idiot. Ich hatte ihm den Schlüssel zum Königreich gegeben. Er wusste eine Menge über die Synthese von Enzymen, konnte aber nichts mit seinen Kenntnissen anfangen. Sobald er ahnte, worauf er sein Augenmerk richten musste, war es nur noch eine Frage von Wochen, bis er es heraus hatte.« »Haben Sie sich denn Ihre Forschungsergebnisse nicht patentieren lassen?« Robinson schüttelte wieder den Kopf. »Der Patentantrag lag auf meinem Schreibtisch. Und jetzt hatte ich so etwas wie eine vorzeitige Nutzungsvollmacht erteilt.« Ich versuchte, mich an mein Jurastudium zu erinnern. 250
»Genauer gesagt: eine öffentliche Erklärung, die es einer Person mit entsprechender Sachkenntnis erlaubt, sich Ihr Verfahren zunutze zu machen.« Ich schüttelte fassungslos den Kopf. »Sie haben Ihr Patent schon entwertet, bevor es überhaupt registriert war.« Robinson nickte. »Ralston hat gleich Stephens angerufen, der in New York lebte. Er galt damals schon als Patentrechtexperte, besonders auf dem Arzneimittelsektor. Auf Stephens’ Rat hin kündigte Ralston am nächsten Tag seinen Job bei der ColumbiaUniversität.« »Ralston hat also das Rennen gewonnen?« »Als ich endlich merkte, was los war, hatte Stephens längst ein wunderbar hieb- und stichfestes Päckchen geschnürt.« Er ließ die Schultern hilflos sinken. »Alles Übrige einschließlich meiner Karriere ist Geschichte.« »Die Emory-Universität war wahrscheinlich nicht begeistert.« »Es war die größte Demütigung in ihrer Geschichte. Meine Studenten hatten wie Sklaven geschuftet, wirklich, 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Wir wären gemeinsam in die Geschichte eingegangen. Und bums, eine dumme Bemerkung von mir, und alles geht in Rauch auf. Ich konnte mich nirgendwo mehr blicken lassen.« Robinson nahm seine Tasse und trank einen Schluck. »Ich bin eine Zeit lang untergetaucht. In akademischen Kreisen war ich nur noch ein Dreck, kein Labor würde je wieder riskieren, mich einzustellen. Es kam so weit, dass ich mich als Vertreter verdingte, der Ärzte besucht.« »Schlimm.« »Ja. Es war die Hölle. Horizn verdiente ein Vermögen mit meinen Forschungen, aber daran war nichts zu ändern. Stephens hat offensichtlich keine solchen Fehler gemacht wie ich. Seine Patente waren unanfechtbar.« »Wie viel, schätzen Sie, verdient er damit?« Robinson zuckte die Achseln. »Die Zahl der Infizierten wächst ständig und hat in der Dritten Welt astronomische Ausmaße 251
erreicht. Ralston hat ein Mittel entwickelt, das jeder dieser Patienten sein Leben lang nehmen muss. Es sind also Milliarden im Spiel.« »Mal sehen, ob ich alles richtig verstanden habe. Ihre Karriere ist ruiniert. Ralston hat schwindelnde Höhen erreicht. Und dann kommen Sie irgendwie wieder aus der Versenkung. Wie sind Sie mit Grayton in Kontakt gekommen?« »Ich heile gern Menschen, nicht wahr? Das bedeutet mir alles. Und dies hier war ein Egotrip. Sie sagen, dass Ralston schwindelnde Höhen erreicht hat? Vergessen Sie nicht, dass er sie durch meine Forschungen erklommen hat. Ich bin also zu Grayton gegangen. Ich habe ihm gesagt, Ralston sei ja auf dem rechten Weg, aber es gebe da etwas, womit man ihn schlagen könnte.« »Und was?« »Tiefer zu gehen. Die Infektion nicht als chronische Erkrankung zu sehen, sondern alles zu tun, um eine echte Heilungsmöglichkeit zu finden.« »Das hat Grayton Ihnen abgekauft?« Robinson nickte. »Sie müssen risikobereit sein, sonst bleiben Sie auf der Strecke. Grayton hat immer versucht, im Rennen zu bleiben, aber es ist schwer, sich gegen multinationale Konzerne zu behaupten. Vor allem aber wusste ich mehr über Hepatitis als jeder andere, inklusive Ralston und sein Team. Das HoriznMittel ist zwar wunderbar, aber noch eine Generation davon entfernt, wirklich bahnbrechend auf dem Gebiet der Proteomik zu sein. Ich kann das beurteilen, denn ich habe es entwickelt. Ich sagte Grayton also, wenn er den Versuch wagen wolle, könne ich ihm einige Jahre Vorarbeit ersparen. Ein Pharmakonzern wie Eli Lilly würde nicht mehr auf mich setzen, nicht bei meiner Vergangenheit. Aber Grayton muss anders kalkulieren. Darum hat es geklappt.« Robinsons Blick ging an mir vorbei, konzentrierte sich auf etwas Unbekanntes in seinem Kopf. »Es ließ sich bestens an. Der alte Herr hat bereitgestellt, was ich 252
brauchte. Leute, Geräte, alle Hilfsmittel. Es wäre mein Comeback gewesen.« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Und dann brach die Hölle los.« »Haben Sie eine Ahnung, was passiert ist?« Robinson schüttelte den Kopf. »Ich bin es Tausende Male durchgegangen. Ich habe unsere Daten überprüft, immer wieder. Und ich sage Ihnen: Diese Leute müssten eigentlich hier herumlaufen ohne ein einziges Hepatitismolekül im Körper. Stattdessen liegen sie im Leichenschauhaus.« Ich schwieg ein Weilchen und dachte nach. »Nehmen wir einmal an, Ralston hätte das Hacken in Ihrem Labor veranlasst«, sagte ich schließlich. »Was könnte dahinterstecken? Hat er Ihnen nur Ihr Medikament stehlen wollen wie beim letzten Mal?« Robinson sah mich erstaunt an. »Es stehlen? Ralston würde Lipitran nicht einmal geschenkt haben wollen.« »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.« »Lipitran ist ein Heilmittel, kein Medikament zur Behandlung einer chronischen Erkrankung. Aber wer will schon Menschen heilen, wenn er ihnen bis in alle Ewigkeit sein Mittel verkaufen kann, das sie brauchen, um am Leben zu bleiben?« »Was war es dann?« »Wenn medikamentös eine Heilung erzielt werden kann, ist seine Firma unter Marktgesichtspunkten am Ende. Aber wenn Lipitran fehlschlägt, kann er sein Medikament noch zwanzig Jahre lang absetzen.« Er starrte in seine Kaffeetasse. »Mit sieben Toten ist das Problem vom Tisch, stimmt’s? Lipitran ist ebenso gestorben wie diese Kranken.« Robinson war dabei, wieder in seine Depression zu verfallen. »Fassen wir einmal zusammen«, sagte ich, um seine Aufmerksamkeit erneut zu fesseln. »Wir haben Ihren Computer, dessen Inhalt sich Ralston runtergeladen hat. Er weiß genau, was Sie machen. Er will Sie unbedingt stoppen.« »Ja.« 253
»Aber wir haben keine Ahnung, wie.« Robinson schüttelte den Kopf. »Und das ist der Punkt, wo Ihre Vermutungen haltlos werden«, sagte er bitter. »Glauben Sie mir, nichts wäre mir lieber, als wenn Sie Recht hätten. Aber wir sitzen einfach nur in einem Café und stellen Theorien auf. Ich war jedoch am Ort des Geschehens, im Labor. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wie es gelaufen sein kann. Entweder hat er die Zusammensetzung des Mittels verändert, oder er hat die Dosierung auf ein tödliches Niveau angehoben. Beides hätte er nicht bewerkstelligen können.« »Fangen Sie mit der Zusammensetzung an.« »Punkt eins, mein Freund. Ralston hätte nirgends – und ich meine wirklich nirgends – die Möglichkeit gehabt, an der Zusammensetzung der Droge herumzupfuschen. Das Mittel wurde vollständig im Hause hergestellt. Ich selbst habe die Reinheit überprüft, und zwar immer wieder. Die Herstellung wurde pausenlos elektronisch kontrolliert bis hin zu dem Augenblick, wo die Patienten es erhielten.« »Gut. Wie steht es mit der Dosierung?« Wieder schüttelte Robinson den Kopf. »Punkt zwei: Ich habe jede Behandlung selbst überwacht. Nichts ging daneben, und es gab am Anfang auch keinerlei nachteilige Reaktionen.« Ich nickte. »Bleibt noch Punkt drei.« Robinson lächelte grimmig. »Genau. Punkt drei lautet: Vielleicht war es einfach Schicksal. Vielleicht hatten die acht Menschen einfach den schlechtesten Arzt der Welt. Mich.« Er starrte mich mit einem Ausdruck von Wut und Enttäuschung an. Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch. Ein paar Leute sahen erschreckt zu uns herüber, und ich bat ihn, sich zu beruhigen. »Nein«, zischte er, »nein. Ich sage Ihnen, wissenschaftlich war alles perfekt. Die Zusammensetzung stimmte. Die Dosierung war genau richtig. Er muss eine andere Möglichkeit gefunden haben, um mich fertig zu machen.« 254
»Um die Patienten fertig zu machen, wollten Sie sagen, nicht wahr, Herr Doktor?«, sagte ich leise. Robinson schlug die Augen nieder. »Ja, die«, sagte er. »Die hat er fertig gemacht.« »Ich muss Ihnen gestehen«, sagte ich, »dass mein Job ein bisschen anders gelagert ist. Ich will nur einem Menschen Gerechtigkeit widerfahren lassen, und das ist Doug Townsend.« Robinson blickte mich an. »Da haben Sie ein Problem«, sagte er. »Ich verstehe ja, dass Ralston ihn möglicherweise angeheuert hat, um in die Grayton-Computer einzudringen. Und ich kann auch noch einsehen, dass sein Tod gewünscht wurde, als er seine Schuldigkeit getan hatte. Aber wenn das alles stimmt, dann hätten Ralston und Co. gewusst, dass Doug an dem klinischen Versuch teilgenommen hat. Und wenn sie das wussten, hätten sie sich niemals die Mühe gemacht, ihn mit Fentanyl voll zu pumpen.« »Weil sie gewusst hätten, dass er ohnehin schon so gut wie tot war.« »Wer würde denn ein perfektes Verbrechen derart versauen? Ihn nochmal umzubringen ist überflüssig.« »Da stimme ich zu. Und Mord ruft die Polizei auf den Plan, etwas, das sie bestimmt nicht wollten.« »Tja. Vielleicht müssen Sie dann die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass jemand anders Ihren Freund umgebracht hat.« »Eins nach dem anderen. Wir beide stehen doch auf der gleichen Seite. Wenn Sie wirklich ein Mittel zur Heilung von Hepatitis C entwickelt haben, müssen Sie kämpfen. Sie könnten noch unzählige Leben retten.« Ich machte eine kurze Pause. »Und Sie könnten den Mann dingfest machen, der Ihr Leben zweimal ruiniert hat.« Robinson sah mich an. »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß, und werde tun, was ich kann. Aber wenn diese Leute einen Weg gefunden haben, auf so furchtbare Weise in den Versuch einzugreifen, agieren sie auf einer Ebene, die sie 255
unerreichbar macht.« Er stand auf und nahm sein Vogelfutter. »Im Augenblick haben wir nichts in der Hand«, sagte er. »Wir?« Robinson schaute auf mich, und vorsichtiger Optimismus gewann kurz die Oberhand über seine abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit. Der Mann wollte aus ganzem Herzen glauben, was ich ihm eröffnet hatte. Er wusste aber auch, dass er keinen weiteren Schock mehr ertragen konnte. Wenn er sich mit mir verbündete und wir in Flammen aufgingen, würde das, was dann noch von ihm übrig war, mit ziemlicher Sicherheit in der Psychiatrie landen. Er war sowieso schon gefährlich nahe daran. Aber er riss sich immerhin so weit zusammen, dass er mir sagen konnte, was ich hören wollte: »Wenn Sie mehr herausgefunden haben, wissen Sie ja, wo Sie mich finden können.« Ich weiß nicht, welchen Wert ein Mensch hat. Ich bin dazu erzogen worden, an einen unendlich hohen Wert zu glauben, den Gott festgesetzt hat. Daran, dass unsere Würde dem Schöpfer teuer ist und dass, wer den Wert eines Menschen durch eine Kugel oder einen Messerstich herabzusetzen versucht, die Differenz mit dem eigenen Wertverlust bezahlen muss. Damals war die Sache mit der Menschenwürde eine Art Nullsummenspiel. Niemand hatte das Recht, an der Gesamtsumme etwas zu verändern, weil davon alle betroffen waren. Aber es wird immer schwieriger, an dieser Vorstellung festzuhalten. Vor kurzem habe ich in Richter Thomas Odoms Gerichtssaal erlebt, dass ein Menschenleben mit gerade mal zwanzig Dollar gehandelt wurde – für diesen elenden Haufen Papier und Metall wurde ein unglückliches Opfer von einem unter Drogen stehenden, nach Stoff gierenden Süchtigen ermordet. Über diesen Mord wurde in der Zeitung erst auf Seite zehn berichtet, denn zu dem betreffenden Zeitpunkt befand sich die ganze Stadt in einer Art Rettungshysterie wegen eines Eichhörnchens, das sich in ein Abflussrohr verirrt hatte. Wenn 256
es keinen Konsens mehr gibt, muss man sich folglich entscheiden, woran man glauben will. Entweder sind wir alle durch eine gemeinsame Seele miteinander verbunden – dann ist Töten absolut und total falsch. Oder wir sind es nicht – dann frisst der Stärkere den Schwächeren. Größer könnte der Entscheidungsspielraum gar nicht sein. Die Sache ist die, dass man Leuten, die Arzneimittel zur Lebenserhaltung vertreiben, in dieser Hinsicht ein klares Urteil zutraut. Man erwartet, dass sie sich eindeutig auf die Seite der Lebenden schlagen und nicht wankend werden. Man ist so lange davon überzeugt, bis einem aufgeht, wie viel Geld im Spiel ist, und schon wird man wieder von den alten Zweifeln am Wesen des Menschen geplagt. Denn die Geschichte hat gezeigt, dass niemand mehr »sicher« ist, sobald ein paar Milliarden auf dem Tisch liegen. Das war der Augenblick, in dem ich wieder die Uhr in meinem Kopf ticken hörte. Ticktack, ticktack, ticktack: Es war Dienstag, und am kommenden Montag würden Charles Ralston und Derek Stephens durch den Börsengang unermesslich reich werden, weil Abertausende von Menschen in Zukunft am Hepatitismittel von Horizn mitverdienen wollten. Ticktack, ticktack, ticktack: Laut Robinson hätte der Erfolg des Lipitran-Versuchs nicht nur diese Transaktion bis auf den letzten Cent gefährdet, sondern auch die Zukunft von Horizn. Ticktack, ticktack, ticktack: Ich will fair sein: Robinson war schwer angeschlagen, und Schuldgefühle und Depressionen über seine Niederlage quälten ihn. Theoretisch war es durchaus möglich, dass sein Hass auf Ralston daher stammte und er sich in allem Übrigen etwas vormachte. Nach so vielen Fehlschlägen sieht man das Leben nicht nur als grausam an – es scheint sich auch alles gegen einen und nur gegen einen selbst verschworen zu haben, und das vermiest einem das Leben noch mehr. Diesen Weg war Robinson schon ziemlich weit gegangen. Woraufhin mir bewusst wurde, dass mir nur noch sechs Tage blieben, um 257
herauszufinden, wie hoch Ralston und Stephens den Wert von acht Menschen einschätzten, die fast alle Drogensüchtige und nur noch menschliche Wracks waren. Ich musste herausfinden, ob sie an die Nullsummen-Menschheit glaubten. Oder ob sie Monster waren. Alles war sonnenklar. Ich wusste genau, wer die Schuldigen waren, und ich wusste auch genau, wen ich retten wollte. Ich verstand alles, und ich genoss meinen Durchblick. Es war wunderbar, und es dauerte nur etwa fünfzehn Minuten.
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20 »Jack? Wann kommen Sie ins Büro?« »Eins nach dem anderen, Baby. Wie geht es Ihnen? Ist Stephens denn nun ausgeflippt?« »Hier ist jemand für Sie, Jack. Er wartet auf Sie.« Ich sah auf die Uhr. Es war gegen fünf. »Ach ja? Habe ich einen Termin vergessen?« »Es ist Mr. Stephens.« Ich war wie elektrisiert. »Stephens ist da? Jetzt?« »Hm.« »In meiner Kanzlei?« »Hm.« »Sag ihm, er soll sich nicht vom Fleck rühren.« »Macht er sowieso nicht.« »Bin schon unterwegs.« Derek Stephens sah nicht unbedingt verärgert aus. Er sah auch nicht so aus, als würde er sich nur mit äußerster Anstrengung beherrschen, eher so, als wenn er niemals auch nur daran gedacht hätte, die Namen Sammy, Liston und Ferrari in einen Zusammenhang zu bringen. Er erhob sich – unerklärlicherweise lächelnd – mit so nonchalanter Unbekümmertheit von einem meiner Besucherstühle, dass es schien, als begrüße er mich in seiner Kanzlei. Ich sage ihnen, das ist ein Talent. Er eröffnete sogar das Gespräch. »Jack«, sagte er, »ich bin froh, dass Sie da sind. Ich hoffe, Sie können ein paar Minuten für mich erübrigen.« Ich sah Blu an. »Alles in Ordnung, Baby?« Sie nickte mit ausdruckslosem Gesicht. »Wissen Sie was? Sie könnten uns Kaffee holen gehen.« »Hier ist doch Kaffee, Jack.« Ihr zitterte die Stimme. »Schon gut, Baby«, sagte ich. »Aber machen Sie mal Pause. 259
Und danach stellen Sie sich wieder bei mir ein.« Blu warf einen kurzen Blick auf Stephens, dann nahm sie ihre Handtasche. »Klar«, sagte ich dann, zu Stephens gewandt, »dort hinein.« Ich ging in mein Büro, warf meine Sonnenbrille auf den Schreibtisch und deutete auf den Lehnstuhl auf der anderen Schreibtischseite. Stephens schaute sich um, wahrscheinlich war es ihm ein Rätsel, wie ich meine Tätigkeit in einem Raum ausüben konnte, der vermutlich genauso groß war wie die Toilette seiner Kanzlei. Nun bin ich zwar dafür bekannt, dass ich vor Gericht ganz schön vom Leder ziehe, aber in meiner Kanzlei gehe ich kein Risiko ein. Niemals. Nie. Nach meinem Gespräch mit Robinson war ich in dieser Hinsicht noch vorsichtiger. Es war ja durchaus möglich, dass ich das Zimmer mit einem skrupellosen Mörder teilte. Oder dass ich mit dieser Vermutung vollkommen falsch lag, und deshalb wollte ich meinen Ton möglichst neutral halten. Ich setzte mich, ließ ihn mein noch immer geschwollenes linkes Auge anstarren und fragte: »Was haben Sie denn auf dem Herzen?« Stephens saß einfach da und betrachtete mich, ein leichtes Lächeln um die Mundwinkel. Nach einiger Zeit sagte er: »Ich habe da so eine Idee, Jack. Sie und ich, wir sollten Freunde werden.« Ich erwiderte sein Lächeln. »Ach, ich weiß nicht, Derek. Warum sollte ich das wollen?« »Weil ich Ihnen dann einen wohlmeinenden Rat geben könnte. Sonst müsste ich andere Saiten aufziehen.« »Mir ist nicht bewusst, dass ich das eine oder das andere brauchen könnte.« Stephens zuckte die Achseln. »So geht es den meisten Leuten, die es dringend nötig hätten. Aber ich habe das Gefühl, das war ein schlechter Start; versuchen wir es noch einmal.« Ich beschloss, ihm ein bisschen Spielraum zu lassen, um herauszubekommen, was er eigentlich wollte. »Ich bin ganz Ohr, Derek, alter Freund«, sagte ich. 260
»Sie haben Ihre Nase irgendwo hineingesteckt, wo sie nicht hingehört, Jack. Nämlich unter den Rock der Gattin von Charles Ralston.« Na schön, es wird also eine Schlammschlacht. Soll mir recht sein, ich habe damit kein Problem. »Sie werden verzeihen, wenn ich das nicht gerne aus dem Munde eines Mannes höre, der ein krankhaftes Verlangen danach hat, Sekretärinnen flachzulegen.« Stephens lächelte, als dächte er: Gut. Du hast Schneid. Dann wird es erheblich spannender. »Nicht, dass dieses Thema zur Debatte stände, aber gefällt Ihnen etwa meine Beziehung zu Blu nicht?« »Ich fürchte, meine Antwort darauf wäre nicht gerade schmeichelhaft für Sie.« Stephens winkte großmütig mit der Hand. »Kein Problem.« »Die Sache ist die, Derek, dass Blu eine wirklich nette junge Dame ist. Sie hat ein Herz aus Gold, ist aber nicht sehr gebildet. Sie hingegen sind ein verweichlichter Snob, der sich anderen Leuten überlegen fühlt, nur weil er ein paar Bücher gelesen hat. Aber das ist eine Frage des Geschmacks und macht mir weniger Kummer.« »Was macht Ihnen denn Kummer?« »Die Tatsache, dass Sie eine Zeit lang mit meiner Sekretärin ausgehen und dann mit ihr schlafen werden. Sie werden ihre beträchtlichen Vorzüge genießen, solange sie einen Reiz auf Sie ausüben. Aber nicht in einer Million Jahren würden Sie sie in irgendeiner Weise als vollständigen, lebendigen Menschen behandeln – sie also zum Beispiel heiraten. Nicht, dass ich wünschte, Sie würden sie heiraten – das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist der, dass Sie Blu auf keinen Fall heiraten würden, weil Sie sie dann als Unterpfand Ihres Geschmacks in Sachen Frauen Ihren Fortune-500-Freunden vorstellen müssten. Sie hätten Angst, dass sie bei einem Dinner peinlich auffallen könnte, beispielsweise, indem sie sich zu Ihnen beugt und Sie fragt, welche Gabel sie benutzen soll, wer der Dichter Dante ist oder 261
was so großartig an Kandinsky-Gemälden ist. Oder sie würde in aller Unschuld etwas so Charmantes von sich geben wie, dass sie Ihr Schlafzimmer kornblumenblau zu streichen gedächte, woraufhin all Ihre verklemmten New Yorker Spießerfreunde die Augen verdrehen würden, und das würde einen Typen wie Sie umbringen. Nein, Derek, mein Freund, Sie werden Blu McClendon nicht heiraten. Aber Sie werden sie mit Sicherheit eine Zeit lang benutzen und einfach fallen lassen, wenn Sie genug von ihr haben. Sie fällt arglos auf Ihr mieses Spiel herein, weil Ihre schmutzige Denke ihrem Wesen völlig fremd ist. Ich hingegen erkenne einen gemeinen Mistkerl schon von weitem. Und je mehr ich über Sie nachdenke, umso mehr verachte ich mein eigenes Geschlecht.« Stephens hatte sich in den Sessel zurückgelehnt und hörte mit halb geschlossenen Augen zu. Das Lächeln, das um seine Lippen spielte, zuckte ein wenig, dann sah er mich an. »Es ist eine Tragödie, dass Sie die Orientierung verloren haben, Jack. Sie wären fantastisch gewesen.« Er beugte sich vor. »Ich habe natürlich ein paar Nachforschungen über Sie angestellt. Wenn Sie an Micheles Unterwäsche herumschnüffeln, kann ich nicht anders.« Er legte nachdenklich die Fingerspitzen zusammen. »Also machen wir’s kurz, denn ich bin ein wenig in Zeitnot. Sie waren begabt, sie waren gut, und Sie waren früher auch ehrgeizig. Aber dann sind Sie einer Versuchung erlegen und gestürzt, und gelandet sind Sie« – er ließ den Blick verächtlich durch mein Büro schweifen – »hier.« In dieser Sekunde schwor ich mir im Stillen: Wenn er ihren geheiligten Namen ausspricht, werde ich ihm in die Visage hauen. Stephens redete weiter, und seine Stimme war so eben wie eine Wasserwaage. »Wann war das, vor zwei Jahren? Ihr Studium lag erst wenige Jahre zurück. Sie waren bei Carthy, Williams & Douglas. Eine gute Kanzlei, und Sie hatten die besten Aufstiegschancen. Dann kam Ihr kleiner Lapsus, und es war aus mit der Karriere. Sie haben sich also 262
schon einmal auf dem Altar einer schönen Frau geopfert. Wollen Sie diesen Fehler wirklich noch einmal begehen?« Mir war vollkommen klar, dass ich mir lebenslange finanzielle Knechtschaft einhandelte, wenn ich Stephens die Beine brach, aber in dem Augenblick erschien mir dieser Einsatz nicht zu hoch. »Sie schwimmen derzeit ganz oben, nicht wahr, Derek, alter Freund?« Er lächelte. »So könnte man es sehen.« »Sie haben eine Freundin – angesichts der Tatsache, dass Sie die Hände nicht von heißen Südstaatlerinnen lassen können, wahrscheinlich irgendeine Emanze aus dem Norden, die im Hauptfach Soziologie mit Schwerpunkt ›Gender Studies‹ ihr Examen gemacht hat –, jedenfalls haben Sie eine. Und wie der Zufall es will, ist Ihr ›kleiner Seitensprung‹ eine der schönsten Frauen auf dieser Erde. Und zu allem Überfluss dauert es keine Woche mehr, bis Sie auch noch unmenschlich reich werden.« »Und was wollen Sie damit andeuten?« »Dass das alles für die Katz ist.« Das schien Stephens zu belustigen. »Für die Katz?« »Richtig, für die Katz. Und wissen Sie auch, warum? Es fehlen Anstand und Würde.« Jetzt beugte ich mich vor. »Sie haben nicht dafür gearbeitet, Derek. Für das, was Sie und Ralston damals verdient haben, wissen Sie noch? Sie haben das Hepatitismittel gestohlen, und das nimmt allem den Glanz.« Stephens fixierte mich mit seinen klaren, ruhigen Augen. »Es gibt nur einen Mann, der das behauptet«, sagte er. »Wie interessant, dass Sie mit ihm gesprochen haben.« »Er ist ein begeisterter Anhänger Ihres Chefs.« »Tom Robinson ist kein schlechter Wissenschaftler. Er hat gute Arbeit geleistet, allerdings nicht so gut, wie er sich einbildet. Er hat nämlich einen Fehler gemacht und kann nicht damit leben. Soll ich Mitleid mit ihm haben? Habe ich nicht. Geschäft ist Geschäft, das weiß jeder, der Erfolg hat.« Er machte eine Pause und schaute sich erneut mit halbem Lächeln in 263
meinem Büro um. »Sehen Sie sich doch diesen Raum an, Jack. Haben Sie dafür Jura studiert?« »Ich habe ihn mir zumindest nicht zusammengeklaut.« Stephens zuckte mit den Schultern. »Na schön, Jack, Sie mögen mich nicht. Okay. Sie halten mich für skrupellos. Auch okay. Ich werde Sie nicht um Ihr Vertrauen bitten. Ich werde es mir verdienen.« »Das dürfte Ihnen kaum gelingen.« »Spitzen Sie mal die Ohren.« Stephens machte wieder eine Pause, dann sah er mir direkt in die Augen und sagte: »Hat Michele Ihnen schon von Briah erzählt?« Bei diesen Worten geriet meine Welt ins Wanken. Das war das große Geheimnis, das ich um jeden Preis für mich behalten sollte; darum hatte Michele mich inständig gebeten. Stephens hatte den Namen beiläufig fallen lassen, als spräche er vom Wetter. »Briah?«, flüsterte ich. »Ja, Jack. Ist schon in Ordnung. Ich weiß Bescheid über Briah, und Charles auch.« »Sie hat gesagt …« »Ich weiß, Jack. Sie lügt.« »Sie weiß aber nicht, dass Sie es wissen.« »Selbstverständlich weiß sie es. Sie brauchen sie bloß zu fragen. Wenn Sie ihr dabei ins Gesicht schauen, werden Sie sehen, dass ich die Wahrheit sage.« Ich schloss die Augen. Was er da gerade gesagt hatte, war kaum zu verkraften. Ich war aufs Ganze gegangen, und wenn ich das für jemanden getan hatte, der mich nur ausnutzte, änderte das meine Sicht der Dinge mit einem Schlag. Stephens wartete geduldig, bis ich meine Fassung wiedergewonnen hatte. »Wussten Sie, dass Michele vorbestraft ist?«, fragte er. »Nein.« Übelkeit wallte in meiner Magengrube auf. »Welche Straftat?« »Straftaten«, verbesserte mich Stephens. »T’aniqua war ein sehr armes kleines Mädchen.« 264
»T’aniqua.« »Ja, Jack. Auch das wissen wir.« Das Atmen fiel mir immer schwerer. Ich bekam kaum noch Luft. »Sie sagte, Ralston dürfte es nie erfahren. Sie sagte, er würde es nie verwinden.« »Er weiß es aber, Jack. Es hat also keinen Sinn, darüber zu streiten, ob er es verwinden würde oder nicht.« Seine Logik war unwiderlegbar. Aber sie beantwortete die Frage nicht, die mir ein Loch in meine gedemütigte Seele brannte. »Eines möchte ich wissen«, sagte ich. »Warum sollte sie das alles erfinden? Wenn Ralston Bescheid weiß, warum bittet sie dann mich, ihr bei der Suche nach ihrer Tochter zu helfen?« »Weil sie mit legalen Mitteln nicht an sie herankommt«, sagte Stephens. »Deshalb macht sie von ihrem beachtlichen Manipulationstalent Gebrauch und bringt die Leute dazu, ihr zu helfen.« Er machte eine kurze Pause. »Sie hat Ihnen sicher erzählt, dass das Sozialamt ihr das Kind gleich nach der Geburt weggenommen hat.« »Ja.« »Eine ihrer Lieblingsversionen. Sie hat auch schon behauptet, das Kind sei ihr beim Einkaufen entrissen worden oder der Kindsvater habe es entführt.« Er lächelte betrübt. »Falls es Ihnen wohl tut: Sie sind nicht der Erste. Sie sind der … Fünfte, glaube ich. Dann muss Ihr Freund Doug Townsend der Vierte gewesen sein.« Ich starrte ihn an. »Sie kennen Doug?« »Sie müssen eines begreifen, Jack: Ich weiß alles über Michele.« Er sah mir fest in die Augen. »Alles.« Mir schoss durch den Kopf, was im Horizn-Flugzeug geschehen war. »Ist nicht weiter schlimm«, sagte er, als könnte er Gedanken lesen. Seine Augen leuchteten. »Sie ist wunderbar, nicht wahr? Wenn sie den Mund aufmacht, findet man sie einfach göttlich. Diese Schönheit, einfach atemberaubend. Aber das alles trügt. 265
Sie ist ein schwer gestörter Mensch.« Er schwieg. »Michele war ein völlig ungeratenes Kind. Als sich Briah einstellte, hätte es eigentlich niemanden wundern dürfen, dass sie ihre Mutterpflichten versäumte.« Ich hatte das Empfinden, als würde ich innerlich versteinern. »Was ist denn passiert?« »Es hat sich ein Unfall ereignet. Das Baby wäre beinahe ertrunken, während Michele nebenan mit Freunden feierte.« »Ich verstehe.« Aber ich verstand gar nichts und ging von Augenblick zu Augenblick immer mehr aus dem Leim. »Sie badete das kleine Mädchen gerade und wurde abgelenkt. Das passiert schon mal unter Marihuana und Alkohol. Das Kind wurde gerettet, weil die Polizei einen Hinweis erhielt. Ein Nachbar hörte den Lärm und machte sich Sorgen um das Kind. Die Polizei drang in die Wohnung ein und fand Michele mit ihren Freunden im Wohnzimmer, stoned.« Mir fehlten die Worte. »Bei Durchsuchung der Wohnung fand die Polizei Briah in der Badewanne. Das Wasser reichte ihr bis fast an den Mund, Wenn sie nur den Kopf gedreht hätte, wäre sie ertrunken.« Stephens verzog das Gesicht zur Grimasse. »Natürlich hat das Jugendamt ihr das Kind weggenommen, Jack. Alles andere wäre unverantwortlich gewesen. Es geschah nur, um das Leben des kleinen Würmchens zu retten.« »Und wo ist sie jetzt?«, fragte ich. »Wo ist Briah?« »Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich das weiß?« »Sie wissen doch sonst alles.« Stephens betrachtete mich sinnend. »Sie haben nicht ganz Unrecht«, sagte er schließlich. »Ich weiß es tatsächlich. Aber es geht Sie nichts an. So viel kann ich immerhin noch sagen: Charles hat dafür gesorgt, dass es dem Kind an nichts fehlt.« Er seufzte. »Ab und zu überkommt Michele Reue. Dann meint sie, sie müsse unbedingt ihre Tochter finden und ihr alles erklären. Nach all den Jahren will sie dann wieder Mutter sein. Das ist vielleicht verständlich, aber Briah ist da, wo sie ist, bestens 266
aufgehoben, und eine Begegnung der beiden dürfte ihr nicht unbedingt gut tun.« Ich schwieg eine Weile und versuchte mir einen Reim auf das alles zu machen. Die Welt stand Kopf. Die Frau, in die ich verliebt war, hatte mich allem Anschein nach mitleidlos ausgenutzt, während mir mein angeblicher Feind seine tiefsten Geheimnisse offenbarte. Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. »Jetzt hören Sie mal«, sagte ich, »Sammy ist nicht gerade der cleverste Mensch der Welt. Lassen Sie Gnade vor Recht ergehen. Er ist … einfach frustriert, weil er nur das ist, was er ist.« »Ich werde nichts gegen Ihren Freund unternehmen«, sagte Stephens. »Er hat Ihren Ferrari auf dem Gewissen«, sagte ich. »Oder hat zumindest ein bisschen nachgeholfen.« »Das ist mir bewusst.« »Und Sie wollen nichts unternehmen?« »Stimmt.« »Blu sagte aber, sie seien sehr verärgert.« »Wären Sie das nicht?« »Ich wäre stinkwütend gewesen. Darum meine Frage: Warum wollen Sie nichts unternehmen?« »Weil Ihr Freund zwar ein elender Wurm ist, aber enormes Glück hat, was den Zeitpunkt betrifft. Wenn mein Name sechs Tage vor dem Börsengang von Horizn in die Schlagzeilen kommt, dann bestimmt nicht wegen einer Eifersüchtelei mit einem verstimmten Justizangestellten.« »Und danach?« »Die Horizn-Aktien werden über einen langen Zeitraum sensibel reagieren, Jack. Sie werden schnell im Wert steigen, und das wird einige Leute nervös machen. Stabilität ist alles. Und ich möchte, offen gestanden, bei einem landesweiten Fernsehinterview nicht als Erstes gefragt werden, wieso ich wegen eines Autos mit einem Tölpel aus dem Süden im Streit 267
liege.« Ich starrte vor mich hin. Nichts – aber auch wirklich nichts – an diesem Gespräch nahm den Verlauf, den ich erwartet hatte. »Er bleibt also ungeschoren«, sagte ich. »Ja.« Er lehnte sich im Sessel zurück. »Jetzt zu Ihnen.« Plötzlich begriff ich, was Stephens hier bei mir wollte und warum er mir so rückhaltlos Informationen aus dem geheimen Leben der Gattin von Charles Ralston lieferte. Verdammt richtig, er verplempert seine kostbare Zeit beileibe nicht. Er will irgendeine Absprache mit mir treffen. »Ich bin Ihnen irgendwie im Wege, stimmt’s?« Stephens zuckte die Achseln. »Wenn Sie so wollen.« »Ich soll mich nicht länger mit Dougs Tod befassen. Sie wollen keine schlafenden Hunde wecken.« »Es geht um eine Milliarde Dollar, Jack. Und die hängt bis auf den letzten Cent vom makellosen Ruf der Firma Horizn ab.« »Das ist nicht mein Problem.« »Nein, aber wie fänden Sie es, wenn alle Ihre Fragen beantwortet würden? Und Sie haben Fragen, Jack. Zu Ihrem Freund.« »Nichts wäre mir lieber.« Stephens langte in seine Tasche und legte eine Visitenkarte auf meinen Schreibtisch. »Morgen früh in den Geschäftsräumen von Horizn. Geben Sie dies dem Portier.« Ich zog erstaunt eine Augenbraue hoch. »Wozu?« »Sie haben eine Verabredung mit Charles Ralston.« »Ist das Ihr Ernst?« »Sie haben Verdacht geschöpft, und der hat sich durch Ihre Begegnung mit Robinson noch verstärkt. Aber Robinsons letzte Tragödie war selbst verschuldet, Horizn hatte nichts damit zu tun. Um des lieben Friedens willen hat Charles sich bereit erklärt, Sie persönlich zu empfangen und mit Ihnen über diese Dinge zu sprechen. Nach meiner Auffassung sollte er seine Zeit nicht an Sie verschwenden. Ich würde mich allerdings auch 268
nicht mit einer Ehefrau abfinden, die ständig mit anderen herumschäkert. Er ist eben in mancher Hinsicht ein besserer Mensch als ich.« Er stand auf. »Ich darf wohl annehmen, dass Sie inzwischen zur Vernunft gekommen sind, was Michele betrifft.« »Sie meinen, dass ich fortan die Finger von ihr lasse.« »Es steht viel auf dem Spiel dieser Tage, und sie ist ein flatterhaftes Wesen. Wenn sie sich die Flügel verbrennt, hat niemand etwas davon.« Er schritt zur Tür. Kurz bevor er sie erreichte, drehte er sich noch einmal um. »Ich habe noch eine Nachricht für Tom Robinson. Sollte er irgendwelche Hetzparolen in den Medien verbreiten, bleibt von ihm oder den Grayton-Labors so wenig übrig, dass sich eine Beerdigung erübrigt. Er hat keine Beweise, und ich nehme unsere Gesetze gegen Verleumdung sehr ernst. Verstanden?« »Ich sag’s ihm.« »Tun Sie das.« Stephens ging, und ich blieb allein in meinem Büro zurück. Alkohol, seit langem mein liebstes Betäubungsmittel, lockte mich wie eine Geliebte. Ich litt an meiner Dummheit und meinen Schuldgefühlen wie an einem Sonnenbrand. Nach der Hitze kommt der Schmerz. Und nach Derek Stephens kamen die Selbstvorwürfe. Ich hatte aufs falsche Pferd gesetzt. Und hatte einen Tritt in den Hintern bekommen. Ich war – und daran schluckte ich am schwersten – der Schönheit, Eleganz und Begabung einer Frau verfallen, die ich so weit über mir wähnte, dass ich es schon traumhaft fand, bloß in ihrer Nähe weilen zu dürfen. Und ich hatte eben erfahren, dass es für sie nur ein Spiel, eine neue Rolle gewesen war. Die Liebe, daran wurde ich erinnert, kann ein Luder sein. Bloßer Liebeswahn genügte, um Menschen in Idioten zu verwandeln, wie alles, was seit Doug Townsends Tod geschehen 269
war, bestätigte. Dougs Verhängnis war es gewesen, dass er versucht hatte, etwas für Michele zu tun. Ohne seine fatale Leidenschaft wäre er noch am Leben, clean und auf einem neuen Weg. Sammy hatte seine Existenz aufs Spiel gesetzt, weil Blu ihm den Verstand geraubt hatte. Und mir hat eben Derek Stephens den Teppich unter den Füßen weggezogen. Der, das sei am Rande vermerkt, gerade meiner Sekretärin das Herz bricht. Ich zog die unterste Schreibtischschublade auf und nahm eine Flasche und ein Glas heraus. Ich goss mir einen Drink ein und starrte ins Glas, beobachtete, wie sich das Licht in den Tiefen der bernsteinfarbenen Flüssigkeit brach. Ich hörte gedämpftes Gemurmel im Nachbarzimmer, und dann klappte die Tür; Stephens war weg. Ich schaute mein Glas an und dachte an Blu. Ich hatte schon x-mal gehört, dass Schönheit eine Last sein kann. Aber bis jetzt hatte ich das nie richtig verstanden. Blu wurden offenbar ihre verführerischen Formen zum Verhängnis. Auf der einen Seite war ein Mensch wie Sammy, der sich zwar falsche Hoffnungen machte, was sie betraf, aber in all seiner Besessenheit doch immer Kavalier blieb, ständig hinter ihr her und machte alles noch komplizierter, als es ohnehin schon war. Und auf der anderen Seite wurde sie von einem Typen wie Stephens, der die Macht hatte, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen und zu erfüllen, ausgenutzt und am Ende fallen gelassen. Ich schüttete den Drink hinunter, füllte mir das Glas erneut und starrte das zweite genauso an wie das erste. Ich weiß nicht, wie lange ich so da saß. Ich weiß nur, dass irgendwann meine Zimmertür aufging und Blu mit etwas unsicheren Schritten hereinkam. »Wie geht’s denn?«, fragte ich leise. »Alles in Ordnung?« »Klar«, sagte sie. »Da liegen ein paar Schriftstücke auf Ihrem Schreibtisch.« »Blu, wenn Sie irgendwas auf dem Herzen haben …« »Nein, ist schon okay.« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre Haarpracht, die so schön war wie in einem Fernsehwerbespot. 270
»Es geht schon, wirklich.« Sie kam zu mir an den Schreibtisch und schob mir ein Blatt Papier zu. »Ich höre auf«, sagte sie. »Das ist meine schriftliche Kündigung.« Ich starrte erst das Schreiben, dann sie an. »Was reden Sie da? Nehme ich nicht an.« Sie klimperte ein paarmal mit den Augenlidern, und ich fragte mich, ob sie geweint hatte. »Das ist mir egal, Jack. Ich gehe so oder so. Ich versuche nur die Form einzuhalten.« »Und warum?« »Darum.« »Ist es wegen Stephens? Verdammt, Blu, wenn er Sie unter Druck setzt …« »Nein«, stieß sie hervor und errötete. »Weswegen sonst? Sie können nicht einfach gehen, ohne mir zu sagen, was los ist!« Sie wandte sich ab, und dann bestand plötzlich kein Zweifel mehr daran, dass sie weinte. Sie setzte die ganze Kanzlei unter Wasser. »Zwingen Sie mich doch nicht, es zu sagen, Jack. Lassen Sie mich einfach gehen.« Ich stand auf, ging zu ihr, legte ihr die Hand unters Kinn und hob ihr Gesicht zu mir empor. »Sie können machen, was Sie wollen. Aber sagen Sie mir erst, warum.« Sie stand vor mir, selbst in ihrem Kummer noch auffallend schön, das liebliche Gesicht voller Kummerfalten und die wunderbaren himmelblauen Augen voller Tränen. Und dann sagte sie etwas so Menschliches, so Großherziges und Edles, dass es mich mitten ins Herz traf. »Ich tue es für Sie, Jack«, schluchzte sie. »Denn solange ich hier bin, ruft Sammy nicht mehr an.« Ich ließ sie los und setzte mich wieder an meinen Schreibtisch; ich war wie vom Donner gerührt. Sie hatte Recht. Sie hatte oft genug solche idiotischen, unrealistischen Liebeserklärungen wie Sammys erlebt, um zu wissen, was danach kam. Sammy würde sie auf zehn Meilen im Umkreis meiden, obgleich er sie so sehr 271
liebte, dass er fast verrückt wurde. Wenn ein Mann sich dermaßen ins Zeug legt und dann abblitzt – nicht, dass Sammy etwas anderes erwartet hätte, so verrückt war er nun auch nicht – , kann er nicht wieder anrufen und so tun, als sei nichts geschehen. Das lässt das männliche Ego einfach nicht zu. Es wäre ihm einfach nicht möglich, meine Nummer zu wählen und zu wissen, dass sie abheben würde. Aber dass sie Recht hatte, hieß noch lange nicht, dass ich sie einfach zur Tür hinausgehen lassen würde. Ich würde eben so tun, als wüsste ich nicht, wovon sie redete, in der Hoffnung, dass wir uns auf diese Weise gegenseitig etwas vormachen und dann zur Tagesordnung übergehen konnten. »Seien Sie nicht albern«, sagte ich. »Selbstverständlich ruft er wieder an.« Sie nahm es mir nicht ab. »Er wird nicht mehr anrufen, Jack. Gott, Männer sind so –« »Hören Sie –« »Ohne Sammy kann Ihre Kanzlei nicht bestehen«, unterbrach sie mich nüchtern. »Und er ruft nicht an, solange ich hier bin. Er ist gedemütigt und kann mir nicht mehr ins Gesicht sehen. So einfach ist das. Ich muss gehen.« »Aber Sie –« »Außerdem ist er Ihr bester Freund, Jack. Ich werde Sie nicht bitten, Ihren Freund aufzugeben.« »Dann hat also nicht Stephens Sie angehalten, zu kündigen?« »Nein.« Ich dachte kurz nach, dann riss ich ihr Kündigungsschreiben in Fetzen. »In diesem Fall kann ich Ihre Kündigung nicht akzeptieren. Sie bleiben.« »Dann gehen Sie Pleite.« »Sie arbeiten aber doch gern hier, oder?« »Natürlich arbeite ich gern hier. Sie sind … ja, ich arbeite gern hier.« »Dann werden Sie auch weiterhin hier arbeiten.« Sie sah mich lange an, und die Tränen versiegten. Nur beim 272
Luftholen schluchzte sie ab und zu noch herzerweichend. »Warum?«, fragte sie. »Warum tun Sie das für mich?« »Weil ich mich im Augenblick für den männlichen Teil der Menschheit schäme und etwas gutzumachen versuche. Ich werde etwas Unerhörtes tun. Ich werde Ihnen einen Gefallen tun, und das soll kein Vorwand sein, um über Sie herzufallen.« Es dauerte eine Weile, aber danach hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie zupfte ihr Top glatt, rückte ihren Rock zurecht und strich sich das Haar aus dem Gesicht und hinter die Ohren. Dann kam sie geradewegs auf mich zu und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. »Danke«, sagte sie, und ein schwaches Lächeln kräuselte ihre Lippen, »vielen, vielen Dank.« »Gern geschehen.« »Sie werden wirklich Pleite gehen.« »Wahrscheinlich.« »Also dann, wenn’s sonst nichts mehr gibt.« Sie wischte sich noch einmal die Tränen ab, machte kehrt und spazierte zur Tür hinaus.
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21 Der Mittwoch kam nach Atlanta wie ein Raunen, als schwacher, goldener Schimmer, der sich vom Osten her ausbreitete. Ich saß in meiner Wohnung und beobachtete, wie mein kleines Stück von dieser Stadt zum Leben erwachte und von einzelnen Lichtern erhellt wurde. Zeitungen wurden auf Veranden geworfen, und die Wecker der Frühaufsteher – der Pendler mit brutalen anderthalb Stunden Fahrt – schreckten die Schlafenden aus ihrem letzten, köstlichsten Stündchen Morgenschlummer. Ein einsames Auto, dessen Scheinwerfer in der schwindenden Dunkelheit leuchteten, fuhr unter meinem Fenster im zweiten Stock vorbei. Ich hatte nicht geschlafen. Stattdessen hatte ich die letzten Stunden allein in meiner Wohnung zugebracht, und meine einzige Gesellschaft waren eine Flasche Scotch und eine Liste mit acht Namen gewesen. Es gibt Leute, die versinken, wenn sie betrunken sind, in die schwarze Leere eines komaähnlichen Schlafes. Ich gehöre nicht dazu. Ich kann die ganze Nacht hindurch trinken, obwohl das immer eine lausige Idee ist. Lausig, weil ich mich unter Alkoholeinfluss schauerlich auf das Elend der Welt einstimme, das schon in nüchternem Zustand schwer zu ertragen ist. So hatten meine Flasche Scotch und ich die Nacht auf allzu vertrautem Gebiet verbracht und über Priester nachgegrübelt, die Jagd auf Kinder machen, Manager, die überbezahlt sind, und Clinton, der sich im Oval Office einen blasen ließ – kurz: über den Niedergang der Tugend in diesem einst so stolzen Land. Vor mir lag – und das mehrte meinen Verdruss noch – die Liste mit den Namen der ehemals Lebenden: Jonathan Mills. Chantelle Weiss. Brian Louden. Keisha Setter. Najeh Richardson. Lavaar Scott. Michele Lashonda Lyles. Doug Townsend. Und bald musste ich womöglich noch Roberto 274
Lacayo hinzufügen, der sich im Krankenhaus an einen letzten Funken Leben klammerte. Als die Sonne aufging, starrte ich die Liste an und prägte mir jeden einzelnen Namen ein. Von ihnen allen war mir nur Doug mit allen Details, die dem Leben einen Sinn geben, bekannt. Es war aber nicht schwer, sich den gemeinsamen Nenner im Leben all dieser armen Seelen vorzustellen. An irgendeinem Punkt waren sie alle vom Weg abgekommen, hatten sich mit einer gefährlichen Krankheit infiziert und schließlich bereitwillig die Chance ergriffen, sich behandeln zu lassen. Falls sie im Kreuzfeuer eines Unternehmenskrieges gestorben waren, waren sie nur Schachfiguren gewesen und geopfert worden. Und das konnte nicht einfach hingenommen werden, auch wenn die Welt in Trümmer ging. Ich blieb noch eine halbe Stunde still sitzen und schlürfte meinen Whiskey. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte; vielleicht dachte ich, Gott würde in meiner schäbigen Wohnung erscheinen und mir erklären, wie alles funktioniert. Ich weiß nur, dass ich gegen halb sieben die Flasche leer hatte und von da an frei war. Ich setzte das Glas ab und wusste, dass ich zu viel herumgerätselt hatte über alles Mögliche, für das es keine Antwort gibt. Der Grund, warum die Dinge so und nicht anders waren, war der: Es gab keinen Grund. Absolut keinen. Es war einfach so. L’amore non prevale sempre, Baby, das war die Wahrheit dahinter. Um zu überleben, kann man nur eines tun: abhaken und loslassen. Nur dann kann ein Mann so frei werden, dass er einen Ausweg aus diesem Schlamassel findet. Es gibt keinen Gott, dachte ich, und ich bin sein Prophet. Ich stand auf mit dem Gefühl, wer weiß wie atheistisch zu sein, und machte mir Kaffee. Ich sah die leere Whiskeyflasche an und schwor mir, meine so genannten Sorgen nie wieder zu ertränken. Stattdessen wollte ich mit meinem Leid auf Tuchfühlung bleiben, bis es sich mir in die Zellen eingebrannt hatte, wie wichtig es ist, an nichts festzuhalten. Die Welt war zu groß, ich 275
konnte sie nicht ins Lot bringen, und außerdem war auch ich kein Unschuldslamm. Aber wenn ich herausfinden konnte, was den Männern und Frauen zugestoßen war, die umgekommen waren, während sie sich von Hepatitis zu befreien versuchten, dann würde ich es auch tun. Ich würde es tun, weil ich eben so ein Mensch bin, mehr ist dazu nicht zu sagen. Darum ging ich um 8.30 Uhr unter die Dusche und ließ mir von dem warmen Wasser ein Leben voller Fehler wegwaschen. Um neun zog ich ein Sportsakko an, stieg in mein Auto und fuhr zu Horizn Pharmaceuticals. Die Horizn-Werke liegen im Norden Atlantas in Dunwoody, einem ruhigen, dicht bewaldeten Industriegebiet, in dem sich verschiedene Firmen mittlerer Größe niedergelassen hatten. Sobald ich mich ihrem Hauptsitz näherte, sah ich, wie stark das äußere Erscheinungsbild der Werke von Ralstons Innerem, von seiner Psychologie, geprägt wurde. Ralston, der seine Firma durch dubios erworbene Kenntnisse hatte aufbauen können, wollte anscheinend um jeden Preis verhindern, dass er je das gleiche Schicksal erleiden musste. Er hatte aus Horizn eine Hochsicherheitsfestung gemacht. Die Chancen, heimlich in das Terrain einzudringen, waren gleich null. Die Hauptgebäude versteckten sich weit entfernt vom Eingang, der durch ein Wachhaus gesichert war. Die Zufahrt war durch eine breite, sehr solide aussehende automatische Schranke gesperrt. Dahinter bedrohten fest im Boden verankerte Eisenkrallen die Reifen eines jeden Fahrzeugs, das die Schranke durchbrechen mochte. Kameras hoch oben zu beiden Seiten des Tors starrten herab. Ich ließ meinen Wagen ausrollen, und ein uniformierter Wachmann mit Minihörer im Ohr schob sein Fenster auf. Sein Ton war höflich. »Kann ich Ihnen helfen?« Ich reichte ihm Ralstons Karte. »Jack Hammond«, sagte ich. »Mit Charles Ralston verabredet.« »Bitten warten Sie.« Der Wachmann sprach leise in ein Mikro, 276
das unsichtbar an seinem Revers befestigt sein musste. Lange Zeit tat sich nichts. Nach einer Weile sagte er: »Bitte wenden Sie Ihr Gesicht zu mir, Mr. Hammond. Die Kamera kann Sie sonst nicht richtig erfassen.« Ich drehte mich neugierig zu ihm. Nach ein paar Sekunden deutete der Wachmann nach vorn und sagte: »Folgen Sie einfach der Straße.« Die Schranke ging auf, und ich fuhr durch. Endlich auf dem Horizn-Gelände, fuhr ich auf einer gewundenen Asphaltstraße in dichten Wald hinein. In regelmäßigen Abständen zeichneten auf hohe Pfähle montierte Kameras meine Bewegungen auf. Nach ungefähr einem halben Kilometer kam ich um eine sanfte Kurve und sah den Hauptgebäudekomplex vor mir liegen: einen sechsstöckigen Würfel aus bräunlich getöntem Glas und Stahl, der durch eine überdachte Passage mit einem kleineren, geschwungenen zweistöckigen Gebäude verbunden war. Ich hielt auf das höhere Gebäude zu und parkte auf dem Platz davor. Ich ging über den Parkplatz auf das Haus zu, wobei jeder meiner Schritte elektronisch überwacht wurde. Dann stieg ich schnell die flachen Stufen zum Eingang hinauf; noch ehe ich die Tür berührt hatte, glitt sie schon auf. Ich ging hinein und traf erneut auf eine Glastür. Ich wartete, und die Tür hinter mir schloss sich wieder; jetzt saß ich zwischen den zwei Türen fest. Kameras starrten mich feindselig von oben an. Eine Stimme aus einem unsichtbaren Lautsprecher sagte: »Bitte schauen Sie nach links.« Wieder musste ich einen Augenblick warten, dann ging die Tür vor mir lautlos auf. Ich betrat eine große, atriumartige Eingangshalle, die nach oben hin bis zum Dach des Gebäudes offen war. Riesige, gut gepflegte tropische Pflanzen streckten sich dem Sonnenlicht entgegen, das durch das getönte Glas fiel. Eine attraktive Brünette erwartete mich ein paar Meter hinter der Tür. »Guten Tag, Mr. Hammond«, sagte sie. »Bitte folgen Sie mir.« Die Dame führte mich durch die Empfangshalle zu einem 277
Aufzug. Sie legte die Hand auf eine neben der Fahrstuhltür in die Wand eingelassene Metallplatte. Die Tür öffnete sich, und die Dame bedeutete mir, einzusteigen. Ich trat allein ein, und die Tür schloss sich hinter mir. Ich sah mich um; Knöpfe gab es nicht; der Aufzug war offenbar ein Expresslift zu Ralstons Büro. Eine Videokamera glotzte mich von oben herab an. Auf einmal ging es in rasantem Tempo aufwärts. Nachdem ich ausgestiegen war, befand ich mich in einem kleinen Empfangsbereich mit dunkler Vertäfelung und Polstersesseln. Der Raum hatte etwas von der Eleganz englischer Salons, die in einem solchen High-Tech-Palast fehl am Platz wirkte. Plaketten, Ehrenurkunden der Stadt Atlanta für die sozialen Verdienste Ralstons und Fotos von ihm mit der Hautevolee zierten die Wände, daneben gerahmte Dankesworte vom Weißen Haus, vom Gouverneur, vom Bürgermeister. Auch seine in Harvard und Yale erworbenen akademischen Würden waren dort ausgestellt, beleuchtet von einem unsichtbaren Deckenstrahler. Der Ehrenplatz war jedoch einem Pressefoto der Atlanta Journal-Constitution reserviert worden, das Ralston in kämpferischer Haltung mit erhobenem Arm und anklagend ausgestrecktem Zeigefinger bei einer Stadtratsversammlung zeigte. Die Bildunterschrift lautete: Charles Ralston bei seinem Einsatz für das Nadelaustauschprogramm zugunsten der Ärmsten der Stadt. Eine gebildete Dame mittleren Alters begrüßte mich. »Darf ich Ihnen irgendetwas bringen, Mr. Hammond? Tee? Kaffee?« Ich schüttelte den Kopf. »Wenn ich sonst nichts für Sie tun kann, können Sie bitte gleich durchgehen.« Sie legte die Hand auf ein weiteres Identifizierungsgerät, und das Schloss der Tür zu meiner Rechten klickte. Sie drückte die Tür auf und winkte mich hindurch. Während der Empfangsbereich ein Loblied auf Ralstons Leistungen als Bürger sang, war in seinem Büro alles ganz anders: Es waren die kahlsten und kargsten hundert 278
Quadratmeter, die ich je gesehen hatte. Der Raum war praktisch leer, und diese Leere vergrößerte ihn noch. Ralstons Definition von Luxus war offensichtlich unverstellter Raum, in dem nichts ablenkte. Der Raum nahm eine Ecke des Gebäudes ein, sodass er zwei Außenwände aus getöntem Glas hatte. Das einfallende Licht tauchte ihn in eine mattgoldene, mausoleumsartige Helligkeit. Auf den anderen beiden dunkelgrün gestrichenen Wänden prangten große abstrakte Kunstwerke. Hinten im Raum stand ein Schreibtisch – eine glänzende, silberne Platte auf einem dünnen Metallgestell –, auch wieder leer. Ralstons Schreibtischsessel war ein Gebilde aus Chrom und Leder. Mehr Sitzmöbel gab es nicht. Besucher mussten offenbar stehen. Das Ganze war wie eine Mönchszelle für einen Millionär. Ralston drehte sich nicht um, als ich eintrat. Er stand mit hängenden Armen im hinteren Feil seines Büros, den Blick starr auf den Wald gerichtet, der Horizn umgab. Er trug einen dunklen, hervorragend geschneiderten Maßanzug. Eine Weile sprach keiner von uns. Irgendwann drehte er sich um und sah mich an. Seine Gesichtszüge waren so präzise wie ein Lineal, ein ebenmäßiges, schmales Oval, der Mund dünnlippig und entschlossen. Er wirkte aber keineswegs bedrohlich; vielmehr umgab ihn eine graue Aura aus Mattigkeit und Trauer. Er sah nicht aus wie ein Mann, der in wenigen Tagen den größten Erfolg seines Berufslebens feiern wird. Als er endlich den Mund aufmachte, sprach er so leise, dass ich mich anstrengen musste, um ihn zu verstehen. »Warum gibt es im Geschäft immer nur Krieg, Mr. Hammond?« Der Raum war nackt und still; ich zögerte, diese Stille mit meiner Stimme zu zerstören. »Ich weiß es nicht«, erwiderte ich schließlich leise. Er machte eine kleine Geste mit der Hand. »Kommen Sie her.« Ich ging über grauen Teppichboden bis in seine Nähe. Er zeigte durch die Glaswände. »Schön, nicht wahr?« Der Wald leuchtete in einem goldenen, überirdischen Licht. 279
»Ja.« Seite an Seite betrachteten wir die ausgedehnte Waldfläche rings umher. »Ich bin kein Geschäftsmann, Jack. Ich bin eigentlich Wissenschaftler. Wussten Sie das?« Ralston schaute weiter durch die Glasscheiben. »Haben Sie sich je gewünscht, die Zeiger der Uhr zurückdrehen zu können, Jack? In eine Zeit zurückzugehen, in der alles vollkommen war?« »O ja.« Er wandte sich zu mir und sah mir fragend in die Augen. Wenig später nickte er, als billige er, was er sah. »Als junger Mann habe ich mich mit Leib und Seele dem Forschen hingegeben. Dem reinen Forschen, nicht der Jagd nach staatlichen Zuschüssen. Ich habe nur beobachtet und gefragt, warum.« Er lächelte. »Eine schöne Frage, nicht wahr, Jack?« »Die Frage nach dem Warum?« Er nickte. »Sie zerlegen ein Protein und entdecken, dass es fünfzehn unvollständige Peptide enthält. Warum gerade fünfzehn und nicht sechzehn? Die Antwort darauf hat nichts mit Geschäft zu tun. Es ist eine wissenschaftliche Frage.« Er schwieg und sah an mir vorbei, in Erinnerungen versunken. »Man gründet ein Unternehmen aus Idealismus. Man will den Menschen helfen und dabei vielleicht noch ein paar Dollar verdienen. Und dann wird daraus, ehe man sich’s versieht, ein Krieg.« Er schwieg erneut, hing seinen Gedanken nach. »Tut mir Leid, dass Sie am Tor aufgehalten wurden«, sagte er nach einer Weile. »Ein Defekt im Gesichtserkennungsprogramm. Hat nichts mit Ihrer Person zu tun. Jeder, der das Gelände betritt, wird elektronisch registriert.« Er sah mich kummervoll an. »Auch die Liebhaber meiner Frau.« Peinliche Stille trat ein, eine Stille von der Art, die einen verschluckt. Ich wollte etwas sagen, aber Ralston winkte ab. »Es spielt keine Rolle«, sagte er. »Nachdem ihre Wahl einmal auf Sie gefallen war, war nichts mehr zu machen.« »Ich hatte den Eindruck, wir hätten uns gegenseitig gewählt.« 280
Ralston schenkte mir ein trübes, fast mitfühlendes Lächeln. Er ging zu seinem Schreibtisch und berührte die Platte; die Stelle, die er berührt hatte, leuchtete auf, und die gläsernen Wände wurden um einige Schattierungen dunkler. Schließlich standen wir in einem düsteren goldenen Kokon. Ralston berührte die Schreibtischplatte an einem anderen Punkt, und die Wand hinter ihm flackerte auf und erwies sich als riesiger Plasmabildschirm mit einem Durchmesser von zwei Metern. Auf dieser leuchtenden Wand erschien eine gigantische Doppelhelix. »Das ist mein Lebenswerk, Jack«, sagte Ralston. Er starrte das Bild wie hypnotisiert an. »Herrlich, nicht wahr?« Er berührte eine weitere Schaltfläche, und die Replikation des DNS-Strangs setzte ein, wobei sich die Doppelstränge der Helix trennten und die Kurven sich auflösten, um sich neu zusammenzufügen und am Ende eine genaue Kopie ihrer selbst zu bilden. Ralston sah hingerissen zu. »Meine Frau findet mich kalt, Jack.« »Ich weiß.« »Sehen Sie, ich bin Wissenschaftler. Kein Philosoph, kein Künstler. Das hier …« Er wies auf den Bildschirm. »Das hier ist meine Philosophie, wenn Sie so wollen. Meine Kunst.« Die Replikation setzte sich fort, aus zweien wurden vier, aus vieren acht, aus acht sechzehn. »Das ist Leben, Jack. Allwissend. Allgegenwärtig. Alles verschlingend.« Er zeigte auf den Bildschirm. »Das ist meine Philosophie, und die ganze Natur ist auf meiner Seite.« Die Augen auf den Bildschirm gerichtet, dachte ich über Ralstons Worte nach. »In Ihrer Welt gibt es keine Entscheidungsmöglichkeiten«, sagte ich. »Keine wahre Intelligenz. Keine Moral.« Ralston lächelte. »Sie glauben an eine bestimmte Welt. Eine romantische Vorstellung. Die Guten und die Bösen. Clint Eastwood bekommt sein Mädchen.« »Ich bin für Klarheit.« 281
»Wäre ich auch, wenn sie existierte.« Er zeigte erneut auf den Bildschirm. »Soll ich Ihnen mal etwas sagen, was die übrige Welt gerade erst herausfindet?« »Bitte.« »Es gibt keine Ethik, Jack. So etwas existiert nicht. Chemie ist Theologie.« »Eine Wahnsinnswelt, an der Sie da basteln.« »Na schön, Jack. Sie wollen moralisieren. Ist die Tatsache, dass Sie Schuldgefühle haben, weil Sie mit meiner Frau geschlafen haben, ein Grund für mich, Sie deshalb weniger zu hassen?« »Ich war zu der Überzeugung gekommen, dass es Ihnen so oder so gleichgültig ist.« Ralston warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, sagte aber nichts. Einen Augenblick später fragte er: »Warum sind Sie hergekommen, Jack?« »Ich wurde eingeladen.« »Sie sind eingeladen worden, weil Sie kommen wollten und weil es Ihnen sonst unmöglich gewesen wäre, mit mir Kontakt aufzunehmen.« Ich schwieg und überlegte. »Na gut«, sagte ich, »ich wollte Ihnen einmal ins Gesicht schauen. Sie sind das große Rätsel, der Mann, bei dem die Fäden zusammenlaufen. Typen wie Stephens kenne ich. Er zieht eine große Show ab, aber Anwälte werden nicht selbst aktiv. Sie sind wie Saugfische. Sie brauchen einen Hai, an dem sie sich festsaugen können. Sie, Mr. Ralston, sind der Hai.« Ralstons Lächeln wurde brüchig. »Sie sind ein cleverer Bursche, Jack.« »Ich bin hergekommen, weil ich Sie ausloten wollte, von Mann zu Mann. Sie haben sich mit Ihrem Nadelaustauschprogramm großen Ärger eingehandelt und waren sehr mutig für einen Mann in Ihrer Position. Es hat Sie viel Geld gekostet und Sie auf Kollisionskurs mit den hiesigen Politikern 282
gebracht. Vielleicht sind Sie wirklich nur ein knallharter Geschäftsmann, und es war doch Robinsons eigene Ungeschicklichkeit, dass diese Leute umgekommen sind. Wenn es so sein sollte, hege ich keinen Groll gegen Sie und entschuldige mich dafür, dass ich mit Ihrer Frau geschlafen habe.« Ich machte eine Pause. »Es könnte aber auch sein, dass Sie ein skrupelloser Schurke sind, der nicht davor zurückschreckt, Menschenleben einzusetzen, wenn es um Riesensummen Geld geht. In unserer heutigen Welt würde es mich nicht weiter überraschen, wenn das ans Licht käme.« »Und was würden Sie tun, wenn Sie mich einer solchen Sünde für schuldig befinden würden?« »Ich würde Sie vom Sockel stoßen.« Ich verstummte, dann fügte ich hinzu: »Und ich würde dafür sorgen, dass Sie nie wieder in die Nähe von Michele kämen.« Ralston sah mich gespannt an. »Sind Sie schon zu einem Schluss gekommen?« »Es wäre ziemlich leicht, wenn Robinson nicht solch ein Nervenbündel wäre. Nein, noch nicht so recht.« Ralston nickte sinnend. »Ihnen dürfte wohl klar sein, dass ich es zu diesem Zeitpunkt nicht gebrauchen kann, wenn jemand wie Sie herumläuft und Krach schlägt, Jack, oder?« »Tut mir Leid.« »Ich will Ihnen einen Vorschlag machen.« »Ich höre.« »Sie sagen, Sie wollen die Wahrheit wissen. Ich werde Ihnen fünf Minuten Zeit geben, mich alles zu fragen, was Sie wollen. Wenn ich die Antwort weiß, antworte ich. Ich verspreche Ihnen im Voraus, dass ich nicht lügen werde. Aber im Gegenzug will ich auch etwas von Ihnen.« »Und was?« »Frieden. Einstellung der Feindseligkeiten. Gerüchte haben Macht, und die Gerüchte, die Sie verbreiten könnten, sind mir höchst unwillkommen.« 283
»Das bringt mich in eine interessante Lage.« »Mein Angebot liegt auf dem Tisch.« »Ich würde sagen, dass es von Ihren Antworten abhängt, ob ich darauf eingehen kann.« Ralston sah mich kurz an, dann sagte er leise: »Gut, das ist nur fair. Fangen Sie an.« »Hat Doug Townsend für Sie gearbeitet?« »Ja.« Er steht also tatsächlich zu seinem Wort; dann erfahre ich in den nächsten Minuten vielleicht die ungeschminkte Wahrheit. »Hat er die Grayton-Labore als Hacker für Sie ausspioniert?« »Im Rahmen dieses Gesprächs: ja.« »Wie meinen Sie das?« »Ich will damit sagen, dass wir hier ja nicht vor Gericht sind. Wir unterhalten uns nur in aller Freundschaft.« Ich nickte. »Wie haben Sie ihn gefunden?« »Leute von meiner Sicherheitsabteilung kamen darauf. Sie haben mir eröffnet, dass jemand in unser Netzwerk eingedrungen ist. Jemand mit großer Begabung.« »Ein Experte im Dechiffrieren.« »Besser als alles, was ich je erlebt habe. Er ist mit jedem Versuch tiefer eingedrungen.« »Warum haben Sie ihn nicht verhaften lassen?« »Weil es eine idiotische Verschwendung von Talent gewesen wäre, jemanden wie ihn hinter Gitter zu bringen. Haben die Amerikaner etwa Wernher von Braun eingesperrt, weil er für die Nazis tätig war? Im Gegenteil, sie haben ihn für sich arbeiten lassen. Für uns war es wichtig, diesen Eindringling zu identifizieren und herauszufinden, was er wollte. War er ein Konkurrent? Im In- oder im Ausland? Oder war er ein Gauner, der auf eigene Faust zu Werke ging, einfach nur, weil ihm die Herausforderung Spaß machte?« »Und da stießen Sie auf Doug.« »Ja. Wir haben seinen Zugriff überwacht, aber innerhalb dieser 284
Grenzen ließen wir die Zügel locker. Ich wollte ihm keinen Schrecken einjagen. Er musste mit Samthandschuhen angefasst werden.« Jetzt war Ralstons Blick abwesend. »Manches an ihm war leicht auszumachen. IQ eines Genies, gesellschaftlicher Außenseiter. Schwer gestört, kein erkennbares Sozialleben. Das ist Standard bei einem Hacker.« Er schwieg. »Das war natürlich, bevor wir in Erfahrung gebracht hatten, was er wollte, was die wahren Gründe für sein Eindringen bei Horizn waren.« »Michele.« Ralston lächelte trübe. »So ein kaputter junger Mann.« »Er hat nach einer Möglichkeit gesucht, sich ihr zu nähern.« Ralston nickte. »Horizn hat ihn überhaupt nicht interessiert. Seine ganze Leidenschaft galt Michele. Sie hatte etwas mit der Firma zu tun, und darum erforschte er Horizn genauso wie alles andere, was zu ihrem Leben gehörte. Er hatte nur eine wirkliche Begabung, und die nutzte er.« Ralston sah mich an. »Aber was sollten wir mit dieser tragischen Gestalt anfangen? Er war zu begabt, um ihn kaltzustellen, und zu gefährlich, um ihn zu ignorieren. Deshalb haben wir das Naheliegende getan. Wir haben ihn zu einem von uns gemacht.« »Sie haben ihn gezwungen, im Tausch gegen die Bekanntschaft mit Michele Grayton auszuspionieren?« »Wir brauchten keinen Druck auszuüben, Mr. Hammond. Für fünf Minuten mit meiner Frau hätte er sich mit Freuden die Hand abgehackt.« Ich zuckte zusammen. »Das ist abstoßend.« »Aha. Da ist sie wieder, Ihre romantische Ader.« »Sie haben Ihre eigene Frau benutzt.« »Sie wusste nichts davon. Für Michele war Doug das, was er war, sonst nichts. Sie haben noch drei Minuten.« »Hatten Sie irgendetwas mit dem Ausgang des Lipitran-AXVersuchs zu tun?« 285
»Ihre Frage ist ungenau.« »Haben Sie die acht Versuchspersonen des Lipitran-Tests auf dem Gewissen?« »Nein. Sie sollten nur hoch interessierte Beobachter in uns sehen, Jack.« »Jetzt sind Sie ungenau.« Ralston lächelte. »Na schön, Jack. Drücken wir es so aus: Mit Hilfe Ihres Freundes konnten wir verfolgen, wie weit die Entwicklungen bei Grayton gediehen waren. Nicht sehr weit, wie sich herausstellte.« »Dann wussten Sie, dass der Versuch schief gehen würde.« »Ja.« Mein nächster Satz sollte den krassen Unterschied zwischen uns beiden überdeutlich hervorheben. »Wenn Sie das wussten, wussten Sie auch, dass die Leute sterben würden.« Er zuckte die Achseln. »Da sehen Sie unser Dilemma. Wir konnten nicht einschreiten, ohne zu enthüllen, woher wir unsere Informationen hatten. Es war absolut unmöglich.« »Keineswegs«, sagte ich, »nur schwierig.« Ralston gab keinen Zentimeter nach, »Wissen Sie, was ich verachte, Jack? Was ich vor allem anderen verabscheue?« »Nein.« »Halbe Sachen. Ungenauigkeiten. Schlampereien.« Seine Augen funkelten, und er zeigte zum ersten Mal echte Gefühle. »Sie wollen mir die Schuld an jenen tragischen Todesfällen in die Schuhe schieben. Aber ich habe die Leute nicht umgebracht. Die Wahrheit ist, dass sie alle noch am Leben wären, wenn Thomas Robinson ein kompetenter Arzt gewesen wäre. Zeuge eines Todes zu werden heißt nicht, ihn zu verursachen. Sie haben noch eine Minute.« Ob das, was er sagte, ein indirektes Geständnis war, blieb unergründlich. Mir lief die Zeit davon, deshalb änderte ich meine Taktik. »Wissen Sie, wie Doug Townsend gestorben ist?« »Ich habe gehört, dass er an einer Überdosis Rauschgift 286
gestorben ist.« »Wollen Sie damit sagen, dass Sie nichts damit zu tun hatten?« »Ich hätte Doug Townsend nicht nur nicht umgebracht, ich hätte sogar mit Freuden dafür bezahlt, ihn unter Personenschutz zu stellen. Grayton ist nur einer unserer Konkurrenten, Jack. Die Talente Ihres Freundes waren für uns von unschätzbarem Wert. Ich hätte mir seine Freundschaft gern bis in alle Ewigkeit erhalten.« »Wer hat ihn dann getötet?« »Keine Ahnung. Aber ich würde eine Million Dollar dafür geben, es zu erfahren. Ihre Zeit ist abgelaufen.« Wir standen uns schweigend gegenüber. Das einzige Geräusch war das leise Summen der Klimaanlage. »Dann sagen Sie mir jetzt eines, Jack: Bin ich wirklich ein solches Untier, wie Sie befürchtet hatten?« Ich fixierte ihn einen Augenblick, ohne mich vom Fleck zu rühren. »Noch eine letzte Frage«, sagte ich. Ein schwaches Lächeln kräuselte Ralstons Mundwinkel. »Ihre Zeit ist um, Jack. Aber gut. Noch eine letzte Frage.« »Sie haben gesagt, Doug Townsend sei Ihnen etwas wert gewesen.« »Unendlich viel.« »Aber wenn Sie doch wussten, dass die Versuchspersonen alle zum Sterben verurteilt waren, warum haben Sie ihn dann an dem Lipitran-Test teilnehmen lassen?« Einen Moment lang herrschte lähmendes Schweigen; Ralstons Gesicht erschlaffte, die undurchdringliche Gelassenheit schwand aus seinen Zügen und wich beklemmender, fast unverhüllter Furcht. Er rang ein paar Sekunden darum, die Fassung wiederzugewinnen, aber vergeblich. Ein heiseres Flüstern war alles, was er hervorbrachte. »Was haben Sie gesagt?« »Ich habe gesagt, dass Doug Lipitran AX genommen hat. Er hat zwei Behandlungsrunden mitgemacht.« 287
Ralston ging steif zu seinem Schreibtisch und berührte eine Schaltfläche. Er hat es nicht gewusst. Gott im Himmel, er hat es nicht gewusst. Hinter mir schob sich leise die Tür auf. Ralston sah mich starr an. »Auf Wiedersehen, Mr. Hammond.« Ich ging schnell über den Horizn-Parkplatz und dachte darüber nach, was es zu bedeuten hatte, dass die Nachricht bei Ralston wie eine Bombe eingeschlagen hatte. Er wusste es nicht. Charles Ralston mag ja über sein kleines Reich herrschen, aber trotzdem ist etwas passiert, das sich seiner Kontrolle entzog. Und er hat sich fast in die Hosen gemacht vor Angst. Sobald ich aus dem Sicherheitsbereich von Horizn heraus war, rief ich Robinson an. Wenn es einen Menschen auf dieser Welt gab, der mir sagen konnte, was Ralston solche Angst einjagte, dann er. Sein Anrufbeantworter sprang an, eine Ansage im fröhlichen Ton der Zeit vor der Katastrophe, die jetzt schrecklich sarkastisch klang. Ich hinterließ die kurze Nachricht, er möge mich so bald wie möglich zurückrufen. Dann nahm ich den Highway 400 nach Süden zur Interstate 285, um in die Stadt zurückzufahren. Nach ungefähr sechs Kilometern probierte ich es noch einmal bei Robinson in der Hoffnung, er würde sich endlich melden. Und hatte wieder seinen fröhlichen Anrufbeantworter dran. Vor lauter Frust hätte ich beinahe das Handy aus dem Fenster geworfen. Dabei verpasste ich fast meinen Abzweig zur I-285. Ich musste über drei volle Fahrbahnen hinweg auf die rechte Spur wechseln, um die Ausfahrt noch zu erwischen. In meiner Besorgnis, durch mein gewagtes Abbiegemanöver in letzter Sekunde vielleicht ein Chaos ausgelöst zu haben, warf ich noch einen Blick in den Rückspiegel. Da sah ich den weißen Econoline-Van, der nur auf zwei seiner großen Räder hinter mir herschleuderte, um ebenso wie ich noch die Kurve zu kriegen. Und merkte im gleichen Augenblick, dass ich verfolgt wurde. Ich bremste ab, als ich auf die I-285 einbog, nur um mich zu 288
vergewissern; der Van fiel zurück und reihte sich eine Spur weiter rechts ein, um nicht aufzufallen. Bis fast zum Abzweig der I-80 gab ich Vollgas, und der Van drehte ebenfalls auf und blieb mir im Nacken. Ich konnte einen Fahrer und einen Beifahrer erkennen, aber es war durchaus möglich, dass noch mehr Insassen hinten im Laderaum waren. Mayday. Gar nicht gut. Ich versuchte mir zu meiner Beruhigung einzureden, dass mir nicht unbedingt Gefahr drohte, auch wenn sie von Horizn waren. Ralston mochte ja ein Verbrecher sein, aber es war zu bezweifeln, dass er ein paar Killer auf seinem Parkplatz herumlungern ließ für den Fall, dass er plötzlich einen Kopf rollen sehen wollte. Wahrscheinlicher war, dass sie mich beschatten und ein wachsames Auge auf meine Aktivitäten haben sollten. Sie wussten möglicherweise nicht einmal, warum. Fein. Dann wollen wir auch nichts komplizierter machen, als es ist. Also normal weiterleben, bis ich weiß, wer diese Clowns sind. Ich war auf dem Weg zu meiner Kanzlei, und der Van hielt sich die ganze Zeit hinter mir, ohne mir Probleme zu machen, bis zu meiner Ausfahrt von der I-285. Die Leute hielten Abstand und blieben immer etwa fünfzig Meter hinter mir. Ich bog ab und fuhr durch die Wohnviertel an der Cleveland Avenue in Richtung meiner Kanzlei, und der Van folgte mir. Es sei denn, das sind die Typen, die bei mir eingebrochen und Dougs Computer gestohlen haben. In diesem Fall wissen sie genau, was sie tun. Ich sah in den Rückspiegel; der Wagen war nur noch fünfzehn Zentimeter von meiner Stoßstange entfernt. Scheiße. Ich drückte das Gaspedal bis unten durch, und der alte Achtzylinder kam ächzend in Fahrt. Ich bretterte die Cleveland hinunter und nahm dabei nach Möglichkeit immer mehrere Kreuzungen vor mir ins Visier. Es war wenig Verkehr auf der Straße, allerdings parkten hier und da Autos und engten die Fahrbahn ein, sodass es eine Art Hindernisrennen wurde. Ich tastete nach meinem Handy, mit dem Erfolg, dass es vom 289
Beifahrersitz auf den Boden rutschte. Was mir vermutlich das Leben rettete, denn es ist unmöglich, eine Stadtstraße entlangzurasen und dabei auch noch zu telefonieren. Der schwere Van war im Vergleich zu meinem Schlitten unbeholfen, und so konnte ich Abstand zwischen uns bringen. Aber jeder Abzweig, der mich möglicherweise zu einer verkehrsreichen Kreuzung brachte, oder auch nur jemand, der losfuhr und sich mit seinem Wagen vor mich setzte, konnte das Ende der Jagd herbeiführen. Ich schaute noch einmal zurück; mein Verfolger war mir weiter auf den Fersen, aber jetzt etwa drei Querstraßen von mir entfernt. Mir blieben nur Sekunden, bis das Ende der Straße erreicht war. In diesem Augenblick bog ein Chevy Caprice neueren Datums zwei Häuserblocks vor mir auf die Straße. Er schoss mitten auf die Fahrbahn, sodass ich nicht an ihm vorbeikam. Verdammt, die gehören zusammen. Ich habe den hier übersehen, während ich den Van im Auge hatte. Der Chevy vor mir wurde langsamer; offenbar sollte ich zwischen den beiden Autos in der Falle sitzen. Seine Bremslichter leuchteten auf und kamen rasend schnell auf mich zu. Mein Kopf war leer, und ich hatte auch keine Zeit mehr zum Nachdenken. Ich stieg auf die Bremse und wappnete mich für den Aufprall von hinten. Der Van kam auf mich zugerast und füllte meinen Rückspiegel aus. Der Chevy machte jetzt eine Vollbremsung, die Räder blockierten, und der Wagen schleuderte etwas nach rechts. Einem Impuls folgend, machte ich einen scharfen Schlenker nach links, trat das Gaspedal durch und zog unter Verlust meines Seitenspiegels an dem Chevy vorbei. Der Van war hinter mir geblieben, aber zu breit, um es mir gleichzutun. Er rammte den Chevy am linken Ende seiner Stoßstange und wirbelte ihn um die eigene Achse. Ich raste zum Ende der Straße, trat auf die Bremse, bog links ab, verdrückte mich in die Pine Street, fuhr nochmals links – in falscher Richtung durch eine Einbahnstraße – bog eine Ecke weiter rechts ab und entging den beiden Verfolgern knapp. Nach 290
mehreren Kreuzungen bog ich wieder links ab und brachte noch mehr Abstand zwischen uns. Ich schaute mich um; sowohl der Van als auch der Chevy waren erst mal weg. Ich bog in die Fairburn, dann wieder rechts ab und gab Gas. Okay. Alles in Ordnung. Gute acht Kilometer weiter fuhr ich auf den Parkplatz eines Lebensmittelsupermarkts, um wieder zu Atem zu kommen und mich zu beruhigen. Scheiße, allmählich wird es ernst. Ich blieb eine Minute still sitzen und atmete schwer. Dann beugte ich mich vor, um mein Handy vom Boden aufzuheben; ich hatte mich eben wieder aufgerichtet, als der Van mit kreischenden Bremsen in einer Staubwolke neben mir hielt. Der Mann auf dem Beifahrersitz zielte ruhig durch das offene Fenster mit einem Revolver auf meinen Kopf. Revolver sorgen für klares Denken. In Anbetracht der Tatsache, dass sie auf eine massive und effiziente Weise todbringend sind, zählt nichts anderes mehr. Der Mann bedeutete mir, mein Fenster zu öffnen. Ich gehorchte, und er sagte: »Keine Bewegung. Ist Ihre Tür verriegelt?« »Nein.« »Stellen Sie den Motor ab. Und bleiben Sie still sitzen. Mucksmäuschenstill.« Jetzt stieg der Fahrer des Vans aus und öffnete meine Tür. »Rutschen Sie rüber«, sagte er. Er stieg ein, und eine Revolvermündung zielte auf meinen Bauch. Sobald er saß, drückte er mir die Waffe in den Schritt. »Wir machen eine kleine Fahrt«, sagte er barsch. »Halten Sie den Mund, und gucken Sie geradeaus.« Der Mann im Van rutschte auf den Fahrersitz hinüber und fuhr langsam ab. Als er etwa zwanzig Meter entfernt war, presste mir der Mann in meinem Wagen den Revolverlauf so fest zwischen die Beine, dass ich zusammenzuckte. »Also hübsch ruhig bleiben. Versuchen Sie nicht, den Helden zu spielen.« Wir folgten seinem Kompagnon. Etwa zehn Minuten lang fuhren wir nach Norden, dann bogen wir nach Westen auf die I291
20 in Richtung Birmingham ab. Wir fuhren wieder etwa zwanzig Minuten, und der Mann sagte die ganze Zeit kein Wort. Schließlich bog der Van ab in die Einfahrt einer Tiefgarage, über der sich ein ziemlich heruntergekommenes sechsstöckiges Bürogebäude erhob. Der Mann im Van gab den Code für das Parkhaus ein, und eine Schranke öffnete sich automatisch. Wir folgten ihm, bevor sie sich wieder schloss. Tief unten in der Garage blieben wir neben einer Brandschutztür stehen. Mein Fahrer packte meinen Arm fest wie ein Schraubstock und sagte: »Ich steige hinter Ihnen auf Ihrer Seite aus. Bewegen Sie sich ganz langsam, und machen Sie keinen Lärm. Tun Sie, was man Ihnen sagt, und Sie bleiben am Leben.« Ich nickte, und wir schafften es, gemeinsam von der Sitzbank zur Beifahrertür hinauszurutschen. Draußen stieß mir der Mann den Revolver in den Rücken. »Hübsch locker bleiben.« Wir gingen die paar Schritte zur Brandschutztür. Der andere Mann öffnete sie, und wir kletterten die Eisenstufen hinauf. Drei Stockwerke höher öffnete der Mann die Tür zum Erdgeschoss. Er winkte uns von oben, ihm zu folgen. Als wir dort angekommen waren, schloss er die Tür direkt gegenüber auf der anderen Seite des Flurs auf. Der Mann hinter mir bugsierte mich hinein und schloss die Tür hinter mir. »Was soll das alles?«, fragte ich. Die Männer schwiegen, aber der eine stieß mich durch das erste Zimmer in das nächste dahinter. Der Raum war bis auf ein paar Eisenstühle, die sich einsam in einer Ecke zusammendrängten, leer. Der andere Mann durchquerte den Raum und öffnete die Tür einer Kammer. Er ging hinein und kam mit einer Rolle grauem Klebeband wieder heraus. Er trat zu mir und knurrte: »Still stehen. Nicht bewegen.« Er löste einen langen Streifen und biss ihn mit den Zähnen ab. Dann zog er ihn so, dass er meinen Mund abdeckte, fest um meinen Kopf. Er riss einen weiteren Streifen ab und zog auch diesen um meinen Kopf, diesmal über meine Augen. Dann 292
zerrte er grob meine Hände nach hinten und band sie mir hinter dem Rücken so fest zusammen, dass es schmerzte, als würde ich mit kochendem Wasser verbrüht. Dann rollte er mich auf den Bauch und zog meine Beine so weit zum Kopf, dass meine Wirbelsäule einen qualvollen Bogen beschrieb. Er fesselte meine Füße mit meinen Handgelenken zusammen, bis ich verdreht war wie ein Schlangenmensch. Dann stieß er mich – auch wieder ohne ein Wort – in die Kammer. Ich rollte mit dem Gesicht gegen die hintere Wand und hörte, wie die Tür zufiel. Ein Klicken, und die Tür war abgeschlossen.
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22 Schmerz verändert mit der Zeit seine Form. Am Anfang ist er zerfranst und zackig wie ein Sägemesser. Nach einer Weile – in meinem Fall nach Stunden – geht er in große Wellen über, die einen überrollen und unter ihrem Gewicht zermalmen. Dann setzt die Übelkeit ein, drängt einen immer weiter hinaus aufs Meer, und man hat keine Chance, gegen die wütende Flut anzuschwimmen. Ganz allmählich – Gott weiß, wann, denn Zeit hat längst ihre Bedeutung verloren – wandelt er sich erneut und wird zu turmhohen, unersteigbaren Eisbergen. Alle diese Formen sind bösartig. In den ersten Stunden versucht man noch, in Gedanken vor dem Schmerz zu fliehen, und sucht in den fernsten Winkeln des Halbbewussten nach Linderung. Einige kostbare Augenblicke lang vermag man sich davon zu lösen und an einen Zen-Ort jenseits der Gegenwart zu gelangen. Doch dann sehnt man sich, von unbarmherzigen, brennenden Qualen gepeinigt, nach einem Schock, bei dem der Geist endlich loslässt. Das wird zur himmlischen Vision wie ein Tropfen Wasser in der Wüste. Lass mich einfach ohnmächtig werden. Bitte, bitte, lass mich einfach nur weg sein. Aber dieser besondere Schmerz – wenn in Armen und Beinen durch die Folter der qualvollen Zusammenschnürung im Rücken das Blut stockt – löste sich nicht in einem traumlosen Koma auf. Stattdessen wuchs er, er wuchs und wuchs, bis er monströs war und keinen anderen Gedanken mehr zuließ. Ich spürte jede gepeinigte Sehne, jedes überdehnte Band, jeden Muskel, der nach Entspannung schrie. Ich lenkte mich ab, um irgendwo im Hinterkopf ein Eckchen zu finden, wohin ich mich retten konnte, nur um wieder von dort vertrieben zu werden durch die erzwungene Haltung, die der Körper von allein niemals einnehmen würde. 294
Gegen solche Schmerzen helfen nur gleichwertige Waffen von ähnlicher Grausamkeit. Ich lernte an jenem Tag, dass das Einzige, was den Schmerz definitiv überwindet, seine hungrige Verwandte ist: die Angst. Denn selbst in der größten Qual lässt sich die Angst noch fühlen und klar unterscheiden. Im grellen Licht des Schmerzes erschien ein schwarzer Punkt, zuerst klein, dann immer größer, bis er schließlich einen Namen hatte. Ich fürchtete, dass mir meine Hände oder zumindest einige Finget abfaulen könnten, falls ich das Bewusstsein verlor – was ich mir sehnlichst wünschte –, oder dass ich womöglich in der Kammer liegen blieb, bis ich verdurstet war. Darum fing ich an, mich gegen das Klebeband zu stemmen, was mir zu meinem Entsetzen noch mehr Schmerzen verursachte. Das konnte jedoch kaum etwas nützen, solange ich nicht all meine Kraft einsetzte, nur um mir dabei womöglich die Arme auszukugeln und dann trotzdem gefesselt zu bleiben und noch schlimmeren Martern unterworfen zu sein. Also wartete ich lieber noch etwas, vielleicht eine Stunde, spielte die Angst gegen den Schmerz aus, fühlte beidem nach und fragte mich, ob ich überhaupt noch einen Moment der sprunghaft ansteigenden Qual verkraften konnte. Dann sagte ich mir, gut, ich werde mich jetzt auch davon lösen, denn Loslassen ist das Einzige, was immer funktioniert hat, sandte ein Stoßgebet zum Propheten Sammy Liston – er war es, der mich gelehrt hatte, abzuhaken und loszulassen, als habe man nichts mehr zu verlieren – und stemmte mit aller Macht Arme und Beine gegen meine Fesseln. Eine brennende Schmerzwelle erfasste mich, und ich fiel in Ohnmacht. Für unbestimmte Zeit umhüllte mich Schwärze, dann kam ich wieder zu mir. Ich bewegte versuchsweise die Beine. Nach weiterem Hin-und-her-Winden waren sie frei. In diesem Augenblick veränderte sich alles. Zentimeter um qualvollen Zentimeter arbeitete ich mich hoch, bis ich saß. Dann schob ich mit unendlicher Vorsicht meine Hände unter meinen Hüften und weiter unter den Knien durch, hob sie zu den Augen hoch und 295
zog das Klebeband von Augen und Mund ab. Es war pechfinster in der Kammer; unter der Tür drang kein Lichtschein hervor. Ich blieb eine Weile sitzen, dankbar, atmen zu können. Das Blut begann in Arme und Beine zurückzuströmen. Aber meine Hände waren noch immer brutal zusammengefesselt, und es dauerte mindestens zwanzig Minuten, bis ich sie losgewunden und -gebissen hatte. Als ich endlich frei war, versuchte ich aufzustehen. Es misslang, und ich fiel schwer atmend auf alle viere zurück. Jeder Muskel, jedes Gelenk, jeder Knochen im Leibe tat mir weh. Mir wurde schwindelig, und ich musste mich an die Wand lehnen. Ich probierte noch einmal, mich zu erheben, indem ich mich an der Wand abstützte. Ich hangelte mich mühsam hoch und stand. Das Blut schoss nach unten und öffnete die verschlossenen Adern. Eine Zeit lang blieb ich etwas wackelig stehen, bewegte vorsichtig meine Handgelenke, beugte die Ellbogen und knickte die Knie sanft ein. Dann prüfte ich die Tür; sie war abgeschlossen, wie zu erwarten gewesen war. Da es nicht anders ging, rammte ich mit voller Wucht die Schulter, die noch in Ordnung war, dagegen. Es tat weh, aber es war nichts im Vergleich zu dem, was ich bereits durchgemacht hatte. Nach drei weiteren Versuchen riss sich das billige Schloss aus seiner Sperrholzverankerung, und die Tür flog auf. Ich wankte vorsichtig hindurch, darauf gefasst, jeden Augenblick niedergeschlagen zu werden. Ich probierte die Tür zwischen diesem und dem vorderen Raum; sie war ebenfalls abgeschlossen. Jetzt beging ich den Fehler, der Tür einen wütenden Tritt zu verpassen, mit dem Erfolg, dass ich vor Schmerzen beinahe wieder in Ohnmacht gefallen wäre. Ich verlegte mich erneut aufs Rammen; meine Schulter würde sowieso schon schwarz und blau anlaufen. Das Schloss gab schließlich nach, und die Tür schwang auf. Kein Mensch weit und breit. Ich humpelte durch den Raum zur Eingangstür und trat auf den 296
Flur. Anscheinend war die ganze Etage unbewohnt, denn trotz des Lärms, den ich gemacht hatte, rührte sich nichts. Ich sah auf die Uhr; fünf Uhr dreißig. Draußen wurde es dämmrig. Ich hatte über fünf Stunden in der Kammer gelegen. Ich fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage, immer wachsam. Ich drückte die Eisentür ein paar Zentimeter weit auf und zuckte zusammen, als sie laut kreischte. Dann öffnete ich sie und erwartete halb, auf meine Widersacher zu treffen. Aber auch hier gähnende Leere. Nur mein Wagen stand unberührt an seinem Platz. Ich öffnete die Autotür; der Schlüssel steckte noch im Zündschloss. Ich ließ mich auf den Sitz fallen, weil ich mich nicht mit den Armen abstützen wollte. Alles tat mir weh, aber alles schien auch noch zu funktionieren, worüber ich froh war. Seit die Blutzirkulation wieder in Gang gekommen war, klangen die Schmerzen langsam ab. Ich ließ den Motor an. Eine Weile blieb ich einfach sitzen, horchte auf das Motorengeräusch und versuchte mich zu orientieren. Ich betrachtete mich im Rückspiegel. An meiner Haut klebten noch ein paar Fetzen graues Klebeband. Der Streifen, wo es geklebt hatte, war sichtbar und die Haut an diesen Stellen rot entzündet. Ich fuhr rückwärts aus der Parknische, verließ die Tiefgarage und machte mich auf den Weg zurück nach Atlanta; obwohl es wehtat, drehte ich mich ständig um, ob mir auch niemand folgte. Ich hatte fest damit gerechnet, zu dieser Zeit in einen Verkehrsstau zu geraten, aber die Straßen waren wie leer gefegt. Es dauerte ein wenig, bis mir klar wurde, woran das lag. Die Sonne, die so niedrig am Himmel stand, ging nicht unter, sie ging gerade auf. Es war fünf Uhr dreißig morgens, nicht nachmittags, und ich hatte nicht etwa fünf Stunden in der Kammer zugebracht, sondern mehr als siebzehn Stunden dort festgesessen.
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23 Ich fuhr nach Hause, unter ständigen Schmerzen. Dann kroch ich angezogen ins Bett und fiel dankbar in richtigen Schlaf. Ein paar Stunden später wachte ich auf und merkte, dass ich ausgehungert war. Das Gehen war noch immer extrem schmerzhaft, und so humpelte ich in die Küche und machte mir etwas zu essen. Danach schlief ich weiter; gegen ein Uhr mittags gönnte ich mir eine heiße Dusche. Ich ließ das Wasser über mich laufen, bis der Boiler leer war. Ich trocknete mich ab, ging nackt ins Schlafzimmer und warf einen Blick in den Spiegel. An meinen Hand- und Fußgelenken waren ringsum üble lilablaue Flecken, und schnelle Bewegungen taten mir weh, aber sonst war ich okay. Du bist also entführt, gefesselt und in eine Kammer gesperrt worden. Sie haben dich nicht ausgeraubt. Sie haben das Auto nicht gestohlen. Sie haben dir keine Fragen gestellt, und sie haben nichts gesagt. Sie haben dich einfach nur in die Kammer gestopft und sind gegangen. Ich zog mich an, verbrachte die nächsten Stunden jedoch zwischen Schlafen und Wachen; zwischendurch aß ich etwas, und vor allem trank ich solche Unmengen, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Ab und zu trieben mich furchtbare Krämpfe jäh aus dem Bett. Es war, als wenn mir ein heißes Bügeleisen ins Fleisch gedrückt würde. Die Krämpfe ließen allmählich nach, und am Abend gegen sieben war ich fast wieder der Alte. Ich probierte es nochmal bei Robinson, hatte jedoch, wie vorauszusehen war, wieder seinen Anrufbeantworter dran. Zurück an meinem Bett, überlegte ich, ob ich mich wieder hinlegen sollte. Ich setzte mich, schloss die Augen und entspannte die Beine. Ich muss eingenickt sein, denn ich weiß nicht mehr genau, wann ich das leise Klopfen an meiner Tür 298
wahrnahm. Ich stand auf und horchte; erneutes Klopfen, leise, fast verhalten. Ich streckte die Hand zum Nachttisch neben meinem Bett aus, hob einen Stapel Zeitschriften an und zog meinen lange nicht benutzten Revolver darunter hervor, ein Relikt vom Zielscheibenschießen meiner Jugend in Dothan. Er sah nicht sehr bedrohlich aus, aber etwas anderes hatte ich nicht. Ich war nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch funktionierte. Ich ging leise zur Wohnungstür, die leider keinen Türspion hatte. Der wellige Hartholzfußboden knarrte, als ich dort ankam. Das Klopfen hörte auf. Da meine Tarnung aufgeflogen war, stellte ich mich lieber neben die Tür. »Wer ist da?«, fragte ich und packte meine Waffe fester. »Jack, oh, Jack«, sagte eine Stimme. »Lass mich um Gottes willen rein.« Nur eine Frau auf dieser Erde hatte eine solche Stimme. Ich schloss die Tür auf, und Michele zwängte sich weinend in meine Wohnung. Sie schlang die Arme um mich und schmiegte sich fest an mich. Sie presste ihr Gesicht an meine Schulter und drückte dabei auf Stellen, die noch sehr empfindlich waren von meiner Gefangenschaft. Ich zuckte zusammen, und sie nahm Abstand. Sie zog meinen Kragen auseinander und sah die roten Streifen, die das Isolierband hinterlassen hatte. »Mein Gott, Jack, was ist passiert?« »Mistkerle«, sagte ich. Sie streckte die Hand aus und berührte sanft mein Gesicht unter dem rechten Wangenknochen. Ich war nicht nur lädiert durch die Fesselung, sondern auch noch etwas angeschlagen von meiner Begegnung mit der Folks Nation. »Was für eine Beule«, sagte sie. »Ach, Liebling, du tust mir Leid.« »Ich bin in den Glen zurückgekehrt und auf Darius und seine Genossen getroffen. Die Kidnapper kamen erst später.« Sie sah mich groß an. »Kidnapper? Wovon redest du? Wer hat 299
dir das angetan?« »Ich denke, es war dein Mann.« Sie erstarrte. »Charles?« »Ich war bei ihm.« Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. »Warum denn das?« »Er hat mich eingeladen. Genauer gesagt, Stephens.« »O Gott, Jack.« Ich wandte den Blick von ihr ab. »Stephens hat eine etwas andere Sicht der Dinge als du. Es war nicht sehr angenehm, ihm zuzuhören.« Sie ergriff meine Arme und zog mich an sich. »Bevor du noch ein Wort sagst: Es tut mir Leid, dass ich dich angelogen habe. Ich habe es nur getan, um jemanden zu schützen.« »Falls ich gemeint war, ist es dir gründlich misslungen.« »Ich habe gelogen, um Briah zu schützen.« Ich löste mich von ihr und zog mich ein paar Schritte zurück, sodass sie allein an der Tür stand. Um die Wahrheit zu sagen: Ich wusste nicht recht, ob ich dieses Gespräch überhaupt weiterführen wollte. Eigentlich war es Zeit, aus der Achterbahn auszusteigen. »Ich will dir mal was sagen, Michele. Vielleicht solltest du dir einen anderen Typen suchen, um deine Probleme zu lösen. Jemand, der Unehrlichkeit eher toleriert als ich.« Sie sah mich flehend an. »Dann erkläre mir bitte, wie das gehen soll. Mein ganzes Leben ist eine Lüge, und du willst, dass ich den richtigen Moment finde, um daraus auszusteigen. Es wird nämlich nicht leichter. Nein, es wird immer schwerer. Es gibt so vieles …« Sie brach mitten im Satz ab. Sie saß fest zwischen dem, was von vierzehn Jahren Selbsttäuschung noch übrig war, und der wachsenden Erkenntnis, dass das Spiel aus war. Wie viel Sympathie ich ihr und ihren Schwierigkeiten auch entgegengebracht haben mochte, jetzt hatte ich genug davon, wie sie mit ihrem Leben umging. Ich wollte Klarheit, und wenn mir die versagt blieb, verabschiedete ich mich eben, ohne zurückzuschauen. 300
»Es ist so, Michele«, sagte ich. »Du bist weit gekommen mit deinen Lügen, weiter geht es nicht. Vielleicht hatten sie am Anfang noch einen Sinn. Aber du kannst entweder zusehen, wie sich die Fäden langsam entwirren und dich dabei mitreißen, oder du nimmst dein Leben endlich selbst in die Hand und erklärst deine Unabhängigkeit.« Sie atmete schwer, offensichtlich hatte sie Angst. »Dann verliere ich alles«, sagte sie, »selbst Briah.« »Du wirst sie so oder so verlieren, wenn du nicht endlich die Wahrheit sagst.« Sie sah mich mutlos an. »Verstehst du denn nicht, was hier gespielt wird? Natürlich weiß Charles von Briah. Er weiß alles über jeden. Aber nur, wenn ihre Existenz geheim gehalten wird, ist sie in Sicherheit.« Ich behielt sie im Auge, denn ich wollte nicht wieder schwach werden. »Erzähl. Aber wenn du auch nur die leiseste Unwahrheit sagst, dann war’s das.« »Charles und ich haben von Anfang an überhaupt nicht zusammengepasst. Er kannte aus seiner Zeit in Groton und Yale nur die Crème de la Crème. Und von Anfang an bedeutete es ihm alles, dazuzugehören. Herrgott, Jack, er hat sogar meine Kleider ausgesucht. Dieses Kleid, diese Schuhe, nein, nein, nicht die Brosche, das kann nicht dein Ernst sein, Liebling. Bis hin zum Nagellack.« »Die Phase scheinst du überwunden zu haben.« »Ja, der Streetlook ist meine kleine Rebellion. Charles missfällt es so, aber er weiß, dass ich es beruflich nutze. Ich war damals jünger. Ich hatte gar keine eigenen Gefühle. Charles gab vor, was ich zu fühlen und zu denken hatte. Eine Zeit lang habe ich ihm geglaubt. Er war für dieses Leben geboren, während ich es nur als Hochstaplerin lebte. Ich nahm an, dass er das Richtige tat. Er spendete Unsummen und nahm an Benefizveranstaltungen teil. Es steckten jedoch Zweckmotive hinter jedem Pfennig, den er ausgab. Er führte Buch über die 301
gesellschaftliche Elite, und wenn wir von solchen Leuten eingeladen wurden, hakte er sie auf seiner Checkliste ab.« »Ich weiß nicht, was das mit deinen Lügen über Briah zu tun hat.« »Es hat unendlich viel zu tun mit ihr. Jahre vergingen, aber Briah lag mir nach wie vor im Sinn. Irgendwann beschloss ich, nach ihr zu suchen, nur um zu prüfen, ob es ihr gut ging. Das redete ich mir jedenfalls ein. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn ich sie tatsächlich gefunden hätte. Aber ich habe es ungeschickt angestellt, und Charles bekam Wind davon. Er war so wütend, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Ich dachte wahrhaftig, er würde mich schlagen.« Sie wandte den Blick ab. »Das Schlimme war nicht, dass ich ein Kind hatte, obschon das übel genug war. Das Schlimme war, dass seine Frau ein verlogenes kleines Ghettoluder mit einem illegitimen Kind war. Der Umstand, dass der Kindsvater ein Gang-Mitglied war, machte es auch nicht besser. Du kannst dir nicht vorstellen, was der bloße Gedanke daran bei ihm auslöste. Er sagte, er habe nicht promoviert, um das Balg eines Asozialen zu unterstützen.« Sie verstummte. »Dieser Tag war wie ein Tod«, sagte sie leise. »Es war der Tag, an dem mir aufging, was für ein Mensch mein Mann wirklich ist. Mein Mann verachtet das Ghetto, Jack. Ich habe Jahre gebraucht, um herauszufinden, warum, und als ich es schließlich begriff, traf es mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Alles an ihm – sein ganzes Leben – war mir plötzlich sonnenklar.« »Und was ist der Grund?« Sie sah mich mit versteinerter Miene an. »Mein Mann schämt sich, dass er schwarz ist«, sagte sie. »Es beschämt ihn zutiefst, ein Neger zu sein. Und jedes Mal, wenn er mich anschaut, wird er daran erinnert.« Ein langes, bitteres Schweigen erfüllte den Raum. Endlich sagte ich: »Du könntest ihn ja verlassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht, jedenfalls nicht, 302
solange es einen Derek Stephens gibt«, erwiderte sie. »Alle Welt hält Charles für den Chef von Horizn. Das ist ein Witz. Für alle wichtigen Entscheidungen ist Derek Stephens zuständig.« »Willst du damit sagen, dass dein Mann bloß eine Marionette ist?« »Zu Anfang war Charles einfach nur distanziert, aber nicht böse. Eher so wie ein Automat, würde ich sagen. Aber seit er mit Derek zusammenarbeitet, ist er wie umgewandelt. Derek ist ein schlechter Mensch, Jack. Er hat alles vergiftet, was einmal gut an Charles war. Sie verbringen viele Stunden miteinander und treffen ihre Absprachen.« »Wieso sollte es Stephens kümmern, wenn du dich von deinem Mann scheiden lässt?« »Ich bin ein Gewinn für Charles und daher auch ein Gewinn für Horizn. Vielleicht findet er eine Möglichkeit, mich loszuwerden und Charles als Märtyrer darzustellen, wenn der Börsengang gelaufen ist. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass er Briah eher umbringen lassen würde, als zuzulassen, dass der Hauptgeschäftsführer von Horizn durch ihre Existenz zum Gespött wird.« Ich sah sie argwöhnisch an. »Stephens behauptet, Briah sei dir vom Jugendamt weggenommen worden, weil du sie vernachlässigt hast.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie hätte ich denn eine solche Rabenmutter sein können, Jack? Ich habe sie ja nicht einmal aus dem Krankenhaus mit nach Hause nehmen dürfen.« Sie ging leise quer durchs Zimmer und trat auf mich zu. Sie nahm meine Hände, hob sie hoch und drückte meine Finger sanft auf ihren Mund. »Es tut mir so Leid, Jack. Ich habe gelogen, um Briah zu schützen. Ich werde es nie wieder tun.« »Das würde ich nur zu gern glauben.« »Vergib mir doch. Ich mache einfach zu vieles auf einmal.« Sie legte die Arme um mich, sodass ich schwankte und aus dem Gleichgewicht kam. Ich machte einen kleinen, schmerzhaften 303
Humpelschritt, und sie entschuldigte sich und nahm mich bei der Hand. Wir gingen gemeinsam ins Schlafzimmer, wo ich mich auf die Bettkante setzte. Sie zog mir vorsichtig mein Hemd aus und ließ ihre schönen, weichen Finger über meine Haut gleiten. »Hast du etwas dafür?«, fragte sie mich. »Ein Antiseptikum?« »In der Küche«, sagte ich. »Unter der Spüle.« Sie nickte, küsste mich auf die Schulter und verschwand, um das Mittel zu holen. Es klapperte, und dann kam sie mit einem weißen Tiegel wieder. »Das hilft«, sagte sie, »das wird dir gut tun.« Sie trat zu mir und drückte mich ins Bett, bis ich auf dem Bauch lag. »Lieg still«, sagte sie und setzte sich neben mich. Sie rieb meine Haut mit der kühlenden Salbe ein und knetete dabei sanft meine Muskeln. »Es tut mir so Leid, dass man dir so übel mitgespielt hat.« Ich schloss die Augen und ließ mir die Muskeln und die wunden, überdehnten Gelenke massieren. Ich entspannte mich, und das Leben floss in mich zurück. Sie drehte mich um, nestelte an meiner Hose herum und zog sie mir schließlich über die Hüften. Da lag ich nun in Unterhosen und mit nacktem Oberkörper, und sie hauchte mir Küsse auf Brust und Bauch und strich mir mit den Händen über die Beine und an den Innenseiten meiner Schenkel hoch. Ich war müde, nicht nur körperlich, sondern in tiefster Seele. Mit jedem Augenblick entspannte ich mich mehr, bis ich kurz davor war, einzuschlummern. Dicht an meinem Ohr hörte ich ihre Stimme. »Ruh dich ein wenig aus, Liebster.« Ich machte es mir in den Kissen bequem und schloss die Augen. Sie kuschelte sich unter meinen Arm und legte mir den Kopf an die Schulter. Irgendwann mitten in der Nacht wachte ich auf und fühlte, dass sie friedlich neben mir schlief. Ich zog ihr die Decke weg, sodass sie nackt und schön auf dem weißen Laken lag. Ich betrachtete sie ein Weilchen in ihrem Schlaf und sah zu, wie sich ihre Brust hob und senkte. Glaubst du ihr? Diese Frage war wie ein stetes Flüstern in meinem Kopf. Ich 304
studierte ihr Gesicht, suchte nach Spuren von Schuldgefühl. Sie musste es irgendwie gemerkt haben, denn nach ein paar Minuten begannen ihre Lider zu zucken, und dann schlug sie die Augen auf. Als sie zu sich gekommen war, sah sie mich an und lächelte. »Du siehst besser aus«, flüsterte sie. »Bin ich froh.« »Mir geht es auch besser«, sagte ich. »Viel besser.« Und dann überließ ich es in dieser dunklen, mondlosen Nacht meinen Fingerspitzen, die über ihren Bauch und ihre Brüste tasteten, all meine Fragen zu beantworten. Sie stöhnte und unterwarf sich willig meiner Prüfung, gab sich dem Streicheln meiner Hände, meinen Küssen hin. Was dann kam, war wie ein goldener Nebel, der sich über uns legte und uns der Zeit entrückte. Lange Minuten vergingen, und als unsere Körper sich endlich vereinten, war sie völlig verwandelt. Sie war stark – sie verlangte mir das Äußerste ab – und gierig. In ihrer Liebe war alles gegenwärtig, was ich schon auf der Bühne gesehen hatte – das Hingegebensein an den Augenblick, die vollkommene Selbstpreisgabe. Sie war von unbezähmbarer Wildheit in jener Nacht, von einer verzweifelten, atemlosen Leidenschaft. Als ihr Höhepunkt kam, warf sie den Kopf in den Nacken und biss sich auf die Lippen, während sie zugleich den Druck, die Umklammerung, die Reibung genoss. Ich kam kurz nach ihr, und als ich die Augen öffnete, schaute sie mich an, lächelte und presste ihre Hüften so fest an mich, wie sie nur konnte. Und dann war es vorbei, und sie entließ mich wieder in tiefen, dunklen, traumlosen Schlaf.
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24 Als ich am Freitagmorgen aufstand, war Michele schon angekleidet wie nach unserer letzten gemeinsamen Nacht. Sie rumorte in der Küche herum, und ich stellte mich mit offenem Bademantel hinter sie. Sie lehnte sich rückwärts an mich und ließ es zu, dass ich ihr den Nacken küsste. »Hunger?«, fragte ich. Sie antwortete nicht, woraufhin ich sie umdrehte, um ihr ins Gesicht zu schauen. »Alles in Ordnung?« Sie sah zu Boden. »Ich muss gehen«, sagte sie. »Charles hält einen Vortrag an der Georgia Tech. Ich muss dabei sein.« »Besteht er noch immer auf dieser Farce?« Sie nickte traurig. »Dabei will ich eigentlich keine einzige Minute mehr mit ihm zusammen sein. Es ist unsäglich.« »Ich komme auch hin.« Sie wandte mir das Gesicht zu. »Jack, das ist keine gute Idee. Wenn er dich sieht, kommt es womöglich zu einer Konfrontation.« »Es passiert gar nichts. Ich will nur sehen, ob ich was herausfinden kann.« Sie sah mich prüfend an, aber mein Entschluss stand fest. »Na gut«, sagte sie. »Ich muss weg. Der Vortrag ist um elf, und es ist schon nach acht. Ich muss mich für den Zirkus umziehen, damit ich präsentabel bin.« Sie seufzte, und Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Es ist egal«, sagte sie. »Wir tun eben alle das, was wir tun müssen.« Sie blickte auf, küsste mich flüchtig auf die Wange und wandte sich zum Gehen. Dann blieb sie noch einmal stehen, sah sich um und sagte: »Du weißt doch, dass ich dich liebe, nicht wahr?« Sie lächelte, aber mit trüber Miene. »Sag nichts«, fügte sie hinzu, »das macht es leichter.« Ich ging zu ihr und küsste sie erst auf die Stirn und dann auf den Mund. »Pass auf dich auf.« Ich reichte ihr die Handtasche, 306
die sie in meinem Wagen zurückgelassen hatte, als wir zusammen in den Glen gefahren waren. »Da ist dein Handy drin«, sagte ich. »Du musst es aufladen. Es ist gut, wenn ich dich erreichen kann.« Sie nahm die Tasche und küsste mich auf den Mund. »Gib Acht, dass Charles dich nicht sieht, Jack.« »Keine Sorge.« Michele ging, und auch ich machte mich fertig. Ich rief ein letztes Mal Robinson an; wieder hörte ich seine so unpassend fröhliche Ansage. Ich hinterließ erneut eine Nachricht und legte auf. Kurz nach zehn klingelte das Telefon. Ich ging ran in der Hoffnung, es sei Robinson, aber es war Blu. »Jack? Wo sind Sie? Wo waren Sie bloß? Kommen Sie nicht in die Kanzlei?« Da ich ihr gerade erst ihre Kündigung ausgeredet hatte, war es wohl kaum der richtige Zeitpunkt, ihr zu berichten, dass ich eben eine Entführung überstanden hatte. »Ja, Baby, tut mir Leid.« Mein Blick fiel auf meinen Anrufbeantworter; das rote Licht blinkte ständig. »Was habe ich denn verpasst?« »Nicole Frost hat gerade angerufen. Sie wollte nur sicher sein, dass Sie die Verabredung mit ihr an der TU Georgia nicht vergessen.« »Ich werde da sein.« »Ich soll Sie daran erinnern, sie zehn Minuten vorher draußen vor dem Eingang zu treffen.« »Mach ich.« »Ist wirklich alles in Ordnung mit Ihnen?« »Bestimmt. Sonst noch was?« »Ich habe eine ganze Liste. Ach ja, Billy Little hat angerufen, zweimal.« »Was wollte er denn?« »Sie sollen ihn zurückrufen. Er hat gesagt, es sei wichtig.« »Hören Sie, Blu«, sagte ich, »ich muss weg. Rufen Sie bitte Nicole an und sagen Sie ihr, dass ich komme, ja?« 307
Billy riefe ich besser später an. Er würde alles wissen wollen, und ich war noch nicht so weit, ihn einzuschalten. Wenn er die Sache übernahm – und das war anzunehmen bei seiner Neigung, alles nach Vorschrift zu machen –, war ich aus dem Rennen. Ich hatte nichts gegen die Polizei, aber ich war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass nur jemand, der nicht unter Beobachtung stand und dem es nichts ausmachte, ein paar Regeln zu brechen, herausfinden konnte, was mit Doug und den anderen Teilnehmern am Lipitran-Test geschehen war. Ich legte den Hörer auf und zog mich an, froh, dass mein Körper Zeit gehabt hatte, sich zu erholen. Dank achtzehn Stunden Ruhe und Micheles Pflege fühlte ich mich auf der Fahrt in die Innenstadt fast wieder normal. Das Gelände der Technischen Universität von Georgia ist alles andere als idyllisch. Es liegt mitten in Atlanta im Schatten seiner Wolkenkratzer, an denen die bedrohliche Macht der Wirtschaft symbolhaft sichtbar wird. Die Gebäude sind steril und gleichen eher Bürokomplexen als gemütlichen, efeuumrankten Stätten der Gelehrsamkeit. Ich klemmte mein Auto in eine Parkbucht von höchstens drei Vierteln der üblichen Größe und keuchte den steilen Berg zum Ferst Center hinauf, wo Ralston seinen Vortrag halten sollte. Das übliche Potpourri von TU-Studenten – die T-Shirt und Shorts tragende Zukunft Amerikas – bevölkerte die Wege, wie immer zwischen den Vorlesungen. Die Treppe zum Ferst Center wimmelte nur so von ihnen, ein buntes Gemisch von Jeans, nackten Taillen und Rucksäcken, die den Hintergrund abgaben für die viel kleinere Schar geschniegelter und gestriegelter Manager und Makler wie Nicole. Die Börsenhändler lächelten sich nervös an, wobei ihre Zähne blitzten, und hoben sich so plastisch von den Studenten ab wie ein architektonisches Relief. Obwohl sie oft selbst gerade erst die geheiligten Hallen der Gelehrsamkeit verlassen hatten, waren sie bereits meilenweit davon entfernt und sahen aus wie von einem anderen Stern. Sie 308
waren zwar noch jung oder hielten sich zumindest jugendfrisch, aber im Gegensatz zu den Studenten stand ihnen unsichtbar auf die Stirn geschrieben: Schlafen kannst du später, Links, neben der Halle aufgereiht, standen die Fahrzeuge der lokalen Nachrichtenmedien mit Satellitenschüsseln auf den Dächern. Der bevorstehende Börsengang von Horizn lockte die Wirtschaftsjournalisten an wie Fliegen. Nicole stand auf den Stufen vor dem Saal und plauderte munter mit einem gut und zahlungskräftig aussehenden Mann Ende zwanzig. Sie hatte ihr schulterlanges schwarzes Haar nach hinten gebunden und lächelte. Sie trug ein hellblaues Kleid, das knapp bis an die Knie ging, und farblich dazu passende hochhackige Schuhe, die vorn offen waren. Sie war schon immer schlank gewesen, aber jetzt wirkte sie geradezu abgemagert. Kein Wunder, denn sie hatte wahrscheinlich seit drei Jahren keine Mittagspause mehr gemacht. Aber der glänzende Mund und die leuchtenden, intelligenten Augen, die so manchem Erstsemester den Schlaf geraubt hatten, waren noch wie immer. Als sie mich bemerkte, hellte sich ihre Miene noch ein paar Watt auf, sofern das überhaupt möglich war. Sie kam zu mir herüber, blieb abrupt stehen, musterte mit zusammengekniffenen Augen mein Gesicht und nahm mir die Sonnenbrille ab. »Jack?«, fragte sie. »Mein Gott, was ist passiert?« Ich wollte antworten, aber sie winkte ab. »Du brauchst kein Wort zu sagen, Jack. Es war bestimmt einer deiner Mandanten. Sie sind schrecklich. Ich verstehe nicht, wie du das aushältst, ehrlich.« »Tja, Langfinger aus Chefetagen haben wahrscheinlich keinen besonders guten linken Haken.« »So was sagt man aber nicht, Jack.« Sie setzte mir vorsichtig die Sonnenbrille wieder auf die Nase. Dann strich sie mit der freien Hand meinen Kragen glatt. Meine Halspartie, die noch immer wund war von den Fesseln, war kein schöner Anblick. »Sieh dich bloß mal an, Schatz. Hast du keine Krawatten 309
mehr?« »Verbrannt zur Wärmegewinnung«, sagte ich. Nicole und ich waren seit Urzeiten befreundet, aber ich wollte ihr nichts von den Ereignissen der letzten Tage erzählen. »Komm, suchen wir uns einen Platz.« Nicole schnitt ein Gesicht. »Du machst mir Kummer. Wirklich.« Wir stiegen die Stufen hinauf und betraten das Gebäude, einen kantigen roten Ziegelbau mit einer italienischen Marmorskulptur davor. Ein Strom von Menschen drängte vom offenen Atrium in den Saal, und wir schlossen uns ihm an und nahmen im hinteren Drittel links vom Gang Platz. Zwei Video-Screens waren hoch oben zu beiden Seiten der Bühne angebracht. »Full House«, sagte Nicole. »Und da sind die Kameras.« Ein Haufen schnatternder Reporter stand vorn vor der Bühne, und die Kameraleute trugen Videokameras auf den Schultern. »Da ist er«, sagte Nicole und zeigte nach vorn. Ralston stand auf der rechten Bühnenseite. Er kehrte den Zuschauern den Rücken zu und sprach mit einem hoch gewachsenen, schlaksigen Mann in einem schlecht sitzenden Anzug. Ich beobachtete Ralston eine Weile, dachte daran, dass ich mit seiner Frau zusammen gewesen war, und dämpfte die Schuldgefühle, die mich plötzlich überfielen, indem ich mir einredete, dass ihre Beziehung schon seit langem Heuchelei war. Dass sie so schlecht zusammenpassten, wog schwerer als die Tatsache, dass sie mich über ihre Vergangenheit angelogen hatte. Die beiden stammten nicht nur aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, sie lebten auch in unterschiedlichen Epochen. Ralston mochte zwar älter an Jahren sein, aber er war viel zeitgemäßer. Michele war gefühlsmäßig eine Romantikerin und durch die Musik einer Zeit verbunden, in der Liebe noch als Schicksal empfunden wurde, statt auf die reine Chemie reduziert zu werden wie bei Ralston. Ralston war der moderne Mann, und seine Art von Bösartigkeit war ebenfalls neu und weit entfernt 310
von der Barbarei in den Armenvierteln von Atlanta. Ihm war die dunkle Wut von Besitzlosen wie Folks Nation fremd. Er war einfach aller moralischen Bedenken überdrüssig, als sei das alles seiner wissenschaftlich fundierten, begründeten Meinung nach vollkommen überholt und nicht mehr relevant. Aus ihm sprach platter Hass ohne die Abgründe und Niederungen der Leidenschaft. Ghetto-Hass war lebendig und unberechenbar und daher etwas, das behandelt und geheilt werden konnte. Ralston jedoch war zu einer alles verzehrenden Maschine geworden wie das Virus, auf dessen Behandlung er sein Vermögen gesetzt hatte. Wie ich da so saß zwischen all seinen ideologischen Genossen und Nachfolgern, kam ich mir völlig fehl am Platz vor. Du glaubst an eine andere Welt, Jack. Mit Guten und mit Bösen. Vielleicht war das der springende Punkt. Vielleicht gab es keine Guten und keine Bösen mehr. Vielleicht musste man nur prüfen, was man selbst gerade noch tolerieren konnte, und danach handeln. Vielleicht war ich ein Dinosaurier, und die Nightmares, Ralstons, Stephens und neunmalklugen, konzentrationsgestörten Kids von der TU ließen uns andere weit hinter sich in einer hermetisch sauberen, genmanipulierten Staubwolke. »Und da ist sie«, flüsterte Nicole. Ich drehte den Kopf, sah sie, und alles war wieder menschlich. Sie saß in der ersten Reihe und etwa fünfzehn Meter rechts von mir, sodass ich aus meinem Blickwinkel ihr Profil sehen konnte. Sie trug schlichte goldene Ohrringe und das Haar hochgesteckt wie im Four Seasons. Sie war so schön, dass es wehtat. Ihr Anblick ließ mich erzittern vor Begierde, Lust, Leidenschaft und vielleicht sogar Liebe – alte Vorstellungen aus einer anderen Epoche, aber noch immer stark genug, um mich in eine Schlägerei mit Folks Nation zu verwickeln. Vielleicht waren wir beide Dinosaurier, mussten uns beide unter einem frischen, schneidenden Wind beugen, fühlten uns kreuzunwohl in dieser neuen Zeit und suchten Trost. Als Sohn eines armen Schluckers, der in Dothan, Alabama, die Erde 311
aufriss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, kannte ich Trostlosigkeit zur Genüge und wusste, dass ihre Welt nicht so fremdartig war, wie es schien. Und dann war da noch die Atmosphäre der Ausweglosigkeit, die sie umgab und der ich nicht entrinnen konnte, eine altertümliche Hilfsbedürftigkeit, die meine Beschützerinstinkte weckte. Ich wollte ihr Ritter in schimmernder Rüstung sein, aber verflucht, es war das falsche Jahrhundert. Nicole beugte sich zu mir und wisperte: »Ich frage mich, ob er schon reich war, als sie geheiratet haben.« »Wieso?« »Sieh sie dir doch mal an, mein Schatz; solche Frauen heiraten keinen College-Professor.« Sie machte eine Pause. »Er muss zumindest wohlhabend gewesen sein. Aber nicht unbedingt so stinkreich, wie er bald sein wird.« »Nach dem Börsengang.« Nicole nickte. »Er wird einer Menge Leute viel Geld bescheren, mich eingeschlossen. Sei also nett.« Ralston gab Michele einen Wink, sie erhob sich und gesellte sich zu ihm. Er legte den Arm um sie, und dann unterhielten sie sich gemeinsam mit dem Mann in dem schlecht sitzenden Anzug. Ralston flüsterte Michele etwas ins Ohr, und sie lächelte matt. Es war kaum mit anzusehen, wenn man wusste, was dieser kurze Auftritt sie kostete. Sie hasste ihn, aber sie fürchtete ihn auch und Stephens noch mehr. Solange das Leben ihrer Tochter in der Hand dieser beiden Männer lag, würde sie tun, was man von ihr verlangte. Ein paar Minuten später erlosch das Licht allmählich, der Lärm verklang, und es wurde still im Saal. Ralston nahm neben seiner Frau Platz, aber sie sprachen nicht miteinander. Ich konnte sie nur schemenhaft ausmachen im Dämmerlicht der Bühne. Michele sah mit leerem, teilnahmslosem Gesichtsausdruck starr geradeaus. Der hoch gewachsene Mann, mit dem Ralston gesprochen hatte, erschien auf der Bühne und 312
wurde mit vereinzeltem halbherzigem Klatschen begrüßt. Licht von oben beleuchtete das Podium, während der Zuschauerraum im Halbdunkel lag. »Guten Morgen«, sagte er. »Herzlich willkommen an der Technischen Universität von Georgia. Ich bin Barnard Taylor, Dekan der Fakultät für Biotechnologie. Dies ist ein großer Tag für uns.« Während er sprach, erschien ein Schwarzweißbild des jungen Charles Ralston auf den VideoScreens zu beiden Seiten der Bühne. Nicole neigte sich zu mir und flüsterte: »Showtime.« Auf dem Bild war ein junger eifriger weiß bekittelter Ralston im Labor zu sehen. Für ein einfaches Foto war es erstaunlich aussagekräftig: Ralstons Gesicht spiegelte lebhaften Ehrgeiz wider. Er wirkte konzentriert und glücklich, als sei er ganz in seinem Element. »Charles Ralston begann seine berufliche Laufbahn mit etwas, das uns von Herzen lieb und teuer ist«, sagte der Redner. »Mit der Forschung.« Hier und da flackerte Gelächter auf. »Die Arbeit von Dr. Ralston hat das Leben Abertausender von Menschen verlängert. Antiomyacin ist bis heute das einzige Mittel, das nachgewiesenermaßen die Folgeerscheinungen von Hepatitis C wirkungsvoll eindämmt und so für die Infizierten die Wahrscheinlichkeit, an Leberkrebs zu erkranken, drastisch herabsetzt. Es hat all denen Hoffnung gegeben, die auf den Tag warten, an dem eine Heilung möglich sein wird.« Mein Gespräch mit Robinson kam mir in den Sinn; Robinson hatte Grayton dazu überredet, Millionen aufzubringen, um Hepatitis C heilen zu können. Es war gar keine Frage, wer die Verlierer sein würden, falls sie erfolgreich waren: Ralston und die Firma Horizn. Auf den Bildschirmen erschien jetzt eine Aufnahme der Horizn-Werke. »In den letzten fünfzehn Jahren hat Charles Ralston seine Firma in neue Bereiche der Pharmaforschung geführt und eindrucksvolle Erfolge in der Behandlung von Nephritis und anderen Nierenerkrankungen verzeichnen können. Dabei ist er 313
mit mehr als 1400 Angestellten zu einem festen Bestandteil der Wirtschaft von Atlanta geworden.« Dr. Taylor lächelte. »Einige Angestellte sind sogar Abgänger unserer Hochschule.« Diese Bemerkung trug ihm den ersten richtigen Beifall ein; hier und da im Zuschauerraum waren Bravos und andere Rufe zu hören. »Aber ich möchte eine Seite von Charles Ralston beleuchten, die im heutigen Wirtschaftsklima viel zu wenig Beachtung findet.« Auf den Screens lief jetzt ein Schwarzweißfilm, ein langsamer Kameraschwenk über die zerrüttete Welt des Sozialbaughettos von Atlanta. Es lag nur wenige Kilometer von da entfernt, wo wir gerade saßen, aber der Kontrast war erschütternd. Selbst die Stühle, auf denen wir saßen – ohne uns ihrer überhaupt bewusst zu sein –, waren luxuriöser als alles, was innerhalb jener Umzäunung lag. »Das ist der Skandal des öffentlichen Gesundheitswesens von Amerika«, sagte der Redner. »Während die Politiker aus wahltaktischen Gründen den Superreichen eine weitere Steuersenkung in Aussicht stellen, tun sie nichts gegen die fortschreitende Armut. Wenn die Afroamerikaner als eigene Volksgruppe eingestuft werden würden, würde die Kindersterblichkeit dieser Bevölkerungsgruppe im Weltvergleich an vierzigster Stelle rangieren. Und wenn ich mich in der Geschäftswelt umschaue, sehe ich nicht viele, die sich für diese Menschen engagieren und für Veränderungen einsetzen. Mit einer rühmlichen Ausnahme: einem Mann, der nicht so gleichgültig zuschaut und der heute unter uns weilt.« Jetzt war auf den Bildschirmen ein etwas melancholisches Schwarzweißfoto des erwachsenen Charles Ralston im AnnieLeibowitz-Stil zu sehen. Er blickte unergründlich wie eine Sphinx in die Kamera, unverwandt und – das war nicht zu leugnen – schwärmerisch. »Das Nadelaustauschprogramm ist die gute Seite der amerikanischen Businesswelt und eine Herausforderung für andere Pharmakonzerne«, fuhr Taylor fort. 314
»Statt nur von der medikamentösen Behandlung der Krankheit zu profitieren, unternimmt Charles Ralston etwas, um ihr vorzubeugen. Die Firma Horizn hält das Patent für das einzige und wirksamste Arzneimittel der Welt zur Behandlung von Hepatitis C. Und doch tut das Unternehmen trotz erheblicher finanzieller und politischer Nachteile alles in seiner Macht Stehende, um die Bürger von Atlanta davor zu schützen, das Mittel überhaupt anwenden zu müssen. Es gibt Leute in dieser Stadt, die halten nichts von dem Nadelaustausch, aber Charles Ralston hört gottlob nicht auf sie. Stattdessen ist er darum bemüht, Leben zu retten. Diesen Mut und diese Großzügigkeit kann ich nur rühmen, meine Damen und Herren. Heute nun wird unserer Stadt ein neues, einzigartiges Beispiel dieser Großmut zuteil. Ich gebe Ihnen jetzt Gelegenheit, diesen außergewöhnlichen Mann mit mir zu feiern. Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen den besten Freund vorstellen, den die Forschungsgemeinschaft der Technischen Universität von Georgia je gehabt hat. Bitte begrüßen Sie mit mir Dr. Charles Ralston.« Ralston erhob sich von seinem Platz, und die Herzen aller flogen ihm zu. Er stieg langsam die Stufen zur Bühne hinauf, eine Phalanx von Presseleuten im Schlepptau, deren Blitze ihn grell ausleuchteten. Für das Atlanta des 21. Jahrhunderts war in ihm schlichtweg alles Bewundernswerte vereint: Er war ein hervorragend gebildeter, supererfolgreicher Schwarzer, der die Ghettobewohner nicht vergaß, sondern ihnen brüderlich die Hand reichte. Obwohl das Publikum überwiegend aus Weißen und Asiaten bestand, wurde aufrichtig, wild, begeistert und lange applaudiert. Falls Ralston jetzt verkündet hätte, er wolle für das Amt des Gouverneurs kandidieren, hätten ihm die meisten Leute ohne Zweifel auf der Stelle ihre Unterstützung zugesagt. Ralston war inzwischen auf der Bühne angekommen und streckte dem Dekan die Hand entgegen, der sie jedoch ignorierte und ihn stattdessen herzlich umarmte. Damit hatte 315
Ralston nicht gerechnet, es verwirrte ihn sichtlich, und er klopfte dem Dekan wie ein Vater, der sich von seinem Kind nicht den Anzug zerknittern lassen will, freundlich auf den Rücken. Taylor, der das nicht merkte, drückte Ralston noch eine Weile an sich, ehe er ihm das Mikrophon überließ. Ralston stand ruhig im maßgeschneiderten Anzug da und wartete, bis der Beifall abebbte. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Vielen Dank.« Nach und nach wurde es still im Saal. »Es ist mir ein großes Vergnügen, einmal wieder unter Forscherkollegen zu sein. Von Zeit zu Zeit kehre ich gern in die akademische Welt zurück, um mich daran zu erinnern, wem meine Liebe galt, als ich jung war. Ich schaue mich um, sehe Ihre Gesichter und beneide Sie aus tiefstem Herzen. Ich beneide Sie um die Erkenntnisse, zu denen Sie im Laufe Ihres Lebens kommen werden. Um die Welt, die Sie schaffen werden. Um die Macht, die Sie eines Tages in Händen halten werden.« Während Ralston sprach, war es mucksmäuschenstill im Saal. Die Zuhörer saugten seine Sätze auf wie Jünger die Worte ihres Meisters. »Es wird immer Menschen geben, die sich Ihnen auf der Reise in die Zukunft entgegenstellen. Sie werden Ihnen ihre Götzen entgegenhalten und versuchen, Ihrem Forschungsdrang Fesseln aufzuerlegen. Sie müssen sich dagegen wehren. Denn Sie dürfen zwei Dinge nie vergessen: erstens, dass dies nichts Neues ist. Papst Pius zwang Galilei, niederzuknien und um Vergebung zu bitten, weil dieser die Kühnheit besessen hatte, zu behaupten, die Erde drehe sich um die Sonne. Diejenigen, die uns in unserer Forschungsarbeit behindern wollen, treten in die Fußstapfen solcher Ignoranten. Zweitens, dass Sie im Innersten wissen, dass Sie sich durchsetzen werden. Nicht vielleicht. Auch nicht wahrscheinlich. Sondern mit absoluter Gewissheit. Wer den Fortschritt der Naturwissenschaften fürchtet, wird ebenso in Vergessenheit geraten wie diejenigen, die glaubten, die Erde sei eine Scheibe oder Schwarze seien« – Ralston brach mitten im Satz ab, von seinen Gefühlen übermannt – »ein Stück Eigentum, 316
etwas, das man kaufen und verkaufen kann.« Er ließ den Blick über die Zuhörer schweifen. »All diese Ignoranz wird eines Tages Vergangenheit sein. Horizn setzt sich für die Genforschung an der Georgia Tech aus dem gleichen Grund ein wie für die Forschung allgemein: weil sie für die Menschheit eine unschätzbare Verheißung in sich birgt. An diese Verheißung, an diese Zukunft glaube ich. Ich glaube an eine Welt, in der die Menschen nicht nach Mumbai fahren müssen, um sich auf dem Schwarzmarkt ein dringend benötigtes Organ zu besorgen. Das mag für reiche Europäer angehen, aber meinen Leuten hier hilft es wenig. Ich glaube an eine Welt, in der der nordamerikanische Kranich durch das Klonen vor dem Aussterben bewahrt wird. Vor allem aber glaube ich daran, dass wir die furchtbaren Krankheiten, die wir kennen und mit denen meine Leute unverhältnismäßig häufig geschlagen sind, heilen können. Ich werde nie aufhören, mich mit aller Kraft für die Rettung ihres Lebens einzusetzen, sei es durch Forschung oder durch das Nadelaustauschprogramm.« Spontaner Applaus brandete im Saal auf. Ralston ließ ihn über sich ergehen und wartete geraume Zeit, bis er verebbte. »Ich will Ihnen noch einen letzten Gedanken mit auf den Weg geben«, sagte er. »Es gibt Leute, die behaupten, Wissenschaftler lebten im Elfenbeinturm. Denen sage ich, dass Wissenschaft Leben ist. Nichts kann sich ihrem Einfluss entziehen. Heute sind wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem öffentlichen Leben nicht mehr wegzudenken. Wir stehen an der Pforte zu einem neuen Paradies. In einem Paradies dürfen Adam und Eva nicht fehlen. Wir werden gerade Zeuge der nächsten Entwicklungsstufe der Evolution, der Entstehung eines transgenen Menschen. Jeder in diesem Saal Anwesende kann sich glücklich preisen, diesen Augenblick miterleben zu dürfen, den Augenblick unseres Triumphes. Eine halbe Million Jahre hat die Menschheit gebraucht, um im Schneckentempo diesen Moment zu erreichen, in dem wir uns von den Ketten unseres 317
genetischen Erbes frei machen und unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. Heute führen wir einen Befreiungsschlag gegen die Sklaverei der Gene. Das ist das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Menschheit. Im Vergleich dazu sind die Entdeckung des Feuers und die Erfindung des Rades Bagatellen. Und Sie –« er machte mit ausgebreiteten Armen eine ausladende Bewegung, fast wie ein Kreuz – »werden die Herren und Meister sein.« Wieder brandete der Beifall auf, diesmal noch lauter und anhaltender. Ralston nickte den Leuten hinter der Bühne zu, und ein Mann und eine Frau kamen hervor, die einen riesigen gemalten Scheck trugen, wie er sonst Lottogewinnern ausgehändigt wird. Es war nur die Rückseite des Schecks zu sehen und folglich die Summe, auf die er ausgestellt war, nicht zu erkennen. »So gut haben wir noch nie zuvor unser Geld angelegt«, sagte Ralston. »Die Charles-Ralston-Schule für Biomedizin wird Großes leisten im Dienste der Menschheit. Und sollte jemand von den Studierenden hier nach seinem Abschluss eine Anstellung brauchen, denke ich, dass sich da etwas arrangieren ließe.« Noch mehr Applaus, dem lauter Jubel auf dem Fuße folgte, als der überdimensionierte Scheck endlich herumgedreht wurde. Die Summe belief sich auf vier Millionen Dollar. Jetzt erhoben sich die Zuschauer, und Ralston winkte Michele zu sich auf die Bühne. Sie gab sich einen Ruck und erhob sich gehorsam, fast mechanisch von ihrem Sitz. Es fiel ihr sichtlich schwer, ihrer Tochter zuliebe Theater zu spielen; sie ging mit steifen Trippelschritten zur Bühne. Als sie ihren Mann erreicht hatte, drehte sie sich mit ausdruckslosem Gesicht zu den Kameras um. Selbst der Versuch eines Lächelns scheiterte. Blitzlichter beleuchteten die Gesichter. Nicole zupfte mich am Armel. »Ich glaube, ich bin verliebt«, sagte sie und gurrte förmlich. »Er ist einmalig.« »Bist du dir sicher, dass du ihn als neuen Messias haben 318
willst?«, fragte ich leise. Nicole war offensichtlich überrascht. »Darum geht es doch gar nicht, Jack. Es nimmt ohnehin alles seinen Lauf. Die Frage ist nur, wer davon profitiert.« Eine Zeit lang blitzten noch Kameras, wurde noch ein letztes Mal gezwungen gelächelt, dann entließ Ralston Michele. Kaum war sie frei, wirkte sie wieder schwach und zart; sie wandte sich um und wollte eben die Bühne verlassen, als ein Gesicht auftauchte, mit dem ich nicht gerechnet hatte: Bob Trammel, der Mann, der in St. Louis und im Four Seasons bei ihr gewesen war. Sie blieb stehen, als sie ihn erkannte, und Trammel näherte sich ihr mit dem gleichen übertrieben freundlichen, durch und durch falschen Lächeln, das mir schon in St. Louis aufgefallen war. Sie wollte ihm ausweichen, aber er legte ihr die Hand auf den Arm, als sie an ihm vorbeikam, und lenkte sie zum Seitenausgang der Bühne. Gemeinsam verschwanden sie hinter dem dicken schwarzen Vorhang. »Würdest du mich mal einen Augenblick entschuldigen?«, fragte ich Nicole. »Ich bin schon so gut wie weg, Schatz«, erwiderte sie. »Rufst du mich später an?« »Ja, mach ich.« Nicole winkte ein paar Leuten zu, die sie aus Shearson kannte, und ich drängte mich der Menschenmenge entgegen zur Bühne. Als ich dort ankam, hatten sich die Reporter bereits zerstreut, und niemand bemerkte mich, während ich die Stufen hinaufging. Ralston hatte die Bühne in Begleitung des Dekans bereits verlassen, um sich dem nächsten Punkt der Tagesordnung zuzuwenden. Es waren nur drei oder vier Schritte bis zum Vorhang, hinter dem ich Michele wusste. Ich zwängte mich hindurch und sah im Dämmerlicht auf der anderen Seite etwa fünf Meter von mir entfernt Trammel, der mir den Rücken zukehrte. Er hielt Michele am Arm fest, und sein Gesicht war sehr nahe an ihrem. Plötzlich riss sich Michele los. Sie war 319
offensichtlich entsetzt, als hätte Trammel ihr gerade mit etwas gedroht. Trammel wollte anscheinend noch etwas hinzufügen, aber ich hatte genug gesehen. Ich sprintete los – trotz der Schmerzen einigermaßen schnell –, überwand die paar Meter, die uns trennten, und geriet in Micheles Blickfeld. »Jack!«, rief sie und entzog sich rasch Trammels Zugriff. »Jack, es ist zu spät. Du musst hier raus.« Trammel wirbelte herum und fasste mich ins Auge, wobei er mir ein böses Lächeln schenkte, eines von der Art, das Inhaber eines schwarzen Gürtels arglosen Leuten schenken, die das Pech haben, ihnen ins Gehege zu kommen. Eine Sekunde lang dachte ich, meine dritte Tracht Prügel in dieser Woche stände an. Ich wollte schon in den Zustand verfallen, in dem man glasige Augen bekommt und darauf pfeift, was als Nächstes geschieht – ein sehr wichtiger Aktivposten bei einer Schlägerei auf der Straße –, als die Tür zum Bühneneingang aufging und jede Menge Studenten geräuschvoll hereinströmten und die Bühne füllten. Eine etwa vierzigjährige Frau mit Brille sagte: »Beeilt euch, wir haben die Bühne nur für eine Stunde«, und hielt den zu zweit und zu dritt Hereindrängenden die Tür auf. Trammel veränderte seine Haltung, aber ich achtete kaum darauf. Ich sah nur, dass sich Michele durch die Studenten schlängelte und zur Tür hinausschlüpfte. Trammel, das Gesicht in dem vergeblichen Bemühen verzerrt, Ruhe zu bewahren, wollte sich anscheinend an den Studenten vorbeidrängen, überlegte es sich jedoch noch einmal. Selbst in dieser gereizten Verfassung war ihm offenbar aufgegangen, dass es auffallen musste, wenn zwei emotional aufgeheizte Männer auf dem Campus hinter einer Frau herjagten, noch dazu, wenn draußen gerade zehn Übertragungswagen des Fernsehens standen und beladen wurden. Unablässig strömten Theaterkursteilnehmer auf die Bühne. Die Lehrerin, die die Tür aufhielt, beäugte uns argwöhnisch, sie hatte wohl eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wer im Augenblick hierher gehörte und wer nicht, und 320
dass wir jedenfalls nicht auf der Teilnehmerliste standen. Als der letzte Student endlich hereingekommen war, kam sie schnurstracks auf Trammel und mich zu und sagte: »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Trammel starrte sie nur an und brachte kein Wort heraus. Ich hingegen lächelte und sagte: »Ja, das wäre nett. Wir haben uns verirrt. Vielleicht können Sie uns sagen, wie wir zum Couch Building kommen?« »Aber gewiss«, sagte sie im Gouvernantenton. Sie wies an uns vorbei auf Türen an der anderen Seite des Bühnenraums. »Dort hinaus. Dahinter finden Sie die Ausgänge. Sie müssen über den ganzen Campus.« »Vielen Dank«, sagte ich nickend. Ich sah Trammel an. »Komm, Bob, alter Freund«, sagte ich. »Wir wollen doch der netten Dame und ihrer Truppe nicht länger im Weg sein.« Trammel warf mir einen bösen Blick zu, dann folgte er mir über die Bühne. Ich spürte, dass er dicht hinter mir war und dass die Lehrerin uns beobachtete. Es gibt Zeiten, da ist es dumm, darauf zu warten, was als Nächstes passiert. Ich kam zu dem Schluss, dass Bob Trammel, der eben darin unterbrochen worden war, eine Frau zu misshandeln, kein vernünftiger Mensch war. Darum wartete ich, nachdem ich die Bühnentür geöffnet hatte und hindurchgegangen war, nicht ab, was er vorhaben mochte. Stattdessen bedachte ich ihn in dem Augenblick, als wir beide im Flur standen und die Tür wieder hinter uns zugefallen war, mit dem härtesten Boxhieb meines Lebens. Er landete irgendwo zwischen seiner linken Wange und seinem Auge und löste stechende Schmerzen in meiner Faust aus. Aber er warf Trammel immerhin um, der daraufhin im Flur zusammensackte. Ich machte mir nicht die Mühe, ihn nach seinem Befinden zu fragen. Ich machte lieber, dass ich wegkam, stürzte durch die nächste Tür auf den Gang hinaus, der zu den Ausgängen führte, und ins Freie auf das sonnige Universitätsgelände. 321
Es ist kaum zu beschreiben, welchen Genuss es mir bereitete, Trammels Gesichtszüge ein wenig überarbeitet zu haben. Irgendwo tief innen in den genetischen Informationen, die Ralston und seine Freunde unbedingt manipulieren wollten, gab es anscheinend noch immer so etwas wie ein Lustzentrum, dem die Evolution nichts anhaben konnte, sodass man sofort eine ursprüngliche Freude darüber empfand, einem Schlägertypen das selbstgefällige Lächeln vom Gesicht gewischt zu haben. Und dieses Gefühl tat gut, denn sonst hätte ich womöglich kehrtgemacht, wäre wieder hineingegangen und hätte es noch einmal getan. Ich ging um das Gebäude herum auf die andere Seite, aber es war keine Spur von Michele zu sehen. An meinem Wagen angekommen, stieg ich ein, ließ den Motor an und mischte mich in den immer dichter werdenden, chaotischen Mittagsverkehr. In beiden Richtungen ging es nur stockend voran. Zu Fuß wäre ich schneller gewesen. Ich war schon ein paar Blocks weitergekommen auf meinem Weg zur I-75, als ich ein paar Autos vor mir Micheles silbernen Lexus sah. Sie fuhr auf der Abbiegespur zur I-75 in den Süden von Atlanta. Ich fädelte mich durch auf ihre Spur und bog etwa hundert Meter hinter ihr ein. Es wäre leicht gewesen, sie auf mich aufmerksam zu machen, aber ich unterließ es. Einer Eingebung folgend, fuhr ich hinter ihr her, ohne ihr zu nahe zu kommen. Falls sie in Gefahr schwebte, wollte ich möglichst in ihrer Nähe sein, um sie beschützen zu können; andererseits wollte ich auch wissen, was für eine Gefahr das war, und deshalb ließ ich sie weiterfahren. Einmal holte ich auf und fuhr einige Spuren weiter links auf gleicher Höhe mit ihr. Ihr Gesicht hatte etwas Starres, und sie hatte den leeren Blick eines Mannequins. Ich fiel wieder ein paar Autolängen zurück und folgte ihr weiterhin. Ein paar Minuten später dämmerte es mir, wohin sie wollte, aber ich verdrängte den Gedanken noch, solange es ging. Doch als sie 322
die Hochstraße zur Crane Street links liegen ließ und von der Autobahn abbog, hatte ich keinen Zweifel mehr, wohin die Fahrt ging. Michele wollte wieder zum McDaniel Glen. Ich beobachtete, wie sie durch die Eisentore glitt, während ich daran vorbeifuhr. Eine Querstraße weiter drehte ich und fuhr ebenfalls hinein. Ich konnte sie noch sehen, sie war etwa hundert Meter vor mir. Ihr innerhalb des Glens unbemerkt auf den Fersen zu bleiben war schwierig; die Straßen waren so gerade wie ein Brett und normalerweise wenig befahren. Ich bremste ab und beobachtete, wie sie mit ihrem Lexus die Straße entlangfuhr. Schließlich hielt sie etwa einen Meter vom Bordstein entfernt an; ich bog hinter ein parkendes Fahrzeug, durch dessen Scheiben ich etwas sehen konnte. Der Platz war gut, denn mein Wagen war außer Sicht, und trotzdem hatte ich einen hervorragenden Blick auf alles, was sich vor mir tat. Ich stellte die Automatik auf »P« und schaute mich um; niemand weit und breit. Nach einer Weile kam ein Mann aus dem Gebäude gegenüber der Straßenseite, wo Michele mit ihrem Wagen stand. Er ging zu ihr hin und gab ihr ein Zeichen, das Fenster herabzulassen. Mir wurde es eiskalt ums Herz. Es war Pope. Er beugte sich vor und stützte sich mit dem Arm auf ihre Tür. Die beiden unterhielten sich, aber ich konnte kein Wort verstehen. Unmissverständlich scharf allerdings war der Ton der Unterhaltung. Beide Seiten erregten sich zusehends, und nach ein paar Minuten trat Pope zurück. Ich schaltete auf »D«, hielt aber den Fuß noch auf der Bremse. Falls irgendetwas schief ging, wollte ich so schnell wie möglich bei Michele sein können. Gegen jemanden wie Pope konnte ich allerdings nicht viel ausrichten. Ich war unbewaffnet, und er war so tödlich wie eine Raubkatze. Ein Kampf würde nicht lange dauern, es sei denn, ich überfuhr ihn. Aber ihn zu überfahren war etwas, das mir im tiefsten Herzen widerstrebte. Der Streit schien noch einmal aufzuflammen, dann herrschte offenbar Ruhe. Pope trat wieder an den Wagen heran, ein 323
schwaches, hämisches Grinsen auf dem Gesicht. Er streckte die Hand durchs offene Fenster, und ich sah, wie er Michele über die Haare strich. Ich hätte kotzen können, so übel war mir auf einmal. Mein Gott, Michele und Pope? Unmöglich. Sie sagte noch etwas, und dann rollte sie langsam weiter. Pope ging zu seinem Haus zurück, schaute aber dabei zu, wie der Wagen Fahrt aufnahm. Ein Stück weiter bog Michele rechts ab und fuhr auf den Ausgang zu. Ich öffnete meine Tür, womit ich sofort Popes Aufmerksamkeit erregte. Er drehte sich in meine Richtung und spähte die Straße entlang. Ich stieg aus und blieb stehen. Pope beobachtete mich ruhig, aber seine normale Leutseligkeit war wie weggeblasen. Ich löste mich von meinem Wagen, die Hände deutlich sichtbar zu beiden Seiten. Als ich mich ihm bis auf etwa fünf Meter genähert hatte, sagte er: »Heilt ja alles ziemlich schnell bei Ihnen.« »Ich habe ein paar Fragen«, sagte ich, »wegen der Frau, mit der Sie gerade gesprochen haben.« Pope schüttelte den Kopf. »Ist nicht Ihr Glückstag. Sie müssen hier raus, solange Sie noch können.« »Hören Sie, Pope«, sagte ich. »Sie sind es doch, der hier alles im Griff hat, stimmt’s? Nicht die Polizei. Das heißt, ohne Ihr Jawort passiert im Glen nichts.« Er zuckte die Achseln. »Richtig.« »Dann sind Sie es auch, der hier dafür sorgen kann, dass es etwas anständiger zugeht. Sie werden sicher nicht zulassen, dass die Hölle losbricht.« Pope neigte den Kopf schief. »Was wollen Sie eigentlich?« »Sie erpressen Michele wegen ihrer Tochter, nicht wahr?« Popes Miene verfinsterte sich, aber ich blieb stur. »Bringen Sie mich erst um, wenn ich fertig bin, Pope. Ich will nur noch eines sagen: Was zu viel ist, ist zu viel. Sie müssen mal zurückstecken. Es kann wirklich die Hölle sein hier drin, nicht wahr? So sieht es jedenfalls oft aus. Die Leute machen sich 324
kaputt, es gibt Armut und Verzweiflung und alles, was dazugehört, aber Himmel nochmal, Pope, es muss doch Grenzen geben, oder nicht?« Pope sah mich eine Zeit lang sinnend an. Er war wie Ralston – sein Gegenspieler auf der legalen Seite des Drogengeschäfts – der lebende Beweis dafür, dass ein völlig skrupelloser Killer, der seinen Lebensunterhalt mit dem Tod anderer verdient, auch nachdenklich oder gar philosophisch sein kann. Aber seine Moral hatte ihre festen Grenzen, sie erstreckte sich nur auf Nichtgeschäftliches. Schließlich sagte er: »Sie und die Puppe. Das ist keine gute Idee.« »Ja, weiß ich. Danke.« Pope wies auf meinen Buick. »Wie viel Sprit geht in die Kiste?«, fragte er. »Weiß ich nicht.« Pope zuckte die Achseln. »Sie steigen jetzt schön wieder ein und fahren, bis der Tank leer ist«, sagte er. »Fahren Sie einfach so weit, wie Sie kommen, damit ich Sie nicht alle machen muss.« »Um Himmels willen, Pope, tun Sie endlich mal was für Ihre Leute!« Pope kniff die Augen zusammen. »Sie haben Keshan, meinem Boy, vor einiger Zeit einen Gefallen getan«, sagte er. »Aber jetzt gehen Sie entschieden zu weit.« »Aber verstehen Sie mich doch, Pope. Schauen Sie sich doch um. Ernsthaft.« Pope schaute sich halbherzig um. Dann schüttelte er den Kopf. »Sie machen sich wirklich ein ganz falsches Bild. Ich habe diese Welt nicht gemacht. Ich muss nur darin überleben. Dies hier ist etwas rein Geschäftliches. Ihre Puppe sucht jemanden. Ich habe ihr gesagt, ich würde mich darum kümmern. Eine Art Dienstleistung. Für Finderlohn.« »Ist ihre Tochter denn hier im Glen?« »Für fünfzigtausend Dollar wird sie’s sein. Das ist alles, was 325
zählt.« »Sie ist doch ein Mensch, Pope. Herrgott nochmal, Pope, Sie sind auch schwarz. Sehen Sie nicht, wie idiotisch das ist?« Ich wurde langsam wütend. »Ich bin sicher, dass sie Ihnen jede Summe zahlt, die Sie ihr nennen.« »So ungefähr sind wir auch verblieben.« »Hören Sie, Sie haben sich mal nett verhalten mir gegenüber. Sie haben mir hoch geholfen, als ich in der Patsche saß.« Pope sah mich ruhig an, ohne etwas zu erwidern. »Ich will Ihnen Ihre Freundlichkeit vergelten. Sie machen nämlich einen Fehler. Sie lassen sich auf Dinge ein, die Sie nicht verstehen. In Micheles Umkreis sind Leute mit viel Macht, die nicht wollen, dass sie ihre Tochter findet. Wenn Sie ihr helfen, werden diese Leute stinksauer sein.« Pope lachte. »Wer sollte das denn sein?« »Leute von draußen. Und ich spreche nicht etwa von kleinen Unannehmlichkeiten, Pope. Diese Leute fliegen in Privatflugzeugen herum und haben dicke Konten. Sie sind mächtig, und sie haben bereits sieben Menschen getötet.« Ich merkte, dass Pope jetzt gespannt aufhorchte. »Vielleicht geht der Preis dann hoch.« »Verdammt, Pope, seien Sie kein Narr. So was kann nur beschissen enden.« Pope lachte wieder, allerdings nicht ganz mit der gewohnten Großspurigkeit. »Sollen sie doch mal hierher kommen und ausprobieren, wie es sich in meiner Welt lebt«, sagte er. Mit seiner dickschädeligen Ignoranz stellte Pope meine Geduld auf eine harte Probe. »Derek Stephens ist Ihre Welt scheißegal«, sagte ich schließlich leise. Pope zuckte die Achseln. »Derek Stephens ist so ziemlich der einzige Weiße, den ich kenne, dem meine Leute nicht scheißegal sind.« Ich schwieg verblüfft. »Sie kennen Stephens? Derek Stephens? Einen der Topleute von Horizn Pharmaceuticals?« 326
Pope nickte. »Na klar.« »Wollen Sie behaupten, dass Derek Stephens persönlich hier im McDaniel Glen war?« »Nein. Ich treffe mich draußen mit ihm, wegen der Nadeln.« »Wovon reden Sie?« »Von dem Programm. Ich gebe ihm die Nadeln.« »Das Austauschprogramm? Wollen Sie mir weismachen, dass er die gebrauchten Nadeln persönlich abholt?« »Ja, das is ’n Mann nach meinem Herzen. Rabbit sammelt die Nadeln von den Leuten ein, samt Namen und Adressen. Stephens hat ihm gezeigt, wie man das richtig ordentlich macht. Der User bringt die Nadel und muss die Kappe darüberschieben, ehe er sie abgibt. Man will ja nicht mit der Scheiße in Berührung kommen. Dann schreibt man auf, wer die Nadel abgegeben hat, mit Adresse und allem Pipapo.« Ich starrte ihn an. »Es wird registriert, welche Nadel von wem stammt?« »Sage ich doch die ganze Zeit, weißer Mann. Reden Sie also keinen Scheiß über Derek Stephens, denn das is ’n Mann nach meinem Herzen.« Eines war bei allen politischen Diskussionen über das Nadelaustauschprogramm immer wieder beteuert worden: dass absolute Anonymität garantiert sei. Und jetzt erfuhr ich das genaue Gegenteil, und nicht nur das, sondern auch noch, dass Derek Stephens die gebrauchten Nadeln persönlich abholte. Irgendetwas war da faul, aber was? Dazu konnte mir nur einer etwas sagen: Thomas Robinson. Ich war schon auf dem Weg zu meinem Wagen. »Ich muss weg«, sagte ich. »Kommen Sie nie wieder«, sagte Pope, und es war ihm anzuhören, dass er es auch genauso meinte. Bis zu mir nach Hause war es eine halbe Stunde Fahrt, und so kam ich kurz vor drei dort an. Ich stöberte in meiner Aktentasche und fand die Liste mit den Teilnehmern am Lipitran-Versuch. Dann holte ich einen Stadtplan, breitete ihn 327
auf meinem Esstisch aus und strich ihn glatt. Ich nahm mir den ersten Namen vor: Chantelle Weiss, 4329 Avenue D. Avenue D, die war mir bekannt. Ich suchte die Straße auf der Karte und markierte sie mit einem kleinen schwarzen Kreuz. Sie lag mitten im McDaniel Glen. Jonathan Mills, 225 Trenton Street. Auch diese Straße fand ich, sie war nur ein paar Ecken von der Avenue D entfernt. Najeh Richardson. Nicht im Glen, aber in der unmittelbaren Nachbarschaft. Ebenso die anderen. Jede Person, die an Robinsons Experiment teilgenommen hatte, hatte entweder direkt im Glen oder an der Grenze zum Glen gewohnt. Gut, Sie haben also im Glen gewohnt, und sie waren drogenabhängig. In diesem Fall besteht eine gute Chance, dass sie auch beim Nadelaustauschprogramm mitgemacht haben. Wenn ja, ist das die Verbindung zu Horizn. Aber was zum Teufel heißt das? Plötzlich gingen bei mir alle Lichter an, es war wie Weihnachten. Er hat diese Menschen mit den Nadeln umgebracht. Er hat irgendetwas in die Schutzkappen getan, und als sie sich den nächsten Schuss verpasst haben, brachten sie sich damit um. So muss es gewesen sein. Ich rief nicht einmal mehr bei Robinson an. Ich werde in den verdammten Park gehen und Robinson aus seiner Erstarrung aufrütteln. Ich legte das Blatt in meine Schreibtischschublade, ging nach unten und setzte mich ins Auto. Es dauerte wieder vierzig Minuten, bis ich am Park ankam, wo ich Robinson das erste Mal getroffen hatte. Er saß regungslos auf seiner Parkbank. Ich parkte und trottete über die Straße. Er hörte mich kommen und drehte sich in Richtung des Geräusches. Als er mich erkannte, blickte er weg. Ich hielt mich gar nicht erst mit Höflichkeiten auf. »Wo zum Teufel waren Sie?«, fragte ich gereizt. »Ich habe bestimmt zwanzigmal bei Ihnen angerufen.« Robinson sah aus, als hätte er lange nicht geschlafen. Er schaute mich ausdruckslos an und sagte: »Blablabla.« »Na toll. Sie sind wieder in Ihre Depression zurückgefallen.« 328
»Ja. Und wissen Sie auch, warum?« »Ich glaube nicht.« »Weil wir dieses Schwein nicht kriegen werden, darum. Weil er–« Robinson machte eine Pause und spuckte aus –, »weil er besser ist als ich. Verflucht nochmal, er ist einfach besser.« »Ich weiß, wie Ralston und Stephens Ihre Patienten umgebracht haben.« Robinson starrte mich entgeistert an. »Was sagen Sie da?« »Sie haben das Nadelaustauschprogramm dazu benutzt, sie zu vergiften.« Robinson schüttelte zweifelnd den Kopf. »Das wäre ja ein ganz übler Trick.« »Hören Sie mal zu. Es sieht ganz so aus, als hätten all Ihre Versuchsteilnehmer an Horizns Austauschprogramm teilgenommen. Und wenn das zutrifft, haben sie ihre sauberen Nadeln alle von Ralston bekommen. Sie kamen also, um sich saubere Nadeln zu holen, und mit denen hat er sie irgendwie vergiftet.« Robinsons reagierte ganz anders, als ich erwartet hatte. Er wirkte plötzlich nur noch gelangweilt. »So? Das ist also Ihre Theorie?« »Ja. Aber es geht noch weiter. Stephens –« »Behalten Sie’s für sich.« »Ich soll’s für mich behalten? Ich sage Ihnen doch, dass es so gewesen sein muss!« Robinson sah verärgert zu mir hoch. »Sie vergessen nur, dass es unmöglich ist.« »Wieso?« »Das war ein von der Bundesbehörde genehmigter Versuch, Jack. Unseren Patienten war es nicht gestattet, sich während der Dauer des Versuchs intravenös Drogen zuzuführen. Himmel, sie würden sich ja nur von neuem infizieren! Denken Sie mal richtig nach.« »Aber da es sich um Süchtige gehandelt hat, haben sie 329
vielleicht –« »Nein, Jack. Wir sagen nicht Abrakadabra und glauben dann, sie würden sich an unsere Auflagen halten, sondern wir machen Nägel mit Köpfen. An dem Tag, an dem sie per Unterschrift einwilligen, werden sie auf orales Methadon gesetzt. Das heißt, von dem Tag an bekommen sie nur Spritzen von uns, mit denen wir das Lipitran injizieren. Kapiert, Einstein? Keine Nadeln von Horizn. Sie mögen ja an Ralstons herzergreifendem Programm teilgenommen haben, bevor sie unterzeichnet haben, aber danach ist Ende. Ein Einzelner hätte vielleicht noch ein Schlupfloch finden können, aber auf keinen Fall alle. Das ist unmöglich.« Da stand ich nun und sah zu, wie meine Theorie in sich zusammenfiel. »Verdammt! Ich war davon überzeugt, dass ich sie hätte.« »Ja, ja, am besten gewöhnen Sie sich an Enttäuschungen. Ich hab’s Ihnen ja gesagt. Wenn Ralston den Lipitran-Test zunichte gemacht hat, dann auf einer Ebene, die ihn unerreichbar macht.« »Ich erinnere mich.« »Dann kommen Sie mir auch nicht mehr mit dummen Geschichten von Leuten, die mit Nadeln vergiftet wurden. Hier handelt es sich um Forschung von Weltrang. Wenn wir überhaupt richtig vermuten.« »Aber …« Robinson stand auf und sah mich misstrauisch an. »Wie sind Sie eigentlich auf diese verrückte Idee gekommen?« »Ich habe Ralston besucht.« Robinsons Miene verdüsterte sich. »Sie waren bei ihm?« »Ja. Und dann bin ich zum McDaniel Glen gefahren. Dort habe ich erfahren, dass Derek Stephens die gebrauchten Nadeln persönlich abholt. Stephens, nicht irgendein Handlanger. Der Vizechef des Unternehmens.« Als der Name Stephens fiel, horchte Robinson auf. »Und das ist noch nicht alles«, fuhr ich fort. »Über die gebrauchten 330
Nadeln wird Buch geführt mit Namen, Adressen und so weiter. Bei dem Programm wird also die Anonymität beileibe nicht gewahrt. Vielmehr bekommt jeder seine Nadel.« Robinson hörte mir jetzt vollkommen konzentriert und mit starrem Blick zu. Dann begann er auf und ab zu gehen und hielt Selbstgespräche, indem er mit zusammengebissenen Zähnen unverständliche Worte murmelte. Nachdem einige Minuten verstrichen waren, hätte ich ihn beinah am Kragen gepackt und gezwungen, mir endlich zu sagen, was er dachte. Aber er blieb plötzlich stehen, sah mich an und flüsterte: »O Gott.« »Was ist?« »Wie konnte jemand so etwas auch nur denken? Was muss in einem solchen Hirn vorgehen?« »Was ist, verdammt nochmal!« »Er hat das Nadelaustauschprogramm dazu benutzt, meine Patienten umzubringen.« Ich hätte ihm fast eine runtergehauen vor Frust. »Das sage ich Ihnen doch die ganze Zeit!« »Nein, Jack. Vergiftet worden ist niemand. Es war mir gleich klar, dass das nicht möglich war. Himmel nochmal, es wären Spuren davon an den Einstichlöchern gefunden worden. Es ist unendlich viel raffinierter als das.« »Dann erklären Sie’s mir endlich.« Robinson stand still, das Gesicht aschfarben. Nach kurzer Pause sagte er: »Nun hören Sie sich einmal an, wie ein Psychopath denkt.« Er begann wieder vor mir hin und her zu gehen, als halte er mir eine Vorlesung. »Der menschliche Körper hat eigene Wege, mit toxischen Stoffen umzugehen. Den Komplex der so genannten Zytochrome-P-450-Enzyme. Schon mal davon gehört?« »Nein.« Robinson starrte mich an. »So, aha. Aber haben Sie sich schon einmal gefragt, was geschieht, wenn Sie ein Aspirin nehmen?« »Meine Kopfschmerzen gehen weg.« 331
»Nein, ich meine, was mit dem Aspirin passiert. Es ist vier Stunden später aus Ihrem Körper verschwunden. Wohin?« »Es wird irgendwie absorbiert worden sein.« »Es wird vom Komplex der Zytochrome-P-450-Enzyme verstoffwechselt.« »Aspirin ist ein Gift?« »Was geschieht, wenn Sie eine ganze Flasche davon trinken?« »Wahrscheinlich geht es mir dann dreckig.« »Also ist es toxisch.« »Kapiert.« »Gut. Ein Giftstoff gelangt also in den Körper, und das P-450System analysiert seine chemische Struktur. Daraufhin aktiviert es ein paar Gene – zwei oder drei von den dreißigtausend und mehr – und weist den Körper an, die richtigen Enzyme zu produzieren, um den eingedrungenen Stoff umzuwandeln. Sehr beeindruckend, wenn man bedenkt, dass Sie nichts davon merken. Sie sitzen auf ihrem Hintern und futtern Tacochips.« »Gut und schön, aber was hat das damit zu tun, wie Ralston Ihre Patienten umgebracht hat?« Robinson warf mir einen gequälten Blick zu. »Ist Ihnen Contergan ein Begriff?« »Ja«, sagte ich langsam. »All die Missbildungen an Babys.« Robinson nickte. »Dabei ist das P-450-System auf etwas völlig Neues gestoßen und hat aufgegeben. Sehen Sie, dieses Abwehrsystem hat sich im Lauf der Jahrtausende immer weiter entwickelt und den natürlichen Gegebenheiten angepasst. Aber wir erfinden alles Mögliche, was es nie zuvor gegeben hat, und fügen es in den Körper ein. Die ganze Abwehrstrategie ist für die Katz, wenn synthetische Stoffe im Spiel sind.« »Aha.« »Die Rechtsanwälte haben dem Hersteller damals die Hölle heiß gemacht, dabei war die Katastrophe im Grunde gar nicht vorauszusehen. Es sind Versuche durchgeführt worden, klar. Und bei 99 Prozent der Leute ging es gut. Es gab nur ein 332
Problem. Wenn zufällig eine Schwangere darunter war, hatte deren Kind bei seiner Geburt keine Arme.« Er verstummte und sah mich finster an. »Jack, was glauben Sie eigentlich, was ein klinischer Versuch ist? Wir verabreichen Kranken das zu testende Mittel. Das ist der Versuch.« Robinsons ungeschminktes Eingeständnis hing in der Luft. »Ich bin immer davon ausgegangen, dass das, was wir tun, kalkulierbar ist.« »Nun ja, das ist ja auch wichtig, denn ohne dieses Denken würde sich nie jemand finden, an dem etwas ausprobiert werden könnte.« »Aber was hat Ralston damit zu tun?« »Es ist nicht nur das Contergan, Jack. Bei jedem Arzneimittel gibt es eine sehr kleine Zahl von Menschen, die es nicht verstoffwechseln können. Vielleicht ein Prozent oder noch weniger. Die Zahl steigt entsprechend der Wirksamkeit des Mittels an. Lipitran ist eine echte Bombe. Aus diesem Grunde ist voraussehbar, dass ein kleiner Prozentsatz von Menschen die zu seiner Umwandlung benötigten Enzyme nicht besitzt. Wenn diese Leute damit behandelt werden, geht es böse aus.« »Und was heißt das in unserem Fall?« Robinson wandte sich von mir ab, offensichtlich mit etwas konfrontiert, woran er lieber nicht gerührt hätte. Er stand reglos da und starrte in den Park. »Wenn nun jemand diese Leute schon im Voraus herausgefunden hätte?«, sagte er leise. »Wenn jemand genügend gentechnische Kenntnisse besessen hätte, um vorab festzustellen, wen eine Droge umbringen würde, und dafür gesorgt hätte, dass die betreffende Person auf jeden Fall an einem entsprechenden Versuch teilnimmt?« »Ist denn so etwas möglich?« Robinson drehte sich wieder zu mir um. Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen. »Ralston könnte es. Er hätte dazu zweierlei gebraucht, und mir ist gerade klar geworden, dass er über beides verfügte.« 333
»Und das wäre?« »Als Erstes brauchte er Lipitran. Dank Townsends HackerZugriff auf die Grayton-Labore verfügte Ralston über alle Informationen, die es ihm ermöglichten, eine kleine Menge davon herzustellen.« »Und das Zweite?« »Er musste die DNS Hunderter von Süchtigen kennen. Vielleicht sogar Tausender.« »Das Nadelaustauschprogramm.« »Ja. Dieses heldenhafte ›Ich tue was für meine Leute‹Programm.« Robinson drängte mit Mühe die Übelkeit zurück, die ihn überkam. »Er hat diesen Menschen gar nicht geholfen. Sie waren nur Kanonenfutter für ihn.« »Erzählen Sie mir, was er gemacht hat.« »Wie bei fast allen Dingen ist es relativ einfach, wenn man einmal weiß, wie es geht. Ralston stellt eine kleine Menge Lipitran her und gibt einem Süchtigen eine Dosis davon. Er braucht nur einen, und der Typ weiß nicht einmal, dass er es bekommt. Das P-450-System des Opfers beginnt die Enzyme bereitzustellen, die bei normalen Menschen die Umwandlung des Stoffs bewirken. Ein paar Tage später kommt der Süchtige wieder zum Nadelaustausch. Er gibt Stephens die gebrauchte Nadel zurück. Ralston spült sie mit einer Kochsalzlösung durch, und in den Blutspuren, die in der Nadel zurückgeblieben sind, schwimmt die genaue Enzymreaktion des betreffenden Menschen auf Lipitran. Alles Weitere geschieht durch bloßes Screening.« »Er benutzt die eingetauschten Nadeln.« Robinson nickte. »An jeder Nadel haftet die DNS des Drogenabhängigen, der sie verwendet hat. Und in dieser DNS ist alles enthalten, was Ralston wissen muss. Er macht sie sichtbar, schaut sich die proteomischen Daten, die Entsprechungen der Proteine und Genome, an und findet früher oder später die kleine Anzahl von Leuten, denen das fragliche Enzym fehlt.« 334
»Das würde aber viel Zeit in Anspruch nehmen, oder?« »Ja. Wie lange läuft das Nadelaustauschprogramm denn schon?« »Ein paar Jahre, glaube ich.« Robinson lachte grimmig. »Etwa genauso lange wie unser Lipitran-Programm.« Er schloss die Augen. »Sobald er diese armen Teufel isoliert hat, weiß er, dass sie unweigerlich vor die Hunde gehen, wenn sie mit Lipitran behandelt werden.« »Er hat mir gesagt, er habe diese Leute nicht umgebracht. Sie seien an Lipitran gestorben.« »Da hatte er Recht«, sagte Robinson und schüttelte den Kopf. »Er hat sie nicht angerührt, und er hat auch nicht an der Zusammensetzung des Mittels herumgepfuscht. Wir hätten die Betroffenen durch bewaffnete Leibwächter schützen lassen können, und sie wären trotzdem gestorben.« »Aber wie hat er sie dazu gebracht, an dem Versuch teilzunehmen?« Robinson zuckte die Achseln. »Es waren ja Drogenabhängige, und Ralston spendierte ihnen saubere Nadeln. Er hätte ihnen sogar pharmazeutisches Heroin nach dem Versuch in Aussicht stellen können, das für einen Fixer Goldwert hat.« Da stand ich neben Robinson in der Stille des Parks und sann darüber nach, warum es bei aller Begabung und allem Talent so oft an Tugend fehlt. »Jetzt haben wir ihn aber, oder nicht?«, sagte ich. »Nach allem, was Sie eben gesagt haben, sitzt er in der Falle. Er verliert.« Robinson spuckte ins Gras. »Er gewinnt.« Ich starrte ihn an, inzwischen vollkommen bedient von diesen Wechselbädern. »Wie bitte?« »Er gewinnt. Alles reine Theorie. Ich kann nichts davon beweisen.« »Warum nicht?« »Weil niemand mehr am Leben ist. Ich würde nur einen Einzigen brauchen. Der Überlebende würde per Definition die 335
Enzyme besitzen, die den anderen fehlten. Dann könnte man ihn mit den anderen vergleichen und nachweisen, dass der Versuch manipuliert worden ist. Aber da alle Versuchsteilnehmer tot sind, geht das nicht mehr.« »Lacayo!«, rief ich. »›Nicht richtig tot‹, haben Sie gesagt. Er lebt also noch.« Robinson lachte heiser. »Er ist vor zwei Tagen gestorben«, sagte er. »Geplatzt, wie die anderen.« »Gott, das ist doch nicht zu glauben. Wie haben Sie es erfahren?« Robinson senkte den Blick. »Ich bin hingefahren«, flüsterte er. »Ich habe Lacayo besuchen wollen. Seine Mutter hat mich erwischt. Sie hat mich geschlagen.« Darum habe ich dich nicht angetroffen. Du warst dort und hast dein Leid noch um den Tod deines letzten Patienten vermehrt. Ein heißer, scharfer Wind peitschte durch den Park. Robinson blickte über die leeren, ausgedehnten Rasenflächen, das Gesicht von seinen Niederlagen gezeichnet. »Er ist besser als ich«, sagte er, »viel besser.« »Sie könnten noch einmal jemanden mit Lipitran behandeln«, sagte ich vorsichtig. »Der es überlebt.« Robinson sah mich an. »Wollen Sie wissen, wie Genialität definiert werden kann? Ralston steht jetzt unter dem Schutz des Gesetzes. Nachdem die FDA-Behörde ihre Genehmigung zurückgezogen hat, darf ich niemanden mehr mit Lipitran behandeln, ohne mich schuldig zu machen. Es wäre grobe Fahrlässigkeit. Unverantwortliches Gefährden von Menschenleben, vielleicht auch versuchter Mord.« Er schnitt ein Gesicht. »Wessen Leben dürfte ich denn aufs Spiel setzen, wenn es nach Ihnen ginge? Alles reine Theorie, Jack. Wollen Sie wirklich vor Gericht bekennen müssen, dass Sie jemandem Lipitran injiziert haben, nachdem acht Menschen auf schreckliche Weise daran gestorben sind?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« 336
»Selbst wenn der Betreffende am Leben bliebe, bekäme ich lebenslänglich.« Robinson blickte zum Himmel auf. »Haben Sie’s noch nicht begriffen? Es ist das perfekte Verbrechen. Es ist beispiellos. Er hat acht Leute einfach durch Kenntnis ihrer Körperreaktionen umgebracht. Und dabei wird er als Wohltäter verehrt. Und um das Maß voll zu machen, wird jetzt auch noch durch das Bundesgesetz verhindert, dass es je herauskommt.« Wir standen schweigend nebeneinander, und es erfüllte uns sowohl eine gewisse Ehrfurcht vor Ralstons Genialität als auch tiefster Abscheu über seine Niedertracht. Nach einiger Zeit sagte Robinson: »Wie sind Sie eigentlich auf die lächerliche Idee mit den Giftspritzen gekommen?« »Ach, tut mir Leid. Ich dachte ja nur, damit hätten wir sie.« »Na ja, das war wohl nichts.« »Die ganze Sache fing so an: Ich habe herausgefunden, dass Ralston gar nicht wusste, dass Doug mit Lipitran behandelt wurde.« Einen Augenblick herrschte Stille, dann wandte Robinson langsam den Kopf zu mir. »Sagen Sie das bitte noch einmal.« »Ralston. Er wusste nicht, dass Doug an Ihrem Versuch teilgenommen hat. Ich habe es ihm gesagt, als ich bei ihm war.« »Und wie hat er reagiert?« »Es hat ihn vollkommen aus der Fassung gebracht. Er war total daneben.« »Daneben?« »Ja.« Jetzt wurde Robinson lebendig. Er packte mich am Kragen und sagte: »Hören Sie jetzt gut zu, Jack. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Sie müssen mir sofort die Leiche von Doug Townsend beschaffen.« »Seine Leiche? Das ist verdammt viel verlangt!« »Wenn Ralston nicht wusste, dass Townsend an dem Versuch teilgenommen hat, gibt es auch kein Screening von ihm. Er muss sich zu dem Test angemeldet haben, ohne dass Ralston 337
davon wusste.« »Und das heißt?« »Das heißt, dass er ihn überlebt hat.« »Er ist tot, Herr Doktor.« »Ja, aber durch Fentanyl, Jack. Nicht durch Lipitran. Verstehen Sie? Alles, was wir brauchen, um Ralston zu überführen, befindet sich zurzeit in Doug Townsends Leiche.« »Moment mal. Wenn Doug Versuchsteilnehmer war, müssten Sie doch schon eine Blutprobe von ihm haben.« »Selbstverständlich haben wir eine. Aber sie wurde vor seiner Behandlung mit Lipitran entnommen. Dann kam er plötzlich nicht mehr wieder.« »Er ist ermordet worden, weil er genesen wäre.« »Genau. Und Sie wissen bestimmt auch, wo seine Leiche jetzt ist.« »Sie liegt auf Eis, in der Pathologie der Gerichtsmedizin.« »Aha. Noch eines, Jack. Wenn ich kombinieren konnte, was geschehen ist, hat Ralston es mit Sicherheit auch begriffen. Genau in der Sekunde, als Sie ihm erzählt haben, dass Doug mit Lipitran behandelt worden ist.« »Warum hat er mich dann nicht ins Jenseits befördert, als er Gelegenheit dazu hatte?« »Wie?« Mir wurde plötzlich klar, dass ich in meiner Eile vergessen hatte, ihm von Ralstons Schlägern zu erzählen. »Ralston hat einen kleinen Umweg für mich arrangiert, als ich von Horizn abfuhr. Ich bin gefesselt in eine Kammer geworfen worden.« Robinson sah mich erstaunt an. »Und wie sind Sie da rausgekommen?« »Durch reine Willenskraft. Jedenfalls haben sie ziemlich schlechte Arbeit geleistet, falls sie mich wirklich umbringen wollten.« »Den Fehler würden sie aber bestimmt nicht noch einmal 338
machen.« »Wie steht’s denn mit Ihnen?«, fragte ich. »Sie müssen schleunigst untertauchen.« »Ich werde im Grayton-Büro bleiben, bis Sie mich rufen. Die Firma ist wie eine Festung gebaut.« »Gut. Ich werde mich in ein paar Stunden wieder bei Ihnen melden.« »Bleiben Sie gesund, Jack. Ein Hirn, das den Tod dieser armen Menschen ausgebrütet hat, ist zu allem fähig.« Um Robinsons dringender Bitte nach Dougs Leiche nachzukommen, konnte ich nicht einfach bei Billy Little anrufen; eine so große Bitte musste ich persönlich vortragen. Ich sah auf die Uhr; es war zehn vor fünf. Billy machte nie vor sechs Feierabend, ich konnte ihn also noch antreffen. Als ich in sein Büro marschiert kam, blickte er mich verwundert an. »Da sind Sie ja! Sie waren wie vom Erdboden verschluckt.« »Tut mir Leid, Billy. Blu hat mir gesagt, dass Sie angerufen haben.« Ich schob ihm ein Blatt Papier über den Schreibtisch. Er starrte es an. »Grayton Technical Laboratories? Was ist das?« »Das ist die Firma, die Doug ausspioniert hat. Ich hatte Ihnen davon erzählt.« Billy nickte. »Ja, stimmt.« »Sie wollen Dougs Leiche haben. Um genau zu sein: nicht die Firma, sondern der Forschungsleiter, Dr. Thomas Robinson.« »Tatsache?« »Robinson hat einen klinischen Versuch durchgeführt, an dem auch Doug teilgenommen hat. Er glaubt, durch eine Untersuchung von Dougs Leiche etwas über den Test erfahren zu können.« »Was für ein Versuch war es denn?« »Hepatitis C.« Billy fixierte mich einen Augenblick lang, dann sagte er: 339
»Wissen Sie, was ich mich gerade frage?« »Wieso Sie nicht wissen, dass Doug Hepatitis C hatte? Das wusste keiner von uns.« »Nein. Ich frage mich, warum Doug Townsend derzeit die beliebteste Leiche der Stadt ist.« »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, dass Sie zu spät kommen. Die GraytonLabore. Thomas Robinson, wer auch immer.« »Zu spät?« »Zu spät, denn wir haben die Leiche nicht mehr. Sie ist gestern freigegeben worden.« Billy stand auf und ging zu seinem Aktenschrank. Er öffnete ihn, zog ein Schriftstück aus einem Ordner und reichte es mir. »An Lucy Buckner in Phoenix, Arizona.« Ich starrte das Blatt an. »Dougs Cousine? Sie hat nicht mal auf meine Anrufe reagiert.« »Nun, immerhin hat sie Ron Evans’ Anrufe erwidert.« »Wer ist Ron Evans?« »Der Typ, der mit einer notariell beglaubigten Vollmacht von ihr Doug Townsends Leiche in Besitz genommen hat.« Er sah mich mitfühlend an. »Ich konnte die Sache nicht an den zuständigen Staatsanwalt weiterleiten, Jack. Es war nichts weiterzuleiten. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ist vor ein paar Tagen abgeschlossen worden, und im Bericht wird Selbstmord bestätigt. Dann ist dieser Evans aufgetaucht, um die Leiche einzufordern, und dagegen gab es keine gesetzliche Handhabe.« Ich starrte Billy einen Augenblick fassungslos an. Sauber. Keine Leiche, kein Beweis. Darum haben sie mich nicht umgelegt. Sie mussten mich nur eine Zeit lang aus dem Verkehr ziehen. So lange, bis sie Dougs Leiche hatten, und das war’s dann. »Wir gehen mal einen Schritt zurück, Jack«, sagte Billy. »Warum erzählen Sie mir nicht endlich, was hier wirklich vorgeht? Diese Townsend-Geschichte. Was steckt eigentlich 340
dahinter?« Ich war müde, so müde wie lange nicht mehr. »Schon gut, Billy. Jetzt ist eh nichts mehr zu machen, weder für Sie noch für jemanden sonst.« »Spielen Sie nicht den Helden, Jack. Wenn Ihnen etwas über den Kopf wächst, will ich Ihnen gerne helfen.« Ich schloss die Augen. »Nicht mehr nötig. Es ist aus und vorbei.« Jetzt fehlte nur noch ein Teilchen am Puzzle, und danach suchte ich später am Abend lustlos, nur um die Sache abzuschließen. Ich kramte die Telefonnummer von Dougs Cousine vor und rief die Frau an. Eine weibliche Stimme mit Südstaatenakzent meldete sich. »Ja?« Ich musste mich zum Sprechen zwingen. »Jack Hammond hier. Ich war Dougs Anwalt. Ich hatte Ihnen nach seinem Tod ein paar Nachrichten auf Band gesprochen.« Sie klang irritiert. »Ich habe Mr. Evans bereits gesagt, dass die mit seiner Leiche machen können, was sie wollen. Zu Forschungszwecken oder was auch immer.« »Was war das für ein Mann?« »Ich habe das alles schon einmal durchgekaut. Wenn Dougs Tod irgendwie nützlich sei für Wissenschaft und Forschung, bitte, dann könnten sie seine Leiche haben. Für dreitausend Dollar, wie besprochen.« Dreitausend Dollar. Ein Taschengeld. »Jemand hat Ihnen dreitausend Dollar für Dougs Leiche geboten?« »Hören Sie, falls Doug noch tiefer in Schwierigkeiten gesteckt hat, dann weiß ich nichts davon. Ich habe dem Jungen hundertmal gesagt, er soll die Finger von den verdammten Drogen lassen.« »Ich werfe Ihnen absolut nichts vor, Miss Buckner. Ich brauche nur ein paar Informationen über den Mann, der für Dougs Leiche bezahlt hat.« 341
»Habe ich Ihnen doch schon erzählt. Er hat gesagt, Universitätskliniken würden gern dafür bezahlen, seinen Körper wissenschaftlich untersuchen zu dürfen.« »Hat er gesagt, welche Uniklinik?« »Nein. Er hat nur gesagt, dass ich das Geld bekommen würde, sobald ich das Schriftstück unterschrieben zurückgefaxt hätte. Ich sagte, dass es mir recht wäre, allerdings würde ich das Fax erst nach Erhalt des Geldes abschicken.« »Haben Sie es schon bekommen?« »Per Zahlungsanweisung, dreitausend Dollar. Bin zur Western Union gegangen und habe es abgeholt. Von dort habe ich auch das Fax losgeschickt. Ich habe kein Faxgerät.« »Haben Sie die Faxnummer noch, Miss Buckner?« »Ja. Liegt hier vor mir. Sie lautet 404.555.1610.« Ich schrieb die Nummer auf. »Hat er Ihnen noch eine andere Möglichkeit eröffnet, Kontakt zu ihm aufzunehmen?« »Nein. Aber es wundert mich nicht, dass es wieder Probleme gibt. Der Junge hat nur Schwierigkeiten gemacht, von Anfang an.« Ich schaltete das Handy aus, ohne mich zu verabschieden, und wählte die Faxnummer. Die Ansage eines Kinos in Cobb County. Perfekt, wie immer. Da wird mal kurz eine fremde Nummer übernommen. Und die Inhaber merken es nicht einmal, dass sie ausgenutzt werden. Ich klappte das Handy zu und fiel völlig ermattet in meinen Sessel zurück. Jetzt ist es wirklich aus und vorbei. Ich schloss die Augen. So nah dran, dass ich es schon schmecken konnte. Es war mir nicht gelungen, Doug Townsend und sieben weiteren Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nur weil ich – wie viel? – ein paar Stunden zu spät gekommen war. Acht Menschen waren auf unsichtbare, unnachweisliche Art umgebracht worden. Und die Welt dreht sich einfach weiter, dachte ich. Ralston und Stephens würden ihre Milliarde einstreichen. Die Ghettos 342
hatten wieder ein paar Seelen verloren, was in der Großstadt Atlanta, die sich ohnehin wenig um sie gekümmert hatte, nicht einmal vergessen zu werden brauchte. Irgendwann mitten in der Nacht schreckte ich alarmiert aus dem Schlaf auf und war hellwach. Ich starrte zur Decke empor und überlegte, ob ich vielleicht den Verstand verloren hatte. Hatte ich aber nicht. Es gab einen Fehler, und er hatte nichts mit Zellen, Genen, Forschung und anderen unergründlichen Dingen zu tun, die ich kaum verstand. Er war wunderbar menschlich, und die Tatsache, dass ich noch am Leben war, bedeutete, dass Ralston und Stephens ihn noch nicht entdeckt hatten. Wenn es lange genug so blieb, hatte ich die Kerle.
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25 Am nächsten Morgen um acht stieg ich in meinen Buick. Er war etwas ramponiert nach der Verfolgungsjagd; die Spur hatte gelitten, und auch das Getriebe – Gott weiß, wann das Öl zum letzten Mal gewechselt wurde – zeigte Ermüdungserscheinungen. Aber es hielt, und so stand ich eine Stunde später vor dem städtischen Leichenschauhaus. Es war Samstag, aber da das Verbrechen niemals ruht, tut es auch diese Einrichtung nicht. Das Leichenschauhaus ist praktischerweise an das pathologische Labor der Polizei angeschlossen, mit dem es sich den Eingang teilt. Gerichtsmedizinische Labors mag ich nicht. Sie gleichen Krankenhäusern, und die Pathologie der Polizei von Atlanta hat für meinen Geschmack reichlich Ähnlichkeit damit. Sie ist makellos sauber, riecht streng nach Chemikalien und wird von einem grellen, abweisenden Licht erhellt. Was an ihr anders ist als an Krankenhäusern, erinnert an ein Gefängnis: Sie starrt nur so vor elektronischer Sicherheitstechnik. Sie liegt im Süden Atlantas in einem Industriegebiet, weit entfernt vom Polizeipräsidium. Kein Schild gibt Auskunft über das Gebäude, und da die Auffahrtrampe auf der Rückseite ist, bezweifle ich, dass die anderen Nutzer dieses Industriegebietes seinen Zweck überhaupt kennen. Er wird mit gutem Grund geheim gehalten: erstens weil der Wert der absolut reinen Testmaterialien und Präzisionsgeräte im Innern immens hoch ist und zweitens weil hier ein Haufen sehr wichtiger Beweise aufbewahrt wird. Bei der Ankunft registrieren Kameras jede Bewegung. Bevor man weitergeht, muss man sich erst am Empfang einen befristeten Ausweis ausstellen lassen, den man immer bei sich haben muss. Ich wies mich durch meinen Führerschein aus, trug mich ein und sagte der Sekretärin, ich wolle zu Dr. Raimi Hrawani, der für 344
das Labor verantwortlichen Pathologin. Als Dougs Anwalt hatte ich ein Anrecht auf seine Akte. Ich schaute zu den Kameras hoch und hatte das starke Bedürfnis, ein Stoßgebet zum Himmel zu schicken. Nach einigen Minuten kam eine weiß bekittelte Frau durch die große Doppeltür, vor der ich auf einem Stuhl saß. Sie war Mitte dreißig, hatte eine olivfarbene Haut und die kurz geschnittenen braunen Haare hinter die Ohren geklemmt. Ich war ihr noch nie persönlich begegnet, hatte jedoch ihren Namen schon öfter unter Gutachten gelesen. Hrawani hatte einen fabelhaften Ruf und bereits zu diversen hochrangigen Mordfällen ihr Urteil abgegeben. »Guten Morgen, Mr. Hammond«, sagte sie mit indischem Akzent. »Wenn ich es recht verstanden habe, wollen Sie mit mir über Doug Townsend sprechen. Ich habe allerdings nicht viel Zeit. Wir hatten ein paar Unannehmlichkeiten im Süden Atlantas vergangene Nacht und sind deshalb vollkommen ausgebucht.« »Inspektor Little sagt, seine Leiche sei freigegeben worden.« »Das ist richtig. Alle Papiere waren korrekt ausgefüllt.« »Wann war das?« »Gestern Nachmittag gegen vier Uhr dreißig.« »Wurde eine Autopsie durchgeführt?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir waren in diesem Fall eigentlich nur Aufbewahrungsort.« »Dann gibt es wohl keine Blut- oder Gewebeproben?« »Am Todesort ist ein gerichtsmedizinischer Test durchgeführt worden, aber dabei wird die Probe verbraucht. Ich glaube, es wurde auch ein Foto gemacht.« »Kann ich das Foto sehen?« Sie reichte mir ein Plastikschildchen. »Bitte stecken Sie sich das an und folgen Sie mir.« »Zu den Toten?« »Ja.« Ich ging hinter Hrawani durch schwere Eisentüren in den Sicherheitstrakt des Kriminallabors der Polizei von Atlanta. Er 345
ist von einer extrem nüchternen Atmosphäre gekennzeichnet, denn dort wird nur gearbeitet, sonst nichts. Kein einziges Bild hängt an der Wand, das diesen Eindruck mildern könnte. Das Labor ist ein quadratischer Raum mit einer großen, offenen Arbeitsfläche in der Mitte, auf der vier Seziertische stehen. Die Tische sind aus gelochtem Edelstahl und glänzen in dem grellen OP-Licht fleckenlos sauber. Ringsum liegen in Reichweite mittelalterlich anmutende Geräte, darunter Sägen, Bohrer und Zangen. An diesen zentralen Arbeitsraum schließen sich seitlich Büros an. Ich folgte Hrawani in ihr Büro, einen quadratischen, spartanischen Raum mit eisernen bleigrauen Aktenschränken, einem Schreibtisch aus Metall und einem Polsterstuhl auf Rollen. Auf einem verblichenen Foto waren ein Mann und eine Frau Arm in Arm vor einem reich verzierten, farbenprächtigen Gebäude zu sehen. Hrawani bemerkte meinen Blick und sagte: »Meine Eltern, vor vierzig Jahren. Bevor ich geboren wurde.« »Wo ist denn das Bild aufgenommen worden?« »In Pakistan. Islamabad. Sie haben mir erzählt, dass es damals sehr schön war dort.« Sie bedeutete mir, Platz zu nehmen, und setzte sich ebenfalls. Dann nahm sie einen braunen Ordner aus dem Schrank. »So. Nehmen Sie Drogen, Mr. Hammond?« »Nein.« »Sollte Ihnen je danach zumute sein, rufen Sie mich an. Ich kann Ihnen diesbezüglich zu einigen erstaunlichen Einblicken verhelfen.« »Macht alles kaputt, wie?« »Wenn die Leute es von meiner Warte aus sehen könnten, würden sie nur noch Müsliriegel essen.« Sie lehnte sich zurück, griff unter ihren Schreibtisch, holte einen eisernen Papierkorb hervor und trat ihn mit dem Fuß zu mir herüber. Er war mit einer Plastiktüte ausgekleidet. »Nur für alle Fälle«, sagte sie. »Es wird schon gehen.« Sie zuckte die Achseln. »Es sind meist die Männer, die es 346
umhaut.« Sie griff in den Ordner, nahm zwei Fotos heraus und legte sie auf ihren Schreibtisch. Die nächsten Augenblicke verbrachte ich damit, aufsteigende Galle wieder herunterzuschlucken und mich an das nackte, unbarmherzige Bild eines harten, gnadenlosen Todes zu gewöhnen. Doug lag ohne Hemd auf einem Edelstahltisch, offensichtlich leblos. »Ihr Mandant war ziemlich ausgemergelt, aber das ist bei starkem Drogenkonsum weitgehend normal. Süchtige verlieren meist den Appetit und können ihr Gewicht nicht halten. Sehen Sie die eingesunkenen Wangen und die tiefen dunklen Ringe unter den Augen? Und da, die fleckigen Brandspuren an den Fingerspitzen. Obwohl Ihr Freund vorsichtiger war als viele andere.« Sie sah mich an. »Aber keine Einstichstellen, das heißt, er hat nicht gefixt.« »Doug hat mir oft erzählt, er habe einen Horror vor Spritzen.« Hrawani schob ein anderes Bild über den Tisch, eine Vergrößerung von Dougs linker Schulter. Ich starrte darauf und konnte es kaum glauben: Pikovaja Dama stand da in der gleichen Schrift wie bei Michele, nur war die Tätowierung nicht so elaboriert wie bei ihr. Der Schriftzug auf Micheles Schenkel stammte sicherlich von einem Künstler, so fein war er. Dougs Tätowierung war ziemlich grob ausführt und längst nicht so raffiniert. Aber eines war nicht zu bezweifeln: Er hatte eine Kopie ihrer Tätowierung auf seiner Haut. »Die Hepatitis kam also von der Tätowierung«, flüsterte ich. »Das ist ziemlich wahrscheinlich. Wissen Sie, was der Schriftzug bedeutet?«, fragte sie dann. »Es ist Russisch«, erwiderte ich. »Pik Dame.« Hrawani zog die Augenbrauen hoch. »Ihr Mandant hat seine Nadelphobie offenbar hierfür überwunden.« Ralstons Worte kamen mir in den Sinn: Für fünf Minuten mit meiner Frau hätte er sich mit Freuden die Hand abgehackt. »Er war stark motiviert.« Hrawani sammelte die Fotos wieder ein und legte sie in den 347
Ordner zurück. »Mit mehr kann ich nicht dienen«, sagte sie. »Leider nicht gerade viel.« »Dieser Ron Evans, der die Leiche abgeholt hat, haben Sie persönlich mit ihm gesprochen?« »Nein. Aber wir können Charlie danach fragen.« »Wer ist Charlie?« »Der Mann, der für die Leichen zuständig ist.« Ich nickte. »Danke, das würde mir weiterhelfen.« Ich ging hinter Hrawani her ins Labor. Sie rief einen großen, kräftigen Mann Ende dreißig. Er hatte so muskulöse Arme und Beine wie ein Gewichtheber. »Charlie, können Sie mal eben herkommen?« Der Mann blickte zu uns herüber, nickte und kam. Hrawani machte uns miteinander bekannt, und ich fragte ihn, ob irgendetwas ungewöhnlich gewesen sei an der Art und Weise, wie Dougs Leiche abgeholt wurde. Er schwieg und dachte nach. »Es war schon ein bisschen seltsam«, sagte er. »Ich hatte Profis erwartet, zum Beispiel die Angestellten eines Bestattungsunternehmens. Ich sehe hier nämlich immer die gleichen Leute von sechs, sieben Beerdigungsinstituten. Aber diesmal war es anders.« »War es ein Rettungs- oder ein Leichenwagen?« »Ein Leichenwagen, glaube ich. Da stand aber nichts drauf. Kein Firmenname.« »Hat der Mann den Empfang der Leiche bestätigt?« »Das müsste vorn am Empfang im Kontrollbuch verzeichnet sein.« Hrawani, Charlie und ich gingen zusammen zum Empfang. Während Charlie das Kontrollbuch heraussuchte, deutete ich auf einen Monitor, auf dem die Hinterseite des Gebäudes zu sehen war. »Läuft die Kamera immer?«, fragte ich. Charlie nickte. »Sieben mal vierundzwanzig Stunden. Innen und außen.« »Dann gibt es also ein Video von dem Mann, der die Leiche 348
abgeholt hat.« »Kein Video. Wir speichern inzwischen alles auf Festplatte. Aber klar, es müsste zu finden sein.« »Könnte ich es sehen?« Hrawani sah mich zweifelnd an. »Das ist unsicherer Boden, auf den wir jetzt geraten, Mr. Hammond.« »Was der Mann draußen vor dem Gebäude gemacht hat, ist öffentlich«, sagte ich. »Mehr will ich gar nicht.« Hrawani überlegte kurz, dann nickte sie ihrem Angestellten zu. Er zuckte die Achseln, fand den Eintrag im Buch und tippte ein paar Zahlen auf der Tastatur eines PCs. Auf dem Bildschirm war ein Lieferwagen vom Typ Ford Econoline an der Laderampe zu sehen. »Das ist er«, sagte er. »Können Sie mir Evans zeigen?« Charlie drückte auf eine Pfeiltaste und ließ das Bild Schritt für Schritt weiterlaufen. Nach mehrmaligem Drücken sah man Charlie und einen anderen Mann, wie sie gerade eine Leiche auf einer Rollbahre durch die Hintertür schoben. Der Mann sah aus wie Mitte fünfzig, war schmächtig und hatte eine beginnende Glatze. Als die Leiche in den Wagen gehoben werden musste, überließ er Charlie die Arbeit. Bis dahin war sein Gesicht nicht deutlich zu sehen. Aber kurz vor seiner Abfahrt gab er Charlie flüchtig die Hand. Das war der einzige Augenblick, in dem er voll in die Kamera schaute. »Können Sie das Bild festhalten?« »Sicher.« »Besteht die Möglichkeit, es auszudrucken?« Charlie wechselte einen Blick mit Hrawani, die erneut zögerte. »Mein Mandant interessiert die Polizei nicht mehr«, sagte ich leise. »Ich würde nur gern noch ein paar Sachen klären, ehe er mir ganz entgleitet.« Hrawani nickte Charlie zu, und der tippte wieder auf die Tastatur. Ein Laserdrucker, der neben dem Eingabegerät stand, fing an zu surren. Nach ein paar Minuten zog Charlie ein großes Porträtfoto des Mannes mit ziemlich hoher Auflösung heraus. 349
»Nicht perfekt, aber die Gesichtszüge sind doch ganz gut zu erkennen«, sagte er. »Besser geht es nicht.« Ich verstaute das Bild sorgfältig in meiner Jackentasche. »Danke, das ist prima.« Dann wandte ich mich an Hrawani. »Ich weiß Ihre Freundlichkeit sehr zu schätzen, danke. Ich melde mich wieder.« Ich gab mein Schildchen zurück, ging zum Auto und stieg ein. Ich fühlte nach dem Bild in meiner Tasche. Jetzt brauchte ich nur noch Nightmare. Diesmal rief ich gar nicht erst an. Ich fuhr direkt nach West End, wo Nightmare wohnte. Es war schon nach zehn, und der Stadtverkehr war endlich erträglich. West End ist ein Arbeiterviertel mit vielen Altbauten, in denen heruntergekommene Wohnungen mit niedrigen Zimmerdecken billig zu mieten sind. Ich parkte vor seinem Haus. Hinter seiner Eingangstür dröhnten die Bässe von lauter Rockmusik. Ich klopfte; nichts rührte sich. Ich klopfte lauter. Die Musik wurde leiser; durch die geschlossenen Blenden konnte ich schemenhaft eine Gestalt erkennen. »Hier ist Jack. Ich muss mit dir reden.« Nichts. »Ich bleibe hier, Michael. Komm raus aus deiner Höhle.« Ein Geräusch erklang, als würden Schlösser betätigt, dann ging die Tür einen Spaltbreit auf. Nightmare spähte heraus. »Ich würde Sie ja reinbitten, aber die Wohnung ist ein ziemliches Chaos.« Er stand in Boxershorts und T-Shirt vor mir. Er sah abgespannt aus, als hätte er schon seit Tagen nicht mehr geschlafen. »Alles in Ordnung? Du siehst nicht gerade blendend aus.« »Wenn Se nicht mit mir ausgehn wollen, is es doch egal.« »Stimmt«, sagte ich und drängte mich an ihm vorbei. »Es dauert nicht lange.« Ich ging hinein. Die Wohnung roch, als hätte Wäschewaschen schon mindestens einen Monat nicht mehr auf Nightmares Terminkalender gestanden. Es gab ein paar undefinierbare Einrichtungsgegenstände und ein kleines Stereogerät, die Billigsorte mit eingebauten Lautsprechern. 350
Daneben lagen handbeschriftete CDs verstreut herum. Nirgendwo ein Computer. »Wo ist denn deine Ausrüstung?«, fragte ich ihn. »Hinten durch«, sagte er. »Ich halte das Zeug von den Fenstern fern. Üble Gegend hier.« »Zieh dir ein Paar Hosen an, Michael.« »Gehn wir irgendwohin?« »Das auch, aber nicht deshalb. Mir ist einfach nicht danach, dich in Unterhosen zu betrachten.« Nightmare verschwand achselzuckend in seinem Schlafzimmer. Nach ein paar Minuten kam er in schmutzigen Bluejeans und einem zerknitterten TShirt wieder zum Vorschein. Ich starrte ihn an und versuchte darüber hinwegzukommen, dass es ausgerechnet von ihm abhing, acht Ermordeten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. »Also dann, Michael. Ich brauche noch einmal deine Hilfe.« Nightmare sah zu Boden und stopfte die Hände in die Hosentaschen. »He, Mann, ich hab mir die Sache überlegt. Wenn Se mich weiter so ankeilen, muss ich mal Knete sehen.« »Machst du Witze? Du willst Geld haben, ehe du einen Finger rührst?« »Nein, ich sage ja nur, dass ich so was wie eine selbständige Firma bin. Ich hab da keine Aktien drin, auf keiner Seite.« »Und was ist mit der Partnerschaft? À la Jackie Chan?« »Was ich gesagt hab, Mann.« »Was du gesagt hast.« Ich ging auf ihn zu – er schreckte zurück, wie immer – und packte ihn am Schlafittchen. »Weißt du, wie diese Leute gestorben sind, Michael?« Er schüttelte den Kopf. »Sie sind geplatzt. Innerlich. Sie haben aus allen Körperöffnungen gleichzeitig geblutet, und daran sind sie elend zugrunde gegangen. Sie sind voller Qualen krepiert. Deshalb machen wir beide jetzt einen Besuch bei den GraytonLaboratorien. Du wirst mir dabei helfen, den abscheulichen Mord an acht Menschen aufzuklären. Ich hatte fest damit gerechnet, dass du es tun würdest, weil du bei all deiner 351
lächerlichen Großspurigkeit einen guten Kern hast. Du wirst mitkommen, auch wenn du nicht willst, weil ich dir sonst jeden Knochen im Leib zu Brei schlage.« »Zum Grayton-Lab?« »Ja.« Er streifte meine Hände ab, und ich ließ ihn los. »Yeah, das ist cool, Mann«, sagte er. »Wie bitte? Ich sage Grayton, und auf einmal bist du Feuer und Flamme?« »He, ich hab gesagt, ich mach’s.« Wir hatten keine Zeit mehr, um uns zu streiten. Robinson wartete. »Na schön. Musst du irgendwas mitnehmen?« Er hängte sich die gleiche Schultertasche um, die er schon in meiner Kanzlei dabei gehabt hatte. »Gehn wir.« Im Vergleich zu dem High-Tech-Palast von Horizn war Grayton ein reiner leistungsorientierter Zweckbau. Das Labor befand sich in einem langen, dreistöckigen Backsteingebäude. Die ganze Anlage war offensichtlich Jahrzehnte alt, und äußerlich schien wenig modernisiert worden zu sein. Von Grünanlagen war keine Spur zu sehen. Aus diesem Grund, aber auch wegen der Sicherheitsvorkehrungen ringsum wirkte es nicht wie ein Unternehmen in der schönen neuen Welt der Genforschung, sondern eher wie ein Gefängniskomplex. Die Sicherheitstechnik war – zweifellos aus wirtschaftlichen Gründen – nicht auf dem gleichen Stand wie bei Horizn, aber dafür wurde auf Einschüchterung gesetzt. Robinson hatte das Wachpersonal benachrichtigt, und so durften wir die Einfahrt zum Parkplatz passieren. Dann gingen Nightmare und ich durch den Haupteingang und wurden durch einen Überwachungsraum mit einem Dutzend Bildschirmen geschleust. Hinter den Monitoren, die das gesamte Innere und Äußere des Gebäudes erfassten, saßen zwei bewaffnete Wachmänner. Der eine stand auf, als wir uns näherten. Wir trugen uns in die Besucherliste ein 352
und wurden gebeten, ein Stück davon entfernt auf Stühlen mit hohen, geraden Rückenlehnen Platz zu nehmen. Fünf Minuten später erschien Robinson. Ein Schimmer von Hoffnung lag auf seinem Gesicht, aber daneben auch Furcht. Ich erhob mich. »Das ist Michael Harrod.« »Nennen Sie mich Nightmare.« Robinson sah Michael einen Augenblick ruhig an, dann drehte er sich um und schritt auf einen Korridor zu. »Bitte kommen Sie mit.« Beim Gang durch die überwiegend leeren Flure gewann man den Eindruck, als habe Robinson die Pest. Die wenigen Menschen, die sich blicken ließen, huschten, sobald wir auftauchten, sofort in ihre Büros oder starrten uns unverfroren mit bösen Blicken an. Robinson war nicht immun dagegen. Als wir endlich vor seinem Labor ankamen, war er vor Scham fast vergangen. Ich hielt ihn an der Tür zurück. »Wir bringen das in Ordnung, klar?« »Ich habe die ganze Firma eingesetzt und verloren.« »Warum werden Sie nicht entlassen?« »Geht nicht. Ich habe einen Vertrag.« »Kann man Ihnen keine Abfindung bezahlen?« »Ich will kein Geld. Ich will mich rehabilitieren. Ich habe die nächsten vier Monate Zugang zum Labor.« »Haben Sie Mitarbeiter?« Robinson sah zu Boden; er war sichtlich gedemütigt. »Keiner hier wird auch nur einen Finger rühren, um mir zu assistieren. Ich bin out.« Ehe wir weitergingen, zeigte Nightmare zur Decke hoch auf etwas, das wie ein großer Brausekopf aussah. »Was ist das?«, fragte er. »Eine Dusche für den Notfall«, sagte Robison. »Die sind hier überall verteilt, auf allen Stockwerken. Wir gehen mit sehr scharfen Chemikalien um. Deshalb soll keiner weiter als zehn Meter von einem Schwall Wasser entfernt sein, um etwas von 353
sich abzuspülen. Sie wird einfach mit dem Hebel da eingeschaltet.« Nightmare machte große Augen. »Ha’m Se die schon mal in Betrieb gesehen?« »Einmal«, sagte Robinson nickend, ging aber nicht näher darauf ein. Er drückte die beiden großen Doppeltüren auf, und wir betraten einen rechteckigen Raum von etwa fünfzehn Meter Länge und zehn Meter Breite. Robinson betätigte ein paar Schalter, und das Licht ging zuckend an. Der Raum war voll gestellt mit Geräten, die unglaublich kompliziert aussahen. Überall verteilt standen Tastaturen und Monitore. Aber die Stühle waren samt und sonders leer. Beim Anblick der mindestens zehn Assistentenplätze meinte man noch etwas von der fieberhaften Aktivität zu spüren, die bis vor kurzem hier geherrscht haben musste. Jetzt, nach Robinsons Missgeschick, wirkte das Labor so trostlos wie ein Grab. Zwei Geräte, die leise summten, dominierten die Mitte des Raums. Nightmare gab ein lustvolles Schnalzen von sich. »Schön, nicht?«, sagte Robinson. Nightmare sah sich mit sehnsüchtigem Blick um. »Was könnte ich nicht alles machen mit so viel Prozessorpower …« »Die Leiche«, unterbrach ihn Robinson. »Wann können wir sie haben?« Karten auf den Tisch. »Gar nicht«, sagte ich. »Sie ist weg.« Robinson blickte mich einen Augenblick lang sprachlos an, dann begann er zu zittern. »Aber keine Panik. Ich weiß, wo sie ist.« »Was ist denn passiert? Sie haben doch gesagt, Sie hätten jemanden dafür.« »Sie sind uns zuvorgekommen. Während man mich gefesselt irgendwo festgehalten –« Nightmare unterbrach mich. »Was? Gefesselt, Mann? Sie?« Ich gab ihm einen Wink, dass er den Mund halten sollte. »Während ich gefesselt irgendwo lag, hat jemand die Leiche 354
weggeschafft. Sie ist gestern Nachmittag abgeholt worden.« Robinson, der sowieso schon nichts als ein Nervenbündel war, fragte mit heiserer Stimme: »Und wer hat sie?« Ich legte das Bild aus der Pathologie der Polizei vor ihm auf einen Tisch. »Dieser Typ«, erwiderte ich. »Der hat jetzt Doug.« »Das ist alles?«, rief Robinson. »Sonst haben Sie nichts? Nur ein Foto?« Ich zeigte auf Nightmare. »Wir haben noch ihn.« »Ich kenn den Typen nicht«, sagte Nightmare sichtlich erstaunt. »Natürlich kennst du ihn nicht. Aber ich weiß, wo er bekannt ist, und da wirst du nachforschen.« »Wo denn?« »Als ich bei Ralston war, ist mein Gesicht digital erfasst worden.« Nightmare runzelte die Stirn. »Biometrie. Mann, das ist große Klasse.« »Jeder, der das Gebäude betritt, wird auf diese Weise erfasst.« Ich wies auf das Bild. »Dieser Mann arbeitet für Ralston. Das heißt, er ist in deren Datenbank.« Nightmares eben erwachtes Interesse erlosch wieder. »Mann, Sie können se doch nicht mehr alle haben. Grayton ist eine Sache. Horizn ist eine ganz andere. Ohne mich.« »Wenn du es schaffst, ihre Datenbank zu hacken, kannst du wahrscheinlich nicht nur diesen Kerl identifizieren, sondern uns auch seine Lieblingsfarbe nennen.« »He, ich hab eigentlich nichts dagegen, Horizn zu hacken. Das wäre affengeil. Aber nicht für Sie und nicht auf diese Weise. Sie sind völlig irre.« »Du wirst sie dir vorknöpfen, Michael, denn es ist so wichtig für uns, dass du einfach nicht kneifen kannst.« »Selbst wenn ich mitmachte, würde ich Wochen dazu brauchen, ungelogen.« »Lass mal hören, was zu machen wäre, denn wir haben nicht 355
annähernd so viel Zeit.« »Um es richtig zu machen? Zuerst müsste ich in EDGAR rein, die Datenbank der Börsenaufsicht, und mir ihre Eingaben ansehen. Schon ob es weitere Verknüpfungen gibt, falls sie noch unter anderem Namen operieren. Vielleicht gibt’s eine Hintertür über irgendeine Tochtergesellschaft.« »Das ist out. Es würde viel zu lange dauern. Nächste Möglichkeit.« »Weil sie dafür zu clever sind? Dann würde ich ein paar Tage brauchen, um alle Message Boards und Blogs im Sicherheitsbereich abzuchecken und zu sehen, was ich da rausbekommen kann. Manchmal reden die Leute über ihre Probleme. Wenn ich nichts fände, würde ich anfangen, ihre sämtlichen Daten geduldig zu erfassen. Prüfen, mit welchen Domains sie arbeiten, welche Ports es gibt, wer ihre Geschäftspartner sind. Man muss vorsichtig sein, darf nicht hektisch werden. Man sucht das ganze Netzwerk ab, eine DNS nach der anderen. Dann erst – und nur dann – kann man sie allmählich anknabbern. Ich hab Geduld, Mann, ich bin kein Amateur, der an die Decke geht.« »Weiter. Was kommt dann?« »Was kümmert Sie das? Ich bin schon eine Woche weiter.« »Sag’s mir einfach, Michael.« Nightmare zuckte mit den Schultern. »Wie viele Angestellte gibt es dort?« Robinson antwortete. »Etwa vierzehnhundert«, sagte er. Nightmare nickte gedankenverloren. »Vierzehnhundert. Okay. Dann würde ich wahrscheinlich nach einem Joe suchen.« »Und was ist ein Joe?«, fragte ich. »Ein Hacker-Begriff. Jemand, der so faul ist, dass er seinen eigenen Namen als Passwort verwendet. Fast in jeder Firma gibt es so jemanden – einer reicht.« »Worauf warten wir dann noch?«, sagte ich. »Wir können doch sicher ein Mitarbeiterverzeichnis finden, oder?« 356
Michael war leicht gekränkt. »Das sind doch keine Idioten! Die sichern sich ab. Vielleicht ist der Joe der Hausmeister, Mann. Und der Hausmeister kann nicht an die Belegschaftsdaten, ohne einen Flächenbrand auszulösen. Ein falscher Zug, und ich bin Toast. Bei diesen Leuten wahrscheinlich sogar tot.« »Schon gut, schon gut«, sagte ich. »Es muss doch noch einen anderen Weg geben.« »Gibt es aber nicht.« Nightmare setzte sich, er war eingeschnappt. »Wahrscheinlich haben sie die Leiche eh schon beseitigt.« »Alle Labore haben Verbrennungsöfen«, sagte Robinson und nickte. »Wir brauchen sie für die Versuchstiere.« »Nett«, murmelte Nightmare. »Ich sitz also hier mit ein paar Affenkillern.« »Keine Sorge«, sagte ich zu Robinson. »Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass Doug nicht bei Horizn ist. Damit würden sie sich das Beweisstück für den Mord ins eigene Haus holen. Ich glaube nicht, dass sie das tun.« »Sie könnten Recht haben«, pflichtete Robinson mir bei. »Einen Sack mit einer Leiche in ein solches Unternehmen zu schleppen ist kein Pappenstiel. Alles, was rein- und rausgeht, wird registriert. Sie hätten Unmengen von Leuten einweihen müssen, um Sicherheit zu erzielen. Videos und andere Aufzeichnungen müssten verschwinden, auch die Einträge im Kontrollbuch am Empfang, und Leute müssten bestochen werden, alles Dinge, die Spuren hinterlassen würden. Hinzu käme noch das Risiko, dass jemand zufällig zum falschen Zeitpunkt das falsche Zimmer betritt. Es wäre erheblich einfacher, die Sache anderswo abzuwickeln.« Ich wandte mich an Nightmare. »Dann bleibt es doch an dir hängen.« »Pech für Sie«, sagte Nightmare nur. Eine Zeit lang schwiegen wir alle drei, dann richtete ich den 357
Zeigefinger auf Nightmare, der in seiner gewohnten Paranoia unwillkürlich zusammenschreckte. »Du hast vorhin etwas gesagt. Darüber, wie man etwas über ihre Geschäftspartner machen kann. Wie ging das nochmal?« Nightmare zuckte die Achseln. »Ein übler Trick. Man sucht sich jemandem, mit dem sie häufig geschäftlich verkehren, sodass große Datenmengen zwischen ihnen hin- und herfließen. Die andere Firma hat vielleicht ein lausiges Sicherheitsnetz und bietet einem leichter Zugang. In diesem Fall braucht man nur abzuwarten, bis sie miteinander kommunizieren. Sobald sie das tun, startet man einen Suchlauf in umgekehrter Richtung. Der bringt einen vom Geschäftspartner zum eigentlichen Ziel. Natürlich kann man nur so lange online bleiben, wie diese Verbindung besteht. Wenn sie abbricht, ist man selbst auch draußen. Aber bis dahin hat man vielleicht raus, wie man ohne den Geschäftspartner bei ihnen eindringt.« Ich schaute ihn groß an. »Du meine Güte, Michael, warum suchst du dir keinen normalen Job? Mit deinem Köpfchen –« »Bla, bla«, unterbrach mich Nightmare. Er sah mich unsicher an. »Sagten Sie, Sie würden so einen Geschäftspartner kennen?« Ich drehte mich zu Robinson. »Keinen Geschäftspartner«, sagte ich. »Die Regierung der Vereinigten Staaten.« »Mein Gott, Sie haben Recht«, sagte Robinson. »Das NIH, die staatliche Gesundheitsbehörde. Horizn müsste tagtäglich online damit verbunden sein, manchmal für Stunden. Ich habe schon erlebt, dass einfach eine Standverbindung eingerichtet wurde, um die Kommunikation zu erleichtern.« Ich wandte mich wieder Nightmare zu. »Das ist es, Michael. Das NIH. Schaffst du das?« Nightmare trat einen Schritt zur Seite, um ein wenig Abstand von mir zu gewinnen. Aber ich merkte, dass er hin und her gerissen war zwischen seiner hinlänglich bekannten Angst und der für einen Hacker unwiderstehlichen Aussicht auf ein neues Opfer. Sein Ego trieb ihn schließlich auf unbekanntes Gebiet. 358
»Wir müssten die Namen von den Leuten wissen, die Zugang zum NIH –«. »Ich kenne alle Namen«, unterbrach ihn Robinson. »Ich kann in zwei Minuten eine Liste aufstellen.« »Okay«, sagte Nightmare. »Falls sich einer davon als Joe entpuppt, klappt’s vielleicht. Wenn man an das alles rankäme, meine ich.« Ich sah Nightmare an. »Lass es uns probieren.« Nightmare zweifelte noch. »Ich müsste mich beim NIH einloggen, aber unter meinem Namen komm ich da nicht rein.« Er zeigte auf Robinson. »Wenn es also funktionieren soll, muss ich so tun, als sei ich er.« Robinson blickte von seiner Liste auf. »Was?« »Es hat keinen Sinn, wenn ich mich bei der Behörde einzuhacken versuche, während er dort Zugang hat. Also: Entweder bin ich er, oder das Ding wird nichts.« Ich wollte protestieren, aber Robinson legte mir die Hand auf den Arm. »Ist ganz in Ordnung. Machen wir’s doch so.« »Wollen Sie das wirklich?«, fragte ich. »Ich bin sowieso tot, es sei denn, das klappt. Es ist ja nur eine Formalität.« »Loggen Sie sich normalerweise hier ein?«, fragte Nightmare und zeigte auf einen Terminal. »Ja.« »Fünfzig Riesen.« »Michael –« »Fünfzig Riesen, Mann. Das ist High-Tech-Arbeit für Profis, die kostet.« »Eine Krankenhausrechnung auch.« Bis heute weiß ich nicht, ob es mir ernst war oder nicht. Michael muss jedoch etwas Bedrohliches in meinem Blick gesehen haben, denn er setzte sich hin und sagte: »Na schön, aber besorgt mir wenigstens ’ne Flasche Mineralwasser, verdammt nochmal.« 359
Nachdem ich ein paar Stunden auf und ab gegangen war, suchte ich schließlich einen Automaten und erstand fertige Sandwichs, Chips und alkoholfreie Getränke im Wert von fünfzehn Dollar. Ein paar von den Broten verteilte ich gleich, den Rest legte ich in den Kühlschrank. Nightmare verschlang seine Ration, während Robinson nichts anrührte. Ich pflanzte mich in einen Bürosessel hinten im Labor und hasste jede Minute, die verstrich. Ein Labor voller unverständlicher Geräte ist der letzte Ort, um den Tag dort zuzubringen. Ich versuchte mehrmals, Robinson in ein Gespräch zu ziehen, aber er mauerte; stattdessen fiel er Michael auf den Wecker, bis der ihm sagte, er solle abhauen. Weitere Stunden vergingen, und ringsum wurde allmählich alles dichtgemacht. Irgendwann – zwischen ruhelosem Herumlaufen und ebenso ruhelosem Sitzen – muss ich ein wenig eingenickt sein. Ich merkte auf einmal, dass mir gegen die Beine getreten wurde, riss den Kopf hoch und sah Nightmare, der anzüglich auf mich herabgrinste. »Ich hab’s«, sagte er. »Ich bin wirklich super. Wahrscheinlich sogar der Größte, den es je gegeben hat.« »Und?« Nightmare hielt mir einen Ausdruck hin. »Der Kerl arbeitet für Horizn. Ron Evans heißt er aber nicht. Er heißt Raymond Chudzinski.« »Nightmare, du bist ein Genie. Wie viel Uhr ist es?« »Weiß ich doch. Es ist so etwa halb sieben.« »Hat Robinson das schon gesehen?« »Noch nicht. Er ist in sein Büro gegangen.« »Dann mal los.« Ich tat zwei Schritte auf Robinsons Büro zu, dann blieb ich abrupt stehen. Es überlief mich eiskalt. »Michael, ich habe den Namen ›Ron Evans‹ dir gegenüber nie erwähnt.« »Hä? Klar haben Sie das.« »Habe ich nicht, Michael.« »Dann muss Robinson ihn fallen lassen haben.« 360
»Ihm habe ich den Namen auch nicht gesagt.« Ich legte Nightmare die Hand um den Hals und drückte ihn an die Wand. Nightmare wand sich unter meinem Griff wie eine Spinne, nur Arme und Beine. »Du hast uns verraten und verkauft, du mieses Stück Scheiße. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie du erfahren haben kannst, wer Ron Evans ist, nämlich indem du Ralston geholfen hast, an Dougs Leiche zu kommen.« Ich ließ ihn angeekelt los. Er fiel kraftlos gegen die Wand. »Ich habe mit Dougs Cousine gesprochen. Sie hat ein Fax an eine Nummer in Atlanta geschickt. Die Nummer war von einem Kino in Fulton County, wie sich herausstellte.« »Na und?« »Du bist ein Phone-Phreak, Michael. Du reroutest Telefonleitungen. Das ist dein Fach. Hast du mir selbst erzählt.« Nightmare fing an zu zittern. Er wich zurück, versuchte, Abstand zwischen uns zu bringen. »Völliger Stuss«, sagte er, aber sein Lügen war so offensichtlich, dass er es ließ. Er sah mich mit angstverzerrtem Gesicht an. »Sie sind zu mir in die Wohnung gekommen. Es war blutiger Ernst, kapiert? Mit Knarren und so.« »Wer? Erzähl mal, du Dreckskerl.« »Wir haben nicht gerade unsere Visitenkarten ausgetauscht«, sagte Nightmare bitter. »Sie sagten, sie hätten mich bei meinem Zugriff auf Grayton erwischt. Sie hätten mich aber drin gelassen, weil sie wissen wollten, wer ich bin.« Ich beschrieb ihm die Männer, die mich gefesselt in die Kammer geschleppt hatten, und er bestätigte mir, dass es dieselben gewesen waren. »He«, sagte er, »diese Typen haben alles im Griff. Hier geht’s um Spitzenkönner, verstehen Sie? Sie haben mich bei Grayton aufgespürt, Mann. Wir hatten nie die geringste Chance.« »Sie haben dich bezahlt, du Abschaum. Das war’s, was dir wichtig war.« Nightmare sah mich an, und seine zur Schau gestellte 361
Tapferkeit bröckelte. »Okay, ich bin nicht so ’n Supermacker wie Sie. Ja, ich hab Geld genommen. Aber darum ging’s gar nicht.« Er blickte auf, und seine Augen schwammen in Tränen. »Ich hatte Schiss, okay? Freiwillig hätte ich mich nie in so was reinziehen lassen. Dieses ganze Nightmare-Zeug ist alles Quatsch, kapiert? Ich spaziere ein bisschen in anderer Leute Köpfen rum. Führe Gratisferngespräche. Dringe in irgendwelche Websites ein und hinterlasse meine Marke oder verzapf Unsinn in irgendwelchen Chatrooms. Und dann laufen Sie mir über den Weg, and auf einmal treibe ich Industriespionage, und acht Leute sind tot, Mann, so ’ne Scheiße. Die Kerle wollten mir den Hals brechen. Sie sahen aus, als hätten sie viel Übung darin.« Und dann fing Nightmare zu meinem größten Entsetzen tatsächlich an zu weinen. Nachdem er die Nightmare-Rolle Gott weiß wie lange gespielt hatte, entpuppte er sich jetzt als Michael Harrod, ein völlig verängstigter Junge. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass mit den beiden Männern, die er kennen gelernt hatte, nicht gut Kirschen essen war. Bei jemandem wie Michael musste ihre Brutalität, der man hilflos ausgeliefert war, tiefstes Entsetzen auslösen. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, aber er schüttelte sie ab, glühend rot vor Scham und Schuldgefühlen. »Warum dann dies hier?«, fragte ich ihn und Hielt ihm den Ausdruck unter die Nase. »Sie werden nicht gerade erfreut sein, wenn sie rauskriegen, dass du uns dabei geholfen hast.« »Ihr Typen denkt alle, ihr kennt mich«, sagte Nightmare und schniefte. »Ralston und die anderen miesen Typen, wie immer sie auch heißen mögen, selbst Sie mit Ihrer väterlichen Masche. Aber ich habe meine eigenen Prinzipien.« Er zeigte auf das Bild. »Ich hab’s für Killah getan«, sagte er und kam langsam in Rage. »Er war einer von uns. Nur ein bisschen abgedröhnt, sonst nichts.« »Sie brauchten dich doch gar nicht, Michael. Sie kennen sich selbst auf dieser Hacker-Ebene bestens aus.« 362
»Ja.« »Sie wollten nur, dass du einsteigst, weil du mit mir zusammengearbeitet hast.« Ich sah ihn durchdringend an. »Sie haben dich bezahlt, damit du ein Auge auf uns hältst, stimmt’s? Damit du verhinderst, dass wir noch mehr herausfinden.« Nightmare schlug die Augen nieder. »Ja.« »Heißt das nun, dass du uns verraten hast, oder nicht? Wissen sie, dass wir uns bei ihnen umgeschaut haben?« Nightmare wischte sich die Tränen ab. »Alle stoßen mich ständig nur rum, früher in der Schule schon, überall. Immer schon. Deshalb bin ich abgetaucht. Im Untergrund schubst mich niemand rum. Ich hab an Killah denken müssen und wie diese Kerle ihn verheizt haben. Wissen Sie, Killah war genau wie ich. Der passte auch nicht in die feine Gesellschaft. Und da dachte ich, ich könnte ja was für ihn tun und versuchen, diese Typen reinzulegen, statt weiter der Verlierer zu sein. Das wär was gewesen! Diese Kerle festzunageln!« Ich sah ihm an, dass er zwischen seiner verkorksten jugendlichen Genialität und dem Erwachsenwerden hin und her schwankte. Er war wie ein Fohlen, das auf seinen staksigen Beinen zu stehen versucht. Aber wenn er die Wahrheit sagte – ein dickes »Wenn«, aber mehr hatte ich nicht –, hatte er in seinem Leben endlich einmal etwas Anständiges getan. Das war immerhin ein Anfang. »Gehen wir«, sagte ich. Nightmare rieb sich die rot verquollenen Augen. »Wohin?« »Zu Robinson.« »Und was haben Sie jetzt vor mit mir?« »Du hast dich übernommen. Ich kenne die Kerle, von denen du erzählt hast, sie sind eine Nummer zu groß für dich. Und da ich nicht so lange warten kann, bis es sich herausstellt, ob du lügst oder nicht, will ich dir einfach mal glauben. Also los.« Nightmare stand da und versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen. Er schlich, noch immer Tränen in den 363
Augen, hinter mir her. Robinson warf einen Blick auf Nightmare, als wir in sein Büro kamen, und stand auf. »Was ist passiert?« Ich hielt ihm den Ausdruck hin. »Michael hat es geschafft«, sagte ich. »Wir haben den Kerl. Raymond Chudzinski. Finden wir ihn, finden wir auch die Leiche.« Jemand hinter mir murmelte etwas Unverständliches. »Bitte?«, sagte ich und wirbelte herum. »Ich weiß, wohin sie Killah gebracht haben«, sagte Nightmare leise. Ich starrte ihn an. »Und wohin?« »In die Leichenhalle von Walnut Grove. Er soll unter anderem Namen eingeäschert werden. Klang so ähnlich wie Harrison.« »Das wusstest du? Verflucht nochmal, Michael, warum hast du uns das denn nicht erzählt?« »Ich mag ja eingeschüchtert worden sein, aber ein Vollidiot bin ich deshalb noch lange nicht. Ich wollte doch sehen, ob ich sie nicht hacken kann. Wenn sie in’n Knast kommen, bin ich ein freier Mann.« Ich schaute auf die Uhr. Viertel vor sieben. »Sie haben schon geschlossen. Aber warten können wir auch nicht. Soweit ich weiß, kann man auch außerhalb der Geschäftszeit zu den Toten. Ich würde sagen, wir fahren gleich hin.« »Seid ihr noch zu retten?«, sagte Nightmare. »Der Typ ist doch schon seit Tagen tot. Er ist bereits verwest.« »Er könnte ruhig schon ein Jahr tot sein, an seiner DNS würde das nichts ändern«, erklärte Robinson. »Aber nekrotischem Fleisch genetische Informationen zu entnehmen ist kein Vergnügen. Mit Blut geht es schneller.« Nightmare zuckte zusammen. »So eine Scheiße, Mann.« »Halt die Klappe, Michael«, sagte ich. »Wenn Townsend gekühlt wurde, ist es mir egal, wie lange er gelegen hat«, sagte Robinson. »Ich brauche sowieso nur eine winzige Probe.« 364
»Und wenn er nicht gekühlt wurde?«, fragte ich. Robinson schwieg nachdenklich. »Dann hätten wir ungefähr zwölf Stunden, würde ich sagen. Der DNS macht das nichts aus. Aber das Blut würde so stark gerinnen, dass man es kaum herausbekommt.« »Im Augenblick können wir nichts machen«, sagte ich. »Wir wissen, dass die Leiche bis zur Abholung gekühlt worden ist. Wenn sie noch nicht eingeäschert wurde, können wir uns holen, was wir brauchen. Wenn sie eingeäschert ist« – ich wandte mich an Robinson – »gewinnen die andern, stimmt’s?« »Dies ist unsere letzte Chance, Jack. Wenn keine Leiche mehr da ist, haben sie gewonnen.« »Wir brauchen fast eine Stunde bis dorthin. Also los.«
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26 Die Walnut-Grove-Leichenhalle liegt in östlicher Richtung, ein paar Kilometer außerhalb der Stadt in einem Einzugsgebiet, das sich von Atlanta in alle Richtungen ausbreitet wie ein vielarmiger Shiva. Nightmare saß hinten, Robinson neben mir. Wir bogen von der Interstate 20 auf den Highway 138 ab, wandten uns nach Nordosten und begaben uns auf die Reise zum Highway 81. Der aufgehende Mond war eine bleiche Scheibe, in deren schwachem silbernem Schein wir sahen, wie die dicht bewaldeten Berge flacher wurden und die Landschaft ländlich. Etwa fünfzehn Kilometer hinter der County-Grenze sah ich die Halle. Es war zwanzig nach acht. Ich fuhr auf den Parkplatz, auf dem nur ein anderes Fahrzeug stand, eine schwarze Mercedes-Limousine älteren Baujahrs. »Bleib du hier, Michael«, sagte ich. »Es wird nicht lange dauern.« Und zu Robinson gewandt: »Fertig?« Robinsons Finger glitten prüfend über ein Spritzen-Set, dann schob er es in seine Brusttasche. »Ja.« Wir stiegen aus dem Wagen und gingen zum Haupteingang der Leichenhalle. Es brannte kein Licht, alles wirkte verlassen. Ich probierte die Tür, sie war abgeschlossen. Ich drückte auf die Klingel, nichts. Ich schellte noch einmal. Nach einer Weile war ein Schlurfen zu hören, dann ging die Tür auf. Ein kleiner Mann in Straßenkleidung, offenbar von mediterraner Herkunft, stand vor uns. »Wir haben geschlossen«, sagte er. »Aber vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen?« »Ich hoffe, wir kommen noch nicht zu spät«, sagte ich. »Zu spät wofür?« »Es geht um …« Worum eigentlich? »Mr. Harrison«, beendete ich meinen Satz und nuschelte den Namen etwas. »Er ist in Charlotte ein wenig aufgehalten worden. Er wollte 366
unbedingt, dass ich ihn hierher fahre, damit er einen Augenblick bei seinem lieben Bruder verweilen kann.« »Mr. Harrison?«, wiederholte der Mann und sah mich etwas verwirrt an. »Er ist gestern hergebracht worden«, sagte ich. »Zur Einäscherung.« »Ach, Harriman«, sagte der Mann, und seine Miene hellte sich auf. »Einen Augenblick meinte ich, Sie hätten Harrison gesagt. Mein Gehör ist nicht mehr das beste.« »Genau«, sagte ich, »Mr. Harriman.« »Nun, wie gesagt, wir haben geschlossen. Aber Sie hatten einen weiten Weg bis hier heraus. Unter diesen Umständen will ich Sie nicht einfach wieder fortschicken. Kommen Sie herein.« Der Mann gab die Tür frei, sodass Robinson und ich eintreten konnten. Wir schritten durch einen langen, schäbigen, mit billigen Trauersymbolen geschmückten Flur. Das Licht war gedämpft, der Teppichboden abgetreten, und die Wände waren purpurrot tapeziert. »Gene D’Anofrio«, sagte der Mann und schüttelte uns die Hände. Er bedachte Robinson mit einem mitfühlenden Blick. »Tut mir sehr Leid, das mit Ihrem Bruder. Ich weiß gar nichts Genaueres darüber.« Robinson besaß genügend Geistesgegenwart, um mit ernstem Gesicht zu nicken und ansonsten den Mund zu halten. »Mr. Harriman hatte gehofft, ein paar Minuten mit seinem Bruder allein sein zu dürfen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen«, sagte ich. »Sie standen sich sehr nahe.« »Das kann er selbstverständlich.« Wir bogen um eine Ecke, und D’Anofrio führte uns zu einer großen Flügeltür. »Ich hatte schon Sorge, dass wir zu spät kommen könnten«, sagte ich. »Nein, der Bruder ist gleich hier«, sagte D’Anofrio. »Sie haben reichlich Zeit.« Er öffnete die Tür, und wir folgten ihm in einen kleinen, holzgetäfelten Raum. Ein paar hohe, mit dunkelrotem Samt 367
gepolsterte Stühle standen herum. »Wenn die beiden Herren bitte einen Augenblick hier warten würden, bringe ich ihnen Mr. Harriman.« »Vielen Dank«, sagte ich, »das ist sehr freundlich von Ihnen.« D’Anofrio verschwand durch eine Seitentür. Sobald wir allein waren, sagte ich: »Ob er ihn jetzt einfach so auf einer Rollbahre hereinschiebt?« »Ist mir egal, und wenn er ihn auf seinem Rücken herbeischleppt, ich muss nur zwei Minuten mit ihm allein sein. Können Sie D’Anofrio so lange ablenken?« »Kein Problem.« Wir saßen schweigend einige Minuten nebeneinander, dann wurde die Stille unterbrochen durch Orgelmusik, die aus den Lautsprechern rieselte. »Allmächtiger«, sagte Robinson, »er zieht aber wirklich alle Register.« »Für ihn ist es eine Frage des Anstands«, sagte ich. »Und in ein paar Minuten wird Ihnen all dieser Irrsinn vergolten durch ein paar Kubikzentimeter von Doug Townsends Blut.« Robinson nickte. Wir schwiegen, bis sich die Tür wieder öffnete. Es kam keine Bahre. Es kam keine Leiche. D’Anofrio kam mit einer kleinen, bronzenen Urne herein, die er auf einen filzbezogenen Sockel stellte. Er nickte ernst und ging gemessenen Schrittes rückwärts durch die Tür, die er hinter sich schloss. Wieder saßen Robinson und ich allein nebeneinander und starrten das Gefäß an, das den verkohlten, mikroskopisch sauberen Staub enthielt, der einmal Doug Townsend gewesen war. Seine unendlich kostbare DNS, einst in den Proteinen seiner Zellstruktur verborgen, war jetzt völlig zerstört. »Verfluchte Scheiße«, sagte Robinson, »bei allem Respekt vor dem Toten – aber so eine verfluchte Scheiße.« Er stand auf, machte seinem Herzen noch einmal auf die gleiche Weise Luft und marschierte hinaus. 368
Als Robinson gegangen war, war ich in dem dämmrigen Raum allein mit Doug Townsend, meinem alten Collegefreund mit dem guten Herzen und der unmöglichen Liebe zu einer Opernsängerin. Ich hatte ihn weder im Leben schützen noch seinen Tod rächen können. Und ich musste mich wegen meiner eigenen Schwäche für Michele, diese Frau, um die sich alles drehte, rechtfertigen. Ich hatte geglaubt, ich könnte nie wieder so im Innersten angerührt werden, wie sie es getan hatte. Und dann hatte sie mich für ihre eigenen verqueren Ziele ausgenutzt. Ich trat zu der Bronzeurne, legte meine Hände darauf und senkte den Kopf. »Gott, an den ich nicht glaube, ich bringe dir Exponat A dar, den Beweis dafür, dass keine Klarheit mehr herrscht auf dieser Welt. Die Bösen nehmen Überhand. Die Guten – die, wie ich freimütig zugebe, auch ziemlich kaputt sind – sterben jung. Du tust nichts gegen diese Abscheulichkeiten, und deshalb erkläre ich dich für nicht vorhanden. Wo immer du bist und was immer du tust, die Stadt Atlanta in Georgia berührt es anscheinend nicht im Mindesten.« Dann drehte ich mich um und ging. Robinson und Nightmare warteten schon. Die Heimfahrt dehnte sich endlos. In den ersten zwanzig Minuten sagte keiner von uns dreien auch nur ein Wort. Kilometer um Kilometer dumpfes Schweigen. Gegen zehn Uhr abends trafen wir auf den nie erlahmenden Stadtverkehr – ein unermüdliches Brausen zu jeder Tages- und Nachtzeit –, in dem wir nur schleppend vorankamen. »Himmel, wie ich diese Stadt hasse«, sagte Robinson und brach damit das Schweigen. »Ich trage mich mit dem Gedanken, umzuziehen. Vielleicht nach Westen.« Niemand äußerte sich dazu; und das war gut so. Fünfzehn Minuten später warf ich einen Blick auf Robinson. Irgendetwas war geschehen; er schwitzte wie ein Stier. »Alles klar?«, fragte ich. Robinson sah mich kurz von der Seite an, dann starrte er wieder auf die Straße. Er sah aus, als hätte er ein Gespenst 369
gesehen. »Mal im Ernst«, sagte ich, »Sie sehen gar nicht gut aus. Soll ich anhalten, oder was?« »Wir haben’s nicht geschafft«, sagte er. »Sie sind uns durch die Lappen gegangen.« »Stimmt«, sagte ich. »Jetzt haben sie keinen Grund mehr, einen von uns zu belästigen.« »Wir müssen sie kriegen, Jack.« »Können wir nicht. Sie müssen sich jetzt einfach von dem Gedanken befreien. Die andern hatten die besseren Karten, das Spiel ist aus.« Robinson nickte zustimmend, ging aber vor meinen Augen immer mehr aus den Fugen. Zu meiner Beunruhigung fing er jetzt wieder an, monotone Selbstgespräche zu führen wie damals, als ich ihm von meiner Begegnung mit Ralston erzählt hatte. Nightmare beugte sich vom Rücksitz nach vorn und sah Robinson prüfend an. »Was ist los mit ihm?«, fragte er. »Der tickt wohl nicht mehr richtig.« »Sei still, Michael.« Er hatte jedoch Recht. Robinson war dabei, durchzudrehen. Das hättest du voraussehen können. Für ihn stand zu viel auf dem Spiel. »Fassen Sie sich«, sagte ich. »In ein paar Minuten sind wir wieder bei Grayton, wo Ihr Auto steht.« Robinson packte meinen Arm und drückte ihn. »Hören Sie mir gut zu, Jack. Wir müssen sie kriegen. Und es gibt noch eine letzte Möglichkeit.« »Was reden Sie da«, sagte ich. »Sie haben mir selbst gesagt, das wär’s gewesen. ›Wenn keine Leiche mehr da ist, haben sie gewonnen‹, richtig? Sie brauchen das Blut eines Überlebenden. Kein Überlebender, kein Prozess.« »Ja, schon«, sagte Robinson kopfnickend. »Aber ich kann einen neuen Überlebenden produzieren.« Ich schaute nach vorn; in ein paar hundert Meter Entfernung war eine Ausfahrt. Ich nahm sie, rollte bis zum Stoppschild und fuhr auf den Randstreifen. Dann würgte ich die Schaltung in die 370
Parkstellung. »Das haben wir alles schon einmal durchgesprochen«, sagte ich. »Sie werden dieses Mittel niemandem verpassen, Doktor. Sie würden lebenslänglich hinter Gittern sitzen. Wegen grober Fahrlässigkeit. Ärztlichen Fehlverhaltens. Oder sogar versuchten Mordes.« »Mir«, sagte Robinson. »Mir selbst könnte ich Lipitran spritzen. Das Mittel würde die erforderliche Enzymreaktion hervorrufen, und ich könnte mein eigenes Blut spektrometrisch untersuchen.« »Beruhigen Sie sich. Sie sind viel zu aufgeregt.« »Mir selbst, Jack. Ich kann mich selbst damit impfen.« »Das ist aber noch reine Theorie«, wandte ich ein. »Wenn es also nicht funktioniert, dann …« »Bin ich tot«, sagte Robinson. »Dann krepiere ich. Blute aus allen Körperöffnungen. Bum.« »Er hat Recht«, sagte Nightmare. »So könnten wir sie noch kriegen.« Ich drehte mich zu ihm um. »Halt endlich das Maul, sage ich dir.« Ich sah Robinson an. »Sie sind im Augenblick nicht in der besten Verfassung«, sagte ich. »Hinter Ihnen liegen ein paar schlimme Wochen. Kein guter Zeitpunkt, um sich ein experimentelles Medikament einzuverleiben.« »Es gibt niemanden sonst«, sagte Robinson. Er umklammerte die Armlehne. »Ich kann das Mittel niemand anderem verabreichen. Die FDA hat es aus dem Verkehr gezogen. Es gilt als Schwerverbrechen, wenn man es trotzdem noch anwendet, Jack. Also bekommt es niemand anders mehr. Aber mir selbst kann ich es geben.« »Es ist auch ein Verbrechen, wenn Sie es sich selbst geben«, sagte ich. »Niemand sonst, Jack. Ich weiß, dass es so richtig ist. Ich nehme das Medikament und beobachte, wie sich die Enzyme verhalten. Und dann haben wir die Mistkerle. Durch einfache Proteomik, die vergleichende Protein-Genom-Analyse. Ich 371
entnehme Blut. Lasse es durch das Massenspektrometer laufen. Bum. Bum, bum, bum.« »Das lasse ich nicht zu, niemals.« »Ist mir egal«, sagte Robinson. Er stierte ins Leere, ohne zu blinzeln. Er war auf der Kippe zum Wahnsinn und hielt sich nur noch durch äußerste Willensanstrengung aufrecht. »Ich tu’s. Sie werden mich nicht davon abbringen, o nein. Und wenn Sie noch so zetern, ich tu’s auf jeden Fall.« »Ich könnte Sie zur psychiatrischen Untersuchung in ein Krankenhaus bringen.« Robinson lachte schrill. »Ich bin der Arzt, Sie Idiot. Ich werde behaupten, dass Sie verrückt geworden sind.« »Verdammt, das ist vollkommen irre.« »Sagen Sie. Ich mach’s trotzdem.« Ich schaute durch die Windschutzscheibe. Andere Autos, die nach dem Stoppschild wieder Gas gaben, sausten an uns vorbei. Überall in Atlanta ging das Leben seinen Gang. Bei den Guten und den Bösen und allem, was dazwischen lag. Und neben mir saß ein Mann und wollte das bisschen, was von seinem unerträglich gewordenen Leben noch übrig war, wagen, um sich die Last von der Seele zu wälzen, für den Tod von acht überwiegend unschuldigen Menschen verantwortlich zu sein. Ich will Ihnen sagen, warum ich ihn nicht zurückhielt. Erstens, weil die Entscheidung nicht bei mir lag. Und zweitens, weil er gerade Sammys Philosophie übernommen und mit einem Atomsprengkopf versehen hatte. Er ließ alles los, sogar sein eigenes Leben ließ er fahren. Womöglich hat es in der Geschichte Atlantas nie jemanden gegeben, der so gefährlich war. Wenn es jemand schaffen sollte, Ralston zu überführen, dann nur mit diesem Einsatz. »Wie lange brauchen Sie dafür?«, fragte ich leise. Robinson hatte schon einen leichten Tic, sein linkes Auge zuckte. »Weiß nicht«, sagte er. »Je länger, desto besser und prägnanter die Reaktion. Und durch höhere Dosierung. Besser 372
mehr, besser länger. Acht Stunden. Vielleicht auch zwölf.« »Scheiße«, flüsterte ich gen Himmel, und dann schossen wir zurück auf den Highway, ein Freak, ein kaputter Wissenschaftler und ein Anwalt, der jeden Glauben verloren hatte. Die gottverdammten drei Musketiere.
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27 Es waren nochmals dreißig Minuten bis zu den GraytenLaboratorien. Während der Fahrt beruhigte sich Robinson allmählich wieder; dass er seine Entscheidung getroffen hatte, stärkte ihm das Rückgrat. Es war fast Mitternacht, als wir auf den Werkparkplatz einbogen. Robinson schleuste uns an der Sicherheitselektronik vorbei. Die ganze Firma war leer. Ich fiel in einen Bürosessel auf Rädern und rollte ein paar Meter, bis er anhielt. Nightmare blieb mit den Händen in den Hosentaschen stehen und sah aus wie Dracula, den die Sonne überrascht hat. Robinson führte Selbstgespräche und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. »Sie brauchen das nicht zu tun, Doc«, sagte ich leise. »Davon, dass Sie sich umbringen, werden die anderen nicht wieder lebendig.« Robinson drehte abrupt den Kopf zu mir. »Und was ist mit allem Übrigen?«, sagte er. Sein Tic hatte sich erneut eingestellt, aber sein Ton war normal. Er freundete sich allmählich mit seiner riskanten Entscheidung an. »Mit all den Menschenleben, die Lipitran retten sollte? All den Lebertransplantationen, die unnötig wären? Den überflüssigen Krebstodesfällen? Der chronischen Erschöpfung, dem Verlust der Lebensqualität! Was ist damit?« »Darauf kann ich nicht antworten.« »Ich bin Arzt«, sagte Robinson. »Ich pflege zu heilen. Und wenn das nur geht, indem ich mir Lipitran AX selbst injiziere, dann muss es sein.« Er ging in den hinteren Teil des Labors, hockte sich vor einen kleinen Kühlschrank und öffnete ihn. Er holte ein kleines Glasfläschchen heraus und schloss den Kühlschrank wieder. Er kam mit dem Fläschchen zu uns herüber und zog die Spritze hervor, die er zur Leichenhalle mitgenommen hatte. »Zwei Jahre Arbeit und 35 Millionen 374
Dollar.« Er hielt das Fläschchen hoch, und das Deckenlicht schien durch die klare Flüssigkeit. »Alles nur eine ungeheure Verschwendung, es sei denn, dieser letzte Versuch ist erfolgreich.« Er packte die Spritze aus und stach die Nadel durch die Gummikappe des Fläschchens. Er nahm fünf Kubikzentimeter Flüssigkeit auf und hielt inne. Dann zog er den Kolben noch etwas höher, sodass es sieben und schließlich zehn Kubikzentimeter wurden. Ich wollte eben Einspruch erheben, da schüttelte er den Kopf. »Lassen Sie das«, sagte er. »Es spielt jetzt keine Rolle mehr. Entweder kriege ich sie, oder es ist sowieso alles egal.« Robinson setzte sich an einen Tisch. Er schwitzte, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er wischte sie weg, dann nahm er einen Gummiball in die Hand. Er drückte den Ball so lange, bis sein Unterarm gut durchblutet war. Dann holte er ein braunes Gummiband hervor, band seinen Bizeps ab und schüttelte das Handgelenk, um eine Vene zum Anschwellen zu bringen. Nightmare und ich sahen mit weit offenen Augen zu. Niemand sprach. Ich wusste nicht, ob das, was er vorhatte, mutig oder verrückt war, aber es lag nicht mehr in meiner Macht, etwas daran zu ändern. Für Robinson waren die Würfel gefallen. Wenn er Ralston Unrecht getan hatte, starb er qualvoll wie seine Patienten. Mehr war dazu nicht zu sagen. Robinson blickte zu mir auf, und eine kurze, schreckliche Sekunde lang trafen sich unsere Augen. Dann stach er sich die Nadel in den Arm, wobei sich seine Augen leicht weiteten. Langsam und professionell drückte er sich zehn Kubikzentimeter Lipitran in den Körper. Die Zeit war unser ärgster Feind. Das Warten war uns schon schwer gefallen, als noch überall Betriebsamkeit herrschte, aber in dem völlig leeren Gebäude kam es uns so vor, als müssten wir die Füße ständig aus fest werdendem Beton ziehen. Die Minuten dehnten sich zu Stunden. 375
Robinson wollte mich unbedingt nach Hause schicken; es würde noch Stunden dauern, bis es sich lohnte, einen Test durchzuführen. Der Test mochte langweilige Routine sein, aber wenn er etwas falsch machte, war er das schreckliche Risiko, das er auf sich genommen hatte, umsonst eingegangen. Ich fühlte mich zwar wie ein Roboter, da ich seit über 24 Stunden kaum geschlafen hatte, aber ich konnte ihn jetzt nicht allein lassen. Vielleicht brachte ihn das Medikament um, vielleicht auch nicht. Aber ich konnte zumindest bei ihm Wache halten. Robinson, inzwischen in kalten Schweiß gebadet, stolperte irgendwann in sein Büro. Er warf die Tür hinter sich zu, und man hörte, wie er sich in einen Sessel fallen ließ. Nightmare wollte zu ihm gehen, aber ich packte ihn am Arm. »Lass ihn nur«, sagte ich. »Er muss eine Zeit lang allein sein. Vielleicht schläft er ein, das wäre ein Segen. Du solltest auch ein bisschen schlafen.« »Ich? Mir geht’s gut. Aber Sie sehen scheiße aus.« Ich lächelte. »Yeah.« »Sie können mir trauen, wirklich. Ich meine, falls es Sie beunruhigt, mich mit dem Doc allein zu lassen.« »Das beunruhigt mich nicht im Geringsten, Michael«, sagte ich, und so war es auch. Aber er hatte Recht; ohne Schlaf würde ich Robinson bei seinen Tests nicht helfen können. Also schaltete ich das Licht im Labor aus, ging zu meinem Sessel im hinteren Bereich und sank hinein. In den nächsten Stunden döste ich vor mich hin, halb im Schlaf und halb wach. Niemand betrat das Labor, nicht einmal Wachpersonal. Robinson wurde anscheinend wirklich total geächtet. In dieser Welt, dazu entworfen, Kranke zu heilen, waren wir wie Unberührbare und Aussätzige. Gegen zwei Uhr morgens erhob ich mich, um nach Robinson zu sehen. Ungewiss, was ich vorfinden würde, öffnete ich vorsichtig die Tür. Doch als ich einen Blick in das Zimmer warf, saß er dort aufrecht und starrte geradeaus. Ich war sicher, dass er 376
nicht geschlafen hatte. Er hatte wahrscheinlich jedes Gefühl in seinem Körper verfolgt, voller Entsetzen, es könnte nur noch Augenblicke dauern bis zum inneren Zusammenbruch mit seinen grauenhaften Folgen. »Alles in Ordnung?«, fragte ich ihn. Er sah mich aus tief eingesunkenen Augen an. »Ja. Danke.« »Und wie geht es Ihnen?« »Ich weiß nicht recht. Mir ist übel. Aber sonst nicht schlecht. Eigentlich so, wie vorauszusehen war.« »Dann ist es okay.« Robinson lächelte matt und starrte wieder die Wand an. Ich schloss die Tür hinter mir und weckte Nightmare, der in seinem Sessel eingenickt war. »Hunger?« Nightmare sah mich an und fragte: »Wie geht’s dem Doc?« »Ganz gut. Hat vermutlich Angst.« Nightmare nickte und schloss die Augen wieder. Ich zog einen Sessel heran, rollte ihn neben Robinsons Tür und ließ mich hineinfallen. Den Rest der Nacht verbrachte ich wie vorher zwischen Schlafen und Wachen; einmal kam Robinson aus seinem Büro und packte mich am Arm. »Sieben Stunden«, sagte er, »und ich bin noch immer nicht tot.« »Stimmt.« »Noch ein paar Stunden. Wir warten noch ein bisschen länger.« Einige Stunden später stieg die Sonne am Horizont auf. Kurz vor neun klopfte ich leise an Robinsons Tür. Er reagierte nicht. Als ich die Tür einfach aufmachte, sah ich, dass er über seinen Schreibtisch gesunken war. Ich ging schnell zu ihm; als ich mich näherte, seufzte er, und ich merkte, dass er nur schlief. Über neun Stunden waren vergangen, die Zeit, die nach seiner Auffassung nötig war, um die Enzymreaktion gut messen zu können. Ich drückte ihm sanft die Schulter, und er kam langsam zu sich. »Alles in Ordnung«, sagte ich leise. »Mit Ihnen auch. Sie 377
haben geschlafen.« Robinson setzte sich aufrecht hin, plötzlich hellwach. Er atmete tief und prüfte sich selbst. Dann zog er rasch einen Papierkorb zu sich herüber und erbrach sich heftig. Es war ein furchtbarer Moment, bis er sich wieder aufrichtete, hustete und sagte: »Gott sei Dank, das stand schon seit Stunden an.« »Heißt das, es geht Ihnen einigermaßen?« »Ja. Wie gesagt, die Übelkeit ist eine zwangsläufige Begleiterscheinung. Jetzt geht’s mir besser.« Er stand auf. »Mir … mir geht’s gut. Was haben Sie denn gemacht, sind Sie die ganze Nacht aufgeblieben?« »Ich bin immer mal wieder eingedöst. War aber überwiegend wach.« »Nett von Ihnen.« »Dann sind Sie also am Leben geblieben. Erzählen Sie mir, wie’s weitergeht.« Robinson nickte und sagte: »Ich komme gleich ins Labor. Ich muss nur eben sauber machen.« Ich ging ins Labor zurück und weckte Nightmare; gemeinsam warteten wir auf Robinsons Erscheinen. Ein paar Minuten später kam er mit einem Pappbecher Wasser durch die große Doppeltür. Er stellte den Becher ab und zeigte auf einen großen, rechteckigen, sargähnlichen Apparat von etwa zwei Meter Länge und sechzig Zentimeter Breite, der leise summte. »Ein Massenspektrometer«, sagte er. »Mit Doppelfokussierung und Ionenquelle, vierhundertausend das Stück. Wir haben zwei davon.« Ich deutete auf den Apparat. »Was kann das Ding denn?« Jetzt kam etwas mehr Leben in Robinson – nicht viel, aber doch sichtbar. Da sah ich ihn wieder, den Funken, der mir bei unserer ersten Begegnung im Park aufgefallen war. Er war ein Junkie, und seine Droge war die Forschung. »Was dieses Ding kann«, sagte er, »ist einfach enorm. Es misst die jeweilige Masse der Blutbestandteile. Daran kann man 378
das mögliche Vorhandensein von Enzymen ablesen.« Robinson führte uns zu einem langen Tisch voller Instrumente. »Entscheidend ist, dass man die Enzyme findet, die im Blut eines Überlebenden vorkommen, den toten Patienten jedoch fehlten. Ich bin dieser Überlebende …« Er sah uns bedeutungsvoll an. »Bisher jedenfalls. Für die andere Probe werde ich das Blut von Najeh Richardson nehmen, einem meiner verstorbenen Patienten. Ich will das Enzym isolieren, das für die Umwandlung des Mittels notwendig ist und das ich im Gegensatz zu ihm habe.« »Und wie?« Robinson lächelte. »Das glauben Sie mir nicht.« »Warum nicht?« »Weil Sie nicht glauben werden, dass es so elegant, so einfach und schön sein kann. Sie werden es für Zauberei halten, aber das ist es nicht; es ist wunderbare, herrliche Wissenschaft.« Robinson sah uns an. »Was geschieht mit Rot und Blau? Denken Sie einmal an Ihre Schulzeit zurück. Rot und Blau. Mischen Sie sie. Was passiert dann?« »Ich weiß es nicht. Es gibt Lila, denke ich.« »Lila!« Robinson war jetzt wieder voller Energie, seine Erschöpfung war ihm kaum noch anzumerken. »Verdammt richtig, Lila, und jetzt kommen Sie mal her«, sagte er. »Schauen Sie sich das an.« Nightmare und ich folgten Robinson zum Ende des Tisches. »Sie entnehmen den beiden Versuchsteilnehmern, mir und Richardson, Blut. Denken Sie daran, dass Sie herausfinden wollen, was ich habe und ihm fehlt.« »Richtig.« »Durch Zentrifugierung werden die roten Blutkörperchen und andere Bestandteile, die für Sie nicht von Interesse sind, herausgelöst. Was übrig bleibt, ist ein Proteinextrakt. Ein paar tausend Proteine aus jeder Probe.« Er nahm zwei kleine, rechteckige Glasscheiben vom Tisch. »Mit Hilfe von Spannung 379
werden die Proteine auf den Glasscheiben verteilt, meine auf der einen, die von Richardson auf der anderen. Können Sie mir folgen?« »Ja«, sagte ich zweifelnd. »Als Nächstes färben Sie meine Probe rot und Richardsons blau. Und dann geben Sie die beiden auf einem 2-D-Gel zusammen.« »Das heißt?« »Sie streichen sie aufeinander, bis sie sich vollständig überlagern.« Er sah uns an. »Und was ergeben Rot und Blau zusammen?« »Lila«, sagte ich. »Genau.« Robinson breitete die Arme aus, als hätte er gerade etwas Tiefgründiges gesagt. Als er meinen verständnislosen Blick sah, sagte er: »Strengen Sie doch mal Ihren Grips an, verdammt nochmal. Was passiert jetzt?« »Keine Ahnung.« In Nightmare kam auf einmal Leben. »Rot und Blau aufeinander: Das heißt, Bestandteile, die in beiden Proben vorhanden sind, werden lila. Aber Bestandteile, die nur in einer der beiden Proben vorkommen, behalten ihre ursprüngliche Farbe. Rot oder Blau. Diese einzelnen Farbpunkte springen total ins Auge.« Robinsons Lächeln war so aufrichtig, dass ich hätte heulen mögen. Falls er doch auf der Strecke blieb, war das ein Verlust für die ganze Menschheit. Aber im Augenblick vibrierte er nur so vor Forschungslust. »Exakt.« »Wie lange dauert das alles?« »Die Vorbereitung erfordert Zeit. Wenn ich die Gels fertig habe, kommen wahrscheinlich eine ganze Menge von Einzelproteinen zum Vorschein, von denen die meisten gar nichts mit dem Lipitran zu tun haben. Sie zeigen einfach nur personenspezifische Eigenschaften an. Ich kann sie wahrscheinlich so weit aussortieren, bis nur noch eine Hand voll 380
wahrscheinlicher Kandidaten übrig bleibt. Durch Trypsinierung der jeweiligen Proteine kann ich die entsprechenden Aminosäuresequenzen bestimmen. Dann logge ich mich auf der NIH-Site ein, vergleiche die Sequenzen mit dem menschlichen Genom und identifiziere das richtige Enzym.« Er machte eine Pause. »Wenn einer allein daran arbeitet, dauert es mindestens zwei Tage. Aber wenn jemand hilft …« Er richtete den Zeigefinger auf Nightmare. »Willst du einen Job?« Nightmare schaute sich um, als hätte Robinson jemand anders gemeint. »Teufel auch, klar«, sagte er dann. »Was wollen Sie von mir?« »Jede Sekunde deines Lebens bis zu dem Augenblick, in dem das alles vorbei ist.« Nightmare lächelte, und es war womöglich das erste Lächeln seines Lebens ohne Sarkasmus oder Ironie. Robinson wandte sich an mich. »Sie sollten nach Hause gehen«, sagte er. »Sich umziehen. Duschen, Himmel nochmal.« »Bleiben Sie am Leben?« »Offenbar. Die Sache ist die: Sie können sich hier nicht nützlich machen. Was wollen Sie also tun, – anderthalb Tage lang babysitten? Und was Ralston betrifft, so ist Dougs Leiche eingeäschert, wir stellen folglich keine Bedrohung mehr für ihn dar. Wir können ungehindert arbeiten.« Ich seufzte tief und erschöpft. »Na schön, ich gehe duschen, mich frisch machen. Ich rufe Sie an.« Robinson schüttelte den Kopf. »Sehen Sie zu, dass Sie ein wenig Schlaf bekommen, Jack. Ich rufe Sie an, sobald wir erste Ergebnisse haben.« Ich gab Nightmare einen Wink, und er folgte mir auf den Flur. »Du hast deine Sache gut gemacht, Michael«, sagte ich. »Wie fühlst du dich denn jetzt?« Nightmare grinste. »Etwas seltsam.« »Ich habe eine Belohnung für dich.« »Was denn?« 381
»Hast du Geld?« »Sie haben wohl vergessen, wie wir uns kennen gelernt haben.« »Yeah. Aber mal im Ernst: Kannst du an Geld kommen? Von deinen Eltern oder sonst jemandem?« Er schwieg eine Zeit lang und überlegte. »Meinen Eltern«, sagte er. »Sie stinken vor Geld.« Nach anfänglicher Verblüffung brach ich in Gelächter aus. »Du bist mir vielleicht ein schöner Anarcho! Bist nur zur Gegenkultur übergelaufen, weil deine Eltern deine Miete bezahlen können!« »Dass ich nicht lache.« »Ich lache für uns beide zusammen. So was Scheinheiliges …« »He, es ist nicht leicht, so aufzuwachsen.« »Aber du verfügst über ein Treuhandvermögen für dich, oder nicht?« Nightmares teigiges Gesicht lief rot an. »Ja, mag sein.« »Millionen?« »Ein paar«, sagte er, »aber erst, wenn ich fünfunddreißig bin. Sie trauen mir nicht, die blöden –« »Behalt’s für dich«, unterbrach ich ihn. »Bettle sie um ein paar tausend an. So viel du rausschlagen kannst. Oder stiehl’s meinethalben bei Radio Shack. Stell dir einfach vor, dass dich jemand umbringt, wenn du das Geld nicht auftreibst. So bitterernst ist es mir. Und sag Robinson, er soll es genauso machen.« »Was haben Sie denn vor, Mann?« »Es gibt mehr als eine Art, Rache zu nehmen, Michael. Warte nur ab.« Ich fuhr hundemüde nach Hause und musste ständig gegen den Schlaf ankämpfen. Robinson war hinter den gut bewachten Toren von Grayton in Sicherheit, und ich hoffte, endlich ein 382
paar Stunden Schlaf zu finden. Ich trat in meine Wohnung ein und ließ meinen Blick argwöhnisch auf der Suche nach etwas Verdächtigem schweifen. Aber alles war an seinem Platz. Ich schloss die Tür ab, zog mir die Hosen aus und fiel aufs Bett. Ich schlief vier Stunden, die ich dringend brauchte. Als ich aufwachte, war es gegen drei Uhr nachmittags. Ich duschte und zog mich um, von neuer Energie erfüllt. Mein erster Impuls war, Robinson anzurufen. Ich wusste, dass sein Test noch nicht angelaufen sein konnte, aber ich wollte seine Stimme hören und mich vergewissern, dass er sich nicht innerlich auflöste. Ich ging ins Wohnzimmer und sah den Anrufbeantworter, der noch immer blinkte. Widerstrebend drückte ich auf die Taste. Die Nachrichten sprudelten nur so in meine stickige Wohnung. Ein paar von Blu, die sich wunderte, wo ich blieb. Billys längst überholte Bitte um Rückruf. Und dann stand meine Welt wieder Kopf, denn die letzte Nachricht kam, und es war Micheles Stimme. Sie hatte erst vor wenigen Stunden angerufen. Jack, ich bin ’s. Können wir uns irgendwo treffen? Wir müssen miteinander reden. Die Dinge sind … Tut mir Leid, wie sich alles entwickelt hat. Ich hatte dir ja gesagt, du solltest dich nicht blicken lassen bei dem Vortrag, Liebling. Wollen wir uns für heute Abend verabreden? Ich wünschte, du wärst hier. Ich muss dich sehen. Es ist so viel passiert, so viel Verrücktes. Heute Abend gegen neun in deiner Kanzlei? Geht das? Ich liebe dich. Ich lehnte mich auf meinem Sofa zurück und horchte auf ihre Stimme. In den letzten 72 Stunden hatte mich Derek Stephens an die Wand gespielt, hatte ich die Kündigung meiner Sekretärin erhalten, meinen Wagen fast schrottreif gefahren, war gekidnappt, mit Klebeband gefesselt und in eine Kammer geworfen worden, daraus geflüchtet, hatte eine nutzlose Andachtsstunde in einer Leichenhalle verbracht und Thomas Robinson tatenlos dabei zugesehen, wie er sein Leben aufs Spiel setzte, um seinem Lebenswerk wieder einen Sinn zu geben. Und all das hatte ich gemacht, weil ich nach Gerechtigkeit lechzte 383
und weil ich eine Frau liebte, die mit einem Mörder verheiratet war, wie ich annahm. Ich war nicht immun dagegen, dass sie mich angelogen hatte, als sie sagte, ihr Mann kenne die Wahrheit über sie nicht. Während ich ihrer – in Abwesenheit ihrer berauschenden Gegenwart körperlosen – Stimme lauschte, musste ich mir eingestehen, dass ich tatsächlich nicht wusste, wie weit ihre Lügen gingen. Was hatte sie gesagt? Erkläre mir bitte, wie das gehen soll, Jack. Mein ganzes Leben ist eine Lüge, und du willst, dass ich den richtigen Moment finde, um daraus auszusteigen. Dass ich sie beim Lügen ertappt hatte, hieß für mich nicht, sie nicht lieben zu können. Vertrauen ist etwas Starres – es bricht wie ein trockener Zweig –, während Liebe flexibel ist. Wenn die Frau, die man liebt, im Ertrinken begriffen ist, macht man nicht lange eine Charakteranalyse, sondern wirft ihr ein Tau zu. Blieb allerdings noch die Frage offen, was danach geschah. Eine Frau wie Michele zu lieben war ein Spiel mit hohem Einsatz, und ich hatte bereits einen Irrsinnspreis bezahlt. Ich fragte mich, wie hoch er noch steigen würde und wer am Ende die Rechnung bezahlen musste. Und während ich da saß und auf ihre Stimme lauschte, fiel mir plötzlich ein, dass es noch eine letzte, unstrittige Möglichkeit gab, Vertrauen und Liebe wieder zusammenzuführen oder sie für immer zu trennen. Die wahre Geschichte der Michele Sonnier schlummerte in den Aktenschränken des Bezirksgerichts von Fulton County, und mein bester Freund hatte die Schlüssel dazu. Wenn ich mich beeilte, konnte ich Sammy noch erwischen, bevor er Feierabend machte.
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28 Immerhin konnte ich mit einer frohen Botschaft beginnen. »Du wirst nicht sterben, Sammy«, sagte ich. »Du wirst leben.« Ich hatte Sammy um halb fünf noch erwischt, bevor er weg war. Ich zog ihn in sein kleines Büro zurück, drückte ihn auf seinen Sessel, machte die Tür zu und schloss sie ab. Nachdem ich ihm erzählt hatte, was Stephens zu der Sache mit seinem Wagen gesagt hatte, blickte er mich argwöhnisch an; es war nicht zu übersehen, dass der anfängliche Endorphinstoß, der seine Unabhängigkeitserklärung begleitet hatte, vor etwa 48 Stunden bereits verflogen war und er nun mit stoischem Gleichmut die fälligen Prügel erwartete. »Aber er wird mir die Steuerprüfer auf den Hals jagen, oder?« Ich schüttelte den Kopf. »Derek Stephens kann dir die Steuerprüfer nicht auf den Hals jagen, Sammy.« »Na ja, aber du weißt schon. Irgendwas wird er bestimmt ausbrüten.« »Du hast nichts zu befürchten, Sammy. Es liegt am Timing. Du hast Glück.« Diese letzte Feststellung war etwas vollkommen Neues für Sammy, und es dauerte eine Weile, bis er sie in seinen Katalog realistischer Möglichkeiten aufgenommen hatte. »Glück«, wiederholte er, als sei es ein Wort aus einer fremden Sprache. »Ich.« »Genau. Er unternimmt nichts wegen des Autos.« Sammy blickte von seinem Schreibtisch auf. »Weil Ruhe angesagt ist.« »Richtig. Er kann sich im Augenblick absolut keine schlechte Publicity leisten. Was du mit seinem Wagen gemacht hast, würde sofort in der Letterman-Show verhackstückt.« »Stimmt.« 385
»Wenn du dich also in der nächsten Zeit ein bisschen zurückhältst, ist alles in Butter.« Ich machte eine Pause. »Bis sich der Staub wieder gelegt hat, kannst du längst in Sibirien oder sonstwo sein.« »Klar«, sagte Sammy, der sich allmählich damit anfreundete, Riesenglück zu haben. »Klar kann ich mich zurückhalten.« In sein Lächeln, das noch immer etwas zaghaft war, kehrte langsam die alte Kraft zurück. »Sicher kann ich mich bremsen, Jackie-Boy. Auf jeden Fall kann ich das.« »Außer in einem Punkt«, sagte ich. Sammys Miene erstarrte mitten im Lächeln. »Ich wusste es«, sagte er mürrisch. »Er will mir die Knie brechen lassen, stimmt’s?« »Nein, nein, Sammy. Ich meine, dass du dich nur in einem Punkt nicht zurückhalten sollst.« Auf Sammys zweifelndem Gesicht erschien ein Anflug von neuer Hoffnung. »Was meinst du denn damit, Jackie-Boy?« »Du kommst doch an alle Gerichtsakten ran, nicht wahr?« Sammy nickte zögernd. »Ja.« »Auch von Jugendlichen?« Sammy stand auf und wies zur Tür. »Nett, dass du da warst, Jackie-Boy«, sagte er, und das Lächeln war wie weggeblasen. »Ich hab noch was zu erledigen.« »Hör doch erst mal zu, Sammy.« Sammy setzte sich wieder hin und fixierte mich mit seinem Justizsekretärsblick. »Sie sind versiegelt, Jack. Das heißt, der einzige Mensch, der die Worte ›Sammy‹, ›Jugendstrafakten‹ und ›Zugriff‹ kombinieren darf, ist Richter Thomas Odom.« »Ich habe doch nur gesagt, dass du Zugang dazu hast, Sammy. Du gehst alle Nase lang da runter.« »Das stimmt. Für Odom.« Ich versuchte, es nicht zu hochzuspielen. »Weil er wissen muss, was die kleinen Biester ausgefressen haben, bevor sie vor seinem Gericht erscheinen. Was ich sagen will: Es dürfte doch 386
keine so große Sache sein, die Akte von noch einer Person abzuholen, wenn du eh gerade unten bist.« »Du träumst wohl.« »Sammy, ich brauche sie.« »Und ich brauche meinen Job.« »Es wird dich schon nicht deine Stellung kosten.« Das musste ich im Brustton der Überzeugung vorbringen, denn sein Job war Sammys einzige Verbindung zu einem sinnvollen Leben. Er war sein Daseinsgrund, sein Tor zu jenem Teil der Gesellschaft, der anständige Anzüge trug, »bitte« sagte und ihm seine Drinks in sauberen Gläsern servierte. »Warum«, sagte Sammy, »sollte ich das denn für dich tun?« »Weil ich am Abgrund stehe, Sammy. Und weil eine Frau mit großen Problemen meine Hilfe braucht.« Sammy starrte mich an. »Es muss diese junge Dame sein. Ralstons Frau.« »Ja.« Sammy pfiff leise. »Verdammt, Jackie. Das geht dir ja richtig unter die Haut.« »Das muss mir ein Mann sagen, der alles –« »Ich weiß«, unterbrach mich Sammy. »Das war aber auch ’ne reife Leistung, das musst du zugeben.« Ich nickte. »Hör mal, Sammy, Stephens hat nicht nur von dir gesprochen. Er hat auch eine ganze Menge über Michele gesagt.« »Und was?« »Dass sie …« Ich hielt inne; alles in mir sträubte sich, es auszusprechen. »Er behauptet, sie sei eine notorische Lügnerin. Er behauptet, ich würde mich von ihrer Voodoo-Ausstrahlung einwickeln lassen. Er behauptet, dass sie irgendwie krank sei und ihr Vergnügen daran habe, einen Mann dahin zu bringen, dass er tut, was sie will. Und die Sache ist die, Sammy: Ich liebe sie zwar, aber ich bin kein solcher Narr, dass ich das, was Stephens gesagt hat, völlig unrealistisch fände.« Jetzt war mir 387
übel, aber ich war fest entschlossen, Klarheit zu schaffen. »Die Wahrheit liegt irgendwo im Keller dieses Gebäudes. Und du hast Zugang zu den Akten. Fünf Minuten Akteneinsicht, und ich weiß, ob sie lügt.« »Sie lügt.« »Woher weißt du das?« »Ich weiß es nicht. Aber es macht die Sache leichter. Dann kannst du dich umdrehen und gehen.« »Nichts wäre mir lieber. Aber wie sich herausgestellt hat, ist sie mit einem Mörder verheiratet.« Sammy atmete hörbar aus. »Mit dieser Behauptung wäre ich vorsichtig, Herr Anwalt, es sei denn, du kannst es beweisen.« »Ich arbeite dran. Im Augenblick zählt nur, dass acht Menschen tot sind und dass Ralston sie umgebracht hat. Na ja, Ralston und Stephens.« »Jesus, Maria, Jack! Bist du sicher?« »Ziemlich.« »Denn im Ernst, Jack, es geht um meinen Arsch.« »Weiß ich. Aber es gibt keinen anderen Weg. Ich muss es in Erfahrung bringen, so oder so.« Sammy sah mich sekundenlang an, dann stand er auf. »Du wirst mir eine Bar kaufen müssen, um das wiedergutzumachen. Das ist dir doch wohl klar.« »Ja. Ich weiß. Hör zu, sie hieß damals anders. Fields, T’aniqua.« Ich nahm einen Stift und kritzelte den Namen auf einen Zettel. Sammy betrachtete den Zettel eine Zeit lang, dann hob er den Kopf. »Na gut, gottverdammich. Alles für die Liebe.« »Danke, Sammy.« Sammy nahm seine Aktentasche. »Verhalt dich still und warte hier. Rede mit niemandem, geh nicht ans Telefon und mach die Tür nicht auf, außer wenn ich es bin. Ich bin in fünf Minuten wieder da.«
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Ich kann nicht behaupten, dass ich sicher war, ob Sammy mir helfen würde, aber ich hatte es gehofft, einfach deshalb, weil ich ihn so gut verstand. Sammy Liston war Havarieware. Einerseits schwankte er stimmungsmäßig zwischen ätzender Bitterkeit darüber, so wenig erreicht zu haben, und einer unstillbaren Lüsternheit nach unerreichbaren Frauen. Andererseits konnte er sich, wenn nötig, auf das Wesentliche beschränken und locker sein wie ein Jedi-Meister. Ihn in dieser Hinsicht zu unterschätzen wäre ein gravierender Fehler. Nach etwa fünfzehn Minuten kam Sammy zurück, schweißgebadet vor Nervosität. »Du hast hoffentlich nicht so ausgesehen, als du unten warst, oder?« »Wie ausgesehen?« »Als würdest du eine Bank ausrauben.« Sammy schloss die Tür hinter sich, trat an seinen Schreibtisch und öffnete die Aktentasche. Er zog einen alten, verblichenen Pappordner heraus. »Du hast zehn Minuten.« »Der ist aber daumendick.« »Dann fang lieber gleich an.« Ich nickte und schlug den Ordner auf. Es waren mindestens fünfzig Schriftstücke, manche davon zwanzig Jahre alt. Da ich keine Zeit hatte, alles Blatt für Blatt zu lesen, überflog ich größere Abschnitte und stückelte mir auf diese Weise Micheles Lebensgeschichte zusammen. Geburtsort: Atlanta, Georgia, Fulton County Hospital. Datum: 17. Mai 1974. Mutter: Tina Kristen Fields. Vater: unbekannt. Alle Pflegeeltern waren aufgeführt, sechs an der Zahl. Es war, gelinde gesagt, ein elendes Hin-und-her-gestoßen-Werden, eine erschütternde Kindheit von der Art, wie Dickens sie beschreibt. Den Schmerz, den sie auf die Bühne hinaustrug, hatte sie wahrhaftig durchlitten. Aber im Gegensatz zu dem, was Stephens gesagt hatte, gab es keinen Hinweis auf Straftaten irgendwelcher Art. Ich blätterte bis zum Ende des Ordners und suchte nach näheren Angaben über die Geburt ihrer Tochter. 389
Ziemlich weit hinten fand ich den Entscheid des Jugendgerichts. Ich überflog das Juristenlatein und stieß auf Folgendes: Obgleich Miss Fields wünschen mag, das Kind nach seiner Geburt zu behalten, muss das Gericht im Interesse des Kindes handeln. Im vorliegenden Fall wird diese Interessenwahrnehmung enorm erschwert durch den Status der Mutter. Diese ist selbst bei Pflegeeltern untergebracht und daher wahrscheinlich nicht in der Lage, ihren Mutterpflichten in gebotenem Maße nachzukommen. Darüber hinaus haben ihre Pflegeeltern deutlich gemacht, dass sie weder selbst die Verantwortung für das Neugeborene übernehmen können noch gewillt sind, Miss Fields in der Säuglingspflege anzuleiten. Das Gericht sieht keine realistische Möglichkeit, Mutter und Tochter bei den gleichen Pflegeeltern zu belassen. Eine andere Pflegefamilie für sie zu finden ist extrem schwierig, zeitraubend und risikoreich. In Anbetracht all dessen befindet das Gericht, dass die einzig mögliche Handlungsweise die Übertragung des Sorgerechts an einen Vormund ist. Ich blickte Sammy an. »Ist das alles? Stephens hat gesagt, sie sei mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt geraten.« »Wenn es da nicht drinsteht, dann nicht.« Ich blätterte die Akte noch einmal durch. »Das Gericht hat das Kind geholt, aber es steht nichts da von irgendwelchen Drogengeschichten. Das Kind ist ihr auch nicht zu Hause weggenommen worden. Sie hat es gar nicht erst dahin mitnehmen können.« Ich stand auf und schüttelte Sammy die Hand. »Du bist spitze.« Sammy lächelte und nahm den Ordner. »Mach, dass du rauskommst, bevor du mich um weitere Gefallen bittest!« Ich ging, stieg in mein Auto und wählte Robinsons Durchwahl im Labor. Nightmare meldete sich. »Ich bin’s«, sagte ich. »Erzähl mal, wie es läuft.« 390
»Alles okay. Robinson hat sich vor einiger Zeit nochmal übergeben, aber er sagte, das sei normal.« »Hat er die Blutprobe gezogen?« »Ja. Er hat so lange gewartet, wie er es eben aushalten konnte, weil wir keine Zeit haben, den Test noch ein zweites Mal durchzuführen. Wir sind schon seit ein paar Stunden dran. Er meint, dass es weitere zwölf dauern könnte, bis wir das Ergebnis haben, selbst wenn wir beide dranbleiben.« »Kommst du klar?« »Ich glaub schon. Jedes Mal, wenn er hustet, denke ich, dass er krepiert.« »Ihr müsst beide unbedingt mal schlafen, bevor’s zum Endspurt kommt«, sagte ich. »Ihr könnt nicht einfach immer weitermachen, ohne Fehler zu begehen.« »Nein, aber so schlimm ist es nicht. Robinson sagt, die letzten fünf, sechs Stunden brauchten wir nur beim NIH abzuwarten, welches Enzym zum menschlichen Genom passt. In der Zeit hauen wir uns hin.« »Okay. Bleib locker, Michael. Ich komme irgendwann am späten Abend. Falls sich was ändert, ruf mich an.« »Ja, mach ich.« Damit legte er auf. Nach Robinsons Einschätzung war frühestens am nächsten Morgen mit einem Ergebnis zu rechnen. Ich musste noch drei Stunden ausharren, ehe ich mich mit Michele traf. Aber diese Zeit brauchte ich auch dringend. Bei Ralstons menschenverachtender Weltanschauung kümmerte es mich nicht weiter, dass es vielleicht nur noch Stunden dauerte, bis alles um ihn herum zusammenfiel. Aber nicht nur bei Ralston und Stephens würde das Unterste zuoberst gekehrt. Auch Michele würde zwangsläufig ins Kreuzfeuer der Zerstörung geraten, und das war eine ganz andere Sache. Es herrscht ein zu großes Chaos auf dieser Welt, als dass man an die Vollkommenheit des Menschen glauben könnte, den man liebt, und so hatte ich mich mit ihrer Art der Lebensbewältigung 391
abgefunden. In der Hölle geboren, hatte sie ihre Überlebenschancen nach besten Kräften genutzt. Aber sie war anders als ihr Mann. Das, was an der menschlichen Seele kostbar ist, war ihr trotz allem, was sie durchgemacht hatte, geblieben und sogar aufgeblüht. Es machte sie zu einem noch wertvolleren Menschen. Und zu einem ganz außergewöhnlichen Menschen, wenn sie sang. Falls Robinsons Theorie sich als richtig erwies, würde gegen Horizn Anklage erhoben werden, und dann drohte ihr die Entthronung. Die sensationslüsterne Boulevardpresse würde sich auf sie stürzen und ihre bewegte Vergangenheit ans Licht zerren. Aber meiner Überzeugung nach würde sie das alles heil überstehen. Es gibt Leute, die erinnern einen daran, was es heißt, Mensch zu sein, trotz ihrer Fehler. Erst in diesem Moment kam ich innerlich zur Ruhe, und mir wurde bewusst, wie sehr ich mich nach ihr sehnte. Meine Liebe zu Michele war keine Wiederholung der Sache mit Violeta Ramirez. Meine Liebe zu Michele war etwas, das meine ganze Seele erfüllte. Ich fuhr etwas früher zu meiner Kanzlei und musterte die Straße. Micheles Wagen war noch nicht da. Ich stieg aus und ging über den Parkplatz zum Haus, um oben zu warten. Ich stieg die Treppen zu meiner Kanzlei im zweiten Stock hinauf, schloss die Tür auf und schaltete das Licht ein. Die Tür zu meinem Büro war angelehnt, und ein schwacher Lichtschein fiel durch den Spalt. Ich ging hin, stieß die Tür auf und sah eine Gestalt mit dem Rücken zu mir in meinem Schreibtischsessel sitzen. Der Sessel drehte sich langsam, und Derek Stephens zeigte sich von vorn. Er lächelte nicht. Außerdem hielt er eine Pistole in der Hand. »Schließen Sie die Tür«, sagte er. Er sah mich ruhig an. »Robinson hat sich also lange genug selbst in den Arsch getreten, um alles ausknobeln zu können.« »Wo ist Michele? Ich schwöre bei Gott, dass ich Sie einen Kopf kürzer mache, wenn Sie ihr etwas angetan haben.« 392
Stephens ignorierte meine Frage. »Ganz schön clever, unser Gesichtserfassungsprogramm zu hacken.« Lieber Gott, sag mir bitte, dass Nightmare uns nicht wieder verraten hat. »Robinson beizustehen war keine gute Idee«, sagte Stephens. »Alles war so schön sauber. Und jetzt müssen noch mehr Menschen sterben.« Stephens schien verärgert zu sein. »Ich will Sie etwas fragen, Jack. Warum bleiben Sie eigentlich so beharrlich bei Ihren völlig verfehlten Wertvorstellungen, obwohl sie offensichtlich nichts taugen? Ihr idiotisches Festhalten an der Gerechtigkeit wird Sie Kopf und Kragen kosten.« »Sie werden das Spiel verlieren. Fragen Sie mich nicht, wie. Aber irgendwie und irgendwann werden Sie verlieren.« Stephens zuckte die Achseln. »Ich mag solche Verschwendung von Qualität eigentlich nicht, aber die Entscheidung liegt bei Ihnen.« »Sie werden schon darüber hinwegkommen. Und jetzt sagen Sie mir, wo Michele ist.« »Ich bin ein Mensch, Jack. Das Töten liegt mir nicht. Schon gar nicht, wenn es sich um qualifizierte Leute handelt.« »Darüber würden acht Menschen aus dem McDaniel Glen gern mit Ihnen reden, nur können sie’s nicht mehr, weil sie tot sind.« Stephens schüttelte abwehrend den Kopf. »Die meine ich nicht. Ich meine Leute wie Sie.« »Und was meinen Sie mit ›wie Sie‹?« »Leute, die etwas zu bieten haben.« »Weiße, meinen Sie.« Stephens zuckte wieder die Achseln. »Doug hat sein Schicksal selbst besiegelt, indem er sich für die Lipitran-Behandlung anmeldete. Rückblickend muss ich sagen, dass ich mit dieser Möglichkeit hätte rechnen müssen. Niemand sonst wusste so genau wie er über die Wirksamkeit von Lipitran Bescheid. Schließlich war er es, der uns diese Informationen beschafft 393
hat.« »Er hat also die Initiative ergriffen und sich als Versuchsteilnehmer gemeldet.« Stephens nickte. »Ich hatte es Charles gar nicht erzählt. Solche Patzer auszubügeln ist schließlich mein Job.« »Hier mal was Altmodisches für Sie, Derek. Sie sind ein Schweinehund. Doug hatte keine Ahnung, was Sie vorhatten. Hätte er es geahnt, hätte er Ihnen nie geholfen.« »Ihn abzuservieren hat mir Leid getan. Die anderen sind mir völlig egal.« »Ich frage mich, wie Ralston ihre spezielle Art von Rassismus aufnehmen würde.« »Er würde mir in allem zustimmen.« »Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Er hasst ja seine Leute.« Stephens lachte spöttisch. »Seine Leute?«, sagte er voller Hohn. »Seine Leute, das sind Ferien in der Karibik und Logenplätze bei den Hawks. Ausstellungseröffnungen und Emissionsgeschäfte. Rasse hat nichts mit der Hautfarbe zu tun, Jack. Schon seit mindestens zehn Jahren nicht mehr.« »Wohinein passt denn da Michele?« Seine Miene verdüsterte sich. »Sie ist zu bekannt, um einfach zu verschwinden, aber wir können auch nicht zulassen, dass sie ständig Ärger macht. Wir haben versucht, sie unter Kontrolle zu halten, aber sie ist zu gefährlich geworden. Das war ein fast unlösbares Problem, um ehrlich zu sein. Es hat mir große Sorgen bereitet. Und dann war sie so freundlich, selbst eine Lösung zu finden.« »Und das heißt?« Stephen zuckte die Achseln. »Wie bringt man eine Berühmtheit um? Es ist fast unmöglich, es sei denn, sie ist so zuvorkommend, sich freiwillig an einen der gefährlichsten Orte Amerikas zu begeben.« Mir gefror das Blut in den Adern. »Sie ist im Glen.« »Natürlich ist sie im Glen. Eine Ironie des Schicksals, finde 394
ich. Sie will sich dort von ihren Gewissensnöten freikaufen.« Er sah mich an. »Schade, dass sic ihre Verabredung mit Ihnen nicht einhalten konnte. Aber Jamal Pope hat angerufen und gesagt, die Tochter warte bei ihm, und im Tausch gegen eine große Summe Geldes könne sie sie haben. Sie dürfe aber niemandem etwas davon erzählen und müsse allein kommen. Das war eine Einladung, der sie nicht widerstehen konnte.« »Sie haben Pope dafür bezahlt, sie umzubringen.« »Er ist offenbar sehr gut in diesen Dingen. Morgen wird in den Zeitungen stehen, dass Michele Sonnier, von ihrer bis dahin unbekannten Sucht getrieben, so töricht war, sich mitten im Glen Stoff besorgen zu wollen. Unglücklicherweise sei sie dabei Mitgliedern einer Gang über den Weg gelaufen, die ein Auge auf ihre Siebzigtausend-Dollar-Limousine geworfen hatten. Es hätte Streit gegeben, und sie hätte den Kürzeren gezogen.« »Und das ist dann ihr Ende? Die Lügengeschichte von einem Drogendeal, der schief ging?« Stephens blieb ungerührt. »So etwas Prosaisches passiert nun einmal, und genau das macht die Sache perfekt.« »Und ich?« Stephens hatte auf einmal wieder den geistesabwesenden Blick, mit dem er sich von gewissen Details zu distanzieren pflegte. »Sie, Sir Gawein? Ihr Wunsch geht endlich in Erfüllung. Sie wollten ja von Anfang an für eine Dame sterben.« Ich erstarrte. »Wie kommen Sie denn auf die Idee?« »Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt, Jack. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Ist die Kleine vor zwei Jahren nicht aufgrund Ihrer Indiskretion gestorben? Und haben Sie nicht Ihr Leben von da an nicht mehr lebenswert gefunden?« Er lächelte. »Ich gebe Ihnen die Gelegenheit, die Sache mit Violeta Ramirez wiedergutzumachen, Jack. Sie werden ganz groß rauskommen als echter Ritter. Himmel nochmal, ich tue Ihnen einen Gefallen!« »Sie haben sie beim Namen genannt.« 395
»Wen? Violeta Ramirez?« Ich stürzte mich über den Schreibtisch hinweg auf ihn, entschlossen, ihm das Genick zu brechen. Ich erwischte ihn an der Brust, sodass er mit dem Stuhl gegen die Wand rollte. Er war überrascht und wütend, und ich versetzte ihm noch einen kräftigen Schlag in die Magengrube, bis er keuchend nach Luft rang. Daraufhin haute er mir die Waffe heftig auf den Hinterkopf, und ich ging in die Knie. Jetzt hielt er mir die Pistolenmündung vors Gesicht. Der Anblick sorgte für sofortige Klarheit in meinem Hirn, und ich erstarrte. Zu sterben, ohne ihm ein Härchen gekrümmt zu haben, wischte ihm weder sein selbstgerechtes Lächeln vom Gesicht noch rettete es Michele das Leben. Der Pistolenlauf schimmerte tödlich im Dämmerlicht. Halb am Boden, wich ich ein Stück zurück. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Jack«, sagte Stephens. »Dass ich so etwas lieber von Pope erledigen lasse, heißt nicht, dass ich es nicht selbst tun könnte. Es steht so viel auf dem Spiel, dass alles Notwendige getan werden muss.« Ich ließ die Pistole, die nur dreißig Zentimeter von meinem Gesicht entfernt war, nicht aus den Augen. »Und was jetzt?« Stephens erhob sich. »Wir müssen gehen.« Er zerrte mich hoch und drückte mir die Pistolenmündung in die Rippen. »Das Geschichtenerzählen ist vorbei. Los.« Wir gingen durch die Kanzlei auf den Flur. Die ganze Zeit, während wir die Treppe ins Erdgeschoss hinabstiegen, drückte Stephens mir die Pistole in den Rücken. Als wir nach draußen traten, war die Straße wie leer gefegt. Er presste mir die Waffe zwischen die Schulterblätter und sagte: »Da drüben. Der graue Ford.« »Ein Taurus? Eigentlich unter Ihrer Würde.« Stephens ging weiter. »Er fällt nicht auf.« Er schloss die Fahrertür auf und stieß mich hinein. Er folgte mir und schob mich auf der Sitzbank weiter. Dann schloss er die Tür und drückte mir wieder die Pistole in den Leib. Bei einem tiefen Schlagloch in der Straße ging sie womöglich los. »Ein paar 396
Verhaltensregeln: Wenn Sie auch nur eine falsche Bewegung machen, sind Sie tot. Dann brauche ich nur noch Ihre Leiche zu Pope zu bringen, der sie sicher entsorgen würde. Können Sie mir folgen?« »Ja.« »Gut. Dann wollen wir jetzt Ihre Freundin suchen.« Er bog auf die leere Straße ein und fuhr in gleichmäßigem, unauffälligem Tempo in Richtung Glen. Stephens fuhr konservativ, wir hielten an allen roten Ampeln an. Auf halber Strecke sagte ich: »Sie müssen sich noch Gedanken über Robinson machen.« Stephens wandte den Blick nicht von der Straße. »Nach seiner zweiten Demütigung ist der Doktor schwer angeschlagen. Er hat wieder einen Arbeitgeber in den Ruin getrieben. Sein Leben erscheint ihm nicht mehr lebenswert.« »Meinen Sie, das kauft Ihnen die Polizei ab?« »Auf Robinsons Computer bei Grayton ist eine Art persönliches Tagebuch von ihm installiert. Es ist sorgfältig umgeschrieben und der letzte Monat fein säuberlich aktualisiert worden. Ermittler werden nachlesen können, dass sich sein Geisteszustand zunehmend verschlechtert und sein Selbstvertrauen zutiefst erschüttert ist. Er hat keine Freunde mehr und mag sich nirgendwo blicken lassen. Seine Verzweiflung wächst. Schließlich fasst er den Entschluss, seinem Leben ein Ende zu machen. Das steht alles da, Zeile für Zeile. Der zeitliche Ablauf wird jeder Überprüfung standhalten.« »Und Michael?« Stephens lachte. »Er ist im vollen Sinne des Wortes Dougs Nachfolger. Ebenso gestört, ebenso leicht zu beeinflussen.« Er wandte sich zu mir. »Was glauben Sie denn, wer Robinsons Tagebuch manipuliert hat?« Ich starrte vor mich hin, und die Kälte in meinem Innern nahm zu. Ich hatte ja in dem Augenblick keine Ahnung, ob Nightmare 397
Robinson wirklich half oder ob er dafür sorgte, dass der Test ergebnislos blieb. Und falls Stephens etwas damit zu tun hatte, würde ich es nie erfahren. Die Fahrt zum Glen dauerte etwa zwanzig Minuten. Es war relativ wenig Verkehr auf den Straßen, und wir fuhren völlig unbehelligt zwischen den wenigen Fahrzeugen, die auf dem Freeway unterwegs waren. Als wir uns der Pryor Street näherten, stieß er mir den Pistolenlauf noch fester in die Seite. »Kommen Sie nicht auf dumme Gedanken. Pope hat dafür gesorgt, dass wir im hinteren Teil des Glen für die nächste Stunde ungestört bleiben.« Wir verließen die Pryor Street und fuhren langsam auf den Eingang des Glen zu. Stephens bog links ein und fuhr die A Street entlang bis zum hinteren Ende der Parzelle. Ein paar Leute lungerten dort herum, aber anscheinend war ihnen aufgetragen worden, sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Niemand schenkte uns auch nur einen flüchtigen Blick, als wir vorbeifuhren. So rollten wir langsam durch den Glen und bogen am entlegenen Ende der Häuserblocks wieder links ein. Die dortigen Wohneinheiten lagen am weitesten abseits und grenzten mit der Rückseite an die Eisengatter, die diese Stadt innerhalb einer Stadt umschlossen. Stephens hielt an und entriegelte die Tür. »Eine falsche Bewegung, und ich erschieße Sie auf der Stelle.« Er öffnete die Autotür und schlüpfte hinaus, die Waffe auf mich gerichtet. »Los jetzt«, sagte er. Ich schob mich zu ihm hinaus, und er packte mich am Arm und stieß mich vor sich her. Gemeinsam gingen wir ein paar Schritte auf dem unbeleuchteten Bürgersteig, dann spürte ich, dass der Pistolenlauf mich nach links um die Ecke dirigierte. Ich gehorchte und ging um ein Gebäude herum, wo ich das sehen musste, was ich am wenigsten sehen wollte: Michele und Pope. Pope hatte noch eine zweite weibliche Person fest im Griff, ein Mädchen. Das war zweifellos Briah. Als Stephens das junge 398
Mädchen sah, fluchte er und stieß mich stärker, damit ich schneller ging. »Stimmt was nicht?«, fragte ich. Stephens drückte mir den Pistolenlauf noch härter in die Rippen. »Halten Sie das Maul und gehen Sie.« Beim Klang von Stephens’ Stimme wirbelte Michele herum. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. »Jack! O Gott, Jack, hilf mir!« Briah stand Halt suchend neben Pope. Ihr Blick war glasig, und es bestand kein Zweifel daran, dass sie high war. Sie beobachtete uns und wiegte sich dabei leicht hin und her. Physisch sah sie ihrer Mutter verblüffend ähnlich, nur war sie jünger. Es war Michele, bevor sie sich neu erfunden hatte, das Mädchen, das sie vor vierzehn Jahren einmal war. Für Michele musste es wie ein Blick in den Spiegel ihrer Kindheit sein. »Was zum Teufel ist hier los?«, sagte Stephens. »Das Mädchen hat hier nichts zu suchen.« Pope sah ihn verärgert an. »Sie kommen zu früh. Haben Sie keine Uhr?« Jetzt brauste Stephens auf: »Hammond kam zu früh. Aber haben Sie denn ganz den Verstand verloren? Die Sache mit Briah war doch nur ein Köder, Sie Schwachkopf. Sie sollten diesen Deal keineswegs richtig durchziehen!« Popes Stimme hatte plötzlich einen drohenden Unterton. »Mich nennt niemand einen Schwachkopf.« »Sie bringen eine weitere Person ins Spiel. Das ist keine saubere Arbeit. Sie wissen nicht, was das für Folgen hat.« Ich hielt instinktiv nach einer Deckungsmöglichkeit Ausschau. Ich wusste, was Stephens offenbar nicht wusste: Pope in seiner Welt den gebührenden Respekt zu versagen war eine Sache auf Leben und Tod. Dies war kein Sitzungssaal, dies war das Ghetto, und im Ghetto war Pope nicht bloß Chef der Hausverwaltung, sondern seine eigene Miliz, die sich Gehorsam erzwang. Wie auf ein Stichwort hin griff Pope in aller Ruhe nach hinten und zog eine Glock 20, eine der potentesten 399
Faustfeuerwaffen der Erde. Die Patronen explodieren beim Aufschlag und reißen im Körperinnern des Opfers ein Loch von dreißig Zentimeter Durchmesser ins Fleisch. Im Vergleich dazu war Stephens’ Pistole ein Spielzeug. Pope fuchtelte mit seiner Waffe in der Luft herum, ohne direkt auf Stephens zu zielen, aber es war eindeutig eine Drohung. »Eines sollten Sie wissen, Arschgeige«, sagte er. »Sie können nicht einfach über mich verfügen. Wenn wir in diesem Punkt Klarheit schaffen müssen, dann machen wir das am besten sofort.« Als das Wort »Arschgeige« fiel, wurde die Luft auf einmal bleiern. Stephens bebte. Er war weiß, er war unermesslich reich und privilegiert. Und ein Schwarzer, der aussah, als habe er sich zwei Tage nicht gewaschen, wagte es, ihn zu beleidigen. »Wie haben Sie mich gerade genannt?«, sagte er. Pope gab sich gelangweilt, noch ein schlechtes Zeichen. Beide Männer unterschätzten sich gewaltig, und das war eine gefährliche Situation. Ich versuchte, Blickkontakt zu Michele aufzunehmen, aber sie hatte nur Augen für ihre Tochter. »Drehen Sie Ihr Hörgerät höher, Arschgeige«, sagte Pope mit Betonung auf »Arsch«. »Dann muss ich für so ’ne Niete wie Sie nicht alles zweimal sagen. Wenn Sie ein paar Minuten gewartet hätten, läge diese Scheiße schon hinter mir.« Stephens zitterte vor Wut und Frust. Eine Sekunde lang dachte ich, es würde einen Schusswechsel geben. Aber Stephens wäre nicht zu einer so hohen Machtposition aufgestiegen, wenn er keine Disziplin besessen hätte. Er hatte zu viel zu verlieren, und so brachte er es mit einer erheblichen Willensanstrengung fertig, sich zu beherrschen. »Man kompliziert Milliardengeschäfte nicht mit solchem Mist«, sagte er. »Das ist dilettantisch.« »Das ist Ihr Geld«, schoss Pope zurück. Er schüttelte Briah, die abgeschlafft an seinem Arm hing. Es sah so aus, als würde sie aufs Pflaster fallen, wenn er sie losließe. 400
»Dies hier ist mein Geld.« Stephens schüttelte den Kopf. »Sie brauchen das Mädchen doch nicht vorzuzeigen, um das Geld einzustreichen.« »Sie ist von hier, Arschgeige. Sie ist nicht so blöd wie Sie. Sie musste erst einen Blick auf das Mädchen werfen.« Während Pope und Stephens miteinander stritten, hatte sich Michele Zentimeter für Zentimeter auf Briah zubewegt. Sie sah nur noch ihre Tochter. »Meine Kleine«, murmelte sie mit brechender Stimme. Sie begann zu weinen, machte ihrem Schmerz in kleinen Schluchzern Luft. Briah starrte ihre Mutter durch den chemischen Nebel an. »Die Sache gerät außer Kontrolle«, sagte Stephens. Er zeigte auf Briah. »Jetzt hat sie mich gesehen. Können Sie mir folgen? Sie hat mich gesehen. Das war nicht abgemacht.« Er drückte mir die Pistole wieder fest in den Rücken und schubste mich zu Michele hinüber. Ich legte meinen Arm um sie und beruhigte sie. Ihr Blick ruhte weiterhin auf Briah. »Meine Kleine«, flüsterte sie wieder, »meine Kleine, es tut mir so Leid.« Pope sah Michele an und legte den Arm um Briah. »Machen Sie sich keine Sorgen um sie«, sagte er zu Michele. »Alles in Ordnung mit ihr. Sie hat’s gut.« Genau genommen war es unklug von mir, den Mund aufzumachen. Aber mit anzusehen, wie sich Pope – ein Mann, der seinen Lebensunterhalt mit dem Elend seiner eigenen Leute verdiente – als Briahs treuer Beschützer aufspielte, empörte mich so, dass ich die Folgen meiner Reaktion gar nicht bedachte. »Bei Ihnen?«, sagte ich. »Wo sie den ganzen Tag voll gedröhnt wird? Da soll’s ihr gut gehen?« Ehe Pope etwas erwidern konnte, machte Michele schlapp und taumelte gegen mich. Sie zerbrach an der bitteren Reue, von der sie erfüllt war. Sie hatte ohne eigene Schuld – oder vielleicht auch mit, denn es herrschte ein totales Chaos, sodass man unmöglich sicher sein konnte – ihr Kind verloren. Und jetzt stand sie Auge in Auge der lebendigen Erinnerung gegenüber, 401
vor der sie immer zu fliehen versucht hatte. Sie lehnte an mir, aufgelöst in Scham, Schuldgefühlen und Tränen. Stephens zerrte sie von mir weg und zwang sie wieder auf die Beine. »Sie rastet völlig aus«, sagte er wütend. »Sie mögen ja hier das Sagen haben, aber früher oder später werden die Leute neugierig.« Michele brach in hohes, schmerzliches Wimmern aus. Pope, der jetzt verstand, was Stephens meinte, packte Briah am Arm und sagte: »Na gut, bringen wir diese Scheiße hinter uns. Aber nicht hier. Hinterm Haus.« Mir reichte es, zu sehen, wie Pope mit Briah umsprang, um ihn umbringen zu wollen. Und das nicht etwa im übertragenen Sinne. Ich lechzte ganz real und im wahrsten Sinne des Wortes danach. Doch zuvor hätte ich ihn gern an einen Stuhl gefesselt und ihn gezwungen, das abscheuliche Schauspiel menschlicher Tragik zu betrachten, das er in Gang gesetzt hatte. Mir gingen lauter Rachegedanken durch den Kopf, jedoch ohne realistischen Bezug. Wenn ich Pope an Ort und Stelle niedergeknallt hätte, hätte er im Augenblick des Todes keine Bekehrung mehr erlebt, wäre er nicht von jäher Reue übermannt worden. Das Böse war mittlerweile so tief in ihm verwurzelt, dass es Teil seines Wesens geworden war. Er hätte voller Wut darüber, dass seine Pläne durchkreuzt worden waren, das Bewusstsein verloren. Trotzdem hätte es seinen Reiz gehabt, ihn zu töten. Es wäre eine mutige Tat und ein wirklicher Dienst an der Öffentlichkeit gewesen. Der Arm des Gesetzes hatte so wenig vermocht, ihn unter Kontrolle zu halten, dass ich in diesem Augenblick liebend gern mehrere Jahre meiner Freiheit dafür hingegeben hätte, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, indem ich ihn umbrachte. Pope hatte sich inzwischen mit Briah zum Gehen gewandt. Stephens hatte alle Hände voll zu tun mit der zusammengebrochenen Michele, und so war ich einen kurzen Moment lang frei. Ich ging einen Schritt, aber da wurde mir auch schon wieder der harte Lauf einer Pistole an den 402
Hinterkopf gedrückt. »Marsch«, sagte eine junge, nervöse Stimme erschreckend dicht an meinem Ohr. Es war Rabbit, Popes Sohn. Im Angesicht des nahen Todes läuft alles in Zeitlupe ab. Ich weiß noch, dass ich auf das dunkle Ende der Gasse zuging, ohne klare Sicht und mit verworrenen Gefühlen. Mein Kopf war angefüllt mit Eindrücken, die in keinem Zusammenhang standen: dem Knirschen meiner Schritte auf dem zerbröselnden Schotter, das mir unnatürlich laut in den Ohren gellte; einem jähen, unerwarteten Windstoß, der einen Pappbecher gegen eine Wand blies; eine einsame, nackte Glühbirne, die in einem fernen Fenster brannte. Ich versuchte, mich zu sammeln und etwas zu meiner Gegenwehr zu ersinnen, aber alles, woran ich denken konnte, war die Pistole an meinem Schädel und dass die kleinste Bewegung Rabbit veranlassen würde, impulsiv abzudrücken. Nach seiner Vergangenheit zu urteilen, hatte er wahrscheinlich noch weniger Gewissensbisse, mich umzubringen, als sein Vater. Wir marschierten als kleine Gruppe die enge Sackgasse hinter dem letzten Gebäudekomplex des Glen entlang bis zum zugemauerten Ende. Es stank nach Urin und Schweiß und allem Entsetzlichen, das Hoffnungslosigkeit und Armut über Generationen hinweg hier angesammelt hatten. Michele und ich wurden in eine Mauerecke gestoßen. Michele war wie erstarrt und nicht mehr ansprechbar, so sehr nahm es sie mit, dass ihr die Tochter ein zweites Mal entrissen werden sollte. Sie murmelte kaum hörbar vor sich hin: »Meine Kleine, meine Kleine.« Wir beide standen nebeneinander, vor uns Pope, Stephens, Rabbit und Briah. Unsere Welt wurde kleiner und kleiner. Außerhalb dieser paar Meter Backstein existierte nichts mehr. Ich machte einen vergeblichen Versuch, Michele zu schützen, und nahm sie in meine Arme. »Es tut mir so Leid, mein Liebling«, sagte ich und zog sie fest an mich. Sie sah mir ins Gesicht, und wir hielten uns umschlungen, bereit, zu sterben. Dann hörte ich in der Dunkelheit Popes Stimme. »Rabbit 403
macht es. Er ist noch Jugendlicher.« Danach Stephens’ Stimme. »Es ist mir scheißegal, wer von euch sie umlegt. Ich weiß nur, dass ich dafür bezahlt habe und dass es erledigt werden muss, sobald ich hier raus bin.« Eine beängstigende, gefährliche Stille trat ein. Dann sagte Stephens: »Das Mädchen müsst ihr auch töten.« »Ich töte kein Mädchen«, widersprach Pope. »Sie haben Mist gebaut, verflucht nochmal«, sagte Stephens. Seine Stimme klang jetzt schrill. Bei diesem Handel ging es für ihn nicht bloß um ein paar Jahre Gefängnis oder eine Geldstrafe, sondern um 25 Jahre oder lebenslänglich. Die beiden liefen zusehends heiß. »Sie hätte nicht hier sein dürfen«, sagte Stephens. »Sie hätte einfach ihr erbärmliches Leben so weiterleben sollen wie bisher, ohne ihre Mutter kennen zu lernen. Aber durch Sie und Ihr kleines Zusatzgeschäft weiß sie jetzt Bescheid. Also müssen Sie den Patzer wieder ausbügeln.« »Alles Quatsch. Ist nicht meine Schuld, dass Sie keine Uhr haben.« »Verdammt, Pope, Sie räumen Ihren Mist selbst auf.« »Für das Mädchen haben Sie nichts gezahlt.« Ich hob vorsichtig den Kopf und spähte ins Dunkel zu den beiden Streithähnen hinüber. Sie standen sich Auge in Auge gegenüber und hatten uns im Augenblick den Rücken zugekehrt. Pope hielt noch immer Briah am Arm, und Rabbit zielte mit seiner Waffe auf uns. Pope und Stephens waren etwa drei Meter voneinander entfernt. »Ich will mich nicht mit Ihnen streiten«, sagte Stephens verärgert. »Kümmern Sie sich gefälligst um das Mädchen.« Pope hob die Glock und richtete sie auf Stephens. Was vorher eine vage Drohung gewesen war, hatte jetzt ein genaues Ziel. Pope war stinkwütend. »Die Weißen sind alle gleich«, sagte er bitter. »Sie kommen hierher und benehmen sich, als wären die Leute im Glen keinen Penny wert. Töte diesen, töte jenen. Als wären Schwarze nichts weiter als Sklaven.« Er schüttelte Briah, 404
in die immerhin so viel Leben zurückgekehrt war, dass sie dumpf mitbekam, was los war. Sie versuchte vergeblich, sich aus seinem eisernen Griff zu befreien. Sie umklammerte seine Finger mit beiden Händen, aber Pope nahm es kaum wahr. »Glauben Sie, ich bringe Menschen um, wenn Sie mit den Fingern schnippen?«, sagte er. »Als wären wir Vieh?« Stephens zitterte vor Frust. »Gott im Himmel, Pope, was wollen Sie denn?« »Den gleichen Preis wie für die anderen beiden. Fünfundzwanzigtausend Dollar.« Stephens starrte Popes Pistole an. Er befand sich in Popes Revier, und er hatte weder Zeit noch eine andere Wahl. »Also gut, verdammt nochmal«, sagte er schließlich. »Aber tun Sie’s endlich. Irgendwann wird die Polizei hier aufkreuzen.« »Machen Sie sich keine Sorgen um die Polizei.« »Na schön. Geben Sie mir fünf Minuten, um hier rauszukommen.« Damit drehte Stephens sich auf dem Absatz um und ging. Nach einer Weile hörte ich seine Autotür klappen, dann fuhr er ab in Richtung Stadt. Pope wandte sich an mich. Er hielt immer noch Briah mit eiserner Hand fest, aber sie hatte inzwischen gemerkt, dass sie so schnell wie möglich von Pope wegmusste. Sie grub ihre Fingernägel in seine Hand, und Pope versuchte, sie zu beruhigen. Er wollte sie nicht in den Rücken schießen müssen, wenn er sie losließ. »Verdammt, Mädchen, gib mal ’n Augenblick Ruhe.« Briah weinte, sie trat nach ihm. Schließlich hob sie seine Hand zum Mund hoch und biss mit aller Kraft hinein. Ihre Zähne senkten sich tief in sein Fleisch. Er zog die schmerzende Hand überrascht zurück. »Verflucht, Mädchen, warum tust du das?« Dann haute er ihr mit dem Handrücken ins Gesicht und schickte sie mit diesem brutalen Schlag zu Boden. Sie taumelte, fiel auf die Knie und brach zusammen. Jetzt wurde es neben mir laut, und die Stimme, die sonst die schönste Musik auf Erden sang, schrie voller Wut und Entsetzen 405
auf. Michele fiel über Pope her wie ein Wirbelwind. Sie war nur noch Arme und Beine und Zähne und ein gellendes Höllengeschrei. Allein schon die rasende Wut, mit der sie angriff, war atemberaubend. Nachdem ihr alles, was sie liebte, genommen wurde, hatte sie endlich den Zustand des reinen Chaos und grenzenlosen Friedens erreicht und losgelassen. Mochte geschehen, was wollte, sie wusste nur, dass sie Pope daran hindern würde, ihre Kleine zu verletzen. Sie begann, ihn in ihrer blinden, flammenden Wut mit Boxhieben zu traktieren, an den Haaren zu reißen und zu treten. Rabbit stellte sich vor mich, die Pistole weiter auf meinen Kopf gerichtet. Wenn ich mich nur rührte, war ich tot. Ich war gezwungen, das Entsetzliche mitanzusehen. All die qualvolle, zurückgehaltene Liebe zu ihrer Tochter brach aus Michele hervor, aber Pope war stärker. Er bekam allmählich Oberwasser. Er musste zwar ein paar heftige Attacken über sich ergehen lassen, aber dann konnte er ihren Arm packen und drehte ihn ihr mit brutaler Gewalt auf den Rücken, sodass sie vor Schmerz aufschrie. Sie versuchte, ihn mit dem anderen Arm noch zu erwischen, aber ich sah kommen, dass es bald vorbei war. Es dauerte dreißig oder vierzig qualvolle Sekunden, bis das Böse in Pope das Gute in Michele überwältigt hatte. Ich zitterte vor Wut, aber ich konnte nichts machen. Und dann geschah etwas Furchtbares und zugleich Wundervolles, etwas, das ich in einer Million Jahren nicht vorausgesehen hätte. Ein lichtvoller Augenblick flackerte zaghaft in der Hölle auf. Briah, die vorübergehend in Vergessenheit geraten war, schrie mit der Verzweiflung eines kleinen Mädchens: »Mama?« Es war womöglich das erste Mal, dass sie dieses Wort aussprach. Aber sie hatte zwei und zwei zusammengezählt und verstanden, dass es ihre Mutter war, die Pope umbringen wollte, und diese Erkenntnis vermochten auch die Drogen, die vermutlich in ihrem Körper kreisten, nicht 406
auszublenden. Sie warf sich auf Pope. Es sah hässlich aus und war ziemlich kraftlos, aber es wirkte. Pope knickte ein und konnte sich kaum im Gleichgewicht halten. Seine Waffe rutschte über das Pflaster und blieb knappe zwei Meter vor mir außer Reichweite liegen. Das war der Moment, auf den ich gewartet hatte, der Moment, in dem ich völlig klar sah. Mir war jetzt alles egal. Ohne Rabbit zu beachten, sprang ich geduckt vor und griff nach der Pistole. In dem Moment, wo meine Finger das Metall berührten, gab es einen lauten Knall, und ein stechender Schmerz durchzuckte mein Bein wie ein Stromschlag. Rabbit hatte mir eine Kugel in den linken Oberschenkel verpasst. Meine Finger schlossen sich um die Pistole. Ich keuchte und rollte mich weg, die Glock in der ausgestreckten Hand. Diesmal tat mir Pope mit seinen Dschungelreflexen einen Gefallen; er ließ Michele los und war im Bruchteil einer Sekunde auf mir, sodass Rabbit mich nicht mit einem zweiten Schuss erledigen konnte. Wir umklammerten uns und rangen, halb stehend, um die Pistole, dann sprang Michele Pope mit unverminderter Wut von hinten an und schlug ihm mit der Faust auf Kopf und Nacken. So wirbelten wir alle drei zusammen in einem schrecklichen Tanz herum. Ich hatte es geschafft, die Pistole senkrecht nach oben zu richten, sodass niemand Gefahr lief, unabsichtlich erschossen zu werden. Michele trommelte von unten weiter auf Pope ein. Pope war zwar ungeheuer stark, aber es stand schlecht für ihn. Nicht mehr lange, und wir hatten ihn überwältigt, und dann würde sich die Situation von Grund auf verändern. »Schieß, verdammt nochmal!«, schrie er Rabbit an. »Erschieß die Schweine endlich!« Rabbit brauchte gar keinen Zuspruch vonseiten des Vaters. Er hatte längst versucht, einen sauberen Schuss anzubringen, aber das war unmöglich. Das Knäuel unserer Körper befand sich in ständiger Bewegung, und bei dieser Reichweite konnte eine Patrone aus einer Waffe wie der seinen leicht das anvisierte 407
Opfer durchschlagen und auch Pope treffen. »Wen denn?«, schrie er. »Verflucht nochmal, irgendwen!«, schrie Pope. Ich schwenkte ihn herum, sodass er Rabbit zwangsläufig den Rücken zukehrte. Aber Briah war auch noch da. Sie rappelte sich mühsam hoch, stand taumelnd auf und weinte laut auf: »Mama, Mama.« Und dann schwankte sie unsicher auf uns drei zu. Sie war unberechenbar und bewegte sich unkontrolliert, aber sie hatte Schwung. Wenn sie uns erreichte, würden wir alle zu Boden gehen, und was dann passieren würde, war nicht vorauszusehen. Pope bemerkte sie aus dem Augenwinkel und rief: »Sie, verdammt nochmal! Mach sie alle!« Rabbit drehte sich zu Briah um, und wieder blitzte das Licht auf. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass sie ein junges Mädchen in seinem Alter war, aber er zögerte. Er stand da wie angewachsen und hielt die Waffe ungefähr in Briahs Richtung. Plötzlich waren sie nur noch Teenager, die sich in eine grauenvolle Erwachsenenwelt verirrt hatten, in der sie eigentlich nichts verloren hatten. Sie hätten irgendwo draußen im Freien sein und Fangen spielen oder sich ineinander verlieben sollen. Sie hätten sonstwo sein sollen, nur nicht im trüben Licht eines der trostlosesten Ghettos des amerikanischen Südostens. Sie hätten etwas anderes mit ihrem Leben anfangen sollen, als in einer jungen amerikanischen Tragödie mitzuspielen, bei der Tod in der Luft lag. Sie waren hier gestrandet und schauten sich an wie die Kinder, die sie waren. Einen Augenblick dachte ich, Rabbit würde seine Pistole hinschmeißen und sich trollen. Man konnte es spüren; menschlicher Anstand erhob seine leise Stimme und sagte einem Jugendlichen, dass etwas völlig aus dem Ruder gelaufen war, und obwohl der Junge noch nicht alt genug war, um zu begreifen, warum er sich in diesem gottverlassenen Vorhof der Hölle befand, war dies der Moment, in dem das Böse auf der Welt hätte zum Schweigen gebracht werden können und sollen. 408
Alle erstarrten, und lähmende Stille erfüllte die Nacht. Briah stand auf unsicheren Beinen in der bedrohlichen Atmosphäre, eine menschliche Zielscheibe in einem Spiel, das zu durchschauen sie ebenso wenig die Chance hatte wie Rabbit. Das ganze Universum war in dieser einen Sekunde enthalten, Regierungen und nutzlose Programme zur Bekämpfung der Armut, Schwarze und Weiße, der Zusammenbruch der Familie, all das war in einem Jungen komprimiert, dessen Wut vor unseren Augen in Trauer und Verwirrung umgeschlagen war. Ich schwöre bei Gott, dass es die ganze Menschheitsgeschichte war. Rabbit wandte sich um und sah seinen Vater an, sein Gesicht ein einziges großes Fragezeichen. In seinen Augen lag so etwas wie ein Flehen: Was hast du mir bloß angetan? Wie konnte ich in wenigen Jahren so werden? Warum ist diese Welt so unglaublich hart? Doch Popes kalter Atem löschte die Flamme im Keim. Seine Stimme schnitt durch die Nacht und erstickte die Hoffnung; der Augenblick verstrich, und die Erde drehte sich wieder um die vertraute Achse. »Knall sie ab!«, schrie er. »Knall das kleine Luder endlich ab!« Rabbit drehte sich wieder in Briahs Richtung, schloss die Augen und drückte ab. Aber während des schrecklichen kurzen Austauschs zwischen Vater und Sohn hatte Pope seinen Griff gelockert, und Michele hatte sich frei gewunden. Sie war mit einem Satz vor Briah und wurde an ihrer Stelle von der Kugel in die Brust getroffen. Die Patrone explodierte in ihr und warf sie nach hinten gegen die schmutzige Wand. Sie schlug hart an die Ziegel, und dann ging ihr der Atem in einem langen Zug aus. Sie starrte mit einem angstvollen, erstaunten Blick geradeaus und rutschte langsam zu Boden. Briah, noch ganz unter dem Schock, dass sie in wenigen schrecklichen Augenblicken ihre Mutter kennen gelernt und wieder verloren hatte, taumelte und fiel als zitterndes, stöhnendes Häufchen Elend auf dem Pflaster in sich zusammen. Rabbit sah Michele und Briah mit aufgerissenen Augen an, 409
dann ließ er die Waffe fallen. Er wandte sich wie versteinert und mit ausdruckslosem Gesicht seinem Vater zu. Er war weggetreten, sein Gewissen war verstummt. Pope fackelte nicht lange. Er bewegte sich blitzschnell in Richtung Pistole. Wieder war die Welt ein einziger Horror, denn wenn ich mich verteidigen wollte, musste ich den Mann vor den Augen seines Sohnes erschießen. Und obwohl in jener Nacht alles im Chaos versank, wusste ich, dass in diesem vierzehnjährigen, pubertierenden Soziopathen namens Rabbit noch ein lebendiges, atmendes, verwirrtes Kind steckte, das sich verzweifelt nach einem normalen Leben sehnte. Die Frage, die ich im Bruchteil einer Millisekunde beantworten musste, war, ob ich bereit war, für diese Vision zu sterben. Ein Zittern ging durch meine Seele, ein Knall ertönte, und ich schickte Jamal Pope in die Hölle. Sirenengeheul näherte sich. Rabbit war längst weg, und ich war zu lädiert, um ihn zu verfolgen. Mein Bein blutete stark, ich konnte keinen Schritt mehr laufen. Ich schaffte es irgendwie zu Michele hinüber und zog sie halb auf meinen Schoß. Ich hielt sie fest und streichelte ihr übers Haar. Sie schlug die zuckenden Augenlider auf und heftete den Blick auf mich. Sie lächelte, hob die Hand und berührte mein Gesicht. Ich ergriff ihre Hand, küsste sie und ließ sie mit meiner zusammen wieder sinken. Endlich hatte ich meinen Frieden damit gemacht, sie zu lieben, und am gleichen Tag verlor ich sie wieder. Es war kaum zu ertragen. »Du wirst es überstehen«, sagte ich und drückte ihre Hand. »Es wird alles gut werden.« »Meine Kleine? Ist sie …« »Alles in Ordnung mit ihr«, sagte ich. »Ihr ist nichts passiert.« Sie drückte meine Hand. »Kann sie mich sehen, Jack? Jack, Liebling, ich will nicht, dass sie mich so sieht.« Ich spähte durch die Dunkelheit zu der Stelle etwa fünf Meter 410
entfernt, wo Briah das Bewusstsein verloren hatte. »Nein. Sie ist … sie kann uns nicht sehen. Sie ist okay.« Michele schloss die Augen. Das Atmen fiel ihr schwer, ihre Brust hob und senkte sich nur mühsam. Ihr Gesicht verzerrte sich, während eine Schmerzwelle durch ihren Körper lief. Als sie abgeklungen war, öffnete sie erneut die Augen, diesmal langsamer. »Ich bin wieder im Glen, Jack«, sagte sie. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, das immer schwächer wurde, je mehr ihr Leben verrann. »Wieder da, wo ich angefangen habe. Als wenn nichts geschehen wäre. Ich habe nichts aus meinem Leben gemacht.« Ich beugte mich nieder und nahm ihr Gesicht in meine Hand. Der Schmerz brannte in meinem Bein wie glühendes Eisen. »Du hast die schönsten Klänge der Welt hervorgebracht«, sagte ich. »Du hast Musik für Engel gemacht.« Da lächelte sie, und mein Vorsatz, stark zu bleiben, bröckelte. Ich begann zu weinen. »Ich wollte dich doch schützen«, sagte ich. »Es war mein innigster Wunsch, dich zu schützen.« Sie drückte schwach meine Hand und sagte: »Schon gut, Liebling. Es ist gut so.« Das Sirenengeheul wurde lauter, und nach und nach strömten immer mehr Schaulustige zusammen. Wenn die Polizei kam, hielten selbst Popes Drohungen niemanden fern. Ich zog Michele enger an mich, um den Leuten die Sicht auf sie zu versperren. Sie flüsterte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Ich beugte mich zu ihr, und sie hauchte mir ins Ohr: »Du kümmerst dich doch um sie, ja, Jack? Kümmerst du dich um meine Kleine?« »Ja, Liebste. Ich verspreche es dir.« Mit diesen Worten trat wieder eine Frau in mein Leben. Micheles Griff lockerte sich. Sie hustete, und ihr Körper bebte leicht bei der Erschütterung. Ein dünner Faden Blut lief aus ihrem Mundwinkel. Ich tupfte ihn mit meinem Hemd weg. Ich konnte es kaum ertragen, mitanzusehen, wie ihr Leben ausströmte. Es war, als sei mein eigener Körper verwundet, als 411
sei ein Riss durch meine eigene Seele gegangen. Ich hörte Autoreifen kreischen; bald war alles vorbei, nur noch wenige Sekunden. Grelles Licht überflutete auf einmal die Gasse und zwang mich, die Augen zusammenzukneifen. Im Lichtschein sah ich, dass Micheles Blut nicht mehr in ihrer Kleidung versickerte, sondern sich neben ihr in einer grässlichen Pfütze sammelte. Sie sagte wieder etwas mit kaum hörbarer Stimme. »Die Kugel war für Briah bestimmt«, sagte sie. »Sie war für Briah.« Ich küsste sie auf die Stirn. »Stimmt, Liebling. Du hast ihr das Leben gerettet. Sie wird’s gut überstehen.« »Dann war ich eine gute Mutter, nicht wahr, Jack? Eine gute Mutter?« Ich drückte sie noch fester an mich. »Ja, Liebste. Du warst eine sehr gute Mutter.« Ein Taschenlampenstrahl zwang mich, meine Augen mit der Hand zu beschatten. »Polizei«, sagte eine laute Männerstimme hinter dem Licht. »Lassen Sie sie los, und legen Sie sich auf den Bauch.« »Es ist Zeit zu gehen«, sagte Michele. »Zeit, loszulassen.« Ich ignorierte die Polizei einfach und wiegte sie sanft. »An dem Tag damals in meiner Wohnung. Du hast mir gesagt, dass du mich liebst.« »Das weiß ich.« »Du wolltest nicht, dass ich es auch sage. Du meintest, dann sei es leichter.« »Ja.« Ihre Stimme war nur noch ein Hauch. »Ich dich auch. Ich will, dass du das weißt. Mehr als alles auf der Welt.« Sie sah mir in die Augen, und ich bin sicher, dass sie mich verstand. »Du kommst durch, Liebste«, sagte ich. »Der Rettungswagen ist schon unterwegs.« Ich hielt sie sanft umschlungen, während mir das Herz brach. Ich hätte am liebsten die Uhr zurückgedreht bis zu unserem Tag in Virginia Highlands, dem Tag, an dem wir rundum glücklich 412
waren und nichts anderes mehr existierte als die unbeschwerte Freude, beieinander zu sein. Ich hätte gern alles ungeschehen gemacht, was von da an passiert war, um mit ihr zusammen aus Atlanta zu verschwinden in eine stille, heile Welt, in der wir uns lieben durften. Aber dazu war es zu spät. Ich strich Michele sacht das Haar aus dem Gesicht, und sie schaute mit trüber werdenden Augen zu mir hoch. Ich sah zu, wie das Licht in ihren Augen erlosch, und fühlte, wie sich ihre Muskeln entspannten und sich ihr Kopf leicht an meine Brust lehnte. Ihr Atem ging langsamer, und dann ließ sie mit einem tiefen Seufzer los. Ich drückte ihr sanft die Augen zu, wiegte sie weiter in meinen Armen. Die Hand des Polizisten legte sich auf meine Schulter. Nicht grob; er hatte gemerkt, dass sich hier etwas Endgültiges, Höheres, Persönliches vollendete. Ich konnte das nächste Sirenengeheul hören, den Rettungswagen, der viel zu spät kam. »Es tut mir so Leid, Baby«, flüsterte ich. »Unendlich Leid.« Hektische Betriebsamkeit kam auf, unbekannte Menschen drängten sich um uns. Die Polizei hatte jetzt alles im Griff, vier oder fünf Beamte sicherten das Gebiet durch Absperrband. Der Polizist kniete sich neben mich. »Sie sind verletzt. Der Rettungswagen ist gleich da, in zwei Minuten.« Ich nickte. »Die Dame«, sagte der Polizist. »Wer ist das?« Ich blickte zu dem Mann auf, der eine Frage stellte, deren Beantwortung Bände füllen würde. Michele hatte 28 Jahre lang versucht, sie zu beantworten, und aus sich eine wunderbare Frau gemacht. Sie hatte alles riskiert, um der Welt des Ghettos zu entfliehen, und war heimgekehrt, um deren nächstes Opfer zu werden. Sie ist die Königin, dachte ich. Die Königin vom McDaniel Glen. Aber am Ende gab ich die Antwort, durch die ihr Andenken am längsten geschützt wurde. »Fields«, erwiderte ich. »T’aniqua Fields.« Ein stechender Schmerz zuckte wieder durch mein Bein, und es wurde dunkel um mich. Der Polizist konnte eben noch Michele festhalten, dann sank ich bewusstlos zu Boden. 413
29 Der matte Lichtschein wurde immer heller, er breitete sich vom Rand meines Gesichtsfeldes her nach innen aus und leuchtete immer stärker, bis die Helligkeit durch meine geschlossenen Augenlider drang. Sie zuckten, als ich die Augen aufschlug und im grellen Neonlicht der Notaufnahme eines Krankenhauses wieder zusammenkniff. Billy Little starrte mir besorgt ins Gesicht. Er sah mich einen Augenblick an, dann sagte er: »Ja, er kommt zu sich. Werfen Sie mal einen Blick auf ihn.« Ein arabisch aussehender junger Mann von höchstens 25 Jahren blickte über Billys Schulter. »Das ist schön«, sagte er mit einem starken britischen Akzent. »Die Wunde hat sehr stark geblutet, aber sie ging nicht besonders tief. Noch eine halbe Einheit, dann ist er über den Berg.« Ich schaute den Arzt an und überlegte, wie ich hierher gekommen sein mochte. In meinem Bein pochte es, und der Schmerz brachte mir alles wieder in Erinnerung: das Handgemenge mit Pope, der schreckliche, unendlich lang gedehnte Moment, als Rabbit seine Pistole abfeuerte. Vor allem jedoch die qualvolle Erinnerung an Michele, die in meinen Armen mit einem nicht mehr zu stillenden Blutstrom ihr Leben aushauchte. Jetzt nahm Billy in meinem Gesichtsfeld den Platz des Arztes ein. Er berührte mich an der Schulter. »Sie haben sich in letzter Zeit sehr unvernünftig verhalten, Herr Anwalt«, sagte er. »Es gehört eigentlich nicht in mein Ressort, Rechtsanwälte im Krankenhaus zu besuchen.« »Tut mir Leid.« Das brachte ich nur undeutlich heraus. »Was machen Sie denn hier?« »Sobald der Doktor es erlaubt, werden wir uns eingehend darüber unterhalten, warum ich Sie nicht des Mordes an Jamal 414
Pope bezichtige«, sagte er. »Einmal abgesehen davon, dass ich nichts gegen sein Ableben habe.« »Es war Notwehr«, sagte ich ein wenig deutlicher. »Selbstverständlich, daran habe ich keinen Zweifel. Ruhen Sie sich erst mal aus.« Der Arzt sagte Billy, das müsse reichen, und ich schlief wieder ein, tauchte ein in eine Dunkelheit voller wilder Träume. Als ich wieder aufwachte, fiel das erste Morgenlicht ins Zimmer; ich hatte offenbar die ganze Nacht durchgeschlafen. Ein anderer Arzt kam gleich, nachdem ich erwacht war, um nach mir zu sehen. Er untersuchte mich kurz und wies die Krankenschwester an, mich vom Tropf zu nehmen. »Sie können von Glück sagen, Mr. Hammond«, sagte er, während er in meine Karte schaute. »Die Kugel hat Ihren linken Oberschenkel durchschlagen und dabei zwei saubere Löcher zurückgelassen. Wir haben die Adern repariert und Ihr Blutplasma aufgefrischt. Sie werden bald wieder gesund sein.« »Wann kann ich raus?« »In ein paar Stunden. Obwohl ich sagen würde, dass Ihre Marathon-Tage fürs Erste vorbei sind.« Ich nickte, und er ging. Der Nebel in meinem Hirn lichtete sich allmählich, dafür war das Pochen in meinem Bein der beste Beweis. Ich bat aber nicht um Schmerztabletten, sondern nahm das Puckern in Kauf, um einen klaren Kopf zu behalten. Der Arzt war kaum verschwunden, da erschien Robinson. Er war blass und nervös. »Mein Gott, Jack«, sagte er, »was ist passiert?« »Sie zuerst«, sagte ich. »Wie geht’s Ihnen?« »Mir? Diese Nacht war die reine Hölle mit den Tests und dem Erbrechen. Aber es geht schon wieder.« »Und?« Robinson lächelte mit der unschuldigen Freude eines Kindes. »Wir haben vor einer Stunde die Ergebnisse vom NIH bekommen. Es ist genauso, wie ich vermutet hatte. Alle Patienten waren gescreent und ausgesiebt; jetzt haben Ralston 415
und Stephens verloren.« Ich schloss die Augen und genoss es, entspannt in den weichen Kissen eines Krankenhausbettes zu liegen. Sie haben verloren. Diese Nachricht war Balsam auf meine Wunden, sowohl innerlich als auch äußerlich. Sie würde auch die Schmerzen in meinem Bein ausreichend dämpfen. Nur meine Seelenpein würde sie wohl kaum lindern. Ich riss die Augen auf. »Wo ist Michael?« Robinson legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich weiß von dem Tagebuch«, sagte er leise. »Er hat es mir gestanden, als wir halb durch waren.« »Können Sie damit leben?« »Er hatte Angst, und das, was wir getan haben, hätte ich ohne ihn gar nicht geschafft. Ja. Wir kommen gut miteinander klar.« Jetzt kam Nightmare hinter Robinson zum Vorschein, erschöpft und ausgebrannt von einer langen Nacht. »He«, sagte er, »Sie sehen ja noch schlimmer aus als sonst, Mann. Und das will was heißen.« »Du hast uns also nicht verpfiffen, Michael. Danke.« Michaels bleiches Gesicht wurde rot. »Vielleicht versuch ich’s mal ’ne Weile mit dem Straightsein«, sagte er. »Mal sehn, ob mir’s gefällt.« Er lächelte. »Aber gewöhnen Sie sich nicht gleich dran, Mann. Die dunkle Seite ist stark.« Ich setzte mich behutsam aufrecht hin und war erleichtert, dass ich alles bewegen konnte. »Wie viel Uhr ist es?« »Gegen sieben Uhr früh«, sagte Robinson. »Man wird Sie noch ein paar Stunden hier behalten wollen, zur Sicherheit.« »Holen Sie mir meine Sachen, wir verschwinden sofort.« Robinson blickte mich erstaunt an. »Wohl kaum«, sagte er. »Sie werden doch nicht wieder hier landen wollen, weil Ihre Wunde wieder aufbricht.« »Dann sagen Sie bitte Bescheid, dass jemand herkommen und mich verbinden soll«, sagte ich. »Uns bleiben nur noch zwei Stunden, um Nicole Frost im Shearson-Lehman-Gebäude einen 416
Besuch abzustatten. Uns allen drei.« Ich sah Michael an. »Hast du das Geld zusammengekratzt, wie ich dir geraten hatte?« Michael nickte. »3000 Grüne. Mehr konnte ich nicht auftreiben.« »Das muss reichen.« Ich wandte mich an Robinson.»Hat Michael es Ihnen ausgerichtet?« »Ja. Aber was soll das?« »Haben Sie’s besorgt?« »Ich habe kaum Geld, Jack. Ich werde überwiegend in Grayton-Aktien bezahlt. Damals, als sie bei etwa dreißig Dollar standen, schien das ein guter Deal zu sein.« »Wie stehen sie denn jetzt?« »Bei fünf.« »Und wie viel Anteile haben Sie?« Robinson zuckte die Achseln. »Es gab einen Zeichnungsbonus, und mit allem anderem zusammen dürften es etwa … 168000 Stück sein.« Ich war zu müde, um es auszurechnen, aber ich wusste, dass es reichen würde. »Das bringt’s«, sagte ich. »Ich erkläre es Ihnen unterwegs.« »Das ist alles, was ich habe«, sagte Robinson. »Meine Altersversorgung.« »Tun Sie, was Sie wollen. Aber wenn Sie mir vertrauen, werden Sie es nicht bereuen.« Robinson betrachtete mich einen Augenblick sinnend, dann nickte er. »Als wir uns kennen lernten, war ich am Ende. Das Einzige, was ich noch vor mir sah, war meine Beerdigung. Ihnen habe ich es zu verdanken, dem Leben wiedergegeben zu sein. Natürlich vertraue ich Ihnen.« »Gut. Legt mir bitte einen Verband an und ruft Inspektor Little her. Er muss uns im Gegenzug dafür, dass wir ihm auf einem silbernen Tablett einen Fall servieren, der ihn zum Oberinspektor befördern wird, einen kleinen Gefallen tun. Und 417
mit diesem Gefallen wird euch beiden vergolten werden, dass ihr mir geholfen habt.« Die nächsten Stunden musste ich irgendwie durchstehen, obwohl mir das Herz gebrochen war. Die Zeit zum Trauern würde noch kommen, das wusste ich. Und zwar in der Gestalt und Form, die sie dann auch hatte. Aber ein paar Stunden lang hatte ich keine andere Wahl, als den wunden Teil meines Herzens abzuriegeln und mich zu konzentrieren. Denn ich hatte vor, meinen letzten Trumpf zu ziehen, und dazu musste das Timing haargenau stimmen. Um neun Uhr standen Nightmare, Robinson und ich – mit fest verbundenem Bein und Krücke – im Foyer des ShearsonLehman-Komplexes von Atlanta; wir sahen irrwitzig aus. Wir hatten keine Zeit zu verlieren gehabt, und keiner von uns hatte sich nach der durchgemachten Nacht noch frisch machen können. Mein Bein steckte in einem engen Verband und puckerte wie verrückt; Robinson, der sich nach seinem Selbstversuch mit einem starken Antivirenmittel und infolge des Schlafentzugs kaum aufrecht halten konnte, sah aus wie der wandelnde Tod, während Nightmare das Ambiente eines der konservativsten Geschäftshäuser Atlantas durch seine gestrige Kleiderwahl provozierte, nämlich Hosen in militärischen Tarnfarben und ein ärmelloses, orange-schwarzes T-Shirt der Band »System of a Down«. Wie vorherzusehen war, war er höllisch nervös. »Erklären Sie mir das nochmal«, sagte er und zitterte leicht. »Ich habe es doch schon auf der ganzen Fahrt hierher erklärt«, sagte ich. »Weiß ich ja. Sie haben aber auch was davon gesagt, dass wir dabei ’ne Bauchlandung machen können.« »Oder ins Gefängnis kommen«, sagte Robinson. »Das hat er auch gesagt.« Ich drehte mich um und fasste sie beide ins Auge. »Niemand 418
zwingt euch. Wir können wieder dort zur Tür rausgehen. Ich wollte mich nur erkenntlich zeigen für das, was ihr getan habt. Wenn ihr nicht wollt, auch gut. Mehr kann ich nicht für euch tun.« Es dauerte nicht lange, und Robinson nickte, kurz darauf gefolgt von Nightmare. »Gut«, sagte ich. »Horizn geht heute an die Börse. Wir werden die Aktien so hoch wie möglich kaufen und dann leer verkaufen. Wir spekulieren darauf, dass sie fallen.« »Und wir kaufen gegen hinterlegte Sicherheiten, sodass wir über erheblich mehr Kapital verfügen, als wir uns leisten können«, sagte Nightmare langsam. Ich nickte. »Wir kaufen zu einem festgesetzten Preis, und bei jedem Dollar, den sie danach fallen, machen wir Gewinn.« »Und wenn sie nicht fallen?«, fragte Nightmare. »Dann sind wir ruiniert«, sagte ich und zuckte zusammen. Mein Bein schmerzte wie die Hölle. »Sie spielen hier mit harten Bandagen.« »Und es gilt nicht als Insider-Trading«, sagte Robinson zweifelnd. »Richtig.« »Wegen des Timings.« »Korrekt.« Robinson hatte noch immer Zweifel. »Sind Sie sicher, dass der Börsengang nicht abgebrochen wird nach allem, was geschehen ist?« Ich schüttelte den Kopf. »Man bricht einen Börsengang nicht wenige Stunden vor Beginn ab. Außerdem muss Stephens ja davon ausgehen, dass alles planmäßig gelaufen ist. Vielleicht hat er versucht, Pope zu erreichen, aber er wird die Sache nicht abblasen, nur weil sein Anruf unbeantwortet bleibt. Er schuldet den Investmentbanken inzwischen einige Millionen an Gebühren, und wenn er jetzt die Notbremse zöge, käme es heraus, dass es mit Horizn den Bach runtergeht. Glaubt mir, dieser Börsengang wird durchgezogen, daran besteht kein 419
Zweifel.« Die großen Türen hinter uns öffneten sich, und Nicole kam herein, wie gewohnt tipptopp gekleidet und fröhlich. Ihr Blick fiel auf uns, und sie blieb abrupt stehen. »Jack?« Sie sah den Verband. »O mein Gott. Was ist passiert?« Wir hatten keine Zeit für lange Erklärungen, deshalb hielt ich mich auch nicht damit auf. »Wir wollen ein Einschusskonto eröffnen.« Nicole lachte etwas hysterisch, als sei sie zu dem Schluss gekommen, dass ich den Verstand verloren hatte. »Wir meinen es ernst«, sagte ich. »Und wir haben’s eilig.« Das Lachen brach ab. »Habt ihr euch mal im Spiegel betrachtet?« »Für die Summe von 2531000 Dollar bitte.« Stille. Dann packte sie mich am Arm und flüsterte: »Bist du verrückt geworden, Jack? Ich weiß, dass es dir nicht besonders gut ergangen ist, aber mit Einschussgeschäften an der Börse zu spekulieren ist keine Lösung.« Sie wies auf Nightmare und Robinson. »Wer sind diese Leute, und was wollen sie hier?« »Wir haben die Einlagen«, sagte ich. »168000 Anteile an den Grayton-Labors. Sie stehen ungefähr bei fünf.« Nicoles Mund, der sich gerade erneut öffnen wollte, klappte wieder zu. »Außerdem haben wir einen Bankscheck über 3800 Dollar, Dank der Freundlichkeit meines Geschäftspartners Michael Harrod. Michael, gib deiner neuen Effektenhändlerin die Hand.« Michael streckte die Hand aus wie ein Rockefeller. Nicole nahm sie argwöhnisch entgegen, schüttelte sie und machte ein Gesicht, als wünsche sie sich einen Waschlappen. Hinter uns gingen die Türen erneut auf, und eine Schar makellos gekleideter Geschäftsleute füllte das Foyer. »Ihr kommt besser mit nach oben, Jack«, sagte Nicole. »Du und deine Freunde verderben meinen guten Ruf.« Sie schob uns in einen Fahrstuhl, mit dem wir in den zweiten Stock hochfuhren. Die Türen schoben sich auf, und wir betraten den Laufsteg, von dem aus man die Börse von Atlanta im 420
Shearson-Lehman-Gebäude überblicken konnte, einen Ort, gegen den die NASA altmodisch wirkt. Es ist eine fleckenlose Welt, in der Reihen um Reihen glänzender Plasmabildschirme den unablässigen Transfer des Kapitals dieser Erde aufzeichnen, das von einer Hand in die andere übergeht, meist in aufsteigender Richtung. Die Büros der Makler, auch das von Nicole, schauen auf diesen Handelsplatz herab wie die Römer auf die Gladiatoren. Und wie im Kolosseum gab es auch am Ende eines jeden Börsentags die Toten, die Verwundeten und die privilegierten Gewinner. Nicoles Aufgabe war es, zu gewährleisten, dass ihre Klienten möglichst immer zu den Gewinnern gehörten. Nightmare, Robinson und ich gingen hinter Nicole her zu ihrem Büro. Eine Menge elegant gekleideter Leute schwirrten herum, laut Nicole mehr als sonst. Offenbar hatten sich einige der Führungskräfte versammelt, um sich das Feuerwerk der Eröffnung des Handels mit den Horizn-Aktien anzuschauen. In einem Büro, an dem wir vorbeigingen, stand ein Eiskübel, in dem eine Flasche Cristal Roederer teuer und kühl ruhte. Vier oder fünf Leute waren in dem Raum versammelt und unterhielten sich in hohem, aufgeregtem Ton wie Kinder am Weihnachtsmorgen. Nightmare wandelte wie im Traum, wahrscheinlich stellte er sich vor, welchen Schaden er anrichten könnte, wenn er je Zugriff zu dieser Computeranlage hätte. Wir verteilten uns in Nicoles Büro, einem geräumigen Zimmer mit modernem Schreibtisch, einer Ledercouch nebst Tisch und ein paar stoffbezogenen Lehnsesseln. Ein Le-Roy-Neiman-Gemälde hing an der Wand. Ich zeigte darauf und warf ihr einen fragenden Blick zu. »Ich kann es nicht ausstehen, aber es verbessert die Gemütslage meiner männlichen Kunden«, sagte sie. »Bevor ich sie bitte, mir ihr gesamtes Kapital zu überlassen.« Sie gab uns einen Wink, Platz zu nehmen, und zog sich einen Sessel heran. 421
»Und nun erzählt mir mal, worum es eigentlich geht. Es ist nämlich viel los heute Morgen.« Ich legte die Aktentasche auf den Couchtisch und klappte sie auf. »Das hier«, sagte ich, »sind Aktienzertifikate der Grayton Technical Laboratories. Zusammen mit dem Bankscheck haben sie derzeit einen Marktwert von 843800 Dollar. Sie dürften für sich selbst sprechen.« Nicole musterte die Aktentasche mit großen Augen. »So, so.« Sie nahm einen Taschenrechner und tippte etwas ein. »Es reicht nicht, Jack. Bei Einschusskonten tragen wir höchstens fünfzig Prozent zur Deckung bei.« »Wir haben vor, ohne Deckung zu verkaufen. Dann gibt’s fünfundsiebzig Prozent, stimmt’s?« »Was denn ohne Deckung verkaufen, Jack?« »Fünfundsiebzig Prozent, richtig?« Sie fasste mich einen Augenblick ins Auge, dann sagte sie: »Ja, Jack. Bei Verkauf ohne Deckung gibt’s fünfundsiebzig Prozent. Rein theoretisch.« »Das macht also 2531400 Dollar.« Ich zog ein Blatt Papier hervor und legte es auf ihren Schreibtisch. »Das ist meine Lebensversicherung«, sagte ich. »Sie hat einen Kapitalwert von 21000 Dollar. Ich habe sie an Shearson Lehman abgetreten. Du kannst sie zu Geld machen, wann immer es dir passt.« Eine längere Pause trat ein, denn Nicole – die im Privatleben ein absolutes Biest war, während sie ihre Geschäfte wie eine Nonne tätigte – überlegte. »Das ist eigentlich nicht üblich.« »Aber legal. Und darauf kommt’s an.« »Ist den Herren klar, dass sie riesige Verluste hinnehmen müssen, wenn die Aktie fällt?« »Ja.« »In diesem Fall werdet ihr zur Kasse gebeten.« »Richtig.« »Bei so hohen Einschussgeschäften gibt’s kein Pardon, Jack. Man muss jeden Tag bei Börsenschluss berappen. Immer. Ihr 422
könntet alles verlieren, ehe ihr überhaupt merkt, was los ist.« Ich nickte schweigend. »Du weißt sicher auch, dass die Kommissionsgebühr bei Einschussgeschäften höher ist.« »Ja.« Nicole sah mich einen Moment ruhig an, dann sagte sie: »Wenn die Herren bitte hier warten würden. Es gibt einige Papiere zu unterzeichnen.« Ein paar disziplinierte Stunden lang konnte ich meinen Kummer unterdrücken, denn in meinem Innern brodelte es. Nicht vor selbstgerechter Empörung, um genau zu sein. Dazu hatte ich zu viele Fehler gemacht. Sondern ein heißer Zorn erfüllte mich, und er richtete sich auf ein Ziel, das ihn verdiente. Nachdem wir unterschrieben hatten, ging ich auf und ab, während Nicole auf ihrem Computer ihr Börsenprogramm startete. Die Wand, die zum Börsenbereich zeigte, war aus Glas, und Nightmare und Robinson standen davor und drückten sich die Nasen daran platt. Die Makler hatten bereits ihre Plätze eingenommen, plauderten miteinander und führten den üblichen Koffeinschlag gegen die morgendliche Müdigkeit. In den vier oder fünf Minuten zwischen diesem Augenblick und der Eröffnung des Handels waren wir wie Brüder, wie drei seltsame compadres, die durch die Umstände zusammengebracht worden waren. Und die sich anschickten, in den Krieg zu ziehen. Es knisterte spürbar zwischen uns, zum Teil war es Hoffnung, zum Teil Angst und Nervosität. Ich trat ebenfalls an die Glasscheibe, und dann standen wir alle drei da wie hypnotisiert und fragten uns, wie es wohl ausgehen mochte. Um zehn Uhr riss mich Nicoles Stimme wieder in die raue Wirklichkeit zurück. »Bum«, sagte sie und lächelte. »Auf die Plätze, fertig, los. Und jetzt sag mir, was ihr vorhabt.« »Hol Horizn auf den Bildschirm«, sagte ich. »Horizn.« Sie war noch eine Schattierung bleicher als sonst, falls das überhaupt möglich war. 423
Ich ging zu ihr und blickte ihr über die Schulter. Gespannt bis zum Zerreißen beobachtete ich die Zahlen. Das Aktienkürzel von Horizn, HZN, stand beim Ausgabepreis von 31, aber nur sekundenlang. Dann stieg der Preis auf 32,50 und weiter auf 33,17. Nicole sah mich an. »Sag mir, was ihr vorhabt. Es wird langsam teuer.« »Jetzt noch nicht«, erwiderte ich betont gleichmütig. Dreißig Minuten später stand Horizn bei 38,12. Nicoles Nervosität wuchs. »Jack, das ist Wahnsinn.« Ich schüttelte den Kopf. Um Viertel nach elf war Horizn auf sechsundvierzig Dollar hochgeschnellt und auf dem besten Wege, das vorausgesagte Jahresziel zu erreichen. Alles kaufte wie verrückt, und noch ehe die Händler ihre Gebote ganz abgegeben hatten, war der Preis schon wieder gestiegen. Ich warf einen Blick auf Robinson, der mich nervös ansah. »Wenn sie auf fünfzig geklettert sind«, sagte ich. Nightmare zitterte. »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun«, sagte er. »Du kannst jederzeit aussteigen«, sagte ich. »Es liegt ganz bei dir.« Nightmare wandte sich um und starrte wieder auf die Börse hinunter, schwieg jedoch. Gegen halb zwölf ließ die Rally nach. Für die nächsten zehn Minuten blieb der Preis auf der Mitte zwischen neunundvierzig und fünfzig in der Schwebe, liebäugelte zwar mit der magischen Zahl, traf sie aber nicht ganz. »Der Dampf ist raus«, sagte Nicole. »Die Day-Trader nehmen jetzt ihre Gewinne mit.« Ich sah auf die Uhr; es war zwanzig vor zwölf. »Kauf fünftausend Anteile«, sagte ich. »Zum Marktkurs.« Nicole verstand die Welt nicht mehr. »Na hör mal, Jack. Sie sind rückläufig. Geh einen Viertelpunkt runter und warte.« »Zum Marktkurs«, sagte ich, die Augen fest auf den 424
Bildschirm geheftet. »Es ist dein Geld«, sagte Nicole und gab die Summe ein. Ich sah zu, wie mein Angebot einen Augenblick über den Bildschirm flimmerte und dann verschluckt wurde. Es brachte wieder ein wenig Schwung ins Geschäft, aber die magische Fünfzig war noch nicht erreicht. »Kaufen Sie noch fünftausend«, sagte Robinson. Nicole blickte auf. Ich nickte Robinson zu, der bis auf seine weit aufgerissenen Augen ruhig wirkte. »Er hat Recht«, sagte ich. »Nochmal fünftausend zum Marktkurs.« Nicole tippte es ein, und binnen Sekunden fand sich ein Käufer. Kurz danach stieg der Preis wieder – nicht drastisch, aber doch mit neuer Kraft. Wenig später hatte HZN die magische Fünfzig-Dollar-Marke überschritten, eine weitere Kaufrunde begann und trieb den Kurs noch höher. »Heilige Muttergottes«, sagte Robinson. »Yeah«, sagte ich. »Heilige Muttergottes, bitte für uns, jetzt und in der Stunde unseres Todes.« Ich sah noch ein letztes Mal auf meine Uhr, dann sagte ich zu Nicole: »Schalte mal das Fernsehen an. Den Ton kannst du weglassen. Kanal fünf.« Nicole sah mich verständnislos an. Aber sie war inzwischen in einer Art Trance und machte willenlos alles mit. Sie nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher auf der anderen Zimmerseite ein. Ein Werbespot lief. Ich schaute wieder die Aktienkurse an. Horizn war soeben auf dreiundfünfzig geklettert. Der Werbespot war zu Ende, und die Worte »Aktuelle Meldung« liefen unten über den Bildschirm. Das Bild wechselte zum PR-Raum des Polizeipräsidiums von Atlanta, in dem die Pressemitteilungen abgegeben werden. Billy Little stand hinter einer Reihe von Mikrofonen. Es war vollkommen still im Raum, während Billy eine kurze Ankündigung machte. Nightmare sah von der anderen Büroseite aus zu, das Gesicht kreidebleich. 425
Robinson wurde noch ruhiger. Er ließ Little nicht aus den Augen, wartete nur noch auf die Worte, die seinem Leben wieder einen Sinn geben würden. »Ich möchte jetzt einige Horizn-Anteile leerverkaufen, Nicole,« sagte ich. »Bitte, gib es fertig ein und halte es auf dem Bildschirm bereit.« »Leer? Wie viele Anteile?« »Fünfzigtausend«, sagte ich ruhig. »Und halt von jetzt an den Finger am Drücker.« Nicole starrte auf den Fernsehschirm, sie begriff plötzlich, dass sich irgendetwas Schreckliches mit den Horizn-Aktien zusammenbraute. »Mein Gott, Jack. O mein Gott.« »Genau, Süße. Mach’s bitte.« »Fünfzigtausend? O Gott, Jack. Was ist denn los?« »Tipp’s ein, aber gib es erst frei, wenn ich es dir sage.« Billy redete weiter, sein Mund bewegte sich lautlos auf Nicoles Fernseher. Ich überflog die Börsenzahlen; es wurde noch immer munter gekauft. Die nächsten fünfzehn Sekunden waren eine Qual. Sie vergingen in Zeitlupe, wie der Jahreszeitenwechsel. Ich hatte das Gefühl, zu explodieren, wenn Billy Little nicht bald aufhörte. Endlich, gerade als ich dachte, wir säßen in der Scheiße, blickte Billy von der Mitteilung, die er abgelesen hatte, auf. Mehrere Reporter meldeten sich mit Handzeichen, und Billy erteilte einem von ihnen das Wort. Ich sah Nicole an. »Jetzt. Alles, jede Aktie, sofort.« Nicole erblasste. »Jack, hör mal …« »Jetzt!« Nicole drückte auf ihrer Tastatur »Enter«. Nightmare nahm den Kopf in beide Hände und versuchte, sich zu beruhigen. Robinson kam zu mir herüber und stellte sich neben mich; gemeinsam sahen wir zu, wie unser Angebot im elektronischen Äther schwebte und auf einen Käufer wartete. Fünfzigtausend Anteile, ohne Deckung zu verkaufen. Die Höhe dieser Order lähmte die Day-Trader; sie witterten Unheil. Da flimmerte unser 426
Angebot nun einsam und verlassen in einer finanziell entmilitarisierten Zone. Einen entsetzlichen Augenblick lang herrschte Frieden, ruhte die Schlacht. Ich schaute zum Fernseher; Billy wurde mit Fragen bestürmt. Er hatte kaum einem Journalisten Antwort gegeben, da bedrängte ihn schon das nächste Dutzend. Los doch, Baby. Jetzt oder nie. Plötzlich wurde unser Angebot in einem Stück von einem institutionellen Anleger gierig verschlungen. Das kleine blinkende Quadrat auf Nicoles Bildschirm wurde rot und verschwand. Robinson schnappte nach Luft, dann atmete er tief aus. »Ist es gelaufen?«, fragte Nightmare mit kaum hörbarer, bebender Stimme wie ein Junkie. Ich wandte mich zu ihm um und lächelte. »Das ist die alte Wirtschaftsordnung, Michael«, sagte ich. »Du solltest es wirklich einmal damit probieren.« Ich sah Nicole an. »Jetzt kannst du den Ton laut stellen.« Nicole drückte eine Taste auf ihrem PC, und Billy Little war zu hören. »Das ist richtig«, sagte er gerade. »Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass noch andere Horizn-Mitarbeiter in die Sache verwickelt sind. Wir erheben nur Anklage gegen die beiden Firmeninhaber Charles Ralston und Derek Stephens.« Nicole rang nach Luft, und ich tätschelte ihr die Schulter. »Handelt es sich tatsächlich um Mord, Inspektor Little?«, fragte jemand hinten im Presseraum. Billy Little nickte. »Ja. Um Mord in acht Fällen.« Ich drückte Nicoles Schulter. »Du kannst jetzt abschalten. Und du schließt wohl besser deine Tür ab.« Nicole blickte zu mir auf. »Mein Gott, du wusstest es, Jack. Das ist Insiderhandel.« Ich schüttelte den Kopf. »Du hast erst verkauft, als er seine Mitteilung schon gemacht hat. Von da an, also auch zum Zeitpunkt des Verkaufs, war die Information öffentlich. Die Börsenprotokolle beweisen es. Und dann war es per definitionem kein Insidergeschäft.« 427
Nicole schaute auf ihren Monitor; ein paar Leute stießen ihre Aktien bereits ab. Es würde nur noch Minuten dauern, bis sie in den Keller abstürzten. »Aber viele, viele Menschen werden Verluste erleiden, Jack. Du hättest ihnen Millionen retten können.« Ich nahm ihre Hand und zog sie aus ihrem Sessel zu mir. Ich küsste sie auf die Wange. »Ganz gleich, wohin ich gegangen wäre, es hätten immer viele Leute dabei gelitten. So konnte ich wenigstens dich schützen.« Nicole lehnte sich schwer in ihren Sessel zurück und beobachtete auf dem Bildschirm, wie die Aktien fielen; sie waren schon unter dreißig. »Du Mistkerl«, sagte sie leise. »Du verdammter Mistkerl.« Ich lächelte. »Du wusstest von nichts, du hast kein Gesetz gebrochen, und du hast deine neuen Kunden sehr reich gemacht. Alles in allem ein guter Morgen.« Horizn reagierte innerhalb weniger Stunden und füllte den Äther mit Dementi. Aber der Schaden war nicht mehr zu reparieren. Als sich der Staub gelegt hatte, wurde Horizn mit 4,12 Dollar gehandelt. Thomas Robinson hatte 2604000 Millionen Dollar verdient, alles in zwei Stunden. Nightmare – der sich zweifellos bald nur noch mit Mr. Michael Harrod anreden lassen würde, hatte 46000 Dollar verdient. Ich selbst hatte nichts gewonnen. Ich hatte Thomas Robinson seine Selbstachtung zurückgegeben und ihm zu einer angemessenen Rache verholfen. Mein eigenes Selbstwertgefühl war bereits wiederhergestellt, und Rache brauchte ich nicht mehr. Für Robinson war es ein bitterer Kampf, und ich war froh, dass er durch mich wieder ins Leben zurückgekehrt war. Aber ich selbst würde nie auch nur einen einzigen Dollar mit etwas verdienen wollen, das je mit Michele Sonnier in Berührung war. Andere hatten das getan, sowohl ihre Agenten als auch die Opernhäuser rund um die Welt. Auf seine Art selbst ihr Ehemann; er hatte ihre Begabung dazu 428
missbraucht, sich Einlass in einen Teil der Gesellschaft zu verschaffen, der ihm sonst verschlossen geblieben wäre. Doch ich würde lieber sterben. Sie war mein dunkler Engel: voller Qualen und Konflikte, und doch strahlend wie die Sonne. Nur einem weiteren Menschen kam die Spekulation im Shearson-Lehman-Komplex zugute. Das durch meine Lebensversicherung gedeckte Einschusskapital brachte Briah Fields 72280 Dollar ein. Von allen Opfern, die es bei dieser Geschichte gab, war sie der letzte Mensch, der darunter leiden sollte.
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30 Robinson, Nightmare und ich standen draußen vor dem Shearson-Lehman-Center im hellen, warmen Sonnenlicht. Lebhafter Verkehr rauschte an uns vorbei, all die Leute, die gut lebten, die schlecht lebten oder die recht und schlecht lebten. Ihre Liebe, ihr Hass und ihr Ehrgeiz fuhren mit ihnen und erfüllten Atlanta mit ihrer lauten, bunten und höchst unvollkommenen Menschlichkeit. Ich sagte zu Robinson: »Sie sind ein guter Mensch. Und ein guter Arzt.« Robinson lächelte. »Vielleicht lässt man mich wieder forschen. Das wäre schön.« »In nächster Zukunft dürfte es erst einmal ziemlich unangenehm werden«, sagte ich. »Reporter, Polizei, wahrscheinlich auch die Börsenaufsicht. Aber keine Sorge. Sie haben einen guten Anwalt.« Robinson nickte. »Einen klasse Anwalt.« Michael, den noch immer ein Schwindel erfasste bei dem Gedanken, nicht mehr mittellos zu sein, sagte: »Geh’n Sie schleunigst ins Bett, ja? Sie sehen beide abartig aus.« Robinson sah ihn an. »Wenn du den Job willst, sag mir Bescheid. Du bist ein heller Kopf, und ich habe eine Menge Ideen, die eine gute Software brauchen.« »Das wär doch mal was, Michael, oder?«, sagte ich. »Du müsstest Steuern zahlen. Andererseits wäre die Wahscheinlichkeit, im Gefängnis zu landen, dann erheblich geringer.« Nightmare wurde rot und stand etwas strammer. »Ja. Wär nicht schlecht.« »Freut mich zu hören«, sagte ich. »Und jetzt ruht euch endlich aus, du und der Doktor.« Es gab viel zu betrauern, und dazu brauchte ich Ruhe. Ich rief 430
Blu an und gab ihr für den Rest der Woche bezahlten Urlaub. Sie war besorgt, aber ich wollte nicht, dass sie zu mir kam. Ich brauchte Zeit für mich allein. Ein paar Tage lang rührte ich mich nicht aus meiner Wohnung. Ich schlief zwar gelegentlich, aber unruhig und von Träumen geplagt. Kaum wachte ich auf, hatte ich Heißhunger und verschlang gierig alles, was ich finden konnte, und als alles aufgegessen war, ließ ich mir etwas Essbares kommen. Ich hatte Michele geliebt, stürmisch geliebt. Sie war in mein Leben geschneit und hatte meine ganze Welt auf den Kopf gestellt. Es würde seine Zeit dauern, bis ich meine innere Ruhe wiedergefunden hatte und nach dem Sturm Frieden herrschte. Während ich Ruhe suchte, ächzte die Stadt unter der Neuigkeit, dass sich einer ihrer Helden gegen sie erhoben und seiner Geldgier das Leben von acht Menschen geopfert hatte. Bald würde es grausige Enthüllungen geben, und jedes Zipfelchen von Micheles Vergangenheit würde ans Licht gezerrt werden, mochte es auch noch so privat sein. Als ich mich schließlich wieder nach draußen wagte, blieb ich vor meinem Haus auf der Straße stehen, um mich langsam von neuem mit der Stadt anzufreunden. Es war Nachmittag und ruhig in meiner Gegend, aber ich wusste, dass der Schein trog. Im Osten summte und brummte die Stadt nur so von der Betriebsamkeit der unteren Mittelschicht, und im Norden befanden sich die gut florierenden Megakonzerne des Südostens der Vereinigten Staaten. Überallhin erstreckten sich die unaufhörlich wachsenden Vororte und füllten sich mit Menschen aus der ganzen Welt. Von einer Erinnerung musste ich noch erlöst werden, eine schwärende Wunde musste sich noch schließen, bevor das Chaos sich lichtete. Drei Tage nach Micheles Tod machte ich mich allein zu meinem vertrauten Blumenladen an der Woodward Avenue auf. Ich erstand wie immer rote Tulpen und steuerte den stillen Zufluchtsort an, an dem ich vor zwei Jahren ein Stück 431
meiner Seele zurückgelassen hatte. Ich rollte langsam durch die Eisentore des Oakland-Friedhofs und öffnete mein Fenster, damit die Sommerdüfte in meinen Wagen strömen konnten. Ich parkte in der tiefen Stille, lehnte mich in meinen Sitz zurück und atmete tief. Der Rasen leuchtete grün im leichten Wind, und um mich herum ertönte hin und wieder friedliches Blättergeraschel. Ich dachte an Thomas Robinson, der alles riskiert hatte – selbst sein Leben –, um sich als Forscher zu rehabilitieren. Mut und Verzweiflung sind oft im Bunde miteinander; ihn hatten sie dazu veranlasst, etwas aufzudecken, was sonst nur eine der vielen Erfolgsgeschichten des Bösen gewesen wäre. Und ich dachte an Michael, der zu guter Letzt doch noch zu sich selbst gefunden hatte. Einmal aus seiner dunklen Höhle heraus, standen ihm alle Möglichkeiten offen. Doch meine Gedanken verweilten nur kurz bei diesen beiden. Ein paar Meter von mir entfernt ruhte eine Frau. Ich zählte die sechs Grabsteine ab, und da war sie. La flor inocente stand auf ihrem Stein, aber ich weiß, dass das nur eine romantische Verklärung ist. Sie war keine Unschuldige. Sie hatte sich darauf eingelassen, einen gewalttätigen Mann zu lieben, und so das Unglück über sich gebracht. Aber ich bin Tag und Nacht mit den Ausgestoßenen dieser Stadt beschäftigt und sitze auf keinem Richterstuhl. Ich habe sie gesehen, bin ihrer Schönheit verfallen und habe Ereignisse in Gang gesetzt, die mich jetzt noch verfolgen. In ihren Augen hat nie etwas wirklich Böses gelauert. Sie hatte nur Probleme wie jeder andere auch und suchte in einer sich ständig verändernden Welt nach Liebe und Sicherheit. Ich öffnete die Autotür und ging leise an den vertrauten Grabsteinen vorbei zu ihr. Bella como la luna y las estrellas stand auf ihrem Stein, und daran bestand kein Zweifel. Violeta Ramirez, so schön wie der Mond und die Sterne. Ich kniete an ihrem Grab nieder, legte meinen Blumenstrauß auf den Erdhügel und sagte ihr adieu. Wenn ihr Geist mich wieder einmal besucht, dann nur am Ort der Erinnerung und nicht in den langen Stunden meines Wachbewusstseins. Es war Zeit, sie loszulassen, 432
und ich spürte, wie sie sich, aller Sorgen ledig, die ihr das Leben so schwer gemacht hatten, von mir löste. Ich erhob mich, genoss die warme Luft auf meinem Gesicht, die vielfältigen Gerüche – nach Automobilen und Pflanzen aller Art, Menschen, Fabriken, Liebe und Sünde –, von denen meine Stadt durchdrungen ist. An meiner Seite fehlte Michele, die wunderbare Sängerin, die wunderbare Geliebte, die gescheiterte, tragische Mutter. Was fange ich mit ihr an, nun, wo ihr Licht erloschen oder zumindest nicht mehr von dieser Welt ist? Ihr hatte sich mein Herz geöffnet, aber unsere Liebe währte nur kurz. Deshalb habe ich das Gefühl, sowohl erlöst als auch betrogen worden zu sein. Tausende von Nächten liegen vor mir, in denen ich ihre Hand nicht in der meinen fühlen kann, und Hunderte, in denen ich sie nicht mehr singen hören kann. Die Liebe ist zum Teil Besitzergreifung und zum Teil Zufall. Hätte ich Michele geliebt, wenn ich sie im McDaniel Glen kennen gelernt hätte? Hätte ich dann einen Blick für ihre außerordentlichen Fähigkeiten gehabt? Oder wäre ich nur an ihr vorbeigegangen und hätte sie einfach zu den Opfern des Ghettos hinzugezählt? Ich werde es nie wissen. Nichts von alledem hat die Macht, mich zu vernichten, jetzt nicht mehr. Das Leben folgt keiner klaren Logik. Oder vielleicht nur dieser: L’amore non prevale sempre. Grayton wurde gerettet und damit auch Robinson und Nightmare. Aber Michele war gegangen und nun durch die Ewigkeit von ihrer Tochter getrennt. Die Liebe siegt nicht immer, nicht immer und nicht in diesem Leben. Shakespeare wusste das, und jede Generation muss es wieder neu lernen. Doug wusste es auch. Tief in seinem Herzen muss er gefühlt haben, dass ihm seine Liebe zum Verhängnis werden würde, als er diese Worte zu Michele sagte. Sie waren seine Begrüßungs- und seine Abschiedsworte. Unvergessliche Worte, wie ich jetzt weiß. Wir atmen, wir riskieren etwas. Wir schließen Frieden. Wir haken’s ab, und wir lassen los.
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DANK Dankbar für seinen Rat in technischen Dingen bin ich dem brillanten Wissenschaftler Dr. Richard Caprioli von der Vanderbilt-Universität. Hätte ich gewusst, dass Forscher Ferraris fahren, hätte ich vielleicht eine andere Berufswahl getroffen. Etwaige technische Fehler gehen ganz allein auf mein Konto. Dank gebührt ferner Vali Forrester, Joel Lee und Dr. Mace Rothenberg an der gleichen Universität. Ein Dankeschön auch an Rom Owenby, Tour Guide und Partner beim Mittagessen. Außerdem danke ich der Oper von Atlanta, die mir großzügig Zugang gewährt hat, und Kelly Bare, die sich freundlicherweise um viele Details gekümmert hat. Darüber hinaus gilt mein aufrichtiger Dank wie immer Jane und Miriam bei der literarischen Agentur Dystel & Goderich. Und Marjorie: Dein Vertrauen bedeutet mir viel. Ich will versuchen, mich seiner würdig zu erweisen.
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