DIE ABENTEUER VON FAFHRD UND DEM GRAUEN MAUSLING – DER GROSSE SCHWERTER-ZYKLUS VON FRITZ LEIBER Durch Zeit und fremde D...
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DIE ABENTEUER VON FAFHRD UND DEM GRAUEN MAUSLING – DER GROSSE SCHWERTER-ZYKLUS VON FRITZ LEIBER Durch Zeit und fremde Dimensionen von der Erde getrennt, träumt die alte Welt Nehwon vor sich hin – mit ihren Eisöden, Wüsten, fruchtbaren Landstrichen und stolzen Zitadellen. Nehwon – ein Tummelplatz für Piraten, wilde Reiter, freche Diebe und ränkeschmiedende Zauberer. Hier leben der Nordling Fafhrd, sieben Fuß groß und ganz in Leder gehüllt, und der graue Mausling, von kindlicher Statur und eine Adept Weißer Magie. Das unzertrennliche Freundespaar durchstreift das Land; ihre Taten sind Legion, ihre List gilt als sprichwörtlich. Gerüchte und Sagen ranken sich um ihr Leben. Furcht ist ihnen fremd, wenn es gilt, gegen Ungeheuer, Magier, Despoten, Diebsgesindel – oder schöne Frauen anzutreten. Sämtliche Romane sowie bisher unveröffentlichte Erzählungen des Schwerter-Zyklus erstmals als Sonderausgabe in zwei Bänden. Das vorliegende HEYNE-BUCH enthält u.a. die Romane: Schwerter gegen Zauberei Schwerter im Kampf Die Schwerter von Lankhmar Schwerter und Eiszauber
Von Fritz Leiber erschienen in der Reihe: HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Wanderer im Universum · 06/3096 Ein Gespenst sucht Texas heim · 06/3409 Das Grüne Millennium · 06/3611 Herrin der Dunkelheit · 06/3775 Der »Schwerter«-Zyklus: Schwerter und Teufelei · 06/3307 Schwerter gegen den Tod · 06/3315 Schwerter im Nebel · 06/3323 Schwerter gegen Zauberei · 06/3331 Die Schwerter von Lankhmar · 06/3339 Schwerter im Kampf · 06/3501 Schwerter und Eiszauber · 06/3819 Sonderausgabe des »Schwerter«-Zyklus in zwei Bänden: Schwerter im Nebel · 06/4287 Schwerter von Lankhmar · 06/4288
FRITZ LEIBER
Schwerter von Lankhmar Der Zyklus von Fafhrd und dem Grauen Mausling Band 2
Fantasy
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4288
Redaktion: Friedel Wahren Copyright ©: »Swords Against Wizardry«, 1968/1970 by Fritz Leiber; »The Swords of Lankhmar«, 1968 by Fritz Leiber; »Swords & Ice Magic«, 1977 by Fritz Leiber (Die einzelnen Kapitel erschienen als Erzählungen 1973, 1974, 1973, 1973, 1974, 1975, 1976 und 1977 als Vorabdrucke in diversen Magazinen und Anthologien) Copyright © 1973, 1973, 1981 der deutschen Übersetzungen by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München (Namen der Übersetzer siehe jeweils am Schluß der Texte) Printed in Germany 1986 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-31329-1
INHALT Schwerter gegen Zauberei (SWORDS AGAINST WIZARDRY) ..............................................
10
Im Zelt der Hexe (IN THE WITCH'S TENT) ...........................................................
11
Sternhöh (STARDOCK) ............................................................................
20
Die besten Diebe von Lankhmar (THE TWO BEST THIEVES IN LANKHMAR) ............................... 124 Die Herren von Quarmall (THE LORDS OF QUARMALL) ................................................... 150 Die Schwerter von Lankhmar (THE SWORDS OF LANKHMAR) ............................................... 298 Schwerter und Eiszauber (SWORDS & ICE MAGIC) .......................................................... 598 Die Trauer des Todbringers (THE SADNESS OF THE EXECUTIONER) .................................... 599 Schönheit und Ungeheuer (BEAUTY AND THE BEASTS) ..................................................... 615 Gefangene im Schattenland (TRAPPED IN SHADOWLAND) ................................................. 618 Der Köder (THE BAIT) ............................................................................... 629
INHALT In der Gewalt der Götter (UNDER THE THUMBS OF THE GODS) ...................................... 634 Gefangene im Meer der Sterne (TRAPPED IN THE SEA OF STARS) ............................................ 658 Die Frost-Monstreme (THE FROST MONSTREME) ....................................................... 685 Reifinsel (RIME ISLE) .............................................................................. 739
Einführung Durch Zeit und fremde Dimensionen von uns getrennt, träumt die alte Welt Nehwon vor sich hin – jenes Zauberland mit seinen turmbewehrten Städten, seinen Schätzen und Schwertkämpfern. Das Zentrum bildet das Binnenmeer, das im Norden vom wilden Land der Acht Städte, im Osten von der Steppe mit ihren Mingol-Reiterstämmen und im Süden durch die Perle aller Länder, Lankhmar, begrenzt wird, Kornkammer Nehwons, mit seiner gleichnamigen Hauptstadt. Befestigt wie keine zweite Stadt, herrscht ein abenteuerliches Durcheinander von Dieben, Priestern, Zauberern und Händlern im Labyrinth der Gassen. In dieser Welt sind unsere Helden zu Hause – Fafhrd, geschmeidig, großgewachsen, dem Typ nach ein Barbar aus der Eisöde des hohen Nordens. Sein Freund, der Graue Mausling, ist dagegen klein und gedrungen, kleidet sich vornehm in mausgraues Leder und trägt eine Kapuze, die ein flaches, dunkles Gesicht beschattet. Wie die Kämpfer, so auch die Waffen: Fafhrd bevorzugt ein Langschwert, der Mausling dagegen ein kurzes Rapier. Ihre Taten sind Legion; seit Jahren streifen sie in Nehwon herum und reisen auch in völlig unbekannte Lande; ihre Abenteuer werden an manchem Kamin erzählt. Und noch immer locken die Rätsel ihrer Welt ...
VIERTES BUCH
Schwerter gegen Zauberei Im Zelt der Hexe (IN THE WITCH'S TENT) ...........................................................
11
Sternhöh (STARDOCK) ............................................................................
20
Die besten Diebe von Lankhmar (THE TWO BEST THIEVES IN LANKHMAR) ............................... 124 Die Herren von Quarmall (THE LORDS OF QUARMALL) ................................................... 150
Im Zelt der Hexe Die Hexe beugte sich über das Kohlenbecken. Der aufsteigende graue Rauch verwob sich mit den herabhängenden verfilzten Strähnen schwarzen Haares. Der Schein des glosenden Feuers zeigte ihr dunkles zerfurchtes Gesicht, das so schmutzig war wie die frisch ausgegrabene Wurzel eines Eisenholzbaums. Ein halbes Jahrhundert der Kohlenschalenhitze und des Rauches hatten es schwarz, runzelig und hart wie eine Speckschwarte geräuchert. Durch ihre Nase, die wie die Nüstern eines Pferdes gebläht war, und den schlaffen Mund mit den wenigen braunen Zähnen, die wie alte Baumstümpfe das graue Feld ihrer Zunge einzäunten, atmete sie gurgelnd die Dämpfe ein und stieß sie blubbernd aus. Jene, die ihrer gierigen Lunge entgingen, suchten ihren Weg zu dem leicht herabhängenden Dach ihres Zeltes, das auf sieben krummen Rippen rund um die Mittelstange ruhte, und ließen auf dem alten, ungegerbten Leder ihre Spuren von Harz und Ruß zurück. Würde man ein solches Zelt nach Jahrzehnten oder vielleicht gar nach Jahrhunderten der Benutzung auskochen, bekäme man eine übelkeiterregende Flüssigkeit, die dem Sagen nach einem Menschen seltsame und gefährliche Bilder vorgaukeln kann. Außerhalb der schlaffen Zeltwände breiteten sich die dunklen, verwinkelten Gassen von Illik-Ving aus, einer aus den Fugen platzenden lauten Stadt, die die achte und kleinste Metropole des Landes der Acht Städte ist. Und über ihr zitterten im eisigen Wind die seltsa-
men Sterne der Welt von Nehwon, die so sehr ähnlich wie unsere Welt ist, und doch so ganz anders. Im Zelt beobachteten zwei barbarenhaft gekleidete Männer die Hexe über dem Feuerbecken. Der große Mann mit dem rotblonden Haar starrte sie mit ernsten Augen eindringlich an. Der kleine, ganz in Grau gekleidete Mann dagegen hatte die Lider niedergeschlagen, er unterdrückte ein Gähnen und rümpfte die Nase. »Ich weiß wirklich nicht, was schlimmer stinkt, sie oder das Feuerbecken«, murmelte er. »Vielleicht ist es auch das ganze Zelt oder dieser Gossenschmutz, in dem wir sitzen müssen. Es könnte natürlich ebenso sein, daß ihr Vertrauter ein Stinktier ist. Wenn wir schon den Rat einer zauberkräftigen Person einholen müssen, hätten wir doch lieber zu Sheelba oder Ningauble gehen sollen, ehe wir von Lankhmar nordwärts über das Binnenmeer segelten.« »Aber sie waren nicht zu erreichen«, antwortete der große Mann, abgehackt flüsternd. »Psst, Grauer Mausling, ich glaube, sie ist in Trance.« »Ich glaube eher, sie ist eingeschlafen«, entgegnete der kleine Mann respektlos. Der gurgelnde Atem der Hexe hörte sich allmählich an, als läge sie in den letzten Zügen. Ihre Lider zuckten und offenbarten zwei weiße Striche. Der Wind rüttelte an den dunklen Zeltwänden – es mochten aber auch unsichtbare Geister sein. Es beeindruckte den kleinen Mann nicht. »Ich verstehe nicht, weshalb wir überhaupt irgend jemandes Rat einholen müssen. Wir haben ja schließlich nicht vor, Nehwon zu verlassen, wie wir es bei unserem letzten Abenteuer taten. Wir haben die Papiere – die
Fetzen Schafspergament, meine ich. Und wir wissen, wohin wir wollen. Oder zumindest hast du das behauptet.« »Psst!« mahnte der große Mann erneut, dann fügte er hinzu: »Ehe man sich auf ein größeres Unternehmen einläßt, ist es üblich, den Rat eines Zauberers oder einer Hexe einzuholen.« Der kleine Mann, der nun ebenfalls flüsterte, entgegnete: »Warum haben wir uns dann nicht einen zivilisierten Magier ausgesucht? Einen, der einen guten Ruf in der Zauberergilde von Lankhmar hat? Er hätte zumindest ein paar hübsche nackte Mädchen um sich gehabt, zur Beruhigung der Augen, wenn sie beim Entziffern alter gekritzelter Hieroglyphen zu tränen beginnen.« »Eine gute, erdverbundene Hexe ist ehrlicher als so mancher Gauner in der Stadt, der sich einen schwarzen Spitzhut zugelegt hat und einen mit Sternen verzierten Umhang«, gab der große Mann zu bedenken. »Außerdem ist sie hier unserem eisigen Ziel und seiner Beeinflussung näher. Ihr verweichlichten Städter mit eurem Bedürfnis nach Bequemlichkeit und Luxus! Ihr würdet den Arbeitsraum eines ernsthaften Zauberers in ein Freudenhaus verwandeln.« »Und warum nicht?« wollte der kleine Mann wissen. Er deutete mit dem Daumen auf die Hexe. »Erdverbunden, sagst du? In Jauche gebadet käme da schon näher.« »Pssst! Mausling, du wirst sie noch aus ihrer Trance reißen!« »Trance?« Wieder betrachtete der kleine Mann die Hexe. Sie hatte den Mund nun geschlossen und atmete nur noch laut schnaufend durch die Nase, deren
rußige Spitze offenbar das vorgeschobene Kinn suchte. Ein schwaches, hohes Heulen war zu vernehmen, wie von fernen Wölfen oder nahen Geistern, möglicherweise war es jedoch auch bloß Teil des Schnaufens der Alten. Der kleine Mann zog verächtlich die Oberlippe hoch und schüttelte den Kopf. Seine Hände zitterten ein wenig, doch das verbarg er. »Nein, sie ist bloß so berauscht, daß ihr Kopf völlig leer ist«, sagte er. »Du hättest ihr nicht soviel Mohngummi geben sollen.« »Aber das ist doch der ganze Zweck der Trance!« erklärte der große Mann. »Man muß den Geist aus dem Kopf vertreiben, ihn einen mystischen Berg hochjagen, damit er von seinem Gipfel aus die Lande der Vergangenheit und Zukunft und vielleicht sogar andere Welten sehen kann!« »Ich wollte, die Berge vor uns wären nur mystisch«, brummte der kleine Mann. »Hör zu, Fafhrd, ich bin ja durchaus bereit, die ganze Nacht hier zu kauern – oder zumindest noch weitere fünfzig stinkende Atemzüge oder zweihundert gelangweilte Herzschläge –, wenn ich dir damit eine Freude mache. Aber ist es dir vielleicht schon in den Sinn gekommen, daß wir uns in diesem Zelt in Gefahr befinden? Und ich meine jetzt nicht von Geistern. In IllikVing sind noch andere Gauner wie wir, vielleicht auch auf das gleiche aus wie wir, denen es ein Vergnügen wäre, uns ein schnelles Ende zu bereiten. Hinter dieser Lederhaut sitzen wir wie in einer Falle.« In diesem Augenblick erhob der Wind sich wieder und rüttelte am Zelt, dazu hörte man ein seltsames Scharren und Kratzen wie von einem streifenden Ast – oder den langen Fingernägeln eines Toten. Auch
war ein schwaches Knurren und Wimmern zu vernehmen und gleichzeitig verstohlene Schritte. Beide Männer dachten sofort an des Mauslings Befürchtung. Er und Fafhrd blickten zu der geschlossenen Felltür des Zeltes und lockerten die Schwerter in ihren Hüllen. In diesem Moment verstummte der keuchende Atem der Hexe – und mit ihm jeder andere Laut. Ihre Lider hoben sich, und nur das Weiße war zu sehen – milchige Ovale, die gespenstisch in dem zerfurchten Dunkel ihrer scharfgeschnittenen Züge schimmerten. Die graue Zungenspitze wanderte wie eine riesige Made über ihre Lippen. Der Mausling öffnete den Mund, doch die ausgestreckte Hand Fafhrds mit den gespreizten Fingern war zwingender als jedes ›Pssst‹. Mit leiser, aber klarer Stimme, die fast wie die eines jungen Mädchens klang, sagte die Hexe: »Von einem zauberbedingten Wunsch beseelt, zieht ihr zum eisigen Rand der Welt ...« ›Zauberbedingt‹ ist also hier das Schlüsselwort, dachte der Mausling. Typisches nichtssagendes Hexengewäsch. Ganz offenbar weiß sie nichts weiter über uns, als daß wir in den Norden wollen, und das war unschwer zu erfahren. »Ihr müßt nordwärts, nordwärts, nordwärts gehen durch Eiskristall und Pulverschnee ...« Mehr vom gleichen, setzte der Mausling seinen Gedankengang fort. Aber muß sie es so bildhaft machen,
mit Eis und Schnee? Brrr! »Und mancher Rivale bringt euch in Not, dicht auf den Fersen bleibt euch der Tod ...« Aha, der unausbleibliche Angstmacher, ohne den eine Wahrsagung nicht denkbar wäre! »Doch habt ihr euch mit Mut bewahrt, wird endlich euer sein, was ihr begehrt ...« Und nun das glückliche Ende! O ihr Götter, selbst die dümmste Hure von Ilthmar, die aus der Hand liest, könnte ... »Und schließlich werdet ihr erkennen ...« Etwas Silbergraues blitzte so dicht vor des Mauslings Augen vorbei, daß er es nur verschwommen sah. Sofort wich er zurück und zog Skalpell, sein Schwert. Die rasiermesserscharfe Speerspitze, die durch das Zeltleder gedrungen war, als wäre es Papier, hielt nur wenige Zoll vor Fafhrds Kopf an und wurde zurückgezogen. Ein Wurfspeer schoß aus der Wand. Der Mausling schlug ihn mit dem Schwert zur Seite. Ein vielstimmiges Gebrüll erhob sich außerhalb des Zeltes. »Tod den Fremden!« war zu hören. Und: »Kommt heraus, Hunde, in den Tod!« Des Mauslings Augen huschten zur Ledertür. Fafhrd, der fast so schnell wie sein Kamerad reagierte, fand eine etwas ungewöhnliche Lösung für ihr taktisches Problem; nämlich die von Männern in einer
belagerten Festung, deren Mauern weder imstande sind, sie zu schützen, noch einen Blick nach außen gestatten. Sein erster Zug war ein Sprung zur Mittelstange des Zeltes, die er unter großer Kraftanstrengung aus dem Boden zog. Die Hexe, die ebenfalls mit gesundem Verstand reagierte, warf sich flach in den Schmutz. »Wir verschwinden!« rief Fafhrd. »Mausling, halt du vorn Ausschau und weis mir den Weg!« Mit diesen Worten stürmte er zur Tür und nahm das ganze Zelt mit sich. Eine Reihe berstender Geräusche war zu vernehmen, als die brüchigen alten Klammern, die das Leder an den Pflöcken hielten, zersplitterten. Das Feuerbecken kippte um und verstreute glühende Kohlen. Das Zelt wischte über die Hexe hinweg. Der Mausling, der vor Fafhrd herlief, riß den Türschlitz weit auf. Sofort mußte er mit Skalpell einen Schwerthieb aus der Dunkelheit parieren, doch mit der anderen Hand hielt er die Türklappe weit auf. Der gegnerische Schwertkämpfer wurde umgerissen, zweifellos hatte es ihn allzusehr überrascht, von einem Zelt angegriffen zu werden. Der Mausling trat im Finstern auf ihn und glaubte, Rippen bersten zu hören, ähnlich erging es Fafhrd, der ihm dichtauf folgte. Schon rief der Mausling: »Scharf links, Fafhrd! Jetzt ein bißchen nach rechts! Ah, links voraus ist eine Gasse. Mach dich bereit einzubiegen, wenn ich es dir sage. Jetzt!« Er packte den Rand der Felltür und half, das Zelt herumzuschwingen, während Fafhrd es drehte. Ein Wut- und Überraschungsgebrüll erschallte zugleich, und auch ein Kreischen der Hexe, die zwei-
fellos erbost über den Raub ihres Heims war. Die Gasse war so eng, daß die Zeltseiten gegen Häuser und Zäune streiften. Als sie weiche Erde unter den Füßen spürten, rammte Fafhrd die Zeltstange hinein, dann rannten die beiden aus dem Zelt und ließen es als Barrikade zurück. Das Brüllen hinter ihnen wurde lauter, als ihre Verfolger in die Gasse einbogen, trotzdem beeilten die beiden Freunde sich nicht übermäßig. Sie waren überzeugt, daß die Angreifer viel Zeit damit vergeuden würden, das leere Zelt zu bekämpfen. Nebeneinander rannten die zwei durch die schlafende Vorstadt zu ihrem gutverborgenen Lager außerhalb. Eisige Luft schlug ihnen entgegen, die der Wind von einem Paß durch das Trollgebirge herbeitrug. Das Trollgebirge war eine zerklüftete Bergkette, die das Land der Acht Städte von der gewaltigen Hochebene der Eisöde im Norden trennte. »Zu dumm, daß die alte Frau gerade in dem Moment unterbrochen wurde, als sie möglicherweise etwas Wichtiges sagen wollte«, bemerkte Fafhrd. Der Mausling schnaubte abfällig: »Sie war mit ihrem nichtssagenden Singsang ohnehin schon so gut wie fertig. Er brachte überhaupt nichts.« »Ich frage mich, wer diese Störenfriede waren und was sie zu dem Überfall veranlaßte«, brummte Fafhrd. »Mir war, als hätte ich die Stimme dieses Biersäufers Gnarfi erkannt, du weißt schon, desjenigen, der kein Bärenfleisch mag.« »Es waren Halunken, die sich genauso dumm benahmen wie wir«, entgegnete der Mausling. »Und Veranlassung? Sie hatten nicht mehr Veranlassung als Schafe, die im Gras weiden. Zehn Tölpel, die ei-
nem Dummkopf von Führer folgen.« »Trotzdem erscheint es mir, als ob jemand uns nicht mag«, beharrte Fafhrd. »Als ob das etwas Neues wäre!« brummte der Graue Mausling. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Lore Strassl
Sternhöh An einem frühen Abend, Wochen später, trieb des Himmels graue Wolkenrüstung südwärts, zerschmettert und sich auflösend wie durch Schläge einer in Säure getauchten Streitkeule. Derselbe mächtige Nordostwind pustete verächtlich die bisher unbezwingbare Wolkenwand im Osten zur Seite und offenbarte so einen auf grimmige Weise majestätischen Gebirgszug, der vom Norden gen Süden verlief und jäh zwei Meilen hoch dem Plateau der Eisöde entsprang – wie ein fünfzig Meilen langer Drache, der seinen Zackenkamm aus eisigen Grüften hob. Fafhrd war kein Fremder in der Eisöde. Er war am Fuß dieser Gebirge geboren und hatte als Kind zumindest ihre unteren Hänge erklommen, so konnte er dem Grauen Mausling auch die Namen der einzelnen Gipfel nennen, während sie am rauhreifüberzogenen Ostrand der Mulde standen, in der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Die Sonne, die vom Lager aus schon nicht mehr zu sehen war, schien hinter ihrem Rücken noch auf die Westseite der hohen Gipfel, die der große Mann seinem Freund namentlich aufzählte. Doch sie schien nicht in vertrauter rosiger Glut, sondern in einem klaren, kalten Licht, das jede Einzelheit scharf hervorhob, und so zu der erschreckenden Wachsamkeit und Kälte der Gipfel paßte. »Schau dir die erste hohe, nordwärts gerichtete Felszackengruppe an«, forderte Fafhrd den Mausling auf. »Diese Phalanx himmelbedrohender Eisspeere mit den Schäften aus dunklem Fels und schimmerndem Grün ist die Säge. Dann daneben und weit hö-
her; der einzelne Elfenbeinstoßzahn – nach Menschenermessen ist er unerklimmbar, und er heißt Stoßzahn, weil er wie ein solcher aussieht. Dann gibt es einen weiteren unbezwingbaren, er ist sogar noch höher. Seine Südwand ist eine ganze Meile lang völlig senkrecht und schwingt dann der Nadelspitze zu nach außen. Das ist der Fangzahn – wo mein Vater starb –, der Wachhund der Berge der Riesen. Und nun richte den Blick auf die erste Schneekuppe südlich der Kette«, fuhr der große, in Pelze gehüllte Mann fort, dessen Kopf unbedeckt war, wenn man von den kupferfarbigen Haaren und dem Bart absah. Die eisige Luft war hier am Fuß der Berge so unbewegt, als befände sie sich meerestief unter einem Sturm. »Wink nennt man sie, aber auch Kommschon. Sie sieht niedrig und nicht besonders eindrucksvoll aus. Aber so manche sind des Nachts an ihren Hängen erfroren oder von ihren launenhaften, mächtigen Lawinen in den Tod gerollt worden. Dann gibt es noch eine weitaus größere Schneekuppe, eine wahre Königin, gegen die Wink nur eine Prinzessin ist. Sie ist eine Halbkugel in purstem Weiß, gewaltig genug, um als Kuppeldach der Ratshalle aller Götter, die je waren und je sein werden, zu dienen. Großhanack heißt sie. Mein Vater war der erste, der sie bestieg und bezwang. Unser Zeltdorf stand dort an ihrem Fuß. Keine Spur davon wird es jetzt noch geben, ja nicht einmal einen Unrathaufen. Neben Großhanack, uns am nächsten gelegen, erhebt sich ein riesiger, oben völlig flacher Pfeiler, fast einer Himmelssäule gleich. Er sieht aus, als schauten unter einer Schneedecke stellenweise Pflanzen heraus, tatsächlich aber besteht er aus schneebleichem
Granit, den die Stürme verwittert haben. Das ist der Obelisk Polaris. Als letztes«, Fafhrd senkte die Stimme und legte eine Hand auf die Schulter seines kleinen Kameraden, »laß deinen Blick zu dem teilweise mit Schnee überzogenen Berg aus dunklem Gestein mit der Schneekappe wandern, der zwischen Fangzahn und Obelisk steht. Seine glitzernden Hänge sind an einer Seite hinter letzterem verborgen, aber er ist um genau soviel höher als die beiden, wie diese höher als die Eisöde sind. Er wiederum versteckt im Augenblick den aufgehenden Mond. Das ist Sternhöh, unser Ziel.« »Eine hübsche, hohe und schlanke Warze auf diesem von Frostbeulen verunstalteten Flecken von Nehwons Antlitz«, brummte der Graue Mausling und löste seine Schulter aus Fafhrds Griff. »Und nun verrate mir, mein Freund, warum du in deiner Jugend nie diese Sternhöh erklommen und den Schatz an dich gebracht hast und statt dessen warten mußtest, bis wir in einem staubigen, heißen und von Skorpionen wimmelnden Wüstenturm, eine Viertelwelt entfernt, einen Hinweis darauf fanden – und ein halbes Jahr vergeudeten, um hierherzukommen.« Fafhrds Stimme klang ein wenig unsicher, als er antwortete: »Mein Vater hat sie nie bestiegen, weshalb hätte ich es da tun sollen? Außerdem gab es in meines Vaters Clan keine Sagen über einen Schatz auf der Sternhöh – obwohl man sich unzählige andere über sie erzählte, die davor warnten, sie zu erklimmen. Man nannte meinen Vater den Sagenbrecher, und zuckte nur weise mit den Schultern, als er vom Fangzahn nicht mehr zurückkehrte ... Es stimmt, Mausling, meine Erinnerung an jene Zeit ist nicht
mehr allzu klar. Zu oft bekam ich einen Hieb über den Schädel, der mein Gedächtnis durcheinanderrüttelte, ehe ich lernte, etwas dagegen zu unternehmen. Außerdem war ich ja noch ein Kind, als der Clan die Eisöde verließ – auch wenn die rauhen Wände von Obelisk Polaris damals mein senkrechter Spielplatz gewesen waren ...« Der Mausling nickte knapp. In der Stille hörten sie, wie ihre angebundenen Ponys schmatzend das eisstarre Gras der Mulde kauten, und dann ein nicht böse klingendes Knurren Hrissas, der Eiskatze, die sich zwischen dem winzigen Feuer und dem Stapel der Ausrüstung zusammengekuschelt hatte. Vermutlich war eines der Ponys zu nahe herangekommen. Auf der eisigen Ebene rings um sie rührte sich nichts – oder fast nichts. Der Mausling tauchte die in grauen Schaffellhandschuhen steckenden Finger in seinen Beutel und brachte aus seiner Tasche ein kleines rechteckiges Stück Pergament zum Vorschein. Er las laut vor, doch mehr aus dem Gedächtnis, als von dem Pergament: »Wer die weiße Sternhöh, den Mondbaum, erklimmt, mit Schlangengewürm und Gnomen ficht, der den Schlüssel zu allem Reichtum gewinnt: einen Beutel voll Sterne, das Herz des Lichts.« Verträumt murmelte Fafhrd: »Man erzählt, die Götter lebten einst auf Sternhöh und hatten da ihre Schmieden. Von dort schickten sie zwischen lodernden Flammen und sprühenden Funken die Sterne zum Himmel hoch. Diamanten, Rubine, Smaragde und all die anderen herrlichen Edelsteine waren ihre kleinen
Modelle, nach denen sie die Sterne erschufen. Und als ihr Werk vollbracht war, warfen sie die Edelsteine sorglos von sich und verstreuten sie über die ganze Welt.« »Davon hast du mir noch nie erzählt.« Der Mausling blickte ihn scharf an. Fafhrd blinzelte und zog erstaunt die Brauen zusammen. »Ich erinnere mich mit einem Mal wieder an Geschichten, die ich in meiner Kindheit hörte.« Der Mausling lächelte dünn, ehe er das Pergament in seine tiefe Tasche zurückschob. »Die Vermutung, daß ein Beutel voll Sterne ein Säckchen mit Edelsteinen sein mag; die Geschichte, daß Nehwons größter Juwel Herz des Lichts genannt wird; ein paar Worte auf Schafhaut, die im obersten Gemach eines Wüstenturms jahrhundertelang verborgen und versiegelt waren – all das sind lächerliche Winke, um Männer quer durch diese mörderische, trostlose Eisöde zu ziehen. Gestehe, altes Roß, hattest du solche Sehnsucht nach diesen elenden weißen Feldern deiner Geburtsstatt, daß du vorgetäuscht hast, daran zu glauben?« »Diese lächerlichen Hinweise«, entgegnete Fafhrd und spähte zum Fangzahn, »zogen auch andere Männer nordwärts quer durch Nehwon. Es muß weitere Schafhautfetzen gegeben haben, doch weshalb sie alle zur gleichen Zeit entdeckt wurden, weiß ich nicht.« »Wir haben sie alle in Illik-Ving oder sogar Lankhmar abgehängt, jedenfalls lange, ehe wir das Trollgebirge erreichten«, sagte der Mausling im Brustton der Überzeugung. »Schwächlinge waren sie alle, die zwar Beute witterten, aber vor Anstrengungen und
Gefahren zurückschreckten.« Fafhrd schüttelte den Kopf und deutete in die Ferne. Zwischen ihnen und Fangzahn stieg eine dünne Rauchfahne hoch. »Sind dir Gnarfi und Kranarch vielleicht wie Schwächlinge vorgekommen?« fragte er, als schließlich auch der Mausling den dünnen Rauch entdeckt hatte und nickte. »Sie könnten es natürlich sein«, gestand der Mausling ihm düster zu. »Aber könnten sich denn nicht auch ganz gewöhnliche Reisende in der Eisöde aufhalten? Nicht, daß wir auch nur einer Menschenseele begegnet sind, seit wir Mingol verlassen haben.« Fafhrd sagte nachdenklich: »Vielleicht ist es ein Lager der Eisgnomen ... Aber sie verlassen ihre Höhlen nur selten, und wenn, dann gewöhnlich bloß im Hochsommer, und der liegt einen guten Monat zurück ...« Er unterbrach sich und runzelte verwirrt die Stirn. »Ich verstehe nicht, woher weiß ich denn das?« »Eine weitere Kindheitserinnerung, die aus der Versenkung auftaucht?« fragte der Mausling. Fafhrd zuckte zweifelnd mit den Schultern. »Also, nehmen wir an, daß es Kranarch und Gnarfi sind«, brummte der Mausling. »Zwei kräftige Brüder, das muß ich zugeben. Wir hätten uns vielleicht mit ihnen in Illik-Ving anlegen sollen«, meinte er. »Wir könnten es auch jetzt noch. Ein schneller Nachtmarsch – ein Überraschungsangriff ...« Fafhrd schüttelte abwehrend den Kopf. »Wir sind Bergsteiger, keine Mörder. Jemand, der die Sternhöh erklimmen will, darf sich nur damit befassen.« Er lenkte des Mauslings Aufmerksamkeit wieder auf den höchsten Berg.
»Schau sie dir erst einmal unten an. Dieser schimmernde Rock, der von ihren schneeweißen Hüften herabfällt, die fast so hoch wie der Obelisk sind, das ist der Weiße Wasserfall, der der Tod eines jeden ist, der ihm zu nahe kommt. Nun blick wieder zu ihrem Kopf hoch. Von ihrer flachen, schrägsitzenden Schneekappe hängen zwei dicke Flechten aus Schnee herab, aus denen sich ständig Lawinen lösen, als kämmte sie sie Tag und Nacht – Zöpfe nennt man sie. Zwischen ihnen ist eine breite Leiter aus dunklem Fels. Sie ist an drei Punkten durch Simse gekennzeichnet. Die obersten der drei Simsbänke sind das Gesicht – siehst du die dunkleren Leisten, die Augen und Lippen darstellen? Die mittleren Simsbänke nennt man die Nester, und die mittleren, die sich in einer Höhe mit der Oberfläche des Obelisken befinden, das sind die Höhlen.« »Wessen Nester? Und wer haust in den Höhlen?« wollte der Mausling wissen. »Das weiß keiner, weil noch niemand die Leiter erklommen hat«, erwiderte Fafhrd. »Und nun zu unserer Route. Ich habe uns die einfachste ausgesucht. Wir besteigen den Obelisk Polaris; das ist ein ungefährlicher Berg, wenn es so etwas überhaupt gibt, und kommen von ihm über einen schrägen Schneesattel (das ist das gefährlichste Stück unseres Aufstiegs!) zur Sternhöh und erklimmen die Leiter zum Gipfel.« »Wie sollen wir die Leiter an den hohen kahlen Wänden zwischen den Leisten hochkommen?« erkundigte sich der Mausling mit fast kindlicher Unschuld. »Wenn die in der Höhle und im Nest uns den Aufstieg überhaupt gestatten.« »Wir werden schon eine Möglichkeit finden«, ant-
wortete Fafhrd schulterzuckend. »Fels ist Fels.« »Warum liegt auf der Leiter kein Schnee?« »Weil sie zu steil ist.« »Angenommen, wir klettern sie hoch, wie bekommen wir dann unsere ausgezehrten und blaugefrorenen Leiber über die Krempe der Schneekappe, die recht verwegen ins Gesicht gezogen ist?« »Irgendwo dort ist ein dreieckiges Loch, Nadelöhr genannt«, antwortete Fafhrd gleichgültig. »Das habe ich zumindest gehört. Aber mach dir keine Sorgen, Mausling, wir werden es schon finden.« »Natürlich werden wir das«, pflichtete der Kleinere mit einer Überzeugung bei, die fast echt klang. »Was ist das schon für uns, die wir über brüchige Schneebrücken hopsen und leichtfüßig Steilwände hochtanzen, ohne auch nur einmal den Granit mit der Hand zu berühren. Erinnere mich daran, daß ich einen langen Dolch mitnehme, um unsere Namen in den Himmel zu ritzen, wenn wir am Gipfel eine kleine Feier veranstalten.« Sein Blick wanderte ein wenig nordwärts. Mit veränderter Stimme fuhr er fort: »Die dunkle Nordwand der Sternhöh – sie ist zwar zweifellos steil, aber bis zum Gipfel schneefrei. Wieso nehmen wir nicht diesen Weg, da Fels ja – wie du mit solch unwiderlegbarer Tiefsinnigkeit festgestellt hast – Fels ist.« Fafhrd lachte durchaus nicht gekränkt oder spöttisch. »Mausling«, sagte er, »siehst du den wolkenähnlichen, langen weißen Streifen südlich vom Gipfel? Ja? Und etwas tiefer einen kleineren? Der zweite kommt durch das Nadelöhr. Nun, diese Bänder von Sternhöhs Kappe nennt man das Große und das Kleine Banner. Sie bestehen aus Pulverschnee,
den der Nordostwind von der Sternhöh löst. Dieser sturmähnliche Wind tobt sieben von acht Tagen und ist unberechenbar. Er pustet den besten Bergsteiger so leicht von der Nordwand, wie wir Löwenzahnsamen vom Stengel. Dagegen schützt Sternhöh selbst die Leiter vor dem Sturm.« »Und der Sturm wechselt nie die Richtung und schlägt gegen die Leiter?« erkundigte sich der Mausling scheinbar leichthin. »Oh, nur ganz selten«, versicherte ihm Fafhrd. »Na, das ist ja großartig«, entgegnete der Mausling mit geradezu überwältigender Freundlichkeit. Er wäre zum Feuer zurückgekehrt, hätte nicht gerade die Dunkelheit begonnen, schnell die Berge der Riesen hochzusteigen, als die Sonne endgültig für den Tag im fernen Westen unterging. So blieb der graugekleidete Mann stehen, um sich dieses großartige Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Es war, als würde eine schwarze Decke von unten hochgezogen. Erst verschwand der schimmernde Rock des Weißen Wasserfalls in der Finsternis, dann die Höhle auf der Leiter und danach das Nest. Nun waren auch alle anderen Gipfel untergetaucht, selbst die glänzenden scharfen Spitzen des Stoßzahns und des Fangzahns, ja sogar das grünlich weiße Dach des Obelisken Polaris. Einzig und allein die Schneekappe der Sternhöh ragte noch aus der Dunkelheit und darunter das Gesicht zwischen den silbernen Zöpfen. Eine kurze Weile leuchteten die Augen genannten Simse, oder zumindest sah es so aus. Und dann herrschte nur noch die Nacht. Und doch war ein bleiches Nachglühen zu sehen. Es war unheilvoll still und die Luft völlig unbewegt.
Um sie herum schien die Eisöde sich gen Norden, Westen und Süden in die Endlosigkeit zu erstrecken. Und während dieses Moments der gespenstischen Stille glitt etwas mit dem schwachen Rauschen eines großen Segels in einer Brise durch die stille Luft. Fafhrd und der Mausling starrten wild um sich, doch nichts war zu sehen. Hinter dem kleinen Feuer sprang Hrissa, die Eiskatze, zischend auf. Und dann verstummte das Rauschen, ohne daß sie seine Ursache erkannt hätten. Nachdenklich begann Fafhrd: »Es gibt eine Sage ...« Dann hielt er inne und schüttelte den Kopf. »Die Erinnerung entschwindet, Mausling. Sie läßt sich einfach nicht festhalten. Sehen wir uns noch einmal um das Lager herum um und legen uns dann schlafen.« Der Mausling erwachte so sanft aus dem ersten Schlaf, daß nicht einmal Hrissa es bemerkte, die sich an der dem Feuer zugewandten Seite von den Knien bis zur Brust an ihn gekuschelt hatte. Hinter der Sternhöh ging mit glitzerndem Schein auf dem südlichen Zopf der zunehmende Mond auf, als wahrhaftig passende Frucht des Mondbaums. Seltsam, dachte der Mausling wie klein der Mond und wie groß Sternhöh ist, wenn sie sich so gegen den mondbleichen Himmel abhebt. Da entdeckte er unmittelbar unter der flachen Kappe des Berges ein helles blaßblaues Blinken. Er erinnerte sich, daß Ashsha, der blaßblaue und hellste Stern Nehwons, in dieser Nacht dem Mond nahe war, und er fragte sich, ob er ihn vielleicht durch einen erstaunlichen Zufall durch das Nadelöhr sah, vorausgesetzt, letzteres gab es überhaupt. Er fragte sich
auch, welchen großen Saphir oder blauen Diamanten – vielleicht das Herz des Lichts? – die Götter als Modell für Ashsha genommen hatten. Und er lächelte über sich, weil er einer so dummen, aber hübschen Legende nachhing. Da er schon dabei war, grübelte er weiter darüber nach, und der Gedanke kam ihm, daß die Götter vielleicht ein paar der richtigen, fertigen Sterne auf Sternhöh zurückgelassen hatten. Da verschwand Ashsha – falls er es gewesen war – wieder. Der Mausling fühlte sich wohlig warm in seinem schaffellgefütterten Umhang den er für die Nacht mit den Lederbändern um die Hornhäkchen an seinem Saum zum Schlafsack gemacht hatte. Lange blickte er verträumt zur Sternhöh hoch, bis der Mond sich von ihr befreite und ein bläulicher Edelstein auf ihrer Kappe funkelte, ehe auch er sich davon löste. Das war jetzt ganz gewiß Ashsha. Ohne Angst zu empfinden, dachte er über das leise Rauschen nach, das er und Fafhrd in der stillen Luft gehört hatten. Vielleicht war es nur die lange Zunge eines Sturms gewesen, der kurz einmal heruntergeleckt hatte. Wenn der Sturm anhielt, würden sie ihm entgegenklettern. Hrissa streckte sich im Schlaf aus. Fafhrd, der in seinen mit Daunen gefüllten und zum Schlafsack geschnürten Umhang ausgestreckt lag brummte etwas im Traum. Der Mausling senkte den Blick und ließ ihn auf dem niederbrennenden Feuer ruhen; er wünschte sich, wieder einzuschlafen. Die Flammen verwandelten sich in Mädchenkörper, dann in Mädchengesichter. Schließlich erschien ein gespenstisch bleichgrünes Mädchengesicht – ein Nachglühen vielleicht, dachte er zuerst – jenseits des Feuers und starrte ihn
durch schmale Augenschlitze über die Flammenspitzen hinweg an. Je gebannter er es betrachtete, desto wirklicher schien es zu werden. Aber es war nur ein Gesicht, ohne Körper, ohne Haare, die es eingerahmt hätten. Wie eine Maske hing es in der Dunkelheit. Es war ein auf gespenstische Weise wunderschönes Gesicht: mit schmalem Kinn, hohen Wangenknochen, weinroten kleinen geschürzten Lippen, einer feinen Nase, die gerade zu einer breiten, etwas niedrigen Stirn verlief. Und dann waren da diese geheimnisvollen Augen, deren Lider fast geschlossen waren, und die ihn durch weindunkle Wimpern zu beobachten schienen. Und alles, außer Wimpern und Lippen, war vom bleichsten Grün wie makelloser Jade. Der Mausling sprach und bewegte sich nicht, nicht einen Muskel rührte er, ganz einfach, weil er das Gesicht bezaubernd fand – genau wie ein Mann hoffen mag daß der Augenblick nicht vergehe, wenn seine entblößte Liebste unbewußt, oder auch heimlich einstudiert, eine besonders betörende Pose einnimmt. Außerdem schätzt jeder Mann in der trostlosen Eisöde angenehme Illusionen, selbst wenn er sie fast sicher als solche erkennt. Plötzlich öffneten sich die Lider weit – und nur die Dunkelheit dahinter war zu sehen, als wäre das Gesicht wahrhaftig nur eine Maske. Da zuckte der Mausling doch zusammen, aber nicht stark genug, um Hrissa zu wecken. Dann schlossen sich die Lider, die Lippen schürzten sich noch einladender, und das Gesicht begann sich aufzulösen, als würde eine Zeichnung von einer Tafel gelöscht. Zuerst verschwand die rechte Seite, dann die linke, dann die Mitte, und als letztes die
dunklen Lippen und die Augen. Einen Moment lang war dem Mausling, als stiege ihm die Blume eines edlen Weines in die Nase. Von dem Gesicht war nichts mehr zu sehen. Der Mausling überlegte, ob er Fafhrd wecken sollte. Dann lachte er fast laut bei der Vorstellung, wie verärgert sein Freund wäre, wenn er ihn aus dem Schlaf risse. Er fragte sich, ob das Gesicht ein Zeichen der Götter gewesen war, oder die Warnung eines finsteren Zauberers, der seine Burg auf dem Gipfel der Sternhöh hatte, oder vielleicht gar die Seele der Sternhöh – aber wenn ja, wo hatte sie dann ihre glänzenden Zöpfe gelassen, ihre Kappe und das AshshaAuge? – oder nur eine Erscheinung, die sein eigener erfindungsreicher Geist erschaffen hatte, weil er Sehnsucht nach einer hübschen Gefährtin in dieser Nacht hatte und ihn der Gedanke an die schönen, doch teuflisch gefährlichen Berge quälte? Zwei Abende später, zu fast derselben Zeit, standen Fafhrd und der Graue Mausling kaum einen Messerwurf entfernt von der Westwand des Obelisken Polaris, wo die bleichgrünen Gesteinsstücke, die sich im Lauf der Jahrtausende gelöst hatten, einen Haufen bildeten, der einem Grabhügel sehr ähnlich sah. Unter den Steinen lagen auch wirklich Gebeine, viele mit gebrochenen Knochen, von Schafen und Ziegen. Wie zwei Abende früher war die Luft sehr still und eiskalt, die Öde leer, und das Abendrot warf seinen Schein auf die Bergwände. Aus dieser Nähe glich der Obelisk einer Pyramide, die sich senkrecht nach oben verjüngte. Beruhigenderweise schien das Gestein hart wie Diamant zu
sein, und zumindest bot der untere Teil der Wand genügend Unebenheiten, wie gepunztes Leder, wo Hände und Füße Halt finden konnten. Im Süden lagen Großhanack und Wink verborgen. Im Norden ragte der Fangzahn, im Sonnenlicht gelblich weiß, erschreckend hoch, als wolle er den dunkler werdenden Himmel zerreißen. Auf ihm, erinnerte sich der Mausling, hatte Fafhrds Vater den Tod gefunden. Von der Sternhöh war nur ein dunkler Teil der windgepeitschten Nordwand zu sehen und das nördliche Ende des tödlichen Weißen Wasserfalls. Alles andere verbarg der Obelisk. Nein, noch etwas war zu erkennen: Fast direkt über ihnen hing das gespenstische Große Banner südostwärts, nur sah es von hier so aus, als käme es vom Obelisken Polaris. Der appetitanregende Duft von zwei Schneehasen, die im Feuer hinter ihnen brieten, hing in der Luft. Und Hrissa, die vor dem Feuer lag verzehrte genußvoll einen dritten ungegart. Die Eiskatze war von der Größe eines Geparden und hatte buschiges weißes Fell. Der Mausling hatte sie einem herumstreifenden Mingoltrapper nördlich des Trollgebirges abgekauft. Auf der anderen Seite des Feuers mampften die Ponys den letzten Hafer, der ihnen neue Kräfte gab, nachdem sie eine ganze Woche lang nichts davon bekommen hatten. Fafhrd wickelte Graywand, sein in der Hülle stekkendes Langschwert, in ölgetränkte Seide und legte es auf den Steinhaufen, ehe er die mächtige Pranke dem Mausling entgegenstreckte. »Skalpell?«
»Ich nehme mein Schwert mit«, erklärte der Kleinere. Rechtfertigend fügte er hinzu: »Er ist ja nur ein Federgewicht, verglichen mit deinem.« »Morgen wirst du herausfinden, was eine Feder wiegt«, prophezeite Fafhrd. Er zuckte mit den Schultern und legte neben sein Schwert auch den Helm, ein Bärenfell, ein zusammengefaltetes Zelt, Schaufel und Spitzhacke, Goldreifen von seinen Handgelenken und Armen, Federkiele, Tinte, Papyrus, einen großen Kupferkessel und einige Bücher und Schriftrollen. Der Mausling fügte verschiedene leere und fast leere Beutel hinzu, zwei Jagdspeere, Skier, einen nicht gespannten Bogen mit einem gefüllten Köcher, winzige Tiegelchen mit Ölfarbe, Pergamentbogen und das ganze Zaumzeug der Ponys. Viele der Sachen hatte er ebenfalls in ölgetränkten Stoff gehüllt, um sie gegen die Feuchtigkeit zu schützen. Und während ihr Appetit durch den Bratenduft noch wuchs, bauten sie schnell ein Dach über den Haufen. Als sie sich gerade ihrem Abendessen zuwenden wollten und in die Richtung des goldüberzogenen westlichen Horizonts blickten, hörten sie in der Stille wieder das segelähnliche Rauschen. Schwacher klang es diesmal, dafür aber doppelt: in der Luft im Norden und fast gleichzeitig im Süden. Wieder schauten sie sich angespannt um, und auch diesmal war nirgendwo etwas zu sehen, außer – wieder entdeckte Fafhrd es als erster – eine dünne Rauchfahne in der Nähe des Fangzahns. Sie kräuselte sich auf dem Gletscher zwischen diesem Berg und Sternhöh empor. »Gnarfi und Kranarch!« bemerkte der Mausling.
»Wenn sie es sind, haben sie die felsige Nordwand für den Aufstieg gewählt.« »Sie wird ihr Tod sein«, prophezeite Fafhrd und blickte zum Banner hoch. Der Mausling nickte weniger überzeugt, dann fragte er: »Was war dieses Geräusch, Fafhrd? Du bist doch von hier.« Der große Mann runzelte nachdenklich die Stirn und verengte die Augen zu einem Schlitz. »Es gibt eine Sage über große Vögel ...« Seine Stimme klang merkwürdig fragend. »... oder von großen Fischen? Nein, das ist wohl doch unmöglich.« »Dein Gedächtnis ist wohl immer noch sehr durcheinander?« fragte der Mausling. Fafhrd nickte stumm. Ehe er den Steinhaufen verließ, legte der Nordmann einen Block Salz daneben. »Das sowie der eisbeschichtete Tümpel und das Grünzeug, an dem wir gerade vorbeigekommen sind, müßten die Ponys wohl eine Woche hier halten. Wenn wir nicht zurückkehren, dürften sie auch allein nach Illik-Ving zurückfinden, wenn sie dem Weg folgen, den wir gekommen sind.« Hrissa blickte von ihrer blutigen Mahlzeit hoch, als wollte sie sagen: »Um mich und meine Verpflegung braucht ihr euch keine Sorgen zu machen.« Wieder erwachte der Mausling aus dem ersten Schlaf, mit tiefer Freude diesmal, wie einer, der erwartungsvoll einem Stelldichein entgegensieht. Und wieder, doch diesmal ohne vorheriges Betrachten der Sterne und ins Feuer Starren, blickte die lebende Maske ihn über die niederbrennenden Flammen hinweg an. Es war das gleiche Gesicht, die kleinen ge-
schürzten Lippen, die gerade Nase, die breite Stirn – nur war die Maske heute nicht wie heller Jade, sondern elfenbeinbleich mit grünlichen Lippen, Lidern und Wimpern. Der Mausling war wirklich überrascht, denn die vergangene Nacht war er bewußt wachgeblieben, um auf das geisterhafte Mädchengesicht zu warten, und er hatte versucht, es mit Gedankenkraft herbeizubeschwören – bis der zunehmende Mond drei Handbreit über der Sternhöh gestanden hatte –, doch umsonst. Sein Verstand hatte ihm natürlich gesagt, daß das Gesicht eine Einbildung gewesen war, aber seine Gefühle waren da anderer Ansicht gewesen – sehr zu seinem Ärger, weil es ihm den Schlaf einer Viertelnacht gekostet hatte. Am Tag hatte er dann verstohlen die letzte der vier kurzen Strophen des Pergaments in der tiefsten Tasche seines Beutels noch einmal gelesen. Wer des Schneekönigs Festung bezwingt, wird Vater sein seiner zwei Töchter Brut, er, der durch alle Gefahren dringt, wird weiterbestehen in ihrem Blut. Gestern war ihm das sehr vielversprechend erschienen – zumindest der Teil mit den Töchtern und dem Vaterwerden. Aber heute, nach dem viel zu kurzen Schlaf, hatte er es als reinen Hohn empfunden. Doch nun war die lebende Maske wieder da, mit der verlockenden Miene und den verführerisch geschürzten Lippen. Auch die Lider öffnete sie wieder, und dahinter war, wie beim erstenmal, nichts als die Schwärze des Restes der Nacht. Dem Mausling rann
ein fast wohliges Schaudern über den Rücken. Und diesmal war er hellwach und bei Sinnen und versuchte alles, um festzustellen, ob es sich um Schein oder Wirklichkeit handelte. Er blinzelte und strengte die Augen an, drehte vorsichtig den Kopf in der Kapuze, doch wie er ihn auch hielt, die lebende Maske blieb. Dann löste er vorsichtig die Lederschnüre von den oberen Häkchen seines Umhangs – Hrissa schlief heute nacht an Fafhrd gekuschelt –, streckte behutsam die Hand aus, um ein Steinchen in die Finger zu nehmen, und warf es über die Flammen auf einen Punkt ein Stück unterhalb der Maske. Er wußte, daß sich jenseits des Feuers nichts als Geröll und hartgefrorene Erde befand, doch nicht das geringste Geräusch verriet, daß das Steinchen dort aufgeschlagen wäre. Genausogut hätte er es über den Rand von Nehwon werfen können. Fast im gleichen Augenblick lächelte die Maske verführerisch. Sofort war der Mausling aus dem Schlafsackumhang und auf den Füßen. Doch schneller noch löste die Maske sich auf – diesmal in einem Streich von Stirn zu Kinn. Hastig rannte, ja sprang er fast um das Feuer herum zu der Stelle, wo die Maske in der Luft gehangen zu haben schien, und schaute sich suchend um. Aber da war nichts – außer vielleicht ein Hauch von Weinduft. Er schürte das Feuer und blickte sich noch mal um. Nichts. Nur Hrissa war neben Fafhrd aufgewacht. Ihre Barthaare zitterten, und sie blickte den Mausling ernst, vielleicht sogar tadelnd an, so daß er sich wie ein Narr vorkam. Er fragte sich, ob sein Verstand und seine Gefühle etwa ein dummes Spiel mit-
einander trieben. Da trat er auf etwas. Sein Steinchen, dachte er. Doch als er danach griff, stellte er fest, daß es ein winziges Tiegelchen war, wie eines seiner Farbdöschen, nur noch kleiner, kaum größer als ein Glied seines Daumens, und nicht aus ausgehöhltem Stein, sondern aus Elfenbein oder einem anderen Zahn. Er kniete sich neben das Feuer und schaute in das winzige Gefäß. Dann steckte er den kleinen Finger hinein und rührte mit der Spitze in dem harten, fettigen Inhalt. Als er sie wieder herausnahm, war sie mit einer elfenbeinfarbigen Schicht überzogen. Sie roch jedoch nicht nach Wein, sondern eher ölig. Eine Weile blieb der Mausling grübelnd neben dem Feuer sitzen. Dann, nach einem Blick auf Hrissa, deren Barthaare sich wieder beruhigt hatten und deren Augen geschlossen waren, und auf Fafhrd, der leise schnarchte, kehrte er in seinen Schlafsackumhang zurück. Er hatte Fafhrd nicht von der ersten Erscheinung der lebenden Maske erzählt. Sein bewußter Grund dafür war, daß Fafhrd einen solchen Unsinn als Rauchgesichter lachend abtun würde. Der unbewußte dagegen war der gleiche, der einen Mann davon abhält, selbst seinem besten Freund von einem hübschen Mädchen zu erzählen, das er gerade erst kennengelernt hat. Vielleicht war es auch eben dieser Grund, der Fafhrd seinem besten Freund am nächsten Morgen verschweigen ließ, was er später in derselben Nacht erlebt hatte. Fafhrd träumte, er betastete in völliger Dunkelheit das Gesicht eines Mädchens, während ih-
re schlanken Hände ihn liebkosten. Seine Finger sagten ihm, daß sie eine leicht geschwungene Stirn hatte, Augen mit sehr langen Wimpern, eine freche Stupsnase – ja, sie fühlte sich tatsächlich frech an! –, Apfelbäckchen und volle Lippen, deren Lächeln seinen Fingern nicht verborgen blieb. Er wachte auf, weil der Mond schräg aus Süden auf ihn herabschien, während er die ihm zugewandte Seite des Obelisken silbrig färbte und die Felsvorsprünge in schwarze Schattenstäbe verwandelte. Seine Enttäuschung bei diesem Erwachen war groß, als er feststellen mußte, daß der Traum wirklich nur ein Traum gewesen war. Doch dann hätte er schwören mögen, daß weiche Fingerspitzen sanft über sein Gesicht strichen und er ein gedämpftes, silbriges Lachen hörte, das schnell schwand. Er setzte sich wie eine Mumie in seinem zugeschnürten Umhang auf und starrte um sich. Das Feuer war nur noch rote Glut, aber der Mondschein leuchtete hell, trotzdem konnte er nichts Ungewöhnliches sehen. Hrissa knurrte vorwurfsvoll, weil seine Unruhe sie geweckt hatte. Und er fluchte lautlos, weil er die Nachwirkungen eines Traumes für Wirklichkeit gehalten hatte. Die ganze mädchenlose, mädchenvisionenbrütende Eisöde verfluchte er. Die nächtliche Kälte stahl sich seinen Nacken hinunter. Verärgert sagte er sich, daß er fest schlafen sollte, wie der klügere Mausling, um Kraft für den bevorstehenden schweren Tag zu schöpfen. Er streckte sich wieder aus und schlief nach einer Weile ein. Der Mausling und Fafhrd erwachten im ersten Morgengrauen, während der Mond noch hell wie ein
Schneeball im Westen stand. Sie frühstückten und machten sich bereit. Entschlossen wandten sie sich in der beißenden Kälte dem Obelisken Polaris zu. Die Mädchen waren vergessen, ihre Gedanken galten allein dem Berg. Fafhrd trug seine hohen Schnürstiefel, deren dicke Nägel er frisch gespitzt hatte, einen Wolfskittel, den Pelz nach innen, der allerdings jetzt vom Hals bis zum Bauch offen war. Seine Beine über den Stiefeln und seine Unterarme waren unbedeckt, aber seine Finger steckten in kurzen Lederhandschuhen. Auf den Rücken, zwischen die Schultern, hatte er sich ein nicht sehr großes, in seinen Umhang gewickeltes Bündel geschlungen und eine Rolle schwarzen Flachsseils. Von seinem festen, unbeschlagenen Gürtel hingen eine Axt in der Scheide an der rechten Seite, ein Dolch an der linken, ein kleiner Beutel mit Wasser, und ein anderer mit Kletterhaken. Der Mausling hatte sich seine Schaffellkapuze ins Gesicht gezogen und mit ihrem Lederband so fest zugeschnürt, daß nur Augen, Nase und Mund zu sehen waren. Dazu trug er einen grauen Seidenkittel aus drei Lagen. Seine Handschuhe waren länger als Fafhrds und mit Pelz gefüttert, genau wie seine leichten Stiefel, deren Sohlen mit gleitsicherem Flußpferdfell bezogen waren. Von seinem Gürtel hingen sein Dolch Katzenkralle, sein locker in der Scheide ruhendes Schwert Skalpell und ebenfalls ein Wasserbeutel. An seinem Rückenpack, den er ebenfalls in den Umhang gewickelt hatte, war ein ungewöhnlich dicker, kurzer, schwarzer Bambusstab befestigt, mit einer scharfen Spitze an einem Ende, und am anderen einer Spitze und einem langen Haken, ähnlich wie ein Hirtenstab.
Beide Männer waren von Wind und Sonne gebräunt, muskulös und ohne überschüssiges Fett, in bester körperlicher Verfassung für eine Bergbesteigung, gehärtet durch das Trollgebirge und die Eisöde, und ihre Brust war eine Spur breiter als gewöhnlich, da sie sich schon wochenlang in der dünnen Gebirgsluft aufhielten. Sie brauchten ihre Zeit jetzt nicht mehr damit zu verschwenden, nach dem besten Aufstieg zu suchen – das hatte Fafhrd bereits am Vortag getan, als sie sich dem Obelisken genähert hatten. Die Ponys weideten wieder. Eines hatte bereits den Salzbrocken entdeckt und leckte daran mit seiner dicken Zunge. Der Mausling sah sich nach Hrissa um, um sich mit einem liebevollen Nasenstüber von ihr zu verabschieden, aber die Eiskatze schnüffelte mit gespitzten Ohren an einer Spur jenseits des Lagers. »Sie hält nichts von Abschiednehmen«, stellte Fafhrd fest. »Gut.« Ein gedämpfter Rotschimmer tönte den Himmel und den Gletscher am Fangzahn. Der Mausling, der in diese Richtung spähte, sog hörbar die Luft ein und strengte die Augen noch mehr an, während Fafhrd schützend die Hand über die Augen legte. »Bräunliche Gestalten«, bemerkte der Mausling schließlich. »Ich erinnere mich, daß Kranarch und Gnarfi immer braunes Leder trugen. Doch es sind mehr als zwei.« »Ich zähle vier«, bestätigte Fafhrd. »Zwei wirken seltsam zottig. Sie tragen vermutlich braune Langhaarpelzkleidung. Und alle vier steigen vom Gletscher zur Felswand hoch.« »Wo der Sturm sie ...«, begann der Mausling, doch
dann blickte er hoch, genau wie Fafhrd. Das Große Banner war verschwunden! »Du sagtest, daß manchmal ...« Wieder beendete der Mausling seinen Satz nicht. »Vergiß den Sturm und die beiden mit ihrer zottigen Verstärkung«, brummte Fafhrd kurzangebunden. Er wandte sich wieder dem Obelisken Polaris zu, und der Mausling mit ihm. Mit weit zurückgelegtem Kopf blickte der Mausling den grünlich weißen Hang empor und sagte: »Heute morgen sieht er irgendwie steiler aus als die Nordwand, und entsetzlich hoch.« »Pah!« schnaubte Fafhrd. »Als Kind habe ich ihn vor dem Frühstück bestiegen, und nicht nur einmal.« Er hob die im dicken Handschuh geballte Faust wie einen Taktstock und rief: »Auf geht's!« Er schritt vorwärts, und ohne anzuhalten begann er die knollige Wand hinaufzugehen – so zumindest sah es aus, denn obgleich er sich mit den Händen hochzog, hielt er den Körper doch soweit wie möglich vom Fels entfernt, wie ein guter Bergsteiger es tut. Der Mausling folgte dem Freund und benutzte den gleichen Halt für Füße und Hände wie er, doch hielt er den Körper dichter an die Wand. Am Vormittag kletterten sie immer noch, ohne Rast gemacht zu haben. Den Mausling schmerzte jeder Knochen. Sein Gepäck wog schwer wie ein fetter Mann auf seinem Rücken, und Skalpell wie ein nicht zu kleiner Junge, der sich an seinen Gürtel klammerte, und schon fünfmal hatte er ein Ohrensausen verspürt. Über ihm schlugen Fafhrds Nagelstiefel in einem
so gleichmäßigen Rhythmus auf Felsvorsprünge und in Löcher, daß der Mausling ihn zu hassen begann. Aber entschlossen hielt er den Blick auf Fafhrds Beine gerichtet. Einmal hatte er zwischen seinen eigenen Beinen hinuntergeschaut. Das hatte ihm gereicht, er würde es nicht wieder tun. Deshalb war er auch völlig überrascht, als ein kleines weißes Gesicht mit blutiger Last ihn von unten her überholte. Auf einem schmalen Sims vor Fafhrd hielt Hrissa an und holte pfeifend tief Atem, während ihr Bauch sich bei jedem Ausatmen ans Rückgrat preßte. Sie atmete nur durch ihre rosige Nase, denn im Maul hielt sie zusammengedrückt zwei erlegte Schneehasen, deren Köpfe und Hinterteile schlaff herabbaumelten. Fafhrd nahm sie ihr ab, steckte sie in seinen Beutel und schnürte ihn wieder zu. Eine Spur hochtrabend sagte er: »Sie hat ihre Fähigkeit und Ausdauer bewiesen und sich das Recht mitzukommen erkauft. Sie ist eine von uns.« Der Mausling hatte schon zuvor nicht daran gezweifelt. Für ihn waren sie auch ohne große Worte drei Kameraden, die zusammengehörten. Außerdem war er Hrissa dankbar für die kurze Rast, die durch ihr Kommen gegeben war. Um sie ein wenig zu verlängern, aber nicht nur deshalb, drückte er den Wasserbeutel und füllte seine Hand mit Wasser, um es Hrissa auslecken zu lassen. Dann tranken auch er und Fafhrd ein wenig. Den ganzen langen Sommertag kletterten sie die Westwand des grausamen, aber verläßlichen Obelis-
ken hinauf. Fafhrd schien unermüdlich zu sein. Die Rast hatte den Mausling wieder zu Atem kommen lassen, aber das hielt auf die Dauer nicht an. Sein ganzer Körper schien ihm ein einziger bleierner Schmerz zu sein, der tief in den Knochen begann und wie Gift nach außen durch sein Fleisch drang. Wie durch einen Schleier sah er echte und eingebildete Halte für seine Hände und Füße, während die Notwendigkeit, keinen Fehlgriff oder Fehltritt zu tun, ihm wie der Befehl eines irrsinnigen Schulmeistergottes vorkam. Lautlos verfluchte er das ganze verrückte Sternhöh-Unternehmen und lachte insgeheim über die wahnwitzige Vorstellung, daß die Strophen auf dem Pergament tatsächlich das bedeuten könnten, was sie aus ihnen herausgelesen hatten. Trotzdem wollte er jetzt nicht aufgeben oder nochmals die kurzen Verschnaufpausen verlängern. Stumpf staunte er über Hrissas Ausdauer und Geschick. Aber am Nachmittag fiel ihm auf, daß sie hinkte, und einmal sah er auch den blutigen Abdruck von zwei Ballen, wo sie die Pfote aufgesetzt hatte. Zwei Stunden vor Sonnenuntergang schlugen sie ihr Nachtlager auf, weil sie ein verhältnismäßig breites Sims gefunden hatten und weil es begonnen hatte, kleine Flöckchen zu schneien. In der winzigen Feuerschale, die Fafhrd eingepackt hatte, machten sie ein Feuer mit Harzkügelchen, über dem sie in ihrem hohen Topf Wasser für Kräutertee kochten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis es überhaupt nur lauwarm wurde. Mit Katzenkralle, seinem Dolch, rührte der Mausling zur Stärkung noch zwei Klümpchen Honig hinein. Das Sims war so lang wie drei hintereinander aus-
gestreckte Männer und so breit wie einer, also geradezu geräumig, wenn man bedachte, daß es sich an der Steilwand von Obelisk Polaris befand. Hrissa legte sich matt hinter das kleine Feuer, während Fafhrd und der Mausling sich jeder an einer Seite davon zusammenkauerten, in ihre Umhänge gehüllt und viel zu müde, sich umzusehen, sich zu unterhalten oder auch bloß zu denken. Es begann etwas stärker zu schneien, bis die Flokken die Eisöde unten verbargen. Nachdem er seinen zweiten Schluck des gesüßten Tees getrunken hatte, erklärte Fafhrd, daß sie zumindest zwei Drittel der Wand geschafft hatten. Der Mausling verstand nicht, wie Fafhrd das feststellen konnte, denn das war seines Erachtens genausowenig möglich, wie ein Mann auf einem Schiff sagen konnte, wie weit er gesegelt war, nur indem er auf das küstenlose Gewässer des Äußeren Meeres schaute. Für den Mausling waren sie einfach in der Mitte einer schwindelerregenden senkrechten Ebene aus bleichem, grüngetöntem und jetzt schneegesprenkeltem Granit. Er war viel zu müde, um das Fafhrd klarzumachen, aber er strengte sich doch an zu sagen: »Als Kind bist du also noch vor dem Frühstück den Obelisken hoch- und hinuntergeklettert?« »Wir frühstückten damals recht spät«, erwiderte Fafhrd. »Vermutlich am Nachmittag des fünften Tages«, schloß der Mausling. Nachdem sie den Tee getrunken hatten, wärmten sie weiteres Wasser und gaben die zerkleinerten Stücke eines der beiden Schneehasen hinein, bis sie grau wurden. Dann kauten sie sie und tranken dazu
die wenig geschmackvolle Brühe. Etwa zur gleichen Zeit begann Hrissa, sich ein bißchen für den anderen, abgezogenen Hasen zu interessieren, den sie ihr vor die Nase gelegt hatten – direkt an die Feuerschale, damit er nicht gefror. Und schließlich zerriß sie ihn und kaute ihn langsam. Behutsam untersuchte der Mausling ihre Fußballen. Sie waren seidendünn getreten, wiesen ein paar Risse auf, und das weiße Fell dazwischen war rot verfärbt. Unendlich sanft strich er Salbe darauf und schüttelte den Kopf. Dann nickte er und holte aus seinem Beutel eine große Nadel, eine Spule Zwirn und ein kleines, zusammengerolltes dünnes, aber festes Stück Leder. Daraus schnitt er mit Katzenkralle etwas, das wie eine sehr dicke Birne aussah, und nähte es zu einem Stiefel für Hrissa zusammen. Als er ihn ihr über die Hinterpfote zog, ließ sie ihn eine Weile in Ruhe, doch dann begann sie vorsichtig daran zu beißen und blickte den Mausling dabei merkwürdig an. Er dachte kurz nach, ehe er vorsichtig Löcher in den Stiefel bohrte für die nicht einziehbaren Krallen der Eiskatze. Schließlich zog er ihn weiter hoch, bis die Krallen ganz herausschauten, und band den Stiefelschaft mit der dünnen Lederschnur fest, die er durch Schlitze am oberen Ende gezogen hatte. Als er sicher war, daß Hrissa den Stiefel anbehielt, schnitt er die restlichen zu. Fafhrd half ihm und nähte ebenfalls einen, dann zogen sie der Eiskatze auch die übrigen an. Hrissa schnupperte an jedem, ehe sie aufstand und ein paarmal probeweise die ganze Länge des Simses auf und ab schritt. Offenbar zufrieden, ließ sie sich
zwischen Feuerschale und Mausling nieder und legte das Kinn auf seinen Knöchel. Die winzigen Schneeflocken fielen immer noch kerzengerade und bestäubten das Sims und Fafhrds kupferfarbiges Haar, bis er, genau wie der Mausling, die Kapuze über den Kopf zog und den Umhang zum Schlafsack schnürte. Die Sonne schien noch durch den Schneeschleier, aber das Licht, das gefiltert hindurchfiel, war weiß und brachte kein bißchen Wärme mit sich. Der Obelisk Polaris war kein geräuschvoller Berg, wie es viele sind: mit tropfendem Gletscherwasser, ratternden Geröllawinen und auch mit knisternden und gar knarrenden Gesteinsschichten, die sich in der verändernden Temperatur schwach verschieben. Nein, die Stille hier war ungebrochen. Der Mausling überlegte, ob er Fafhrd nicht von der lebenden Mädchenmaske oder der Illusion, die er des Nachts gesehen hatte, erzählen sollte, und Fafhrd hätte seinerseits dem Mausling gern von seinem Traum berichtet. In diesem Moment kam es wieder, und ganz ohne Vorwarnung, dieses Rauschen in der Stille. Doch jetzt sahen sie in dem fallenden Schnee ganz deutlich die Umrisse einer großen, flachen, sich bewegenden Gestalt. Verhältnismäßig langsam flog sie an ihnen vorbei, nur zwei Speerlängen vom Sims entfernt. Aber mehr als die Umrisse, oder vielmehr die schneeflockenlose Leere, war nicht zu sehen, doch sie spürten den Luftzug ihres Vorüberziehens. Die Form dieses unsichtbaren Wesens ähnelte einem Rochen: einem Manta, oder seiner Größe von
etwa zwölf Fuß Länge und neun Fuß Breite nach einem kleinen Teufelsrochen. Sogar die kleinen Flossen links und rechts vorn und ein dünner peitschender Schwanz zeichneten sich in der Schneeleere ab. »Ein großer, unsichtbarer Fisch!« zischte der Mausling. Er schob seine Hand in den halbzugeschnürten Schlafsack, und es gelang ihm, mit einer Bewegung Skalpell herauszuziehen. »Dein seltsames Gedächtnis hatte völlig recht, obwohl du dich zu irren glaubtest«, wandte er sich an Fafhrd. Als die gespenstische Erscheinung hinter dem senkrechten Felsvorsprung verschwand, an dem das Sims endete, erklang aus ihrer Richtung ein zweistimmiges leises Lachen: in Sopran und in Alt. »Ein unsichtbarer Fisch, der wie mehrere Mädchen lacht!« bemerkte Fafhrd sichtlich erschüttert. Er hob seine Axt, die er genauso schnell gezogen hatte, wie der Mausling sein Schwert, nur daß sie noch an dem langen Riemen an seinem Gürtel hing. Sie schlüpften ganz aus ihren Schlafsackumhängen und warteten geduckt, mit der Waffe in der Hand, auf die Rückkehr des unsichtbaren Ungeheuers. Hrissa stand mit gesträubtem Fell zwischen ihnen. Doch nach einer Weile zitterten sie vor Kälte. So schlüpften sie notgedrungen wieder in ihre Schlafsäcke, aber sie behielten ihre Waffen in der Hand und waren bereit, sofort wieder herauszuspringen. Dann rätselten sie kurz an dem herum, was sie gerade gesehen oder nicht gesehen hatten, und gestanden einander schließlich ihre Visionen beziehungsweise Träume von Mädchen. Nachdenklich sagte der Mausling: »Vielleicht saßen oder lagen die Mädchen auf dem Rücken dieses unsichtbaren Wesens und sind selbst ebenfalls unsicht-
bar. Aber was war dieses fliegende Geschöpf?« Das weckte wieder eine vage Erinnerung in Fafhrd. Widerstrebend sagte er: »Als Kind bin ich einmal nachts aufgewacht und habe gehört, wie Vater zu Mutter sagte: ›... wie große, dicke, zitternde Segel, aber die, die man nicht sehen kann, sind die schlimmsten.‹ Sie hörten dann zu reden auf. Vermutlich, weil sie bemerkt hatten, daß ich mich rührte.« Der Mausling fragte: »Hat dein Vater jemals davon erzählt, daß er Mädchen in den größeren Höhen gesehen hat – aus Fleisch und Blut, oder als Erscheinung, oder eine Hexe, die ja eine Mischung aus beidem ist; sichtbar oder unsichtbar?« »Selbst wenn, hätte er es bestimmt nicht erwähnt«, erwiderte Fafhrd. »Meine Mutter war sehr eifersüchtig und nicht zimperlich mit dem Fleischklopfer.« Das Weiß, das sie immer noch mit den Blicken absuchten, wandelte sich nunmehr schnell in dunkelstes Grau, denn die Sonne war untergegangen. Die dicht fallenden Flocken waren nicht mehr zu sehen. Sie zogen ihre Kapuzen wieder tief ins Gesicht, schnürten ihre Schlafsackumhänge bis oben zu und kuschelten sich zusammen, mit den Rücken auf dem Sims, und Hrissa zwischen ihnen, an sie beide geschmiegt. Wirkliche Schwierigkeiten erwarteten sie früh am nächsten Tag. Sie erwachten im ersten Morgenlicht und fühlten sich zerschlagen, nach einer Nacht voller Alpträume. Mühsam entkrampften sie sich, während ihre Frühstücksration aus starkem Kräutertee mit Fleischstückchen und Schnee, alles zusammen in einem Topf, gerade lauwarm wurde. Hrissa kaute an den leicht angewärmten Hasenknochen und nahm
ein wenig von dem Bärenfett und dem Wasser, das der Mausling ihr gab. In der Nacht hatte es zu schneien aufgehört, doch der Obelisk war an jedem Halt für Füße und Hände mit Schnee über einer dünnen Eisschicht bepudert – der erste Schnee am vergangenen Nachmittag war auf dem etwas wärmeren Gestein geschmolzen, aber in der zunehmenden Kälte schnell gefroren. Also seilten Fafhrd und der Mausling sich an, und der Mausling fertigte eilig ein Geschirr für Hrissa an, indem er zwei Löcher in die Längsseite eines rechtekkigen Lederstücks schnitt. Hrissa protestierte ein wenig, als er ihre Vorderbeine durch die Löcher steckte und die Enden des Rechtecks eng über ihren Schultern doppelt zusammennähte. Als dann ein Ende von Fafhrds Hanfseil dort, wo es zusammengenäht war, durch ihr Geschirr gezogen wurde, streckte sie sich flach auf dem Sims aus, wo die Feuerschale gestanden hatte, als wollte sie damit ausdrücken: »Dieses entwürdigende Geschirr trage ich sicher nicht, auch wenn ihr Menschen euch dafür nicht zu schade seid.« Doch als Fafhrd dann die Wand hochzuklettern begann, dichtauf gefolgt vom Mausling, und das Seil an ihrem Geschirr sich straffte, und nachdem sie hochgeblickt und gesehen hatte, daß die beiden anderen genauso angeseilt waren wie sie, kletterte sie ihnen widerwillig nach. Eine kurze Weile später rutschte sie von einem Vorsprung ab – ihre Stiefel waren zweifellos noch ungewohnt für sie – und baumelte mehrere bange Herzschläge lang scharrend hin und her, ehe sie wieder Halt fand. Glücklicherweise hatte der Mausling zu dem Zeitpunkt einen sicheren Halt gehabt.
Danach schmollte Hrissa offenbar nicht mehr. Manchmal kletterte sie dem Mausling sogar voraus und grinste ihn an – ein wenig spöttisch, wie ihm schien. Die Wand war jetzt etwas steiler als das gestrige Stück, und so mußten sie aufpassen, daß jeder Halt auch absolut sicher war. Die behandschuhten Finger mußten sich unbedingt in Stein, nicht in Eis krallen, und die Schuhnägel sich durch die brüchige Schicht in den Fels bohren. Fafhrd schlang sich den Axtriemen ums rechte Handgelenk und benutzte die Waffe als Hammer, um das Eis zu brechen. Der Aufstieg wurde auch deshalb immer schlimmer, weil die Anspannung größer war. Selbst wenn er nur aus den Augenwinkeln sah, wie steil die Wand war, was ja unvermeidlich blieb, verkrampfte dem Mausling sich vor Angst der Bauch. Er fragte sich, was passieren würde, wenn der Wind in diese Richtung blies? Und er mußte gegen den Drang ankämpfen, sich an die Wand zu drücken. Und obwohl es eiskalt war, rann ihm Schweiß über Gesicht und Brust, so daß er die Kapuze zurückwerfen und den Kittel bis zum Bauch öffnen mußte, damit seine Kleidung sich nicht damit vollsog. Aber es sollte noch Schlimmeres kommen. Von unten hatte es ausgesehen, als würde die Wand allmählich schräger. Doch nun, da sie dem Gipfel näher waren, sahen sie, daß sie etwa zwanzig Fuß über ihnen mindestens sechs Fuß nach außen schwang. Sie war an dieser Stelle zwar genarbt und hätte durch die Unebenheiten guten Halt geboten, wenn sich diese Löcher nicht nach unten geöffnet hätten. Und dieser gewaltige Überhang breitete sich zu beiden Seiten
aus, soweit sie blicken konnten, und sah stellenweise sogar noch gefährlicher aus. Sie kletterten so nahe heran, wie sie sicheren Halt fanden, und studierten die überhängende Wand über ihnen. Selbst Hrissa, die sich dicht neben dem Mausling festgekrallt hatte, schien sich nicht wohl in ihrer Haut zu fühlen. Fafhrd sagte leise: »Ich erinnere mich jetzt, daß man von einer Krempe rund um die flache Kuppe des Obelisken sprach. Seine Krone, glaube ich, nannte mein Vater sie. Ich frage mich ...« »Weißt du es denn nicht?« Des Mauslings Stimme klang scharf. Weil er sich so verkrampft festhielt, schmerzten seine Arme und Beine ärger als bisher. »O Mausling, in meiner Kindheit bin ich den Obelisken nie weiter hinaufgeklettert als etwa den halben Weg bis zu unserem nächtlichen Lager. Ich habe nur ein bißchen angegeben, um uns Mut zu machen.« Da es dazu nichts Freundliches zu sagen gab, verkniff sich der Mausling seine Entgegnung. Fafhrd begann, verlegen zu pfeifen, und angelte aus einem Beutel einen fünfzackigen Haken, den er am Ende des schwarzen Seils befestigte, das er noch zusammengerollt auf dem Rücken trug. Dann streckte er den rechten Arm soweit von der Felswand zurück, wie es nur ging, wirbelte den Haken in einem engen Kreis über den Kopf, schneller und immer schneller, und warf ihn schließlich hoch. Sie hörten, wie er oberhalb der Krempe gegen den Fels schlug, sich jedoch nicht festbohren konnte, sondern sofort herunterglitt und dann herabplumpste und den Mausling um höchstens eine Handbreit – wie ihm schien – verfehlte. Fafhrd zog den Wurfhaken mühsam hoch, denn
unter ihnen verfing er sich offenbar an jeder Unebenheit, und warf ihn erneut hoch, und wieder und immer wieder, doch ohne daß es etwas nutzte. Einmal blieb er sogar oben, doch schon ein leichter Zug am Seil löste ihn. Fafhrds sechster Wurf war sein schlechtester. Der Haken verschwand überhaupt nicht außer Sicht. Als er seine höchste Höhe erreichte, glitzerte er kurz. »Sonnenschein!« zischte Fafhrd glücklich durch die Zähne. »Wir sind fast oben.« »Fast dürfte wohl leicht übertrieben sein«, bemerkte der Mausling, aber selbst aus seiner Stimme klang eine Spur Erleichterung. Doch als weitere sieben Würfe erfolglos blieben, schwand ihm jegliche Erleichterung. Seine Hände und Füße wurden in der Kälte taub und sein Verstand offenbar auch, denn als Fafhrd das nächstemal warf und der Haken wieder herabfiel, war er so unklug, ihm nachzublicken. Zum erstenmal heute schaute er hinaus und hinunter. Die Eisöde war eine blaßblaue Fläche, fast wie der Himmel und scheinbar noch weiter entfernt. All ihr Strauchwerk, ihre Hügel und winzigen Seen waren lange schon zu Punkten und schließlich unsichtbar geworden. Viele Meilen im Westen, fast am Horizont, war ein unregelmäßiges bleichgoldenes Band zu sehen, wo die Schatten der Berge endeten. Etwa in der Mitte des Bandes befand sich eine blaue Lücke: der Schatten der Sternhöh, der über den Rand der Welt hinausragte. Schwindelerfüllt riß der Mausling seinen Blick zum Obelisken zurück – und obgleich er den Granit sehen konnte, bedeutete er ihm nichts mehr, außer unsiche-
re Haltegriffe an einer Art bleichgrünem Nichts, an dem Fafhrd und Hrissa irgendwo in seiner Nähe hingen. Sein Verstand war nicht mehr fähig, seine Steilheit als Wirklichkeit hinzunehmen. Als der Drang in ihm wuchs, sich einfach fallen zu lassen, verwandelte er ihn irgendwie in ein höhnisches Schnauben, und er hörte sich selbst voll schneidender Verachtung sagen: »Hör mit deinem törichten Fischen auf, Fafhrd! Ich werde dir jetzt zeigen, wie die lankhmarische Bergwissenschaft mit einem so unbedeutenden Problem wie diesem fertig wird, das all deinem barbarischen Wirbeln und Werfen widersteht!« Mit tollkühner Eile löste er seinen Bambushakenstab vom Rückenpack und fing mit fast tauben Fingern fluchend an, seine ineinandergesteckten Teile nacheinander herauszuziehen und einrasten zu lassen, bis der Stab etwa viermal so lang wie zuvor war. Diese von Wissenschaftlern ausgedachte Kletterhilfe hatte der Mausling tatsächlich den ganzen Weg von Lankhmar mitgebracht. Es war ein ständiger Zankapfel gewesen, denn Fafhrd ließ sich nicht davon überzeugen, daß es mehr als ein ausgeklügeltes Spielzeug sei, das herumzuschleppen sinnlos war. Jetzt jedoch enthielt Fafhrd sich einer gehässigen Bemerkung. Wortlos rollte er sein Seil mit dem Haken wieder auf und drückte die Hände an den Seiten gegen den Wolfspelzkittel, um sie zu wärmen. Mit geradezu sanftem Blick schaute er dem Mausling bei seiner hektischen Tätigkeit zu. Hrissa kletterte zu einem bequemeren Halteplatz neben Fafhrd und wartete gleichmütig ab. Doch als der Mausling mit zitternden Fingern das
schmalere Ende des schwarzen Werkzeugs zu dem Vorsprung hochstieß, streckte Fafhrd den Arm aus, um ihm dabei zu helfen. Jetzt konnte er es allerdings nicht mehr unterlassen zu sagen: »Wenn du dir einbildest, einen festen Halt mit dem Haken am Rand zu ...« »Halt den Mund, du Tölpel!« knurrte der Mausling wütend. Mit Fafhrds Unterstützung stieß er das Pikenende in eine Narbe im Stein, keine Fingerlänge vom Rand entfernt. Dann stellte er das mit dem einfachen Haken versehene Fußende des Stabes in eine kleine tiefe Ausbuchtung unmittelbar über seinem Kopf. Als nächstes zog er zwei kurze, im Stab eingelassene Hebelarme heraus und begann sie zu drehen. Schnell war zu erkennen, daß sie eine im Stab verborgene Schraube betätigten, denn der Stab verlängerte sich, bis er fest zwischen den beiden Haken im Gestein klemmte, während der starre schwarze Schaft sich ein wenig bog. In diesem Augenblick brach ein Stück Gestein vom Krempenrand ab, gegen das der Stab gedrückt hatte. Der Stab vibrierte heftig, während er sich gerade richtete, und der Mausling verlor fluchend seinen Halt und fiel. Glücklicherweise war das Seilstück zwischen den beiden Kameraden kurz, und die Nägel von Fafhrds Stiefeln steckten tief im Gestein, wie von Dämonen geschmiedete Dolchspitzen – denn als der heftige Zug an Fafhrds Gürtel und seiner Linken erfolgte, mit der er das Seil hielt, überstand er ihn, ohne dem Mausling nachzustürzen. Er beugte nur die Knie ein wenig, während er fast lautlos fluchte. Gleichzeitig streckte er die Rechte nach dem vibrierenden Stab aus, und es gelang ihm, ihn zu retten.
Zum Glück war der Mausling auch nicht so weit gefallen, daß er Hrissa mit hinuntergerissen hätte, obgleich das Seil zwischen ihnen sich fast straffte. Die Eiskatze steckte den Hals tief zwischen die Vorderbeine und schaute mit sichtlicher Neugier hinunter zu dem Baumelnden. Des Mauslings Gesicht war fahlgrau. Fafhrd tat, als bemerkte er es nicht. Er händigte dem Freund lediglich den schwarzen Stab aus und sagte: »Es ist ein gutes Werkzeug. Ich habe ihn wieder ineinandergeschoben. Verankere ihn in einem anderen Loch und versuch es noch mal.« Bald klemmte der Stab fest zwischen der Einbuchtung über des Mauslings Kopf und einer Narbe, eine Handbreit vom Krempenrand entfernt. Dann übernahm der Mausling die Führung am Seil. Er kletterte am Stab entlang hoch und hinaus. Mit dem Rücken nach unten hing er an ihm, und Halt fand er mit den Sohlenrändern an den leichten Erhebungen, wo die einzelnen Stabteile ineinander festrasteten. So arbeitete er sich über dem Blaugrau der Tiefe weiter, die ihn zuvor so erschreckt hatte. Der Stab bog sich unter des Mauslings Gewicht noch ein bißchen mehr, und das Pikenende rutschte in der oberen Gesteinsnarbe mit gräßlichem Scharren um einen Fingerbreit, aber der Mausling drehte die Schraube ein wenig, und die Verankerung hielt. Fafhrd und Hrissa sahen, wie der Mausling das Ende erreichte, wo er kurz anhielt. Dann streckte er den linken Arm hoch, bis er bis zum Ellbogen außer Sicht über dem Rand verschwunden war, während er mit der Rechten den Haken faßte und die Beine um den Schaft schlang. Er schien mit der Linken herum-
zutasten und fand offenbar etwas. Dann zog er sich weiter hinaus und hinauf. Ganz langsam verschwand sein Kopf über dem Rand und danach mit einem schnellen Schwung sein rechter Arm. Eine Weile sahen sie nur die untere Hälfte des gekrümmten Mauslings, dessen dunkelsohlige Stiefel sich sicher ums Stabende schlangen. Und dann, langsam wie eine Schnecke und indem er sich mit einem Stiefel vom Haken abstieß, verschwand er ganz außer Sicht. Fafhrd gab ihm langsam weiteres Seil nach. Nach einer Weile erklang des Mauslings Stimme ein bißchen gespenstisch, aber ganz deutlich: »Hallo! Ich habe das Seil um einen Auswuchs, so groß wie ein Baumstumpf, gebunden. Schick Hrissa herauf.« Also band Fafhrd Hrissa in ihrem Geschirr mit einem Sicherheitsknoten an das Seil. Verzweifelt schlug die Eiskatze einen Augenblick um sich, als sie in die Leere hinausgeschwungen wurde, doch dann verhielt sie sich völlig still. Aber während der Mausling sie langsam hochzog, lockerte sich Fafhrds Knoten. Schnell schnappte Hrissa mit den Zähnen nach dem Seil und hielt es zwischen den Kiefern fest. Kaum erreichte sie den Rand, waren ihre aus den Stiefeln ragenden Krallen bereit, und sie schlug sie in den Fels. Gleich darauf wurde sie außer Sicht gezogen. Kurz danach rief der Mausling hinunter, daß Hrissa in Sicherheit sei und Fafhrd folgen sollte. Der große Mann zog stirnrunzelnd die Schraube fester an, obgleich der Stab bedrohlich knirschte, dann begann er vorsichtig an ihm hochzuklettern. Der Mausling straffte nun sein Seil von oben, aber während des er-
sten Stücks vermochte er den Stab um kaum mehr als ein paar Pfund von Fafhrds Gewicht zu entlasten. Der obere Haken verrutschte wieder mit grauenvoll scharrendem Geräusch, aber glücklicherweise nur ein winziges Stück. Mit Hilfe des Seils gelang es Fafhrd, Hände und Kopf über den Rand zu heben. Was er vor sich sah, war ein glatter sanfter Felshang, auf dessen Kuppe der Mausling und Hrissa sich im strahlenden Sonnenschein vom blauen Himmelshintergrund abhoben. Kurz danach stand er neben ihnen. Der Mausling sagte: »Fafhrd, erinnere mich, wenn wir in Lankhmar zurück sind, daß ich Glinthi dem Erfinder, dreizehn Diamanten aus dem Beutel gebe, den wir auf der Sternhöhkappe finden werden: einen für jeden Verlängerungsteil meines Kletterstabs, einen für jeden Haken an den Enden und zwei für jede Schraube.« »Hat er denn mehr als eine Schraube?« fragte Fafhrd respektvoll. »Ja, eine an jedem Ende«, antwortete der Mausling und bat ihn, das Seil für ihn zu spannen, damit er den Hang hinunterklettern, sich mit dem ganzen Oberkörper über den Krempenrand beugen und den Stab zusammenziehen konnte, indem er die obere Schraube drehte, bis er sich heraufziehen ließ. Auf der flachen Kuppe angekommen, steckte er ihn wieder ganz ineinander. Fafhrd wandte sich ernst an ihn: »Du mußt ihn an deinen Gürtel hängen, wie ich meine Axt. Keinesfalls dürfen wir das Risiko eingehen, Glinthis Hilfe für den Rest unserer Klettertour zu verlieren.«
In der heißen Sonne warfen Fafhrd und der Mausling ihre Kapuzen zurück und öffneten ihre Kittel, dann schauten sie sich um, während Hrissa sich genießerisch auf dem Boden wälzte und mit der rauhen Zunge das weiße Fell putzte, das ihre zahllosen Schürfwunden verbarg. Beide Männer waren leicht berauscht von der dünnen Luft und beschwingt, weil sie den gefährlichen Aufstieg glücklich hinter sich gebracht hatten. Sie konnten es kaum glauben, daß die allmählich südwärts ziehende Sonne noch nicht einmal den halben Weg zum Zenit zurückgelegt hatte. Die überstandenen Gefahren, die ihnen stundenlang vorgekommen waren, hatten nur Minuten gedauert. Die Kuppe des Obelisken Polaris war eine wellige Ebene aus bleichem Gestein und zu groß, um sie nach Lankhmar-Morgen zu messen. Sie waren nahe der Südwestecke heraufgekommen, und das graugetönte Steinfeld schien sich dem Osten und Norden zu in die Unendlichkeit zu erstrecken. Da und dort waren Erhebungen und Mulden, die sich jedoch sanft in die Ebene einfügten. Ein paar größere Felsblöcke waren zu sehen, aber nicht viele, und im Osten etwas nicht deutlich Erkennbares, das Sträucher oder kleine Bäume sein mochten, die in staubgefüllten Rissen Wurzeln geschlagen hatten. »Was liegt östlich der Bergkette?« wollte der Mausling wissen. »Ebenfalls eine Eisöde?« »Unser Clan kam nie dorthin«, antwortete Fafhrd. Er runzelte die Stirn. »Es ist wohl mit irgendeinem Tabu belegt, glaube ich. Immer war der Osten nebelverhangen, wenn Vater auf einen höheren Berg kletterte, von dem aus er ihn hätte sehen können – das
erzählte er uns jedenfalls.« »Wir könnten uns jetzt umsehen«, meinte der Mausling. Fafhrd schüttelte den Kopf. »Wir müssen dorthin!« Er deutete nordostwärts, wo die Sternhöh schlief, oder zu schlafen vortäuschte. Und nun sah sie zumindest siebenmal so groß und hoch aus als zuvor, während der Obelisk sie zum Teil verborgen hatte. Düster murmelte der Mausling: »Unsere ganze anstrengende Besteigung des Obelisken hat die Sternhöh nur noch höher gemacht. Bist du sicher, daß nicht vielleicht noch ein möglicherweise unsichtbarer Berg auf ihr steht?« Fafhrd nickte, ohne den Blick von ihr zu nehmen, die Kaiserin der Bergriesen ohne Prinzgemahl war. Ihre Zöpfe waren von hier gesehen zwei gewaltige Schneeflüsse, in deren Lauf Lawinen hinunterrollten. Der südliche Zopf führte in einer großen, abwärtsführenden Doppelkurve auf die Nordwestecke der Felskuppe zu, auf der sie standen. Sternhöhs Schneekappe, deren Krempe im Sonnenschein glitzerte, als wäre sie mit Diamanten besteckt, schien noch ein wenig verwegener in ihre Richtung geneigt zu sein, als es von unten ausgesehen hatte, und das scheuäugige Gesicht ebenso, so daß man an eine vornehme Dame denken konnte, die andeutete, daß sie sich vielleicht entschließen mochte, ihre Gunst zu verschenken. Doch die langen bleichen Schleier des Großen und des Kleinen Banners hingen nicht mehr von ihrer Kappe. Die Luft auf Sternhöhs Gipfel mußte im Augenblick genauso unbewegt sein, wie sie gegenwärtig auf dem Obelisken war.
»Welch verteufeltes Glück, daß Kranarch und Gnarfi ausgerechnet an diesem einen von acht anderen Tagen die Nordwand hochsteigen, an dem der Sturm nicht tobt!« fluchte Fafhrd. »Aber er wird noch ihr Tod sein und der ihrer zwei zottigen Begleiter. Diese Windstille kann nicht anhalten!« »Ich erinnere mich jetzt«, sagte der Mausling plötzlich nachdenklich. »Als wir in Illik-Ving mit ihnen tranken, brüstete Gnarfi sich in seinem Suff damit, daß er den Wind herbeipfeifen kann, das habe seine Großmutter ihm beigebracht – und vertreiben ebenfalls, was in diesem Fall angebrachter ist.« »Um so mehr müssen wir uns beeilen!« Fafhrd griff nach seinem Rückenpack und schlüpfte mit den muskulösen Armen durch die breiten Schulterriemen. »Komm schon, Mausling. Hoch mit dir, Hrissa! Vor dem Schneekamm werden wir dann einen Bissen essen.« »Du meinst, wir sollen heute noch über diese trügerische Eisbrücke?« begehrte der Mausling auf, der sich gern noch ein wenig in der Sonne gebadet hätte. »Noch vor Mittag!« bestimmte Fafhrd. Und schon machte er sich mit langen Schritten auf geradem Weg nach Norden und hielt sich dabei dicht an den Westrand der Bergkuppe, als wollte er damit verhindern, daß der Mausling einen neugierigen Blick in den Osten warf. Aber der Freund folgte ihm nach anfänglichen Protesten. Hrissa blieb eine Weile hinkend weit zurück, doch mit der Zeit schwand ihre Steifheit, und sie holte die beiden ein, während ihre Katzenneugier allem Neuen gegenüber wuchs. Und so marschierten sie über die große, seltsam wellige Granitebene des Obelisken, die da und dort
mit Kalksteinstreifen, weiß wie Marmor, durchzogen war. Ihre sonnenheiße Stille und Eintönigkeit wurde mit der Zeit unheimlich. Ihre Mulden waren auch gar nicht immer so seicht, wie sie aus der Ferne ausgesehen hatten. Fafhrd fielen mehrere auf, in der sich ganze Bataillone unbemerkt hätten versteckt halten können, bis man in Speerwurfweite heran war. Je länger sie dahinschritten, desto genauer studierte Fafhrd den unter seinen Nagelstiefeln krachenden Stein. Schließlich blieb er stehen und deutete auf eine merkwürdig gekräuselt wirkende Strecke. »Ich könnte schwören, daß das früher einmal Meeresgrund war«, sagte er leise. Des Mauslings Augen verengten sich. Er dachte an die riesigen fischähnlichen Flugwesen, die sie am vergangenen Abend als Leere zwischen den Schneeflocken gesehen und die in ihrer Form und Bewegungsweise an Rochen erinnert hatten. Unwillkürlich rann ihm ein eisiges Schaudern über den Rücken. Mit wackelndem Kopf überholte sie Hrissa in schleichendem Gang. Bald kamen sie am letzten Felsblock vorüber und sahen, kaum einen Pfeilschuß weit entfernt, das Glitzern von Schnee. »Das schlimmste am Bergsteigen ist, daß man die einfachen Strecken so schnell hinter sich bringt«, bemerkte der Mausling tiefsinnig. »Psst!« warnte Fafhrd plötzlich und warf sich flach wie ein riesiger vierbeiniger Wasserkäfer auf den Boden und drückte sein Ohr auf den Stein. »Hörst du es, Mausling?« Hrissa starrte knurrend, mit aufgestellten Nackenhaaren, um sich.
Der Mausling wollte Fafhrds Beispiel folgen, doch es wurde ihm bewußt, daß das Geräusch so schnell herankam, daß er es auch so deutlich hören konnte. Es war ein hohes, fast schrilles Trommeln, als schlügen fünfhundert Teufel mit scharfen Fingernägeln auf ein riesiges, straff gespanntes Trommelfell ein. Und plötzlich kam über eine leichte Erhebung im Südosten eine gewaltige, offenbar durchgehende Ziegenherde in breiter Front auf sie zu. So dicht zusammengedrängt war sie und so leuchtend weiß das Fell der Tiere, daß es aussah, als wolle eine breite Welle lebenden Schnees sie überrollen. Selbst die großen geschwungenen Hörner der Leittiere waren elfenbeinfarben. Dem Mausling fiel auf, daß ein Stück der sonnigen Luft über ihrer Mitte flimmerte und wogte, wie man es über einem Feuer sehen kann. Und schon rasten er und Fafhrd, Hrissa vornweg, zurück zu dem letzten Felsblock. Hinter ihnen wurde das Teufelstrommeln der durchziehenden Herde immer lauter. Sie erreichten den Felsblock und kletterten hinauf, kaum einen Herzschlag bevor die vorderste Reihe der Herde so nah herangekommen war. Es war nur gut, daß Fafhrd, sobald sie oben angelangt waren, die Axt aus dem Gürtel riß, denn einer der Ziegenböcke sprang mit eingezogenen Vorderbeinen und gesenktem Kopf hoch, um mit den elfenbeinfarbigen Hörnern zuzustoßen, deren Spitzen gesplittert waren. Fafhrd traf ihn mit einem so gewaltigen Hieb an der schneeweißen Schulter, daß das Tier an ihnen vorbei durch die Luft flog und auf dem schmalen Schräghang zum westlichen Krempenrand aufschlug. Und dann war die weiße Herde um den großen
Felsblock, aber so dicht aneinandergedrängt, daß die Tiere gar keinen Platz zum Hochspringen hatten. Das Trommeln ihrer Hufe, ihr Keuchen und ängstliches Meckern war ohrenbetäubend, und ihr Gestank drang beißend in die Nase, während der Felsblock unter dem Hufgetrampel erzitterte. Als etwa die Hälfte der Herde vorbei war, kam ein plötzlicher Luftzug auf, der kurz den Gestank verdrängte, als etwas dicht über ihren Köpfen vorüberflog und den Himmel kräuselte wie eine lange, flatternde Decke aus flüssigem Glas. Und über dem Lärm der Ziegen war flüchtig ein rauhes, unangenehmes Lachen zu vernehmen. Der geringere Teil der Herde rannte zwischen Felsblock und Krempenrand vorbei von ihm stürzten viele Ziegen, wie Verdammte schreiend, in die Tiefe, und sie nahmen auch den Kadaver des großen Ziegenbocks mit, den Fafhrd getötet hatte. So plötzlich wie ein Sturm, der im Eismeer einen Mast kappt, waren die durchziehenden Ziegen an ihnen vorbei und bogen ein wenig ostwärts vom tödlichen Rand ab. Die letzten Ziegen, hauptsächlich tragende und junge Kitze, hüpften verzweifelt hinter der Hauptherde her. Der Mausling streckte den Arm wie zu einem Schwerthieb zur Sonne aus und brüllte: »Schnell, schau dort, wo die Sonnenstrahlen sich so merkwürdig über der Herde krümmen! Es ist das gleiche fliegende Ding, das gerade über uns hinwegbrauste und das wir gestern im Schneetreiben sahen. Es hat die Herde in Panik versetzt, und seine Reiter haben sie auf uns zugetrieben. O diese verdammten, gespenstischen Weiber mit ihren trügerischen Verlockungen,
die uns von Ziegen zerstampfen lassen wollten, die schlimmer stinken, als eine Tempelorgie in der Stadt der Ghuls.« »Es war nicht ihr Lachen«, widersprach Fafhrd. »Es war viel tiefer.« »Dann haben sie eben irgendeinen Henkersknecht mit tiefer Stimme. Macht sie das in deinen Augen besser? Oder in deinen flatternden, liebesbetörten Ohren?« tobte der Mausling aufgebracht. Das Trommeln der wandernden Herde erstarb schneller noch, als es gekommen war. In der neuen Stille hörten sie ein glückliches, halbgedämpftes Knurren. Hrissa, die gleich hinter der Herde vom Felsblock gesprungen war, hatte ein fettes Kitz geschlagen. »Ah, ich kann schon riechen, wie es über dem Feuer brutzelt!« freute sich der Mausling, der seinen Zorn bereits vergessen hatte. »Brave Hrissa! Fafhrd, wenn es im Osten Bäume, Büsche und Gras gibt – und das muß es ja, denn wovon sollten die Ziegen sich sonst ernähren? –, finden wir dort auch Brennholz, und vielleicht sogar Minze, und wir können ...« »Du wirst das Fleisch roh zu Mittag essen oder überhaupt nicht!« bestimmte Fafhrd heftig. »Wir können es uns nicht leisten, daß dieses höhnische fliegende Ding wieder Ziegen in Panik bringt und auf uns hetzt, oder vielleicht gar Schneelöwen, denn die gibt es ganz sicher, nachdem hier Ziegen sind. Und sollen wir Kranarch und Gnarfi etwa gar den Gipfel der Sternhöh auf einem silbernen Tablett anbieten? Wenn diese Teufel auch morgen noch den Wind fernhalten können und ausdauernde, geschickte Bergsteiger sind – im Gegensatz zu jemandem, den
ich bei Namen nennen könnte! –, erklimmen sie den Gipfel vor uns.« Also half der Mausling beim Häuten und Ausnehmen des Kitzes, wobei er nur dann und wann brummelte. Ein Teil des Fleisches, hauptsächlich Schlegel und Rücken, packten sie für das Abendessen ein. Hrissa trank noch ein wenig des Blutes und fraß die halbe Leber, dann folgte sie dem Mausling und Fafhrd, die nordwärts auf die Schneebrücke zustiefelten. Im Gehen kauten die beiden gepfefferte dünne Schnitten des rohen Fleisches und hielten die Ohren offen nach verdächtigen Geräuschen, wie, beispielsweise, einer weiteren durchziehenden Herde. Der Mausling hatte gehofft, wenigstens von der Nordwand des Obelisken Polaris aus etwas von der östlichen Landschaft zu erspähen, doch das wurde ihm hier durch den erhöhten Schneesattel auch verwehrt. Das Bild, das sich ihnen im Norden bot, war ehrfurchtgebietend. Eine gute halbe Meile, fast senkrecht unter ihnen, stürzte die Gischt des Weißen Wasserfalls geheimnisvoll in die Tiefe und glitzerte selbst im Schatten. Die natürliche Brücke, die sie überqueren mußten, schwang erst gut fünfzig Fuß aufwärts und tauchte dann hinab zu einem langen Schneesattel, etwa fünfzig Fuß unter ihnen, ehe sie allmählich zu dem südlichen Zopf hochführte, über den, wie sie jetzt deutlich sehen konnten, Lawinen herunterrollten und holperten. Nun war auch klar zu erkennen, wie der Nordostwind, der fast ständig blies, aber die Leiter verschonte, den Schnee zwischen dem höheren Berg und
dem Obelisken anhäufte. Doch ob die Felsverbindung zwischen den beiden Bergen ein paar Dutzend Fuß unter dem Schnee lag oder eine halbe Meile, wußte Fafhrd nicht zu sagen. »Wir müssen uns wieder anseilen«, bestimmte er. »Ich gehe als erster und haue Stufen für uns über den Westhang.« »Wozu brauchen wir in dieser Windstille Stufen?« fragte der Mausling. »Oder warum willst du überhaupt zum Westhang? Nur damit ich den Osten nicht sehe, habe ich recht? Die Brücke ist breit genug, daß zwei Ochsenkarren nebeneinander darüber fahren könnten.« »Wo der Wind über die Brücke fegt, hat sich zweifellos im Osten ein Überhang gebildet, der durchbrechen würde«, erklärte Fafhrd. »Wer versteht eigentlich mehr von Schnee und Eis, du oder ich?« »Ich habe einmal mit dir die Gebeine der Alten überquert«, antwortete der Mausling schulterzukkend. »Ich erinnere mich, daß auch sie mit Schnee überzogen waren.« »Pah, das war nicht mehr als Puderzucker auf einem Kuchen, verglichen mit dem hier«, brummte Fafhrd abfällig. »Nein, Mausling, auf dieser Strecke ist mein Wort Gesetz.« »Na gut«, murmelte der Mausling. Also seilten sie sich an, ziemlich dicht hintereinander, Fafhrd als erster, dann der Mausling und als letzte Hrissa, und ohne ein weiteres Wort schlüpfte Fafhrd in seine Handschuhe, schlang sich die Axt um das Handgelenk und begann, Stufen für sie an der Schulter des Schneewalls zu hauen. Es war harte und zeitraubende Arbeit, denn unter
einer dünnen Pulverschneeschicht war der Schnee hartgefroren. Und jede Stufe erforderte zwei Arbeitsgänge: das Einschlagen mit einem Rückhandhieb, und dann einen Vorhandschwung, um Platz zu schaffen. Als der Hang steiler wurde, mußte er die Stufen enger beieinander einkerben. Sie waren nicht sehr groß, jedenfalls nicht im Verhältnis zu seinen großen Füßen, aber sie boten einen sicheren Halt. Bald waren der Obelisk und der Kamm von der Sonne abgeschnitten. Es wurde bitter kalt. Der Mausling schnürte seine Jacke bis oben zu und zog die Kapuze tief ins Gesicht, während Hrissa zwischen ihren kurzen Sprüngen von Stufe zu Stufe auf jeder herumhüpfte, um ihre gestiefelten Pfoten vom Erfrieren zu bewahren. Der Mausling nahm sich vor, ihre Stiefel mit Schafspelzflocken zu füttern, wenn er Hrissas Ballen wieder mit Salbe behandelte. Er trug jetzt seinen ineinandergesteckten Stab an einer Schlaufe ums Handgelenk. Sie ließen die Schulter der Erhöhung hinter sich und erreichten die gegenüberliegende Seite des Schneesattelanfangs, aber Fafhrd schlug keine Stufen zu ihm hoch. Die, die er in den Schnee kerbte, führten in einem schärferen Winkel abwärts als der Schneesattel, obgleich der Hang, den sie überquerten, ziemlich steil wurde. »Fafhrd«, protestierte der Mausling, »wir sind zu Sternhöhs Gipfel unterwegs, nicht zum Weißen Wasserfall!« »Du hast selbst ›na gut‹ gesagt«, brummte Fafhrd zwischen zwei Axthieben. »Außerdem, wer muß sich denn plagen?« Klirrend drang die Axt ins Eis. »Schau doch, Fafhrd«, machte der Mausling ihn
aufmerksam, »zwei Ziegen überqueren den Sattel zur Sternhöh. Nein, drei!« »Sollen wir uns auf Ziegen verlassen? Frag dich doch mal, warum sie geschickt wurden!« Wieder klirrte Fafhrds Axt. Die südwärts ziehende Sonne kam wieder in Sicht und warf ihre Schatten weit voraus. Das bisher blasse Grau des Schnees glitzerte jetzt in strahlendem Weiß. Der Mausling schlug seine Kapuze wieder zurück. Eine Weile genoß er die Sonnenwärme auf seinem entblößten Hinterkopf und schwieg, doch als der Hang noch steiler wurde und Fafhrd unentwegt nach unten führende Stufen schlug, konnte er den Mund nicht mehr halten. »Wenn ich mich recht entsinne«, sagte er, »hatten wir doch vor, die Sternhöh hochzusteigen. Aber offenbar stimmt etwas mit meinem Gedächtnis nicht. Fafhrd, ich glaube dir ja, daß wir uns vom Brückenkamm fernhalten müssen, aber so fern? Die drei Ziegen sind inzwischen drüben angelangt.« »Du hast ›na gut‹ gesagt!« knurrte Fafhrd, und es klang fast drohend. Der Mausling zuckte mit den Schultern. Er stützte sich jetzt fast ständig auf seinen Stab, und Hrissa studierte offenbar jede Stufe, ehe sie sprang. Ihre Schatten huschten nun weniger als einen Speerwurf weit vor ihnen her. Die Sonne hatte begonnen, die oberste Schneeschicht zu schmelzen, so sickerte Eiswasser herab, benäßte ihre Handschuhe, und die Stufen wurden glitschiger. Trotzdem schlug Fafhrd immer weitere in die Tiefe, und mit einem Mal sogar noch steiler. Er kerbte auch über jeder einen Halt für die Hände in die Wand –
und das war unbedingt erforderlich. »Fafhrd«, sagte der Mausling sanft, »vielleicht hat ein Eisgeist dir das Geheimnis des Schwebens ins Ohr geflüstert, damit du von diesem großartigen Startplatz springen und dann zum Gipfel der Sternhöh entschweben kannst. In diesem Fall wäre ich dir dankbar, wenn du es auch mir und Hrissa verraten könntest.« »Pssst!« zischte Fafhrd in diesem Augenblick. »Etwas nähert sich. Halt dich fest und schau zurück.« Der Mausling stützte sich auf seinen in den Schnee gestoßenen Stab und drehte den Kopf. Im gleichen Moment sprang Hrissa von der letzten Stufe zu der, auf der der Mausling stand. Sie landete halb auf seinem Stiefel und klammerte sich an seinem Knie fest – doch tat sie es so geschickt, daß der Mausling den Halt nicht verlor. »Ich sehe nichts«, brummte der Mausling und spähte fast direkt sonnenwärts. Doch gleich darauf fuhr er abgehackt fort: »Wieder scheinen sich die Sonnenstrahlen wie eine wirbelnde Laterne zu drehen! Das Glitzern auf dem Eis sieht wie gekräuselt aus. Das fliegende Ding kommt wieder! Halt dich fest!« Das Rauschen war zu hören, lauter als je zuvor, und wie eine brandende Woge traf der Luftzug sie. Er zerrte an ihrer Kleidung und Hrissas Fell und zwang sie dazu, sich ins Eis zu krallen, was Fafhrd nicht daran hinderte, die Rechte mit der Axt weit zu schwingen, so daß er durch die Wucht des Hiebes fast das Gleichgewicht verloren hätte. »Ich bin sicher, daß ich ihn erwischt habe, Mausling!« knurrte er, als er sich wieder fing. »Die Axt hat
außer Luft noch etwas anderes berührt!« »Du unüberlegter Narr!« rief der Mausling. »Deine lächerlichen Kratzer werden ihn erzürnen und zurückbringen.« Er ließ seinen ausgehauenen Haltegriff los und stützte sich auf seinen Hakenstab, während er die sonnenhelle Luft ringsum nach Kräuselerscheinungen absuchte. »Ich glaube eher, daß ich ihm Angst eingejagt und ihn vertrieben habe«, erklärte Fafhrd von oben herab. Das Rauschen wurde immer leiser, bis die Luft wieder ganz still wurde und selbst das Tropfen des geschmolzenen Schnees nicht mehr zu hören war. Mit einem Seufzer der Erleichterung wandte der Mausling sich erneut der Wand zu und berührte – nichts. Er erstarrte. Er wandte nur die Augen und sah, daß von einer Höhe oberhalb seiner Knie der gesamte Schneekamm verschwunden war – der ganze Sattel und ein Teil der Erhebung davor und dahinter, als hätte ein großer Gott, während der Mausling ihm den Rücken zugewandt hatte, dieses Stück Wirklichkeit entfernt. Schwindelerfüllt klammerte er sich an seinen Stab. Er stand jetzt auf einem neuerschaffenen Schneesattel. Dahinter und unterhalb seiner frisch gekappten Ostwand stürzte der gewaltige Schneerücken, immer noch in einem berggroßen Stück, schneller und schneller in die Tiefe. Die Stufen, die Fafhrd geschlagen hatte, endeten am neuen Schneerand. »Du siehst, ich habe sie gerade noch weit genug hinuntergeschlagen, aber sehr knapp«, brummte Fafhrd. »Ich hatte mich also etwas verrechnet.« Der stürzende Sattel verschwand außer Sicht, und
der Mausling und Fafhrd konnten endlich sehen, was östlich der Berge der Riesen lag: eine gewaltige wellige Ebene dunklen Grüns, das Wipfel sein mochten, allerdings würden von hier aus gesehen selbst die gigantischsten Bäume winziger als Grashalme wirken. Diese ungeheure Weite lag noch tiefer unter ihnen als die Eisöde in ihrem Rücken. Jenseits dieser grünen Ebene erhob sich gespenstisch ein weiterer Gebirgszug. »Ich habe Sagen über das Große Klufttal gehört«, murmelte Fafhrd. »Ein von Bergen umgebenes Bekken, das mit Sonnenschein gefüllt ist und dessen warmer Boden eine Meile tiefer liegt als die Öde.« Suchend blickten sie sich um. »Schau, die Ostseite des Obelisken ist fast bis oben bewaldet. Jetzt wundert es mich nicht mehr, daß es dort Ziegen gibt«, sagte der Mausling. Von der Ostwand der Sternhöh war aber nichts zu sehen. »Komm schon!« drängte Fafhrd. »Wenn wir zögern, entschließt sich der höhnische Flieger eventuell, doch zurückzukommen, trotz meines Axthiebs.« Stumm machte er sich daran, wieder Stufen zu schlagen, und zwar immer noch abwärts. Hrissa schaute über den neuen Rand. Sie hatte den Kopf so tief gesenkt, daß ihre Barthaare ihn fast berührten, und ihre Nase zuckte leicht, als schnuppere sie einen Hauch von Fleischgeruch, der von dem Meilen entfernten Tal käme. Doch als das Seil sich an ihrem Geschirr straffte, folgte sie den beiden Freunden. Es wurde nun immer schwieriger und gefährlicher. Das dunkle Gestein der Leiter erreichten sie nur, in-
dem sie sich in der Düsternis unter einem Wasserfall aus Schnee einen Weg entlang einer fast senkrechten Eiswand schlugen. Der Schneekatarakt schoß von einem Eisvorsprung über ihnen herab und stellte eine verkleinerte Ausgabe des Weißen Wasserfalls dar, der Sternhöhs Rock bildete. Als sie endlich, starr vor Kälte und kaum imstand zu glauben, daß sie es geschafft hatten, auf ein breites, dunkles Sims stiegen, sahen sie ein Durcheinander blutiger Ziegenspuren im Schnee. Ohne Vorwarnung hob plötzlich eine lange Schneebank zwischen dieser und der nächsten Stufe ihr weißes Ende ein Dutzend Fuß und zischte furchterregend, ehe sie erkannten, daß es sich um eine Riesenschlange mit elchgroßem Kopf handelte, die ganz mit zottigem schneeweißen Fell bedeckt war. Ihre großen violetten Augen stierten wie die eines wütenden Pferdes, und zwei gewaltige spitze Fänge in dem weitaufgerissenen Rachen verspritzten eine verdunstende, bleiche Flüssigkeit. Die bepelzte Schlange wiegte den Kopf, als sie offenbar überlegte, welchen der beiden Männer sie angreifen sollte: den größeren mit der blitzenden Axt oder den etwas entfernteren kleineren mit dem dikken schwarzen Stab. Während dieses Zögerns sprang Hrissa, ihrerseits zischend, auf der Randseite sehr knapp am Mausling vorbei, und die Pelzschlange schnellte sich auf diesen neuen und kampfbereiten Feind. Fafhrd bekam einen Hauch ihres heißen, scharfen Atems ab, und die Dunstspur, die die Fänge zurückließen, streifte seinen linken Ellbogen. Ein pelzumrahmtes, violettes Auge, so groß wie ei-
ne Mädchenfaust, zog des Mauslings Blick an. Hrissa schaute in den gähnenden dunkelroten Schlund des Ungeheuers, der von geifernden Elfenbeindolchen und den zwei giftspritzenden Fängen umgeben war. Und dann schnappten die Kiefer zu, doch Hrissa war einen Herzschlag zuvor noch schneller zurückgesprungen, als sie herbeigekommen war. Da stieß der Mausling das Pikenende seines Kletterstabs in das glänzende violette Auge. Fafhrd schwang seine Axt mit beiden Händen und schlug sie in den pelzigen Hals, unmittelbar unterhalb des gewaltigen Schädels. Blut spritzte, und Dampf stieg auf, als es auf Schnee traf. Und schon kletterten die drei weiter hoch, während das Ungeheuer sich im Todeskampf wand und Schnee und Fell gleichermaßen mit seinem Blut besudelte, und das Gestein unter den Hieben seines peitschenden Schwanzes erzitterte. In sicherer Entfernung – so hofften sie jedenfalls – hielten die Bergsteiger an und vergewisserten sich, daß die Schlange auch wirklich starb, doch nicht, ohne sich wachsam nach weiteren gefährlichen Kreaturen umzusehen. »Eine Schlange mit Pelz und heißem Blut – von dergleichen habe ich noch nie gehört«, murmelte Fafhrd. »Mein Vater hat sie nie erwähnt, und ich bezweifle, daß ihm jemals eine begegnete. Ich wette, sie lauern ihrer Beute an Sternhöhs Osthang auf und kommen nur zum Brüten hierher. Möglicherweise hat der unsichtbare Flieger die drei Ziegen nur über den Schneesattel getrieben, um die hier anzulocken.« Mit fast verträumter Stimme fuhr
er fort: »Oder es gibt eine geheime Welt im Innern von Sternhöh.« Fafhrd schüttelte den Kopf, als wollte er ihn von solchen phantasieanregenden Visionen befreien. »Wir müssen hochsteigen und zusehen, daß wir vor Einbruch der Dunkelheit weit über die Höhlen kommen. Gib mir ein bißchen Honig, während ich trinke.« Er griff nach seinem Wasserbeutel, drehte sich um und blickte die Leiter hoch. Von ihrem Fuß sah sie wie ein spitzwinkeliges dunkles Dreieck aus, das zwischen den bewegten Schneezöpfen dem blauen Himmel entgegenstrebte. Sie befanden sich auf den untersten Simsbänken, die noch einigermaßen einfach zu erklimmen waren, jedoch zusehends steiler und schmäler wurden. Ihnen folgte ein fast kahles Stück, das da und dort mit Schatten und Kräuselmuster gezeichnet war, was auf Kletterrouten hinwies, die allerdings nicht miteinander verbunden waren. Danach kamen weitere Simsbänke: die Nester. Nach ihnen ein noch kahleres Stück als das erste, und schließlich wieder Simsbänke: das Gesicht. Und über allem etwas, das von ihnen aus gesehen wie ein dünner, mit weißer Tinte gezogener Federstrich aussah: die Krempe von Schneehöhs unverzierter Schneekappe. Der Mausling spürte, wie all seine Knochen wieder schmerzten und wie die bleierne Müdigkeit zurückkehrte, während er die Leiter hinaufspähte und gleichzeitig in seinem Beutel nach dem Honigtöpfchen kramte. In seinem ganzen Leben, dessen war er sicher, hatte er noch nie eine solche Entfernung durch vertikale Verkürzung auf so geringem Raum zusammengezogen gesehen. Es war, als hätten die Götter
eine Leiter zum Himmel erbaut und, nachdem sie sie benutzt hatten, die meisten Sprossen ausgerissen und weggeworfen. Aber er biß die Zähne zusammen und machte sich daran, Fafhrd zu folgen. Ihre gesamte bisherige Kletterei war einfach gewesen, verglichen mit dem, was jetzt, Schritt um Schritt, den ganzen langen Sommernachmittag folgte. War der Obelisk Polaris ein gestrenger Schulmeister gewesen, so war die Sternhöh nun eine besessene Königin, die mit ständig neuen, unangenehmen Überraschungen aufwartete und unberechenbar in ihren ausgefallenen Launen war. Die Simse der Höhlen waren aus einem Gestein, das manchmal bereits bei der leichtesten Berührung zerbröckelte, und auf allen hatte sich loses Geröll angehäuft. Auch schlossen die Bergbezwinger Bekanntschaft mit Sternhöhs Lawinen, deren Steine aller Größen ohne Vorwarnung herabpolterten. Die drei mußten sich dicht an die Wand drücken. Fafhrd bedauerte jetzt, daß er seinen Helm zurückgelassen hatte. Hrissa knurrte anfangs über jeden Stein, der in ihrer Nähe heruntersauste, doch ihre Entrüstung wich Furcht, als ein kleinerer sie an der Seite traf. Von da an hielt sie sich dicht an den Mausling und versuchte, sich zwischen seine Beine und die Wand zu zwängen, bis es ihm mit beruhigenden Worten gelang, sie davon abzubringen. Einmal sahen sie auch einen Vetter der weißen Pelzschlange, der sich mannshoch aufbäumte und sie von einem fernen Sims aus anstarrte. Glücklicherweise griff er sie aber nicht an. Sie kämpften sich zum nördlichsten Punkt des
obersten Höhlensimses hoch, ehe sie ganz am Rand des Nordzopfes, fast unter seinem strömenden Schnee, auf eine geröllgefüllte Kluft stießen, die sich nach oben zu einer breiten senkrechten Rinne – Kamin nannte Fafhrd sie – verengte. Als sie das trügerische Geröll endlich hinter sich hatten, stellte der Mausling fest, daß das nächste Stück tatsächlich wie die Innenseite eines rechteckigen Kamins wechselnder Breite war, von dem eine Seite offenstand. Sein Stein war fester als der des Höhlenteils, das war allerdings schon alles, was zu seinen Gunsten gesagt werden konnte. Für diese Strecke mußten alle Kletterkenntnisse eingesetzt werden und dazu auch noch alle Kraft. Manchmal konnten sie sich an Spalten hochziehen, die gerade genug Halt für Zehen- oder Fingerspitzen boten, doch meistens mußte Fafhrd erst einen Kletterhaken einschlagen oder -bohren, damit sie Halt fanden, und dieser anschließend für weitere Benutzung wieder herausgezogen werden. Stellenweise verengte der Kamin sich so, daß sie sich mit den Schultern an eine Wand und den Stiefelsohlen an die gegenüberliegende stützen und so hochsteigen konnten. Zweimal wurde er so breit und seine Wände so glatt, daß nur noch des Mauslings ausziehbarer Kletterstab, zwischen die Wände geklemmt, sie weiterbrachte. Fünfmal blockierte den Kamin ein riesiger Stein, der sich beim Herabfallen so verkeilt hatte, daß sie an der offenen Kaminseite an ihm hochsteigen mußten, gewöhnlich, indem Fafhrd Kletterhaken zwischen Wand und Stein schlug oder den Haken am Seil über ihn hochwarf.
»Die Sternhöh hat wohl mal Mühlsteine geweint«, bemerkte der Mausling bei einer dieser gigantischen Barrieren und wich als Abschluß seines Satzes hastig einem herabpolternden Felsbrocken aus. Diese Art von Kletterei ging gewöhnlich über Hrissas Fähigkeiten, so daß der Mausling sie des öfteren auf dem Rücken tragen oder sie auf einer der seltenen pfotenbreiten Leisten absetzen und sie hochziehen mußte, sobald die Möglichkeit sich dazu ergab. Hin und wieder waren die beiden Männer versucht, sie einfach zurückzulassen, vor allem nachdem sie beide selbst todmüde waren, aber sie konnten nicht vergessen, wie ihr tapferes Täuschungsmanöver sie vor der weißen Pelzschlange gerettet hatte. All dies, vor allem das Überklimmen der Steinbarrieren, erfolgte unter dem Beschuß der Geröllawinensteine. Jeden verkeilten Felsbrocken empfanden sie als willkommenes Dach, bis auch er überwunden werden mußte. Dann und wann ergoß sich Schnee von den Lawinen, die fast pausenlos den Nordzopf herunterrollten, in den Kamin. Das war eine weitere Bedrohung, vor der sie sich schützen mußten. Hin und wieder rann auch Eiswasser die Wände herab und durchnäßte Handschuhe und Stiefel und machte die trügerischen Haltegriffe noch gefährlicher. Außerdem war die Luft hier so dünn, daß sie des öfteren rasten und tief atmen mußten, bis ihre Lungen beschwichtigt waren. Dazu kam noch, daß Fafhrds linker Arm, den der giftige Hauch der Pelzschlange getroffen hatte, anzuschwellen begann, bis seine dicken Finger kaum noch fähig waren, das Seil festzuhalten oder sich an Vorsprünge zu klammern, ganz zu schweigen davon, daß er entsetzlich juckte
und schmerzte. Immer wieder kühlte er ihn im Schnee, aber es half nicht. Ihre einzigen Verbündeten an dieser anstrengendsten Strecke waren die heiße Sonne, die ihnen allein durch ihre hellen Strahlen Mut machte und die zunehmende Kälte der dünnen Luft bekämpfte, und die Schwierigkeit und der Abwechslungsreichtum, die sie so sehr beschäftigten, daß sie gar nicht dazu kamen, an die Leere ringsum und unter ihnen zu denken, wobei letztere noch weit gewaltiger war als von der Kuppe des Obelisken aus. Die Eisöde war wie eine andere Welt, die getrennt von der Sternhöh im Raum schwebte. Einmal zwangen sie sich, einen Bissen zu essen, und mehrmals tranken sie einen Schluck Wasser. Einmal überwältigte den Mausling auch ein Anfall der Höhenkrankheit, der erst endete, nachdem er sich restlos übergeben hatte. Der einzige Zwischenfall, der nicht direkt etwas mit dem Wahnsinn der Sternhöh zu tun hatte, trug sich zu, als sie langsam wie zwei Riesenschnecken über den fünften blockierenden Stein klommen. Diesmal kletterte der Mausling mit Hrissa auf dem Rücken voraus, und Fafhrd folgte ihm dichtauf. An dieser Stelle zog der Nordzopf sich so eng zusammen, daß darüber hinweg ein Auswuchs der Nordwand zu sehen war. Etwas sirrte, das gar nicht wie ein rollender Stein klang. Ein zweites Sirren kam durch die Luft und endete in einem dumpfen Aufschlag. Als Fafhrd oben auf dem blockierenden Stein angelangte und den Schutz der Kaminwände erreicht hatte, steckte ein Pfeil mit Widerhaken in seinem Rückenpack.
Während ein dritter Pfeil dicht über seinem Kopf vorbeischwirrte, spähte der Mausling schnell hinaus und nordwärts, ehe Fafhrd ihn hastig an den Fußgelenken zurückzog. »Es war tatsächlich Kranarch! Ich habe gesehen, wie er den Pfeil abschoß«, berichtete der Mausling. »Gnarfi war nicht in der Nähe, wohl aber einer ihrer neuen Kameraden im braunen Pelz. Er kauerte hinter Kranarch auf demselben Sims. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, nur daß er ein ziemlich gedrungener Bursche mit kurzen Beinen ist.« »Sie halten Schritt mit uns«, brummte Fafhrd. »Und schrecken vor Mord nicht zurück!« bemerkte der Mausling, als er den Pfeil herauszog, der Fafhrds Rückenpack durchbohrt hatte. »Kamerad, ich fürchte, dein Schlafsack ist sechzehnmal durchlöchert. Und die kleine Tube mit Tannensalbe ist auch nicht mehr dicht. Ah – welch ein Duft!« »Ich fürchte, diese beiden Männer von Illik-Ving sind heimtückischer als ich dachte«, knurrte Fafhrd. »Aber jetzt weiter!« Sie waren hundemüde, auch die Katze Hrissa, und die Sonne stand kaum noch zehn Fingerbreit über dem flachen Horizont der Eisöde, dazu hatte etwas in der Luft sie weiß wie Silber gebleicht, so daß sie keine Wärme mehr ausstrahlte, die die Kälte zurückdrängte. Glücklicherweise waren die Simsbänke der Nester nun dicht über ihnen, und sie konnten zumindest hoffen, daß sie eine bessere Lagermöglichkeit boten als der Kamin. Und so gehorchten sie Fafhrds Befehl, obgleich jeder Menschen- und Katzenmuskel dagegen protestierte.
Auf halbem Weg fing es an zu schneien. Pulvrige Flocken fielen genau wie am vergangenen Abend pfeilgerade herab, nur dicker. Dieser stille Schneefall verlieh ein Gefühl der Gelöstheit und Sicherheit, doch natürlich völlig zu Unrecht, da er die den Kamin herabfallenden Steine verbarg. Etwa fünfzehn Fuß unterhalb der Nester prallte ein daumengroßer Stein gegen Fafhrds rechte Schulter, so daß sein intakter Arm gefühllos wurde und er ihn nicht benutzen konnte. Doch das letzte Stück war so einfach zu erklimmen, daß er es auch ohne ihn mit den Stiefeln und der dickgeschwollenen Linken schaffte. Vorsichtig spähte er über den oberen Kaminrand. Der Zopf war hier jedoch wieder so dick, daß er die Nordwand völlig verbarg. Erfreulicherweise war gleich das erste Sims angenehm breit und so überhangen, daß kein Schnee sich auf seiner inneren Hälfte hatte sammeln können, geschweige denn Geröll. Erleichtert kletterte er hinauf, gefolgt vom Mausling und von Hrissa. Gleich nachdem sie es sich dicht an der Wand auf dem Sims bequem gemacht hatten, und während der Mausling sich noch von dem schweren Rückenpack und dem Kletterstab an seinem Handgelenk befreite – denn selbst er war zu einer quälenden Last geworden –, vernahmen sie das ihnen inzwischen allzu vertraute Rauschen. Eine große, flache Form stieß durch den sonnenversilberten Schnee. Und diesmal flog sie nicht vorüber, sondern hielt an wie ein gewaltiger Teufelsrochen am Meeresufer, und zehn kleine Abdrücke erschienen am Simsrand wie von Saugnäpfen.
Aus der Mitte dieser ungeheuerlichen Unsichtbarkeit erhob sich eine kleinere, die sich vom Schneefall abhob. Sie hatte die Form eines Mannes – und etwas Sichtbares war an ihr: ein Schwert mit dunkelgrauer Klinge und silbrigem Griff, dessen Spitze auf des Mauslings Brust gerichtet war. Plötzlich schoß das Schwert vorwärts, als würde es geworfen, doch ihm folgte genauso schnell wie die Mann-Form, die rauh lachte. Mit einer Hand riß der Mausling seinen nun vom Gelenk gelösten Kletterstab hoch und stieß ihn gegen die im Schnee abgezeichnete Gestalt hinter dem Schwert. Die graue Klinge glitt um den Stab und entriß ihn mit einer Drehung des Mauslings müden Fingern. Das schwarze Werkzeug, an dem Glinthi jeden Abend im Monat des Wiesels vor drei Jahren gearbeitet hatte, verschwand im Nichts des silbrigen Schneefalls. Fauchend und spuckend und am ganzen Körper zitternd, wich Hrissa an die Wand zurück. Fafhrd griff verzweifelt nach seiner Axt, aber seine geschwollenen Finger bekamen nicht einmal die Hülle auf, in der sie am Gürtel hing. Der Verlust seines kostbaren Kletterstabs hatte den Mausling in solche Wut versetzt, daß es ihm völlig gleichgültig war, ob es sich bei seinem Gegner um einen Unsichtbaren handelte oder nicht. Er riß Skalpell aus seiner Scheide und parierte das graue Schwert, als es erneut auf ihn zustieß. Ein Dutzend Hiebe mußte er parieren, dabei zog er sich zweimal eine leichte Wunde am Arm zu und wurde fast wie Hrissa an die Wand gedrängt, ehe er
seinen Gegner abschätzen konnte, der nun, da er nicht mehr in dem Schneetreiben stand, völlig unsichtbar war. Er fixierte einen Punkt, etwa einen Fuß über der grauen Schwertspitze, wo er annahm, daß sich die Augen seines Feindes befanden (falls dieser die Augen wie Menschen im Kopf hatte), und griff an. Dreimal spürte er, daß Skalpell in Fleisch drang und einmal von einem Knochen abglitt. Sein Gegner sprang zurück auf den unsichtbaren Flieger und ließ schmale Fußabdrücke im Schneematsch zurück, der sich am Simsrand gesammelt hatte. Der Flieger schaukelte. In seiner Kampfeswut wäre der Mausling seinem Feind fast auf diese unsichtbare, lebende Plattform gefolgt, und es war nur gut, daß er im letzten Moment noch zur Vernunft kam, denn der Flieger tauchte davon wie ein Rochen, der vor einem Hai flieht, und schüttelte den auf ihm angesammelten Matsch in das Schneetreiben. Ein verschwindendes Lachen war zu hören, das jedoch einem schmerzhaften Wimmern recht nahe kam. Da begann auch der Mausling zu lachen, allerdings eine Spur übertrieben, als er sich wieder an die Wand zurückzog. Er wischte seine Klinge ab und spürte unsichtbares klebriges Blut daran, was ihn zu einem neuen Lachen veranlaßte. Hrissa hatte immer noch jedes einzelne Haar ihres dichten Fells aufgestellt – und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigte. Fafhrd gab den Versuch auf, seine Axt zu ziehen. Ernst sagte er: »Die Mädchen waren nicht bei ihm, sonst hätten wir ihre Formen oder Fußabdrücke auf
dem matschüberzogenen Flieger sehen müssen. Ich glaube, der Bursche ist auf uns eifersüchtig und greift uns gegen ihren Willen an.« Der Mausling lachte ein drittes Mal, und es klang diesmal ein bißchen töricht. Die Düsternis wandelte sich in dunkles Grau. Sie machten Feuer in ihrer kleinen Schale und bereiteten sich auf die Nacht vor. Trotz ihrer Verwundungen und völligen Erschöpfung hatte der Schrecken dieser letzten Begegnung neue Kraft in ihnen geweckt, ihren Mut gestärkt und ihnen Appetit gemacht. Genießerisch verspeisten sie die Lammstücke, die sie in den Harzflammen brutzelten oder blaßgrau in Wasser kochten, das sich merkwürdigerweise fast am Siedepunkt trinken ließ, ohne daß sie sich daran verbrannten. »Wir müssen uns wohl dem Reich der Götter nähern«, murmelte Fafhrd. »Man sagt, daß sie genußvoll kochenden Wein trinken – und durch Flammen spazieren, ohne daß diese ihnen etwas anhaben können.« »Trotzdem ist das Feuer hier genauso heiß«, murmelte der Mausling stumpf. »Aber die Luft scheint weniger gehaltvoll zu sein. Wovon, glaubst du, ernähren sich die Götter?« »Sie sind keine menschlichen Wesen und brauchen deshalb weder Luft noch Nahrung«, antwortete Fafhrd, nachdem er mit gerunzelter Stirn eine Weile darüber nachgedacht hatte. »Du hast doch aber gerade selbst gesagt, daß sie Wein trinken«, erinnerte ihn der Mausling. »Jeder trinkt Wein«, brummte Fafhrd gähnend. Dadurch verhinderte er ein eingehenderes Streitge-
spräch und hielt den Mausling davon ab, weiter seinen unausgesprochenen Überlegungen nachzuhängen, ob die dünnere Luft, die weniger stark auf sich erwärmende Flüssigkeit drückt, etwa Blasen leichter aufsteigen läßt. Die Gefühllosigkeit in Fafhrds rechtem Arm ließ allmählich nach, und auch sein linker schwoll nicht weiter an. Der Mausling strich Salbe auf seine glücklicherweise unbedeutenden Wunden und verband sie. Dann erinnerte er sich daran, auch Hrissas Pfoten mit Salbe einzuschmieren. Er stopfte eine Handvoll von den nach Tannensalbe riechenden Daunen aus Fafhrds löchrigem Umhang in ihre Stiefel. Als sie sich halb in ihre Schlafsäcke geschnürt – wobei Hrissa zwischen ihnen kuschelte – und ein paar der kostbaren Harzkügelchen in die Feuerschale gegeben hatten, brachte Fafhrd einen winzigen Beutel mit starkem Ilthmarwein zum Vorschein. Jeder gönnte sich einen Schluck und stellte sich die sonnigen Weinberge und das warme, fruchtbare Land weit im Süden vor, aus dem er stammte. Ein kurzes Aufflackern der Flammen in der Feuerschale zeigte ihnen, daß es immer noch schneite. Ein paar Steine polterten in der Nähe herunter, und eine Schneelawine zischte vorbei doch dann wurde die Sternhöh still im eisigen Griff der Nacht. Ihr geschützter Horst erschien den beiden Männern einmalig, so hoch über jedem Gipfel der Berge der Riesen – und vermutlich über ganz Nehwon. »Jetzt wissen wir, wer in den Nestern nistet«, sagte der Mausling leise. »Meinst du, daß es viele unsichtbare Mantas gibt, die an diesen Simsen herumschweben oder daran hängen? Wieso erfrieren sie eigentlich
nicht? Oder gibt es irgend jemanden, der sie in Stallungen oder dergleichen versorgt? Und was ist mit diesen unsichtbaren Menschen? Jetzt wissen wir ganz sicher, daß es keine Phantasiegebilde sind! Wir haben das Schwert gesehen, und ich habe gegen die Männergestalt gekämpft, die damit focht. Unsichtbare! Wie ist das möglich?« Fafhrd zuckte mit den Schultern und fuhr zusammen, weil diese Bewegung sehr schmerzte. »Vielleicht sind sie aus dem gleichen Zeug wie Wasser oder Glas«, meinte er. »Aber doch biegsam, mit geringerer Lichtbrechung und ohne schimmernde Oberfläche. Du hast selbst gesehen, daß Sand und Asche durch Erhitzung durchsichtig werden können. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, Tiere und Menschen ohne Erhitzung unsichtbar zu machen.« »Und wie werden sie leicht genug, daß sie fliegen können?« setzte der Mausling seine Überlegungen fort. »Dünne Tiere, die zur dünnen Luft passen«, meinte Fafhrd schläfrig. »Und dann diese tödlichen Pelzschlangen«, fuhr der Mausling fort. »Der Teufel weiß, welche Gefahren es da oben noch gibt.« Er hielt kurz inne und starrte hoch. »Und doch müssen wir zu Sternhöhs Gipfel hochsteigen. Warum?« Fafhrd nickte. »Um Kranarch und Gnarfi zu schlagen ...«, murmelte er. »Um zu schaffen, wozu mein Vater nicht mehr kam ... Um das Rätsel zu lösen ... Die Mädchen ... O Mausling, du könntest doch jetzt nicht hier aufgeben, genausowenig wie du die Eroberung einer Frau aufgeben könntest, nachdem du dir große Hoffnungen gemacht hast.«
»Von Edelsteinen sprichst du jetzt nicht mehr«, bemerkte der Mausling. »Glaubst du nicht, daß wir welche finden?« Erneut wollte Fafhrd mit den Schultern zucken, hielt jedoch nach der ersten Bewegung fluchend inne und gähnte schließlich. Der Mausling schob die Hand tief in die unterste Beuteltasche und holte das Pergament heraus. Er blies in die Feuerschale und las im Schein der aufflakkernden Flammen: »Wer die weiße Sternhöh, den Mondbaum erklimmt, mit Schlangengewürm und Gnomen ficht, der den Schlüssel zu allem Reichtum gewinnt: einen Beutel voll Sterne, das Herz des Lichts. Die Götter, die einst mächtig waren, erkoren ihn zu ihrer Zitadelle, diesen Gipfel, um den sich Sterne scharen und von dem Pfade führen, zum Himmel und zur Hölle. Kommt ihr Helden über die Trollenschroffen! Kommt, ihr Besten, über das Ödeland! Für Ruhmestaten steh'n die Tore offen, zögert nicht, nehmt das Schwert zur Hand. Wer des Schneekönigs Festung bezwingt, wird Vater sein seiner zwei Töchter Brut, er, der durch alle Gefahren dringt, wird weiterbestehen in ihrem Blut.« Das Harz verbrannte. Der Mausling sagte: »Wir sind einer Pelzschlange begegnet und einem Unsichtbaren, der uns den Weg verwehren wollte, außerdem gibt es zwei unsichtbare Hexen, die des Schneekönigs Töch-
ter sein mögen. Gnomen – das wäre doch mal was anderes, was meinst du? Du hast doch etwas über Eisgnomen gesagt, Fafhrd. Was war es?« Angespannt wartete er auf die Antwort seines Freundes. Nach einer Weile vernahm er sie: leise, gleichmäßige Schnarchlaute. Wortlos fluchte der Mausling. Seine Gedanken quälten ihn. Er hätte nicht an Mädchen denken sollen – oder vielmehr nicht an dieses ganz bestimmte Mädchen, das nichts als eine verführerische Maske mit geschürzten Lippen und geheimnisvollen Augen war – über ein Feuer hinweg gesehen. Plötzlich fühlte er sich beengt. Schnell schnürte er seinen Schlafsackumhang auf und tastete sich trotz Hrissas gekränktem und fragendem Miau südwärts am Sims entlang. Bald verrieten Schneeflocken, die wie Eisnadeln in sein erhitztes Gesicht stachen, daß er sich jenseits des Überhangs befand. Und dann war er plötzlich wieder vor dem Schneefall geschützt. Ein neuer Überhang, dachte er – aber er hatte sich ja gar nicht weiterbewegt. Er strengte die Augen an, um hochzusehen. Die schwarze Breite von Sternhöhs oberstem Viertel hob sich vom Himmel ab, den der verborgene Mond und ein paar Sterne fahl färbten. Hinter ihm im Westen verdeckte immer noch der Schneesturm den Himmel. Er blinzelte und fluchte verhalten, denn nun war die schwarze Felswand, die sie morgen erklimmen mußten, von verstreuten leuchtenden Farbflecken in sanftem Violett und Rosa und bleichem Grün und Bernstein erhellt. Die nächsten Farbflecken, die allerdings immer noch weit entfernt waren, sahen rechteckig aus – wie Fenster, hinter denen Licht brannte.
Es schien, als wäre die Sternhöh eine große Herberge. Und dann bissen wieder Schneeflocken in sein Gesicht, und der Streifen Himmel verschwand. Die Schneewolke hatte sich erneut über den Berg geschoben und verbarg alle Sterne und jegliches andere Licht. Des Mauslings Grimm schwand. Er fühlte sich plötzlich klein und dumm, und es fror ihn entsetzlich. Die geheimnisvolle Vision der Lichter blieb in seinem Gedächtnis haften, doch gedämpft, als wäre sie Teil eines Traumes gewesen. Ungemein vorsichtig kroch er zu seinem Schlafplatz zurück, wo ihn die wohlige Wärme empfing, die von Fafhrd und Hrissa und der letzten Glut in der Feuerschale ausging. Wieder schnürte er seinen Schlafsackumhang zu und blieb eine lange Zeit mit hochgezogenen Knien liegen, zusammengekauert wie ein Baby, und sein Kopf schien nur mit kalter Schwärze gefüllt zu sein, bis er endlich einschlief. Der nächste Tag empfing sie düster und unfreundlich. Die beiden Männer balgten miteinander, um die Steifheit aus ihren Knochen zu vertreiben und sich ein wenig aufzuwärmen, damit sie aufstehen konnten. Hrissa zog sich mißmutig und hinkend von ihnen zurück. Jedenfalls aber fühlten sich Fafhrds Arme wieder normal an, die Schwellung des linken war zurückgegangen, und der rechte war nicht mehr taub. Sie frühstückten mit Kräutertee und Honig und begannen im leichten Schneefall, die Nester zu erklimmen. Das Schneetreiben verschonte sie den ganzen
Vormittag nicht, außer wenn Böen die Felswand kurz davon freihielten. Während dieser kurzen Augenblikke konnten sie die große, glatte Wand sehen, die die Nester von den letzten Simsbänken, denen des Gesichts, trennte, und sie sah ganz so aus, als böte sie nirgendwo einen Halt. Sie schien völlig ungezeichnet zu sein, so daß Fafhrd über des Mauslings Traum von Fenstern lachte, hinter denen angeblich farbiges Licht brennen sollte. Doch als sie sich schließlich dem Fuß dieser Wand näherten, bemerkten sie etwas, das wie ein schmaler Spalt – ein dünner Strich für das Auge – aussah, und in Wandmitte verlief. Es begegneten ihnen keine der unsichtbaren Flieger, doch immer wenn der Wind eine seltsame Bresche in den Schneefall schlug, drängten sich die beiden Abenteurer an die Wand und umklammerten ihre Waffen, während Hrissa knurrte. Beim Aufstieg behinderte der Wind sie kaum, aber er biß in ihre Knochen. Immer noch mußten sie auf Steinschläge achten, obwohl sie weit seltener als am Vortag auftraten, was vermutlich daran lag, daß der größte Teil der Sternhöh nun bereits unter ihnen lag. Sie erreichten den Fuß der großen Wand an der Stelle, wo der Spalt begann. Darüber waren sie sehr froh, denn der Schnee fiel nun so dick, daß die Suche nach ihm sehr beschwerlich gewesen wäre. Zu ihrer Freude erwies sich der Spalt als weiterer Kamin von einer Weite und Tiefe von kaum drei Fuß, und mit seinen unzähligen Narben und Ausbuchtungen war er das genaue Gegenteil der glatten Steilwand. Im Gegensatz zum gestrigen Kamin schien er endlos emporzuführen, ohne seine Form zu verändern, und soweit sie sehen konnten, waren keine
Felsbrocken verkeilt. In gewisser Weise war er wie eine Steinleiter, die auch zum größten Teil schneegeschützt war. Selbst Hrissa konnte hier ohne Hilfe hochklettern. Zu Mittag aßen sie Fleisch, das sie durch Andrükken an ihre Haut angewärmt hatten. Sie waren jetzt ungeduldig und mußten sich dazu zwingen, sich Zeit zum Kauen und Schlucken zu nehmen. Als sie in den Kamin eindrangen, wobei Fafhrd die Führung übernahm, hörten sie dreimal ein dumpfes Grollen, Donner vielleicht, und zweifellos klang es unheildrohend, aber der Mausling lachte. Halt für Hände und Füße gab es überall, und mit dem Rücken konnten sie sich an die gegenüberliegende Wand stützen, so war der Aufstieg verhältnismäßig einfach. Natürlich erforderte er Kraft, und sie mußten häufig anhalten, um genug von der dünnen Luft einzuatmen. Nur an zwei Stellen wurde der Kamin so schmal, daß Fafhrd ein kurzes Stück mit dem Rücken im Freien hochklettern mußte, während der weniger breit gebaute Mausling innen bleiben konnte. Es war ein berauschendes Erlebnis, oder zumindest fast. Während der Tag sich im verdichtenden Schneetreiben verdunkelte und das Grollen sich stärker und lauter wiederholte – und nun bestand kein Zweifel mehr, daß es sich um Donner handelte, denn selbst im Kamin war die Widerspiegelung bleicher Blitze unverkennbar –, waren der Mausling und Fafhrd fröhlich wie abenteuerlustige Kinder, die eine geheimnisvolle Treppe in einer verwunschenen Burg hochstiegen. Sie vergeudeten sogar wertvollen Atem mit vergnügten Rufen, nur um das schwache Echo zu
hören, während der offene Schacht sich mit den Blitzen erhellte und danach wieder dämmrig wurde. Doch der Kamin hielt nicht, was er versprochen hatte. Er wurde nach und nach fast so glatt wie die äußere Felswand, und nach einer Weile auch breiter, eine Handbreit zuerst, dann noch eine und dann einen Fingerbreit. Das erschwerte natürlich ihren Aufstieg und machte ihn gefährlicher. Sie mußten die Schultern nun gegen eine Wand stützen und die Sohlen gegen die gegenüberliegende, um den Kamin schubweise hoch zu ›gehen‹. Der Mausling hob Hrissa in die Höhe, und sie kauerte sich mit beachtlichem Gewicht auf seine schwer atmende Brust. Trotzdem tat das der guten Laune der beiden Männer keinen Abbruch, so daß der Mausling sich zu fragen begann, ob nicht in Himmelsnähe die Luft tatsächlich berauschend war. Da Fafhrd einen oder zwei Kopf größer als der Mausling war, war er für diese Art von Klettern besser geeignet und tat sich auch dann noch nicht schwer, als dem Mausling bewußt wurde, daß sein Körper zwischen Schultern und Sohlen nahezu waagrecht ausgestreckt war – während Hrissa auf ihm stand wie ein Fußgänger auf einem Steg. So kam er unmöglich höher, und es war ihm auch gar nicht klar, wie es ihm überhaupt geglückt war, so weit zu gelangen. Auf seinen Hilferuf kletterte Fafhrd wie eine große Spinne wieder hinunter. Die Notlage des Mauslings schien ihn nicht zu beeindrucken, im Gegenteil, ein Blitz zeigte, daß sein bärtiges Gesicht zu einem breiten Grinsen verzogen war. »Bleib du eine Weile hier«, forderte er den Freund
auf. »Es ist nicht mehr weit bis zum Gipfel, ich glaube, ich habe ihn beim letzten Blitz gesehen. Ich steige hoch und ziehe dich dann am Seil hinauf. Bei deinem Kopf ist ein Spalt, ich schlage einen Kletterhaken ein, nur um sicher zu gehen. Ruh du dich inzwischen aus.« Woraufhin Fafhrd sich so schnell an die Arbeit machte und bereits wieder hochkletterte, daß der Mausling die bissigen Bemerkungen unterdrückte, die sich über seine Lippen drängen wollten. Ein paar aufeinanderfolgende Blitze zeigten, wie der langbeinige Nordmann mit erstaunlicher Geschwindigkeit in der Entfernung kleiner wurde, bis er nicht größer als eine Spinne am Ende des Rohres aussah. Beim nächsten Blitz war er überhaupt nicht mehr zu sehen, doch der Mausling wußte nicht, ob er lediglich eine Biegung des Kamins erreicht hatte oder oben angekommen war. Das Seil rollte sich immer weiter auf, bis sich nur noch eine Schlinge unterhalb des Mauslings befand, den inzwischen jeder Knochen schmerzte. Außerdem war ihm entsetzlich kalt, und er mußte die Zähne fest zusammenbeißen, um sie am Klappern zu hindern. Und ausgerechnet jetzt mußte Hrissa unruhig auf ihrem menschlichen Steg hin und her wandern. Der nächste Blitz blendete sogar im Kamin die Augen, und der unmittelbar folgende Donner erschütterte die Sternhöh dermaßen, daß Hrissa ängstlich zusammenzuckte. Das Seil straffte sich und begann am Gürtel des Mauslings zu zerren, der ihm zaghaft sein Gewicht anvertraute, während er Hrissa an die Brust drückte. Aber dann beschloß er, doch lieber auf Fafhrds Auf-
forderung zu warten. Das war sein Glück, denn das Seil erschlaffte und fiel wie ein schwarzer Wasserstrahl auf seinen Bauch. Hrissa brachte sich hastig davor in Sicherheit und kauerte sich auf des Mauslings Gesicht. Scheinbar endlos fiel das Seil herab, bis das obere Ende endlich auf der Brust des Mauslings aufschlug. Es war nur gut, daß Fafhrd ihm nicht folgte. Ein weiterer blendender Blitz, dem der Donner wieder auf dem Fuß folgte, zeigte, daß der Kamin oben völlig leer war. »Fafhrd!« brüllte der Mausling. »Fafhrd!« Doch nur das Echo antwortete. Der Mausling überlegte kurz, dann tastete er an der Kopfseite um sich und fand den Kletterhaken, den Fafhrd mit einem einzigen Hieb seines Axthammers eingeschlagen hatte. Was immer auch Fafhrd zugestoßen war, der Mausling konnte nun nichts anderes tun, als das Seil am Haken zu befestigen und sich solange daran hochzuziehen, bis der Kamin wieder einfacher zu erklettern wurde. Der Haken kam bei der ersten Berührung heraus und fiel klappernd den Kamin hinab, bis er in einem neuen Donnerschlag nicht mehr zu hören war. Der Mausling beschloß, den Kamin hinunter zu ›gehen‹, schließlich war er auf diese Weise ja auch die letzten paar hundert Fuß hochgekommen. Der erste Versuch, ein Bein zu bewegen, verriet ihm, daß seine Muskeln völlig verkrampft waren. Das machte es ihm unmöglich, die Beine zu beugen und wieder auszustrecken, ohne den Halt zu verlieren. Er dachte an Glinthis Kletterstab, der in der weißen Weite verloren war, verdrängte diesen Gedanken jedoch hastig.
Hrissa kauerte auf seiner Brust. Der nächste Blitz zeigte, daß sie ihm ins Gesicht blickte, traurig und kritisch zugleich, als fragte sie: »Wo bleibt denn der Einfallsreichtum, auf den die Menschen so stolz sind?« Fafhrd hatte sich kaum aus dem Kamin auf ein breites, felsüberdachtes Sims an seinem Ende gezogen, als eine sieben Fuß hohe, vier Fuß breite und zwei Spannen dicke Tür im Gestein der Simswand aufschwang. Der Unterschied zwischen dem rauhen Felsgestein und dem völlig glatten Stein der Tür und ihres Rahmens war bemerkenswert. Weiches Licht schien heraus, und ein schwerer Duft schlug ihm entgegen, der ihn an sanft im Abendrot schaukelnde Barken mit Liebesdienerinnen erinnerte. Dieser betäubende Duft zusammen mit der berauschend dünnen Luft ließen Fafhrd fast den Zweck seines Hierseins vergessen, aber die Berührung des schwarzen Seils in seiner Hand war so, als berührte er den Mausling und Hrissa am anderen Ende. Er löste es von seinem Gürtel, um es um eine gewaltige Felssäule neben der offenen Tür zu binden. Um einen festen Knoten knüpfen zu können, mußte er es ganz straffziehen. Doch der liebliche Träume verheißende Duft wurde stärker, und er spürte den Mausling und Hrissa nicht länger am Seil. Er vergaß sie vollkommen. Und dann rief eine silbrige Stimme – eine Stimme, die er bereits lachen gehört hatte: »Tritt ein, Fremder! Komm herein zu mir!«
Das Ende des schwarzen Seils entglitt unbemerkt seinen Fingern und fiel den Kamin hinunter. Leicht geduckt trat er durch die Tür, die sich sofort hinter ihm schloß, so daß er des Mauslings unmittelbar folgenden verzweifelten Ruf nicht mehr hören konnte. Er stand in einem Gemach, das von rosigen Kugeln in Höhe seines Kopfes erhellt wurde. Ihr weiches, warmes Leuchten verlieh den Wandbehängen und Teppichen zarte Farbe, vor allem aber dem blassen, breiten Bett, das das einzige Möbelstück war. Neben dem Bett stand eine schlanke Frau, deren schwarzes Seidengewand alles verbarg, außer ihrem Gesicht, und vielleicht gerade deshalb ihre herrliche Figur hervorhob. Eine schwarze Spitzenmaske verdeckte den Rest. Sieben heftig pochende Herzschläge lang betrachtete sie Fafhrd, ehe sie sich auf das Bett setzte. Ein schlanker Arm mit schmaler Hand, ganz in schwarze Spitze gehüllt, löste sich vom Gewand, während die Maske unbewegt auf Fafhrds Gesicht gerichtet blieb. Er schlüpfte aus seinem Rückenpack und löste seinen Axtgürtel. Der Mausling schlug die dünne Klinge seines Dolches mit dem Feuerstein aus seinem Beutel in den Spalt. Bei jedem Hieb sprühten Funken, die den Blitzen am Himmel Konkurrenz machen wollten, während die Schläge mit dem Stein im Donnergrollen untergingen. Hrissa kauerte auf des Mauslings Fußgelenken, und hin und wieder blickte er sie scharf an, als wollte er sagen: »Na, Katze?« Eine schneebeladene Windböe brauste durch den
Kamin. Sie hob die schmale zottige Katze eine gute Handbreit hoch und hätte den Mausling fast von der Wand gelöst, aber er spannte seine Muskeln noch mehr, und der leicht gekrümmte Steg, den sein Körper darstellte, hielt stand. Er war gerade damit fertig, ein Ende des schwarzen Seils um Parierstange und Griff des Dolches zu knüpfen – seine Finger und Unterarme waren vor Erschöpfung kaum noch zu gebrauchen –, als ein zwei Fuß hohes und fünf Fuß breites Fenster sich lautlos im Kamin öffnete. Der steinerne Fensterladen glitt kaum eine Spanne von des Mauslings Schulter entfernt zur Seite. Ein rotes Glühen leuchtete aus dem Fenster. In ihm waren vier Gesichter mit pechschwarzen Augen und haarlosem Schädel zu sehen. Der Mausling betrachtete sie. Gleichmütig dachte er, daß alle vier ausgesprochen häßlich waren. Nur ihre breiten weißen Zähne zwischen den grinsend geöffneten Lippen, die fast von einem Schweineohr zum anderen reichten, konnten vielleicht als schön bezeichnet werden. Hrissa sprang sofort durch das rote Fenster und war verschwunden. Die beiden Gesichter, zwischen denen sie hindurchgesprungen war, zuckten nicht mit der Wimper. Dann griffen acht kurze, aber muskulöse Arme heraus, die den Mausling vorsichtig und ohne Mühe von der Wand lösten und ins Innere hoben. Er schrie auf, denn seine verkrampften Muskeln schmerzten höllisch. Er erkannte dumpfstämmige Zwergenkörper in haarigen schwarzen Wämsern und Beinkleidern – und einen in einem schwarzen haarigen Rock
–, alle mit nackten, dicknageligen Spreizfüßen. Und dann wurde es schwarz um ihn. Er kam wieder zu sich, weil er schmerzhaft auf einer harten Tischplatte massiert wurde. Er war nackt und seine Haut glatt von warmem Öl. Der Raum, in dem er lag, war niedrig und schlecht beleuchtet. Und immer noch standen die vier Zwerge um ihn herum; das wußte er bereits, ehe er die Augen öffnete, denn er spürte acht rauhe Hände, die seine Muskeln kneteten und schlugen. Der Zwerg, der seine rechte Schulter wie einen Brotteig bearbeitete und aufs obere Ende seiner Wirbelsäule hämmerte, zog seine warzigen Augenlider zusammen und entblößte die schönen weißen Zähne – die der Größe nach einem Riesen gehört haben könnten – zu einer Grimasse, die vielleicht ein freundliches Grinsen war. Dann sagte er in grauenvollem Mingoldialekt: »Ich bin Knochenberster. Das ist meine Frau Schnatterfett. Die beiden, die deinen Körper an der Backbordseite betätscheln, sind meine Brüder Beinbrecher und Schmetterschädel. Trink jetzt diesen Wein und folge mir.« Der Wein brannte in der Kehle, aber er vertrieb des Mauslings Schwindelgefühle. Und es war zweifellos angenehm, diese mörderische Massage überstanden zu haben – und offenbar auch den schmerzenden Krampf in allen seinen Muskeln. Knochenberster und Schnatterfett halfen ihm vom Tisch, während Beinbrecher und Schmetterschädel ihn mit rauhen Handtüchern abrieben. Der warme, niedrige Raum schaukelte kurz schwindelerregend, und dann fühlte der Mausling sich wunderbar. Knochenberster watschelte in die Düsternis jenseits
der rauchenden Fackeln. Ohne ihn mit Fragen zu behelligen, folgte der Mausling dem Zwerg. Oder waren das hier Fafhrds Eisgnomen? – fragte er sich. In der Dunkelheit schob Knochenberster schwere Vorhänge zur Seite. Bernsteinfarbiges Licht schimmerte heraus. Der Mausling trat aus rauhem Fels in daunenweichen Luxus. Die Vorhänge schlossen sich raschelnd hinter ihm. Er stand allein in einem Gemach, das von hängenden, riesigen Topasen ähnlichen Kugeln sanft beleuchtet wurde. Er sah ein großes breites Bett und dahinter einen niedrigen Tisch an einer mit Teppichen behangenen Wand. Vor dem Tisch stand ein Elfenbeinhocker. Auf dem Tisch, unter einem großem Silberspiegel, bemerkte er viele phantastisch kleine Fläschchen und winzige Elfenbeintiegelchen. Jetzt wurde ihm erst bewußt, daß er gar nicht allein war. Hrissa, säuberlich gebürstet, lag zusammengerollt in einer Ecke, und sie beobachtete nicht den Mausling, sondern starrte auf eine Stelle über dem Hocker. Der Mausling spürte, wie ihm ein Schauder, aber nicht etwa der Angst, über den Rücken rann. Eine Spur blassesten Grüns sprang von einem der Tiegelchen zu der Stelle in der Luft, die Hrissa beobachtete, und verschwand dort. Doch da sah er im Spiegel einen Hauch von Grün. Das gleiche seltsame Geschehen wiederholte sich, und bald hob sich im Spiegel – ein wenig durch das stellenweise erblindete Silber gedämpft – eine grüne Maske ab. Dann verschwand die Maske aus dem Spiegel und erschien gleichzeitig ungetrübt in der Luft über dem Elfenbeinhocker. Es war die Maske, an die der Maus-
ling so sehnsuchtsvoll gedacht hatte: das schmale Kinn, die hohen Wangenknochen, die feine gerade Nase und die breite Stirn. Die geschürzten weinroten Lippen öffneten sich ein wenig, und eine weiche kehlige Stimme fragte: »Mißfällt dir mein Gesicht, Mann von Lankhmar?« »Ihr treibt Euren grausamen Spaß mit mir, o Prinzessin«, erwiderte der Mausling und bemühte sich um eine höfische Verbeugung. »Ihr seid die Schönheit in Person.« Schlanke Finger, die sich teilweise in bleichem Grün abhoben, tauchten in das Salbentiegelchen und brachten eine großzügigere Menge Farbe zum Vorschein. Die sanfte, kehlige Stimme, die so gut zu dem Lachen paßte, das er einmal im Schneetreiben gehört hatte, sagte jetzt: »Du sollst mich im ganzen beurteilen dürfen.« Fafhrd erwachte im Dunkeln und berührte das Mädchen neben ihm. Sobald er spürte, daß auch sie wach war, faßte er sie an den Hüften. Als er merkte, wie sie erstarrte, hob er sie in die Luft und hielt sie über sich, während er selbst flach auf dem Rücken liegenblieb. Sie war wundersam leicht, als wäre sie aus Backwerk oder Daunen, doch als er sie wieder neben sich legte, fühlte sie sich so fest an wie jede andere Frau auch, und ihre Haut war glatter und angenehmer als die der meisten Mädchen. »Mach doch ein bißchen Licht, Hirriwi, ich bitte dich.« »Das wäre unklug, Fafhrd«, antwortete sie mit einer Stimme wie Silberglöckchen. »Hast du vergessen,
daß ich jetzt völlig unsichtbar bin? Gerade das würde zwar so manchem Mann gefallen. Bei dir dagegen bin ich mir nicht so sicher ...« »Du hast recht, ich mag dich lieber wirklich«, antwortete er und faßte sie heftig an den Schultern, um seine Gefühle zu betonen, doch dann zog er hastig schuldbewußt die Hände zurück, als er dachte, wie zart und zerbrechlich sie doch sein mußte. Die Silberglöckchen klingelten zu lautem Lachen. »Hab keine Angst«, sagte sie. »Meine luftigen Knochen sind aus einem Stoff, der stärker ist als Stahl. Das ist ein Rätsel, das eure Weisen nicht zu lösen vermögen und das mit der Unsichtbarkeit meiner Rasse und der Tiere zu tun hat, von denen sie entstammt. Überleg doch, wie stark Glas sein kann, und doch durchdringt das Licht es. Mein verfluchter Bruder Faroomfar hat trotz seines schlanken Körperbaus die Kräfte eines Bären, und mein Vater Oomforafor ist trotz seiner Hunderte von Jahren ein wahrer Löwe. Deines Freundes Begegnung mit Faroomfar war nicht endgültig; aber, oh, wie es ihn zum Heulen brachte! Vater wütete – und da sind auch noch die Vettern. Sobald diese Nacht zu Ende ist – doch das wird nicht so bald sein, mein Liebster, der Mond erklimmt den Himmel noch –, mußt du die Sternhöh wieder hinunter. Versprich mir das! Mein Herz wird kalt, allein bei dem Gedanken, welchen Gefahren du dich gegenüber sahst – wie Eis war es so viele Male in diesen letzten drei Tagen.« »Trotzdem hast du uns nie gewarnt«, überlegte er laut. »Im Gegenteil, du hast mich weitergelockt.« »Weißt du denn nicht, wieso?« fragte sie. Er strich über ihre Stupsnase und die Apfelbäckchen, und so
spürte er, daß sie lächelte. »Oder vielleicht ärgerst du dich, daß ich dein Leben in Gefahr bringen ließ, nur damit du hierher, zu diesem Bett, kommen konntest?« Er drückte einen heftigen Kuß auf ihre weichen Lippen, um ihr zu zeigen, daß dem nicht so war, doch sie schob ihn nach einer kurzen Weile zurück. »Warte, Fafhrd, Liebster!« bat sie. »Nein, warte, sagte ich! Ich weiß, daß du ungeduldig und ungestüm bist, aber du kannst doch zumindest noch so lange warten, bis der Mond die Breite eines Sterns weiterwandert. Ich bat dich, mir zu versprechen, daß du im Morgengrauen die Sternhöh wieder hinuntersteigen wirst.« Ein ziemlich langes Schweigen setzte in der Dunkelheit ein. »Nun?« drängte sie. »Weshalb sprichst du nicht? Du bist doch in anderen Dingen nicht so unentschlossen. Die Zeit verstreicht, der Mond segelt dahin!« »Hirriwi«, sagte Fafhrd leise, »ich muß die Sternhöh ganz erklimmen.« »Warum?« fragte sie scharf. »Der Reim hat sich bewahrheitet. Du hast deine Belohnung. Kletterst du weiter, erwarten dich nur eisige, sinnlose Gefahren. Kehrst du um, beschütze ich dich von der Luft – ja, und deinen Kameraden ebenfalls – bis zur Eisöde.« Ihr süße Stimme zitterte. »O Faffy, bin ich dir denn nicht genug, daß du die Bezwingung eines grausamen Berges aufgeben kannst? Zu allem anderen liebe ich dich auch noch – wenn ich richtig verstehe, was für Sterbliche dieses Wort bedeutet.« »Nein«, erwiderte er ernst in der Dunkelheit. »Du bist wundervoll, wundervoller als jedes Mädchen,
das ich je kannte. Und ich liebe dich – glaube mir, das ist kein Wort, mit dem ich leichtfertig umgehe –, aber irgendwie machst du mich nur noch versessener darauf, die Sternhöh zu bezwingen. Kannst du das verstehen?« Jetzt war sie es, die eine lange Weile schwieg. »Nun«, sagte sie schließlich. »Du tust, was du dir vorgenommen hast. Aber ich habe dich gewarnt. Ich könnte noch mehr sagen, könnte dir Gründe nennen und mit dir herumstreiten, doch ich weiß, daß ich gegen deinen Dickschädel nicht ankommen kann – und die Zeit fliegt dahin. Wir müssen unsere eigenen Wege gehen und den Mond einholen. Küß mich wieder! Zärtlich! So.« Der Mausling hatte sich quer über den Fuß des Lagers ausgestreckt und betrachtete bewundernd Keyaira im Schein der bernsteinfarbigen Kugellampen. Sie lag der Länge nach im Bett, wie es sich gehörte, die apfelgrünen Schultern und den Kopf auf viele Kissen gebettet, und schlummerte friedlich. Er nahm einen Deckenzipfel und befeuchtete ihn mit Wein aus einem Becher zwischen seinen Knien. Damit rieb er ganz vorsichtig Keyairas schmales rechtes Fußgelenk. So sanft ging er vor, daß sich ihre Brust unverändert langsam hob und senkte. Es dauerte nicht lange, bis er von einer handflächengroßen Stelle die ganze grüne Salbe abgewischt hatte. Er blickte hinab auf seiner Hände Werk und erwartete, sanfte Haut zu sehen oder zumindest das Grün der Salbe an der anderen Seite ihres Fußgelenks. Aber nein, durch das ungleichmäßige Rechteck, das er gerieben hatte, sah er lediglich die flauschige Bettdecke,
auf die das bernsteinfarbige Licht fiel. Das war eine erstaunliche, ein klein wenig unheimliche Erfahrung für ihn. Fragend blickte er zu Hrissa hinüber, die jetzt an einem Ende des niedrigen Tisches lag, vor den dünnglasigen phantastischen Parfümflaschen. Sie hatte das Kinn mit den dichten weißen Haarbüscheln auf die überkreuzten Pfoten gestützt und schien die beiden im Bett zu betrachten, und zwar, wie dem Mausling schien, mit einem gewissen Tadel für ihn im Blick. Also strich er hastig Salbe von den Waden auf den Flecken, den er gerieben hatte, bis das ganze Bein wieder makellos grün war. Ein leises Lachen ließ ihn zusammenzucken. Keyaira hatte sich auf die Ellbogen gestützt und blickte ihn aus schmalen, von dichten Wimpern umrandeten Augen an. »Wir Unsichtbaren«, sagte sie mit humorvoller, echt oder vorgetäuscht schlafschwerer Stimme, »sind nur durch aufgetragene Mittel oder unsere Kleidungsstücke zu sehen. Das ist etwas, das unseren Betrachtern immer ein Rätsel bleiben wird.« »Du bist die Königin der Rätsel, die zwischen den Sternen schwebt«, sagte der Mausling galant und streichelte sanft ihre grünen Zehen. »Und ich bin der glücklichste aller Männer. Ich befürchte nur, daß alles bloß ein Traum ist und ich auf einem eisigen Sims der Sternhöh aufwachen werde. Wie kam ich zu der Ehre, hier sein zu dürfen?« »Unsere Rasse ist im Aussterben begriffen«, antwortete Keyaira. »Unsere Männer sind nicht mehr zeugungsfähig. Hirriwi und ich sind die einzigen noch lebenden Prinzessinnen. Unser Bruder Faroom-
far wünscht sich nichts sehnlicher, als unser Prinzgemahl zu werden, er behauptet, immer noch zeugen zu können – er war es übrigens, gegen den du gekämpft hast –, aber unser Vater Oomforafor besteht auf neuem Blut, ›dem Blut von Helden‹, sagt er. Also müssen die Vettern und Faroomfar – jener sehr gegen seinen Willen – diese gereimten Verlockungen auf Pergament zu gefährlichen, einsamen Orten bringen, wo nur Helden sie finden können.« »Aber wie können Sichtbare und Unsichtbare sich paaren?« fragte der Mausling. Sie lachte amüsiert. »Hast du denn ein so schlechtes Gedächtnis, Maus?« »Ich meine, wie können sie miteinander Kinder haben?« verbesserte er sich hastig, ein ganz klein bißchen verärgert darüber, daß sie ihn beim Spitznamen aus seiner Kindheit genannt hatte. »Würden denn solche Kinder nicht wie Dunstschleier oder Wolken geraten, aufgrund der Mischung zwischen sichtbar und unsichtbar?« Keyairas grüne Maske wiegte sich leicht von Seite zu Seite. »Mein Vater ist der Meinung, daß eine solche Paarung sich als sehr vielversprechend erweisen wird, da die Kinder zwar unsichtbar werden – da die Unsichtbarkeit stärker ist als die Sichtbarkeit –, aber in vieler anderer Hinsicht sehr stark von dem heißen, heldenhaften Blut ihrer Väter profitieren werden.« »Dann hat dein Vater dir also befohlen, sich mit mir zu paaren?« fragte der Mausling ein wenig enttäuscht. »Keineswegs, Maus«, versicherte sie ihm. »Er würde toben, wenn er wüßte, daß du hier bist. Und Faroomfar würde rasen vor Wut. Nein, ich verliebte
mich in dich, genau wie Hirriwi in deinen Kameraden, als wir euch das erstemal in der Eisöde sahen. Das ist euer Glück, denn Vater hätte sich eures Samens auf völlig andere Weise bemächtigt, sobald ihr auf Sternhöhs Gipfel angekommen wärt. Das erinnert mich, Maus, du mußt mir versprechen, gleich im Morgengrauen den Berg wieder hinunterzusteigen.« »Das ist kein Versprechen, das ich so ohne weiteres geben kann«, sagte der Mausling. »Wie ich Fafhrd kenne, wird er dickköpfig sein. Dann ist da auch noch die Sache mit dem Säckchen voll Diamanten, wenn es das ist, was ein Beutel voll Sterne bedeutet. Oh, ich weiß, es ist nichts, verglichen mit der Umarmung eines so wundervollen Mädchens – aber trotzdem ...« »Und wenn ich dir sage, daß ich dich liebe – was tatsächlich die Wahrheit ist ...« »O Prinzessin!« Der Mausling seufzte, und seine Hand glitt zu ihrem Knie empor. »Wie soll ich es fertigbringen, dich im Morgengrauen zu verlassen. Nur eine Nacht ...« »Aber Maus«, unterbrach ihn Keyaira verführerisch lächelnd, während sie sich sinnlich räkelte. »Weißt du denn nicht, daß jede Nacht eine Ewigkeit ist? Hat dich denn das noch kein Mädchen gelehrt, Maus? Das überrascht mich! Überleg doch nur: Uns bleibt noch eine halbe Ewigkeit – die ebenfalls eine Ewigkeit ist, wie eure Weisen, ob nun weißbärtig oder schmalbrüstig, dich hätten lehren sollen.« »Aber wenn ich doch viele Kinder zeugen soll ...«, begann der Mausling. Wieder unterbrach ihn Keyaira. »Hirriwi und ich sind ein bißchen so etwas wie Bienenköniginnen. Aber denk nicht daran. Wir haben heute nacht eine
ganze Ewigkeit, das stimmt, aber nur, wenn wir sie auch wirklich nutzen. Komm näher.« Ein wenig später sagte der Mausling leise – und wiederholte sich selbst damit: »Das Schlimmste an einer Bergbesteigung ist, daß die angenehmen Strecken viel zu schnell hinter einem liegen.« »Man kann sich eine Ewigkeit dafür Zeit nehmen«, hauchte Keyaira in sein Ohr. »Tu es, Maus.« Fafhrd erwachte, vor Kälte zitternd. Die rosigen Lampen waren grau und baumelten heftig im eisigen Wind, der durch die offene Tür blies. Schnee hatte sich auf seiner Kleidung und seiner Ausrüstung gesammelt, lag verstreut auf dem Boden und zolltief auf der Schwelle der Tür, durch die die einzige Beleuchtung kam: bleigraues Tageslicht. Seine tiefinnere Freude kämpfte gegen die Trostlosigkeit dieses Anblicks und besiegte sie. Aber trotzdem war er nackt und fror. Er sprang auf, schüttelte den Schnee von seinen Sachen und schlüpfte in deren eisige Starre. Als er sich den Axtgürtel umschnallte, erinnerte er sich an den Mausling, der hilflos unten im Kamin hing. Merkwürdigerweise hatte er die ganze Nacht nicht daran gedacht, nicht einmal, als er mit Hirriwi über den Mausling sprach. Hastig schnallte er sich das Gepäck auf den Rücken und rannte hinaus auf das Sims. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, daß sich hinter ihm etwas bewegte. Es war die schwere Tür, die sich schloß. Eine heftige schneeschwangere Windböe schlug ihm entgegen. Er griff nach der rauhen Felssäule, um die er vergangenen Abend das Seil hatte wickeln
wollen, und klammerte sich daran fest. Mögen die Götter dem Mausling dort unten helfen, dachte er. Etwas kam im Wind den Sims entlanggeschlittert und klammerte sich weiter unten an die Felssäule. Die Böe hatte sich ausgetobt. Fafhrd drehte sich nach der Tür um. Nicht eine Spur verriet mehr, wo sie sich befunden hatte. Der ganze Schnee auf dem Sims hatte sich durch die Böe verlagert. Indem er sich mit einer Hand weiter an der Säule festhielt, betastete er mit der anderen die rauhe Felswand. Aber die Fingernägel fanden genausowenig wie das Auge den geringsten Spalt. »Ah, dann wurdest also auch du hinausgeschmissen?« fragte eine vergnügte und sehr vertraute Stimme. »Mich haben die Eisgnomen hinauskomplimentiert, nur damit du es weißt.« »Mausling!« rief Fafhrd. »Dann bist du also nicht ... Ich dachte ...« »Wie ich dich kenne, hast du die ganze Nacht nicht ein einzigesmal an mich gedacht«, unterbrach ihn der Mausling. »Keyaira versicherte mir, daß du in Sicherheit seist – und mehr noch. Hirriwi hätte dir das gleiche von mir gesagt, wenn du sie gefragt hättest. Aber das hast du natürlich nicht.« »Dann hast also auch du ...« Auch diesmal beendete Fafhrd den Satz nicht. Sein Gesicht strahlte vor Freude. »Ja, Prinzgemahlschwager«, antwortete der Mausling grinsend. Um die Säule zwischen ihnen herum pufften sie einander, um die Kälte ein wenig zu mildern, aber vor allem wohl, weil sie bester Laune waren. »Wo ist Hrissa?« fragte Fafhrd.
»Im Warmen. Hier jagt man Katzen nicht in die Kälte, nur Männer. Hm, ich frage mich ... Glaubst du, Hrissa hat Keyaira von Anfang an gehört, und sie hat das Ganze vorhergesehen und geplant ...« Keine weiteren Böen folgten. Der Schnee fiel so dünn, daß sie fast eine Meile sehen konnten – bis zur Kappe über den schneebedeckten Simsbänken des Gesichts und hinunter zum Ende der Leiter. Wieder einmal überwältigte sie die Größe der Sternhöh – und ihre nicht beneidenswerte Lage: zwei halberfrorene Menschlein auf einer eisigen, senkrechten Welt, die nur entfernt mit Nehwon verbunden war. Im Süden stand eine bleiche Silberscheibe am Himmel: die Sonne. Also waren sie bis zum Mittag im Bett gelegen. »Bei einer Nacht von achtzehn Stunden läßt sich eine Ewigkeit leichter vorstellen«, bemerkte der Mausling. »Wir folgten dem Mond tief unter dem Meer«, murmelte Fafhrd. »Wollte dein Mädchen auch, daß du ihr versprichst, den Berg jetzt wieder hinunterzuklettern?« fragte der Mausling plötzlich. Fafhrd nickte. »Sie hat es zumindest versucht.« »Meine auch. Und eine so schlechte Idee ist es gar nicht. Nach ihren Worten ist der Gipfel nicht das, was wir erwarten. Aber der Kamin sieht aus, als wäre er mit Schnee vollgestopft. Halt mich an den Knöcheln, während ich über den Simsrand spähe. Ja, bis unten vollgestopft!« »Mausling«, sagte Fafhrd düster. »Ob es nun einen Weg nach unten gibt oder nicht, ich muß zur Sternhöh hoch!«
»Weißt du was«, antwortete der Mausling, »irgendwie hast du mich mit deiner Einstellung angesteckt. Außerdem bietet die Ostwand der Sternhöh vielleicht einen leichten Weg hinunter in das so üppig aussehende Klufttal. Also, sehen wir zu, was wir in den kaum sieben Stunden Tageslicht schaffen, die uns noch bleiben. Der Tag ist nicht für Ewigkeiten geeignet.« Die Simsbänke des Gesichts zu erklimmen, war zugleich der leichteste und schwerste Aufstieg bisher. Die Simse waren breit, aber einige verliefen schräg nach außen und waren aus brüchigem Schiefer, der keine Berührung duldete, und hin und wieder kamen sie zu Quergängen, die sie mit Hilfe von schmalen Spalten und größter Kraftanstrengung überwanden, manchmal nur, indem sie sich an den Händen hängend weitertasteten. In dieser Höhe ermüdeten sie auch viel schneller, und sie wurden leichter schwindlig. Oft mußten sie eine kurze Rast einlegen, um zu Atem zu kommen. Auf einem tiefen Sims – sie nahmen an, daß es das rechte Auge der Sternhöh war – machten sie mit den restlichen Harzkügelchen in der Schale Feuer, um etwas zu essen und zu trinken warm zu machen, hauptsächlich aber doch, um sich selbst ein bißchen aufzuwärmen. Auch die Anstrengungen der vergangenen Nacht hatten sie ein wenig geschwächt, doch verlieh ihnen die Erinnerung an diese Anstrengungen andererseits neue Kräfte. Dann waren da auch die heimtückischen, plötzlichen Windböen und der ständige, aber in seiner Stär-
ke wechselhafte Schneefall, der manchmal den Gipfel verbarg, doch hin und wieder auch einen guten Blick auf ihn gestattete, während die große weiße Krempe bedrohlich über ihnen hing. Sie war ein Sims ähnlich dem des Schneesattels, nur leider befanden sie sich auf der falschen Seite davon. Die Illusion wuchs, daß Sternhöh im schneegefüllten Raum eine eigene, von Nehwon getrennte Welt war. Schließlich färbte sich der Himmel blau, und sie spürten die Sonne auf dem Rücken – endlich waren sie über die Schneefallgrenze hinaus –, und Fafhrd deutete auf eine winzige Kerbe in der Krempe, eine Kerbe, die unmittelbar über dem nächsten schneeüberzogenen Felsvorsprung zu erkennen war. »Das Nadelöhr!« rief er. In diesem Moment fiel etwas in eine Schneebank neben ihnen, und gedämpftes Krachen von Metall auf Stein war zu hören. Ein gefiederter Pfeilschaft ragte aufrecht aus dem Schnee. Sie duckten sich unter das schützende Dach eines größeren Felsvorsprungs, als ein zweiter und dritter Pfeil auf dem kahlen Fels aufschlug, wo sie gerade noch gestanden hatten. »Gnarfi und Kranarch sind uns zuvorgekommen, verdammt!« zischte Fafhrd. »Am Nadelöhr haben sie uns einen Hinterhalt gestellt. Wir müssen jetzt einen Umweg machen und von oben an sie herankommen.« »Werden sie das nicht erwarten?« »Sie waren so dumm, uns zu früh auf sich aufmerksam zu machen«, antwortete Fafhrd. »Außerdem bleibt uns keine andere Möglichkeit.« Also kletterten sie südwärts, aber weiterhin auf-
wärts, und immer so, daß sie Fels oder Schnee von der Stelle trennte, wo sie annahmen, daß sich das Nadelöhr befand. Endlich, als die Sonne sich zum westlichen Horizont hinabsenkte, wandten sie sich wieder nordwärts und weiter hoch. Sie stampften Stufen in die steiler werdende Schneebank, die jetzt ihre Krümmung der Krempe zuwandte. Die Krempe überdachte sie nun bedrohlich und bedeckte etwa zwei Drittel des Himmels. Sie schwitzten und froren abwechselnd und mußten fast ständig gegen Schwindel- und Schwächeanfälle ankämpfen, trotzdem bemühten sie sich, so leise und vorsichtig weiterzuklettern, wie nur möglich. Nach einer Weile kamen sie zu einer weiteren Schneewölbung und schauten ein Stück an der großen, kahlen Wand hinunter, die normalerweise von dem Wind gepeitscht wurde, der durch das Nadelöhr pfiff, und die das Kleine Banner darstellte. An der äußeren Lippe des entblößten Felsens standen zwei Männer, beide in braunes Leder gehüllt, das arg mitgenommen aussah und durch dessen zahllose Risse der nach innen gewandte Pelz zu erkennen war. Der hagere, schwarzbärtige und elchgesichtige Kranarch schlug sich die Arme um die Brust, um sich zu wärmen. Neben ihm lagen sein gespannter Bogen und ein paar Pfeile. Der untersetzte Gnarfi mit dem Wildschweingesicht kniete ganz am Rand und spähte darüber. Fafhrd fragte sich, wo wohl ihre beiden braungekleideten, kurzbeinigen Diener waren. Der Mausling steckte suchend die Hand in seinen Beutel. In diesem Moment entdeckte Kranarch sie und riß seine Waffe hoch, allerdings sichtlich langsamer, als er es in dichterer Luft getan hätte. Mit glei-
cher Langsamkeit brachte der Mausling den faustgroßen Stein zum Vorschein, den er in weiser Voraussicht für einen Augenblick wie diesen von einem Sims etwas weiter unten mitgenommen hatte. Kranarchs Pfeil schwirrte durch die Luft zwischen den Köpfen der beiden Freunde. Einen Moment später traf des Mauslings Stein Kranarch voll an der Schulter. Der Bogen entfiel seiner Hand, und der Arm baumelte schlaff herab. Da rannten Fafhrd und der Mausling tollkühn den Schneehang hinunter. Ersterer schwang seine Axt, letzterer zog Skalpell. Kranarch und Gnarfi empfingen sie mit ihren Schwertern, Gnarfi zusätzlich sogar noch mit einem Dolch in der Linken. Der folgende Kampf war von der gleichen traumähnlichen Langsamkeit wie der Austausch der Geschosse. Zuerst waren Fafhrd und der Mausling durch ihren Sturmangriff im Vorteil, doch dann machte sich die körperliche Kraft – oder vielleicht lediglich die Ausgeruhtheit – Kranarchs und Gnarfis bemerkbar, und fast wäre es den beiden gelungen, ihre Gegner über den Rand zu drängen. Fafhrd traf ein Schwerthieb, der in Rippenhöhe durch die dicke Wolfspelzjacke drang, ins Fleisch schnitt und erst an den Knochen abprallte. Aber dann machte sich die Geschicklichkeit bezahlt, wie es üblicherweise der Fall ist, und die zwei Braungekleideten mußten viele Wunden einstecken, ehe sie plötzlich die Flucht ergriffen und durch das große dreieckige Tor des Nadelöhrs rannten. Im Laufen kreischte Gnarfi: »Graah! Kruk!« »Zweifellos ruft er nach ihren zottigen Dienern oder Trägern«, keuchte der Mausling, während er erschöpft den Schwertarm auf das Knie stützte. »Wie
fette Landleute sahen sie aus, wohl kaum in Waffen ausgebildet. Ich denke nicht, daß wir sie sonderlich fürchten müssen, selbst wenn sie auf Gnarfis Ruf erscheinen.« Fafhrd nickte, ebenfalls keuchend. »Aber es ist ihnen gelungen, die Sternhöh zu erklimmen«, meinte er besorgt. In diesem Moment galoppierten die beiden Braunen auf ihren Hinterbeinen durch das Nadelöhr. Ihre Nägel scharrten über den windgefegten Fels, ihre weit aufgerissenen Rachen mit den scharfen Fängen geiferten, und die gewaltigen Prankenarme hatten sie wie zur Umarmung ausgebreitet. Die beiden waren – riesige Braunbären! Mit einer Geschwindigkeit, zu der ihre menschlichen Gegner sie nicht hatten anstacheln können, packte der Mausling Kranarchs Bogen und schickte zwei Pfeile ab, während Fafhrd seine Axt in schimmerndem Kreis schwang und warf. Dann sprangen die Kameraden nach zwei verschiedenen Seiten. Der Mausling schwang Skalpell, und Fafhrd zog seinen Dolch. Aber es kam zu keinem weiteren Kampf. Des Mauslings erster Pfeil hatte den vorderen Bären im Hals getroffen und der zweite durch den klaffenden Rachen das Gehirn. Und Fafhrds Axt hatte sich bis zum Schaft zwischen zwei Rippen des hinteren Bären eingegraben. Die mächtigen Tiere stürzten blutend zu Boden und rollten in ihrem Todeskampf über den Felsrand. »Zweifellos beides Weibchen«, bemerkte der Mausling, während er ihnen nachblickte. »Von diesen Tiermenschen von Illik-Ving. Aber es ist eine Lei-
stung, sie so auszubilden, daß sie Lasten tragen und Bergsteigen und sogar noch ihr Leben geben ...« »Kranarch und Gnarfi sind keine fairen Kämpfer, das steht jetzt fest«, erklärte Fafhrd. »Also lob sie nicht auch noch!« Er schob einen Stoffetzen durch das Loch in seiner Jacke auf die Wunde, die daraufhin offenbar so sehr schmerzte, daß er das Gesicht grauenvoll verzog und wütend zu fluchen anfing. Dann schauten die beiden Kameraden sich unter dem hohen zeltgleichen Schneedach um, um ihr Reich zu begutachten – das höchste von ganz Nehwon –, das sie sich hier erobert hatten, ohne in ihrer leicht beschwingten Müdigkeit in diesem Augenblick des Triumphs an die Unsichtbaren zu denken, die die Herren der Sternhöh waren. Schließlich machten sie sich wachsam auf den Weg, doch wiederum auch nicht allzu wachsam, denn Gnarfi und Kranarch hatten voll Angst die Flucht ergriffen und waren mehr als nur leicht verwundet, außerdem hatte letzterer seinen Bogen zurückgelassen. Sternhöhs Gipfel hinter dem großen, schrägen Schneewall der Kappe war von Norden nach Süden fast genauso weit wie der des Obelisken Polaris, während der Ostrand weniger als einen langen Bogenschuß entfernt zu sein schien. Dicker Harsch unter einer Schicht weicheren Schnees bedeckte ihn fast völlig, außer am Nordende und an einigen Strecken am Ostrand, wo kahler, dunkler Fels zu sehen war. Die Oberfläche war sowohl an den schneebedeckten als auch den felsigen Stellen fast noch glatter als die des Obelisken und fiel vom Norden nach Süden leicht schräg ab. Weder irgendwelche Bauwerke noch Lebewesen waren zu sehen, auch keine Höhlen oder
Mulden, wo letztere sich vielleicht versteckthalten mochten. Der Mausling konnte sich genausowenig wie Fafhrd erinnern, je zuvor einen einsameren oder öderen Ort gesehen zu haben. Das einzige Merkwürdige, auf das sie anfangs aufmerksam wurden, waren drei Löcher im Schnee, ein wenig im Süden, jedes etwa so groß wie ein Weinfaß, doch von der Form eines gleichseitigen Dreiecks, das offenbar durch den Schnee zum Gestein hinunterführte. Die drei waren wie die Spitzen eines weiteren dreiseitigen Dreiecks angeordnet. Der Mausling schaute sich angestrengt um, ehe er die Schultern zuckte. »Nun, ein Beutel voll Sterne kann recht klein sein, nehme ich an, und die Größe eines Lichtherzens läßt sich wohl schlecht abschätzen.« Der ganze Gipfel war in bläulichen Schatten getaucht, von dem nur das nördlichste Ende ausgeschlossen war und ein breiter Streifen goldenen Lichtes der untergehenden Sonne vom Nadelöhr quer über den windgeebneten Schnee zum Ostrand. Diese breite Sonnenstraße entlang führten die Fußabdrücke Kranarchs und Gnarfis, und in ihrer Nähe waren hin und wieder Blutflecken zu erkennen. Fafhrd und der Mausling folgten dieser Fährte ostwärts, ihren langen Schatten nach. »Nichts von ihnen zu sehen«, brummte der Mausling. »Hat ganz den Anschein, als gäbe es tatsächlich einen Weg die Ostwand hinunter, und sie haben ihn genommen – zumindest so weit, daß sie uns wieder einen Hinterhalt stellen können.« Als sie sich dem Ostrand näherten, sagte Fafhrd: »Ich sehe eine Fährte, die nordwärts führt – eine
Speerwurflänge in diese Richtung. Vielleicht sind sie abgebogen.« »Aber wohin?« wunderte sich der Mausling. Ein paar Schritte weiter bekamen sie die Antwort auf gräßliche Weise. Sie erreichten das Ende der Schneeschicht, und dort, auf dem dunklen, blutbesudelten Gestein – bis jetzt von Schneewehen verborgen – lagen die Leichen von Gnarfi und Kranarch, zum Teil der Kleidung entblößt und grauenvoll verstümmelt. Während der Mausling die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken versuchte, erinnerte er sich an Keyairas leichthin gesprochene Worte, daß ihr Vater sich auf seine Weise ihres Samens bemächtigen würde, sobald sie auf dem Gipfel der Sternhöh angelangten. Kopfschüttelnd und mit wildem Blick schritt Fafhrd um die Leichen herum zum Ostrand und spähte hinunter. Er wich zusammenzuckend zurück, dann kniete er sich nieder und blickte erneut hinunter. Des Mauslings hoffnungsvolle Theorie erwies sich als so falsch, wie es überhaupt nur möglich war. In seinem ganzen Leben hatte Fafhrd bisher nie in eine solche Entfernung geradeaus hinuntergeschaut. Dutzend Fuß vom Rand entfernt schwang die Ostwand nach innen. Es war unmöglich zu erkennen, wie weit die Ostkrempe über den eigentlichen Berg vorsprang. Von diesem Punkt gesehen, würde man bestimmt fünf Lankhmar-Meilen, wenn nicht mehr, direkt in die grünliche Düsternis des Großen Klufttals stürzen. Er hörte den Mausling über seine Schulter sagen:
»Ein Weg für Vögel und Selbstmörder, nichts anderes.« Plötzlich wurde das Grün unten hell, doch ohne daß man die geringste Einzelheit sehen konnte, außer einem silbernen Faden, der ein breiter Fluß in Talmitte sein mochte. Als beide hochblickten, sahen sie, daß der Himmel sich von der nachglühenden Abendröte golden gefärbt hatte. Sie drehten sich ganz um und rissen staunend die Augen weit auf. Die letzten Sonnenstrahlen, die durch das Nadelöhr kamen, verliefen südwärts und ein bißchen nach oben. Sie beleuchteten eine durchsichtige, feste Form, so groß wie die größte Eiche, die genau über den drei dreieckigen Löchern im Schnee ruhte. Sie konnte nur als scharfzackiger Stern mit etwa achtzehn Spitzen beschrieben werden, der mit drei Zacken auf Sternhöh aufsaß und aus einem makellosen Diamanten oder ähnlichem geschnitten war. Beide Männer dachten dasselbe: Das muß der Stern sein, den die Götter nicht in den Himmel geschickt hatten. Der Sonnenschein hatte das Feuer in seinem Herzen berührt und zum Leuchten gebracht, doch nur kurz und schwach, nicht brennend und für immer, wie es am Himmel der Fall gewesen wäre. Ein durchdringend schrilles Schmettern, wie von einer silbernen Trompete, brach die Stille auf dem Gipfel. Sie blickten nordwärts. Im gleichen tiefgoldenen Sonnenschein hob sich noch etwas anderes ab, zwar geisterhafter als der Stern, doch gegen den gelben Himmel teilweise deutlich zu erkennen: eine hohe schlanke Burg, deren durchsichtige Mauern dem steinigen Ende des Gipfels zu entwachsen und deren
höchste Türme im Himmel zu verschwinden schienen. Ein neuer Laut erklang: ein heulendes Knurren. Ein bleiches Tier schoß aus Nordwesten über den Schnee auf sie zu. Mit einem weiteren Knurren wich es den Leichen aus, und schon raste Hrissa mit einem dritten Knurren an ihnen vorbei. Fast zu spät wurden sie sich der Gefahr bewußt, vor der sie sie zu warnen versucht hatte. Aus Westen und Norden näherten sich ihnen etwa zwanzig Paar Fußabdrücke im Schnee, doch waren keine Beine zu sehen, keine Körper darüber, trotzdem kamen sie heran – rechter Fußabdruck, linker, und immer schneller. Und nun fiel ihnen auf, was ihnen anfangs entgangen war: Über jedem Abdruckpaar deutete ein schmaler Speer mit scharfer Spitze in ihre Richtung, und er war so flink wie die Abdrücke. Da folgten sie Hrissa hastig südwärts, Fafhrd voraus. Nach einem halben Dutzend langer Schritte hörte der Nordmann einen Aufschrei hinter sich. Er blieb stehen und wirbelte herum. Der Mausling war im Blut ihrer toten Gegner ausgerutscht und gestürzt. Als er wieder auf die Beine kam, waren die grauen Speerspitzen rings um ihn, außer auf der Abgrundseite. Er schlug abwehrend mit Skalpell um sich, doch die Speere kamen unerbittlich näher. Und schon schlossen sie einen engen Halbkreis um ihn, während er ganz am Rand stand. Noch weiter stießen sie vor, und um ihnen zu entgehen, sprang der Mausling notgedrungen rückwärts – und fiel hinunter. Fafhrd vernahm ein Rauschen hinter sich, dann strich etwas Haariges an seiner Wade vorbei. Als er
sich daranmachte, auf die Unsichtbaren zuzustürmen, um ein oder zwei zu töten und so seinen Freund zu rächen, legten sich unsichtbare Arme von hinten um ihn, und er hörte Hirriwis silberne Stimme dicht am Ohr: »Vertrau uns!« Und eine andere, tiefere Mädchenstimme sagte: »Ihm nach!« Und schon wurde er auf ein unsichtbares, zottiges Bett, etwa drei Handbreit über dem Boden, gezogen. »Festhalten«, wiesen die Mädchen ihn an, und er krallte sich in das dicke, unsichtbare Zottelhaar. Dann schoß das lebende Bett vorwärts über den Schnee und über den Felsrand. Es kippte fast senkrecht, daß seine Beine zum Himmel deuteten und sein Gesicht zum Großen Klufttal – und schon tauchte das Bett lotrecht hinunter. Die dünne Luft brauste vorbei, und sein Bart und seine Mähne wurden durch die Schnelligkeit des Falls zurückgepeitscht. Er verstärkte seinen Griff um die Büschel unsichtbaren Zottelhaars, und ein unsichtbarer Arm drückte ihn von beiden Seiten auf das große teppichähnliche, unsichtbare Geschöpf, auf dem sie lagen, und er hörte ganz deutlich seinen pochenden Herzschlag. Da wurde ihm auch erst bewußt, daß sich Hrissa irgendwie unter seinen Arm gekuschelt hatte, denn neben seiner Wange befand sich ein kleines Katzengesicht mit Schlitzaugen, Barthaaren und Haarbüscheln an den Ohren, die der Luftzug ebenfalls zurückpeitschte. Und er spürte auch die Körper der unsichtbaren Mädchen zu beiden Seiten. Hätte es menschliche Zuschauer gegeben, würden sie nur einen großen Mann mit einer weißen Katze unter dem Arm gesehen haben, der kopfüber in die Tiefe stürzte – aber noch weit schneller, als ein
Mensch normalerweise selbst aus einer solchen Höhe fallen dürfte. Hirriwi neben ihm lachte, als ahnte sie seine Gedanken. Doch dieses Lachen brach abrupt ab, und der pfeifende Wind erstarb zu fast absoluter Stille. Fafhrd führte das darauf zurück, daß die zunehmend dichter werdende Luft ihn taub gemacht hatte. Die dunklen Felszacken, die ein paar Dutzend Fuß entfernt nach oben zu schießen schienen, wirkten verschwommen, aber das Große Klufttal unter ihm war immer noch ein ungebrochenes Grün – nein, größere Einzelheiten begannen sich bereits abzuzeichnen: Wälder und Lichtungen, haarfeine Flüsse, die sich dahinschlängelten, und Seen, die nicht größer als Tautropfen waren. Zwischen ihm und dem Grün unten bemerkte er einen dunklen Punkt, der zusehends wuchs. Es war der Mausling, und – typisch für ihn – er fiel kopfüber, pfeilgerade, mit ausgestreckten Armen, fest zusammengedrückten Handflächen und Beinen – vermutlich in der leisen Hoffnung er würde in tiefes Wasser tauchen. Das Geschöpf, auf dem sie lagen, paßte sich des Mauslings Geschwindigkeit an, dann stieß es allmählich auf ihn zu, bis er dagegen drückte. Sichtbare und unsichtbare Arme griffen nach ihm und hielten ihn fest, bis alle fünf eng aneinandergepreßt auf dem großen lebenden Bett lagen. Das Flugwesen ging allmählich in die Waagerechte und hielt seinen Fall auf, so daß einen langen Augenblick alle mit verkrampftem Magen heftig auf den haarigen Rücken gequetscht wurden, während ihnen die Bäume immer noch entgegenbrausten – und dann
flogen sie über die Wipfel dieser Bäume und schließlich hinunter auf eine große Lichtung. Was Fafhrd und dem Mausling als nächstes passierte, ging alles viel zu schnell. Sie rutschten von dem lebenden Teppich hinunter ins weiche Gras, würzige Luft umschmeichelte sie, hastige Küsse wurden ausgetauscht, das Lachen und die Glückwünsche der Mädchen klangen immer noch gedämpft, wie von Geisterstimmen, in ihren Ohren, etwas Hartes, Ungleichmäßiges in weicher Hülle wurde in des Mauslings Hand gedrückt, ein letzter Kuß, ehe Hirriwi und Keyaira sich aus den Armen der Männer lösten. Ein Luftstoß drückte das Gras flach, dann war das große unsichtbare Flugwesen verschwunden und die Mädchen mit ihm. Doch eine Weile wußten sie noch, wo es sich auf seinem Spiralenflug befand, denn auch Hrissa war mit ihm davongeflogen. Die Eiskatze schien abschiednehmend zu ihnen herunterzublicken. Aber auch sie verschwand, als das goldene Nachglühen vom dunkler werdenden Himmel verschluckt wurde. Sich stützend aneinanderlehnend, standen die beiden Männer im Dämmerlicht, ehe sie sich aufrichteten, ausgiebig gähnten, und ihr Gehörsinn wiederkam. Da vernahmen sie das Gurgeln eines Baches, Vogelzwitschern, das Rascheln trockener Blätter, das sich von ihnen entfernte, und das leise Summen einer kreisenden Mücke. Der Mausling öffnete den unsichtbaren Beutel in seiner Hand. »Auch die Edelsteine scheinen unsichtbar zu sein«, sagte er. »Fühlen kann man sie allerdings sehr gut. Ich fürchte nur, es wird schwierig sein, sie zu verkaufen – außer an einen blinden Goldschmied.«
Die Dämmerung wurde zur Dunkelheit. Winzige, kalte Feuer begannen auf seiner Handfläche zu glühen: rubinrot, smaragdgrün, saphirblau, amethystfarben und reinweiß. »Nein, bei Issek!« rief der Mausling erfreut. »Wir brauchen sie nur des Nachts zu veräußern – und das ist ohnedies die beste Zeit für einen Handel mit Edelsteinen.« Der eben erst aufgegangene Mond, der zwar selbst hinter den niedrigeren Randbergen des Klufttals im Osten nicht zu sehen war, warf seinen bleichen Schein auf die obere Hälfte der großen schlanken Säule der Ostwand Sternhöhs. Fafhrd, der diesen majestätischen Anblick genoß, sagte: »Bezaubernde Damen, alle vier.« Aus dem Amerikanischen übersetzt von Lore Strassl
Die besten Diebe von Lankhmar Durch die Straßen und Gassen der großen Stadt Lankhmar huschten die ersten Vorläufer der Nacht, deren sternenbesetzter schwarzer Mantel sich noch nicht völlig um ihre Gebäude geschlungen hatte – ein Mantel, auf dem noch die hellen, hochaufragenden Strahlen des Sonnenuntergangs nachwirkten. Die Drogen- und Alkoholhändler, die sich am Tage nicht auf den Straßen sehen lassen durften, hatten ihr Glöckchenläuten und ihre Lockrufe noch nicht aufgenommen. Die roten Laternen waren noch dunkel, und die Freudenmädchen ließen sich noch nicht blicken. Bravados, Gesetzlose, Erpresser, Spione, Zuhälter, Betrüger und die anderen Übeltäter der Stadt gähnten und rieben sich den Schlaf aus den Augen. Die meisten, die sich in der Nacht betätigen würden, waren noch beim Frühstück, während die Tagmenschen beim Abendessen saßen. Dies rief auf den Straßen eine Stille hervor, die der Nacht den Weg ebnete. Und mit Einbruch der Dunkelheit entstand an der Kreuzung der Silberstraße mit der Straße der Götter eine dunkle Stelle, an der sich die jüngeren Kräfte und die erfahrenen Fachleute der Diebeszunft zu treffen pflegten; auch die wenigen freischaffenden Diebe, die der Zunft zu widerstehen wagten, und die Handvoll aristokratischer Diebe trafen sich dort, zuweilen brillante Amateure, die von der Zunft geduldet wurden, weil ihre vornehme Herkunft dem sonst vielgeschmähten Stand doch etwas Ansehen verlieh. Dort, wo diese dunkle Kreuzung am dunkelsten war, an einer Mauer, an der niemand das Gespräch
mithören konnte, kamen ein großer und ein etwas zu kurz geratener Dieb zusammen und begannen flüsternd zu beratschlagen. Fafhrd und der Graue Mausling hatten den Stardock bestiegen, einen hohen Gipfel im Hinterland der EisÖde – ein Abenteuer, von dem an anderer Stelle berichtet wird. Ihre Suche nach dem sagenhaften Schatz der Sterne – unsichtbare Juwelen, die in der Nacht funkelten – war erfolgreich gewesen, und sie hatten sich mit schwerer Last auf den Heimweg gemacht. Doch unterwegs war ein gewisser Unfriede zwischen den Freunden entstanden. Sie waren einfach zu lange zusammen gewesen – ein Gefühl, das sich in immer heftiger werdenden Streitigkeiten über die unsichtbaren Juwelen entlud. Sie wußten sich nicht zu einigen, wo sie sie absetzen sollten. Es war schließlich soweit gekommen, daß sie die Juwelen aufgeteilt hatten. In Lankhmar angekommen, waren sie auseinandergegangen, hatten sich getrennte Unterkünfte gesucht und auch getrennte Anstrengungen unternommen, einen Juwelier, Hehler, oder privaten Interessenten zu finden. Durch diese Trennung war ihre Freundschaft auf die Probe gestellt worden, ohne allerdings ihre gegenseitige Wertschätzung wirklich ins Wanken zu bringen. »Sei gegrüßt, mein Kleiner«, knurrte Fafhrd jetzt. »Du willst deinen Anteil also an Ogo den Blinden verkaufen oder ihm deine Schätze wenigstens zeigen – wenn man das bei einem Blinden überhaupt sagen kann.« »Woher weißt du das?« fragte der Mausling erregt. »Ist doch ganz klar«, erwiderte Fafhrd etwas herablassend. »Es geht darum, die Juwelen einem Händ-
ler zu verkaufen, der weder merkt, daß sie in der Nacht schimmern, noch daß sie am Tage unsichtbar sind. Einem Händler, der sie allein danach beurteilt, wie sie sich anfühlen, was sie wiegen oder was sich damit ritzen läßt. Außerdem stehen wir hier direkt gegenüber Ogos Haus. Seine Tür ist übrigens sehr gut bewacht: Mindestens zehn Mingol-Schwertkämpfer stehen bereit.« »Na, du darfst mir zutrauen, daß ich von solchen sattsam bekannten Tatsachen schon gehört habe«, erwiderte der Mausling sarkastisch. »Also gut, du hast richtig geraten; anscheinend hat dir unser langes Zusammensein doch ein Gefühl dafür gegeben, wie mein kluges Köpfchen funktioniert. Ja, ich habe schon eine Unterredung mit Ogo gehabt und hoffe, daß wir das Geschäft heute abend abschließen können.« Fafhrd fragte freundlich: »Ist es wahr, daß Ogo seine Gespräche stets in absoluter Dunkelheit führt?« »Ho! Es gibt also noch Dinge, von denen du offen zugibst, sie nicht zu kennen! Ja, es stimmt – was jedes Gespräch mit Ogo natürlich riskant macht. Indem er auf der pechschwarzen Dunkelheit besteht, macht der blinde Ogo auf einen Streich sämtliche Vorteile des Sehenden zunichte. Im Grunde geht dieser Vorteil sogar auf Ogo über, da er seit frühester Kindheit an die Dunkelheit gewöhnt ist, und nach seiner Stimme zu urteilen, liegt diese Kindheit lange zurück. Nein, Ogo weiß nicht, was Dunkelheit ist, da er etwas anderes überhaupt nicht kennt. Ich habe mir aber etwas ausgedacht, ihn notfalls hereinzulegen. In meinem dicken Gürtelbeutel hier trage ich kleine brennende GlühholzStücke, die ich im Handumdrehen ausschütten könnte.«
Fafhrd nickte bewundernd und fragte dann: »Und was hast du da für einen flachen Kasten unter dem Arm? Eine geschickt gefälschte Geschichte für jeden einzelnen Edelstein, in Pergament gestanzt, damit Ogo den Text lesen kann?« »Jetzt hast du falsch geraten! Nein, das sind die Juwelen selbst, gut geschützt, damit sie mir niemand mausen kann. Hier, schau dir's an.« Und nachdem er sich hastig nach links und rechts umgesehen und auch einen Blick nach oben geworfen hatte, öffnete der Mausling den Kasten eine Handbreit; der Deckel ließ sich an Scharnieren aufklappen. Fafhrd erblickte die in allen Regenbogenfarben schillernden Edelsteine kunstvoll verteilt auf schwarzem Samt; über ihnen erstreckte sich ein Innendeckel aus einem schwarzen, haltbaren Drahtgeflecht. Der Mausling klappte den Kasten zu. »Bei unserem ersten Treffen nahm ich zwei der kleinsten Juwelen aus ihren Vertiefungen in der Kiste und gab sie Ogo zum Befühlen und Prüfen. Er mag sich einbilden, mir den Schatz stehlen zu können, aber meine Kiste und das Netz verhindern das.« »Es sei denn, er nimmt dir den ganzen Kasten ab«, stimmte Fafhrd zu. »Was mich angeht, so habe ich mir meinen Anteil an dem Schau angekettet.« Er vergewisserte sich auf ähnliche Weise wie der Mausling, daß die Luft rein war, schob seinen weiten linken Ärmel zurück und zeigte seinem Freund ein festes Eisenband, das sich um sein Handgelenk zog. An diesem Band hing eine lange Kette, an dem ein kleiner, runder, prallgefüllter Beutel befestigt war, der durch die Kettenglieder auch noch zugebunden wurde. Das Leder des Beutels war ringsum mit feinem braunem
Draht durchwebt. Er ließ das Armband aufspringen, das ein Scharnier hatte, und schloß es wieder. »Der Draht soll alle Beutelschneider abschrecken«, erklärte Fafhrd leichthin und zog den Ärmel wieder über seinen Schatz. Der Mausling hob die Augenbrauen. Dann folgten seine Augen dieser Bewegung, indem sein Blick von Fafhrds Handgelenk zu seinem Gesicht hochwanderte. Er sah seinen Freund fragend an. »Und du verläßt dich auf solche Hilfen für den Schutz deiner Juwelen vor der Dämmrigen Nemia?« »Woher weißt du, daß ich mit Nemia verhandelt habe?« fragte Fafhrd nicht ohne Überraschung. »Weil sie Lankhmars einzige Hehlerin ist, deshalb. Und alle wissen, daß du am liebsten mit Frauen zu tun hast – geschäftlich wie auch sonst. Was eine deiner größten Schwächen ist, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Auch wohnt die überreife Nemia unmittelbar neben Ogo, wenn das auch nur ein nebensächlicher Hinweis ist. Vermutlich weißt du, daß sie sich von sieben kleshitischen Kämpfern bewachen läßt! Wenigstens ahnst du nun, in welche Falle du da rennst. Mit einer Frau Geschäfte zu machen ist der sicherste Weg in den Untergang! Aber du hast in der Vergangenheit gesprochen – ist das etwa heute deine zweite Begegnung mit ihr?« Fafhrd nickte. »Wie bei dir ... Soll ich deinen Worten übrigens entnehmen, daß du den Männern vertraust, nur weil sie Männer sind? Das wäre ein größerer Fehler, als du ihn mir zuschreibst. Jedenfalls spreche ich die Dämmrige Nemia heute zum zweitenmal, so wie auch du schon einmal mit Ogo verhandelt hast. Beim erstenmal zeigte ich ihr die Juwelen in ei-
nem zwielichtigen Zimmer, wo sie besonders vorteilhaft erschienen; sie schimmerten fast normal. Wußtest du übrigens daß Nemia immer im Zwielicht arbeitet? Nicht umsonst hat man ihr diesen Namen gegeben. Nemia war sofort an meinen Edelsteinen interessiert, als sie sie zu Gesicht bekam – ihr hat wahrlich der Atem gestockt –, und hat meinen Preis, der nicht gerade niedrig ist, sofort als Ausgangspunkt für weitere Verhandlungen akzeptiert. Sie hat es sich jedoch zur Regel gemacht, ein Geschäft mit einem Mann niemals zu beenden, ohne den Partner auch in einer bestimmten Hinsicht auf die Probe zu stellen. Daher dieses zweite Zusammentreffen. Wenn der Handelspartner alt oder häßlich ist, überträgt Nemia einem ihrer Mädchen diese Aufgabe, aber auf jeden Fall wird ...« Fafhrd hustete bescheiden. »Noch etwas möchte ich dir sagen: ›Überreif‹ ist der falsche Ausdruck. ›Voll erblüht‹ wäre richtiger.« »Glaub mir, ich bin wohl überzeugt, daß Nemia in voller Blüte steht – eine späte Augustblüte allerdings. Solche Frauen ziehen es immer vor, ihre ›ausgereiften‹ Reize im Halbdunkel zu präsentieren«, erwiderte der Mausling etwas gepreßt. Er hatte sich Mühe geben müssen, um nicht lachend herauszuplatzen, doch jetzt konnte er nicht mehr an sich halten. »Du Narr! Du bist wirklich einverstanden, mit ihr ins Bett zu gehen? Und glaubst wahrlich, daß dir dabei deine Juwelen – einschließlich des Familienschmucks – nicht abhanden kommen? Geschweige denn, daß du das Leben nicht verlierst, während du dich nicht wehren kannst? Oh, das ist ja schlimmer, als ich befürchtete.«
»Ich bin im Bett nicht immer so hilflos, wie sich manche Leute vorstellen«, erwiderte Fafhrd bescheiden. »Bei mir führt das Liebesspiel eher dazu, daß meine Sinne geschärft werden – und nicht umgekehrt. Ich will nur hoffen, daß du mit deinem Mann in der Nachtschwärze ebensoviel Glück hast wie ich mit meiner Halbdämmer-Frau. Warum mußtest du übrigens zweimal mit Ogo sprechen? Nicht aus Nemias Grund, will ich hoffen!« Das Lächeln des Mauslings schwand, und er biß sich auf die Lippen. Beiläufig sagte er: »Oh, die Juwelen müssen Ogos ›Auge‹ vorgelegt werden – das ist etwas, das er sich zur Regel gemacht hat. Aber was für Tests da auch angestellt werden, ich bin vorbereitet, seine Listen zu übertreffen.« Fafhrd überlegte einen Augenblick und fragte: »Und wer oder was ist Ogos ›Auge‹? Hat er ein paar zur Reserve in seinem Beutel?« »Oh«, sagte der Mausling und fügte noch beiläufiger hinzu: »Irgend so ein Mädchen, glaube ich. Hat wohl eine Intuition in bezug auf Juwelen. Es ist wirklich interessant, daß ein Mann vom Kaliber Ogos an solchen abergläubischen Unsinn glaubt, nicht wahr? Oder sich überhaupt auf das schwache Geschlecht verläßt.« »Irgend so ein Mädchen«, überlegte Fafhrd und nickte. »Diese Beschreibung entspricht bis auf das letzte Tüpfelchen der Art Frau, der du in den letzten Jahren immer wieder verfallen bist. Aber natürlich hat dieses Geschäft nichts mit amourösen Dingen zu tun, da bin ich ganz sicher«, fügte er langsam hinzu. »Aber keineswegs«, erwiderte der Mausling etwas zu scharf. Er sah sich um und bemerkte: »Wir be-
kommen Gesellschaft, obwohl es noch früh ist. Da ist Dickon von der Diebeszunft, der alte Kritler und Grundrißzeichner, wenn es um Raubzüge in unbekannten Häusern geht – ich möchte wetten, daß er seit dem Jahr der Schlange keinen Coup mehr mitgemacht hat. Und da ist auch der dicke Grom, Unterschatzmeister der Zunft, noch so ein Schreibtischdieb. Wer kommt da so dramatisch angeschlichen – bei den Schwarzen Knochen – Snarve, der Neffe unseres Oberherrn Glipkerio! Und mit wem spricht er? Oh, mit Beutelschneider Tork.« »Und jetzt erscheint«, fuhr Fafhrd fort, »Vlek, der angeblich der führende Dieb der Zunft ist. Sieh doch, wie er lächelt! Außerdem knirschen seine Schuhe. Und dort, die schwarzhaarige Gestalt mit den grauen Augen, Alyx die Einbrecherin – na, wenigstens quietschen ihre Stiefel nicht, und ich muß sagen, mir imponiert, daß sie sich hierherwagt, da die Zunft gegen weibliche Selbständige ziemlich allergisch ist. Und da, wer biegt dort von der Straße der Götter ein? Niemand andere als Herzogin Kronia von den Siebenundsiebzig Taschen, die sich bei ihren Diebstählen vom Wahnsinn und nicht von irgendeiner Methode leiten läßt. Na, da hast du eine Frau, der ich niemals trauen würde, trotz ihrer Reize und der Schwäche, die du mir zuschreibst.« Der Mausling nickte und sagte: »Und diese Typen werden nun die Aristokratie der hiesigen Diebeswelt genannt! In aller Offenheit muß einmal gesagt werden, daß trotz deiner Fehler – die du erfreulicherweise eingestehst – in diesem Augenblick einer der beiden besten Diebe Lankhmars neben mir steht. Während der andere, muß ich das noch sagen, natürlich in
meinen Rattenfellstiefeln steckt.« Fafhrd erwiderte das Nicken und kreuzte nachdenklich zwei Finger. Der Mausling unterdrückte ein Gähnen und sagte: »Hast du dir übrigens schon überlegt, was du tun willst, wenn dir die Juwelen vom Handgelenk gestohlen sind oder wenn du sie – was ich für unwahrscheinlicher halte – tatsächlich verkauft hast? Man hat mich auf einen kleinen Ausflug nach ... in Richtung Osten angesprochen.« »Wo es noch heißer ist als in dieser Treibhausstadt? So eine Expedition erscheint mir wenig reizvoll«, erwiderte Fafhrd und fügte beiläufig hinzu: »Ich habe ohnehin daran gedacht, mir ein Schiff nach ... äh ... Norden zu nehmen.« »Schon wieder in die schreckliche Eiswüste? Nein, vielen Dank!« erwiderte der Mausling. Dann blickte er durch die Silberstraße nach Süden, wo ein heller Stern dicht über dem Horizont stand, und fuhr hastig fort: »Also, es wird jetzt Zeit für meinen Besuch bei Ogo – und bei diesem dummen Mädchen, seinen Augen. Nimm dein Schwert mit ins Bett, rate ich dir, und sieh zu, daß dir in Nemias Dämmerung weder Graywand noch deine wichtigere Klinge abhanden kommen.« »Oh, das Aufgehen des Walsterns ist also auch die Zeit deiner Verabredung?« fragte Fafhrd und drückte sich von der Wand ab. »Weiß überhaupt jemand, wie Ogo wirklich aussieht? Irgendwie muß ich bei dem Namen an eine alte, dicke Spinne denken!« »Zähme bitte deine Phantasie«, erwiderte der Mausling scharf. »Oder heb sie dir für dein eigenes Geschäft auf. Ich darf dich erinnern, daß die einzig
wirklich gefährliche Spinne die Frau ist. Nein, Ogos Aussehen ist unbekannt. Aber heute nacht werde ich es vielleicht enthüllen!« »Dein hervorstechender Fehler scheint eine übergroße Neugier zu sein«, sagte Fafhrd. »Außerdem kannst du dich selbst beim dümmsten Mädchen nicht darauf verlassen, daß sie immer dämlich handelt.« Der Mausling fuhr herum und sagte: »Wie unsere Gespräche auch ausgehen – wir können uns ja hinterher treffen. Im Silbernen Aal?« Fafhrd nickte, und sie schüttelten sich die Hände. Dann näherten sich die beiden den Türen, hinter denen ihre Verhandlungspartner warteten. Der Mausling duckte sich etwas, alle Sinne angespannt. Pechschwarze Dunkelheit umgab ihn. Auf einer Oberfläche vor ihm – seine Hände hatten ihm verraten, daß es sich um eine Tischplatte handelte – lag sein Juwelenkasten, noch geschlossen. Seine linke Hand berührte ihn. Seine Rechte hielt Katzenklaue umfaßt, und mit dieser Waffe bedrohte er die undurchdringliche Schwärze ringsum. Eine Stimme, die zugleich trocken und schwer klang, krächzte hinter ihm: »Öffne den Kasten!« Beim Klang der entsetzlichen Stimme lief dem Mausling ein Schauer über den Rücken. Das bunte Licht der drahtversperrten Juwelen strahlte auf und offenbarte die niedrige Decke des ziemlich großen Zimmers. Der Raum schien außer dem Tisch kein Mobiliar zu enthalten. Ein unbestimmter schwarzer Umriß in der Ecke hinter dem Mausling beunruhigte ihn. Vielleicht handelte es sich um ein dickes schwarzes Kissen. Oder es war ... Der Mausling wünschte,
Fafhrd hätte seine letzte Vermutung für sich behalten. Vor ihm ertönte nun eine hellklingende, angenehme Stimme, die völlig anders war als die erste. »Deine Juwelen sind einzigartig; sie leuchten sogar in der Dunkelheit.« Der Mausling starrte in die Schwärze jenseits des Tisches, vermochte den zweiten Rufer jedoch nicht auszumachen. Er bemühte sich, seine Stimme selbstbewußt und zuversichtlich klingen zu lassen, und antwortete in die Leere: »Meine Edelsteine sind wirklich einzigartig – sie stammen auch nicht von dieser Welt, bestehen sie doch aus dem Stoff, aus dem auch die Sterne gemacht sind. Und du weißt durch einen Versuch, daß sie dennoch härter sind als Diamanten.« »Die Steine sind überirdisch schön«, erwiderte die helle Stimme. »Mein Geist durchdringt sie immer wieder, und deine Beschreibung entspricht der Wahrheit. Ich rate Ogo, deinen Preis zu zahlen.« In diesem Augenblick hörte der Mausling hinter sich ein leises Husten und ein kurzes Rascheln. Zu sehen war nichts – mit Ausnahme des Kissens oder was es war, das sich überhaupt nicht bewegt hatte. Auch das Rascheln hörte auf. Der Mausling fuhr hastig herum, und auf der anderen Tischseite, von den schimmernden Steinen angestrahlt, stand ein schlankes nacktes Mädchen mit hellem, glatt herabfallendem Haar. Sie hatte dunkle Haut und riesige verträumte Augen, die ein süßes Kindergesicht bestimmten. Sie hatte ein schmales Kinn und geschürzte Lippen. Der Mausling überzeugte sich mit schnellem Blick, daß die Juwelen unberührt waren unter ihrem Drahtnetz und hob Katzenklaue, bis seine Spitze die Haut
zwischen den kleinen, vorspringenden Brüsten berührte. »Du darfst mich nicht so erschrecken!« zischte er. »Ja, viele Männer – und auch Mädchen – sind schon aus unwichtigeren Anlässen gestorben.« Das Mädchen rührte sich um keine Haaresbreite; auch veränderte sich weder ihr Gesichtsausdruck noch ihr träumerischer, geradewegs auf ihn gerichteter Blick; nur ihre schmalen Lippen öffneten sich, und sie sagte mit süßer Stimme: »Du bist also der Graue Mausling. Ich hatte einen zernarbten Schurken erwartet und finde – einen Prinzen.« Beim Klang ihrer süßen Stimme, ihre Gegenwart spürend, schienen die Juwelen noch stärker zu glühen, schienen einen Schimmer in ihren hellen Augen zu erzeugen. »Und schmeicheln sollst mir auch nicht!« befahl der Mausling, nahm seinen Kasten und preßte ihn geöffnet an sich. »Ich will dir verraten, daß ich gegenüber den Verlockungen irdischer Nymphen und Nixen immun bin!« »Ich sage doch nur die Wahrheit – wie auch über die Edelsteine«, erwiderte sie furchtlos. Ihre Lippen blieben ein wenig geöffnet, und sie sprach, ohne sie zu bewegen. »Bist du das ›Auge‹ Ogos?« fragte der Mausling hart und nahm zugleich Katzenklaue von ihrer Brust. Es bekümmerte ihn ein wenig, daß die Spitze dort einen winzigen Einschnitt zurückließ, aus dem sich ein Blutfaden einige Zentimeter nach unten zog. Das Mädchen achtete nicht auf die kleine Wunde. Sie nickte. »Und ich vermag dich zu durchschauen wie deine Juwelen, und ich sehe nur Edles – abgesehen von einigen kleinen Impulsen der Gewalt und
Grausamkeit, an denen ein Mädchen wie ich durchaus Gefallen finden mag.« »Und da irren sich deine allesdurchdringenden Augen, denn ich bin ein großer Übeltäter«, erwiderte der Mausling verächtlich, obwohl ihn zugleich ein Schauder der Freude durchrann. Die Augen des Mädchens weiteten sich, und sie schaute seltsam gespannt über seine Schulter. Hinter ihm ertönte wieder die krächzende, trockene Stimme: »Bleibt beim Geschäftlichen! Hm, ich zahle dir den geforderten Preis in Gold, eine Summe, die ich allerdings erst in einigen Stunden zusammenhaben kann. Kehre morgen abend um diese Zeit zurück, dann schließen wir das Geschäft ab. Und jetzt mach deinen Kasten zu.« Der Mausling hatte sich, seinen Schatz umklammernd, beim Klang der Stimme umgewandt. Wieder vermochte er nicht zu erkennen, woher die Laute kamen, so sehr er die Dunkelheit auch zu durchdringen versuchte. Die Stimme schien von der ganzen Wand auszugehen. Jetzt fuhr er wieder herum. Zu seiner Enttäuschung war das nackte Mädchen verschwunden. Er warf einen Blick unter den Tisch, doch dort war niemand. Bestimmt irgendeine Falltür, oder ein hypnotischer Trick ... Mißtrauisch wie eine Schlange verließ er das Haus, wie er es betreten hatte. Bei näherer Untersuchung erwies sich der dunkle Schatten als – Kissen, wie schon vermutet. Als sich die Haustür lautlos vor ihm öffnete, befolgte er hastig Ogos letzten Befehl, ließ den Kasten zuschnappen und setzte sich ab.
Fafhrd betrachtete mit zärtlichem Blick die Frau, die im duftschweren Zwielicht neben ihm lag, ohne allerdings sein Handgelenk mit dem Beutel auch nur eine Sekunde aus dem Auge zu lassen, an dem seine Bettgenossin nun geistesabwesend herumtastete. Um Nemia gerecht zu werden, auch wenn dadurch der Mausling ein wenig ins falsche Licht gerückt wurde – ihre Reize waren nicht überreif – sie waren schlicht ... ausreichend. In diesem Augenblick ertönte hinter Fafhrd ein lautes Zischen. Er wandte hastig den Kopf und starrte in die blauen Augen einer weißen Katze, die neben einer Schale mit Bronze-Chrysanthemen auf dem Nachttisch hockte. »Ixy!« rief Nemia tadelnd. Über dem Klang ihrer Stimme hörte Fafhrd hinter sich in schneller Folge ein doppeltes Klicken, wie von einem Armband, das geöffnet und wieder geschlossen wurde. Er fuhr hastig herum, entdeckte jedoch, daß Nemia neben seinem Eisenband ein zweites Armband um sein Handgelenk geschlungen hatte – einen goldenen Reif, der mit zahlreichen Saphiren und Rubinen besetzt war. Sie starrte Fafhrd durch ihre lang herabfallenden Haarsträhnen an und sagte heiser: »Nur ein kleines Geschenk an einen Mann, der mich ... sehr erfreut hat.« Fafhrd hob sein Handgelenk vor die Augen, um die Gabe zu bewundern, doch um auch seinen Beutel mit den Fingern der anderen Hand abzutasten. Er vergewisserte sich, daß der Beutel so prall gefüllt war wie zuvor, und sagte aus einem plötzlichen
Gefühl heraus: »Ich möchte dir einen meiner Edelsteine schenken.« Und er machte Anstalten, den Beutel zu öffnen. Nemias lange schmale Finger glitten über seinen Arm, hielten ihn zurück. »Nein«, hauchte sie. »Mischen wir die Edelsteine des Geschäfts nicht mit denen des Vergnügens. Wenn du mir allerdings morgen abend ein kleines Geschenk mitbringen möchtest, während wir deine Juwelen gegen mein Geld und meine Kreditbriefe auf Glipkerio austauschen, unterschrieben von Hisvin dem Kornhändler ...« »In Ordnung«, sagte Fafhrd knapp und verbarg seine Erleichterung. Es war idiotisch gewesen, Nemia einen Edelstein anzubieten – und ihr damit einen Tag Gelegenheit zu geben, seine Besonderheit zu ergründen. »Bis morgen dann«, sagte Nemia und öffnete ihre Arme. »Bis morgen«, sagte Fafhrd, umarmte sie, in Gedanken schon auf der Straße. Die Hand, um die der Armreif lief, hielt den Beutel fest umklammert. Die Taverne zum Silbernen Aal war etwa halbvoll. Nur wenige Kerzen brannten, als Fafhrd und der Graue Mausling gleichzeitig durch verschiedene Türen eintraten und auf eine der zahlreichen leeren Nischen zusteuerten. Nur ein Augenpaar folgte ihnen auf ihrem Wege durch das Lokal, graue Augen über einem schmalen bleichen Gesicht, das, von dunklem Haar gerahmt, durch den Vorhangspalt der letzten Nische starrte. Als ihre dicken Tischkerzen angezündet waren, als Trinkbecher und ein Krug starker Wein vor ihnen standen und die Kohle in dem Becken am Ende des
Tisches aufgeschüttet war, stellte der Mausling seinen flachen Kasten auf die Tischplatte und sagte grinsend: »Alles klar. Die Juwelen haben den Test bestanden. Ogos ›Auge‹ ist ein scharfzüngiges Mädchen; aber mehr davon später. Ich bekomme das Geld morgen abend – meine ganze Forderung! Aber was ist mit dir, mein Freund – ich hätte kaum erwartet, dich lebendig wiederzusehen. Komm, laß uns trinken! Ich darf also vermuten, daß du Nemias Bett an Geist und Gliedern heil wieder entronnen bist – soweit du bisher wissen kannst! Und die Juwelen?« »Sie haben es auch überstanden«, erwiderte Fafhrd, ließ den Beutel aus seinem Ärmel schwingen und versteckte ihn wieder. »Und ich bekomme mein Geld ebenfalls morgen abend ... ganz genau meine Preisforderung, so wie du.« Und bei all dieser Übereinstimmung wurde sein Blick doch etwas nachdenklich. Er nahm seinen Weinbecher und trank zwei große Schlucke. Sein nachdenklicher Gesichtsausdruck blieb. Der Mausling musterte ihn neugierig. »Einmal hatte ich das Gefühl, sie wollte den alten Trick anwenden und meinen Beutel gegen ein identisches und völlig wertloses Gebilde austauschen«, sagte er schließlich langsam. »Da sie ihn schon bei unserer ersten Begegnung gesehen hatte, hätte sie mit Leichtigkeit einen ähnlichen Beutel herstellen können, mit Kette und Armband.« »Aber sie hat nicht ...?« fragte der Mausling. »O nein, es war etwas völlig anderes«, sagte Fafhrd leichthin, obwohl ihn plötzlich ein Gedanke zu beschäftigen schien, der ihn die Stirn runzeln ließ. »Seltsam«, bemerkte der Mausling. »Auch bei mir
war es ähnlich. Eine Sekunde lang – nur eine Sekunde, wirklich! – hätte Ogos ›Auge‹, wenn sie sehr schnell und leise gewesen wäre, meine Schachtel austauschen können.« Fafhrd hob die Augenbrauen. Der Mausling fuhr hastig fort. »Aber nur, wenn der Kasten geschlossen gewesen wäre. Doch der stand offen in der Dunkelheit, und es gibt einfach keine Möglichkeit, das bunte Funkeln der Steine nachzuahmen. Phosphor oder Glühholz? Zu dunkel! Heiße Kohlen? Nein, ich hätte sofort die Hitze gespürt. Wie soll man denn auch das reinweiße Schimmern von Diamanten nachmachen? Nein, ganz unmöglich!« Fafhrd nickte, doch er starrte noch immer über die Schulter des Mauslings. Dieser wollte nach seinem Kasten greifen, doch er hielt sich im letzten Augenblick zurück, faßte mit kurzem, selbstkritischem Lachen nach dem Weinkrug und begann seinen Becher zum zweitenmal zu füllen. Fafhrd zuckte die Achseln, schob mit dem Handrücken seinen Becher zurecht, damit der Mausling ihn auch füllte, gähnte ausgiebig und lehnte sich etwas zurück, wobei er seine gespreizten Hände links und rechts über den Tisch streckte, als wollte er alle Zweifel und Ungewißheiten von sich weisen. Die Finger seiner linken Hand berührten die Schachtel des Mauslings. Sein Gesicht wurde ausdruckslos. Er schaute an seinem Arm entlang auf den Kasten. Zur großen Verwunderung des Mauslings, der soeben Fafhrds Becher vollschenkte, beugte sich der Nordling nun vor und legte das Ohr auf den flachen Kasten seines Freundes.
»Mausling«, sagte er leise. »Deine Schachtel summt.« Fafhrds Becher war voll, doch der Mausling goß weiter. Duftiger Wein schwappte über und begann in schmalen Strömen auf das glühende Kohlebecken zuzurinnen. »Als ich den Kasten berührte, spürte ich eine Vibration«, fuhr Fafhrd nachdenklich fort. »Er summt. Er summt immer noch.« Mit leisem Knurren knallte sein Gegenüber den Krug auf den Tisch und riß den Kasten von Fafhrds Ohr fort. Der Wein erreichte die Glut und rief ein leises Zischen hervor. Der Mausling riß den Kasten auf, öffnete auch den Drahtdeckel, und er und sein Freund starrten hinein. Das Kerzenlicht dämpfte den Eindruck etwas, vermochte das gelbe, violette, rötliche und weiße Schimmern der zahlreichen Pünktchen auf dem Samtboden jedoch nicht auszulöschen. Aber die Kerzen genügten, die Leuchtpunkte als das zu offenbaren, was sie waren – jede der Vertiefungen im Samt enthielt, den ursprünglichen Farben entsprechend angeordnet, Feuerkäfer, Glühwespen, Nachtbienen, Diamantfliegen – jedes Insekt lebendig, doch mit feinem Draht am Boden der Schachtel befestigt. Von Zeit zu Zeit surrten die Flügel oder Panzer der Tiere. Mit entschlossener Bewegung öffnete nun auch Fafhrd das Eisenarmband, entfernte es von seinem Handgelenk, löste den Beutel von der Kette und knallte ihn auf den Tisch. Juwelen aller Größen und Formen, herrlich geschliffen, häuften sich auf. Doch sie waren tiefschwarz.
Fafhrd nahm einen großen Stein, probierte mit dem Fingernagel, riß sein Jagdmesser aus der Scheide und durchtrennte das Gebilde mühelos. Langsam ließ er es in die Glut des Kohlebeckens fallen. Nach wenigen Sekunden flammte es gelbblau auf. »Kohle«, sagte Fafhrd. Der Mausling legte die Hände über seinen schwach funkelnden Kasten, als wollte er ihn nehmen und durch die Wände aufs Binnenmeer hinausschleudern. Doch er löste nur den Griff und ließ seine Hände herabhängen. »Ich verschwinde hier«, verkündete er leise und machte seine Worte wahr. Fafhrd blickte nicht auf. Er ließ einen zweiten schwarzen Edelstein in die Flammen fallen. Vorsichtig nahm er das Armband ab, das Nemia ihm geschenkt hatte; er hielt es sich dicht vor die Augen und sagte: »Messing ... Glas.« Er öffnete die Hand und ließ das Gebilde in den verschütteten Wein fallen. Als der Mausling gegangen war, leerte Fafhrd seinen randvollen Becher, trank auch den Becher des Mauslings aus und füllte wieder nach. Dann trank er weiter, während er die schwarzen Steine einen nach dem anderen in die Flammen warf. Nemia und Ogos ›Auge‹ saßen aneinandergeschmiegt auf einem bequemen Diwan. Sie trugen Nachtgewänder. Kerzen erzeugten ein gelbliches Halbdämmer. Auf einem niedrigen schimmernden Tisch standen zierliche Krüge mit Wein und Likör, langstielige Kristallkrüge und goldene Teller mit Süßigkeiten; in der
Mitte der Platte schimmerten zwei gleichgroße Haufen bunter Juwelen. »Wie leicht sich diese Barbaren hereinlegen lassen«, bemerkte Nemia und unterdrückte ein Gähnen, »obwohl's für die Sinne einmal ganz gut war, zur Abwechslung. Meiner war geistig ein bißchen besser beieinander als die meisten anderen. Vielleicht hätte er noch etwas gemerkt, aber ich sorgte dafür, daß die beiden Klickgeräusche zur gleichen Zeit kamen, als ich das Armband mit dem falschen Beutel anbrachte und ihm gleichzeitig mein Messinggeschenk befestigte. Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Barbaren von Messing mit farbigen Glasstückchen hypnotisieren lassen – er hat glatt geglaubt, Rubine und Saphire vor sich zu haben; vermutlich lähmen diese drei Grundfarben ihre primitiven Gehirne.« »Sehr klug, sehr klug, Nemia«, seufzte Ogos ›Auge‹ zärtlich. »Auch mein kleiner Bursche wäre mir fast auf die Schliche gekommen, als ich den Austausch vornahm, doch dann interessierte er sich mehr dafür, mich mit seinem Messer zu bedrohen. Er hat mich sogar zwischen den Brüsten verletzt. Er hat bestimmt eine schmutzige Phantasie.« »Komm, laß mich das Blut fortküssen, Liebling«, sagte Nemia träumerisch. »Oh, wie schrecklich ... schrecklich.« Nemia hatte eine etwas aufgerauhte Zunge, und das Mädchen erschauderte bei der Behandlung. Sie sagte: »Aus irgendeinem Grund war er ziemlich nervös wegen Ogo.« Ihr Gesicht wurde ausdruckslos, sie schürzte die Lippen. Die reich drapierte Wand vor ihr ließ ein Rascheln ertönen und krächzte dann mit trockener Stimme:
»Öffne deinen Kasten, Grauer Mausling. Und jetzt mach ihn zu. Mädchen! Mädchen! Was soll das laszive Spiel!« Nemia und ›Auge‹ umarmten sich lachend. Und ›Auge‹ sagte mit ihrer natürlichen Stimme: »Und er ist wieder abgezogen, fest davon überzeugt, daß es wirklich einen Ogo gibt. Da bin ich mir ganz sicher. Himmel, die beiden sind jetzt bestimmt sehr wütend.« Nemia richtete sich auf und sagte: »Wir werden Schutzmaßnahmen ergreifen müssen gegen sie. Vermutlich kommen sie angestürmt und wollen ihre Edelsteine wieder.« ›Auge‹ zuckte die Achseln: »Ich habe meine fünf Mingol-Schwertkämpfer.« Nemia sagte: »Und ich meine dreieinhalb kleshitische Kämpfer.« »Einen halben?« fragte das Mädchen. »Ich habe Ixy mitgezählt. Aber nun ernsthaft.« ›Auge‹ runzelte die Stirn und schüttelte dann entschlossen den Kopf. »Ich glaube, wir brauchen uns über Fafhrd und den Grauen Mausling keine Sorgen zu machen. Sie werden uns nicht überfallen. Weil wir Frauen sind, ist sicherlich ihr Stolz verletzt, und sie werden eine Zeitlang schmollen und dann ans Ende der Welt ziehen, um sich bei einem ihrer wilden Abenteuer abzureagieren.« »Abenteuer!« sagte Nemia, als hätte sie etwas Obszönes gesagt. »Wie du siehst, sind sie im Grunde schwach«, fuhr die andere fort, die sich an ihrem Thema langsam erwärmte. »Sie haben keinen inneren Antrieb, keinen Ehrgeiz, keine wirkliche Leidenschaft für das Geld.
Wenn das nämlich der Fall wäre – und wenn sie nicht soviel Zeit an schrecklichen Orten außerhalb Lankhmars zubrächten –, wüßten sie, daß der König von Ilthmar eine Leidenschaft für Edelsteine entwickelt hat, die am Tage unsichtbar sind, in der Nacht jedoch leuchten, und daß er sein halbes Königreich geboten hat für einen Sack voller Sternenjuwelen. Und dann hätten sie so etwas Idiotisches wie einen Besuch bei uns gar nicht zu planen brauchen.« »Was wird er wohl damit machen? Der König, meine ich.« ›Auge‹ zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ein Planetarium bauen. Oder die Steine essen.« Sie überlegte einen Augenblick. »Alles in allem ist es vielleicht am besten, wenn wir hier für einige Wochen verschwinden. Wir haben uns einen Urlaub verdient.« Nemia nickte und schloß die Augen. »Aber wenn wir verreisen, dann nicht an einen Ort, wo Fafhrd und der Mausling ihr nächstes ... brr! ... Abenteuer erleben.« Das Mädchen nickte und sagte träumerisch: »Blauer Himmel, bewegtes Wasser, ein sauberer Strand, warmer Wind, Blumen und schlanke Sklavenmädchen ...« Nemia fuhr fort: »Ich habe schon immer an einem Ort sein wollen, wo es kein Wetter, sondern nur Vollkommenheit gibt. Weißt du, welche Hälfte von Ilthmars Königreich das beste Wetter hat?« »Meine süße Nemia«, murmelte ›Auge‹, »du bist so zivilisiert. Und so klug, so überaus klug. Du bist zweifellos die zweitbeste Diebin in Lankhmar.« »Und wer ist die beste?« wollte Nemia eifrig wissen. »Ich natürlich«, erwiderte das Mädchen bescheiden.
Nemia hob die Hand und kniff ihre Freundin ins Ohr, nicht allzu schmerzhaft, aber doch spürbar. »Wenn's jetzt um Geld ginge«, sagte sie entschlossen, »würde ich dir das Gegenteil beweisen. Aber da wir uns nur so unterhalten ...« »Meine liebste Nemia ...« »Süßes ›Auge‹!« Die beiden Mädchen umarmten sich und begannen sich zu küssen. Der Mausling saß in einer durch einen Vorhang verschlossenen Nische im Goldenen Lampion, einer Taverne, die dem Silbernen Aal sehr ähnlich war. Mit zusammengepreßten Lippen starrte er über den Tisch. Nun klopfte er mit der Fingerspitze auf die Platte und sagte: »Verdoppeln Sie die zwanzig Goldstücke, dann mache ich die Reise und höre mir Prinz Gwaays Vorschlag an.« Der bleiche Mann auf der anderen Seite, der die Augen zusammenkniff, als wäre selbst der Kerzenschimmer für ihn zu hell, erwiderte leise: »Fünfundzwanzig! Und Sie dienen ihm einen Tag lang nach Ihrer Ankunft.« »Wofür halten Sie mich?« fragte der Mausling drohend. »Ich bin ja womöglich in der Lage, seine Probleme an einem einzigen Tag zu beheben – das bereitet mir gewöhnlich keine Schwierigkeiten –, und was dann? Nein, kein sofort vereinbarter Dienst; ich höre mir nur seinen Vorschlag an. Und ... fünfunddreißig Goldstücke Anzahlung.« »Na gut denn, dreißig Goldstücke – wovon zwanzig zurückzuerstatten sind, wenn Sie meinem Herrn
nicht dienen wollen, was eine riskante Entscheidung wäre, möchte ich bemerken.« »Die Gefahr ist meine Bettgenossin«, schnappte der Mausling. »Nur zehn zurückzuerstatten!« Der andere nickte und begann langsam Rilks auf die Tischplatte zu zählen. »Zehn jetzt«, sagte er. »Zehn, wenn Sie sich morgen früh am Korntor unserer Karawane anschließen. Und zehn, wenn wir in Quarmall eintreffen.« »Wenn wir die Türme Quarmalls ausmachen«, beharrte der Mausling. Der andere nickte. Mit düsterem Gesicht nahm der Mausling die Goldmünzen an sich und stand auf. Sie kamen ihm sehr klein vor in seiner Hand. Einen Augenblick überlegte er, sich Fafhrd wieder anzuschließen und mit ihm einen Angriffsplan gegen Ogo und Nemia zu schmieden. Nein, niemals! Er machte sich klar, daß er in seinem Elend den Gedanken, Fafhrd vor Augen zu treten, nicht ertragen konnte. Außerdem war der Nordling bestimmt betrunken. Und zwei – oder höchstens drei – Rilks würden ihm vielleicht sogar interessante Vergnügungen bescheren, bis ihn der Morgen von dieser entsetzlichen Stadt befreite. Fafhrd, der schon seinen dritten Krug in Angriff genommen hatte, war tatsächlich betrunken. Er hatte alle schwarzen Edelsteine verbrannt und machte sich nun vorsichtig mit der Spitze seines Messers zu schaffen. Mit langsamen Bewegungen entließ er unverletzt all die silbrig und bunt schimmernden Insekten –
Feuerkäfer, Glühwespen, Nachtbienen und Diamantfliegen. Die Tiere schwirrten wild umher. Zwei Bedienungen und der Rausschmeißer waren schon an den Tisch gekommen, um sich zu beschweren; jetzt kam auch Slevyas persönlich und rieb sich seinen dicken Nacken. Er und noch ein Gast waren gestochen worden. Fafhrd selbst hatte zwei wunde Stelle aufzuweisen, aber er schien nichts zu merken. Auch kümmerte er sich nicht im geringsten um die vier Männer, die erregt auf ihn einredeten. Die letzte Nachtbiene war nun frei. Sie surrte an Slevyas Hals vorbei, der fluchend den Kopf einzog. Fafhrd lehnte sich zurück; ihm schien plötzlich übel zu sein. Achselzuckend machten sich der Wirt des Silbernen Aals und seine drei Angestellten wieder davon, wobei einer der Ober in der Luft herumwedelte. Fafhrd warf sein Messer in die Luft. Es stürzte mit der Spitze nach unten wieder herab, doch ehe es sich in die Tischplatte bohren konnte, hatte es Fafhrd aufgefangen. Mit schneller Bewegung steckte er die Klinge wieder in die Scheide und zwang sich dann dazu, einen kleinen Schluck Wein zu nehmen. Als wollte sich jemand reisefertig machen, begannen sich die Vorhänge der letzten Nische zu bewegen; ein Vorhang, der mit schweren Ketten und Metallstücken besetzt war, damit sich die Gäste nicht durch den Stoff hindurch erstechen konnten – es sei denn, sie hätten ein schmales Stilett. Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür, und ein sehr bleicher Mann, der seinen Umhang vor das Gesicht hielt, um damit seine Augen vor dem Kerzenlicht zu schützen, betrat den Silbernen Aal und
kam an Fafhrds Tisch. »Ich möchte Ihre Entscheidung hören, Nordling«, sagte er mit leiser, doch drohender Stimme. Er betrachtete die umgeworfenen Becher und den vergossenen Wein. »Das heißt, wenn Sie sich an meinen Vorschlag noch erinnern.« »Setzen Sie sich«, sagte Fafhrd. »Trinken Sie mit mir. Passen Sie auf die Glühwespen auf – die sind sehr wild.« Dann, verächtlich: »Erinnern? Prinz Hasjarl von Marquall – Quarmall. Schiffsreise. Ein Berg Goldstücke. Erinnern!« Der andere blieb stehen und fügte hinzu: »Fünfundzwanzig Rilks. Aber nur, wenn Sie sofort mit mir aufs Schiff kommen und meinem Prinz einen Tag zu Diensten sind. Danach tritt die Vereinbarung in Kraft, die Sie und er miteinander treffen.« Er setzte einen abgezählten Stapel Goldmünzen auf den Tisch. »Na, herrlich!« sagte Fafhrd, schnappte sich das Geld und taumelte auf die Füße. Er legte fünf Münzen auf den Tisch und schob den Rest in seinen Beutel, wobei ihm noch drei Goldstücke zu Boden fielen und davonrollten. Er verkorkte den dritten Krug Wein und nahm ihn ebenfalls an sich. Dann kam er hinter dem Tisch hervor und sagte: »Zeigen Sie mir den Weg, Kamerad!« Er schob den hageren Mann mit mächtiger Bewegung auf die Seitentür zu und folgte ihm hinaus. In der letzten Nische schürzte Alyx die Einbrecherin ihre Lippen und schüttelte tadelnd den Kopf. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Schlück
Die Herren von Quarmall Der Raum lag im Dämmerlicht; er war erschreckend dunkel für einen Menschen, der die helle Sonne und eine klare Sicht liebte. Die wenigen Wandfackeln, die die einzige Beleuchtung darstellten, waren mehr Lichtfäden als Flammen, wenn sie auch einen angenehmen Geruch verbreiteten. Man hatte das Gefühl, daß die Bewohner dieser Räume das Licht scheuten und nur ein Minimum dieses unerwünschten Elements hereinließen, um damit Besucher zufriedenzustellen. Trotz seiner Größe schmiegte sich der Raum ringsum in dunkles gewachsenes Gestein – ein glatter Fußboden, polierte gebogene Wände und eine Kuppeldecke –, entweder eine natürliche Höhlung, von Menschenhand erweitert, oder ein Raum, der ganz und gar in den Fels gehauen war, obwohl sich diese Arbeit dem Vorstellungsvermögen entzog. In zahlreichen tiefen Nischen zwischen den Fackeln schimmerten Metallstatuen und Masken und juwelenbesetzte Objekte. Durch den Raum wehte ein ständiger kühler Luftzug, der die schwachen blauen Fackelflammen bewegte und einen scharfen Geruch nach frischem Erdboden und feuchtem Fels in den Raum trug – einen Duft, den auch der würzige Geruch der Fackeln nicht ganz verdrängen konnte. Das einzige Geräusch im Raum war ein gelegentliches Kratzen, wenn ein Stück Stein über Holz bewegt wurde – dort am anderen Ende des Tisches, wo ein Spiel im Gange war, ein Spiel mit schwarzen und
weißen Spielfiguren aus Stein. Außerdem war von außerhalb noch das Schlagen der großen Flügel zu hören, die die frische Luft das letzte Stück des langen Weges von der fernen Oberwelt ansaugten und durch die Region trieben ... und das immerwährende Platschen nackter Sklavenfüße auf den schweren ledernen Antriebsriemen, die die großen Holzpropeller bewegten ... und dazu das Keuchen dieser Sklaven. Wenn man sich erst wenige Tage oder auch nur ein paar Stunden in dieser Region aufhielt, schien das Schlagen der Belüftungsflügel und das leise Patschen der Füße und das Atmen der Sklaven ein Lautsymbol für den Namen des Landes zu sein, schien ständig zu wiederholen: »Quarmall ...«, sang es. »Quarmall ... Quarmall ist das All ...« Der Graue Mausling, auf dessen Sinne diese Eindrücke und Vorstellungen eingewirkt hatten und der nun Muße hatte, sich damit zu beschäftigen, war ein stämmiger kleiner Mann. In graue, unregelmäßig gewobene Seide gekleidet, machte er einen unruhigen und gefährlichen Eindruck. Mißtrauisch betrachtete er eine große Platte voller seltsamer Pilze aller Arten und Farben, die ihm wie eine Süßigkeit präsentiert worden waren, und kostete vorsichtig von einem Gebilde, das ihm einigermaßen normal vorkam. Der süßliche Geschmack, der eine seltsame Bitterkeit überdeckte, gefiel ihm nicht. Er spuckte den Bissen unauffällig in seine Hand, ließ sie unter den Tisch sinken und schnipste die zerkauten Bruchstücke unter den Tisch. Während er dann angewidert seine Zunge im Mund herumwandern ließ, begannen seine beiden Hände langsam am Griff sei-
nes Schwertes Skalpell und seines Dolches Katzenklaue zu spielen, während sein Geist den Fragen nachhing, die ihn seit einiger Zeit beschäftigten. Aufgereiht an den Längsseiten des langen schmalen Tisches, in großen hochlehnigen Holzstühlen, die weit auseinander standen, saßen zwölf hagere alte Männer, völlig kahl und bartlos, und jeder trug als einziges Kleidungsstück einen weißen Lendenschurz. Elf Männer starrten gebannt ins Nichts und spannten in ständiger Folge ihre dürren Muskeln an, wobei sich sogar ihre Ohren immer wieder aufzurichten schienen. Sie schienen sich mit aller Kraft auf eine unsichtbare Welt hinter ihren geschlossenen Lidern zu konzentrieren. Der zwölfte hatte seinen Stuhl halb herumgedreht und betrachtete schräg über die ferne Ecke des langen Tisches das Brettspiel, von dem das gelegentliche Kratzen und Schaben ausging. Er spielte mit dem derzeitigen Herrn des Mauslings, Gwaay, Herrscher über die Unteren Regionen Quarmalls, jüngster Sohn Quarmals, des Oberherrn von Quarmall. Obwohl sich der Mausling nun schon drei Tage in den Tiefen Quarmalls aufhielt, war er Gwaay noch um keinen Zentimeter nähergekommen als jetzt, so daß er ihn nur als bleichen, gutaussehenden, stillen jungen Mann kannte, als einen Mann, der dem Mausling infolge des ewigen Zwielichts und der Entfernung zwischen ihnen kaum wirklicher vorkam als ein Gespenst. Das Spiel folgte Regeln, die dem Mausling völlig unbekannt waren und die einige Schwierigkeiten zu bergen schienen. Das Spielbrett war wohl grün – doch im unruhigen
Schimmer der Fackeln ließ sich die Farbe nicht klar ausmachen. Soweit erkennbar, waren keine Striche oder Quadrate auf dem Brett eingezeichnet, abgesehen von einer phosporeszierenden Linie in der Mitte zwischen den Gegnern, die das Spielfeld in zwei gleich große Hälften teilte. Jeder Teilnehmer begann das Spiel mit zwölf flachen kreisförmigen Figuren, die am Spielfeldrand vor ihm aufgebaut wurden. Gwaays Steine waren pechschwarz, die seines greisen Gegenspielers marmorweiß, so daß der Mausling sie trotz der schlechten Lichtverhältnisse unterscheiden konnte. Bei dem Spiel schien es darum zu gehen, die Stücke willkürlich über wechselnde Entfernungen voranzuschieben und mindestens sieben der eigenen Figuren als erster in das Feld des Gegners zu bringen. Die Besonderheit aber war, daß die Figuren nicht mit den Fingern bewegt wurden, sondern nur durch Blicke. Ein konzentrierter Blick schien zu reichen, eine Figur sehr schnell zu verschieben. Fixierte man mehrere Steine zugleich, ließen sie sich in Linien oder Gruppen bewegen, doch dann ging es etwas langsamer. Der Mausling war noch nicht ganz überzeugt, daß hier wirklich Geisteskräfte am Werke waren. Noch immer vermutete er Fäden, geräuschlose Luftströme, heimliche Ruckbewegungen des Spielbretts von unten, mächtige Käfer unter den Steinen oder versteckte Magnete als Ursache der Bewegungen – denn zumindestens Gwaays schwarze Figuren konnten nach der Farbe Magneteisensteine sein. Im Augenblick drängten sich Gwaays schwarze Figuren mit den weißen seines Gegners um die Mittel-
linie und wurden, je nachdem, wie sich die Front um Fingerbreite in die eine oder andere Richtung verschob, nur geringfügig bewegt. Plötzlich machte eine der hinteren Figuren Gwaays eine schnelle Rückwärtsbewegung, schlug einen Haken und raste auf eine kleine Öffnung am Brettrand zu. Zwei Figuren des alten Mannes bildeten einen Keil und drückten sich über die Mittellinie durch den schwachen Punkt, der auf diese Weise entstand. Doch nun gelang es Gwaay, zwei weitere Figuren über die Mittellinie ins Feld seines Gegners zu drücken und dem schnellen Vorläufer folgen zu lassen, der keine Gegenwehr gefunden hatte. Das Spiel war aus – Gwaay ließ sich nichts anmerken, während der alte Mann auf dem Spielbrett herumzufummeln und die Stücke mit den Fingern wieder in ihre Ausgangspositionen zu bringen begann. »Ho, Gwaay, das war ein leichter Sieg!« rief der Mausling fröhlich. »Warum kämpfst du nicht gegen zwei zugleich? Der Alte muß doch wahrlich ein Zauberer Zweiten Ranges sein, wenn er so schwach spielt – oder vielleicht nur ein Lehrling des Dritten Ranges!« Der alte Mann warf dem Mausling einen wütenden Blick zu. »Wir zwölf sind ohne Ausnahme Zauberer des Ersten Ranges, und zwar seit unserer Jugend«, erklärte er gewichtig. »Woran du nicht zweifeln könntest, wenn auch nur einer von uns den kleinen Finger gegen dich erhöbe.« »Du hast gehört, was er gesagt hat!« rief Gwaay dem Mausling leise zu, ohne den Kopf zu heben. Der Mausling, der sich nicht im geringsten beeindruckt zeigte, rief zurück: »Ich meine trotzdem, daß
du dich gegen zwei oder sieben – oder gegen das ganze greise Dutzend – durchsetzen könntest! Wenn diese Burschen Zauberer Ersten Ranges sind, dann gehörst du mindestens in die Klasse Null oder Minus Eins!« Der Mund des Alten geriet bei dieser Beleidigung in Bewegung, doch er brachte kein Wort heraus. Gwaay erwiderte freundlich: »Würden nur drei meiner getreuen Magier ihre Zauberkräfte von ihrem Ziel abwenden, müßten die bösen. Verwünschungen meines Bruders Hasjarl aus den Oberen Regionen zu uns durchbrechen und mich mit allen schlimmen Krankheiten der Welt belegen, und mit einigen anderen Plagen, die nur in Hasjarls schillernder Phantasie existieren und ich müßte auf grausame Weise aus diesem Leben scheiden.« »Wenn neun von zwölf Zauberern dich ständig bewachen müssen, bekommen sie ja kaum Schlaf«, bemerkte der Mausling mit lauter Stimme. »Die Zeiten sind nicht immer so unruhig«, erwiderte Gwaay leise. »Manchmal erzwingen die Tradition oder mein Vater einen Waffenstillstand. Manchmal kommt der wilde Kampf auch so zum Stillstand. Doch heute lassen gewisse Anzeichen darauf schließen, daß ein schwerer Angriff auf meine Leber und Augen, auf das Blut und die Knochen meines Körpers im Gange ist. Der liebe Hasjarl hat eine doppelte Anzahl von Zauberern zur Verfügung, die meinen kaum nachstehen; sie sind zwar Zauberer Zweiten Ranges, doch in ihrer Kunst sehr weit fortgeschritten. Außerdem treibt er sie ständig an. Und, o Grauer Mausling, ich bin meinem Bruder Hasjarl so widerlich wie der menschliche Kot unseren Lippen. Überdies stellt
heute nacht mein Vater Quarmal das Horoskop im Turm der Burg, hoch über Hasjarls Oberen Regionen; da ist es nur natürlich, daß ich alle Rattenlöcher bewache.« »Wenn dir nur Zauberkräfte fehlen und nichts anderes«, erwiderte der Mausling kühn, »dann habe auch ich einen kleinen magischen Spruch zur Hand, der die Hexen und Zauberer deines älteren Bruders zum Verschwinden bringt!« Und tatsächlich bewahrte der Mausling in seinem Beutel, auf knisterndem Pergament geschrieben, einen Zauberspruch, den er liebend gern ausprobiert hätte. Sein Zauberfreund, der Augenlose Sheelba, hatte ihm das Dokument überlassen. Gwaay antwortete ihm, doch diesmal so leise, daß der Mausling nichts mehr verstanden hätte, wenn er auch nur einen Meter weiter entfernt gewesen wäre. »Deine Aufgabe ist es, meinen Leib vor allen physischen Schwertstreichen zu schützen, insbesondere vor denen des großen Kämpfers, den Hasjarl angeblich in seine Dienste genommen hat. Meine Zauberer Ersten Ranges werden Hasjarls magische Attacken abweisen. Jedem, was ihm zusteht.« Leise klatschte er in die Hände. Ein schlankes Sklavenmädchen erschien lautlos in dem dunklen Torbogen hinter ihm. Ohne sie anzusehen, befahl Gwaay leise: »Starken Wein für unseren Krieger.« Sie verschwand. Der alte Mann hatte endlich die schwarzen und weißen Spielfiguren in ihre Ausgangspositionen gebracht, und Gwaay musterte ihn nachdenklich. Doch ehe er den Eröffnungszug machte, rief er dem Mausling zu: »Wenn dir die Zeit zu lang wird hier unten, dann solltest du dir schon die Belohnung aussuchen,
die du mitnehmen kannst, wenn deine Arbeit getan ist. Und vergiß bitte bei deiner Suche auch das Mädchen nicht, das dir den Wein bringt. Es heißt Ivivis.« Das brachte den Mausling zum Schweigen. Er hatte sich bereits mehr als ein Dutzend kostbare und hübsche Objekte aus Gwaays Schubladen und Nischen ausgesucht und in einer unbenutzten kleinen Kammer eingeschlossen, die er zwei Stockwerke tiefer entdeckt hatte. Notfalls hatte er sich damit herausreden wollen, daß er in aller Unschuld eine Vorauswahl traf, aus der er dann sein endgültiges Geschenk bestimmen wollte, doch Gwaay mochte ihm das nicht recht glauben, und er hatte scharfe Augen, wenn man danach ging, wie er den Zwischenfall mit dem schlechten Pilz und andere Dinge bemerkt hatte. Der Mausling war bisher noch nicht auf den Gedanken gekommen, sich ein oder zwei Mädchen zu reservieren und in seiner Kammer einzuschließen, obwohl ihm der Gedanke nicht wenig gefiel. Der alte Zauberer räusperte sich krächzend und sagte: »Lord Gwaay, soll der ehrgeizige Schwertkämpfer seine magischen Tricks doch ausprobieren! Soll er sie an mir versuchen!« Der Mausling spürte, wie seine Kampfeslust erwachte, doch Gwaay hob nur die Hand, schüttelte leicht den Kopf und zeigte mit dem Finger auf das Spielfeld, woraufhin der Alte gehorsam eine Figur in Bewegung setzte. Der Mausling ließ sich apathisch zurücksinken. Er begann sich sehr einsam zu fühlen in dieser düsteren Unterwelt, wo sich alle nur flüsternd verständigten. Gewiß, als Gwaays Gesandter sich in Lankhmar mit ihm in Verbindung setzte, war er der Aufforderung
nur zu gern gefolgt. Geschah dem großsprecherischen Fafhrd recht, wenn sein kleiner grauer Freund (und kluger Berater!) eines Nachts spurlos verschwand ... und dann vielleicht nach Jahresfrist mit einer wohlgefüllten Schatzkiste und herablassendem Lächeln wieder erschien. Auch während der langen Karawanenreise nach Quarmall war der Mausling noch zufrieden gewesen – während des langen Zuges nach Süden, am HlalFluß entlang, an den Pleea-Seen vorbei und über das Hungergebirge. Es hatte ihm Spaß gemacht, sich von einem Kamel dahinschaukeln zu lassen, Fafhrds Reden und Prahlereien entrückt, während die Nächte immer blauer und wärmer wurden und seltsame juwelenschimmernde Sternenformationen am südlichen Horizont aufzogen. Doch nun hatte er seit seinem verstohlenen Eintritt in die Unteren Regionen schon drei Nächte in Quarmall zugebracht – drei Nächte und Tage oder einhundertvierundvierzig endlose Halbstunden voller Zwielicht –, und er begann sich insgeheim schon zu wünschen, daß Fafhrd hier wäre und nicht einen halben Kontinent entfernt in Lankhmar oder womöglich noch weiter fort, wenn er den angedeuteten Plan, seine Heimat im hohen Norden zu besuchen, tatsächlich ausgeführt hatte. Jemand, mit dem er wenigstens trinken konnte – und da war ihm sogar ein lautstarker Streit willkommen nach zweiundsiebzig Stunden, in denen er nur stumme Bedienstete, konzentrierte Zauberer, gekochte Pilze und Gwaays unbeirrbar stilles Gebaren um sich gehabt hatte. Außerdem hatte es nun den Anschein, als brauchte Gwaay lediglich einen guten Schwertkämpfer, um ein
Gleichgewicht gegen einen anderen Streiter zu haben, den Hasjarl angeblich ebenso verstohlen nach Quarmall geholt hatte, wie der Mausling hier eingetroffen war. Wenn Fafhrd bei ihm gewesen wäre, hätte er Gwaays Schwertkämpfer sein können, während der Mausling dann Gelegenheit hatte, Gwaay seine Zauberkräfte vorzuführen. Er war überzeugt, daß der Zauber, den er in seinem Beutel trug, seinen Ruf als tödlicher Magier ein für allemal begründet hätte. Der Mausling schreckte auf, als er merkte, daß das Sklavenmädchen Ivivis vor ihm kniete – wie lange sie in dieser Stellung schon verharrte, wußte er nicht zu sagen – und ihm ein Ebenholztablett mit einem Steinkrug und einem Kupferbecher hinhielt. Ein Bein hatte sie untergeschlagen, das andere zurückgestreckt wie bei einem Fechtangriff – der kurze Rock ihres grünen Kleidchens spannte sich –, und ihre Arme hoben das Tablett nach vorn. Ihr schlanker Körper war sehr geschmeidig; die schwierige Stellung machte ihr keine Mühe. Ihr schönes, glattes Haar war so hell wie ihre Haut. Unwillkürlich mußte der Mausling daran denken, daß sie sich in seiner Kammer sehr gut machen würde – vielleicht noch geschmückt mit der schwarzen Perlenkette, die er in einer der Nischen hinter einer Zinnstatuette entdeckt hatte. Doch sie kniete so weit entfernt wie irgend möglich, und ihr Blick war gesenkt. Und sie sah den Mausling auch nicht an, als er sie vorsichtig ansprach, was er im Augenblick für die beste Annäherungstaktik hielt. Er nahm den Krug und den Becher. Ivivis senkte den Kopf noch mehr und huschte stumm davon.
Der Mausling goß sich fingerbreit blutroten und blutdicken Wein ein und kostete. Das Getränk schmeckte seltsam süß und hatte einen unheimlichen bitteren Nebengeschmack. Er überlegte, ob dieser Wein wohl von roten Giftpilzen stammte. Die schwarzen und weißen Steine schurrten über das Feld, den Blicken Gwaays und des Alten gehorsam folgend. Die hellen Fackelflammen beugten sich in der beständigen kühlen Brise, während die Belüftungssklaven, ihre nackten Füße auf den Ledertreibriemen und die großen unsichtbaren Holzflügel auf den gewaltigen Achsen, ständig vor sich hin murmelten: »Quarmall ... Quarmall ist das All ... Quarmall ... Quarmall ist alles ...« In einem ebenso großen Raum viele Stockwerke darüber – doch immer noch unter der Erdoberfläche – saß Fafhrd am unteren Ende eines Tisches. Auch hier gab es keine Fenster, und die Fackeln flammten etwas heller als unten, doch ihr Licht wurde durch einen beißenden Weihrauchnebel wieder aufgehoben, so daß auch hier unangenehmes Zwielicht herrschte. Fafhrd war gewöhnlich ein sehr ruhiger Mann, doch jetzt trommelte er aufgebracht mit den Fingern auf der Tischplatte herum und war nahe daran, sich den Grauen Mausling herbeizuwünschen, der sich jetzt in Lankhmar oder womöglich irgendwo in den Wüstenländern des Ostens herumtrieb. Der Mausling hätte sich bestimmt besser einstellen können auf die geheimnisvollen Angewohnheiten der unterirdisch lebenden Quarmallier. Auch wäre es dem Mausling vielleicht leichter gefallen, mit Hasjarls entsetzlicher Vorliebe für die Folterung auszukom-
men. Zumindest wäre der kleine graue Narr ein vernünftiger Trinkkumpan gewesen. Als Hasjarls Agent ihn in Lankhmar ansprach, war Fafhrd sehr froh gewesen, einmal fortzukommen von dem Mausling und seinen Eitelkeiten und Tricks und Plappereien. Er hatte ja auch gutes Geld geboten bekommen, wenn er sofort und heimlich mitkäme. Fafhrd hatte zu seinem kleinen Freund sogar eine Bemerkung gemacht, daß er vielleicht mit einigen Landsleuten eine Schiffsreise in seine nördliche Heimat machen würde. Er hatte dem Mausling allerdings verschwiegen, daß dieses Schiff, wenn er es schließlich betrat, nicht nach Norden, sondern nach Süden segeln und durch das gewaltige Äußere Meer an Lankhmars Westküste entlangfahren sollte. Die Reise war sehr idyllisch gewesen – wobei man gelegentlich auch ein anderes Schiff überfallen und ausgeraubt hatte, sehr zum Mißvergnügen von Hasjarls Agent. Sie hatten Stürme überstanden und auch manchen Kampf mit großen Blackfischen und gewaltigen Schlangen, die das Äußere Meer hier im Süden dicht bevölkerten. Bei diesen Erinnerungen begannen Fafhrds Finger langsam zu trommeln, und seine Lippen weiteten sich fast zu einem Lächeln. Doch jetzt Quarmall! Diese stinkenden Zauberer! Dieser folterbesessene Hasjarl! Fafhrds Finger begannen wild zu wirbeln. Regeln! – Er durfte sich in den weiter unten gelegenen Stockwerken umsehen, denn dort kam man in die Unteren Regionen und zum Feind. Auch durfte er nicht nach oben wandern – denn in dieser Richtung lagen Vater Quarmals Räume, die verbotenes Gebiet
waren. Niemand durfte von Fafhrds Anwesenheit wissen. Er mußte sich mit den Getränken und den wenigen reizlosen Mädchen begnügen, die in Hasjarls beschränkter Oberer Region zur Verfügung standen. (Und solche düsteren Labyrinthe und Krypten wurden hier Obere Regionen genannt!) Zeitverschwendung! – Sie durften ihre Streitkräfte nicht zum Kampf sammeln und nach unten schicken, um den Feind Bruder Gwaay auf einen Schlag niederzukämpfen; das war undenkbar! Man durfte nicht einmal die gewaltigen fußgetriebenen Luftventilatoren stoppen, deren ständiges Quietschen Fafhrd unangenehm in den Ohren lag und die die lebensspendende Luft auf ihren langen Weg durch die Schächte in Gwaays Unterwelt schickten – und durch andere Tunnel als verbrauchte Luft wieder hinaus – nein, die Flügel durften nicht zum Stillstand kommen, denn Vater Quarmal hätte jede Maßnahme verurteilt, die wertvolle Sklaven kostete – und wenn sich Vater Quarmal aufregte, versanken die Söhne am liebsten im Boden. Statt dessen mußte Hasjarls Kriegsrat langfristige Maßnahmen planen, die sich hauptsächlich auf die Zauberei stützten und die darauf hinausliefen, daß man sich um ein Stück Tunnel oder Pilzfeld nach dem anderen an Gwaays Untere Region heranschob. Rätsel! – Pilze werden zu allen Mahlzeiten serviert, durften aber nicht gegessen und auch nicht gekostet werden. Dafür war geröstetes Rattenfleisch eine Köstlichkeit, die man sehr schätzte. Heute nacht würde Vater Quarmal sein eigenes Horoskop bestimmen, und aus irgendeinem Grunde waren das Sternebeschauen und die dazugehörigen Kritzeleien
von ungewöhnlicher Bedeutung. Alle Mädchen mußten zweimal laut schreien, wenn Annäherungsversuche gemacht wurden – unabhängig davon, wie es dann weiterging. Fafhrd durfte sich Hasjarl nur auf Dolchwurfweite nähern – eine Bestimmung, die es dem Nordling unmöglich macht herauszufinden, wie Hasjarl die meiste Zeit die Augen geschlossen halten konnte und dennoch stets wußte, was rings um ihn vorging. Vielleicht verfügte er über eine Art Zweites Gesicht, oder der Sklave in seiner Nähe flüsterte ihm stets die letzten Neuigkeiten zu, oder vielleicht ... nun, Fafhrd wußte es einfach nicht. Jedenfalls schien Hasjarl sehen zu können, während er die Augen geschlossen hatte. Dieser kleine Trick schützte offenbar Hasjarl vor dem beißenden Rauch der Weihrauchfackeln, der den anwesenden Zauberern und Fafhrd tränende Augen brachte. Da Hasjarl jedoch sonst ein höchst energischer und lebhafter Herrscher war – sein krummbeiniger Körper mit den ungleichen Beinen war ständig in Bewegung, sein häßliches Gesicht schnitt stets Grimassen –, waren seine geschlossenen Augen um so unheimlicher. Alles in allem hatte Fafhrd die quarmallischen Oberen Regionen mehr als satt, obwohl er kaum eine Woche hier war. Er hatte sogar schon mit dem Gedanken gespielt, Hasjarl hereinzulegen und sich seinem Bruder zu verdingen oder sich dem Vater als Spion anzubieten – obwohl diese beiden vielleicht nicht besser waren als Hasjarl. Vordringlich lag ihm daran, nun endlich den langerwarteten Kampf zu beginnen, den seltsamen
Kämpfer zu besiegen, den Gwaay geholt hatte, und dann seine Belohnung zu kassieren (am liebsten ein hübsches Mädchen mit zwei Goldsäcken in den Händen) und diesem verfluchten düsteren Hügel Quarmalls ein für allemal den Rücken zu kehren. In seiner Verzweiflung ließ er die Hand auf den Griff seines Langschwerts Graywand klatschen. Obwohl seine Augen geschlossen waren, entging Hasjarl die Bewegung nicht; hastig richtete er sein knorriges Gesicht auf Fafhrd, musterte ihn über die Länge des Tisches, zwischen seinen vierundzwanzig reich gekleideten langbärtigen Zauberern hindurch, die Schulter an Schulter am Tisch saßen. Hasjarl begann nun, seinen Mund zucken zu lassen, wie stets, wenn er sprechen wollte, und sagte schließlich mit einem einleitenden Zittern, das seinen ganzen Körper überlief: »Ha, du bist scharf auf den Kampf, was, Fafhrd-Junge? Laß das Schwert nur stecken. Sag mir lieber, was für einen Mann du in jenem Krieger vermutest – der Mann, vor dem du mich schützen sollst, Gwaays Mordbube! Er soll stärker als ein Elefant sein und listiger sogar als die mächtigen Zobolds.« Und mit einem letzten Erschauern brachte es Hasjarl fertig, Fafhrd erwartungsvoll anzuschauen, ohne daß er die Lider hob. Fafhrd hatte ähnliche besorgte Fragen in den letzten Wochen immer wieder vorgelegt bekommen und antwortete daher nur schnaubend: »Unsinn! So wird immer geredet, wenn man jemandem Angst machen will. Ich weiß Bescheid. Aber wenn du nicht bald dafür sorgst, daß ich etwas zu tun bekomme, oder wenn diese fliegenverdreckten Bärte nicht bald aus meinem Gesichtskreis verschwinden ...«
Fafhrd beendete den Satz nicht. Er ergriff seinen Zinnkrug, leerte ihn mit einem Zug und ließ das Gefäß auf den Tisch knallen, zum Zeichen, daß nachgefüllt werden sollte. Denn wenn Hasjarl sich auch wie ein Idiot aufführte und den Charakter eines Despoten hatte, so konnte er doch einen ausgezeichneten Gärsaft bieten, der an den heißen Südhängen des quarmallischen Hügels reifte ... Außerdem hatte es wenig Sinn, ihn unnötig zu ärgern. Und Hasjarl schien sich an Fafhrds Ausbruch auch nicht zu stören ... und wenn doch, so ließ er seine Wut wenigstens nur an den bärtigen Zauberern aus; er gab Befehl, die Runen besser zu deuten, fragte einen anderen, ob seine Kräuter ausreichend gestampft wären, erinnerte einen dritten, daß es Zeit wäre, eine bestimmte Silberglocke dreimal zu läuten, und behandelte alle vierundzwanzig, als wären sie Schuljungen und er ihr wachsamer Pädagoge – obwohl man Fafhrd bedeutet hatte, daß sie alle Magier Ersten Ranges wären. Die Gruppe der Zauberer begann daraufhin noch nervöser herumzuwirtschaften, jeder mit einem besonderen Zauber beschäftigt – neue Gerüche wurden in die Luft entlassen, schmutzige Flaschen wurden angehoben, aus denen weitere schwarze Tropfen rannen, Zauberstäbe wurden hin und her geschwenkt, Gestalten mit Nadeln durchstochen, geheimnisvolle Symbole wurden mit den Fingern nachgezeichnet und in der Luft wiederholt, Fetische undefinierbarer Herkunft häuften sich auf dem Tisch, und immer neue Dinge kamen aus den Beuteln der Zauberer zum Vorschein. Fafhrd saß nun schon sehr lange am unteren Ende
dieses Tisches, und er wußte, daß die meisten Zaubersprüche darauf abzielten, Gwaay eine schlimme Krankheit anzuhängen: die Schwarze Pest, die Rote Pest, den Knochenlosen Tod, das Haarlose Verscheiden, das Langsame Verfaulen, das Schnelle Verfaulen, das Grüne Verfaulen, den Bluthusten, den Magentod, Fieber, Durchfall und sogar Nasenrinnen. Soweit er mitbekommen hatte, wehrten Gwaays Zauberer diese Angriffe mit ihrem Gegenzauber ab, doch man setzte auf die Hoffnung, daß die Gegner in ihrer Wachsamkeit eines Tages nachließen und man dann durchstoßen konnte. Fafhrd hätte sich gewünscht, daß Gwaays Truppe die Krankheitsbeschwörungen auf die schwarzen Zauberer Hasjarls zurückfallen ließ. Sogar die abstrusen astrologischen Zeichen, mit Gold- und Silberfäden auf die dunklen Roben der Zauberer gestickt, waren ihm zuwider, ebenso die Bänder und kostbaren Drähte, die in wirrem Durcheinander in die schweren Bärte eingeflochten waren. Hasjarl, der seine Zauberer nun zu eifriger Geschäftigkeit angetrieben hatte, öffnete zur Abwechslung einmal seine Augen und rief mit kurzem Lippenzucken: »Du willst also, daß etwas passiert, ja, Fafhrd-Junge?« Fafhrd, der sich über die Anrede besonders ärgerte, stemmte einen Ellbogen auf den Tisch, schwenkte die Hand in Hasjarls Richtung und rief zurück: »Allerdings. Meine Muskeln schreien nach Betätigung. Du hast starke Arme, Hasjarl. Wie wär's, wenn wir das Händestemmen machten?« Hasjarl lachte bösartig und rief: »Ich habe eine andere Art Handspiel im Sinn: mit einem Mädchen, das
wohl mit einem von Gwaays Pagen intrigiert hat. Sie hat bisher nicht geschrien. Möchtest du mich begleiten und die Schau genießen, Fafhrd?« Und plötzlich schloß er wieder die Augen, was den Eindruck hervorrief, als schöben sich zwei winzige Hautmasken über seine Pupillen; er schloß die Augen so fest, daß er zweifellos durch die Lider blickte. Fafhrds Gesicht rötete sich, und er sank in seinen Stuhl zurück. Hasjarl hatte Fafhrds Abscheu vor der Folter schon an dessen erstem Abend entdeckt und sich seither keine Gelegenheit entgehen lassen, die – wie es Hasjarl sah – Schwäche des Nordlings herauszustellen. Um seine Verlegenheit zu überspielen, zog Fafhrd unter seinem Umhang ein winziges Buch aus zusammengenähten Pergamentseiten hervor. Der Nordling hätte geschworen, daß Hasjarls Lider nicht gezuckt hatten – doch der Unhold rief: »Das Siegel auf dem Umschlag sagt mir, daß es das Päckchen mit dem Siebenäugigen Ningauble zu tun hat. Was ist das, Fafhrd?« »Etwas Privates«, erwiderte dieser entschlossen. Fafhrd durchfuhr kein geringer Schrecken, denn der Inhalt des Päckchens war für Hasjarls Augen wahrlich nicht bestimmt. Auf dem Umschlag war tatsächlich eine schwungvoll gezeichnete Hand zu sehen, mit sieben Fingern, deren Nägel Augen darstellten – eines der zahlreichen Symbole des großen Zauberers, der sich Fafhrds angenommen hatte. Hasjarl hustete scharf. »Kein Diener Hasjarls kennt private Dinge«, verkündete er. »Wir sprechen ein andermal darüber. Die Pflicht ruft.« Er sprang auf, stieß seinen Stuhl zurück und mu-
sterte seine Zauberer mit wildem Blick: »Wenn ich bei meiner Rückkehr einen von euch beim Schlafen erwische, wäre es besser für ihn – und auch für seine Mutter –, wenn er gleich mit der Sklavenkette geboren wäre!« Er wandte sich zum Gehen, blieb stehen, zeigte Fafhrd noch einmal sein Gesicht und rief spöttisch: »Das Mädchen heißt Friska. Sie ist siebzehn. Ich habe keinen Zweifel, daß sie das Handspiel gut beherrscht und mit manch entzückendem Ausruf begleiten wird. Ich werde mich ausgiebig mit ihr unterhalten. Ich werde sie fragen, während ich den Streckhebel langsam weiter anziehe. Und sie wird mir antworten, wird mir ihre Gefühle beschreiben, wenn nicht in Worten, dann aber in Lauten. Bist du sicher, daß du nicht mitwillst?« Und mit wildem Lachen hastete Hasjarl aus dem Zimmer. Die roten Fackeln im Torbogen schienen seine monströse krummbeinige Gestalt in Blut zu tauchen. Fafhrd knirschte mit den Zähnen. Er konnte im Augenblick nichts tun. Hasjarls Folterkammer war zugleich das Quartier seiner Wache. Trotzdem begann sich der Nordling mit einem Plan zu beschäftigen, der diese unerträgliche Situation ändern sollte. Um seine Gedanken von den unangenehmen Vorstellungen abzulenken, begann er eingehend in dem winzigen Pergamentbuch zu lesen, das ihm Ningauble als eine Art Belohnung für frühere Dienste oder als Hilfe für kommende Aufgaben am Abend seiner Abreise von Lankhmar geschenkt hatte. Fafhrd war unbesorgt, daß Hasjarls Zauberer mitbekamen, was er da las. Nach der letzten Drohung ihres Herrn waren sie hektisch am Werk wie ein Hau-
fen großer schwarzer Ameisen. Der Name Quarmall fiel mir zum erstenmal auf (las Fafhrd in Ningaubles Hand- oder Tentakelschrift) in einem Bericht, wonach bestimmte Tunnel unter diesem Land bis weit unter das Meer führten und sich bis zu Höhlen erstreckten, in denen Überreste der Urahnen leben mochten. Natürlich entsandte ich Agenten, die diesem Bericht auf den Grund gehen sollten. Zwei gutausgebildete, wertvolle Spione wurden ausgeschickt (dazu zwei Leute, die sie unter Beobachtung halten sollten), um die Tatsachen von den Vermutungen zu trennen. Von den Männern kehrte keiner zurück, auch erhielt ich keine Nachricht oder irgendeine sonstige Erklärung. Ich hörte nie wieder von ihnen. Ich war natürlich interessiert, doch da ich es mir damals nicht leisten konnte, wertvolles Material für ungewisse und gefährliche Erkundungen dieser Art aufs Spiel zu setzen, wartete ich ab, bis neue Informationen ihren Weg zu mir fanden, was unweigerlich irgendwann geschieht. Nach zwanzig Jahren wurde meine Geduld belohnt (ging der hingekritzelte Text weiter, dem Fafhrd gebannt folgte). Ein alter Mann, völlig zernarbt und unnatürlich bleich, wurde zu mir gebracht. Er hieß Tamorg, und was er zu erzählen hatte, interessierte mich, obwohl er seine Geschichte ziemlich unzusammenhängend vortrug. Er behauptete, er wäre als kleiner Junge aus einer vorbeiziehenden Karawane entführt und in Quarmall festgehalten worden. Hier diente er als Sklave in den Unteren Regionen, tief unter dem Erdboden. Es gab dort in der Tiefe kein natürliches Licht, und die Luft wurde mit gigantischen, menschengetriebenen Holzflügeln durch Schächte in das unterir-
dische, nachtschwarze Höhlenlabyrinth gesaugt; daher auch seine Blässe und seine ungewöhnliche Erscheinung. Tamorg beklagte sich bitter über diese Ventilatoren, denn er war an einen der Antriebsriemen angekettet gewesen – länger, als er sich vorzustellen wagte. Er wußte wirklich nicht, wie lange er dort seinen Dienst versehen hatte, denn nach seinen eigenen Worten gibt es in den Unteren Regionen keine Möglichkeit der Zeitmessung. Endlich wurde er jedenfalls von der Marschiererei erlöst, und soweit ich seinem bruchstückhaften Bericht entnehmen konnte, lag das an der Erfindung oder am Heranwachsen einer bestimmten Art von Sklave, die für diese Aufgabe besser geeignet war. Ich schließe daraus, daß die Herrscher von Quarmall hinreichend an ihrem Reich interessiert waren, um die Wirtschaftlichkeit einzelner Vorgänge zu verbessern; was in solchen Kreisen wirklich eine Seltenheit ist. Wenn dafür spezialisierte Sklaven gezüchtet wurden, mußte die Lebensspanne der quarmallischen Herrscher übrigens länger sein als normal – oder die Zusammenarbeit zwischen Vater und Sohn schien besser zu klappen als in allen sonstigen Herrscherhäusern. Tamorg berichtete auch, daß er dann beim Tunnelgraben eingesetzt wurde, zusammen mit acht anderen Sklaven, die ebenfalls von den Antriebsriemen kamen. Sie mußten bestimmte Passagen und Zimmer vergrößern und verlängern, und lange Zeit hindurch war er mit solchen Aufgaben beschäftigt. Wie lange diese Periode dauerte, läßt sich vielleicht daraus ersehen, daß er ganz allein einen Tunnel von tausen-
dundzwanzig Schritten gegraben und gemauert hat. Die Sklaven dort unten waren nicht angekettet, auch war es nicht nötig, sie nach der Arbeit anzubinden, denn die Unteren Regionen scheinen eine Wirrnis von Gängen zu sein; wenn ein armer Sklave erst einmal vom vertrauten Wege abkommt, hat er kaum ein Chance, den Rückweg zu finden. Den Gerüchten zufolge, so berichtete Tamorg, hielten sich die Herrscher von Quarmall besondere Sklaven, die sich jeden Teil der Labyrinthe eingeprägt hatten. So waren sie in der Lage, sich unbesorgt zu bewegen und auch von einem Stockwerk in das andere zu wechseln. Tamorg entkam seinem Schicksal schließlich dadurch, daß er zufällig durch eine Wand brach, an der er arbeitete. Er erweiterte die Öffnung mit seiner Hacke und beugte sich hindurch. In diesem Augenblick rempelte ihn ein anderer Sklave an, und Tamorg wurde mit dem Kopf voran in das Loch gestoßen, das er geschaffen hatte. Glücklicherweise führte es in einen senkrechten Schacht, der über einem schnellen und tiefen Unterwasserfluß endete, in den Tamorg nun stürzte. Da man das Schwimmen nicht so leicht verlernt, gelangt es ihm, an der Oberfläche zu bleiben, bis er die Außenwelt erreichte. Mehrere Tage lang blendeten ihn die Sonnenstrahlen so sehr, daß er sich überhaupt nicht zurechtfinden konnte und sich nur bei sehr dämmrigem Fackellicht wirklich wohl fühlte. Ich befragte ihn in allen Einzelheiten über die interessanten Dinge, die ihn dort ständig umgeben hatten, doch seine Antworten waren wenig befriedigend, da er die Kunst des Beobachtens nicht beherrschte. Ich brachte ihn schließlich als Pförtner im Palast von D... unter, dessen Schalten und Walten ich
ein wenig im Auge behalten wollte. Soweit über diese Informationsquelle. Mein Interesse an Quarmall war nun wirklich geweckt (fuhr Ningauble fort) und mein Appetit durch das magere Mahl an Informationen kaum gestillt. Ich gab mir also Mühe, noch mehr über den geheimnisvollen Staat herauszufinden. Mein Kontakt zu Sheelba verschaffte mir Verbindung zu Eeack, dem Herrscher der Ratten. Ich versprach ihm einen Geheimplan von den Gängen in die Kornlager von Lankhmar und verlockte ihn damit zu einem Gespräch. Sein Besuch war jedoch fruchtlos und auch unangenehm. Fruchtlos deshalb, weil es sich herausstellte, daß in Quarmall Ratten als Delikatesse gelten und aus diesem Grunde von besonders trainierten Wieseln gejagt werden. Natürlich hatten unter diesen Umständen Ratten in Quarmall kaum Gelegenheit, eine Spionagetätigkeit auszuüben. Das Unangenehme bei dem Besuch war Eeacks persönliche Ratteneskorte, die alles Eßbare in Reichweite ihrer scharfen Zähne vertilgte. Aus Mitleid tat mir Eeack den Gefallen, die schlafende Scraa zu wecken und zu mir zu schicken. Scraa gehört zu jenen urzeitlichen Fischwesen, die vor langer Zeit mit den monströsen Ur-Reptilien lebten und deren Rassengedächtnis bis in die nebelhaften Zeiten zurückreicht, da unsere Urahnen die Erdoberfläche noch nicht betreten hatten. Scraa übergab mir die folgende kurze Geschichte Quarmalls, auf einem Pergament aus vorsichtig gepreßten und aneinandergeklebten Insekten-Flügelpanzern säuberlich aufgeschrieben. Ich lasse den Text dieses Dokuments folgen und bitte wegen des etwas trockenen Stils um Nachsicht:
»Der Stadtstaat Quarmall birgt eine Zivilisation, wie es im Kreise der anthropoiden Sphäre kaum eine zweite gibt. Am ehesten ließe sie sich vielleicht noch mit den sklavenhaltenden Ameisen vergleichen. Die Domäne Quarmalls beschränkt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf den kleinen Berg – oder großen Hügel –, auf dem es steht; doch wie bei einer Rübe liegt der Hauptteil unter der Erde. Dies war nicht immer der Fall. Es gab eine Zeit, da die Herrscher von Quarmall über weite Ländereien und gewaltige Meere bestimmten; ihre Schiffe waren in allen bekannten Häfen zu Hause, und ihre Karawanen überbrückten die Entfernungen zwischen den Meeren. Langsam löste sich jedoch der Griff Quarmalls von den fruchtbaren Tälern und kahlen Klippen, von den Wüstenebenen und der offenen See – doch nicht freiwillig zogen sich die Herrscher von Quarmall zurück; sie wurden getrieben. Jahr um Jahr, Generation auf Generation wurden sie weiterer Besitztümer und Vorrechte beraubt, bis sie schließlich nur noch über eine einzige Festung verfügten, das starke, unbesiegbare Schloß Quarmall. Die Ursache dieser Auseinandersetzung verliert sich im Gestrüpp der Legenden; doch sie entzündete sich vermutlich an jenen unschönen Praktiken, die auch heute noch in der nahen und fernen Umgebung Quarmalls gefürchtet sind. In dem Maße, wie die Herrscher Quarmalls trotz ihrer Zaubersprüche und ihres Mutes in die Enge getrieben wurden, gruben sie sich in die Tiefe, erweiterten ihre letzte Festung nach unten und in die Breite. Jeder Herrscher drang tiefer in die Eingeweide der kleinen Erhebung, auf dem die Festung Quarmall
stand. Schließlich verging die Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit, und die Herrscher von Quarmall konzentrierten sich auf ihren Tunnelbau und kümmerten sich fast überhaupt nicht mehr um die Außenwelt. Sie hätten sie völlig vergessen, wenn nicht ein ständiger Mangel an Sklaven und an Nahrung für diese Sklaven geherrscht hätte. Die Herrscher Quarmalls sind bekanntermaßen große Zauberer, die ihre Kunst auch praktisch anzuwenden wissen. Den Gerüchten zufolge sollen sie sich jeden Menschen körperlich und auch geistig gefügig machen können.« Soweit Scraas Text. Alles in allem – ein sehr unbefriedigender Bericht, kaum ein Wort über die interessanten Tunnel, die mich zuerst gereizt hatten; nichts über Land und Leute; nicht einmal eine Karte. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß die arme alte Scraa fast völlig in der Vergangenheit lebt – die Gegenwart wird allenfalls in tausend Jahren Bedeutung für sie gewinnen. Neuerdings glaube ich nun zwei Burschen gefunden zu haben, die sich vielleicht überzeugen lassen, eine Reise dorthin zu machen ... (Mit diesem Satz gingen Ningaubles Notizen zu Ende, was Fafhrd nicht wenig irritierte und auch mißtrauisch stimmte, ein Gefühl, das von einem akuten Unbehagen ausgelöst wurde, denn jetzt wandten sich seine Gedanken wieder dem unbekannten Mädchen zu, das Hasjarl folterte.) Außerhalb des Berges von Quarmall hatte die Sonne ihren Zenit überschritten, und die Schatten wurden wieder länger. Die großen weißen Ochsen stemmten ihr Gewicht in das Geschirr. Es war heute nicht das
erstemal und würde wohl auch noch oft passieren. Jeden Monat, wenn sie sich diesem morastigen Wegstück näherten, peitschte ihr Herr sie rücksichtslos an, versuchte sie zu einer Geschwindigkeit zu bewegen, die sie einfach nicht erreichen konnten. Sie taten ihr Bestes und legten sich ins Zeug, daß das Geschirr quietschte, denn sie wußten, daß sie am Ende der Steigung mit einem Stück Salz und einer kurzen Arbeitspause belohnt wurden. Nur schade, daß gerade dieses Wegstück nach der Regenzeit sehr lange verschlammt blieb; praktisch das ganze Jahr hindurch. Aus diesem Grunde kam der Wagen hier meistens noch langsamer voran als überall sonst. Ihr Fahrer hatte guten Grund, seine Zugtiere anzutreiben. Die Wegstelle galt in seinem Ort als sehr gefährliche Ecke. An der höchsten Stelle der Steigung waren nämlich die Türme Quarmalls zu sehen; und so wie man von hier aus die Türme erkennen konnte, ließ sich von dort die Straße überschauen. Es war alles andere als gesund, sich die Türme anzuschauen oder von ihnen entdeckt zu werden. Nicht ohne Grund hielt sich dieser Glaube in der Bevölkerung. Der Ochsentreiber spuckte besorgt aus, machte eine eindeutige Geste mit den Fingern und warf über die Schulter einen furchtsamen Blick auf die hohen, spitzen Türme, als er das letzte Schlammloch durchquerte. Sein kurzer Blick offenbarte ihm ein seltsames Blitzen, ein kurzes Pulsieren von der höchsten Turmspitze. Erschaudernd stürzte er sich in die Deckung der Bäume und dankte seinen Göttern für die Rettung. Heute abend hatte er viel zu berichten in der Taverne. Die Männer würden ihm Schalen voll Wein
kaufen und bitteres Kräuterbier. Der Abend war gemacht! Ah! Wenn er jetzt nicht so schnell gefahren wäre, marschierte er vielleicht schon willenlos auf die mächtigen Tore Quarmalls zu, um dort zu dienen, bis sein Körper verging – und vielleicht auch länger. Die Bewohner seines Dorfes erzählten sich mancherlei düstere Geschichten über Zaubereien und andere Erscheinungen – Gerüchte, die keine Moral hatten, auf die jedoch alle Männer achtgaben. War nicht erst am letzten Abend der Schlange der junge Twelm spurlos verschwunden? Hatte er nicht noch über die Gerüchte gespottet und sich betrunken bis zu den Terrassen von Quarmall vorgewagt? Gewiß, so war es. Und es stimmte auch, daß sein weniger mutiger Begleiter gesehen hatte, wie er zur letzten und höchsten Terrasse aufstieg, fast bis zur Höhe des Burggrabens; und als dann Twelm, aus irgendeinem Grunde alarmiert, fortrennen wollte, war sein zurückgebogener Körper blitzschnell wieder in die Dunkelheit gezerrt worden. Nicht einmal ein Schrei war zu hören gewesen zum Zeichen, daß Twelm diese Erde und seine Mitbürger verlassen hatte. Juln, der weniger mutige oder weniger tollkühne Begleiter Twelms, war seither fast immer betrunken gewesen. Auch wagte er sich des Nachts nicht mehr ins Freie. Auf dem Weg zum Dorf legte sich der Ochsentreiber seine Geschichte zurecht. Auf seine einfache Art versuchte er eine Möglichkeit zu finden, sich als Held herauszustellen. Doch während er sich mühsam einen einfachen, für ihn vorteilhaften Bericht ausdachte, kam ihm wieder das Schicksal jenes Mannes zu Bewußtsein, der beweisen wollte, daß man Quarmalls Weinberge ausplündern konnte; ein Mann, dessen
Name nur noch flüsternd genannt wurde. Der Fahrer entschloß sich, seine Geschichte auf die Tatsachen zu beschränken, so einfach diese auch waren. Er konnte sich ohnehin darauf verlassen, daß jedes Anzeichen von quarmallischer Aktivität gebührendes Entsetzen hervorrufen würde. Während der Fahrer seine Ochsen antrieb, während der Mausling zwei Schattenmenschen bei ihrem Gedankenspiel zuschaute, während sich Fafhrd mit Wein vollaufen ließ bei dem Gedanken an ein unbekanntes Mädchen, das Schmerzen erdulden mußte – war Quarmal, Oberherr von Quarmall, damit beschäftigt, sein Horoskop für das nächste Jahr zu erstellen. Im höchsten Turm der Burg hatte er sich an die Arbeit gemacht und stellte sich das riesige Astrolabium und all die anderen massiven Instrumente zurecht, die er für seine Beobachtungen benötigte. Durch die bestickten Vorhänge brannten die Strahlen der Nachmittagssonne in das kleine Zimmer; sie wurden von den polierten Flächen reflektiert und brachen in regenbogenbunter Vielfalt. Es war sehr warm, auch für Quarmal, der nur eine leichte Robe trug, und er trat an die Fenster zur Schattenseite, öffnete die Vorhänge und ließ die kühle Moorbrise durch seine Sternwarte streichen. Müßig wanderte sein Blick über das wellige Land. Tief unten am terrassenförmigen Hang war der kleine gewundene Strich der Straße zu erkennen, die zum Dorf führte. Die Gestalten darauf kamen ihm wie Ameisen vor, die sich durch eine klebrige Falle quälten, und wie
Ameisen verschwanden sie. Quarmal wandte den Fenstern seufzend den Rücken. Es tat ihm leid, daß er nicht einen Augenblick früher geschaut hatte. Sklaven waren immer rar. Außerdem wäre das eine gute Gelegenheit gewesen, eine neue Erfindung auszuprobieren. Aber es war nicht Quarmals Art, der Vergangenheit nachzuhängen. Achselzuckend konzentrierte er sich wieder auf seine Arbeit. Auf den ersten Blick wirkte Quarmal wie ein gewöhnlicher alter Mann. Der Unterschied trat erst bei Betrachtung seiner Augen hervor. Sie hatten eine außergewöhnliche Form, und die Augäpfel waren tiefrot. Ihre schneeweiße Iris hatte einen changierenden Schimmer, wie er sich nur bei Meeresbewohnern findet; diese Eigenart verdankte er seiner Mutter, einer Meerfrau. In seinen schwarzen Pupillen schimmerte eine unvorstellbar bösartige Intelligenz. Seine Kahlheit wurde durch die langen schwarzen Haarbüschel betont, die über seinen Ohren hervortraten. Die bleiche, zernarbte Haut seiner Wangen war schlaff, spannte sich jedoch fest über die hohen Wangenknochen. Dünn wie eine Messerklinge, gab ihm die lange, vorspringende Nase das Aussehen eines alten Falken. Wenn Quarmals Augen das auffallendste Merkmal seines Gesichts waren, so mußte der Mund als sein schönstes gelten. Die Lippen waren voll, weich, tiefrot – bemerkenswert für einen Mann seines Alters –, und sie hatten jene besondere Beweglichkeit, wie sie zuweilen bei Rednern und Schauspielern zu finden ist. Wäre Quarmal die Eitelkeit nicht fremd gewesen, hätte er sich auf die Schönheit seines Mundes vielleicht etwas einbilden können; so trugen die voll-
kommenen Lippen nur dazu bei den Schrecken seiner Augen noch zu unterstreichen. Mit verschleiertem Blick starrte er nun durch die Eisenringe des Astrolabiums auf ein Duplikat seines Gesichts, das an einem fensterlosen Quadrat der gegenüberliegenden Wand befestigt war – seine eigene Lebensmaske, vor kaum einem Jahr genommen und sehr realistisch angemalt und von seinem besten Künstler mit Haaren versehen; realistisch bis auf die weißen Augen, die logischerweise geschlossen waren. Trotzdem schien die Maske jedem Anwesenden mit den Blicken zu folgen. Diese Maske war die neueste in mehreren Reihen ähnlicher Gebilde – eine Folge von Masken, in der jedes Gesicht älter wirkte als das nachfolgende. Obwohl einige Gesichter häßlich und viele gutaussehend waren, bestand doch eine starke Familienähnlichkeit zwischen allen Gesichtern; die männliche Linie des Herrscherhauses von Quarmall kannte, wenn überhaupt, nur sehr wenig fremdes Blut. Insgesamt hingen weniger Masken an der Wand, als man vielleicht erwarten konnte, denn die meisten Herrscher Quarmalls lebten sehr lange und hatten erst spät Kinder. Andererseits war ihre Zahl alles andere als gering, da Quarmall auf eine wirklich lange Geschichte zurückblicken konnte. Die ältesten Masken waren nicht mehr braun, sondern fast schwarz, und sie bestanden auch nicht aus Wachs, sondern aus den abgezogenen und einbalsamierten Gesichtshäuten der urzeitlichen Herrscher. Die Kunst des Hautgerbens war in Quarmall schon früh zu großer Vollkommenheit gebracht worden und wurde auch heute noch eifersüchtig bewahrt.
Quarmal senkte den Blick von der Maske auf seinen leicht bekleideten Körper. Er war hager, und Hüften und Schultern legten noch heute Zeugnis davon ab, daß er früher auf die Falkenjagd gegangen war und manchen Kampf mitgemacht hatte. Sein Spann war noch hochgewölbt, sein Schritt noch immer leicht. Lang und schmal waren seine knochigen Finger, während die fleischigen, muskulösen Handflächen von besonderer Beweglichkeit und Geschicklichkeit zeugten – eine unerläßliche Fähigkeit für einen Mann von seiner Berufung. Denn Quarmal war Zauberer – wie alle quarmallischen Herrscher seit ältester Vorzeit. Von Kind auf wurde jeder männliche Nachkomme der Familie dieser Tradition verpflichtet. Als sich Quarmal vom Fenster abwandte, um seinen Pflichten nachzukommen, dachte er über seine Lage nach. Es war ein Nachteil für das Haus Quarmall, daß er nicht nur einen, sondern zwei Erben aufzuweisen hatte. Beide Söhne waren tüchtige Zauberer und kannten sich mit den verwandten Wissenschaften hinreichend aus; beide waren auch sehr ehrgeizig und voller Haß. Dieser Haß richtete sich nicht nur gegen den Bruder, sondern auch auf ihren Vater Quarmal. Quarmal schloß die Augen und dachte an Hasjarl in seinen Oberen Regionen unterhalb der Burg – und dann an Gwaay in den Unteren Regionen darunter. Hasjarl, der seine Leidenschaften kultivierte, als schmorte er bereits im heißesten Loch der Hölle, der voller Energie ständig in Bewegung war und alle Welt mit Peitsche und Folterkammer bedrohte und seine Drohungen auch wahr machte – und der jetzt
einen mächtigen Kämpfer als seinen Leibwächter angeworben hatte ... Dagegen hielt sich Gwaay zurück, als säße er im kühlsten Teil der Hölle und versuchte sein Leben auf die Kunst und das intuitive Denken zu reduzieren, versuchte in der Meditation einen Weg zu finden, lebloses Gestein seinem Willen zu unterwerfen und den Tod mit Willenskraft zu bezwingen – Gwaay, der jetzt einen kleinen grauen Mann zu sich genommen hatte, einen Mann, der wie der jüngere Bruder des Todes aussah und der sein Beschützer sein sollte ... Quarmal dachte an Hasjarl und Gwaay, und ein seltsam väterlich-stolzes Lächeln stand auf seinem Gesicht, bis er gleich darauf den Kopf schüttelte und das Lächeln zu einer Grimasse wurde. Nur gut, daß er ein alter Mann war, überlegte Quarmal, ein Mann, der den Höhepunkt seines Lebens längst überschritten hatte, auch nach der Zählung der Zauberer. Es wäre nicht schön gewesen, in den Blütejahren zu sterben oder gar im Zwielicht des Aufwachsens. Er wußte, daß sich trotz aller Schutzzauber und sonstiger Vorsichtsmaßnahmen früher oder später der Tod zu ihm ins Bett schleichen oder ihn in einem Augenblick der Unachtsamkeit anspringen würde. Heute abend mochte das Horoskop ihm das unentrinnbare Näherrücken des Todes anzeigen; und obwohl die Menschen mit Lügen lebten und vor sich selbst noch die Wahrheit als Lüge hinstellten, war an der Aussage der Sterne doch nicht zu rütteln. Er wußte, daß seine Söhne von Tag zu Tag geschickter wurden in der Anwendung ihrer Zauberkünste, die er ihnen beigebracht hatte. Auch durfte sich Quarmal nicht gegen sie wehren, indem er sie etwa umbringen ließ. Es war zwar denkbar, daß ein
Bruder den anderen tötete oder ein Sohn seinen Vater, doch eine alte Tradition verbot es dem Vater, seinen Sohn aus dem Weg zu räumen. Es gab eigentlich keinen rechten Grund für diese Regel, doch man konnte sich nicht einfach über sie hinwegsetzen. Quarmal dachte an das Baby, das im Leib Kewissas heranwuchs – der augenblicklichen Lieblingskonkubine des Herrschers. Soweit er sich seiner Vorsichtsmaßnahmen und seiner Aufmerksamkeit sicher sein konnte, war dies sein Kind – und Quarmal war gewöhnlich der aufmerksamste und zynischrealistischste aller Menschen. Wenn das Baby lebend geboren wurde und ein Junge war – wie es vom Orakel prophezeit wurde –, und wenn Quarmal noch zwölf Jahre Zeit hatte, den Jungen zu erziehen, und wenn Hasjarl und Gwaay von einem bösen Schicksal ereilt wurden – oder von der Klinge des anderen Bruders ... Quarmal führte seinen Gedanken nicht zu Ende. Solche Hoffnungen durfte er sich gar nicht erst machen. Zu erwarten, daß er noch zwölf Jahre lebte, wobei Hasjarls und Gwaays magische Kräfte von Tag zu Tag zunahmen, oder daß seine beiden Nachkommen, die stets sehr vorsichtig waren, ohne sein Zutun den Tod fanden – das waren bloße Spekulationen, die nur Zeit kosteten. Er sah sich um. Die Vorbereitungen für die Stellung des Horoskops waren beendet, die Instrumente eingestellt und aufgereiht; jetzt kam es nur noch auf die abschließenden Beobachtungen und ihre Interpretation an. Quarmal nahm einen kleinen Bleihammer zur Hand und schlug damit gegen einen Metallgong. Kaum war das Geräusch verhallt, als ein großer,
kostbar gekleideter Mann im Torbogen erschien. Flindach war der Oberste Zauberer Quarmalls. Er hatte viele Pflichten am Hof – Pflichten, die jedoch nicht immer offen zutage traten. Seine Macht, die der Quarmals nur wenig nachstand, blühte im verborgenen. Ein müder Zug der Grausamkeit bestimmte sein dunkles Gesicht, gab ihm fast einen gelangweilten Ausdruck, der kaum zu dem übermächtigen Interesse passen wollte, das er anderen Menschen und ihren Angelegenheiten entgegenbrachte. Flindach war kein hübscher Mann; ein purpurnes Muttermal bedeckte seine linke Wange, drei große Warzen bildeten auf der anderen Seite ein Dreieck, während Nase und Kinn derart vorsprangen, daß er fast ein Hexengesicht hatte. Seine Augen standen in seltsamem Kontrast zum übrigen Gesicht – sie waren rot-weiß und schimmerten wie die seines Herrn; er war ein jüngerer Sohn derselben Meerfrau, die auch Quarmal geboren hatte, nachdem Quarmals Vater sich von ihr getrennt und sie, einer der bizarren Traditionen Quarmals folgend, seinem Obersten Zauberer überlassen hatte. Flindachs Augen, groß, hypnotisch starrend, bewegten sich nun unruhig, als Quarmal zu sprechen begann: »Gwaay und Hasjarl, meine Söhne, sind in ihren Regionen am Werk. Es wäre ratsam, sie zum Abend im Ratsraum zusammenzurufen. Denn heute ist die Nacht, in der mein Schicksal sich enthüllen wird. Und ich spüre, daß keine guten Nachrichten auf mich warten. Sag ihnen, sie sollen zusammen essen und sich ruhig damit vergnügen, meinen Tod zu planen ... oder den Tod des Bruders ...« Er preßte die Lippen zusammen, als das letzte
Wort gesprochen war, und sein Gesichtsausdruck ließ nicht darauf schließen, daß er bald dem Tod ins Auge sehen würde; er hatte einen grausamen Zug um den Mund. Flindach, der in Erfüllung seiner Pflichten manches Entsetzliche erlebt hatte, vermochte kaum ein Erschauern zu unterdrücken, als der Blick seines Herrn ihn streifte, doch er dachte an seine Stellung, machte eine unterwürfige Handbewegung und verschwand wortlos durch die Tür. Der Graue Mausling nahm den Blick nicht von Flindach, als dieser durch den dämmerigen Kuppelraum der Zauberer heranmarschierte und neben Gwaay stehenblieb. Den Mausling faszinierten die Warzen und das Muttermal im Gesicht des kostbar gekleideten bleichen Mannes und ganz besonders die unheimlich rot-weißen Augen, und er verschaffte diesem angenehmen Gesicht sofort einen Ehrenplatz in der großen Sammlung verrückter Visagen, die er auf seinen Reisen schon zu Gesicht bekommen hatte. Obwohl er die Ohren spitzte, konnte er nicht verstehen, was Flindach zu Gwaay sagte und was dieser ihm antwortete. Gwaay beendete das telekinetische Spiel, indem er seine schwarzen Steine schwungvoll über die Mittellinie schickte – in einem gewaltigen Pulk, der die Hälfte der weißen Figuren seines Gegners von der Spielfläche fegte. Dann stand er geschmeidig auf. »Ich esse heute abend mit meinem geliebten Bruder in den Gemächern meines über alles verehrten Vaters«, sagte er klangvoll in die Runde. »Während meines Aufenthalts dort und in der Anwesenheit des großen Flindach kann mir kein Zauber etwas anha-
ben. Ihr könnt euch also eine Zeitlang von euren Schutzbemühungen erholen, o meine tüchtigen Magier Ersten Ranges.« Er wandte sich zum Gehen. Der Mausling, der herzlich gern die Chance ergriff, wieder einmal den Himmel zu sehen, auch wenn es nur kalte Nacht war, sprang ebenfalls von seinem Sitz auf und rief: »Ho, Prinz Gwaay! Geschützt vor allem Zauber bist du zwar – aber bedarfst du nicht des physischen Schutzes meiner Klingen während des Abendessens? Es gibt manchen großen Prinzen, der niemals König wurde, weil man ihm zwischen Suppe und Fisch ein kaltes Eisen zwischen die Rippen servierte. Ich kann auch sehr gut jonglieren und Zaubertricks vorführen.« Gwaay musterte den Mausling. »Auch kann kein Stahl mich verletzen, solange der Arm meines Vaters schützend über mir wacht«, rief er so leise, daß der Mausling das Gefühl hatte, die Worte würden ihm wie Federbällchen zugeworfen. »Du bleibst hier, Grauer Mausling.« Das war eindeutig ein Befehl, doch der Mausling, der schon einen langweiligen Abend auf sich zukommen sah, gab sich noch nicht zufrieden. »Da ist außerdem der große Zauber, von dem ich dir schon erzählt habe, Prinz, ein Zauber, der besonders bei Magiern Zweiten Ranges wirkt, wie sie dein schändlicher Bruder beschäftigt. Da wäre doch jetzt eine gute Gelegenheit ...« »Kein Zauber stört den Frieden dieses Abends!« unterbrach ihn Gwaay entschieden, wenn er auch kaum lauter sprach als zuvor. »Es wäre eine Beleidigung für meinen Vater und seinen großen Diener Flindach, den Obersten Zauberer, an so etwas auch
nur zu denken! Halte deine Zunge im Zaum, Schwertkämpfer, bewahre die Ruhe!« Seine Stimme bekam etwas Salbungsvolles. »Es kommt die Zeit der Zauberer und der Schwerter, wenn sich keine friedliche Lösung bietet.« Flindach begleitete diese Worte mit einem feierlichen Nicken, und die beiden Männer schritten davon. Der Mausling setzte sich. Zu seiner Überraschung hatten sich die zwölf alten Zauberer in ihren großen Stühlen bereits zusammengerollt und schnarchten laut. Jetzt blieb ihm nicht mal die Chance, sich die Zeit mit dem Gedankenspiel zu vertreiben, das er unbedingt lernen wollte, oder einen der Zauberer zu einer normalen Runde Schach herauszufordern. Das konnte ja ein wirklich düsterer Abend werden! Dann kam dem Mausling eine großartige Idee. Er hob die Hände, wölbte sie und schlug die Handflächen leise zusammen, wie er es bei Gwaay gesehen hatte. Augenblicklich erschien das schlanke Sklavenmädchen Ivivis in der Tür auf der anderen Seite. Als, sie sah, daß Gwaay verschwunden war und seine Zauberer schliefen, begann sie zu lächeln. Sie huschte mit blitzenden Beinen auf den Mausling zu, hüpfte ihm auf den Schoß und schlug ihre geschmeidigen Arme um seinen Hals. Stumm trat Fafhrd in einen dunklen Nebengang, als Hasjarl durch den fackelerleuchteten Korridor geeilt kam. Er war in Begleitung eines kostbar gekleideten Mannes mit roten Augen, der das Gesicht voller Warzen und Muttermale hatte, und eines bleichen, gutaussehenden Jünglings mit seltsam alten Augen.
Natürlich wußte Fafhrd nicht, daß die beiden Männer Flindach und Gwaay waren. Hasjarl schien in höchster Erregung zu sein, denn er schnitt verrückte Grimassen und rang wild die Hände, als wollte seine Linke die Rechte besiegen. Seine Augen jedoch waren fest geschlossen. Als er hastig vorbeistampfte, glaubte Fafhrd, auf einem der Lider eine kleine Tätowierung auszumachen. Fafhrd hörte den Rotäugigen sagen: »Wir brauchen uns nicht zu beeilen, Lord Hasjarl. Wir erreichen den Bankettsaal deines Vaters noch früh genug.« Hierauf wußte Hasjarl nur mit einem Schnauben zu antworten, während der bleiche junge Mann sagte: »Mein Bruder war schon immer ein Wunder an Pflichtgefühl.« Fafhrd trat vor und sah den drei Gestalten nach, bis sie um eine Gangbiegung verschwanden. Dann setzte er sich in Bewegung und folgte dem Geruch heißen Eisens, bis er Hasjarls Folterkammer erreichte. Der Raum war groß und niedrig und eigentlich noch am besten erleuchtet von allen Gängen und Höhlen, die Fafhrd in diesen sogenannten Oberen Regionen bisher kennengelernt hatte. Zu seiner Rechten stand ein flacher Tisch, um den sich fünf gedrungene, kräftige Männer scharten, die noch krummere Beine hatten als Hasjarl und die kurze, bis zu den Lippen reichende Gesichtsmasken trugen. Sie nagten lautstark an Knochen, die sie sich von einem großen Teller herabgezerrt hatten, und schlürften Wein aus großen Ledersäcken. Vier Masken waren schwarz, die fünfte rot. Hinter ihnen leuchtete in einem runden Backsteinofen, der etwa hüfthoch aufragte, ein helles Kohlen-
feuer. Der Eisengrill an der Oberseite schimmerte rötlich. Eine gekrümmte alte Frau in Lumpen bewegte langsam einen Blasebalg, und mit jedem Luftstrom, der über das Feuer fuhr, wurde die Glut der Kohlen weiß. Links und rechts zogen sich an den Wänden all die Metall- und Lederinstrumente hin, deren Zweck schon an ihrer äußeren Form abzulesen war. Auf schockierende Weise menschlichen Körperteilen angepaßt, ließen sie ahnen, welche Pein sie bereiten konnten: Stiefel, Halskrausen, Masken, eiserne Jungfrauen, Schraubstöcke und dergleichen mehr. Links lag ein blondes, ansehnlich proportioniertes Mädchen auf einem Streckbett. Sie trug eine weiße Untertunika. Ihre rechte Hand steckte in einem eisernen Halb-Handschuh, der mit einem Zugapparat verbunden war. Obwohl ihr Gesicht tränenüberströmt war, schien sie im Augenblick keine Schmerzen zu haben. Fafhrd ging auf sie zu und zog dabei mit schneller Bewegung einen Ring aus seinem Beutel und schob ihn auf den Mittelfinger seiner rechten Hand. Es war ein massiver Silberring mit einem großen schwarzen Siegel, das Hasjarls Zeichen, eine geballte Faust, zeigte. Gwaays Abgesandter hatte ihm diesen Ring in Lankhmar gegeben, als Zeichen des guten Willens. Bei Fafhrds Annäherung riß das Mädchen entsetzt die Augen auf. Fafhrd eilte an der Streckbank vorbei und gönnte ihr kaum einen Blick. Er wandte sich dem Tisch mit den Maskierten zu, die ihre Mahlzeit unterbrochen hatten und ihm mit aufgesperrten Mündern entgegenblickten. Er streckte ihnen den rechten Handrük-
ken hin und rief im Befehlston: »Kraft dieses Siegels befehle ich euch, mir Friska herauszugeben!« Aus dem Mundwinkel raunte er dem Mädchen zu: »Nur Mut!« Das schwarzmaskierte Wesen, das jetzt wie ein Terrier auf ihn zukam, schien Hasjarls Siegel entweder nicht sofort zu erkennen oder seine Bedeutung nicht zu begreifen, denn er sagte nur: »Vorsichtig, Barbar, dieses leckere Stück ist nicht für dich!« Mit fettigem Finger fuchtelte er Fafhrd vor der Nase herum. »Deine Gelüste mußt du woanders befriedigen. Unser Herr ...« Fafhrd brüllte: »Wenn du die Autorität der Geballten Faust nicht anerkennen willst, mußt du sie zu spüren bekommen.« Und er ballte die Ringhand zur Faust und schlug sie dem Folterknecht so heftig vor das Kinn, daß der Mann in die Knie ging, ein Stück auf dem Boden dahinglitt und still liegenblieb. Fafhrd wandte sich sofort den anderen Männern zu, die sich halb von ihren Sitzen erhoben hatten. Er klatschte mit der Hand auf Graywands Griff, ohne das Schwert zu ziehen, stemmte die andere Hand in die Hüfte und wandte sich an den rotmaskierten Mann. Im Tonfall Hasjarls bellte er: »Unser Herr der Geballten Faust hat sich die Sache überlegt und mir befohlen, das Mädchen zu holen, damit er sie während des Essens weiter unterhalten kann. Es soll ein Spaß für die anderen Leute werden, mit denen er ißt. Habt ihr es lieber, wenn ich als neuer Diener Hasjarl von eurem Versagen berichte? Laßt sie schnell frei und ich sage nichts.« Mit dem Finger deutete er auf die alte Frau am Blasebalg. »Du! Hol mir ihr Kleid.« Nun gab es für die Maskierten kein Halten mehr; sie sprangen los, um seine Befehle in Windeseile zu
erfüllen. Dabei war die eine oder andere gemurmelte Entschuldigung zu hören, die Fafhrd jedoch ignorierte. Sogar der Mann, den er zu Boden geschlagen hatte, rappelte sich langsam wieder auf und versuchte taumelnd mitzuhelfen. Das Mädchen wurde unter Fafhrds Aufsicht aus der Handgelenk-Drehschraube befreit, und saß nun auf der Kante der Streckbank, als die alte Frau ein Kleid und zwei Schuhe brachte, die seltsam verziert waren. Das Mädchen wollte danach greifen, doch Fafhrd nahm ihr die Sachen vor der Nase weg, packte ihren Arm, zerrte sie grob hoch. »Dafür ist jetzt keine Zeit«, sagte er heftig. »Wir lassen Hasjarl entscheiden, was du zum Essen tragen sollst.« Ohne weitere Umstände marschierte er aus der Folterkammer und zerrte das Mädchen mit. Dabei sprach er ihr murmelnd Mut zu. Als sie die erste Korridorbiegung hinter sich gebracht und einen dunklen Nebengang erreicht hatten, blieb er stehen und musterte sie stirnrunzelnd. Sie starrte ihn furchtsam an, wich vor ihm zurück. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und sagte furchtsamentschlossen: »Wenn du mich unterwegs vergewaltigst, sage ich es Hasjarl.« »Ich will dich nicht vergewaltigen, sondern retten, Friska«, versicherte ihr Fafhrd hastig. »Daß ich von Hasjarl komme und dich holen soll, war doch nur ein Trick. Wo gibt es hier einen abgeschiedenen Raum, in dem ich dich ein paar Tage verstecken kann? Ich brauche noch etwas Zeit, ehe wir diese muffigen Höhlen für immer verlassen. Ich bringe dir auch zu essen und zu trinken.« Friska schaute ihn entsetzter an als zuvor: »Du
meinst, Hasjarl hat dir gar keinen Befehl gegeben? Und du willst aus Quarmall fliehen? Oh, Fremder, Hasjarl hätte mir vielleicht ein wenig das Handgelenk verbogen, mich nicht allzu sehr verstümmelt und nur alle möglichen Schmähungen auf mein Haupt geladen – aber umgebracht hätte er mich nicht. Wenn er jetzt aber vermuten muß, daß ich aus Quarmall fliehen will ... Bring mich sofort zurück in die Folterkammer!« »Auf keinen Fall!« sagte Fafhrd gereizt und sah sich hastig in dem leeren Korridor um. »Nimm dich zusammen, Mädchen! Quarmall ist nicht die ganze Welt, Quarmall ist nicht der Himmel und die Sterne und das Meer. Wo gibt es hier ein Versteck?« »Es ist doch hoffnungslos«, sagte sie zögernd. »Wir kommen niemals hinaus! Die Sterne sind ein Märchen. Bring mich zurück.« »Damit ich dann als Narr dastehe? Nein, kommt nicht in Frage!« sagte Fafhrd heftig. »Wir retten dich vor Hasjarl und auch vor Quarmall. Komm, stell dich darauf ein, Friska, denn ich lasse mich nicht umstimmen. Wenn du schreien willst, stopfe ich dir den Mund. Wo gibt es hier ein Versteck?« In seiner Erregung hätte er ihr fast den Arm umgedreht, doch er dachte noch rechtzeitig an das Schicksal, vor dem er sie bewahrt hatte, und hielt sich zurück. Statt dessen beugte er sich zu ihr herab und befahl heiser: »Du sollst überlegen!« Außer nach Schweiß und Tränen roch sie leicht nach Heidekraut. Ein abwesender Ausdruck trat in ihre Augen, und sie sagte leise, fast träumerisch: »Zwischen den Oberen und den Unteren Regionen gibt es einen großen Saal, der von zahlreichen kleinen Zimmern umgeben
ist. Angeblich ging es dort früher mal sehr geschäftig zu. Jetzt ist der Saal aber strittiges Gebiet zwischen Hasjarl und Gwaay. Beide erheben Anspruch darauf, doch keiner will dafür sorgen oder etwa dort Staub wischen. Wir nennen ihn den Gespenstersaal.« Ihre Stimme wurde noch leiser. »Gwaays Page hat mich gebeten, ihn einmal auf dieser Seite des Saales zu treffen, aber ich habe mich nicht getraut.« »Ha, da sind wir richtig!« sagte Fafhrd grinsend. »Führ uns hin.« »Aber ich weiß den Weg nicht mehr«, wandte Friska ein. »Gwaays Page hat's mir gesagt, aber ich wollte es vergessen ...« Fafhrd hatte in dem dunklen Seitengang eine Wendeltreppe entdeckt. Sofort marschierte er darauf zu und zerrte Friska mit. »Wir wissen, daß wir auf jeden Fall nach unten müssen«, sagte er und lachte rauh. »Dann fangen wir mal damit an. Unterwegs wird dein Gedächtnis schon besser, Friska.« Der Graue Mausling und Ivivis hatten sich mit Küssen und Umarmungen getröstet, wie sie in Gwaays Saal der Zauberer noch angebracht erschienen – in einem Saal, der allerdings im Augenblick nur schlafende Zauberer enthielt. Dann waren sie auf Wanderschaft gegangen, zunächst hauptsächlich auf Ivivis Betreiben, gewiß, doch dann hatte auch der Mausling mitgemacht. Sie besuchten eine Küche in der Nähe, wo der Mausling dem dicken Koch drei große Stücke halbdurchgebratenes Fleisch abgeluchst hatte, die er mit großem Appetit verspeiste. Nachdem auf diese Weise eines seiner Gelüste ge-
stillt war, hatte sich der Mausling weiterführen und sogar zur Besichtigung eines Pilzfeldes verleiten lassen. Ein seltsamer Anblick war das gewesen zwischen den großen Felssäulen – die weißschimmernden Pilzköpfe in düsteren, engen Reihen, die sich in der ammoniakstinkenden Dunkelheit im Nichts zu verlieren schienen. Hier hatten sie sich auch zu necken begonnen. Er hatte Ivivis scherzhaft vorgehalten, sie hätte sicherlich schon viele Liebhaber gehabt, die ihren Reizen nicht hatten widerstehen können. Sie hatte das zunächst entschieden abgestritten, doch schließlich zugegeben, daß es da einen gewissen Klevis gab, ein Page Gwaays, für den ihr Herz ein- oder zweimal schneller geschlagen hatte. »Und, Grauer Mann, du nimmst dich am besten vor ihm in acht«, hatte sie gesagt und warnend den Finger gehoben, »denn er ist der temperamentvollste und geschickteste Schwertkämpfer Gwaays.« Um das Thema zu wechseln hatte sie ihn dann – inzwischen gingen sie Hand in Hand – in einen Weinkeller geführt. Hier war ein alter Butler nach einigem Zureden bereit, einen großen Krug mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit herauszurücken. Zum Entzücken des Mauslings erwies sich der Wein als eine besondere Köstlichkeit ohne den geringsten bitteren Beigeschmack. Ein zweiter Wunsch fand auf diese Weise seine Befriedigung; ein dritter Appetit machte sich nun aber um so stärker bemerkbar. Händchenhalten genügte dem Mausling plötzlich nicht mehr, und Ivivis' hellgrünes Kleid war kein Objekt für seine Bewunderung oder Komplimente mehr, sondern nur ein Hindernis,
das er möglichst schnell und mit möglichst wenig Ziererei überwinden wollte. Nun übernahm er das Kommando und führte sie, soweit er sich daran erinnerte, auf dem direkten Weg zu der kleinen Kammer, in der er seine Beute verstaut hatte, eine Kammer, die zwei Stockwerke unter der großen Halle der Zauberer lag. Endlich fand er den gesuchten Korridor, der mit schweren purpurnen Teppichen behangen war und hier und dort durch Kronleuchter erhellt wurde, die an jeweils drei Kupferketten von der Decke hingen und drei Kerzen enthielten. Bisher war Ivivis mit einem Minimum an Flirt und Zaudern und unschuldigen Fragen ausgekommen, was er denn vorhabe und warum sie sich so beeilten. Doch nun wurde ihr Zögern offensichtlich, in ihren Augen stand echtes Unbehagen oder sogar Angst, und als er vor dem Vorhangschlitz stehenblieb, der die Tür zu seiner Kammer verhüllte, und sich den höflichsten aller lüsternen Blicke abrang, den er auf Lager hatte, und ihr bedeutete, daß sie ihr Ziel erreicht hatten, fuhr sie heftig zurück und schlug eine Hand vor den Mund. »Grauer Mausling«, flüsterte sie leise, und in ihren Augen stand ein ängstlicher und zugleich flehender Ausdruck. »Ich hätte dir gleich ein Geständnis machen sollen, das ich jetzt nachholen muß. Durch einen schlimmen Zufall, wie sie in Quarmall immer wieder vorkommen, hast du als dein Versteck die Kammer ausgesucht, in der ...« Ein Glück für den Grauen Mausling, daß er Ivivis' Blick und Tonfall nicht einfach abtat, sondern daß er von Natur aus wachsam und mißtrauisch war. Außerdem machte sich an seinen Knöcheln ein leichter
Luftzug bemerkbar, der unter dem Vorhang hervorstrich. Ohne Vorwarnung zuckte in diesem Augenblick eine Faust mit einem spitzen Dolch aus dem Vorhangschlitz. Die Klinge sollte seine Kehle treffen. Mit der linken Hand, die der Mausling gehoben hatte, um Ivivis ihr Liebesnest zu zeigen, schlug er den Arm, der in einem schwarzen Ärmel steckte, zur Seite. Das Mädchen schrie unterdrückt auf: »Klevis!« Mit der rechten Hand packte der Mausling das Handgelenk, das an ihm vorbeischnellte, und drehte es herum. Mit der gespreizten Linken versetzte er seinem Angreifer gleichzeitig einen kräftigen Hieb in die Achselhöhle. Doch der Griff des Mauslings, hastig angesetzt, glitt ab, und er verlor ein wenig das Gleichgewicht. Klevis war nicht so ungeschickt, sich zu widersetzen und einen ausgekugelten oder gebrochenen Arm zu riskieren. Er hechtete sich in einen Salto, der der Bewegung des Mauslings folgte. In der Folge verlor Klevis seinen Dolch, der dumpf auf den mit Teppichen bedeckten Boden polterte, machte sich vom Mausling frei, landete nach zwei weiteren Purzelbäumen elegant auf den Füßen, fuhr sofort herum und zog sein Kurzschwert. Inzwischen hatte auch der Mausling sein Rapier gezückt. Seinen Dolch Katzenklaue hielt er auf dem Rücken bereit, den Blicken seines Gegners entzogen. Vorsichtig griff er an, täuschte Angriffe vor, wich wieder zurück. Wenn Klevis nachdrängte und ihn an eine Wand zu manövrieren versuchte, gab er nach, ließ dem Gegner Platz und parierte die Hiebe erst im letzten Augenblick, so daß die Klinge des Gegners
immer wieder dicht an ihm vorbeizischte. Nun stürmte Klevis immer mächtiger gegen den kleinen Mann an. Der Mausling parierte, diesmal mit hohem Schlag und ohne sich zurückzuziehen. Sofort standen die beiden Männer Körper an Körper, und ihre hochgereckten Schwerter lagen dicht an den Griffen überkreuz. Der Mausling drehte sich ein wenig und stoppte Klevis' Knie, das ihm in den Unterleib fahren sollte. Gleichzeitig stach er mit seinem Dolch, den der andere übersehen hatte, von unten zu. Katzenklaue drang unter Klevis' Brustbein ein und verschwand bis zum Griff im Körper des Mannes. Der Mausling ließ seine Waffe los, stieß den Mann von sich und wandte sich um. Ivivis starrte die beiden Kämpfer an, Klevis' langen Dolch zum Stoß erhoben. Der Tote fiel dumpf zu Boden. »Wen wolltest du erstechen?« fragte der Mausling. »Ich weiß es nicht«, antwortete das Mädchen tonlos. »Wahrscheinlich dich.« Der Mausling nickte. »Bevor wir unterbrochen wurden, wolltest du sagen: ›Die Kammer, in der ...‹ Wie geht der Satz weiter?« »... in der ich mich oft mit Klevis getroffen habe, um bei ihm zu sein«, erwiderte sie. Wieder nickte der Mausling. »Du hast ihn also geliebt, und ...« »Halt den Mund, du Narr!« unterbrach sie ihn. »Ist er tot?« Wut und Kummer schwangen in ihrer Stimme mit. Der Mausling wanderte langsam an dem Toten entlang, bis er neben dem Kopf stand. Er betrachtete
das Gesicht und sagte: »Ein hübscher Jüngling.« Einen langen Augenblick starrten sie sich an wie Raubtiere, die Leiche zwischen sich. Dann wandte Ivivis ihr Gesicht ein wenig ab und sagte: »Versteck den Körper, du Narr! Es zerreißt mir das Herz, wenn ich ihn hier so liegen sehe.« Der Mausling nickte, bückte sich und rollte den Toten unter den Vorhang auf der anderen Seite des Ganges. Mit dem Fuß schob er Klevis' Schwert hinterher. Dann zog er Katzenklaue aus der Wunde, die nur wenig blutete. Er säuberte die Klinge an dem Vorhang, den er dann zurechtzupfte, bis der Tote nicht mehr zu sehen war. Er richtete sich auf, riß dem Mädchen Klevis' Dolch aus der Hand und warf ihn ebenfalls unter den Vorhang. Vorsichtig öffnete er nun den Vorhangspalt vor seinem Zimmer, nahm das Mädchen bei der Hand und zog es auf die Tür zu, die Klevis bei seinem Angriff offengelassen hatte. Ivivis befreite sich sofort aus seinem Griff, folgte ihm aber in den Raum. Noch stand ein raubtierhafter Ausdruck in ihren Augen – ein Blick, den der Mausling zu erwidern wußte. Eine einsame Fackel erhellte die kleine Kammer. Der Mausling schloß die Tür und versperrte sie. Ivivis fuhr herum und fauchte ihn an: »Du schuldest mir viel, grauer Fremder.« Der Mausling grinste humorlos und zeigte ihr die Zähne. Er achtete nicht darauf, ob seine Schätze durcheinandergeraten waren; er kam gar nicht auf den Gedanken nachzusehen.
Fafhrd war erleichtert, als Friska ihm verriet, daß der dunkle Spalt am Ende des düsteren, langen Korridors, den sie eben betreten hatten, der Eingang zum Gespenstersaal war. Der Weg war nicht einfach zu finden gewesen; nervös hatten sie immer wieder um Ecken geschaut, hatten sich in dunkle Nischen geflüchtet, wenn jemand vorbeikam, und der Abstieg war überhaupt länger gewesen, als es sich Fafhrd vorgestellt hatte. Wenn die Unteren Regionen hier erst begannen, mußte Quarmall ja bodenlos sein! Friskas Stimmung hatte sich inzwischen sehr gebessert. Manchmal hielt sie jetzt sogar Schritt in ihrem weißen Umhang, der viel von ihrem Rücken freiließ. Fafhrd schritt entschlossen aus, Kleid und Schuhe des Mädchens in der Linken, die Axt in der Rechten. Auch wenn der Nordling erleichtert war, blieb er wachsam wie zuvor – als sich nun plötzlich eine Gestalt aus einem pechschwarzen Tunneleingang auf ihn stürzte, hieb er fast beiläufig zu und spürte, wie die Schneide ihr Ziel traf. Der junge Mann war sofort tot, seine regelmäßigen Züge waren durch Fafhrds Axt entstellt. Sie klemmte in der großen Wunde fest, die sie geschlagen hatte. Eine weiße Hand öffnete sich, und ein Schwert polterte zur Seite. »Hovis!« hörte er Friska aufschreien. »O Götter! Bei den Göttern, die sich abgewendet haben! Hovis!« Mit gestiefeltem Fuß machte Fafhrd eine Seitwärtsbewegung über die Brust des jungen Mannes. Er stemmte damit seine Axt frei und schob gleichzeitig den Toten ein wenig in den schwarzen Tunnel hinein, aus dem der Angriff erfolgt war. Nach einem schnellen Rundblick wandte er sich an
Friska, die mit bleichem Gesicht um sich starrte. »Wer ist dieser Hovis?« fragte er und schüttelte sie sanft an den Schultern, als sie nicht antwortete. Zweimal öffnete und schloß sie den Mund, während ihr Gesicht völlig ausdruckslos blieb. Sie vermochte nicht zu sprechen. Mit leisem Keuchen brachte sie schließlich heraus: »Ich habe dich angelogen, Barbar. Ich habe Gwaays Sklave Hovis hier getroffen. Und mehr als einmal.« »Warum hast du mich dann nicht gewarnt, Mädchen?« fragte Fafhrd. »Hast du geglaubt, ich würde dich wegen deines Lebenswandels schelten? Oder hast du überhaupt keine Achtung vor den Männern, Friska?« »Schimpf mich nicht aus«, flehte das Mädchen. »Bitte schimpf mich nicht aus.« Fafhrd tätschelte ihr die Schulter. »Ruhig, ruhig«, sagte er. »Ich darf nicht vergessen, daß du ja eben noch gefoltert wurdest und deine Gedanken wenig beisammen hast. Komm weiter.« Sie hatten kaum zwei Dutzend Schritte zurückgelegt, als Friska zu zittern und zu schluchzen begann, eine Gefühlsaufwallung, die schnell ihren Höhepunkt erreichte. Sie wandte sich um und rannte zurück. »Hovis! Hovis, verzeih mir, bitte!« Fafhrd packte nach kaum drei Schritten ihren Arm. Wieder schüttelte er sie, und als das nichts half, versetzte er ihr zwei klatschende Ohrfeigen, die ihr den Kopf herumwarfen. Sie hörte auf zu schluchzen und starrte ihn ausdruckslos an. Er sagte düster, ohne jede Härte: »Friska, ich muß dir sagen, daß Hovis an einem Ort ist, von dem ihn
weder deine Worte noch deine Tränen wieder zurückbringen können. Er ist tot. Unerreichbar. Und ich habe ihn getötet. Daran läßt sich nichts ändern. Aber du lebst. Du kannst dich vor Hasjarl verstecken. Und ob du es glaubst oder nicht – die Gelegenheit wird kommen, mit mir aus Quarmall zu fliehen. Und jetzt komm mit. Schau nicht mehr zurück.« Blindlings ließ sie sich weiterführen, und nur ein leises Stöhnen war die Antwort. Der Mausling rekelte sich wohlig auf dem silbrigen Bärenfell, das er auf dem Boden seiner Kammer ausgebreitet hatte. Dann stützte er sich auf einen Ellbogen, tastete nach den schwarzen Perlen, die er sich angeeignet hatte, und hielt sie im bleichen Schein der Wandfackel an Ivivis' Busen. Es war, wie er es sich vorgestellt hatte – die Perlen sahen sehr gut aus. Er machte Anstalten, ihr die Kette um den Hals zu legen. »Nein, Mausling«, protestierte sie leise. »Das weckt eine böse Erinnerung.« Er beharrte nicht auf seiner Absicht, sondern legte sich wieder zurück und sagte leichthin: »Ah, was für ein glücklicher Mann ich bin, Ivivis! Ich habe dich, und ich habe einen Herrn, der zwar manchmal sehr langweilig ist mit seinen Zaubereien und seiner leisen Rederei der dafür aber ganz harmlos wirkt und auf jeden Fall wohl erträglicher ist als sein Bruder Hasjarl. Wenn von dem, was man so hört, nur die Hälfte stimmt, muß der ein übler Bursche sein.« Ivivis Stimme hatte einen harten Klang: »Hältst du Gwaay für einen harmlosen Mann? Glaubst du ehrlich, er ist netter, freundlicher als Hasjarl? Erst letzte
Woche hat er meine gute Freundin Divis, seine letzte Lieblingskonkubine, zu sich gerufen und ihr eine Perlenkette wie diese versprochen. Er hing sie ihr um den Hals, und da war es eine Smaragd-Natter, deren Biß tödlich ist.« Der Mausling wandte den Kopf und starrte Ivivis an. »Warum hat er das getan?« fragte er. Sie erwiderte seinen Blick. »Ohne besonderen Grund, einfach so«, sagte sie nachdenklich. »Es weiß doch jeder, daß Gwaay so ist.« Der Mausling sagte: »Du meinst, er hat sie umgebracht, weil er ihr nicht sagen wollte: ›Ich bin deiner überdrüssig?‹« Ivivis nickte. »Ich glaube, Gwaay könnte es ebensowenig vertragen, andere Menschen durch seine Ungnade zu verletzen, wie er es mag, seine Stimme zu erheben.« »Ist es denn besser, tot zu sein, als verstoßen zu werden?« fragte der Mausling klug. »Nein, doch für Gwaays Gefühlsleben ist es besser, wenn er tötet, anstatt zu verstoßen! Der Tod ist allgegenwärtig in Quarmall.« Der Mausling mußte an Klevis denken, der jetzt leblos hinter dem Vorhang lag. Ivivis fuhr fort: »Hier in den Unteren Regionen sind wir praktisch schon vor unserer Geburt begraben. Wir leben, lieben und sterben – begraben. Auch wenn wir nackt sind, tragen wir doch stets ein unsichtbares Kleidungsstück aus Erde.« Der Mausling sagte: »Ich begreife langsam, warum man sich hier in Quarmall eine gewisse Gefühllosigkeit bewahren muß, um die wenigen Augenblicke der Freude genießen zu können, die man dem Leben –
oder muß ich sagen: dem Tod? – abringen kann!« »Wie wahr, Mausling, wie wahr«, sagte Ivivis leise und preßte sich an ihn. Fafhrd machte Anstalten, die Spinnweben beiseite zu schieben, die die beiden halboffenen Flügel der hohen, nagelbeschlagenen Tür verbanden, hielt jedoch im letzten Augenblick inne und kroch darunter hindurch. »Komm, bück dich auch!« wandte er sich an Friska. »Wir dürfen keine Spuren hinterlassen. Um unsere Fußspuren im Staub kümmere ich mich später, wenn das noch nötig ist.« Sie gingen ein Stück weiter und blieben dann Hand in Hand stehen, warteten darauf, daß sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. In der Linken hielt Fafhrd noch immer Friskas Kleid und Schuhe. »Ist das die Gespensterhalle?« fragte Fafhrd. »Aye«, flüsterte Friska in sein Ohr; ihre Stimme klang furchtsam. »Es heißt, daß Gwaay und Hasjarl ihre Toten in diesen Saal schicken, damit sie sich im Kampfe messen. Auch soll es hier Dämonen geben, die keinem der beiden verpflichtet sind und die ...« »Komm, halt den Mund«, befahl Fafhrd mürrisch. »Wenn ich mich schon mit Teufeln und Geistern herumschlagen muß, will ich mich lieber auf mein Gehör und meinen Mut verlassen.« Sie schwiegen eine Zeitlang, und zwanzig Meter zurück schimmerte die letzte Fackel durch den spinnwebverhangenen Türspalt und enthüllte ihnen einen großen Raum, dessen niedrige gewölbte Decke aus grob behauenen schwarzen Quadern bestand. Im Saal standen einige verdreckte Möbelstücke herum.
An den Wänden zog sich eine Vielzahl kleiner Türen hin, die geschlossen waren. Auf beiden Seiten erstreckte sich eine Empore, die einige Fuß höher lag als das Mittelstück, und etwa in der Mitte des Raumes machten sie zu ihrer Überraschung ein Gebilde aus, bei dem es sich um ein trockenes Brunnenbecken handeln mußte. Friska flüsterte: »Es heißt, daß der Gespenstersaal früher ein Harem gewesen ist – zu einer Zeit, als die Herrscher Quarmalls einige Jahrhunderte lang zwischen den Regionen lebten, ehe Quarmals Vater, von seiner Meerfrau bewegt, wieder in die Burg zog. Siehst du, die Abreise war so plötzlich, daß die neue Decke nicht richtig vermörtelt und verputzt wurde und daß sie gar keine Gemälde trägt – sofern das überhaupt vorgesehen war.« Fafhrd nickte. Er mißtraute dieser freischwebenden Decke. Der ganze Raum war viel primitiver als Hasjarls schimmernde lederausgekleidete Quartiere. Dabei fiel ihm etwas ein. »Sag mir, Friska«, sagte er, »wie kommt es, daß Hasjarl mit geschlossenen Augen sehen kann? Hängt das damit zusammen, daß er ...« »Wie, du weißt es nicht?« unterbrach sie ihn überrascht. »Du kennst gar nicht das Geheimnis seines entsetzlichen Herumstarrens? Ganz einfach, er ...« Ein undeutlicher samtener Schatten, der kaum hörbar tschilpte, huschte an ihren Gesichtern vorbei, und mit leisem Aufschrei barg Friska das Gesicht an Fafhrds Brust und klammerte sich fest an ihn. Als er langsam mit den Fingern durch ihr duftendes Haar strich, um ihr zu zeigen, daß sich die fliegende Maus nicht dort niedergelassen hatte, und als
er dann mit den Handflächen ihre bloßen Schultern absuchte, zum Zeichen daß auch dort keine kleinen Ungeheuer waren, vergaß Fafhrd, was er über Hasjarl und sein Zweites Gesicht hatte wissen wollen – und auch seine Sorge über die seltsame Decke, die jeden Augenblick einstürzen konnte. Der Tradition gemäß schrie Friska zweimal auf – sehr leise. Gwaay klatschte mit langsamer Bewegung in seine weißen Hände und gab den wartenden Sklaven mit leichtem Nicken zu verstehen, daß sie die Teller von dem niedrigen Tisch abräumen sollten. Gemächlich lehnte er sich in den weichen Stuhl und warf, ehe er das Wort ergriff, aus halbgeschlossenen Augen einen kurzen Blick auf sein Gegenüber. Sein Bruder auf der anderen Seite des Tisches war nicht gerade gutgelaunt. Es geschah überhaupt selten, daß man Hasjarl anders als widerborstig, auffahrend oder nur mißgelaunt oder bösartig erlebte. Das mochte darauf zurückzuführen sein, daß Hasjarl ein sehr häßlicher Mann war, dessen Natur sich dem Körper angepaßt hatte; vielleicht war es aber auch umgekehrt. Gwaay erwärmte sich für keine der beiden Theorien; er wußte nur, daß sich mit einem Blick all seine schlimmen Erinnerungen an Hasjarl bestätigt hatten, und wieder einmal wurde ihm das Ausmaß seines Hasses auf den Bruder bewußt. Doch trotz des heftigen Gefühls klang seine Stimme leise und freundlich: »Also, mein Bruder, spielen wir eine Partie Schach – jenes dämonische Spiel, das wohl in allen Welten existiert? Da hättest du dann wieder Gelegenheit,
dich auszutoben. Du gewinnst ja immer beim Schach, wie du sehr wohl weißt; nur nicht, wenn dich die Geduld verläßt. Lassen wir uns das Spielbrett aufstellen?« Spöttisch fuhr er fort: »Ich gebe dir einen Bauern Vorsprung!« Und er hob langsam eine Hand, als wollte er wieder in die Hände klatschen und damit seinen Vorschlag in die Tat umsetzen. Mit der Peitsche, die er um das Handgelenk trug, schlug Hasjarl dem neben ihm stehenden Sklaven in das Gesicht und deutete stumm auf das massive verzierte Schachbrett, das auf der anderen Seite des Raumes stand. Das war typisch für Hasjarl. Er war ein Mann der Tat, nicht der Worte – jedenfalls außerhalb seiner ureigensten Region. Außerdem war Hasjarl sehr schlechter Laune. Flindach hatte sein interessantestes und erregendstes Hobby gestört: die Folterung. Und weswegen? fragte sich Hasjarl. Um Schach zu spielen mit dem eingebildeten Bruder, um sich das hübsche Gesicht seines Bruders anzusehen, um eine Mahlzeit zu sich zu nehmen, die ihm bestimmt nicht bekam, um das Ergebnis des Horoskops abzuwarten, ein Ergebnis, das er längst kannte, das er seit Jahren kannte; und um dann gebannt in die schrecklichen blutweißen Augen seines Vaters zu starren, ein Augenpaar, das bis auf Flindachs Augen einzigartig war in Quarmall. Und schließlich mußte er für ein weiteres Jahr auf das Haus Quarmall anstoßen. All diese Dinge waren ihm höchst widerwärtig, und er ließ keinen Zweifel daran. Der Sklave, auf dessen Gesicht ein blutiger Striemen erschien, ließ das Schachbrett vorsichtig zwischen die beiden Brüder gleiten. Gwaay lächelte, während ein zweiter Sklave die Schachfiguren vor-
sichtig in der Mitte der Felder anordnete; er hatte sich einen Plan zurechtgelegt, seinen Bruder ein wenig zu ärgern. Wie üblich hatte er die schwarzen Figuren gewählt, und er nahm sich eine Kombination vor, auf die sein gieriger Gegner bestimmt eingehen würde; eine Kombination, bei der Hasjarl den kürzeren ziehen mußte. Hasjarl verschränkte die Arme auf der Brust und starrte seinen Bruder grimmig an. »Ich hätte dir die weißen geben sollen«, klagte er. »Ich kenne die schlimmen Tricks, die du mit schwarzen Steinen fertigbringst. Als du noch ein kleiner Bleichling warst, habe ich gesehen, wie du sie durch die Luft geschickt hast, um die Sklavenkinder zu erschrecken. Woher soll ich wissen, daß du nicht deine Figuren verstellst, während ich mich konzentriere.« Gwaay antwortete leise: »Meine Tricks, wie du sie nennst, beschränken sich auf Stücke aus Basalt, Obsidian und anderen vulkanischen Gesteinen, die sich in meinen Unteren Regionen finden. Diese Schachfiguren aber bestehen aus Jett, mein Bruder, und dieses Material – wie dir deine Gelehrsamkeit sicher nicht verschweigt – ist nur eine Art von Kohle, ein schwarzgepreßtes Pflanzenzeug, das nicht einmal in die gleiche Elementenkategorie gehört wie die wenigen Materialien, die sich meinen schwachen Zauberkräften unterwerfen. Außerdem würde es mich sehr wundern, wenn deine hübschen beschnittenen Augen auch den kleinsten Trick übersähen!« Hasjarl knurrte. Erst als alle Figuren säuberlich aufgereiht waren, geriet er in Bewegung. Wie eine Schlange stieß seine Hand vor und fegte einen schwarzen Bauern vom Spielbrett. Mit abgehacktem
Kichern sagte er: »Schon vergessen, Bruder? Du hast mir einen Bauern Vorsprung versprochen! Und nun zieh!« Gwaay gab den wartenden Sklaven ein Zeichen, seinen Königsbauern zu ziehen. Hasjarl erwiderte mit dem gleichen Zug. Nach kurzem Überlegen leitete Gwaay seine Taktik ein: Bauern auf Königsläufer 4! Eifrig machte sich Hasjarl den offensichtlichen Vorteil zunutze, und die Schlacht begann. Gwaay, der schnell und gern lächelte, schien sich weniger für das Spiel zu interessieren als für das Schattenzucken der flackernden Lampen auf den Polstern aus Kalbsleder, Lammfell, Schlangenhaut und Sklavenhaut – und auch aus der Haut vornehmerer Menschen; er schien aufs Geratewohl zu ziehen, ohne bestimmten Plan, doch immer zuversichtlich. Hasjarl dagegen hatte die Lippen zusammengepreßt und konzentrierte sich völlig auf das Brett, und jeder Zug war eine lang geplante physische und geistige Aktion. Seine Konzentration ließ seinen Bruder vorübergehend verschwinden, ließ bis auf das Problem vor ihm alles untergehen; Hasjarl mochte nichts lieber als gewinnen. So war es schon immer gewesen; schon als Kinder trat dieser Gegensatz deutlich hervor. Hasjarl war der ältere; nur wenige Monate trennten ihn von seinem Bruder, doch sein Äußeres und sein Verhalten ließen ihn viel älter erscheinen. Sein langer, mißgestalteter Rumpf paßte schlecht zu den krummen Beinen; der linke Arm war sichtlich länger als der rechte, und seine Finger, die seltsam von der Hand abstanden, waren knorrig und endeten in scharfen, spitzen Nägeln. Auf den ersten Blick wirkte Hasjarl wie ein schlecht zusammengesetztes Puzzlespiel, dessen Teile
ohnehin nicht zusammenpaßten und die sich nur notdürftig miteinander verbunden hatten. Dieser Eindruck traf insbesondere auch auf sein Gesicht zu. Er hatte die Nase seines Vaters, wenn sie auch dicker und mit großen Poren besetzt war; doch unter dieser Nase zog sich der dünnlippige Mund hin, der so fest zusammengepreßt war, daß sich ringsum scharfe Falten gebildet hatten. Das Haar, dünn und glanzlos, ließ nur eine niedrige Stirn frei, und flache Wangenknochen bildeten einen weiteren Widerspruch in seinem Gesicht. Als Heranwachsender, von einem seltsamen Ehrgeiz getrieben, hatte Hasjarl einen seiner Arztsklaven durch Bestechung oder wahrscheinlich mit Gewalt dazu gebracht, eine kleine Operation an seinen Augenlidern vorzunehmen. Es war nur eine Kleinigkeit, die jedoch das Leben vieler Menschen unangenehm beeinflußt hatte und Hasjarl immer neue Freude bereitete. Daß ein bloßes Durchstechen der Lider, das dazu führte daß bei geschlossenen Augen zwei winzige Löcher über den Pupillen lagen, andere Leute derart unangenehm berührte, war unglaublich; doch an der Tatsache war nicht zu rütteln. Federleichte Ringe aus Gold, Jade oder – wie heute – Elfenbein, sorgten dafür, daß die kleinen Löcher nicht zuwuchsen. Wenn Hasjarl durch die winzigen Öffnungen starrte, kam er sich wie ein heimlicher Angreifer vor; der Beobachtete hatte stets das ungewisse Gefühl, bespitzelt zu werden; doch im Grunde war das noch die angenehmste seiner aufreizenden Angewohnheiten. Hasjarl fielen die Dinge nicht leicht, doch wenn er etwas anpackte, leistete er gute Arbeit. Auch im
Schwertkampf war er wegen des ständigen Trainings und des überlangen linken Arms ein gleichwertiger Gegner für den athletischen Gwaay. Seine Herrschaft in den Oberen Regionen folgte wirtschaftlichen Gesichtspunkten; wehe dem Sklaven, der seine Pflichten auch nur im geringsten vernachlässigte. Hasjarl sah alles und bemaß seine Strafe. Auch seinem Vater stand Hasjarl kaum nach, zumindest was die Kunst der Zauberei anging; er hatte um sich einen Trupp Zauberer geschart, die fast Flindachs Format erreichten. Doch dieser schwer erkämpften Stärke wurde er nicht recht froh, denn zwischen der absoluten Macht, die er sich ersehnte, und der Verwirklichung dieser Sehnsucht standen zwei Hindernisse: der Oberherr Quarmalls, den er mehr fürchtete als alles andere auf der Welt, und sein Bruder Gwaay, den er mit einer Intensität haßte, die durch seine Sehnsüchte von Tag zu Tag noch gesteigert wurde. Gwaay war das Gegenstück seines Bruders – geschmeidig, wohlgeraten und gutaussehend. Seine weit auseinanderliegenden hellen Augen waren täuschend sanft und freundlich; sie verbargen einen Willen, der fest sein konnte wie eine gespannte Stahlfeder. Sein ständiger Aufenthalt in den Unteren Regionen, die sein Reich waren, gab seiner bleichen Haut einen seltsamen wachsähnlichen Schimmer. Gwaay besaß die beneidenswerte Fähigkeit, alles richtig zu machen – und zwar mit einem Minimum an Mühe und Praxis. Auf eine Weise war er schlimmer als sein Bruder – denn während Hasjarl durch Foltern und mit offensichtlicher Befriedigung tötete, maß Gwaay dem Leben wenigstens eine gewisse Be-
deutung bei, indem er es sorgsam und methodisch auslöschte, indem er sanft lächelte, während er grundlos, fast wie zum Spaß, einen Menschen umbrachte. Auch die Gruppe der Zauberer, die er zum Schutz und zu seinem Vergnügen um sich versammelt hatte, war vor seinen tödlichen Launen nicht sicher. Manche hielten Gwaay für den gefährlicheren der beiden Brüder. Doch auch er kannte die Angst; er fürchtete den Herrscher von Quarmall und auch seinen Bruder; oder er befürchtete jedenfalls, daß er von seinem Bruder umgebracht wurde, ehe er selbst zuschlagen konnte. Und doch vertuschte er seine Furcht und seinen Haß so gut, daß er jetzt entspannt in seinem Stuhl sitzen konnte, kaum zwei Meter von Hasjarl entfernt, amüsiert lächelnd, jeden Augenblick des Abends auskostend. Gwaay schmeichelte sich mit dem Gedanken, seine Gefühle völlig unter Kontrolle zu haben. Das Spiel hatte sich nun über die erste Phase hinaus entwickelt; die Züge kamen langsamer. Hasjarl zog einen Turm. Gwaay bemerkte leise: »Dein bewehrter Krieger dringt weit in mein Gebiet vor, Bruder. Wie man hört, hast du einen starken Kämpfer aus dem Norden angeworben. Was für Absichten verfolgst du damit in unserer friedlichen Höhlenwelt, frage ich mich? Ist er vielleicht eine Art lebendiger Turm?« Er hob die Hand, ließ sie über einem seiner Springer in der Luft verharren. Hasjarl kicherte. »Und wenn er hübsche Hälse durchschneiden soll, was geht's dich an? Ich weiß nichts von diesem Turm-Krieger. Dafür hört man
aber hier und da – Sklavengerede, zweifellos –, daß du dir einen geschickten Schwertschwinger aus Lankhmar geholt hast. Soll ich den deinen Springer nennen?« »Aye, wir beide verstehen das Spiel«, bemerkte Gwaay philosophisch, hob seinen Springer und setzte ihn vor. »Ich lasse mich nicht verführen!« schnaubte Hasjarl. »Du gewinnst nicht, indem du mich vom Spiel ablenkst!« Und er beugte sich über das Brett und stürzte sich von neuem in seine intensiven Berechnungen. Im Hintergrund bewegten sich lautlos die Sklaven, versorgten die Flammen, füllten Öl nach. Viele Lampen waren nötig, das Ratszimmer zu erhellen, denn die Decke war niedrig und von zahlreichen Stützbalken unterfangen, die behangenen Wände saugten die meisten Strahlen auf, und der Mosaikboden war zerschlissen vom Schlurfen unzähliger Füße seit Urgedenken. Der Raum war aus dem nackten Fels herausgehauen; längst vergessene Hände hatten die gewaltigen Zypressenstämme eingezogen und den Boden künstlerisch ausgestaltet. Die bunten, doch jetzt verblichenen Wandteppiche waren von den Sklaven eines früheren quarmallischen Herrschers aufgehängt worden, der sie einer vorbeiziehenden Karawane abgenommen hatte – wie auch die anderen Reichtümer dieser Säle. Die Schachfiguren und die Stühle, die Lampen und das Öl, das die Dochte speiste, und die Sklaven, die sie bedienten – sie alle waren Beutestükke. Beutestücke aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit, als die Herrscher Quarmalls noch über Land zogen und plünderten und von jeder vorbeizie-
henden Karawane ihren Tribut forderten. Hoch über dem warmen, luxuriös eingerichteten Zimmer, in dem Gwaay und Hasjarl ihr Spiel fortsetzten, beendete der Herrscher Quarmalls die letzten Horoskopberechnungen. Dicke Ledervorhänge versperrten jetzt den Blick auf die Sterne, die ihm eben noch Freude und Leid seines Schicksals blinzelnd verkündet hatten. Das einzige Licht in dem mit Instrumenten angefüllten Raum ging von einer winzigen Flamme aus; und diese spärliche Beleuchtung war vorgeschrieben, wenn die letzten Beobachtungen noch einmal nachgelesen und gedeutet wurden. Quarmal mußte seine Augen anstrengen, um die Zeichen und Linien deutlich zu erkennen. Als er die letzten Ergebnisse noch einmal überprüfte, verzogen sich seine Lippen zu einem höhnischen Lächeln, das gleich darauf zu einer Grimasse des Unwillens wurde. Heute abend oder morgen, dachte er und schauerte innerlich zusammen. Allenfalls morgen mittag. Wahrlich, er hatte wenig Zeit. Als wäre ihm dann ein lustiger Gedanke gekommen, lächelte er und nickte, und sein dürrer Schatten vollführte gewaltige Sprünge auf den Vorhängen und Wänden. Schließlich legte Quarmal den Griffel aus der Hand, nahm eine Kerze und entzündete damit sieben weitere Lampen. In ihrem hellen Schein studierte er noch einmal das Horoskop, und diesmal blieb sein Gesicht völlig unbewegt; seine Miene verriet keine Freude, kein Erschrecken. Langsam rollte er das mit komplizierten Figuren bemalte und beschriebene Pergament zu einer schmalen Röhre zusammen, die
er in seinen Gürtel steckte; dann rieb er sich die Hände und lächelte erneut. Auf einem Tisch neben ihm standen die Mittel, die er für seinen Plan brauchte: Puder, Öle, winzige Messer und andere Stoffe und Geräte. Er hatte nur wenig Zeit. Hastig machte er sich ans Werk, und seine schlanken Finger stellten wieder einmal ihre wundersame Geschicklichkeit unter Beweis. Einmal durchquerte er den Raum und nahm etwas von einem Regal. Der Herrscher Quarmalls machte keine Fehler; er konnte sich auch keinen Irrtum leisten. Nach kurzer Zeit war die Aufgabe zu seiner Zufriedenheit gelöst. Nachdem er die zuletzt entzündeten Kerzen wieder gelöscht hatte, ließ sich Quarmal, Herrscher von Quarmall, in seinen Stuhl sinken und sah sich um. Die einzige Lampe erhellte den Raum nur ungenügend. Er rief Flindach, damit das Horoskop den unten Wartenden verkündet werde. Wie üblich erschien Flindach sofort. Er blieb vor seinem Gebieter stehen, verschränkte die Arme auf der Brust und neigte ehrerbietig den Kopf. Flindach war völlig ruhig. Er stand nur bis zur Hüfte im Licht; in der Dunkelheit war nicht zu erkennen, ob sein warzenbesetztes, verunstaltetes Gesicht einen Ausdruck der Langeweile oder des Interesses zeigte. Entsprechend lag auch das glattere Gesicht Quarmals im Schatten, nur seine bleichen Iris schimmerten phosphoreszierend wie zwei winzige Monde an einem dunklen Himmel. Er musterte Flindach eindringlich, als sähe er ihn zum erstenmal, ließ seinen Blick langsam von den
Füßen bis zum Kopf des Mannes wandern und sah ihm schließlich in die Augen, die den seinen sehr ähnlich waren, und sagte: »Oberster Zauberer, heute nacht liegt es in deiner Macht, mir einen großen Dienst zu erweisen.« Er hob die Hand, als Flindach etwas sagen wollte, und fuhr hastig fort: »Ich habe beobachten können, wie du vom Jungen zum Jüngling und vom Jüngling zum Manne wurdest; ich habe deine Kenntnisse um die Zauberkunst gefördert, so daß du mir jetzt fast ebenbürtig bist. Die gleiche Mutter hat uns geboren; auch wenn ich ihr Erstgeborener bin und du die Frucht ihrer letzten Jahre, ist das doch eine starke Bindung zwischen uns. Dein Einfluß in Quarmall ist dem meinen fast gleich. Ich meine also, daß dir für deine Sorgfalt und Treue heute nacht eine Belohnung zustünde.« Wieder setzte Flindach zum Sprechen an, wurde jedoch durch eine Geste zum Schweigen gebracht. Quarmal sprach nun langsamer und begleitete seine Worte mit hastigem Fingertrommeln auf der Pergamentrolle. »Wir beide wissen sehr gut – vom Hörensagen und durch eigene Beobachtungen –, daß meine Söhne die Absicht haben, mich umzubringen. Und es ist auch wahr, daß sie auf irgendeine Weise davon abgebracht werden müssen, denn keiner der beiden erscheint mir zum Herrscher Quarmalls geeignet; noch ist es möglich, daß Hasjarl oder Gwaay jemals die nötige Reife erlangen. Ihr ständiger Hader würde Quarmall schaden und schließlich sterben lassen, wie schon die Gespensterhalle gestorben ist. Um seine Zaubereien abzusichern, hat jeder von ihnen auch noch verstohlen einen Schwertkämpfer aus dem
Norden angeworben – du hast Gwaays Streiter selbst gesehen –, und das ist der Anfang vom Ende. Wenn die Söldner erst ungehindert nach Quarmall kommen können, ist es mit unserer Macht schnell vorbei.« Mit weit ausschwingender Handbewegung zeigte er auf die Reihen der Mumien- und Wachsgesichter an der Wand und fragte rhetorisch: »Haben die Herrscher Quarmalls unser verborgenes Land geschützt, damit seine Räte nun plötzlich von fremden Kriegern besetzt und schließlich übernommen werden? Jetzt zu einer viel wichtigeren Angelegenheit«, fuhr er leiser fort. »Eine Angelegenheit, die deine äußerste Diskretion erfordert. Kewissa, meine Konkubine, trägt ein Kind von mir unter dem Herzen, einen Jungen, wie die Orakel verheißen. Und dies ist nur Kewissa und mir selbst bekannt – und jetzt auch dir, Flindach. Wenn dieser Ungeborene bruderlos mannbar würde, könnte ich zufrieden sterben und dir vertrauensvoll seine Erziehung und Ausbildung überlassen.« Quarmal hielt inne und fuhr leidenschaftslos fort: »Doch es fällt mir immer schwerer, Hasjarl und Gwaay zuvorzukommen und ihre Angriffe abzuwehren; sie werden von Tag zu Tag stärker. Ihre natürliche Schlechtigkeit gewährt ihnen Zugang zu Regionen und Dämonen, die ihre Vorgänger nur erahnen konnten. Sogar ich, der ich wirklich kein Laie auf dem Gebiet der Zauberei bin, muß mich oft entsetzt abwenden.« Wieder schwieg er und musterte Flindach gespannt. Nun sprach auch Flindach, zum erstenmal, seit er den Raum betreten hatte. Er hatte eine Stimme, die wohlgeübt war im Intonieren von Gesängen und ze-
remoniellen Texten – ein tiefes, vibrierendes Organ. »Herr, du sprichst die Wahrheit. Doch wie willst du ihren Ränken entgehen? Du weißt so gut wie ich, daß die Tradition uns jenen einzigen Weg verstellt, auf dem sie von ihren Plänen abgebracht werden könnten.« Flindach unterbrach sich, als hätte er noch weitersprechen wollen, doch Quarmal fuhr hastig fort: »Ich habe einen Plan gefaßt, der durchaus Erfolg haben kann. Dieser Erfolg hängt fast völlig davon ab, ob du mitmachst oder nicht.« Er flüsterte nun fast und bedeutete Flindach, näher heranzutreten und sich herabzubeugen. »Ja, die Mauern haben vielleicht Ohren, o Flindach, und ich möchte, daß dieser Plan nur uns beiden bekannt ist.« Wieder winkte Quarmal, und Flindach schob sich näher heran, bis er seinem Herrn auf Armeslänge gegenüberstand. Er beugte sich vor, so daß sein Ohr dicht vor Quarmals Mund war. So nahe war er Quarmal noch nie gewesen, und eine seltsame Vorahnung erfüllte ihn, eine Erinnerung an das kindische Altweibergeschwätz seiner Jugend. Dieser uralte Mann mit den schimmernden Augen, wie auch er sie besaß, kam Flindach nicht wie sein Halbbruder vor, sondern eher wie ein seltsamer, gnadenloser Stiefvater. Das aufkeimende Entsetzen verstärkte sich, als sich die sehnigen Finger Quarmals um sein Handgelenk schlossen und ihn noch näher heranholten, ihn neben dem Stuhl fast auf die Knie herabzogen. Quarmals Lippen begannen sich zu bewegen, und Flindach unterdrückte das plötzliche Verlangen, aufzuspringen und zu fliehen, als der Plan vor ihm ausgebreitet wurde. Mit einem zischelnden Satz, der ab-
schließenden Offenbarung, beendete Quarmal seine Rede, und Flindach wurde die Ungeheuerlichkeit des Vorhabens nun erst richtig bewußt. Und noch während seine Gedanken mit der Vorstellung rangen, wurde die letzte Flamme ausgelöscht. Es herrschte absolute Dunkelheit. Die Partie machte jetzt schnelle Fortschritte; neben dem endlosen Patschen nackter Füße und dem leisen Zischen der Lampendochte war nur das Schurren der Schachfiguren und das abgehackte Husten Hasjarls zu hören. Der niedrige Tisch, von dem die Brüder gegessen hatten, stand gegenüber der breiten Bogentür, die den einzigen sichtbaren Eingang in das Ratszimmer bildete. Es gab jedoch noch einen zweiten Zugang, der in die Burg hinaufführte; und auf diese durch einen Vorhang verdeckte Tür starrte Gwaay nun immer öfter. Obwohl er überzeugt war, daß das Horoskop nichts Neues bringen würde, plagte ihn eine seltsame Spannung; er spürte die leise Vorahnung eines ungewöhnlichen Ereignisses, eine Art Windstille vor dem Sturm. Von den Göttern war Gwaay heute ein Omen verheißen worden; ein Omen, das weder seine Zauberer noch seine eigene magische Geschicklichkeit zu seiner Zufriedenheit auszudeuten vermochten. So hielt er es für klüger, die Entwicklung der Dinge abzuwarten und sich dabei auf alle Möglichkeiten einzustellen. Während sein Blick noch auf dem Wandteppich vor der Tür ruhte, durch die Flindach kommen würde, um das Ergebnis des Horoskops zu verkünden,
geriet das Gewebe in Bewegung, wallte ein wenig vor und begann zu zittern, als bliese ein Wind hinein, als stieße eine Hand leicht dagegen. Hasjarl warf sich überraschend in seinem Stuhl zurück und rief mit schriller Stimme: »Schach mit meinem Turm für deinen König und matt in drei Zügen!« Er senkte ein Lid, was ihm ein furchterregendes Aussehen gab, und starrte Gwaay triumphierend an. Ohne den Blick von den schwankenden Wandteppichen zu nehmen, sagte Gwaay mit leiser Stimme: »Der Läufer kommt dir dazwischen, Bruder, und wehrt den Angriff ab. Ich setze dich matt in zwei Zügen. Du liegst wieder mal falsch, mein Freund.« Als Hasjarl die Figuren mit ärgerlicher Handbewegung vom Brett fegte, zitterte der Vorhang noch mehr. Er wurde von zwei Sklaven geöffnet, und es ertönte ein harter Gongschlag, der den Eintritt eines hohen Hofbeamten ankündigte. Hochaufgerichtet und stumm, so trat nun Flindach durch die Öffnung. Sein beschattetes Gesicht strahlte trotz der entstellenden Muttermale und der drei Warzen eine seltsame Würde aus. Und seine düstere Ausdruckslosigkeit – eine Ausdruckslosigkeit, die in seltsamem Widerspruch zu dem wissenden Schimmer in den weißroten Augen stand – schien schlimme Neuigkeiten anzukündigen. Jegliche Bewegung erstarrte in dem langen niedrigen Saal, als nun Flindach, eingerahmt von den zur Seite geschlagenen Wandteppichen, einen Arm hob und Schweigen gebot. Die gut ausgebildeten Sklaven standen auf ihren Posten, die Köpfe ehrerbietig gesenkt; Gwaay rührte sich nicht von der Stelle und
starrte Flindach offen an, auch Hasjarl, der bei dem Gongschlag eine halbe Drehung gemacht hatte, erwartete die Verkündigung. Gleich – so war es Tradition – würde ihr Vater hinter Flindach erscheinen und mit bösem Lächeln sein Horoskop verkünden. So war es immer gewesen, und soweit sie zurückdenken konnten, hatten sich Hasjarl und Gwaay in diesem Augenblick stets den Tod ihres Vaters gewünscht. Flindach, der dramatisch den Arm gehoben hatte, begann zu sprechen: »Das Horoskop ist aufgestellt, die Ergebnisse sind festgehalten und interpretiert. Und wie der Himmel das Schicksal prophezeite, so ist es auch schon eingetreten. Ich bringe diese Nachricht Hasjarl und Gwaay, den Söhnen Quarmals.« Mit schneller Gebärde zog Flindach eine schmale Pergamentrolle aus seinem Gürtel, zerbrach sie und ließ sie zusammengeknüllt zu Boden fallen. Aus der gleichen Bewegung heraus griff er über seine linke Schulter nach hinten, trat aus dem Schatten des Torbogens und zog sich eine spitze Kapuze über den Kopf. Er streckte beide Arme in die Höhe und sprach mit leiser, abwesender Stimme: »Quarmal, Herrscher von Quarmall, ist nicht mehr. Das Horoskop hat sich erfüllt. Mögen alle Menschen in den Räumen dieser Stadt Trauer tragen. Drei Tage lang wird der Platz des Herrschers von Quarmall leer sein. So verlangt es die Tradition, und so wird es geschehen. Morgen früh, wenn die Sonne den Innenhof erreicht, wird die sterbliche Hülle unseres großen und mächtigen Herrn den Flammen übergeben. Jetzt widme ich mich der Trauer um meinen Herrn und den Vorbereitungen für die Feierlichkeiten. Ich be-
reite mich durch Fasten und Gebet auf seinen Heimgang vor. Tut ein Gleiches!« Flindach wandte sich langsam um und verschwand in der Dunkelheit, aus der er aufgetaucht war. Zehn Herzschläge lang saßen Gwaay und Hasjarl reglos in ihren Stühlen. Die Nachricht hatte sie wie ein Blitzschlag getroffen. Gwaay verspürte eine Sekunde lang den unwiderstehlichen Drang zu kichern und zu lächeln wie ein Kind, das überraschend einer Bestrafung entgangen ist und statt dessen sogar belohnt wird; doch tief im Innern war er halb überzeugt, daß er den Ausgang dieses Abends gleich geahnt hatte. Er unterdrückte die kindische Anwandlung und blieb stumm sitzen, starrte auf den Wandteppich. Hasjarl dagegen reagierte, wie man es von ihm erwarten konnte. Er zog einige unheimliche Grimassen und stieß schließlich ein Gelächter aus. Dann runzelte er die Stirn, wandte sich um und sagte zu Gwaay: »Hast du nicht gehört, was Flindach sagte? Ich muß gehen und mich vorbereiten.« Und er stand taumelnd auf und hastete stumm durch den Raum, verließ ihn durch den breiten Torbogen. Gwaay blieb noch einige Augenblick sitzen; mit zusammengekniffenen Augen starrte er vor sich hin, als beschäftigte ihn ein abwegiges Problem, das ihm alle seine Kräfte abverlangte. Plötzlich schnipste er mit den Fingern, gab seinen Sklaven das Zeichen, ihm zu folgen, und machte Anstalten, in die Unteren Regionen zurückzukehren. Fafhrd hatte die Gespensterhalle kaum verlassen, als er ein leises Klirren und Klappern hörte, das ihm an-
zeigte, daß bewaffnete Soldaten unterwegs waren. Die Verzauberung, die Friskas Reize hervorgerufen hatten, verflog, als hätte er plötzlich eine kalte Dusche abbekommen. Er zog sich in die Dunkelheit zurück und versuchte, die Gespräche der Bewaffneten zu belauschen. Er bekam heraus, daß es sich um Leute Hasjarls handelte, die die Oberen Regionen vor einer Invasion Gwaays von unten schützen sollten – die aber keinesfalls ihm und Friska auf der Spur waren, wie er zuerst befürchtet hatte. Hastig machte er sich auf den Rückweg in Hasjarls Saal der Zauberer und freute sich wieder einmal über sein Gedächtnis für Gangbiegungen und Wegzeichen, das ihn – oft erprobt im Wald und in den Bergen – auch in der quarmallischen Höhlenwelt nicht im Stich ließ. Die bizarre Szene, der er sich in der Halle der Zauberer gegenübersah, erstaunte ihn derart, daß er auf der Steinschwelle erstarrte. Splitternackt stand Hasjarl bis zu den Knien in einem dampfenden Marmorbecken, das etwa die Form einer Muschel hatte, und beschimpfte und plagte den wirren Troß von Menschen ringsum. Die zahlreichen Untergebenen – Zauberer, Soldaten, Aufseher, Pagen, die große Handtücher brachten und dunkelrote Roben und andere Kleidungsstücke – standen unsicher in der Gegend herum und wagten nicht aufzuschauen. Die einzige Ausnahme bildeten drei Sklaven, die ihren Herrn und Meister mit fliegenden Händen einseiften und abspülten. Fafhrd mußte zugeben, daß Hasjarl im nackten Zustand gar keinen schlechten Eindruck machte; er war zwar überall häßlich, doch die Teile schienen nun besser zusammenzupassen. Dennoch wirkte er wie
ein Kobold in einer Heißwasserquelle. Und obwohl sein grotesker, kindlich-roter Leib in wilder Erregung zuckte, strahlte er eine gewisse Würde aus. Er fauchte: »Sprecht doch, ihr alle! Gibt es eine Vorsichtsmaßnahme, die ich vergessen habe, einen Ritus, der übersehen wurde, ein Rattenloch, von dem niemand weiß und das Gwaay als Durchschlupf dienen kann? Oh, daß ich an diesem Abend, da mir die Dämonen drohen, da ich mich um tausend Dinge kümmern und mich für die Trauerfeier meines Vaters anziehen muß – nur von Idioten umgeben bin! Seid ihr alle taub und stumm? Wo ist mein großer Streiter, der mich jetzt beschützen müßte? Wo sind meine roten Augenringe? Nicht soviel Seife hier – da! Das hast du verdient! Essem, sind wir oben gut bewacht? Ich traue Flindach nicht über den Weg! Und Yissim, haben wir genügend Wächter nach unten hin? Gwaay ist eine Schlange, die sich jede unbewachte Ritze zunutze macht. Schwarze Götter – verteidigt mich! Geh in die Unterkünfte, Yissim, hol mehr Männer und verstärke unsere Wachen zu den Unteren Regionen – und da du schon mal dort bist, kannst du den Leuten auch gleich sagen, sie sollten Friskas Folterungen fortsetzen. Ringt ihr die Wahrheit ab! Sie spielt in Gwaays Plänen eine Rolle – davon bin ich seit vorhin fest überzeugt. Gwaay wußte, daß der Tod meines Vaters bevorstand, und hat seine Invasionspläne schon vor Wochen fertiggestellt. Jeder von euch kann sein Spion sein! Oh, wo ist mein Kämpfer? Wo sind meine roten Augenringe?« Fafhrd, der die Schwelle längst verlassen hatte, zuckte zusammen, als er Friskas Namen hörte. Eine Rückfrage in der Folterkammer würde ihre Flucht
und seine Mittäterschaft enthüllen. Er mußte Hasjarl ablenken. Er blieb dicht vor dem dampfenden, erhitzten Mann stehen und sagte kühn: »Hier ist dein Krieger, o Herr! Und er rät dir nicht zu umständlicher Verteidigung, sondern zu einem schnellen Schlag gegen Gwaay! Sicher hat dein kluger Geist schon manchen unfehlbaren Angriffsplan geschmiedet. Entfesseln wir einen Donnerschlag. Überrennen wir die Feinde!« Fafhrd blieb nichts anderes übrig, als die großen Töne, die er angeschlagen hatte, bis zum Ende durchzuhalten und sich nicht durch die seltsamen Vorgänge ablenken zu lassen, die nun begannen. Während Hasjarl mit zur Seite geneigtem Kopf still verharrte, war ein bleicher Badesklave damit beschäftigt, Hasjarls linkes Augenlid an den Wimpern hochzuheben und in das Loch in der Haut einen winzigen roten Ring einzusetzen. Das Gebilde hing über der Spitze eines Elfenbeinstabes, der dünn wie ein Strohhalm war. Die Vorsicht, mit der der Sklave seine schwere Aufgabe erfüllte, war vielleicht mit dem Respekt eines Mannes vergleichbar, der die Giftbeutel einer Klapperschlange nachfüllen mußte – wenn es möglich ist, sich eine solche Handlung überhaupt vorzustellen. Doch die Operation war schnell vorüber und wurde nun am rechten Auge wiederholt – und offenbar zur vollsten Zufriedenheit Hasjarls, der den Sklaven entließ, ohne ihn mit der Peitsche zu schlagen, die noch immer an seinem Handgelenk baumelte – und als sich Hasjarl aufrichtete, grinste er Fafhrd erfreut an. »Du rätst mir gut, mein Krieger«, rief er aus. »Diese
Narren tun nichts anderes als zittern! Es gibt tatsächlich einen Angriffsplan, den ich schon lange mit mir herumtrage und der die Tradition der Trauerfeierlichkeiten nicht verletzt. Essem, nimm Sklaven, hol das Pulver – du weißt schon, welches Zeug ich meine. Und komm mit zu den Luftschächten! Mädchen wascht mir die Seife mit heißem Wasser ab! Junge, gib mir meine Schuhe und meinen Badeumhang! Die anderen Sachen können warten. Folge mir, Fafhrd!« Doch da fiel sein Blick auf die vierundzwanzig bärtigen, kapuzenverhüllten Zauberer, die nervös hinter ihren Stühlen standen. »Los, macht euch an eure Zaubersprüche, ihr Nichtskönner!« brüllte er. »Habe ich etwas von aufhören gesagt? Nur weil ich bade, faulenzt ihr herum! Macht euch an die Arbeit und schickt Gwaay die Krankheiten der Hölle auf den Hals, den Roten, Schwarzen und Grünen Brand, das Nasentropfen und das Blutige Verfaulen – oder ich senge euch die Bärte ab als kleinen Vorgeschmack auf meine richtigen Folterkünste! Beeil dich, Essem. Komm, Fafhrd!« Der Graue Mausling und Ivivis verließen in dem Augenblick die kleine Kammer, als Gwaay, in Samt gekleidet und von barfüßigen Sklaven begleitet, um eine Ecke des dämmrigen Korridors bog und in seinen Schwertkämpfer hineinrannte. Der junge Herrscher der Unteren Regionen wirkte auf den ersten Blick unnatürlich ruhig und beherrscht, doch schnell ergab sich der Eindruck, daß unter der ruhigen Schale eine unbändige Erregung tobte, daß seine Gedanken sich überstürzten – in einem Maße, daß der Mausling kaum überrascht gewe-
sen wäre, Gwaay von einer Aura blauer Blitze umgeben zu sehen. Tatsächlich spürte der Mausling ein seltsames Brennen und Kribbeln auf der Haut, als ging wirklich ein solcher Einfluß von seinem Herrn und Meister aus. Gwaay streifte den Mausling und das hübsche Sklavenmädchen mit kurzem Blick und sagte hastig, überstürzt: »Wie ich sehe, mein lieber Mausling, hast du deine Belohnung schon vorzeitig kassiert. Ah, Jugend und ein dämmriges Plätzchen und weiche Träume und amouröse Gesten – was gibt es Besseres, das Leben zu verschönen oder es überhaupt lebenswert zu machen? War das Mädchen geschickt? Gut. Ivivis, meine Liebe, ich muß deinen Eifer belohnen. Ich habe Divis ein Halsband geschenkt – möchtest du auch eins? Ich habe eine Brosche, die wie ein Skorpion geformt ist, mit roten Augen ...« Der Mausling spürte, wie die kalte Hand des Mädchens in seinen Fingern zitterte, und er unterbrach Gwaay hastig: »Mein Dämon wendet sich an mich, Lord Gwaay, und sagt mir, heute ist die Nacht, da das Schicksal umgeht.« Gwaay lachte. »Dein Dämon hat hinter den Wandteppichen gelauscht. Er hat die Nachricht schon gehört, daß mein Vater von uns gegangen ist.« Während er sprach, entstand ein Tropfen an seiner Nasenspitze. Fasziniert sah der Mausling zu, wie der Tropfen wuchs. Gwaay machte Anstalten, die Flüssigkeit mit dem Handrücken fortzuwischen, doch dann schüttelte er sie nur einfach ab. Einen kurzen Augenblick runzelte er die Stirn und lachte wieder. »Aye, das Schicksal geht um in der Quarmall-Burg
heute nacht«, sagte Gwaay, dessen fröhliche, schrille Stimme plötzlich wenig heiser geworden war. »Mein Dämon flüstert mir auch zu, daß sich gefährliche Mächte umtun«, fuhr der Mausling fort. »Aye, die Bruderliebe und dergleichen«, gab Gwaay heftig zurück, doch seine Stimme war nur noch ein Krächzen. Verwunderung und Entsetzen verdunkelten ihm den Blick. Er fuhr zusammen, als überliefe ihn ein Schauer, und mehrere Tropfen sprühten aus seiner Nase. Drei Haare lösten sich von seinem Kopf und fielen ihm über die Augen. Seine Sklaven wichen vor ihm zurück. »Mein Dämon sagt, daß wir schnellstens meinen großen Zauber gegen die unbekannten Mächte einsetzen sollten«, fuhr der Mausling fort, dessen Gedanken sofort wieder um Sheelbas unbenutzten Zauberspruch kreisten. »Meine Magie vernichtet nur Zauberer Zweiten Ranges und darunter. Da die deinen dem Ersten Rang angehören, bleiben sie unberührt. Doch Hasjarls Magier werden verschwinden.« Gwaay öffnete den Mund, wollte etwas antworten, doch er brachte nur ein unheimliches Stöhnen heraus, als wäre er stumm. Rote Flecken erschienen auf seinen Wangen, und gleich darauf glaubte der Mausling eine rötliche Tönung auszumachen, die langsam an der rechten Seite des Kinns hochkroch, während sich auf der anderen Seite schwarze Stellen bildeten. Ein entsetzlicher Geruch breitete sich aus. Gwaay stolperte, und grünlicher Schleim erschien in seinen Augen. Er hob eine Hand, um die Erscheinung fortzuwischen, doch sein Handrücken war gelblich verkrustet und wies zahlreiche rötliche Risse auf. Gwaays Sklaven ergriffen die Flucht.
»Hasjarls Zauberkräfte!« zischte der Mausling. »Gwaays Magier schlafen noch! Ich wecke sie! Du mußt ihn stützen, Ivivis!« Und er fuhr herum und hastete wie der Wind durch den Gang und die Rampe hinauf, bis er Gwaays Saal der Zauberer erreichte. Er trat ein, klatschte in die Hände und stieß laute Pfiffe aus, denn tatsächlich lagen die zwölf hageren, lendenschurzbekleideten Greise noch immer schnarchend in ihren Stühlen. Der Mausling rannte an der langen Tafel entlang, schüttelte die Zauberer, ohne Rücksicht auf ihr Alter zu nehmen, brüllte den Männern in die Ohren: »An die Arbeit! Ihr müßt eure Gegenkräfte wirken lassen! Beschützt Gwaay!« Elf Zauberer ließen sich auch ziemlich schnell wekken und starrten bald wieder mit aufgerissenen Augen ins Leere, obwohl ihre Körper noch vor und zurück fuhren und ihre Hände und Köpfe noch eine Zeitlang in Bewegung waren – so heftig war der Mausling zwischen sie gefahren, wie ein Sturmwind, der eine Flotte kleiner Schiffe überraschte. Mit dem zwölften Zauberer hatte er schon mehr Schwierigkeiten, obwohl auch der langsam zu sich kam und sich bald um seine Pflichten kümmern konnte. Doch plötzlich erschien Gwaay in der Tür, gefolgt von Ivivis, die ihn nicht stützte. Das Gesicht des jungen Prinzen glänzte so hell in der Dämmerung wie die massive Silbermaske seines Kopfes, die in der Nische über dem Torbogen hing. »Weg da, Mausling, ich will es dem Faulenzer heimzahlen!« rief er mit schriller Stimme, nahm einen kleinen Steinkrug zur Hand und schleuderte ihn in Richtung auf den schläfrigen Zauberer. Den Naturgesetzen folgend, hätte der Krug auf
halbem Wege zu Boden poltern müssen. Wollte er den Greis durch das Klirren aufwecken? fragte sich der Mausling. Doch dann starrte Gwaay dem dahinfliegenden Krug nach, der seine Geschwindigkeit plötzlich erschreckend erhöhte. Es war, als hätte er einen Ball in die Luft geworfen und ihn dann mit einem Schläger angetrieben. Wie ein katapultgetriebenes Geschoß zerschmetterte der Krug den Schädel des alten Mannes und bespritzte Stuhl und Tisch mit seinem Gehirn. Gwaay lachte ein wenig zu schrill. »Ich muß mich bezähmen!« rief er. »Ich muß! Ich muß! Die plötzliche Errettung von zwei Dutzend tödlichen Krankheiten – oder fünfundzwanzig, wenn man das Nasetropfen hinzuzählt – ist kein Grund für einen Philosophen, die Beherrschung zu verlieren. Oh, was bin ich für ein alberner Bursche!« Ivivis schrie plötzlich auf. »Oh, der Raum verschwimmt! Ich sehe silbrige Fische!« Auch dem Mausling war plötzlich schwindlig, und er erblickte eine phosphoreszierend grüne Hand, die durch den Torbogen nach Gwaay griff – am Ende eines langen dünnen Arms, der sich auf einige Meter verlängerte. Er blinzelte mehrmals, und die Hand war verschwunden. Doch plötzlich traten seltsame purpurne Wolken an ihre Stelle. Er sah zu Gwaay hinüber, der jetzt die Stirn gerunzelt hatte und zu schnüffeln begann, obwohl kein neuer Tropfen an seiner Nasenspitze erschien. Fafhrd stand drei Schritte hinter Hasjarl, der in seiner gewaltigen Robe aus braunem Frottee wie ein Affe wirkte.
Rechts hinter Hasjarl war ein dicker und breiter Ledergurt zu sehen, der über Rollen lief. Drei riesige Sklaven marschierten gemächlich darauf entlang; sie waren furchterregend anzuschauen: große, breite Füße, Elefantenbeine, gewaltige Brustkörbe, winzige Arme und kleine Köpfe mit breiten Mündern und Nasenlöchern, die größer waren als die Augen oder Ohren – Wesen, die zum Laufen geboren waren. Der Laufstreifen verschwand nach einer halben Drehung in einem vertikalen Steinzylinder, der einen Durchmesser von fünf Metern hatte, und kam ein Stück weiter unten wieder heraus, von wo er seine Runde vollendete. Aus dem Zylinder tönte das Ächzen des großen hölzernen Belüftungsrades, das von dem Lederriemen angetrieben wurde und das die lebenswichtige Luft in die Unteren Regionen hinabtrieb. Auf der linken Seite befand sich etwa in Kopfhöhe eine kleine Tür in der Zylinderwand. Vier Steinstufen führten hinauf, denen sich nun eine Reihe staubiger, großköpfiger Zwerge näherte. Jeder trug einen schwarzen Sack auf der Schulter. Wenn ein Sklave das Fenster erreichte, öffnete er seine Last und leerte sie in den lärmenden Schacht, schüttelte den Sack sorgfältig aus, faltete ihn wieder zusammen und sprang herunter, um dem nächsten Träger Platz zu machen. Hasjarl musterte Fafhrd und lachte höhnisch. »Ein Genuß für Gwaay!« rief er. »Ein hübsches Geschenk schickte ich ihm mit dem Wind: Mohnblütenpulver, den Staub von Lotos und Alraune, zerstoßenen Hanf. Eine Million herrliche Träume – und alle sind für Gwaay! Auf drei Arten setze ich ihn damit matt. Er schläft einen Tag lang und verpaßt das Begräbnis
meines Vaters, und dann gehört Quarmall mir, weil ich rechtzeitig zur Stelle war – und zwar ohne Blutvergießen, das die Riten stören würde; seine Zauberer schlafen ebenfalls, und mein Krankheitszauber kann durchbrechen und verschafft ihm ein stinkendes Ende; außerdem schlafen auch seine Untergebenen, jeder Sklave und Page, so daß wir die Unteren Regionen erobern können, indem wir nach dem Begräbnis einfach einmarschieren. Ho, macht mal ein bißchen schneller!« Und er entriß dem Aufseher eine lange Peitsche und begann sie über den kahlen Köpfen der Tretsklaven zu schwingen und ließ das Leder auf ihre breiten Rücken klatschen. Der Trott wurde zu einem gewichtigen Galopp, das Ächzen der Belüftungsflügel ertönte lauter, und Fafhrd rechnete schon damit, daß sie krachend zerbersten würden, daß die Antriebsriemen brachen oder die Rollen aus ihren Achsen sprangen. Der Zwerg, der gerade am Schachtfenster stand, machte sich Hasjarls Unaufmerksamkeit zunutze, schnappte eine Prise Pulver aus dem Sack und schnupfte sie, wobei er sich ekstatisch umblickte. Doch Hasjarl entging das Zwischenspiel nicht, und er versetzte dem Übeltäter einen heftigen Peitschenschlag um die Beine. Pflichtgemäß leerte der Zwerg den Sack und schüttelte ihn aus, während er vor Schmerz auf und ab tanzte. Doch die Strafe schien ihn nicht weiter zu berühren, denn als er den Raum verließ, zog er den leeren Sack über den Kopf und atmete tief durch den Stoff. Hasjarl schwang weiter die Peitsche und brüllte: »Schneller, sage ich! Gwaay soll einen wahren Traumpulver-Hurrikan erleben!«
In diesem Augenblick kam Yissim in den Raum gestürmt und eilte zu seinem Herrn. »Friska ist geflohen!« kreischte er. »Deine Folterknechte sagen, der Nordling wäre mit deinem Siegel gekommen und hätte gesagt, er müßte das Mädchen auf deinen Befehl mitnehmen. Er hat sie entführt. Vor einem Vierteltag!« »Wachen!« brüllte Hasjarl. »Ergreift den Nordling! Entwaffnet und bindet den Verräter!« Aber Fafhrd war verschwunden. Der Mausling, der von Ivivis, Gwaay und zahlreichen bunten Drogenhalluzinationen begleitet wurde, taumelte in einen Raum, der ähnlich eingerichtet war wie die Kammer, aus der Fafhrd eben geflohen war. Hier unten endete der große Schacht mit einer halben Drehung. Das Flügelrad, das die Luft herabsaugte und sie in die Unteren Regionen blies, stand senkrecht in der Schachtöffnung und war nur undeutlich zu erkennen, so schnell drehte es sich. Neben der großen Öffnung hing ein großer Käfig mit weißen Vögeln, die auf dem Käfigboden lagen und die Krallen von sich streckten. Doch als wäre dieses Zeichen noch nicht genug, lag auch der Aufseher des Ventilatorenraums auf dem Boden; ihn hatte Hasjarls Rauschgiftsturm überwältigt. Die drei riesigen Sklaven, die gemächlich den Antriebsriemen durchtraten, schienen dagegen überhaupt nichts zu spüren. Wahrscheinlich waren ihre winzigen Gehirne und die mächtigen Körper nicht rauschgiftanfällig, es sei denn, man gab ihnen eine tödliche Dosis. Gwaay stolperte zum Treibband, schlug jedem der
drei Männer auf die Schulter und befahl: »Halt!« Dann sank er zu Boden. Das Ächzen des Ventilatorrads erstarb, und die sieben Holzflügel wurden langsam sichtbar (die für den Mausling mit seltsamen Phantasiegestalten bevölkert waren). Das einzige echte Geräusch war das langsame Atmen der Tretsklaven. Gwaay lag hingestreckt auf dem Boden, starrte sie höhnisch an, hob trunken einen Arm und rief: »Dreht euch um! Ganze Kehrtwendung!« Langsam kamen die Tretsklaven seinem Befehl nach, wandten sich mit einem Dutzend kleiner Schritte um, bis sie in die entgegengesetzte Richtung starrten. »Und jetzt los!« befahl Gwaay hastig. Langsam setzten sich die Männer in Bewegung, und langsam ließ das Rad wieder sein Knirschen hören. Allerdings wehte die Luft jetzt in den Schacht hinauf, widersetzte sich Hasjarls Sturmangriff. Gwaay und Ivivis ruhten sich eine Zeitlang auf dem Boden aus, bis sie wieder klarer sehen konnten, bis die letzten Halluzinationen verschwunden waren. Der Mausling hatte den Eindruck, als würden die verzerrten Gestalten durch die Radflügel in den Schacht hinaufgesaugt, eine gespenstische Horde blauer und purpurner Gestalten, die mit durchsichtigen Sägezahnspeeren und Äxten bewaffnet waren. Gwaay, dessen Augen in höchster Erregung schimmerten, lächelte und sagte leise, noch ein wenig atemlos: »Meine Zauberer ... haben sich nicht überrumpeln lassen ... glaube ich. Sonst wäre ich jetzt tot ... sonst wäre ich an Hasjarls zwei Dutzend Krankheiten gestorben. Laßt auf der anderen Seite Bescheid sagen, damit der Abgasschacht umgedreht wird – wir
bekommen dann von dort unsere frische Luft. Und bringt mehr Sklaven hier auf das Band! Vielleicht können wir dem Bruder seine Alpträume wieder hochblasen. Dann salbt mich und zieht mich an für das Feuerbegräbnis meines Vaters! Hasjarl soll einen hübschen Schock bekommen! Ivivis, sobald du wieder gehen kannst, weckst du meine Bademädchen. Sie sollen alles vorbereiten.« Er tastete sich über den Boden und packte den Mausling mit festem Griff am Ellbogen. »Du, mein Grauer Freund«, flüsterte er, »bereitest deinen mächtigen Zauber vor, der Hasjarls Zauberer vernichtet. Triff deine Vorbereitungen, sage deine dämonischen Gebete auf – die du vorher mit meinen zwölf Meistermagiern absprechen mußt ... wenn du sie aus der dunklen Hölle heraufholen kannst. Sobald Quarmals Körper den Flammen überantwortet ist, gebe ich dir Bescheid, deinen tödlichen Zauberspruch aufzusagen.« Er hielt inne, und seine Augen schimmerten teuflisch in der Dunkelheit. »Jetzt ist die rechte Zeit für Schwertstreich und Zauberei!« Ein leises Kratzen ertönte; einer der weißen Vögel in dem Käfig begann sich zu rühren, rappelte sich auf. Er ließ ein Tschilpen hören, das fast wie ein Rülpser klang. In dieser Nacht kam in Quarmall niemand zur Ruhe. Ein Zauberer hastete in den Befehlsraum der Burg und schrie: »Lord Flindach! Unsere Beobachter haben untrügliche Anzeichen festgestellt, daß die beiden Brüder im Krieg miteinander liegen. Hasjarl schickt Schlafmittel und Traumpulver durch den Schacht nach unten, und Gwaay pustet das Zeug zurück.«
Der Oberste Zauberer hob sein fleckiges, warzenbedecktes Gesicht und schaute in die Runde. Er saß an einem kleinen Tisch, von Untergebenen umringt, die seine Befehle erwarteten. »Hat es Blutvergießen gegeben?« fragte er. »Noch nicht.« »Dann ist es gut. Paßt gut auf sie auf.« Dann wandte er den kapuzenbedeckten Kopf und gab seine Anweisungen. Zwei Zauberern, die die Robe von Assistenten trugen, befahl er: »Ihr sucht sofort Hasjarl und Gwaay auf. Erinnert sie an die Trauerregeln und bleibt bei ihnen, bis sie mit ihrer Begleitung den Begräbnishof erreichen.« Einem Eunuchen sagte er: »Eile zu deinem Herren Brilla. Frage ihn, ob er weiteres Material oder Hilfe bei seinem Scheiterhaufen braucht. Er bekommt auf der Stelle, was er benötigt.« Einem Offizier der Wache: »Besetzt die Posten doppelt auf den Mauern. Du machst persönlich die Runde. Quarmall muß morgen früh sicher sein vor Angriffen von innen und von außen.« Einer kostbar gekleideten Frau mittleren Alters: »Du gehst in Quarmals Harem und sorgst dafür, daß die Konkubinen sorgsam vorbereitet und angekleidet werden, als wollte ihr Herr persönlich zu Besuch kommen. Umsorge sie und beruhige sie. Und dann schickst du mir die Ilthmarix Kewissa.« In der Halle der Zauberer ließ sich Hasjarl von seinen Sklaven für die Trauerfeier ankleiden, während er nicht vergaß, die Suche nach dem verräterischen Fafhrd in Gang zu bringen, die Schachtbeobachter
zur Wachsamkeit anzuhalten (da Gwaay versuchen würde, ihnen das Traumpulver mit Zinsen heimzuzahlen) und seine Zauberer in den Maßnahmen zu unterweisen, die sie gegen Gwaay ergreifen mußten, sobald Quarmals Körper von den Flammen vernichtet war. Im Gespenstersaal aßen Fafhrd und Friska einige Bissen, die er aus einer Küche gestohlen hatte. Er berichtete, daß er bei Hasjarl in Ungnade gefallen war, und beriet sich mit dem Mädchen, wie sie aus Quarmall fliehen wollten. In Gwaays Zaubersaal unterhielt sich der Graue Mausling nacheinander mit den zwölf Zauberern in den weißen Lendenschurzen. Er sagte ihnen nichts von Sheelbas Zauber doch ließ er sich von jedem ausdrücklich bestätigen, daß er ein Magier Ersten Ranges sei. In seinem Baderaum erholte sich Gwaay an Leib und Seele von dem Krankheitszauber, mit dem sein Bruder ihn überfallen hatte. Seine Mädchen, von Ivivis überwacht, brachten ihm duftende Salben und Öle und rieben ihn langsam, doch mit festem Griff ein. Ihre schlanken Gestalten, verschwommen und silbrig in all dem Dampf, bewegten sich wie ein schwerfälliges Ballett. Der gewaltige Scheiterhaufen war endlich vollendet, und Brilla seufzte erleichtert auf. Er konnte sich wahrlich schmeicheln, seine Arbeit gut gemacht zu haben. Er ließ seinen massigen Körper auf eine Wandbank sinken und wandte sich mit hoher, weibisch wirkender Stimme an seinen Begleiter. »So schnell mußte alles gehen – aber den Göttern
darf man ihren Tribut nicht verweigern, und kein Mann kann seine Sterne betrügen. Es ist allerdings schade, daß Quarmal mit so wenig Begleitung in den Himmel eingeht – nur eine halbes Dutzend Lankhmarier, eine Ilthmarix und drei Mingols. Ich habe ihm immer gesagt, er soll sich einen besseren Harem zulegen. Die männlichen Sklaven aber sind in gutem Zustand und machen das andere vielleicht wieder wett. Ah! Welch schöne Flamme weist unserem Herrn den Weg!« Brilla schüttelte betrübt den Kopf und schnüffelte. Verstohlen wischte er sich eine Träne aus dem kleinen Auge; er war einer der wenigen, die den Tod Quarmals wirklich betrauerten. Als Oberster Eunuch seines Herren hatte Brilla eine gesicherte Stellung; außerdem hatte er sich zu Quarmal immer schon hingezogen gefühlt. Als kleiner Junge war er einmal vor den Quälereien einer Gruppe größerer, stärkerer Sklaven gerettet worden, die ihn in Ruhe gelassen hatten, nur weil Quarmal vorbeiging. Dieser kleine Zwischenfall, von Quarmal überhaupt nicht bemerkt oder längst vergessen, hatte in Brilla ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit geweckt. Jetzt konnten nur die Götter wissen, was die Zukunft brachte. Heute wurde der Körper Quarmals verbrannt, und was danach kam – darüber dachte man am besten gar nicht nach, auch nicht im tiefsten Inneren. Noch einmal überschaute Brilla sein Werk, den Scheiterhaufen. In sechs knappen Stunden hatte er es geschafft, und er war rechtschaffen müde, obwohl er unzählige Sklaven zur Verfügung gehabt hatte. Der Haufen ragte im Zentrum des Hofes auf; seine Spitze lag noch höher als der drei Mannsgrößen hohe Torbogen des
Haupttors. Der Scheiterhaufen war wie eine große, quadratische Pyramide angelegt, doch ohne Spitze; auf halbem Wege schloß eine Plattform die Schrägen ab, und das leicht entflammbare Holz, aus dem das Gebilde bestand, war mit düsteren Stoffbahnen verhängt. Auf allen vier Seiten führten große Rampen von der Hoffläche zur quadratischen Plattform an der Spitze empor; hier sollte die Bahre mit dem Körper Quarmals aufgestellt werden, und hier wurden auch die Sklaven geopfert. Nur Sklaven im richtigen Alter und mit den besten Talenten durften ihren Herrn auf seiner langen Reise zu den Sternen begleiten. Brilla fand Gefallen an seinem Werk und schaute sich händereibend um. Leider ergab sich nur bei solchen Anlässen die Möglichkeit, sich die wahre Größe Quarmalls vor Augen zu führen; und diese Anlässe waren selten; man hatte vielleicht einmal im Leben Gelegenheit, an einer solchen Feier teilzunehmen. Soweit das Auge reichte, erstreckten sich die Köpfe der Sklaven, Reihe um Reihe, bis zu den Mauern, die den Hof umgaben; dazwischen sein Trupp Eunuchen. Da waren auch die Handwerker aus den Oberen Regionen, geschickt im Umgang mit Holz und Metall; da waren die Arbeiter von den Feldern und Weinhängen, sonnengebräunt, da waren die Sklaven aus den Unteren Regionen, die im ungewohnten Tageslicht blinzelten, bleich und seltsam deformiert; und all die übrigen, die in Quarmalls unendlicher Tiefe dienten, eine Gruppe aus jedem Stockwerk. Die Größe der Menschenmenge, die hier zusammengekommen war, schien die Gerüchte des frühen Morgens zu widerlegen, wonach es in der Nacht
Krieg gegeben hatte zwischen den Regionen. Brilla war beruhigt. Die wichtigsten Besucher auf den besten Plätzen waren die Söldnertrupps Hasjarls und Gwaays; sie hatten auf entgegengesetzten Seiten Aufstellung aufgenommen, den Scheiterhaufen zwischen sich. Nur die Zauberer der Brüder waren nicht anwesend, wie Brilla mit leichtem Unbehagen feststellte. Doch darüber wollte er sich nicht den Kopf zerbrechen. Hoch über der bunten Menge, auf den hohen Mauern, standen die stummen, aufmerksamen Wächter, verharrten ruhig auf ihren Posten, die Schlingen wurfbereit in der Hand. Noch nie waren die Mauern Quarmalls erstürmt worden, noch nie war ein Sklave lebend aus dieser gutbewachten Burg in die Außenwelt geflohen. Brilla hatte einen guten Platz. Zu seiner Rechten, der Mauer des Hofes vorgebaut, befand sich der Balkon, von dem aus Hasjarl und Gwaay die Verbrennung ihres Vaters beobachten würden; zu seiner Linken erstreckte sich die Plattform, von der Flindach die Feier leitete. Brilla saß unmittelbar neben der Tür, aus der der gesalbte und gereinigte Körper Quarmals zu seiner letzten feurigen Reinigung getragen wurde. Er wischte sich mit dem Saum seiner Untertunika den Schweiß von den dicken Wangen und fragte sich, wie lange es wohl noch dauern mochte. Die Sonne mußte gleich über die Mauer scheinen, und mit ihren ersten Strahlen begannen die Zeremonien. Im gleichen Augenblick ertönte das dumpfe Dröhnen des riesigen Gongs. Die Menge geriet in Bewegung, Köpfe wandten sich, ein Rascheln ertönte, als die Menschen unruhig von einem Fuß auf den ande-
ren traten; dann Stille. Auf dem linken Balkon erschien Flindach. Er trug die Kapuze des Todes, und seine Kleidung bestand aus schwerem dunklen Brokat. An seiner Hüfte schimmerte das kreisförmige StrahlenkranzZeichen der Macht – das Symbol, das vom Obersten Zauberer in Ehren gehalten werden mußte, solange es keinen quarmallischen Herrscher gab. Er streckte die Arme aus, zeigte auf die Stelle, an der die Sonne gleich erscheinen mußte, und stimmte die Begrüßungshymne an; und während er sang, drangen die ersten bleichen Sonnenstrahlen über die Mauer und stachen den Zuschauern auf der anderen Seite des Hofes in die Augen. Wieder ertönte der gewaltige Gong, der die Menschen in seiner Nähe erzittern ließ, und gegenüber von Flindach, auf dem anderen Balkon, erschienen Gwaay und Hasjarl. Beide waren gleich gekleidet, nur ihr Kopfschmuck und ihre Szepter waren verschieden. Hasjarl trug ein saphirbesetztes Silberband auf der Stirn und hielt mit der Hand das Szepter der Oberen Regionen, von einer geballten Faust gekrönt; Gwaay hatte ein Diadem, mit Rubinen eingelegt, und um sein Szepter ringelte sich eine dolchdurchstoßende Schlange. Ansonsten trugen die Brüder identische tiefdunkle Zeremonienroben, die von schwarzen Ledergürteln zusammengehalten wurden. Sie waren unbewaffnet und trugen auch sonst keinen Schmuck. Als sie sich auf den hohen Stühlen niederließen, wandte sich Flindach zum Durchgang neben Brilla und begann zu singen. Seine tiefe Stimme erhielt Antwort durch einen versteckten Chor und auch durch Gruppen hier und dort auf dem Hof. Zum
drittenmal wurde der riesige Gong geschlagen, und als die letzten Vibrationen verhallten, erschien die Leiche Quarmals. Sie wurde auf einer Bahre in den Hof getragen, von seinen sechs lankhmarischen Sklavenmädchen gestützt, gefolgt von den Mingolmädchen – dieser kleine Trupp war übriggeblieben von den unzähligen Frauen, die in Quarmals Bett geschlafen hatten. Brilla fuhr erschrocken zusammen und ließ seinen Blick über die Prozession gleiten. Wo war die Ilthmarix Kewissa, die Lieblingskonkubine des alten Herrn? Brilla hatte die Vorbereitungen für die Mädchen selbst angewiesen. Sie war doch nicht etwa ... Langsam näherte sich die Bahre durch eine schmale Gasse aus Leibern dem Scheiterhaufen. Der tote Körper Quarmals saß aufrecht, so daß er nun, während die Mädchen unter der ungewohnten Last dahintaumelten, hin und her schwankte, als ob er lebte. Er war in Roben aus purpurner Seide gekleidet, und auf seiner Stirn leuchtete das goldene Band des quarmallischen Herrscherhauses. Seine hageren Hände, die noch vor kurzem aktiv gewesen waren in der Ausübung seiner Magie, waren steif über dem Zauberbuch gefaltet, das ein ganzes Leben hindurch seine Bibel gewesen war. An sein Handgelenk war ein großer Falke gekettet, dem man den Kopf verhüllt hatte, und zu seinen Füßen lag Quarmals Lieblingsleopard, reglos, tot. Die einst furchterweckenden Augen Quarmals waren von wachsähnlichen Lidern verdeckt – sie, die soviel Leid und Tod gesehen hatten, waren nun für immer geschlossen. Obwohl sich Brillas Gedanken noch immer mit Kewissa beschäftigten, redete er den anderen Mäd-
chen Mut zu, als sie an ihm vorbeikamen, und eine lächelte ihm sogar gequält zu; sie alle wußten, daß es eine Ehre war, ihren Herrn in die Zukunft zu begleiten, doch keine wünschte sich das besonders. Sie konnten aber nichts dagegen tun und mußten sich den Anweisungen fügen. Brilla bedauerte sie alle; sie waren so jung und hatten herrliche Körper, mit denen sie einem Mann viel Freude schenken konnten, denn er hatte sie gut ausgebildet. Aber die Tradition war nicht zu umgehen. Wie war nur Kewissa ...? Brilla unterbrach seine Spekulationen. Die Bahre wurde die Rampe hinaufgetragen. Das Singen wurde lauter und schneller, als die sechs Mädchen die Plattform erreichten. Die Sonnenstrahlen, die nun voll in das tote Gesicht Quarmals schienen, als die Bahre herumgedreht wurde, schimmerte hell auf dem Haar und der weißen Haut der lankhmarischen Sklavenmädchen, die sich nun mit den Mingolfrauen zu Füßen Quarmals hinwarfen. Plötzlich ließ Flindach die Arme sinken, und Stille trat ein – eine so vollkommene Stille, daß sie körperliches Unbehagen hervorrief. Gwaay und Hasjarl rührten sich nicht. Sie nahmen den Blick nicht von der Gestalt, die einmal ihr Vater gewesen war, Herrscher von Quarmall. Wieder hob Flindach die Arme, und aus einem Tor auf der anderen Hofseite sprangen acht Männer. Jeder trug eine Fackel und war bis auf eine purpurne Kapuze, die sein Gesicht bedeckte, nackt. Begleitet von lauten Gongschlägen hasteten sie auf den Scheiterhaufen zu – zwei auf jeder Seite – stießen ihre Fakkeln in das präparierte Holz, stürzten über die aufschießenden Flammen, hasteten zur Plattform hoch
und umarmten wollüstig die Sklavenmädchen. Blitzschnell fraßen sich die Flammen in das trockene und mit Öl durchtränkte Holz. Einen Augenblick lang waren durch den dicken Rauch die sich windenden Gestalten der Sklaven zu sehen und dahinter die hagere Gestalt des toten Quarmal, der durch seine geschlossenen Lider direkt in die Sonne starrte. Dann, alarmiert durch die Hitze und den beißenden Rauch, kreischte der große Falke auf und erhob sich flatternd vom Handgelenk seines Herrn. Die Ketten hielten; doch alle sahen, wie der Arm Quarmals in einer letzten Abschiedsgeste angehoben wurde, ehe der Rauch das Bild völlig verhüllte. Der Gesang erreichte einen Höhepunkt und endete abrupt, als Flindach das Zeichen gab, daß die Feier zu Ende wäre. Als die gierigen Flammen den Scheiterhaufen und seine Last einhüllten, brach Hasjarl das lange Schweigen, das die Tradition ihm auferlegt hatte. Er befingerte sein kostbares Szepter und wandte sich mit sehr bösem Lächeln an seinen Bruder. »Ha! Gwaay, wie schön es gewesen wäre, wenn du da in den Flammen gesteckt hättest. Fast so schön wie die letzte Todesgeste unseres Vaters. Geh schnell, Bruder! Noch hast du Gelegenheit, dich selbst umzubringen und Ruhm und Unsterblichkeit zu erringen!« Er kicherte böse. Gwaay hatte gerade einem Pagen in seiner Nähe ein unauffälliges Zeichen gegeben, und der Junge hastete fort. Der junge Herrscher der Unteren Regionen war von dem unpassenden Spott seines Bruders alles andere als erbaut, doch lächelnd und achselzuckend
erwiderte er: »Ich suche meinen Tod auf weniger schmerzhafte Weise. Und doch ist der Gedanke nicht schlecht; ich werde ihn mir merken.« Mit tiefer werdender Stimme fuhr er fort: »Es wäre besser, daß wir beide totgeboren wären, anstatt unser Leben in nutzlosem Haß zu zerstören. Ich werde dein Traumpulver und deinen Rauschgifthurrikan vergessen und auch deine unangenehmen Zaubersprüche. Ich will einen Pakt mit dir schließen, o Hasjarl! Bei den großen Göttern, die in unserem quarmallischen Berg herrschen, bei dem Wurm, der mein Zeichen ist, schwöre ich, daß deinem Leben von meiner Hand keine Gefahr droht; weder mit Zaubersprüchen noch Stahl noch Krankheiten werde ich dich umbringen!« Mit diesen Worten stand Gwaay auf und schaute seinen Bruder an. Überrascht schwieg Hasjarl einen Augenblick; ein verwirrter Ausdruck trat auf sein Gesicht, ehe er die Lippen zu einer spöttischen Grimasse verzog. »So!« fauchte er. »Du fürchtest dich ja mehr vor mir, als ich dachte. Aye! Und zu recht! Dennoch fließt das Blut des alten Aschehaufens da draußen heiß in unseren Adern, und ich habe eine Schwäche für meinen Bruder. Ja, ich schließe einen Pakt mit dir, Gwaay. Im Namen der Urzeitlichen, die in den lichtlosen Tiefen schlummern, und bei der Faust, die mein Zeichen ist, schwöre ich, daß mir dein Leben lieb und teuer ist – bis ich dich zerdrücke!« Und mit einem letzten grimmigen Auflachen glitt Hasjarl wie ein mißgestaltes Wiesel von seinem Stuhl und verließ den Balkon. Gwaay rührte sich eine Zeitlang nicht und starrte auf die Stelle, an der Hasjarl eben noch gesessen hat-
te. Als er sicher war, daß sein Bruder nicht zurückkommen würde, schlug er sich kräftig auf die Schenkel und brach in ein heftiges, lautloses Gelächter aus. Ins Leere sagte er: »Auch die schlauesten Hasen lassen sich einmal fangen.« Lächelnd wandte er sich ab und beobachtete die züngelnden Flammen. Langsam wurden die verschiedenen Gruppen zu den Torbogen getrieben, durch die sie den Hof betreten hatten; und wieder lag die weite Fläche menschenleer zwischen den Mauern. Nur ein paar Sklaven und Priester, die noch zu tun hatten, blieben zurück. Gwaay beobachtete sie eine Zeitlang und glitt dann ebenfalls von dem Balkon in die Innenräume des Gebäudes. Und ein schwaches Lächeln hielt sich in seinen Mundwinkeln, als ginge ihm ein kleiner Scherz durch den Sinn. »... und beim Blute seiner Adern mußt du mit dem Schicksal hadern. Ihn anzuschauen bringt den Tod ...« Mit sonorer Stimme, geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen sprach der Graue Mausling die Verse des Zauberspruches, den ihm der Augenlose Sheelba beigebracht hatte. Er war nicht ohne Zittern und Zagen an die Sache herangegangen, ging es doch darum, alle Zauberer unter dem Ersten Rang auf unbestimmte Entfernung ringsum zu vernichten! Man konnte nur hoffen, daß die Wirkung seiner Magie mindestens einige Meilen weit reichte und Hasjarls kriegerische Zauberer zu Staub werden ließ! Ob sein großartiger Spruch nun funktionierte oder
nicht – und im innersten Herzen war der Mausling überzeugt, daß das Ergebnis gleich Null sein würde –, er war auf jeden Fall sehr zufrieden mit der Vorstellung, die er hier abziehen konnte. Er wagte zu bezweifeln, daß Sheelba es besser gekonnt hätte. Welche wunderbare Baßtöne! Selbst Fafhrd hatte ihn noch nie so sprechen hören. Er wünschte, er könnte einen Augenblick die Augen öffnen, um zu sehen, welche Wirkung sein Tun auf Gwaays Zauberer hatte – trotz ihrer Prahlerei, trotz ihres großsprecherischen Gehabes würden sie ihn mit aufgerissenen Mündern anstarren, daran hatte er keinen Zweifel. Leider durfte er den Kopf nicht heben; in diesem Punkt waren Sheelbas Anweisungen besonders präzise und strikt gewesen: Die Augen mußten fest geschlossen bleiben, während die letzten Sätze des Spruches über die Lippen kamen; auch das winzigste Blinzeln mußte die Wirkung des großen Zaubers sofort zunichte machen. Offensichtlich durften Zauberer keine Eitelkeit oder Neugier kennen – wie langweilig das war! Irgendwo in seinem Kopf, in einer dunklen Ecke, spürte er plötzlich den Kontakt mit einer fremdartigen Schwärze, einer mächtigen, bösartigen Macht. Er erschauderte. Seine Haare richteten sich an den Wurzeln auf. Kalter Schweiß trat auf sein Gesicht. Er hätte fast gestottert, als er das Wort »Slewerisophnak« aussprach. Doch er konzentrierte sich und brachte die Verse ohne Versprecher zu Ende. Als er geendet hatte und die letzten Echos zwischen der Kuppeldecke und dem Fußboden des Saales verhallt waren, öffnete der Mausling ein Auge und sah sich vorsichtig um. Er hob die Augenbrauen.
Und riß auch das andere Auge auf. Vor Überraschung brachte er kein Wort heraus. Mit wem er hätte sprechen sollen, wenn er nicht so überrascht gewesen wäre – das war auch noch die Frage. Um den langen Tisch, an dessen unterem Ende er stand, saß niemand mehr. Wo sich noch eben elf der größten Zauberer Quarmalls aufgehalten hatten – Zauberer Ersten Ranges, wie jeder von ihnen auf sein schwarzes Zauberbuch geschworen hatte –, breitete sich jetzt nur Leere aus. Der Mausling rief leise. Vielleicht hatte die Majestät seiner furchteinflößenden lankhmarischen Schau diese Provinztypen erschreckt und sie unter den Tisch verjagt. Doch er erhielt keine Antwort. Er rief lauter. Doch da war nur das endlose Ächzen der Belüftungsräder, das er nach vier Tagen allerdings kaum lauter hörte als das Summen des eigenen Blutes in seinen Ohren. Achselzuckend ließ sich der Mausling in seinen Stuhl sinken. Er murmelte vor sich hin: »Wenn die alten Gerippe weggelaufen sind, was dann? Wenn nun alle Krieger Gwaays die Flucht ergreifen – was tun?« Und als er zu überlegen begann, welche Maßnahmen er in einem solchen Falle aus dem Nichts ergreifen müßte, fiel sein Blick zufällig auf den breiten hochlehnigen Stuhl unmittelbar neben ihm, in dem der beherzteste der Magier gesessen hatte, eine Art Sprecher der Versammlung. Wo er gesessen hatte, lag jetzt ein zusammengefallener weißer Lendenschurz – und darin entdeckte der Mausling etwas, das ihn zusammenfahren ließ. Ein kleiner Haufen lockerer grauer Staub!
Der Mausling pfiff leise durch die Zähne und stand auf, um auch die übrigen Sitze zu überschauen. Es war überall dasselbe: ein sauberer Lendenschurz, ein wenig zerknittert, als wäre er kurze Zeit getragen worden, und in den Tüchern ein Häufchen graues Pulver. Am anderen Tischende rollte einer der schwarzen Spielsteine des Gedankenspiels, der hochkant gestanden hatte, vom Spielbrett und fiel mit leisem Klicken zu Boden. Das Geräusch kam dem Mausling gewaltig vor, wie das letzte Geräusch auf der Welt. Leise stand er auf und näherte sich in seinen Rattenleder-Mokassins leise dem nächsten Torbogen, den er zuvor mit einem Ledervorhang verschlossen hatte, um bei seinem Zauberwerk ungestört zu sein. Er fragte sich, welche Reichweite sein Spruch nun wirklich gehabt hatte, wo die Grenze gewesen war, wenn es überhaupt eine gab. Wenn nun Sheelba die Wirkung seines Zaubers unterschätzt hatte und nun nicht nur Zauberer aufgelöst worden waren, sondern auch ... Der Mausling blieb vor dem Vorhang stehen und warf einen letzten Blick über die Schulter zurück. Dann zuckte er die Achseln, rückte seinen Schwertgürtel zurecht, setzte ein Grinsen auf, das wirklich nicht seiner augenblicklichen Stimmung entsprach, und sagte ins Leere: »Sie hatten mir hoch und heilig versichert, daß sie Zauberer Ersten Ranges wären.« Als er die Hand nach dem reich bestickten Vorhang ausstreckte, geriet das Gewebe in Bewegung. Der Mausling erstarrte, das Herz klopfte ihm bis in den Hals. Dann teilte sich der Vorhang ein wenig, und Ivivis' hübsches Gesicht erschien. Das Mädchen sah
sich mit aufgerissenen Augen neugierig um. »Hat dein toller Zauber gewirkt, Mausling?« flüsterte sie schüchtern. Er atmete erleichtert auf. »Na, du hast ihn jedenfalls überlebt«, sagte er, hob den Arm und zog sie an sich. Ihr schlanker Körper, der sich an ihn drückte, fühlte sich sehr gut an. Gewiß, in diesem Augenblick wäre ihm fast jedes lebendige Wesen recht gewesen, doch daß nun ausgerechnet Ivivis zu ihm gekommen war, mußte er einfach ausnutzen. »Meine Liebe«, sagte er ernst. »Ich hatte fast das Gefühl, der letzte Mann auf der Erde zu sein. Aber jetzt ...« »Und du hast dich benommen, als wäre ich das letzte Mädchen, das du nach einem Jahr der Enthaltsamkeit gefunden hast«, erwiderte sie knapp. »Jetzt ist nicht der rechte Moment für liebevolle Trostsprüche und Intimitäten«, fuhr sie fort, und stieß ihn in Verkennung seiner Absichten von sich. »Hast du Hasjarls Zauberer erledigt?« wollte sie dann wissen und starrte ihn nicht ohne Bewunderung an. »Ja, Zauberer haben daran glauben müssen«, erwiderte der Mausling zweideutig. »Wie viele es geworden sind, weiß ich noch nicht.« »Wo sind Gwaays Magier?« fragte sie und schaute am Mausling vorbei auf die leeren Stühle. »Hat er sie alle mitgenommen?« »Ist Gwaay vom Begräbnis seines Vaters noch nicht zurück?« konterte der Mausling und wich ihrer Frage aus, doch als sie den Blick nicht von ihm nahm, fuhr er leichthin fort: »Seine Zauberer sind an einem angenehmen Ort – hoffe ich.«
Ivivis musterte ihn fragend, drängte sich an ihm vorbei, huschte zu dem langen Tisch und betrachtete die Stühle. »Oh, Mausling!« sagte sie tadelnd, doch die Bewunderung in ihrem Blick hatte sich noch verstärkt. Er zuckte die Achseln. »Sie haben mir geschworen, sie wären Ersten Ranges«, verteidigte er sich. »Kein Knochenstück ist übrig«, sagte Ivivis ehrfürchtig, beugte sich zu einem der Staubhäufchen hinab und schüttelte den Kopf. »Nicht einmal ein Gallenstein«, erwiderte der Mausling heftig. »Mein Zauber hat wirklich sehr durchschlagend gewirkt.« »Auch kein Zahn«, setzte Ivivis die Aufzählung fort und stocherte neugierig in einem Haufen herum. »Nichts, das man ihren Müttern schicken könnte.« »Ihre Mütter können meinetwegen die Windeln haben und sie zu den anderen legen!« sagte der Mausling aufgebracht. »Oh, Ivivis, Zauberer haben keine Mütter!« »Aber was geschieht jetzt mit Lord Gwaay, wenn seine Beschützer nicht mehr bei uns sind?« fragte Ivivis nüchtern. »Du hast selbst gesehen, wie ihm Hasjarls böse Einflüsse gestern abend zu schaffen machten, als Gwaays Zauberer nur schlummerten. Und wenn mit Gwaay etwas passiert, was soll dann aus uns werden?« Wieder zuckte der Mausling die Achseln. »Wenn mein Zauber die vierundzwanzig Zauberer Hasjarls erreicht und ebenfalls vernichtet hat, dann ist kein großer Schaden entstanden – außer natürlich an den Zauberern. Und in ihrem Beruf lebt man ohnehin riskant. Sie alle hatten praktisch ihr Todesurteil unter-
schrieben, als sie ihren ersten magischen Spruch aufsagten ... es ist ein gefährliches Handwerk.« Lebhaft fuhr er fort: »Tatsächlich hätten wir dann sogar etwas hinzugewonnen. Vierundzwanzig tote Feinde bei einem Verlust von nur zwölf, nein, elf auf unserer Seite – also, das ist wirklich eine günstige Konstellation, die jeder gern für sich beanspruchen würde. Und da die Zauberer dann aus dem Weg sind – bis auf die Brüder selbst und Flindach, der eine Macht ist, die man nicht übersehen darf! – ziehe ich los und töte diesen Kämpfer, den sich Hasjarl zugelegt hat, und dann ist alles klar. Wenn ...« Er beendete den Satz nicht, denn er stellte sich plötzlich die Frage, warum sein Zauber nicht auch ihn vernichtet hatte. Der Gedanke, daß vielleicht auch er als Zauberer Ersten Ranges gelten mußte, war ihm fremd – da er sich trotz einer umfassenden Ausbildung in der Jugend seither nur hier und da mit der Magie befaßt hatte. Vielleicht hatte er etwas übersehen, oder ein metaphysischer Trick war im Spiel ... Wenn ein Zauberer einen Spruch aufsagt, der auf halbem Wege alle Zauberer verschwinden läßt, sofern der Spruch vollendet wird – dann vernichtet er sich doch selbst mit, oder ...? Möglicherweise war er wirklich, ohne es zu wissen, ein Magier Ersten Ranges, vielleicht sogar besser. Stolz richtete sich der Mausling auf. In der nun einsetzenden Stille hörten er und Ivivis plötzlich Schritte, die in wildem Getrappel näherkamen. Der graugekleidete Mann und das Sklavenmädchen hatten kaum Zeit, sich fragend anzusehen, als acht oder neun Soldaten aus Gwaays Wachtrupp durch den Vorhang gestürmt kamen und dabei den
Stoff mitnahmen. Ihre Gesichter waren totenbleich, und in ihren Augen stand ein Ausdruck panischen Entsetzens. Sie rannten durch den Saal und verschwanden im entgegengesetzten Torbogen. So schnell waren sie vorbei, daß sich der Mausling kaum von seinem Schrecken erholen konnte. Aber damit nicht genug – wieder klangen Schritte auf. Diesmal nur ein Mann. Er schien in einem seltsam ungleichmäßigen Galopp näherzukommen, wie ein Krüppel, der sich abmüht; und bei jedem Schritt war ein seltsames Glucksen zu hören. Der Mausling stellte sich hastig neben Ivivis und legte ihr den Arm um die Hüfte. Auch er wollte in diesem Augenblick lieber nicht allein sein. Ivivis sagte: »Wenn dein großer Zauber Hasjarls Magier verfehlt hat und ihre Krankheitssprüche den schutzlosen Gwaay getroffen haben ...« Angstvoll hielt sie den Atem an, als eine monströse Gestalt in scharlachroten Umhängen zuckend in Sicht kam. Zuerst glaubte der Mausling Hasjarl vor sich zu sehen, der nach allgemeinen Berichten ungleich lange Arme hatte. Doch dann erkannte er, daß grauer Schimmel den Hals dieses Mannes bedeckte, daß seine rechte Wange rot, seine linke schwarz war, daß die Augen von grünem Schleim gerahmt waren und helle Tropfen aus der Nase strömten. Als das entsetzliche Wesen einen letzten Schritt in den Saal machte, verlor das linke Bein jeglichen inneren Halt und sank zusammen, während das rechte steif auf den Boden prallte und am Schienbein brach. Die spitzen Knochenenden bohrten sich durch das Fleisch. Die gelbverkrusteten Hände, die voller roter Risse waren, versuchten vergeblich Halt zu finden in
der Luft, und der rechte Arm, der an seinem Kopf entlangfuhr, nahm die Hälfte des Haars auf dieser Seite mit. Ivivis begann zu schluchzen und zu wimmern. Sie klammerte sich an den Mausling, der das Gefühl hatte, einen schrecklichen Alptraum zu erleben. Auf diese Weise nun kehrte Prinz Gwaay, Herrscher der Unteren Regionen Quarmalls, von den Begräbnisfeierlichkeiten seines Vaters zurück – als ein stinkendes, eitriges, schleimiges Gebilde, auf den kostbar bestickten herabgerissenen Vorhängen ruhend, unmittelbar unter der Torbogen-Nische, in der eine gespenstische Maske seines hübschen Gesichts stand. Der Scheiterhaufen schwelte noch lange vor sich hin, doch von allen Menschen in diesem gewaltigen und weitverzweigten Burg-Königreich war der Oberste Eunuch Brilla der einzige, der bis zuletzt an seinem Platz verharrte. Schließlich sammelte er noch ein paar Aschereste ein, die er sich aufheben wollte; aus der nebelhaften Vorstellung heraus, daß sie ihn eines Tages vielleicht beschützen konnten, nachdem sein anderer Beschützer nun ins Reich der Toten übergewechselt war. Dennoch vermochten die eingesammelten Überreste Brilla nicht aufzuheitern, als er nun bedrückt in die Innenräume zurückkehrte. Er dachte an den Krieg, der unweigerlich zwischen den Brüdern ausbrechen mußte, ehe Quarmall wieder einen einzigen Herrn hatte. Was für eine Tragödie, daß das Schicksal Quarmal so plötzlich zu sich rufen mußte und ihm keine Gelegenheit ließ, Vorsorge für seine Nachfolge
zu treffen! Allerdings hatte Brilla keine Ahnung, welche Schritte tatsächlich möglich gewesen wären – auch ihm waren die strengen quarmallischen Traditionen bekannt. Doch hatte Quarmal anscheinend immer wieder das Unmögliche möglich gemacht. Weitaus unruhiger stimmte Brilla die Tatsache – die er schuldbewußt immer wieder aus seinen Gedanken verbannt hatte –, daß Quarmals Konkubine Kewissa den Flammen entgangen war. Vielleicht wurde er noch dafür verantwortlich gemacht! Allerdings war er sich keiner Fahrlässigkeit in der Ausübung seiner Pflichten bewußt. Und die Verbrennung wäre ein geringer Schmerz gewesen im Vergleich zu der Strafe, die das Mädchen nun für die Mißachtung der Befehle erleiden mußte. Er hatte die unbestimmte Hoffnung, daß sie sich mit dem Messer oder durch Gift selbst gerichtet hatte, obwohl das ihren Geist zu ewiger Wanderung verurteilte – eine Wanderung mit den Winden, die zwischen den Sternen bliesen und sie zum Glitzern brachten. Brilla merkte, daß er sich unwillkürlich dem Harem näherte, und blieb zitternd stehen. Kewissa mochte sich dort aufhalten, und er wollte nicht derjenige sein, der sie vor den, Richter schleppte. Wenn er aber hier im Kern der Burg blieb, konnte er jeden Augenblick Flindach über den Weg laufen, und er wußte, daß er den Mund nicht halten konnte, wenn der düstere Blick des Obersten Zauberers ihn traf. Er würde ihn auf Kewissa aufmerksam machen müssen. Brilla dachte sich also eine Aufgabe aus, die ihn in die untersten Regionen des Burgbezirks führen mußte, dicht über Hasjarls Reich. Es gab dort einen
Lagerraum, der seiner Verantwortung unterstand und den er seit etwa einem Monat nicht mehr aufgesucht hatte. Brilla mochte die düsteren Unteren Regionen Quarmalls nicht; er bildete sich viel darauf ein, daß er zu der Elite gehörte, die in oder in der Nähe des Sonnenlichts arbeitete – doch jetzt, von seiner Angst getrieben, kamen ihm die schwarzen Höhlen doch sehr verlockend vor. Als er seine Entscheidung getroffen hatte, besserte sich Brillas Laune etwas. Er machte sich sofort auf den Weg und schritt trotz seiner unförmigen Körpermaße kräftig aus. Er erreichte den Lagerraum ohne Zwischenfälle. Als er die Fackel an der Wand entzündet hatte, fiel sein Blick auf eine kleine, mädchenhafte Frau, die zwischen den Stoffballen kauerte. Sie trug einen hübschen weiten Umhang aus gelber Seide und hatte das ansprechende dreieckige Gesicht, das moosgrüne Haar und die hellblauen Augen einer Ilthmarix. »Kewissa«, flüsterte er mit fast mütterlicher Wärme. »Meine Süße ...« Sie stürzte sich in seine Arme. »Oh, Brilla, ich habe ja solche Angst«, sagte sie weinend, drückte sich an ihn und barg ihr Gesicht in seinen großen Armen. »Ich weiß, ich weiß«, murmelte er und ließ ein leises Schnalzen hören, während er ihr das Haar glattstrich und sie tätschelte. »Du hast dich immer vor dem Feuer gefürchtet, ich weiß. Mach dir keine Sorgen. Quarmal wird dir vergeben, wenn ihr euch jenseits der Sterne wiedertrefft. Hör zu, meine Kleine, die Sache ist gefährlich, aber weil du der Liebling des alten Herrn warst, habe ich dich in mein Herz geschlossen. Ich habe ein schmerzloses Gift bei mir ...
nur ein paar Tropfen auf die Zunge, und sofort kommen die Dunkelheit und die stürmischen Meere ... Ein weiter Sprung, gewiß, aber weitaus besser als die Strafe, die dir Flindach zumessen muß, wenn er erfährt ...« Sie stieß ihn von sich. »Aber Brilla – Flindach selbst hat mir befohlen, meinem Herrn nicht auf seine letzte Lagerstatt zu folgen!« sagte sie mit aufgerissenen Augen, und in ihrer Stimme lag eine leise Anklage. »Er sagte mir, die Sterne hätten anders über mein Schicksal bestimmt, und Quarmal hätte sich das auf dem Sterbebett gewünscht. Ich hatte meine Zweifel an Flindach, und ich fürchtete mich vor seinem schrecklichen Gesicht und den Augen, die so sehr denen meines Herrn gleichen – aber ich mußte gehorchen ... und nicht ohne Dankbarkeit, muß ich gestehen, mein lieber Brilla.« »Aber aus welchem irdischen oder überirdischen Grunde ...?« stammelte Brilla. Seine Gedanken überstürzten sich. Kewissa sah sich vorsichtig um. »Ich trage Quarmals Kind in mir«, flüsterte sie. Im ersten Augenblick steigerte diese Information Brillas Verwirrung nur noch mehr. Wie hatte sich Quarmal Hoffnung machen können, daß das Kind einer Konkubine als Herrscher des ganzen Reiches anerkannt würde, wenn es schon zwei erwachsene legitime Erben gab? Oder maß er der Sicherheit des Landes so wenig Bedeutung bei, daß er sogar einen ungeborenen Bastard am Leben ließ? Nach einiger Zeit fiel ihm ein – und sein Herz begann zu flattern bei dem Gedanken –, daß Flindach vielleicht die absolute Macht an sich reißen wollte und dazu Kewissas Kind
und einen erfundenen letzten Wunsch Quarmals als Vorwand benutzte. Palastrevolutionen waren in Quarmall nicht unbekannt. Tatsächlich gab es eine Legende, wonach das jetzige Herrscherhaus vor vielen Generationen mit dem Dolch in der Hand an die Macht gekommen war – auch wenn es bei Todesstrafe verboten war, solche Gerüchte zu verbreiten. Kewissa fuhr fort: »Ich versteckte mich im Harem. Flindach hatte gesagt, ich wäre dort sicher. Doch dann kamen Hasjarls Soldaten in Flindachs Abwesenheit und durchsuchten die Räume. Und da setzte ich mich über alle Regeln des Anstands hinweg und floh hierher.« All dies ergab irgendwie einen schrecklichen Sinn, überlegte Brilla. Wenn Hasjarl ahnte, daß Flindach die Macht an sich bringen wollte, würde er sich instinktiv zu sichern suchen, indem er ihn mit in den Kampf hineinzog. Auf diese Weise mußte der Bruderzwist zu einem Dreiparteienkrieg werden, in den – o Leid! – auch der sonnenhelle Gipfel Quarmalls mit hineingezogen wurde, der bis zu diesem Augenblick vor allem Kriegsgeschrei sicher gewesen war ... Als hätten Brillas Ängste sofort Gestalt angenommen, sprang in diesem Augenblick die Tür des Lagerraums auf, und auf der Schwelle stand ein riesiger Mann, der alle Schrecken des Krieges zu verkörpern schien. Er war so groß, daß er mit dem Kopf an die Deckenbalken stieß; er sah ganz gut aus, hatte jedoch einen seltsam forschenden Blick; sein rotgoldenes Haar hing ihm wirr bis auf die Schultern herab; seine Kleidung bestand aus einer mit Bronzestücken besetzten Wolfsfell-Tunika; dazu trug er ein Langschwert und eine massive kurzstielige Axt, die an
seinem Gürtel baumelte, und am längsten Finger der rechten Hand bemerkte Brilla – der in langen Jahren gelernt hatte, sich kein äußerliches Detail entgehen zu lassen – einen Ring, der die geballte Faust Hasjarls als Siegelzeichen trug. Der Eunuch und das Mädchen begannen zu zittern und umarmten sich. Als er sich vergewissert hatte, daß die beiden allein waren, setzte der Fremde ein Lächeln auf, das vielleicht Beruhigung ausgestrahlt hätte, wenn er nicht so groß und schwerbewaffnet gewesen wäre. Fafhrd sagte: »Sei gegrüßt, Großvater. Ich möchte, daß du und dein Mädchen mir helfen, das Sonnenlicht und die Ställe dieses nachtschwarzen Reiches zu finden. Kommt, wir planen das so, daß ihr mir den Weg zeigt, ohne euch dabei in Gefahr zu bringen.« Mit schnellem Schritt trat er auf sie zu, leise trotz seiner Größe, und den Blick interessiert auf Kewissa gerichtet, als sähe er erst jetzt, daß sie kein Kind mehr war. Kewissa spürte seinen Blick, und obwohl ihr das Herz bis zum Halse schlug, richtete sie sich mutig auf: »Wage es nicht, mich zu vergewaltigen! Ich trage das Kind eines toten Mannes!« Fafhrds Lächeln gefror. Vielleicht hätte er sich geschmeichelt fühlen sollen, weil die Mädchen nun schon an Vergewaltigung dachten, kaum daß sie ihn zu Gesicht bekamen; trotzdem war er ein wenig ärgerlich. Hielten sie ihn keiner zivilisierten Regung für fähig, nur weil er Felle trug und kein Zwerg war? Er konnte sie schnell eines Besseren belehren. Der wabbelig-fette Großvater – der, wie Fafhrd jetzt erkannte, weder groß noch Vater genannt wer-
den konnte, sagte furchtsam-schrill: »Sie sagt die Wahrheit, o Herr. Aber es wäre mir eine Freude, dir nach besten Kräften zu helfen ...« In diesem Augenblick ertönten hastige Schritte im Durchgang, gefolgt von dem harten Geräusch von Stahl, der an eine Mauer stieß. Wie ein Tiger fuhr Fafhrd herum. Zwei Männer in den schwarzen Panzern der Hasjarlschen Wache drängten in den Raum. Das gezogene Schwert des einen war gegen die Türfüllung gekommen, während ein Dritter jetzt hinter ihnen rief: »Nehmt euch den Verräter aus dem Norden aufs Korn! Erschlagt ihn, wenn er sich wehrt! Ich kümmere mich um Quarmals Konkubine.« Die beiden wachen wollten sich auf Fafhrd stürzen, doch der, einem Tiger ähnlicher denn je, war schneller. In Windeseile zerrte er Graywand aus der Scheide, ließ die Klinge seitwärts hochschnellen und wehrte das Schwert des ersten Angreifers ab; im gleichen Augenblick trat Fafhrd kräftig zu und nagelte den Fuß des Mannes fest. Aus der gleichen Angriffsbewegung heraus ließ er Graywands Griff gegen das Kinn des Mannes knallen, der auf seinen Begleiter fiel. Währenddessen war Fafhrds Axt aus dem Gürtel in seine linke Hand geschnellt, und im Nahkampf hieb er damit auf seine Angreifer ein, schob die fallenden Körper von sich, nahm seine Axt über den Kopf und schleuderte sie dem dritten an den Schädel. Der Kampf schien vorüber; doch da waren Schritte eines vierten und vielleicht auch fünften zu hören, die sich hastig entfernten. Fafhrd sprang knurrend auf die Tür zu, blieb stampfend stehen, kehrte hastig zurück und zeigte mit blutigem Finger auf Kewissa, die an der Riesen-
gestalt Brillas Schutz suchte. »Du bist das Mädchen des alten Quarmal? Und trägst ein Kind von ihm?« schnappte der Nordling, und als sie hastig nickte, schluckte er trocken und sagte: »Dann kommst du mit. Und zwar sofort. Der Kastrierte auch.« Er schob Graywand wieder in die Scheide, zerrte seine Axt aus dem Schädel des dritten Soldaten, nahm Kewissa am Oberarm und eilte auf die Tür zu. Mit heftiger Kopfbewegung bedeutete er Brilla, ihm zu folgen. »Hab Gnade, Herr! Ich verliere sonst noch mein Kind«, sagte Kewissa. Brilla setzte sich gehorsam, wenn auch kopfschüttelnd in Bewegung. »Freundlicher Herr, wir können dir gar nichts nützen und behindern dich nur auf deinem Wege. Wir versprechen dir ...« Fafhrd blieb abrupt stehen, fuhr herum, schüttelte die blutige Axt und sagte heftig: »Wenn du glaubst, ich wüßte nicht, welchen Tauschwert ein ungeborener Thronanwärter hat, dann ist dein Gehirn gedankenleer – und das bezweifle ich eigentlich. Und was dich angeht, Mädchen«, fügte er grob hinzu, »wenn deine grünen Löckchen etwas anderes als Stroh verdecken, dann weißt du, daß du bei einem Fremden sicherer bist als bei Hasjarls Söldnern, und daß es besser wäre, dein Kind würde tot geboren, als daß es ihnen in die Hände fiele. Komm, ich trage dich.« Mit schneller Bewegung nahm er sie auf die Arme. »Und du folgst uns, Eunuch; setz deine dicken Beine in Bewegung, wenn du das Leben liebst.« Und er marschierte durch den Korridor; schwerfällig folgte ihm Brilla, der schon keuchende Atemzüge
machte, da er vermutete, daß die Flucht nicht ganz einfach sein würde. Kewissa legte ihre Arme um Fafhrds Hals und schaute zu ihm auf. Er ließ zwei Bemerkungen hören, die er sich offenbar für einen ruhigen Augenblick aufgehoben hatte. Die erste, bitter, sarkastisch: »... wenn er sich wehrt, ist er dran!« Der zweite, von Wut auf sich selbst bestimmt: »Diese verfluchten Flügel scheinen mich taub zu machen. Ich habe die Burschen tatsächlich nicht gehört!« Vierzig Schritte weiter kamen sie an einer Rampe vorbei, die nach oben führte und in einen kleineren, dunkleren Korridor einbog. Einige Schritte hinter Fafhrd bemerkte Brilla, der mit seinem Atem aushielt: »Die Rampe führt zu den Ställen. Wohin bringst du uns, o Herr?« »Nach unten«, gab Fafhrd zurück, ohne anzuhalten. »Macht euch keine Sorgen, ich habe ein hübsches Versteck für euch beide – und sogar eine kleine Freundin für unsere grünlockige Prinzenmutter.« An Kewissa gewandt, fuhr er fort: »Weißt du, du bist nicht das einzige Mädchen in Quarmall, das gerettet werden möchte. Und auch nicht das hübscheste.« Der Mausling hielt den Atem an, kniete hin und betrachtete den Prinzen. Der Gestank war unerträglich, trotz des Parfüms, das der Mausling versprüht hatte, trotz der Weihrauchstäbchen, die schon vor einer Stunde abgebrannt worden waren. Der Mausling hatte den unsäglich verunstalteten Körper Gwaays mit Seidentüchern und Pelzumhängen bedeckt und nur den hochgelegten Kopf freigelassen. Das einzige Stück, das der Verunstaltung entgangen war, war die
schmale, hübsche Nase, von deren Spitze eine klare Flüssigkeit rann, Tropfen um Tropfen, wie eine Wasseruhr. Aus dem verformten Mund unter der Nase war ein Keuchen zu hören, das einzige einigermaßen sichere Zeichen, daß Gwaay noch lebte. Eine Zeitlang hatte Gwaay auch ein gepreßtes Stöhnen ausgestoßen, doch jetzt waren diese Laute verstummt. Der Mausling überlegte, daß es wahrlich mühsam war, einem Herrn zu dienen, der nicht sprechen, nicht schreiben und auch nicht gestikulieren konnte – besonders, wenn er im Kampf mit Gegnern stand, die jetzt weder ungeschickt noch zögernd vorgingen. Unter normalen Umständen hätte Gwaay schon vor Stunden sterben müssen. Vermutlich lag es nur an seinem stählernen Willen, an seinen Zauberkräften und an seinem allesüberschattenden Haß auf Hasjarl, daß er den qualvollen Kampf nicht längst aufgegeben hatte. Der Mausling richtete sich auf und wandte sich mit ratlosem Achselzucken an Ivivis, die an dem langen Tisch saß und zwei große, schwarze Magierroben mit Kapuzen nähte, die sie nach Anweisung des Mauslings für sich und ihn zurechtgeschnitten hatte. Immerhin war der Mausling nun Gwaays letzter Zauberer und zugleich sein Streiter; da war er der Meinung, daß er sich auch entsprechend gekleidet präsentieren und wenigstens einen Assistenten vorweisen mußte. Als Antwort auf seine unausgesprochene Frage hielt Ivivis sich die Nase zu und hob ebenfalls die Schultern. Es stimmte, der Gestank wurde mit jeder Minute stärker, trotz aller Versuche, ihn mit anderen Gerüchen zurückzudrängen. Er trat an den Tisch und goß einen Becher halbvoll mit dickem, blutrotem
Wein, der ihm zu schmecken begann, obwohl er inzwischen die Bestätigung erhalten hatte, daß er aus fermentierten roten Giftpilzen gewonnen wurde. Er nahm einen kleinen Schluck und faßte die Lage zusammen. »Und nun mal zu unseren Problemen, die es ja wirklich in sich haben. Gwaays Zauberer sind hinüber – das ist meine Schuld, ich geb's zu. Seine Wächter und Soldaten sind geflohen – sicher in die tiefsten, feuchtesten und dunkelsten Tunnel –, oder sie sind zu Hasjarl übergelaufen. Seine Mädchen sind verschwunden bis auf dich. Sogar seine Ärzte haben Angst, in seine Nähe zu kommen – der eine, den ich heranschleppte, ist uns unter den Händen ohnmächtig geworden. Seine Sklaven sind zu nichts zu gebrauchen; sie haben völlig den Kopf verloren. Nur die Trettiere an den Belüftungsrädern behalten den Kopf – weil sie nichts drin haben! Keine Antwort auf unseren Vorschlag an Flindach, uns gegen Hasjarl zu verbünden. Wir haben keinen Sklaven mehr, eine zweite Botschaft zu schicken – und auch nicht einen einzigen Spion, der uns vor Hasjarls Angriff warnen könnte.« »Du könntest ja selbst zu Hasjarl überlaufen«, sagte Ivivis nüchtern. Der Mausling überlegte. »Nein«, entschied er. »Eine verfahrene Situation wie diese hat etwas Faszinierendes an sich. So etwas habe ich schon immer mal erleben wollen – mit der Möglichkeit, den Lauf des Geschehens zu bestimmen. Und Verrat macht nur Spaß, wenn es dabei um die Reichen und Siegreichen geht. Aber welche Strategie ist mir überhaupt möglich, da ich doch nicht einmal das Gerüst einer Armee zur Verfügung habe?«
Ivivis runzelte die Stirn. »Gwaay pflegte zu sagen – so wie der Schwertkampf nur eine andere Art Diplomatie sei, so wäre auch Zauberei eine andere Art des Schwertkampfes. Ein Krieg der magischen Kräfte. Du könntest also deinen großen Zauber noch einmal ausprobieren«, schlug sie ohne rechte Begeisterung vor. »Nein!« gab der Mausling zurück. »Ich bin an Hasjarls Doppeldutzend überhaupt nicht herangekommen, oder die Krankheitszauber gegen Gwaay hätten längst aufgehört. Entweder sind sie alle Magier Ersten Ranges, oder ich sage den Spruch falsch auf, wobei mir wahrscheinlich das Tunnelsystem auf den Kopf stürzen würde, wenn ich ihn noch einmal ausprobierte.« »Dann mußt du einen anderen Spruch nehmen«, schlug Ivivis vor. »Ruf dir eine Armee aus Skeletten herbei! Treib Hasjarl in den Wahnsinn oder behexe ihn so, daß er sich bei jedem Schritt den Zeh anstößt. Oder verwandle die Schwerter seiner Soldaten in Käse. Oder laß ihre Knochen verschwinden. Oder verwandle seine Mädchen in Katzen und zünde ihnen die Schwänze an. Oder ...« »Es tut mir leid«, dämpfte der Mausling ihre Begeisterung. »Es fällt mir nicht leicht, dies einzugestehen, und ich sage es auch nur dir, aber ... das war mein einziger Zauber. Wir sind allein auf unsere Klugheit und die Waffen angewiesen. Und ich frage dich noch einmal, Ivivis, welche Strategie kann ein General wählen, wenn seine linke Flanke überrannt ist, seine rechte die Flucht ergreift und die Streitkräfte in der Mitte auf ein Zehntel reduziert sind?« Ein kaum hörbares helles Geräusch wie von einer
Silberglocke oder von einer gezupften Harfensaite unterbrach ihn. Obwohl der Laut so schwach war, schien er den Raum seltsam schwingend zu erfüllen und ihn heller zu machen. Der Mausling und Ivivis sahen sich verblüfft um und schauten dann gleichzeitig zu der Silbermaske Gwaays auf, blickten in die Nische über dem Torbogen, vor dem Gwaays in Seide gehüllter Körper dahinrottete. Die schimmernden Metallippen der Büste lächelten und teilten sich – soweit das im Zwielicht überhaupt zu erkennen war –, und dann ertönte Gwaays schwache Stimme: »Deine Antwort: Er greift an!« Der Mausling blinzelte. Ivivis ließ ihre Nadel fallen. Die Maske fuhr fort, während ihre Augen zu schimmern schienen: »Sei gegrüßt, einsamer Kämpfer. Sei gegrüßt, liebes Mädchen. Es tut mir leid, daß mein Gestank eure Nasen beleidigt – ja; Ivivis, ich habe gesehen, wie du dir in der letzten Stunde immer wieder die Nase zugehalten hast, als du mich anschautest – aber die Welt ist voller unschöner Dinge. Ist das nicht eine schwarze Natter, die da durch die Robe in deiner Hand gleitet?« Entsetzt schreiend sprang Ivivis auf, fegte den Stoff zur Seite und strich sich mit den Händen hastig über die Beine. Die Maske ließ ein silbriges Lachen ertönen und sagte schnell: »Verzeih mir, liebes Mädchen, ich habe nur Spaß gemacht. Meine Laune ist zu gut – vielleicht, weil es meinem Körper alles andere als gutgeht. Das Pläneschmieden wird mich ablenken. Hört mich nun an! Hört!« In Hasjarls großem Saal der Zauberer starrten seine vierundzwanzig Magier verzweifelt auf einen großen
Zauberschirm, der parallel zu dem großen Tisch verlief. Sie bemühten sich mit aller Kraft, das Bild auf diesem Schirm deutlicher zu machen. Hasjarl selbst, eine furchteinflößende Gestalt in roten Begräbnisroben, starrte abwechselnd richtig und durch seine beringten Lidöffnungen auf den Schirm, als ob sich das Bild dadurch verbesserte, und beschimpfte seine Magier, tadelte ihre Ungeschicklichkeit und beriet sich in Abständen hastig mit seinen Militärs. Der Schirm war dunkelgrau, das Bild darauf in grünes Hexenlicht getaucht. Die Fläche war etwa drei Meter hoch und fast fünf Meter lang. Jeder Zauberer war für ein bestimmtes Quadrat des Bildes verantwortlich und projizierte seinen Anteil der beobachteten Szene auf die graue Fläche. Das Bild zeigte Gwaays Saal der Zauberer, doch selbst in den besten Momenten hatten sich bislang nur verwaschene Umrisse gezeigt, die den Tisch, die leeren Stühle und einen kleinen Hügel auf dem Boden erkennen ließen, darüber ein silbriges Licht und zwei Gestalten, die sich hin und her bewegten. Die Figuren waren verschwommene, salamanderähnliche Schemen mit Armen und Beinen, bei denen sich nicht einmal das Geschlecht bestimmen ließ, sofern es sich überhaupt um Menschen handelte. Manchmal erschien ein Quadrat des Bildes klar wie ein Blumenbeet an einem Sonntag, doch die Stelle lag immer so ungünstig, daß weder die Gestalten noch sonstige interessante Dinge klarer hervortraten; und wie ein leerer Stuhl aussah, wußte Hasjarl sehr wohl. In solchen Augenblicken bellte er den anderen Zauberern zu, sie sollten sich ein Beispiel nehmen, oder er ordnete an, daß der erfolgreiche Zauberer das Qua-
drat eines Kollegen übernehmen sollte, der eine Figur zu bearbeiten hatte; woraufhin das Bild unweigerlich noch schlechter wurde und Hasjarl zu kreischen begann. Dies verbesserte die Qualität des Bildes keineswegs; es kam so weit, daß die Quadrate überall verschwammen und sich wie ein ungelöstes Puzzle teilweise überlagerten. Schließlich mußten die Zauberer ihre Quadrate neu auszählen und von vorn beginnen, während Hasjarl sie mit fürchterlichen Drohungen bedachte. Die Interpretation des Bildes durch Hasjarl und seine Helfer fiel sehr unterschiedlich aus. Daß Gwaays Zauberer offenbar nicht anwesend waren, mochte ein gutes Zeichen sein – bis jemand vermutete, daß sie vielleicht gerade in Hasjarls Obere Regionen eindrangen, um aus allernächster Nähe einen Angriff in Gang zu bringen. Ein Leutnant mußte eine fürchterliche Strafpredigt einstecken, weil er vermutet hatte, daß die beiden Schatten vielleicht Dämonen in ihrer natürlichen Gestalt waren – obwohl Hasjarl hinterher eine gewisse Beklemmung verspürte, als sein Ärger verraucht war. Die hoffnungsvolle Andeutung, daß Gwaays Zauberer vielleicht bis auf den letzten Mann ausgelöscht wären, zerstob, als man sich darüber klar wurde, daß weder Hasjarl noch seine Zauberer in letzter Zeit ernsthafte Attacken gegen die Unteren Regionen gerichtet hatten. Eine der undeutlichen Figuren verließ das Bild nun ganz, und der silbrige Fleck verschwamm. Diese Veränderung führte zu weiteren Spekulationen, die durch den Eintritt mehrerer Männer unterbrochen wurden. Es handelte sich um einige Folterknechte Hasjarls und ein Dutzend Wächter; die Männer sahen
ziemlich abgekämpft aus. Mit gezogenen Schwertern umstanden sie einen unbewaffneten Mann in einem Wolfsfellumhang, dessen Arme auf dem Rücken gebunden waren. Ein roter Seidensack, in den Löcher für die Augen geschnitten waren, bedeckte seinen Kopf, und er schleppte eine schwarze Robe auf dem Boden hinter sich her. »Wir haben den Nordling gefangen, Lord Hasjarl!« berichtete der Anführer des Trupps zufrieden. »Wir haben ihn in deiner Folterkammer in die Enge getrieben. Er kostümierte sich als einer von uns und versuchte sich mit einer List durch unsere Reihen zu schmuggeln, auf den Knien rutschend, mit gebeugtem Rücken. Trotzdem hat seine Größe ihn verraten.« »Gut, Yissim, du wirst deine Belohnung erhalten«, sagte Hasjarl. »Aber was ist mit der verräterischen Konkubine meines Vaters und dem fetten Kastraten, die bei ihm waren, als er drei von deinen Leuten tötete?« »Er hatte sie noch bei sich, als wir ihn bei Gwaays Grenze aufspürten und zu jagen begannen. Aber wir verloren sie, als er sich in die Folterkammer zurückschlich. Die Jagd geht weiter.« »Ich rate dir gut, sie zu finden«, sagte Hasjarl grimmig, »oder deine Freude an meiner Belohnung wird getrübt durch meine Wut.« Er wandte sich an Fafhrd. »Also, Verräter! Jetzt spiele ich das Handspiel mit dir – aye, und hundert andere Spiele, bis du vom Sport genug hast.« Fafhrd antwortete laut und deutlich durch seine rote Maske. »Ich bin kein Verräter, Hasjarl. Ich hatte nur etwas gegen deine Folterspiele mit unschuldigen Mädchen.«
Ein Jubelschrei klang am Tisch der Zauberer auf. Hasjarl wandte sich um und sah, daß einer der vierundzwanzig den kleinen Hügel auf dem Boden deutlich herausgestellt hatte, der nun klar als kranker Mann erkennbar war. »Näher heran!« rief Hasjarl erregt. Alles Drohende war aus seiner Stimme verschwunden. Und weil er nun zum erstenmal nicht bedroht oder zur Eile angetrieben wurde, erfüllte jeder Zauberer seine Aufgabe ohne Fehl und Tadel, und auf dem großen Schirm erschien das grünlich-bleiche Gesicht Gwaays, breit wie ein Ochsenkarren, voller riesiger Pusteln und Narben und Geschwüre und Schorf, die Augen von Schleim verkrustet, der Mund eine zitternde schwarze Öffnung, und jeder Tropfen, der sich von seiner Nase löste, schien riesengroß zu sein. Hasjarl rief mit schwerer Stimme, wie ein Mann, der zuviel getrunken hat. »Freude, o Freude! Mir bricht das Herz!« Das Bild auf dem Schirm verschwand, Totenstille herrschte im Saal, und von einem entfernten Torbogen kam ein winziges knochengraues Gebilde lautlos hereingesegelt. Es schwebte auf unbeweglichen Flügeln heran wie ein Falke, der nach Beute sucht, hoch über den Schwertern, die es zu treffen suchten. Dann schwenkte es in einer eleganten Kurve herab und fegte direkt auf Hasjarl zu, wich seinen Händen aus, die zu spät danach griffen, tippte ihm sanft gegen die Brust und fiel leicht wie eine Feder zu Boden. Es war ein kleiner Flieger, aus einem Pergament gefaltet, auf dem, mit den Falzen verkantet, Schriftzeichen zu sehen waren. Ein völlig ungefährliches Objekt.
Hasjarl riß das Pergament an sich, glättete es knisternd und las laut: »Lieber Bruder. Treffen wir uns sofort im Gespenstersaal. Bring deine vierundzwanzig Zauberer mit. Ich bringe einen. Bring deinen Kämpfer. Ich bringe meinen. Bring deine Soldaten und Wächter. Und komm selbst. Ich lasse mich bringen. Vielleicht möchtest du aber lieber in deine Folterkammer gehen und ein Mädchen quälen. Gezeichnet (im Auftrag) Gwaay.« Hasjarl zerknüllte das Papier in der Faust und betrachtete es mit bösem Blick. Dann sagte er abrupt: »Wir gehen hin! Er glaubt, er kann auf mein brüderliches Mitleid zählen – das wäre zu schön. Oder er will uns reinlegen, aber ich erwische ihn!« Fafhrd rief kühn: »Deinem dahinsiechenden Bruder bist du vielleicht überlegen, o Hasjarl, aber was ist mit seinem Kämpfer – der schlauer ist als Zobold und stärker als ein Kampfelefant! So ein Mann mäht deine schwachen Soldaten reihenweise nieder – denk daran, daß auch ich fünf von deinen Leuten besiegte oben in der Burg. Und dann sitzt er dir an der Kehle. Du brauchst mich!« Hasjarl überlegte einen Augenblick, wandte sich an Fafhrd und sagte: »Ich bin nicht stolz. Ich nehme auch von einem toten Hund Rat an. Bringt ihn mit. Laßt ihn gefesselt, nehmt aber seine Waffen mit.« Durch einen breiten niedrigen Tunnel, der leicht nach oben führte und nur durch Wandfackeln erhellt wurde, die blau schimmerten wie Marschnebel und die für das Auge so weit voneinander entfernt waren wie
Küstenfeuer – durch diesen Tunnel führte der Mausling schnell, doch wachsam einen höchst seltsamen Zug. Er trug eine schwarze Robe mit spitzer schwarzer Kapuze, die, wenn er sie nach vorn zog, sein Gesicht völlig verhüllte. Darunter war er mit Schwert und Dolch bewaffnet und hatte sich auch eine Haut mit blutrotem Giftpilzwein umgeschnallt; in der Hand trug er nur einen dünnen schwarzen Stab, an dessen Spitze ein silberner Stern schimmerte – zum Zeichen, daß seine Rolle im Augenblick die des Obersten Zauberers Gwaays war. Hinter ihm trotteten vier massige Tretsklaven, die fast wie wandelnde Kegel wirkten, besonders wenn sie gerade das Licht einer Fackel passierten. Jeder von ihnen hielt den Griff einer reich verzierten Bahre aus Rot- und Ebenholz umklammert, die mit zahlreichen Matratzen und Pelzen belegt war. Gekleidet in Seide und kostbar besticktem Stoff, ruhte dort das stinkende, hilflose Fleisch des jungen Herrschers der Unteren Regionen. Dicht hinter Gwaays Bahre folgte eine etwas kleinere Ausgabe des Mauslings – Ivivis, die als sein Assistent auftreten sollte. Sie hielt den Stoff ihrer Kapuze schützend vor Mund und Nase und nahm laufend ein kleines Taschentuch zu Hilfe, das sie vorher in Kampfer und Ammoniak getaucht hatte. Unter ihrem Arm trug sie in einem Wollsack einen Silbergong und auf der anderen Seite eine seltsame Holzmaske. Die breiten, schwieligen Füße der Tretsklaven klatschten leise und regelmäßig auf den Boden – ein Geräusch, das in langen Abständen durch Gwaays gurgelndes Atmen übertönt wurde. Andere Geräu-
sche waren nicht zu hören. Die Wände und die niedrige Decke waren voller Bilder, in Gelb- und Ockertönen gehalten, Bilder von Dämonen, seltsamen Ungeheuern, geflügelten Mädchen und anderen unvorstellbaren Dingen. Alptraumhaft wanderten die Bilder heran und blieben zurück, doch es war kein erschreckender Alptraum. Alles in allem war dieser Marsch eine der angenehmsten Reisen, an die sich der Mausling erinnern konnte – er mußte an einen ähnlichen Zug über die Dächer Lankhmars denken, ehe er einen alten Tempelturm in Angriff genommen hatte. »Angriff!« murmelte er lebhaft vor sich hin. »Vorwärts, meine großfüßige Phalanx! Fahr los, mein furchterregender Kriegswagen! Greif an, meine hübsche Nachhut! Zur Attacke, Armee!« Brilla, Kewissa und Friska saßen stumm in der Gespensterhalle neben dem trockenen Brunnenbecken, nahe der Tür des Zimmers, das ihnen als Versteck diente. Die Mädchen steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. Brilla ließ von Zeit zu Zeit einen leisen Seufzer hören. Auf der anderen Seite des Brunnenbeckens gähnte eine halboffene Tür, durch die ein einsamer Lichtstreifen hereinströmte. Durch diesen Türspalt hatte Fafhrd sie vor kurzem in diesen Saal gebracht, ehe er sich zurückschlich, um die Verfolger abzulenken. Einige der Spinnweben, die den Durchgang versperrten, waren an Brillas mächtigem Rücken hängengeblieben, als er sich, am Boden kriechend, in den Saal zwängte. Diese Tür bildete die eine Ecke des Saales; schräg
gegenüber lag ein entsprechender Durchgang in der Dunkelheit. In der Mitte dazwischen erstreckte sich der Brunnen. In den verbliebenen Ecken befanden sich ein kleinerer und ein größerer Torbogen mit zwei Emporen, die etwa einen Meter über der Ebene des Hauptfußbodens lagen. Überall an den Wänden zogen sich kleinere Türen hin, die geschlossen waren und die zweifellos in ehemalige Schlafzimmer führten. Über allem erstreckten sich hellschimmernde, ungenügend vermörtelte Quadersteine, die eine ziemlich flache Decke bildeten. Soviel konnten die drei Flüchtlinge, die sich inzwischen sehr an die Dunkelheit gewöhnt hatten, von ihrer Umgebung erkennen. Brilla, der sich klarmachte, daß dieser Saal einmal das Mittelstück eines Harems gewesen war, dachte melancholisch darüber nach, daß das nun fast wieder Wirklichkeit geworden war; ein winziger Harem mit einem Eunuchen – ihm selbst –, einem schwangeren Mädchen – Kewissa – und einem mutigen Mädchen – Friska –, das sich um das Geschick ihres großen barbarischen Liebhabers sorgte. Die alten Zeiten! Er hatte den Drang verspürt, sich ein wenig umzusehen und ein paar alte, notfalls auch zerschlissene Vorhänge als Decken aufzutreiben – doch Friska hatte ihn darauf hingewiesen, daß sie keine Spuren hinterlassen durften. Plötzlich war ein leises Geräusch durch die große Tür zu hören. Die Mädchen stellten ihr Flüstern ein, und Brilla hörte zu seufzen auf, und sie lauschten gespannt. Weitere Laute klangen auf – Schritte, das Klappern einer Schwertscheide an einer Tunnelwand –, und lautlos sprangen sie auf und hasteten in ihr
Versteck, schlossen leise die Tür hinter sich, und wieder einmal lag der Gespenstersaal einsam im Halbdämmer. Ein behelmter Wächter im Wams der Hasjarlschen Garde erschien in der großen Tür und stand mit schußbereitem Kurzbogen in der Tür. Dann setzte er sich in Bewegung, gefolgt von drei anderen Wächtern und vier Sklaven mit gelblich zuckenden Fackeln, deren Licht die monströsen Schatten der Wächter über den Boden und die Wände huschen ließ, während sie vorsichtig nach Spuren eines Hinterhalts oder feindlicher Aktivitäten suchten. Fledermäuse lösten sich aus ihren Verstecken und huschten durch die Torbögen davon. Der erste Wächter wandte sich um, stieß einen lauten Pfiff aus und schwenkte den Arm. Nun betraten zwei Gruppen von Sklaven den Saal, die sich an den beiden schweren Torflügeln zu schaffen machten und sie ächzend und knirschend aufstießen. Einer der Männer zuckte heftig zusammen und sprang zurück, als ihm eine Spinne auf den Rücken fiel. Immer neue Wächter kamen, begleitet von Fackelsklaven, und gingen langsam, leise rufend, im großen Saal auf und ab, versuchten die zahlreichen Türen zu öffnen und starrten mißtrauisch in die Schwärze jenseits des kleinen und des großen Torbogens; doch bald waren alle wieder zur Stelle und bildeten nun einen weiten Halbkreis um die große Tür – einen Schutzwall, der einen wesentlichen Teil des Mittelteils der Gespensterhalle umschloß. In diesen Schutzbereich marschierte nun Hasjarl, von seinen Söldnern umgeben, in Begleitung seiner vierundzwanzig Zauberer, die hinter ihm eine dicht-
gedrängte Gruppe bildeten. Auch Fafhrd war bei ihm, der noch immer gefesselt war und seine rote Seidenmaske trug. Die Wächter, die ihn umstanden, hielten ihre Schwertspitzen auf ihn gerichtet. Weitere Fackelsklaven schlossen sich an, so daß der Saal in der Nähe der großen Tür bald hell erleuchtet war, während im übrigen Raum ein gespenstisches Zwielicht herrschte, in dem die Schatten zuckten. Da Hasjarl schwieg, sagten auch die anderen nichts. Nicht daß der Herrscher der Oberen Regionen völlig still gewesen wäre – er hustete abgehackt und spuckte Schleim in ein besticktes Taschentuch. Nach jedem Hustenanfall sah er sich mißtrauisch um und ließ dabei bösartig ein Lid sinken, um seine Wachsamkeit zu dokumentieren. Im nächsten Augenblick ertönte ein leises Scharren, und jemand rief: »Eine Ratte!« Ein Wächter feuerte einen Pfeil in die Schatten um das Brunnenbecken; die Spitze schurrte über den Stein. Hasjarl fragte mit lauter Stimme, warum man seine Wiesel nicht mitgebracht hätte – und auch nicht seine großen Hunde und seine Eulen, zum Schutz vor Gift-Fledermäusen, die Gwaay gegen seinen Bruder ins Feld führen mochte – und er schwor, er werde sich der Schuldigen in seiner Folterkammer annehmen. Da war es wieder – das hastige Krabbeln winziger Füßchen auf dem glatten Steinfußboden, und neue Pfeile zischten sinnlos in die Dunkelheit, ratschten ins Leere, und die Wächter traten unruhig von einem Fuß auf den anderen. In all dem Durcheinander rief Fafhrd plötzlich: »Los, hebt die Schilde, ihr vier da, und bildet einen Schutzwall um Hasjarl! Vergeßt nicht, daß ein Pfeil
aus irgendeinem Torbogen heranfliegen und eurem geliebten Herrn die Brust durchbohren kann!« Schuldbewußt befolgten die Wächter den Befehl, und Hasjarl winkte sie nicht zur Seite. Fafhrd lachte und bemerkte: »Einen Kämpfer mit einer Maske auszustatten, macht ihn gewaltig und furchteinflößend, aber ihm die Hände hinter dem Rücken zu binden – damit läßt sich der Feind nicht beeindrucken. Und es hat auch andere Nachteile. Wenn nun plötzlich dieser Gwaaysche Streiter angestürmt kommt, der kühner als Zobold und mächtiger als ein verrückter Elefant sein soll, wenn er angerast kommt und deine ängstlichen Wachen zur Seite schleudert ...?« »Durchschneidet seine Fesseln!« bellte Hasjarl, und jemand machte sich mit einem Dolch hinter Fafhrd zu schaffen. »Aber gebt ihm Schwert und Axt noch nicht. Haltet sie nur bereit, damit er sofort heran kann!« Fafhrd bewegte ein wenig die Schultern, schwenkte die Arme und begann vorsichtig, seine Handgelenke zu massieren. Wieder lachte er durch seine Maske. Hasjarl konnte nicht ruhig bleiben. Er gab Befehl, die geschlossenen Türen noch einmal abzusuchen. Fafhrd duckte sich zum Sprung, als der Trupp die Tür erreichte, hinter der sich Friska und die beiden Mädchen verbargen, denn er wußte, daß sich das Zimmer nicht verschließen ließ. Doch obwohl die Wächter heftig an der Klinke rüttelten, blieb die Tür geschlossen. Fafhrd stellte sich vor, wie sich Brillas breiter Rücken dagegen stemmte und die Mädchen vielleicht noch gegen seinen Bauch drückten, und er lächelte unter seiner roten Maske. Hasjarl stapfte noch ein wenig herum, verfluchte
seinen Bruder, weil er zu spät kam, und schwor, er hätte die Mädchen und die Gefolgschaft Gwaays schonen wollen, doch das wäre jetzt vorbei. Dann sagte einer der Söldner, daß Gwaays Botschaft vielleicht nur eine List gewesen wäre, sie alle aus dem Weg zu schaffen, während durch andere Tunnel oder sogar durch die Luftschächte ein Angriff von unten begänne, und Hasjarl packte den Mann an der Kehle und schüttelte ihn und fragte, warum er das nicht früher gesagt hatte. In diesem Augenblick erklang ein Gong, ein helles, durchdringendes Geräusch. Hasjarl ließ den Mann los und sah sich verwundert um. Ein zweitesmal ertönte der Gong, dann traten durch den breiteren Torbogen zwei gewaltige Gestalten, die die Griffe einer verzierten schwarz-roten Bahre trugen. Die Tretsklaven waren in Quarmall natürlich allgemein bekannt, doch sie einmal nicht auf ihren Antriebsbändern zu sehen, war fast so grotesk und verwunderlich, als erblickte man sie zum erstenmal. Ihr Erscheinen schien ein Symbol für die Veränderungen zu sein, die in diesem Lande vorgingen, und so gab es allerlei Gemurmel und Kopfschütteln, und die dicht geschlossenen Reihen, die Hasjarl schützten, gerieten etwas in Bewegung. Die Tretsklaven marschierten unbeirrbar weiter, und zwei gleichartige Gestalten kamen hinter ihnen in Sicht. Die vier traten fast bis an den Rand der Empore, stellten die Bahre ab, verschränkten ihre winzigen Arme, indem sie vor ihrer gigantischen Brust die Finger verhakten, und blieben reglos stehen. Mit schnellen Schritten kam nun ein Zauberer durch den gleichen Torbogen geschritten, eine ziem-
lich kleine Gestalt in einem schwarzen Umhang mit einer Kapuze, die seine Gesichtszüge verdeckte, und dichtauf gefolgt von einer ähnlich gekleideten, kleineren Person. Der schwarze Zauberer stellte sich ein wenig vor der Bahre auf, und sein Helfer bezog auf der anderen Seite hinten Stellung. Dann hob er einen Zauberstab mit glitzernder Silberspitze über den Kopf und sagte laut und eindrucksvoll: »Ich spreche für Gwaay, Herrn der Dämonen und Herrscher über ganz Quarmall – was wir beweisen werden!« Der Mausling sprach mit seiner tiefsten magischen Stimme, die bis auf ihn noch, niemand gehört hatte – abgesehen von Gwaays Zauberern, die den Schluß aber nicht mehr mitbekommen hatten. Auch jetzt machte ihm sein Auftritt großen Spaß, wenn er sich auch ein wenig über seine Kühnheit wunderte. Er legte eine genau berechnete Pause ein und zeigte dann mit langsamer Bewegung auf den Haufen, der auf der Bahre lag, warf herrisch den anderen Arm hoch, drehte die Handfläche nach vorn und befahl: »Auf die Knie, Abschaum, und schwört Gehorsam eurem einzigen rechtmäßigen Herrscher, Lord Gwaay, vor dem sogar Dämonen erbleichen!« Einige der Wächter in der ersten Reihe kamen dem Befehl tatsächlich nach, während die meisten anderen mit weit aufgerissenen Augen furchtsam die verhüllte Gestalt auf der Bahre betrachteten. Es war tatsächlich ein Vorteil, daß Gwaay so reglos dalag und wie der Tod persönlich aussah – die Drohung, die von ihm ausging, war dadurch um so stärker. Aus der Tiefe seiner Kapuze schaute der Mausling
über die Köpfe der Anwesenden hin und entdeckte schließlich die Gestalt, die er für Hasjarls Kämpfer hielt – Himmel, ein schwerer Brocken, fast so groß wie Fafhrd! –, ein Mann, der sich in der Psychologie auskannte, wenn die rote Maske sein eigener Einfall gewesen war. Der Mausling hatte wenig Lust, sich mit einem solchen Ungeheuer herumzuschlagen, aber wenn er Glück hatte, kam es gar nicht dazu. In diesem Augenblick wurden einige verblüffte Wächter mit heftiger Bewegung beiseitegefegt, und ein stämmiger, gebeugter Mann in dunkelroten Roben kam herangestürmt – endlich Hasjarl! Er kam nach vorn an die Rampe, wie es sich der Mausling gewünscht hatte. Hasjarls Häßlichkeit und Gebaren übertrafen noch die Erwartungen des Mauslings. Der Herr der Oberen Regionen wandte sich der Bahre zu und beschränkte sich einen atemlosen Augenblick lang darauf, wie ein Idiot zu stottern, zu zucken und zu sabbern. Dann plötzlich gewann er seine Stimme zurück und bellte lauter als seine größten Hunde: »Durch das Anrecht des Todes, der vor kurzem meinen Vater ereilte und ihn als Asche zu den Sternen schickte und der auch bald meinen frechen Bruder befallen wird, von meinen Zauberern dahingerafft – der nicht einmal für sich selbst zu sprechen wagt, sondern dazu einen Scharlatan vorschickt –, erkläre ich, Hasjarl, mich zum einzigen Herrscher über Quarmall und jeden einzelnen seiner Einwohner – Dämon oder Mensch!« Hasjarl wollte sich umdrehen, vermutlich um seinen Wachen Befehl zu geben, Gwaay und seine Be-
gleiter gefangenzunehmen, oder um seine Zauberer anzuweisen, die Gegner mit ihren magischen Kräften zu vernichten – doch in diesem Augenblick klatschte der Mausling laut in die Hände. Auf dieses Zeichen trat Ivivis zwischen ihn und die Bahre, warf ihre Kapuze zurück, öffnete ihre Robe und ließ sie aus fast der gleichen Bewegung heraus zu Boden sinken. Der Anblick, den sie bot, raubte allen Anwesenden den Atem. Auch Hasjarl konnte sich dem Eindruck nicht entziehen, wie es der Mausling vorausgesehen hatte. Ivivis war in eine durchsichtige schwarze Seidentunika gekleidet – ein blasser schwarzer Schimmer, der ihr helles Fleisch bedeckte und ihre jugendlich schlanke Gestalt betonte –, doch vor dem Gesicht trug sie die weiße Maske einer häßlichen alten Frau mit grinsendem Mund, vorspringenden Eckzähnen und wild starrenden Augen, die der Mausling auf Anweisung der Silbermaske noch im letzten Augenblick rot angemalt hatte. Langes grünes Haar mit weißen Strähnen fiel von der Maske über Ivivis' Kopf und Schultern. In der rechten Hand hielt sie ein großes, spitzes Messer. Der Mausling deutete auf Hasjarl, den die Augen der Maske bereits anstarrten, und befahl mit tiefer Stimme: »Bring mir diesen Mann, Hexenmutter!« Und Ivivis setzte sich in Bewegung. Hasjarl trat einen Schritt zurück und starrte entsetzt und sprachlos auf seine Nemesis, mütterlichkannibalisch im Gesicht, elfisch-jungfräulich am Körper, mit den drohenden Augen seines Vaters, mit dem grausamen Messer, das ihm nun die Strafe androhte für all die Mädchen, die er lustvoll getötet oder zu Krüppeln gemacht hatte.
Der Mausling wußte, daß der Erfolg ihm schon auf der Handfläche lag, daß er nur noch die Finger darum zu schließen brauchte. Doch in diesem Augenblick ertönte von der anderen Ecke des Saales ein Gongschlag, der so tief dröhnte wie Gwaays Gong hoch geklungen hatte, und dessen Vibrationen die Anwesenden erschaudern ließen. Zu beiden Seiten des schwarzen Torbogens am anderen Saalende stiegen mit dumpfem Zischen weiße Feuersäulen zur Decke auf, zogen alle Blicke an und brachen den Zauber des Mauslings. Innerlich verfluchte der Mausling diese überragende Bühnentechnik, die er sich für seine Vorstellung gewünscht hätte. Rauch stieg zu den großen schwarzen Deckenquadern auf, die Feuersäulen schrumpften zu mannshohen weißen Gebilden, und zwischen ihnen erschien Flindach in bestickten Umhängen, das goldene Symbol der Macht an der Hüfte. Die Kapuze des Todes hatte er zurückgestreift, und sein warzenbesetztes, fleckiges Gesicht und seine roten Augen waren deutlich zu erkennen. Der Oberste Zauberer Quarmalls hob fordernd die Hände und sagte mit seiner tiefen, widerhallenden Stimme, die die ganze Gespensterhalle erfüllte: »O Gwaay! O Hasjarl! Im Namen eures verehrten Vaters, der jetzt zu den Sternen gegangen ist, und im Namen eurer Großmutter, deren Augen auch ich trage – denkt an Quarmall! Denkt an die Sicherheit eures Königreiches und an die schlimmen Folgen, die euer Streit für Land und Leute haben muß. Begrabt eure Feindseligkeiten, schwört dem Bruderhaß ab und zieht das Los, um die Nachfolge zu regeln. Der Sieger
soll sogleich zum Obersten Herrscher ernannt werden, während der Verlierer mit großer Eskorte und schatzbeladen abreist. Seine Reise soll ihn über das Hungergebirge und durch die Wüste und über das Ostmeer führen, wo er dann in den Ländern des Ostens ein angenehmes Leben als Edelmann führen kann. Oder ist das Los euch nicht genehm, dann laßt eure Streiter bis zum Tode kämpfen, um die Entscheidung herbeizuführen. Der Ausgang dieses Kampfes sei Anlaß, den Verlierer auf gleiche Weise ehrenvoll aus dem Land zu geleiten. Ich habe gesprochen, o Hasjarl, o Gwaay.« Und er verschränkte die Arme und richtete sich auf zwischen den beiden Flammensäulen, die noch immer hell flimmerten. Fafhrd hatte sich das plötzliche Durcheinander zunutze gemacht und den Bewachern sein Schwert und seine Axt entrissen. Jetzt drängte er sich durch die Menge nach vorn, als wollte er Hasjarl helfen, der ungeschützt vor seinen Leuten stand. Fafhrd stieß Hasjarl in die Seite und flüsterte durch seine Maske: »Nimm die Herausforderung an, ich rate es dir. Ich gewinne dir dein muffiges Katakombenreich – aye, und wenn ich dann meine Belohnung habe, bin ich schneller von hier fort als Gwaay.« Hasjarl zog eine ärgerliche Grimasse, wandte sich um und brüllte zu Flindach hinauf: »Ich bin oberster Herr in diesem Lande und bedarf keiner Lose, um das zu bestimmen! Ja, und ich habe meine Magier, die alle vernichten, die mich mit Zaubersprüchen besiegen wollen! Und meinen großen Schwertschwinger, der alle niederkämpft, die mich mit der Waffe bedrohen.«
Fafhrd streckte die Brust heraus und starrte durch die Augenlöcher seiner roten Maske herausfordernd um sich. Das nun eintretende Schweigen wurde wie durch ein scharfes Messer von einer klaren, wohlklingenden Stimme unterbrochen, die von dem reglosen Hügel auf der Bahre oder einem Punkt darüber auszugehen schien. »Ich, Gwaay, Herrscher der Unteren Regionen, bin Oberster Herr von Quarmall – und nicht mein armer Bruder dort, um dessen verdammte Seele ich trauere. Ich habe Zauberkräfte, die mein Leben vor seinen schlimmsten magischen Tricks gerettet haben, und ich habe einen Streiter, der seinen Kämpfer wie eine Laus zerquetscht.« Die seltsame Stimme erschreckte die Runde noch mehr, nur Hasjarl kicherte heftig blubbernd, erbebte von Kopf bis Fuß und begann loszuschreien, als wären er und seine Brüder als kleine Jungen in ihrem Spielzimmer allein: »Lügner! Du lügst! Weibischer Prahlhans! Scharlatan! Wo ist denn dein großer Kämpfer? Ruf ihn doch! Laß ihn erscheinen! Gib es ruhig zu, er besteht bestimmt nur in deiner Einbildung, in deinen ersterbenden Gedanken! Oh, ho-hoho!« Die Männer begannen sich fragend umzuschauen, manche nachdenklich, manche verängstigt. Doch als niemand erschien, jedenfalls keine kriegerische Gestalt aus dem Nichts, begannen einige von Hasjarls Söldnern zu lachen. Andere folgten ihrem Beispiel. Bald machte ein lautes Lachen die Runde. Der Graue Mausling hatte wenig Lust, sein Leben zu riskieren – Hasjarls Kämpfer kam ihm mit jeder
Minute gefährlicher vor, ein gewaltiger Mann, der wie Fafhrd eine Axt als zweite Waffe trug und der auch noch Berater seines Herrn zu sein schien, vielleicht eine Art General hinter den Kulissen – ähnlich seiner Stellung bei Gwaay. Trotzdem war der Mausling versucht, seine Vorstellung mit einer Überraschung zu krönen. In diesem Augenblick ertönte Gwaays glockenhelle Stimme von neuem – eine Stimme, die nicht von seinen Stimmbändern ausging, die bereits zerfallen waren, sondern die sein unbändiger Wille aus den Atomen der Luft gewann. »Aus der schwärzesten Tiefe rufe ich dich in diesen Saalmein Kämpfer, komm herbei!« Das war zuviel für den Mausling. Ivivis hatte kurz nach Flindachs Erscheinen ihre Robe wieder angezogen, da sie wußte, daß die Wirkung ihrer Maske verpufft war; inzwischen stand sie wieder in ihrer Verkleidung als Zauberlehrling neben ihrem Herrn. Mit förmlicher Geste reichte er ihr seinen Zauberstab, ohne sie anzuschauen, hob die Hände an den Kragen seines Umhangs, warf ihn zusammen mit der Kapuze von sich. Aus der gleichen Bewegung heraus zog er Skalpell, das aus der Scheide pfiff, sprang aufstampfend auf die oberste der drei Stufen, die zum tieferen Teil des Saales führten, und duckte sich. Drohend starrte er mit erhobenem Schwert um sich, eine beeindruckende Gestalt in Grau und Silber, wenn er auch ziemlich klein war und neben einem Dolch auch noch eine Weinhaut um die Hüfte trug. Fafhrd, der sich zu seinem Herrn umgewandt hatte, um noch einen kurzen Hinweis zu geben, zerrte nun seine rote Maske vom Kopf, riß Graywand aus
der Scheide und sprang mit lautem Stampfen ebenfalls vor. Die beiden sahen und erkannten einander. Die nun folgende Stille nahmen die Zuschauer als weiteres Zeichen für die furchteinflößende Erscheinung der beiden der eine so fürchterlich groß, der andere ein verwandelter Zauberer. Offenbar hatten die beiden großen Respekt voreinander. Fafhrd gewann als erster die Sprache wieder – vielleicht weil ihm die Stimme und die Bewegungen des schwarzen Zauberers gleich irgendwie bekannt vorgekommen waren. Er begann schallend zu lachen, was er sofort in ein wildes drohendes Geschrei ummünzte: »Du alter Roßtäuscher! Prahler! Zauberlehrling! Du magischer Schnüffler! Warze! Schildkröte!« Der Mausling, der von den beiden vielleicht der Erstauntere war, weil er den fremden Krieger immer wieder mit Fafhrd verglichen hatte, ging auf das Stichwort seines Freundes ein – und gerade noch rechtzeitig, denn er wollte selbst schon lachend herausplatzen. Und mit dröhnender Stimme erwiderte er: »Prahlhans! Säufer! Raufbold! Mädchenschreck! Großfuß!« Die gebannt zuhörenden Zuschauer empfanden diese Schmähungen als ziemlich harmlos, doch die Intensität, mit der sie vorgebracht wurden, machte das wieder wett. Stampfend rückte Fafhrd noch einen Schritt heran: »Oh, wie habe ich von diesem Augenblick geträumt! Ich zerstückele dich von deinen dicken Fußnägeln bis zu deinem wurmzerfressenen Gehirn!« Anstatt eine Stufe nach unten zu marschieren, stampfte der Mausling auf der Stelle, um auf gleicher
Höhe zu bleiben, und brüllte: »Meine Wut findet endlich ein Ziel. Ich häute dir jede deiner Lügen einzeln ab – besonders die über deine Reisen nach Norden!« Fafhrd brüllte: »Denk an Ool Hrusp!« und der Mausling erwiderte: »Und Lithquil!«, und dann begann der Kampf. Für die anwesenden Quarmallier mochten Lithquil und Ool Hrusp Orte sein, wo sich die beiden Helden schon einmal im Kampf begegnet waren, oder Schlachtfelder, auf denen sie sich bekämpft hatten – oder vielleicht auch Mädchen, die sie geliebt hatten. In Wirklichkeit war Lithquil der Name des Verrückten Herzogs in der Stadt Ool Hrusp, für den Fafhrd und der Mausling einmal ein sehr realistisches und lange geprobtes Scheinduell inszeniert hatten, das eine halbe Stunde dauerte. Die quarmallischen Zuschauer, die also einen langen und interessanten Kampf erwarteten, wurden nicht enttäuscht. Zunächst begann Fafhrd mit drei mächtigen Hieben, von denen jeder ausgereicht hätte, den Mausling zu zerteilen, doch dieser lenkte sie im letzten Augenblick derart geschickt mit seiner Klinge ab, daß Graywand wenige Zentimeter über seinen Kopf dahinzischte und das schrille Lied des aufeinanderprallenden Stahls ertönte. Der Mausling konterte nun mit einem dreifachen Gegenangriff, sprang wie ein fliegender Fisch hierhin und dorthin und löste Skalpell geschickt von Graywands Gegenschlag. Doch Fafhrd gelang es jedesmal, sich mit einer für seine Größe fast unglaublichen Schnelligkeit zur Seite zu werfen, und die dünne Klinge fuhr gefahrlos ins Leere.
Dieser erste Austausch von Hieben und Stichen war nur die Einleitung für den eigentlichen Zweikampf, der nun um das trockene Brunnenbecken entbrannte und allem äußeren Anschein nach wild und heftig ausgetragen wurde. Die Zuschauer mußten mehr als einmal hastig zur Seite weichen, während der Mausling noch schnell den roten Giftpilzwein zu Hilfe nahm und die dicke Flüssigkeit vorsichtig aus der Lederhülle sickern ließ, wenn er und Fafhrd einmal im Nahkampf aneinandergepreßt standen – so daß sie beide blutüberströmt aussahen. Es gab nur wenige Menschen im Gespenstersaal, die sich für dieses Meisterduell nicht interessierten und es kaum verfolgten. Ivivis gehörte nicht zu ihnen. Sie warf ihre Kapuze zurück, zog ihre Maske vom Gesicht, beugte sich vor und verfolgte den Kampf, wobei sie dem Mausling ermunternd zurief. Auch Brilla, Kewissa und Friska ließen sich das Ereignis nicht entgehen – beim Klang der Schwerter hatten es die Mädchen gegen den Willen des Eunuchen durchgesetzt, daß die Tür geöffnet wurde. Nun starrten alle drei durch den Türspalt, und Friska stöhnte jedesmal, wenn Fafhrd im Nachteil zu sein schien. Gwaays Augen waren verquollen und verschleimt, und die Sehnen, mit denen er den Kopf hätte heben können, existierten nicht mehr. Auch versuchte er dem Kampf nicht mit seinen Zauberkräften zu folgen. Nur das dünne Band des Hasses auf seinen Bruder hielt ihn am Leben – das übrige war für ihn kaum mehr als ein Schattenspiel –, und doch enthielt sein Haß all den Zauber und die Süße und die Aufregung des Lebens, und er hatte damit genug.
Hasjarl war von einem ähnlichen Haß erfüllt, und dieses Gefühl war im Augenblick so stark, daß es die Instinkte und Gelüste seines gesunden Körpers und all die Bilder seiner dahineilenden Gedanken völlig bestimmte. Er sah den Anfang des Kampfes, er sah Gwaays unbewachte Bahre, und als wäre ihm plötzlich eine Schachkombination eingefallen, die ihm den Sieg bringen mußte und die ihn völlig hypnotisierte, begann er ohne weiteres Nachdenken zu handeln. Er machte einen großen Bogen um den Kreis der Zuschauer, die den Kampf verfolgten, huschte wie ein Wiesel durch die Schatten, stieg die drei Stufen empor und eilte auf die Bahre zu. Er hatte kein klares Bild vor Augen; sein Geist war von einigen schattenhaften Vorstellungen erfüllt, als sähe er Bilder aus großer Entfernung – eines dieser Bilder zeigte ihn als kleines Kind, das in der Nacht an Gwaays Wiege schlich, um den Bruder mit einer Nadel zu stechen. Er kümmerte sich nicht um die Tretsklaven neben der Bahre, die ihn wahrscheinlich auch gar nicht wahrnahmen. Er beugte sich neugierig vor und betrachtete interessiert seinen Bruder. Seine Nasenflügel gerieten in Bewegung, als er den Gestank einatmete. Er preßte den Mund zusammen. Aus einer Scheide an seinem Gürtel zog er einen breiten Dolch aus bläulichem Stahl und hielt ihn über das entsetzlich entstellte, fast unkenntliche Gesicht seines Bruders. Die Kante der Klinge bestand aus kleinen zurückgebeugten Widerhaken. Das Geklirre der Schwerter unten im Mittelteil des Saales erreichte einen Höhepunkt, doch Hasjarl ach-
tete nicht darauf. Er sagte leise: »Mach die Augen auf, Bruder. Du sollst noch etwas sagen, ehe ich dich umbringe.« Gwaay antwortete nicht – keine Regung, kein Flüstern, kein rasselnder Atemzug war festzustellen. »Na gut«, sagte Hasjarl aufgebracht. »Dann stirbst du eben als Stummer.« Und er stieß mit dem Dolch zu. Die Klinge wurde zitternd eine Haaresbreite über Gwaays Oberlippe gestoppt; der abrupte Halt lähmte seine Armmuskeln, die den Stoß geführt hatten. Da öffnete Gwaay endlich die Augen, was kein schöner Anblick war, da sich unter seinen Lidern nur grüner Schleim bemerkbar machte. Hasjarl senkte sofort den Blick, starrte aber weiter durch die rotberingten Lidöffnungen auf seinen Bruder. Dann hörte er Gwaays Stimme wie einen Silbermoskito an seinem Ohr: »Du hast etwas übersehen, mein lieber Bruder. Du hast dir die falsche Waffe ausgesucht. Nach der Verbrennung unseres Vaters hast du mir geschworen, daß mein Leben sicher wäre – bis du mich zerdrückst. ›Bis ich es zerdrücke‹ – so hast du es formuliert. Die Götter hören nur unsere Worte und kennen nicht unsere Absicht. Mit einem schweren Stein hättest du dein Ziel sicher erreicht.« »Dann lasse ich dich zerquetschen!« erwiderte Hasjarl ärgerlich und beugte sich noch weiter vor. »Aye«, brüllte er, »und ich sitze dann daneben und höre zu, wie deine Knochen knirschen – wenn du überhaupt noch welche hast! Du bist aber auch nicht schlauer als ich, Gwaay, denn du hast mir nach dem Begräbnis ebenfalls versprochen, mich nicht umzu-
bringen. Aye, und nun bist du doch noch törichter, denn du hast mir das Geheimnis verraten, wie ich dich töten kann.« »Ich habe geschworen, dich nicht mit Zaubersprüchen oder Stahl oder Krankheiten oder mit meinen Händen zu töten«, erwiderte die Insektenstimme Gwaays. »Im Gegensatz zu dir habe ich nichts von Zerdrücken gesagt.« Hasjarl spürte ein seltsames Kribbeln auf der Haut, während ihm ein seltsamer, sehr scharfer Geruch in die Nase stieg, ein Geruch, der sich mit dem Verwesungsgestank vermischte. Plötzlich kamen Gwaays Hände unter der kostbaren Decke zum Vorschein. Das Fleisch löste sich von dem Finger, der drohend nach oben zeigte. Hasjarl wäre fast zurückgezuckt, doch er hielt im letzten Augenblick an sich. Lieber wollte er sterben, als vor seinem Bruder Angst zu zeigen. Er spürte seltsame Kräfte überall am Werk. Ein gedämpftes Knirschen ertönte, gefolgt von einem seltsam rieselnden Schnee aus kleinen weißen Gebilden, die Hasjarl in den Nacken fielen und sich auf Gwaays Decke verteilten ... Mörtelbrocken ... »Ja, du wirst mich zerdrücken, mein lieber Bruder«, sagte Gwaay ruhig. »Aber wenn du wissen willst, wie das geschieht, mußt du dich an meine besonderen Fähigkeiten erinnern ... oder nach oben schauen!« Hasjarl wandte den Kopf, und da raste der große schwarze Basaltquader, der die Größe der Bahre hatte, auf ihn zu, und in der letzten Sekunde seines Lebens hörte er Gwaay noch sagen: »Da hast du dich wieder geirrt, mein Freund.«
Fafhrd unterbrach abrupt seinen Angriff, als er das Krachen vernahm, und der Mausling hätte ihn mit seiner eingeübten Finte fast verletzt. Sie senkten die Klingen und schauten sich um, wie alle anderen Zuschauer im Mittelteil des Saales. Wo eben noch die Bahre gestanden hatte, ragte nun der dicke, mörtelbesetzte Basaltblock auf; links und rechts waren noch die Enden der Bahrenstangen zu sehen. In der Decke darüber gähnte ein rechteckiges weißes Loch; dort hatte der Stein gesessen. Der Mausling dachte: Das ist ein größeres Objekt für seine Geisteskräfte als eine Schachfigur oder ein Spielstein – aber es besteht aus dem gleichen Material. Fafhrd dachte: Warum ist nicht die ganze Decke eingestürzt? Seltsam! Das Verwunderlichste an der Situation waren vielleicht die Tretsklaven, die – obwohl der Block sie nur um Zentimeter verfehlt hatte – ungerührt an den vier Ecken des Steines standen, den Blick nach vorn gerichtet, die Finger über der Brust verhakt. Nun setzten sich einige Söldner Hasjarls in Bewegung, die gesehen hatten, wie sich ihr Herr an die Bahre heranmachte, doch sie blieben erstarrt stehen, als sie sahen, wie dicht sich der Basaltquader an den Boden schmiegte. Ein Rinnsal von Blut kam unter der Kante hervor. Die Männer verzogen das Gesicht, als sie an die beiden Brüder dachten, die sich so sehr gehaßt hatten und die nun im Tode ganz eng miteinander verbunden waren. Ivivis eilte auf den Mausling zu, und Friska stürmte an Fafhrds Seite, um die Wunden zu verbinden. Die Mädchen waren nicht wenig verblüfft und vielleicht auch ein wenig ärgerlich, als sie erfuhren,
daß es gar keine Verletzungen gab. Auch Kewissa und Brilla kamen aus ihrem Versteck, und Fafhrd, der einen Arm um Friska gelegt hatte, streckte die andere weinblutige Hand nach Kewissa aus, umfaßte sanft ihr Handgelenk und lächelte ihr freundlich zu. Da ertönte wieder der tiefe Gong, und die beiden weißen Flammensäulen neben Flindach schossen kurz zur Decke. Ihr heller Schein offenbarte, daß hinter Flindach zahlreiche Männer durch den schmalen Torbogen gekommen waren und ihn nun umringten; kräftige Wächter aus der Burgbesatzung, die Waffen kampfbereit erhoben, dazu eine Anzahl von Zauberern. Als die Flammensäulen schnell wieder in sich zusammensanken, hob Flindach herrisch die Hand und sprach: »Die Sterne, die sich nicht betrügen lassen, verkündeten den Tod des Herrschers von Quarmall. Ihr alle habt gehört –« er deutete auf die zerschmetterte Bahre –, »wie sich diese beiden zu Herrschern von Quarmall ernannten. So sind die Sterne nun doppelt zufriedengestellt. Und die Götter, die auch das leiseste Flüstern vernehmen, das aus unserem Munde dringt, und die unser Schicksal nach unseren Worten formen, sind ebenfalls zufrieden. Nun bleibt mir nur noch eine letzte Pflicht: euch den nächsten Herrscher von Quarmall zu offenbaren.« Er deutete auf Kewissa und sagte mit singender Stimme: »Der übernächste Herrscher von Quarmall schläft und gedeiht in ihrem Leibe, Frau jenes Quarmal, der noch vor kurzem durch Verbrennung und Opfer und besondere Feiern geehrt wurde.« Kewissa zuckte zusammen und riß die blauen Au-
gen auf. Dann begann sie zu strahlen. Flindach fuhr fort: »Bleibt mir nur noch zu verkünden, wer der nächste Herrscher Quarmalls sein und Königin Kewissas Kind erziehen soll, bis es ein Mann und ein vollkommener König und allwissender Zauberer geworden ist – ein Mann, unter dessen Herrschaft unser Höhlenreich beständigen inneren Frieden und äußeren Wohlstand erleben wird.« Flindach hob den Arm und senkte die Hand hinter seine linke Schulter. Alle vermuteten, daß er jetzt die Kapuze des Todes über sein entstelltes Gesicht ziehen würde, um seine Proklamation fortzusetzen. Statt dessen ergriff er seine kurzen Nackenhaare, zog sie hoch und nach vorn, und mit ihnen die ganze Kopfhaut und das Kopfhaar, und schon löste sich die Haut des Gesichts, als er die Hand zur Seite sinken ließ, und darunter, ein wenig schweißbedeckt, erschien das makellose Gesicht Quarmals mit der vorspringenden Nase und den lächelnden Lippen und den rot-weißen Augen, die alle Anwesenden fixierten. »Ich war gezwungen, eine Zeitlang das Jenseits zu besuchen«, erklärte er mit feierlicher, doch seltsam väterlich-vertrauter Stimme, »während andere an meiner Statt Herrscher von Quarmall waren und die Sterne ihre Speere herabschickten. So war es am besten, obwohl ich dadurch zwei Söhne verlor. Nur so konnte unser Land vor einer katastrophalen Selbstzerfleischung gerettet werden.« Er hielt die schlaffe Maske mit den leeren Augenlöchern, der purpur befleckten linken Wange und der warzenbesetzten rechten Wange in die Höhe. Er sagte: »Und jetzt bitte ich, daß ihr dem großen, mächtigen Flindach eure Ehre erweist, dem loyalsten Ober-
sten Zauberer, den jemals ein König gehabt hat, der mir sein Gesicht für eine lebensnotwendige Verstellung lieh und seinen Körper, mit einer Wachsmaske versehen, für mich verbrennen ließ. Als ich die Trauerfeierlichkeiten würdig gestaltete, ehrte ich nur Flindach. Für ihn sind meine Frauen verbrannt. Dieses Gesicht, von mir abgehäutet und kunstvoll präserviert, wird in unseren Sälen in alle Ewigkeit einen Ehrenplatz erhalten, während Flindachs Geist meinen Platz in der Dunklen Welt jenseits der Sterne besetzt hält, bis ich ihm nachfolge. Bis in alle Ewigkeit ist Flindach ein Großer Held Quarmalls.« Ehe die Männer in Jubel ausbrechen konnten, rief Fafhrd: »Oh, kluger König, ich verehre dich und dein Kind und die Königin, die es trägt, so sehr, daß ich sie keinen Augenblick aus den Augen lassen und von ihrer Seite weichen werde, bis ich und mein kleiner Kamerad hier Quarmall sicher verlassen haben – sagen wir, auf eine Meile –, wohlversehen mit Pferden und all den Schätzen, die uns die beiden toten Könige versprochen haben.« Und er deutete auf die zerschmetterte Bahre. Der Mausling hatte gerade den Mund aufmachen wollen, um einige einschüchternde Bemerkungen über seine Fähigkeiten als Zauberer zu machen. Doch dann überlegte er, daß Fafhrds Worte eigentlich ganz gut gewählt waren – bis auf die Herabwürdigung seiner Körpergröße –, und er schwieg. Kewissa machte Anstalten, Fafhrd die Hand zu entziehen, doch er griff ein wenig fester zu, und sie schaute ihn verständnisvoll an. Mit heller Stimme rief sie Quarmal zu: »Oh, lieber Herr, dieser Mann rettete mir und deinem Sohn das Leben. Er verteidigte mich
gegen Hasjarls Söldner in einem Lagerraum der Burg. Ich vertraue ihm.« Brilla, der sich die Freudentränen aus den Augen wischte, unterstützte sie: »O Herr, sie spricht die nackte Wahrheit, so nackt wie ein neugeborenes Baby oder eine frisch vermählte Frau.« Quarmal hob die Hand, ein wenig tadelnd, als wären solche Einwände gar nicht nötig und fehl am Platze, und wandte sich lächelnd an Fafhrd und den Grauen Mausling. »Es soll geschehen, wie ihr es verlangt. Ich bin nicht kleinlich und auch nicht ahnungslos. Wisset denn, daß meine toten Söhne nicht zufällig unabhängig voneinander loszogen, euch beide anzuwerben – ohne daß ihr gegenseitig davon wußtet. Außerdem sind mir die Eigenheiten des Siebenäugigen Ningauble oder die Zaubersprüche des Augenlosen Sheelba nicht völlig unbekannt. Wir Großmeister unter den Zauberern haben eine ... Aber verriete ich jetzt mehr, würde ich nur die Neugier der Götter erregen und die Trolle alarmieren und die Aufmerksamkeit des Schicksals auf mich lenken. Genug ist genug.« Der Mausling warf einen Blick in Quarmals zusammengekniffene Augen und fuhr zusammen. Er war froh, daß er nicht mit seinen Zauberkräften geprahlt hatte. Auch Fafhrd erschauderte ein wenig. Fafhrd trieb das Vierergespann mit lautem Peitschenknall zur Eile an und steuerte den hochbeladenen Wagen vorsichtig über das schlammige Wegstück, eine Meile von Quarmall entfernt. Die Straße war zerfurcht und zeigte zahlreiche Ochsenspuren. Friska und Ivivis, die auf der Wagenbank neben ihm saßen,
hatten sich zurückgebeugt und winkten Kewissa und dem Eunuchen zu, die am Straßenrand zurückblieben. Sie waren in Begleitung von vier quarmallischen Wächtern, denen sie eben erst übergeben worden waren. Der Graue Mausling, der oben auf der Ladung lag, winkte ebenfalls, doch nur mit der linken Hand – mit der Rechten hielt er eine gespannte Armbrust, während seine Augen die Bäume ringsum nach Anzeichen für einen Hinterhalt absuchten. Der Mausling rechnete nicht mit einem Zwischenfall. Er hielt es nicht für möglich, daß Quarmal einen starken Krieger und Zauberer wie ihn – und natürlich auch Fafhrd – hereinzulegen wagte. Der alte Herrscher hatte sich in den letzten Stunden als großzügiger Gastgeber gezeigt, hatte ihnen seltene Weine aufgedrängt und zahlreiche Geschenke gemacht, die weitaus kostbarer waren, als sie erwarten konnten, oder als das, was der Mausling schon im voraus beiseite geschafft hatte. Quarmal hatte ihnen neben Ivivis und Friska noch weitere Mädchen angeboten – ein Angebot, das sie nicht ohne Bedauern abgelehnt hatten, als sie das seltsame Glitzern in den Augen der beiden bemerkten. Zwei- oder dreimal hatte Quarmal ein wenig zu raubtierhaft freundlich gelächelt, doch in solchen Augenblicken hatte sich Fafhrd ein wenig näher an Kewissa herangeschoben und seinen sanften, doch beständigen Griff um ihr Handgelenk verstärkt, um den alten Herrn daran zu erinnern, daß sie und ihr Kind Geiseln waren. Als die schlammige Straße eine leichte Biegung machte, erschienen die Türme Quarmalls über den Baumwipfeln. Der Mausling schaute unwillkürlich
hinüber, betrachtete nachdenklich die zierlichen Spitzen und fragte sich, ob er sie wohl jemals wiedersehen würde. Plötzlich überkam ihn der Drang, auf direktem Wege nach Quarmall zurückzukehren – ja, sich von der Ladung gleiten zu lassen und über die Wiesen zur Burg zu laufen. Was hatte ihm die Welt hier draußen im Vergleich zu dem zauberhaften unterirdischen Königreich zu bieten? In seinen ausgeschmückten Labyrinthen konnte ein Mann sein ganzes Leben zubringen ... die vergrabenen Wonnen dieser Welt ... auch ihre bösen Seiten hatten etwas Schönes ... ihre köstlichen, unendlich variierten Schattentöne ... die radgetriebene Belüftung. Ja ... wenn er nun lautlos vom Wagen rutschte ... Auf dem höchsten Turm war ein Blitzen zu sehen, ein schimmerndes Pulsieren, das die Entscheidung des Mauslings bestimmte. Er ließ los, rutschte nach hinten von der Ladung. Doch gerade in diesem Augenblick machte die Straße eine Biegung und wurde fest, und die Bäume standen höher und verbargen die Türme, und der Mausling kam wieder zu sich und hielt sich fest, noch ehe seine Füße die Straße berührten, und er blieb so hängen, während ihm der kalte Schweiß ausbrach. Dann hielt der Wagen, und der Mausling ließ sich fallen und atmete dreimal tief ein. Er eilte nach vorn, wo Fafhrd bereits abgestiegen war und sich mit den Zügeln und dem Geschirr der Pferde beschäftigte. »Los, steig wieder auf, Fafhrd! Schnell weiter!« rief er. »Dieser Quarmal ist raffinierter, als ich dachte. Wenn wir noch viel Zeit verschwenden, fürchte ich um unsere Freiheit und unsere Seele!« »Das sagst du mir?« gab Fafhrd zurück. »Die Stra-
ße ist sehr gewunden und hat noch viele gefährliche Stellen. Da sollen wir uns auf die Geschwindigkeit eines Wagens verlassen? Pah! Nein, wir spannen die vier Pferde ab und nehmen uns nur die notwendigsten Lebensmittel und die kleinsten und wertvollsten Stücke unseres Schatzes und galoppieren über das Moor geradewegs von Quarmall fort, so wie die Krähe fliegt. So müßten wir einem Hinterhalt und der Verfolgung entgehen. Friska, Ivivis! Los, los, beeilt euch!« Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Schlück
FÜNFTES BUCH
Die Schwerter von Lankhmar
1 »Ah, wir werden schon erwartet«, sagte der kleine Mann, der auf das große offene Tor in der alten Stadtmauer zuschritt. Wie zufällig streifte seine Hand den Knauf seines langen schmalen Schwertes. »Auf eine Bogenschußweite kannst du das sehen?« fragte der große Mann neben ihm. »Ach ja, Bashabecks orangefarbiges Halstuch. Deutlich zu sehen. Und wo sich Bashabeck aufhält, sind auch seine Schläger nicht weit. Du hättest deine Abgaben an die Diebeszunft ruhig entrichten können.« »Es geht nicht um die Abgaben«, erwiderte der Kleine. »Ich habe beim letzten Raubzug glatt das Teilen vergessen. Ich hatte es eilig: Der Spinnengott war hinter mir her.« »Ah ja, ich erinnere mich. Dein Schmierensteher mußte dran glauben. Aber du hast doch noch die Diamanten, um dich auszulösen, ja?« »Mein Beutel ist so leer wie das Weinfell eines Trinkers am Morgen danach. Übrigens, der dicke Mann, der da links zwischen den beiden breitschultrigen Raufbolden steht – ist das nicht der Wirt der Taverne zum Silbernen Aal?« Der große Mann kniff die Augen zusammen, nickte und wiegte widerwillig den Kopf. »Daß er wegen eines Brandyzapfens soviel Aufhebens macht.« »Du vergißt die beiden vollen Brandyfässer, die du ihm an unserem letzten Abend zerschlagen hast!« »Wenn man bei einem Wirtshausstreit gegen zehn kämpfen muß, nimmt man eben jede Waffe, die einem zwischen die Finger kommt«, wandte der große
Mann ein. Wieder starrte er in den kleinen Hof hinter dem Tor, in dem sich eine Menschenmenge drängte. »Da ist auch Rivis Rightby, der Schmied ... und so ziemlich alle Gläubiger, die wir wohl in Lankhmar haben. Und jeder mit seinen angemieteten Raufbolden.« Beiläufig lockerte er seine etwas groß geratene Waffe in der Scheide. »Hast du denn deine Schulden nicht beglichen, als wir Lankhmar verließen? Ich war natürlich pleite, aber du mußt doch Geld gehabt haben nach all den Arbeiten, die du für die Diebeszunft gemacht hast.« »Ja, Nattick Nimblefingers habe ich bezahlt, für meinen Umhang und mein neues graues Seidenwams«, erwiderte der kleine Mann sofort. Er runzelte die Stirn. »Äh ... da müssen auch noch andere gewesen sein, aber sie fallen mir im Augenblick nicht ein. Übrigens, das große wilde Mädchen da drüben, halb hinter dem zierlichen Mann in Schwarz – hast du mit der nicht mal Probleme gehabt? Das rote Haar ist ganz deutlich zu sehen – höllisch rot. Und die drei anderen Mädchen, die da über die Schultern ihrer bewaffneten Zuhälter schauen, mit denen hast du doch auch Streit gehabt, ehe wir Lankhmar verließen, ja?« »Ich weiß nicht, was du damit sagen willst«, sagte der große Mann in klagendem Tonfall. »Ich habe sie vor ihren Beschützern gerettet, die sie fürchterlich mißbrauchten. Glaub mir – ich hab, mir die Burschen vorgenommen, und die Mädchen haben gelacht. Anschließend habe ich sie wie Prinzessinnen behandelt.« »Allerdings, und dein ganzes Bargeld und sämtliche Juwelen sind dabei draufgegangen; deshalb warst
du auch pleite. Aber etwas hast du nicht getan: Du bist nicht ihr Beschützer geworden. Also mußten sie zu ihren Männern zurück, was sie dir natürlich ankreiden.« »Hätte ich Zuhälter werden sollen?« fragte der andere. »Frauen!« Dann: »Ah, da sind aber auch ein paar von deinen Weibern zur Stelle. Hast du sie nicht bezahlt?« »Nein, ich habe mir etwas geliehen und das Geld nicht zurückgezahlt«, erklärte der kleine Mann. »Hm – das Begrüßungskomitee ist wirklich umfassend.« »Wir hätten doch durch das Große Tor kommen sollen, wie ich gesagt habe. Dort wären wir schnell in der Menge untergetaucht. Aber wir mußten ja hierher kommen, ans End-Tor.« »Am Großen Tor hätten wir Freund und Feind nicht voneinander trennen können. Hier wissen wir wenigstens, daß alle gegen uns sind – mit Ausnahme der Torwachen, bei denen ich mir auch nicht so sicher bin. Zumindest sind sie bestochen, keine Notiz zu nehmen, wenn wir erschlagen werden.« »Warum sollte man uns erschlagen wollen?« fragte der große Mann. »Vielleicht haben wir viele Abenteuer bestanden und kommen nun schwerbeladen mit Schätzen nach Hause.« »Alle können sehen, daß wir keine Träger oder Muli-Karawane mitführen«, unterbrach ihn der kleine Mann nüchtern. »Trotzdem werden sie uns sofort umbringen, wenn wir Geld dabei haben, können sie sich's hinterher teilen. He, ich glaube unsere Gläubiger und sonstigen Feinde haben noch eine andere Waffe aufgefahren!« »Zauberei?«
Der kleine Mann zog eine Rolle gelben Draht aus seinem Beutel. Er sagte: »Wenn die beiden Graubärte in den oberen Fenstern da drüben keine Zauberer sind, sollten sie nicht so wild die Stirnen runzeln. Außerdem kann ich auf der Robe des einen astrologische Figuren erkennen und sehe den Zauberstab des anderen schimmern.« Sie waren dem End-Tor nun schon so nahe, daß solche Einzelheiten erkennbar wurden. Die Wächter in ihren braunen Eisenhemden stützten sich gleichgültig auf ihre Piken. Die Gesichter der Menschen, die den kleinen Platz hinter dem Torbogen säumten, waren ebenfalls reglos, doch grimmig verzogen – bis auf die Mädchen, die ein hämisches Lächeln aufgesetzt hatten. Der große Mann sagte mürrisch: »Also schicken sie uns Zauberkräfte entgegen. Und wenn das nicht klappt, fallen sie mit Morgensternen und Messern über uns her.« Er schüttelte den Kopf. »Soviel Haß wegen ein bißchen Kleingeld. Die Lankhmarier sind kleinlich. Sie wissen nicht zu schätzen, daß wir ihrer Stadt Glanz verleihen, daß wir für Spannung sorgen.« Der kleine Mann zuckte die Achseln. »Diesmal spielen sie gewissermaßen die Gastgeber und sorgen für unsere Zerstreuung.« Mit entschlossenen Bewegungen machte er einen Knoten in ein Ende des weichen Drahtes. Er ging langsamer. »Natürlich brauchten wir gar nicht nach Lankhmar zurückzukehren.« Der große Mann wandte sich erregt um. »Unsinn, uns bleibt gar nichts anderes übrig! Es wäre feige, wenn wir jetzt umkehrten. Außerdem kennen wir schon das ganze Land.« »Es muß noch ein paar Abenteuer außerhalb Lank-
hmars geben«, wandte der kleine Mann leise ein. »Vielleicht ein paar kleine – für Feiglinge geeignet.« »Möglich«, sagte der große Mann, »aber klein oder groß – irgendwie beginnen sie alle in Lankhmar. Was hast du überhaupt mit dem Draht vor?« Der kleine Mann hatte den Draht am Knauf seines Rapiers verknotet und zog ihn nun hinter sich her. »Ich habe mein Schwert geerdet«, sagte er. »Wenn jetzt ein Todeszauber gegen mich gerichtet wird und zuerst mein gezogenes Schwert trifft, entlädt er sich in den Boden und tut mir nichts.« »Und kitzelt die gute Mutter Erde, was? Paß nur auf, daß du nicht darüber stolperst.« Die Warnung schien nicht übertrieben: Der Draht war gut dreißig Fuß lang. »Und du darfst nicht darauf treten. Das ist eine Vorrichtung, die mir Sheelba verraten hat.« »Du und dein Sumpf-Zauberer!« sagte der große Mann spöttisch. »Warum steht er dir jetzt nicht mit seinen Zauberkräften bei?« »Und wo ist Ningauble mit seinen Sprüchen?« erwiderte der kleine Mann. »Er ist zu dick und reist nicht gern.« Sie passierten die Wächter. Die drohende Stimmung auf dem Platz dahinter verstärkte sich spürbar. Plötzlich grinste der große Mann seinen Begleiter an. »Wir wollen niemanden ernsthaft verletzen«, sagte er so laut, daß es alle hören konnten. »Wir wollen doch unsere Rückkehr nach Lankhmar nicht gleich mit Traurigem beginnen.« Als sie in den Innenhof traten, der von feindseligen Gesichtern gesäumt war, brach der Sturm sofort los. Der Zauberer in der sternbesetzten Robe stieß einen
Wolfsschrei aus, hob die Arme über den Kopf und ließ sie derart schnell auf den kleinen Mann herabstoßen, daß man im ersten Augenblick befürchtete, die Hände würden ihm abfallen und sich selbständig machen. Statt ihrer löste sich ein bläulicher Feuerstrahl von seinen Fingern. Der kleine Mann hatte sein Schwert gezogen und es auf den Zauberer gerichtet. Der blaue Blitz knisterte an der schmalen Klinge entlang und entlud sich dann offenbar in den Boden, denn er spürte nur ein leichtes Kribbeln in der Hand. Etwas phantasielos wiederholte der Zauberer seinen Angriff mit dem gleichen Ergebnis, und hob seine Hände zum drittenmal. Inzwischen hatte der kleine Mann den Rhythmus heraus, und als sich die Hände senkten, ließ er das Drahtende herumschnellen, so daß es einige Kämpfer Bashabecks berührte. Das blaue Zeug, was immer es war, sprang vom Draht knisternd auf sie über und die Männer schrien auf und stürzten zu Boden. Inzwischen hatte der andere Zauberer seinen Stab auf den großen Mann gerichtet, gefolgt von zwei weiteren Stäben, die er aus der Luft herbeizauberte. Der große Mann, der überraschend schnell sein großes Schwert gezogen hatte, erwartete die Ankunft des ersten Stabes. Zu seiner Überraschung verwandelte er sich während des Fluges in eine Art silbrig gefederten Falken, der zum Angriff übergehen wollte. Im letzten Augenblick wurden die Falken zu zwei langen, schimmernden Messerklingen, die seltsamerweise Silberflügel besaßen. Der große Mann ließ sich durch die magischen Tricks nicht beeinflussen. Geschickt handhabte er sein Schwert und schlug den ersten fliegenden Dolch zur
Seite, der die Schulter eines Muskelmenschen neben dem Wirt des Silbernen Aals durchschlug. Die zweite und dritte Klinge wehrte er ähnlich ab, und zwei weitere Gegner trugen Verletzungen davon. Auch diese sanken schreiend zu Boden – weniger aus Schwäche als vor Entsetzen über die verzauberten Waffen. Doch als sie die Pflastersteine berührten, hatte der große Mann schon ein Messer aus seinem Gürtel gerissen und es mit der Linken zu seinem Zauberer emporgeschleudert. Ob der Graubart nun getroffen war oder sich nur in Sicherheit brachte – jedenfalls verschwand er aus dem Fenster. In der Zwischenzeit hatte der andere Zauberer seine Angriffe fortgesetzt und schickte einen vierten Blitz auf die Reise. Doch diesmal schleuderte der kleine Mann den Draht an seinem Schwert in die Höhe, so daß er das Fenster berührte, in dem der Zauberer stand. Vielleicht traf der Blitz nur den Fensterrahmen – jedenfalls ertönte ein lautes Knistern, ein blökender Schrei und der Zauberer war verschwunden. Man muß den versammelten Kämpfern hoch anrechnen, daß sie nach dieser wilden Zauberei kaum einen Herzschlag lang zögerten, sondern sofort zum Angriff übergingen und rücksichtslos mit ihren Waffen um sich zu hauen begannen. Natürlich waren ihre Chancen etwa fünfzig zu zwei. Aber ganz ohne Mut war auch das nicht zu schaffen. Der kleine und der große Mann stellten sich sofort Rücken an Rücken und wehrten mit blitzschnellen Streichen die Angriffe ab, wobei sie ihre Gegner nur leicht an Armen und Beinen zu verwunden suchten. Der große Mann hatte mit der Linken eine kurzstieli-
ge Axt von seinem Gürtel gelöst, mit deren Klingenseite er zur Abwechslung einige Köpfe beklopfte, während der kleine Mann sein spitzes Rapier durch ein langes Messer ergänzte, dessen Stiche so schnell und überraschend kamen wie die Tatzenschläge einer Katze. Zuerst war die Überlegenheit der anderen eher ein Vorteil für die beiden Streiter – die Angreifer gerieten sich laufend in den Weg. Doch der Kampf spielte sich ein und es hatte eine Zeitlang den Anschein, als müßten sich der kleine und der große Mann doch ernsthafter zur Wehr setzen. Das Klirren des Stahls, das Stampfen der Stiefel, die wilden Schreie aus verzerrten Mündern und das erregte Gekreische der Mädchen – das alles summierte sich zu einem gewaltigen Lärm, der die Torwache unruhig machte. Aber dann verlor der vornehme Bashabeck, der sich schließlich auch in den Kampf eingemischt hatte, ein Ohr, während die Mädchen – die plötzlich romantische Gefühle entwickelten – für die beiden Freunde zu schreien begannen, was ihren Zuhältern und deren Kämpfern viel Wind aus den Segeln nahm. Die Angreifer waren einer Panik nahe. Im gleichen Augenblick ertönten sechs Trompeten in der breitesten Straße, die von dem kleinen Platz abging, und dieses Geräusch gab den Ausschlag. Die Angreifer und ihre Auftraggeber stoben in alle Richtungen davon, die Zuhälter zerrten ihre Mädchen fort, während die vom Blitz und von den geflügelten Dolchen Getroffenen langsam davonkrochen. Nach kurzer Zeit war der kleine Platz leer – bis auf die beiden Sieger, die sechs Trompeter in der Straßenmündung, die Reihe der Wächter, die dem Platz
nun den Rücken gewandt hatte, als wäre nichts geschehen – und Hunderte von winzigen rotschimmernden Augenpaaren, die aufmerksam durch die Ritzen der Straßenabflüsse, aus zahlreichen kleinen Löchern in den Mauern und sogar von den Dächern starrten. Aber wer zählt die Ratten in einer alten Stadt wie Lankhmar? Der große und der kleine Mann sahen sich noch eine Zeitlang stirnrunzelnd um. Dann entspannten sie sich langsam, begannen brüllend zu lachen, steckten ihre Waffen fort und wandten sich nicht ohne Neugier den Bläsern zu. Die Trompeter wichen zur Seite. Eine Reihe von Lanzenträgern vollführte hinter ihnen die gleiche Bewegung, und durch das Spalier schritt ein glattrasierter Mann in einer schwarzen silberbestickten Toga. Er hob eine Hand zum Gruß und sagte ernst: »Ich bin der Oberhofmeister von Glipkerio Kistomerces, dem Oberherrn Lankhmars, und hier ist das Symbol meines Amtes.« Er brachte einen kleinen Silberstab zum Vorschein, dessen eine Spitze aus einem fünfzackigen Seestern in Bronze bestand. Die beiden Männer nickten, als wollten sie sagen: »Schon gut.« Der Oberhofherr wandte sich an den großen Mann. Er zog ein Pergament aus seiner Toga, entrollte es, überflog den Text und schaute auf. »Sind Sie Fafhrd, Nordling-Barbar und Streithammel?« Der große Mann dachte einen Augenblick darüber nach und sagte: »Und wenn ich's wär?« Der Oberhofherr wandte sich an den kleinen Mann. Wieder konsultierte er sein Dokument. »Und sind Sie
– verzeihen Sie, aber so steht es hier – der langverdächtigte Einbrecher, Beutelschneider, Schwindler und Attentäter, der Graue Mausling?« Der kleine Mann warf seine graue Kapuze zurück und sagte: »Wenn es Sie etwas angeht – nun, er und ich haben vielleicht einiges gemein.« Als stellten ihn diese vagen Antworten voll zufrieden, rollte der Oberhofherr sein Pergament wieder zusammen und steckte es fort. »Dann möchte mein Herr und Meister Sie sprechen. Sie können ihm einen Dienst erweisen, der nicht Ihr Schaden sein soll.« Der Graue Mausling fragte: »Wenn der allmächtige Glipkerio Kistomerces unserer so dringend bedarf, warum hat er uns dann überfallen lassen? Wir hätten dabei umkommen können!« Der Oberhofherr erwiderte: »Wenn Sie zu den Männern gehörten, die sich von einem solchen Mob umbringen lassen, wären Sie nicht die Richtigen für die Aufgabe, die mein Herr im Sinn hat. Aber die Zeit drängt. Folgen Sie mir.« Fafhrd und der Graue Mausling sahen sich an und zuckten die Achseln. Sie setzten sich hinter dem Oberhofherrn in Bewegung, gefolgt von den Lanzenträgern und Trompetern. Der Zug marschierte auf dem Wege zurück, den er gekommen war, und der Platz blieb leer zurück. Bis auf die Ratten natürlich.
2 Zwei Tagesreisen von Lankhmar entfernt pflügten die schmale Kriegsgaleere und die fünf breiten Kornschiffe hintereinander durch das Binnenmeer; ein sanfter Westwind füllte ihre dreieckigen braunen Segel. Es war später Nachmittag an einem seltsam dunstigen Tag, da Meer und Himmel die gleiche Farbe zu haben und damit den unwiderlegbaren Beweis für eine Hypothese zu bieten schienen, wie sie im Augenblick von lankhmarischen Philosophen gern vertreten wurde; daß nämlich Nehwon eine gewaltige Luftblase ist, die durch die Wasser der Ewigkeit treibt – wobei Kontinente, Inseln und die großen Edelsteine, die des Nachts als Sterne erscheinen, auf der Innenfläche dieser Blase schwimmen. Auf dem Achterdeck des letzten Kornschiffs, das zugleich das größte war, spuckte der Graue Mausling einen Pflaumenkern nach Lee und sagte gedehnt: »Schönes Lankhmar! Kaum einen Tag waren wir in der Stadt der Schwarzen Toga nach monatelangem Abenteuer, und schon gibt uns der Oberherr persönlich diesen angenehmen Auftrag – noch dazu mit Anzahlung.« »Angenehme Aufträge erfüllen mich immer mit Mißtrauen«, sagte Fafhrd gähnend und öffnete sein pelzbesetztes Wams ein Stück weiter, damit der Wind besser durch sein dichtes Brusthaar streichen konnte. »Und wir wurden so schnell wieder aus der Stadt getrieben, daß wir uns nicht einmal bei den Damen sehen lassen konnten. Trotzdem muß ich zugeben, es
hätte uns schlechter ergehen können. Ein voller Beutel ist der beste Ballast für jedes Schiff.« Schiffsherr Slinoor wandte sich um und musterte abschätzend den graugekleideten, geschmeidigen kleinen Mann und seinen großen, farbenfreudig ausgestatteten Barbarenfreund. Der Herr der Squid war ein schwarzgekleideter Mann in mittleren Jahren. Er stand neben den beiden stämmigen barfüßigen Matrosen, die das hochaufragende Steuerruder der Squid festhielten. »Was wißt ihr beiden Streiter überhaupt von eurem angenehmen Auftrag?« fragte Slinoor leise. »Oder besser – wieviel hat der edle Glipkerio euch über den Zweck und die düstere Vorgeschichte dieser Reise mitzuteilen für richtig befunden?« Das nun schon zwei Tage andauernde günstige Segelwetter hatte dem schweigsamen Schiffsherrn offenbar etwas die Zunge gelockert. Mit seinem Dolch, den er Katzenklaue nannte, spießte der Mausling eine purpurne Pflaume aus einem Netz, das an der Reling hing. Er antwortete leichthin: »Diese Flotte befördert ein Korngeschenk unseres Oberherrn Glipkerio an Movarl von den Acht Städten – als Dank dafür, daß Movarl die Mingolpiraten aus dem Binnenmeer vertrieben und womöglich die Mingols von einem Angriff auf Lankhmar abgehalten hat. Movarl braucht das Korn für seine Jäger und Bauern, die in die Städte gezogen oder Soldaten geworden sind – und besonders für seine Armee, die die Grenzstadt Klelg Nar gegen die Mingols verteidigen muß. Fafhrd und ich sind gewissermaßen eine kleine, aber mächtige Nachhut für das Korn und für bestimmte vornehmere Geschenke Glipkerios.«
»Sie meinen die da?« Und Slinoor deutete mit dem Daumen zur Steuerbordreling. Die da – das waren zwölf weiße Ratten, die sich jeweils zu dritt in vier silbernen Käfigen befanden. Ihre seidigen Felle, die bleichumrandeten Augen und ihre kurzen, hochgeneigten Oberlippen mit den beiden Nagezähnen gaben ihnen ein hochmütiges, gelangweiltes Aussehen; und wie gelangweilte Aristokraten starrten sie auch auf ein dürres schwarzes Kätzchen, das sich auf der Steuerbordreling festgekrallt hatte und die Ratten besorgt musterte. Fafhrd streckte einen Arm aus und fuhr dem Tier mit dem Finger über den Rücken. Das Kätzchen streckte sich wohlig, rückte jedoch sofort wieder ab und nahm seine besorgte Wache wieder auf – eine Tätigkeit, der auch die beiden schwarzgekleideten Steuerleute nachgingen, die die eingesperrten Passagiere zu fürchten schienen. Der Mausling leckte den Pflaumensaft von seinen Fingern und fing mit der Zungenspitze einen Tropfen ab, der ihm über das Kinn zu laufen drohte. Dann: »Nein, ich meine nicht nur die hochgezüchteten Geschenkratten«, beantwortete er Slinoors Frage. »Ich meine hauptsächlich sie, die jetzt unter Deck ist, die Sie aus Ihrer Kabine vertrieben hat und die darauf besteht, daß die Ratten Sonnenlicht und frische Luft bekommen – was mir bei solchen Höhlentieren doch seltsam vorkommt.« Slinoor hob seine getrimmten Augenbrauen. Er rückte näher heran und flüsterte: »Sie meinen, Demoiselle Hisvet ist nicht nur die Dompteuse der Ratten, sondern wird mit an Movarl verschenkt? Aber sie ist die Tochter des größten Kornhändlers in Lank-
hmar, der durch seine Geschäfte mit Glipkerio reich geworden ist.« Der Mausling lächelte geheimnisvoll, sagte jedoch nichts. Slinoor runzelte die Stirn und fuhr noch leiser fort: »Gewiß, ich habe sagen hören, daß schon Hisvet ein Geschenk ihres Vaters Hisvin an Glipkerio gewesen ist, damit dieser sein Kunde wurde.« Fafhrd wandte sich um. »Also, Hisvet ist ja noch ein Kind«, sagte er fast tadelnd. »Ein sehr züchtiges und zurückhaltendes Fräulein. Bei Glipkerio weiß ich das nicht so genau. Er kommt mir dekadent vor.« Dieses Wort war in Lankhmar keine Beleidigung. »Aber gewiß wird doch Movarl, der ein Nordling ist, auch wenn er im Walde lebt, die starkknochigen, reifen kräftigen Frauen vorziehen.« »Wie du, nicht wahr?« bemerkte Mausling und musterte Fafhrd aus halb geschlossenen Augen. »Mit kindgleichen Frauen willst du nichts zu tun haben, wie?« Fafhrd blinzelte, zuckte die Achseln und fragte laut: »Was ist so Besonderes an den Ratten? Führen sie Kunststücke vor?« »Aye«, sagte Slinoor angewidert. »Sie ahmen Menschen nach. Hisvet hat sie dressiert, nach Musik zu tanzen, aus Tassen zu trinken, winzige Speere und Schwerter zu halten – und sogar damit zu kämpfen. Ich habe das noch nicht gesehen – hätte auch keine Lust dazu!« Den Mausling reizte die Vorstellung. Er bildete sich ein, er wäre eine Ratte und kämpfte mit Ratten, die Kräuselkragen trugen und mit ihm durch die labyrinthischen Tunnel einer Untergrundstadt eilten. Er
stellte sich vor, er würde Fachmann für Käse und Räucherfleisch, umwerbe eine schlanke Rattenkönigin und würde von ihrem Mann, dem Rattenkönig, überrascht. In diesem Augenblick bemerkte er, daß ihn eine der Ratten anschaute, und plötzlich kam ihm sein Gedanke gar nicht mehr lustig vor. Er erschauderte in der Sonne. Slinoor sagte: »Es ist nicht gut, wenn Tiere sich wie Menschen benehmen.« Der Kommandant der Squid starrte düster auf die weißen Ratten. »Habt ihr schon mal von der Legende ...«, begann er, zögerte und schüttelte den Kopf, als hätte er schon zuviel gesagt. »Ein Segel!« Ein dünner Schrei tönte vom Krähennest herab. »Ein schwarzes Segel in Luv!« »Was für ein Schiff?« brüllte Slinoor hinauf. »Ich weiß es nicht, Herr, ich sehe nur die Segelspitze.« »Im Auge behalten, Junge!« befahl Slinoor. »Wird geschehen, Herr.« Slinoor trat an die Steuerbordreling und versuchte etwas zu erkennen. »Movarls Segel sind grün«, sagte Fafhrd nachdenklich. Slinoor nickte. »Und die aus Ilthmar weiß. Die Piraten haben meistens rote Segel. Die Segel aus Lankhmar waren früher schwarz, aber heute ist diese Farbe nur für Trauerbarken vorgesehen, und die bleiben immer in Küstennähe. Wenigstens wüßte ich nicht ...« Der Mausling unterbrach ihn mit der Frage: »Sie haben von einer düsteren Vorgeschichte dieser Reise gesprochen. Wieso düster?« Slinoor führte die beiden Männer zur Seite, außer Hörweite der beiden Rudergänger. Die drei Männer
beugten die Köpfe zusammen. Slinoor sagte: »Ihr seid einige Zeit nicht in Lankhmar gewesen. Wußtet ihr, daß dies nicht die erste Kornflotte für Movarl ist?« Der Mausling nickte. »Man hat uns gesagt, daß schon mal eine Flotte abgefahren wäre, die aber untergegangen sein muß – wohl bei einem Sturm, Glipkerio hat nichts weiter darüber gesagt.« »Es waren sogar zwei Flotten«, sagte Slinoor gepreßt. »Beide sind verschwunden. Spurlos. Und Stürme hat es nicht gegeben.« »Was denn dann?« fragte Fafhrd und sah sich um, als die Ratten zu fiepen begannen. »Piraten?« »Damals hatte Movarl die Piraten hier im Osten bereits besiegt. Beide Flotten waren von einer Galeere bewacht, wie die unsere. Und jede Flotte segelte bei gutem Wetter und Westwind los.« Slinoor lächelte dünn. »Bestimmt hat euch Glipkerio nicht völlig eingeweiht, um euch nicht abzuschrecken. Wir Seeleute und die lankhmarischen Soldaten tun unsere Pflicht und kämpfen um die Ehre der Stadt, aber in letzter Zeit hat Glipkerio Schwierigkeiten mit den Sonderagenten, die er immer gern als Reserve einsetzt. Ja er ist nicht der Dümmste, unser Oberherr, obwohl er sich meistens damit beschäftigt, andere Weltblasen mit metallischen Tauchschiffen zu erreichen und sich Rattenspielereien vorführen zu lassen. Und er kauft Lankhmars Feinde mit Gold und bezahlt Lankhmars immer gieriger werdende Freunde mit Korn – und nicht mit Soldaten. Movarl wird sehr ungeduldig. Wenn das Korn nicht bald kommt, will er seine Piratenwache zurückziehen, sich mit den Land-Mingols verbünden und auf Lankhmar marschieren.«
»Nordlinge mit Mingols?« fragte Fafhrd. »Unmöglich!« Slinoor musterte ihn. »Wenn ich so etwas nicht für möglich hielte – wodurch Lankhmar in höchste Gefahr käme –, wäre ich nie losgefahren, Pflicht hin, Ehre her. Und das gleiche gilt für Lukeen, der die Galeere kommandiert. Auch wüßte ich sonst nicht, wieso Glipkerio seine schönsten dressierten Ratten und die hübsche Hisvet mitschickt nach Kvarch Nar.« Fafhrd knurrte: »Und beide Flotten sind spurlos verschwunden?« fragte er ungläubig. Slinoor schüttelte den Kopf. »Die erste wohl. Von der zweiten wurden Wrackteile gesichtet – durch ein ilthmarisches Handelsschiff, das nach Lankhmar unterwegs war. Das Deck eines Kornschiffs, seltsam zersplittert und losgerissen – wie das hat geschehen können, wußte der ilthmarische Kapitän nicht zu sagen. An einem Stück Reling war der Schiffsherr angebunden, erst wenige Stunden tot. Sein Gesicht war angefressen, sein Körper angenagt.« »Durch Fische?« fragte der Mausling. »Seevögel?« wollte Fafhrd wissen. »Oder vielleicht durch Drachen?« fragte eine dritte Stimme, ein wenig atemlos und fröhlich wie die eines Schulmädchens. Die drei Männer wandten sich um. Demoiselle Hisvet war so groß wie der Mausling, wirkte jedoch erheblich schmaler und schlanker. Sie hatte ein zartes, spitzes Gesicht mit kleinem Mund und geschürzter Oberlippe, die sich so weit hob, daß eine Doppelreihe winziger Zähne zu sehen war. Ihre Haut war kremig weiß bis auf die rötliche Tönung ihrer Wangen. Ihr glattes Haar, das nur eine schmale Stirn freiließ, war schneeweiß mit Silbereffekt und
wurde durch einen Silberring am Hinterkopf zusammengehalten, von wo es wie der Schwanz eines Einhornwesens über ihren Rücken fiel. Ihre Augäpfel waren weiß, hatten jedoch eine seltsam rote Pigmentierung um die großen schwarzen Pupillen. Ihr Körper wurde durch einen weiten Umhang aus violetter Seide verhüllt – bis auf die kurzen Momente, da der Wind den Stoff gegen ihre mädchenhaften Rundungen drückte. Auf dem Kopf trug sie eine violette Kapuze, halb zurückgeschoben. Die Ärmel waren weit, schlossen sich aber eng um die Handgelenke. Sie war barfuß, und ihre Füße schimmerten so hell wie ihr Gesicht; bis auf einen leichten rosafarbenen Schimmer um die Zehen. Nacheinander musterte sie die drei Männer. »Ihr habt von Flotten geflüstert, die untergegangen sind. Nur Mut, Schiffsherr Slinoor – nur Mut!« »Aye«, sagte Fafhrd. »Auch durch Drachen darf sich der Mutige nicht einschüchtern lassen. Ich habe die Seeungeheuer oft bei den Klauen-Felsen beobachtet. Man braucht keine Angst vor ihnen zu haben, wenn man sie nur befehlend anstarrt. Sie hatten scheußliche Hornpanzer und manche auch zwei Köpfe – aber es war wie bei uns, die männlichen Drachen waren hinter den weiblichen her und machten ...« Fafhrd tat einen gewaltigen Atemzug und ließ mit lautem Heulton hören: »Hoongk! Hoongk!« Die beiden Rudergänger zuckten zusammen. »Also, Schwertkämpfer Fafhrd«, sagte Hisvet prüde. »Sie sollten Ihre Zunge im Zaum halten. Das Liebesleben der ...« Aber schon war Slinoor herumgefahren und hatte Fafhrd am Arm gepackt. »Seien Sie still, Sie Narr!
Wissen Sie nicht, daß wir heute nacht bei Mondlicht die Drachenfelsen passieren müssen? Sie rufen die Ungeheuer noch herbei.« »Es gibt keine Drachen im Binnenmeer«, versicherte ihm Fafhrd lachend. »Aber es gibt etwas, das Schiffe zerreißt«, erwiderte Slinoor. Der Mausling machte sich die Diskussion zunutze und trat dienernd auf das Mädchen zu. »Uns hat Ihre angenehme Gesellschaft an Deck sehr gefehlt, Demoiselle«, sagte er gewandt. »Ja, leider – aber die Sonne liegt mir nicht«, erwiderte sie lächelnd. »Jetzt, da ihre Strahlen gedämpft sind, kann ich sie ertragen. Außerdem, diese groben Seeleute ...« Sie erschauderte und wandte sich um, als Fafhrd und der Herr der Squid ihren Streit beendet hatten und nun wieder näherkamen. »Ich habe nicht Sie gemeint, lieber Slinoor«, sagte sie und berührte seine schwarze Robe. »Hätte Demoiselle Lust auf eine sonnengewärmte, windgekühlte schwarze Pflaume aus Sarheenmar?« fragte der Mausling und fuchtelte mit Katzenklaue herum. »Ich weiß nicht«, sagte Hisvet und beäugte die nadelspitze Klinge des Dolches. »Ich muß erst die Weißen Schatten nach unten bringen, damit es ihnen nicht zu kalt wird.« »Das ist wahr«, sagte Fafhrd mit einschmeicheldem Lachen. Es war sicher, daß sie die weißen Ratten meinte. »Aber es war sehr klug, kleine Dame, sie hier den Tag an Deck verbringen zu lassen, wo sie sich mit den Schwarzen Schatten einlassen können – ich meine die schwarzen Brüder und Schwestern; die sich
bestimmt hier und dort an Bord verbergen.« »Ich habe keine Ratten auf meinem Schiff«, sagte Slinoor aufgebracht. »Glauben Sie, ich führe hier ein Rattenhaus? Es gibt keine gewöhnlichen Ratten an Bord der Squid.« »Dann wäre das das erste rattenfreie Kornschiff überhaupt«, erwiderte Fafhrd nüchtern. Die zinnoberrote Sonnenscheibe berührte im Westen den Horizont und flachte sich etwas ab. Hisvet lehnte sich unter dem hochaufragenden Ruderbaum an die Heckreling. Fafhrd stand rechts von ihr, der Mausling links, den Beutel mit Pflaumen neben sich, nahe den Silberkäfigen. Slinoor war entrüstet nach vorn gegangen, um mit den Rudergängern zu sprechen. »Ich möchte jetzt gern die Pflaume, Dolchträger Mausling«, sagte Hisvet leise. Fröhlich wandte sich der Mausling ab und machte sich mit viel unnötigem Getue über den Beutel her, um ihr die weichste Frucht auszusuchen. Währenddessen streckte Hisvet ihren rechten Arm zur Seite und legte vorsichtig, ohne den Kopf zu wenden, Fafhrd die Hand auf die Brust, fuhr sanft durch seine Haare, griff danach, zerrte kräftig daran, und zog ihre Finger langsam wieder zurück. Die Hand lag wieder auf der Reling, als sich der Mausling umwandte. Sie führte die Handfläche langsam an den Mund, hob die Hand dann auf die andere Seite, um von der Dolchspitze des Mauslings die Pflaume abzuziehen. Geziert saugte sie an der winzigen Stichwunde, die sie sich dabei zuzog. »Mein lieber Sir«, sagte sie, »Sie haben mir versprochen, die Frucht wäre warm, aber das ist sie nicht.
Der Abend hält Einzug.« Sie sah sich um. »Sogar Schwertkämpfer Fafhrd hat eine Gänsehaut!« verkündete sie, errötete und schlug eine Hand vor den Mund. »Schließen Sie Ihr Wams, Sir. Sie vermeiden damit vielleicht eine Erkältung und die Nervosität eines Mädchens, das solchen Anblick nicht gewöhnt ist – außer bei Sklaven.« Das schwarze Kätzchen kam auf der Steuerbordreling näher. Fafhrd griff sofort danach. »Haben Sie die Schiffskatze schon gesehen, kleine Dame?« rief er und näherte sich Hisvet, das Tier in seinen großen Händen verborgen. »Hier, sonnengeröstet, wärmer als jede Pflaume.« Und er streckte ihr das Tier hin. Doch Fafhrd hatte den Standpunkt der Katze unberücksichtigt gelassen. Ihr sträubte sich sofort das Fell, als sie sich in der Nähe der Ratten sah, und als Hisvet jetzt die Hand ausstreckte, ihre Zähne lächelnd entblößte und sagte: »Armes kleines Tier« – da zischte die Katze wild und schlug mit ausgespreizten Klauen zu. Hisvet zog überrascht die Hand zurück. Ehe Fafhrd das Tier zur Seite werfen konnte, war es schon auf seinen Kopf und von dort zum höchsten Punkt des Ruderbaums gesprungen. Der Mausling eilte an Hisvets Seite und rief Fafhrd zu: »Blödian! Siehst du denn nicht, daß das Tier halb wild ist!« Und Hisvet fragte er besorgt: »Demoiselle! Sind Sie verletzt?« Fafhrd schlug aufgebracht nach der Katze, und einer der Rudergänger tat es ihm nach, wohl weil er das Steuerruder nicht für einen geeigneten Platz für Tiere hielt. Die Katze sprang mit gewaltigem Satz zur Steuerbordreling, verlor hier den Halt und baumelte
an zwei Pfoten über dem wirbelnden Wasser. Hisvet verbarg ihre Hand vor dem Mausling, der auf sie einredete: »Lassen Sie mich das untersuchen, Demoiselle. Schon der kleinste Kratzer einer schmutzigen Schiffskatze kann gefährlich sein.« Sie erwiderte, fast ein wenig verspielt: »Nein, Dolchschwinger, es ist nichts.« Fafhrd ging zur Steuerbordreling – in der Absicht, die Katze über Bord zu werfen, doch als er dann die Hände ausstreckte, umfing er plötzlich das Tier und zog es wieder hoch. Die Katze revanchierte sich mit einem kräftigen Biß in seinen Daumen und entfloh in den Achtermast. Fafhrd unterdrückte einen Aufschrei. Slinoor lachte. »Ich werde die Hand trotzdem untersuchen«, sagte der Mausling beherzt und nahm Hisvets Hand. Sie hielt einen Augenblick still, wich dann mit schneller Bewegung zurück, richtete sich auf und sagte eisig: »Dolchschwinger, Sie vergessen sich! Nicht einmal der eigene Arzt darf eine Demoiselle von Lankhmar berühren – er berührt nur den Körper ihres Mädchens, dem die Demoiselle ihre Schmerzen und Symptome schildert. Lassen Sie mich allein, Dolchschwinger!« Der Mausling trat mürrisch zurück. Fafhrd saugte an seinem Daumen. Hisvet folgte dem Mausling. »Sie hätten mich bitten sollen, mein Mädchen zu rufen. Sie ist sehr hübsch.« Die Sonne war kaum noch über dem Horizont zu sehen. Slinoor rief zum Krähennest hinauf: »Was ist mit dem schwarzen Segel, Junge?« »Die Entfernung ist unverändert, Herr«, tönte es von oben.
Mit grünlichem Schimmer ging die Sonne unter. Hisvet neigte sich zur Seite und küßte den Mausling unter das Ohr. Ihre Zunge kitzelte ihn am Hals. »Jetzt habe ich es verloren, Herr«, rief der Ausguck. »Es gibt Nebel im Nordwesten. Und im Nordosten ... eine kleine schwarze Wolke ... wie ein schwarzes lichtbesprenkeltes Schiff ... bewegt sich durch die Luft. Ist auch verschwunden. Nichts mehr zu sehen, Herr.« Hisvet schaute wieder geradeaus. Slinoor kam auf sie zu. »Der Ausguck sieht zuviel«, knurrte er. Hisvet erschauderte und sagte: »Die Weißen Schatten werden sich erkälten. Sie sind so empfindlich, Dolchschwinger.« Der Mausling hauchte ihr ins Ohr: »Und Sie sind ein Weißer Schatten der Ekstase.« Dann marschierte er zu den Silberkäfigen und sagte laut: »Könnten Sie uns nicht morgen die Freude machen, die Ratten hier auf Deck vorzuführen? Es muß doch sehr lehrreich sein, zu sehen, wie Sie sie anleiten.« Er fuchtelte über den Käfigen herum und log: »Ja, es sind wirklich prächtige Tiere.« Währenddessen hielt er besorgt nach den kleinen Speeren und Schwertern Ausschau, von denen Slinoor gesprochen hatte. Die zwölf Ratten musterten ihn gleichgültig. Eine schien sogar zu gähnen. Slinoor sagte kurz: »Ich würde davon abraten, Demoiselle. Seeleute fürchten sich sehr vor den Ratten und hassen sie.« »Aber es sind vornehme Exemplare«, wandte der Mausling ein, während Hisvet nur sagte: »Sie werden sich erkälten.« Fafhrd hörte das, nahm seinen Daumen aus dem Mund und eilte herbei. »Kleine Dame, darf ich Sie
nach unten tragen? Ich werde so sanft mit Ihnen umgehen wie eine kleshitische Krankenschwester.« Mit Daumen und Mittelfinger hob er einen Käfig an, der zwei Ratten enthielt. Hisvet schenkte ihm ein Lächeln und sagte: »Ich würde mich darüber freuen, lieber Schwertkämpfer. Die Matrosen gehen viel zu grob mit den Käfigen um. Aber mehr als zwei kann kein Mann tragen. Sie werden Hilfe brauchen.« Sie starrte Slinoor und den Mausling an. Ja, und so mußten die beiden – der Mausling nur widerwillig – je einen Silberkäfig aufnehmen, während Fafhrd zwei trug, und mußten Hisvet zu ihrer Kabine unter dem Achterdeck folgen. Der Mausling konnte sich nicht verkneifen, Fafhrd zuzuflüstern: »Idiot! Daß wir noch zu Rattenträgern werden! Mögen dich die Ratten beißen, wie es die Katze getan hat!« An der Kabinentür nahm Hisvets dunkelhaariges Mädchen Frix die Käfige in Empfang. Hisvet dankte ihren Kavalieren mit kurzen Worten, und Frix schloß sofort die Tür. Es folgte das gedämpfte Poltern eines Querbalkens und einer Kette, mit der der Balken noch zusätzlich befestigt wurde. Dunkelheit senkte sich über das Wasser. Eine gelbliche Lampe wurde angezündet und in den Mastkorb hinaufgezogen. Die schwarze Kriegsgaleere Shark senkte das braune Segel, ruderte zur Clam zurück, die in Linie vor der Squid segelte, ermahnte den Kapitän, das Mastlicht aufzusetzen und fiel dann bis zur Squid zurück, wo sich Lukeen und Slinoor von Reling zu Reling über ein schwarzes Segel und den Nebel und schiffsförmige schwarze Wolken und die Drachenfelsen unterhielten. Schließlich enteilte das große Kriegsschiff wieder nach vorn, wo es die Spitze des
Konvois einnahm. Die ersten Sterne schimmerten – ein Beweis, daß die Sonne nicht durch die Wasser der Ewigkeit in eine andere Weltblase entflogen war, sondern jetzt nur im Osten unterhalb des Himmelozeans verhielt und mit ihren Strahlen die schwimmenden Sternenjuwelen zum Flimmern brachte. Nach dem Mondaufgang fanden sowohl Fafhrd als auch der Mausling Gelegenheit, an Hisvets Tür zu klopfen – was jedoch zu nichts führte. Auf Fafhrds Klopfen öffnete Hisvet das kleine Gitterfenster in der Tür und sagte schnell: »Schämen Sie sich, Schwertkämpfer! Sehen Sie nicht, daß ich mich ausziehe?« Und schloß die Klappe wieder. Als der Mausling leise um ein Gespräch mit dem »Weißen Schatten der Ekstase« bat, zeigte sich nur das fröhliche Gesicht von Frix hinter dem Gitter. »Meine Herrin hat mich gebeten, zum Gruß Ihre Hand zu küssen.« Was sie tat und das Fenster wieder schloß. Fafhrd, der die Szene beobachtet hatte begrüßte den niedergeschlagenen Mausling sarkastisch: »Die Weiße Wolke der Ekstase!« »Kleines Dämchen!« zischte der Mausling. »Schwarze Pflaume aus Serheenmar!« »Kleshitische Krankenschwester!« Unsere Helden schliefen nicht sehr gut in dieser Nacht. Gegen Morgen begann in Abständen der große Gong der Squid zu dröhnen, gefolgt von den leisen Gongschlägen der anderen Schiffe. Mit der ersten Dämmerung kamen die beiden an Deck. Die Squid schlich sich durch einen Nebel, der sogar die eigenen Mastspitzen verhüllte. Die beiden Rudergänger sahen sich nervös um, als rechneten sie jeden Augenblick
mit Gespenstern. Die Segel hingen schlaff herab. Slinoor, müde und nervös, erklärte mit gepreßter Stimme, daß der Nebel die Flotte nicht nur aufhielt, sondern sie auch durcheinander gebracht hätte. »Das ist die Tunny da vor uns, das erkenne ich am Gong. Und vor der Tunny ist die Carp. Aber wo ist die Clam? Was ist mit der Shark? Und wir sind wohl noch immer nicht an den Drachenfelsen vorbei! Nicht, daß ich sie zu Gesicht bekommen wollte!« »Nennen einige Kapitäne sie nicht Rattenfelsen?« schaltete sich Fafhrd ein. »Nach einer Rattenkolonie, die dort von einem Schiffswrack aus begann?« »Aye«, sagte Slinoor und grinste den Mausling säuerlich an. »Kein guter Tag für eine Rattenvorstellung auf dem Achterdeck, wie? Na, wenigstens hat der Nebel etwas Gutes. Ich kann die weißen Biester nicht ausstehen. Obwohl es nur zwölf sind, muß ich doch immer wieder an die Dreizehn denken. Habt ihr schon mal die Sage von der Dreizehn Wesen gehört?« »Ja, ich«, sagte Fafhrd düster. »Eine weise Frau in der Eis-Öde hat mir mal erzählt, daß es für jede Tierart – Wölfe, Fledermäuse, Wale – dreizehn einzelne Tiere gibt, die ein fast menschenähnliches (oder überirdisches) Wissen auf sich vereinigen. Findet und beherrscht man diesen inneren Kreis von Tieren – so hat mir die weise Frau berichtet –, dann kann man sie durch sämtliche Tiere dieser Gattung beeinflussen!« Slinoor starrte Fafhrd aus zusammengekniffenen Augen an und sagte: »Sie war nicht die dümmste Frau, nein.« Der Mausling fragte sich, ob es auch für die Menschen einen solchen Kreis von Dreizehn gäbe. Das schwarze Kätzchen tauchte aus dem Nebel auf.
Mit eifrigem Miauen strich es Fafhrd um die Beine, zögerte und musterte ihn zweifelnd. »Zum Beispiel Katzen«, sagte Fafhrd grinsend. »Irgendwo in Nehwon, vielleicht überall verstreut, vermutlich aber zusammen, gibt es dreizehn superintelligente Katzen, die irgendwie das Geschick aller Artgenossen bestimmen.« »Und was ist mit dieser?« fragte Slinoor leise. Das schwarze Kätzchen starrte nach Backbord und schnupperte. Plötzlich erstarrte es, sträubte das Fell, und sein Schwanz begann zu zucken. »Hoongk!« Slinoor fuhr fluchend herum und wollte schon auf den Nordling losfahren, als er sah, daß dieser den Mund gar nicht geöffnet hatte.
3 Backbords ragte ein grüner Schlangenkopf aus dem Nebel, groß wie ein Pferdeschädel, mit blitzenden Dolchzähnen in einem roten Maul, das weit geöffnet war. Erschreckend schnell stieß die Erscheinung an einem endlosen gelben Hals, vor Fafhrd entlang, und der Unterkiefer schabte über das Deck, als das Tier die kleine Katze zu verschlingen suchte. Doch das Tier war blitzschnell verschwunden. Im Nu sprang es auf die Steuerbordreling und von dort mit wenigen Sätzen in den Achtermast. Die Rudergänger stürzten Hals über Kopf zum Bug. Slinoor und der Mausling kauerten sich vor der Steuerbord-Heckreling zusammen, während der große Ruderbaum, der über ihnen herumschwang, eine Art Schutz vor dem Monstrum bot, das jetzt den entsetzlichen Kopf hob und von einer Seite auf die andere schwenkte, wobei es jedesmal zentimeterdicht an Fafhrd vorbeikam. Offensichtlich hielt es nach dem schwarzen Kätzchen und ähnlichen Leckerbissen Ausschau. Fafhrd rührte sich nicht von der Stelle. Zuerst hielt ihn der Schock gefangen, dann der Gedanke, daß ihm bestimmt sofort der Kopf abgerissen würde, wenn er sich bewegte. Trotzdem hätte er den Sprung in die Deckung gewagt – allein der Gestank des Ungeheuers war unerträglich –, wenn nicht in diesem Augenblick ein zweiter grüner Drachenkopf, viermal so groß wie der erste und mit Zähnen wie Sensen, aus dem Nebel aufgetaucht wäre. Deutlich sichtbar saß ein Mann auf
diesem Kopf, ein Mann in einem purpurnen und orangenfarbenen Anzug, mit roten Stiefeln, einer Kappe und einem Helm, der ein blaues Fenster hatte. In manchen Situationen kommt der Augenblick, da das Groteske überhand nimmt, da das Entsetzliche nur noch lächerlich wirkt. Fafhrd hatte diesen Punkt erreicht. Er vermeinte einen Rauschgifttraum mitzuerleben. Obwohl alles real zu sein schien, hatte es doch seinen Schrecken verloren. Zum Beispiel registrierte er nun ganz nüchtern, daß die beiden gelblichen Hälse aus einem einzigen Leib abzweigten. Außerdem schien sich der bunt gekleidete Mann oder Dämon auf dem größeren Kopf seiner Sache sehr sicher zu sein. Im Augenblick beschäftigte er sich mit dem kleineren Kopf, den er mit einem stumpfen Stab anscheinend tadelte, wobei er auf Deutsch (das in Nehwon gänzlich unbekannt war) plapperte: »Gottverdammtes Ungeheuer!« Der kleinere Kopf schwenkte zur Seite und wimmerte dabei wie ein ganzer Stall voller Hundewelpen. Der Mann-Dämon brachte ein kleines Buch zum Vorschein, studierte es zweimal (anscheinend konnte er durch sein blaues Fenster hindurchsehen) und rief in gebrochenem Lankhmarisch: »Welche Welt ist dies, Freund?« So eine Frage war Fafhrd in seinem ganzen Leben noch nicht gestellt worden, auch nicht in feuchtfröhlicher Runde. Trotzdem ging er darauf ein: »Nehwon. Aus welcher Welt kommen Sie denn?« Diese Frage schien den Mann-Dämon in Verwirrung zu stürzen. Hastig konsultierte er sein Buch und erwiderte: »Kennen Sie denn andere Welten? Glau-
ben Sie nicht, daß die Sterne nur große Juwelen sind?« Fafhrd erwiderte: »Das sieht doch jeder Narr, daß die Lichter am Himmel Juwelen sind – aber wir sind keine Dummköpfe, wir wissen von anderen Welten. Wir Lankhmarier glauben, sie bestehen aus Blasen und einem unendlich tiefen Meer. Ich glaube, wir leben sogar in dem juwelenbesetzten Schädel eines toten Gottes. Aber zweifellos gibt es andere solcher Schädel, da das Universum aller Universen ein gewaltiges frostkaltes Schlachtfeld sein muß.« Der Ruderbaum, von den Bewegungen der Squid herumgeworfen, berührte den kleineren Drachenkopf, der sich herumbeugte und danach schnappte. Gleich darauf schüttelte das Wesen Holzsplitter aus dem Maul. »Sagt dem Zauberer, er soll das lassen!« brüllte Slinoor. Nach hastigem Blättern rief der Mann-Dämon herab: »Keine Sorge, das Ungeheuer scheint nur Ratten zu fressen. Ich habe es bei einer kleinen Felseninsel gefangen, wo es viele Ratten gibt. Es hat Ihre kleine schwarze Schiffskatze für eine Ratte gehalten.« Fafhrd rief leichthin: »O Zauberer – willst du das Monstrum in deine eigene Schädelwelt oder Weltblase mitnehmen?« Diese Frage schien den Mann-Dämon zu verblüffen und zu erregen. Offenbar hielt er Fafhrd nun für einen Gedankenleser. Unter nervösem Geblättere erklärte er, er käme aus einer Welt, die ›Morgen‹ hieße, und er besuche viele Welten, um Monstren für eine Art Museum oder Zoo einzufangen, ein Institut, das in seinem Kauderwelsch etwa Hagenbecks Zeitgarten
hieß. Auf dieser Expedition suchte er ein Monstrum als akzeptablen Abklatsch eines legendären sechsköpfigen Meeresungeheuers, das Männer vom Schiffsdeck entführte und das von einem uralten Märchenautor namens Homer Szylla genannt wurde. »In Lankhmar hat es keinen Dichter mit Namen Homer gegeben«, murmelte Slinoor. »Bestimmt war er ein unwichtiger Schreiberling aus Quarmall oder den Ländern des Ostens«, sagte der Mausling beruhigend. Seine Furcht vor den beiden Köpfen hatte etwas nachgelassen, und in dem Bewußtsein, daß Fafhrd die Mitte der Bühne für sich allein hatte, sprang der Mausling mutig auf die Heckreling und schrie: »O Zauberer, mit welchem Zauber oder magischen Spruch willst du die kleine Szylla in deine Zukunftswelt entführen? Ich selbst bin mit der Magie vertraut. Verschwinde, du Untier!« Die letzte Bemerkung schleuderte er mit verächtlicher Gebärde dem kleineren Kopf entgegen, der sich neugierig umwandte. Slinoor packte das Fußgelenk des Mauslings. Der Mann-Dämon reagierte auf die Frage des Mauslings mit einer seltsamen Bewegung; er schlug sich an die Seite seines roten Helms, als hätte er etwas Wichtiges vergessen. Hastig begann er zu erklären, daß er in einem Schiff (einer Zeit-Raum-Maschine, was immer das bedeuten mochte) zwischen den Welten reiste – in einem Gebilde, das dicht über dem Wasser schwebte, »ein schwarzes Schiff mit kleinen Lichtern und Masten«, und daß ihm das Schiff vor einigen Tagen fortgeschwebt war, als er gerade sein frisch gefangenes Meerungeheuer zähmte. Seither war er von dem Tier nicht mehr heruntergekommen.
Die Beschreibung weckte eine seltsame Erinnerung in Slinoor, der sich zu der Bemerkung durchrang, der Ausguck der Squid habe gestern abend ein ähnliches Gebilde im Nordosten gesichtet. Der Mann-Dämon bedankte sich überschwenglich und verkündete nach eingehender Befragung Slinoors, daß er seine Suche nun frischen Mutes fortsetzen werde. »Vermutlich ergibt sich nicht wieder Gelegenheit, Ihre Freundlichkeit zu vergelten«, sagte er. »Aber wenigstens sollen Sie meinen Namen erfahren: Karl Treuherz von Hagenbeck.« Hisvet, die vom Unterdeck gelauscht hatte, wählte diesen Augenblick, um die kurze Leiter zum Achterdeck zu erklimmen. Sie trug einen Hermelinumhang mit Kapuze. Als ihr Silberhaar und ihre bleichen Gesichtszüge über der Treppenkante des Achterdecks auftauchten, zuckte der kleinere Drachenkopf, der schon auf dem Rückzug gewesen war, wie eine zustoßende Schlange vor. Hisvet ließ sich einfach zurückfallen. Holz knirschte. Karl Treuherz zischelte und verschwand auf dem größeren Kopf im Nebel, während er den kleinen Kopf erbarmungslos tadelte. Undeutlich war zu sehen, wie sich das zweiköpfige Monstrum langsam um das Heck der Squid herum in Richtung Nordosten absetzte und im Nebel verschwand, während der Mann-Dämon leise herüberrief: »Tut mir sehr leid! Aber dankeschön, dankeschön!« Mit den letzten leisen »Hoongk!« ging die seltsame Erscheinung im Nebel unter.
Fafhrd und der Graue Mausling eilten Hisvet zu Hilfe, indem sie über das zersplitterte Treppengeländer sprangen. Das Mädchen richtete sich bereits langsam auf und rieb sich die Hüfte. »Kommt mir nicht zu nahe, ihr ›Kämpfer‹!« sagte sie böse. »Welch Schande, daß sich eine Demoiselle vor einem gierigen Drachenmaul retten muß! Ihr seid keine Kavaliere, denn sonst lägen die Drachenköpfe jetzt zerstückelt auf Deck. Pfui! Pfui!« Langsam klarte das Wetter im Westen auf, und der Wind belebte sich. Slinoor hastete nach vorn und brüllte nach seinem Bootsmaat, der die verängstigten Seeleute zusammentrommeln mußte. Vorsichtshalber stellte sich der Mausling am Ruderbaum auf, und Fafhrd kümmerte sich um das Hauptsegel. Im gleichen Augenblick eilte Slinoor an ihm vorbei nach hinten und brüllte auf. Die Nebelbank verzog sich langsam nach Osten. Im Westen herrschte klare Sicht. Zwei Bogenschußweiten nach Norden tauchten vier Schiffe in unordentlicher Reihe aus dem Nebel auf – die Kriegsgaleere Shark und die Kornschiffe Tunny, Carp und Grouper. Die Galeere ruderte auf die Squid zu. Doch Slinoor starrte nach Süden. Dort waren, kaum einen Speerwurf entfernt, zwei Schiffe zu sehen, von denen das eine halb in der Nebelwand schwamm. Das erste Schiff war die Clam, die kurz vor dem Absinken war; die Kanonenluken waren bereits überspült. Das Hauptsegel dümpelte am Heck im Wasser. Das leere Deck wölbte sich nach außen. Bei dem nebelverhüllten Schiff schien es sich um einen schwarzen Kutter mit schwarzem Segel zu handeln.
Zwischen den beiden Schiffen war eine Unzahl winziger dunkler Wellen in Bewegung – von der Clam in Richtung Kutter. Fafhrd trat neben Slinoor. Ohne den Blick zu wenden, sagte der Herr des Schiffes: »Ratten!« Fafhrd hob die Augenbrauen. Der Mausling eilte herbei und sagte: »Die Clam ist leck! Das Wasser läßt das Korn anschwellen, und dadurch wird das Deck nach außen gedrückt.« Slinoor nickte und deutete auf den Kutter. Durch den Nebel war undeutlich zu erkennen, daß winzige schwarze Gestalten – Ratten, kein Zweifel! – aus dem Wasser an Bord kletterten. »Und die haben die Lecks in die Clam gefressen«, sagte Slinoor. Dann deutete Slinoor zwischen die Schiffe, ganz in die Nähe des Kutters. Im letzten Teil der gewaltigen Rattenarmee zappelte ein weißer Kopf. Sekunden später sah man ein kleines weißes Tier mit den anderen an Bord des Kutters huschen. Slinoor sagte: »Und da ist der Befehlshaber der Holzknabberer.« Mit dumpfem Krachen brach das hochgewölbte Deck der Clam auseinander und gab den Weg frei für einen dicken braunen Strom. »Das Korn!« rief Slinoor hohl. »Jetzt wissen Sie, was die Schiffe auseinanderplatzen läßt«, sagte der Mausling. Die Umrisse des schwarzen Kutters verschwammen geisterhaft, begannen sich im Nebel aufzulösen. Die Shark manövrierte mit voller Kraft um den Bug der Squid herum; ihre Ruder bewegten sich wie die Beine eines Tausendfüßlers. Lukeen brüllte herüber: »Ein böser Trick! Die Clam wurde in der Nacht fortgelockt!«
Der schwarze Kutter war nun völlig im weißen Dunst untergetaucht. Langsam ging die zerborstene Clam unter, wobei das Meer ganz ruhig blieb. Schräg tauchte sie ins Wasser, versank in den schwarzen Salztiefen von ihrem Bleikiel hinabgezogen. Mit wirbelnden Rudern nahm die Shark die Verfolgung des Kutters auf. Der Mastkorb der Clam grub eine kleine Furche in die Wasseroberfläche und verschwand. Das Meer südlich der Squid war leer, nur ein immer größer werdender brauner Fleck aus schwimmendem Korn breitete sich aus. Slinoor wandte sich grimmig an seinen Bootsmaat. »Gehen Sie in die Kabine von Demoiselle Hisvet – verschaffen Sie sich notfalls mit Gewalt Zutritt«, befahl er. »Zählen Sie ihre weißen Ratten.« Fafhrd und der Mausling sahen sich an. Drei Stunden später fand in Demoiselle Hisvets Kabine eine große Versammlung statt; zugegen waren die Demoiselle, Frix, Lukeen, Slinoor, Fafhrd, der Mausling und der Bootsmaat. Die Kabine war für eine solche Versammlung natürlich nicht ausreichend, zumal die Silberkäfige und Hisvets kostbares Gepäck, das ringsum auf Slinoors Möbeln und Seekisten lag, sehr viel Platz beanspruchten. Drei Fenster zum Heck und Entlüftungsschlitze zu beiden Seiten ließen etwas Licht herein. Slinoor und Lukeen saßen hinter einem kleinen Tisch, die Heckfenster im Rücken. Fafhrd hockte auf einer Seekiste, der Mausling auf einem umgedrehten Korb. Zwischen ihnen waren die vier Rattenkäfige
aufgestellt, deren weiße Bewohner sich nicht minder für die Vorgänge zu interessieren schienen als die Menschen. Der Mausling beschäftigte sich mit dem Gedanken, wie es wäre, wenn einmal die Ratten die Menschen vor Gericht stellten und nicht umgekehrt. Der Bootsmaat stand an der Tür und schaute durch das Gitterfenster hinaus, damit von der übrigen Mannschaft niemand das Gespräch belauschte. Demoiselle Hisvet saß mit gekreuzten Beinen auf der herabgelassenen Koje. Den Mantel hatte sie dekorativ unter ihre Knie gestopft und wirkte auch in dieser Haltung noch höfisch und geistesabwesend. Von Zeit zu Zeit spielte ihre rechte Hand mit dem dunklen, welligen Haar von Frix, die zu ihren Füßen hockte. Holz ächzte, als sich die Squid nach Süden legte. Gelegentlich hörte man die Schritte der Rudergänger, die barfüßig über das Achterdeck glitten. Durch die kleinen Falltüren, die nach unten führten, und durch jeden Spalt zwischen den Planken drang der durchdringende Kornduft herauf. Lukeen hatte das Wort ergriffen. Er war ein hagerer, muskulöser Mann. Fast so groß wie Fafhrd. Sein kurzes Kettenhemd über der einfachen schwarzen Tunika bestand aus feinstem Material. Ein goldenes Band hielt sein dunkles Haar zurück und zeigte das bronzene lankhmarische Seesternsymbol an seiner Stirn. »Woher ich weiß, daß die Clam fortgelockt wurde? Zwei Stunden vor Morgengrauen glaubte ich zweimal aus weiter Entfernung den Gong der Shark zu hören, obwohl ich unmittelbar neben diesem Gong stand! Drei Leute aus meiner Mannschaft haben es
ebenfalls gehört. Unheimlich war das! Meine Herren, ich kenne die Gongschläge lankhmarischer Kriegsgaleeren und Handelsschiffe besser als die Stimmen meiner Kinder. Die Töne, die wir hörten, waren dem Gongschlag der Shark so ähnlich, daß es überhaupt keinen Unterschied gab – ich hielt sie zuerst für ein unheimliches Echo oder eine Sinnestäuschung, und war daher nicht der Meinung, daß wir etwas unternehmen mußten. Wenn ich nur geahnt hätte ...« Lukeen runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Jetzt weiß ich, daß der schwarze Kutter einen Gong an Bord hatte, der dem der Shark nachgearbeitet ist. Er wurde benutzt, wobei vermutlich noch jemand meine Stimme nachgeahmt hat. So wurde die Clam im Nebel aus dem Konvoi fortgelockt – so weit, daß die Rattenarmee, von dem weißen Tier kommandiert, angreifen konnte, ohne daß die Schreie der Mannschaft gehört wurden. Die Ratten müssen mindestens zwanzig Löcher in die Bordwand genagt haben, denn die Clam hat sehr schnell Wasser genommen. Oh, sie sind klüger und zielstrebiger als wir Menschen, diese kleinen, spitzzahnigen Ungeheuer!« »Seemannsgarn!« schnaubte Fafhrd. »Ratten, die Menschen zum Schreien bringen? Und sie töten? Ratten, die ein Schiff überfallen und versenken? Die Befehle entgegennehmen und befolgen? Also – das ist doch der reinste Aberglaube!« »Sie sind mir der Richtige, von Aberglauben und unmöglichen Dingen zu sprechen«, fuhr ihn Slinoor an, »nachdem Sie erst heute morgen mit einem maskierten Dämon gesprochen haben, der auf einem zweiköpfigen Drachen saß!« Lukeen blickte Slinoor fragend an. Er hatte von
dem Zwischenfall mit Hagenbeck noch nichts gehört. Fafhrd erwiderte: »Das betrifft Reisen zwischen den Welten und ist etwas völlig anderes. Das hat mit Aberglaube nichts zu tun.« Slinoor erwiderte skeptisch: »Dann war es also auch kein Aberglaube, als Sie mir von der weisen Frau und den Dreizehn Tieren erzählten?« Fafhrd lachte: »Also von dem Kram habe ich sowieso kein Wort geglaubt. Sie war eine närrische alte Hexe. Ich habe ihren Unsinn doch nur zur Unterhaltung erzählt.« Slinoor beäugte Fafhrd ungläubig und sagte zu Lukeen: »Fahren Sie fort.« »Es gibt nichts weiter zu berichten«, sagte dieser. »Ich sah die Rattenscharen, die von der Clam zum schwarzen Kutter schwammen. Und ich habe den weißen Kommandanten gesehen – wie Sie.« Mit diesen Worten starrte er Fafhrd an. »Danach suchte ich die Nebelbank zwei Stunden lang nach dem schwarzen Kutter ab, bis meine Ruderer Krämpfe bekamen. Wenn ich das Schiff gefunden hätte, hätte ich es nicht geentert, sondern sofort in Brand gesteckt. Aye, und ich hätte die Ratten auf dem Wasser mit brennendem Öl empfangen, wenn sie das Schiff wieder verlassen hätten! Aye, und gelacht hätte ich bei dem Anblick!« »Und nun möchte ich Ihre Ansicht hören, Schiffsherr Lukeen«, sagte Slinoor abschließend, »was sollten wir jetzt tun?« »Wir müssen diese Ungeheuer in ihren Käfigen ersäufen«, sagte Lukeen sofort, »ehe sie noch mehr Schiffe versenken oder unsere Seeleute vor Angst noch wahnsinnig werden.« Diese Antwort löste eine eisige Bemerkung Hisvets
aus: »Da werden Sie mich zuerst ersäufen müssen!« »Sie haben keinen Beweis gegen sie!« rief Fafhrd laut. »Meine kleine Dame – dieser Mann ist verrückt.« »Kein Beweis!« dröhnte Lukeen. »Gestern hatten wir zwölf weiße Ratten an Bord. Jetzt sind es nur noch elf!« Er deutete auf die Käfige und ihre blauäugigen Bewohner, die hochmütig den Kopf wandten. »Wir alle haben sie gezählt. Niemand anderer als diese teuflische Demoiselle hat den weißen Rattenkommandeur geschickt, die Clam zu vernichten! Welchen Beweis braucht ihr noch?« »Ja, das stimmt!« schaltete sich der Mausling mit vibrierender Stimme ein, die ihm sofort Gehör verschaffte. »Der Beweis genügt ... wenn da gestern wirklich zwölf Ratten in den Käfigen waren.« Beiläufig fügte er hinzu: »Soweit ich mich erinnere, waren es nur elf.« Slinoor starrte den Mausling an, als traute er seinen Ohren nicht. »Sie lügen!« sagte er. »Und schlimmer: Sie lügen völlig sinnlos. Sie und ich und Fafhrd – wir alle unterhielten uns noch gestern darüber, daß es zwölf Ratten wären!« Der Mausling schüttelte den Kopf. »Fafhrd und ich haben nichts von der genauen Zahl gesagt. Sie haben behauptet, es wäre ein Dutzend«, informierte er Slinoor. »Nicht zwölf, sondern ... ein Dutzend. Ich nahm natürlich an, Sie verstünden diese Bezeichnung als ungefähre Zahl.« Der Mausling schnippte mit den Fingern. »Jetzt erinnere ich mich auch – als Sie von dem Dutzend sprachen, wurde ich doch neugierig und zählte die Ratten. Und ich kam auf elf. Aber das erschien mir gestern zu unwichtig, um es zu erwähnen.«
»Nein, es waren gestern zwölf Ratten«, erwiderte Slinoor fest. »Sie irren sich, Grauer Mausling.« »Ich werde eher meinem Freund Slinoor glauben, als einem Dutzend von euch!« warf Lukeen ein. »Aber gewiß doch, gute Freunde sollten zusammenhalten«, sagte der Mausling und lächelte zustimmend. »Gestern habe ich Glipkerios Rattengeschenk gezählt und kam auf elf. Schiffsherr Slinoor – jeder kann sich irren! Analysieren wir den Sachverhalt. Zwölf Ratten, geteilt durch vier Silberkäfige, das ergibt drei Ratten pro Käfig. Wollen wir doch mal sehen ... ich hab's! Da war gestern ein Augenblick, in dem wir drei die Ratten bestimmt gezählt haben – als wir sie nämlich nach unten in diese Kabine trugen. Wie viele waren in dem Käfig, den Sie trugen, Slinoor?« »Drei«, kam sofort die Antwort. »Und drei in meinem«, sagte der Mausling. »Und je drei in den anderen beiden«, sagte Lukeen ungeduldig. »Wir verschwenden nur unsere Zeit!« »Moment!« sagte der Mausling und hob den Finger. »Wir alle müssen auch bemerkt haben, wie viele Ratten in einem von Fafhrds Käfigen gewesen sind. Stellen Sie sich die Szene vor. So hat er ihn angehoben.« Der Mausling legte Mittelfinger und Daumen zusammen. »Wie viele Ratten waren in diesem Käfig, Slinoor?« Slinoor runzelte die Stirn. »Zwei«, sagte er und fügte sofort hinzu: »Und vier im anderen.« »Sie haben aber eben behauptet, es wären in jedem drei gewesen«, erinnerte ihn der Mausling. »Ich nicht!« sagte Slinoor heftig. »Lukeen hat das gesagt!«
»Ja, aber Sie haben genickt, haben zugestimmt«, sagte der Mausling mit gehobenen Augenbrauen. »Ich habe ihm damit nur zugestimmt, daß wir Zeit verschwenden«, sagte Slinoor. »Und das stimmt doch auch.« Trotzdem hatte er jetzt leicht die Stirn gerunzelt, und seine Stimme hatte etwas von ihrer Schärfe verloren. »Ich verstehe«, sagte der Mausling zweifelnd. Langsam war er in die Rolle eines Rechtsgelehrten geschlüpft, der seinen Fall geschickt vor Gericht vortrug. Nun schoß er plötzlich die Frage ab: »Fafhrd, wie viele Ratten hast du denn getragen?« »Fünf«, antwortete der Nordling kühn. »Zwei in einem Käfig, drei in dem anderen.« »Eine hübsche Aussage!« höhnte Lukeen. »Der Barbar würde doch alles beschwören, nur um der Demoiselle ein Lächeln abzugewinnen. Die wickelt ihn doch um den kleinen Finger!« »Das ist eine Lüge!« brüllte Fafhrd und sprang so heftig auf, daß er mit dem Kopf gegen einen niedrigen Deckenbalken stieß und sich schmerzverkrümmt wieder setzte. »Ruhig, Fafhrd!« befahl der Mausling. »Dies ist ein zivilisiertes Gericht! Wollen mal sehen. Drei und drei und fünf ergeben ... elf. Demoiselle Hisvet!« Anklagend deutete er auf sie und fragte ernst: »Wie viele weiße Ratten haben Sie an Bord der Squid gebracht? Die Wahrheit, bitte, und nichts als die Wahrheit!« »Elf«, erwiderte sie eingeschüchtert. »Wie ich mich freue – endlich ist jemand so schlau, mich danach zu fragen!« »Und das ist nicht wahr!« sagte Slinoor abrupt. »Warum habe ich nicht gleich daran gedacht; es hätte
uns viel Zeit gespart! Ich habe in meiner Kabine Glipkerios Auftragsschreiben. Darin spricht er wörtlich davon, mir Demoiselle Hisvet, Tochter Hisvins, anzuvertrauen – und dazu zwölf kluge weiße Ratten. Wartet – ich bringe euch den Beweis!« »Das brauchen Sie nicht, Schiffsherr«, unterbrach ihn Hisvet. »Ich habe gesehen, wie der Brief geschrieben wurde, und kann bestätigen, daß Sie seinen Inhalt richtig wiedergeben. Aber leider ist zwischen der Absendung des Schreibens und dem Beginn unserer Reise der arme Tchy umgekommen; er wurde von einem Jagdhund Glipkerios aufgefressen.« Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Der arme Tchy – er war der klügste von den zwölf. Deshalb bin ich auch die ersten beiden Tage in meiner Kabine geblieben.« Jedesmal wenn sie den Namen Tchy aussprach, stießen die elf eingesperrten Ratten ein trauriges Fliepen aus. »Sie lügt schamlos!« sagte Lukeen ärgerlich. »Eine Daumenschraube oder ein Armverdreher würde die Wahrheit schon hervorlocken!« Hisvet wandte sich um und blickte ihn stolz an. »Ich nehme Ihre Herausforderung an, Herr«, sagte sie leise und legte ihre rechte Hand auf den dunklen Kopf ihres Mädchens. »Frix, streck deine Hand aus – oder was immer diese mutigen Herren foltern wollen.« Das Mädchen richtete sich auf. Mit gleichgültigem Gesicht und zusammengepreßten Lippen sah sie sich um. Hisvet fuhr fort: »Wenn Sie mit den lankhmarischen Gesetzen vertraut sind, werden Sie wissen, daß eine Jungfrau im Range einer Demoiselle nur durch ihr Mädchen gefoltert werden kann, das die Unschuld ihrer Herrin durch das Ertragen großer Schmerzen beweist.«
»Was habe ich gesagt«, fragte Lukeen in die Runde. »Mit welcher Hinterlist sie ihre Schlingen auslegt!« Er starrte Hisvet an und sagte verächtlich: »Jungfrau!« Hisvet lächelte ergeben. Fafhrd lief rot an und wäre fast wieder aufgesprungen. Langsam blickte er auf. »Ja, Sie sind hübsch mutig, Lukeen. Wohlgerüstet sind Sie schnell zur Hand mit Ihren Drohungen gegenüber Mädchen, aber wenn Sie unbewaffnet wären und allein ihre Manneskraft beweisen müßten – da würden Sie wie ein Wurm eingehen!« Lukeen schoß aufgebracht hoch und holte sich einen derartigen Schlag von einem Deckenbalken, daß er aufschrie und zu schwanken begann. Trotzdem griff er nach seinem Schwert. Slinoor umfaßte sein Handgelenk und zog ihn zurück. »Beherrschen Sie sich, Herr«, sagte er ernst. »Fafhrd, keine Streitworte mehr. Grauer Mausling, dies ist nicht Ihre Verhandlung, sondern die meine, und es ist nicht unsere Aufgabe, das Gesetz zu interpretieren, sondern die gegenwärtige Lage zu meistern. Unser Leben steht auf dem Spiel – und viel mehr. Auch Lankhmar ist in Gefahr, wenn Movarl sein Geschenk im dritten Anlauf nicht bekommt. Gestern abend wurde die Clam heimtückisch in die Falle gelockt und versenkt. Heute nacht mag es die Grouper oder die Squid sein, vielleicht sogar die Shark oder überhaupt alle Schiffe. Auch die ersten beiden Flotten sind wohlbewaffnet losgesegelt, doch sie haben ihr Ziel nicht erreicht.« Er hielt inne, um seine Worte wirken zu lassen. Dann: »Mausling, Sie haben Zweifel in mir geweckt mit Ihrem Elfer-Zwölfer-Spiel. Aber kleine Zweifel sind unwichtig, wenn die Menschen und Städte zu
Hause auf dem Spiel stehen. Zur Sicherheit der ganzen Flotte, zur Sicherheit Lankhmars werden wir die weißen Ratten sofort ersäufen und Demoiselle Hisvet gut bewachen, bis wir in Kvarch Nar eintreffen.« »Gut!« kam der Mausling Hisvet zuvor. Doch als wäre ihm ein guter Einfall gekommen, fügte er sofort hinzu: »Oder ... besser wär's noch, wenn Fafhrd und ich nicht nur Hisvet, sondern auch die elf weißen Ratten ständig bewachen. So machen wir Glipkerios Geschenk nicht zunichte, und Movarl kann nicht beleidigt sein.« »Darauf möchte ich mich nicht verlassen. Die Tiere sind zu schlau«, erwiderte Slinoor. »Die Demoiselle wird auf die Shark gebracht, wo man sie besser bewachen kann. Movarl interessiert sich für das Korn, nicht für die Ratten. Er weiß ja gar nichts über sie, kann sich also gar nicht darüber aufregen, wenn er sie nicht bekommt.« »Aber natürlich weiß er davon«, ließ sich Hisvet vernehmen. »Glipkerio und Movarl schreiben sich wöchentlich einen Brief, der per Albatros befördert wird. Ja, Nehwon wird von Jahr zu Jahr kleiner. Slinoor – Schiffe sind Schnecken im Vergleich zu den großen Postvögeln. Glipkerio schrieb Movarl von den Ratten, der sich schon sehr darauf freute – und auch auf mich«, fügte sie hinzu und senkte bescheiden den Kopf. »Auch kann ich leider nicht genehmigen, daß Hisvet auf ein anderes Schiff kommt – es tut mir leid, Slinoor«, fuhr der Mausling hastig fort. »Glipkerio hat mir und Fafhrd einen klaren Auftrag gegeben – den ich jederzeit vorweisen kann –, und in diesem Auftrag steht eindeutig, daß wir uns zu allen Zeiten um die Demoiselle kümmern müssen, wenn sie sich au-
ßerhalb ihres Quartiers aufhält. Er macht uns verantwortlich für ihre Sicherheit – und auch für die Sicherheit der Weißen Schatten, die nach seinen eigenen Worten unserem Oberherrn mehr am Herzen liegen als ihr Gewicht in Edelsteinen.« »Sie können sich auf der Shark um sie kümmern«, sagte Slinoor knapp. »Ich will den Barbaren nicht an Bord haben!« sagte Lukeen gepreßt, der seine Kopfschmerzen noch nicht überwunden hatte. »Ich würde auch nicht auf so ein Ruderboot gehen«, gab Fafhrd hitzig zurück. »Auch«, fuhr der Mausling mit herrischer Geste fort, »ist es meine Pflicht als Freund, Sie zu warnen, Slinoor. Mit Ihren Drohungen gegenüber den Weißen Schatten und auch gegenüber der Demoiselle ziehen Sie sich nicht nur das Mißfallen des Oberherren, sondern auch des mächtigsten Kornhändlers in Lankhmar zu.« Slinoor erwiderte einfach kurz angebunden: »Ich denke im Augenblick nur an die Stadt und an die Kornflotte. Das wissen Sie.« Doch Lukeen sagte verächtlich: »Ha! Der Graue Narr hat nicht begriffen, daß der liebe Vater Hisvin hinter diesen Rattenattacken steckt, weil seine Kornverkäufe an Glipkerio dann um so größer ausfallen!« »Still, Lukeen!« befahl Slinoor ängstlich. »Solche unhaltbaren Vermutungen sind hier fehl am Platze.« »Vermutungen?« explodierte Lukeen. »Das war Ihr Verdacht, Slinoor, ja, und daß Hisvin auch Glipkerios Sturz plant. Aye, und daß er sich sogar mit den Mingols zusammengetan hat! Bleiben wir doch bei der Wahrheit!«
»Dann behalten Sie sie besser für sich, Schiffsherr!« zischte Slinoor. »Ich fürchte fast, der Schlag hat Sie benebelt. Grauer Mausling, Sie sind ein vernünftiger Mann«, sagte er flehend. »Ich hoffe doch, daß Sie meine übermächtige Sorge verstehen. Wir sind allein auf hoher See – wir müssen etwas tun. Hat denn niemand hier ein Körnchen Verstand?« »Ich will mich bemühen, Schiffsherr, da Sie so darum bitten«, sagte Hisvet lebhaft und richtete sich in ihrer Koje auf. »Ich bin nur ein Mädchen, das sich mit Kriegsproblemen nicht auskennt; aber mir ist da eben ein Gedanke zugeflogen, der alles erklären würde und den in dieser Runde noch niemand offenbart hat. Gestern nacht wurde ein Schiff versenkt. Sie lasten dieses Verbrechen den Ratten an, die ohnehin ein sinkendes Schiff verlassen hätten und die in jeder Horde ein paar weiße Exemplare haben. Nur eine sehr überdrehte Phantasie vermag sich einzubilden, diese Tiere würden eine ganze Schiffsmannschaft umbringen und die Leichen verschwinden lassen. Um die Widersprüche in Ihrer verrückten Theorie zu übertünchen, machen Sie mich überdies zu einer schlimmen Rattenkönigin, die unheimliche magische Kräfte besitzt, und zuletzt schneidet mein armer Vater noch als allmächtiger Rattenherrscher ab! Dabei haben Sie alle heute morgen noch mit einem besser ausgestatteten Schiffsmörder gesprochen und haben ihn röhrend entkommen lassen. Ja, der MenschDämon hat selbst gesagt, er habe ein mehrköpfiges Ungeheuer gesucht, das sich Menschen von Schiffen schnappte und verschlinge. Also muß er gelogen haben, als er sagte, seine Wesen fräßen nur kleines Getier, zumal das Ungeheuer auf mich losfuhr, um mich
zu verschlingen, und es hätte vorher auch jeden von Ihnen auffressen können, wenn es nicht gesättigt gewesen wäre! Was wäre also natürlicher, als daß dieser zweiköpfige Drache die Männer der Clam von Deck vertilgte und Löcher in den Schiffsrumpf krallte? Oder vielleicht geriet das Schiff in diesem Augenblick auch auf die Drachenfelsen und holte sich ein großes Leck. Ja, das sind naheliegende Vermutungen, meine Herren – sogar für ein Mädchen.« Ihre verblüffende Rede rief unterschiedliche Reaktionen hervor. Der Mausling applaudierte ihr: »Eine kluge Rede, Demoiselle!« Fafhrd sagte feierlich: »Höchst klug, kleine Dame, doch Karl Treuherz schien mir ein ehrlicher Dämon zu sein.« Frix sagte stolz in die Runde: »Meine Herrin übertrifft Sie alle.« Der Bootsmann an der Tür starrte Hisvet an und machte das Zeichen des Seesterns. Lukeen schnaubte: »Sie vergißt den schwarzen Kutter, wie's ihr paßt!«, während Slinoor alle übertönte: »Und sie ist doch eine Rattenkönigin!« Als die anderen schwiegen, fuhr Slinoor hastig fort: »Die Demoiselle hat mich durch ihre Rede auf das beste Argument gegen sie gebracht. Karl Treuherz sagte, sein Drache, der bei den Rattenfelsen lebt, äße nur Ratten. Das Monstrum machte keine Anstalten, uns Menschen anzugreifen, obwohl es dazu jede Gelegenheit hatte. Als jedoch Hisvet erschien, zuckte der Kopf sofort vor. Der Drache spürte ihre wirkliche Rasse.« Slinoor fuhr flüsternd fort: »Dreizehn Ratten mit menschlichen Geisteskräften beherrschen die ganze Rattenrasse. Das ist eine uralte Überlieferung in
Lankhmar. Elf weißpelzige Nager haben wir hier, die jedes Wort mitbekommen. Die zwölfte feiert jetzt an Bord des Schwarzen Kutters den Sieg über die Clam. Und die dreizehnte«, – er hob anklagend die Hand –, »ist die weißhaarige und rotäugige Demoiselle persönlich.« Lukeen richtete sich vorsichtig auf und rief: »Oh, wie klug gesagt, Slinoor! Ja, warum trägt sie einen so weiten Umhang, wenn sie nicht den Beweis für die schreckliche Verwandtschaft verbergen müßte! Ziehen wir ihr den Mantel aus, dann zeige ich Ihnen einen weißpelzigen Körper und zehn kleine schwarze Warzen anstelle junger Mädchenbrüste!« Als er sich langsam um den Tisch bewegte, sprang Fafhrd auf, umfaßte Lukeen von der Seite, so daß dieser die Arme nicht mehr bewegen konnte. »Wenn Sie sie anfassen, sind Sie ein toter Mann!« rief er. Frix schrie: »Der Drache hatte gerade die Mannschaft der Clam verschlungen und war gesättigt – wie meine Herrin schon sagte. Er wollte keine zähen Männer mehr – sondern stürzte sich eifrig auf meine zarte Herrin!« Lukeen zwängte sich herum, bis er Fafhrd ansehen konnte. »Unziemlicher Barbar!« knurrte er. »Ich setze mich über Rang und Stand hinweg und fordere Sie auf der Stelle zum Stabkampf auf dem Hauptdeck! Ich werde durch den Kampf Hisvets Schuld beweisen. Wenn Sie überhaupt einen zivilisierten Kampf auf sich zu nehmen wagen, Sie stinkender Affe!« Und er spuckte Fafhrd ins Gesicht. Dieser grinste nur, ohne Lukeen loszulassen, und nickte. Als nun die Herausforderung ausgesprochen und angenommen war, blieb dem kopfschüttelnden
Slinoor nichts anderes übrig, als mit den Vorbereitungen für das Duell zu beginnen, damit es noch vor Sonnenuntergang ausgefochten wurde und noch Tageslicht für die anderen Maßnahmen blieb, die zum Schutz der Flotte zu beschließen waren. Als Slinoor, der Mausling und der Maat zur Tür gingen, ließ Fafhrd Lukeen los, der mit verächtlichem Achselzucken an Deck ging, um einen Trupp seiner Seesoldaten von der Shark herüberkommen zu lassen, die ihm sekundieren und auf einen fairen Kampf achten sollten. Slinoor besprach sich mit seinem Bootsmaat und den anderen Offizieren. Der Mausling flüsterte kurz mit Fafhrd, huschte nach vorn und sprach bald lebhaft mit dem Bootsmaat der Squid und den anderen Mannschaftsmitgliedern bis hinab zum Koch und zum Kabinenjungen. Von Zeit zu Zeit mochte mit schneller Bewegung etwas aus seiner Hand in die Hand des Seemanns wechseln, mit dem er gerade verhandelte, aber das war nicht allzu deutlich zu erkennen.
4 Trotz Slinoors inständiger Bitte stand die Sonne bereits tief am westlichen Himmel, als der Gongschläger der Squid mit schnellem Wirbel den Kampf ankündigte. Der Himmel war im Westen völlig klar, während sich im Osten die unheimliche Nebelbank noch nicht aufgelöst hatte; etwa eine lankhmarische Seemeile entfernt (zwanzig Bogenschußweiten) ragte sie auf und wirkte in den schrägen Sonnenstrahlen wie eine Gletscherwand. Schwarzgekleidete Seesoldaten mit braunen Helmen bildeten zu beiden Seiten des Hauptmastes eine Mauer quer über das Deck. Sie hielten ihre Speere schräg nach unten und formten damit einen zusätzlichen niedrigen Zaun. Schwarzgekleidete Seeleute starrten zwischen ihren Schultern und Stiefeln hindurch oder saßen mit baumelnden Beinen steuerbords auf dem Vorderdeck; wo ihnen das Hauptsegel nicht die Sicht verdeckte. Einige hatten es sich auch in den Wanten bequem gemacht. Das beschädigte Geländer des Achterdecks war entfernt worden, und hier saßen die drei Kampfrichter: Slinoor, der Mausling und Lukeens Sergeant. In ihrer Nähe hielten sich die Offiziere der Squid und einiger anderer Schiffe auf, deren Gegenwart sich der Mausling ausbedungen hatte, obwohl dazu ein zeitraubendes Hin- und Herfahren zwischen den Schiffen erforderlich gewesen war. Hisvet und Frix hielten sich in der Kabine auf; die Tür war geschlossen. Die Demoiselle hatte den Kampf durch die offene Tür beobachten wollen, doch
Lukeen hatte eingewendet, daß sie es dann leichter hätte, ihn zu verhexen, und die Kampfrichter hatten zu seinen Gunsten gesprochen. Das Türgitter war jedoch geöffnet, und von Zeit zu Zeit schimmerten die Sonnenstrahlen in einem Auge oder auf einem silbrigen Fingernagel. Zwischen der schwarzen Speerwand und dem Achterdeck erstreckte sich ein großes Viereck aus weißer Decksfläche, das bis auf die Takelage und ähnliche Dinge leer und bis auf das zugedeckte Hauptluk völlig eben war. In jeder Ecke der abgeteilten Kampffläche war ein Viertelkreis eingezeichnet. Wenn nach Beginn des Kampfes einer der beiden Duellanten in einen solchen Kreis trat oder auf die Reling sprang oder in die Wanten griff oder sich über die Seite fallen ließ, hatte er den Kampf verloren. Im vorderen Steuerbordkreis stand Lukeen in einem schwarzen Hemd und Hose. Neben ihm wartete sein Sekundant, sein falkengesichtiger Leutnant. Mit der rechten Hand umklammerte Lukeen seinen schweren Eichenstab, der so lang war wie er und so dick wie Hisvets Handgelenk. Er hob die Waffe über den Kopf und wirbelte sie so schnell herum, daß es summte. Er grinste wild. Im hinteren Steuerbordkreis, dicht neben der Kabinentür, warteten Fafhrd und sein Sekundant, der Bootsmaat der Carp, ein sehr dicker Mann. Der Mausling konnte nicht zugleich Kampfrichter und Sekundant sein, und er und Fafhrd hatten mehr als einmal mit diesem Mann gespielt – und sogar Geld an ihn verloren, was sich jetzt vielleicht noch vorteilhaft auswirkte. Fafhrd nahm nun seinen eigenen Stab entgegen
und umfaßte ihn mit beiden Händen an einem Ende, wirbelte ihn zweimal langsam durch die Luft. Lukeens Soldaten kicherten, als sie den Nordling mit dem Stab hantieren sahen, als wäre er ein Breitschwert, aber als Fafhrd nun seine behaarte Brust entblößte, stimmte die Mannschaft der Squid ein fröhliches Geschrei an. »Seltsam«, sagte Slinoor leise. »Ich hätte geglaubt, Lukeen wäre bei den Seeleuten beliebt.« Lukeens Sergeant sah sich ungläubig um, als er das hörte. Der Mausling zuckte nur die Achseln. »Wenn Sie wüßten, daß Ihr Kamerad für die Ratten kämpft, würden Sie nicht so für ihn brüllen.« Der Mausling lächelte. Wieder ertönte der Gong. Slinoor stand auf und sagte: »Ein Stabkampf ohne Pause, Kommandant Lukeen möchte durch diesen Kampf gewisse Behauptungen über eine Demoiselle von Lankhmar beweisen. Der erste, der zu Boden geht oder sich nicht mehr wehren kann, hat verloren. Fertig!« Slinoor setzte sich und sagte zum Mausling: »Unangenehm, dieses Duell! Es verzögert unser Vorgehen gegen Hisvet und die Ratten. Dumm von Lukeen, gleich so in die Luft zu gehen. Na ja, wenn er ihn erledigt hat, ist vielleicht noch Zeit.« Der Mausling hob eine Augenbraue. Slinoor sagte leichthin: »Oh, wußten Sie das nicht? Lukeen gewinnt bestimmt. Er ist ein Meister mit dem Stab.« Der Gong ertönte zum drittenmal. Lukeen sprang von seinem Kreis auf die erhöhte Luke und schrie: »Ho! Haariger Affe! Bist du bereit, meinen Stab zu küssen – und dann das Deck?«
Fafhrd stolperte los, seinen Stab noch ungeschickter haltend, und erwiderte: »Deine Spucke hat mir das Auge vergiftet, Lukeen, aber ich sehe noch genug!« Lukeen legte wild los, machte eine Finte auf Ellenbogen und Kopf, schlug schnell mit der anderen Seite seines Stabes gegen Fafhrds Knie, um seinen Gegner zu Fall zu bringen. Fafhrd, der abrupt seinen Griff um den Stab änderte, parierte geschickt den Schlag und landete einen blitzschnellen Gegenangriff. Lukeen brachte seinen Stab noch eben rechtzeitig hoch, um Fafhrds Holz von seiner Wange abzulenken, doch er kam aus dem Tritt, als ihn Fafhrd nun mit einem Hagel kaum sichtbarer Schläge eindeckte, und ihn unter dem Jubel der Mannschaften über das Deck zurücktrieb. Slinoor und der Sergeant sahen dem Kampf aus aufgerissenen Augen zu, während der Mausling vor sich hinmurmelte: »Nicht so schnell, Fafhrd.« Als Fafhrd eben dem Duell ein Ende machen wollte, stolperte er über die erhöhte Kante der Luke, kam aus dem Gleichgewicht und erhielt einen Schlag über den Kopf. Die Seeleute stöhnten auf. Die Soldaten jubelten kurz. Der unerwartete Schlag war nicht schwer, doch er betäubte Fafhrd, der sich nun seinerseits nur mühsam eines Hagels von Schlägen erwehren konnte. Als er schließlich wieder zu sich kam, wich er vor einem gewaltigen Hieb zurück. Aus den Augenwinkeln sah er, daß ihn der nächste Schritt in seinen Viertelkreis bringen mußte.
Blitzschnell stieß er mit seinem Stab hinter sich, dessen Ende das Deck berührte und von der Kabinenwand gestoppt wurde. Fafhrd hievte sich an der Stange wieder nach vorn, von der Kreislinie fort, duckte sich zur Seite, um Lukeens Schlägen auszuweichen, während sein Stab ihn nicht schützen konnte. Die Matrosen schrien erregt. Die Kampfrichter und die Offiziere auf dem Achterdeck knieten sich wie Würfelspieler hin und starrten hinab. Fafhrd erhielt einen Schlag auf den linken Arm, der sofort leblos herabsank. Nun mußte er seinen Stab tatsächlich wie ein Breitschwert handhaben und ihn einhändig in pfeifenden Hieben führen. Lukeen hielt sich zurück. Er sparte Kraft, da er wußte, daß Fafhrds Hand schnell ermüden würde. Einige schnelle Schläge wollte er landen und sich dann wieder zurückziehen. Fafhrd vermochte die Angriffe kaum abzuwehren, doch Fafhrd gab nicht auf; als Lukeen zum drittenmal zurückwich, griff er an, nicht mit ausschwingendem Hieb, sondern mit einer Art Stich. Er legte seine ganze Kraft in die Stabbewegung. Der plötzliche Schwung überraschte Lukeen, und die Stabspitze traf ihn am Nervenzentrum auf der Brust. Lukeen riß den Mund auf und schloß ihn nicht wieder. Er begann zu schwanken. Mit schneller Bewegung schlug ihm Fafhrd den Stab aus den Fingern und versetzte Lukeen einen letzten Stoß, der den Mann zu Boden schickte. Die Männer brüllten sich heiser. Die Seesoldaten knurrten, und einer schrie: »Unfair!« Lukeens Sekundant kniete bei seinem Mann und starrte Fafhrd an.
Der Maat der Carp tänzelte bedächtig herbei und nahm Fafhrd den Stab ab. Auf dem Achterdeck der Squid herrschte gedämpfte Stimmung, obwohl die Männer von den anderen Kornschiffen seltsam wohlgestimmt zu sein schienen. Der Mausling packte Slinoor am Ellenbogen und sagte: »Sie müssen Fafhrd zum Sieger ausrufen.« In diesem Augenblick öffnete sich die Kabinentür, und Hisvet trat heraus. Sie trug eine lange rote Seidenrobe. Der Mausling, der einen neuen Höhepunkt herannahen spürte, sprang an den Gong und trommelte wild darauf herum. Es wurde still auf der Squid. Die Männer sahen sich fragend an. Sie hob eine Silberflöte an die Lippen und begann langsam auf Fafhrd zuzutanzen, während sie eine Melodie aus sieben Tönen blies. Irgendwo klang eine leise Glockenbegleitung auf. Dann drehte sich Hisvet um und sah Fafhrd an, während sie ihn umrundete, und große Verblüffung breitete sich aus, und die Seeleute drängten sich herbei als die Prozession sichtbar wurde, die Hisvet anführte. Sie bestand aus elf weißen Ratten, die hintereinander auf den Hinterbeinen ausschritten, in kleine rote Umhänge und Mützchen gekleidet. Die ersten vier hielten mit den Vorderpfoten kleine Glocken, die sie rhythmisch schüttelten. Die nächsten fünf trugen auf den Schultern eine zusammengelegte Silberkette – sie sahen wie Seeleute aus, die sich mit einer Ankerkette abmühten. Die letzten beiden trugen stolz ihre langen Silberstäbe vor sich her. Die ersten vier Ratten blieben Seite an Seite vor Fafhrd stehen und schwangen ihre Glocken im
Rhythmus der Melodie. Die nachfolgenden fünf marschierten geradewegs zu Fafhrds rechtem Fuß. Hier verhielt der Anführer, starrte mit erhobenen Pfötchen zu Fafhrds Gesicht auf und quietschte dreimal. Dann nahm er die Kette mit einer Pfote und benutzte die anderen drei, um an Fafhrds Stiefel emporzuklettern, gefolgt von seinen vier Begleitern. Fafhrd starrte auf die näher kommende Kette und die rotgekleideten Ratten und runzelte leicht die Stirn. Die erste Ratte erreichte Fafhrds linke Schulter, balancierte hinter seinem Kopf herum auf die rechte Schulter; die vier anderen Ratten folgten ihrem Beispiel, ohne die Kette loszulassen. Als dann alle fünf Ratten auf Fafhrds Schultern standen, hoben die Tiere einen Strang der Silberkette an und zogen ihn langsam nach vorn über seinen Kopf. Fafhrd nahm den Blick nicht von Hisvet, die ihn einmal umkreist hatte und nun pfeifend hinter den Glöckchenschwingern stand. Die fünf Ratten ließen die Kette los, so daß sie an seinem Gesicht vorbeirutschte und nun schimmernd vor seiner Brust hing. Gleichzeitig lüpfte jede Ratte ihr Mützchen. Jemand schrie: »Sieger!« Die fünf Ratten senkten die Mützen und schwenkten sie wieder hoch, und die anderen Seeleute fielen in den Schrei ein. Hisvet beendete ihr Lied mit einem fröhlichen Triller, und die beiden Ratten mit den Silberstäben hasteten auf das Achterdeck, nahmen am Fuß des Achtermastes Aufstellung, wo alle sie sehen konnten, und begannen ein sehr echt wirkendes Stabgefecht.
Ihre Waffen blitzten im Sonnenlicht und klangen leise auf, wenn sie gegeneinanderprallten. Die Männer begannen, laute Rufe auszustoßen und zu lachen. Die fünf Ratten hasteten an Fafhrd herab und gesellten sich zu den Glöckchenschwingern, die sich um Hisvets Rocksaum scharten. Der Mausling und einige andere Offiziere sprangen vom Achterdeck herab, um Fafhrd die Hand zu schütteln oder ihm auf den Rücken zu klopfen. Fafhrd betastete seine Kette und sagte zum Mausling: »Seltsam, daß die Leute gleich auf meiner Seite waren.« Lächelnd flüsterte ihm der Mausling zu: »Ich habe ihnen Geld gegeben, damit sie auf dich setzen konnten. Außerdem habe ich das Gerücht in Umlauf gebracht, die weißen Burschen wären in Wirklichkeit Antiratten, speziell von Glipkerio ausgebildet, um ihre Artgenossen zu töten und die Kornflotte zu schützen. Seeleute schlucken so etwas.« »Hast du als erster ›Sieger‹ geschrien?« Der Mausling grinste: »Ich – als Kampfrichter? In einem zivilisierten Kampf? Oh, ich hätt's getan, aber das war zum Glück nicht nötig.« In diesem Augenblick spürte Fafhrd ein Zupfen an seiner Hose und sah, daß sich das kleine Kätzchen durch den Wald von Beinen genähert hatte und jetzt entschlossen an ihm emporstieg. Fafhrd freute sich über dieses Zeichen tierischer Zuneigung und knurrte leise, als die Katze seinen Gürtel erreichte. Nun sprang das Kätzchen plötzlich an seine Brust empor, starrte ihn an und kratzte Fafhrd kräftig über das Kinn. Im nächsten Augenblick sprang es über ein paar Köpfe zum Hauptsegel, das es mit sicheren Bewegungen erklomm.
»Ich will mit Katzen nichts mehr zu tun haben!« rief Fafhrd aufgebracht und wischte sich das Blut vom Kinn. »Wohlgesprochen, Schwertkämpfer!« rief Hisvet fröhlich. »Ich würde mich freuen, wenn Sie und der Dolchschwinger heute abend zum Abendessen in meine Kabine kämen – eine Stunde nach Sonnenuntergang. Damit halten wir uns genau an Slinoors Anweisung, daß ich sorgfältig bewacht werden muß – ich und die Weißen Schatten.« Sie entlockte ihrer Flöte einen schrillen Ruf und entschwebte, gefolgt von den neun Ratten, in ihre Kabine. Slinoor sah sich nachdenklich um. In der letzten halben Stunde hatten sich die Ratten in den Augen der Mannschaft von langzahnigen Monstren in beliebte und harmlose kleine Tierchen verwandelt, die man als eine Art Maskottchen anzusehen schien. Vergeblich versuchte Slinoor darauf zu kommen, wie so etwas möglich war. Lukeen, der noch immer sehr bleich aussah, folgte seinen mürrischen Leuten (deren Beutel um manchen Silber-Smerduk erleichtert waren) in das Boot der Shark und lehnte ein Gespräch mit Slinoor schroff ab. Slinoor verschaffte sich Erleichterung durch einen barschen Befehl an seine Leute, die fürchterliche Unordnung zu beenden. Sie gehorchten ihm breitwillig und huschten grinsend auf ihre Posten. Die Squid segelte eine halbe Bogenschußweite hinter der Tunny nach Norden, wie auch schon während des Duells; doch jetzt begann sie schneller durch das blaue Wasser zu schneiden, als der Westwind auffrischte und das Achtersegel ausgebracht wurde. Die ganze Flotte segelte schneller, so daß das Dingi der Shark Mühe
hatte, das Mutterschiff einzuholen. »Der hat heute nacht keine große Lust, der Squid zu Hilfe zu kommen«, sagte Fafhrd zum Mausling, der an der Steuerbordreling des Hauptdecks stand. Es hatte keinen offenen Bruch zwischen ihnen und Slinoor gegeben, doch stillschweigend überließen sie ihm das Achterdeck, wo er sich jetzt mit seinen drei Offizieren beriet, die fast sämtlich Geld auf Lukeen verloren hatten und seither ihrem Herrn nicht mehr von der Seite gewichen waren. »Rechnest du immer noch mit der Gefahr, Fafhrd?« fragte der Mausling und lachte leise. »Wir sind an den Rattenfelsen längst vorbei.« Fafhrd zuckte die Achseln und sagte stirnrunzelnd: »Vielleicht sind wir mit unserer Fürsprache für die Ratten doch etwas zu weit gegangen.« »Vielleicht«, sagte der Mausling. »Aber du wirst zugeben, daß ihre charmante Herrin ein kleines Risiko wert ist – und vielleicht sogar mehr als das, was, Fafhrd?« »Sie ist ein süßes Ding«, sagte Fafhrd langsam. »Aye, und ihr Mädchen auch«, bemerkte der Mausling lebhaft. »Ich habe gesehen, daß Frix dich nach deinem Sieg bewundernd ansah. Ein gut gebautes Mädchen. Es gibt bestimmt Männer, die sie der Herrin vorzögen, Fafhrd?« Ohne den Mausling anzusehen, schüttelte der Nordling den Kopf. Der Mausling musterte seinen Freund von der Seite und überlegte, ob er seinen Vorschlag aussprechen sollte. Er wußte nicht sicher, was Fafhrd wirklich für Hisvet empfand. Ihm war bekannt, daß der Nordling durchaus etwas mit dem anderen Geschlecht anzu-
fangen wußte, und erst gestern hatte er sich über die verpaßten Gelegenheiten in Lankhmar aufgeregt. Andererseits hatte sein Freund zuweilen einen seltsam romantischen Hang. Auf dem Achterdeck war Slinoor in ein ernstes Gespräch mit dem Koch vertieft. Der Mausling vermutete, daß es um Hisvets Abendessen ging, zu dem er und Fafhrd geladen waren. Der Gedanke, daß sich Slinoor derart um das Wohlergehen der drei Menschen kümmern mußte, die ihm heute eine tüchtige Schlappe beigebracht hatten, freute den Mausling und veranlaßte ihn, seinen Vorschlag nun doch vorzubringen. »Fafhrd«, flüsterte er. »Wir würfeln jetzt um Hisvets Gunst.« »Wieso, Hisvet ist doch nur ein Mädchen ...«, begann Fafhrd, brach ab und schloß nachdenklich die Augen. Dann lächelte er den Mausling an. »Nein«, sagte Fafhrd leise. »Ich meine, Hisvet ist ein so phantastisches Mädchen, daß es unserer beider Geschick und Mühen bedarf. Und danach – wer weiß? Nein, jetzt um sie zu würfeln – das wäre, als wollte man vorhersagen, wann sich eine lankhmarische Nachtlilie öffnet und ob nach Norden oder nach Süden.« Der Mausling lachte leise und versetzte Fafhrd einen freundschaftlichen Rippenstoß. »Na, das nenne ich einen treuen Freund.« Fafhrd sah den Mausling mißtrauisch an. »Also, jetzt komm nicht auf den Gedanken, mich heute betrunken zu machen«, sagte er warnend. »Oder mir Opium ins Glas zu tun.« »Ha, du müßtest mich doch besser kennen,
Fafhrd«, sagte der Mausling lachend. »Tue ich auch«, erwiderte Fafhrd sarkastisch. Wieder ging die Sonne grünschimmernd unter. Die unheimliche Nebelbank stand noch immer im Osten, jetzt eine düstere, unheimliche Wand. Der Koch schrie: »Mein Hammel!« und hastete zur Kombüse, von wo sich ein würziger Duft ausbreitete. »Wir haben noch eine Stunde Zeit«, sagte der Mausling. »Komm, Fafhrd. Auf dem Wege an Bord habe ich im Silbernen Aal noch eine kleine Flasche quarmallischen Wein gekauft. Sie ist noch zu.« Aus der Takelage zischte ihnen die kleine schwarze Katze drohend zu – oder war es eine Warnung?
5 Zwei Stunden später bot die Demoiselle dem Mausling: »Einen goldenen Rilk für Ihre Gedanken, Dolchschwinger.« Wieder saß sie auf der herabgeklappten Koje, halb zurückgeneigt. Der lange Tisch, jetzt mit köstlichen Speisen und hohen silbernen Weinschalen beladen, stand vor dem Bett. Fafhrd saß Hisvet gegenüber, die leeren Silberkäfige hinter sich, während der Mausling das Heckende des Tisches einnahm. Frix bediente von der Tür aus, wo sie den Küchenjungen die Tabletts abnahm, ohne ihnen einen Blick in die Kabine zu gönnen. Sie hatte ein kleines Kohlebecken aufgestellt, über dem sie die heißen Speisen warm hielt, während sie von jeder kostete und eine Weile wartete, bis sie sie weiterreichte. Große dunkelrote Kerzen in Silberhaltern erfüllten den Raum mit ihrem bleichen Licht. Die weißen Ratten hockten um einen eigenen kleinen Tisch, der zwischen Koje und Tür auf dem Boden aufgestellt war, dicht hinter einer der Falltüren, die in den korngefüllten Laderaum führte. Sie trugen kleine schwarze Jacken, die vorn offen waren, und schmale schwarze Gürtel. An den Bissen, die Frix ihnen vorsetzte, knabberten sie spielerisch, und sie hoben auch nicht ihre kleinen Krüge an die Schnauzen, sondern lappten daraus. Eine oder zwei Ratten trieben sich ständig auf dem Bett herum, um bei Hisvet zu sein, was es Fafhrd sehr schwer machte, sie zu zählen. Manchmal kam er auf elf, manchmal auch nur auf zehn. Von Zeit zu Zeit stellte sich eines der Tiere auf Hisvets Knie und twitterte – ein Geräusch, das der
menschlichen Sprache so ähnlich war, daß Fafhrd und der Mausling immer wieder kichern mußten. »Verträumter Dolchschwinger, zwei Rilks für deine Gedanken«, erhöhte Hisvet ihr Angebot. »Und unbescheiden wie ich bin, verwette ich einen dritten Rilk und sage, Sie haben an mich gedacht.« Der Mausling lächelte und hob die Augenbrauen. Ihm war etwas schwindlig zumute, wohl weil er entgegen seiner Absicht wieder mehr getrunken hatte als Fafhrd. Frix hatte ihm gerade das Hauptgericht serviert, meisterhaft zubereiteten Curry. Fafhrd aß mannhaft, wenn auch nicht besonders heißhungrig, der Mausling griff schon langsamer zu, während Hisvet nur sehr spärlich von ihrem Teller nahm. »Ich akzeptiere Ihre beiden Rilks, Weiße Prinzessin«, erwiderte der Mausling leichthin, »denn ich brauche einen für die Wette, die Sie eben gewonnen haben, und den anderen als Gegenangebot, damit Sie mir sagen, was ich denn von Ihnen gedacht habe.« »Diesen zweiten Rilk werden Sie nicht lange behalten, Dolchschwinger«, sagte Hisvet fröhlich, »denn Sie haben mir dabei nicht ins Gesicht gestarrt, sondern etwas tiefer. Sie haben an die etwas unschönen Verdächtigungen gedacht, die Lukeen heute über mich äußerte. Gestehen Sie, es stimmt!« Dem Mausling blieb nichts anderes übrig, als den Kopf hängen zu lassen und die Achseln zu zucken, denn sie hatte seine Gedanken tatsächlich erraten. Hisvet lachte, runzelte tadelnd die Stirn und sagte: »Oh, was für Gedanken Sie haben, Dolchschwinger! Sie können aber sehen, daß zumindest Frix vorn nicht wie eine Ratte ausgestattet ist.« Und das stimmte, denn Hisvets Mädchen war ganz
glatte Haut, bis auf die Stellen an Busen und Hüfte, die durch schwarze Tücher verhüllt waren. Obwohl sie wie eine Sklavin angetan war, machte Frix einen seltsam gelösten Eindruck, eher den einer Gesellschafterin, die sie in fröhlichem Gehorsam bediente. Im Gegensatz dazu trug Hisvet wieder einen langen Umhang, diesmal aus schwarzer Seide, mit Stikkerei abgesetzt, dazu eine bestickte Kapuze, die sie nun halb zurückgeschoben hatte. Ihr silberweißes Haar war kunstvoll auf ihrem Kopf aufgetürmt. Fafhrd musterte sie über den Tisch. »Ich bin sicher, die Demoiselle würde uns immer so schön erscheinen – welche Form sie auch wählt!« »Das war eine schöne Kavaliersrede, Schwertkämpfer«, sagte Hisvet. »Dafür muß ich Sie belohnen. Komm her, Frix.« Als sich das schlanke Mädchen zu ihr hinabneigte, legte Hisvet die weißen Hände um ihre Hüften und gab ihr einen Kuß auf die Lippen. Dann schaute sie auf und tippte Frix auf die Schulter. Das Mädchen kam lächelnd um den Tisch, beugte sich zu Fafhrd herab und gab den erhaltenen Kuß an ihn weiter. Er nahm das Geschenk mannhaft hin, ohne sonderliche Erregung zu zeigen, doch als sich Frix zurückziehen wollte, verlängerte er den Kuß noch etwas und verkündete mit schwerer Zunge, als er sie endlich losließ: »Eine kleine Zugabe für den Absender.« Sie lächelte ihn an und trat an ihr Kohlebecken bei der Tür und sagte: »Ich muß zuerst das Fleisch für die Ratten schneiden, ungezogener Barbar.« An diesem Punkt schaltete sich der Mausling ein. Er hatte seinen vernebelten Geist schon einige Zeit bemüht, um eine kluge Bemerkung hervorzubringen. Jetzt rief er Frix zu: »Warum schneidest du den Rat-
ten ihr Fleisch, süßes Mädchen? Wäre es nicht schöner, wenn sie das selbst täten?« Frix musterte ihn mit gekräuselter Nase, doch Hisvet sagte ernsthaft: »Nur Skwee vermag einigermaßen geschickt zu schneiden. Die anderen verletzen sich, besonders, wenn das Fleisch in dem glitschigen Curry herumgleitet. Frix, du hebst ein Stück Fleisch für Skwee auf, damit er uns seine Geschicklichkeit vorführen kann. Skwee!« rief sie mit hoher Stimme. »Skwee-Skwee-Skwee!« Eine große Ratte sprang auf das Bett und baute sich mit gekreuzten Vorderpfoten vor ihr auf. Hisvet gab ihre Befehle, nahm aus einem Silberkasten hinter sich ein winziges Tranchiermesser mit Gabel und Wetzeisen und befestigte das kleine Futteral vorsichtig an seinem Gürtel. Skwee verbeugte sich und sprang gelenkig an den Rattentisch zurück. Der Mausling beobachtete die Szene mit brennenden Augen. Er hatte das Gefühl, unter einem seltsamen Einfluß zu stehen. Zuweilen huschten breite Schatten durch die Kabine; einmal wurde Skwee so groß wie Hisvet – oder Hisvet so klein wie Skwee? Plötzlich schrumpfte auch der Mausling auf Skwees Größe zusammen und rannte unter das Bett und fiel in eine Rutsche, die ihn nicht in den dunklen korngefüllten Laderaum brachte, sondern in eine weitläufige unterirdische Rattenmetropole, wo Rattenschwerter klirrten und Rattengeld klimperte, wo lüsterne Rattenfrauen gegen Geld tanzten, wo sich maskierte Rattenspione und Rattenverräter tummelten, wo sich alle der absoluten Herrschaft des mächtigen Rates der Dreizehn beugten – und wo der Ratten-Mausling überall eine schlanke Rattenprinzessin namens His-
vin-Hisvet suchte. Der Mausling schreckte zusammen und erwachte. Er mußte doch mehr getrunken haben, als er angenommen hatte. Skwee stand nun vor dem gelben Fleischstück, das ihm Frix auf einem Silberteller bereitgelegt hatte. Die anderen Ratten beobachteten ihn, und Skwee zog mit eleganter Bewegung Messer und Wetzeisen. Der Mausling kniff sich in den Arm und brachte die Bemerkung zustande: »Ah, wäre ich doch eine Ratte, Weiße Prinzessin, daß ich Ihnen so dienen könnte!« Demoiselle Hisvet rief: »Das ist nett gesagt!« und sie lachte. »Nehmen Sie sich mit Ihren Wünschen in acht – schon mancher ist plötzlich erfüllt worden. Aber Ihre Absicht ist schmeichelnd. Ich muß Sie belohnen. Frix, komm her, setz dich zu mir.« Der Mausling konnte nicht sehen, was zwischen den beiden geschah, denn Frix saß halb hinter Hisvet und sah ihn fröhlich über die Schulter ihrer Herrin an. Hisvet schien etwas in Frix, Ohr zu flüstern. Nun ertönte ein leises Schaben, als Skwee mit schneller Bewegung Messer und Wetzeisen zusammenführte und die Klinge schärfte. Der Mausling verspürte den Drang, aufzustehen und sich die Sache näher anzusehen – und dabei vielleicht auch mitzubekommen, was Hisvet und Frix da taten – doch eine große Lethargie hatte sich seiner bemächtigt. Er hatte nur eine Sorge – daß Fafhrd ein klügeres Kompliment herausbrachte als er, eine Bemerkung, die Frix von ihrem Ziel abbrachte. Aber dann sah er, daß Fafhrd der Kopf auf die Brust gesunken war, und er hörte das leise Schnarchen des Nordlings. Zuerst spürte der Mausling nur Erleichterung. Er
erinnerte sich an frühere Zeiten, da er mit fröhlichen Mädchen noch gezecht hatte, als sein Freund längst schnarchte. Fafhrd mußte zwischendurch ganz schön aufgeholt haben mit dem Wein! Frix fuhr auf und kicherte. Hisvet flüsterte weiter, während das Mädchen den Mausling verschmitzt anstarrte. Skwee steckte den Stahl fort, zog elegant die Gabel, stieß sie in das gelbe Fleischstück und begann geschickt eine Scheibe abzuschneiden. Endlich stand Frix auf, erhielt einen Klaps auf die Schulter und kam lächelnd um den Tisch. Skwee präsentierte eine papierdünne Fleischscheibe am Ende seiner Gabel, schwenkte sie mehrmals hin und her, damit sie auch alle sahen, und führte das Fleisch an seine Schnauze, um davon zu kosten. Trotz seines bezechten Zustands mußte der Mausling plötzlich daran denken, daß Fafhrd unmöglich soviel Wein getrunken haben konnte! Der Nordling war ihm doch seit zwei Stunden nicht aus den Augen gekommen! Natürlich wirkten Schläge auf den Kopf manchmal sehr spät nach. Trotzdem durchschoß ihn Eifersucht, als Frix neben Fafhrd stehenblieb und in sein vorgebeugtes Gesicht starrte. Im gleichen Augenblick ertönte ein wütendes Quietschen vom Rattentisch, und das weiße Tier sprang auf das Bett, noch mit Tranchiermesser und Gabel bewaffnet. Die Lider wurden dem Mausling schwer; trotzdem sah er, wie Skwee mit seinem winzigen Besteck vor Hisvets Gesicht herumfuchtelte. Er fiepte in menschenähnlichen Lauten, gab offenbar eine dramati-
sche Schilderung. Schließlich hielt er ihr das Fleisch mit anklagendem Quietschen vor die Nase. Plötzlich registrierte der Mausling eine Unzahl leiser Schritte, die auf dem Hauptdeck herankamen und sich der Kabine näherten. Er versuchte Hisvet darauf aufmerksam zu machen, doch Lippen und Zunge wollten ihm nicht mehr gehorchen. Frix packte plötzlich Fafhrd am Haar und zog seinen Kopf in die Höhe. Das Kinn des Nordlings hing herab, und nur das Weiße seiner Augen war zu sehen. Ein leises Klopfen an der Tür – nicht anders als die Zeichen der Küchenjungen. Frix und Hisvet sahen sich an. Das Mädchen ließ Fafhrds Kopf fallen; huschte zur Tür, legte mit schneller Bewegung den Riegel vor und befestigte ihn mit einer Kette. Im gleichen Augenblick prallte etwas (vermutlich die Schulter eines Mannes) von außen gegen die Türfüllung. Das Dröhnen setzte sich fort und verstärkte sich nach kurzer Zeit, als würde jetzt der Ersatzmast wie ein Rammbock gegen die Tür geschwungen, die mit jedem Schlag sichtbar erzitterte. Der Mausling machte sich schließlich fast gegen seinen Willen klar, daß hier etwas Besonderes vorging und daß er eigentlich etwas unternehmen mußte. Er gab sich Mühe, seine Müdigkeit abzuschütteln und aufzuspringen. Doch er mußte feststellen, daß er keinen Finger rühren konnte. Seine ganze Kraft wurde benötigt, die Augen offenzuhalten und mit verschwommenem Blick zu verfolgen, wie Hisvet, Frix und die Ratten jetzt eine fieberhafte Aktivität entwikkelten.
Frix stemmte ihren Serviertisch gegen die zitternde Tür und begann andere Möbelstücke dahinter aufzutürmen. Hisvet zog hinter der Koje verschiedene lange Kästchen hervor und begann sie zu öffnen. Die weißen Ratten sprangen herbei und nahmen sich den Kisteninhalt heraus: kleine geschmiedete Waffen: Schwerter, Speere, Armbrüste mit winzigen Pfeilköchern. Jede Ratte nahm mehr Waffen, als sie selbst einsetzen konnte. Eilig legte Skwee einen schwarzgefederten Helm an, der bis über seine pelzigen Backen herabreichte. Der Mausling versuchte die Zahl der Ratten festzustellen, die sich an den Kästen zu schaffen machten, und kam auf zehn. In der Tür klaffte plötzlich ein Spalt. Frix wich zurück, sprang zur Steuerbord-Falltür, die in den Laderaum hinabführte und öffnete sie. Hisvet warf sich zu Boden und steckte den Kopf in das schwarze Loch. Die Bewegungen der beiden Frauen hatten etwas erschreckend Animalisches. Vielleicht lag es an dem engen Raum und der niedrigen Decke – aber es schien dem Mausling, als bewegten sie sich am liebsten auf allen vieren. Hisvet sprang auf und winkte den zehn weißen Ratten zu. Unter Skwees Führung verschwanden sie durch die offene Falltür, und ihre blauen Waffen blitzten und klirrten, und schon waren sie verschwunden. Frix holte einige dunkle Kleidungsstücke aus einer Nische. Hisvet ergriff ihr Handgelenk, stieß sie vor sich durch die Öffnung und stieg hinterher. Ehe sie die Falltür über sich zuzog, wanderte ihr Blick noch einmal durch die Kabine. Als ihre roten Augen den Mausling musterten, vermeinte er einen seidigen
weißen Flaum auf ihrer Stirn zu entdecken, aber das mochte ebensogut eine Täuschung sein. Die Kabinentür zersplitterte, und ein dickes Mastende fuhr in den Raum, warf den breiten Tisch um und schaffte heillose Unordnung. Über den Rammbock kletterten drei nervöse Seeleute, gefolgt von Slinoor, der einen Kurzsäbel schwang, und Slinoors Sternenoffizier (Navigator) mit erhobener Armbrust. Slinoor drängte die anderen nach vorn und überschaute die Szene. Dann sagte er: »Unser Traumpulver-Curry hat die beiden lüsternen Kämpfer außer Gefecht gesetzt, aber Hisvet und ihre Nymphe haben sich versteckt. Die Ratten sind nicht in ihren Käfigen! Sucht, Leute! Sternenoffizier, Sie decken uns!« Zuerst vorsichtig, dann immer hastiger durchsuchten die Seeleute den Raum, stürzten die leeren Truhen um, warfen Decken und Matratzen aus der Koje, schwangen sie hoch, um darunter zu schauen, rückten die Seekisten von den Wänden, öffneten unverschlossene Behälter und brachten Hisvets Garderobe durcheinander. Wieder gab sich der Mausling größte Mühe, doch er vermochte nicht zu sprechen oder sich zu bewegen. Ein Seemann stieß ihn an, und er sank hilflos gegen die Seitenlehne seines Stuhls, ohne völlig das Gleichgewicht zu verlieren. Fafhrd wurde von hinten angestoßen und fiel mit dem Gesicht in seinen Nachtisch, und seine Arme fuhren herum und fegten Geschirr vom Tisch. Der Sternenoffizier bewachte alles mit seiner Armbrust. Slinoor stocherte mit seinem Dolch in Hisvets Unterwäsche herum und deutete schließlich auf den Rattentisch.
»Hier haben die Untiere gegessen – wie Menschen«, sagte er angewidert. »Sie haben auch vom Curry gegessen. Hoffentlich haben sie sich damit tüchtig vollgeschlagen!« »Wahrscheinlich haben gerade die Ratten unsere Droge bemerkt und die Frauen gewarnt«, sagte der Sternenoffizier. »Ratten haben eine gute Nase für Gift.« Als kein Zweifel mehr bestand, daß weder die Mädchen noch die Ratten in der Kabine waren, rief Slinoor wütend aus: »Sie können nicht an Deck entkommen sein –, da, die Deckenluke ist verriegelt, außerdem haben wir oben eine Wache. Der Maat bewacht den hinteren Laderaum, vielleicht ...« »Ich wünschte, die beiden könnten reden«, sagte der Sternenoffizier und deutete auf Fafhrd und den Mausling. »Nein«, sagte Slinoor. »Die sind noch eine Weile ausgeschaltet. Decken Sie die Steuerbordfalltür in den Laderaum. Ich hebe sie hoch und rede mit dem Maat.« In diesem Augenblick polterten Schritte über das Mitteldeck herbei, und der Maat der Squid riß die Tür auf. Sein Gesicht war blutüberströmt, und er schleppte einen Seemann hinter sich her, der einen dünnen Stab an seine blutige Wange zu pressen schien. »Warum habt ihr den Laderaum verlassen?« fragte Slinoor scharf. »Ihr müßt bei euren Leuten bleiben.« »Ratten haben uns auf dem Weg in den Heckladeraum angegriffen«, sagte der Maat atemlos. »Es waren mehrere Dutzend schwarze Tiere, von einer weißen Ratte angeführt, und einige waren bewaffnet wie
Menschen. Ein winziges Schwert hat mir fast das Auge ausgestochen. Zwei Ratten haben unsere Lampe gelöscht. Es wäre Wahnsinn gewesen, in der Dunkelheit weiter vorzudringen. Es gibt kaum einen Mann in meiner Gruppe, der nicht gebissen, geschnitten oder gestochen wurde. Die Männer sagen, ihre Wunden sind vergiftet, und sie wollen die Luken zunageln.« »Oh, Feigheit!« brüllte Slinoor. »Sie haben meine Falle platzen lassen, in der sich die Fliehenden gefangen hätten! Jetzt ist alles viel schwerer. Feiglinge! Laßt euch von Ratten einschüchtern!« »Ich sage Ihnen doch, sie waren bewaffnet«, wandte der Maat ein und schob den Seemann nach vorn. »Hier ist mein Beweis – er hat einen Speer in der Wange.« »Nicht rausziehen, Kapitän«, sagte der Seemann, als Slinoor sein Gesicht untersuchte. »Er ist vergiftet, ich weiß.« »Stillhalten, Junge«, befahl Slinoor. »Und nimm deine Hände fort. Die Spitze sitzt dicht unter der Haut. Ich drücke sie ganz durch, so daß die Widerhaken nicht fassen. Halten Sie seine Arme fest, Maat. Gesicht stillhalten, Junge, sonst tut es mehr weh. Ist das Ding vergiftet, muß es ganz schnell heraus. Da!« Der Mann schrie auf. Blut rann ihm über die Wange. »Eine böse Nadel«, bemerkte Slinoor und untersuchte das blutige Geschoß. »Hier ist noch ein Beweis!« sagte der Sternenoffizier, der in der Kabine herumgegangen war. Er reichte Slinoor eine winzige Armbrust. Slinoor hielt sie in die Höhe. Die Waffe schimmerte
bläulich im bleichen Kerzenlicht. »Eine böse Sache!« rief er. »Vielleicht hatte der Überfall im Laderaum doch sein Gutes. Ihr werdet die Ratten schnell wieder hassen und fürchten lernen, wie es auf jedem guten Kornschiff sein sollte. Und jetzt bringen wir unverzüglich alle Ratten an Bord um, und dann hat diese Narretei ein Ende. Ihr habt euch von den Kunststükken dieser Tiere, von einem roten Mädchen und einem Un-Mausling blenden lassen!« Der Mausling, der noch immer völlig gelähmt war, mußte zugeben, daß die Bezeichnung verdient war. »Als erstes«, fuhr Slinoor fort, »kommen die beiden Burschen an Deck. Bindet sie an den Mast oder die Reling. Ich möchte nicht, daß sie meinen Sieg behindern.« »Soll ich die Falltür öffnen und einen Pfeil in den Laderaum schicken?« fragte der Sternenoffizier eifrig. »Seien Sie lieber vorsichtig«, erwiderte Slinoor. »Soll ich nach der Galeere rufen lassen und eine rote Lampe setzen?« wollte der Maat wissen. Slinoor schwieg einen Augenblick und sagte: »Nein. Das wird ein Kampf, den die Squid allein durchstehen muß, um ihre Ehre zu retten. Außerdem ist Lukeen ein Heißblut.« »Und doch wären wir sicherer, wenn uns die Galeere zu Hilfe käme«, beharrte der Maat. »Vielleicht sind die Ratten schon dabei, Lecke zu nagen.« »Das ist sehr unwahrscheinlich, solange die Rattenkönigin noch unten steckt«, gab Slinoor zurück. »Wir werden schnell handeln – und das wird unsere Rettung sein, nicht ein anderes Schiff. Hören Sie gut zu. Alle Zugänge zum Unterdeck sind gut zu bewachen. Alle Falltüren und Luken werden fest geschlos-
sen. Die Freiwache ist zu wecken. Jeder Mann trägt Waffen. Alle, die wir nicht zum Segeln brauchen, sollen auf dem Hauptdeck zusammenkommen. Los!« Der Mausling hätte sich dieses »Los!« nicht so heftig gewünscht, denn die beiden Seeleute griffen ihn sofort an den Fußgelenken und zerrten ihn aus der verwüsteten Kabine über das Hauptdeck, wobei sein Kopf manchen Schlag einstecken mußte. Allerdings spürte er kaum etwas. Ein Seemann stemmte den Mausling am Hauptmast hoch, nach hinten schauend, während der andere ein Seil um ihn legte. Als die Männer ihn festbanden, spürte der Mausling plötzlich ein Kribbeln im Hals, und seine Zunge belebte sich wieder, doch er hielt es für besser, sich zurückzuhalten. Slinoor brachte es fertig, ihm einen Knebel zu verpassen. Die nächste Ablenkung des Mauslings war der Transport Fafhrds, der von vier Seeleuten herangeschafft und innenbords quer an der Backbordreling festgebunden wurde, wobei seine Füße höher hingen als sein Kopf. Es sah recht komisch aus, zumal der Nordling ungerührt weiterschnarchte. Die Seeleute begannen sich auf dem Hauptdeck zu versammeln. Piken und Kurzschwerter stärkten den Mut der Männer. Einige trugen Netze und lange spitze Gabeln. Auch der Koch hatte sich mit einem gewaltigen Fleischmesser bewaffnet, mit dem er dem Mausling spielerisch vor dem Gesicht herumfuchtelte. »Bist von meinem Traumcurry ganz hin, was?« Inzwischen merkte der Mausling, daß er wieder die Finger bewegen konnte. Es hatte sich niemand die Mühe gemacht, ihn zu entwaffnen, doch Katzenklaue
steckte leider viel zu hoch an seiner linken Flanke, so daß er nicht herankam. Er betastete den Saum seines Wamses, bis er durch den Stoff ein kleines, rundes Objekt erspürte, das an einer Seite flacher war als an der anderen. Er faßte es am dickeren Ende und begann mit der scharfen Kante am Stoff zu säbeln, der es umschloß. Die Seeleute drängten sich am Heck zusammen, als Slinoor mit seinen Offizieren aus der Kabine kam und mit leiser Stimme Befehle erteilte. Der Mausling konnte hören: »Hisvet und ihr Mädchen sind sofort umzubringen. Das sind keine Frauen, sondern verhexte Ratten – oder Schlimmeres.« Und er vernahm den letzten Befehl Slinoors: »Wartet dicht unter der Luke oder am Niedergang, durch den ihr nach unten vordringt. Wenn der Bootsmann pfeift, dann los!« Die Wirkung dieser Befehle litt etwas unter einem leisen sirrenden Geräusch, woraufhin sich der Waffenmeister ans Auge faßte und laut zu schreien begann. Die Männer gerieten durcheinander. Schwertklingen hieben nach einer bleichen Gestalt, die über das Deck huschte. Einen Sekundenbruchteil hob sich die Ratte mit einer Armbrust in den Vorderpfoten als Silhouette auf der Steuerbordreling ab. Dann surrte die Armbrust des Sternenoffiziers, und ein Glückstreffer fegte das Tier von der Reling ins Meer. »Das war eine weiße, Leute!« rief Slinoor. »Ein gutes Omen!« Das allgemeine Durcheinander löste sich schnell auf, als man feststellte, daß der Waffenmeister nicht am Auge, sondern dicht daneben getroffen war. Die bewaffneten Trupps zogen ab, der eine in die Kabine und zwei am Mast vorbei nach vorn, so daß nur vier
Mann an Deck zurückblieben. Der Stoff, den der Mausling vorsichtig bearbeitete, teilte sich, und mit äußerster Vorsicht entnahm er dem Saum einen Eisen-Tik (die kleinste lankhmarische Münze), deren eine Kante rasiermesserscharf geschliffen war. Damit begann er nun vorsichtig an der nächst erreichbaren Fesselschlinge zu sägen. Hoffnungsvoll blickte er zu Fafhrd hinüber, doch der war immer noch nicht zu sich gekommen. Irgendwo war ein leises Pfeifen zu hören, gefolgt von einem lauteren Pfiff in einem anderen Teil des Schiffsrumpfes. Dann ertönte gedämpftes Gebrüll, zwei Schreie, jemand bumste von unten gegen das Deck, und ein Seemann mit einer quietschenden Ratte in seinem Netz hastete am Mausling vorbei. Der Mausling tastete vorsichtig herum und stellte fest, daß er das erste Seil fast durchgesäbelt hatte. Die restlichen Fäden ließ er bestehen und machte sich an der nächsten Schlinge zu schaffen, wobei er sein Handgelenk schmerzhaft verdrehen mußte. Eine Explosion erschütterte das Deck und rief ein seltsames Kribbeln in seinen Fußsohlen hervor. Er wußte nicht, was da geschehen war, und sägte verzweifelt weiter. Die vier Männer riefen aufgeregt durcheinander, und einer der Rudergänger hastete nach vorn, während der andere am Ruder ausharrte. Plötzlich erklang der Gong, obwohl niemand daneben stand. Im nächsten Augenblick strömten die Männer der Squid aus den Tiefen ihres Schiffes herauf, wie von Furien gehetzt, die Hälfte ohne Waffen. Sie rannten ziellos durcheinander. Der Mausling hörte, wie die Boote der Squid, die vor dem Hauptmast festgelascht
waren, zur Reling gezerrt wurden. Dem allgemeinen Geschrei entnahm der Mausling, daß es den Seeleuten unten schlimm ergangen war – angegriffen von ganzen Heerscharen schwarzer Ratten, durch falsche Pfiffe in die Irre geleitet, aus dunklen Ecken attakkiert, von Pfeilen überschüttet. Und der Höhepunkt war ein Lagerraum gewesen, in dem noch allerlei Getreidestaub in der Luft lag, nachdem eine ganze Rattenarmee hindurchgeeilt war. Frix hatte von der anderen Seite einen Feuerbrand auf das Korn geworfen und damit den Staub zur Explosion gebracht – so heftig, daß die Männer von den Füßen gerissen wurden. Zum Glück hatte es kein Feuer gegeben. Zusammen mit den entsetzten Seeleuten kam noch eine andere Gruppe an Deck – die nur vom Mausling wahrgenommen wurde – eine Reihe schwarzer Ratten, die vorsichtig an ihm vorbei den Hauptmast emporkletterten. Der Mausling überlegte, ob er Alarm schlagen sollte, aber er mußte wohl seine Überlebenschancen recht gering einstufen, wenn die hysterischen Seeleute rings um ihn auf die Ratten einzuschlagen begannen ... Jedenfalls wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Skwee erschien auf seiner linken Schulter. Er hielt sich an einer Haarlocke des Mauslings fest, beugte sich vor und starrte ihm in das linke Auge. Skwee legte eine bleiche Pfote an die Lippen – ein klares Zeichen, daß er schweigen sollte –, berührte dann das kleine Schwert an seiner Seite und fuhr sich mit dem winzigen Daumen über die Kehle, um anzudeuten, welche Strafe allen Alarmschreiern drohte. Dann zog er sich in den Schatten hinter dem Ohr des Mauslings zurück, von wo er vermutlich die ent-
nervten Seeleute beobachtete und seine Truppe befehligte – und zugleich in der Nähe der Halsschlagader des Mauslings blieb. Der Mausling setzte seine Sägerei fort. Der Sternenoffizier kam nach achtern, gefolgt von zwei Soldaten mit je zwei hellen schimmernden Laternen. Skwee zog sich in die Dunkelheit zwischen Mausling und Mast zurück, legte dem kleinen Mann jedoch die kühle Klinge an den Hals, damit er seine guten Vorsätze nicht vergaß. Der Sternenoffizier sah den Mausling stirnrunzelnd an, ging am Hauptmast vorbei und ließ die Laternen am Achtermast, in die Takelage und am vorderen Teil des Achterdecks anbringen. In diesem Augenblick erschien Slinoor in der Tür der Kabine. Seine Stirn war blutig. »Mut, Leute!« rief er heiser. »Auf Deck haben wir noch die Oberhand. Laßt die Boote vorsichtig zu Wasser – wir brauchen sie, um die Seesoldaten zu holen. Bringt die rote Lampe an, schlagt den Gong!« Jemand rief: »Der Gong ist über Bord gegangen. Die Seile sind durchgenagt!« Schon kamen seltsame Nebelschwaden von Osten herbei und hüllten die Squid in ihr mondscheinhaftes Silber. Ein Seemann stöhnte auf. Es war ein seltsamer Nebel, der das Licht der Lampen und des Mondes eher noch zu verstärken schien, obwohl die Squid bald ringsum von einer kompakten Nebelwand umgeben war. Slinoor befahl: »Holt den Ersatzgong! Koch, Sie schaffen Ihre größten Kessel herbei, Topfdeckel und Pfannen – womit man Lärm machen kann!« Es klatschte zweimal, als die Boote der Squid zu
Wasser gelassen wurden. Aus der Kabine ertönte ein furchterregender Schrei. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Das Hauptsegel löste sich vom Mast und sank wie eine einstürzende Mauer nach Steuerbord. Winzige Nagezähne oder Schwerter hatten die Leinen durchtrennt. Das Gebilde zog sich durch das Wasser. Die Squid legte sich schräg. Gleichzeitig raste eine Horde schwarzer Ratten aus der Kabinentür und über die Heckreling. Die Tiere fielen in Wellen über die Menschen her. Er war ein Großangriff ohnegleichen. Die Seeleute machten kehrt und rasten zu den Booten. Die Ratten landeten auf ihren Rücken oder versuchten ihnen in die Hacken zu beißen. Die Offiziere ergriffen ebenfalls die Flucht. Slinoor wurde mitgerissen, schrie seinen Leuten zu, sie sollten sich doch wehren. Skwee tanzte mit gezogenem Schwert auf der Schulter des Mauslings herum und leitete mit gequietschten Befehlen den Angriff seiner Selbstmordsoldaten. Schließlich sprang er hinab, um mit in den Kampf einzugreifen. Vier weiße Ratten mit Armbrüsten knieten sich in die Wanten und begannen mit knappen Bewegungen zu spannen, zu laden und zu feuern – in ununterbrochener Folge. Rings um das Schiff begann es aufzuklatschen, zweimal, dreimal, dann immer öfter, gefolgt von lautem Geschrei. Der Mausling verdrehte den Kopf und sah aus dem Augenwinkel die beiden letzten Männer der Squid über Bord gehen. Er drehte den Kopf mühsam noch weiter und erblickte Slinoor, in den sich zwei Ratten verbissen hatten und der nun auch über Bord sprang.
Die Rufe aus dem Wasser ließen nach. Stille senkte sich auf die Squid, nur gestört durch das ständige Fiepen der Ratten. Als der Mausling den Kopf wieder nach hinten wandte, stand Hisvet vor ihm. Sie trug einen eng ansitzenden schwarzen Lederanzug, der ihr fast das Aussehen eines Jungen gab, und ihren Kopf zierte eine schwarze Lederkappe, die fast wie Skwees Silberhelm aussah. Das Haar fiel ihr gebündelt über den Rücken. An der Hüfte trug sie einen Dolch. »Mein lieber Dolchschwinger«, sagte sie leise und lächelte. »Sie haben mich nicht verlassen.« Und sie hob die Hand und brachte ihre Finger bis auf wenige Zentimeter an seine Wange heran. Dann schien sie zum erstenmal die Fesseln zu bemerken und zog die Hand zurück: »Gebunden«, sagte sie. »Das müssen wir ändern, Dolchschwinger.« »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, meine Weiße Prinzessin«, sagte der Mausling unterwürfig. Trotzdem ließ er seine geschliffene Münze, die inzwischen recht stumpf geworden war, nicht fallen. Er hatte die dritte Schlinge fast zur Hälfte durchtrennt. »Wir müssen das ändern«, wiederholte Hisvet ein wenig geistesabwesend, und ihr Blick wanderte in die Ferne. »Aber meine Finger sind zu weich und ungeschickt, um sich mit solch mächtigen Knoten abzugeben. Frix wird dich freilassen. Jetzt muß ich erst Skwees Bericht anhören. Skwee-skwee-skwee!« Als sie sich umwandte und zum Achterdeck ging, sah der Mausling, daß ihr Haar durch ein silbergefaßtes Loch in ihrem schwarzen Helm führte. Skwee raste am Mausling vorbei, und als er Hisvet erreicht hatte, richtete er sich rechts neben ihr auf. Drei Rat-
tenschritte zurück und die Vorderpfote auf das Schwert gelegt, so schritt er neben ihr einher wie ein kleiner General neben seiner Herrscherin. Der Mausling setzte sein Gesäge fort. Im gleichen Augenblick fiel sein Blick auf Fafhrd, auf dessen Hals jetzt mit gesträubtem Fell das schwarze Kätzchen saß. Vorsichtig fuhr es ihm mit gespreizten Krallen über das Gesicht, während er ungerührt weiterschnarchte. Nun biß das Kätzchen dem Nordling ins Ohr. Fafhrd stöhnte auf, schlief jedoch weiter. Zwei Ratten hasteten vorbei, erstarrten, als sie die Katze erblickten, und eilten dann zum Achterdeck, vermutlich um ihre Entdeckung unverzüglich zu melden. Der Mausling machte gerade Anstalten, sich mit einem Ruck von seinen Fesseln zu befreien, als sich Frix vom Achterdeck näherte. Sie war wie ihre Herrin gekleidet, nur trug sie keinen Helm. »Lady Frix!« rief der Mausling ihr zu. Sie kam lächelnd näher. »Frix genügt«, sagte sie. »Also Frix«, rief der Mausling. »Würden Sie bitte die verhexte schwarze Katze vom Gesicht meines Freundes vertreiben? Sie wird ihm noch die Augen auskratzen.« Frix wandte sich um und sah sich an, was der Mausling meinte, setzte ihren Weg jedoch fort. »In Freud und Leid anderer Menschen mische ich mich nicht ein – obwohl man manchmal nicht weiß, was nun Freude und was Leid ist«, sagte sie und trat dicht an den Mausling heran. »Ich führe nur die Anweisungen meiner Herrin aus. Sie läßt Ihnen ausrichten, Sie möchten guten Mutes sein und Geduld haben. Es ist bald alles vorüber. Und dies schickt sie Ihnen als kleine Erinnerung.« Sie küßte den Mausling
sanft auf die Lider. Der Mausling sagte: »Das ist der Kuß, mit dem die grüne Prinzessin von Djil alle Menschen bedenkt, die aus dieser Welt scheiden.« »O wirklich?« fragte Frix leise. »Aye«, sagte der Mausling erschaudernd und fuhr lebhaft fort: »Also, löst diese Knoten, Frix, das ist eine Anweisung Ihrer Herrin. Und dann gebt mir einen schöneren Kuß, nachdem wir uns Fafhrd angesehen haben.« »Ich führe nur aus, was ich aus dem Munde meiner Herrin gehört habe«, sagte Frix und schüttelte etwas traurig den Kopf. »Von Knoten hat sie mir nichts gesagt. Sicher wird sie es mir bald befehlen.« »Sicher«, stimmte ihr der Mausling zu. Solange ihn Frix eingehend musterte, wagte er sein Sägen nicht fortzusetzen. In diesem Augenblick hastete Hisvet vom Achterdeck herbei. »Liebe Herrin, soll ich die Knoten des Dolchschwingers lösen?« fragte Frix sofort, als hätte sie es gern getan. »Ich kümmere mich um das hier«, erwiderte Hisvet hastig. »Geh du aufs Achterdeck, Frix, und halte nach meinem Vater Ausschau. Er läßt sich Zeit heute nacht.«
6 Als Frix verschwunden war, starrte Hisvet den Mausling eine Zeitlang an und sagte schließlich seufzend: »Ich wüßte zu gern, ob ich meiner Sache ganz sicher sein kann.« »Inwiefern, Weiße Prinzessin?« fragte der Mausling. »Ob ich sicher sein kann, daß Sie mich wirklich lieben«, erwiderte sie leise. »Schon viele Männer – und auch Frauen und Dämonen und Ungeheuer – haben mir gesagt, sie liebten mich ehrlich. Aber in Wirklichkeit ging es ihnen wohl nur um mein Aussehen, meinen Stand als Demoiselle von Lankhmar, um meine Klugheit oder meinen reichen Vater, um meine Macht oder meine Blutsverwandtschaft mit den Ratten – die in vielen Welten ein Zeichen großer Macht ist. Lieben Sie mich wirklich um meiner selbst willen, Grauer Mausling?« »Ich liebe Sie von ganzem Herzen, Schattenprinzessin«, sagte der Mausling, ohne zu zögern. »Ich liebe Sie um Ihrer selbst willen, Hisvet. Ich liebe Sie mehr als sonst jemanden in Nehwon und in allen anderen Welten und auch im Himmel und in der Hölle.« In diesem Augenblick stieß Fafhrd, von der Katze grausam gekratzt oder gebissen, ein qualvolles Stöhnen aus, und der Mausling sagte impulsiv: »Bitte Prinzessin – verjagen Sie zuerst die Hexenkatze von meinem Freund, denn ich fürchte, sie blendet ihn.« »Und genau das habe ich gemeint«, sagte Hisvet leise und tadelnd. »Wenn Sie mich wirklich um mei-
ner selbst willen liebten, Grauer Mausling, wäre es Ihnen egal, ob Ihr liebster Freund oder Ihre Frau oder Mutter oder Ihr Kind vor Ihren Augen gefoltert und getötet würde – solange mein Blick auf Ihnen läge und ich Sie mit den Fingerspitzen berührte. Ich habe nur wenige Dinge in dieser Welt berührt, Grauer Mausling. Ich habe noch keinen Mann oder Dämon berührt – außer durch Frix. Denken Sie daran, Grauer Mausling!« »Auf immer und ewig, mein Lebenslicht«, sagte der Mausling lebhaft, der nun die selbstbezogene Manie wiedererkannte, mit der er es hier zu tun hatte – hatte er doch zuweilen ähnliche Anflüge, die ihm wohlvertraut waren. »Soll der Barbar doch zu Tode bluten – wir tauschen Worte und Liebkosungen, geben uns mit Körper und Seele hin!« Unterdessen hatte er die Arbeit mit der nicht mehr allzu scharfen Münze wieder aufgenommen, ohne sich um Hisvets Blicke zu kümmern. Der Druck seines Dolches an der Hüfte beruhigte ihn. »Das klingt schon eher nach meinem Mausling«, sagte Hisvet zärtlich und fuhr ihm mit den Fingern so dicht an der Wange entlang, daß er den winzigen Luftzug spürte, den ihre Bewegung verursachte. Sie wandte sich um und rief: »Hallo, Frix! Schick mir Skwee und die weiße Truppe. Jeder darf nach eigener Wahl zwei schwarze Kameraden mitbringen. Ich habe eine kleine Belohnung für sie. Skwee! Skweeskwee-skwee!« Was nun geschehen wäre, läßt sich nicht sagen, denn in diesem Augenblick rief Frix: »Ahoi! Ein schwarzes Segel! Oh, geliebte Demoiselle, Ihr Vater!« In den Nebelschwaden tauchte steuerbords plötz-
lich das dreieckige Oberteil eines schwarzen Segels auf. Zwei Bootshaken tauchten heran und klammerten sich mit lautem Geräusch in die Reling des Hauptdecks. Frix rannte leichtfüßig herbei und befestigte zwischen den beiden Haken eine Strickleiter, die nun vom schwarzen Kutter heraufgeworfen wurde (der Mausling hegte keinen Zweifel, daß es sich um das schon einmal gesichtete unheimliche Schiff handelte). Mit schnellen Bewegungen kam nun ein alter Lankhmarier die Leiter herauf und kletterte über die Reling an Bord. Auf seiner linken Schulter saß eine weiße Ratte, die sich mit der rechten Vorderpfote am Wangenschutz seines schwarzen Lederhelms festklammerte. Dichtauf folgten zwei kahle Mingols mit gelbbraunen Gesichtern, die ebenfalls je eine große schwarze Ratte auf der Schulter trugen. In diesem Augenblick begann Fafhrd wieder zu stöhnen, öffnete die Augen und rief mit verträumter Stimme: »Millionen von schwarzen Affen! Nehmt ihn weg, sage ich! Dieser schwarze Teufel quält mich! Nehmt ihn ab!« Daraufhin richtete sich das schwarze Kätzchen auf, reckte sich vor und biß Fafhrd in die Nase. Hisvet kümmerte sich nicht um das Zwischenspiel, hob grüßend die Hand und rief laut: »Sei gegrüßt, o Mitbefehlshaber, mein Vater! Sei gegrüßt, oberster Rattenherr Grig! Du hast die Clam erobert, ich jetzt die Squid, und heute nacht geht auch die restliche Flotte an uns. Dann ist Movarl außer sich, die Mingols dringen über das Versunkene Land vor, Glipkerio wird gestürzt, und die Ratten herrschen in Lankhmar unter meiner und deiner Oberherrschaft!«
Der Blick des Mauslings, der unentwegt mit seiner Münze am Werke war, fiel in diesem Moment zufällig auf Skwee, der Hisvet einen seltsamen Blick zuwarf – da schienen noch gewisse Zweifel über den letzten Teil ihrer Behauptung zu bestehen, wenn die Ratten Lankhmar erst in ihre Gewalt gebracht hatten. Hisvets Vater Hisvin hatte ein faltiges Gesicht mit einer überlangen Nase und einem dünnen weißen Bart, und sein Oberkörper schien unnatürlich weit vorgeneigt. Trotzdem bewegte er sich sehr schnell auf seinen krummen Beinen dahin, wobei er kurze, schlurfende Schritte machte. Die prahlerische Rede seiner Tochter begleitete er mit einem ungeduldigen Wedeln seiner schwarzen Handschuhe und einem leisen »Tsk-tsk!« Dann wanderte Hisvin an Deck herum, betrachtete Fafhrd und den schwarzen Plagegeist (»Tsk-tsk!«) und den Mausling (noch ein »Tsk!«) und blieb schließlich vor Hisvet stehen. »Welch Durcheinander heute nacht«, sagte er schließlich. »Du poussierst mit Gefesselten herum! Ich weiß, ich weiß! Der Mond kommt zu sehr durch! Die Shark rudert wie verrückt im Nebel herum. Und eben noch trafen wir ein riesiges zweiköpfiges Seeungeheuer mit einem komischen Dämon auf dem Kopf – es schnüffelte, als ob es uns fressen wollte, aber wir sind ihm ausgewichen. Und dann ein seltsamer schwarzer Ballon mit kleinen Lichtern ... Meine Tochter, du und dein Mädchen und deine kleinen Helfer – ihr müßt sofort auf den Kutter herüberkommen. Vorher erledigen wir noch diese beiden. Ein Selbstmordtrupp von kleinen Nagern bleibt an Bord, um die Squid zu versenken!«
»Die Squid soll versenkt werden?« fragte Hisvet. »Wir hatten doch vor, sie nach Ilthmar zu schmuggeln und die Ladung dort zu verkaufen!« »Pläne werden geändert!« schnappte Hisvin. »Tochter, wenn wir nicht in vierzig Herzschlägen von diesem Schiff sind, rammt uns womöglich die Shark, oder wir stoßen auf das Ungeheuer mit dem Clown, das uns auffrißt, während wir hilflos treiben. Gib Skwee deine Befehle! Und dann heraus mit dem Messer, erledige die beiden. Schnell, schnell!« »Aber Paps!« widersprach Hisvet. »Ich hatte mit ihnen etwas anderes im Sinn. Nicht den Tod – wenigstens nicht ganz. Etwas Kunstvolleres, vielleicht sogar Liebevolles.« »Dreißig Atemzüge gebe ich dir für jeden«, sagte Hisvin. »Dreißig und nicht mehr, verstanden? Ich kenne deine kleinen Tricks!« »Paps, sei nicht grausam! Wir haben neue Freunde! Warum mußt du den Leuten immer einen falschen Eindruck von mir verschaffen? Ich mag das nicht sehr!« »Du plapperst mehr als deine Rattenmutter!« »Aber ich sagte dir doch, ich mache nicht mehr mit! Diesmal geht es nach meinem Willen!« »Pst-pst!« befahl ihr Vater, beugte sich noch weiter vor und legte eine Hand vor das linke Ohr, während die weiße Ratte auf seiner Schulter die Bewegung auf der anderen Seite nachahmte. Durch den Nebel tönte ein schwaches »Gottverdammter Nebel! Freund, wo sind Sie?« herüber. »Das Plappermaul!« rief Hisvin aus. »Das Monstrum ist gleich hier! Schnell, Tochter, zieh deinen Dolch und tu, was zu tun ist – sonst gebe ich meinen Mingols den Befehl!«
Hisvet wollte davon nichts wissen. »Ich tu's«, sagte sie ergeben. »Skwee, gib mir deine Armbrust. Einen Silberpfeil.« Der weiße Rattengeneral kreuzte die Vorderpfoten und fiepte fordernd. »Nein, du kannst ihn nicht haben«, sagte sie scharf. »Sie gehören mir!« Wieder ein schriller Ton von Skwee. »Na gut, dann nehmt den kleinen schwarzen. Aber jetzt schnell die Armbrust her. Und vergiß nicht, nur einen Silberpfeil!« Hisvin war wieder zwischen seine Mingols getreten und wanderte nervös hin und her. Frix lächelte und berührte ihn am Arm, doch er schüttelte ärgerlich ihre Hand ab. Skwee suchte hastig in seinem Pfeilköcher herum. Seine acht Begleiter schwärmten über das Deck aus und hielten auf das schwarze Kätzchen zu, das von Fafhrds Kopf herabgesprungen war und den Angriff an Deck erwartete. Fafhrd sah sich mit blutigem Gesicht um. Seine Augen waren endlich klar, und er nahm die verzweifelte Situation auf. Der Nasenbiß der Katze hatte ihn endgültig aus seinen Traumpulverträumen geweckt. In diesem Augenblick schallte ein neuer Ruf durch den Nebel: »Gottverdammte Nirgendwelt!« Fafhrd riß die blutunterlaufenen Augen auf. Er stemmte sich in seine Fesseln und blähte die mächtige Brust. »Hoongk!« bellte er. »Hoongk!« Eifrig kam die Antwort, ein Ruf, der mit jeder Sekunde lauter wurde: »Hoongk! Hoongk! Hoongk!« Sieben von den acht weißen Ratten, die über das
Deck gehuscht waren, kehrten nun zurück – zwischen sich trugen sie das fauchende schwarze Kätzchen – eine Ratte schleppte an jeder Pfote und an den Ohren, während sich die siebente vergeblich des hin und her peitschenden Schwanzes zu bemächtigen suchte. Die achte Ratte humpelte hinterher, von einem kräftigen Katzenbiß in die Schulter getroffen. Von allen Seiten strömten nun die Ratten herbei bis sie das Deck fast völlig bedeckten – sie wollten den Sieg über ihren Urfeind mitbekommen. Hisvin brüllte seinen Mingols einen Befehl zu. Sie zogen Messer mit gewellter Schneide. Der eine marschierte in Fafhrds Richtung, der andere ging auf den Mausling los. Ihre Füße waren zwischen den schwarzen Ratten kaum zu sehen. Skwee ließ seine winzigen Pfeile auf den Boden fallen. Seine Pfote schloß sich um einen hellschimmernden Stift, und er spannte hastig die Armbrust, die er dann seiner Herrin hochreichte. Sie nahm sie in die Rechte und zielte damit auf Fafhrd, doch in diesem Augenblick versperrte ihr der Mingol, der auf den Mausling zuhielt, die Sicht. Sie nahm die Armbrust in die andere Hand, zog ihren Dolch und versuchte dem Mingol zuvorzukommen. Inzwischen hatte der Mausling die drei angesägten Schlingen mit einem Ruck zerrissen. Die übrigen Fesseln beengten ihn noch am Hals und an den Fußgelenken, doch zunächst langte er mit der Hand um sich herum, zog Katzenklaue und hieb nach dem Mingol, der im gleichen Augenblick von Hisvet zur Seite gedrängt wurde. Die Klinge fuhr ihr über das Gesicht und brachte ihr einen blutigen Striemen bei.
Der andere Mingol, der mit gezogenem Messer auf Fafhrd losging, ließ sich plötzlich zu Boden fallen und begann zurückzurollen, wobei ihn die schwarzen R atten überrascht anquietschten und nach ihm schnappten. »Hoongk!« Ein gewaltiger grüner Drachenkopf erschien in der Nebelwand über der Backbordreling – an der Stelle, wo Fafhrd hing. Speichelfäden aus dem klaffenden Maul benetzten den Nordling. Gemächlich senkte sich der Kopf herab, fuhr mit dem Unterkiefer über das Eichendeck und vertilgte dabei einen breiten Streifen schwarzer Ratten. Die Kiefer knirschten Zentimeter vor dem Kopf des dahinrollenden Mingols zusammen. Im gleichen Augenblick tauchte der zweite grüne Drachenkopf über dem ersten auf, der dadurch plötzlich zusammenzuschrumpfen schien – der Kopf mit dem buntgekleideten Reiter. Auch dieser Kopf fuhr nun über das Deck und vertilgte dreimal soviel Ratten wie das erste Maul. Er beendete seinen ersten, großen Bissen unmittelbar neben dem schwarzen Kätzchen, das von den Ratten festgehalten wurde. Dieser erste Vormarsch war so plötzlich zu Ende (vermutlich weil es die Katze nicht fressen wollte), daß der bunte Reiter, der vergeblich seinen Stab geschwenkt hatte, das Gleichgewicht verlor, am Hauptmast vorbeiflog, den Mingol zu Boden schlug, der gerade auf den Mausling einstechen wollte, und quer über das Deck in die Steuerbordreling rutschte. Die weißen Ratten ließen die Katze los, die sofort in den Hauptmast entschwand. Nun machten sich die beiden grünen Köpfe, die
seit einigen Tagen nichts Vernünftiges mehr gefressen hatten, an ein üppiges Mahl. Methodisch suchten sie das Deck der Squid nach Ratten ab, wobei sie die Menschen nicht sehr sanft behandelten. Die Ratten taten sehr wenig, ihrem entsetzlichen Schicksal zu entgehen. Vielleicht waren sie in ihrem Streben nach Weltherrschaft schon so menschlich geworden, daß sie hilflose Panik zu empfinden vermochten und vielleicht auch etwas von der menschlichen Fähigkeit, Leid und Trost heraufzubeschwören und zu erdulden. Bis auf drei wurde auch die weiße Rattentruppe vernichtet. Die Menschen an Bord reagierten nun durchaus verschieden auf die drastisch veränderte Situation. Der alte Hisvin schüttelte die Faust und spuckte den größten Drachenkopf an, der plötzlich auf ihn zuruckte, als hätte er entschieden, daß dieses gebeugte schwarze Ding genießbar wäre. Hisvin ließ sich hastig über die Reling fallen und packte die Strickleiter, während sich Grig verzweifelt an seinem schwarzen Lederkragen festhielt. Hisvins Mingols rappelten sich auf und folgten ihm. Dabei schworen sie, daß sie bei erster Gelegenheit in ihre warme Steppe zurückkehren wollten. Fafhrd und Karl Treuherz verfolgten die Szene von entgegengesetzten Enden des Hauptdecks, der eine von Seilen festgehalten, der andere von seiner Verblüffung. Skwee und eine weiße Ratte namens Siss rannten über die Köpfe ihrer apathisch dasitzenden Artgenossen und sprangen auf die Steuerbordreling. Dort schauten sie zurück. Siss blinzelte entsetzt, doch Skwee machte mit seinem kleinen Schwert eine dro-
hende Bewegung und fiepte verächtlich. Frix stürzte zu Hisvet und schob sie zur Steuerbordreling. Als sie sich der Leiter nährten, verschwand Skwee nach unten, um seiner Herrin Platz zu machen. In diesem Augenblick wandte sich Hisvet wie in Trance um. Der kleinere Drachenkopf stieß drohend auf sie herab. Frix sprang mit ausgebreiteten Armen schützend vor ihre Herrin. Vielleicht war diese plötzliche Bewegung zuviel für den Drachen – jedenfalls fuhr er mit knirschenden Hauern zur Seite. Die beiden Mädchen stiegen auf die Reling. Hisvet wandte sich erneut um. Katzenklaue hatte eine grellrote Linie über ihr Gesicht gezogen. Sie hob die Armbrust und richtete sie auf den Mausling. Es folgte ein winziges silbriges Aufblitzen. Hisvet ließ die Waffe ins Meer fallen und folgte Frix die Leiter hinab. Die Bootshaken wurden gelöst, das herabhängende schwarze Segel füllte sich, und der schwarze Kutter verschwand im Nebel. Der Mausling spürte ein Stechen an seiner linken Schläfe, doch er vergaß den Schmerz, als er sich von den letzten Fesseln befreite. Ohne sich um die grünen Köpfe zu kümmern, die das Deck noch nach letzten Leckerbissen absuchten, eilte er zu Fafhrd und schnitt dessen Fesseln durch. Die restliche Nacht verbrachten die beiden Abenteurer im Gespräch mit Karl Treuherz. Sie erzählten sich gegenseitig erstaunliche Dinge über ihre Heimatwelten, während Szylla satt um die Squid herumschwamm und zuerst den einen und dann den anderen Kopf in den Schlaf schickte. Das Gespräch gestaltete sich schwierig, obwohl Karl Treuherz ein
kleines Wörterbuch mitgebracht hatte. Außerdem glaubte man ohnehin wenig von den Geschichten der anderen, ließ sich jedoch nichts anmerken, um die neugewonnene Freundschaft nicht zu gefährden. »Sind in der Welt Morgen alle Leute so großartig gekleidet wie Sie?« fragte Fafhrd einmal. »Nein, Hagenbeck verlangt das von seinen Angestellten, damit sein Zeitzoo berühmt wird«, erklärte Karl Treuherz. Kurz vor Morgengrauen hob sich der Nebel, und sie erblickten im Widerschein des untergehenden Mondes Karl Treuherz, schwarzes Schiff, das kaum eine Bogenschußweite westlich schwebte. Seine Lichter blitzten. Der Deutsche stieß einen Freudenschrei aus, weckte sein schläfriges Ungeheuer, indem er mit seinem Stab auf die Reling schlug, schwang sich auf den größeren Kopf und schwamm los. »Auf Wiedersehen!« rief er über die Schulter. Als das Monstrum und der Deutsche unter das Schiff geschwommen waren, senkte es sich langsam herab und umschloß das Ungeheuer. Kurz darauf verschwand das ganze Schiff. »Es ist in die unendlichen Gewässer gesunken, die uns mit Karls Welt verbinden«, sagte der Graue Mausling zuversichtlich. »Bei Ning und Sheel – dieser Deutsche ist ein wahrer Meisterzauberer!« Fafhrd blinzelte, runzelte die Stirn und zuckte vorsichtig die Achseln. Die schwarze Katze strich an seinem Bein entlang. Fafhrd hob sie vorsichtig hoch und sagte: »Ich möchte nur wissen, Kätzchen, ob du zum Katzenrat der Dreizehn gehörst oder ihr kleiner Helfer bist, der mich im
richtigen Augenblick wecken sollte!« Das schwarze Tier lächelte ihm in das zerkratzte und zerbissene Gesicht und schnurrte. Ein klarer Morgen zog über dem Binnenmeer herauf und offenbarte die Szene ringsum. Fafhrd und der Mausling entdeckten zuerst die beiden überfüllten Boote der Squid. Niedergeschlagen saß Slinoor zwischen den Männern, richtete sich jedoch hastig auf, als er Fafhrd und den Mausling erkannte. Anschließend kamen Lukeens Kriegsgaleere Shark und die drei anderen Kornschiffe in Sicht – dazu im Norden die grünen Segel zweier Drachenschiffe Movarls. Der Mausling fuhr sich mit der linken Hand durch das Haar und spürte eine Erhebung an seiner Schläfe, etwas war ihm unter die Haut gefahren. Hisvets Silberpfeil, den er so schnell nicht wieder loswurde.
7 Fafhrd erwachte durstig und gerädert und mit der Gewißheit, daß es später Nachmittag war. Er wußte, wo er war, und konnte sich auch noch in groben Zügen erinnern, was am Vortag geschehen war – allerdings waren die Erinnerungen an die letzten Stunden vor dem Einschlafen doch etwas unbestimmt. Er befand sich im grünen Kvarch Nar, der Hauptstadt im Land der Acht Städte – von denen sich allerdings keine mit Lankhmar messen konnte. Und er war in seinem Zimmer in dem weitläufigen, schönen Holzpalast Movarls. Vor vier Tagen war der Mausling an Bord der Squid nach Lankhmar abgesegelt, um Glipkerio die sichere Ankunft von vier Fünfteln seines Korns mitzuteilen, um ihm vom Verrat Hisvins und Hisvets zu berichten. Fafhrd jedoch gedachte noch eine Weile in Kvarch Nar zu bleiben, denn ihm gefiel es hier, nicht zuletzt, weil er ein hübsches und wenig zimperliches Mädchen gefunden hatte – Hrenlet hieß sie. Fafhrd fühlte sich etwas beengt unter seiner Felldecke – natürlich hatte er die Stiefel und auch seine übrige Kleidung nicht abgelegt, ganz zu schweigen von seiner Handaxt, deren Klinge ihn an der Seite drückte. Ohne die Augen zu öffnen, ohne sich zu fürchten, versuchte er sich zu orientieren. Zu seiner Linken stand ein Zinnkrug mit kühlem Wein. Gut. Und rechts lag Hrenlet. Er spürte ihre Wärme und hörte ihr ziemlich lautes Schnarchen. Oder war es nicht Hrenlet? Sie war gestern abend
sehr lustig gewesen, ehe er sich an den Spieltisch setzte, und hatte ihm scherzhaft gedroht, sie würde ihm ein heißblütiges Weibchen aus Ool Hrusp mitbringen, wo es sehr viel Vieh gab. Hatte sie etwa ...? Na, um so besser! Und unter seiner weichen Decke – ah, da war die Erklärung für das seltsame Triumphgefühl, das ihn erfüllte. Gestern nacht hatte er den Burschen alles abgenommen – sie hatten keinen einzigen Rilk oder Gront behalten! Ja, jetzt fiel es ihm wieder ein – er hatte sie völlig ausgenommen. Phantastisches Glück hatte er gehabt, und zum Schluß hatte er noch ein Viertel seines Gewinns verrückterweise auf eine seltsam gravierte Blechpfeife gesetzt, die angeblich Zauberkräfte vermittelte ... und hatte ebenfalls gewonnen. Und da hatte er den Leuten zugewinkt und war fröhlich und schwerbeladen wie eine Schatzgaleere nach Hause gesegelt – zu Hrenlet ins Bett. Er versuchte sich zu erinnern, warum er diesen letzten wahnwitzigen Einsatz gewagt hatte. Der lokkige Prahlhans hatte behauptet, er besäße das Pfeifchen einer weisen Frau, die irgendwelche hilfreichen Tiere herbeirief, dreizehn an der Zahl. Daraufhin hatte Fafhrd an die alte Frau denken müssen, die ihm in seiner Jugend erzählt hatte, daß jede Tierart den Rat der Dreizehn kennt – und aus einer romantischen Aufwallung heraus hatte er die Pfeife haben wollen, um sie dem Mausling zum Geschenk zu machen. Er streckte die rechte Hand aus und strich Hrenlet – oder ihrer Base? – über die Schulter. Ihre Haut war mit kurzem, stachligem Fell bedeckt, und sie begann bei seiner liebevollen Berührung zu muhen!
Fafhrd riß die Augen auf und fuhr im Bett hoch, so daß ihn das Sonnenlicht gelblich umhüllte – Strahlen, die durch das offene Fenster hereindrangen und auf den handpolierten Wandpaneelen ringsum ein vielfältiges Farbenwunder hervorriefen. Neben ihm, eingewickelt wie er und vermutlich betäubt – lag ein großes langohriges kastanienbraunes Kalb. Plötzlich spürte er auch die Hufe durch seine Stiefel und zog hastig die Beine an. Auf der anderen Seite des Kalbes war von einem Mädchen nichts zu sehen. Mit der rechten Hand fuhr er unter die Decke. Seine Finger berührten das doppelt genähte Leder seines Beutels – der jedoch nicht prall von Gold war, sondern flach wie ein sarheenmarischer Pfannkuchen. Bis auf die kleine Blechpfeife war er leer. Er warf die Decke von sich, so daß sie durch die Luft segelte. Er schob den ausgeraubten Beutel unter seinen Gürtel, sprang aus dem Bett, nahm sein Langschwert auf, das noch in der Scheide steckte, und raste durch den schweren Doppelvorhang hinaus. Trotz seiner Wut auf Hrenlet mußte er zugeben, daß sie bis zu einem gewissen Grade ehrlich mit ihm gewesen war: seine Bettgefährtin war ein Weibchen, hatte rotes Haar, stammte zweifellos von einem Bauernhof und war hübsch, soweit man ein Kalb hübsch nennen kann. Der Aufenthaltsraum war ein zweites Wunder aus poliertem Holz. Movarls Königreich war so jung, daß seine Wälder noch sein Hauptreichtum waren. Durch die Fenster leuchteten grüne Äste herein. Von den Wänden grüßten unheimliche Dämonen und geflügelte Kriegerinnen aus Holz. Hier und dort lehnten herrlich polierte Bögen und Speere an den Wänden.
Eine breite Tür führte auf einen kleinen Hof, auf dem sich unter dem grünen Blätterdach unruhig ein braunes Pferd bewegte. Etwa ein Dutzend grün- und braungekleideter Männer lungerten im Aufenthaltsraum herum, tranken Wein, spielten Brettspiele oder unterhielten sich. Es waren dunkelbärtige stämmige Burschen, nur wenig kleiner als Fafhrd. Fafhrd sah sofort, daß es sich um die Männer handelte, denen er gestern abend die Goldstücke abgenommen hatte. Und diese Entdeckung verleitete ihn zu einer gefährlichen Bemerkung. »Wo ist die diebische Hrenlet?« dröhnte er und schwang sein Schwert über dem Kopf. »Sie hat mir meinen Gewinn unter dem Kopfkissen fortgestohlen!« Sofort sprangen die zwölf auf und griffen nach ihren Schwertern. Der kräftigste trat einen Schritt vor und sagte mit eisiger Stimme: »Wagst du zu behaupten, ein edles Mädchen aus Kvarch habe dein Bett geteilt, Barbar?« Fafhrd merkte, daß er einen Fehler gemacht hatte. Sein Verhältnis mit Hrenlet, obwohl niemandem unbekannt, war niemals erwähnt worden, weil die Frauen der Acht Städte von ihren Männern angebetet werden und machen können, was sie wollen, wie schlimm dies auch sein mag. Aber wehe dem Fremden, der ihr Tun in Worte zu kleiden wagt. Doch Fafhrds Wut trieb ihn noch weiter. »Edel?« brüllte er. »Sie ist eine Lügnerin und eine Hure! Ihre Arme sind zwei weiße Schlangen, die unter der Dekke herumkriechen und nach Gold suchen – nicht nach dem Fleisch des Mannes!«
Ein Dutzend Schwerter klirrte aus der Scheide, und die Männer stürzten vor. Fafhrd hastete auf die große Tür zu, parierte mit seinem Schwert, das er noch immer nicht gezogen hatte, die schnellen Hiebe der Movarlschen Kämpfer, sprintete über den Hof, sprang in den Sattel des Braunen und spornte ihn mit gewaltigen Tritt an. Er riskierte einen kurzen Blick über die Schulter, als die Hufe des Pferdes funkensprühend über die schmale Waldstraße klapperten – und erhaschte einen Blick auf seine blonde Hrenlet, die mit bloßen Armen im oberen Stock aus einem Fenster lehnte und ihm nachlachte. Ein halbes Dutzend Pfeile pfiff heran, und er konzentrierte sich darauf, das Pferd noch mehr anzutreiben. Er hatte bereits drei Meilen auf der gewundenen Straße nach Klelg Nar zurückgelegt, die dicht an der Küste des Binnenmeeres durch dichten Wald nach Osten führt, als er zu dem Schluß kam, daß das Ganze ein Trick gewesen war, den sich die Verlierer der letzten Nacht ausgedacht hatten, um ihr Gold wiederzubekommen – und einer von ihnen vielleicht auch sein Mädchen –, und daß die Pfeile ihr Ziel absichtlich verfehlt hatten. Er zügelte den Braunen und lauschte. Von den Verfolgern war keine Spur. Das bestätigte seine Vermutung. Und doch konnte er jetzt nicht umkehren. Auch Movarl vermochte ihn nicht mehr zu schützen, nachdem er öffentlich solche Worte geäußert hatte. Es gab keine Häfen zwischen Kvarch Nar und Klelg Nar. Er mußte also mindestens soweit um das Binnenmeer herumreiten und dabei noch den Min-
gols aus dem Wege gehen, die Klelg Nar belagerten. Sehr unangenehm. Und er mußte nach Lankhmar zurück, um dort seinen Anteil an Glipkerios Belohnung für die Bewachung der Kornschiffe in Empfang zu nehmen. Und doch konnte der Hrenlet nicht wirklich böse sein. Das Pferd war kräftig, und die große Satteltasche steckte voller Nahrung und Wein. Außerdem erinnerte ihn das rötliche Fell seltsam an das Kalb. Ein derber Spaß – aber ein guter. Auch konnte er nicht bestreiten, daß Hrenlet im Bett großartig gewesen war – und nicht dumm. Er fummelte in seinem flachen Beutel herum und untersuchte die Blechpfeife, die nun sein einziges Erinnerungsstück an Kvarch Nar war. An einer Seite des kleinen Gebildes zogen sich seltsame Zeichen hin, und auf der anderen war die schlanke Gestalt eines schlafenden Ungeheuers abgebildet. Er grinste und schüttelte den Kopf. Wie närrisch sich doch ein betrunkener Spieler gebärdete! Er wollte die Pfeife schon fortwerfen, als er sich erinnerte, daß er sie dem Mausling schenken wollte. Er steckte sie also wieder in den Beutel zurück. Er trieb das Pferd mit den Hacken an, trabte auf Klelg Nar zu und pfiff dabei einen mingolschen Marsch. Nehwon: war eine große Blase, die ewig durch die Wasser der Ewigkeit strömte. Wie sprudelnder Champagner ... oder, aus der Sicht gewisser Moralisten, wie ein übelriechendes Gas aus Morast. Lankhmar: ein Kontinent, an der Innenseite dieser Blase fest verankert. Mit Bergen, Hügeln, Städten,
Ebenen, schroffen Küsten, Wüsten, Seen, Marschen und Kornfeldern – ja, ganz besonders mit Kornfeldern, denen der Reichtum dieses Kontinents entstammte, Felder, die sich zu beiden Seiten des Hlal, des größten aller Flüsse, hinzogen. Und an der nördlichen Spitze des Kontinents, am Ostufer des Hlal, lag die Herrscherin über alle Kornfelder und deren Reichtum, die Stadt Lankhmar, die älteste Stadt der Welt, Lankhmar, befestigt gegen Barbaren und Ungeheuer, von unten her gesichert vor Kriech- und Nagetieren. Im Süden der Stadt das Korntor und auch das Große Tor, das noch breiter war, und das kleinere EndTor. Dann die Südkaserne mit dem schwarzgekleideten Militär, das Viertel der Reichen, der Park des Vergnügens und der Platz der Dunklen Freuden. Anschließend die Hurenstraße und die Straßen der anderen Gewerbezweige. Dahinter lag die Straße der Götter, die vom Marschtor quer durch die Stadt bis zu den Docks führte. An dieser Straße lagen die zahlreichen kostbar ausgeschmückten Tempel der Götter in Lankhmar und der gedrungene Schwarze Tempel der Götter von Lankhmar, der einem uralten Grab geähnelt hätte, wenn da nicht der große viereckige Glockenturm gewesen wäre. Dann noch die Slums und schließlich, im Norden zum Binnenmeer hin und her nach Westen zum Hlal, ragte die Nordkaserne auf und in der Nähe, auf einem hohen Felsen, die Zitadelle und der Regenbogenpalast des Oberherrn Glipkerio Kistomerces. Ein heranwachsendes Sklavenmädchen, das auf ihrem glattrasierten Kopf ein großes Tablett mit Süßigkeiten und vollen Silberkelchen balancierte, schritt
wie eine Seiltänzerin in den mit grünen Fliesen ausgelegten Vorraum zum Blauen Audienzzimmer dieses Palastes. Sie trug schwarze Lederbänder um Hals, Handgelenke und Hüfte. Winzige Silberketten, ein wenig kürzer als ihre Unterarme, verbanden ihre Handgelenke mit dem Hüftgurt – es war Glipkerios Wille, daß keine Sklavin sein Essen oder auch nur das Tablett berührte und daß die Mädchen balancierten. Bis auf die Lederbänder war sie unbekleidet und ansonsten auch völlig haarlos – denn der empfindliche Monarch hatte panische Angst davor, daß ihm ein Haar in seine Suppe geriet. Sie sah aus wie eine Puppe vor dem Anziehen. Die meerfarbenen Fliesen in dem Vorzimmer waren etwa handtellergroß und sechseckig. Die meisten waren einfarbig, doch hier und dort war ein Meerestier aufgemalt – eine Molluske, ein Dorsch, ein Tintenfisch, ein Seepferdchen. Das Mädchen hatte den Raum etwa zur Hälfte durchschritten, als sich ihr Blick auf eine Fliese kurz vor dem Durchgang zum Audienzzimmer richtete – ein Sechseck mit einem Seelöwen. Es hatte sich um eine Daumenbreite gehoben, wie eine winzige Falltür, und schwarzblitzende Augen starrten das Mädchen an. Sie begann von Kopf bis Fuß zu zittern, doch ihren zusammengekniffenen Lippen entfuhr kein Laut. Die Kelche klirrten leise, das Tablett begann zu kippen, doch sie schob mit schneller Seitwärtsbewegung ihren Kopf wieder unter die Mitte und begann der schrecklichen Fliese mit furchtsamen Schritten nach rechts auszuweichen, bis der Tablettrand kaum eine Handbreit von der Wand entfernt war.
Unmittelbar unter dem Tablett, als wäre es ein Verandadach, klappte plötzlich türgleich eine Fliese auf, und der Kopf einer Ratte zuckte vor. Das Mädchen fuhr erschreckt zurück, noch immer völlig stumm. Das Tablett fiel. Sie versuchte es mit dem Kopf aufzufangen. Die Fliese am Boden sprang klirrend auf, und eine lange schwarze Ratten zwängte sich durch die Öffnung. Das Tablett berührte die Schulter des Mädchens, sie versuchte vergeblich, es mit ihren angeketteten Händen zu erreichen – dann fiel es mit ohrenbetäubendem Getöse zu Boden. Als sich der Lärm gelegt hatte, war nur noch das leise Klatschen nackter Füße zu hören. Wie von Furien gehetzt eilte das Mädchen zurück. Zweihundert Herzschläge später näherten sich erneut Schritte – diesmal von mehreren Menschen – aus der Richtung der Küche. Zwei kahlgeschorene, weißgekleidete Köche bildeten die wachsame Vorhut, jeder mit einem Hackmesser und einer großen Gabel bewaffnet. Es folgten zwei nackte, glatzköpfige Küchenjungen, die allerlei Lappen und einen Besen aus schwarzen Federn trugen. Anschließend das Mädchen, das seine Silberketten mit den Händen umschloß, so daß ihr Zittern kein Klirren hervorrief. Ihr auf dem Fuße folgte eine ungeheuer dicke Frau in einem warmen schwarzen Wollkleid. Ihr aufgedunsenes Gesicht war herrisch verkniffen, die schwarzen Augen starrten verächtlich und mißtrauisch zwischen ihren Fettpolstern hervor, während sich ein dünner schwarzer Schnurrbart wie ein durchsichtiger Tausendfüßler auf ihrer Oberlippe entlangzog. Ihre gewaltigen Hüften umschloß ein Gürtel, an dem in Abständen Schlüssel, Leinen, Ketten und Peitschen befe-
stigt waren. Die Küchenjungen glaubten, sie wäre absichtlich so fett geworden, um zu verhindern, daß diese Dinge zusammenstießen und sie beim Spionieren verrieten. Die fette Küchenkönigin sah sich in dem Vorraum um, breitete die mächtigen Arme aus und starrte das Mädchen an. Die grünen Fliesen waren an Ort und Stelle. Das Mädchen nickte heftig und deutete von ihrer Hüfte auf die Fliese mit dem Seelöwen, tastete sich vorsichtig zwischen den Schalen und Kelchen hindurch und berührte das Sechseck mit einer Zehe. Einer der Köche kniete sich hin und klopfte vorsichtig mit dem Knöchel darauf. Die Fliese klang nicht anders als die Sechsecke ringsum. Vergeblich versuchte er den Seelöwen mit seiner Gabel anzuheben. Das Mädchen rannte zur Wand, wo sich das glasierte Türchen geöffnet hatte. Der zweite Koch klopfte ebenfalls herum, ohne einen hohlen Laut hervorzubringen. Der Blick der Palastherrin sprach Bände. Wie eine Sturmwolke näherte sie sich der Sklavin, stieß plötzlich mit den Armen vor und befestigte eine Leine am Halskragen des Mädchens. Das Zuschnappen des Hakens klang sehr laut. Das Mädchen schüttelte wild den Kopf, doch sie wurde mitgezerrt. Mit kräftigem Ruck an der Leine bedeutete ihr die dicke Frau, auf Hände und Knie hinabzusinken und wie ein Hund hinter ihr aus dem Vorraum zu trotten. Unter dem wachsamen Blick der Köche machten die Küchenjungen mit hastigen Bewegungen sauber,
wickelten jeden Kelch in ein Tuch und legten ihn auf das Tablett, damit es nicht klirrte. Immer wieder sahen sie sich furchtsam um. Der Graue Mausling, der am Bug der Squid Ausschau hielt, sichtete die hochaufragende Zitadelle Lankhmars durch den aufsteigenden Nebel. Weiter östlich tauchten darauf die hohen Kornsilos auf, die wie Schornsteine aussahen. Bei der ersten Gelegenheit winkte er eine kleine Hafenfähre herbei. Das schwarze Kätzchen zischte ihn tadelnd an, als er sich gegen Slinoors Befehl über die Bordwand schwang und in das kleine Fährboot sprang. Er versprach dem erstaunten Fährmann einen guten Lohn, wenn er ihn so schnell wie möglich zum Palastdock ruderte. Der Mausling winkte zurück und rief: »Keine Angst, Slinoor, ich werde Glipkerio vernünftig berichten – und Sie in den Himmel loben!« Dann wandte er sich um und lächelte vor sich hin. Es tat ihm leid, daß er Fafhrd hatte zurücklassen müssen, der sich gerade auf ein hartes Trink- und Spielgelage mit Movarls kräftigsten Kämpfern eingelassen hatte. Ja – es war immer dasselbe. Die großen Kerle bejammerten jeden Morgen ihre Kopfschmerzen und ihre Verluste, doch wenn erst der Nachmittag heranrückte, da erwachte die Spielleidenschaft erneut – und der Durst. Andererseits freute es ihn, daß er Movarls Dank für die vier Kornladungen nun allein abstatten konnte, daß es ihm vorbehalten war, die Geschichte von dem Drachen, den Ratten und ihren menschlichen Herren – oder Kollegen – zu erzählen. Wenn Fafhrd aus Kvarch Nar zurückkehrte – vermutlich bis aufs Hemd
ausgeplündert –, lebte der Mausling wohl schon in einer schönen Wohnung in Glipkerios Palast und konnte seinen Freund ein wenig ärgern, indem er ihm Gastfreundschaft und Hilfe anbot. Er beschäftigte sich kurz mit der Frage, wohin wohl Hisvet und Hisvin und ihre kleine Gefolgschaft entflohen waren. Vielleicht nach Sarheenmar oder sogar nach Ilthmar, was noch wahrscheinlicher war. Unwillkürlich fuhr er sich mit der rechten Hand an die Schläfe und betastete die kleine Erhebung. Nein, dem Geschehen so weit entrückt, konnte er Hisvet gar nicht hassen, ganz zu schweigen von der mutigen Frix. Bestimmt waren Hisvets böse Drohungen eine Art Liebesspiel gewesen. Außerdem hatte er ihr Schlimmeres angetan. Nun, vielleicht traf er sie in irgendeiner fernen Welt einmal wieder. Seine verzeihenden Gedanken waren bestimmt teilweise darauf zurückzuführen, daß ihm im Augenblick sehr an der Gesellschaft irgendeines Mädchen gelegen hätte. Kvarch Nar unter Movarl war dem Mausling recht zugeknöpft vorgekommen, und das einzige freizügige Mädchen, das er während seines kurzen Aufenthalts kennengelernt hatte – Hrenlet –, war zu Fafhrd gegangen. Naja, Hrenlet war nicht gerade klein gewesen, und jetzt war er auch bald in Lankhmar, wo er ein Dutzend passende Orte kannte. Das hellbraune Wasser wurde plötzlich tiefgrün. Die Seefähre passierte die Mündungsströmung des Hlal und fuhr nun an der großen Felswand entlang, auf deren Spitze die Zitadelle und der Palast ruhten. Hier mußte der Fährmann ein seltsames Hindernis umfahren: eine kupferne Rutsche, eine Manneslänge breit, führte auf großen Eisenträgern von einer Pa-
lastveranda bis fast zur Wasseroberfläche hinab. Der Mausling fragte sich, ob Glipkerio sich vielleicht plötzlich für den Wassersport interessierte. Oder hatte er sich etwas Neues einfallen lassen, unerwünschte Besucher oder Sklaven loszuwerden – indem er sie beladen ins Meer gleiten ließ? Dann bemerkte er einen spindelförmigen Wagen (oder etwas Ähnliches) aus graumattem Metall am oberen Ende der Rutsche. Seltsam. Nun erreichte die Fähre den königlichen Pier, und hochmütig zeigte er den zeternden Eunuchen und Wachen Glipkerios Kurierring mit dem Seesternzeichen und das Dokument, das mit dem Kreuzschwertsiegel Movarls versehen war. Die Siegel schienen die Palastwächter am meisten zu beeindrucken. Dienernd geleiteten sie ihn über den Pier, führten ihn eine steile, bunt angemalte Holztreppe hinauf und schoben ihn in Glipkerios Audienzzimmer – in einen herrlichen blaugekachelten Raum, von dem aus man das Meer überschauen konnte. Trotz der blauen Vorhänge, die es teilten, wirkte das Zimmer sehr groß. Zwei nackte Pagen verbeugten sich vor dem Mausling und öffneten den Vorhang vor ihm. Er trat durch die schmale dreieckige Öffnung und wurde mit einem herrischen »Psst!« begrüßt. Da dieser Befehl von Glipkerio kam und da sich noch dazu einer der dürren Finger des Monarchen vor die Lippen hob, verharrte der Mausling auf der Stelle. Es war eine seltsame Szene. Drei breite Torbögen führten auf eine Veranda hinaus, auf der das spindel-
förmige Vehikel ruhte, das er am oberen Ende der Rutsche gesehen hatte. Jetzt entdeckte er noch einen Einstieg mit Gittertür nahe dem vorderen Ende. Auf der anderen Seite des Raumes stand ein großer, fester Käfig mit etwa zwanzig schwarzen Ratten, die laut fiepend durcheinanderrannten. Im hinteren Teil des meerblauen Zimmers, neben der Wendeltreppe, die in das höchste Palast-Minarett führte, hatte sich Glipkerio aufgeregt von seinem goldenen Audienzsofa erhoben, das wie eine Muschel geformt war. Der phantastische Oberherr war noch einen guten Kopf größer als Fafhrd, doch er war auch dünn wie ein ausgehungerter Mingol. In seiner schwarzen Toga sah er wie ein Trauernder aus. Vielleicht wollte er die düstere Wirkung etwas auflockern – jedenfalls trug er einen Kranz aus kleinen violetten Blumen auf dem blonden Lockenkopf. Dicht neben ihm, kaum halb so groß wie er, zierlich wie eine Elfe, die eine weite hellgelbe Seidenrobe gekleidet, stand Hisvet. Die Dolchspitze des Mauslings hatte eine rosa Linie von ihrem linken Nasenflügel bis zum Wangenbein gezogen – eine Linie, die ihrem Gesicht vielleicht einen sarkastischen Ausdruck verliehen hätte, wenn sie den Mausling nicht so süß angelächelt hätte. Etwa auf halbem Wege zwischen dem Audienzsofa und dem Rattenkäfig stand Hisvets Vater Hisvin. Sein hagerer Körper war in eine schwarze Toga gehüllt, doch er trug noch immer seine enge schwarze Lederkappe mit dem Kinnschutz. Sein Blick war auf die Ratten gerichtet, und er bewegte hypnotisch die Finger. »Gesäubert werde dieses Haus«, sang er mit pfeifender Stimme.
In diesem Augenblick erschien ein nacktes junges Mädchen in einem schmalen Torbogen neben dem Audienzsofa. Auf dem kahlen Kopf trug sie ein großes Silbertablett mit Kelchen und herrlich bestückten Silbertellern. Ihre Handgelenke waren an der Hüfte festgekettet, während die dünne Silberkette zwischen ihren schmalen schwarzen Fußgelenken jeden größeren Schritt verhinderte. Diesmal hob Glipkerio seinen Finger ohne ein vorheriges »Psst!«. Das schlanke Mädchen erstarrte und blieb stehen. Der Mausling wollte sagen: »Mächtiger Oberherr! Sie erliegen einem bösen Zauber! Sie geben sich mit Ihren schlimmsten Feinden ab!« Doch da lächelte ihn Hisvet an, und er spürte ein erschreckend angenehmes Kribbeln, das von seiner linken Schläfe ausging und von seiner Wange auf seinen Gaumen übergriff, so daß er die Zunge nicht bewegen konnte. Hisvin begann noch einmal von vorn: »Gesäubert werde dieses Haus – Das Herz versag, das Fell geh aus, Das Auge trüb, der Schwanz fall ab – So geht's ins schwarze Rattengrab!« Die schwarzen Ratten scheuten vor Hisvin zurück und drängten sich in die Käfigecke zusammen. Die meisten hatten sich auf die Hinterpfoten erhoben und tasteten wie eine panische Menschenmenge zwischen den Gitterstäben hindurch. Der alte Mann bewegte seine Finger in komplizierten Mustern und fuhr mit singender Stimme fort:
»Nun hört das mächtige Gebot: Dreht euch herum, und seid mir tot!« Und wirklich, die schwarzen Ratten gerieten in Bewegung, fuhren wie Amateurschauspieler herum, um ihren Sturz zu mildern und zu dramatisieren, doch sie fielen sehr überzeugend auf den Käfigboden oder übereinander und lagen steif und stumm mit schlaffen Schwänzen und hochgereckten Beinchen da. Ein langsames Klatschen ertönte, als Glipkerio die beiden schmalen Hände zusammenbrachte, die so lang waren wie ein Menschenfuß. Dann hastete die Bohnenstange an den Käfig. Hisvet eilte fröhlich neben ihm her. »Haben Sie dieses Wunder gesehen, Grauer Mausling?« fragte Glipkerio mit piepsender Stimme und winkte seinen Kurier herbei. »Wir haben die Rattenplage in Lankhmar. Sie, deren Namen uns erwarten ließe, daß Sie uns beschützen, sind ziemlich spät zurückgekehrt. Aber die Schwarzen Götter mögen's vergelten: Mein einfallsreicher Diener Hisvin und sein unvergleichlich schöner Zauberlehrling, seine Tochter Hisvet, sind rechtzeitig zurückgeeilt, nachdem sie die Ratten besiegt hatten, die unsere Kornflotte bedrohten. Sie sind zurückgeeilt, um sich unserer Rattenplage anzunehmen – mittels eines kräftigen Zaubers, der bestimmt wirkt, wie uns hier bewiesen wurde.« Jetzt brachte der Oberherr einen langen, dünnen, nackten Arm unter seiner Robe zum Vorschein und faßte dem Mausling unter das Kinn, was dieser überhaupt nicht mochte, obwohl er es sich nicht anmerken ließ. »Hisvin und Hisvet berichten mir sogar«, sagte
Glipkerio und lachte leise, »daß sie Sie eine Zeitlang als Verbündeten der Ratten in Verdacht hatten – wie wäre das bei Ihrem Aufzug und Ihrer geduckten Gestalt auch anders möglich? – und Sie an den Mast binden mußten. Aber dann war doch alles gut, und ich verzeihe Ihnen.« Der Mausling setzte zu einer höchst polemischen und anklagenden Gegenrede an, doch nur im Geiste, denn er hörte sich sagen: »Hier, mein Oberherr, ist eine dringende Botschaft vom König der Acht Städte. Übrigens gab es da einen Drachen ...« »Oh, der zweiköpfige Drachen!« unterbrach ihn Glipkerio fröhlich und schwenkte schelmisch den Finger. Er steckte das Pergament in seine Toga, ohne auch nur das Siegel anzuschauen. »Movarl hat mich bereits durch Albatrosse von den seltsamen Wahnideen meiner Flotte unterrichtet. Hisvin und Hisvet, die beide meisterliche Psychologen sind, bestätigen alles. Seeleute sind abergläubisch, Grauer Mausling, und es will mir scheinen, als wären ihre Phantastereien doch ansteckender, als ich vermutete, denn auch Sie konnten sich dem Einfluß nicht entziehen! Bei Ihrem barbarischen Freund – Favner? Fafrah? – oder auch bei Slinoor und Lukeen hätte mich das nicht verwundert, aber bei Ihnen, da Sie zumindest ein bißchen zivilisiert sind? Jedoch, auch das verzeihe ich Ihnen. Oh, welche Gnade, daß der weise Hisvin daran dachte, die Flotte mit seinem Kutter im Auge zu behalten.« Der Mausling merkte, daß er nickte und daß Hisvet und Hisvin schelmisch lächelten. Er betrachtete die schwarzen Ratten, die theatralisch in ihrem Käfig herumlagen.
»Ihr Fell ist noch nicht ausgegangen«, kritisierte er leise. »Sie nehmen das zu wörtlich«, sagte Glipkerio auflachend. »Von dichterischer Freiheit haben Sie wohl noch nichts gehört?« »Oder von den diversen Möglichkeiten humanoanimalischer Suggestion«, fügte Hisvet düster hinzu. Der Mausling trat kräftig auf einen Schwanz, der aus dem Käfig auf den Fliesenboden hing, doch es rührte sich gar nichts. Hisvin bemerkte seine Bewegung und klickte leise zwei Fingernägel zusammen. Der Mausling glaubte in dem Rattenhaufen eine winzige Bewegung wahrzunehmen. Plötzlich drang ein ekelerregender Gestank aus dem Käfig. Glipkerio schluckte einmal. Hisvet hielt sich die Nase zu. »Haben Sie noch Fragen zu meinem Zauberer?« fragte Hisvin den Mausling höflich. »Verwesen die Ratten nicht sehr schnell?« erkundigte sich der Mausling. Er überlegte, ob der Käfig vielleicht einen doppelten Boden hatte. Im Zwischenraum konnte ein Dutzend längst getöteter Ratten oder ein verwesendes Stück Fleisch liegen. »Hisvin tötet sie eben zweimal«, erwiderte Glipkerio mit schwacher Stimme und drückte eine lange Hand vor seinen Magen. »Alle Verfallsprozesse werden beschleunigt.« Hisvin schwenkte hastig die Arme und deutete auf ein Fenster. Ein stämmiger gelber Mingol, der in einer Ecke gehockt hatte, sprang auf, nahm den Käfig und rannte damit nach draußen, um ihn ins Meer zu werfen. Der Mausling folgte ihm, stemmte den Mingol in der schmalen Fensteröffnung zur Seite, lehnte sich
hinaus und sah, wie der Käfig aufklatschend im blauen Wasser verschwand. Im gleichen Augenblick drückte sich Hisvet, die ihm mit schnellen Schritten nachgegangen war, von der Seite an ihn. Sie berührten sich von der Schulter bis zur Hüfte. Der Mausling glaubte einige kleine Gestalten auszumachen, die unter Wasser den Käfig verließen und mit kräftigen Bewegungen zu den Felsen schwammen. Hisvet hauchte in sein Ohr: »Heute nacht, wenn der Abendstern untergeht, auf dem Platz der Dunklen Freuden. Der Hain der Glockenbäume.« Dann wandte sie sich schnell ab und rief dem Sklavenmädchen zu: »Wein für Seine Majestät!« Glipkerio nahm einen Kelch mit hellem Wein. Anschließend machte das zierliche Mädchen die Runde und bot auch den anderen zu trinken an. Als sie sich umdrehte, bemerkte der Mausling auf ihrem nackten Rücken ein gleichmäßiges Muster aus rötlichen Streifen, das sich von ihren Schultern bis zu den Fersen hinzog. Im ersten Augenblick hielt er es für aufgemalt, dann sah er, daß es die Spuren einer Auspeitschung waren. So sorgte die dicke Samanda also für Ordnung! Die unterschwellige Folterverschwörung zwischen dem hageren und weibischen Glipkerio und der verfetteten Palastdame war psychologisch nicht uninteressant, so ekelhaft sie auch anmutete. Der Mausling fragte sich, was das Mädchen wohl falsch gemacht hatte. Er stellte sich auch vor, wie Samanda fauchend und wabbelnd in der breiten Kupferrutsche nach unten verschwand. Glipkerio sagte zu Hisvin: »Dann brauchen wir al-
so die Ratten nur auf die Straßen zu locken und Ihren Zauberspruch aufzusagen?« »O ja, weise Majestät«, versicherte ihm Hisvin, »obwohl wir damit noch etwas warten müssen, bis nämlich die Sterne eine günstige Stellung am Ozean des Himmels erreicht haben. Erst dann wird mein Zauber auch auf die Entfernung wirken. Ich spreche meinen Zauber vom Blauen Minarett des Palastes und bringe alle Ratten auf einmal um.« »Ich hoffe, die Sterne setzen bald ihre Segel und beeilen sich«, sagte Glipkerio. »Mein Volk wird unruhig. Die Leute erwarten, daß ich etwas gegen die Tiere unternehme.« »Machen Sie sich um diesen Punkt keine Sorgen«, sagte Hisvin beruhigend. »Die Ratten lassen sich nicht so leicht verscheuchen. Setzen Sie also alle Maßnahmen gegen sie fort. Unterdessen können Sie Ihrem Rat aber mitteilen, daß eine mächtige Waffe in der Reserve bereitsteht.« Der Mausling schlug vor: »Warum können wir nicht tausend Pagen den tödlichen Spruch auswendig lernen lassen? Die Ratten stecken unter der Erde und merken gar nicht, daß die Sterne an der falschen Stelle stehen.« Glipkerio wandte ein: »Ah, aber es ist nötig, daß die kleinen Biester Hisvins Handzeichen sehen! Sie verstehen von diesen Dingen nichts, Mausling. Sie haben Movarls Botschaft überbracht; Sie können gehen. Aber denken Sie daran«, fuhr er fort. »Ich habe Ihnen die Verspätung verziehen, kleiner Grauer, und Ihre Dracheneinbildung und Ihre Zweifel an Hisvins Zauberkräften. Aber noch einmal vergebe ich Ihnen nicht. Sprechen Sie mir nie wieder von diesen Dingen.«
Der Mausling verbeugte sich und verließ das Audienzzimmer. Als er an der kleinen Sklavin vorüberging, flüsterte er: »Du heißt?« »Reetha«, hauchte sie. Hisvet rauschte herbei um sich einen Bissen Kaviar zu holen. Reetha sank automatisch auf die Knie. »Dunkle Freuden«, murmelte Hisvins Tochter und rollte die winzigen schwarzen Fischeier auf der Zunge. Als der Mausling gegangen war, beugte sich Glipkerio zu Hisvin hinab. »Ein Wort im Vertrauen«, flüsterte er. »Die Ratten machen mich sogar manchmal ... äh, nervös.« »Es sind schreckliche Ungeheuer«, stimmte ihm Hisvin ernsthaft zu, »die sich sogar vor den Göttern nicht fürchten.« Fafhrd ritt südwärts auf der steinigen Uferstraße, die von Klelg Nar nach Sarheenmar führte. Der Nordling war schlanker geworden – er hatte viel geschwitzt und an Gewicht verloren, und sein Gesicht war grimmig, seine Augen rotunterlaufen und gereizt vom Staub, sein Haar war völlig matt. Er ritt eine große, kräftige graue Stute mit tückischen Augen – ein Tier, das so hinterhältig aussah wie die Landschaft ringsum. Fafhrd hatte dieses Pferd einigen Mingols abgenommen, die ihn auf der Straße nach Klelg Nar angegriffen hatten. In Klelg Nar selbst wurde erbittert gekämpft, während in der Nacht die mingolschen Lagerfeuer im Osten einen großen Halbkreis bildeten. Zu seinem Ärger hatte Fafhrd erfahren müssen, daß im Hafen von Klelg Nar seit Wochen kein Schiff mehr
angelegt hatte, da die Hälfte der Anlagen bereits in mingolscher Hand war. Sie hatten die Stadt nicht in Brand gesteckt, weil Holz für die hageren Steppenbewohner eine Kostbarkeit war – tatsächlich nahmen ihre Sklaven eroberte Häuser sofort auseinander und trugen die kostbaren Bohlen und herrlichen Schnitzereien davon. Trotz der Gerüchte, daß einige Mingolhorden nach Süden zu unterwegs waren, hatte sich Fafhrd in diese Richtung auf den Weg gemacht. Und jetzt brachten ihm Rauchwolken über der Küstenstraße die Gewißheit, daß die Mingols Sarheenmar nicht in gleicher Weise verschont hatten. Auch gab es bald keinen Zweifel mehr, daß die Stadt in der Gewalt der Mingols war, denn die Straße füllte sich mit verzweifelten, erschöpften Flüchtlingen, die nach Norden zogen und Fafhrd immer wieder von der Straße drängten. Er versuchte sie auszufragen, doch die meisten standen derart unter Schockeinwirkung, daß sie keine vernünftige Antwort herausbekamen. Fafhrd nickte vor sich hin – er kannte die Mingolsche Vorliebe für die Folter. Doch dann war ein aufgelöster mingolischer Kavallerietrupp dahergaloppiert – in der gleichen Richtung wie die fliehenden Sarheenmarier. Ihre Pferde waren schweißüberströmt, und in ihren Gesichtern stand das Entsetzen. Sie schienen Fafhrd überhaupt nicht wahrzunehmen, und es schien mehr aus Panik zu geschehen, daß sie einige Flüchtlinge, die ihnen nicht rechtzeitig auswichen, zu Boden ritten. Fafhrd runzelte die Stirn und stemmte sich grimmig gegen den erfüllten Strom und fragte sich, wel-
che schlimme Gefahr die Mingols und Sarheenmarier gleichermaßen in Angst und Schrecken versetzte. Schwarze Ratten begannen sich in Lankhmar zu zeigen – bei vollem Tageslicht. Sie stahlen nichts oder bissen auch nicht, sie huschten nicht über die Straßen – sie zeigten sich nur. Sie starrten aus Entwässerungslöchern und frisch genagten Wandöffnungen, sie saßen in Fensterschlitzen oder auf den Fluren – so still und selbstbewußt wie Katzen. Wo immer sie bemerkt wurden, hielten die Menschen den Atem an, kreischten auf, hasteten davon und schleuderten Töpfe, Armbänder, Messer, Steine, Schachfiguren oder andere Gegenstände nach den Ratten. Doch oft dauerte es eine ganze Weile, bis die Tiere bemerkt wurden. Bei Sturmfluten oder zu Zeiten der Schwarzen Krankheit hatte es schon früher Rattenplagen in Lankhmar gegeben – doch da waren die Tiere nur in den Ecken herumgehuscht und hatten sich verstohlen bewegt – sie waren jedenfalls nicht so selbstbewußt aufgetreten. Ihr Benehmen erinnerte die alten Leute, die Geschichtenerzähler und die dünnbärtigen Gelehrten an die Sagen, wonach es einmal eine Rattenstadt gegeben hatte, deren Bewohner so groß wie Menschen waren – und zwar an der Stelle, an der sich das große Lankhmar nun seit sechzig Jahrhunderten erhob. Die Ratten sollten auch eine eigene Sprache und Regierung gehabt haben und ein gewaltiges Reich, das sich bis zu den Grenzen der bekannten Welt erstreckte; es hatte neben den Städten des Menschen bestanden, war jedoch in sich geschlossener gewesen. Und unter
Lankhmar, tief unter den üblichen Höhlengängen, unter den tiefsten Kellern der Menschen, sollte es eine Nagetier-Metropole geben mit Straßen und Wohnungen und künstlicher Beleuchtung und Kornkammern voller gestohlenem Getreide. Jetzt hatte es fast den Anschein, als hielten die Ratten nicht nur diese legendäre Sub-Metropole besetzt, sondern das oberirdische Lankhmar in gleicher Weise, so arrogant trieben sie sich herum. Die Mannschaft der Squid, die sich gern von ihren Tavernenfreunden hätte bewundern lassen, fand Lankhmar nur an der Rattenplage interessiert. Angst ergriff sie. Einige kehrten zurück, um an Bord der Squid Schutz zu suchen, wo Slinoor und das schwarze Kätzchen besorgt über Deck patrouillierten.
8 Glipkerio Kistomerces ließ die Fackeln anzünden, während der Schein des Sonnenuntergangs noch rot in der gewaltigen Banketthalle glühte. Doch machte der hagere Monarch einen sehr fröhlichen Eindruck, als er mit Gekicher und Gelächter seinen ernsten und nervösen Beratern mitteilte, daß er eine Geheimwaffe in Reserve hätte, die die Ratten am Gipfelpunkt ihrer unverschämten Invasion erledigen würde, und daß Lankhmar noch vor dem nächsten Mond von seiner Plage frei wäre. Er schalt seinen faltengesichtigen General, Olegnay Mingolsbane, der am liebsten aus den umliegenden Städten Truppen in die Stadt geholt hätte, um die Tiere unmittelbar anzugehen. Kistomerces schien das Trappeln winziger Füße nicht zu vernehmen, das während der Gesprächspausen hinter wallenden Vorhängen zu hören war, auch sah er nichts von den kleinen vierfüßigen Schatten, die gelegentlich durch die Lichtkränze der Fackeln huschten. Als das lange Bankett seinen Fortgang nahm, schien er noch fröhlicher und sorgloser zu werden – doch zweimal zitterte seine rechte Hand, als er sein langstieliges Weinglas hob, und unter dem Tisch vibrierten seine überlangen Finger haltlos, und er hatte die langen, mageren Beine hochgezogen, so daß seine Füße den Boden nicht berührten. Draußen enthüllte der aufgehende Mond winzige vierbeinige Gestalten auf allen Dächern. Nur die Straße der Götter mit ihren Tempeldächern und Glockentürmen blieb unbehelligt.
Der Graue Mausling wanderte düster auf dem hellen Sandpfad auf und ab, der sich durch den Hain duftender Glockenbäume zog. Jeder Baum war wie ein riesiger, umgedrehter Korb, dessen Boden und Seiten aus dünnen, kräftigen Ästen bestand, die einen abgeschiedenen Innenraum bildeten. Aus einigen Bäumen tönte bereits leises Liebesgeflüster; oder vielleicht handelte es sich auch um die Diebe, die hier an diesem traditionell gemiedenen Ort ihre nächtlichen Beutezüge planten. Wäre er noch jünger gewesen, hätte sich der Mausling sicherlich angehört, was die Leute zu sagen hatten, um die ausgesuchten Opfer dann schon vor ihnen auszurauben. Aber jetzt hatte er andere Ratten im Feuer. Hohe Gebäude zur Linken verdeckten den Mond, so daß man auf dem übrigen Platz der Dunklen Freuden kaum die Hand vor Augen sehen konnte, bis auf die Stellen, wo geisterhafte Flammen oder ein schwaches Kohlefeuer den Standort eines Verkaufsstandes anzeigten, oder wo eine Kurtisane rhythmisch eine kleine rote Laterne schwang. Gerade diese Laternen machten dem Mausling in diesem Augenblick sehr zu schaffen, denn es hatte Zeiten gegeben, da er sich darauf gestürzt hätte wie ein Insekt auf das Licht in der Nacht, und zweimal hatte er sogar auf der Squid davon geträumt. Mehrere katastrophal verlaufene Besuche an diesem Nachmittag – zuerst bei alten Freundinnen, dann in den anregendsten Freudenhäusern der Stadt – hatten ihm bewiesen, daß seine Männlichkeit, die sich in Kvarch Nar und an Bord der Squid so sehr bemerkbar gemacht hatte, nun erschlafft war, außer wenn es um Hisvet ging. Jedesmal wenn er mit einem Mädchen
ins Bett stieg, hatte sich das schmale Gesicht Hisvets geisterhaft dazwischengeschoben, während von dem winzigen Silberpfeil an seiner Schläfe ein Gefühl tödlicher Langeweile auszugehen schien, das über seinen ganzen Körper ausstrahlte. Er war sich der Tatsache bewußt, daß die Ratten trotz ihrer großen Verluste an Bord der Squid die Stadt bedrohten. Die Ratten ließen sich noch weniger als der Mensch durch große Verlustzahlen beeindrucken. Und Lankhmar war eine Stadt, für die der Mausling einiges empfand, etwa wie für ein Lieblingstier. Und die Ratten brachten nun – ob durch Hisvets Training oder aus einem anderen Grunde – eine erschreckende Intelligenz und Organisation mit in den Kampf. Auch in diesem Augenblick glaubte er eine ganze Armee schwarzer Ratten auszumachen, die unsichtbar über den Rasen huschte und den Hain umzingelte, unzählige schwarze Reihen mit starrenden Knopfaugen. Er wußte auch, daß der letzte Rest von Vertrauen, den er bei Hof noch genossen hatte, nun völlig verspielt war und daß Hisvin und Hisvet nach ihrer Niederlage auf dem Meer den Spieß nun umgedreht hatten und zum Kampf erneut bereit waren – wie er auch Glipkerios Gunst wiedergewinnen mußte. Doch Hisvet, die ihm ganz und gar nicht wie eine Gegnerin vorkam, war das Mädchen, das er liebte, das einzige Wesen, das ihm sein berechnendes, selbstsüchtiges Ich zurückverschaffen konnte. Er fuhr mit den Fingerspitzen über die kleine Kante an seiner Schläfe. Es würde nur Sekunden dauern, bis er den Pfeil wieder herausgedrückt hatte. Aber er hatte Angst vor dem, was dann passieren konnte. Damit
verlor er vielleicht den Saft jeglichen Gefühls oder sogar das Leben selbst. Außerdem wollte er dieses Band, das ihn an Hisvet kettete, nicht aufgeben. Kaum vernehmbare Schritte auf dem Kiespfad, ein schwaches Knirschen, das dennoch von mehr als zwei Füßen stammen mußte. Zwei schmale Nonnen in den schwarzen Roben der Götter von Lankhmar kamen Arm in Arm näher. Ein Dutzend Schritte vor ihm verließen sie den Weg und gingen auf den nächststehenden Glockenbaum zu. Eine Nonne hielt die raschelnden Äste auf, und der weite Ärmel gab ihrem Arm das Aussehen eines Fledermausflügels. Die zweite Gestalt huschte hinein. Die erste folgte ihr mit schneller Bewegung, doch da rutschte die Haube ein wenig zurück und offenbarte das lächelnde Gesicht von Frix. Das Herz des Mauslings machte einen Sprung. Welch geschickte Verkleidung ...! Als der Mausling inmitten eines Durcheinanders losgerissener Blüten in der Höhlung erschien, wandten sich die beiden schlanken schwarzen Gestalten um und ließen ihre Hauben zurücksinken. So wie er es auch zuletzt an Bord der Squid gesehen hatte, trug Frix ein dunkles Silbernetz im Haar. Noch immer lag ein Lächeln auf ihren Lippen, obwohl ihr Blick ernst war und in die Ferne schweifte. Hisvets Haar war ein silbrig aufgetürmtes Wunder, sie hatte die Lippen verlockend geschürzt, als hauchte sie ihm einen Kuß entgegen, während ihr Blick ihn von Kopf bis Fuß abtastete. Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Blindlings stürzte der Mausling auf Hisvet zu und legte die Arme um sie. Doch mit einer seltsam einstudierten Bewegung,
wie von schnellem Tanzschritt herumgeschleudert, tauschten die beiden Mädchen ihre Plätze, so daß er plötzlich Frix umarmte, die im letzten Augenblick auch noch den Kopf zur Seite schwenkte und ihre Wange an die seine legte. Der Mausling war sofort zurückgewichen und hätte sich artig entschuldigt, denn Frix fühlte sich durch ihre Robe recht verlockend und höchst angenehm gerundet an, doch in diesem Augenblick legte Hisvet den Kopf über Frix' Schulter, neigte ihr elfisches Gesicht zur Seite und legte ihre halb geöffneten Lippen auf den Mund des Mauslings, der sich im Siebten Himmel wähnte. Als Hisvet schließlich den Kuß beendete, ohne allerdings den Kopf sehr weit zu entfernen, murmelte sie ihm zu: »Freue dich, hübscher Dolchschwinger, denn du hast wahrhaftig und wirklich eine Demoiselle von Lankhmar geküßt, eine fast undenkbare Vertraulichkeit, du hast meine Lippen geküßt, eine Intimität, die jedes Begreifen übersteigt. Und jetzt, Dolchschwinger, umarme meine Frix, während ich mich deiner Augen und deines Gesichts annehme, das wahrlich der edelste Teil des Körpers ist, der Spiegel der Seele.« Inzwischen öffneten Frix' schlanke Finger seinen Rattenfellgürtel. Mit leisem Rascheln und dumpfen Geräusch gingen Skalpell und Katzenklaue zu Boden. »Vergiß nicht: Dein Blick gilt nur mir«, flüsterte Hisvet mit einem Anflug von Tadel in der Stimme. »Ich bin nicht eifersüchtig auf Frix, solange du dich nicht um sie kümmerst.« Obwohl es noch immer samtig dunkel war, schien die Helligkeit zugenommen zu haben. Vielleicht war
der Mond höhergestiegen. Vielleicht hatte auch der Schimmer der Feuerkäfer und Glühwespen und Nachtbienen zugenommen, die überall herumschwirrten. Der Mausling legte die Arme fester um Frix' schlanke Hüften und flüsterte Hisvet zu: »Oh, Weiße Prinzessin ... Oh, nüchterner Steuermann des Verlangens ... Oh, frostkalte Göttin der Erotik ... Oh, satanische Jungfrau ...«, während sie ihn unentwegt auf Lider und Wangen und das freie Ohr küßte und ihm mit den langen seidigen Wimpern über die Haut fuhr, so daß die Pflanze der Liebe zärtlich gehegt wurde und wuchs. Der Mausling wollte diese Liebkosungen erwidern, doch sie stoppte seine Lippen mit ihrem Mund. Als seine Zunge über ihre Zähne fuhr, glaubte er zu spüren, daß ihre beiden Vorderzähne seltsam groß ausgefallen waren, doch in seinem Zustand war ihm das nur ein weiteres Zeichen für ihre Schönheit. Dies war höchste Ekstase, sagte er sich. Es wollte ihm scheinen, als wäre er im neunten und höchsten Himmel, zu dem nur wenige auserwählte Helden Zugang haben. Der Mausling hätte die nachfolgenden Ereignisse vermutlich nicht mehr mitbekommen – oder sie wären völlig anders ausgefallen –, wenn er nicht wieder einmal doch etwas unzufrieden gewesen wäre. Er beschloß, Hisvets klaren Befehl zu mißachten und einen Blick auf Frix zu werfen. Bis zu diesem Augenblick hatte er sich nicht um sie gekümmert, doch jetzt wollte ihm scheinen, daß sich das Katapult der Lust noch weiter spannen ließ, wenn er beide Gesichter seines zweiköpfigen Liebeswesens anschauen konnte.
Als Hisvet wieder einmal sein äußeres Ohr mit blauroter Zunge umspielte, hielt er sie mit kleinen Kopfbewegungen und entzücktem Stöhnen bei der Sache und rollte seine Augäpfel in die andere Richtung und starrte verstohlen in das Gesicht von Frix. Sein erster Gedanke galt ihrem Hals, der unbequem zur Seite gebeugt war, um ihm und ihrer Herrin Platz zu machen. Sein zweiter Gedanke drehte sich um ihr Gesicht. Es war zwar leidenschaftlich gerötet, und ihr Atem ging heftig durch die halb geöffneten Lippen, doch ihr Blick war seltsam traurig und melancholisch, und er richtete sich auf etwas, das sich in weiter Ferne abspielte ... Oder vielleicht beobachtete sie etwas, das doch ein wenig näher heran war, etwas, das hinter ihm stand ... Er wandte den Kopf und warf einen Blick über die Schulter. Dort erblickte er als schwarzen Umriß vor dem schwach pulsierenden Blütenschimmer des Glockenbaums eine geduckte Gestalt, die den Arm ausstreckte. Am Ende dieses Arms schimmerte blaugrau eine Klinge. Sofort sank der Mausling zusammen, zog sich heftig von Frix zurück, und wirbelte halb herum, ließ die linke Hand hochschnellen, die noch vor Sekundenbruchteilen Hisvets Mädchen umarmt hatte. Es war ein Schlag, der im Halbdämmer nicht besser zu zielen war. Als er das schmale Handgelenk des Angreifers umfaßte, spürte er, wie sich die Dolchspitze in seinen Unterarm grub. Seine rechte Faust fuhr in das Gesicht des Mingols und ließ ihn aufstöhnen. Als die schwarzgekleidete Gestalt zurückstolperte, duckte sich ein zweiter dolchbewaffneter Mingol
hinter dem ersten hervor und kam auf den Mausling zu, der nun fluchend seinen Gürtel aufnahm und das Messer zog, weil ihm der Griff dieser Waffe als erstes zwischen die Finger kam. Frix, die noch immer in ihrem schwarzen Umhang dastand, sagte verträumt: »Alarm, Trommelwirbel. Zwei Mingols auf die Bühne«, während Hisvet erzürnt ausrief: »Oh, daß mir mein Vater immer alles verderben muß!« Nun hatte sich der erste Mingol von seiner Überraschung erholt, und die beiden näherten sich lauernd dem Mausling und fuchtelten dabei mit ihren Dolchen vor ihren schlitzäugigen gelben Gesichtern herum. Der Mausling hielt Katzenklaue ein wenig in die Höhe und trieb die beiden Angreifer mit einem zischenden Hieb seines Gürtels zurück, den er in der anderen Hand hielt. Die schwere Scheide seines Schwertes erwischte den einen am Ohr, und er wimmerte schmerzvoll auf. Jetzt war Gelegenheit, zum Angriff überzugehen und zuzustechen. Doch der Mausling hielt sich zurück. Er wußte nicht, ob die beiden Mingols allein waren oder ob Hisvet und Frix ihre Schauspielerei (wenn sie wirklich nur mit ihm gespielt hatten), aufgeben und ihn nun von hinten angreifen würden. Außerdem blutete sein linker Arm, und er wußte noch nicht, wie schlimm die Wunde war. Schließlich mußte er sich widerstrebend eingestehen, daß er sich in einer Situation befand, die er vielleicht nicht bewältigen konnte, die er nicht begriff, daß er außerdem in seiner romantischen Anwandlung schon viel zu unvorsichtig gewesen war – zumal sich der kräftige Fafhrd ir-
gendwo herumtrieb. Nein, der Mausling brauchte weisen Rat. In kaum zwei Herzschlägen hatte er seinen beiden Angreifern den Rücken gewandt, huschte an der verblüfften Frix vorbei, und brach durch die Blätterwand des Baumes. Fünf Herzschläge später hastete er nach Norden über den Platz der Dunklen Freuden, schnallte seinen Gürtel um und holte aus einem kleinen Beutel eine Bandage, die er mit schnellen Bewegungen um seine Wunde wickelte. Gleich darauf eilte er durch eine schmale gepflasterte Gasse, die zum Marschtor führte. So ungern er sich das eingestand – es war Zeit, daß er die Große Salz-Marsch aufsuchte und dort den Rat seines Zaubervaters, des Augenlosen Sheelba, einholte. Fafhrd lenkte seine große Stute durch die brennenden Straßen Sarheenmars; ein anderer Weg führte nicht um die Stadt herum. Sarheenmar lag an der Küste und wurde landeinwärts von den trockenen, zerklüfteten Wüstenbergen eingeengt. Durch diese Berge führte eine einzige Straße – zum wüstenumschlossenen See der Ungeheuer, an dessen Ufer die einsame Stadt der Geister lag. Die Nacht war taghell erleuchtet von den brennenden Holzgebäuden ringsum, die einmal der Stolz eines ganzen Landes gewesen waren. Obwohl sich niemand auf den breiten Straßen sehen ließ, blickte Fafhrd aufmerksam in die Runde. Er hatte sein Schwert in der Scheide gelockert, umfaßte den Griff seiner Handaxt, und sein Köcher mit Pfeilen hing
hoch auf seiner Schulter. Erstaunlicherweise ließ sich das Pferd durch die Feuersbrunst nicht beirren. Fafhrd wußte vom Hörensagen, daß die Mingols ihre Pferde gewaltsam an alle möglichen Schrecken gewöhnten – das mochte die unnatürliche Ruhe erklären, mit der sich die Stute ihren Weg durch die Trümmer bahnte. Doch plötzlich blieb sie stehen – dicht vor einer schmalen Nebenstraße – und starrte schnaubend und mit wildem Blick um sich. Ein Tritt in die Flanke blieb ohne Wirkung, so daß Fafhrd schließlich absteigen und das Tier durch die rauchverhangene, flammenerfüllte Straße ziehen mußte. Im nächsten Augenblick kamen einige Gestalten um eine brennende Hausecke. Auf den ersten Blick schien es sich um ungewöhnlich große, hagere Skelette zu handeln, die dünne Panzer trugen und in jeder Hand ein kurzes doppelschneidiges Schwert schwangen. Als er sich von seinem Schrecken erholt hatte, überlegte Fafhrd, daß das Geister sein mußten, deren Fleisch und innere Organe – nach einer Legende, die er jetzt bestätigt fand – völlig durchsichtig waren. Die Ausnahme bildete eine helle rötliche Tönung an den Geschlechtsteilen, an den Lippen und bei den Frauen um die Brüste. Es wurde erzählt, sie äßen nur Fleisch, vorzugsweise Menschenfleisch, und es sei seltsam zu beobachten, wie sie die Bissen verschluckten, wie sich der Mageninhalt zwischen ihren Rippen langsam bewegte und zu verschwinden begann, als ihr unsichtbares Blut die Nahrung assimilierte und umwandelte – vorausgesetzt, ein normaler Mensch hätte überhaupt
Gelegenheit, Geister beim Essen zu beobachten, ohne selbst vertilgt zu werden. Fafhrd hatte Angst, aber es ärgerte ihn auch, daß er, der in diesem Krieg zwischen Geistern, Sarheenmariern und Mingols nun wirklich ein Neutraler war, angegriffen wurde – denn nun schwang das führende Skelett sein rechtes Schwert, und Fafhrd mußte sich hastig zur Seite beugen, als die Waffe durch die rauchige Luft heranwirbelte. Seine Hand zuckte über die Schulter zurück, er setzte den Pfeil auf den Bogen und fällte den vordersten Geist mit sicherem Brustschuß. Nicht ohne Überraschung stellte er fest, daß ein Skelett als Ziel irgendwie leichter anzuvisieren war. Als die Wesen mit lautem Geschrei näher kamen, bemerkte Fafhrd, daß sich das Flammenlicht hier und dort auf ihrer glasigen Außenhaut spiegelte und daß sie wirklich außergewöhnlich dürr waren, selbst wenn man Fleisch und Haut zu den Skeletten hinzurechnete. Er tötete zwei weitere Angreifer, ließ seinen Bogen fallen, zog Handaxt und Schwert und unternahm, als die vier letzten Geister über ihn herfielen, einen wilden Ausfall. Graywand traf einen Geist unter das Kinn und tötete ihn. Es war seltsam, das Skelett ohne Knochenklappern zu Boden sinken zu sehen. Nun sprang die Axt vor und köpfte einen Gegner. Der dritte Geist umlief seine beiden toten Kameraden und landete einen Hieb, der, zum Glück von oben geführt, an Fafhrds Rippen abglitt, ohne ihn ernstlich zu verwunden. Der schmerzende Schlag brachte Fafhrd nun erst richtig in Wut, und er schlug so heftig zu, daß seine
Handaxt im Schädel des Geistes steckenblieb und ihm aus der Hand gerissen wurde. Seine Wut hatte auch etwas Sexuelles – das wurde ihm bewußt, als er bei dem vierten und letzten Geist zwei helle Brüste über den weißen Rippen bemerkte. Anstatt es zu töten, entwaffnete er das Wesen mit knappem Schwertschlag und streckte es mit einem linken Haken nieder. Schweratmend sah er sich um, besorgt, daß noch weitere Geister angreifen könnten. Doch es rührte sich überhaupt nichts. Die graue Mähre hatte sich während des Kampfes kaum einen Zentimeter gerührt. Jetzt warf sie den schmalen Schädel hoch und wieherte spöttisch. Fafhrd steckte Graywand in die Scheide, kniete wachsam neben dem weiblichen Skelett nieder und hielt ihm zwei Finger an den Hals. Er spürte einen langsamen Pulsschlag. Ohne Umstände zerrte er das Wesen an der Hüfte hoch. Es war schwerer, als er vermutet hatte, auch die Wärme und Weichheit ihrer Haut überraschte ihn. Er warf sie über seinen Sattelknauf, so daß die Beine auf der einen Seite und der Kopf auf der anderen Seite herabhingen, verband seine Wunde, sammelte seine Waffen ein und stieg auf. Langsam ritt er durch die hell erleuchtete Straße. Wachsam hielt er nach neuen Hinterhalten Ausschau. Ein kurzer Blick nach unten ließ ihn zusammenfahren. Es schien, als hätte er da nichts als einen weißen Beckenknochen vor sich im Sattel, einer phantastisch ausschwingenden Schleife gleich, obwohl das Ding durch nebelhaft erkennbare Sehnen mit anderen Knochen verbunden war, die zu beiden Seiten herabhin-
gen. Nach einer Weile befestigte er den Bogen auf dem Rücken seiner Gefangenen und legte die linke Hand auf ihre schmale, unsichtbare Kehrseite, damit er nicht vergaß, daß er da wirklich eine Frau vor sich hatte. Die Ratten machten reiche Beute in Lankhmar. Überall in der alten Stadt begannen sie zu stehlen – und nicht nur Nahrung. Sie stibitzten die grünlich bewachsenen Messingmünzen von den Augen eines Toten und die Platinbeschläge und Juwelenornamente einer dreifach verschlossenen Juwelenkiste, die Glipkerios Tante gehörte. Der reichste Kaufmann Lankhmars büßte all seine Hrusp-Nüsse ein, dazu grauen Kaviar aus Ool Plerns, getrocknete Lerchenherzen, stärkendes Tigerfleisch, bezuckerte Geisterfinger und Ambrosia-Waffeln, während die billigeren Waren unberührt blieben. Seltene Dokumente fehlten plötzlich in der Großen Bibliothek, einschließlich der Originalpläne und Unterlagen über Abfluß und Tunnelrechte unter den ältesten Stadtteilen. Süßigkeiten verschwanden von Nachttischen, Spielzeug aus Kinderzimmern, Korn aus den Futtersäcken von Pferden. Von den Armen Liebender wurden Schmuckbänder entfernt, die Beutel und wohlverschlossenen Taschen bewaffneter Rattenwächter ausgeraubt, und den Katzen und Wieseln wurde das Fressen unter der Nase fortgestohlen. Seltsam war, daß die Ratten nur etwas annagten, wenn der Zutritt nicht ganz einfach zu gewinnen war, und daß sie keine Spuren und keinen Schmutz hinterließen; es schien, als gedachten sie das Haus zu schonen, in das sie einmal einziehen wollten.
Fallen wurden aufgestellt, Gifte ausgelegt. Rattenlöcher wurden mit Bleistöpseln versehen oder mit Messingplatten verschlossen. Kerzen standen in dunklen Ecken, Wächter zogen überall auf – doch es nützte nichts. Unheimlicherweise bewiesen die Ratten in manchen Dingen einen fast menschlichen Scharfsinn. Die wenigen Ratten-Tore, die entdeckt wurden, schienen gesägt und nicht genagt zu sein, und der herausgesägte Teil war wie eine kleine Tür wieder eingesetzt. Die Tiere schwangen sich an kleinen Leinen entlang – Leinen, die mit winzigen Haken an der Decke befestigt waren, und Zeugen hatten auch gesehen, wie die Ratten solche Leinen über die Haken warfen oder sie sogar mit kleinen Armbrustpfeilen in die Höhe schossen. Die Ratten schienen die Arbeitsteilung zu praktizieren – einige waren Wachen, Führer oder Wächter, andere geschickte Einbrecher und Techniker, wiederum andere kamen als bloße Träger mit, die auf jedes gequiekte Kommando sofort reagierten. Und was das Schlimmste war – die Menschen, die ihre Laute mitbekamen, behaupteten, das sei kein Quieken und Fiepen gewesen, sondern die Sprache Lankhmars, wenn auch so schnell und mit derart hoher Stimme gesprochen, daß unmöglich etwas zu verstehen war. Furcht breitete sich in Lankhmar aus. Man erinnerte sich an eine düstere Prophezeiung, wonach ein schlimmer Eroberer mit grausamen Gefolgsleuten, die sich zivilisiert gaben in Wirklichkeit aber Ungeheuer waren und schmutzige Felle trugen, eines Tages die Stadt in ihre Gewalt bringen würden. Man hatte diese Vorhersage auf die Mingols gemünzt, aber na-
türlich konnten damit auch die Ratten gemeint sein. Auch die dicke Samanda war innerlich entsetzt über den Verfall der Küchen und der Speisekammern des Oberherrn – und über das endlose unsichtbare Trappeln winziger Pfoten überall im Haus. Sie ließ alle Mädchen und Pagen zwei Stunden vor dem Morgengrauen wecken und in die riesige Küche vor die große prasselnde Feuerstelle bringen. Hier begann sie eine Massenbefragung, begleitet von ausgedehnten Peitschstrafen, mit denen sie ihre Nerven beruhigte und ihre Gedanken von den echten Schuldigen ablenkte. Die glattrasierten kleinen Opfer standen wie schmale Kupferstatuen im Licht der Flammen, erduldeten stumm ihre Schläge und küßten ihr hinterher noch den Rocksaum. Das Schauspiel wurde von einer Gruppe weißgekleideter Köche und grinsender Friseure beobachtet, von denen viele benötigt wurden, um die Armee von Bediensteten im Palast zu rasieren. Sie lachten und kicherten fröhlich und stießen sich immer wieder in die Seite. Auf einer Galerie saß Glipkerio hinter einem Vorhang und schaute ebenfalls zu. Der dürre Oberherr war begeistert, und seine Gedanken waren endlich einmal abgelenkt von der entsetzlichen Gefahr, die Lankhmar drohte – bis sein Blick auf die schattigen Regale der Küche fiel, wo Hunderte von glänzenden Augenpaaren das Geschehen verfolgten. So schnell ihn seine Beine trugen, raste er in seine bewachten Privatgemächer zurück. Oh, dachte er, wenn nur Hisvin endlich seinen Zauberspruch ausbringen könnte! Aber der alte Kornhändler und Zauberer hatte ihm gesagt, daß der
wichtige Planet noch immer nicht in der richtigen Konstellation stehe und seinen Zauber noch nicht stärken konnte. So wie die Dinge in Lankhmar standen, lief es bald auf ein Wettrennen zwischen diesem Stern und den Ratten hinaus. Na ja, wenn es noch schlimmer wurde, sagte sich Glipkerio kichernd, wußte er einen sicheren Weg, aus Lankhmar und sogar aus Nehwon zu verschwinden und sich in eine andere Welt abzusetzen, wo er bestimmt schnell zum Oberherrn erklärt würde. Er war doch ein sehr annehmbarer Herrscher, meinte Glipkerio.
9 Der Augenlose Sheelba langte in die Hütte, ohne den Kapuzenkopf zu wenden, und hielt dem Mausling mit schneller Bewegung einen kleinen Gegenstand hin. »Hier ist deine Antwort auf die Rattenplage in Lankhmar«, sagte er mit tiefer, hohler Stimme. »Löst du dieses Problem, bist du all deiner Sorgen ledig.« Der Mausling stand fast einen Meter tiefer als sein Zaubermentor und erblickte als Umriß vor dem bleichen Himmel eine kleine gedrungene Flasche, die in den dunklen Stoff des weiten Ärmels eingeklemmt war. Sheelba zeigte ihm nie seine Finger, wenn er überhaupt welche besaß. Der Mausling war hundemüde. Er stand bis zu den Knöcheln im Sumpf; seine graue Kleidung war beschmutzt und zerrissen, seine Haut zerkratzt und mit dem Salz des Marschlandes besprüht. Die verbundene Wunde an seinem linken Arm schmerzte und brannte. Und jetzt begann auch sein Hals weh zu tun, da er andauernd nach oben schauen mußte. Ringsum erstreckte sich das düstere Ödland der Großen Salz-Marsch – eine gewaltige Fläche voller scharfem Seegras, voller versteckter Bäche und gefährlicher Sumpfstellen, bevölkert von Riesenwürmern, Giftaalen, Wasserkobras und zahlreichen anderen gefährlichen Arten. Der Mausling war viele Stunden verzweifelt durch diese Wildnis gewandert, bis er Sheelbas Hütte entdeckte – eine schwarze Kuppel etwa von der Größe des Glockenbaumes, in dem der Mausling gestern Er-
füllung und Gefahr gefunden hatte, und erhob sich auf fünf krummen Beinen. Die Hütte hatte eine niedrige Tür, in der Sheelba nun lag und den Mausling musterte – soweit man bei einem Augenlosen von »mustern« sprechen konnte. Obwohl sich der Himmel im Osten nun zu röten begann, vermochte der Mausling kein Gesicht in der tiefen Kapuze auszumachen, in der eine undurchdringliche Dunkelheit herrschte. Doch der Mausling war keineswegs beeindruckt – er war viel zu wütend und zu müde. Mit der Hand schlug er eine fliegende Salzspinne zur Seite und rief nach oben: »Eine verflixt kleine Flasche, um damit alle Ratten Lankhmars zu vergiften! Holla, du in deinem schwarzen Mantel, lädst du mich nicht ein, mich zu laben und zu trocknen? Ich verfluche dich sonst mit Zaubersprüchen, die ich dir heimlich gestohlen habe.« »Ich bin nicht deine Mutter, Geliebte oder Kinderschwester – sondern dein Zauberer«, erwiderte Sheelba mit seiner harten Stimme. »Hör mit deinen kindischen Drohungen auf und nimm dich zusammen, kleiner Mann!« »Wie soll ich das Gift anwenden?« fragte der Mausling. »Ein Tropfen davon in jedes Rattenloch? Oder gebe ich es ein paar Ratten zu fressen und lasse sie frei? Ich warne dich – wenn das Mittel Keime der Schwarzen Krankheit enthält, schicke ich dir ganz Lankhmar auf den Hals!« »Nichts von alledem«, knarrte Sheelba mit brüchiger Stimme. »Du suchst dir einen Ort, an dem viele Ratten versammelt sind. Dann trinkst du aus dem Fläschchen.« Der Mausling hob die Augenbrauen. Nach kurzem
Schweigen fragte er: »Und was geschieht dann? Bekomme ich den bösen Blick für Ratten, so daß sie tot umsinken, wenn ich sie ansehe? Werde ich hellsichtig und kann ihre Nester durch Erde und Gestein ausmachen? Oder werden meine Geisteskräfte auf wunderbare Weise verstärkt?« fügte er hinzu, obwohl er Zweifel hatte, daß das letztere überhaupt noch möglich war. »Nichts und alles«, erwiderte Sheelba leichthin und nickte. »Das Mittel bringt dich in das richtige Verhältnis zu den Ratten, so daß du endlich handeln kannst. Du gewinnst die Fähigkeit, mit den Ratten umzugehen und sie auch zu töten, was noch kein richtiger Mensch vermocht hat. Hier.« Er ließ die Flasche los, und der Mausling fing sie auf. Sheelba fügte hinzu: »Die Wirkung des Mittels hält nur neun Stunden an – sieh also zu, daß deine Arbeit in dieser Zeit getan ist. Und berichte mir sofort vom Verlauf deines Abenteuers.« Sheelba zog sich in seine Hütte zurück, die sofort die Beine beugte, ihre schildgleichen Füße mit saugendem Geräusch löste und – zuerst bedächtig, dann immer schneller – davonmarschierte wie ein großer schwarzer Käfer. Der Mausling starrte der Erscheinung wütend und verblüfft nach. Es wurde ihm bewußt, daß Sheelba ihn mühelos in die Nähe des Marschtores hätte tragen können, und er hätte ihm die kleine schwarze Flasche am liebsten nachgeworfen. Statt dessen knotete er ein Stück Verband fest um das kleine schwarze Behältnis, von oben nach unten, damit der Flaschenstöpsel nicht herausrutschte, steckte es in seinen Beutel und band diesen vorsichtig
zu. Er gab sich das Versprechen, wenn das Mittel nicht wirkte, sollte Sheelba das Gefühl haben, ganz Lankhmar hätte sich auf mächtige Beine gestellt und käme auf die Marsch hinausgetrampelt. Mühsam zog er dann seine Füße aus dem Schlamm, in dem er jetzt fast knietief stand, entfernte mit Katzenklaue einige Seetiere, die sich an seinen Stiefeln festgesetzt hatten, leerte seine Weinflasche, warf sie zur Seite und marschierte auf die Türme Lankhmars zu, die im dunstigen Westen schwach zu erkennen waren, direkt unter dem untergehenden Mond. Nun wurden die Ratten wirklich zur Plage in Lankhmar, bereiteten Schmerzen, schlugen Wunden. Hunde kamen jaulend zu ihren Herren gerannt und ließen sich nadelgleiche Pfeile aus dem Fell entfernen. Katzen krochen in ihre Verstecke, um abzuwarten, bis ihre Rattenbisse ausgeheilt waren. Quiekende Frettchen wurden in Rattenfallen gefunden. Das schwarze Seidenäffchen Elakerias, der Nichte des Oberherrn, ertrank fast im parfümierten Badewasser ihrer Herrin, in das das spinnenarmige Haustier getrieben worden war. Rattenbisse ins Gesicht weckten Schläfer, die manchmal noch eine kleine schwarze Gestalt über die Decke huschen und vom Bett springen sahen. Die Frauen begannen während des Schlafes zarte Silbernetze oder feste Ledermasken über das Gesicht zu legen. In den meisten Haushalten blieben die Kerzen die ganze Nacht über brennen, außerdem wurden Wachen eingeteilt, so daß immer jemand zur Stelle war. In der Folge wurden die Kerzen knapp, während die Preise für Lampen und Laternen in den
Himmel schossen. Spaziergänger wurden in die Fußgelenke gebissen; auf den meisten Straßen zeigten sich nur wenige dahineilende Gestalten, während die Gassen völlig verlassen dalagen. Nur die Straße der Götter, die sich vom Marschtor zu den Kornlagern im Hlal erstreckte, war frei von Ratten – und entsprechend waren die Straßen und ihre Tempel voll von Menschen, von Armen und Reichen, von Gläubigen und Atheisten gleichermaßen, die von den unzähligen Göttern in Lankhmar und auch von den düsteren Göttern von Lankhmar die Befreiung von der Rattenplage erflehten. Letztere hatten ihren düsteren, abgeschlossenen Tempel am Flußende der Straße, gegenüber dem schmalen Haus Hisvin des Kornhändlers. Verzweifelt versuchte man sich zu wehren; Rattenlöcher wurden überflutet, manchmal mit vergiftetem Wasser. Phosphor- und Schwefeldämpfe wurden mit Blasbälgen in die Öffnungen gepustet. Auf Anweisung des Obersten Rates und mit der zögernden Zustimmung Glipkerios, der immer wieder von seiner Geheimwaffe redete, wurden berufsmäßige Rattenfänger in großer Zahl von den Kornfeldern im Süden und Westen herbeigerufen. Auf Befehl Olegnya Mingolsbanes, der ohne Rücksprache bei seinem Oberherrn handelte, kamen Regimenter schwarzgekleideter Soldaten eilends von Tovilyis, Kartishla und sogar aus Land-Ende herbei – und erhielten unterwegs Waffen und Kleidungsstücke, die keine geringe Verwirrung stifteten und ihre Verachtung für die Quartiermeister und die verrückte lankhmarische Bürokratie nur noch steigerten: sie erhielten dreizackige Gabeln mit langem Griff, Morgensterne mit zahlreichen Doppelspitzen, bleibeschwerte Wurfnetze, Si-
cheln, schwere Lederhandschuhe und Masken aus dem gleichen Material. Auf dem Deck der Squid, die nahe der Mündung der Straße der Götter vertäut lag und auf neue Ladung wartete, wanderte Slinoor nervös auf und ab und gab die Anweisung, zum Schutz vor Ratten glatte Kupferscheiben über die Taue zu legen, die das Schiff am Kai festhielten. Das schwarze Kätzchen hielt sich die meiste Zeit in der Mastspitze auf, starrte besorgt auf die Stadt und kam nur zum Fressen herunter. In einem grüngekachelten Raum des Regenbogenpalastes, umgeben von einigen gabelbewaffneten Pagen und Wächtern mit gezogenen Dolchen und kleinen Einhand-Armbrüsten, versuchte Hisvin den hysterischen lankhmarischen Monarchen zu beruhigen, den einige schlanke Dienstmädchen streichelten, küßten und mit Wein und schwarzen Opiumpillen und anderen besänftigenden Dingen versorgten. Glipkerio entzog sich dem Griff seiner entzückenden Dienerinnen, die in ihrer Aufmerksamkeit nicht nachließen, und schmollte: »Hisvin, Hisvin, Sie müssen sich beeilen! Mein Volk wird unruhig. Mein Rat und mein General handeln hinter meinem Rücken. Es laufen sogar verrückte Gerüchte um, daß ich von meinem Muschelthron geworfen werden soll und daß vielleicht mein idiotischer Vetter Radomix Kistomerces-Nill meinen Platz einnehmen soll. Hisvin, die Ratten sind nun Tag und Nacht in den Straßen, bereit, von Ihrem Zauberspruch getroffen zu werden. Wann, o wann erreicht dieser Planet seine richtige Position auf den Sternenbühnen, damit Sie Ihren Todeszauber sprechen können? Was ist das für eine Verzögerung,
Hisvin? Ich befehle diesem Planeten, sich schneller zu bewegen! Sonst schicke ich eine Expedition durch das unbekannte Äußere Meer, um ihn zu versenken!« Der hagere Kornhändler hob den Blick zur Decke und zog ein unterwürfiges Gesicht. »Leider, mein teurer Oberherr«, sagte er, »läßt sich der Kurs des Sterns nicht mit absoluter Gewißheit vorhersagen. Er wird die Stelle bald erreichen, keine Sorge, aber wann das der Fall sein wird, vermag auch der klügste Astrologe nicht vorherzusagen. Wohlwollende Wellen bringen ihn voran, dann wird er durch eine böse Welle wieder zurückgeworfen. Er liegt im Auge eines himmlischen Sturmes. Als eisberggroßes Juwel, das in dem blauen Wasser des Himmels, schwimmt, unterliegt es natürlich den Strömungen und sonstigen Bewegungen. Denken Sie auch daran, was ich von Ihrem verräterischen Kurier, dem Grauen Mausling, sagte, der sich nun anscheinend mit mächtigen Hexendoktoren gegen uns verbündet hat.« Glipkerio zupfte nervös an seiner schwarzen Toga und schlug mit langen Fingern die rosa Hand eines Mädchens zur Seite, das seine Kleidung wieder zurechtrücken wollte. Er spuckte aus: »Hie der Mausling. Hie die Sterne. Was für ein unfähiger Zauberer sind Sie eigentlich? Mir scheint, die Ratten beherrschen die Sterne ebenso wie die Straßen von Lankhmar!« Reetha, die den Schlag auf die Finger bekommen hatte, seufzte lautlos und begann ihren Herrn sanft am Bauch zu kratzen, während sie in ihrer Phantasie die große Palastdame spielte und eine nackte und angstzitternde Samanda auspeitschen ließ.
Hisvin sagte feierlich: »Gegen diesen unseligen Gedanken habe ich ein wirksames Mittel: Meine feste Überzeugung, daß Ratten auf einem Stern nicht leben können. Ich kann Ihnen das versichern. Wann immer der Wille, den Kampf mit den Ratten aufzunehmen, Sie melancholisch macht, mächtiger Kommandant, müssen Sie daran denken.« »Du gibst mir Worte – ich will Taten sehen«, klagte Glipkerio. »Ich schicke Ihnen meine Tochter Hisvet. Sie hat ein neues Dutzend weißer Ratten trainiert – diesmal mit unterhaltsamen erotischen Kunststücken, mein Oberherr!« »Ratten! Ratten! Wollen Sie mich in den Wahnsinn treiben?« fragte Glipkerio aufgebracht. »Ich werde ihr sofort befehlen, ihre harmlosen Haustiere zu töten, so gelehrig sie auch sein mögen«, antwortete Hisvin hastig und verbeugte sich sehr tief, damit er das Gesicht zu einer Grimasse verziehen konnte. »Wenn es dem Oberherrn recht ist, wird sie kommen und Ihre kampfgeschwächten Nerven mit mystischen Rhythmen beruhigen, die sie in den Ländern des Ostens gelernt hat. Und ihr Mädchen Frix versteht sich auf feinste Massagen, die aus Quarmall, Kokgnab und Klesh stammen und auch dort nur wenigen bekannt sind.« Glipkerio hob die Schultern, schürzte die Lippen und ließ ein halb gleichgültiges, halb unwilligzufriedenes Seufzen hören. In diesem Augenblick steckte das halbe Dutzend Offiziere und Pagen die Köpfe zusammen und starrte auf einen Torbogen, in dem ein winziger Schatten aufgetaucht war.
Im gleichen Augenblick, in Gedanken völlig bei der gefolterten Samanda, griff Reetha unabsichtlich ein wenig fester zu und ziepte ein kleines Büschel Körperhaar, das ihre sanft kratzenden Finger berührte. Ihr Herr fuhr zusammen wie von einem Dolch getroffen und stieß einen dünnen, schrillen Schrei aus. Eine kleine weiße Katze war nervös in den Raum gekommen, hatte sich aus roten Augen vorsichtig umgesehen und verschwand jetzt blitzschnell wieder im Korridor. Glipkerio keuchte und erhob sich zitternd. »Melde dich bei Samanda!« befahl er. »Beschreibe ihr deine Freveltat in allen Einzelheiten. Sag ihr, sie soll mir den Zeitpunkt deiner Bestrafung bekanntgeben! Das möchte ich nicht verpassen!« Der Mausling schnarchte zufrieden auf einer dicken Matratze in einem winzigen Schlafzimmer über den Räumen Nattick Nimblefingers, des Schneiders, der unten eifrig damit beschäftigt war, die Kleidung des Mauslings zu flicken und zu reinigen. Ein voller und ein halbvoller Weinkrug standen neben der Matratze auf dem Boden, während unter dem Kopfkissen, von seiner linken Faust umschlossen, die kleine schwarze Flasche ruhte, die er von Sheelba bekommen hatte. Es war fast Mittag gewesen, als er die Große SalzMarsch schließlich verließ und durch das Marschtor die Stadt betrat. Nattick hatte ihm sein Bad, den Wein und ein Bett zur Verfügung gestellt. Jetzt schlief er den Schlaf des Gerechten, und vor seinen inneren Augen begannen gerade die ersten herzlichen Träume abzurollen – über den Ruhm, der ihm zustand, wenn er unter Glipkerios Augen noch vor Hisvin die Ratten aus der Stadt vertrieb. Seine
Träume gingen natürlich an der Tatsache vorbei, daß Hisvin kaum als Feind der Ratten anzusehen war, sondern eher als ihr Verbündeter – es sei denn, er fand es an der Zeit, die Fronten zu wechseln. Fafhrd lag auf einem grasbewachsenen Hügel. Der Mond schien, ein kleines Feuer flackerte neben ihm. Er unterhielt sich mit einem langen Skelett namens Kreeshka, das er aber meistens »Kleiner Knochen« nannte. Das recht seltsame Paar sah sich zärtlich an. Fafhrds lockiges Körperhaar auf weißer Haut bildete einen hübschen Gegensatz zu der durchsichtigen Haut Kreeshkas, die ab und zu im Schein der Flammen aufschimmerte. Ihre Lippen bewegten sich wie zwei scharlachrote Streifen vor ihren blitzenden Zähnen, und ihre Brüste waren wie herrlich getönte Birnen, die sich vor ihren elfenbeinfarbenen Rippen bewegten. Fafhrd sah sich die beiden farbenfreudigen Gebilde interessiert an. »Warum?« fragte er schließlich. Ihr Gelächter klang glockenhell. »Du lieber dummer Verschwommener«, sagte sie mit ihrem fremdländischen Lankhmar-Akzent. »Mädchen, die nicht Geister sind, versuchen die Blicke der Männer mit kostbaren Stoffen oder Edelmetallen anzuziehen. Wir, die wir durchsichtiges Fleisch haben und keine Kleidung kennen, müssen andere Wege finden – indem wir Kosmetika benutzen.« Fafhrd lachte leise. Er dachte daran, wie überraschend schnell sich seine Gefühle gegenüber Kreeshka geändert hatten – andererseits war das gar
nicht so seltsam. Gestern abend, als sie schließlich auf seinem Pferd erwacht war, hätte er sie am liebsten noch getötet, doch sie hatte sich derart mutig aufgeführt und sich als ein angenehmer und kluger Weggenosse erwiesen, daß er sie bei Tagesanbruch schon hinter sich reiten ließ. Ja, überlegte er, so eine Begleiterin vermochte sogar Räuber und Verbrecher in die Flucht zu schlagen, die die Geister zumeist noch für einen Mythos hielten. Er hatte ihr Brot angeboten, doch sie wollte nichts; nur von seinem Wein hatte sie getrunken. Gegen Abend hatte er eine Wüstenantilope geschossen, die ein gutes Mahl erbrachte, und Kreeshka hatte ihre Portion roh verzehrt. Es stimmte also, was über die Verdauung der Geister gemunkelt wurde. Fafhrd hatte sich zuerst Gedanken gemacht, weil sie ihm den Kampf und den Tod ihrer Artgenossen nicht nachzutragen schien. Er befürchtete schon, daß sie so freundlich zu ihm war, um ihn unvorsichtig zu machen, und dann zu ermorden – aber später kam er zu dem Schluß, daß Leben und Tod bei den Geistern kaum in hohem Ansehen standen, zumal sie ohnehin schon wie Skelette aussahen. Die graue Mingolmähre warf den Kopf hoch und wieherte. Eine Meile oder höher schwebte ein schwarzer Albatros dahin. Von seinem Rücken löste sich eine Fledermaus und begann wie ein belebtes schwarzes Blatt langsam zu Boden zu flattern. Fafhrd streckte den Arm aus und fuhr mit den Fingern durch Kreeshkas unsichtbares schulterlanges Haar. »Kleiner Knochen«, sagte er, »warum nennst du mich Verschwommener?«
Sie antwortete leise: »Ihr kommt uns, die wir eine durchsichtige Haut haben, sehr verschwommen vor. Unsere Knochen treten klar hervor, und Knochen sind schön. Man muß sie sehen!« Sie streichelte das Haar auf seiner Brust. »Da bin ich ja ein Glückspilz, daß du Gefallen an mir findest.« Lauter fuhr er fort: »Sag mir, Kleiner Knochen, wo hast du nur die lankhmarische Sprache gelernt?« »Dummer Verschwommener«, erwiderte sie. »Es ist unsere Muttersprache – aus der Zeit vor über einem Jahrtausend, da sich Lankhmars Reich von Quarmall bis zum Trollgebirge und von Erd-Ende bis zum See der Ungeheuer erstreckte, da Kvarch Nar noch Hwarshmar hieß und wir einsamen Geister nur Friedhofsräuber waren.« Er nahm seinen Arm zurück und starrte in ihre schwarzen Augenhöhlen. Sie stieß ein leises Wimmern aus und fuhr ihm mit den Fingern sanft über den Körper. Fafhrd widerstand der Versuchung und fragte: »Sag mir, Kleiner Knochen, wie kannst du überhaupt etwas sehen, wenn das Licht durch dich hindurchgeht? Siehst du mit der Innenseite deines Schädelknochens?« »Fragen, Fragen, Fragen«, stöhnte sie und legte die Hand auf seine Schulter. »Komm, sei mein verschwommener Prinz.« Er starrte auf ihren Schädel und die schwarzen Augenhöhlen und erinnerte sich an die Prophezeiung einer Weisen Frau, die ihm einmal gesagt hatte, er und der Mausling wären in den Tod verliebt. Also, das stimmte, zumindest in seinem Fall, mußte sich Fafhrd eingestehen, als Kreeshkas Arme ihn herabziehen wollten.
In diesem Augenblick ertönte ein schrilles Pfeifen, das fast nicht mehr zu hören war, das ihnen aber wie eine Nadel in die Ohren stach. Fafhrd fuhr auf, Kreeshka hob hastig den Kopf, und sie sahen, daß sie nicht mehr nur von der Mingolmähre beobachtet wurden, sondern auch von einer Fledermaus, die am Dornenbaum hing. Von einer seltsamen Vorahnung erfüllt, hielt Fafhrd dem kopfstehenden schwarzen Wesen einen Finger hin, das sofort herbeiflatterte und sich an seine Hand klammerte. Fafhrd zog eine winzige schwarze Pergamentrolle vom Bein des Wesens, schüttelte die Fledermaus wieder ab, entrollte das Pergament und hielt es ans Feuer. Er mußte es dicht vor die Augen halten, um die weiße Schrift zu entziffern: Der Mausling ist in Todesgefahr. Auch ganz Lankhmar. Besprich dich mit dem Siebenäugigen Ningauble. Beeilung ist vonnöten. Verlier die Blechpfeife nicht. Die Unterschrift war ein winziges Oval, das Fafhrd als eines der Zeichen des Augenlosen Sheelba erkannte. Kreeshka hatte den weißen Kinnknochen auf ihre gefalteten Finger gestützt und musterte den Nordling, der schon sein Schwert gürtete. »Du verläßt mich«, sagte sie tonlos. »Ja, Kleiner Knochen. Ich muß wie der Wind nach Süden fliegen«, sagte Fafhrd hastig. »Ein alter Freund ist in Gefahr.« »Ein Mann, natürlich«, fuhr sie leise fort. »Sogar die Geistermänner bewahren sich die stärkste Liebe für ihre männlichen Schwertfreunde.«
»Das ist eine andere Liebe«, sagte Fafhrd, als er die Mähre von dem Baum losband und nach seinem Beutel am Sattelknauf tastete, um sich zu vergewissern, daß die kleine Pfeife noch dort war. »Du hast noch die halbe Antilope für den Rückweg und ...« Kreeshka sah ihn seltsam an: »Wer hat dich um die plötzliche Reise gebeten? Die Fledermaus?« Fafhrd biß sich auf die Lippen. »Hier, nimm auch noch mein Jagdmesser.« Und als sie nicht antwortete, fügte er hinzu: »Kannst du mit Pfeil und Bogen umgehen?« Das Skelettmädchen sagte ins Leere: »Ich hätte diesem Verschwommenen längst in den Hals beißen und sein Blut trinken und ihn aufessen sollen!« Fafhrd bückte sich schweigend, um das Geistermädchen zum Abschied zu küssen, doch im letzten Augenblick wandte sie den Kopf, so daß seine Lippen nur ihre kühle Wange berührten. Als er aufstand, sagte er: »Du magst es glauben oder nicht – ich komme zurück und suche dich.« »Oh, das tust du nicht«, sagte sie. »Und ich ließe mich auch nicht finden.« »Trotzdem suche ich dich«, sagte er. Er hatte die Mähre gesattelt. »Denn du hast mir das verrückteste und herrlichste Erlebnis aller Zeiten verschafft.« Das Geistermädchen starrte in die Dunkelheit und sagte: »Glückwunsch, Kreeshka. Dein Geschenk an die Menschheit: ausgefallene Wonnen. Verschwinde, Veschwommener.« Fafhrd kniff die Lippen zusammen, sah sie noch einen Augenblick an, schwang sich in den Sattel und trabte den Hügel hinab. Kreeshka sprang auf, griff nach Pfeil und Bogen,
trat an den Rand der Lagerstelle und zielte auf Fafhrds Rücken. Drei Herzschläge lang blieb sie reglos stehen, wandte sich dann abrupt zur Seite und ließ den Pfeil in den Dornenbaum sausen. Zitternd blieb er in dem großen Stamm stecken. Fafhrd sah sich hastig um, als das Sirren des Bogens ertönte. Ein Skelettarm winkte ihm zum Abschied nach, bis er die Straße am Fuße des Hanges erreichte. Auf dem Hügel blieb Kreeshka noch einen Augenblick nachdenklich stehen. Dann nahm sie etwas Unsichtbares aus ihrem Gürtel und warf es in das ersterbende Lagerfeuer. Von gewaltigem Prasseln begleitet, erhob sich eine funkensprühende blaue Flamme einige Meter in die Höhe und hielt sich etwa ein Dutzend Herzschläge lang, ehe sie zusammensank. Fafhrd sah die nadelgleiche Flamme hinter sich, während er von der galoppierenden Mähre durch die Nacht getragen wurde, und runzelte die Stirn. Die Ratten begannen nun zu morden in Lankhmar. Katzen starben durch blitzschnelle Armbrustpfeile, die ihnen durch die Augen in das Gehirn drangen. Gift, das für die Ratten bestimmt war, fand seinen Weg auf geheimnisvolle Weise in die Futternäpfe von Hunden. Elakerias Seidenäffchen starb gekreuzigt am Kopfende des Holzbettes seiner dicklichen Herrin. Babys wurden in ihren Wiegen totgebissen. Einige Erwachsene wurden von kleinen Pfeilen getroffen, die mit einer dunklen Flüssigkeit beschmiert waren, und starben qualvoll nach mehreren Stunden. Viele tranken, um ihre Angst zu bezwingen, doch mancher
Volltrunke verblutete aus sauberen Bißwunden, die seine Arterien bloßlegten. Glipkerios Tante, zugleich Elakerias Mutter, wurde von einer Schlinge über ihrer Treppe erdrosselt, deren Stufen mit Öl eingefettet waren. Eine mutige Hure wurde auf dem Platz der Dunklen Freuden angefallen und bei lebendigem Leibe aufgefressen, da sich niemand um ihre Schreie kümmerte. Die Fallen der Ratten waren so kompliziert und ihr Umgang mit den Waffen so geschickt, daß viele behaupteten, einige der Tiere, besonders die seltenen und scheuen Albinos, hätten winzige Klauenhände anstelle von Vorderpfoten – und es wurde tatsächlich oft von Ratten berichtet, die auf den Hinterpfoten liefen. Frettchen wurden in Scharen in die Rattenlöcher getrieben – doch kein einziges Tier kehrte zurück. Seltsam behelmte Soldaten in braunen Uniformen hasteten in Trupps durch die Stadt und suchten vergeblich nach Zielen für ihre neuen Waffen. Die tiefsten Brunnen der Stadt wurden absichtlich vergiftet – in der Annahme, daß die Rattenstadt auch von diesen Brunnen lebte. Glühender Schwefel wurde in Rattenlöcher gegossen, woraufhin viele Soldaten zum Bekämpfen von Feuern abgestellt werden mußten. Ein großer Exodus begann, der die ganze Nacht hindurch anhielt; auf Jachten, Booten, Flößen, auch nach Süden mit dem Wagen oder zu Fuß, auch durch das Korntor und sogar nach Osten durch das Marschtor – so flohen die Bürger Lankhmars aus der Stadt, bis sie gewaltsam am Verlassen der Mauern gehindert wurden – auf Befehl Glipkerios, dem von Hisvin und dem alten General der Stadt, Olegnay
Mingolsbane, dazu geraten worden war. Lukeens Kriegsgaleere gehörte zu der Flotte, die die fliehenden Zivilboote zusammentrieb und wieder in den Hafen scheuchte – natürlich mit Ausnahme der goldschweren Jachten, die hübsche Bestechungssümmchen zahlen konnten. Kurz darauf verbreitete sich das Gerücht, es wäre ein Attentat auf Glipkerio geplant, das seinen allgemein bewunderten und verarmten Vetter Radomix Kistomerces-Nill auf den Thron bringen sollte. Eine Abteilung von Seesoldaten wurde losgeschickt, um Radomix zu ergreifen, doch er war gewarnt und setzte sich mit seinen siebzehn Katzen in die Slums ab, wo er und sie viele Freunde hatten. Als sich die Nacht des Schreckens langsam dem Morgen zuneigte, wurde es in den Straßen still, denn alle Keller und Erdgeschosse waren verlassen und verriegelt. Nur in der Straße der Götter herrschte noch Betrieb – hier hatten sich die Ratten noch nicht sehen lassen, hier konnte man seine Ängste noch für kurze Zeit vergessen. In der übrigen Stadt waren die nervösen Schritte der Wächter und Soldaten das einzige Geräusch – begleitet von einem Trappeln und Fiepen, das mit der Zeit immer mehr zunahm. Reetha lag ausgestreckt vor dem großen Küchenfeuer und vor Samanda, die auf ihrem großen Thron saß und nachdenklich ihre Peitschen, Riemen und anderen Folterinstrumente betrachtete. Von Zeit zu Zeit sah Samanda das Mädchen nachdenklich an. Sie hatte Reetha noch nicht geschlagen, auch hatte sie Glipkerio noch keine Nachricht über den Zeitpunkt der Strafe zukommen lassen.
Reetha machte sich klar, daß die Strafe absichtlich hinausgeschoben wurde, um ihre Angst weiter zu steigern. Schon waren ihre kurzen Schlafzeiten von Alpträumen bestimmt, die die Perioden des Wachseins noch unangenehmer machten, während ihr die Phantastereien über Samandas Unterwerfung in diesem Augenblick zu unpassend erschienen. Sie versuchte sich etwas Romantisches auszudenken, doch es wollte ihr nicht viel einfallen. Da war eigentlich nur der kleine, graugekleidete Schwertkämpfer, der sich nach ihrem Namen erkundigt hatte – das war an dem Tag gewesen, da sie aus Angst vor den Ratten das Tablett fallen gelassen hatte. Dieser Mann war höflich zu ihr gewesen, sie schien für ihn nicht nur ein lebendes Tablett gewesen zu sein. Aber bestimmt hatte er sie längst vergessen. Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß sie Samanda, wenn sie sie nahe genug heranlockte, mit ihrer losen Kette erdrosseln konnte – aber diese Vorstellung ließ sie erzittern. Schließlich beschäftigte sie sich damit, die Vorteile aufzuzählen, die ihr verblieben waren – so etwa die Tatsache, daß sie keine Haare hatte, die ihr ausgerissen oder angesteckt werden konnten. Der Mausling erwachte eine Stunde nach Mitternacht. Er war wieder völlig munter. Seine bandagierte Wunde störte ihn nicht, obwohl er den linken Unterarm noch nicht wieder richtig bewegen konnte. Aber da er Glipkerio kaum vor Tagesanbruch sprechen konnte und da er Sheelbas Antirattenzauber nur in der Gegenwart des Oberherrn einsetzen wollte, beschloß er, sich mit dem verbleibenden Wein wieder schlafen zu legen.
Leise, um Nattick Nimblefingers nicht zu wecken, der auf einem Bett neben ihm schnarchte, griff der Mausling nach dem halbvollen Weinkrug und leerte ihn ziemlich schnell. Er begann sich auch noch mit dem vollen zu beschäftigen. Doch seltsamerweise konnte er nicht wieder einschlafen, ja, je mehr er trank, desto wacher wurde er, bis er schließlich Skalpell und Katzenklaue aufnahm und sich nach unten schlich. Seine Kleidung schimmerte auf Natticks sauberem Arbeitstisch. Seine Stiefel und die anderen Lederteile waren abgebürstet, gereinigt und eingeölt worden, und seine graue Seidentunika hatte eine Wäsche hinter sich. Sie war wieder völlig in Ordnung, die Nähte sauber gegengestichelt. Nach einer kleinen Geste des Dankes zog sich der Mausling hastig an, nahm einen der beiden großen Schlüssel von dem versteckten Haken, öffnete die Tür, glitt in die Dunkelheit hinaus und schloß wieder ab. Lange Zeit stand er im tiefen Schatten. Das Mondlicht erhellte die alten Mauern auf der anderen Seite und offenbarte die Flecken und die verbarrikadierten kleinen Fenster und die niedrigen, geschlossenen Türen über den ausgetretenen Steinstufen und den bronzenen Abflußschlitzen und den herumliegenden Abfall. Die Straße war zu beiden Seiten still und leer. Wie eine große Katze trat er aus der Ecke und wurde zu einem Bestandteil der silberhellen Welt, trabte mit großen schnellen Schritten in seinen weichen Stiefeln durch die Marktstraße und die querlaufende Straße der Denker und die Straße der Götter zu. Die Hurenstraße verlief links parallel zur Marktstraße, und rechts lagen die Zimmererstraße und die
Mauerstraße; sie alle vier folgten der Biegung der Marschmauer jenseits der Mauerstraße. Zuerst war die Stille ungebrochen. Dann begann er es zu hören – ein leises Trapsen, fast wie das Trommeln der ersten Regentropfen nach langer Trockenheit oder wie der erste Hauch eines Sturms, der durch einen kleinen Baum fegt. Er blieb stehen und sah sich um. Das Trippeln hörte auf. Sein Blick durchforschte die Schatten und entdeckte zwei dicht zusammenstehende Glitzerpunkte im Abfall, bei denen es sich um Wassertropfen oder Rubine handeln mochte – oder um etwas anderes. Der Mausling ging weiter. Sofort begann auch das Trapsen erneut, das jedoch zugenommen hatte, als müßte der Sturm jeden Augenblick losbrechen. Er ging etwas schneller, und plötzlich waren sie da – zwei Reihen kleiner silbriger Gestalten, die zu seiner Rechten aus dem Schatten hervorbrachen, und links hinter dem Unrat und aus den Abwasserlöchern, und ein paar quetschten sich sogar unter alten Türen hindurch. Er rannte los – schneller als seine Gegner, und Skalpell blitzte wie die Zunge einer Silbernen Schildkröte hierhin und dorthin und tötete die Ratten. Sie kamen nun auch von vorn auf ihn zu, doch den meisten vermochte er fortzulaufen, und die übrigen spießte er auf. Der Wein gab ihm ein unerschütterliches Selbstvertrauen, so daß der Kampf fast zu einem Tanz wurde – ein Todestanz, in dem die Ratten die Menschheit darstellten und er den schlimmen Oberherrn, allerdings mit einem Rapier und nicht mit der Sense bewaffnet. Die Schatten änderten ihre Richtung, als sich die
Straße weiter kurvte. Eine größere Ratte unterlief Skalpell und sprang an seine Hüfte, doch er schleuderte das Tier mit der Dolchspitze zur Seite, während sein Schwert zwei weitere Tiere durchbohrte. Plötzlich surrte etwas wie eine bösartige Wespe an seiner Nase vorbei, und die Lage änderte sich. Er mußte an die seltsame Nacht der Entscheidung an Bord der Squid zurückdenken, an die Armbrustratten und an Skwee, der ein Schwert an seine Halsschlagader hielt, und er machte sich zum erstenmal klar, daß er hier nicht mit gewöhnlichen Ratten zu tun hatte, sondern mit einer fremden, feindseligen Rasse intelligenter Wesen, die zwar klein, aber vielleicht schlauer und erfindungsreicher und entschlossener waren als die Menschen. Er rannte nun so schnell er konnte, steckte den Dolch in den Gürtel und setzte seine Schwerthiebe fort. Gleichzeitig griff er in seinen Beutel, um Sheelbas schwarze Flasche hervorzuholen. Sie war nicht da. Fluchend erinnerte er sich, daß er das Fläschchen unter seinem Kissen zurückgelassen hatte. Er huschte an der dunklen Straße der Denker vorbei, deren Gebäude den Mond verdeckten. Neue Ratten schlossen sich seinen Verfolgern an. Er trat auf ein Tier und wäre fast ausgerutscht. Zwei weitere Stahlwespen surrten an seinem Gesicht vorbei. Er rannte mit aller Kraft an dem dunklen Haus der Diebeszunft entlang und konzentrierte sich darauf, noch schneller zu laufen. Dann machte die Marktstraße plötzlich eine Biegung, und vor ihm schimmerten Lichter, und viele Menschen waren zu sehen, und Sekunden später war
er in der Menge, und die Ratten waren verschwunden. Bei einem Straßenhändler kaufte er einen kleinen Krug mit Ale, damit er seine Nerven beruhigte und wieder zu Atem kam. Als sein trockener Hals angenehm benetzt war, sah er zwei Häuserblocks weit nach Osten zum Marschtor. Dann wandte er sich um und blickte die volle Länge der Straße der Götter entlang, die von unzähligen schimmernden Gebäuden gesäumt war. Es wollte ihm scheinen, als wäre ganz Lankhmar heute hier versammelt im Licht der Fackeln und Lampen und Kerzen und Feuerbrände – um zu beten und spazierenzugehen, um zu klagen und zu trinken, um zu essen und sich den neuesten Klatsch anzuhören. Er fragte sich, warum die Ratten diese Straße bisher verschont hatten. Fürchteten sie sich mehr vor den Göttern der Menschen als die Menschen selbst? Am Marschtor-Ende der Straße der Götter erhoben sich die Tempel der jüngsten und ärmsten Götter in Lankhmar; hier waren auch nur einige Gruppen zu sehen, die sich im Rinnstein um irgendeinen hageren Einsiedler oder einen ausgemergelten Priester scharten, der aus den Ländern des Ostens stammen mochte. Der Mausling wandte sich in die andere Richtung und begann sich durch die Menge zu drängen, begrüßte manchen alten Bekannten und kaufte bei den Straßenhändlern einen Krug Wein und einen Bissen zu essen, denn nach Ansicht der Lankhmarier vertragen sich Religion und leibliche Freuden recht gut. Er war kurz in Versuchung, doch dann ließ er die Hurenstraße hinter sich und klopfte vorsichtig gegen
den Pfeil an seiner Schläfe, damit er nicht vergaß, daß ein erotisches Erlebnis auf keinen Fall gut enden konnte. Obwohl die Hurenstraße im Dunkeln lag, waren die alten und jungen Mädchen in Scharen unterwegs, gingen in den schattigen Portikus ihrem Geschäft nach – der dritten großen Zerstreuung nach Gebet und Wein. Je weiter er sich vom Marschtor entfernte, desto reicher und besser versorgt waren die Götter i n Lankhmar, deren Gebäude er passierte – Kirchen und Tempel, die zum Teil sogar silberne Säulen hatten und die von Priestern mit Goldketten und golddurchwirkten Roben bewacht wurden. Aus den offenen Türen drangen weiches gelbes Licht und der schwere Geruch von Weihrauch, und es ertönte der Singsang von Verwünschungen und Gebeten – die sich ausnahmslos gegen die Ratten richteten, wie der Mausling zu hören glaubte. Und doch gab es Ratten auf der Straße der Götter. Winzige schwarze Köpfe spähten hier und dort von den Dächern; mehr als einmal sah er auch dicht zusammenstehende bernsteinrote Augen in den Schlitzen der Ablauflöcher im Rinnstein. Aber nun hatte er genügend Wein und scharfe Getränke zu sich genommen, um solche Kleinigkeiten nicht mehr aufregend zu finden, trotz des eben ausgestandenen Schreckens. Er verlor sich etwas in seinen Erinnerungen. Er wurde sich seiner Umgebung erst wieder bewußt, als er das Hlal-Ende der Straße erreichte, wo die Tempel goldene Türen haben, wo die Türme hoch in den Himmel wachsen und die Roben der Priester mit Juwelen besetzt sind. Um ihn drängte sich eine
Menge, die kaum weniger kostbar gekleidet schien, und vor sich entdeckte er plötzlich unter einer grünen Samtkapuze das fröhlich-melancholische Gesicht von Frix, deren dunkle Augen auf ihn gerichtet waren. Etwas Hellbraunes flatterte aus ihrer Hand lautlos auf das Keramikpflaster. Dann wandte sie sich um und verschwand. Er eilte ihr nach, nahm das kleine zusammengedrückte Pergamentstück auf, das sie fallen gelassen hatte, doch zwei Aristos mit ihren Kurtisanen gerieten ihm in den Weg, und als er sich wieder frei gemacht hatte, wobei er sich sehr beherrschen mußte, um nicht ein Duell vom Zaum zu brechen, war keine grüne Samtrobe mehr zu sehen. Er glättete das zerknitterte Pergament und studierte es im Schein einer tiefhängenden Straßenlampe. Hab heldengleiche Geduld und Mut. Deine höchste Sehnsucht wird erfüllt, deine gewagtesten Hoffnungen werden übertroffen. Hisvet Er sah auf und bemerkte, daß er die letzten schimmernden Tempel der Götter in Lankhmar hinter sich gelassen hatte und nun vor dem dunklen flachen Gebäude der Götter von Lankhmar stand – jener braunknochigen uralten Gottheiten, denen die Lankhmarier niemals öffentlich huldigten, die sie jedoch vor allen anderen Göttern und Teufeln in Nehwon verehrten und anbeteten. Die Erregung, die Hisvets Brief in ihm hervorgerufen hatte, verebbte, und der Mausling schritt weiter, bis er in der unbeleuchteten Straße vor dem dunklen
Tempel stand. Seine vom Wein beflügelten Gedanken beschäftigten sich mit den Göttern von Lankhmar. Ihnen lag nicht an Priestern oder Reichtum oder Gläubigen. Sie waren mit ihrem alten Tempel zufrieden, solange sie nicht gestört wurden. In einer Welt, in der praktisch alle anderen Götter, einschließlich der Götter in Lankhmar, neue Gläubige, Reichtum und Aufmerksamkeit anstrebten, war diese Haltung ungewöhnlich und auch etwas unheimlich. Diese Götter traten nur in Erscheinung, wenn Lankhmar unmittelbar bedroht war – und auch dann nicht immer –, sie griffen ein und straften – nicht Lankhmars Feinde, sondern seine Bürger, und danach zogen sie sich ohne Umschweife wieder in ihren düsteren Tempel zurück. Auf diesem Tempel und in den tiefen Schatten ringsum waren keine Ratten zu sehen. Erschaudernd wandte sich der Mausling ab und erblickte auf der anderen Straßenseite, eingezwängt zwischen den Mauern der großen Kornlager und verschönt durch Glipkerios Regenbogenpalast, der dahinter aufragte, das schmale, dunkle Haus Hisvins, des Kornhändlers. In einem Fenster im oberen Stockwerk brannte Licht. Die Sehnsucht, die Hisvets Zettel in ihm geweckt hatte, flammte wieder auf, und der Mausling war in Versuchung, zu dem Fenster hinaufzuklettern, doch dann besann er sich. Immerhin hatte ihn Hisvet um Geduld gebeten. Achselzuckend seufzte er und wandte sich wieder der hellerleuchteten Straße der Götter zu, kaufte für sein restliches Geld bei einem juwelengeschmückten Sklavenmädchen eine kleine Kristallflasche mit einem
seltenem weißen Brandy, trank einen Schluck von dem eisig brennenden Zeug und war nun so weit gekräftigt, daß er in die pechschwarze Nonnenstraße einbog, von wo er die Straße der Denker und die Handwerksstraße erreichen wollte, um zur Marktstraße und zu Nimblefingers Haus zurückzukehren.
10 Gegen Morgengrauen stahl Fafhrd ein Lamm und briet sich herrliche Stücke über einem kleinen Feuer, während sich die Mähre an einem Kornfeld gütlich tat. Sie waren kaum gesättigt, als auf der anderen Seite des Tales schreiende Schäfer erschienen. Ein Stein sirrte dicht über Fafhrds Kopf hinweg, als er in den Sattel stieg und davongaloppierte. Außer Reichweite zügelte er sein Pferd, um nachzudenken, ehe er durch Ilthmar ritt. Es führte kein Weg um diese Stadt herum, deren gedrungene Türme bereits in den Strahlen der aufgehenden Sonne golden herüberschimmerten. Ilthmar, das etwas nördlich des Sinkenden Landes am Binnenmeer lag, war eine böse, geldgierige Stadt. Es lag ganz in Lankhmars Nähe und bildete etwa den geographischen Mittelpunkt der bekannten Welt, von allen Teilen des Kontinents etwa gleich weit entfernt – von den wüstengeschützten Ländern des Ostens, dem waldreichen Land der Acht Städte und den Steppen, in denen die Mingol-Nomaden lebten. Und aufgrund dieser Lage versuchte es allen Reisenden Tribut abzunehmen – durch Betrug oder auch mit Gewalt. Die ilthmarischen Landräuber und Seepiraten, die ihre Einnahmen mit den herrschenden Baronen der Stadt teilten, waren überall gefürchtet, doch konnten es sich die großen Mächte der Welt gegenseitig nicht gestatten, einen strategisch derart wichtigen Punkt zu besetzen – so behielt Ilthmar seine Selbständigkeit, wenn es auch ein sehr unzuverlässiger und diebischer Angelpunkt war. Die zentrale Lage hatte sicherlich auch den Siebe-
näugigen Ningauble veranlaßt, sich in einer weitläufigen, durch Zauber geschützten Höhle am Fuße der kleinen Berge südlich von Ilthmar niederzulassen. Fafhrd bemerkte keine Anzeichen für mingolsche Überfälle, was ihm nicht sehr gefiel. Ein aufgescheuchtes Ilthmar ließ sich bestimmt leichter durchqueren, als eine Stadt, die mit jedem Auge auf Beute aus war. Er wünschte, er hätte Kreeshka mitgebracht, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte. Auch hätte er ihr lieber seinen Bogen nicht geben sollen! Trotzdem war er schon zu drei Vierteln durch die schmutzige Stadt, ehe es Ärger gab. Eine große bunte Karawane, die sich für die Heimreise in die Länder des Ostens rüstete, lenkte zweifellos die allgemeine Aufmerksamkeit von ihm ab. Der einzige Schmuck der düsteren Gebäude ringsum war das Emblem des ilthmarischen Rattengottes, das in unzähligen Wiederholungen überall auftauchte. Das Problem kam zwei Häuserblocks hinter der Karawane auf ihn zu und bestand aus sieben pockennarbigen Burschen, die schwarze Stiefel, enge schwarze Hosen und Wämse und schwarze Umhänge mit zurückgeschobenen Kapuzen trugen. Eben war die Straße leer gewesen, jetzt umstanden sie ihn, bedrohten ihn mit gezackten Schwertern und anderen Waffen und verlangten, er solle absteigen. Einer machte Anstalten, in die Zügel der Mähre zu fallen. Das war entschieden ein Fehler. Das Pferd stieg auf die Hinterhand und ließ einen eisenbeschlagenen Huf gezielt gegen seinen Kopf knallen. Fafhrd zog Graywand und schlug aus der gleichen Bewegung heraus dem nächststehenden schwarzen Angreifer die Kehle durch. Die Mähre fiel auf die Vor-
derhufe zurück und begann nun nach hinten auszutreten. Sie traf einen Burschen, der eben einen Dolch auf Fafhrd schleudern wollte. Im nächsten Augenblick galoppierten Pferd und Reiter mit großer Geschwindigkeit davon. Eine halbe Meile weiter schaute Fafhrd zurück. Von einer Verfolgung war noch nichts zu bemerken, doch das beruhigte Fafhrd kaum. Ilthmarische Räuber gaben nicht so schnell auf. Von ihrer Wut getrieben, würden sich die vier übriggebliebenen schwarzen Kerle schnell an seine Fersen heften. Und dann hatten sie bestimmt Pfeil und Bogen bei sich. Er begann die vor ihm liegenden Hänge nach dem kaum erkennbaren Pfad abzusuchen, der zu Ningaubles Untergrundreich führte. Glipkerio Kistomerces fand die Zusammenkunft des Katastrophenrates unerträglich. Im Katastrophenrat fanden sich der Kriegsrat und der Innere Rat zusammen – ergänzt durch einige Persönlichkeiten wie Hisvin, der bisher geschwiegen hatte, obwohl seinen wachsamen Augen nichts entging. Doch alle anderen taten nichts anderes als reden, reden, reden über die Ratten, Ratten, Ratten! Der hagere Oberherr, der im Sitzen eher klein wirkte, hatte längst die Hände unter der Tischplatte versteckt, um ihr nervöses Zittern zu verbergen. Dafür machte sich jetzt ein heftiges Gesichtszucken bemerkbar, das seinen Kranz aus Gänseblümchen jeden dreizehnten Atemzug über seine Augen rutschen ließ – er hatte es gezählt und fand die Zahl entschieden ominös. Außerdem hatte er nur wenig gegessen und seit
heute früh keiner Auspeitschung mehr beigewohnt, so daß seine Nerven in keinem sehr gutem Zustand waren. Immerhin war es schon einen Tag her, daß er das freche Mädchen zur Bestrafung zu Samanda geschickt hatte. Bis jetzt war keine Nachricht von der unverschämten Palastdame gekommen! Glipkerio wußte natürlich um die Wirkung einer hinausgezögerten Bestrafung, aber in diesem Fall bedeutete das sein hinausgeschobenes Vergnügen! Die schreckliche Dicke müßte sich das doch denken können! Jetzt zählte irgendein schwarzgekleideter Idiot neun Argumente auf, die Priesterschaft des ilthmarischen Rattengottes gegen Geld herzuholen und ihre Gebete aufsagen zu lassen. Glipkerio war nun schon so ungeduldig geworden, daß ihm nicht einmal mehr die schwülstigen Komplimente gefielen, mit der jeder Sprecher seine Rede einleitete, außerdem stand ihm der schlimmste von allen, Olegnya Mingolsbane, noch bevor. Ein Page näherte sich, kniete nieder und hielt ihm respektvoll ein schmutziges Pergament hin, das zweimal zusammengefaltet und mit Kerzenfett versiegelt war. Er riß es an sich, musterte Samandas großen Daumenabdruck in dem schmutzigen Wachs und las den Text: Sie wird mit rotglühenden Drähten ausgepeitscht, Punkt drei. Kommen Sie nicht zu spät, mein kleiner Oberherr, denn ich warte nicht. Glipkerio sprang auf, auf die Frage konzentriert, ob er eben die halbe oder die dreiviertel Stunde hatte schlagen hören.
Er schwenkte das wieder zusammengefaltete Pergament herum – oder vielleicht durchlief seine Hand ein Zucken, das er nicht zu meistern vermochte – und sagte atemlos: »Wichtige Nachrichten über meine Geheimwaffe. Ich muß mich sofort mit dem Absender beraten.« Und ohne auf die Reaktion zu warten, doch mit einem letzten Kopfzucken, das den Blumenkranz auf seine Nasenspitze rutschen ließ, eilte Lankhmars Oberherr durch einen Torbogen hinaus. Hisvin glitt von seinem Stuhl, machte eine knappe Verbeugung in die Runde und huschte ihm nach. Er holte Glipkerio draußen im Korridor ein, griff nach dem mageren Ellenbogen des Monarchen, sah sich verstohlen um und rief leise: »O freue dich, du kluger Geist, der Lankhmars Führer ist, denn der langsame Planet hat endlich seine Stellung bezogen, hat seine Sternenflotte getroffen, und heute nacht spreche ich die Zauberformel, die Ihre Stadt von den Ratten errettet!« »Wie? Was? O ja. Gut, gut«, erwiderte der andere und bemühte sich, dem Griff Hisvins zu entkommen. »Aber jetzt muß ich eilig ...« »Sie wartet auf ihre Strafe«, zischte Hisvin verächtlich. »Ich sagte, daß ich heute um zwölf meinen Spruch aufsage, der Lankhmar vor den Ratten rettet und auch Ihren Thron schützt!« »Aber darum geht es doch – sie wartet bestimmt nicht«, erwiderte Glipkerio aufgebracht. »Es ist zwölf, sagen Sie? Aber das ist unmöglich! Es kann noch nicht drei gewesen sein!« »O weiser und geduldiger Herrscher, Meister über Zeit und Raum«, knurrte Hisvin unbeirrbar. Dann grub er seine Fingernägel in Glipkerios Arm und
sagte betont: »Ich sagte, daß es heute nacht soweit ist. Meine dämonischen Berater versichern mir, daß die Ratten sich heute zurückhalten wollen, um die Stadt in Sicherheit zu wiegen. Dann um Mitternacht wollen sie einen Großangriff beginnen. Um sicherzugehen, daß sie alle in den Straßen sind und dort bleiben, während ich vom größten Palast-Minarett meinen Zauber verbreite, müssen Sie eine Stunde vorher alle Soldaten und Polizisten in die Südkaserne schicken. Sagen Sie General Olegnya, Sie möchten, daß er ihnen eine stimmungsvolle Rede hält, so etwas ist gut für die Moral. Der alte Schwätzer wird sich diesen Lekkerbissen nicht entgehen lassen. Haben ... Sie ... mich ... verstanden ... Oberherr?« »Ja, ja!« plapperte Glipkerio eifrig und verzog schmerzhaft das Gesicht, weil Hisvins fester Griff sich nicht lockerte. Er wollte so schnell wie möglich weiter. »Elf Uhr heute nacht ... alle Soldaten und Polizisten von den Straßen ... Lobrede Olegnyas. Und jetzt, bitte, muß ich los ...« »Um zuzusehen, wie ein Mädchen ausgepeitscht wird«, beendete Hisvin den Satz. Wieder gruben sich seine Fingernägel in Glipkerios Fleisch. »Punkt Viertel vor zwölf erwarten Sie mich in Ihrem Blauen Audienzzimmer, von wo ich auf das große Minarett steigen werde, um meinen Spruch aufzusagen. Ein Trupp Pagen sollte außerdem bereitstehen, um Ihr Volk zu beruhigen. Sorgen Sie dafür, daß die Leute mit Ihrer Vollmacht ausgestattet sind. Ich bringe meine Tochter und ihr Mädchen mit, um Sie zufriedenzustellen – und auch eine Gruppe meiner MingolSklaven, die Ihren Pagen notfalls zur Hand gehen
sollen. Am besten sollten Sie auch eine Vollmacht erhalten. Auch ...« »Ja, ja, mein lieber Hisvin«, unterbrach ihn Glipkerio verzweifelt. »Ich bin Ihnen sehr dankbar ... Frix und Hisvet, gut, gut ... ich erinnere mich an alles ... Viertel vor zwölf ... Blaues Zimmer ... Pagen ... Vollmachten ... Vollmachten für die Mingols. Und jetzt muß ich wirklich los ...« »Auch«, fuhr Hisvin unbeirrbar fort, »müssen Sie sich vor dem Grauen Mausling in acht nehmen! Ihre Wachen sollen nach ihm Ausschau halten. Und jetzt können Sie sich Ihren Folterfreuden hingeben«, fügte er leise hinzu und ließ Glipkerio gehen. Der Monarch rieb sich den Arm und sagte hastig: »Ach ja, der Mausling, schlimm, schlimm! Aber alles andere ... gut, gut! Gewaltigen Dank! Jetzt muß ich los – wichtige Geschäfte warten auf mich. Ich habe auch noch andere Geheimwaffen als die Ihren, mein Lieber – und auch andere Zauberer!« Und mit schnellen Schritten eilte er durch den Korridor davon. Hisvin legte die Hand vor den Mund und rief ihm nach: »Ich hoffe, Ihre wichtigen Geschäfte winden sich ordentlich und kreischen hübsch beruhigend, mutiger Oberherr!« Der Graue Mausling zeigte dem Wächter am Landeingang des Palastes seinen Kurierring. Er erwartete fast, daß er nicht mehr durchgelassen wurde. Hisvin hatte zwei Tage Zeit gehabt, den dummen Glipkerio gegen ihn einzunehmen. Und tatsächlich tauschten die Männer zweifelnde Blicke und ließen ihn so lange warten, daß er seinen Kater so richtig zu spüren bekam und sich schwor, nie wieder so viel durcheinan-
der zu trinken. Und er ärgerte sich über seine Waghalsigkeit, die ihn zum Abschluß des Abends durch einige der dunkelsten Straßen der Stadt geführt hatte, wobei er einem zweiten Rattenüberfall allerdings entgangen war. Na ja, wenigstens hatte er Sheelbas schwarzes Fläschchen an Ort und Stelle vorgefunden, hatte dem Impuls, daraus zu trinken, mannhaft widerstanden, und er hatte den schönen und ermutigenden Brief von Hisvet. Sobald er hier im Palast fertig war, wollte er zu ihr eilen und ... Ein Wächter tauchte aus dem Palast auf und nickte mürrisch. Der Mausling wurde durchgelassen. Vom Dritten Butler, der ein alter Freund des Mauslings war, erfuhr er, daß Lankhmars Oberherr in diesem Augenblick mit dem Katastrophenrat zusammensaß. Er unterdrückte den Impuls, Sheelbas Rattenzauber den versammelten Herrschaften vorzuführen, doch er klopfte wenigstens heimlich auf die kleine schwarze Flasche in seinem Beutel. Immerhin bedurfte es dazu eines Ortes, an dem sich Ratten befanden – außerdem mußte er Glipkerio allein sprechen. Also wanderte er durch die düsteren Korridore des Palastes, um irgendwie die nächste Stunde herumzubekommen und dabei vielleicht auch noch ein paar Kleinigkeiten aufzuschnappen. Wie es meistens geschah, wenn er Zeit hatte, war der Mausling bald auf dem Weg zur Küche. Obwohl er Samanda verabscheute, legte er es darauf an, ihr jede denkbare Höflichkeit zu erweisen, denn er wußte um ihre Macht im Palast, und er mochte ihre gefüllten Pilze und ihren Wein. Die blitzsauberen Korridore waren menschenleer. Es war die stille halbe Stunde nach dem Mittagsab-
wasch und vor Beginn der Vorbereitungen für das Abendmahl. Jeder müde Diener ruhte sich nach Möglichkeit ein Weilchen aus. Auch sorgte bestimmt die Rattenplage dafür, daß Diener und Herren nicht unnötig durch die Korridore eilten. Einmal glaubte er hinter sich leise Schritte wahrzunehmen, doch der Laut verging, als er sich umdrehte. Als er das Feuer und das Essen roch, und dazu Seife und Töpfe und Waschwasser, war das Schweigen fast unnatürlich. Irgendwo wurde plötzlich eine Glocke geläutet, und dann dröhnte Samandas harte Stimme auf: »Raus mit euch!« Der Mausling zuckte unwillkürlich zusammen. Einige Schritte vor ihm geriet ein Ledervorhang in Bewegung, und drei Küchenjungen und ein Mädchen kamen stumm in den Korridor geeilt. Sie sahen wie wächserne Puppen aus, als sie sich stumm an ihm vorbeidrückten, ohne ihn anzusehen. Ebenso leise schlich der Mausling weiter und legte ein Auge an den Spalt des Ledervorhangs. Die vier anderen Kücheneingänge waren ebenfalls zugezogen. In dem großen heißen Raum hielten sich nur zwei Menschen auf. Samanda, die in ihrem schwarzen Wollkleid schwitzte, erhitzte in dem flammenden Herd sieben Drahtriemen, die sich zu einer langen Peitsche vereinigten. Sie zog das Gebilde ein Stück heraus. Die Drähte glühten dunkelrot. Sie stieß die Peitsche zurück. Lächelnd starrte sie Reetha an, die mit erhobenem Kopf fast in der Mitte des Raumes stand und dem prasselnden Feuer halb den Rücken zukehrte. Das Mädchen trug nur seinen schwarzen Lederkragen. Die Striemen ihrer letzten Bestrafung waren noch schwach auf ihrem Rücken erkennbar.
»Steh gerader, meine Kleine«, sagte Samanda mit tiefer Stimme. »Oder möchtest du, daß ich deine Handgelenke an einen Dachbalken und deine Füße an den Ring der Kellerfalltür binden lasse?« Jetzt machte sich der Gestank schmutzigen Wischwassers bemerkbar. Der Mausling blickte zur Seite und entdeckte auf der anderen Seite des Vorhangs einen großen Holzeimer, in dem ein gewaltiger Mop steckte, von schaumigem Schmutzwasser umgeben. Samanda inspizierte die sieben heißen Drähte ein zweitesmal. Jetzt schimmerten sie hellrot. »Also«, sagte sie. »Nimm dich zusammen, meine Kleine.« Der Mausling glitt durch den Vorhang, nahm den langen Griff des Mops und eilte auf Samanda zu, wobei er den gewaltigen tröpfelnden Kopf des Wischbesens vor sein Gesicht hielt, in der Hoffnung, daß sie ihren Angreifer später nicht identifizieren konnte. Als die glühenden Drähte leise durch die Luft zischten, stieß er Samanda den Mop platschend ins Gesicht, so daß sie einen Meter zurückgetrieben wurde, ehe sie über eine lange Grillgabel stolperte und sich rückwärts auf ihr gewaltiges Hinterteil setzte. Der Mausling ließ den Mob auf ihrem Gesicht liegen, wirbelte herum, sah dabei ein gelbliches Auge hinter dem nächsten Vorhangspalt und registrierte das Erlöschen der Drähte, die auf halbem Wege zwischen dem Herd und Reetha auf dem Boden lagen. Das Mädchen stand noch immer starr und mit zugekniffenen Augen da, als erwarte es jeden Augenblick den glühenden Schlag. Der Mausling umfaßte heftig ihren Arm, und sie schrie erstaunt auf, doch er kümmerte sich nicht dar-
um, sondern zerrte sie auf den Eingang zu, durch den er die Küche betreten hatte. Im gleichen Augenblick waren die Tritte zahlreicher Stiefel dahinter zu hören, und er blieb stehen. Er hastete auf die beiden anderen lederverhangenen Durchgänge zu, die kein Auge hinter dem Spalt hatten. Wieder Schritte. Er eilte in die Mitte der Küche, um Reetha loszulassen. Samanda, die noch immer am Boden lag, hatte den Mob zur Seite geschoben und wischte sich die brennenden Augen. Sie schimpfte und wimmerte. Zu dem gelben Auge gesellte sich ein zweites, als nun Glipkerio die Küche betrat, mit verschobenem Gänseblümchenkranz und wehender Toga und von zwei Wächtern flankiert, die ihre schimmernden Piken auf den Mausling gerichtet hatten. Wächter strömten auch durch die anderen drei Eingänge herein. Glipkerio zeigte mit seinen langen weißen Fingern auf den Mausling und zischte: »Oh, Sie verräterischer Mausling! Hisvin hat gesagt, daß Sie gegen mich arbeiten, und jetzt erwische ich Sie dabei!« Der Mausling ging plötzlich in die Hocke und zog mit voller Kraft an einem großen Eisenring, der in den Boden eingelassen war. Eine quadratische Falltür aus dickem Holz, oben mit Kacheln besetzt, öffnete sich. »Runter!« sagte er zu Reetha, die mit erstaunlicher Schnelligkeit gehorchte. Der Mausling folgte ihr geduckt nach und ließ die Falltür zuknallen. Im Fallen klemmte sie eben noch die Spitzen zweier Piken ein, die nach ihm geworfen worden waren und die den Soldaten jetzt wohl aus den Händen gerissen wurden. Damit ist die Falltür richtig zugekeilt, dachte der Mausling.
Absolute Dunkelheit herrschte ringsum, doch von einem früheren Besuch erinnerte er sich an die Länge und Form der Steinstufen und an einen größeren Treppenabsatz ein Stück weiter unten. Wieder nahm er Reethas Oberarm und führte sie die Treppe hinab, bis die Stufen zu Ende waren. Dann ließ er das Mädchen stehen und kramte aus seinem Beutel Feuerstein, Zunder und eine kurze, dicke Kerze hervor. Von oben war gedämpftes Poltern zu hören. Zweifellos das Brechen von Pikengriffen, als jemand die festgeklemmten Klingen lösen wollte. Dann ertönte das leise Kommando: »Hebt an!« Der Mausling grinste in der Dunkelheit und freute sich, daß das Metall dadurch nur um so fester eingekeilt wurde. Winzige Funken sprühten, eine gespenstische Flamme erschien in einer Ecke seines Zunderkästchens, eine winzige runde Flamme wie ein goldener Käfig zuckte an der Spitze des Kerzendochts und wurde größer. Der Mausling ließ das Kästchen zuschnappen und hielt die Kerze hoch. Die Flamme sprang hoch und begann zu strahlen. Im nächsten Augenblick hatte Reetha die Arme um ihn geworfen und keuchte entsetzt. Sie standen mit dem Rücken an einer alten Steinmauer, die helle Kristallflecke aufwies – und auf drei Seiten waren sie von einem Dutzend Reihen stummer Ratten umgeben, eine Speerlänge entfernt – Hunderte, Tausende schwarzer Langschwänzer, zu denen sich von Minute zu Minute mehr gesellten aus vielen Rattenlöchern am Fuße der Wand des langen Kellers, der voller Fässer, Kisten und Kornsäcke war. Der Mausling grinste plötzlich, stieß Feuerstein und Zunderkästchen in seinen Beutel und kramte et-
was anderes hervor. Währenddessen bemerkte er ein großes schmales Rattenloch dicht neben ihren Füßen – ein Loch, das offenbar neu gegraben war – oder vielleicht mit Meißeln und Spitzhacken aus der Wand herausgehauen, nach den winzigen Gesteinsbrocken zu urteilen, die sich davor aufhäuften. Obwohl keine Ratten aus diesem Loch kamen, behielt er es aufmerksam im Auge. Der Mausling fand Sheelbas schwarze Flasche, streifte das Schutzband ab und zog den Kristallstöpsel heraus. Die Dummköpfe oben in der Küche hämmerten nun auf der Falltür herum – ein sinnloses Unterfangen! Noch immer strömten Ratten in solcher Zahl herbei, daß sie als wogende schwarze Masse nun bald den ganzen Kellerboden einnahmen und sich dicht um die Füße Reethas und des Mauslings drängten. Er grinste weiter. Er setzte die Flasche an die Lippen, kostete den Inhalt, rollte die Flüssigkeit nachdenklich auf der Zunge, dann kippte er das Fläschchen und ließ seinen leicht bitteren Inhalt über die Zunge gurgeln. Reetha löste ihren Griff und sagte ein wenig vorwurfsvoll: »Ich könnte auch etwas Wein vertragen.« Der Mausling sah sie zufrieden an und rief aus: »Das ist kein Wein! Ein Zaubertrank!« Wären ihre Brauen nicht abrasiert gewesen, hätte sie sie jetzt verwirrt gehoben. Er blinzelte ihr zu, warf die Flasche fort und wartete zuversichtlich auf das Einsetzen seiner Zauberkräfte. Von oben ertönte das Knirschen von Metall und das langsame Splittern von Holz. Jetzt hatten sie end-
lich die richtige Methode – mit Stemmeisen. Wahrscheinlich öffnete sich die Falltür gerade noch so rechtzeitig, daß Glipkerio den Sieg des Mauslings über die Ratten mitbekam. Es klappte alles bestens. Das schwarze Meer der bisher stummen Ratten geriet in Bewegung und ließ ein ärgerliches Twittern hören. Immer besser – diese kriegerische Show machte die Niederlage dann um so realistischer. Er bemerkte, daß er in der Mitte eines großen Flecks aus rosa Schleim stand, den er in all der Aufregung bisher übersehen hatte. Seine Augen begannen zu brennen, und er hatte plötzlich das Gefühl, die Macht eines Gottes zu haben. Er schaute zu Reetha auf, um ihr zu sagen, sie sollte keine Angst haben, wenn jetzt etwas Unvorhergesehenes passierte, wenn etwa sein Fleisch golden aufglühte oder rote Strahlen aus seinen Augen schossen und die Ratten vernichteten. Und dann fragte er sich: »Zu Reetha aufschauen?« Der rosa Fleck war zu einer großen Pfütze geworden, die schleimig über seine Schuhsohlen schwappte. Ein Knirschen ertönte. Licht fiel aus der Küche herab, beleuchtete die dichtgedrängt sitzenden Ratten. Der Mausling starrte sie entsetzt an. Sie waren ja groß wie Katzen! Nein, wie schwarze Wölfe! Nein, wie pelzige schwarze Menschen auf allen vieren. Er hielt sich an Reetha fest ... und merkte, daß er vergeblich einen glatten weißen Unterschenkel zu umfassen versuchte, der so dick war wie eine Tempelsäule. Er starrte in Reethas erstauntes und ängstliches Riesengesicht hinauf, das zwei Stockwerke über ihm aufragte. Sheelbas Worte hallten in seinem Kopf wi-
der: »... bringt dich in das richtige Verhältnis zu den Ratten, so daß du etwas unternehmen kannst ...« O ja, wie das stimmte! Die Schleimpfütze und ihre graue Umrandung waren noch größer geworden, und er stand nun schon bis zu den Knöcheln in der Flüssigkeit. Er hielt sich noch einen Augenblick an Reethas Bein fest – in der ungerechtfertigten Hoffnung, daß sie durch seine Berührung ebenfalls schrumpfen werde, da doch auch seine Waffen und seine Kleidung mit ihm kleiner geworden waren. Wenigstens hätte er dann eine Begleiterin gehabt. Es war ihm jedenfalls hoch anzurechnen, daß er ihr nicht zubrüllte: »Heb mich hoch!« So blieb es bei dem Aufdröhnen einer fast unvorstellbar tiefen Stimme, die aus Reethas Riesenmund fragte: »Was machen Sie da? Ich habe Angst! Nun zaubern Sie schon!« Der Mausling sprang von der Fleischsäule zurück, wobei das unangenehme rosa Zeug nach allen Seiten spritzte und ihn fast ausrutschen ließ, und zog sein Schwert Skalpell. Es war kaum größer als eine Nadel zum Segelflicken! Und seine Kerze, die er noch immer in der linken Hand hielt, war gerade groß genug, um den Ballsaal eines Puppenhauses zu erhellen! Ein lautes, verwirrtes Trappeln ertönte, gefolgt von ohrenbetäubendem Twittern und Fiepen, und er sah die riesigen schwarzen Ratten von drei Seiten auf sich eindringen, wobei das graue Zeug am Rande des rosa Tümpels aufstiebte. Reetha, starr vor Entsetzen, sah, wie ihr unerklärlicherweise geschrumpfter Retter herumwirbelte, über ein Stück Mauerstein sprang, das winzige Schwert
abwehrend erhob, die Kerze mit seinem Umhang schützte und in dem Rattenloch hinter ihr verschwand. Die Ratten gerieten in Bewegung, strichen ihr an den Beinen entlang und bissen sich gegenseitig in dem Bemühen, dem Mausling möglichst schnell zu folgen. Überall verschwand die Rattenhorde blitzschnell in den Löchern. Ein Tier nahm sich noch die Zeit, ihr in den Fuß zu beißen. Damit war es um ihre Beherrschung geschehen. Sie stürzte davon, wobei sie graues Pulver und rosa Schleim zertrat, raste die Treppe hoch, drückte sich an mehreren verblüfften Wächtern vorbei und sank schluchzend auf den kalten Küchenboden. Samanda ließ eine Kette in ihr Halsband einschnappen. Fafhrd, der die Arme erhoben hatte, um sich an der unregelmäßigen Felsendecke nicht den Kopf zu stoßen und nicht in Spinngewebe und Fledermäuse zu laufen, erblickte endlich einen unregelmäßigen grünen Schimmer vor sich. Kurz darauf verließ er den schwarzen Tunnel und erreichte eine große Höhle, in deren Mitte ein grünes Feuer brannte, das von zwei dünnen, lumpengekleideten, scharfäugigen Jungen bewacht wurde, die wie typische ilthmarische oder lankhmarische Straßenkinder aussahen. Einer hatte eine entzündete Narbe unter dem linken Auge. Auf der anderen Seite des Feuers saß eine dicke Gestalt, deren weiter Umhang und große Kapuze weder Gesicht noch Hände freiließen. Der Mann sortierte einen großen Haufen aus Pergamentfetzen und Steingutscherben, bewegte sie, indem er sie durch den dunklen Stoff seiner überlangen, herabhängenden Ärmel ergriff, und begutachtete sie kurzsichtig, indem er sie
fast in seiner Kapuze verschwinden ließ. »Willkommen, mein lieber Sohn«, rief er Fafhrd mit süßlicher Stimme entgegen. »Welch großer Zufall führt dich her?« »Das weißt du doch«, sagte Fafhrd heftig und trat vor, bis er direkt gegenüber dem kleinen Oval stand, das durch den vorderen Saum der Kapuze gebildet wurde. »Wie kann ich den Mausling retten? Was ist in Lankhmar los? Und warum ist die Blechpfeife so wichtig?« »Du sprichst in Rätseln, mein lieber Sohn«, erwiderte die flötengleiche Stimme beruhigend. »Welche Blechpfeife? Welche Gefahren? Und was soll mit Lankhmar sein?« Fafhrd ließ eine Flut von Flüchen hören, die die Stalaktiten über ihm zum Klirren brachten. Dann holte er aus seinem Beutel Sheelbas Brief hervor und hielt ihn wutzitternd dem Zauberer hin. »Schau her, du Alter Nichtswisser! Ich habe deswegen ein schönes Mädchen sitzenlassen, und jetzt ...« Aber die verhüllte Gestalt hatte durchdringend gepfiffen, und schon löste sich die schwarze Fledermaus, die Fafhrd völlig vergessen hatte, von seiner Schulter, riß ihm mit scharfen Zähnen den schwarzen Brief aus den Fingern und flatterte damit auf die verdeckte Hand Ningaubles – oder seinen Tentakel oder was es sein mochte. Von dort flatterte er gehorsam in die Kapuze und verschwand in der pechschwarzen Dunkelheit. Es folgte ein heiserer, unverständlicher Dialog, während Fafhrd die Fäuste in die Seiten stemmte und ungeduldig knurrte. Endlich sagte die weiche Stimme: »Ah, jetzt ist mir alles klar, geduldiger Sohn. Der
Augenlose Sheelba und ich haben einen kleinen Zauberstreit gehabt – und jetzt scheint er die Sache begraben zu wollen. Also wirklich – eine Aussöhnung durch Sheelba! Ho-ho-ho!« »Sehr komisch«, knurrte Fafhrd. »Ich habe es leider eilig mit unserer Besprechung. Das Sinkende Land ist aufgestiegen und hat das Wasser zurückgedrängt. Ich muß in einer halben Stunde wieder unterwegs sein, wenn ich es überqueren will, ehe es wieder versinkt. Was muß ich tun, um den Mausling und Lankhmar zu helfen? Was ist mit der Blechpfeife?« »Aber, mein lieber Sohn, ich weiß nichts von diesen Dingen«, erwiderte der andere tonlos. »Aber ich ... langsam Fafhrd, bring meine Stalaktiten nicht durcheinander. Ich hindere sie durch einen Zauberspruch am Fallen, aber ein so großer Bursche wie du richtet manches Unheil an. Ich rate dir, hab keine Angst. Aber ich muß mich erst umsehen. Verstreut den Goldstaub, meine Jungen – schnell, schnell, aber verschwendet ihn nicht!« Die beiden jungen Burschen griffen in einen Beutel, der zwischen ihnen stand, und warfen ein goldschimmerndes Pulver in die grünen Flammen – die sofort dunkler wurden, ohne dabei zu schrumpfen. Fafhrd beobachtete das Aufzucken des Feuers und glaubte darin in schneller Folge die Schatten verzerrter Türme, häßlicher Bäume, großer, gekrümmter Männer, kleiner Ungeheuer, wunderschöner zerschmelzender Wachsfrauen und ähnliche Dinge zu sehen, doch nichts wurde wirklich klar. Dann kamen aus jeder Kapuzenöffnung zwei grünliche Ovale auf das Feuer zu, jedes mit einem senkrechten schwarzen Strich wie ein Katzenauge.
Einen halben Meter vor der Kapuze verhielten sie. Schnell kamen zwei weitere Gebilde aus der Kapuze, die etwas weiter ausschwenkten. Dann folgte ein einzelnes Auge, das sich so weit über das Feuer reckte, daß Fafhrd schon befürchtete, es werde gleich anbrennen. Schließlich schwebten zwei Schimmer in großem Bogen um die Flammen herum und postierten sich in Fafhrds Nähe. Die Stimme intonierte: »Es ist immer gut, wenn man ein Problem von allen Seiten angeht.« Fafhrd hob die Schultern und unterdrückte ein Erschaudern. Es war immer wieder unheimlich, Ningauble und seine Sieben Augen zu beobachten, die an flexiblen Stielen zu haften schienen. Es verging so viel Zeit, daß Fafhrd schon ungeduldig mit den Fingern zu schnippen begann – leise zuerst, doch dann vernehmbarer. Er hatte es aufgegeben, in die Flammen zu starren, die doch nur huschende Schatten enthielten. Endlich schwebten die grünen Augen wieder in die Kapuze zurück. Die Flammen wurden wieder hellgrün, und Ningauble sagte: »Mein lieber Sohn. Ich begreife nun deine Probleme und auch die Antwort darauf. Genaugenommen habe ich viel gesehen, doch ich kann nicht alles erklären. Also, der Graue Mausling. Er ist jetzt genau fünfundzwanzig Fuß unter dem tiefsten Keller des Palastes von Glipkerio Kistomerces. Aber er ist dort nicht begraben und auch nicht tot – obwohl vierundzwanzig von fünfundzwanzig Teilen seines Körpers tot sind – in dem erwähnten Keller. Aber er lebt.« »Aber wie?« krächzte Fafhrd und breitete seine großen Hände aus.
»Ich habe keine Ahnung. Er ist von Feinden umgeben, doch in seiner Nähe sind zwei Freunde – sozusagen Freunde. Doch jetzt zu Lankhmar. Das Bild ist deutlicher. Die Stadt ist von Invasoren überrannt, ihre Mauern sind überwunden, und in den Straßen wird verzweifelt gekämpft – mit einer wilden Armee, die eine Übermacht von ... meine Güte ... fünfzig zu eins in den Kampf bringt und mit allen modernen Waffen ausgerüstet ist. Und doch kannst du die Stadt retten, kannst die Wende herbeiführen – dieser Teil kam sehr deutlich durch –, wenn du zum Tempel der Götter von Lankhmar eilst, auf den Turm steigst und die Glocken läutest, die viele Jahrhunderte nicht mehr erklungen sind. Vermutlich sollen damit die Götter geweckt werden. Aber das ist nur eine Ausnahme.« »Mir gefällt es nicht, mich mit dieser staubigen Gesellschaft einzulassen«, wandte Fafhrd ein. »Nach dem, was ich so über sie gehört habe, sind das mehr wandelnde Mumien als wirkliche Götter.« Ningauble zuckte die mächtigen Schultern. »Ich hielt dich für einen mutigen Mann, der schon einmal einen Einsatz wagt.« Fafhrd fluchte und fragte: »Aber selbst wenn ich die rostigen Glocken zum Klingen bringe – wie kann Lankhmar überhaupt so lange durchhalten, wenn die Mauern schon überwunden sind und die Übermacht des Feindes so groß ist?« »Das möchte ich selbst gern wissen«, sagte Ningauble. »Und wie soll ich zu dem Tempel gelangen, wenn in den Straßen wie verrückt gekämpft wird?« »Du bist der Held. Du müßtest es wissen.«
»Na, und die Blechpfeife?« fragte Fafhrd gepreßt. »Weißt du, über die Pfeife habe ich nichts erfahren. Tut mir leid. Hast du sie bei dir? Kann ich sie sehen?« Knurrend holte Fafhrd das Gebilde aus seinem Beutel und trug es um das Feuer. »Hast du schon einmal darauf geblasen?« fragte Ningauble. »Nein«, sagte Fafhrd überrascht und hob sie an die Lippen. »Nicht!« kreischte Ningauble. »Auf keinen Fall! Fremde Pfeifen soll man nie ausprobieren. Man weiß nicht, was man herbeipfeift, vielleicht sogar wilde Mastodonten oder die Polizei. Komm, gib sie mir.« Er klemmte die Pfeife in eine Stoffalte seines Ärmels und hielt sie dicht vor seine Kapuze, drehte sie und ließ schließlich noch einmal vier Augen hervortreten, die die Pfeife von allen Seiten betrachteten. Schließlich ließ er seine Augen wieder verschwinden, seufzte und sagte: »Nun, ich bin nicht sicher. Aber die Inschrift besteht aus dreizehn Buchstaben. Ich konnte sie nicht entziffern, das darfst du glauben, aber es sind dreizehn. Wenn man nun diese Tatsache in Zusammenhang mit dem liegenden katzengleichen Wesen betrachtet ... Also ich glaube, wenn du diese Pfeife ertönen läßt, kommen die Kriegskatzen. Bitte – das ist nur eine Vermutung, eine ziemlich weit hergeholte Vermutung.« »Was sind die Kriegskatzen?« fragte Fafhrd. Ningauble bewegte die dicken Schultern. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber wenn man verschiedene Gerüchte und Legenden hinzuzieht – o ja, und einige Höhlenzeichnungen nördlich der Eis-Öde und auch südlich von Quarmall –, dann kann man zu der vor-
sichtigen Schlußfolgerung kommen, daß es sich um eine militärische Aristokratie aller Katzenstämme handelt, ein blutrünstiger Innerer Kreis, der dreizehn Mitglieder hat, kurz, ein Dutzend und ein Berserker. Ich würde vermuten, daß sie auf den Pfeifenruf erscheinen und sofort alle Wesen – ob Tier ob Mensch – angreifen, die die Katzenwesen zu bedrohen scheinen. Ich würde dir also raten, die Pfeife nur zu benutzen, wenn du in der Gegenwart von Katzenfeinden bist, die einen Angriff eher verdienen als du.« Fafhrd riß die Pfeife an sich und steckte sie fort: »Aber wie soll ich nur wissen, wann ich darauf pfeifen muß? Wie kann der Mausling nur mit einem Fünfundzwanzigstel seines Körpers am Leben sein, wenn er acht Meter tief vergraben liegt? Welcher übermächtige Gegner kann Lankhmar angegriffen haben, ohne daß sich die Invasion nicht schon Monate vorher angekündigt hätte? Welche Flotten könnten ...« »Keine Fragen mehr!« unterbrach ihn Ningauble schrill. »Deine halbe Stunde ist vorbei. Wenn du das Sinkende Land noch erreichen und die Stadt noch retten willst, dann mußt du sofort losgaloppieren! Und keine Widerrede.« Fafhrd wütete noch eine Zeitlang, doch Ningauble hielt an seinem Schweigen fest. So bedachte ihn Fafhrd mit einer letzten lauten Verwünschung, die einen Stalaktiten von der Decke klirren ließ, der ihn nur knapp verfehlte, und verschwand, ohne sich um das Grinsen der Jungen zu kümmern. Vor der Höhle angekommen, bestieg er die Mingolmähre und trabte, gefolgt von einer Staubwolke, auf den meilenbreiten Landstreifen aus dunkelbrau-
nem Felsen zu, der das Sinkende Land darstellte. Im Süden schimmerte das ruhige blaue Wasser des Ostmeeres, im Norden die unruhige graue Oberfläche des Binnenmeeres und die schimmernden gedrungenen Türme Ilthmars. In der gleichen Richtung machte er vier kleine Staubwolken aus, die auf der IlthmarStraße näher kamen. Wie er schon vermutet hatte – die vier schwarzen Räuber waren ihm rachedürstend auf der Spur. Er zog die Augen zu Schlitzen zusammen und trieb sein graues Pferd zum Galopp an.
11 Der Mausling eilte gegen einen feuchten kühlen Luftzug durch einen breiten, niedrigen Gang, der von Zeit zu Zeit mit hochgestellten Backsteinen und Bruchstücken von Besenstielen und Pikengriffen abgestützt war, erleuchtet durch Feuerkäfer und Glühwürmer in Käfigen und von Zeit zu Zeit auch durch knisternde Fackeln, die von Rattenpagen in kurzen Jäckchen gehalten wurden, als sei hier einer wichtigen maskierten Persönlichkeit zu leuchten. Einige juwelengeschmückte oder dicke Ratten, ebenfalls maskiert, reisten in Sänften, die von zwei oder vier muskulösen und fast nackten Ratten getragen wurden. Eine humpelnde alte Ratte mit zwei Säcken, die sich leicht bewegten, nahm schwache, müde Feuerkäfer aus den Käfigen und ersetzte sie durch muntere, helleuchtende Tiere. Der Mausling huschte mit wiegenden Knien und vorgebeugtem Oberkörper und vorgestrecktem Kinn durch den Gang. Seine Beinmuskeln begannen entsetzlich zu schmerzen, aber er hoffte, einigermaßen wie eine Ratte auszusehen und zu laufen. Sein Kopf war von einer zylinderförmigen Maske umschlossen, die er aus seinem Mantel zurechtgeschnitten hatte und die er mit einem Stück Draht so nach unten verlängert hatte, so daß man den Eindruck haben konnte, eine Rattenschnauze befände sich darin. Er fragte sich, was geschehen mochte, wenn jemand in seine Nähe kam und sah, daß seine Maske und sein Umhang aus Rattenhaut bestanden! Er hoffte, daß die Ratten ihrerseits durch entsprechend kleinere Ratten belästigt wurden, obwohl er bisher
noch keine ganz winzigen Rattenlöcher entdeckt hatte; immerhin gab es ein Sprichwort über die Wanzen, die selbst Wanzen hatten und so weiter. Jedenfalls konnte er im Notfall immer behaupten, aus einer fernen Rattenstadt zu kommen, wo das so war. Um sich alle Neugierigen vom Leibe zu halten, fuhr er mit seinen behandschuhten Händen an den Griffen von Skalpell und Katzenklaue herum und fiepte ärgerlich oder knurrte Sprüche wie: »Alle Rattenfänger sollen verbrennen!« oder »Bei Kerzenfett und Speckrinde!« auf Lankhmarisch – denn nun, da seine Ohren klein geworden waren und die schnellen Laute aufzufangen vermochten, erkannte er, daß hier unten tatsächlich die gleiche Sprache gesprochen wurde – besonders klar von den Aristos dieser Unterwelt. Und was war auch natürlicher, als daß die Ratten, die auf den Höfen und Schiffen Parasiten des Menschen waren, seine Sprache und viele andere Dinge nachahmten? Der Mausling hatte bereits andere bewaffnete Ratten gesehen – mutige Kämpfer oder Verrückte –, die auf die gleiche Weise vor sich hin murmelten. Die erfolgreiche Flucht vor den Kellerratten war seiner Kaltblütigkeit und dem besonderen Eifer seiner Verfolger zu verdanken, die sich zunächst vor dem Eingang um den Vortritt gestritten hatten. Bei diesem Abstieg durch die ersten grob ausgemeißelten Passagen war ihm die Kerze sehr nützlich gewesen; er war hinabgesprungen oder gerutscht und hatte sich an Felsvorsprüngen und dergleichen nur abgebremst, wenn sein Tempo zu groß wurde und er zu stürzen drohte. Der erste Hauptgang war noch ziemlich dunkel gewesen. Dort hatte er hastig seinen Umhang vor sein Gesicht gehoben, denn im Licht seiner
Kerze erschienen zahlreiche Ratten, die meistens nackt waren und auf allen vieren dahinhuschten. Es hatte auch einige aufrecht gehende Tiere gegeben, die grobe Kleidung trugen, Höschen oder eine Jacke oder einen Gürtel mit kurzem Dolch. Und er hatte eine voll bekleidete Ratte gesehen, mit Schwert und Dolch und mit einer Maske, die das ganze Gesicht bedeckte. Er nahm die erste Passage nach unten – hier gab es nun sauber gemeißelte Stufen – und blieb an einer Treppenbiegung bei einem seltsam riechenden Erker stehen. Der Erker enthielt die erste FeuerkäferLampe, die er hier unten zu sehen bekam, und dazu ein halbes Dutzend kleiner abgeschlossener Kabinen. Nach kurzem Zögern hatte er eines dieser Abteile betreten, unter dessen Tür sich keine schwarzen Hinterpfoten zeigten, und hatte – die Tür fest hinter sich verschlossen – sofort mit der Herstellung seiner Maske begonnen. Seine Vermutung über die Kabinen wurde durch einen großen Korb voller Rattenkot und durch einen Eimer mit stinkendem Urin bestätigt. Als er seine langnasige Maske angelegt hatte, steckte er seine Kerze fort und verschaffte sich Erleichterung. Dabei begann er sich zum erstenmal über die Tatsache zu wundern, daß seine Kleidung und sonstigen Besitztümer im gleichen Verhältnis wie sein Körper geschrumpft waren. Ah, hier lag bestimmt die Erklärung für den grauen Rand um die rosa Pfütze, die sich oben im Keller um seine Füße ausgebreitet hatte. Während des Schrumpfvorgangs waren die überflüssigen Atome seines Fleisches, Blutes und seiner Knochen als rosa Flüssigkeit nach unten ausgeschieden worden, während die Reste seiner grauen Kleidung und seiner Waffen die graue Umrandung der Pfütze
bildeten – eine Grenze, die mehr pulvrig gewesen war, da Metall oder Stoff im Vergleich zu menschlichem Gewebe sehr wenig oder überhaupt kein Wasser enthielten. Er überlegte, daß sich jetzt der überwiegende Teil seines Körpers dort oben in der zertretenen Pfütze befand, und eine seltsame Traurigkeit überkam ihn. Er beendete sein Geschäft und wollte eben seinen Weg fortsetzen, als plötzlich laute Schritte näherkamen, gefolgt von einem herrischen Klopfen an seiner Tür. Ohne zu zögern, riß er sie mit einem Ruck auf. Dicht vor ihm standen die schwarzgekleidete maskierte Ratte, die er vorhin im Stockwerk darüber gesehen hatte, und hinter ihr drei unmaskierte Ratten mit gezogenen Dolchen, die bestimmt schärfer und spitzer waren, als grobe menschliche Finger sie jemals schleifen konnten. Nach dem ersten Augenblick senkte der Mausling den Blick, aus Sorge, die Form und Farbe seiner Augen könnten ihn verraten. Der Maskierte hatte in ausgezeichnetem Lankhmarisch gesagt: »Haben Sie irgend jemanden die Treppe herunterkommen hören oder sehen – insbesondere einen bewaffneten Menschen, der durch Zauberkräfte auf unsere normale Größe geschrumpft ist?« Sofort hatte der Mausling ein ärgerliches Fiepen ausgestoßen, hatte die vier Ratten zur Seite gestoßen und gezischt: »Idioten! Opiumkauer! Hanffresser! Aus dem Weg!« Auf der Treppe war er kurz stehengeblieben und hatte verächtlich über die Schulter gerufen: »Nein, natürlich nicht!« Würdevoll hatte er seinen Weg fortge-
setzt, wobei er allerdings zwei Stufen auf einmal nahm. Das nächste Stockwerk war völlig rattenfrei gewesen; allerdings war der Getreidegeruch übermächtig. Er bemerkte Kammern mit Weizen, Gerste und wilden Reis vom Tilth-Fluß. Ein gutes Versteck – vielleicht. Aber was konnte er erreichen, wenn er sich versteckte? Die nächste Ebene – die dritte von oben – war voller Waffengeklirr und Rattenduft. Er sah Pikenträger, die in bronzenen Harnischen exerzierten, und eine Abteilung, die im Armbrustschießen unterwiesen wurde, während andere Tiere sich um einen Tisch drängten, auf dem eine große Straßenkarte erläutert wurde. Hier hielt sich der Mausling nicht lange auf. Die Treppen, die die Stockwerke verbanden, waren jeweils auf halbem Weg durch Aborte unterbrochen – eine Information, die er sich merkte. Im vierten Stockwerk war die Luft sehr frisch und feucht. Hier flackerte auch die Beleuchtung heller, und die meisten Ratten waren kostbar gekleidet und maskiert. Er war sofort abgebogen, war gegen den feuchten Luftstrom angegangen, der von der Außenwelt kommen und ihm einen Fluchtweg bieten mochte, und er hatte sein ärgerliches Gemurmel begonnen, um seiner Rolle als halbverrückter RattenHeld gerecht zu werden. Tatsächlich versuchte er sich derart in seine Rolle als Ratte zu vertiefen, daß sein Blick sogar unwillkürlich einer kleinen Rattendame in rosa Seide und Perlenmaske folgte, die an einer Leine ein Wesen führte, das er zuerst für eine kleine Ratte hielt, das sich jedoch als winzige, wohlgenährte ängstliche Maus herausstellte.
Er schaute dem entzückenden Wesen nach und rannte dabei in eine behäbige, beleibte Ratte, die in Hermelin gekleidet war und eine schwere Goldkette um den Hals und um die gewaltige Hüfte einen breiten goldenen Gürtel trug. An diesem Gürtel hing ein schwerer Beutel, der bei dem Zusammenstoß mit dem Mausling angenehm klimperte. »Verzeihung, Händler!« sagte der Mausling und marschierte weiter, ohne sich umzudrehen. Er grinste verächtlich unter seiner Maske. Diese Ratten ließen sich leicht täuschen! – vielleicht hatte der seltsame Schrumpfvorgang seine geistigen Gaben weiter geschärft. Er war einen Augenblick in Versuchung, den dikken Burschen noch auszurauben, machte sich aber sofort klar, daß die klimpernden Goldstücke in der Menschenwelt sehr winzig ausfallen mußten. Dieser Gedanke brachte ihn auf ein Problem, das ihn schon seit seinem Eintritt in die Rattenwelt beschäftigt hatte. Sheelba hatte gesagt, daß die Wirkung des Mittels nur neun Stunden anhielt. Nach Ablauf dieser Frist wuchs der Mausling vermutlich wieder zu seiner normalen Größe an, und zwar so schnell, wie er geschrumpft war. Wenn das in einem kleinen Stollen passierte oder auch nur einem anderthalb Fuß hohen Hauptgang, waren die Folgen nicht auszudenken. Nun hatte der Mausling wirklich nicht die Absicht, sich neun Stunden in dieser Rattenwelt aufzuhalten. Andererseits gedachte er auch nicht, zu schnell wieder in die Oberwelt zu entkommen. Der Gedanke, sich eine halbe Nacht als winzige graue Puppe in Lankhmar herumtreiben zu müssen, gefiel ihm wenig
– und schon gar nicht, wenn er in dieser Gestalt Glipkerio Bericht erstatten müßte über seine Informationen aus der Unterwelt, wobei vielleicht noch Hisvet zugegen war. Außerdem wälzte er bereits Pläne, den Rattenkönig umzubringen, wenn es überhaupt einen gab, oder den gewaltigen Eroberungsplan der Ratten auf eine noch aufsehenerregendere Weise zu Fall zu bringen. Er fühlte sich seltsam stark, was wohl daran lag, daß er so groß war wie die größten Ratten ringsum, relativ gesehen also so groß wie Fafhrd, und daß er nicht mehr als der zu klein geratene Mann herumlief, der er sein ganzes Leben lang gewesen war. Doch es bestand immer die Möglichkeit, daß irgendein unglücklicher Umstand zu seiner Entlarvung führte und er in einer winzigen Zelle gefangen wurde. Ein entsetzlicher Gedanke. Noch enervierender war das grundlegende Problem der Zeit. Verging sie für die Ratten schneller oder langsamer? Er hatte den Eindruck, daß das Leben hier unten schneller ablief – aber stimmte das wirklich? Hörte er das Ratten-Lankhmarisch, das ihm vorher wie ein Quietschen vorgekommen war – jetzt nur deshalb deutlicher, weil sein Gehör »kleiner« geworden war – oder weil es sich jetzt mit der – schnelleren – Rattenzeit normal anhörte? Vorsichtig tastete er nach seinem Puls, der ihm ganz normal vorkam. Aber schlug er vielleicht nicht doch schneller, wobei seine Sinne und sein Geist in gleicher Weise beschleunigt waren, so daß ihm der Unterschied entging? Waren die Rattenstunden vielleicht so kurz, daß – ach, es hatte keinen Sinn! »Bei allen gerösteten Hundeaugen!« hörte er sich ausrufen. Etwas war jedenfalls klar. Ehe er eine Pause machte
oder etwa schlafen ging, mußte er feststellen, wie schnell hier unten die Zeit verging und wie die Schlafgewohnheiten der Ratten waren. Er erwachte aus seiner Trance und machte sich klar, was seine Sinne ihm schon seit einiger Zeit mitteilten: daß der Gang plötzlich weniger belebt war, daß der Lufthauch feuchter und kühler wurde und nach Meer zu duften begann, daß die Säulen vor ihm aus gewachsenem Naturfels bestanden, während durch die eingemeißelten Torbögen ein gelbes Licht hereindrang, das nicht von Feuerkäfern oder Glühwespen oder Fackeln stammen konnte. Er durchschritt einen Marmorbogen und bemerkte eine Marmortreppe, die von hier nach unten führte. Er trat zwischen zwei Felssäulen hindurch und blieb am Rande einer wunderbaren Szene stehen. Vor ihm erstreckte sich eine etwa kreisförmige natürliche Felshöhle, die viele Rattenlängen hoch und noch um einiges breiter war, angefüllt mit leicht bewegtem Meerwasser, das einen milden gelben Schimmer ausstrahlte. Dieses Licht drang durch ein großes Unterwasserloch herein – das sich am anderen Ende der Höhle befand. Etwa zwei Pikenlängen über dem Wasser zog sich ein schmaler Felspfad um diesen See, ein Weg, der zum Teil natürlichen Ursprungs zu sein schien, teilweise aber auch aus dem Gestein gehauen worden war. In den Schatten über dem großen Unterwasserloch verharrten einige Ratten mit Piken und Schwertern – offenbar eine Wache. Während der Mausling hinabschaute, wurde der Schimmer noch gelber, und er überlegte, daß er hier den Widerschein des Nachmittagslichtes vor sich haben mußte. Da der Sonnenuntergang um sechs Uhr
war und er die Rattenwelt nach drei Uhr betreten hatte, waren also noch keine drei von seinen neun Stunden vergangen. Was noch wichtiger war – nun hatte er endlich das Verbindungsglied zwischen der Menschzeit und der Rattenzeit, was ihn sehr erleichterte. Er erinnerte sich jetzt auch an die »toten« Ratten, die nach Hisvins Zaubervorstellung mitsamt ihrem Käfig in das Binnenmeer geworfen worden waren. Sie mochten sehr gut unter Wasser in diese oder eine ähnliche Höhle geschwommen sein. Der Mausling glaubte nun auch das Geheimnis des feuchten Lufthauchs entdeckt zu haben. Er wußte, daß die Flut anstieg – noch etwa eine Stunde lang – und daß der aufsteigende Wasserpegel die in der Höhle gefangene Luft durch die Gänge trieb. Bei Ebbe lag das große Loch teilweise über der Wasseroberfläche, so daß die Höhle von außen belüftet wurde. Ein sehr kluges, wenn auch nicht gerade gleichmäßig arbeitendes Belüftungssystem. Vielleicht waren die Ratten im allgemeinen doch ein wenig einfallsreicher, als er bisher angenommen hatte. In diesem Augenblick spürte er eine leichte Berührung auf der rechten Schulter. Er wandte sich um und erblickte, das blanke Rapier ein wenig zur Seite gestreckt, die schwarzgekleidete Ratte, die ihn bereits auf der Toilette gestört hatte. »Was soll das?« fragte er aufgebracht. »Beim haarlosen Schwanz unseres Gottes, warum werde ich so beschlichen – du schwarzer Hund!« Im klarem Lankhmarisch fragte der andere: »Was machen Sie hier im Sperrgebiet? Ich muß Sie bitten, ihre Maske abzusetzen, Sir!«
»Die Maske absetzen? Da sehe ich erst Ihr Blut, Mäuseschreck!« knurrte der Mausling wild. Es hätte keinen Zweck gehabt, jetzt aus der Rolle zu fallen. »Muß ich erst meine Leute holen, um Sie gewaltsam zu demaskieren?« fragte der andere mit unverändert leiser Stimme. »Aber das ist gar nicht nötig. Ihr Widerstreben ist die letzte Bestätigung für meine Vermutung, daß Sie tatsächlich der geschrumpfte Mensch sind, der als Spion in das Untere Lankhmar gekommen ist.« »Schon wieder dieses Gespenst!« wütete der Mausling und legte die Hand auf Skalpells Griff. »Verschwinden Sie, ehe ich Sie in Stücke haue!« »Ihre Drohungen und Prahlereien sind sinnlos, Sir«, erwiderte die Ratte mit leisem Lachen. »Wollen Sie wissen, wie ich Sie durchschaut habe? Vermutlich halten Sie sich für sehr schlau. Tatsächlich haben Sie sich mehr als einmal verraten. Zunächst haben Sie die Toilette benutzt, in der ich Sie zum erstenmal sah. Ihr Kot war nach Form, Farbe und Geruch völlig anders als der meiner Artgenossen. Sie hätten sich eine Wassertoilette suchen sollen. Zweitens, obwohl Sie versucht haben, Ihre Augen im Dunkeln zu halten, sitzen die Sehschlitze Ihrer Maske viel zu dicht beisammen – wie bei menschlichen Augen. Drittens sind Ihre Stiefel offensichtlich nicht für Rattenfüße gemacht, obwohl Sie wenigstens so vernünftig waren, auf Zehenspitzen zu gehen, um unseren Gang nachzuahmen.« Der Mausling bemerkte, daß die Stiefel der Ratte viel kleinere Sohlen hatten und oberhalb wie auch unterhalb des großen Fußgelenks aus weichem Leder bestanden.
Der andere fuhr fort: »Überhaupt wußte ich sofort, daß Sie ein Fremder sein mußten – sonst hätten Sie es nie gewagt, den größten Duellisten und schnellsten Schwertkämpfer im Unteren Lankhmar beiseite zu stoßen und zu beleidigen.« Mit seiner behandschuhten linken Pfote nahm der andere seine silbergefaßte Maske ab und enthüllte hochstehende ovale Ohren und ein langes schwarzes Pelzgesicht und vorstehende, weit auseinanderstehende Knopfaugen. Die Ratte entblößte ihre großen weißen Nagezähne mit herrischem Lächeln, legte kurz die Maske vor die Brust, verbeugte sich sarkastisch und sagte: »Svivomilo, zu Ihren Diensten.« Wenigstens verstand der Mausling jetzt die große Eitelkeit – fast so groß wie seine eigene! –, die seinen Verfolger veranlaßt hatte, seine Gefolgschaft zurückzulassen, um die Verhaftung allein vorzunehmen. Er zog Skalpell und Katzenklaue gleichzeitig, ohne sich die Zeit zu nehmen, seinerseits die Maske abzusetzen, und machte seinen schnellsten Ausfall. Es wollte ihm scheinen, als hätte er sich in seinem ganzen Leben noch nicht so schnell bewegt. Doch es blitzte und klirrte, und Skalpell wurde abgelenkt – durch Svivomilos Dolch, der blitzschnell aus der Scheide kam. Dann ging Svivomilos Rapier zum Angriff über, und der Mausling vermochte die Schläge mit seinen beiden Waffen kaum abzublocken, so daß er langsam an die gefährliche Wasserkante zurückgetrieben wurde. Unwillkürlich mußte er daran denken, daß sein Gegner viel mehr Zeit gehabt hatte, sich an seine Körpergröße und die damit verbundene Schnelligkeit zu gewöhnen, während die Maske seine Sicht behinderte und ihn völlig blind machen würde,
wenn sie jetzt auch nur ein winziges Stück rutschte. Doch ließen ihm Svivomilos ständige Angriffe keine Zeit, sich das graue Ding vom Kopf zu reißen. Aus einem plötzlichen Gefühl der Verzweiflung heraus warf er sich vor, bremste mit Skalpell das Rapier des anderen ab, so daß beide Waffen vorübergehend aus dem Verkehr gezogen waren, und hieb im gleichen Augenblick mit Katzenklaue nach Svivomilos Dolchhand und schnitt ihm die inneren Sehnen durch. Als Svivomilo zurücksprang, ließ der Mausling Skalpell nachgeben und führte es in einen zweiten gewaltigen Stoß, unterlief Svivomilos dreifache Paraden und durchstieß schließlich den Hals der Ratte. Blut strömte über die schwarzen Spitzen an Svivomilos Hals, seine Waffen sanken herab und mit kurzem zischenden Laut sank er zu Boden. Der Mausling wollte sein blutiges Schwert in die Scheide stecken, hatte jedoch vergessen, daß er den Draht der Scheide für seine Maske verbraucht hatte. Im nächsten Augenblick erschienen vier behelmte und gepanzerte Ratten in zwei Felsentorbogen. Der Mausling schwenkte sein blutiges Schwert und den schimmernden Dolch und hastete durch einen leeren Durchgang, sprintete mit twitterndem Schrei durch den breiten Hauptgang zu dem marmornen Torbogen, den er vorhin bemerkt hatte, und die weiße Treppe hinab. Die übliche Nische auf halber Höhe der Treppe enthielt diesmal nur drei Abteile, die jeweils mit einer silberbeschlagenen Elfenbeintür verschlossen waren. In der mittleren Kabine verschwand eben eine Ratte mit weißen Stiefeln und einem gewaltigen weißen Kapuzenmantel. In der weißbehandschuhten Rechten
trug sie einen Elfenbeinstab mit einem großen Saphir an der Spitze. Ohne zu zögern, hastete der Mausling hinter der Ratte her. Er stieß sie in die Kabine und verschloß mit fliegenden Fingern die Elfenbeintür hinter sich. Das Opfer des Mauslings erholte sich schnell, richtete sich unwillig auf, fuchtelte mit seinem Stab herum und fragte durch seine diamantenbesetzte weiße Maske: »Wer wagt es, Ratsherrn Grig des Inneren Kreises der Dreizehn zu stören! Mißgeburt.« Er lispelte fürchterlich. Während sich der Mausling klarmachte, daß es sich um die weiße Ratte handeln mußte, die er an Bord der Squid auf Hisvins Schulter gesehen hatte, brachte ihm ein kurzer Rundblick die Erkenntnis, daß diese Toilette keinen schlichten Korb enthielt, sondern einen hohen silbernen Toilettensitz, durch den das Rauschen von Meerwasser zu hören war. Das schien eine der Wassertoiletten zu sein, von denen Svivomilo gesprochen hatte. Der Mausling ließ Skalpell fallen, warf Grigs Kapuze zurück, zog der Ratte die Maske vom Kopf, beugte den sich wehrenden Ratsherrn über die Silberbrille der Toilette und schnitt der Ratte mit Katzenklaue die Kehle durch, so daß das Blut in das bewegte Wasser abströmte. Sobald sich Grig nicht mehr bewegte, zog der Mausling ihm den Mantel aus und achtete darauf, daß die Kleidungsstücke nicht befleckt wurden. In diesem Augenblick hörte er die schweren Schritte mehrerer Personen, die die Treppe herabkamen. In aller Hast versteckte der Mausling Schwert, Elfenbeinstab und Maske hinter dem Toilettensitz, hievte die Leiche hoch, so daß sie auf der Brille saß,
stellte sich auf den silbernen Kreis und starrte auf die verschlossene Tür. Dann begann er zu beten – zu dem ersten Gott, der ihm in den Sinn kam. Gewellte und mit Widerhaken versehene braune Pikenklingen schimmerten über den Türen. Die Kabinette links und rechts wurden inspiziert. Nach kurzem Schweigen, das vielleicht damit angefüllt war, daß jemand unter der Tür hindurchblickte und die weißen Stiefel entdeckte, ertönte ein leises Klopfen, und eine Stimme fragte respektvoll: »Verzeihung, Euer Ehren, aber haben Sie kürzlich eine Gestalt gesehen, die in Umhang und Maske aus feinstem grauen Fell gekleidet und mit einem Rapier und einem Dolch bewaffnet war?« Der Mausling versuchte seine Stimme ruhig und würdevoll klingen zu lassen. »Ich habe nichts gesehen«, lispelte er. »Etwa vor sechzig Atemzügen ist jemand hastig die Treppe heruntergekommen.« »Unterwürfigen Dank, Euer Ehren«, erwiderte der Mann, und die Schritte verklangen hastig nach unten. Der Mausling stieß einen leisen Seufzer aus. Dann machte er sich hastig an die Arbeit, denn er hatte einiges vor, leider vieles sehr unangenehm. Er wischte Skalpell und Katzenklaue ab und steckte sie wieder in die Scheide. Dann untersuchte er den Umhang und die Maske seines Opfers, ohne viel Blut darauf zu entdecken, und legte sie beiseite. Er sah, daß sich der Mantel vorn mit Elfenbeinknöpfen verschließen ließ. Dann zog er Grig die weichen Stiefel aus und probierte sie an. Obwohl die Weichheit des Leders ihm half, paßten sie so gut wie gar nicht. Die Sohle bedeckte kaum mehr als die Fläche unter seinen Zehen. Aber das würde ihn wenigstens daran erinnern,
den Rattenschritt beizubehalten. Er probierte auch Grigs lange weiße Handschuhe an, die womöglich noch schlechter paßten. Er konnte sie tragen. Seine eigenen Stiefel und sonstigen Kleidungsstücke verstaute er sicher über seinem grauen Gürtel. Nun zog er Grig völlig aus und ließ die Kleidungsstücke nacheinander in das Wasser fallen. Er behielt nur einen rasiermesserscharfen Dolch zurück, eine Anzahl kleiner Pergamentrollen, Grigs Unterhemd und eine doppelt verschlossene Börse mit Goldstükken. Auf einer Seite war ein Rattenkopf zu sehen, umgeben von einer Weizenähre und auf der anderen ein komplizierter Irrgarten und eine Zahl, die von einigen unverständlichen Buchstaben abgeschlossen wurde. Der Mausling befestigte den Beutel an seinem Gürtel, nahm auch den Dolch an sich und steckte die Pergamentrollen in seinen Beutel, ohne sie näher anzuschauen. Angewidert schnaubend rollte er dann die Ärmel hoch und machte sich daran, Grigs pelzigen Körper in Stücke zu zerschneiden, die sich durch die Toilette ins Wasser werfen ließen. Als die entsetzliche Arbeit getan war, suchte er die Kabine vorsichtig nach Blutflecken ab, wischte sie mit Grigs Unterhemd fort, polierte damit noch die silberne Toilettenbrille und ließ es hinterher auf dem gleichen Weg verschwinden. Ohne sich eine Atempause zu gönnen, zog er die weißen Lederschuhe über, warf sich den weißen Umhang um, der aus feinster Wolle bestand, und knöpfte ihn von oben bis unten zu. Dann legte er die Maske an, deren Schlitze er noch mit dem Messer erweitern
mußte, wenn er überhaupt etwas erkennen wollte. Zum Schluß probierte er die Kapuze, zog sie tief ins Gesicht, um die Veränderungen an der Maske und das Fehlen pelziger Rattenohren zu verdecken. Schließlich zog er noch die langen, schlecht sitzenden weißen Handschuhe an. Nun gut, daß er sich so beeilt hatte, denn schon kamen Schritte die Treppe herauf, und die spitzen Pikenklingen schwankten wieder herein, während unter der Tür seiner Kabine die typischen Rattenstiefel aus feinem schwarzen Leder erschienen, mit goldenen Linien verziert. Diesmal klang das Klopfen schon lauter, und eine knarrende Stimme, höflich, doch entschlossen, sagte: »Verzeihung, Ratsherr. Hier spricht Hreest. Als Wachtleutnant der Fünften Ebene muß ich Sie bitten, die Tür zu öffnen. Sie sind dort schon lange Zeit eingeschlossen, und ich muß mich überzeugen, daß Ihnen der gesuchte Spion nicht das Messer an die Kehle setzt.« Der Mausling hustete, nahm den saphirbesetzten Elfenbeinstab an sich, riß die Tür auf und marschierte majestätisch los. Allerdings humpelte er etwas, da der plötzliche Wechsel der Gangart in seinen erschöpften Beinen einen Krampf hervorrief. Die Lanzenratten knieten nieder. Der Rattenleutnant, dessen schwarze Kleidung von Kopf bis Fuß mit filigranartigen Goldschmucklinien verziert war, trat zwei Schritte zurück. Mit kurzem Blick sagte der Mausling: »Sie wagen es, den Ratsherrn Grig zur Eile anzutreiben? Nun, vielleicht haben Sie gute Gründe dafür. Vielleicht.« Hreest riß seinen breitkrempigen Hut, der mit den
Brustfedern schwarzer Kanarienvögel verziert war, vom Kopf und sagte: »Ich bin mir dessen sicher, Euer Ehren. Im Unteren Lankhmar läuft ein menschlicher Spion frei herum, der durch Zauberkräfte auf unsere Größe reduziert wurde. Er hat bereits Svivomilo umgebracht, der ein sehr fähiger, wenn auch manchmal unbeherrschter Schwertkämpfer war.« »Schlimme Nachricht«, lispelte der Mausling. »Sucht sofort diesen Spion! Kein Mittel sei uns zu aufwendig! Ich unterrichte währenddessen den Rat, Hreest, wenn Sie das nicht schon getan haben.« Und während ihm Hreest Entschuldigungen und Dankworte nachschickte, ging der Mausling vornehm die weiße Marmortreppe hinab. Sein Humpeln war kaum noch zu bemerken, weil er sich auf den Elfenbeinstab stützen konnte. Der Saphir an der Stabspitze schimmerte wie der blaue Stern Ashsha. Er kam sich wie ein König vor. Fafhrd ritt nach Westen über das Sinkende Land. Die Dämmerung war nahe. Die eisenbeschlagenen Hufe der Mähre erzeugten kleine sichtbare Funken auf dem steinigen Weg, der kaum noch zu erkennen war. Nach Norden und Süden erstreckten sich das Binnenmeer und das Meer des Ostens als graue Flächen. Und jetzt endlich machte er gegen den schmutzigroten Streifen des Sonnenuntergangs die ungleichmäßige schwarze Linie aus gedrungenen Bäumen und hoch aufragenden Kakteen aus, die den Beginn der Großen Salz-Marsch kennzeichneten. Ein sehr willkommener Anblick – Fafhrd runzelte dennoch die Stirn, zwei senkrechte Falten bildeten sich über seinen Augen.
Die linke Falte, so könnte man vielleicht sagen, galt den Verfolgern. Durch einen kurzen Blick über die Schulter hatte er festgestellt, daß die vier Reiter, die er zuletzt von weitem auf der Sarheenmar-Straße gesehen hatte, nur noch anderthalb Bogenschuß weit entfernt waren. Ihre Pferde waren schwarz, und sie trugen große schwarze Umhänge und Kapuzen. Er war sicher, daß es sich um die vier schwarzen ilthmarischen Räuber handelte. Und es war vorgekommen, daß Ilthmars Landpiraten ihre Beute bis vor das Marschtor Lankhmars verfolgt hatten. Die rechte Falte, eigentlich die tiefere, galt der Tatsache, daß sich der Horizont fast unmerklich schräggestellt hatte – der südliche Teil schien plötzlich höher zu stehen. Daß es sich dabei tatsächlich um eine leichte Neigung des Sinkenden Landes in die andere Richtung handelte, wurde durch das plötzliche Straucheln der Mähre belegt, die nach links ausscherte. Fafhrd trieb das Tier sofort in den Galopp. Es wurde knapp, wenn er die Dammstraße noch erreichen wollte, ehe der Landstrich überflutet wurde. Nach Ansicht lankhmarischer Philosophen ist das Sinkende Land ein langer konkaver Schild aus porösem Felsgestein, der soviel wiegt wie das Wasser. Vulkanische Gase aus den Tiefen der ilthmarischen Berge und auch Dämpfe aus der brodelnden SalzMarsch füllen den Hohlraum unter der Felsscheibe langsam an und heben sie über die Wasseroberfläche. Doch nun kommt der Vorgang aufgrund der größeren Dichte der Schildoberfläche aus dem Gleichgewicht. Der Schild beginnt zu schwanken. Die stützenden Gase entweichen abwechselnd nach Norden und nach Süden durch das Wasser. Daraufhin sinkt
der Schild wieder etwas unter die Wellen, und der ganze langsame rhythmische Vorgang beginnt erneut. So zeigte die plötzliche Neigung also an, daß das Sinkende Land wieder einmal untertauchte. Und jetzt war die Schräge gar so steil, daß er ein wenig am rechten Zügel der Mähre ziehen mußte, um sie auf der Straße zu halten. Ein schneller Blick über die Schulter. Die vier schwarzen Reiter ritten nun auch schneller, holten sogar noch mehr auf. Als er sich wieder der rettenden Küste zuwandte, sah er plötzlich im nahen Wasser des Binnenmeeres eine Reihe grauer Geysire aufschäumen – das erste Entweichen von Gasen –, während das Wasser des Ostmeeres näher heranschwappte. Dann begann sich das Gestein unter ihm langsam in die entgegengesetzte Richtung zu neigen, bis er am linken Zügel des Pferdes ziehen mußte, um es auf der Straße zu halten. Er war sehr froh, daß die Mähre ein Mingoltier war und sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen ließ. Jetzt war es das ruhige Wasser des Ostmeeres, das als lange, schmutzige, blasendurchzogene Mauer aus entweichendem Gas in die Höhe stieg, während die Wellen des Binnenmeers fast die Straße überspülten. Doch die Marsch war schon sehr nahe. Fafhrd vermochte schon einzelne Dornenbäume und Kakteen und Dickichte aus mannshohem Seegras auszumachen. Und dann sah er direkt vor sich einen Spalt, der – Gott sei Dank! – die Dammstraße sein mußte. Funken sprühten unter den Hufeisen der Mähre. Das Pferd atmete schwer. Doch plötzlich machte die Landschaft eine neue
beunruhigende Veränderung durch, sehr langsam begann die Große Salz-Marsch zu steigen. Das Sinkende Land ging wieder einmal unter. Von beiden Seiten, von Norden und von Süden näherten sich graue Wände, die schaumgekrönten Wellen des Binnenmeeres und des Ostmeeres, die den großen Steinschild überfluten wollten. Eine meterhohe schwarze Barriere ragte vor ihm auf. Fafhrd beugte sich im Sattel vor, stieß der Mähre die Hacken in die Flanken, und mit großem Sprung überwand das Tier den Höhenunterschied, fand festen Halt und galoppierte ohne Unterbrechung weiter – nur klapperten ihre Hufe nicht mehr auf Felsgestein, sondern auf dem festgetretenen Kies der Dammstraße. Hinter ihnen war ein lautes Knirschen und Grollen zu hören, ein Dröhnen, das sich zu einem überraschenden Höhepunkt steigerte. Fafhrd schaute zurück und sah über der Straße eine gewaltige Wasserwand aufsteigen, wo sich die Wogen der beiden Meere trafen – nicht mehr grau, sondern gespenstisch weiß im letzten Dämmerschein aus Westen. Fafhrd wollte sich schon umdrehen und sein Pferd zügeln, als aus diesem bleichen Aufruhr ein schwarzes Pferd mit Reiter auftauchte, gefolgt von einem zweiten und einem dritten Tier – der vierte Reiter war offenbar von den Elementen verschlungen worden. Fafhrd standen die Haare zu Berge, als er sich vorstellte, welche Sprünge die Pferde mit ihren Reitern gemacht hatten, und er trieb die Mingolmähre fluchend zur Eile an.
12 Als die Schatten wieder länger wurden und das Sonnenlicht sich rötete, wappnete sich Lankhmar für eine neue Schreckensnacht. Die Menschen ließen sich durch die Inaktivität der gefährlichen Ratten nicht täuschen – sie spürten die Ruhe vor dem Sturm und verbarrikadierten sich wie in der letzten Nacht in den oberen Stockwerken ihrer Häuser. Soldaten und Polizisten grinsten oder fluchten – je nach Einstellung –, als sie hörten, daß sie eine Stunde vor Mitternacht in die Südkaserne zurückkehren sollten, um sich dort eine Ansprache Olegnya Mingolsbanes anzuhören, der bekanntermaßen die längsten Reden aller lankhmarischen Generäle hielt. Auf der Squid gab Slinoor Befehl, die Lampen die ganze Nacht brennen zu lassen. Außerdem sollten alle Männer Wache stehen. Währenddessen schritt das schwarze Kätzchen auf der Kaireling entlang, ließ von Zeit zu Zeit ein besorgtes Miauen hören und beäugte die dunklen Straßen mit einer Mischung aus Furcht und Bedauern. Eine Zeitlang beruhigte Glipkerio seine Nerven, indem er der Folterung Reethas zusah, die allerdings mehr geängstigt werden sollte, als daß sie tatsächlich gepeinigt wurde, und indem er ihren stundenlangen Verhören beiwohnte, durch die erfahrene Beamte von Reetha das Geständnis zu gewinnen hofften, der Graue Mausling sei der Anführer der Ratten – was sein Schrumpfen doch sicher schon bewies –, und ihr auch sonst alle denkbaren Informationen über die Zaubereigenschaften des Mauslings zu entlocken.
Das Mädchen interessierte Glipkerio wirklich: Sie reagierte erstaunlich standhaft auf Spott und Drohungen und kleine Schmerzen. Nach einer Weile wurde es ihm dennoch zu langweilig, und er ließ sich auf seiner Seeterrasse vor dem Blauen Audienzzimmer im Schein des Sonnenuntergangs das Abendessen servieren. Er saß neben der Kupferrutsche mit der großen Bleispindel, die er von Zeit zu Zeit berührte. Er hatte Hisvin nicht belogen, überlegte er selbstzufrieden; er hatte tatsächlich noch eine Geheimwaffe zur Verfügung, obwohl es sich nicht um eine Angriffswaffe handelte, sondern eher um das Gegenteil. Hoffentlich brauchte er sie nicht zu benutzen. Hisvin hatte versprochen, er würde um Mitternacht seinen Zauber gegen die Ratten in Lankhmar richten, und bisher hatte Hisvin noch jedes Versprechen gehalten – hatte er nicht auch die Ratten der Kornschiffe besiegt? –, während seine Tochter und ihr Mädchen Mittel und Wege kannten, Glipkerio zu beruhigen, ohne daß eine Auspeitschung stattfinden mußte. Er hatte auch mit eigenen Augen gesehen, wie Hisvin die Ratten umbrachte, während er für sein Teil die Soldaten und die Polizisten in die Südkaserne befohlen hatte, wo sie sich den ermüdenden Olegnya Mingolsbane anhören mußten. Er hatte also alles getan, sagte er sich, jetzt war es an Hisvin, seine Aufgabe zu erfüllen, und dann waren um Mitternacht alle Sorgen vergessen! Aber bis Mitternacht zog sich noch so lange hin! Wieder überkam Langeweile den schwarzgekleideten Monarchen, und er begann sehnsüchtig an Reetha zu denken. Ein Oberherr hatte es doch schwer, überlegte er, von seinen Verwaltungsaufgaben und Zeremonien
in Anspruch genommen, fand kaum Zeit für seine beruhigenden Hobbies. Reethas Fragesteller gaben das Verhör für heute auf und ließen das Mädchen in Samandas Obhut zurück, die ihr von Zeit zu Zeit in den glühendsten Farben ausmalte, was sie mit ihr anstellen würde, wenn die Plappermäuler, die das Mädchen verhörten, endlich fertig wären. Das vielgeplagte Mädchen versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, daß ihr grauer Retter seine richtige Größe vielleicht zurückgewann und sich dann wieder um ihre Flucht kümmern würde. Trotz der schlimmen Verdächtigungen, die man ihr immer wieder in den Mund gelegt hatte, war der Graue Mausling bestimmt gegen seinen Willen geschrumpft. Sie erinnerte sich an die vielen Märchen über Echsen- oder Froschprinzen, die durch den Kuß einer Prinzessin wieder in ihre ursprüngliche Gestalt zurückverwandelt wurden, und ihr Blick bekam etwas Träumerisches. Der Mausling blinzelte durch Grigs korrigierte Maske und musterte das herrlich ausgestattete Ratszimmer und die anderen Mitglieder des Obersten Rates der Dreizehn. Schon war ihm die Szene bedrückend vertraut, und er war das ewige Lispeln mehr als leid. Trotzdem nahm er sich zusammen; eine große Anstrengung stand ihm noch bevor. Der Weg hierher war ihm sehr einfach gemacht worden. Als er nach dem Gespräch mit Hreest und den Pikenratten in die Fünfte Ebene hinabstieg, hatten sich am Fuß der Marmortreppe Rattenpagen neben ihm aufgestellt, und ein Ratten-Kammerherr war feierlich vor ihm hergegangen und hatte eine gra-
vierte Silberglocke geschwungen. So war er ohne Umstände in das Ratszimmer und an den Stuhl geleitet worden, den er jetzt einnahm. Die Kammer war niedrig, aber sehr groß und stand voller Kerzenhalter aus Silber und Gold, die zweifellos aus Palästen und Kirchen der Oberwelt stammten. Auch lagen einige Gebilde herum, bei denen es sich um juwelenbesetzte Szepter und andere Amtszeichen zu handeln schien. Im Hintergrund, am anderen Ende des Raumes und durch Säulen halb verborgen, standen RattenSoldaten, Diener, Sänftenträger und anderes Personal. Der große Raum war durch goldene und silberne Käfige voller Feuerkäfer und Nachtbienen und Glühwespen erhellt, die so groß wie Adler waren. Der Mausling beschloß, einige dieser Tiere freizulassen, wenn es dazu kommen sollte, daß er die anderen von sich ablenken mußte. Innerhalb eines Kreises aus besonders kostbaren Säulen stand ein großer runder Tisch, um den in gleichmäßigen Abständen die Dreizehn saßen – mit Maske, in weißen Hauben und Roben, aus denen sich weiß-behandschuhte Rattenhände schoben. Direkt gegenüber dem Mausling und auf einem etwas höheren Stuhl saß Skwee, an den sich der Mausling noch gut erinnern konnte. Zur Rechten Skwees saß Siss, während auf der anderen Seite eine schweigsame Ratte saß, die von den übrigen als Lord Nill angeredet wurde. Als einziger der dreizehn trug Lord Nill schwarze Kleidung. Er kam dem Mausling seltsam bekannt vor, vielleicht weil die Farbe seiner Kleidung ihn an Svivomilo und Hreest denken ließ. Die übrigen neun Ratten waren offensichtlich noch
nicht lange im Rat; man hatte sie befördert, um die Lücken zu füllen, die durch die Vernichtung der weißen Ratten an Bord der Squid gerissen worden waren. Jedenfalls trugen sie kaum etwas zur Diskussion bei und nickten bei den Abstimmungen, wenn die Mehrheit klar war. Entscheidend waren im wesentlichen Skwee, Siss, Lord Nill und Grig – hinter dessen Maske sich jetzt der Graue Mausling verbarg. Die gesamte Tischfläche verschwand unter einer kreisförmigen Karte mit unzähligen Punkten von goldener, silberner, roter und schwarzer Färbung, so dicht wie Fliegendreck am Stand eines Fruchthändlers in den Slums. Zuerst glaubte der Mausling ein unheimliches, nichtssagendes Sternenfeld vor sich zu haben. Dann wurde ihm durch die Bemerkungen der anderen klar, daß es sich um eine Karte sämtlicher Rattenlöcher in Lankhmar handelte! Zuerst brachte dieses Wissen den Mausling nicht weiter – die Karte ergab keinen Sinn. Aber dann erkannte er nach und nach in den scheinbar willkürlich angeordneten Punktgruppen und Wirbeln die Umrisse wichtiger Gebäude und Straßen der Stadt wieder. Natürlich war die gesamte Stadtfläche seitenverkehrt dargestellt, da sie ja von unten gesehen wurde. Es stellte sich heraus, daß die goldenen Punkte Rattenlöcher kennzeichneten, die den Menschen unbekannt waren und die von den Ratten benutzt wurden; die roten betrafen Löcher, von denen die Menschen wußten, die aber trotzdem benutzt wurden; die silbernen waren Löcher, von denen die Menschen keine Ahnung hatten, die aber im Augenblick außer Betrieb waren; die schwarzen Punkte schließlich gaben Löcher an, die den Menschen bekannt waren und
die von den Bewohnern des Unteren Lankhmar gemieden wurden. Während der Ratssitzung waren drei weibliche Rattenpagen stumm damit beschäftigt, die Farbe von Rattenlöchern zu ändern oder neue einzuzeichnen – je nach den Informationen, die andere Rattenpagen ihnen zuflüsterten. Was der Mausling während dieser Ratssitzung noch erfuhr, war nicht mehr und nicht weniger als der umfassende Angriffsplan auf das Obere Lankhmar, der an diesem Abend eine halbe Stunde vor Mitternacht in die Wirklichkeit umgesetzt werden sollte; dazu Informationen über die Postierung ganzer Lanzenkompanien, Armbrustformationen, Dolchgruppen, Giftwaffenbrigaden, Feuerleger, Einzelkämpfer, Kindertöter, Panikratten, Stinkratten, Genitalienbeißer und Brustbeißer und anderer Berserker, Fachleute für Menschenfallen wie Fallstricke und nadelscharfe Fußangeln und Hängeschlingen, Artilleriebrigaden, die die Einzelteile großer Waffen an die Oberfläche brachten, wo die Geräte dann zusammengesetzt wurden. Im Gehirn des Mauslings stauten sich die Informationen. Er hatte auch erfahren, daß sich die Angriffe im wesentlichen auf die Südkaserne und ganz besonders auf die Straße der Götter konzentrieren sollten, die bisher geschont worden war. Schließlich erfuhr er, daß den Ratten nicht daran gelegen war, die Menschen auszurotten oder aus Lankhmar zu vertreiben, sondern die bedingungslose Kapitulation Glipkerios zu erzwingen und die Untertanen des Oberherrn durch diese Vereinbarung und durch die fortgesetzte Schreckensherrschaft zu
Sklaven zu gewinnen – so daß Lankhmar äußerlich weiterlebte wie zuvor, so daß Export und Import nicht unterbrochen wurden, so daß Gebären und Sterben kein Ende nahm, daß Karawanen und Schiffe wie bisher ausgeschickt wurden und auch eintrafen, daß das Korn – ja, besonders das Korn! – weiter angehäuft wurde – doch alles unter der Oberherrschaft der Ratten. Zum Glück war die Unterweisung im wesentlichen von Skwee und Siss ausgegangen. Niemand hatte an den Mausling – Grig – eine Frage gestellt und auch nicht an Lord Nill, sondern beide hatten nur an der allgemeinen Diskussion und an den Abstimmungen teilgenommen. So hatte der Mausling Zeit gehabt, sich einen Weg auszudenken, die Rattenpläne doch etwas durcheinanderzubringen. Schließlich war die Befehlsausgabe abgeschlossen, und Skwee fragte in die Runde, ob jemand noch eine Anregung zur Durchführung des Großangriffs hätte – worauf er aber keine Antwort zu erwarten schien. Doch da erhob sich der Mausling – etwas schief, da sich der Krampf in seinem Bein noch nicht gelöst hatte – und zeigte mit seinem Elfenbeinstab auf eine Gruppe silberner Punkte am westlichen Ende der Straße der Götter. »Warum wird hier nicht angegriffen?« fragte er. »Ich schlage vor, daß wir im größten Kampfgetümmel eine Abteilung schwarzgekleideter Ratten aus dem Tempel der Götter von Lankhmar strömen lassen. Das muß die Menschen überzeugen, daß sich auch die Götter – die Götter ihrer Stadt – gegen sie gewandt haben, daß sie sogar zu Ratten geworden sind!«
Er schluckte einmal trocken hinunter. Der Hals tat ihm weh. Warum mußte Grig nur so lispeln? Sein Vorschlag schien die anderen Ratsmitglieder einen Augenblick zu verblüffen. Dann sagte Siss bewundernd und ein wenig neidisch, fast gegen seinen Willen: »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.« Skwee sagte: »Der Tempel der Götter von Lankhmar wird seit jeher von den Menschen und den Ratten gemieden, das wissen Sie auch, Grig. Trotzdem ...« Lord Nill sagte mürrisch: »Ich bin dagegen. Warum sollen wir uns mit dem Unbekannten einlassen? Die Menschen Lankhmars fürchten und meiden den Tempel ihrer Stadtgötter. Halten wir uns daran!« Der Mausling starrte die schwarzgekleidete Ratte durch seine Maskenschlitze an. »Sind wir Mäuse oder Ratten?« fragte er lispelnd. »Oder sind wir sogar feige, abergläubische Menschen? Wo ist Ihr Rattenmut, Lord Nill? Wo ist Ihre kühle Überlegung? Mein Plan wird die Menschen völlig einschüchtern und den überlegenen Mut der Ratten unter Beweis stellen. Skwee? Siss? Stimmt das nicht?« Die Frage kam zur Abstimmung. Lord Nill stimmte nein, Siss und der Mausling und – nach einigem Zögern – auch Skwee stimmten dafür, die anderen neun nickten, und so wurde das Unternehmen Schwarze Toga, wie Skwee es taufte, hastig auf das Programm gesetzt. »Wir haben noch vier Stunden Zeit, die Sache zu organisieren«, erinnerte Skwee seine nervösen Kollegen. Der Mausling grinste unter seiner Maske. Er hatte das Gefühl, daß sich die Götter von Lankhmar, wenn
sie aus ihrem Schlaf geweckt wurden, auf die Seite der Menschen stellen würden. Oder etwa nicht? fragte er sich verspätet. Auf jeden Fall wollte er nun so schnell wie möglich aus dem Ratszimmer fort. Er winkte einem Pagen zu. »Ruf mir eine Sänfte«, befahl er. »Die Diskussion hat mich ermattet. Mir ist nicht gut, und mein Bein ist verkrampft. Ich kehre für kurze Zeit zu meiner Frau zurück, um mich auszuruhen.« Skwee wandte sich um. »Frau?« fragte die weiße Ratte ungläubig. Sofort antwortete der Mausling: »Geht es Sie etwas an, wenn ich meine Geliebte meine Frau nenne?« Skwee musterte ihn seltsam und zuckte die Achseln. Die Sänfte, von zwei hageren, halbnackten Ratten getragen, kam sofort. Der Mausling ließ sich dankbar hineinrollen, legte seinen Elfenbeinstab neben sich, befahl: »Zu mir nach Hause!« und winkte Skwee und Lord Nill zum Abschied zu. Er kam sich in diesem Augenblick wie der klügste Kopf im ganzen Universum vor und war der Meinung, daß er sich eine Ruhepause vollauf verdient hatte, auch wenn er sie in einem Rattenloch zubringen mußte. Er dachte daran, daß ihm noch mindestens vier Stunden Zeit blieben, bis Sheelbas Zauber nachließ und er wieder zu seiner vollen Größe anwuchs. Er hatte sein Bestes für Lankhmar getan, jetzt mußte er auch ein wenig an sich denken. Die Ratskonferenz war sehr ermüdend gewesen, nach allem was vorher passiert war. Als die Sänfte hinter den Säulen verschwand, wandte sich Skwee an Lord Nill und sagte durch seine dia-
mantenbesetzte weiße Maske: »Grig hat also eine Geliebte, der alte Genießer! Vielleicht steckt sie dahinter, daß er plötzlich auf eine brillante Sache wie das Unternehmen Schwarze Toga gestoßen ist.« »Es gefällt mir trotzdem nicht«, twitterte der andere gereizt. »Der Kampf heute nacht ist schon unsicher genug. Die letzte Schlacht steht bevor. Ein geschrumpfter Menschenspion im Unteren Lankhmar. Die plötzliche Charakterveränderung Grigs. Die tollwütige Maus, die vor dem Ratszimmer Amok lief und die dreimal schrie, als Sie sie umbrachten. Das ungewöhnliche Summen der Nachtbienen in Siss' Zimmer. Und jetzt dieses neue Unternehmen, das von einem Augenblick auf den anderen ...« Skwee klopfte Lord Nill freundschaftlich auf die Schulter. »Sie sind nervös heute abend und sehen Schatten in jeder Ecke«, sagte er. »Grig hat auf jeden Fall einen klugen Vorschlag gemacht. Wir alle könnten ein wenig Ruhe und eine Erfrischung vertragen – besonders Sie vor Ihrer wichtigen Mission. Kommen Sie.« Und Skwee überließ Siss den Vorsitz der Versammlung und zog sich mit Lord Nill in eine abgeteilte Nische außerhalb des Ratszimmers zurück. Als die Vorhänge hinter ihnen zugefallen waren, setzte sich Skwee in einen der Stühle und nahm seine Maske ab. In dem pulsierenden violetten Licht dreier Glühwespen wirkte sein langer weißer blauäugiger Kopf unheimlich. »Wenn ich mir vorstelle«, sagte er, »daß mein Volk morgen Herr über das Obere Lankhmar ist! Seit Jahrtausenden haben wir Ratten Pläne geschmiedet, Gänge gebaut, haben wir uns vorbereitet und vorge-
sehen, und jetzt werden wir in weniger als sechs Stunden ... das ist schon einen Trinkspruch wert. Wobei mir einfällt, mein lieber Kamerad, wird es nicht Zeit für Ihre Medizin?« Lord Nill zischte überrascht, machte Anstalten, seine schwarze Maske anzuheben, und holte ein weißes Fläschchen aus seinem Beutel. »Halt!« befahl Skwee entsetzt und umfing das schwarze Handgelenk. »Wenn Sie das jetzt trinken ...!« »Ich bin wirklich nervös heute abend«, sagte der andere, steckte die weiße Flasche fort und brachte eine schwarze zum Vorschein. Ehe er sie leerte, nahm er seine Maske ab, und sein Gesicht war kein Rattengesicht, sondern trug die faltigen, knopfäugigen Züge Hisvins des Kornhändlers, der nur noch so groß wie eine Ratte war. Als die Flüssigkeit hinunter war, schien ihm wohler zumute zu sein. Seine Sorgenfalten verzogen sich nachdenklich. »Wer ist diese Geliebte von Grig, Skwee?« fragte er plötzlich. »Bestimmt kein gewöhnliches Mädchen, keine eitle Kurtisane.« Skwee hob die Schultern und sagte zynisch: »Je klüger das verzauberte Männchen, desto dümmer das verzaubernde Weibchen.« »Nein!« sagte Hisvin ungeduldig. »Ich spüre einen brillanten und gierigen Geist hinter all dem – einen Geist, der nicht Grig gehört. Sie wissen, er war einmal ehrgeizig, strebte sogar nach Ihrer Stellung, aber dann ist sein Feuer schnell vergangen.« »Das stimmt«, sagte Skwee nachdenklich. »Wer hat ihn also wieder zum Leben erweckt?« fragte Hisvin nun mit offenem Mißtrauen. »Wer ist
seine Geliebte, Skwee?« Fafhrd zügelte das Mingolpferd und hatte nicht wenig Mühe damit. Doch als die Mähre erst einmal stand, spürte er, wie zittrig sie auf den Beinen war, und er glitt schnell aus dem Sattel, damit sie unter seinem Gewicht nicht noch zu Boden ging. Das Pferd war schweißbedeckt, der Kopf hing zwischen den zitternden Vorderbeinen und die vorstehenden Rippen bewegten sich im heftigen Rhythmus des pfeifenden Atems. Fafhrd legte seine Hand leicht auf die zitternde Flanke. Sie hätten es sowieso nicht bis Lankhmar geschafft; sie waren erst mitten in der Salz-Marsch. Seit der unglaublichen Errettung der drei schwarzen Reiter aus dem Wasserwirbel über dem Sinkenden Land war es ihm schwer geworden, sie sich als schlichte ilthmarische Räuber vorzustellen – eher kamen sie ihm jetzt wie eine geisterhafte schwarze Truppe des Todes vor. Seine Ängste hatten ihn derart nervös gemacht, daß Fafhrd die Mähre schließlich bis zum Äußersten antrieb, woraufhin die Hufschläge der Verfolger hinter ihm verstummt waren. Er zog sein Schwert und wandte sich in die Richtung des eben aufgegangenen Mondes. Dann kam es wieder näher: das gedämpfte Trommeln der Hufe auf dem Kies. Sie kamen. Im gleichen Augenblick hörte er die Stimme des Grauen Mauslings, der ihm über die Marsch zurief: »Hier entlang, Fafhrd! Auf das blaue Licht zu. Führe dein Pferd her! Und schnell!« Fafhrd standen wieder einmal die Nackenhaare zu
Berge, und doch grinste er und sah nun einen blauen Schimmer wie ein rundes, blau erleuchtetes Fenster in der Dunkelheit der Marsch. Er eilte den südlichen Hang der Dammstraße hinab und zog die Mähre mit und fand dort unten einen schmalen festen Grat. Hastig schritt er durch die Dunkelheit, stemmte die Hacken in den Boden und legte sich kräftig in die Leine, denn sein erschöpftes Reittier wollte nicht mehr so recht. Das blaue Fenster schimmerte nun etwas über ihm. Die Verfolger kamen näher. »Beeil dich, fauler Knochen!« hörte er den Mausling rufen. Der Kleine scheint sich eine Erkältung geholt zu haben, dachte Fafhrd. »Binde dein Pferd an den Baumstamm«, fuhr der Mausling heiser fort. »Dort hat es zu fressen und zu saufen. Und dann komm hoch. Schnell! Schnell!« Fafhrd gehorchte in aller Eile, denn das Hufgetrappel war jetzt schon sehr laut. Als er in die Höhe sprang, sich am Sims des blauen Fensters festhielt und sich über die Schwelle zog, verlöschte der blaue Schimmer. Er krabbelte hinein und landete auf einer mit Seegras bedeckten Fläche und drehte sich schnell um, damit er in die Richtung sehen konnte, aus der er gekommen war. Die Mingolmähre war in der Dunkelheit unter ihm überhaupt nicht zu sehen. Die Dammstraße schimmerte bleich im Mondlicht. Im nächsten Augenblick kamen die drei schwarzen Reiter um eine Gruppe von Dornenbüschen. Fafhrd glaubte einen unheimlich phosphoreszierenden Schimmer um die Schnauzen und Augen der großen schwarze Pferde wahrzunehmen, und er sah im Vorbeihuschen die schwarzen Kapuzen und die Umhän-
ge der Reiter im Winde flattern. Sie galoppierten an der Stelle vorbei an der er die Dammstraße verlassen hatte, und verschwanden hinter einem Dornenbaum im Westen. Fafhrd, der den Atem angehalten hatte, atmete hastig wieder aus. »Jetzt geh von der Tür fort und halt dich fest«, sagte eine Stimme, die mit dem Organ des Mauslings keine Ähnlichkeit hatte. »Ich muß mich da hinsetzen, um dieses Ding zu steuern.« Die Haare in Fafhrds Nacken, die sich gerade wieder beruhigt hatten, gerieten erneut in Bewegung. Die knarrende Stimme des Augenlosen Sheelba war ihm nicht fremd, obwohl er dessen sagenumwobene Hütte noch nie gesehen, geschweige denn betreten hatte. Hastig schob er sich auf die Seite und lehnte sich an die Wand. Eine schwarze Gestalt kroch an die Stelle, an der er eben noch gesessen hatte. Er erkannte als undeutlichen Umriß im Mondlicht eine lose schwarze Kapuze. »Wo ist der Mausling?« Die Hütte schwankte plötzlich. Fafhrd tastete hilflos um sich und fand zum Glück zwei Wandpfosten, an denen er sich festhalten konnte. »Er hat Schwierigkeiten. Tiefgreifende Schwierigkeiten«, erwiderte Sheelba knapp. »Ich habe seine Stimme nachgeahmt, damit du auch wirklich schnell kamst. Sobald du getan hast, was Ningauble dir aufgetragen hat – die Glocken, nicht wahr? –, mußt du ihm sofort zu Hilfe kommen.« Wieder schwankte die Hütte und begann dann hin und her zu wogen, etwa wie ein Schiff, doch schneller und abrupter, als säßen sie auf einer betrunkenen Riesengiraffe.
»Wo soll ich ihm dann sofort helfen?« fragte Fafhrd leicht verschüchtert. »Wie soll ich das wissen – und warum sollte ich es dir sagen, wenn ich es wüßte? Ich bin nicht dein Zauberer. Ich bringe dich nur auf heimlichen Wegen nach Lankhmar – ein kleiner Gefallen, den ich dem dicken, siebenäugigen, wortreichen Zaubererdilettanten erweise, der sich für meinen Kollegen hält und der dich beschwatzt hat, ihn als Mentor zu akzeptieren.« Die mürrische Stimme fuhr etwas weicher fort: »Wahrscheinlich im Palast des Oberherrn. Und jetzt halt den Mund.« Die Bewegungen der Hütte wurden schneller. Wind pustete herein, spielte mit Sheelbas Kapuze. Unter der Hütte raste die mondbeschienene SalzMarsch dahin. »Was waren das für Reiter?« fragte Fafhrd und klammerte sich an seine Wandpfosten. »Ilthmarische Verbrecher? Oder Sendboten des bösen Sensengottes?« Keine Antwort. »Was bedeutet das alles?« fragte Fafhrd weiter. »Großangriff eines zahlenmäßig überlegenen, doch namenlosen Feindes. Namenlose schwarze Reiter. Der Mausling tief begraben und seltsam geschrumpft, aber noch am Leben. Eine Blechpfeife, die möglicherweise die Kriegskatzen herbeiruft, aber dem Pfeifer gefährlich werden kann. Das alles verstehe ich einfach nicht.« Die Hütte ruckte besonders heftig. Sheelba schwieg weiter. Fafhrd wurde seekrank und konzentrierte sich darauf, durchzuhalten.
Glipkerio atmete einmal tief ein, steckte seinen blonden Kopf durch den Ledervorhang der Küchentür und blinzelte lächelnd in die Helligkeit. Reetha, die wieder einmal am Hals festgekettet war, saß mit untergeschlagenen Beinen vor dem Feuer und ließ den Kopf hängen. Von vier anderen Mädchen umgeben, die vor ihr hockten, schlief Samanda auf ihrem großen Thron. Obwohl Glipkerio kein Geräusch gemacht hatte, brach ihr Schnarchen plötzlich ab, und sie öffnete ihre Schweinsäuglein. »Kommen Sie herein, kleiner Oberherr – stehen Sie nicht wie eine scheue Giraffe herum. Haben die Ratten Sie auch erschreckt? Geht schlafen, Mädchen.« Die vier Mädchen standen stumm auf, verbeugten sich hastig vor Glipkerio, und verschwanden. Reetha sah sich alarmiert um. Glipkerio wanderte in der Küche herum, ohne sie auch nur einmal anzuschauen, und sein Kinn zuckte, seine Finger rangen nervös miteinander. »Hat die Unruhe Sie gepackt, kleiner Oberherr?« fragte Samanda. »Soll ich Sie zu einem glücklichen kleinen Monarchen machen? Oder möchten Sie sehen, wie die da ausgepeitscht wird?« fragte sie und deutete mit ihrem dicken Daumen auf Reetha. »Die Inquisitoren haben es mir verboten, aber wenn sie mir befehlen würden ...« »O nein, nein, natürlich nicht«, protestierte Glipkerio. »Aber da wir gerade von Peitschen sprechen. Ich habe einige neue Exemplare in meiner Privatsammlung und würde sie Ihnen gern zeigen, liebe Samanda ...« »Aha, Sie wollen also Gesellschaft, wie all die anderen ängstlichen Seelen auch«, sagte Samanda. »Al-
so, ich würde gern mitkommen, kleiner Oberherr, aber die Inquisitoren haben mir gesagt, ich müßte dieses böse Mädchen die ganze Nacht über im Auge behalten – das Mädchen hat sich mit dem Rattenführer verbündet.« Glipkerio kämpfte mit sich und sagte schließlich: »Also, Sie könnten sie natürlich mitbringen, wenn Sie meinen.« »Ja, das könnte ich«, sagte Samanda und stemmte ihre Körpermassen aus dem Stuhl. »Wir können Ihre neuen Peitschen an ihr ausprobieren.« »O nein, nein«, sagte Glipkerio noch einmal. Dann runzelte er die Stirn, bewegte die schmalen Schultern und fügte nachdenklich hinzu: »Obwohl ich manchmal bei einem neuen Instrument den unwiderstehlichen Drang verspüre ...« »... den unwiderstehlichen Drang«, sagte Samanda, löste die Silberkette von Reethas Halsband und brachte statt dessen eine kurze Leine an. »Gehen Sie voran, kleiner Oberherr.« »Kommen Sie zuerst in mein Schlafzimmer«, sagte er. »Ich gehe vor, um die Wächter aus dem Weg zu schaffen.« Und er hastete davon. »Das brauchen Sie nicht, kleiner Oberherr, die Leute kennen Ihre Angewohnheiten!« rief Samanda ihm nach und zerrte Reetha hoch. »Komm, Mädchen! Eine wahrlich große Ehre für dich. Freue dich, daß ich nicht Glipkerio bin – sonst würdest du mit Käse eingerieben und zu den Ratten gestoßen.« Als sie schließlich durch leere Korridore Glipkerios Schlafzimmer erreichten, stand er erregt vor der offenen, juwelenbesetzten Eichentür, und die Toga war völlig verrutscht von seinen heftigen Zuckungen.
»Waren überhaupt keine Wächter da«, klagte er. »Scheint, als wären meine Befehle dummerweise falsch verstanden worden – meine Wächter sind wohl mit den Soldaten und Polizisten zur Süd-Kaserne gegangen.« »Was brauchen Sie Wächter, wenn Sie mich zu Ihrem Schutz haben, kleiner Oberherr?« erwiderte Samanda prahlerisch und schlug klatschend auf einen Schlagknüppel, der an ihrem Gürtel baumelte. »Das stimmt«, sagte er mit einem letzten Rest von Zweifel und zerrte einen großen komplizierten Goldschlüssel aus seiner Toga. »Jetzt schließen wir das Mädchen hier ein, Samanda, wenn es Ihnen recht ist, während wir meine Neuerwerbungen ansehen.« »Und entscheiden, welche wir an ihr ausprobieren?« fragte Samanda mit lauter Stimme. Glipkerio schüttelte den Kopf, sah schließlich Reetha an und sagte väterlich: »Nein, natürlich nicht, ich denke mir nur daß das arme Kind unser Fachinteresse langweilig finden könnte.« Und doch vermochte er die plötzliche Gier in seinen Augen nicht ganz zu verbergen. Samanda öffnete die Leine und stieß Reetha ins Zimmer. Glipkerio sagte besorgt: »Du läßt die Finger von meinem Nachttisch.« Und er deutete auf ein goldenes Tablett neben dem Bett. Kristallkrüge standen darauf – neben einem langstieligen Kelch, der mit hellem, aprikosenfarbigem Wein gefüllt war. »Du berührst nichts, sonst flehst du mich bald um den Todesstoß an«, fügte Samanda hinzu. »Du kniest dich am Fußende des Bettes mit gebeugtem Kopf hin – Position drei – und rührst keinen Muskel, bis wir
zurück sind.« Kaum war die dicke Tür geschlossen und der Goldschlüssel mit leisem Klirren wieder herausgezogen worden, als Reetha schon an den Nachttisch trat, in Glipkerios Getränk spuckte und zusah, wie ihr Speichel langsam kreiselte. Oh, wenn sie nur ein Haar gehabt hätte, um es in den Wein zu werfen! Sie öffnete die am interessantesten aussehende Kristallflasche und nahm sie mit auf ihre Inspektionstour quer durch das Zimmer, wobei sie langsam daraus trank. Der Raum war kostbar ausgestattet mit Edelhölzern aus dem Land der Acht Städte und enthielt zahlreiche Schätze; am längsten verweilte Reetha vor einem schweren goldenen Korb voller geschliffener, ungefaßter Juwelen aller Arten. Sie bemerkte auch den Ständer mit Kleidern, die für eine sehr große Frau bestimmt sein mußten, und daneben – ein überraschender Gegensatz – ein Gestell mit geschmiedeten Waffen aller Art. Anschließend betrachtete sie mehrere Regale voller Glasfiguren und stieß die Statue eines Mädchens mit Peitsche zu Boden. Was können sie mir tun, das sie nicht ohnehin schon planen? fragte sie sich. Sie stieg in das Bett, in dem sie sich wohlig hin und her wälzte und die Kühle der weichen Leinenlaken genoß, und ab und zu trank sie ein wenig aus der Kristallflasche. Vielleicht konnte sie so viel trinken, daß sie im entscheidenden Augenblick nicht mehr zu gebrauchen war. Samanda und Glipkerio würden keine Freude haben an einem schlaffen Körper und einem alkoholbesessenen Geist, der auf Schmerz nicht mehr reagierte.
13 Der Mausling streckte sich lässig in seiner Sänfte aus und stellte durch einen kurzen Rundblick fest, daß sie jetzt einen breiten bewachten Korridor erreicht hatten, von dem dreizehn durch Vorhänge verschlossene Torbogen abgingen. Die ersten neun Vorhänge waren weiß mit Silberfäden, der nächste schwarz und golddurchwirkt und die letzten drei schließlich weiß und goldbestickt. Trotz der Müdigkeit hatte der Mausling in seiner Wachsamkeit nicht nachgelassen. Immerhin war es möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich, daß Skwee oder Lord Nill ihn verfolgen ließen – und dann durfte er auch Hreest nicht vergessen, der in der Wassertoilette Spuren gefunden haben mochte, obwohl sich der Mausling alle Mühe gegeben hatte, sie zu beseitigen. Die Sänfte stoppte vor dem nächsten Torbogen – dem drittletzten im Gang. Also standen Skwee und Siss über Grig, doch er stand noch über Lord Nill. Das war eine interessante Information, wenn sie auch nur den Eindruck bestätigte, den er bei der Ratsversammlung gewonnen hatte. Mit Hilfe seines Stabes stemmte er sich hoch, übertrieb den Schmerz in seinem Bein etwas und warf der vorderen Ratte eine ährenumschlungene Silbermünze zu, die er aus Grigs Beutel gesucht hatte. Ohne sich umzudrehen, humpelte er durch die schweren Vorhänge und stellte dabei fest, daß die Stickereien aus feinem Golddraht bestanden. Er durchschritt einen kurzen, düsteren Flur, der an seinem anderen Ende von einem ähnlichen Vorhang begrenzt wurde. Er
schlug ihn zur Seite und befand sich in einem gemütlichen, wenn auch etwas heruntergekommenen viereckigen Raum, von dem drei verhangene Türen abgingen. Die Beleuchtung stammte von Feuerkäfern über jeder dieser Türen. Das Mobiliar bestand aus zwei geschlossenen Schränken, einem Schreibtisch mit Stuhl, vielen Schreibrollen in Silberbehältern, gekreuzten Schwertern an den Wänden – und einem Kamin, in dem eine einzelne riesige Kohle durch weiße Asche schimmerte. In der Mitte des Raumes stand eine weiche Couch mit hoher Rückenlehne – ein Möbelstück für jemanden, der viel im Liegen liest – und neben der Couch ein großer Tisch mit drei Glocken darauf – eine aus Kupfer, die andere aus Silber und die dritte aus Gold. Der Mausling nahm die silberne Glocke und schwang sie kräftig. Er war gespannt, was seine Wahl des Mittelweges ihm bringen würde. Er hatte kaum Zeit zu der Erkenntnis, daß der Raum offenbar einem altbackenen Junggesellen gehörte, der gern las, als sich eine dicke alte Ratte durch den Vorhang in der gegenüberliegenden Wand schob. Sie trug eine fleckenlos weiße Schürze und dazu eine weiße Kappe auf dem Kopf. Mit den Vorderpfoten balancierte sie ein Silbertablett, auf dem dampfende Teller und ein großer dampfender Silberkrug standen. Der Mausling deutete kurz auf den Tisch. Der Koch – denn wer konnte es sonst sein? – stellte das Tablett ab und kam zögernd auf den Mausling zu, als wollte er ihm aus dem Umhang helfen. Der Mausling winkte ihn fort und deutete entschlossen auf die Tür. Verdammt wollte er sein, wenn er in seinem eigenen
Haus noch lispelte! Außerdem hatte die Dienerschaft vielleicht schärfere Ohren als die Kollegen. Der Koch verbeugte sich ungeschickt und verschwand. Der Mausling ließ sich dankbar auf der Couch nieder und entschloß sich, Stiefel und Handschuhe noch nicht auszuziehen. Im Liegen war es auch mit den Fußschmerzen nicht so schlimm. Doch er setzte wenigstens die Maske ab und legte sie griffbereit neben sich; es war gut, wenn man seine Umwelt nicht nur durch Maskenschlitze anzublinzeln brauchte. Dann machte er sich über Grigs Abendessen her. Der dampfende Krug enthielt Glühwein – sehr angenehm für seinen wunden Hals und seine angespannten Nerven. Er nahm Katzenklaue und die zweizinkige Gabel, die neben dem Teller lag, und verzehrte mit großem Appetit die kleinen Rindfleischkoteletts. Es war seltsam, das zarte Fleisch zu kauen, dessen Fasern so dick waren wie sein Finger. Anschließend lehnte er sich gesättigt zurück, setzte die Maske wieder auf und machte sich daran, seine Rückkehr in das Obere Lankhmar zu planen. Aber die goldene Glocke lenkte ihn immer wieder von solchen praktischen Überlegungen ab, und er streckte schließlich die Hand aus und läutete sie. Gib der Neugier nach, ehe du dich darüber aufregen kannst, war eines seiner Mottos. Kaum war das leise Geläute verhallt, als sich der schwere Vorhang in einer der Seitentüren teilte und eine schlanke Ratte erschien – eine weibliche Ratte. Sie trug Robe, Kapuze, Maske, Schuhe und Handschuhe – alles aus feiner zitronengelber Seide. Das Wesen blieb auf der Schwelle stehen und sagte leise: »Lord Grig, Ihre Geliebte erwartet Sie.«
Die erste Reaktion des Mauslings bestand in einem selbstgefälligen Grinsen unter seiner Maske. Der alte Grig hatte also wirklich eine Geliebte, und seine aus dem Handgelenk geschüttelte Antwort auf Skwees ungläubige Frage stimmte! Ob groß wie ein Mensch oder klein wie eine Ratte – er schaffte jeden! Der Mausling stand auf und näherte sich der schlanken Gestalt, die ihm so ungeheuer vertraut vorkam. Er fragte sich, ob sie vielleicht die Ratte war, die er vorhin mit einer Maus an der Leine im Korridor gesehen hatte. Er wandte die gleiche Methode an wie vorhin beim Koch und bedeutete ihr stumm, ihm den Weg zu zeigen. Sie nickte, und er folgte ihr durch einen gewundenen Korridor. Und sehr attraktiv ist sie, überlegte er, als er ihre schlanken Umrisse musterte. Fast zu spät fiel ihm ein, daß sie ja eine Ratte war und ihn daher eher mit Widerwillen erfüllen mußte. Aber mußte sie unbedingt eine Ratte sein? Er hatte einen Größenwechsel durchgemacht, warum sollte das anderen nicht auch möglich sein? Und wenn dieses Geschöpf nur die Bedienstete war, wie mußte dann erst die Herrin aussehen? Bestimmt ist sie dick oder hager und behaart, dachte er zynisch. Doch seine Spannung nahm zu. Er verhielt einen Augenblick, um sich zu orientieren, und stellte fest, daß die Seitentür, durch die sie seine Wohnung verlassen hatten, in die Richtung führte, in der Lord Nills Räume lagen. Endlich teilte die gelbgekleidete Zofe einen golddurchwirkten schwarzen Vorhang, danach einen zweiten hellvioletten Seidenvorhang. Der Mausling
ging an der Ratte vorbei und fand sich in einem großen Schlafzimmer, das herrlich und geschmackvoll eingerichtet war – zugleich war es das verrückteste, unheimlichste Schlafgemach, das er je gesehen hatte. Der Raum war an den Wänden, auf dem Fußboden, an der Decke und auf allen Polstern in den Farben Silber und Violett gehalten – wobei das Violett eine herrliche Komplementärfarbe zu der gelben Kleidung des kleinen Zimmermädchens bildete. Einige schmale, tiefe Wandtanks voller aalgroßer Glühwürmer sorgten für die indirekte Beleuchtung. Vor diesen Tanks standen mehrere Garderobentische mit großen Spiegeln, so daß der Mausling sein weißgekleidetes Spiegelbild und seine schmale Führerin, die eben die violetten Seidenvorhänge zufallen ließ, mehr als einmal zu Gesicht bekam. Die Tische waren voller Kosmetika und sonstigen Schönheitsmitteln, voller verschiedenfarbiger Elixiere und winziger Töpfe – nur ein Tisch bei einer zweiten silberverhangenen Tür trug eine Unzahl schwarzer und weißer Fläschchen. Zwischen diesen Toilettentischen, an Silberketten von der Decke hängend, befanden sich große Silberkäfige voller Skorpione, Spinnen, Gottesanbeterinnen und ähnlichem Getier – sämtlich so groß wie kleine Hunde oder junge Känguruhs. In einem großen Käfig ringelte sich eine quarmallische Taschenviper, die die Größe einer Python erreichte. Die Tiere knirschten mit den Zähnen, ließen die Kiefer zusammenklappen oder zischten, je nach Veranlagung, während ein aufgebrachter Skorpion wütend mit einem Stachel an den Käfigstreben entlangklapperte und die Viper ihre dreigespaltene Zunge spielen ließ. Eine schmale Wand jedoch war völlig leer bis auf
zwei große türgroße Bilder, von denen eins ein Mädchen und ein Krokodil in liebevoller Umarmung zeigte und das andere einen Mann und eine Leopardin bei der gleichen Beschäftigung. Fast genau in der Mitte des Zimmers stand ein großes Bett, nur mit einem großen, glattgestrichenen weißen Laken bedeckt, dessen grobe Fäden ihm das Aussehen von Sackleinen gaben, ohne abstoßend zu wirken – und mit einem dicken weißen Kissen. Lässig auf diesem Bett ausgestreckt, den Kopf auf das Kissen geneigt, damit sie ihren Besucher durch die Augenschlitze ihrer Maske betrachten konnte, lag eine etwas schmalere Gestalt als die seiner Führerin, ein Rattenmädchen, das fast wie ihre Zofe gekleidet war, außer daß ihr Umhang violett leuchtete. »Na, da treffen wir uns endlich unter der Erde. Seien Sie gegrüßt, Grauer Mausling«, rief das Mädchen mit allzu vertraulicher Silberstimme. Dann schaute es über seine Schulter. »Süße Sklavin – mach es unserem Gast bequem.« Leise Schritte kamen näher. Der Mausling wandte sich halb um und sah, daß das Mädchen die gelbe Maske abgesetzt hatte und ihm nun das fröhliche und zugleich melancholische Gesicht von Frix offenbarte. Das schwarze Haar war diesmal zu langen Zöpfen geflochten, mit feinem Kupferdraht durchsetzt. Ohne ihm mehr als ein Lächeln zu schenken, begann sie Grigs lange weiße Robe aufzuknöpfen. Der Mausling hob ein wenig die Arme und ließ sich wie in Trance ausziehen, ohne sich groß um den Vorgang zu kümmern, denn sein Blick hing an der violettmaskierten Gestalt auf dem Boden. Er wußte ziemlich sicher, wen er da vor sich hatte, hatte eigentlich schon
den Beweis in sich, denn der Silberpfeil an seiner Schläfe pulsierte heftig. Und der Hunger, der ihn seit einigen Tagen verfolgte, machte sich plötzlich doppelt stark bemerkbar. Die Lage war schwer zu begreifen. Obwohl er schon vermutete, daß Frix und das andere Mädchen ein Elixier benutzt hatten, wie es ihm auch Sheelba gegeben hatte, hätte der Mausling schwören können, er und die Frauen wären normal groß – wenn nicht die altbekannten Tiere in den Käfigen so überaus groß gewirkt hätten. Er hob zuerst das eine, dann das andere Bein, und es war eine große Erleichterung, die engen Stiefel endlich loszuwerden. Und obwohl er Frix' Handgriffe friedlich über sich ergehen ließ, behielt er sein Schwert Skalpell und den Gürtel, an dem es befestigt war – und aus unbestimmtem Grunde auch Grigs Maske bei sich. Er fühlte, daß die kleinere Scheide an seinem Gürtel leer war, und erinnerte sich besorgt, daß er Katzenklaue zusammen mit seinem Elfenbeinstab in Grigs Räumen zurückgelassen hatte. Doch diese Sorgen vergingen wie eine Schneeflocke im Frühling, als das Mädchen auf dem Bett neckend fragte: »Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten, liebster Gast?« Als er sagte: »Ja, mit dem größtem Vergnügen«, hob sie die violett behandschuhte Rechte und sagte: »Liebe Frix, bring uns Süßigkeiten und Wein.« Während Frix sich an einem Ecktisch zu schaffen machte, schlug dem Mausling das Herz bis in den Hals, und er flüsterte: »Ah, entzückende Hisvet. Denn das sind Sie doch?« »Was das betrifft, so müssen Sie sich schon selbst
ein Urteil bilden«, erwiderte die klirrende Stimme kokett. »Dann werde ich Sie Hisvet nennen«, antwortete der Mausling kühn, »da ich in Ihnen meine oberste Königin, meine Prinzessin aller Prinzesinnen sehe! Mögen Sie denn wissen, herrliche Demoiselle, daß seit der gröblichen Unterbrechung unserer Wonnen im Glockenbaum durch die zwei Mingols – daß seither mein Geist, mein ganzes Wesen allein für Sie existiert hat!« »Das wäre ein hübsches Kompliment«, sagte sie und lehnte sich wohlig zurück, »wenn ich es nur glauben könnte.« »Oh, Sie müssen es glauben«, versicherte ihr der Mausling großartig und trat vor. »Ich möchte Ihnen auch sagen, daß bei dieser Gelegenheit unsere Zusammenkunft nicht über Frix' Schulter stattfinden soll, so lieb sie mir als Begleiterin auch ist, sondern auf kürzere Entfernung. Ich bin fest entschlossen, wahrlich alle Erfrischungen zu genießen und keine auszulassen.« »Sie können nicht glauben, daß ich Hisvet bin!« konterte die andere mit gespielter Entrüstung, »sonst würden Sie solch blasphemische Äußerung nicht wagen!« »Ich wage noch viel mehr!« erklärte der Mausling und machte einen schnellen Schritt. Das Getier, das ringsum in den Käfigen hing, bewegte sich ärgerlich, schlug gegen die Stangen und brachte die Käfige zum Schwingen, begann zu zischen, klappern und zu knurren. Trotzdem ließ der Mausling vor dem Bett seinen Gürtel mit dem Schwert fallen, und stellte ein Knie auf das Laken und hätte sich bestimmt auf His-
vet geworfen, wenn nicht in diesem Augenblick Frix herbeigeeilt wäre und zwischen die beiden ein großes Silbertablett mit Weinschalen und Kristallkelchen mit Süßigkeiten gestellt hätte. Um sich nicht ganz bloßzustellen, ließ der Mausling seine Hand vorschnellen und riß seiner Angebeteten die violette Samtmaske vom Gesicht. Eine violettumhüllte Hand entriß sie ihr sofort wieder, ohne sie allerdings erneut anzulegen und nun sah er sich tatsächlich dem schmalen, dreieckigen Gesicht Hisvets gegenüber, deren Wangen gerötet waren, deren rote Augen schimmerten und deren geschürzte Lippen lächelten und ihre etwas zu großen Vorderzähne enthüllten. Ihr Haar war ähnlich wie bei Frix verflochten, jedoch mit noch feinerem Silberdraht, und die beiden Zöpfe gingen ihr bis zur Hüfte. »Nein«, sagte sie lachend. »Ich sehe, Sie sind höchst vermessen, und ich muß mich schützen.« Sie griff an ihre Seite des Bettes hinab und brachte einen langen, schmalen Dolch zum Vorschein. Sie schwenkte ihn spielerisch hin und her und sagte: »Jetzt mögen Sie sich an den Schalen und Krügen gütlich tun, Grauer Mausling, doch andere Süßigkeiten sind Ihnen verschlossen, lieber Gast!« Der Mausling gehorchte, schenkte sich und Hisvet ein. Er bemerkte aus dem Augenwinkel, daß Frix lautlos durch das Zimmer huschte und Grigs weiße Stiefel und Handschuhe in seinen weißen Umhang rollte und das Bündel auf einen Stuhl neben dem großen Gemälde des Mannes mit der Leopardin deponierte – und daß sie ein gleiches Bündel aus seinen übrigen Dingen schnürte und es dicht daneben auf einen zweiten Stuhl legte.
Ein sehr kluges und umsichtiges Mädchen, dachte er, und ihrer Herrin sehr ergeben – tatsächlich viel zu ergeben; er wünschte, sie würde jetzt verschwinden und ihn mit Hisvet allein lassen. Aber sie ließ nicht erkennen, daß sie etwas Derartiges vorhatte, auch schien Hisvet ihr keinen entsprechenden Befehl geben zu wollen. Ohne Umschweife begann der Mausling also mit seinem kleinen Liebesspiel – er haschte nach den zarten Fingern von Hisvets linker Hand, wenn sie nach den Süßigkeiten griff, oder zerrte an den Bändern ihrer violetten Robe, wobei er sie auf den Unterschied im Grad ihrer Bekleidung hinwies und doch vorschlug, sie möchte sich ihm anpassen. Hisvet ihrerseits erwiderte diese Angriffe mit kleinen, schnellen Messerstichen, die auf seine zupackende Hand gezielt waren, und mehrfach konnte er sich nur im letzten Augenblick in Sicherheit bringen. Es war ein amüsantes Spiel, dieser Tanz zwischen Hand und Dolch – oder wenigstens kam es dem Mausling so vor, besonders nachdem er einiges von dem kräftigen Wein getrunken hatte. Und als Hisvet ihn schließlich fragte, wie er denn in die Rattenwelt gekommen sei, erzählte er ihr die Geschichte von Sheelbas schwarzem Zaubertrunk und wie er die Wirkung zuerst für einen unfairen Zauberwitz gehalten hatte, sie doch jetzt als das Beste preisen müßte, was ihm in seinem Leben widerfahren war – denn er bog sich die Wahrheit doch etwas zurecht, damit sie annahm, er sei einzig und allein ihretwegen in das Untere Lankhmar gekommen. Er spreizte hastig die Finger, als Hisvets Dolch niederschnellte, und fragte: »Wie haben Sie und Frix erraten, daß ich hinter Grigs Maske steckte?«
Sie erwiderte: »Das war sehr einfach, mein lieber Freund. Wir holten meinen Vater vom Ratszimmer ab, denn er, Frix und ich müssen heute nacht noch eine wichtige Reise antreten. Aus der Ferne hörte ich Sie sprechen und erkannte Ihre Stimme trotz des schönen Lispelns. Anschließend sind wir Ihnen gefolgt.« »Ah, dann darf ich doch hoffen, daß Sie mich lieben, wenn Sie mich schon so gut kennen«, säuselte der Mausling und mußte seine Hand erneut in Sicherheit bringen. »Aber sagen Sie mir, meine Göttliche, wie kommt es, daß Sie und Frix und Ihr Vater in der Rattenwelt leben – und hier offenbar große Macht ausüben?« Mit ihrem Dolch zeigte sie lässig auf den Toilettentisch mit den schwarzen und weißen Flaschen und sagte: »Meine Familie kennt das gleiche Zaubermittel, das Sie von Sheelba bekommen haben, schon seit Jahrhunderten – und auch die weiße Flüssigkeit, die uns sofort wieder auf unsere natürliche Größe anwachsen läßt. In diesen Jahrhunderten haben sich unsere Stammlinien mit denen der Ratten vermischt – solchen Verbindungen entstammen göttlich schöne Wesen wie ich, aber auch sehr häßliche Ungeheuer – jedenfalls häßlich nach menschlichen Maßstäben. Diese Abkömmlinge meiner Familie bleiben fast immer unter der Erde, doch wir übrigen genießen die Vorteile und Annehmlichkeiten eines Lebens in zwei Welten. Die Kreuzung mit der Rattenrasse hat auch viele Ratten mit menschlichen Händen und menschlicher Intelligenz hervorgebracht. Die Ausdehnung der Zivilisation auf die Ratten ist größtenteils unser Werk, und wir werden als Oberste Könige und Köni-
ginnen und vielleicht sogar als Götter und Göttinnen herrschen, wenn die Ratten die Menschheit unterjocht haben.« Ihr Bericht von der rassischen Vermischung erstaunte den Mausling doch etwas und stimmte ihn nachdenklich – obwohl das Feuer der Liebe unverändert stark in ihm loderte. Er erinnerte sich an Lukeens Verdacht damals auf der Squid, daß Hisvet unter ihren jungfräulichen Roben einen Rattenkörper verbarg, und er fragte sich – ein wenig ängstlich, doch auch sehr neugierig –, welche Form Hisvets schlanker Körper nun wirklich aufwies. Hatte sie zum Beispiel einen Schwanz? Eigentlich war er aber sicher, daß er einen entzückenden Körper unter dem Umhang finden würde. Doch er ließ sich seine Gedanken nicht anmerken. Beiläufig fragte er: »Ihr Vater ist also Lord Nill, und Sie und er und Frix reisen regelmäßig zwischen der kleinen und der großen Welt hin und her?« »Zeig's ihm, liebe Frix«, befahl Hisvet müde und hob die schlanke Hand vor ein Gähnen. Frix warf ihre Kapuze zurück und enthüllte ihre langen schwarzen Zöpfe. Dann trat sie langsam zurück, bis sie zwischen dem Käfig der Taschenviper und dem Käfig des aufgeregten Skorpions stand. Ihre dunklen Augen waren leer wie die einer Schlafwandlerin und schienen in die Unendlichkeit gerichtet. Der Skorpion ließ seinen feuchten Stachel wenige Zentimeter an ihrem Ohr vorbeihuschen, während die Zunge der Viper wütend ihre Wange zu erreichen suchte, doch sie schien diese Dinge überhaupt nicht wahrzunehmen. Die Finger ihrer rechten Hand bewegten sich langsam an einer Reihe Medaillons ent-
lang, die am Glühwurmtank hafteten, und ohne hinabzuschauen, drückte sie zwei Medaillons gleichzeitig hinein. Das Gemälde mit dem Mädchen und dem Krokodil fuhr in die Höhe und enthüllte die ersten Stufen einer dunklen, steilen Treppe. »Dieser Tunnel führt ohne Abzweigung zum Hause meines Vaters«, erklärte Hisvet. Das Gemälde sank wieder herab, Frix drückte auf zwei andere Medaillons, woraufhin sich das andere Gemälde hob, das den Mann und die Leopardin zeigte. Dahinter gähnte ein ähnlicher Treppentunnel. »Diese Stufen führen durch ein goldenes Rattenloch direkt in die Privaträume des Mannes, der gerade Lankhmars scheinbarer Herrscher ist – in diesem Augenblick Glipkerio Kistomerces«, sagte Hisvet, als das zweite Gemälde wieder herabkam. »Sie sehen also, mein Geliebter, wir sind überall.« Und sie hob ihren Dolch und legte ihn sanft an seine Kehle. Der Mausling rührte sich einen Augenblick nicht. Dann nahm er die Dolchspitze behutsam zwischen die Finger und bewegte sie zur Seite. Sanft umfaßte er einen Zopf Hisvets, und als sie sich nicht wehrte, begann er die feinen Silberdrähte aus dem silberblonden Haar zu entfernen. Frix stand noch immer wie eine Statue zwischen den beiden schwankenden Käfigen. Sie schien in Trance zu sein. »Gehört Frix zu Ihrer Familie? Vereinigt sie auch die besten Eigenschaften der Menschen und der Rattenrasse auf sich?« fragte der Mausling leise und beschäftigte sich weiter mit Hisvets Haaren, die ihn – wie er hoffte – nun endlich an das Ziel seiner Wün-
sche führen würden. Hisvet schüttelte langsam den Kopf, legte ihren Dolch zur Seite. »Frix ist meine Lieblingssklavin und fast eine Schwester, aber verwandt sind wir nicht. Sie ist wirklich die süßeste Sklavin in ganz Nehwon, denn sie ist eine Prinzessin und wäre wohl jetzt ein Königin in ihrer eigenen Welt. Auf ihren Reisen zwischen den Welten erlitt sie bei uns Schiffbruch, von Dämonen besessen, von denen mein Vater sie befreite. Als Gegenleistung wird sie mir ewig dienen.« Auf diese Bemerkung hin begann Frix endlich zu sprechen, wobei sie nur Lippen und Zunge bewegte; ihre Augen blieben starr in die Ferne gerichtet. »Oder, meine süße Herrin, bis ich dreimal Ihr Leben rette, unter Einsatz meines eigenen. Einmal ist das schon geschehen, an Bord der Squid, als der Drache Sie angriff.« »Du würdest mich doch nie verlassen, meine liebe Frix.« »Ich liebe Sie aus ganzem Herzen und diene Ihnen treu«, erwiderte Frix. »Und doch findet alles einmal ein Ende, o meine Demoiselle.« »Dann habe ich ja den Grauen Mausling zu meinem Schutz, und brauche dich nicht mehr«, erwiderte Hisvet nicht ohne Schmollen und stützte sich auf einen Ellenbogen. »Laß uns jetzt einen Moment allein, Frix, denn ich möchte unter vier Augen mit ihm sprechen.« Mit fröhlichem Lächeln kam Frix zwischen den gefährlichen Käfigen hervor, machte einen kleinen Knicks vor dem Bett, setzte ihre gelbe Maske wieder auf und verließ durch den zweiten Torbogen das Zimmer.
Noch immer auf den Ellenbogen gestützt, drehte sich Hisvet zu ihm um, und ihre schlanke Gestalt und ihr zierliches Gesicht waren ihm Sinnbild der Schönheit. Der Mausling wollte nach ihr tasten, doch sie umfing seine suchenden Hände, streichelte sie und fragte, während ihr Blick ihn verzehrte: »Du wirst mich immer lieben, nicht wahr, du der du dich in die schwarzen und gefährlichen Tunnel der Rattenwelt gewagt hast, um mich zu gewinnen.« »Oh, das werde ich gewißlich tun, Herrscherin endlosen Entzückens«, erwiderte der Mausling inbrünstig, und glaubte seinen Worten auch – fast. »Dann ist es an der Zeit, Sie hiervon zu befreien«, sagte Hisvet und legte die Finger an seine Schläfe. »Es wäre eine Beleidigung für meine Schönheit, sich auf einen Zauber zu verlassen, wenn ich mich jetzt ganz und gar auf dich verlassen kann.« Es tat kaum weh, als sie mit entschlossener Bewegung den Silberpfeil unter seiner Haut hervordrückte – so wie eine Frau vielleicht einen Mitesser oder einen Pickel aus dem Gesicht ihres Geliebten entfernt. Seine Gefühle veränderten sich überhaupt nicht. Noch immer betete er sie an wie eine Gottheit – und die Tatsache, daß er sich in seinem früheren Leben auf Götter nur selten verlassen hatte, spielte nicht die geringste Rolle, wenigstens im Augenblick nicht. Hisvet legte ihre kühle Hand auf die Schulter des Mauslings, doch ihre roten Augen waren nicht mehr verschwommen, sondern ihr Blick war funkelnd klar. Und ehe er sie berühren konnte, wehrte sie ihn hastig ab und sagte sehr nüchtern: »Nein, nein, noch nicht! Zuerst müssen wir einen Plan schmieden, mein süßer Freund – denn du kannst mir auf einem Gebiet be-
hilflich sein, auf dem ich Frix nicht einsetzen kann. Zunächst mußt du meinen Vater umbringen, der mich quält und mein Leben einengt – und dann ist der Weg frei, daß ich Herrscherin über ganz Lankhmar werde und du mein liebster Begleiter. Unsere Macht wird unvorstellbar sein. Heute nacht, Lankhmar! Und morgen ganz Nehwon ... dann die Eroberung anderer Universen jenseits des großen Wassers. Die Unterwerfung der Engel und Dämone, des Himmels und der Hölle. Es wäre vielleicht gut, wenn du zuerst die Rolle meines Vaters übernimmst – so wie du Grig gespielt hast, sehr klug und überlegt sogar, wie ich selbst bezeugen kann. Von allen Menschen bist du, was die Verstellung angeht, mir am ähnlichsten, mein Liebling. Dann ...« Sie brach ab, als sie den Gesichtsausdruck des Mauslings bemerkte. »Du wirst mir natürlich in allem gehorchen?« fragte sie scharf – oder stellte es fest. »Nun ...«, begann der Mausling. Der Vorhang bauschte sich auf, flog zur Seite, und Frix hastete lautlos herein; Robe und Haube flatterten hinter ihr. »Ihre Masken! Ihre Masken!« rief sie. »Vorsicht! Vorsicht!« Und sie wirbelte eine undurchsichtige violette Decke über das Bett, die Hisvets bekleideten Körper und die Nacktheit des Mauslings bis zum Hals bedeckte. »Ihr Vater kommt mit bewaffneten Wächtern, meine Herrin!« Und sie kniete neben Hisvet am Kopfende des Bettes nieder und beugte den gelbmaskierten Kopf. Kaum waren die weiße und die violette Maske zurechtgerückt, kaum hatte sich der Silbervorhang beruhigt, als er auch schon wieder zur Seite gerissen
wurde. Hisvin und Skwee erschienen, unmaskiert, gefolgt von drei Pikenratten. Trotz der riesig wirkenden Käfigtiere konnte sich der Mausling des Eindrucks nicht erwehren, daß die Ratten in Wirklichkeit fünf Fuß und größer waren. Hisvins Gesicht rötete sich, als er die Szene überschaute. »Oh, wie ungeheuerlich!« brüllte er Hisvet an. »Schamlose Dirne! Treibst dich mit einem Kollegen herum!« »Nun tu nicht dramatisch, Paps!« erwiderte Hisvet, während sie dem Mausling zuraunte: »Du mußt ihn jetzt erledigen. Ich halte dir die anderen vom Leibe.« Der Mausling, der sich vorsichtig unter der Decke bewegte, fuhr mit einer Hand über die Bettkante und begann nach Skalpell zu tasten. Währenddessen hielt er die weiße diamantenbesetzte Maske auf Hisvin gerichtet. »Beruhigen Sie sich, Ratsherr«, lispelte er kühn. »Wenn Ihre göttliche Tochter von allen Ratten und Menschen ausgerechnet mich erwählt, kann ich doch nichts dafür, wie? Die Liebe kennt keine Regeln!« »Das kostet Sie den Kopf, Grig!« kreischte Hisvin und näherte sich dem Bett. »Paps, du bist ein richtiger puritanischer Greis geworden«, sagte Hisvet mit scharfer Stimme. »Daß du dich in dieser wichtigen Nacht mit so überholten Vorstellungen abgibst! Deine Tage sind vorbei. Ich muß deinen Platz im Rat einnehmen. Sagen Sie ihm das, Skwee. Paps, mein Lieber, ich glaube fast, du bist eifersüchtig auf Grig, weil du nicht an seiner Stelle bist.« Hisvin brüllte: »Oh, du Ungeheuer, das einmal meine Tochter war!« Und mit überraschender
Schnelligkeit zerrte er ein Stilett aus seinem Gürtel und zielte damit auf Hisvets Hals zwischen der Maske und der Bettdecke; doch im gleichen Augenblick stürzte Frix vor, warf sich vor ihm auf die Knie und fuhr mit der linken Hand dazwischen, als wollte sie den kräftigen Stoß ablenken. Die nadelgleiche Klinge fuhr ihr bis zum Griff durch die Handfläche. Der Dolchgriff wurde Hisvin aus der Hand gerissen. Noch immer hockend, die helle Klinge in der ausgestreckten Hand, die ein wenig blutete, so wandte sich Frix zu Hisvin um, machte eine zierliche Bewegung mit der anderen Hand und sagte mit freundlicher Stimme: »Bezähmen Sie Ihre Wut, Vater meiner Herrin. Das Problem läßt sich bestimmt auch bei kühlem Verstande lösen. Sie dürfen sich nicht streiten, an diesem Abend aller Abende.« Hisvin erbleichte und trat einen Schritt zurück, offensichtlich durch Frix' übernatürliche Ruhe erschrocken, die tatsächlich manchem Menschen und sogar mancher Ratte einen Schauder über den Rücken schicken konnte. Die tastende Hand des Mauslings schloß sich um den Griff des Schwertes. Er machte Anstalten, aus dem Bett zu springen, in Grigs Räume zu stürzen und unterwegs seine Kleidung mitzunehmen. Seit einigen Minuten erschien ihm seine große Liebe zu Hisvet doch in einem anderen Licht, und seine unsterbliche Zuneigung erstarb wie eine Kerzenflamme in einem Luftzug. Doch in diesem Augenblick wurde der violette Vorhang aufgerissen, und durch den Eingang, den der Mausling zur Flucht benutzen wollte, stürzten
vier Ratten herein – Hreest in seiner golddurchwirkten schwarzen Kleidung, gefolgt von drei Wachratten. Alle vier hatten blank gezogen. Der Mausling erkannte den Dolch in Hreests Hand – es war seine eigene Waffe, Katzenklaue. Frix schlich vorsichtig um die Kopfseite des Bettes herum und bezog mit schnellen Schritten Posten zwischen der Viper und dem Skorpion, während das Stilett noch immer wie eine große Nadel in ihrer Hand steckte. Der Mausling hörte sie leise murmeln: »Die Handlung belebt sich. Ratten von allen Seiten auf die Bühne. Ein Höhepunkt steht bevor.« Hreest blieb abrupt in der Mitte des Zimmers stehen und rief Skwee und Hisvin zu: »Die zerstückelten Überreste des Ratsherrn Grig wurden am Abflußgatter der Fünften Ebene entdeckt! Der Menschenspion hat seine Rolle übernommen – in seiner Kleidung!« Aber nicht im Augenblick, dachte der Mausling und rief lispelnd: »Unsinn! Welch Wahnsinn! Ich bin Grig! Da muß eine andere weiße Ratte ermordet worden sein!« Hreest hielt Katzenklaue in die Höhe und ließ den Mausling nicht aus den Augen. »Ich habe diesen Menschendolch in Grigs Wohnung gefunden. Der Spion ist sicher unter uns!« »Tötet ihn im Bett«, befahl Skwee gepreßt, aber der Mausling, der das Unvermeidliche schon vorausgeahnt hatte, ließ sich im gleichen Augenblick auf den Boden rollen, schleuderte die weiße Maske fort und stellte sich nackt zum Kampf. Skalpell war eine schimmernde Linie in seiner rechten Hand, während seine Linke anstelle des Dolches den zusammengelegten Gürtel mit der leeren Schwertscheide schwang.
Mit wildem Lachen stürzte sich Hreest auf ihn; sein Rapier blitzte auf. Skwee zog ebenfalls das Schwert und sprang über das Fußende des Bettes. Hreest und der Mausling rangen Klinge an Klinge um den Vorteil, wodurch die beiden Schwerter nach außen gedrückt wurden; Hreest schob sich auf der anderen Seite sofort vor und ließ Katzenklaue vorschnellen. Der Mausling schlug seinen eigenen Dolch mit dem Gürtel zur Seite und trieb seine linke Schulter vor, drängte seinen Gegner zurück, so daß er gegen zwei seiner grüngekleideten Schwertratten stolperte, die ebenfalls zurückweichen mußten. Im gleichen Augenblick ließ der Mausling sein Schwert zur Seite blitzen und parierte Skwees Rapier, dessen Spitze noch Zentimeter von seinem Hals entfernt war. Er wechselte hastig die Front, kämpfte einen Augenblick mit Skwee, schlug die Klinge der Ratte zur Seite und sprang mit großem Satz in den Angriff. Die weißgekleidete Ratte zog sich bereits über das Bett zurück, von dessen Kopfende Hisvet den Kampf kritisch, wenn auch ein wenig enttäuscht beobachtete. Die Klinge des Mauslings erreichte Skwees Schwertarm und drang ihm tief in das Handgelenk. Inzwischen war auch die dritte grüngekleidete Ratte, ein Riese, der vergleichsweise über zwei Meter groß sein mußte, zum Angriff übergegangen. Aber sie war nicht schnell genug. Unterdessen rappelte sich Hreest bereits auf, und Skwee ließ seinen Dolch fallen und nahm das Rapier in die unverletzte Hand. Der Mausling parierte den Angriff der Riesenratte eine Haaresbreite vor seiner nackten Brust und griff an. Der Riese parierte ebenfalls, doch der Mausling
unterlief mit seinem Schwert die Parade, stach weiter vor und stieß der Ratte seine Klinge ins Herz. Der Riese riß den Mund auf und entblößte seine riesigen Nagezähne. Seine Augen wurden trübe, und sein Fell schien augenblicklich an Glanz zu verlieren. Die Waffen fielen ihm aus den Händen, und er verharrte einen Augenblick, ehe sein Fall begann. In diesem Moment trat der Mausling mit dem linken Bein zu, traf den Riesen am Brustknochen, wodurch Skalpell wieder freikam und die Leiche gegen Hreest und seine beiden grüngekleideten Rattenkämpfer taumelte. Eine der Pikenratten senkte ihre Waffe, um auf den Mausling einzustürmen, doch in diesem Augenblick befahl Skwee laut: »Keine Einzelangriffe mehr! Einen Kreis um ihn bilden!« Die anderen gehorchten sofort, doch in der nun folgenden Pause ließ Frix die verriegelte Tür am Ende des Skorpionkäfigs auffallen, hob den Käfig mit ihrer durchstochenen Hand hoch und schüttelte ihn aus, so daß sein entsetzlicher Bewohner am Fußende des Bettes landete, wo er sich herumwarf – im Verhältnis zu den Ratten etwa so groß wie eine Katze – seine Kiefer knirschen ließ und den Stachel drohend über seinen Kopf erhob. Die meisten Ratten richteten sofort ihre Waffen auf die neue Gefahr. Hisvet riß ihren Dolch an sich, klammerte sich am Kopfende des Bettes fest und versuchte ihr Haustier abzuwehren. Hisvin ging hinter Skwee in Deckung. Im gleichen Augenblick berührte Frix mit ihrer gesunden Hand die Medaillons am Glühwurmtank. Das Gemälde, das den Mann und die Leopardin zeigte,
stieg in die Höhe. Ihr aufforderndes Lächeln und ihr wilder Blick waren nicht mehr nötig, um den Mausling auf Trab zu bringen. Er riß sein graues Bündel an sich und raste die steile Treppe hinauf, drei Stufen auf einmal nehmend. Etwas zischte an seinem Kopf vorbei und schlug dumpf gegen eine Treppenstufe. Es war Hisvets langer Dolch, der sirrend im Holz steckte. Es wurde pechschwarz im Treppengang, und er hastete etwas langsamer und starrte besorgt in die Dunkelheit vor sich. Leise hörte er Skwees schrillen Befehl: »Ihm nach!« Frix machte eine Grimasse und zog Hisvins Stilett aus ihrer Hand, küßte sanft die blutende Wunde und gab die Waffe knicksend ihrem Eigentümer zurück. Das Schlafzimmer war leer bis auf Hisvin, Frix und Hisvet, die jetzt ihre violette Robe enger um sich zog, und Skwee, der mit Hilfe seiner Zähne und der gesunden Hand sein verletztes Handgelenk bandagierte. Von einem Dutzend Klingen durchstoßen, lag der Skorpion in einer dunkelroten Blutlache auf dem violetten Teppich; seine Beine und seine Klauen zitterten noch, und sein Stachel glitt noch immer langsam vor und zurück. Hreest hatte mit den beiden grünen Schwertratten und den drei Pikenratten die Verfolgung des Mauslings aufgenommen, und ihre polternden Schritte waren längst verhallt. Hisvin runzelte die Stirn und sagte zu seiner Tochter: »Ich müßte dich eigentlich umbringen!« »O Paps, du verstehst überhaupt nicht, was hier
geschehen ist«, sagte Hisvet mit zitternder Stimme. »Der Graue Mausling hat mich gezwungen – vergewaltigt. Und mit seinem Schwert bedrohte er mich unter der Bettdecke, zwang er mich, all die schlimmen Dinge zu dir zu sagen. Du hast selbst gesehen, daß ich mich zum Schluß nach besten Kräften bemüht habe, ihn zu töten.« »Pah!« sagte Hisvin verächtlich und wandte sich zur Seite. »Sie hätte eher den Tod verdient«, schaltete sich Skwee ein und deutete auf Frix. »Sie hat dem Spion zur Flucht verholfen.« »Sehr wahr, mächtiger Ratsherr«, sagte Frix. »Sonst hätte er mindestens die Hälfte von euch allen umgebracht, dabei werden Sie heute nacht noch gebraucht! Sie alle sind unersetzlich bei dem großen Angriff auf das Obere Lankhmar! Stimmt das nicht?« Sie hielt Hisvet ihre blutende Hand hin und sagte leise: »Das wäre schon das zweitemal, liebe Herrin!« »Dafür wirst du belohnt«, sagte Hisvet und kniff die Lippen zusammen. »Aber daß du dem Spion zur Flucht verholfen und meine Vergewaltigung nicht verhindert hast – dafür wirst du ausgepeitscht, bis du nicht mehr schreien kannst! Morgen!« »Aber gern, liebe Herrin – morgen«, erwiderte Frix in ähnlich fröhlichem Tonfall. »Aber heute nacht gibt es noch Arbeit. In Glipkerios Blauem Audienzzimmer. Arbeit für uns alle drei. Und wir müßten wohl auf der Stelle beginnen, Milord«, fügte sie unterwürfig hinzu. »Das stimmt«, sagte Hisvin zusammenfahrend. Düster blickte er zwischen seiner Tochter und ihrer Zofe hin und her und sagte achselzuckend: »Kommt.«
»Wie kannst du ihnen nur vertrauen?« fragte Skwee. »Ich muß«, sagte Hisvin. »Ich brauche sie, um Glipkerio wirklich in der Hand zu haben. Inzwischen liegt das Oberkommando bei Ihnen am Ratstisch. Siss braucht Sie ebenfalls. Kommt!« wiederholte er und winkte den beiden Mädchen zu. Frix drückte auf die Medaillons. Das zweite Gemälde hob sich. Die drei gingen die Stufen hinauf. Skwee ging allein im Schlafzimmer auf und ab, den Kopf geneigt, in Gedanken versunken. Als er sich schließlich umsah, richtete sich sein Blick sofort auf den Toilettentisch mit den schwarzen und weißen Fläschchen. Wie ein Schlafwandler trat er näher. Einen Augenblick spielte er gedankenlos mit den Flaschen, rollte sie von einer Seite auf die andere. Dann sagte er laut: »Oh, warum kann man klug sein und eine Riesenarmee befehligen und sein Ziel klar vor Augen haben – und ist trotzdem so dumm wie ein Silberfisch, so blind wie ein Wurm? Das Offensichtliche liegt vor uns, und wir sehen es nicht – weil wir Ratten unsere Winzigkeit hinnehmen, weil wir uns mit unserer Zwergenhaftigkeit hypnotisiert haben, weil wir uns damit abgefunden haben, auf ewig in unsere Gefängnistunnel verbannt zu sein.« Er hob den Kopf und betrachtete mit blauen Augen sein silbriges Spiegelbild. »So bedeutend du auch bist, Skwee«, sagte er, »hast du doch dein ganzes Leben hindurch nur in kleinen Rattendimensionen gedacht. Zum erstenmal, Skwee, mußt du anders denken!« Und er riß sich zusammen, nahm eines der weißen Fläschchen, steckte es ein, zögerte, fegte dann alle weißen Fläschchen in seinen Beutel, denen er mit
sarkastischem Grinsen auch die schwarzen Krüge folgen ließ. Dann eilte er aus dem Zimmer. Der Skorpion auf dem Teppich zitterte noch immer.
14 Im Schein des tiefstehenden Mondes kletterte Fafhrd vorsichtig an der hohen Marschmauer Lankhmars empor, vor der ihn Sheelba abgesetzt hatte – eine gute Bogenschußweite südlich des Marschtors. »Am Tor läufst du vielleicht deinen schwarzen Verfolgern in die Hände«, hatte Sheelba gesagt. Die verwitterte Mauer war leicht zu besteigen – ein wahres Kinderspiel für einen Mann, der in seiner Jugend sogar den Obelisk Polaris in den eisigen Riesenbergen bezwungen hatte. Er fragte sich nur besorgt, was geschehen würde, wenn er die Mauerkrone erreichte und einen kurzen Augenblick als Silhouette deutlich zu erkennen war. Doch noch mehr beunruhigte ihn die Dunkelheit und Stille, in die die Stadt gehüllt war. Wo war der Kampflärm, wo die Flammen? Oder wenn Lankhmar bereits besiegt war – wo blieben da die Schreie der Gefolterten, der Vergewaltigten, wo war das Gebrüll der Sieger? Er erreichte die Mauerkrone, zog sich hoch und hechtete flach durch eine breite Schießscharte auf den Mauergang, bereit, beim geringsten Anzeichen einer Gefahr Graywand und seine Axt zu ziehen. Doch so weit er erkennen konnte, war niemand auf der Mauer. Die Mauerstraße unter ihm lag im Dunkeln und schien ebenfalls leer zu sein. Auch in der Straße der Geldwechsler, die sich nach Westen erstreckte und vom Mond voll ausgeleuchtet wurde, ließ sich niemand blicken. Und die Stille war womöglich noch
betonter geworden. Sie schien die große, von Mauern umgebene Stadt zu erfüllen wie ein gewaltiges Becken. Fafhrd war unheimlich zumute. Waren die Eroberer Lankhmars schon wieder abgezogen – hatten sie seine Schätze und seine Bewohner mit unvorstellbar großen Flotten oder Karawanen aus dem Land geschafft? Hatten sie sich und ihre geknebelten Opfer in den stummen Häusern eingeschlossen, um in der Dunkelheit fremdartige Massen-Folterrituale durchzuführen? War die Stadt von einer Dämonen-Armee überfallen und ihre Bewohner fortgezaubert worden? Hatte sich die Erde aufgetan und Sieger und Besiegte verschlungen? Oder war da jetzt, in diesem Augenblick, ringsum ein wilder Kampf im Gange, den er – von Ningauble verhext – nicht sehen und nicht hören konnte? Vielleicht löste erst der Klang der Glocken den Einfluß dieses Zaubers und offenbarte ihm das Chaos in der Stadt! Seine Glockenmission gefiel ihm überhaupt nicht. In seiner Vorstellung lagen die Götter von Lankhmar in zerfallenen schwarzen Togen wie braune Mumien auf ihren Lagern – eine Schar, die man am besten ruhen ließ. Aber Auftrag war Auftrag. Er kam nicht darum herum. Hastig eilte er die nächste dunkle Steintreppe hinab und ging nach Westen durch die Geldwechslerstraße, die parallel zur Handwerkerstraße verlief. Er überquerte die gewundene Marktstraße, die nicht minder schwarz und leer war und wie die anderen, und glaubte nun plötzlich Murmeln und Gesang aus dem Norden zu hören – so schwach, daß die Laute mindestens von der Straße der Götter kommen mußten. Doch er hielt sich an seinen festgelegten Weg – er
wollte der Geldwechslerstraße bis zur Nonnenstraße folgen und dann drei Häuserblocks nach Norden gehen, bis er den verfluchten Glockenturm erreichte. Die Hurenstraße, die noch gewundener war als die Marktstraße, schien ebenfalls menschenleer zu sein, doch er hatte sie kaum einen halben Häuserblock hinter sich gelassen, als hinter ihm der feste Schritt zweier Soldaten aufklang. Er huschte in den Schatten eines Hauseingangs und sah die beiden Wächter auf der Hurenstraße nach Süden gehen – in Richtung Südkaserne. Sie hatten die Waffen gezogen und sahen sich wachsam um, obwohl weit und breit kein Gegner zu sehen war. Verwundert setzte Fafhrd seinen Weg fort. Nun begann er hier und da in den Obergeschossen die dünnen Lichtstreifen verriegelter Fenster zu sehen; die langgezogenen Rechtecke steigerten seine seltsame Angst noch mehr, und er wünschte sich nichts sehnlicher als eine Unterbrechung dieser beengenden Stille. Und das Ziel seines Marsches: Mumien! Irgendwo schlug eine Glocke elf Uhr. Ganz plötzlich begann es drüben in der pechschwarzen Silberstraße tausendfach zu prasseln und zu trapsen – wie Regentropfen. Aber der Himmel war klar, und er spürte keinen Tropfen. Er begann zu laufen. An Bord der Squid hob das Kätzchen den Kopf, als habe es einen Schrei gehört, dem es sich trotz aller Ängste nicht entziehen konnte, sprang zum Pier hinüber und huschte mit gesträubtem Fell und angstvoll schimmernden Augen in die Dunkelheit. Glipkerio und Samanda saßen in seinem Peitschenraum und prosteten sich zu, um in die richtige Folter-
stimmung zu kommen. Die dicke Palastdame hatte große Weinkrüge aus der Küche geholt, und beide waren bereits geneigt, die kostbaren juwelengeschmückten Folterinstrumente ringsum zu vergessen und auch nicht mehr an die Gefahr zu denken, in der Lankhmar schwebte. »Erinnerst du dich noch an den Tag, da ich dir mein erstes Kätzchen brachte, das du ins Küchenfeuer werfen solltest?« »Ob ich mich daran erinnere?« erwiderte Samanda mit liebevollem Spott. »Also, ich weiß sogar noch, kleiner Herr, als Sie mir Ihre erste Fliege zeigten, der Sie geschickt die Flügel ausrissen! Sie waren damals noch ein Baby, aber schon hager und groß.« »Ah ja ...«, sagte Glipkerio verträumt. »Und als dann die Sache mit dem Kätzchen war, hat Radomix Sie aufhalten wollen – er wohnte damals noch im Palast. Um Sie abzulenken und zu erfreuen, mußte sich ein Lehrlingsmädchen nackt ausziehen und wurde ausgepeitscht. Ich dachte, es wäre Zeit, daß sie sich mannhafteren Späßen zuwandten – und gewißlich zeigte sich Ihre Erregung auf eindeutige Weise!« Und laut auflachend streckte sie eine Hand aus und zwickte ihn ungehörig. Von seinen Gedanken erregt, richtete sich Lankhmars Oberherr auf, schlank wie eine Zypresse, obwohl keine Zypresse derart hin und her schwanken mochte, außer vielleicht bei einem Erdbeben. »Komm!« rief er. »Es hat elf Uhr geschlagen! Wir haben noch Zeit, ehe ich in das Blaue Audienzzimmer eilen muß, um Hisvin zu treffen und die Stadt zu retten!« »Gut«, sagte Samanda und quälte sich hoch. »Beeilen wir uns!«
Reetha fuhr in dem weichen Bett hoch, als sie das leise Quietschen einer Tür vernahm. Sie schüttelte die Alpträume ab, die auf sie eindrangen, und griff hastig nach der Flasche, deren Inhalt sie vor dem Schmerz schützen sollte. Sie hob sie an die Lippen, hielt jedoch inne. Die Tür war noch immer geschlossen, und das Quietschen war ihr seltsam leise vorgekommen. Sie schaute über die Bettkante und sah, daß sich eine zweite Tür geöffnet hatte – kaum einen Fuß groß, in das Wandpaneel eingearbeitet, so daß sie normalerweise nicht zu sehen war. Aus der schwarzen Öffnung trat leise und geduckt ein schlanker, muskulöser kleiner Mann, der in einer Hand ein graues Kleiderbündel und in der anderen ein langes Spielzeugschwert hielt. Er war splitternackt. Er schloß die Tür hinter sich und sah sich nervös um. »Grauer Mausling!« rief Reetha, sprang aus dem Bett und warf sich neben ihn auf den Boden. »Du bist zu mir zurückgekehrt!« Er fuhr zusammen und hob die Hände vor die Ohren. »Reetha«, flehte er. »Schrei nicht so! Mein Kopf platzt!« Obwohl er so langsam und so tief wie möglich sprach, klang ihr seine Stimme sehr schrill in den Ohren. Sie konnte ihn allerdings verstehen. »Es tut mir leid«, flüsterte sie beschämt und widerstand der Versuchung, ihn aufzunehmen und an ihre Brust zu drücken. »Das ist auch besser so«, sagte er brüsk. »Jetzt such dir etwas Schweres und stell es vor die Tür. Ich werde verfolgt – von Burschen, mit denen man am besten
nichts zu schaffen hat. Beeil dich, Mädchen!« Sie rührte sich nicht, sondern schlug eifrig vor: »Warum nimmst du nicht einfach deinen Zaubertrank und machst dich wieder groß?« »Das Zeug habe ich nicht bei mir«, sagte er aufgebracht. »Ich hatte die Gelegenheit, mir ein Fläschchen zu nehmen und hab's in meiner Sexbesessenheit nicht mitgenommen. Jetzt beeil dich, Reetha!« Sie merkte plötzlich, wie sehr sie im Vorteil war, beugte sich noch tiefer herab und lächelte ihn liebevoll an. »Mit welchem winzigen Biest hast du dich denn herumgetrieben? Nein, du brauchst es mir nicht zu sagen, aber ehe ich dir helfe, mußt du mir sechs Haare von deinem hübschen Kopf geben. Ich habe einen guten Grund für meine Bitte.« Der Mausling wollte ihr widersprechen, überlegte es sich anders, schnitt mit Skalpell ein kleines Haarbüschel ab und legte es in ihre riesige Hand. Sie stand hastig auf, trat an den Nachttisch und ließ sie in Glipkerios Schlaftrunk fallen. Dann schüttelte sie über dem Kelch ihre Hände aus und sah sich um. Das geeignetste Hindernis für die Tür schien ihr der goldene Korb mit den geschliffenen Edelsteinen zu sein. Sie schob ihn vor den kleinen Durchgang. »Das wird sie eine Weile aufhalten«, sagte sie und betrachtete interessiert die buntschillernden Juwelen. Sie ließ sich auf die Knie fallen und fragte sehnsüchtig: »Wirst du nie wieder groß?« »Bring den Boden nicht so zum Schwingen! Ja, natürlich! In einer Stunde oder weniger, wenn ich meinem heimtückischen Zauberer trauen kann. Und während ich mich jetzt anziehe, mußt du ...« Ein Schlüssel klirrte im Schloß, ein Riegel wurde
leise zurückgeschoben. Der Mausling fühlte sich plötzlich durch die Luft gewirbelt, fiel mit Reetha auf das weiche weiße Bett, und eine weiße duftige Decke legte sich über ihn. Er hörte, wie die große Tür aufging. In diesem Augenblick drückte ihn eine große Hand in die Hocke, und als er protestieren wollte, flüsterte Reetha: »Du mußt ganz still liegen, wenn dir dein Leben lieb ist.« In diesem Augenblick ertönte eine Stimme wie Fanfarenschall, und der Mausling freute sich, daß die Bettdecke wenigstens etwas von dem Lärm abhielt. »Das freche Mädchen ist in mein Bett gekrochen. Oh, wie ekelhaft! Mit ist schlecht! Wein! Ah! Aaaaooouuh!« Ein ohrenbetäubendes Husten, Spucken und Keuchen ertönte, dann wieder die Fanfaren, noch aufgebrachter: »Das dämonische Stück hat mir Haare in meinen Wein getan! Oh, peitsche sie aus, Samanda, bis ihr Blut fließt! Schlage sie, bis sie mir die Füße küßt und um Gnade winselt!« Nun erklang eine zweite Stimme, die schmerzhaft in den winzigen Ohren des Mauslings widerhallte. »Oh, das werde ich, kleiner Herr, ja das werde ich. Kommt dort heraus, Mädchen, oder muß ich dich herauspeitschen?« Reetha kroch zum Kopfende des Bettes, von der gewaltigen Stimme fort. Der Mausling folgte ihr vorsichtig, obwohl sich die Matratze wie das weiße Deck eines sturmgeplagten Schiffes bewegte und die Bettdecke eine fast undurchdringliche Nebelbank zu bilden schien. Dann wurde der Nebel plötzlich wie von einem überirdischen Sturm fortgewirbelt, und hoch am Himmel erschien eine gewaltige rote Sonne – Sa-
mandas Gesicht, von Alkohol und Wut entflammt. Und die Sonne hatte einen schwarzen Schwanz – Samandas erhobene Peitsche. Der Mausling hüpfte durch das zerwühlte Bett auf sie zu und fuchtelte mit Skalpell herum. Sein Kleiderbündel hielt er noch immer unter dem linken Arm. Die Peitsche, die zuerst auf Reetha gezielt war, fuhr nun pfeifend auf ihn los. Er sprang mit voller Kraft in die Höhe, und die Peitschenschnüre fegten wie ein Drachenschwanz unter seinen Füßen hinweg. Er kam sicher wieder auf die Beine und setzte seinen Angriff fort, stach Samanda mit seinem Schwert in die Kniescheibe und hüpfte auf den Parkettboden. Wie ein eiserner Blitz grub sich im nächsten Augenblick eine breite Axtklinge dicht neben ihm in den Boden und erschütterte ihn, daß ihm die Zähne klapperten. Glipkerio hatte sich eine leichte Kampfaxt von einem Gestell ergriffen und führte sie mit überraschender Genauigkeit. Der Mausling huschte unter das Bett, rannte auf die andere Seite und huschte schnell um das Fußende des Bettes herum, um Glipkerio einen Schlag in die Ferse zu versetzen. Doch sein mächtiger Hieb ging fehl, als sich Glipkerio umdrehte. Samanda, die nur ein wenig humpelte, kam ihrem Oberherrn zu Hilfe. Wieder waren Riesenaxt und Peitsche zum Schlag erhoben. Mit einem hysterischen Schrei der bald die Trommelfelle des Mauslings sprengte, schleuderte Reetha ihre Kristallflasche. Sie wirbelte dicht zwischen Samanda und Glipkerio hindurch, die erschreckt zurückfuhren. Bei all dem Durcheinander war unbemerkt geblie-
ben, daß der goldene Juwelenkasten langsam stufenweise von der Wand abgerückt war. Jetzt war der Türspalt dahinter so breit, daß sich eine Ratte hindurchquetschen konnte, und Hreest erschien, gefolgt von seinem bewaffneten Trupp – zwei maskierten Schwertratten und drei Pikenratten mit Eisenhelmen und Kettenhelmen. Völlig aus der Fassung gebracht, starrte Glipkerio zu Boden und rannte aus dem Zimmer, dichtauf gefolgt von Samanda, deren schwere Schritte den Boden erzittern ließen. Kampfeslustig und auch ein wenig erleichtert, daß er es nun mit Gegner seiner eigenen Größe zu tun hatte, stellte sich der Mausling den Ratten entgegen, schwang seine Kleidung wie einen Schild und rief: »Komm, und sieh deinem Tod ins Auge, Hreest!« Doch in diesem Augenblick wurde er mit schwindelerregendem Tempo hochgerissen und an Reeths Brust gedrückt. »Stell mich hin!« brüllte er, noch immer im Kampfrausch. Doch das betrunkene Mädchen trug ihn taumelnd auf den Flur und knallte die Tür hinter sich zu – was dem Mausling fast den Rest gab. Samanda und Glipkerio rasten auf einen blauen Vorhang zu. Reetha wandte sich in die andere Richtung, zur Küche und zu den Unterkünften der Diener, und der Mausling mußte mit, sein graues Bündel hüpfte hin und her, und alle seine Protestschreie nützten ihm nichts. Um halb zwölf begannen die Ratten ihren Großangriff auf das Obere Lankhmar – wobei sie hauptsächlich durch goldene Rattenlöcher vordrangen. Es gab
ein paar voreilige Angriffe und auch einige Verzögerungen, doch im großen und ganzen begann der Angriff zur gleichen Zeit. Die Vorhut wurde durch die wildesten Tiere aus den Slums der Stadt gebildet, Wesen, die auf allen vieren gingen und kaum eine zivilisierte Regung kannten, die sich mit einem Minimum an Lankhmarisch, angereichert durch Quietschen und Fiepen, verständigten und von denen die meisten noch mit Zähnen und Klauen kämpften. Unter diese Truppen mischten sich die Berserker und die Abteilungen mit besonderen Aufgaben. Dann kamen die Attentäter und die Feuerleger mit ihren Fackeln und Ölen – denn die Waffe des Feuers, bisher noch nicht eingesetzt, gehörte zum Großen Plan, obwohl die oberen Tunnel der Rattenwelt dadurch mit in Gefahr gerieten. Man rechnete damit, daß der Sieg schnell genug kam, um die Menschen noch zum Feuerlöschen einzusetzen. Schließlich kamen die bewaffneten und gepanzerten Ratten, die auf zwei Beinen gingen – mit Ausnahme der Träger für die Munition und die Bauteile der leichten Artillerie, die über der Erde zusammengesetzt werden sollte. Die früheren Angriffe waren fast gänzlich durch Kellerlöcher, Erdgeschosse und Straßenabflüsse erfolgt. Die Große Attacke wurde nun, wo immer möglich, durch Rattenlöcher in den oberen Stockwerken der Häuser und durch Rattentunnel begonnen – so daß die Menschen in ihren für sicher gehaltenen Zimmern überrascht wurden und sich um so leichter auf die Straße treiben ließen. Es war eine völlige Abkehr von der Taktik der vor-
hergegangenen Tage und Nächte, da sich die Ratten in Wogen über die Straßen ergossen hatten. Jetzt fielen sie wie ein schwarzer Regen in die Häuser ein und verbreiteten Angst und Schrecken. Hier und dort begannen Flammen aufzuzucken. Die Ratten erschienen auch in fast allen Tempeln und Kultstätten entlang der Straße der Götter und trieben die Gläubigen ins Freie, bis sich in der breiten Straße die Menschen drängten – zu entsetzt, um sich in die dunklen Seitenstraßen zu wagen, geschweige denn an Gegenwehr zu denken. Im großen Versammlungsraum der Südkaserne hielt Olegnya Mingolsbane vor einem gelangweilten Publikum seinen Vortrag. Die Männer hatten einer alten Sitte entsprechend ihre Waffen vor der Tür gelassen – denn schon manch lankhmarischer Soldat hatte in seiner Wut die Waffe gegen einen Sprecher erhoben. Mingolsbane sagte gerade: »Ihr, die ihr den schwarzen Leviathan bekämpft habt, die ihr die Mingols und Mirphianer überwinden konntet, ihr, die ihr die Speerreiter König Krimaxius' besiegtet, ihr habt jetzt Angst vor solchem Ungeziefer ...« Im gleichen Augenblick sprangen hoch oben in der rückwärtigen Wand acht kleine Rattenlöcher auf, und aus den Öffnungen feuerte eine maskierte Armbrustbrigade ihre surrenden Geschosse auf den alten General ab. Fünf trafen ihr Ziel, und mit entsetzlichem Gurgeln fiel Mingolsbane vom Podium. Dann wurde das Publikum aufs Korn genommen, das Mingolsbanes plötzlichen Fall zum Teil sogar mit Beifall begrüßt hatte, als wäre das eine lustige Einlage. Aus anderen Rattenlöchern wurden Feuerbrände herabgeworfen, ölgetränkte Lappen, die großes Un-
heil anrichteten. Aus verschiedenen tiefliegenden goldenen Rattenlöchern begannen unangenehme Dämpfe in den Saal zu strömen. Gruppen von Soldaten und Polizisten versuchten zur Tür durchzubrechen und fanden sie von außen verschlossen, eines der erfolgreichsten Unternehmen der Sondertrupps – durch das lankhmarische Bestreben ermöglicht, sich in Zeiten der Meuterei notfalls auch vor den eigenen Soldaten zu schützen. Mit hereingeschmuggelten Waffen und Schwertern der Offiziere ging man gegen die Ratten vor, doch die meiste Zeit liefen die Krieger so hilflos durcheinander wie die Tempelbesucher in der Straße der Götter. Zur gleichen Zeit hockte das schwarze Kätzchen nahe der Kornsilos auf einem flachen Dach, während ein Trupp bewaffneter Ratten vorbeihuschte. Das kleine Tier zitterte vor Angst, wurde jedoch immer tiefer in die Stadt hineingezogen – einem Impuls folgend, den es nicht ignorieren konnte. Hisvins Haus hatte im obersten Stockwerk einen kleinen Raum, dessen Türen und Fensterläden von innen verriegelt waren, so daß sich ein Betrachter vielleicht gefragt hätte, wie das möglich war, da sich doch niemand in dem Zimmer aufhielt. Eine dicke blau brennende Kerze, die der Luft schon sehr viel Sauerstoff entzogen hatte, offenbarte kein Möbelstück. Nur sechs breite, flache Vertiefungen im Kachelboden waren zu erkennen. Drei dieser Bassins waren mit einer dicken rosa Flüssigkeit gefüllt, über die von Zeit zu Zeit ein langsames Zittern lief. Jede rosa Fläche hatte eine Umrandung aus schwarzem Staub, der sich mit der Flüssigkeit nicht
verband. An einer Wand zogen sich Regale mit kleinen weißen und schwarzen Flaschen hin. Eine winzige Tür öffnete sich jetzt unmittelbar über dem Boden. Hisvin, Hisvet und Frix traten stumm ein. Jeder nahm eine weiße Flasche, ging zum Rand einer rosa Wanne und trat ohne zu zögern hinein. Der dunkle Staub und die rosa Flüssigkeit verlangsamten ihre Schritte. Gleich darauf standen die drei schenkeltief in der Mitte der Vertiefungen und tranken den Inhalt der Flaschen. Einen langen Augenblick tat sich nichts, nur die kleinen Tümpel kamen langsam zur Ruhe. Plötzlich begannen die Gestalten zu wachsen, während gleichzeitig die Flüssigkeit sichtbar abnahm. Nach einem Dutzend Herzschlägen waren die Vertiefungen völlig leer, während Hisvin, Hisvet und Frix ihre volle menschliche Größe zurückgewonnen hatten. Hisvin öffnete ein Fenster, das auf die Straße der Götter hinausführte, atmete tief ein, beugte sich vorsichtig hinaus und wandte sich an die Mädchen. »Es hat begonnen«, sagte er hastig. »Eilen wir in das Blaue Audienzzimmer. Ich werde unseren Mingols sagen, sie sollen uns folgen.« Er eilte zur Tür. »Kommt!« Fafhrd zog sich auf das Dach des Tempels der Götter von Lankhmar und verweilte einen Augenblick, ehe er den Glockenturm in Angriff nahm. Er wollte wissen, was das plötzliche Geschrei auf sich hatte. Auf der anderen Seite der Straße standen mehrere dunkle Häuser, darunter auch Hisvins Haus, und da-
hinter ragte Glipkerios malerischer Regenbogenpalast auf. Unmittelbar unter Fafhrd lagen der dachlose dunkle Vorderbau des Tempels und die breiten Stufen, die von der Straße heraufführten. Fafhrd hatte gar nicht erst probiert, ob die grünspanüberzogenen wurmstichigen Türen verschlossen waren; er hatte keine Lust, im dunklen Innern des Tempels herumzustolpern, wo seine Hände jeden Augenblick die Mumiengestalten der Götter berühren konnten, die dann auffahren und über ihn herfallen mochten. Die Kletterei an der Außenwand des Tempels war auf jeden Fall das kleinere Übel, und wenn die Götter von Lankhmar überhaupt geweckt werden mußten, dann am besten aus der Ferne durch eine Glocke und nicht durch die Berührung einer Skelettschulter unter zerfallenem Stoff. Als Fafhrd seinen Aufstieg begann, war die Straße der Götter an diesem Ende noch still und verlassen gewesen – obwohl aus den offenen Türen der herrlichen Tempel – der Tempel der Götter in Lankhmar – weiches Licht strömte und das Murmeln der Litaneien und improvisierter Gebete ertönte. Doch nun wimmelte es auf der Straße von bleichen Menschen, während immer neue kreischend aus den Tempeln rasten. Fafhrd vermochte die Ursache für die überstürzte Flucht nicht zu erkennen, und wieder einmal dachte er an eine Armee aus Unsichtbaren (immerhin brauchte er sich nur Geister mit unsichtbaren Knochen vorzustellen), doch dann bemerkte er, daß die meisten Fliehenden nach unten auf die Straße starrten. Er erinnerte sich an das unheimliche Tapsen, vor dem er in der Silberstraße geflohen war. Er mußte
daran denken, was ihm Ningauble über die gewaltige Zahl und die versteckte Macht der Belagerungsarmee gesagt hatte. Und er erinnerte sich an die Vernichtung der Clam und die Eroberung der Squid durch die Ratten, die aus eigenem Antrieb handelten. Ein plötzlicher Verdacht keimte in ihm auf. Inzwischen warfen sich einige der Flüchtlinge vor dem alten Tempel, auf dem Fafhrd stand, zu Boden, legten die Köpfe auf die Pflastersteine und die unteren Stufen und flehten stammelnd um Hilfe. Wie üblich wandte sich Lankhmar an seine ureigensten Götter nur in Augenblicken größter Gefahr, wenn nichts anderes zu helfen schien. Inzwischen hatten sich einige mutige Männer wieder erhoben, stiegen die dunklen Stufen empor und schlugen gegen die alten Portale, versuchten sie zu öffnen. Lautes Quietschen und Knirschen und Splittern war zu hören. Im ersten Moment glaubte Fafhrd, die Gestalten unter ihm würden nun in den Tempel stürzen. Doch dann sah er sie plötzlich zurückeilen, sah, wie sie sich zwischen den anderen wieder zu Boden warfen. Die großen Türen hatten sich eine Handbreit geöffnet. Durch diesen Spalt marschierte nun eine Fackelprozession winziger Gestalten, die sich am oberen Ende der Vortreppe aufstellten. Es handelte sich um etwa vierzig große Ratten, die auf zwei Füßen gingen und schwarze Togen trugen. Vier schwangen lanzenhohe Fackeln, die weißblau flackerten. Die anderen hatten etwas in der Hand, das Fafhrd trotz aller Anstrengung nicht genau erkennen konnte – kleine schwarze Stäbe? Jedenfalls waren drei der Stäbe weiß, die übrigen schwarz.
Eine seltsame Stille breitete sich auf der Straße der Götter aus, als wäre auf ein geheimes Signal der Angriff überall eingestellt worden. Die schwarzgekleideten Ratten riefen im Chor, schrill, aber doch verständlich: »Wir haben eure Götter getötet, o Lankhmarier! Wir sind jetzt deine Götter, Volk von Lankhmar! Ergebt euch unseren weltlichen Brüdern, und ihr erleidet keinen Schaden. Befolgt ihre Befehle. Eure Götter sind tot, o Lankhmarier! Wir sind eure Götter!« Die Menschen auf dem Boden schlugen weiter mit den Köpfen auf das Pflaster. Andere gesellten sich hinzu, machten es ihnen nach. Fafhrd überlegte, ob er die schreckliche kleine Prozession bewerfen sollte – die Gestalten, die die Menschheit in ihren Bann gezogen hatten. Aber da fiel ihm ein, daß der Mausling auf einen Bruchteil seiner selbst zusammengeschrumpft war und somit unter dem tiefsten Keller leben konnte – und das konnte nichts anderes bedeuten, als daß sich der Mausling durch Zauberkräfte in eine Ratte verwandelt hatte. War das Hisvins Werk? Und wenn Fafhrd eine Ratte tötete, konnte er damit seinen Freund treffen. Er beschloß sich an Ningaubles Anweisungen zu halten. Er begann hastig den Glockenturm zu erklimmen – umfaßte die Griffe, zog sich hoch, stützte sich mit seinen langen Beinen ab. Das schwarze Kätzchen, das einige Meter entfernt auf dem gleichen Tempeldach saß, fuhr zurück, als es die aufgereihten Ratten entdeckte. Es wollte fliehen, doch rührte es schließlich keinen Muskel.
15 Glipkerio saß unruhig auf der Kante seiner goldenen Muschelcouch. Die leichte Kampfaxt lag vergessen auf dem blauen Fußboden neben ihm. Von einem Tisch nahm er einen dünnen Würdestab, an dessen Spitze ein bronzener Seestern schimmerte – es war einer von mehreren Dutzend Stäben –, und spielte nervös damit herum. Sekunden später fiel ihm der Stab aus der Hand und klapperte musikalisch über den Fliesenboden davon. Glipkerio verschränkte die Hände und fuhr aufgebracht hin und her. Das Blaue Audienzzimmer war nur von wenigen flackernden, rußigen Kerzen erleuchtet. Der Mittelvorhang war aufgezogen, wodurch der Raum in seiner doppelten Länge noch bedrückender wirkte. Die Wendeltreppe, die in das blaue Minarett führte, war eine Spirale aus Schatten. Jenseits der großen Torbogen, die die Veranda abteilten, lag die graue Spindel am oberen Ende der Kupferrutsche und schimmerte geheimnisvoll im Mondlicht. Eine schmale Silberleiter führte zu ihrem Einstiegsloch hoch, das geöffnet war. Die Kerzen warfen einen zuckenden Schatten an die blauen Innenwände – und auf Samanda, die in einer Ecke stand und Glipkerio anstarrte wie einen Verrückten, der gleich einen Anfall haben mußte. Glipkerio, der unentwegt mit seinen Blicken den Boden absuchte, besonders die Ränder unter den blauen Vorhängen vor den Türen, begann plötzlich zu murmeln, zuerst nur sehr leise, dann immer lauter: »Ich halte es nicht mehr aus. Bewaffnete Ratten in
meinem Palast. Die Wächter fort. Haare in meiner Kehle. Dieses entsetzliche Mädchen. Das unanständige Sprungtier mit dem Gesicht des Mauslings. Kein Butler und auch kein Mädchen kommt auf mein Läuten. Auch kein Page zum Kerzentrimmen. Und Hisvin ist nicht gekommen. Hisvin kommt nicht! Ich habe niemanden mehr. Alles ist verloren! Ich halte es nicht mehr aus! Ich verschwinde! Welt, adieu! Nehwon – leb wohl! Ich suche mir ein glücklicheres Universum!« Mit diesen Worten sprang er auf und hastete auf die Veranda. Samanda stampfte bedächtig hinter ihm her und ergriff seinen Arm, ehe er die Leiter besteigen konnte. Sie zog ihn zurück und führte ihn zu seiner großen Audienzcouch und sagte: »Na, na – keine Bootsreisen heute nacht, kleiner Herr. Wir bleiben trocken an Land. In Ihrem schönen Palast. Denken Sie daran: morgen, wenn dieser Unsinn vorbei ist, veranstalten wir ein paar hübsche Auspeitschungen. Inzwischen haben Sie mich als Wächter, mein Lieber, und ich kann ein ganzes Regiment ersetzen. Halten Sie sich an Samanda!« Als nähme er sie beim Wort, warf Glipkerio, der zuerst vor ihr zurückgewichen war, die Arme um ihren Hals und krabbelte fast auf ihren Schoß. Ein blauer Vorhang bauschte sich, doch es war nur Glipkerios Nichte Elakeria in einem grauen Seidenkleid, das jeden Augenblick aus den Nähten zu platzen drohte. Das dickliche Mädchen hatte in den letzten Tagen noch mehr zugenommen. Aus Kummer über den Tod ihrer Mutter und die Kreuzigung ihres Seidenäffchens, und um ihre Nerven zu beruhigen, hatte sie laufend Süßigkeiten gegessen. Doch im Au-
genblick schien sie solche Beruhigungsmittel nicht zu brauchen; sie war bleich vor Wut. »Onkel!« rief sie. »Du mußt sofort etwas tun! Die Wächter sind verschwunden! Mein Mädchen und mein Page sind nicht gekommen, und als ich sie holen wollte, fand ich die unverschämte Reetha in der Küche, die dort versuchte, alle Pagen und Mädchen gegen dich aufzuwiegeln. Und in ihrer Armbeuge saß eine graugekleidete lebendige Puppe und schwenkte ein böses kleines Schwert – gewiß hat die meinen Kwe-Kwe gekreuzigt! Ich habe mich wieder fortgeschlichen.« »Eine Revolte, soso?« knurrte Samanda, setzte Glipkerio hin und löste Peitsche und Knüppel von ihrem Gürtel. »Elakeria, kümmern Sie sich um Ihren Onkel. Sie wissen – seine Bootsfahrten«, fügte sie heiser flüsternd hinzu und tippte sich vielsagend an die Stirn. »Inzwischen werde ich dem nackten Volk eine kleine Gegenrevolution verpassen, die es so leicht nicht vergißt!« »Verlaß mich nicht!« flehte Glipkerio und klammerte sich wieder an ihr fest. »Wo Hisvin mich doch vergessen hat, bist du mein einziger Schutz!« Eine Uhr schlug Viertel vor zwölf. Ein blauer Vorhang teilte sich, und Hisvin kam gemessenen Schrittes herein. Von seinem hastigen Gang war nichts mehr zu spüren. »Wie es auch ausgehen mag, ich bin pünktlich«, sagte er. Er trug eine große schwarze Kappe und seine Toga und darüber einen Gürtel, an dem ein Tintenfläschchen und ein Beutel mit Pergamentrollen hingen. Hisvet und Frix folgten ihm in schlichten schwarzen Seidenroben und Umhängen. Der blaue Stoff schloß sich hinter ihnen. Die drei
schwarzgerahmten Gesichter waren ernst. Hisvin ging auf Glipkerio zu, der sich etwas beschämt erhoben hatte und nun verzweifelt an seiner Toga herumzupfte und sich über die zerwühlten Haare strich. »Oh, großzügiger Oberherr«, intonierte Hisvin feierlich. »Ich bringe dir die schlimmste Kunde«, – Glipkerio erbleichte und begann zu zittern –, »und die beste.« Daraufhin erholte sich Glipkerio wieder etwas. »Zuerst die schlechte Nachricht. Der Stern, dessen Erscheinen uns die Himmelskonstellationen gewogen machte, ist verschwunden, erloschen wie eine Kerze, von einem schwarzen Dämon ausgepustet, sein Feuer wurde von den schwarzen Wogen des Himmelsozeans ausgelöscht. Kurz, der Himmelskörper ist spurlos versunken, und ich kann meinen Zauber gegen die Ratten also nicht wirken lassen. Außerdem ist es meine traurige Pflicht, Sie zu unterrichten, daß die Ratten Lankhmar bereits mehr oder weniger erobert haben. Ihre Soldaten erleiden in der Südkaserne schwere Verluste. Alle Tempel sind besetzt, und die Götter von Lankhmar wurden in ihrer staubigen Gruft umgebracht. Die Ratten halten sich im Augenblick ein wenig zurück – aus einer Höflichkeit heraus, die ich Ihnen gleich erkläre – und werden dann diesen Palast stürmen.« »Dann ist alles verloren«, sagte Glipkerio zittrig und wandte den bleichen Kopf. »Ich hab's dir doch gesagt, Samanda! Mir bleibt nur die letzte Reise. Welt adieu! Nehwon, leb wohl! Ich suche ein glücklicheres ...« Doch diesmal kam er gar nicht erst vom Fleck. Eingekeilt zwischen seiner Nichte und der stämmigen Palastdame, zappelte er sinnlos herum.
»Aber nun das Gute«, fuhr Hisvin lebhafter fort. »Unter Lebensgefahr habe ich mich mit den Ratten in Verbindung gesetzt. Dabei hat sich herausgestellt, daß sie eine ausgezeichnete Gesellschaftsordnung haben, die in mancher Hinsicht wertvoller ist als die des Menschen – tatsächlich haben sie unser Wachstum schon seit einiger Zeit in der Hand. Oh, es ist eine nette kleine Zivilisation, die sich die klugen Nager da aufgebaut haben, und Sie werden dankbar sein, sie kennenzulernen. Jedenfalls haben die Ratten ihr Herz für mich entdeckt – ah, mit welch Engelszungen ich für Sie sprechen mußte, lieber Oberherr! Und sie haben mir ihre Kapitulationsbedingungen anvertraut, die unerwartet großzügig ausgefallen sind!« Er zog aus seinem Beutel eine Pergamentrolle und sagte: »Ich fasse mich kurz.« Er begann zu lesen: »... Feindseligkeiten sofort einzustellen ... auf Glipkerios Anweisung durch seine Bevollmächtigten überbracht, die seinen Vollmachtsstab tragen müssen ... die Feuer zu löschen und die eingetretenen Schäden durch die Lankhmarier zu reparieren ... und so weiter. Die Schäden an Rattentunneln, Arkaden und anderen Räumen sind von den Menschen in Ordnung zu bringen. Hier sollte man einsetzen: ›von Menschen, die angemessen verkleinert worden sind‹. Alle Soldaten sind zu entwaffnen, zu fesseln und einzusperren ... und so weiter. Alle Katzen, Hunde, Frettchen und anderes Ungeziefer ... aber das ist ja selbstverständlich. Alle Schiffe und alle Lankhmarier, die sich im Ausland befinden ... ist auch klar. Ah, hier ist die Stelle! Hören Sie zu. Anschließend hat jeder Lankhmarier seinen üblichen Geschäften nachzugehen, frei in seinen Handlungen und uneingeschränkt hin-
sichtlich seines Besitzes – frei, haben Sie das gehört? – nur den Befehlen seiner persönlichen Ratte oder Ratten unterworfen, die auf seiner Schulter sitzen oder sich sonstwie in oder unter der Kleidung nach Belieben aufhalten und sein Bett teilen werden. Ihre Ratten jedoch«, fuhr er hastig fort und deutete auf Glipkerio, der plötzlich bleich geworden war und entsetzlich zu zittern und zu zucken begann, »Ihre Ratten werden aus Hochachtung vor Ihrer hohen Stellung keine Ratten sein! Sondern meine Tochter Hisvet und – zunächst – ihr Mädchen Frix. Beide werden sich Tag und Nacht um Sie kümmern und Ihnen jeden Wunsch erfüllen, mit der winzigen Einschränkung, daß Sie ihren sämtlichen Befehlen gehorchen. Was könnte fairer sein, mein lieber Herr?« Aber Glipkerio war wieder einmal in sein »Welt adieu! Nehwon, leb wohl! Ich suche mir eine ...« ausgebrochen, strebte auf die Veranda zu, hüpfte auf und ab, während er sich anstrengte, Samandas und Elakerias kräftigen Armen zu entkommen. Plötzlich gab er seine Bemühungen auf und rief: »Natürlich unterschreibe ich!« Und er griff nach dem Pergament. Hisvin führte ihn eifrig zu seinem Audienzsofa, zog einen Tisch heran und bereitete die Schreibutensilien vor. Doch nun ergab sich eine Schwierigkeit. Glipkerio zitterte derart, daß er kaum den Schreibgriffel halten, geschweige denn damit schreiben konnte. Sein erster Versuch mit dem Federkiel verteilte einen Kometenschweif aus schwarzen Spritzern über die Kleidung der Umstehenden. Hisvin wurde sogar im Gesicht g etroffen. Man versuchte seine Hand festzuhalten, zuerst sanft, dann sogar mit Gewalt, doch es nützte nichts. Hisvin schnipste ungeduldig mit den Fingern und
deutete plötzlich auf seine Tochter. Sie holte eine Flöte aus ihrer schwarzen Seidenrobe und begann eine süße, einschläfernde Melodie zu blasen. Samanda und Elakeria hielten Glipkerio auf der Couch fest, während sich Frix mit einem Knie auf seine Kehrseite stemmte und mit ihren Fingerspitzen über sein Rückgrat strich, wobei sie sich im Rhythmus der Musik bewegte. Glipkerio zuckte in regelmäßigen Abständen noch immer konvulsivisch zusammen, doch langsam ließ die Heftigkeit dieser Bewegungen nach, und Frix vermochte den Rhythmus der Melodie in seine herumschwenkenden Arme zu übertragen. Hisvin, der mit schweren Schritten auf und ab marschierte und immer wieder mit den Fingern schnipste, bemerkte plötzlich die Herrschaftsstäbe mit den Seesternen und fragte: »Wo sind die Pagen, die Sie mir versprochen haben?« Glipkerio erwiderte dumpf: »In ihren Quartieren. Sie meutern. Sie, Hisvin, haben mir die Wächter genommen, die sie zur Vernunft bringen könnten. Wo sind denn Ihre Mingols?« Fafhrd, der ein wenig außer Atem geraten war, zog sich in einem der acht Fenster des Turms hoch, setzte sich auf das Sims und musterte die Glocken. Es gab insgesamt acht; sie waren sehr groß, fünf davon aus Bronze, drei aus Schmiedeeisen; sie waren mit Rost und Grünspan überzogen. Die Glockenseile waren längst verfault, schon vor Jahrhunderten. Nach unten erstreckte sich eine dunkle Leere, die nur durch vier schmale, leicht gerundete Steinbögen überspannt wurde. Vorsichtig trat er mit dem Fuß auf einen Grat. Er hielt.
Fafhrd brachte die kleinste Glocke, ein Bronzeexemplar, in Bewegung. Außer einem entsetzlichen Knarren war nichts zu hören. Er neigte den Kopf, versuchte hineinzustarren und tastete schließlich mit der Hand in der Glocke herum. Der Klöppel war verschwunden. Die Verbindungsglieder vermutlich längst durchgerostet. In den anderen Glocken sah es nicht anders aus; vermutlich waren die Klöppel in den Turm gestürzt. Er zog seine Axt, um damit den Alarm zu schlagen, dann entdeckte er einen der hinabgefallenen Klöppel auf einem Steinbogen. Er hob die Last mit beiden Händen an, einen etwas zu dick geratenen Metallknüppel, und begann auf den Steinbögen hin und her zu marschieren und heftig gegen die Glocken zu schlagen. Rostschauer sprühten von den Eisenglocken herab. Das Geläute kam ihm lauter als ein Donnergrollen vor – unmusikalischer, als Fafhrd es je von einem Turm hatte läuten hören. Einige ließen nur ein anschwellendes Klirren hören, das die Ohren quälte. Das Geläut schien von einem Meister der Disharmonie entworfen und gegossen zu sein. Die Bronzeglokken schrillten, dröhnten, klimperten, röhrten, plärrten, klapperten in den Ohren. Die Eisenglocken stöhnten aus rostiger Kehle, vibrierten wie das Herz des allgegenwärtigen Todes, rollten wie eine schwarze Brandung gegen eine glatte Felsenküste. Die Glokken schienen bestens zu den Göttern von Lankhmar zu passen. Der metallische Lärm ließ etwas nach, und Fafhrd machte sich klar, daß seine Ohren den Dienst versagten. Trotzdem machte er weiter, bis er jede Glocke
dreimal geschlagen hatte. Dann starrte er aus dem Fenster, durch das er gekommen war. Zuerst hatte er den Eindruck, als schauten all die Gesichter auf ihn; dann machte er sich klar, daß die Menschen durch den Lärm der Glocken aufgeschreckt waren und natürlich zum Turm hinaufstarrten. Inzwischen war die Menge vor dem Tempel noch größer geworden. Andere Lankhmarier strömten auf der Straße der Götter von Osten herbei, wie von Furien gehetzt. Die aufrechtstehenden schwarzgekleideten Ratten bildeten noch immer eine dünne kleine Kette vor der Tür und strahlten trotz ihrer Winzigkeit Autorität und Entschlossenheit aus. Auf beiden Seiten hatte je ein Trupp Ratten Aufstellung genommen. Sie trugen kleine Waffen; die Fafhrd auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, bis er sich an die winzigen Armbrüste erinnerte, die an Bord der Squid benutzt worden waren. Die Glockentöne waren verklungen oder für seine betäubten Ohren zu leise geworden; doch nun machte sich langsam von unten ein panisches Gemurmel bemerkbar. Wieder schaute Fafhrd über die Menge hin und sah schwarze Ratten, die über einige der knienden Gestalten kletterten, während zahlreiche Männer und Frauen bereits eine schwarze Gestalt auf der rechten Schulter sitzen hatten. Direkt unter ihm war in diesem Augenblick ein lautes Knarren und Knirschen zu hören. Die alten Türen des Tempels der Götter von Lankhmar wurden aufgestoßen.
Die weißen Gesichter, die zur Turmspitze heraufgestarrt hatten, richteten sich nun auf den Vorbau. Die schwarzgekleideten Ratten und ihre Soldaten fuhren herum. Aus dem weitgeöffneten Eingang kam eine Prozession dürrer brauner Schreckensgestalten, mit schwarzen Togen bekleidet. Jede trug einen dunklen Stab. Es gab drei Brauntöne – die Farbe alter Mumienbinden, die Tönung brüchiger, pergamentartiger Haut, die sich über die Knochen streckte, und das Schimmern der nackten Knochen selbst. Die Armbrustratten feuerten eine Salve ab. Die braunen Skelettgestalten marschierten weiter. Die schwarzgekleideten Ratten wichen nicht vom Fleck und quietschten herablassend. Eine zweite nutzlose Pfeilsalve. Im nächsten Augenblick zuckten die schwarzen Stäbe vor. Jede Ratte, die von einem solchen Stab berührt wurde, sank sofort zu Boden und rührte sich nicht mehr. Andere Ratten hasteten aus der Menge herbei und wurden auf gleiche Weise unschädlich gemacht. Die braune Truppe marschierte gleichmäßigen Schrittes, wie das anrückende Verderben. Schreie wurden laut, und die Menschenmenge vor dem Tempel begann sich aufzulösen, zerstreute sich in den Seitenstraßen und eilte sogar in die Tempel zurück, aus denen die Menschen vor kurzem noch geflohen waren. Wie vorherzusehen, fürchtete sich das Volk von Lankhmar mehr vor seinen eigenen Göttern als vor ihren Feinden. Dabei wollten die Götter nur helfen. Ein wenig verblüfft über die Wirkung seines Geläutes kletterte Fafhrd am Glockenturm abwärts und
überlegte, daß er dem wilden Kampf ausweichen und den Mausling in Glipkerios Palast suchen müßte. Hinter einer Ecke des Tempels bemerkte das schwarze Kätzchen den Kletterer über sich und erkannte in ihm den großen Mann, den es an Bord der Squid gekratzt und geliebt hatte, und es bemerkte auch, daß die Kraft, durch die es hier in der Stadt gehalten wurde, mit diesem Mann zusammenhing. Zielbewußt verließ der Mausling die Palastküche und marschierte durch einen Korridor auf die königlichen Wohnräume zu. Obwohl seine Körpergröße noch immer zu wünschen übrig ließ, war er wenigstens wieder voll angekleidet. Neben ihm ging Reetha, mit einem langen, spitzen Fleischmesser bewaffnet. Ihnen auf dem Fuße folgte eine unordentliche Armee von Pagen und Mädchen, die Äxte und Hauer und Messer und Toastgabeln schwangen. Der Mausling hatte darauf bestanden, daß Reetha ihn nicht auf den Armen trug, und das Mädchen hatte nicht widersprochen. Tatsächlich war es ein sehr schönes Gefühl, endlich wieder auf eigenen Füßen zu stehen und von Zeit zu Zeit drohend das Schwert durch die Luft sausen zu lassen. Allerdings wäre ihm bestimmt wohler gewesen, wenn er jetzt seine richtige Größe gehabt hätte – und Fafhrd als Kampfgefährten. Sheelba hatte ihm gesagt, die Wirkung des schwarzen Mittels würde neun Stunden andauern. Er hatte es höchstens einige Minuten nach drei Uhr getrunken. Also müßte er kurz nach Mitternacht wieder anwachsen, wenn Sheelba nicht gelogen hatte. Er sah zu Reetha auf, die größer als jede Riesin ne-
ben ihm aufragte und ein unvorstellbar langes Messer schwang, und er beruhigte sich etwas. »Weiter!« kreischte er seiner nackten Armee zu und versuchte so tief wie möglich zu sprechen. »Mir nach, um Lankhmar und den Oberherrn vor den Ratten zu retten!« Fafhrd ließ sich die letzten Zentimeter zum Tempeldach hinab und fuhr herum. Die Lage vor dem Gebäude hatte sich sehr verändert. Die Menschen waren verschwunden – soweit sie noch laufen konnten. Die braunen Skelettgestalten marschierten auf der Straße der Götter nach Westen – eine Prozession häßlicher Gespenster, nur daß ihre Körper undurchsichtig waren und ihre knochigen Füße deutlich hörbar auf die Pflastersteine tapsten. Der mondhell erleuchtete Vorbau, die Treppe und die Fläche dahinter waren mit toten Ratten übersät. Aber die vier Gestalten kamen nur noch langsam voran und waren von unzähligen Schatten umgeben, fast ein Meer aus schwarzen Ratten, die an den Gestalten hochsprangen und von Sekunde zu Sekunde an Zahl zunahmen, schneller, als die tödlichen Stäbe sie vernichten konnten. Von den beiden Straßenrändern rasten nun Fackelpfeile heran und trafen die ersten Skelette, und diese Geschosse taten im Gegensatz zu den Armbrustpfeilen ihre Wirkung. Wo sie ihr Ziel fanden, begann das alte Leinen und die öldurchtränkte Haut zu flackern und zu sprühen. Die wandelnden Gestalten stoppten und kümmerten sich nicht mehr um die Ratten, sondern konzentrierten sich darauf, die Feuerpfeile her-
auszuziehen und die Flammen an ihren Körpern zu löschen. Wieder raste eine Rattenwoge die Straße der Götter herab, und hinter ihnen lehnten drei Reiter tief in ihren Sätteln und schlugen mit den Schwertern nach den Monstren. Die Pferde und Umhänge und Kapuzen der Reiter waren tintenschwarz. Fafhrd, der gemeint hatte, nichts könnte ihn mehr aufregen, spürte einen neuen Schauder über seinen Rücken laufen. Es war, als hätte der Tod in seltsamer Dreigestalt den Schauplatz des Geschehens betreten. Die Feuer-Artillerie der Ratten fuhr halb herum und ließ auf die drei Reiter einige Feuerpfeile los, die aber fehlgingen. Im Gegenzug galoppierten die drei schwarzen Reiter hufstampfend in die breiten Artilleriereihen hinein. Dann drehten sie sich zu den braunen Skeletten um, von denen einige noch glimmten und flakkerten, und ließen ihre schwarzen Kapuzen zurückgleiten. Fafhrd begann plötzlich zu grinsen, was nach Lage der Dinge für den unbeteiligten Zuschauer etwas überraschend sein mußte. Auf den drei schwarzen Pferden saßen große Skelette, die weiß im Mondlicht schimmerten, und mit der Gewißheit des Liebenden sah Fafhrd, daß das vorderste Skelett Kreeshka war. Natürlich konnte es sein, daß sie ihn umbringen wollte, weil er so untreu gewesen war. Wie es jeder andere Mann in seiner Situation auch getan hätte – wenn auch selten in der Mitte eines unirdischen Kampfes – begann er egoistisch zu lächeln. Unverzüglich machte er sich an den Abstieg.
Kreeshka musterte die Götter von Lankhmar und dachte: Na, braune Knochen sind besser als gar keine. Doch scheinen die schnell in Brand zu geraten. Und diese Ratten! Was für eine dreckige Stadt! Und wo ist mein herrlicher Verschwommener? Das schwarze Kätzchen miaute besorgt an der Tempelmauer, wo es Fafhrd erwartete. Glipkerio, den Hisvets Flötenspiel und Frix' Massage wieder völlig beruhigt hatten, war eben damit beschäftigt, kunstvoll seinen Namen hinzumalen, als der blaue Vorhang aufgerissen wurde und die barfüßige Armee Reethas und des Mauslings in den Saal drängte. Glipkerio zuckte zusammen, warf die Tintenflasche um, die ihren Inhalt über die Kapitulation ergoß, und schickte seinen Federkiel wie einen Pfeil auf die Reise. Hisvin, Hisvet und auch Samanda wichen vor den Eindringlingen zurück, im ersten Augenblick nicht weniger erschrocken – denn tatsächlich strahlte die nackte, glattrasierte jugendliche Armee etwas Gefährliches aus, Augen wurden wild gerollt, Lippen waren verächtlich verzogen oder fest zusammengepreßt, in den Händen blinkten spitze Waffen. Hisvin war doppelt schockiert, hatte er doch endlich seine Mingols erwartet. Elakeria schrie: »Sie wollen uns alle umbringen! Eine Revolution ist ausgebrochen!« Frix rührte sich nicht von der Stelle. Sie lächelte aufgeregt. Der Mausling huschte über den blaugekachelten Boden, sprang auf Glipkerios Couch und balancierte
auf der goldenen Rückenlehne herum. Reetha folgte ihm schnell und stellte sich neben ihn, das Messer drohend erhoben. Ohne sich darum zu kümmern, daß Glipkerio vor ihm zurückwich, quietschte der Mausling laut: »Oh, mächtiger Oberherr, dies ist keine Revolution! Vielmehr sind wir gekommen, Sie vor Ihren Feinden zu retten. Dieser Mann«, – er deutete auf Hisvin –, »steht auf der Seite der Ratten. In Wirklichkeit ist er seinem Blut nach mehr eine Ratte als ein Mensch. Unter seiner Toga werden Sie einen Rattenschwanz finden! Ich sah ihn unten in den Tunneln, als Mitglied des Rattenrates der Dreizehn, wie er Ihren Sturz plante. Er ist es, der ...« Inzwischen hatte sich Samanda gefaßt. Plötzlich ging sie wie ein schwarzes Rhinozeros auf ihre Untergebenen los. Sie schlug mit einer langen Peitsche um sich und röhrte aufgebracht: »Auflehnen wollt ihr euch, wie? Auf die Knie, ihr Unverschämten! Sagt eure Gebete auf!« Die Beschimpfungen verfehlten ihre Wirkung nicht. Die nackten Jungen und Mädchen wichen nach links und rechts zurück. Reethas Gesicht rötete sich vor Wut. Sie vergaß den Mausling und ihre Umwelt, dachte nur an das Leid, das ihr zugefügt worden war, und rannte hinter Samanda her: »Los, los, ihr Feiglinge! Wir sind fünfzig!« Mit diesen Worten ließ sie ihr Messer vorschnellen und traf Samanda in die Kehrseite. Die Palastdame machte einen mächtigen Sprung, und ihre Schlüssel und Ketten pendelten wild an ihrem schwarzen Gürtel hin und her. Sie fegte die letzten Mädchen zur Seite und rannte mit schweren
Schritten auf die Quartiere der Dienstboten zu. Reetha rief über die Schulter: »Ihr nach – wir alle! Sie darf die Köche und Friseure nicht wecken!« Und nahm die Verfolgung auf. Die nackten Gestalten setzten sich sofort in Bewegung. Reetha hatte ihren glühenden Haß schnell wieder geweckt. Der Mausling, der noch immer auf der geschwungenen Rückenlehne der Couch balancierte und seine dramatische Rede hielt, merkte zu spät, daß er seine Armee verloren hatte und noch immer puppengroß war. Hisvin und Hisvet zogen lange Messer und stellten sich hastig zwischen ihn und die Tür, durch die seine Streitkräfte entflohen waren. Hisvin schaute ihn böse an, und Hisvet sah ihrem Vater unangenehm ähnlich; diese Ähnlichkeit war dem Mausling noch nie so aufgefallen. Die beiden rückten langsam näher. Zu seiner Linken nahm Elakeria eine Handvoll Stäbe auf und hob sie drohend. Auf der anderen Seite angelte Glipkerio nach seiner leichten Kampfaxt. Offensichtlich waren die Worte des Mauslings nicht gehört worden, oder man glaubte ihm nicht. Der Mausling überlegte, in welche Richtung er springen sollte. Hinter ihm murmelte Frix leise: »Abgang der Küchentyrannin, gefolgt von nackten Pagen und Mädchen. Zurück bleibt unser Held in bedrohlicher Situation.«
16 Obwohl sich Fafhrd mit seinem Abstieg sehr beeilt hatte, fand er die Situation schon wieder verändert vor, als er den Boden erreichte. Wenn sie auch nicht gerade die Flucht ergriffen, so zogen sich die Götter von Lankhmar doch langsam in Richtung auf die offene Tür ihres Tempels zurück, wobei sie von Zeit zu Zeit ihre Stäbe auf die Rattenhorden richteten, die noch immer auf sie eindrangen. Einige Skelettgestalten zogen dünne Rauchfahnen hinter sich her, vom Mondlicht gespenstisch beleuchtet. Sie husteten – oder vielleicht fluchten sie auch. Ihre braunen Skelettgesichter waren steinern – der Ausdruck des Alters, das sich geschlagen zurückzieht und seine machtlose Wut durch Würde zu überspielen versucht. Fafhrd ging ihnen hastig aus dem Weg. Kreeshka und ihre beiden Geister stachen aus ihren Sätteln auf eine neue Flut von Ratten ein, die vor Hisvins Haus angriffen, während ihre schwarzen Pferde zahlreiche kleine Tiere zertraten. Fafhrd hielt auf sie zu, doch schon gingen die Ratten auch auf ihn los, und er mußte Graywand ziehen. Er ließ das Schwert wie eine Sense herumschwingen, verschaffte sich etwas Luft und nahm seinen Weg wieder auf. In diesem Augenblick sprangen in Hisvins Haus die Türen auf, und eine Gruppe von Mingolsklaven strömten heraus. Ihre Gesichter waren angstvoll verzerrt, doch noch auffallender war die Tatsache, daß sie übernatürlich dünn waren. Die Livreen hingen ih-
nen wie Lumpen am Körper. Ihre Hände waren skelettartig abgemagert. Ihre Köpfe waren Schädelknochen, von gelber Haut überzogen. Drei Gruppen von Skeletten – braun, elfenbein und gelb. Die Nacht der Knochenseelen, dachte Fafhrd. Hinter den Mingols erschien ein Trupp stämmiger, aufrechtgehender maskierter Männer. Sie schwenkten Waffen und trieben die Mingols vor sich her – nicht um sie zu töten, sondern um sie so schnell wie möglich aus dem Weg zu schaffen. Ihr hüpfender, hastiger Gang kam Fafhrd sehr bekannt vor. Es folgten einige Gestalten mit Piken und Helmen, doch ohne Masken – und ihre Gesichter waren Rattengesichter mit langen Schnauzen. Die Wesen, maskiert oder unmaskiert, gingen auf die drei Geisterreiter los. Fafhrd stürzte sich mit hoch erhobenem Schwert in den Kampf, ohne sich um die kleinen Ratten zu kümmern, die sich nicht mehr abhalten ließen – und blieb abrupt stehen. Immer neue menschengroße Ratten strömten aus Hisvins Haus. Held hin, Held her – gegen eine solche Übermacht kam er nicht an. In diesem Augenblick spürte er das Kratzen von Klauen an seinem Bein. Er hob die linke Hand, um das Tier vom Bein zu streifen ... und erblickte das kleine schwarze Kätzchen von der Squid, das an seiner Hose emporkletterte. Daß dieses Untier auch gerade jetzt kommen muß, dachte er ... und öffnete seinen leeren Beutel, um das Tier hineinzuschieben ... und erblickte unten in dem Beutel die kleine Blechpfeife ... und erkannte, daß es vielleicht noch Rettung gab. Er zog das Pfeifchen heraus, setzte es an die Lippen
und blies hinein. Wenn man mit den Fingern vorsichtig auf eine Spielzeugtrommel klopft, erwartet man kein Donnergrollen. Fafhrd fuhr zusammen und hätte die Pfeife fast verschluckt. Dann machte er Anstalten, das kleine Ding fortzuschleudern. Schließlich setzte er es wieder an die Lippen, legte die Hände vor die Ohren, kniff die Augen zusammen und blies ein zweites Mal hinein. Wieder vibrierte das entsetzliche Geräusch in den Himmel und durch die schattigen Straßen Lankhmars. Man denke sich den Schrei eines Leoparden, das Fauchen eines Tigers und das Gebrüll eines Löwen und hat dann einen schwachen Eindruck von den Lauten, die die kleine Pfeife erzeugte. Überall erstarrten die Horden der kleinen Ratten. Die dürren Mingols hielten taumelnd inne. Die großen bewaffneten Ratten unterbrachen ihren Angriff auf die Geister. Auch die Geister und ihre Pferde rührten sich nicht. Das Fell des schwarzen Kätzchens, das noch immer an Fafhrds Schenkel hing, stellte sich senkrecht, und die grünen Augen wurden riesig. Dann war der unvorstellbare Laut verklungen, und eine ferne Glocke schlug Mitternacht. Die Schlacht begann erneut. Doch da bildeten sich schwarze Umrisse im Mondlicht rings um Fafhrd. Schatten, die zuerst noch durchscheinend waren, dann dunkler wurden wie durchsichtiges Horn und schließlich kompakt und samtschwarz auf Pfoten ruhten. Sie hatten die schlanken Umrisse von Leoparden, doch die Mehrzahl waren Tiger und Löwen. Sie waren fast so groß
wie die Pferde. Ihre etwas klein geratenen Köpfe mit den rosa Ohren wiegten sich langsam hin und her, ebenso die langen Schwänze. Ihre Fangzähne waren Nadeln aus hellgrünem Eis. Ihre Augen – gefrorene Smaragde – starrten Fafhrd an. Es waren dreizehn Tiere. Dann merkte Fafhrd, daß sie nicht seinen Kopf, sondern seine Hüfte anstarrten. Das schwarze Kätzchen stieß einen schrillen, langgezogenen Schrei aus, der erste Kampfschrei einer jungen Katze und zugleich eine Begrüßung. Mit gewaltigem Gebrüll, als würden plötzlich dreizehn Blechpfeifen auf einmal geblasen, warfen sich die großen Kriegskatzen herum. Mit übernatürlicher Geschmeidigkeit sprang das schwarze Kätzchen hinter vier großen Tieren her. Die kleinen Ratten strömten auf Wände und Abflußgitter und Türen zu; sie versuchten, sich in ihre Löcher zu retten. Die Mingols warfen sich zu Boden. Die halb zersplitterten Türen des Tempels der Götter von Lankhmar schlossen sich. Die vier Kriegskatzen, denen das Kätzchen folgte, sprangen auf die mannsgroßen Ratten zu, die aus Hisvins Haus drängten. Zwei der Geister waren durch Piken oder Schwerter aus dem Sattel gerissen worden. Der dritte – Kreeshka – parierte den Hieb eines Rapiers und galoppierte dann an Hisvins Haus vorbei auf den Regenbogenpalast zu. Die beiden reiterlosen schwarzen Pferde folgten ihr. Fafhrd wollte es ihr gleichtun, doch in diesem Augenblick flatterte ein schwarzer Papagei vor ihm herab. »Mausling, Mausling!« krächzte der Vogel. »Gefahr! Gefahr! Blau-blau-blaues Audienzzimmer!«
Also begann Fafhrd um das Kampfgetümmel herumzuhasten und trabte hinter Kreeshka her, wie er es ohnehin vorgehabt hatte. Lange Piken streckten eine Kriegskatze nieder, doch das Kätzchen sprang wie ein schimmernder schwarzer Komet in das Gesicht des vordersten Rattenkämpfers, und die anderen drei Kriegskatzen machten Front neben ihr. Als Hisvin und Hisvet nahe genug heran waren, sprang der Graue Mausling leichtfüßig von der Rükkenlehne der goldenen Couch. Da beide nun um das Möbelstück herumeilten, rannte er darunter hinweg und von dort unter den niedrigen Tisch. Als er das freie Stück zwischen Couch und Tisch überquerte, krachte Glipkerios Axt dicht neben ihm auf die Fliesen, während Elakerias Bündel aus Seesternstäben auf der anderen Seite hinklapperte. Er blieb unter der Tischmitte stehen und bedachte seinen nächsten Schritt. Glipkerio huschte verstohlen davon und ließ seine Axt liegen. Die dicke Elakeria jedoch verlor das Gleichgewicht und stürzte dicht neben dem Mausling nieder. Einen Augenblick lang waren sie und die Axt dem kleinen Mann ziemlich nahe. Dann ... nun, eben noch war der Tisch ein Dach gewesen, eine gute Rattenlänge über seinem Kopf. Im nächsten Augenblick stieß er sich, ohne von der Stelle zu kommen, den Kopf daran, warf das Möbelstück sogar um, ohne es mit den Fingern zu berühren. Und Elakeria war plötzlich keine unförmige Schreckschraube in einem grauen Kittel, sondern hatte sich in eine schlanke Nymphe verwandelt, die
keinen Faden am Leibe trug. Und Glipkerios Axt, die Skalpells schmale Klinge nun berührte, war zu einem unförmigen Metallklumpen zusammengeschmolzen, wie von unsichtbarer Säure zerfressen. Die Mausling erkannte, daß er wieder seine natürliche Größe hatte, wie von Sheelba vorhergesagt. Da alles seine Herkunft haben mußte, war ihm klar, daß Skalpell die im Keller verlorenen Atome nun aus der Axtklinge wiedergewonnen hatte, während er sich an Elakeria und ihr Wollkleid gehalten hatte, als es darum ging, seinen Körper und seine Kleidung aufzufüllen. Ihr war das jedenfalls bestens bekommen, stellte er mit interessiertem Blick fest. Doch ihm blieb keine Zeit für metaphysische Gedanken. Er rappelte sich auf und ging mit drohend erhobenem Schwert auf seine Angreifer los, die etwas geschrumpft zu sein schienen. »Laßt eure Waffen fallen!« befahl er. Glipkerio, Elakeria und Frix waren nicht bewaffnet. Hisvet ließ ihren langen Dolch sofort fallen, wobei sie vermutlich nicht vergaß, daß der Mausling ihre Wurfgeschicklichkeit kannte. Hisvin, der nun wütend zitterte, ließ sein Messer nicht los. Der Mausling hielt ihm Skalpell spielerisch an die Kehle. »Rufen Sie Ihre Ratten zurück, Lord Nill«, befahl er, »oder Sie sterben auf der Stelle.« »Ich tu's nicht!« fauchte Hisvin und versuchte Skalpell vergeblich zur Seite zu schlagen. Etwas ruhiger fügte er hinzu: »Und wenn ich's könnte – es würde nichts nützen!« Der Mausling, der an die Sitzung des Rates der Dreizehn denken mußte, nickte. Elakeria bemerkte ihre Nacktheit, riß eine Decke
von der goldenen Couch und schlang sie um sich, nicht ohne noch einmal bewundernd an sich herabzusehen. Frix lächelte ein wenig abweisend, als wäre dies alles nur ein Stück und sie das Publikum. Glipkerio, der sich an einer gewundenen Säule festzuhalten suchte, hatte wieder einmal die Gewalt über sich verloren. Zwischen den periodischen Zukkungen war sein Gesicht eine Studie der Verwirrung und nervösen Erschöpfung. Hisvet rief: »Grauer Schatz, bring den alten Narren jetzt um! Töte auch Glipkerio und die anderen – es sei denn, du willst Frix zur Konkubine! Und dann kannst du das Obere und Untere Lankhmar nach Belieben regieren, und ich werde dir bereitwillig helfen. Ich gestehe meine Niederlage ein. Ich werde dein untertänigstes Sklavenmädchen sein, in der Hoffnung, daß du mich eines Tages zur Lieblingssklavin ernennst!« Und so ehrlich klang ihre Stimme, so süßverlockend ihre Versprechungen, daß er trotz aller bisherigen Erfahrungen, trotz der Kaltblütigkeit ihrer Worte wieder einmal in Versuchung war. Er schaute sie an – ihr Gesicht war das Gesicht einer Spielerin, für die es um den höchsten Einsatz geht – und in diesem Augenblick sprang Hisvin vor. Der Mausling schlug den Dolch zur Seite und wich zurück. Er ärgerte sich über seine Unachtsamkeit. Hisvin setzte seine verzweifelten Angriffe fort und gab erst auf, als Skalpell seinen Hals ritzte. »Halt dein Versprechen, und beweise deinen Mut!« rief Hisvet dem Mausling zu. »Töte ihn!« Hisvin begann sie zu verfluchen. Der Mausling wußte hinterher nicht zu sagen, was
er nun getan hätte, denn nun wurde einer der blauen Vorhänge zur Seite gerissen, und Skwee und Hreest standen auf der Schwelle. Beide waren so groß wie Menschen, beide hatten ihre Rapiere gezogen. Gelassen, selbstsicher – so standen sie da, ein weißer und ein schwarzer Vertreter der Rattenaristokratie. Wortlos trat Skwee einen Schritt vor und hob sein Schwert dem Mausling entgegen. Hreest machte es ihm schnell nach. Zwei grüngekleidete Schwertratten erschienen hinter ihnen und bezogen zu beiden Seiten Stellung. Und nun tauchten auch noch die drei Pikenratten auf, menschengroß wie die übrigen. Sie stellten sich an, verlängerten den Kreis der Neuankömmlinge, der sich nun bis zu der goldenen Couch hinzog, an der Hisvet und Frix standen, und auf der anderen Seite bis tief ins Zimmer. Eine Hand an den dürren Hals gelegt, deutete Hisvin auf seine Tochter und sagte im Befehlston: »Bringt sie auch um!« Gehorsam hob eine Pikenratte ihre Waffe und raste los. Als die gewellte Klinge an ihr vorüberfuhr, warf sich Frix auf die Pike, umfaßte den Stiel. Die Klinge verfehlte Hisvet um Haaresbreite, und Frix stürzte zu Boden. Die Pikenratte zog ärgerlich die Waffe zurück und wollte auf Frix einstechen, doch Skwee brüllte: »Halt! Hier wird noch niemand umgebracht – außer dem Graugekleideten dort. Jetzt ihr alle – los!« Gehorsam machte die Pikenratte kehrt und richtete ihre Waffe wieder auf den Mausling. Frix rappelte sich auf und murmelte Hisvet ins Ohr: »Das war das drittemal, meine liebe Herrin.« Und sie wandte sich um und konzentrierte sich wieder auf das Drama.
Der Mausling überlegte, ob er von der Veranda springen sollte, und rannte dann doch an das andere Ende des Raumes, was vielleicht ein Fehler war. Zwei Pikenratten erreichten die Tür vor ihm, während ihm die Schwertratten, die ihn dichtauf verfolgten, keine Gelegenheit ließen, sich unter den Lanzen hindurchzuducken, die Pikenratten zu töten und sich dem Kampf zu stellen. Er beugte sich hinter einen schweren Tisch, fuhr abrupt herum, verwundete eine grüngekleidete Ratte am Bein. Doch das Tier zog sich sofort zurück, und der Mausling sah sich vier Rapieren und zwei Piken gegenüber und – vermutlich auch dem Tode. Also, Hieb, Stich, Parade, Sprung, Parade, den Tisch umstoßen – er mußte an Skwee heran, der den Kampf leitete – Stich, Parade, Nachstoßen, Doppelparade, Rückzug – doch das hatte Skwee vorhergesehen, also wieder Schlag, Stich – wenn er sich nicht bald etwas einfallen ließ, war es um ihn geschehen! Aus dem Augenwinkel sah er, daß sich plötzlich ein Rattenkopf von seinem Körper löste und durch die Luft wirbelte. Gleichzeitig hörte er einen fröhlichen, vertrauten Ruf. Fafhrd hatte den Raum betreten und von hinten eine Ratte geköpft, die sich ein wenig im Hintergrund hielt. Nun drang er von hinten auf die anderen ein. Auf Skwees hastiges Zeichen wandten sich zwei Schwertratten und die beiden verbliebenen Pikenratten um, die mit ihren langen Waffen viel zu langsam waren. Fafhrd köpfte die Klinge einer Pike und dann auch ihren Träger, parierte den Stich der zweiten Pike und traf die Ratte in den Hals. Schließlich stellte sich Fafhrd den beiden Schwertratten, während Skwee
und Hreest ihren Angriff auf den Mausling verstärkten. Die verzogenen Schnurrbarthaare, die entblößten Nagezähne, die langen schmalen Fellgesichter und die riesigen blauschwarzen Augen – dies alles war fast so erschreckend wie ihre schnellen Schwerter, während Fafhrd ähnliche Schwierigkeiten mit seinen Gegnern hatte. Als Fafhrd das Zimmer betrat, hatte Glipkerio leise gesagt: »Nein, ich ertrag's nicht länger«, war auf die Veranda gelaufen, die Leiter emporgerast und in das spindelförmige graue Gebilde gesprungen. Sein Gewicht hatte es sofort aus dem Gleichgewicht gebracht, so daß es sich langsam in die Kupferrutsche neigte. Etwas lauter rief er: »Welt, adieu! Nehwon, leb wohl! Ich suche mir ein glücklicheres Universum! Oh, ich werde dir fehlen, Lankhmar! Weine, o Stadt!« Im nächsten Augenblick glitt das kleine graue Gebilde mit zunehmender Geschwindigkeit die Rutsche hinab. Glipkerio knallte das kleine Türchen zu. Mit leisem Aufklatschen versank die Spindel im dunklen, mondglitzernden Wasser. Nur Elakeria und Frix, denen nichts entging, hatten Glipkerios Abschied bemerkt. Als hätten sie es verabredet, stießen Skwee und Hreest nun einen schweren Tisch um, der zwischen ihnen und dem Mausling stand – in der Hoffnung, den kleinen Mann an der Wand festzunageln. Noch rechtzeitig sprang der Mausling in die Höhe, wich Skwees Stoß aus, parierte Hreests Hieb und führte Skalpell mit glücklicher Hand in Hreests rechtes Auge und von dort in das Gehirn und riß sein Schwert gerade rechtzeitig wieder heraus, um Skwees nächsten Schlag abzulenken.
Skwee wich hastig zurück. Seine weit auseinanderstehenden Augen zeigten ihm, daß Fafhrd soeben die zweite Schwertratte erledigte, ohne selbst verwundet zu sein. Da wandte sich Skwee zur Flucht. Der Mausling sprang vom Tisch hinunter und huschte hinter ihm her. In der Mitte des Raumes stürzte plötzlich etwas Blaues von der Decke. Hisvet, die geduckt an der Wand stand, hatte die Schnüre durchgeschnitten, die die Mittelvorhänge an der Decke festhielten. Skwee huschte geduckt unter dem Stoff dahin, doch der Mausling stolperte fast darüber und konnte sich nur im letzten Augenblick in Sicherheit bringen, als Skwees Rapier plötzlich heraufstach. Im nächsten Augenblick entdeckten Fafhrd und der Mausling die Mitteltrennung des Vorhangs und rissen ihn mit den Schwertspitzen auseinander, wobei sie vor Rapierspitzen und Dolchen auf der Hut waren. Doch da standen Hisvin, Hisvet und Skwee vor der Audienzcouch – klein wie Ratten! Hisvin riß eben eine kachelgroße Falltür auf, und die drei Gestalten verschwanden in dem Loch. Skwee, der als letzter in die Dunkelheit tauchte, wandte sich noch einmal um und twitterte aufgebracht und schwenkte sein winziges Rapier, ehe er die Kacheltür über sich zufallen ließ. Der Mausling fluchte und brach dann in Gelächter aus. Fafhrd tat es ihm nach, doch ihre Augen waren wachsam auf Frix gerichtet, die in normaler Größe hinter der Couch stand. Auch beobachteten sie Elakeria auf der Couch, die mit schreckgeweiteten Augen unter ihrer Decke hervorstarrte, und dabei ein
schlankes nacktes Bein sehen ließ. Lachend eilte der Mausling an Fafhrds Seite, legte ihm einen Arm um die Schultern, boxte ihn freundschaftlich vor die Brust und fragte: »Warum hast du dich hier sehen lassen, du Lümmel? Ich wollte gerade den Heldentod sterben oder auf einen Streich die sieben besten Schwertratten des Unteren Lankhmar vernichten! Du hast mir die Schau gestohlen!« Ohne den Blick von Frix zu wenden, versetzte Fafhrd seinem Freund einen leichten Klaps auf das Kinn und einen Ellenbogenstoß, der dem anderen den Atem raubte. »Ich galoppiere zwei Nächte und einen Tag lang fast um das ganze Binnenmeer herum, um dein winziges Fell zu retten – und ich tu's! Und muß mir dann sagen lassen, ich wäre ein Lümmel!« Der Mausling kicherte atemlos: »Du weißt nicht, wie winzig mein Fell war! Fast ums Binnenmeer, sagst du ... und hast deinen Auftritt trotzdem so genau hinbekommen? Also, du bist wirklich der größte Schauspieler auf der Welt!« Er kniete sich vor der Kachel hin, die eben noch eine Falltür gewesen war, und sagte mit einer Stimme, in der sich Fröhlichkeit, Resignation und Verzweiflung mischten: »Und hier habe ich – vermute ich – die größte Liebe meines Lebens verloren!« Er klopfte gegen die Kachel, die sich sehr dumpf anhörte, und rief leise: »Juchuu, Hisvet!« Fafhrd riß ihn hoch. Frix hatte eine Hand gehoben. Der Mausling sah sie an. »Hier, kleiner Mann, fangen Sie!« Lächelnd warf sie dem Mausling ein schwarzes Fläschchen zu, das er fing und verständnislos anstarrte. »Benutzen Sie das, wenn Sie mal wieder der dumme Wunsch über-
kommt, meine ehemalige Herrin aufzusuchen. Ich habe keine Verwendung mehr dafür. Meine Bindung an diese Welt besteht nicht mehr. Ich habe der dämonischen Demoiselle dreimal gedient. Ich bin frei!« Und mit diesen Worten erstrahlten ihre Augen wie Lampen. Sie warf ihre schwarze Kapuze zurück und atmete so tief ein, daß sie sich fast in die Luft zu erheben schien. Ihr Blick richtete sich ins Leere. Ihr dunkles Haar geriet in Bewegung, kleine Blitze knisterten darin, verdichteten sich zu einem blauen Schimmer, strömten über ihren ganzen Körper, hüllten sie ein. Sie wandte sich um und rannte leichtfüßig auf die Veranda. Fafhrd und der Graue Mausling folgten ihr. »Frei! Frei!« rief sie. »Frei! Zurück in die Welt der Luft!« Und sie ließ sich über das Geländer fallen. Sie berührte das Wasser nicht, sondern schwebte wie ein kleiner hellblauer Komet dicht über den Wellen dahin und raste schließlich in den Himmel, höher und immer höher, wurde zu einem schwachen blauen Stern und verschwand. »Ich dachte, wir leben hier in der Welt der Luft«, sagte Fafhrd nachdenklich.
17 Die Ratten, die überall in Lankhmar schwere Verluste erlitten hatten, zogen sich in ihre unterirdischen Tunnel zurück und verschlossen die Löcher. Auch in der Südkaserne hatten sie eine schwere Niederlage einstecken müssen. Die Kriegskatzen hatten sich mit überirdischen Kräften Zutritt verschafft und unter den kleinen Ratten fürchterlich gewütet. Als ihre Arbeit nun getan war, kamen die Kriegskatzen an der Stelle zusammen, an der sie erschienen waren, und verschwanden ins Nichts. Es waren nach wie vor dreizehn, obwohl ein Mitglied ihres Kreises getötet worden war. Aber dafür folgte ihnen nun das schwarze Kätzchen auf ihrem gefährlichen Weg, als das jüngste Mitglied des Rates der Dreizehn. Viele Lankhmarier vermuteten hinterher, daß die Kriegskatzen und auch die weißen Skelette von den Göttern von Lankhmar gerufen worden waren. In kleinen Gruppen kamen die Bewohner Lankhmars aus ihren Verstecken, erfuhren, daß die Rattenplage vorbei war, und weinten, beteten und feierten. Der stille Radomix Kistomerces-Nill wurde aus den Slums geholt und mitsamt seinen Katzen im Triumphzug in den Regenbogenpalast geschafft. Glipkerio, dessen Metallspindel sich durch den Wasserdruck langsam verformt hatte, bis sie ihm zur zweiten Haut geworden war – ein schöner Sarg – sank immer tiefer in das lankhmarische Meer – doch ob er dort schließlich auf festem Boden zur Ruhe oder in seltsamem Schwebezustand zwischen den Welt-
bläschen verharrte – wer vermochte das zu sagen? Der Mausling nahm sich Katzenklaue aus Hreests Gürtel, wobei er sich etwas verwunderte, daß die Rattenkörper ihre Größe beibehielten. Durch den Tod schienen alle Zaubereffekte einzufrieren. Fafhrd bemerkte angewidert drei rosa Schleimpfützen vor der goldenen Audienzcouch und sah sich nach etwas um, das er darüber legen konnte. Aus einer Ecke zerrte er schließlich einen bunten Teppich und verdeckte damit die unschönen Stellen. Im nächsten Augenblick klang Hufgetrappel auf. Im hohen Torbogen erschien Kreeshka auf dem Rükken ihres Pferdes; sie führte die freien Pferde der beiden anderen Geister mit. Fafhrd schwang das Skelettmädchen aus dem Sattel und umarmte es inniglich – was den Mausling und Elakeria nicht wenig schokkierte – und sagte: »Mein Schatz, es ist wohl gut, wenn du deinen schwarzen Umhang und die Kapuze anlegst. Deine nackten Knochen sind für mich das Ideal der Schönheit – aber hier kommen andere, die sich daran vielleicht stören.« »Schon schämst du dich meiner, wie? Du puritanischer Verschwommener!« sagte Kreeshka mit bitterem Lachen, doch sie erfüllte seine Bitte. Bei den Neuankömmlingen, von denen Fafhrd gesprochen hatte, handelte es sich um Ratsherren, Soldaten und verschiedene Verwandte des ehemaligen Oberherrn, und um den stillen Radomix KistomercesNill und seine Katzen, die nun einzeln hereingetragen wurden von Edelleuten, die sich beim Thronanwärter einschmeicheln wollten. Doch nicht nur Menschen drängten sich in den
Saal; mit lautem Hufgetrappel kam auch Fafhrds Mingolmähre hereingestürmt. Einen Zügel hatte sie durchgebissen. Sie blieb neben Fafhrd stehen und sah ihn mit blutunterlaufenen Augen an, als wollte sie sagen: »So leicht wirst du mich nicht los!« Kreeshka klopfte dem Tier auf die Nase und sagte zu Fafhrd: »Du scheinst mir ein Mann zu sein, der in anderen loyale Gefühle weckt. Ich hoffe, du selbst verfügst auch über diese Eigenschaft!« »Darauf kannst du dich verlassen!« erwiderte Fafhrd ernsthaft. Zu den Zurückkehrenden gehörte auch Reetha, die seltsam zufrieden wirkte – wie eine Katze, die an der Schlagsahne gewesen ist, oder wie ein Panther, der eine etwas andere Flüssigkeit genossen hat. Sie war nackt wie zuvor, bis auf drei breite schwarze Lederschlingen, die sich um ihre Hüfte zogen. Sie warf sich dem Mausling in die Arme. »Du bist wieder groß!« rief sie. »Und du hast sie alle geschafft!« Der Mausling ließ den Ansturm über sich ergehen, doch verzog er dann das Gesicht und sagte düster: »Hübsch hast du mir geholfen – du und deine nackte Armee! Ihr seid davongestürmt, als ich dringend Hilfe brauchte. Ich hoffe wenigstens, ihr habt es Samanda heimgezahlt.« »O ja!« grinste Reetha. »Wie sie gebrutzelt hat! Schau, mein Schatz, ihr Gürtel geht mir dreimal herum! O ja, wir trieben sie in der Küche in die Enge, und dann nahm jeder von uns eine Nadel ...« »Bitte erspare mir die Einzelheiten, Liebling«, unterbrach sie der Mausling. »Ich bin heute schon neun Stunden lang eine Ratte gewesen und habe all die bösen Gefühle kennengelernt, die eine Ratte so hat, und
das reicht mir. Komm mit, meine Kleine, wir müssen noch etwas erledigen, ehe der Saal hier zu voll wird.« Als sie nach wenigen Minuten zurückkehrten, trug der Mausling eine Schachtel in seinen Umhang eingeschlagen, während Reetha in einen violetten Umhang gekleidet war, um den sie – natürlich! – Samandas schwarzen Gürtel geschlungen hatte. Und der Saal hatte sich tatsächlich gefüllt. Radomix Kistomerces-Nill war bereits vorläufig zum Oberherrn von Lankhmar ernannt und saß und ein wenig verwundert auf der goldenen Audienzcouch, zusammen mit seinen siebzehn Katzen und der lächelnden Elakeria, die die Decke wie einen Sari um ihre schlanke Gestalt geschlungen hatte. Der Mausling nahm Fafhrd beiseite. »Das ist ja ein tolles Mädchen!« sagte er und nickte in Kreeshkas Richtung. »Ja, nicht wahr?« erwiderte Fafhrd. »Du hättest mal meine sehen sollen«, prahlte der Mausling. »Ich meine nicht Reetha hier, nein, meine verrückte Freundin von vorhin. Sie hatte ...« »Laß Kreeshka nur nicht dieses Wort hören«, zischte Fafhrd besorgt. »Na, jedenfalls brauche ich, wenn ich sie wiedersehen will, nur den Inhalt dieser Flasche zu trinken«, fuhr der Mausling verschwörerisch fort. »Dann ...« »Ich nehme sie mal an mich«, sagte Reetha scharf und riß ihm das Fläschchen von hinten aus der Hand. Nach einem kurzen Blick darauf warf sie es aus dem Fenster. Kreeshka bewegte ihre schwarze Robe hin und her, um sich etwas Kühlung zuzufächeln, und sagte zu Fafhrd: »Stell mich bitte deinen Freunden vor, mein
Schatz.« Inzwischen verstärkte sich das Gedränge um die goldene Couch noch mehr – Kuriere, Edelleute, Ratsherrn und Offiziere kamen und gingen in ständigem Wechsel. Neue Titel wurden dutzendweise vergeben an diejenigen, die zuerst kamen. Hisvin und andere Verschwörer wurden in Abwesenheit auf Lebenszeit verbannt. Es wurde gemeldet, daß alle Feuer gelöscht und die Ratten aus den Straßen verschwunden wären. Pläne wurden beraten, die gesamte Rattenmetropole zu vernichten – komplizierte, geschickte Pläne, die dem Mausling trotzdem nicht sehr praktisch vorkamen. Es wurde schnell deutlich, daß unter Radomix Kistomerces Lankhmar erneut einer Periode unsinniger Phantastereien und haltloser Gier entgegensteuerte. In solchen Augenblicken ließ sich wohl verstehen, warum die Götter von Lankhmar auf ihre Stadt so schlecht zu sprechen waren. Fafhrd und der Graue Mausling bekamen mehrere freundliche Danksagungen zu hören, obwohl den meisten Neuankömmlingen ganz und gar nicht klar zu sein schien, welche Rolle die beiden Helden bei dem Sieg über die Ratten gespielt hatten – auch wenn Elakeria ihren lebhaften Bericht über den letzten Kampf und Glipkerios Rutschfahrt mehrmals wiederholte. Bald jedoch würde die Saat des Mißtrauens in Radomix' Geist aufgehen. Bald würde der kühne Mut der beiden Helden als finstere Intrige dastehen. Nun wurde auch offenbar, daß sich der neue Hof durch das unruhige Stampfen der vier Pferde gestört fühlte und daß die Gegenwart eines lebendigen Skeletts nicht sehr erwünscht war, denn Kreeshka weigerte sich, ihre schwarze Robe ganz zu schließen.
Fafhrd und der Mausling sahen sich an, wechselten Blicke mit Reetha und Kreeshka, und es war alles klar. Der Nordling bestieg die Mingolmähre und der Mausling und Reetha die beiden übriggebliebenen Geisterpferde, und alle vier verließen den Regenbogenpalast so leise, wie das auf den Fliesen nur möglich war. Nun machte bald eine neue Legende über Fafhrd und den Grauen Mausling in Lankhmar die Runde – daß sie als rattenkleiner Zwerg und glockenturmgroßer Riese Lankhmar vor den Ratten bewahrten und daß sie dafür vom Tode persönlich in die Nachwelt geleitet wurden – das schwarzgekleidete Skelett war allgemein als Mann angesehen worden, was Kreeshka sicherlich sehr geärgert hätte. Als die vier jedoch am nächsten Morgen dem heller werdenden östlichen Horizont entgegenritten – auf der gewundenen Dammstraße, die durch die Große Salz-Marsch führte – da waren alle auf ihre Weise guter Dinge. Sie hatten sich drei Esel beschafft und sie mit dem Juwelenkorb beladen, den der Mausling aus Glipkerios Schlafzimmer mitgenommen hatte, und dazu mit Nahrungsmitteln und Getränken, die für eine lange Reise gedacht waren – obwohl sie sich noch gar nicht einig waren, wohin diese Reise überhaupt gehen sollte. Fafhrd sprach sich für einen Ausflug in seine geliebte Eis-Öde aus – mit einem längeren Aufenthalt in der Stadt der Geister. Der Mausling begeisterte sich für die Länder des Ostens. Reetha öffnete ihre weite Robe ein wenig und nickte. »Kleidung kratzt«, sagte sie. »Ich kann sie kaum ertragen. Ich reite gern nackt auf einem Pferd. Aber Haare jucken noch viel mehr – ich spüre fast,
wie sie wachsen. Du mußt mich jeden Tag rasieren, Liebling«, wandte sie sich an den Mausling. Er nickte, fügte jedoch hinzu: »Aber ich muß dir widersprechen – abgesehen davon, daß sie dich vor Dornen und Staub schützen, geben dir Kleider doch eine gewisse Anmut.« Reetha erwiderte heftig: »Ich glaube, der nackte Körper hat viel mehr Anmut.« »Na, na, Mädchen«, bemerkte Kreeshka, »was läßt sich wohl mit der Anmut nackter Knochen vergleichen?« Aber da sah sie Fafhrd an, musterte seinen roten Bart und seine Brusthaare und fügte hinzu: »Allerdings sind Haare auch nicht ganz ohne.«
SECHSTES BUCH
Schwerter und Eiszauber Die Trauer des Todbringers (THE SADNESS OF THE EXECUTIONER) .................................... 599 Schönheit und Ungeheuer (BEAUTY AND THE BEASTS) ..................................................... 615 Gefangene im Schattenland (TRAPPED IN SHADOWLAND) ................................................. 618 Der Köder (THE BAIT) ............................................................................... 629 In der Gewalt der Götter (UNDER THE THUMBS OF THE GODS) ...................................... 634 Gefangene im Meer der Sterne (TRAPPED IN THE SEA OF STARS) ............................................ 658 Die Frost-Monstreme (THE FROST MONSTREME) ....................................................... 685 Reifinsel (RIME ISLE) .............................................................................. 739
Die Trauer des Todbringers Es war ein Himmel ewig grau. Ein Ort, stets weit entfernt. Ein Wesen, das stets traurig war. Der Tod saß auf seinem bescheidenen, mit dunklen Kissen bedeckten Thron in seinem geduckten, weitläufigen Schloß im Herzen des Schattenlandes, schüttelte den bleichen Kopf, betastete seine schimmernden Schläfen und schürzte leicht die Lippen, die von der Farbe violetter Trauben waren, noch bedeckt von silbriger Blüte, darunter seine schlanke Gestalt, gepanzert in Kettenhemd und schwarzem Gürtel, der übersät war mit beinahe ebenso schwarz angelaufenen Silberschädeln, Stütze seines unwiderstehlichen blanken Schwertes. Er war ein relativ unbedeutender Tod, lediglich für die Welt Nehwon zuständig, doch er hatte seine Probleme. Im Verlaufe der nächsten zwanzig Herzschläge mußte er etwa zweihundert flackernden oder leuchtenden menschlichen Lebenslichtern den Docht abdrücken. Und obgleich die Herzschläge des Todes wie eine tief unter der Erde hängende Bleiglocke dröhnten und jeweils eine kleine Ewigkeit in sich bargen, gehen sie doch einmal vorbei. Nur noch neunzehn bis zur festgesetzten Zeit. Und die Herren der Notwendigkeit, die dem Tod vorgesetzt waren, mußten noch zufriedengestellt werden. Mal sehen, dachte der Tod mit einer profunden Gelassenheit, in der es dennoch ein wenig brodelte – hundertsechzig Bauersleute und Wilde, zwanzig Nomaden, zehn Krieger, zwei Bettler, eine Hure, ein
Kaufmann, ein Priester, ein Aristokrat, ein Handwerker, ein König und zwei Helden. Das müßte die Bücher in Ordnung halten. Innerhalb von drei Herzschlägen hatte er von den zweihundert hundertsechsundneunzig ausgewählt und ihr Schicksal auf sie losgelassen: in erster Linie unsichtbare, giftige Wesen in ihrem Fleische, die sich plötzlich zu ruhelosen Horden multiplizierten; hier wurde ein dunkler, sperriger Blutpropfen mit sanfter Berührung gelöst und durch die Ader geschickt, um einen wichtigen Durchgang zu verschließen, dort platzte eine geschwächte Arterienwand endlich auf, zuweilen glitt rutschiger Schleim zielstrebig in den Weg eines Kletterers, zuweilen wurde einer giftigen Otter eingegeben, wohin sie sich winden und wo sie zustoßen mußte, oder einer Spinne, wo sie sich auf die Lauer zu legen hatte. Der Tod, der nach seinen strengen Vorstellungen nur sich selbst bewußt war, hatte allerdings beim König ein wenig geschummelt. Seit einiger Zeit bastelte er in einem tiefen und düsteren Winkel seines Verstandes am Untergang des derzeitigen Herrschers von Lankhmar, dem größten Land und der größten Stadt in Nehwon. Dieser Oberherr war ein sanftmütiger, zartbesaiteter Gelehrter, der nichts so sehr liebte wie seine siebzehn Katzen, der aber auch keinem anderen Lebewesen in Nehwon etwas Böses wünschte und also dem Tod immer wieder Steine in den Weg legte, indem er Übeltäter begnadigte, zerstrittene Brüder und Familien aussöhnte, Boote oder Wagenladungen Getreide in Hungergebiete schickte, in Not geratene Tiere rettete, Tauben fütterte, das Studium der Medizin und verwandter Künste förderte – doch
vor allem, indem er sich wie feinste Brunnengischt an einem heißen Tag mit einer Atmosphäre süßer, weiser Ruhe umgab, die die Schwerter in den Scheiden hielt, die es gar nicht erst zu gerunzelten Stirnen oder gefletschten Zähnen kommen ließ. In diesem Augenblick jedoch trat ein verwinkelter, düsterer Plan in Aktion, den der Tod beinahe, aber nicht ganz vor sich selbst verheimlichte – die dünnen Handgelenke des wohltätigen Monarchen von Lankhmar wurden beim unschuldigen Spiel von den nadelscharfen Krallen seiner Lieblingskatze geritzt, Krallen, die am Abend zuvor von einem dünnasigen eifersüchtigen Neffen des Herrschers mit dem schnellwirkenden Gift der seltenen Herrscherschlange des tropischen Klesh bestrichen worden war. Leicht schuldbewußt nahm sich der Tod vor, die verbleibenden vier Kandidaten auf jeden Fall improvisiert an sich zu binden, besonders die beiden Helden. Im Nu hatte er eine Vision Lithquils, des Verrückten Herzogs von Ool Hrusp, heraufbeschworen, der im Fackelschein auf einem hohen Balkon stand und dabei zusah, wie drei Berserker aus dem Norden mit gezackten Krummsäbeln auf den Tod gegen vier Ghuls kämpften, die durchsichtige Haut und rosa Skelette zur Schau stellten und ihrerseits Schwerter und Streitäxte schwangen. Es ermüdete Lithquil niemals, solche Auseinandersetzungen anzuzetteln und bis zu ihrem blutigen Ende zu verfolgen, eine Übung, die außerdem einen Großteil der zehn Krieger lieferte, welche vom Tod für die Vernichtung ausersehen worden waren. Nur vorübergehend bedrückte den Tod der Gedanke an die guten Dienste, die Lithquil ihm im Lau-
fe vieler Jahre geleistet hatte; auch die besten Diener müssen eines Tages in Pension gehen oder das Gnadenbrot essen, und in keiner Welt, die dem Tod bekannt war, und schon gar nicht in Nehwon, herrschte ein Mangel an Todbringern – bereitwillig oder leidenschaftlich ergeben, unglaublich standhaft und exquisit-exotisch. So kam es, daß der Tod, als er das Bild wahrnahm, bereits seinen befehlenden Gedanken losschickte und der hintere Ghul die unsichtbaren Augen hob, bis sich die rotumränderten schwarzen Schädelöffnungen auf Lithquil richteten. Ehe die Wächter links und rechts des Herzogs ihre schweren Schilde zum Schutze ihres Herrn bewegen konnten, war die kurze Axt des Ghuls, bereits zu einem weit ausholenden Schlag erhoben, durch die sich schließende Lücke gewirbelt und hatte sich in Lithquils Nase und Stirn gegraben. Ehe Lithquil zusammensinken konnte, ehe einer der Zuschauer einen Pfeil auf die Sehne legen konnte, um den Mörder zu töten oder in Schach zu halten, ehe die nackte Sklavin, die dem überlebenden Gladiator als Preis winkte – ein Preis, der allerdings selten in Anspruch genommen wurde –, Atem holen und schrill losschreien konnte, hatte sich der magische Blick des Todes bereits auf Horborixen gerichtet, auf die Zitadellenstadt des Königs der Könige. Doch nicht dem Innern des Großen Goldenen Palasts galt sein Interesse, auch wenn er einen vagen Eindruck davon bekam, sondern dem Innern einer heruntergekommenen Werkstatt, in der ein sehr alter Mann auf seiner primitiven Pritsche lag und sich an die Decke starrend wünschte, das kühle Morgenlicht, das durch Fenster und Türspalten hereindrang, möge nie wie-
der die Spinnweben stören, die über ihm gespenstische Bögen und Pfeiler bildeten. Dieser Greis, der Gorex hieß, war Horborixens – und vielleicht ganz Nehwons – geschicktester Fachmann für Edelmetalle und andere Schmiedearbeiten und hatte zu seiner Zeit zahlreiche raffinierte Apparate erfunden. Inzwischen jedoch hatte er den Spaß an seiner Arbeit und überhaupt am Leben verloren, denn vor gerade zwölf Monden war seine Urenkelin Eesafem, seine letzte Nachfahrin und gelehrigste Schülerin, ein schlankes, hübsches, kaum erwachsenes Mädchen mit Mandelaugen, die einen stechenden Blick aussenden konnten, von den Haremshäschern des Königs der Könige entführt worden. So war seine Schmiede eiskalt, auf seinen Werkzeugen sammelte sich der Staub, und er hatte sich gänzlich dem Kummer hingegeben. Er war in der Tat so traurig, daß der Tod nur noch einen Tropfen seines eigenen melancholischen Humors in die schwarze Galle geben mußte, die langsam und elend durch Gorex' müde Adern pulsierte, woraufhin dieser schmerzlos verblich und eins wurde mit seinen Spinnweben. So! Der Tod hatte mit seinen langen, schlanken, perlmuttartigen Fingern nur zweimal schnalzen müssen, und der Aristokrat und der Handwerker waren abgehakt. Nun standen nur noch die beiden Helden auf der Liste. Noch zwölf Herzschläge. Der Tod war der festen Überzeugung, Helden sollten (wenn auch nur, um das Gesicht zu wahren) auf das melodramatischste von der Bühne des Lebens abtreten, und nur jedem fünfzigsten dürfe um der
Ironie willen ein Tod in hohem Alter und zwischen den Bettdecken gewährt werden. Er sah diese Notwendigkeit als dermaßen zwingend an, daß sie als Element der von ihm selbst geschaffenen Regeln den Einsatz äußerlich erkennbarer Zauberei gestattete und nicht mit Realismus verkleistert werden mußte, wie es im Falle normaler Lebewesen geschah. Zwei ganze Herzschläge lang lauschte er daher dem schwachen Summen seines gelassenen Verstandes, während er sich wieder mit perlmutterschimmernden Knöcheln die Schläfen massierte. Dann wandten sich seine Gedanken einem gewissen Fafhrd zu, einem ungehobelten und höchst romantischen Barbaren, der mit Füßen und Verstand dennoch fest auf dem Boden der Tatsachen stand, insbesondere wenn er sehr nüchtern oder sehr betrunken war; gleichermaßen beschäftigte sich der Tod mit seinem lebenslangen Gefährten, dem Grauen Mausling, dem womöglich klügsten und listigsten Dieb von ganz Nehwon, der auf jeden Fall aber mit der fröhlichsten oder bittersten Selbstgewißheit durchs Leben ging. Die Bedenken, die dem Tod in diesem Augenblick kamen, waren stärker und schwerwiegender, als er sie eben noch in Lithquils Fall empfunden hatte. Fafhrd und der Mausling waren ihm nämlich oft zu Diensten gewesen, und besser und auf vielseitigere Art als der Verrückte Herzog, der ohnehin dermaßen auf den Tod fixiert gewesen war, daß er schon zu schielen begonnen hatte, was den hier gewählten Schlußpunkt durch Axthieb höchst passend machte. Ja, der große vagabundierende Nordmann und der kleine, ironisch lächelnde und die Augenbrauen hebende Beutelschneider waren bei einigen der schön-
sten Spielzüge des Todes nützliche Figuren gewesen. Doch so großartig ein Spiel auch sein mag, irgendwann einmal ist jeder Spielstein an der Reihe, vom Brett genommen und in den Kasten geworfen zu werden, selbst wenn er die höchste Stufe erklommen hat und König oder Königin geworden ist. Dieser Gedanke ging dem Tod durch den Schädel, der durchaus wußte, daß auch er eines Tages sterben mußte, und so machte er sich an seine intuitivkreative Aufgabe, erbarmungsloser und schneller als je ein Pfeil oder eine Rakete oder eine Sternschnuppe vermocht hätten. Nach einem denkbar kurzen Blick in Richtung Südwesten auf die riesige, vom Morgen gerötete Stadt Lankhmar, bei dem er sich davon überzeugte, daß Fafhrd und der Mausling noch in ihrer wackligen Dachwohnung über einer Schänke hausten, die in der Mauerstraße nahe dem Marschtor den ärmeren Kaufleuten offenstand, wandte sich der Tod wieder der Blutarena des seligen Lithquil zu. Denn wie jeder große Künstler neigte er bei seinen Improvisationen dazu, leicht erreichbare Materialien einzusetzen. Lithquil war halb zusammengesunken. Die Sklavin hatte zu schreien begonnen. Der stärkste Berserker, auf dem großen Gesicht ein kämpferischer Zorn, der nur von Erschöpfung fortgewischt werden konnte, hatte Lithquils Mörder soeben den rosaroten, von unsichtbarem Fleisch umgebenen Schädel von der Schulter gehauen. Ungerechterweise, sogar idiotischerweise zischten etwa zehn Pfeile von der Galerie auf Lithquils Rächer zu; aber so scheinen die kleineren Flüche des Todes nun einmal nach außen hin zu wirken.
Der Tod ließ seinen Zauber eintreten, woraufhin der Berserker plötzlich nicht mehr vorhanden war. Die Pfeile gingen ins Leere, doch schon besann sich der Tod erneut auf seine Sparsamkeit beim Einsatz von Material und richtete den Blick wieder auf Horborixen, diesmal in eine ziemlich große Zelle inmitten vom Harem des Königs der Könige, erleuchtet durch hohe vergitterte Fenster. Seltsamerweise gab es in diesem Raum ein kleines Schmiedefeuer, ein Härtebad, zwei kleine Ambosse, mehrere Hämmer und andere Werkzeuge zur Metallbearbeitung wie auch einen kleinen Vorrat kostbarer und weniger kostbarer Metalle. In der Mitte der Zelle stand ein anmutig schlankes Mädchen, das nicht mehr als sechzehn Jahre alt war und sich mit mandelförmigen, scharfblickenden Augen in einem Silberspiegel betrachtete, mit einem Blick, der im Moment nicht weniger wild war als der des Berserkes. Bis auf vier Schmuckstücke aus Silberfiligran war sie unbekleidet, sie wirkte sogar ausgesprochen nackt, denn man hatte ihr bis auf die Augenlider alle Haare entfernt und sie an diesen Stellen in feinen grünen und blauen Mustern tätowiert. Sieben Monde bereits litt Eesafem Einzelhaft, weil sie bei einer Auseinandersetzung im Harem die Gesichter der Lieblingskonkubinen des Königs der Könige entstellt hatte, Zwillingen aus Ilthmar. Insgeheim war dem König dieser Zwischenfall nicht unlieb gewesen, brachte doch die Verwüstung seiner Lieblinge neuen Reiz in alte Gelüste. Trotzdem ging die Disziplin des Harems über alles: daher also Eesafems Einzelhaft, Haarverlust – eines nach dem anderen gezogen – und Tätowierungen.
Der König der Könige war eine sparsame Seele und erwartete von seinen Frauen und Konkubinen, daß sie sich nützlich machten, anstatt ewig zu faulenzen, zu baden, zu klatschen und sich zu streiten. So hatte man Eesafem ihr Schmiedefeuer und ihre Metalle überlassen, bestand doch kein Zweifel daran, daß sie sich auf diese Arbeit verstand, die darüber hinaus noch Gewinn abwerfen konnte. Aber obwohl sie regelmäßig arbeitete und auch eine Reihe schöner und raffinierter Gegenstände hervorbrachte, litt Eesafem doch sehr unter ihren zwölf Harems-Monden, von denen sie sieben in einer Einzelzelle verbracht hatte, und unter der bitteren Tatsache, daß der König der Könige sie noch niemals besucht hatte, weder aus amourösen noch aus anderen Gründen, trotz der hübschen Metallgeschenke, die sie für ihn fertigte. Auch andere Männer waren noch nicht bei ihr gewesen, mit Ausnahme der Eunuchen, die ihr Vorträge hielten über die erotischen Künste – vorher wurde sie sorgfältig festgebunden, denn sonst hätte sie sich wie eine Wildkatze über ihre rundlichen Gesichter hergemacht, und auch so spuckte sie sie oft genug an. Außerdem gab man ihr herablassende und detaillierte Ratschläge über ihre Arbeit, die sie ebenso hochmütig mißachtete wie alle anderen wohltönenden Worte der Eunuchen. Statt dessen begab sich ihre Kreativität, beflügelt durch sinnlose Eifersucht und einen schmerzhaften Freiheitsdrang, auf neue und verstohlene Wege. In dem Silberspiegel betrachtete sie vorsichtig die vier Schmuckstücke, die ihre schlanke, doch zugleich drahtig-kräftige Gestalt zierten. Es handelte sich um zwei Brustschalen und zwei Schienbeinschützer,
vorwiegend aus dünnem Silberfiligran, das zu ihren grünen und blauen Tätowierungen einen angenehmen Kontrast bildete. Einmal warf sie im Spiegel einen Blick über ihre Schulter, vorbei an dem nackten Schädel mit der phantastisch ausgearbeiteten Kopfhautverzierung, auf einen Silberkäfig, in dem ein grünblauer Papagei hockte, dessen Blick so eiskalt-böse war wie der ihre – eine ständige Erinnerung an ihre Gefangenschaft. Die einzige Besonderheit an den Filigranarbeiten waren die kurzen Spitzen, die aus den Brustschalen ragten, dort, wo sie sich über die Warzen wölbten, während die Schienbeinschützer am Knie in senkrechten, diamantförmigen Ausläufern endeten, die etwa daumengroß waren. Diese Ausschmückungen fielen nicht weiter auf, waren doch die Spitzen grünblau gefärbt, als sollten sie zu den Tätowierungen passen. Eesafem blickte sich also mit anerkennendem, wissendem Lächeln an – und wurde zugleich von einem noch wissenderen Blick gestreift, dem Blick des Todes, der sie weitaus kälter und abschätzender musterte, als jeder Eunuch es vermocht hätte. Im nächsten Augenblick verschwand sie aus ihrer Zelle. Und ehe der blaugrüne Papagei verwirrt krächzen konnte, hatten sich Augen und Ohren des Todes wieder anderen Zielen zugewandt. Nur noch sieben Herzschläge. Nun mag es auf der Welt Nehwon Götter geben, von denen nicht einmal der Tod weiß und die sich von Zeit zu Zeit den Spaß machen, ihm Hindernisse in den Weg zu legen. Vielleicht ist aber auch die Macht des Zufalls so groß wie die der Notwendigkeit.
Jedenfalls erwachte an diesem speziellen Morgen der Nordmann Fafhrd, der sonst bis zur Mittagsstunde döste, bereits mit dem ersten matten Silberstreifen der Dämmerung, ergriff seine geliebte Waffe ›Graywand‹, die so nackt war wie er, und begab sich blinzelnd von seiner Liege auf das Dach, wo er alle möglichen Schwertstreiche zu üben begann, indem er stampfend vorrückte und zurückwich und von Zeit zu Zeit ein lautes Kampfgeschrei anstimmte, ohne sich um die erschöpften Kaufleute zu kümmern, die weiter unten ächzend, fluchend oder angsterfüllt erwachten. Zuerst fröstelte ihn in der Kühle, im morgendlichen Dunst der Großen Salzmarsch, doch nach kurzer Zeit hatten ihn die Übungen ins Schwitzen gebracht, während seine Vorstöße und Parierbewegungen, die anfänglich sehr lässig ausgesehen hatten, blitzschnell und entschlossen kamen. Abgesehen von Fafhrd war es in Lankhmar ein ruhiger Morgen. Die Glocken hatten ihr Lied noch nicht angestimmt, und auch die großen Gongs schwiegen noch; sie würden das Hinscheiden des sanftmütigen Herrschers erst später verkünden, ebenso sollte sich erst noch herumsprechen, daß seine siebzehn Katzen eingefangen und in das große Gefängnis gebracht worden waren, um dort in Einzelzellen ihrem Prozeß entgegenzusehen. Der Zufall wollte es ferner, daß der Graue Mausling an diesem Tag bis zum Morgengrauen wachgelegen hatte, zu welcher Zeit er normalerweise schon etwa eine Stunde schlummerte. Er lag in der Ecke der Dachwohnung auf einem Haufen Kissen hinter einem niedrigen Tisch und hatte eine graue Wollrobe um sich gewickelt und das Kinn in die Hand gestutzt.
Von Zeit zu Zeit nippte er etwas sauren Wein und hing unangenehmen Gedanken nach, die sich vorwiegend um die bösen und unzuverlässigen Menschen drehten, die er während seines verwickelten Lebens kennengelernt hatte. Er achtete nicht auf Fafhrds Abgang und verschloß die Ohren vor dem lärmenden Hin und Her, doch je mehr er sich um den Schlaf bemühte, desto wacher fühlte er sich. Der rotäugige Berserker mit Schaum vor dem Mund materialisierte vor Fafhrd, als dieser eben eine geduckte Abwehrhaltung eingenommen hatte, die Schwerthand vorgestreckt, die Klinge schräg nach oben geneigt. Ihn verblüffte die Erscheinung, die, von keiner Vernunftregung gehemmt, dem Nordling sofort den Kopf abzuschlagen versuchte – mit einem sägezahnbewehrten Krummsäbel, der eher wie eine zusammengeschmiedete Reihe kurzer, breiter Dolche aussah, frisch in Blut getaucht. Fafhrd reagierte automatisch, spreizte die Beine und lenkte den Hieb des Berserkers ab; das gekrümmte Schwert sirrte über Fafhrds Kopf dahin und ließ dabei ein Klappern ertönen, als würde eine Stahlstange an einem eisernen Zaun entlanggezogen, so traf jeder scharfe Vorsprung auf der Klinge gegen die Klinge des Nordmannes. Dann siegte die Vernunft, und ehe der Berserker zu einem rückhändigen Gegenschlag ausholen konnte, beschrieb ›Graywands‹ Spitze einen sauberen, schnellen Kreis im Gegenuhrzeigersinn und zuckte aufwärts zum Schwertarm des Berserkers, woraufhin Waffe und Hand harmlos zur Seite wirbelten. Fafhrd wußte wohl, es war weitaus sicherer, einen dermaßen aufgedrehten Gegner zuerst zu entwaffnen – oder zu enthanden? –, ehe er ihm die Klinge ins Herz stieß –
was Fafhrd nun aber schleunigst nachholte. Unterdessen zeigte sich der Mausling nicht minder erstaunt von dem plötzlichen Erscheinen Eesafems in der Mitte der Dachwohnung. Ihm war, als wäre einer seiner ausgefallenen erotischen Träume Wahrheit geworden. Er riß die Augen auf, als sie lächelnd einen Schritt auf ihn zutat, ein wenig in die Knie ging, ihre Vorderseite sorgfältig auf ihn ausrichtete und dann die Oberarme eng an die Seiten preßte, so daß das Filigranband, das die Brustschalen hielt, zusammengedrückt wurde. In ihren Mandelaugen stand ein unheimliches grünes Blitzen. Den Mausling rettete in diesem Augenblick nur seine grundlegende Abneigung, spitze Gegenstände auf sich gerichtet zu sehen, mochten sie auch noch so klein sein – oder eben spielerisch-drohende Nadeln auf exquisiten Silberschälchen, die zweifellos zwei exquisite Brüste verhüllten. Er warf sich zur Seite, als bereits mit leisem Sirren zwei kleine, aber kräftige Sprungfedern in Aktion traten und vergiftete Bolzen wie Armbrustgeschosse auf den Weg schickten. Mit dumpfem Laut bohrten sie sich in die Wand, an der er eben noch gelehnt hatte. Schon rappelte er sich auf und warf sich auf das Mädchen. Der Verstand – vielleicht aber auch die Intuition – gab ihm ein, warum sie nach den beiden schwarzen Spitzen griff, die oben aus ihren silbernen Beinschützern herausragten. Sie umwerfend, griff er als erster zu, zog die beiden Stilette an den schwarzen Griffen heraus und schleuderte sie hinter Fafhrds zerwühltes Bett. Er umklammerte sie mit den Beinen, bis sie ihm nicht mehr in den Unterleib treten konnte, nahm den
zuschnappenden und fauchenden Kopf unter den Arm, den er darüber hinaus noch an einem Ohr festhielt – nachdem er vergeblich nach Haar getastet hatte – und machte sich allmählich und nicht übermäßig brutal daran, das Mädchen zu vernaschen. Ihre Gegenwehr erlahmte mit der Zeit; die Kleine wurde ruhiger und kooperativer. Ihre Brüste erwiesen sich als sehr klein, aber doppelt entzückend. Fafhrd, der verwirrt vom Dach hereinkam, riß bei dieser Szene nun seinerseits die Augen auf. Wie hatte es der Mausling nur geschafft, das leckere Geschöpf in die Wohnung zu schmuggeln? Nun ja, es ging ihn nichts an. Mit einem höflichen »Verzeihung, macht bitte weiter« schloß er die Tür hinter sich und widmete sich der Aufgabe, den toten Berserker loszuwerden. Dies erreichte er ohne Umschweife, indem er den Toten hochstemmte, und drei Stockwerke tief auf den Abfallhaufen fallen ließ, der die Gespenstergasse beinahe völlig versperrte. Als nächstes nahm Fafhrd den Krummsäbel an sich, Löste die verkrampfte Hand davon und warf sie ebenfalls vom Dach. Dann blickte er stirnrunzelnd auf die rote Waffe, die er als Souvenir zu behalten gedachte, und fragte sich nutzlos: »Wessen Blut mag das sein?« (Eesafem loszuwerden war ein Problem, das sich keiner ebenso schnellen Lösung zuführen ließ. Jedenfalls verlor sie mit der Zeit viel von ihrer Wildheit und ein wenig von ihrem Haß auf die Menschen. Sie beherrschte das Lankhmarische bald fließend und wurde schließlich einigermaßen glücklich mit einem eigenen kleinen Schmuckladen im Kupferhof hinter der Silberstraße; dort fertigte sie wunderschöne Schmuckstücke und verkaufte unter der Hand Kurio-
sitäten wie die besten Giftnadelringe in ganz Nehwon.) Unterdessen erkannte der Tod, für den die Zeit doch etwas anders verläuft als für die Menschen, daß ihm nur noch zwei Herzschläge blieben, das ihm zugeteilte Soll zu erfüllen. Das denkbar schwache Aufflackern der Erregung, das ihn durchrieselt hatte, als die beiden erwählten Helden seine brillanten Improvisationen über den Haufen warfen und er sich klarmachte, daß es vielleicht tatsächlich Kräfte im Universum gab, die er nicht kannte und die noch subtiler wirkten als er selbst – wich ironischem Widerwillen bei der Erkenntnis, daß er keine Zeit mehr hatte für Kunstfertigkeit und indirektes Vorgehen, sondern daß er sich nun persönlich einschalten mußte – etwas, das er verabscheute, da ihm der Deus ex Machina stets als schwächstes Requisit des Lebens – oder der Literatur – vorgekommen war. Sollte er Fafhrd und den Mausling direkt töten? Nein, sie hatte ihn irgendwie überlistet, was ihnen für eine gewisse Zeit Immunität eintragen sollte, wenn es auf der Welt irgendwie gerecht zuging. Außerdem hätte ein solches Vorgehen nach Zorn ausgesehen oder gar nach Entrüstung. Auf seine Weise sah der Tod sein Geschäft durchaus sportlich, auch wenn er sich gelegentlich und beinahe unvermeidlich über die Regeln hinwegsetzen mußte. Mit einem leisen, unwilligen Seufzen versetzte sich der Tod in den königlichen Garderaum des Großen Goldenen Palasts von Horborixen, wo er mit beinahe unsichtbar schnellen und rücksichtsvollschmerzlosen Stichen zwei ehrenwerten und schuldlosen Helden das Leben nahm, die er dort bisher nur
nebenbei wahrgenommen hatte, nicht ohne zu versäumen, sie in seinem umfassenden und unfehlbaren Gedächtnis zu verankern, zwei Brüder, die sich verpflichtet hatten, im ewigen Zölibat zu leben und mindestens einmal im Monat ein Mädchen aus großer Gefahr zu erretten. So wurden sie nun aus ihrem schweren Leben erlöst, und der Tod kehrte auf seinen niedrigen Thron in dem bescheidenen Schloß im Schattenreich zurück, um dort seinen düsteren Gedanken nachzuhängen und den nächsten Auftrag zu erwarten. Der zwanzigste Herzschlag dröhnte. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Schlück
Schönheit und Ungeheuer Ohne Zweifel war sie das schönste Mädchen Lankhmars oder ganz Nehwons oder aller anderen Welten. Kein Wunder, daß Fafhrd, der rothaarige Nordmann, und der Graue Mausling, der dunkelhäutige und katzengesichtige Mann aus dem Süden, sich an ihre Fersen hefteten. Sie hatte einen höchst absonderlichen Namen – Slenya Akkiba Magus, die bezauberndste Brünette auf allen Welten und zugleich auf seltsame Weise auch die verwirrendste Blondine. Unsere beiden Freunde wußten, daß sie so hieß, weil jemand sie mit diesem Namen angerufen hatte, als sie vor ihnen durch die Pinchbeckgasse glitt, die parallel zur Goldstraße verläuft; sie hatte einen Augenblick lang gezögert und sich dann sichtlich zusammengenommen, wie es geschieht, wenn man überraschend beim Namen genannt wird, und war dann weitergegangen, ohne sich umzudrehen. Die beiden sollten nie erfahren, wer da gerufen hatte. Vielleicht jemand, der sich auf einem Dach befand. Im Vorbeigehen schauten sie in den Sequinhof hinein, der aber leer war. Ebenso der Narrengoldhof. Slenya war zwei Zoll größer als der Graue Mausling und zehn kleiner als Fafhrd – für ein Mädchen die richtige Größe. »Sie gehört mir«, flüsterte der Graue Mausling mit großer Bestimmtheit. »Nein, mir!« gab Fafhrd mit einer Beiläufigkeit zurück, die keinen Widerspruch duldete. »Natürlich könnten wir sie uns teilen«, meinte der
Mausling einsichtsvoll. In diesem Vorschlag lag eine verrückte Logik, denn erstaunlicherweise war das Mädchen auf der rechten Seite völlig schwarz und auf der linken ausgesprochen blond. Die Trennlinie war auf ihrem Rücken deutlich auszumachen, durch das ungewöhnlich dünne beigefarbene Seidenkleid. Die beiden Farben stießen genau in der Mitte der Kehrseite aufeinander. Auf der hellen Seite war ihr Haar blond, auf der dunklen Seite brünett. In diesem Augenblick erschien ein ebenholzschwarzer Krieger aus dem Nichts und attackierte Fafhrd mit einem Krummsäbel aus hellem Metall. Fafhrd zog hastig ›Graywand‹ und parierte. Der Krummsäbel wurde zerschmettert, und Metallstücke flogen herum. Fafhrd zog Graywand in einem Kreis herum und schlug seinem Gegner den Kopf ab. Unterdessen sah sich der Mausling urplötzlich einem elfenbeinweißen Krieger gegenüber, der einem anderen Nichts entsprungen war, bewaffnet mit einem versilberten Stahlrapier. Der Mausling führte mit zuckender Bewegung ›Skalpell‹ in den Kampf, blokkierte die Klinge des anderen und bohrte ihm seine Klinge ins Herz. Die beiden Freunde beglückwünschten sich zu ihrem Sieg. Dann sahen sie sich um. Abgesehen von den Toten war die Pinchbeckgasse leer. Slenya Akkiba Magus war verschwunden. Die Freunde grübelten fünf Herzschläge und zwei Atemzüge lang darüber nach. Dann glättete sich Fafhrds Stirn, seine Augen weiteten sich. »Mausling«, sagte er, »das Mädchen hat sich in die
beiden Bösewichter geteilt! Das erklärt alles! Sie stammten aus demselben Nirgendwo.« »Aus demselben Irgendwo, meinst du wohl«, gab der Mausling zurück. »Eine höchst exotische Methode der Vermehrung. Oder vielmehr Verschmelzung.« »Dazu begleitet von einer Geschlechtsumwandlung«, fügte Fafhrd hinzu. »Wenn wir die Toten untersuchen, können wir vielleicht ...« Sie sahen sich um und mußten feststellen, daß die Pinchbeckgasse noch leerer geworden war. Die beiden Angreifer lagen nicht mehr auf den Pflastersteinen. Sogar der abgeschlagene Kopf ruhte nicht mehr vor der Mauer, gegen die er gerollt war. »Eine ausgezeichnete Methode, Leichen loszuwerden«, meinte Fafhrd anerkennend. Seine Ohren hatten die Schritte und das bronzene Klirren einer näher kommenden Wache aufgefangen. »Sie hätten wenigstens noch so lange bleiben können, bis wir ihnen die Taschen nach Edelsteinen und anderen Wertsachen abgesucht hätten«, beklagte sich der Mausling. »Aber was sollte das Ganze?« rätselte Fafhrd. »Ein schwarz-weißer Zauberer ...?« »Ziegel ohne Stroh zu machen ist sinnlos«, unterbrach ihn der Mausling. »Begeben wir uns in den Goldenen Lampion, um dort auf das Mädchen zu trinken, das wirklich eine Augenweide war.« »In der Tat. Und zwar auf passende Weise mit dem schwärzesten Bier und dem hellsten perlenden Wein aus Ilthmar!« Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Schlück
Gefangene im Schattenland Fafhrd und der Graue Mausling waren dem Verdursten nahe. Ihre Pferde waren bereits am letzten Wasserloch verendet, das sich als ausgetrocknet erwiesen hatte. Der letzte Inhalt ihrer Wasserflaschen, ergänzt durch Wasser aus ihren Körpern, hatte nicht genügt, die lieben dummen Reittiere am Leben zu erhalten. Wie allgemein bekannt, sind nur Kamele in der Lage, einen Menschen länger als einen oder zwei Tage durch die beinahe übernatürlich heißen und trockenen Wüsten Nehwons zu tragen. Die Freunde bewegten sich in südwestlicher Richtung im Schein der grellen Sonne, ihre Füße schleppten sich durch den brennenden Sand. Obwohl sie sich in einer Notlage befanden und ihre Körper und Gedanken vom Fieber angegriffen waren, verfolgten sie mit dieser Richtung eine Absicht. Gerieten sie zu weit nach Süden, fielen sie dem grausamen Herrscher der Länder des Ostens in die Hände, der sich einen Spaß daraus machen würde, seine Opfer vor dem Töten ausgiebig zu foltern. Kamen sie aber zu weit nach Osten, drohte ihnen eine Begegnung mit den gnadenlosen Mingols der Steppen und anderen Schrecknissen. Im Westen und Nordwesten befanden sich die Wesen, von denen sie im Augenblick verfolgt wurden, während im Norden und Nordosten das Schattenland lag, die Heimat des Todes persönlich. Soweit war ihnen die Geographie Nehwons bestens bekannt. Unterdessen hatte der Tod in seinem geduckten Schloß im Herzen des Schattenlandes ein schwaches Lächeln aufgesetzt, war er doch überzeugt, die beiden
unzugänglichen Helden endlich in seinem knochigen Griff zu haben. Vor Jahren hatten sie die Frechheit besessen, in sein Reich einzudringen, um die Geliebten ihrer Jugend zu besuchen, Ivrian und Vlana; dabei hatten sie aus diesem Schloß sogar die Lieblingsmaske des Todes gestohlen. Diese Kühnheit sollte ihnen jetzt leid tun. Der Tod sah aus wie ein großer, hübscher junger Mann, der allerdings etwas mager wirkte und einen durchscheinenden Teint besaß. In diesem Augenblick starrte er auf eine große Karte des Schattenlandes und der umliegenden Gebiete, die in eine dunkle Mauer seines Schlosses eingelassen war. Auf dieser Karte waren Fafhrd und der Mausling als ein schimmernder Punkt dargestellt, gleich einem wandernden Stern oder einem Glühwürmchen; sie befanden sich südlich des Schattenlandes. Der Tod kräuselte die dünnen lächelnden Lippen und bewegte die Fingerspitzen in unmerklichen kabbalistischen Kurven, zur Unterstützung eines kleinen, aber schwierigen Zaubers. Dann verfolgte er zufrieden, wie sich auf der Karte eine südliche Spitze des Schattenlandes sichtlich erweiterte und den schimmernden Fleck, der seine Opfer darstellte, zu verfolgen begann. Fafhrd und der Mausling setzten ihren Weg nach Süden fort, sie hatten zu torkeln begonnen, Füße und Köpfe schienen in Flammen zu stehen, kostbarer Schweiß rann ihnen über das Gesicht. Nahe der Stadt der Geister am See der Ungeheuer hatten sie ihre neuesten Freundinnen gesucht, der Mausling seine Reetha und Fafhrd seine Kreeshka, die selbst ein Gespenst war, mit unsichtbarem Blut und Fleisch, was
ihre hübschen rosa Knochen um so deutlicher hervortreten ließ, während Reetha am liebsten nackt durchs Leben ging und kahlrasiert vom Schädel bis zur Zehe, eine Vorliebe, die die beiden Mädchen ähnlich und einander sympathisch machte. Der Mausling und Fafhrd waren aber lediglich auf eine Horde wilder männlicher Ghuls gestoßen, von denen sie auf nicht minder skeletthaften Pferden nach Südosten gejagt worden waren, in der Absicht, sie entweder zu töten oder verdursten zu lassen oder sie in die Arme des Königs der Könige zu treiben, in dessen Verliesen sie elend verkommen wären. Die Mittagsstunde war herangerückt, und die Sonne brannte am heißesten. Fafhrds linke Hand berührte in der trockenen Hitze einen kühlen Zaun, der etwa zwei Fuß hoch war, zuerst unsichtbar, aber doch bald dem Auge klar erkennbar. »Flieh in die feuchte Kühle«, sagte er mit brechender Stimme. Eifrig kletterten sie über den Zaun und warfen sich in das angenehm dichte dunkle Gras, über dem ein feiner Dunst niederging. Sie schliefen etwa zehn Stunden lang. Als die nach Süden kriechende Zunge des Schattenlandes das Diamantfunkeln berührte und dämpfte, gestattete sich der Tod ein dünnes Lächeln und wandte sich von der Landkarte ab. Erfrischt von dem langen Schlaf erwachten die beiden Abenteurer wieder; am östlichen Himmel stieg Astorian auf, der größte Stern von Nehwon; obwohl sich der Dunst verzogen hatte, war nur er als einziger Stern sichtbar. Erregt sprang der Mausling auf; er trug seine graue
Kapuze, Tunika und Rattenlederschuhe. »Wir müssen zurück in die heiße Trockenheit fliehen«, sagte er, »denn dies ist das Schattenland, die Heimat des Todes.« »Ein sehr gemütlicher Ort«, erwiderte Fafhrd und streckte auf dem dichten Gras genießerisch die mächtigen Muskeln. »Wir sollen in das salzige, körnige, rauhe, lodernde Sandmeer zurückkehren? Ohne mich!« »Aber wenn wir bleiben«, wandte der Mausling ein, »werden uns teuflische, irreführende Erscheinungen willenlos in das niedrige Schloß des Todes locken. Ihn haben wir einst erzürnt, indem wir ihm eine Maske stahlen und sie zur Hälfte unseren Zauberern Sheelba und Ningauble gaben, eine Tat, wegen der uns der Tod nicht gerade ins Herz geschlossen haben wird. Außerdem könnten wir dort auf unsere beiden einstigen Mädchen stoßen, Ivrian und Vlana, die heute Konkubinen des Todes sind, und das wäre kein angenehmes Erlebnis.« Fafhrd zuckte unwillkürlich zusammen, gab aber nicht so schnell auf. »Es ist trotzdem gemütlich hier.« Ein wenig verlegen bewegte er die mächtigen Schultern und streckte seine sieben Fuß auf dem angenehm feuchten Gras aus. (Mit den »sieben Fuß« ist natürlich seine Körpergröße gemeint. Er war beileibe kein Krake, sondern ein gutaussehender rotbärtiger und sehr großer Barbar.) Der Mausling ließ nicht locker. »Aber wenn deine Vlana nun plötzlich vor dir stünde, mit blauem Gesicht und lieblosem Blick? Oder meine Ivrian in ähnlicher Verfassung?« Diese Frage hatte die gewünschte Wirkung. Fafhrd
sprang auf und griff dabei nach dem niedrigen Zaun. Der aber war nicht in Reichweite. Der feuchte, dunkelgrüne Rasen des Schattenlandes erstreckte sich weit in alle Richtungen. Unterdessen hatte sich der Nieselregen wieder verstärkt und Astorian verhüllt. Eine Orientierung war unmöglich. Der Mausling wühlte in seinem Rattenlederbeutel herum und zog eine blaue Knochennadel heraus. Ehe er sie fand, stach er sich daran und fluchte. Das Gebilde war an einem Ende verteufelt scharf, am anderen rund und durchbohrt. »Wir brauchen einen Teich oder eine Pfütze«, sagte er. »Woher hast du das Spielzeug?« wollte Fafhrd wissen. »Ist hier Zauberei im Spiel?« »Von Nattick Flinkfinger dem Schneider aus dem großen Lankhmar«, gab der Mausling zurück. »Nichts von Zauberei! Von Kompaßnadeln wirst du doch schon gehört haben, du kluger Bursche!« Ein Stück entfernt fanden sie eine flache Pfütze im Gras. Vorsichtig ließ der Mausling seine Nadel auf dem kleinen, klaren Wasserspiegel schwimmen. Sie drehte sich langsam und kam schließlich zur Ruhe. »Wir gehen in diese Richtung«, bestimmte Fafhrd und wies dabei auf das durchbohrte Ende der Nadel. »Nach Süden.« Ihm war klar, daß die Spitze auf das Herz des Schattenlandes zeigen mußte – auf den Todespol Nehwons, wie man ihn nennen könnte. Für einen Augenblick fragte er sich, ob es auf der anderen Seite der Welt einen zweiten solchen Pol gab – vielleicht den Lebenspol. »Trotzdem brauchen wir die Nadel noch«, fügte der Mausling hinzu und steckte die Nadel ein, wobei
er sich wieder stach. »Vielleicht geht uns der richtige Weg noch einmal verloren.« »Ha! Wah-wah-wah-hah!« brüllten drei Berserker, die geschmeidig aus dem Nebel herbeihuschten. Sie saßen schon seit langer Zeit in den Verwerfungen des Schattenlandes fest, unwillig, zum Schloß des Todes vorzurücken und dort den Tod oder Walhall vorzufinden, oder einen Fluchtversuch zu unternehmen. Zum Kämpfen aber waren sie stets bereit. Sie stürzten sich auf Fafhrd und den Mausling, unbekleidet und mit blanken Klingen. Zehn Herzschläge lang wurde mit klirrenden Schwertern gekämpft, dann hatten die beiden Freunde die Angreifer getötet. Allerdings mochte das Töten im Reich des Todes zumindest eine Ordnungswidrigkeit sein, sagte sich der Mausling – etwa als wildere man in fremdem Revier. Fafhrd zog sich eine unbedeutende Schnittwunde am Bizeps zu, die vom Mausling sorgsam verbunden wurde. »Mann!« sagte Fafhrd. »Wohin hat die Nadel eben gezeigt? Ich habe mich mehrmals im Kreise gedreht.« Sie fanden denselben oder einen anderen Pfützenspiegel, ließen die Nadel schwimmen, stellten erneut die Südrichtung fest und setzten ihre Wanderung fort. Zweimal versuchten sie dem Schattenland zu entfliehen, indem sie die Richtung wechselten – einmal nach Osten, einmal nach Westen. Doch ohne Erfolg. Wohin sie sich auch wandten – vor ihnen erstreckte sich weicher Rasen und ein dunstiger Himmel. Also verließen sie sich auf Natticks Nadel und hielten weiter auf Süden zu. Zum Essen töteten sie schwarze Lämmer aus den
schwarzen Herden, auf die sie stießen, ließen die Körper ausbluten, häuteten sie und rösteten das zarte Fleisch über Feuern aus dem Holz vereinzelt stehender schwarzer Bäume und Büsche. Das junge Fleisch war sehr saftig. Zu trinken gab es Tau. Immer wieder grinste der Tod in seiner geduckten Burg, wenn er die Landkarte betrachtete, auf der sich die schwarze Zunge seines Territoriums magisch nach Südwesten ausdehnte, an seinem Rand der matte Funke seiner Opfer. Er bemerkte, daß die Gespensterkavallerie, vor der die beiden ursprünglich geflohen waren, am Rande seines Sumpflandes haltgemacht hatte. Doch plötzlich lag ein besorgter Anflug im Lächeln des Todes. Von Zeit zu Zeit erschien eine winzige senkrechte Falte auf der glatten, durchscheinenden Stirn, denn er mußte sich Mühe geben, den geographischen Zauber aufrechtzuerhalten. Die schwarze Zunge kroch weiter über die Karte, vorbei an Sarheenmaar und am diebischen Ilthmar, dem Sinkenden Land entgegen. Die beiden am Binnenmeer liegenden Städte waren entsetzt von dem Eindringen des feuchten Rasens und des dunstigen Himmels und dankten ihren degenerierten Göttern, daß der unheildrohende Einfluß knapp an ihnen vorbeiwanderte. Die schwarze Zunge durchquerte nun das Sinkende Land und wandte sich genau nach Westen. Das Stirnrunzeln des Todes hatte sich verstärkt. Am Sumpftor von Lankhmar wurden der Mausling und Fafhrd von ihren magischen Mentoren erwartet, die Augenlosen Sheelba und dem Siebenäugigen Ningauble.
»Was hast du nur gemacht?« wandte sich Sheelba mit strenger Stimme an den Mausling. »Und du?« wollte Ningauble von Fafhrd wissen. Der Mausling und Fafhrd befanden sich noch immer im Schattenland, während die beiden Zauberer außerhalb standen; die Grenze verlief zwischen ihnen. Sie unterhielten sich also wie zwei Gruppen auf entgegengesetzten Seiten einer schmalen Straße, die zur Hälfte trocken und sonnig ist, zur Hälfte aber von einem Tropenregen heimgesucht wird – in diesem Falle bestand die sonnige Seite allerdings aus den stinkenden Ausdünstungen Lankhmars. »Ich habe Reetha gesucht«, erwiderte der Mausling zur Abwechslung einmal ehrlich. »Und ich Kreeshkra«, sagte Fafhrd mutig, »aber dann wurden wir von einer berittenen Ghulschar gehetzt.« Ningauble schob sechs seiner sieben Augen aus der Kapuzenöffnung und musterte Fafhrd forschend. Streng sagte er: »Kreeshkra war deines unheilbar lokkeren Lebenswandels überdrüssig und ist endgültig zu den Ghuls zurückgekehrt; dabei hat sie Reetha mitgenommen. Ich würde dir raten, dich statt dessen um Frix zu kümmern.« Damit meinte er eine erstaunliche Frau, die bei dem Abenteuer mit den Rattenscharen keine geringe Rolle gespielt hatte, eine Angelegenheit, in die auch das Ghulmädchen Kreeshkra verwickelt gewesen war. »Frix ist eine mutige, hübsche und bemerkenswert zurückhaltende Frau«, sagte Fafhrd sinnend. »Aber wie erreiche ich sie? Sie befindet sich in einer anderen Welt, in der Welt der Luft.« »Und dir gebe ich den Rat, Hisvet aufzusuchen«,
wandte sich die Augenlose Sheelba grimmig an den Mausling. Die formlose Schwärze in der Kapuze dieser Zauberin verdichtete sich (vor Konzentration) womöglich noch mehr. Sie meinte eine weitere Frau, die bei dem Rattenabenteuer mitgewirkt hatte, ebenso wie Reetha. »Ein großartiger Einfall«, gab der Mausling zurück, der nicht verhehlte, daß er Hisvet allen anderen Mädchen vorzog, zumal er ihre Gunst noch nie hatte genießen dürfen, wenn er auch mehrmals dicht daran gewesen war. »Allerdings dürfte sie sich tief unter der Erde befinden und ihre Rattengestalt angenommen haben. Wie soll ich also vorgehen? Wie? Wie?« Wenn Sheelba und Ningauble hätten lächeln können, wären sie jetzt dazu in Stimmung gewesen. Doch Sheelba sagte lediglich: »Es betrübt mich, euch beide im Dunst zu sehen, wie zwei Helden in einer Rauchwolke.« Ohne Absprache tat sie sich mit Ningauble zusammen und schuf einen kleinen, aber sehr schwierigen Zauber. Nach schwacher Gegenwehr zog sich das Schattenland mitsamt seinem Nieselregen in östlicher Richtung zurück und setzte die beiden Helden demselben Sonnenschein aus, den auch ihre Helfer genossen. Allerdings verblieben zwei unsichtbare Punkte dunklen Nebels, die sich in das Fleisch Fafhrds und des Mauslings bohrten und sich für immer um ihre Herzen legten. Weit entfernt gestattete sich der Tod einen leisen Fluch, der die hohen Götter entsetzt hätte, wären sie imstande gewesen, ihn zu hören. Mit Dolchblicken starrte er auf seine Landkarte mit der zurückweichenden schwarzen Landzunge. Der Tod war verbit-
tert. Wieder war ihm der Erfolg versagt geblieben! Ningauble und Sheelba taten einen weiteren unmerklichen Zauber. Plötzlich schoß Fafhrd in die Luft empor, er wurde immer kleiner, bis er schließlich verschwunden war. Ohne sich vom Fleck zu rühren, wurde der Mausling ebenfalls kleiner, bis er weniger als einen Fuß hoch aufragte – eine Größe, die für Hisvet gerade richtig war – im wie außerhalb des Bettes. Er verschwand im nächsten Rattenloch. Keiner der beiden Vorgänge war so bemerkenswert, wie er sich anhört, ist doch Nehwon lediglich eine Blase, die sich durch das Wasser der Unendlichkeit bewegt. Die beiden Helden verbrachten ein angenehmes Wochenende bei ihren Damen. »Ich weiß nicht, warum ich solche Dinge tue«, sagte Hisvet mit leichtem Lispeln und streichelte den Mausling an intimster Stelle; lang ausgestreckt lagen die beiden auf seidenen Laken. »Muß wohl daran liegen, daß ich dich verabscheue.« »Eine angenehme und überaus nützliche Begegnung«, äußerte sich Frix gegenüber Fafhrd in einer ähnlichen Situation. »Es ist mein Fluch, daß ich mich ab und zu gern mit den niederen Tieren abgebe. Das könnten manche bei einer Königin der Lüfte für Schwäche halten.« Nach dem Höhepunkt des Ereignisses wurden Fafhrd und der Mausling automatisch nach Lankhmar zurückgezaubert und begegneten einander in der Billigstraße bei Nattick Flinkfingers schmalem, schmutzig wirkendem Laden. Der Mausling hatte seine richtige Größe wieder.
»Du scheinst einen Sonnenbrand zu haben«, sagte er zu seinem Gefährten. »Eher einen Raumbrand«, berichtigte ihn Fafhrd. »Frix lebt in einem erstaunlich fernen Land. Du aber, alter Freund, siehst bleicher aus als üblich.« »Da sieht man wieder, wie drei Tage unter der Erde den Teint beeinträchtigen«, gab der Mausling zurück. »Komm, trinken wir was im Silbernen Aal!« Ningauble saß in seiner Höhle bei Ilthmar und Sheelba in der beweglichen Hütte in der Großen Salzmarsch; beide Zauberer lächelten, wenn ihnen auch die Gesichtszüge für diesen Ausdruck fehlten. Sie wußten sehr wohl, daß sie sich ihre Protegés einmal mehr verpflichtet hatten. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Schlück
Der Köder Fafhrd aus dem Norden träumte von einem riesigen Goldhaufen. Der Graue Mausling, der aus dem Süden kam und sich auf seine wetteifernde Art schlauer anstellte, erträumte sich einen Haufen Diamanten. Er hatte die gelben Steine noch nicht alle aussortiert, doch er vermutete, daß sein schimmernder Haufen bereits mehr wert war als der schimmernde Schatz, den Fafhrd vor sich liegen hatte. Woher er in seinem Traum wußte, was Fafhrd im gleichen Augenblick träumte, war allen Lebewesen in Nehwon ein Rätsel, außer vielleicht der Augenlosen Sheelba und dem Siebenäugigen Ningauble, den Zauberern und Mentoren des Mauslings und Fafhrds. Vielleicht spielte dabei ein übergreifender düsterer Grundverstand mit, der von beiden geteilt wurde. Sie erwachten gleichzeitig, Fafhrd ein wenig langsamer, und richteten sich in ihren Betten auf. Am Fußende zwischen den Liegen befand sich ein Wesen, das ihre Aufmerksamkeit erweckte. Es wog etwa achtzig Pfund, war ungefähr vier Fuß und acht Zoll groß, hatte langes, glattes schwarzes Haar und außerdem eine elfenbeinweiße Haut und war so exquisit geformt wie eine schmale Schachfigur des Königs der Könige, aus einem einzelnen Mondstein geschnitzt. Das Wesen schien dreizehn Jahre alt zu sein, doch seine Lippen lächelten kühle, selbstüberzogene Siebzehn, während die schimmernd tiefen Augenseen die erste blaue Schmelze der Eiszeit offenbarten. Natürlich war sie nackt.
»Mir gehört sie!« sagte der Graue Mausling, der aus dem Stand schnell zu reagieren vermochte. »Nein, mir!« rief Fafhrd beinahe gleichzeitig, räumte aber mit dem einleitenden »Nein« ein, daß der Mausling der erste gewesen war oder er zumindest damit gerechnet hatte, daß der Mausling sich als erster äußerte. »Ich gehöre mir selbst und niemandem sonst, bis auf zwei oder drei mannhafte Halbteufel«, sagte das kleine nackte Mädchen, wobei sie die beiden allerdings nacheinander nymphomanisch lasziv musterte. »Wir kämpfen um sie«, schlug der Mausling vor. »Ja«, sagte Fafhrd und zog mit langsamer Bewegung ›Graywand‹ aus der Scheide neben seiner Liege. Gleichzeitig zog der Mausling ›Skalpell‹ aus der Rattenlederhülle. Die beiden Helden erhoben sich von ihren Betten. In diesem Augenblick erschienen ein Stück hinter dem Mädchen zwei Personen – anscheinend aus dem Nichts kommend. Beide waren mindestens neun Fuß groß. Sie mußten sich ducken, um nicht gegen die Decke zu stoßen. Spinnweben kitzelten sie an den spitzen Ohren. Das Wesen auf der Seite des Mauslings war so schwarz wie Schmiedeeisen. Mit schneller Bewegung zog es ein Schwert, das aus demselben Material geschmiedet zu sein schien. Im gleichen Augenblick wies der andere, der knochenweiß schimmerte, ein silbern aussehendes Schwert vor, das silbern plattiert war. Der neun Fuß große Bursche vor Mausling holte zu einem gewaltigen Schlag aus, der ihm den Schädel hätte zerschmettern müssen. Der Mausling parierte rechtzeitig, und die Waffe seines Gegners wirbelte
kreischend nach links. Daraufhin schlug der Mausling mit einer energischen gegenläufigen Bewegung dem schwarzen Ungeheuer den Kopf ab, der mit einem entsetzlichen Klappern zu Boden fiel. Der weißliche Gegner Fafhrds vertraute auf einen nach unten gerichteten Stoß. Der Nordling jedoch ließ seine Waffe im Gegenuhrzeigersinn schwingen und stieß ihm die Klinge in den Leib, wobei das silbrige Schwert seine rechte Schläfe um Haaresbreite verfehlte. Trotzig stampfte die Nymphe mit nacktem Fuß auf und verschwand in der Luft oder vielleicht im Nirgendwo. Der Mausling machte Anstalten, seine Klinge am Bettzeug abzuwischen, stellte aber fest, daß dazu keine Veranlassung bestand. Er zuckte die Achseln. »Pech für dich, Genosse«, sagte er spöttischbekümmert. »Jetzt wirst du das leckere Ding nicht auf deinem Goldhaufen ausbreiten und vernaschen können.« Fafhrd wollte ›Graywand‹ an seinem Laken reinigen und bemerkte dabei ebenfalls, daß die Waffe keine Blutspuren aufwies. Er runzelte die Stirn. »Tut mir leid für dich, bester aller Freunde«, sagte er mitfühlend. »Jetzt kannst du sie nicht unter dir spüren, wie sie sich in mädchenhafter Begeisterung auf deiner Diamantencouch windet, deren Funkeln ihr bleiches Fleisch durchscheinend zucken läßt.« »Fort mit dem weibischen künstlerischen Unrat – woher wußtest du, daß ich von Diamanten geträumt habe?« wollte der Mausling wissen. »Ja, woher?« fragte sich Fafhrd staunend. Schließlich wich er der Antwort mit der Bemerkung aus:
»Vermutlich auf demselben Wege, auf dem du erfahren hast, daß meine Träume um Gold kreisten.« Die beiden übermäßig langen Leichen suchten sich diesen Augenblick aus, um zu verschwinden – und der abgetrennte Kopf tat es ihnen nach. Weise sagte Fafhrd: »Mausling, mir will scheinen, als wären hier übernatürliche Kräfte im Spiel gewesen.« »Oder Halluzinationen, du großer Philosoph«, gab der Mausling ein wenig mürrisch zurück. »O nein«, widersprach Fafhrd. »Die Burschen haben nämlich ihre Waffen zurückgelassen, wie du siehst.« »Richtig«, räumte der Mausling ein und betrachtete die schmiedeeiserne und die plattierte Klinge auf dem Boden mit gierigen Blicken. »Die würden am Kuriositätenhof hübsches Geld bringen.« Der Große Gong von Lankhmar tönte gedämpft durch die Wände mit den feierlichen dröhnenden zwölf Mittagsschlägen – der Augenblick, da sich bei Beerdigungen der Spaten in den Boden bohrt. »Ein nachträgliches Omen«, verkündete Fafhrd. »Jetzt wissen wir, woher die übernatürlichen Kräfte gekommen sind. Aus dem Schattenland, der Endstation bei allen Beerdigungen.« »Ja«, stimmte der Mausling zu. »Prinz Tod, der flinke Bursche, hat wieder einmal die Hände nach uns ausgestreckt.« Fafhrd spritzte sich aus einer großen Schale an der Wand kühles Wasser ins Gesicht. »Na schön«, sagte er durch das Plätschern. »Es war immerhin ein hübscher Köder. Wahrlich, nichts eignet sich besser als ein reifes Mädchen, vernascht oder nur nackt ge-
schaut, um Appetit aufs Frühstück zu bekommen.« »In der Tat«, erwiderte der Mausling, kniff die Augen zusammen und rieb sich das Gesicht mit einer Handfläche ein, die er in weißen Brandy getaucht hatte. »Das typische frisch erblühte, noch unreife Ding für deine satyrhaften Gelüste, du alter Wüstling.« In dem nun folgenden Schweigen hörte das Wasserplätschern plötzlich auf, und Fafhrd fragte in unschuldigem Ton: »Wessen satyrhaften Gelüste?« Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Schlück
In der Gewalt der Götter Der Graue Mausling und Fafhrd saßen eines Abends im Silbernen Aal, tranken sich in eine selbstbeweihräuchernde nostalgische Stimmung und sprachen über alte Liebschaften und amouröse Abenteuer. Sie prahlten sogar ein wenig vor dem anderen über ihre neuesten erotischen Eroberungen (obwohl es stets sehr unklug ist, sich solcher Dinge zu rühmen, besonders mit lauter Stimme; man weiß ja nie, wer mithört). »Obwohl Hisvet ein großes Talent hatte, das Böse anzuziehen«, sagte der Mausling, »blieb sie doch immer ein Kind. Aber warum überrascht mich das? Das Böse fällt Kindern leicht, für sie ist es ein Spiel, sie kennen keine Scham. Ihre Brüste sind nicht größer als Walnüsse oder Limonen oder allenfalls kleine Mandarinen, auf denen Haselnüsse sitzen – alle acht.« Fafhrd sagte: »Frix ist die Dramatik in Person. Du hättest sie sehen sollen, wie sie sich in der gleichen Nacht noch auf die Zinnen stellte, die Augen ergriffen funkelnd, zu den Sternen gerichtet. Nackt bis auf ein paar Kupferschmuckstücke, die so frisch wirkten wie die Morgenröte. Sie sah aus, als wolle sie fliegen – wozu sie ja bekanntlich auch fähig ist.« Im Lande der Götter, im Götterland, nahe Nehwons Lebenspol gelegen, der sich in der südlichen Hemisphäre befindet als Gegenpol zum Schattenland (dem Reich des Todes), saßen mit untergeschlagenen Beinen drei Götter im Kreis; sie fingen die Stimmen Fafhrds und des Mauslings aus dem allgemeinen Gemurmel ihrer Gläubigen heraus, der der-
zeitigen wie der ehemaligen, ein Brausen, das ewig in den Ohren jedes Gottes widerhallt, als hielte er sich eine Muschel davor. Einer der drei Götter war Issek, dem Fafhrd einst drei Jahre lang als Jünger gedient hatte. Issek sah aus wie ein schmächtiger Jüngling mit Hand- und Fußgelenken, die gebrochen schienen: sie waren im rechten Winkel abgeknickt. Während seiner Leidenszeit war er übel gefoltert worden. Der zweite Gott war Kos, den Fafhrd während seiner Kindheit in der Eisöde verehrt hatte, ein ziemlich muskulöser, untersetzter Gott mit einem grimmigen, vielleicht sogar mürrisch zu nennenden Gesicht, das hinter einem dichten Bart kaum auszumachen war. Er hatte sich in dicke Felle gewickelt. Der dritte Gott war Mog, einer vierbeinigen Spinne gleichend, mit einem recht hübschen, wenn auch nicht gänzlich menschlichen Gesicht. Einmal hatte sich Ivrian, die erste Liebe des Mauslings, in eine Statuette Mogs verknallt, die er für sie gestohlen hatte; sie war zu dem vielleicht etwas willkürlichen Schluß gekommen, daß Mog und der Mausling sich ähnlich sahen. Der Mausling war der grundsätzlichen Überzeugung, seit seiner Geburt Atheist zu sein – aber das stimmte nicht. Er hatte sich mehrere Wochen lang einen Spaß daraus gemacht, fest an Mog zu glauben – teils um Ivrian zu Gefallen zu sein, die er sehr verwöhnte, doch teils auch weil er sich geschmeichelt fühlte, daß ein Gott wie er aussehen wollte. So waren der Mausling und Fafhrd eindeutig zu den Gläubigen zu rechnen, wenn auch zu den ehemaligen, und so griffen sich die drei Götter deswegen ihre Stimmen heraus, weil sie die bemerkenswerte-
sten Gläubigen waren, die sie je gehabt hatten, und weil sie prahlten. Denn wenn es um Prahlerei geht, haben Götter ein scharfes Gehör, auch wenn jemand Selbstzufriedenheit oder Glücksgefühle zum Ausdruck bringt oder die feste Absicht, dieses oder jenes zu tun, oder meint, daß dieses oder jenes gewißlich geschehen muß, oder wenn andere Worte fallen, die erkennen lassen, daß ein Mensch sich in gewissem Umfang als Herr über sein Geschick wähnt. Und die Götter sind eifersüchtig, leicht erzürnbar, pervers und schnell bei der Hand, jemandem Steine in den Weg zu legen. »Sie sind es – die hochmütigen Burschen!« ächzte Kos, der unter seinen Fellen schwitzte – denn Götterland ist ein Paradies. »Sie haben mich seit Jahren nicht angerufen – die Undankbaren!« sagte Issek und reckte das zierlich geschwungene Kinn. »Wenn es nach denen ginge, könnten wir genausogut tot sein – aber immerhin haben wir noch andere Gläubige. Aber das wissen sie nicht – herzlos sind sie.« »Sie haben nicht einmal unseren Namen fluchend in den Mund genommen«, sagte Mog. »Meine Herren, ich glaube, es ist Zeit, daß sie ein wenig göttlichen Zorn zu spüren bekommen. Einverstanden?« Mit ihrem Gerede über Frix und Hisvet hatten der Mausling und Fafhrd gewisse unmittelbare Gelüste geweckt, ohne dabei die Stimmung selbstgefälliger Nostalgie ernsthaft in Gefahr zu bringen. »Was meinst du, Mausling?« fragte Fafhrd gelassen. »Sollen wir was aufreißen? Die Nacht ist noch jung.«
Sein Gefährte erwiderte großspurig: »Wir brauchen uns nur ein wenig zu rühren, unser Interesse nur anzudeuten, und schon widerfahren uns die aufregendsten Dinge. Wir haben so viele Mädchen beschlafen und sind von ihnen bewundert worden, daß wir sicher auf zwei davon treffen. Oder auch vier. Die werden dann unsere Stimmung sofort dankbar erkennen und herbeigeeilt kommen. Wir machen uns auf Mädchenjagd – wobei wir selbst der Köder sind!« »Also los!« sagte Fafhrd, trank aus und erhob sich etwas unsicher. »Ach, was für lüsterne Hunde!« knurrte Kos und schüttelte sich den Schweiß von der Stirn, denn im Götterland ist es warm (und ziemlich überfüllt). »Aber wie sollen wir sie strafen?« Mog lächelte schief, da seine Gesichtsstruktur teilweise insektenartig war. »Sieht so aus, als hätten sie sich ihre Strafe schon ausgesucht.« »Die Folter der Hoffnung!« rief Issek eifrig. »Wir gehen auf ihre Wünsche ein ...« »... und lassen den Rest durch die Mädchen erledigen«, sprach Mog den Satz zu Ende. »Frauen kann man nicht trauen«, äußerte Kos düster. »Im Gegenteil, mein lieber Freund«, sagte Mog, »wenn ein Gott in guter Form ist, kann er sich getrost darauf verlassen, daß seine Gläubigen, Männer wie Frauen, die ganze Arbeit übernehmen. Und jetzt, meine Herren, wollen wir uns mal etwas scheußlich Schönes ausdenken.« Kos kratzte sich lebhaft das dichte Haar, wobei er ein oder zwei Läuse aus ihrer Ruhe aufscheuchte.
Einer Laune folgend, vielleicht um es den Mädchen, die sich auf sie stürzen wollten, nicht ganz so leicht zu machen, verließen Fafhrd und der Graue Mausling den Silbernen Aal durch die Küchentür, etwas, das sie bei ihren zahlreichen Besuchen bisher nie getan hatten. Die Tür war niedrig und verriegelt und rührte sich nicht, auch als die Metallsperren aufgezogen worden waren. Der neue Koch, der taubstumm war und gerade einen Kalbsmagen füllte, eilte herbei, schwenkte die Arme und machte glucksende Geräusche, die eine Warnung oder ein Protest sein sollten. Der Mausling drückte zwei bronzene Agols in die fettige Hand, während Fafhrd die Tür mit einem Fußtritt öffnete. Sie machten Anstalten, das trostlose Grundstück zu betreten, mit dem sich viele unangenehme Erinnerungen verbanden: hier erstreckte sich die verwitterte Asche des Hauses, in dem der Mausling mit Ivrian gelebt (und wo sie und Fafhrds gleichermaßen geliebte Vlana verbrannt waren), außerdem die Asche vom hölzernen Gartenhaus des verrückten Herzogs Danius, das sie gestohlen und eine Weile bewohnt hatten. Ein düsteres und von schlechten Omen belegtes Gelände, das ihres Wissens nicht wieder neu bebaut worden war. Doch als sie die Köpfe eingezogen hatten und durch die Tür getreten waren, stellten sie fest, daß es hier doch eine Art Bautätigkeit gegeben hatte (oder sie hatten bisher die Tiefe des Silbernen Aals ernsthaft unterschätzt), denn anstelle des leeren Grundstücks sahen sie vor sich einen Korridor, erhellt von Fackeln, die links und rechts von metallenen Händen gehalten wurden.
Unbeirrt schritten sie an zwei geschlossenen Türen vorbei. »Typisch Lankhmar«, stellte der Mausling fest. »Kaum wendet man den Rücken, schon steht ein neuer Geheimtempel da.« »Die Belüftung ist aber sehr gut«, bemerkte Fafhrd, dem das Fehlen von Rauch auffiel. Sie folgten dem Korridor um eine scharfe Biegung ... und blieben wie erstarrt stehen. Vor ihnen lag ein Raum in zwei Ebenen mit einigen Überraschungen. Die tieferliegende Hälfte hatte eine niedrige Decke und erzeugte im übrigen den Eindruck, tief unter der Erde zu sein, als befände sich der Boden nicht acht Finger breit unter dem höherliegenden Teil, sondern achtzig Meter. Das Mobiliar bestand aus einem Bett mit einer violetten Seidendecke. Eine dicke gelbe Seidenkordel hing aus einem Loch in der niedrigen Dekke. Die höherliegende Hälfte des Gemachs schien ein Balkon oder die Zinne eines hoch über Lankhmars Dunst ragenden Turms zu sein, denn in dem schwarzen oberen Hintergrund und an der Decke waren Sterne zu sehen. Auf dem Bett, das silberblonde Haar dem Fußende zugewendet, lag die schlanke Hisvet, auf die gestreckten Arme gestemmt. Ihre vornehme Seidenrobe, gelb wie Sonnenlicht in einer Wüste, schmiegte sich um ihre kleinen hohen Brüste, fiel aber frei von den Brustwarzen herab, wodurch nicht zu erkennen war, daß sich in symmetrischer Anordnung darunter drei weitere köstliche Paar Zitzen befanden. Als Silhouette vor der Sternennacht (oder der entsprechenden Kulisse) stand Frix als prachtvolle Er-
scheinung, das dunkle Haar mit blankem Kupferdraht durchzogen, groß und leichtfüßig (allerdings reglos) in einer Seidenrobe, violett wie der Nachthimmel über der Wüste vor dem ersten Morgengrauen. Fafhrd sagte eben: »Wißt ihr, wir haben eben von euch gesprochen«, und der Mausling machte Anstalten, ihm wegen dieser blödsinnigen Bemerkung auf den Fuß zu treten, als Hisvet dem graugekleideten kleinen Kämpfer zurief: »Du schon wieder! Du unbeherrschter Dolchkämpfer! Ich habe dir gesagt, du sollst dir zwei Jahre lang ein Rendezvous mit mir nicht einmal vorstellen!« »Biest!« fuhr Frix Fafhrd an. »Ich habe dir gesagt, daß ich mich nur ganz selten mit Wesen der unteren Ordnungen einlasse!« Energisch zog Hisvet an der Seidenkordel. Von oben sauste eine schwere Falltür herab, klappte vor die Gesichter der beiden Helden und knallte mit einem lauten, abschließenden Dröhnen gegen die Schwelle. Fafhrd hob einen Finger an die Nase und sagte mit schiefem Lächeln: »Ich dachte schon, das Ding hätte mir die Nasenspitze abgeschlagen. Kein sehr liebevoller Empfang.« Mutig sagte der Mausling: »Ich bin froh, daß sie uns abgewiesen haben. Ehrlich – es wäre zu kurz hintereinander gewesen, richtig langweilig. Gehen wir weiter auf Mädchenjagd!« Vorbei an den stummen Flammen in bronzenen Händen kehrten sie zur zweiten der beiden geschlossenen Türen zurück. Sie öffnete sich auf eine Berührung hin und gab den Blick frei auf ein anderes Dop-
pelzimmer und darin Reetha und Kreeshkra, ebenfalls Liebchen der beiden Helden, die sie noch vor wenigen Monaten am See der Ungeheuer gesucht hatten, ehe sie im Schattenland gefangen wurden und nur knapp nach Lankhmar entkommen konnten. Links saß Reetha im gedämpften Sonnenschein auf einer Couch aus sorgfältig poliertem dunklen Holz, sie war splitterfasernackt. Mehr als das, der Mausling stellte fest, daß sie ihrer Gewohnheit treu geblieben war, die aus ihrer Zeit als Sklavin bei einem pingeligen Herrn stammte, und sich den ganzen Körper sorgfältig rasiert hatte, sogar über den Augen. Ihr kahler Schädel, den sie lauschend neigte, hatte eine perfekte Form, und der Mausling spürte süße Lust in sich aufsteigen. An ihren zarten Busen drückte sie ein ausgemergelt wirkendes, doch ruhiges Tier, in dem der Mausling plötzlich eine Katze erkannte, haarlos bis auf die Schnauzhaare im maskenhaften Gesicht. Rechts erstreckte sich ein glatter Kieselstrand und dahinter eine Wasserfläche, in der sich Schlangen mit weißen Schnauzbärten tummelten – der See der Ungeheuer. Angestrahlt von einem Lagerfeuer saß hier seine geliebte Kreeshkra und wirkte noch nackter als Reetha. Sie hätte den gewöhnlichen Betrachter sehr beunruhigen können (war sie doch nicht mehr als ein auf aristokratische Weise hübsches Skelett), doch die Flammen des nahen Feuers ließen auf den angenehm gerundeten Oberflächen ihres durchsichtigen Fleisches blauen Widerschein aufleuchten. »Warum bist du gekommen, Mausling!« rief Reetha tadelnd. »Es gefällt mir hier in Eevamarensee, wo alle Menschen (wie auch unsere Haustiere) von Natur aus so haarlos sind wie ich durch tägliche Mühen. Ich lie-
be dich noch immer sehr, aber wir können nicht zusammenleben und dürfen uns nicht wiedersehen. Dies ist der Ort, an den ich wirklich gehöre.« Auf gleiche Weise wandte sich die kühne Kreeshkra an Fafhrd: »Mensch aus Lehm, hinfort! Ich habe dich einmal geliebt. Jetzt bin ich wieder ein Ghul. Vielleicht in späterer Zukunft ... Doch für jetzt – verschwinde!« Nur gut, daß weder Fafhrd noch der Mausling über die Schwelle getreten waren, denn bei diesen Worten knallte auch diese Tür vor ihnen herab und ließ sich nicht mehr öffnen. Fafhrd verzichtete darauf, gegen das Holz zu treten. »Weißt du, Mausling«, sagte er nachdenklich. »Wir haben in unserem Leben seltsame Liebschaften gehabt. Aber stets höchst interessante«, fügte er hastig hinzu. »Komm weiter, weiter!« sagte der Mausling mürrisch. »Es gibt im Meer noch andere Fische zu fangen.« Die verbleibende Tür ließ sich ebenfalls leicht öffnen, auch wenn Fafhrd nur ganz vorsichtig dagegen drückte. Diesmal jedoch kam keine Überraschung in Sicht, vor den beiden lag ein langer dunkler Raum, in dem es keine Personen oder Einrichtung zu sehen gab, nur eine zweite Tür am anderen Ende. Die einzige Besonderheit bestand darin, daß die rechte Wand grünlich schimmerte. Die beiden Helden gingen mit steigender Zuversicht weiter. Nach einigen Schritten merkten sie, daß die schimmernde Wand eine dicke Kristallfläche war, die hellgrünes, leicht milchiges Wasser umschloß; während sie im Weitergehen hinschauten, schwammen mit gelassenen Bewegungen
zwei wunderhübsche Wassernixen herbei; eine hatte langes blondes Haar, das sich hinter ihr bewegte wie goldener Tang, und trug ein eng wirkendes weitmaschiges goldenes Netzgewand, die andere hatte kurzes dunkles Haar, das von einer gezackten Silberkrone geteilt wurde. Die beiden kamen so nahe, daß man die langsam pulsierenden Kiemen am Hals sehen konnte, die in die geneigten, leicht schuppigen Schultern übergingen, und weiter unten am Körper die diskreten Organe, die der weit verbreiteten und durch manchen üblen Witz gestützten Ansicht widersprachen, daß ein Mann eine Frau nicht voll genießen kann, wenn sie keine zwei Beine besitzt (dabei braucht man sich nur zwei sich liebende Schlangen anzuschauen). Die beiden schwammen noch näher heran, die verträumten Augen auf unsere Freunde gerichtet, und der Mausling und Fafhrd erkannten die beiden Königinnen des Meeres, die sie vor einigen Jahren umarmt hatten, während sie von ihrem Boot Schwarzer Schatzsucher aus getaucht waren. Was die weiten Fischaugen erblickten, schien die Meeresjungfrauen nicht zu freuen, denn die schnitten Grimassen und zogen sich mit heftigen Bewegungen der langen Flossenschwänze von der Kristallwand tiefer in das grüne Wasser zurück, das sich infolge der schnellen Bewegungen noch mehr trübte, bis sie schließlich gar nicht mehr zu sehen waren. Fafhrd hob die Augenbrauen und wandte sich an den Mausling: »Du hast da eben von anderen Fischen im Meer gesprochen?« Der Mausling runzelte kurz die Stirn und ging weiter. Fafhrd folgte ihm und brummte dabei verwirrt vor sich hin: »Du hast gemeint, es könne sich
um einen Geheimtempel handeln, mein Freund. Aber wenn das so ist, wo sind dann die Helfer, Priester und Gläubigen, wenn man einmal von uns absieht?« »Kommt mir eher wie ein Museum vor – Szenen eines vergangenen Lebens. Und ein Aquarium noch dazu«, antwortete sein Gefährte über die Schulter. »Ich habe mir so meine Gedanken gemacht«, fuhr Fafhrd fort und ging schneller. »Wir haben hier schon viel weitere Strecken zurückgelegt, als eigentlich auf das Gelände hinter dem Silbernen Aal passen. Was hat man hier denn errichtet – oder dort?« Der Mausling ging durch die Tür auf der anderen Seite, Fafhrd war dicht hinter ihm. Im Götterland fauchte Kos: »Die beiden nehmen das zu leicht. Oh, beim Donnerschlag!« Mog sagte hastig: »Sei unbesorgt, mein Freund. Wir haben sie bereits in die Flucht geschlagen. Sie tun nur noch so, als ob. Wir ermüden sie Schritt um Schritt, bis sie auf den Knien rutschen und uns um Gnade anflehen. Auf diese Weise haben wir mehr Spaß daran.« »Nicht so laut, ihr beiden!« rief Issek schrill und schwenkte die abgeknickten Gelenke. »Ich hole zwei weitere Mädchen.« Diese und andere heftige Gesten und lauten Ausrufe und die erfreuten, wenn auch angespannten Gesichter ließen erkennen, daß die drei zusammenhokkenden Götter etwas Interessantes in Gang gebracht hatten. Von überallher kamen Gottheiten näher, groß und klein, barock und klassisch, scheußlich und wunderschön; sie schlenderten herbei und machten Bemerkungen und schauten zu. Das Götterland ist
wahrhaft überbevölkert, ein Slum, und das nur wegen der perversen Lust der Menschen nach Vielschichtigkeit. Bei den dicht gedrängt lebenden Göttern gab es Gerüchte, über andere und (scheußlicher Gedanke!) überlegene Götter, womöglich unsichtbar, die auf einer anderen und (o weh!) höheren Ebene geräumigere Quartiere genossen und die (unvorstellbare Teufelei!) sogar Gedanken lesen konnten; aber was Genaues wußte man nicht. Issek rief in ekstatischer Erregung: »Da, da, die Bühne ist bereit! Jetzt wollen wir das nächste verlokkende Paar suchen. Mog, hilf mir! Du mußt deinen Teil dazu tun!« Der Graue Mausling und Fafhrd hatten das Gefühl, in das geheimnisvolle Reich von Quarmall versetzt worden zu sein, in dem sie eines ihrer phantastischsten Abenteuer erlebt hatten. Der nächste Raum schien eine Höhle in gewachsenem Felsgestein zu sein, der man durch mühselige Meißelarbeit die Form eines Zimmers gegeben hatte. Hinter einem Tisch, gefüllt mit Pergamenten und Schriftrollen, Tintenfässern und Schreibfedern, saßen die beiden verführerischen Sklavinnen, die sie vor der Monotonie und den Qualen der Höhlenwelt gerettet hatten: die schlanke Ivivis, geschmeidig wie eine Schlange, und die angenehm mollige, leichtfüßige Friska. Die beiden Männer waren erleichtert und erfreut, diesen beiden vertrauten und geliebten Mädchen gegenüberzustehen. Dann sahen sie, daß der Raum Fenster hatte, durch die plötzlich Sonnenschein drang (als habe sich eine Wolke verflüchtigt), und nicht aus Felsgestein bestand, sondern aus aufgeschichteten Mauersteinen,
und daß die Mädchen keine knappe Sklavenkleidung trugen, sondern nüchterne und doch kostbare Roben, während ihre Gesichter ernst und selbstbewußt aussahen. Ivivis blickte fragend, doch sofort mißbilligend zum Mausling empor: »Was tust du hier, Gestalt meiner unterdrückten Vergangenheit? Gewiß, du hast mich aus dem üblen Quarmall gerettet. Dafür habe ich dich mit der Liebe meines Körpers bezahlt. Aber das war in Tovilysis zu Ende, als wir uns trennten. Wir sind quitt, lieber Mausling, ja, bei Mog, das sind wir!« (Sie wunderte sich, warum sie ausgerechnet diesen Gott in ihrer Rede führte.) Friska wandte sich ihrerseits an Fafhrd: »Dasselbe gilt für dich, kühner Barbar«, sagte sie. »Außerdem wirst du dich erinnern, daß du meinen geliebten Hovis umgebracht hast – so wie der Mausling Ivivis' Klevis tötete. Wir sind keine primitiven Sklavinnen mehr, Gespielinnen der Männer, sondern in unserer verfeinerten Gestalt Geschäftsführerin und Schatzmeisterin der Gilde der Freien Frauen von Tovilysis. Ich werde nie wieder lieben, es sei denn, ich entscheide mich dafür – was ich heute nicht tue. Also, bei Kos und Issek, hinfort!« (Sie wunderte sich ebenfalls, warum sie ausgerechnet diese Gottheiten anrief, vor denen sie nicht den geringsten Respekt hatte.) Diese Zurückweisung kränkte die beiden Helden dermaßen, daß sie nicht den Schwung aufbrachten, abwehrend, spöttisch oder mit geduldigen Schmeicheleien zu reagieren. Die Zungen schienen ihnen am Gaumen festgeklebt zu sein, Herz und Lenden kühlten sich ab, sie hätten sich am liebsten ihrem Schaudern hingegeben, und ziemlich schnell schlichen sie
durch die vor ihnen offenstehende Tür aus dem Gemach ... in einen großen Raum, der aus blauem Eis geformt zu sein schien oder aus Gestein von derselben Färbung und Durchsichtigkeit, und in dem es fröstelnd kühl war, so daß die in dem großen Kamin lodernden Flammen den beiden höchst willkommen waren. Davor lag ein Teppich, der herrlich dicht und weich aussah, darauf standen wirr durcheinander zahlreiche Krüge mit Salben, kleine Parfümflaschen, die sich durch ihre verschiedenartigen Düfte offenbarten und andere kosmetische Behälter und Werkzeuge. Der einladend strukturierte Teppich zeigte außerdem Vertiefungen wie von zwei liegenden menschlichen Gestalten, während etwa zwei Handbreit darüber zwei lebendige Masken schwebten, dünn wie Seide oder Papier oder noch dünner, sich in der Form zauberhaft schöner Mädchengesichter haltend, das eine rosig-malvenfarbig, das andere türkisgrün. Andere hätten an eine Geistererscheinung geglaubt, aber der Mausling und Fafhrd erkannten sofort Keyaira und Hirriwi die unsichtbaren Frostprinzessinnen, mit denen sie einmal unabhängig voneinander eine lange, lange Nacht auf Stardock, dem größten der nördlichen Nehwon-Gipfel, zusammen gewesen waren. Sie wußten, daß die beiden fröhlichen Mädchen unbekleidet vor dem Feuer lagen und sich gegenseitig zum Spaß die Gesichter mit Salben eingeschmiert hatten. Im nächsten Augenblick sprang die türkisfarbene Maske zwischen Fafhrd und dem Feuer empor, so daß die zuckenden orangeroten Flammen lediglich durch die weiten Augenlöcher schimmerten und zwi-
schen den jetzt grausam und amüsiert verzogenen Lippen, die da sagten: »In welchem frostigen Bett liegst du gerade und schlummerst, grober ExLiebster, daß deine quiekende Erscheinung über die halbe Welt hierhergeweht werden kann, um mich anzustarren? Eines Tages sollst du noch einmal Stardock erklimmen und mich in deiner soliden Gestalt belästigen. Darauf könnte ich eingehen. Aber jetzt fort mir dir, du Phantom!« Die Malvenmaske äußerte sich ähnlich verächtlich gegenüber dem Mausling und sagte in einem Tonfall, der so stechend und zwingend war wie die Flammen, die durch die Gesichtsöffnungen funkelten: »Du jämmerlichster Geist, schere dich gleich mit fort! Bei Khahkht vom Schwarzen Eis und Gara vom Blauen – und sogar Kos vom Grünen – ich verlange es! Weht, ihr Winde! Löscht alle Feuer, alle Lichter!« Diese neuerliche Ablehnung schmerzte Fafhrd und den Mausling noch mehr. Ihre Seelen kümmerten förmlich dahin bei dem Gefühl, daß sie in der Tat Phantome waren und die sprechenden Masken die solide Realität. Trotzdem hätten sie vielleicht den Mut aufgebracht, auf die Herausforderung zu antworten (obgleich das zweifelhaft ist), wenn sie nicht auf Keyairas letzten Befehl hin in eine absolute Schwärze gestürzt und von mächtigen Windstößen mißhandelt und schließlich in einem hellen Raum abgesetzt worden wären. Der Luftzug knallte eine Tür hinter ihnen zu. Mit großer Erleichterung registrierten sie, daß sie sich nicht schon wieder einem Mädchenpaar gegenübersahen (das wäre unerträglich gewesen), sondern sich in einem weiteren Korridorstück befanden, er-
leuchtet von klar brennenden Fackeln in metallenen Wandbehältern in der Form zupackender Vogelkrallen, sich windender Schlangententakel und kneifender Krabbenscheren. Dankbar für die Erholungspause, atmeten sie mehrmals tief durch. Dann runzelte Fafhrd die Stirn und sagte: »Hör zu Mausling! Hinter der Sache muß irgendwie ein Zauber stecken. Oder die Hand eines Gottes.« »Wenn es sich um einen Gott handelt«, bemerkte der Mausling bitter, »dann hat er zwei linke Daumen, wenn man bedenkt, wie er uns immer wieder gegen die Wand laufen läßt.« Fafhrds Gedanken nahmen eine neue Richtung, dokumentiert durch die sich verändernden Furchen auf seiner Stirn. »Ich habe nie gequiekt!« protestierte er. »Hirriwi hat gesagt, ich hätte gequiekt.« »Das war sicher nur eine Redewendung«, tröstete ihn sein Gefährte. »Aber bei den Göttern! Wie elend mir ist, als wäre ich kein Mann mehr und dies nichts anderes als ein Besenstiel!« Er deutete auf das Schwert ›Skalpell‹ an seiner Seite und blickte kopfschüttelnd auf Fafhrds ›Graywand‹, der in der Scheide steckte. »Vielleicht träumen wir nur ...«, setzte Fafhrd zweifelnd an. »Nun, wenn wir träumen, wollen wir damit weitermachen«, sagte der Mausling, versetzte dem Freund einen Schlag auf die Schulter und schob ihn den Korridor entlang. Doch trotz der aufmunternden Worte und Gesten hatten beide Männer das Gefühl, immer tiefer in den Sumpf eines Alptraums zu geraten, der sie nicht mehr losließ und ihnen den Willen nahm.
Sie kamen um eine Ecke. Einige Meter weiter ging die Wand zur Rechten in eine Reihe schmaler dunkler Säulen über, die sich in unregelmäßigen Abständen erhoben. Dazwischen erblickten sie weitere willkürlich aufgestellte dunkle Säulen und in mittlerer Entfernung einen langen Altar, auf den Licht herabrieselte und eine große nackte Frau offenbarte, die ausgestreckt darauf lag, neben ihr eine Priesterin in purpurnen Roben mit einem blanken Dolch in einer Hand und einem großen Silbergefäß in der anderen. Die Priesterin hatte einen kultischen Gesang angestimmt. »Mausling!« flüsterte Fafhrd. »Das Opferwesen ist die Kurtisane Lessnya, mit der ich vor Jahren zu tun hatte, als Jünger Isseks!« »Und die andere ist Ilala, Priesterin der gleichnamigen Göttin. Mit ihr hatte ich zu schaffen, während ich Pulg dem Erpresser diente«, gab der Mausling zurück. »Aber es ist unmöglich, daß wir bereits den langen Weg zum Tempel von Ilala zurückgelegt haben!« wandte Fafhrd ein. »Auch wenn es danach aussieht! Das Bauwerk liegt fast auf der anderen Seite Lankhmars – vom Aal aus gerechnet.« Gleichzeitig dachte der Mausling an Geschichten, die er gehört hatte, Gerüchte über Geheimgänge in Lankhmar, die gewisse Orte auf noch kürzere Entfernung miteinander verbanden als auf die kürzeste Distanz dazwischen. Ilala wandte sich den beiden Helden zu und sagte mit erhobenen Augenbrauen: »Ruhe da hinten! Ihr begeht ein Sakrileg, wenn ihr das heiligste Ritual der großen Göttin aller Frauen stört. Unfromme Eindringlinge, fort mit euch!« Währenddessen stemmte
sich Lessnya auf einen Ellbogen hoch und blickte die beiden hochmütig an. Dann legte sie sich wieder hin und blickte zur Decke, während Ilala den Dolch tief in das Weihrauchgefäß tauchte und dann Tropfen von Wein (oder einer anderen Flüssigkeit, die sich in dem Gefäß befand) auf Lessnyas nacktem Körper versprühte und die Klinge dabei bewegte, als wäre sie ein rituelles Instrument. Sie vollführte die Bewegung dreimal über ihr, an Busen, Lenden und Knien – und setzte dann die gemurmelte Litanei fort, während Lessnya ihr nachredete (oder nur schnarchte) und der Mausling und Fafhrd sich durch den fakkelerleuchteten Korridor davonstahlen. Aber es blieb ihnen keine Zeit, sich Gedanken zu machen über die seltsame Geometrie und noch erstaunlichere Religiösität ihres alptraumhaften Abenteuers, denn nun wich die Wand zur Linken und gab den Blick frei in einen wunderschön ausgestatteten, großen, schwach erleuchteten Raum, den sie als das offizielle Residenzzimmer des Großmeisters der Diebeszunft im Diebeshaus erkannten, wiederum halb Lankhmar von Ilalas Tempel entfernt. Der Vordergrund war angefüllt mit Gestalten, die zur anderen Richtung hin unterwürfig knieten, einem dicken schwarzen Tisch zugewandt, hinter dem sich eine hübsche rothaarige Frau zu königlicher Größe erhoben hatte. Hinter ihr stand eine sehr schlanke Frau in der schwarzen Tunika einer Zofe, am Hals weiß abgesetzt. »Das ist Ivlis aus der Vergangenheit, in voller Schönheit. Für sie stahl ich Ohmphals errötende Fingerspitzen«, flüsterte der Mausling verwirrt. »Und inzwischen hat sie sich noch haufenweise neue Edelsteine besorgt.«
»Und das ist ihre Zofe Freg, die kein bißchen älter aussieht«, flüsterte Fafhrd in traumschwerem Staunen. »Aber was macht sie hier im Diebeshaus?« beharrte der Mausling mit heiserem Flüstern. »Frauen ist der Zutritt doch verboten. Als wäre sie der Großmeister der Zunft ... die Großmeisterin ... Göttin ... angebetet ... Ist denn die Diebeszunft auf den Kopf gestellt ... ist ganz Nehwon von innen nach außen gekehrt ...?« Ivlis musterte sie über die Köpfe ihrer knienden Anhänger hinweg. Sie kniff die grünen Augen zusammen. Beiläufig hob sie die Finger an die Lippen, dann ließ sie sie zweimal zur Seite zucken als Hinweis an den Mausling, daß er stumm in diese Richtung gehen und nicht zurückkehren sollte. Mit einem langsamen, wenig freundlichen Lächeln machte Freg dasselbe Zeichen in Fafhrds Richtung, ihre Geste fiel womöglich noch beiläufiger aus, als summe sie währenddessen in einem Chor mit. Die beiden Männer gehorchten, doch schauten sie sehnsüchtig zurück, so daß sie plötzlich voller Überraschung, beinahe angstvoll zusammenzuckend feststellen mußten, blind in einen Raum aus kostbaren Hölzern getreten zu sein, verziert mit feinen Schnitzereien und mit Türen links und rechts. An der Tür, die dem Mausling am nächsten war, stand ein taufrisches junges Mädchen mit boshaftem Blick, gehüllt in eine grüne Robe aus flauschigem Tuch, das schwarze Haar feucht. Auf Fafhrds Seite standen zwei schlanke Blondinen, die in unsicherer Fröhlichkeit lächelten und die weiten schwarzen Kapuzen und Roben der lankhmarischen Nonnen trugen. Im üblen Griff ihres Alptraums erkannten die Freunde, daß sie sich hier
im Gartenhaus von Herzog Danius befanden und geplagt wurden von ihren frühesten und intimsten Freundinnen, rücksichtslos aus der Asche heraufgerufen, zu der Zauberin Sheelba das Häuschen verbrannt hatte, und profanerweise ausgestattet mit all den kleinen Dingen, die Zauberer Ningauble magischerweise daraus hatte verschwinden lassen, um sie in alle vier Winde zu verstreuen; und daß die drei Schönen der Nacht Ivmiss Ovartamortes waren, Nichte von Karstak gleichen Namens, des damaligen Oberherrn von Lankhmar, und Fralek und Froh, identische Zwillingstöchter des vom Tode gezeichneten Herzogs – drei ungebärdige Wesen der Dunkelheit, an die sie sich verzweifelt gewandt hatten, nachdem sie sogar die Gespenster ihrer wahren Geliebten im Schattenland verloren hatten. Fafhrd sagte sich in hektischer Betriebsamkeit lautlos auf: »Fralek und Fro und Freg, Friska und Frix – unter welchem ›Fr‹-Zauber stehe ich da?«, während dem Mausling auf ähnliche Weise durch den Kopf ging: »Ivlis, Ivmiss, Ivivis (zwei Iv's – und sogar in Hisvet gibt's ein Iv) – was sind das für Mädchenwesen des Iv ...?« (Nahe dem Lebenspol schufteten die Götter Mog, Issek und Kos, was das Zeug hergab: sie riefen laut, wenn sie wieder Mädchen entdeckt hatten, mit denen sie ihre untreuen Anbeter quälen konnten. Die Horde der Zuschauer ringsum war inzwischen erheblich gewachsen.) Im nächsten Augenblick fiel dem Mausling schaudernd ein, daß er bei seinen Mädchenwesen des ›Iv‹ das Erzmädchen von allen noch gar nicht berücksichtigt hatte, die blonde Ivrian, die im Reich des Todes für immer verloren war. Und Fafhrd erbebte auf
gleiche Weise. Und die Wesen der Nacht, von denen sie flankiert waren, zogen Schmollmünder und sahen sie abweisend an, und sie wurden förmlich in die Mitte eines Zeltes aus weinroter Seide katapultiert, vor dessen reglosen Falten sich der flache Horizont des Schattenlandes erstreckte. Die hübsche graugesichtige Vlana spuckte Fafhrd voll ins Gesicht und sagte: »Ich habe versichert, daß ich das tun würde, wenn du zurückkämst.« Die blonde Ivrian jedoch musterte den Mausling lediglich, ohne eine Regung zu zeigen oder auch nur ein Wort zu äußern. Und plötzlich waren sie wieder im fackelerleuchteten Korridor, durch den sie weniger eilten als geeilt wurden, und der Mausling beneidete Fafhrd um den Speichel des Todes, der ihm über die Wange rann. Und Mädchen zuckten vorbei wie Gespenster, doch sie achteten nicht weiter darauf – Mara aus Fafhrds Jugend, Atya, die Tyaa anbetete, die rehäugige Hrenlet, Ahura aus Seleucia und viele weitere – bis sie von jener absoluten Verzweiflung erfüllt waren, die sich ergibt, wenn man nicht nur von einer oder zwei Geliebten abgewiesen wird, sondern von allen. Allein die Unfairness der Situation genügte, um einem Mann den Lebenswillen zu nehmen. In den vorbeiwirbelnden Bildern verharrte eine kurze Szene: Alyx die Einbrecherin in scharlachroten Roben und der rubinbesetzten goldenen Tiara eines Glaubens aus dem Osten, und vor ihr kniete, kostümiert als Schreiberin Schwarzlilie, die mädchenhafte Buhlerin des Mauslings aus seinen Verbrechertagen und sagte im Singsang: »Papa, der heidnische Kerl, der Verfall der Zivilisation«, und die verkleidete Ho-
hepriesterin verkündete: »Alle Menschen sind Feinde.« Beinahe wären Fafhrd und der Mausling auf die Knie gefallen und hätten zu allen Göttern gebetet, die sie von dieser Qual hätten erlösen können. Doch irgendwie taten sie es nicht, und urplötzlich befanden sie sich auf der Wohlfeilen Straße, nahe der Kreuzung zur Straße der Handwerker, und bogen in einen dunklen Eingang, Frauen folgend, deren Rücken ihnen verlockend bekannt vorkam, und gingen hinter den beiden über eine schmale Treppe, die ein Stockwerk hinaufführte, dermaßen verzerrt, daß ihre verrückte Verwerfung noch absurder erschien. Im Götterland lehnte sich Mog energisch zurück, atmete heftig aus und sagte: »Na bitte, damit hätten wir sie!«, während Issek sich ebenfalls ausstreckte (soweit das seine verkrümmten Fuß- und Handgelenke gestatteten) und sagte: »Mann, die Menschen wissen nicht zu schätzen, was wir Götter tun, welche Mühe das Spatzenbeobachten macht!« Die zuschauenden Götter begannen sich zu verlaufen. Kos aber war noch stirnrunzelnd auf seine Aufgabe konzentriert, so sehr, daß er den Schmerz in seinen kurzen, stämmigen Schenkeln nicht spürte, weil er zu lange mit untergeschlagenen Beinen gesessen hatte. »Halt!« rief er jetzt. »Da sind noch zwei, eine gewisse Nemia der Abenddämmerung und eine Augen von Ogo, Frauen von laxer Moral und außerdem Nutznießerinnen gestohlenen Diebsguts – oh, das ist böse!« Issek lachte erschöpft: »Ach, laß es gut sein, lieber Kos. Die beiden hatte ich gleich zu Beginn von der Liste genommen. Sie sind die liebsten Feinde unserer
Freunde und haben ihnen eine hübsche Beute an Edelsteinen abgeschwindelt, wie dir beinahe jeder Gott hier hätte sagen können. Unsere Helden würden lieber in der Hölle verkommen, als sich den beiden zuzuwenden (um auf jeden Fall zurückgewiesen zu werden).« Mog gähnte und fügte hinzu: »Begreifst du denn nie, lieber Kos, wann das Spiel vorbei ist?« Der klein gewachsene Gott in den Pelzen zuckte also die Achseln, gab nach und fluchte, während er die Beine auszustrecken versuchte. Inzwischen erreichten Augen von Ogo und Nemia von der Abenddämmerung das Ende der endlosen Treppe und betraten erschöpft ihre Wohnung, die sie mißmutig betrachteten. (Es war ein heruntergekommener, schäbiger, ja widerlicher Ort – für die beiden besten Diebinnen von Lankhmar hatten schlechte Zeiten begonnen, wie es sogar den besten Dieben und Hehlern in ihrer langen Karriere passieren kann.) Nemia wandte sich um und sagte: »Sieh doch, was die Katze da angeschleppt hat.« Die Entbehrungen hatten ihre einst höchst ausgeprägten Kurven eingeebnet. Ihre Gefährtin Ogo-Augen sah noch immer beinahe wie ein Kind aus, allerdings wie ein sehr altes und mißbrauchtes. »Mann«, sagte sie kraftlos, »ihr beiden seht elend aus, als wärt ihr eben dem Tod entronnen und wärt darüber nicht einmal glücklich. Tut euch selbst einen Gefallen – stürzt die Treppe hinab und brecht euch das Genick!« Als Fafhrd und der Mausling keine Anstalten machten und ihr bekümmerter Ausdruck sich auch nicht veränderte, lachte sie kurz auf, ließ sich in einen Stuhl mit defektem Sitzpolster fallen, streckte dem Mausling ein Bein hin und sagte: »Nun, wenn ihr
nicht gehen wollt, solltet ihr euch nützlich machen. Zieh mir die Sandalen aus, wasch mir die Füße«, woraufhin sich Nemia vor einen wackeligen Ankleidetisch setzte, ihr Bild in dem zerbrochenen Spiegel musterte, Fafhrd ein abgebrochenes Instrument hinhielt und sagte: »Kämm mir das Haar, Barbar! Achte auf Knoten und Verfilzungen!« Fafhrd und der Mausling (der bereits warmes Wasser zubereitete) machten sich mit feierlichem Gesicht daran, eben diese Aufgaben zu erfüllen. Nach ziemlich langer Zeit (und mehreren anderen einfachen Dienstleistungen oder unterwürfigen Bußtaten) konnten die beiden Frauen ein Lächeln nicht mehr unterdrücken. Das Elend liebt Gesellschaft, besonders nach einer Tröstung. »Das reicht für heute«, sagte Augen zum Mausling. »Komm, mach es dir gemütlich!« Nemia äußerte sich Fafhrd gegenüber ähnlich und fügte hinzu: »Später könnt ihr das Abendessen machen und Wein holen gehen.« Nach einer Weile sagte der Mausling: »Bei Mog, das ist schon besser!« Fafhrd stimmte ihm zu: »Bei Issek, in der Tat! Kos verdamme diese verrückten Abenteuer.« Die Götter, die auf diese Weise ihre Namen zu hören bekamen, während sie sich im Paradies von ihren Mühen erholten, lächelten zufrieden. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Schlück
Gefangene im Meer der Sterne Der gebildete Barbar Fafhrd und sein ständiger Gefährte, der Graue Mausling, in der Stadt geboren, doch in der Wildnis von Zaubererhand unterwiesen, waren in ihrem Leopardenboot Schwarzer Renner im Äußeren Meer an der quarmallischen oder Westküste des lankhmarischen Kontinents entlanggesegelt, und zwar weiter nach Süden, als sie oder irgendein anderer ehrlicher Seemann ihrer Bekanntschaft je gekommen waren. Dazu bewogen wurden sie durch zwei Schimmerwesen, wie sie genannt werden, eine Art Irrlichtgeschöpfe, die von den Menschen für untrügliche Führer zu Orten mit kostbaren Metallen gehalten werden, wozu man nur die Geduld eines meisterlichen Jägers und das Geschick besitzen muß, sie aufzuspüren. Aus diesem Grund werden diese Wesen auch Schatzfliegen, Silbermotten oder Goldkäfer genannt. Die beiden Geschöpfe, denen unsere Freunde folgten, wiesen einen rosakupfernen Schimmer auf und waren bei Nacht silbrigschwarz, und diese Tönungen verhießen einen Fund an Gold und Weißgold, das noch kostbarer war, weil es mehr Masse besaß. Am ehesten ähnelten die Gebilde unstet fließenden kleinen Geweben aus Altweibersommerfäden. Endlos flatterten sie um den einzelnen Mast, zuckten voraus oder hingen zurück. Manchmal waren sie beinahe unsichtbar, denkbar schwache Hitzeverfärbungen im stechenden Feuer der beinahe senkrecht herabbrennenden Sonne, oder gespenstische Schimmer in der Düsternis der Nacht und leicht zu mißdeuten als Spiegelungen des
Lichts des Weißen Jägers auf Meer und Segel, war doch der Mond im Augenblick beinahe voll. Manchmal bewegten sie sich sprunghaft, energisch, manchmal schwach und zögernd, doch sie verhielten niemals an einem Ort. In solchen Augenblicken wirkten sie traurig (oder nach Fafhrds Auffassung melancholisch, war das doch eine seiner Lieblingsstimmungen). Dann wieder äußerten sie sich stimmlich vor Freude (wenn man seinen Ohren trauen konnte); sie füllten die Luft um das Leopardenboot mit schwachen, wohlklingenden Lauten, einem Flüstern zwischen Windhauch und Sprache, und langen, ekstatischen Schnurrtönen. Der Graue Mausling und Fafhrd hatten sich ausgerechnet, daß der Schwarze Renner den lankhmarischen Kontinent an Backbord inzwischen zurückgelassen hatte, wie auch den hypothetischen Westkontinent, der weit entfernt an Steuerbord liegen mußte, und sich jetzt in südlicher Richtung auf den Großen Äquatorozean hinauswagte (zuweilen auch – allerdings warum? – Meer der Sterne genannt), ein Meer, das Nehwon umschließt und von Lankhmarern und Ostländern gleichermaßen für abweisend und unüberwindlich gehalten wird, was zur Folge hat, daß sich alle an die Südküsten der nördlichen Kontinente halten, und so hätte man eigentlich erwarten können, daß selbst unsere mutigen Seeleute längst umgekehrt wären. Es gab aber noch einen anderen Grund außer der Hoffnung auf großen Reichtum – und damit war keineswegs ihr großer Mut gemeint –, warum Fafhrd und der Mausling unbeirrt solch unbekannten Gefahren und scheußlichen Gerüchten entgegensegelten
über Ungeheuer, die Schiffe zerdrückten, über Strömungen, die schneller waren als ein Hurrikan, an kraterartigen Strudeln vorbei, die die größten Schiffe mit einem Schluck und sogar kecke Inseln zu verschlingen mochten. Es war ein Grund, über den sie miteinander nur selten sprachen, und dann auch nur mit größter Vorsicht, mit leisen Stimmen nach langem Schweigen in den langen, stillen Wachstunden der Nacht. Und dieser Grund war der folgende: daß am Rand des tiefsten Schlafes oder beim langsamen Erwachen aus segelbeschattetem Schlummer bei Tag sie die Schimmerwesen kurzzeitig als wunderschöne, schlanke, durchscheinende Mädchen sahen, identische Zwillinge mit liebevollen Gesichtern und funkelnden großen Flügeln. Mädchen mit feinem Haar wie Wolken aus Gold oder Silber und verträumten Augen, die dennoch manchmal vor Intelligenz und Hexenschalk funkelten. Mädchen von einer beinahe unglaublichen Schlankheit, doch nicht zu schlank für den Akt der Liebe, wenn sie nur ausreichend Substanz annehmen konnten, etwas, das nach ihrem Lächeln und ihren Blicken durchaus im Bereich des Möglichen lag. Die beiden Abenteurer verspürten eine tiefe Sehnsucht nach diesen Schimmermädchen, ein Verlangen, wie sie es für sterbliche Frauen nie empfunden hatten, und so konnten sie nicht zurück, als stünden sie im Bann eines Zaubers oder hätten völlig den Verstand verloren. An diesem Morgen, geführt von den Schatzwesen, die wie Regenbogenstrahlen in der Sonne funkelten, waren der Mausling und Fafhrd in ihre geheimsten Gedanken über Mädchen und Gold versunken, so daß keinem der beiden voraus die leichten Verände-
rungen des Ozeans auffielen. Kräuselwellen, noch halb glatt, mit seltsamen langen Schaumlinien, die nach Osten rasten. Plötzlich huschten auch die Goldkäfer nach Osten, und im nächsten Augenblick wurde der Kiel des Leopardenboots gepackt, so daß es heftig nach Osten ausscherte, mit einem Sprung, der dem geschmeidigen Tier, von dem die Bootsklasse ihren Namen herleitete, gut angestanden hätte. Der große Mast wäre beinahe gebrochen und die beiden Helden fast auf das Deck geschleudert worden, und als sie sich endlich von ihrer Überraschung erholt hatten, raste der Schwarze Renner bereits nach Osten, vor dem Bug die begeistert dahinwirbelnden Schimmerwesen. Unsere beiden Helden erkannten, daß sie in der Gewalt des großen Östlichen Äquatorstroms waren, der also Realität war. Vorübergehend vergaßen die Freunde ihre fliegenden Versuchungen und konzentrierten sich darauf, in nördlicher Richtung aus der Strömung herauszusteuern. Dabei lehnte sich Fafhrd gegen das Steuer, während der Mausling das große Segel bediente. Im gleichen Augenblick jedoch fuhr aus dem Nordwesten ein achterner Wind mit Sturmeskraft herbei und schob den Schwarzen Renner immer weiter nach Süden in die Strömung, das kleine Boot beinahe unter Wasser pressend. Dieser Wind war keine einfache Bö, sondern steigerte sich gleichmäßig zu einem Orkan, der unweigerlich, ehe sie es einholen konnten, das Segel zerfetzt hätte, wenn die Strömung das Boot nicht beinahe ebenso schnell nach Osten getragen hätte, wie der Wind es oben plagte. Eine Meile weiter südlich entdeckten sie plötzlich drei Wasserhosen, die gemeinsam in östlicher Rich-
tung wanderten, graue Säulen, mindestens dreimal so schnell wie der Schwarze Renner, ein Hinweis darauf, daß die Strömung sich dort noch steigerte. Die Säulen schienen halb in den Himmel zu reichen. Die beiden erstaunten Seeleute ergaben sich in ihr Schicksal, waren sie doch hilflos in der Gewalt des dahinrasenden Wassers und der tobenden Luft, als wäre ihr Schiff auf dem Meer festgefroren. Der Mausling rief: »Oh, Fafhrd, jetzt verstehe ich die metaphysische Vorstellung, wonach das ganze Universum aus Wasser besteht und unsere Welt darin nur eine dahingetriebene Blase ist.« Fafhrd klammerte sich mit weißen Knöcheln am Steuerruder fest und antwortete: »Angesichts der Wassersäulen und der herumfliegenden Gischt will ich gern zugeben, daß man den Eindruck haben kann, es gebe überall Wasser. Trotzdem kann ich nicht an den Philosophentraum glauben, der Nehwon als eine Luftblase betrachtet, wenn doch jeder Dummkopf erkennen kann, daß die Sonne und der Mond Massekugeln sind wie Nehwon auch, und viele tausend Meilen entfernt in der oberen Luft, die dort draußen übrigens sehr dünn sein muß. Aber Mann, dies ist nicht der Augenblick für philosophische Überlegungen. Ich binde das Ruder fest, und solange diese unheimliche Ruhe dauert (entstanden aus nahezu gleicher Geschwindigkeit von Strömung und Wind, als würde die Luft vorn abgeschnitten und schlösse sich achtern wieder), wollen wir das Segel reffen und auch ansonsten alles sichern.« Während dieser Arbeit verschwanden die drei Wasserhosen nach vorn und wurden von einer
Gruppe von fünf weiteren Erscheinungen abgelöst, die mit großer Geschwindigkeit von achtern aufschlossen – diesmal um einiges näher, denn die ganze Zeit über wurde der Schwarze Renner allmählich, doch unaufhaltsam nach Süden getrieben. Beinahe senkrecht brannte die kräftige Mittagssonne herab, denn der Sturmwind, der fast mit Hurrikanstärke blies, hatte keine Wolken oder dunstige Luft mitgebracht – was für sich gesehen schon ohne Beispiel für den Mausling oder auch Fafhrd war, der alle Meere bereist hatte. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, sich in Richtung Norden aus der starken Strömung zu lösen (die nur dazu führten, daß der auflaufende Sturm widersinnigerweise ein oder zwei Strich nach Norden abfiel und sie noch mehr nach Süden drängte), ergaben sich die beiden Männer in ihr Schicksal, womit sie eingestanden, daß sie im Augenblick keine Möglichkeit sahen, den Kurs ihres Leopardenbootes zu beeinflussen. »Wenn das so weitergeht«, rief Fafhrd, »haben wir den Großen Äquatorozean in einem oder zwei Monaten überquert. Nur gut, daß wir genug Proviant an Bord haben.« Bedrückt antwortete der Mausling: »Wenn der Renner die Wassersäulen und das verrückte Tempo auch nur einen Tag durchhält, wäre ich doch sehr überrascht.« »Er ist fest gebaut«, sagte Fafhrd leichthin. »Überleg doch einmal, du kleiner Pessimist: die südlichen Kontinente, dem Menschen völlig unbekannt! Wir sind die ersten, die sie womöglich zu sehen bekommen!« »Wenn es sie überhaupt gibt. Und wenn unsere
Planken nicht brechen. Kontinente? – ich würde meine Seele schon für eine einzige kleine Insel hergeben.« »Die ersten, die den Südpol Nehwons erreichen!« setzte Fafhrd seine Tagträume fort. »Die ersten, die die Stardocks des Südens ersteigen! Die ersten, die die Schätze des Südens ernten! Die ersten, die da feststellen, was für ein Land sich auf der anderen Seite vom Schattenland befindet, dem Reich des Todes! Die ersten ...« Wortlos duckte sich der Mausling unter dem gerefften Segel hindurch und ging vorsichtig zum Bug, wo er sich erschöpft in den schmalen beschatteten Winkel legte. Wind, Gischt, Anstrengung, die stechende Sonne und die Geschwindigkeit des Bootes hatten ihn viel Kraft gekostet. Reglos beobachtete er die kupfern schimmernden Wesen, die eine Schiffslänge voraus in Masthöhe mit erstaunlicher Sicherheit ihre Position hielten. Nach einiger Zeit schlief er ein und träumte, daß sich eines der Wesen vom anderen löse, zu ihm herabschwebe und wie ein langer rosiger Geist über ihm verharre, um sich dann zu einem liebevoll blickenden grünäugigen Wesen mit schmalem Gesicht zu verwandeln, das sich ihm in die Arme legte, mit schlanken Fingern wie kühle Milch seine Kleidung lösend, so daß er beim genauen Hinabschauen die Warzen ihrer entzückenden Brüste wie frisch polierte KupferFingerhüte in sein lockiges dunkles Brusthaar gedrückt sah. Und sie sprach zu ihm, leise und liebevoll, den Kopf vorgeneigt wie er, Lippen und Zunge berührten sein Ohr: »Fahr weiter, fahr weiter! Dies ist der einzige Weg zum Leben und zur Unsterblichkeit und ins Paradies.« Und er antwortete: »Meine Lieb-
ste, ich werde weiterfahren.« Fafhrds Ruf weckte ihn und er sah noch eine blitzschnell vorzuckende, doch klare, wenn auch beinahe blendende Vision eines Mädchengesichts, das schmal und schön war, doch ansonsten wenig Ähnlichkeit hatte mit dem des zärtlichen Mädchens in seinem Traum. Ein scharfes, herrschsüchtiges Gesicht, von wildem Leben erfüllt, aus rotgoldenem Licht bestehend, die Iris der aufgerissenen Augen ein helles Zinnoberrot. Wie betäubt richtete er sich auf. Sein Wams war bis zum Gürtel aufgeschnallt und ihm von den Schultern geschoben. »Mausling!« sagte Fafhrd drängend. »Als ich dich eben sah, warst du in Feuer gehüllt!« Verständnislos blickte der Mausling an sich hinab und sah von seiner dicht mit Haaren bewachsenen Brust zwei winzige Rauchschwaden aufsteigen – von den Stellen, wo die Brustwarzen des Traumwesens ihn berührt hatten. Und während er auf die grauen Rauchstreifen starrte, verschwanden sie. Er roch verbranntes Haar. Er schüttelte den Kopf, blinzelte und richtete sich auf. »Was für eine seltsame Traumvorstellung«, sagte er zu Fafhrd. »Die Sonne muß dich geblendet haben. Ach, schau mal!« Die fünf Wassersäulen waren längst vorbei und verschwanden bereits am Horizont. Dafür rückten zwei Gruppen näher (in einer drei in der anderen vier Wasserhosen) und machten Anstalten, den Schwarzen Renner zu überholen. Die Vierergruppe war noch ziemlich weit entfernt, die Dreiergruppe aber entsetzlich nahe, so daß die Freunde ihre Beschaffenheit
nun klar ausmachen konnten: Säulen aus wirbelndem grauen Wasser, beinahe eine Schiffslänge dick und zur dreifachen Masthöhe aufragend, wo die Erscheinungen abrupt endeten. Und weit entfernt machten sie nun neue Gruppen dahinrasender Wassersäulen aus und noch weiter entfernt, doch am schnellsten vorrückend, eine riesige Einzelsäule, die einen Durchmesser von mehreren Meilen zu haben schien. Vor dem Bug flatterten wie zuvor die beiden Schimmerwesen. »Wahrhaft seltsam«, bemerkte Fafhrd. »Muß man das Horden von Wassersäulen nennen?« wollte der Mausling wissen. »Oder eine Schar? Oder einen Schwarm? Einen Wirbel? Oder – ja! Einen Turm! Ein Turm von Wasser!« Der Tag verging und die halbe Nacht, und die seltsame Situation der atemberaubend schnellen Fahrt nach Osten blieb – und der Schwarze Renner hielt durch. Das Meer war nicht sonderlich unruhig und bewegte sich in langen, flachen Dünungswellen, über die dünne, lange, bleiche Gischtlinien dahinwehten. Der Wind hatte im mindesten Fall die Stärke eines Hurrikans, doch die Geschwindigkeit der Großen Äquatorströmung hatte sich dem angepaßt. Am Himmel, beinahe an der Mastspitze, schimmerte der Vollmond, dünn von Sternen gesäumt. Das weiße Licht des großen Jägers offenbarte, daß die Oberfläche der dahinrasenden See nah und fern von hoch aufragenden Wasserhosen verfärbt war, die in majestätischen Formationen und doch mit phantastischem Tempo vorbeieilten, als verstünden sie die Strömung auf irgendeine Weise weitaus besser zu nutzen als der Schwarze Renner. In Masthöhe, eine
Schiffslänge voraus, bewegten sich die beiden Schimmerwesen wie Flaggen aus Silberspitzen vor der Dunkelheit. Eine beinahe absolute Stille herrschte. »Fafhrd«, sagte der Graue Mausling leise, als widerstrebe es ihm, den spektralen Zauber des silbernen Mondlichts zu brechen. »Heute erkenne ich deutlich, daß Nehwon in der Tat eine große Blase ist, die in den Gewässern der Ewigkeit aufsteigt, mit darin schwimmenden Kontinenten und Inseln.« »Ja, und sie bewegen sich – die Kontinente, meine ich – und stoßen gegeneinander«, meinte Fafhrd, ebenfalls leise, aber doch ein wenig barsch. »Das heißt, wenn sie überhaupt schwimmen. Was ich doch sehr bezweifle.« »Sie bewegen sich ganz geregelt, in einer genau festgelegten Harmonie«, erwiderte der Mausling. »Und was ihre Schwimmfähigkeit angeht, so brauchst du nur an das Sinkende Land zu denken.« »Aber wo wären die Sonne und der Mond und die Sterne und die neun Planeten?« wandte Fafhrd ein. »Zusammengeworfen in der Mitte der Blase? Das ist absolut unmöglich und lächerlich.« »Auf die Sterne komme ich noch zu sprechen«, sagte der Mausling. »Sie alle schwimmen in einer noch präziser festgelegten Beziehung im großen Äquatorozean, der, wie wir heute gesehen haben, sich einmal am Tag rings um Nehwon bewegt – das heißt, in seiner Einwirkung auf die Wassersäulen, nicht auf den Schwarzen Renner. Aus welchem anderen Grunde, das sag mir bitte, wird dieses Meer auch noch Meer der Sterne genannt?« Gegen seinen Willen beeindruckt, begann Fafhrd zu blinzeln. Dann grinste er. »Aber wenn in diesem
Ozean überall Sterne schwimmen«, fragte er, »warum können wir sie dann nicht rings um das Schiff sehen? Gib mir darauf eine Antwort, o Weiser!« Gelassen erwiderte der Mausling sein Lächeln. »Sie befinden sich ausnahmslos in den Wassersäulen«, sagte er, »die graue Wasserröhren sind, dem Himmel zugeneigt, womit ich natürlich die antipodische Region Nehwons meine. Schau zum Bogen des Himmels empor, mein mutiger Freund, betrachte dir den Zenit. Du schaust auf denselben Großen Äquatorialen Ozean, auf dem wir schwimmen, nur eine halbe Biegung unserer Welt von Nehwon entfernt. Du schaust in die Öffnungen der Wassersäulen dort hinab – (oder hinauf, was macht das für einen Unterschied?) und kannst also die Sterne am Fuße jeder Röhre erkennen.« »Ich sehe außerdem den Vollmond«, sagte Fafhrd. »Nun sag bloß nicht, daß der sich auch unten in einer Wassersäule befindet!« »Aber ja«, antwortete der Mausling leise. »Denk an die Riesensäule, die wir gestern mittag fern im Süden gesehen haben – sie sah aus wie ein dahinhuschender Tafelberg. Das war die Mondsäule, wenn ich sie mal so nennen darf. Und die ist jetzt uns voraus zum Himmel emporgelaufen, in dem halben Tag, der seither vergangen ist.« »Da brat mir doch einer eine Sardine!« sagte Fafhrd gefühlvoll. Dann versuchte er seine Gedanken zusammenzufischen. »Und die Leute auf der anderen Seite Nehwons – dort oben –, sie sehen in jeder Wassersäule, die uns hier umgibt, einen Stern?« »Natürlich nicht«, sagte der Mausling leise. »Für diese Leute löscht das Sonnenlicht das Funkeln. Dort
oben ist jetzt Tag, weißt du!« Er deutete auf die Dunkelheit in der Nähe des Mondes. »Dort oben, das mußt du dir klarmachen, herrscht gerade grelle Mittagshitze, im Licht der Sonne, die im Augenblick hier irgendwo bei uns ist, doch verborgen von den dicken Wänden ihrer Sonnensäule, um ein Wort zu prägen, das gut zu Mondsäule paßt.« »Monströs!« rief Fafhrd. »Aber wenn es da oben Tag ist, du kleiner Dummkopf, warum können wir das hier nicht sehen? Warum sehen wir dort oben nicht die Nehwon-Länder in Licht getaucht, mit hellblauem Meer darum? Antworte mir auf diese Frage!« »Weil es zwei verschiedene Arten Licht gibt«, antwortete der Mausling mit beinahe übernatürlicher Gelassenheit. »Auf den ersten Blick scheinen sie zwar identisch zu sein, doch in Wirklichkeit gibt es einen großen Unterschied. Erstens das direkte Licht, wie wir es im Augenblick vom Mond und den Sternen dort oben empfangen. Zweitens das reflektierte Licht, das keine wirklich langen Strecken zurücklegen kann und vor allem nicht Nehwons Mittelraum zu durchqueren vermag, um uns hier zu erreichen.« »Mausling«, sagte Fafhrd tonlos, aber bestimmt, »du erfindest hier nicht nur Worte, du denkst dir die ganze Sache aus, aus dem Hemdsärmel schüttelst du alles, während du sprichst.« »Ich soll Naturgesetze erfinden?« fragte der Mausling mit gelindem Entsetzen. »Das wäre ja weitaus schlimmer als die übelste Blasphemie.« »Dann sag mir eins, im Namen aller Götter auf einem Haufen!« verlangte Fafhrd mit lauter Stimme. »Wie kann sich die Sonne in einer Wassersäule befinden, ohne sofort alles in einer gewaltigen Explosion
verkochen zu lassen? Antworte sofort!« »Es gibt Dinge, die nicht für das Verstehen des Menschen bestimmt sind«, sagte der Mausling mit tragender Stimme, schlug aber sofort einen vertraulicheren Ton an. »Oder, anders gesprochen, da ich auf keine Weise abergläubisch bin: Es gibt Dinge, die sich unserer Philosophie noch nicht erschlossen haben. Eine Auslassung, die ich sofort berichtigen werde. Weißt du, es gibt nämlich zwei unterschiedliche Arten Energie, die eine ist reine Hitze, die andere reines Licht, das nicht in der Lage ist, auch nur den kleinsten Wassertropfen zum Verdampfen zu bringen – das direkte Licht, von dem ich bereits erzählt habe, das sich sofort beinahe zur Gänze in Hitze verwandelt, wo immer es auftrifft, und das bietet uns wieder die Erklärung, warum das reflektierte Licht den langen Weg durch Nehwons Mitte nicht antreten kann. Na, ist das eine Antwort?« »Verdammt, verdammt, verdammt!« sagte Fafhrd schwach. Dann nahm er sich mit sichtlicher Anstrengung zusammen, wohl um einen letzten verzweifelten Vorstoß zu machen. Mit einem Anflug von Sarkasmus rief er: »Na schön! Na schön! Aber wo ist denn die schwimmende Sonne, von der du hier sprichst, in ihrer riesigen, undurchsichtigen Wassersäule?« »Schau einmal dorthin«, sagte der Mausling und deutete nach Süden, Steuerbord querab. Jenseits des mondsilbrigen grauen Feldes der See, durchsetzt von dahinhuschenden turmartigen Wassersäulen, beinahe am vage sichtbaren Horizont, erblickte Fafhrd eine einzelne riesige Wassersäule, groß wie eine Insel, höher als der höchste Tafelberg, eine
Erscheinung, die sich mindestens so schnell nach Osten bewegte wie die anderen Erhebungen, und unaufhaltsam wie ein Schlachtschiff des Herrschers der Länder des Ostens. Fafhrd stellten sich die Nackenhaare auf, so durchfuhren ihn Erstaunen und Angst, und er sagte kein Wort, sondern starrte nur wortlos auf das ungeheure Ding, das da in unvorstellbarer Mächtigkeit dahinraste. Nach einiger Zeit erfüllte ihn große Erschöpfung. Er blickte nach vorn auf das flatternde Silbergeflecht der beiden Schimmerwesen vor dem Bug. Ihre Nähe und Unveränderlichkeit trösteten ihn irgendwie, als wären sie die Flaggen des Schwarzen Renners. Langsam ließ er sich zu Boden sinken und blieb ausgestreckt auf den schmalen, enggefügten Planken des Decks liegen, den Kopf zum Bug hin, das Kinn auf die Hände gestützt, den Blick weiter auf die Nachtwesen gerichtet. »Du weißt sicher, daß in den klarsten NehwonNächten zuweilen ganze Sternengruppen plötzlich erlöschen«, fuhr der Mausling leichthin fort. »Das stimmt«, sagte Fafhrd ein wenig müde. »Das muß daran liegen, daß die Röhren der Wasserhüllen weit genug verbogen werden, womöglich durch Sturm, um das Licht zu verbergen, ja es zuweilen ganz zu umschließen.« »Wenn du meinst«, sagte Fafhrd kaum hörbar. Nach ziemlich langem Schweigen fragte der Mausling in unverändertem Ton: »Ist es nicht irgendwie seltsam, sich vorzustellen, daß im Herzen jeder dunklen grauen Wassersäule (ohne jede Hitze) ein Juwel im reinsten Diamantlicht brennt?« Fafhrd brachte einen Laut zustande, den man als
bedrückt-seufzende Zustimmung deuten konnte. Nach einer weiteren langen Pause sagte der Mausling nachdenklich, wie jemand, der noch einige ungeklärte Einzelheiten regeln möchte: »Nun ist sicher auch einzusehen, daß die kleinen und großen Säulen in Wirklichkeit Röhren sein müssen, oder? Bestünden sie nämlich aus irgendeinem Grund durch und durch aus Wasser, würden sie den Ozean sofort trockenlegen und den Himmel mit den schwersten Wolken füllen – nein, mit dem Meer! Begreifst du das?« Aber Fafhrd war eingeschlafen. Der Schlaf schenkte ihm einen Traum, und in diesem Traum rollte er sich auf den Rücken, und eines der Schimmerwesen trennte sich von seiner Schwester und flatterte zu ihm herab: eine lange, schlanke schwarzhaarige Gestalt, mondbleich, gehüllt in feinste, silberdurchwirkte schwarze Spitze, die auf bezaubernde Weise ihre Nacktheit unterstrich, schwebte dicht über ihm. Sie blickte zärtlich, doch zugleich abschätzend auf ihn herab, mit Augen, die, wäre es heller gewesen, violett geleuchtet hätten. Er lächelte sie an. Sie schüttelte leicht den Kopf, blickte ernst und schwebte zu ihm hernieder, ihn von Kopf bis Fuß berührend, die gespenstischen Finger nestelten an der großen Bronzeschnalle seines schweren Gürtels, während sie eine lange nachtkühle Wange gegen sein heißes Gesicht drückte und ihm leise und doch sehr deutlich etwas ins Ohr flüsterte, jedes Wort ein Symbol in schwärzester Tinte auf mondweißes Papier säuberlich geschrieben. »Kehre um, kehre um, mein Liebster, in das Schattenland und zum Tod, denn nur so bleibst du am Leben. Vertraue nur auf den Mond. Mißtraue allen Voraussetzungen außer der meinen. Und so
steuere nach Norden, steuere entschlossen, entschlossen nach Norden!« Im Traum antwortete Fafhrd: »Ich kann nicht nach Norden steuern. Ich habe es versucht. Liebe mich, liebstes Mädchen«, und sie antwortete heiser: »Das mag schon sein, mein Lieber. Suche den Tod, um ihm zu entkommen. Mißtraue der flammenden Jugend, den roten Weibchen, hüte dich vor der Sonne! Vertraue auf den Mond! Warte auf sein sicheres Zeichen!« In diesem Augenblick wurde Fafhrd aus seinem Traum gerissen, und er erhob sich betäubt unter den lauten Rufen des Mauslings – um sich flüchtig einem fröstelnden, verwehenden, schmalen, schönen Gesicht gegenüberzusehen, das denkbar melancholisch blickte, hellviolett getönt und mit Augen wie schwarze Löcher. Darunter eine gespenstische, ähnlich getönte Gestalt, sich schnell entfernend wie inmitten schlagender schwarzer Flügel. Im nächsten Augenblick rüttelte der Mausling ihn an der Schulter und rief: »Wach auf, wach auf! Sprich mit mir, Mann!« Fafhrd fuhr sich mit einem Handrücken über das Gesicht und murmelte: »Was ist?« Neben ihm hockend berichtete der Mausling hektisch und beinahe atemlos: »Die Schimmerwesen wurden unruhig und begannen wie Elmsfeuer um den Mast zu sausen. Eines der beiden summte wie eine Wespe um mich herum, und als ich es vertrieben hatte, sah ich, wie das andere dich an Füßen und Hüfte und Kopf umschmeichelte und dich dann am Hals berührte. Dein Fleisch wurde silbrig-weiß, bleich wie der Tod, während die kalten Flammen sich in
dein schimmerndes Leichentuch verwandelten. Ich begann um dich zu fürchten und vertrieb die Erscheinung.« Fafhrds Blick klärte sich während der Erläuterung des Mauslings ein wenig, und als der Freund fertig war, nickte er und sagte wissend: »Das wäre richtig. Sie hat viel vom Tod gesprochen und sah zuletzt auch so aus, arme Hexe!« »Wer hat gesprochen?« fragte der Mausling. »Was für eine Hexe meinst du?« »Natürlich das Leuchtmädchen«, erwiderte Fafhrd. »Du weißt doch, was ich meine.« Er stand auf, und sein Gürtel rutschte ab. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die geöffnete Schnalle, dann zog er den Gürtel wieder hoch und hakte ihn hastig zu. »Fafhrd, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, widersprach der Mausling, und sein Gesichtsausdruck war plötzlich sehr reserviert. »Mädchen? Was für ein Mädchen? Hast du Visionen? Hat dir der Mangel an sexueller Betätigung den Verstand durcheinandergebracht? Bist du mondsüchtig geworden?« An dieser Stelle mußte sich Fafhrd sehr scharf und auch geschickt äußern, um den Mausling zu dem Eingeständnis zu bewegen, daß er – der Mausling – seit Tagen den Verdacht hegte, die Schimmerwesen seien in Wirklichkeit Mädchen, wenn auch Mädchen mit einem sehr starken übernatürlichen Einfluß, soweit irgendeine Zutat überhaupt die grundlegende Mädcheneigenschaft eines solchen Wesens zu beeinträchtigen vermochte, was sicher nur bedingt zutrifft. Aber der Mausling ließ sich schließlich zu dem
Eingeständnis herab, auch wenn er nicht gerade aus dem Schlaf erwacht war und daher nicht die Neigung hatte, mit allem reinen Tisch zu machen, sondern viel lieber über seinen Bläschen-Kosmos nachdachte. Doch auf die betonte Aufforderung Fafhrds hin sprach er sogar über sein Zusammentreffen mit dem sonnenroten zinnoberäugigen Schimmermädchen am Mittag tags zuvor, nachdem er von Flammen übersät gewesen war, und erinnerte sich auf Fafhrds Beharren auch an die genauen Worte, die sie im Traum zu ihm gesagt hatte. »Dein rotes Mädchen sprach von Leben und empfahl, weiter nach Süden zu segeln, der Unsterblichkeit und dem Paradies entgegen«, faßte Fafhrd das Gehörte nachdenklich zusammen, »während mein dunkelhaariger Schatz vom Tod sprach und mir empfahl, nach Norden in Richtung Schattenland und Lankhmar und Eis-Öde umzukehren.« Mit steigender Erregung und klarem Erstaunen über seine eigene geistige Schärfe rief er: »Mausling, jetzt sehe ich alles. Es gibt zwei Paare von Schimmer-Mädchen! Die vom Tage (du hast mit einer dieser beiden gesprochen) sind Kinder der Sonne und Boten des sagenhaften Götterlandes um Nehwons Lebenspol. Während die Nachtschwärmer, die von der Abend- bis zur Morgendämmerung ihren Platz einnehmen, Gefolgsleute des Mondes sind. Töchter des Weißen Jägers, dem Schattenland verpflichtet, das dem Lebenspol diametral gegenüberliegt.« »Fafhrd«, sagte der Mausling, aus seinen Gedanken auftauchend, »hast du bedacht, wie sorgfältig berechnet Höhe und Durchmesser jeder Wassersäule sein müssen, damit der Stern darin von jedem Punkt
der anderen Hälfte Nehwons aus gesehen werden kann (dort oben, wenn dort Nacht ist), doch von keiner Stelle in unserer Hälfte hier unten? Damit erklärt sich übrigens auch, warum die Sterne im Zenit am hellsten leuchten, man sieht sie ganz, nicht nur einen linsenförmigen oder bikonvexen Anriß. Dies scheint dafür zu sprechen, daß eine Gottheit ...« In diesem Augenblick taten endlich Fafhrds Worte ihre Wirkung, und er sagte in verträumtem Tonfall: »Zwei verschiedene Mädchenpaare? Insgesamt vier Mädchen? Fafhrd, ich glaube, du machst die Dinge zu kompliziert. Bei Ildritchs Krummsäbel ...« »Es gibt zwei Zwillingspaare«, unterbrach ihn Fafhrd. »Das steht fest, auch wenn alles andere gelogen sein mag. Und merk dir eins, kleiner Mann, deine Sonnenmädchen sind uns übel gesonnen, auch wenn sie Gutes zu verheißen scheinen, denn wie soll man die Unsterblichkeit und das Paradies anders erreichen als durch das Sterben? Wie ist das Gottesland erreichbar, wenn man nicht vorher die Welt verläßt? Immerhin ist die Sonne, ob nun in reinem Licht strahlend oder nicht, böse, heiß und tödlich. Meine Mondmädchen jedoch, die scheinbar einen bösartigen Eindruck machen, wollen im Grunde nur unser Bestes – sind sie doch so kühl und lieblich wie der Mond. Im Traum sagte sie zu mir: ›Kehre um zum Tod‹, was sich schlimm anhört. Aber wir beide leben schon ein Dutzend Jahre mit dem Tod und ohne einen üblen Schaden davonzutragen – was sie auch selbst sagte: ›denn nur so bleibst du am Leben. Suche den Tod, um ihm zu entkommen.‹ Also steuern wir sofort nach Norden, wie angewiesen! Denn wenn wir immer weiter nach Süden segeln, immer tiefer in das
üble Reich der Sonne (›Hüte dich vor der Sonne!‹ hat sie gesagt), sterben wir bestimmt, verraten von deinen hinterlistigen, lügenhaften Feuermädchen. Denk daran, eine bloße Berührung ließ deine Brust qualmen. Wohingegen mein Mädchen sagte: ›Mißtraue der flammenden Jugend und den roten Weibchen‹, womit mein Argument abgeschlossen ist.« »Ich sehe das ganz und gar nicht so«, gab der Mausling zurück. »Mir gefällt die Sonne von Jugend an. Ihre wohltuende Wärme ist die beste Medizin. Schließlich liebst du die Kälte, die feuchte Dunkelheit, du Wilder aus der Eis-Öde! Mein Mädchen war süß und feurig-rosa vor Leben, während das deine düstere Worte äußerte und bleich wie eine Leiche war, das hast du selbst zugegeben. Und sie beim Wort nehmen? Ich nicht! Außerdem bei Ildritchs Krummsäbel (um auf diese Sache zurückzukommen), die einfachste Erklärung ist stets die beste wie auch zugleich die eleganteste. Es gibt nur zwei Schimmer-Mädchen, und mit einem habe ich im Traum gesprochen und mit dem anderen du – und nicht vier, die da auf verwirrende Weise herumschwirren, sich morgens und abends ablösen und uns und sich selbst damit durcheinanderbringen. Die beiden Mädchen – es sind nur zwei! – sehen äußerlich gleich aus, kupfern am Tag, silbrig in der Nacht, doch innerlich ist die meine ein Engel, die deine eine tödliche Walküre. Wie im Traum enthüllt wurde – dein sicherster Anhalt.« »Jetzt spaltest du aber gleich etliche Haare auf einmal«, sagte Fafhrd entschlossen, »und bringst mich ganz durcheinander mit deinen wuchernden Worten. Soviel ist mir klar: Wir machen uns und den Schwarzen Renner bereit, nach Norden zu steuern, wozu mir
mein kleines liebliches Mond-Mädchen mehr als einmal nachdrücklich geraten hat.« »Aber Fafhrd«, wandte der Mausling ein, »wir haben gestern doch immer wieder versucht, den Kurs nach Norden zu wechseln, und haben es nicht geschafft. Welchen Grund hast du zu der Annahme, du großer Dummkopf ...« »›Vertraue nur auf den Mond‹, hat sie gesagt«, unterbrach ihn Fafhrd. »›Warte auf sein sicheres Zeichen.‹ Also warten wir und passen auf. Betrachte dir Meer und Himmel, du Dummkopf, und verberge dein Erstaunen.« Der Mausling war in der Tat verblüfft. Während sie diskutiert und sich auf die Hiebe und Abwehrschläge ihres Wortduells konzentriert hatten, wandelte sich die Oberfläche des dahinrasenden Meeres der Sterne, sie war nicht mehr glattschimmernd, sondern bewegt, gewellt. Gewaltige Vibrationen fuhren darüberhin und ließen das Leopardenboot erbeben. Die mondsilbernen Schaumlinien wehten weniger regelmäßig über die Oberfläche – der Hurrikan, der in seiner Stärke keineswegs nachließ, verlor an Zielstrebigkeit, der Wind strömte den Helden mal heiß, mal kalt um die Schultern. Während am Himmel endlich Wolken erschienen, in großem Tempo aus dem Nordwesten und Osten gleichzeitig herankommend und dem Mond entgegensteigend. Die gesamte Natur schien sich besorgt zusammenzuducken, als erwarte sie ein unangenehmes Ereignis, eine Art Krieg am Himmel. Die beiden silbrigen Schimmerwesen teilten diese Vorahnung offenbar, denn sie begannen höchst aufgeregt herumzufliegen, ihre Lichtbahnen zuckten hin und her, und sie äußerten schrille, tschilpende Rufe
und besorgte Pfiffe in der unnatürlichen Stille. Endlich trennten sie sich, und schließlich schwebte das eine Wesen erregt im Südosten über dem Bug, das andere in nordwestlicher Richtung am Heck. Die sich schnell zusammenziehenden Wolken verdeckten nun den größten Teil der Sterne und hatten den Mond fast erreicht. Der Wind schien stillzustehen, entsprach er doch genau der Geschwindigkeit der Strömung. Der Schwarze Renner verhielt wie auf dem Kamin einer riesigen Woge. Einen Augenblick lang schien das Meer zu erstarrten. Die Stille war absolut. Der Mausling blickte senkrecht empor und stieß einen kehligen, doch zugleich kurzen, schrillen Schrei aus, der seinem Gefährten das Blut in den Adern stocken ließ. Nachdem er seinen Schock überwunden hatte, blickte Fafhrd empor – im gleichen Augenblick wurde es sehr dunkel. Die hungrigen Wolken hatten den Mond ausgelöscht. »Warum hast du geschrien?« fragte er ärgerlich. Der Mausling antwortete mit klappernden Zähnen: »Ehe die Wolken sich vor ihm schlossen, hat sich der Mond bewegt!« »Woher weißt du das, du kleiner Dummkopf, wenn die Wolken sich bewegt haben? Da hat man doch immer den Eindruck, der Mond sei in Bewegung.« »Keine Ahnung, so wahr ich hier auf sicheren Beinen stehe, ich habe es gesehen. Der Mond hat sich zu bewegen begonnen.« »Nun ja, wenn der Mond wirklich in einer Wassersäule steckt, wie du behauptest, ist er natürlich allen möglichen Einflüssen von Wind und Wogen ausge-
setzt. Was ist also so furchteinflößend an seiner Bewegung?« Fafhrds schrille hektische Stimme strafte die Vernünftigkeit seiner Frage Lügen. »Keine Ahnung!« wiederholte der Mausling mit einer seltsam dünnen, gepreßten Stimme, während seine Zähne weiter klapperten. »Aber es hat mir nicht gefallen.« Das Schimmerwesen am Heck pfiff dreimal. Die sich nervös windende, durchscheinende, silbrige Lichtgestalt war in der dunklen Nacht ebenso deutlich zu erkennen wie ihre Schwester am Bug. »Das ist das Zeichen!« rief Fafhrd heiser. »Fertig zum Wenden!« Und er warf sich mit dem ganzen Gewicht gegen die Ruderpinne und wendete sie zur Steuerbordseite, und das Ruder folglich nach Backbord, um einen nördlichen Kurs einzunehmen. Der Schwarze Renner reagierte sehr behäbig, entwand sich aber dem Griff von Strömung und Wind soweit, daß sich der Bug um ein oder zwei Grad nach Norden wendete, nicht mehr. Ein langer, flacher Blitzstrahl teilte den Himmel und zeigte das graue Meer bis zum Horizont, wo nun zwei riesige Wassersäulen auszumachen waren, die eine im Süden, die andere aus dem Westen herbeistürmend. Der Donner grollte wie Armeen oder Flotten, die zu einem eisenhallenden Armageddon zusammenstießen. Dann gab es nur noch loderndes Feuer und Chaos in der Nacht, gewaltige hochschwemmende Wellen und Winde, wie Riesen kämpfend, deren Köpfe den Himmel berührten. Während rings um das Schiff die Schimmerwesen ebenfalls kämpften, nun endlich zu viert, sich umkreisend, herniederstoßend und einan-
der jagend. Das erstarrte Meer wurde aufgerissen, große Stücke davon wurden zum Himmel geschleudert, Abgründe taten sich auf, die bis zu dem schlammigen schwarzen Meeresgrund hinabzureichen schienen, von Menschenaugen noch nie geschaut. Blitze und ohrenbetäubende Donnerschläge gingen beinahe ineinander über und offenbarten alles. Und diese urzeitlichen Gewalten überlebte der Schwarze Renner auf irgendeine Weise, ein Strohhalm im Chaos, während Fafhrd und der Mausling ihr seemännisches Können bis auf das Äußerste strapazierten. Aus dem Südwesten eilte nun die zweite riesige Wassersäule wie ein sich bewegender Berg herbei und schickte gewaltige Dünungswellen vor sich aus, die Fafhrds Kurs sehr unterstützten, wurden sie davon doch nach Norden getrieben, immer weiter nach Norden. Während der erste Riese aus dem Süden abdrehte – so sah es jedenfalls aus – und diese beiden (Mondsäule und Sonnensäule?) zu kämpfen begannen. Und plötzlich fühlte es sich an, als wäre der Schwarze Renner gegen eine Mauer geprallt. Fafhrd und der Mausling wurden auf das Deck geschleudert. Als sie sich hastig wieder aufgerappelt hatten, stellten sie zu ihrer großen Verblüffung fest, daß das Leopardenboot in ruhigem Wasser schwamm, während Blitz und Donner in die Ferne gerückt waren, für ihre betäubten Ohren und halb geblendeten Augen kaum noch wahrzunehmen. Sterne und Mond waren nicht zu sehen, sie waren von undurchdringlicher Nacht umgeben. Schimmerwesen gab es auch nicht mehr. Das Segel war in Fetzen gerissen, das zeigte sich im
schwachen Licht der Blitze. Unter seiner Hand spürte Fafhrd eine gewisse Lockerheit des Ruders, als habe die gesamte Steuereinrichtung den Beanspruchungen nicht standgehalten. »Wir hängen ein wenig tief an Heck und Steuerbord, meinst du nicht auch?« fragte der Mausling. »Wir müssen ein Leck haben. Vielleicht hat sich unter Deck auch etwas verschoben. An die Pumpe! Später können wir ein neues Segel setzen.« Und so arbeiteten sie mehrere Stunden stumm miteinander, wie oft in früherer Zeit, und machten Ordnung an Bord des Leopardenbootes und reparierten es, wo immer möglich, im Licht von zwei Laternen, die Fafhrd an den Mast gehängt hatte. Darin verbrannte er reinstes Leviathan-Öl, was kein Problem mehr war, denn der Sturm hatte sich zusammen mit den Blitzen verzogen, und die dunklen Wolken hingen tief am Himmel. Wie in dieser Nacht (und am Tag auf der anderen Seite) über ganz Nehwon. In den folgenden Monaten und Jahren liefen Gerüchte über die Große Dunkelheit um, wie sie allgemein genannt wurde, eine Dunkelheit, die stundenlang ganz Nehwon eingehüllt hatte, so daß niemals wirklich bekannt wurde, ob der Mond tatsächlich auf ungeheuerliche Weise halb um die Welt gereist war, um gegen die Sonne zu kämpfen und dann an seinen vorgesehenen Platz zurückzukehren, oder nicht; obwohl immer wieder behauptet wurde, es habe Zeugen gegeben, die eine solche Reise durch schmale Spalten in der Wolkendecke beobachten konnten und daß sogar die Sonne selbst sich kurz von ihrem Weg entfernt habe, um gegen den Mond anzutreten.
Nach einer gewissen Zeit legten die beiden Freunde eine Pause ein, und Fafhrd sagte leise: »Ohne die Schimmerwesen ist es einsam, meinst du nicht auch?« »Stimmt«, sagte der Mausling. »Ich möchte nur wissen, ob die beiden uns tatsächlich zu einem Schatz geführt hätten oder das auch nur vorhatten. Oder ob sie uns oder einen von uns sonstwohin geführt hätten, entweder dein Mädchen, oder das meine?« »Ich bin immer noch fest davon überzeugt, daß es vier Wesen gegeben hat«, sagte Fafhrd. »Jedes Zwillingspaar hätte uns also zusammen irgendwohin bringen können, ohne daß wir uns hätten trennen müssen.« »Nein, es gab nur zwei Wesen«, beharrte der Mausling, »und die waren entschlossen, uns in recht unterschiedliche Richtungen zu führen, antipodisch, weg voneinander.« Und als Fafhrd nicht antwortete, sagte er nach längerem Schweigen: »Ein Teil in mir wünscht sich, ich hätte mein Flammenmädchen begleitet und herausgefunden, wie es ist, wenn man im Paradies lebt, von der herrlichen Sonne gebadet.« »Und ein Teil von mir«, sagte Fafhrd, »wünscht sich, ich wäre meiner melancholischen Maid auf den bleichen Mond gefolgt, um dort zu wohnen und die Sommermonate vielleicht im Schattenland zu verbringen.« Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Aber der Mensch ist für das Paradies nicht geschaffen, würde ich meinen, sei es von Wärme oder von Kälte bestimmt. Nein, niemals, niemals, niemals, niemals!« »Einmal wäre keinmal gewesen«, sagte der Mausling und wiegte den Kopf. Während ihres Gesprächs war es hell geworden. Die Wolken hatten sich verzogen. Das neue Segel
schimmerte. Die Leviathanlampen brannten schwach, ihre Flammen waren vor dem aufhellenden Himmel beinahe nicht mehr auszumachen. In weiter Ferne gen Norden sahen die beiden Abenteurer einen dunklen, flachen Umriß, zweifellos die südlichste Landmasse der Länder des Ostens. »Wir haben den lankhmarischen Kontinent an einem einzigen Tag und in einer einzigen Nacht umfahren«, sagte der Mausling. Aus dem Süden wehte ein Windhauch herbei und bewegte die stille Luft. Sie nahmen Kurs nach Norden in das lange Ostmeer. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Schlück
Die Frost-Monstreme »Grauer Mausling, ich bin diese kleinen Zusammenstöße mit dem Tod leid«, sagte der Nordmann Fafhrd, hob den verbeulten, dunklen Kelch und trank einen wohlbemessenen Schluck fermentierten Gebräus, versetzt mit bitterem Branntwein. »Wünschst du dir einen großen Zusammenstoß?« fragte sein Gefährte spöttisch und gönnte sich ebenfalls einen Schluck. Fafhrd dachte darüber nach, während sein Blick langsam, doch ohne innezuhalten durch die Taverne wanderte, deren Symbol ein gewundener und fleckiger silberner Aal war. »Vielleicht«, sagte er. »Eine langweilige Nacht«, stimmte ihm der andere zu. In der Tat, das Innere des Silbernen Aals bot ein Bild, das so bleiern war wie die Tönung der Weinkelche. Die Zeit lag zwischen Mitternacht und Morgendämmerung, das Licht war matt, aber nicht verqualmt, die Luft feucht, aber nicht kalt, die anderen Trinkenden wirkten wie niedergeschlagene Statuen, die Gesichter von Barkeeper und Rausschmeißer und Bedienung waren erstarrt zu einem Ausdruck mürrischer Unzufriedenheit, als hätte überhaupt die Zeit innegehalten. Die Stadt Lankhmar draußen vor der Tür war still wie eine Nekropolis, während im weiteren Umfeld die Welt Nehwon seit einem ganzen Jahr im Frieden gelebt hatte – oder eher Unkrieg. Selbst die Mingols der weiten Steppen kamen auf ihren kleinen, zähen Pferden nicht mehr nach Süden geritten, um zu räu-
bern und zu brandschatzen. Die Folge davon war allerdings keine Gelassenheit, sondern ein vages Unbehagen, eine Ruhelosigkeit, die sich noch nicht in Bewegung ausgedrückt hatte – als liefe hier das Vorspiel zu einem unerträglichen kalten Blitzstrahl, der noch das winzigste Detail des Lebens durchschlagen wollte. Diese Atmosphäre wirkte auf die Gefühle und Gedanken des großen braungekleideten Barbaren und seines kleinen grauumhüllten Freundes. »Langweilig, das kann man wohl sagen«, meinte Fafhrd. »Ich sehne mich nach einem großen Erlebnis!« »Das sind Gedanken eines ungebildeten Jünglings. Hast du dir deswegen den Bart abrasiert? Damit du äußerlich zu seinen Träumen paßt? Beides sind doch nackte Lügen!« Der Mausling hatte seine Frage gleich selbst beantwortet. »Warum hast du dein Haar in den letzten drei Tagen wachsen lassen?« gab Fafhrd zurück. »Ich lasse nur meine Gesichtshaut ausruhen, ehe alle Haare ganz entfernt werden. Und du hast an Gewicht verloren. Ein schmachtendes Jünglingssehnen?« »O nein, auch keine Krankheit oder Sorge. Du bist in letzter Zeit auch ein wenig dünner geworden. An uns verändert – sich die reichlich bemessene Muskulatur der jungen Männlichkeit zu einer geschmeidigeren, widerstandsfähigeren Struktur, die für die großen Beanspruchungen und Belastungen der Lebensmitte geeignet ist.« »Davon haben wir wirklich schon genug gehabt«, stellte der Mausling fest. »Mindestens dreimal um Nehwon herum.«
Fafhrd schüttelte bedrückt den Kopf. »Wir haben noch gar nicht richtig gelebt. Wir haben noch kein Land besessen. Wir haben noch keine Männer in den Kampf geführt.« »Fafhrd, du bist trunken, bedrückt!« Der Mausling lachte hohl vor sich hin. »Möchtest du Bauer sein? Hast du vergessen, daß ein Kapitän der Gefangene seines Kommandos ist? Hier, trink dich nüchtern – oder zumindest in eine bessere Stimmung!« Der Nordling ließ sich aus zwei Krügen nachschenken, doch seine Stimmung veränderte sich nicht. Bedrückt vor sich hinstarrend, fuhr er fort: »Wir haben weder ein Zuhause noch eine Frau.« »Fafhrd, du brauchst ein Mädchen!« »Wer hat von Mädchen gesprochen?« protestierte der andere. »Ich meine eine richtige Frau. Ich hatte die mutige Kreeshkra, aber sie ist zu ihren geliebten Ghuls zurückgekehrt. Während deine schnippische Reetha das haarlose Land Eevamarensee vorzieht.« Der Mausling warf leise ein: »Ich hatte auch die herrschsüchtige; freche Hisvet, und du ihre mutige, dramatische Königssklavin Frix.« »Einmal, vor langer Zeit«, fuhr Fafhrd fort, »gab es darüber hinaus Friska und Ivivis, doch sie waren quarmallische Sklavinnen und wandelten sich zu freien Frauen in Tovilysis. Davor Keyaira und Hirriwi doch sie waren unsichtbare Prinzessinnen, Geliebte einer – oh – langen, langen Nacht, Töchter des schrecklichen Oomforafor und Schwestern des mörderischen Faroomfar. Und noch vor all jenen kannten wir im Land unserer Jugend die blonde Ivrian und die schlanke Vlana. Sie aber waren junge Mädchen, im lieblichen Zwischenstadium (oder Schauspielerin-
nen, rätselhafte Wesen), und jetzt leben sie beim Tod im Schattenland. Folglich bin ich nur ein halber Mann. Ich brauche eine Gefährtin. Du übrigens auch.« »Fafhrd, du hast ja den Verstand verloren! Du redest hier von weltumspannenden wilden Abenteuern und plapperst gleich darauf von Dingen, die so etwas unmöglich machen: eine Frau, ein Zuhause, Plagen, Pflichten. Eine langweilige Nacht ohne Mädchen oder Kampf – und schon hast du Gehirnerweichung. Ich wiederhole: du bist verrückt!« Noch einmal blickte Fafhrd durch den Schänkenraum und betrachtete die reglosen Anwesenden. »'S bleibt langweilig, nicht wahr?« bemerkte er. »Als hätte sich kein Nasenflügel oder Ohr bewegt, seit ich das letztemal hingeschaut habe. Und doch ist das eine Ruhe, der ich nicht trauen kann. Mich durchläuft ein eisiger Schauder. Mausling ...« Der Freund aber blickte an ihm vorbei. Geräuschlos – oder jedenfalls sehr leise – hatten zwei schlanke Gestalten den Silbernen Aal betreten und blieben abschätzend hinter den bleischweren, eisendurchwirkten Vorhängen stehen, die den Nebel draußenhielten und Schwertstöße ablenken konnten. Der eine Neuankömmling war groß und breit wie ein Mann, mit blauen Augen, dünnen Wangen und breitem Mund, gekleidet in ein blaues Wams und gleichfarbige Hosen und einen langen grauen Mantel. Die zweite Erscheinung wirkte drahtig und geschmeidig wie eine Katze, mit grünen Augen, kompakten Gesichtszügen, zusammengepreßten kurzen Lippen, und war ähnlich gekleidet, nur ging sie in Rostrot und Braun. Die beiden waren weder jung noch dem mittleren Alter na-
he. Die glatten, ungefurchten Stirnen, die ruhigen Augen, die gleichförmig geschwungenen Wangenlinien und das lange, gesichtsrahmende Haar – hier silbrig gelb, dort schwarz, durchsetzt mit dunkelstem Braun, und darin wiederum goldene Fasern, oder handelte es sich um eingeflochtene Golddrähte? – wiesen die beiden als Frauen aus. Dieses letzte Attribut beendete die erstarrte nächtliche Trance der versammelten Langweiler, von denen ein halbes Dutzend sich den Neuankömmlingen näherte, leise Einladungen äußernd und kehlig lachend. Die beiden Frauen traten vor, als wollten sie die Begegnung möglichst schnell hinter sich bringen, die Blicke unbeirrt nach vorn gerichtet. Und plötzlich – es geschah ohne Innehalten oder sichtlichen Zusammenstoß, nur zuckte jemand zurück, als hätte man ihm auf den Fuß getreten, und ein anderer keuchte auf, als wäre ihm ein fester Ellenbogen in die kurzen Rippen geraten – waren die beiden an den sechs Männern vorbei. Es war, als wären sie einfach hindurchgeschritten, so wie man eine Rauchwolke durchquert, ohne auch nur mehr zu reagieren als mit einer gerümpften Nase. Der mißachtete Rauch hinter ihnen wogte und wirbelte ein wenig. Nun standen den beiden der Graue Mausling und Fafhrd im Weg, die sich erhoben hatten und deren Hände noch immer auf die Griffe der verhüllten Schwerter deuteten, ohne sie zu berühren. »Meine Damen ...«, setzte der Mausling an. »Trinkt ihr Wein ...?« fuhr Fafhrd fort. »Zur Stärkung gegen die Kälte der Nacht?« schloß der Mausling die Vorstellung ab und deutete eine Verbeugung an, während Fafhrd höflich auf den
Tisch wies, von dem sie sich erhoben hatten. Die beiden schlanken Frauen blieben stehen und betrachteten die beiden ohne Eile. »Vielleicht ...«, schnurrte die kleinere. »Vorausgesetzt, ihr laßt die Reifinsel für die Getränke bezahlen«, fügte die andere hinzu mit einer Stimme, die hell und schnell klang wie plätscherndes Schneewasser. Als die beiden Helden das Wort »Reifinsel« hörten, setzten sie nachdenkliche, fragende Gesichter auf, als habe in einem anderen Universum jemand ›Atlantis‹ oder ›Eldorado‹ oder ›Thule‹ gesagt. Trotzdem nickten sie zustimmend und rückten den Frauen die Stühle zurecht. »Reifinsel«, wiederholte Fafhrd beschwörend, während der Mausling mit Kelchen und Krügen zu hantieren begann. »Als Kind habe ich in der Eis-Öde davon gehört und auch später bei den Piratentouren meiner Jugend, außerdem wurde von Salzhaven geflüstert. Den Legenden zufolge deuten die Klauen darauf – die dünnen, felsigen Halbinseln, die Nehwons Nordwestecke verlängern.« »Ausnahmsweise einmal sagen die Legenden die Wahrheit«, meinte die gold-silber-haarige Frau in Blau und Grau mit leiser Stimme. »Die Reifinsel existiert. Ebenso Salzhaven.« »Ich bitte dich!« sagte der Mausling mit einem Lächeln und reichte ihr feierlich den Kelch. »Es heißt, die Reifinsel sei nicht realer als Simorgya.« »Ist Simorgya denn nicht real?« fragte sie und nahm den Kelch. »Doch!« räumte er mit einem verblüfften Blick ein. »Ich habe es einmal von Bord eines sehr kleinen Schif-
fes aus betrachtet, als es sich für kurze Zeit aus den Tiefen des Äußeren Meeres erhoben hatte. Mein Freund hier, dem der Sinn noch mehr nach Abenteuern steht«, – mit einer Kopfbewegung deutete er auf Fafhrd –, »ist sogar kurze Zeit über den feuchten Kies dieses Landes geschritten und sah ein paar Verrückte mit Teufelsfischen tanzen, die wie sich windende schwarze Felle aussahen.« »Nördlich von Simorgya, westlich der Klauen.« Diese Worte kamen energisch von der Frau mit dem schwarzen Haar, durchzogen von schimmernder dunkler Bronze und Gold. Ihre rechte Hand hielt den gefüllten Weinkelch, den sie eben entgegengenommen hatte, die linke verschwand unter dem Tisch und knallte dann mit schneller Bewegung auf die kreisgemusterte Eiche, dann hob sie sich und offenbarte vier kleine runde Gebilde, die hell wie Monde schimmerten. »Es war euch recht, daß die Reifinsel bezahlt.« Der Mausling und Fafhrd nickten höflich, aber ein wenig geistesabwesend, und nahmen je eine der Münzen, um sie genau zu betrachten. »Bei den Zitzen Titchubis!« hauchte der erstere, »dies ist kein falscher Fünfziger!« »Reifinsel-Silber?« fragte Fafhrd leise, hob mit hochgezogenen Brauen den Kopf und ließ den Blick von der Mütze zu der größeren Frau wandern. Sie sah ihn offen an. In den Mundwinkeln, lieblich eingebettet in ihre Wangen, schwebte der Anflug eines Lächelns. Ernst, aber doch spöttischherausfordernd sagte sie: »Und es läuft niemals an.« »Die Vorderseite zeigt ein riesiges Meeresungeheuer, das drohend aus den Tiefen aufsteigt«, sagte er.
»Nichts anderes als ein großer Wal, der die Luft abbläst, nachdem er tief getaucht ist«, antwortete sie. Der Mausling sagte zu der anderen Frau: »Die Rückseite dagegen zeigt einen schiffsförmigen meilenlangen soliden Felsen, der aus flachen Dünungswellen ragt.« »Lediglich ein Eisberg, kaum halb so groß«, sagte sie. »Nun«, meinte Fafhrd, »trinken wir, was uns diese strahlenden fremden Münzen gebracht haben. Ich bin Fafhrd, er heißt Grauer Mausling.« »Und ich werde Afreyt genannt«, sagte die große Frau, »und meine Begleiterin Cif.« Nach tiefen Zügen stellten sie die Kelche ab, Afreyt mit einem scharfen Doppelknall von Zinn auf Eiche. »Und jetzt zum Geschäftlichen«, sagte sie knapp mit einem leichten Stirnrunzeln in Fafhrds Richtung, als er nach den Weinkrügen griff (es ließ sich darüber streiten, ob dieses Stirnrunzeln wirklich vorhanden war). »Wir sprechen mit der Autorität der Reifinsel ...« »Und verteilen ihr goldenes Geld«, meinte Cif, und in ihren grünen Augen tanzten gelbe Punkte. Dann fügte sie tonlos hinzu: »Die Reifinsel ist bedroht.« Die Stimme senkend, fragte Afreyt: »Habt ihr je von den Meeres-Mingols gehört?« Als Fafhrd nickte, blickte sie den Mausling an und fuhr fort: »Die meisten Leute aus dem Süden glauben nicht einmal an ihre Existenz und halten jeden Mingol, der nicht auf einem Pferd sitzt, für einen Nichtsnutz, ob nun an Land oder auf dem Meer.« »Ich nicht«, antwortete er. »Ich bin mit Mingolbesatzungen gesegelt. Es gibt da einen Mingol, inzwi-
schen ein alter Mann, der heißt Ourph ...« »Und ich kenne Mingol-Piraten«, warf Fafhrd ein. »Sie haben nur wenige Schiffe, doch jedes ist gefährlich. Reißzähnige Wasserratten – Meeres-Mingols, wie ihr sagt.« »Das ist gut«, wandte sich Cif an beide. »Dann werdet ihr mir eher glauben, wenn ich euch sage, daß als Antwort auf die Feenprophezeiung ›Wer Nehwons Krone erringt, soll sie ganz besitzen ...‹« »Mit der Krone sind die Küsten im nordpolaren Bereich gemeint«, schaltete sich Afreyt ein. »Und auf großartige Weise unterstützt durch den Zauberer des Eises, Khahkht, dessen Name ein gefrorenes Husten ist ...« »Womöglich das böseste Wesen, das es auf der Welt je gegeben hat«, versicherte Afreyt, und ihre Augen waren ein Saphirmond, der frostig durch zwei enge Fensterschlitze schimmerte. »Die Mingols lassen Schiffe ausrücken, um die nördlichsten Küsten Nehwons heimzusuchen, in zwei große Flotten, die eine der Sonne folgend, die andere – die Gegenläufigen Mingols – dagegen ...« »Und hier geht es nicht um einige wenige gefährliche Schiffe, sondern um ganze Flotten, das könnt ihr uns glauben«, meinte Afreyt und behielt dabei vorwiegend Fafhrd im Auge (so wie Cif sich um den Mausling kümmerte), dann setzte sie die Hauptgeschichte fort: »Bis Sonnenlauf und Gegenlauf sich an der Reifinsel treffen, sie überwältigen und nach Süden ausschwärmen, um die Welt zu vergewaltigen!« »Üble Aussichten«, bemerkte Fafhrd und stellte den Branntweinkrug fort, mit dem er den Wein versetzt hatte.
»Zumindest ein recht klares Bild«, meldete sich der Mausling. »Mingols sind unermüdliche Eroberer.« Mit vorgestrecktem Kinn beugte sich Cif vor. Ihre grünen Augen funkelten. »Die Reifinsel ist also das erwählte Schlachtfeld. Erwählt vom Schicksal, vom kalten Khahkht und den Göttern. Der Ort, die Steppenhorden aufzuhalten, die sich hier zu Seepiraten gemausert haben.« Ohne sich zu bewegen, gewann Afreyt auf ihrem Sitz an Größe, und ihr blauer Blick zuckte zwischen Fafhrd und seinem Gefährten hin und her. »Die Reifinsel kleidet sich nun in Waffen, stellt Heere auf und wirbt Söldner an. Letzteres ist meine und Cifs Aufgabe. Wir brauchen zwei Kämpfer, von denen jeder zwölf Männer wie sich selbst findet und sie innerhalb drei kurzer Monde zur Reifinsel bringt. Ihr seid die beiden.« »Soll das heißen, es gibt in Nehwon noch einen weiteren Mann wie mich – nein, sogar ein ganzes Dutzend?« fragte der Mausling ungläubig. »Zumindest ein sehr teures Unterfangen«, sagte Fafhrd abwägend. Cifs Bizeps schwoll unter dem engsitzenden rostroten Stoff ein wenig an, als sie unter dem Tisch zwei prall gefüllte Beutel von Orangengröße hervorholte und vor jedem Mann einen hinsetzte. Das matte Geräusch und das schnell gedämpfte Klirren klangen höchst befriedigend. »Hier sind die Mittel dazu!« Der Mausling riß die Augen auf, ohne allerdings das runde Säckchen zu berühren. »Die Reifinsel scheint dringend Helden zu brauchen. Und Heldinnen? Da hätte ich ein paar Vorschläge.«
»Darum kümmert man sich«, sagte Cif entschlossen. Fafhrd strich mit dem Ringfinger leicht über seinen Beutel und zog die Hand wieder zurück. »Trinken wir«, sagte Afreyt. Als die Kelche gehoben wurden, tönte aus der Luft ringsum ein leises Klirren wie von Märchenglocken, ein kaum spürbares Ziehen, ein eiskalter Hauch stahl sich von der Tür herein, und die ganze Luft wurde schwach durchscheinend, sie ließ die Konturen sanfter erscheinen und gab allen Gegenständen einen perlmutterartigen Schimmer – und all diese Vorzeichen steigerten sich in unglaublichen Sprüngen zu einem betäubenden, die Sinne überschwemmenden Glockendröhnen heftig wie Tempelgeläut und hallend wie von hohen Zinnen, das ohrenbetäubende Brausen und Pfeifen eines Polarwinds, der im Nu die Wärme restlos verfliegen ließ, die eisen- und bleibeschwerten Türvorhänge fortwehte und die Gäste im Silbernen Aal durcheinanderwirbelte, gefolgt von einem Eisnebel dicht wie Milch, durch den Cifs Stimme tönte: »Der eisige Atem von Khahkht!« und Afreyt: »Es hat uns aufgespürt!« Im nächsten Augenblick löschte das Chaos alles aus. Fafhrd und der Mausling hielten mit einer Hand verzweifelt die Beutel und klammerten sich mit der anderen am Tisch fest, der zum Glück festgeschraubt war, damit er bei Schlägereien nicht als Waffe benutzt werden konnte. Sturm und Tumult ließen nach, und der Dunst verzog sich, wenn auch nicht so schnell, wie sie gekommen waren. Die beiden Freunde öffneten die Hände, wischten sich Eiskristalle von Stirn und Augen, zün-
deten Lampen an und blickten sich um. Das Lokal war ein blutloses Gewirr, zugleich still wie der Tod, bis das erschrockene Klagen begann, die Schmerzensschreie und staunenden Ausrufe. Sie suchten den langen Raum ab, zuerst von ihrem Tisch aus, dann zu Fuß. Ihre schlanken Tischgenossinnen waren nicht unter den langsam wieder zu sich kommenden Opfern. Mit einer gewissen Leichtigkeit sagte der Mausling: »Waren wirklich die Wesen hier, die wir suchen? Oder haben wir nur eine Droge getrunken, die ...« Er stockte. Fafhrd hatte seinen kleinen runden Geldbeutel genommen und ging zur Tür. »Wohin?« rief der Mausling. Fafhrd blieb stehen und drehte sich um. Ohne zu lächeln rief er: »Gen Norden hinter das Trollgebirge, um meine zwölf Berserker anzuwerben. Zweifellos wirst du dein Dutzend Schwertkämpfer und Diebe in wärmerem Klima finden. In drei Monden weniger drei Tagen treffen wir uns auf See auf halbem Wege zwischen Simorgya und der Reifinsel. Bis dahin – leb wohl!« Der Mausling sah ihm nach, wie er die Schänke verließ, zuckte die Achseln und suchte sich aus dem Gewirr einen Kelch und den umgestürzten, aber unzerbrochenen Branntweinkrug, der vom Reif des magischen Eishauches bedeckt war. Der nicht verschüttete Inhalt ergab noch einen angenehm gefüllten Kelch. Einen Augenblick lang betastete er seinen Geldbeutel, dann öffnete er vorsichtig den festen Knoten. Drinnen schimmerte es bernsteinbraun. »Eine goldene Orange, so kann man sagen«, bemerkte er fröhlich, ohne auf die stöhnenden Gestalten zu ach-
ten, die da herumkrochen oder ihre Wunden betasteten. Vorsichtig nahm er eine der dicht gepackten gelben Münzen heraus. Auf der Rückseite ein rauchender Vulkan, möglicherweise schneebedeckt, vorn eine aus dem Meer aufsteigende gewaltige Klippe, die nicht ganz wie Eis oder normales Gestein aussah. Welch absonderliche Entwicklung! Wieder blickte er zum eisenverhangenen Eingang. Was für ein Dummkopf, überlegte er, allen Ernstes auf eine unmögliche Aufgabe einzugehen, von Frauen gestellt, die verschwunden und wahrscheinlich tot oder bestenfalls durch Zauberkräfte außer Reichweite gebracht waren. Oder sich zu einem fernen Zeitpunkt in einem unvermessenen Ozean zwischen einem versunkenen Land und einer sagenhaften Insel zu verabreden. Fafhrds Geographie war womöglich noch mehr von Hoffnung bestimmt, als seine gewöhnlich sehr lebhafte Phantasie. Wenn er nur daran dachte, welch seltene Freuden – nein, welche Orgien an Ekstase und Wonnen – soviel Gold ihm erschließen konnte. Was für ein Glück, daß das Metall der geistlose Sklave des Mannes war, der es in der Hand hielt! Er tat die Münze wieder in den Beutel, band ihn sorgsam zu, damit er den goldenen Schimmer nicht mehr wahrnahm, stand entschlossen auf und blickte noch einmal auf die Tischplatte, an deren Rand die vier Silbermünzen flach angeschmiegt lagen. Während er noch hinschaute, erschien die fleischige Hand des rundlichen Schänkenhelfers, der von dem Zimmer-Schneesturm unter den Tisch gefegt worden war, und ließ das Geld blitzschnell verschwinden.
Der Mausling zuckte die Achseln und stolzierte zur Tür, wobei er einen Mingol-Marsch durch die Zähne pfiff. In einer Kugel, die anderthalb mal so hoch war, wie ein Mensch groß ist, war ein hageres altes Geschöpf am Werk. Auf das Innere der Kugel war eine Weltkarte Nehwons gezeichnet, die Meere in tiefstem Blau, die Landmassen in dunkelsten Grün- und Brauntönungen, doch alles düster schimmernd wie blau, grün und braun angelaufenes Eisen. Insgesamt ergab sich die Illusion, als wäre die Kugel eine Riesenblase, die ewig durch unendlich verschmutztes, öliges Wasser aufstieg – ein Bild, nach dem manche lankhmarischen Philosophen ihre eigene Welt beschreiben. Südlich der Ostländer und des Großen Äquatorozeans war sogar eine ringförmige Wassermauer dargestellt, eine Handspanne breit und drei Finger hoch, eine Mauer, wie sie nach Ansicht eben dieser Philosophen die Sonne der Hälfte Nehwons verbirgt, über der sie schwebt, obwohl am Grunde des flüssigen Kraters jetzt keine grelle Sonnenscheibe lag, sondern lediglich ein bleicher Schimmer, der ausreichte, das Innere der Kugel zu erleuchten. Soweit die vier langen, sich ständig bewegenden Glieder nicht von einer weiten Robe verdeckt wurden, zeigten sie kurze, steife schwarze Haare, die von Eis angegraut oder eingehüllt waren, während sein schmales Gesicht bösartig wirkte wie das einer Spinne. In diesem Augenblick hob Es die ledrigen Lippen und erforschte auf nervöse Weise mit langnägeligen Fingern ein Gebiet der Landkarte, auf dem ein winziger, schimmernder schwarzer Fleck südlich des Blau
und inmitten einer braunen Fläche die Stadt Lankhmar kennzeichnete, an der südlichen Küste des Binnenmeeres gelegen. War es Sein Atem, der sich kalt zeigte, oder beschwor Sein Wille den weißen Hauch herauf, der über den schwarzen Fleck fuhr? Was immer – der Dunst verging wieder. Auf mingolisch rief das Wesen mit schriller Stimme: »Fort sind sie, die Hexen! Khahkht sieht jede Fliege sterben und schickt Seinen vernichtenden Atem, wohin Es will. Die Mingols plündern, die Welt achtet's nicht. Frauen mengen sich ein, Helden fallen. Und jetzt ist die Zeit, mit dem Bau der FrostMonstreme zu beginnen.« Es öffnete eine kreisförmige Falltür in der Gegend des Südpols und ließ sich an einem dünnen Seil in die Tiefe hinab. Drei Tage vor dem dritten Mond war der Mausling durch und durch angewidert, müde bis zur Erschöpfung und durchgefroren. Füße und Zehen fühlten sich kalt an in den schönen, fellausgekleideten Stiefeln, die sich langsam unter seinen Sohlen hoben und senkten, der Bewegung des kalten Schiffsdecks folgend, das im Takt der langen, flachen Dünung schwankte. Er stand neben dem kurzen Hauptmast, von dessen langer Rah (länger als die Spiere) das lokker gereffte Segel in gefrorenen Girlanden herabhing. Vor dem vage erkennbaren niedrigen Bug und Heck und jenseits der Mastspitze wurde die Umwelt durch einen Nebel aus winzigen Eiskristallen ausgelöscht, wir Zirruswolken, die sich aus der Höhe des Stardocks herabgesenkt hatten, durchströmt von dem Licht eines unsichtbaren gewölbten Mondes, noch
beinahe voll angeschwollen, perlgraue Helligkeit verströmend. Die Flaute ringsum, die allgemeine Ruhe, die aller Erfahrung widersprach, schien die Kälte noch tiefer wirken zu lassen. Die Stille war jedoch nicht absolut. Ein leises Rauschen und Tropfen war zu hören, vielleicht sogar das unmerklichste Knacken einer denkbar dünnen Eisschicht – mit jeder Bewegung, mit der die Schiffshülle dem Auf und Ab des Meeres folgte. Daraus ergab sich ein leises Knirschen der Hölzer und Takelage der Treibgut. Und darunter oder darüber hinaus lauerten noch schwächere Geräusche in den Randbezirken des Unhörbaren. Mit einem Teil seines Verstandes, der ohne bewußte Anstrengung arbeitete, bemühte sich der Mausling endlos, diese feinsten Laute wahrzunehmen. Er hatte keine Lust, sich von einer Mingolflotte oder auch nur einem einzelnen Schiff überraschen zu lassen. Die Treibgut war ein Transportschiff und nicht aufs Kämpfen eingerichtet – dies mußte er sich immer wieder vor Augen führen. Sehr absonderlich waren einige dieser leisen realen oder eingebildeten Geräusche, die aus dem kalten Nebel herbeiwehten – das Brechen gewaltiger Eismassen, viele Meilen entfernt, das Dröhnen und Klatschen gewaltiger Ruder in noch größerer Entfernung, ein vages jämmerliches Kreischen und, noch weiter entrückt, ein tiefes drohendes Knurren und ein Gelächter wie von Unholden, die außerhalb der Grenzen Nehwons hausten. Er dachte an die unsichtbaren Flugwesen, die sich in der schneekalten Luft Stardocks herumgetrieben hatten, als Fafhrd und er diesen höchsten Gipfel Nehwons erstiegen. Die Kälte unterbrach seine Gedankenkette. Nur zu
gern hätte der Mausling mit den Füßen aufgestampft, die Arme um seinen Körper geschlagen oder – was am besten gewesen wäre – sich an einem großen Wutausbruch gewärmt, doch gegen seinen Willen hielt er sich zurück, vielleicht würde auf diese Weise die endgültige Erlösung um so wonniger ausfallen. Statt dessen machte er sich daran, seine Erschöpfung zu analysieren, die ihn anwiderte. Zuerst hatte er zwölf Diebe finden, überreden und unter sein Kommando zwingen müssen – überhaupt eine seltene Gattung. Und sie dann zu Kämpfern ausbilden! Die Hälfte mußte den Umgang mit der Schlinge lernen und zwei (Mog stehe ihm bei!) die Kunst des Schwertkampfes. Und die Wahl der geeignetsten Leute als Korporäle: Pshawri und Mikkidu, die gemütlich bei ihren Gruppen schliefen, verflixt! Parallel dazu hatte er den Alten Ourph aufgesucht und dessen vierköpfige Mingol-Mannschaft zusammengetrieben. Ein Risiko, aber wohlüberlegt. Würden die Mingol-Seeleute im Notfall auch gegen die eigene Rasse kämpfen? Mingols wurden allerorten für heimtückisch gehalten. Doch war es immer gut, einige Feinde auf der eigenen Seite zu wissen, um sie besser verstehen zu können. Und von diesen Männern mochte er noch gewisse Einsichten in die Motive hinter den derzeitigen seemännischen Eskapaden der Mingols gewinnen. Und parallel dazu die Auswahl. Anmietung, Instandsetzung und Verproviantierung der Treibgut für diese Reise. Und die erforderlichen Studien! Angefangen mit der Durcharbeitung uralter Karten, die er aus der Bibliothek der lankhmarischen Steuermanns- und Na-
vigatorenzunft gestohlen hatte, dann die Auffrischung seiner Kenntnisse über Wind, Wellen und Himmelskörper. Und die Verantwortung! Denn es ging um nicht weniger als siebzehn Mann, ohne daß Fafhrd seine Pflichten teilte und ihn ablöste, während er schlief. Er mußte sie in Form bringen, ihre Wunden pflegen, mit dem Bootshaken unter Wasser nach ihnen fischen, wenn sie über Bord fielen (auf diese Weise hätte er beinahe den ungeschickten Mikkidu verloren, und das gleich am ersten Tag), er mußte sie bei guter Laune halten, durfte sie aber nicht vergessen lassen, an welchen Platz sie gehörten, und mußte sie auf faire Weise strafen. (Wenn er es genau bedachte, war das Letztere nicht nur eine Pflicht, sondern manchmal auch ein Vergnügen. Wie hübsch Pshawri quietschte, wenn er mit ›Katzenklaues‹ Scheide geschlagen wurde! Bald war es wieder soweit, bei Mog!) Und endlich die mondlange gefährliche Reise! Von Lankhmar in nordwestlicher Richtung über das Binnenmeer. Durch eine gefährliche Lücke der Riegelmauer (wo Fafhrd einst eingesperrte Meeresköniginnen gesucht hatte) in das Äußere Meer. Dann ein schneller Vorstoß nach Norden, mit Wind von Backbord, bis die schwarzen Zinnen von No-Ombrulsk in Sicht kamen, die auf dem gleichen Längengrad lagen wie das versunkene Simorgya. Dort hatte er die Treibgut auf Westkurs gebracht, weg von der Küste und beinahe genau hinein in den Schlund des Westwindes, der ein paar Strich von Steuerbord blies. Nach vier Tagen erschöpfenden Kreuzens gegen den starken Wind erreichten die Männer jenen wenig auffälligen Punkt im aufgewühlten Ozean, der Simor-
gyas Grab war – unabhängig errechnet durch den Mausling und Ourph, wobei der eine sich nach den gestohlenen Seekarten richtete, der andere die Knoten an schmierigen Mingol-Rechenschnüren abzählte. Dann wieder eine schnelle zweitägige Fahrt vor dem Wind nach Norden, wobei Luft und Meer schnell kälter wurden, ehe sie den Weg zum Längengrad der Klauen ungefähr zur Hälfte zurückgelegt hatten. Und jetzt zwei Tage elenden Verharrens an einem Punkt, um auf Fafhrd zu warten, während die Kälte ständig zunahm, bis der bis dahin klare Himmel um Mitternacht von Eisnebeln verhüllt wurde, in dem die Treibgut mit reglosen Segeln lag. Zwei Tage, in deren Verlauf sich der Mausling oft gefragt hatte, ob Fafhrd diese Stelle finden würde – oder überhaupt kommen wollte. Zwei Tage der Langeweile und der Erregung über seine verängstigte, aufmüpfige Besatzung und das Dutzend Diebessoldaten – die jetzt gemütlich im Warmen lagen und vor sich hin schnarchten. Mog sollte sie durchpeitschen! Zwei Tage Zeit, um sich zu wundern, warum er in Mogs Namen seine ReifinselDublonen bis auf vier für diese verrückte Reise ausgegeben hatte – für Arbeit anstatt für Wein und Frauen, seltene Bücher und Kunstschätze, kurz, für süße Dinge und Zerstreuung für sich allein. Und schließlich, ganz zuletzt, der einer Gewißheit entgegenwachsende Verdacht, daß Fafhrd Lankhmar überhaupt nicht verlassen hatte! Daß er mit seinem Goldbeutel zwar edel und herausfordernd tatkräftig aus dem Silbernen Aal geschritten war – das Geld aber augenblicklich für eben die Genüsse ausgegeben hatte, die der Mausling (angeregt durch Fafhrds scheinbar gutes Beispiel) sich selbst versagt hatte.
In einem Aufwallen der Entrüstung, einem Anschwellen des Zorns, riß der Mausling den umwikkelten Schlegel von dem Haken am Hauptmast und versetzte dem Schiffsgong einen Schlag, der kräftig genug ausfiel, um die erstarrte Bronze zerspringen zu lassen. Unser Held war doch einigermaßen überrascht, daß das frostglatte Deck der Treibgut nicht plötzlich mit spitzen, scharfen Scherben aus braunem Metall übersät war. Woraufhin er noch einmal zuschlug, und ein drittes und viertes Mal, bis der Gong wie ein Schild im Hurrikan pendelte, gleichzeitig sprang er auf und nieder und verstärkte den alarmierenden Lärm durch das widerhallende Dröhnen seiner Füße (die er dabei gleich etwas erwärmte). Die vordere Luke wurde von unten aufgestoßen, und Pshawri schoß wie ein Springteufel ins Freie, eilte zu dem Mausling und verharrte mit wildem Blick vor ihm. Dem ersten Korporal folgten in einem dichten Strom Mikkidu und der Rest der beiden Kampfabteilungen, die meisten halb nackt. Und erst dann – und weitaus gelassener – kamen Gavs und die anderen Mingol-Besatzungsmitglieder der Freiwache; sorgfältig schnürten sie sich die engen Kopfhauben unter dem gelben Kinn zu, während Ourph wie ein Gespenst hinter seinem Kapitän erschien. Allerdings verhielten die anderen beiden Mingols auf ihren Posten an Steuer und Bug, wie es sich gehörte. Dies überraschte den Mausling nicht wenig. Die Prügel mit der Schwertscheide hatten also doch etwas genützt! Er schlug sich die gepolsterte Rundung des Schlegels in die Handfläche und sagte: »Nun denn, meine kleinen Langfinger«, – die Diebe waren tatsächlich
ohne Ausnahme mindestens einen Fingerbreit kleiner als der Graue Mausling –, »es will mir scheinen, als wärt ihr einer Auspeitschung entgangen, aber nur knapp.« Sein Gesicht verzog sich zu einem schrecklichen Lächeln, während er die nackte Haut betrachtete, die der eiskalten Luft reichlich ausgesetzt wurde. »Aber jetzt müssen wir euch warm halten«, fuhr er fort, »eine seemännische Notwendigkeit bei diesem Klima. Jeder von euch ist mir dafür verantwortlich, wenn er nicht gezüchtigt werden will. Und jetzt los!« Sein Grinsen verstärkte sich noch mehr. »Einem Rammangriff ausweichen, die Ruder bemannen!« Das zerlumpte Dutzend huschte an ihm vorbei, nahm die langen, schmalen Ruder von dem Gestell zwischen Haupt- und Besanmast und schob die Hölzer in die zehn entsprechenden Öffnungen. Dann standen sie mit dem Gesicht zum Bug ruderbereit da, die Füße gegen die vorspringenden Ruderrillen gestemmt, die Rudergriffe vor der Brust, die Ruderblätter in den Nebel hinausgereckt. Pshawris Abteilung hatte die Steuerbordseite, Mikkidu kommandierte auf der Backbordseite, während andere Unteroffiziere am Bug und achtern Aufsicht führten. Nach einem kurzen Blick auf Pshawri, um sich zu überzeugen, daß jeder Mann auf seinem Posten war, rief der Mausling: »Männer der Treibgut! Eins, zwei, drei – stoßen!« und schlug auf den Gong, den er mit der rechten Hand am Rand faßte, um ihn stillzuhalten und zu dämpfen. Die zehn Ruderer ließen die Ruderblätter in das unsichtbare Salzwasser tauchen und stemmten sich schwer nach vorn gegen das Holz. »Zurück!« brummte der Mausling langsam, dann schlug er erneut auf den Gong. Das Schiff begann vor-
wärts zu gleiten, und die Bewegung der Wellen wurde zu leisen feuchten Schlägen gegen die Schiffshülle. »Und jetzt weiter, ihr possenreißenden, zerlumpten Beutelschneider!« rief er, »Bootsmann Mikkidu! Löse mich am Gong ab! Pshawri, deine Männer sollen gleichmäßig rudern!« Und als er den Schlegel an den keuchenden Zweiten Korporal übergab, neigte er die Lippen dem rätselhaften und faltigen Gesicht Ourphs entgegen und flüsterte: »Schick Trenchi und gib nach unten, sie sollen die warme Kleidung der Leute an Deck holen.« Dann gestattete er sich ein Seufzen, im Grunde erfreut, doch widersinnigerweise unzufrieden, weil Pshawri ihm keinen Vorwand geliefert hatte, ihn zu bestrafen. Nun, alles konnte man nicht haben. Seltsam, sich einen lankhmarischen Einbrecher und einen Unzufriedenen der Diebeszunft als vielversprechenden Soldaten und Seemann vorzustellen. Doch im Grunde nichts Unnatürliches – so neu war es nicht, in einer Takelage herumzuklettern, wenn man zuvor Häuserwände und Dächer erklommen hatte. Ihm war ein wenig wärmer zumute, und er bedachte Fafhrd mit freundlicheren Überlegungen. Es stimmte schon, der Nordmann hatte das Rendezvous noch nicht verpaßt, vielmehr war die Treibgut ein wenig eher zur Stelle gewesen. Die verabredete Zeit rückte nun aber heran. Sein Gesicht wurde ernst, als er sich den kühl-realistischen Gedanken durch den Kopf gehen ließ (einen Gedanken, wie ihn niemand gern hat), daß es in der Tat ein Wunder wäre, wenn er und Fafhrd sich in dieser Wasser-Öde finden würden, ganz zu schweigen, von dem eiskalten Nebel. Doch Fafhrd hatte immer gute Einfälle.
Es wurde wieder still an Bord, bis auf das Rauschen und Tropfen der Ruder, auf das Klinken des Gongs und die kleinen Wirbel, die sich ergaben, wenn Pshawri einzelne Ruderer kurz von ihrer Pflicht entband, damit sie in die Kleidung steigen konnten, die von den Mingols geholt worden war. Der Mausling konzentrierte sich schließlich auf den Teil seines Geistes, der die verborgensten Geräusche des Nebels überwachte. Sofort wandte er sich fragend dem alten Ourph zu. Der zwergenhaft kleine Mingol bewegte langsam die Arme auf und nieder. Der Mausling lauschte und nickte. Dann wurde der näherkommende Flügelschlag allgemein hörbar. Irgend etwas prallte gegen die eisüberzogene Takelage weiter oben, und eine weiße Gestalt wirbelte herab. Der Mausling hob den rechten Arm, um die Erscheinung abzuwehren, und spürte, wie Handgelenk und Unterarm von etwas gepackt wurden, das sich hin und her bewegte und zu drehen versuchte. Nach einer Sekunde atemloser Angst, in der seine linke Hand nach dem Dolch griff, streckte er sie statt dessen aus und berührte hornige Krallen, die sich wie Fesseln um seinen Arm gelegt hatten, und fand ein kleines Pergament um ein schuppiges Bein gewickelt. Die Fäden durchtrennte er mit dem Daumennagel. Sofort verließ der große weiße Falke sein Handgelenk und setzte sich auf den kurzen runden Pflock, an dem der Schiffsgong hing. Im Licht einer dicken Kerze, die ein MingolSeemann holte, nachdem er sie am Feuerkasten entzündet hatte, las der Mausling in Fafhrds großer Schrift, auf kleinem Raum zusammengedrängt:
Ahoi, kleiner Mann! (Es wäre doch unwahrscheinlich, daß in dieser wogenden Wildnis ein anderes Schiff mir nahe wäre.) Brenne ein rotes Licht ab, dann bin ich zur Stelle. F. Und mit schwärzeren, doch nachlässigeren Buchstaben, die auf einen eiligen Einfall in letzter Sekunde hindeuteten, war hinzugefügt: Tun wir, als griffen wir uns gegenseitig an, um unseren Besatzungen etwas zum Üben zu geben. Abgemacht? Die weiße Flamme, die in der reglosen Luft gleichförmig und hell leuchtete, offenbarte das entzückte Grinsen des Mauslings und dann den Ausdruck ungläubiger Entrüstung bei der Lektüre des Nachsatzes. Als Rasse waren die Nordlinge eben verrückt aufs Kämpfen, und Fafhrd war von allen der Schlimmste. »Schnell einen Kiel und Tintenfischöl!« befahl er. »Pshawri, nimm einen langsamen Brand und eine rote Fackel in die Spitze des Hauptmasts mit und brenne beides ab. Aber mit Vorsicht! Wenn du die Treibgut anzündest, nagele ich dich an das brennende Deck!« Während der vom Mausling beauftragte kleinwüchsige Einbrecher mit gleichmäßigen Bewegungen in die Takelage hochstieg, wenn auch behindert durch einen Bootshaken, drehte sein Kapitän das kleine Stück Pergament um, legte es flach gegen den Mast und schrieb im Licht der Kerze, die von Gib zusammen mit dem Tintenhorn gehalten wurde, in säuberlichen Buchstaben:
Willkommen, Wildling! Ich brenne ein Licht zu jeder Glocke. Aber nicht einverstanden! Meine Mannschaft ist bereits trainiert. M. Er schüttelte den Zettel, damit er trocknete, dann wickelte er ihn vorsichtig dicht über den Klauen um das Bein des stierenden Falken und knotete das Papier fest. Als seine Finger sich zurückzogen, sprang der Vogel kreischend in die Luft und verschwand im Nebel. Zumindest hatte Fafhrd seine Luftboten gut trainiert. Im Nebel an der Mastspitze glühte plötzlich ein überraschend starkes rotes Licht auf und erhob sich auf geheimnisvolle Weise gut zehn Fuß über die Spitze hinaus. Im nächsten Augenblick erkannte er, daß der kleine Erste Korporal um der Sicherheit seiner Finger und des Schiffes willen die Fackel am Ende des Bootshakens festgemacht hatte und nun in die Höhe hielt, womit gleichzeitig die Entfernung erhöht wurde, auf die das Licht zu sehen war – um mindestens eine lankhmarische Meile, wie der Mausling flugs errechnete. Ein guter Einfall, das mußte er zugeben, beinahe brillant. Er hieß Mikkidu die Treibgut kehrtmachen zur Übung, wobei die Ruderer auf der Steuerbordseite energisch ziehen mußten, um das Schiff in ihre Richtung zu drehen. Dann ging er zum Bug, um sich zu vergewissern, daß der dort postierte vermummte Mingol tatsächlich aufmerksam in den Nebel hinausstarrte. Darauf kehrte er ans Heck zurück, wo Ourph neben seinem Steuermann verharrte, beide gleichermaßen durch dicke Kleidung vor der Kälte geschützt.
Das rote Glühen hielt an, während die relative Ruhe des gleichmäßigen Ruderns zurückkehrte. Die Ohren des Mauslings machten sich automatisch wieder daran, den Nebel nach seltsamen Geräuschen abzuhorchen, und leise sagte er zu Ourph, ohne den Mann anzusehen: »Verrate mir eins, alter Mann, was hältst du wirklich von deinen unruhigen NomadenArtgenossen? Warum bedienen sie sich der Schiffe anstelle ihrer Pferde?« »Sie stürmen wie Lemminge durch die Welt und erstreben den Tod – für andere«, erwiderte der Greis nachdenklich mit krächzender Stimme. »Sie galoppieren über Wellen anstatt über spitze Steine. Städte zu zerstören ist ihr vordringlichstes Ziel, ob zu Lande oder auf dem Meer. Vielleicht sind sie auf der Flucht vor dem Volk der Axt.« »Von dem habe ich gehört«, erwiderte der Mausling zweifelnd. »Glaubst du, sie würden sich mit Stardocks unsichtbaren Flugwesen zusammentun, die sich durch die eiskalte Luft über der Welt bewegen?« »Das weiß ich nicht. Sie folgen ihren Klanzauberern überall hin.« Das rote Leuchtfeuer erlosch. Pshawri kletterte recht munter vom Mast herab und machte seinem gefürchteten Kapitän Meldung. Dieser entließ ihn mit einem düsteren Blick, der überraschenderweise von einem deutlichen Blinzeln beendet wurde und dem Kommando, zur nächsten Glocke – oder halben Stunde – die nächste Fackel abzubrennen. Dann wandte sich der Mausling wieder zu Ourph um und fragte leise: »Wo wir gerade von Zauberern sprechen – weißt du etwas über Khahkht?« Der Greis ließ fünf Herzschläge verstreichen, dann
krächzte er: »Khahkht ist Khahkht. Dieses Wesen ist kein Stammeszauberer, soviel steht fest. Es lebt im höchsten Norden in einer Kuppel (einige halten sie für eine schwebende Kugel) aus schwärzestem Eis, aus dem Es die unbedeutendsten Taten der Menschen beobachtet und bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Böses sinnt, beispielsweise, wenn die Sterne richtig stehen – besser gesagt: falsch – und wenn alle Götter schlafen. Die Mingols fürchten Khahkht, und doch ... immer wenn sie eine große entscheidende Wende in ihrer Geschichte erreichen, wenden sie sich Ihm zu, fordern Es auf, bei ihren größten und blutigsten Unternehmungen voranzureiten. Das Eis ist Sein bevorzugtes Quartier, das Eis Sein Werkzeug, und Sein eisiger Atemhauch das sicherste Anzeichen für Seine Anwesenheit, abgesehen vom Blinken.« »Blinken?« fragte der Mausling nervös. »Sonnen- oder Mondlicht, das von Eis reflektiert wird«, antwortete der Mingol. »Eisblinken.« Ein bleicher Blitz ließ den dunklen, perligen Nebel einen Augenblick lang heller erscheinen, dann hörte der Mausling Ruderschläge – mächtigere Geräusche, als wie sie von den Blättern der Treibgut ausgingen, in einem bedächtigeren Rhythmus schlagend, doch zweifellos Ruder, schnell lauter werdend. Das Gesicht des Mauslings hellte sich auf. Unsicher starrte er in den Nebel. Ourphs spitzer Finger deutete geradeaus. Der Mausling nickte und schwang seine Stimme zu einem schrillen Ruf empor: »Fafhrd, ahoi!« Ein kurzes Schweigen trat ein, lediglich gestört durch das Schlagen der Ruder der Treibgut und des näherkommenden Schiffes, dann tönte aus dem Nebel der beglückende, doch irgendwie unheimliche
Schrei: »Ahoi, kleiner Mann! Mausling, gut getroffen in tobendem Gewässer! Und jetzt – sei auf der Hut!« Das frohe Grinsen des Mauslings verkrampfte sich. Hatte Fafhrd ernsthaft die Absicht, in diesem Nebel seinen verrückten Vorschlag eines Scheinkampfes auszuführen? Mit fragendem Blick wandte er sich an Ourph, der für seine Größe übertrieben mit den Achseln zuckte. Weiter vorn zuckte plötzlich ein heller weißer Blitz durch den Nebel. Ohne sich Zeit zum Nachdenken zu lassen, brüllte der Mausling seine Befehle hinaus: »Backbord-Ruder, gegenziehen! Schnell! Steuerbordseite, hart stoßen!« Und ohne auf den Mingol zu achten, der eigentlich dafür zuständig war, warf er sich gegen die Ruderpinne und drehte sie auf die Steuerbordseite, so daß das Ruder der Treibgut die Drehkraft der Backbord-Ruder verstärken mußte. Nur gut, daß er so schnell reagierte. Denn aus dem Nebel vor dem Bug glitt eine flache, dicke, schimmernde Spitze, die sonst den Bug der Treibgut gerammt hätte und so nur mit bebendem Knirschen an der Flanke des Schiffes entlangscharrte, das sich abrupt zur Seite drehte, den verzweifelten Ruderstößen der Diebessoldaten gehorchend. Der Ramme folgend, teilte der spitze weiße Bug von Fafhrds Schiff den von einem seltsamen Schimmern durchzogenen Nebel. Beinahe unglaublich hoch war dieser Bug, groß wie ein Haus, ein ebenso hohes Schiff ankündigend, so daß die Männer der Treibgut den Kopf in den Nacken legen mußten und sogar der Mausling voller Angst und Staunen die Luft anhielt. Zum Glück befand sich das Gebilde mehrere Meter entfernt auf der Steuerbordseite, während die Treib-
gut weiter nach Backbord auswich, sonst wäre das kleine Schiff sicherlich zerschmettert worden. Aus dem Nebel vor dem Bug tauchte plötzlich ein flaches Gebilde auf, das sich seitlich bewegte. Einen Meter über dem Deck schlug es gegen den Mast, der wohl zerstört worden wäre, wenn das flache Gebilde nicht zuerst abgebrochen und dem Mausling polternd vor die Füße gefallen wäre – ein Gebilde, das ihn die Augen noch mehr aufreißen ließ: das eisverkrustete große Blatt und ein Stück Baum eines Ruders, das zweimal so groß war wie die der Treibgut und das auf unheimliche Weise dem Fingernagel eines toten Riesen ähnelte. Das nächste Riesenruder zog am Mast vorbei versetzte Pshawri aber einen Streifschlag und schickte ihn zu Boden. Der Rest verfehlte die Treibgut noch mehr, da die Schiffe auseinandertrieben. Von der riesigen weißschimmernden Masse, die bereits im Nebel verschwand, tönte der laute Schrei: »Oh, Feigling! Der Herausforderung zum Kampf ausweichen! Oh, du raffinierter Feigling! Aber sei weiter auf der Hut! Ich kriege dich noch, kleiner Mann, so sehr du mir auch ausweichen magst!« Diesen wilden und gewaltigen Worten folgte ein gleichermaßen verrücktes Lachen. Es war ein Lachen, wie es der Mausling schon früher in gefährlichen Kampfsituationen von Fafhrd gehört hatte, nun aber wilder denn je, sogar bösartig klingend, doch es tönte so laut, als spräche da ein Dutzend Fafhrds im Chor. Hatte er seine Berserker zum Echo erzogen? Eine klauengleiche Hand packte den Mausling hart am Ellenbogen. Dann deutete Ourph auf die große abgebrochene Ruderspitze an Deck. »Das Ding be-
steht völlig aus Eis!« In der Stimme des alten Mingols schwang abergläubische Ehrfurcht: »Eis, das in Khahkhts kalter Schmiede geformt wurde!« Er ließ den Mausling los, bückte sich hastig, hob das Ding mit weit auseinandergespreizten, schwarzbehandschuhten Händen, so wie man eine gefährliche, aber verwundete Schlange hält, und schleuderte das Gebilde über Bord. Hinter ihm hatte Mikkidu Pshawris Schulter und blutenden Kopf vom Deck angehoben. Über den noch bewußtlosen Gefährten gebeugt, blickte er zu dem Kapitän empor. In seinen lodernden Augen stand eine verzweifelte Frage. Der Mausling ließ sein Gesicht versteinen. »Rudert, ihr Faulenzer!« befahl er gelassen. »Kräftig stoßen, Mikkidu, die Seeleute sollen sich um Pshawri kümmern, du schlägst den Gong für die Ruder. Schnellstes Tempo! Ourph, bewaffne deine Mannschaft! Laß Pfeile und Hornbögen von unten holen – meine Soldaten sollen sich mit ihren Schlingen und Munition versehen. Bleikugeln, keine Steine. Gavs, du paßt achtem auf. Trenchi du am Bug. Haltet alle die Augen offen!« Der Graugekleidete wirkte grimmig und gefährlich und hing Gedanken nach, die ihm zuwider waren. Vor tausend Jahren im Silbernen Aal hatte Fafhrd verkündet, er würde zwölf Berserker anwerben, Tobende im Kampf. Aber hatte sein lieber Freund, jetzt von Dämonen besessen, damals schon geahnt, wie wild sein Dutzend sein würde und daß ihre Wildheit ansteckend war? Daß er selbst davon angesteckt werden könnte?
Über dem Eisnebel funkelten die Sterne wie Frostkerzen, gedämpft nur durch das schwache Licht des nicht mehr ganz vollen Mondes, der tief im Südwesten stand, wo in der Ferne die Front eines näherkommenden Sturms den dicken Teppich der in der Luft hängenden Eiskristalle aufrollte. Ziemlich dicht über der perlenweißen Oberfläche, die sich in alle Richtungen erstreckte außer nach Südwesten, flog der Falke, den der Mausling zurückgeschickt hatte, in östlicher Richtung. Soweit er schauen konnte, teilte kein anderes Lebewesen die gewölbte Leere, dennoch wich der Vogel plötzlich zur Seite aus, als würde er angegriffen, flatterte hektisch mit den Flügeln und erstarrte verdreht mitten in der Luft, als hielte ihn etwas gepackt und ließe ihn nicht mehr los. Nur zeigte sich in der klaren Luft kein anderes Lebewesen. Das Stück Pergament am Bein des Falken öffnete sich wie von Zauberhand, lag einen Augenblick lang flach in der Luft und rollte sich dann wieder um das schuppige Bein. Der weiße Falke schoß verzweifelt nach Osten und flog dabei im Zickzack, wie um Verfolgern zu entgehen, und hielt sich dicht über dem weißen Nebel, als sei er jederzeit bereit, in dem Dunst zu verschwinden. An der Stelle, an der der Vogel freigegeben worden war, äußerte sich aus leerer Luft eine Stimme im Selbstgespräch: »Wie ertragreich ist doch das Bündnis zwischen Oomforafor von Stardock und dem Khahkht vom Schwarzen Eis, wenn meine List ihre Wirkung tut – und das wird sie! Liebe teuflische Schwestern, weint! Die Liebsten, die euch entehrt haben, sind bereits tot, wenn sie auch noch eine Weile
atmen und gehen werden. Eine genüßlich ausgekostete, hinausgeschobene Rache ist süßer als das schnelle Zuschlagen. Und am süßesten, wenn die Wesen sich lieben, die man haßt, aber gezwungen sind, einander umzubringen. Denn wenn meine zusätzlichen Texte, diese Entwicklung nicht herbeiführen, will ich nicht Faroomfar heißen! Und jetzt, bewege dich schallschnell, mein flaches Luftgefährt, mein unsichtbarer Zauberteppich!« Der seltsame flache Nebel blieb dick und bitterkalt, doch Fafhrds Kleidung aus umgedrehtem Schneerehfell war angenehm warm. Er hatte eine behandschuhte Rechte auf die tiefe Galionsfigur gelegt – eine fauchende Schneeschlange – und blickte zufrieden vom Bug der Seefalke auf seine Ruderer, die noch immer so kraftvoll ruderten wie in dem Augenblick, da er den Befehl dazu gegeben hatte, als er nämlich im Mastkorb des Mauslings rote Fackel sichtete. Es waren kräftige Burschen, solange man sie gut versorgte. Neun von ihnen groß wie er, drei sogar größer: seine Korporäle Skullick und Mannimark und Sergeant Skor, die beiden letzteren im Nebel am Heck verborgen, wo Skor den Rhythmus vorgab. Jeder der Unteroffiziere führte eine Einheit aus drei Leuten. Darüber hinaus war die Seefalke eine widerstandsfähige Segelgaleere, ein wenig länger und schmaler und mit einem viel höheren Mast als das Schiff des Mauslings (auch wenn Fafhrd das nicht wissen konnte, da er die Treibgut ja noch nicht zu Gesicht bekommen hatte). Trotzdem runzelte er leicht die Stirn. Pelly müßte eigentlich längst zurück sein, vorausgesetzt, der Mausling hatte eine Antwort geschrieben, was zu er-
warten war: der graue Mann ließ sich eine Gelegenheit zum Reden niemals entgehen, sei es mit der Zunge oder mit dem Schreibstift. Es wurde Zeit, daß er wieder in den Mast stieg – der Mausling brannte vielleicht ein neues Licht ab, und Skullick mochte nicht aufpassen. Doch als er sich dem Mast näherte, ragte ein sieben Fuß großes Gespenst vor ihm auf – ein Gespenst in umgedrehtem grauen Otterpelz. »Was ist, Skullick?« fragte Fafhrd heiser und mit nach oben gerichtetem Blick; der andere war eine halbe Spanne größer. »Warum hast du deinen Posten verlassen? Antworte!« Er versetzte seinem Ersten Korporal einen überraschenden Hieb unter die Gürtellinie, der ihn einen Schritt zurückprallen ließ und ihm (was einigermaßen unverständlich war) den größten Teil des Atems raubte, den er zum Sprechen brauchte. »Dort oben ... kalt ... wie im Leib einer Hexe!« keuchte Skullick schmerzerfüllt. »Und meine Ablösung ... steht aus.« »Ab sofort wartest du deine Ablösung an Ort und Stelle ab, und zwar notfalls bis die Hölle zufriert und du mit ihr! Aber jetzt bist du abgelöst.« Mit diesen Worten boxte Fafhrd den anderen noch einmal auf dieselbe empfindliche Stelle. »Jetzt gib den Ruderern Wasser: vier Maß Wasser auf einen Anteil Usquebaugh. Und wenn du von dem Alkohol mehr als zwei Schluck zu dir nimmst, merke ich das sofort!« Jäh wandte er sich ab, mit zwei großen Schritten zum Mast und erklomm ihn mit rhythmischen Bewegungen, indem er die Füße auf die Nute der Bronzeringe stellte, vorbei an der Hauptrah, um die man das große Segel eng gerollt hatte, bis seine behandschuhten Finger die kurze waagerechte Stange des Aus-
gucks berührten. Als er sich daran vorbei hochzog, merkte er staunend, daß der Nebel ohne Übergang in die sternenhelle Nacht überging, als hielte ein dünner Film, unsichtbar, doch undurchdringlich, die Eiskristalle in Schach. Als er sich auf die Stange stellte und aufrichtete, befand er sich bis zur Hüfte im Nebel, so daß er kaum seine Füße zu erkennen vermochte. Er und der Masttop bewegten sich durch ein perlenweißes Meer, vorangetrieben durch die unsichtbaren Ruderer tief unten. Die Sterne verrieten ihm, daß die Seefalke noch immer nach Westen hielt. Sein Richtungssinn hatte ihn in dem Nebel nicht im Stich gelassen. Gut! Außerdem hatte der pflichtlose Skullick die Wahrheit gesagt. Es war hier oben in der Tat kalt wie in den Eingeweiden eines Dämons, doch zugleich wunderbar erfrischend. Er bemerkte den lebhaften Wind, der den Nebel im Südwesten aufstörte, und weiter nördlich, am Rand des Horizonts, wo er das Licht des Mauslings wahrgenommen hatte. Der verformte Mond hing dort und berührte beinahe die Nebelfläche, leuchtete aber noch immer sehr hell. Wenn der Mausling jetzt eine weitere Fackel abbrannte, müßte sie höher stehen, weil Fafhrds Ruderleute die beiden Schiffe bestimmt zusammenführten. Mit scharfem Blick suchte er den Westen ab, um sicherzugehen, daß die zweite Fackel nicht durch Nehwons kräftiges Mondlicht überstrahlt wurde. Vor dem schiefen hellen Halbrund entdeckte er einen schwarzen Punkt. Im Hinschauen wurde er schnell größer, bekam Flügeln und landete mit weißem Federgeflirr energisch auf Fafhrds geschütztem Unterarm.
»Du scheinst mir etwas durcheinander zu sein, Pelly. Wer hat dich in Aufregung versetzt?« fragte er, durchtrennte die Fäden und rollte das Pergament vom Bein. Er erkannte den Beginn seiner eigenen Nachricht, drehte das Papier um und las: Willkommen Wildling! Ich brenne ein Licht zu jeder Glocke. Aber nicht einverstanden! Meine Mannschaft ist bereits trainiert. M. P.S. Kein vorgetäuschter Angriff, du Schurke, der du einmal mein Freund warst, sondern auf Biegen und Brechen. Ich will nichts weniger als eine Vernichtung, Hund! Auf Leben und Tod! Die Anrede und den ersten Satz las Fafhrd mit großer Erleichterung und Freude. Die nächsten beiden Sätze jedoch ließen ihn verwirrt die Stirn runzeln. Der düstere Ausklang schließlich machte sein Gesicht traurig und ernst, und er schaute furchtsam und höchst bekümmert drein. Hastig studierte er noch einmal den Text, um zu sehen, wie sich die Buchstaben und Worte darstellten. Zweifellos kamen sie vom Mausling, das PS war gekritzelt, weil schneller hingeworfen. Ihm machte etwas zu schaffen, das er übersehen hatte, doch schon war es vergessen. Er knüllte das Pergament zusammen und steckte es sich in den Beutel. Mit der leisen, hohlen Stimme eines Mannes, der urplötzlich in einen Alptraum geschleudert wird, sagte er: »Ich glaube es nicht, aber es läßt sich nicht
abstreiten. Ich weiß, wenn der Mausling einen Spaß macht und wenn er im Ernst spricht. Auf diesem Polarozean muß der Wahnsinn sehr schnell zuschlagen, vielleicht gefördert durch den Magier, von dem Afreyt sprach ... Eiszauberer ... Es ... Khahkht. Und doch ... und doch muß ich die Seefalke auf den totalen Krieg vorbereiten, so sehr mich das auch bekümmert. Man muß auf alles vorbereitet sein, egal wie eiskalt beschwert und zerrissen sein Herz ist.« Er warf einen letzten Blick in den Westen. Die Sturmfront aus Südwesten war näher gekommen und wirbelte die Eiskristalle vor sich empor. Dies ergab ein Band, das einen ganzen Sektor des runden weißen Nebelmeeres heraustrennte und darin den nackten schwarzen Ozean sichtbar machte. Von dort war ein aufzuckender weißer Schimmer sichtbar, der Fafhrd zu der leisen Bemerkung veranlaßte: »Eisblinken.« Und plötzlich zuckte ein rotes Licht auf und erstarb wieder – näher, kaum zehn Bogenschüsse weit entfernt, noch im Nebel, doch nahe der windzerzausten Kante. Mit schneller Bewegung ließ sich Fafhrd in den Nebel sinken und hangelte sich ohne Zuhilfenahme der Beine am Mast hinab. Im Innern des mit dunklen Landkarten ausgekleideten kugelförmigen Raums stoppte Es Sein Hin und Her, hielt Sich mit dem Rücken zu der wasserumschlossenen äquatorialen Sonnenscheibe starr aufrecht und sang mit einer Stimme, die wie gegeneinanderschabende Eisgletscher klang: »Hört auf meine Worte, ihr kleinsten Atome, die im Äußeren Meer wirbeln und frieren. Hört mich, ihr Geister der Kälte,
und tut ohne Umschweife, was euch aufgetragen ist! Schiffe begegnen sich, Helden begrüßen sich, schenken sich gegenseitig den Tod. Die Monstreme lauert in eisiger nebliger Mauer, Wächter des MingolTreibens gegen jede Stadt, jeden Herd und jede Kirche. Wenn sie der List des Unsichtbaren entkommen, werdet mir zu schlimmsten Nutzen! Schiffe zerschmettert, Menschenknochen verstreut, Fleisch in Dunkelheit verspritzt – jeder Brocken, jeder Fetzen. Tat der Dunkelheit, verdient die Dunkelheit – bis es geschehen, soll die Sonne erloschen sein!« Und mit reptilienhafter Schnelligkeit zuckte das Wesen herum und legte einen schwarzen Eisendeckel über die sanft leuchtende Sonnenscheibe. Die kugelförmige Höhle lag in absoluter Schwärze, worin Es knarrend und kehlig kichernd flüsterte: »... und die Ghuls zauberten die Sonne aus dem Himmel! Ghuls! Oha! Stets übermäßig zum Prahlen aufgelegt. Khahkht brüstet sich nie, sondern handelt!« Am Fuß des Hauptmasts der Treibgut faßte der Mausling Pshawri an den Hals, ließ aber davon ab, den Mann zu schütteln. Unter der blutigen Kopfbinde starrten ihn die weißumrandeten Pupillen seines Korporals trotzig an, umgeben von einem blutlosen Gesicht. »Hat die leichte Kopfnuß genügt, dir das ganze Gehirn lahmzulegen?« wollte der Mausling wissen. »Warum hast du das Licht abgebrannt und auf diese Weise dem Feind unsere Position verraten?« Pshawri fuhr zusammen, wich aber dem wütenden Blick des Kapitäns nicht aus. »Du hast es persönlich angeordnet – und den Befehl nicht zurückgenom-
men«, sagte er störrisch. Dem Mausling lagen heftige Worte auf der Zunge, aber er mußte sich eingestehen, daß der andere die Wahrheit sprach. Der Dummkopf war gehorsam gewesen, wenn ihm auch jedes eigene Urteilsvermögen fehlte. Die Soldaten und ihr blindes Pflichtbewußtsein! Besonders wenn es um mündliche Befehle ging! Ein komischer Gedanke, daß dieser gehorsame Idiot gestern noch Einbrecher und Dieb gewesen war, ein Kind von Verrat und Lügen und schlimmstem Egoismus. Der Mausling mußte ebenfalls schuldbewußt einräumen, daß er seinen Befehl hätte zurücknehmen können, um auf diese Weise, mit der Dummheit anderer rechnend, der Logik das Wort zu reden, indem er insbesondere registrierte, was der Dummkopf im Schilde führte, als er das zweitemal den Mast erstieg. Pshawri war noch sichtlich erschüttert von dem Schlag gegen den Kopf, der arme Kerl, und wenigstens hatte er den Bootshaken und die Fackel sofort ins Meer fallen lassen, als der Mausling ihn von unten anbrüllte. »Na schön«, sagte er mürrisch und ließ den anderen los. »Das nächstemal strengst du dein Köpfchen an und handelst nicht einfach; dazu war diesmal auf jeden Fall Zeit. Laß dir von Ourph einen Trunk weißen Branntwein geben. Dann geh nach vorn zu Gavs und halte die Augen offen. Ich verdoppele die Wachen an Bug und Heck.« Und mit diesen Worten übernahm der Mausling auch für sich die Aufgabe, den reglosen Nebel mit Augen und Ohren zu durchdringen, und fragte sich unterdessen mürrisch und unbehaglich, welchem Wahn Fafhrd erlegen war. Er dachte an das riesige
Schiff, das er erbaut, gekauft, erobert oder vielleicht von Ningauble oder einem anderen Zauberer erhalten hatte – oder waren da mehrere Zauberer im Spiel gewesen? Auf jeden Fall war das Ding groß und unheimlich genug gewesen, um das Produkt mehrerer Erzzauberer zu sein. Möglicherweise ein umgestaltetes Gefängnisschiff des kalten No-Ombrulsk. Oder hatte womöglich – der schlimmste Gedanke von allen (abgeleitet aus Ourphs Befürchtungen wegen des verschwundenen Ruderblattes) der Zauberer Khahkht seine Hände im Spiel – gab es eine Verbindung zwischen diesem Wesen und dem verrückten Fafhrd? Die Treibgut glitt weiter durch das Wasser, die Ruderer hielten sie in langsamer Fahrt. Der Mausling hatte bereits vor einiger Zeit das langsamste Tempo angeordnet, damit die Männer sich ihre Kräfte bewahrten. »Drei Glocken!« rief Ourph leise. Die Dämmerung rückt heran, überlegte der Mausling. Pshawri konnte noch nicht lange am Bug gestanden haben, als sein Ruf ertönte: »Klare See voraus! Und Wind!« Der Nebel verdünnte sich zu langgezogenen Fetzen, die von der wirbelnden kalten Luft hin und her geschleudert und weiter auseinandergerissen wurden. Der aufgedunsene Mond stand noch immer über dem westlichen Horizont und verbreitete nach wie vor ein unheimliches weißes Leuchten, während im Süden einige einsame Sterne am Himmel hingen. Der Mausling hielt das für unheimlich, denn die aufziehende Dämmerung hätte sie längst auslöschen müssen. Er wandte sich nach Osten – und ihm wäre bei-
nahe der Atem gestockt. Über der niedrigen, mondhellen Nebelbank war der Himmel schwärzer denn je, die Nacht sternenlos, während genau im Osten auf der Nebelbank ein Streifen Schwärze ruhte, der noch schwärzer war, als eine Nacht sein konnte, als stiege dort eine schwarze Sonne auf, die Strahlen der Dunkelheit aussandte, kraftvoll und aktiv wie Licht – nicht ein Fehlen von Licht, sondern sein feindliches Gegenteil. Und von diesem breiter werdenden Streifen schien eine Kälte auszugehen, die intensiver war als die des schneidenden Südwestwindes, der ihn hinter dem rechten Ohr traf – eine Kälte, die darüber hinaus ganz anders zu sein schien. »Schiff backbord voraus!« rief Pshawri schrill. Sofort senkte der Mausling den Blick und sichtete das fremde Schiff, etwa drei Bogenschüsse entfernt, eben aus der Nebelbank geglitten und ebenfalls vom Mondschein beleuchtet, geradewegs auf die Treibgut zusteuernd. Zuerst hielt er das Gebilde für den zurückkehrenden Eis-Leviathan Fafhrds, dann erkannte er, daß es klein war wie sein Schiff und vielleicht sogar schmaler gebaut. Seine Gedanken liefen wild im Zickzack – befehligte der verrückte Fafhrd eine Flotte? Handelte es sich um ein Kriegsschiff der Meeres-Mingols? Oder um einen anderen Piraten? Oder eine Abordnung der Reifinsel? Er zwang sich dazu, konzentrierter zu denken. Sein Herz schlug zweimal: Dann befahl er: »Segel setzen, alle Mingols in die Wanten. Ruderer mit ungleichen Nummern! Legt die langen Bäume in die Halterungen, nehmt eure Waffen! Pshawri! Du übernimmst das Kommando!« Und als der Steuermann
losließ, übernahm er das Ruder. An Bord der Seefalke erblickte Fafhrd den niedrigen Rumpf und die kurzen Maste und langen schrägen Haupt- und Besanrahen der Treibgut als schwarze Silhouetten vor dem gespenstisch weißen, verformten Mond, der im Westen zu verschwimmen schien. Im gleichen Augenblick erkannte er endlich, was ihm bei seinem Rundblick von der Mastspitze aus zu schaffen gemacht hatte. Er zog sich den Handschuh von der rechten Hand, stieß die Finger tief in seinen Beutel, zog das kleine Pergament heraus und las jetzt seine eigenen Zeilen noch einmal – und entdeckte darunter den üblen Nachsatz, den er nie und nimmer geschrieben hatte. Offensichtlich handelte es sich bei beiden Zusätzen, täuschend hingekritzelt, um raffinierte Fälschungen, die allerdings oben am Himmel im Vogelreich angebracht worden sein mußten. Während er noch die Windrichtung prüfte und den Befehl gab: »Skor! Laß deine Abteilung die Segel setzen!«, holte er seinen Lieblingspfeil aus dem Köcher, der griffbereit neben ihm auf Deck ruhte, rollte hastig das Pergament darum, band es fest, nahm mit schnellen Bewegungen den großen Bogen aus seinem Behältnis und spannte ihn, zog ihn mit einem kurzen Gebet zurück, so sehr es das Material und seine knakkenden Muskeln gestatteten, und ließ den Pfeil hoch in den schwarzen Himmel sirren, dem Mond und dem dunklen Zweimaster entgegen. An Bord der Treibgut spürte der Mausling ein abruptes Ansteigen der Unruhe, während er seinen Mingols zusah, die im auffrischenden kühlen Wind zielstrebig mit eingefrorenen Tauen und Knoten kämpften, bis sein Unbehagen mit dem dumpfen
Aufprall eines Pfeiles endete, der sich kaum zwei Handbreit neben ihm beinahe senkrecht ins Deck bohrte. Die kleine monderleuchtete Segelgaleere (inzwischen hatte er die Schiffsgattung bestimmt) wollte ihn also angreifen! Doch war die Reichweite noch so groß, daß es in ganz Nehwon eigentlich nur einen Bogenschützen gab, der diesen wunderbaren Schuß hätte schaffen können. Ohne das Ruder loszulassen, beugte er sich vor und öffnete die Fäden, die das helle Pergament dicht hinter der halb ins Holz gegrabenen Pfeilspitze festhielten, und las die beiden Nachrichten (im wesentlichen kannte er die Texte ja schon), nun aber seine eigene mit dem teuflischen Zusatz, den er gar nicht kannte. Noch während er das Papier betrachtete, wurden die schwarzen Buchstaben unlesbar in den schwarzen Strahlen der Antisonne, die die Mondstrahlen niederkämpften und alles zu verdunkeln begannen. Doch zog er denselben Schluß wie Fafhrd, und heiße Tränen der Freude quollen aus seinen kalten Augen, als ihm klar wurde, daß sein Freund geistig gesund und ihm treu war, egal was für unmöglich erscheinende Tricks Tinte und Stimme ihm vorgaukeln wollten. Als die letzten Verknüpfungen des Segels gelöst wurden und der Wind hineinfuhr, gab es ein ausgedehntes scharfes Knacken von den brechenden Falten und Reffungen. Der Mausling stemmte sich gegen das Ruder und steuerte die Treibgut in den Wind, der beinahe schon ein Sturm war. Doch zugleich gab er das scharfe Kommando: »Mikkidu, brenne drei Fakkeln ab, zwei rote, eine weiße!« An Bord der Seefalke sah Fafhrd in der zunehmen-
den unnatürlichen Dämmerung das erwartete dreifache Signal aufsteigen, während sich seine Segel füllten und er das Schiff wieder in den Wind drehte. »Mannimark!« befahl er, »du beantwortest das Signal auf die gleiche Weise. Skullick, du Dummkopf! Deine Leute sollen ihre Bogensehnen lösen. Die Leute im Westen sind Freunde!« Dann wandte er sich an Skor, der neben ihm stand. »Übernimm das Steuer. Das Schiff meines Freundes liegt dicht am Wind auf südlichem Kurs gleich dem unseren. Führe uns hinüber. Wir wollen längsseits gehen.« An Bord der Treibgut gab der Mausling ähnliche Anordnungen. Ihn freuten Fafhrds Antwortsignale, obwohl er diese Bestätigung gar nicht mehr brauchte. Er sehnte sich nach einem ausgiebigen Gespräch mit Fafhrd. Das sich bald ergeben würde. Die Kluft schwarzen Wassers zwischen den Schiffen verengte sich schnell. Er verschwendete einen kurzen Augenblick auf den Gedanken, ob der bloße Zufall oder irgendeine Göttin den Pfeil Fafhrds von seinem Herzen fortgelenkt hatte. Er dachte an Cif. An Bord beider Schiffe riefen Pshawri und Mannimark angstvoll und beinahe im Chor: »Schiff achtern, dichtauf!« Aus der wogenden, zerfetzten, dunkler werdenden Nebelbank glitt mit übernatürlicher Schnelligkeit gegen den Sturm, auf einem Kurs, der beide Schiffe zerschmettern mußte, ein Schiff, das von Größe und Aussehen her monströs zu nennen war. Es hätte bis zum Zusammenstoß auch unsichtbar bleiben können, nur trafen die unheimlichen Strahlen der aufgehenden schwarzen Sonne auf seine Backbordseite und schufen dort eine scheußliche, bleiche Spiegelung,
kein natürliches weißes Licht, sondern ein farbloswiderliches Schimmern – ein Weiß, das einem einen Schauder über die Haut kriechen ließ, wie von einer Höhlenkröte, fischbauchweiß. Wenn die Substanz, von der die Spiegelung ausging, überhaupt eine Struktur besaß, dann wie von knorrigem, zerknittertem grauen Horn – den Fingernägeln von Toten. Das aussätzige Schimmern offenbarte, daß das dämonische Gebilde dreimal so hoch aus dem Wasser ragte wie jedes natürliche Schiff. Der hohe Bug und die riesigen Flanken waren zerklüftet, als wäre das Gebilde in einer riesigen, aus dem Zeitalter des Chaos übriggebliebenen Form aus Eis gegossen worden, oder durch Zauberei in eine ungefähre Schiffsform gehauen, als Ableger eines riesigen Eisbergs, der sich von einer breiten Gletscherzunge gelöst hatte. Es wurde angetrieben von zahlreichen Ruderreihen, Ruder, die lang waren und sich zuckend bewegten wie Insektenbeine oder Glieder von Tausendfüßlern, doch zugleich dick wie mit Gelenken versehene Rahen oder Masten; sie ließen das Gebilde auf monströse Weise über den unendlichen schwarzen Ozean krabbeln. Und wie von dämonischen Katapulten geschleudert, regneten nun vom hohen Deck mächtige Eisblöcke herab und ließen rings um die Treibgut und Seefalke gewaltige Wasservulkane sich erheben. Gleichzeitig schossen von der gezackten Spitze des Fockmasts – bleich, dick und verdreht wie eine vom Blitz zerstörte Pinie – zwei dünne Strahlen des schwärzesten Schwarz, wie Strahlen der Antisonne, doch viel intensiver. Diese Strahlen trafen den Grauen Mausling und Fafhrd in die Brust und ließen dort eine durchdringende Kälte entstehen und ein sich
ausbreitendes entsetzliches Schwindelgefühl und eine Willensschwäche. Trotzdem gelang es beiden, schnelle, durchdringende Befehle zu geben, woraufhin sich die Schiffe im letzten Augenblick voneinander abwandten und der geruderte Todesberg zwischen ihnen hindurchglitt. Die Treibgut mußte lediglich weiter in den Wind drehen und vollzog den Kurswechsel glatt und schnell. Die Seefalke jedoch mußte kreuzen. Das Segel bebte einen Augenblick lang und füllte sich dann abrupt von der anderen Seite mit einem Krach wie ein Donnerschlag, doch das widerstandsfähige Leinen aus Ool Krut riß nicht. Beide Schiffe huschten nun vor dem Sturm nach Norden. Das unheimliche Eisbergschiff hinter den beiden bewegte sich langsamer, machte mit übernatürlicher Wendigkeit kehrt, von den Rudern wie von absonderlichen Spinnenbeinen gedreht, und setzte die ungeheuerliche Verfolgung mit Hilfe der Riesenruder fort. Und obwohl die Verfolgten kein Wort oder Signal wechselten – beinahe als könnten sie die gespenstisch weiße Form des Bösen hinter dem Heck verschwinden lassen, wenn sie nur keine Notiz davon nähmen –, lief doch ein Schaudern durch die Besatzungen und Kapitäne der segelnden Galeere und des Zweimasters mit den langen Rahen. Es begann eine Zeit der Anfechtung und Spannung, eine Herrschaft des Terrors, eine Ewige Nacht, wie keiner der Beteiligten sie je zuvor erlebt hatte. Erstens die Dunkelheit, die sich in dem Maße verstärkte, wie die Antisonne in den schwarzen Himmel stieg. Selbst Kerzenflammen unter Deck und Kochfeuer, die vor Licht geschützt waren, färbten sich, wurden blau
und matt. Während der schwärende weiße Schimmer, der den Verfolger umgab, folgendes vermuten ließ: daß sein Licht nichts erhellte, auf das es fiel, sondern es vielmehr verdunkelte, als trüge es in sich die Essenz des Antilichts, als bestünde es einzig und allein aus dem Grund, das Schrecknis des Eisbergschiffes sichtbar zu machen. Obwohl das Eisbergschiff so real war wie der Tod und allmählich immer näher kam, wollte Fafhrd und dem Mausling zuweilen scheinen, als gliche es dem Schimmer, den man auf der Innenseite der Lider kriechen sieht, wenn man in absoluter Dunkelheit die Augen schließt. Zweitens kam die Kälte, die zu dem Antisonnenlicht gehörte und eine tiefgreifende Wirkung hatte, die jeden Winkel der Seefalke und Treibgut durchdrang, die sowohl mit schützendem Zusammendukken als auch heftiger Bewegung bekämpft werden mußte (und außerdem mit Speisen und Getränken, die man langsam und mühsam über geschwächten Flammen erwärmt hatte), eine Kälte, die Verstand und Körper lähmen und dann mit tödlicher Wirkung zuschlagen konnte. Drittens waren die unnatürliche Dunkelheit und Kälte von einer gewaltigen Stille begleitet, einer Stille, die das ständige Knirschen von Takelage und Holz beinahe unhörbar machte, die alle Schritte und Versuche dämpfte, die Kälte durch Arme-um-denKörper-schlagen abzuwehren, eine Stille, die jede Äußerung zu Geflüster werden ließ und das Toben des mächtigen Sturms veränderte, von dem die Schiffe nach Norden getrieben wurden, so daß nur das leise Brausen einer ständig ans Ohr gehaltenen Muschel zu hören war.
Und viertens der gewaltige Sturm selbst, der zwar leise klang, deswegen aber um keinen Deut weniger wirksam war – der Sturm, der eisige Gischt über das Heck wirbelte, der mörderische Sturm, gegen den ständig zu kämpfen war, den man andauernd im Auge behalten mußte (nicht ohne sich dabei mit Schraubstockfingern festzuhalten, wenn man an Deck war oder sogar darüber), einen Sturm, der Hurrikanstärke hatte und der sie mit unvorstellbarer Geschwindigkeit immer weiter nach Norden trieb. Keiner der Männer war je vor so einem Wind gesegelt, diese Fahrt ließ sich nicht einmal mit der ersten Überquerung des Äußeren Meeres durch den Mausling und Fafhrd und Ourph vergleichen. Ohne die Gefahr des Eisbergschiffes hätten die beiden längst mit gerefften Segeln beigedreht und wohl einen Treibanker ausgeworfen. Und schließlich das monströse Gebilde, Todeseisberg oder Eisbergschiff, langsam näher kommend, die beinhaften Ruder immer kräftiger in Bewegung. Von Zeit zu Zeit krachte ein unförmiger Eisblock neben den Schiffen in das schwarze Meer. Ab und zu spielte ein schwarzer Strahl um das Herz eines der Helden. Dies aber waren nur dringende Mahnungen. Die Hauptgefahr des monströsen Gebildes: es unternahm nichts (außer die Entfernung zu den fliehenden Feinden zu verringern). Die Absicht des Monsterschiffes: längsseits gehen und entern! (So sah es jedenfalls aus.) Auf ihren Schiffen kämpften Fafhrd und der Mausling auf ähnliche Weise gegen Erschöpfung und Auskühlung, gegen einen übermächtigen Wunsch zu schlafen und gegen seltsame, vorbeihuschende Angstgefühle. Einmal stellte sich Fafhrd un-
sichtbare Flugwesen vor, die am Himmel kämpften, wie in einer Erweiterung des Meereskampfes zwischen ihnen und dem riesigen Eisschiff in dem Luftraum. Einmal glaubte der Mausling die schwarzen Segel zweier großer Flotten auszumachen. Beide Kapitäne munterten ihre Männer auf und retteten ihnen durch ihr Beispiel das Leben. Manchmal waren die Seefalke und die Treibgut auf ihrer gemeinsamen Flucht nach Norden weit voneinander entfernt, außer Sicht- und Rufweite. Manchmal kamen sie so dicht zusammen, daß die Kapitäne miteinander sprechen konnten. Fafhrd rief in lauten Worten (die den Mausling wie ein Flüstern erreichten): »Ho, kleiner Bursche! Hast du Stardocks Flugwesen gehört? Unsere Bergprinzessinnen ... die gegen Faroomfar kämpfen?« Der Mausling rief zurück: »Mir sind beinahe die Ohren abgefroren. Hast du ... andere feindliche Schiffe ... gesichtet ... außer der Monstreme?« Fafhrd: Monstreme? Was ist denn das? Mausling: Das üble Ding hinter uns. Das Wort ist eine Analogie ... Bireme ... Quadrireme ... Monstreme! Gerudert von Monstern! Fafhrd: Eine Monstreme bei vollem Orkan. Scheußlicher Gedanke! (Er blickte über sein Heck auf die geisterhafte Erscheinung.) Mausling: Monstreme im Monsun ... wäre noch schlimmer. Fafhrd: Sparen wir uns den Atem. Wann erreichen wir die Reifinsel? Mausling: Ich hatte glatt vergessen, daß wir ja ein Ziel haben. Was meinst du? Fafhrd: Erste Glocke der zweiten Nachmittagswa-
che. Gegen Sonnenuntergang. Mausling: Es müßte heller werden ... wenn diese schwarze Sonne untergeht. Fafhrd: Richtig. Das doppelte Dunkel sei verdammt! Mausling: Verdammt sei das halbierte halbe Weiß hinter uns. Was führt es im Schilde? Fafhrd: Sich an uns festfrieren. Dann mit seiner Kälte zuschlagen – oder uns entern. Mausling: Großartig, mein Kompliment. Die Leute sollten dich anwerben. So verhallten ihre Rufe ... zuerst eine Freude, dann Müdigkeit. Außerdem mußten sie sich um ihre Männer kümmern. Überdies war es zu gefährlich, die Schiffe so dicht nebeneinander zu steuern. Es brach eine erschöpfende, alptraumhafte Zeit an. Schließlich bemerkte Fafhrd im Norden, wo sich während des ganzen langen Tages der Annäherung nichts verändert hatte, einen dunkelroten Schimmer. Lange Zeit zweifelte er an seinen Augen, hielt es für einen Fieberwahn seines frostkalten Schädels. Er bemerkte, daß in seinen Gedanken Afreyts schlankes Gesicht auftauchte. Skor fragte neben ihm: »Kapitän, ist das ein fernes Feuer vor uns? Vielleicht unsere verschwundene Sonne, die nun im Norden aufgehen will?« Endlich glaubte Fafhrd an den roten Schimmer. An Bord der Treibgut war der Mausling, geplagt vom Gift der Erschöpfung, kaum noch bei Bewußtsein, als er Fafhrd flüstern hörte: »Mausling, ahoi! Schau nach vorn! Was siehst du?« Er machte sich klar, daß er da einen mächtigen Ruf hörte, gedämpft von schwarzer Stille und scheußlichem Sturm, und daß die Seefalke wieder näher gerückt war. Er sah Lichtreflexe auf den Schilden, die an der Seitenwan-
dung befestigt waren, während die Monstreme achtern noch näher gerückt war und wie eine von Aussatz befallene Klippe hoch aufragte. Dann blickte er nach vorn. Nach einer Weile ächzte er: »Ein rotes Licht.« Er zwang sich, dieselben Worte nach Lee zu brüllen, und fügte hinzu: »Sag mir, was das ist. Und dann laß mich schlafen.« »Die Reifinsel, will ich hoffen«, antwortete Fafhrd über den Abgrund des Wassers. »Steht die Insel in Flammen?« fragte der Mausling interessiert. Die Antwort tönte schwach und gespenstisch herüber: »Erinnere dich ... auf den Goldstücken ... ein Vulkan?« Der Mausling glaubte nicht recht zu hören, als sein Gefährte nun weitersprach; er ließ sich die Worte von Fafhrd wiederholen. Dann rief er mit scharfer Stimme: »Pshawri!«, und als der Mann herbeihumpelte, die Hand an den verbundenen Kopf gepreßt, befahl er: »Ich möchte eine Wasserprobe. Schnell, du widerlicher Krüppel!« Einige Zeit später hob Pshawri fragend die Augenbrauen, als sein Kapitän den schwappend vollen Eimer ergriff, an die Lippen setzte und hochneigte, ihn dann zurückreichte, während er den Schluck Wasser im Mund kreisen ließ, das Gesicht verzog und das Wasser wieder ausspuckte. Die Flüssigkeit war weitaus weniger eisig, als der Mausling erwartet hatte – beinahe warm – und salziger als das Wasser im See der Ungeheuer, der sich im Westen an die Trockenen Berge anschließt, die das Schattenland abschirmen. Einen verrückten Augen-
blick lang fragte er sich, ob sie in jenes riesige tote Meer versetzt worden waren. Das hätte zur Monstreme gepaßt. Er dachte an Cif. Plötzlich gab es einen Aufprall. Das Deck neigte sich und fiel nicht zurück. Pshawri ließ den Eimer fallen und schrie auf. Die Monstreme hatte sich zwischen sie geschoben und war mit ihrer (lebendigen oder toten?) Galionsfigur, einem aus Eis geborenen oder gehauenen Meeresungeheuer, augenblicklich an beiden festgefroren, der weit offene Kiefer befand sich zwischen den Masten, während von dem hohen Deck Fafhrds Gelächter herabdröhnte, auf unheildrohende Weise verstärkt. Die Monstreme begann sichtlich zu schrumpfen. Auf einen Schlag verschwand die Dunkelheit. Tief im Westen stehend, flammte plötzlich die wahre Sonne auf, überflutete die Bucht, in der die Schiffe lagen, mit warmem Licht, und erzeugte eine Vielfalt goldener Strahlen auf der riesigen kristallinen Klippe an Steuerbord, über die in tausend Strömen und Bächen Wasser herabströmte. Etwa eine Meile dahinter erhob sich ein Bergkegel, an dessen Flanken rotleuchtende Bahnen zu sehen waren und aus dessen zerklüftetem Krater grell-zinnoberrote Flammen in den Himmel zuckten. Der dunkle Rauch wurde vom Wind nach Nordosten davongetragen. Fafhrd deutete mit ausgestrecktem Arm darauf und rief: »Siehst du, Mausling, das ist der rote Schimmer!« Direkt vor den beiden Schiffen schmiegte sich eine kleine unbefestigte Stadt aus niedrigen Gebäuden an sanft geschwungene Hügel. Der Hafen dieser Sied-
lung bestand aus einer einzigen langen Pier, an der ein paar Schiffe festgemacht hatten und auf der eine kleine reglose Menschenmenge stand. Während sich im Westen, die Bucht abrundend, weitere Felsklippen erhoben, die nähergelegenen nacktes Felsgestein, die Erhebungen weiter hinten von Schnee eingehüllt. Fafhrd wandte sich der Stadt zu. »Salzhaven«, sagte er. Der Mausling betrachtete die dampfend überströmte, weiß schimmernde Klippe, dahinter den feurigen Gipfel und erinnerte sich an die beiden Szenen auf den Goldmünzen, die er ausgegeben hatte. Und er dachte an vier Silbermünzen, die er nicht hatte ausgeben können, weil sie von dem ramponierten Schankburschen im Silbernen Aal vom Tisch gefegt worden waren, und an die beiden Szenen auf diesen Geldstücken: ein Eisberg und ein Ungeheuer. Er drehte sich um. Die Monstreme war verschwunden; zumindest versanken die sich schnell auflösenden Eisbrocken im stillen Wasser der Bucht, geräuschlos und ohne Umstände, ein wenig Dampf stieg dabei auf. Khahkht hatte auf der Brücke der Monstreme gehockt und von dort voller Triumph über das Gewirr schrecklicher starrer Gestalten auf den tieferliegenden Decks geschaut, besessen von Bösheit. Nun warf er sich, halb durch Zauberkraft beflügelt, zurück in die enge schwarze Kugel und fluchte dort mit seiner Fafhrd-Stimme, die mitten im Wort wieder zu einem Krächzen wurde: »In die Tiefen der Hölle mit den seltsamen Göttern der Reifinsel! Ihr Tag wird kommen, ihre Vernichtung! Die ich mir jetzt überlegen werde, während ich gemütlich schlafe ...« Das Wesen
nahm den Verschluß von der von Wasser eingeschlossenen Sonne und knurrte einen Zauber, der die Kugel drehte, bis die Sonne ganz oben stand, die große Subäquatoriale Wüste dagegen unten. Kurz fächelte Es Sich die Hitze der ersteren zu und ringelte Sich in letzterer zusammen, schloß die Augen und murmelte: »... denn sogar Khahkht friert.« Währenddessen erfuhr auf dem hohen Gipfel Stardock der Große Oomforafor die Nachricht von der Niederlage und von der weiteren Aufmüpfigkeit seiner lieben Töchter, ihm vorgetragen von dem wütenden und mitgenommenen Prinz Faroomfar, der ähnlich wie Khahkht an seinen Ausgangspunkt zurückgeschleudert worden war. Als sich der Mausling der großen weißen Klippe zuwandte, machte er sich klar, daß sie ganz aus Salz bestehen mußte – daher auch der Name des Seehafens – und daß die heißen vulkanischen Wasser, die darüber hinliefen, das Salz zum Schmelzen brachten – eine ausreichende Erklärung für die Wärme und Salzhaltigkeit des Ozeans in dieser Gegend und das schnelle Schmelzen der Frost-Monstreme. Die ohnehin zur Gänze aus magischem Eis bestanden hatte, sagte er sich, zugleich stärker und schwächer als der normale Stoff, so wie es sich zwischen Magie und dem echten Leben eben verhält. Fafhrd und er blickten voller Erleichterung zu der langen Pier hinüber, der sich ihre Schiffe in gleichmäßiger Fahrt näherten, und entdeckten, ein wenig von den anderen entfernt, zwei schlanke Gestalten unterschiedlicher Größe. Ihre Absonderung und die stolze Haltung und das zurückhaltend elegante Kleid – blaugrau war die eine gekleidet, rostrot die andere –
machten deutlich, daß sie im Rat der Reifinsel hohe Ämter bekleiden mußten. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Schlück
Reifinsel Fafhrd und der Graue Mausling überwachten das Festmachen der Seefalke und Treibgut an Bug und Heck; dicke Leinen wurden um große Holzpoller gelegt. Dann sprangen die Helden geschmeidig an Land; wenn sie auch unsäglich erschöpft waren, wußten sie doch, daß sie sich als Kapitäne auf keinen Fall etwas anmerken lassen durften. Sie gingen aufeinander zu, umarmten sich und wandten sich dann der Menge der Reifinselbewohner zu, die die dramatische Ankunft der beiden Schiffe beobachtet hatte. Die Einheimischen standen im Halbkreis um die lange Pier, an der die böse zugerichteten und salzverkrusteten Schiffe nun festgemacht hatten. Hinter der Menge erhoben sich die Häuser Salzhavens – klein, geduckt, an die Erde geschmiegt, wie es zu dieser nördlichsten aller Klimazonen paßte. Sie zeigten ein verwittertes Blau und Grün und ein Violett, das beinahe grau war, mit Ausnahme der Gebäude im umliegenden Viertel, die ziemlich heruntergekommen wirkten und zornig rot und kränklich gelb schimmerten. Hinter Salzhaven erstreckte sich das flache, gewellte Land, graugrün von Moos und Heidekraut, bis an die grauweiße Mauer eines mächtigen Gletschers. Das Eis umgab wie ein Panzer die steilen Hänge eines aktiven Vulkans, dessen Ausbruch im vollen Gange war, wenn auch der rote Schimmer der Lava und die schwarze Masse des flammendurchzogenen Rauchs nachgelassen hatten, seit die Freunde den Berg zum erstenmal erblickt hatten.
Vorn in der Menge standen große, stämmige Männer mit unbeweglichen Gesichtern. Sie trugen Stiefel und Hosen und Jacken wie Fischer. Die meisten hielten lange Stäbe so in den Händen, als wüßten sie damit gut zu kämpfen. Neugierig, doch zugleich zurückhaltend beäugten sie die beiden Neuankömmlinge und ihre Schiffe – das Boot des Mauslings breit und behäbig, das Handelsschiff Treibgut mit seiner kleinen Mingol-Mannschaft und einer Horde disziplinierter Diebe (was für sich gesehen schon ein Wunder war); dahinter Fafhrds schmalere Galeere Seefalke mit ihrem Kontingent gezähmter Berserker (wenn man sich so etwas vorstellen kann). Auf der Pier nahe den Pollern, an denen die Schiffe festgemacht worden waren, standen Fafhrds Korporal Skor, des Mauslings Adjutant Pshawri und zwei weitere Besatzungsmitglieder. Die Ruhe und Zurückhaltung der Menge verwirrten den Mausling und Fafhrd und begannen sie sogar ein wenig zu ärgern. Sie hatten eine weite Seereise hinter sich und waren dabei unvorstellbaren Gefahren entronnen, um sich dafür einzusetzen, daß die Reifinsel vor einer schrecklichen Invasion wilder Meeres-Mingols geschützt wurde, die es auf die Eroberung der Welt abgesehen hatten – doch nirgendwo zeigte sich Freude, sie wurden lediglich mit sturen Mienen und abschätzenden Blicken bedacht. Die Leute hätten jubeln und tanzen sollen – außerdem fehlte das hiesige Äquivalent zu jungen Mädchen, die Blumen streuten! Gewiß, die beiden dampfenden Kessel, die einer der Männer an einem Schulterjoch herbeitrug, schienen ein wärmeres Willkommen anzudeuten; doch noch hatte man ihnen nichts angeboten!
Das köstliche Aroma des Fisch-Suds drang nun auch in die Nasen der Seeleute, die in Posen äußerster Erschöpfung und Niedergeschlagenheit auf den Decks der Schiffe herumlümmelten – waren sie doch mindestens halb so verausgabt wie ihre Kapitäne und sahen keinen Anlaß, ihren Zustand zu verhehlen. Ihre Gesichter hellten sich auf, ihre Kinnbacken bewegten sich voller Vorfreude. Hinter ihnen erstreckte sich der sonnenbeschienene schmale Hafen, der kürzlich noch unter einem gewaltigen schwarzen Himmel gelegen hatte, angefüllt mit kleinen Schiffen, vorwiegend örtliche Schifferboote in der lieblichen Form von Tümmlern, doch in unmittelbarer Nähe gab es auch einige Schiffe, die sichtlich von weither kamen, einschließlich einer kleinen Kaufmannsgaleere aus den Ländern des Ostens und (erstaunlich!) einer keshitischen Dschunke und ein paar bescheidenen, aber fremdartigen Booten, die beunruhigenderweise so aussahen, als stammten sie aus Meeren, die nicht mehr zu Nehwon gehörten. Außerdem waren da und dort in der Menge Seeleute aus fernen Häfen zu sehen, die zwischen den großen Reifinselbewohnern hindurchblickten. Der Einheimische, der den beiden Freunden am nächsten gestanden hatte, kam nun wortlos auf sie zu, gefolgt von zwei weiteren, die einige Schritte hinter ihm blieben. Er machte einen Meter entfernt halt, sagte aber noch immer nichts. Er schien weniger die beiden Fremden anzusehen, als hinter ihnen die beiden Schiffe und Mannschaften, während er den Eindruck machte, als stelle er im Kopf eine komplizierte Rechnung an. Alle drei waren so groß wie Fafhrd und seine Berserker.
Fafhrd und der Mausling bewahrten mit einiger Mühe die Fassung. Es lohnte sich nicht, als erster zu sprechen, wenn der andere in der Schuld stand oder man das zumindest annahm. Endlich schien der Mann seine Berechnungen beendet zu haben und begann sich zu äußern, wobei er das niedere Lankhmarisch benutzte, das in der nördlichen Welt als Handelssprache gilt. »Ich bin Groniger, Hafenmeister von Salzhaven. Ich würde schätzen, daß eure Schiffe eine gute Woche zur Reparatur und Verproviantierung bei uns liegen müssen. Wir werden eure Mannschaften im Kaufmannsbezirk unterbringen und versorgen.« Er deutete auf die tristen roten und gelben Gebäude. »Vielen Dank«, sagte Fafhrd ernst, während der Mausling kühl hinzusetzte: »In der Tat, ja.« Kein sehr begeistertes Willkommen, aber immerhin wurden sie aufgenommen. Groniger streckte die offene Hand aus. »Die Gebühr dafür«, sagte er laut, »sind fünf Goldstücke für die Galeere, sieben für den anderen Kahn. Zahlung im voraus.« Fafhrd und der Mausling rissen den Mund auf. Der letztere ließ seine Kapitänswürde fahren: Er konnte seine Entrüstung nicht verhehlen. »Aber wir sind eure Verbündeten!« rief er. »Wir haben uns durch zahllose Gefahren hindurchgeschlagen, wie versprochen, um als Söldner zu dienen und euch vor dem Heuschreckenüberfall der MeeresMingols zu bewahren, beraten und geführt vom Khahkht, dem bösesten Zauberer des Eises.« Groniger hob die Augenbrauen. »Von welcher Invasion sprichst du?« fragte er. »Die Meeres-Mingols
sind unsere Freunde. Sie kaufen uns Fisch ab. Bei anderen mögen sie als Piraten gelten, aber gegenüber Schiffen von der Reifinsel verhalten sie sich korrekt. Und dieser Khahkht ist nichts als Altweibergeschwätz, vernünftige Männer sollten dem keine Bedeutung beimessen.« »Altweibergeschwätz?« explodierte der Mausling. »Dabei sind wir gerade drei endlose Nächte hindurch von Khahkhts monströser Galeere verfolgt worden, die wir schließlich vor eurer Hafeneinfahrt versenken konnten. Damit wäre seine Invasion beinahe gelungen. Sind euch nicht die allgegenwärtige Schwärze und der Höllenwind aufgefallen, die sich breitmachten, als er drei Tage lang mit Zauberhand die Sonne aus dem Himmel verschwinden ließ?« »Wir haben aus dem Süden ein paar dunkle Wolken heraufziehen sehen«, sagte Groniger, »in deren Schutz ihr euch Salzhaven nähertet. Sie verschwanden, als sie die Reifinsel erreichten – so wie es allen abergläubischen Dingen widerfährt. Was die Invasion angeht, so gab es vor einigen Monaten Gerüchte darüber, aber unser Rat hat sich damit beschäftigt und mußte feststellen, daß es sich nur um leeres Gerede handelte. Hat irgendeiner von euch seither von einer Mingolinvasion gehört?« fragte er laut und blickte links und rechts auf seine Begleiter. Sie schüttelten die Köpfe. »Also bezahlen!« wiederholte er und bewegte fordernd die ausgestreckte Hand auf und nieder, während die Männer hinter ihm ihre Stäbe fester packten. »Schamlose Undankbarkeit!« gab der Mausling zurück, der sich als Gebieter über seine Besatzung nun auf einen moralischen Standpunkt zurückzog. »Wel-
che Götter verehrt ihr hier auf der Reifinsel, daß ihr so hartherzig auftretet?« Gronigers Antwort klang laut und kühl: »Wir verehren gar keine Götter, sondern machen mit klarem Kopf in dieser Welt unsere Geschäfte, wir hängen keinen nebligen Träumen nach. Solche Phantastereien überlassen wir den sogenannten zivilisierten Völkern, den dekadenten Kulturen des heißen Südens. Bezahlt, sage ich!« In diesem Augenblick rief Fafhrd, dessen Körpergröße es ihm ermöglichte, über die Köpfe anderer zu schauen: »Da kommen die beiden, die uns angeworben haben, Hafenmeister, sie werden deine Äußerungen Lügen strafen!« Respektvoll wich die Menge auseinander und ließ zwei schlanke Frauen durch, die Hosen trugen und an ihren Gürteln lange Dolche in juwelenbesetzten Scheiden. Die größere war blaugrau gekleidet, mit ebenso gefärbten Augen und blondem Haar, ihre Begleiterin in Rostrot, mit grünen Augen und schwarzem Haar, in das Golddrähte geflochten zu sein schienen. Skor und Pshawri, die vor Müdigkeit nicht mehr ganz bei sich waren, bemerkten die beiden, und die Botschaft in ihren strahlenden Augen war klar: Hier kamen endlich die Engel aus dem Norden! »Die vornehmen Ratsfrauen Afreyt und Cif«, sagte Groniger mit feierlicher Stimme. »Ihr Hiersein ist eine große Ehre für uns.« Die beiden näherten sich mit königlichem Lächeln. Ihre Gesichter zeigten freundliche Neugier. »Sag es ihnen, vornehme Afreyt«, sagte Fafhrd höflich zu der blaugekleideten Frau, »du hast mir doch den Auftrag erteilt, zwölf ...« – er verzichtet auf
das Wort ›Berserker‹ – »kampfstarke Nordlinge von heftigstem Temperament anzuwerben und zur Reifinsel zu bringen.« »Und ich sollte zwölf ... ähem ... geschickte lankhmarische Schwertkämpfer und Schlingenwerfer herbeiführen, huldvolle Lady Cif«, warf der Mausling ein und mied dabei das Wort ›Diebe‹. Afreyt und Cif musterten die beiden Männer ausdruckslos. Plötzlich standen in ihren Augen Sorge und Mitleid. Afreyt sagte: »Die armen Burschen sind von dem Sturm noch ganz durcheinander, zweifellos hat sich davon ihr Gedächtnis verwirrt. Unsere kleinen Nordstürme sind immer wieder eine Überraschung für Südländer. Die beiden scheinen aber recht nett zu sein. Benutze sie gut, Groniger.« Sie musterte Fafhrd mit starrem Blick, hob die Hand, um ihr Haar zu ordnen, und legte im Senken kurz einen Finger vor die fest geschlossenen langen Lippen. Cif fügte hinzu: »Zweifellos sind vom langen Darben ihre Sinne verwirrt. Die Schiffe sind durch schwere See gegangen. Aber was für eine Geschichte! Ich möchte wissen, was das für Männer sind. Gib ihnen heiße Suppe – natürlich müssen sie vorher zahlen.« Und ein grünes Auge blinzelte dem Mausling zu – das Auge, das sich auf der Groniger abgewandten Seite befand. Dann schritten die beiden Damen weiter. Man muß es als Beweis für die Nüchternheit und Selbstbeherrschung des Mauslings und Fafhrds werten (die nun als Kapitäne über andere geboten), daß sie auf diese erstaunliche und kaum verhohlene Zurückweisung nicht heftig reagierten, sondern tatsäch-
lich in die Geldbörsen griffen – wenn sie auch den beiden davonschlendernden Frauen mit Erstaunen nachblickten. Auf diese Weise bekamen sie mit, wie Skor und Pshawri, die den beiden Erscheinungen nördlicher Schönheit verzückt entgegengestarrt hatten, einen Schritt vortraten mit der klaren Absicht, eine Art höfliche amouröse Vertrautheit herzustellen. Afreyt schob Skor mit eindeutiger Geste zur Seite, doch erst nachdem sie ihre Lippen dicht genug an sein Ohr gebracht hatte, um ihm ein paar Worte zuzuflüstern und sein Handgelenk auf eine Weise zu umfassen, die es ihr gestattet hätte, ihm eine kleine Gabe oder einen Zettel in die Hand zu drücken. Cif reagierte auf Pshawris Avancen in ähnlicher Form. Groniger, der sich darüber freute, daß die beiden Kapitäne nun Goldstücke sehen ließen, konnte sich dennoch eines mahnenden Wortes nicht enthalten: »Und sorgt dafür, daß eure Seeleute unsere salzhavischen Frauen nicht belästigen oder das Gelände des Kaufmannsbezirks auch nur um einen Meter verlassen.« Der geforderte Preis zehrte das letzte Geld auf, das Cif den beiden Freunden im Silbernen Aal von Lankhmar gegeben hatte, während der Mausling seine sieben Goldstücke mit zwei lankhmarischen Rilks und einer sarheenmarischen Dublone abrunden mußte. Groniger hob die Augenbrauen, als er seine Einnahme betrachtete. »Münzen der Reifinsel! Ihr seid also doch schon einmal hier gewesen und kennt unsere Hafenregeln – und trotzdem wolltet ihr handeln? Aber was hat euch veranlaßt, eine dermaßen unglaubliche Geschichte zu erfinden?« Fafhrd zuckte die Achseln und sagte kurz ange-
bunden: »Wir waren noch nie hier. Wir haben das Geld von einer Handelsgaleere, die in dieser Gegend war«, während der Mausling nur lachen konnte. Trotzdem kam Groniger ein Gedanke, und er blickte den beiden Ratsfrauen der Reifinsel abschätzend nach. Er sagte barsch: »Jetzt könnt ihr euren Männern zu essen geben.« Der Mausling rief zur Treibgut hinüber: »Ho, Jungs, holt Schalen, Becher und Löffel! Die gastfreundlichen Inselbewohner haben ein Festmahl für euch vorbereitet. Aber haltet Ordnung! Pshawri, zu mir!« Während Fafhrd ähnliche Befehle äußerte und hinzufügte: »Vergeßt nicht, daß sie unsere Freunde sind. Behandelt sie höflich. Ein Wort unter vier Augen, Skor.« Es hatte keinen Sinn, Ablehnung zu zeigen, obwohl die Bezeichnung ›Kahn‹ den Mausling noch ziemlich ärgerte, trotz der Tatsache, daß die breite, von Rudern anzutreibende Treibgut damit recht gut beschrieben war. Als der Mausling und Fafhrd sich überzeugt hatten, daß alle ihre Männer genug zu essen hatten und überdies eine Runde Grog verteilt worden war, um die sichere Ankunft zu feiern, wandten sie sich ihren mürrischen Korporälen zu, die mit gespieltem Widerwillen die Zettel übergaben, die man ihnen – wie die beiden Helden vermutet hatten – mit den Worten »Für deinen Herrn!« zugesteckt hatte. Afreyt hatte geschrieben: Eine andere Interessengruppe hat vorübergehend im Rat der Reifinsel die Oberhand. Du kennst mich nicht. Triff mich morgen zur Abendstunde am Hügel des Achtbeinigen Pferdes, während Cifs Botschaft lautete: Der kalte Khahkht hat in unserem Rat Zwietracht gesät. Wir sind uns nie begegnet – so müssen
wir es halten. Du findest mich morgen nacht in der Flammenhöhle, wenn du allein kommst. »Sie sprechen also doch nicht mit der Autorität der Reifinsel«, bemerkte Fafhrd leise. »Mit welch wirrköpfigen Politikerinnen haben wir uns da eingelassen?« »Ihr Gold war gut«, antwortete der Mausling barsch. »Und jetzt haben wir zwei Rätsel zu lösen.« »Flammengrube und das Achtbeinige Pferd«, sagte Fafhrd nachdenklich. »Kahn hat er sie genannt«, kam der Mausling bitteren Tons vom Thema ab. »Welchen gottlosen, haarspalterischen Philosophen sollen wir hier gegen ihren Willen helfen?« »Du bist ein nicht minder gottloser Mann«, erinnerte ihn Fafhrd. »O nein, ich habe einst an Mog geglaubt«, protestierte der Mausling mit einer Andeutung seines gewohnten gespielten Jammertons; er bezog sich damit auf eine Zeit seiner Jugend, da er vorübergehend an den Spinnengott geglaubt hatte, um einer Geliebten zu gefallen. »Solche Fragen haben Zeit, ebenso die beiden Rätsel«, meinte Fafhrd. »Wir sollten uns lieber bei den atheistischen Fischern einschmeicheln, solange wir noch können.« Zusammen mit dem Mausling bot er Groniger feierlich einen Schluck weißen Branntwein an, den der alte Mingolpirat Ourph geholt hatte. Der Hafenmeister akzeptierte auf Drängen das Getränk, das er mit langsamen Schlucken genoß, und das Gespräch wandte sich schließlich allgemeineren Themen zu; es ging um Reparaturdocks, die Wasseraufnahme, die
Unterbringung der Besatzungen an Land und um Fischpreise. Mit einiger Mühe erwirkten Fafhrd und der Mausling die Erlaubnis, sich außerhalb des Kaufmannsbezirks aufzuhalten, doch nur bei Tage. Ihre Männer durften das Gelände nicht verlassen. Groniger lehnte einen zweiten Trunk ab. In Seiner eiskalten Kugel, in der sich ein größeres Wesen beengt gefühlt hätte, erwachte Khahkht und murrte vor sich hin: »Die neuen Götter der Reifinsel sind gefährlich – sie schlagen immer wieder zu. Sie sind stärker, als ich angenommen hatte.« Es begann die dunkle Nehwonkarte zu studieren, die das Innere der Kugel zierte. Sein Blick richtete sich auf die Nordzunge des Äußeren Meeres, wo sich eine lange Halbinsel des Westkontinents der Eis-Öde entgegenstreckte, dazwischen auf halbem Wege die Reifinsel. Es brachte das spinnendürre Gesicht dicht an die Spitze dieser Halbinsel heran und entdeckte auf der Nordseite im dunkelblauen Wasser winzige Flecke. »Die Armada der Gegenlauf-Mingols fällt über Sayend her.« Das Wesen kicherte leise und betrachtete die östlichste Stadt des alten Reichs von Eevamarensee. »An die Arbeit!« Es schwenkte die mit dicken schwarzen Borsten bedeckten Hände beschwörend über den versammelten Punkten und rief im Singsang: »Hört mich an, Sklaven des Todes. Hört mein Wort und spürt meinen Atem! Noch die geringste Anweisung nehmt euch zu Herzen. Zunächst muß Sayend brennen! Gegen Nehwon soll deine Horde sich wenden, als nächsten die Reifinsel, dann die ganze Welt.« Eine dürre
Hand bewegte sich seitlich auf die kleine grüne Insel mitten im Ozean zu. »Laß um die Reifinsel Fische schwärmen, die meinen Mingol-Sturm verproviantieren sollen.« Die Hand fächelte immer schneller hin und her. »Schwärze soll den Verstand der Mingols überkommen, soll ihn gegen die gesamte Menschheit richten. Der Wahn soll Mingols Zorn anstacheln, aus der Kälte soll der Feuertod herbeistürmen.« Das Wesen blies vor sich hin, als habe Es ein erlöschendes Feuer vor sich, und an der Spitze der Halbinsel glühte ein kleiner Punkt dunkelrot wie ein noch glimmendes Stück Holz. »Beim Willen Khahkhts soll dieser Zauber Wahrheit werden!« rief Es knarrend und beendete damit die Beschwörung. Die Schiffe der Gegenlauf-Mingols hatten im Hafen von Sayend geankert, dicht gedrängt liegend wie Fische in einem Faß und ebenso silbrig-weiß. Die Segel waren gerefft. Die Mittelteile der Decks, die sich seitlich berührten, ergaben eine unebene Straße von der hohen Küste zum Flaggschiff, auf dessen Poopdeck Edumir thronte, der oberste Anführer, und den Pilzwein Quarmalls genoß, der Träume erzeugt. Das kalte Licht des am südlichen Winterhimmel stehenden Mondes offenbarte den schmalen Pferdekäfig, der das Bugteil jedes Schiffes bildete, wie auch die wilden Augen und den wundgestoßenen Kopf des Schiffspferdes, eines hageren Steppenhengstes, der nach vorn durch die unregelmäßigen Stäbe geschoben worden war, in Richtung Osten. In der eroberten Stadt, deren Hafentor weit offen-
stand, zeigte sich kein Licht. Vor den Mauern und auf der winzigen Uferstraße lagen die wenigen Verteidiger, wie sie hingestürzt waren, in ihrem eigenen Blut, hastig durchsucht von den plündernden MeeresMingols, die sich allerdings nicht um die große Tore kümmerten, hinter denen sich die restlichen Bewohner verbarrikadiert hatten. Sie hatten bereits die fünf Mädchen gefangengenommen, die das Ritual vorschrieb, und zum Flaggschiff gebracht, und jetzt suchten sie Wal- und Tümmleröl. Seltsamerweise brachten sie den größten Teil dieses Schatzes nicht zu den Schiffen hinab, sondern verschütteten ihn, indem sie die Fässer mit Äxten aufschlugen und die Krüge zerschmetterten; das kostbare Naß ergoß sich über Türen und hölzerne Mauern und strömte die kopfsteingepflasterten Straßen hinab. Auf der hohen Poop des gewaltigen Flaggschiffes herrschte wie in der Stadt nur das Mondlicht. Neben Edumir beugte sich der Hexendoktor über einen Kessel voller leicht brennbarer Stoffe, in einer Hand einen Feuerstein, in der anderen ein Hufeisen, seine Augen blitzten wild wie die der Schiffspferde. Neben ihm hockte ein drahtiger Krieger, dessen Oberkörper unbekleidet war. Er war mit einem Mingolbogen aus gebranntem Horn bewaffnet, auf Nehwon die gefürchtetste Waffe ihrer Art, neben ihm lagen fünf lange Pfeile, die mit ölgetränkten Lappen umwickelt waren. Auf der anderen Seite stand ein Axtschwinger mit fünf Fässern des erbeuteten Öls. Eine Etage tiefer duckten sich die fünf SayendMädchen mit aufgerissenen Augen stumm nieder, und ihre bleichen Gesichter bildeten einen starken Kontrast zu dem langen, dunklen, zu Zöpfen ge-
flochtenen Haar. Jedes Mädchen wurde von zwei grimmigen Mingolinnen bewacht, die ihre Messer gezogen hatten. Auf dem noch tiefer gelegenen Hauptdeck bildeten fünf junge Mingol-Reiter eine Reihe; sie waren wegen ihres im Kampf bewiesenen Mutes für diese Ehre ausersehen worden. Sie saßen auf bestens ausgebildeten Steppenpferden, deren Hufe auf dem Deck ein dumpfes, ungleichmäßiges Getrommel verursachten. Edumir warf seinen Weinkelch ins Meer, wandte sein langes, unbewegtes Gesicht langsam seinem Hexendoktor zu und nickte einmal kurz. Der andere schlug Hufeisen und Feuerstein zusammen, und zwar dicht über dem Kessel. Die auf diese Weise entstehenden Flammen schürte er sorgsam, bis der ganze Kessel loderte. Der Bogenschütze legte seine fünf Pfeile über den Feuerkessel, und als sie zu brennen begannen, zupfte er sie heraus und schickte sie nacheinander mit einer solchen Schnelligkeit in Richtung Sayend, daß der fünfte bereits seine schmale orangerote Krümmung in die mitternächtliche Luft malte, ehe der erste sein Ziel erreicht hatte. Jeder der fünf traf auf Holz, und mit übernatürlicher Schnelligkeit geriet die öldurchtränkte Stadt in Brand wie eine gewaltige Fackel, und die gedämpften Verzweiflungsschreie der eingeschlossenen Bewohner erhoben sich wie das Jammern von Höllengefangenen in die Nacht. Unterdessen hatten zwei Mingolinnen ihren Gefangenen mit den Messern die Kleidung vom Leib geschnitten und schoben sie nackt dem ersten Reiter entgegen. Er packte sie an den dunklen Zöpfen,
schwang sie vor sich in den Sattel, drückte den schmalen nackten Rücken an seine ledergeschützte Brust und nahm sie von hinten. Gleichzeitig schlug der Axtschwinger den Oberteil des ersten Fasses auf und goß es über Pferd, Reiter und Mädchen aus, die von schimmerndem Öl trieften. Im nächsten Moment bewegte der Reiter die Zügel, gab seinem Tier die Sporen und ließ seine Stute über die eng zusammenliegenden Decks auf die brennende Stadt zu galoppieren. Als das Mädchen merkte, wohin der verrückte Ritt ging begann es zu schreien, schriller und schriller, begleitet von den rhythmischen Bewegungen und knurrenden Rufen des Reiters und dem Trommelwirbel der Hufe. Diese Vorgänge wiederholten sich einmal, zweimal, dreimal, viermal (das dritte Pferd glitt im Öl aus, stolperte, fing sich aber wieder), so daß der fünfte Reiter unterwegs war, ehe der erste sein Ziel erreicht hatte. Die Stuten waren beinahe von Geburt an darauf trainiert worden, brennende Mauern zu überspringen. Die Reiter hatten viel von demselben Pilzwein getrunken, den auch Edumir genoß. Die Frauen hatten ihre Schreie. Einer nach dem anderen zeigten sie sich kurz als Silhouette vor dem roten Tor, dann verschmolzen sie damit. Fünfmal schossen die Flammen über Sayend noch höher empor und erhellten mit rotem Schein die kleine Bucht und die dicht gedrängt ankernden Schiffe und die starren Mingolgesichter und die glasigen Mingolaugen, und Sayend verging in einem endlosen qualvollen Schrei. Als es vorüber war, erhob sich Edumir in seinen Pelzroben zu voller Größe und rief mit Trompeten-
stimme: »Jetzt nach Osten. Über den Ozean. Zur Reifinsel!« Am nächsten Tag ließen der Mausling und Fafhrd ihre Schiffe auspumpen, verholten zu den vorgesehenen Docksplätzen und begannen sofort daran zu arbeiten. Die Männer, von langem Schlaf an Land erfrischt, machten sich nicht ohne Grollen an die Reparaturen, die Diebe des Mauslings unter Anleitung seines Ersten Korporals Pshawri und der kleinen Mingol-Mannschaft. Schon bald war das dumpfe Dröhnen von Holzhämmern zu hören, gefolgt von dem Teergeruch, als die klaffenden Fugen der Treibgut von innen kalfatert wurden, während von Deck der Seefalke die hellere Musik von Hämmern und Sägen tönte, in deren Takt Fafhrds Wikinger die Aufbauten instandsetzten, die unter den eisigen Geschossen der Frost-Monstreme Khahkhts gelitten hatten. Andere ordneten die Takelage, ersetzten Taue und tauschten ausgefranstes Gut aus. Der Kaufmannsbezirk, in dem sie und die Männer untergebracht waren, zeigte sich nicht viel anders als die Seemannsviertel anderer nehwonischer Häfen – drei Tavernen, zwei Freudenhäuser, mehrere Läden und Tempel, die mehr oder weniger locker von einer kleinen Dauerbevölkerung aus zusammengewürfelten Fremden betrieben wurden. Der inoffizielle Bürgermeister war ein wortkarger, narbiger Kapitän namens Bomar, der aus den Acht Städten stammte, und der führende Geldwechsler ein mürrischer schwarzer Keshite. Fafhrd und dem Mausling wurde schnell klargemacht, daß den Fischern – wie auch den Kauf-
leuten – in erster Linie daran lag, die Reifinsel als wertvolles Geheimnis vor dem Rest der Welt zu verbergen. Oder man hatte die gewohnheitsmäßige Sturheit der gastgebenden Fischer übernommen, die tolerant waren, ihren Profit kassierten, aber selten eine Gelegenheit verstreichen ließen, barsche Disziplin walten zu lassen. Die Ausländer auf der Reifinsel hatten ebenfalls nicht von einer Gefahr durch MeeresMingols gehört – jedenfalls wurde das behauptet. Die Reifinselbewohner schienen dem ersten Eindruck gerecht zu werden, den die Freunde von ihnen gewonnen hatten: ein großgewachsenes, nüchtern gekleidetes, ruhiges, sehr praktisch veranlagtes und selbstbewußtes Volk, ohne Exzentrizität oder Heimtücke oder Neigung zum Aberglauben, Menschen, die wenig tranken und der Regel treu blieben, sich nur um die eigenen Dinge zu scheren. In ihrer Freizeit spielten sie oft Schach und übten mit ihren Kampfstäben, doch abgesehen davon schienen sie ihre Mitmenschen kaum zu beachten, und Ausländer schon gar nicht, wenn sie auch nichts übersahen. Heute waren sie sogar noch unzugänglicher, genaugenommen seit dem Augenblick, da ein früh auslaufendes Fischerboot schon kurze Zeit später wieder in den Hafen zurückgekehrt war, woraufhin die gesamte Fischfangflotte in höchster Eile aufgebrochen war. Und als kurz nach der Mittagsstunde die ersten Fischer zurückkehrten, die Boote bis an den Rand gefüllt mit frischem Fang, diesen sofort einsalzten (es gab ausreichend Salz – von der großen Ostklippe, über die kein vulkanisch-heißes Wasser mehr lief) und wieder in See stachen, wurde klar, daß unmittelbar vor der Hafeneinfahrt ein ungeheurer
Fischschwarm vorbeiziehen mußte. Die sparsamen Fischer waren jedenfalls entschlossen, vollen Nutzen daraus zu ziehen. Selbst Groniger zeigte sich an Bord eines Bootes, das er persönlich steuerte. Fafhrd und der Graue Mausling hatten viel zu tun, mußten sie doch die Arbeiten beaufsichtigen und verschiedene Einkäufe tätigen (als einzige durften sie den Kaufmannsbezirk verlassen), und so trafen sich die beiden auf der Seemauer nördlich der Docks und verweilten einen Augenblick lang, um Neuigkeiten auszutauschen und ein wenig Luft zu schnappen. »Ich habe die Flammengrube gefunden«, sagte der erstere. »Jedenfalls nehme ich das an. Es ist ein hinterer Raum in der Salzhering-Taverne. Der ilthmarische Eigentümer hat zugegeben, daß er den Raum manchmal eine Nacht lang vermietet – das heißt, wenn ich sein Blinzeln richtig gedeutet habe.« Fafhrd nickte und sagte: »Ich bin eben zum Nordrand der Stadt gegangen und habe dort einen Greis gefragt, ob er je vom Hügel des Achtbeinigen Pferdes gehört hätte. Daraufhin hat er ziemlich unangenehm gelacht und über den Sumpf gedeutet. Es war sehr klar (ist dir aufgefallen, daß der Vulkan nicht mehr raucht? Mich wundert, daß die Insulaner ihn so wenig beachten), und als ich inmitten der zahlreichen Hügel die Erhebung ausgemacht hatte, auf die sein Finger deutete (etwa eine Meile entfernt im Nordwesten), erkannte ich an seiner Spitze ein Gebilde, das wie ein Galgen aussah.« Der Mausling brummte gefühllos, als er diese düstere Enthüllung hörte, stemmte die Ellbogen auf die Hafenmauer und betrachtete die Schiffe, die an der Pier zurückgeblieben waren, alles ›Ausländer‹. Nach
einer Weile sagte er leise: »Hier in Salzhaven ist so allerlei absonderlich, möchte ich sagen. Irgendwie aus dem Lot. Zum Beispiel die Segeljolle aus Ool Plerns dort drüben – hast du in Ool Plerns jemals ein Boot gesehen, das einen so niedrigen Bug hatte? Oder eine so seltsam beschirmte Mütze wie die des Seemanns, den wir den Kutter aus Gnampf verlassen sahen? Oder die Silbermünze mit der Eule darauf, die mir Groniger als Wechselgeld auf meine Dublone herausgegeben hat? Es ist, als befände sich die Reifinsel an der Grenze zu anderen Welten mit anderen Schiffen und anderen Menschen und anderen Göttern – eine Art Randzone ...« Fafhrd blickte wie sein Freund über das Wasser, nickte langsam und setzte zum Sprechen an, als aus der Richtung der Docks plötzlich zornige Stimmen zu hören waren, gefolgt von einem wütenden Aufschrei. »Das ist bestimmt Skullick!« rief Fafhrd. »Weiß Gott, in was für eine dumme Klemme er sich wieder manövriert hat.« Ohne ein weiteres Wort eilte er davon. »Wahrscheinlich hat er nur die Grenze übertreten und dafür eins übergebraten bekommen!« rief der Mausling und trabte hinter ihm her. »Mikkidu hat heute früh den Stock zu schmecken bekommen, weil er einem Insulaner die Börse klauen wollte – geschieht ihm recht! Ich hätte ihn nicht geschickter vertrimmen können.« An diesem Abend wandte Fafhrd Salzhaven den Rücken und machte sich auf den Weg zum Galgenberg (ein viel ehrlicherer Name). Dabei verzichtete er bewußt darauf, zur Stadt zurückzublicken. Die Son-
ne, die vor kurzer Zeit im tiefen Südwesten untergegangen war, legte einen sanftvioletten Ton über den klaren Himmel und auf das helle kniehohe Heidekraut, durch das er schritt, wie auch auf die schwarzen Hänge des Vulkans Dunkelfeuer, an denen die Lava vom Vortag abgekühlt war. Ein kühler Windhauch wehte kaum spürbar von dem Gletscher herüber, in dessen Richtung Fafhrd sich bewegte. Die Natur schien gedämpft zu sein. Ein Gefühl der Größe war allgegenwärtig. Allmählich vergaß er die Sorgen des Tages, und seine Gedanken kehrten in die Zeit seiner Jugend zurück, die er in einem ähnlichen Klima verbracht hatte – er dachte an Schneewinkel mit den zeltbestandenen Hängen und großen Kiefern, an die Schneeschlangen und Wölfe, an Hexen und Gespenster. Er erinnerte sich an seinen Vater Nalgron und seine Mutter Mor und sogar an Mara, seine erste Liebe. Nalgron war ein Feind der Götter gewesen, beinahe wie diese Reifinselbewohner (er hieß der Legendenbrecher), aber der Sinn stand ihm mehr nach Abenteuern; er war ein großer Bergsteiger gewesen und hatte an den Hängen eines Berges namens Weißklaue den Tod gefunden. Fafhrd erinnerte sich an einen Abend, da sein Vater mit ihm an den Rand der Kalten Schlucht gegangen war und ihm die Sterne bezeichnet hatte, die an einem ähnlich violett gefärbten Himmel geblinkt hatten. Ein leises Geräusch in der Nähe, vielleicht von einem Lemming, der sich durch das Heidekraut bewegte, beendete seine Träume. Er erstieg bereits den sanften Hang des gesuchten Hügels. Nach kurzem Zögern erreichte er die Anhöhe, leise auftretend und
sich von dem Galgen fernhaltend und der Stelle unmittelbar unter dem Galgenbaum. Er glaubte, in der Nähe etwas Unheimliches wahrzunehmen und sah sich in der Stille um. Am Nordhang des Hügels erstreckte sich ein dichtes Dickicht aus mehr als mannshohem Ginster, eher schon eine Laube, da ein schmaler Weg hineinführte, eine Tür der Schatten. Das Gefühl einer überirdischen Präsenz verstärkte sich, und er unterdrückte ein Erschaudern. Als sein Blick sich vom Ginster löste, entdeckte er Afreyt ein Stück hügelaufwärts, seitlich des Hains. Sie blickte ihn ruhig an, ohne einen Gruß. Das dunkler werdende Violett des Himmels verfärbte ihre blaue Kleidung entsprechend. Aus irgendeinem Grund rief er sie nicht an, und jetzt hob sie die schmale Hand vor die Lippen und forderte ihn zum Schweigen auf. Dann blickte sie auf das Dickicht. Mit langsamen Schritten kamen drei schlanke Mädchen, beinahe noch Kinder, aus der Schattentür. Sie schienen jemanden zu führen und zu ihm aufzublicken, den Fafhrd zunächst nicht ausmachen konnte. Er blinzelte zweimal, öffnete die Augen weiter und entdeckte schließlich die Gestalt eines großen, hellbärtigen Mannes mit einem breitkrempigen Hut, der seine Augen beschattete, ein Mann, der entweder sehr alt oder von Krankheit geschwächt war, denn er bewegte sich sehr unsicher und stützte sich schwer auf die Schultern zweier Mädchen, obwohl er hoch aufgerichtet ging. Im nächsten Augenblick spürte Fafhrd einen eiskalten Schauder, denn ihm kam der Verdacht, daß er hier Nalgron vor sich habe, dessen Gespenst er seit
Verlassen des Kalten Winkels nicht mehr gesehen hatte. Und Haut, Bart und Robe der Gestalt waren auf gleiche Weise gefleckt, oder aber er sah die bleichen Aststümpfe des Ginsters durch die Erscheinung. Doch wenn es sich um ein Gespenst handelte (ob nun Nalgron oder jemand anders), ließen sich die Mädchen jedenfalls nichts anmerken. Sie behandelten den Greis vielmehr mit einer Art pflichtbewußten Zärtlichkeit, und ihre Schultern beugten sich unter seinen Händen, als hätten sie ein sehr reales Gewicht zu tragen. Langsam kamen sie das kurze Stück zum Gipfel des Hügels herab, und Afreyt folgte wortlos einige wenige Schritte dahinter, bis der Greis direkt unter dem Ende des Galgens stand. Dort schien Mann oder Gespenst plötzlich an Kraft zu gewinnen (und vielleicht auch an Substanz), denn er nahm die Hände von den Schultern der Mädchen, die sich einige Schritte in Richtung Afreyt zurückzogen, weiter zu ihm emporblickend, und hob das Gesicht zum Himmel, und Fafhrd erkannte, daß er zwar ein hagerer Mann an der Schwelle zum Alter war, mit kräftigen, edlen Gesichtszügen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Nalgron erkennen ließen, daß er aber dünnere Lippen hatte, die Winkel herabgezogen, wie bei einem allwissenden Lehrer, und über dem linken Auge eine Klappe trug. Unsicher schaute er sich um, wobei er Fafhrd mit einem Blick streifte, der verängstigt erstarrt war, dann wandte sich der alte Mann nach Norden, hob einen Arm in diese Richtung und sagte mit einer heiseren Stimme, die wie das Seufzen des Windes in kahlen Ästen klang: »Die Flotte der Gegenlauf-
Mingols kommt aus dem Westen. Zwei Schiffe eilen voraus, ihr Ziel Kalthafen.« Dann drehte er schnell den Kopf zurück, in einem Winkel, der unmöglich groß erschien, als wäre sein Hals gebrochen, aber doch noch irgendwie intakt, so daß er mit seinem gesunden Auge Fafhrd direkt ansah und sagte: »Du mußt sie vernichten!« Dann schien er das Interesse zu verlieren, und erneut überkam ihn Schwäche, vielleicht eine Art sinnliche Entspannung nach erfüllter Aufgabe, denn er ging auf dem Weg zurück zum Ginsterdickicht ein wenig schneller, und als die Mädchen ihn umringten, schienen seine Hände sie lasziv am Nacken zu tätscheln und nicht nur Halt auf ihren schmalen Schultern zu suchen. Dann nahm die Schattentür, inzwischen dunkler geworden, die Gruppe auf. Fafhrd war trotz seiner Angst von der Szene dermaßen gefesselt, daß er kaum auf die Worte achtete, die Afreyt leise, doch nüchtern äußerte, als sie vor ihn hintrat: »Hast du das gehört? Kalthafen ist die zweite Stadt auf der Reifinsel, allerdings weitaus kleiner, leichte Beute für ein einziges Mingolschiff, das die Einwohner dort überrascht. Es liegt an der Nordküste, eine Tagesreise entfernt, und ist bis auf die Sommerszeit, wie jetzt, vom Eis umschlossen. Du mußt ...« Er unterbrach sie und fragte: »Meinst du, die Mädchen sind bei ihm sicher?« Sie stockte und antwortete knapp: »Wie bei jedem Mann. Oder männlichen Gespenst. Oder Gott.« Als er das letzte Wort hörte, sah Fafhrd sie eindringlich an. Sie nickte und fuhr fort: »Sie werden ihn abspeisen und zu Bett bringen. Zweifellos wird er ihnen ein wenig an den Brüsten herumspielen und
dann einschlafen. Er ist ein alter Gott, von seiner Heimat weit entfernt, glaube ich, und ist schnell erschöpft, was vielleicht ein Segen ist. Jedenfalls dienen die Mädchen der Reifinsel wie ich und müssen gewisse Risiken eingehen.« Fafhrd dachte über ihre Worte nach, räusperte sich und sagte: »Verzeih, Lady Afreyt, aber die Bewohner der Reifinsel glauben gar nicht an Götter – dabei meine ich nicht nur Groniger, sondern viele andere, die ich kennengelernt habe, einige davon sogar Ratsmitglieder.« Sie runzelte die Stirn. »Das stimmt. Die alten Götter haben die Reifinsel vor vielen Jahren verlassen, und unsere Leute mußten sich in der grausamen Welt allein zurechtfinden – die in diesem Klima gnadenlos ist. Das hat zu einer Starrköpfigkeit geführt.« »Und doch«, sagte Fafhrd, dem etwas eingefallen war, »hält mein grauer Freund die Reifinsel für eine Art Grenzort, in dem man alle möglichen seltsamen Schiffe und Menschen und Götter aus fernen Orten antreffen könnte.« »Das ist ebenfalls richtig«, sagte sie. »Und vielleicht führt auch das zum Starrsinn: daß man, wo sich so viele Gespenster herumtreiben, nur das ernsthaft erwägt, das die Hand fest zu fassen vermag und das sich auf einer Waage bemessen läßt, Geld und Fisch. Das wäre immerhin ein Weg, der einem offensteht. Cif und ich aber sind einen anderen gegangen, auf dem sich Phantome herumtreiben, und wir haben es gelernt, die nützlichen und verläßlichen Götter von den Nichtsnutzen und Wirrköpfen zu trennen – was der Reifinsel nur zum Vorteil geraten kann. Denn diese beiden Götter, die wir gefunden haben ...«
»Zwei Götter?« fragte Fafhrd mit hochgezogenen Augenbrauen. »Cif hat auch einen gefunden? Oder steckt da noch einer im Dickicht?« »Es ist eine lange Geschichte«, sagte sie ungeduldig. »Viel zu lang, um sie jetzt zu erzählen, wenn unangenehme Dinge uns im Nacken sitzen. Wir müssen praktisch denken. Kalthafen ist in großer Gefahr, und ...« »Noch einmal bitte ich um Verzeihung, Lady Afreyt«, unterbrach sie Fafhrd, diesmal mit etwas lauterer Stimme. »Aber wo du von praktischen Erwägungen sprichst, fällt mir eine andere Angelegenheit ein, in der du und Cif mit den anderen Ratsleuten ganz und gar nicht einig zu sein scheint. Sie wissen von keiner Mingol-Invasion, behaupten sie, und erst recht nichts davon, daß du und Cif uns angeworben habt, um einen solchen Angriff zurückzuschlagen; und ihr habt uns auf den Zetteln gebeten, dieses Geheimnis zu wahren. Jetzt habe ich dir die zwölf Berserker gebracht, wie gewünscht ...« »Ich weiß, ich weiß«, sagte sie ungeduldig, »und das freut mich auch. Aber dafür seid ihr bezahlt worden und werdet weiteren Sold erhalten, Gold der Reifinsel, so wie ihr euren Dienst tut. Was den Rat angeht, so hat der Zauber Khahkhts das Mißtrauen der anderen eingeschläfert – ich bezweifle nicht, daß der heutige Fischreichtum sein Werk ist, als Versuchung für ihre Habgier.« »Mein Gefährte und ich haben ebenfalls unter seiner Magie gelitten, das kann man wohl sagen«, stellte Fafhrd fest. »Aber du hast mir im Silbernen Aal von Lankhmar gesagt, du sprächst mit der Autorität der Reifinsel, und jetzt sieht es so aus, als sprächst du nur
für Cif und für dich selbst in einem Rat von – wie vielen? Zwölf?« »Hast du etwa erwartet, daß die Sache ganz problemlos sein würde?« begehrte sie auf. »Hast du auf deinen Abenteuerzügen noch nie Rückschläge oder widrige Stürme hinnehmen müssen? Außerdem sprechen wir mit der Autorität der Reifinsel, denn Cif und ich sind die einzigen Ratsmitglieder, denen es um die alte Pracht der Reifinsel geht – und wir sind Vollmitglieder, das darf ich dir versichern, einzige Töchter, die Haus, Hof und Ratsmitgliedschaft geerbt haben, nachdem – in Cifs Fall – Söhne gestorben sind. Wir spielten schon als Kinder zusammen in diesen Bergen, sie und ich, und ließen die Größe der Reifinsel in unseren Spielen wiederauferstehen. Manchmal waren wir auch Piratenköniginnen und unterwarfen die Insel. Doch am häufigsten stellten wir uns vor, wie wir im Rat die Macht übernahmen und all die anderen Mitglieder gewaltsam hinausdrängten ...« »Soviel Gewalt in kleinen Mädchen?« Fafhrd konnte nicht anders, er mußte diese Bemerkung machen. »Wenn ich mir junge Mädchen vorstelle, sehe ich sie Blumen pflücken oder Girlanden winden, während sie sich ein Leben als Ehefrauen und Mütter vorstellen ...« »... und sie alle ins Schwert laufen ließen und ihren Frauen die Kehle durchschnitten!« beendete Afreyt ihren Ausruf. »Oh, manchmal haben wir auch Blumen gepflückt.« Fafhrd lachte leise vor sich hin, dann wurde seine Stimme wieder ernst. »Ihr habt also die volle Mitgliedschaft im Rat geerbt – Groniger spricht stets respektvoll von euch, wenn ich auch annehme, daß er
etwas zwischen uns vermutet –, und jetzt habt ihr zwei verirrte alte Götter gefunden, von denen ihr annehmt, daß sie euch nicht verraten, und die euch mit senilem Gerede blenden, und einer der beiden hat von einer großen Mingol-Invasion aus zwei Richtungen erzählt, als Auftakt der Welteroberung, und allein deswegen fuhrt ihr nach Lankhmar und warbt den Mausling und mich als Söldnerkapitäne an, vermutlich habt ihr dabei eigenes Vermögen eingesetzt ...« »Cif ist Schatzmeisterin des Rates«, versicherte sie ihm mit einem vielsagenden Kräuseln der Lippen. »Sie versteht mit Zahlen und Abrechnungen umzugehen ... wie ich mit Schreibstift und Worten, als Sekretär des Rates.« »Und doch vertraut ihr diesem Gott«, beharrte Fafhrd; »diesem alten Gott, der Galgen liebt und ihnen auf irgendeine Weise Kraft abgewinnen kann. Ich persönlich bin bei alten Männern und Göttern sehr vorsichtig. Nach meiner Erfahrung stecken sie voller Lüsternheit und Gier – und können bei ihren üblen Machenschaften auf eine langjährige Lebenserfahrung des Bösen zurückgreifen.« »Das ist wohl richtig«, meinte Afreyt. »Doch in letzter Konsequenz bleibt es dabei, daß ein Gott ein Gott ist. Welche unangenehmen Neigungen sein altes Herz auch bewegen mögen, welche üble Gedanken an Tod und Verdammnis ihn auch beschäftigen, in erster Linie muß er seiner Gottesnatur treu bleiben, die darin besteht, sich anzuhören, was wir sagen, und uns darauf festzulegen, dann dem Menschen die Wahrheit darüber zu sagen, was sich an fernen Orten tut, und ehrliche Prophezeiungen zu äußern – wenn
er auch versuchen mag, uns mit Worten hereinzulegen, wenn wir nicht genau hinhören.« »Das paßt genau zu meinen Erfahrungen mit dieser Sorte«, räumte Fafhrd ein. »Sag mir eins, warum heißt diese Erhebung der Hügel des Achtbeinigen Pferdes?« Afreyt nahm den Themenwechsel ohne Lidschlag hin und erwiderte: »Weil vier Mann erforderlich sind, um einen Sarg oder den aufgebahrten Körper eines Gehängten abzutransportieren – oder eines aus anderen Gründen Gestorbenen. Vier Mann – acht Beine. Darauf hättest du selbst kommen können.« »Und wie heißt dieser Gott?« »Odin«, antwortete Afreyt. Der einfache Name hallte durch Fafhrds Kopf wie ein Gongschlag und löste die seltsamsten Gefühle aus – als wäre er im Begriff, sich Erinnerungen an ein anderes Leben zu erschließen. Außerdem lag darin etwas von dem Unsinn, den Karl Treuherz geplappert hatte, jener absonderliche Fremdweltler, der, im Nakken einer zweiköpfigen Seeschlange sitzend, kurz in das Leben Fafhrds und des Mauslings getreten war, während sie gerade den großen Abenteuerkrieg mit den intelligenten Ratten des Unterirdischen Lankhmar durchstanden. Nur ein Name – doch schon hatte er vage das Gefühl sich verwischender Grenzen zwischen Welten. Gleichzeitig schaute er in Afreyts weite Augen und bemerkte, daß die Iris violett war und nicht blau, wie sie ihm im gelben Fackelschein des Aals vorgekommen war – und dann fragte er sich, wie er überhaupt diese Farbe wahrnehmen konnte, wenn das Violett vor einiger Zeit bereits am Himmel verblichen war,
der sich jetzt nachtschwarz wölbte, nur daß der Mond, der gestern voll gewesen war, gerade über dem östlichen Hochland aufging. Hinter Afreyt rief eine helle Stimme leise, der Nacht angepaßt: »Der Gott schläft.« Eines der Mädchen stand am Eingang der Ginsterlaube, eine schmale weiße Silhouette im Mondschein, gehüllt in ein einfaches Gewand, kaum mehr als ein dünnes Kleid, das eine Schulter unbedeckt ließ. Fafhrd staunte, daß das Wesen in der kühlen Nachtluft nicht zitterte. Ihre beiden Gefährtinnen waren hinter ihr als noch vagere Umrisse erkennbar. »Hat er euch Ärger gemacht, Mara?« rief Afreyt. (Auch dieser Name gab Fafhrd ein seltsames Gefühl ein.) »Nichts Neues«, antwortete das Mädchen. »Nun«, sagte Afreyt, »dann zieht Stiefel und Kapuzenmäntel an, May und Gale, ihr auch – und folgt mir und dem ausländischen Herrn außer Hörweite nach Salzhaven. Du wirst den Gott beim Morgengrauen besuchen können, May, um ihm Milch zu bringen?« »Ja.« »Deine Kinder?« fragte Fafhrd flüsternd. Afreyt schüttelte den Kopf. »Kusinen. – Unterdessen«, setzte sie mit einer Stimme hinzu, die ebenfalls leise klang, doch sachlich, »werden wir beide eure bevorstehende Expedition mit den Berserkern nach Kalthafen besprechen.« Fafhrd nickte, wenn er auch ein wenig die Augenbrauen hob. In der Luft über den beiden gab es eine kaum merkliche Bewegung, und er dachte automatisch an seine und des Mauslings Ex-Geliebte, die unsichtbaren Bergprinzessinnen Hirriwi und Keyaira
und an ihren durch die Nacht jagenden Bruder, Prinz Faroomfar. Der Graue Mausling wartete, bis seine Männer versorgt waren und sich in ihren Schlafsälen zur Ruhe begeben hatten, nicht ohne sie väterlich zu ermahnen, über die Vorteile eines anständigen Benehmens im Heimathafen des Geldgebers nachzudenken. Kurz sprach er mit Ourph und Pshawri die Arbeit des nächsten Tages durch. Mit einem letzten rätselhaften Stirnrunzeln sah er sich dann um, warf sich den Mantel über die linke Schulter, verschwand in der kalten Nacht und schlenderte auf den Salzhering zu. Obwohl er und Fafhrd an Bord der Treibgut lange und erfrischend geschlafen hatten (auf das von Groniger angebotene Landquartier waren sie nur für ihre Männer eingegangen), war es ein langer, übermäßig ausgefüllter und also wohl auch anstrengender Tag gewesen – nicht ohne Überraschung stellte der Mausling aber fest, daß sich neue Kräfte in ihm regten. Die neue Munterkeit kreiste aber nicht um die zahlreichen Probleme, die ihn und Fafhrd beschäftigten, ebensowenig um die weisen Pläne, die künftige Notlagen verhindern sollten, sondern entsprang eher einem Gefühl der Lächerlichkeit, daß er in den letzten drei Monden feierlich den Kapitän über Männer gespielt hatte, verschrien als feuerspeiender Disziplinsfanatiker und alleskönnerischer Navigator, ganz zu schweigen von den anderen heldischen Eigenschaften. Er, ein Dieb, als Kapitän über Diebe, ihnen seemännisches und kriegerisches Können eintrichternd, das ihnen in ihrem angestammten Beruf
nicht im mindesten nützen konnte – lächerlich! Und das alles, weil eine kleine Frau mit golddurchwirktem Haar und goldenen Flecken in den grünen Augen ihm eine unerhörte Aufgabe gestellt hatte. Wirklich, absolut komisch! Das beinahe waagerecht auftreffende Mondlicht deckte die schmale Straße mit Schatten ein, enthüllte aber die quergesetzten Balken über der Tür des Salzherings. Woher hatte man auf dieser weit im Norden gelegenen Insel soviel Holz? Auf diese Frage fand er drinnen eine Antwort. Die Taverne war aus den grauen Streben und Planken zerschmetterter oder abgewrackter Schiffe gebaut worden – eine Wand hatte noch die Krümmung einer Bootshülle, und an einer anderen Fläche bemerkte er tief eingedrückte Muscheln und Schalen von Meerestieren. Ein kurzer Blick in den Schänkenraum offenbarte ein halbes Dutzend Seeleute der verschiedensten Herkunft; sie tranken still vor sich hin, während zwei jüngere Inselbewohner sich noch schweigsamer gegenübersaßen und mit massiven Steinen Schach spielten. Der Mausling erkannte, daß er den Mann, der Schwarz spielte, an diesem Morgen in Gronigers Gesellschaft gesehen hatte. Wortlos marschierte er auf den inneren Raum zu, in dessen niedriger Tür eine kräftig gebaute, warzenübersäte Greisin gebeugt auf einem niedrigen Schemel hockte. Sie sah aus wie die Hexenmutter aller unnatürlichen Riesen und anderen Monster. Der ilthmarische Wirt trat neben ihn und wischte sich dabei die Hände an dem Handtuch, das zugleich seine Schürze darstellte. »Die Flammenhöhle ist heute abend besetzt«, sagte er. »Geschlossene Gesellschaft.
Du würdest dir bei Mutter Grum nur Ärger einhandeln. Was möchtest du?« Der Mausling musterte ihn wortlos und ging weiter. Mutter Grum starrte ihn unter wirren Brauen mürrisch an. Er erwiderte den Blick. Der Ilthmar zuckte die Achseln. Mutter Grum trat hinter ihren Schemel und ließ den Mausling mit einer Art Verbeugung in den inneren Raum treten. Er wandte kurz den Kopf, bedachte den Ilthmar mit einem kühlen, überlegenen Lächeln und folgte der geduckten Gestalt. Einer der Inselbewohner, der eben einen schwarzen Turm versetzte, ließ die Augen beobachtend zur Seite rollen, obwohl der Kopf nach vorn gerichtet und über das Brett geneigt blieb, als sei er tief in Gedanken versunken. Im inneren Raum brannte ein kleines Feuer, das zumindest dem Auge ein wenig Bewegung versprach. Die Feuerstelle befand sich mitten im Raum, eine beinahe hüfthohe Anlage aus Stein. Eine große Kupferschärpe (der Mausling fragte sich, welchen Schiffsrumpf das Metall einst gedeckt hatte) senkte sich von der niedrigen Decke bis auf einen Meter über das Feuer und verschlang den dünnen Rauch, der sich emporringelte. Im Raum verteilt standen einige kleine zerkratzte Tische, daran Stühle. Weiter hinten gab es einen Durchgang. An der Seite saßen nebeneinander zwei Frauen am Feuer. Sie wirkten ganz nett, aber irgendwie verbraucht. Auch hier hatte der Mausling schon eine gesehen (am späten Nachmittag) und hielt sie für eine Hure. Die doch recht grelle Aufmachung der einen und die roten Strümpfe der anderen schienen diese Theorie zu bestätigen.
Der Mausling begab sich an einen Tisch, der eine Ecke des Feuers von den beiden entfernt war, warf seinen Umhang über einen Stuhl und setzte sich auf einen anderen, von dem aus er beide Türen im Auge behalten konnte. Er verschränkte die Finger und starrte reglos in die Flammen. Mutter Grum kehrte auf ihren Schemel an der Tür zurück und wandte den dreien den Rücken zu. Eine der beiden verlebt aussehenden Frauen starrte ins Feuer und legte von Zeit zu Zeit Treibholz nach, das zu singen begann und die Flammen gelegentlich grün und blau verfärbte, außerdem dornige schwarze Zweige, die zischten und knisterten und in heißem Orangerot verbrannten. Die andere wob Fadenmuster zwischen gestreckten Fingern. Ab und zu richtete der Mausling den Blick vom Feuer zur Seite auf ihre strengen, eckigen Schöpfungen. Die beiden beachteten den Mausling nicht weiter, doch nach einer Weile stand das Mädchen auf, das sich um das Feuer kümmerte, brachte einen Weinkrug und zwei kleine Krüge an seinen Tisch, füllte einen und betrachtete ihn. Er ergriff den Becher, probierte einen kleinen Schluck, setzte das Gefäß ab und nickte knapp, ohne sie anzusehen. Sie kehrte zu ihrer früheren Beschäftigung zurück. Danach trank der Mausling gelegentlich von seinem Wein, während er in die Flammen starrte und ihrem Knistern lauschte. Mit ihrer besonderen Mischung von Zischen und Singen waren sie in dem kleinen, stillen Raum ziemlich gegenwärtig; sie glichen einer eifrigen, schnell sprechenden jugendlichen Stimme, die abwechselnd fröhlich und boshaft klang. Der
Mausling hätte schwören können, daß er zuweilen Worte und Satzteile hörte. Und dann begann er in den Flammen, immer wieder von neuem geformt, Gesichter zu sehen – oder eher ein Gesicht, das sich im Ausdruck sehr rasch veränderte, ein jugendlich hübsches Gesicht mit sehr beweglichen Lippen, die manchmal freundlich geöffnet waren, dann aber wieder von Haß und Neid verzerrt (die Flammen schimmerten eine Zeitlang grünlich), manchmal beinahe unmöglich verzogen wie bei einem Gesicht, das man durch die wabernde Luft über einem sehr heißen Feuer betrachtet. Ja, das eine oder andere Mal bildete er sich ein, er sehe das Gesicht einer greifbaren Person, die auf der anderen Seite der Feuerstelle ihm gegenüber saß, sich manchmal halb aufrichtend, um ihn durch die Flammen zu betrachten, manchmal zusammengesunken. Er war beinahe in Versuchung aufzustehen und um das Feuer herumzugehen, um die Wahrnehmung zu überprüfen, aber dann war der Impuls doch wieder nicht stark genug. Am meisten aber verwunderte den Mausling, daß das Gesicht ihm vertraut vorkam, obwohl er es nicht unterbringen konnte. Er gab es auf, sich deswegen das Gehirn zu zermartern, lehnte sich zurück, lauschte aufmerksamer auf die Flammenstimme und versuchte die eingebildeten Worte auf die Lippenbewegungen des Flammengesichts abzustellen. Wieder stand Mutter Grum auf und trat mit einer Verneigung zurück. Ohne sich zu bücken trat eine Dame ein, die sich den rötlichen Mantel vor die untere Hälfte des Gesichts gezogen hatte. Trotzdem erkannte der Mausling sofort die goldfleckigen grünen
Augen und stand auf. Cif nickte Mutter Grum und den beiden leichten Mädchen zu, näherte sich dem Tisch des Mauslings, warf ihren Mantel auf den seinen und setzte sich auf den dritten Stuhl. Er schenkte ihr Wein ein, füllte seinen Becher wieder bis zum Rand und setzte sich ebenfalls. Die beiden tranken. Sie betrachtete ihn eine Zeitlang schweigend. Dann fragte sie: »Du hast das Gesicht im Feuer gesehen und seine Stimme gehört?« Der Mausling riß die Augen auf und nickte. Gespannt war sein Blick auf ihr Gesicht gerichtet. »Aber ist dir klargeworden, warum es dir bekannt vorkommt?« Hastig schüttelte er den Kopf und beugte sich vor, und sein Gesicht zeigte einen sehr neugierigen und erwartungsvollen Ausdruck. »Es ähnelt dir«, sagte sie leise. Die Augenbrauen des Mauslings schossen hoch, und er öffnete ein wenig den Mund vor Erstaunen. Sie hatte recht! Das Gesicht erinnerte ihn an sich selbst – nur wie er vor Jahren, vielen Jahren ausgesehen hatte. Oder wie er sich heute im Spiegel sah, wenn er in höchst selbstbewußter oder eitler Stimmung war und die Spuren des Alters zu übersehen vermochte. »Aber kennst du auch den Grund?« fragte sie ihn, nun ebenfalls mit einer gewissen Spannung. Er schüttelte den Kopf. Sie entspannte sich. »Ich auch nicht«, antwortete sie. »Ich dachte nur, du wüßtest es vielleicht. Es fiel mir auf, als ich dich zum erstenmal in Aal erblickte, aber was den Grund angeht – das ist ein Rätsel im Rätsel und entzieht sich unserem Wissen.«
»Ich finde, die Reifinsel ist ein ganzes Nest von Rätseln«, sagte er nachdrücklich. »Und nicht das geringste davon ist deine Leugnung von mir und Fafhrd.« Sie nickte, richtete sich auf und sagte: »Es dürfte an der Zeit sein, dir zu sagen, warum Afreyt und ich von einem Mingol-Angriff auf die Reifinsel dermaßen überzeugt sind, während die übrigen Ratsmitglieder nicht daran glauben. Meinst du nicht auch?« Er nickte nachdrücklich und lächelte. »Beinahe genau vor einem Jahr«, begann sie, »wanderten Afreyt und ich allein durch das Moor nördlich der Stadt, wie wir es seit unserer Kindheit immer wieder getan hatten. Wir trauerten der verlorenen Macht der Reifinsel nach wie auch den verlorenen (oder von Menschen vertriebenen) Göttern und ersehnten ihre Rückkehr, damit die Insel unter festerer Führung stehe und besser vor kommenden Gefahren geschützt sei. Es war ein Tag wechselhaften Wetters mit böigen Winden, gegen Ende des Frühlings, da der Sommer sich noch nicht eingerichtet hatte, die Luft war bewegt, mal hell, mal dunstig-düster, wenn Wolken vor der Sonne dahinflogen. Eben hatten wir eine sanfte Anhöhe überschritten, als wir im Heidekraut einen Jüngling auf dem Rücken liegen sahen. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf zurückgeneigt und schien zu sterben oder am Rande der totalen Erschöpfung zu sein, so als wäre er von der letzten großen Woge eines unvorstellbaren Sturms auf dieses hohe Land geschleudert worden. Er trug eine einfache Tunika aus grob gewebtem, zerschlissenem Material, dazu einfachste Sandalen, die sehr abgetragen waren und von zerfransten
Schnüren festgehalten wurden, und einen sehr alten Gürtel, auf dem einige undeutlich sichtbare Ungeheuer eingestickt waren, doch sofort war ich so gut wie sicher, daß er ein Gott war. Dazu trugen drei Dinge bei. Seine relative Substanzlosigkeit konnte keine andere Erklärung haben; er ließ sich zwar berühren, doch vermochte ich durch sein bleiches Fleisch beinahe das zerdrückte Heidekraut zu sehen. Dann seine übernatürliche Schönheit – sie war ... das Flammengesicht, wenn auch in Ruhestellung, beinahe wie tot. Und dann die Bewunderung, die in meinem Herzen erblühte. Afreyts Verhalten war ein weiteres Indiz; sie kniete sofort nieder wie ich, auf der anderen Seite von ihm, auch wenn ihr Verhalten irgendwie unnatürlich war, Symbol für eine erstaunliche Entwicklung, die wir erst später richtig begriffen. (Mehr davon sollst du gleich erfahren.) Du weißt doch, daß es heißt, ein Gott stirbt, wenn seine Anhänger ihn im Stich lassen. Nun, es kam mir vor, als läge der letzte Anbeter dieses Gottes in Nehwon im Sterben. Oder – und das kommt meinem Empfinden noch näher – als wären in seiner Heimatwelt all seine Gläubigen gestorben, und er sei in die freien Räume zwischen den Welten hinausgewirbelt worden, um dort unterzugehen oder an Macht zu verlieren, um zu überleben oder zu vergehen, je nachdem, wie er in der unbekannten, vom Zufall für ihn ausgesuchten Welt aufgenommen wurde. Ich glaube, es liegt in der Macht der Götter, zwischen den Welten zu reisen, meinst du nicht auch? Unfreiwillig wie auch auf eigenen Entschluß. Und wer kann wissen, auf welch unberechenbare Stürme sie auf düster-
ster Reise stoßen können? Aber an jenem Tag der Wunder vor einem Jahr verschwendete ich keine Zeit auf müßige Spekulationen. Nein, ich rieb ihm Handgelenke und Brust, drückte meine warme Wange gegen seine kalte, öffnete seine Lippen mit meiner Zunge (sein Kiefer war schlaff), drückte meine offenen Lippen über die seinen (und klemmte ihm mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu) und schickte meinen frischen, eben gezogenen Atem tief in seine Lungen, während ich innerlich inbrünstig zu ihm betete, wenn ich auch wußte, daß die Götter angeblich nur unsere Worte hören und keine Gedanken. Ein Fremder, der uns zufällig über den Weg gelaufen wäre, hätte glauben können, wir wären bei einer Wiederholung des Liebesakts, wobei ich mich heftiger als er darum bemühte, die Leidenschaften neu zu wecken. Unterdessen (und da haben wir wieder jenes unnatürliche Etwas, von dem ich sprach) schien Afreyt auf der anderen Seite ebenso beschäftigt zu sein wie ich; und doch tat ich irgendwie die Arbeit allein. Die Erklärung wurde mir erst später bewußt. Mein Gott gab ein Lebenszeichen von sich. Seine Lider bebten. Ich spürte, wie sich seine Brust bewegte, während seine Lippen meine Küsse zu erwidern begannen. Ich öffnete mein Silberfläschchen, tröpfelte ihm Branntwein zwischen die Lippen und fügte gelegentlich auch weitere Küsse ein und tröstende, liebevolle, aufmunternde Worte. Endlich öffnete er die Augen (braun und mit goldenen Lichtpunkten, wie die deinen) und hob mit meiner Hilfe den Kopf, während er Worte in einer
fremden Sprache vor sich hin murmelte. Ich antwortete in allen Sprachen, die ich kannte, doch er runzelte nur die Stirn und schüttelte den Kopf. So wußte ich, daß er kein nehwon'scher Gott war – es wäre doch nur logisch, meinst du nicht auch, daß ein Gott, der in seiner Heimatwelt allwissend ist, sich zuerst verloren vorkommen muß, nachdem er in eine andere Umgebung geschleudert worden ist. Er müßte sich doch wirklich erst mit ihr vertraut machen. Endlich lächelte er, hob die Hand an meinen Busen und blickte mich fragend an. Ich sagte ihm meinen Namen. Er nickte, schürzte die Lippen und wiederholte ihn. Dann berührte er sich an der Brust und sagte: ›Loki‹.« Beim Klang dieses Namens erlebte der Mausling Gefühle und Gedanken ähnlich denen, die Fafhrd beim Klang des Wortes ›Odin‹ bewegt hatten; er dachte an andere Lebensstränge und Welten und an Karl Treuherz' Sprache und sein kleines Wörterbuch Lankhmarisch-Deutsch, Deutsch-Lankhmarisch, das er Fafhrd geschenkt hatte. Im gleichen Augenblick, allerdings nur diesen Lidschlag lang, sah er das Feuergesicht, das sich wie sein Ebenbild in den Flammen bewegte und ihn anzublinzeln schien. Staunend runzelte er die Stirn. Cif setzte ihren Bericht fort: »Danach gab ich ihm ein paar Stückchen Fleisch aus meinem Beutel, die er mir aus den Fingern aß, aber nur mäßig, und noch mehr Branntwein. Dabei lehrte ich ihn Worte, indem ich auf dieses und jenes deutete. An jenem Tag stand dicker Rauch über Dunkelfeuer, und es loderten Flammen, die ihn sehr interessierten, als ich ihm den Namen des Vulkans genannt hatte. Ich zog Feuerstein
und Eisen aus meinem Beutel, schlug beide zusammen und nannte dies ›Feuer‹. Er war entzückt, denn die Funken und das qualmende Stroh schienen ihm Kraft zu verleihen wie schon das Wort. Er streichelte die kleinen Flammen, ohne sichtlich Schaden zu nehmen. Das machte mir angst. So verging der Tag – ich war ganz in meinem Gott aufgegangen und nahm von nichts mehr Notiz außer dem, was er aus der Laune jedes Augenblicks heraus tat und sagte. Er war ein ungemein talentierter Schüler. Ich benannte ihm Gegenstände in unserer Reifsprache wie auch im Niederen Lankhmarisch, das ihm sicher nützlich sein würde, wenn er später seinen Blick auf Länder jenseits der Insel richtete. Der Abend zog herauf, und ich half dem Gott auf die Füße. Das schwache Licht, das über ihn dahinstrich, schien sein bleiches Fleisch ein wenig aufzulösen. Ich bedeutete ihm, daß wir in Richtung Salzhaven gehen wollten. Freudig ging er darauf ein (ich glaube, der aufsteigende Abendrauch lockte ihn an, die Feuerstellen bildeten eine unwiderstehliche Anziehung für ihn), und wir machten uns auf den Weg, wobei er sich leicht auf mich stützte. Und jetzt löste sich das Rätsel um Afreyt. Sie wollte uns auf keinen Fall begleiten! Im nächsten Moment entdeckte ich die allerdings nur sehr schwach sichtbare Gestalt, um die sie sich den ganzen Tag in ähnlicher Weise gekümmert hatte, wie ich mich um Loki – ein zerbrechlich wirkender alter Mann (oder eher Gott), bärtig und einäugig, der zuerst dicht neben Loki gelegen hatte, und mein Auge vermochte nur den einen Gott zu sehen, und sie nur den anderen!«
»Ein äußerst bemerkenswerter Umstand«, bemerkte der Mausling. »Vielleicht hat hier Gleiches zu Gleichem gefunden und sich damit selbst offenbart. Sag mir eins, hat der andere Gott vielleicht Fafhrd geähnelt? Außer daß er einäugig war, meine ich?« Sie nickte eifrig. »Ein älterer Fafhrd, als handele es sich um seinen Vater. Afreyt bemerkte es sofort. Oh, du weißt gewißlich mehr über dieses Rätsel?« Der Mausling schüttelte den Kopf. »Ich stelle nur Mutmaßungen an. Wie hieß er?« fragte er. »Ich meine den älteren Gott.« Sie gab ihm Antwort. »Nun, und was geschah dann?« »Wir trennten uns. Ich führte den Gott Loki nach Salzhaven, und er stützte sich auf meinen Arm. Er war noch immer ziemlich schwach. Anscheinend genügt ein einsamer Gläubiger kaum, einen Gott am Leben und sichtbar zu halten, so aktiv sein Verstand sein mag – denn inzwischen wies er mich auf verschiedene Dinge hin (und umriß Vorgänge und Zustände) und benannte sie in Reifisch, Niederem Lankhmarisch wie nun auch in der Hochsprache, noch ehe ich darauf zu sprechen kommen konnte – ein sicheres Zeichen für seinen Gottesintellekt. Gleichzeitig gab er mir trotz seiner Schwäche zu erkennen, daß sein Interesse an mir wuchs (ich meine, an meiner Person), und schnell zerstreuten sich meine Zweifel darüber, wie ich ihn unterhalten sollte, sobald wir zu Hause eintrafen. Nun, es beglückte mich, womöglich einen neuen Gott für die Reifinsel gefunden zu haben. Und ich mußte ihn verehren, schon um ihn am Leben zu erhalten. Aber was den Zugang zu meinem Bett anging, da verspürte ich eine gewisse
Zurückhaltung, egal wie gespenstisch-substanzlos sein Fleisch bei intimster Berührung auch sein mochte (ganz abgesehen von der Frage, ob es so blieb)! Oh, vermutlich hätte ich nachgegeben, wenn es dazu gekommen wäre; aber einem Gott beizuliegen hat doch etwas Bedenkliches. Gewiß, es ist eine große Ehre, aber (um nur ein Problem zu erwähnen) man konnte gewiß keine Treue erwarten (wenn man das wollte) von dem launischen, fröhlichen und boshaftlausbübischen Gott, als der Loki sich bald erwies! Außerdem wollte ich die Vorhersagen und Warnungen für die Reifinsel, die ich von ihm zu erhalten hoffte, mit klarem Kopf abschätzen können – nicht schläfrig von unserem Liebesspiel und verträumt und gefangen in all den kleinen Hoffnungen und Befürchtungen, die mit einer Gefühlsverstrickung einhergehen. Wie es sich erwies, brauchte ich die Entscheidung nicht zu fällen. An dieser Taverne vorbeikommend, lockte ihn ein flackernder roter Schimmer. Er huschte hinein, ohne daß man auf ihn geachtet hätte (außer für mich war er ja unsichtbar). Ich folgte ihm (was mir etliche erstaunte Blicke eintrug, war ich doch eine angesehne Ratsfrau) in diesen inneren Raum, in den ihn der pulsierende Feuerschein lockte. Eine große laute Feier war im Gange, und die Feuerstelle loderte. Vor meinen Augen verschmolz er mit den Flammen und wurde eins mit ihnen. Die Feiernden zeigten sich ein wenig überrascht von meinem Erscheinen, doch nachdem ich mit einem Lächeln in die Runde geblickt hatte, drehte ich mich um und verließ den Raum, wobei ich kurz die Hand schwenkte und ›Viel Spaß!‹ rief. Diese Worte
galten auch Loki. Ich ahnte, daß er am Ziel seiner Wünsche war.« Und auch jetzt deutete Cif auf die tanzenden Flammen und wandte sich mit einem Lächeln wieder dem Mausling zu. Er erwiderte dieses Lächeln und schüttelte dabei staunend den Kopf. Sie fuhr fort: »Ich ging also zufrieden nach Hause, doch zuvor reservierte ich die Flammenhöhle (so wurde mir dieser Ort bezeichnet) für den kommenden Abend. Am nächsten Tag warb ich zwei Huren für den Abend an (damit Loki sein Vergnügen haben konnte) und Mutter Grum, die an der Tür stehen und uns unliebsame Gäste vom Hals halten sollte. Der Abend verlief erwartungsgemäß. Loki hatte sich tatsächlich auf Dauer in dem Feuer eingerichtet, und nach einer Weile vermochte ich mit ihm zu sprechen und Fragen auf Antworten zu erhalten, wenn auch zunächst nichts, das der Reifinsel hätte nützen können. Ich verabredete mit dem Ilthmar, daß die Flammenhöhle jede Woche einen Abend lang reserviert sein sollte, und einigte mich auf gleiche Weise mit Hilsa und Rill, die an diesen Abenden den Gott unterhalten und glücklich machen sollten. – Hilsa, ist der Gott heute schon bei dir gewesen?« rief sie der Frau mit den roten Strümpfen zu, die Holz in die Flammen legte. »Zweimal«, erwiderte sie sachlich mit heiserer Stimme. »Unsichtbar aus dem Feuer ist er geglitten und wieder hinein. Der ist zufrieden.« »Verzeih mir, Lady Cif«, warf der Mausling ein. »Aber wie finden diese Damen den engen Kontakt mit einem unsichtbaren Gott? Wie fühlt es sich an?
Ich würde das gern wissen.« Cif blickte zu den beiden am Feuer hinüber. »Es ist, als hätte man eine Maus unter dem Rock«, antwortete Hilsa, lachte kurz und wippte mit einem roten Bein. »Oder eine Kröte«, fügte ihre Gefährtin hinzu. »Obwohl er in den Flammen wohnt, ist sein Körper kalt.« Rill hatte ihre Fäden zur Seite gelegt und die Hände verschränkt, mit denen sie nun Schattengesichter an die Wand projizierte: riesige Werwölfe mit spitzen Ohren, große Seeschlangen, Drachen und langnasige Hexen mit vorspringender Kinnspitze. »Ihm gefallen solche schrulligen Gestalten«, bemerkte sie. Der Mausling nickte nachdenklich und beobachtete sie eine Zeitlang, dann starrte er wieder ins Feuer. Cif sprach weiter: »Nach kurzer Zeit, das spürte ich deutlich, begann sich der Gott in Nehwon einzugewöhnen, er paßte seinen Geist unserer Welt an, erstreckte ihn bis zu den entferntesten Grenzen, und seine Orakel wurden genauer. Unterdessen sorgte Afreyt, mit der ich mich täglich besprach, auf ähnliche Weise für den alten Odin, draußen im Moor (wobei sie ihn allerdings von Mädchen trösten und aufmuntern ließ, anstatt von erwachsenen Frauen, war er doch ein älterer Gott), und auch sie bekam bedeutsame Prophezeiungen zu hören. Es war Loki, der uns als erster warnte, daß die Mingols in Aktion träten, daß sie Schiffe ausrüsteten und Pferde und Krieger an Bord nahmen, die gegen die Reifinsel losschlagen sollten, getrieben von Khahkht, der einen gewaltigen Höhepunkt des Wahnsinns und der Zerstörung im Sinn hatte. Afreyt
befragte Odin unabhängig von mir, und er bestätigte diese Äußerung; die Geschichten der beiden stimmten in jedem Punkt überein. Als wir die beiden fragten, was wir tun sollten, rieten sie uns – wieder unabhängig voneinander –, wir sollten zwei bestimmte Helden in Lankhmar aufsuchen und veranlassen, daß sie ihre Horden zur Verteidigung der Insel einsetzten. Das kam sehr präzise, sie nannten uns Namen und Anschriften, sie sagten auch, ihr wärt Anhänger, von Loki und Odin, wenn sie auch nicht wüßten, ob euch das in diesem Leben bewußt wäre oder nicht, aber es verhielte sich so, und sie veränderten ihre Aussagen auch nicht, als wir mehrfach nachhakten. Sag mir eins, Grauer Mausling. Kennst du den Gott Loki nicht von früher? Sag mir die Wahrheit.« »Bei meinem Wort, ich kenne ihn nicht, Lady Cif«, gab er zurück, »und ich kann das Rätsel unserer Ähnlichkeit ebensowenig erklären wie du. Allerdings hat sein Name eine gewisse unheimliche Vertrautheit, ebenso der Name Odin, als hätte ich die beiden in Träumen oder Nachtmahren vernommen. Doch so sehr ich mir das Gehirn auch zermartere, das Bild wird nicht klarer.« »Nun«, setzte sie ihren Bericht nach einer Pause fort, »die beiden Götter drängten uns nachhaltig, euch aufzusuchen, und so schiffte ich mich mit Afreyt vor einem halben Jahr von Hlal nach Lankhmar ein – das weitere weißt du.« »Sag mir eins, Lady Cif«, sagte der Mausling und riß sich von dem Feuer los, »wie seid ihr, du und die großgewachsene Afreyt, auf die Reifinsel zurückgekehrt, nachdem der magische Schneesturm Khahkhts
euch aus dem Silbernen Aal entführte?« »Es geschah so schnell, wie unsere Hinreise lang gewesen war«, antwortete sie. »Eben noch waren wir in seinem kalten Griff gefangen, zerschlagen und geblendet von windtobendem Eis, die Ohren schmerzhaft angefüllt von seinem dröhnenden Lachen. Im nächsten Augenblick waren wir in der Obhut zweier weiblicher Flugwesen, die uns mit schwindelerregendem Tempo durch die Schwärze beförderten und in einer warmen Höhle absetzten, wo wir erst einmal zu Atem kommen konnten. Die beiden sagten, sie wären die Töchter eines Bergkönigs.« »Hirriwi und Keayira, da schlägt's doch dreizehn!« rief der Mausling. »Sie müssen auf unserer Seite stehen.« »Was sind das für Wesen?« fragte Cif. »Bergprinzessinnen, die Fafhrd und ich einmal gekannt haben. Unsichtbare Wesen wie unser verehrter Feuergott hier.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Flammen. »Ihr Vater herrscht auf dem gewaltigen Stardock.« »Ich habe von diesem Gipfel gehört, ebenso von dem gefürchteten Oomforafor, seinem König, von dem behauptet wird, er sei zusammen mit seinem Sohn Faroomfar mit Khahkht verbündet. Die Töchter gegen Vater und Brüder – das wäre nur natürlich. Nun, nachdem Afreyt und ich wieder klar denken konnten, begaben wir uns an den Eingang der Höhle und stellten fest, daß wir auf die Reifinsel und Salzhaven hinabblickten – von einem Punkt am mittleren Rand Dunkelfeuers. Nicht ohne Mühe kehrten wir über Felsgestein und Gletscher nach Hause zurück.« »Der Vulkan«, sagte der Mausling nachdenklich.
»Wieder Lokis Verbindung zum Feuer.« Seine Aufmerksamkeit galt erneut den hypnotischen Flammen. Cif nickte. »Odin und Loki unterrichteten uns laufend über die Annäherung der Mingols an die Reifinsel – wie auch über deine Bewegungen. Vor vier Tagen setzte Loki zu einer laufenden Schilderung deiner Zusammenstöße mit Khahkhts Frost-Monstreme an. Er gestaltete die Geschichte sehr lebhaft – manchmal hätte man schwören können, er persönlich lenke eines der beteiligten Schiffe. Es gelang mir, die Flammenhöhle in den folgenden Nächten zu reservieren (ich kann in den nächsten drei Tagen und Nächten darüber verfügen), und so konnten wir die Details der langen Flucht oder Verfolgung erfahren – die, um ehrlich zu sein, ein wenig langweilig anmuteten.« »Du hättest dabeisein sollen«, sagte der Mausling leise. »Loki vermittelte mir das Gefühl, unmittelbar beteiligt zu sein.« »Übrigens hätte ich angenommen«, sagte der Mausling, »daß du die Flammenhöhle jeden Abend mietest, wo doch immerhin dein Gott hier residiert.« »Ich bin nicht aus Gold«, informierte sie ihn gelassen. »Außerdem liebt Loki die Abwechslung. Die Streitereien, die andere vom Zaun brechen, amüsieren ihn – auch von ihnen ließ er sich hierher locken. Außerdem hätte das den Rat mir gegenüber noch mißtrauischer werden lassen.« Der Mausling nickte. »Ich hatte das Gefühl, dort draußen einen Mann Schach spielen zu sehen, der zu Gronigers Freunden gehört.« »Psst«, sagte sie. »Ich muß mich jetzt mit dem Gott beraten.« Gegen Ende ihres Berichts war ihre Stimme
ein wenig höher und melodischer geworden. Dies steigerte sich noch mehr, als sie übergangslos rief: »Und jetzt, Loki, Gott, erzähl uns von den Feinden jenseits der Meere und in den Reichen des Eises. Berichte uns Neues über den grausamen kalten Khahkht, über Edumir von den Gegenlauf-Mingols und Gonov, von den Sonnenlauf-Mingols. Hilsa und Rill, singt für den Gott.« Und ihre Stimme ging in einen wortlosen Gesang über, in den die anderen Frauen einfielen: Hilsas heisere Stimme, Rills schrilleres Organ und ein leises Knurren, in dem der Mausling nach einiger Zeit den Beitrag Mutter Grums erkannte – sie alle dem Feuer und seiner Flammenstimme zugewandt. Der Mausling verlor sich in diesem seltsamen Gemisch von Tönen. Urplötzlich, wie durch TraumMagie, wurde die Stimme klar verständlich. In leisem Lankhmarisch begann sie zu sprechen, dazwischen gelegentlich Worte, die ihm so gespenstisch bekannt vorkamen wie der Name des Gottes. »Sturm zieht über Reifland auf, Die Tücke der Natur nimmt ihren Lauf. Monster erwachen, alptraumvoll, Niss und Nicor, Drow und Troll.« Die letzten vier Worte waren dem Mausling unbekannt, besonders der Glockenklang von ›Troll‹. »Gib Alarm, die Trommeln rühr, Bald stehn die Mingols vor der Tür. Im Sonnenlauf ziehn sie vom Osten herbei, Mit Schiffen voll Pferden und Monstergeschrei.
Sie alle täuscht man raffiniert, Wenn man ins Wirbelmeer sie führt, In des Kreisels saugenden Groll. Verlaßt euch drauf, mißtraut dem Troll. Die Mingols werden des Todes sein Und stürzen in die Hölle hinein, Wo freies Atmen sich ihnen versagt Und wo der Todeskampf sie plagt. Endlose Qual und endlose Pein, Ewig soll ihre Todesnot sein. Der Mingol-Wahn sonst endlos brennt, Und niemals Frieden ihr mehr kennt.« Und die Flammenstimme endete in einer Folge explosionsartiger Knacklaute, die die traumartige Gebanntheit des Mauslings beendete und ihn auffahren ließ, plötzlich hellwach. Er starrte auf das Feuer, ging einmal schnell darum herum, blickte von der anderen Seite eingehend darauf und musterte dann aufmerksam den ganzen Raum. Nichts! Ernst starrte er Hilsa und Rill an. Sie erwiderten ausdruckslos seinen Blick und sagten im Chor: »Der Gott hat gesprochen«, doch das Gefühl einer Wesenheit war aus dem Feuer wie auch aus dem Raum gewichen und hinterließ nicht einmal ein schwarzes Loch, durch das das Wesen sich hätte zurückziehen können – es sei denn, der Gott wäre in ihn gefahren, wie dem Mausling plötzlich einfiel: das wäre eine Erklärung für die unruhige Energie und die flammenden Gedanken, die ihn im Augenblick beherrschten, während sich die Litanei über die Gefährlichkeit der heranrückenden Mingols in seinem Kopf endlos wiederholte. »Ist so etwas möglich?« fragte er sich und antwor-
tete auch sofort mit einem klaren »Ja!« Er kehrte zu Cif zurück, die ebenfalls aufgestanden war. »Wir haben drei Tage Zeit«, sagte sie. »Sieht so aus«, erwiderte er und fügte hinzu: »Weißt du etwas von Trollen? Was sind das für Wesen?« »Das wollte ich dich auch schon fragen«, erwiderte sie. »Das Wort ist mir so unbekannt wie anscheinend auch dir.« »Also Wasserwirbel«, sagte er vor sich hin, und seine Gedanken überschlugen sich. »Gibt es so etwas in der Nähe der Insel? Seemannsgeschichten über solche Erscheinungen ...?« »O ja, der Große Mahlstrom vor der felsigen Ostküste der Insel mit den gefährlich schnellen Strömungen und komplizierten Gezeiten, der Große Mahlstrom, aus dem die Insel ihr Holz bezieht, das am Strand der Bleichen Knochen angeschwemmt wird. Jeden Tag sind dort neue Funde zu machen. Unsere Seeleute kennen das und nehmen sich in acht wie vor keiner anderen Gefahr.« »Gut! Ich muß in See stechen und mich dort umsehen. Ich muß mich mit jeder Tücke dieser Erscheinung vertraut machen. Dafür brauche ich ein kleines Segelboot, denn die Treibgut wird noch repariert – wir haben wenig Zeit. Aye, und ich brauche auch mehr Geld – Silber für meine Männer für ihren Aufenthalt.« »Weshalb in See stechen?« fragte sie mit stockendem Atem. »Weshalb mußt du dich in Gefahr begeben?« Doch in ihren aufgerissenen Augen glaubte er bereits die Antwort dämmern zu sehen. »Nun, um deine Feinde zu vernichten«, antwortete er. »Hast du Lokis Prophezeiung nicht vernommen?
Wir lassen sie Wirklichkeit werden. Wir ersäufen zumindest einen Teil der Mingols, ehe sie überhaupt Fuß auf Reifland setzen können! Und wenn Fafhrd und Afreyt mit Odins Hilfe die Gegenlauf-Mingols auch nur halb so energisch stören können, ist unsere Aufgabe schon erfüllt!« In ihren Augen blitzte es nun ebenso triumphierend wie in den seinen. Der abnehmende Mond stand hoch im Südwesten, und die hellen Sterne schienen noch, doch im Osten begann sich der Himmel bereits zum Morgen zu verfärben, als Fafhrd seine zwölf Berserker in nördlicher Richtung aus Salzhaven fortführte. Jeder hatte sich gegen das Eis warm eingekleidet und trug Langbogen, Köcher, zusätzliche Pfeile, am Gürtel eine Axt und einen Beutel mit Proviant. Skor bildete die Nachhut und sorgte aufmerksam dafür, daß Fafhrds Verlangen nach absolutem Schweigen befolgt wurde, während sie durch die Stadt schlichen, damit dieser Bruch der Hafenvorschriften unbemerkt blieb. Und tatsächlich – erstaunlicherweise hatte niemand sie zum Halten aufgefordert. Vielleicht schliefen die Bewohner der Reifinsel besonders tief, weil sie bis spät in die Nacht aufgeblieben waren, um den gewaltigen Fang einzusalzen. Die letzten Boote waren erst nach Sonnenuntergang in den Hafen zurückgekehrt. Bei den Berserkern befanden sich die Mädchen May und Mara in weichen Stiefeln und Kapuzenmänteln. May hatte einen Krug frischgemolkener Milch für den Gott Odin bei sich, Mara sollte die Expedition quer durch die Reifinsel nach Kalthafen führen. Afreyt hatte darauf bestanden: »... denn sie ist
auf einem Hof bei Kalthafen geboren und kennt den Weg, und sie wird mit jedem Mann fertig.« Als er das hörte, hatte Fafhrd zweifelnd genickt. Es gefiel ihm nicht, die Verantwortung für ein Mädchen zu übernehmen, das den Namen seiner Jugendliebe trug. Ebensowenig hatte ihm daran gelegen, die Leitung aller anderen Dinge in Salzhaven dem Mausling und den beiden Frauen zu überlassen, zumal es viel zu tun gab, ganz zu schweigen von der neuen Aufgabe, den Großen Mahlstrom und seine Tücken zu erkunden, was den Mausling mindestens einen Tag in Anspruch nehmen würde, eine Aufgabe, die Fafhrd als erfahrenem Schiffslenker besser angestanden hätte. Aber die vier hatten zur Mitternacht in der Kabine der Treibgut hinter verhüllten Bullaugen diskutiert und hatten ihre Erkenntnisse und Ansichten und die Prophezeiungen der beiden Götter offen auf den Tisch gelegt – und das war als Entschluß dabei herausgekommen. Der Mausling würde Ourph mitnehmen, dessen hervorragendes seemännisches Wissen ihm zugute kommen konnte, und Mikkidu, um ihn im Zaum zu halten. Die Fahrt selbst sollte in einem kleinen Fischerboot unternommen werden, das den Frauen gehörte. Unterdessen hatte Pshawri die alleinige Aufsicht über die Reparaturarbeiten an der Treibgut und Seefalke (beraten von den drei verbleibenden Mingols) und versuchte die Illusion aufrechtzuerhalten, daß sich Fafhrds Berserker noch an Bord des zweiten Schiffes befanden. Cif und Afreyt wollten sich abwechselnd am Dock aufhalten, um Anfragen Gronigers abzuwenden und sich um andere unerwartet auftretende Dinge zu kümmern.
Nun, es müßte wohl klappen, redete Fafhrd sich ein, waren doch die Bewohner der Reifinsel schlicht, grob, abgebrüht und direkt. Jedenfalls hatte der Mausling einen zuversichtlichen Eindruck gemacht – rastlos und mit blitzenden Augen trieb er die Sache voran, wobei er atemlos vor sich hin summte. Die aufziehende Dämmerung färbte den Himmel im Osten rosa, und Fafhrd stapfte mit länger werdenden Schritten energisch durch das Heidekraut und lauschte mit einem Ohr auf die leisen Stimmen der Männer hinter sich und die helleren Organe der Mädchen. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, daß die enge Formation eingehalten wurde; Mara und May gingen dicht hinter ihm. Als links der Galgenberg auftauchte, hörte er die Männer mit grimmigen Ausrufen auf den Anblick reagieren. Einige spuckten aus, um böse Kräfte abzuwehren. »Entbiete dem Gott meinen Gruß«, hörte er Mara sagen. »Wenn er wach genug ist, um mehr zu tun als nur seine Milch zu trinken und weiterzuschlafen«, antwortete May, löste sich von der Gruppe und ging durch die heller werdenden nächtlichen Schatten mit ihrem Krug auf die Anhöhe zu. Einige Männer machten auch darüber pessimistische Bemerkungen, und Skor forderte Stille. Leise wandte sich Mara an Fafhrd: »Wir halten uns hier ein wenig weiter links, um Dunkelfeuers Eissturz zu umgehen, dem wir durch das Zentrum der Insel folgen, bis er auf den Gletscher vom Berg Höllenschein stößt.« Was für fröhliche Namen man hier hat, überlegte
Fafhrd und blickte nach vorn. Heide und Ginster wuchsen hier nicht mehr so dicht, da und dort zeigte sich flechtenbedeckter Schotter. »Wie heißt dieser Teil der Reifinsel?« fragte er das Mädchen. »Das Totenland«, antwortete sie. Da hast du's wieder, dachte er. Jedenfalls paßt der Name zu den verrückten todesgierigen Mingols – wie auch zu dem galgenliebenden Gott Odin. Der Mausling war der größte der vier kleinen drahtigen Männer, die am Rand der öffentlichen Pier warteten. Pshawri, der dicht neben ihm stand, sah entschlossen und aufmerksam aus, war aber noch ein wenig bleich. Eine saubere Bandage lag über seiner Stirn. Ourph und Mikkidu hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit Affen, der eine weise und ergraut, der andere jung und mißgelaunt. Die Salzklippe im Osten verbarg die steigende Sonne kaum noch, die auf den kristallinen Gipfeln flimmerte und die gegenüberliegende Hälfte des Hafens wie auch die auslaufende Fischerflotte in helles Licht tauchte. Der Mausling blickte den kleinen Booten abschätzend nach – man hätte annehmen können, daß die Inselbewohner mit dem riesigen Fang des gestrigen Tages zufrieden waren, aber nein, heute schienen sie es noch eiliger zu haben, als fischten sie für ganz Nehwon, oder als erklänge in ihren Herzen ein ungeduldiger Gesang, der sie vorantrieb – ähnlich wie ihn der Mausling in sich spürte: »Die Mingols werden des Todes sein und stürzen in die Hölle hinein!« Aber die Zeit verstrich nutzlos – wo blieb Cif? Die Frage wurde beantwortet, als ein kleines Bei-
boot dicht an der Pier entlangkam, angetrieben von Mutter Grum, die am Heck saß und ein einsames Ruder wie einen Fischschwanz hin und her schwenkte. Als Cif in der Mitte des Bootes aufstand, befand sich ihr Kopf auf der Höhe der Pier. Sie ergriff die Hand, die der Mausling ihr entgegenstreckte, und kam mit zwei großen Schritten hoch. »Sparen wir uns die Worte«, sagte sie. »Mutter Grum wird euch zur Kobold rudern ...« Sie gab dem Mausling einen Geldbeutel. »Nur Silber«, sagte sie und rümpfte die Nase, als er Anstalten machte, den Beutel zu öffnen. Er reichte ihn an Pshawri weiter. »Zwei Münzen für jeden Mann am Abend, wenn ich nicht zurück bin«, wies er an. »Laß die Burschen schwer arbeiten. Es wäre schön, wenn die Treibgut spätestens morgen mittag wieder zum Auslaufen bereit wäre. Ab mit dir!« Pshawri grüßte und entfernte sich. Der Mausling wandte sich an die anderen. »Ins Boot!« Sie gehorchten – Ourph mit gleichgültigem Gesicht, Mikkidu mit einem besorgten Seitenblick auf die grimmige Frau im Heck. Cif berührte den Mausling am Arm. Er blickte sie an. Sie schaute ihm ruhig ins Auge. »Der Mahlstrom ist gefährlich«, sagte sie. »Hier ein Mittel, das ihn vielleicht bezwingt, solltest du darin gefangen sein. Im äußersten Notfall schleuderst du dies genau in die Mitte des Wirbels. Paß gut darauf auf und laß niemand sonst es sehen!« Der Mausling zeigte sich überrascht von dem Gewicht des kleinen würfelförmigen Objekts, das sie
ihm in die Hand drückte, und betrachtete es unauffällig. »Gold?« hauchte er ein wenig erstaunt. Das Gebilde hatte die Form eines Würfels aus Stegen, zwölf breite goldschimmernde Kanten, die rechtwinklig aufeinandertrafen. »Ja«, erwiderte sie leise. »Menschenleben sind wertvoller.« »Und da ist Aberglauben im Spiel ...?« »Ja«, unterbrach sie ihn. Er nickte, steckte das Gebilde vorsichtig in seinen Beutel und stieg ohne ein weiteres Wort leichtfüßig in das Boot hinab. Mutter Grum bewegte das Ruder und hielt auf das einzige kleine Fischerboot zu, das noch im Hafen verblieben war. Cif schaute hinter dem Beiboot her, bis es ins volle Sonnenlicht glitt. Nach einer Weile spürte sie denselben Sonnenschein am Kopf und wußte, daß ihr dunkles Haar prachtvoll schimmern mußte. Der Mausling drehte sich nicht um. Eigentlich wollte sie das auch gar nicht. Das Beiboot erreichte die Kobold, und die drei Männer kletterten an Bord. Sie hätte schwören können, daß niemand in der Nähe war, doch im nächsten Augenblick hörte sie ein Räuspern dicht hinter sich. Sie wartete einige Sekunden lang, ehe sie sich umwandte. »Meister Groniger«, grüßte sie den Ankömmling. »Ratsherrin Cif«, antwortete er ebenso milde. Er sah nicht aus wie ein Mann, der sich lautlos anschlich. »Du hast die Fremden auf eine Mission geschickt?« erkundigte er sich nach kurzem Schweigen. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Ich vermiete ihnen ein Schiff, es gehört Lady Afreyt und mir. Vielleicht gehen sie fischen.« Sie zuckte die Achseln. »Wie
jeder Inselbewohner verdiene ich mir etwas, wo ich kann, und der Fischfang ist nicht der einzige Weg zum Profit. Meister, du befiehlst heute nicht über dein Schiff?« Nun schüttelte er seinerseits den Kopf. »Ein Hafenmeister muß sich zuerst um sein Amt kümmern, Ratsherrin. Der andere Fremde ist heute noch nicht aufgetaucht. Ebensowenig seine Männer ...« »Und?« fragte sie, als er eine Pause machte. »... obwohl da unten in der Segelgaleere ein Heidenlärm gemacht wird.« Sie nickte und sah zu, wie die Kobold unter Segeln auf die Hafeneinfahrt zuhielt und das Beiboot von seiner zerzausten, gedrungenen Passagierin zur anderen Seite fortgerudert wurde. »Für heute abend ist eine Sitzung des Rates einberufen worden«, sagte Groniger, als sei ihm das eben noch eingefallen. Sie nickte, ohne sich umzudrehen. Er fügte beiläufig-erklärend hinzu: »Man hat eine Kassenprüfung verlangt, Schatzmeisterin. Es sollen alle Goldmünzen und reifischen Schätze überprüft werden, die dir anvertraut wurden – der goldene Pfeil der Wahrheit, die Goldbänder der Einheit, der Goldwürfel der Ehrlichkeit ...« Wieder nickte sie und hob die Hand an den Mund. Sie gähnte seufzend. Die Sonne schimmerte hell auf ihrem Haar. Gegen Mittag des Nachmittags befand sich Fafhrds Gruppe hoch oben im Totenland, das sich als ein von Felsbrocken übersätes, ödes Plateau erwies, zwischen niedrigen Gletschermauern auf beiden Seiten – links nur eine Bogenschußweite entfernt, eine Art breiter
Paß. Die sinkende Sonne brannte heiß herab, doch der Wind war kühl. Der blaue Himmel schien zum Greifen nahe zu sein. Allen voraus ging der jüngste seiner Berserker, unbewaffnet. (Eine unbewaffnete Vorhut hält im Grunde nur nach dem Gegner Ausschau und läßt sich nicht auf Kämpfe ein.) Vierzig Meter hinter ihm kam Mannimark als erster Beobachter, und hinter ihm die Hauptgruppe, geführt von Fafhrd und Mara, während Skor nach wie vor die Nachhut bildete. Ein großer weißer Hase huschte vor ihnen aus der Deckung und hastete an ihnen vorbei in die Richtung, aus der sie kamen. Er raste in gewaltigen Sätzen dahin und schien außer sich vor Angst zu sein. Fafhrd winkte die vor ihm gehenden Männer zurück und sorgte dafür, daß zwei Drittel seiner Streitmacht sich in Deckung auf die Lauer legten; das felsige Gelände war dazu bestens geeignet. Das Kommando übertrug er Skor mit der Maßgabe, die Stellung zu halten und jeden Feind in Sichtweite mit dichtem Pfeilbeschuß zu belegen, doch auf keinen Fall einen Angriff zu beginnen. Dann führte er die anderen sehr schnell auf langem, aber geschütztem Weg zur Höhe des nächsten Gletschers. Skullick, Mara und drei andere waren bei ihm. Bisher hatte das Mädchen Afreyts Erwartungen erfüllt und keinen Ärger gemacht. Als Fafhrd seine Gruppe vorsichtig auf das Eis führte, wurde die Stille der hohen Berge durch das leise Sirren von Bogensehnen und durch spitze Schreie aus der Richtung des Hinterhalts gestört. Aus günstiger Position vermochte Fafhrd auf seine Leute hinabzusehen und entdeckte, beinahe eine Bogenschußweite davor, im Paß durcheinanderwir-
belnd, eine Gruppe von etwa vierzig Mann. Die Pelzjacken und hohen Hüte und gekrümmten Bögen wiesen die Männer als Mingols aus. Fafhrds Kämpfer und etwa ein Dutzend Mingols beschossen sich auf große Entfernung mit Pfeilen. Einer der Mingols lag am Boden, und die Anführer schienen sich uneins zu sein. Hastig spannte Fafhrd seinen Bogen und befahl seinen vier Begleitern, dasselbe zu tun. So schickten sie eine Salve von Pfeilen aus flankierender Position in die Tiefe. Ein zweiter Mingol wurde getroffen: einer der Streithähne. Etwa sechs Mann erwiderten den Angriff, doch Fafhrds Stellung lag vorteilhaft hoch. Die anderen gingen in Deckung. Einer tanzte auf und nieder, als könne er sich vor Wut nicht mehr beherrschen, wurde aber von seinen Gefährten hinter einen Felsen gezerrt. Nach einer Weile kehrte, soweit Fafhrd es erkennen konnte, die ganze Mingolgruppe um und verschwand in die Richtung, aus der sie gekommen war. Die Verwundeten nahm man mit. »Sie angreifen und vernichten?« fragte Skullick und grinste kampflustig. Mara blickte ihn begeistert an. »Sollen die Leute merken, daß wir nur ein Dutzend sind? Ich verzeihe dir, weil du noch so jung bist!« gab Fafhrd zurück und hielt Skor mit einer Abwärtsbewegung seiner Arme zurück. »Nein, wir eskortieren sie aufmerksam zu ihrem Schiff zurück oder nach Kalthafen – wohin sie wollen. Der beste Gegner ist ein Gegner auf der Flucht.« Er schickte einen Boten zu Skor, der seinen Plan übermitteln sollte, und sagte sich währenddessen, daß die pelzgekleideten Steppenkrieger weniger kämpferisch und räuberisch wirkten, als er erwartet hatte. Er mußte allerdings mit der Heimtücke der Mingols rechnen. Er fragte sich,
was der alte Gott Odin (der von »vernichten« gesprochen hatte) von seiner Entscheidung halten würde. Vielleicht stand in Maras Augen die Antwort, in denen etwas schimmerte, das sehr wohl Enttäuschung sein mochte. Der Mausling saß am Bug der Kobold, den Rücken am Mast, die Füße auf den Ansatz des Bugspriets gestemmt. Sie näherten sich der Reifinsel aus Nordosten. Ein gutes Stück vor ihnen mußte die Stelle liegen, an der der Mahlstrom sich bei auslaufender Flut bilden würde, deren Ziel langsam heranrückte, wenn er richtig gerechnet hatte und sich auf Informationen verlassen konnte, die Cif und Ourph ihm geliefert hatten. Hinter ihm bediente der alte Mingol geschickt das Steuer und das dreieckige Fock- und Hauptsegel, während Mikkidu das schmale Klüversegel im Auge behielt. Der Mausling entknotete die Schnur des kleinen langen Beutels an seinem Gürtel und betrachtete den mattgolden schimmernden »Wirbeltöter« (um dem Ding, das Cif ihm überlassen hatte, einen Namen zu geben). Wieder kam ihm zu Bewußtsein, wie prachtvoll verschwenderisch (aber auch dumm-sinnlos) es war, einen notwendigerweise überflüssigen Goldgegenstand dieser Art herzustellen. Nun, der Aberglaube ließ sich keinen rationalen Erwägungen unterwerfen ... Oder vielleicht doch? »Mikkidu!« rief er energisch. »Ja?« kam die Antwort – ohne Zögern, pflichtbewußt, ein wenig ängstlich. »Hast du die lange Leine bemerkt, die in der Luke
hängt? Das dünne, aber reißfeste Zeug, mit dem du aus hohen Fenstern die Beute zu Komplicen abseilst und dem du im Notfall auch dein Gewicht anvertrauen würdest. Wie es auch von manchen Mördern zum Erdrosseln verwendet wird.« »Jawohl, Sir!« »Gut. Hol mir die Leine!« Das Seil entsprach seiner Beschreibung und erwies sich als mindestens hundert Meter lang. Ein sarkastisches Lächeln spielte um seine Lippen, als er ein Ende fest um den Wirbeltöter knotete und das andere Ende an einen Ring an Deck festmachte. Er überzeugte sich, daß der Rest des Seils sich frei straffen konnte, und steckte den Töter dann wieder in seinen Beutel. Sie waren bereits einen halben Tag unterwegs. Zuerst hatten sie die reifische Fischerflotte verlassen, die sich im Südwesten eifrig betätigte, wo das Meer von Fischen nur so zu kochen schien; vor seitlichem Wind waren sie dann schnell nach Osten gelaufen, bis sie die salzweiße äußerste Landspitze passiert hatten. Dann ein langsames Kreuzen nach Norden gegen den Wind, wobei sie sich allmählich von der zerklüfteten düsteren Ostküste entfernten, an der sich das glitzernde Salz abgelöst hatte und die sich schräg nach Westen erstreckte. Nun endlich eine schnelle Rückkehr, vor dem Wind laufend, derselben Küste entgegen, wo eine flache Bucht zwischen Klippen unvorsichtige Seeleute anlockte. Das Segel sirrte, und die kleinen Wellen, die in sauberen Reihen vorrückten, klatschten gegen den dahinrasenden Bug. Überall herrschte hellster Sonnenschein. Der Mausling stand auf und suchte das Meer unmittelbar voraus nach verborgenen Untiefen und ge-
fährlichen Strömungen ab. Die Geschwindigkeit der Kobold schien sich über das Maß hinaus zu erhöhen, das von dem Wind erwartet werden konnte, als habe eine Wasserströmung das Boot ergriffen. Der Mausling bemerkte abrupte Krümmungen in den schaumigen Wellenkammlinien. Jetzt war der Augenblick gekommen – wenn ihm überhaupt noch Zeit blieb. Er rief Ourph zu, er möge sich zum Wenden bereithalten. Trotz seiner Erwartungen war er überrascht, als (so kam es ihm vor) eine unsichtbare Riesenhand die Kobold von unten packte, das Boot augenblicklich seitlich neigte, es in einer Kurve nach vorn riß und dabei scharf nach innen neigte. Er sah Mikkidu einen Meter über dem Deck in der Luft über dem Wasser stehen. Als er gegen seinen Willen Anstalten machte, sich dem erstarrten Dieb anzuschließen, packte seine linke Hand automatisch nach dem Mast, während seine rechte vorschnellte und Mikkidu am Kragen packte. Die Muskeln des Mauslings knackten, hielten der Belastung aber stand. Er stellte Mikkidu wieder auf das Deck, stützte ihn mit einem Fuß, damit er an Ort und Stelle blieb, und duckte sich, um sich zu orientieren, in den Wind, der die Segel flattern ließ. Wo sich eben noch Reihen von Wellen erstreckt hatten, kreiste die Kobold mit wundersamer Geschwindigkeit in einer sich vertiefenden Senke kreiselnden schwarzen Wassers – die ganze Erscheinung hatte einen Durchmesser von beinahe zweihundert Metern. Vage sah der Mausling Ourph hinter dem heftig hin und her schlagenden Hauptsegel. Der Mingol klammerte sich mit beiden Händen am Steuerruder fest. Wieder schaute er in den Wasserwirbel und erkannte, daß die Kobold dem immer tiefer absinken-
den Kern merklich näher gekommen war, einem Kern, aus dem nun spitze Felsen ragten wie die geschwärzten und abgebrochenen Fänge eines Monstrums. Ohne zu zögern griff der Mausling in seinen Beutel und nahm den Wirbeltöter heraus. Dann versuchte er den Wind und die Geschwindigkeit der Kobold zu berechnen und schleuderte das Gebilde mitten in die unheimliche Wassergrube. Einen Augenblick lang schien es goldgelb im Sonnenlicht zu hängen, dann fand es sein Ziel. Jetzt war es, als hätten hundert unsichtbare Riesenhände den Wirbel flachgedrückt. Die Kobold schien gegen eine Wand zu fahren. Ein Aufschäumen von Wellen folgte, die kreuz und quer neben und über dem Schiff zusammenschlugen und reichlich Schaum erzeugten, der sich auf dem Deck staute. Man hätte schwören mögen, daß das Meer voller Seife war. Der Mausling überzeugte sich, daß Ourph und Mikkidu noch vorhanden waren und aufrecht saßen, so daß sie sich mit der Zeit sicher erholen würden. Dann vergewisserte er sich, daß Himmel und Meer anscheinend noch dort waren, wo sie hingehörten. Schließlich überprüfte er Steuerruder und Segel. Sein Blick wanderte von dem schlaffhängenden Klüver zu dem Ring am Bug. Er holte die Leine ein, die daran befestigt war (ohne große Hoffnung – bestimmt war sie in dem eben überstandenen Chaos gerissen oder hatte sich irgendwo verfangen), doch wunderbarerweise kam sie heil heraus, und an ihrem Ende war der Töter noch fest verknotet. Das Gebilde schimmerte heller denn je nach dem Sturz durch die Wassermassen. Als er den Würfel einsteckte und den feuchten Beutel wieder verschloß, war er sehr zufrie-
den mit sich selbst. Inzwischen hatten Wellen und Wind etwas von ihrer Normalität zurückgewonnen, und Ourph und Mikkidu regten sich langsam wieder. Der Mausling schickte sie an die Arbeit (und weigerte sich, das Auftreten und Verschwinden des Wirbels mit ihnen zu diskutieren). Er hieß sie, die Kobold keck unter die Küste zu steuern, wo ihm ein Strand voller spitzer Felsen aufgefallen war, dazwischen erhebliche Mengen grauen Holzes, die Überreste gescheiterter Schiffe. Es wurde Zeit, daß sich die Reif-Fischer eine neue Ladung holten, sagte er sich. Das konnte er Groniger ausrichten. Oder sollte man noch die nächsten Wracks abwarten – von Mingol-Schiffen –, die eine wahrhaft lohnende Ernte erbringen würden? Lächelnd setzte der Mausling Kurs auf Salzhaven, eine leichte Fahrt nun bei günstigem Wind. Leise summte er vor sich hin: »Die Mingols werden des Todes sein und stürzen in die Hölle hinein.« Aye, und ihre Schiffe in das felsige Verderben! Irgendwo zwischen Wolkenschichten nördlich der Reifinsel schwebte auf wundersame Weise die Kugel aus schwarzem Eis, die Khahkhts Zuhause war und zumeist auch sein Gefängnis. Der zwischen diesen Schichten beständig fallende Schnee setzte der schwarzen Kugel eine weiße Haube auf. Der Schnee sammelte sich auch auf den mächtigen Flügeln, Rükken, Hals und Kamm des unsichtbaren Wesens, das neben der Kugel verharrte und auf diese Weise als weißer Umriß sichtbar war. Dieses Wesen mußte die Kugel irgendwie umklammert halten, denn jedesmal
wenn es Kopf und Schultern schüttelte, hüpfte die Kugel in der dünnen Luft herum. Im unteren Drittel der Kugel war eine Falltür aufgestoßen worden, aus der Khahkht Kopf, Schultern und einen Arm streckte, wie ein ganz besonders scheußlicher Gott, der seitlich aus dem Boden des Himmels herausragte. Die beiden Wesen sprachen miteinander. Khahkht: Scheußliches Ungeheuer! Warum störst du mich in meiner himmlischen Abgeschiedenheit und hämmerst an meiner Kugel herum? Es wird dir bald leid tun, daß ich dir Flügel gegeben habe. Faroomfar: Ich kann genausogut wieder als fliegender unsichtbarer Strahlenfisch leben. Das hatte seine Vorteile. Khahkht: Bei den zwei schwarzen Hunden, ich möchte dich am liebsten ...! Faroomfar: Beherrsche dein übles Ich, Opa. Ich habe guten Grund, dich durchzuschütteln. Die Mingols scheinen in ihrer Wildheit nachzulassen. Gonov von den Sonnwärtigen hat auf dem Weg zur Reifinsel angeordnet, daß seine Schiffe die Segel streichen sollen – nur weil ein kleiner Sturm des Weges kam. Während die Gegenläufigen, die über die Insel vordringen wollten, vor einer Streitmacht gekniffen haben, die weniger als ein Drittel so groß war wie sie. Lassen deine Beschwörungen in ihrer Wirkung nach? Khahkht: Beruhige dich! Ich war damit beschäftigt, die beiden neuen Götter zu taxieren, die der Reifinsel helfen: wie mächtig sie sind, woher sie kommen, welche Ziele sie letztlich verfolgen und ob man sie unterwerfen kann. Meine vorläufige Schlußfolgerung: Ein gefährliches Paar, nicht allzu stark – herumstreifende Götter aus irgendeinem unbedeutenden Universum. Die beiden sollten wir ignorieren. Wieder hatte sich Schnee auf dem Flugwesen ange-
sammelt, und dünner Reif offenbarte sogar etwas von den grausamen, patrizierhaften Gesichtszügen. Es schüttelte die Flocken ab. Faroomfar: Also, was tun wir? Khahkht: Ich werde die Mingols schon wieder antreiben, wenn (und falls) sie zurückscheuen sollten – keine Sorge. Du solltest unterdessen deinen bösen Schwestern aus dem Weg gehen, wenn du kannst, und Fafhrd und seine Horde (die doch die Gegenlauf-Mingols zurückgeschlagen haben, nicht wahr?) mit teuflischen Streichen eindekken. Konzentriere dich auf das Mädchen. Los, an die Arbeit! Und er zog sich in seine schneebedeckte schwarze Kugel zurück und schlug die Falltür zu, wie ein umgekehrter Springteufel. Der fallende Schnee wurde in einer breiten schräg nach unten verlaufenden Bahn unterbrochen, als Faroomfar die Flügel ausbreitete und den langsamen Abstieg aus der großen Höhe einleitete. Löblicherweise wartete Mutter Grum bereits in ihrem kleinen Boot am Ankerplatz, als Ourph und Mikkidu die Kobold säuberlich in den Hafen steuerten und unter dem aufmerksamen, anerkennenden Blick des Mauslings das Segel einholten und an der Boje festmachten. Er war noch immer sehr mit sich zufrieden und bei bester Laune und hatte sich sogar dazu herabgelassen, Mikkidu mit einigen freundlichen Worten zu bedenken (die den anderen sehr verwirrten) und sich launig mit dem klugen, wenn auch schweigsamen alten Mingol zu unterhalten. Jetzt teilte er die Mittelbank mit Ourph, während Mikkidu im Bug hockte, und fragte leichthin die
Greisin, die das Ruder bewegte: »Wie ist der Tag gelaufen, Mutter? Eine Nachricht für mich von deiner Herrin?« Als sie ihm mit einem Knurren antwortete, das alles oder nichts bedeuten konnte, sagte er nur milde: »Gelobt seien deine treuen alten Knochen« und ließ den Blick durch den Hafen schweifen. Die Nacht war angebrochen. Die letzten Boote der Fischereiflotte waren eben eingelaufen, schwer beladen mit einem weiteren Rekordfang. Sein Interesse galt der nächsten Pier, auf deren anderer Seite ein Schiff im Fackelschein entladen wurde. Vier Einheimische trugen hintereinander Dinge an Land, die zweifellos Prachtstücke des ungeheuren und ungeheuerlichen Fanges waren. Tags zuvor waren dem Mausling die Reifländer als stoische, nüchterne Menschen erschienen, doch immer stärker fiel ihm an diesen Leuten ein dümmliches, primitiver Zug auf – besonders an diesen vieren, die sich grinsend und mit aufgerissenen Mund und vorquellenden Augen unter ihren Lasten beugten. Als erster war ein geduckt gehender bärtiger Bursche zu sehen, auf dem Rücken beförderte er am schuppigen Schwanz einen großen Silberthunfisch, der beinahe so lang war wie er selbst und sogar dikker. Ihm folgte ein hagerer Mann, der an Hals und Schwanz und in zahlreichen Windungen über den Schultern den größten Aal präsentierte, den der Mausling je gesehen hatte. Der Träger schien mit dem Tier zu ringen, während er über die Pier trabte – das Tier wand sich langsam, es lebte noch. Ein Glück, daß sich der Aal nicht um seinen Hals gewunden hat,
dachte der Mausling. Der Mann hinter dem Aalträger schleppte an einem spitzen Handhaken, den er durch die Kruste geschlagen hatte, eine riesige grüne Krabbe, deren zehn Beine in der Luft herumfuchtelten und deren mächtige Scheren sich ständig öffneten und schlossen. Es war schwer zu sagen, wessen Augen weiter hervortraten, die der Krabbe oder des Mannes. Zuletzt ein Fischer, der einen riesigen Tintenfisch an den zusammengebundenen Tentakeln auf der Schulter balancierte; in den Todeswehen machte das Tier noch sämtliche Farben des Regenbogens durch, die großen eingesunkenen Augen zuckten glasig über dem monströsen Schnabel. Ungeheuer, die Ungeheuer tragen, sagte sich der Mausling und lachte zufrieden vor sich hin. Herr, was für groteske Wesen wir Sterblichen doch sind! Der Mausling drehte sich auf seinem Sitz herum und sah ... leider nicht Cif, wie er nach einigen Sekunden feststellte, doch immerhin (und ein wenig zu seiner Überraschung) Hilsa und Rill am Rand der Pier, letztere mit einer Fackel, die fröhlich flackerte, und beide lächelten ihn freundlich und willkommenheißend an und sahen in ihren flotten Hurengewändern recht keck aus – Hilsa in roten Strümpfen, Rill in hellgelben, darüber kurze, bunte Jacken, die im Hals tief ausgeschnitten waren. So sehen sie jünger aus oder weniger verbraucht, stellte er fest, als er zu den beiden auf die Pier sprang. Wie nett von Loki seine Priesterinnen zu schicken ... nun ja, genau genommen waren es keine Priesterinnen, sondern eher Tempeljungfern ... nein, auch das nicht, sondern dienstbare Geister, Krankenschwestern und Spielgefährtinnen
des Gottes ... jedenfalls waren sie hier, um den getreuen Diener Lokis willkommen zu heißen. Doch kaum hatte er sich vor den beiden verneigt, als sie zu lächeln aufhörten und Hilsa leise und drängend sagte: »Es gibt schlechte Nachrichten, Kapitän. Lady Cif läßt dir ausrichten, daß sie und Lady Afreyt von den anderen Ratsmitgliedern angeklagt und ausgestoßen worden sind. Sie wird beschuldigt, Münzgold und andere reifische Schätze, die man ihr anvertraut hatte, dir und dem großen Kapitän und euren Männern als Sold ausgezahlt zu haben. Sie vertraut auf deine sagenhafte Schlauheit, das läßt sie auch ausrichten, daß dir ein Märchen einfällt, das die beiden aus der Klemme holt.« Der Mausling behielt sein Lächeln bei und mußte daran denken, wie fröhlich Rills Fackel zuckte und brannte, während Hilsas schlechte Nachrichten über ihm zusammenschlugen. Als von reifischen Schätzen die Rede war, berührte er seinen Beutel, in dem der Töter an einem abgeschnittenen Stück Schnur ruhte. Er bezweifelte nicht, daß dieser Gegenstand dazugehörte, doch aus irgendeinem Grund machte er sich keine Sorgen. »Ist das alles?« fragte er, als Hilsa fertig war. »Ich dachte schon, ihr wolltet mir mitteilen, die Trolle, vor denen uns der Gott gewarnt hat, wären über die Insel hergefallen. Führt mich zum Ratssaal, meine Lieben! Ourph und Mikkidu, ihr begleitet uns! Keine Sorge, Mutter Grum!« Die letzten Worte rief er zum Boot hinab. »Du brauchst um die Sicherheit deiner Herrin nicht zu fürchten.« Dann hakte er sich bei Hilsa und Rill unter und machte sich energischen Schrittes auf den Weg, wobei
er sich einredete, daß es bei solchen Rückschlägen vor allem darauf ankomme, ein unerschöpfliches Selbstvertrauen zur Schau zu stellen – ähnlich wie Rills Fackel. Das war das Geheimnis. Was machte es, daß er nicht die geringste Ahnung hatte, was er dem Rat erzählen würde? Er mußte nur die Fassade des Selbstbewußtseins aufrechterhalten, dann würde ihm im rechten Augenblick schon die Inspiration zu Hilfe kommen! Da die Fischerflotte sehr spät eingetroffen war, herrschte auf den schmalen Straßen, durch die sie kamen, noch lebhaftes Treiben. Vielleicht wurde an diesem Abend außerdem Markt abgehalten, vielleicht hatte auch die Ratsversammlung damit zu tun. Jedenfalls waren zahlreiche »Ausländer« unterwegs, und natürlich auch Inselbewohner, und zur Abwechslung sahen die einheimischen Leute absonderlicher und grotesker aus als die Fremden. Da kamen schon wieder die vier Fischer mit ihren monströsen Lasten! Ein dikker Junge starrte sie mit weit aufgerissenem Mund an. Im Vorbeigehen tätschelte ihm der Mausling den Kopf. Ach, was für eine große Schau doch das Leben war! Hilsa und Rill ließen sich von dem Frohsinn des Mauslings anstecken und lächelten wieder. Er mußte ein großartiges Bild abgeben, wie er da mit zwei prächtigen Huren durch die Straße zog, als gehöre ihm die ganze Stadt. Die blaue Front des Rathauses tauchte auf. Der Eingang bestand aus dem gewaltigen Heck einer uralten Galeone und wurde von zwei mürrischen Burschen mit langen Kampfstäben bewacht. Der Mausling spürte das Zögern Hilsas und Rills, rief jedoch mit lauter Stimme: »Alle Ehre dem Rat!« und zog sie
mit sich ins Innere, dichtauf gefolgt von Ourph und Mikkidu. Das Innere war zwar größer und auch höher angelegt als der Schänkenraum im Salzhering, war aber wie das Lokal mit grauem Holz ausgeschlagen, den Überresten von Schiffswracks. Im Saal gab es keine große Feuerstelle; man heizte unzureichend mit zwei qualmenden Feuerkesseln und verschaffte sich Licht durch Fackeln, die traurig-blau blakten (vielleicht waren sie mit bronzenen Nägeln befestigt) und nicht fröhlich goldgelb leuchteten wie Rills Licht. Das ins Auge fallende Möbelstück war ein langer schwerer Tisch, an dessen einem Ende Afreyt und Cif saßen und eine denkbar hochmütige Miene aufgesetzt hatten. Deutlich von ihnen abgerückt, sich zum anderen Ende orientierend, saßen zehn große, nüchterne Insulaner mittleren Alters, zu denen auch Groniger gehörte. Ihre Gesichter waren dermaßen mürrisch und empört, daß der Mausling zu lachen begann. Andere Einheimische drängten sich an den Wänden, darunter auch Frauen. Alle wandten sich mit verwirrten und mißbilligenden Blicken den Neuankömmlingen zu. Groniger richtete sich auf und donnerte ihn an: »Du wagst es, über die versammelte Macht der Reifinsel zu lachen? Du, der du dich von zwei Straßenmädchen begleiten läßt und zwei Männern von deinen Schiffen, die in der Stadt nichts verloren haben!« Der Mausling zügelte sein Lachen und hörte mit einem denkbar aufgeschlossenen und ehrlichen Ausdruck zu, die gekränkte Unschuld in Person. Groniger bewegte den ausgestreckten Finger auf und nieder und sprach weiter: »Nun, dort steht er, meine Ratsherrn, einer der Hauptempfänger des
fehlgeleiteten Golds, vielleicht sogar des Goldwürfels der Ehrlichkeit. Der Mann, der aus dem Süden zu uns kam und uns von magischen Stürmen erzählte und von Tagen, die zur Nacht werden sollen, und von verschwindenden feindlichen Schiffen und einer angeblichen Mingol-Invasion – der Mann, der, wie ihr selbst seht, Mingols in seiner Mannschaft hat, der Mann, der für seine Hafengebühren mit Gold von der Reifinsel bezahlt hat!« Daraufhin stand Cif mit funkelnden Augen auf und sagte: »Laßt ihn wenigstens sprechen und auf die lächerlichen Anschuldigungen eingehen, wo ihr schon mein Wort nicht mehr akzeptieren wollt.« Der Ratsherr neben Groniger stand auf. »Warum sollten wir uns die Lügen eines Fremden anhören?« »Danke, Dwone«, sagte Groniger. Afreyt stand auf. »Nein, laßt ihn sprechen. Wollt ihr denn nur euren eigenen Stimmen zuhören?« Ein anderer Ratsherr erhob sich. »Ja, Zwaaken?« fragte Groniger. »Es schadet nichts, sich anzuhören, was er zu sagen hat. Vielleicht überführt er sich gleich selbst.« Cif starrte Zwaaken düster an und sagte laut: »Sag es ihnen, Mausling!« In diesem Augenblick blickte der Mausling auf Rills Fackel (die ihm zuzublinzeln schien) und spürte eine gottesgleiche Macht in sich, die ihn bis zu den Spitzen von Fingern und Zehen erfüllte, nein, bis zur Spitze jedes einzelnen Haars. Ohne Vorwarnung, ja, ohne selbst vorher zu wissen, was er tun würde, spurtete er durch den Ratssaal und sprang an der unbesetzten Stelle zwischen den Frauen und Männern auf den Tisch.
Mit zwingendem Blick schaute er in die Runde (ein Meer vorwiegend abweisend-kalter Gesichter) und begann ... nun, da die gottesähnliche Kraft jeden Teil von ihm absolut beherrschte, wurde auch der Verstand aus seinem Körper vertrieben, die Umwelt verfinsterte sich spürbar, und er hörte noch, wie er mit lauter Stimme etwas zu sagen begann – doch dann sank er (sein Verstand) unaufhaltsam in eine innere Dunkelheit, die tiefer und schwärzer war als Schlaf oder Ohnmacht. Dann verging (für den Mausling) überhaupt keine Zeit ... oder eine Ewigkeit. Als er ins Bewußtsein zurückkehrte (oder wiedergeboren wurde, so gewaltig erschien die Veränderung), sah er zuerst wirbelnde gelbe Lichter und grinsende Gesichter mit offenen Mündern, freudig erregte Gesichter, die durch die innere Dunkelheit auf ihn zukamen, und hörte großen Lärm an der Schwelle des Wahrnehmbaren, dazu eine widerhallende Stimme, die machtvolle Worte sagte, und plötzlich materialisierte die ganze grelle ohrenbetäubende Szene brausend und mit einer Art Schlag – und er stand in kecker Höhe auf dem massigen Ratstisch und spürte ein wildes (oder vielleicht sogar verrücktes) Lächeln auf seinen Lippen, während die linke Faust herausfordernd in die Hüfte gestemmt war und die Rechte den goldenen Töter (oder den Würfel der Ehrlichkeit) an der Schnur um seinen Kopf kreisen ließ. Und ringsum starrten ihn die Reifländer – Ratsherren, Wächter, einfache Fischer, Frauen (und natürlich, Cif, Afreyt, Rill, Hilsa und Mikkidu) – mit grenzenloser Bewunderung an (als wäre er zumindest ein Gott oder legendärer Held). Sie waren aufgesprungen (ei-
nige hüpften auf und nieder) und jubelten ihm zu. Fäuste hämmerten auf den Tisch, Stäbe wurden dröhnend gegen den Steinboden geschlagen, während Fackelträger ihre tristen Brände schwangen, bis sie so hellgelb sprühten wie Rills Fackel. Der Mausling grinste weiter in die Runde, fragte sich aber innerlich, was er denn im Namen aller Götter diesen Leuten erzählt oder versprochen hatte, um sie in einen solchen Zustand zu versetzen! Im Namen des Unholds – was? Von seinen Nachbarn geschoben, kletterte Groniger hastig am anderen Ende auf den Tisch, und forderte armfuchtelnd Ruhe. Als sie eingetreten war, versicherte er dem Mausling mit lauter, gefühlsseliger Stimme: »Das machen wir – oh, das machen wir! Ich selbst werde das reifische Kontingent, die Hälfte unserer bewaffneten Bürgerschaft, durch das Totenland führen, um Fafhrd gegen die Gegenläufigen zu helfen, während Dwone und Zwaaken die bewaffnete Fischerflotte mit der anderen Hälfte bemannen und der Treibgut und dir gegen die Sonnenwärtigen Mingols folgen. Zum großen Sieg!« Da dröhnten im Saal laute Rufe auf: »Tod den Mingols!«, »Sieg!« und andere Jubelschreie, die der Mausling nicht verstand. Als der Lärm langsam verebbte, rief Groniger: »Wein! Besiegeln wir unsere Abmachung!«, während Zwaaken dem Mausling zuraunte: »Hol deine Besatzung, sie soll mit uns feiern. Deine Leute dürfen sich jetzt und für ewig auf der Reifinsel frei bewegen!« (Gleich darauf wurde Mikkidu fortgeschickt.) Der Mausling bedachte Cif mit einem hilflosen Blick – auch wenn er weiter in die Welt grinste (seine
Augen mußten längst glasig wirken, sagte er sich) – doch sie streckte ihm lediglich die Hand hin und ... sie weinte! Ihre Wangen waren gerötet: »Ich begleite dich!« rief sie, während Afreyt hinter ihr ausrief: »Ich reite voraus durch das Totenland zu Fafhrd und nehme den Gott Odin mit!« Groniger hörte diese Worte und sagte: »Ich werde dich mit meinen Männern nach besten Kräften unterstützen, ehrwürdige Ratsherrin.« Diese Äußerung verriet dem Mausling, daß er es neben allem anderen geschafft hatte, die atheistischen Fischer zum Glauben an Götter zu bekehren – zumindest an Odin und Loki. Was hatte er den Leuten nur erzählt? Er ließ sich von Cif und Afreyt vom Tisch helfen, doch ehe er sie ausfragen konnte, warf Cif ihm die Arme um den Hals, drückte ihn fest an sich und küßte ihn voll auf den Mund. Das war ein herrliches Gefühl, etwas, das er sich seit drei Monaten und länger erträumt hatte (wenn er sich auch vorgestellt hatte, daß es weniger in der Öffentlichkeit stattfinden würde), und als sie sich endlich mit leuchtenden Augen von ihm löste, lag ihm eine ganz andere Frage auf der Zunge, doch schon packte ihn die großgewachsene Afreyt und küßte ihn nicht minder nachdrücklich. Das war auf jeden Fall angenehm, minderte aber die Bedeutung von Cifs Kuß, machte ihn weniger persönlich und mehr zu einem Symbol der Gratulation. Dieser Kuß war eher ein Ausdruck überschäumender Begeisterung gewesen als ein Hinweis auf persönliche Zuneigung. Sein Cif-Traum verflog. Und als Afreyt mit ihm fertig war, umringten ihn zahlreiche andere Gratulanten, von denen ihn einige auch
umarmen wollten. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, daß auch Hilsa und Rill links und rechts Küßchen verteilten – wirklich, diese Küsse hatten keinerlei Bedeutung, und das galt auch für Cifs Kuß, dumm von ihm, sich etwas anderes einzubilden – und zwischendurch glaubte er Groniger sogar tanzen zu sehen. Der alte Ourph hielt sich als einziger aus irgendeinem Grund zurück. Einmal bemerkte er den traurigen Blick des alten Mingols. So begann die Feier, die die halbe Nacht dauerte und bei der viel getrunken und gegessen und gejubelt und in einer Art Polonaise herummarschiert wurde. Und je länger die Festlichkeit währte, um so grotesker die hüpfenden und stampfenden Märsche, ausnahmslos im Takt des rachedurstigen kleinen Reims: »Sturm zieht über Reifland auf, die Tücke der Natur nimmt ihren Lauf. Monster erwachen, alptraumvoll, Niss und Nicor, Drow und Troll.« (Besonders die letzten Zeilen schienen eine gute Beschreibung dessen zu sein, was hier im Augenblick vorging – das Erwachen von Ungeheuern. Aber wo waren die Trolle?) Und so weiter (mit dem Gesang), bis zu dem düsteren, ungeheuer zwingenden Ende: »Die Mingols werden des Todes sein und stürzen in die Hölle hinein! Mingol-Wahn sonst endlos brennt, und niemals Frieden ihr mehr kennt!« Und in dem Durcheinander lächelte der Mausling sein mechanisches Lächeln, wahrte die unverschämte Maske überragenden Selbstbewußtseins und beantwortete vor allen Dingen eine Frage, die er immer wieder hören mußte: »Nein, ich bin kein Prediger, bin darin überhaupt nicht geübt – allerdings habe ich schon immer gern geredet.« Innerlich aber zehrte die
Neugier an ihm. Bei der ersten Gelegenheit fragte er Cif: »Was habe ich nur gesagt, das diese Leute bewogen hat, ihre Ansicht so total zu verändern?« »Na, das solltest du doch wissen«, gab sie zur Antwort. »Aber sag es mir in deinen eigenen Worten!« forderte er sie auf. Sie überlegte. »Du hast ganz und gar an ihre Gefühle, an ihre Emotionen appelliert«, sagte sie dann schlicht. »Es war wunderbar!« »Ja, aber was habe ich im einzelnen gesagt? Gib mir ein paar Worte wieder!« »Oh, das kann ich nicht«, wandte sie ein. »Es war so nahtlos und wie aus einem Guß, daß kein Teil irgendwie daraus hervorragt. Ich habe die Einzelheiten vergessen. Sei zufrieden – es war perfekt.« Später wagte er es, sich an Groniger zu wenden: »An welcher Stelle haben meine Argumente dich überzeugt?« »Wie kannst du das fragen?« antwortete der grauhaarige Reifinsel-Ratsherr und furchte in ehrlicher Verwirrung die Stirn. »Es war überragend logisch, von kalter, nüchterner Folgerichtigkeit. So wie zwei und zwei vier ergeben. Wie könnte man einen Teil einer Rechnung herausnehmen und ihn als schlüssiger bezeichnen als andere?« »Schon gut«, sagte der Mausling widerstrebend und fügte hinzu: »Vermutlich war es dieselbe strikte Logik, die dich bewog, die Götter Odin und Loki zu akzeptieren?« »Genau«, bestätigte Groniger. Der Mausling nickte, obwohl er innerlich die Achseln zuckte. Oh, er wußte, was da in Wirklichkeit ge-
schehen war, er vergewisserte sich dessen sogar später bei Rill. »Wo hast du deine Fackel entzündet?« fragte er. »Natürlich am Feuer des Gottes«, antwortete sie. »Am Feuer des Gottes in der Flammenhöhle.« Und dann küßte sie ihn. Ja, er wußte, daß der Gott Loki aus den Flammen gekommen war und eine Zeitlang von ihm Besitz ergriffen hatte (so wie Fafhrd vor langer Zeit in Lankhmar vielleicht einmal von dem Gott Issek besessen gewesen war), und seine Lippen hatten Argumente gesprochen, die absolut überzeugend sind, wenn sie von einem Gott kommen oder an der Schwelle zu einem Krieg oder einer ähnlich schlimmen Krise geäußert werden – und leer und hohl, wenn sie bei alltäglichem Anlaß von einem bloßen Sterblichen vorgebracht werden. Und er hatte keine Zeit, über das Rätsel seiner Worte Mutmaßungen anzustellen: es gab zuviel zu tun, zu viele lebenswichtige Entscheidungen waren zu treffen, zu viele Aktionen mußten eingeleitet und zu Ende geführt werden – sobald diese Leute mit dem Feiern endlich fertig waren und sich ein wenig ausgeruht hatten. Trotzdem hätte er es als angenehm empfunden, ein wenig von dem zu wissen, was er wirklich gesagt hatte. Vielleicht waren ihm ein paar schlaue Worte über die Lippen gekommen. Warum hatte er zum Beispiel den Wirbeltöter aus dem Beutel genommen und sich um den Kopf geschwungen? Was hatte er damit demonstrieren wollen? Er mußte sich eingestehen, daß es ganz angenehm war, sich der Gewalt eines Gottes auszuliefern (und
sicher noch angenehmer, wenn er sich besser daran erinnern könnte), doch ein gewisses Gefühl der Leere blieb zurück. Am nächsten Morgen kamen für Fafhrds Gruppe Kalthafen, das Meer und die gesamte Vorausflotte der Mingols in Sicht. Sonne und Westwind hatten den Küstennebel vertrieben und wehten ihn nun auch von dem Gletscher, an dessen Kante sie sich entlangbewegten. Es war eine viel kleinere und primitivere Siedlung als Salzhaven. Im Norden erhob sich der schwarze Kratergipfel des Höllenschein-Berges, so riesig und nahe, daß die östlichen Vorberge ihre Schatten noch über das Eis warfen. Dünner Rauch stieg aus dem Krater auf und wurde nach Osten abgetrieben. An der Schneelinie schien ein Schatten im dunklen Gestein einen Höhleneingang anzuzeigen, der in das Herz des Berges führte. Die unteren Hänge waren dicht mit Schnee überkrustet bis zum Gletscher, der sich – hier ziemlich schmal werdend – vor den Wanderern in nördlicher Richtung zur funkelnden grauen See erstreckte, die überraschend nahe wirkte. Seitlich des Gletschers lag gewelltes Grasland in Richtung Südwesten, darauf vereinzelte Gruppen von Nord-Zedern, die der Wind deformiert hatte; in der Ferne erhoben sich andere schneebedeckte Höhen, und Fetzen weißen Nebels wurden in östlicher Richtung über das sonnenhelle Land dazwischen getrieben. Während sie den zurückweichenden Mingolräubern folgten, hatten sie am Abend zuvor und in der Frühe vereinzelte verwüstete und verlassene Berghöfe entdeckt, und das hatte sie in gewisser Weise auf
die Szene vorbereitet, die sie jetzt vor sich erblickten. Die Behausungen dieser Gegend glichen Erdlöchern, auf den schmalen Dächern wuchsen Gras oder Blumen, es gab Rauchlöcher anstelle von Schornsteinen. Trockenen Auges wies Mara auf den Hof, auf dem sie groß geworden war. Kalthafen war nichts anderes als ein Dutzend solcher Anwesen auf einem ziemlich steilen Hügel, der sich an den Gletscher schmiegte – eine Art Zuflucht für die Landbewohner bei Gefahr. Ein kurzes Stück dahinter bildete ein Sandstrand den Abschluß der Hafenbucht, und auf den Sand waren drei Mingol-Galeeren gezogen worden, deutlich erkennbar an den phantastischen Pferde-Boxen, die die Bugaufbauten bildeten. In respektvoller Entfernung hatten den KalthafenBerg etwa achtzig Mingols umringt, deren Anführer sich anscheinend mit den zwanzig Mann berieten, die ins Landesinnere gezogen und jetzt zurückgekehrt waren. Einer davon deutete in Richtung Totenland und dann zum Gletscher empor, als beschriebe er die Streitmacht, von der seine Gruppe verfolgt worden war. Hinter ihnen grasten die drei Steppenhengste, die man aus ihren Boxen geführt hatte. Eine friedliche Szene, doch während Fafhrd noch hinüberschaute und dabei seine Bande hinter einem Eisvorsprung in (wie er hoffte) guter Deckung hielt (er verließ sich nicht allzu sehr auf die Abneigung der Mingols gegen das Eis), stieß ein Speer von der ruhig aussehenden Anhöhe herab und streckte einen Mingol nieder (ein vorzüglicher Wurf!). Zorngeschrei ertönte, und ein Dutzend Mingols beschoß die Siedlung mit Pfeilen. Fafhrd sagte sich, daß die Belagerer, die nun Verstärkung erhalten hatten, bald mit einem entschlossenen
Angriff beginnen würden. Ohne zu zögern, gab er daher seine Befehle. »Skullick, jetzt geht es los! Nimm deinen besten Bogenschützen, Öl und einen Feuertopf! Eilt, so schnell ihr könnt auf den Gletscher an der Stelle, wo er den Mingolschiffen am nächsten ist, und beschießt sie mit Brandpfeilen – jedenfalls müßt ihr das versuchen. Beeilt euch!« »Mara, du folgst ihnen bis zum Siedlungsberg, und wenn du die Schiffe brennen siehst – nicht vorher! – läufst du hinab und schließt dich deinen Freunden an, wenn der Weg frei ist! Aber sei vorsichtig! Afreyt würde mir den Kopf abreißen, sollte dir etwas geschehen. Sag den Leuten die Wahrheit über unsere Zahl. Sage ihnen, sie sollen durchhalten und eine Art Ausfall vortäuschen, wenn sie eine günstige Gelegenheit sehen! Mannimark! Du läßt einen Mann deiner Wache hier Posten beziehen und aufpassen! Du sagst uns sofort Bescheid, wenn die Mingols vorrücken! Skor, du folgst mir mit den anderen! Wir steigen im Rücken der Mingols hinab und täuschen kurz eine verfolgende Armee vor. Los!« Und schon lief er davon, schwerfällig gefolgt von acht Berserkern, denen die Köcher gegen den Rücken schlugen. Schon hatte er sich eine Gruppe verkümmerter Zedern ausgesucht, aus deren Deckung er seinen Plan in die Tat umzusetzen gedachte. Im Laufen beschäftigte er sich mit Skullick und seinem Freund und mit Mara und versuchte ihr Vorrücken zu berechnen und sich im zeitlichen Ablauf darauf einzustimmen. Er traf bei den Zedern ein und sah Mannimarks Si-
gnal, wonach der Mingol-Angriff bereits begonnen hatte. »Jetzt heult wie Wölfe!« rief er seinen schweratmenden Männern zu, »und schreit los, jeder von euch für zwei. Dann überschütten wir die Mingols mit Pfeilen, auf weiteste Entfernung und so schnell es geht. Wenn ich dann den Befehl gebe, zurück auf den Gletscher! So schnell wir herabgekommen sind.« Als dies alles geschehen war (ohne daß man groß über die Konsequenzen nachdachte – dazu fehlte die Zeit) und er, gefolgt von seiner keuchenden Horde, wieder bei Mannimark eintraf, sah er entzückt Rauch aufsteigen von der Galeere, die in unmittelbarer Nähe des Gletschers auf den Strand gezogen worden war. Einige Mingols kümmerten sich nicht mehr um den Angriff, sondern verließen den Hang der belagerten Siedlung und eilten zu den Schiffen. Auf halber Strecke sah er die kleine Gestalt Maras vom Gletscher herab auf Kalthafen zulaufen. Ihr roter Umhang wehte. Auf dem Erdwall nahe dem Kind war eine Frau mit einem Speer erschienen und winkte ihr aufmunternd zu. Urplötzlich jedoch schien Mara einen unmöglich langen Schritt zu machen, ihre Gestalt war teilweise verdeckt, als könne Fafhrd plötzlich nicht mehr richtig sehen, und dann schien sie – nein, sie tat es wirklich! – sie stieg in die Luft empor, immer höher, wie in den Klauen eines unsichtbaren Adlers oder eines anderen körperlosen Raubvogels. Fafhrd nahm den Blick nicht von dem roten Mantel, der plötzlich heller wurde, als das unsichtbare Flugwesen mit seiner Beute aus dem Schatten ins Sonnenlicht stieg. Er hörte einen unterdrückten Laut des Mitleids und Staunens neben sich und gestattete sich
einen kurzen Seitenblick. Skor hatte das Wunder ebenfalls gesehen. »Behalte sie im Auge, Mann!« flüsterte er. »Achte auf den roten Mantel! Merke dir, auf welchem Weg sie durch die Luft getragen wird!« Der Blick der beiden Männer richtete sich nach Westen und schließlich langsam nach Osten, dem dunklen Berg entgegen. Von Zeit zu Zeit senkte Fafhrd den Kopf, um sich zu vergewissern, daß dort keine unerwarteten Entwicklungen stattfanden, die sein Eingreifen bei den Schiffen und vor Kalthafen erforderten. Jedesmal befürchtete er den wehenden Mantel nicht wieder ausmachen zu können, doch jedesmal entdeckte er den roten Punkt sofort. Skor schien seinen Befehl gewissenhaft auszuführen. Der rote Punkt wurde immer kleiner. Die Männer verloren ihr Ziel beinahe aus den Augen, als es wieder im Schatten verschwand. Endlich richtete Skor sich auf. »Wohin?« frage Fafhrd. »Zum Eingang der Höhle an der Schneelinie«, erwiderte Skor. »Das Mädchen wurde durch die Luft dorthin getragen, durch einen Zauber, den ich mir nicht vorstellen kann. Dort habe ich sie aus den Augen verloren.« Fafhrd nickte. »Hier ist Zauberei einer ganz besonderen Art im Spiel«, sagte er. »Ich nehme an, sie wurde von einem unsichtbaren Flugwesen dorthin gebracht, den Ghuls verwandt, einem alten Feind von mir, Prinz Faroomfar vom hohen Stardock. Ich bin als einziger in der Lage, mit ihm fertig zu werden.« Auf eine Weise glaubte er Skor zum erstenmal wahrzunehmen: ein Mann, einen Zoll größer als er und etwa fünf Jahre jünger, doch mit schütter wer-
dendem Haar und einem dünnen rötlichen Bart. Irgendwann hatte ihm jemand die Nase gebrochen. Er schien ein rechter Bösewicht zu sein. »In der Eis-Öde nahe Illik-Ving habe ich dich angeworben«, sagte Fafhrd. »In No-Ombrulsk ernannte ich dich zu meinem Stellvertreter, und du hast mir wie die anderen geschworen, zu gehorchen, solange die Reise der Seefalke währt.« Er blickte den Mann eindringlich an. »Jetzt muß ich dich auf die Probe stellen, denn du mußt das Kommando übernehmen, während ich mich um Mara kümmere. Du sitzt den Mingols weiter im Pelz, gehst einem offenen Kampf aber aus dem Weg. Die Verteidiger von Kalthafen sind unsere Freunde, aber du schließt dich ihnen im Fort nur an, wenn du keine andere Möglichkeit mehr hast. Denk daran, daß wir der Lady Afreyt dienen. Verstanden?« Skor runzelte die Stirn und blickte unverwandt in Fafhrds Augen. Dann nickte er einmal kurz. »Gut!« sagte Fafhrd, ohne recht überzeugt zu sein, ob das wirklich so war. Aber er hatte keine andere Möglichkeit. Der Rauch über dem brennenden Schiff schien weniger zu werden – die Mingols hatten es offenbar gerettet. Skullick und sein Gefährte kehrten grinsend mit ihren Bögen zurück. »Mannimark!« rief Fafhrd. »Gib mir zwei Fackeln. Skullick – den Zunderbeutel.« Er löste den Gurt, der sein Langschwert ›Graywand‹ hielt. Die Axt behielt er bei sich. »Männer!« rief er. »Ich muß mich eine Zeitlang von euch trennen. Der Befehl geht auf Skor über, und dies soll das Symbol dafür sein.« Er schnallte Skor ›Graywand‹ um. »Gehorcht ihm gut! Achtet auf euch! Sorgt
dafür, daß ich keinen Grund zum Tadeln habe, wenn ich zurückkehre!« Und ohne weitere Umstände stapfte er über den Gletscher auf Berg Höllenschein zu. Der Mausling zwang sich dazu, gleich nach dem Erwachen aufzustehen und ein kaltes Bad zu nehmen, ehe er einen Becher mit heißem Gahveh trank (ja, er war in der Stimmung dazu). Dann schickte er die gesamte Mannschaft, Mingols wie Diebe, mit dem Hinweis an die Arbeit, daß die Reparaturen der Treibgut spätestens am nächsten Morgen beendet sein mußten, denn natürlich ging ihm Lokis Warnung nicht aus dem Kopf: »In drei Tagen sind die Mingols da.« Es bereitete ihm kein geringes Vergnügen festzustellen, daß einige Männer womöglich noch schlimmer litten als er. »Nimm sie tüchtig ran, Pshawri«, sagte er. »Langschläfer und Arbeitsscheue haben bei uns keine Chance!« Dann war es Zeit, sich zu Cif zu begeben, um Afreyts und Gronigers Überland-Expeditionen zu verabschieden. Er stellte fest, daß die Einheimischen unangenehm munter und laut waren, und die Art und Weise, wie Groniger geschäftig dafür sorgte, daß der Zug sich formierte, mißfiel dem Mausling sehr. Cif und Afreyt hatten die Feier ebenfalls ohne Nachwirkungen überstanden und lächelten in ihren prachtvollen roten und blauen Gewändern, aber das war schon erträglicher. Der Mausling und Cif wollten die Marschkolonnen, die ins Innere der Insel aufbrachen, ein Stück begleiten. Voller Vergnügen und Anerkennung bemerkte er, daß Afreyt eine verhangene Sänfte mitführen ließ, die von vier Männern Groni-
gers getragen wurde; allerdings saß sie noch nicht darin. Sie ließ die Männer also die falschen (oder zumindest taktlosen) Anschuldigungen des Vorabends büßen und würde auf das Angenehmste durch das Totenland reisen. So etwas entsprach dem Stil des Mauslings. Er war in seltsamer Stimmung und kam sich mehr wie ein Zuschauer vor denn als Teilnehmer an großen Ereignissen. Ihn beschäftigte noch immer die aufwühlende Rede, die er am Abend zuvor gehalten hatte (oder besser die Verkündigung, die Loki durch seinen Mund getan hatte, während er selbst nicht bei Bewußtsein war) und an die er sich absolut nicht erinnerte (und über die ihm auch kein anderer etwas sagen konnte). Er kam sich vor wie ein unbedeutender Diener oder Laufbursche, der niemals erfahren darf, welchen Inhalt die versiegelten Mitteilungen haben, die ihm anvertraut werden. In seiner Rolle als Beobachter und Kritiker fiel ihm auf, wie grotesk die Bewaffnung der hochmütigen, kriegerischen Reifbewohner war. Da gab es natürlich die Kampfstäbe zu sehen, dann schwere Lanzen mit gezackter Klinge und schmale Fischerspeere und große Mistgabeln und gefährlich gekrümmte und eingekerbte Spitzhacken und lange Dreschflegel, an deren Enden stachelige Mordinstrumente hingen. Einige trugen sogar lange Spaten mit geschärften Kanten. Er machte gegenüber Cif eine Bemerkung darüber, und sie fragte, wie er denn seine Diebesbande bewaffne. Afreyt war bereits ein Stück voraus. Sie näherten sich dem Galgenhügel. »Nun, mit Schlingen«, antwortete er. »Die sind so gut wie Bögen und lassen sich weitaus müheloser
tragen. Etwa die hier«, und er zeigte ihr die Lederschlinge, die an seinem Gürtel hing. »Siehst du den alten Galgen da vorn? Paß genau auf!« Er zog eine Bleikugel aus seinem Beutel, legte sie sorgfältig in die Mitte des Streifens, nahm schnell, aber sorgsam Maß, ließ das Gebilde zweimal wirbeln und brachte das Geschoß auf den Weg. Der dumpfe Aufprall tönte unerwartet laut und hohl. Einige Reifbewohner applaudierten. Afreyt eilte herbei und sagte, er solle das nicht noch einmal machen – Gott Odin könne sich beleidigt fühlen. Heute kann ich ihr auch nichts richtig machen, dachte der Mausling mürrisch. Aber das Ereignis brachte ihn auf einen Gedanken. Er sagte zu Cif: »Sag mal, vielleicht habe ich gestern abend diese Schlinge demonstriert, als ich den Würfel der Ehrlichkeit an seiner Schnur schwingen ließ. Erinnerst du dich? Manchmal bin ich von meinen eigenen Worten ganz trunken und erinnere mich nicht mehr genau daran.« Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht hast du das getan«, sagte sie. »Vielleicht wolltest du auch nur den Großen Mahlstrom darstellen, der die SonnenMingols verschlingen wird. Oh, was für eine großartige Rede!« Inzwischen waren sie auf gleicher Höhe mit dem Galgenhügel, und Afreyt ließ die Kolonne anhalten. Der Mausling ging mit Cif zu ihr, um den Grund dafür festzustellen und sich zu verabschieden – viel weiter wollte er nicht gehen. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß Afreyt die beiden spatenbewaffneten Männer und mehrere andere an die Arbeit schickte, den Galgen auszugra-
ben. Dann ließ sie die Sänfte vor der kleinen Ginsterlaube auf der Nordseite des Hügels absetzen und die Vorhänge öffnen. Er verfolgte ratlos, wie May und Gale aus dem Hain kamen, langsam und vorsichtig gehend, als hülfen sie jemandem – nur war zwischen ihnen nichts zu sehen. Bis auf die Männer, die den Galgen aus dem Boden zu lösen versuchten, waren alle still und schauten aufmerksam zu. Leise nannte Cif dem Mausling die Namen der Mädchen und schilderte ihm, was da vorging. »Soll das heißen, sie helfen dem Odingott und können ihn sehen?« flüsterte er zurück. »Jetzt fällt es mir ein, Afreyt hat gesagt, sie wollte ihn mitnehmen, aber ... Kannst du ihn denn sehen?« »Bei Sonnenschein nicht sehr deutlich«, räumte sie ein. »Aber im Dämmerlicht habe ich ihn schon wahrgenommen. Afreyt sagt, Fafhrd habe Odin vorgestern abend bei Dunkelheit ganz deutlich gesehen. Nur Afreyt und den Mädchen ist es gegeben, ihn jederzeit klar zu schauen.« Die seltsame Pantomime fand schnell ihren Abschluß. Afreyt schnitt einige dünne Ginsteräste ab und legte sie in die Sänfte (»Damit er sich wie zu Hause fühlt«, erklärte Cif dem Mausling) und begann die Vorhänge zu schließen, aber da rief Gale mit kindlich-schriller Stimme: »Er will, daß ich zu ihm hineinsteige!« Afreyt nickte, das kleine Mädchen stieg mit resigniertem Achselzucken in die Sänfte, die Vorhänge schlossen sich endlich, und das allgemeine Schweigen war zu Ende. Herr, was für eine Dummheit! dachte der Mausling. Wir zweifüßigen Phantasten glauben doch alles!
Aber unbehaglich machte er sich klar, daß er zu diesem Thema gerade der richtige Kritiker war, hatte er doch einen Gott aus dem Feuer sprechen hören und war von ihm aus seinem Körper verdrängt worden. Rücksichtslos waren diese Götter! Unter lautem Geschrei fiel der Galgen plötzlich um, sein Fundament brach aus der Erde und verstreute Schmutz ringsum, und ein halbes Dutzend kräftiger Reifbewohner hob sich das Gebilde auf die Schultern und machte Anstalten, ihn der Sänfte hinterherzutragen. »Nun ja, notfalls können sie das Ding wohl als Rammbock verwenden«, murmelte der Mausling vor sich hin. Cif blickte ihn von der Seite an. Nun kam das Lebewohl, letzte Nachrichten an Fafhrd wurden aufgetragen, und man versicherte sich gegenseitig des mutigsten Einsatzes, bis der Sieg erreicht und die Eindringlinge tot waren, dann machte sich die Expedition mit großen, schwungvollen Schritten auf den Weg. Der Mausling stand neben Cif und sah zu, wie die Gruppe sich in Richtung Totenland entfernte. Er hatte den Eindruck, daß die Männer leise vor sich hin summten: »Die Mingols werden des Todes sein«, und so weiter, im Takt zu den Schritten. Er fragte sich, ob er diese Worte ebenfalls geäußert hatte, ob die Reifbewohner die Verse womöglich von ihm hatten. Er schüttelte den Kopf. Aber dann kehrte er mit Cif allein zur Stadt zurück und bemerkte, daß es ein herrlicher Tag war, angenehm kühl. Der Wind fuhr durch das Heidekraut, und die Wildblumen bewegten sich auf ihren zarten Stengeln, und seine Laune besserte sich. Cif trug ihr Rostrot nicht wie üblich in Form von Hosen, sondern
als kurzes Kleid und hatte das dunkelgolden schimmernde Haar geöffnet, und ihre Bewegungen waren entspannt und impulsiv. Sie war noch immer zurückhaltend, doch sie benahm sich nicht mehr wie eine Ratsherrin, und der Mausling dachte daran, wie erregend ihr Kuß gewesen war, ehe er zu dem Schluß kam, daß es sich nur um eine bedeutungslose Geste gehandelt hatte. Ein Stück weiter vorn tauchten plötzlich zwei dicke Lemminge auf und erhoben sich kritisch starrend auf ihre Hinterbeine, ehe sie hinter einem Busch verschwanden. Cif verhielt den Schritt, um nicht gegen sie zu laufen, und stolperte. Der Mausling fing sie auf und drückte sie nach kurzem Zögern an sich. Einen Augenblick lang leistete sie keinen Widerstand, dann schob sie ihn fort und lächelte ihn beunruhigt an. »Grauer Mausling«, sagte sie leise, »ich fühle mich zu dir hingezogen, aber du weißt, daß du dem Gott Loki ähnelst. Und als deine gewaltige Predigt gestern abend die ganze Insel bezauberte, war die Ähnlichkeit noch ausgeprägter. Ich habe dir auch erzählt, wie widerstrebend ich den Gott zu mir nach Hause genommen hätte (was mich bewog, Hilsa und Rill anzuwerben, zwei mir bekannte Teufelinnen, die sich um ihn kümmern sollen). Jetzt empfinde ich, zweifellos wegen der Ähnlichkeit, eine ähnliche Zurückhaltung dir gegenüber, so daß es vielleicht das beste wäre, wenn wir Kapitän und Ratsherrin blieben, bis die Verteidigung der Reifinsel gelungen ist und ich dich von dem Gott trennen kann.« Der Mausling atmete tief ein und sagte langsam, auch er halte das für das beste, während er sich überlegte, daß die Götter zweifellos sehr störend auf
sein Privatleben einwirkten. Er war in Versuchung zu fragen, ob sie erwarte, er würde sich ebenfalls an Hilsa und Rill wenden (seien sie nun Teufelinnen oder nicht), bezweifelte aber, daß sie geneigt wäre, ihm solch göttliche Freizügigkeit zu gewähren (vorausgesetzt, er wollte sie in Anspruch nehmen), so groß die Ähnlichkeit auch sein mochte. In dieser Klemme steckend, erblickte er mit großer Erleichterung hinter Cifs Schulter einige Gestalten, die ihn fragen ließen: »Da wir gerade von Teufelinnen sprechen, was sind das für Wesen, die da von Salzhaven heraufkommen?« Daraufhin wandte sich Cif um, und tatsächlich, Rill und Hilsa eilten durch das Heidekraut auf sie zu, gefolgt von Mutter Grum, eine düstere Gestalt hinter den farbenfroh gekleideten Mädchen. Und obwohl es ein heller Tag war, drei Stunden alt oder mehr, trug Rill eine brennende Fackel bei sich. Im Sonnenschein war die Flamme kaum auszumachen, doch man konnte sehen, wo ihr Schimmer das Heidekraut dahinter schwanken ließ. Als die beiden Freudenmädchen näher kamen, war zu erkennen, daß ihre Gesichter bewegt waren von Erregung und einer Geschichte, die erzählt werden mußte und die heraussprudelte, kaum daß sie am Ziel waren. Der Mausling fragte trocken: »Warum versuchst du den Tag noch heller zu machen, Rill?« »Der Gott hat eben zu uns gesprochen, deutlich hörbar aus dem Feuer in der Flammenhöhle«, begann sie. »Er sagte: ›Dunkelfeuer, Dunkelfeuer, bringt mich zum Dunkelfeuer. Folgt der Flamme ...‹« Hilsa unterbrach sie: »›folgt ihrer Neigung‹, sagte der Gott knisternd. ›Dreht euch wie sie, in meinem Namen.‹«
Rill meldete sich wieder: »Ich entzündete also am Feuer der Flammenhöhle eine frische Fackel, in der er reisen konnte, und wir achteten sorgfältig auf die Flamme und folgten der Richtung, in die sie zeigte, und sie hat uns zu euch geführt!« »Und seht!« rief Hilsa, als Mutter Grum die Gruppe erreichte, »jetzt möchte die Flamme, daß wir zum Berg gehen. Sie deutet auf ihn!« Und sie wies mit der anderen Hand in Richtung Norden auf den Gletscher und den stummen schwarzen Schlackengipfel mit seiner Rauchwolke, die nach Westen geweht wurde. Pflichtbewußt kniffen Cif und der Mausling die Augen zusammen und starrten auf die gespenstische Flamme der Fackel. Nach einer Weile stellte der Mausling fest: »Die Flamme neigt sich in der Tat hinüber, aber ich finde, das liegt daran, daß sie ungleich abbrennt. Irgend etwas im Holz oder im Öl oder Harz ...« »Nein, eindeutig schickt uns die Flamme zum Berg Dunkelfeuer!« rief Cif aufgeregt. »Geh voraus, Rill!« Und die Frauen wandten sich nach Norden und schritten auf den Gletscher zu. »Aber, meine Damen, wir haben keine Zeit für einen Ausflug in die Berge!« rief der Mausling hinter ihnen her. »Bei all den Vorbereitungen für die Verteidigung der Insel und das morgige Auslaufen gegen die Mingols!« »Der Gott hat's befohlen«, sagte Cif über die Schulter. »Er weiß es am besten.« Mutter Grum sagte mit knurrender Stimme: »Ich bin sicher, unsere Reise ist kürzer als bis zur Bergspitze. Umwege sind näher als der gerade Weg, ganz bestimmt.«
Und mit dieser rätselhaften Bemerkung setzten die Frauen ihren Weg fort, und der Mausling zuckte die Achseln. Es blieb nichts anderes übrig, als den Frauen zu folgen, die er für Närrinnen hielt, weil sie einem brennenden Busch oder Ast nachliefen, als wäre er der Gott persönlich, selbst wenn sich die Flamme in der Tat auf rätselhafte Weise neigte. (Und auch er hatte ein Feuer sprechen hören, vorgestern abend.) Nun ja, wie auch immer, bei den gerade laufenden Reparaturarbeiten an der Treibgut mußte er nicht unbedingt dabeisein; Pshawri konnte die Besatzung beaufsichtigen so gut wie er oder zumindest ausreichend. Er paßte besser auf Cif auf, solange sie in dieser seltsamen Stimmung war, und sorgte dafür, daß ihr – oder ihren drei absonderlichen Gottesdienerinnen – nichts passierte. Eine süße, starke, vernünftige, betörende Frau war diese Cif – solange sie nicht einen Gott im Sinn hatte. Was für anstrengende, zeitraubende, anspruchsvolle Herren waren doch die Götter, sie gaben niemals Ruhe! (Er sagte sich, daß es nichts ausmache, solchen Gedanken nachzuhängen, konnten doch Götter keine Gedanken lesen. So weit war der Mensch jedenfalls vor ihnen sicher – wohingegen sie jedes Wort verstehen konnten, wurde es auch noch so leise gesprochen. Und sie vermochten sicher Körperbewegungen und Grimassen zu deuten.) Aus der Tiefe seines Schädels stieg der betörende Gesang auf: »Die Mingols werden des Todes sein«, und beinahe war er dankbar, daß das boshafte kleine Lied ihn von den Launen von Göttern und Frauen ein wenig ablenkte. Die Luft wurde kühler, und nach kurzer Zeit waren
sie am Gletscher. Davor erhob sich ein toter, kahler Baum und eine Art Hügel aus dunkelviolettem, beinahe schwarzem Gestein, darin klaffte eine noch schwärzere Öffnung, breit und hoch wie eine Tür. »Die war letztes Jahr noch nicht hier«, sagte Cif, und Mutter Grum brummte: »Der zurückweichende Gletscher hat sie freigelegt«, und Rill rief: »Die Flamme neigt sich zur Höhle!« und Cif sagte: »Gehen wir hinein«, und Hilsa meinte mit zitternder Stimme: »Es ist dunkel«, und Mutter Grum grollte: »Sei unbesorgt. Manchmal ist die Dunkelheit das beste Licht und der beste Weg.« Der Mausling verschwendete keine Zeit auf Worte, sondern brach drei Äste von dem toten Baum ab (die Loki-Fackel mochte nicht ewig brennen), legte sie sich über die Schulter und folgte den Frauen mit schnellen Schritten ins Innere des Felsens. Ohne innezuhalten, erstieg Fafhrd den scheinbar endlosen eisbedeckten Felshang unterhalb der Schneelinie des Höllenschein-Berges. Das orangerote Licht der untergehenden Sonne berührte seinen Rükken, ohne ihn zu wärmen, und überschwemmte die Felsschräge und den darüberliegenden dunklen Gipfel mit dem nach Osten wehenden dünnen Rauchstreifen. Das Gestein war diamanthart, schien aber mit seinen zahlreichen Vorsprüngen wie für das Bergsteigen gemacht. Trotzdem war er erschöpft und begann sich Vorwürfe zu machen, weil er seine Männer in großer Gefahr zurückgelassen hatte (darauf lief es hinaus), um hier eine wildromantische Schnitzeljagd zu veranstalten. Der Wind kam von Westen und traf ihn also von der Seite. Dies hatte er nun davon, daß er ein Mädchen auf
eine gefährliche Expedition mitnahm und auf Frauen hörte – in diesem Fall auf eine Frau. Afreyt war sich ihrer Sache ganz sicher gewesen und hatte sich dermaßen königlich-kommandierend geäußert, daß er gegen sein besseres Wissen eingewilligt hatte. Genau genommen jagte er jetzt in erster Linie wegen Afreyt hinter dem Mädchen her – aus Sorge, was sie von ihm halten würde, wenn der Kleinen etwas zustieß. O ja, er wußte sehr wohl, mit welchen Gründen er sich am Morgen dazu gebracht hatte, diese Aufgabe selbst zu übernehmen, anstatt einige seiner Leute loszuschikken. Er hatte vorschnell geschlossen, daß Prinz Faroomfar Mara entführt hatte, und hegte nun die Hoffnung (gestützt durch Afreyts und Cifs Schilderung, wie sie durch fliegende Bergprinzessinnen vor Khahkhts Zauber gerettet worden waren), daß Prinzessin Hirriwi, seine Geliebte aus einer weit zurückliegenden Nacht, unsichtbar herbeifliegen und ihm gegen ihren verhaßten Bruder Hilfe anbieten würde. Das war noch so ein Ärger mit den Frauen – sie waren nie zur Stelle, wenn man sie sehen wollte oder dringend brauchte. Sie halfen sich untereinander, das stimmte schon, doch von den Männern erwarteten sie unmögliche Heldentaten, mit denen sie sich des großen Geschenks ihrer Liebe als würdig erweisen sollten (und worin bestand dieses Geschenk, wenn man es schließlich erhielt? In einer hastigen und schnell beendeten Umarmung im Dunkeln, erleuchtet nur durch die stumme, unverständliche Vollkommenheit einer zarten Brust, die eher verwirrte und traurig stimmte). Der Hang wurde steiler, das Licht färbte sich röter, und Fafhrd begannen die Muskeln zu schmerzen. So wie die Dinge sich entwickelten, würde die Dunkel-
heit ihn am Hang überraschen, der dann auch noch den Mond mindestens zwei Stunden lang verdeckte. Unternahm er diese Suche nach Mara nur wegen Afreyt? Ging es nicht auch darum, daß sie denselben Namen hatte wie seine erste junge Geliebte, die er mit seinem ungeborenen Kind im Stich gelassen hatte, um Schneewinkel mit einer anderen zu verlassen, die er dann ebenfalls verließ – oder ahnungslos in den Tod führte, was im Grunde dasselbe war? Lag ihm nicht vielmehr daran, jene andere Mara zu beschwichtigen, indem er diese kindliche Mara rettete? Auch das war lästig bei den Frauen, zumindest bei den Frauen, die man liebte oder einmal geliebt hatte – sie hörten nicht auf, einem Mann Schuldgefühle einzugeben, selbst über den Tod hinaus. Ob man sie nun liebte oder nicht, unsichtbar war man an jede Frau gekettet, mit der man je zusammen gewesen war. Aber war das auch schon die höchste Wahrheit, die hinter seiner Suche nach dem Mädchen steckte? Er zwängte seine Analyse in den nächsten verschlungenen Spalt, so wie seine gefühllos werdenden Hände im schmutzigen roten Licht nach den nächsten Vorsprüngen des steiler werdenden Felshangs suchten. Erregte ihn nicht eigentlich der Gedanke an sie, so wie es Gott Odin passierte in seiner senilen Gier? War das der Grund, warum er und kein anderer auf Faroomfar Jagd machte – weil er den Prinzen als lüsternen Rivalen ansah bei diesem leckeren Stück Mädchenfleisch? Wo er schon dabei war, fragte er sich auch gleich noch, ob er nicht schon im fernen Lankhmar von Afreyts Mädchenhaftigkeit angelockt worden war – ihrer Schlankheit trotz der Größe, ihren kleinen und
vielversprechenden Brüsten, ihren Geschichten über verträumte Jugendspiele mit Cif, ihrer violettäugigen Romantik, ihrem verrückten Mut? Das und ihr Reifinsel-Silber hatten ihn an die Kette gelegt und ihn mit dem die Einsamkeit suchenden Gefährten Mausling den Weg beschreiten lassen, der dazu führte, daß er ein verantwortungsbewußter Anführer geworden war. Heute aber hatte er den Schritt zurück vollzogen, hatte er seine Männer im Stich gelassen. (Er erflehte bei den Göttern, daß Skor einen klaren Kopf behielt und daß wenigstens einige seiner Predigten und Übungen Wirkung gezeigt hatten!) Aber oh! – seine lebenslange Ergebenheit gegenüber Mädchen, diesen launischen, unschuldigen, berechnenden, eisig blickenden, kaltherzigen, wankelmütigen, heimtückischen kleinen Ungeheuern! Diesen weißen, schmalhalsigen, spitzzähnigen, endlos hüpfenden Wieseln mit den seelenvollen Augen von Lemuren! Die blindlings emporgereckte Hand stieß ins Leere, und er erkannte, daß er in seiner temperamentvollen Selbsteinkehr das Ende des Hangs erreicht hatte, ohne es zu merken. Mit verspäteter Vorsicht hob er den Kopf, bis er über die Kante blicken konnte. Die letzten dunkelroten Strahlen der Sonne offenbarten ihm einen von losem Gestein bedeckten Vorsprung von etwa zehn Fuß Breite; dahinter stieg der Berg weiter steil empor, dort aber ohne Schnee. In der kahlen Bergwand klaffte ihm gegenüber eine große Vertiefung oder Höhle, breit wie der Vorsprung und etwa zweimal so hoch. In dieser großen Öffnung war es sehr dunkel, doch er konnte Maras hellroten Mantel erkennen, dessen Kapuze angehoben war, und in dieser Kapuze, in ihrem Schatten liegend, das kleine Ge-
sicht des Mädchens, sehr bleich, mit dunklen Augen – im Grunde nur ein Fleck in der Dunkelheit, der ihn anstarrte. Er erklomm den Vorsprung, wobei er sich mißtrauisch umsah, und ging dann, leise ihren Namen rufend, auf das Mädchen zu. Sie antwortete nicht mit Stimme oder Geste, starrte ihn aber weiter an. Aus dem Berg wehte ein warmer, schwach nach Schwefel riechender Wind und bewegte den roten Mantel. Fafhrd ging schneller, erfüllt von einer Vorahnung übler Schrecken, und riß das Tuch zur Seite. Darunter kam ein kleiner grinsender Totenschädel zum Vorschein, den jemand auf ein etwa vier Fuß hohes schmales Holzkreuz gesetzt hatte. Schwer atmend machte Fafhrd einige Schritte rückwärts. Die Sonne war untergegangen, und der graue Himmel wirkte plötzlich weiter und bleicher. Die Stille war total. Fafhrd blickte in beiden Richtungen den Felsvorsprung entlang – nichts. Dann starrte er wieder in die Höhle, und seine Wangenmuskeln verkrampften sich. Er ergriff Eisen und Feuerstein, öffnete den Zunderbeutel und entzündete eine Fakkel. Er hielt sie mit der Linken in die Höhe und bewegte in der rechten Hand die blanke Axt hin und her – so schritt er in die Höhle hinein, in die Tiefe des Berges, vorbei an der unheimlichen winzigen Vogelscheuche, dem fortgeworfenen roten Mantel ausweichend. Er folgte dem seltsam glatten Gang, der groß genug war für einen Riesen oder ein geflügeltes Monster. Der Mausling wußte bald nicht mehr, wie lange er den vier gottesfürchtigen Frauen durch die seltsam
tunnelähnliche Höhle folgte, die unter dem Gletscher hindurch immer tiefer in das Herz des Vulkans Dunkelfeuer führte. Jedenfalls lange genug, daß er unterwegs die dickeren Enden der drei Äste ankerben konnte, damit die halb aufgerollten Späne sich schneller entzünden ließen. Und auf jeden Fall lange genug, um genug zu haben von dem Todeslied auf die Mingols, das ihm inzwischen nicht mehr nur im Kopf herumging, sondern von den vier gebannt ausschreitenden Frauen ausgesprochen wurde, als handele es sich um ein Marschlied – ähnlich wie Gronigers Männer die Worte vor sich hin gesagt hatten. In diesem Fall brauchte er sich allerdings nicht zu wundern, woher sie die Verse kannten, waren sie doch an jenem Abend in der Flammenhöhle dabeigewesen, als Gott Loki aus dem Feuer sprach, aber das machte die Strophen um keinen Deut erträglicher oder weniger ermüdend. Zuerst hatte er auf Cif einzuwirken versucht, die mit den anderen wie eine gehetzte Mänade dahineilte, hatte ihr eingeredet, daß es doch unklug sei, tollkühn in eine unerforschte Höhle vorzudringen, doch sie hatte nur auf Rills Fackel gedeutet und gesagt: »Sieh doch, wie das Feuer voranstrebt! Der Gott befiehlt uns zu gehen.« Und dann hatte sie den Singsang fortgesetzt. Nun, er konnte nicht leugnen, daß die Flamme auf unnatürliche Weise nach vorn geneigt war, während sie bei dem hastigen Lauf durch den Tunnel eigentlich nach hinten hätte züngeln müssen; außerdem brannte sie schon länger, als man von einer Fackel erwarten konnte. Der Mausling hatte sich also damit begnügen müssen, sich den durch das Gestein zu-
rückgelegten Weg nach bestem Vermögen einzuprägen, einen Weg, der zuerst recht kalt gewesen war (kein Wunder bei dem über dem Tunnel lastenden Eis!), jetzt aber merklich wärmer geworden war, während von der Luft ein schwacher Schwefelgeruch herbeigetragen wurde. Wie dem auch sein mochte, niemand zwang ihn, Spaß zu haben an seiner Rolle als Werkzeug und Spielball geheimnisvoller Kräfte, die mächtiger waren als er, Kräfte, die sich nicht einmal die Mühe machten, ihm die Worte zu offenbaren, die sie durch ihn sprachen (die Angelegenheit mit der Rede, die er gehalten hatte, ohne ein Wort davon mitzubekommen, machte ihm immer mehr zu schaffen). Und vor allem brauchte er seine Unterwerfung unter das Unergründliche nicht auch noch dadurch zu feiern, daß er wie die Frauen geistlos Worte über Tod und Verderben wiederholte. Außerdem gefiel es ihm ganz und gar nicht, Frauen verpflichtet zu sein und immer mehr in ihre Angelegenheiten hineingezogen zu werden, ein Gefühl, das sich verstärkt hatte, seit er vor drei Monaten Cifs Auftrag angenommen hatte, einen Auftrag, der dann wiederum zu seiner Abhängigkeit von Pshawri und Mikkidu und all den Männern geführt hatte und weg von seinen persönlichen Zielen und seiner Selbstachtung. Vor allem anderen mißfiel ihm seine Abhängigkeit von der Idee, er sei ein ungeheuer schlauer Bursche, der alle kleinen und großen Götter um den kleinen Finger wickeln könne, ein Mann, von dem jedermann gottesgleiche Taten erwartete. Warum konnte er nicht zumindest Cif eingestehen, daß er kein Wort von seiner angeblich so großartigen Rede mitbekommen
hatte? Und wenn er wirklich so mächtig war, warum zeigte er den Göttern nicht, was eine Harke war? Der lange Tunnel, dem sie gefolgt waren, mündete in einer von Dämpfen durchzogenen größeren Höhle und endete plötzlich vor einer mächtigen Felswand, die nach beiden Seiten und nach oben kein Ende zu nehmen schien. Die Frauen unterbrachen ihr dumpfes Lied, und Rill rief: »Wohin jetzt, Loki?«, und Hilsa sprach mit zitternder Stimme dieselben Worte. Mutter Grum knarrte: »Sag es uns, Wand!«, und Cif forderte laut: »Sprich, o Gott!« Während die Frauen diese Worte sagten, trat der Mausling leise vor und legte eine Hand an die Felswand. Sie war so heiß, daß er beinahe zurückgezuckt wäre, aber eben nur beinahe, und unter Handfläche und ausgebreiteten Fingern spürte er einen gleichmäßigen kräftigen Pulsschlag, einen Rhythmus im Gestein, als tönte das Lied der Frauen auch durch den ganzen Berg. Wie zur Antwort auf das Verlangen der Frauen flammte die Loki-Fackel, die inzwischen bis auf einen kleinen Stummel abgebrannt war, zu einer gewaltigen siebenfachen Flamme empor, die beinahe unerträglich hell loderte – ein Wunder, daß Rill sie halten konnte. Das Licht offenbarte die erschreckende Ausdehnung der Felsfläche, vor der sie standen. Im gleichen Augenblick schien das Gestein unter der Hand des Mauslings mit jedem Taktschlag des Liedes auf ungeheure Weise zu zucken, und auf gleiche Weise bewegte sich auch der Boden. Plötzlich wölbte sich die gewaltige Felsfläche vor, und die Hitze steigerte sich ebenfalls ins Ungeheure, und der Schwefelge-
ruch nahm dermaßen zu, daß alle würgten und husteten, während sie vor ihrem inneren Auge ein Erdbeben sahen und Fluten roter Lava, die aus dem Innern des Berges herausbrachen und die Höhle überschwemmten. Es spricht für die Umsicht des Mauslings, daß er in den Sekunden der Panik und erschrockenen Ungewißheit daran dachte, einen seiner Äste in die grelle Flamme zu halten. Und das war nur gut so, denn die mächtige Gottesflamme erstarb plötzlich so schnell, wie sie aufgelodert war, und ließ das schwache Licht des brennenden Zweiges aus ganz gewöhnlichem Holz zurück, den er mit beiden Händen hielt. Rill ließ den kurzen Rest der ausgebrannten Fackel mit einem Schmerzensschrei zu Boden fallen, als merke sie erst jetzt, daß sie Verbrennungen davongetragen hatte, während Hilsa zu wimmern begann und die Frauen wie betäubt herumtasteten. Als sei das Kommando mit der Fackel wortlos auf den Mausling übergegangen, führte er sie den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren, fort von den üblen Dämpfen, durch die jetzt beunruhigend düsteren Gänge, die er als einziger sich gemerkt hatte und in denen noch immer die schreckliche Felsmusik dröhnte als Echo des Menschenliedes, eine Symphonie drohender Vernichtung, die auf monströse Weise in solidem Gestein weitergegeben wurde, der segensreichen Außenwelt voller Licht, Luft und Himmel entgegen, voller Felder und weitem Ozean. Die Voraussicht des Mauslings war damit aber noch nicht erschöpft (ein so weitreichendes Vorgefühl, daß er manchmal nicht zu sagen wußte, was er eigentlich spürte), denn im Augenblick größter Panik,
als der Rest der Loki-Fackel aus Rills Hand zu Boden fiel, nahm er sich die Zeit, das Stück vom Felsboden aufzunehmen und es tief in seine Tasche zu stopfen; es war kaum mehr als ein heißer schwarzer Brocken. Er verbrannte sich ein wenig die Finger, wie er hinterher feststellte, doch zum Glück war die Hitze nicht so groß, daß der Beutel Feuer fing. Afreyt saß neben der Sänfte auf einem flechtenbewachsenen Stein und ruhte sich aus; sie hatte ihren grauen Mantel eng um sich gezogen. Sie befand sich in dem breiten Gipfelpaß des Totenlandes (nahe der Stelle, an der Fafhrd seinen ersten Zusammenstoß mit den Mingols gehabt hatte, was sie aber nicht wußte). Von Zeit zu Zeit bewegte ein Windhauch aus dem Osten die geschlossenen Vorhänge der Sänfte, ein Lufthauch, der der Kühle des violetten Himmels zu entsprechen schien. Die Träger hatten sich zu den anderen Männern an einer der kleinen Feuerstellen weiter vorn und hinten gesellt, aus mitgebrachtem Holz entzündet, um während dieser Abendrast eine kleine Mahlzeit zu erwärmen. Der Galgen war auf Afreyts Anweisung vorsichtig abgestellt worden, Fundament und Oberteil in Felsspalten geklemmt, so daß er wie ein umgestürztes »L« am Boden lag, der Winkel wie ein schiefes Dach aufragend oder wie ein Dachbaum mit einem Stützpfosten. Das Licht der untergegangenen Sonne im Westen reichte eben aus, daß sie sich zu fragen begann, ob es wohl Rauch war, was sich da über dem schmalen Krater des Höllenschein-Berges in östlicher Richtung bewegte, während die Nacht im kalten Osten schon so weit fortgeschritten war, daß sie mit ziemlicher Si-
cherheit einen schwachen Schimmer am Gipfel Dunkelfeuers wahrzunehmen vermeinte. Wieder machte sich der Ostwind bemerkbar, und sie zog die Schultern hoch und schmiegte den Stoff der Kapuze enger an ihre Wangen. Die Vorhänge der Sänfte öffneten sich kurz. May glitt heraus und blieb vor Afreyt stehen. »Was hast du da um den Hals?« fragte sie das Mädchen. »Eine Schlinge«, antwortete May eifrig, wenn auch mit einer gewissen Feierlichkeit. »Ich habe sie selbst geflochten. Odin zeigte mir, wie man den Knoten macht. Wir alle werden dem Orden der Schlinge angehören; Odin und ich haben ihn heute nachmittag erfunden, während Gale schlummerte.« Zögernd hob Afreyt die Hand an den schmalen Hals des Mädchens und betrachtete in nervöser Faszination die dicke Schlinge. Ja, da war der grausame Henkersknoten, der sogar ziemlich eng zusammengezogen war, und hineingestopft war ein Strauß kleiner Bergblumen, die früher am Tage an den unteren Hängen gepflückt worden waren und inzwischen ein wenig verwelkt aussahen. »Ich habe für Gale auch eine gemacht«, fuhr das Mädchen fort. »Zuerst wollte sie sie nicht umlegen, weil ich das Ganze mit ausgedacht hatte. Sie war eifersüchtig.« Afreyt schüttelte mißbilligend den Kopf, obwohl ihre Gedanken ganz woanders waren. »Hier«, sprach May weiter und hob die Hand, die unter ihrem Umhang herabgehangen hatte. »Für dich habe ich auch eine Schlinge geknüpft, etwas größer. Schau, auch mit Blumen. Nimm die Kapuze ab. Du
trägst sie natürlich unter dem Haar.« Einen Moment lang blickte Afreyt in die starren Augen des Mädchens. Dann streifte sie die Kapuze zurück, neigte den Kopf und half ihrem Haar hindurch. Mit beiden Händen zog May an Afreyts Halsansatz die Schlinge zusammen. »Na bitte«, sagte sie. »So sollst du sie tragen, nicht lose, aber auch nicht fest.« Unterdessen war Groniger herbeigekommen. Er brachte drei Schalen und ein kleines Gefäß mit Dekkel, in dem sich Suppe befand. Als man ihm die Schlingen erklärt hatte, hob er die Augenbrauen, setzte ein breites Grinsen auf und rief: »Ein toller Einfall! Das wird den Mingols den Weg weisen, wenn sie das sehen, wissen sie, was sie erwartet. Der Kleine Kapitän hat uns da ein tolles Lied geschenkt, findet ihr nicht auch?« Afreyt nickte und streifte Groniger mit einem Seitenblick. »Ja«, sagte sie, »seine wundervollen Worte.« Groniger erwiderte ihren Blick auf ähnliche Weise. »Ja, seine wundervollen Worte.« »Ich wünschte, ich hätte ihn sprechen hören«, sagte May. Groniger teilte die Schalen aus und schüttete mit schneller Bewegung die dicke heiße Suppe hinein. »Ich bringe Gale ihre Portion«, sagte May. Barsch sagte Groniger zu Afreyt: »Iß, solange es noch heiß ist. Dann ruh dich aus. Wir marschieren bei Mondaufgang weiter, einverstanden?« Als Afreyt nickte, entfernte er sich wichtigtuerisch, und summte dabei aufgekratzt das Lied vor sich hin, zu dessen Klang sie den ganzen Tag marschiert waren – das Lied des Mauslings, um genau zu sein: das Lied Lokis.
Afreyt runzelte die Stirn. Normalerweise war Groniger ein ungemein sachlicher Mann, sie hatte ihn früher sogar für ein wenig schwerfällig gehalten. Jetzt aber gebärdete er sich beinahe wie ein Possenreißer. War »ungeheuer lustig« ein zu starker Ausdruck dafür? Langsam schüttelte sie den Kopf. Alle Reifbewohner schienen sich ähnlich zu entwickeln, sie reagierten lümmelhaft, grotesk, wirkten irgendwie größer, tolpatschiger. Vielleicht lag es an ihrer Erschöpfung, daß sie die Dinge verzerrt und nicht mehr im richtigen Verhältnis sah, überlegte sie. May kehrte zurück, und sie griffen nach ihren Löffeln und begannen zu essen. »Gale wollte nicht herauskommen«, erzählte das Mädchen nach kurzer Zeit. »Ich glaube, sie und Odin führen etwas im Schilde.« Sie zuckte die Achseln und aß weiter. Nach einigen Minuten bemerkte sie: »Ich werde auch Schlingen für Mara und Kapitän Fafhrd machen.« Schließlich kratzte sie ihre Schale aus, stellte sie zur Seite und fragte: »Kusine Afreyt, glaubst du, daß Groniger ein Troll ist?« »Was ist denn das?« fragte Afreyt. »Ein Wort, das Odin gebraucht hat. Er sagt, Groniger wäre ein Troll.« Gale sprang mit ihrer leeren Schale aufgeregt aus der Sänfte, vergaß aber nicht, die Vorhänge hinter sich zu schließen. »Odin und ich haben für uns ein neues Marschlied geschaffen!« verkündete sie und stellte ihre Suppenschale in Mays Teller ab. »Er findet das Lied des anderen Gottes in Ordnung, meint aber, er müßte auch eins haben. Hört zu, ich singe es euch vor. Es ist kürzer und schneller als das andere.« Ihr Gesicht ver-
zerrte sich etwas. »Es geht wie Trommelschlag«, erklärte sie voller Ernst. Dann stampfte sie mit einem Fuß auf: »Marschiert, marschiert übers Totenland! Geht übers Land des Verderbens. Tötet die Mingols mit rascher Hand, so wie die Helden sterben. Verderben! Herrliches Verderben!« Ihre Stimme war immer lauter geworden. »Herrliches Verderben?« wiederholte Afreyt. »Ja. Los, May, sing mit!« »Ich weiß nicht, ob ich das möchte.« »Ach, mach schon! Ich trage deine Schlinge, oder nicht? Odin sagt, wir sollen das alle singen.« Als die beiden Mädchen den Gesang mit schrillen Stimmen begeistert wiederholten, kamen Groniger und ein anderer Inselbewohner herbei. »Das klingt gut«, sagte er und sammelte die Schalen wieder ein. »Herrliches Verderben ist gut.« »Gefällt mir«, warf der andere Mann ein. »Verderben! – tötet die Mingols!« wiederholte er anerkennend. Leise vor sich hin singend, kehrten die Männer zu den anderen zurück. Die Nacht wurde dunkler. Der Wind wehte stärker. Die Mädchen verstummten. »Es ist kalt«, sagte May schließlich. »Der Gott friert bestimmt. Gale, wir sollten zu ihm gehen. Kommst du zurecht, Kusine Afreyt?« »Ich komme zurecht.« Kurze Zeit später schlossen sich die Vorhänge hin-
ter den beiden. May steckte noch einmal den Kopf heraus. »Der Gott lädt dich ein, zu uns hereinzukommen!« rief sie Afreyt zu. Afreyt stockte der Atem. Dann sagte sie, so ruhig sie konnte: »Bitte sag dem Gott meinen Dank, aber ich möchte doch lieber hierbleiben – und wachen.« »Wie du willst«, antwortete May, und der Vorhang schloß sich wieder. Afreyt verschränkte unter dem Mantel die Hände. Sie hatte bisher niemandem erzählt, nicht einmal Cif, daß Odin für sie seit einiger Zeit im Schwinden begriffen war. Sie vermochte ihn nur noch als sehr schwachen Umriß wahrzunehmen. Noch hörte sie seine Stimme, aber auch sie war sehr schwach und schien im Seufzen des Windes unterzugehen. An jenem Frühlingstag, da sie und Cif den Gott gefunden hatten – und dann feststellen mußten, daß es sich um zwei Götter handelte –, war er ihr sehr real vorgekommen. Damals schien er dem Tode ganz nahe zu sein, und sie hatte sich große Mühe gegeben, ihn zu retten. Sie war von großer Bewunderung erfüllt gewesen, als wäre er ein alter Helden-Heiliger oder ihr eigener geliebter Vater, der nicht mehr lebte. Und als er sie ungeschickt getätschelt und mit (wie es sich anhörte) enttäuschter Stimme gemurmelt hatte: »Du bist ja älter, als ich dachte«, um dann einzuschlafen, hatten sich Entsetzen und Ablehnung breitgemacht und ihre Bewunderung befleckt. Dann erst war sie auf den Gedanken gekommen, sich an die Mädchen zu wenden (machte sie das zu einem Ungeheuer? Nun ja, vielleicht), und seither war sie ziemlich gut zurecht-
gekommen, indem sie alles von sich fernhielt. Außerdem waren da die Aufregung der Reise nach Lankhmar gewesen und die Gefahren von Khahkhts Eis-Magie und die erneute Aufregung der Ankunft des Mauslings und Fafhrds und die Erkenntnis, daß Fafhrd in der Tat eine jüngere Ausgabe Odins zu sein schien (lag hier der Grund, warum der Odin-Gott verblaßt war und sich eine Flüsterstimme zugelegt hatte?). Sie wußte es nicht; sie wußte nur, daß dadurch alles sehr qualvoll und verwirrend wurde, und sie hätte es heute nicht ertragen, in die Sänfte zu steigen. (Ja, sie war ein Ungeheuer.) Sie spürte einen scharfen Schmerz am Hals und erkannte, daß sie in ihrer Aufregung am freien Ende der Schlinge gezogen hatte, die unter ihrem Mantel herabhing. Sie lockerte den Strang wieder und zwang sich stillzusitzen. Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Sie hatte recht: Dunkelfeuer ließ tatsächlich schwache Flammen aufsteigen, ebenso Höllenschein. Sie hörte Teile der Gespräche an den Lagerfeuern und Fetzen des neuen Liedes und Gelächter, das von der dazugehörigen Geschichte ausgelöst wurde, die nun die Runde machte. Obwohl es sehr kalt war, bewegte sie sich nicht. Im Osten wurde es silbrig-hell, ein milchiger Streifen wölbte sich empor, und schließlich rückte der weiße Mond in Sicht. Nun wurde es wieder lebendiger im Lager, und nach einer Weile kamen die Träger und lösten Odins Galgen aus den Felsspalten und hoben ihn und auch die Sänfte an. Afreyt stand auf, bewegte die steifen Gelenke und trat mit den kalten Füßen auf. Die Kolonne marschierte in westlicher Richtung über das mondsilberne Gestein, auf dem Rücken die grotesken
Waffen und die beiden größeren Lasten. Einige Männer humpelten bereits ein wenig (schließlich waren sie Seeleute und das Marschieren nicht gewöhnt), doch alle schritten im Takt des neuen Odin-Liedes energisch aus, geduckt vor dem Ostwind, der jetzt kräftig und gleichmäßig wehte. Fafhrd hatte soeben am glimmenden Ende der ersten Fackel den zweiten Brand entzündet, und seine Umgebung war wärmer geworden, als der hohe Gang, dem er folgte, in einer so weiten Höhle endete, daß das Licht in seiner Hand darin unterzugehen schien. Das Geräusch des fortgeworfenen Fackelstummels, der auf den Felsboden prallte, weckte ferne und schwache Echos, und der Nordling blieb stehen und sah sich um. Plötzlich fielen ihm zahlreiche Lichtpunkte auf, die wie Sterne anmuteten – in Wirklichkeit handelte es sich um kleine Glimmerflächen im Gestein, die das Licht seiner Fackel spiegelten. In mittlerer Entfernung entdeckte er eine unregelmäßig geformte Säule aus glimmerdurchsetztem Stein und auf dieser Säule ein kleines helles Bündel, das seine Aufmerksamkeit erweckte. Im nächsten Augenblick hörte er weit über sich gewaltigen Flügelschlag, dann herrschte einen Augenblick Stille, und wieder wurden die Flügel bewegt – als kreise in der pechschwarzen Höhle ein riesiger Aasvogel. »Mara!« rief er zu der Säule hinüber, und die Echos prallten zurück, und dazwischen tönte schrill und schwach sein eigener Name, der wiederum Echos auslöste. Er erkannte plötzlich, daß der Flügelschlag aufgehört hatte und daß einer der fernen Glimmersterne sehr schnell größer wurde, als bewege er sich
mit großer Geschwindigkeit genau auf ihn zu, gleichzeitig hörte er ein Pfeifen in der Luft, als stürze sich ein großer Falke auf ihn. Er schnellte vor dem hellen Schwert zur Seite, das auf ihn zuzuckte, und hieb gleichzeitig mit seiner Axt auf eine Stelle unmittelbar dahinter. Die Fackel wurde seiner Hand entrissen, etwas wie ein Ledersegel streifte ihn an den Knien, und wieder wurden die mächtigen Flügel bewegt, ganz in der Nähe, und dann noch einmal, gefolgt von dem schrillen Schmerzensschrei eines Mannes, in dem trotz aller Pein, die darin zum Ausdruck kam, auch Empörung lag. Als er sich aufrappelte, sah er seine Fackel auf dem Felsboden flackern, durchbohrt von dem hellen Schwert, das ihm den Brand aus den Fingern geschlagen hatte. Flügelschlag und Geschrei entfernten sich. Fafhrd stellte den Stiefel auf den Fackelgriff und machte Anstalten, das Schwert aus dem Holz zu ziehen, doch als er den Schwertgriff umfassen wollte, berührten seine Finger eine schuppige Hand, schmaler als die seine, die fest um das Metall lag und (davon überzeugten sich seine tastenden Finger) am Handgelenk feuchtwarm war – dort war die Hand abgeschlagen worden. Hand und Blut waren gleichermaßen unsichtbar, so daß seine Finger die Erscheinung zwar berührten und spürten, seine Augen aber nur den Griff des Schwerts sahen, den silbernen Steg, den birnenförmigen silbernen Knauf und den schwarzen Ledergriff, der mit Silberdraht durchwirkt war. Nun wurde stockend sein Name gesprochen, dicht hinter ihm. Er fuhr herum und erblickte Mara in ihrem weißen Kleid, bedrückt und verwirrt aussehend,
als wäre sie eben erst von der Säule gehoben und hier abgesetzt worden. Als er zur Antwort ihren Namen aussprach, hörte er in der Luft schräg über Mara eine Stimme in dem erschreckenden und zwingenden Tonfall einer Vertrauten und Geliebten, die sich alptraumhaft zum Haß gewandelt hat. »Wehe dir, Barbar«, sagte die unsichtbare Bergprinzessin Hirriwi, »daß du wieder in den Norden gekommen bist, ohne zuvor am Stardock deine Aufwartung zu machen. Wehe dir, daß du darüber hinaus auf Geheiß einer anderen Frau gekommen bist, wenn wir ihr Anliegen auch sonst unterstützen. Wehe dir, daß du deine Männer im Stich ließest für dieses blutjunge Mädchen, das wir auch ohne dich hätten retten können (und gerettet haben). Wehe dir, daß du dich mit Dämonen und Göttern eingelassen hast! Und doppelt Weh, weil du erfolgreich die Hand erhoben hast gegen einen Prinzen von Stardock, dem wir verbunden sind, obwohl er unser liebster Feind ist – durch Bande, die stärker sind als Liebe und Haß. Ein Kopf für einen Kopf und eine Hand für eine Hand, denk darüber nach. Fünffaches Weh!« Während dieser Worte war Mara neben Fafhrd getreten, der aufgerichtet in der Höhle kniete und mit zuckendem Gesicht in die Leere starrte und lauschte. Er hatte ihr einen Arm um die Schultern gelegt, und so starrten sie gemeinsam in das sprechende Zwielicht. Als Hirriwi fortfuhr, klang ihre Stimme weniger leidenschaftlich, aber genauso kalt wie vorher. »Keyaira heilt und pflegt unseren Bruder, und ich werde zu den beiden gehen. Zur Morgenstunde bringen wir euch auf unserem Luftfisch zu deinen Leuten
zurück, wo du dein Schicksal erfahren wirst. Solange ruht euch aus in der Wärme von Höllenfeuer, der euch noch nicht gefährlich ist.« Sie brach ab, und Fafhrd hörte, wie sie sich entfernte. Die Fackel brannte kaum noch, das Holz war beinahe aufgezehrt, und eine große Erschöpfung überkam Fafhrd und Mara. Sie legten sich nebeneinander auf den Felsboden, und der Schlaf wurde wie eine Decke von den Zehen bis zu den Augen über sie gezogen. Vor dem Entschlummern fragte sich Fafhrd, warum es ihn so seltsam anrührte, daß Mara seine linke Hand, die er zur Schulter hochgeneigt hatte, fest mit beiden Händen umfaßt hielt. Am nächsten Tag herrschte in Salzhaven zur Vorbereitung des großen Auslaufens ein dermaßen frühes und heftiges Treiben – es war wirklich phantastisch –, daß schwer zu sagen war, wo die Anregungen von Alpträumen und Sorgenträumen endeten und jene des (hoffentlich) hellwachen Tages begannen. Selbst die ›Ausländer‹ wurden von der hektischen Stimmung angesteckt, als hätten auch sie in ihren Träumen den Die-Mingols-werden-des-Todes-seinGesang gehört; so daß der Mausling gegen besseres Wissen gezwungen gewesen war, Fafhrds Seefalke mit den eifrigsten aus diesem Kreis zu bemannen, unter der Führung des ›Bürgermeisters‹ Bomar und des ilthmar'schen Tavernenbesitzers. Er ernannte Pshawri zum Kapitän über dieses Schiff, gestützt auf die Hälfte seiner Diebestruppe, dazu zwei Mingols, Trenchi und Gavs, die ihm bei der Bedienung des Schiffes zur Hand gehen sollten. »Denk daran, daß du der Chef bist«, schärfte er
Pshawri ein. »Das müssen sie schlucken oder auf das Unternehmen verzichten. Und halt dich in Luv von mir.« Pshawri, dessen frisch verheilte Stirnwunde noch rosa schimmerte, nickte energisch und machte sich an die Arbeit. Der Osthimmel über der Salzklippe schimmerte unheildrohend rot von dem bevorstehenden Sonnenaufgang, während im Westen noch die Düsternis der Nacht nachklang. Es wehte ein starker Ostwind. Vom Heck der Treibgut aus überschaute der Mausling den belebten Hafen und seine Flotte aus zu Kampfschiffen umgerüsteten Fischerbooten. Ein wahrhaft absonderlicher Anblick – die Decks, auf denen vor kurzem noch Fische gestapelt waren, strotzten nun von Lanzen und anderen als Waffen geeigneten Dingen, wie er sie tags zuvor auch bei Gronigers Männern gesehen hatte. Einige Kapitäne hatten mächtige Zeremonienspeere an die Bugspriete gebunden (in Wirklichkeit handelte es sich um Balken, mit Bronzespitzen bewehrt); vermutlich sollten damit Mingolschiffe gerammt werden, das Schicksal stehe diesen Leuten bei! Andere hatten rote und schwarze Segel aufgezogen, um blutige und böse Absichten anzukündigen (der nüchternste Fischer war im Herzen ein potentieller Pirat, soviel war klar). Drei Boote waren halb in Fischernetze eingehüllt – als Schutz vor Pfeilbeschuß? Die beiden größten Schiffe standen unter dem Kommando Dwones und Zwaakens, seiner Unter-Admiräle, wenn man sie so nennen konnte. Er schüttelte den Kopf. Wenn er nur Zeit gehabt hätte, seine Gedanken zu ordnen! Doch seit dem Erwachen hatten sich die Er-
eignisse (und seine eigenen unberechenbaren Impulse) förmlich überstürzt. Tags zuvor war es ihm gelungen, Cif und die anderen drei Frauen sicher aus dem bebenden und stinkenden Bergtunnel zu führen (er blickte auf Dunkelfeuer, der noch immer eine dikke schwarze Rauchsäule in dem Himmel schickte, die von Ostwind gen Westen geblasen wurde); dabei hatte er feststellen müssen, daß sie eine unvertretbar lange Zeit unter der Erde verbracht hatten und es bereits Abend war. Nachdem er sich um Rills Hand gekümmert hatte, die von der Loki-Fackel übel verbrannt war, hatten sie nach Salzhaven zurückeilen müssen, um allerlei hastige Konferenzen abzuhalten – und so blieb kaum Zeit, sich mit Cif über die Bedeutung des Höhlenabenteuers klarzuwerden ... Und jetzt mußte er sich die Zeit nehmen, Mikkidu bei der Unterweisung der sechs reifischen Fischer zu helfen, Ersatz für die Diebe, die sie an die Seefalke verloren hatten. Die Männer mußten lernen, wie man große Ruder bediente, und dergleichen mehr. Kaum war das erledigt (im Grunde brauchte er Mikkidu nur ein paar leise Anweisungen zu geben), kam Cif an Bord, gefolgt von Rill, Hilsa und Mutter Grum – bis auf die Greisin trugen alle Seemanshosen und Jacken mit Messern im Gürtel. Rill hatte den rechten Arm in der Schlinge. »Hier sind wir und unterstellen uns deinem Kommando, Kapitän«, sagte Cif munter. »Liebe ... Ratsherrin«, antwortete der Mausling mit einem sinkenden Gefühl in der Magengrube. »Die Treibgut kann unmöglich mit Frauen an Bord einem Kampf entgegensegeln, zumal ...« Er blickte die andere bedeutsam an und verzichtete auf den Hinweis,
daß er keine Huren und Hexen an Bord haben wollte. »Dann übernehmen wir die Kobold und folgen dir«, antwortete sie unbeeindruckt. »Oder fahren voraus, um die Sonnenwärtigen Mingols nach Möglichkeit als erste zu sichten – du weißt ja, wie schnell die Kobold ist. Ja, vielleicht wäre das am besten – für die Soldatinnen ein Schiff, das Frauen gehört.« Der Mausling ergab sich in das Unvermeidliche. Rill und Hilsa strahlten. Cif berührte ihn mitfühlend am Arm. »Es freut mich, daß du einverstanden bist«, sagte sie. »Ich hatte die Kobold bereits an drei andere Frauen verliehen.« Aber dann wurde sie ernst und sprach mit leiser Stimme weiter: »Mich beunruhigt etwas, von dem du wissen solltest. Wir wollten den guten Gott Loki in einem Feuerkessel an Bord bringen, so wie er gestern in Rills Fackel gereist ist ...« »An Bord eines Schiffes, das in den Kampf segelt, darf es kein Feuer geben«, antwortete der Mausling automatisch. »Außerdem brauchst du dir nur Rills üble Wunde anzusehen ...« »Aber als wir heute früh in die Flammenhöhle kamen, fanden wir das Feuer aus unerklärlichen Gründen zum erstenmal seit einem Jahr erloschen«, beendete Cif ihren Bericht. »Wir haben die Asche durchwühlt, aber es war kein Funke mehr zu finden.« »Nun«, sagte der Mausling nachdenklich, »vielleicht hat der Gott gestern vor der großen Felswand seine Residenz vorübergehend in das feurige Herz des Berges verlegt – erinnere dich, wie hell er aufgelodert ist. Und seht, wie der Vulkan heute qualmt!« Und er deutete auf Dunkelfeuer, dessen nach Westen abknickender Rauch sich eher noch verstärkt hatte.
»Ja, aber auf diese Weise haben wir ihn nicht in Reichweite«, wandte Cif besorgt ein. »Auf jeden Fall ist er noch auf der Insel«, beruhigte sie der Mausling und fügte hinzu: »Und auf eine Weise bestimmt auch an Bord der Treibgut.« Dabei dachte er (und gleichzeitig begannen die vom Feuer gestreiften Finger erneut zu schmerzen) an den verkohlten Fackelstumpf, den er noch in seinem Beutel mit sich herumtrug. Auch darüber mußte er dringend nachdenken ... Doch im gleichen Augenblick segelte Dwone herbei und meldete, daß die Reif-Flotte zum Auslaufen bereit und wohl nicht mehr zurückzuhalten sei. So mußte der Mausling auch die Treibgut in See stechen lassen, indem er soviel Segel setzen ließ, wie bei dem Wind vertretbar war, und seine Diebe und ihre ahnungslosen Helfer an die Ruder stellte, wozu Ourph den Rhythmus vorgab. Auf diese Weise vermochte das Schiff vor den wendigeren Fischerbooten die Führung zu halten. Jubelgeschrei tönte von der Küste und den anderen Schiffen herüber, und eine Zeitlang hatte der Mausling Grund zu großer Selbstzufriedenheit – die Treibgut segelte ihrer Flotte voraus, die Besatzung war gut im Schuß, und Pshawri stellte sich mit der Seefalke ganz ordentlich an (das war deutlich zu sehen), außerdem stand Cif mit leuchtenden Augen neben ihm – und er war ein echter Admiral, bei Mog! Aber nach kurzer Zeit bedrängten ihn wieder die Gedanken, mit denen er aus Zeitgründen noch nicht fertig geworden war. Vor allem anderen wurde ihm klar, daß es geradezu tollkühn, ja lächerlich war, so zuversichtlich loszusegeln, auf der Basis eines haar-
sträubenden Plans, der von der knisternden Stimme eines Feuers umrissen worden war. Trotzdem – er hatte das starke Empfinden, daß sie auf jeden Fall das Richtige taten und nichts ihnen schaden konnte, daß er die Mingolflotte finden und im letzten Augenblick eine neuerliche wunderbare Inspiration erleben würde ... In diesem Augenblick fiel sein Blick auf Mikkidu, der mit großem Geschick das vorderste Steuerbordruder bediente, und faßte einen Entschluß. »Ourph, du übernimmst das Steuer und führst uns aufs Meer«, befahl er. »Gib den Ruderern den Rhythmus durch Rufe vor.« Dann wandte er sich an Cif. »Meine Liebe, ich muß dich eine Weile allein lassen.« Er nahm den letzten Mingol mit, ging nach vorn und sagte barsch zu Mikkidu: »Begleite mich in meine Kabine. Wir wollen eine Konferenz abhalten. Gib wird dich ablösen.« Dann eilte er mit seinem besorgt blickenden Leutnant an den erstaunten Frauen vorbei unter Deck. Schließlich saß er Mikkidu in der niedrigen Kabine am Tisch gegenüber (ihm fiel ein, daß es zumindest einen Vorteil hatte, ein kleiner Kapitän zu sein und eine noch kleinere Mannschaft zu haben), starrte seinen Untergebenen gnadenlos an und sagte: »Leutnant, ich habe vorgestern abend vor den Reifinselbewohnern und ihrem Rat eine Rede gehalten, die alle zum Jubeln brachte. Du warst dabei. Was habe ich gesagt?« Mikkidu begann sich zu winden. »Oh, Kapitän!« protestierte er errötend. »Wie kannst du erwarten ...?« »Jetzt will ich nicht wieder hören, daß es so wundervoll war, daß du dich nicht erinnern kannst – oder
andere Ausflüchte«, warf der Mausling ein. »Stell dir vor, das Schiff wäre im Sturm und seine Sicherheit hinge davon ab, daß du mir eine offene Antwort gibst. Bei den Göttern, habe ich euch noch nicht klargemacht, daß keiner meiner Männer Probleme bekommt, wenn er mir die Wahrheit sagt?« Mikkidu verdaute diese Äußerung mit Mühe und gab schließlich nach. »Ach, Kapitän«, sagte er. »Ich habe etwas Schreckliches getan. Als ich dir an jenem Abend vom Dock zum Ratssaal folgte und du in Begleitung der beiden Damen warst, kaufte ich von einem Straßenhändler ein Gebräu und stürzte es hinunter, als du nicht herschautest. Es schmeckte gar nicht stark, das kann ich schwören, doch es muß seine Wirkung mit großer Verzögerung entfaltet haben, denn als du auf den Tisch sprangst und zu reden begannst, wurde mir schwarz vor Augen – auf mein Wort! Als ich wieder zu mir kam, sagtest du etwas darüber, daß Groniger und Afreyt die Hälfte der Inselbewohner in den Kampf führen sollten, um Kapitän Fafhrd zu unterstützen, während die anderen lossegeln müßten, um die Sonnenwärtigen Mingols in einen gewaltigen Wasserwirbel zu locken, und alle jubelten wie verrückt – und da habe ich natürlich mitgejubelt, als hätte ich jedes Wort gehört.« »Kannst du mir das beschwören?« fragte der Mausling mit schrecklicher Stimme. Mikkidu nickte bedrückt. Der Mausling hastete um den Tisch herum, umarmte ihn und küßte ihn auf die zitternde Wange. »Braver Leutnant«, sagte er mit größter Freundlichkeit und schlug ihm auf die Schulter. »Jetzt geh, guter Mikkidu, und bitte Lady Cif, zu mir zu kommen.
Dann mach dich an Deck nützlich, wie es deine Klugheit dir anrät. Steh nicht so starr herum! Bewege dich, Mann!« Als Cif die Kabine betrat (es dauerte nicht lange), war er sich darüber klargeworden, wie er das Thema anfassen wollte. »Liebe Cif«, sagte er ohne Einleitung und näherte sich ihr. »Ich muß dir ein Geständnis machen.« Dann erzählte er ihr voller Bescheidenheit, aber klar und logisch die Wahrheit über seine »wunderbaren Worte« – daß er sie nämlich selbst gar nicht mitbekommen hatte. Als er geendet hatte, fügte er hinzu: »Du verstehst also, daß es hier nicht um eine Frage der Eitelkeit geht – es war ja ohnehin Lokis Rede, nicht die meine. Du kannst mir also ganz offen die Wahrheit sagen.« Sie betrachtete ihn mit fragendem Lächeln und sagte: »Also, es hat mich schon gewundert, was du Mikkidu gesagt hast, daß er so überaus glücklich durch das Schiff hüpfte – und ich weiß nicht recht, ob ich es auch jetzt verstehe. Aber ja, ich muß zugeben, daß ich an dem Abend dasselbe erlebt habe wie er – ohne die Entschuldigung, ein unbekanntes Getränk zu mir genommen zu haben. Mein Verstand leerte sich urplötzlich, Zeit verging, und ich hörte keines der Worte, die du sagtest, mit Ausnahme der letzten Anweisungen für Afreyts Expedition und den Wasserwirbel. Aber die anderen jubelten laut, und so tat ich, als hätte ich alles gehört, wollte ich dich doch nicht kränken oder mich als Närrin sehen. Ach, was war ich für ein Dummkopf! Einmal war ich geneigt, Afreyt meine Schwäche einzugestehen, und wünschte jetzt, ich hätte es getan, denn sie sah an dem Abend
irgendwie seltsam aus. Aber ich habe nicht den Mund aufgemacht. Glaubst du, was auch ich jetzt annehme, daß sie ebenfalls ...« Der Mausling nickte entschlossen. »Ich bin der Meinung, daß keiner der Anwesenden ein Wort von meiner – oder Lokis – Ansprache gehört hat oder sich daran erinnert, sondern daß später alle nur so getan haben, als wüßten sie es, wie eine Herde Schafe – deren schwarzer Leithammel ich war. Folglich weiß nur Loki, was Loki gesagt hat, und wir segeln auf unbekanntem Kurs gegen die Mingols, in seligem Vertrauen auf diesen Gott.« »Was jetzt?« fragte sie unsicher. Er betrachtete sie mit einem zögernden Lächeln und einem Achselzucken, mit dem seine Entschlußlosigkeit zum Ausdruck kam. »Natürlich machen wir weiter«, sagte er, »denn es ist ja dein Kurs, und ich habe mich darauf festgelegt.« Plötzlich wurde die Treibgut von einer Welle seitlich getroffen und legte sich schief. Cif wurde gegen den Mausling gedrückt, und die beiden umarmten sich, und ihre Lippen begegneten sich auf das angenehmste – aber nicht lange, denn er – wie auch sie – mußte an Deck eilen, um nachzuschauen (oder sich Bestätigung zu verschaffen), was geschehen war. Die Treibgut hatte den Hafenbereich von Salzhaven verlassen und war aus dem Lee der Salzklippe auf das Äußere Meer hinausgeglitten, wo der Ostwind das Schiff mit stärkerer Faust bedrängte und die Sonne Segel und Deck überschüttete. Der Mausling löste den traurigen Ourph am Steuerruder ab, und der alte Mingol setzte zusammen mit Gib und Mikkidu die Segel für den ersten ostwärtigen Schlag gegen den
Wind. Und die Seefalke und die anderen seltsam ausgerüsteten Fischerboote vollzogen nacheinander dasselbe Manöver, der Treibgut auf hohe See folgend. Derselbe Ostwind, der in westlicher Richtung über den Südteil der Reifinsel wehte und gegen den die Treibgut ankämpfen mußte, trieb weiter draußen auf See die Pferdeschiffe der Sonnenwärtigen Mingols zu höchster Geschwindigkeit an. Die bedrohlich aussehenden Galeeren, jede mit einem prall gewölbten quadratischen Segel versehen, hatten sich zu einer gewaltigen Flotte formiert, und von Zeit zu Zeit wieherte ein Hengst in seinem Bug-Käfig, wenn der durch die Wellen brechende Bug die Gischt hoch aufsteigen und zwischen den Käfigstangen hindurchspritzen ließ. Alle Augen waren starr nach Westen gerichtet, und niemand hätte zu sagen gewußt, welche Augen wilder funkelten, die der pelzbekleideten, weißzahnig grinsenden Männer oder jene der langgesichtigen, weißzahnig grimassierenden Tiere. Auf dem Poopdeck des Flaggschiffes war der Wahn dieses Volkes in eine eher philosophische Bahn gelenkt. Gonov besprach sich mit seinem Hexendoktor und anderen Weisen über Fragen wie: »Genügt es, eine Stadt bis auf die Grundmauern niederzubrennen, oder muß man sie auch noch zu Schutt zerstampfen?« und beschäftigte sich mit Antworten wie: »Am verdienstvollsten ist es, eine solche Stadt zu Sand zu zermahlen – aye – zu feinem Lehm, ohne sie erst anzustecken.« Unterdessen trieb der starke Westwind, der in östlicher Richtung über den Nordteil der Insel wehte (mit einer unruhigen Zone von Böen und Luftwirbeln
zwischen den beiden Winden) die gleichgeartete Flotte der Gegenlauf-Mingols aus dem Westen über den weglosen Ozean. Hier hatte Edumir seinen Philosophen folgende Frage gestellt: »Ist der Selbstmord beim ersten Angriff auf dem jungfräulichen Speer eines Gegners einem Selbstmord durch Gift nach der letzten Attacke vorzuziehen?« Er hörte sich die wohlbedachten Antworten der weisen Männer an und auch die Gegenfrage: »Wenn der Tod dermaßen wünschenswert ist und sogar über den Freuden der Liebe und des Pilzweins steht – wie konnten dann unsere edlen und verehrten Vorfahren lange genug leben, um uns in die Welt zu setzen?«, und Edumir richtete den sehnsüchtigen Blick seiner weißumränderten Augen nach Osten und sagte: »Das sind doch alles nur Theorien. Auf der Reifinsel werden wir diese abstrakten Dinge wieder einmal dem praktischen Test unterwerfen.« Während dieser Zeit hockte Khahkht wie stets in seiner Eiseskugel und studierte die Landkarte an der Innenwand, an der er Figuren für Schiffe und Männer, Pferde und Frauen – ja, sogar für Götter – bewegte. Sein borstenbedecktes Gesicht war angespannt vorgebeugt, damit ihm nur kein schändliches Stück entgehe. Im Licht der frühen Sonne und gegen den böigen Wind eilte Afreyt allein durch das Heidekraut, vorbei an vereinzelten krummen Zedern, vorbei an dem letzten stummen Berghof vor Kalthafen, mit seinen eingestürzten graugrünen Rasendächern. Sie war erschöpft, und die Füße taten ihr weh (sogar Odins
Schlinge wurde ihr zur Last), denn sie waren die ganze Nacht hindurch marschiert und hatten nur zweimal kurz Rast gemacht. Auf halbem Weg waren sie von wechselnden Winden gebeutelt worden, die beinahe Tornadostärke erreichten; dies geschah im Gürtel zwischen der Salzhaven-Hälfte der Reifinsel im Südosten, wo zur Zeit der Ostwind herrschte, und der nordwestlichen Hälfte mit Kalthafen, die unter dem Bann des ebenso starken Westwindes lag. Trotzdem zwang sie sich dazu, sorgfältig nach Freund oder Feind Ausschau zu halten, hatte sie sich doch zur Vorhut für Groniger und seine grotesk beladenen Wanderer ernannt. In der vagen Dämmerung vor Sonnenaufgang hatte sie ihre Position bei der Sänfte verlassen und war zur Spitze der Kolonne geschritten. Dort hatte sie Groniger darauf aufmerksam gemacht, daß sie dem Endpunkt der Wanderung nahe waren und sich auf Hinterhalte einstellen mußten, was bedeutete, daß er einen Mann vorausschicken sollte. Er hatte sich sorglos und desinteressiert gegeben und schien die Gefahr gar nicht zu begreifen, als ginge es ihm (und natürlich auch den anderen Reifbewohnern) nur darum, immer weiter zu marschieren, glasigen Blickes, Gales Verderben-Lied auf den Lippen, wie eine Horde lebloser Automaten, bis sie auf die Mingols stießen oder Fafhrds Streitmacht. Kam es zu keiner solchen Begegnung, so stellte sie sich vor, würden die Männer ohne Zögern in den kalten westlichen Ozean marschieren, wie die Horden der Lemminge, wenn sie das Klimakterium erreichten. Andererseits hatte Groniger gegen ihren Vorschlag, als Vorhut zu gehen, keine Einwände erhoben und auch nicht einmal Sorge um ihre Sicher-
heit geäußert. Was war aus der früheren geistigen Schärfe und Vorsicht dieses Mannes geworden? Afreyt hatte Erfahrung darin, sich in freier Natur zu bewegen, und so entdeckte sie den wachsamen Skor in dem Zwergzedernhain, aus dem Fafhrd am Morgen zuvor seinen kurzen Pfeilangriff vorgetragen hatte. Sie rief Skors Namen, und er fuhr herum, wobei er einen Pfeil auf die Sehne legte. Als er ihre blaue Kleidung erkannte, richtete er sich auf und eilte zu ihr. »Lady Afreyt, was machst du hier? Du siehst erschöpft aus«, begrüßte er sie. Er schien ebenfalls sehr müde zu sein und blickte sie aus blutunterlaufenen Augen an. Über dem rostroten Bart waren Wangen und Stirn mit Schmutz eingerieben, vielleicht als Schutz gegen den grellen Schein des Gletschers. Sie erzählte ihm kurz von der Verstärkung, die ihr nachfolgte. Ihre Worte schienen Skors Müdigkeit verfliegen zu lassen. »Das ist eine gute Nachricht«, sagte er, als sie geendet hatte. »Schon gestern vor Sonnenuntergang haben wir uns mit den Verteidigern von Kalthafen zusammengetan, ich inspiziere gerade die Linien, und die Mingols unten am Strand festgenagelt – und das alles mit einem Bluff! Schon der Anblick der von dir beschriebenen Streitmacht wird sie, das nehme ich bestimmt an, in die Flucht schlagen – sie werden ihre Schiffe besteigen und davonsegeln, ohne daß wir einen Finger rühren müssen.« »Verzeihung, Leutnant«, sagte sie, und sein Optimismus wehte ihre Erschöpfung davon, »aber ich habe gehört, daß du und deine Gefährten Berserker genannt werden – und bei solchen Wesen habe ich mir
immer vorgestellt, daß sie grundsätzlich bei der ersten Gelegenheit über den Feind herfallen, mit Wolfsgeheul und splitternackt herumhüpfend.« »Ich will ehrlich sein – so habe ich das früher auch gesehen«, antwortete er und rieb sich mit dem Handrücken nachdenklich über die gebrochene Nase. »Der Kapitän aber hat mich eines Besseren belehrt. Ihm geht es um Tricks und Listen, das kann er gut, unser Kapitän! Er schafft es, den Gegner Dinge sehen zu lassen, die gar nicht vorhanden sind, so daß sich die eigenen Gedanken gegen ihn wenden, Fafhrd kämpft nur, wenn es keinen anderen Weg gibt – und von dieser Weisheit hat ein wenig auf uns abgefärbt.« »Warum trägst du Fafhrds Schwert?« erkundigte sie sich, nachdem ihr Blick darauf gefallen war. »Oh, er ist gestern früh zum Höllenschein aufgebrochen, um dem Mädchen zu folgen, und hat mir das Kommando übertragen. Bis jetzt ist er nicht zurück.« Auf Skors Stirn erschien eine Sorgenfalte, und er schilderte Afreyt in knappen Worten die seltsame Entführung Maras. »Es erstaunt mich, daß er euch nur deswegen so lange eurem Schicksal überläßt«, bemerkte Afreyt stirnrunzelnd. »Offen gesagt hat mich das gestern früh auch gewundert«, räumte Skor ein. »Aber als die Dinge sich dann entwickelten, habe ich mich jedesmal gefragt, was der Kapitän wohl an meiner Stelle tun würde, und das habe ich dann getan. Und es hat geklappt – bis jetzt jedenfalls.« Er legte zwei Finger übereinander. Ein schwaches Stampfen war zu vernehmen, gefolgt von heiser geflüstertem Gesang, und als sie sich
umwandten, sahen sie die Spitze der Kolonne von Reifbewohnern den Hügel herabstampfen. »Nun ja, furchteinflößend sehen sie wohl aus«, sagte Skor nach kurzem Zögern. »Aber auch irgendwie seltsam«, fügte er hinzu, als die Sänfte und der Galgen in Sicht kamen. Neben der Sänfte schritten die Mädchen in ihren roten Mänteln. »Ja, seltsam sind sie«, bemerkte Afreyt. »Wie sieht ihre Bewaffnung aus?« wollte er wissen. »Ich meine, außer den Lanzen und Speeren und Kampfstäben und dergleichen?« Sie offenbarte ihm, daß dies ihres Wissens die einzigen Waffen waren. »Dann haben sie gegen die Mingols keine Chance, nicht wenn sie einen Angriff auf Distanz vortragen müssen«, meinte er. »Aber wenn wir sie unter den richtigen Bedingungen vorzeigen und ein paar Bogenschützen zwischen ihnen postieren ...« »Das Problem dürfte darin bestehen, diese Leute von einem Sturmangriff abzuhalten«, klärte ihn Afreyt auf. »Oder sie überhaupt zum Stehenbleiben zu veranlassen.« »Ach, so sieht es also aus«, sagte er mit hochgezogenen Augenbrauen. »Kusine Afreyt! Kusine Afreyt!« riefen May und Gale schrill und schwenkten die Arme. Doch im nächsten Augenblick deuteten die Mädchen zum Himmel und riefen: »Schau doch! Schau!« und schon liefen sie an der Kolonne entlang hangabwärts, winkend und rufend und zum Himmel weisend. Afreyt und Skor hoben den Kopf und erblickten in mindestens hundert Metern Höhe einen Mann und ein kleines Mädchen (nach dem roten Mantel zu ur-
teilen, handelte es sich um Mara). Die beiden lagen flach ausgestreckt und klammerten sich aneinander und an etwas Unsichtbares, das sich in schnellem Flug Kalthafen näherte. In großem Bogen schwangen sie herum, wobei sie ständig an Höhe verloren, und hielten schließlich direkt auf Skor und Afreyt zu. Sie erkannte nun Fafhrd und Mara ganz deutlich und machte sich klar, daß sie und Cif genauso ausgesehen haben mußten, als sie von den unsichtbaren Bergprinzessinnen aus Khahkhts Schneesturm gerettet wurden. Sie umfaßte Skors Arm und sagte ein wenig außer Atem: »Du brauchst keine Angst um sie zu haben. Sie befinden sich auf einem Luftfisch, einem lebendigen Wesen, das unsichtbar ist. Es wird von einer unsichtbaren Frau gelenkt.« »Typisch!« bemerkte er rätselhaft. Im nächsten Augenblick wurden sie von einem kräftigen Windhauch durchgeschüttelt – Fafhrd und Mara rasten dicht über sie dahin, noch immer flach ausgestreckt und aufgeregt grinsend, wie Afreyt noch feststellen konnte, ehe sie sich duckte, zumindest hatte Fafhrd die Zähne gebleckt. Die beiden landeten auf halbem Wege zwischen ihr und Groniger an der Spitze der Kolonne; die Reifbewohner hatten ihren Schritt verlangsamt und starrten staunend auf die Erscheinung. Fafhrd und Mara ruhten nun etwa einen Fuß über dem Heidekraut, das auf einer großen ovalen Fläche niedergedrückt war, als lägen die beiden auf einer unsichtbaren Matratze, die breit und dick genug war für ein Königsbett. Im nächsten Augenblick hatten sich die Luftreisenden aufgerappelt und waren nach einigen unsicheren Schritten zu Boden gesprungen. Skor und Afreyt eil-
ten von der einen Seite auf sie zu und May und Gale von der anderen, während die Reifländer mit offenem Mund zuschauten. Mara schrie den anderen Mädchen entgegen: »Ein übler Dämon hat mich entführt, aber Fafhrd hat mich gerettet! Er hat ihm die Hand abgehackt!« Und Fafhrd umarmte Afreyt und sagte: »Afreyt, Kos sei Dank, daß du hier bist! Was trägst du da um den Hals?« Ohne Afreyt loszulassen, wandte er sich an Skor: »Wie geht es den Männern? Wie ist die Lage?« Und die ganze Zeit marschierten die herüberstierenden Reifländer langsam und stur weiter wie Schlafende, die aus dem Bann eines Alptraums auf ein Wunder starren. Plötzlich verstummten alle, und Fafhrd löste die Arme von Afreyt; eine Stimme, die sie zuletzt in einer Höhle Dunkelfeuers gehört hatten, ertönte wie eine sprechende Fanfare: »Leb wohl, Mädchen! Leb wohl, Barbar! Denke das nächstemal an die Gebote der Höflichkeit zwischen den Ordnungen und an deine Grenzen. Ich bin meiner Schuld ledig, die deine aber hat gerade erst begonnen.« Und ein Wind wehte von der Stelle herüber, an der Fafhrd und Mara gelandet waren (der Hauch schien unter der unsichtbaren Matratze hervorzukommen), beugte das Heidekraut und ließ die Mäntel der Mädchen straff zur Seite wehen (Afreyt spürte den Luftzug und eine tierische Ausdünstung, die von keinem Fisch, Vogel oder Vierbeiner stammen konnte), und dann war es, als stiege etwas Großes und Lebendiges in die Luft empor und entferne sich in schnellem Flug, während ein silbrig-perlendes Lachen verhallte. Fafhrd hob zum Abschied die Hand und senkte sie in einer ausholenden Geste, mit der er wohl sagen
wollte: »Lassen wir das alles hinter uns!« Auf seinem Gesicht, das sich während Hirriwis Worten beunruhigt verdüstert hatte, erschien ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit beim Anblick der Kolonne der Inselbewohner, die langsam immer näher rückte. »Meister Groniger!« sagte er energisch. »Kapitän Fafhrd?« erwiderte der Mann mit schwerer Zunge, wie jemand, der halb aus einem Traum gerissen worden ist. »Laß deine Männer anhalten!« befahl Fafhrd und drehte sich zu Skor um, der ihm Meldung machte, indem er detailliert schilderte, was er zuvor Afreyt nur umrissen hatte. Währenddessen kam die Kolonne langsam zum Stillstand und gruppierte sich ohne Ordnung rings um Groniger. Afreyt kniete neben Mara nieder und überzeugte sich, daß das Mädchen äußerlich keinen Schaden genommen hatte. Amüsiert hörte sie zu, wie Mara voller Stolz, doch geringschätzig, den anderen Mädchen von ihrer Entführung und Rettung erzählte. »Aus meinem Mantel und dem Schädel des letzten kleinen Mädchens, das er bei lebendigem Leibe gegessen hatte, machte er eine Vogelscheuche und berührte mich immer wieder ähnlich wie Odin, doch Fafhrd hackte ihm die Hand ab, und Prinzessin Hirriwi brachte mir heute früh meinen Mantel. Es war ein schönes Gefühl, durch den Himmel zu fliegen. Mir ist auch nicht schwindlig geworden.« Fafhrd hörte geduldig zu, denn er wollte wissen, was das häßliche Ding um Afreyts Hals zu bedeuten hatte. Doch als Mara ihn aufforderte, den Kopf zu senken, und er den Blick hob und die verhangene Sänfte erblickte und dahinter den ausgegrabenen Galgen, durchströmte ihn ein Schauder des Wider-
willens. »Nein, die Schlinge trage ich nicht«, sagte er ärgerlich. »Auf dieses achtbeinige Pferd möchte ich nicht steigen. Nehmt die Schlingen ab, ihr alle!« Aber dann bemerkte er den gekränkten, mißtrauischen Ausdruck in Maras Augen. »Die Schlinge soll dich doch im Kampf stark machen«, sagte sie. »Sie ist eine Ehre Odins.« Und dann den besorgten Blick in Afreyts Augen, als sie auf die Sänfte deutete, deren Vorhänge im Wind wehten (er spürte die grimmige Aura der Heiligkeit, die von ihr ausging) und das erwartungsvolle Funkeln in den Augen Gronigers und der anderen Reifländer, und er überlegte es sich anders. Er rang sich einen munteren Ton ab und sagte: »Ich sage euch, was ich mache, ich trage die Schlinge um den Arm, damit er gekräftigt wird.« Und er schob die linke Hand durch die Schlinge; und nach kurzem Zögern zog May sie fest. »Mein linker Arm«, erklärte er und kam damit der Wahrheit nicht besonders nahe, »ist im Kampf stets deutlich schwächer als mein rechter. Die Schlinge wird ihn stärker machen. Ich nehme auch deinen Strang«, wandte er sich mit vielsagendem Blick an Afreyt. Sie löste die Schnur voller Erleichterung und streifte sie ab, ein Gefühl, das aber in Besorgnis umschlug, als sie die Schlinge dann um Fafhrds Arm gezogen sah, unmittelbar neben der ersten. »Und deine auch, und deine und deine«, sagte er zu den drei Mädchen. »Auf diese Weise trage ich für jede von euch eine Schlinge. Los, ihr wollt doch nicht, daß mein linker Arm im Kampf erlahmt, oder? Na bitte!« rief er, als die Tat vollbracht war, packte die fünf herabhängenden Enden mit der linken Hand
und ließ sie herumwirbeln. »Wir werden die Mingols von der Reifinsel peitschen, meint ihr nicht auch?« Die Mädchen, die ob des Verlustes der Schlingen zunächst ein wenig bedrückt ausgesehen hatten, lachten entzückt, und die Reifländer stimmten ein Jubelgeschrei an. Dann marschierten sie weiter. Skor übernahm die Vorhut, nicht ohne Fafhrd sein Schwert zurückzugeben, der sich nun bemühte, etwas Ordnung in die Truppe der Einheimischen zu bringen. Die Mädchen und Afreyt zogen sich mit der Sänfte in die hinteren Reihen zurück, wenn ihr Abstand auch nicht so groß war wie Fafhrd ihn sich gewünscht hätte. Unterwegs sammelte man einige von Fafhrds Männern ein, nach deren Berichten sich die Mingols am Strand um ihre Schiffe sammelten. Und schließlich erstiegen sie eine leichte Anhöhe, die sich von dem Festungshügel Kalthafens nach Süden erstreckte, Fafhrd und seine Männer mußten die immer stärker drängenden Reifländer zurückhalten. Vom Strand weiter vorn tönte Klagegeschrei herüber, und sie alle genossen einen herrlichen Anblick: die drei Galeeren der MeeresMingols, die in See stachen, die vorderen Ruder ausgefahren und wild bewegt, während kleine Gestalten am Heck noch verzweifelt schoben und schließlich an Bord kletterten. Im nächsten Augenblick stieg in Kalthafen ein Schreckensschrei auf, und sie sahen im Westen eine große Anzahl Segel über dem Horizont: die Flotte der Gegenlauf-Mingols. Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis wurde ihnen ein leises und fernes Grollen bewußt wie vom Hufschlag unzähliger Pferde, die über die Steppe galoppierten. Die Reifländer jedoch erkannten
darin die Stimme Höllenfeuers, der düster rauchend im Norden dräute. Während im Süden dunkle Wolken wallten und einen Wechsel von Wind und Wetter verhießen. Dem Grauen Mausling war bewußt, daß er in der ärgsten Klemme seiner an Abenteuern nicht armen Karriere steckte – mit dem Unterschied, daß diesmal die Notlage von dreihundert befreundeten Menschen geteilt wurde, außerdem von einer nicht bestimmbaren Zahl von Feinden (die Flotte der Sonnenwärtigen Mingols, die die Verfolgung aufgenommen hatte). Es war ihm mühelos gelungen, die Mingols auf seine Fährte zu locken, und er führte sie nun dermaßen erfolgreich der Vernichtung entgegen, daß die Treibgut in der Reif-Flotte die letzte Position eingenommen hatte, vor sich die unordentliche Formation der anderen Fischerboote, neben sich die Seefalke und kaum eine Pfeilschußweite zurück die ersten Mingolschiffe, die in endloser Zahl schäumend heranglitten, den Wind besser nutzend als er. Vor wenigen Sekunden hatte eines der Pferdeschiffe für seine zu große Segelfläche büßen müssen und war gekentert, doch kein Schwesterschiff war ihm zu Hilfe gekommen. Etwa vier Meilen voraus erhob sie die reifische Küste mit den beiden Felsspitzen und der einladend geöffneten Bucht (dahinter der düster rauchende Dunkelfeuer) und kennzeichneten die Lage des Großen Mahlstroms. Im Norden wogten Wolken und kündigten einen Wetterumschwung an. Das Problem war natürlich, die Mingols in den Mahlstrom zu locken, ohne selbst hineinzugeraten, doch noch nie war ihm dieses Problem so klar wie jetzt zu Bewußtsein ge-
kommen. Die erhoffte Lösung bestand darin, daß der Wirbel sich bilden würde, nachdem die Reifländer und die Seefalke darüber hinweggesegelt waren, und auf diese Weise zumindest die Vorhut der dicht gedrängt segelnden Mingolflotte festzuhalten. Der enger werdende Abstand setzte für diesen Fall eine perfekte, ja gottesähnliche zeitliche Genauigkeit voraus, doch er hatte sich damit große Mühe gegeben, und schließlich sollten die Götter ja auf seiner Seite stehen, nicht wahr? – zumindest zwei davon. Die Pferdegaleeren der Mingols hatten inzwischen so dicht aufgeschlossen, daß Mikkidu und seine Diebe ihre Schlingen mit Bleikugeln beluden und sich schleuderbereit aufstellten; allerdings hatten sie Anweisung, erst anzugreifen, nachdem die Mingols den Pfeilbeschuß begonnen hatten. Auf einem der verfolgenden Schiffe wieherte ein Hengst in seinem Käfig. Der Gedanke an den Mahlstrom veranlaßte den Mausling, in seinem Beutel nach dem goldenen Töter zu tasten. Er fand ihn, doch irgendwie hatte sich der verkohlte Stummel der Loki-Fackel darin verklemmt. Der Mausling wollte den schwarzen Gottesbrand schon lösen, als ihm der Gedanke kam, daß Loki als Gott (und auf eine Weise war dieser verkohlte Rest mit Loki identisch) ein goldenes Haus – oder Sarg – verdient hätte. So wickelte er einer Laune folgend die feste Schnur, die daran noch befestigt war, mehrmals fest um den schweren goldenen Würfel und verknotete sie, so daß die beiden (der Wirbeltöter und der Gottesbrand) fest miteinander verbunden waren. Cif stieß ihn von der Seite an. Ihre goldfleckigen Augen funkelten, als wollten sie ausrufen: »Ist das nicht aufregend!«
Er nickte nicht ganz so begeistert. Gewiß, es war aufregend, doch auch ungemein gefährlich und von so vielen Einflüssen abhängig – außerdem konnte er nach wie vor nur Vermutungen anstellen über die Anweisungen, die der Gott Loki gegeben hatte in der Rede, die er vergessen und die offenbar niemand sonst gehört hatte ... Er blickte sich auf dem Deck um, suchte die Gesichter ab. Seltsam, doch in allen Augen schien dieselbe jungbrunnenhafte Erregung zu funkeln, die er schon bei Cif wahrgenommen hatte – sogar Gavs, Trenchi und Gib (die Mingols) waren davon angesteckt, auch Mutter Grum, deren Augen schimmerten wie schwarze Knöpfe ... Nur ein von Falten gesäumtes Augenpaar zeigte sich unverändert: in den Augen des alten Ourph, der Gavs am Steuer aushalf, schien eher eine traurige und geduldige Resignation zu liegen, als beschäftige er sich voller Gelassenheit aus der Ferne mit einer großen universalen Katastrophe. Impulsiv ließ ihn der Mausling ablösen und zog ihn an die Leereling. »Alter Mann«, sagte er, »du warst vorgestern abend im Ratssaal, als ich zu den Leuten sprach und sie mich bejubelten. Ich nehme an, daß du wie alle anderen kein Wort von meiner Rede gehört hast oder allenfalls einige wenige – die Anweisungen für Gronigers Expedition und unser heutiges Auslaufen.« Etwa zwei Atemzüge lang starrte der alte Mingol ihn seltsam an, dann schüttelte er langsam den kahlen Schädel und sagte: »Nein, Kapitän, ich habe jedes einzelne Wort gehört, das du an dem Abend sprachst, und sie stimmten mich sehr traurig, denn sie brachten dieselbe Philosophie zum Ausdruck, von der sich
meine Artgenossen aus der Steppe leiten lassen, diese böse Philosophie, die mich dazu brachte, in jungen Jahren meine Heimat zu verlassen und mein Leben unter Heiden zu verbringen.« »Was meinst du?« fragte der Mausling. »Ich bitte dich, sprich so knapp wie möglich!« »Nun, auf höchst einschmeichelnde Weise – selbst ich war in Versuchung – hast du von der Herrlichkeit des Todes gesprochen und wie großartig es doch wäre, freudig der Vernichtung entgegenzugehen und dabei seine Feinde mitzunehmen. Daß dies das Gesetz des Lebens sei, sein krönender Abschluß und seine Größe, die höchste Befriedigung des Daseins. Und als du den Leuten sagtest, daß sie bald sterben müßten und wie das geschehen würde, jubelten sie dir begeistert zu, wie es meine Mingols im Klimakterium zu tun pflegen, und mit demselben Glanz in den Augen. Diesen Glanz kenne ich nur zu gut. Wie gesagt, es stimmte mich sehr traurig, daß du ein so inbrünstiger Anhänger des Todes bist, aber da du mein Kapitän bist, nahm ich das hin.« Der Mausling wandte den Kopf und blickte in die erstaunten Augen Cifs, die ihm gefolgt war und jedes Wort des alten Ourph gehört hatte, und sie beide sahen in den Augen ihres Gegenübers dasselbe Verstehen aufdämmern. In diesem Augenblick spürte der Mausling, wie die Treibgut unter seinen Füßen ruckartig angehalten, zur Seite gewirbelt und mit unvorstellbarer Geschwindigkeit angetrieben wurde, ähnlich wie es der Kobold zwei Tage zuvor widerfahren war, doch mit größerer Gewalt, die der Größe der Treibgut entsprach. Der Himmel begann zu kreisen, das Meer wurde schwarz.
Er und Cif wurden gegen die Heckreling gedrängt, wie auch eine ganze Gruppe Diebe, Huren und Mingol-Seeleute. Er forderte Cif auf, sich festzuhalten, fand auf dem schrägen Deck Halt und hastete an dem knatternden Hauptsegel vorbei (und passierte dabei den jungen Mikkidu, der mit vor Entsetzen oder vielleicht Entzücken fest zugekniffenen Augen den Hauptmast umklammerte), nach vorn, wo er freien Ausblick hatte. Die Treibgut, die Seefalke und die gesamte Reifflotte kreisten mit schwindelerregender Geschwindigkeit schon unter der halben Höhe eines Wirbels, der mindestens zwei Meilen Durchmesser hatte und in dessen sich erweiternden oberen Regionen bereits die gesamte Mingol-Flotte festzusitzen schien, die Galeeren wirkten dort oben am Rand vor dem bewegten Himmel wie Spielzeuge, während im noch weit entfernten Zentrum des Wirbels die spitzen Felszacken durch das schäumende Weiß ragten und wie ein Friedhof aussahen. Dicht unterhalb der Treibgut schwamm in diesem Riesenrad des Verderbens Dwones Fischerboot, dermaßen nahe, daß er Gesichter unterscheiden konnte. Die Reifinselbewohner, die einander und ihre Waffen umklammerten, schienen höchstes Glück zu empfinden, sie sahen aus wie trunkene, schiefgewachsene Riesen, die sich auf ein großes Fest freuen. Dem Mausling fiel es wie Schuppen von den Augen: ja, das waren die Ungeheuer, deren Erwachen Loki vorausgesagt hatte, dies waren die Trolle und die anderen Wesen. Dies erinnerte ihn an das Schicksal, das Loki – nach Ourphs unwiderleglicher Aussage – ihnen allen zugedacht hatte – und notwendigerweise auch Fafhrd und Afreyt,
und an das ganze Universum aus Meeren und Sternen. Er riß den goldenen Töter aus seinem Beutel und dachte bei dem Anblick des verkohlten Holzes: »Gut, da werden wir zwei Übel mit einem Streich los!« Aber er mußte das Ding in die Mitte des Wirbels schleudern, wie sollte er dieses Ziel erreichen, das so weit entfernt war? Es gab eine einfache Lösung, davon war er überzeugt, sie mußte ihm jeden Augenblick einfallen, doch er wurde zu sehr abgelenkt ... Cif stieß ihm einen Ellbogen in die Hüfte. Er hätte damit rechnen müssen – sie war ihm gegen seine strenge Anordnung gefolgt und deutete nun mit bösem Lächeln auf ... natürlich, auf seine Schlinge! Er legte das kostbare Geschoß in die Mitte des Stoffstreifens, bedeutete Cif, zum Mast zurückzukehren, damit er Platz hatte, und probierte mit tänzelnden Schritten, ob er auf dem schrägen Deck genügend Halt fand. Er maß mit Augen und Gehirn Entfernungen, Geschwindigkeit, Windrichtung und verschiedene Unwägbarkeiten. Und während er dies tat, den Töter um den Kopf schwingend, herumtänzelnd, als bereite er sich hier auf den längsten und besten Wurf seines Lebens vor, stiegen aus den dunkelsten Tiefen seines Geistes Worte empor, die dort seit Tagen gebrodelt haben mußten, Worte, die Lokis bösen Äußerungen entsprachen, sogar die gleichen Reime (jedenfalls beinahe), doch mit völlig umgekehrter Bedeutung. Und so wie die Worte ihm ins Bewußtsein stiegen, sprach er sie aus, er glaubte, daß er sich leise äußere, doch in Wahrheit sprach er mit klarer Stimme – bis er bemerkte, daß Cif ihm voller Entzücken zuhörte und Mikkidu die Augen geöffnet hatte und ihm lauschte und die monströsen Reifländer auf Dwones
Boot die ernüchtert aussehenden Gesichter in seine Richtung drehten. Aus irgendeinem Grund war er davon überzeugt, daß trotz des gewaltigen Tobens der Elemente seine Worte bis an den Meilen entfernten Rand des Wirbels zu hören waren – ja, und darüber hinaus, er wußte nicht, wie weit. Und dies waren die Worte, die er sprach: »Die Mingols werden des Todes sein? Dies darf nicht sein, o nein, o nein! Mingols, atmet wieder auf, euer Leben nimmt seinen Lauf. Laßt den Streit zu Ende gehen, alle sollen die Zukunft sehen! Der Mingol-Wahn erlösche gleich! Hinfort ihr Götter, in euer Reich!« Und im Rhythmus dieser Verse wirbelte er tanzend über das Deck, als wolle er einen Diskus werfen, und der Töter bildete am Ende der Schlinge einen goldschimmernden Kreis um seinen Kopf. Dann ließ er das Geschoß fliegen. Das Gold flog schimmernd der Mitte des Wirbels entgegen, bis es nicht mehr auszumachen war. Im nächsten Augenblick wurde der gewaltige Wirbel flach zusammengedrückt. Schwarzes Wasser schäumte weiß auf. Meer und Himmel brodelten gleichermaßen. Und durch diese Hölle aus kreischenden Winden und krachenden Wogen tönte ein grollender, die Erde erschütternder Donner, gefolgt von dem roten Aufblitzen riesiger ferner Flammen: Dunkelfeuer brach aus und machte die Katastrophe komplett, fügte Erde und Feuer in den Chor von Wasser und Luft und vervollständigte den Aufstand der Elemente. Die Schiffe wurden hilflos durch das Chaos gewirbelt, nur vage sichtbar, und die Männer klammerten sich wie Ameisen daran fest. Böen fielen aus allen Himmelsrichtungen ein und schienen miteinander zu
kämpfen. Gischt bedeckte die Schiffe, türmte sich bis zu Mastspitzen empor. Doch ehe diese Ereignisse auch über die Treibgut hereinbrachen, sahen der Mausling und einige andere, an Reling oder Mast geklammert, mit vor Salz brennenden Augen einige Sekunden lang aus der Mitte des flachgedrückten Wirbels etwas in den Himmel schießen – eine Erscheinung, die wie das Ende eines schwarzen Regenbogens aussah (oder wie ein dünner, krummer schwarzer Wasserstrahl von unglaublicher Höhe, so behaupteten einige später) und die in den dunklen Wolken ein Loch hinterließ, ein Loch, durch die irgend etwas höchst Erregtes und Mächtiges auf ewig aus ihren Köpfen, ihrem Wesen und aus ganz Nehwon verschwand. Im nächsten Augenblick kämpften der Mausling und seine Besatzung und die Frauen um ihr Leben in der Gewalt eines Ozeans, der ganz aus gegenlaufenden Strömungen zu bestehen schien, im Griff eines Sturms, der völlig die Richtung gewechselt hatte und jetzt aus dem Westen blies und den dichten schwarzen Rauch Dunkelfeuers herantrug. Ringsum standen andere Schiffe denselben Kampf durch in einem mächtigen schäumenden Durcheinander, das sich mehrere Meilen weit erstreckte und erst allmählich zu einer gewissen Ordnung zurückfand. Die reifischen Fischerboote und die Kutter mit der besseren Takelage (dazu gehörten auch die Treibgut und Seefalke) vermochten gegen den Wind nach Südwesten zu kreuzen und langsam nach Salzhaven zurückzukehren. Die Galeeren der Mingols konnten mit ihren quadratischen Segeln nur vor dem Wind herlaufen (das Meer war zu bewegt, als daß Ruder eingesetzt
werden konnten), fort von dem sich beruhigenden Chaos dieser schrecklichen Insel, deren schwarzer Rauch sie und ihre durchnäßten Hengste verfolgte. Einige Pferdeschiffe mochten sogar gesunken sein, denn die Treibgut fischte zwei Mingols auf, die aber nicht genau sagen konnten, ob sie über Bord geschwemmt worden oder ihre Schiffe untergegangen waren, und die viel zu niedergeschlagen aussahen, um feindselige Gefühle zu wecken. Als der Mausling seinen Töter schleuderte, stand Fafhrd auf der seewärtigen Deichmauer Kalthafens und blickte mit erhobenem Schwert der näher kommenden Flotte der Gegenlauf-Mingols entgegen. Dies war keine barbarische Trotzgeste, sondern gehörte zu einer sorgfältig berechneten Demonstration, mit dem Ziel, die Mingols zu verscheuchen, wenn sich auch Fafhrd eingestand (aber nur sich selbst), daß das eine vergebliche Hoffnung war. Als die drei vorausfahrenden Mingolschiffe den Strand verlassen hatten, machten sie keine Anstalten, sich der Flotte anzuschließen oder sie zu erwarten, obwohl sie die Segel gewiß gesichtet hatten; statt dessen waren sie in langsamem Tempo nach Süden davongerudert, bis sie nicht mehr zu erkennen waren. Dies hatte Fafhrd auf die Frage gebracht, ob die Mingols nicht vor etwas flohen, das sie auf der Insel entdeckt hatten und dem sie sich nicht noch einmal stellen wollten, selbst mit dem Rückhalt der Hauptflotte. In diesem Zusammenhang erinnerte er sich besonders an die Angstschreie der Mingols, als Gronigers Reifmänner auf der Anhöhe in Sicht kamen. Afreyt hatte ihm anvertraut, daß diese Landsleute ihr während des langen
Marsches irgendwie monströs und größer vorgekommen waren, und er mußte einräumen, daß sie auf ihn denselben seltsamen Eindruck machten. Und wenn sie ihm größer und monströs vorkamen, um wieviel größer mochten sie den Mingols erscheinen? Und so hatten sie sich beraten, Fafhrd und Afreyt, und hatten Vorschläge gemacht und Befehle gegeben, und in der Folge war nun Gronigers EinsatzStreitmacht in Abständen von zwanzig Schritt in einer langen Linie postiert, die hoch oben am Gletscher begann und sich beinahe eine Meile weit südlich der Siedlung erstreckte. Sie alle schwenkten Lanzen oder andere Waffen. Während auf ganzer Strecke zwischen ihnen die Verteidiger Kalthafens Aufstellung genommen hatten, ebenso Fafhrds Berserker, die die Zahl der Krieger verstärkten, aber auch die Leute aus Salzhaven in Reih und Glied halten mußten, die noch immer dazu neigten, einfach loszumarschieren. In der Mitte der breiten Wehrmauern Kalthafens, flankiert von Groniger und einem anderen Lanzenschwinger, stand Odins Sänfte, darüber der flach gelegte Galgen, den man wie im Totenland festgeklemmt hatte, während ringsum Fafhrd, Afreyt und die drei Mädchen Aufstellung genommen hatten. Letztere ließen an langen Stangen ihre roten Mäntel wie Flaggen wehen. (Fafhrd hatte alles befürwortet, das die Wirkung verstärken konnte, und die Mädchen waren begierig, ihren Teil zu der Demonstration beizutragen.) Afreyt hatte sich einen Speer ausgeborgt, während Fafhrd abwechselnd sein Schwert und die Schnüre der fünf Schlingen schwenkte, die um seine linke Hand lagen – er schüttelte sie den gedrängt fahrenden MingolSchiffen entgegen, die dem Hafen entgegenglitten.
Und Groniger und die anderen Inselbewohner brüllten so laut sie konnten das Verderben-Lied. Plötzlich (es geschah genau in dem Augenblick, da der Mausling auf der anderen Seite der Reifinsel seinen Wirbeltöter schleuderte) zogen die Wirbelwinde, die von der Veränderung der Winde ausgelöst wurden, nordwärts über die Szene hin und ließen die roten Flaggen flattern, und der Himmel verdüsterte sich, und ein Grollen ertönte aus der Tiefe Höllenscheins, der aus Sympathie für Dunkelfeuer ebenfalls auszubrechen begann. Das Meer geriet in Bewegung und war kurz darauf genarbt von den Auswürfen des Vulkans, riesige Felsen, die in gewaltiger Kanonade ins Meer prasselten wie das gebrüllte »Verderben! Verderben!« des dräuenden Gesangs. Die Flotte der Gegenlauf-Mingols wich bereits auf das offene Meer zurück, getrieben von der Gewalt des Windes, der nun von der Küste wehte – entfernte sich frohgemut von der schrecklichen brennenden Küste, die von einer Mauer aus Riesen bewacht zu sein schien, größer als Bäume, und von der Macht aller vier Elemente. Und Höllenfeuers Rauch streckte sich über ihnen wie ein Leichentuch. Doch ehe diese Ereignisse ihren Abschluß gefunden hatten (genaugenommen in dem Augenblick, da hundert Meilen weiter östlich ein schwarzer Regenbogen oder Wasserstrahl aus dem Zentrum des Wirbels in den Himmel schoß), begann Odins Sänfte auf der Schutzmauer zu zittern, und der schwere Galgen regte sich und neigte sich aufwärts wie eine Kompaßnadel, die einem fremdartigen Magnetismus gehorcht. Afreyt schrie auf, als sie Fafhrds linke Hand vor ihren Augen schwarz werden sah. Und Fafhrd
brüllte in plötzlicher Pein, als er spürte, wie sich die fünf Schlingen, die May geflochten hatte, erbarmungslos wie Stahldrähte um sein Handgelenk zusammenzogen, sich tiefer und immer tiefer zwischen Arm- und Handknochen eingruben, Haut und Fleisch durchschneidend, Knorpel und Sehnen und zarteres Gewebe sprengend, während die Hand gleichzeitig in die Höhe gezerrt wurde. Im nächsten Augenblick schossen die Vorhänge der Sänfte senkrecht empor, und der Galgen richtete sich ruckartig auf und begann zu vibrieren. Plötzlich schoß etwas schimmernd Schwarzes in den Himmel, die Wolken durchstoßend, und Fafhrds abgetrennte Hand, an den Schlingen hängend, folgte der Erscheinung. In dem Moment fielen die Vorhänge zurück, und der Galgen stürzte krachend von der Mauer, während Fafhrd verständnislos auf das Blut starrte, das aus seinem Armstumpf quoll. Afreyt bezwang ihr Entsetzen und schloß die Finger um die Arterien und forderte May auf, die am nächsten stand, mit dem Messer ihren weißen Rock zu zerschneiden, damit sie Bandagen hatten. Das Mädchen reagierte schnell, und Afreyt gebrauchte die Streifen zum Abbinden und versorgte Fafhrds schlimme Wunde, während er ausdruckslos zuschaute. Als sie fertig war, murmelte er: »›Ein Kopf für einen Kopf, eine Hand für eine Hand‹, hat sie gesagt.« Und Afreyt gab energisch zurück: »Besser eine Hand als einen Kopf.« In Seiner engen Kugel hämmerte Khahkht vom Schwarzen Eis zornig gegen die gekrümmten Wände
und versuchte, die Reifinsel von der Landkarte zu kratzen. Er mahlte die Figuren, die Fafhrd und den Mausling und die anderen darstellten, zwischen hornigen schwarzen Handflächen und zupfte verzweifelt an den Stücken, die die eingedrungenen beiden Götter darstellten – aber diese beiden Figuren waren verschwunden. Während der entstellte Prinz Faroomfar im fernen Stardock ruhiger zu schlafen vermochte, wußte er doch, daß er gerächt war. Volle zwei Monate nach den eben geschilderten Ereignissen gab Afreyt ein bescheidenes Fischessen in ihrem niedrig gebauten violettfarbenen Haus am Nordrand Salzhavens. Eingeladen waren Groniger, Skor, Pshawri, Rill, der alte Ourph und natürlich Cif, der Graue Mausling und Fafhrd – mehr konnte sie wirklich nicht an ihrem Tisch unterbringen, ohne ihre Gäste zu sehr zu beengen. Der Anlaß war das geplante Auslaufen der Seefalke unter dem Kommando des Mauslings, begleitet von Skor, den Mingols, Mikkidu und drei anderen Angehörigen seiner alten Mannschaft. Er wollte nach No-Ombrulsk fahren, um dort Waren zu verkaufen, die vordringlich von Cif und ihm selbst ausgewählt worden waren (erworben und auf andere Weise zusammengetragen). Er und Fafhrd brauchten dringend Geld, um die Hafengebühren für ihre Schiffe zu bezahlen, wie auch Heuer und viele andere Aufwendungen, während es den beiden Frauen nicht besser ging. Sie schuldeten dem Rat noch zu bestimmende Summen; allerdings hatten sie ihre Mitgliedschaft nicht verloren – noch nicht. Fafhrd brauchte überhaupt nicht zu reisen, um an dem Fest teilzunehmen, denn er war Afreyts Gast,
während er seine üble Wunde heilte – so wie der Mausling ohne besonderen Vorwand bei Cif untergekommen war. Dieses Arrangement hatte bei den konservativer eingestellten Reifinselbewohnern kritische Bemerkungen ausgelöst, aber die vier Beteiligten hatten sich klugerweise darüber hinweggesetzt. Während des Essens, das aus Austernsuppe, in Insellauch gebackenem Lachs, Kornkuchen aus teurem lankhmarischen Getreide und leichtem ilthmarischen Wein bestand, drehte sich das Gespräch um die Vulkanausbrüche und die daraus folgenden oder zufällig eingetretenen Ereignisse und ihre Auswirkungen, besonders die allgemeine Geldknappheit. In Salzhaven hatte es Erdbebenschäden gegeben, außerdem hatte das nachfolgende Feuer seinen Tribut gefordert. Der Ratssaal stand noch, dagegen war die SalzheringTaverne mitsamt der Flammenhöhle bis auf die Grundmauern niedergebrannt. »Loki war ein ungemein zerstörerischer Gott«, bemerkte der Mausling, »besonders wenn es um sein Metier ging, das Feuer.« »Es war eine üble Spelunke«, meinte Groniger dazu. In Kalthafen waren drei Grasdächer eingestürzt, doch ohne Schaden anzurichten, da zu der Zeit alle Einwohner an der großen Verteidigungsdemonstration teilnahmen. Die Männer aus Salzhaven hatten am nächsten Tag den Rückweg angetreten, wobei die Sänfte zum Transport von Fafhrd benutzt wurde. »So ist sie außer den Mädchen wenigstens noch einem Sterblichen von Nutzen gewesen«, bemerkte Afreyt. »Das Ding kam mir leicht verzaubert vor«, räumte Fafhrd ein, »aber schließlich lag ich im Fieber.«
Vor allem aber sprach man über die geringen Geldvorräte und die Pläne, die man hatte, diesen Zustand zu ändern. Skor hatte sich und die anderen Berserker eine Zeitlang damit beschäftigt, zusammen mit den Reifbewohnern am Strand der Bleichen Knochen Treibholz zu sammeln, aber die erwartete Flut von Mingolwracks war ausgeblieben. Fafhrd überlegte, ob er die Treibgut mit einigen seiner Leute bemannen und eine Ladung Naturholz aus Ool Plerns holen sollte. (»Ja, aber erst wenn du wieder ganz gesund bist«, sagte Afreyt dazu.) Die Männer des Mauslings hatten sich unter dem Kommando Pshawris als Fischer betätigt und damit beide Besatzungen ernährt und die knappen Überschüsse sogar verkauft. Seltsamerweise – oder vielleicht auch nicht – war der Riesenfang, den man vor dem großen Ereignis gemacht hatte, trotz des Einsalzens völlig verdorben, dermaßen übelriechend und verfault, daß man ihn hatte verbrennen müssen. (Cif meinte: »Ich habe euch doch gesagt, Khahkht hat diese Fischschwärme herbeigezaubert – und so waren es in gewisser Weise Geisterfische, so solide sie auch ausgesehen haben, und von seiner Berührung verdorben.«) Sie und Afreyt hatten die Kobold für eine hübsche Summe an Rill und Hilsa verkauft; das Abenteuer an Bord der Treibgut hatte die beiden Mädchen erstaunlicherweise für das Leben auf See gewonnen, und sie ernährten sich jetzt als Fischerinnen, wenn sie es auch in der Freizeit nicht lassen konnten, zu ihrem früheren Gewerbe zurückzukehren. Auch der Feind hatte Schlimmes einstecken müssen. Zwei der drei vorausgefahrenen Mingolgaleeren, die in südlicher Richtung davongerudert waren, hat-
ten drei Wochen später in höchster Not in Salzhaven Zuflucht gesucht. Sie waren von Stürmen durchgeschüttelt worden und dann in eine Flaute geraten – für die ihre Vorräte nicht reichten. Eine Mannschaft hatte sich dazu herabgelassen, den geheiligten Bughengst zu verzehren, während die andere neben ihrem Wahn auch den fanatischen Stolz so weit verloren hatte, daß sie ihr Tier an ›Bürgermeister‹ Bomar verkaufte, der der erste Reifinselbewohner sein wollte, der ein Pferd besaß, der aber gleich beim ersten Ausritt stürzte und sich den Hals brach. (Pshawri bemerkte: »Er war – absit omen – ein ziemlich eingebildeter Mann. Er wollte mir das Kommando über die Seefalke wegnehmen.«) Groniger behauptete, die Reifinsel – womit er in erster Linie den Rat meinte – sei so übel dran wie alle anderen. Der barsche Hafenmeister, der nach seiner ersten Berührung mit der Magie und übernatürlichen Kräften sturer und skeptischer denn je wirkte, ließ keinen Zweifel daran, daß er Afreyts und Cifs Verhalten auf das äußerste mißbilligte – insbesondere die ungerechtfertigte Auszahlung von reifischen Schätzen zur Verteidigung der Insel. (Im Grunde war er im Rat der beste Freund der beiden, aber er hatte schließlich sein Gesicht zu wahren). »Und dann der Würfel der Ehrlichkeit«, erinnerte er sie anklagend, »für immer verschwunden!« Sie lächelte. Afreyt servierte heißen Gahveh, der im Reifland etwas Neues darstellte, denn man hatte beschlossen, den Abend im Hinblick auf die morgige Abreise früh zu beenden. »Dessen würde ich mir nicht zu sicher sein«, sagte Skor. »Wenn man sich am Strand der Bleichen Knochen umschaut, bekommt man unwillkürlich das Ge-
fühl, daß dort früher oder später alles angeschwemmt wird.« »Wir könnten auch danach tauchen«, schlug Pshawri vor. »Was? Um den Loki-Brand gleich mit heraufzuholen?« fragte der Mausling und lachte leise. Er blickte Groniger an. »Dann wärst du noch immer ein umnebelter Gottesfürchtiger, du alter Atheist!« »Das mag sein, wie es will«, gab der Inselbewohner zurück. »Afreyt meinte, ich sei eine Zeitlang auch ein Troll-Riese gewesen. Aber hier sitze ich nun wieder.« »Ich glaube nicht, daß man das Ding finden würde, so tief man auch danach taucht«, warf Fafhrd leise ein, und sein Blick ruhte auf dem Lederfutteral, das seinen noch immer bandagierten Armstumpf umhüllte. »Ich glaube, der Loki-Brand ist insgesamt aus der Nehwon-Welt verschwunden, ebenso wie viele andere absonderliche Dinge – dazu gehört auch der Töter, der sein Zuhause geworden war (Götter lieben Gold), und das Odin-Gespenst und etliche Anhängsel.« Rill, die neben ihm saß, berührte das Leder mit ihrer verbrannten Hand, die zur Heilung beinahe ebenso lange gebraucht hatte wie sein Armstumpf. Dadurch war eine gewisse Sympathie zwischen den beiden entstanden. »Wirst du einen Haken tragen?« fragte sie. Er nickte. »Oder eine Halterung für Werkzeuge, Utensilien und Instrumente. Es gibt da verschiedene Möglichkeiten.« Der Alte Ourph kostete den dampfenden Gahveh und sagte: »Seltsam, wie eng die beiden Götter miteinander verbunden waren, so eng, daß der andere
mit verschwand, als der eine sich zurückzog.« »Als Cif und ich die beiden fanden, hielten wir sie zuerst für ein Wesen«, antwortete Afreyt. »Wir haben ihnen das Leben gerettet«, warf Cif ein. »Wir haben die beiden alles in allem gut versorgt.« Sie bemerkte Rills Blick, die ein Lächeln aufgesetzt hatte. »Wenn man einen Selbstmörder rettet, übernimmt man damit eine gewisse Verantwortung«, sagte Afreyt, und ihr Blick wanderte zu Fafhrds Armstumpf. »Wenn er bei seinem nächsten Versuch andere mit ins Verderben reißt, ist das auch die Schuld des Retters.« »Du bist heute aber düsterer Stimmung, Lady Afreyt«, meinte der Mausling, »und wendest eine recht absonderliche Logik an. Wenn sie in dieser Stimmung weitermacht, weiß man nie, wo sie damit noch landet, wie, Fafhrd? Uns ging es darum, Kapitäne zu werden – jetzt scheinen wir im Begriff zu stehen, uns in Kaufleute zu verwandeln. Was kommt als nächstes? Bankiers? Oder Piraten?« »Auf beiden Wegen kannst du gehen, so weit du willst«, sagte Cif bedeutungsvoll, »solange du nicht vergißt, daß der Rat Pshawri und deine Männer hier als Geiseln zurückbehält.« »So wie meine Leute als Geiseln zurückbleiben, wenn ich auf Holzfahrt gehe«, sagte Fafhrd. »Die Kiefern in Ool Plerns sind sehr grün und groß.« Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Schlück