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Ein Amphibienwesen, halb Mensch, halb Hai, zer stört das empfindliche Gleichgewicht im Atlanti schen Ozean. ...
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Inhalt:
Ein Amphibienwesen, halb Mensch, halb Hai, zer stört das empfindliche Gleichgewicht im Atlanti schen Ozean. Nach über fünfzig Jahren auf dem Meeresgrund wird das einst von den Nazis als Wunderwaffe konstruierte Lebewesen, der Shark, von einem ehrgeizigen Fotografen befreit. Mecha nisch muß es seiner teuflischen Programmierung gehorchen und immer blutrünstiger töten. Aber der Nazi-Shark hat seine Rechnung ohne Simon Chase gemacht. Der Meeresbiologe und ehemalige Greenpeace-Aktivist ist zusammen mit seinem zwölfjährigen Sohn, einer jungen Wissenschaftlerin und Indianerkapitän Tall Man dem mordenden Ge schöpf auf der Spur. Zuletzt stehen sie sich auf ei ner einsamen Insel in einem gnadenlosen Zwei kampf gegenüber ...
Peter Benchley
SHARK DIE RÜCKKEHR DES WEISSEN HAIS
Roman
Ullstein
ISBN 3-550-06733-X Die amerikanische Originalausgabe erschien bei Random House Inc., New York, unter dem Titel: White Shark
© 1994 by Peter Benchley
© der deutschsprachigen Ausgabe 1995
by Verlag Ullstein GmbH, Berlin • Frankfurt am Main
Aus dem Amerikanischen von Veronika Dünninger Die Verwertung des
Textes, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung
des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für
Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die
Verarbeitung mit elektronischen Systemen.
Satz: MPM, Wasserburg
Druck und Verarbeitung: Grafischer Großbetrieb Pößneck
Ein Mohndruck-Betrieb
Printed in Germany
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem
Zellstoff
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme
Benchley, Peter Shark: Die Rückkehr des weißen Hais; Roman / Peter Benchley.
[Aus dem Amerikan. von Veronika Dünninger]. —
Berlin; Frankfurt/M.: Ullstein 1995
ISBN 3-550-06733-X
Für Jeff Brown und im Gedenken an Michael W. Cogan und Paul D. Zimmerman — Vermißte —
Danksagung
Für ihren Rat und ihre Korrekturen, was Wale, Haie, Fische, Vögel, Physik und Paramedizin angeht, bin ich Richard Ellis und Stanton Waterman zu Dank verpflichtet. Jede eventuell noch bestehende Ungenauigkeit oder Spekulation ist mein und nicht ihr Verschulden. Und für ihre Geduld, Ausdauer, Klugheit, Unterstützung und Freundschaft danke ich, wie auch in den letzten nahezu zwei Jahrzehnten, mehr, als Worte es sagen können, der un vergleichlichen Kate Medina.
Erster Teil 1945
1 Das Wasser in der Mündung des Flusses war seit Stunden völlig bewegungslos. Es war so glatt wie ein schwarzer, gläserner Spiegel. Kein einziges Windchen regte sich. Dann schwoll das Wasser plötzlich an und bäumte sich auf. Es schien wie von einem riesigen Ungeheuer aufgewühlt, das aus der Tiefe emporsteigt. Der Spiegel drohte zu bersten. Vom Hügel aus verfolgte ein Mann das Schauspiel. Zunächst tat er es als weitere Sinnestäuschung ab, hervorgerufen durch seine Erschöpfung und das schimmernde Licht des von Wolken verhangenen Monds. Unentwegt starrte er auf das Wasser, das immer weiter anschwoll. Schließlich zersprang der Spiegel, und ein gräßli cher Kopf tauchte auf. Vor dem dunklen Hintergrund war das schwarze Haupt kaum sichtbar. Vom Was ser hob es sich lediglich durch die glitzernden Tröpfchen ab, die auf seiner glatten Haut perlten. Das Meeresungeheuer kam weiter zum Vorschein. Man konnte die spitze Schnauze und den glatten, zylindrischen Körper erkennen. Regungslos ließ es sich auf der seidigen Wasseroberfläche treiben und wartete, wartete auf den Mann. In der Dunkelheit blitzte dreimal ein Licht auf: kurz,
lang, lang, Punkt, Strich, Strich. Das internationale Morsezeichen für W. Der Mann antwortete. Er zün dete drei Streichhölzer im selben Rhythmus an. Dann nahm er seinen Tornister und stieg den Hügel hinab. Er stank, wurde von Juckreiz geplagt und kratzte sich wund. Seine Kleider hatte er schon vor Tagen einem Toten gestohlen, der am Straßenrand gele gen hatte. Sie waren schmutzig, voller Ungeziefer und saßen schlecht. Seine eigene paßgenau ge schneiderte Uniform und seine handgearbeiteten Stiefel hatte er in einem schlammigen Granattrichter versenkt. Wenigstens war er nicht mehr hungrig. Am frühen Abend hatte er zwei Flüchtlinge überfallen und ih nen mit einem Ziegelstein die Schädel eingeschla gen. Dann hatte er sich über das ekelerregende Büchsenfleisch hergemacht, das sie von den ein marschierenden US-Truppen erbettelt hatten. Im nachhinein fand er es interessant, daß er die beiden umgebracht hatte. Er hatte mit seinen Befehlen den Tod unzähliger Menschen verursacht, doch von ei gener Hand hatte er niemals getötet. Es war er staunlich einfach gewesen. Der Mann hatte sich seit Tagen auf der Flucht be funden. Waren es fünf Tage? Oder sieben? Er hatte keine Ahnung. In seltenen Momenten hatte er auf durchnäßten Heuschobern Schlaf gefunden. Diese Augenblicke waren nahtlos mit den langen Stunden verschmolzen, in denen er sich auf zerbombten Landstraßen dahingeschleppt hatte. Er war zu sammen mit dem erbärmlichen Abschaum labiler Völker dahingeschwemmt worden.
Die Erschöpfung hatte ihn begleitet und geplagt. Dutzende Male war er in Gräben zusammengebro chen oder im hohen Gras gestürzt. Dann war er keuchend liegengeblieben, bis er wieder Leben in sich spürte. Doch wen wunderte seine Erschöp fung? Er war fünfzig Jahre alt und korpulent. In den letzten zehn Jahren hatte er sich nur dann körper lich betätigt, wenn er den Ellbogen geknickt und abgestützt hatte, um an einem Glas zu nippen. Und doch trieb ihn seine Erschöpfung zur Weißglut. Sie kam einem Verrat gleich. Er mußte nicht gut in Form sein. Rennen war nicht seine Aufgabe. Er war kein Athlet oder Krieger. Er war ein Genie, das et was in der Geschichte der Menschheit noch nie Da gewesenes vollbracht hatte. Seine Bestimmung war es stets gewesen, zu führen, zu lehren, zu begeis tern und nicht wie eine erschrockene Ratte davon zurennen. Ein- oder zweimal war er nahe daran gewesen, sich zu beugen, sich zu ergeben. Doch er war standhaft geblieben, fest entschlossen, seine Pflicht zu erfül len. Seine Mission war ihm vom Führer selbst über tragen worden, einen Tag, bevor dieser sich er schossen hatte. Er würde diese Mission erfüllen, ganz gleich, was es kosten und wie lange es dauern würde. Er war weder Politiker noch Visionär, er war lediglich Wissenschaftler. Aber er wußte, daß seine Aufgabe weit über die Forschung hinaus von Be deutung war. Erschöpfung, Angst und Hunger waren überstan den. Ernst Krüger lächelte in sich hinein, während er vorsichtig den steilen Hang hinabstieg. Seine jahrelange Arbeit würde Früchte tragen. Es hatte
sich gelohnt, zuversichtlich zu bleiben. Nie hatte er ernsthaft daran gezweifelt, daß sie kommen würden. Kein einziges Mal in den endlosen Tagen der Flucht und den unzähligen Stunden des Wartens. Er hatte gewußt, daß sie ihn nicht im Stich lassen würden. Die Deutschen waren vielleicht nicht so schlau wie die Juden. Aber sie waren zuverläs sig. Sie taten, was man ihnen sagte.
2 Krüger erreichte den Kiesstrand. Dort wartete ein kleines Schlauchboot auf ihn. Ein Mann hielt das Ruder, ein zweiter war ausgestiegen. Beide waren ganz in Schwarz – Schuhe, Hosen, Pullover, Woll mützen – , und ihre Hände und Gesichter waren mit Holzkohle geschwärzt. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Der Mann an Land streckte hilfsbereit eine Hand aus, um Krüger sein Gepäck abzunehmen. Der lehnte ab. Den Tornister fest an sich gedrückt, stieg er an Bord und ging vor zum Bug. Mit einer Hand hielt er sich an der Schulter des Ruderers fest, um das Gleich gewicht nicht zu verlieren. Man hörte, wie das Schlauchboot auf dem Kies knirschte. Dann ertönte nur noch das sanfte Schlagen der Ruder, die durch das spiegelglatte Wasser gezogen wurden. Zwei weitere Männer standen an Deck des U-Bootes. Als das Schlauchboot an seine Seite glitt, halfen sie Krüger an Bord, begleiteten ihn zur vorderen Ein stiegsluke und hielten sie für ihn auf. Er kletterte die Leiter hinunter ins Innere des Bootes. Krüger stand im Kontrollraum. Knappe Befehle und prompte Antworten schwirrten hin und her. Die Luft im U-Boot war dunstig und trübe. Ein nebliger Schein hüllte die Glühbirnen ein. Die Metalloberflä chen fühlten sich naß an. Die Luft war nicht nur feucht, sie roch auch abscheulich. Eine Mischung aus Salz, Schweiß, Dieselöl, Kartoffeln und etwas unangenehm Süßem wie Eau de Cologne. Krüger fühlte sich wie in einem Höllensumpf. Er
vernahm das gedämpfte Geräusch von Elektromo toren. Eine leise Bewegung war zu spüren, sie ging vorwärts und abwärts. Ein Offizier mit weißer Mütze trat vom Periskop zurück. Er winkte Krüger zu und verschwand. Krüger zog den Kopf ein, er mußte durch eine offene Luke hindurchschlüpfen. Die beiden Männer zwängten sich in eine winzige Kabine, die nur aus einer Koje, einem Stuhl und einem Klapptisch bestand. Der Kommandant stellte sich vor: Kapitänleutnant Hoffmann. Ein junger Mann, nicht älter als dreißig. Er war bärtig, hager und blaß, so wie man sich den typischen U-BootVeteranen vorstellte. Er trug ein Ritterkreuz. Als es sich am Hemdkragen verhakte, schnippte er es bei seite. Krüger gefiel diese beiläufige Geste. Sie zeigte ihm, daß Hoffmann das Ritterkreuz schon geraume Zeit besaß und ihm keinen besonderen Wert beimaß. Er verstand sein Handwerk. Das bewies allein schon die Tatsache, daß er überlebt hatte. Nahezu neun zig Prozent aller im Krieg eingesetzten U-Boote wa ren verlorengegangen. Von den neununddreißigtausend Mann Besatzung waren dreiunddreißigtausend ums Leben gekom men oder in Gefangenschaft geraten. Krüger erin nerte sich, daß der Führer sehr zornig gewesen war, als er diese Zahlen gelesen hatte. Krüger ü berbrachte Hoffmann die neuesten Nachrichten. Von der chaotischen Lage im Land, dem Rückzug in den Bunker, dem Tod des Führers. »Wer ist jetzt Führer?« fragte Hoffmann. »Dönitz«, erwiderte Krüger. »Aber eigentlich Bor mann.« Er überlegte einen Augenblick, ob er Hoff
mann die Wahrheit sagen sollte. Es gab kein Reich mehr, jedenfalls nicht in Deutschland. Wenn das Reich überleben sollte, dann lag der Neuanfang hier in diesem U-Boot. Hoffmann brauchte die Wahrheit nicht zu wissen, beschloß Krüger. »Ihre Mannschaft?« fragte er. »Fünfzig Mann, Sie und mich eingeschlossen, alles Freiwillige, alle Parteimitglieder, alle ledig.« »Wieviel wissen sie?« »Nichts«, sagte Hoffmann, »außer daß sie ihre Heimat vermutlich nie wiedersehen werden.« »Und wie lange dauert die Fahrt?« »Normalerweise dreißig oder vierzig Tage. Aber momentan ist nichts normal. Wir können nicht auf dem kürzesten Weg rauskommen. Der Golf von Biscaya ist eine Todesfalle. Da wimmelt es nur so von alliierten Schiffen. Wir müssen die Route um Schottland herum nehmen, in den Atlantik und dann Richtung Süden steuern. An der Oberfläche schaffe ich achtzehn Knoten. Aber ich weiß nicht, wie weit wir an der Oberfläche werden fahren können. Ich werde die Geschwindig keit auf etwa zwölf Knoten drosseln müssen, um unsere Reichweite von etwa acht tausendsiebenhundert Meilen zu halten. Wenn es zur Feindberührung kommen sollte, werden wir mehr Zeit unter Wasser verbringen. Unter Wasser schaffen wir nur sieben Knoten. Unsere E-Motoren laufen nur vierundsechzig Meilen. Dann müssen wir sieben Stunden lang an der Oberfläche fahren, um sie wieder aufzuladen. Ich kann also bestenfalls schätzen, wie lange wir brauchen werden. Etwa fünfzig Tage.«
Krüger spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Fünfzig Tage! Er war noch nicht mal eine Stunde in dieser eisernen Gruft. Aber er fühlte sich schon jetzt so, als ob eine gepanzerte Faust seine Lunge zer malmte. »Sie werden sich daran gewöhnen«, sagte Hoff mann. »Und wenn wir erst in den Süden kommen, können Sie auch an Deck. Das heißt, falls wir in den Süden kommen. Wir haben schlechte Karten. Wenn es zum Kampf kommt, sind wir quasi wie armampu tiert. Wir haben vorne keine Torpedos mehr.« »Warum nicht?« »Wir haben sie ausgeladen, um Platz für Ihr… Frachtgut zu schaffen. Es paßte nicht durch die Lu ke, und wir haben die Deckplatten entfernt. Dann merkten wir, daß es ebensowenig zwischen die Torpedos passen würde, also mußten sie ver schwinden.« Krüger stand auf. »Ich will es sehen«, sagte er. Sie passierten einen winzigen Raum nach dem an deren, den Funkraum, die Offiziersquartiere, die Kombüse. Als sie den Schiffsbug erreicht hatten, schwang Hoffmann die Luke auf, die zum vorderen Torpedoraum führte, und Krüger trat hindurch. Da stand es, sicher untergebracht in einem gewaltigen bronzenen Behälter. Einen Augenblick lang stand Krüger reglos, blickte es an und erinnerte sich. Jah relange Arbeit, unzählige fehlgeschlagene Versu che, Spott, erste winzige Erfolge und schließlich sein Triumph. Er hatte eine neue und einzigartige Waffe gefunden. Er merkte, daß die Bronze bereits etwas angelaufen war und trat einen Schritt vor. Aber es waren keine
Mängel zu entdecken. Er legte eine Hand seitlich an den Behälter. Er war maßlos stolz. Hier lag nicht nur die revolutionärste Waffe des Dritten Reiches, son dern der Wissenschaft überhaupt. Nur sehr wenige Männer, die Geschichte gemacht hatten, konnten das von sich behaupten. Er, Ernst Krüger, hatte die Welt verändert. Er dachte an Mengele. Josef Mengele war privat sein Freund und beruflich sein Rivale. War Mengele auch entkommen? War er noch am Leben? Würden sie sich in Paraguay begegnen? Mengele, aufgrund seiner Menschenversuche als der Todesengel be rüchtigt, hatte Krügers Werk verachtet. Er hatte es für wirklichkeitsfremd und allzu phantastisch erklärt. Doch Krüger verfolgte mit seiner Forschung einen sehr praktischen und sehr tödlichen Zweck. Krüger hoffte inständig, daß Mengele noch am Le ben war. Er konnte es kaum erwarten, dem Konkur renten die Waffe schlechthin zu zeigen: den weißen Hai. Er wandte sich ab und verließ den Torpedoraum.
3 Als das U-Boot die Nordspitze Schottlands umrun dete, kam plötzlich ein scharfer Westwind auf. Es stampfte und schlingerte wie ein Jahrmarktkarus sell. Zentimeter um Zentimeter schob es sich nach Süden vor, in den Westen von Irland. Langsam bahnte es seinen Weg zum Atlantik. Am 8. Mai be richtete Hoffmann Krüger, daß eine Nachricht über Funk gekommen war: Deutschland hatte sich erge ben, der Krieg war zu Ende. »Nicht für uns«, erwiderte Krüger. »Nicht für uns. Für uns wird der Krieg nie zu Ende sein.« Ein Tag nach dem anderen verstrich. Die Tage ver gingen so gleichförmig wie Lindenblätter im Herbst. Hoffmann hatte die großen Schiffahrtsstraßen ver mieden und war deshalb keinen alliierten Schiffen begegnet. Dreimal hatte der Posten am Horizont Rauchfahnen gesehen. Ein halbes dutzendmal hat te Hoffmann Befehl zum Tauchen gegeben. Aber das waren eher seichte Tauchübungen und keine Ernstfälle gewesen. Krüger hatte die Zeit als monotonen Kreislauf erlebt. Er aß, schlief und arbeitete im vorderen Torpedoraum. Seine Arbeit war von entscheidender Bedeu tung. Sie allein spornte ihn an, zu leben und diese endlose Fahrt zu ertragen. Im Torpedoraum drückte Krüger einen Knopf. Er war in dem riesigen Behälter unter einem winzigen, in die Bronze gestanzten Hakenkreuz verborgen. Der Deckel öffnete sich. Mit dem Vergrößerungs glas untersuchte Krüger die dicken Gummiringe, die
den Behälter luft- und wasserdicht hielten. Auf jede Stelle, die auszutrocknen oder brüchig zu werden drohte, trug er Schmierfett auf. Krügers Vorgesetzte hatten sofort erkannt, von wel chem militärischem Nutzen seine Experimente wa ren. Was er als wissenschaftlichen Durchbruch an sah, war in ihren Augen eine großartige Waffe. Und so floß reichlich Geld, und Krüger war gedrängt worden, das Projekt fertigzustellen. Aber unmittel bar vor dem Gelingen war die Zeit abgelaufen. Das Reich war auf einen Bunker in Berlin zusammenge schrumpft. Krüger hatte man gesagt, daß man die Waffe trotz der unvollständigen Programmierung verschiffen wolle. Sie waren vier Wochen auf See, als Krüger in den Kontrollraum beordert wurde. Hoffmann hatte sich auf die Periskopgriffe gestützt. Er hatte das Gesicht an das Okular gepreßt und bewegte sich langsam im Kreis. Hoffmann sagte, ohne aufzublicken: »Auf diesen Augenblick haben wir gewartet, Herr Doktor. Es ist windstill, es dämmert und es regnet. Wir kön nen an Deck gehen und duschen.« Hoffmann wand te sich vom Okular ab und lächelte. »Und gemäß Ihrer Stellung gehören Sie zur ersten Schicht.« Es war über einen Monat her, seit Krüger das letzte Mal gebadet, sich rasiert und die Zähne geputzt hatte. Im Boot konnte nur ein begrenzter Vorrat an Frischwasser mitgeführt werden. Die tägliche Aus beute der Entsalzungsanlagen reichte nur für die Küche und den Batteriebetrieb. Krüger sehnte sich danach, frisches Wasser auf seiner übelriechenden Haut zu fühlen. »Ist es sicher?« fragte er.
»Ich glaube schon. So weit im Süden ist nicht viel los -wir befinden uns etwa zweitausend Kilometer östlich der Bahamas.« Hoffmann drehte sich wieder zum Okular um: »Wieviel Wasser unterm Kiel?« »Kein Grund hier, Herr Kapitänleutnant«, erwiderte ein Matrose an einer Kontrolltafel. »Kein Grund?« sagte Krüger. »Wieso denn das?« »Es ist zu tief für unser Echolot. Der Impuls kommt nicht mehr zurück. Wir müssen uns über einem der mittelatlantischen Gräben befinden… drei Kilome ter, fünf Kilometer… wer weiß? Jede Menge Was ser. Wir werden wohl kaum irgendwo auflaufen.« Als ein Matrose die Luke im Kommandoturm öffne te, empfand Krüger den frischen Wind wie den Duft süßer Veilchen. Am Fuß der Leiter, ein Stück Seife in der Hand, genoß er die Regentropfen, die über sein Gesicht rollten. Der Matrose suchte mit dem Fernglas den Horizont ab, rief »Alles klar!« und glitt die Leiter rückwärts hinunter. Krüger überwand den Brückenrand und kletterte die Außenleiter zum Deck hinab. Hinter ihm turnten vier Besatzungsmitglieder behende wie Spinnen über die Leitern. Auf dem Achterdeck trafen sie zusam men, nackt, und reichten ein Stück Seife herum. Weich und stetig fiel der Regen, kein Lüftchen ging. Die See war ruhig und glatt. Die lange, sanfte Dü nung des Ozeans hob das U-Boot so langsam, daß Krüger mühelos das Gleichgewicht halten konnte. Er entledigte sich seiner Kleider und breitete sie auf dem Deck aus. Der Regen würde hoffentlich den schlechten Geruch wegspülen. Er seifte sich ein und streckte die Arme weit aus. »Herr Doktor!«
Krügers Arme fielen herunter. Er starrte nach ach tern. Die vier nackten Matrosen turnten eilig die Lei ter zur Brücke hinauf. »Ein Flugzeug! Schnell!« Der letzte Mann auf der Leiter zeigte zum Himmel und kletterte rasch weiter. »Ein was?« Dann hörte Krüger einen Motor dröh nen. Der Lärm übertönte seine eigene Stimme. In der angegebenen Richtung sah Krüger zuerst nichts. Dann entdeckte er vor dem helleren Grau der westlichen Wolken einen schwarzen Punkt. Er glitt über die Wellenkämme und steuerte direkt auf ihn zu. Krüger raffte seine Kleider zusammen und rannte zurück zur Leiter. Er stieß mit dem Fuß gegen ir gendein Hindernis, fiel nach vorne auf die Knie und verlor dabei seine Kleider. Das Dröhnen der Flug zeugmotoren kam näher. Es ging bereits in ein Kreischen über. Ein heftiger, höllischer Schmerz schoß von Krügers großer Zehe durch die Wade hoch. Krüger vergaß seine Kleider und rappelte sich hoch. Da bemerkte er, worüber er gestolpert war. Eine der Deckplatten genau achtern der vorderen Luke sah verbogen aus, so als ob eine Schweißstelle aufgeplatzt und der Rand hochgeschnellt sei. Er kletterte die Leiter hinauf. Der Motorenlärm war inzwischen ohrenbetäubend. Krüger duckte sich reflexartig, als das Flugzeug über ihm kreischte. Er sah, wie es am Himmel eine Schleife zu drehen be gann. Einer der Matrosen lehnte sich von der Brücke her ab. Drängend hielt er Krüger die ausgestreckte Hand entgegen. Aus dem Bootsrumpf hörte Krüger
das Signal. Es meldete den Notfall. Als er über den
Brückenrand fiel und auf der Innenleiter Halt suchte,
spürte er das Trommeln der Motoren und die
gleichzeitig vor- und abwärts gerichtete Bewegung.
Die Luke knallte schallend über ihm zu, und der
Matrose glitt behende neben ihm an der Leiter hin ab. Dann stand Krüger auf der untersten Sprosse,
nackt und durchnäßt. Seifenschaum lief an seinen
Beinen herunter.
Hoffmann beugte sich über das Periskop. »Fluten«,
sagte er zum Chefingenieur, »wir tauchen.«
»An Deck ist eine der – «, begann Krüger.
»Periskoptiefe«, rief der Chefingenieur. »E-Motoren
halbe Geschwindigkeit.«
Hoffmann drehte das Periskop um neunzig Grad.
»Scheißkerl«, sagte er. »Der Halunke kommt wie der.«
»Er hat nicht auf uns gefeuert«, sagte Krüger. »Ich
glaube, Sie – «
»Er wird es diesmal tun. Er wollte nur auf Nummer
Sicher gehen. Er wird kaum ein U-Boot den Atlantik
überqueren lassen, ganz gleich, ob Krieg oder nicht.
Vorne fünfzehn nach unten, achtern zehn nach un ten. Runter auf hundert Meter.«
Hoffmann ließ die Griffe des Periskops nach oben
schnellen und drückte einen Schalter. Die glänzen de Stahlröhre glitt nach unten. Er sah Krüger an,
bemerkte dessen betroffenen Gesichtsausdruck
und sagte: »Keine Sorge, wir sind die Nadel im
Heuhaufen. Es wird Nacht und die Chancen, daß
man uns findet – «
»Fünfzig Meter«, rief der Chefingenieur.
»Auf Deck«, sagte Krüger, »hab’ ich gesehen…
eines der Metallteile… sind Sie mit dem Boot schon mal auf hundert Meter getaucht?« »Natürlich. X-mal.« »Siebzig Meter, Herr Kapitänleutnant.« Siebzig Meter unter der Wasseroberfläche preßten nahezu fünfzehn Pfund Wasser auf jeden Quadrat zentimeter des U-Boot-Rumpfs. Das Boot war so gebaut, daß es in mindestens doppelt so tiefem Wasser sicher operieren konnte. Das hatte es oft bewiesen. Doch als man eine der vorderen Deck platten entfernt hatte, um Krügers Fracht an Bord zu nehmen, hatte einer der Schweißer, der sie erset zen sollte, zu hastig gearbeitet. Ein paar oberflächliche, unwichtige Schweißstellen waren bei den seichten Tauchfahrten geplatzt. Alle wesentlichen hatten bisher gehalten. Doch jetzt quetschten viele Tausend Tonnen Wasser den Rumpf wie eine Faust zusammen. Eine der Platten gab nach. Vom Bug her dröhnte es laut. Das Boot schlingerte nach unten. Männer kullerten von ihren Plätzen. Krüger fiel gegen eine Leiter. Er prallte zurück und klammerte sich an ihr fest, um nicht den Gang hin abzufallen. Hoffmann wurde der Boden unter den Füßen weggerissen, und er umkrallte das Periskop. »Notauftauchen!« schrie er. »Bringt es rauf. Volle Kraft zurück! Bug und Heck anblasen!« Sein Blick streifte Krüger. »Haben Sie die Vorderluke zuge dreht?« »Ich kann mich nicht erin – « Dann hörte man wieder ein Krachen. Die Vorderlu ke flog auf. Ein kräftiger Wasserstrahl, eineinhalb Meter hoch und einen Meter breit, schoß vom Tor
pedoraum durch die Unteroffiziersquartiere. Er strömte in die Kombüse und die Offiziersmesse. »Neunzig Meter, Herr Kapitänleutnant!« schrie eine Stimme. Das Boot sank weiter. Krüger fühlte sich plötzlich schwerelos, als wäre er in einem Fahrstuhl. Es krachte laut, irgendwo brach ein Rohr, Dampf zisch te. Der Kontrollraum stank plötzlich nach säuerli chem Schweiß, dann nach Urin und schließlich nach Öl und Kot. In zweihundert Metern Tiefe krachte es ein letztes Mal. Dunkelheit. Schreie. Wehklagen. In der Millise kunde, bevor er starb, streckte Ernst Krüger eine Hand nach vorn aus, zum vorderen Torpedoraum, zur Zukunft.
4 Das U-Boot sank rasch. Mit dem Bug voran stürzte es auf dreihundert Meter hinab. Dort gab der Druck körper weit unter seiner erprobten Tauchtiefe schließlich an einem Dutzend Stellen gleichzeitig nach. Luft strömte aus dem zerborstenen Metall. Das Boot wurde gerüttelt und taumelte. Seine Hyd rodynamik war zerstört – es begann, wild zu pur zeln. Tiefer und tiefer sank es, erst sechshundert Meter, dann fünfzehnhundert. Und alle zehn Meter preßten weitere fünfzehn Pfund Wasser auf den Druckkör per, strömten in die winzigen noch verbliebenen Luftreste und zerquetschten sie wie Weintrauben. Bei dreitausend Metern Tiefe preßten über zwei Tonnen Wasser gegen jeden Quadratmillimeter Stahl. Das letzte bißchen Luft entwich aus dem zer trümmerten Rumpf und stieg in der Dunkelheit nach oben. Das U-Boot sank wie eine weggeworfene Geträn kedose, bis es schließlich auf einen Abhang auf schlug, abprallte und langsam zu rutschen begann. Es riß Schlammassen mit sich, die nie ein Men schenauge erblickt hatte. Es brachte Felsblöcke ins Rollen, die ihm in eine unheimliche Schlucht folgten. Dort schließlich kam es zum Stillstand, ein Häuflein verbogenen Stahls. Im Schutt des einstigen Bugs lag der riesige, aus Bronze gegossene und mit Gummi abgedichtete Behälter. Er verwehrte der See den von ihr begehr ten Einlaß. Der Schlamm setzte sich, und die Zeit
verstrich. Unzählige Mikroorganismen, die dort un ten ihre Runden drehten, verzehrten, was möglich war. Auf dem Meeresgrund kehrte wieder Ruhe ein, und der unerbittliche Kreislauf von Leben und Tod setzte sich fort.
ZWEITER TEIL Entdeckungen 5 Absolute Dunkelheit gibt es selten auf der Erde. Selbst in einer mondlosen Nacht, wenn auch die Sterne von Wolken verhangen sind, strahlen die Lichter der Zivilisation gen Himmel. In den Tiefen der Ozeane dagegen herrscht absolute Dunkelheit vor. Die Sonnenstrahlen, von denen man jahrtau sendelang glaubte, sie seien die einzige lebens spendende Quelle auf der Erde, durchdringen kaum eine halbe Meile Meerwasser. Weite Ebenen, riesige Canyons, Gebirgsketten, die es mit dem Himalaya aufnehmen – nahezu drei Viertel des Planeten sind in immerwährendes Schwarz gehüllt. Von Zeit zu Zeit wird es von bio lumineszierenden Organismen durchbrochen. Sie funkeln, um Beute anzulocken oder sich fort zupflanzen. Zwei Tauchboote schwebten mit weißen Körpern und helleuchtenden Augen nebeneinander wie zwei Wesen von einem anderen Stern. Die Fünftausend Watt-Scheinwerfer auf ihren konkaven Vorderseiten strahlten etwa sechzig Meter weit. »Viertausend Meter«, sagte einer der Steuermänner in sein Funkgerät. »Der Paß müßte direkt vor uns liegen. Ich fahr’ jetzt rein.« »Verstanden!« funkte der andere Steuermann zu
rück. »Ich fahr’ genau dahinter.« Die Propeller begannen sich zu drehen, als die E lektromotoren ansprangen. Das erste Tauchboot setzte sich langsam in Bewegung. In der gerade einmal drei Meter langen und zwei Meter breiten Stahlkapsel kauerte David Webber, halb liegend, halb sitzend, neben dem Steuermann. Er preßte das Gesicht gegen ein fünfzehn Zentimeter großes Bullauge. Die Scheinwerfer strahlten schier unendli che graue Steilabbrüche aus Schlamm und Felsge stein an. Sie schienen von oben aus dem Nichts und nach unten in das Nichts zu fallen. Viertausend Meter, dachte Webber. Dreizehntau send Fuß Wasser. Zweieinhalb Meilen. Unmengen von Wasser über ihm, unglaublicher Druck um ihn herum. Wieviel Druck? Unberechenbar. Aber mit Sicherheit genug, um ihn zu Mus zu zerquetschen. Denk nicht darüber nach, sagte er sich. Wenn du darüber nachdenkst, tickst du aus. Und hier ist we der die richtige Zeit noch der richtige Ort, um auszu ticken. Du brauchst die Arbeit, du brauchst das Geld. Mach deinen Job und dann sieh zu, daß du hier rauskommst. Ein paar Tropfen Kondenswasser fielen von oben herab und landeten auf seinem Nacken. Er fuhr hoch. Der Steuermann streifte ihn mit einem Sei tenblick und lachte. »Schade, daß ich nicht schnell genug geschaltet habe«, sagte er. »Ich hätte ge schrien und Ihnen vorgespielt, wir müßten dran glauben.« Er grinste. »Das mache ich gerne mit Anfängern. Ich finde das lustig, wenn sie vor Schreck erstarren.« »Nett von Ihnen«, sagte Webber. »Ich hätte Ihnen
die Rechnung meiner Reinigung geschickt.« Er frös telte und rieb sich mit gekreuzten Armen die Schul tern ab. An der Oberfläche herrschten dreißig Grad. Dort hatte er im Wollpullover, in Wollsocken und Cordhose geschwitzt. Drei Stunden hatten sie für die Tauchfahrt gebraucht, und die Temperatur war um über dreißig Grad abgefallen. Ihm war eiskalt. Er schwitzte noch immer, aber jetzt vor Angst. »Welche Temperatur hat das Wasser hier drau ßen?« fragte er, nicht aus wirklicher Neugier, son dern weil ihn die Unterhaltung beruhigte. »So um null Grad«, sagte der Steuermann. »Mit Sicherheit so kalt, daß dir der Arsch abfriert.« Webber wandte sich wieder dem Bullauge zu. Eine Hand lag auf der Steuerung von einer seiner vier Kameras. Er hatte sie in verstellbaren Gehäusen an der Außenhaut des Tauchbootes installiert. Das Boot glitt an einer wüsten Felsschlucht entlang, an einem endlosen Gelände einfarbigen Gerölls. Da wirkte selbst die Oberfläche des Mondes einladen der. Webber rief sich immer wieder in Erinnerung, daß er und der Steuermann als erste Menschen diese Landschaft zu Gesicht bekamen. Mit seinen Objektiven würden die ersten Aufnahmen gemacht werden. »Kaum zu glauben, daß es hier unten tatsächlich Leben gibt«, sagte er. »O doch, gibt es, aber nichts von der Art, wie Sie’s kennen. Hier gibt’s so Albinoviecher und Dinger oh ne Augen. Ein Bulle hat keine Titten, und die hier haben keine Augen. Dann gibt’s noch so durchsich tige Dinger. Teufel, es gibt hier alles mögliche. Na türlich weiß ich nicht, was am Grund ist, so etwa
zehntausend Meter tief. Da unten war ich noch nie. Aber klar gibt’s hier überall Leben. Was alle so ver blüfft, ist die Tatsache, daß irgendwelche Lebens formen hier überhaupt erst beginnen.« »O ja, davon habe ich auch schon gehört«, sagte Webber. »Man nennt es Chemosynthese.« Chemosynthese, deshalb war er hier. Deshalb fror er sich in absolut undurchdringlicher Dunkelheit zwei Meilen unter dem Meeresspiegel den Arsch ab. Chemosynthese: Leben entstand ohne Licht. Sie kennzeichnete das Prinzip, wonach Lebewesen allein durch chemische Stoffe erzeugt werden konn ten. Faszinierend. Revolutionär. Noch nie dagewe sen. Er mußte einen Beweis aufspüren, daß Chemosyn these möglich war. Wenn er den mit der Kamera festhalten und damit die Zweifel zerstreuen könnte, dann wäre für ihn der Traum eines jeden Fotografen wahr geworden. Webber arbeitete als freier Foto graf für National Geographic. Er sollte als erster Fotos von Tiefseeschloten im kürzlich entdeckten Kristofgraben schießen, auf dem Grund des Mittel atlantischen Rückens, genau westlich der Azoren. Diese Schlote, Eiterbeulen auf der Erdoberfläche vergleichbar, spien flüssiges Gestein aus dem Erd inneren in das eisige Wasser. Die Schlote selbst waren Miniaturvulkane. Man vermutete Lebensformen in ihnen, die von den chemischen Stoffen in den Schloten hervorgebracht und ernährt wurden. Mit anderen Worten, Chemo synthese. Chemisch erzeugte Lebensformen, die das Sonnenlicht weder benötigten noch kannten. Die ohne Sonnenlicht geboren werden, leben und
sterben konnten. Man hatte Webber deshalb ausgewählt, weil er für den genialen Umgang mit seinen Kameras, Objekti ven und Gehäusen bekannt war. Und er war jung und mutig. Er hatte den Auftrag wegen des Hono rars angenommen und weil ihn der gute Ruf der Zeitschrift lockte. Vor allem aber hatte ihn das pri ckelnde Gefühl gereizt. Er wollte als erster den Be weis dafür erbringen, daß dieses wissenschaftliche Kuriosum tatsächlich im Meer, in der Natur, vorkam. An Angst hatte er nicht gedacht, er hielt sich für ab gehärtet. In den vergangenen fünfzehn Jahren hatte er so manches überlebt. Dreimal war ein Flugzeug abgestürzt, in dem er saß. Eine verwundete Löwin hatte ihn angegriffen. Haie und Muränen hatten ihn gebissen, und Skorpione hatten ihn gestochen. Di verse exotische Parasiten und Amöben hatten sich bei ihm eingenistet. Das hatte ihn neben anderen Unannehmlichkeiten zeitweilig sämtliche Körper haare und die Haut auf Zunge und Penis gekostet. Kurz, er war an Überraschungen gewöhnt. Die Na tur konnte einem die absonderlichsten Streiche spielen. Eines aber hatte er nicht vermutet, ja nicht einmal geahnt. Er hatte in den letzten Stunden mit Erstaunen feststellen müssen, daß er mittlerweile unter Klaustrophobie litt. Seit wann? Und warum? Webber fühlte sich unwohl. Blindlings irrte er in ei nem Unterwassergebirge herum, das tiefer war als die Rocky Mountains hoch. Sein Leben hing vom Geschick eines lässig-lockeren UnterwasserJockeys am Steuer einer winzigen Kapsel ab. Ver mutlich war das Ding auch noch vom billigsten An bieter zusammengeschweißt worden. Der Fotograf
glaubte zu ersticken. Er fühlte sich eingequetscht, gefangen, krank. Warum hatte er nicht auf seine Freundin gehört und lieber den anderen Auftrag übernommen? In der Korallensee hätte er Nahaufnahmen von giftigen Seeschlangen machen können. Dort wäre er jetzt weitaus glücklicher. Zumindest wäre er halbwegs Herr seiner Lage. Wenn’s brenzlig werden würde, könnte er einfach aus dem Wasser gehen. Aber nein, er mußte die Ehre einheimsen, der erste zu sein. Idiot. »Wie weit noch?« fragte er, um sich mit dem Klang seiner Stimme von seinen Herzgeräuschen abzu lenken. »Bis zu dem rauchenden Schlot? Nicht allzuweit.« Der Steuermann tippte auf das Thermometer. »Die Wassertemperatur klettert rauf. Wir müssen nah dran sein.« Das Tauchboot umrundete eine Gesteinsspitze in der Felswand, und plötzlich verdunkelte eine dicke, schwarze Rauchwolke seine Scheinwerfer. »Da wären wir«, sagte der Steuermann, bremste ab und legte den Rückwärtsgang ein. Sie sanken tiefer, bis die Scheinwerfer wieder heller wurden. Webber krümmte sich vor und griff nach den Kontrollhebeln der Kameras. »Sagen Sie Charlie, er soll auf die andere Seite fah ren«, sagte er. »Ich will ihn aufs Bild bekommen.« »Wird gemacht.« Der Steuermann sprach in sein Mikrophon, und Webber sah den weißen Umriß des anderen Tauchbootes durch die schwarze Wolke gleiten. Es schwebte gespenstisch. Aus dieser Entfernung hat
te der Schlot nichts Besonderes an sich. Man sah eine sich windende schwarze Rauchfahne vor schwarzem Wasser. Gelegentlich blitzte eine oran gerote Flamme auf, wenn die Erde aus ihrem Inne ren flüssiges Gestein durch die Oberfläche em porspie. Doch Geographic wollte Bilder von allem, was er sah, ganz gleich, wie gewöhnlich es auch war. Also fing Webber zu fotografieren an. In jeder Ka mera war ein 35-Millimeter-Film mit zweihundert Einzelbildern, und die Röhrenblitze erneuerten sich sofort. Er konnte also eine Aufnahme nach der an deren machen, während der Steuermann das Tauchboot langsam auf die Öffnung des Schlotes zusteuerte. Webber war erleichtert, daß er endlich arbeiten konnte. Er konzentrierte sich auf Winkel und Belich tung und versuchte, den grellen Scheinwerferstrahl des anderen Tauchbootes zu umgehen. Seine Angst war wie weggeblasen. Er zitterte und fror nicht mehr. Im Gegenteil, ihm war so heiß wie an der Oberfläche. »Wie warm ist es jetzt da draußen?« fragte er. »Über neunzig Grad«, sagte der Steuermann. »Der Schlot ist der reinste Ofen. Er heizt alles um sich herum auf.« Plötzlich stieß etwas gegen Webbers Bullauge, prallte ab und verschwand in der Rauchwolke. Er schrocken zuckte er zurück: »Was zum Teufel war das?« Es war zu schnell und zu nah gewesen, als daß er Einzelheiten hätte erkennen können. Das einzige, was er gesehen hatte, war ein vorbeihu schender weißer Schatten.
»Warten Sie«, sagte der Steuermann. »Verschie ßen Sie nicht Ihren ganzen Film. Hier draußen gibt’s alle möglichen Viecher. Vielleicht finden wir sogar irgendwas, was noch nie einer gesehen hat.« Sie näherten sich der Öffnung des Vulkans. Man nahm an, daß hier Tiere von den chemischen Stof fen des Schlotes lebten. Ein tiefes, stoßweises, rumpelndes Geräusch war zu hören. Es wurde von roten und orangefarbenen Blitzen begleitet. Aus den Felsspalten schoß flüssiges Gestein. Noch ein Tier flitzte vorbei und noch eines. Das Tauchboot kam über einem kleinen Plateau aus kurz zuvor erstarrter Lava zum Stehen. Da war ein ganzer Schwarm von Garnelen. Sie waren riesig, aschfahl, ohne Augen. Tausende, Hunderttausende von Garnelen, vielleicht Millionen. So viele, daß sie das gesamte Blickfeld ausfüllten. Sie wimmelten umher und pulsierten wie ein Gebirge, das lebendig war. »Großer Gott – «, sagte Webber, gefesselt und ent setzt zugleich. »Was machen die denn?« »Sie fressen alles«, sagte der Steuermann, »was in diesem Rauch herumschwirrt.« »Garnelen können in neunzig Grad warmem Was ser leben?« »Sie können darin geboren werden, leben und ster ben. Ab und zu purzelt mal eine in die Öffnung des Schlotes. Darin sind es annähernd vierhundert Grad – und verbrennt… zack, wie eine Mücke in einer Streichholzflamme.« Nachdem Webber ein Dutzend Aufnahmen ge macht hatte, bewegte der Steuermann das Tauch boot langsam vorwärts und teilte die Garnelen wie
einen dicken Perlenvorhang. Rings um die Öffnung des Schlotes befanden sich lange, knochige Sten gel. Sie waren zwei oder drei Meter hoch, wurzelten in der Lava und wucherten wie in einem schauerli chen Märchenwald. Aus ihren Enden ragten rote und gelbe federartige Finger, die sich geschmeidig in die Rauchschwaden hinein und wieder hinaus schlängelten. »Was zum Teufel ist das?« fragte Webber. »Röhrenwürmer. Sie bauen sich ihr Zuhause aus irgendeinem Zeug, das sie absondern. Und dann strecken sie ihre Fächer aus, um sich zu ernähren. Sehen Sie mal.« Der Steuermann griff nach einem Kontrollhebel und fuhr einen mechanischen Greifarm bis zum nächs ten Stengel aus. Als die Stahlkrallen des Armes sich näherten, schienen die Fächer zu erstarren. Im Bruchteil einer Sekunde verschwanden sie, bevor sie berührt worden wären. Wie von Zauberhand wurden sie in ihre schützenden, kalkartigen Röhren gezogen. »Haben Sie das aufgenommen?« fragte der Steu ermann. »War zu schnell«, sagte Webber. »Versuchen wir’s noch mal. Ich stelle die Belichtungszeit auf ein Zweitausendstel ein.« Eine Stunde später hatte Webber über dreihundert Einzelbilder aufgenommen. Er hatte von den Garne len und den Röhrenwürmern Nah- und Fernauf nahmen gemacht. Teilweise hatte das andere Tauchboot das Hintergrundmotiv abgegeben. Er hoffte, daß mindestens zwanzig dieser Fotos den Ansprüchen von Geographic entsprachen.
Er hatte keine Ahnung, ob man seine Bilder als Be weis für die Existenz chemosynthetischer Spezies akzeptieren würde. Vielleicht belegten sie einfach nur, daß zweieinhalb Meilen unter der Meeresober fläche blinde Albinogarnelen in neunzig Grad war mem Wasser lebten. Egal, er wußte, daß ein paar spektakuläre Aufnahmen darunter waren. Sicherheitshalber hatte er den Steuermann gebe ten, mit den Greifarmen ein halbes Dutzend Garne len und zwei Röhrenwürmer einzusammeln. Sie lagen nun in einem Auffangkorb an der Außenseite des Bootes. Im Labor des Mutterschiffes würde er von ihnen einige Großaufnahmen machen. »Das dürfte reichen«, sagte er zum Steuermann. »Fahren wir.« »Sind Sie sicher? Ihr Chef macht bestimmt nicht noch mal fünfzig Riesen locker, um uns hier runterzuschicken.« Webber zögerte einen Augenblick. Dann sagte er: »Ich bin mir sicher.« Er war überzeugt, daß er die Fotos im Kasten hatte, die viel Geld bringen wür den. Er kannte seine Kameras. Bisweilen hatte er das Gefühl, daß sein Gehirn ihre Verlängerung war. Er konnte die Bilder schon vor seinem geistigen Auge betrachten. Sie waren hervorragend, da war er sicher. »Okay.« Der Steuermann sprach ins Funkgerät: »Wir gehen raus hier.« Im Rückwärtsgang entfernte er sich von dem Schlot. Webber machte sich auf einem Block Notizen. Plötzlich hörte er den Steuer mann fluchen: »Teufel noch mal…« »Was?« »Sehen Sie mal dort drüben.« Der Steuermann
deutete auf etwas am Grund, vor seinem Bullauge. Webber lehnte sich zu seinem eigenen Bullauge vor und hielt den Atem an, um das Glas nicht zu be schlagen. »Ich kann nichts erkennen«, sagte er. »Dort unten. Garnelenschalen. Millionen und Aber millionen. Sie liegen über den ganzen Sand ver streut.« »Na und? Können Sie sich nicht vorstellen, daß diese Tiere sich gegenseitig auffressen?« »Na, ich weiß nicht. So was hab’ ich noch nie gese hen. Kann schon sein, daß sie sich gegenseitig auf fressen, aber ob sie sich auch gegenseitig auspu len? Vielleicht ist es einer von den Tiefseehaien gewesen, ein Sechskiemer oder ein Grönlandhai. Aber machen die sich die Mühe, eine Garnele aus zupulen, bevor sie diese fressen? Macht alles kei nen Sinn.« »Könnte so einer sie ganz fressen und die Schalen ausspucken? Sie erbrechen?« »Ein Hai verdaut alles. Da würde nichts übrigblei ben.« »Ich versteh’ das nicht«, sagte Webber. »Ich auch nicht, aber irgend etwas muß diese Gar nelen ausgepult und gefressen haben, Tausende von ihnen. Ich glaube, wir sollten uns mal umse hen.« Die Schalen schienen sich in einer Spur zu verlau fen, und der Steuermann wendete das Boot und folgte ihr. Er schwebte wenige Meter über dem Grund und richtete die Scheinwerfer nach unten. Das Tauchboot bewegte sich nur langsam vorwärts, nicht mehr als hundert Meter pro Minute. Nach zwei
oder drei Minuten wirkten das monotone Surren des Motors und die eintönige karge Landschaft ein schläfernd. Webber spürte, wie seine Augen glasig wurden. Er schüttelte den Kopf. »Wonach suchen wir?« fragte er. »Ich weiß nicht. Vermutlich wie üblich nach irgend einem Hinweis, der uns auf irgend etwas bringt, was die Natur nicht gemacht hat. Eine gerade Linie… ein perfekter Kreis… irgend etwas Symmetrisches. In der Natur gibt es verdammt wenig, was symmet risch ist.« Wenige Sekunden später glaubte Webber, am Rande des Lichtkegels eine Anomalie entdeckt zu haben. »Dort drüben«, sagte er. »Das ist zwar nicht gerade symmetrisch, aber sehr natürlich sieht es auch nicht aus.« Der Steuermann wendete das Boot. Die Scheinwer fer glitten über den Grund hinweg, und eine Masse zerborstenen schwarzen Metalls wurde auf dem pulvrigen Schlammteppich sichtbar. Eine Form war nicht zu erkennen. Manche Teile schienen zermalmt worden zu sein, andere aufgerissen und verbogen. »Sieht aus wie Schrott«, sagte Webber. »Ja, aber was für Schrott? Was war es?« Der Steu ermann gab seinem Kollegen seine Position durch und ging dann tiefer hinunter. Schließlich ruhte das Boot mit der Unterseite auf dem Schlamm. Die Metallmasse war über eine so große Fläche verstreut, daß die Scheinwerfer sie nicht vollständig beleuchten konnten. Der Steuermann richtete die gesamten zehntausend Watt auf ein beliebiges En de und bewegte die Lichter Stück um Stück, um jedes Teil genau zu betrachten. Er versuchte, sie
wie ein Puzzle zu einem zusammenhängenden Ganzen zusammenzusetzen. Webber bot ihm keine Hilfe an. Er konnte nichts Nützliches beitragen. Er war Fotograf und kein Ingenieur. Wegen ihm hätte der Haufen Stahl dort draußen eine Lokomotive, ein Schaufelraddampfer oder ein Flugzeug sein können. Während er wartete, spürte er, wie die Angst zurückkehrte. Sie waren nun schon seit fast fünf Stunden in diesem Ding, und sie würden mindestens weitere drei Stunden brauchen, um wieder an die Oberfläche zurückzukehren. Ihm war kalt, er hatte Hunger, und er mußte mal. Vor allem mußte er sich bewegen, irgend etwas tun. Und zusehen, daß er hier rauskam. »Los jetzt«, sagte er. »Belassen wir’s dabei und hauen ab.« Der Steuermann schwieg einen langen Augenblick, bevor er antwortete. Schließlich wandte er sich Webber zu und sagte: »Ich hoffe, Sie haben noch einen Stapel Filme übrig.« »Warum?« »Weil wir gerade auf eine verdammt gute Sonderzu lage gestoßen sind.«
6 Das andere Tauchboot kam und postierte sich fünf zig Meter weiter hinten am anderen Ende des mit
Wrackteilen übersäten Geländes. Die vier Schein werfer tauchten es in ein zwanzigtausend Watt star kes Licht, und man konnte nahezu die gesamte Flä che überblicken.
Der Steuermann grinste Webber an und sagte:
»Na?«
»Na was?«
»Na, was ist es?«
»Wie zum Teufel soll ich das wissen?« schnauzte
Webber ihn an. »Verstehen Sie, mir ist eiskalt, ich
bin müde, ich muß ‘ne Runde schlafen. Tun Sie mir
den Gefallen und hören Sie auf – «
»Es ist ein U-Boot.«
»Tatsächlich?« sagte Webber und preßte sein Ge sicht gegen das Bullauge. »Woher wissen Sie
das?«
»Sehen Sie mal dort drüben.« Der Steuermann
zeigte in eine Richtung. »Das ist ein Tiefenruder.
Und dort. Das muß ein Schnorchelrohr sein.«
»Sie meinen, ein Atom-U-Boot?«
»Nein, ich glaube nicht. Ich bin mir ziemlich sicher,
daß es keins ist. Es sieht nach Stahl aus. Sehen Sie
mal, wie es oxydiert – richtig langsam, weil es hier
unten kaum Sauerstoff gibt. Aber es oxydiert – und
die Verdrahtung ist absolut schlecht, völlig veraltet.
Ich würde sagen, Zweiter Weltkrieg.«
»Zweiter Weltkrieg?«
»Ja. Wir versuchen mal, näher ranzukommen.« Der
Steuermann sprach ins Mikrophon. Im Schnecken tempo fuhren die beiden Tauchboote aufeinander zu, nur so weit über dem Grund, daß sie den Schlamm nicht aufwühlten. Webber hatte laut Zählwerk nur noch sechsund achtzig Bilder übrig und fotografierte sparsamer. Er versuchte, sich das Wrack als Ganzes vorzustellen. Aber es war so grundlegend zerstört, daß wohl niemand einzelne Bestandteile des Schiffes identifi zieren konnte. »Wo befinden wir uns auf dem Ding?« fragte er. »Sieht mir nach dem Heck aus«, sagte der Steuer mann. »Das Boot liegt auf der Steuerbordseite. Die Rohre dort drüben müßten die hinteren Torpedoroh re sein.« Sie fuhren an einem der Deckgeschütze des UBootes vorbei. Das machte nun wirklich etwas her, und Webber nahm es ein paar Mal auf. Sie kamen zu einem klaffenden Loch in der Seite des Schiffs. Auf dem Schlamm, nur wenige Meter entfernt, lagen ein paar Schuhe. Sie schienen nur darauf zu war ten, daß jemand hineinschlüpfte. »Wo ist der Bursche, der sie anhatte?« fragte Web ber, während er die Schuhe aus verschiedenen Perspektiven fotografierte. »Wo ist sein Körper?« »Vermutlich haben Würmer ihn gefressen«, sagte der Steuermann. »Und Krabben.« »Mit Knochen und allem? Die Würmer fressen Kno chen?« »Nein, aber das Meer. Tiefes und kaltes Salzwasser löst Knochen auf… ein chemischer Vorgang. Früher wollte ich mich auf See bestatten lassen, heute nicht mehr. Mir paßt die Vorstellung nicht, von ir
gendwelchem Gewürm zum Mittagessen verspeist zu werden.« Sie tasteten sich langsam zum Bug vor. Neue Ge genstände tauchten auf: Töpfe aus der Kombüse, der Rahmen einer Koje, ein Funkgerät. Webber fo tografierte alles. Er war gerade dabei, eine seiner Kameras neu einzustellen, als er im Augenwinkel etwas bemerkte. Es wirkte wie ein Buchstabe, der auf eine Stahlplatte gemalt war. »Was ist das?« Er deutete fragend hinüber. Der Steuermann wendete das Boot und bewegte es langsam vorwärts. Er blickte durch das Bullauge, und plötzlich sagte er: »Bingo! Wir haben das Boot identifiziert.« »Tatsächlich?« »Jedenfalls den Typ. Was da auf eine der Kom mandoturmplatten gemalt ist, ist ein U. Es ist ein deutsches U-Boot.« »Ein deutsches U-Boot?« »Es war eines. Aber was es so weit südlich ge macht hat, völlig im Abseits, das weiß nur Gott.« Webber fotografierte das U aus verschiedenen Blickwinkeln, während der Steuermann das Boot zum Bug des U-Bootes vorbewegte. Als sie in den Bereich des Vorderdecks kamen, stellte der Steu ermann den Motor ab und hielt sein Tauchboot in der Schwebe. »Deswegen ist es gesunken«, sagte er und richtete die Scheinwerfer auf ein riesiges Loch im Deck. »Es ist implodiert.« Die Deckplatten waren nach innen gebogen. An den Rändern waren sie gekräuselt, als hätte jemand mit einem riesigen Hammer auf sie eingeschlagen. Als Webber eine Aufnahme davon machte, spürte er,
wie ihm der Schweiß lief. Er stellte sich den Augen blick vor einem halben Jahrhundert vor, als die Männer auf diesem Boot plötzlich erfuhren, daß sie sterben würden. Er konnte sich das Getöse des he reinbrechenden Wassers vorstellen, die Schreie, den Aufruhr, die Panik, den Druck, das Ersticken, die Agonie. »O mein Gott…«, sagte er. Der Steuermann warf den Motor an, und das Tauchboot schob sich Zentimeter um Zentimeter vorwärts. Die Scheinwerfer leuchteten in das Loch und erhellten ineinander verhedderte Drähte, ein Gewirr von Rohren, ein… »Hey!« schrie Webber. »Was?« »Da ist etwas drin. Etwas Großes. Es sieht aus wie… ich weiß nicht…« Der Steuermann manövrierte das Tauchboot über das Loch. Er kippte den Bug nach unten und zerrte mit Hilfe der Krallen an den mechanischen Greifar men die Drähte weg und schob die Rohre beiseite. Er bündelte die Scheinwerfer zu einem einzigen Zehntausend-Watt-Lichtstrahl und richtete ihn direkt in das Loch. »Nicht zu glauben…« »Es sieht aus wie ein Behälter«, sagte Webber, während er den Lichtern zusah, die über der grün lichgelben Oberfläche eines perfekten Rechtecks tanzten. »Eine Truhe.« »Ja, oder ein Sarg.« Der Steuermann hielt einen Augenblick inne und überlegte. »Nein. Für einen Sarg ist es zu groß.« Einen Augenblick lang schwiegen beide. Staunend und nachdenklich starrten sie den Behälter an.
Schließlich sagte Webber: »Wir sollten ihn nach oben bringen.« »Ja.« Der Steuermann nickte. »Es fragt sich nur wie. Das Ding ist gut und gerne zweieinhalb Meter lang. Ich wette, es wiegt eine Tonne. Mit diesem Boot kann ich es nicht heben.« »Und mit beiden Booten zusammen?« »Nein, wir können jeder keine tausend Pfund he ben. Wir könnten nicht…« Er brach ab. »Moment mal. Ich glaube, auf dem Schiff oben liegen acht tausend Meter Kabel. Wenn man an einem Ende ein Gewicht befestigt und es herunterläßt, und wenn es uns gelingt, eine Schlinge um den Behälter zu legen, vielleicht… haben wir dann eine Chance…« Nach fast einer Stunde hatten die beiden Tauch boote das mit dem Gewicht belastete Kabel des Mutterschiffs gefaßt und den Behälter in einer Drahtschlinge festgezurrt. Das Schiff konnte endlich mit dem Heben beginnen. Sie selbst hatten ihre Sauerstoffvorräte erschöpft. Sobald die Männer sich davon überzeugt hatten, daß der Behälter nicht am Schiffsrumpf festhing und gleichmäßig stieg, warfen sie Ballast ab und begannen, nach oben zu schwe ben. Webber war erschöpft. Aber er fühlte sich auch mo tiviert und begeistert. Er brannte darauf, an die O berfläche zu kommen, den Behälter zu öffnen und zu sehen, was sich darin befand. Der Tiefenmesser registrierte Meter um Meter, den sie auf ihrem Weg nach oben, zum Tageslicht, zurücklegten. »Wissen Sie, was daran seltsam ist?« fragte Web ber. »Die ganze Geschichte ist seltsam«, sagte der
Steuermann. »Denken Sie an etwas Bestimmtes?« »Diese Wrackteile. Alles war mit Schlamm bedeckt. Alles war mit einem grauen Schleier überzogen… bis auf den Behälter. Er war sauber. Deswegen ha be ich ihn wohl auch entdeckt. Er hob sich ab.« Der Steuermann zuckte die Schultern. »Haftet Schlamm an Bronze? Keine Ahnung.«
7 »Das ist doch unglaublich!« sagte Webber. »Metal lurgen, Archäologen, Chemiker… wen kümmern die einen Dreck? Das einzige, was zählt, ist doch, was drin ist! Was denken die sich eigentlich?« »Na ja, Sie kennen doch die Bürokraten«, sagte der Steuermann, der sich verständnisvoll zeigen wollte. »Den ganzen Tag sitzen sie nutzlos auf ihren brei ten Ärschen, und jetzt auf einmal kriegen sie was zu tun und müssen ihre Existenz rechtfertigen.« Sie standen am Heck des Schiffes, das mit hoher Geschwindigkeit westwärts in Richtung Massachu setts fuhr. Der Behälter war auf einem Gestell auf dem Hecküberhang befestigt. Webber hatte Stun den damit zugebracht, Beleuchtungen an den Deckaufbauten des Schiffes zu installieren. Er woll te eine geheimnisvolle Atmosphäre für den Augen blick schaffen, in dem der Behälter geöffnet werden sollte. Er hatte sich für den Sonnenuntergang ent schieden, die »magische Stunde« der Fotografen. Dann waren die Schatten lang und die Lichter weich, kräftig und ausdrucksvoll. Und dann, keine halbe Stunde, bevor er mit den Aufnahmen beginnen wollte, hatte ihm der Schiffs kapitän ein Fax von Geographic mit dem Vermerk »Dringend« in die Hand gedrückt. Er solle den Be hälter unberührt und verschlossen lassen, bis das Schiff in den Hafen einlief. Ein Stab von Wissen schaftlern und Historikern wolle das Schiff in Emp fang nehmen und den Behälter in Anwesenheit ei nes Journalisten, eines Redakteurs und eines Ka
merateams der Fernsehserie National Geographic Explorer öffnen. Webber war am Boden zerstört. Er wußte, was ge schehen würde. Seine Beleuchtungsanlagen wür den heruntergerissen werden. Er würde beiseite geschoben, von dem Fernsehteam in den Hinter grund gedrängt und von den Fachleuten herum kommandiert werden. Er würde keine Chance ha ben, genügend Film zu verknipsen, um »Ausschuß« übrig zu haben. Das waren die Bilder, die Ge ographic nicht wollte und die er an andere Zeit schriften verkaufen konnte. Nicht nur die Qualität seiner Bilder würde leiden, sondern auch seine Brieftasche. Trotzdem war er machtlos dagegen. Und was noch schlimmer war: Er war selbst schuld. Er hätte seine Aufregung im Zaum halten und den Zeitschriftenleu ten erst später von dem Behälter berichten sollen, den sie entdeckt hatten. Jetzt schrie er laut »Schei ße!« in die Abendluft. »Na, na«, sagte der Steuermann. »Nehmen Sie’s nicht so tragisch. Gehen wir in die Offiziersmesse. Da wartet ein Freund von mir namens Jack Daniels. Er brennt darauf, Sie kennenzulernen.« Webber und der Steuermann saßen in der Offi ziersmesse und leerten die Flasche Jack Daniels. Je länger der Steuermann über die Bürokraten schimpfte, desto überzeugter wurde Webber davon, daß man ihn übergehen wollte. Er hatte den Behäl ter entdeckt. Er hatte ihn fotografiert, wie er im UBoot gelegen hatte. Er sollte derjenige sein, der die ersten, die besten und die einzigen Bilder von dem machte, was darin war.
Um Viertel vor neun erklärte sich der Steuermann für sternhageldicht und torkelte zu seiner Koje da von. Um zehn vor neun faßte Webber einen Plan. Er ging zu Bett und stellte seinen Wecker auf Mit ternacht. »Das ist Montauk Point«, sagte der Kapitän und deutete auf den äußeren Kreis des Radarschirms, »und dort drüben liegt Block Island. Wenn wir Windstille hätten, würde ich vor Woods Hole ankern und warten, bis es Tag wird.« Er warf einen Blick auf die Uhr am Schott. »Jetzt ist es Viertel nach eins. In vier Stunden werden wir schon ganz gut sehen können. Aber bei diesem verdammten Ost wind fahre ich lieber in den Schutz von Block Island und dann bei Tagesanbruch die Küste rauf. Hat ja keinen Sinn, wenn es allen schlecht wird und man vielleicht noch ein Getriebe ruiniert.« »Stimmt«, sagte Webber, den der bittere Kaffee quälte. Er schwappte in seinem Magen hin und her, als das Schiff in ein Wellental geriet und dann schräg hoch auf einen Wellenkamm stieg. Von einer nachfolgenden hohen Woge gestoßen, schlingerte das Schiff mühsam durch die Nacht. »Ich glaube, ich gehe wieder zurück und versuche, ein wenig zu schlafen.« »Stellen Sie einen Eimer neben Ihre Koje«, riet ihm der Kapitän. »Es gibt nichts Schlimmeres, als in einem vollgekotzten Bett zu schlafen.« Webber war zur Brücke gegangen, um festzustel len, wie viele Seeleute Dienst hatten. Er hatte nur zwei bemerkt, den Kapitän und einen Maat. Beide waren im Steuerhaus und blickten nach vorne. Das Heck war leer und unbeobachtet.
Als er wieder in seiner Kajüte war, steckte er einen Finger in den Mund und zwang sich zum Erbrechen. Er wartete fünf Minuten und versuchte es noch ein mal. Es kam nur noch Galle. Er putzte sich die Zäh ne und schulterte, nachdem er sich klarer im Kopf und stabiler fühlte, eine Nikon mit aufgesetztem Blitz. Er nahm eine Taschenlampe, die er kurz aus probierte, und ging nach achtern, hinaus an Deck. Der Wind blies mit fünfundzwanzig oder dreißig Knoten, aber es regnete nicht. Das Schiff fuhr fünf zehn Knoten mit dem Wind, wodurch seine Kraft abgeschwächt wurde. Man konnte über das flache, weitläufige Heck gehen, und es war, als ob man nur durch eine frische Brise stapfte. Zwei Fünfhundert Watt-Lampen überfluteten das Achterdeck mit Licht. Die Tauchboote hockten auf ihren Schlitten wie zwei mutierte Käfer. Sie schienen den grünlichgelb schimmernden Behälter zu bewachen, der zwischen ihnen lag. Webber hielt sich im Schatten, während er die drei ßig Meter des Achterdecks zurücklegte. Er kauerte sich hinter dem Tauchboot auf der Backbordseite zusammen und vergewisserte sich, daß ihn nie mand von der Brückennock aus beobachtete. Dann richtete er den Strahl der Taschenlampe seitlich auf den Behälter. Er hatte keine Ahnung, wie schwer dessen Deckel war. Wahrscheinlich wog er Hunderte von Pfund. Mit Sicherheit mehr, als er jemals alleine heben konnte. Eventuell könnte er die Kranvorrichtung ei nes der Tauchboote benutzen. Es war ein großer Stahlhaken an einem Flaschenzug, der von einer elektrischen Winsch angetrieben wurde. Aber viel
leicht hatte der Deckel auch einen Schnapp verschluß. Vielleicht gab es irgendwo einen Riegel oder einen Knopf? Er trat aus dem Schutz des Tauchboot-Gestells heraus, überquerte das Deck und kniete sich neben die Kiste. Nach achtern gewandt, um den Strahl der Taschenlampe mit dem Rücken abzuschirmen, folg te er dem Deckelrand von einem Ende zum ande ren. Nur wenige Meter vom Rand des Hecküber hangs entfernt, wo das Kielwasser schäumend stieg und fiel, entdeckte er ein in die Bronze gestanztes Emblem. Es war ein winziges Hakenkreuz. Darunter befand sich ein Knopf. Er drückte auf den Knopf. Erst hörte er ein Klicken, dann ein zischendes Geräusch. Der Deckel begann sich zu öffnen. Einen Augenblick lang war er wie gelähmt. Der Deckel bewegte sich quälend langsam nach oben, nicht schneller als zwei Zentimeter pro Sekunde. Als er etwa bis zur Hälfte offen war, stand Webber auf. Er schaltete die Kamera ein, hielt sie vors Au ge, stellte die Schärfe ein und wartete. Ein Piepton würde signalisieren, daß das Blitzlicht geladen war. Es war düster. Der Deckel warf einen Schatten auf das Innere des Behälters. Durch das Objektiv sah man nur einen amorphen Schimmer. Der Behälter war mit Flüssigkeit gefüllt. War das ein Gesicht?… dachte er. Nein, kein… aber es war etwas, und ge sichtsähnlich. Plötzlich schlug etwas in der Flüssigkeit wild um sich. Etwas blitzte auf. Es sah wie Stahl aus. Für den Bruchteil einer Sekunde empfand Webber Schmerz, dann einen Wärmeschub, dann das Ge
fühl, unter Wasser gezogen zu werden. Und dann, während er starb, hatte er die absonderliche Wahr nehmung, gefressen zu werden.
8 Es mußte fressen. Und es fraß, bis es nicht mehr fressen konnte. Es schlürfte gierig und verschwen derisch und trank, bis seine Eingeweide sich wei gerten, noch mehr von der warmen, salzigen Flüs sigkeit aufzunehmen. Nun war es zwar gesättigt, aber immer noch desorientiert und verwirrt. Es spür te Bewegung und Schwankungen. Als es aus sei nem Behälter aufstieg, fühlte es einen alarmieren den Mangel. Seine Kiemen bebten. Sie schnappten nach Wasser. Das fanden sie jedoch erst, als es wieder untertauchte. Nervenimpulse schossen aufs Geratewohl durch sein Gehirn. Sie irrten an toten Synapsen vorbei, die keine Reaktionen hervorzurufen vermochten. Es war mit Antworten programmiert. Doch es steigerte sich in eine solche Raserei hinein, daß es sie nicht finden konnte. Es spürte, daß Nachschub in der Nähe war. In seiner Verzweiflung tauchte es wieder aus der Sicherheit seines Behälters auf und tastete die Umgebung ab. Da, genau da. Die dunkle und wohltuende Welt, in die es zurückkehren mußte. Es besaß kein Wissen, aber einen ausgeprägten Instinkt. Es erkannte nur wenige Befehle. Aber die ihm bekannten mußte es befolgen. Um zu überleben, benötigte es Treibstoff und Schutz. Es besaß kein Denkvermögen, aber eine ungeheure Stärke. Und diese Stärke setzte es nun ein. Eine schleimige Spur zurücklassend, bewegte es sich zum anderen Ende des Behälters und begann
zu stoßen. Obwohl es zunehmend unter Sauer stoffmangel litt, gelang es seinem Gehirn, elektri sche Impulse zu erzeugen, die seine Muskelfasern aufluden. Der Schiffsbug sank tief in ein Wellental, dann stieg das Heck. Der Behälter schlitterte nach vorn und riß das Geschöpf mit sich. Doch dann hob sich der Bug wieder und stieg gen Himmel, und als das Heck rapide abfiel, war der Behälter einen Augenblick lang schwerelos. Den Behälter zog es nach achtern. Er rutschte an den Rand des Hecküberhangs und stürzte ins Meer. Sobald es die kalte, beruhigende Geborgenheit des Salzwassers spürte, reagierte sein System mit so fortiger Regeneration. Es schnellte durch die nächt liche See in die Tiefe hinab. Es war von der primiti ven Vorstellung beherrscht, wieder dort zu sein, wo es sein sollte. Das Schiff stampfte und schlingerte vor sich hin, bis es die Leeseite einer Insel erreichte. Auf dem Ach terdeck rutschte eine blutbespritzte Nikon-Kamera hin und her.
DRITTER TEIL Waterboro 9 Simon Chase stand in der Schiffskajüte vor dem Monitor und beschattete ihn mit einer Hand. Die Sommersonne stand noch immer niedrig am Him mel. Ihre Strahlen fluteten durch die Fenster und ließen die Auflösung des Bildschirms unscharf er scheinen. Der sich langsam bewegende weiße Punkt war kaum erkennbar. Mit dem Finger folgte Chase einer Linie auf dem Bildschirm, verglich sie mit seinem Kompaß und sagte: »Hier kommt sie. Dreh auf eins-acht-null.« »Was macht sie gerade?« fragte der Maat, Tall Man Palmer. Er drehte das Steuerrad nach rechts und hielt Kurs auf Süd. »War wohl draußen in Block zum Frühstück und kommt jetzt zu Mittag nach Waterbo ro zurück.« »Ich glaube kaum, daß sie hungrig ist«, sagte Cha se. »Sie ist wahrscheinlich noch so voll mit Wal fleisch, daß sie eine Woche lang nichts fressen wird.« »Oder länger«, sagte Chases Sohn Max. Er saß vor dem Monitor und übertrug die Daten mit akribischer Genauigkeit auf Millimeterpapier. »Manche Blau haie können über einen Monat ohne Nahrungsauf nahme auskommen.« Er ließ die Bemerkung ge wollt beiläufig fallen, als ob solch meeresbiologi
sches Spezialwissen für einen Zwölfjährigen selbst verständlich wäre. »O verzeihen Sie, Jacques Cousteau«, kicherte Tall Man. »Kümmer dich nicht um Tall Man, er ist nur nei disch«, sagte Chase und klopfte Max auf die Schul ter. »Du hast recht.« Er war stolz und gerührt, denn er wußte, daß Max sein Bestes dazu beitrug, um eine Brücke zu bauen, die unter anderen Umstän den schon vor Jahren gebaut worden wäre. Tall Man wies mit einem Kopfnicken zur Küste und sagte: »Wir sollten den Leuten am Strand sagen, daß die Dame keinen Hunger hat. Sie werden sich freuen, das zu hören.« Chase sah durch das Fenster hinüber zum felsigen Strand von Watch Hill, Rhode Island. Obwohl es noch nicht einmal neun Uhr morgens war, hatten sich schon einige Familien mit ihren Picknickkörben, Frisbeescheiben und Luftmatratzen am Strand ein gefunden. Ein paar Surfer in nassen Anzügen tän zelten auf den winzigen Wellen und warteten auf einen Trip, zu dem es vielleicht nie kommen würde. Zumindest nicht heute. Denn es war windstill, und auch in der Wettervorhersage war von Wind nicht die Rede. Er lächelte bei dem Gedanken an das Durcheinan der und die Panik, die ausbrechen würden, wenn die Leute eine Ahnung davon hätten, warum dieses unschuldig aussehende weiße Boot hier draußen kreuzte, keine fünfhundert Meter vom Strand ent fernt. Die Leute lasen schrecklich gern über Haie, gingen ins Kino, um Filme über Haie zu sehen, und glaubten am liebsten, daß man Haie verstehen und
schützen müsse. Doch sobald man ihnen sagte, daß sich in einem Umkreis von zehn Meilen irgend wo im Wasser ein Hai befand, verwandelte sich ihre Liebe augenblicklich in Angst und Abscheu. Vor allem, wenn es sich um einen großen weißen Hai handelte. Wenn sie wüßten, daß er, Max und Tall Man einem fünf Meter langen weißen Hai auf der Spur waren, der gut und gerne eine Tonne oder mehr wog, wür de sich ihre Liebe in einen Blutrausch verwandeln. Brüllend würden sie verlangen, ihn zu töten. Doch dann, sobald ihn jemand getötet hätte, würden sie wieder groß tönen, wie sehr sie Haie liebten und wie sehr doch jedes von Gottes Geschöpfen be schützt werden müßte. »Der Hai kommt nach oben«, sagte Max, der die Digitalanzeige auf dem Bildschirm ablas. Chase beugte sich wieder zum Monitor, um ihn et was abzudecken. »Ja, bei sechzig Meter hat sie sich etwas beruhigt, aber jetzt ist sie schon auf we niger als dreißig.« »Wo sollte sie zwischen hier und Block Island sech zig Meter finden?« fragte Tall Man. »Muß dort draußen wohl einen Graben geben. Ich sage dir, Tall, sie kennt ihr Gebiet. Jedenfalls kommt sie jetzt den Abhang rauf.« Von einem Ha ken am Schott nahm Chase eine Standbildkamera mit einem 85 bis 200-Millimeter-Zoomobjektiv und hängte sie sich um den Hals. »Mal sehen, ob sie für uns posiert«, sagte er zu Max, und zu Tall Man sag te er: »Wirf ab und zu einen Blick auf den Monitor, um sicherzugehen, daß sie uns nicht abhaut.« Er ging zur Tür und blickte noch einmal zur Küste.
»Hoffentlich kommt sie nicht zwischen uns und den Strand. Massenhysterie können wir nicht gebrau chen.« »Du meinst, wie in Matawan Creek«, sagte Max, »1916.« »Ja, aber damals hatten sie Grund, hysterisch zu sein. Der Hai hat drei Menschen getötet.« »Vier«, sagte Max. »Vier. Verzeihung.« Chase lächelte und sah auf Max hinab. Noch konnte er hinabsehen, allerdings nicht mehr lange. Der Junge maß bereits einen Me ter fünfundsiebzig. Er war Chases schlaksiges E benbild, nur feiner gebaut und attraktiver, denn er hatte die scharf geschnittene Nase und den schma len Mund seiner Mutter. Chase nahm ein Fernglas aus einem Regal und gab es Max: »Hier, sieh mal, ob du sie findest.« Tall Man rief Chase zu: »Streite dich nie mit einem Kind über Haie. Kinder kennen Haie. Haie und Di nosaurier.« Es stimmte, dachte Chase. Kinder waren Dinosau rier- und Haifreaks. Aber er war noch nie einem Kind begegnet, das auch nur halb soviel über Haie wußte wie Max. Das freute ihn und betrübte und schmerzte ihn zugleich. Denn Haie waren stets das stärkste, wenn nicht sogar das einzige Bindeglied zwischen Vater und Sohn gewesen. Die vergange nen acht Jahre hatten sie nicht zusammengelebt. Sie hatten sich nur gelegentlich gesehen. Ihre wö chentlichen Telefongespräche boten keine Möglich keit, sich wirklich nah zu sein. Auch wenn die Tele fongesellschaften in ihren Fernseh-Werbespots et was anderes behaupteten.
Chase und Max’ Mutter hatten zu jung und zu schnell geheiratet. Sie war die Erbin eines gewinn trächtigen Holzunternehmens und er ein mittelloser Greenpeace-Aktivist. Sie hatten naiverweise ge glaubt, daß ihr Geld und sein Idealismus dem Pla neten gemeinsam nutzen und sie im Paradies leben würden. Doch schon bald stellten sie fest, daß sie lediglich dieselben Ideale besaßen. Aber die Mittel, mit denen sie diese verwirklichen wollten, waren alles andere als miteinander zu vereinen. Corinne stellte sich den Kampf an vorderster Front der Umweltschutzbewegung so vor, daß sie Tennis , Schwimm-und Cocktailpartys sowie festliche A bendgesellschaften gab, um die Bewegung zu un terstützen. Simon hingegen diente ihr dadurch, daß er wochenlang von zu Hause fort war, auf den übel riechenden Vorderdecks rattenverseuchter Schiffe lebte und auf hoher See skrupellosen ausländi schen Schiffen die Stirn bot. Sie versuchten, einen Kompromiß zu finden. Simon lernte, Tennis zu spielen und Reden zu halten. Corinne lernte Sporttauchen und zwischen Zahn- und Bartenwalen zu unterscheiden. Doch nach vier Jah ren hatten sie sich gründlich auseinandergelebt und einigten sich darauf, uneinig zu sein… auf Dauer. Die einzige Synergie, die aus der Beziehung kam, war Max. Und er war hübscher als die beiden, ge witzter, sensibler. Corinne erhielt das Sorgerecht für Max. Sie hatte Geld, eine große und fürsorgliche Familie und ein eigenes Haus oder genauer gesagt, mehrere. Als die Scheidung rechtskräftig wurde, hatte sie eine feste Beziehung mit einem Neurochirurgen, der in
Nordkalifornien im Tennis-Einzel die Nummer Eins gewesen war. Simon war der einzige Sohn seiner verstorbenen Eltern. Er hatte kein regelmäßiges Einkommen, keinen festen Wohnsitz und unterhielt flüchtige Beziehungen zu wechselnden Frauen. De ren hervorstechendste Merkmale waren ihr gutes Aussehen und ihre Leidenschaft. Corinnes Anwalt hatte Chase eine großzügige fi nanzielle Regelung angeboten. Seine Ex-Frau war weder grausam noch rachsüchtig. Sie wollte, daß Max’ Vater ihrem Sohn ein anständiges Zuhause bieten konnte, wenn er zu Besuch kam. Doch in einem Anfall selbstgerechten Edelmuts hatte Chase abgelehnt. Er hatte diesen Schritt schon mehrfach bereut. Er sah ihn inzwischen als völlig unangebrachten sexis tischen Irrsinn an, denn er hätte das Geld gut gebrauchen können. Gerade jetzt, wo das Institut, sein Institut, sich am Rande des Konkurses beweg te. Er war versucht gewesen, nochmals darüber nachzudenken, Corinne anzurufen und diesen letz ten Akt der Wohltätigkeit anzunehmen. Doch er konnte sich nicht dazu durchringen. Was ihn irritierte und was ihm unergründlich war, war etwas ganz anderes. Sein Sohn war über die Jahre und die Tausende von Meilen hinweg irgend wie in der Lage, durch den behütenden Schleier der Privatschulen, Country-Clubs und Mündelgelder hindurchzublicken. Er hatte sich ein Bild von seinem Vater als Abenteurer bewahrt… als jemandem, nach dem man sich nicht nur sehnte, sondern dem man nacheiferte. Als Chase Max ins Freie, auf das offene Heck des
Sechzehn-Meter-Boots folgte, schob er die Son nenbrille von der Stirn nach unten. Es war ein glüh endheißer Tag, fünfunddreißig Grad selbst hier draußen auf dem Ozean. Einer jener Tage, wie sie früher selten waren, die sich aber in den letzten paar Jahren häuften. Vor zehn Jahren war in Wa terboro die Temperatur im Sommer an acht Tagen auf über dreißig Grad gestiegen, vor drei Jahren bereits an neununddreißig Tagen. Und für dieses Jahr kündigten die Meteorologen fünfzig Tage an, an denen es über dreißig Grad warm werden sollte, und zehn Tage mit über achtunddreißig Grad. Er benutzte das Zoomobjektiv als Teleskop und suchte das spiegelglatte Meer ab. »Irgendwas zu sehen?« fragte er Max. »Noch nicht.« Max stützte sich mit den Ellbogen auf das Schanzkleid, um das Fernglas stabil zu halten. »Wie soll sie denn aussehen?« »Wenn sie an einem Tag wie heute nach oben kommen sollte, um sich in der Sonne zu aalen, würde ihre Rückenflosse wie ein Segel herausra gen.« Chase sah einen Autoreifen, ein PlastikMilchkännchen und eine jener todbringenden Plas tikhalterungen für Sixpacks, die Seeschildkröten und Vögel strangulierten. Er sah Öltröpfchen, die als Teer verflucht werden würden, wenn sie den Strand erreichten und an den Fußsohlen der Kinder klebten. Wenigstens entdeckte er heute keine Körperteile oder Injektionsspritzen. Im letzten Sommer hatte man einer Frau am Stadtrand Beruhigungsmittel verabreichen müssen. Ihr vierjähriger Sohn hatte ihr
einen Schatz überreicht, den er in der Brandung gefunden hatte: einen menschlichen Finger. Und ein Mann hatte seinem Hund etwas abgenom men, was zunächst wie ein Gummiball aussah, sich jedoch bald als ein kreisrunder Klumpen Klär schlamm entpuppte. Er blickte über das Heck zu dem mit Gummi um mantelten Draht, an dem der Sensor hing, und ü berprüfte den Knoten an der Schnur, die den Sen sor in der vorgesehenen Tiefe hielt. Die Kabelrolle hinter ihm an Deck war hundert Meter lang. Aber da der Grund seicht und uneben war, hatten sie den Sensor nur fünfzehn Meter tief hinabgelassen. Die Schnur scheuerte sich allmählich durch. Heute a bend würde er sie ersetzen müssen. »Kannst du den Hai noch sehen?« rief er Tall Man zu. Es entstand eine kurze Pause. Tall Man sah auf den Monitor. »Er ist jetzt ungefähr bei fünfzehn«, sagte er. »Treibt sich nur ein bißchen herum, scheint mir. Das Signal kommt aber gut und deutlich an.« Chase sprach im Geist mit dem Hai, bat ihn, nach oben zu kommen und sich zu zeigen. Nicht nur ihm, sondern Max zuliebe. Vor allem Max zuliebe. Sie waren ihm seit zwei Tagen auf der Spur und zeichneten Meßwerte über seine Geschwindigkeit, Richtung, Tiefe und Körpertemperatur auf. Sie wa ren erpicht auf jede Information, die sie über dieses seltenste der großen Meeresraubtiere bekommen konnten. Gesehen hatten sie von ihm lediglich ei nen weißen Punkt auf dem grünen Bildschirm. Cha se wollte, daß sie den Hai noch mal zu Gesicht be
kamen, damit Max sich an seiner Vollkommenheit, an seiner Schönheit freuen konnte. Aber auch, um sich zu vergewissern, daß dem Hai nichts fehlte. Möglicherweise hatte er sich durch den Pfeil, den sie auf ihn abgeschossen hatten und der die elekt ronische Signalvorrichtung enthielt, eine Infektion oder ein Geschwür zugezogen. In dem robusten Stück Haut hinter der Rückenflosse saß er zwar perfekt. Aber diese Tiere waren so selten gewor den, daß selbst die entfernteste Möglichkeit, ihm Schaden zuzufügen, Chase beunruhigte. Sie waren beinahe zufällig auf ihn gestoßen, und gerade noch rechtzeitig, um ihn davor zu bewahren, zur Trophäe an der Wand eines Bierausschanks zu werden. Chase unterhielt gute Beziehungen zu den Berufsfi schern aus der näheren Umgebung. Er achtete sorgfältig darauf, daß er sich nicht in den Streit um die Begrenzung der Fangquoten einmischte. Der Anlaß waren die dezimierten Bestände, und die Auseinandersetzung wurde immer erbitterter ge führt. Da er nicht überall gleichzeitig sein konnte, brauchte er die Hilfe der Fischer. Diese hielten Au gen und Ohren offen und informierten ihn über na türliche und künstliche Anomalien. Das konnten ein Massensterben unter den Fischen oder eine plötzli che Algenpest oder Ölunfälle sein. Seine beharrliche Neutralität hatte sich am Don nerstag abend bezahlt gemacht, als ein Blaufischjä ger das Institut angerufen hatte. Dieser war klug genug gewesen, nicht den Funk zu benutzen, der in drei US-Bundesstaaten von jedem Boot aus abge hört werden konnte. Auf dem Weg nach Hause, so berichtete er Chase, habe er zwischen Block Island
und Watch Hill einen toten Wal treiben sehen. Haie fraßen bereits an dem Kadaver, aber meist nur Blauhaie, die in Schulen kamen. Die seltenen und einzeln auftretenden Weißen hatten die Spur noch nicht aufgenommen. Aber sie würden es tun, die wenigen, die in der Bucht zwischen Montauk und Point Judith noch ihre Runden drehten. Und zwar bald. Es würde sich bis zu den Charter-Fischerbooten herumsprechen. Die Kapitäne würden ihre Lieb lingskunden anrufen und ihnen für fünfzehnhundert oder zweitausend Dollar pro Tag eine der begehr testen Meerestrophäen versprechen. Nämlich das riesige Raubtier, den größten fleisch fressenden Fisch der Welt, den Menschenfresser: den großen weißen Hai. Den Wal würden sie rasch finden. Sein Kadaver würde auf dem Radar zu erkennen sein. Sie würden ihn umkreisen, während ihre Kunden mit der Video kamera das ehrfurchterregende Schauspiel filmten, das die rollenden Augäpfel boten und die Kieferbe wegungen, mit denen der Hai fünfzig Pfund schwe re Brocken aus dem Wal herausriß. Dann würden sie berauscht sein von der Vorstellung, den Kiefer für fünf- oder zehntausend Dollar zu verkaufen. Sie wären blind gegenüber der Tatsache, daß sie mehr Geld scheffeln konnten, wenn sie den Hai in Ruhe ließen und den Kunden Geld für das Privileg abnahmen, ihn filmen zu dürfen. Also würden sie das Tier zu Tode harpunieren… denn, so würden sie sich sagen, wenn wir es nicht tun, dann tut es jemand anders. Sie würden es Sport nennen. In Chases Augen war es ungefähr so sportlich, wie
wenn man einen Hund beim Fressen erschoß. Er und Wissenschaftler von Massachusetts über Florida bis Kalifornien hatten jahrelang darauf ge drängt, die großen weißen Haie offiziell für gefähr det zu erklären. In Teilen Australiens und Südafri kas war dies heute schon der Fall. Aber weiße Haie waren keine Säugetiere, sie waren nicht niedlich und sahen nicht so aus, als ob sie Kindern zulächel ten. Weder »sangen« sie noch begrüßten sie sich mit rührenden Geräuschen. Sie sprangen auch nicht vor Publikum durch Reifen. Sie waren allesfressen de Fische. Und ab und zu – selten allerdings, weit aus seltener als Bienen, Schlangen, Tiger oder Blit ze – töteten sie Menschen. Alle waren sich einig: Weiße Haie waren Wunder der Evolution, die nahezu unverändert Zigmillionen von Jahren überlebt hatten. Aus biologischer Sicht waren sie wundervoll und aus medizinischer faszi nierend. Sie erfüllten eine wesentliche Funktion. Sie halfen, das Gleichgewicht in der Nahrungskette des Meeres aufrechtzuerhalten. In einer Zeit der knap pen Budgets und widerstreitenden Interessen küm merte sich die Öffentlichkeit nur mäßig um den Schutz dieses Tiers. Es wurde für nichts anderes gehalten als für einen Fisch, der Menschen fraß. Früher oder später, davon war Chase überzeugt, vielleicht noch vor der Jahrtausendwende, würden sie alle verschwunden sein. Weiße Haie würden für Kinder nur noch als Ausstellungsstücke im Museum oder als Filmaufnahmen im Discovery Channel exis tieren. Binnen einer Generation würde man sich nicht einmal mehr an sie erinnern. Sie würden e
benso ausgestorben sein wie die Dinosaurier. Sein erster Gedanke nach dem Gespräch mit dem Blaufischjäger war es gewesen, Sprengstoff zu be sorgen und den Wal in die Luft zu jagen. Das war die beste Lösung, die schnellste und die wirkungs vollste. Der Wal würde vom Radar der Charterfi scher verschwinden, und die Haie würden sich zer streuen. Doch es war auch die gefährlichste Lö sung, denn offiziell galt das als Verbrechen. Das Gesetz, mit dem die Meeressäugetiere ge schützt werden sollten, war meisterhaft, was die Widersprüche anging. Niemand – weder Wissen schaftler noch Laie, weder Filmemacher noch Fi scher – durfte sich einem toten oder lebenden Wal nähern. Dabei waren doch die gesamte Bewegung zur Rettung der Wale sowie das Gesetz selbst erst wegen der hervorragenden Filme engagierter Profis ins Leben gerufen worden. Ein Walkadaver konnte sich zwar zu einer Umweltkatastrophe entwickeln. Aber wer sich an einem Wal zu schaffen machte, war kriminell. Chases Zeit als umweltschützender Rabauke ge hörte der Vergangenheit an. Vor fünf Jahren hatte er beschlossen, lieber mit dem System als dagegen zu arbeiten. Er hatte seine Wut geschluckt, war ver schiedenen Leuten in den Arsch gekrochen und hatte sich Stipendien für ein Aufbaustudium erschli chen. Und er war nach Waterboro zurückgekehrt, ohne genau zu wissen, was er eigentlich wollte. Er könnte unterrichten oder weiterstudieren, doch er konnte es nicht mehr erwarten, den Hörsälen und Labors zu entkommen. Er sehnte sich nach Berufs praxis. Er könnte sich um eine Stellung in Woods
Hole oder Scripps oder irgendeinem anderen der Meeresforschungsinstitute des Landes bewerben. Aber zu seinem Doktorhut fehlte ihm immer noch eine wissenschaftliche Arbeit, und er machte sich keine Illusionen. Ohne Titel konnte er allenfalls auf einen Job als Hilfswissenschaftler hoffen. Chase hatte nur einen Anhaltspunkt in seinem Le ben: Er wollte seine Zeit in, auf, am und unter dem Meer verbringen. Er liebte das Meer seit seiner frü hesten Kindheit. Sein Vater hatte ihn an milden Ta gen mit an Bord der Miss Edna genommen und ihn das Meer schmecken, hören und riechen lassen. Er hatte Liebe und Respekt gelernt. Gegenüber dem Meer selbst, den Lebewesen, die es darin gab, und den Männern, die von ihnen lebten. Haie hatten ihn ganz besonders fasziniert, was sein Vater ziemlich übertrieben fand. Haie schien es damals überall zu geben. Sie aalten sich in der Sonne, attackierten die Netze, die randvoll mit zap pelnden Fischen waren, und folgten dem blutigen Kielwasser des Bootes, wenn die Fische geputzt und ihre Eingeweide über Bord geworfen wurden. Anfangs hatten sie Simon vor allem mit ihrem er barmungslos bedrohlichen Aussehen beeindruckt. Dann las er immer mehr über Haie. Ihm wurde klar, daß sie wunderbar die gleichförmige Entwicklung der Natur verkörperten: seit Jahrmillionen unverän dert, leistungsfähig, gegen nahezu alle Krankheiten immun, an denen andere Tiere litten. Es war, als ob die Natur sie geschaffen und sich dabei gedacht hatte: gut gemacht. Noch immer liebte er Haie. Nun hatte er keine Angst mehr vor ihnen, sondern er hatte Angst um sie.
Weltweit wurden sie ignorant, rücksichtslos und verschwenderisch abgeschlachtet. Ihre Flossen und ihr Fleisch wanderten in den Suppentopf. Manchmal störten sie auch einfach nur. Zufällig kehrte Chase ausgerechnet da nach Water boro zurück, als eine kleine Insel zwischen Block Island und Fishers Island zum Verkauf stand. Sie war dem Bundesstaat Connecticut zugefallen, weil die Vorbesitzerin, eine Bank, in finanzielle Schwie rigkeiten geraten war. Nun versteigerte der Staat die Insel, um die Steuerschulden einzutreiben. Das fünfunddreißig Morgen große Stück Land bestand aus Gestrüpp und Felsenriffen. Es war zu abgele gen und deshalb zu unattraktiv, um kommerziell erschlossen zu werden. Es hatte keinen Anschluß an kommunale Einrichtungen, und man konnte es schlecht in private Grundstücke aufteilen. Chase jedoch sah in dem winzigen Osprey Island ein ideales Fleckchen für ozeanographische For schungen. Er verkaufte das Haus und das Fischer boot seiner Eltern und leistete eine Anzahlung auf die Insel. Für den Rest nahm er einen Kredit auf und gründete das Meeresforschungsinstitut »Osprey Island«. Mühelos fand er wissenschaftlich lohnende Projek te: schwindende Fischbestände, vom Aussterben bedrohte Meeresarten, die Umweltverschmutzung. Alles verlangte Beachtung. Natürlich arbeiteten an dere Gruppen und Institute an ähnlichen Themen. Chase versuchte, ihre Arbeit mit seiner zu ergän zen. Aber stets hielt er soviel Zeit und Geld wie möglich für sein eigenes Spezialgebiet zurück: die Haie.
Er war vierunddreißig Jahre alt, Leiter eines Insti tuts, Besitzer diverser Kreditkarten und Mitglied des Establishments. So sehr er es auch haßte, das zu zugeben. Unter Wissenschaftlern erwarb er sich mit seiner Forschung über Haie einen beachtlichen Ruf. Seine Aufsätze über ihr Immunsystem wurden von wichtigen Zeitschriften veröffentlicht. Man nahm sie interessiert auf, wenn man sie auch für ein wenig exzentrisch hielt. Er selbst galt als Wissenschaftler, der Beachtung verdiente. Einer, der noch öfter von sich reden ma chen würde. Wenn man ihn nun dabei erwischte, wie er einen Wal in die Luft jagte, würde er seinen guten Ruf verlieren und zu einer Geld- oder sogar Haftstrafe verurteilt werden. Deshalb wählte er einen Kompromiß. Er hatte die Umweltschutzbehörde in Washington und das Um weltministerium von Connecticut in Hartford ange faxt und eine Sondergenehmigung beantragt. Er wolle den Wal wegbringen, bevor er an einen öffent lichen Strand geschwemmt werden konnte. Chase hatte keine Ahnung, in welcher Richtung der Kada ver trieb. Aber eines war klar: Die Drohung saß. Keine Regierung – weder auf nationaler noch auf bundesstaatlicher oder kommunaler Ebene – wollte die Kosten tragen. Es konnte bis zu hunderttausend Dollar kosten, einen fünfzig Tonnen schweren, ver wesenden Wal vom Strand zu entfernen. Er machte den Behörden nur ungenaue Angaben, wo der Wal gegenwärtig trieb. Er nannte in etwa die Stelle, zu der er den Wal schleppen wollte. Falls er die Ge nehmigung nicht bekam, konnte er behaupten, er habe den Wal nicht von der Stelle bewegt. Falls er
grünes Licht bekam, konnte er ihn noch weiter weg schleppen, aufs hohe Meer hinaus. Dort würden vermutlich keine Sportfischer auf ihn stoßen. Er hatte keine offizielle Antwort abgewartet. Er und Tall Man hatten Enterhaken und eine Taurolle in das Boot des Instituts geladen und sich auf die Su che nach dem Wal gemacht. Sie hatten ihn sofort gefunden. Gegen Mitternacht, im Dämmerschein des Mondes, hatten sie die Haken in das verwe sende Fleisch geschlagen und begonnen, den Ka daver über Block Island hinaus auf den Atlantik zu schleppen. Ein ekelerregender Gestank war ihnen gefolgt. Die Haie sprangen mit gräßlich grunzenden Lauten aus dem Wasser hoch, um Stücke aus dem fetthaltigen Fleisch herauszureißen. Es war ein junger Buckelwal, und beim ersten Ta geslicht sahen sie, warum er verendet war. Er war in riesige Fangnetze geraten, die sich wie ein Lei chentuch um Maul und Kopf gelegt hatten. Um sich zu befreien, hatte er wie wild um sich geschlagen. Dabei hatte er sich noch tiefer verheddert und sich zu Tode stranguliert. Der weiße Hai war kurz nach Sonnenuntergang ge kommen. Es war ein großes, ausgewachsenes Weibchen, vermutlich fünfzehn oder zwanzig Jahre alt, im besten Fortpflanzungsalter. Und sie war trächtig. Chase hatte es entdeckt, als der Hai sich auf den Rücken legte und seinen wuchtigen Kopf in das rosarote Fleisch an den Flanken des Wals bohrte. Dabei ließ er seinen prallen Bauch und den Genitalschlitz sehen. Niemand wußte genau, wie alt Große Weiße wur den oder wann sie zum ersten Mal Junge hatten.
Aber die herrschende Lehrmeinung war, daß sie bis zu achtzig oder hundert Jahre alt werden konnten. Den Beginn des Fortpflanzungszyklus vermutete man bei etwa zehn Jahren: Jedes zweite Jahr konn ten dann ein oder zwei Junge geboren werden. Den Hai zu töten, seinen Kopf an die Wand zu hängen und seine Zähne an Schmuckdesigner zu verkau fen, hieße viel mehr, als einen einzelnen großen weißen Hai zu erledigen. Es hieße vielleicht, bis zu zwanzig Generationen von Haien auszulöschen. Den Pfeil mit dem Sender hatten sie rasch und leicht einsetzen können. Der Hai hatte nicht ge spürt, daß ein Widerhaken in sein Fleisch drang. Er hatte sein Fressen nicht unterbrochen. Sie hatten ihn ein paar Minuten beobachtet, und Chase hatte Fotos von ihm geschossen. Dann, als sie aufbre chen wollten, hatte Tall Man den Funk eingeschaltet und gehört, wie sich die Charterfischer über den Wal unterhielten. Es war eindeutig: Der Blaufischjäger war in eine Bar gegangen und hatte der Versuchung nicht wider stehen können, bei seinen Kumpels Punkte zu ma chen, indem er ihnen von dem Wal erzählte. Er hat te ja seine Pflicht erfüllt und als erstes das Institut informiert. Wohin war der Wal verschwunden, hatten sich die Fischer gefragt. Wer hat ihn weggebracht? Die ver dammte Regierung? Diese sentimentalen Schwät zer vom Institut? Osten. Sie mußten ihn in den Os ten von Block gebracht haben. Die Fischer kamen. Sie kamen, um den trächtigen Hai abzuschlachten. Chase und Tall Man hatten nicht lange gefackelt. Sie hatten sich von unten etwas Sprengstoff geholt
– ein Plastikpäckchen, das noch vom Bau der Docks ihres Instituts übrig war – und hatten vorsich tig Ladungen an verschiedenen Stellen des Wals plaziert. Möglichst weit weg von der Stelle, an der der Hai fraß. Eine Ladung nach der anderen war detoniert. So hatten sie den Walkadaver in Stücke gesprengt, die sich sofort zu zerstreuen und zu sinken begannen. Das Radarziel der Fischer existierte nicht mehr. Jetzt konnten sie die Überreste des Wals und damit den Hai niemals finden. Der Hai tauchte unter und folgte den Brocken von Walfischspeck in die sichere Tiefe. Die Umweltschutzbehörde oder das Umweltministe rium könnten versuchen, sie anzuklagen, dachte Chase. Sollten sie doch. Es gab keine Zeugen und allenfalls dürftiges Beweismaterial. Wenn irgend welche Charterfischer schlau genug waren, ihm auf die Spur zu kommen, wären sie schön dumm, Klage einzureichen. Dann würden sie sich selbst ans Messer liefern. Denn dann müßten sie zugeben, daß sie eigentlich näher an den Wal heranfahren wollten, als es das Gesetz erlaubte. Das Wichtigste war, daß der Hai überlebte. Sie hat ten den Sensor hinabgelassen und waren dem Weißen noch ein paar Stunden gefolgt. Er entfernte sich nach Osten ins tiefere Wasser und dann nach Norden. Normalerweise wäre Chase dem Hai unun terbrochen auf der Spur geblieben. Jede Unterbre chung bedeutete das Risiko, ihn zu verlieren. Er könnte außer Reichweite geraten, und sie würden ihn vielleicht nicht wiederfinden. Und die Batterien des Senders würden in zwei, allenfalls drei Tagen
zu Ende gehen. Doch Max war für jenen Abend am Flughafen von Groton in New London angekündigt. Er kam aus Sun Valley über Salt Lake und Boston. Zum ersten Mal überhaupt sollte Max einen vollen Monat mit seinem Dad verbringen. Chase würde den Teufel tun, seinen Sohn von einem Taxifahrer aus dem nahegelegenen Stonington abholen zu lassen. An schließend hätte er allein und in der Dämmerung mit der Fähre zu einem Felsen fahren müssen, der ihm etwa so einladend erschienen wäre wie Alcat raz. Also hatten er und Tall Man den Hai allein gelassen und gebetet, daß er nicht bis nach New Hampshire oder Maine oder nach Nantucket hinaufzog. Mit et was Glück konnten sie dem Tier in sechs Stunden wieder auf der Spur sein. Chase hatte keine Ah nung, wie nahe die Geburt bevorstand. Im Falle ei nes Falles würde der elektronische Sensor das Er eignis registrieren. Er würde die chemischen Ver änderungen und die abweichende Körpertempera tur übermitteln. Vielleicht könnten sie die Geburt sogar mitansehen, wenn sie nahe der Oberfläche stattfinden würde. Niemand, weder Wissenschaftler noch Sportler, hatte je die Geburt eines großen weißen Hais miterlebt. Max hatte gesagt, er müßte nichts auspacken. Sie waren aus dem Flughafengebäude gehastet, in den Lastwagen, auf die Fähre, hinaus zur Insel und aufs Boot. Auch der Junge, erschöpft und mit geröteten Augen, war bei dem Gedanken, einen lebenden weißen Hai zu sehen, wie elektrisiert gewesen. Als er vom Bordtelefon aus seine Mutter anrief, war das
einzige Adjektiv, das er hervorbrachte: »Umwer fend«. Corinne war alles andere als begeistert gewesen. Sie hatte Simon sprechen wollen und ihm eine Pre digt zum Thema Vorsicht gehalten. Max hatte die Angelegenheit geregelt. Er hatte Chase den Hörer aus der Hand genommen und gesagt: »Beruhig dich, Mum, es ist schon okay. Die Großen Weißen wollen keine Menschen verletzen.« »Was soll das heißen?« Max hatte gelacht und gesagt: »Sie wollen sie nur fressen.« Doch als er hörte, wie seine Mutter nach Luft schnappte, hatte er hinzugefügt: »War nicht ernst gemeint, Mum… nur ein kleiner Haischerz.« »Hast du deine Windjacke?« hatte Corinne gefragt. »Es geht uns gut, Mum, wirklich… ich hab’ dich lieb.« Dann hatte Max aufgelegt. Es dauerte keine Stunde, da hatten sie den Hai wieder ausfindig gemacht. Chase wertete dies als zufällige Bestätigung einer seiner Tiertheorien. Sein Lieblingsthema war das Revierverhalten der großen weißen Haie. Vielleicht würde er darüber seine Dis sertation schreiben. In Australien unterlag die Wassertemperatur an Or ten wie Dangerous Reef und Coffin Bay nur sehr geringen jahreszeitlich bedingten Schwankungen. Dort beschränkten sich die Weißen eindeutig auf ein bestimmtes Gebiet, schlußfolgerten Wissen schaftler. Die Nahrungsquelle der Haie, Kolonien von Seehunden, blieb dieselbe. Im Verlauf von etwa einer Woche drehte jeder Weiße eine Runde durch sein Revier und kehrte dann zum Ausgangspunkt
zurück, um von neuem zu beginnen. Hier, an der Ostküste der USA, wo die Wassertem peratur zwischen Winter und Sommer um etwa fünfzehn Grad schwankte und wo Nahrungsreser ven überraschend auftauchten und wieder ver schwanden, wäre ein abgegrenztes Revier unprak tisch. Obwohl niemand Genaues wußte, hatte Cha se Beweismaterial für seine These gesammelt, daß diese Weißen Wanderhaie sein könnten. Es sah so aus, als ob sie im Winter in den Süden zogen und im Frühling oder Frühsommer wieder auftauchten. Einige von ihnen stießen im Norden und Osten bis zu den kanadischen Küstenregionen vor. Wahrscheinlich blieben die Haie bis Ende Sep tember oder Anfang Oktober und zogen dann wie der Richtung Süden. Mit Hilfe von Sensoren hatte Chase jahrelang Auf zeichnungen gemacht. Er war fasziniert. Allmählich zeigte sich, daß manche Weiße jedes Jahr in das selbe Gebiet zurückkehrten und dort während ihres Aufenthalts im wesentlichen wieder das gleiche Ter ritorium aufbauten. Es mußte doch möglich sein, sich wiederholende Muster zu beweisen. Das wäre der Beginn einer neuen Forschungsrichtung: Man könnte die navigatorischen Fähigkeiten und den Einprägemechanismus bei großen weißen Haien erschließen. Das heißt, solange es noch große wei ße Haie gab, die man beobachten konnte. »Sie geht wieder runter«, rief Tall Man aus der Ka jüte. »Ich habe den Eindruck, die Dame ist recht lau nisch«, sagte Chase enttäuscht. Er blickte zur Küs te. Napatree Point lag querab, Waterboro genau
dahinter. »Wohin jetzt?« »Nach Montauk, wie es aussieht. Aber ohne große Absichten. Sie treibt sich nur herum.« Chase ging in die Kajüte, hängte die Kamera ir gendwohin und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Willst ‘n Sandwich?« rief er Max zu. »Aber keins von diesen dicken Sardinen-ZwiebelDingern.« »Nein, ich hab’ dir eins mit Erdnußbutter und Mar melade aufgehoben.« »Mach mir ‘n Bier auf«, sagte Tall Man und warf einen Blick auf die Uhr. »Die Uhr hier sagt vielleicht, daß es Viertel nach neun ist. Aber die hat keine Ah nung, wie spät es wirklich ist.« Die letzten vierzig Stunden hatten sie abwechselnd in unregelmäßigen Vier-Stunden-Schichten geschlafen. »Mein Bauch sagt mir, es ist genau Bierzeit.« Chase ging einen Schritt auf die Leiter zu, die zur Kombüse hinabführte, als das Boot plötzlich einen Ruck machte, dann noch einen und sich nicht mehr weiterbewegte. Der Bug schien sich zu heben und das Heck abzufallen. »Was zum Teufel ist das?« fragte Chase. »Bist du auf etwas aufgelaufen?« »Bei dreißig Metern?« Stirnrunzelnd schaute Tall Man auf den Fadenmeter. »Wohl kaum.« Der Motor hörte sich gequält an. Sie hörten ein Geräusch, als ob Gummi gedehnt wurde. Es quietschte erbärmlich. Dann begannen der Monitor und der Signalempfänger auf ihren So ckeln zentimeterweise nach hinten zu rutschen. Das Verbindungskabel spannte sich straff durch die Tür. »Rückwärts!« schrie Chase und rannte zur Tür.
Tall Man legte den Rückwärtsgang ein. Das Verbin dungskabel ließ nach und senkte sich auf das Deck. Im Cockpit sah Chase, daß das gesamte Kabel von der Rolle verschwunden war. Hundert Meter hatten sich abgespult. »Die Schnur muß gerissen sein«, sagte er. »Der Sensor ist irgendwo am Grund hän gengeblieben.« Chase nahm das Kabel und begann zu ziehen, und Max spulte es hinter ihm auf. Als das Kabel sich wieder straffte, rüttelte Chase daran, zog von links und rechts, ließ es locker und spannte es wieder an, aber es gab nicht nach. Der Sensor hing fest. »Ich kann mir nicht vorstellen, wo er sich verhakt haben könnte«, sagte er. »Da unten ist doch nichts als Sand.« »Vielleicht«, sagte Tall Man. Er legte den Leerlauf ein, ließ das Boot treiben und ging zu Chase und Max zum Heck. Er nahm Chase das Kabel ab und hielt es mit spitzen Fingern. Es wirkte, als wolle er aus seinen Schwingungen eine Nachricht entziffern. »Dieser Nordostwind letzte Woche… eine Vierzig Knoten-Brise, und das eineinhalb Tage lang, das wirbelt verdammt viel vom Boden auf. Sand verla gert sich. Es könnte alles sein: ein Felsen oder ein Auto, das jemand hier versenkt hat.« »Vielleicht ein Schiffswrack?« fragte Max. Chase schüttelte den Kopf. »Nicht in dieser Ge gend. Wir haben hier jedes Wrack erfaßt.« Zu Tall Man gewandt, sagte er: »Haben wir irgendwelche Sauerstoffflaschen an Bord?« »Nein. Ich hatte nicht vor zu tauchen.« Chase ging in die Kajüte und stellte auf dem Fa denmeter die Skala mit der größten Meßgenauigkeit
ein. Als er wiederkam, hielt er eine Tauchermaske und einen Schnorchel in der Hand. »Dreißig Meter«, sagte er. »Willst du nach diesem Sensor tauchen?« fragte Tall Man mit erhobener Stimme. »Frei tauchen? Bist du wahnsinnig?« »Es ist einen Versuch wert. Ich bin schon mal fast dreißig Meter tief getaucht.« »Aber bestimmt nicht ohne Sauerstoffflasche. Nicht mehr, seit du achtzehn warst. Zum Teufel, Simon, du wirst bewußtlos, wenn du zwölf Meter ver suchst.« »Willst du es versuchen?« »Nichts da. In diesem Land gibt es schon genug tote Rothäute.« »Dann haben wir ein Problem. Ich will verdammt sein, wenn ich das Geld in den Sand setze. Drei tausend Dollar für das Kabel und noch mal dreitau send für den Sender.« »Markier die Stelle mit einer Boje«, sagte Tall Man. »Wir holen ein paar Sauerstoffflaschen und kom men später zurück.« »Bis dahin ist uns der Hai endgültig entwischt.« »Vielleicht… aber du bleibst uns wenigstens erhal ten.« Chase zögerte. Noch juckte es ihn in den Fingern, frei nach dem Sensor zu tauchen. Wenigstens so tief, daß er sehen konnte, wo dieser festhakte. Er hätte gerne gewußt, ob er noch immer so tief tau chen konnte. Als Teenager waren er und Tall frei getaucht. Wo man den Grund von der Oberfläche aus nicht erkennen konnte, waren sie um die Wracks alter Fischerboote geschwommen und hat
ten Hummer aus Körben in tiefen Riffspalten ge stohlen. Doch Tall hatte recht. Er war kein Teenager mehr, kein Athlet, der die Nächte auf Parties und die Tage mit Schwimmen verbringen konnte. Er könnte es hinunter auf den Grund schaffen, aber niemals bis ins Boot zurück. Sein Gehirn würde aus akutem Sauerstoffmangel abschalten, und er würde das Bewußtsein verlieren. Mit ein bißchen Glück nicht weit von der Oberfläche entfernt, ansonsten weit unten. »Red mit dem Mann, Junge«, sagte Tall Man zu Max. »Sag ihm, daß du nicht den weiten Weg auf dich genommen hast, um deinen Daddy in einer Kiste nach Hause zu bringen.« Max erschrak über Tall Mans unverblümte Rede weise. Er legte seinem Vater eine Hand auf den Arm: »Komm schon, Dad…« Chase lächelte. »Okay, wir markieren die Stelle mit einer Boje«, sagte er. »Können wir uns ein paar Sauerstoffflaschen be sorgen und dann zurückkommen und tauchen?« fragte Max. »Das wäre klasse.« »Kannst du denn tauchen?« Chase verspürte einen Stich, beinahe einen Schmerz. Wenn Max an einem anderen Ort von jemand anders tauchen gelernt hatte, war das wie ein Vorwurf an ihn als den leibli chen Vater. »Wo hast du es gelernt?« »Zu Hause, im Swimmingpool. Opa hat mir ein paar Stunden gegeben.« »Ah«, sagte Chase. Er fühlte sich sofort besser. Zumindest hatte der Junge noch nicht richtig ge taucht. Er hatte sich nur auf seinen Besuch vorbe
reitet. »Wir lassen dich zwar ins Wasser, aber ich glaube, wir fangen lieber an einer seichteren Stelle an.« Tall Man ging zur Kajüte. Er wollte das Kabel he rausziehen und den Stecker mit Schmierfett und Klebeband wasserdicht machen. Chase öffnete eine Luke am Heck und holte eine gelbe Gummiboje mit einem halben Meter Durchmesser hervor. Mit leuchtendrotem Klebeband prangten die Initialen »O. I.« darauf. Tall Man, auf dem Weg nach achtern, hängte sich das Kabel um Schulter und Ellbogen. Er hatte sein durchgeschwitztes Hemd ausgezogen. Die Muskeln auf seinem kräftigen Oberkörper, die sich unter der zinnoberroten Haut bewegten, glänzten, als hätte er sich eingeölt. Er maß nahezu zwei Meter, wog etwa zweihundertzwanzig Pfund, und wenn irgendwo an ihm Fett war, dann mußte es hinter seinen Ohren sein. Das sagte jedenfalls seine Mutter, die ihm ständig mehr Essen aufdrängte. »Mann!« sagte Max, als er Tall Man sah. »Rambo begegnet dem Terminator! Trainierst du jeden Tag?« »Trainieren?« lachte Chase. »Sein einziges Trai ning heißt Essen und Trinken. Seine Ernährung be steht zu hundert Prozent aus Salz und Fett. Er ist eine Ungerechtigkeit des Universums.« »Ich bin die Rache des Großen Geistes«, sagte Tall Man zu Max. »Er mußte endlich mal die fünfhundert Jahre Unterdrückung durch den weißen Mann aus gleichen.« »Wenn du das glaubst«, sagte Chase zu Max, »kannst du gleich an Märchen glauben. Sein Gro
ßer Geist heißt Ronald McDonald.« »Na und?« Tall Man lachte schallend. »Irgend je manden muß man schließlich anbeten.« Max strahlte überglücklich. Das waren Männerge spräche, und er gehörte dazu. Sie bezogen ihn mit ein, rechneten ihn zu den Erwachsenen. Seit er denken konnte, kannte er vom Hörensagen Tall Man, Dads besten Freund seit seiner Kindheit. Der hünenhafte Pequot-Indianer war für den Jungen zu einer mythischen Gestalt geworden. Er hatte sich fast davor gefürchtet, ihn kennenzulernen. Vielleicht würde die Wirklichkeit sein Bild zerstören. Doch dieser Mensch war dem Mythos ebenbürtig. Chase und Tall Man waren mehrmals getrennte Wege gegangen. Während Chase im College lern te, diente Tall Man bei den Marines. Als Chase sein Aufbaustudium absolvierte, versuchte sich Tall Man als Stahlarbeiter in Albany. Doch ihre Lebenswege hatten sich wieder gekreuzt, als Chase das Institut eröffnete. Er brauchte einen Assistenten, der die technischen Fähigkeiten besaß, die ihm selbst ab gingen. Als er sich an Tall Man wandte, arbeitete dieser ge rade als Mechaniker bei einem Lkw-Händler. Ihm machte die Arbeit nichts aus, sagte er Chase. Und zwanzig Dollar pro Stunde wären okay. Aber er haßte es, wenn ihm jemand vorschrieb, wann er zur Arbeit zu kommen und wann er zu gehen hatte, und es gefiel ihm nicht, im Haus eingesperrt zu sein. Obwohl Chase ihm kein festes Gehalt und keine Sicherheit bieten konnte, hatte Tall Man auf der Stelle seinen Job geschmissen und sich dem Insti tut angeschlossen.
Hier war er Mädchen für alles, angefangen bei der Wartung der Boote bis hin zu den Hydrotests der Tauchausrüstungen. Tall Man arbeitete sehr gern mit Tieren. Anderen blieb es ein Rätsel, wie er mit ihnen kommunizierte. Er konnte sie beruhigen, und er gewann ihr Vertrauen. Seevögel, in deren Schnäbeln sich Angelhaken verfangen hatten, lie ßen sich geduldig von ihm behandeln. Ein Delphin, der mit seinem Schwanz in Monofilnet zen hängengeblieben war und ihn aufgeschlitzt hat te, kam an einer seichten Stelle auf Tall Man zuge schwommen. Er ließ sich ruhig die Plastikstränge entfernen und Antibiotika spritzen. Tall Man war bei diesem neuen Job sein eigener Herr, und er nutzte es nicht aus. Er kam früh, ging spät und hatte sein eigenes Arbeitstempo. Insge heim war er sehr stolz, daß er zum Schwung des Instituts maßgeblich beitrug. Sie machten die Kabelrolle sorgfältig an der Boje fest und warfen beide über Bord. Sie beobachteten sie noch einen Moment, um auf Nummer Sicher zu gehen. Das Kabel durfte sich nicht verheddern, und die Boje mußte das Gewicht aushaken. So ein Drahtseil war sehr schwer. Aber im Wasser hatte es praktisch keinen Auftrieb. Die Boje war so ausge legt, daß sie im Wasser ein Gewicht von über zwei hundert Pfund tragen konnte. »Kein Problem«, sagte Tall Man. »Wenn niemand sie klaut…« »Stimmt. Aber was will jemand mit hundert Metern Kabel anfangen?« »Das weißt du ganz genau. Die Leute stehlen die Lampen an den Häusern, um das Messing zu krie
gen. Sie lassen die Laternenpfähle mitgehen, weil sie das Aluminium reizt. Sie reißen sich die Bade zimmerarmaturen unter den Nagel, weil sie das Kupfer haben wollen. Der Haufen Leute, den deine Blutsbrüder mit ihrem Kasino oben in Ledyard ange lockt haben, hält es mit Mein und Dein auch nicht so genau. Heutzutage hält ein kluger Mann auf der Straße den Mund. Sonst läuft er Gefahr, daß je mand seine Füllungen klaut.« »Da hast du’s.« Tall Man grinste Max an: »Der Rassist schiebt alles auf die armen Indianer.« Chase lachte und startete das Boot.
10 »Vögel«, rief Tall Man von der Brücke herab und deutete nach Süden. Chase und Max standen auf dem Vordeck. Am En de der zwei Meter langen Holzkanzel, die über den Bug hinausragte, spähte Max ins Wasser. Er hoffte, einen Delphin zu sehen. Chase hatte ihm erzählt, daß manchmal Delphine in der Bugwelle des Boo tes umhertollten. Chase schützte mit einer Hand seine Augen und blickte nach Süden. Ein Schwärm Möwen und See schwalben kreiste über einem halben Morgen Was ser, der von Lebewesen zu wimmeln schien. Die Vögel tauchten und planschten, stiegen wieder auf und nickten mit den Köpfen. Sie verschlangen has tig ihre Beute, um nach der nächsten tauchen zu können. Die südwestliche Brise wehte schrille, krei schende Laute herüber. »Was machen sie?« fragte Max. »Sie fressen«, sagte Chase. »Kleine Fische. Irgend etwas attackiert die Fische von unten und treibt sie an die Oberfläche.« Er sah zu Tall Man hinauf. »Sehen wir mal nach.« Tall Man steuerte das Boot nach Süden. Sie ließen den weit entfernten grauen Buckel von Block Island im Norden liegen und die nähere, aber kleinere und flachere Silhouette von Osprey Island im Osten. Als das Boot sich dem Getümmel im Wasser näher te, sagte Tall Man: »Blaufische.« »Bist du sicher?« fragte Chase. Er hoffte, daß Tall Man recht hatte: Ein großer Schwarm Blaufische
wäre ein gutes Zeichen dafür, daß die Blauen sich wieder vermehrten. In letzter Zeit waren ihre Be stände stark zurückgegangen. Sie fielen der Überfi schung zum Opfer. Auch das von PCB, Pestiziden und Phosphaten aus landwirtschaftlichen Abwäs sern verschmutzte Wasser machte ihnen zu schaf fen. Die Fische, die überlebten, litten häufig unter Tumoren, Geschwüren oder bizarren genetischen Mutationen. Manche kamen mit einem Magen zur Welt, der nach etwa einem Jahr einfach aufhörte zu arbeiten. Folglich mußten die Fische verhungern. Das Institut und verschiedene Umweltschutzgruppen hatten geholfen, die Flüsse zu säubern, von denen die mit dem Ozean verbundenen Buchten gespeist wurden. Es war gelungen, die Schadstoffmenge beträchtlich zu verringern, aber man hatte sie keineswegs voll ständig beseitigt. Wenn die Blaufische sich wieder erfolgreich vermehrten… nun, dann war das ein kleiner Schritt. Aber es war ein Schritt vorwärts und nicht zurück. »Es müssen Blaue sein«, sagte Tall Man. »Was richtet denn sonst ein solches Blutbad an?« Ein Vogel verließ den Schwarm und schwang sich über dem Boot in die Lüfte. Chase sah die verräteri schen Anzeichen eines Blaufischgemetzels: Die weißen Bauchfedern des Vogels waren mit Fisch blut getränkt. Die Blauen massakrierten einen riesi gen Schwärm in Panik geratener Beutefische, hack ten auf sie ein und rissen sie in Stücke. Das Blut aus den Wunden färbte das Wasser rot. Tall Man nahm das Gas weg und ließ das Boot trei ben, um den Schwarm nicht zu verjagen. »Müssen
große Jungs sein«, sagte er. »Fünf- oder Sechs pfünder.« Die Blaufische wälzten sich im Wasser, schnellten hoch und machten wilde Sprünge. Das metallische Blaugrau ihrer Körper blitzte in der Sonne. Leichtfer tig schnappten sich die Vögel zwischen ihnen Beu tefische aus dem blutigen Wasser. »Wahnsinn.« Max war wie gebannt. »Können wir es uns ansehen?« »Das tun wir doch gerade.« »Nein, ich meine, können wir die Masken aufsetzen und runtergehen?« »Bist du wahnsinnig?« sagte Chase. »Völlig ausge schlossen. Diese Fische würden dich in Stücke rei ßen. Du wolltest mich nicht in einer Kiste nach Hau se bringen… Aber ich soll dich deiner Mutter als Hundefutter zurückschicken?« »Blaufische greifen Menschen an?« »So rasend, wie sie jetzt sind, greifen sie alles an. Vor ein paar Jahren kam in Florida ein fressender Schwarm an einem Rettungsschwimmer vorbei, der auf einem Surfbrett saß. Er verlor vier Zehen. Sie haben kleine, dreieckige Zähne, so scharf wie Ra siermesser, und wenn sie fressen – « »Es sind einfach hundsgemeine Mistkerle«, unter brach Tall Man. »Phantastisch«, sagte Max. Wie aufs Stichwort stieß eine große Möwe herab und schnappte nach einem Fisch. Aber sie verfehlte ihn, bremste mit den Flügeln ab und landete auf dem Wasser. Sie packte den Fisch und wollte wie der abheben, als plötzlich ein bläulicher Körper seit lich an sie heranrollte. Die Möwe zögerte, machte
einen Satz zurück und stieß einen Schrei aus – ein Blaufisch hielt sie an den Beinen fest. Der Vogel schlug hilflos mit den Flügeln. Er krümmte seinen Hals nach vorne, um nach seinem Peiniger zu pi cken. Dann mußte ein anderer Blaufisch die Möwe ge schnappt haben, denn sie taumelte zur Seite, tauch te unter und wieder auf. Wieder stieß sie einen Schrei aus und schlug mit den Flügeln. Aber nun witterten die anderen Fische den Leckerbissen. Sie sprangen aus dem Wasser hoch und stürzten sich auf die blutgetränkten Federn. Mit dem Schwanz zuerst wurde der Vogel unter die Wasseroberfläche gezerrt. Schließlich riß es seinen Kopf nach hinten. Das letzte, was sie von ihm sa hen, war sein gelber Schnabel, der gen Himmel zeigte. Chase sah Max an. Der starrte noch immer auf die Stelle, wo der Vogel im Wasser verschwun den war. Sein Gesicht hatte sich grünlichgrau ver färbt. Sie fuhren weiter auf die Insel zu, Max und Chase auf dem Vordeck, Tall Man als Steuermann auf der Brücke. Ab und zu winkte Chase Tall Man, damit er das Tempo drosselte. Dann tauchte Chase ein Netz ins Wasser. Seine Ausbeute zeigte er Max. Einmal fischte er einen Klumpen Seetang heraus. In sei nem Innern versteckten sich kleine Schalentiere, Krabben und Garnelen. Sie suchten Unterschlupf, bis sie groß genug waren, um auf dem Grund selbst für sich zu sorgen. Ein anderes Mal ging ihnen eine faustgroße Qualle ins Netz. Sie war mit einer licht durchlässigen violetten Membran bedeckt, die wie ein Segel aussah. Mit ihren lang baumelnden Ten
takeln konnte sie, wie Chase erklärte, ihre Beute tödlich verbrennen. Es war eine Portugiesische Ga leere. Fasziniert berührte Max einen der Fangarme und schnellte mit einem Aufschrei zurück. Seine Fingerspitze war verbrannt. »Sie sind früh dran«, bemerkte Tall Man. »Das Wasser erwärmt sich anscheinend ziemlich schnell.« Etwa eine halbe Meile vor der Insel wies Chase auf eine kleine Boje, die vor dem Steuerbordbug auf dem Wasser schaukelte. Sie gehörte dem Institut. Tall Man legte den Leerlauf ein und steuerte das Boot langsam auf die Boje zu. Chase nahm den Bootshaken, hakte die Boje ein und zog sie an Bord. Sie war an einem Stück Tau befestigt. »Zieh«, sagte er zu Max. Max nahm das Tau und begann, es an Bord zu zer ren. »Was ist das?« fragte er. »Ein Experiment«, antwortete Chase. Er warf den Bootshaken beiseite und half Max, an dem Tau zu ziehen. »Ein großes Problem in dieser Gegend sind verlorengegangene Hummerkörbe. Schiffsschrau ben schneiden die Bojen ab, oder der Sturm trägt sie fort, oder die Taue verrotten einfach und fallen auseinander. Jedenfalls liegen diese Körbe über den ganzen Grund verstreut.« »Na und?« »Sie sind tödlich für alle möglichen Tiere. Nicht nur Hummer, auch Fische, Krabben und Kraken krie chen wegen der Köder hinein und können nicht wieder heraus. Sie sterben und werden selbst zu Ködern. Und dann kommen immer mehr Tiere und sterben. Die Körbe bilden jahrelang eine Todesfal
le.« Der Korb schlug gegen den Bootsrand. Chase hiev te ihn aufs Dollbord. Es war ein rechteckiger Draht käfig, der mit Holzleisten verstärkt war. Am einen Ende befand sich als Eingang ein Drahtschacht. Am anderen Ende saß eine quadratische Tür. Sie war aus einem leichten Geflecht und mit einer Schnur befestigt. »Tall Man und ich versuchen«, erklärte Chase, »ei ne biologisch abbaubare Tür zu konstruieren. Die Körbe sollten mindestens einmal pro Woche, besser sogar zweimal, hochgezogen werden. Wir haben nach einem billigen Material für die Tür gesucht, das sich nach etwa zehn Tagen abbaut. Der Fischer kann die Tür jede Woche auswechseln. Und wenn der Korb verloren geht, kommen die Viecher frei und müssen nicht sterben.« Max spähte in den Korb hinein. »Er ist leer«, sagte er. »Wir haben keinen Köder hineingetan«, erklärte Chase. »Wir wollen die Dinger nicht fangen. Wir versuchen, sie zu retten.« Er zog leicht am Geflecht in der Tür, und einige Stränge rissen. »Das könnte der Dreh sein«, rief er zu Tall Man hinauf. »Diese Baumwollmischung zerfällt ganz gut.« Tall Man antwortete nicht. Chase blickte zur Brücke hinauf und sah, wie Tall sich zum UKW hinabbeug te, eine Hand an das Ohr gelegt, um besser verste hen zu können. Plötzlich richtete Tall Man sich auf. »Es gibt Probleme, Simon«, sagte er. »Ein paar Lümmel grölen über Kanal Sechzehn, daß sie gera de einen Hai an die Angel bekommen haben.« »Verdammt!« sagte Chase. »Kannst du sie orten?«
»Klingt nach etwa drei Meilen nordöstlich. Noch auf dieser Seite von Block.« »Los«, sagte Chase. Er schleuderte den Hummer korb über Bord. Tau und Boje flogen hinterher. Tall Man legte den Gang ein und drückte den Gas hebel vor. Das Boot machte einen Satz nach vorn, und er wendete es in einem scharfen Bogen und steuerte auf Block Island zu. Max hielt sich an der Reling fest und ging in die Knie. Der Bug des Boo tes stieß gegen die Wellen. »Meinst du, es ist unser Hai?« rief er seinem Vater zu. »Jede Wette«, sagte Chase. »Er ist der einzige, den wir gesehen haben.« Das Boot hob an und glitt schnell über die Wasser oberfläche. Der Buckel von Block Island wurde rasch größer. Sie starrten konzentriert aufs Wasser. Ein kleiner weißer Fleck nahm Gestalt an und ent puppte sich bald als Schiffsrumpf. »Was willst du tun?« fragte Max. »Was kannst du tun?« »Ich bin mir nicht sicher, Max«, sagte Chase, der grimmig nach vorn blickte. »Aber irgend etwas wer de ich tun.« »Es sind zwei Jungs«, sagte Tall Man, der durchs Fernglas sah. »Sechzehn, achtzehn vielleicht… sie fischen auf einem sechs Meter langen Außenbor der. Diese verdammten Idioten. Sie sollten besser hoffen, daß sie den Hai nicht an Bord kriegen. Er würde ihr Boot in einen Haufen Splitter verwan deln.« Tall Man drosselte den Motor, als er sich dem Au ßenborder näherte. Er legte den Leerlauf ein und ließ das Boot dreißig oder vierzig Meter von der
Backbordseite des Außenborders entfernt treiben. Ein Junge saß in einem Kampfstuhl am Heck. Das Ende seiner Angelrute steckte fest in einer Halte rung zwischen seinen Beinen. Die Rute war so stark gebogen, daß sie jeden Moment zu brechen schien, und die Leine ging schnurgerade hinter dem Boot ins Wasser. Der Hai bewegte sich in der Nähe der Oberfläche, aber er war noch mindestens fünfzig Meter entfernt. Der andere Junge stand vorn am Kontrollpult. Er drehte am Steuerrad und blieb mit dem Heck des Außenborders dem Hai genau ge genüber. »Kann er wirklich einen so großen Hai fangen?« fragte Max. »Mit einer Angelrute?« »Wenn er weiß, was er tut«, sagte Chase. »Er be nutzt eine Thunfischausrüstung. Vermutlich eine Sechzig- oder Achtzig-Pfund-Testleine mit Stahlvorfach.« »Aber du hast doch gesagt, der Hai wiegt eine Ton ne?« »Er kann ihn trotzdem erledigen. Große Weiße sind keine großen Kämpfer, keine richtigen Sportfische. Sie ziehen und ziehen einfach und geben irgend wann auf.« Sie sahen, wie der Junge an der Rute versuchte, Leine aufzuspulen. Doch das Gewicht war zu stark, und die Trommel der Rolle verschob sich unter der aufgespulten Leine. Der am Steuerstand legte den Rückwärtsgang ein und fuhr ein Stück auf den Hai zu. Damit gewann der Angler Spielraum, um Leine aufzuspulen. Wie Chase befürchtet hatte, wußten die Jungen, was sie taten. »Geh näher ran«, sagte er zu Tall Man. »Ich will mit
ihnen reden.«
Tall Man manövrierte das Boot so, daß sein Heck
keine zehn Meter mehr von der Seite des Außen borders entfernt war. Chase ging nach achtern und
stellte sich ans Heckwerk.
»Was habt ihr da?« fragte er.
»Einen Hai, Mann«, sagte der Junge am Kontroll pult. »Und zwar den verdammt größten weißen Hai,
den Sie je gesehen haben.«
»Was habt ihr mit ihm vor?«
»Ihn fangen… die Kiefer verkaufen.«
»Ihr kriegt den doch nie an Bord von so einem klei nen Boot.«
»Müssen wir nicht… wir töten ihn und schleppen ihn
dann ab.«
»Töten? Der Hai da ist groß und wütend.«
»Damit.« Der Junge langte unter den Steuerstand
und holte eine Schrotflinte hervor. »Wir müssen nur
nahe genug ran. Und dann reicht ein einziger sau berer Schuß.«
Chase schwieg einen Augenblick und überlegte.
Dann fragte er: »Wißt ihr, daß es ein Weibchen
ist?«
»Hä?«
»Das ist ein Weibchen, und es ist trächtig. Wir ha ben einen Sender an ihr befestigt und beobachten
sie. Wenn ihr sie tötet, bringt ihr sie und ihre Kinder
und Kindeskinder um.«
»Es ist ein Fisch«, sagte der Junge. »Warum sollte
ich mich einen Dreck darum kümmern?«
»Die weißen Haie sind fast ausgerottet. Ich mache
euch einen Vorschlag. Ihr laßt den Hai frei – «
»Du kannst mich mal!« schrie der Junge mit der
Rute. »Ich hab’ mich hier abgerackert – « »- und ich sorge dafür, daß ihr in der Zeitung steht. Das ist viel lukrativer, als den Hai einfach umzu bringen.« »Nichts zu machen.« Der Junge mit der Rute rief über die Schulter: »Komm’ noch weiter zurück, Jimmy. Er nimmt wieder Leine.« Sein Kumpel legte den Rückwärtsgang ein, und Chase sah, wie sich der Winkel der Leine vergrö ßerte, je weiter sich das Boot dem Hai näherte. »Dad«, sagte Max, »wir müssen etwas tun.« »O ja«, sagte Chase, der sich auf das Schanzkleid lehnte und spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. Legal waren ihm die Hände gebunden. Die Jungen brachen kein Gesetz. Aber er selbst würde sich niemals verzeihen können, wenn er jetzt nicht ein griff. Er wandte sich ab, ging nach unten und kam mit einer Tauchermaske auf dem Gesicht und Schwimmflossen in der Hand zurück. Im Gürtel sei ner Shorts steckte eine Drahtschere. »Mein Gott, Simon…« sagte Tall Man auf der Brü cke. »Wo ist er, Tall?« Tall Man machte eine Handbewegung. »Etwa zwanzig Meter in dieser Richtung. Aber du kannst nicht – « »Er ist so erschöpft und verwirrt, er wird mich nicht beachten. Der hat momentan andere Probleme, als mich aufzufressen.« »Bist du sicher?« »Klar.« Chase zog die Schwimmflossen an und lä chelte gezwungen. »Ich hoffe es zumindest.« »Dad«, sagte Max, der plötzlich realisierte, was
Chase vorhatte. »Du kannst nicht – « »Vertrau mir, Max.« Chase zog sich die Maske ü bers Gesicht und rollte sich rückwärts über das Schanzkleid ab. Der Steuermann des Außenborders sah, wie das Wasser aufspritzte, als Chase hineinsprang, und schrie: »Hey! Was zum Teufel hat er vor?« »Was ihr schon längst hättet tun sollen«, sagte Tall Man. Der Junge nahm seine Schrotflinte und spannte den Hahn. »Sag ihm, er soll sofort umkehren, sonst – « »Leg das weg, du kleines Arschloch«, sagte Tall Man mit messerscharfer Stimme, »sonst komm’ ich rüber, und du frißt sie.« Der Junge sah zu dem dunkelhäutigen Mann hin auf. Wie ein Riese ragte er auf der Brücke des weit aus größeren Bootes empor. Der Junge ließ die Schrotflinte sinken. Chase entdeckte die Leine des Außenborders. Er folgte ihr mit den Augen, bis er den Hai sah. Dreioder viermal holte er an der Oberfläche tief Luft, hielt zuletzt den Atem an und stieß sich mit den Schwimmflossen nach unten ab. Der Hai hatte den Kampf aufgegeben. In seiner an fänglichen Raserei hatte er sich erst im Stahlvorfach und dann in der Leine selbst verfangen. Nun war er von Monofilsträngen umgeben, die sich in sein Fleisch bohrten. Er ließ sich auf die Seite hängen. Vielleicht machte er nur eine Ruhepause vor dem letzten vergeblichen Fluchtversuch. Vielleicht hatte er sich auch schon dem Tod ergeben. Chase schwamm zu ihm hin, bis der Schwanz des Hais in seiner Reichweite war. Die verhedderten
Stellen der Leine hatte er vermieden. Er war noch nie im offenen Meer mit einem großen weißen Hai konfrontiert gewesen. Er hatte sie vom sicheren Käfig aus beobachtet und ihren Schwanz berührt, wenn sie auf der Jagd nach Beute an den Gitterstä ben vorbeiglitten. Er hatte ihre Kraft bewundert, doch nie war er mit diesem vollkommensten aller Raubtiere allein im Meer gewesen. Er nahm sich die Freiheit, einen Augenblick lang mit der Hand über die stahlglatte Rückenhaut zu strei chen. Er bewegte sie gegen den Strich der Haut dentikel, die sich wie Schmirgelpapier anfühlten. Er fand den Pfeil mit dem kleinen Sender, der noch immer fest in dem Stück Haut hinter der Rücken flosse saß. Dann beugte er sich über den Hai. Des sen Auge starrte ihn an, weder furchtsam noch feindselig. Es hatte den leeren Ausdruck abgrund tiefer Neutralität. Sechs Schlingen hielten das Tier gefangen – eine aus Stahl, fünf aus Monofil. Sie begannen genau vor dem Schwanz und reichten bis hinter die Brust flossen. Chase schwebte über dem Hai. Er lag bei nahe auf dessen Rücken, zog die Drahtschere aus dem Gürtel und schnitt eine Schlinge nach der an deren durch. Mit jedem Muskelabschnitt, der die Freiheit in sich ahnte, begann der torpedoähnliche Körper zu be ben und sich zu schütteln. Die letzte Schlinge fiel. An dem Draht in seinem Maul, der zu dem Haken tief in seinem Bauch führte, baumelte der Hai nach unten. Chase faßte in das Riesenmaul und zwickte die Metallschnur ab. Der Hai war frei. Er begann, rücklings zu fallen. Ei
nen Augenblick lang befürchtete Chase, er wäre verendet. Vielleicht hatte ihm die fehlende Vor wärtsbewegung Sauerstoff entzogen, und er war erstickt. Doch dann schlug der Hai einmal mit dem Schwanz hin und her und rollte sich herum. Er öffnete das Maul, und über seine Kiemen strömte Wasser. Er machte eine Drehung und bewegte sich auf Chase zu. Das Fischauge fixierte ihn. Der Hai näherte sich langsam und unaufhaltsam, ohne An zeichen von Erregung oder Furcht. Sein Maul war halb offen, er wurde von seinem Schwanz vor wärtsgeschoben. Chase drehte sich nicht um, er trat nicht rückwärts, und er floh nicht. Er sah dem Hai ins Angesicht und beobachtete seine Augen. Die einzige Warnung vor einem bevorstehenden Angriff würden seine rollen den Augäpfel sein. Das war eine instinktive Schutzmaßnahme gegen die Zähne oder Scheren seiner Opfer. Er hörte seine Schläfen hämmern und spürte, wie ihm das Adrenalin durch die Glieder schoß. Der Hai kam immer näher, direkt auf ihn zu. Einen guten Meter von Chase entfernt rollte er sich plötz lich auf die Seite. Er zeigte seinen schneeweißen, von Jungen prallen Bauch und schoß dann wie ein Jagdflieger im Kurvenflug hinab. Die blaugrünen Tiefen verschlangen ihn. Chase blickte dem Hai nach, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Dann tauchte er auf, schnappte ein paarmal nach Luft und schwamm zum Boot zu rück. Er stemmte sich aus dem Wasser. Als er auf der Tauchplattform saß und seine Schwimmflossen auszog, bemerkte er, daß der Bugspriel des Insti
tutsboots über dem Rumpf des Außenborders schwebte. Er hörte Tall Man sagen: »Wir sind uns also einig, ja? Die Geschichte geht so: Ihr habt den Hai an die Angel bekommen und gesehen, daß er einen Sen der trägt. Das habt ihr uns berichtet. Und wir wer den den Zeitungen erzählen, was für feine Kerle ihr seid.« Die beiden Jungen standen mit mürrischen Gesich tern am Heck des Außenborders. Einer von ihnen sagte: »Ja, in Ordnung…« Tall Man blickte nach unten, sah, daß Chase an Bord war und legte den Rückwärtsgang ein. »Dan ke«, rief er den Jungen zu. Chase gab Max seine Schwimmflossen und kletter te durch die Tür im Heck hinauf. Max sah wütend aus. »Das war wirklich dumm von dir, Dad«, sagte er. »Du hättest – « »Es war ein kalkuliertes Risiko, Max«, sagte Chase. »Das ist es immer bei wilden Tieren. Ich war mir ziemlich sicher, daß er mich nicht beißen würde. Für das Leben dieser Haimutter habe ich das gerne riskiert.« »Und wenn du dich geirrt hättest? Ist das Leben eines Hais genausoviel wert wie deins?« »Das ist nicht der Punkt. Ich wußte, was ich zu tun hatte. In der Bibel steht vielleicht, der Mensch solle sich die Tiere Untertan machen. Aber deswegen haben wir noch lange nicht das Recht, sie auszurot ten.« Max stand am Ende der Kanzel und Chase hinter ihm auf dem Vordeck. Zwischen den Inseln kamen sie in tieferes Wasser.
»Dad!« rief Max plötzlich und deutete ins Wasser. Aus heiterem Himmel war ein Delphin aufgetaucht. Er ritt mühelos auf der Bugwelle, die durch die Vor wärtsbewegung des Boots entstand. Sie konnten seinen glänzenden grauen Rücken erkennen, die spitze Schnauze, das runzlige Blasloch oben auf seinem Kopf. Sie konnten Laute hören. Das leise Schnalzen und Trillern entstand irgendwo im Innern des Tiers. »Er spricht!« rief Max aufgeregt. »So sprechen sie! Was er wohl sagt?« »Wahrscheinlich plappert er nur so vor sich hin… vielleicht ruft er seine Kameraden, oder er sagt ein fach nur >hui!< oder so was Ähnliches.« Einige Augenblicke lang verharrte der Delphin fast bewegungslos. Er ließ sich von der Schwungkraft des Boots tragen. Dann beschleunigte er plötzlich, stieß mit seiner waagerechten Schwanzflosse auf und ab und ließ das Boot hinter sich zurück. Er ver langsamte sein Tempo, und als das Boot ihn einhol te, nahm er seinen Ritt wieder auf. »Sieh dir mal den Schwanz an«, sagte Chase. Max beugte sich über die Kanzel. »Was ist damit?« »Die linke Schwanzfluke. Sieh dir mal die Narben an.« Als Max genauer hinsah, bemerkte er im Fleisch der Schwanzfluke fünf tiefe weiße Einschnitte, etwa drei oder vier Zentimeter auseinander. »Woher stam men die?« fragte er. »Etwas hat den Delphin angegriffen«, sagte Chase. »Wenn du mich fragst: Er hat Glück gehabt, daß er davongekommen ist.« »Ein Hai?«
»Nein. Das war kein Hai. Ein Haibiß wäre halbkreis förmig.«
»Ein Schwertwal?«
»Nein. Dann würde man Stich- oder Bißwunden wie
von kegelförmigen Zähnen sehen. Das hier sind
scharfe Einschnitte.« Chase runzelte die Stirn. »Se hen aus wie von einer Tiger- oder Bärenklaue.«
»Was lebt im Meer und hat fünf Krallen?«
»Nichts«, sagte Chase. »Nichts, wovon ich je gehört
habe.«
11 Der Kai befand sich in einer kleinen Bucht am nordwestlichen Zipfel der Insel. Als das Boot darauf zutuckerte, stieß Chase Max an und wies lächelnd in den Himmel. Ein Fischadlerpaar flog hoch über dem Wasser und suchte nach Nahrung für seine Jungen. Die befanden sich sicher auf den Niststan gen, die Chase aufgestellt hatte. »Fischadler waren schon einmal so gut wie ausge storben«, sagte er zu Max. »Aus irgendeinem Grund waren ihre Eier so zerbrechlich geworden, daß sie zersprangen, bevor die Jungen schlüpfen konnten. Ein Wissenschaftler entdeckte die Ursache dafür. Schuld daran war DDT. Das Pestizid sickerte ins Wasser und vergiftete die Nahrungskette. Die Fischadler fraßen die Fische, und so zerstörten sie ihre Eier. Diese Entdeckung war der Beginn des Umweltschutzfonds. Als das DDT schließlich verbo ten wurde, kamen die Fischadler wieder. Jetzt geht es ihnen ganz gut.« Ein Fischreiher hielt an einem Tümpel am Kai Wa che. Er hatte nur noch einen Flügel. »Hey Chief«, rief Tall Man dem Vogel zu, sah dann zu Chase hinüber und sagte: »Der Chief ist stock sauer. Sein Mittagessen kommt zu spät.« »Das ist Chief Joseph«, erklärte Chase Max. »Ein paar Kinder haben ihn drüben am Stadtstrand ge funden. Er hatte sich einen Flügel gebrochen. Der Tierarzt, zu dem sie ihn brachten, sagte, der Flügel sei zu schwer beschädigt, er würde nicht mehr hei len. Er wollte den Vogel einschläfern lassen. Aber
ich habe nein gesagt. Er hat nur den Flügel ampu tiert und mir den Vogel überlassen. Chief Joseph hat sich zu einer richtigen Primadonna entwickelt. Zweimal am Tag stolziert er im seichten Wasser auf und ab. Die restliche Zeit steht er hier und beklagt sich, daß wir ihn nicht ausreichend füttern.« »Warum heißt er Chief Joseph?« fragte Max. »Tall hat ihm den Namen gegeben, nach dem Häuptling der Nez Perce… du weißt schon, die Schlacht bei den Bear Paw Mountains. Er meinte, mit dem einen Flügel erinnerte der Reiher ihn an das, was Chief Joseph nach der Schlacht sagte: >Ich werde niemals wieder kämpfen. <« »Ist der Chief gutmütig?« »Wenn du Futter für ihn hast, ja. Wenn nicht, geht er dir tierisch auf den Wecker.« Max grinste. »Vielleicht finde ich auch ein besonde res Tier. Eines, um das ich mich kümmern und dem ich einen Namen geben kann.« »Sicher«, sagte Chase. »Vielleicht findest du ei nes.« Tall Man lenkte das Boot zwischen zwei kleineren Booten, einem Wal- und einem Makofänger, hin durch an die Anlegestelle. Chase sprang auf die Kaimauer und machte die Leinen fest. Er warf Tall Man die Heck- und Springleinen zu. Zurück an Bord, zeigte er Max, wie man die Bugleine belegte. Tall Man suchte nach Futter für den Reiher, Chase und Max stiegen den Hang hinauf. Osprey Island hatte nahezu hundert Jahre lang ei ner einzigen Familie gehört. Doch im Verlauf von vier Generationen war die Familie zu groß für die fünf Häuser geworden, und mehr Gebäude ließ das
kommunale Baurecht nicht zu. In schöner Regel mäßigkeit hatten die Familienmitglieder versucht, sich gegenseitig die Nutzungsrechte abzukaufen. Doch sie hatten sich dabei nur im Kreis gedreht. Genaugenommen war die Insel, deren fünfunddrei ßig Morgen allesamt Wasserlage hatten, ein Ver mögen wert. Der Bundesstaat und die Kommune hatten die Enklave entsprechend hoch besteuert. In den letzten zwei Jahrzehnten hatten sich die Steu ern zweimal verdoppelt. Schließlich näherten sich die laufenden Kosten hundertfünfzigtausend Dollar pro Jahr. Nach und nach hatten die Mitglieder der Sippe ent deckt, wieviel sie unterm Strich für die ihnen zuste henden zwei Wochen auf der Insel im Sommer be zahlten. Es würde sie billiger kommen, zwei Monate ein anständiges Haus auf Nantucket oder Martha’s Vineyard zu mieten. Sie hatten versucht, die Insel zu verkaufen. Da merkten sie, daß das Eiland im Grunde überhaupt nicht viel wert war. Niemand, nicht einmal die Familienmitglieder, wollte den ge schätzten Preis bezahlen. Das Familienunternehmen war im Grunde genom men eine juristische Person, die einzig und allein deshalb existierte, weil die Insel verwaltet werden mußte. Unter diesem Deckmäntelchen nahm man nun in einem bewußten Racheakt gegen die kom munalen »Steuerkraten« die größtmögliche Hypo thek auf, die bei der ortsansässigen Bank locker zumachen war. Das brachte immerhin die Hälfte des Schätzwerts. Den Erlös teilte man unter den zwölf Einzelfamilien auf… Dann hatte sich das Pseudo-Unternehmen aufgelöst und die Insel ihrem
Schicksal überlassen. Hypotheken, Steuern und laufende Kosten blieben in den Händen der Bank. Simon Chase war der Bank und der Stadt als neuer Eigentümer willkommen. Er hatte gute Kontakte zur einheimischen Bevölkerung. Sein Institut würde zwar als gemeinnützige Einrichtung nicht unbedingt kommunale Steuern zahlen, aber einige seiner Pro jekte konnten vielleicht den Städtern zu beträchtli chen Einnahmen verhelfen. Möglicherweise fand er einen Weg, die Muschelfi scherei wieder anzusiedeln. Jahrelang waren die Venus-, Jakobsund Miesmuschelbänke in der Ge gend von Waterboro so stark verschmutzt gewesen, daß niemand Weichtiere hochholen, verkaufen oder essen durfte. Vielleicht würde Chase eine Lösung finden, wie man die Muschelbänke säubern konnte. Außerdem wußten die einheimischen Händler, daß ihnen aus Chases Institut keine Konkurrenz er wuchs. Und schließlich versprachen seine hochflie genden Pläne der Gegend einen Segen der beson deren Art: Arbeitsplätze. Der gekürzte Verteidigungshaushalt hatte den größ ten Arbeitgeber im Südosten Connecticuts, Electric Boat in Groton, viele Arbeitsplätze gekostet. Die Entlassungen bei Electric Boat und anderen ge schädigten Firmen hatten den Dienstleistungssektor dezimiert. Restaurants und Lebensmittelgeschäfte, Bars und Souvenirläden hatten aufgeben müssen. Hier und da wurden sie durch Antiquitätengeschäfte und Kunstgalerien ersetzt. Waterboro wurde abge hoben und spießig. Auf dem Institut ruhte die Hoffnung, daß es die Ge meinde zu neuem Leben erwecken könnte. Man
brauchte bestimmt Hunderte von Leuten, um es aufzubauen. Elektrische Leitungen mußten verlegt und sanitäre Anlagen installiert werden. Später würden Dutzende von Menschen dort oder in einem der zahlreichen Betriebe, die dem Institut zuarbeite ten, einen Vollzeit-Job finden. Ein Jahr lang hatte es so ausgesehen, als ob der Traum Wirklichkeit werden könnte. Chase hatte in einem Seminar gelernt, wie man Fördermittel bean tragte. Er hatte einen Zuschuß in Höhe von hundert tausend Dollar erhalten, um Boote und eine wissen schaftliche Grundausstattung zu kaufen. Die USRegierung, der Bundesstaat Connecticut und priva te Stiftungen hatten ihm Fördermittel versprochen. Davon sollten Projekte unterstützt werden, die sich mit bedrohten Arten, kommerziellem Fischfang und medizinischer Forschung beschäftigten. Er würde endlich ein seltsames Phänomen untersuchen kön nen. Es gab Haie ohne Knochen, die gegen Krebs und Arthritis immun waren. Ihr Kiefer bestand aus schließlich aus Knorpel, und sie konnten mit un glaublichem Druck zubeißen, mit bis zu zwanzig Tonnen pro Quadratzentimeter. Er hätte sich an einer anderen Studie beteiligen können, in der die vage Möglichkeit untersucht wur de, daß zermahlener Haiknorpel krebshemmend wirkte. Ärzte in Kuba hatten eigenen Angaben zu folge einen Rückgang der Tumore um vierzig Pro zent bei Patienten beobachtet, denen hohe Dosen von diesem Knorpel verabreicht worden waren. Und dann war es zu einer schweren Wirtschaftskri se gekommen. Die Staatsverschuldung war auf sechs Billionen Dollar explodiert. Präsident und
Kongreß wollten nur das Eine: wiedergewählt wer den. Sie hatten sich geweigert, die unliebsamen aber notwendigen Entscheidungen zu treffen, um das Haushaltsdefizit in Griff zu bekommen. Deutsche, Japaner und Araber hatten die vielge priesene amerikanische Lebensart über ein Dut zend Jahre hinweg unterstützt. Jetzt blickten sie angewidert über die Meere, erklärten die Vereinig ten Staaten als Weltmacht für endgültig erledigt und zogen ihr Geld ab. Die Inflation begann zu galoppieren, die Zinsen er reichten zweistellige Zahlen, die Börse war um über tausend Punkte gefallen. Und bislang gab es keine Anzeichen dafür, daß die Talsohle durchschritten war. Landesweit lag die Arbeitslosenquote bei elf Prozent, und jede vierte Familie lebte inzwischen unterhalb der Armutsgrenze. Innerhalb von einer einzigen Woche waren Chases sämtliche Anträge auf Fördermittel abgelehnt wor den. Das Thema Neubauten war gestorben. Er konnte kaum seine drei Mitarbeiter bezahlen, ge schweige denn sich selbst ernähren. Wenigstens hatte er erreicht, daß das Institut von der Steuer pflicht befreit wurde. Sonst hätte er bereits wie sei ne Vorgänger die Insel wieder aufgeben müssen. Vielleicht mußte er bald seine Sachen packen und gehen. Aber es gab eine letzte Chance. Vor Monaten hatte ihn eine Dr. Amanda Macy aus Kalifornien angerufen. Er hatte schon viel von ihr gehört, hatte einen Artikel über sie und ihre bahn brechende Forschungsarbeit in irgendeiner Zeit schrift gelesen. Mit Hilfe von abgerichteten Seelö wen zeichnete sie Grauwale in freier Wildbahn auf
Video auf. Taucher hatten Schwierigkeiten, die scheuen Grauwale zu fotografieren. Es kam zwar vor, daß es einem gelang, ein paar Bilder zu erhä schen, aber die Frage blieb, ob er das natürliche Verhalten der Wale oder ein durch seine Gegenwart verzerrtes Bild festhielt. Amanda Macy vermutete, daß die Wale Seelöwen dulden würden, ohne ihr Verhalten zu ändern. Denn sie waren in freier Wildbahn oft gemeinsam unter wegs. Also hatte sie Seelöwen dazu abgerichtet, Videokameras auf dem Rücken zu tragen, wenn sie mit den Walen schwammen. Laut Bericht schrieb sie momentan die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse über Grauwale zum großen Teil um. Ihr jüngstes Interesse galt dem Atlantischen Bu ckelwal. Sie hatte von dem neugegründeten Institut gehört und einige von Chases Aufsätzen über Haie gelesen. Sie wußte, daß er Boote, Mut und Erfah rung mit großen Meerestieren besaß. Und die Bu ckelwale kamen auf ihrem Weg nach Norden jeden Sommer genau östlich der Insel vorbei. Würde er sie und ihr Seelöwenteam für drei Monate auf der Insel beherbergen? Könnte er sich vorstellen, sie mit aufs Meer hinauszunehmen? Würde er sie bei ihrer Forschungsarbeit unterstützen?… gegen eine Vergütung von, sagen wir mal, zehntausend Dollar pro Monat? Chase sagte sofort ja. Mühsam unterdrückte er die Aufregung in seiner Stimme. Das könnte für seine Finanzen und sein Image die Rettung sein! Er wür de finanziell abgesichert in einem großartigen Pro jekt mit einer wissenschaftlich anerkannten Kollegin zusammenarbeiten.
Aber ein Problem gab es: Dr. Macy sollte bereits in wenigen Tagen ankommen. Chase hatte viel Geld ausgegeben, Geld, das er gar nicht besaß, und ent sprechende Anlagen für sie und ihre Seelöwen er richtet. Dr. Macys erster Scheck ließ immer noch auf sich warten. Wenn sie ihre Pläne geändert hat te, wenn sie beschlossen hatte, doch nicht zu kom men, wenn sie so unhöflich wäre, ihn nicht anzuru fen, wenn… nein, er verdrängte es lieber. Die Fäden des Instituts liefen in einem Landhaus mit zweiundzwanzig Zimmern zusammen, das im viktorianischen Stil erbaut und mit Schindeln ge deckt war. Als noch der Familienclan die Insel be wohnte, war es das Hauptgebäude gewesen. Seine Architektur war nahezu unverändert geblieben, sei ne Funktionen hingegen nicht. Hier wohnten und aßen Chase und sein Team. Hier wurde der Papier kram erledigt und mit dem Festland kommuniziert. Das Haus war baufällig und unwirtschaftlich. Chase hatte ursprünglich den hochfliegenden Plan verfolgt, es völlig abzureißen und für über eine Million Dollar einen Neubau hochzuziehen. Doch er war mittler weile sehr froh, daß das Haus erhalten geblieben war, denn er hatte seine Liebe zu ihm entdeckt. Chase residierte in einem großen, luftigen Büro mit hoher Decke und einem Kamin, den man benutzen konnte. Die Verandatüren boten einen Blick auf Fi shers Island und an klaren Tagen auf Long Island. Als Chase und Max ins Büro kamen, polierte Mrs. Bixler gerade das Zinngeschirr, und der Wetterkanal lief. »Morgen, Mrs. B.«, sagte Chase. »Der Morgen ist längst vorbei«, erwiderte Mrs. Bix
ler, »und Sie sehen aus, als ob Sie drei Tage durchgemacht hätten.« Sie blickte Max an. »Haben Sie den Jungen wirklich mit zu den Haien genom men?« »Habe ich, und er hat es gut überstanden… dank der Sandwiches, die Sie uns mitgegeben haben.« »Sie haben Glück gehabt«, sagte Mrs. Bixler mit einem Stirnrunzeln und fing wieder an zu wienern. »Sie haben ganz einfach Glück gehabt. Ich sage Ihnen, beschreien Sie es nicht zu sehr.« Offiziell war Mrs. Bixler Chases Sekretärin. Doch im Grunde genommen war sie die königliche Hausver walterin des Instituts und seine selbsternannte Hausmeisterin. Sie war sechzig Jahre alt und ver witwet, ihre Kinder lebten längst irgendwo im Wes ten der USA. Sie gehörte zu der Familie, von der die Insel besiedelt worden war. Seit dem Koreakrieg hatte sie das ganze Jahr über hier gelebt. Zwischen der Insel und dem Festland bewegte sie sich mit ihrem eigenen Boot hin und her. Es war ein hölzer nes Schnellboot aus dem Jahr 1951, das in ihrer eigenen kleinen Bucht lag. Nachdem die Familie die Insel verlassen hatte, war sie in der Nähe von Mystic in ein kleines Haus am Wasser gezogen. Aber kaum hatte Chase die Insel übernommen, ertappte er sich dabei, daß er sie tag täglich anrief. Er bat um ihren Rat wegen der Ge bäude, Kläranlagen, Generatoren und Brunnen. Schließlich fragte er sie, ob sie nicht auf die Insel zurückkehren und für das Institut arbeiten wolle. Sie hatte zu ihren Bedingungen angenommen; unter anderem war ihre Vierzimmerwohnung hinter der Küche des Hauptgebäudes renoviert worden.
Die Zinnsammlung war eine museumsreife Kollekti on aus Bechern, Krügen, Tellern, Kerzenständern und Bestecken vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Sie gehörte Mrs. Bixler und war vermutlich mehrere hunderttausend Dollar wert. Sie hätte sie verkaufen, im Tresor verschwinden lassen oder in ihren eige nen vier Wänden aufbewahren können. Doch dieser Schatz hatte sich, seit sie denken konnte, immer in Chases jetzigem Büro befunden. Und dort, so sagte sie zu Chase, sollte er auch weiterhin bleiben. »Warum sehen Sie sich das an, Madam?« Max deutete fragend auf den Fernseher im Bücher schrank. »Man kann gar nicht vorsichtig genug sein«, sagte Mrs. Bixler. »Das kann man nie sein.« Mrs. Bixler war auf Katastrophen geeicht. Sie war drei Jahre alt gewesen, als 1938 ein unbeschreibli cher Orkan New England verwüstete. Angeblich konnte sie sich erinnern, wie Häuser von Napatree Point aus durch die Luft flogen und aufs Meer hi naustrieben. Auf der Insel hatte sie noch ein halbes Dutzend weiterer Orkane miterlebt. Nachdem Hurrikan Bob 1991 ein paar Bäume um gerissen, ein paar Fensterscheiben zerschmettert und ein Hummerboot auf ihrem Rasen aufs Trocke ne gesetzt hatte, hatte sie einen Kredit aufgenom men und eine Satellitenschüssel gekauft. Jetzt konnte sie den Wetterkanal vierundzwanzig Stun den am Tag verfolgen. Sie war auf den nächsten großen Schlag vorbereitet. »Gibt’s was Neues?« fragte Chase. »Nicht viel, bei dem Wetter würde sich kein Frosch
nasse Socken holen. Aber da unten, östlich von Puerto Rico, zieht sich ein Tiefdruckgebiet zusam men, das ziemlich böse aussieht.« »Ich meine geschäftlich. Gibt’s was Neues von der Umweltschutzbehörde oder dem Umweltministeri um? Haben sie uns grünes Licht gegeben, den Wal abzuschleppen?« »Keinen Pieps. Ich hab’ bei beiden angerufen, und eine Computerstimme hat mir einen schönen Tag gewünscht.« Chase durchstöberte einen Stapel Briefe auf sei nem Schreibtisch. »Ist der Scheck von Dr. Macy gekommen?« »Noch nicht. An Ihrer Stelle würde ich der Frau sa gen, daß Sie zwei Parkas und ein Paar Handschu he aus ihren Seehunden machen, wenn sie nicht bald zahlt.« Mrs. Bixler stutzte. »Da war noch et was. Ich war drüben in der Stadt, um die Post ab zuholen. Andy Santos hat mir erzählt, daß Finnegan Ihrem Steuerstatus auf den Leib rücken will.« »Verdammt!« sagte Chase. »Der läßt nicht locker.« »Nicht, bis Sie den Schwanz einkneifen und er Sie verjagt hat… oder bis Sie umkippen und an ihn ver kaufen.« »Eher jage ich die gesamte Insel in die Luft.« Mrs. Bixler lächelte. »Das habe ich Andy auch gesagt.« Brendan Finnegan war ein Bodenspekulant mit ei nem scharfen Geschäftssinn – mit dem er im allge meinen etwa ein Jahr zu spät kam. In den siebziger Jahren scheffelte er ein Vermögen, das er Anfang der achtziger Jahre verlor und Ende der achtziger wiedergewann. Jetzt hatte man ihn für zahlungsun fähig erklärt, und sein Imperium bewegte sich am
Rande des Konkurses. Er benötigte dringend einen großen Wurf. Einen Monat, nachdem Chase das Geschäft mit der Insel abgeschlossen hatte, nahm ein drittklassiger saudiarabischer Prinz Tuchfühlung mit Finnegan auf. Es wurde ihm ungemütlich zumute, weil der islamische Fundamentalismus jäh wieder aufgelebt war. Er wollte seine Pfund Sterling und D-Mark im Wert von mehreren Millionen Dollar in Sicherheit wissen. Da er Märkten und Banken mißtraute, woll te er sein Vermögen handfest anlegen. Ein Grund stück mit Wasserlage an der amerikanischen Ost küste betrachtete er trotz der derzeit schwierigen Lage der USA als todsichere Bank. Sein Wert könn te stagnieren oder leicht zurückgehen, aber er wür de niemals völlig verfallen… Nicht, wenn bereits siebzig Prozent der Bevölkerung an der Küste oder maximal fünfzig Meilen weit ins Land hinein lebten und täglich mehr aus dem Landesinneren abwan derten. Zwischen North Carolina und New Hampshi re standen massenweise Häuser zum Verkauf. In seln waren hingegen Mangelware, und der Prinz war ein hoffnungsloser Paranoiker, der die Sicher heit eines abgeschlossenen Refugiums benötigte. Finnegan betrachtete den Prinzen als seine große Chance. Er mußte nur eine Insel finden, um sie ihm zu verkaufen. Neben der Maklergebühr wollte er auch den Verkaufsgewinn einstreichen. Daher müß te die Insel ihm gehören. Chases finanzielle Prob leme waren ein offenes Geheimnis. Der Preis, den er für die Insel bezahlt hatte, fand sich in öffentli chen Registern. Seine Schwierigkeiten, die laufen den Kosten zu decken, waren allgemein bekannt.
Finnegan hatte Chase zunächst denselben Betrag geboten, den Chase für die Insel bezahlt hatte. Chase blieb beharrlich dabei, daß er die Insel nicht verkaufen wollte, Finnegan erhöhte den Einsatz laufend um zehn Prozent. Zuletzt bot er hundert achtzig Prozent des Kaufpreises, den Chase be zahlt hatte, oder anders gesagt bot er zwei Drittel des Schätzwerts. Chase wußte, welches Spiel Finnegan spielte, und er versuchte nicht, den Mann aufzuhalten. Als sie noch auf relativ freundschaftlichem Fuß miteinander standen, hatte er Finnegan gesagt, er habe endlich etwas gefunden, was er liebte, was er bewahren und weiterführen wollte. Und er hatte vor, es zu be halten. Finnegans Geduld war erschöpft. Nun versuchte er es mit Beschwerden bei der Gebiets- und Pla nungskommission, bei der Küstenwache und der Umweltschutzbehörde. Keine der Eingaben hatte gefruchtet. Aber jede einzelne hatte beantwortet werden müssen, von Chase selbst oder von seinem Anwalt, der zweihundert Dollar pro Stunde nahm. »Was für Gründe hat er sich diesmal ausgedacht?« fragte Chase Mrs. Bixler. »Er sagt, Sie arbeiten hier draußen nicht wirklich wissenschaftlich, er sagt, Ihre Experimente haben bis jetzt noch nichts Konkretes ergeben. Warum also sollte der Steuerzahler Sie unterstützen?« »Das Argument besitzt einen gewissen Reiz.« Cha se schwieg einen Augenblick. »Dr. Macy kommt gerade rechtzeitig… der rettende Engel.« »Solange sie die Rechnungen bezahlt.« Max, der die einschläfernden, monotonen Wetterbe
richte verfolgte, schien nicht zugehört zu haben. Doch jetzt sagte er plötzlich: »Kannst du dir das alles gar nicht leisten? Wirst du die Insel verlieren?« »Nein.« Chase lächelte gezwungen. »Wir holen uns jetzt mal ein paar Sauerstoffflaschen und üben ein bißchen. Und dann fahren wir zurück und tauchen nach diesem Sensor.« »Keine Chance«, sagte Mrs. Bixler. »Der Kompres sor ist kaputt.« »Um Himmels willen… was machen wir denn jetzt?« sagte Chase mit einem Seitenblick auf Max, der enttäuscht die Schultern hängenließ. »Gene meinte, es ist wahrscheinlich die Magnet spule. Aber Gene glaubt ja, alle Probleme dieser Welt lassen sich auf Magnetspulen zurückführen. Vielleicht kann Tall ja mal einen Blick darauf wer fen.« »Okay«, sagte Chase. Er spürte seine Nervosität. Jetzt gab es Probleme mit dem Kompressor. Was würde als nächstes kaputtgehen? Am liebsten wür de er erst mal ein kleines Nickerchen halten. Aber Max war hier. Chase wollte unbedingt, daß Max hier die Zeit seines Lebens verbrachte. Er lä chelte und sagte: »Wir gehen jetzt mal zu Tall, hel fen ihm, Chief Joseph zu füttern, und reden mit ihm. Und dann sehen wir uns die Regale mit den Sauer stoffflaschen an. Vielleicht sind noch ein paar volle da.« Tall Man war bereits im Geräteschuppen. Das Prob lem am Dieselkompressor war nicht die Magnetspu le, sondern es waren die verstopften Einspritzdü sen. Bis zum Spätnachmittag würde er ihn in Gang kriegen, sagte er. Morgen früh würde es volle Sau
erstoffflaschen geben. Chase wußte nicht, wie Max reagieren würde. Miß mutig vielleicht oder resigniert. Womit er mit Sicher heit nicht gerechnet hatte, war Begeisterung. Über rascht und erfreut hörte er Max sagen: »Das ist das Tolle dran, einen ganzen Monat lang hier zu sein. Man kann auch morgen alles machen.« Er machte eine Geste. »Komm schon, Dad, zeig mir den gan zen Rest hier.« Auf der Insel gab es noch drei weitere Gebäude. Alle waren Wohnhäuser und schon der Abbruchbir ne geweiht gewesen. Jetzt dienten sie statt dessen als Labors, Lager oder sogar als behelfsmäßige Krankenstation. Möbel und Teppiche waren aus dem Wohnzimmer des kleinsten Hauses ausgeräumt und der Boden mit Fliesen ausgelegt und die Rigipswände neu verputzt worden. In der Mitte des Raums stand ein vier Meter langer und zwei Meter hoher Zylinder. Er war am Boden festgeschraubt und hatte eine runde Luke an einem Ende und ein kleines Bullauge in der Mitte. Große Neonröhren bestrahlten ihn von der Decke. Plastikrohre und ummantelte Drähte verlie fen vom Zylinder zu der Kontrolltafel an einer Wand. »Das ist unsere Dekompressionskammer«, sagte Chase. »Wir nennen sie Dr. Frankenstein.« »Wozu dient sie?« »Mal sehen, wieviel du in deinen Tauchstunden ge lernt hast. Was sind die drei größten Gefahren beim Tauchen? Außer Dummheit und Panik, das sind die beiden wichtigsten, über die man aber nie etwas gesagt bekommt.« »Das ist leicht. Erstens Embolie – wenn man auf
dem Weg nach oben den Atem anhält. Die Tau cherkrankheit. Und… die andere habe ich verges sen.« »Manche nennen sie den Rausch«, sagte Chase. »Den Tiefenrausch.« Er führte Max zu einem klei nen Kühlschrank und nahm zwei Büchsen Cola heraus. Er gab Max eine davon und fragte: »Warst du je betrunken?« Max errötete. »Ich?« »Schon gut, auf diese Frage mußt du nicht antwor ten. Was ich sagen will: Dieser sogenannte Rausch wirkt so, als ob man unter Wasser betrunken wäre. Sein richtiger Name ist Stickstoffnarkose. Wenn man tief unter Wasser Preßluft einatmet, nimmt man im Körper einen hohen Anteil Stickstoff auf. Dieser Stickstoff kann giftig wirken, so ähnlich wie Alkohol. Es erwischt die Leute in verschiedenen Tiefen und auf unterschiedliche Weise. Manche er leben es nie, andere einmal und nie wieder, man che so oft, daß sie schon fast daran gewöhnt sind. Und manche sterben daran.« »Warum?« »Weil… weil es ein echter Hammer ist, wenn man unter Wasser betrunken wird. Das Schlimmste ist, häufig weiß man gar nicht, wie einem geschieht. Es ist eine Art sanfter, verträumter Rausch. Du vergißt, wo du bist. Du paßt nicht mehr auf. Das tiefe Riff dort unten, sechzig Meter unter dir, ist so schön, daß du glaubst, du mußt hin und es dir aus der Nä he ansehen. Falls du daran denkst, einen Blick auf deinen Tie fenmesser oder deine Sauerstoffanzeige zu werfen, merkst du, daß du nichts darauf lesen kannst. Die
Zahlen sind alle verschwommen. Aber du scherst dich einen Dreck darum und gehst trotzdem. Man hat Versuche mit Tauchern gemacht und festge stellt, daß ein fünfundzwanzigjähriger Mann, der sich in körperlicher Höchstform befindet, in der Re gel in fünfzig Metern Tiefe keine einfachen Aufga ben mehr lösen kann, wenn er nicht darauf vorbe reitet war.« »Wie zum Beispiel?« »Es gibt doch diese Puzzles, die du als Kind auch hattest. Man muß das runde Teil in das runde Loch und das quadratische Teil in das quadratische Loch stecken. Das kann der Taucher nicht, er kapiert es nicht mehr. Er kann überhaupt nicht mehr denken. Er kann seinen Tauchplan nicht ändern. Was macht er, wenn ihm die Luft ausgeht oder sein Mundstück vom Regulator abdriftet? Dann überlebt er entweder mit Hilfe seines Instinkts und durch seine mit Erfah rung und Training erworbenen Reflexe. Oder er ü berlebt nicht.« »Enden Notfälle tödlich?« »Nicht immer. Manchmal töten sich die Taucher selbst. Man würde denken, es war Selbstmord, wenn man es nicht besser wüßte.« »Wie das?« Chase holte Luft und blickte in die mittlere Ferne. Er erinnerte sich. »Vor zehn Jahren habe ich mal als Sicherheitstaucher einen Typ begleitet. Er wollte an der Little Cayman Wand schwarze Korallen filmen. Ziemlich tiefes Zeug, sechzig Meter, achtzig. Also die Grenze, an der man mit Preßluft sicher Sport tauchen kann.« »Kann man auch etwas anderes atmen?«
»Ja, wenn man noch tiefer arbeiten muß, verwendet man Mischgase. Helium-Sauerstoff ist eines. Jeden falls hatten wir uns fast perfekt abgesichert: Wir lie ßen eine mit Gewichten beschwerte Leine auf acht zig Meter hinunter, und alle fünfzehn Meter schwamm ein Taucher mit Reserveflasche. Der Kameramann konnte also die ganze Zeit über von einem von uns beobachtet werden. Er hatte genug Luft für die Dekompression auf dem Weg nach o ben. Ich paßte bei dreißig Meter auf, und unter mir war einer bei fünfundvierzig. Der Kameramann trug ein Paar Achtziger mit sich, die zu dreitausendfünfhun dert Psi vollgepumpt waren – große Flaschen, damit ihm auf keinen Fall die Luft ausgehen konnte. Er sagte, er sei noch nie zuvor in einen Rausch ge kommen. Also dachte keiner darüber nach. Wir nahmen unsere Positionen ein. Der Kamera mann sprang ins Wasser und begann runterzuge hen. Er kam an mir vorbei und winkte mir zu, ge nauso dem nächsten Mann. Dann nahm er bei sechzig Meter die Leine und hielt an, um seine Ka mera einzustellen und die Scheinwerfer anzuschal ten. Das Wasser war klar wie Gin, und ich konnte alles sehen. Er sah gut aus, schien die Kontrolle zu haben, seine Bläschen stiegen schön gleichmäßig nach oben, was bedeutete, daß seine Atmung gut war. Keine Anzeichen von Angst oder Panik, nichts. Ein großer Seebarsch kam aus einem Loch in der Wand. Er blieb dort in der Schwebe und sah den Kameramann an, der eine ganze Menge Film ver schoß. Dann wurde es dem Barsch zu langweilig, und er begann, die Wand hinabzuspazieren.
Na ja, und plötzlich sieht der Kameramann zu dem Typ unterhalb von mir hinauf, winkt, nimmt seine Maske ab – seine Maske, um Gottes willen! – wirft sie weg und fängt an, hinter dem Barsch die Wand hinabzujagen. Ich bin ihm sofort hinterher, der Typ unter mir auch. Wir zischten runter, aber wir hatten keine Chance. Bei achtzig Metern haben wir aufgegeben. Das ein zige, was wir noch sehen konnten, waren die Scheinwerfer der Kamera. Sie verschwanden, bis sie nur noch winzige Punkte waren.« »Wie tief war es dort?« »Dreitausend Meter. Ich nehme an, er liegt immer noch dort unten.« »Dreitausend Meter!« sagte Max. »Hast du ihn ge spürt… den Rausch?« »Die meiste Zeit stand ich unter Schock. Aber es gab eine Sekunde, da war ich eigenartig neidisch auf den Mann, der dort unten im Abgrund alles Mögliche sah. Sobald ich es spürte, wußte ich, was es war. Es erschreckte mich so, daß ich den ande ren Taucher packte und uns beide so weit nach o ben zog, bis wir uns wieder normal fühlten.« »Und die Taucherkrankheit? Hast du die je erlebt?« »Nein, Gott sei Dank, und ich hoffe, ich werde sie auch nie erleben.« Chase machte eine Handbewe gung durch den Raum. »Wenn wir hier sitzen, ha ben wir einen Luftdruck von vierzehneinhalb Pfund auf jedem Zoll unserer Körper. Klar? Vierzehn komma-fünf Psi. Als Taucher kommst du alle zehn Meter, die du in die Tiefe gehst, in eine andere At mosphäre, wie man es nennt. Die Luft in deinem Tank wird um weitere vierzehn-komma-fünf Psi ver
dichtet. Bei zehn Metern hast du demnach neun undzwanzig Psi, bei zwanzig Metern dreiundvier zigeinhalb und so weiter. Kommst du noch mit?« »Klar«, sagte Max. »Erinnerst du dich an das, was ich dir vorhin über Stickstoff gesagt habe? Daß du um so mehr davon einatmest, je tiefer du tauchst? Der Stickstoff kann dir übel mitspielen, wenn du zu lange unten bleibst und nach oben kommst, ohne ihm eine Chance zu geben, aus deinem Körper zu entweichen. So was nennt man dann Dekompression. Man hängt nur im Wasser und atmet ihn aus, und dabei kann sich ein Stickstoffbläschen im Ellbogen oder Knie, im Rückgrat oder im Gehirn bilden. Das ist die Taucherkrankheit. Es kann einen verkrüppeln oder umbringen oder einem für den Rest des Le bens etwas bescheren, was man dann für eine Schleimbeutelentzündung hält.« Chase deutete auf den Stahlzylinder. »Deswegen haben wir hier die Dekompressions kammer, für den Fall, daß jemand die Taucher krankheit erwischt. Die Wahrscheinlichkeit, daß es dazu kommt, ist in dieser Gegend nicht sehr groß, denn wir tauchen selten wirklich tief. Aber als die Marine uns diese überzählige Kammer anbot, habe ich natürlich zugegriffen.« »Wie funktioniert sie?« »Wenn jemand die Taucherkrankheit erwischt, steckt man den Kandidaten hier rein. Man pumpt die Kammer mit Luft voll. Der hergestellte Druck muß der Tiefe entsprechen, in der jemand norma lerweise mit der Dekompression beginnt – dreißig Meter, fünfzig, was auch immer. Das kannst du in
den Tauchtabellen nachlesen. Wir können in der Kammer einen Druck herstellen, der dreihundert Metern entspricht. Der Druck sorgt dafür, daß sich der Stickstoff im Blutkreislauf des Kranken wieder auflöst. Die Bläschen verschwin den, und er fühlt sich wieder normal. In der Regel. Es hängt aber davon ab, wie lange er die Taucher krankheit hatte und wieviel Schaden bereits ent standen ist. Dann kommt der knifflige Teil. Der Druck in der Kammer wird allmählich verringert. Man tut so, als ob man den Kranken sehr langsam aus der Tiefe hochholt, beinahe zentimeterweise. Der Stickstoff kann so aus dem Gewebe gespült werden. Manch mal dauert das bis zu einem ganzen Tag.« »Was passiert, wenn er zu schnell nach oben kommt?« »Du meinst, wirklich zu schnell? Er stirbt.« Sie warfen ihre Colabüchsen in einen Abfalleimer und gingen nach draußen. Am südöstlichen Zipfel der Insel befand sich ein gewaltiger Betonring mit fünfzehn Metern Durch messer. Die Formen, in die man ihn gegossen hat te, waren in Krater eingesetzt worden. Diese hatte man in die Felsvorsprünge gesprengt. Der Ring war mit Wasser aufgefüllt, und die natürlichen Felsblö cke hatte man als Plattformen und Höhlen darin belassen. »Es sieht aus wie das Seelöwenhaus im Zoo«, sag te Max. »Volltreffer… genau das ist es. Ich habe es für Dr. Macys Seelöwen spezialanfertigen lassen.« »Meinst du, ich kann mit ihnen spielen?«
»Ich wüßte nicht, was dagegen spricht.« Chase warf einen Blick auf seine Uhr. »Aber jetzt muß ich erst mal telefonieren. Willst du mitkommen?« »Kann ich zu Tall Man gehen, ihn um einen Fisch bitten und versuchen, Chief Joseph zu füttern?« »Klar.« Chase wandte sich ab und hielt dann noch einmal inne. »Aber hey, Max, denk dran… das hier ist eine Insel… Wasser, überall Wasser.« Max verzog das Gesicht. »Dad…« »Ich weiß, ich weiß, tut mir leid«, sagte Chase. Dann lächelte er. »Aber du mußt auch bedenken, daß ich als Vater ein ziemlicher Anfänger bin.« Chase saß an seinem Schreibtisch und starrte auf das Fax mit der Banküberweisung. Dr. Macys Geld würde morgen früh bei der örtlichen Bank für das Institut gutgeschrieben werden. Er konnte Mrs. Bix ler bezahlen, er konnte Tall Man und den Haus meister Gene vergüten, er konnte seine Rechnun gen am Treibstoffpier und im Lebensmittelgeschäft begleichen. Er konnte sogar seine Versicherungs prämie rechtzeitig bezahlen und damit zum ersten Mal seit Monaten eine Mahngebühr vermeiden. Vielleicht sollte er das Fax einrahmen und an die Wand hängen, so wie manche Leute den ersten Dollar einrahmten, den ihr Geschäft einbrachte. Diese zehntausend Dollar waren wirklich die Ret tung in der Not – der erste Schritt des Instituts auf dem Weg in die Liquidität. Falls er Dr. Macy und ihre Seelöwen für ganze drei Monate hierbehalten konnte. Und warum sollte er nicht? Das Wetter wür de gut sein, und die Wale müßten eigentlich bis En de September hier kreuzen. Dann würde er dreißig tausend Dollar einnehmen, genug, um sich bis En
de des Jahres über Wasser zu halten. Vielleicht würden bis dann auch Mittel für das Pro jekt »Bißdynamik« lockergemacht werden. Vielleicht würde er Aufträge von Kabelkanälen ergattern, die etwas über Haie oder Wale bringen wollten. Viel leicht… vielleicht was?… vielleicht würde er im Lot to gewinnen. Ja, er würde das Fax kopieren und die Kopie einrahmen. Später, wenn die Zeiten besser waren, würde es ihm Spaß machen, es anzusehen. Er fragte sich, ob Dr. Macy ahnte, wie entscheidend ihre zehntausend Dollar für ihn waren. Und was be deuteten ihr zehn Riesen? Vermutlich nichts. Das staatliche Universitätssystem in Kalifornien kassier te jedes Jahr Hunderte von Millionen an Fördermit teln. Zehntausend bezahlte sie vermutlich aus der Portokasse. Er versuchte, sich Dr. Macy vorzustellen. Ganz und gar naturbelassen, jede Wette. Voller Ballaststoffe, völlig organisch, keine Konservierungsmittel. Eine jener Frauen, die nach Lammfett rochen, weil ihre Pullover aus roher neuseeländischer Wolle gewebt waren. Eine, die eine kleine runde Brille trug und Dreck zwischen den Zehen hatte, weil sie in Ge sundheitssandalen herumlief. Eine, die sich weiger te, irgend etwas zu essen, was einmal lebendig ge wesen war. Er kannte diesen Typ Frau gut aus seiner Green peace-Zeit. Die meisten hatte er für unerträglich selbstgefällig und selbstgerecht oder für gefährlich dämlich und naiv gehalten. Trotzdem war es ihm schnuppe. Dr. Macy konnte seinetwegen eine Mischung aus Tiny Tim und Leona Helmsley sein. Ihr Geld war gut und ihr Projekt
auch. Die Öffentlichkeitsarbeit des Instituts könnte von einer Zusammenarbeit mit ihr profitieren. Chase selbst haßte Werbung, und er war unfähig, ihre Wir kung für sich auszunutzen. Gute Videofilme über Buckelwale wären handfeste Beweise für eine ernstzunehmende wissenschaftliche Arbeit. Dem Vernehmen nach hatte Dr. Macy in Kalifornien bahnbrechende Aufnahmen von Buckelwalen ge macht. Es würde Berichte in Presse und Fernsehen geben. Brendan Finnegan würde alle Äußerungen zurücknehmen und einen anderen finden müssen, den er drangsalieren konnte.
12 Max rutschte auf dem glitschigen Felsblock aus, und bevor er das Gleichgewicht wiederfand, glitt er an ihm hinab und stand plötzlich bis zu den Knö cheln im Wasser. Fluchend watete er durch das seichte Wasser bis zu einer Stelle, an der die Fel sen kleiner waren. Er kletterte hinauf und setzte seinen Rundgang über die Insel fort. Vorsichtig stieg er von Fels zu Fels. Jetzt wußte er, daß Tall Man nicht übertrieben hatte: Bei Ebbe waren die Felsen rutschig. Tall Man hatte ihm zwei Fische gegeben, mit denen er den Reiher füttern konnte. Zaghaft hatte er sich dem Vogel genähert, denn der war groß, und sein Schnabel war lang und scharf. Seine Augen folgten Max, als wäre er eine Beute. Max hatte den ersten Fisch aus Angst um seine Finger fallen gelassen. Der Reiher hatte ihn aus dem Wasser gepickt, den Hals gereckt und ihn am Stück verschluckt. Dann hatte er den zweiten Fisch entdeckt und war einen Schritt auf Max zugekom men. Max hatte sich gezwungen, seinen Mann zu stehen und hatte den Fisch von den Fingerspitzen baumeln lassen. Der Reiher hatte ihn mit chirurgi scher Präzision weggeschnappt, sein Schnabel hat te Max nur um Millimeter verfehlt. Dann hatte Max versucht, den Reiher zu berühren, aber er hatte sich abgewandt und war in die Mitte seiner Pfütze zu rückmarschiert. Max hatte nichts Besonderes zu tun. Sein Vater und Tall Man waren beide beschäftigt, und so hatte er
beschlossen, auf Entdeckungstour zu gehen. Bei Ebbe, hatte Tall Man zu ihm gesagt, konnte man den ganzen Weg um die Insel herum auf den Fel sen laufen. Er hatte sie fast zur Hälfte umrundet und den südlichsten Zipfel der Insel erreicht, als er auf dem glitschigen Felsen ausgerutscht war und seine Turnschuhe durchnäßt hatte. Er kam zu einem kleinen Tümpel. Eigentlich war es eher eine große Pfütze. Dort war die Ebbe von ei nem kleinen Becken im Felsen zurückgewichen, und er kniete sich hin und beugte sich über das Wasser. Winzige Krabben wuselten zwischen den Steinen herum, und Strandschnecken klammerten sich reglos an den Boden, als ob sie geduldig auf die nächste Flut warteten. Er beobachtete die Krab ben einen Augenblick lang. Was machten sie wohl? Warum sahen sie so geschäftig aus? Ging es um Fressen oder Kämpfen oder Flüchten? Dann stand er auf und ging weiter. Die größeren Felsen waren mit Guano bespritzt und mit Schalen übersät, in denen einmal Venusmu scheln und Krabben gelebt hatten. Die Möwen hat ten sie fallen lassen und waren dann herabgesto ßen und hatten das saftige Fleisch aus den zer sprungenen Schalen gepickt. Die kleineren Felsen näher am Wasser waren mit Algen und Tang über zogen. Aus den dazwischenliegenden Nischen lug ten Streichholzschachteln, Plastikhalterungen von Sixpacks und Aluminiumverschlüsse von Getränkedosen. Was Max erreichen konnte, hob er auf und stopfte es in seine Taschen. Er kam zu einer Stelle, an der die Felsen zu glatt und zu glitschig aussahen, als
daß er hätte darüberklettern können. Also stieg er den Hang hinauf und stapfte etwa zwanzig oder dreißig Meter durchs hohe Gras bis zum größten Felsblock, den er je gesehen hatte. Er war mindestens vier oder fünf Meter hoch und vermutlich sechs Meter lang, vom Rückzug der Gletscher am Ende der letzten Eiszeit übriggeblie ben. Max umrundete den Riesenstein mit einem ehrfurchtsvollen Seitenblick und suchte dann nach einem Weg den Hügel hinunter. Er ging zwischen zwei Büschen hindurch, prüfte seinen Tritt und be gann hinabzusteigen. Etwas sprang ihm ins Auge, etwas im Wasser, nicht weit draußen, keine zehn Meter entfernt. Er sah genauer hin, konnte aber nichts erkennen. Er ver suchte sich klarzumachen, was er da gesehen hat te. Bewegung, eine Veränderung in den Konturen des Wassers, als ob irgend etwas Großes genau unter der Wasseroberfläche schwamm. Er starrte angestrengt hinüber, vielleicht würde er die Rückenflosse eines Delphins oder den schim mernden Strahl eines Schwarms fressender Fische erkennen. Nichts. Langsam ging er weiter. Vorsich tig stieg er zwischen den nassen Felsen hindurch. Hinter sich hörte er ein Geräusch. Ein Platschen, aber ein seltsames Platschen, als ob ein Tier aus dem Wasser auf- und wieder untergetaucht war. Er drehte sich um. Dieses Mal konnte er etwas erkennen. Kleine Wel len, die sich von einer Stelle unweit der Küste ring förmig ausbreiteten. Auf der Wasseroberfläche war undeutlich eine Art Buckel auszumachen. Aber als er genauer hinsah, verschwand die Erhebung. Er
fragte sich, ob es hier irgendwo Wasserschildkröten gab. Oder Seehunde. Was auch immer dort drau ßen war, er wollte es sehen. Doch wieder Fehlanzeige. Er ging ein paar Meter weiter und warf einen Blick nach oben, um das vor ihm liegende Gelände einzuschätzen. Die Felsen auf dieser Seite der Insel schienen kleiner zu sein. Hier lag noch mehr Müll herum. Da gammelten Fi scherbojen und große Plastikteile und… Was war das? Zehn oder fünfzehn Meter entfernt hing etwas in den Felsen, halb im Wasser, halb an Land. Ir gendein Tier. Ein totes Tier. Er trat näher und sah, daß es ein Hirsch war. Oder besser gesagt die Überreste eines Hirsches, denn der Kadaver sah übel aus. Sein Fleisch war zerfetzt und weggerissen. Der ekelerregende Geruch von Fäulnis fehlte ebenso wie die Ansammlung von Fliegen. Der Hirsch war also noch nicht lange tot. Er war frisch gerissen worden. Er konnte sich nicht vorstellen, was ein so großes Tier so zugerichtet haben konnte. Jäger? Er suchte den Kadaver nach Schußwunden ab, fand aber keine. Er wollte sich gerade abwenden, als er im Kopf des Hirsches etwas Seltsames entdeckte. Er trat einen Schritt vor, beugte sich hinab und streckte die Hand aus. Da rutschte er aus, riß die Arme auseinander und versuchte sich aufzurichten, um das Gleichge wicht wiederzufinden. Doch er beugte sich zu sehr nach hinten und fiel rücklings ins Wasser. Es war nicht tief, einen Meter oder eineinhalb, und Max fand auf dem lockeren Kies rasch Halt. Er stand auf. Plötzlich spürte er etwas hinter sich, eine Bewe gung, eine Druckveränderung, als ob eine Wasser
masse gegen ihn gewälzt wurde. Er drehte sich um und sah denselben undeutlichen Buckel auf der Wasseroberfläche. Diesmal bewegte er sich auf ihn zu. Er spritzte Wasser in seine Richtung, um ihn einzuschüchtern, aber er kam weiter auf ihn zu. Max geriet in Panik. Er drehte sich zum Ufer um und paddelte mit den Händen in dem hüfthohen Wasser. Er schaffte einen Meter, zwei Meter und kraxelte nun auf allen Vieren den Abhang hinauf. Hinter ihm spritzten Felsbrocken und Kieselsteine. Er stieß sich mit den Füßen hoch und suchte mit der Hand nach einem Halt. Er bekam den Kopf des Hirsches zu fassen und zog sich daran hoch. Irgend etwas Scharfes bohrte sich in seine Handfläche und schnitt ihn. Aber er gab nicht auf und zog sich wei ter hoch. Er erreichte die trockenen Felsen, kam taumelnd wieder auf die Beine und rannte los. Er hielt erst an, als er den Kamm des Hügels erreicht hatte. Völlig außer Atem schnappte er nach Luft, was sich eher nach einem Schluchzen anhörte, und blickte auf das Wasser zurück. Der Buckel war verschwunden, und kleine, ringförmige Wellen glätteten sich all mählich auf der spiegelglatten Wasseroberfläche. Zitternd vor Kälte und Angst rannte Max auf das Haus zu. Er hatte bereits die Hälfte der Strecke zu rückgelegt, als er einen stechenden Schmerz in der Handfläche spürte. Er sah seine Hand an und ent deckte das Ding, das ihn geschnitten hatte. Jetzt ragte es aus dem fleischigen Wulst unterhalb seines Daumens hervor. Chase blickte von seinem Schreibtisch auf und sah Max in der Tür stehen. Von den Schultern abwärts
war sein Sohn völlig durchnäßt. Auf dem Boden
bildete sich eine Pfütze um seine durchgeweichten
Turnschuhe. Er zitterte. Sein Gesicht war fahl, seine
Lippen fast blau. Er sah furchtbar erschrocken aus.
»Max!« Chase sprang von seinem Schreibtisch auf,
so daß der Stuhl hinter ihm gegen die Wand knallte.
Er ging quer durchs Zimmer. »Ist alles in Ord nung?«
Max nickte. Chase kniete sich hin und begann, Max’
Turnschuhe aufzuschnüren. »Was ist passiert? Bist
du von den Felsen gefallen?«
»Ein Hirsch«, sagte Max.
»Ein Hirsch? Was für ein Hirsch?«
Max versuchte zu sprechen, aber er konnte nur
stammeln. Ein Krampf quälte ihn in Brust und
Schultern, und er klapperte mit den Zähnen.
»Hey«, sagte Chase. »Ist ja gut.« Er zog Max’
Turnschuhe, Socken, Jeans und Unterwäsche aus,
knüllte sie zusammen und warf sie durch die Tür auf
den Rasen. Er nahm zwei Badehandtücher aus
dem Wäscheschrank in der Diele, trocknete Max mit
einem davon ab und wickelte ihn in das andere.
Dann führte er ihn zum Sofa in seinem Büro und
setzte ihn hin.
»Hirsche schwimmen hier herüber«, sagte er.
»Normalerweise kommen sie von Block Island.
Manchmal auch das ganze Stück von der Stadt. Ich
weiß nicht, warum sie sich die Mühe machen. Hier
gibt es nichts, was es woanders nicht auch gibt. Sie
sind lästig. Sie fressen alles, was Mrs. Bixler an pflanzt, und sie stecken voller Zecken. Sie – «
Chase unterbrach sich, denn er sah, daß Max den
Kopf schüttelte. »Was?«
»Er war tot«, sagte Max. »Was? Im Wasser? Er ist ertrunken. Ja, sie – « »Etwas hat ihn getötet… hat versucht, ihn zu fres sen… hat ihn gefressen, eine Menge davon.« Max sprach stockend, denn er zitterte noch immer. »Ich war auf den Felsen an der Stelle… in der Nähe von diesem riesigen Felsblock, von dem Mrs. Bixler sagte, daß ihre Familie ihn immer Papa Rock nann te… hab’ etwas im Wasser entdeckt, zwischen den Felsen eingezwängt… hab’ den Kopf und den Rest zum Teil gesehen. Dann bin ich näher gekommen… und hab’ gesehen, daß etwa ab hier nichts mehr übrig war…« Max faßte sich an den Brustkorb. »Ich dachte, vielleicht hätten ihn Blaufische erwischt… so wie den einen Vogel heute.« »Das ist möglich, wenn er geblutet hat. Einer von ihnen könnte einen Bissen herausreißen. Die ande ren sehen, wie leicht das ist, werden rasend und – « »Nein.« Wieder schüttelte Max den Kopf. »Ich dach te, vielleicht ein Hai, aber als ich richtig nah dran war, sah ich… der Hirsch hatte keine Augen. Alles um die Augen herum war weggerissen. Ein Hai würde so etwas nicht tun… könnte es nicht.« »Nein. Also hattest du recht… wahrscheinlich Blau fische.« Max achtete nicht auf ihn. »Ich sah etwas aus sei ner Backe herausragen… etwas Glänzendes… ich hab’ die Hand danach ausgestreckt, es aber nicht erreicht, also bin ich einen Schritt vorgegangen und ausgerutscht… ins Wasser gefallen.« »Was war es?« Max machte die rechte Hand auf. Die Wunde in der Handfläche war klein und nicht sehr tief, und sie
blutete nicht mehr. Er reichte das glänzende Ding seinem Vater. »Sieht aus wie ein Haizahn«, sagte Chase. Er nahm das Ding und trat aus dem Schatten, den er selbst warf. »Das hab’ ich auch gedacht.« Chase ging an seinen Schreibtisch und hielt das Ding in seiner Hand ans Licht. Da erschrak er plötz lich und spürte seinen Puls rasen. Es sah tatsäch lich aus wie ein Haizahn. Wie der Zahn von einem großen weißen Hai. Vielleicht war er versteinert, denn er hatte eine schmutziggraue Farbe. Es war ein Dreieck, auf jeder Seite etwa einen halben Zoll lang. Zwei der drei Seiten hatten feingesägte Rän der. Als Chase den Daumen daran entlanggleiten ließ, ritzten sie seine Haut auf wie ein Skalpell. Die dritte Seite war etwas dicker und hatte einen abgeflachten Sockel, und an jedem Ende des So ckels befand sich ein kleiner Widerhaken. Die bei den Haken lagen einander gegenüber. Einer war genau über der Krümmung abgebrochen. Chase nahm ein Lineal von seinem Schreibtisch und maß das Dreieck ab. Es hatte nicht einen halben Zoll auf jeder Seite, sondern fünf Achtel – genau fünf Achtel. Das Ding war ein mit hervorragender, absolut ma schineller Präzision hergestelltes gleichseitiges Dreieck. Chase rieb es zwischen Daumen und Zei gefinger. Die graue Patina fühlte sich schleimig an. Als er daran rieb, übertrug sie sich auf seine Haut. Jetzt glänzte der Zahn, oder was auch immer es war, wie poliertes Silber. Chase sah Max an. »Soll das ein Witz sein?« sagte er. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen.«
»Ein Witz?« Max schüttelte sich und deutete auf die Gänsehaut an seinen Armen und Beinen und die Wunde an der Hand. »Ein schöner Witz.« »Aber dann… was für ein Tier gibt es, das Zähne aus rostfreiem Stahl hat?«
13 Es war Viertel nach zwei, als Buck und Brian Bella my vom Kai abstießen. Sie kamen fast zwei Stun den später los, als Buck ursprünglich geplant hatte. Buck war wütend. Er hatte Brian aufgetragen, die beiden Sauerstoffflaschen aufzufüllen. Aber sein Bruder mußte unbedingt seiner Freundin helfen, ihr Kostüm für die Flottenparade in Waterboro zusam menzustellen. Deshalb war er nicht dazu gekom men. Brian hätte auch dafür sorgen sollen, daß genügend Benzin im Tank war, aber er hatte es vergessen. Deshalb hatten sie vierzig Minuten am Treibstoffpier warten müssen. Irgendein reicher Schnösel hatte für zweitausend Kröten Diesel in eine Hatteras ge tankt. Das Ding war so groß, daß alle Pumpen am Kai blockiert gewesen waren. Aber Buck hielt den Mund. Es würde nichts nützen, Brian zur Schnecke zu machen. Brian war immun gegen Vorhaltungen. Seit seiner Armeezeit war Bri an ziemlich immun gegen das Leben. Er hatte zwei Jahre unten in Texas nahe der mexikanischen Grenze verbracht. Dort hatte er all das billige Gras, Tequila und wer weiß was noch kennengelernt. Nichts regte ihn auf. Er war völlig gleichgültig. Das letzte Mal, als Buck ihn angebrüllt hatte, weil er auf Fischfang alle Köder vergessen hatte, hatte Brian nur gesagt: »Ach, scheiß drauf!« Er war über Bord gesprungen und losgeschwommen. Das war zwölf Meilen vor der Küste gewesen. Buck hingegen war keineswegs gleichgültig. Und
heute war er verdammt aufgeregt. Dies könnte der größte Tag seines Lebens werden. Er verkniff sich Brian gegenüber eine bissige Bemerkung. Freund lich bat er ihn, er möge sich auf die gepolsterte Kis te mittschiffs setzen, damit sie nicht herumrutschen konnte. Dann drückte er den Gashebel durch. Im Hafen tummelten sich die Segelboote wie die Fliegen. Dazwischen bahnten sich Schlauchboote ihren Weg – Leute, die den ganzen weiten Weg aus Maine und von der Küste Jerseys gekommen wa ren, um diesen bescheuerten Flottenquatsch zu sehen. Aber Buck scherte sich einen Dreck darum. Wenn hier irgendwo ein Bulle von der Wasserpolizei war, sollte er doch versuchen, sie zu erwischen. Es gab nicht viel auf dem Wasser, was es mit der Zippo aufnehmen konnte. Buck hatte aus dem Schiffsrumpf eines gängigen Makofängers praktisch alles ausgebaut und dann einen Motor mit Turboan trieb eingebaut, der es auf vierhundert-fünfzig PS brachte und mit dem das Boot nur so davonschoß. Er verließ Waterboro Point mit etwa Tempo dreißig und nahm dann etwas Gas zurück. Er wollte die wertvolle Kiste nicht zu sehr erschüttern, wenn er das Kielwasser der großen Boote durchquerte, die in beiden Richtungen die Fahrrinne von Watch Hill befuhren. Dann legte er den Gashebel wieder nach vorne, warf den Turbo rein und hielt Kurs auf Na patree. Der Tachometer schwankte um die sechzig. Wenn heute mit den Tests und morgen mit dem Treffen alles klarging, könnte er bis Mitte der Woche seine finanziellen Aussichten um eine ganze Menge Nullen erweitern. Dann würde er den Leuten von Bauholz Waterboro sagen, sie sollten sich einen
anderen Trottel suchen, der Sperrholz und Farbe an die Yuppies verhökerte. Wenn Brian auch ein Stück von dem Kuchen abbe kommen wollte, bitte – alle Firmen hatten dämliche Brüder auf der Gehaltsliste. Aber er könnte wetten, daß Brian es vorziehen würde, an der Autobahn tankstelle zu bleiben und weiter Wechselgeld he rauszugeben. Die See war ziemlich ruhig, so daß Buck sein hohes Tempo beibehielt. Er schwenkte um Napatree her um und hielt Kurs auf Südost, er zielte auf die Lücke zwischen den beiden Buckeln, die von den Inseln Block und Osprey Island gebildet wurden. »Wohin fahren wir?« übertönte Brian das Kreischen des Motors. »Zu der Helen J.« »Ganz schön weit.« »‘Ne bessere Idee?« »Nein«, sagte Brian und beugte sich über die Kühl box. »Ich glaub’, ich zisch ‘n Bierchen.« »Später, Brian. Wir brauchen heute noch Köpf chen.« »Ach zum Teufel, Bucky…« Brian setzte sich wie der hin. Brian hatte recht, das Wrack des alten Schoners Helen J lag weit draußen. Aber es war das einzige Wrack in der Gegend, das sich für Videoaufnahmen eignete. Es lag nicht tief, so daß das Licht gut sein würde. Und es war in einem relativ guten Zustand, so daß es nach etwas aussah. Buck benötigte einen hübschen Hintergrund für ein Demovideo, das er für die Managertypen aus Ore gon drehen wollte. Sicher könnte er die Tests ir
gendwo in einem Swimmingpool durchführen. Aber das machte nicht genügend her. Jedenfalls nicht genug, um High-Tech-Freaks mit dicken Scheckhef ten zu beeindrucken. Präsentation war alles. Details zählten, und wenn Buck Bellamy etwas war, dann ein Mann mit Sinn fürs Detail. »Sieh mal«, sagte Brian und deutete nach Steuer bord. Als Buck hinsah, entdeckte er eine große gelbe Bo je mit einer Aufschrift. »Na und? Eine Boje.« »Ich hab’ noch nie so ‘ne Boje gesehen. Möcht’ gern wissen, was da drunter ist.« »Wir haben keine Zeit, nachzusehen, Brian. Wir haben schon ‘n Haufen Zeit verloren.« »Könnte ‘n Boot sein«, sagte Brian nachdenklich. »Letzte Woche war Sturm, da hat vielleicht jemand ein Boot verloren, hat’s mit einer Boje versehen, damit’s der Schleppkahn findet… könnte ganz nette Bilder abgeben.« »‘Ne schöne Chance«, sagte Buck. Aber als er an der Boje vorbeifuhr, dachte er: Warum nicht einen Blick darauf werfen? Nehmen wir uns fünf Minuten Zeit dafür, und wenn’s ein Boot ist, ein gerade erst gesunkenes Boot, spar’ ich mit den fünf Minuten zwei Stunden. Er drosselte den Motor und wendete das Boot in einem engen Kreis. »Gute Idee«, sagte er. »Du denkst ja direkt mit, Brian.« Brian strahlte. »Ich kann, Bucky, wenn ich mich an strenge.« Er lehnte sich über den Bug, schnappte sich die Boje und hob sie an Bord. Das Gewicht der Kabelrolle machte ihm zu schaffen. »Stromkabel«, sagte Buck. »Was bedeutet das >O. I.«
»Wen juckt das? Etwas ist dort unten. Nimm dir ein Sauerstoffgerät und sieh’s dir mal an, während ich den Motor regle.« »Gut, ich seh’s mir an.« »Aber nur kurz, Brian. Runter und wieder rauf, nicht mehr. Nicht, daß du eine Sauerstoffflasche auf brauchst, um an irgendeinem Hummerkorb herum zuschnüffeln.« Brian nickte. »Einmal kurz runter und wieder rauf. Das gefällt mir.« »Und das kannst du auch gut«, sagte Buck. Viel leicht würde er mit Schmeicheleien erreichen, was er mit Vorhaltungen nicht schaffte. »Verdammt richtig.« Brian zog die Tauchausrüstung über sein T-Shirt. Er schnallte den Gürtel zu, an dem ein zehn Pfund schweres Bleigewicht hing, nahm ein Tauchermesser und schnallte es an sei ner Wade fest. »Glaubst du, daß dich irgendein Monster fressen will?« fragte Buck lächelnd. »Man kann nie wissen, Bucky, das steht fest.« Brian schlüpfte in ein Paar Schwimmflossen, spuckte in seine Gesichtsmaske und spülte sie im Wasser aus. Dann setzte er sich auf den Rand des Bootes, zog sich die Maske übers Gesicht, setzte das Mund stück ein und ließ sich rückwärts ins Wasser fallen. Buck sah zu, bis Brian seine Maske gereinigt hatte und unter aufsteigenden Blasen in der graugrünen Dunkelheit verschwand. Dann öffnete er die gepols terte Kiste, die vor dem Kontrollpult verstaut war. Darin lagen zwei in Schaumstoff gebettete Tau chermasken. Sie sahen so ähnlich aus wie Astro nautenhelme und enthielten einen Druckregler, ein
Mikrophon und einen Kopfhörer. An der Rückseite von jeder Maske war ein kleiner, mit Gummi abge dichteter Behälter geschnallt, etwa so groß wie eine Zigarettenschachtel. Dieses Gefäß symbolisierte Bucks Zukunft. Was Buck erfunden hatte, war ein preisgünstiges, kompaktes und in sich geschlossenes Unterwasser Kommunikations-System. Seine Erfindung war nicht die erste dieser Art. Man hatte schon länger darüber nachgedacht, wie Taucher unter Wasser miteinan der sprechen könnten. Darüber machte er sich kei ne Illusionen. Aber alle bisherigen Systeme hatten zwei entschei dende Nachteile. Die Gespräche mußten auf einem Boot oder einer Plattform auf der Wasseroberfläche von einem Sender übertragen werden. Diese Tech nik kostete mehrere tausend Dollar und war deshalb nur für Profis interessant, die kommerzielle oder wissenschaftliche Zwecke verfolgten. Bucks System machte es möglich, daß zwei oder drei oder fünf oder zehn Taucher direkt miteinander sprachen. Es funktionierte wie eine TelefonKonferenzschaltung, und die Anlagen konnten für weniger als zweihundert Dollar pro Stück hergestellt werden. Ein Sporttaucher gab durchschnittlich weit über tausend Dollar für seine Ausrüstung aus. Da kam es auf ein paar hundert mehr nicht an – be sonders für etwas so Exotisches, Eindrucksvolles und möglicherweise Lebensrettendes. Buck war die Zahlen so oft durchgegangen, daß sie sich inzwischen fest in sein Gedächtnis eingebrannt hatten. Allein in den USA sollte es etwa vier Millio nen Taucher geben; wenn sein System massenhaft
produziert werden würde, könnten die Stückkosten halbiert werden. Dazu kämen weitere fünfzig Dollar für Vertrieb und Werbung. Wenn er sich mit einer aggressiven Firma zusam mentat, die auf jedes Stück zweihundert Prozent aufschlug, und wenn sie an ein Viertel der Taucher in den USA eines verkaufen würden, und wenn er einen Bruttoanteil von zehn Prozent hätte, könnte er sich über dreißig Millionen Dollar freuen. Und das alles dank einer zufälligen Entdeckung… Nein, das stimmte nicht, er glaubte nicht an Zufälle. Nicht, nachdem er zehn Jahre lang bei seinem Va ter in der Garage an Video- und Tonsystemen her umgebastelt hatte. Jedenfalls hatte er alles der Tat sache zu verdanken, daß er Drähte und Transisto ren und Relais neu kombiniert hatte. Jetzt mußte er nur noch ein ordentliches Dreiminu tenvideo für die Jungs aus Oregon drehen. Sie soll ten Hifi-Klänge von ihm und Brian zu hören kriegen, wenn sie über zwanzig oder dreißig Meter Wasser hinweg kristallklar miteinander sprachen. Und wenn die Jungs dann immer noch nicht überzeugt waren? Na dann würde er sie hierherbringen. Dann sollten sie es selbst ausprobieren. Das war ein weiterer Vorteil: Das System war so einfach, daß jeder es benutzen konnte. Sogar sein Bruder. »Bucky!« Brian kam aus dem Wasser geschossen und griff nach dem unteren Schanzkleid am Bootsheck. »Da unten ist ein Sarg!« Es dauerte einen Augenblick, bis Brians Worte ver standen wurden. Dann sagte Buck: »Red keinen Scheiß, Brian… komm schon…« »Ich schwör’ dir’s! Entweder das oder eine Schatz
truhe. Du mußt es dir ansehen.« »Brian… wir sind hier draußen schon x-mal ge taucht. Hier gibt’s Fischerboote, Autowracks, einen Schleppkahn, ein paar Fässer und die Helen J. Hier gibt’s keinen Sarg! Es gibt keine Schatztruhe. Au ßerdem würdest du eine Schatztruhe nicht erken nen, wenn sie – « »Jetzt gibt es eine, Bucky. Und zwar eine große… sieht so aus, als ob sie aus Bronze sein könnte.« Brian war zwar langsam, aber er hatte nicht viel Phantasie. Er dachte sich nichts aus. Wenn dort unten wirklich eine große Truhe war, mit etwas drin… »Ich frage mich…«, sagte Buck, »… dieser Sturm…« »Daran hab’ ich auch gedacht. Der hat sie wahr scheinlich aufgewirbelt.« Buck streckte die Hand aus und half Brian an Bord. »Versuchen wir’s.« Er machte die Masken fertig, schloß Brians Drähte an und zeigte ihm noch einmal, wie die Sichtschei be saubergemacht wurde. Dann montierte er die Videokamera in ihr Gehäuse und befestigte eine Klammer mit zwei 250-Watt-Lampen daran. Viel leicht war das Wasser dunkel, ansonsten konnte man sie als Zusatzlicht gebrauchen. Er befestigte den Stecker vom Gehäuse an seiner eigenen Maske. Ein paar Sekunden lang filmte er sich selbst und Brian im Boot, dann sah er sich die Wiedergabe auf dem Sucher an. Er wollte sicherge hen, daß alles funktionierte. Das Bild war scharf, der Ton perfekt. Sie saßen auf gegenüberliegenden Seiten des
Boots. Auf ein Zeichen hin ließen sich beide über Bord fallen. Buck ging als erster runter. Er trat so fest er konnte und ließ sich mit der freien Hand am Kabel hinabgleiten. Das Wasser war trübe. Einen Augenblick lang hing er in einem grünen Nebel und konnte weder die Wasseroberfläche noch den Grund sehen. Er hielt das Kabel fest umklammert. »Hast du die Tiefe überprüft?« Bucks Worte hallten hohl in seiner Maske wider. »Ich bin nicht ganz runtergegangen«, sagte Brian, der ein paar Meter weiter oben am Kabel schwamm. »Ich bin nur so weit getaucht, bis ich eine gute Sicht hatte.« Buck hörte jedes von Brians Worten so deutlich, als ob er an der Wasseroberfläche neben seinem Bru der stehen würde. »Ist der Ton in diesem Ding nicht sagenhaft?« »Du bist jetzt bei fünfzehn«, sagte Brian. »Geh noch mal vier, fünf Meter runter.« Buck atmete aus und stieß sich mit den Beinen wei ter nach unten vor, wobei er die Videokamera vor sich herschob. Als erstes sah er einen gelbgrünen, verschwommenen Fleck hinter einem erbsengrünen Schleier. Als er näherkam, zeichnete sich eine Form ab. Es war ein exaktes Rechteck, mindestens zwei Meter lang, vielleicht drei, und jeweils etwa einen Meter fünfzig breit und hoch. Als er noch etwa drei Meter davon entfernt war, fixierte er das Ding mit dem Sucher. Er schaltete die Scheinwerfer ein, schwamm langsam im Kreis und filmte. »Muß was Gutes sein, wenn sie sich die Mühe ge macht haben, es mit einer Boje zu markieren«, hör te er Brian sagen.
»Sie haben es nicht mit einer Boje markiert. Sie sind dran hängengeblieben. Sieh mal hier: Da hat sich eine Art Sensorkopf verhakt, zwischen dem Ding und dem Felsen.« Buck schwamm näher her an. »Ich glaube, die wissen nicht einmal, was sie da haben.« »Dann könnte es wirklich gut sein.« »Könnte es… könnte aber auch irgendein Scheiß sein… irgendwelche Bronze, die jemand über Bord geschmissen hat.« »Warum sollte jemand so was tun? Bronze kann man für gutes Geld verkaufen.« »Weil die Leute Idioten sind«, sagte Buck. »Jeden falls werden wir’s erst wissen, wenn wir’s aufma chen.« »Du willst das Ding aufmachen?« »Denk an den Film, Brian. Selbst wenn uns die Jungs aus Oregon verschaukeln… Denk an den Film, den wir kriegen. Die ersten, die eine seit lan gem verlorene Bronzekiste öffnen. Ich sag’ dir, das können wir für wer weiß wieviel an Eyewitness News verkaufen.« »Aber angenommen, da ist eine Leiche drin. Das wäre nicht – « »Da ist keine Leiche drin, höchstens King Kong persönlich. Sieh dir mal an, wie groß das verdamm te Ding ist. Muß von einem Schiff gefallen sein. Vermutlich ist es was Wertvolles, wenn sie sich die Mühe gemacht haben, es in Bronze zu verpacken.« Buck schaltete die Kamera ab und ließ sich auf den sandigen Grund treiben. Er fand sein Gleichgewicht wieder und stellte Scheinwerfer und Objektiv richtig ein. »Okay, Brian, schwimm runter und setz dich so
drauf, daß ich dich filmen kann, daß ich zeigen
kann, wie groß sie ist.«
»Ich weiß nicht…« Brian zögerte. Er trat langsam,
um auf seiner Position zwei oder drei Meter über
der Kiste zu bleiben.
»Komm schon, Brian… oder willst du nicht berühmt
werden?«
14
In dem verschlossenen Behälter war der Druck konstant. Aber in dem elektromagnetischen Feld in der Nähe veränderte sich etwas. Das spürte es. Es existierte Leben in der Nähe, Leben von beträchtli cher Größe und Substanz. Und dann ein Geräusch – auch wenn es das nicht als solches wahrnahm. Es war nur ein winziger Druck auf das Trommelfell an beiden Seiten des Kopfes. Dann hörte das Ge räusch auf. Es war völlig ausgehungert. Oben, in der fremden und bedrohlichen Umgebung, hatte es gefressen. Als die ganzen Nährstoffe aufgebraucht waren, hat te es seinen Behälter verlassen und sich auf die Jagd gemacht. Es hatte festgestellt, daß es hier unten keine Nahrung gab. Es war aufgestiegen. Aber auf der Suche nach den unzähligen winzigen Tieren, die zu fressen es sich angewöhnt hatte, hatte es nichts gefunden. Verwirrt war es im Wasser auf der Suche nach Leben aufund abgeschwommen. Es suchte Leben, von dem es sich ernähren könnte. Es hatte Lebewesen gesehen. Aber sie waren zu schnell, zu vorsichtig, zu schwer zu fassen gewe sen. Ein oder zwei begegneten ihm, aber es konnte sie nicht fangen. Immer verzweifelter war es weiter geschwommen, getrieben von Signalen, in denen es nur seinen Bedarf erkannte. Es hatte etwas Nah rung gefunden, nicht viel. Kaum genug, um sich am Leben zu halten. Plötzlich war oben ein kleines Ding aufgetaucht. Es
hatte das Ding gepackt, nach unten gezogen und gefressen. Das Unverdauliche, das Fell und die Knorpel, hatte es wie wiedergekäutes Futter seitlich im Maul gelagert und dann ausgespuckt. Es traf dann noch auf ein größeres Ding. Oben, nicht hier zu Hause. Es war fast so groß wie es selbst gewesen. Es hatte es von unten gepackt und heruntergezerrt und versucht, es zu fressen. Aber das Ding war zu groß gewesen, um auf einmal ver schlungen zu werden. Der übriggebliebene Teil war weggetrieben. Es war dem Körper gefolgt, bis ihn eine Welle aus dem Wasser getragen hatte, außer Reichweite. Dann war noch ein Lebewesen ins Wasser gefallen, langsam und plump, zum Greifen nah. Es war je doch entkommen. Seine Programmierung sagte ihm, daß es bald jagen mußte, und zwar erfolgreich. Andernfalls würde es mit Sicherheit aufhören zu existieren. Es wußte, daß jetzt ein Lebewesen in der Nähe war. Es würde es fressen.
15 »Setz dich rittlings auf die Kiste«, sagte Buck, »wie auf ein Pferd.« »Ich kann nicht, sie ist zu breit.« »Dann setz dich im Damensitz drauf. Wirf dich in Pose für mich. Tu so, als ob du’s für Playgirl machst.« Zögerlich und unbeholfen schwenkte Brian die Bei ne seitlich über die Kiste. Mit der einen Hand faßte er nach dem dicken schwarzen Kabel, das an die Oberfläche führte. Es half ihm, in der Strömung das Gleichgewicht zu halten. Er hat Angst, dachte Buck, der Brian durch den Sucher beobachtete. Noch eine Minute, und er zischt hoch zum Boot. Um ihn abzu lenken, fragte Buck: »Wie steht’s mit deiner Luft?« Brian streckte die Hand nach der Sauerstoffanzeige aus und hielt sie vor seine Maske. »Fünfzehnhun dert. Wie lange sind wir schon unten?« »Wir haben auf jeden Fall noch zehn, fünfzehn Mi nuten.« Brian lehnte sich über eine Kante des Behälters und ließ die Hand am Deckelrand entlanggleiten. »Wie willst du das Ding aufmachen?« sagte er. »Sieht nicht so aus, als ob’s irgendwo einen Riegel gibt.« »Wenn’s sein muß, gehen wir rauf und holen eine Brechstange.« »Und wenn da drin was lebt… irgend so ‘n Viech…« Buck lachte. »Die Kiste kann schon seit Jahren hier unten liegen. Was zum Teufel soll da drin leben?« Er war mit den Aufnahmen fertig und schaltete die Kamera aus. Sie baumelte an einem Lederriemen
um sein Handgelenk. »Jetzt wollen wir mal sehen, ob wir das Ding hier aufkriegen.« Brian glitt von dem Behälter herunter. Als er lande te, wirbelte er mit seinen Schwimmflossen den fei nen Sand auf und trat eine Wolke aus milchigem Schwemmsand los. Er sah, wie etwas mit der Wol ke nach oben flog und sich ein paar Meter weiter weg wieder setzte. »Was ist das?« sagte er. »Was hast du gesehen?« fragte Buck und bewegte sich langsam auf Brian zu. Brian kniete sich hin und ließ die Finger durch die Oberfläche des Sandes gleiten, bis er auf etwas Festes stieß. Er nahm es und sah es an. »Ein Kno chen«, sagte er. »Was für ein Knochen?« Brian hielt ihn hoch. Er war etwa zwölf Zentimeter lang und gebogen. »Sieht aus wie ein Rippenkno chen. Keine Ahnung, wovon.« »Der Größe nach würde ich sagen, von einem Hund.« »Was macht ein Hundeknochen hier unten?« »Ist mir ein Rätsel«, sagte Buck. »Mal sehen, ob noch mehr davon da ist.« Er ließ sich neben Brian auf die Knie fallen, und gemeinsam begannen sie zu graben. Es nahm leise Geräusche aus dem Sand in der Nä he wahr. Beute. Es tastete nach dem Auslöser. Es drückte auf den Knopf. Langsam begann sich der Deckel zu heben. »Sieh mal hier«, sagte Buck. »Ein Kieferknochen. Er ist mit Sicherheit von einem Hund, und irgend etwas hat ihn gefressen.« Er hielt den Knochen hoch und deutete auf Kerben darin. »Zahnspuren.«
Buck sah etwas Dunkles im aschfarbenen Sand und griff danach. Es war rund und schwärzlich und hart, etwa so groß wie eine Pflaume. Er strich mit dem Finger über die Oberfläche, erst in die eine Rich tung, dann in die andere. »Teufel. Brian… das ist ein Fellknäuel… wie das, was eine Katze ausspeit.« Buck stand auf und trat einen Schritt zurück. Er hielt die Kamera hoch und schaltete sie an. »Zwei Auf nahmen noch, Brian, dann gehen wir«, sagte er. »Halt ein paar Knochen und das Fellknäuel hoch. Du kannst schon zum Boot zurückgehen, wenn du willst, und ich mach’ die Kiste auf.« Es schwamm aus dem Behälter hinaus und landete auf dem Sand. Da sein Körper keine Hohlräume besaß, war es im Wasser nicht schwerelos. Es hat te negativen Auftrieb, es würde sinken. Aber da sei ne chemische Zusammensetzung wie bei all seinen Artgenossen zu über neunzig Prozent aus Wasser bestand, betrug der negative Auftrieb nur ein paar Pfund. Es konnte nahezu mühelos schweben und sich dank der Schwimmhäute an seinen Extremitä ten sehr schnell bewegen. Es konnte gewisserma ßen durch das Wasser schießen. Jetzt schnellte es vom Grund hoch und steuerte auf das eine Ende des Behälters zu. Buck hatte eine perfekte Aufnahme arrangiert. Im Vordergrund kniete Brian mit zwei Knochen in der einen und dem Fellknäuel in der anderen Hand. Das Arrangement kontrastierte gut mit dem weißen Sand. Buck drückte die Aufnahmetaste. »Gute Arbeit, Brian«, sagte er. »Jetzt lächle mal wie für einen Werbespot.« Er sah, wie Brian ein Lächeln
versuchte und zur Kamera hinaufblickte. Plötzlich riß er die Augen weit auf, warf alle Werbeutensilien von sich und schrie irgend etwas. »Brian!« sagte Buck. »Verdammte Scheiße!« Da waren zwei Dinger, nicht eines. Sie waren groß und langsam und sehr nah. Es stieß sich vom Grund ab und machte einen Satz nach vorn. Wie ein Tümmler bewegte es sich mit seinen hinteren Schwimmfüßen vorwärts. Die kurze Strecke im of fenen Wasser legte es in weniger als einer Sekunde zurück. Irgendwo in seinem dumpfen Gehirn entsann es sich flüchtig an diese Wesen; sie schienen ihm ver traut. Mit der Erinnerung wurde ihm auch sein Le benszweck wieder klar. Seine Aufgabe war es, die se Dinger zu töten. So hungrig es war und so sehr ihm eines davon als Fressen gereicht hätte. Es war darauf programmiert, beide zu töten. Es packte das eine und grub die Klauen in weiches Fleisch. Brian taumelte rückwärts in den Sand. Er beobach tete wie gelähmt, wie eine Blutwolke aus Bucks Halsschlagader hervorbrach. Sie war dunkelgrün in dieser Tiefe. Bucks Beine zuckten und wirbelten eine Wolke aus Schwemmsand auf. Seine Hände wurden nach oben gerissen. Brian konnte nicht erkennen, was Buck gepackt hat te. Aber es war groß und weißlich, und es war ir gendwoher aus der Nähe des bronzenen Behälters gekommen. In der Düsterkeit sah er etwas Silber nes aufblitzen, das immer wieder an Buckys Kehle riß, bis dessen Kopf nur noch durch Knochen und Sehnen verbunden war. Brian hastete nach hinten. Doch dann wurde ihm
klar, daß Sicherheit nicht horizontal, sondern verti kal zu finden war. Er stieß sich vom Boden ab und trat nach oben. Verzweifelt streckte er seine Hand nach dem gummiummantelten schwarzen Draht aus, der zur Boje an der Oberfläche führte. Er be kam ihn zu fassen und begann, sich hochzuziehen. Doch das Kabel hatte sich in der Strömung durch gebogen, und Brians Gewicht bewirkte lediglich, daß es sich wieder straffte. Anstatt sich selbst hochzuziehen, zog er das Kabel zu sich nach unten. Befreit von der Spannung von oben glitt der Sensor, der sich unter dem Behälter verhakt hatte, heraus und holperte den Sand entlang. Jetzt trieb das Boot oben völlig frei und trug den Sensor und Brian mit sich. Brian blickte nach unten und sah Bucks Körper, aus dem noch immer Blut quoll, auf den Sand hinabsin ken. Dann wandte sich das Ding ihm zu. Es hatte Augen, kalkweiße, farblose Augen. Es hob vom Sand ab wie eine Rakete. Es schien auf ihn zuzu schießen. Während Brian weiter strampelte und sich mit einer Hand hochzog, griff er nach dem Messer, das an seiner Wade festgeschnallt war. Seine Finger fum melten an dem Sicherheitsring aus Gummi, der das Messer in der Scheide hielt. Der dehnte sich, schnalzte zurück, dehnte sich wieder und schnellte weg. Brian riß das Messer aus der Scheide. Das Ding schoß weiter nach oben, schlug aus wie ein Delphin, machte kein Geräusch und keine Bla sen. Seine Krallen streckten sich nach Brian aus. Es waren zehn an der Zahl, jede von ihnen ge krümmt wie eine kleine Sense. Brian warf einen
Blick nach oben. Die Oberfläche war nicht mehr weit, er konnte die Sonne sehen. Helle Strahlen fielen durch das grüne Wasser. Dann sah er nach unten, und das Ding ging auf ihn los. Sein Maul öffnete sich, und ein Sonnenstrahl fiel auf zahllose Reihen dreieckiger Zähne und ließ sie glitzern wie silberne Sterne. In seine Maske schrie Brian »Nein!« Aber es war niemand da, der ihn hören konnte. Krallen gruben sich in seine Knö chel, durchbohrten sein Fleisch und zerrten ihn nach unten. Er hielt das Messer hoch und schwang es blind lings. Etwas packte ihn am Handgelenk, und Stahl splitter durchschnitten Adern und Sehnen. Das Messer fiel hinab. Er ließ das Kabel los und schlug mit der anderen Hand um sich. Aber auch sie wurde gepackt, und seine Arme wurden weit auseinander gerissen und sein Kopf zurückgestoßen. Er versuchte zu schreien. Doch als er den Mund öffnete, schlug irgend etwas dumpf gegen seine Maske und machte ihn sprachlos. Und dann spürte er die Zähne an seiner Kehle. Das letzte, was er sah, war eine Wolke seines eigenen Blutes. Sie bauschte sich vor den gelben Sonnenstrahlen, ein orangefarbener Nebel. Es spürte, daß das Ding tot war. Es hielt es immer noch mit Klauen und Zähnen fest und wand sich mit seiner Beute in einem langsamen Todesballett spi ralförmig hinab. Auf dem Grund angekommen, brachte es die Beute dorthin, wo die andere im Sand lag und in der Strömung hin- und herrollte. Und dann begann es zu fressen. Oben auf dem Wasser trieb das Boot in der Strö
mung. Es bewegte sich schnell. Das schwere Ka bel, das vom Bug herabbaumelte, zwang es in un gleichmäßige, weite Kreise. Für kurze Zeit lief es auf einem seichten Riff auf. Doch die Wellen eines fernen Schiffes hoben es leicht an, über das Riff hinaus, und schickten es weiter in Richtung Küste.
16 Chase richtete den Bug des Whalers auf einen frei en Anlegeplatz. Er befand sich am westlichen Ende des Bezirks an einem der Schwimmdocks vor dem kleinen Yachtclub. Chase war kein Mitglied des Clubs. Er spielte nicht Tennis, segelte keine Regat ten und trug keine pastellfarbenen Freizeithosen mit Entenmuster, aber er kannte die meisten Mitglieder seit Jahrzehnten und mochte viele von ihnen. Sie waren nie abgeneigt, ihm einen ihrer begehrten An legeplätze leihweise zu überlassen. Das Wasser war in dieser Stunde nach Sonnenauf gang spiegelglatt, als hätte sich die heutige Brise noch nicht entschieden, in welche Richtung sie we hen sollte. Die Seevögel hatten noch nicht zu fres sen begonnen, so daß die kleinen Fische, die ziel los zwischen den vor Anker liegenden Yachten her umschwammen, kaum eine Welle bewegten. Chase legte den Schaltknüppel wieder in den Leer lauf. Er drehte den Schlüssel um und schaltete den Motor ab. Das Boot glitt sanft an den Landungs platz. Er sah Max am Bug stehen, bereit, das Boot gegen den Kai abzufendern, und sagte zu sich selbst: Halt deinen Mund, sag ihm nicht schon wie der, daß er aufpassen soll, damit er sich nicht die Finger zwischen Boot und Kai einklemmt. Sag ihm nicht schon wieder, daß er auf sein Gleichgewicht achten soll, damit er nicht über Bord fällt. Max ging in die Knie, konzentrierte sich und bedien te perfekt die Fender. Dann sprang er mit der Leine in der Hand auf den Kai und vertäute sie wie ein
Profi. Chase sagte nichts, während sein Sohn die Heckleine belegte. Er gratulierte ihm nicht, nickte ihm nicht einmal anerkennend zu, weil er seine Ar beit gut gemacht hatte. Doch er gratulierte sich selbst, als er Max stolz lächeln sah. In diesem Mo ment lernte er etwas, was mindestens ebenso schwer war wie die Aufgabe, Vater zu sein: wann und wie man aufhören sollte, Vater zu sein. Er reichte Max seinen Rucksack und kletterte auf den Kai. Zusammen gingen sie zum Parkplatz. Eine einsame Möwe schrie in der Ferne, und irgendwo in der Gegend bellte ein Hund. Ansonsten war das lauteste Geräusch, das sie hörten, das sanfte Ra scheln ihrer Füße auf dem taufrischen Gras. Dann ertönte durch die Baumkronen das gedämpfte Ding dong einer Kirchenglocke, die sechsmal schlug. »Sechs Uhr«, sagte Max und blickte sich um wie auf einer Entdeckungstour. »Ich war noch nie um sechs Uhr auf. Niemals. Ich meine, seit ich mich erinnern kann.« »Um diese Tageszeit ist alles neu und frisch«, sagte Chase. »Es ist die Zeit, in der man an die zweite Chance glaubt.« »Ich hätte dich schon früher begleiten sollen.« Max wollte noch etwas sagen. Er hielt kurz inne, holte tief Luft und sagte: »Du machst dir Sorgen wegen Geld, stimmt’s… daß du vielleicht die Insel ver lierst?« »Nicht um sechs Uhr morgens.« Chase lächelte. »Es ist unmöglich, sich um sechs Uhr morgens we gen Geld aufzuregen.« Sie erreichten den Parkplatz. Chase lehnte sich ge gen die Mauer des Clubhauses und dehnte seine
Glieder. Währenddessen öffnete Max den Rucksack und breitete seine Sachen auf dem Gehsteig aus. Die ersten Tage, an denen Max bei ihm war, war Chase, der wie immer automatisch um fünf oder halb sechs aufwachte, allein losgelaufen und hatte die Insel sechsmal im Dauerlauf umrundet. Das war eine Strecke von ungefähr zwei Meilen. Er hatte sich geduscht, rasiert, angezogen und gefrühstückt und war bereits an seinem Schreibtisch oder in ei nem der Labors gewesen, wenn Max um acht oder neun Uhr aufstand, mürrisch und wortkarg, bis ihm von Mrs. Bixler Ei und Traubenzucker eingeflößt wurden. Gestern abend hatte Max ohne ersichtli chen Grund gefragt, ob er seinen Vater morgens begleiten könne. »Sicher«, hatte Chase gesagt. »Warum?« »Ich will nichts verpassen.« »Was gibt’s da zu verpassen? Du schnaufst und keuchst.« »Und fühlst dich großartig, stimmt’s?« »An guten Tagen schon. Du tankst Endorphine. Und du fühlst dich großartig.« »Darum«, hatte Max gesagt, »will ich mitkommen.« Chase hatte den Jungen nicht weiter bedrängt. Auf einmal hatte er überglücklich begriffen, was Max wirklich sagte: daß er einem Monat hatte, um mit seinem Vater zusammenzusein. Auch wenn er es vermutlich nicht wußte, daß er danach suchte, konnte er nun Dinge entdecken, Antworten finden, Rätsel lösen, die ihn betrafen. Dreißig Tage, um acht Jahre wettzumachen. Wie ein Archäologe, der nach Hinweisen auf ein untergegangenes Volk sucht, war Max entschlossen, den Wildwuchs der
Jahre wegzureißen und herauszufinden, wer er war und woher er kam. Aber es gab ein Problem. Max wollte eigentlich gar nicht joggen. Er wollte Rollerskates fahren. Sein Eishockeytrainer hatte ihm nämlich gesagt, das sei die beste Möglichkeit, um auf dem Eis besser zu werden. Vielleicht konnte er dann im nächsten Win ter in der Eishockeymannschaft seiner Schule mit spielen. Also mußten sie in die Stadt fahren. Denn auf Osprey Island gab es keinen Asphalt, und man konnte höchstens zwei Meter weit rollerskaten. Chase hatte hin und her überlegt, ob er Max dazu drängen sollte, mit ihm auf der Insel zu laufen. In seinen Augen war es geradezu pervers, Benzin auf der Suche nach asphaltierten Wegen zu ver schwenden, anstatt auf dem Gras und den Felsen in freier Natur zu laufen. Doch während er sich in Gedanken seine Worte zurechtlegte, merkte er, daß er mit seinem erhobenen Zeigefinger eine richtige Nervensäge war. Also hatten sie den Whaler genommen, hatten die Insel bei Sonnenaufgang verlassen und waren nach Waterboro gefahren. Als sie über das flache Was ser geglitten waren, hatte Chase das nagende Ge fühl überkommen, daß irgend etwas nicht stimmte… fehlte oder nicht an seinem Platz war oder ein fach… nicht in Ordnung war. Er wußte nicht, was es war, aber es war da, irgendwo in seinem Kopf. Seine Boje. Das war es. Die eine, die er und Tall Man vor kurzem hinabgelassen hatten, um den Sensorkopf zu markieren. Sie hatten vorgehabt, zurückzukommen, nach dem Sensor zu tauchen und ihn wieder hochzuholen. Doch sie benötigten
ein Ersatzteil aus New London für den Kompressor und hatten deshalb keine Luft. Dann waren sie mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Der Sensor würde ihnen schließlich nicht weglaufen. Aber wo war die Boje? Er hätte sie sehen müssen, als sie sich Napatree Point näherten, aber er hatte sie nicht entdeckt. Dann waren sie schon an Na patree vorbeigewesen, und als er nach Osten ge blickt hatte, hatten ihn die Strahlen der aufgehen den Sonne geblendet. Er gab es auf. Die Boje war mit Sicherheit da, und sie würden sie auf dem Rückweg finden. Chase hörte auf, sich zu strecken, und tat beschäf tigt. Er verknotete seine Laufschuhe doppelt und machte Kniebeugen. Währenddessen beobachtete er, wie Max sich in sein umfangreiches Outfit warf: Knieschützer, Ellbogenschützer, Helm und schließ lich ein Paar schwarze, hohe Schnürschuhe mit gelben Plastikrädern an den Sohlen. Der Junge sah aus wie ein Roboter aus einem drittklassigen Film. Alles, was Chase sagte, war: »Das ist jetzt aber sicher, oder?« »Klar.« »Also, wozu brauchst du die ganzen Polster?« »Na ja… es kann ganz schön hart werden zu stop pen.« »Dann bist du also wie ein D-Zug, der nicht mehr aufzuhalten ist.« Chase grinste. »Okay, Killer, los geht’s.« »Wohin?« »Du kennst die Gegend noch nicht.« Chase be schrieb die Route mit dem Finger. »Wir machen einen Rundlauf. Die Beach Street runter bis zu der
kleinen Landzunge, dann die Oak Street rauf und hierher zurück. Das ist über eine Meile. Wenn du dann immer noch nicht genug hast, können wir noch zur Route 1 zischen und zurück.« »Okay.« Max stand auf dem Gras auf, wackelig wie ein neugeborenes Kalb, und humpelte auf den As phalt. Als er einen Fuß auf den harten Boden setz te, rutschte er aus. Er geriet ins Wanken, ruderte mit den Armen, schwankte, spreizte die Beine und gewann die Balance wieder. Er lächelte verlegen und sagte: »Bißchen aus der Übung.« »Das soll ein Sport sein?« rief Chase mit gespielter Bestürzung. »Gott, dann können wir nach dem Frühstück auch eine freundschaftliche Partie Rus sisch Roulette spielen.« »Schau mal«, sagte Max. Er beugte sich vor, stieß sich mit einem Fuß ab und machte ein paar lange, ausholende Schritte. Die Arme ausgebreitet, be schrieb er einen graziösen Kreis über den Park platz. Chase beobachtete ihn verblüfft. Dann reckte Max triumphierend die Faust und lief auf die Straße zu, die in die Stadt führte. Chase wollte rufen und vor dem Verkehr und den Fußgängern warnen. Vor all den Gefahren, denen man ausgesetzt war wenn man zu schnell erwach sen wurde. Aber er tat es nicht. Er holte ein paarmal tief Luft und begann zu laufen. Als er den sanften Hügel erreichte, der in die Stadt führte, roch er den Duft von Zimtbrötchen und gebratenem Speck. Die beiden Restaurants in der Baker Street verköstigten die Einheimischen, die bei Electric Boat Frühschicht hatten. So früh morgens war kein Verkehr, und er lief mitten
auf der Baker Street. Er winkte Sally zu, die vor dem Wochenmarkt Gemüse aufstapelte, und Les ter, der hinter seinem Spirituosengeschäft Bierkäs ten von seinem Laster lud, und Earl, der hinter der selben Ladenfassade schon Zeitungen, Zeitschrif ten, Zigaretten, Kaugummis und Taschenbücher verkauft hatte, als Chase noch längst nicht geboren war. Jeder winkte zurück, jeder hatte ein paar Worte für ihn. Chase bedauerte auf einmal, daß er nicht öfter in die Stadt kam. Sie bedeutete Heimat, und die Menschen hier bedeuteten ein Stück Heimat. Er fragte sich, ob er seine Leidenschaft für die Insel nicht übertrieb und sich selbst zum Einsiedler mach te. Er lief am Veterans Square und dem alten Bankge bäude vorbei, in dem noch immer eine zerfledderte Fahne ausgestellt war. Sie hatte damals an der Landzunge geweht, als die Engländer aus einer boshaften Laune heraus Waterboro im Krieg von 1812 unter Beschuß genommen hatten. Chase traf Max am Ende der Landzunge, wo sie einen Augenblick lang gemeinsam den Sonnenauf gang bewunderten. Dann kehrten sie um. Max fuhr im Zickzackkurs wie ein Minensuchboot vor seinem Vater her. Sie schlängelten sich durch die kleinen Seitenstraßen, bis sie auf die Oak Street kamen. Dort erinnerten stattliche Kapitänshäuser an die glorreichen Tage des Walfangs. Die Oak Street war breit, gerade, offen und leer. »Ich zisch’ los«, sagte Max. »Wir sehen uns am Club.« »Schieb ab. Aber sei – «
Doch Max war weg. Er wirbelte mit den Beinen durch die Luft und schwang die Arme, den Kopf nach unten und mit gebeugtem Rücken. Die Gum miräder surrten auf dem Asphalt. Chase sprintete ihm nach, mehr wegen des Trainings als in der Hoffnung, mithalten zu können. Aber nach zwei Blocks war er außer Atem. Er ver langsamte sich wieder auf sein normales rhythmi sches Lauftempo. Max zog davon, erst einen Block voraus, dann zwei, und schließlich wurde er zu ei nem dunklen, verschwommenen Fleck, der die schattige Straße hinunterjagte. Chase sah das Mädchen zuerst. Sah, wie sie aus der Haustür trat und sich umdrehte, um die Tür zu zuziehen. Sie überquerte den Gehsteig und sah nicht auf die Straße, sondern nur in ihre Einkaufsta sche. Dann trat sie auf die Straße, ohne sich umzu sehen. Er schrie, aber seine Worte verhallten im Wind. Max sah sie vermutlich zu keinem Zeitpunkt, denn er hielt den Kopf nach unten. Mit Sicherheit hörte er sie zu keinem Zeitpunkt, denn die Polster des Helms preßten sich fest gegen seine Ohren. Chase sah, wie der Kopf des Mädchens plötzlich hochge rissen wurde, ihr die Einkaufstasche aus der Hand fiel und sie die Hände vor dem Gesicht zusammen schlug. Dann mußte Max sie wahrgenommen haben. Ir gendwie hatte er wohl ihre Gegenwart gespürt, denn mit einem Ruck richtete er sich auf und ver suchte, nach rechts zu steuern. Mit dem einen Fuß mußte er den anderen getroffen oder gekreuzt ha ben, denn seine Füße kamen plötzlich zum Stehen,
und sein Oberkörper wurde nach vorn katapultiert. Mit einem der Arme, mit denen er durch die Luft ruderte, traf er das Mädchen und schleuderte es gegen ein geparktes Auto. Dann prallte es zurück und fiel in seinem gebauschten blauen Baumwoll rock auf die Straße. Chase sah, wie Max einen Augenblick lang wie in Zeitlupe durch die Luft flog. Dann fiel er wie ein ab geschossener Vogel hinab, wobei er zuerst mit den Knien, dann mit den Ellbogen und schließlich mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Er überschlug sich einmal und blieb reglos liegen. Sein Vater setz te zu einem Sprint an und fluchte und betete im Geiste, während sein Körper nach Sauerstoff schnappte. Er sah, wie das Mädchen nach der Stoßstange ei nes Autos faßte und sich daran hochzog. Sie ging zu Max hinüber, kniete sich neben ihn und berührte sein Gesicht. Max setzte sich auf. Sie sahen sich an und Max sagte irgend etwas. Das Mädchen schüt telte den Kopf. Chase sah, wie das Mädchen ihm den Kopf zu wandte, ihn bemerkte und plötzlich auf die Füße sprang. Sie griff nach ihrer Einkaufstasche und ver schwand mit einem letzten Blick auf Max in einer Gasse zwischen zwei Häusern. Als Chase endlich bei Max ankam, war das Mädchen fort. Max war auf allen Vieren. Er streckte eine Hand aus, und Chase zog ihn daran hoch und legte einen Arm um seine Hüfte, um ihm sein Gleichgewicht zurückzugeben. »Alles okay?« »Klar.« Max lächelte matt. »Deshalb die Polster.« Er deutete auf seine Knie, und Chase sah, daß der
Stoff auf den Knieschützern zerschlissen war. »Was ist mit dem Mädchen?« »Alles okay… sie ist nur ein bißchen mitgenom men.« »Hat sie das gesagt?« »Nein… nicht direkt.« Max runzelte die Stirn, als sei er sich nicht ganz sicher, was das Mädchen gesagt hatte. »Woher weißt du dann, daß mit ihr alles okay ist?« »Ich weiß nicht… ich weiß es einfach.« »Max…« Chase spürte, wie die Wut in ihm hoch stieg. Er versuchte, sie zu zügeln. »Sieh mal, du hast das Kind über den Haufen gefahren. Vielleicht ist sie verletzt und weiß es nicht. Vielleicht sucht sie jetzt auch nach einem Arzt.« »Tut sie nicht«, sagte Max schroff. »Warum ist sie weggerannt?« »Weiß ich nicht.« »Was hat sie gesagt?« »Nichts.« »Was soll das heißen, nichts? Etwas muß sie doch gesagt haben… vielleicht >Alles okay< oder >Wie geht’s dir?< oder >Warum paßt du nicht auf, wohin du fährst? <« »Nein«, sagte Max, »sie hat zu keinem Zeitpunkt etwas gesagt. Sie kam herüber, und ich sagte: >Tut mir echt leid, ist mit dir alles okay?< Und sie hat einfach nur mein Gesicht berührt und gelächelt. A ber es war, als ob sie etwas sagte, als ob ich in meinem Kopf die Worte hören konnte.« »Was für Worte?« »Ich bin mir nicht sicher, vielleicht waren es nicht einmal richtige Worte, eher eine Art Gefühl… viel
leicht > Keine Sorge!* und >Ein Glück, daß du nicht verletzt bist< oder so.« Max hielt einen Augenblick inne. »Dann hat sie dich gesehen und ist abgehau en.« »Herrgott, wir wissen nicht einmal, wer sie ist. Ich hab’ nicht darauf geachtet, aus welchem Haus sie kam.« Chase blickte die Gasse hinunter, als erwar tete er, das Mädchen dort zu sehen. Aber die schmale Straße war leer. Dann wandte er sich wie der zu Max um. »Und jetzt«, sagte er und deutete auf Max’ Plastikräder, »hast du vielleicht die Güte, diese Dinger abzulegen, und wir gehen zu Fuß zu rück zum Club?« »Nein, es ist schon okay, machen wir weiter. Der Helm ist das Problem. Ich hab’ sie nicht gehört.« »Dann bleib dicht an meiner Seite, ich werd’ für dich Augen und Ohren sein.« »Gut«, sagte Max. »Ich werde dich umkreisen wie einen Verteidiger.« Chase lächelte. »Toll. Vielleicht können wir uns dann auf der Intensivstation ein Zimmer teilen.« Er fing an zu traben. Als sie das Ende der Straße erreichten, überlegte Chase. Sie konnten zurück zum Club laufen, ins Boot klettern und wieder zur Insel fahren. Oder sie konnten sich mehr Zeit nehmen, weiter trainieren und sich durch die kleinen Seitensträßchen auf der Ostseite des Ortes schlängeln. Er joggte auf der Stelle und beobachtete Max, der fröhlich rückwärts fuhr und einen Phantasie-Puck mit einem imaginären Eishockeyschläger anvisierte. Chase entschied, daß dem Jungen wirklich nichts fehlte und daß er das Training gebrauchen konnte.
Also bog er die Oak Street rechts ab und lief auf den großen roten Ziegelsteinbau zu, der einst eine Schule gewesen war und jetzt bewohnt wurde. Die Straße endete an einer brusthohen Steinmauer neben dem Gebäude. Normalerweise hätte Chase ein paar Meter vor dem Ende der Sackgasse ge wendet. Doch in der Bucht dahinter sah er einen Schwarm fressender Seeschwalben, und das Son nenlicht auf ihren weißen Körpern und auf dem Wasser, das sie beim Tauchen hochspritzten, sah aus wie ein Sprühnebel aus Diamanten. Chase lief weiter auf die Mauer zu und machte Max auf die Vögel aufmerksam. Der zischte an ihm vor bei und kam in einer Drehung zum Stehen. Einen Augenblick lang beobachteten sie die Seeschwal ben. Dann drehten sie um, und als Chase den Blick vom Wasser abwandte, entdeckte er etwas in den Felsen am Ufer. Er stutzte. »Was ist?« fragte Max. »Ich bin mir nicht sicher.« Chase sah noch einmal hin und ließ die Augen über den schmalen Streifen aus Kieselsteinen und Felsen wandern. Max lehnte sich neben ihm über die Mauer. »Wohin schaust du?« »Zu dem Haufen Tang dort«, sagte Chase und deu tete die Richtung an. Eine Welle hob den Tangklumpen und schwemmte ihn ein paar Meter näher an die Küste. »Dad!« schrie Max. »Das ist eine Hand!«
17 Die Finger waren zusammengekrallt, als ob das Opfer im Augenblick seines Todes versucht hatte, an etwas hochzuklettern, nach etwas zu greifen o der etwas abzuwehren. »Bleib hier«, sagte Chase und stemmte sich auf die Mauer. Er schwang die Beine darüber und ließ sich auf den Kiesstrand fallen. »Aber Dad…« Max schnürte bereits seine Roller skates auf. »Bleib hier!« Während er zu dem Tangklumpen ging, grübelte Chase, ob irgend jemand vermißt gemeldet war. Dann überlegte er, wie lange die Lei che eines Ertrunkenen brauchte, um wieder an die Oberfläche zu steigen. Er kannte den Vorgang: Nach einer Weile bildeten sich Gase in dem toten Körper, und wenn sie sich ausdehnten, trieb die Leiche an die Oberfläche. Der Tangklumpen war riesig. Er reichte weit aufs Wasser hinaus. Chase wollte die Hand nicht berüh ren. Was, wenn sie das einzige Überbleibsel war oder der übrige Körper so verfault, daß er zerfiel? Mit einem seiner Laufschuhe schob er die gummiar tigen Tangstränge beiseite. Dann sah er einen Kopf und Reste eines Gesichts. Die Galle kam ihm hoch und floß ihm in den Mund. Er fiel auf die Knie, hustete und erbrach sich. Die Haut war weißlichgrau. Augen, Ohrläppchen und Lippen fehlten. Im Tang hatte sich noch mehr von der Leiche verheddert. Zerfetztes weißes Fleisch ohne Blut war mit Strängen eines Neoprenanzugs
verschnürt. »Ruf die Polizei«, sagte er zu Max. »Geh die Beach Street runter bis zu dem Zeitungsladen, und sag Earl, er soll die Polizei rufen.« »Wer… wer ist es?« »Ich weiß es nicht.« »Was ist passiert?« »Jetzt geh!« sagte Chase. Fast im selben Augen blick hörte er Max’ Räder auf der Straße rattern. Als Chase glaubte, ohne Würgen wieder hinsehen zu können, kroch er näher. Das Gesicht war nicht zu erkennen. Aber irgend etwas an der Hand kam ihm bekannt vor. Die Uhr. Die Uhr um das Handge lenk mit den zusammengekrallten Fingern war eine jener Taucheruhren, die alles machten außer So cken zu waschen. Sie zeigten in jeder Zeitzone der Erde an, wie spät es war. Sie hatten Fenster für Unterwasserzeit, Stoppzeit und Mondphasen. Die Uhr gehörte einem absoluten Freak, der solche Spielereien liebte. Er hatte sie schon einmal gese hen. Aber wo? Dann fiel es ihm ein: Bei Bauholz Waterboro hatte der Besitzer ihm einen Kanister mit WD-40 hin gehalten. Er hatte eine Bemerkung über die Uhr gemacht. Das hatte den anderen animiert, ihm jede einzelne Funktion zu erläutern. Schließlich erfuhr er noch, wie er eine bestellen konnte. Buck Bellamy, das war’s. Konnten das die sterbli chen Überreste von Buck Bellamy sein? Aber wa rum? Buck war ein hervorragender Segler, ein staatlich geprüfter Taucher, und in der Schule war er ein erstklassiger Schwimmer gewesen. Er war tauchen gewesen, das bewies der Neoprenanzug.
Was konnte ihn getötet haben? Vielleicht hatte er schlechte Luft benutzt – manch mal achteten die Leute nicht darauf, wo sie ihre Sauerstoffflaschen auffüllten, und starben an einer Kohlenmonoxidvergiftung. Vielleicht hatte er einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlitten, oder er war von einer Schiffsschraube zerfleischt worden, oder… weiß Gott was. Chase streifte mehr Tang beiseite. Dann sah er den anderen Arm. Das Fleisch zwischen Ellbogen und Schulter war verschwunden. Im Oberarmknochen waren tiefe Kerben. Es sah aus, als hätte ein großer Fisch oder ein kleiner Hai den Arm gepackt und hinund hergeschüttelt und an ihm genagt wie ein Hund an einem Knochen, der zu groß ist, als daß er ihn zermalmen könnte. Um das Handgelenk hing ein Lederriemen. Daran war ein Stahlgehäuse mit einer Videokamera befestigt. »Jetzt berichte du mir, Simon«, sagte Polizeichef Roland Gibson. »Du bist der Haiexperte. Welcher Hai leistet solche Arbeit?« »Keiner«, sagte Chase. »Keiner, den ich kenne. Nicht in dieser Gegend.« Sie saßen in Gibsons Büro im Polizeirevier an der Route 1. Polaroidaufnahmen von Buck Bellamys sterblichen Überresten lagen auf Gibsons Schreib tisch verstreut. Bucks Videokamera war an einem Fernseher im Bücherschrank angeschlossen. Ein Streifenwagen war innerhalb von fünf Minuten gekommen, ein Rettungswagen wenige Minuten später. Bis der Leichnam fotografiert, verpackt und zur Obduktion nach New London gebracht worden war, hatte sich eine kleine Menschenmenge an der
Steinmauer versammelt. Auf Gibsons Bitte hin hatte man Chase und Max aufs Revier gebracht und ihre Aussagen zu Protokoll genommen. Jetzt saß Max im Vorzimmer, während Chase und Gibson sich unterhielten. »Das ist ja schön, Simon«, sagte Gibson. »Erst er zählst du mir, es sieht aus, als habe ein Hai ihn an gegriffen. Und dann sagst du, hier gibt es überhaupt keine Haie, die Menschen anfallen.« »Ich habe nicht gesagt, daß ein Hai ihn angegriffen hat, Rollie. Ich habe gesagt, es sieht aus, als ob ihn vielleicht ein Hai gebissen hat… nachdem Buck be reits tot war.« »Wie kommst du darauf?« »Haie greifen generell selten an, und in dieser Ge gend ist es noch nie vorgekommen. Die Wahr scheinlichkeit, von einer Wildkatze oder einem Hausschwein getötet zu werden, ist größer, als daß ein Hai zuschlägt. Erst einmal gibt es in den Ge wässern hier verdammt wenig gefährliche Haie. Sandhaie sind Bodenfresser. Sie würden nie einem Schwimmer nachjagen, erst recht nicht einem Tau cher. Aber sie könnten an einem toten Körper am Grund knabbern. Makos sind selten, und sie sind Einzelgänger. Sie leben in tiefen Gewässern und folgen Schwärmen von Hochseefischen, Thunfi schen und Seehechten. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Mako Flachwasser aufsucht, steht eins zu einer Million, vor allem bei trübem Flachwasser wie in dieser Gegend hier. Ein Blauhai wäre noch am wahrscheinlichsten. Ein Blauhai könnte einen Menschen angreifen, wenn er blutet. Und wenn ein paar von ihnen hinter einem
her wären, würden sie ihn in Stücke reißen. Aber dann würden wir den Beweis sehen – die Bißwun den wären eindeutig.« »Wie ist es mit weißen Haien? Die gibt es hier. Das hast du mir selbst gesagt.« »Manchmal«, sagte Chase, der Gibson nichts von dem großen weißen Hai erzählen wollte, den er und Tall Man erst letzte Woche mit dem Sender ausges tattet hatten. Das letzte, was er wollte, war, daß ei ne Armada blutrünstiger, blöder Machos einen Massenfeldzug gegen weiße Haie startete. »Aber selten… fast nie. Und zum Teufel, wenn ein großer weißer Hai Buck hätte fressen wollen, dann hätte er ihn gefressen. Punkt. Er könnte ihn verse hentlich angegriffen haben, weil er ihn für einen Seehund hielt. Taucher sehen nämlich in ihren An zügen für Haie wie Seehunde aus. Aber dann wäre Buck vermutlich in der Mitte durch getrennt worden. Wir könnten dann die andere Hälf te finden oder auch nicht. Aber wenn, dann wären die Bißwunden eindeutig: große, scheußliche Halbmonde. Mit Sicherheit würden wir ihn nicht mit herausgerissener Kehle und vereinzelt herausge bissenen Fleischfetzen finden, als ob er bei einem Bankett serviert wurde.« Gibson schwieg einen Augenblick. »Ich glaube, wir müssen abwarten, was die Obduktion ergibt. Viel leicht ist es so, wie du sagst, und Buck ist einfach gestorben. So was kommt vor.« Es klopfte, und ein Polizist trat ein. »Sie haben Bucks Bruder gefunden, Chef«, sagte er. Er zögerte einen Augenblick, dann fügte er hinzu: »Drüben auf Seagull Point.«
»Was ist los? Sie sehen ja schlimm aus.« »Er ist auch tot. Halb aufgefressen. Genau wie der andere. Wie Buck. Der einzige Unterschied ist, daß Brian eine Messerscheide ans Bein geschnallt hat te.« »Nur die Scheide?« sagte Gibson. »Kein Messer?« »Nein, das Messer war weg. Und die Scheide hat einen dieser Sicherheitsverschlüsse aus Gummi, das Messer kann also nicht einfach herausgefallen sein.« »Was bedeutet, daß Brian es rausgezogen und in der Hand hatte.« Gibson blickte Chase an. »Soviel also zu natürlichen Ursachen, meinst du nicht auch?« Er nickte dem Polizisten zu. »Danke, Tom my.« »Draußen wartet Nate Green und möchte Sie spre chen.« »Scheiße. Ich hab’ gewußt, daß diese verdammte Presse sich drauf stürzt.« Gibson seufzte. »Eigent lich können Sie ihn auch reinschicken. Sonst ver breitet er noch in ganz Connecticut, daß Hannibal Lecter neuerdings bei uns Menschen frißt.« Als der Polizist gegangen war, sagte Gibson zu Chase: »Wenigstens ist es Nate und nicht irgendein Stre ber, der sich den Pulitzerpreis verdienen will. Nate kann ich mit ein oder zwei Exklusivinterviews und ein paar Whiskys im Zaum halten.« Nate Green war Reporter der Chronicle in Waterbo ro und blickte auf dreißig Jahre Berufserfahrung zurück. Früher hatte er davon geträumt, für eine Tageszeitung in der Großstadt zu schreiben. Schließlich brachte er jedoch sein bescheidenes Talent mit einem geruhsamen Leben an der Küste
in Einklang. Der Journalist trat ein und machte die Tür hinter sich zu. Er war Mitte Fünfzig und eine schwammige und übergewichtige Erscheinung. Seine Trinkerna se war mit Adern durchzogen, seine Wangen ähnel ten einer Straßenkarte. »Wie ich höre, herrscht Aufregung«, sagte er lä chelnd zu Gibson, gab Chase die Hand und nahm auf dem leeren Stuhl gegenüber dem Schreibtisch Platz. »Vielleicht«, sagte Gibson. »Tu mir einen Gefallen, Nate, und zieh keine vorschnellen Schlüsse.« »Ich hab’ gehört, Buck hatte eine Videokamera bei sich.« Gibson zögerte einen Augenblick, bevor er sagte: »Ja, aber es ist Wasser reingelaufen, und das Band ist naß geworden. Vielleicht war es auch einer mei ner genialen Leute, als er den Film rausgenommen hat, ich weiß es nicht. Jedenfalls ist nicht viel drauf.« »Was dagegen, wenn ich’s mir ansehe?« »Nur, weil ich dir vertraue.« Gibson gab Chase ei nen Wink. Der stand auf, schaltete den Fernseher ein und drückte an der Videokamera auf »Play«. »Aber behalt das alles für dich. Wir wissen nicht genau, was passiert ist.« »Du kennst mich doch, Rollie«, sagte Green. Ein verschwommener Brian Bellamy erschien auf dem Bildschirm. Das Band flimmerte und hüpfte, als ob das Bild nicht richtig eingerastet wäre. Brian schien irgend etwas in die Kamera zu halten. Dann hörten sie Bucks Stimme, die Brian aufforderte zu lächeln. Dann veränderte sich Brians Gesichtsaus
druck. Er riß Mund und Augen weit auf, ließ fallen,
was auch immer er in der Hand hielt, und schrie
etwas Unverständliches.
»Sieht aus, als ob er irgend etwas gesehen hat«,
sagte Green.
»Ja«, sagte Chase, »aber was?«
Sie hörten Buck rufen: »Brian! Verdammte Schei ße!«
»Hört euch das an«, sagte Gibson. »Buck schnauzt
ihn an, vielleicht hat Brian ihm was vermasselt…
oder er hat durchgedreht.«
Plötzlich zoomte die Kamera auf den sandigen
Grund, und der Bildschirm wurde dunkel. Rufe und
Schreie waren zu hören, und die Kamera schlenker te wieder nach oben und wirbelte in einer ver schwommenen Wolke herum. Das Wasser schien
sich grünlich zu färben.
»Was ist das?« fragte Green.
»Könnte Blut sein«, sagte Chase, »je nachdem, wie
tief sie unten waren. In mehr als zehn Metern Tiefe
sieht Blut grün aus.«
Die Kamera fiel wieder auf den Grund, langsamer,
als ob jemand sie fallen gelassen hätte. Auf dem
Bildschirm sah man nur noch Wasser.
Ein letztes Wort war zu hören, eine Stimme, die
»Nein!« schrie.
»Wer war das?« fragte Green.
»Wissen wir nicht«, sagte Chase.
»Laß es mich noch mal sehen, Simon«, sagte Gib-
son.
Chase spulte das Band zurück und ließ die Szene
noch einmal ablaufen. Als sie vorbei war, sagte
Gibson: »Sieht mir so aus, als ob Brian Buck umge
bracht haben könnte.« »Und was hat dann Brian getötet?« »Vielleicht haben sie sich gegenseitig umgelegt.« Green schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Sie waren sich so nahe, wie Brüder es nur sein können. Brian verehrte Buck. Warum sollte er ihn umbringen?« »Drogen«, sagte Gibson. »Brian hatte eine Vorge schichte. Könnte sein, daß er einen Rückfall hatte und durchdrehte.« »Nein, Brian hatte einen höllischen Respekt vor Drogen. Er ging zu jedem Treffen der Anonymen Drogenabhängigen, von dem er hörte. Und wenn es keins gab, dann ging er zu den Anonymen Alkoholi kern oder… selbst zur Kirche, wenn es sein mußte. Ich erinnere mich, daß er mir eines Tages, als ich bei ihm tankte, erzählte, er hätte schon so viele Ge hirnzellen abgetötet, daß er auf diejenigen achtge ben mußte, die ihm noch geblieben waren. Ab und zu ein Bier war alles, was er sich erlaubte. Die Bel lamys sollen sich gegenseitig umgebracht haben? Nein, Rollie, das ergibt überhaupt keinen Sinn.« »Hast du ‘ne bessere Idee?« Gibson lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte an die Decke. »Einfach ein Rätsel, würde ich meinen«, sagte Green. »Geheimnisvolle Todesfälle treiben die Auf lage in die Höhe.« »Weil die Leute sich vor Angst in die Hose ma chen«, sagte Gibson. Nach einem langen Augenblick sah Gibson de monstrativ auf seine Uhr und stand auf. »Weil wir gerade von abgetöteten Gehirnzellen sprachen… es ist erst halb zehn morgens und schon ein ver
dammt langer Tag gewesen.« Er zog einen Schlüs sel aus der Hosentasche und öffnete die unterste Schublade seines Aktenschranks. Gibson förderte eine Flasche Scotch und einen Stoß Pappbecher zutage und ging zurück zum Schreibtisch. Er goß fünf Zentimeter Whisky in ei nen Becher, reichte ihn Green, aß noch einen ein und reichte ihn Chase, der verneinend den Kopf schüttelte. Dann nahm er selbst einen Schluck und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Kriegst du Be such zur Flottenparade, Nate?« »Meine Schwester und ihre Kinder. Wahrscheinlich werden sie irgendeine Ausrede finden, um eine Woche hier rumzuhängen.« Green nippte an sei nem Whisky. »Teufel noch mal.« Chase wußte nicht, warum Gibson auf die Parade zu sprechen kam. Er wollte nichts davon hören. Er wollte mit Max auf die Insel zurückfahren und mit seiner Arbeit anfangen. Er beugte sich vor, als woll te er sich erheben, und begann zu sprechen. Doch Gibson schnitt ihm das Wort ab. »Man sagt, es ist die größte Flottenparade, die es je gab. Die Leute kommen von überall her. Besonders jetzt, wo sie sich im Kasino nachts und bei Regen die Zeit vertreiben können.« »Sagt man«, sagte Green. »Könnte uns ‘ne prima Vitaminspritze geben.« »Hm.« Jetzt erkannte Chase, worauf Gibson hinauswollte, und ihm war klar, daß er sitzen bleiben und zuhören mußte. »Also, Nate«, sagte Gibson, »ich weiß doch, daß du deine Seiten vollkriegen mußt. Wie war’s, wenn Si
mon und ich dir auf die Sprünge helfen würden?« »Okay.« »Erstens kann es unmöglich ein Haiangriff gewesen sein. Simon hat mir dazu fast so etwas wie eine ei desstattliche Erklärung abgegeben. Stimmt’s, Si mon?« »Mehr oder weniger«, sagte Chase. »Ich sagte – « »Und das Videoband«, sagte Gibson zu Green. »Denk dran, du bist der einzige, der es gesehen hat. Das ist so was wie eine Exklusivnachricht. Du findest doch auch, daß Brian offensichtlich durch gedreht ist?« »Oder etwas gesehen hat, was ihn dazu gebracht hat.« »Was gesehen hat? Den Weihnachtsmann vom letzten Jahr?« Gibson lachte schallend auf. »Nun, das ist die Frage.« »Was ich sagen wollte, ist: Dort unten gibt es nichts zu sehen. Es gibt nur einen einzigen Schluß, den ein vernünftiger Mensch ziehen kann. Brian hat ei nen LSD-Flashback oder so was gekriegt, ist auf Buck losgegangen und dabei schließlich selbst um gekommen.« »Woher kommt das ganze Blut?« »Brians Messer.« »Brian hatte ein Messer?« »Klar«, sagte Gibson. »Hab’ ich dir das nicht er zählt? An sein Bein geschnallt. Aber als man ihn fand, war das Messer weg. Also das ist noch eine Exklusivnachricht für dich.« Green stellte seinen Becher auf den Schreibtisch und wandte sich an Chase. »Was glauben Sie, Si mon?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte Cha se. »Aber es scheint alles ein bißchen – « »Hast du eine bessere Erklärung?« schnauzte Gibson ihn an. »Nein«, sagte Chase. Er hatte tatsächlich keine. Das einzige, was er notfalls schwören könnte, war, daß keiner der beiden Männer von einem Hai getö tet worden war… zumindest von keinem der Haie, von denen er bisher gehört hatte. »Da hast du’s, Nate«, sagte Gibson. »Du bist ein zu guter Reporter, um auf blödsinnige Spekulationen reinzufallen.« Green schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Wirst du mich wissen lassen, was die Obduktion ergibt?« »Sobald wir die Todesursache schriftlich haben.« Gibson schüttete Green noch mehr Whisky in sei nen Becher. »Aber ich wette Hundert gegen Eins, daß ein scharfes Instrument den Tod verursacht hat. Sieht mir danach aus, als ob du deine Leser darüber belehren müßtest, daß Drogenabhängige und Irre besser nicht tauchen gehen.« Der Polizist klopfte wieder an die Tür, öffnete sie und sagte zu Chase: »Jemand hat für Sie angeru fen.« »Ich geh’ draußen ans Telefon«, sagte Chase und erhob sich. »Nein, sie hat schon eingehängt«, sagte der Poli zist. »Es war Mrs. Bixler. Sie läßt Ihnen ausrichten, daß die kleine Meerjungfrau angekommen ist.« »Gut. Danke, Tommy.« Zu Gibson gewandt, sagte Chase: »Jetzt werde ich drei Monate später in den Schuldturm geworfen… hoffentlich.« Er wandte sich
zum Gehen. »Simon…« Gibson hielt ihn zurück. »Wir sind hier doch alle einer Meinung, oder? Ich meine, falls sich irgendeiner von diesen schwachsinnigen Fernseh reportern bei dir meldet und ein Bombengeschäft aus der Sache machen will.« »Klar, Rollie.« »Gut.« Gibson lächelte. »Dein Institut erwirbt sich gerade einen wirklich guten Ruf. Du willst ihn dir sicher nicht verderben, indem du deine Nase in eine Sache steckst, die nur die Polizei angeht.« Chase verließ den Raum mit einem unbehaglichen Gefühl. Als er das Vorzimmer erreicht hatte, war er sich sicher, daß man ihm soeben gedroht hatte. Der Polizist wartete im Vorzimmer mit Max. Er wollte die beiden zu ihrem Boot zurückfahren. »Eine Ihrer Bojen schwamm etwa hundert Meter von der Stelle entfernt, an der man Brian gefunden hat«, sagte er. »Ein Stück Kabel mit irgend einem elektronischen Teil am Ende. Ich hab’ den Leuten gesagt, sie sollen’s dort lassen, Sie könnten es auf dem Rückweg abholen.« »Danke«, sagte Chase. »Die Boje muß sich dort losgelöst haben, wo sie sich verhakt hatte.« Als sie im Auto saßen, beugte sich Max vom Rück sitz vor und sagte zu Chase: »Ich hab’ sie gefun den.« »Wen?« »Das Mädchen. Das ich fast überfahren hätte.« »Was soll das heißen: Du hast sie gefunden?« »In der Zeitung im Wartezimmer war ein Foto, sie hat irgendeinen Preis gewonnen. Und ich weiß auch, warum sie mich nicht hat kommen hören. Sie
ist taub.«
»Wer ist sie?«
»Sie heißt Elizabeth.«
18 Chase verlangsamte das Tempo des Whalers. Er näherte sich der Spitze der flachen Landzunge na mens Seagull Point und steuerte auf die Küste zu. Er wollte am Strand entlangfahren. Brians Leiche hatte man auf Höhe der Halbinsel gefunden. Cha ses Kabel sollte sich kurz vor oder hinter dieser Stelle befinden. Max stand am Bug. Er hielt das Gleichgewicht mit Hilfe eines Taus, das an einer Klampe festgemacht war. »Wie soll’s denn ausse hen?« fragte er. »Vor dem weißen Sand«, sagte Chase, »hebt es sich vermutlich ab wie eine hundert Meter lange schwarze Schlange.« Seagull Point hatte früher einmal Privatleuten ge hört. Später war es ein staatlicher Strand gewesen. Jetzt hatte man es zum Vogelschutzgebiet erklärt. Möwen und Seeschwalben brüteten hier. Manchmal landeten Leute mit ihren Booten auf dem Strand, um zu schwimmen oder zu picknicken. Wer sich jedoch hinter die Dünen landeinwärts wagte, lief Gefahr, von Vögeln, die im Sturzflug ihre Nester verteidigten, am Kopf verletzt zu werden. Chase hörte, wie sich die Vögel gegenseitig zu kreischten, und sah sie über ihren Nestern kreisen. Es war auffällig, daß keiner tauchte oder auf dem Wasser schwamm. Er fragte sich, warum. Norma lerweise müßten an einem so ruhigen Tag Dutzen de von Vögeln auf der Oberfläche sitzen. Sie warte ten dann auf ein Signal der Wachposten, die von oben Beutefische im Anzug meldeten.
»Sieh mal!« sagte Max und zeigte nach Steuerbord. Chase drehte sich um und folgte Max’ Handbewe gung. Er nahm den Gang heraus und ließ das Boot im Leerlauf treiben. An der Wasseroberfläche sah er etwas Weißes. Es glitt seitlich am Walfänger ent lang. Chase beugte sich über den Rand und fischte es heraus. Es war eine tote Möwe, die mit dem Bauch nach oben im Wasser trieb. Zuerst dachte Chase, der Körper sei noch intakt. Aber als er ihn an einem Bein hochhielt, sah er, daß der Kopf des Vogels fehlte. »Großer Gott!« erschrak Max. Chase untersuchte den Genickstumpf des Vogels. Er suchte nach Zahnspuren, Schnittwunden, irgend etwas, was ihm sagen konnte, wodurch der Möwe der Kopf abgetrennt worden war. Aber da war nichts. Soweit er erkennen konnte, war der Kopf des Vogels einfach von seinem Körper abgerissen worden. »Da ist noch eine!« sagte Max. Chase ließ die tote Möwe auf den Bootsboden fal len und legte den Gang ein. Die zweite Möwe trieb aufrecht im Wasser, mit vorgebeugtem Kopf. Sie sah beinahe aus, als schliefe sie, aber sie lag zu niedrig im Wasser und schaukelte instabil auf den Wellen. Chase hielt sie am Hals hoch und drehte sie um. Ihre Beine waren herausgerissen, und in ihrem Bauch klaffte eine Wunde. »Was zum Teufel…« sagte Chase. »Blaufische?« fragte Max. »Nein, ich glaube, Blaufische hätten ihre Arbeit rich tig erledigt und den Vogel ganz gefressen.« »Was dann? Was war es?«
Chase schüttelte den Kopf. »Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Überhaupt keinen.« Max stand auf Zehenspitzen am Bug, hielt sich am Tau fest und schaute zum Strand. »Dort ist unser Kabel«, sagte er. »Und noch mehr Vögel. In den Wellen.« Chase lenkte das Boot auf die Küste zu und ließ den Motor aufheulen. Als er ins flache Wasser kam, stellte er den Außenbordmotor ab, zog ihn hoch und machte ihn fest, so daß die Propeller nicht im Sand hängenbleiben konnten. Das Boot hatte genügend Schwung, um locker durch die Brandung zu kom men und mit dem Bug auf trockenen Sand zu sto ßen. Sie fuhren wie durch ein Schlachthaus. Tote Vögel lagen über die ganze Brandungszone verstreut – manche ohne Kopf, manche ohne Eingeweide, manche mit durchschnittenen Kehlen. Chase hob ein oder zwei Tiere auf, betrachtete ihre Wunden und warf sie zurück ins Wasser. »Sieht fast so aus, als ob es Kinder gewesen sein könnten«, sagte Chase. »Was soll das heißen, Kinder?« fragte Max. »Hirnrissige… du weißt schon… Rowdys. Praktisch nichts im Meer tötet nur um des Tötens willen. Tiere töten aus zwei Gründen: um zu fressen und um sich zu verteidigen.« Max sprang vom Bug. Chase folgte ihm und zog den Whaler weiter auf den Strand. Sie gingen durch den Sand hinauf zu dem schwarzen Kabel, das die Polizisten aufgerollt und festgemacht hatten. Sie schleppten das Kabel zum Boot zurück, luden es an Bord und stießen von der Küste ab.
Als Chase fand, daß das Wasser tief genug war, senkte er den Motor und ließ ihn an. Der Propeller wühlte das Wasser auf. Da tauchte ein weiterer to ter Vogel auf und stieß seitlich gegen das Boot. Chase hob ihn aus dem Wasser. Es war eine junge Seeschwalbe. Die Flügel waren ihr aus dem Körper gerissen worden. »Was auch immer so etwas getan hat«, sagte Cha se, als er den Vogel sachte ins Wasser zurücklegte, »hat es nur um der Sache selbst willen getan. We gen des Nervenkitzels, den es dabei hat.« Er steuerte das Boot nach Osten, auf die Insel zu. Sie glitten gerade durch eine lange, sanfte Dünung und waren auf halbem Weg nach Hause, da sahen sie ein großes und breites Boot langsam auf sie zukommen. Es hatte vorn ein kleines Deckshaus und ein riesiges offenes Heck mit einem Ladebaum auf jeder Seite. Als sie sich Backbord an Backbord begegneten, drückte der Kapitän des großen Boo tes auf sein Signalhorn, lehnte sich aus der Tür des Deckshauses und winkte. Chase winkte zurück. »Wer ist das?« fragte Max. »Lou Sims. Er befördert Fracht. Ich nehme an, er hat gerade Dr. Macy und ihre Seelöwen abge setzt… muß sie bei den Docks in New London an Bord genommen haben.« Im Kielwasser des Frachtschiffs folgte ein weiteres Boot, das zwar noch eine Viertelmeile entfernt war, aber rasch näher kam. Es war ein schnittiges wei ßes Sportfischerboot mit Flybridge und großen An geln. Es näherte sich und verlangsamte dann sein Tempo. Ein Mann auf der Brücke gab Chase zu verstehen, daß er mit ihm sprechen wollte.
Chase legte den Leerlauf ein und ließ den Walfän ger treiben. »Halt dich gut fest«, sagte er zu Max. »Das Ding schiebt ‘ne ganze Menge Wasser durch die Gegend.« Als das Fischerboot anhielt, rollte sein flacher Rumpf. An den Seiten schlugen Wellen hervor. Chase hielt sich gut fest, als die Wellen den Whaler von einer Seite auf die andere warfen. Er sah, wie Max schwankte und auf der vorderen Ducht halb fallend zu sitzen kam. »Hab’ nach dir gesucht, Simon«, sagte der Mann auf der Brücke. »Wir waren angeln vor Watch Hill. Ich hab’ ‘n toten Delphin gesehen, Teufel noch mal. Hing zwischen den Felsen.« »Einen Delphin«, sagte Chase. »Bist du sicher, daß es kein Hai war? Es war ein Delphin… ein Tümm ler?« »Denkst du, ich kann einen Delphin nicht von einem Hai unterscheiden? Es war ein Tümmler. Sah aus wie Flipper, nur kleiner, ein junger. Ich kam nicht sehr nah ran. Aber der Kleine sah völlig zerfetzt aus, als ob es etwas auf ihn abgesehen hatte. Ich dachte, du willst ihn dir vielleicht ansehen.« »Nett von dir, Tony«, sagte Chase. »Werd’ ich so fort machen. Wo war es genau?« »Genau auf dieser Seite des Leuchtturms. Was zum Teufel lebt hier in der Gegend, was einen Tümmler fangen und töten kann?« »Ist mir ein Rätsel.« Chase hob einen der toten Vö gel hoch. »Vielleicht dasselbe Ding, das den Möwen den Kopf abreißt.« Und vielleicht, dachte Chase bei sich, dasselbe, das zwei Taucher getötet hat. »Na ja, jedenfalls… ruf mich an, wenn du was
weißt.« »Mache ich.« »Ist das dein Junge?« »Ja«, sagte Chase. »Max… Kapitän Madeiras.« Max winkte, und Madeiras sagte: »Kannst im Som mer mal für mich arbeiten. Kannst dir ein paar Krö ten dazuverdienen.« »Danke«, sagte Max, »aber ich habe nicht viel Er fah-« »Keine Sorge, schlechter als dieser nichtsnutzige Bobby dort unten würdest du deine Sache auch nicht machen.« Madeiras lachte und zeigte zum Heck seines Bootes. Dann gab er Vollgas. Das Boot machte einen Satz nach vorn, und die beiden Pro peller gruben ein tiefes Loch ins Wasser. Ein Junge im Teenageralter stand am Heck und blickte elend und unglücklich drein.
19 Bobby Tobin entschied, daß die Chancen ausge zeichnet standen. Irgendwann innerhalb der nächs ten fünf Minuten würde er sich übergeben. Mit je dem Atemzug bekam er den Gestank von Blut und Innereien und Auspuffgasen ab. Er mußte ständig schlucken, um zu verhindern, daß ihm die Galle in den Mund quoll. Jedesmal, wenn das Boot in der Strömung gierte, fühlte er, wie sich ihm der Magen umdrehte und im nächsten Augenblick durch den Kopf hochzuschießen drohte. Obwohl er wußte, daß er sich danach besser fühlen würde, wollte er sich nicht übergeben. Er würde sich nicht übergeben, er weigerte sich strikt. Kapitän Madeiras würde es ihn immer spüren lassen. Jeder Kunde, der an Bord kam, würde mit der Geschichte erheitert werden, wie Bobby am Schanzkleid ge hangen und sein Frühstück über Bord geworfen hatte. Man würde Bescheid wissen über Landratten, Teenager, Sommerfrischler, Protestanten und Kin der, denen das Leben zu leicht gemacht wurde. Bobby erhob sich von den Knien, peinlich bemüht, weder sein Hemd noch das glänzende weiße Fiber glas mit seinen blutbeschmierten Händen zu berüh ren. Er lehnte sich über den Rand und atmete ein paarmal tief ein, frische Luft, die nicht nach Diesel und totem Fisch roch. Er konnte Osprey Island se hen und dahinter Napatree Point und weit in der Ferne den Wasserturm von Waterboro. »Hey, du Arschloch«, rief Madeiras von der Brücke herab, »wer hat denn gesagt, du sollst Pause ma
chen? Wisch die Scheiße hier vom Deck, bevor sie antrocknet.« »Ja, Sir«, sagte Bobby, holte ein letztes Mal tief Luft und nahm das Blutbad auf dem Achterdeck in An griff. Er hatte bereits zehn große Blaufische geputzt: abgeschuppt, ausgenommen und jeden Rumpf in Zeitungspapier gewickelt. Zwanzig weitere warteten in der Fischkiste auf der Steuerbordseite. Was wollten zwei Fischer mit dreißig Fischen? Sie würden nicht mehr als ein oder zwei davon essen. Die restlichen konnte man nicht vermarkten. Blaufi sche gab es diesen Sommer in Hülle und Fülle. Die Fischgeschäfte verdienten nur Geld, wenn sie die Fische geschenkt bekamen. Und es war zu vermu ten, daß Madeiras’ Kunden sie nicht einmal alle an Freunde verteilen konnten. Sie waren lediglich Tro phäen, Männlichkeitssymbole. Ein Dutzend Möwen kreiste über dem Kielwasser des Bootes, ungeduldig krächzend, als wollten sie Bobby zur Eile antreiben. Er packte das zwei Meter lange Tau, das am Griff des Schöpfeimers befestigt war, ging zur offenen Heckreling, suchte mit der freien Hand festen Halt, beugte sich über das Heck und warf den Eimer ins Wasser. Dieser schlug auf, prallte ab, kippte und füllte sich dann schlagartig. Das Gewicht gab Bobby einen Ruck und zerrte ihn fast über Bord. Er zog am Tau, brachte den Eimer wieder an Bord und schwappte das Wasser aufs Deck. Mit einer Bürste schrubbte er an den Stellen, an denen Blut und Schuppen festzutrocknen be gannen. Durch die Heckreling und das Speigatt schwappte die Brühe von Bord. Die Möwen kreisten über dem frischen Blut im Wasser und kreischten,
weil sie keine Fleischbrocken erspähten. Bobby stellte den Eimer beiseite, ließ sich auf die Knie fallen, zog das Filetiermesser aus der Scheide an seinem Gürtel und langte den nächsten Blau fisch aus der Kiste. Er schnitt ihm die Kiemen auf, um das Blut ablaufen zu lassen, und schlitzte dann den Bauch von der Kehle bis zum Schwanz auf. Er faßte in die Körperhöhle, zog die Innereien her aus und warf sie durch das Heckwerk über Bord. Die Möwen tauchten wie wild; zwei von ihnen schnappten gleichzeitig nach demselben Brocken. Flügelschlagend und kreischend stiegen sie aus dem Wasser hoch, an den gummiartigen Innereien zerrend. Bobby drehte den Fisch auf die Seite und begann, ihn mit der Messerklinge abzuschuppen. Er ver fluchte sich selbst und seinen Vater und Madeiras und das Schicksal. Gott, wie sehr er sich wünschte, er wäre in die Sommerschule gegangen, anstatt diesen Job anzunehmen. Sein Vater hatte ihn vor die Wahl gestellt, entweder eine Sommerschule zu besuchen oder sich einen bezahlten Job zu suchen. Jobs waren derzeit so rar wie Zähne bei einer Gans. Collegeabsolventen verpackten Lebensmittel, Wirt schaftsstudenten jobbten in Kneipen. Er war überall abgelehnt worden. Angefangen beim Hafenmuseum in Mystic bis zum Yachthafen von Waterboro – alle sagen nein. Er war schon drauf und dran gewesen, bei diversen Sommerschulen anzurufen, als sein Vater auf einmal eine offene Rechnung bei den Ma deiras’ eingefordert hatte. Manuel, der Gärtner der Familie, war nicht kranken
versichert, und seine künstliche Hüfte war von Mr. Tobin bezahlt worden. Eines Tages erwähnte er beiläufig, daß der Maat seines Bruders Tony gerade Hepatitis bekommen hatte. Ohne Bobby zu fragen, hatte Mr. Tobin Tony angerufen und ihm den Job verschafft. Es stimmte zwar, Bobby war einverstanden gewe sen. Der Job hatte toll geklungen: Matrose auf ei nem Sportfischerboot. Fünf Dollar pro Stunde plus Trinkgeld, vielleicht bis zu hundert Dollar pro Tag an guten Tagen. Arbeit im Freien. Lernen, wie ein Profi fischt. Die Arbeit war lang – sieben Tage pro Woche, wenn das Wetter es zuließ –, aber er hatte jeden Abend frei. Und sicherlich gab es mindestens zehn Tage Regen oder Wind. Dann mußte das Boot an Land bleiben. Aber es gab ein paar Dinge, die man Bobby ver schwiegen hatte. Erstens waren Motorboote, vor allem nicht Zehn-Meter-Boote wie der Sea Hunter, keine Segelschiffe. Es war nicht so, daß sie sich vom Wind tragen ließen, die Wellen schnitten und relativ stabil blieben. Sie schaukelten und stampften und schlingerten. Man wurde durchnäßt, bekam blaue Flecken, und es war einem den ganzen Tag speiübel. Zweitens bedeutete das Wort Matrose in Wirklich keit Kellner, Abräumer, Müllmann, Deckschrubber, Fischausnehmer, Arschkriecher und Arbeitstier. Wenn ein Kunde einen Fisch verlor, war der Matro se schuld. Er hatte den Haken nicht richtig befestigt oder das Vorfach im falschen Augenblick gepackt. Wenn ein Kunde spie, putzte es der Maat weg. Und was am schlimmsten war und am häufigsten vor
kam: Der Kunde verstopfte das Klo, weil er das deutlich sichtbare Schild über der Spülung ignorier te und Tampons, Zigarettenstummel oder sogar Kondome in die Schüssel warf. Und der Matrose mußte die Verstopfung beseitigen und gründlich saubermachen. Und schließlich hatte niemand Bobby gesagt, daß Tony Madeiras ein sadistisches Schwein war. Einer jener Typen, die sich daran hochhalten, daß sie an dere heruntermachen. Außerdem war er Alkoholi ker. Er behauptete zwar, er würde niemals bei der Arbeit trinken. Aber die »Arbeit« schien jeden Tag früher aufzuhören. Noch vor einem Monat hatte er keinen Tropfen angerührt, bis das Boot nicht am Kai vertäut gewesen war. Jetzt trank er aus einem auf der Brücke verstauten Flachmann, sobald er die Fischgründe verließ. Die meisten Kunden wußten das alles nicht. Oder es war ihnen egal. Von dieser Sorte waren die bei den heute, zwei Feuerwehrleute aus New London. Die hatten um sieben Uhr morgens mit Bier ange fangen und waren um neun auf Bloody Mary umge stiegen. Bobby allerdings war es nicht egal. Er litt am meisten unter Madeiras’ wechselnden Launen. Die konnten von geschmackloser Bosheit in rührse lige Zuneigung umschlagen, wobei die Bosheit ü berwog. Er könnte den Job natürlich aufgeben. Aber das wollte er nicht. Er wußte, was dann passieren wür de. Er würde seinem Vater seine Version der Ge schichte erzählen. Der würde dann so tun, als glaubte er ihm. Aber in Wirklichkeit nahm er ihn nicht ernst. Sein Vater würde Madeiras anrufen und
sich im höflichen Ton der Erwachsenen sagen las sen, daß Bobby ein heulender, feiger und fauler Jämmerling war. Sein Vater würde niemals direkt sagen, daß er Madeiras glaubte. Aber er würde mindestens ein Jahr lang darauf anspielen, wie ent täuscht er war. Den Job aufgeben käme zu teuer. Besser war es, ihn noch sechs Wochen auszuhalten. Bobby nahm gerade einen weiteren Fisch aus, als die Glastür zu der vollklimatisierten Kajüte aufgeschoben wurde und eine Stimme sagte: »Hey Kleiner, wir haben kein Eis mehr.« »Ja, Sir«, sagte Bobby. Er warf den Eimer wieder über Bord, wusch sich die Hände und ging nach drinnen. Seine Hände stanken noch immer nach Fisch. Aber diesen beiden würde das nicht auffal len. Es schwamm im Wellenschaum genau unter der Wasseroberfläche auf und ab. Es roch Beute. Die starken und durchdringenden Ausdünstungen machten es fast rasend. Es war verwirrt, weil es nichts Substantielles fand. Ein paar Brocken Nah rung waren ihm zwar greifbar nahe gekommen. A ber irgendwelche Dinger da oben hatten sie ihm einfach weggeschnappt. Gereizt schwamm es wei ter und sog das mit Öl und Blut durchsetzte Wasser durch seine flatternden Kiemen ein. »Filetier die letzten paar und pack sie in Tüten!« befahl Madeiras. »Ich bring’ sie meiner Frau mit.« »Ja, Sir«, sagte Bobby. In der Kiste lagen noch drei Fische. Sie waren heu te als erste gefangen worden und sehr groß. Sie hatten mindestens acht, vielleicht sogar zehn Pfund.
Er packte den größten am Schwanz und klatschte ihn aufs Deck. Der Fisch war schon vor Stunden gefangen worden, und sein Körper war bereits starr. In seinen glasigen Augen lag eine leere Drohung. Sein erstarrtes offenes Maul ließ eine Reihe form vollendeter kleiner Dreiecke erkennen. »Bin ich froh, daß ihr nicht hundert Pfund wiegt«, sagte Bobby zu dem Fisch, während er nach dem Rückgrat fühlte, das Messer daneben hineinschob und nach hinten durchzog. Er schuppte den Fisch nicht ab und nahm ihn auch nicht aus. Statt dessen entfernte er mit flinken Mes serschnitten das gesamte Fleisch von einer Seite des Fisches, schnitt am Rückgrat entlang, um den Schwanz herum, den Bauch hinauf und durch die Kiemen. Dann drehte er den Fisch um und wieder holte dieselbe Prozedur auf der anderen Seite. Den Kadaver warf er über Bord – Kopf, Schwanz, Grä ten, Innereien. Er beobachtete, wie die Möwen sich um den Kada ver tummelten, der im Kielwasser des Bootes schaukelte. Eine Möwe versuchte, ihn am Kopf hochzuziehen, doch er war zu schwer, und der Vo gel kam nicht in die Luft. Ein anderer packte den Schwanz. Für einen Augenblick sah es so aus, als könnten die beiden Vögel dem Rest des Fisches gemeinsam zu einem sicheren Futterplatz bringen. Doch dann stieß ein dritter Vogel hinzu, und er fiel platschend ins Wasser. Wieder stießen die Vögel auf ihn hinab. Bevor sie ihn erreichen konnten, wurde das Wasser plötzlich aufgewühlt. Irgend etwas Glänzendes blitz te auf. Als die Oberfläche sich wieder geglättet hat
te, war der Kadaver verschwunden. Seine langen, gekrümmten Stahlkrallen rissen das tote Ding in Stücke. Es sog die Innereien aus der Körperhöhle und die Augen aus dem Kopf. Seine Zähne zermalmten die Kieferknochen. Es fraß die Zunge. Es fraß alles, während es auf den Grund sank. Das große Ding, in dessen Nähe es das Fressen gefunden hatte, entfernte sich. Im Trom melfell des Geschöpfs wurde es zu einem schwä cheren Impuls. Es wollte mehr. Nicht aus reinem Hunger, denn in letzter Zeit hatte es an vielen Dingen gefressen. Es hatte gefressen, bis es spie, und dann weitergefres sen. Es wollte mehr aufgrund eines programmierten Reflexes. Beute war unwiderstehlich. Es war nur zum Töten und Fressen da. Obwohl sein Körper ausreichend Nahrung gehabt hatte, wurden die Ma gensäfte weiter stimuliert. Es stieß sich vom Grund ab. Seine Schwimmfüße bewegten sich synchron auf und ab, und die Krallen schimmerten. Es schoß durch das Wasser auf das pulsierende Geräusch zu. Bobby hatte die beiden letzten Fische filetiert, warf die Kadaver über Bord und packte die Filets ein. Er tauchte den Eimer ins Wasser und wusch sich die Hände. Gerade wollte er damit beginnen, das Deck zu schrubben, als er hörte, daß der Motor schwä cher wurde. Er spürte, wie das Boot sich verlang samte, zum Stehen kam und sich mit der Breitseite den kleinen Wellen zudrehte. »Vögel voraus«, rief Madeiras herunter. »Sieht aus, als ob ein Schwärm Blaufische junge Fische mas sakriert. Frag die beiden, ob sie ein paar Angeln
auswerfen wollen.« »Ja, Sir«, sagte Bobby. Er öffnete die Kajütentür, und ein eisiger Luftstoß schlug ihm entgegen. Die Männer hatten auf der Couch Romme mit Zehn ge spielt. Einer war eingeschlafen, und der andere spielte mit den Karten herum. Eine leere Wodkafla sche lag kopfüber im Mülleimer. Laß sie nein sagen, betete Bobby. Er wollte keine Leinen mehr auswerfen, keine Fische mehr putzen. Außerdem würde es darauf hinauslaufen, daß diese völlig benebelten Angler Fehler machten, für die er dann die Schuld in die Schuhe geschoben bekam. »Der Kapitän will wissen, ob Sie noch ein paar An geln auswerfen möchten«, sagte Bobby. Der Mann sah Bobby stirnrunzelnd an. Er schien ihn nicht zu erkennen. »Wonach?« sagte er. »Nach Blaufischen.« Der Mann überlegte einen Augenblick, rüttelte dann seinen Freund am Knie, doch der wachte nicht auf. »Scheiß drauf«, sagte er. »Ja, Sir.« Bobby zog die Tür zu und rief zu Madei ras hinauf: »Sie sagen: nein danke.« »Das wird ihnen leid tun«, sagte Madeiras, der die tauchenden Seeschwalben durch ein Fernglas be trachtete. »Das könnten richtig große Biester sein.« Bobby schwappte den Eimer Wasser aufs Deck, warf ihn hinter sich und schrubbte Blut und Fisch schuppen durchs Speigatt. Ein paar Flecken mit getrocknetem Blut waren noch da. Bobby nahm den Eimer, schlang das Tau um die Hand und ging nach achtern. »Hey, du Arschloch«, sagte Madeiras, »du hast was übersehen.«
»Ja, Sir«, erwiderte Bobby knapp. »Deswegen hol’ ich mehr Wasser.« Madeiras wandte sich wieder dem Fernglas zu. »Sobald du fertig bist, holst du mir meine Spinnrute. Ich glaube, ich werd’ von hier oben ein paar Würfe versuchen.« Na dann los, dachte Bobby wütend. Vielleicht bist du ja so fix und fertig, daß du stolperst und über Bord fällst und die Blaufische dich in Stücke reißen. Die Abgase des leerlaufenden Motors zogen in Schwaden über das Heck, reizten Bobbys Augen und nahmen ihm die Sicht. Die Möwen kreisten hoch über ihm, weit weg von den schädlichen Verbrennungsgasen. Jetzt gab es kein Kielwasser mehr, und das Boot bewegte sich nicht. Dieses Mal griff Bobby nicht nach der Heckreling, als er den Eimer über Bord schleuderte. Der Eimer schlug mit dem Boden aufs Wasser auf und schaukelte aufrecht. Bobby rüttelte am Tau, damit er umkippte und sich mit Wasser füllen konnte. Es näherte sich bis auf ein paar Meter der Wasser oberfläche. Das große Ding hatte aufgehört, sich zu bewegen. Es verharrte in der Schwebe. Seine Re zeptoren suchten nach Anzeichen von Beute, fan den aber nichts. Es kam ein Stück weiter nach o ben, und durch das stille Wasser sah es gebrochen irgend etwas, was sich bewegte. Auf der Oberfläche gab es eine Störung, ein leises Geräusch und ein paar kleine Wellen. Es sah etwas treiben. Beute. Es stieß sich nach oben und streckte seine Krallen aus. Es hatte sein Maul weit aufgeris sen und sein Unterkiefer rollte vor. Eine Reihe drei
eckiger Zähne schnappte senkrecht in die Bißposi tion. Der Eimer füllte sich, und Bobby zog am Tau. Ob wohl er nicht im Heckwasser abdriftete, war der Ei mer schwer. Zehn Liter Wasser wogen immerhin zwanzig Pfund. Bobby zog das Tau Hand über Hand nach oben. Plötzlich straffte sich das Tau, als ob sich der Eimer irgendwo verhakt hätte. Dann zuckte er ruckartig von ihm weg, als hätte ein riesi ger Fisch ihn geschnappt. Bobby verlor das Gleichgewicht, drehte sich um und suchte am Heck nach Halt. Aber er war zu weit weg. Seine Finger griffen ins Leere, und er taumelte über Bord. Als er auf dem Wasser aufschlug, dach te er: Hoffentlich war es kein Blaufisch, der sich den Eimer geschnappt hat. Es schraubte sich nach unten, die Beute fest in den Klauen, und nagte mit den Zähnen an dem wei chen, weißen Fleisch. Es sog und trank und kaute und schluckte. Als es schließlich den Grund erreicht hatte, konnte es nicht mehr fressen, und so ließ es sich auf dem Sand nieder und riß die Beute mit Zähnen und Klauen in Stücke. Ein Zahn blieb in den Knorpeln stecken und brach ab. Ein anderer Zahn aus der Reihe dahinter rollte vor und nahm seinen Platz ein. Tony Madeiras hängte das Fernglas an den Haken, legte den Gang ein und gab Gas. Der Motor heulte auf, der Bug stieg, und das Heck senkte sich. »Wo zum Teufel ist meine Spinnrute?« rief er, ohne nach unten zu blicken. Es kam keine Antwort.
VIERTER TEIL Jäger und Gejagte
20 Als Chase kurz nach Mittag den Whaler an seinen Anlegeplatz manövrierte, sah er Mrs. Bixler den Weg hinunter zum Kai kommen. Sie trug einen ural ten Picknickkorb aus Weidengeflecht. Chase kannte den Inhalt: ein Sandwich, eine Thermoskanne mit Eistee, eine Spule Angelschnur und eine Speck schwarte oder Rinderfett oder altes Brot. Mrs. Bixler verbrachte ihre Mittagspause am liebs ten am Kai. Dort angelte sie mit der Handleine klei ne Fische und fütterte den Reiher damit. Der Reiher sah sie kommen und machte ein paar graziöse Schritte auf den Kai zu. Kaum hatte Chase den Motor abgestellt, hörte er ein Bellen. Es kam vom Becken hinter dem Hügel. »Klingt so, als ob Dr. Macy und ihre Seelöwen ge sund und munter angekommen sind«, sagte er zu Mrs. Bixler. »Ja, sie und ihre ganze Menagerie.« »Sind das die Seelöwen, die da bellen?« fragte Max aufgeregt. »Kann ich sie mir ansehen?« »Klar«, sagte Chase. »Aber denk an deine Manie ren, stell dich vor. Wir haben Dr. Macy noch nie ge sehen.« Max nickte, sprang aus dem Whaler und lief den
Weg hinauf. Mrs. Bixler warf einen Blick ins Boot. »Hat hier ir gend jemand ein Schlachtfest gefeiert?« fragte sie und zeigte auf die toten Tiere: zwei Möwen und ei nen jungen Tümmler. »Oder irgend etwas.«. Chase hob den kleinen Del phin hoch. Er war nicht einmal einen Meter lang. Seine glatte Haut, die zu Lebzeiten stahlgrau ge schimmert hatte, war jetzt glanzlos und matt wie Asche. In seinem Rücken sah man tiefe Schnitt wunden, und sein Bauch war aufgeschlitzt. »Ich hab’ ihn mitgebracht, damit Dr. Macy ihn sich mal ansieht. Sie versteht von Säugetieren mehr als ich.« »Was soll sie Ihnen sagen können, was jeder ande re nicht auch kann? Etwas hat ihn abgeschlachtet.« »Ja, aber was?« Chase legte den Delphin zurück auf den Boden des Bootes. »Ich pack’ ihn in Eis, bis wir eine richtige Autopsie vornehmen können.« Er kletterte aus dem Boot, machte es längsschiffs fest und stieg die Stufen zum Kai hinauf. »Haben Sie der Macy geholfen, sich hier zurechtzufinden?« fragte er. »Ich hab’ ihr alles gezeigt; Tall hat ihr Zeug ver staut.« »Wie ist sie?« Mrs. Bixler zuckte die Schultern. »Scheint voller Enthusiasmus zu sein. Zieht sich an, als ob sie auf Safari gehen wollte. Aber wenigstens trägt sie nicht ihre akademischen Grade spazieren wie die meis ten von ihnen.« Chase stieg den Hügel hinauf, und als er den Kamm erreichte, hörte er Max’ Stimme. Zuerst dachte er, der Junge schreie. Doch dann wurde ihm
klar, daß es keine Schreie waren, sondern Lachen. Er blickte hinunter. Max planschte im brusttiefen Wasser des Beckens herum, das Chase für die Seelöwen hatte bauen lassen. Vier dunkle Gestalten flitzten um ihn herum, zisch ten an ihm unter Wasser vorbei, paddelten hinter ihm an der Oberfläche und wichen ihm geschickt aus, wenn er sich auf sie stürzte. Eine Frau stand am Beckenrand, gab den Seelöwen Zeichen und lachte mit Max. Da weder sie noch Max Chase be merkt hatten, konnte er sie beobachten, während er den Hügel hinabstieg. Amanda Macy war groß und kräftig gebaut und sah aus, als sei sie einem Katalog für Freizeitmoden entstiegen. Sie trug Mokassins, knielange Wander shorts, ein Khaki-Shirt mit Schulterklappen, ein Etui mit ihrer Sonnenbrille um den Hals und eine Tau cheruhr aus rostfreiem Edelstahl. Ihre Beine waren braungebrannt und muskulös, ihr Haar von der Sonne gebleicht und kurz. Sie sah jünger aus, als er sie sich vorgestellt hatte. Weshalb hatte er eigentlich geglaubt, sie sei etwa in seinem Alter oder älter? Er versuchte, ihr Gesicht zu sehen, aber sie hatte ihm den Rücken zuge wandt. Plötzlich ging in seinem Kopf ein Alarm los, ein Alarm, mit dem er nicht gerechnet hatte. O Gott, dachte er, während er näherkam, laß sie kein hüb sches Gesicht haben. Manche Männer waren auf die Brüste einer Frau fixiert, andere auf ihr Gesäß oder ihre Hände, Beine oder Füße. Chase hatte immer eine Schwäche für hübsche Gesichter gehabt. Sein Leben lang war er darauf hereingefallen. Es war völlig irrational, und er
war sich dessen voll bewußt. Immer hatte er die Neurosen und Persönlichkeits störungen, die Dummheit, Habgier und Eitelkeit ig noriert, die häufig hinter solchen Gesichtern verbor gen lagen. Er würde mit dieser Frau drei Monate lang arbeiten müssen. Das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine zusätzliche Komplika tion, indem er sich verknallte. Dann sah Max Chase und rief »Dad!« und winkte. Dr. Macy drehte sich um. Chase atmete erleichtert auf. Ihr Gesicht war freundlich, gut proportioniert, durchaus hübsch. Aber es warf ihn nicht um. Er streckte die Hand aus und sagte: »Simon Chase.« »Amanda Macy«, sagte sie und drückte seine Hand fest und selbstsicher, mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie trug keinen Lippenstift. »Wie ich sehe, war Max nicht gerade schüchtern.« »Oh, er war sehr höflich«, sagte Amanda. »Ich war es, die den Small talk abgebrochen hat. Wenn er die Seelöwen kennenlernen will, habe ich ihm ge sagt, ist es am besten, einfach zu ihnen ins Wasser zu springen. Er ist übrigens wie geschaffen fürs Wasser, und er scheint mehr Talent für Tiere zu haben als viele andere Kinder. Sie haben ihn sofort gemocht.« »Dad!« rief Max. »Sieh mal!« Chase sah in das Becken. Zwei der Seelöwen rag ten gegenüber von Max mit den Köpfen aus dem Wasser. Der Junge spritzte einen von ihnen an. Plötzlich waren ihre Flossen nur noch verschwom mene Punkte, die durchs Wasser wirbelten, und die Seelöwen bespritzten Max wie raufende Spielkame raden. Er kreischte vor Lachen und tauchte unter
Wasser. Die Seelöwen stürzten ihm nach, streiften ihn mit ihren seidigen Körpern und umkreisten ihn. »Erstaunlich«, sagte Amanda. »Für gewöhnlich be nötigen sie recht lange, bis sie jemandem vertrau en. Sie müssen bei Kindern die Gutmütigkeit spü ren, eine Art Unschuld… zumindest bei diesem Kind.« »Und sie beißen niemals?« Amanda lachte. »Das ist eine väterliche Frage und keine wissenschaftliche, stimmt’s?« »Stimmt«, sagte Chase. »Ein intelligentes Säugetier wie dieses hier beißt etwas oder jemanden nur, wenn es um Nahrung kämpft oder ängstlich oder aggressiv ist. Diese vier sind alle Weibchen. Es gibt also keine Probleme mit sexueller Aggression. Sie werden gut gefüttert. Und sie haben nichts zu fürchten.« Sie hielt kurz inne. »Sie sind ganz anders als Haie.« Chases Augen folgten Max, der ausgelassen mit den Seelöwen herumtollte. »So sieht es auch aus«, sagte er. »Ich finde, daß diese Tiere Menschen weitaus mehr ähneln als Haien. Sie brauchen viel Aufmerksamkeit und Zuwendung. Sie mögen es, wenn man ihnen die Zähne putzt und ihr Fell streichelt. Ich hab’ sie großgezogen.« Max tauchte lachend an der Oberfläche auf, und Chase winkte ihn an den Rand des Beckens. »Jetzt komm mal raus hier«, sagte er. »Du bist schon ganz blau.« »Aber Dad…« »Die Seelöwen brauchen eine Pause, Max«, sagte Amanda, »genau wie du. Du hast sie ganz schön
geschafft.« Max stemmte sich aus dem Becken, und Chase rieb ihm Schultern und Rücken ab. »Du fühlst dich an wie ein Eis am Stiel«, sagte er. Max zeigte auf die Seelöwen. Sobald er das Becken verlassen hatte, waren sie auf die Felsen gerobbt und sonnten sich. »Sie heißen Harpo, Chico, Groucho und Zeppo«, sagte Max. »Ich weiß nicht, welcher welcher ist. Aber Dr. Macy hat gesagt, wenn ich sie besser ken nenlerne, kann ich mir einen als besten Freund aussuchen.« Chase fühlte, wie Max unter seinen Händen zitterte, und er sagte: »Geh dich duschen und zieh dir was Warmes an.« Max lief los, dann drehte er sich noch einmal um und fragte Amanda: »Kann ich später noch mal mit ihnen spielen?« »Klar«, sagte Amanda mit einem leisen Lachen, »aber nur, wenn ich dabei bin. Du mußt die Zeichen lernen, genau wie sie.« Chase hatte an den Felsen hinter dem Becken ei nen kleinen Schuppen errichtet. Amanda Buckte sich, kroch hinein und kam mit einem Eimer Fische wieder. »Mittagessen, meine Damen«, rief sie, wäh rend sie auf den Beckenrand zuging. Die Seelöwen glitten von den Felsen ins Wasser und schwammen ungeduldig bellend zu ihr herüber. Sie stellten sich in einer Reihe auf und warteten. Sie gab jedem einen Fisch, dann noch einen und noch einen. Als alle ihre fünf Fische erhalten hatten, rieb sie jeden einzelnen am Kopf und hinter den Ohren. Sie brachte den Eimer zurück zum Schup
pen und sagte dann zu Chase: »Dieser Ort hier ist
wundervoll. Sind Sie hier aufgewachsen?«
»Nicht auf der Insel… in Waterboro.«
»Wo haben Sie studiert?«
»Überall«, sagte Chase und dachte, jetzt kommt es.
Einen Augenblick lang überlegte er, ob er sich eine
Lüge überlegen sollte. Aber er hatte die Erfahrung
gemacht, daß Schwindeleien sich irgendwann ver selbständigten. Also sagte er die Wahrheit.
»Zuletzt an der Universität von Rhode Island.«
»Die sind wirklich gut in Ozeanographie. Geht es
bei Ihrer Dissertation speziell um Haie oder um alle
Plattenkiemer?«
Chase schwieg einen Augenblick, dann sagte er:
»Sie ist in Arbeit.«
Sie stutzte. »Soll das heißen, Sie haben Ihren
Abschluß noch nicht? Sie sind Direktor eines Insti tuts und haben keinen Doktor?«
»Das ist richtig… Frau Doktor«, sagte Chase.
»Können Sie damit leben?«
Noch während er sprach, kam er sich schon wie ein
Idiot vor.
Amanda errötete. »Natürlich… ich hab’ nicht… ich
meine… es tut mir leid… es ist nur…« Sie warf den
Kopf zurück und lachte.
Einen Augenblick dachte Chase, daß sie über ihn
lachte, und er suchte schon nach einer bissigen
Bemerkung, mit der er sie anfauchen konnte. Doch
bevor ihm etwas einfiel, erkannte er an ihrem Ge sichtsausdruck, daß sie nicht über ihn, sondern ü ber sich selbst lachte.
»Das ist toll!« sagte sie. »Wirklich klasse!«
»Was?«
»Ich habe vier Jahre mit dem Studium zugebracht, zwei mit meiner Diplomarbeit, fünf mit meiner Dok torarbeit. Ich bin jemand! Mein Doktortitel ist meine Rüstung. Ich könnte ein Esel sein, ein Dummkopf, ein Idiot, aber ich habe einen Doktor. Das offizielle Etikett meines erhabenen Status.« Wieder lachte sie. »Und dann treffe ich einen, der keinen Doktor hat, der nicht annähernd so hochgeschraubt ist wie ich, aber er hat mehr gemacht als ich je zuvor, hat sein eigenes Institut gegründet. Und was ist meine erste Reaktion? >Unmöglich!< Wirklich klasse!« Sie gingen zusammen den Hügel hinauf. »Lassen Sie mich auf das Thema zurückkommen«, sagte Amanda. »Wenn Sie je eine Doktorarbeit schreiben, worüber wird sie sein?« »Revierverhalten bei weißen Haien«, sagte Chase. »Da fällt mir übrigens ein: Seit ein, zwei Wochen ist ein Weißer hier in der Gegend. Wir haben ihn im Auge behalten, um Informationen über ihn zu be kommen. Dann haben wir unseren Sensor verloren. Ein paar Taucher wurden getötet. Aber ich glaube nicht, daß der Weiße damit zu tun hat. Jedenfalls ist er dort draußen.« »Glauben Sie, Sie könnten den Hai wiederfinden?« »Ich werd’s versuchen, aber…« Chase unterbrach sich. »Sie meinen, Sie wollen ihn finden? Einen großen weißen Hai? Was ist mit Ihren – « »Meine Seelöwen kennen sich aus mit weißen Hai en«, sagte Amanda. »In Kalifornien gibt es überall Weiße, und sie wissen sich von ihnen fernzuhalten. Klar würde ich ihn gerne finden. Ich wollte schon immer einmal die Interaktion zwischen Meeresraub tieren untersuchen: Säugetiere, die Säugetiere ja
gen, Säugetiere, die Fische erbeuten, Fische, die sich von Säugetieren ernähren.« »Ich dachte, Sie befassen sich ausschließlich mit Walen.« »Bis jetzt ja. Aber die Bilder, die meine Seelöwen auf Videoband zurückbringen, sind außergewöhn lich. Das Verhalten, das sie aufzeichnen, ist beacht lich. Ich wüßte nicht, warum wir unsere Forschung nicht ausweiten sollten.« »Ich versteh’ das nicht«, sagte Chase. »Was kann ein Seelöwe mit einer Videokamera auf dem Rü cken erhäschen, was ein Wissenschaftler in einem Boot oder sogar in einem Tauchboot nicht sehen kann?« »Die Natur«, sagte Amanda. »Die Natur, wie sie wirklich ist. Wale, Haie, andere Tiere, praktisch alle halten sich von einem Boot oder einem Tauchboot fern. Für die Tiere sind sie fremd und möglicherwei se eine Bedrohung. Es sind große, seltsame, laute Eindringlinge. Wenn sie sich den Tieren nähern, verhalten sich diese alles andere als natürlich. Aber sie sind es gewöhnt, daß die Seelöwen um sie herumschwimmen. Und so machen sie mit allem weiter wie bisher: fressen, sich paaren, was auch immer, und wir bekommen alles aufgezeichnet. Au ßerdem ist ein Tauchboot langsam und schwerfällig, und es kostet ein Vermögen. Ein Seelöwe kann mit einem Wal mithalten, und er ist billig – er arbeitet für ein paar Pfund Meeräschen.« »Woher wissen sie, was sie für Sie tun sollen?« »Konditionierung plus angeborene Intelligenz. Wenn’s um Cleverness geht, können es Seelöwen mit Delphinen und Schwertwalen aufnehmen. Wir
haben einen Grauwal lebensgroß nachgebaut und über einem elektrisch betriebenen Tauchboot instal liert. Mit Hilfe dieser Attrappe wurden sie abgerich tet. Von einem Boot aus gebe ich ihnen Handzei chen: daneben schwimmen, darunter schwimmen, es umkreisen. Sie sind lernbegierig und begreifen sehr schnell.« Chase überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Könnten Sie ihnen denn auch beibringen, Bilder von etwas zu machen, an das sie nicht gewöhnt sind? Etwas, das vielleicht nicht natürlich ist, mit einem Verhalten, das sie noch nie gesehen ha ben?« »Zum Beispiel?« »Wenn ich das wüßte«, sagte Chase. »Aber hier im Meer stimmt etwas nicht. Entweder ist etwas Neues in der Gegend, oder etwas hat durchgedreht.« Er berichtete Amanda, wie plötzlich Vögel und andere Tiere willkürlich abgeschlachtet wurden. Er ver schwieg auch nicht, daß die Bellamys auf mysteriö se Art und Weise ums Leben gekommen waren. »Ich kann es versuchen«, sagte Amanda, »sobald ich die Seelöwen an das Wasser hier und an die Buckelwale gewöhnt habe. Allerdings hat bei mir die Suche nach den Walen Vorrang. Ich habe ein Auf klärungsflugzeug gechartert, das heute nachmittag kommt.« »Ein Flugzeug?« Chase pfiff durch die Zähne. »Da haben Sie aber ordentlich Fördermittel abgesahnt. Für die Kohle würde ich mir Flügel anschnallen und selbst losfliegen.« »Fördermittel? Die sind ein Witz. Siebentausend fünfhundert im Jahr, auf drei Jahre befristet. Das
hält mich über Wasser, aber mehr auch nicht.« Sie zögerte und blickte verlegen, bevor sie weiter sprach. »Im Grunde sponsor’ ich mich selbst.« »Wie machen Sie das?« fragte Chase. »Was glauben Sie? Das Glück der Erbmasse. Mein Ururgroßvater war einer der Walfänger-Macys. Manchmal glaube ich sogar, meine berufliche Lauf bahn ist die Buße für das, was er getan hat. Als er sah, daß das Walöl einbrechen würde, steckte er sein ganzes Geld in Erdöl. Seitdem schwimmen wir im Geld.« Sie lächelte. »Können Sie damit leben?« »Teufel«, sagte Chase lachend, »das kenne ich von früher.« Er erzählte ihr von seiner Ehe mit Corinne. »Wenn ich einen Funken Grips gehabt hätte, wäre ich auf ihr Angebot eingegangen und hätte sie das Institut finanzieren lassen. Aber nein, ich war zu stolz.« »Macht nichts. Sie haben etwas noch Besseres aus dieser Ehe bekommen.« »Was soll das sein?« »Max.« »Oh«, sagte er. »Ja. Das merke ich auch immer mehr.« Sie hatten das kleine Haus oben am Hügel erreicht. Chase hatte Wohnräume für Amanda vorbereitet: ein Schlafzimmer, eine Küche und, weil das Wohn zimmer von der Dekompressionskammer einge nommen wurde, noch ein Schlafzimmer, das als Wohnzimmer eingerichtet war. »Haben Sie Hunger?« fragte Chase. »Im großen Haus gibt es Sandwiches.« »Später«, sagte Amanda. »Erst möchte ich Ihnen das Geschenk zeigen, das ich Ihnen mitgebracht
habe.« »Geschenk? Sie mußten nicht – « »Meine Eltern haben mir beigebracht, niemals je manden ohne Mitbringsel zu besuchen.« Lächelnd nahm sie seinen Arm und führte ihn hinter das Haus. Dort fiel das Gelände zu einer kleinen Bucht hin ab. Sie war für Boote mit starkem Tiefgang aus gebaggert. »Dort unten«, sagte sie und zeigte auf die Bucht. »Ich wollte es verpacken, aber…« Chase blickte in die angedeutete Richtung. Plötzlich wurde ihm klar, was er da sah. Er blieb stehen. »Mein Gott…«, sagte er. Auf einem Felsvorsprung am Rand der Bucht stand etwas, wovon Chase träumte, seit er mit seiner Forschungsarbeit begon nen hatte: ein Haibeobachtungskäfig. Ein rechtecki ger Behälter, der etwa zwei Meter hoch, eineinhalb Meter breit und zweieinhalb Meter lang war und aus Aluminiumstäben und Stahlgewebe bestand. Oben und an einer Seite befanden sich Eingangslu ken. Auf jeder Seite waren tellergroße Öffnungen für eine Kamera. An die Oberseite waren zwei Auf triebstanks geschweißt worden, und selbst aus der Entfernung konnte Chase die schimmernden Mes sing-Füllstutzen erkennen: Die Tanks waren mit Luft gefüllt, und der Käfig konnte so gut unter der Was seroberfläche in der Schwebe gehalten werden. Käfige gehörten zum wichtigsten Handwerkszeug eines Haiforschers, denn sie ermöglichten unter Wasser einen sicheren Zugang zu den Tieren im offenen Meer. Die meisten Haie konnten die Alumi niumstäbe nicht durchbeißen. Große Tigerhaie oder Große Weiße würden es vermutlich schaffen, taten es aber nicht. Sie könnten vielleicht an den Stäben
beißen, um sie auszuprobieren oder festzustellen, ob sie eßbar waren. Aber keiner hatte sie je durch gebissen. Seit Chase das Institut gegründet hatte, hatte er versucht, einen Käfig zu kaufen, damit er in tiefem Wasser Experimente durchführen konnte. Ein aus rangierter Käfig, ein gebrauchter Käfig, irgendein Käfig hätte es schon getan. Doch es war aussichts los, an einen gebrauchten Käfig heranzukommen. Die Kabel-TV-Gesellschaften hatten einen großen Bedarf an Haifilmen. Deshalb schnappten sich die Verleihfirmen jeden Käfig, den sie finden konnten, und verlangten Wuchersätze dafür. Herrenlose Kä fige waren nicht ohne Grund herrenlos: Sie waren verbeult, zerbrochen und nicht mehr zu reparieren. Ein neuer Käfig, ein guter Käfig, kostete mindestens zwanzigtausend Dollar. Dieser Käfig sah brandneu und sehr gut aus. »Er ist wunderschön«, sagte Chase und ging auf die Bucht zu. »Aber wie haben Sie – « »Er war Teil meiner Scheidungsabfindung«, sagte Amanda. »Mein Ex-Mann hat ihn sich vor drei Jah ren bauen lassen. Er wollte als echter Macho Haifo tograf werden, aber dabei ist er auf eine Menge Konkurrenten gestoßen. Also hat er es mit Seeot tern versucht.« Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie mit einem ironischen Lächeln hinzufügte: »Auch damit hatte er keinen Erfolg. Schließlich hat er beschlossen, sich auf Frauen zu spezialisieren. Er hat den Toyota be kommen und ich den Haikäfig. Ich dachte mir, Sie könnten ihn gebrauchen.« »Das kann ich mit Sicherheit. Ich hatte gehofft – «
»Ich weiß, ich habe Ihren Aufsatz über Bißdynamik und Arthritisforschung gelesen. Vom Käfig aus müßten Sie mit Ihrem Gnathodynamometer gute Arbeit leisten können.« »Sie sagen es!« sagte Chase lachend. Gnathody namometer war ein hochtrabendes Wort für ein ein faches Prinzip. Es war eine Methode, mit der er prü fen konnte, wieviel Druck ein Hai mit seinem Kiefer ausübte, wenn er zubiß. »Ich habe bisher noch niemanden getroffen, der es aussprechen konnte.« »Kein Problem«, sagte Amanda. »Nur fragen Sie mich nicht, wie man es schreibt.« Als sie zum Käfig kamen, ließ Chase die Hand über die Aluminiumstäbe gleiten und begutachtete Schweißnähte und Beschläge. »Er ist perfekt«, sag te er lächelnd. »Ich kann es kaum erwarten.« »Warum warten? Was spricht gegen heute?« »Heute?« Reflexartig sah Chase auf die Uhr. »Wir haben noch sieben oder acht Stunden Tages licht«, sagte Amanda. »Wie weit müssen Sie hi nausfahren, um auf Haie zu stoßen?« »Für Blauhaie nicht sehr weit. Eine Stunde, viel leicht auch weniger.« »Je eher ich die Seelöwen ans Wasser gewöhne«, sagte Amanda, »desto besser. Sie können mit den Blauhaien schwimmen, das machen sie gern. Sie lieben es, sie zu necken. Haben Sie Köder… und Fischreste, um die Haie anzulocken?« »Hm.« Dann erinnerte sich Chase, und er sagte: »Aber was ich nicht habe, ist Sauerstoff. Der Kom pressor ist – « »Er ist wieder in Ordnung«, sagte Amanda. »Ich habe Tall Man gefragt. Er pumpt die Tanks jetzt voll.
Ich sage Ihnen, er schwärmt schon von der Tour.«
Chase war beeindruckt. Mehr als beeindruckt. Be wegt. Er blickte sie an, und er sah, wie sie ihm zulä chelte. Es war kein triumphierendes oder herablas sendes, sondern ein zuversichtliches Lächeln. Er
schüttelte den Kopf und sagte: »Ich glaube, ich muß
wirklich meinen Doktor machen.«
»Was? Warum?«
»Weil Sie am Anfang recht hatten.« Er grinste.
»Meine Dame, Sie sind jemand. Sie sind etwas!«.
21 Das Boot des Instituts lag tief im Wasser. Es hatte genug Treibstoff und frisches Wasser und war bis ans Schanzkleid mit wissenschaftlichem Gerät, Fo tografie- und Tauchausrüstungen beladen. Den zweihundert Pfund schweren Käfig hatten Chase und Tall Man mit Hilfe eines Flaschenzugs an ei nem Bootskran auf die Steuerbordseite ge schwenkt. Außerdem waren da noch vier Kamera kästen, ein Videorecorder, acht Sauerstoffflaschen und fünfzig Pfund Meeräschen für die Seelöwen. In drei Vierzig-Liter-Kanistern befanden sich Fischres te. Mit den zerkleinerten Makrelen und Thunfischen sollte ein stark riechender Schlick hergestellt wer den, der auf den Wellen treiben und Haie aus dem Umkreis von mehreren Meilen anlocken würde. Weiterhin standen auf Deck zwei Zwanzig-PfundKisten mit gefrorenen Köderfischen, die jetzt in der Sonne auftauten, drei Tauchertaschen mit Tauch anzügen, Masken und Schwimmflossen und schließlich eine mit Sandwiches und Getränken ge füllte Kühltasche, die Mrs. Bixler vorbereitet hatte. Amanda hatte die Seelöwen hinunter zum Kai ge bracht, und bereitwillig waren sie an Bord gewat schelt. Jetzt kauerten sie sich am Heck aneinander. Sie nickten mit den Köpfen, und ihre Barthaare zit terten vor Aufregung. Amanda streichelte sie und redete ihnen gut zu. Max kniete sich neben sie. »Geht es ihnen gut?« fragte er. »O ja, sicher«, sagte Amanda. »Boot heißt Arbeit,
und sie können es nicht erwarten. Sie arbeiten sehr gerne. Sie langweilen sich leicht.« Max streckte eine Hand aus, und einer der Seelö wen beugte seinen Kopf vor, um sich an den Ohren kraulen zu lassen. »Welcher ist das?« sagte er. »Harpo.« »Ich glaube, sie mag mich.« Amanda lächelte. »Ja, das tut sie.« Auf der Brücke legte Chase den Rückwärtsgang ein. Tall Man stand im Bugkorb und verhinderte mit dem Bootshaken, daß der Bug an die Felsen schlug. Als das Boot die Bucht verlassen hatte und Chase auf tiefes Wasser zusteuerte, kam Tall Man nach achtern und ging in die Kajüte. Einen Augenblick später kehrte er zurück und sagte zu Amanda: »Der Pilot Ihres Aufklärers hat mich gerade angefunkt. Ich soll Ihnen sagen, daß er so etwa in einer Stunde in der Luft sein und nach Wa len suchen wird. Ich hab’ ihm gesagt, wir hören Ka nal siebenundzwanzig ab.« Dann sah er hinauf zur Brücke. »Auf sechzehn gibt’s eine amtliche Mel dung«, sagte er zu Chase. »Wir sollen nach einem Jungen im Wasser Ausschau halten.« »Nach wem?« fragte Chase. »Bobby Tobin, dem Matrosen auf Tony Madeiras’ Boot. Sie sagen, er ist über Bord gefallen. Tony schwört, er habe alles nach ihm abgesucht, aber nichts gefunden.« »Über Bord zu fallen scheint hier in der Gegend eine Art Sport zu sein«, sagte Amanda. »Warum?« fragte Tall Man. »Wer noch?« »Bevor ich aus Kalifornien abgereist bin, bekam ich einen Anruf von meiner Cousine. Vor einer Woche
oder zehn Tagen ist ihr Freund gleich vor Block Is land von einem Forschungsschiff verschwunden. Er fotografierte für Geographic. Er wurde bisher nicht gefunden.« Das Boot bewegte sich immer noch langsam, und der Motor tuckerte leise. Sogar Chase hörte oben auf der Brücke, in zehn Metern Entfernung, was Amanda sagte. Er rief zu Tall Man hinunter: »Sieh zu, ob du eine Schwimmweste für Max finden kannst.« »Dad…«, sagte Max. »Also wirklich… ich fall’ doch nicht über Bord.« »Ich weiß«, sagte Chase. »Und ich wette, Bobby Tobin dachte dasselbe.« Als sie auf den Süden von Block Island zusteuerten, gab Amanda Max ein paar Meeräschen, damit er die Seelöwen füttern konnte. Sie selbst kletterte die Leiter zur Brücke hinauf und stellte sich neben Cha se. Als sie eine Landzunge umrundeten, sahen sie ein paar Dutzend Leute an einem windgeschützten Strand. Kinder mit aufblasbaren Schwimmflügeln spielten in der Brandung. Zwei Erwachsene mit pas tellfarbenen Bademützen schwammen zwanzig Me ter hinter der Brandungslinie auf und ab, und ein Teenager hing lässig auf einem Surfbrett. »Jedesmal, wenn ich Leute vor der Küste schwim men sehe«, sagte Chase, »denke ich, was für ein Glück es ist, daß sie sich nicht selbst aus vielleicht hundert Metern Entfernung aus der Luft sehen kön nen.« »Warum?« »Weil sie, wenn sie sehen könnten, was alle paar Minuten vier oder fünf Meter von ihnen entfernt vor
beischwimmt, niemals wieder einen Fuß ins Wasser setzen würden.« »Gibt es hier so viele Haie?« »Nein, nicht mehr so viele wie früher. Aber man braucht nicht viele, um eine Panik auszulösen. Man braucht nur einen.« Hundert Meter vor dem Strand zog ein Hummerfi scher seine Körbe hoch. Er fuhr auf eine Boje zu, schnappte sie sich mit einem Bootshaken und zog sie an Bord. Er führte das Tau durch einen Fla schenzug, der von einer A-förmigen Stahlkonstruk tion herabhing, wickelte es um eine Winsch und holte den aus Holz und Draht gebauten Hummer korb auf das Schanzkleid. Chase winkte ihm zu. Der Hummerfischer sah auf und wollte schon zurückwinken, als er das »O. I.« an der Seite des großen weißen Bootes bemerkte. Er ließ den Arm sinken und schlug statt dessen mit einer Faust in die Beuge des anderen Arms und machte eine obszöne Geste. »Wie nett von ihm«, sagte Amanda. Chase lachte. »Das ist Rusty Puckett«, sagte er. »Er kann mich nicht besonders gut leiden.« »Das habe ich gesehen.« »Hummerfischer sind eine seltsame Spezies. Viele von ihnen glauben, daß das Meer ihr Privatrevier ist. Sie meinen, daß sie eine Art gottgegebenes Recht haben, ihre Körbe aufzustellen, wo sie wollen und wann sie wollen und soviel zu fangen, wie sie wollen. Der Rest der Welt ist ihnen egal. Gott stehe dem bei, der sich an ihren Fallen zu schaffen macht: Sie versenken und erschießen sich gegen seitig.«
»Und Sie haben an seinen Fallen rumgefummelt?« »Sozusagen. Bevor die Insel mir gehörte, benutzte er sie als Campingplatz, Lagerhaus und Müllhalde. Er hat seine Körbe überall ausgelegt, nicht nur in den seichten Stellen, sondern auch in der Fahrrinne und am Kai. Ich konnte weder rein noch raus und hab’ mich mit dem Propeller immer wieder in seinen Leinen verheddert. Ich hab’ ihn gebeten, sie zu ent fernen. Er hat mir gesagt, ich soll mich verpissen. Ich bin zur Küstenwache gegangen, aber die wollten da nicht hineingezogen werden. Also haben Tall Man und ich eines Tages alle seine Körbe hochgezogen und sie ausgeleert. Die Hummer haben wir dem Altersheim geschenkt und die Körbe dann hier draußen wieder hinabgelassen. Er hat etwa zwei Wochen gebraucht, um sie zu finden. Er weiß, daß wir es waren, aber er kann es nicht beweisen. Als er uns beschuldigte, sagte Tall nur, es wäre ei ne Warnung des Großen Geistes gewesen. Rusty ist dumm, aber er ist kein Selbstmörder. Er hatte nicht vor, sich mit Tall anzulegen, einem Riesen, der über das Gesetz genauso denkt wie er selbst. Also hat er seine Körbe hier draußen gelassen, teils, weil er zu faul ist, sie wegzuschaffen, teils, weil es sich hier draußen sowieso besser fischen läßt.« »Dann sollte er doch zufrieden sein.« »Sollte man meinen. Aber Rusty ist nachtragend. Und es gefällt ihm hier draußen nicht. Hier passiert nie etwas, keine Aufregung, niemand, mit dem man sich streiten oder auf den man einen Schuß abfeu ern kann.« Sie fuhren ein paar Minuten schweigend weiter,
dann wandte sich Chase um und sah nach achtern. Hinter ihnen war Block Island zu einer unförmigen grauen Masse geschrumpft. Er drosselte den Motor und legte den Leerlauf ein. »Hier wären wir«, sagte er. »Wo wären wir?« Amanda sah sich um. »Ich sehe überhaupt nichts, keinen Vogel, keinen Fisch. Hier ist nichts als leeres Meer.« »Ja«, sagte Chase, »aber ich kann sie spüren, ich kann sie riechen, ich kann sie praktisch schme cken.« Er grinste. »Sie nicht?« »Was?« »Die Haie.«
22 Rusty Puckett beobachtete, wie das Boot nach Os ten davonpreschte und die Wellen des Ozeans sei nen weißen Rumpf zu verschlingen schienen. Schließlich sah er nur noch ein gelegentliches Auf blitzen, wenn Sonnenstrahlen auf den stählernen Überbau auf der Brücke fielen. Scheißkerl, dachte er, hoffentlich gehst du unter, hoffentlich läufst du auf irgend etwas auf und sinkst wie ein Stein. Oder vielleicht erst Feuer fangen und dann untergehen. Ja, Feuer ist gut. Ein Feuer ist schön gemein. Vielleicht sollte er mal nachts zu der Insel überset zen und irgend etwas in Brand stecken. Ihnen bei bringen, was es hieß, ihn zum Narren zu halten. Wahrscheinlich würden sie wissen, daß er es war. Und dann würde dieser verfluchte King Kong von einem Indianer ständig an ihm kleben wie Sabber an einem Baby. Vielleicht sollte er besser noch eine Weile darüber nachdenken. Er öffnete die Tür des Hummerkorbs, der auf dem Schanzkleid balancierte, und sah hinein. In der hin teren Ecke waren zwei Hummer, die mit ihren Füh lern hin- und herschwenkten. Einer war ziemlich groß. Er wog mindestens ein paar Pfund. Puckett langte hinein und faßte ihn hinter dem Kopf an, um den Scheren auszuweichen, zog ihn heraus und warf ihn in die Kiste auf dem Deck. Der andere war weitaus kleiner, wahrscheinlich ein »kurzer«. Ein junger, den man besser zurückwerfen und noch ein, zwei Jahre wachsen lassen sollte. Puckett wollte erst den Rückenpanzer messen, ob
der Hummer zu kurz war. Doch dann dachte er sich: Teufel, wenn ich ihn nicht nehme, nimmt ihn jemand anders. Er zog den Hummer aus dem Korb und riß ihm mit einer einzigen schnellen Drehbewegung den Schwanz ab. Kopf, Beine und Scheren wanden sich noch, und er warf sie über Bord. Er sah zu, wie sie außer Sicht gerieten und sanken. Er legte den Schwanz auf sein Schneidebrett. Später würde er ihn aus der Schale nehmen und als Zutat für Hummersalat verkaufen. Niemand würde je etwas davon merken. Puckett plazierte einen neuen Köder im Korb, band die Tür zu, stieß den Korb über das Schanzkleid und ließ das Tau durch seine Hände gleiten, bis es sich nicht mehr straffte. Daran erkannte er, daß der Korb auf dem Grund lag. Dann schleuderte er die Boje über Bord, warf den Motor an und fuhr lang sam zu seiner nächsten Boje. Zehn hatte er schon abgeklappert, und zehn lagen noch vor ihm. Er hat te bereits achtzehn »Käfer« im Kasten. Bis er fertig war, würden es wahrscheinlich dreißig oder mehr sein… nicht schlecht für einen Vormittag Arbeit. Puckett legte bei der nächsten Boje den Leerlauf ein, lehnte sich über den Rand, schnappte sie sich und zog sie an Bord. Er führte das Tau durch den Flaschenzug, wickelte es um die Winsch und schal tete sie ein. Eine Hand behielt er auf dem Tau, um es über die Rolle zu führen. Von der Küste her hörte er einen Schrei. Er ent deckte ein großes, blondes Mädchen, das von ei nem Jungen den hartgetrockneten Strand entlang gejagt wurde. Er war offenbar ihr Freund. Sie trug einen jener Bikinis, die eher eine Einladung als ein
Badeanzug waren. Wie nannte man die? Arschsei de. Ihre Brüste wackelten auf und ab wie zwei Me lonen. Hübsch, dachte er. Dagegen hätte er jetzt auch nichts einzuwenden. Plötzlich blieb das Mädchen stehen, drehte sich um und kickte Sand und Wasser gegen den Jungen. Er schrie irgend etwas und stürmte auf sie zu. Aber sie wandte sich abrupt ab, tauchte ins Wasser und schwamm los. Komm schön hierher, Schätzchen, dachte Puckett. Dir werd’ ich zeigen, wie man’s macht. Das Mädchen trat hinter der Brandungslinie Wasser und neckte den Jungen, bis er ins Wasser sprang und sich auf sie zubewegte. Zusammen schwammen sie den Strand entlang, und mit der Strömung kamen sie rasch voran. Der Korb stieß gegen den Bootsboden. Puckett stellte die Winsch ab und schob das Tau so weit wie möglich über den seitlichen Rand. Er zog den Korb unter dem Boot hervor an die Oberfläche. Irgend etwas stimmte nicht. Der Korb hing in einem selt samen Winkel, als wäre ein Ende weitaus schwerer als das andere. Er lehnte sich über das Schanz kleid, packte den Korb mit beiden Händen und hiev te ihn an Bord. Das eine Ende war verschwunden. Splitter von den Holzstäben hingen in dem zerfetzten Draht. Er sah hinein. Auf den ersten Blick wirkte der Korb leer: kein Köder, keine Hummer, nichts. Dann, als er ge nauer hinsah, entdeckte er Schalenstücke und zwei Hummerbeine, die im Drahtgeflecht festhingen. Was, zum Teufel? dachte er. Ein Wilderer würde so etwas nicht tun. Der würde es sich leicht machen: den Korb hochziehen, die Tür aufmachen, die
Hummer nehmen und das Ding zurückwerfen. Ein Hai? Nein, ein Hai hätte den Korb kurz und klein geschlagen. Vielleicht wären Teile davon zermalmt worden, wenn er sich mit ihm davongemacht hätte. Puckett band das Tau von dem zersplitterten Korb los, warf ihn über Bord und ging nach achtern, um Ersatz zu holen. Er hatte immer vier Ersatzkörbe dabei. Man konnte nie wissen: Körbe wurden ge stohlen oder trieben im Sturm ab, oder die Taue wurden von Propellern abgeschnitten. Er befestigte das Tau an dem Ersatzkorb, legte einen Köder hin ein und stieß ihn über Bord. Er holte den nächsten Hummerkorb hoch. Er sah noch schlimmer aus. Zwei Seiten waren einge schlagen, und die Tür war abgerissen und ver schwunden. Ein halbes Dutzend Hummerfühler lag auf dem Boden des Korbes verstreut. Es mußten also mindestens drei Hummer darin gewesen sein. Irgend etwas hatte sie in Stücke gerissen. Aber was? Kein Krake würde so mit einer Falle um springen. Hier in der Gegend gab es keine Riese naale und keinen Tintenfisch, der groß und gemein genug war. Und ein riesiger Hummer? Sie fraßen sich gegenseitig. Einer, der groß genug war, könnte eine Falle zertrümmern. Großer Gott, sagte er zu sich selbst, so ein Hummer müßte so groß sein wie ein gottverdammter Mercedes. Was auch immer das getan hatte, war groß und stark und entweder wütend oder wahnsinnig. Es mußte irgendwelches Werkzeug haben, mit dem es arbeiten konnte. Ein Mensch. Es mußte ein Mensch sein, aber welcher Mensch wollte denn… Chase. Simon Chase. Natürlich, das ergab Sinn. Warum
sonst hatte Chase ihm zugewinkt, als er vorbeifuhr? Sie waren nicht gerade Busenfreunde. Der zeigte es dem alten Rusty. Er gab sich nicht damit zufrie den, ihn von der Insel zu vertreiben, wo er fast zwanzig Jahre lang Hummer gefischt hatte. Es ge nügte ihm auch nicht, ihn hierher an den Arsch der Welt gejagt zu haben. Jetzt wollte er Puckett ganz aus dem Verkehr ziehen. Ja, das war die Lösung, jetzt war alles klar. Okay, Scheiß-Mister Simon Chase von Ihrem ScheißInstitut auf Ihrem Scheiß-Osprey-Island… Sie wol len einen Krieg, Sie bekommen Ihren Krieg. Während Puckett über eine geeignete Rache nach sann, ersetzte er den Korb, ließ den Motor aufheu len und jagte zur nächsten Boje. Wahrscheinlich hatte Chase auch alle übrigen Körbe kurz und klein geschlagen, aber er würde sie alle hochziehen müssen, um es herauszufinden. In Puckett stieg erneut die Wut hoch wie eine Flut welle, als ihm klarwurde, daß er nur noch zwei Er satzkörbe übrig hatte. Er mußte den ganzen Weg zurück zur Stadt fahren, ein paar andere holen und wieder die ganze Strecke hierherkommen. Er war von Wut abgelenkt, als er die nächste Boje an Bord holte. Sie hätte mit der Strömung treiben sollen, das Tau in einem bestimmten Winkel nach unten ausgerich tet. Doch so war es nicht: Sie wippte hin und her, als ob irgend etwas daran zerrte. Puckett bemerkte es nicht. Er verhakte die Boje und holte sie an Bord, wickelte das Tau um die Winsch und setzte sie in Gang. Sofort heulte die Winsch auf, und das Boot neigte
sich. Das Tau begann, auf der Winsch abzurut schen. Was ist denn jetzt? dachte Puckett. Das ver dammte Ding mußte sich in den Felsen verhakt ha ben. Nein, das war es nicht, konnte es nicht sein, weil das Tau jetzt faßte, die Winsch holte es ein… langsam, als ob ein immenses Gewicht daran hing. Aber es kam. Tang. Wahrscheinlich hatten sich ein paar hundert Pfund Seetang darum gewickelt. Er nahm einen knapp zwei Meter langen Bootshaken und beugte sich über Bord, bereit, den Tang wegzureißen, be vor er den Korb an Bord holte. Plötzlich schnellte das Boot zurück in seine aufrech te Position, und das Tau kam schneller. Vielleicht fiel der Tang ab. Vielleicht… Der Korb kam in Sicht, ein dunkler Schatten vor der grünen Wassertrü bung. Irgend etwas war neben ihm, hatte sich in ihm verfangen… nein, schob ihn vor sich her… es war weißlich und… Großer Gott, dachte Puckett, es ist eine Leiche. Doch nein, es war keine Leiche, es schwamm, und zwar schnell. Sein Maul war offen, ebenso seine Augen. Es hatte Hände oder Klauen, und sie streckten sich nach ihm aus. Eine der Hände packte den Bootshaken. Puckett schrie auf und versuchte, den Haken weg zuziehen, aber er wurde ihm aus der Hand geris sen. Er taumelte rückwärts, immer noch schreiend. Mit der Schulter stieß er gegen den Gashebel und rammte ihn vor, der Gang rastete ein. Puckett fiel auf den Hebel, und mit dem Gewicht seines Körpers drückte er ihn ganz durch. Der Motor heulte auf, und das Heck sackte ab, als
die Propeller loslegten und sich ins Wasser bohrten. Das Boot machte einen Satz nach vorn. Das Tau schnellte von der Winsch und sauste ins Wasser. Die Boje wurde von der Stahlkonstruktion ge schleudert und verschwand. Puckett rührte sich nicht, bis er sich selbst schreien hörte. Dann ließ er sich vom Gashebel wegrollen und stellte das Steu errad gerade. Er ließ das Boot mit Höchstgeschwindigkeit weiter fahren und sah dabei nach achtern, als erwartete er, das Ding, was auch immer es sein mochte, wür de über das Heck ins Cockpit kommen. Als er viel leicht fünfhundert Meter weit gefahren war, drossel te er das Tempo und steuerte das Boot in einem weiten Kreis um die Boje herum. Er hielt den Motor bei tausendfünfhundert Umdre hungen, wodurch er eine konstante Geschwindig keit von zwölf bis fünfzehn Knoten erreichte. Der Boje näherte er sich bis auf hundert Meter und starrte sie an. Sie trieb jetzt auf dem Wasser und schaukelte nicht mehr, sondern gab der Kraft der Strömung nach. In Pucketts Kopf ging es drunter und drüber. Ge danken, Bilder und Fragen wirbelten ziellos darin umher wie eine Kugel in einem Flipperautomat. Kurze Zeit später wurde ihm plötzlich eiskalt. Er spürte, daß ihm übel wurde. Er legte den Gang ein und machte sich auf den Heimweg. Von der Stelle am Strand, an der sie das Wasser verlassen hatten, beobachtete das Pärchen, wie das Boot in einer Abgaswolke heulend davonjagte. »Was hat denn den gebissen?« fragte das Mäd chen.
»Vielleicht haben sich die Propeller verheddert«, sagte der Junge. »Ist mir auch schon passiert. Man will nach Hause kommen, bevor der Scherstift bricht.« Er musterte den Strand. »Hey, weißt du was, wir sind allein.« »Na und?« »Was hältst du davon, splitternackt zu baden?« »Du willst ja nur mal fühlen«, sagte das Mädchen. »Will ich nicht.« »Doch, doch, willst du. Gib’s zu.« Der Junge zögerte, dann grinste er und sagte: »O kay, ich geb’s zu.« Das Mädchen faßte sich hinter den Rücken, zog an einem Band, und ihr Bikinioberteil fiel herunter. »Siehst du?« sagte sie. »Ehrlich währt am längs ten.« Sie löste einen Knoten an der Hüfte, und das Unterteil fiel in den Sand. Sie wandte sich ab, sprang über die kleinen Wellen und tauchte ins Wasser, während sich der Junge noch mit seiner Badehose abmühte. Ziellos schwamm es über den Sand, auf der Suche nach Lebenszeichen. Zeit war ihm kein Begriff. Es wußte nicht, daß der Wechsel von Licht und Dun kelheit den Zeitverlauf anzeigte. Aber es spürte, daß die Intervalle zwischen dem unerträglichen und immer wiederkehrenden Drang zu töten kürzer wur den. Als Reaktion auf die gesteigerte Aktivität beschleu nigte sich sein Stoffwechsel. Er hatte jahrelang auf einem Niveau gearbeitet, auf dem man selbst primi tives Leben kaum erhalten konnte. Er stellte das Empfindungsvermögen des Gehirns wieder her und verbrannte die Kalorien immer schneller.
Irgendwo vor sich hörte es schwache Signale, au ßerhalb seines Blickfeldes. Es folgte den Geräu schen, bis es wieder zu einem dieser seltsamen Kästen aus Holz und Draht kam. Zwei kleine leben de Dinger befanden sich darin. Es zerstörte den Kasten und fraß sie auf. Es bewegte sich über dem abschüssigen Sand auf tieferes Wasser zu, als es plötzlich über sich Bewe gung spürte. Es hielt an und zwang seine Kiemen, ihr rhythmisches Pulsieren einzustellen. Es richtete die sensiblen Rezeptoren an den Innenseiten sei nes Schädels auf die Quelle, von der die Druckver änderungen im Wasser ausgingen. Es konnte sie nicht genau lokalisieren, doch es nahm eine Rich tung wahr. Und so öffnete es das riesige Maul, ließ die Zähne vorschnappen, krümmte die Krallen und schoß lautlos auf die Beute zu. Der Junge holte das Mädchen ein, umfaßte sie von hinten und legte die Hände über ihre Brüste. Sie kreischte, drehte sich zu ihm um und wollte ihn schlagen. Er packte ihre Hand und legte sie um sei nen Hals, beugte sich vor und küßte sie. Aneinan dergeklammert sanken sie, bis sie mit den Köpfen unter Wasser waren. Dann ließen sie sich los und tauchten auf. »Wie tief ist es hier?« fragte sie, während sie nach Luft schnappte. »Ich weiß nicht, fünfzehn Meter, vielleicht mehr.« »Es ist unheimlich. Man kann nicht auf den Grund sehen.« »Meinst du, etwas will dich fressen?« Der Junge lachte. »Ich will zurückschwimmen.«
»Okay.« »So weit, daß wir Boden unter den Füßen haben.« »Also los.« Der Junge schwamm ein paar Züge in Richtung Ufer. Dann hielt er an und sagte: »Was war das?« »Was war was?« »Irgend etwas unter uns. Hast du es nicht ge spürt?« »Halt den Mund«, sagte das Mädchen. »Das ist nicht komisch.« »Ich meine es ernst. Eine Art kleine Druckwelle. Jetzt ist es weg.« »Ich hasse dich, Jeffrey… das ist nicht komisch.« »Wenn ich dir doch sage…«, begann der Junge. Doch das Mädchen war bereits an ihm vorbeige schwommen und wirbelte auf seinem Weg zum Strand das Wasser auf. Jetzt konnte es sie sehen. Weit oben, zwei Lebe wesen -groß, schwach, unbeholfen. Es schoß nach oben. Plötzlich fühlte es, wie es von oben gestoßen wurde, doch es blieb unverletzt. Verstört wirbelte es herum und suchte nach dem Ding, das es getroffen hatte. Am Rande seines Blickfelds befand sich ir gend etwas immens Großes. Es war größer als es selbst und von einer trüben Farbe, die sich kaum von der des Wassers unterschied. Es hatte Flossen am Rücken und an den Seiten. Mit einem halbkreisförmigen Schwanz beschrieb es langsam einen Kreis. Sein Maul stand einen Spalt weit offen. Sein Auge starrte völlig leer. Dem Ge schöpf fiel ein Wort für dieses Ding ein, ein Wort aus dunkler Vergangenheit. Das Wort war Hai. Mit dieser Erkenntnis wurde es sich auch der Gefahr
bewußt. Das Geschöpf drehte sich mit dem Hai, bereit, sich zu verteidigen. Der Hai peitschte mit dem Schwanz. Mit geöffnetem Maul griff er frontal an. Das Geschöpf wich aus, indem es zurückstieß und dann zur Seite abschwenkte, und der Hai jagte vor bei. Sofort drehte er sich um und stürzte wieder los. Das Geschöpf duckte sich unter ihm und streckte seine Krallen nach oben aus. Sie stießen auf Fleisch und schlitzten es auf, doch das Fleisch war hart und dick. Es floß kein Blut. Diesmal drehte sich der Hai nicht um, sondern schwamm weiter. Er wühlte das Wasser mit dem Schwanz auf und verschwand im graugrünen Ne bel. Das Geschöpf ließ sich auf den Grund gleiten. Es orientierte sich, dann suchte es die Oberfläche nach den zwei großen Lebewesen ab. Sie waren verschwunden. Das Wasser war ungestört von Ge räuschen oder Druckschwankungen. Das Geschöpf schwamm in tieferes Wasser, um wieder zu jagen. An Land gekommen, wickelte sich das Mädchen in sein Handtuch ein, sammelte den Bikini auf und schlich davon. Der Junge mußte im Dünengras nach seiner Badehose suchen. Dort hatte sie seine Begleiterin hingeworfen.
23 Das Boot war in sechzig Meter Tiefe verankert. Der Käfig war an einem Tau befestigt, das wiederum an den Klampen am Heck vertäut war. Er schwamm sechs, sieben Meter hinter dem Boot im Wasser. Eine Stunde lang hatten Chase und Tall Man Fisch reste über Bord geschüttet. Die Luft stand im Cock pit, und sie stank nach Blut und Fischöl. Der Schlick breitete sich fächerförmig hinter dem Boot aus und wurde von der Strömung davongetragen. Wie ein flacher Regenbogen war er auf dem stillen Wasser deutlich zu erkennen. Zwei mit Gurten und Regulatoren ausstaffierte Sau erstofftanks lagen neben Schwimmflossen und Masken auf dem Deck. Amanda und Chase hatten ihre Taucheranzüge bis zur Taille hochgezogen. Die Oberteile hingen noch herunter. Schweiß glänzte auf ihren Armen und Schultern, und ein Sonnen brand färbte Amandas Rücken rosarot. Sie ging nach vorne und tauchte einen Eimer in das saubere Wasser. Vorsichtig begoß sie die Seelö wen, die auf einem Haufen lagen und schliefen. »Ich muß die Mädels jetzt bald ins Wasser lassen«, sagte sie. »Diese Hitze vertragen sie nicht.« »Im Radio haben sie gesagt, es könnten heute achtunddreißig Grad werden«, sagte Tall Man und wischte sich die Stirn ab. »Und ich wette – « »Hai!« rief Max von der Brücke. »Ich sehe einen!« Sie schauten nach achtern. Fünfzig Meter von ihnen entfernt glitt eine dreieckige Rückenflosse durch den Schlick. Ihr folgte eine Schwanzflosse, die hin
und her peitschte. »Es ist ein Blauer«, sagte Chase. »Ich wußte, daß wir sie ranlocken.« »Wie können Sie das aus dieser Entfernung erken nen?« fragte Amanda. »Kurze, stummelige Rückenflosse… spitze Schwanzflosse… dunkelblau.« »Wie groß?« »Wenn ich die Entfernung von der Rückenflosse zum Schwanz schätze… etwa dreieinhalb Meter.« Er sah zu Max hinauf. »Gut gemacht! Halt die Au gen auf, es werden noch mehr davon kommen.« »Da!« Max deutete eine Richtung an. »Hinter dem… nein, zwei! Da sind noch zwei!« Die Seelöwen schienen die Aufregung in Max’ Stimme zu spüren. Sie rührten sich, reckten sich auf ihren Flossen hoch und schnupperten die Luft. »Machen wir uns fertig«, sagte Chase zu Amanda und warf die Schöpfkelle in den Eimer mit den Fischresten. Bis Chase und Amanda ihre Taucher anzüge ganz übergestreift, die Sauerstoffflaschen angelegt und die Masken ausgespült hatten, schwammen acht Blauhaie kreuz und quer durch den Schlick mit den Fischresten. Sie kamen dem Käfig mit jeder Bewegung näher. »Wirf ihnen ab und zu einen Fisch zu«, sagte Cha se zu Tall Man, »damit sie das Interesse nicht ver lieren.« Er öffnete eine Luke zwischen seinen Fü ßen, faßte hinein und förderte zwei weiße Plastiktei le zutage. Jedes war etwa so groß wie ein Briefbo gen, und sie waren so zusammengenäht, daß sie sich gegenüberlagen. In einer Ecke war ein Stück Tau befestigt.
»Was ist das?« fragte Amanda. »Ein Plastiksand wich?« »Genau.« Chase lächelte. »Aber wir Wissenschaft ler auf Weltklasseniveau nennen es Gnathodyna mometer.« »Sie machen Witze.« »Nein. Einfach, aber sehr wirksam. Das ist sensibi lisiertes Laborplastik. Und hier drinnen«, sagte Chase und stemmte die Teile auseinander, »ist eine ausgewachsene Makrele. Sobald Tall die Haie so weit hat, daß sie fressen, halte ich mein Sandwich durch eine der Kameraluken. Ein Hai wird die Mak rele wittern und auf das Plastik beißen. Ich werde ihn wie wild darauf herumkauen lassen und es ihm dann wegnehmen. Im Labor messe ich das Plastik mit dem Mikrometer, um zu sehen, wie tief er gebis sen hat. Auf einer Tabelle kann ich ablesen, wieviel Druck er ausgeübt hat.« »Erstaunlich«, sagte Amanda. »Das ganze Ding muß etwa drei Dollar gekostet haben.« »Zehn, um genau zu sein. Aber wenn man die Kos ten für den Käfig, das Boot, den Treibstoff und die Mannschaft dazurechnet, ist man schon bei hun derttausend.« Chase schwieg einen Augenblick und beobachtete, wie die Haie dicht am Käfig ihre Krei se zogen. Dann sagte er: »Und Sie sind sicher, daß Sie diese Seelöwen ins Wasser lassen wollen?« »Warten Sie’s ab«, sagte sie lächelnd. »Die werden Ihre Haie zum Narren halten.« Sie öffnete die Tür am Heckwerk, stieg auf die Tauchplattform, nahm einen Eimer Fische und rief jeden Seelöwen beim Namen. Einer nach dem anderen kam zu ihr her übergewatschelt. Jeder bekam einen Fisch und ließ
sich, wenn sie den Arm schwang und mit der Hand zum Wasser deutete, auf die Tauchplattform und ins Meer plumpsen. Chase sah, wie ihre braunen Körper zwischen den metallblauen Rücken der Haie hindurchflitzten und ins Meer hinausschössen. »Fertig?« fragte Amanda. Sie angelte hinter der Tür nach ihrer Videokamera. Chase antwortete nicht. Er sah weiter aufs Wasser, selbst als die Seelöwen außer Sichtweite waren. Er war aufgeregt, wie er es erwartet hatte. Aber was er nicht erwartet hatte, war dieses vage beklommene Gefühl, das seine Aufregung überschattete. Keine Angst, nichts Bestimmtes, eher eine Art böse Vor ahnung. »Machen Sie sich keine Sorgen um meine Seelö wen«, sagte Amanda. »Denen wird nichts passie ren.« »Mach’ ich mir nicht«, sagte Chase. »Und auch nicht um die Blauhaie. Aber ich frage mich einfach, was zum Teufel hier draußen noch ist.« »Vergiß es, Simon«, sagte Tall Man. Er nahm das Tau, an dem der Käfig befestigt war, und zog, bis er den Käfig am Heck des Bootes hatte. »Dem Käfig kann nichts etwas anhaben.« »Stimmt«, sagte Chase. Er sprang auf die Tauch plattform, beugte sich über den Käfig und öffnete die Luke am oberen Ende. Ein Blauhai stupste ge gen den Käfig, wirbelte dann weiter. Als Chase sich aufrichtete, seine Maske anlegte und das Mundstück einsetzte, hörte er Max rufen: »Dad…« Er sah hinauf zur Brücke. Der Junge schien klein und weit entfernt.
»Sei vorsichtig«, sagte Max. Chase hielt einen Daumen nach oben. Dann streifte er die Maske über, drückte das Plastiksandwich an die Brust und stieg durch die Luke in das kalte, dunkle Wasser. Amanda folgte sofort nach. Als Tall Man sah, daß sie sicher im Käfig angekommen war und die Luke geschlossen hatte, ließ er das Tau los. Der Käfig trieb nach hinten, bis sich das Seil straff te. Tall vergewisserte sich, daß der Knoten an der Klampe hielt und warf dann ein paar Makrelen und noch mehr Fischreste über Bord. Es dauerte einen Augenblick, bis die Blasen ver schwanden und das Wasser sich klärte. Chase warf einen Blick auf Amanda, die ihre Videokamera ein stellte, und starrte hinaus in das Blau, das sie um gab. Eine Makrele platschte von oben ins Wasser und trudelte vor dem Käfig wie ein Blatt hinab. Ein Seelöwe kam seitlich um den Käfig geschossen und schnappte sich den Fisch. Er hielt ihn zwischen den Zähnen und verharrte einen Augenblick, als wollte er für Amandas Kamera posieren. Dann biß er auf die Makrele. Blut spritzte ihm seitlich aus dem Maul, und kauend schwamm er weiter. Chase hielt nach den Haien Ausschau. Er sah drei von ihnen etwa fünfzehn oder zwanzig Meter ent fernt. Am Rande seines Blickfelds bewegten sie sich als dunkle Schatten, die gemächlich auf und ab kreuzten. Es dauert noch ein bißchen, dachte er, noch sind sie vorsichtig. In einer Minute werden sie sich an uns gewöhnt haben und kommen, um zu fressen. Noch drei Makrelen fielen neben den Käfig, eine auf jeder Seite, eine direkt davor. Ein Seelöwe
schnappte sich eine davon, und die anderen beiden sanken weiter hinab. Zwei der drei Haie drehten sich um und schwammen auf den Käfig zu. Sie be wegten sich nicht mehr langsam und geschmeidig, sondern schnell und ruckartig. Jetzt kreuzten sie nicht mehr, sie jagten. Eine Makrele befand sich direkt vor Chase, keinen Meter entfernt. Wie ein Kampfflugzeug, das sein Ziel anvisiert, kam einer der Haie auf die Makrele zu. Sein Maul öffnete sich. Er rollte sich auf die Sei te, und die zuckende Membran, die sein Auge schützte, schob sich nach unten… Plötzlich stoppte der Hai, und sein Körper krümmte sich. Er drehte sich in einem engen Bogen um und floh ins Dunkle. Unberührt fiel die Makrele weiter nach unten. Chase blickte Amanda an und breitete fragend die Hände aus: Was hatte das nun zu bedeuten? Er wußte, daß Blauhaie Menschen zwar selten angrif fen, daß sie aber keine Angst vor ihnen hatten. Und doch schien es Chase sehr wahrscheinlich, daß der Hai plötzlich in Panik geraten war, als er Amanda und ihn gesehen hatte. Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Chase schob das Plastiksandwich durch die Kame raluke. Er drückte es, damit die Körpersäfte des Fischs ins Wasser gelangten, und schwenkte es verführerisch hin und her. Ein Seelöwe näherte sich und roch daran, doch Amanda gab ihm ein Zeichen, sich zu entfernen, und er gehorchte. Durch die Stangen am Boden des Käfigs sah Cha se, wie ein Hai von unten aufstieg. Er hatte den Ge ruch wahrgenommen und suchte nach der Quelle. Chase ließ das Plastik soweit wie möglich aus dem
Käfig heraus am Tau herabbaumeln. Der Hai kam weiter nach oben, und er drehte sich, um sein Ziel anzusteuern. Komm schon, Kleiner, murmelte Cha se in Gedanken, komm schon. Der Hai öffnete sein Maul und zeigte Reihen kleiner weißer dreieckiger Zähne. Er war noch zwei Meter von der Beute entfernt, dann noch einen… Chase hielt das Tau so fest umklammert, wie er nur konn te. Er wußte, er würde sich ins Zeug legen müssen, damit der Hai ihm nicht die ganze Ausrüstung wegriß. Als der Hai sich auf die Seite rollte, konnte er sein Auge sehen. Der Hai erstarrte, als wäre er gegen eine Wand ge stoßen. Sein Maul schloß sich. Mit zwei kräftigen Schwanzschlägen verschwand er in der Tiefe. Cha se wandte sich zu Amanda um und deutete mit bei den Daumen nach oben. Er stieß sich vom Boden des Käfigs los, drückte die Luke auf und stemmte sich aus dem Wasser, bis er seine Ellbogen oben auf dem Käfig aufstützen konnte. Er entfernte sein Mundstück und schob die Maske hoch. »Was macht ihnen solche Angst?« fragte Tall Man. Er hatte alles von oben beobachtet. »Weiß der Teufel.« Amanda zwängte sich durch die Luke nach oben und blieb neben Chase in der Öffnung. »So etwas habe ich noch nie erlebt«, sagte Chase. »Blauhaie haben keine Angst vor Menschen.« »Diese hier mit Sicherheit schon«, sagte Amanda. »Haben Sie die Narben auf dem letzten gesehen?« »Nein, wo?« »An der ganzen Flanke entlang. Und zwar keine Paarungsnarben, ich weiß, wie die aussehen. Diese
hier waren nicht zufällig. Es waren fünf große Ein schnitte, alle ziemlich parallel. Und frisch.« »Fünf?« sagte Chase. »Sind Sie sicher?« »Absolut. Warum?« »Vor etwa einer Woche haben wir einen großen Delphin mit fünf tiefen Schnittwunden im Schwanz gesehen.« »Wovon?« »Das ist die Frage.« Chase sah zu Tall Man hinauf. »Was meinst du?« »Machen wir noch einen Versuch«, sagte Tall Man. Er schüttete einen Eimer Fischreste ins Wasser und warf ein Dutzend Makrelen hinterher. »Wenn sie das nicht anlockt, dann weiß ich auch nicht…« Sie warteten einen Augenblick, bis sich Blut und Innereien im Wasser verteilt hatten. Dann ließen sie sich wieder in den Käfig hinabgleiten. Rote Wolken bauschten sich im Wasser. Fischleiber sanken wie Kiesel hinab. Durch den nebligen Schleier sah Cha se zwei Haie, acht, neun Meter entfernt. Doch bis er nach oben gefaßt und die Luke über sich fest ver schlossen hatte, waren sie verschwunden. Er warf einen Blick auf die Uhr, dann hielt er sich an den Stangen fest und starrte durch die Kameraluke. Nach fünf Minuten war das Blut verschwunden, und die Fische waren auf den Grund gesunken. Die ein zigen Lebewesen, die Chase sah, waren die See löwen. Sie schwammen in ihr Spiel vertieft allein oder zu zweit am Käfig vorbei. Er gab Amanda das Zeichen zum Auftauchen. Als sie wieder an Bord waren und sich aus ihren Sachen herausgeschält hatten, sagte Chase zu Amanda: »Das macht doch alles keinen Sinn. Ir
gend etwas stimmt da nicht. Es sieht fast so aus, als ob sie untereinander weitersagen: >Geht da nicht hin, Menschen bedeuten Gefahr. < Aber das kann nicht sein… Es sei denn, im Wasser ist ir gendeine elektromagnetische Anomalie, die sie alle gleichzeitig spüren, und die irgendwie mit Men schen zu tun hat.« »Man sollte meinen, daß meine Seelöwen das als erste aufschnappen würden«, sagte Amanda. »Ich will Ihre Haie nicht beleidigen, aber meine Damen haben ein bißchen mehr auf dem Kasten.« »Mag sein«, sagte Tall Man, »aber Ihre Seelöwen waren noch nicht hier, als diese ganzen üblen Ge schichten passiert sind. Sie hatten noch keine Lek tion zu lernen.« »Wollen Sie sie zurückrufen und sie an Bord brin gen?« fragte Chase. »Kann ich machen, wenn wir weiterfahren«, sagte Amanda. »Und sonst kommen sie zurück, wenn sie müde sind.« »Ich dachte, wir könnten vielleicht noch eine andere Stelle versuchen, nur um – « »Dad…«, sagte Max von seinem Sitz auf der Brü cke. »Kann ich in den Käfig?« »Du meinst, mit Sauerstoffflasche? Ich weiß ni-« »Es sind keine Haie hier.« »Ja, aber ich denke, sechzig Meter tiefes Wasser und eine Köder-Schlickspur von fünf Meilen sind nicht gerade der richtige Anfang, um – « »Bitte?… Hey, ich wäre in einem Käfig. Mit dir.« Max lächelte und neckte seinen Vater, während er ihn löcherte. »Worüber machst du dir Sorgen… daß uns der Blitz trifft?«
Chase blickte hilfesuchend erst zu Tall Man, dann zu Amanda, aber niemand stand ihm bei. Vaterpflichten, dachte er. Diese Entscheidungen schie nen immer genau dann anzustehen, wenn man am wenigsten damit rechnete. Schließlich sagte er: »O kay.« Max hatte keinen Taucheranzug. Also bekam er den von Amanda. Er war zu groß für ihn, und ver mutlich würde er ihn nicht warm halten. Aber er würde verhindern, daß er sich am Käfig schnitt oder blaue Flecken holte. Chase machte eine Sauerstoff flasche für ihn zurecht. Als sie beide fertig angezo gen waren, ging er den Taucherdrill mit ihm durch. »Das Wichtigste«, sagte Chase schließlich, »ist, niemals – « »Ich weiß: die Luft anzuhalten. Aber wir werden ja nicht allzu tief unten sein.« »Wir werden überhaupt nicht tief unten sein, der Käfig schwimmt direkt unter der Wasseroberfläche, aber trotzdem wirst du dich ein, zwei Meter unter der Oberfläche befinden. Eine Embolie kannst du schon bei einem halben Meter bekommen.« Chase hielt einen Augenblick inne. »Alles klar?« »Alles klar.« »Ich gehe zuerst, und Tall wird dir sagen, wann du kommen sollst. Amanda wird dir helfen.« Chase warf einen flehenden Blick gen Himmel und kletterte dann durch die Luke in den Käfig. Einen Augenblick später glitt Max durch die Luke und landete auf den Füßen. Er wischte die Maske und den Regulator ab. Chase bemerkte, daß der Junge etwas zu wenig wog – der Auftrieb des Taucheranzugs schien ihn leicht vom Boden des Käfigs hochzuheben. Er gab
ihm ein Zeichen, sich an den Stäben festzuhalten. Max nickte und gehorchte. Gemeinsam sahen sie in das leere Meer hinaus. Sie sahen keine Haie, keine Seelöwen, rein gar nichts. Dann ließ Max sich auf die Knie fallen und blickte nach unten. Er zupfte Chase am Bein und deutete hinab. Weit unter ihnen, kaum sichtbar, war ein ein ziger kleiner Hai. Ein Seelöwe schoß auf ihn zu und bedrängte ihn. Max preßte sein Gesicht auf den Käfigboden, um besser sehen zu können. Die Tiere befanden sich gerade außerhalb des kla ren Blickfelds. Wenn sie nur heraufkommen wür den, dachte Chase, nur ein paar Meter, könnte Max sie gut sehen. Dann erinnerte er sich an die Auf triebstanks. Wenn die Tiere nicht zu ihm kamen, könnte er den Käfig näher an sie heranbringen. Er beugte sich hinab und überprüfte die Sauerstoffan zeige an Max’ Regulator: zweitausend Pfund. Reichlich. Dann faßte er nach oben und öffnete die Flutventile an beiden Auftriebstanks. Der Käfig begann zu sinken. Erst ruckte er und dann, als Tall Man auf dem Boot mehr Tau ausließ, fiel er sanft hinab. Chase sah an einem der Tiefen messer an den Sauerstoffflaschen, daß sich das obere Ende des Käfigs jetzt fünf Meter unter der Wasseroberfläche befand. Er schloß die Flutventile und öffnete zwei andere Klappen, mit denen Luft in die Tanks gepreßt wurde, bis der Käfig keinen Auf trieb mehr hatte. Der Hai und der Seelöwe waren jetzt deutlich zu sehen, zwei dunkle Körper vor einer blauen Lein wand. Ein paar Blasen stiegen auf, als der Seelöwe
Luft aus seinem Maul entweichen ließ. Dann plötz lich ließ der Seelöwe von dem Hai ab und schoß nach oben. Anfangs dachte Chase, das Tier hätte genug von seinem Spiel oder mußte atmen. Doch in dessen Bewegungen war irgendein Drang, der ihm sagte, daß er Unrecht hatte. Der Seelöwe jagte am Käfig vorbei und schoß auf das Boot zu. Als Chase ihm mit den Augen nach oben folgte, sah er die anderen Seelöwen – zwei gemeinsam, einen allein – mit derselben rasenden Geschwindigkeit auf das Boot zuschwimmen. Um Gottes Willen, dachte Chase, was ist denn jetzt los? »Ich glaube, sie haben genug«, sagte Tall Man. Er beobachtete, wie sie an der Tauchplattform kämpf ten. Sie bellten, schubsten sich gegenseitig und versuchten verzweifelt, an Bord zu kommen. »Nein«, sagte Amanda beunruhigt. »Etwas hat ih nen einen Schrecken eingejagt. Etwas dort drau ßen.« »Was, zum Beispiel?« Tall Man sah über Bord. Er konnte den Käfig kaum erkennen. Als der Behälter sank, war er in den Schatten des Boots getrieben. Mit dem Tau in den Händen ging er von einer Seite des Bootes zur anderen und kehrte dann zum Heck zurück. »Nichts«, sagte er. »Ich kann dort draußen nichts sehen.« »Aber es ist da«, sagte Amanda. »Irgend etwas… irgendwo.« »Dann muß es, was auch immer es ist, verdammt tief sein. Entweder das oder… Scheiße!« »Was?« »Unter dem Boot.« Er zog am Tau. Der Käfig rüttelte, als das Tau daran zerrte. Chase
streckte die Hand aus, um an den Luftventilen zu drehen. Ein Schatten zog über ihnen vorbei. Er war so riesig, daß er den gesamten Käfig in Dunkelheit tauchte. Erschrocken sah Chase nach oben. Ein Sonnenstrahl blendete und irritierte ihn einen Au genblick lang. Als seine Augen sich erholt hatten, war er unsicher, in welche Richtung sich der Schat ten bewegt hatte. Er drehte sich um. Drei Meter weiter tauchte mit der kraftvollen Anmut, die Chase früher so bewundert hatte, die ihn jetzt aber entsetzte, aus dem Schatten des Boots der große weiße Hai auf. Er verlangsamte sich nicht, zögerte nicht. Seine Augen rollten in die Augenhöh len zurück, und sein Maul öffnete sich. Sein Zahn fleisch wölbte sich vor, und feingesägte weiße Drei ecke standen senkrecht. Er biß auf den Käfig. Reflexartig duckte sich Chase und warf sich über Max. Der Junge wandte den Kopf und riß die Augen vor Schreck weit auf. Es gab ein kratzendes Ge räusch von Zähnen auf Metall, dann ein Krachen berstenden Metalls, dann plötzlich ein Zischen, als Luft entwich, und einen Schwall von Blasen. Der Käfig gierte wie verrückt, schnellte unter das Boot und knallte gegen den Kiel. Chase wußte sofort, was passiert war: Der Hai hatte einen der Auftriebs tanks zerstört. »Scheißkerl!« schrie Tall Man. Die Sehnen in sei nen Armen und Schultern standen wie Drähte her vor, während er mit aller Kraft am Tau zog. Er hatte den Hai erst in der Sekunde gesehen, bevor er zu biß. Ein grauer Torpedo, der unter dem Boot her vorgeschossen kam. Amanda packte das Tau und half ihm ziehen. »Ich dachte, daß Haie nie – «
»Ja«, sagte Tall Man. »Aber wissen Sie was: dieser eben doch.« »Warum?« »Weiß der Teufel.« Sie konnten hören, wie der Käfig gegen den Kiel schlug, und spürten den Aufprall an den Füßen. »Können Sie das Tau nicht an die Winsch legen?« fragte Amanda. »Das trau’ ich mich nicht. Der Bursche wiegt über eine Tonne, und bei dem Gewicht könnte das Tau reißen.« »Was sollen wir tun? Wir müssen – « »Wenn er unter dem Boot vorkommt, knall’ ich den Scheißkerl ab«, sagte Tall Man. »Bis dahin können wir nur beten, daß er abhaut.« Chase und Max kauerten in der hinteren Ecke des Käfigs und hielten sich gegenseitig fest. Sie klam merten sich an die Stäbe, während der Käfig unter dem Boot wild hin- und herschwankte. Der Hai hatte sein Maul weit aufgesperrt, und er drehte sich und rammte mit seinem massiven Körper gegen den Käfig, als wollte er ihn kurz und klein schlagen. Chase sah, wie aus Max’ Regulator ein kontinuierli cher Blasenschwall entwich. Der Junge atmete zu stark. Er machte Max ein Zeichen, ihn anzusehen, zeigte auf seinen eigenen, dann auf Max’ Regulator. Er gab ihm zu verstehen, daß er langsamer atmen müsse. Max nickte erschrocken. Plötzlich ließ der Hai von dem Käfig ab. Der Käfig baumelte in Schieflage nach unten. Chase beo bachtete, wie der breite weiße Bauch des Hais langsam an ihm vorbeiglitt, als das Tier sich fallen ließ. In seinem Fleisch vor dem Genitalschlitz waren
fünf parallele Schnittwunden. »Ziehen Sie!« rief Tall Man. Er und Amanda holten das Tau Hand über Hand ein. Sie blickten über Bord und sahen, wie das obere Ende des Käfigs unter dem Bootsboden hervorkam. Der Hai war eine graue Gestalt, die reglos unter dem Käfig schwebte. Tall Man sprang auf die Tauchplattform und hielt das Tau über das Heck hinaus. »Noch zwei Meter, und wir haben – « »Nein!« schrie Amanda und deutete aufs Wasser. Ein sensenähnlicher Schwanz blitzte auf, ein Was serschwall schoß hoch, und der kegelförmige Kopf des Hais brach durch die Wasseroberfläche. Das Maul hatte er kaum geöffnet. Er schlug auf die Tauchplattform auf, schlitterte und heftete sich an das Tau. Mit eint: einzigen Kopfbewegung riß er Tall Man das Tau aus der Hand und kappte damit die Verbindung zum Käfig. Tall Man fiel rücklings aufs Heck. Der Hai schwamm weg, und der Käfig be gann zu fallen. Taumelnd stand Chase auf, griff nach dem Luftven til des intakten Auftriebstanks und drehte es ganz auf. Luft zischte in den Tank, und der Käfig verlang samte seinen Fall. Doch er sank noch immer. Cha se pumpte seine und Max’ Auftriebsweste auf: In dem er ihr Gewicht wegnahm und ihnen mehr Auf trieb gab, hoffte er, den Käfig anzuhalten und ihn in eine neutrale Lage zu bringen, bis Tall Man ein Tau zu ihnen herablassen konnte. Der Käfig fiel immer weiter. Chase sah auf den Tie fenmesser am Tank. Die Nadel überschritt zehn Meter, dann zwölf, dreizehn… Er warf einen ra schen Blick in alle Richtungen. Der Hai war ver
schwunden. Fünfzehn Meter… Chase wußte, er hatte keine Wahl, sie konnten in dem Käfig nicht bis auf den Grund sinken. Die Luft würde ihnen vermut lich ausgehen, bevor sie den Grund erreichten. Mit Sicherheit jedenfalls, bevor Tall Man sie erreichte. Er zog Max hoch und stieß die Luke auf. Er legte seine Hände auf Max’ Schultern und sah dem Jun gen in die Augen. Damit wollte er ihn zwingen, sich an die Lektionen im Tauchen zu erinnern. Chase betete, daß der Junge zugehört hatte. Er nahm sein Mundstück heraus und rief: »Denk dran!« Max beg riff. Zwanzig Meter… Chase schubste den Jungen durch die Luke und folgte im selben Augenblick. Er nahm Max bei der Hand und wandte ihm das Gesicht zu, um seine Atmung kontrollieren zu können. Sie stiegen zu schnell auf, schneller als ihre eigenen Blasen. Die Luft in ihren Westen dehnte sich aus, drängte an die Oberfläche, zog sie nach oben. Sie mußten lang samer werden. Wenn sie weiter in diesem Tempo aufstiegen, riskierten sie einen Lungenriß, eine Em bolie oder die Taucherkrankheit. Chase öffnete ein Ventil in jeder Weste, und sie wurden langsamer. Jetzt stiegen die Blasen vor ih nen auf. Gut. Chase sah auf den Tiefenmesser: dreizehn Meter… zwölf… Er schaute nicht nach unten, er ließ kein Auge von Max’ Gesicht. Er sah den Hai nicht, der unter ihnen nach oben stieg. Sie ben Meter… fünf… Plötzlich platschte es über ihnen. Das Wasser wur de aufgewirbelt, und Tall Man schwamm mit einem Harpunengewehr in der Hand zu ihnen herab. Jetzt sah Chase nach unten, und er sah das gähnende
Maul des großen weißen Hais, der wie eine Rakete durch die Düsterkeit nach oben schoß. Tall Man drückte ab. Kohlendioxid-Blasen entwi chen aus der Treibgaspatrone, und der Speer schoß aus dem Gewehr. Er traf den Hai am Gau men und blieb stecken. Der Hai zögerte. Er schüt telte den Kopf, um das Ärgernis loszuwerden. Er biß zu, bog den Speer, zermalmte ihn. Chase brach durch die Wasseroberfläche, zog Max hinter sich hoch und hievte ihn auf die Tauchplattform. Aman da packte den Jungen und zog ihn ins Boot. Chase schwang die Beine hoch und rollte neben die beiden. Er streckte Tall Man die Hand entgegen. Doch Tall Man schwamm weiter genau unter der Oberfläche im Wasser und beobachtete, was sich tat. Schließlich stieß auch er sich hoch und stemmte sich mit einem einzigen Zug auf die Tauchplattform. Chase schüttelte seinen Gurt ab, ließ die Sauer stoffflasche aufs Deck fallen und rutschte zu Max vor. Sein Sohn lag auf der Seite, während Amanda ihm aus seiner Tauchausrüstung half. »Alles in Ordnung?« fragte Chase. Max’ Augen waren ge schlossen. Er nickte, zwang sich zu einem schwa chen Lächeln und sagte: »O Gott…« »Du warst klasse… du hast die Regeln befolgt… du bist nicht in Panik geraten. Du warst klasse!« Chase fühlte sich schuldig und dumm und erleichtert und stolz. Er wollte all diese Gefühle zum Ausdruck bringen, aber er wußte nicht wie, und so nahm er einfach Max’ Hand, rieb sie zwischen seinen Hän den und sagte: »Ein toller Anfang fürs Tauchen in offenem Wasser.« Er sah Tall Man nach vorn zur Kajüte gehen, und sagte: »Hey Tall… danke. Ich
hab’ mich nicht umgedreht, hab’ ihn nicht kommen sehen.« »Ich weiß«, sagte Tall Man. »Ich dachte, ich geb’ dem Kerl lieber was anderes zu beißen als euch. Es war unser Hai, weißt du. Er hat noch immer den Sender.« »Ein solches Verhalten hab’ ich noch nie gesehen, nicht einmal davon gehört. Er ist durchgedreht! Seltsam, genau wie die Blauhaie, nur umgekehrt. Der Weiße war nicht ängstlich, sondern rasend vor Aggression.« Chase schwieg einen Augenblick. »A ber was auch immer dieses Verhalten auslöst, es ist dasselbe Lebewesen: Auf dem Bauch des Hais wa ren fünf Einschnitte.« Sie lichteten den Anker, drehten nach Westen und fuhren Richtung Heimat. Chase stand am Steuerrad auf der Brücke. Max lag hinter ihm auf einem Hand tuch und wärmte sich in der Nachmittagssonne. Amanda fütterte die Seelöwen. Als die Tiere auf dem Heck ein gutes Plätzchen gefunden hatten, kletterte sie die Leiter zur Brücke hinauf. Die flache Silhouette von Osprey Island kam gerade in Sicht, als Tall Man am Fuß der Leiter erschien und zu Amanda sagte: »Ihr Pilot hat uns angefunkt. Er hat die Wale gesichtet.« »Wie weit weg?« »Nicht weit, ein paar Meilen östlich.« Amanda zögerte. Sie sah auf ihre Uhr, auf die See löwen, dann auf Chase. »Wie fühlst du dich?« sagte Chase zu Max. »Gut«, sagte Max. »Mir geht’s gut. Fahren wir. Ich hab’ noch nie Wale gesehen.« Chase wandte sich zu Amanda. »Es liegt bei Ih
nen«, sagte er. »Glauben Sie, daß die Seelöwen
noch mitmachen?«
»Klar, solange, bis sie müde sind. Dann hören sie
auf.«
»Haben sie keine Angst?«
»Nein, ich glaube nicht. Wenn sie den weißen Hai
sehen, gehen sie aus dem Wasser, so wie eben.
Außerdem halten sich Haie von einem Schwarm
großer, gesunder Wale für gewöhnlich fern.«
»Hm«, sagte Chase. Er schwenkte das Steuerrad
nach links und hielt Kurs auf Ost. »Ich hab’ nicht nur
an den weißen Hai gedacht.«
24 »Ich kann sie nicht hören«, sagte Max. Zweihundert Meter vor ihnen bewegte sich ein Schwarm Buckelwale gemächlich in Richtung Nor den. »Könntest du vielleicht, wenn du unter Wasser wärst«, sagte Chase. »Da könntest du sie meilen weit hören.« »Aber wenn sie singen…« »Sie singen nicht wirklich. Wir nennen es so, weil wir nicht wissen, wie wir es anders beschreiben sol len. Sie haben eigentlich keine Stimme. Sie machen die Geräusche mit einem Mechanismus in ihrem Kopf. Und das auch nur manchmal.« Sie standen auf der Brücke. Das Boot war im Leer lauf und schaukelte langsam in der langen Dünung des Ozeans. Die großen, grauen Körper wogten durchs Meer, schoben mit ihren riesigen, billigen Köpfen Berge von Wasser vor sich her und zeigten ihre gewaltigen, fünf oder sechs Meter breiten, fla chen Schwanzfluken. Sie stießen neblige Fontänen aus sprühendem Atem in die warme Luft. Es waren Ausgewachsene und Junge, Männchen und Weibchen. Aber es war unmöglich, sie zu zäh len: Hin und wieder schlugen ein oder zwei mit dem Schwanz dreimal auf die Wasseroberfläche und tauchten in die Tiefe ab. Etliche Minuten später ka men sie an einer unvorhersehbaren Stelle zwischen ihren Artgenossen wieder zum Vorschein. »Wovon singen sie?« fragte Max. »Lange Zeit wußte das niemand. Das einzige, was
man sicher sagen konnte, war, daß die Wale mit einander kommunizieren. Vielleicht darüber, wohin sie ziehen oder wo es Nahrung geben könnte oder ob sie irgendeine Gefahr spüren. Alle Wale stehen miteinander in Verbindung. Ich habe gehört, daß Blauwale über tausend Meilen offenes Meer hinweg in Kontakt bleiben können. Aber die Buckelwale sind die einzigen, die mit so vielschichtigen Tönen und Geräuschen singen. In zwischen sind sich die Wissenschaftler ziemlich sicher, daß ihre Gesänge sexuell motiviert sind. Die Männchen singen, um die Weibchen anzulocken.« Chase lächelte. »Meine Lieblingsthese ist, daß die Forscher nichts wissen und die Gesänge immer noch ein Geheimnis sind.« »Warum?« »Geheimnisse sind etwas Wunderbares. Es wäre langweilig, auf alles Antworten zu haben. Es ist wie mit dem Ungeheuer von Loch Ness. Ich hoffe, daß sie das auch nie finden. Wir brauchen Drachen, damit unsere Phantasie weiterleben kann.« »Max!« rief Amanda vom Heck. »Komm runter und mach Harpo fertig.« Max ging auf der Brücke nach achtern und kletterte die Leiter ins Cockpit hinunter. Drei der Seelöwen trugen bereits ihre Gurte. An jedem Gurt hing eine Videokamera mit dem Objektiv nach vorn. Der vier te Seelöwe rutschte nervös hin und her, als hätte ihn irgend etwas verwirrt. Amanda gab Max den vierten Gurt und zeigte ihm, wie er ihn dem Tier um Schultern und Bauch, hinter die Flossen und über den Rücken legen sollte. Als Max die Lederriemen über die seidige Haut streifte,
beschnupperte ihn der Seelöwe mit seiner eiskalten Nase und kitzelte ihn mit den Barthaaren. Amanda befestigte die Kamera und rief zu Chase hinauf: »Alles klar.« Chase blickte aufs Meer hinaus. Alles schien nor mal, friedlich. Und doch… »Sind Sie sicher, daß Sie heute anfangen wollen?« fragte er. »Wir haben drei Monate Zeit.« »Ja, aber die Wale werden wir nicht jeden Tag zu sehen bekommen. Auf geht’s.« »Okay, Sie sind dran. Wie nah soll ich ranfahren? Ich möchte nicht unbedingt irgendwelche Gesetze brechen, weil ich die Wale störe.« »Nicht allzu nah. Wir sollten unbedingt vor die Wale kommen. Sonst versuchen die Seelöwen, mit ihnen mitzuhalten und werden dabei völlig geschlaucht.« Chase legte den Gang ein und gab Gas. Er hielt sich so gut wie möglich von den Walen entfernt, um sie mit dem Motorenlärm nicht zu verstören. Es war ein ruhiger Tag, und es würde kein Problem sein, die Wale im Auge zu behalten. Ihre Schwanzflossen und Fontänen würden über eine Meile weit zu se hen sein. Er schätzte, daß er etwa fünfhundert Me ter vor ihnen war, als er den Motor drosselte und das Boot im Leerlauf ließ. Am Heck reihten sich die Seelöwen hintereinander auf. Sie wirkten wie Schulkinder, die für ihr Mittag essen anstanden. Amanda sprach mit jedem ein zelnen und machte eine Reihe von Gesten. Dann schaltete sie die Videokamera ein und zeigte mit dem Arm auf die Öffnung im Heckwerk. Max stand hinter ihr und imitierte ihre Gesten. Einer nach dem anderen watschelten die Seelöwen
auf die Öffnung zu und ließen sich ins Meer plump sen. Als sie alle hinter dem Boot aufgetaucht waren, hob Amanda beide Arme, deutete auf die Wale, die auf sie zukamen, und ließ die Arme sinken. Die Seelöwen bellten, drehten sich um und verschwan den unter der Wasseroberfläche. »Wie lange können sie unten bleiben?« fragte Max. »Etwa zehn Minuten bei jedem Tauchgang«, sagte Amanda. »Nicht so lange wie die Wale. Aber sie können immer wieder tauchen, und das über zwei hundert Meter tief.« »Tiefer als ein Mensch.« »Wesentlich tiefer. Und sie müssen sich keiner De kompression unterziehen und kriegen keine Tau cherkrankheit und keine Embolien.« Von der Brücke herab sagte Chase: »Wollen Sie ihnen mit dem Boot folgen?« »Nein, wir bleiben hier. Ich will nicht, daß die Wale sich von uns verfolgt fühlen. Sie können den Motor abstellen, wenn Sie wollen. Die Damen wissen, wo wir sind.« »Aber wie können Sie sicher sein, daß die Seelö wen auch zurückkommen?« fragte Max. »Weil sie das bisher immer getan haben«, sagte Amanda und lächelte. Chase kam von der Brücke herunter, stellte den Motor ab und nahm ein Glas aus einem Schränk chen in der Kombüse. »Komm«, sagte er zu Max. »Wir wollen mal sehen, ob wir Glück haben.« »Womit?« »Das hier sind keine Brutgründe, und Buckelwale singen normalerweise nur in ihren Brutgründen. A ber vielleicht, ganz eventuell, können wir ein kleines
Konzert hören.« Er ging mit Max hinunter in die vordere Kajüte. Er hob den Teppich an einer Ecke hoch und rollte ihn ein Stück auf. Dann ließ sich Chase auf die Knie fallen, legte ein Ohr auf das kalte Fiberglasdeck und gab Max ein Zeichen, es ihm gleichzutun. »Was hörst du?« fragte Chase. »Wasser«, sagte Max, »eine Art schwappendes Geräusch und… warte!« Seine Augen weiteten sich. »Ja, jetzt hör’ ich es! Aber nur ganz schwach.« »Hier«, sagte Chase, hob Max’ Kopf an und stellte das Glas umgekehrt unter sein Ohr, so daß es mit der Öffnung nach unten auf dem Deck stand. »Bes ser?« Max grinste, und Chase wußte, was er jetzt hörte: gespenstisches Gejohle und vogelartiges Zirpen, Pfeifen und Piepsen, die liebliche, beschwingte Un terhaltung zwischen den Riesen des Meeres. »Toll!« Max strahlte. »Das ist es mit Sicherheit«, sagte Chase und dach te: so toll, wie es ist, Vater zu sein. Die Wale kreuzten das Boot ein paar hundert Meter weiter östlich und setzten ihren Weg fort. Nach und nach verhallten die Geräusche. Schließlich konnte Max auch mit dem Glas nur noch ein entferntes E cho hören. Er und Chase gingen an Deck und öffne ten die Kühltasche, die Mrs. Bixler für sie gepackt hatte. Der erste Seelöwe kehrte nach einer halben Stunde zurück. Sie saßen am Heck und aßen, als sie ein Bellen hörten. Sie blickten über das Heck und sa hen, wie sich das Tier von einer kleinen Welle auf die Tauchplattform tragen ließ.
»Hallo Groucho«, sagte Amanda. Chase schüttelte den Kopf. »Mir ist es ein Rätsel, wie Sie die vier auseinanderhalten.« »Wenn Sie drei Jahre lang Tag und Nacht mit ihnen zusammengelebt haben, können Sie das auch.« Der Seelöwe schwang sich auf seine langen Hinter flossen und stemmte sich durch die Tür im Heckwerk. Als Amanda ihm Kamera und Gurt abnahm, bellte der Seelöwe aufgeregt und schwenkte den Kopf hin und her. »Was sagt sie?« fragte Max. »Sie erzählt mir, was sie gesehen hat«, sagte A manda. »Du weißt schon, so was wie >Hey Mum, das mußt du mir kaufen<.« »Und was, glauben Sie, hat sie gesehen?« sagte Chase. Amanda hielt die Kamera hoch. »Wir werden uns die Filme auf dem Rückweg ansehen«, sagte sie. »Sobald die anderen zurück sind, können wir ver suchen, die Wale wieder einzuholen.« Dann sagte sie zu Max: »Warum gibst du Groucho nicht ein paar Fische, während ich das hier trockne und ei nen neuen Film einlege?« Max öffnete eine Luke im Achterdeck, holte einen Eimer Meeräschen hervor und schwenkte einen Fisch vor dem Seelöwen hin und her. Er schnappte nicht danach, er stürzte sich nicht darauf, er reckte lediglich den Hals, nahm ihn und schien ihn einzu atmen. Der zweite Seelöwe, Chico, kam zehn Minu ten später zurück, Harpo ein paar Minuten danach. Max fütterte beide, und als sie gefressen hatten, watschelten sie über das Deck zu Groucho und leg ten sich auf einen Haufen. Alle drei schliefen in der
Sonne ein.
Amanda sah auf die Uhr. Chase wußte, daß es nun
das zehnte Mal innerhalb der letzten fünf Minuten
war. Dann hielt sie die Hand über die Augen und
sah angestrengt über das flache Wasser. Sie such te nach irgendeiner Bewegung an der Oberfläche.
»Sie haben doch gesagt, sie können den ganzen
Tag tauchen«, sagte er.
»Können sie. Aber sie tun es nicht, vor allem nicht,
wenn sie schon von den Haien so geschafft worden
sind.« Wieder sah sie auf die Uhr. »Keiner von ih nen ist je länger als zwei Stunden weggeblieben.
Sie sind darauf dressiert, innerhalb von einer Stun de zurückzukommen. Außerdem wollen sie das
auch: Sie werden müde und hungrig.« Sie runzelte
die Stirn. »Insbesondere Zeppo. Sie ist die faulste.
Sie ist spät dran. Sehr spät.«
»Vielleicht hat sie sich einfach entschieden, abzu hauen.«
»Niemals«, sagte Amanda schroff.
»Ich weiß nicht, wie Sie sich da so sicher sein kön nen. Sie ist ein – «
»Es sind meine Tiere«, fauchte sie.
Chase hob die Hände, als wollte er sich ergeben,
und sagte: »Entschuldigen Sie.«
»Wo ist das Fernglas?«
»Wir haben eins oben und eins unten.«
Amanda begann, die Leiter zur Brücke hinaufzuklet tern.
»Wir können uns auf die Suche nach ihr machen«,
sagte Chase.
»Nein, sie weiß, wo wir sind. Wir bleiben hier, bis
sie zurückkommt.«
Wenn, dachte Chase. Wenn.
25
Es drang in tiefere Gewässer vor und kämmte die sandigen Abhänge nach Dingen durch, die es töten konnte. Die Membranen in seinem Kopf hatten neue Geräusche wahrgenommen – unbekannte, hohe, weit entfernte. Es war ihnen gefolgt, und sie wurden immer lauter und deutlicher. Schließlich, als das Wasser nicht mehr graugrün und trübe, sondern von einem klaren Blau war, hat te es die Geräuschquelle gefunden. Diese Tiere waren größer als alles, was es je gesehen hatte, mit Sicherheit zu groß, um sie anzugreifen. Es waren dunkle Schatten, die mit Leichtigkeit auf-und abstie gen, die unverwundbar und ohne jede Angst zu sein schienen. Es hatte sich gerade abgewandt, um seine Jagd anderswo fortzusetzen, als es andere Dinger neben den großen Tieren bemerkt hatte. Kleinere, schnel lere Dinger, vielleicht Beute. Es hatte in einiger Ent fernung abgewartet und sich gerade so schnell be wegt, daß es mit ihnen mithielt. Einmal war ihm eines der neuen Dinger sehr nahe gekommen, und es hatte versucht, es von hinten zu fangen. Es hatte sich mit schnellen Stößen und schwungvollen Schlägen vorgestürzt. Doch das Wesen hatte sein Herannahen gespürt und war ge flohen. Zu schnell geflohen, um verfolgt werden zu können. Schließlich war es hinter sie zurückgefallen, und bald waren die Dinger außer Sichtweite und hinter ließen nur noch eine verlockende Spur von Geräu
schen. Jetzt schwebte es im Wasser. Seine Augen glimmten wie weißglühende Kohlen, während sie das unergründliche Blau zu erforschen suchten. Durch eine plötzliche Druckwelle wurde es aufge schreckt. Es blickte auf und sah einen verschwom menen schwarzen Fleck, der zum Licht hin nach oben strebte. Eines der kleineren Lebewesen war zurückgekehrt, jagte vorbei und setzte seinen Weg fort. Sofort alarmiert, preßte es Adrenalin in seine Adern und Milchsäure in seine Muskulatur. Es ver hielt sich so ruhig wie möglich und bewegte seine Glieder gerade soviel, daß es nicht absank. Ein zweites Tier kam vorbei, verlangsamte sich kurz, hielt aber nicht an. Es nahm die Verfolgung nicht auf, denn es spürte, daß jeder Versuch, diese Lebewesen zu jagen, vergeblich sein würde. Es wartete und spürte, wie Kraft in seinen Körper flute te. Ein drittes Tier tauchte auf. Dieses kam sehr na he, beschrieb langsam einen Kreis und sah sich neugierig um. Das Geschöpf hing reglos im Wasser, bemüht, harmlos oder tot auszusehen. Das Tier kam näher, schüttelte den Kopf und stieß einen Schwall kleiner Bläschen aus. Das Geschöpf wartete… und wartete… Und dann kam der Augenblick, in dem die Neuronen in sei nem Gehirn zu dem Schluß kamen, daß die Mög lichkeit sich in eine Gelegenheit verwandelt hatte. Es schlug zu, schlug mit seinen Stahlkrallen um sich. Die Krallen trafen auf etwas Weiches. Sie gru ben sich tief in das Fettgewebe ein, bogen sich in einander und hielten es fest. Der andere Arm schnellte vor, und auch seine Kral len fanden das Fettgewebe. Das Tier taumelte nach
hinten. Sein Maul öffnete sich, ein explosionsartiger Schwall von Blasen entwich. Es schlug mit den Gliedmaßen wild um sich und verrenkte seinen Körper. Verzweifelt versuchte es, nach oben zu ge langen. Das Geschöpf wartete darauf, daß das Tier zurück schlagen und sich verteidigen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Da wußte das Geschöpf, daß das Tier in diesem Element ein Fremdling war, daß es unter Wasser nicht überleben konnte. Es brauch te sein Opfer einfach nur lange genug festzuhalten. Nach wenigen Augenblicken gab das Tier den Kampf auf. Sein Kopf hing herab, und Blut quoll aus dem zerfetzten Fleisch. Das Geschöpf begann zu fressen. Das Tier war mit einer dicken Schicht aus nahrhaftem, energierei chem, wärmendem Fett überzogen. Deshalb hatte es positiven Auftrieb, es würde nicht sinken. Jäger und Beute waren in der Schwebe still verbunden. Während es fraß, entdeckte es im Augenwinkel an dere Tiere. Größere Tiere, Raubtiere, kamen näher. Der von der Strömung weitergetragene Geruch von Blut und Öl hatte sie angezogen. Es umkreiste sein Fressen und verschlang es gie rig. Das meiste davon war eßbar. Die Knochen fie len in die Tiefe und wurden von Aasfressern umzin gelt. Ein paar Fleischbrocken entwischten und wur den von Schwärmen kleiner Fische aufgefangen. Das Geschöpf stieß auf ein Objekt, das hart und ungenießbar war. Es riß das Ding heraus und warf es weg. Es trieb nach oben, an die Wasseroberflä che.
26 »Wann wird es dunkel?« fragte Amanda. Sie saß auf dem Schanzkleid und kraulte die drei Seelöwen am Kopf. Die späte Abendsonne warf lange Schat ten aufs Meer. Als Amanda sich umdrehte, sah Chase auch auf ihrem Gesicht Schatten, tiefe Rän der, die sich unter ihren Augen eingegraben hatten. »In einer Stunde«, sagte er, »aber wir können uns auch ohne Tageslicht orientieren. Wir können die ganze Nacht hierbleiben, wenn Sie möchten.« »Nein«, sagte sie leise. »Das hat keinen Zweck.« In den letzten Stunden hatten sie nicht viel geredet. Sie hatten dagesessen und vor sich hin gestarrt, bis ihre Augen sich von der Anspannung und Erschöp fung röteten. Max hatte versucht, die drei Seelöwen zu unterhalten, hatte versucht, sie zu füttern. Doch sie schienen zu spüren, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, und waren nicht auf ihn eingegangen. Chase hatte keine weiteren Theorien vorgebracht, obwohl er noch eine hatte. Gedankenspiele nützten nichts. Vor allem nicht, wenn das stimmte, was er im Sinn hatte. »Okay«, sagte er schließlich. Er stand auf und sah nach Westen, wo die Silhouette von Block Island zu erkennen war. Sie hatten sich mindestens zwei Mei len weit treiben lassen. Er ging nach vorne, um den Motor anzulassen, während Tall Man auf die Brücke kletterte. »Es könnte der weiße Hai gewesen sein«, sagte Amanda, als nähme sie ein unterbrochenes Ge spräch wieder auf.
Chase zuckte zusammen. Genau das war sein Ge danke gewesen, der einzige, der plausibel war. Die Seelöwen waren dem Hai schon einmal entkom men, aber da waren sie in der Nähe des rettenden Bootes gewesen. Im offenen Meer und allein auf sich gestellt, konnte ein Seelöwe, vor allem, wenn er müde und abgelenkt war, durchaus in den Hin terhalt eines großen und schnellen weißen Hais geraten. »Ja«, sagte er. »Könnte sein.« Er drückte auf den Startknopf und schaltete die Positionslampen des Boots an. Er klopfte gegen die Decke, um Tall Man zu bedeuten, er möge nach Hause steuern. »Vielleicht haben die anderen irgend etwas aufge zeichnet«, sagte Amanda. »Sehen wir uns mal die Videos an.« Während Tall Man das Boot nach Westen lenkte, nahm Amanda einen Monitor aus einer ihrer Kisten, stellte ihn auf den Kajütentisch und schaltete ihn ein. Sie schloß einen Recorder an und legte eines der Bänder ein. Als sie es zurückgespult hatte, drückte sie auf die »Play«-Taste und setzte sich auf die Bank. Max saß ihr schräg gegenüber, und Chase stand am Ende des Tisches. Sie drückte die Vorlauftaste. Ein paar Minuten blauer Ozean rauschten im Schnellverfahren vorbei. Dann, als der erste Wal auf dem Bildschirm auftauchte, ließ sie das Band mit Normalgeschwindigkeit weiterlaufen. »Der Wal sieht so klein aus«, sagte Max. »Es ist ja auch ein Weitwinkelobjektiv«, sagte A manda. »Das muß so sein, sonst würde man nur Blasen aufsteigen sehen.«
Sie sahen zu, wie der Wal immer größer wurde, bis er den Bildschirm ganz ausfüllte. »Wie nah ist der Seelöwe jetzt?« fragte Max. »Zwanzig, fünfundzwanzig Meter. Er wird sich ihm noch auf etwa zehn Meter nähern und dann anhal ten.« Die Kamera näherte sich immer mehr und fuhr seit lich an dem Wal entlang. Sie kam an einer riesigen Flosse vorbei. Als sie den Kopf des Wals erreichte, verlangsamte sie sich etwas. Das Auge kam in Sicht; Amanda drückte auf die Pausetaste, und das Bild blieb ste hen. »Sieh dir dieses Auge an«, sagte sie zu Max. »Wenn das kein intelligentes Wesen ist.« »Es sieht anders aus als das von einem Hai«, sagte Max. »Es ist… ich weiß nicht… einfach anders. Nicht so flach.« »Tiefer, lebendiger.« Amanda lächelte, und ihre Be geisterung ließ sie ihren Verlust für einen Augen blick vergessen. »Weißt du, warum? Das Gehirn eines Buckelwals ist etwa so groß wie ein Basket ball. Es heißt, das Auge sei der Spiegel der Seele. Also, hinter diesem Auge ist auf jeden Fall einiges an Seele.« Sie drückte auf die »Play«-Taste, und das Band lief weiter. Der Wal war von allen Seiten gefilmt wor den, während der Seelöwe ihn umkreist und mit ihm gespielt hatte und in seinem Sog geschwommen war. Der Wal hatte den Seelöwen nicht beachtet und seinen Weg planmäßig fortgesetzt. Amanda spielte rasch etwa zehn oder fünfzehn Mi nuten des Bandes mit der Vorlauftaste ab. Dann
sah sie auf dem flimmernden Bild, wie der Wal auf einmal kräftiger auf und ab schwamm, bevor er in die dunkle Tiefe abtauchte. Sie ließ das Band wie der mit Normalgeschwindigkeit laufen. Das Bild wurde immer verschwommener, je tiefer der Seelö we dem Wal in die Tiefe folgte. Als der Wal nur noch ein dunkler Fleck vor tintenblauem Hinter grund war, schwenkte die Kamera plötzlich nach oben auf das Licht zu. »Sie ist abgehauen«, sagte Amanda. »Ich würde sagen, bei etwa hundertfünfzig Meter.« Das Band war zu Ende, und sie legte ein neues ein. Der zweite Seelöwe war einem großen BuckelwalWeibchen gefolgt. Als das Bild auf dem Monitor größer wurde, rief Max plötzlich: »Da! Ein kleiner!« Ein junger Wal, etwa sechs Meter lang, lag unter ihrer linken Brustflosse an seine Mutter gekuschelt. »Sie schwimmen immer dort mit«, sagte Amanda. »Warum?« fragte Max. »Teils, um zu lernen. Schau mal genau hin, dann siehst du, daß er alles macht, was sie macht. Er ahmt jede Bewegung nach.« Tatsächlich imitierte der Kleine jede Bewegung sei ner Mutter. Als sie an die Oberfläche stieg, um zu atmen, atmete er auch, und als sie tauchte, tauchte er auch. Als sie sich auf die Seite rollte, um den Seelöwen zu betrachten, rollte er mit. »Siehst du, wie sie guckt?« sagte Amanda. »Sie beschützt ihn auch. Wenn ein großer Hai in der Nä he ist, werden wir sehen, wie sie den Kleinen an sich schmiegt und sich ziemlich aufregt. Sie wird ihn wahrscheinlich mit in die Tiefe nehmen.« Doch die Mutter regte sich nicht auf. Sie erkannte
offenbar, daß es sich um einen Seelöwen handelte. Zufrieden ließ sie sich wieder in die Waagerechte rollen und setzte ihre gemächliche Reise in der Nä he der Wasseroberfläche fort. »Nichts«, sagte Amanda und spielte rasch das rest liche Band mit der Vorlauftaste ab. Als das dritte Band etwa zwei Minuten lief, lachte Amanda auf und sagte: »Das ist von Harpo.« »Woran erkennen Sie das?« fragte Max. »Sie ist ein Feigling. Sieh mal«, sagte sie und zeigte auf den Bildschirm, »sie kommt von hinten an einen Wal heran, und sobald er mit der Schwanzflosse schlägt, haut sie ab.« Das Bild auf dem Monitor wurde zu einem leeren Blau, brach durch die Was seroberfläche und nahm einen anderen Wal ins Vi sier. »Sie braucht ungefähr zehn Minuten, bis sie begreift, daß sie sie nicht fressen wollen. Sie lernt es, aber sie ist einfach nicht so schnell von Begriff wie die anderen. Sie haben alle ihre Marotten.« »Welche zum Beispiel?« »Groucho geht gerne zu nah ran, von ihr bekomme ich eine Menge verschwommenen, unscharfen Film. Es ist, als ob sie erst dann das Gefühl hat, mit dem Wal in Kontakt zu kommen, wenn sie ihn berührt. Chico ärgert die Wale gern, vor allem die kleinen. Sie will nur spielen, aber manchmal bringt sie die Jungen richtig aus der Fassung.« »Was ist mit Zeppo?« fragte Chase. Amanda zögerte kurz, als hätte er sie mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurückgeholt. »Wie ich schon gesagt habe, sie ist faul. Was mir Sorgen macht: Sie ist auch die neugierigste. Sie schwimmt immer direkt auf etwas zu, nur um zu sehen, was es
ist.« Harpos Bilder jagten von einem Wal zum nächsten. Sie hatte ein paar gute Nahaufnahmen eingefangen und auch eine spektakuläre Aufnahme von einem Wal, der tosend an die Oberfläche brach. Er platzte in das Sonnenlicht hinaus und ließ das Wasser in alle Himmelsrichtungen spritzen, als er wieder hin abstürzte. Doch die letzten paar Minuten auf dem Band waren reines Meeresblau. Amanda ließ das Band schnell vorlaufen. Sie hatte dem Bildschirm den Rücken zugewandt, um mit Chase zu reden. Da schrie Max plötzlich auf: »Hey! Seht mal da!« Sie drehte sich zum Bildschirm um. »Was?« »Spulen Sie zurück.« Amanda ließ den Film zurücklaufen. Nach einigen Sekunden erkannte sie etwas in der oberen rechten Ecke des Bildschirms. Es war undeutlich und ver schwommen, aber es war da. Sie wartete, bis es vorbei war, und drückte dann auf die »Play«-Taste. Das Band lief vorwärts. Da war etwas, ein Schatten. Dann war es verschwunden, und das Bild wurde erschüttert und schnellte an die Oberfläche. »Was zum Teufel war das?« fragte Chase, der sich auf den Ellbogen nach vorne lehnte und auf den Bildschirm starrte. »Ich weiß nicht«, sagte Amanda, »aber was auch immer es war, es hat die arme Harpo sicher zu To de erschreckt. Haben Sie gesehen, wie schnell sie abgehauen ist?« Plötzlich wurde der Motor langsamer, und Tall Man stampfte dreimal mit dem Fuß gegen die Decke. Chase ging nach achtern, hinaus ins Cockpit, und rief zur Brücke hinauf: »Was gesehen?«
»Rotes Blinklicht voraus«, sagte Tall Man. »Wie ein Notlicht. Das Licht ist um diese Tageszeit so hart, daß ich es nicht genau erkennen kann.« Chase lehnte sich über Bord und spähte nach vorn. Es war fast dunkel, das Wasser sah wie schwarzes Stahlblech aus. Vor diesem Hintergrund blinkte ein kleines rotes Licht in Intervallen von einer Sekunde auf. Chase packte den Bootshaken, ging am Schanzkleid in die Knie und wartete darauf, daß Tall Man das Licht ansteuerte. Das Boot glitt seitlich an dem Licht entlang, und Chase angelte mit dem Bootshaken danach. Es war an etwas Hartem befestigt, das etwa achtzig Quad ratzentimeter groß war. Chase drehte den Haken, bis er es zu fassen bekam, brachte es an Bord und legte es auf das Schanzkleid. »Es ist ein Kameragehäuse«, sagte er zu Tall Man. »Unseres?« Tall Man drückte den Gashebel durch und nahm wieder Kurs auf die Insel. Chase hörte Schritte hinter sich, dann einen kurzen, abrupten Atemzug. »Das ist Zeppos«, sagte Amanda. Sie nahmen das Gehäuse mit in die Kajüte, trockne ten es ab und legten es auf den Tisch. Es war un beschädigt, aber die Lederriemen waren in Fetzen gerissen. Traurig und schweigend nahm Amanda den Film aus der Kamera und legte ihn in den Re corder. Sie spulte ihn zurück und drückte auf »Play«. Die ersten paar Minuten des Films unterschieden sich nicht von den anderen: Fern- und Nahaufnah men von Walen. Kreuzende Wale, rollende Wale, tauchende Wale. Dann kam eine endlos lange Se
quenz der Oberfläche, erst genau von oben, dann genau von unten. »Sie sonnt sich«, sagte Amanda, und ihre Stimme klang gequollen. »Wie ich schon sagte: Sie ist die faulste.« Die Kamera ging wieder unter Wasser und zeigte in der Ferne zwei Wale, die davonschwammen. Sie folgte ihnen vielleicht fünfzehn Sekunden, bevor sie sich abwandte. Nichts als Blau war zu sehen. »Sie hat aufgegeben«, sagte Amanda. »Aber sehen Sie mal«, sagte Max und zeigte auf eine winzige schwarze Gestalt mitten auf dem Bild schirm. »Da ist einer von den anderen Seelöwen. Zeppo ist ihm auf dem Weg nach Hause gefolgt.« Das Bild raste in einer Berg- und Talfahrt auf und ab, als der Seelöwe durch das Wasser jagte, um seine Kameraden einzuholen. Dann verringerte er sein Tempo und kam an die Oberfläche, vermutlich, um Atem zu holen. Als er wieder untertauchte, schwamm er einen Augenblick langsam. Dann drehte er plötzlich ab. »Irgend etwas hat seine Aufmerksamkeit erregt«, sagte Chase. In der blauen Unendlichkeit waren keine anderen Tiere zu sehen. Aber man konnte trotzdem erken nen, wie schnell und in welche Richtung der Seelö we sich bewegte: Sonnenstrahlen wurden durch die Wasseroberfläche gebrochen und schössen wie Pfeile in die Dunkelheit hinab. Man konnte sich auch mit Hilfe der unzähligen Partikel von Plankton orientieren. Diese glitzerten, wenn sie am Objektiv vorbeikamen. »Sie umkreist irgend etwas«, sagte Amanda.
»Warum können wir es nicht sehen?« fragte Chase. »Weil sie darüber ist und nach unten sieht und die Kamera auf ihrem Rücken ist.« Der Seelöwe hatte zu einer langen, nach oben dre henden Schleife angesetzt – sie sahen kurz das Licht von der fernen Oberfläche aufblitzen. Dann war er getaucht und umgekehrt. Er hing nun auf recht im Wasser, vertikal und reglos. Die Oberfläche schimmerte in der Ferne. »Sie sieht es an«, sagte Amanda. »Sie hat keine Angst davor.« »Wird sie keine Bilder davon machen?« fragte Max. »Sie weiß nicht, daß sie das soll. Das einzige, was sie aufnehmen soll, sind – « Plötzlich machte die Kamera einen Ruck nach hin ten. Eine schwarze Wolke verdunkelte das blaue Wasser. Amanda schrie auf. Zehn oder fünfzehn Sekunden lang schwenkte das Bild wie verrückt hin und her und schlingerte nach links und rechts. Es wurde durch etwas getrübt, was wie Tinte aussah. Dann wurde es klarer, dann wieder getrübt. Etwas Glänzendes blitzte vor dem Objektiv auf. »Halten Sie das Band an!« sagte Chase mit Nach druck. Doch Amanda war wie erstarrt, ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie hielt eine Hand vor den Mund. Also langte er nach vorn und drückte auf den Knopf, um das Band rückwärts abzuspielen. Das Bild war verschwommen, denn das glänzende Ding war zu nah. Das Objektiv konnte sich nicht scharf genug einstellen. Doch als er das Band noch einmal Bild für Bild ab spielte, hatte Chase keinen Zweifel mehr. Er sah fünf Krallen. Gebogen, spitz, messerscharf und aus
rostfreiem Stahl.
27
»Verpaß mir noch einen, Ray«, sagte Rusty Puckett zum Barkeeper im Krähennest. Er ließ sein leeres Glas über den Tresen schlittern und warf einen Fünfdollarschein hinterher. »Genug ist genug, Rusty«, sagte der Barkeeper. »Geh jetzt nach Hause.« »Hey! Ich hab’ hier gottverdammte fünfzig Mäuse hingelegt. Und ich hab’ gesagt, sag mir, wenn ich die durch hab’.« Puckett deutete auf einen Haufen Geldscheine neben dem Aschenbecher. »Ich hab’ noch nicht mal die Hälfte.« »Paß auf, was du sagst!« sagte Ray. Er legte die Hände auf den Tresen und beugte sich zu Puckett vor. »Die Happy Hour ist vorbei, Rusty. Jetzt kom men Leute zum Abendessen hierher, und die haben kein Interesse an deinem Seemannsgarn. Tu uns beiden einen Gefallen: Nimm dein restliches Geld und geh nach Hause.« Puckett drehte sich auf seinem Barhocker um und starrte mit glasigen Augen in den Raum. Ray hatte recht: Die Bar hatte sich gefüllt. Die Leute standen Schlange, um einen Tisch im Restaurant zu be kommen. Wann war das alles passiert? Er sah auf die Uhr und kniff ein Auge zu. Die Zahlen auf dem Zifferblatt wurden schärfer. Großer Gott! Er hatte drei Stunden hier gesessen. Er bemerkte, daß ihn ein paar Leute anstarrten. Wahrscheinlich hatten sie ihm zugehört, als er Ray erzählte, was er gesehen hatte. Zum Teufel mit ih nen! Es war ihm egal. Alles stimmte, bis ins kleinste
Detail. Er winkte ihnen zu. Eine Frau, die ganz gut aussah, wurde rot und wandte sich ab. Wahrscheinlich war sie interessiert. Vielleicht sollte er aufstehen und mit ihr reden. Etwas Witziges kam ihm in den Sinn. Er drehte sich wieder zu Ray um und sagte so laut, daß alle es hören konnten: »Du wirst es nicht wagen, mir den Mund zu verbieten, Raymond. Diese Scheißbar würde pleite gehen.« Ray lachte nicht. Er sah eigentlich eher aus, als hät te er die Schnauze voll, und plötzlich hob er die Klappe am Tresen hoch, kam auf Puckett zu und packte ihn am Hemdkragen. Der Hummerfischer fühlte, wie er von seinem Hocker gehoben wurde, fühlte, wie Rays Hand ihm ein Bündel Geldscheine in die Hosentaschen stopfte. Plötzlich merkte er, daß er zur Tür hinausgeschleift wurde. »Du kannst wiederkommen, wenn du nüchtern bist und keine Halluzinationen mehr hast«, sagte Ray. »An deiner Stelle würde ich mir Sorgen machen, Rusty. Du bist dem gottverdammten Säuferwahn verfallen.« Puckett hörte, wie die Tür hinter ihm geschlossen wurde und Ray sagte: »Entschuldigt, Leute.« Er stand auf der Straße, schwankte leicht und war völlig durcheinander. Ein Pärchen stieg aus einem Auto und machte auf dem Weg zum Restaurant einen großen Bogen um ihn. Er lehnte sich mit einer Hand gegen das Gebäude, um nicht mehr zu schwanken. Dann machte er sich auf den Weg die Straße hinunter, wobei er genau darauf achtete, immer einen Fuß vor den anderen zu setzen. Was zum Teufel meinte Ray mit »Seemannsgarn«?
Ray kannte ihn doch gut genug, um zu wissen, daß er sich keine Geschichten ausdachte. Und er war auch nicht dem Säuferwahn verfallen. Er wußte verdammt gut, was er gesehen hatte und was ihn beinahe umgebracht hatte. Er hatte nicht übertrie ben. Es klang dumm, geradezu unmöglich. Aber es war die Wahrheit. Er hatte ein gottverdammtes Monster gesehen.
FÜNFTER TEIL Die Flottenparade
28 »Bist du sicher, daß du nicht auf Amanda und mich warten willst?« fragte Chase. Er hielt die Bugleine des Whalers in der Hand, während Max den Motor anließ und seine Kamera unter dem Steuerpult ver staute. »Sie ist in einer halben Stunde fertig, spä testens um halb zwölf.« »Ich kann nicht«, sagte Max. »Die Flottenparade beginnt um zwölf. Wenn ich jetzt nicht fahre, krieg’ ich nie einen guten Platz.« »Du klingst wie ein junger Mann, der ein Rendez vous hat.« Chase lächelte. Max schnitt eine Grimasse. »Dad…« »Okay, entschuldige… Also: Du weißt, wo der An ker verstaut ist, du hast die beiden Schwimmwesten an Bord, du – « »Wir sind alles schon durchgegangen.« »Stimmt.« Chase seufzte und warf die Bugleine ins Boot. »Park das Boot beim Club und setz es auf den Strand, wenn kein Anlegeplatz frei ist.« »Okay.« Max legte den Gang ein, drehte das Steu errad und entfernte sich langsam vom Kai. »Und denk dran«, rief ihm Chase hinterher, »nicht anhalten unterwegs… wegen gar nichts… egal, was du siehst.«
Max winkte und rief: »Bis später!« Chase sah Max nach, der beschleunigte und das Boot in Fahrt brachte. Anfangs hatte Chase sich gesträubt, Max den Whaler zu überlassen. Der Jun ge war noch nie allein mit dem Boot unterwegs ge wesen. Auch wenn die Fahrrinne nach Waterboro gut betonnt war, gab es doch Felsen, auf die man auflaufen konnte, wenn man nicht aufpaßte. Auch wenn Tall Man die Außenbordmotoren penibel in Ordnung hielt, hatte doch jeder Außenborder sei nen Maschinenteufel und konnte sich ohne ersicht lichen Grund festfressen und stehenbleiben. Auch wenn Max bewiesen hatte, daß er ein vorsichtiger Bootsmann und ein guter Schwimmer war – was würde passieren, wenn er über Bord gehen und zur Küste schwimmen müßte? Doch in den letzten drei Tagen war das Wetter saumäßig gewesen. Der Wind kam von Nordost, mit erbarmungslosen fünfzehn oder zwanzig, manch mal auch vierzig Knoten. Ein eisiger Regen hatte die Küste von New Jersey bis Maine aufgeweicht. Max hatte nichts unternehmen können. Gelegentlich war er mit Chase oder Tall Man in die Stadt gefah ren und im Labyrinth der Seitensträßchen und klei nen Häuser verschwunden. Chase hoffte und vermutete, daß er sich mit ein paar einheimischen Kindern angefreundet hatte. Max hatte sich auf die Flottenparade gefreut. Er hatte sich von der Begeisterung in der Stadt mitrei ßen lassen. Jetzt war der Tag gekommen, und schließlich war auch das Wetter schön geworden. Chase wollte, daß Max seinen Spaß hatte, und deshalb hatte er nachgegeben.
Beinahe wünschte er sich, das Wetter wäre noch schlechter geworden. Das Gute an schlechtem Wet ter war, daß die Leute nicht ins Wasser gingen und die Boote an Land blieben. Bisher war niemand mehr verletzt worden. Was auch immer dort drau ßen war und wo auch immer es war. Es hatte nichts gehabt, worauf es hätte Jagd machen können. Chase hoffte, daß das schöne Wetter keine Freßor gie auslösen würde. Am Morgen, nachdem der Seelöwe getötet worden war, hatte er das Video zum Polizeirevier gebracht und es Gibson gezeigt. Er hatte vorgeschlagen, die Flottenparade zu verschieben oder sogar abzusa gen, bis sie genau sagen konnten, um was für ein Tier es sich auf dem Video handeln könnte. Gibson hatte nur schroff geantwortet. »Vergiß es, Simon«, hatte er gesagt. »Ich werd’ doch nicht das größte Ereignis in diesem Sommer wegen zwei Se kunden auf irgendeinem miesen Video absagen, auf dem man rein gar nichts sieht… Oder wegen der Aussage irgendeines Betrunkenen.« »Was für ein Betrunkener?« »Rusty Puckett. Er hat sich gestern abend bis o benhin vollaufen lassen und dann allen erzählt, daß er irgendeinen mutierten Zombie aus der Hölle ge sehen hat. Er wurde aus dem Krähennest und zwei Ginkneipen rausgeschmissen. Der Kerl war so läs tig, daß ich ihn eingesperrt hab’.« »Ist er hier? Kann ich ihn sprechen?« »Nein, nicht vor der Parade. Danach kannst du mit ihm alles bereden, was du willst, solange, bis ihr beide an eurem eigenen Quatsch erstickt.« Gibson hatte einen Augenblick geschwiegen. »Hast du das
Band irgend jemand anders gezeigt?« »Nein.« »Gut. Ich denke, ich werde es die nächsten paar Tage hierbehalten. Wir haben noch den ganzen restlichen Sommer, um hysterisch zu werden.« »Ich wünschte, du hättest recht, Rollie«, hatte Cha se gesagt. »Aber dort draußen ist etwas.« »Dann laß es dort draußen, Simon. Oder laß es zur Hölle fahren. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstel len, daß es an Land kommt und anfängt, die Touris ten zu belästigen.« Als der Whaler sich so weit entfernt hatte, daß er vor den Konturen des Festlandes nicht mehr zu er kennen war, stieg Chase den Hügel hinauf und dann hinunter zum Seelöwenbecken. Er sah, wie Amanda auf dem Betonvorsprung stand und ver suchte, die Seelöwen mit Fischen aus dem Wasser zu locken. Sie schüttelten den Kopf und weigerten sich. »Sie wollen nicht«, sagte Amanda, als Chase hin zukam. »Es ist jeden Tag dasselbe Spiel, seit wir von den Walen zurück sind. Egal, was ich mache, sie gehen nicht aus dem Becken. Es ist, als ob sie Warnsignale aus dem Wasser erhalten.« »Was für Signale… elektromagnetische?« »Ich nehme an. Ich weiß auch nur, daß irgend et was ihnen sagt, sie sollen nicht ins Meer gehen. Und sie benehmen sich, als hätten sie Todes angst.«
29 Max sah sie, sobald er um Waterboro Point herum fuhr, und er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Obwohl er noch den ganzen Hafen zu durchqueren hatte und mindestens noch eine Viertelmeile vor ihm lag, erkannte er sie zweifelsfrei. Eine schlanke, zierliche Gestalt stand allein am Ende des Kais, der dem Club gehörte. Wie immer war sie in Blau gekleidet. In den zehn Tagen, seit er sie kannte, hatte er sie nie etwas an deres als Blau tragen sehen: blaue Pullover, blaue Kleider, blaue Röcke mit blauen Blusen. Es war, als wüßte sie, wie gut ihr dieses Blau stand. Es spiegel te das Blau ihrer Augen wider und paßte so gut zu ihrem golden schimmernden Haar. Er winkte, obwohl er sich sicher war, daß sie ihn nicht sehen konnte. Nicht durch dieses Labyrinth von Segelbooten, die den Hafen verstopften. Alle waren zu Ehren der Flottenparade mit Flaggen, Wimpeln und Doppelstandern geschmückt. Selbst die Fischerboote trugen Wimpel in allen Regenbo genfarben. Die dunklen, mit Rost durchsetzten Ungetüme wa ren mit Netzen, Auslegern, Radarkuppeln und riesi gen Winschtrommeln beladen. Sie sahen aus, als trugen sie ein Festtagskleid. Es wirkte, als bemüh ten sie sich wenigstens einmal im Jahr, ihren ab surd klingenden, gestelzten Namen gerecht zu wer den: Miss Eula, Miss Daisy, Miss Wendy. Max wollte den Gashebel durchdrücken und zwi schen den Booten hindurchzischen. Aber dann ließ
er es lieber bleiben. Die Wasserpolizei war auf Streife, und ein Strafzettel wegen überhöhter Ge schwindigkeit war das letzte, was er gebrauchen konnte. Er hatte keinen gültigen Bootsführerschein für Connecticut, und er hatte auch nicht das erfor derliche Mindestalter, um allein ein Boot steuern zu dürfen. Und selbst wenn er nur mit einer Verwarnung da vonkäme, würde mit Sicherheit sein Vater davon erfahren. Der hätte gar keine andere Wahl, als ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Also zwang er sich, langsam den Hafen entlangzutuckern. An jeder Lü cke, die er passierte, vergewisserte er sich, daß Elizabeth noch da war, daß sie ihn nicht abge schrieben hatte und weggegangen war, um sich die Parade allein anzusehen. Jedesmal, wenn er hinübersah, stand sie da und wartete. Ohne in einem Buch zu lesen, auf die Uhr zu sehen oder auf und ab zu gehen. Sie wartete einfach, wie sie es versprochen hatte. Etwa hundert Meter vor dem Kai passierte Max das letzte große Boot und schlängelte sich zwischen der kleinen Flotte vertäuter »Bluejays« des Clubs hindurch. Wieder winkte er. Diesmal sah sie ihn, und sie hob die Hand und lächelte. Die Gefühle, die in ihm hin und her jagten, verwirr ten ihn. Er hatte sein ganzes Leben lang Mädchen gekannt und war mit ihnen seit dem Kindergarten jeden Tag zusammengewesen. Er war mit Mädchen auf Parties und ins Kino gegangen, allerdings im mer zusammen mit anderen Jungen. Er hatte Ge fährtinnen. Doch er hatte noch nie eine Freundin gehabt. Er hatte nie unter den schrecklichen
Schmerzen der Eifersucht und Sehnsucht gelitten. Er hatte noch nie ein Mädchen geküßt. Er hatte zwar viele Kußszenen auf der Leinwand gesehen und sich in seiner Phantasie oft vorgestellt, genau das und mehr zu tun. Aber er war sich nicht sicher, ob er wissen würde, wie er es anstellen sollte. Die Kußszenen im Kino sahen aus, als ob sie leicht wa ren und Spaß machten. Aber die Leute, die sich im Film küßten, waren schließlich nicht zwölf Jahre alt. Max war sich nicht einmal sicher, daß das, was er für Elizabeth empfand, Gefühle wie die zwischen Freund und Freundin waren. Er wußte nur, daß sie anders waren als alles, was er je für ein Mädchen gefühlt hatte. Und Elizabeth war anders als alle Mädchen, die er je gekannt hatte. Sie war hübsch, nein schön, aber sie verhielt sich, als wüßte sie es nicht… Und wenn sie es wußte, benützte sie es je denfalls nicht als Waffe wie andere Mädchen. Sie war klug. Sie hatte zehnmal mehr Bücher gele sen als Max, darunter eine Menge Erwachsenenbü cher. Aber sie gab nie damit an. Sie war schüch tern, aber nicht auf diese menschenscheue, ver klemmte oder verschämte Art. Es war eher eine Art niedliche Zurückhaltung. Sie war gelassen und un voreingenommen. Sie wirkte, als ob sie einfach zu frieden mit sich selbst war. Vielleicht hatte es damit zu tun, daß sie taub war. Taubheit war garantiert ein entscheidender Faktor im Leben eines Menschen. Doch Max wußte zu wenig über Taubheit, und es war ihm unklar, in wel cher Weise sie eine Persönlichkeit beeinflussen konnte. Sie freute sich immer, wenn sie ihn sah, und er
spürte eine Art Leere in sich, wenn er nicht mit ihr zusammen war. Also war dies vermutlich der An fang einer Freund-Freundin-Geschichte. Die Vor stellung beunruhigte ihn. Das hieß, daß er sie eines Tages küssen oder es versuchen mußte. Weil man als Freund und Freundin genau das tat. Es erschreckte ihn auch, weil er seinen eigenen Beobachtungen mißtraute. Er litt schon jetzt unter einer Überbelastung seiner Sinne: Die mythischen Vorstellungen, die er sich von seinem Vater ge macht hatte, wurden aufgelöst und täglich durch neue Tatsachen ersetzt. Das war zwar keineswegs schlecht, denn die Wahrheiten über seinen Vater waren ebenso schön wie die Geschichten, die er sich zurechtgelegt hatte. Es war nur alles so neu. Er hatte nie daran gezweifelt, daß seine Eltern ihm die Gründe für ihre Scheidung ehrlich geschildert hatten. Doch vor kurzem war es ihm klargeworden: Die Tatsache, daß er all die Jahre bei seiner Mutter gelebt hatte, war indirekt eine Kritik an seinem Va ter. Warum hatte er nie bei ihm gelebt? Waren Geld und Privatschulen und Tennisstunden und Ferien häuser wirklich soviel besser für ihn als Erdnußbut ter-Marmelade-Sandwiches zu essen und mit See löwen zu schwimmen? Dann war da Amanda. Max’ Gefühle für sie waren seltsam, soweit er sie überhaupt in Worte fassen konnte. Sie war nicht seine Mutter und tat auch nicht so als ob. Sie behandelte ihn mehr wie einen Erwachsenen, mehr, als seine Mutter das je getan hatte. Dadurch fühlte er sich ihr näher als seiner Mutter. Er wußte nicht, was sein Vater für Amanda empfand oder Amanda für seinen Vater. Sie moch
ten sich, das war sicher. Sie waren Freunde. Es war alles zuviel für Max. Und dann noch seine verwirr ten Gefühle für Elizabeth. Fragen über Fragen. Vielleicht war er dabei, verrückt zu werden, dachte er, als er auf der Suche nach einer leeren Anlege stelle langsam an den Schwimmdocks entlangfuhr. Vielleicht würde sich alles von selbst lösen, wenn er zurück in den Westen der USA ging. Andererseits war er sich gar nicht sicher, daß er zurück in den Westen wollte. Er fand einen Platz, stellte den Mo tor ab und warf Elizabeth die Fangleine zu. »Hallo«, sagte sie, und sie strahlte. »Hi.« Er hob den Motor an, so daß der Propeller nicht mehr im Wasser lag, und schloß ihn ab. »Hallo«, sagte sie noch einmal. Es lag viel Nach druck darin. »Hallo.« Erst dann ging ihm ein Licht auf. Sie hatte mit ihm gesprochen, laut, hier draußen, wo jeder es hören konnte. »Hey!« sagte er und lächelte, als er sich zu ihr um drehte. Er sprach deutlich, damit sie ihm von den Lippen ablesen konnte. »Das war prima. Das klang wirklich gut.« Als sie sich das erste Mal begegnet waren, hatte sie überhaupt nicht gesprochen. Aber er hatte immer noch das unheimliche Gefühl, daß irgendeine Art Kommunikation zwischen ihnen stattgefunden hatte. Als er sie das nächste Mal traf, nachdem er ihr Foto in der Zeitung gesehen hatte, hatte sie mit einem Kugelschreiber, der ihr an einer Kette um den Hals hing, ein paar Notizen auf einen Block geschrieben, den sie immer in ihrer Rocktasche bei sich hatte. Sie hatte ihm beigebracht, ein paar elementare
Handzeichen zu lesen. Als sie sich immer öfter sa hen, hatte sie ihm gestanden, daß ihre Sprechweise sie verlegen machte. Da sie sich nicht selbst hören konnte, hatte sie keine Vorstellung davon, wie sie sich für andere anhörte. Doch sie sah den Leuten am Gesicht an, daß sie seltsam klang. Inzwischen kam es manchmal vor, daß sie zu wis sen schien, was Max dachte, bevor er auch nur ein Wort gesagt hatte. Als er sie danach fragte, tat sie es als einfache Fähigkeit ab, als nichts Besonderes. Sie hatte dieses Gespür im Laufe der Jahre entwi ckelt, nachdem dieses seltsame Fieber sie taub gemacht hatte. Sie verglich es mit der Fähigkeit ei nes Hundes, Geräusche wahrzunehmen, die ein Mensch nicht hören kann. Elizabeth erklärte ihm, was ein Arzt ihr erzählt hatte: Ein Mensch, der einen seiner Hauptsinne wie das Gehör verlor, prägte häufig andere Sinne weitaus schärfer aus. Sie sagte, es klappte nicht immer. Bei den meisten Leuten funktioniere es nicht. Max packte seine Kamera und sprang auf den Kai. »Hast du einen Platz gefunden?« »Einen tollen«, sagte Elizabeth. Sie lächelte, nahm Max’ Hand und führte ihn die Straße hinauf in den Ort. Sie war barfuß. Sie trug nie Schuhe, zumindest hatte er sie noch nie in welchen gesehen. Doch sie zuckte nicht einmal auf den holprigsten Abschnitten der steinigen Straße. Die Schulkapelle versammelte sich auf dem Platz am unteren Ende der Beach Street, auf dem sonst die Boote lagen. Tambourmajorinnen mit glitzern den Pailletten wirbelten ihre Stäbe durch die Luft, um zu üben. Trompeter und Posaunisten schmetter
ten die verzerrten Takte namenloser Melodien. Zwei Jungen versuchten, einem Mädchen mit einer Figur wie ein Schrank eine Tuba auf den Rücken zu hie ven. Ein alter grauer Hund saß im Schmutz und bellte dann und wann. Die Mitwirkenden, ihres Zeichens Freimaurer, »Elks« und Rotarier, versammelten sich hinter der Kapelle. Die herausgeputzten Ordensbrüder vom »Heiligen Geist« bewunderten sich gegenseitig in ihren farbenprächtigen portugiesischen Kostümen. Währenddessen rauchten sie ihre letzten Zigaret ten, und einige ließen eine Flasche mit Feuerwas ser in einer Papiertüte kreisen. Die Straße in die Stadt war für den Autoverkehr ge sperrt. Hunderte von Fußgängern strömten zur ka tholischen Kirche am Settlers Square hinauf. Von hier aus würde der Bischof die Prozession durch die Stadt anführen. Das Ganze würde am Hafen mit der feierlichen Flottensegnung enden. Elizabeth führte Max an der Menschenmenge vor bei, über den Platz und die Oak Street hinunter. Die Massen drängten sich auf den Gehsteigen. Klein kinder saßen auf den Motorhauben der Autos. Tee nager hockten auf den Ästen der Bäume. Max hielt Elizabeth an, zeigte auf die Leute und sagte: »Wir werden überhaupt nichts sehen.« Sie zwinkerte ihm zu und legte eine Hand auf die Brust. Vertrau mir, sagte sie und zog ihn weiter. An einer Ecke stand ein kleines Haus. Elizabeth führte Max hinter das Haus, öffnete ein Gartentürchen und ließ ihn hindurchtreten. Sie zeigte auf den Zaun am anderen Ende des Gartens. Es war ein Loch darin, das vermutlich ein großer Hund gegraben hatte.
Elizabeth flitzte über das Gras, ließ sich auf den Bauch fallen und zwängte sich durch die Öffnung. Max folgte ihr. Als er auf der anderen Seite des Zauns stand, sah er, daß sie sich im Hof einer ehemaligen Kirche be fanden. Jetzt hatte man sie in ein Privathaus ver wandelt. Die Glockenstube oder der Uhrenturm o der was auch immer es gewesen war, ragte hoch über dem Dach auf. Elizabeth huschte die breite Treppe zur vorderen Veranda hinauf und blieb vor dem massiven Portal stehen. Sie winkte Max zu, deutete eine Räuberleiter an und ging in die Knie. »Hey«, sagte er, »ich – « »Los«, erwiderte sie. »Ja, aber – « »Okay«, sagte sie, und wieder legte sie eine Hand auf die Brust. »Ehrlich.« Max zuckte die Schultern und machte die Räuber leiter. Sie setzte einen Fuß in seine hohlen Hände, stützte sich mit einer Hand an seinem Kopf ab und zog sich nach oben, bis sie das obere Ende des Türsturzes erreichen konnte. Sie tastete an der Kante entlang und sprang dann herab. Sie hielt Max einen Schlüssel vor die Nase und sag te lächelnd: »Cousinen.« Sie öffnete die Tür, und als Max und sie eingetreten waren, schloß sie hinter ihnen ab. Sie führte Max links durch eine Tür und zu einer Wendeltreppe, die sich in den Turm hinaufschraubte. Sie stiegen und stiegen, Max kam es vor wie eine ganze Stunde. Schließlich endeten die Stufen vor einer einzelnen Tür, die oben und unten verriegelt war. Sie schoben die Riegel zurück, Elizabeth stieß die Tür auf, und
Max trat auf einen engen Gang hinaus. Ihm stockte der Atem, und er hörte sich selbst sagen: »Wahn sinn…« Es war wie im Flugzeug oder im Hubschrauber. Als ob man hoch über der Stadt schwebte, ohne sich zu bewegen. Sie waren höher als alle Bäume oder Gebäude. Die Stadt lag unter ihnen wie ein Diora ma. Dahinter konnte Max, so kam es ihm jedenfalls vor, unendlich weit sehen. Im Osten erkannte man die Little NarragansettBucht und Napatree Point und die graugrünen Um risse von Osprey und Block Island. Im Süden lagen Segelschiffe und Hochseefrachter vor der flachen Silhouette von Montauk Point. Im Westen konnte er Stonington und Mystic erahnen und im Norden die Autobahnschleife auf der Strecke nach Rhode Is land. »Na?« sagte Elizabeth. »Eine Wucht.« Max nahm den Objektivdeckel von der Kamera und suchte nach Motiven. Weit unten hörten sie die ersten stümperhaften Tak te von »The Stars and Stripes Forever«. Die Mas sen jubelten auf. Max zoomte mit dem Objektiv und machte Bilder vom Bischof und den Tambourmajo rinnen und der Kapelle. Er verewigte die Ordens brüder vom »Heiligen Geist« und die »Elks« und die Rotarier. Und dann, plötzlich, war die Parade an ihnen vorbei und marschierte auf die Landzunge zu. Elizabeth zog ihn am Arm. Er folgte ihr die Treppe hinunter aus dem Haus und hievte sie hoch, damit sie den Schlüssel zurücklegen konnte. Parallel zur Um zugsstraße führte sie ihn durch ein Labyrinth aus
Seitensträßchen und Durchgängen. Als sie sich der Landzunge näherten, wurde der Lärm stärker. Die der Küste zugewandte Brise war mit dem Geruch von Bratfett durchsetzt. Wie eine Bleistiftspitze endete die Stadt Waterboro hier auf einem Kiesparkplatz. Von hier aus hatte man einen Blick auf den Sund von Fishers Island. Im allgemeinen war diese Stelle tagsüber von Tou risten und nachts von feiernden Jugendlichen mit Beschlag belegt. Heute waren Autos verboten und durch Kleintransporter, Minibusse und fahrbare Verkaufsstände ersetzt worden. T-Shirts, Wimpel, Becher, Anstecknadeln, Abzei chen, Poster und Essen wurden angeboten. Die Speisen waren gebraten, gekocht, geschmort, ge grillt, aufgespießt, gefroren, roh und lebend, auf Stöckchen und Spießen, in Servietten, Zeitungen und brüchigen Brothälften. An einer Seite des Park platzes lag hinter einem wackeligen Zaun der einzi ge öffentliche Strand der Stadt, ein kleiner Sandstreifen vor dem Hafen. Obwohl es schönes Wetter und bereits warm war, war der Strand so gut wie leer. Ein Mädchen in ei nem indigoblauen Sweatshirt widmete seine Auf merksamkeit teils einer Ausgabe der Zeitschrift People, teils einem Zweijährigen, der am Wasser rand entlangwackelte und nach Muscheln suchte. Dahinter lagen im Hafen Segelboote vor Anker und schaukelten sanft im Kielwasser der Barkassen. Diese brachten die Yachtleute zu den Docks der Stadt und wieder zurück. Max folgte Elizabeth durch die Menge. Man wartete darauf, daß die Parade eintraf. Er war begeistert
und fühlte sich wie auf einen orientalischen Basar. Er kannte nur wenige der Leckereien, die sich auf Klapptischen hoch auftürmten, und die köstlichen exotischen Düfte zogen ihn in ihren Bann. Er blieb vor einem Lastwagen stehen, auf dem rundliche Würste in zähen Brötchen verkauft wur den, und fischte in der Hosentasche nach Geld. Eli zabeth schlängelte sich vor Max zwischen Pärchen, Familien und Männern, die über den Abstieg der »Red Sox« diskutierten, hindurch. Da spürte sie, daß sie allein war. Sie drehte sich um, ging den Weg zurück und ent deckte Max, der auf einem Hot dog herumkaute. Er lächelte sie verlegen an, während ihm rotes Fett am Kinn herunterlief. Erst wollte sie sprechen, aber dann holte sie den Stift unter der Bluse hervor und den Block aus der Rocktasche. Sie schrieb etwas darauf und reichte ihn Max. »Ißt du gerne fettiges totes Zeug?« las er laut. Dann grinste er und sagte deutlich: »Klar… tut doch jeder gern, oder?«
30 Es schwamm unruhig auf und ab… verwirrt, ge quält, gereizt. In dem fauligen, mit Tangklumpen durchsetzten Flachwasser konnte es nur sehr wenig sehen. Sein Gehirn registrierte eine Kaskade von Geräuschen und Impulsen. Doch nichts ließ sich genau bestimmen, nichts schien zu halten, was es versprach. Einige der Impulse wirkten bedrohlich. Obwohl es keine Angst kannte, war es darauf programmiert worden, sich selbst am Leben zu erhalten und zu verteidigen. Bedrohliche Signale lösten daher A larmreflexe aus. Und doch wurde keine der Bedro hungen zu einer ernsthaften Gefahr. Sein Energie vorrat war nahezu aufgebraucht. Es hatte seit dem fetten, glatten Ding, das sich ihm in der Tiefe genä hert hatte, nichts mehr gefressen. Es hatte in der Nähe der Küste und weiter draußen gesucht, über sandigen Böden und zwischen gro ßen Felsformationen. Die Lebewesen, die früher im flachen Wasser ihre Runden gedreht hatten, waren verschwunden oder hatten sich versteckt. Leichte Beute wie die verletzlichen Dinger war oben nicht mehr aufgetaucht. Von den schwerfälligen Dingern war von der Küste aus keines ins Wasser gekom men. Es hatte bemerkt, daß Temperatur und Wellen schlag sich veränderten. Doch es konnte dies nicht mit seinem Nahrungsmangel in Verbindung bringen. Jetzt wußte es auf einmal, daß Nahrung in der Nä he war, doch es konnte sie nicht orten. Das Wasser
schien mit dem Geruch von Fleisch durchsetzt zu sein, doch es war kein Fleisch zu finden. Langsam, vorsichtig stieß es sich nach oben und brach mit dem Kopf durch die spiegelglatte Was seroberfläche. Sein Geruchssinn wurde von Düften überwältigt, die in seinem Bauch eine Flut von Ma gensäften freisetzten. Seine Augen sahen, sobald sich die Linsen klärten, Lebewesen… nicht nur ei nes, sondern eine gewaltige Menge Lebewesen. Sie waren in einer Herde versammelt, und alle ver höhnten es mit ihrem Geruch. Adrenalin pumpte neue Energie durch seine Venen. Doch dann wurde es von seinem Alarmsystem ge warnt. Es waren zu viele, und sie waren zu weit ent fernt von seiner sicheren Welt. Es konnte sie nicht fressen und dabei selbst überleben. Bis auf zwei… zwei kleinere, abseits vom Rest. Sie waren allein an der Grenze zwischen den Welten. Aber selbst diese beiden zu erwischen, würde eine komplexe Entscheidung erfordern. Eine Entschei dung, die zu treffen es zwar programmiert war, die es bisher jedoch nie getroffen hatte. Eine Entschei dung, die sein Leben beenden könnte, anstatt es zu erhalten. Der Konflikt zerrte an dem primitiven Gehirn. Das Geschöpf war unvollständig konditioniert. Sein Selbsterhaltungstrieb signalisierte zwei Wege, die sich widersprachen. Und so schwamm es unruhig auf und ab. Der Drang in seinem Körper steigerte sich zur Raserei.
31 Als die Parade um die Landzunge vor dem Park platz bog, scherten einige Musiker aus den Reihen der Kapelle aus. Freunde unter den Zuschauern versorgten sie mit Getränkedosen. »Elks« griffen nach den Papiertüten, die ihnen hingehalten wur den. Ordensbrüder vom »Heiligen Geist« nahmen von ihrem ehrfürchtigen Nachwuchs Linguisas ent gegen. Selbst die Kinder im Gefolge des Bischofs waren gegen derlei Angebote nicht gefeit. Einer ließ sich von einem Mann in der Menge eine angezündete Zigarette geben. Er wirkte wie ein Staffelläufer, der den Stab übernimmt. Er zog ein mal tief an dem Glimmstengel, bevor er ihn unter seinem Festgewand versteckte. Max fotografierte alles. Als er gerade den heimlichen Raucher im Bild hatte und auf den Auslöser drückte, hörte er das Surren des Films, der sich zurückspulte. Er sah, wie der Zähler auf Null zurücksprang, und sagte: »Ver dammt.« Elizabeth stupste ihn an und zog die Augenbrauen hoch: Was ist? »Der Film ist voll«, sagte Max und zeigte auf den Zähler. »Weißt du, wo ich einen neuen kaufen kann?« Elizabeth nickte. Sie zeigte auf Max, dann auf die Parade und sagte: »Folgen.« Dann zeigte sie auf sich selbst und stellte mit zwei Fingern einen lau fenden Menschen dar. Sie sagte noch etwas, et was, was sich für Max so ähnlich wie »Ketchup« anhörte.
»Aber wie soll ich dich finden?« sagte er. »Wie – « Sie legte eine Hand auf die Brust, nahm dann seine Hand, legte sie auf ihre und blinzelte ihm zu. »Okay«, sagte er lachend. Sie drehte sich um und flitzte durch die Menge da von. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis auch die letzten Nachzügler in der Parade die Landzunge umrundeten. Es waren zwei Jungen, die einen rie sigen Bernhardiner mit sich führten, der wie ein Clown zurechtgemacht war. Sie zogen die Beach Street hinunter zu den Docks der Berufsfischer. Die Verkäufer machten ihre Stände bereits zu, löschten die Grillfeuer und sammelten den Müll ein. Sie beeilten sich, um rechtzeitig an einem anderen Parkplatz am anderen Ende des Ortes einzutreffen. Dort sollte nach der Parade weitergefeiert werden. Am letzten Stand, der noch offen hatte, kaufte Max einen kandierten Apfel. Dann schlenderte er hinter dem Bernhardiner her. Als er an dem Zaun vorbeikam, der den öffentlichen Strand abgrenzte, sah er ein Kleinkind. Es preßte das Gesicht gegen den Maschendraht. Mund und Hände waren verdreckt, als hätte es Sand geges sen, und seine schmutzige Windel hing an einer Seite herunter. Hinter dem Kind lag ein junges Mädchen auf dem Rücken im Sand und hielt eine Zeitschrift über das Gesicht. Das Kind hielt sich mit kurzen Fingern am Draht fest. Es folgte Max mit großen Augen. Max sah das Kind an und trat spontan an den Zaun. Er beugte sich hinüber und bot dem Kind den kan dierten Apfel an. »Hier, Kleiner«, sagte er lächelnd. Das Kind strahlte, streckte beide Hände nach dem
Apfel aus, packte ihn am Stiel und versuchte, ihn ganz in den Mund zu stopfen… und fiel nach hinten. Der Apfel kullerte in den Sand. Das Kind rollte sich auf die Seite, griff nach dem Apfel und begann, fröhlich glucksend daran zu lecken. Max wandte sich ab und ging die Straße hinunter. Kaum war der letzte Imbißwagen verschwunden, tauchten zwei freiwillige Helfer des Ordens vom »Heiligen Geist« auf und begannen, den Parkplatz sauberzumachen. Der Kies war übersät mit Zigaret tenkippen, Pappbechern, abgenagten Spare Ribs, halbgegessenen Hot dogs, Sandwiches und Würs ten, die beim Braten aufgeplatzt und vom Feuer geworfen worden waren. Da lagen Eierschalen und Gemüsereste, Tinten fischringe, Hähnchenflügel und hier und da ver streute Innereien. Ein unangenehm süßlicher Ge ruch von Olivenöl, Salatdressing und Fett hing wie eine Glocke über dem Parkplatz. Die beiden Män ner hatten Handschuhe an und trugen Camping schippen, mit denen sie den Müll in Plastikeimer schaufelten. »Die Leute sind schlimmer als Schweine«, brummte der eine. »Auf dem Scheißplatz hier sieht’s aus wie auf einem Schlachtfeld.« »Und es stinkt wie im Leichenschauhaus«, stimmte der andere zu. Um den Parkplatz herum hatte man Zweihundert Liter-Tonnen aufgestellt, in denen der Müll gesam melt werden sollte. Die freiwilligen Helfer schleppten einen vollen Eimer zu der nächstgelegenen Tonne. Sie war voll, ebenso die zweite und die dritte. »Scheiße… und was machen wir jetzt?«
»Was ist mit der da?« Einer der beiden zeigte auf
eine Tonne am Strand.
Der andere zuckte die Schultern. »Versuchen wir’s.
Mit nach Hause nehm’ ich den Schrott hier jeden falls nicht.«
Sie nahmen den Plastikeimer, schleppten ihn durch
das Gatter zum Strand und über den weichen Sand.
Die Tonne war leer. Als sie den Müll hineinkippten,
bemerkten sie ein Kleinkind, daß am Boden saß
und fröhlich an irgend etwas nagte. Obwohl der Müll
übel stank, konnten sie seine vollen Windeln rie chen. Zehn Meter weiter lag eine Frau mit einer
Zeitschrift über dem Gesicht.
»Hey!« rief einer der freiwilligen Helfer. »Sind Sie
die Mutter dieses Kindes?«
Die Frau hob die Zeitschrift hoch, und jetzt sahen
sie, daß es ein junges Mädchen war.
»Das hätte noch gefehlt«, sagte sie.
»Aber du weißt ja wohl, wie man eine Windel wech selt?«
»Wer seid ihr denn«, sagte das Mädchen, »die
Windelpolizei?«
»Hör mal, du…«, sagte der Mann ärgerlich und ging
einen Schritt auf das Mädchen zu.
Der andere hielt ihn mit einer Hand am Ärmel fest.
»Laß es, Lenny. Das Kind hat’s schwer, aber was
soll’s? Wenn du dich mit dem Mädchen anlegst,
stehst du als nächstes wegen sexueller Belästigung
vor Gericht.«
»Eher würde ich ein Schaf anmachen«, sagte er
laut genug, daß das Mädchen es hören konnte.
»Das glaube ich allerdings auch«, gab sie zurück,
und die Zeitschrift plumpste wieder über das Ge
sicht. »Laß es, Lenny. Laß es einfach.« Die beiden freiwilligen Helfer füllten den Plastikei mer noch zweimal und entleerten ihn in die Tonne am Strand. Dann schulterten sie ihre Schaufeln und gingen nach Hause, um sich die Hände zu waschen und etwas zu trinken.
32
Es lag auf dem Bauch im flachen Wasser, und nur Augen und Nase guckten über die Oberfläche. Die meisten Lebewesen waren verschwunden. Der oh renbetäubende Tumult, der in seinem Trommelfell gedröhnt hatte, war zu einem fernen Plätschern ab geklungen. Nur zwei der Lebewesen waren noch da, und sie stießen keine bedrohlichen Signale aus. Sein Alarmsystem blieb ruhig. Doch der verführerische Duft hielt an. Es roch in tensiv nach Fleisch, stärker als je zuvor, näher als je zuvor. Es war verblüfft: Der Geruch schien nicht mit den Lebewesen zusammenzuhängen. Zentime terweise schob es sich mit den Krallen voran. Seine Kiemen gingen rasch auf und zu und pumpten mit aller Kraft. Das Wasser an der Oberfläche hatte ei nen niedrigen Sauerstoffgehalt und war stark verun reinigt. Ein fremdes Ding in der Nähe der Lebewe sen roch am intensivsten nach Beute. Seine Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, war sehr beschränkt. Es kannte keine Wahl. Es lechzte nach allem, doch es spürte, daß es sich entschei den mußte. Und dann, als hätte sich in seinem Ge hirn plötzlich eine Klappe geöffnet, erhielt es die Meldung, daß es alles haben konnte. Es mußte nur entscheiden, was es zuerst nehmen wollte. Es zwang seine Kiemen, sich zu schließen. Es stützte sich auf seine kräftigen Arme und machte einen Satz nach vorn.
33
Das Mädchen war unwillkürlich eingeschlafen, eine Todsünde, wenn man einen Zweijährigen am Was ser hütet. Sie schlief nur leicht, kaum tief genug für einen quirligen Traum mit Prinzessin Diana. Sie wurde gebeten, ihre Kammerzofe zu sein und sich um die beiden kleinen Prinzen zu kümmern. Plötz lich, aus heiterem Himmel, weinte einer der beiden Prinzen – oder kreischte vielmehr. Sie schrak hoch, riß sich die Zeitschrift vom Gesicht und drehte sich suchend nach Jeremy um. Da saß er im Sand, wo er die ganze Zeit gesessen hatte, und sie atmete erleichtert auf. Er brüllte mit zurück geworfenem Kopf, aufgerissenem Mund und ge schlossenen Augen. Sie kannte Kinder gut genug, um zu wissen, daß er in diesem Augenblick nicht aus Wut oder Gereiztheit brüllte. Er schrie vor Schmerz oder Angst, als hätte er sich gebrannt oder geschnitten oder wäre von einem Hund gebissen worden. Sie ging zu ihm hin, beugte sich über ihn und sagte: »Was ist los… hast du dich verletzt?« Er antwortete nicht, nicht einmal mit einem seiner unverständlichen Babyworte. Er brüllte nur noch lauter. »Jeremy… sei nicht blöd… sag mir, wo es weh tut.« Er machte die Augen auf und hob bittend die Hän de. Er wollte von ihr auf den Arm genommen wer den, was sie überraschte. Das wollte er sonst nie. Er mochte sie nicht mehr als sie ihn. Ihre Beziehung beruhte auf gegenseitiger Toleranz, auf der still
schweigenden Duldung einer mißlichen Lage. Kei nem von ihnen gefiel sie, aber beide mußten sie aushallen. »Vergiß es«, sagte sie kopfschüttelnd. »Meinst du, ich will mir meine ganzen Sachen vollsabbern las sen?« Er brüllte wieder, diesmal noch lauter, und streckte seine Arme nach ihr aus. Sie wurde allmählich nervös. »O Gott… halt endlich den Mund, klar?« Sie blickte sich um, ob irgend je mand sie sah. »Was ist denn?« Eine Sache fiel ihr ein. »Brennt dir der Arsch, ja? Das muß es sein. Wenn du nicht die ganze Zeit in die Hosen scheißen würdest, würde dir der Arsch auch nicht weh tun.« Sie erwartete fast, daß ihre logische Schlußfolge rung ihn trösten und dazu bringen würde, den Mund zu halten. Aber Fehlanzeige. Er saß noch immer da wie ein heulender kleiner Buddha. »Scheiße!« sagte sie und beugte sich über ihn, leg te die Hände unter seine Arme und hob ihn hoch. Sie ging mit ihm zum Wasser, wobei sie ihn so weit wie möglich von sich hielt. Er wand sich und trat um sich und schrie, und je näher sie ans Wasser kam, desto heftiger strampelte er. Als ob das, was ihn so erschreckt oder verletzt hatte, dort draußen im Wasser war… Sie kämpfte sich mit ihm weiter vor. Wahrscheinlich packte sie ihn zu achtlos und viel zu fest an. Als sie bis zu den Knien im Wasser stand, tauchte sie ihn bis zur Hüfte ein. Sie zog die Klebestreifen ab, mit denen die Windel zusammenhielt, und ließ die Win del davonschwimmen. Dann wirbelte sie das Kind im Wasser herum und hoffte, auf diese Weise sei
nen Po zu säubern. Nach etwa einer Minute hob sie Jeremy aus dem Wasser und hielt ihn wieder möglichst weit von sich entfernt auf dem Arm. Sie ging zurück zum Strand und setzte ihn dort auf dem Boden. Sein Schreien schwächte sich zu einem atemlosen, abgehackten Schluchzen ab. Noch immer bat er sie, ihn zu hal ten. Als sie sich weigerte, hielt er sie am Bein fest. »Laß los, verdammt!« fluchte sie und hob eine Hand, um seinen Arm von ihrem Bein wegzuschla gen. In dem Augenblick, als sie den Drang verspür te, das Kind zu schlagen, legte sich ihre Wut und wurde auf einmal durch Angst ersetzt. Angst vor sich selbst, vor der Macht, die sie über das Klein kind besaß, und vor dem Schaden, der damit ent stehen konnte… für ihn und für sie. Die Angst verwandelte sich rasch in Sympathie. »Hey«, sagte sie, »hey… ist ja gut.« Sie kniete sich hin und ließ ihn die Arme um ihren Hals schlingen, legte eine Hand unter seinen Po und hob ihn hoch. »Komm, wir gehen fernsehen, was hältst du da von?« Als sie quer über den Strand zu der Stelle ging, an der sie ihr Handtuch gelassen hatte, fiel ihr auf, daß irgend etwas nicht stimmte. Etwas fehlte. Dann sah sie Spuren im Sand, als hätte jemand einen schwe ren Gegenstand ins Wasser gezogen. Die Müllton ne war nicht mehr da. Sie sah auf den Hafen hin aus. Etwa fünfundzwanzig Meter weit draußen, nicht weiter, als sie einen Stein werfen konnte, ent deckte sie die leere schwarze Tonne. Sie trieb auf der Wasseroberfläche. »Ist das zu glauben?« sagte sie. Der Ton ihrer
Stimme beruhigte das Kind. »Diese Jungs füllen die Mülltonne mit dem ganzen Schrott. Und dann gehen sie hin und werfen sie in den Hafen, damit das Zeug den Leuten auf den Rasen gespült wird. Ich sag’ dir, Jeremy, unterm Strich sind alle Leute Schweine.« Sie sammelte Handtuch und Tasche ein und mach te sich mit dem Kind auf dem Arm auf den Weg durch das Gatter und auf den Gehsteig… Dabei redete sie dummes Zeug, um das Kind abzulenken. Sie schwor es sich: Nächsten Sommer würde sie sich einen anderen Job suchen, egal was, bei dem sie die fünf miesen Dollar pro Stunde leichter ver dienen würde.
34 Wütend drosch es auf die Müllawine ein, die über ihm niederging. Es schnappte wahllos nach irgend welchen Brocken von Treibgut und biß darauf her um. Mit Gewalt wollte es ihnen Nährstoffe entrei ßen, die sie nicht enthielten. Ein paar Stücke waren nahrhaft, aber nur sehr wenige, gerade so viele, daß es nach mehr lechzte. Die meisten waren un brauchbar, und es konnte sie unmöglich voneinan der unterscheiden. Seine Kiemen, mit fremdartigen Dingen verstopft, die sich in den Kiemendeckeln einnisteten und die Bewegungen erschwerten, leisteten Schwerstarbeit. Es hatte sich falsch entschieden. Es war dem Ge ruch anstatt seinem Instinkt gefolgt. Langsam schraubte es sich hoch an die Wasseroberfläche und wartete, bis seine Augen sich auf die Küste eingestellt hatten. Leer. Die Lebewesen waren verschwunden. Aber sie waren da, irgendwo, zusammen mit vielen ande ren. Das wußte es. Und es wußte auch, daß sie in Reichweite gebracht werden konnten. Doch das erforderte eine weitere Entscheidung. Dafür war es zwar programmiert worden, aber die Ausführung überstieg seine Fähigkeiten, das spürte das Ge schöpf. Es ließ sich noch einmal nach unten sinken und ruhte sich auf dem schlammigen Boden aus. Wie ein Kadaver hing es zwischen den Fetzen von See tang. In den Nischen seines Gehirns suchte es nach längst verlorenen Schlüsseln zu längst verschütte
ten Schlössern. Sein Gehirn war schwach, aber nicht langsam. Es war ungeübt, aber nicht unbrauchbar. Je mehr es von ihm verlangle desto stärker reagierte das Ge hirn. Nach und nach kamen die Schlüssel zum Vor schein. Schließlich wußte es, was es tun mußte und wie. Von neuer Hoffnung angetrieben, kroch es den Boden entlang, der zum flachen Wasser hin an stieg. Als sein Rücken schon fast aus dem Wasser ragte, glitt es seitlich in den Schutz einiger Felsblö cke und wartete. Es musterte die Küste, bis es sich überzeugt hatte, daß es allein war. Selbst dann wartete es noch ein paar Augenblicke und ging noch einmal Schritt für Schritt durch, was es jetzt tun mußte. Es widerstrebte ihm, die sichere Welt zu verlassen, die es kannte. Wie lange kannte es sie schon? Seit jeher, soweit es wußte. Doch es war sich sicher, daß sein Leben von dem Weg ab hing, den es eingeschlagen hatte. Es tauchte mit Kopf und Kiemen unter und pumpte Wasser durch seinen Organismus. Es durchflutete sein Blut mit Sauerstoff wie ein Taucher, der sich eine Rekordtiefe vornimmt. Es hob den Kopf, stemmte sich auf die Füße und begann zu laufen. Seine Beinmuskeln waren schwach: Sie hatten ein halbes Jahrhundert lang keinerlei Gewicht getragen. Doch sie trugen es, und mit jedem Schritt gewan nen sie ein Jota an neuer Kraft. Es benötigte Schutz, um das Training durchzufüh ren, für das es programmiert war. Und es benötigte ihn bald. Da es kein Zeitgefühl besaß, wußte es nicht, was bald war. Doch es wußte, daß sein Blut es ihm sagen würde: Je mehr Sauerstoff verbraucht
wurde, desto mehr würde verlangt werden. Das Gehirn würde in eine Krise stürzen. Bald. Die Straßen waren leer, die Türen geschlossen und die Vorhänge zugezogen. Trotzdem fühlte es sich ausgeliefert. Es taumelte in den schützenden Schat ten zwischen zwei Häuser. Seine Ohren konnten jetzt hören und nicht nur Druckveränderungen wahrnehmen. Nicht weit entfernt hörten sie heisere Geräusche. Es kam an weiteren geschlossenen Türen vorbei, bog in eine andere dunkle Straße ein und sah noch mehr geschlossene Türen. Gerade wollte es sich abwenden, als es in einer Nische am Ende der Straße eine offene Tür sah. Es wankte auf die Tür zu, wobei es eine schleimige Spur zurückließ. Es begann bereits, die ersten Alarmsignale zu spüren. Das Gehirn verlangte nach Sauerstoff. Die Tür war groß und breit und der Innenraum dun kel und leer. Das Geschöpf sah nach oben und ent deckte dort, was es brauchte: große Querbalken, die das Dach abstützten. Es konnte nicht zu den Balken hochspringen, und es gab weder ein Seil noch eine Leiter, an denen es hätte hochklettern können. Es versuchte es an einer der Wände mit seinen Krallen. Das Holz war durch Alter, Feuchtig keit und Moder weich geworden, und die Krallen durchbohrten es wie geschmeidigen Lehm. Seine Krallen gruben sich tief in das Holz, und es kletterte an der Wand hoch wie ein Panther. Die Anstrengung entzog seinem Blut Sauerstoff. Als es den ersten Querbalken erreicht hatte, waren die Alarmsignale in seinem Gehirn sehr dringend. Es schwang die Beine über den Balken und ließ sich
etwa vier Meter über dem Lehmboden kopfüber hinabhängen. Seine Arme baumelten nach unten. Flüssigkeit quoll in einem Rinnsal aus seinem Maul und tropfte auf den Boden. Es wartete einen Augenblick und beobachtete die Veränderung: Die Metamorphose war zu langsam. Bevor sein Organismus gereinigt war, bevor sein Motor ab- und wieder angestellt werden konnte, würde das Gehirn aus akutem Sauerstoffmangel zu sterben beginnen. Und so tat es das, was ihm fünfzig Jahre zuvor bei gebracht worden war und was es bereits einmal geübt hatte. Es ballte die Fäuste unter seinem Brustkorb und ließ sie nach oben schnellen. Eine grüne Flüssigkeit quoll wie Erbrochenes aus seinem Maul hervor. Der erste Anfall bewirkte einen zweiten und dritten. Schließlich setzten zyklisch wiederkehrende Krämp fe ein. Sie pumpten Wasser aus der Lunge und spülten es durch die Luftröhre hinaus. Eine übelrie chende Pfütze mit grüner Flüssigkeit bildete sich unten im Dreck, ein winziger Sumpf. Es dauerte nur ein paar Sekunden. Dann war die Lunge leer und die Brusthöhle zog sich zusammen. Das Geschöpf blieb reglos hängen und rollte die Augen zurück in den Kopf. Sie wirkten wie Eier schalen von reinstem Weiß. Kleine Schleimtröpf chen kullerten an den Stahlzähnen herab und fielen nach unten wie Smaragde. Sein Leben als Kiemen atmer war zu Ende. Es war klinisch tot. Sein Herz hatte noch nicht zu schlagen begonnen. Die Flüs sigkeit in seinen Adern pulsierte noch nicht. Doch das Gehirn lebte noch. Es befahl sich selbst,
einen letzten Elektrizitätsstoß durch die Synapsen zu senden, der es wieder zum Leben erwecken würde. Der Körper zog sich noch einmal krampfhaft zusammen. Doch diesmal stieß es keine Flüssigkeit mehr aus. Diesmal hustete das Wesen.
35 Elizabeth schlug die Tür hinter sich zu und sprang auf den Gehsteig. Sie blieb stehen und versuchte zu spüren, wo die Parade war. Sie konnte sie natür lich nicht hören. Doch sie konnte sie fühlen: ein Pul sieren auf ihrem Trommelfell und ein leichtes Vibrie ren unter ihren nackten Fußsohlen. Trommeln und Tuba sendeten Druckwellen durch die Luft. Hunder te von stampfenden Füßen erschütterten die Geh steige aus Beton. Man spürte es in jeder Richtung über mehrere Blocks hinweg. Sie hatte länger gebraucht als erwartet, um die Rol le Film zu finden. Also nahm sie an, daß die Parade inzwischen fast die Docks der Berufsfischer erreicht hatte. Sie wollte mit dem Film bei Max sein, bevor die Parade an den Docks angekommen war. An kunft und Flottensegnung waren der Teil der Zere monie, der sich am schönsten fotografieren ließ. Sie holte einmal Luft und hielt den Atem an. Dann schloß sie die Augen und drehte sich in die Rich tung, aus der sie etwas spürte. Sie lag richtig: Die Parade hatte etwa zwei Drittel des Weges durch die Beach Street zurückgelegt und befand sich nur noch rund hundert Meter von den Docks entfernt. Sie konnte sie noch einholen, wenn sie ein paar Abkürzungen nahm. Sie steckte den Film in die Rocktasche und begann zu laufen. Sie wußte, daß Max dort sein würde. Er war be stimmt nicht ungeduldig geworden und allein losge zogen, um nach einem Film zu suchen. Sie war sich sicher, daß er ihr ebenso vertraute wie sie ihm und
sie ebenso mochte wie sie ihn. Sie hatte sich noch nie gefragt, warum sie ihn mehr mochte als andere Jungen. Sie analysierte die Dinge nicht – sie akzep tierte sie. Sie nahm jeden Tag, wie er kam, denn sie wußte: Es war immer etwas Neues und etwas Altes, etwas Gutes und etwas Schlechtes dabei. Sie mochte ihn einfach. Das war alles. Und wenn er wegging, und er würde weggehen, denn nichts dauerte ewig, das hatte ihr das Fieber deutlich ge macht, würde sie ihn weiterhin mögen. Wenn er zurückkam, wäre das schön. Wenn nicht, wäre das eben dumm. Aber zumindest hätte sie eine Zeitlang jemanden gehabt, den sie sehr mochte. Das war besser, als wenn man nie jemanden gehabt hatte, den man sehr mochte. Im Augenblick wollte sie nichts anderes, als ihm den Film zu bringen. Sie wollte sein Gesicht aufleuchten sehen, wenn sie ihm die Rolle gab. Sie wollte ihn dabei beobachten, wie er über das bunte Treiben der Parade staunte. Sie sprang über einen Zaun, lief quer über einen Hof, sprang über den Zaun auf der anderen Seite und rannte ein Seitensträßchen hinunter. Sie bog um eine Ecke, schlängelte sich zwischen ein paar Mülltonnen hindurch und über querte eine enge Gasse. Sie war jetzt nur noch einen Block von der Beach Street entfernt und konnte das Schlagen der Trom meln in ihren Ohren spüren. Sie befand sich in einer engen Straße. Auf beiden Seiten parkten Autos, außer vor einer offenen Garage. Als sie sich der Garage näherte, nahm sie einen seltsamen Geruch wahr. Es roch salzig und faulig-süß, und sie sah ein Rinn
sal grüner Flüssigkeit, das aus der Garage in den Rinnstein sickerte. Sie verlangsamte ihr Tempo, denn die Garage gehörte Freunden ihrer Eltern. Wenn da Heizöl oder Abwasser auf die Straße si ckerte, deutete das auf einen Notfall hin. Dann müßte sie die Leute bei der Parade suchen und es ihnen sagen. Sie beugte sich hinab und roch an der Flüssigkeit. Es roch anders als alles, was sie kannte. Als sie sich aufrichtete und einen Blick in die Garage warf, sah sie eine riesige Pfütze. Sie sah genauer hin: Es fielen noch mehr Tropfen herab. Kein Zweifel, ir gend etwas war gebrochen und tropfte. Sie ging in die Garage hinein. Wie eine Riesenfledermaus hing es am Balken, sog Luft in seine Lungen und spürte, wie sich sein Ge webe wieder mit Leben füllte. Plötzlich roch es Beu te, hörte sie. Es rollte seine Augen vor und sah nach unten. Elizabeth spürte, daß sich der Luftdruck in ihrer Umgebung veränderte. Es war, als hätte ein großes Tier einmal tief Luft geholt. Da sie nichts hören und in den dunklen Winkeln der Garage nichts sehen konnte, überkam sie plötzlich Angst. Sie drehte sich um und rannte weg. Das Geschöpf zuckte mit den Armen, und die lan gen Schwimmfinger seiner riesigen Hände strafften sich. Es streckte seine Beine und ließ sich in einem Salto auf den Boden fallen. Die Beute war klein und zerbrechlich… leicht zu fangen, leicht zu töten. Doch als es auf den Boden aufschlug, knickten sei ne Beine um. Sie waren zu schwach, da sie zu lan ge zu wenig Gewicht getragen hatten, und das Ge
schöpf fiel auf die Seite. Es zog sich mit den Armen hoch, in eine Art Kauerstellung. Schwerfällig beweg te es sich auf das Licht zu. Die Beute war ver schwunden. Es schnaubte vor Wut und Frustration – ein kehli ges, schleimiges Knurren. Dann plötzlich witterte es Gefahr. Es erkannte, daß man es möglicherweise verfolgen konnte. Es wußte, es mußte fliehen. Doch es wußte nicht, wo es Schutz suchen sollte. Es hat te keine Wahl: Es mußte in die Welt zurückkehren, die es kannte. Es bewegte sich aus dem Schatten heraus und auf die Straße. Es konnte sich nicht erinnern, wie es hierhergekommen war oder welchen Weg zurück es nehmen mußte. Es war von Gebäuden umgeben und konnte das Meer nicht sehen. Doch es konnte das Wasser riechen, und so folgte es dem Geruch von Salz. Es war noch keine Minute unterwegs, als es dicht hinter sich ein Geräusch hörte, das ihm Aggression signalisierte. Es drehte sich um, um der Gefahr ins Auge zu sehen. Ein großes Tier mit einem schwar zen Fell kauerte in einer dunklen Nische zwischen zwei Gebäuden. Seine Nackenhaare standen auf recht, die Lefzen hatte es nach hinten geschoben, so daß seine langen, weißen Zähne zu sehen wa ren. Es zog die Schultern hoch und zeigte die star ken Muskeln seiner Vorderbeine. Knurrende Laute kamen aus seiner Kehle. Während das Geschöpf das Tier prüfend ansah, dachte es weniger an Nahrung als an Flucht. Es spürte, daß das Tier eine Flucht nicht zulassen würde, daß es zum Angriff entschlossen war. Also
machte das Geschöpf einen Schritt auf das Tier zu. Das Tier sprang hoch, bleckte die Zähne und spreizte die Krallen. Das Geschöpf packte es mitten im Sprung und grub seine Stahlzähne tief in die Kehle seines Gegners. Augenblicklich verwandelte sich das Knurren in ein Wimmern und dann in Schweigen. Das Geschöpf hielt das Tier fest und ließ es sterben. Als es tot war, warf das Geschöpf es auf die Straße, kniete sich daneben und schlitzte mit den Krallen seinen Bauch auf. Es faßte in den warmen Körper und riß die Eingeweide heraus. Dann machte es sich wie der auf den Weg zum Meer, das ihm Schutz und Sicherheit bot.
36
»Laß das Grübeln, Max«, sagte Chase. »So, wie es sich anhört, biegt die Kapelle in vielleicht zehn Se kunden dort um die Ecke, also beruhig dich und genieß die Show. Sie wird dich schon finden.« »Aber nicht dort, wo ich gesagt habe, daß ich bin«, sagte Max. »Ich hätte nicht – « »Hey, Max, was ist denn los mit dir?« grinste Cha se. »Du bist doch nicht etwa – « Er unterbrach sich, als er spürte, wie ihn Amanda in die Seite stieß. »Sie wird dich finden, Max«, sagte Amanda und legte einen Arm um seine Schultern, »und sie wird dich verstehen. Bestimmt.« Max war hinter dem Bernhardiner der Parade ge folgt. Plötzlich entdeckte er zwischen zwei Häusern Amanda und seinen Vater. Sie fuhren langsam im Makofänger des Instituts vorbei. Er war zu den Fel sen hinuntergerannt und hatte gewinkt. Chase hatte das Boot langsam bis an die Küste gelenkt und Max gedrängt, an Bord zu springen. Sie hatten den Ma kofänger an einem Sportfischerboot festgemacht, das an einem Dock der Berufsfischer lag, und wa ren an Land gegangen, um auf die Parade zu war ten. Als erstes erschien der Bischof, hinter ihm sein Ge folge und die Tambourmajorinnen. Als der erste Musikant um die Ecke und auf die Straße bog, die geradewegs zu den Docks führte, stimmte die Ka pelle den »River-Kwai«-Marsch an. Max sah seine leere Kamera an. »Ich hab’ auch eine«, sagte Amanda und zog eine
kleine Kamera aus ihrer Tasche. »Ich mach’ dir Ab züge.« Roland Gibson bahnte sich hinter Chase einen Weg durch die Menge und blieb neben ihm stehen. Die Uniform des Polizeichefs war frisch gebügelt, und seine Schuhe glänzten. »Zweitausend Touristen, Simon«, sagte er lächelnd. »Und du wolltest, daß ich das absage.« »Vielleicht hast du recht«, sagte Chase. »Aber es ist noch nicht alles vorbei. Wann willst du Puckett aus dem Knast lassen?« »Sobald der letzte Besucher seinen letzten Dollar dagelassen hat… so gegen sechs. Dann kannst du dir alles über Rustys Monster anhören.« Das Funkgerät an Gibsons Gürtel knackte, und eine Stimme sagte: »Chef…« Gibson machte das Funkgerät los, sprach hinein, hörte zu und sagte dann leise: »Scheiße.« »Was ist los?« fragte Chase. »Hat Tommy nicht gesagt. Nur, daß es etwas gibt, was ich sehen sollte.« Gibson hängte das Funkgerät wieder ein und trat auf den Kai. »Wir sehen uns später.« Plötzlich hörte Chase hinter sich, über das Schmet tern der sich nähernden Posaunen hinweg, Max schreien: »Elizabeth!« Er drehte sich um und sah, wie Max am Rand der Menge auf ein barfüßiges Mädchen in einem blauen Kleid zulief. Es rannte, so schnell es konnte, neben der Kapelle her. Max und das Mädchen trafen sich. Das Mädchen zitterte, und Max streckte die Hand nach ihr aus, um sie zu beruhigen. Als Chase näher kam, hörte er, wie das Mädchen
zu sprechen versuchte. Doch aus ihrem Mund ka men nur zusammenhanglose Töne. Ihre Hände flat terten vor Max’ Gesicht wie zwei Kolibris, und Max schüttelte den Kopf und sagte: »Langsamer, lang samer.« »Was sagt sie?« fragte Chase. »Ich weiß nicht«, sagte Max. Amanda kam hinzu, kniete sich hin, nahm Eliza beths Hände in ihre und fragte: »Bist du verletzt?« Elizabeth schüttelte den Kopf. »Hat dich etwas erschreckt?« Elizabeth nickte. »Was?« »Etwas«, sagte Elizabeth angstvoll, »etwas Gro ßes.« Dann hörte Chase, wie sein Name gerufen wurde. Er blickte auf und sah Gibson, der ihn am Ende des Kais zu sich herüberwinkte. »Bin sofort zurück«, sagte er zu Amanda. Gibsons Miene war grimmig vor Zorn. »Etwas hat gerade Buster, den Wachhund von Corky Thibau deaux, getötet«, sagte er. »Hat ihm die Kehle he rausgerissen und ihn aufgeschlitzt, direkt auf der Maple Street. Tommy hat das hier gefunden.« Er streckte die Hand aus, und Chase sah einen Zahn aus rostfreiem Stahl. Zwei der Ränder waren feingesägt. An den beiden Enden der dritten, der dickeren Seite, befand sich je ein kleiner Widerha ken. Chase stockte der Atem. Er starrte auf den Zahn. Dann sah er Gibson an und sagte: »Es ist hier, Rollie. Es ist an Land gekommen.«
37
Es ging genau an der Stelle ins Wasser, an der es herausgekommen war. Es sah seine eigenen Spu ren im Sand. Im Schutz der Felsblöcke kroch es langsam den schlammigen Abhang entlang, bis es bis zu den Schultern im Wasser war. Es ließ die Luft aus den Lungen strömen, tauchte unter Wasser und tat das, was ihm sein Gehirn sagte: Es erzeugte Bewegung in seinen Kiemendeckeln, öffnete sein Maul, dehnte seine Luftröhre und atmete ein. Es hustete und glaubte zu ersticken. Sofort schnell te es an die Oberfläche, hustend und nach Luft schnappend. Ein Schmerz durchzuckte seine Lunge und verkrampfte die Muskeln in seinem Unterleib. Entkräftet und aus dem Gleichgewicht gebracht, rutschte es aus und begann zu sinken. Wasser si ckerte in seine Kiemenspalten, und wieder hustete und würgte es. Es streckte die Hand nach einer Felsnase im Gestein aus und bekam sie zu fassen. Dort klammerte es sich fest und keuchte schwer, bis seine Lunge schließlich frei war. Noch zweimal versuchte es unterzutauchen, wobei es jeden Schritt der uralten Programmierung genau befolgte. Noch zweimal mißlang es ihm. Es wußte nicht, was geschehen war. Sein Gehirn konnte sich solche Fragen nicht stellen und daher auch keine Antworten geben. Es wußte nur, daß es nicht mehr unter Wasser existieren konnte. Um zu überleben, war es nun darauf angewiesen, Luft zu atmen. Doch es spürte auch, daß es unter den Lungenat mern nicht überleben konnte. Wenn es auch nicht
unter Wasser leben konnte, so mußte es doch im Wasser leben. Es holte tief Luft, hielt seine Kiemen spalten geschlossen und tauchte unter. Diesmal hustete es nicht. Es konnte sehen, denn die Linsen um seine Augen waren intakt, und es konnte sich bewegen. Vorsichtig schwamm es vorwärts. Doch als es versuchte, tiefer zu tauchen, bemerkte es einen Unterschied. Tauchen war nicht mehr ein fach, flüssig, natürlich. Tauchen war schwierig ge worden, und ein innerer Druck zog es nach oben, an die Luft. Und es gab noch einen Unterschied. Seine Lunge schmerzte sehr schnell, in seinen Oh ren dröhnte es, und das Gehirn befahl ihm, Luft zum Atmen zu finden. Es schoß nach oben, brach durch die Wasserober fläche und schnappte nach Luft. Während es einund ausatmete, veränderte sich sein Auftrieb, und es mußte langsam treten, um an derselben Stelle zu bleiben. Sein einfaches Gehirn fühlte sich her ausgefordert. Die Veränderungen erforderten, daß es sich ihnen anpaßte, wenn es überleben wollte. Nach ein paar Augenblicken fühlte es sich wohl ge nug, um langsam von der Küste wegzuschwimmen. Über das Wasser hinweg sah es Land. Es blieb un ter Wasser, so lange es konnte, und tauchte nur auf, um zu atmen. So schwamm es auf das Land zu. Dort, das spürte es, konnte es leicht Schutz fin den. Dort konnte es jagen.
SECHSTER TEIL Shark
38 »Hi Ray«, sagte Rusty Puckett. Er zog einen Bar hocker heran und knallte einen Zwanzigdollarschein auf den Tresen. »Seven-and-Seven?« fragte der Barkeeper. »Einen doppelten, ich hab’ einen Wahnsinnsdurst.« Puckett sah sich um. Die Bar war nicht einmal zur Hälfte voll. Es war halb acht: Die frühen Gäste wa ren ins Restaurant gegangen und die späten noch nicht gekommen. Ray mixte den Drink, stellte Pu ckett das Glas hin und nahm den Zwanziger. Wäh rend er das Wechselgeld abzählte, sagte er lä chelnd: »Ich hab’ gehört, du warst auf Kosten der Stadt im Urlaub.« »Diese Schweine«, sagte Puckett. Er leerte das Glas zur Hälfte und wartete darauf, daß sich das warme Gefühl in seinem Magen einstellte. »Sie ha ben sich nicht mal entschuldigt. Ich bin drauf und dran, Rollie Gibson zu verklagen.« »Weswegen? Dafür, daß er dich ausgenüchtert hat? Ich finde, du siehst ganz gut aus. Es hat noch nie jemandem geschadet, ein oder zwei Tage kei nen zu heben.« Puckett trank aus und gab dem Barkeeper das Zei chen für einen zweiten Drink. Er fühlte sich wirklich
gut, und das nicht nur körperlich: Er fühlte sich re habilitiert. Gibson und die anderen hatten ihm kein Wort geglaubt, hatten gedacht, daß er log oder Wahnvorstellungen hatte. Heute nachmittag hatten sie sich dann plötzlich sehr für ihn interessiert und seine ganze Geschichte von Anfang an hören wol len. Aber er hatte es ihnen gezeigt. Er hatte Gibson und diesen Simon Chase auflaufen lassen und be hauptet, er könnte sich nicht erinnern. Warum sollte er etwas umsonst hergeben, wenn damit Geld zu machen war? Wie hießen diese Fernsehshows noch gleich? Ach ja, Dokudramen. Sie zahlten dicke Summen für Exklusivinterviews. Er war sich ziemlich sicher, daß er der einzige war, der das Ding gesehen hatte, was auch immer es war. Er brauchte nur zu warten. Es würde sich he rumsprechen, und man würde auf ihn zukommen. Er konnte sich gedulden, er hatte alle Zeit dieser Welt. »Nate Green war vorhin hier«, sagte Ray. »Hat nach dir gefragt.« »Das kann ich mir vorstellen.« Puckett grinste. »Was hast du ihm gesagt?« »Daß ich dich nicht gesehen hab’.« »Dabei bleibt’s auch, okay?« Zum Teufel mit Nate Green, dachte Puckett. Er konnte weitaus größere Fische an die Angel bekommen als den Chronicle in Waterboro. »Klar, Rusty«, sagte Ray. »Mir soll’s egal sein.« Puckett leerte seinen zweiten Drink. Jetzt fühlte er sich wirklich gut. Sogar Ray behandelte ihn mit Re spekt. Ein Mann kam von der Straße herein, setzte sich
ans andere Ende der Bar und bestellte ein Glas Wein. Als Ray ihm einschenkte, sagte der Mann: »Kennen Sie einen Mann namens Puckett, einen Mr. Rusty Puckett?« Pucketts Miene erstarrte, und er tat, als läse er die Speisekarte auf der Tafel über der Bar. »Hm«, sagte Ray, ohne in Pucketts Richtung zu sehen. Er stellte die Weinflasche zurück in den Kühlschrank und begann, weiter Limonen zu schneiden. »Haben Sie ihn gesehen?« Puckett hörte einen Akzent in der Stimme des Man nes. Keinen amerikanischen, einen ausländischen. Vielleicht kam er irgendwo aus Europa. »Könnte sein«, sagte Ray. »Haben Sie geschäftlich mit ihm zu tun?« »Möglicherweise.« Puckett biß auf einem Eiswürfel herum und durch forstete sein Gehirn. Hatte er sich irgendwo Ärger eingehandelt? Er schuldete niemandem Geld. Er hatte in letzter Zeit keine fremden Hummerkörbe geplündert. Er hatte keine Bojen abgeschnitten, keine anderen Boote beschädigt und niemanden mit seinem Laster angefahren… soweit er wußte. Dann forschte er nach möglichen guten Nachrich ten. Vielleicht war der Typ von einer großen Zeit schrift oder von einer der Dokudrama-Shows und wollte mit ihm ins Geschäft kommen. Als er alle Möglichkeiten durchgespielt hatte, fühlte er sich si cher genug, sich zu dem Mann umzudrehen und zu sagen: »Ich bin Puckett. Wer will das wissen?« »Aha«, sagte der Mann. Er lächelte, erhob sich von seinem Barhocker, nahm sein Glas Wein und sagte,
als er an dem Barkeeper vorbeikam: »Sehr diskret von Ihnen.« Puckett beobachtete, wie der Mann auf ihn zukam. Er war groß, über einen Meter achtzig, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Ein Bursche, der auf sich hielt, der wahrscheinlich trainierte. Ende Vierzig, schätzte Puckett. Sein Haar, das früher einmal blond gewesen war, war leicht ergraut und von der Stirn glatt nach hinten gekämmt. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkle Krawatte. Er war blaß, nicht kränklich, nur blaß, als wäre er nie an der Sonne gewesen. Pu ckett fand, er sah aus wie ein Leichenbestatter. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?« fragte der Mann. Puckett deutete auf den Hocker neben sich und dachte: europäisch, ohne Zweifel. Dieser Akzent. Deutsch vielleicht, oder holländisch. Oder ein ande rer Zungenschlag aus einem dieser unbedeutenden Länder dort drüben, die dauernd auseinanderfielen. »Draußen wartet ein Herr, der Sie gerne kennenler nen möchte«, sagte der Mann. »Warum?« »Er hat von Ihnen gehört… von dem, was Sie er zählt haben.« Puckett schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Okay, dann bringen Sie ihn rein.« »Das ist leider nicht möglich.« »Warum nicht?« Puckett lachte. »Zu fett, um durch die Tür zu passen?« »So ähnlich.« Dieser Akzent. Deutsch. Mußte deutsch sein. »Hey Ray«, sagte Puckett, »hier gibt’s doch kein Lokal verbot für Fette, oder?«
Ray lachte nicht.
»Würden Sie bitte mit nach draußen kommen?«
sagte der Mann. »Ich glaube, es würde sich für Sie
lohnen.«
»Inwiefern?«
»Finanziell.«
»Zum Teufel, warum haben Sie das nicht gleich
gesagt?« Puckett stand auf. »Halt mir den Platz frei,
Ray. Wenn ich in zehn Minuten nicht wieder da bin,
ruf die Neun-Neun-Eins.«
Auf der anderen Straßenseite parkte ein Wagen. Er
war schwarz und hatte getönte Fensterscheiben, so
daß man nicht hineinsehen konnte. Puckett fiel auf,
daß auf dem New Yorker Kennzeichen Behinder tenaufkleber waren.
»Was soll der Scheiß?« fragte er. »Ein Krankenwa gen?«
Der Mann öffnete eine der seitlichen Schiebetüren
und bedeutete Puckett mit einer Handbewegung,
einzusteigen. Puckett beugte sich vor und warf ei nen Blick in den Wagen. Er war dunkel und, soweit
er sehen konnte, leer. Aus irgendeinem Grund lief
ihm ein Schauder über den Rücken. »Ausgeschlos sen«, sagte er.
»Mr. Puckett – «
»Sehen Sie mal, ich weiß nicht, wer da drin ist. Ich
kenne Sie nicht. Ich weiß von nichts. Ich weiß nur,
daß ich nicht da reinklettere. Sagen Sie ihm, er soll
rauskommen.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt – «
»Vergessen Sie’s. Wenn Sie mit mir ins Geschäft
kommen wollen, dann in der Sonne. Schluß. Aus.
Ende.«
Der Mann seufzte. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Ja nun…« Puckett sah nicht, wie sich die Hand des Mannes bewegte. Auf einmal fühlte er sich herumgewirbelt. Seine Füße hingen in der Luft, und er spürte, wie er in die Dunkelheit des Wagens geschleudert wurde. Er schlug auf den Teppichboden auf und blieb benommen liegen. Er hörte, wie die Schiebetür zu gerammt und der Motor angelassen wurde. Dann fühlte er, wie sich der Wagen in Bewegung setzte.
39 Chase zog die letzte Seite aus dem Faxgerät und überflog sie. »Wieder eine Klassifizierung mit >oid< am Ende«, sagte er angewidert. »Was für eine diesmal?« fragte Tall Man. »Elasmobranchoid: weist alle typischen Merkmale der Knorpelfische auf.« Er warf das Papier auf den Schreibtisch. »Einige von den Jungs haben offenbar nur studiert, um Blubberblasen auszustoßen. Sie verstehen es, Sätze aneinanderzureihen, die groß artig klingen und nichts aussagen.« In den letzten achtundvierzig Stunden hatte Chase alle Meeresforscher angefaxt, die er kannte. Er hat te ihnen die Polaroidaufnahmen der Stahlzähne und der Krallenspuren an den getöteten Tieren fotoko piert. Er hatte jeden Vorfall genau geschildert, der sich seit dem gewaltsamen Ende der BellamyBrüder ereignet hatte. Er hatte die Wissenschaftler um ihre Meinung gebeten, mit was für einem Ge schöpf sie es zu tun haben könnten. Ihm war alles recht: Annahmen, Spekulationen, irgend etwas. Er hatte versprochen, alles vertraulich zu behandeln. Die wenigen Wissenschaftler, die sich zu einer Ant wort herabgelassen hatten, hatten sich vage und zurückhaltend geäußert. Keiner hatte es gewagt, ein bestimmtes Tier zu identifizieren. Alle hatten ihre Vermutungen mit dem Suffix »oid« abgesichert. Chase erfuhr nichts, was er nicht schon wußte. »So«, sagte er, »damit hätten wir jetzt: Carcharhi noid -könnte eine Haiart sein, Ichthyoid – könnte eine Fischart sein, Pantheroid – könnte ein Löwe
oder Tiger sein, der zum Teil im Wasser lebt, und Elasmobranchoid.« Er starrte einen Augenblick auf den Stapel mit Faxmeldungen, dann blätterte er sie mit dem Daumen durch und nahm eine heraus. »Weißt du, welche mir als einzige plausibel er scheint? Die von den Kryptozoologen.« »Die Leute mit den Seeungeheuern? Aber die sind doch – « »Am Rande der Wissenschaft, ich weiß. Pseudo wissenschaftlich, keiner nimmt sie ernst. Aber sie sind die einzigen, die es wagen, den Begriff mit >oid< zu benutzen, der mir gefällt: Humanoid.« »Also Simon.« Tall Man schüttelte den Kopf. »Du kennst die Fakten doch besser als ich. Das Ding, das den Seelöwen getötet hat, war mindestens sechzig Meter tief unter Wasser. Auf dem Video waren keine Blasen zu sehen, also hatte es keine Tauchausrüstung. Und niemand taucht frei sechzig Meter tief, jedenfalls nicht lange genug, um einen Seelöwen zu töten und aufzufressen.« »Ich hab’ nicht gesagt, daß es ein Mensch ist, ich hab’ gesagt, es könnte ein Humanoid sein… eine Art Mensch… menschenähnlich. Zum Teufel, ich weiß es doch auch nicht.« »Du hörst dich allmählich an wie Puckett. Hat ihn eigentlich schon jemand gefunden?« »Nein, er ist weg, verschwunden, niemand hat – « Das Telefon klingelte. Chase nahm ab. Er seufzte, legte die Hand über die Sprechmuschel und sagte: »Gibson«. Dann schloß er die Augen, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hörte sich Gibsons Litanei an. Das Budget des Polizeichefs war außer Kontrol le geraten, und die Polizeiboote waren vierund
zwanzig Stunden am Tag im Einsatz, und seine Leute arbeiteten zwei Schichten hintereinander, und die Presse verfolgte ihn. Nate Green hatte in der Chronicle von Waterboro einen Bericht mit der Überschrift MONSTER FRISST HUND abgedruckt. Darin hatte er auch auf die ungeklärten Todesumstände der BellamyBrüder und von Bobby Tobin angespielt und Repor ter von jedem Nachrichtendienst des Landes ange lockt. Ein Produzent wollte ein Fernsehspiel mit dem Titel DER DÄMON AUS DER TIEFE drehen, und Immobilienmakler, Gastwirte und Stadträte lie ßen die Telefondrähte im Polizeirevier heißglühen. Wie immer endete Gibsons Litanei mit einer vor wurfsvollen Frage. Chase galt hier in der Gegend als der große Wissenschaftler. Was wollte er denn nun tun? »Was erwartest du von mir, Rollie«, sagte Chase, als Gibson fertig war. »Soll ich in meinem winzigen Boot auf dem riesigen Ozean herumdüsen? Ich weiß ja nicht einmal, wonach ich suchen soll. Haben die Jungs vom Labor schon den Schleim auf dem Garagenboden analysiert?« »Ja und nein«, sagte Gibson. »Ich denke, sie haben die Köpfe zusammengesteckt. Ich hab’ ihnen ge sagt, ich laß’ sie heute nicht nach Hause gehen, bevor sie nicht die endgültigen DNA-Analysen ha ben.« »Warum? Was glauben sie?« »Sie sagen, es kommt von einer Säugetierart.« »Was für einer Art?« »Sie glauben…« Gibson zögerte, als fiele es ihm schwer, die Worte auszusprechen. »Sie sagen, es
sieht aus, als könnte es von einem Menschen sein. Um Gottes Willen, Simon…« Chase legte auf, erhob sich und sagte zu Tall Man: »Wo ist unsere Säugetierexpertin, die zur Zeit bei uns wohnt?« »Wo sie immer ist, unten bei den Kindern und den Seelöwen.« Als Chase und Tall Man den Hügel hinabstiegen, sahen sie Max und Elizabeth, die im Becken mit den drei Seelöwen spielten. Amanda sah ihnen vom Betonvorsprung aus zu. Die Seelöwen waren immer ängstlicher geworden. Amanda sagte, sie machten einen stark neuroti schen Eindruck. Sie mieden das Wasser, jedes Wasser – nicht nur Meerwasser. Zwei Tage lang hatten sie sich hartnäckig Amandas Befehlen wi dersetzt. Sie wollten partout nicht in das Becken gehen. In ihrer Verzweiflung hatte Amanda einen Kollegen in Florida angerufen, der mit Delphinen arbeitete. Von ihm hatte sie erfahren, daß intelligente Säuge tiere außerordentlich gut auf Kinder zu reagieren schienen. Mit Kindern, die unter irgendeiner Krank heit oder Behinderung litten, schienen sie überdies auf unerklärliche, offenbar übersinnliche Weise zu kommunizieren. Amanda hatte Elizabeth gebeten, ihr bei einem Ex periment zu helfen. Die Ergebnisse waren erstaun lich gewesen. Die Tiere wollten zwar Amanda nicht mehr direkt gehorchen. Aber sie ließen zu, daß Eli zabeth sich ihnen näherte und sie streichelte. Ir gendwie brachte sie die Seelöwen dazu, ihr ins Wasser zu folgen und mit ihr und Max zu spielen.
Amanda war vom Erfolg dieses Experiments so be geistert gewesen, daß sie immer mehr Instruktionen durch Elizabeth übermitteln ließ. Sie forderte das Mädchen auf, auch selbst Anweisungen zu geben. Es war ein Versuch, die kommunikativen Grenzen zwischen den Arten zu überschreiten. Als sie Chase und Tall Man hinter sich hörte, zeigte Amanda auf die Kinder und die Seelöwen und sagte: »Das ist einfach phantastisch.« »Ich muß Sie einen Augenblick sprechen«, sagte Chase. »Es geht um Gibsons Labortests.« »Ich wollte auch schon zu Ihnen kommen. Aber dann dachte ich, wir könnten eh nichts daran än dern.« »Woran?« »Der Pilot des Aufklärers hat mich vorhin im Schup pen angefunkt.« »Ich war der Meinung, Sie hätten ihn bezahlt und entlassen«, sagte Chase, »nachdem die Seelöwen nicht mehr arbeiten wollten.« »Ich nehme an, er interessiert sich für das, was wir hier tun. Jedenfalls war er unterwegs, um für die Berufsfischer Schwertfische ausfindig zu machen. Auf dieser Seite von Block Island hat er dann einen Sportfischer gesehen, der einen riesigen Köder schlick ausgelegt hat. Er hat gesagt, er dachte, wir würden das gerne wissen. Er hat gesagt, es sieht so aus, als ob der Kerl weiße Haie anködert.« »Der Typ ist wohl nicht ganz zurechnungsfähig. Wo der ganze Ärger hier doch schon überall bekannt ist. Warum sollte da jemand aufs Wasser hinausfah ren und einen Köderschlick auslegen?« Chase run zelte die Stirn. »Jedenfalls kann ich nichts dagegen
tun. Es gibt kein Gesetz gegen Köderschlick.«
»Nein«, sagte Amanda, »aber es gibt ein Bundes gesetz, das verbietet, junge Tümmler als Köder zu
verwenden. Und genau das hat der Pilot gesehen,
sagt er.«
»Delphine!« sagte Chase mit Nachdruck. »Ist er
sich sicher?«
»Absolut. Aber ich dachte, bevor wir die Küstenwa che oder die Umweltschutzbehörde oder sonstwen
anrufen – «
»Hat er das Boot erkannt?«
»Ja, er hat gesagt, es ist aus Waterboro… die Bri gadier.«
»Kann nicht sein… er muß sich irren.«
»Warum?«
»Kann einfach nicht sein.« Chase ging auf den
Schuppen zu.
»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?« rief A manda ihm nach.
»Augenblick«, erwiderte Chase.
Tall Man folgte Chase in den Schuppen. »Sammy?«
sagte er. »Das kann ich nicht glauben.« Sie kannten
Sammy Medina seit fünfzehn Jahren. Er war ein
erfolgreicher, verantwortungsbewußter Charterfi scher, der erst kürzlich eine Kampagne angeführt
hatte, die den Fischfang der Berufs-und Sportfi scher beschränken wollte.
»Das heißt, wenn es die Brigadier ist«, sagte Cha se. »Ist von einem Flugzeug aus schwer festzustel len. Aber wir werden es früh genug herausfinden.
Cindy wird mir nichts vormachen.« An der Wand im
Schuppen hing ein Telefon. Chase nahm den Hörer
ab, wählte eine Nummer, sprach einen Augenblick
lang, hängte wieder auf und sagte zu Tall Man: »Ich bin ein Idiot.« »War das Sammy?« »Er selbst.« Chase nickte. »Zu Hause… hat heute frei und schlägt die Zeit tot. Er sagt, er hat ein An gebot bekommen, nur das Boot zu vermieten. Ohne ihn oder seine Mannschaft, nur das Boot, ohne ir gendwelche Fragen… für zehntausend Dollar pro Tag!« Tall Man pfiff durch die Zähne. »Was für ein Fisch fang ist zehn Riesen am Tag wert?« »Das würde ich auch gern wissen.« Chase schwieg einen Augenblick. »Rat mal, wer sich das Boot von ihm geliehen hat.« »Donald Trump?« »Nein. Rusty Puckett.« »Puckett? Puckett hat nicht soviel Kohle und auch sonst niemand hier. Außerdem, was sollte Puckett mit – « »Er fischt nicht nach Großen Weißen, Tall«, sagte Chase. »Sammy sagt, dieser blöde Kerl denkt, er hat ein Monster gefunden… Oder zumindest hat er irgendeinen stinkreichen Idioten überzeugt, daß er eines gefunden hat. Oder finden kann.«
40 Es lag im Gebüsch und lauschte den Lauten seines Atems und denen der Lebewesen in den umliegen den Wäldern. Es empfing Geräusche, trennte und speicherte sie, um sie später identifizieren zu kön nen. Es stellte seine Sinne ein. Seit es das Wasser verlassen hatte, stellten sich Veränderungen ein. Veränderungen, die das Geschöpf zwar wahrneh men, aber nicht verstehen konnte. Seine Blutgefä ße, sein Herz und sein Gehirn wurden jetzt mit die ser Mischung aus Sauerstoff und Stickstoff, die man Luft nannte, angereichert und ernährt anstatt mit Wasser, das zum Großteil aus Wasserstoff bestand. Je länger dieser Zustand anhielt, desto mehr schien es zu begreifen und sich zu erinnern, und desto größer wurde auch sein Denkvermögen. In dem Maß, in dem sich seine chemische Zusam mensetzung änderte, änderte sich auch sein Leben. Es wußte beispielsweise, was es früher einmal ge wesen war. Im Geiste konnte es verschiedene Ob jekte und Tiere benennen, auch wenn seine Stimme dies noch nicht artikulieren konnte. Alle möglichen Wörter schwirrten in seinem Gehirn umher. Wörter, die Erinnerungen an so unterschiedliche Gefühle wie Wut, Haß, Stolz und Jubel hervorriefen. Es verspürte die Größe seiner eigenen Stärke. Es erinnerte sich, wenn auch nur schwach, welches Vergnügen es ihm bereitet hatte, diese Kraft einzu setzen. Es erinnerte sich auch an andere Kurzweil. Immer hatte sie darin bestanden, Macht auszuüben, Schmerz zuzufügen oder den Tod herbeizuführen.
Es hatte sich eine Art Unterschlupf gebaut, indem es einen flachen Graben ausgehoben und ihn mit Blättern und Zweigen zugedeckt hatte. Bis jetzt war es unentdeckt geblieben. Nur ein neugieriger Hund hatte das Geschöpf aufgestöbert. Es hatte ihn getö tet und gefressen. Es hatte gelernt, daß es die meisten Tiere, mit de nen es die Wildnis teilte, nicht jagen und fangen konnte. Doch allmählich lernte es, wie es sie in eine Falle locken konnte. Trotzdem war es noch immer nicht in der Lage, sich ausreichend mit Nahrung zu versorgen, um seinen riesigen, wachsenden Ener giebedarf zu stillen. Je stärker es wurde, desto grö ßer wurden auch seine Bedürfnisse. Je mehr Ener gie es aufwandte, desto mehr benötigte es. Je mehr es benötigte, desto mehr mußte es aufwenden, um dem Bedürfnis nachzukommen. Es war nun bewußt vorsichtig und nicht mehr nur reflexbedingt. Es wußte, was es vermeiden mußte und wo es sich stellen konnte, was harmlos und was gefährlich war. Auch wenn Vergangenheit und Zukunft von Nebel verschleierte Landschaften blie ben, hatte sich der Nebel allmählich stellenweise doch gelichtet. Jetzt hatte es nur noch ein Ziel: sei ne Mission der völligen Vernichtung zu erfüllen. Jetzt ruhte es sich aus. Es hörte die Schreie der Vögel und Eichhörnchen, die Tritte der Füchse und Rehe, das Rascheln des Windes in den Bäumen, das Plätschern der kleinen Wellen auf dem nahege legenen Kiesstrand. Plötzlich hörte es neue Geräu sche. Plumpe Schritte ertönten schwer und achtlos im Unterholz. Und Stimmen. Es rollte sich auf die Knie, dann auf die Fußballen und sah durch das
Gebüsch in die Richtung, aus der die Geräusche
kamen.
»Verdammt noch mal!« rief ein junger Mann na mens Chester und rieb sich das Bein. »Ich hätte mir
in dem Loch fast den Fuß gebrochen.«
»Dann paß auf, wo du hintrittst«, sagte sein Freund
Toby.
»Ich versteh’ immer noch nicht, wieso wir den gan zen Weg hierher kommen mußten.«
»Ich hab’s dir doch gesagt: weil hier die Viecher
sind.«
»Außerdem ist es ein Privatgrundstück.«
»Ich war schon tausendmal hier. Das ist denen
scheißegal.«
»Ach ja? Was sollen dann die ganzen Schilder hier,
auf denen steht > Jagen verboten, verpißt euch«
»Versicherung«, sagte Toby, der schon siebzehn
war und daher zwei Monate mehr Weisheit besaß
als Chester. »Die müssen hier stehen.«
»Also, wenn sie uns die Bullen auf den Hals jagen,
dann warst du es, der das Scheißding geklaut hat…
glaub bloß nicht, daß ich denen das nicht sage.«
»Du hast mitgemacht.«
»Ich hab’ zugesehen.«
»Ist dasselbe.«
»Jedenfalls«, sagte Chester, »weiß ich nicht, wieso
du glaubst, du könntest einen Waschbär mit einer
Armbrust erwischen.«
»Auf dem Karton stand: auf fünfzig Meter genau.
Außerdem, vielleicht kriegen wir statt dessen ja
auch ein Reh.«
»O nein, das tust du nicht. Wenn du ein Reh
schießt, dann ist das in der Schonzeit, und ich bin
sofort weg hier.«
»Sei kein Arschloch.«
Sie gingen ein paar Meter weiter, bis sie zu einem
großen Baum kamen, der mitten in einem dichten
Blätterwirrwarr stand.
»Toll«, sagte Toby und ging durch die Blätter auf
die andere Seite des Baums.
»Das ist giftiger Efeu«, sagte Chester.
»Du hast doch ‘ne lange Hose an.«
»Was ist daran so toll?«
»Kastanie. Darauf werden sie sich stürzen, sie lie ben Kastanien.«
»Wer?«
»Alle möglichen Viecher.«
»Du weißt aber ‘ne ganze Menge.«
»Hält’s Maul.«
Sie knieten sich hinter den Baum. Aus einem Kö cher an der Taille nahm Toby einen fünfundvierzig
Zentimeter langen Graphitbolzen mit einer Stahl-
spitze. Er setzte die Armbrust mit dem Kolben auf
den Boden, zog die Sehne zurück, spannte sie und
legte den Bolzen in die Rille.
»Wie kommt es, daß das Ding ohne Federn richtig
fliegt?« fragte Chester.
»In der Rille kriegt es einen Drall wie in einem Ge wehr.«
»Die Spitze hat ja nicht mal einen Widerhaken.«
»Eine Kugel auch nicht, du Idiot. So ‘n Ding hat ge nug Kraft hinter sich, das würde wahrscheinlich
auch ein Nashorn töten.«
»Oder einen Jogger. Das würde vielleicht Spaß ma chen, dann zu erklären – «
»Halt dein Maul, sag’ ich!«
Chester schwieg einen Augenblick, dann flüsterte er: »Also, was machen wir jetzt?« »Was machen Jäger wohl? Wir warten.« Da waren zwei von ihnen, einer fetter als der ande re. Beide waren langsam und verletzbar… aber of fensichtlich bewaffnet, auch wenn es nicht wußte, womit. Es beobachtete sie, um zu sehen, was sie tun würden. Sie taten nichts. Sie hockten nur im Gebüsch. Es bewegte sich langsam nach links, bis der Weg zu ihnen direkt vor ihm lag. Es würde sie mit Leichtigkeit nehmen, erst den einen, dann den anderen, und sie zurück in seinen Bau bringen. Den fetten zuerst. »Was war das?« fragte Chester. »Was war was?« »Ein Geräusch, hinter uns.« Toby drehte sich um und blickte umher, doch er sah nur Gebüsch. »Vergiß es«, sagte er. »Wir sind hier die Jäger. Glaubst du vielleicht, irgend etwas hat es auf uns abgesehen?« »Ich hasse den Wald«, sagte Chester. »Ich… To by!« Der Fette hatte es gesehen, blickte es an, deutete auf es, machte Lärm. Es sprang aus dem Unterholz, machte zwei schnelle Schritte und packte den Fet ten. Es grub eine Klaue tief in seine Brust und die andere in Kopfhaut und Augen, bog ihm den Kopf nach hinten und riß mit den Zähnen an seiner Keh le. Der Fette war schnell tot. Es wandte sich dem anderen zu. »O Gott… nein… o Gott… nein…« Toby taumelte nach hinten. Etwas hatte Chester gepackt, etwas Riesiges, Weißlichgraues, und Blut
strömte überall, weil… o Gott, o nein… das Ding ihn fraß! Toby stieß mit dem Rücken gegen den Baum stamm. Jetzt wandte sich das Ding ihm zu. Es hatte gelbliches Haar und Stahlzähne und kalkweiße Au gen, und es war größer als Arnold Schwarzenegger. Toby riß die Armbrust hoch. Er versuchte, etwas zu sagen, doch es kamen keine Worte aus seinem Mund. Er drückte ab. Die Armbrust ruckte, als der Graphitbolzen aus der Rille schoß. Er verfolgte, wie der Bolzen das Ding traf und eindrang. Er sah einen kleinen Spritzer, der nach Blut aussah. Doch das Ding kam weiter auf ihn zu. Stöhnend vor Angst ließ Toby die Armbrust fallen, schwang sich um den Baumstamm und rannte los. Es empfand ein brennendes Gefühl in der Seite, unterhalb der Rippen, sah nach unten und stellte fest, daß etwas aus seinem Fleisch herausragte. Es packte das Ding mit einer Hand, zog es heraus und warf es weg. Es war nicht schwer verletzt. Keine seiner lebenswichtigen Funktionen war beeinträch tigt, doch der Schmerz bremste es und lenkte es ab. Es blieb stehen und beobachtete, wie der Mensch durch die Büsche davonstapfte. Es kehrte zu dem Fetten zurück, um ihn zu seinem Bau zu schleppen. Dann verspürte es zum ersten Mal so etwas wie Weitblick. Der andere Mensch könnte wiederkom men, könnte zurückkommen, um es zu jagen. Mit anderen. Es war in Gefahr. Es mußte einen Plan machen. Es setzte sich hin, lehnte sich gegen den großen Baum und zwang sein Gehirn, zu arbeiten, zu pla nen, zu sondieren, zu denken. Es war klar, was am wichtigsten war. Es mußte den Blutfluß stillen, um
zu überleben. Es sammelte Blätter vom Waldboden und Moos vom Baumstamm, zerdrückte alles und stopfte es in die Wunde. Um sich zu ernähren, riß es mit seinen Krallen Fleischstücke aus dem Fetten heraus und fraß sie auf. Es fraß soviel, wie es zu benötigen glaubte. Dann zwang es sich, noch mehr zu fressen. Schließlich hatte es das Gefühl: Noch ein Bissen, und es würde alles wieder von sich geben. Es wußte, jetzt mußte es fliehen und einen anderen Ort finden, der mehr Sicherheit bot. Es stand auf und ging zu der Stelle, wo die Bäume an der Uferli nie endeten. Es stand in ihrem Schutz, vergewisser te sich, daß es allein war, und ging dann ins Was ser. Es konnte nicht untertauchen, aber es konnte schwimmen. Es konnte sich im Wasser nicht mehr ernähren, doch es konnte dort überleben, bis es ein anderes Stück Land erreichte. So wie es sich seiner Vergangenheit bewußt geworden war, begann es nun, seine Zukunft auszuloten.
41
Das Meer war ruhig. Nicht das kleinste Lüftchen kräuselte sich. Der Makofänger hob rasch an und schnitt mit vierzig Meilen pro Stunde über die spie gelglatte Wasseroberfläche. »Ich frage mich, wer mit den zehn Riesen gekom men ist«, rief Tall Man über das Dröhnen des Au ßenbordmotors hinweg. »Wahrscheinlich irgendein Fernsehproduzent«, gab Chase vom Ruder zurück. »Die sollten lieber froh sein, wenn sie das Vieh nicht hochholen.« Ein vereinzeltes Boot lag in der tiefen Fahrrinne südwestlich von Block Island vor Anker. Obwohl es noch eine Viertelmeile entfernt war, erkannte Chase es sofort. »Das ist Sammys Boot«, sagte er. »Weiß mit blauem Streifen… Thunfischausführung… Aus leger.« Die Sonne verschwand hinter ihnen am westlichen Himmel. Tall Man hielt eine Hand über die Augen und blinzelte. »Sie haben zwei Marlinruten hinten am Heck«, sagte er. »Drahtrollen. Nur zwei Jungs im Cockpit.« »Ist Puckett dabei?« »Ja.« Tall Man schwieg einen Augenblick und hielt weiter Ausschau. »Der andere ist ein großer Kerl, so groß wie ich. Sieht aus, als ob er eine AK-47 an legt.« »An sich drückt«, sagte Chase, »aber nicht zielt.« »Noch nicht.« Chase hielt zu dem größeren Boot einen Abstand
von hundert Metern, als er an ihm vorbeifuhr. Er sah keine weitere Besatzung, keine Kameras, keine Tonanlagen. »Die drehen keinen Film«, sagte er. »Die jagen.« Er schwenkte den Makofänger herum, legte den Leerlauf ein und ließ ihn seitlich an das Fischerboot gleiten. Puckett lehnte sich über die Seite und rief: »Hauen Sie ab, Chase! Jedesmal, wenn ich eine Chance kriege, wollen Sie sie mir vermasseln. Ein Mann hat das Recht, sich seinen Lebensunterhalt zu verdie nen.« »Nicht, wenn er dafür Delphine abschlachtet. Dann nicht«, sagte Chase. »Es sieht so aus, als würden Sie ein paar Jahre in einem kleinen Raum ganz al lein verbringen.« »Sie haben ja keine Ahnung.« Puckett langte in die Tasche, zog ein Papier hervor und winkte damit. »Diese Delphine sind an einem Virus gestorben, diese und ein Dutzend andere. Wir haben sie einem Labor in Mystic abgekauft.« Chase zögerte. Was Puckett sagte, war möglich, es klang sogar plausibel. In den letzten Jahren waren Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Delphinen der verschiedensten Arten an den Stränden der Ostküste angeschwemmt worden. Sie waren an Viren gestorben, deren Herkunft noch immer rätsel haft war. Die Umweltverschmutzung schien als Ka talysator gewirkt zu haben. Doch was für eine Ver schmutzung den Tod ausgelöst hatte, schien nie mand zu wissen. Es könnten Abwasser, landwirt schaftliche Einleitungen, Öl oder Chemieabfälle ge wesen sein. »Und was machen Sie hier, Sie und Rambo?« Cha
se zeigte auf den hünenhaften Mann, der das Sturmgewehr vor der Brust hielt. Bevor Puckett antworten konnte, spürte Chase, wie Tall Man ihn anstupste und nach oben blickte. Er sah eine Vi deokamera, die an den Rand der Schiffsbrücke montiert war. Sie bewegte sich und verfolgte sie, während sie in ihrem Makofänger vorbeiglitten. »Wir fischen nach Großen Weißen, was sonst?« sagte Puckett. »Ein guter Kiefer eines Großen Wei ßen bringt leicht fünf Riesen ein.« »Erzählen Sie mir keinen Scheiß, Rusty, ich weiß, was – « Der Mann mit dem Gewehr sagte: »Wir haben ge gen kein Gesetz verstoßen. Das ist das einzige, was Sie etwas angeht.« »Nein, mich geht das auch etwas an. Ich weiß, was Sie zu suchen glauben, aber Sie haben nicht die geringste Ahnung, was – « Plötzlich kam aus einem Lautsprecher, der irgend wo über dem Cockpit montiert war, eine geisterhafte Stimme. Sie klang rauh und unnatürlich, fast me chanisch, und sprach mit einem starken Akzent. Sie rief: »Rudi! Komm rein!« Der Mann gab Puckett das Gewehr, wandte sich um und ging in die Kajüte. Chases Makofänger war an dem verankerten Boot vorbeigetrieben. Chase legte den Rückwärtsgang ein und stieß zurück, bis die beiden Boote wieder nebeneinander lagen. Puckett hielt das Gewehr an die Hüfte und zielte auf sie. »Legen Sie das Gewehr weg, Rusty«, sagte Tall Man. »Sie stecken jetzt schon bis zum Hals in der
Scheiße.«
»Hält’s Maul«, sagte Puckett.
Der Mann kam wieder aus der Kajüte. »Werfen Sie
mir eine Leine zu«, sagte er. »Kommen Sie an
Bord.«
»Wer?« sagte Chase.
Der Lautsprecher dröhnte: »Sie!«
Chase sah zu der Videokamera und zeigte auf sich.
»Ja, Sie. Sie sagen, Sie wissen, was wir hier tun?«
»Ich fürchte, ja«, sagte Chase.
»Kommen Sie… bitte… Sie und Ihr Freund. Ich
glaube, wir brauchen uns gegenseitig, Sie und ich.«
42 In der Kajüte war es dunkel. Das Glas in den Türen war getönt, und die Vorhänge waren zugezogen. Außerdem war es kühl, und die Luft war klimatisiert und trocken. Als sich ihre Pupillen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sahen Chase und Tall Man, daß alle Möbel aus der Kajüte entfernt und durch eine Art tragbare Intensivstation ersetzt worden waren. In der Mitte des Raums stand ein motorisierter Roll stuhl, in dem ein Mann saß. Ein Gummischlauch führte von einem Digitalmonitor über eine Hängefla sche in die Adern in einer Armbeuge des Mannes. Mit der anderen Hand hielt er das Ende eines Schlauchs, der an einem Sauerstofftank befestigt war. Hinter ihm waren weitere Geräte, darunter ein EKG und ein Blutdruckmesser. Vor ihm hing ein Bildschirm, auf dem das Heck des Boots in Farbe zu sehen war. Der Mann war alt, zweifellos. Doch wie alt er tat sächlich war, konnte man unmöglich sagen. Sein Kopf war rasiert, und er trug eine Sonnenbrille. Sei ne breiten Schultern ließen vermuten, daß er früher groß und kräftig gewesen, jetzt aber zusammenge schrumpft war. Von den Knien bis zur Brust war er in eine Decke gehüllt. Der Mann hob die Hand, mit der er den Sauerstoffschlauch hielt, schob die Falten eines gelben Hals tuchs beiseite und preßte den Schlauch an seine Kehle. Seine Brust dehnte sich, während er seine Lunge füllte. Dann sprach er, und Chase stellte ver blüfft fest, daß die Worte nicht von ihm kamen, son
dern aus einer Box hinter ihm. Es war eine Art Ver stärker.
»Wo ist er?«
Er, dachte Chase, welcher Er? »Ich weiß nicht«,
sagte er. »Jetzt sagen Sie mir: Was ist… es?«
Wieder hielt der Mann den Schlauch an die Kehle.
Wieder sprach er. »Er war einmal ein Mensch. Er
wurde zu einem großen Experiment. Inzwischen
kann man es nicht mehr sagen, was er ist. Vielleicht
ein Mutant. Aber eindeutig ein Killer. Er wird nicht
aufhören zu töten. Dafür wurde er geschaffen.«
»Von wem? Und warum glauben Sie, Sie – «
»Ich weiß, was er braucht. Wenn ich ihn dazu brin gen kann…« Der Mann sackte plötzlich zusammen,
er war außer Atem, und er wartete, als würde er so
die Kraft zum Atmen wiedergewinnen.
»Was soll das heißen: Er war ein Experiment?«
sagte Tall Man. »Was für ein Experiment?«
Der Mann holte Luft. »Setzen Sie sich«, sagte er.
Chase warf einen Blick auf den Bildschirm und sah,
wie Puckett Fischinnereien und Blut ins Meer schüt tete. Der andere Mann, Rudi, saß mit dem Gewehr
auf dem Schoß am Heck.
»Wenn er kommt, wird Rudi ihn erschießen«, sagte
der alte Mann.
»Dann können Sie es also töten«, sagte Chase.
»Das ist ja eine Erleichterung.«
»Nein, es ist eine Frage.« Der Tonfall in der Stimme
des Mannes änderte sich leicht, fast als lächelte er.
»Eine gute Frage: Kann man etwas töten, was gar
nicht richtig lebt?«
Chase und Tall Man saßen da, während der Mann
Kraft sammelte. Dann, nach einem Augenblick des
Schweigens, begann er wieder zu sprechen. An fangs waren seine Worte kurz und abgehackt. All mählich entwickelte er einen Rhythmus, ein- und auszuatmen, der es ihm ermöglichte, vollständige Gedanken zu äußern. Es irritierte Chase zu sehen, wie der Schlauch die Kehle berührte und sich wieder zurückzog, wie sich die Brust dehnte und zusammenzog. Er schloß die Augen und ließ die Worte auf sich wirken und Ges talt annehmen. »Mein Name ist Jacob Franks«, sagte der Mann. »Ich bin in München geboren, und in den Jahren vor dem Krieg habe ich als Lehrling in der Apotheke meines Vaters gearbeitet. Wir hätten weggehen können, man drängte uns wegzugehen. Doch mein Vater weigerte sich. Er besaß jenen unglückseligen Glauben, die Menschen seien von Natur aus an ständig. Er ignorierte die Gerüchte über das, was die Nazis mit uns Juden angeblich vorhatten… Bis es eines Nachts schließlich zu spät war, rauszu kommen. Meine Eltern und meine beiden Schwestern sah ich zum letzten Mal, als man sie von einem Viehwagen auf einem Abstellgleis holte und wegbrachte. Es war in der Nähe einer Stadt, von der noch nie je mand etwas gehört hatte. Ich wurde am Leben gelassen, denn ich war jung, stark und gesund, und man konnte mich als Ar beitskraft einsetzen. Ich konnte nicht wissen, daß ich Krematorien baute… im Grunde schaufelte ich mein eigenes Grab. Mein Gesundheitszustand ver schlechterte sich wegen der Unterernährung. Im nachhinein ist klar, daß mich nur noch wenige
Wochen oder Monate davon trennten, in Asche verwandelt zu werden. Doch dann kam eines Tages ein neuer Arzt ins Lager. Weil in meinen Papieren stand, daß ich etwas Erfahrung in Pharmakologie besaß, wurde ich zu ihm geschickt. Ich sollte für ihn arbeiten. Sein Name war Ernst Krüger, und er war erst Pro tege und Freund, später dann Rivale von Josef Mengele.« Er hielt einen Augenblick inne. »Ich nehme an, Sie wissen, wer Mengele war?« »Sicher«, sagte Chase. »Wer weiß das nicht?« »Ich«, sagte Tall Man. »Man nannte Mengele den Todesengel«, sagte Franks. »Er war Arzt in Auschwitz. Er wollte Men schen nicht das Leben erhalten, sondern es ihnen nehmen, und zwar auf eine möglichst abscheuliche Art und Weise. Es machte ihm Spaß, Experimente an Häftlingen vorzunehmen. Er quälte sie, einzig und allein um zu sehen, wieviel Schmerz sie ausha ken konnten. Zwillinge wurden aufgeschnitten, nur um zu sehen, wie ähnlich sie sich wirklich waren. Augen wurden transplantiert, nur um zu sehen, ob ihre Funktion erhalten blieb. Frauen und Kinder ließ man erfrieren oder kochen, nur um zu sehen, wie lange es dauern würde, bis sie starben. Bei Kriegsende entkam er und lebte dann in Paraguay und Brasilien.« »Hat man ihn nie gefaßt?« fragte Tall Man. »Nein. Er ist vor ein paar Jahren in Strandnähe in Brasilien ertrunken, heißt es. Es gibt angeblich ei nen gerichtsmedizinischen Beweis. Aber für mich wird Mengele nie sterben. Die Tatsache, daß es einen solchen Mann geben konnte, daß Gott so et
was zuließ, bedeutet, daß ein klein wenig von Men gele in den dunkelsten Winkeln von jedem von uns existieren muß.« »Und Ihr Arzt«, sagte Chase, »dieser Krüger… war er wie Mengele?« »Er war so bösartig wie Mengele«, sagte Franks, »und so brutal. Aber Krüger war schlauer, und er hatte eine größere Vision, so abartig sie auch war.« »Was für eine?« »Die Macht Gottes an sich zu reißen. Er wollte allen Ernstes eine neue Art schaffen.« »Wofür, zum Teufel?« fragte Tall Man. »Einerseits, um zu sehen, ob es überhaupt möglich war. Er arbeitete daran, und das Unmögliche schien möglich zu werden. Er hatte einen Erfolg nach dem anderen, und das sprach sich bis zu den führenden Nazis herum. Gelder flossen ihm zu. Er wurde an gespornt. Krügers Vision steigerte sich zu wahrem Größenwahn. Er beschloß, eine Rasse von Amphi bienkriegern zu erschaffen.« Tall Man wollte etwas sagen, doch Franks ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Das war in den vierziger Jahren, bedenken Sie. Es gab keine Atom-U-Boote, die unendlich lang auf dem Meeresboden bleiben konnten. Das Tauchen mit Sauerstoffflaschen war kaum erfunden, und der Mensch war ein Fremdling im Meer. Stellen Sie sich ein solches Geschöpf vor: mit der Intelligenz, dem Wissen, dem Training und der Brutalität des Men schen, aber kombiniert mit den Fähigkeiten eines großen Meeresraubtiers.« »O Gott«, sagte Chase, »Nazi-Mörderwale.« »Nicht ganz. Sogar noch vielseitiger«, sagte Franks.
»Wale müssen atmen, Krügers Geschöpfe hätten das nicht gemußt. Sie sollten unendlich lang unter Wasser bleiben, dreihundert Meter tief tauchen, Sprengsätze legen, Schiffe ausspionieren können. Er träumte davon, daß sie das Potential zu grenzen loser Zerstörung hätten.« »Das heißt, er war ein Spinner«, sagte Tall Man. »Nicht unbedingt«, warf Chase ein. »Ich habe ein mal von einem Professor in Duke gelesen, der in den sechziger Jahren genau dasselbe versucht hat. Er hat mit Mäusen angefangen, hat sie soweit ge bracht, Flüssigkeiten zu atmen, ohne zu ertrinken. Dabei hat er festgestellt, daß durch dieses Atmen von Flüssigkeit das Risiko der Taucherkrankheit ausgeschlossen wird. Einmal hat er eine Maus in drei Sekunden durch dreißig Atmosphären auf den Druck an der Wasser oberfläche dekomprimiert. Für einen Taucher würde das bedeuten, daß er mit einer Geschwindigkeit von rund elfhundert Stundenkilometern aus dreihundert Metern Tiefe an die Oberfläche kommt. Die Maus hat überlebt. Er hat keinen Grund gesehen, weshalb dasselbe nicht auch mit Menschen funktionieren sollte. Er hat seine Experimente nur deshalb aufgegeben, weil kein Bedarf mehr da war. Roboter kamen auf den Markt, funkgesteuerte Fahrzeuge, modernere Tauchboote. Sie leisteten in tiefem Wasser bessere Arbeit und waren ohne Risiko für den Menschen. Doch er war überzeugt: Er hätte einen Amphibien menschen schaffen können.« Franks nickte und sagte: »Theoretisch dürfte es nicht allzu schwierig sein, einen Menschen zu
schaffen, der Kiemenatmer ist. Schließlich stammen wir von Kiemenatmern ab. Föten leben von Flüssig keit, und in verschiedenen Stadien ihrer Entwick lung haben sie deutlich erkennbare Schwimmflos sen und sogar Kiemen. Und wir alle sind bereits Kiemenatmer, wenn man bedenkt, daß unsere Lun ge Flüssigkeiten enthält, ohne die sie nicht funktio nieren könnte.« »Krüger war also erfolgreich?« fragte Chase. »Beinahe«, sagte Franks. »Hätte der Krieg noch länger gedauert, wäre es ihm vielleicht geglückt. Was ihn zurückhielt, war die Qualität seiner Ver suchskaninchen. Sie waren schwach, krank, unter ernährt – Sklaven. Viele zogen sich gleich zu Be ginn durch den Luftröhrenschnitt Infektionen zu, und weil es damals keine Antibiotika gab, starben sie. Viele überlebten es nicht, daß ihre Lunge mit Salz lösung und Fluorkohlenwasserstoff geflutet wurde. Aber Krüger hatte einen unerschöpflichen Vorrat an Patienten, und so machte er weiter. Und dann kam plötzlich ein Geschenk von irgendwo ganz oben in der Kommandokette, vielleicht von Hitler selbst. Krüger erhielt ein perfektes Subjekt. Heinrich Günther verkörperte die arische Idealvor stellung. Er war einen Meter fünfundneunzig groß, mit Muskeln wie eine griechische Statue. Bei der Olympiade 1936 hatte er im Kugelstoßen, Speerund Hammerwurf Medaillen gewonnen. Er wurde zu einer Art Nationalheld. Er trat der SS bei, brachte es bis zum Offizier und schien, als der Krieg ausbrach, eine glänzende Karriere vor sich zu haben. Er kannte weder Furcht noch Rücksicht. Er war ohne jedes Gewissen. Er war ein Killer.
Aber er war geistig nicht ganz gesund, auch wenn das zu der Zeit noch nicht offensichtlich war. Er war ein Einzelgänger und lebte allein. Offenbar hatte er jahrelang Leute ermordet, meistens Prostituierte und Asoziale. Das stellte sich erst heraus, als er eines Nachts in einer Bierhalle zu toben anfing und drei Leute umbrachte. Ich glaube, heute würde man ihn als sexuellen Psy chopathen oder als paranoiden Schizophrenen di agnostizieren. 1944 wurde er als gemeingefährli cher Irrer abgestempelt. Man verurteilte ihn zum Tod durch Erschießen. Er stand kurz vor seiner Hin richtung, als irgend jemand beschloß, er könnte dem Reich noch einen letzten Dienst erweisen. Sie haben ihn zu uns geschickt.« »Sie haben mit dem Burschen gearbeitet?« fragte Chase. »An ihm gearbeitet. Mit Krüger. Monatelang. Er wurde wie ein Tiger behandelt. Zwischen den Ope rationen wurde er in einem Käfig gehalten, er be kam rohes Fleisch gefüttert und Vitaminspritzen verabreicht. Er wurde betäubt und mit Methoden programmiert, die selbst für heutige Verhältnisse ausgeklügelt sind: Biofeedback, unterschwellige Konditionierung. Er war beinahe fertig. Krüger hatte nur noch einen letzten Schritt vor sich, als die Alliierten das Lager stürmten. Aber Krüger war wie besessen. Er weigerte sich, das Experiment aufzugeben. Er nahm Günther mit, als er floh… Wie die meisten Nazis, die wußten, daß man sie als Kriegsverbrecher brandmarken würde, hatte man auch für Krüger eine Fluchtroute nach Südamerika ausgearbeitet.
Also haben wir Günther ein letztes Mal geflutet. Wir haben ihn in einen Bronzebehälter gesteckt, der mit konzentriertem Fluorkohlenwasserstoff und ange reicherter Salzlösung angefüllt war, und auf einen Lastwagen geladen. Krüger machte sich zu Fuß auf den Weg. Er ging Richtung Norden, aufs Meer zu. Ich habe keinen der beiden je wiedergesehen.« »Was ist mit Ihnen?« fragte Chase. »Was geschah, als die Alliierten kamen?« »Sie haben mich befreit… sie haben uns alle be freit.« »Und das war alles?« »Was sonst noch?« »Weil Sie nicht einfach überlebt hatten«, sagte Chase. »Sie hatten Seite an Seite mit diesem Monster gearbeitet, während es Menschen um brachte.« »Nun…«, sagte Franks, und seine Stimme klang wieder, als lächelte er müde, »… vielleicht waren sie der Ansicht, ich hätte genug gelitten.« Er lehnte sich im Rollstuhl vor, und der Schein des Monitors fiel auf sein Gesicht. Er nahm die Sonnen brille ab. Das eine Auge war normal. Doch das an dere war ein einziges tiefes, dotterfarbenes Gelb. Dann legte er den Schlauch an seine Kehle. Nach dem er eingeatmet hatte, zupfte er mit den Finger spitzen sein Halstuch beiseite. An jeder Seite von Franks’ Hals sah man drei dia gonale Einschnitte. Vor Jahrzehnten waren sie zu zerfurchten, dunkelroten Narben verheilt. Mitten in seiner Kehle war ein schwarzes, ausgefranstes Loch, das den Hals hinabführte. »O mein Gott…«, sagte Chase. »Sie sind… Sie ha
ben… Kiemen?« »Ich war ein frühes Experiment… und ein Fehl schlag«, sagte Franks. Er setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Und ich habe als einziger überlebt. Meine Lunge war zu schwach, um die Fluorkohlen wasserstoffe aufzunehmen. Immer wieder bin ich fast ertrunken… Krüger hätte mich sterben lassen können. Statt dessen hängte er mich kopfüber an eine Kettenwinde und ließ mich von der Schwerkraft entwässern. Dann setzte er meine Lunge mit einem Gerät wie der in Gang. Heutzutage würde man das wohl als Herz-Lungen-Maschine bezeichnen. Er machte mich immer wieder lebendig, weil er mich, wie er sagte, brauchte.« Franks lehnte sich zurück, aus dem Licht. »Ich habe mich nie ganz erholt, und das werde ich auch nie. Aber ich will nicht vor Gott tre ten, ohne eine letzte Buße zu tun. Ich will diese… diese absolute Abscheulichkeit töten.« »Wenn sie das ist«, sagte Tall Man. »Da bin ich mir sicher. Wir wissen, daß Krüger nie in Südamerika angekommen ist. Die Nazijäger, die Mengele und Eichmann und all die anderen verfolgt haben, haben von ihm nie eine Spur gefunden. Das U-Boot, mit dem er unterwegs war, war als vermißt gemeldet.« »Woher wissen Sie, daß er auf einem U-Boot war?« »Darüber gibt es Aufzeichnungen. Die Nazis haben alles penibel festgehalten. Krügers Arbeit lief unter einem Decknamen. Die Archive haben ihn als an Bord der U-165 geladen erwähnt. Dann ist das Boot gesunken oder wurde versenkt, ich vermute, ir gendwo im Mittelatlantik.«
»Wie konnte sich das Ding über ein paar tausend Meilen Meeresgrund fortbewegen«, fragte Tall Man, »und dabei überleben?« »Krüger hatte Günthers Stoffwechsel so herunter gefahren, daß er nahezu klinisch tot war. Er setzte weniger um als ein Tier im Winterschlaf. Die chemi schen Stoffe im Behälter konnten so ein primitives Leben erhalten, und sein Nahrungsbedarf war für lange Zeit gleich Null. Wie ein Bär, der im Frühling vor Hunger aufwacht, muß schließlich sein Körper nach Nahrung verlangt haben. Und ich nehme an, er hat etwas zu fressen gefunden.« Franks schwieg einen Augenblick. Chase und Tall Man starrten sich an. »Hier liegen die Antworten«, sagte Franks, »wenn Sie wissen, wonach Sie suchen. Ich habe es schon vor langer Zeit aufgegeben, Krüger aufzuspüren. Alles deutet darauf hin, daß er gestorben ist. Ein Onkel hatte mich nach Amerika geholt und mir Ar beit in seinem Chemieunternehmen verschafft. Ich baute ein neues Leben auf. Ich bekam einen Sohn, Rudi. Es ging mir gut. Aber ich habe nie vergessen, was geschehen ist. Ein Teil von mir suchte immer nach Spuren. Nach Hinweisen, daß Krüger oder Günther überlebt hat ten. Und dann las ich einen Zeitungsartikel. Ein Fo tograf von National Geographic war von einem For schungsschiff in der Nähe von Block Island ver schwunden.« »Davon haben wir gehört«, sagte Chase. »In dem Bericht hieß es, ein Bronzebehälter von der Größe eines Sargs sei über Bord gefallen und ver schwunden… ein Behälter, den die Forscher aus
einem U-Boot-Wrack im Kristofgraben gehoben hat ten… einem deutschen U-Boot.« »Sie sagten, daß Günther noch nicht vollständig programmiert war. Was fehlte als Tüpfelchen auf dem i?« »Krüger wollte einen echten Amphibienkiller schaf fen«, sagte Franks. »Eine Waffe, halb Mensch, halb Tier, die in der Luft genauso wie im Wasser überle ben und dazwischen hin- und herwechseln konnte. Er brachte Günther dazu, Wasser zu atmen. Dann instruierte er ihn, wie er seine Lunge entwässern und Luft atmen konnte. Doch er hatte nicht mehr genug Zeit, ihm beizubrin gen, wie er den Vorgang wieder rückgängig machen konnte, wenn er ins Wasser zurückkehren wollte. Einmal an Land, würde Günther Lungenatmer blei ben und wäre dort praktisch gefangen. Und des halb, verstehen Sie, ist es äußerst wichtig, daß wir ihn zerstören, bevor – « »O Gott!« sagte Chase auf einmal und stand auf. »Hat Ihnen Puckett nichts erzählt? Das Ding war bereits an Land! Es hat in Waterboro einen Hund getötet.« Er wandte sich zu Tall Man um und sagte: »Versuch, zu Rollie Gibson durchzukommen. Er hat das Funkgerät in seinem Büro immer auf sechzehn eingestellt. Sag ihm, daß das Ding vielleicht in der Stadt oder in den Wäldern frei herumläuft.« Tall Man stieg die Stufen zum Ruderhaus hinauf. Chase machte die Tür auf und ging zum Heck. Er befahl Rudi, die Köder abzuschneiden, und Puckett, den Motor anzulassen. Dann kehrte er in die Kajüte zurück. »Das Ding ist halb Mensch, halb Tier, sagen Sie«,
wandte er sich an Franks, »oder war es zumindest früher. Also müßte man es auch wie einen Men schen töten können, oder?« »Wenn wir das wüßten«, sagte Franks. »Krüger hat sein Zentralnervensystem verändert. Er oder es lebt also auf einer sehr primitiven Stufe. Ich würde sa gen, er ist so schwer zu töten wie ein großer Hai… Ach, Mr. Chase, Sie kennen seinen Decknamen noch gar nicht. Die Nazis nannten ihn >Der Weiße Hai<« Tall Man kam vom Ruderhaus zurück. »Ich bin nicht durchgekommen«, sagte er, »aber es ist egal. Rollie kümmert sich inzwischen sicher um den Fall… wir sind zu spät dran.« »Warum denn das?« fragte Chase. »Über Funk schnattert alles durcheinander. Drüben auf Winter Point wurde ein Jugendlicher getötet. Sein Freund schwört, ein Yeti hätte den Jungen umgebracht.« »Ein Yeti?« fragte Franks. »Der schreckliche Schneemensch.« Chase wandte sich an Tall Man. »Los.« Er ging auf die Tür zu. »Wenn wir mit dem Makofänger zur Stadt fahren – « »Simon… das Ding ist vielleicht nicht in der Stadt.« »Was soll das heißen?« sagte Chase. »Der Bursche, der überlebt hat, sagte, er hätte ge sehen, wie es ins Wasser tauchte und Richtung Os ten schwamm.« »Richtung Osten? Was liegt östlich von Winter Point? Da ist kein Land mehr außer… o mein Gott.« Das einzige Stück Land östlich von Winter Point war Osprey Island. »Ruf Amanda auf siebenundzwan
zig, sag ihr, sie soll mit den Kindern – «
»Das hab’ ich versucht«, sagte Tall Man. »Es ant wortet niemand.«
43
»Phantastisch«, sagte Elizabeth. »Umwerfend«, sagte Max. Die Kinder standen am Seelöwenbecken auf den dem Meer zugewandten Felsen und beobachteten, wie Mrs. Bixlers museumsreifes Schnellboot aus seiner Bucht hervorschoß und sich in einer schnel len Drehung näherte. Als das Boot in die Kurve ging, glitzerte die Spätnachmittagssonne auf dem polierten Mahagonirumpf und den Aufbauten aus rostfreiem Stahl. Es sah aus wie ein futuristisches Raumschiff. Max liebte das Boot, und er hatte Mrs. Bixler ange fleht, ihn damit fahren zu lassen. »Nicht bevor du so alt bist wie ich«, hatte sie lächelnd gesagt. »Nur ein alter Dummkopf wie ich fährt mit so einem alten Boot.« Amanda stand hinter ihnen, und hinter ihr wiederum wackelten die Seelöwen auf ihren Flossen hin und her und warteten auf ihr Abendessen. Zehn Meter hinter dem Becken kam aus dem Schuppen eine Stimme über den Lautsprecher des HochfrequenzFunkgeräts. »Osprey Base, Osprey Base, Osprey Base… Osprey Makofänger ruft Osprey Base… Osprey Base bitte kommen.« Ungehört hallte die Stimme von den Zementwänden wider. Mrs. Bixler trug eine orangefarbene Schwimmweste und eine Sonnenbrille. Ihre Baseballmütze hatte sie nach hinten gedreht, so daß der Schirm ihre Frisur vor dem Wind schützte. Sie nahm etwas Gas zu rück, als sie sich den Felsen näherte. Das Dröhnen
des großen GM-V-8-Motors schwächte sich zu ei nem Brummen ab. Sie rief in ein uraltes Megaphon: »Ich fahre zum Bingo in die Stadt und bleibe wahrscheinlich über Nacht bei Sarah. Sobald ich an Land bin, erkundige ich mich bei der Polizei, ob Simon sich zurückge meldet hat. Wahrscheinlich haben sie schon ein Boot zur Verstärkung geschickt. Ich melde mich, wenn’s was Neues gibt.« Amanda und die Kinder winkten. Mrs. Bixler legte den Gashebel vor, und das Boot machte einen Satz nach vorn. Es glich einem Rennpferd, dem man die Zügel schießen läßt. Sie legte sich in die Kurve und steuerte nach Westen aufs Festland zu. Im Schup pen wiederholte die Stimme: »Osprey Base, Osprey Base… Osprey Base bitte kommen.« »Zeit, die Mädels zu füttern«, sagte Amanda und ging zurück zum Becken. »Und dann gehen wir ins Haus, und ich mach’ uns was zu essen.« Sie nahm Elizabeths Hand, blickte sie an und sagte: »Ich freue mich, daß deine Mum dir erlaubt hat, über Nacht zu bleiben.« Elizabeth nickte und sagte: »Ich mich auch.« Max stand auf den Felsen und sah aufs Meer hin aus. »Ich frage mich, wo Dad ist«, sagte er. »Es wird spät.« »Auf dem Weg nach Hause.« Amanda hoffte, daß ihre Stimme überzeugend klingen würde. »Wir de cken für ihn und Tall Man mit.« Sie fütterten die Seelöwen, legten die restlichen Fische in den Kühlschrank und verstauten Plastik bälle, Plastikringe, Plastikdreiecke und andere Trai ningsgeräte im Schuppen. Elizabeth verließ den
Schuppen als letzte. Als sie die Tür hinter sich zu machte, spürte sie ein leises Vibrieren in ihren Oh ren, ähnlich wie das einer Stimme. Sie sah sich um. Aber sie konnte die Geräuschquelle nicht ausfindig machen, und so schloß sie die Tür. Das Geräusch war jetzt gedämpft. Fast nicht mehr hörbar, tönte es: »Osprey Base, hier Osprey Mako fänger… Osprey Base bitte kommen…« Als sie den Kamm des Hügels erreichten, sah Max auf den Reiher hinunter, der in seiner Pfütze stand. »Ich sollte Chief Joseph füttern«, sagte er. »Das wird Tall machen«, sagte Amanda. »Aber er kommt vielleicht erst spät zurück. Ich kann –« »Nein«, sagte sie knapp. Ihr fiel auf, daß sie nervös war… nicht ängstlich, denn es gab nichts, wovor sie Angst haben mußte, aber beunruhigt… doch wes wegen? Sie wußte es nicht. Sie lächelte Max an und ließ ihre Stimme sanfter werden. »Tall macht es gerne, es gehört für ihn zum Tag dazu.« Sie gingen weiter zu Amandas kleinem Wohnhaus. Mrs. Bixler hockte auf der Rückenlehne des Vorder sitzes und steuerte mit bloßen Füßen. Das Meer war völlig bewegungslos. Sie glitt mit ihrem Boot über das flache Wasser und hinterließ eine messer scharfe Spur. Sie fühlte sich jung und frei und glück lich. So verbrachte sie ihre Zeit am liebsten: wäh rend ihrer Lieblingstageszeit der untergehenden Sonne entgegenzufahren. Der Wasserturm und die weißen Häuser der Umgebung färbten sich rosarot. Bald würden sie blaugrau schimmern. Wenn sie die Küste erreicht hatte, würden sie von jenem matten
Grau sein, das die Nacht ankündigte. Irgend etwas im Wasser fiel ihr ins Auge. Sie nahm die Füße vom Steuerrad, stellte sich auf den Sitz und steuerte mit einer Hand. Eine große, dreieckige Rückenflosse zog im Zickzackkurs durch das Was ser. Dahinter schlug ein sensenähnlicher Schwanz hin und her. Ein Hai? Was machte ein Hai so spät am Tag hier? Noch dazu ein großer Hai, der ver mutlich fünf Meter lang war. Sie wendete und folgte der Flosse. Der Hai schien sich sprunghaft zu verhalten. Sie war zwar keine Expertin, aber eins wußte sie: Dieser Hai schwamm nicht einfach umher. Er fraß oder war kurz davor. Er jagte. Als sie näher kam, sah sie hinter der Rücken flosse etwas Metallisches aufblitzen. Es war ein Sender des Instituts. Es war Simons großer weißer Hai. Als sich das Boot näherte, tauchte der Hai unter. Mrs. Bixler wartete einen Augenblick, doch er blieb verschwunden, und so drehte sie wieder auf die Küste zu. Sie konnte es kaum erwarten, Simon da von zu erzählen. Er würde begeistert, ja aufgeregt und außer sich sein, davon zu erfahren: Sein Hai hatte sich wieder gezeigt! Jetzt, wo er den Sensor kopf wiederbekommen hatte, konnte er den Hai lo kalisieren und… Noch etwas im Wasser, direkt vor ihr. Ein Mann. Schwimmend. Zumindest sah es nach einem Mann aus. Er war allerdings weitaus größer als jeder Mann, den sie je gesehen hatte. Er schwamm wie ein Tümmler, ließ den gekrümmten breiten Rücken aus dem Wasser ragen und trat mit geschlossenen Füßen. Dieser verdammte Idiot, dachte sie.
Schwimmt hier in der Abenddämmerung allein her um. Sie erkannte, daß der Mann die Beute war, die der Hai jagte. Sie fuhr schneller auf den Mann zu und betete, daß sie vor dem Hai bei ihm sein würde, daß sie stark genug sein würde, ihn an Bord zu zie hen, daß… Plötzlich war auch er verschwunden. Untergetaucht, genau wie der Hai. Sie hielt das Boot an und sah sich um und wartete darauf, daß er auftauchte. Er müßte wieder auf der Bildfläche er scheinen, er müßte einfach. Er würde atmen müs sen. Es sei denn, der Hai hatte ihn schon erwischt. Oder er war bereits ertrunken. Was konnte sie dann tun? Der Mann tauchte nicht wieder auf, und Mrs. Bixler packte die Angst. Es war eine vage, aber tiefe Furcht vor etwas, was sie nicht identifizieren konnte. Sie legte den Gang ein, drückte den Gashebel vor und hielt Kurs aufs Festland.
44 Es füllte seine Lunge und tauchte unter. Als der Mo torenlärm schwächer geworden war, drehte es sich um und suchte in der Dunkelheit nach dem Hai. Seine Gehirnzellen erneuerten sich explosionsartig. Mit jeder Explosion wußte es mehr über sich selbst. Es kannte keine Angst. Es war wie elektrisiert. Es fühlte sich nicht bedroht, sondern herausgefordert. Dafür war es geschaffen, ja programmiert worden: Es mußte kämpfen und töten. Es kannte seine Grenzen und seine Stärken. Im Wasser gab es sei nesgleichen nicht. Erst spürte es den Hai, spürte, wie der Druck im Wasser anschwoll. Dann sah es die graue Gestalt, den kegelförmigen Körper, das aufgesperrte Maul. Noch immer hatte es keine Angst. Es wußte, es be saß einen Vorteil: Es hatte ein Gehirn, das denken konnte. Als der Hai angriff, erbarmungslos, aber ohne zu denken, duckte sich das Geschöpf und blies Luft aus seiner Lunge. Der Hai zögerte, verwirrt durch den Schwall von Blasen. Er stieg nach oben und legte dabei seinen weißen Bauch bloß. Das Ge schöpf krümmte seine Finger. Es machte einen Satz nach vorn, bohrte seine Krallen tief in das wei che Fleisch und zog sie nach unten. Das Fleisch teilte sich. Die Krallen drangen tiefer ein. Blut quoll aus den zehn Schnittwunden im Bauch. Der Körper des Hais drehte und verzerrte sich. Jede Bewegung riß weitere Stücke aus seinem Fleisch. Seine Eingeweide quollen auf und sickerten durch
die Wunden. Die Krallen zogen sich zurück. Der Hai hing einen Augenblick in der Schwebe, dann be gann er zu sinken. Ein brennender Schmerz durchzuckte die Lunge des Geschöpfs. Doch es zwang sich, dem Hai nachzublicken, bis diesen die Dunkelheit ver schluckt hatte. Dann tauchte es auf, atmete tief die nährstoffreiche Luft ein und genoß seinen Triumph. Es fühlte sich erschöpft, doch sein innerer Jubel linderte die Erschöpfung. Es war wieder da, ganz und gar. Es war der Weiße Hai. Jetzt mußte es an Land gehen, um sich zu verste cken und zu jagen. Mit Hilfe seiner Schwimmhände drehte es sich langsam im Kreis. Schließlich hatte es sein Ziel geortet: ein vereinzeltes Licht auf einer einsamen Insel, nicht weit entfernt.
45
Es war nahezu dunkel, als Chase und Tall Man die Insel erreichten. Den westlichen Horizont erhellte noch ein rosafarbener Streifen. Der Himmel darüber war wie ein bläulichschwarzes Tuch, das durch die goldenen Punkte der ersten Sterne durchbrochen wurde. Die einzigen Lichter auf der Insel waren die erleuchteten Fenster von Amandas kleinem Haus. Es herrschte Flut, so daß Chase das Boot dicht an die Küste fahren konnte, ohne daß er befürchten mußte, auf unter Wasser liegende Felsen aufzulau fen. Tall Man stand am Bug und strahlte das Land im Vorüberfahren mit einer starken Taschenlampe an. Alles schien normal und ungestört. Der Strahl der Taschenlampe fiel auf einen Wasch bären, der auf einem flachen Felsen an einem Fisch fraß. Das Tier erstarrte vor Schreck, und seine Au gen glühten rot auf. Ein Fuchs floh aus dem Licht und huschte ins Unterholz. Nur die Seelöwen schienen beunruhigt. Sie hatten sich am Eingang ihres Baus zusammengekauert und wackelten hin und her. »Vielleicht hat es nach Norden abgedreht«, sagte Tall Man. »Napatree wäre näher.« »Ich hoffe es«, sagte Chase. »Aber ich will Amanda und die Kinder trotzdem lieber in die Stadt brin gen… für den Fall eines Falles.« »Sie wird ihre Seelöwen nicht hierlassen wollen.« »Sie wird keine Wahl haben.« Chase hatte auf dem Weg von Block Island hierher eine Entscheidung getroffen. Wenn es auch nur das geringste Anzei
chen dafür gab, daß das Ding nach Osprey Island kam, würde er die Insel evakuieren. Sie könnten morgen bei Tageslicht zurückkehren und gemein sam mit der Polizei und so schwer bewaffnet wie möglich die Insel von einem Ende zum anderen durchkämmen. Als er die Insel umrundet und nichts Außergewöhn liches wie tote Tiere oder frische Spuren entdeckt hatte, kehrte Chase zum Ufer zurück und lenkte den Makofänger zum Anlegeplatz. Er stellte den Motor ab und stieg auf den Kai. »Bleib hier«, sagte er und schlang die Bugleine um eine Klampe. »Ich hole sie.« Er stieg den Hügel hinauf. Tall Man stand am Kai und lauschte auf die Geräu sche der Nacht: Grillen, Vogelrufe, das sanfte Plät schern der Wellen. Plötzlich spürte er, daß irgend etwas nicht mehr an seinem Platz war. Er überlegte kurz. Dann wußte er es: der Reiher! Wo war Chief Joseph? Normalerweise müßte der Vogel jetzt am Kai im Wasser stehen und mit zornig funkelndem Blick nach Futter verlangen. Er blickte über den Kai, doch die Bucht war völlig dunkel. Er konnte nichts sehen. Also ging er zum Boot zurück, holte die Taschen lampe und richtete den Strahl auf die Pfütze. Der Vogel war nicht da. Wohin war er verschwun den? Er schwenkte den Strahl zu den Felsen, dann zur Küste. Mitten im Gebüsch entdeckte er eine lange, blaugraue Feder. Er ging den Weg hinauf und teilte das Gestrüpp mit den Händen. Es fühlte sich klebrig an. Als er den Strahl der Taschenlampe auf seine Finger richtete, sah er Blut. Er riß ein Büschel mit den Wurzeln aus und machte
so eine Lücke frei. Dort, im Dreck, lag der Kopf des Reihers. Er war ihm vom Hals gerissen worden. Die Augen fehlten. Panik durchzuckte Tall Man. Er wandte sich um und rannte aufs Haus zu.
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»Weil es hier keine Gewehre gibt«, sagte Chase zu
Amanda. »Ich mag sie nicht, und ich hab’ noch nie
eins besessen.«
Sie waren in der Küche. Max und Elizabeth saßen
auf dem Boden. Sie hatten Karten gespielt.
»Ich kann die Seelöwen nicht hierlassen, Simon«,
sagte Amanda. »Sie sind wie meine eigenen Kin der. Ich könnte es nicht.«
»Sie müssen. Wir können uns hier nicht verteidigen.
Wenn das Ding hier an Land kommt – «
»Ich werde nicht gehen. Nehmen Sie die Kinder in
die Stadt mit und lassen Sie mich mit Tall Man hier.
Wir können das große Boot zum Kai bringen, ich
locke die Mädels an Bord und – «
Die Küchentür wurde aufgerissen. »Es ist hier!«
sagte Tall Man, trat ein und schloß die Tür hinter
sich ab.
Max schrak hoch und wiederholte Tall Mans Worte
für Elizabeth.
»Wo?« fragte Chase.
»Ich weiß nicht, aber es hat Chief Joseph getötet.
Es ist hier, Simon. Irgendwo.«
Chase sah die Kinder an. »Dann können wir nicht
gehen.«
»Warum nicht?«
»Das können wir nicht riskieren. Es könnte überall
sein. Stell dir vor, es ist im Gebüsch am Kai.«
»Dann hätte es mich angegriffen«, sagte Tall Man.
»Vielleicht nicht, vielleicht bist du zu groß. Aber es
würde mit Sicherheit auf eins der Kinder losgehen.«
Amanda steuerte auf die Tür zu.
»Wohin gehen Sie?« fragte Chase.
»Zu den Mädels, ich bring’ sie hierher.«
»Sind Sie wahnsinnig?«
»Sie werden mir folgen. Ich werd’ schnell machen.«
»Das ist mir egal. Draußen ist es stockdunkel. Drei hundert Meter jede Strecke. Das schaffen Sie nie.«
»Ich muß.« Amanda schloß die Tür auf. »Ich bleibe
draußen im Freien, dann kann ich es kommen se hen.«
»Amanda, es sind Tiere!« sagte Chase.
»Nicht für mich.« Amanda zeigte auf Max und Eli zabeth. »Und nicht für sie.«
»Das werde ich nicht zulassen.«
»Sie können mich nicht aufhalten.«
»O doch.« Chase ging einen Schritt auf sie zu.
»Wenn ich muß, werde ich Sie hier festbinden.«
»Hören Sie auf, Simon«, sagte Amanda, öffnete die
Tür und huschte hinaus in die Dunkelheit.
Chase rannte zur Tür und sah nach draußen. A manda war bereits an der Hausecke und rannte den
Rasen hinunter.
»Scheiße«, sagte Tall Man. Er holte ein Fleischer messer vom Regal über der Spüle, steckte es in
den Gürtel und nahm die Taschenlampe vom Kü chentisch.
»Was hast du vor?« fragte Chase.
»Vielleicht hast du recht, Simon, vielleicht geht es
nicht auf eine fast zwei Meter große Rothaut los, die
wie der Terminator aussieht.« Tall Man verschwand
durch die Tür.
Als Chase abgeschlossen hatte, sah er Max und
Elizabeth an. Sie hatten aufgehört, Karten zu spie
len. Kreidebleich saßen sie nebeneinander und hiel ten sich an der Hand. Er kniete sich neben sie, legte eine Hand auf ihre Hände und sagte: »Es wird alles gutgehen. Wahrscheinlich versteckt es sich irgend wo. Wir werden beim ersten Tageslicht die Polizei hierherholen und – « »Aber Dad…«, sagte Max. »Was ist, wenn…« Er ließ den Rest seiner Gedanken unausgesprochen. Chase gab keine Antwort. Er hatte keine. Statt des sen zwang er sich zu einem Lächeln und sagte: »Zum Teufel, Max, kannst du dir irgend etwas vor stellen, was es mit Tall Man aufnehmen kann?« Seine Gedanken überstürzten sich und schossen von einer Möglichkeit zur nächsten. Sie schwirrten herum wie ein Moskito in einer Menschenmenge, der überlegt, wo er landen soll. Wenn das Ding Tall Man oder Amanda fand, und wenn Tall Man es nicht tötete, was konnten sie dann tun? Sie konnten es nicht erschießen, sie konnten es nicht erstechen, sie konnten nicht vor ihm fliehen. Es gab keine Antworten. Aber Chase wußte eines sicher: und wenn er sich selbst opfern mußte. Aber Max und Elizabeth würden überleben. Er stand auf und drehte sich um, und als er durch die Tür ins Wohnzimmer sah, fiel sein Blick auf den Stahlzylinder, der am Boden festgeschraubt war. Max bemerkte, wie er den Zylinder ansah, und sag te: »Was ist mit der Dekompressionskammer… du hast sie doch Dr. Frankenstein genannt?« »Was ist damit?« »Wir könnten reingehen und sie verschließen. Da würde das Ding nie reinkommen.« »Man kann sie von innen nicht verschließen«, sagte
Chase. »Das einzige – « Er brach ab. Plötzlich dämmerte es ihm. Die Idee war vage und ver schwommen, wie eine Wolke. Er forcierte sie nicht, sondern ließ sie langsam Gestalt annehmen. Dann wurde sie zu einer möglichen Antwort.
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Tall Man holte Amanda ein, als sie etwa auf halbem Weg den Hügel hinunter war. Er hatte ihr hinterher gerufen, ihr gesagt, daß er kam und warum. Sie war nicht mehr gerannt. Während sie weitergingen, schwenkte er den Strahl der Taschenlampe hin und her. Sie hörten ein Bellen, das immer lauter wurde. Es klang hektisch, schrill und verzweifelt. »Nein!« schrie Amanda und begann wieder zu ren nen. Tall Man wollte sie aufhalten, doch sie war leichter und schneller als er. Auf dem abschüssigen Hang kam er nur bis auf drei Meter an sie heran. Sie erreichte das Becken als erste, und er kam ne ben ihr zum Stehen. Sie hörten die zerrissenen Schreie der Seelöwen, sehen konnten sie nichts. Tall Man strahlte mit der Taschenlampe in die Rich tung, aus der die Geräusche kamen. Zwei Seelö wen kauerten am Geräteschuppen und schwankten auf ihren Flossen hin und her. Sie wackelten mit den Köpfen, während sie hysterisch bellten. Tall Man schwenkte den Lichtstrahl weiter nach rechts. Etwas hockte am Felsen am anderen Ende des Be ckens, etwas Riesiges, Grauweißes. Sie konnten nur den massiven Rücken sehen, der Kopf war ab gewandt. Als das Licht darauf fiel, reckte es sich und drehte sich um. Amanda schrie auf. Tall Man fühlte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Adre nalin schoß durch Arme und Schultern. Es war so groß wie ein Menschenaffe und asch grau. Zwischen dem Blut, das sein Gesicht bedeck te, sahen sie Stahlzähne aufblitzen. Blut triefte von
seinen langen Stahlkrallen. Sein Körper war unbe haart, und die Sehnen traten aus Armen und Beinen hervor wie Peitschen. Wo einst die Genitalien ge wesen waren, befand sich jetzt nur noch ein grob zusammengenähtes Stück fleckiger Haut. Seine Augen strahlten wie Reflektoren, als das Licht dar auf fiel. Hinter dem Ding lag der halb aufgefressene Kada ver eines Seelöwen. Das Ding riß sein Maul auf, stieß ein kehliges Brüllen aus und bewegte sich ei nen Schritt vor. »Gehen Sie!« sagte Tall Man zu Amanda. »Ich… aber…« Sie stand wie erstarrt. »Gehen Sie! Um Gottes Willen, gehen Sie, und warnen Sie die anderen! Gehen Sie!« Amanda trat einen Schritt zurück, drehte sich um und rannte los. Tall Man bewegte sich nicht. Er sah den steilen Hang hinauf. Hinter dem Ding war nichts als Wasser, und er hatte nicht vor, es mit diesem Gegner im Wasser aufzunehmen. Nicht nach dem, was er gehört hatte. Er zog das Messer aus dem Gürtel und ging in die Knie. Langsam schwenkte er die Waffe hin und her. Das Ding zog die Schultern hoch und rollte sich auf die Fußballen. Es hob seine Arme, spreizte die Schwimmfinger und zeigte seine Krallen, die so lang und scharf wie Skalpelle waren. Wenn ein Mensch dich gemacht hat, dachte Tall Man, wäh rend er sich langsam im Kreis bewegte, dann kann ein Mensch dich auch zerstören.
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Chase drehte die letzte Schraube aus dem langen Spiegel an der Badezimmertür. Er nahm ihn ab und stellte ihn auf den Boden. Der Spiegel war schät zungsweise eineinhalb Meter lang und sechzig Zen timeter breit. Chase trug ihn ins Wohnzimmer und stellte ihn neben die offene Luke der Dekompressi onskammer. »Das müßte passen«, sagte er. »Knapp.« Amanda ließ sich in einen Stuhl an der anderen Sei te des Zimmers fallen. Sie zitterte noch immer und war leichenblaß. »Sie verschwenden Ihre Zeit«, sagte sie. »Das klappt doch nie.« »Irgend etwas muß ich schließlich tun. Haben Sie eine bessere Idee?« »Womit stellen Sie Tiere ruhig?« »Mit Betäubungsmittel.« »Also?« »Glauben Sie, Sie können nah genug an das Ding rankommen, um ihm eine Spritze zu geben? Mein Gott, Amanda, nach allem, was ich weiß, ist es ein fach…« Er hörte auf zu sprechen. Die Kinder stan den am Wohnzimmerfenster und versuchten, den Hügel hinabzusehen, und er wollte sie nicht er schrecken. Doch seine Gedanken konnten das Bild nicht abschütteln, das ihn beherrschte, seit Amanda ins Zimmer geplatzt war. Es war das Bild von Tall Man, der tot zwischen den Felsen hing. »Helfen Sie mir?« Er wandte sich zu Max um. »Irgendwas zu sehen?« »Noch nicht«, sagte Max.
Amanda erhob sich aus ihrem Stuhl. Chase zog den Kopf ein und stieg in die Kammer. Er drehte sich um, um den Spiegel entgegenzunehmen, den A manda ihm durch die Luke reichte. Er trug ihn ans andere Ende der Kammer und stellte ihn senkrecht gegen die Stahlwand. Dann trat er einen Schritt zu rück, um sein Spiegelbild zu überprüfen. Schließlich kauerte er sich neben die Öffnung. »Was sehen Sie?« fragte er Amanda. »Bedenken Sie, das Licht ist dann trübe.« »Geht so«, sagte sie. »Aber, mein Gott, Simon, ein sechsjähriges Kind könnte – « »Es ist kein Kind. Es ist ein Ding.« »Dad!« rief Max. »Dad, da kommt Tall!« Chase kletterte aus der Kammer. Max deutete aus dem Fenster. Elizabeth stand neben ihm. Sie hielt die Hand über die Augen und bemühte sich, in der Dunkelheit irgend etwas zu erkennen. Chase atme te erleichtert auf. »Das wurde aber auch Zeit«, sag te er. Er ging zum Fenster. »Gott sei Dank«, sagte Amanda. Am Ende des Rasens, am Hügelkamm vor dem Seelöwenbecken, sah Chase eine Gestalt, die sich auf das Haus zubewegte. Sie bewegte sich un gleichmäßig. Sie schwankte. »Sieht aus, als ob Tall verletzt ist«, sagte er. Er wollte sich schon abwenden, in die Küche, zur Tür hinaus und den Rasen hinuntergehen. Da sah er plötzlich die Silhouette der Gestalt, eine helle Schat tierung vor den dunklen Bäumen. »O mein Gott«, sagte er. »Das ist nicht Tall.«
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Es war verwundet worden. Sein Gesicht brannte. Ein Bein reagierte nur verzögert auf die Signale aus dem Gehirn, und eine Hand war wie abgestorben. Es sah sie an: Ein Finger hing nur noch an den Sehnensträngen. Es zog daran, bis die Sehnen ris sen. Dann warf es den Finger weg und schaufelte Matsch um den blutenden Stumpf. Es fühlte sich durch die Wunden nicht geschwächt. Im Gegenteil, es fühlte sich gestärkt. Der innere Jubel belebte es -es hatte triumphiert. Es war einem ebenbürtigen Feind begegnet. Dieses Mal handelte es sich nicht um eine Beute, sondern um einem Gegner. Es hatte ihn besiegt. Seine Wunden fielen nicht ins Gewicht. Es würde überleben und sich erholen. Es spürte, daß es nun nicht mehr nötig war, sich zu verteidigen oder vor sichtig zu sein. Tief in seinem Inneren schwang die Überzeugung, daß es jetzt unbesiegbar war. In der Ferne, am Ende des Hügels sah es ein Licht. Licht bedeutete Schutz. Und vielleicht konnte es dort noch mehr Feinde vernichten. Es stieg hinauf. Schwerfällig schleifte es die Füße über den Hang. Es bewegte sich langsam, scherte mal in die eine, mal in die andere Richtung aus. Über die Zeit machte es sich keine Gedanken. Zeit bedeutete ihm nichts. Es war unsterblich.
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»Warum können wir nicht einfach losrennen?« frag te Max. Er war blaß und zappelig und sah aus, als würde er gleich zu weinen anfangen. »Es kann uns nicht alle fangen, wenn wir uns in alle Richtungen verteilen.« »Nein, Max«, sagte Chase und legte einen Arm um seinen Sohn und den anderen um Elizabeth. Sie zitterte leicht, aber wirkte gelassen. Sie schien auf alles gefaßt zu sein. »Ich will, daß es keinen von uns fängt, vor allem nicht euch beide.« Er trat ans Fenster, hielt eine Hand über die Augen und spähte in die Dunkelheit hinaus. Er konnte das Ding jetzt deutlicher erkennen, einen geisterhaften Umriß vor schwarzem Hintergrund. Wieviel Zeit hat ten sie noch? Chase konnte es nicht sagen. Das Ding bewegte sich langsam, scherte nach links und rechts aus, beinahe ziellos… Beinahe, aber nicht ganz, denn mit jedem kleinen Stück kam es dem Haus ein paar Meter näher. »Machen wir’s«, sagte er. Er wandte sich an Aman da. »Sind Sie sicher, daß Sie die Reihenfolge im Kopf haben?« »Absolut. Aber ich – « »Gut.« Chase nahm die Kinder bei der Hand und führte sie zu einem kleinen Wandschrank hinter der Dekompressionskammer. »Es ist zwar dunkel«, sagte er, »aber damit kommt ihr schon klar, oder? Amanda ist ja bei euch.« Zögernd nickten die Kinder und stiegen hinein. Chase reichte Amanda die Hand, trat nah an sie
heran und flüsterte: »Wenn etwas schiefgeht, irgend etwas, nehmen Sie die Kinder und rennen zum Ma kofänger. Sie müßten genug Zeit haben. Zumindest kann ich das gottverdammte Ding eine Zeitlang ab lenken.« »Simon…« Chase küßte sie spontan. »Hinein mit Ihnen«, sagte er, half ihr in den Wandschrank und schloß die Tür. Er ging zu der Kontrolltafel an der Wand und drück te den Hauptschalter, der die Dekompressions kammer in Gang setzte. Es summte, als die Ma schine ansprang. Die Drucktanks, die in die Wände eingelassen waren, begannen sich zischend mit Luft zu füllen. Er schaltete die Lichter im Raum aus. Nur noch die rosa Glühbirne in der Kammer brann te. Dann kletterte er durch die Luke, kauerte sich hin und wartete.
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Es näherte sich dem Haus. Licht strahlte durch die Fenster, und dunkle Gestalten zeichneten sich da vor ab. Es war weder mißtrauisch noch beunruhigt – es fühlte sich lediglich provoziert. Sie konnten es sehen, oder auch nicht. Aber sie konnten es nicht aufhalten. Dann erlosch das Licht. Es war ver schwunden, als hätte es die Nacht verschluckt. Es hielt an. Was hatte sich verändert? Lag der Feh ler bei ihm? Nein, es konnte Konturen erkennen. Der dunkle Klotz des Hauses zeichnete sich gegen den schieferschwarzen Himmel ab. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Jetzt sah es so gar ein schwaches rosa Glühen, das von irgendwo her aus dem Haus kam. Es nahm seinen Marsch wieder auf. Bald stand es neben dem Gebäude. Es umkreiste es langsam und bedächtig und suchte einen Einschlupf. Es fand ei ne Tür, ein dünnes Ding aus Holz. Es holte mit dem Arm aus, um es zu zerstören.
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Über das Summen der Maschine hinweg hörte Chase, wie Glas zerbrach und Holz splitterte. Dann ertönte ein tiefes, kehliges Geräusch. Es trat über die Türschwelle in das große Zimmer und richtete seine Aufmerksamkeit auf das schwa che rosa Glühen. Es hörte Maschinengeräusche und sah ein großes, unbewegliches Objekt in der Mitte des Raums. Es leuchtete von innen heraus. Das Ding schlurfte zu dem Objekt und beugte sich zu der Seite hinab, an der eine Tür offenstand. Im Trüben sah es am anderen Ende einen Men schen. Er ähnelte dem, den es vor kurzem besiegt hatte, sah aber kleiner, schwächer und ängstlich aus. Leichte Beute. Es ging hinein. Chase roch etwas Säuerliches und Salz und Fäul nis. Er hörte Schritte auf dem Stahl und wagte nicht, hinzusehen. Er fürchtete, eine Bewegung könnte sein Spiegelbild verändern. Das Ding schlurfte an ihm vorbei. Jetzt sah er das unbehaarte, elfenbein farbene Fleisch an Beinen und Gesäß, die Schwimmhäute zwischen seinen Zehen, die mit Blut beschmierten gekrümmten Stahlkrallen. Chases Beine verkrampften sich. Er zwang sich, unbeweglich zu bleiben. Unhörbar flehte er das Ding an weiterzugehen. Noch zwei Schritte, dachte er, nur noch zwei, dann könnte er… Das Ding blieb stehen. Es war verwirrt. Irgend etwas stimmte nicht. Der Mensch war da und doch nicht da. Und es sah et was anderes, etwas, was es nicht erkannte. Plötz
lich begriff es. Es sah sich selbst. Mit lautem Wut geheul drehte es sich um.
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Chase stemmte sich vom Boden der Kammer hoch und hechtete durch die offene Luke. Er landete auf den Knien, drehte sich um und bekam die Tür der Dekompressionskammer zu fassen. Sie war schwer, so schwer hatte er sie nicht in Erinnerung. Das Geschöpf machte einen Schritt auf ihn zu. Es wollte sich auf ihn stürzen. Chase gab der Tür einen kräftigen Stoß und stemmte sich dagegen. Er sah, wie sich eine Hand nach ihm ausstreckte. Sie wurde immer größer. Die Tür schlug knallend zu. »Jetzt!« schrie Chase. »Jetzt!« Er drehte das Hand rad, und ein rotes Licht blinkte auf: Die Kammer war vollständig verschlossen. Er spürte, wie gegen die Stahltür gehämmert wurde und hörte, wie sich die Tür des Wandschranks öffnete. Amanda eilte zur Kontrolltafel. Er hatte die Regler schon eingestellt, und sie mußte nur noch auf die Knöpfe drücken. Dann hörte man, wie aus einem Dutzend Ventile Preßluft in die Kammer strömte. Kalte, trockene Luft prallte auf die warme Luft in der Kammer. Nebel bildete sich. »Herunterfahren«, sagte Chase zu Amanda, »so tief und schnell Sie können.« Er ging hinüber auf die andere Seite der Kammer und sah durch das Bull auge. An der Stahltür war nichts zu machen. Sie wollte nicht nachgeben. Es spürte, daß es in die Falle ge tappt war und suchte nach einem Fluchtweg. Es sah ein mit Glas abgedecktes Loch. Mit der Faust holte es aus, um das Glas einzuschlagen. Plötzlich
durchzuckte ein Schmerz seinen Kopf. Einen sol chen Schmerz hatte es bis dahin nicht gekannt. Es brannte wie Feuer, und sein Gehirn schien zu einer flüssigen Masse zerquetscht zu werden. Sie konnten durch den Nebel, der in der Kammer herumwirbelte, nur wenig erkennen. Aber das Ge räusch war unüberhörbar… das durchdringende Aufjaulen eines Tiers im Todeskampf. »Seine Ohren gehen drauf!« rief Chase. »Kein Wunder«, sagte Amanda. »Ich hab’ den Druck in der Kammer in fünf Sekunden auf sechzig Meter hochgejagt. Seine Ohren können sich nicht so schnell anpassen. Muß verdammt weh tun.« Das Kreischen hörte auf. »Sein Trommelfell muß geplatzt sein«, sagte Cha se. »Was bedeutet, daß der Schmerz auch weg ist. Es ist taub, aber ausgeglichen.« Amanda beobachtete den Druckmesser an der Kontrolltafel. Etwas knallte gegen das Bullauge. Winzige, spinnennetzartige Sprünge erschienen im Glas. »Schnell«, sagte Chase. »O Gott… es will das Bull auge einschlagen. Wenn ihm das gelingt, geht die Kammer hoch wie eine Bombe.« Er wandte sich zu Max und Elizabeth um, die neben Amanda standen. »Geht nach draußen«, sagte er. »Schnell.« »Aber…« Max schien perplex. »Wohin denn?« »Egal… geht einfach!« Die Kinder rannten zur Küchentür. »Der Druck liegt jetzt bei einhundert Metern«, sagte Amanda. So rasch, wie der Schmerz gekommen war, ver schwand er auch wieder. Jetzt nahm das Geschöpf
in seinem Kopf nur noch ein dumpfes Gefühl wahr. Es wußte zwar nicht, wie ihm geschah. Aber es konnte den Verursacher seines Schmerzes identifi zieren: Der Mensch, der ihn durch das Glas anstarr te, war schuld. Seine Motivation wechselte: Es wollte nicht mehr einfach überleben, sondern sich rächen. Mit dem Fuß stieß es gegen etwas Hartes. Es beugte sich hinunter, hob das Ding auf und stürzte sich auf den gläsernen Kreis. »Es hat einen Schraubenschlüssel«, rief Chase. Er wich erschrocken zurück, als die schwere Spitze des Stahlwerkzeugs in das Bullauge gerammt wur de. Neue Sprünge erschienen im Glas. »Zweihundert Meter«, sagte Amanda. »Zweihun dertzehn.« »Wir müssen es tun, wir müssen es jetzt tun.« »Aber wir wissen doch nicht – « »Es wird klappen«, sagte Chase. »Es muß.« Er preßte das Gesicht gegen das Bullauge und spähte durch den Nebel. Das Geschöpf kauerte auf dem Boden und umklammerte den Schraubenschlüssel wie eine Keule. »Ihn Sie’s!« rief er. »Komme«, rief Amanda und drückte eine Reihe von Knöpfen. Es fing ohrenbetäubend zu brausen an, und der Nebel in der Kammer wirbelte wild durch einander und begann sich aufzulösen. Chase sah, wie das Geschöpf sich verkrampfte. Durch den grauen Nebel waren das Weiße seiner Augen und der silbrige Schimmer seiner Zähne zu erkennen. Es sprang auf das Bullauge zu.
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Das Geschöpf schien mitten in der Luft zu verhar ren. Es wirkte, als wäre es plötzlich vom Blitz getrof fen. Sein Körper verrenkte sich, und die Augen quollen hervor. Es stürzte auf den Boden der Kam mer und verkrallte sich im eigenen Fleisch. »Einhundertfünfzig Meter…«, sagte Amanda. »Ein hundertzwanzig…« »Es klappt«, sagte Chase. Er konnte den Blick nicht vom Bullauge abwenden. »Mein Gott…« Als der Druck in der Kammer zweihundertzehn Me ter betragen hatte, hatten sich nahezu fünfzig Pfund pro Quadratzentimeter auf das Geschöpf gepreßt. Seine Lunge und seine Nebenhöhlen, seine Ma gengrube und jedes andere Luftloch in seinem Kör per wurden in Mitleidenschaft gezogen. Jetzt stellte Amanda den Druckausgleich in der Kammer wieder her. Aus dem Geschöpf entwich die Luft so schnell und heftig wie aus einem platzenden Ballon. Es konnte nicht sehen, es konnte nicht hören, es konnte nicht atmen. Jedes Gelenk und jede Sehne brannte wie Feuer. Sein Magen schien ihm in die Brust zu stoßen. Die Brust stieg wohl in den Kopf. Der Kopf flog scheinbar in die Luft. Es hatte keine Ahnung, wie ihm geschah. Es konnte nicht wissen, daß in der Kammer eine Dekompression stattfand. Sie war schneller, als sein Körper verkraften konnte. In seinem ganzen Gewebe verteilten sich Stickstoffbläschen. Sie nis teten sich überall ein, wurden unaufhaltsam größer und zerrissen das Gewebe. Verzweifelt umklam
merte es sich selbst, als wollte es seinen aus den Fugen geratenen Körper wieder in die richtige Form bringen. Fasziniert beobachtete Chase, wie das Geschöpf von einer Seite der Kammer auf die andere schlin gerte. Blut strömte ihm aus Mund und Ohren. Die Augen traten hervor und quollen aus ihren Höhlen. Es hob eine Hand, als wollte es sie festhalten. Doch bevor es mit der Hand das Gesicht erreichte, quetschte sich ein Auge aus der Höhle. Es sah aus wie eine Weintraube, die aus ihrer Haut gedrückt wird. Grotesk baumelte es an roten Muskelsträn gen. Der Anblick war surreal. Vor seinen Augen wand sich eine pulsierende und aufquellende Gestalt. Sie schien von einem wahnsinnigen Bildhauer geschaf fen und von einem geisteskranken Puppenspieler gelenkt. »Achtzig Meter«, sagte Amanda. »Sechzig… was tut sich?« »Es ist auf den Knien«, sagte Chase. »Es ist… ach du Scheiße!« Das Geschöpf explodierte. Ein dicker, blutroter Ne bel erfüllte die Kammer. Blutstropfen und Fleischbrocken schlugen gegen das Bullauge und blieben dort kleben.
55 Chase stand in der Eingangshalle des Krankenhau ses und wartete auf den Aufzug. Er warf einen Blick auf die Uhr. Er war über eine Stunde zu spät. Ei gentlich hatte er um zwei Uhr da sein wollen. Doch Rollie Gibson und Nate Green hatten ihn am Tele fon aufgehalten. Er hatte sein Versprechen einlösen und Nate für seine Zeitung einen detaillierten Exklu sivbericht darüber geben müssen, was sich auf der Insel ereignet hatte. Auf dem Festland hatte dann Rudi Franks auf ihn gewartet. Er hatte ihm ein altes, zerfleddertes Schwarzweißfoto geschenkt. Es zeigte Ernst Krüger und Jacob Franks, wie sie an Heinrich Günther her umoperierten. Schließlich war es noch auf der Bank zu Verwirrun gen gekommen. Er hatte dort auf dem Weg in die Klinik einen Scheck einlösen wollen. Einer der An gestellten hatte ihn in einer Angelegenheit sprechen wollen, mit der Chase nichts anfangen konnte. Es mußte sich um einen Irrtum handeln. Der Aufzug kam. Chase stieg im dritten Stock aus und ging zum Schwesternzimmer. »Du hast dir ja reichlich Zeit gelassen«, sagte Ellie Bindloss. Die kleine, stämmige Frau war mit Chase zusammen zur Schule gegangen. »Wir sind hier nicht darauf eingerichtet, mit Achthundert-PfundGorillas fertigzuwerden, verstehst du?« »Tut mir leid«, sagte Chase. »Wo ist er?« Sie deutete den Gang hinunter. »Kannst ihn nicht verfehlen«, sagte sie. »Du wirst ihn hören, bevor du
ihn siehst.« Als sich Chase einer offenen Tür am Ende des Gangs näherte, hörte er Tall Mans Stimme: »Tut mir leid! Was soll das heißen, tut mir leid? Du hast mich übers Ohr gehauen, und zwar absichtlich.« Dann hörte er Max’ Stimme, die lachend sagte: »Pech gehabt, Chief. Geh vom Brett.« Chase blieb einen Augenblick vor der Tür stehen. Er war sich nicht sicher, was ihn erwartete. Dann trat er ein. »Hi«, sagte er. »Komm mir nicht mit >Hi<«, sagte Tall Man. »Dein hinterhältiger Sohn hat mich gerade zum vierten Mal hintereinander geschlagen. Wir sollten ihn an die Fische verfüttern.« Er lachte, dann verzog er das Gesicht und faßte sich an den Verband, der ihm um die Brust und einen Arm ging. »O Gott«, sagte er, »zu lachen macht keinen Spaß. Aber immer noch besser als zu husten.« Max saß am unteren Bettende. Zwischen ihm und Tall Man lag ein Brettspiel, das mit Plastikkarten und bunten Steinen übersät war. Amanda saß mit einer Zeitung auf dem Schoß neben dem Bett. Cha se hatte Tall Man seit zweieinhalb Tagen nicht ge sehen, seit er mit ihm in einem Polizeihubschrauber zur Intensivstation in New London geflogen war. Tall Man war über und über mit Blut und Dreck be schmiert gewesen. Sein Gesicht war aschgrau ge wesen, sein Atem stoßweise und schwach. Die Ärz te hatten zwei Stunden gebraucht, um die Blutung zu stillen. Sie mußten die kollabierte Lunge nähen und wieder mit Luft füllen und mit der ersten von zahlreichen Transfusionen beginnen. Sie hatten Chase aus der Intensivstation gescheucht. Am A
bend, als sie zuversichtlich waren, daß Tall Man überleben würde, hatten sie Chase gedrängt, nach Hause zu gehen und zu schlafen. Chase war immer noch schleierhaft, was mit Tall Man passiert war. Er hatte noch in der Dunkelheit angefangen, nach ihm zu suchen. Gefunden hatte er ihn aber erst, als es schon beinahe hell war. Der große Mann hatte bewußtlos zwischen zwei Felsen in Küstennähe gelegen. Tall Man konnte sich an kaum etwas erinnern. Er wußte nur noch, daß er dem Geschöpf ein paar Schnittwunden zugefügt hatte. Dann fuhr ein Stich durch seine rechte Seite und die Schulter. Es wir belte ihn durch die Luft, und er war auf die Felsen im Wasser geschleudert worden. Auf Tall Mans Stirn war eine dunkelrote Beule zu sehen. Von der linken Augenbraue aus zog sich eine Naht über die Schläfe. »Du siehst nicht allzu schlecht aus«, sagte Chase und ging auf das Bett zu. »Wenn man bedenkt.« »O doch, ich seh’ aus wie eine Meile schlechte Straße«, sagte Tall Man. »Und du denkst besser nicht mal daran, mich anzufassen. Ich fühle mich wie ein entgleister Zug.« Chase lächelte. »Fertig zum Gehen?« »Und ob. Wenn ich hier noch länger bleibe, werden sie mich verhungern lassen oder zu Tode nähen… oder beides.« Tall Man lehnte sich vor, schwang die Beine seitlich aus dem Bett und stand auf. Er stütz te sich an der Wand ab. Chase half ihm in die Hose und legte ihm ein Hemd um die Schultern. Ellie Bindloss kam mit einem Rollstuhl herein. »Set zen Sie sich«, sagte sie.
»Niemals«, sagte Tall Man. »Ich kann laufen – « »Setzen Sie sich, bevor ich Sie umhaue.« Tall Man lächelte, dann lachte er, und dann hustete er. »Sie sind eine harte Frau, Ellie Bindloss«, sagte er und ließ sich in den Rollstuhl plumpsen. Max schob den Rollstuhl den Gang hinunter, Ellie ging neben ihm, und Chase und Amanda folgten. Chase erzählte ihr von dem Foto, das Rudi ihm ge geben hatte, und sagte dann: »Wir müssen auf dem Rückweg bei der Bank vorbeigehen. Ich muß dort etwas klarstellen.« Amanda zögerte einen Augenblick, bevor sie sagte: »Was klarstellen?« »Ich weiß nicht. Irgend so ‘n Quatsch. Einer der Bankangestellten hat mir gesagt, die Bank hätte meine Papiere für die Insel nicht mehr. Er meinte, sie hätten sie verkauft.« »Wirklich?« »An eine Gesellschaft. Einen Augenblick lang dach te ich, die hätten mich hochgenommen und an Fin negan oder irgend jemand anders verkauft, der die Insel übernehmen wollte. Aber dann hat der Typ gesagt, daß ich einer der Partner sei.« Amanda sagte nichts. Sie ging einfach weiter und sah geradeaus. »Haben Sie schon einmal was von der PinnipediaGruppe gehört?« »Muß neu sein«, sagte sie. »Was ist das für ein Name, die Pinnipedia-Gruppe. Wissen Sie, was Pinnipedia sind?« »Klar.« »Es sind…« Chase blieb stehen. Er begriff, was er gerade sagen wollte. Noch nie im Leben war er sich
so dumm vorgekommen. »Seelöwen. Pinnipedia sind Seelöwen.« Amanda lächelte und nahm seinen Arm. »Über die Einzelheiten reden wir später«, sagte sie. »Wir ha ben viel Zeit.«