E. R. GREULICH
1956
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
Alle Hechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/74/56) Umschlagzeichnung:...
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E. R. GREULICH
1956
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
Alle Hechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/74/56) Umschlagzeichnung: Ingo Kirchner, Berlin Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V15/30
Rolf Falkner, des Hochverrats angeklagt, machte an einem Januartag des Kriegsjahres 1942 im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit eine niederschmetternde Beobachtung. Soeben hatte Oberwachtmeister Morenz, die „Ratte“ genannt, die Zellen des zweiten Stockwerks im Haus G aufgeschlossen, und die Häftlinge warteten vor ihren Zellentüren, um zur Freistunde auf den Gefängnishof geführt zu werden. Da wurde ein Gefangener zur Zelle 120 gebracht, die gestern abend erst frei geworden war. Der Neue trug die Hände in Eisen, den Kopf aber aufrecht. Die Schatten durchstandener Qualen standen in seinem fahlen Gesicht. Es sah alt aus und schien schon vom Tode gezeichnet. Rolf Falkner fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß und schmerzhaft in den Schläfen pochte. Hatten sie ihn also auch gefaßt, seinen Tatgenossen Karl Wiegler! Die Handeisen bewiesen, wie schlimm es um ihn stand. Haus G war das Gebäude der schweren Fälle, und die hier mit gefesselten Händen gehalten wurden, sahen nach ihrer Verurteilung das Licht der Welt nicht mehr lange. Doch auch ohne diesen sichtbaren Beweis hätte Rolf Falkner gewußt, daß es um Karls Kopf ging. Er stand noch erschüttert, als das Kommando der Ratte erscholl. Wie folgsame Marionetten machte jeder der Gefangenen eine entsprechende Wendung, und alle setzten sich zur Treppe in Bewegung. Lautes Geklapper der Absätze und Sohlen auf den Eisenstufen ertönte. „Beine anheben!“ brüllte die Ratte und schlug mit dem Schlüsselbund gegen das Geländer. Weit lehnte er sich hinüber und versuchte jeden einzelnen mit den Blicken seiner scharfen, tiefliegenden Augen zu fassen; denn erst im Parterre wurden die Häftlinge von Wachtmeister Boll in Empfang genommen. Boll, den sie den „Clown“ nannten, leitete meist die „Freistunde“, hohnvolle Bezeichnung für zehn Minuten, die unterteilt waren in Freiübungen, Dauerlauf und Rundgang im vorgeschriebenen Abstand. Mechanisch unterzog sich Rolf Falkner heute den Forderungen des 3
ewig gleichen Trotts, der einen denkenden Kopf vernichten würde, böte er nicht auch tausend Möglichkeiten, den Trottbefehlern ein Schnippchen zu schlagen. Schon mehrmals hatte ihm sein Vordermann, Harry Samotat, eine Unterhaltung signalisiert, die mit unbewegten Lippen und gleichmütigen Gesichtern geführt werden mußte. „Hast du den Neuen gesehen?“ hörte er Samotat raunen. „Ja“, sagte er. „Kennst du ihn?“ Rolf Falkner zögerte mit der Antwort. Es war nicht gut, wenn Mitgefangene wußten, wer Tatgenossen waren. Daß man Karl Wiegler im selben Haus und Stockwerk untergebracht hatte, in dem auch Falkner saß, mußte ein Zufall gewesen sein, nur zu erklären durch die Überlastung der Gestapo, bei der man die Übersicht verloren zu haben schien. Das Wort Zufall blieb in seinen Gedanken hängen, und Samotat mußte helfen, diesen Zufall zu nutzen. Darum erwiderte er: „Ja, Samo.“ Samotat fragte zurück: „Es sieht böse mit ihm aus?“ „Sehr böse.“ Samotat vergaß sich. „Die Hunde – die verdammten Hunde!“ stieß er hervor – und das war zu laut gewesen. „Ah, dem Herrn Samotat ist’s zu wohl beim gemütlichen Spaziergang“, rief der Clown. „Herkommen, Samotat!“ Wachtmeister Boll ließ den „Bärengang“ unterbrechen. Die Gefangenen mußten sich nach innen drehen und die Freiübungen nachmachen, die Harry Samotat nach den Andeutungen und Kommandos des Clowns vorturnte. Samotat hatte Mühe, aber das verschmitzte Grinsen aus seinem Vollmondgesicht wich nicht. Auch die Gefangenen schmunzelten. Der Kleine, einstmals Rundliche, dem auch die mehr als karge Gefängniskost nicht das Aussehen eines Schlanken hatte geben können, war keine geeignete Figur als Vorturner. Alles an ihm schien um einige Zentimeter zu kurz, die Unterschenkel, die Oberschenkel, die Arme und selbst der Hals. Er wußte um die Wirkung seines komischen Vorturnens und ertrug den stummen Spott der Gefangenenblicke genauso gelassen wie den lauten Hohn des Clowns. Nicht zuletzt dieser Gelassenheit wegen war der „kleine Samo“ bei den meisten Gefangenen beliebt. Die Triezerei ging zu Ende, Samo durfte in die Reihe treten. Alle Häftlinge liefen mit angewinkelten Armen Dauerlauf, und die kalte Winterluft ließ ihren Atem zu weißen Rauchfetzen vor den halbgeöffneten Mündern wer4
den. Dann hieß es einrücken, und wieder rumorte das Gepolter vieler Füße durch den vierstöckigen Betonbau. Türenschlagen und Schlüsselklirren waren verhallt. Rolf Falkner war wieder allein und hätte drei Stunden Zeit bis zur Ausgabe des Mittagessens. Drei Stunden, hundertachtzig Minuten, zehntausendachthundert Sekunden, die zu Ewigkeiten werden können für einen, dem man als „gefährlichen Politischen“ die Gefängnisarbeit verweigert. Die ‘Depressionen der Einsamkeit am Anfang seiner Einzelhaft hatte Rolf Falkner längst überwunden. In zähem Kleinkrieg hatte er sich ein englisches Lehrbuch ertrotzt, Tinte, Federn und Schreibhefte für Übungen im Schriftmalen. So etwas galt als Fertigkeit, die ein Buchdrucker zur Vervollkommnung in seinem Beruf braucht, zumindest einer Gefängnisverwaltung gegenüber, die einen Gefangenen durch strenges Alleinhalten und ohne ihm Arbeit zu geben für den Prozeß „weichzumachen“ hofft. Heute folgte Rolf Falkner seiner Tageseinteilung nicht. Weder begann er Englisch zu lernen, noch fing er an, Geschichten zu schreiben oder Gedichte zu machen, getarnt durch die offiziell gestatteten Malübungen. Er hatte zuviel nachzudenken. Daß nun, fast ein halbes Jahr später, auch Karl Wiegler verhaftet worden war, machte den Prozeß noch gefährlicher. Bei der Festnahme im Sommer hatten sie Glück im Unglück gehabt. Mit möglichst kühlem Herzen versuchte Rolf Falkner, sich die Situation noch einmal zu vergegenwärtigen. Zu viert hatten sie sich im Häuschen der Emmigs getroffen. Deren Grundstück am Waldrand war wie geschaffen für Sondersitzungen ihrer illegalen KPD-Unterbezirksleitung im Südosten Berlins. Sie wollten eine Flugblattaktion gegen den Überfall Hitlers auf die Sowjetunion vorbereiten. Außer Rolf Falkner und Karl Wiegler, dem Unterbezirksleiter, waren noch Bertha Balk und Eugen Bismuth gekommen. Bismuth war an Stelle des verstorbenen Genossen Hellwig in die Leitung gewählt worden, obwohl es damals warnende Stimmen gegeben hatte. Zäh hielt sich noch immer das Gerücht, Bismuth solle einmal bei einem Kuriergang von der Gestapo gefaßt und auffallenderweise wieder entlassen worden sein. Weil aber daraufhin weder Verhaftungen noch sonstige Beunruhigungen erfolgt waren, Bismuth selbst die Überprüfung des Falles gefordert hatte und ein einwandfrei scheinendes Alibi bringen konnte, hatte man sich damit zufriedengegeben. Rolf Falkner war nie seinen Verdacht losgeworden; aber ohne Beweis gelang es ihm nicht, sich mit der Forderung durchzusetzen, Bismuth auszuschalten. 5
Die drei Männer hatten mit Emmig Skat gespielt und der Echtheit halber auch einige Spiele notiert, wogegen man verabredet hatte, dass Bertha Balk wegen eines Freundschaftsbesuchs zu Frau Emmig gekommen sei. Eben machten sie das verabredete letzte Spiel; Karl Wiegler war als vierter Mann gerade nicht im Skat und hatte die Toilette aufgesucht, als die Tür aufgestoßen wurde und zwei Gestapoleute im Raum standen. „Hände hoch!“ Alle folgten der Aufforderung, außer Bismuth. Dessen Hand fuhr in die Tasche und zog eine Pistole. Es bestand das strenge Verbot der Partei, bei derartigen Sitzungen Waffen zu führen, weil dafür allen Beteiligten, nicht nur dem Waffenbesitzer, die Todesstrafe drohte. Gerade deswegen hatte es die Gestapo so mit Bismuth vereinbart. Doch der jüngste Beamte war nur oberflächlich unterrichtet worden. Als er die Waffe in der Hand des vermeintlichen Angreifers sah, reagierte er so, wie er ständig gedrillt wurde. Er schoß aus der Manteltasche und traf Bismuth in die Brust. Der Spitzel sank tödlich getroffen zusammen. Dieser völlig unerwartete Schuß brachte die Gestapo durcheinander. Dabei mußte es Karl Wiegler gelungen sein, aus dem Toilettenfenster zu schlüpfen und in den nahen Wald zu entkommen. Die ihm nachgeschickten Schüsse hatten wohl in der Dunkelheit ihr Ziel verfehlt. Den Verhafteten war aus allen Verhandlungen klargeworden, daß Wiegler bisher nicht gefaßt worden sein konnte. Sie vermochten sich aber auszumalen, wie er von Versteck zu Versteck gehetzt wurde. Ferner wußten sie, daß Wiegler aus konspirativen Gründen jeden Kontakt mit dem Unterbezirk vermeiden würde. Deshalb konnte Karl weder wissen, daß Bismuth ein Spitzel gewesen, noch daß dieser Hauptbelastungszeuge durch einen Regiefehler getötet worden war. Da die Gestapo durch Bismuth einiges wußte, konnten Bertha und Rolf Falkner ihre illegale Betätigung zwar nicht leugnen, aber Rolf hatte ausgesagt, die Sitzung wäre anberaumt gewesen, Bismuth seiner Spitzeldienste zu überführen. Der Besitz der Pistole wäre überzeugender Beweis geworden, hätte die Gestapo nicht überraschend eingegriffen. Das gefiel den Vernehmenden wenig, und sie probierten an Falkner ihre Foltermethoden, um ihn von dieser Aussage abzubringen. Aber er überstand alles in dem Bewußtsein, damit seinen Kopf zu retten. Sein bester Bundesgenosse war dabei die Hast, mit der die Herren ihre Untersuchungen abzuschließen wünschten, um den Fall an den Untersuchungsrichter weiterzugeben. Zu groß war die Unzufriedenheit im Lande, der Gestapo viel zu rasch wuchsen neue Widerstandsgruppen. 6
Mit dem Instinkt der klugen Frau hatte Bertha Balk aus Bruchstücken vorgelegter Protokollaussagen Rolf Falkners dessen Verteidigungslinie erahnt und sie langsam und geschickt auch zu der ihren gemacht. Auch mußte Falkners Angabe hingenommen werden, daß die beiden Emmigs in den wahren Sachverhalt nicht eingeweiht worden seien. Das verhaftete Ehepaar wußte wirklich nichts von internen Dingen, und ihre Aussagen fielen kaum belastend ins Gewicht. Doch Karl Wiegler mußte wissen, wie er sich zu verteidigen hatte. Höchstwahrscheinlich hatte er bisher geschwiegen; zu deutlich standen die Folgen in seinem Gesicht geschrieben. Wußte er aber, daß Bismuth ein Spitzel gewesen und erschossen worden war, dann konnte er vor dem Untersuchungsrichter endlich sprechen, ähnliche Aussagen machen wie Falkner und Bertha Balk. – Damit wäre sein Kopf gerettet, ganz abgesehen davon, daß es auch die Lage der andern vier Gefangenen erleichtert hätte. Ruhelos wanderte Rolf Falkner in seiner Zelle auf und ab und grübelte an einer Lösung. Der übliche Weg, einem Kalfaktor einen Kassiber für Karl zuzustecken, war im Stockwerk II, Haus G nicht möglich. Die Ratte, wegen einiger dunkler Geschichten schon zweimal degradiert, war der beflissenste Kettenhund des ganzen Hauses. Um wieder zu Hauptwachtmeistertressen und höherem Gehalt zu kommen, war ihm jedes Mittel recht. Die Kommunisten haßte er. Selbst die Kalfaktoren, alles Kriminelle, zitterten vor ihm. Auch die großzügigsten Tabakangebote konnten sie nicht bewegen, den Politischen kleine Gefälligkeiten zu erweisen. Aber Eile tat not, sehr bald würde man Karl zum Untersuchungsrichter holen; auch daß man Wieglers und Falkners Tatgenossenschaft entdeckte und sie weit auseinanderbrachte, drohte als unangenehme Möglichkeit. Es blieb nur der „Außenweg“, das hieß Verbindung über die Fenster, im Dunkeln. Wie einfach wäre das gewesen, wenn er, Rolf Falkner, in Karls Nebenzelle, in 119, gelegen hätte. Leider befand er sich in 117; zwei Zellen lagen zwischen den beiden Genossen. Willi Klatt in 119 war ein Gewohnheitsverbrecher. Ihm drohte Sicherungsverwahrung*, und schon deshalb konnte man ihm jede Denunziation zutrauen. Aber es sollte doch möglich sein, über Samo mit Karl in Verbindung zu kommen! Klatt mußte übersprungen, aus dem Spiel gelassen werden. Würde er sich auf Samo verlassen können? Rolf Falkner lächelte, als er an seinen Zellennachbar dachte. Der wurde zwar nicht zu den * Gerichtlich angeordnete Unterbringung eines als gefährlichen Gewohnheitsverbrecher Verurteilten in einer besonderen Anstalt. 7
Politischen gerechnet, aber er würde auch nie in die Angst vor einem Todesurteil gestürzt worden sein, hätte es in Deutschland nicht den 30. Januar 1933 gegeben. Harry Samotat war keine Kämpfernatur – aber die Braunen hatte er nie geliebt. Zwei Musterungen hatte er mit seinem harmlosen Herzasthma als wehruntauglich überstanden, dann wurde der begabte Zuschneider dienstverpflichtet. Nun hatte er als deutscher Zivilarbeiter das Stapeln, Sortieren und Verpacken jener Werte mit zu überwachen, die bei der sogenannten „deutschen Kleider- und Pelzsammlung für die frierende Ostfront“ zusammengeramscht worden waren. Die Schwerarbeit oblag den dazu kommandierten Fremdarbeitern, aus allen Ländern Europas deportierten Menschen, die wie Tiere leben mußten. Daß sie ihr jämmerliches Dasein zu verbessern trachteten, war verständlich. Zumindest war es Harry Samotat verständlich, nicht aber den Machthabern. Sie verfügten, daß die Entwendung geringfügiger Dinge aus solchen Sammlungen als Plünderung zu betrachten und mit der Todesstrafe zu ahnden sei. Harry war der beliebteste deutsche Vorarbeiter seiner Abteilung. Erst recht, als das mörderische Gesetz herauskam. Es gelang ihm, mehrere Bagatellen zu vertuschen, die jetzt zum Schafott geführt hätten, bis die raffiniert ausgeklügelte Falle zuklappte. Man spielte einem jungen Fremdarbeiter eine altmodische Granatbrosche in die Hand, die bei ihrem Verkauf höchstens einige Mark eingebracht hätte. „Auf frischer Tat“ wurde der Arme gefaßt, abgeführt und untersucht. Das Beweisstück wurde selbstverständlich gefunden, Zeugen mit bestem NS-Leumund waren zur Stelle. Harry Samotat, von dem Vorfall nichts ahnend, wurde geholt und scheinheilig ausgehorcht. Wieder versuchte er zu vertuschen. – Das war der IPunkt, den man zum Urteil über ihn brauchte. Nach entwürdigenden Tagen in der Hölle des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz war er in die Zelle 118 gebracht worden und fest entschlossen gewesen, seinem Leben ein Ende zu machen. In der Freistunde nahm Rolf Falkner vorsichtig Kontakt mit ihm auf, und von ihm hörte Harry Samotat zum erstenmal wieder menschliche, aufrichtende Worte. Wenn es dunkel geworden war, setzten sie ihre Unterhaltung, in Stichworten und geflüstert, von Fenster zu Fenster fort. Das war gefährlich. Wer dabei ertappt wurde, bekam drei Tage Dunkelarrest. Aber ein Gefangener wird schnell hellhörig und erwirbt sich sichere Witterung für das Nahen einer Gefahr. Rolf Falkner, der erfahrene Illegale, gab dem naiven Samotat Ratschläge für sein 8
Verhalten im Gefängnis, gegenüber dem Untersuchungsrichter und bei seinem Rechtsanwalt. Die beiden wurden Freunde. Falkner, obwohl Nichtraucher, merkte bald, ein wie begehrtes Zahlungsmittel Tabak unter Gefangenen ist, nutzte die wöchentliche Einkaufsgelegenheit des Untersuchungsgefängnisses und bestellte jedesmal die höchstzulässige Menge Tabakwaren, die ihm ab und zu sogar ausgehändigt wurde. Gern hätte er Samo Tabak geschenkt, der sehr unter der Entziehung litt und wie alle Neueingelieferten vier Wochen auf die Einkaufsgenehmigung warten mußte. Keiner hatte einen Einfall, wie die Übermittlung zu bewerkstelligen sei, denn in der Freistunde wurden sie durch die Ratte und den Clown zu scharf überwacht. Da bekam Samo die erste Arbeit in die Zelle, und sein wacher Kopf gebar die Idee mit dem Seidenfaden. Er hatte mit Fäden aus haltbarer Kunstseide Knöpfe an Offiziersmäntel zu nähen. In der nächsten Freistunde teilte er Rolf Falkner seinen Einfall mit. Bald nach dem Abendeinschluß probierten sie, und es gelang zufriedenstellend. Man mußte mehrere Fäden zu einem zusammenzwirnen, ihn am Eßlöffelstiel wie an einem Angelstock befestigen und unten mit einem Gegenstand beschweren, der, war er mit Putzlappen umwickelt, kein schurrendes Geräusch an der Gefängnisaußenwand verursachen konnte. Dann steckte man den Löffel am obersten Fensterrand in die Dunkelheit und begann ihn hin-und herzubewegen, so daß der beschwerte Faden ins Schwängen kam. Schwang er hoch genug, konnte ihn der Zellennachbar mit dem ebenfalls herausgesteckten Löffel abfangen und die Botschaft oder das Geschenk in die Zelle nehmen. So bescherte der Seidenfaden Samo nach langer Zeit wieder den Genuß des Rauchens. Am seidenen Faden gelangte auf diesem Wege nicht nur Tabak in Samos Zelle, sondern es hingen auch Briefe an der Angel mit Verteidigungshinweisen, kleine Gedichte voller Aufmunterungen und ähnliche Dinge, die in solcher Lage die Kraft bekommen, einem Menschen das Leben zu retten; nicht durch ihren Wert an sich, sondern weil sie den unersetzlichen Beweis darstellen, daß nie allein ist, wer sauberen Herzens ist. Harry Samotat verwarf die Selbstmordgedanken, schöpfte neuen Lebensmut und bezeichnete Rolf Falkner als seinen Lebensretter, der dies, lachend zwar, aber entschieden, als unerträgliche Beweihräucherung zurückwies. Rolf Falkner wußte, daß Samo bedingungslos mitmachen würde, und dieses Wissen durchströmte ihn als belebende Kraft. Mit dem seidenen Faden 9
mußte es gelingen! Dann wurde er wieder nachdenklich, die Stirn seines ebenmäßigen, länglichen Gesichts bekam tiefe Falten. Der Plan war gut, aber da gab es Einzelheiten, die schwierig zu bewältigen sein würden. Karl Wiegler wurde, wie alle Todeskandidaten, allein zur Freistunde hinuntergeführt und lag Tag und Nacht in Handeisen, die ihm nur zu den Mahlzeiten abgenommen wurden. Die Übermittlung hatte also in den zehn Minuten des Abendessens zu geschehen, mit einem doppelt langen Faden, denn Samo mußte den Zwischenraum von Klatts Zelle überschwingen. Rolf Falkner begann alles aufzuschreiben vom Verrat Bismuths und seinem, schmählichen Tode. Dann verschlüsselte er es in dem Codesystem, das bis zu ihrer Verhaftung gegolten hatte, schüttete den Inhalt eines Tabakpäckchens auf die Platte seines Klapptisches und entfaltete sorgfältig das graue Packpapier, auf dessen Innenseite er den Codetext schrieb. Akkurat brachte er das tütenartige Behältnis wieder in die alten Falten, füllte den Tabak hinein und klebte die gelöste Banderole fest auf das Päckchen. Das sah unauffällig aus, wie eben aus dem Laden geholt. Je früher Samo alles in Händen hatte, desto besser. Abermals wich die Freude aus dem Gesicht Rolf Falkners. Das war gut eingefädelt mit dem seidenen Faden. Aber wie sollte es Karl Wiegler erfahren? Ohne daß er mittat, war ihm nicht zu helfen. Rolf vergrübelte den ganzen Tag, ohne daß ihm ein befriedigender Einfall kam. Nach dem Einschluß bestieg er zur üblichen Abendunterhaltung mit Samo den Schemel am Fenster. Er schwang ihm das in Putzlappen gewickelte Päckchen Tabak zu und flüsterte, Samo möge es gut verstecken, morgen in der Freistunde würde er Näheres erfahren. Rolf Falkner hatte eine schlaflose Nacht. Voller Ungeduld wartete er am nächsten Morgen auf die bekannten Geräusche des Vorspiels zur Freistunde. Als beide dann fast gleichzeitig vor ihre eben aufgeschlossenen Zellentüren traten, sah ihn Samo erwartungsvoll an und machte eine kaum merkliche Kopfbewegung zur Zelle Karl Wieglers hin. Eine Zehntelsekunde vielleicht kniff Rolf Falkner ein Auge zu und nickte. Das hieß: Verstanden – um ihn geht es! Beim Bärengang dann lauschte Harry Samotat aufmerksam und war überzeugt, daß sich ein Weg finden werde, Karl Wiegler in Kenntnis zu setzen. Sie mußten bei ihrem Flüstergespräch doppelt achtgeben, einmal auf den hellhörigen Clown, aber auch auf Klatt, der aus aufgeschnappten Gesprächen gern Kapital schlug, indem er sie erpresserisch ausnutzte. 10
Samo flüsterte, daß er sich mit dem Arbeitskalfaktor gut stände, wenn es um normale Schiebereien ginge. Aber die Politischen im Stockwerk der Ratte seien ihm leider tabu, besonders jene in Handeisen. Da gäbe es auch keinen Vorwand, vom Arbeitswachtmeister die Zelle aufschließen zu lassen, denn bekanntlich seien Leute mit gefesselten Händen nicht in der Lage zu arbeiten. Würden die Kalfaktoren vor der Ratte nicht so kriechen, wäre er sowieso nicht gezwungen, seine Zuflucht zum seidenen Faden zu nehmen, erwiderte Rolf Falkner voller Bitterkeit. Schweigend trotteten sie und zermarterten sich die Köpfe. Der Clown pickte sich heute einen anderen Vorturner heraus, einen Kerl mit sehniger Figur, der nach einem trainierten Artisten aussah. Die schwierigsten Übungen gelangen ihm spielend. Vor Vergnügen blitzten dem Clown die Augen, genießerisch zwirbelte er seinen Schnauzbart und zwiebelte die Hungergestalten der Gefangenen voller Lust. Bei den Freiübungen schien Samo etwas eingefallen zu sein, Falkner sah es seinem Gesicht an. Während des Dauerlaufs teilte es Samo seinem Hintermann mit. Er werde direkt vor der Zelle Wieglers ohnmächtig werden und umfallen. Das passe gut zu den unmäßigen Freiübungen und seinem Herzasthma. Während sich Rolf auffällig um ihn bemühen solle, müsse er nebenbei versuchen, Karl Wiegler die notwendigen Sätze in die Zelle zu flüstern. Rolf Falkner wiegte den Kopf. Das konnte nur gelingen, wenn sie großes Glück hatten. Doch in der Not greift der Abstürzende nach einem Spinnengewebe. Er stimmte zu und flüsterte gleich darauf: „Hoffentlich hat Klatt nichts mitgekriegt.“ Samo schüttelte den Kopf; er hielt es für unmöglich. Einzeln, hintereinander, marschierten sie ins Haus hinein, das Klappern der Absätze und Sohlen auf den Eisenstufen begann. Auf dem vorletzten Podest sah Rolf Falkner, wie Samo gewaltsam pumpte und die Luft anhielt. Sein Gesicht war schon krebsrot. Wenn er jetzt die Luft ausstieß und sich zwang, eine Weile nicht einzuatmen, mußte er um so blasser werden. Er wurde es und sank genau vor Zelle 120 nieder, als wären seine Beine aus Butter. Rolf Falkner hatte sich die Sätze zurechtgelegt. Blitzschnell hockte er sich neben den liegenden Samo, brachte seinen Mund an den Spalt der Zellentür und raunte: „Karl! Hier ist Rolf. Heute abend…“ Er mußte abbrechen. Die 11
Reihe der hinter ihnen Kommenden hatte sich aufgestaut, und von der andern Seite kam die Ratte im Laufschritt. Klagend rief ihm Falkner entgegen: „Hilfe, Herr Oberwachtmeister, Samotat ist ohnmächtig geworden!“ Dabei beugte er sich über den Liegenden und riß ihm Jacke und Hemd über der Brust auf. Außer sich vor Entrüstung brüllte die Ratte: „Woll wahnsinnig, Falkner! Dalli, in die Zelle, oder wollnse gleich in Arrest?“ Erstaunlich schnell hatte sich der Angeschnauzte erhoben und war flink in seiner Zelle verschwunden. Die Ratte warf die Zellentür krachend hinter ihm zu, schloß sofort ab und schimpfte: „So ein Idiot, will barmherzigen Samariter spielen. Nee, nee, Bürschken, solche Kranken kurieren wir alleine. Führen wir diese Art gegenseitiger Hilfe ein, gibt’s hier bloß noch Ohnmächtige!“ Rolf Falkner stand hinter der Zellentür und quittierte den Wortschwall mit Grinsen. Glimpflich ausgegangen. Immerhin wußte Karl jetzt, daß Rolf Falkner in seiner Nähe war. Das bedeutete, ein kleines Stück vorwärtsgekommen zu sein. Karl würde nun aufmerksam auf Weiteres warten. Braver Samo. Den schleifte jetzt der Gefängnissanitäter mit Hilfe der Ratte in die Zelle, und Falkner hörte, wie sie ihn ziemlich unsanft aufs Bett beförderten. Dann hielten sie ihm wohl eine scharfe Riechessenz unter die Nase. Es war zu hören, wie Samo erst unartikulierte Laute ausstieß und darauf überzeugend den ins Bewußtsein Zurückkehrenden mimte. Darin hatte Samo Übung. Zweimal war auf ähnliche Art der kriegswütige Braunauer um einen Soldaten betrogen worden. Wieder ging die Zeit bis zur Essenausgabe hin, ohne daß Rolf Falkner an seine gewohnte Beschäftigung dachte. Auch der Nachmittag drohte unter ruhelosem Umherwandern und Grübeln zu verrinnen. Da hielt der Sinnierende im rastlosen Laufen inne und blieb an der Tür stehen. Draußen gab es etwas Unvorhergesehenes. Alles, was den Tagesablauf überraschend unterbrach, wirkte wie eine Sensation, und Falkner fühlte, wie jetzt, gleich ihm, alle anderen hinter den Zellentüren standen und ebenfalls atemlos lauschten. Ein Wachtmeister rief nach der Ratte. Er wünschte die Zellentür von 120 aufgeschlossen, weil er den Häftling Wiegler ins Nebenhaus zum Zahnarzt holen solle. Räsonierend willfahrte die Ratte dem Wunsch des Kollegen und schickte hämische Bemerkungen hinter dem abziehenden Gefangenen mit dem kranken Zahn her. 12
Das ist eine Chance, ging es Rolf Falkner durch den Kopf. Einen Augenblick überlegte er noch, wie ein Schachspieler, der von seinem nächsten Zug überzeugt ist, aber aus Prinzip zögert, sofort zu ziehen. Dann wischte er sich tapfer etwas Seife ins linke Auge, so daß es wild zu tränen begann, wilder als ihm lieb war. Wie toll rieb er sich die linke Wange, schlug und knetete sie, bis sie hochrot und tatsächlich etwas geschwollen aussah. Befriedigt betrachtete er das Werk im verbotenen Taschenspiegel und übte klägliche Grimassen. Wenn er den linken Mundwinkel noch krampfhaft nach unten zog und auf das ganze ein Taschentuch preßte, sah er einem vom Zahnschmerz Gepeinigten verteufelt ähnlich. Nun konnte er die Fahne werfen. Betätigte er innen einen primitiven Mechanismus, dann fiel draußen neben der Zellentür ein auffälliges rotes Signal aus der Mauer. Fahnewerfen war nur in äußersten Notfällen gestattet und bei den Wachtmeistern höchst unbeliebt. Wehe dem Häftling, der nach Meinung des zuständigen Wachtmeisters unnötig die Fahne geworfen hatte. Rolf Falkner war gewillt, dies und noch mehr zu wagen. Gegen das, was ihm gelingen mußte, empfand er alle Drohungen als lächerlich. Es dauerte geraume Zeit, bis die Ratte fluchend zur Zelle 117 kam und sie aufschloß. Mit scheinbarer Beherrschung erstattete Falkner exakt und militärisch die übliche Meldung, dann schilderte er mit tränenerstickter Stimme die unsäglichen Zahnschmerzen. Die kleinen Augen der Ratte glitzerten ihn feindselig an. „Falkner, Sie machen mir heute dauernd Sperenzchen. Gefällt mir nicht.“ „Wirklich ein Pechtag, Herr Oberwachtmeister“, murmelte der, Schmerzen markierend. „Und warum habense sich nicht hausordnungsgemäß bei der Morgenmeldung zum Zahnarzt notieren lassen?“ „Da hatte ich noch keine Schmerzen, Herr Oberwachtmeister.“ Die Ratte feixte. „Da habense Pech gehabt, Falkner.“ Er wollte gehen. „Bitte, Herr Oberwachtmeister“, bat Falkner inständig, und es war das erstemal, daß er die Ratte um etwas bat, „die Schmerzen sind unerträglich.“ Morenz lachte gemein. „Das ist fein, Falkner. Sind ja’n tapferer Kommunekämpfer, der so was, aushält. Wagense nicht noch mal, wegen eines blöden Kuchenzahns die Fahne zu schmeißen, verstanden?“ Schon war er draußen. „Herr Oberwachtmeister, es ist zum Verrücktwerden, zum Aufhängen!“ „Kommense mir nicht mit der Masche. – Werde Ihnen ‘ne Tablette Aspi 13
rin bringen lassen.“ Höhnisch grinsend drückte er die Tür zu. In den Spalt hinein sagte Falkner langsam und bestimmt: „Dann – dann bitte ich, dem Herrn Gefängnisvorsteher vorgeführt zu werden.“ Das war das letzte Mittel, ein sehr zweischneidiges Schwert. Beugte sich Morenz dem nicht, dann mußte er schon aus Prestigegründen Rache nehmen. Einem Gefangenen ließ sich das Leben zur Hölle machen. Die Seelen der Häftlinge waren ihm ausgeliefert. Mit einem Ruck zog Morenz die Tür wieder auf. Drohend hieb er den Blick seiner kalten Augen in das Gesicht Falkners und zischte: „Schön, Falkner, Sie soll’n zum Zahnarzt kommen. Aber benehmense sich in Zukunft weiter so, dann wird’s lustig, sehr lustig, so wahr ich Morenz heiße.“ „Vielen Dank, Herr Oberwachtmeister!“ Rolf Falkner machte das ergebenste Gesicht, dessen er fähig war. Als die Tür wieder zuknallte, preßte er sich die Faust in den Mund, um nicht aus Triumph über seinen Sieg laut zu lachen. Es dauerte viel zu lange, bis derselbe Wachtmeister aus dem Nebenhaus anmarschiert kam, abermals einen Schmerzgeplagten abzuholen. Auffällig still, gefährlich still, kam die Ratte herbei, Zelle 117 aufzuschließen. Er antwortete auch nicht, als der Kollege vom Zahnambulatorium gutmütig spottete: „Bei euch ist wohl die Zahnfäuleritis ausgebrochen?“ Rolf Falkner hatte eine Wut auf den Trampel. Mit Karl Wiegler in Verbindung gebracht zu werden, gefiel ihm gar nicht. Sie zogen beide los. Rolf Falkner ging, wie es sich für einen Gefangenen gehörte, zwei Schritt voraus. Der gemächliche Schritt hinter ihm peinigte und quälte. „Rennen Sie nicht so“, nörgelte der Wachtmeister, „Sie werden noch früh genug brüllen!“ „Lieber ein Ende mit Schrecken“, heuchelte Rolf Falkner und preßte erbarmenheischend das Taschentuch auf die völlig gesunde Gesichtshälfte. „Warten müssen Sie so und so“, nuschelte der Wachtmeister und ließ sich durch nichts aus seiner Gemächlichkeit reißen. Es ging über Eisen- und Steintreppen, durch schmale Korridore und hallende Gänge, an Kalfaktoren vorbei, die zum tausendsten Male blitzende Linoleumböden bohnerten. Dann bogen sie in einen langen Gang ein, an dessen Ende soeben ein Wachtmeister mit einem Leidensgefährten hinter einer Tür verschwand. Die Tür öffnete sich wieder, ein anderer Wachtmeister trat heraus und hinter ihm – Karl Wiegler. 14
Rolf Falkner mußte sich Gewalt antun, um einen Laut der Wut und Enttäuschung zu unterdrücken. In gleich gemächlichem Schritt kamen ihnen die beiden entgegen. Würden die Wachtmeister stehenbleiben zu einem Schwatz? Würde es möglich sein, Karl den lebensrettenden Satz zuzuraunen? Was, wenn die beiden nicht schwatzten? Tolle Einfälle huschten Rolf Falkner durchs Hirn, aber alles war unbrauchbar, würde den klug erdachten Plan zerschlagen. Er mußte einen klaren Kopf behalten… mußte! Verbissen preßte er die Zähne aufeinander, daß ihn die Kiefer schmerzten. Jetzt waren sie nur noch wenige Meter voneinander entfernt. Die Blicke der beiden Gefangenen faßten sich, Wiedersehensfreude blinkte in ihren Augen auf. Mit stumpfem Gesicht lief der Wachtmeister hinter Karl. Der beschleunigte unmerklich seinen Schritt. Rolf tat das gleiche. Noch zwei – einen Meter. Nun waren sie dicht voreinander, und Rolf formte wie in Taubstummensprache die Lippen zu den beiden Worten: „Fenster – Löffel.“ Kurz noch sah er Karls Gesicht, das irrsinnige Bemühen darin, zu erraten, dann wischte der Schatten schmerzlichen Bedauerns darüber hin, und sie waren aneinander vorbei. Die Wachtmeister blieben nicht stehen. Selbst zum Gruß zu träge, tippten sie nur mit den Zeigefingern an die Mützenschirme und marschierten weiter ihren Weg wie aufgezogene Automaten. Das Zahnambulatorium bestand aus einem großen Behandlungsraum und einem kleinen Nebengelaß, in dem ein Kalfaktor saß und die schriftlichen Arbeiten und Eintragungen erledigte. Ein Wartezimmer gab es nicht, ebensowenig Stühle für die Patienten. Die warteten an den Wänden und auf Plätzen, an denen sie am wenigsten im Wege standen. Die ganze Zeit war ein Wachtmeister anwesend, während zwei weitere die zahnkranken Häftlinge herbrachten und wegführten. Das alles übersah Rolf Falkner mit schnellem Blick. Wie war aus dieser „Marteranstalt“ zu entkommen? Wenn es schiefging, würde er womöglich einen gesunden Zahn verlieren. Wie unbeabsichtigt hatte er sich in die Nähe des Kalfaktors gestellt, der hinter einem Tischchen gleich am Eingang des Nebenzimmers saß. In einem günstigen Augenblick ließ er ihm eine Zigarette in den Schoß fallen. Erstaunlich gleichmütig verstaute der Beschenkte das Geschenk und sah nicht einmal von seiner Schreiberei auf. Einige Sekunden später hauchte 15
Rolf dem Kalfaktor zu: „Schieb mich immer nach hinten.“ Flüchtig blickte der andere auf, blinzelte einmal mit den Augen, und das hieß: Gut. Dann erschrak Rolf Falkner, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Im Raum befand sich die Assistentin, Hilfe oder was immer sie sein mochte, die einen rosa Gipsbrei zusammenrührte. Im Gegensatz zu der zweiten Helferin, ihrer üppigen, blonden Kollegin, war sie zierlich und schwarzhaarig. Ohne Zweifel hatte sie das Übereinkommen der beiden beobachtet und sah Rolf Falkner aufmerksam ins Gesicht. Ihre dunklen Augen waren mehr forschend als strafend auf ihn gerichtet und fragten stumm: Warum begebt ihr euch in Gefahr? Rolf lächelte sie an, seine Augen baten, versteh mich bitte, ich tue es um einer guten Sache willen. Art und Aufmachung der Blondine entfachten Bitterkeit in Rolf Falkner. Sie war sich ihrer wohlgestalteten Körperformen bewußt und suchte sie mit jeder Bewegung zu unterstreichen. Mußte sie beim Zureichen einen Gefangenen ansprechen, so geschah es hochfahrend, geringschätzig. Man hätte sie sich gut als KZ-Bewachung vorstellen können, mit Hetzpeitsche und Hund. Dem Charakter der Blonden war das ständige heimliche Begehrtsein nicht gut bekommen; dieses Dasein als ungekrönte Königin hatte sie schlecht gemacht. Dagegen war die zierliche Schwarze durch das viele Männerelend nachdenklich geworden, verzeihend und hilfsbereit. , Die mißliche Lage zwang Rolf Falkner, die Wanderungen seiner Gedanken zu bremsen. Der Augenblick rückte näher, an dem er derjenige sein würde, der auf dem Stuhl mit den Hebeln Platz zu nehmen hatte. Er entschloß sich, den gesündesten Zahn als krank auszugeben und zu sagen, daß er jetzt auch nicht mehr die Spur eines Schmerzes habe. Hoffentlich ging es so; die Person des Zahnarztes sprach dafür. Er bewegte sich so natürlich, als befände er sich unter üblichen Umständen und üblichen Patienten. Mit einigen Männern plauderte er. Der aufsichthabende Wachtmeister döste vor sich hin und schien nichts zu hören. Entweder war er zum Einschreiten zu bequem, oder er gehörte zur heimlichen Partei der Menschenfreunde, die nicht einmal in dieser Haftanstalt eines bestialischen Systems ohne Anhänger war. Jetzt nahm ein jüngerer Mensch auf dem Operationsstuhl Platz. Seine Hände waren in Stahl geschlossen, der ihm auch hier nicht abgenommen wurde. Er bewegte die Lippen wie in stillem Gebet. Er hatte ein kalkweißes 16
Kindergesicht, abstehende große Ohren und runde Lammsaugen, die unaufhörlich die erlittene Pein in die Welt schrien, stumm und unaufhörlich. Als er den leidgezeichneten Kopf betrachtete, dachte Rolf Falkner, dieses Gesicht und die gefesselten Hände müßte man fotografieren, zu Hunderttausenden drucken und nichts anderes darunterschreiben als: „Deutsche Jugend im großen Jahrtausend“. Das gäbe ein aufrüttelndes Flugblatt. „Nun, Herr Feselen, hat’s noch gepuckert?“ fragte der Zahnarzt freundlich, während er mit einer spitzen Pinzette eine Füllung herauskratzte. „Wenig, Herr Doktor“, sagte der junge Mensch mit sanfter Stimme. „Geht der Zahn heute noch fertig zu plombieren? Weil – weil ich – vielleicht morgen schon…“ Seine Stimme brach ab vor unterdrücktem Schluchzen, zwei große Tränen liefen langsam über das weiße Kindergesicht. „Aber nanu, Herr Feselen“, der Arzt war erschrocken. „Ihre Eltern hatten doch ein Begnadigungsgesuch beim Führer eingereicht, und…“ „Ja – und – und der Herr Erzbischof – hatte – auch unterschrieben“, sagte der junge Mensch leise und vor innerer Erregung stockend, während er sich mit einer rührenden Bewegung seiner mageren Schultern den am Kinn hängenden Tränentropfen fortwischte. „Hochwürden hatte dem Führer mitgeteilt, daß ich Reue empfinde und nun nicht mehr aus Glaubensgründen den Wehrdienst verweigern würde.“ „Na also“, sagte der Doktor rasch, „dann wird doch eine Begnadigung…“ „Nein“, sagte der Junge, und sein schmächtiger Körper bebte, „abgelehnt vom Führer. Vorhin habe ich Bescheid…“ „Nicht den Mut verlieren, Herr Feselen“, der Zahnarzt bemühte sich um einen zuversichtlichen Ton, „Ihre Eltern und der Herr Erzbischof werden…“ Traurig schüttelte der Verurteilte den Kopf. „Gegen einen Führerentscheid gibt es nichts.“ Totenstille nach diesen Worten. Ein einziger war Herr über Leben und Tod von Millionen. Der junge Priester hatte es in seinen stillen, sanften Worten gesagt. Der Zahnarzt hantierte hastig, beflissen, tat, als nehme ihn die Arbeit völlig in Anspruch. Das Entsetzliche ließ alle Trostsprüche im Halse verdorren. Seine Stirn war schweißfeucht – die Lippen fest zusammengepreßt. Der Jammer dieses Menschen brachte ihm so deutlich wie selten zum Bewußtsein, an welchen Schicksalsabgründen er sein Handwerk 17
ausübte, seine Kunst aufbot, die oft nur ein Herrichten von Totenköpfen war. Sorgfältig glättete der Zahnarzt die Plombe im Munde des Todgeweihten, fuhr mit dem surrenden Polierrädchen über die hartgewordene Masse hin, tastete dann die Konturen des wiederhergestellten Zahnes mit dem Zeigefinger ab und sagte: „So, Herr Feselen, nun zwei Stunden warten, dann können Sie wieder schön beißen.“ Erst als er es ausgesprochen hatte, wurde er sich des unfreiwilligen grausigen Hohns bewußt. Schon morgen würden diese Zähne zum letztenmal gebissen haben. Wie zur Entschuldigung legte der Arzt einen Augenblick seine Hand auf die Schulter des jungen Priesters und wandte sich dann rasch mit verschlossenem Gesicht ab, der nächsten Arbeit zu. Unbeholfen mit den gefesselten Händen, brachte sich der Unglückliche aus dem Stuhl, und die Zierliche half ihm dabei. Als er mit dem Wachtmeister den Raum verließ, sah ihm die Blonde verständnislos nach. In ihrer Miene lag etwas wie ein dummes Schulterzucken: Warum weigert er sich, Soldat zu werden? Wenn Rolf Falkner sich vorhin richtig vergewissert hatte, dann würde er nach dem, der jetzt im Stuhl saß, drankommen. Der Vordermann kletterte aus dem Stuhl und – was doch eine einzige Zigarette auszurichten vermochte – gleichgültigen Gesichts schickte der Kalfaktor einen anderen Gefangenen unter die Hände des Arztes. Immerhin, es waren nun nicht mehr viele Häftlinge hier, der Zubringerdienst durch die beiden Wachtmeister hatte aufgehört, und auch der geneigteste Kalfaktor konnte ihn nicht später denn als letzten dran-nehmen. Da kam ein Wachtmeister etwas eiliger als üblich in das Behandlungszimmer und hielt dem Zahnarzt ein Schreiben hin. Der warf einen Blick darauf, und über seiner Nasenwurzel entstand eine Falte des Unwillens. „Immer das gleiche“, sagte er zu der Zierlichen. „Wollte Gott, man könnte hier mal seine Stunden ordentlich zu Ende arbeiten.“ Dann wandte er sich ruhigeren Tons an den Wachtmeister: „Ist gut, ich komme.“ Nachdem der Doktor den Patienten fertig behandelt hatte, warf er die Instrumente auf den kleinen Schwenktisch aus Glas und zog seinen Kittel aus. Während er sich die Hände wusch, sagte er zu dem anwesenden Wachtmeister: „Ich muß wieder mal vorzeitig nach drüben. Führen Sie jetzt die Leute zurück. Die heute nicht mehr drangekommen sind, werden morgen gleich zuerst behandelt.“ 18
Im Innern Rolf Falkners gluckste Wonne. Da hatte er sieb unnötig den Kopf heiß gemacht. Die übrigen drei Häftlinge waren aus einem andern Haus. Der Wachtmeister brachte sie zusammen weg. Kurz danach ging der Arzt. Die Mädchen kochten die Instrumente und begannen das Zimmer aufzuräumen. Mit Wohlgefallen beobachtete Rolf die flinke, sichere Art der Schwarzhaarigen, während er die Hantierungen der Blonden fahrig und nachlässig fand. Zu gern hätte er mit der Zierlichen gesprochen. Aber da war die Blonde. Nicht, daß er sie fürchtete, aber bestimmt hätte es der Schwarzhaarigen Unannehmlichkeiten bereitet. Plötzlich sagte die Blonde, eher freundlich als unfreundlich: „Was haben Sie denn ausgefressen?“ Rolf sah sie verblüfft an, ehe er antworten konnte. „Ich habe mir gestattet, über bestimmte Dinge eine Meinung zu haben.“ „Pö, das ist auch schon was“, sagte sie schnippisch, aber immer noch so, daß man merkte, der Mann war ihr nicht unsympathisch. „Sie haben recht“, erwiderte er. „Leider denken die, die zu bestimmen haben, nicht so wie Sie.“ Seine Ironie machte sie ärgerlich. „Sind wohl auch so’n Kommunejünger?“ Das war bissig hingeworfen und sollte verletzen. „Du weißt doch, daß mit Gefangenen nicht gesprochen werden soll, Edelgard“, sagte die Zierliche. Dabei sah sie Rolf mit bedeutungsvollem Blick an, in dem Verständnis und Warnung zugleich lagen. Rolf nickte dankbar. „Das stimmt, Fräulein. Aber als höflicher Mensch antwortet man auf eine Frage, ohne zu lügen.“ Er sagte es, um wenigstens ein Wort mit ihr gesprochen zu haben. Er war glücklich, ihre Stimme wieder zu hören, als sie darauf sagte: „Es kommt nichts dabei heraus und schafft nur Ärger.“ Die Blonde betrachtete beide ungnädig und überlegte eine neue Bosheit. Der Wachtmeister kam zurück und schlenkerte vernehmlich mit dem Schlüsselbund. Rolf mußte gehen, hielt aber die Zierliche in seinem Blick, solange es möglich war. Auf dem Weg durch die peinlich gebohnerten Korridore bedachte Rolf, wie es nun weitergehen sollte. In seiner Hand lag es, morgen wieder zum Zahnarzt gebracht zu werden. Wenn er nur gewußt hätte, ob Karl Wiegler auch dort sein würde. Er ertappte sich dabei, wie er sich einzureden begann, Karl würde wohl morgen schon wieder behandelt werden. Was sollte er tun? Was sollte er nur tun? Ratlosigkeit quoll in ihm hoch. Die letzten 19
achtundvierzig Stunden hatten immer wieder schnelle Entschlüsse von ihm verlangt. Kampf um den Kopf, das hörte sich romantisch an. Die Realität aber war ein nervenzermürbender Kleinkrieg. Er kam sich vor, als steckten auch seine Hände in Eisen, als befände sich sein ganzer Körper in einer Zwangsjacke. Es ging um wenige Tage, vielleicht um Stunden. Und durch diese Zeitnot waren ihm die Hände fest gebunden. Dann wußte er: Er würde auch morgen zum Zahnarzt gehen. Etwas tun war immer besser als nichts tun. Sofort preßte er wieder das Taschentuch auf die Wange und sagte: „Kaum bin ich vom Zahnarzt weg, da fängt es wieder an.“ „So ist es meistens“, erklärte der Wachtmeister ungerührt und schloß eine Eisentür mit Drahtglasscheiben auf. Jetzt waren sie wieder im Haus G und stiegen vom vierten Stock hinab. Als sie im dritten Stockwerk zur Treppe gingen, konnte Rolf Falkner schräg hinunter zu ihrer Zellenreihe sehen. Plötzlich begann er vor Aufregung zu zittern. Karl Wiegler saß vor der Zelle 120~und wurde rasiert. Zu dieser ungewöhnlichen Zeit konnte das nichts anderes bedeuten, als daß er kurz darauf zur Sprechstunde geführt würde. Die Gefängnisverwaltung bemühte sich, nach außen ein ehrbares Gesicht zu wahren, auch dadurch, daß die Gefangenen vor ihren Angehörigen mit glattrasierten Gesichtern erschienen. Die Ratte meckerte mit dem Wachtmeister, der die Anordnung gebracht hatte. Rolf Falkner preßte vor Erregung das Taschentuch so hart an das Gesicht, daß es ihn wirklich schmerzte. Jetzt mußte er etwas wagen. Der rasierende Kalfaktor kam aus Haus F, war der Macht des Morenz nicht ausgeliefert. Der würde vielleicht mitmachen. Einige Meter von dem Gefangenen aus Zelle 120 entfernt, blieb der Wachtmeister bei der Ratte stehen. „Zahn raus?“ fragte Morenz. „I wo“, der Wachtmeister schwenkte abwinkend sein Schlüsselbund, „der Zahnarzt mußte vorzeitig weg. Falkner soll morgen gleich als erster drankommen.“ „Da haben wir’s!“ Das Gesicht der Ratte belebte sich vor Triumph, daß Falkner nun eine Nacht mit Zahnschmerzen zubringen mußte. „Ahnte doch gleich, daß der heute nicht mehr drankommt. Aber die Herren Hochverräter wissen ja immer alles besser!“ Seine Schadenfreude war das Glück Rolf Falkners. Der war wie unabsichtlich noch wenige Schritte weitergegangen und in der Nähe des Kalfaktors stehengeblieben, der eben das Rasiermesser 20
am Riemen abzog. „Sag ihm“, flüsterte Rolf und wies mit dem Kopf zu Karl Wiegler, „heute abend beim Essen – Löffel aus dem Fenster stecken – es kommt Tabak!“ Der Kalfaktor blinzelte zustimmend mit den Augen. Rolf Falkner wandte sich sofort zu Morenz um, der auf ihn zukam. „Meinem ärgsten Feind wünsche ich diese Schmerzen nicht, Herr Oberwachtmeister.“ „Haltense den Mund, und hantierense sich nicht wie ein Waschweib!“ schimpfte die Ratte. Seine Stimme hüpfte und sprang, das Pech Falkners bereitete ihm sichtbares Vergnügen. Die Schritte der Ratte entfernten sich, Rolf Falkner nahm das Taschentuch vom Gesicht. Genau richtig gewesen, der Einfall mit den Zahnschmerzen, Jetzt würde er nicht vor Verzweiflung in der Zelle auf und ab laufen, sondern vor freudiger Genugtuung. Die Dämmerung senkte sich in die Zellen. Nun kam jene triste Zeit, in der man nichts schaffen konnte. Und wenn dann die Lichtschalter außerhalb der Zellen gedreht wurden, ergab das auch nur den Hohn auf eine Beleuchtung. Über dem Klapptisch hing eine Kohlenfadenbirne von 25 Watt, die in eine spitze Tüte von schwarzem Packpapier gehüllt war. Nichts nahm die Gefängnisverwaltung so ernst wie die Verdunkelung vor Fliegersicht. Die sogenannte Leuchte warf einen jämmerlichen Lichtkreis, groß wie ein Suppenteller und kaum genügend, Balkenüberschriften sichtbar zu machen. Für diese Strafe gab es aber auch eine Entschädigung. Um siebzehn Uhr wurde die Ratte von Leuck abgelöst, einem stillen Hilfswachtmeister, den man kaum recht kannte, so reserviert verhielt er sich. Sicher ein Dienstverpflichteter, der eben nur das tat, was er tun mußte, um nicht selbst hinter einer Gefängnistür zu sitzen. War die Ratte aus dem Haus, dann hatte Rolf Falkner das Gefühl, als sei die Luft, die er atmete, plötzlich reiner geworden, die Zelle größer und das Leben freier. Leider unterstützte die Menschlichkeit des Hilfswachtmeisters Falkner nicht in seinem Plan. Leuck kam, wenn der Tagesablauf zu Ende war. Er überwachte lediglich noch die Ausgabe des Abendessens. Dabei aber war mit den Kalfaktoren beim besten Willen keine Verbindung möglich. Es war völlig dunkel geworden. Rolf gab das Klopfzeichen und stellte leise den Schemel ans Fenster. Flüsternd unterrichtete er Samo vom erfolgreichen Ausgang seiner Komödie. Von nebenan hörte er unterdrückte Freudengluckser. Samo fragte noch einiges, und das zeigte, wie eifrig er sich bemühen würde, alles Menschenmögliche zu tun. Befriedigt stiegen sie von 21
den Schemeln. Jetzt kam es darauf an, ob der Kalfaktor Wort gehalten hatte und ob es Samo gelingen würde, die doppelte Entfernung zu überbrücken. Rolf Falkner hatte die Empfindung, sein Körper sei mit Hochspannungsstrom geladen und würde bei der geringsten Berührung explodieren. Eßkesselschurren, Kellenklappern, das Abendbrot wurde ausgegeben. Leuck lief an ihrer Zellenreihe entlang und schloß die Türen auf. Rasch nahm Rolf die Schüssel vom Wandbord und hielt sie durch einen handbreiten Spalt auf den Gang. Der Gefangene, der das eine Sekunde zu spät tat, bekam nichts. Dessen Essen wurde die Beute der Kalfaktoren. Ein kurzer Klirr, die Schüssel war halb gefüllt mit Wässerigem, wurde rasch hineingezogen, und die Tür schlug hart gegen den Rahmen. Rolf schob sie sachte wieder einen halben Finger breit auf und lauschte. Er hörte, wie Leuck in Zelle 120 Wiegler die Handeisen aufschloß. Jetzt war es soweit, es galt. Hastig setzte Falkner den Schemel in die Beobachtungsecke und stieg hinauf. Er hielt sein Ohr so angestrengt in die Dunkelheit draußen, daß sich die Oberkante des Klappfensters tief in seine Wange preßte. Ganz leise Geräusche, nur dem Eingeweihten vernehmbar. Samo war am Werk. Da plötzlich Schritte auf dem Gang. Rolf Falkners Zellentür flog auf. Er hatte kaum Zeit gehabt, vom Schemel zu springen. Leuck trat in die Zelle, hinter ihm ein anderer Wachtmeister. Rolf Falkner begann seine Meldung herunterzuschnurren. Leuck winkte ab. „Schon gut, Falkner.“ Dann wandte er sich an den Kollegen. „Das ist er, Nummer 28333.“ Der Wachtmeister legte ein winziges Tütchen auf den Tisch. „Vom Zahnambulatorium. Sie sind heute nicht mehr zum Zahnziehen drangekommen?“ „Leider, Herr Wachtmeister“, Rolf Falkner preßte bedauernd die Hand an die Wange. „Aspirin“, sagte der Wachtmeister, „manchmal hilft’s.“ „Danke schön, Herr Wachtmeister“, sagte Rolf, und das war der innigste Dank, den er je einem Wachhund ausgesprochen, denn er wußte sofort, wer hinter dieser menschenfreundlichen Sendung stand. Er sah die Zierliche dicht vor sich, und Schmerz und Freude waren in seiner Seele. Sie ahnte wohl, daß er entweder keine oder nur gelinde Zahnschmerzen haben konnte. Daß sie trotzdem veranlaßt hatte, Falkner die Tablette zu bringen, sollte die Botschaft eines Menschen sein, der mitfühlt. Die Tür schlug zu, und nun wurde sich Rolf wieder der Wichtigkeit dieser 22
Minuten bewußt. Behende sprang er auf den Schemel und lauschte angestrengt wie zuvor. Stille, nichts. Endlich konnte er es nicht mehr ertragen. „Hat’s geklappt, Samo?“ Er hörte einen unterdrückten Fluch. „Noch nicht. Mußte doch vom Fenster weg. Was war denn bei dir los?“ „Gute Sache. Später. Mach sofort weiter.“ Er hielt seine Hand als Trichter ans Ohr und suchte die Augen an die Dunkelheit draußen zu gewöhnen. Und dann sah er es, geisterhaft unwirklich, aber doch sichtbar. Der Seidenfaden schwang. Noch erreichte er nicht die Höhe der Oberkante seines Fensters, gewann aber bei jeder Wiederkehr an Höhe. Da, jetzt genügte es, jetzt hätte man ihn notfalls mit der Hand fassen können. Noch einmal kam er vorbei und noch einmal – dann nicht mehr. Rolf Falkner lachte in lautlosem Jubel. Da hörte er in die stille Abendluft hinein sprechen: „Schönen Dank, Falkner, als Nichtraucher hättest du mir schon lange mal ‘n Päckchen Tabak zukommen lassen können!“ Das war Klatt gewesen. Rolf Falkner zitterten die Knie unter dem fürchterlichsten Schlag, den er bekommen, seitdem er hier als Untersuchungsgefangener saß. Klatt hatte also doch etwas erlauscht, das bewiesen seine Worte. Er wußte, daß Falkner der Initiator war, und würde sich mit seinen Erpressungsversuchen an ihn halten. Er würde den Codetext finden und versuchen, darauf eine Leibrente in Tabak aufzubauen. Nicht ausgeschlossen, daß er ihn anzeigte. „Rolf?“ hörte er die kläglich geflüsterte Frage Samos. „Ja?“ „Was sagst du dazu! Klatt, der Lump.“ „Ruhe. Nerven behalten. Alles andere morgen!“ Sie mußten von den Fenstern weg, die Zellen wurden verschlossen. Rolf Falkner saß vor seinem Klapptisch, den Kopf in die Hände gestützt. Die Suppe stand kalt und unberührt. Er preßte die Fäuste gegen die Schläfen, ihm war, als müßte ihm vor grenzenloser Enttäuschung der Kopf zerspringen. Wieder eine schlaflose Nacht. Gegen Morgen wurde er ruhiger. Nicht geschlagen geben. Noch gab es zwei Möglichkeiten. Sie mußten versuchen, Klatt zu gewinnen, daß der das Päckchen am Seidenfaden an Karl Wiegler weitergab. Und dann war j a da noch die Zierliche. Ob sie es wagen würde, Wiegler einen Kassiber zuzustecken? Versuchen mußte er es. Sie bedeutete 23
die weit stärkere Hoffnung als der Gauner Klatt. Endlich wußte er, wie er weiterkämpfen konnte. Das gab ihm Ruhe und Zuversicht wieder. Er schlief ein. Eine Stunde blieb ihm noch. Die Kirchturmuhr in der Nähe des Gefängnisses war ein leidlicher Ersatz für die ihm abgenommene Armbanduhr. Am Morgen meldete Rolf Falkner ordnungsgemäß, daß er zum Zahnarzt wollte, ohne die Komödie mit dem Taschentuch zu vergessen. Mürrisch nahm die Ratte die Meldung zur Kenntnis. Nachdem Rolf das kalte Abendbrot zum klietschigen Stück trocken Brot verschlungen und mit dem dunklen Wasser nachgespült hatte, das von der Gefängnisverwaltung Kaffee genannt wurde, wartete er nervös auf das Zeichen zur Freistunde. Es gelang ihm, mit Samo den Platz zu tauschen. Jetzt lief er hinter Klatt, konnte besser mit ihm verhandeln. Klatt verhielt sich wie ein lauernder Fuchs. Zuerst wollte er wissen, wieviel Tabak er bekommen würde, falls er Wiegler das abgefangene Päckchen aushändige. Um die Gier des Gauners zu reizen, versprach ihm Rolf Falkner drei Päckchen und wußte gleich darauf, daß dies ein Fehler gewesen war. Klatt bemerkte hämisch, er sei erstaunt, wie wertvoll gerade jenes bewußte Päckchen zu sein scheine. Damit spielte er auf die Nachricht an, und Falkner erwartete, daß er nun beginnen würde, den Preis für den von ihm verlangten Liebesdienst weiter in die Höhe zu treiben. Statt dessen aber sagte er, Falkner solle sich jetzt nicht weiter bemühen, er wolle sich alles erst einmal genau durch den Kopf gehen lassen. Es war klar, er gedachte abzuwägen, was vorteilhafter für ihn sein würde: einige Pakete Tabak oder Denunziation. Auf der Treppe erfuhr Samo von Falkner den Ausgang des Gesprächs. Sie verabredeten, daß Samo gleich nach Einbruch der Dunkelheit ein gleichartig präpariertes Päckchen auf dem üblichen Weg erhalten sollte, um es Karl Wiegler zuzuschwingen. Sie nahmen an, Klatt würde kaum mit einer Wiederholung rechnen. Zum zweitenmal machte Rolf für Wiegler ein Päckchen zurecht wie vorgestern. Eine Abschrift des Codetextes schrieb er auf einen kleinen Zettel, den er mehrmals kniffte und im Umschlag seines Jackenärmels verstaute. Heute nachmittag beim Zahnarzt würde es sich erweisen, ob das gute Herz der Zierlichen auch ein starkes Herz war. Er war überzeugt, daß Karl nach ihrer Begegnung auch mit dieser Möglichkeit rechnen und sich deshalb noch öfter zum Zahnarzt melden würde. 24
Bald nach dem Mittag wurde Rolf Falkner vom gleichen Wachtmeister zum Ambulatorium geholt. Er hatte sich mit Zigaretten und Tabak versehen und dachte, sollte es mit der Zierlichen nicht klappen, dann versuchst du es mit dem Kalfaktor. Kurz vor Beginn der Behandlungszeit kamen sie im Ambulatorium an. Die Mädchen waren noch dabei, alles vorzubereiten und die Instrumente zurechtzulegen. Mit Unbehagen stellte Rolf Falkner fest, daß er der erste und im Augenblick noch einzige Patient war. Die Blonde strafte ihn mit Mißachtung, die Zierliche tat sehr beschäftigt. Als sie ihn das erstemal verstohlen ansah, bedankte er sich mit einem sprechenden Blick für das übersandte Aspirin. Der Arzt erschien. „Ah, da ist ja ein armer Zurückgestellter“, sagte er leutselig, „hoffentlich sind Sie nicht zu sehr geplagt worden.“ „Man quält sich so durch, Herr Doktor“, sagte Rolf Falkner, und man sah seinem Gesicht an, daß der Schmerz echt war; aber der rührte nicht von den Zähnen her. Es blieb Falkner nichts anderes übrig, als auf dem Stuhl Platz zu nehmen. Blitzschnell änderte er seine Taktik, da er sich erinnerte, daß an einem Backenzahn eine winzige Ecke fehlte, was ihm aber noch nie Schmerzen verursacht hatte. Er zeigte die Stelle mit Zeigefinger und Zungenspitze. Der Zahnarzt untersuchte gewissenhaft und erklärte, er würde die Sache glattschleifen, da eine Plombe wegen ihrer Winzigkeit kaum halten dürfte. Rolf Falkner war einverstanden und dachte: Das heißt billig davongekommen sein. Inbrünstig hoffte er auf einen unbewachten Augenblick. Als sich der Arzt einmal kurz entfernte, war zwar die Zierliche in seiner Nähe, doch die Blonde ebenfalls. Sie beobachtete Kollegin und Gefangenen beharrlich, als ahne sie etwas. Der aufsichtshabende Wachtmeister war inzwischen mit zwei Gefangenen gekommen, und als der Doktor Rolf Falkner mit Erläuterungen aus dem Operationsstuhl entließ, brachte eben der andere Wachtmeister einen neuen Patienten und sagte seelenruhig: „Das paßt ja gut, Falkner, ich muß jetzt sowieso nach Haus G, den nächsten holen.“ Rolf Falkner hätte ihn morden mögen. Verbittert trottete er mit dem Gemächlichen zurück, die Nachricht noch immer im Ärmelaufschlag. Er mußte sich morgen früh abermals zum Zahnarzt melden, falls die Unternehmung heute abend wieder nicht gelang. Voller Unruhe erwartete er die Dunkelheit. Die Verbindung mit Samo ge 25
lang befriedigend, ebenso die Übermittlung des Päckchens. Nun blieb ihm wieder nichts anderes, als zu warten und die Daumen zu drücken. Soeben hatte er den Schemel an seinen Platz gesetzt und die Abendwanderung begonnen, da klirrte der Schlüssel im Schloß seiner Zellentür. Morenz stand vor ihm. Der war geladen, weil man ihn aus irgendwelchen Gründen noch nicht abgelöst hatte. Rolf Falkner fühlte, daß eine Drohung hinter dessen plötzlichem Auftauchen lauerte. Das Gesicht der Ratte konnte er in der Dunkelheit nicht erkennen, aber er spürte den Haß, der in den Worten lag: „Kommense raus!“ Ein anderer Wachtmeister nahm Falkner in Empfang und führte ihn zur Gefängnisverwaltung, die in einem Parterreanbau des Hauses G untergebracht war. Im Amtszimmer des Gefängnisvorstehers sagte der Wachtmeister: „Hier ist Falkner, Herr Vorsteher.“ „Ist gut, Wallrath. Wenn ich Sie wieder brauche, klingle ich.“ Der Vorsteher, ein Mann mit einem blankrasierten Schädel, riesiger Hornbrille und rosigen Schweinsbäcklein, machte eine lässige Handbewegung. An der Schmalseite des großen Tisches, vor dem er saß, stand Klatt in devoter Haltung. Er grinste Falkner frech entgegen. „Kommen Sie ruhig ein bißchen näher, Falkner“, sagte der Vorsteher ironisch. Vor ihm lag das aufgefaltete Packpapier mit der Chiffrenachricht. Er hob das Corpus delicti* und sagte: „Kennen Sie das?“ Rolf Falkner nickte, während ihm Gedanken wie flinke Mäuse durch den Kopf schössen. Entweder versprach sich der Gefängnisgewaltige besonderes davon, daß er den Angeklagten dem Angeber gegenüberstellte, oder es geschah aus Verachtung gegen den Denunzianten. „Anständig, daß Sie nicht leugnen, Falkner. Es hätte auch keinen Zweck.“ Der Vorsteher lehnte sich zurück und musterte ihn aufmerksam durch die scharfen Brillengläser. Interessant, daß Klatt Samo aus dem Spiel gelassen hat, dachte Rolf Falkner, aber bestimmt nicht aus Menschlichkeit, sondern weil er damit rechnet, daß Falkner alles auf sich nehmen würde. Vom Denunzieren eines Politischen erhoffte er sich natürlich größere Vorteile. „Nun erzählen Sie mal, wie Sie auf diese Idiotie gekommen sind.“ Eine schnelle, präzise Antwort klingt unglaubhaft, dachte der Verhörte und druckste, obwohl er sich darüber klar war, was er aussagen würde. „Kennen Sie Wiegler?“ • Beweisstück
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Die plötzliche Frage traf ihn unvorbereitet. Wenn er jetzt zugab, daß sie Tatgenossen seien, würde er der Geschichte kaum noch einen harmlosen Anstrich verleihen können. „Ich – ich habe ihn öfter gesehen. Als er eingeliefert wurde, beim Zahnarzt und – und ähnlichen Gelegenheiten.“ „Da wagen Sie eine solch kitzlige Geschichte für ihn?“ „Er – er hat mir leid getan. Vor allem sollte er den Tabak haben.“ „Soso. Und weil er Ihnen so leid getan hat, haben Sie ihm einen Trostbrief mitgeschickt, natürlich hübsch verschlüsselt. Woher wußte denn Wiegler den Schlüssel?“ Der verhört raffiniert, aufpassen, warnte sich Rolf Falkner und log: „Den Schlüssel ergibt doch der Name auf dem Tabakpäckchen.“ „Das aber hat Wiegler durch Telepathie erfahren, wie?“ „Nein, das – das errät jeder Politische, wenn er keine andere Anweisung mitbekommt.“ Der Vorsteher beugte sich blitzschnell vor. „Woher wußten Sie, daß Wiegler Politischer ist?“ Das ist ja nun naiv gefragt, dachte Rolf Falkner; denn selbst in Einzelhaft weiß ein Gefangener immer sehr bald, was für Leute in seiner Nähe liegen. Aber es war gut, eine plausible Antwort zu geben; darum sagte er: „Als ich einmal an Zelle 120 vorbeigeführt wurde, hörte ich Wiegler seine Meldung machen.“ Der Vorsteher spielte mit einem noch neuen, unangespitzten Bleistift. Seinen fleischigen Fingern schien das Drehen, Wenden und Wirbeln des sechskantigen Holzes Vergnügen zu bereiten. Jetzt hob er die Augenbrauen und zugleich das Hölzchen in der Hand und sagte langsam und leise: „Falkner, Sie wissen, daß ich Ihnen auf diesen Kassiber hin eine Sache wegen Vorbereitung von Meuterei anhängen könnte?“ Rolf Falkner sah ihn treuherzig an. „Das würde kein gutes Licht auf das Gefängnis werfen, Herr Vorsteher. Und außerdem stimmt es nicht.“ „Wieso stimmt es nicht?“ „Weil ich Wiegler nur helfen wollte, indem ich ihm mitteilte, daß er sich als Untersuchungsgefangener Bücher kommen lassen dürfe, daß er seine Einkaufsgenehmigung wahrnehmen solle, und – äh…“ „Na – und?“ „… daß er sich durch Oberwachtmeister Morenz nicht einschüchtern lassen dürfe, der gegen die am härtesten ist, die am meisten Angst haben.“ Das war gewagt, aber Rolf Falkner sagte sich, daß der angebliche Text 27
nicht zu harmlos sein durfte, sollte er glaubhaft sein. Der Vorsteher fixierte ihn durchdringend. Falkner spürte, daß die letzten Worte Eindruck gemacht hatten und sein Gegenüber nachdachte, wie er fortfahren solle. Eigentlich hätte er ihm jetzt seine Strafe zudiktieren und ihn fortschicken können. Plötzlich hatte Rolf Falkner einen Gedanken, der ihn elektrisierte. Das Verhör durfte noch nicht zu Ende sein. Er mußte alles tun, es bis nach dem Essen hinauszuzögern. Dann könnte Samo, unbehindert durch Klatt, seinen Auftrag sicher ausführen. Der Vorsteher ließ den Bleistift auf die Tischplatte fallen. „Jetzt sind Sie in die Falle gegangen, Falkner.“ Das war ein charakteristischer Überrumpelungssatz, doch er verfehlte seine Wirkung. Falkner mußte sich Mühe geben, nicht zu grinsen. „Das bin ich leider sowieso, Herr Vorsteher.“ Daß ihm so freimütig beigepflichtet wurde, ließ den Gefängnisgewaltigen einen Augenblick die Situation vergessen. Er wies mit dem Daumen auf Klatt. „Ja, dem schon. Aber jetzt werden Sie mir in die Falle gehen.“ „Ich meinte, der Gestapo bin ich leider in die Falle gegangen“, sagte Rolf Falkner mit harmlosem Gesicht, Der Vorsteher hieb mit der Faust auf den Tisch. „Behalten Sie Ihre Privatmeinungen für sich, Falkner. Antworten Sie nur, wenn Sie gefragt werden!“ „Jawohl, Herr Vorsteher. Ich hatte ja nur • – weil Sie…“ „Sie sollen Ihren Mund halten! Sie werden mir jetzt schön säuberlich…“ Er trat an den großen Schrank mit den Rolladen und suchte nach einem Bogen Papier. „Hier. Dechiffrieren Sie Ihren Codetext.“ Er legte den Bogen vor Falkner auf den Tisch und knallte den Bleistift daneben. „Das wird schlecht gehen, Herr Vorsteher, ich…“ „Sehen Sie!“ Triumph blitzte in den aufgerissenen Augen hinter den Brillengläsern. „Ich meine, der Bleistift ist nicht angespitzt, Herr Vorsteher.“ „Schlechter Witz, Falkner. Dann wird er eben angespitzt, nicht wahr?“ Er wühlte in der Schreibschale, in mehreren Bakelitkästchen mit Büroklammern und ähnlichem Kram und wurde nervös, weil er den Bleianspitzer nicht fand. Er wird aufgeregt, dachte Falkner, das ist günstig, selbst wenn eine Woche mehr dadurch herausspringen sollte. Er befand sich in der Überlegenheit 28
desjenigen, der einen Plan hat, von dem der Gegner nichts weiß. Zudem hatte er einen kleinen Chromwecker auf einemBücherbord entdeckt und freute sich, daß man oben bald mit der Essenausgabe beginnen würde. Der Vorsteher fand den Bleianspitzer nicht, aber einen angespitzten Blei. Falkner nahm ihn, zog sich die Chiffre auf dem Packpapier über den Tisch und begann den leeren Bogen mit Zahlen und Wörtern zu bedecken. Gleich darauf drückte er so stark auf, daß die Spitze des Bleistiftes abbrach. „Sie haben Talent, mein Lieber“, fauchte der Vorsteher. Er zeigte offen seinen Ärger und begann erneut nach dem Anspitzer zu suchen. Falkner hatte ihn inzwischen entdeckt, hütete sich aber, es zu sagen. Er lag unter Schreibutensilien, und man durfte nicht so aufgeregt und hastig kramen, wenn man ihn finden wollte. Der Vorsteher war aber aufgeregt. Jetzt freute er sich über einen Einfall. Er zog seinen eigenen Tintenkuli aus der Tasche unter dem Jackenrevers, gab ihn Falkner und zwinkerte überlegen. Das hieß, den brichst du nicht ab, und wenn du dir noch so viel Mühe gibst. Nach wenigen Zahlen versagte der Tintenstift. Entweder war ihm die Farbe ausgegangen, oder er taugte nichts, wie die meisten dieser Straßenhändlerartikel. Abermals begann der Vorsteher zu suchen. Falkners Blicke gingen zum Chromwecker. Die Zeiger wanderten zu langsam. Er würde nicht nur der Verwirrung halber viel daherschreiben müssen, sondern auch, um Zeit zu gewinnen. Der massige Choleriker war des Kramens müde und kippte die Schreibschale weit über den Tisch. Als sei er von Falkners Blicken angezogen, trudelte dem der Anspitzer ein Stück entgegen. Der nahm ihn und gebrauchte ihn sehr umständlich. „Los, los, Falkner, ich habe keine Lust, wegen Ihrer Mätzchen den ganzen Abend zu vertrödeln.“ Nervös lief der Vorsteher am Tisch auf und ab und gebot dem Klatt, die über den Tisch verstreuten Utensilien wieder in die Schale zu tun. Jetzt verliert er die Lust an der Sache, ging es Falkner durch den Kopf, und das ist nicht gut. Er beeilte sich nun wirklich mit dem Anspitzen und begann dann hastig zu schreiben. Als der eine Bogen voll war, bat er um einen zweiten. Der Vorsteher blieb öfter neben ihm stehen, beugte sich über die Schreiberei und schüttelte den Kopf. „Hier, bitte, Herr Vorsteher“, sagte Rolf Falkner und legte den Bleistift 29
neben die beiden Bogen, wie ein Mann, der zutiefst von der Güte seiner Arbeit überzeugt ist. Dabei warf er wieder einen verstohlenen Blick zum Wecker. Mit zusammengekniffenen Lippen sah sich der Vorsteher alles an. Ägyptische Bilderschrift schien dagegen ein Kinderspiel zu sein. Lediglich rechts unten auf dem zweiten Bogen, die Auflösung, immer ein Wort unter dem andern in Blockbuchstaben, das kannte er schon, das war genau das, was Falkner ausgesagt hatte. Aber die andern Blöcke, Kolonnen und Quadrate aus Buchstaben und Zahlen, wer sollte sich darin auskennen. Rolf Falkner spürte, wie sein Gegner schwankte, ob er sich überzeugt stellen sollte, um zum Schluß zu kommen. Ein Blick zur Uhr zeigte, daß es noch etwas zu früh gewesen wäre. Darum provozierte er und sagte: „Nun ist ja alles klar, Herr Vorsteher.“ Der Vorsteher wich einer Stellungnahme aus. „Sagen Sie mal, Falkner, wo nehmen Sie denn in der Zelle so viel Papier für die Auflösung her?“ „Man kann das ja auch auf viele kleine Zettel aufteilen, Herr Vorsteher.“ „Kleine Zettelchen, Kritzelchen, Kassiberchen!“ brüllte der Gefängnisgewaltige. „Euch geht’s zu gut, ihr habt zuviel Zeit, ihr…“ „Ich habe doch mehrmals ohne Erfolg Arbeit beantragt, Herr Vorsteher.“ „Sie sollen Ihren frechen Mund halten, Falkner!“ Der Vorsteher nahm die beiden Bogen, fetzte sie in kleine Stücke und warf sie in den Papierkorb. Rolf Falkner spürte, daß der Vorsteher der ganzen Sache überdrüssig war, vor allem, weil er wußte, daß er nie den wahren Text der Chiffre herausbekommen würde. Das Brüllen und Gestikulieren war Theater, damit versuchte er nur, ein eindrucksvolles Ende herauszuschinden. Wenn es doch nur um wenige Minuten später gekommen wäre, grollte Falkner und grübelte verzweifelt an einer neuerlichen Verzögerungstaktik. Da hörte er fern aus den Hallen des Hauses G jenes bekannte Geräusch des Türenklappens, Kesselschurrens, Schüsselklirrens. Er atmete innerlich tief auf und sah vorwurfsvoll zum Wecker hinüber, der um einige Minuten nachgehen mußte. „Ich werde Ihnen die Lust zu Ihren netten Spielchen versalzen!“ donnerte der Vorsteher, nachdem er Klatt mit herrischer Gebärde gewinkt hatte, er solle die danebengefallenen Schnipsel auflesen und in den Papierkorb tun. Falkner spielte den Betrübten. „Wegen Ihres besonders raffinierten Kassiberns mit einem schwerbelasteten anderen Gefangenen erhalten Sie auf Grund der Gefängnis 30
ordnung zwei Wochen schweren Arrest. Die Strafe wird morgen früh angetreten.“ Er drückte auf einen Klingelknopf. „Haben Sie das zur Kenntnis genommen, Falkner?“ „Jawohl.“ „Sie auch, Klatt?“ Der so plötzlich Angesprochene schreckte aus seiner devoten Stellung und nahm soldatische Haltung an. „Jawohl, Herr Vorsteher.“ „Sind Sie nun zufrieden?“ „Ja. – Jawohl. Herr Vorsteher.“ Wachtmeister Wallrath trat ein. „Bringen Sie die beiden wieder rauf“, sagte der Vorsteher. Die Ratte war immer noch nicht abgelöst. Die Wut darüber schien wie ein giftiger Nebel um ihn zu dampfen. Er schloß Klatt schweigend ein. Dann hob er den Kopf und sah Rolf Falkner aus seinen kleinen Augen haßvoll an. „Hoffentlich hat sich Ihr Besuch beim Herrn Vorsteher gelohnt.“ „Allerdings, Herr Oberwachtmeister“, Rolf Falkner fühlte sich in diesem Augenblick unendlich überlegen. „Zwei Wochen Urlaub vom anstrengenden Aufenthalt in G zwo“, sagte er und lachte der Ratte ins verkniffene Gesicht. „Wartense man, das Lachen vergeht Ihnen noch“, pfiff die, warf wütend die Zellentür zu und schloß geräuschvoll ab. Nachdem Rolf Falkner das Abendbrot gegessen hatte, gab er das Klopfzeichen und stieg auf den Schemel. „Rolf“, hörte er kurz darauf Samos vertrautes Flüstern, „ist es schlimm ausgegangen?“ „I wo. Bloß zwei Wochen dunklen.“ „Autsch. – Aber die kriegste auch rum. Dafür hat’s mit Karle geklappt.“ „Tatsächlich?“ Rolf Falkner mußte sich Mühe geben, die Frage nicht laut herauszubrüllen. „Wenn ich’s dir sage.“ „Mensch, Samo, jetzt müßte man ‘n paar Hundert Meter weiter weg sein und was anstellen können.“ „Wäre schön“, kam es wehmütig aus dem Dunkel. Dann, eine Sekunde später: „Rolf? Hing für Karl viel davon ab?“ 31
„Ja, Samo. Das Leben!“ „Mann, da möchte ich dir gratulieren.“ „Wir können uns beide gratulieren, Samo.“ Sie sagten sich leise gute Nacht. Heute lief Rolf Falkner nicht umher wie ein Gehetzter. Er lag wach auf dem Klappbett. Die Stundenschläge vom nahen Kirchturm klangen rein und tönend. Er konnte vor Freude nicht einschlafen. Die zwei Wochen Dunkelarrest, die ihm bevorstanden, waren wie ein schwarzer Punkt, der immer winziger wurde, überstrahlt von dem Bewußtsein, daß er diesen Tieren einen Menschen entrissen hatte, einen aufrechten Genossen.