Roger Zelazny
Sieben Statuen
Fantasy-Roman
Schwert und Magie: Weitere Abenteuer des Wechselbalg. ISBN 3-404-20054-3 O...
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Roger Zelazny
Sieben Statuen
Fantasy-Roman
Schwert und Magie: Weitere Abenteuer des Wechselbalg. ISBN 3-404-20054-3 Originaltitel: Madwand Ins Deutsche übertragen von: Eva Eppers 1984 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe Titelillustration: Three Lions Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Bisher sind im BASTEI-LÜBBE Taschenbuchprogramm von ROGER ZELAZNY nachstehende Bände erschienen: 20 048 Wechselbalg 22 033 Götter aus Licht und Dunkelheit 21 133 Mein Name ist Legion
Dies ist für Trent
I Ich bin mir nicht sicher. Manchmal scheint mir, als wäre ich schon immer hiergewesen, obwohl ich weiß, daß es eine Zeit vor meiner Ankunft gegeben haben muß. Und manchmal scheint mir, als wäre ich eben erst eingetroffen. Woher ich gekommen sein könnte, weiß ich nicht. Seit kurzem finde ich das etwas beunruhigend, aber erst seit kurzem. Lange Zeit schwebte ich durch diese Hallen, über die Zinne, die Türme hinauf und herunter, breitete mich aus oder zog mich zusammen, wie es mir gefiel, um einen Raum auszufüllen - oder ein Dutzend -, oder um mir einen Weg durch die Wohnungen der Mäuse zu suchen, die glitzernden Fäden eines Spinnennetzes zu verfolgen. An diesem Ort bewegt sich nichts, ohne daß es mir bewußt wird. Aber meiner selbst war ich mir bis vor kurzem nicht bewußt, und über die Handlungen, die ich gerade aufgezählt habe, breitet sich der Staub von Träumen, wobei ich selbst ein Teil des Träumers bin. Dennoch. . . Dennoch, ich schlafe nicht. Ich träume nicht. Trotzdem scheine ich jetzt von vielen Dingen zu wissen, die ich nie erlebt habe. Vielleicht liegt es daran, daß ich nur langsam lerne, oder vielleicht hat vor kurzem etwas mein Bewußtsein bis zu einem Punkt angeregt, wo all die Echos von Gedanken etwas Neues in mir geweckt haben - ein Gefühl vom Selbst, das ich vorher nicht besaß, ein Wissen um Abstand, meines Getrenntseins von -4-
Dingen, die nicht ich Sind. Wenn dies der Fall ist, möchte ich gerne glauben, daß es mit dem Grund meines Seins zu tun hat. Gleichfalls habe ich seit kurzem zu fühlen begonnen, daß ich einen Grund haben sollte, um zu sein, daß es wichtig ist, daß ich einen Grund habe, um zu sein. Allerdings habe ich keine Ahnung, welcher dies sein könnte. Es wurde gesagt - wieder vor kurzem -, daß dieser Ort von Geistern heimgesucht wird. Aber ein Geist, so wie ich es verstehe, ist ein nichtphysisches Überbleibsel von jemand oder etwas, der oder das einmal in einer festeren Form existiert hat. Einem solchen Wesen bin ich während meiner Streifzüge durch diesen Ort niemals begegnet, obwohl mir unlängst in den Sinn gekommen ist, daß diese Bezeichnung auf mich selbst in meinen greifbaren Momenten passen könnte. Trotzdem, ich glaube nicht, daß ich ein Geist bin, denn ich habe keine Erinnerung an die erforderliche frühere Existenz. Natürlich ist es schwierig, in einer solchen Sache sicher zu sein, denn ich weiß nicht, welche Gesetze in einem derartigen Fall gelten. Und das ist ein anderer Bereich der Existenz, dessen ich mir erst vor kurzem bewußt geworden bin: Gesetze Beschränkungen, Zwänge, Gebiete der Freiheit. . . Sie scheinen überall zu sein, von dem Tanz der kleinsten Partikel bis zur Drehung der Welt, was vielleicht der Grund ist, weshalb ich ihnen früher so wenig Beachtung schenkte. Das Allgegenwärtige bleibt fast unbemerkt. Es ist so einfach, im Strom des Gewohnten dahin zufließen, ohne darüber nach zu denken. Es mag sehr wohl sein, daß erst das Auftauchen des Ungewohnten diese Fähigkeit in mir weckte und zugleich die Erkenntnis meiner Existenz. Dann, außerdem in Übereinstimmuing mit den Gesetzen, deren ich mir bewußt geworden bin, habe ich ein Phänomen beobachtet, das ich als die »Beständigkeit der Form« bezeichne. -5-
Die zwei Männer, die redend in dem Raum sitzen, wo ich wie eine sich langsam drehende, vollkommen durchsichtige Wolke hänge, eine Armeslänge vor dem höchsten Bücherregal nahe dem Fenster - diese beiden Männer sind nach ähnlichen Richtlinien der Symmetrie geformt, obwohl ich mir vieler Unterschiede innerhalb dieser Grenzen bewußt bin; und die Wellenveränderungen, die sie in der Luft hervorrufen, wenn sie sich miteinander verständigen, sind ebenfalls relativ gleichförmige Dinge, die eigenen Regeln folgen oder ihnen unterliegen. Und wenn ich sehr genau aufpasse, bemerkte ich sogar ihre Gedanken vor oder nach diesen Veränderungen. Auch sie scheinen einem Muster zu folgen, wenn auch auf einer sehr viel komplexeren Ebene. Daraus scheint zu folgern, daß, wäre ich ein Geist, etwas von meiner früheren Form übriggeblieben sein müßte. Aber ich bin ohne feste Gestalt, fähig, mich in großem Maßstab auszudehnen oder zusammen zu ziehen, alles zu durchdringen, was mir bis jetzt begegnet ist. Und es gibt keinen bestimmten Zustand, zu dem ich mich gezwungen fühle zurück zu kehren. Zusammen mit meinem wachsenden Bewußtsein von Identität und meiner Unwissenheit über das, was ich bin, fühle ich noch etwas anderes: eine Sicherheit, daß ich unvollständig bin. Etwas in mir fehlt, und das, sollte ich es entdecken, könnte sehr wohl den Grund meines Seins darstellen, nach dem ich so verlange. Es gibt Zeiten, in denen fühle ich mich, als hätte ich, in gewisser Weise, lange geschlafen und wäre erst kürzlich von der Unruhe an diesem Ort geweckt worden - geweckt, um mich einer wichtigen Information beraubt zu finden. (Den Begriff »beraubt« habe ich erst vor kurzem gelernt, da einer der Männer, die ich gerade beobachtete, ein Dieb ist. ) Wenn ich jemals Vollständigkeit erreichen will, scheint es, daß ich mich selbst auf die Suche danach begeben muß. Ich nehme an, daß ich mir, für den Augenblick, den Grund -6-
meiner Existenz als Ziel dieser Suche setzen sollte. Ja. Selbsterkenntnis, die Suche nach der Identität. . . Das wäre ein guter Beginn. Ich frage mich, ob jemals ein anderes Wesen ein solches Problem gehabt hat. Ich werde genau aufpassen, was die Männer sagen. Ungewißheit liebe ich nicht. Pol Detson hatte die Figuren in einer Reihe auf dem vor ihm stehenden Tisch aufgebaut. Er war ein junger Mann, trotz der weißen Strähne in seinem Haar. Er beugte sich vor und streckte eine Hand in ihre Richtung. Er bewegte sie langsam, strich mit den Fingerspitzen über die gesamte Gruppe, vor und zurück, jede einzelne juwelenbesetzte Figur umkreisend. Schließlich seufzte er und richtete sich auf. Er ging durch das Zimmer zu dem kleineren, schwarz- gekleideten Mann, der das linke Bein über die Armlehne seines Sessels gelegt hatte und in jeder Hand ein gefülltes Weinglas schwenkte. Er nahm eines entgegen und hob es an die Lippen. »Nun?« fragte ihn der kleinere Mann, Samtfinger mit Namen und ein Dieb, als er das Glas wieder senkte. Pol schüttelte den Kopf, rückte einen Sessel so zurecht, daß er Samtfinger und die Figuren im Auge hatte und setzte sich. »Eigenartig«, meinte er endlich. »Beinahe alle Dinge senden ein Band aus, etwas, an dem man sie halten kann, selbst wenn man darum kämpfen muß, selbst wenn es nur gelegentlich der Fall ist.« »Vielleicht ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.« Pol beugte sich vor, stellte sein Glas auf den Tisch. Er prüfte die Geschmeidigkeit seiner Finger, legte sie mit den Spitzen zusammen und begann sie mit kleinen, kreisenden Bewegungen gegeneinander zureiben. Nach vielleicht einer halben Minute löste er sich aus dieser Haltung und wandte sich den Figuren zu. -7-
Er wählte die zunächst stehende Statuette - schmal, weiblich, mit einem roten Stein gekrönt, die Hände unter den Brüsten gefaltet - und schien sie mit etwas zu umhüllen, obwohl Samtfinger keinen Stoff oder dergleichen bemerken konnte. Endlich bewegten sich seine Finger, als knüpften sie eine Reihe von Schlingen in ein nicht vorhandenes Band. Dann trat er zurück und setzte sich wieder, wobei er seine Hände vor sich hielt, wie ein Angler, der Schnur ausgibt. Eine geraume Weile saß er bewegungslos. Dann ruckten die Finger auf dem Tisch ein wenig, und er ließ die Hände sinken. »Zwecklos«, sagte er, rieb sich die Augen und griff nach seinem Weinglas. »Ich kann sie scheinbar nicht in den Griff bekommen. Sie haben keine Ähnlichkeit mit irgend etwas, das ich kenne.« »Sie sind etwas Besonderes, das stimmt«, bemerkte Samtfinger, »wenn man den Tanz bedenkt, den sie mit mir aufgeführt haben. Und nach den Kostproben zu urteilen, die sie dir auf dem Amboßberg gegeben, glaube ich, daß sie in diesem Augenblick zu dir sprechen könnten - wenn sie wollten.« »Ja. Sie waren hilfreich genug - in gewissser Weise - an jenem Tag. Ich frage mich, warum sie sich jetzt zu sprechen weigern?« »Vielleicht haben sie nichts zu sagen?« Ich war verwirrt durch die Art, in der diese Männer von den sieben kleinen Statuen auf dem Tisch sprachen, als wären sie lebendig. Ich schwebte näher heran und untersuchte sie. Ich hatte beobachtet, wie Ströme der Kraft von den Fingerspitzen des Mannes Pol zu ihnen übergingen, kurz nachdem er von »Bändern« gesprochen und seine Gesten vollführt hatte. Gleichfalls hatte ich ein Pulsieren von Macht an seinem rechten Unterarm bemerkt, wo er das seltsam beunruhigende Mal eines Drachen trug - ein Zeichen von dem ich fühle, daß ich mehr -8-
darüber wissen sollte, als es der Fall ist -, aber ich hatte keine Bänder gesehen. Noch war mir irgendeine Reaktion der Figuren aufgefallen, bis auf den kleinen Ruck der einen, als sie die Hülle der Macht abschüttelte. Ich lagerte mich über ihnen, konzentrierte mich, spürte die Beschaffenheit der verschiedenen Materialien, aus denen sie geformt worden waren. Kalt, leblos. Es waren nur die Worte der Männer, die sie mit einem Geheimnis umgaben. Während ich diese Untersuchung ihrer Oberflächenbeschaffenheit fortsetzte, zog ich mich noch mehr zusammen und beschränkte mich jetzt auf die Figur, die Pol für einen Moment gebunden hatte. Mein Handeln erfolgte dann im gleichen Augenblick wie mein Entschluß: ich begann in sie einzuströmen, floß durch die winzigen Öffnungen. . . Die Hitze! Es war unbeschreiblich, dieses sengende Gefühl, das mein Selbst erfüllte. Mich ausdehnend, den Raum erfüllend, in die Nacht flüchtend, wußte ich, daß es sich um jenes Ding handeln mußte, das man als Schmerz bezeichnete. Ich hatte es niemals zuvor erfahren und hatte nicht den Wunsch, es noch einmal zu spüren. Ich bemühte mich um immer größere Ausdehnung, denn darin lag ein Maß an Linderung. Pol hatte mit seiner Meinung über die Figur recht gehabt. Sie war irgendwie lebendig. Sie wünschte nicht, gestört zu werden. Außerhalb der Mauern Rondovals begann der Schmerz nachzulassen. Ich fühlte eine Regung in mir. . . etwas, das schon immer dagewesen war, aber erst jetzt an die Oberfläche des Bewußtseins trieb. . . »Was war das?« fragte Pol. »Es hörte sich an wie ein Schrei, -9-
aber. . .« »Ich habe nichts gehört«, antwortete Samtfinger und richtete sich auf. »Aber ich fühlte gerade einen Schlag, als hätte mich jemand berührt, der gerade über einen dicken Teppich gegangen war, nur stärker, länger. . . ich weiß nicht. Es machte mich frösteln. Vielleicht hast du irgend etwas aufgestört, durch dein Herumspielen mit dieser Statue.« »Vielleicht«, meinte Pol. »Einen Augenblick lang schien es, als wäre etwas Fremdes hier in demselben Raum mit uns.« »Es muß eine Menge ungewöhnlicher Dinge in diesem alten Gemäuer geben - da sowohl dein Vater als auch deine Mutter praktizierende Magier waren. Gar nicht zu reden von deinen Großeltern und den ihren.« Pol nickte und nippte an seinem Wein. »Es gibt Zeiten, in denen ich mir sehr deutlich meiner mangelnden formalen Ausbildung auf diesem Gebiet bewußt bin.« Er hob seine rechte Hand ein wenig über Schulterhöhe, streckte seinen Zeigefinger aus und vollführte rasch einige knappe, kreisende Bewegungen. Ein Buch in einem Einband aus Leder unbestimmbarer Herkunft erschien plötzlich in seiner Hand, zwischen den Seiten ragte als Lesezeichen eine grauweiße Feder hervor. »Das Tagebuch meines Vaters«, erklärte er, legte den Band auf die Knie und schlug ihn an der bezeichnenten Stelle auf. »Also hier«, sagte er, fuhr mit dem Finger die rechte Seite hinunter, hielt inne und las, »berichtet er, wie er einen feindlichen Zauberer besiegte und vernichtete und seinen Geist in eine der Statuen bannte. An anderer Stelle erzählt er von einigen der übrigen. Aber alles, was er zum Schluß sagt, ist:›Es wird sich als nützlich für die Aufgabe erweisen, die auf mich zukommt. Wenn sechs den Wächter nicht bezwingen, werde ich sieben haben oder gar acht. ‹Offensichtlich hatte er etwas ganz -10-
Bestimmtes im Sinn. Unglücklicherweise hat er es nicht dem Papier anvertraut.« »Weiter hinten vielleicht?« »Ich werde wieder einmal lange aufbleiben und lesen. In den letzten Monaten habe ich mir Zeit damit gelassen, denn es ist kein angenehmes Buch. Er war kein sehr netter Bursche.« »Das weiß ich. Aber es ist gut, daß du es durch seine eigenen Worte erfährst.« »Diese Bemerkung über die Bezwingung des Wächters - hat sie für dich irgendeine Bedeutung?« »Absolut nicht.« »Ein guter Zauberer würde einen Weg finden, um aus den hier verfügbaren Gegenständen die Antwort zu erfahren, da bin ich sicher.« »Ich nicht. Diese Dinge scheinen außergewöhnlich mächtig zu sein. Was deine eigenen Fähigkeiten betrifft, so scheinst du es recht weit gebracht zu haben, auch ohne Ausbildung. Ich würde eine ganze Menge geben, um diesen Büchertrick ausführen zu können - mit, na, irgend jemandes Juwelen. Wo hast du es überhaupt hergeholt?« Pol lächelte. »Ich wollte es nicht herum liegen lassen, also sicherte ich es mit einem goldenen Band und befahl ihm, sich an einen jener unbestimmbaren Orte zwischen den Welten zu begeben, wie ich sie auf meiner Reise hierher sah. Es verschwand, aber wann immer ich darin lesen will, ziehe ich nur an dem Band und rufe es herbei.« »Götter! Dasselbe könntest du mit einer Rüstung tun, einem Ständer voller Waffen, einem Jahresvorrat an Lebensmitteln, deiner gesamten Bibliothek! Du könntest dich selbst unüberwindlich machen!« Pol schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein«, sagte er. »Das -11-
Buch und der Verzerrer sind alles, was ich dort aufbewahre, denn von keinem von beiden möchte ich, daß sie in fremde Hände fallen. Wäre ich auf Reisen, könnte ich noch meine Gitarre dazu tun. Nur wenig mehr und es würde zu einer Last. Ihr Gewicht wird irgendwie meinem eigenen hinzugefügt. Es ist, als würde ich alles, was ich dorthin schicke, mit mir herumtragen.« »Also dahin ist der Verzerrer verschwunden. Ich erinnere mich, daß du ihn entdeckt hast, an jenem Tag, als wir zum Amboß zurück kehrten. . .« »Ja, fast wünschte ich, wir hätten es nicht getan.« »Du konntest nicht wirklich darauf hoffen, seinen Leichnam oder dein Szepter aus diesem Krater zu retten.« »Nein, das meinte ich nicht. Es war nur der Anblick all dieser - Zerstörung - der mich belastete. Ich. . .« Er schlug mit der Faust auf die Armlehne seines Sessels. »Verdammt seien diese Statuen! Manchmal scheint es, als steckten sie hinter allem! Wenn ich sie nur zur - Hölle schicken könnte!« Er leerte sein Glas und stand auf, um es wieder zu füllen. Das Gefühl verebbte. Dieses Erlebnis gefiel mir nicht. Das Zimmer und seine Insassen waren jetzt winzig in der Wolke meiner selbst, und neue Ungewißheiten waren aufgetaucht: Ich wußte nicht, was es gewesen war, das meinen Schmerz verursacht hatte, noch, wie dieser Effekt zustande kam. Ich hatte den Eindruck, daß ich diese Dinge lernen sollte, um sie in Zukunft vermeiden zu können. Ich wußte nicht, wie ich weiter vorgehen sollte. Außerdem hatte ich den Eindruck, daß es mir nützen konnte, heraus zu finden, wie ich diesen Effekt in anderen bewirken konnte, um sie zu bezwingen, mich in Ruhe zu lassen. Wie -12-
konnte ich das erreichen? Wenn es eine Möglichkeit der Verbindung gab, mußte sie nach beiden Seiten wirksam werden können, sobald ich mir die Technik angeeignet hatte. . . Wieder dieses Aufflammen von Erinnerung. Aber ich wurde abgelenkt. Jemand näherte sich der Burg. Es war ein einzelner Mensch, männlichen Geschlechts. Ich war mir dieses Unterschiedes wegen meiner Vertrautheit mit dem Mädchen Nora bewußt, die eine Zeitlang in der Burg gewohnt hatte, bevor sie zu ihren eigenen Leuten zurückkehrte. Dieser Mann trug einen braunen Umhang und dunkle Kleidung. Er kam aus Nordwesten, auf einem minderen Artgenossen der Drachen, die unter der Burg hausten. Sein Haar war blond und an manchen Stellen weiß. Er trug ein kurzes Schwert. Er kreiste. Er konnte das Signal des einen erleuchteten Raumes nicht übersehen. Er begann herabzugleiten, wie ein Blatt oder Ascheflöckchen im Wind. Ich nahm an, daß er am anderen Ende des Burghofes landen würde, außer Sichtweite des Fensters der Bibliothek. Ja. In dem Zimmer sprachen die Männer über die Schlacht an dem Ort namens Amboßberg, wo Pol seinen Stiefbruder Mark Marakson vernichtete. Pol, das habe ich heraus gefunden, ist ein Magier, und Mark war etwas anderes, ähnlich zwar, aber entgegengesetzter Art. Ein Magier ist einer, der Kräfte lenkt, wie ich es Pol mit der Statue und dem Buch tun sah. Jetzt erinnere ich mich schwach eines anderen Zauberers, Sein Name war Det. ». . . Du hast zu lange über den Figuren gebrütet«, sagte Samtfinger. »Gäbe es eine offensichtliche Antwort, hättest du sie inzwischen gefunden.« »Ich weiß«, erwiderte Pol. »Deshalb halte ich ja Ausschau nach etwas weniger Offensichtlichem.« -13-
»Ich besitze kein besonderes Wissen über Magie«, bemerkte Samtfinger, »aber mir kommt es vor, als läge das Problem nicht gänzlich auf diesem Gebiet.« »Wie meinst du das?« »Tatsachen, Mann. Du hast nicht genug simple, altmodische Informationen, um sicher zu sein, mit was du es hier zu tun hast und wie du es anpacken mußt. Du hast einige Monate Zeit gehabt, diese Bibliothek zu durchstöbern, jedes magische Spiel, das du dir ausdenken konntest, mit diesen steifen Puppen zu spielen. Wäre die Antwort auf diese Art zu finden, hättest du sie entdeckt. Aber sie liegt einfach nicht hier. Du wirst irgendwo anders suchen müssen.« »Wo?« fragte Pol. »Wenn ich das wüßte, hätte ich es längst gesagt. Zwanzig Jahre lang bin ich von der Welt, die ich kenne, getrennt gewesen. Sie muß sich unterdessen ein wenig verändert haben. Deshalb bin ich kaum der geeignete Mann, Ratschläge zu erteilen. Aber du weißt, daß ich nur hierbleiben wollte, bis ich mich von meiner Verwundung erholt hatte. Schon seit einiger Zeit fühle ich mich wieder gesund. Nur deinetwegen bin ich noch nicht abgereist. Es gefällt mir nicht, mit an zu sehen, wie du dich Tag für Tag mit einem verrückten Geheimnis herum schlägst. Es gibt genug halbirre Zauberer auf der Welt, und meiner Ansicht nach ist das genau die Richtung, in die du treibst - ganz von der Möglichkeit zu schweigen, daß du etwas auslösen könntest, das dich auf der Stelle umbringt. Ich glaube, du mußt einmal rauskommen, weg von dem Problem. Du hast gesagt, daß du mehr von dieser Welt sehen willst. Dann tu es jetzt. Komm mit mir - morgen. Wer weiß? Vielleicht stöberst du auf deinen Reisen einige der Informationen auf, die du suchst.« »Ich weiß nicht«, setzte Pol an. »Ich möchte reisen, aber morgen?« -14-
»Morgen.« »In welche Richtung würden wir gehen?« »Zur Küste, habe ich mir gedacht und dann in nördlicher Richtung daran entlang. In Hafenstädten kann man eine Menge Neuigkeiten aufschnappen. . .« Pol hob die Hand und neigte den Kopf. Samtfinger nickte und stand auf. »Arbeitet dein Warnsystem noch?« flüsterte er. Pol nickte und wandte sich zur Tür. »Dann kann es kein. . .« Das Geräusch wiederholte sich, und gleichzeitig erschien die Gestalt eines lächelnden, hellhaarigen Mannes unter der Tür. »Guten abend, Pol Detson«, sagte er, hob die Hand und vollführte einige ruckartige Gesten, »und Lebwohl.« Pol fiel auf die Knie, sein Gesicht plötzlich dunkelrot. Samtfinger umrundete den Tisch. Eine der Statuen ergreifend und wie eine Keule haltend, näherte er sich dem Fremden mit dem braunen Umhang. Der Mann machte eine knappe Bewegung mit der rechten Hand, und der Dieb wurde zurück gestoßen, herumgewirbelt und gegen die nächste Wand geschleudert. Die Statue entglitt seiner Hand, als er zu Boden sank. Während das geschah, hob Pol beide Hände an den Kopf und stemmte sie dann gegen einen unsichtbaren Widerstand. Sein Gesicht nahm langsam wieder eine normale Färbung an, als er auf die Füße kam. »Ich könnte fragen›Warum?‹« sagte er und zeichnete mit beiden Händen Kreise in die Luft. Der Fremde lächelte weiter und bewegte lässig eine Hand, als würde er ein Insekt verscheuchen. »Und ich könnte dir antworten«, meinte er, »aber es bedürfte -15-
schon einiger Überredungskunst.« »Sehr gut«, erwiderte Pol. »Ich bin bereit.« Er fühlte das Drachenmal pulsieren, und die Luft war voller Bänder. Den Arm ausstreckend, ergriff er eine Handvoll, schüttelte sie aus und schwang sie wie eine Peitsche in das Gesicht des Gegners. Der Mann hob die Hand und fing sie ab. Ein heftiger Schlag lähmte Pols Arm, und er sank leblos herab. Die Dichte der Bänder zwischen ihnen erreichte einen Stand, den er nie zuvor erlebt hatte, sie behinderten seine Sicht auf den Gegner. Pol sammelte einen Teil von ihnen mit einer weit ausholenden Geste seiner linken Hand und formte sie zu einem Ball. Durch die Kraft seines Willens setzte er ihn in Brand und schleuderte die feurige Kugel dem Fremden entgegen. Der Mann wehrte sie mit dem Handrücken ab, warf beide Arme in die Höhe und stieß sie nach vorn. Das Licht im Zimmer begann zu pulsieren. Die Luft war so erfüllt mit den Bändern der Macht, daß sie mit einander zu verschmelzen schienen und gewaltige, schimmernde, vielfarbige Muster bildeten, die einen Großteil des Raumes verdeckten, auch den Fremden. Als der Pulsschlag in seinem Drachenmal die Lähmung seines rechten Armes vertrieb, ließ Pol seinen Willen hindurchströmen, um seinen Gegner deutlicher sehen zu können. Augenblicklich begann die Gestalt des anderen Mannes zu leuchten, als das Regenbogenmuster sich zu einem lückenlosen Gespinst verwob. Das Zimmer verschwand, und Pol bemerkte, daß auch er selbst in dieses Leuchten eingehüllt war. Sie beide standen sich gegenüber, in einem eigenen, gänzlich aus tanzenden Farben bestehenden Universum. Pol sah den Mann die Hände heben und sie zu einer Schale zusammenlegen. Aus dieser Schale hob sich der Kopf einer -16-
grünen Schlange, die in Pols Richtung glitt. Pol spürte die ungeformte Schöpfungskraft, die ihn von allen Seiten umgab. Mit raschen Bewegungen zeichnete er die Umrisse einer Gestalt in die Luft, und zwischen seinen Händen entstand ein riesiger grauer Vogel. Er zwang ihm seinen Willen auf und gab ihn frei. Mit Krallen und Schnabel stürzte er sich auf die Schlange, deren Kopf nach dem Vogel zuckte, ihn aber verfehlte. Ohne auf diesen Zweikampf zu achten, blickte Pol nach seinem Gegner und sah, daß der Mann jetzt mit einer Anzahl Bällen aus farbigem Licht jonglierte. Im selben Moment, als der Vogel in die Höhe stieg, die sich windende Schlange in den Fängen, um mit dem Farbenmeer zu verschmelzen, das sie umgab, warf der Mann den ersten feurigen Ball in seine Richtung. Lächelnd formte Pol einen Tennisschläger und bemerkte den Ausdruck der Verwunderung auf dem Gesicht des Fremden, als er den ihm unbekannten Gegenstand betrachtete. Er schlug den ersten Ball zurück, als der zweite eben auf ihn zuflog. Der Magier ließ die übrigen Bälle fallen und sprang zur Seite, um dem Gcschoß zu entgehen. Pol schlug den zweiten Ball aus dem Feld, während der Mann sich überschlug, auf die Füße kam und seine rechte Hand mit einem langen schwarzen Etwas darin nach vorne schwang. Er holte mit dem Tennisschläger aus und verfehlte, als die Peitsche sich um seinen Hals schlang und ihn vorwärts zerrte. Er fühlte, wie er stürzte. Er ließ den Schläger fallen und griff nach der würgenden Schnur, um sie zu packen, zu lösen. . . Ein neuerlicher Ruck, und die Welt drehte sich und wurde dunkel. Die Schlinge zog sich enger, und er hörte ein Lachen, das sich näherte. . . »Kein besonderer Kampf«, hörte er den anderen sagen. Dann gab es eine Explosion, und alles wurde schwarz. -17-
Es war äußerst lehrreich, den Austausch von Kräften zwischen Pol und dem Besucher zu beobachten. Außerdem ein wenig beunruhigend, als mir der Gedanke kam, daß sie sich vielleicht gegenseitig Schmerz zufügten. Aber, sie wollten es so, oder sie hätten es nicht getan. Ich war mehr an der technischen Seite der Angelegenheit interessiert, als an ihrem gegenseitigen Bemühen, den anderen zu besiegen, weil ich spürte, daß ich vielleicht selbst fähig war, mich solcherart zu betätigen, und darum wollte ich genau informiert sein. Das plötzliche Ende überraschte mich. Außer bei kleineren, weniger komplexen Geschöpfen, hatte ich noch niemals ein Wesen die Existenz eines anderen beenden gesehen. In der Tat, ich hatte nicht geglaubt, daß es für diese größeren überhaupt ein Ende gab. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich dabei eigentlich eine Rolle spielen müssen, aber auf welcher Seite und in welche Richtung wußte ich nicht. Es war mir auch nicht klar, warum ich so fühlte. Wo drei gewesen waren, waren jetzt zwei. Ich begriff nicht, warum sie es getan hatten, noch wie die Lanze der Macht aus der Statuette gekommen war, um das Leben des Fremden zu beenden, bevor Samtfingers Geschoß seinen Kopf erreichte. Pol schüttelte den Kopf. Sein Hals schmerzte. Er rieb ihn und öffnete die Augen. Er lag auf dem Boden, neben dem Tisch. Langsam mühte er sich in sitzende Haltung. Der Fremde lag auf dem Rücken in der Nähe der Tür, den rechten Arm ausgestreckt, den linken über der Brust. Ein Teil seiner Stirn fehlte, und sein rechtes Auge war ein purpurner Teich. Links neben ihm, an ein Bücherregal gelehnt, stand Samtfinger und rieb sich die Augen. Sein rechter Arm hing an seiner Seite, und er trug die Pistole, die er vom Amboßberg mit -18-
gebracht hatte. Als er sah, daß Pol sich bewegte, ließ er die linke Hand sinken und lächelte matt. »Bist du in Ordnung? fragte er. »Glaube schon. Bis auf einen steifen Hals. Was ist mit dir?« »Ich weiß nicht, womit er mich getroffen hat. Es blendete mich eine Zeitlang. Als ich wieder klar wurde, sah es aus, als würdet ihr beide aus der Wirklichkeit hinaus- und wieder hineingleiten. Ich hatte keine Gelegenheit, einen Schuß auf ihn abzugeben, bis er dann das letzte Mal auftauchte.« Er schob die Waffe in einen Halfter an seinern Gürtel und streckte die Hand aus. »Jetzt scheint alles wieder ganz normal zu sein.« Pol ergriff die dargebotene Hand und stand auf. Seite an Seite gingen sie zu der Stelle, wo der tote Mann lag und blickten auf ihn hinab. Samtfinger kniete sich hin und durchsuchte ihn. Nach einigen Minuten schüttelte er den Kopf, nahm den braunen Umhang und deckte ihn über den Toten. »Nichts«, sagte er, »aus dem zu erkennen wäre, wer er ist oder woher er kam. Ich nehme an, du hast auch keine Ahnung?« »Keine.« Sie kehrten zu ihren Sesseln und ihrer Weinflasche zurück, unterwegs stellte Samtfinger die umgestürzte Figur wieder auf ihren Platz. »Entweder hatte er einen Grund, dich nicht zu mögen und kam vorbei, um diesbezüglich etwas zu unternehmen «, meinte Samtfinger, »oder jemand anders mit derartigen Gefühlen hat ihn geschickt. Im ersten Fall könnte irgendein Freund von ihm auftauchen, um die Sache zu vollenden. Im zweiten Fall dürfte ein Nachfolger losgeschickt werden, sobald bekannt wird, daß dieser versagte. Wie auch immer, es scheint, daß es noch mehr Ärger geben wird.« Pol nickte. Er stand auf und nahm ein Buch aus einem Regal -19-
an der linken Wand hoch. Dann setzte er sich wieder und fing an, darin zu blättern. »Dieser hier kam an all deinen Alarm zaubern vorbei, ohne daß wir etwas merkten«, fuhr Samtfinger fort. »Er war besser, als ich bin«, erwiderte Pol, ohne von dem Buch aufzublicken. »Was also ist zu tun?« »Hier«, sagte Pol, strich sich die Seite glatt, die er gesucht hatte und las eine Zeitlang schweigend. »Darüber habe ich schon eine ganze Weile nachgedacht«, meinte er endlich. »Alle vier Jahre findet auf Belken, einem Berg im Nordwesten, eine Versammlung von Zauberern statt. Je davon gehört?« »Natürlich - empfehlenswert, sich davon fernzuhalten.« »Sie wird in ungefähr zwei Wochen beginnen. Ich habe beschlossen, daran teilzunehmen.« »Wenn sie alle so sind wie dieser Bursche«, Samtfinger nickte zu der Gestalt am Boden hin, »halte ich das nicht für eine besonders gute Idee.« Pol schüttelte den Kopf. »Nach der Beschreibung hört es sich ziemlich friedlich an. Fortgeschrittene diskutierten über Theorie, Lehrlinge werden eingeführt, Riten, für die mehr als ein Zauberer nötig ist, werden ausprobiert, Kuriositäten ge- und verkauft, neue Effekte vorgeführt. . .« »Die Person, die hinter diesem Anschlag auf dein Leben steckt, könnte dort sein.« »Genau. Ich möchte die Sache sobald wie möglich klären. Vielleicht war alles nur eine Art Mißverständnis. Schließlich bin ich noch nicht lange genug hier, um mir ernsthafte Feinde gemacht zu haben. Und wenn der eine, den ich suche, nicht da ist, erfahre ich vielleicht etwas über ihn - wenn es ihn überhaupt -20-
gibt. Wie auch immer, es scheint der Mühe wert zu sein.« »Und das ist der einzige Grund für deinen Entschluß?« »Nun, nicht der einzige. Ich habe auch das Bedürfnisnach etwas formalem Training in der Kunst. Vielleicht kann ich bei so einem Treffen ein paar Tips aufschnappen.« »Ich weiß nicht, Pol. . . Es hört sich riskant an.« »Nicht hinzugehen, könnte sich auf die Dauer als noch viel gefährlicher herausstellen.« Sie hörten ein scharrendes Geräusch im Burghof. Beide standen auf und traten ans Fenster. Sie konnten nichts sehen, aber Pol schien mit den Fingerspitzen die Luft zu streicheln. »Das Reittier des Mannes«, erklärte er schließlich. »Es hat sich befreit, von welchen Fesseln auch immer, und macht sich bereit, davon zu fliegen.« Er vollführte rasche Bewegungen mit der einen Hand und hob auch die andere. »Vielleicht kann ich es mit der Hilfe eines Bandes bis zu dem Ort verfolgen, von dem es kam.« Der mindere Artgenosse der Drachen erhob sich im Nordosten und schwebte in einem weiten, ansteigenden Bogen nach links. »Pech«, sagte Pol und ließ die Hände sinken. »Ich habe ihn verfehlt.« Samtfinger zuckte die Schultern. »Ich nehme an, daß du jetzt doch nicht mit mir gehen wirst«, meinte er, »denn der Versammlungsort der Zauberer liegt in der entgegengesetzten Richtung.« Pol nichte. »Aber auch ich werde morgen aufbrechen. Ich möchte lieber umher ziehen, als an einem Ort zwischen jetzt und später zu verharren. Also können wir eine kurze Strecke gemeinsam gehen.« -21-
»Du wirst nicht auf Mondvogel reiten?« »Nein, ich möchte auch etwas von der Gegend sehen.« »Allein zu reisen birgt auch seine Gefahren.« »Für einen Zauberer dürften sie nicht gar so groß sein.« »Vielleicht«, erwiderte Samtfinger. Die dunklen Umrisse des Reitdrachen schrumpften am nördlichen Himmel und verschwanden im Schatten eines Berges.
-22-
II
Als ich in dieser Nacht in den Körper des toten Mannes eindrang und seine Gehirnzellen durchforschte, erfuhr ich, daß sein Name Keth gewesen war, und daß er einem gedient hatte, der größer war als er selbst. Sonst nichts. Während ich zwischen höheren Ebenen umher schwebte, eine Ratte in einem Entwässerungsgraben auf die Art tötete, die ich kürzlich gelernt hatte, ich mir einen Weg zwischen Mondstrahlen in dem alten Turm suchte und auf der Suche nach Spinnen an Dachbalken entlangglitt, dachte ich über die Ereignisse des Abends nach und über alle Arten von jetzt lebenswichtigen Fragen, die mich früher nicht gekümmert hatten. Die Energien der Geschöpfe, die ich in mich aufgenommen hatte, trugen zur Stärkung meines Selbst bei. Ich durchwanderte neue Bereiche des Denkens. Andere Wesen existierten in großer Zahl, dennoch war ich niemals einem wie mir begegnet. Bedeutete es, daß ich einzigartig war? Wenn nicht, wo waren die anderen? Wenn doch, warum? Woher kam ich? Gab es einen besonderen Grund für meine Existenz? Wenn ja, welchen? Ich wirbelte über die Zinnen. Ich stieg in die Höhlen unter der Burg hinab und schwebte zwischen den schlafenden Drachen und anderen Geschöpfen hindurch. Ich fühlte keine Verwandtschaft mit ihnen. Erst sehr viel später fiel mir ein, daß ich eine besondere Verbindung mit Rondoval haben muß, sonst hätte ich den Ort längst verlassen. Ich bemerkte, daß ich die Burg und ihre nähere Umgebung anderen Gegenden vorzog, die ich durchstreift hatte. Etwas hatte mich stets zurückgerufen. -23-
Was? Ich begab mich zu Pols schlafender Gestalt und untersuchte ihn sehr sorgfältig, wie ich es jede Nacht seit seiner Ankunft getan hatte. Und ich schwebte, wie immer, über dem Drachenmal an seinem rechten Unterarm. Auch das zog mich an. Aus welchem Grund, vermochte ich nicht zu sagen. Ungefähr zu der Zeit, als dieser Mann Rondoval betrat, hatte die Entwicklung begonnen, die zu diesem Stand meines Selbstbewußtseins geführt hatte. War er die Ursache? Oder - da die Burg so lange verlassen gewesen war - hätte die längere Anwesenheit irgendeiner Person dieselbe Wirkung gehabt? Mein Verlangen nach einem Sinn machte sich wieder sehr stark bemerkbar. In mir wuchs das Gefühl, daß meine offensichtliche Unvollständigkeit ein Versehen sein könnte, daß ich vielleicht eine Pflicht erfüllen sollte, daß es etwas gab, das ich tun sollte, ich es aber aus irgendeinem Grund vergessen hatte. Wie bedeutsam, fragte ich mich, war dieses Gefühl? Wieder war ich mir nicht sicher. Aber ich begann zu verstehen, was mein augenblickliches Bedürfnis nach Nachforschungen verursacht hatte. Pol würde am Morgen aufbrechen. Meine Erinnerungen an die Zeit vor ihm waren bereits sehr verschwommen. Würde ich in diesen weniger bewußten Zustand zurück fallen, wenn er ging? Ich glaube nicht, trotzdem war ich bereit zu zu geben, daß er eine Rolle bei dem Erwachen meines Selbst gespielt hatte. Ich bemerkte in diesem Augenblick, daß ich versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Sollte ich in Rondoval bleiben oder Pol begleiten? Und wie auch immer ich mich entschied, was war der Grund? Ich versuchte, eine vorbeifliegende Fledermaus zu töten, aber sie entkam. Bei Tagesanbruch nahmen die beiden den nördlichen Weg, -24-
wanderten gemeinsam über den Paß und hinunter zu dem frühlingsgrünen Wald, bis zu der Wegkreuzung, die Pol auf seiner Karte bezeichnet hatte. Sie lehnten ihre Packen gegen den Stamm einer riesigen Eiche, noch dunkel und feucht vom Morgentau, und beobachteten die Nebelfelder, die sich vor ihren Augen auflösten, während die Sonne über der Flanke eines Berges zu einem strahlenden Rund anwuchs. Irgendwo hinter ihnen klangen die ersten zögernden Vogelstimmen auf und verstummten wieder. »Gegen Abend wirst du aus den Hügeln heraus sein«, sagte Pol und blickte nach rechts. »Ich werde einige Tage länger brauchen, und später muß ich wieder klettern. Du kannst dich in der Meeresbrise aalen, während ich mir den Arsch abfriere. Na, viel Glück und nochmals vielen Dank. . .« »Spar dir die Rede«, unterbrach ihn Samtfinger. »Ich komme mit.« »Nach Belken?« »Den ganzen Weg.« »Warum?« »Ich bin zu neugierig geworden. Jetzt möchte ich auch das Ende erleben.« »Es könnte wirklich das Ende sein.« »Das glaubst du nicht wirklich, sonst würdest du die Reise nicht machen. Komm schon! Versuch nicht, mir die Idee aus zu reden. Es könnte dir gelingen.« Samtfinger schulterte seinen Packen und folgte dem nach links führenden Weg. Einen Augenblick später ging Pol neben ihm. Die Sonne blickte über die Bergflanke, und die Tore der Morgendämmerung waren geöffnet. Ihre Schatten liefen vor ihnen her. -25-
In dieser Nacht lagerten sie in einem Kiefernwäldchen, und Pol hatte einen Traum, der anders war, als alle Träume, die er je gehabt hatte. Ihm war eine Klarheit und ein Gefühl bewußter Wahrnehmumg zu eigen, die ihn in einer beunruhigenden Vorspiegelung von Wirklichkeit vor seinem inneren Auge ablaufen ließen, während er in jedem Augenblick von der Aura drohender Gefahr umgeben war, die ihn doch mit einer unbestimmten düsteren Freude erfüllte. Sieben bleiche Flammen bewegten sich im Uhrzeigersinn um ihn herum, als wollten sie ihn - wie bei einer Geisterbeschwörung - auffordern, in ihre Mitte zu kommen. Er löste sich langsam von seinem Körper und stand zwischen ihnen als blutleeres Abbild seiner selbst. Kaum war das geschehen, als sie in der Bewegung innehielten und in dieHöhe schwebten. Er folgte ihnen bis zu den Wipfeln der Bäume und noch weiter hinauf. Dann führten sie ihn in nördlicher Richtung davon, hoch und schnell unter einem Himmel voll blasser Wolken. Groteske Gestalten schienen die Bäume unter ihm zu bevölkern, die Berge um ihn herum. Der Wind pfiff in seinen Ohren, und dunkle Wesen flüchteten vor ihm. Der Boden kräuselte sich zu mattschwarzen Wellen, als seine Geschwindigkeit zunahm. Das Pfeifen des Windes steigerte sich zu einem Heulen, obwohl er weder Kälte noch einen Luftzug spürte. Endlich erhob sich ein gewaltiger schwarzer Schatten vor ihm, auf halber Höhe eines Berges gelegen. Hier und da blitzten kleine Lichtpunkte, Mauern und Türme wurden erkennbar, massig und hoch, es war eine Burg von mindestens der Größe Rondovals und in besserem Zustand. Es folgte ein Bruch in seinen Traumwahrnehmungen, von dem er, nach einer Ewigkeit oder einem Augenblick, in einem Gefühl der Kälte, der Feuchtigkeit, erwachte. Er stand vor einem massiven, zweiflügligen Tor, eisenbeschlagen, mit großen Ringen. Darauf erkannte er die Umrisse einer von langen Nägeln durchbohrten Schlange; darüber sah er die Umrisse eines -26-
gekreuzigten, großen Vogels. Wo er sich befand, wußte er nicht, aber es schien ihm plötzlich vertraut - als hätte er es schon mehrmals in früheren Träumen erblickt und bis zu diesem Augenblick vergessen. Er schwankte ein wenig und bemerkte dabei, daß die Kälte, die er jetzt spürte, über dem Tor hing wie ein unsichtbarer Mantel und sich deutlich verstärkte, sobald er nur die kleinste Bewegung in diese Richtung machte. Die Flammen brannten lautlos neben ihm. Er wurde überwältigt von dem Verlangen, das Tor zu durch schreiten, aber er konnte sich nicht vorstellen, wie er das fertigbringen sollte. Das Tor wirkte viel zu gewaltig, um vor der Kraft eines einzigen Sterblichen zu weichen. . . Er erwachte frierend und verwirrt, zog seine Decken höher und wickelte sich fester hinein. Am nächsten Morgen erinnerte er sich an den Traum, aber sprach nicht davon. Und in dieser Nacht wiederholte er sich zu einem Teil. . . Er stand wieder vor dem düsteren Tor, spürte wieder die bedrohliche Kälte, erinnerte sich aber kaum noch daran, wie er hergekommen war. Diesmal stand er mit erhobenen Armen vor den Torflügeln und flehte sie mit Worten einer uralten Sprache an, sich für ihn zu öffnen. Mit einem lauten Knirschen gehorchten sie, durch die schmale Öffnung strömte ein eisiger Luftzug, gefolgt von Nebelstreifen und weit entfernten Klagelauten. Er trat ein. . . In jeder Nacht dieser ersten Woche, kehrte er in diesen Traum zurück und wanderte weiter in ihn hinein, während seine flammengleichen Begleiter ihn verließen, sobald er das Tor durchschritten hatte. Allein schwebte er über einer wüstengleichen Landschaft - grau und bronzefarben, schwarz und dunkelbraun - unter einem düsteren, rotgeflammten Himmel, wo eine matte, kupferfarbene Kugel immer noch im Westen hing. Es war ein Ort aus Schatten und Stein, Sand und Nebel, gepeinigt von kalten, heulenden Winden und erfüllt mit trägen, kriechenden Wesen, die sich dagegen sträubten, von seinem Gedächtnis aufgenommen zu werden. Es war ein Ort der -27-
unheilvollen Lichter, dunklen Höhlen und zerfallenen Statuen, deren Gestalt ebenso abscheulich war wie ihre leblosen Gesichtszüge. Ein kleiner Teil von ihm schien zu bedauern, daß er so viel Vergnügen bei dem Anblick empfand. . . Und in der Nacht, als er die Geschöpfe sah - schuppige, ungeschlachte Monstrositäten; langarmige, mißgestaltete Parodien der menschlichen Gestalt -, wie sie rutschend, hüpfend, springend den einsamen Mann verfolgten, der vor ihnen floh, blickte er mit einer gewissen Erwartung auf sie herab. Der Mann lief zwischen zwei steinernen Pfeilen hindurch und schrie auf, als er sich auf einem steinigen Abhang fand, der keinen anderen Ausgang hatte. Die Geschöpfe packten ihn. Sie warfen ihn zu Boden und zerrten an ihm. Sie schlugen nach ihm und häuteten ihn, der Boden um sie herum färbte sich dunkel. Plötzlich kreischte eines der Geschöpfe auf und löste sich aus der grausigen Versammlung. Sein langer schuppiger rechter Arm hatte sich in etwas Kurzes, Bleiches verwandelt. Die anderen stießen höhnische Laute aus und griffen nach ihm. Das zappelnde Wesen festhaltend, wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Ding auf dem Boden zu. Sie zogen daran und bissen danach. Es war nicht mehr als menschlich erkennbar, aber es war nicht unerkennbar. Es hatte sich unter ihren feuchten Bemühungen verändert, war zu etwas Größerem geworden, das ihnen glich, während das Wesen, das sie festhielten, kleiner geworden war, heller, leichter. Auch es war nicht unkenntlich. Es hatte menschliche Gestalt angenommen. Die, die den Mann hielten, versetzten ihm einen Stoß, und er fiel. Das dämonische Wesen blieb unbeachtet auf der Erde liegen, als sie sich dem anderen zuwandten. Seine Glieder zuckten, und es versuchte aufzustehn. -28-
Der Mann mühte sich auf die Füße, stolperte, sprang dann vorwärts und rannte heulend zwischen den Säulen hindurch. Gellende Schreie ausstoßend, machten sich die dunklen Geschöpfe beißend und kratzend an die Verfolgung des Flüchtenden, und der eine, der mit ihm die Gestalt getauscht hatte, gesellte sich zu ihnen. Pol hörte Gelächter, erwachte und bemerkte, daß es sein eigenes war. Es endete abrupt, er lag lange Zeit wach und starrte zwischen den dunklen Ästen der Bäume hindurch auf die mondbeschienenen Wolken. Einen Tag lang fuhren sie in dem Wagen eines Bauern und seines Sohnes, einen halben Tag begleiteten sie einen Händler. Außer diesen - und einem Kaufmann und einem Arzt, die in die entgegengesetzte Richtung unterwegs waren - trafen sie keinen Menschen. Erst in der zweiten Woche ihrer Reise, an einem sonnigen Nachmittag, entdeckten sie in der Ferne aufgewirbelten Staub und die dunklen Gestalten eines kleinen Trupps. Es war später Nachmittag, als sie die Gruppe der Reisenden einholten. Sie bestand aus einem alten Zauberer, Ibal Shenson, begleitet von seinen beiden Lehrlingen, Nupf und Suhuy und zehn Dienern - von denen vier Ibals Sänfte trugen. Es war Nupf - ein kleiner, dünner, schnurrbärtiger Jüngling mit langem, dunklem Haar -, den Pol zuerst ansprach, weil er am Ende des Trupps ging. »Meinen Gruß«, sagte er, und der Mann vollführte eine unauffällige Bewegung mit der rechten Hand, als er sich ihm zuwandte. Wie es immer häufiger geschehen war, wenn er mit Erscheinungen der Kunst zu tun hatte, machte Pols zweites Gesicht sich bemerkbar. Er sah ein schimmerndes graues Band, das sich zu einer Schlinge formte und über seinen Kopf senkte. -29-
Mit dem leichtesten Pulsieren des Drachenzeichens hob er eine Hand und wischte sie beiseite. »He!« meinte er. »Ist das eine Art, den Gruß eines Reisegefährten zu erwidern?« Die Augen des Jungen weiteten sich vor Verwunderung, und er verzog den Mund. »Vergebung«, sagte er. »Bei Fremden kann man nie wissen. Ich versuchte nur, meinen Meister zu schützen. Ich erkannte nicht, daß Ihr ein Bruder in der Kunst seid.« »Und jetzt, da du es weißt. . . ?« »Seid Ihr auf dem Weg zu dem Treffen in Belken?« »Ja.« »Ich werde mit meinem Meister sprechen, der Euch zweifellos einladen wird, uns zu begleiten.« »Nur zu.« »Und wer sendet ihm seinen Gruß?« »Pol Detson - und dies ist Samtfinger.« »Sehr gut.« Er drehte sich um und eilte hinter den Sänftenträgern her. Pol und Samtfinger folgten ihm. Über die Schulter des Lehrlings blickend, erhaschte Pol einen Blick auf den alten Zauberer, bevor der Junge ihn ansprach. In blaue Gewänder gehüllt, einen grauen Schal um die Schultern und eine braune Decke über den Beinen, war es schwer, seine Größe zu schätzen, obwohl er klein und zerbrechlich wirkte. Seine Nase war scharf, die Augen blaß und engstehend; Wangen und Stirn waren von tiefen Falten durchzogen, die Haut fleckig; sein Haar war dicht, lang und sehr schwarz und sah aus wie eine Perücke – der Bart war spärlich und grau. Die Hände waren unter der Decke verborgen. »Kommt näher«, zischte er, wandte Pol das Gesicht zu und -30-
blinzelte. Pol folgte der Aufforderung und hielt die Luft an, als ihm der Atem des anderen entgegenschlug. »Detson? Detson?« fragte der Mann. »Woher kommt Ihr?« »Burg Rondoval«, erwiderte Pol. »All die Jahre glaubte ich den Ort verlassen. Wer ist jetzt dort der Herr?« »Ich.« Unter der braunen Decke bewegte sich etwas. Eine grobknochige, dunkelgeäderte Hand tauchte auf. Sie griff langsam nach Pols rechtem Handgelenk und zupfte am Ärmel. »Entblößt Euren Arm, wenn es recht ist.« Pol tat ihm den Gefallen. Mit zwei Fingern betastete Ibal das Drachenzeichen. Dann kicherte er, hob die Augen, starrte Pol ins Gesicht und dann an ihm vorbei. »Es ist, wie Ihr sagt«, meinte er. »Ich wußte nichts von Euch obwohl ich jetzt sehe, daß Ihr von mehr als einem Ding aus Rondovals Vergangenheit verfolgt werdet.« »Das kann sehr wohl sein«, sagte Pol. »Aber woher wißt Ihr das?« »Sie umkreisen Euch, wie ein Schwarm leuchtender Insekten«, antwortete Ibal, immer noch an ihm vorbei schauend. Pol wechselte mit einer bewußten Anstrengung in die andere Art des Sehens über, aber obwohl es eine Menge Bänder in der Nähe gab, entdeckte er nichts, das einem Insektenschwarm ähnelte. »Ich selbst kann diese Erscheinung nicht sehen. . .« »Höchstwahrscheinlich«, sagte der andere, »denn zweifellos hat es Euch stets begleitet - und natürlich würde es sich Euch anders darbieten als mir, wenn Ihr es überhaupt sehen könntet. Ihr wißt, wie verschieden die Wahrnehmungen von Zauberern -31-
sind und das Gewicht, das sie auf verschiedene Dinge legen.« Pol runzelte die Stirn. »Oder wißt Ihr es nicht?« fragte Ibal. Als Pol nicht antwortete, starrte der alte Zauberer ihn an, wobei er seine Augen zusammen kniff. »Jetzt bin ich nicht mehr so sicher«, sagte er. »Zuerst glaubte ich, das Durcheinander Eurer Lichter wäre eine sehr kluge Verkleidung, aber jetzt. . .« »Meine Lichter?« erkundigte sich Pol. »Bei wem seid Ihr in die Lehre gegangen - und wann habt Ihr Eure Prüfung abgelegt?« Pol lächelte. »Ich wuchs an einem Ort auf, der sehr weit von hier entfernt ist«, erklärte er, »an einem Ort, wo die Dinge nicht auf diese Art gehandhabt werden.« »Ah, Ihr seid ein Freistäbler! Bewahre uns vor Freistäblern! Immerhin. . . Ihr seid nicht vollkommen ungeregelt - und jeder mit diesem Zeichen. . .«, er deutete mit einem Nicken auf Pols Arm, ». . . muß einen Instinkt für die Kunst besitzen. Interessant. . . Warum also seid Ihr auf dem Weg nach Belken?« »Um. . . einige Dinge zu lernen.« Der alte Zauberer kicherte. »Und ich gehe um des Vergnügens willen«, sagte er. »Nennt mich Ibal und begleitet mich. Es wird unterhaltsam sein, mit einem Fremden zu reden. - Euer Diener ist kein Bruder in der Kunst?« »Nein, und Samtfinger ist nicht eigentlich mein Diener - er ist mein Gefährte.« »Samtfinger, sagtet Ihr? Mir scheint, den Namen habe ich schon einmal gehört. Im Zusammenhang mit Juwelen, vielleicht?« -32-
»Ich bin kein Juwelier«, erwiderte Samtfinger hastig. »Auch gut. Morgen werden wir einige Dinge besprechen, die Euch interessieren dürften, Detson. Aber der Platz, an dem ich lagern möchte, ist noch eine halbe Meile entfernt. Wir wollen weiterziehen. Auf! Vorwärts!« Die Diener hoben die Sänfte auf und marschierten los. Pol und Samtfinger folgten ihnen. In dieser Nacht lagerten sie in den Ruinen eines Gebäudes, das einmal ein kleines Amphitheater gewesen sein mochte. Pol lag geraume Zeit wach, aus Furcht vor den Träumen, die ihn heimsuchten. Er hatte noch nicht darüber gesprochen, denn am Tag waren die Ängste der Nacht nur eine schnell verblassende Erinnerung. Aber wenn die Stille sich herabsenkte und das Feuer verglomm, schienen die Schatten von Gesichtern erfüllt zu sein, als hätte ein geisterhaftes Publikum, das durch den Mantel des Schlafs hindurch sehen konnte, sich versammelt, um seine Reise zu dem Ort der Grausamkeit, der böswilligen Lichter und kreischenden Winde zu beobachten. Er fröstelte, lauschte auf die Geräusche der Nacht und ließ die Blicke wandern. Er wußte von keinem Zauber, der den Inhalt der Träume beeinflussen konnte. Und er fragte sich wieder nach ihrer Bedeutung, teils mit dem Wissen eines Menschen, dessen Kultur sie mit den Begriffen der Psychologie erklärt haben würden, teils mit dem neu erwachten Bewußtsein, daß es in dieser Welt ebensogut eine gänzlich andere Erklärung geben könnte. Dann begannen seine Gedanken abzuschweifen, zurück zu dem Zusammen treffen mit dem Zauberer, der in Rondoval versucht hatte, ihn zu töten. Gleich danach hatten die Träume begonnen, und er fragte sich, ob es da eine Verbindung gab. Hatte der andere ihn mit einem Zauber belegt, bevor er starb, um in Zukunft seinen Schlaf zu stören? Seine Überlegungen zerflossen, als das stetige Zirpen der Insekten ihn einlullte. Was hätte Mark getan? Nach einer Droge -33-
gesucht, um alles auszuschließen, wahrscheinlich. Seine Gedanken wanderten. . . Die Bewegung. Inzwischen vertraut. Die Furcht war verschwunden. Die rasch vorüberziehenden, zusammenhanglosen Bilder lösten nur Erwartung in ihm aus. Da war das Tor und. . . Es erstarrte. Alles erstarrte. Er verharrte bewegungslos vor dem Bild des teilweise geöffneten Tores. Es verschwamm, verlor jede Substanz, löste sich auf, und eine Hand lag auf seiner Schulter. Er wollte schreien, aber nur für einen Augenblick. »Es ist alles in Ordnung«, wisperte eine Stimme, und die Hand wurde zurückgezogen. Pol versuchte, den Kopf zu heben, sich aufzusetzen. Er stellte fest, daß er sich nicht bewegen konnte. Ein hochgewachsener Mann, das Gesicht größtenteils vom Schatten seiner Kapuze verborgen, erhob sich aus einer knieenden Haltung an seiner Seite und ging durch sein Blickfeld. Pol glaubte, einen hellen Schnurrbart gesehen zu haben und - unmöglich - einen blitzenden, überkronten Zahn. »Warum kann ich mich denn nicht bewegen«, flüsterte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Es war sehr viel einfacher, einen Zauber über das gesamte Lager zu legen, statt Ausnahmen zu machen. So brauchte ich dich nur zu wecken und die anderen in der Bewußtlosigkeit zu lassen. Die Lähmung ist, unglücklicherweise, ein Teil davon.« Pol vermutete, daß das eine Lüge war, sah aber keine Möglichkeit, das zu beweisen. »Ich sah, daß dein Schlaf unruhig war. Ich beschloß, dir zu helfen.« »Wie kannst du erkennen, ob ein Mensch unruhig schläft?« »Ich bin so etwas wie ein Experte in der Sache, die dich quält.« -34-
»Die wäre. . . ?« »Gab es in deinem Traum nicht ein großes Tor?« Pol schwieg eine Weile. Dann: »Ja«, sagte er. »Allerdings. Wie konntest du das wissen, außer, du selbst bist dafür verantwortlich?« »Ich habe dir den Traum nicht gesandt. Ebenso wenig, wie ich hierher kam, um dich davon zu befreien.« »Aus welchem Grund dann?« »Du willst nach Belken?« »Du scheinst alles zu wissen. . .« »Werde nicht impertinent. Da es möglich ist, daß wir gemeinsame Interessen haben, versuche ich dir zu helfen. Ich verstehe mehr als du von den Mächten, die dich beeinflussen. Es war ein schwerer Fehler von dir, an diesem frühen Punkt deiner Laufbahn loszuziehen und deinen Namen preis zugeben. Gerade habe ich mit viel Mühe deinen Namen und deine Herkunft aus dem Gedächtnis Ibals und aller anderen Mitglieder dieser Reisegesellschaftgetilgt. Morgen früh wird er sich deiner nur als eines Freistäblers erinnern, der auf dem Weg nach Belken ist. Selbst dein Aussehen wird ihm nicht mehr bekannt sein. Wenn er wieder nach deinem Namen fragt, lege dir einen falschen zu und benütze ihn auch in Belken. Rondoval hat immer noch Feinde.« »Das habe ich bereits bei dem Anschlag auf mein Leben bemerkt.« »Wann war das? Wo?« »Vor wenig mehr als einer Woche. Zu Hause.« »Davon wußte ich nichts. Dann hat es angefangen. Du müßtest eine Zeitlang sicher sein, wenn du deine Tarnung beibehältst. Ich werde dir das Haar mit einem Mittel waschen, -35-
das ich bei mir habe, um die weiße Strähne zu verbergen. Sie ist zu verräterisch. Und dann müssen wir dein Drachenmal überdecken.« »Wie?« »Eine verhältnismäßig einfache Sache. Wie zeigt sich dir die Macht, wenn du an einem Zauber arbeitest?« Pol fühlte Feuchtigkeit auf seinem Kopf. »Gewöhnlich als farbige Bänder - Fäden, Schnüre.« »Interessant. Also gut. Du kannst es dir so vorstellen, als würde ich deinen Arm mit fleischfarbenen Bändern umwickeln so dicht, daß sie das Mal völlig verdecken. Es wird deine Fähigkeiten in keiner Weise beeinträchtigen. Und wenn du das Mal wieder entblößen willst, genügt ein ganz simples Ritual.« Pol spürte, wie sein Arm ergriffen und angehoben wurde. »Wer bist du?« fragte er. »Woher weißt du all diese Dinge?« »Ich bin der Magier, der nie hätte sein dürfen, und in gewisser Weise bin ich deinem Haus verbunden.« »Wir sind verwandt?« »Nein. Nicht einmal befreundet.« »Warum hilfst du mir dann?« »Ich fühle, daß deine Existenz mir nützlich sein kann. Hier. Dein Arm ist gut getarnt.« »Wenn du mich wirklich vor etwas beschützen vvillst, solltest du mir besser etwas darüber erzählen.« »Das halte ich nicht für besonders empfehlenswert. Erstens, vielleicht geschieht dir nichts, und in dem Fall habe ich dir Informationen gegeben, die ich lieber für mich behalten möchte. Zweitens, deine Unwissenheit könnte mir dienlich sein.« »Meister, irgend jemand kennt bereits meine Nummer. -36-
Der Gedanke, plötzlich wieder in ein tragisches Duell verwickelt zu werden, gefällt mir gar nicht.« »Oh, sie sind in Ordnung, wenn man gewinnt. Der Mordanschlag erfolgte also durch Magie?« »Ja.« »Na, du bist noch heil.« »Gerade eben.« »Gut genug, mein Junge. Halt dich munter. Jetzt würden wir am besten deine Gesichtszüge etwas verändern und deine Augen ein wenig heller machen. Sollen wir eine Warze neben die Nase setzen? Nein? Eine interessante Narbe auf der Wange? Ja, das sollte genügen. . .« »Und du willst mir deinen Namen nicht verraten?« »Er würde dir nichts sagen, aber daß du ihn weißt, könnte mich später in Schwierigkeiten bringen.« Pol erweckte das Drachenmal zum Leben, wobei er hoffte, daß die Hülle um seinen Arm diesen Vorgang vor dem zweiten Gesicht des anderen verbarg. Der Mann zeigte keine Reaktion, als das Pulsieren begann. Pol sandte die Macht durch den rechten Arm und befreite ihn von der Lähmung. Dann den Hals. Er mußte in der Lage sein, den Kopf ein wenig zu drehen. . . Den Rest mußte er so lassen, wie er war. Starrkrampf, das wußte er, war schwierig vorzutäuschen. Die Hände bewegten sich weiter über seinem Gesicht. Die Züge des anderen blieben seinen Blicken verborgen. Pol rief ein festes graues Band und spürte es wie einen Hauch an den Fingerspitzen. »Jetzt werden sie alle glauben, du seist in Heidelberg gewesen. . .« »Was«, fragte Pol ihn, »hast du eben gesagt?« »Nur eine unwichtige Bemerkung«, wehrte der andere hastig -37-
ab. »Ein wirklich guter Zauberer muß auch über andere Welten Bescheid wissen, weißt du. . .« Pol ließ die Macht durch seinen Körper pulsieren und schüttelte die Lähmung vollends ab. Er rollte sich auf die Seite und schleuderte das Band in die Höhe. Es schlang sich um die Handgelenke des Mannes. Während er die Schlinge fester zog, machte er Anstalten, sich zu erheben. »Jetzt werde ich meine Fragen noch einmal stellen«, bemerkte er. »Narr von einem Freistäbler?« sagte der andere. Das Band zuckte in Pols Hand, und ein Gefühl wie von einem elektrischen Schlag fuhr durch seinen Arm. Er konnte das Band nicht loslassen, und sein Drachenmal brannte, als wäre es aus Feuer. Er öffnete den Mund, um zu schreien, brachte aber keinen Ton heraus. »Du hast großes Glück«, war das letzte, was er den Mann sagen hörte, bevor der Sturm sein Gehirn erreichte und er stürzte. Das erste Licht der Morgendämmerung färbte gerade den östlichen Himmel, als er die Augen öffnete. Es waren die Stimmen von Ibals Dienern, die ihn geweckt hatten, als sie hin und her gingen, um ihre Sachen zu packen und alles zum Aufbruch vorzubereiten. Pol hob die Hände an die Schläfen und versuchte sich zu erinnern, wieviel er getrunken hatte. . . »Wer bist du? Wo ist Pol?« Er wandte den Kopf, sah Samtfinger mit in die Hüften gestützten Armen vor sich stehen und ihn anstarren. »Ist das eine Narbe auf meiner Wange?« fragte er und tastete mit den Fingerspitzen danach. »Ja.« »Achte auf meine Stimme. Erkennst du sie nicht? Ist die Strähne aus meinem Haar verschwunden?« -38-
»Oh. . . ich verstehe. Ja, sie ist weg. Warum eine Verkleidung zu diesem Zeitpunkt?« Pol stand auf und suchte sein Gepäck zusammen. »Ich werde es dir unterwegs erzählen.« Er suchte den Boden nach den Spuren seines Besuchers ab, aber es war eine felsige Stelle, und er fand nichts. Als sie Ibals Dienern auf den Weg folgten, blieb Samtfinger stehen und deutete auf ein Dickicht verdorrter Büsche. »Wie erklärst du dir das?« fragte er. Drei mumifizierte Kaninchen hingen in dem Zweiggewirr. Kopfschüttelnd ging Pol weiter.
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III Zu Anfang war es ein nicht eben kleiner Schock: die Geräusche und ständig wechselnden Bilder - all die neuen Dinge, denen wir außerhalb Rondovals begegneten. Die ersten paar Tage hielt ich mich in Pols Nähe, schwebte hinter ihm her, erforschte alles innerhalb meiner Reichweite und machte mich mit den Gesetzen vertraut, die die immer neuen Phänomene regelten. Reisen, stellte ich fest, hat etwas mit Erweiterung zu tun, denn ich erstreckte mich über ein ständig größer werdendes Gebiet, als die Tage vergingen. Privater kleiner Scherz. Ich bemerkte, daß meine Ausdehnung wenigstens auf die wachsende Nummer von Dingen zurück zu führen war, die ich unterwegs in mich aufnahm - sowohl Pflanzen als auch Tiere, obwohl letztere mir besser zusagten -, teilweise aber auch den Gesetzen von Boyle und Charles entsprechen, die ich eines abends in Pols Gedächtnis aufgeschnappt hatte, als er an seine Zeit auf der Universität zurück dachte. Allerdings kann ich mich, in aller Aufrichtigkeit, nicht als Gas betrachten. Obwohl ich meine Wurzeln in der physischen Ebene habe, bin ich nicht an sie gefesselt und kann mich teilweise mit Leichtigkeit, zur Gänze unter Schwierigkeiten, daraus zurück ziehen. Ich beschränke mich auf ein vorgegebenes Gebiet und bewege mich nach eigenem Willen. Ich weiß aber nicht genau, wie es funktioniert. Wie auch immer, es wurde mir bewußt, daß mein Volumen zunahm und daß meine Fähigkeit zu physischer Betätigung sich verbesserte- wie die Kaninchen. Ich hatte beschlossen, die ganze Reise als Studienausflug zu betrachten. Alles Neue, das ich lernte, konnte letztendlich von Bedeutung für meine Suche nach Identität und Zweck sein. Und ich lernte neue Dinge, von denen einige äußerst eigenartig waren. Zum Beispiel, als der in einem Umhang -40-
gehüllte Mann den Lagerplatz betrat, hatte ich einen Luftzug gespürt, wie von einem leichten Wind, aber es war keine physische Wahrnehmung; ich hatte einen tiefen Ton vernommen und einen großen Fleck schwimmender Farben gesehen. Dann fiel alles, den Wächter eingeschlossen, in tiefen Schlaf. Da ich vor kurzem die Bedeutung des Wortes »subjektiv« gelernt hatte, kann ich mit Sicherheit sagen, daß die Wahrnehmungen eher dieser Art waren als greifbar. Dann beobachtete ich mit Interesse, wie er die Erinnerung der Schläfer in bezug auf Pol änderte und schloß dabei aus den Gefühlen, die ich erlebt hatte, und aus der Erinnerung an das Duell Pols mit dem Zauberer in Braun, daß ich extrem empfindlich für magische Ausstrahlungen war. Ich hatte den Eindruck, seine Arbeit leicht rückgängig machen zu können. Allerdings sah ich keine Veranlassung dazu, also beschränkte ich mich auf die Rolle des Zuschauers. Nach dem wenigen, das ich über solche Angelegenheiten wußte, schien es mir, daß er einen ungewöhnlichen Stil besaß, in der Art, wie er die Kräfte zwischen den Ebenen bewegte. Ja. Plötzliche Erinnerungen an ein gewaltiges Geschehen bestätigten diesen Eindruck. Er war ungewöhnlich, aber ich konnte sehen, wie er das tat, was er tat. Dann stand er lange Zeit neben Pol, und ich vermochte nicht zu sagen, was er vorhatte. Er gebrauchte eine Kraft, die anders war, als die, die er vor wenigen Minuten benutzt hatte, und ich verstand sie nicht. Etwas in mir zuckte zusammen, als er eine Hand auf Pols Schulter legte. Ich wußte nicht warum, aber ich bewegte mich näher heran. Ich war Zeuge der gesamten Unterhaltung und der Veränderung von Pols Aussehen. Als der Mann das Drachenmal verdeckte, wollte ich ausrufen: »Nein!« Aber, natürlich, ich hatte keine Stimme. Es beunruhigte mich außerordentlich, dabei zusehen zu müssen, obwohl ich wußte, daß es unter dem Zauber unversehrt blieb und daß Pol den Zauber aufheben konnte, wann -41-
immer er es wünschte. Was diese Reaktion mir über mich selbst verriet, vermochte ich nicht heraus zu finden. Aber dann, als Pol aufstand und ein kurzer, schneller Austausch von Kräften zwischen den Männern stattfand, beeilte ich mich, in Pols Körper einzudringen und ihn nach Schäden zu untersuchen. Ich konnte nichts feststellen, das ihn auf Dauer schwächen würde, und da sie sich gewöhnlich während der Nacht der Bewußtlosigkeit hingeben, machte ich keinen Versuch, daran etwas zu ändern. Indem ich mich zurück zog, machte ich mich auf die Suche nach dem anderen Mann. Ich war mir nicht sicher, warum, noch darüber, was ich tun sollte, wenn ich ihn fand. Aber er war schnell verschwunden, ohne Spuren zu hinterlassen, deshalb blieben die Fragen rein akademisch. Gleich darauf stöberte ich die Kaninchen auf und setzte ihnen ein Ende, wie auch dem Busch, in dem sie saßen. Sofort fühlte ich mich kräftiger. Ich dachte über all meine Reaktionen nach und über die grundlegenden Fragen, die dahinterstanden - und fragte mich auch, ob ich tatsächlich für eine so fruchtlose Beschäftigung wie Selbstbetrachtung geschaffen war. Kein Mitglied der Reisegruppe, Ibal eingeschlossen, schien Pols verändertes Aussehen zu bemerken. Und niemand sprach ihn mit seinem Namen an. Es war, als hätten sie ihn alle vergessen und schämten sich, es vor den anderen zu zu geben. Mit der Zeit einigten sich die, die mit ihm redeten, auf »Freistab«, und Pol hatte nicht einmal Gelegenheit, den anderen Namen zu benutzen, den er sich zurechtgelegt hatte. Obwohl er den möglichen Nutzen dieser Sache anerkannte, irritierte es ihn doch, daß seine neue Identität Ibal hatte vergessen lassen, was immer er ihm über Rondoval erzählen wollte. Da er nicht wußte, wie stark der erinnerungstilgende Zauber des Fremden war, zögerte er, sich in den Hirnen seiner Gefährten mit Rondoval in -42-
Verbindung zu bringen, indem er selber darauf zu sprechen kam. Es war zwei Nächte später, während sie beim Abendessen saßen, als Ibal eine Sache aufbrachte, die fast ebenso interessant war. »Also, Freistab, berichte mir von deinen Plänen«, sagte er, während er irgend etwas Weiches, Breiiges zwischen die kläglichen Reste seiner Zähne löffelte. »Was hast du dir für das Fest vorgenommen?« »Lernen«, erwiderte Pol. »Ich möchte mit einigen Kollegen zusammentreffen und in der Kunst geübter werden.« Ibal kicherte feucht. »Warum kommst du nicht heraus damit und gibst zu, daß du einen Bürgen für die Aufnahme suchst?« fragte er. »Wäre ich geeignet?« erkundigte sich Pol. »Wenn ein Meister dich unterstützte.« »Worin bestände der Nutzen?« Ibal schüttelte den Kopf. »Ich kann kaum glauben, daß du so einfältig bist. Wo bist du aufgewachsen?« »An einem Ort, wo dieses Problem niemals auftauchte.« »Ich vermute, das kann ich glauben, wenn ich es versuche, da du ein Freistäbler bist. In Ordnung. Gelegentlich finde ich Unwissenheit sehr erfrischend. Das richtige Erleben der Rituale, die zu der Zeremonie gehören, führen zu einer Neuordnung deiner Lichter. Das versetzt dich in die Lage, größere Mengen der Energie zu handhaben, die in allen Dingen vorhanden ist. Du erhältst die Gelegenheit, größere Macht zu erwerben, was so vielleicht nicht möglich wäre.« »Werden auch diesmal Aufnahmen durchgeführt?« »Ja. Ich habe vor, Nupf daran teilnehmen zu lassen - bei Suhuy habe ich das Gefühl, daß er noch nicht bereit ist.« -43-
Er deutete auf den größeren seiner Lehrlingen, den Jungen mit dunklen Augen und hellem Haar. Suhuy runzelte die Stirn und blickte zur Seite. »Wenn ein Lehrling einmal aufgenommen ist, steht er sozusagen auf eigenen Füßen?« fragte Pol. »Ja, obwohl ein Mann gelegentlich noch eine Zeitlang bei seinem Meister bleibt, um einige Feinheiten der Kunst zu erlernen, die während der Grundausbildung vielleicht nicht berücksichtigt wurden.« »Nun, wenn ich keinen Bürgen finde, werde ich mich allein durchs Leben wursteln müssen.« »Wenn du dir der Gefahren der Aufnahme bewußt bist. . .« »Bin ich nicht.« »Tod und Wahnsinn hauptsächlich. Hin und wieder fällt ihnen jemand anheim, der nicht ganz bereit war.« »Könnte ich ein wenig Unterricht bekommen, um nicht unvorbereitet zu sein?« »Das ließe sich machen.« »Dann wäre ich willens.« »In dem Fall werde ich dich unterstützen, als Gegenleistung für spätere Freundlichkeit. Es ist immer gut, in dem Beruf einige Freunde zu haben.« Die Träume von dem Tor und dem fremdartigen Land dahinter kehrten in dieser Nacht nicht wieder und auch in keiner der darauf folgenden. Die Tage vergingen ereignislos, gleichförmig, während wir weitermarschierten, bis nur noch sein verändertes Aussehen Pol daran erinnerte, daß tatsächlich etwas Ungewöhnliches geschehen war. Die Landschaft hatte sich verändert, je höher sie kamen, obwohl der Aufstieg hier weniger steil war, als der Abstieg von den Bergen um Rondoval. Belken selbst war ein gewaltiger, schwarzer, zahnähnlicher Gipfel mit zahlreichen Einbuchtungen und ohne Baumwuchs. An dem -44-
Abend, als sie ihn das erste Mal zu Gesicht bekamen, schien er von einem matten weißen Lichtschimmer umgeben zu sein. Samtfinger zog Pol beiseite, und sie blieben stehen, um die Erscheinung zu betrachten. »Bist du sicher, daß du weißt, worauf du dich einläßt?« fragte er ihn. »Ibal hat mir die Vorgänge bei der Einweihungszeremonie geschildert«, antwortete Pol, »und er hat mir einen Eindruck davon vermittelt, was ich bei den verschiedenen Stationen zu erwarten habe.« »Daran dachte ich nicht«, meinte Samtfinger. »Woran denn sonst?« »Ein Zauberer versuchte in Rondoval, dich zu töten. Ein anderer kam vorbei, angeblich, um dir zu helfen. Ich habe den Eindruck, daß du dich mitten in etwas Scheußlichem und Magischem befindest - und du marschierst geradewegs in ein ganzes Nest voller Zauberer hinein und willst ohne die üblichen Vorbereitungen etwas Gefährliches unternehmen.« »Andererseits«, hielt Pol ihm entgegen, »ist es vielleicht der beste Ort, um heraus zu finden, was eigentlich vor sich geht. Und ich bin sicher, daß ich Verwendung für jeden zusätzlichen Einblick und alle Kraft haben werde, die die Aufnahme mir bietet.« »Traust du Ibal wirklich?« Pol zuckte die Schultern. »Mir scheint, das muß ich, bis zu einem gewissen Punkt.« »Außer, du entscheidest dich, jetzt aus dem Spiel auszusteigen.« »Dann stünde ich wieder da, wo ich angefangen habe. Nein danke.« »Du hättest Zeit, die Sache noch einmal zu überdenken und vielleicht einen anderen Weg zu finden, auf dem du -45-
weiterkommst.« »Ja«, antwortete Pol. »Ich wünschte, das wäre möglich. Aber Zeit, glaube ich, ist etwas, mit dem ich nicht so freigebig umgehen kann.« Samtfinger seufzte und wandte sich ab. »Dieser Berg sieht düster aus«, sagte er. »Da muß ich dir zustimmen.« Am folgenden Morgen kamen sie zwischen die Ausläufer des Berges, und als sie einen lang gestreckten Hügel erstiegen hatten, hielt die Gruppe an. Vor dem Ostfuß des Berges erstreckte sich etwas, das aus einem Traum oder einem Märchen stammen mußte: eine funkelnde Ansammlung heller Türme und goldener Kuppeln über Gebäuden, die aussahen, als hätte man sie aus einem einzigen Edelstein geschnitten; da gab es schimmernde Brücken über glitzernden Wegen, Säulen aus Jett, regenbogen überspielte Brunnen. . . »Götter!« sagte Pol. »Ich hatte keine Ahnung, daß es so herrlich sein würde!« Er hörte Ibal kichern. »Was ist so lustig?« fragte Pol. »Man ist nur einmal jung. Laß dich überraschen«, erwiderte der alte Zauberer. Verwirrt ging Pol weiter. Als der Tag fortschritt, verlor die Traumstadt einiges von ihrem Glanz. Zuerst verschwanden das Funkeln und die Regenbögen, dann begannen die Farben zu verblassen. Ein Schleier senkte sich über die Gebäude und überzog die gesamte Anlage mit einem einförmigen Grau. Die Bauwerke schienen zu schrumpfen, und einige der Türme und höheren Säulen verschwanden völlig. Glaswände wurden milchig und gerieten in Bewegung. Dann lösten sich die Brunnen und Brücken auf. Es war, als würde er jetzt die Stadt durch ein mattes, verzerrendes Glas -46-
betrachten. Bei der Mittagsrast wandte Pol sich an Ibal: »Also gut, ich bin überrascht und inzwischen mehrere Stunden älter. Was ist aus der Stadt gewdorden?« Ibal verschluckte sich beinahe an seinem Brei. »Nein, nein«, brachte er schließlich heraus. »Warte bis zum Abendessen. Betrachte das Schauspiel.« Was blieb ihm übrig. Als die Sonne nach Westen wanderte und der Schatten des Gipfels über die verschwommenen Umrisse der Gebäude fiel, hörten die wellenförmigen Bewegungen auf, und die Mauern erhielten wieder etwas von ihrem früheren Glanz. Pol und Samtfinger ließen kein Auge von den Vorgängen. Während die Schatten länger wurden, schien die Stadt zu wachsen, langsam erst und immer schneller, als der Nachmittag sich zum Abend neigte. Der Schleier wurde durchsichtiger, und die Umrisse der höheren Bauwerke tauchten wieder auf. Als sie näher kamen, bemerkten sie die Fontänen der Brunnen. Allmählich wurden auch die Farben wieder sichtbar. Die Türme, Pfeiler und Bögen bekamen den Anschein größerer Festigkeit. Ungefähr zur Abendbrotzeit waren sie ein gutes Stück näher gekommen, und die Stadt bot jetzt wieder fast denselben Anblick wie am frühen Morgen. Der Dunstschleier löste sich weiter auf, während sie beim Essen saßen und ihn beobachteten. »Nun, hast du es erraten?« fragte Ibal und verleibte sich eine schwärzliche Brühe ein. »Anscheinend ist sie zu verschiedenen Zeiten verschiedene Dinge«, sagte Pol. »Also ist sie offensichtlich nicht das, was sie scheint, und stellt deshalb eine Art Verzauberung vor. Ich habe keine Ahnung, was sich wirklich dort befindet, oder warum es sich verändert.« »Was sich wirklich dort befindet, ist eine Ansammlung von Höhlen, Zelten und Hütten«, erklärte Ibal. »Jedesmal -47-
übernehmen durch das Los bestimmte Zauberer die Verantwortung für die Ausstattung des Ortes für die Versammlung. Gewöhnlich schicken sie ihre Lehrlinge und Diener voraus. Diese säubern und reparieren die Gebäude, stellen die Zelte auf und errichten die üblichen Unterkünfte. Dann wetteifern die Lehrlinge in dem Ausarbeiten der Zauber, um dem Ganzen ein möglichst gefälliges Aussehen zu geben. Wie auch immer, nicht alle Lehrlinge sind gleich begabt, und da die ganze Sache nur für begrenzte Zeit gedacht ist, werden selten erstklassige Zauber angewendet. Folglich ist die Stadt während der Nacht und Morgendämmerung schön. Je weiter der Tag vorschreitet, desto mehr beginnt sie zu verschwimmen. Die Zauber sind am schwächsten gegen Mittag, und dann erhascht man einen Blick von dem, was sich tatsächlich dahinter befindet.« »Wirken die Zauber innen so gut wie außen?« »Allerdings, Freistab, das tun sie. Bald wirst du es selber sehen.« Während sie noch hinüberschauten, begann das Funkeln wieder, schwach zuerst, dann stärker. Sie erreichten den Fuß des Berges gegen Abend und betraten die leuchtende Stadt, die dort enstanden war. Der erste Torbogen, den sie durchschritten, bestand vielleicht nur aus zusammen gebundenen Zweigen, sah aber aus, wie goldgeäderter, mit verschlungenen Mustern überzogener Marmor. Zahllose Lichter schwebten hoch über ihren Köpfen durch die Luft. Pol ließ seine Augen wandern, während er die Wunder einschätzte. Anders als in jeder anderen Stadt, die er kannte, schien hier alles sauber zu sein. Der Weg unter ihren Füßen war unnatürlich hell. Die Gebäude wirkten beinahe zerbrechlich, transparent wie Eierschalen. Filigranschirme verdeckten phantasievoll gestaltete Fenster in -48-
Mauern, die mit Mustern aus funkelnden Juwelen geschmückt waren. Es gab Balkone und schmale Brücken, die sich über die Straßen spannten, Säulengänge, durch die reichgekleidete Männer und Frauen spazierten. In den Auslagen der Geschäfte wurde allerlei magischer Krimskrams angeboten, und überall standen exotische Tiere in Pferchen oder waren angebunden einige wanderten auch harmlos durch die Stadt, als wollten sie ebenfalls die Sehenswürdigkeiten betrachten. Dicke rote Rauchwolken stiegen aus einem Kohlenbecken an einer Ecke, wo ein Magier sang und ein dämonisches Gesicht hoch über der Straße Gestalt annahm. Die Musik von Flöten, Saiteninstrumenten und Trommeln ertönte aus verschiedenen Richtungen. Einem plötzlichen Impuls folgend, berief Pol seine Gitarre aus ihrem Versteck, stimmte sie, hängte sie sich um den Hals und begann zu spielen, während sie weitergingen. Er fühlte sein unsichtbares Drachenmal pulsieren, wie als Antwort auf die von Magie erfüllte Umgebung, in der sie sich bewegten. Bunte Vögel in Käfigen aus Silber und Gold trillerten eine Begleitung zu seinem Lied. Einige der vorüberziehenden Gesichter wandten sich in seine Richtung. Hoch oben glühte matt der Gipfel des Berges wie von einem Schwarm Glühwürmchen umgeben. Noch weiter oben, erschienen die Sterne an einem klaren Himmel. Ein kühler Wind umfächelte ihn, brachte den Duft von exotischen Gewürzen, Parfums und brennendem, würzigem Holz. Samtfinger schnüffelte und lauschte, seine Finger zuckten, die Augen wanderten. »Es dürfte schwierig sein, heraus zu finden, was sich an einem Ort wie diesem zu stehlen lohnt, wo nichts ist, was es scheint«, bemerkte er. »Betrachte es als Urlaub.« »Kaum«, erwiderte Samtfinger und beäugte eine -49-
Dämonenfratze hinter einem Gitter hoch oben in der Mauer zu seiner Linken, die ihn zu beobachten schien. »Als Schulunterricht vielleicht. . .« Ibal, der an jeder Biegung seinen Dienern Befehle zukrächzte, schien den Weg zu seinem Quartier zu kennen. Es waren, erfuhr Pol später, dieselben Räume, die er immer bewohnte. Allerdings war ihr Aussehen bei jedem Treffen drastisch verändert, erklärte ihm ein älterer Diener. Um sich hier zurecht zu finden, mußte man die Anordnung der Gebäude kennen, nicht ihr Äußeres. Die Räume, in die Ibals Gäste geführt wurden, wirkten groß und elegant, obwohl über allem der Schimmer des Unechten lag, und Pol stellte fest, daß solide scheinende Wände etwas nach gaben, wenn er sich dagegenlehnte, glatte Böden sich unter den Füßen uneben anfühlten und Stühle niemals ganz so bequem waren, wie sie aussahen. Ibal hatte sich von ihnen mit der Bemerkung verabschiedet, daß er zu ruhen wünschte und sie am Morgen den für die Aufnahmezeremonie Verantwortlichen vorstellen würde. Also nachdem sie gebadet und die Kleider gewechselt hatten machten Pol und Samtfinger sich auf, um die Stadt näher in Augenschein zu nehmen. Die Bälle aus weißem Licht erleuchteten die Hauptstraßen. Verschiedenfarbige Kugeln schwebten über den schmaleren Wegen. Sie kamen an Gruppen von Jünglingen vorbei, deren Ünterhaltung sich anhörte, wie die Vorlesung von Philosophen, und an Trupps von alten Männern, die ihre Kräfte dazu benutzten, sich einen Spaß zu machen - wie die kleine Wolke unter einem Torbogen, die plötzlich zu knattern begann und jeden durchnäßte, der darunter hindurch ging, begleitet von dem schallenden Gelächter der greisenhaften Meister, die in den Schatten lauerten. Die Feuchtigkeit abschüttelnd, schlenderten Pol und -50-
Samtfinger zu einer schmalen Treppe, die zu einer windungsreichen, weniger hell erleuchteten Straße hinabführte blaue und rote Lichter, kleiner und matter als die anderen, schwebten langsam darüber hinweg. »Das sieht nach einem interessanten Weg aus«, meinte Samtfinger, der am Geländer der Treppe lehnte. »Gehen wir runter und sehen es uns an.« Es schien der Bezirk zu sein, in dem für das leibliche Wohl gesorgt wurde. Gasthäuser, die Speisen und Getränke anboten, säumten die Straße an beiden Seiten. Sie gingen langsam daran vorbei, kehrten um und gingen zurück. »Mir gefällt das da drüben«, sagte Samtfinger und deutete nach rechts. »Einer von den leeren Tischen unter dem Baldachin vielleicht, wo wir zuschauen können, wie die Leute vorbeigehen.« »Gute Idee«, bemerkte Pol, sie gingen hinüber und setzten sich. Ein kleiner, dunkler, lächelnder Mann in einem grünen Kaftan trat fast augenblicklich aus der Tür. »Was darf ich den Herren bringen?« fragte er. »Ich hätte gerne ein Glas Rotwein«, bestellte Pol. »Auch Wein, weiß und fast sauer«, schloß Samtfinger sich an. Der Mann wandte sich um und gleich darauf wieder zurück. Er hielt ein Tablett mit zwei Gläsern voll Wein, das eine hell, das andere dunkel. »Brauchbarer Trick«, meinte Samtfinger. »Privater Zauber«, erwiderte der andere. Der Mann wurde beinahe verlegen, als er sie bat, ihr Geld durch einen kleinen Reifen in einen Korb zu werfen. »Fast alle machen es jetzt so«, erklärte er. Zivile verzauberte Kiesel sind im Umlauf. Vielleicht habt ihr sogar welche, ohne es -51-
zu wissen.« Aber ihre Münzen blieben Münzen, als sie durch den verzauberten Kreis fielen. »Wir sind gerade erst angekommen«, sagte Pol. »Trotzdem, haltet die Augen offen.« Er verschwand, um eine andere Bestellung entgegen zu nehmen. Der Wein war außerordentlich gut, obwohl Pol den Verdacht hegte, daß der Geschmack, zum Teil wenigstens, die Folge eines Zaubers war. Aber schließlich, überlegte er nach einer Weile, was für einen Unterschied machte es? Wie diese gesamte Stadt - wenn es seinen Zweck erfüllt, kann Aussehen sehr viel wichtiger sein als Inhalt. »Kaum eine originelle Betrachtung«, antwortete Samtfinger, als er sie ihm mitteilte. »Und mir machte es sehr viel aus, jedesmal, wenn ich einen falschen Edelstein aufhob, den ich für echt hielt.« Pol kicherte. »Dann erfüllt es seinen Zweck.« Samtfinger lachte. »Schon gut. Schon gut. Aber sobald es den Tod betrifft, ist es besser, zu wissen, was der wirkliche Dolch ist und was die wirkliche Hand. Nach dem, was in jener letzten Nacht in deiner Bibliothek geschehen ist, würde ich an einem Ort wie diesem sehr vorsichtig sein.« »Was gibt es denn noch für Vorkehrungen, die ich nicht bereits getroffen habe?« »Nun, dieser magische Regen, durch den wir vorhin gegangen sind«, setzte Samtfinger an. »Gerade ist mir aufgefallen. . .« Es wurde durch das Auftauchen eines blonden, gutgebauten jungen Mannes mit feingemeißelten Zügen und einem -52-
blitzenden Lächeln unterbrochen. Er war extravagant gekleidet und bewegte sich mit außergewöhnlicher Grazie und Haltung. »Freistab! Und Samtfinger! Seltsam, euch hier zu treffen! Kellner! Noch einmal von dem, was meine Freunde da trinken. Und ein Glas von Eurem Besten für mich!« Er zog einen Stuhl heran und setzte sich an den Tisch. »Es sieht aus, als hätten sie dieses Jahr bessere Arbeit als sonst geleistet«, sagte er und machte eine umfassende Armbewegung. »Wie gefällt Euch Eure Unterkunft?« »Ah - gut«, antwortete Pol, als der Kellner kam und ihre Gläser hinstellte. Der Jüngling vollführte eine Bewegung, und seine Hand war plötzlich voller Münzen. Sie sprangen heraus, in einemBogen durch den Ring und fielen mit einem kleinen Feuerwerk in den Korb hinein. »Sehr farbenfroh«, bemerkte Pol. »Hört, ich möchte nicht unhöflich wirken, schließlich habt Ihr uns eingeladen, aber ich kann mich irgendwie nicht erinnern. . .« Der Jüngling lachte, sein hübsches Gesicht verzog sich vor Vergnügen. »Natürlich nicht, natürlich nicht«, sagte er. »Ich bin Ibal, und ihr seht vor Euch den besten Verjüngungszauber, den es je gegeben hat.« Er schnippte ein Stäubchen von seinem Ärmel. »Ganz zu schweigen von einigen kosmetischen Maßnahmen«, fügte er leise hinzu. »Wirklich?« »Erstaunlich!« »Ja. Ich bin bereit, mich wieder mit meiner geliebten Vonnie zu treffen, für zwei Wochen der Liebe, der Freude, guten Essens und guten Trinkens. Es ist der einzige Grund, warum ich noch zu diesem Treffen komme.« -53-
»Wie - interessant.« »Ja. Wir begegneten uns hier das erste Mal vor dreihundert Jahren, und unsere Gefühle sind über die Jahrhunderte unverändert geblieben.« »Beeindruckend«, sagte Pol. »Aber seht ihr einander nicht in der Zwischenzeit?« »Götter, nein! Wenn wir auf einer Tag zu-Tag-Basis miteinander leben müßten, würde wahrscheinlich einer den anderen umbringen. Zwei Wochen alle vier Jahre ist gerade richtig.« Er starrte einen Augenblick in sein Glas, bevor er es an die Lippen hob. »Außerdem«, fügte er hinzu, »verbringen wir einen großen Teil der übrigen Zeit damit, uns zu erholen.« Er blickte wieder auf. »Freistab, was hast du mit dir gemacht?« »Was meint Ihr?« erkundigte sich Pol. »Die weiße Strähne in deinem Haar. Was soll das?« Pol fuhr mit der Hand über seinen immer noch feuchten Schopf. »Kleiner Scherz«, sagte er. »Keiner vom besten Geschmack«, bemerkte Ibal und schüttelte den Kopf. »Die Leute werden dich mit Dets Untergang in Verbindung bringen. Ahh!« Sie folgten seinem Blick und schauten die Straße hinauf, an einem stehengebliebenen, fetten Mann und einigen Spaziergängern vorbei, zu der Stelle, wo unter einem tanzenden blauen Licht eine Frau erschienen war. Sie war von mittlerer Größe, mit langem, dunklem, glänzendem Haar, ihr Körper herrlich geformt unter einem dünnen, enganliegenden Gewand, ihr Gesicht lieblich, zart lächelnd. Ibal stand auf. Pol und Samtfinger erhoben sich gleichfalls. »Meine Herren, dies ist Vonnie«, verkündete er, als sie an den Tisch trat. Er umarmte sie und ließ einen Arm um ihre Hüften -54-
liegen. »Meine Liebe, du bist schöner denn je. Dies sind meine Freunde, Freistab und Samtfinger. Laß uns ein Glas mit ihnen trinken, bevor wir gehen.« Sie nickte ihnen zu, während er ihr einen Stuhl brachte. »Es ist schön, euch zu treffen«, sagte sie. »Kommt ihr von weit her?« Und Pol, gefangen von dem Zauber ihrer Stimme und der Frische ihrer Gestalt, spürte eine plötzliche und schmerzliche Einsamkeit. Er vergaß seine Antwort im selben Moment, als er sie aussprach und verbrachte die nächsten Minuten damit, sie zu bewundern. Als sie aufstanden, um zu gehen, beugte Ibal sich vor und flüsterte: »Das Haar - ich meine es ernst. Du würdest besser gleich etwas daran ändern oder die Verantwortlichen für die Zeremonie könnten dich für eingebildet halten. Zu jeder anderen Zeit, würde es natürlich nichts ausmachen. Aber bei einem, der um Aufnahme ersucht - nun, das ist nicht der geeignete Zeitpunkt für Scherze, wenn du begreifst, was ich meine.« Pol nickte und fragte sich, was der einfachste Weg war, um damit zurechtzukommen. »Ich werde mich noch an diesem Abend darum kümmern.« »Sehr gut. Ich werde dich irgendwann morgen sehen - nicht zu früh.« »Viel Vergnügen.« Ibal lächelte. »Da bin ich sicher.« Pol sah ihnen nach, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Wein zu. »Schau jetzt nicht gleich hin«, flüsterte Samtfinger mit bewegungslosen Lippen, »aber da ist ein fetter Mann, der schon -55-
einige Zeit hier herumlungert.« »Ich habe es gemerkt«, erwiderte Pol und streifte den massigen Mann mit einem Blick, als er das Glas hob. »Was ist mit ihm?« »Ich kenne ihn«, sagte Samtfinger, »oder kannte ihn beruflich. Sein Name ist Ryle Merson.« Pol schüttelte den Kopf. »Der Name sagt mir nichts.« »Er ist der Zauberer, von dem ich einmal sprach. Es war vor mehr als zwanzig Jahren, daß er mich anheuerte, um deinem Vater diese sieben Statuen zu stehlen.« Pol verspürte das starke Bedürfnis, sich umzudrehen und den großen Mann in Gold und Grau anzustarren. Er nahm sich zusammen. ». . . und er machte keine Andeutung, weshalb er sie haben wollte?« »Nein.« »Ich glaube, sie sind sehr gut aufgehoben - bei meiner Gitarre«, meinte Pol. Als er wieder hinüber schaute, unterhielt sich Ryle Merson mit einem hochgewachsenen Mann, der eine langärmlige schwarze Tunika trug, rote Hosen und hohe schwarze Stiefel, um den Kopf ein rotes Tuch. Der Mann wandte ihnen den Rücken zu, aber kurze Zeit später drehte er sich um, und sein Blick kreuzte sich flüchtig mit dem Pols, bevor beide langsam die Straße hinaufgingen. »Was ist mit dem?« Samtfinger schüttelte den Kopf. »Einen Augenblick lang kam er mir bekannt vor, aber nein ich kenne seinen Namen nicht, und ich kann nicht sagen, wo ich ihn schon einmal gesehen habe, wenn überhaupt.« -56-
»Ich frage mich, ob das ein Zufall ist.« »Ryle ist ein Zauberer, und dies ist eine Zusammenkunft von Zauberern.« »Warum, glaubst du, hat er hier so lange gestanden?« »Könnte sein, daß er nur auf seinen Freund gewartet hat«, meinte Samtfinger, »obwohl ich mich fragte, ob er mich erkannt hatte.« »Es ist lange her«, sagte Pol. »Ja.« »Er hätte einfach herkommen und dich ansprechen können, wenn er sich vergewissern wollte.« »Allerdings.« Samtfinger hob sein Glas. »Laß uns austrinken und gehen«, schlug er vor. »In Ordnung.« Später, der Abend hatte seinen Glanz verloren, kehrten sie in ihre Unterkunft zurück. Nicht nur, weil Samtfinger es vorgeschlagen hatte, wob Pol ein dichtes Netz von Warnzaubern um die Zimmer und schlief mit dem Schwert neben dem Bett.
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IV
Schluß mit den philosophischen Grübeleien! beschloß ich. Es ist alles sinnlos, denn ich bin immer noch im Ungewissen über alles, was mit meiner Existenz zu tun hat. Ein Philosoph ist ein toter Dichter und ein sterbender Theologe - das fand ich eines abends in Pols Gedanken. Ich bin nicht sicher, woher Pol es hatte, aber es beinhaltete genau das richtige Maß an Verachtung, um zu meinen Gefühlen zu passen. Ich war es müde geworden, über meine Lage nach zu denken. Es war Zeit, daß ich irgend etwas unternahm. Ich fand die Stadt am Fuße Belkens beunruhigend, aber auch anregend. Rondoval hatte seinen Teil an Magie - von nützlichen Arbeiten und mißverstandenen Zaubern bis zu vergessenen Flüchen, die darauf warteten, endlich zum Einsatz zu kommen und einer Menge neuem Zeug, das Pol herum liegen gelassen hatte. Aber dieser Ort war das reinste Warenlager der Magie Zauber lag über Zauber, viele von ihnen miteinander verbunden, einige im Widerstreit, jeden Augenblick kamen neue hinzu, wurden alte aufgehoben. Die Zauber in Rondoval waren alt, vertraute Dinge, mit denen ich gut zurecht kam. Hier summte oder leuchtete die Macht ständig um mich herum - teils äußerst fremdartig, teils sogar bedrohlich -, und ich konnte nicht ahnen, wann ich plötzlich mit einem tödlichen, unerwarteten Gegner zusammen traf. Das erhöhte meine Aufmerksamkeit, wenn es auch nicht mein Bewußtsein erweiterte. Außerdem schien ich gleichzeitig mehr Kraft in mich aufzunehmen, nur indem ich mich durch diese konzentrierte Masse von Macht hindurch bewegte. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, daß ich in der Lage sein könnte, jemanden über meine Stellung zu befragen, als wir -58-
die Stadt betraten und ich das Wesen in dem Turm aus rotem Qualm entdeckte. Ich beobachtete es, bis die Erscheinung sich auflöste und bemerkte dann erfreut, daß es eine Gestalt ähnlich der meinen annahm. Ich näherte mich dem sich entfernenden Ding augenblicklich und sprach es an. »Was bist du?« fragte ich. »Ein Botenjunge«, erwiderte es. »Ich war dumm genug, jemanden meinen Namen heraus finden zu lassen.« »Ich verstehe nicht.« »Ich bin ein Dämon genau wie du. Nur tue ich gerade Dienst. Mach schon und lach mich aus. Aber vielleicht kriegst du eines Tages auch dein Teil.« »Ich verstehe wirklich nicht.« »Ich habe keine Zeit, es zu erklären. Ich muß genug Eis von dem Berggipfel holen, um all die Kästen in den Speisekammern zu füllen. Mein verflixter Meister hat eine von den Konzessionen hier.« »Ich werde dir helfen«, sagte ich, »wenn du mir zeigst, was ich tun muß, und wenn du mir meine Fragen beantwortest, während wir arbeiten.« »Dann komm. Zum Gipfel.« Ich folgte ihm. Als wir durch die mittleren Regionen der Luft schwebten, erkundigte ich mich: »Ich bin auch ein Dämon, sagst du?« »Ich glaube es. Ich kenne nicht allzu viele andere Wesen, die denselben Eindruck vermitteln.« »Nenne mir eines, wenn du kannst.« »Nun, ein Elementargeist - aber sie sind zu dumm, um Fragen so zu stellen, wie du es tust. Du mußt ein Dämon sein.« Wir erreichten den Gipfel, wo ich lernte, wie mit dem Eis umzugehen war. Es war eine simple Abwandlung der -59-
Beendigung/Aufnahme-Technik, die ich bei lebenden Wesen anwandte. Als wir wieder nach unten, zu den Speisekammern, schwebten - gleich zwei gewaltigen, sich drehenden Türmen aus glitzernden Kristallen -, fragte ich: »Woher kommen wir? Meine Erinnerung reicht nicht so weit zurück.« »Wir werden auf verschiedene Arten dem universalen Energiestrom entnommen. Die häufigste Art ist die, daß irgendein mächtiger Zauberer uns ins Leben ruft, damit wir eine ganz bestimmte Aufgabe erfüllen - maßgeschneidert, sozusagen. Während dieses Vorganges erhalten wir einen Namen und werden gewöhnlich entlassen, sobald die Arbeit getan ist. Aber, wenn ein zweitklassiger oder fauler Magier - wie mein verflixter Meister - später deinen Namen herausfindet, kann er dich in seinen Dienst zwingen, und deine Freiheit ist wieder zu Ende. Das ist der Grund, weshalb du eine ganze Menge von uns bei Arbeiten findest, für die wir ursprünglich nicht gedacht waren. Es laufen einfach nicht so viele erstklassige Zauberer herum und einige von denen werden mit der Zeit faul oder sind in Eile. Ah, wenn ich meinen verflixten Meister nur dazu bringen könnte, einen winzigen Fehler bei seinen Anrufungsritualen zu begehen!« »Was würde dann geschehen?« »Nun, in dem Moment wäre ich frei und in der Lage, diesen Hundesohn zu zerreißen und mich aus dem Staub zu machen, in der Hoffnung, daß er kein magisches Dokument mit meinem Namen zurück läßt oder ihn einem rotznasigen Lehrling verraten hat. Um sicher zu gehen, sollte man immer die Unterkunft seines verflixten früheren Meisters zerstören - verbrennen ist gewöhnlich am besten und dann nach den Lehrlingen suchen, die in der Nähe sein könnten.« »Das werde ich mir merken«, sagte ich, während wir unsere Last wieder zu Blöcken formten, in die Kästen packten und zum -60-
Gipfel zurückkehrten. »Aber du hast niemals so ein Problem gehabt? Nicht wenigstens einmal?« »Nein. Niemals.« »Ungewöhnlich. Vielleicht hattest du deinen Ursprung in einer gewaltigen Naturkatastrophe. Das passiert manchmal.« »An etwas Derartiges kann ich mich nicht erinnern. Ich glaube mich auf einen Kampf besinnen zu können, aber das ist kaum dasselbe.« »Hm. Viel Blut?« »Ich nehme an. Reicht das?« »Ich glaube nicht, nicht allein. Aber es könnte helfen, wenn etwas anderes den Prozeß in Gang gesetzt hatte.« »Es gab auch einen furchtbaren Sturm.« »Stürme können auch helfen. Aber auch das reicht noch nicht.« »Also, was soll ich tun?« »Tun? Sei dankbar, daß niemand deinen Namen kennt.« »Ich kenne meinen Namen auch nicht - das heißt, wenn ich überhaupt einen habe.« Wir erreichten den Gipfel, sammelten eine zweite Ladung und begannen mit der Rückreise. »Du mußt einen Namen haben. Alles hat einen Namen. Einer der Alten hat mir das erzählt.« »Alten?« »Du bist wirklich einfältig. Die Alten sind die Dämonen der Tage, die die Menschen schon vor Jahrhunderten vergessen haben. Glücklicherweise sind ihre Namen auch in Vergessenheit geraten, und so leben sie, relativ unbelästigt von Zauberern, in fernen Grotten, auf hohen Gipfeln, in den Herzen der Vulkane und auf dem Meeresgrund. Wenn man ihnen glauben will, ist -61-
kein verflixter Meister so schlimm wie die verflixten Meister ihrer Tage. Es ist schwierig, festzustellen, ob es wirklich einen Unterschied gibt, denn ich kenne niemanden, der das Unglück gehabt hätte, sowohl unter alten wie modernen verflixten Meistern zu dienen. Trotzdem sind die Alten weise, einfach, weil sie schon so lange existieren. Einer von ihnen könnte dir vielleicht helfen.« »Du kennst wirklich einige von Ihnen?« »O ja! Während einem meiner Intervalle der Freiheit lebte ich bei ihnen, in der Tiefe, in den Grotten der Grollenden Erde, wo das heiße Magma kocht und dampft - ein wundervoller und glücklicher Ort! Ich wünschte, ich wäre da!« »Warum kehrst du nicht zurück?« »Nichts würde ich lieber tun. Aber der verflixte Zauber meines verflixten Meisters bannt mich in seine nähere Umgebung, und es ist nicht seine Gewohnheit, Urlaub zu gewähren.« »Wie unangenehm.« »Allerdings.« Wir schwebten wieder in die Speisekammern und füllten das Eis in die Kästen. »Jetzt, dank deiner Hilfe, bin ich vor der festgesetzten Zeit fertig«, sagte der Dämon, »und mein verflixter Meister wird mir keine andere Arbeit auftragen, bis er merkt, daß diese beendet ist. Deshalb habe ich einige Minuten der Freiheit. Wenn es dir recht ist, kehren wir auf den Gipfel zurück, von wo aus wir einen guten Ausblick haben, und ich will versuchen, dir den Weg zu den Grotten der Grollenden Erde zu beschreiben - obwohl der Eingang dazu auf einem anderen Kontinent liegt.« »Zeige mir den Weg«, antwortete ich, und er schwang sich in die Höhe. Ich folgte ihm. -62-
Die Erklärungen waren kompliziert, aber ich machte mich sofort auf den Weg. Ich flog weit gen Nordwesten, bis ich ein großes Wasser erreichte, das sich in bestimmten Abständen den Sternen entgegen hob, die es widerspiegelte. Dort wurde ich ohne mein Zutun langsamer. Ich wußte, daß ich es überqueren mußte, aber alle Willenskraft hatte mich verlassen. Ich trieb in nördlicher Richtung die Küste entlang. Was war es, das mich zurückhielt? Endlich bemühte ich mich um vollständige Herrschaft über meine nebelhafte Gestalt. Ich versuchte, meine Lage auf strikt vernünftige Weise zu sehen. Ich sah keinen Grund, länger zu zögern. Ich schenkte der seltsamen Trägheit, die mich überkommen hatte, keine Beachtung. Unter Auferbietung aller Willenskraft glitt ich über einen schmalen, steinigen Strand und schwebte über den plätschernden Wellen. Fast augenblicklich fühlte ich meinen eben gefaßten Entschluß schwankend werden, dennoch kämpfte ich mich weiter, stemmte mich gegen die unbegreifliche Mauer, die sich vor mir erhoben hatte. Da hörte ich die Stimme, untermalt von dem Dröhnen der Brandung. »Bellor«, sagte sie. »Bellor. . .« Und ich hörte zu und bekam Angst. »Bellor«, wiederholte sie, »bellor, bellor, bellor«, wieder und wieder. Ich spürte, daß ein Teil von mir sofort verstanden hatte, was diese Ausrufe bedeuteten. Und ich wußte, daß mein Unternehmen gescheitert war. Ich sammelte all meine noch verbliebene Willenskraft, um mich gegen die Kraft zu wehren, die mich festhielt, denn wenigstens hatte ich hier die Möglichkeit, eine Frage zu stellen. »Warum?« schleuderte ich gegen die Wellen und den -63-
Himmel. »Warum? Was ist es, das ihr von mir wollt?« Einen Augenblick herrschte Stille, und dann ertönte wieder die Stimme: »Bellor, bellor. . .« Das Gefühl der Niederlage durchströmte mich dunkel und kalt, wie die Wasser unter mir, als ich begriff, daß diese seltsamen Worte meine einzige Antwort bleiben würden. Ich eilte zurück zum Ufer und schwebte nach Süden, mit dem Bewußtsein, daß ich woanders nach meinen Antworten suchen mußte. Die Worte verblaßten in mir. Meine Gedanken richteten sich auf Pol. Sobald ich den leuchtenden Balken und die magieerfüllte Stadt an seinem Fuß erreicht hatte, begab ich mich unverzüglich zu dem Haus und Zimmer, wo Pol schlief. Wie mir das ohne größere Anstrengung gelingen konnte, wußte ich nicht, außer, daß als Folge unseres Zusammenseins eine Bindung zwischen uns entstanden war. Als ich die Abwehrmaßnahmen untersuchte, die er getroffen hatte, hörte ich ihn leise stöhnen. Ich tastete mich in sein schlafendes Bewußtsein und sah, daß er durch ein Tor in seinen Träumen an einen Ort gekommen war, der ihn gleichermaßen anzog wie abstieß. Niemals zuvor hatte ich mich in seine Angelegenheiten eingemischt, aber ich erinnerte mich, daß er scheinbar erleichtert gewesen war, als der namenlose Zauberer ihn damals aufweckte. Also sorgte ich dafür, daß er erwachte. Eine geraume Weile lag er sorgenvoll wach und glitt dann in einen ungestörteren Schlummer. Ich verließ ihn anschließend, um meinen dämonischen Bekannten auf zu suchen und heraus zu finden, ob ich von ihm noch etwas lernen konnte. Ich schwebte zu der Unterkunft des verflixten Meisters hinüber, aber mein Freund befand sich weder dort noch in der Umgebung. Dann, sehr schwach, entdeckte ich die glitzernde Spur, die sich auch bei unserem Eis-Beschaffungsunternehmen hinter uns gebildet hatte. Ich beeilte mich, ihr zu folgen, da sie -64-
während der kurzen Sekunden, in denen ich sie betrachtete, merklich verblaßt war. Ich eilte die luftige Spur entlang, so schnell ich nur eben konnte. Die Entfernung war groß, aber ein zunehmendes Leuchten sagte mir, daß ich aufholte. Viele Meilen weiter in südwestlicher Richtung senkte sich der Weg zu einem Dorf an einem Flußufer. Er endete bei einem Haus, das in den Grundfesten zitterte und aus dem eine Reihe krachender Geräusche drangen. Ich schwebte in das Innere und bemerkte, daß überall Blut verschmiert war - an den Wänden, auf dem Boden, sogar an der Decke. Mein Freund hatte sich eines männlichen, menschlichen Körpers bemächtigt, dessen Glieder gebrochen waren und dessen Gehirn an der Kamineinfassung klebte. »Sei gegrüßt. Du bist so schnell zurück! Gab es Probleme mit meinen Erklärungen?« »Nein, aber eine Macht, die ich nicht verstehe, hinderte mich am Verlassen dieses Kontinents.« »Seltsam.« Der Mensch flog durch das Zimmer und prallte an die gegenüber liegende Wand. »Weißt du, was ich glaube, was es sein könnte?« »Nein. Was?« fragte ich. »Ich glaube, daß du unter einem Zauber stehst, von dem du nicht einmal weißt - du bist auf irgendeine Weise an eine ganz bestimmte Aufgabe gebunden.« »Ich habe keine Ahnung, welche das sein könnte.« »Hilfst du mir bei den Eingeweiden? Sie sollten hier ausgespannt werden.« »Gerne.« »Nun, ich glaube, du solltest heraus finden, um was es sich handelt und die Sache erledigen. Vielleicht ist der verflixte -65-
Meister, der dich mit dem Zauber belegt hat, inzwischen tot oder wahnsinnig. In beiden Fällen hättest du großes Glück. Sobald du getan hast, was immer es zu tun gibt, bist du frei.« »Wie soll ich herausfinden, was es ist?« »Ich merke, daß ich dich in diesen Dingen noch genauer unterweisen muß. Da ich mich entschlossen habe, dich als Freund zu betrachten, werde ich dir unter dem Siegel der Verschwiegenheit etwas anvertrauen - meinen Namen. Er lautet Galleran.« »Das ist ein hübscher Name«, bemerkte ich. »Es ist mehr als nur ein Wort. Es beinhaltet mein ganzes Sein, wenn es richtig verstanden wird.« Wir beendeten das Ausspannen der Gedärme und Galleran machte sich daran, den Körper zu zerlegen und reichte mir einen Arm und ein Bein. »Laß dir etwas Dekoratives dafür einfallen.«Ich hängte das eine über einen Dachbalken und plazierte das andere in einem großen Kessel. »Weil ich meinen Namen weiß, weiß ich alles, was es über mich zu wissen gibt«, erklärte Galleran. »Das wirst du auch, sobald du anfängst, ihn zu verstehen. Was du jetzt tun mußt, ist, deinen eigenen Namen heraus zu finden. Wenn du ihn erfährst, kennst du gleichzeitig auch die Aufgabe, für die du bestimmt bist.« »Wirklich?« »Natürlich. Das eine ist die Folge des anderen.« Galleran setzte den Kopf auf den Kaminsims. »Wie kann ich ihn herausfinden«, fragte ich. »Du mußt deine frühesten Erinnerungen durchforschen - viele Male wahrscheinlich. Es ist da, irgendwo. Wenn du ihn kennst, kennst du auch dich selbst. Dann kannst du handeln.« -66-
»Ich werde es - versuchen«, sagte ich. Galleran befaßte sich weiter damit, glühende Holzstückchen aus dem Kamin durch das Zimmer zu streuen. »Hilf mir bitte, sie anzufachen. Es ist immer am besten, eine Arbeit mit einem Brand zu beenden.« »Natürlich.« Während wir uns mühten, das Zimmer in Brand zu setzen, erkundigte ich mich: »Aus welchem Grund wünschte dein verflixter Meister den Tod dieses Mannes?« »Einer schuldete dem anderen Geld, glaube ich, und wollte es nicht zurückzahlen. Ich habe vergessen, welcher.« »Oh.« Wir warteten ab, bis das Feuer richtig in Gang kam. Dann hoben wir uns mit dem Rauch in die Luft und machten uns auf den Rückweg nach Belken. »Ich danke dir für alles, was du mich an diesem Tag gelehrt hast«, sagte ich, als wir uns später trennten. »Es freut mich, daß ich behilflich sein konnte. Ich muß zu geben, daß du meine Neugier geweckt hast - sehr sogar. Laß es mich wissen, wenn du die Lösung des Rätsels gefunden hast.« »Ja«, antwortete ich. »Das werde ich tun.« Galleran kehrte in die Unterkunft seines verflixten Meisters zurück, um die Erledigung seiner Aufgabe zu melden. Ich hob mich in die Luft und schwebte zu einer Stelle hoch an der Westflanke Belkens. Als wir auf dem Gipfel das Eis sammelten, hatte ich dort eine Öffnung bemerkt, die in das Herz des Berges führte und wo es seltsame Lichter und Erschütterungen gab. Ich war sehr neugierig darauf, was dort vor sich ging und entschlossen, Nachforschungen anzustellen. Man kann nie wissen, wo der eigene Name verborgen liegt. -67-
V
. . Pol schwebte wieder durch das große Tor und in das Land dahinter. Er bewegte sich schneller als die vorigen Male und beobachtete eine weitere Jagd, Umwandlung und Verfolgung mit wachsendem Vergnügen. Bei der zweiten Gefangennahme allerdings wurde das Opfer verspeist, und ein anderes mußte ausgewählt werden. Pol verspürte ein Drängen in seinem Bewußtsein, das ihn weg von dem Geschehen und über das Ödland führte. Es schienen Tage zu sein, die er unterwegs war. In verschwommener, unbestimmter Gestalt zog er über die ewig unveränderte Einöde, bis er schließlich eine zerklüftete, aber hohe Mauer schwarzer Berge erreichte, die sich von Horizont zu Horizont erstreckte. Dreimal suchte er die Höhen zu überwinden, und er mußte dreimal aufgeben; bei dem vierten Versuch zwangen ihn die trockenen, heulenden Winde zu einer Schlucht, durch die er floh. Er kam auf der anderen Seite des Gebirges heraus, über einer Terrassenstadt, die die gesamte diesseitige Flanke bedeckte. Allerdings führte der Abhang sehr viel tiefer hinab als auf der gegenüber liegenden Seite und senkte sich endlich bis zum Ufer eines uralten, unbewegten, gezeiten losen Meeres, unter dessen Oberfläche er sich fortsetzte. Während er am Himmel seine Kreise zog, erkannt er die Umrisse von Gebäuden unter dem Wasser und die dunklen Gestalten der Wesen, die dort lebten. Durch den feinen Abendnebel, der sich an diesem Ort niemals auflöste, sah er die Geschöpfe der oberen Terrassen, graue, langgliedrige, etwas kleinere Abarten der Wesen, die er in den Ödländern gesehen hatte. Menschenähnliche Gestalten bewegten sich frei unter ihnen. -68-
Sehr langsam senkte er sich herab, wählte einen hohen Turm zu seinem Ruheplatz und ließ sich darauf nieder, um die Geschöpfe auf der Erde zu betrachten. Eine große Anzahl von ihnen versammelte sich rasch am Fuß des Gebäudes. Nach einiger Zeit entzündeten sie ein Feuer, schafften einige gefesselte Leute herbei, töteten und verbrannten sie. Der Qualm stieg auf, er atmete ihn ein und hatte Gefallen daran. Schließlich breitete er seine Flügel aus und schwebte zu der untersten Stufe hinab, wo sie auf ihn warteten. Sie bezeigten ihm ihre Ehrerbietung und machten Musik auf Instrumenten, die heulten, trommelten und rasselten. Er schritt zwischen ihnen einher, und hin und wieder wählte er einen aus, um ihn mit Schnabel und Krallen zu zerreißen. Jedesmal, wenn er dies tat, beobachteten ihn die anderen mit Ehrfurcht und offensichtlicher Zufriedenheit. Später kam einer, der ein Messinghalsband trug, das mit bleichen, rauchigen Steinen besetzt war. Er hielt einen dreizakkigen Eisenstab, über dem eine rußige weiße Flamme brannte. Er folgte dem Licht und dem, der es trug, in das schattige Innere des Gebäudes - ein unsymmetrisches Metallbauwerk, mit gepflasterten Böden und geneigten Wänden. Es war fensterlos und feucht: es roch nach schalem Parfüm. Tief drinnen, kalt und regungslos auf einem Marmorblock, lag eine Frau. Kerzen brannten ihr zu Kopf und Füßen, ihr einziges Kleid waren Kranz und Gürtel aus roten Blumen, die an den Rändern schon bräunlich verfärbt waren. Ihr Haar war so hellblond, daß es beinahe weiß schien. Ihre Lippen, Brustwarzen und Nägel waren blau geschminkt. Er stieß ein leises Trillern aus und erstieg die Treppe, den Block und die Frau. Er kratzte sie einmal mit den Krallen, hackte sie zweimal mit dem Schnabel und begann zu singen. Dann umfing er sie mit seinen Schwingen und bewegte sich langsam. Der eine, der den Eisenstab trug, stieß ihn in einem langsamen, stetigen Rhythmus auf den kalten Steinboden, die Flamme zeichnete tanzende -69-
Schatten an die weinenden Mauern. Nach langer Zeit öffnete die Frau ihre blassen Augen, aber sie schien nichts zu sehen, und sie bewegte sich nicht, bis viele weitere Minuten verstrichen waren. Dann begann sie zu lächeln. Als sie alle drei aus dem Gebäude traten, hatte sich bereits eine große Menge versammelt, und immer mehr stiegen aus der Tiefe hervor oder von den höheren Stufen herab. Das Trommeln, Heulen und Rasseln der Musik war zu einem ungeheuren Ausmaß angewachsen, und ein regelmäßiges, klickendes Geräusch, das aus den Brustkörben der versammelten Wesen drang, mischte sich darein. Dann begann eine langsame Prozession, angeführt von dem Flammenträger, die über viele Stufen der weltumfassenden, meerüberspülten Stadt führte. Sie wohnten in roten Gemächern während ihrer Reise, und die See veränderte sechsmal ihre Farbe, als sie sich über und unter der Oberfläche bewegten. Mächtige braune Würmer schwammen neben ihnen her augenlos, summend, gestreift und sich drehend -, und der Raum war gefaltet, so daß Bilder mit großer Schnelligkeit kamen und vergingen. Das Tönen eines gewaltigen Gongs verkündete ihre Ankunft und ihre Abreise. Der Himmel wurde noch dunkler an dem Tag, als seine Tochter geboren wurde. Nascae krümmte sich, stöhnte und schrie auf und lag anschließend wieder still und kalt, wie an jenem Tag auf dem Marmorblock. Die Berge brüllten Donner, und ein roter Regen fiel und floß wie ein Wasserfall aus Blut die Stufen hinunter ins Meer. Das Kind wurde Nyalith genannt, zum Klang von Tamburin und Flöte. Als sie ihre Flügel ausbreitete und über die Welt dahinflog, gab es einen Klang wie Donner, und ein Kranz aus gelbem Licht zog vor ihr her. Zehntausend Jahre würde sie über die Welt herrschen. Er flog auf den höchsten Gipfel des schwarzen Gebirges und verwandelte sich dort in Stein, um auf Talkne zu warten, -70-
Schlange der Stillen Wasser, die kommen würde, mit ihm um das Land Qod zu kämpfen. Die Leute unter nahmen Wallfahrten zu jenem Ort, und Nyalith brachte zu seinen Füßen Opfer dar. Prodromolu, Vater der Zeit, Öffner des Weges, nannten sie ihn in unermüdlichen Gesängen und badeten ihn mit Honig und Gewürzen, Wein und Blut. Er fühlte seinen Geist singend aufsteigen, um über die Berge zu schweben. Dann wogte das Ödland unter ihm und bäumte sich auf. Er stürzte durch verblassende Nacht in Helligkeit. Pol erwachte mit einem Gefühl des Wohlbehagens. Er öffnete die Augen und schaute auf das Fenster, durch das das Morgenlicht strömte. Mit einem tiefen Atemzug dehnte er seine Muskeln. Eine Tasse mit dampfendem Kaffee wäre jetzt köstlich, überlegte er, sich vollkommen der Tatsache bewußt, daß so etwas auf dieser Welt nicht zu haben war. Noch nicht, jedenfalls. Es stand auf der Liste der Dinge, um die er sich kümmern wollte, sobald er die Möglichkeit hatte. Jetzt. . . In diesem Augenblick kehrten die Bilder seines Traumes zurück, und er stellte fest, daß sie die Quelle seines Wohlbehagens waren. Gleichzeitig tauchte die Erinnerung an andere, ähnliche Träume auf, Träume - das bemerkte er jetzt -, die er jede Nacht gehabt hatte, seit der namenlose Zauberer in ihr Lager eingedrungen war und sein Aussehen verändert hatte. Aber diese, im Unterschied zu den anderen, waren eindeutig angenehm, trotz einer gewissen Fremdartigkeit. Er stand auf, um die Latrine aufzusuchen, sich zu waschen, anzuziehen und sein Haar mit einer Flüssigkeit zu spülen, die er am vorigen Abend von einem Apotheker erstanden hatte. Während er damit beschäftigt war, hörte er, wie sich Samtfinger regte. Er löste die Warnzauber und wartete darauf, daß Samtfinger fertig wurde. Anschließend schauten sie in Ibals Wohnung vorbei, erhielten aber von einem Diener die Auskunft, -71-
daß der Herr nicht gestört zu werden wünschte. »Also machen wir uns auf und beschaffen uns ein Frühstück «, schlug Samtfinger vor. Pol nickte, und sie schlenderten wieder zu der kleinen Straße mit den Cafes. Das Schimmern und Funkeln der Nacht verblaßte, während sie aßen, und als die Sonne höher stieg, wurde hier und da eine gewisse Schäbigkeit sichtbar. »Gut geschlafen?« »Ja. Und du?« Pol nickte. »Aber ich. . .« Samtfingers Blick zuckte nach links hinüber, und er nickte in diese Richtung. Pol lehnte sich in seinem Stuhl zurück und drehte unauffällig den Kopf. Der Mann, der sich auf der schmalen Straße näherte, war in Rot und Schwarz gekleidet, wie in der Nacht zuvor. Er blickte in ihre Richtung. Pol beugte sich vor und hob den Becher mit Tee. »Und du kannst dich immer noch nicht erinnern. . . ?« fragte er. Samtfinger schüttelte den Kopf. »Aber er kommt hierher«, murmelte er, ohne die Lippen zu bewegen. Pol nahm einen Schluck und lauschte auf die Schritte. Der Mann hatte einen sehr leisen Gang und stand schon fast neben ihm, bevor er etwas hörte. »Guten Morgen«, grüßte er, und trat in sein Blickfeld. »Du bist der, den sie Freistab nennen, aus Ibals Trupp?« Pol senkte den Becher und hob die Augen. »Der bin ich.« »Gut.« Der andere lächelte. »Mein Name ist Larick. Ich bin -72-
damit beauftragt worden, heute nachmittag die Kandidaten für die Aufnahmezeremonie zu dem Eingang an der Westflanke Belkens zu führen. Auch werde ich heute nacht euer Führer durch den Berg sein.« »Die Aufnahme findet heute abend statt? Ich dachte, sie würde erst gegen Ende des Treffens abgehalten.« »Gewöhnlich ist das der Fall«, erwiderte Larick, »aber in letzter Zeit hatte ich meine astronomischen Aufzeichnungen nicht gelesen. Ich erfuhr erst letzte Nacht, als ich tür die Aufgabe bestimmt wurde, daß es heute eine besonders günstige Planetenkonjunktion geben wird - wahrend die Dinge später nicht mehr so gut aussehen.« »Hättest du Lust auf eine Tasse Tee?« Larick machte Anstalten den Kopf zu schütteln, dann betrachtete er die Kanne. »Ja, ich bin durstig. Danke.« Er zog sich einen Stuhl heran, während Pol eine zweite Kanne bestellte. »Der Name meines Freundes ist Samtfinger«, sagte Pol. Die Männer musterten sich gegenseitig und reichten sich dann die Hände. »Erfreut.« »Ebenfalls.« Larick brachte ein Stück Pergament zum Vorschein und einen Schreibstift. »Nebenbei, ich habe noch nicht deinen Namen für die Liste der Kandidaten, Freistab. Wie heißt du wirklich?« Augenblicklich wanderten Pols Gedanken zu einer früheren Zeit. »Dan«, sagte er, »Chainson.« »Dan Chainson«, wiederholte Larick und schrieb den Namen -73-
auf. »Du bist der vierte auf meiner Liste. Sechs muß ich noch aufsuchen.« »Ich nehme an, die Vorverlegung ist für alle Beteiligten eine Überraschung?« »Das fürchte ich. Deshalb muß ich mich so beeilen.« Der Tee kam, und Pol schenkte ein. »Wir werden uns am Tor des Blauen Vogels treffen«, erklärte Larick. »Das ist das am weitesten entfernte Tor im Westen.« Pol nickte. »Ich werde es finden. Aber wann treffen wir uns?« »Ich hatte gehofft, daß wir gegen Mittag alle zusammen sein könnten, aber das ist nicht sehr wahrscheinlich, so wie die Dinge liegen. Einigen wir uns auf die Zeit zwischen Mittag und Sonnenuntergang.« »In Ordnung. Gibt es etwas, das ich mitbringen sollte?« Larick musterte ihn für einen Augenblick. »Wie gut bist du auf dieses Ereignis vorbereitet worden?« erkundigte er sich. Pol fragte sich, ob die Röte, die er in seine Wangen steigen fühlte, durch die magische Maske, Narbe und alles andere, sichtbar war. »Das hängt davon ab, was du unter Vorbereitung verstehst «, antwortete er. »Ich hatte einige Unterweisung über die metaphysische Seite der Angelegenheit, aber ich rechnete damit, hier etwas Zeit zu haben, um mich über die praktische Seite zu informieren.« »Dann hast du nicht - wie dein Spitzname schon andeutet eine normale Lehre durchlaufen?« »Nein. Ich weiß was ich weiß aufgrund von Begabung, Übung und eigenen Studien.« Larick lächelte. »Ich verstehe. Mit anderen Worten, du hast so wenig -74-
Vorbereitung gehabt, wie jemand haben kann und dennoch sagen, er wäre vorbereitet worden.« »Ich würde sagen, das ist korrekt.« Larick nahm einen Schluck Tee. »Es ist ein Risiko, selbst für solche mit vollständiger Ausbildung.« »Das weiß ich bereits.« »Nun, es ist deine Entscheidung, und wir werden Zeit haben, uns etwas zu unterhalten, während wir auf den Berg steigen und vor dem Eingang auf den Sonnenuntergang warten. Um deine erste Frage zu beantworten - du brauchst nichts mit zu bringen, außer den Kleidern, die du trägst, einem kleinen Laib Brot und einer Flasche Wasser. Diese Dinge kannst du jederzeit während des Aufstiegs verzehren, bis zu dem eigentlichen Betreten des Berges. Ich würde dir raten, den größten Teil möglichst lange aufzusparen, da wir während des nächtlichen Weges durch Belken nichts zu uns nehmen.« Larick trank seinen Tee aus und stand auf. »Jetzt muß ich die anderen suchen«, sagte er. »Danke für den Tee. Wir treffen uns dann am Blauer-Vogel-Tor.« »Einen Augenblick«, mischte Samtfinger sich ein. »Ja?« »An welcher Stelle des Berges werdet ihr am Morgen herauskommen?« »Wir kommen aus einer Höhle ziemlich tief an der Ostseite dieser Seite. Von hier aus kannst du die Stelle nicht sehen. Wenn du Lust hast, mitzukommen - ich gehe jetzt in einen höhergelegenen Teil der Stadt. Von dort aus könnte ich sie dir zeigen.« »Ja. Ich komme mit.« -75-
Samtfinger erhob sich. Pol gleichfalls. Ein Schwarm glanzloser Schmetterlinge schwebte an ihnen vorüber, als sie die Treppe hinaufgingen. Als Pol die Hand gegen eine Säule legte, fühlte sie sich eher an wie ein Baumstamm, denn als kalter Stein. Die großen Juwelen in den Mauern hatten im grellen Tageslicht viel von ihrem Glanz verloren. Aber Pol lächelte, denn der Eindruck der Schönheit blieb trotz allem bestehen. Sie stiegen einen Hügel hinauf, und Larick deutete auf den Berg. »Ja. Dort drüben«, sagte er. »Im unteren Teil - die dreieckige, dunkle Öffnung. Du kannst sie sehen, wenn du genau hinschaust.« »Ich sehe sie«, bestätigte Samtfinger. »Ja«, nickte Pol. »Sehr gut. Dann muß ich weiter. Wir sehen uns später.« Sie sahen ihm nach, als er zu einer Häusergruppe hinüberging. »Ich werde dort sein, wenn du herauskommst«, sagte Samtfinger. »Trau niemandem, während du dich im Berg befindest.« »Warum nicht?« »Hier und da habe ich den Eindruck gewonnen, daß die, die als Lehrlinge gedient haben, auf Freistäbler herabblicken und sie ablehnen. Ich weiß nicht, wie stark diese Gefühle sind, aber neun davon werden mit dir dort drin sein. Ich würde ihnen in einem dunklen Gang nicht den Rücken zuwenden.« »Da könntest du recht haben. Ich werde ihnen keine Gelegenheit geben.« »Sollen wir zurückgehen und nachfragen, ob Ibal jetzt zu sprechen ist?« »Gute Idee.« -76-
Aber Ibal empfing noch nicht. Pol hinterließ eine Nachricht, daß die Zeremonie vorverlegt worden sei, und er an diesem Nachmittag die Stadt verlassen würde. Dann kehrte er in sein eigenes Zimmer zurück, wo er sich aufs Bett legte, um auszuruhen und nach zu denken. Er überdachte seine gesamte Lebensgeschichte, wie er sie jetzt kannte - die Geschichte von dem Sohn eines mächtigen und bösen Zauberers, dessen Leben um den Preis seines Erbes gerettet wurde, indem man ihn auf eine andere Welt brachte, die keine Magie kannte. Er erinnerte sich an den Tag seiner Rückkehr, seinen bitteren Empfang in dieser Welt, als man ihn an dem Drachenmal an seinem rechten Handgelenk erkannte. Er erinnerte sich an sein Entkommen, die Flucht, die Entdecküng des verfallenen Familiensitzes Rondoval und alles, was daraus folgte - seine Identität, seine Macht, seine Herrschaft über die wilden Geschöpfe, die dort schliefen. Er durchlebte seinen Zwist mit seinem klugen, aber irregeleiteten Stiefbruder Mark Marakson im unnormalen Zentrum der Technick, das jener auf dem Amboßberg im Süden wieder aufgebaut hatte. Er dachte an seine kurze, aber zum Scheitern verurteilte Affäre mit dem Dorfmädchen Nora, die niemals aufgehört hatte, Mark zu lieben. Und jetzt. . . Die Sieben. Diese eigenartige Beeinflussung seines Lebens durch die sieben Statuetten, die an jenem Tag auf dem Amboßberg geendet zu haben schien, drängte sich wieder in seine Gedanken und quälte ihn. Er hatte immer noch keine Ahnung über ihre wahren Funktionen, Ziele, ihren Zweck. Er spürte, daß er nie ganz frei von Befürchtungen sein würde, bis er über sie Bescheid wußte. Und dann dieser unerklärliche Anschlag auf sein Leben und das mitternächtliche Zusammen treffen mit dem Zauberer, der Antworten zu kennen schien, aber keinen Wert darauf legte, sie mitzuteilen. . . Worüber er nicht nachdachte, waren seine ständig wiederkehrenden Träume. Bald war er eingeschlafen und -77-
träumte wieder. Er nahm das Brot und die Wasserflasche mit zum Tor des Blauen Vogels. Samtfinger begleitete ihn. Larick und sechs von den anderen waren bereits eingetroffen. Die untergehende Sonne war hinter einer Wolkenbank verschwunden, und die Stadt hüllte sich vorzeitig in ihren abendlichen Glanz. Die übrigen Kandidaten waren allesamt jung und aufgeregt, und Pol vergaß ihre Namen, bis auf Nupf, den er schon kannte. Der Himmel verdunkelte sich weiter, während sie auf die anderen warteten, und Pol glitt in die zweite Art des Sehens hinüber. Als er sich umschaute, bemerkte er eine blauweiße Pyramide oder einen Kegel in der Mitte der Stadt, etwas, das sich seinem normalen Blick entzogen hatte. Nachdem er es eine Zeitlang beobachtet hatte, bekam er den Eindruck, daß es wuchs. Er wechselte wieder in den gewöhnlichen Sehbereich über, und die Erscheinung verschwand. An den übrigen Kandidaten vorbei gehend trat er zu Larick, der jetzt mit offensichtlicher Ungeduld die aufkommenden Wolkenmassen beobachtete. »Larick?« »Was ist?« »Reine Neugier. Weißt du, was es mit diesem Kegel aus blauem Licht auf sich hat?« Larick drehte sich um, blickte einen Augenblick in die angegebene Richtung, dann: »Oh«, sagte er, »das ist zu unserem Nutzen - und erinnert mich wieder daran, wie spät es schon ist. Wo, zum Teufel, bleiben, sie nur?« Er wandte den Kopf, blickte in verschiedene Richtungen, und dann schien seine Anspannung sich zu lösen. »Da kommen sie«, meinte er, als er drei Gestalten auf einer weiter weg gelegenen Straße bemerkte. Er wandte sich wieder an Pol. »Der Kegel, den du siehst, ist die Macht, die von einem -78-
ganzen Kreis von Magiern erzeugt wird«, erklärte er. »Zu dem Zeitpunkt, an dem wir Belken betreten, wird sie den Berg erreicht, angefüllt und alle zehn Stationen darinnenden kosmischen Mächten zugänglich gemacht haben. Während du von einer zur anderen gehst, jede ein Symbol für eines deiner Lichter, werden die Kräfte dich durchströmen, und dadurch wirst du geformt, neugestaltet und eingestimmt.« »Ich verstehe.« »Da bin ich nicht sicher, Dan. Die anderen neun Kandidaten, die eine ordentliche Lehrzeit durchlaufen haben, sollten ihre Lichter richtig entwickelt haben, nach der natürlichen Ordnung. Für sie dürften die Erfahrungen dieser Nacht nur eine Intensivierung bedeuten, zugleich mit einigen kleineren Berichtigungen. Bei dir aber - ein Freistäbler kann jeden Weg nehmen. Es könnte schmerzhaft werden, qualvoll, sogar zu Wahnsinn oder Tod führen. Ich sage dies nicht, um dich zu entmutigen oder zu erschrecken, nur um dich vorzubereiten. Versuche, dich von den Dingen, die geschehen könnten, nicht unnötig ablenken zu lassen.« Hier biß Larick sich auf die Lippen und schaute beiseite. »Woher - woher kommst du?« fragte er. »Aus einem sehr fernen Land. Ich bin sicher, daß du niemals davon gehört hast.« »Was hast du dort getan?« »Vieles. Ich glaube, als Musiker war ich am besten.« »Und was war mit Magie?« »In diesem Land war sie unbekannt.« Larick schüttelte den Kopf. »Wie kann das möglich sein?« »Es war eben so.« »Und was war mit dir selbst? Wie kamst du in dieses Land? Und wie wurdest du ein Freistäbler?« -79-
Einen Augenblick lang war Pol versucht, Larick seine Geschichte zu erzählen. Aber seine Vorsicht war größer. »Es ist eine sehr lange Geschichte«, meinte er und blickte über die Schulter zurück. »Und die anderen sind schon fast hier.« Larick schaute in dieselbe Richtung. »Ich vermute, du hattest einige interessante Erlebnisse, nachdem du deine Fähigkeiten entdeckt hattest?« fragte er hastig. »Allerdings«, erwiderte Pol. »Ich könnte ein ganzes Buch damit füllen.« »Sind dir irgendwelche als besonders bedeutsam in Erinnerung geblieben?« »Nein.« »Ich habe den Eindruck, daß du nicht darüber sprechen möchtest. In Ordnung. Es besteht keine Notwendigkeit dafür. Aber wenn du dazu bereit bist, möchte ich eines gerne von dir wissen.« »Und was?« »Ein weißer Magier mag sich bei Gelegenheit dessen bedienen, was man als schwarze Magie bezeichnet und umgekehrt. Wir wissen, daß beides ziemlich dasselbe ist, und daß allein die Absicht den Unterschied macht - und daß es allein die Absicht ist, nach der man den Weg eines Magiers beurteilen kann. Hast du bereits den einen oder anderen Weg gewählt?« »Ich habe immer getan, was ich tun mußte«, antwortete Pol. »Ich möchte gerne glauben, daß meine Absichten relativ gut waren, aber schließlich rechtfertigen sich die meisten Leute auf diese Art in ihren eigenen Augen. Ich meine, nun, meistens.« Larick lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, mich mit dir zu unterhalten, denn ich ahne etwas sehr Eigenartiges hinter deinen -80-
Worten. Hast du jemals Zauberei in großem Ausmaß gegen ein anderes menschliches Wesen angewandt?« »Ja.« »Was wurde aus dieser Person?« »Er ist tot.« »War er auch ein Zauberer?« »Nicht ganz.« »Nicht ganz? Was soll das heißen? Entweder ist man es, oder man ist es nicht.« »Dies war ein ganz besonderer Fall.« Larick seufzte und lächelte dann wieder. »Dann bist du ein schwarzer Magier.« »Das hast du gesagt. Nicht ich.«Die drei letzten Kandidaten waren inzwischen zu der Gruppe getreten und wurden vorgestellt. Larick warf einen Blick in die Runde und richtete dann das Wort an sie: »Unser Aufbruch hat sich sehr verzögert. Wir werden jetzt sofort diesem Weg folgen und dann weiter gehen, bis wir die Stadt hinter uns haben. Dann führt gleich ein Pfad den Berg hinauf. Ich weiß jetzt noch nicht, wie viele wenn überhaupt - Ruhepausen wir unterwegs einlegen können. Es hängt von eurer Marschgeschwindigkeit und der Zeit ab.« Er deutete auf einen Stapel zusammengefalteter weißer Gewänder. »Jeder von euch nimmt sich im Vorübergehen eines davon. Wir werden sie anlegen, kurz bevor wir in den Berg hinein gehen.« Er drehte sich um und schritt durch den Torbogen. Samtfinger trat neben Pol. »Ich werde morgen früh am Ausgang sein«, sagte er. »Viel Glück.« »Danke.« Pol eilte hinter den anderen her und drängte sich bis an die Spitze des Trupps. Als er zurückblickte, war Samtfinger -81-
verschwunden. Er behielt seine Geschwindigkeit bei, bis er Larick eingeholt hatte. »Ich bin neugierig«, bemerkte er, »warum du dir so viel Mühe gibst, aus mir einen schwarzen Magier zu machen.« »Es ist mir völlig gleich«, erwiderte der andere. »Angehörige jeder Überzeugung treffen sich an diesem Ort ohne jede Einschränkung.« »Aber ich bin keiner. Wenigstens glaube ich nicht, daß ich einer bin.« »Es ist ohne Bedeutung.« Pol zuckte die Schultern. »Dann mach was du willst.« Er ging langsamer und mischte sich unter die Gruppe der Lehrlinge. Nupf gesellte sich zu ihm. »Ziemliche Überraschung das, he?« meinte der Lehrling. »Was meinst du?« »Die Plötzlichkeit der ganzen Sache. Ibal weiß nicht einmal, daß ich schon unterwegs bin. Er ist immer noch. . .«, er hielt inne und grinste, ». . . beschäftigt.« »Wenigstens hat er dafür gesorgt, daß mein Name auf die Liste gesetzt wurde, bevor er seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwandte.« »Das war nicht ganz selbstlos von ihm«, antwortete Nupf. »Ich beneide dich ganz erheblich, falls du das hier unbeschadet überstehst.« »Weshalb?« »Das weißt du nicht?« Pol schüttelte den Kopf. »Freistäbler - besonders solche, die die Zeremonien mit gemacht haben«, erklärte Nupf, »sind, fast ohne Ausnahme, die mächtigsten Zauberer überhaupt. Natürlich, es gibt nicht -82-
besonders viele. Trotzdem, das ist der Grund, weshalb Ibal Wert darauf legt, daß du mit Wohlwollen seiner gedenkst.« »Verdammt will ich sein«, sagte Pol. »Du wußtest es wirklich nicht?« »Ganz und gar nicht. Könnte das, frage ich mich, etwas mit Laricks Bemühungen zu tun haben, heraus zu finden, ob ich ein weißer oder schwarzer Zauberer bin?« Nupf lachte. »Ich vermute, es geht ihm gegen den Strich, erleben zu müssen, daß die andere Seite fähigen Nachwuchs bekommt.« »Wie meinst du das?« »Oh, ich weiß eigentlich nicht so sehr viel über ihn, aber die Gerüchte, die unter den anderen Kandidaten umgehen, besagen, daß Larick so lilienweiß ist, daß er seine gesamte freie Zeit damit verbringt, die andere Seite zu hassen. Man sagt ihm auch nach, daß er sehr gut ist - in rein technischem Sinne.« »Ich habe es langsam satt, immer falsch beurteilt zu werden «, meinte Pol. »Mein ganzes Leben ist das so gewesen.« »Es wird am besten sein, wenn du dich noch eine Zeitlang damit abfindest.« »Ich hatte nicht die Absicht, die Zeremonie zu stören.« »Ich bin sicher, er wird sie fehlerlos durchführen. Die Weißen sind äußerst gewissenhaft.«Pol lachte. Er wechselte auf die andere Sichtebene und blickte zurück zu dem Kegel der Macht. Er war merklich gewachsen. Er wandte sich um und ging den sich auftürmenden Wolken entgegen. Belken schien bereits von innen heraus zu leuchten.
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VI
Auf dem breiten Vorsprung außerhalb des Höhleneingangs sitzend, dreiviertel des Weges die Westflanke des Berges hinauf, verspeiste Pol sein Brot und trank den Rest Wasser, während er zusah, wie die Sonne hinter der Übermacht einer sternenlosen Nacht versank. Der Aufstieg war nur durch eine kurze Rast unterbrochen worden, und seine Füße pochten ein bißchen. Er konnte sich vorstellen, daß die anderen auch ziemlich fußkrank waren. Im Südwesten zuckte ein Blitz. Ein kalter Wind, der sie den größten Teil des Wegs verfolgt hatte, verursachte ein leises Pfeifen zwischen den Felsvorsprüngen weiter oben. Der Berg verströmte einen matten Schimmer, wie es in jeder Nacht der Fall zu sein schien, nur an diesem Abend verstärkte er sich, während er ihn beobachtete. Und als er auf die andere Sicht ebene überwechselte, sah es aus, als würde ganz Belken mit langsam aufbrandender blauer Flamme brennen. Er wollte gerade zu Nupf eine Bemerkung darüber machen, als Larick aufstand und sich räusperte. »Also gut. Zieht die Gewänder über eure Kleider und stellt euch hintereinander vor dem Eingang auf«, ordnete er an. Bis zur ersten Station werden wir ein gutes Stück gehen müssen. Ich führe euch. Es darf nicht gesprochen werden, außer, es werden Antworten von euch verlangt.« Sie entfalteten die groben weißen Umhänge und zogen sie über. ». . . und alle Visionen oder Verwandlungen, die ihr bemerkt ebenso wie Veränderungen des Wahrnehmungsvermögens -, sind weder ein Grund zur Aufregung noch für dies bezügliche Bemerkungen. Nehmt alles hin, was mit euch geschieht, sei es -84-
gut oder schlecht. Verwandlungen können sich sehr leicht selbst wieder verwandeln, bevor die Nacht vorüber ist.« Sie stellten sich hinter ihm auf. »Dies ist die letzte Gelegenheit, Fragen zu stellen.« Es gab keine. »Also gut.« Larick betrat mit entschiedenen Schritten die Höhle. Pol befand sich ungefähr in der Mitte der Reihe, die ihm folgte. Seine Augen stellten sich wieder auf den normalen Sehbereich ein. Der bläuliche Schimmer verblaßte etwas, verschwand aber nicht völlig. Der schmale, hohe Gang, in den sie eintraten, pulsierte in derselben Weise, wie die äußeren Hänge des Berges und verbreitete ein ausreichendes, wenn auch etwas ungewisses Licht. Als sie weitergingen, verstärkten Helligkeit und Bewegung sich bis zu einem Punkt, an dem die Wände davon aufgesogen wurden, verschwanden, und es war, als wanderten sie auf einem feuergesäumten Pfad aus einem Traum, zwischen Himmel und Unterwelt, wo die Richtung sowohl eine Sache der Vermutung wie auch der Stimmung war. Ein fernes Donnergrollen erreichte sie, als der Weg sich nach links wandte, dann nach rechts bog und leicht anstieg. Danach wurde er rasch steiler, und an manchen Stellen, wo der ausgetretene Boden stufenähnlich in die Höhe führte, schien er von Menschenhand bearbeitet worden zu sein. Eine weitere Biegung kam, der Weg wurde noch steiler, und schwarze Haltetaue erschienen auf jeder Seite. Zuerst zögerten die Kandidaten, danach zu greifen, denn das schien gleichbedeutend damit zu sein, die Hand über tanzende Flammen zu halten, aber nach einer Weile hatten sie keine andere Wahl mehr. Pol fühlte keine Hitze, nur ein schwaches Kribbeln in den Handflächen, obwohl sein Drachenmal nach wenigen Augenblicken unter der Umhüllung zu pulsieren begann. Die Luft wurde wärmer, je höher sie kamen, und er -85-
konnte das schwere Atmen seiner Gefährten hören, als sie sich mühten, mit Larick Schritt zu halten. Unvermittelt standen sie in einer Grotte. Die Haltetaue endeten. Der Boden der Plattform, auf der sie sich befanden, war beinahe völlig eben. Unmittelbar vor ihnen erstreckte sich ein großer, kreisrunder Teich, der in einem weißen Licht glühte, als würde er von unten erleuchtet. Tief herabhängende Stalaktiten glitzerten darüber wie Eiszapfen. Die Felswände wuchsen beinahe senkrecht aus dem Wasser empor, bis auf die felsige Zunge, auf der sie standen. Beinahe, denn ein schmaler Uferstreifen schien um die schimmernde Platte aus bewegungsloser Flüssigkeit herumzuf ühren. Larick schickte sie sofort auf das schmale Felsband hinaus. Sie tasteten sich darauf entlang, den Rücken gegen den rauhen Fels gepreßt. Nach einigen Minuten gab Larick ihnen Zeichen, stehen zu bleiben oder weiter zu gehen, bis sie alle gemäß einem Plan aufgestellt waren, den nur er selbst kannte. Dann stellte er sich an den vordersten Rand des Vorsprungs, von dem aus er seine Anweisungen gegeben hatte und starrte auf die leuchtende Wasseroberfläche hinab. Die Kandidaten folgten seinem Beispiel. Das Leuchten blendete Pol anfangs, aber bald erkannte er sein eigenes blasses Spiegelbild und dahinter die unregelmäßigen Konturen der Decke wie eine phantastische Landschaft. Er blickte in seine Augen; ein Fremder, denn dies waren die Züge der Maske, die er immer noch trug - gekennzeichnet durch eine breitere Stirn und eine Narbe auf der linken Wange. Plötzlich verschwamm das Spiegelbild, und sein eigenes Gesicht erschien auf der Wasserfläche - hagerer, schmalere Lippen, höherer Haaransatz - mit der weißen Strähne im dunklen Haar. Er versuchte, die Hand an sein Gesicht zu heben und bemerkte, daß eine eigenartige Trägheit und Schwerfälligkeit ihn überkommen hatte. Seine Hand zuckte nur -86-
ein wenig, und er machte keinen weiteren Versuch, sie zu bewegen. Dann wurde er sich einer Stimme bewußt, die die Worte sprach, die er erst kürzlich gelernt hatte. Es war Larick, und als er geendet hatte, wurden sie von dem ersten Kandidaten auf der anderen Seite des Teiches wiederholt. Sie hallten durch die Felsenkammer und dröhnten in seinem Kopf. Ein schwacher, süßlicher Geruch drang in seine Nase. Der nächste Kandidat sprach dieselben Worte, und in einem Teil seines Gehirns wußte Pol, daß auch er sie wiederholen würde, wenn die Reihe an ihn kam. Aber, irgendwie, schien es, als ob etwas in ihm sie bereits aufsagte. Er fühlte sich aus der Zeit herausgelöst. Es gab hier keine Zeit, nur das Licht und das Spiegelbild seines Gesichts. Die Worte rollten auf ihn zu und erweckten Dinge tief in seinem Innern. Dann sah er, daß sein Spiegelbild lächelte. Er war sich aber nicht bewußt, das Gesicht verzogen zu haben. Als er genauer hinschaute, verschwamm das Bild und teilte sich. Plötzlich sah es so aus, als hätte er zwei Köpfe - einen, dessen Lächeln schon beinahe höhnisch war, während auf dem anderen der Ausdruck tiefster Trauer stand. Er wurde von widerstreitenden Empfindungen gequält. Wie lange das andauerte, vermochte er nicht zu sagen, während er die beiden Gesichter betrachtete, die eins waren in ihrem seit Ewigkeiten gültigen Zwist. Nur sehr langsam überkam ihn das Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte. Dann bemerkte er, daß er tatsächlich sprach. Die Reihe war an ihn gekommen, und er hatte den Spruch begonnen, ohne es zu wissen. Die Worte schwangen in ihm, und die Welt schien seltsam verändert - fern. Das Licht unter seinen Füßen wurde noch heller. Die Bilder in dem Teich verzerrten sich, die beiden Köpfe verschmolzen zu einem - seinem - ernsten Gesicht. Eine Hochstimmung ergriff von ihm Besitz und die Ahnung, daß irgend etwas nicht so war, wie es sein sollte, verflog. Sein Kopf schien mit Licht angefüllt zu sein, als er die letzte Silbe sprach. -87-
Dann kam die Reihe an die Frau zu seiner Linken. Pol verlor sein Selbst, wie auch den Sinn für Zeit und Raum und lebte nur noch in den Worten und dem Licht, spürte Veränderungen in sich vorgehen - bis es vorüber war. Ohne jedes Wort oder sichtbares Zeichen, wußte er, daß dieser Teil der Aufnahmezeremonien beendet war. Das Licht in der Tiefe verdichtete und formte sich, bis die Umrisse einem riesigen Ei glichen, während der letzte Sprecher seinen Teil zu Ende brachte. Dann, lange Zeit, standen sie schweigend und schauten in die Tiefe. Ohne eigentlichen Grund hob Pol plötzlich den Kopf und blickte zu Larick. Als seine Augen durch die Grotte wanderten, stellte er fest, daß gleichzeitig all die anderen ebenfalls aufblickten und sich umdrehten. Langsam tasteten die Kandidaten sich über das Felsband zurück. Als sie die steinerne Plattform wieder erreicht hatten, hob Larick einen Arm und deutete nach links, dann wandte er sich um und führte sie durch einen sehr schmalen Spalt, hinter einem Felsvorsprung, den vorher niemand bemerkt hatte. Nach wenigen Schritten erweiterte er sich. Larick ließ sich auf Hände und Knie nieder und kroch in ein kleines, schwarzes Loch. Einer nach dem anderen folgten sie seinem Beispiel. Das blasse, flammenähnliche Licht, das sie auf dem Weg zur Grotte gesehen hatten, war auch hier vorhanden, aber auf jeder Seite einige Zentimeter weit entfernt. Es ging nur langsam vorwärts, denn sie mühten sich bergab, kämpften um einen sicheren Halt, krochen auf dem Bauch durch besonders niedrige Stellen, vollführten Verrenkungen und zogen sich Hautabschürfungen zu, wenn sie eine Biegung überwinden mußten. Der Kandidat vor und hinter ihm verharrte plötzlich, und Pol tat es ihm gleich. Er hörte ein Stöhnen, als sein Hintermann gegen ihn prallte. Die Wände hatten eine graue Farbe mit einem rosa Schimmer angenommen. -88-
Der Mann vor ihm setzte sich langsam wieder in Bewegung, und Pol kroch hinter ihm her. Sie kamen eine Manneslänge weiter, und dann gab es wieder Aufenthalt. Pol, immer noch schwindlig von der Eröffnungszeremonie, war nicht in der Lage, seine Gedanken völlig unter Kontrolle zu halten. Er schwankte zwischen gelinder Verzweiflung und Resignation über diese Verzögerungen. Nach einer kurzen Pause kamen sie wieder ein Stück voran. Nach mehrmaligem Liegenbleiben und Weiterkriechen sah Pol den Grund dafür. Im Boden befand sich eine runde Öffnung. Die Kandidaten schlüpften hindurch, hielten sich mit den Händen am Rand und sprangen. Er wartete eine Zeitlang, nach dem sein Vordermann gesprungen war, dann glitt er durch die Öffnung, hing einen Augenblick an den Armen und ließ sich fallen. Es war nicht tief. Er landete mit gebeugten Knien und trat sofort zur Seite. Gleich darauf gesellte er sich zu den anderen, die sich in der Mitte der Höhle befanden, wo die Decke sich nach oben wölbte. Gemäß Laricks Anweisungen hatten sie sich in einem Kreis um einen rosafarbenen Stalagmiten aufgestellt, der von einem großen, klobigen, ungefähr rechteckigen Felsblock zu beträchtlicher Höhe aufragte. Als sie alle ihre Plätze eingenommen hatten, bedeutete Larick ihnen, sich so weit von dem ragenden Stein zu entfernen, wie es die Form der Höhle zuließ. Für einen Augenblick trafen sich seine Augen mit denen Pols, und Pol glaubte zu erkennen, daß ein schmerzlicher Ausdruck darin lag. Dann stieg Larick auf einen Felsen an der jenseitigen Höhlenwand. Die Blicke der Kandidaten wandten sich von ihm ab und dem gewaltigen Stalagmiten zu. Pol entspannte sich und fand zu einer gelassenen Haltung zurück. Er betrachtete den Monolithen. Er spürte die Macht dieses Ortes. Für einen Augenblick wechselte er auf die zweite -89-
Sichtebene über, aber es gab keine Veränderungen, außer einem verstärkten Leuchten des Stalagmiten. Es gab noch nicht einmal schwebende Bänder in der Nähe, eine Tatsache, die ihm seltsam vorkam, als er sehr viel später darüber nachdachte. Bei den ersten langsamen Worten Laricks glitt er wieder in die gewöhnliche Art des Sehens hinüber und spürte nur noch die physischen Eindrücke, die die Leute und ihr Widerhall in ihm hervorriefen. Das Gefühl des Losgelöstseins von Zeit und Raum überkam ihn diesmal schneller als bei der ersten Gelegenheit. Jetzt, während er den Blick darauf gerichtet hielt, begann das Licht auf der Oberfläche der ragenden Säule zu verfließen. Beinahe sah es so aus, als ob der Stein sich etwas bewegte. Larick schwieg, und ein Mitglied des Kreises begann den Sprechgesang. Die Höhle um ihn herum verschwand langsam, während dies vor sich ging. Für Pol war der gewaltige Stein der einzig greifbare Gegenstand. Die Worte allerdings folgten ihm, erfüllten seine Version des Universums, in dem er sich jetzt befand. Dann, plötzlich, erschien der Stein größer, auf unbestimmbare Art verändert. Eine andere Stimme nahm die Worte auf. Pol beobachtete fasziniert, wie der Stein sich bewegte und andere Gestalt annahm. Der klobige Sockel ähnelte mehr und mehr einer geballten Faust, der Stalagmit einem ausgestreckten Zeigefinger. Natürlich. . . es war von Anfang an eine Hand gewesen. Warum hatte er es nicht früher gemerkt? Die Stimme kam näher. Die Hand bewegte sich tatsächlich, drehte sich in seine Richtung. Der Finger begann sich langsam zu neigen. Sein Atem stockte, und ein Gefühl der Ehrfurcht überkam ihn, als er sich weiter auf ihn herabsenkte. Der immer kleiner werdende Zwischenraum war mit der Macht erfüllt. Sonderbarerweise begannen seine rechte Schulter und der Arm zu prickeln. -90-
Der Finger, groß genug, um ihn zu zermalmen, streckte sich aus - vorsichtig, sanft - und strich ganz leicht über seine rechte Schulter. Er brach fast in die Knie, nicht durch das Gewicht, sondern wegen der Gefühle, die ihn in diesem Augenblick durch strömten. Er raffte sich auf, als der Sprechgesang in dem Kreis immer dichter an ihn heranrückte. Der Finger hob sich jetzt und nahm wieder die vorige senkrechte Stellung ein. Das Prickeln blieb in seinem Arm und der Schulter, um dann von einem dumpfen Schmerz und schließlich völliger Taubheit abgelöst zu werden, als es an ihm war, die Worte zu sprechen. Aber die Wände der Höhle tauchten wieder auf, und die Hand wurde wieder zu einem Stalagmiten auf einem rauhen Felsblock. Die Worte wanderten durch den gesamten Kreis, eine Weile standen sie noch schweigend, und dann bedeutete Larick ihnen, ihm durch eine Öffnung in der Wand hinter dem Felsen, auf dem er stand, zu folgen. Pol bewegte sich langsam, unbeholfen, verwirrt durch das tote Gewicht an seiner rechten Seite. Er griff hinüber und befühlte mit der linken Hand seinen rechten Oberarm, der sich unerklärlich vergrößert hatte. Außerdem war er fast gefühllos geworden. Als er die Augen senkte, entdeckte er, daß seine Hand - unverändert in Aussehen und Gefühl - sehr viel tiefer hing, in Höhe seiner Knie. Er versuchte, sein Drachenmal zum Leben zu erwecken, aber auch dies schien taub geworden zu sein. Dann erinnerte er sich an Laricks Bemerkung über die Möglichkeit von Veränderungen in dieser Nacht - daß man sie ohne Aufregung hinnehmen und nicht zu einer Störung für die bevorstehenden Ereignisse werden lassen solle. Trotzdem beobachtete er heimlich die anderen, um zu prüfen, ob er an ihnen irgendwelche Mißgestaltungen entdecken konnte. An den wenigen, die er zu mustern in der Lage war, bevor er den Tunnel betrat, waren keine sichtbaren Veränderungen festzustellen. -91-
Und die seine schien niemand zu bemerken. Sie gingen. Der Weg war eben, gerade und ausreichend breit. Die Helligkeit blieb. Sie durchschritten eine leere Kammer, ohne stehenzubleiben - wo unaufhörlich ein hoher Ton zu erklingen schien, gerade über der Grenze des Hörbaren -, und gingen weiter, bis eine zweite Grotte sich vor ihnen öffnete. Hier traten sie ein. Es war eine runde Kammer mit einer gewölbten Decke, fast einer erstarrten Blase ähnlich. Larick beorderte sie zu einer Felsformation, die an einen Kessel erinnerte. Wieder begann der Sprechgesang, wieder verspürte Pol das fließende Gefühl, die Loslösung, die er bei den anderen Stationen empfunden hatte, obwohl sich diesmal ein wenig Traurigkeit und Niedergeschlagenheit daruntermischte. Gleichzeitig breitete sich in seinem linken Arm das Prickeln aus, und nachdem er an die Reihe gekommen war, seinen Part aufgesagt hatte und dieser Teil der Zeremonie zu Ende ging, glich er im Aussehen genau dem rechten. Dieses Mal nahm er die Veränderung mit geringerer Bestürzung zur Kenntnis, als notwendigen Teil des Ganzen. Die anderen mußten ähnliches erleben, überlegte er. Er folgte ihnen zu einer brunnenähnlichen Vertiefung, die in ihrem Weg lag und bemerkte dabei, daß Gefühl, Beweglichkeit und Kontrolle in seine Arme zurück kehrten. Er beobachtete die anderen. Ein um einen Felsen geknotetes Seil hing in die Öffnung. Einer nach dem anderen ergriffen es die Kandidaten, ließen sich daran hinab und verschwanden in der Dunkelheit. Als er an die Reihe kam, folgte er ihnen mit großer Leichtigkeit, erfreut über die große Kraft in seinen Armen und Schultern. In der gelbblauen Höhle, in die sie hinab stiegen, bildete sich wieder der nun schon vertraute Kreis, und der Ritus wurde um einen, auf einem Sockel lagernden, großen, runden Kristall durchgeführt. Ehe es vorbei war, fühlte Pols linke Hand sich an, -92-
als hätte er sie in kochendes Wasser getaucht. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, betrachtete sie nicht einmal, bis auch dieser Abschnitt beendet war, und Larick sie durch eine Öffnung in der linken Wand führte. Die Hand pulsierte noch, aber das Gefühl von Hitze war verschwunden. Als er sie anschaute, sah er, daß sie größer geworden war, purpurn, schuppig; die Nägel waren dick, schwarz, dreieckig, gekrümmt und saßen an den Enden von langen, kräftigen Fingergliedern, die fast bis zu seinen Knöcheln reichten. Das Gewand, das er trug, verbarg einen großen Teil der Veränderungen unter den Falten, den langen, weiten Ärmeln. Dennoch. . . Er blickte sich wieder um. Keiner der anderen Kandidaten schien sein Mißgeschick bemerkt zu haben. Wieder verdrängte er die beunruhigenden Gedanken. Er marschierte hinter den anderen durch einen breiten, ebenen Tunnel, wobei sein Gang unbeholfen wirkte, als hätte sein Körperbau sich verändert. Fast am Ende der nächsten Höhle hing an einer Kette ein Schwert halbwegs zwischen Decke und Boden. Es wurde zum Gegenstand ihrer Meditation, schwingend und rötlich glitzernd, als die Worte es umkreisten. Die Visionen, die bei dieser, wie auch bei der vorangegangenen Station durch sein Bewußtsein schwamm, nahm er kaum wahr, weil die Kraft seiner neuen Gliedmaßen seine Gedanken erfüllte, begleitet von dem brennenden Schmerz in seiner rechten Hand - diesmal ein masochistisches Vergnügen. Er sprach die Worte mit lauter Stimme und blickte nicht einmal nach unten, weil er bereits wußte, was er sehen würde. Als es vorbei war, drehte er sich um und folgte den anderen durch eine nächste Öffnung und in einen abwärts führenden Gang. Er bewegte sich jetzt wie in einem Traum, in dem seine Handlungen von einem wirren Plan bestimmt wurden und er sich keine Gedanken mehr darüber machte, ob die Erlebnisse der anderen den seinen ähnlich waren. -93-
Der Weg war steil, süßliche Gerüche stiegen auf. Die Wände waren ein lebendes Netz aus blassem Feuer. Der Boden glitzerte beinahe feucht. Lange Zeit gingen sie weiter in die Tiefe, bis sie endlich eine kleine Höhle erreichten, in der sie sich um einen schlichten, schmucklosen Felswürfel drängten. Der Boden war mit Blumen bestreut, von denen der Duft ausging, den er unterwegs bemerkt hatte. Jetzt fand er den Geruch in seiner Dichte beinahe Übelkeiterregend. Als die Worte auf diesem engen Raum gesprochen wurden, schmerzten sie ihn in den Ohren. Ihm wurde unangenehm warm, und sein Herz klopfte überlaut. Ein Schwindelgefühl überkam ihn, aber selbst wenn er jetzt ohnmächtig wurde, konnte er nicht fallen, so eng standen sie beieinander. Später kam er zu der Ansicht, daß er tatsächlich für kurze Zeit die Besinnung verloren hatte, denn bis zu dem Zeitpunkt, an dem er sich selber sprechen hörte, gab es eine Lücke in seinen Erinnerungen. Anscheinend hatte er eine Vision gehabt, die seine Sinne teilweise betäubte. An Einzelheiten konnte er sich nicht erinnern. Sein Herz klopfte schnell und außergewöhnlich schwer. Am Rande bemerkte er, daß die Kandidaten weiter von ihm entfernt standen, als er sich erinnerte. Der Duft der Blumen hatte beträchtlich nachgelassen, oder er hatte sich daran gewöhnt. Er senkte den Kopf, als er mit seinem Spruch zu Ende war, und sah, daß sein Gewand zerrissen war. Dann wurde er sich der ungeheuren Breite seiner Schultern bewußt, dem faßähnlichen Umfang seiner Brust. Kein Wunder, daß seine Kleider aufplatzten. Wie konnte das Einbildung sein? Er warf einen Blick auf die ihm zunächststehenden Kandidaten. In ihre eigenen Meditationen versunken, schienen sie ihm keine Beachtung zu schenken. Langsam hob er seine rechte Hand. Er schob sie durch den -94-
Riß und tastete umher, bis er eine Öffnung in seiner eigenen, darunterliegenden Kleidung fand. Seine dicken Finger glitten über eine harte, unnachgiebige, bucklige Oberfläche. Er tastete weiter. Vom Nabel bis zum Hals fühlte seine Haut sich an, als wäre sie mit Schuppen bedeckt. Er zog die Hand zurück und ließ sie sinken. Als er wieder aufblickte, merkte er, daß Larick ihn anstarrte. Der Mann schaute augenblicklich zur Seite. Als sie die Höhle verließen, schien es, als folgten sie einer Fortsetzung des Tunnels, der sie dorthin geführt hatte. Immer noch ging es abwärts und in derselben Richtung. Er achtete auf seine Atemzüge, während er ging, denn sie klangen röchelnd, wenn er zu tief Luft holte. Es wurde kühler, wie er dankbar feststellte, je tiefer sie kamen. Die nächste Höhle war sehr viel größer als die vorige, der Boden bestand aus einem grünlichen Stein. Eine schwere Öllampe hing an Ketten von der Decke, und die Flammen tanzten, während die Worte gesprochen wurden. Diesmal war es sein linkes Bein. In dem Moment als das Prickeln begann, wußte er, was folgte. Als es dann soweit war, brach er fast zusammen. Das Bein schien viel länger und dicker geworden zu sein als das rechte. Er war kaum in der Lage das Gleichgewicht zu halten, mußte das eine Knie beugen und das andere strecken. Aber das Gefühl zu träumen wurde durch diesen Vorgang noch verstärkt. Als sie sich umdrehten und er durch einen barmherzigerweise ebenen Tunnel humpelte, schwebten Visionen wie greifbar gewordene, zusammenhanglose Gedankenverbindungen überall. Er konnte sich nicht gegen die verschwimmende Mauer stützen, ohne scheinbar den Kopf eines Tieres oder die Brüste einer Frau zu berühren, eine Blume oder die Federn eines Vogels. In diesem Zustand war er sich nicht einmal sicher, was er in der nächsten Kammer erblickte. Daß sie groß war und von irgendeinem Duft erfüllt, merkte er. Die Bilder schienen sich zu -95-
verdichten. Die Geschöpfe der Tierkreiszeichen zogen an ihm vorüber. Sobald er eines genauer ins Auge zu fassen versuchte, zerfiel es in eine ganze Reihe neuer Gestalten. Nach einer Weile gab er auf. Beinahe begrüßte er den Druck und die Hitze in seinem rechten Bein, denn als die Verwandlung vollzogen war, konnte er endlich wieder gerade stehen. Sein Bewußtsein war inzwischen ein chaotisches Durcheinander, aber er gesellte sich zu den anderen und bewegte sich rasch und sicher einen anderen langen, steilen Gang entlang. Schließlich gelangten sie in eine sehr dunkle Höhle, wo Stalaktit und Stalagmit sich zu einer silbernen Säule vereinten, um die herum Larick sie aufstellte. Für einen Augenblick klärten sich Pols Gedanken, und er fragte sich, was dann tatsächlich geschehen war und wie lange die Zeremonie schon dauerte. Die Bilder hatten sich aufgelöst. Es gab nur die schimmernde Säule hier, schön und hell. In Anbetracht seiner vergrößerten Reichweite glaubte er nur die Arme ausstrecken zu brauchen, um sie umarmen zu können. Sie schien Macht auszustrahlen. Ein gewisses Maß an Stabilität kehrte zurück. Er hob seine riesigen Hände und starrte sie an. Wo hatte er etwas Ähnliches gesehen? Er glitt auf die zweite Sichtebene hinüber, aber sie blieben unverändert. Er ließ die Hände sinken, als die Erinnerung sich meldete. Sie glichen den Händen der dämonischen Geschöpfe, die er in seinen Träumen von dem Land hinter dem Tor gesehen hatte. Was konnte das bedeuten? Warum waren sie Teil dieses angeblich hilfreichen Rituals? War das tatsächlich die Art der Verwandlung, von der Larick gesprochen hatte, oder widerfuhr ihm etwas anderes? Er hob eine Hand an sein Gesicht und ließ die Fingerspitzen darübergleiten. Es schien unverändert und doch. . . Er wurde von einem Magenkrampf gepackt, der ihn nach vorn -96-
zwang. Unwillkürlich legte er die Arme um den Leib. In diesem Moment begann Larick wieder zu sprechen, den nächsten Teil der Worte. Er fühlte den Druck seines Gürtels und löste ihn. Er hörte das Geräusch von zerreißen demStoff unter seinem Gewand. Als die Schmerzen vorüber waren, wurde er sich einer Verbreiterung in der Beckengegend bewußt, einer Ausweitung seiner Hüften. Es bereitete ihm Schwierigkeiten, aufrecht zu stehen. Seine Wirbelsäule schien sich so gekrümmt zu haben, daß seine Hände den Boden berührten. Seine Füße begannen zu schmerzen. Dann war es nicht mehr wichtig. Der Augenblick klaren Bewußtseins verging, und er war in der nächsten Folge von Visionen und Gefühlen der Macht gefangen. Es schien, daß eine lange Zeit vergangen war. Seine Gedanken schwebten durch die Wiederholungen und seinen eigenen Teil daran. Als sie sich in Bewegung setzten, folgte er, weit vornübergebeugt, geistesabwesend und unbeachtet. Larick führte sie zu einer Öffnung im Boden, aus der der obere Teil einer Leiter ragte. Er bedeutete ihnen nach zu kommen und stieg selbst als erster hinab. Pol wartete, bis all die anderen unten waren, bevor er mit seinem eigenen unbeholfenen Abstieg begann. Die Leiter knarrte unter seinem Gewicht, und eine Sprosse brach, aber er umklammerte die Holme und kletterte weiter. Es war ein langer Abstieg, der schließlich inmitten der anderen endete, die innerhalb eines Kreises standen, der auf den Boden gekennzeichnet war. Er bemerkte, daß zwei der Kandidaten zusammen gebrochen waren und daß Larick neben einem kniete, um seine Brust zu massieren. Er übersprang die letzten paar Sprossen und wartete. Der Mann, an dem Larick arbeitete, stöhnte nach einer Weile und setzte sich auf. Larick begab sich sofort zu dem anderen einem kleinen, rothaarigen Mann, der die Zähne fest -97-
zusammengebissen hatte - und lauschte auf den Herzschlag. Anscheinend vergeblich, denn er ließ ihn liegen und kehrte zu dem anderen zurück, dem er auf die Füße half, um dann noch einmal nach dem Rothaarigen zu sehen. Der gab kein Lebenszeichen. Larick schüttelte den Kopf und ließ den Mann liegen, wo er gefallen war. Er ordnete seine Schützlinge zu einem Kreis, dessen Mittelpunkt er selber war und hob beide Hände. Pols Füße begannen zu schmerzen, als die Kraft sich indem Kreis ausbreitete. Die Schmerzen wurden so stark, daß er Sekunden später die Stiefel ausziehen mußte. Er hielt sie in dem Gewand unter dem Arm, während das Ritual weiterging. Undeutlich erinnerte er sich daran, daß dies der letzte Teil der Aufnahmezeremonie war. Bald mußte alles vorüber sein, und er konnte irgendwo hingehen, um zu schlafen. . . Er hörte sich selbst die Worte sprechen, seine Stimme war ruhig, normal. Als er geendet hatte, schloß er die Augen. Unverzüglich erschien ein ungewöhnlich lebendiges Bild. Er sah das belagerte Rondoval, umtost von einem Sturm. Das Bild zerfloß. Ein Mann stand auf dem Söller, einen schwarzen Schal um den Hals, das Szepter der Macht in den Händen. Sein Haar war schneeweiß, bis auf eine weiße Strähne von der Stirn bis zum Hinterkopf. Er sang die Befehle für seine unirdischen Horden und ließ vor seinen Feinden Flammen in die Höhe wachsen. Aber ein Zauberer ganz in Weiß - der alte Mor! stellte sich ihm zu einem Zweikampf. Der ältere Mann behielt die Oberhand, die Verteidiger zogen sich zurück, der Mann auf dem Söller ließ die Schultern sinken und verschwand. Im Innern der Burg hastete er zu einer nahen Kammer und begann mit dem magischen Stoff zu arbeiten. Der Vorgang wurde verkürzt. Sekunden später, so schien es, stand er, das Szepter hoch erhoben, in der Mitte des Kreises und sprach Worte der Macht, die durch das Zimmer hallten, ließen einen sich windenden, nebelhaften Schatten in einer Ecke nahe der -98-
Decke vibrieren. »Belphanior ned septut!« rief er. »Bel. . .« Die Tür schwang auf, ein Bote kam herein und brach zusammen, als die Mächte ihn überschwemmten. »Das Tor wurde gestürmt. . .«, sagte er, bevor er den Atem aushauchte. Der Zauberer sprach ein Schutzwort, schob das Szepter in den Gürtel und brach den Kreis. Er verließ die Kammer, eilte in die Halle hinauf und betrat einen anderen Raum, wo er einen starken Bogen nahm und spannte, der dort hing. Er wählte einen einzelnen Pfeil aus einem weichen Lederköcher und nahm in mit. Weiter unten sah Pol ihn mit dem Bogen den Führer der Angreifer töten. Dann focht er mit dem alten Mor einen Zweikampf aus, wurde besiegt und starb unter einem Berg von Geröll. Die Dinge verschwammen. Der Sturm war vorüber. Der Kampf war zu Ende. Er sah Mor auf dem Rücken eines Zentauren nach Westen reiten, den Leichnam des getöteten Zauberers über den Rücken eines anderen aus dem Pferdevolk gebunden. Wieder eine Unterbrechung. In einer Höhle, erleuchtet von seinem Stab, der gleich einem widernatürlichen Baum aufgepflanzt worden war, befand sich der alte Mor mit dem toten Zauberer. Der Leichnam lag mit über der Brust gekreuzten Armen auf einem Steinblock. Über den Körper gelehnt, tat Mor etwas mit dem Gesicht - rieb und drückte daran. Ein wenig später hob er die Hände und schien das Gesicht abzuziehen. Nein. Es war eine Totenmaske, die er in die Höhe hielt, und in diesem Augenblick bemerkte Pol, wie sehr die Züge denen Mors glichen. -99-
Er begann leise zu sprechen, aber Pol konnte die Worte nicht verstehen. Die zweite Sicht überkam ihn, und er entdeckte einen feinen silbernen Faden, der an der Maske befestigt war. Dann löste sich alles auf und schwebte davon, wie es auch mit Träumen geschieht. Pol öffnete die Augen. Alle standen sie meditierend, und ein hallendes Geräusch hing in der Luft, Laricks Hände waren erhoben, er schlug sie langsam zusammen und sprach bestimmte, abschließende Worte. Als er fertig war, ging Larick zwischen ihnen hindurch, legte sich den toten Mann über die Schulter, schritt zum Rand des Kreises und durchbrach ihn. Dann wandte er den Kopf und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Sie verließen die Felskammer und gelangten durch einen sich verbreiternden Tunnel in eine große, unregelmäßig geformte, ungeschmückte Höhle voller Steine, Stalagmiten und Stalaktiten. Hier war die Luft noch kühler, und Pols Kopf wurde klarer. Larick suchte sich einen Weg durch die Höhle und fand einen Platz, um die Leiche nieder zu legen. Dann kam er zurück, stieg auf einen kleinen Vorsprung und sprach die Kandidaten an: »Krendel war der einzige, der den Mächten unterlag«, sagte er. »Von euch anderen kann man sagen, daß ihr bestanden habt, so oder so. Es kann mehrere Wochen dauern, bis die neue Ausrichtung eurer magischen Fähigkeiten sich stabilisiert hat. Aus diesem Grunde warne ich euch vor jedem Versuch in der Kunst für einige Zeit. Es könnte mißlingen und unvorhersehbare Folgen haben. Wartet, erholt euch, beschränkt eure Betätigungen auf die physische Ebene. Wenn ihr glaubt, bereit zu sein, beginnt mit sehr kleinen Dingen - und wartet nach jedem Schritt, um sicher zu stellen, daß alles sich richtig entwickelt.« Er wandte sich um und blickte über die Schulter zurück. »Dieser Gang führt in die Welt zurück«, sagte er. »Er ist lang. -100-
Ich werde jeden von euch selbst hinauf führen, um bei Sonnenaufgang oben zu sein.« »Du wirst der erste sein«, erklärte er dem Nächststehenden. »Geh dort hinüber und warte auf mich. Ich werde in Kürze bei dir sein.« Er stieg von dem Vorsprung herab und trat zu Pol. »Komm hierher«, flüsterte er und führte ihn in einen Seitengang hinter einem dicken Stalagmiten. »Irgend etwas stimmt nicht«, meinte Pol. »Ich bin ein Ungeheuer geworden, und niemand scheint es zu bemerken.« »Das ist wahr«, antwortete Larick in normaler Lautstärke. »Sollte das nicht vorübergehen, nun, da die Zeremonie zu Ende ist?« »Freistab«, erwiderte er, »deine Verwandlung hatte nichts mit der Zeremonie zu tun. Kannst du behaupten, nichts von dem Haus Avinconet zu wissen?« »Ja. Ich habe nie davon gehört.« »Auch nicht von dem großen Tor zu einer dunklen und drohenden Welt? Einem Tor, das du weit öffnen möchtest?« Pol runzelte die Stirn. »Ich verstehe«, meinte Larick seufzend. »Was ich dir getan habe, war in der Tat notwendig. Ich nutzte die Möglichkeit, die dein Gemütszustand bei jeder Etappe der Zeremonie mir bot, um dich mit mächtigen Zaubern zu belegen deinen Körper Stück für Stück gegen einen der Bewohner jenes verfluchten Ortes auszutauschen. Natürlich bis auf deinen Kopf.« »Warum?« fragte Pol. »Was habe ich dir getan?« »Mir persönlich nichts«, antwortete Larick. »Aber das Böse, das du bewirken würdest, ist so groß, daß alles, was ich tat, gerechtfertigt ist. Nach und nach wirst du mehr von dem erfahren, was dir bevorsteht. Jetzt muß ich zu den anderen Eingeweihten zurück.« -101-
Pol streckte eine riesige, krallenbewehrte Hand aus, um ihn zu packen. Larick vollführte eine kurze Bewegung, und der ganze Arm war augenblicklich gelähmt. »Was. . . ?« »Ich habe volle Gewalt über deinen neuen Körper«, erklärte der andere. »Ich habe dich mit einer ganzen Anzahl fast unlösbarer Zauber umhüllt. Merkst du, wie ich dir meinen Willen aufzwinge, dich zu gänzlicher Bewegungslosigkeit verurteile? Es gehört auch ein Vermummungszauber dazu. Er entschädigt sogar für deinen unschönen Anblick. Nur du siehst dich, wie du wirklich bist - eine notwendige Mahnung, würde ich sagen. Du bist nun, in jeder Beziehung, mein Geschöpf.« »Und du warst so besorgt über schwarze Magie«, sagte Pol. »Vielleicht hast du den Wettbewerb gefürchtet?« Larick zuckte zusammen und schaute zur Seite. »Diesmal war es unumgänglich«, verteidigte er sich, »um ein größeres Übel zu verhindern.« »Komm mir nicht damit. Ich habe nichts Schlechtes getan. Du aber.« Larick wandte sich ab. Pol schrie hinter ihm her. Sein Schrei brach ab, als der Mann sich noch einmal umdrehte und eine Handbewegung machte. Jetzt konnte Pol überhaupt nicht mehr sprechen. »Dich werde ich als letzten holen und nach Burg Avinconet bringen«, erklärte Larick, und dann lächelte er. »Geh nicht weg.« Er ging um den Felsvorsprung herum und verschwand. Pol hörte einen Tropfen von einem Stalaktiten in einen nahen Teich fallen. Er hörte das Geräusch seines eigenen flachen Atems. Er hörte die fernen Stimmen der anderen Eingeweihten, die sich zweifellos über die Ereignisse dieser Nacht unterhielten. Wenn Zauberei ihn fesselte, dann mußte Zauberei ihn auch -102-
befreien können, entschied er. Aber er konnte die Quellen seiner eigenen Macht nicht erreichen. Ihm kam es vor, als schliefe dieser Teil von ihm. Er brütete über Laricks Worten, über der Tatsache, daß seine Träume für jemand anderen anscheinend unangenehme Wirklichkeit waren. Er durchsuchte seine Erinnerung nach einem Hinweis darauf, warum das so war. Er fragte sich, ob sein jetziger Zustand irgend etwas mit dem Uberfall des Zauberers in Rondoval zu tun hatte. Er versuchte sich zu bewegen, aber es gelang ihm nicht. Dann erklang das Geräusch von Schritten vor der Öffnung zu dem Seitengang. Eigentlich konnte Larick noch nicht zurück sein, aber. . . Ein hochgewachsener Mann, so groß wie Larick, aber breiter, kam um die Ecke und näherte sich. Sein Gesicht war in ständiger Veränderung begriffen, als betrachtete man es in einem Zerrspiegel. Die Augen wanderten, die Nase schwoll an und schrumpfte, der Mund verformte sich zu scheußlichen Parodien menschlicher Gefühlsäußerungen. Aber als er den Mund öffnete, um zu sprechen, bemerkte Pol trotzdem den blitzenden, überkronten Zahn. Er versuchte es mit der zweiten Sicht, war aber nicht in der Lage, den Verzerrungszauber zu durchdringen, den der Mann wie eine Maske trug. »Ich sehe, daß meine Verkleidung in deinem Gesicht noch wirksamer ist«, meldete sich die vertraute Stimme. »Aber was hast du mit dem Rest angestellt?« Pol stellte fest, daß er nicht einmal knurren konnte. »Genau besehen«, sprach der Mann weiter, »ist das ein furchterregender Körper. Du könntest allerlei Unheil damit anrichten, wenn dir danach wäre. Allerdings vermute ich, daß du deinen eigenen bevorzugen würdest, eh?« Er hob den Kopf, ein großes und ein kleines Auge richteten sich auf Pol und -103-
verschoben sich noch im selben Moment wieder. »Verzeihung«, meinte er dann, »ich hatte vergessen, daß du nicht antworten kannst.« Er schlug Pol mit der Hand über den Mund. Es schmerzte nur einen Augenblick, und, als hätte der Schmerz eine Sperre gelöst, Pol konnte den Mund öffnen und den Kopf bewegen. »Was, zum Teufel, geht eigentlich vor?« fragte er. »Ich habe nicht die Zeit, dir das zu erklären, selbst wenn ich es wollte«, erwiderte der andere. »Es ist eine lange Geschichte, und jetzt haben die anderen Dinge Vorrang. Allerdings scheint sich alles sehr hübsch zu entwickeln. Ich würde mir keine Sorgen machen.« »Das nennst du ›hübsch‹ ?« sagte Pol und blickte an seinem gräßlichen Körper hinab. »Nun ja, nicht gerade vom ästethischen Standpunkt aus gesehen, wenn man ein Mensch ist«, bestätigte der Mann. »Meine Worte bezogen sich auf den Gang der Ereignisse. Larick glaubt, er hätte dich in der Hand.« »Auf den ersten Blick würde ich sagen, daß er recht hat.« »Das könnte man ändern, wenn du bereit bist, das Spiel bis zu Ende mit zu spielen.« »Ich kenne nicht einmal den Einsatz oder die Regeln.« »Das wird Teil deiner Belohnung sein, wenn alles gutgeht. Antworten auf deine Fragen und Antworten auf Fragen, an die du bis jetzt nicht einmal gedacht hast.« »Etwa, wer du bist und was du vorhast?« »Das wird mit fast hundertprozentiger Sicherheit herauskommen.« »Wird mir gefallen, was ich erfahre?« »In Geschmacksfragen ist natürlich jeder Mensch sein eigener Richter.« -104-
»Welche Wahl habe ich?« »Du kannst handeln oder von anderen zum Handeln gezwungen werden.« »Was verlangst du von mir?« »Spiel mit, finde heraus, was dein Gegner will und ob du das selbe willst. Dann handle dementsprechend. Larick glaubt, dich vollkommen unter Kontrolle zu haben, aber gleich werde ich seine kindischen Zauber lösen. Ich werde auch den einigermaßen geschickten Körpertausch rückgängig machen und dich wieder in deinen eigenen munteren, jugendlichen - wenn auch erschöpften - Kadaver einpacken. Dann wird das Werk eines echten Meisters folgen. Befreit und wiederhergestellt werde ich deinen Körper verkleiden, wie ich dein Gesicht verkleidet habe und dir bis in jede Einzelheit das Aussehen des Ungeheuers geben, das du jetzt bist. Als Zugabe werde ich dich dann mit einem Maskenzauber umgeben, der in jeder Beziehung dem gleicht, der jetzt dein scheußliches Außeres vor den Augen der meisten Sterblichen verbirgt. . .« »Eine Verkleidung in der Verkleidung?« »Exakt.« »Zu welchem Zweck?« »Irgendwann werden die, die dich in einem willenlosen Zustand zu sehen wünschen, die äußere Schicht abstreifen, um das darin gefangene Ungeheuer zu begutachten.« Der hochgewachsene Zauberer trat auf ihn zu und packte ihn bei der Schulter. Augenblicklich spürte Pol, daß etwas wie ein elektrischer Schlag ihn durchzuckte. Sein Arm sank herab. Er taumelte. Seine Stiefel, die er die ganze Zeit unter den Arm geklemmt hatte, fielen zu Boden. Der Zauberer griff nach seinem linken Arm, und ein kaum zu ertragender Schmerz durchströmte ihn. Ehe Pol ihn noch untersuchen konnte, -105-
beschäftigte er sich schon mit dem anderen. Er summte vor sich hin, während er arbeitete. Ob das dazugehörte oder nicht, konnte Pol nicht sagen. Als er beide Hände hob und feststellte, daß es tatsächlich wieder SEINE Hände waren, versetzte ihm der Mann mit der Linken einen heftigen Schlag auf den Rücken und mit der Rechten einen auf die Brust, gerade über dem Herzen. Selbst in der muskelbepackten und dick gepanzerten Gestalt, in der er gefangen war, konnte Pol merken, daß der Mann kein Schwächling war. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepreßt, als sein Brustkorb sich wieder auf ein normales Maß verkleinerte. Er begann sich aufzurichten, und der Zauberer versetzte ihm einen furchtbaren Schlag in den Magen, unterhalb der Gürtellinie. Die Veränderungen griffen auf diesen Bereich über, und er richtete sich vollends auf, massierte und knetete seine Muskeln sowohl aus Freude darüber, seinen eigenen Körper wieder zu spüren, als auch, um die allgegenwärtigen Schmerzen zu lindern. Der große Zauberer trat ihm gegen die Schienenbeine, und er fühlte, wie sich auch dort die Schmerzen ausbreiteten, das Schrumpfen und Strecken begann. »Ich muß sagen, daß du eine etwas gewaltsame Art hast, an diese Dinge heranzugehen«, bemerkte er. »Vielleicht würdest du eine sechsstündige Beschwörung mit Weihrauch vorziehen?« »Erfolg macht mich unkritisch.« »Vernünftig. Ich beginne jetzt mit dem ersten Maskenzauber, nach dem du so aussehen wirst, wie gerade eben noch.« Das Trugbild wuchs wie ein grauer Nebel um ihn herum, geformt von den fließenden Handbewegungen des Gesichtwandlers. Pol fühlte sein verborgenes Drachenmal pulsieren, als Antwort auf diesen möchtigen Zauber. Bald -106-
umhüllte er ihn vollständig, verdichtete sich, drang durch seine Kleidung. Der Magier seufzte und richtete sich auf. ». . . und das wird alles sein, was sie sehen, wenn sie die äußere Schicht durchdringen, die ich jetzt gleich anfertigen werde. Allerdings muß ich dich auf das Offensichtliche aufmerksam machen.« »Das wäre?« »Du mußt handeln, als befändest du dich noch unter Kontrolle. Starr in derselben Haltung verharren, die du inne hattest, als Larick dich verließ. Befolge all seine Befehle, als hättest du keine Wahl. In dem Moment, in dem du dich verrätst, beraubst du dich selbst der Möglichkeit, mehr heraus zufinden. Außerdem dürftest du in dem Fall einen Kampf am Halse haben.« Pol nickte. Er blickte an sich herunter und sah wieder das Äußere eines Ungeheuers, fühlte es aber nicht mehr. »Ich werde dieses Trugbild jetzt vor unberufenen Augen verbergen, wie Larick es tat«, erklärte der Zauberer, »wobei es aber für dich sichtbar bleibt, wie es auch in Laricks Absicht lag, als Mahnung, daß du dich dementsprechend benimmst - unbeholfen und gehorsam. Pol beobachtete die Hände des Mannes, als sie eine Reihe verschlungener Gesten vollführten. »Siehst du Bänder, wenn du arbeitest?« fragte er plötzlich. »Manchmal«, erwiderte der Zauberer. »Aber jetzt sehe ich farbige Lichtstrahlen, die ich miteinander verwebe. Still jetzt. Ich muß mich konzentrieren.« Pol richtete den Blick auf die sich ständig wandelnden Züge des Mannes und versuchte, sein wahres Aussehen zu erkennen. Aber die Änderungen folgten keinem bestimmten Muster. Als die Bewegungen aufhörten und der Mann sich streckte, -107-
sagte Pol: »In der Nacht, als du in unser Lager kamst, hast du gesagt, daß unsere Interessen sich nicht unbedingt decken.« »Oh, es besteht die Möglichkeit, daß wir uns nicht einig werden«, erwiderte der andere. »Ich hoffe es nicht, aber man kann nichts sagen. Es könnte geschehen. Wenn allerdings, dann nicht, weil ich mir keine Mühe gegeben hätte. Und wenigstens für den Moment wollen wir dasselbe: dich heil hier heraus bringen, deine Feinde täuschen, dich in eine strategisch gunstige Position bringen.« »Hast du eine Ahnung, was passiert, wenn man mich von hier wegbringt? »Oh, ja. Man wird dich in die Burg Avinconet schaffen.« »Das hat Larick auch gesagt. Aber wer sonst ist noch beteiligt? Und was wird mir am Ende bevorstehen?« »Es ist viel besser für dich, wenn du diese Dinge selbst herausfindest, damit deine Handlungen glaubwürdig bleiben.« »Verdammt noch mal! Das ist doch nicht alles! Du verschweigst irgendwas!« »In welcher Beziehung unterscheidet mich das von anderen Männern? Spiel deine Rolle, Junge. Spiel deine Rolle.« »Du sollst mich nicht bevormunden. Ich brauche mehr Informationen, um die Sache durchzustehen.« »Quatsch mit Soße!« antwortete der Zauberer und wandte sich ab. »Und nimm wieder deine frühere Stellung ein. Ich glaube, ich höre jemanden kommen.« »Aber. . .« »Der Rest ist Schweigen«, sagte der Verwandlungskünstler, als er um die Ecke verschwand.
-108-
VII
Samtfinger hockte in einer felsigen Mulde links neben der Höhlenöffnung. Zum Schutz vor der Morgenkälte hatte er die Kapuze hochgezogen und den Umhang fest um sich gewickelt. Zu seiner Rechten ging die Sonne ihrer allmorgendlichen Beschäftigung nach und entfernte eine Lage Schönheit von der Stadt, die er vor mehreren Stunden verlassen hatte. Acht der Prüflinge waren bis jetzt an ihm vorbei gegangen, jeder in der Begleitung Laricks, hatten die Morgendämmerung gegrüßt und sich dann allein oder in der Begleitung eines Dieners oder früheren Meisters auf den Rückweg gemacht. Als er jetzt wieder das Geräusch von Schritten hörte, wandte Samtfinger den Kopf zu der Höhlenöffnung. Er sah Pol mit Larick heraus kommen und erhob sich mit knackenden Gelenken, ohne sich aber gleich bemerkbar zu machen. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, hatte Pol sein weißes Gewand bereits abgelegt. Er ging langsamer und unbeholfener als gewöhnlich. Auch Larick trug nur seine übliche Kleidung und sein Kopftuch. Sein Gesichtsausdruck war jetzt sehr viel weniger ernst als bei der Verabschiedung der anderen Eingeweihten. Er schnauzte Pol Befehle zu, als sie aus dem Berg heraustraten. Beide wandten sich sofort nach links und entfernten sich rasch. Verwirrt kam Samtfinger aus seiner Mulde und eilte hinter ihnen her. »Guten Morgen«, sagte er. »Wie ist es dir während der Nacht ergangen?«Larick stolperte beinahe, als er stehenblieb, und er legte eine Hand auf Pols Arm. Als er sich umdrehte, hatte er sich wieder gefaßt. Pol, der sich langsamer bewegte, zeigte ein völlig ausdrucksloses Gesicht. -109-
»Guten Morgen«, erwiderte Larick. »Dein Freund ist physisch vollkommen gesund, aber manche Teilnehmer an den Zeremonien werden von einer Geistesverwirrung kleineren oder größeren Ausmaßes befallen. Das ist bei ihm der Fall.« »Wie ernst ist die Sache?« »Das kommt auf die Umstände an - aber gewöhnlich ist es heilbar. Gerade wollte ich ihn wegführen, um ihn behandeln zu lassen.« »Ist das der Grund, weshalb du die Begrüßung der Morgendämmerung hast ausfallen lassen?« Für einen winzigen Moment verengten sich Laricks Augen, als versuchte er abzuschätzen, wieviel der andere von diesen Dingen wußte. »Wir wollten nicht gänzlich darauf verzichten«, sagte er. »Aber vielleicht hast du recht, da dies der traditionelle Ort ist.« Er drehte sich zu der Stelle um, wo die anderen gestanden hatten, um das abschließende Ritual durchzuführen. »Pol, Verstehst du mich wenigstens?« fragte Samtfinger. Larick wandte sich um. »Ich bin sicher, daß er das tut«, erklärte er. »Aber er darf mit niemandem sprechen, bevor er nicht diesen Teil der Zeremonien beendet hat. In wenigen Minuten wirst du erfahren, was er zu sagen hat.« Er führte Pol zu der für das Ritual vorgesehenen Stelle und sprach schnell und leise auf ihn ein. Samtfinger stellte sich so, daß er sie vor sich hatte und musterte dabei seine Umgebung. Ein wenig später sah er Pol die Arme heben und sein Gesicht dem Licht im Osten zuwenden. Als Pol zu murmeln begann, entfernte sich Larick einige Schritte von ihm. Samtfinger verfolgte die Vorgänge sehr genau, die Hände unter dem Umhang. Als Pol eine gekürzte Fassung des Sonnenrituals beendet -110-
hatte, wandte er sich an den kleineren Mann. »Vielleicht ist es nicht sehr ernst«, sagte er. »Aber ich muß für eine gewisse Zeit mit Larick gehen. In einer Sache wie dieser kann ich kein Risiko eingehen.« »Wie lange?« »Ich weiß es nicht. Für so lange, als es nötig ist.« »Es könnte ein oder zwei Wochen dauern«, warf Larick ein. »Vielleicht sogar länger.« »Wohin willst du ihn bringen? Ich werde mit euch gehen.« »Darüber kann ich dir nichts sagen, bis ich nicht mit einigen Fachleuten gesprochen habe. Vielleicht kann er hier behandelt werden. Oder aber er muß woanders hingehen.« »Wohin?« »Das muß erst entschieden werden.« »Pol«, sagte Samtfinger, »bist du sicher, daß es dein freier Wille ist?« »Ja«, antwortete Pol. »Also gut. Wir werden gehen und es herausfinden. Wenn es hier gemacht werden kann, werde ich warten. Wenn nicht, werde ich dich begleiten.« »Das wird nicht nötig sein«, meinte Pol und wandte sich ab. »Ich brauche dich nicht.« »Trotzdem. . .« »Du bist äußerst lästig«, sagte Larick und hob die Hand. Samtfinger bewegte sich, aber nicht schnell genug. Alle Kraft und alles Gefühl strömten aus seinem Körper. Er stürzte, die Hand noch um den Kolben der Pistole, die er nicht mehr hatte ziehen können. Schon einige Zeit, bevor er die Augen öffnete, war Samtfinger sich undeutlich eines langsamen, häufig unterbrochenen, schlurfenden Geräusches bewußt. Als er endlich die Lider hob, -111-
füllten ein kleiner, grauer, moosiger Stein und ein kleines Stück Kiesboden sein Blickfeld aus. Er stellte fest, daß es merklich heller geworden war. Langsam bewegte er seinen linken Arm und legte die Handfläche dicht neben seiner Schulter auf den Boden. Es dauerte mehrere Sekunden, bis er sich der Kälte des Felsens bewußt wurde. Das schlurfende Geräusch ertönte erneut, und er hob den Kopf ein wenig, wobei er die Steifheit in seinem Nacken bemerkte. Mühsam stemmte er sich auf, rollte in eine sitzende Stellung und kämpfte gegen die Neigung, vornüber zusinken. Als er seine Umgebung musterte und sein Blick dabei die Stelle streifte, an der Pol und Larick gestanden hatte, erinnerte er sich wieder an die Ereignisse dieses Morgens. Er wandte den Kopf nach Osten. Der Stand der Sonne verriet ihm, daß seit diesem Zusammentreffen mehr als eine Stunde vergangen war. Er durchdachte noch einmal den gesamten Wortwechsel, suchte nach Hinweisen und Dinge, die in dem Berg geschehen waren und auf das, was jetzt im Gange sein mochte. Er beschloß, bei seiner nächsten Begegnung mit einem Zauberer die Pistole schußbereit und angeschlagen in der Hand zu haben. Eine ganze Reihe leiser Geräusche drangen aus der Höhle, verstärkten sich zu raschen Schritten und verstummten. Er zog ein Bein an und stemmte sich in die Hocke. Langsam stand er auf, als die Schritte wieder aufklangen und sich der Höhlenöffnung näherten. Er zog die Waffe und richtete sie auf den Felsbogen, der Hammer klickte, als er ihn spannte. Die Schritte wurden lauter, regelmäßiger. Einen Augenblick später erschien ein kleiner, rothaariger Mann in der Öffnung. Er trug ein schmutziges weißes Gewand und lehnte sich gegen den Fels, seine Augen rollten, er blinzelte und drehte den Kopf von einer Seite auf die andere. Als sein Blick über Samtfinger hinwegglitt, schien er ihn gar nicht zu bemerken. Seine Haut war totenbleich. Er zuckte und schwankte, als hätte er Krämpfe. -112-
Samtfinger beobachtete ihn geraume Zeit, bevor er etwas sagte. »Was ist los?« fragte er, die Waffe immer noch schußbereit. Der Kopf rollte wieder haltlos hin und her, die Augen glitten über ihn hinweg, wieder zurück, die Pupillen verengten sich. Schließlich schienen sie ihn zu erfassen, aber der Blick, der darin lag, ließ ihn ein Frösteln unterdrücken. »Was ist los?« wiederholte er. Der Mann machte einen Schritt nach vorne, hob eine bleiche Hand, öffnete den Mund und schob die Finger hinein. Er gab ein gurgelndes Geräusch von sich und zog die Finger ein Stück zurück, zwischen ihnen hielt er die Spitze seiner Zunge. Er machte noch einen Schritt, ließ die Zunge los und hob beide Hände in Schulterhöhe. Noch einen Schritt und noch einen, seine rechte Hand bewegte sich von einer Seite auf die andere, streckte sich langsam aus. Er hörte nicht auf, keuchende, rasselnde Geräusche von sich zu geben, und sein Gang wurde immer bestimmter. »Bleib stehen!« sagte Samtfinger. »Was willst du?« Der Mann brüllte auf und sprang auf ihn zu. »Halt?« schrie Samtfinger, und als der Mann nicht gehorchte, betätigte er den Abzug. Die Kugel traf den Mann in den linken Arm, schleuderte ihn halb herum. Er taumelte einen Augenblick und fiel auf die Knie, ohne den Verusch zu machen, nach der getroffenen Stelle zu greifen. Beinahe sofort stand er wieder auf, drehte sich zu Samtfinger herum und stieß eine Reihe kehliger Laute aus. »Fordere nicht einen zweiten Schuß heraus«, sagte Samtfinger und spannte den Hammer. »Ich erkenne dich. Ich weiß, daß du einer der Kandidaten bist. Sag mir, was du willst.« Der Mann kam näher, und Samtfinger schoß erneut. Der Mann zuckte zusammen und wurde wieder zur Seite -113-
gerissen, aber diesmal fiel er nicht. Er richtete sich auf und ging weiter, der ununterbrochene Strom der Laute, die über seine Lippen drangen, bekam mehr und mehr Bedeutung. »liinn Ordnung. . .«, sagte er. Samtfinger leckte sich die Lippen, als er die Waffe wieder spannte. »Um Gottes willen, bleib stehen«, rief er. »Ich will dich nicht töten.« »Nicht wichtig. Hörzuhörzuhörzu«, sagte der andere mit völlig ausdruckslosem Gesicht und wild rollenden Augen, die Hände immer noch zuckend ausgestreckt. Samtfinger wich drei Schritte zurück, aber der Mann kam ihm nach. Samtfinger blieb stehen und schoß ihn mitten in die Brust. Der Schlag warf den Mann zurück. Er fiel auf den Rükken, setzte sich und stand wieder auf. »Nein!« schrie Samtfinger. »Bitte! Halt!« »Halt«, wiederholte der Mann ausdruckslos. »Hör zu, hör zu, hör zu. Pol. Wichtig. Du.« »Pol?« fragte Samtfinger und zog den Hammer zurück. »Was ist mit ihm?« »Ja. Pol. Ja. Du verstehst - mich - jetzt. Ja?« »Dann bleib stehen und sag es mir! Komm nicht näher!« Langsam erhob sich der andere wieder, und etwas, das Samtfinger bemerkt hatte, ohne daß es ihm zu Bewußtsein kam, fiel ihm jetzt auf. Der Mann blutete aus keiner seiner Wunden. Das Gewand war zerrissen, dunkel gefärbt, feucht, wo die Kugeln eingedrungen waren - aber es gab keine roten Flecken. »Stehenbleiben?« sagte er. »Hier - stehen?« »Ja. Du machst mich sehr nervös. Ich kann dich gut hören. Sag es mir von da aus. Was ist mit Pol?« -114-
»Pol. . .«, sagte der andere, taumelnd. »In Gefahr, Samtfinger. Hör zu.« »Ich höre zu. In welcher Gefahr?« »Larick - belegte - ihn - mit einem Zauber.« »Was für einen Zauber? Ich werde jemanden suchen, der ihn lösen kann.« »Nicht nötig. Er wurde gelöst. Aber Larick - weiß - es nicht.« »Dann ist Pol in Ordnung?« »Wie immer.« »Aber Larick glaubt, daß er von einem Zauber gehalten wird?« »Ja. Wie Pol es will.« »Wohin bringt er ihn?« »Burg Avinconet.« »Das ist Ryle Mersons Burg! Ich hätte es wissen müssen. Ich werde dort hingehen und ihm helfen.« »Nicht jetzt. Du würdest ihm wenig nützen und wahrscheinlich getötet werden. Es gibt eine bessere Möglichkeit.« »Welche?« »Geh zu Pols Schutzherrn.« »Ibal?« »Zu ihm. Berichte ihm, was geschehen ist. Bitte ihn um eine schnelle Reisemöglichkeit nach Rondoval.« »Angenommen, er ist einverstanden. Was dann?« »Du kannst mit Drachen sprechen.« »Ich fürchte, das stimmt.« »Sage dem alten - Mondvogel -, daß er dich zu dem erloschenen Krater auf dem Amboßberg bringen und dir dort helfen soll, das magische Werkzeug zu finden.« -115-
»Das Szepter?« »Ja.« »Angenommen, es gelingt.« »Dann bring es Pol in Avinconet.« »Wird ihm in der Zwischenzeit nichts geschehen?« »Sie können es jederzeit für erforderlich halten, ihn zu töten. Ich weiß es nicht. Wenn sie es nicht tun, wird er es bald benötigen.« »Wer bist du?« »Das weiß ich nicht.« »Woher weißt du all diese Dinge?« »Ich war dabei.« »Warum möchtest du Pol helfen?« »Ich bin mir nicht sicher.« »Wie ist es möglich, daß ich dich nicht töten konnte?« »Eine Leiche kann nicht sterben.« »Jetzt bin ich es, der nicht versteht.« »Du weißt genug. Leb wohl.« Der rothaarige Mann brach zusammen und lag still. Samtfinger näherte sich ihm vorsichtig. Er schien nicht zu atmen, und Samtfinger betrachtete die wächserne Blässe des Mannes aus größter Nähe. Er streckte die Hand aus und berührte eine Wange. Sie war kalt. Er hob die rechte Hand an. Auch kalt, und eine gewisse Starre hatte bereits davon Besitz ergriffen. Er drückte auf die Fingernägel. Sie wurden weiß und blieben es. Endlich beugte er sich vor und legte ein Ohr an die Brust in der Nähe des Kugellochs. Er stellte fest, daß sich nichts mehr rührte. Er legte den Körper zurecht und faltete ihm die Arme über der Brust. Er zog den weißen Umhang unter dem Kopf nach oben -116-
und über das Gesicht. Er stand auf und An der Stelle, wo Larick und Pol gestanden hatten, entdeckte er ihre Spuren und folgte ihnen. Allerdings verschwanden sie rasch auf dem felsigen Untergrund. Er blieb stehen und überlegte einige Minuten. Dann wandte er sich in Richtung der Stadt der Trugbilder und begann den Abstieg zu ihren glitzernden Türmen.
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VIII Der Wind heulte in seinen Ohren, der Umhang flatterte hinter ihm her, und Pol beugte sich tiefer auf die Schultern des kleineren Drachen - ein wendiges braunes Geschöpf von ähnlichem Aussehen wie die gewaltigen Drachen Rondovals, aber sehr viel kleiner -, preßte die Beine an die Seiten des Rückenkammes und faßte mit den Händen das Ledergeschirr am Nacken des Tieres. Zwanzig Meter neben ihm und um einiges höher ritt Larick ebenfalls auf einem der lederflügeligen Geschöpfe. Gelegentlich warf er einen Blick auf Pol, der eine teilnahmslose Haltung angenommen hatte. Eine Anzahl leuchtender Bänder, mit der zweiten Sicht erkennbar, verliefen zwischen ihnen. Pol fragte sich, wie schwierig es wohl werden könnte, den anderen zu töten, wenn die Zeit dafür gekommen war. Er kam zu dem Schluß, daß Magie eine zu langsame und unsichere Waffe war, wenn sie gegen einen anderen Zauberer eingesetzt wurde. Er beschloß, rasch zu zuschlagen, mit aller Gewalt und ohne Warnung, sobald er heraus gefunden hatte, was er wissen wollte und es sich leisten konnte, auf den Mann zu verzichten. Es wäre unklug gewesen, Feinde dieser Art am Leben zu lassen. Die Sonne war dabei, im Westen einem weiteren Tag die Kehle durch zu schneiden, und der Mond stand schon lange am Himmel - ein achtlos über Wolkenkämme geworfener, fahler Lappen, dessen wachsende Helligkeit sich jetzt über ein rauhes und von Schatten durchzogenes Land ergoß - als sie in nordwestlicher Richtung weiterflogen. Die langen Hälse ihrer dunklen Reittiere waren weit vorgestreckt, die ausgebreiteten Schwingen peitschten gegen unvermittelte Windböen an. Im Verlauf des Tages hatten sie viermal die Reittiere gewechselt, ausgeruhte Drachen warteten, durch Zauberkraft gefesselt, auf Hügelkuppen. Pols Schulter- und Beinmuskeln -118-
schmerzten so sehr, daß er es gar nicht mehr spürte. Er warf einen verstohlenen Blick auf Larick, der unermüdlich schien und weit vorgeneigt sein Tier zu größerer Anstrengung antrieb. Er starrte nach vorn, als versuchte er, Löcher in den dunklen Himmel zu brennen. Avinconet, Avinconet. . . Stundenlang hatte er den Namen in Gedanken wiederholt, im Rhythmus der Flügelschläge. Er hatte nicht gelogen, als er Larick gegenüber behauptete, nichts davon zu wissen, aber. . . Jetzt kam es ihm vor, als wäre es ihm doch irgendwie vertraut. Es war möglich, daß sich in einem der Tagebücher seines Vaters eine diesbezügliche Bemerkung befunden hatte, obwohl er sich an nichts Genaues erinnern konnte. Avinconet. Avinconet und Rondoval. . . Hatte es da eine Verbindung gegeben? Die Sonne sank tiefer, und der Mond schien heller, und dann, übergossen von dem Blut des Tages, erblickte er sie an der Flanke eines der höheren Gipfel einer fernen Bergkette. Und er wußte, daß er sie kannte. Avinconet war die Burg seiner Träume, durch die der Weg zu dem Tor führte. Irgendwie hatte er die ganze Zeit gewußt, daß es sie wirklich gab. Aber sie zu sehen. . . Sie zu sehen, weckte eine ganze Reihe beunruhigender Gefühle. Er spürte das Verlangen, die Burg zu betreten, das Tor zu finden. Es gab etwas, das er dort tun mußte, tun wollte, trotz eines unwillkürlichen Widerwillens bei dem bloßen Gedanken an das Tor. Aber was genau er dort tun wollte, vermochte er nicht zu sagen. Er sah das düstere Gebäude vor sich in die Höhe wachsen, die Farbe der Mauern verblaßte zu Gelb, Silber, Grauweiß - ein riesiger, terrassenförmig aufsteigender Mittelbau, die einzelnen Stufen mit Türmen gespickt, flankiert von langen Reihen angebauter Seitenflügel - umgeben von -119-
einem hohen, breiten, von Zinnen gekrönten Wall, den an jeder der zahlreichen Ecken ein massiger Turm überragte. Zur rechten Seite des Hauptgebäudes hin, waren auf mehreren Stufen die Fenster erleuchtet. Er glitt in die zweite Sichtebene hinüber und bemerkte sofort die gewaltige Ansammlung von Bändern hoch über dem rückwärtigen Teil der Festung. Er entdeckte auch ein kleines, bleiches Licht, das von rechts nach links an der Frontseite entlangtanzte, manchmal flackernd innehielt und wieder weiterwanderte. Als sie sich genau über der Burg befanden, ließ Larick sein Reittier einen großen Bogen beschreiben, und Pols Drachen folgte ihm, beide hatten gegen starke Winde anzukämpfen. In langsamen, weiten Kreisen schwebten sie hinab. Über dem größeren der zahlreichen Burghöfe angelangt, konnte Pol wieder das kleine Licht beobachten, das nur auf der zweiten Sichtebene erkennbar war. Jetzt, aus größerer Nähe, erinnerten die Umrisse an eine menschliche Gestalt und ein langes, blasses Band war mit ihm verbunden. Etwas an dem Anblick erfüllte Pol mit einer unbestimmten Traurigkeit. Nach einiger Zeit, als sie dicht genug über der Burg kreisten, erkannte Pol in der hinteren Mauer der Festungsanlage - sie war ein Teil des Berges selbst - eine Anzahl unregelmäßiger, dunkler Öffnungen, die zum Teil vergittert waren. Wenig später verschwand auch das Licht von den Zinnen. Sie landeten holpernd, und Larick glitt sofort zu Boden. Augenblicke später fühlte Pol, wie an den Fäden, an denen Larick ihn wie eine Marionette zu führen glaubte, gezogen wurde und stieg gleichfalls ab. Larick nahm den Tieren das Geschirr ab, rief einen Befehl und sah zu, wie sie in eine der höhlenähnlichen Öffnungen watschelten. Er folgte ihnen und griff nach etwas, das in den Schatten verborgen war. -120-
Das Klirren, mit dem ein eisernes Gitter vor die Öffnung fiel, hallte durch den Hof. Larick wandte sich an Pol. »Wegen der günstigen Windverhältnisse sind wir sehr schnell voran gekommen«, bemerkte er. »Ich hatte damit gerechnet, daß wir erst nach Mitternacht hier sein würden. Vielleicht kann er dich jetzt noch empfangen. Ich weiß es nicht. Ich werde nachfragen müssen.« »Wer ist›er?‹« fragte Pol. »Ryle Merson, der Herr von Avinconet.« »Was will er von mir, Zauberer?« »Dir das zu erklären ist seine Sache. Hier entlang.« Pol spürte den Ruck an den Bändern, die Larick an ihm befestigt hatte. Er leistete keinen Widerstand, sondern ließ sich von ihnen durch einen Torbogen führen. Sie gelangten in einen mit Steinplatten ausgelegten Gang, dessen Biegungen sie folgten. Links, rechts, links, links, prägte Pol sich ein. Dann blieben sie vor einer niedrigen Tür stehen. Sie war halb geöffnet, und Larick schob sie ganz auf. Pol stellte fest, daß sie von außen durch einen schweren hölzernen Balken gesichert werden konnte. »Hinein«, sagte Larick, und Macht strömte durch die Bänder. Pol bückte sich und trat über die Schwelle. Eine Bank befand sich an der rechten Wand des kleinen, niedrigen Raumes. Es gab keine Fenster, nur einige Luftschächte unter der Decke. Eine zerschlissene Decke und ein Bündel Sackleinen lagen auf der Bank. In der Nähe stand ein Nachttopf auf dem Boden. Über der Bank war an der Mauer ein leerer Kerzenhalter angebracht. Pol drehte sich um, sobald er die Zelle betreten hatte, und der Druck seiner magischen Fesseln ließ nach. -121-
»Was gibt's zum Abendessen?« fragte er. »Wenn er dich nicht mehr zu sehen wünscht, werde ich dir etwas bringen lassen«, erwiderte Larick. »Ich werde solange die Weinkarte studieren.« Larick starrte ihn an und schüttelte den Kopf. »Bei dir dürften ein paar zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen angebracht sein«, meinte er. »Ich möchte nicht, daß du die Einrichtung zertrümmerst. Setz dich auf die Bank.« »Schon gut, Zauberer. Allerdings gibt es nicht viel zu zertrümmern.« Pol ging durch die Zelle und setzte sich. Beinahe sofort konnte er die Berührung der Bänder fühlen. »Du machst das sehr gut«, sagte er. »Danke.« ». . . aber ich glaube nicht, daß es dich am Ende retten wird.« Larick kicherte. »Solange das Ende noch weit entfernt ist.« »Kauf dir keine Langspielplatten mehr«, bemerkte Pol. »Was soll das bedeuten?« »Selbst wenn du es herausfindest, wird es dann zu spät sein.« »Mach was du willst, Chainson.« »Vielleicht.« Die Tür schloß sich. Der Raum wurde sehr dunkel. Pol konnte hören, wie draußen der Riegel vorgeschoben wurde. Er schüttelte die Fesseln ab. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, Larick ein Band anzuheften, während dieser ihn fesselte, was ihn befähigt hätte, ihm durch die Burg zu folgen und mit seinen Augen zu sehen. Er hatte die Idee als zu gefährlich verworfen, aber jetzt war er nicht mehr so sicher. . . Als er auf die zweite Sichtebene hinüberglitt, erschien der -122-
Raum in Perlschimmer gebadet. Ein blasses, goldenes Band hing in der Nähe der Tür. Er hob die rechte Hand und sandte seinen Willen aus. Unter den vielen Schichten der Trugbilder pulsierte sein Drachenmal. Das Band schwebte auf ihn zu. Als es seine Fingerspitzen berührte, fühlte er ein fast elektrisches Prickeln. Kaum hatte er sein Bewußtsein von allen Gedanken freigemacht und suchte durch das Band nach Eindrücken, als das Gefühl sich ausbreitete und er rasch bemerkte, daß er den anderen tatsächlich erreichte. Dafür hätte man Larick der Fahrlässigkeit beschuldigen können, dachte er, aber schließlich konnte er nicht wissen, daß Pol noch in der Lage war, seine magischen Fähigkeiten einzusetzen. Er folgte Laricks Schritten um mehrere Biegungen und eine lange Treppe hinauf. An einer Biegung gab es ein großes Fenster, und er sah die Sterne dahinter. Laricks Weg führte ihn jetzt in die sehr viel prächtiger ausgestatteten Teile der Burg, und schließlich betrat er einen langen Gang, der vor einer geschnitzen, doppelflügligen Tür endete. Ein livrierter Diener saß auf einer Bank rechts vom Eingang. Er stand auf, als Larick näher kam, sein Lächeln verriet Erkennen. »Ist er wach?« erkundigte sich Larick. Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle es«, antwortete er. »Er hat sich schon vor geraumer Zeit zurück gezogen - und er sagte, daß er nicht gestört zu werden wünschte.« »Oh. Nun, wenn er aufwachen sollte, Mak, richte ihm aus, daß ich den Mann gebracht habe, den er sehen wollte.« »Wenn er aufwacht, werde ich es tun. Aber ich glaube nicht, daß er heute nacht noch einmal aufsteht.« »Dann werde ich jetzt dafür sorgen, daß der Bursche etwas zu -123-
essen bekommt. Soll ich dir etwas heraufschicken?« »Ein Happen Brot und Fleisch wäre nicht schlecht, und ein Schluck Bier.« »Ryle hat sich sehr früh hingelegt. . .« »Die Rückreise hat ihn ermüdet. Er hat sich ziemlich beeilt.« »Darüber brauchst du mir nichts zu erzählen. Na gut. Ich gehe jetzt in die Küche. Gute Nacht.« »Nacht.« Pol folgte ihm, der jetzt langsamer ging, eine Hintertreppe hinab. Er konnte hören, wie er die Mahlzeiten bei einer müde aussehenden, dicken Frau mittleren Alters bestellte, die er beim Essen gestört hatte und beobachtete ihn dann bei der Zusammenstellung eines leichten, kalten Abendessens, das er rasch verzehrte. Pol hielt die Verbindung aufrecht, obwohl sein eigener Hunger wuchs. Am äußeren Rand des Blickfeldes konnte er sehen, wie die Frau die Tabletts vorbereitete. Larick verweilte bei einem zweiten Glas Wein, dann seufzte er und stand auf. Er wünschte der Frau gute Nacht, besuchte die Latrine und folgte dann lange Zeit einem abwärts führenden Gang zu dem - wahrscheinlich - nordöstlichen Flügel der Burg. Pol gab sich weiterhin Mühe, den Weg seinem Gedächtnis einzuprägen, da er glaubte, Larick wäre unterwegs zu seinem eigenen Quartier. Aber der Weg senkte sich tiefer und tiefer und schien immer weiter in Richtung des Berges zu führen. Hier war nichts mehr von Pracht zu bemerken, die Räume, die er durchquerte, waren staubig, und manche schienen als Abstellplatz für beschädigtes Mobiliar benutzt zu werden. Es folgte eine Zone dunkler Leere, wo Larick die Spitze seiner Klinge zum Leuchten brachte und es über den Kopf hob wie eine Fackel, bis er schließlich an eine nackte, feuchte Felswand gelangte, die er mit der Hand abtastete. Er folgte ihr eine Zeitlang, schritt dann durch eine Öffnung im -124-
Fels und einen steilen Gang hinab, in den grobe Stufen gehauen waren. Der Gang wurde schmaler, ebener, machte eine Biegung. Larick ging langsamer. Zwei weitere Biegungen, und seine Schritte wurden zögernd. Er näherte sich einem hohen, massigen Vorsprung, auf dem sich etwas wahrscheinlich Großes und Leuchtendes befand. Seine Hand zitterte, und das Schwert senkte sich, als er zu klettern begann. Pol merkte, daß sein Atem schwerer ging. Kaum war er oben angekommen, als er auf die Knie fiel und bewegungslos verharrte. Pol konnte nicht erkennen, was vor ihm lag, dann plötzlich war mit den Augen des Mannes etwas nicht mehr in Ordnung. Er wartete eine Zeitlang, aber nichts geschah, und dann kam sein Abendessen, und er unterbrach die Verbindung. Als er seine Mahlzeit beendet hatte, schob Pol das Tablett beiseite und suchte wieder nach dem goldenen Band. Aber es war entweder davongeschwebt oder hatte sich aufgelöst. Zu spät fiel ihm ein, daß er es an irgend etwas hätte befestigen müssen, bis er sich wieder damit beschäftigen konnte. Wie auch immer, er war müde und wußte, daß er vor dem Morgen nicht wieder gestört werden würde. Er machte sich ein Bett aus dem Sackleinen auf der Bank, streckte sich aus und zog die Decke über sich. Fast sofort döste er ein, hinter seinen Augen jagte sich eine Unzahl von Eindrücken der letzten Tage. Sie verblaßten rasch, und dieses andere Bewußtsein ergriff wieder von ihm Besitz. Es gab einen Moment durchdringender Kälte, und dann stand er vor dem Tor. Er fühlte die Gegenwart von anderen in seinem Rücken, war aber unfähig, sich umzudrehen und sie anzusehen - noch hatte er den Wunsch, es zu tun. Der rechte Torflügel schwang weit genug auf, daß er hindurch schlüpfen konnte, kleine Rauch- oder Nebelschwaden quollen heraus. Diese Vision war so schnell und mit solcher -125-
Schärfe aufgetaucht, wie keine zuvor, und diesmal gab es kein Zweifeln, kein Zögern von seiner Seite. Er setzte sich sofort in Bewegung und betrat das Land, das dahinter lag. Das erste, was er sah, ihm zugewandt, nur ein kurzes Stück entfernt, war der Kopf. Auf einen zugespitzten Pfahl aufgepflanzt, die Augen noch geöffnet, grinste der Kopf eines der dämonischen Geschöpfe in seine Richtung. Er hatte das Gefühl, daß diese Zurschaustellung fast persönlich gemeint war, eine ganz besondere Warnung, die er in diesem Augenblick nur belustigend fand. Als er spürte, daß die Verwandlung begann, zwinkerte er dem grausigen Antlitz zu und erhob sich, geistergleich, in die Luft. Vom Wind aufgewirbelter Sand bewegte sich schlangenähnlich zwischen den Felsen unter ihm. Er schwebte nach Süden, wurde rasch schneller. Während das geschah, wuchs ein Jubel in ihm, bis er ihn mit einer Stimme wie von tausend Trompeten hinaus zu schreien verlangte. Er breitete seine dunklen Schwingen aus, gewaltig wie die Segel eines riesigen Schiffes und flog über die Ödländer, stieg in solche Höhen, daß seine Berge endlich sichtbar wurden. Er, Prodromolu, war erfüllt von der Traumerinnerung an sein anderes Leben, und er vergaß den Kopf und das Tor und das kleine Menschenwesen namens Pol Detson, von dem er vielleicht einmal geträumt hatte. Er brauchte nichts von alle dem. Als er den Gebirgszug erreichte, griff er ihn an wie einen Feind, kämpfte gegen Winde von der Stärke eines Orkans, die ihn an den Felsen zerschmettern wollten. Sechsmal versuchte er diese Höhen zu bezwingen und wurde zurück geschlagen. Beim siebten Mal blieb er Sieger, und seine Statue übergossen mit Honig, Gewürzen, mit Wein und mit Blut zerschellte bei dem Ruf, den er ausstieß. Wo immer sein Schatten auf das Land fiel, stürzten Häuser ein, seine Anbeter -126-
wurden siech und starben. Nyalith erhob sich wie ein Turm aus schwarzem Feuer vor ihm. Sie trafen sich über den Wassern des erstarrten Meeres und begannen den Tanz, der sie um die ganze Welt führen würde. Sterne regneten wie brennende Seelen vom Himmel, als die tosenden Winde sie den juwelenbesetzten Gürtel des Planeten entlangtrugen. Ihre Bewegungen wurden wilder durch den Tod von Königen und den Sturz von Tempeln. Er sprach wieder bei den Bergen aus Eis, und der Zauber des Tores wurde geformt, als Talkne, Schlange der Stillen Wasser, ihre zehntausend Jahre dauernde Reise beendete und sich aus den Tiefen erhob, um ihn zu suchen. . . Pol kannte das Geheimnis der Schlüssel und des Dunklen Gottes Versprechen einen Augenblick lang, als er plötzlich in seiner Zelle erwachte. Noch ganz im Bann des überaus lebendigen Traumgeschehens saß er kerzengerade auf der Bank und beobachtete die geisterhafte Erscheinung der Frau, die neben ihm stand. Sie hatte die Hände erhoben, ihre Lippen bewegten sich, farblose Augen erwiderten seinen Blick. Er machte Anstalten, sich zu erheben und streckte die Hand aus. Sie wich zurück, auf ihren bleichen Zügen erschien ein Ausdruck plötzlicher Angst. Er setzte sich wieder, bemühte sich um einen beruhigenden Gesichtsausdruck und versuchte ihr durch Gesten klar zu machen, daß sie nichts zu befürchten hatte. Sie blieb stehen. Schien ihn genau zu mustern. Langsam hob sie den Arm und deutete auf ihn. Dann drehte sie sich um, deutete auf die Rückwand der Zelle, wandte sich wieder zu ihm und schüttelte verneinend den Kopf. Er runzelte die Stirn, und sie wiederholte die Gesten. Dann streckte sie plötzlich alle fünf Finger der linken Hand aus und zwei der rechten. Sie schüttelte den Kopf und begann noch einmal von vorne. Er zuckte die Schultern und hielt ihr die Handflächen entgegen. Sie rang die Hände. Er stand auf, und sie wich zurück. Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie entfernte sich weiter von -127-
ihm. Er sah zu, wie sie die gegenüberliegende Wand erreichte und durch sie hindurch verschwand, nur der schwache Duft eines exotischen Parfüms blieb zurück. Er kehrte zu seiner Bank zurück und setzte sich, der Zwischenfall vermengte sich mit dem unterbrochenen Traum zu einer Art Halb-Wirklichkeit. Vielleicht hatte er sich alles nur eingebildet, überlegte er. Nur hatten ihre hohen Wangenknochen, große Augen, das kleine Kinn und die glatte Stirn unter den weiten Schwingen ihres Haares ein so genaues Bild ergeben. Er suchte, aber sie hatte keine Bänder zurück gelassen, mit deren Hilfe er ihre Realität überprüfen konnte. Er ging zur Tür der Zelle. Wie lange er geschlafen hatte, wußte er nicht genau. Er war immer noch müde, fühlte sich aber ein wenig frischer als vorher. Mit größter Wahrscheinlichkeit lagen jetzt sämtliche Bewohner der Burg in tiefem Schlaf. Deshalb schien ihm die Zeit günstig, mit seinen Nachforschungen zu beginnen. Er glitt auf die zweite Sichtebene hinüber, um die Wand neben der Tür zu untersuchen. Die Reaktion kam langsam, trübe. Er fühlte sich wie mit einer getönten Brille an einem nebligen Tag. Er richtete seinen Willen auf den Riegel an der anderen Seite der Tür, versuchte, ein Band zu finden, mit dem er ihn bewegen konnte. Langsam, sehr langsam, wurde ein grünliches Band sichtbar und verschwand wieder. Er forderte Macht von seinem Drachenmal. Aber das Mal pulsierte nicht. Er empfand nur ein Prikkeln, ein Jucken an seinem Unterarm. Das Band trieb wieder in sein Blickfeld, und er griff danach. Er konnte es nicht berühren. Es schwebte durch seine Finger, als wären sie gar nicht da. Dann verblaßte es wieder. Seine Augen begannen zu schmerzen. Er ließ die Hände sinken. Was hatte das zu bedeuten? fragte er sich. Das war das erste Mal, seit er in dieses Land gekommen war, daß die Macht ihn im Stich gelassen hatte. -128-
Konnte es sein, daß Larick etwas getan hatte, um sie unwirksam zu machen? Dann erinnerte er sich an das, was Larick über die Einführungszeremonie gesagt hatte - daß sie solche Auswirkungen haben könnte, daß man für einige Wochen selbst auf die einfachsten Arbeiten verzichten sollte. Trotzdem war vorher alles in Ordnung gewesen, als er Larick durch Avinconet folgte. Die Fähigkeiten mußten während dieser Periode Schwankungen unterliegen, stellte er mit einem Seufzer fest. Irgendwie konnte er nicht recht glauben, daß die Folgen auch ihn betreffen sollten. Seine Einweihung war eine Frau gewesen, eine Falle. Oder? Er hatte alle Rituale mitgemacht, hatte zu den richtigen Zeiten die angekündigten Erweiterungen des Bewußtseines erfahren. Konnte es sein, daß er die Zeremonien tatsächlich erfolgreich durchlaufen hatte, während er in ein Ungeheuer verwandelt wurde? Er schüttelte den Kopf und machte einen erneuten Versuch. Seine Augen schmerzten stärker, und seine Schläfen pochten. Sein rechter Unterarm brannte. Wieder erblickte er verschwommen das Band, konnte es aber nicht mit seinem Willen beeinflussen. Er kehrte zu der Bank zurück und deckte sich zu. Ehe er einschlief, dachte er lange über die Frau nach. Und diesmal war das einzige Traumbild, an das er sich später erinnern konnte, der grinsende Schädel auf dem Pfahl.
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IX
In gewisser Weise war es, vermute ich, bereichernd, obwohl ich mir über das »Wie« nicht ganz im klaren bin. Es gab mir etwas oder veränderte etwas in mir, aber ich weiß nicht was. Es führte auch dazu, daß meine Existenz mir in mancher Hinsicht noch rätselhaft wurde. Dennoch. . . Ich war nach Belken geeilt, diesem gewaltigen, schwarzen, glitzernden Steinriesen und bewegte mich durch den hohen Tunnel, den ich entdeckt hatte. In der obersten Kammer, bei dem Teich, blieb ich eine Weile, um nach zudenken. Dort spürte ich eine Art Kraft, die überall um mich herum vibrierte. Das war einerseits sehr verwirrend, andererseits fand ich es auf anderen Ebenen sehr beruhigend. Ich beschloß dann, die gesamte psychische Struktur innerhalb des Berges zu erforschen. Der Weg, dem die zukünftigen Zauberer von Station zu Station folgen würden, war durch magische Hinweise deutlich gekennzeichnet. Ich schwebte zu der zweiten Höhle und verblieb auch dort lange in Meditation. Wenn sie aus den dort vorhandenen ordnenden Kräften Nutzen ziehen konnten, warum nicht auch ich? Wie lange ich bei dieser und bei der nächsten Station verharrte, weiß ich nicht. Ziemlich lange, glaube ich, denn ich verlor mich in Träumereien und vergaß darüber rasch die Zeit. Mir kam erst der Gedanke, daß es spät geworden war, als ich ein Ansteigen der Kräfte, in denen ich mich sonnte, bemerkte. Schnell fand ich heraus, daß sie einem Kreis von Zauberern in der funkelnden Stadt entsprang. Gleichzeitig stellte ich fest, daß es draußen dunkel geworden war. Ich wußte, das bedeutete, daß die Einweihungszeremonien bald beginnen und die Kräfte -130-
während der ganzen Nacht weiter ansteigen würden. Ich begab mich zu der nächsten Station, um meinen Vorsprung beizubehalten. Jetzt wollte ich die Sache zu Ende bringen, denn ich hielt für möglich, daß dadurch in meinem Gedächtnis etwas ausgelöst würde und ich fände, was ich suchte. Etwas Seltsames geschah bei der vierten Station, denn ich hörte eine Stimme - bekannt und doch wieder nicht -, die scheinbar mich persönlich ansprach, vertraulich fast. »Faney«, sagte sie. »Faney.« Es war eine männliche Stimme, und es kam mir vor, als sollte ich genau wissen, was sie mit diesem Wort meinte. Sie klang ziemlich streng, als würde mir ein Befehl gegeben. Faney. War dies mein Name, durch die von Magie erfüllte Umgebung aus meiner verblaßten Vergangenheit herbei gerufen? Nein, das schien es nicht zu sein. Faney. . . »Faney!« - noch befehlender diesmal, gefolgt von einem wachsenden Pflichtgefühl, einem Verlangen, dem unverständlichen Befehl Folge zu leisten und der Enttäuschung, nicht dazu in der Lage zu sein. Ich dehnte mich aus und zog mich zusammen. Ich schwebte unruhig durch die Höhle, auf der Suche nach einem Weg, dem Befehl nachzukommen. »Faney!« Nichts. Es gab nichts, was ich tun konnte, was rasch zu einem unwiderstehlichen Drang ohne Ziel wurde. Also bewegte ich mich weiter. Und die Macht in dem Berg wuchs weiter. Aber der Druck milderte sich ein wenig bei der nächsten Station, und ich blieb dort lange Zeit. Wieder verlor ich jedes Zeitgefühl und wurde erst durch die nahenden Schritte der Kandidaten aus meinem tranceähnlichen Zustand gerissen. Beinahe träge schwebte ich zu der nächsten Station, um nicht von ihnen gestört zu werden. -131-
Die sechste schien beruhigender zu sein als alle vorher gegangenen. Ich breitete mich aus und sog die guten Schwingungen auf. Es schien kaum Zeit vergangen zu sein, bis ich sie wiederkommen hörte. Diesmal rührte ich mich nicht. Ich hatte nicht den Wunsch, diesen Ort zu verlassen und mir kam der Gedanke, daß es lehrreich sein könnte, zu erfahren, was bei den Zeremonien vorging. Ich sah sie eintreten und ihre Plätze einnehmen. Als er zu sprechen begann, fühlte ich mich eigenartig zu dem Mann namens Larick hingezogen. Ich durchforschte ihn und wußte dann, warum. Es war eine außerordentliche Entdeckung, und ich dachte immer noch über ihre Folgen nach, als meine Aufmerksamkeit auf Pol gelenkt wurde. Ich war überrascht, über die Veränderungen in seiner Erscheinung. Er ging weit vornübergebeugt, seine Hände waren riesig und schuppig. Ein rascher Blick unter seine Kleidung zeigte mir, daß seine Arme, obwohl sehr hübsch auf ihre massige, dunkle Art, nicht mehr SEINE Arme waren. Immerhin, das konnte ihm nicht verborgen geblieben sein, und wenn es ihn nicht störte, sah ich nicht ein, warum es mich stören sollte. Aber es störte mich. Weitere Nachprüfungen ergaben, daß er von all den Anwesenden der einzige war, dessen Körperbau verändert worden war. Während ich noch darüber nachdachte, begann eine weitere Verformung im Bereich seiner Schultern und Brust. Diesmal war ich in der Lage, der Sache auf den Grund zu gehen und entdeckte, daß Larick dafür verantwortlich war. Es war mir nicht möglich, den Grund dafür in seinem Bewußtsein zu erkennen, denn die Gedanken eines Zauberers werden undurchdringlich, sobald er mit der Macht arbeitet. Und die Gedanken der anderen enthielten nichts Wissenswertes, sie -132-
befanden sich durchweg in einer Art Trance. Ich wartete, bis sie mit diesem Teil des Rituals fertig waren, und folgte ihnen dann zu der nächsten Station. Ob ich den Grund nun herausfinden würde oder nicht, ich war entschlossen, die Art der magischen Veränderungen zu erforschen, die an Pol vorgenommen wurden. Ich beobachtete die nächste Verwandlung sehr genau und stellte fest, daß es sich eigentlich um einen Austausch handelte. Als Pols Bein durch eine längere, kräftigere Ausgabe ersetzt wurde, konnte ich die Verschiebung der Stoffe über den Berg hinaus verfolgen. Ich folgte der Spur, flog und wirbelte Straßen entlang, wo der Raum Falten schlug und die Zeit ein Strom war, mit vielen Biegungen und einigen Seen. Ich glaubte an das Tor aus Pols Traum, von dem ich einen kurzen Eindruck erhascht hatte. Und ich flog weiter, in die Ödländer dahinter, wo ich ein heulendesGeschöpf fand, dessen Körper jetzt halb menschlich war und mit einem Drachenmal versehen. »Bruder«, sprach ich es an, »trage es mit Geduld für eine kurze Zeit, denn es ist nur ein Ritus der Menschen.« Aber entweder konnte oder wollte es mich nicht verstehen. Es fuhr fort mit seinem Geschrei und schlug auf die veränderten Teile seines Körpers. Also versetzte ich es dort, in einem Dreieck stehender Steine, in einen tiefen Schlaf, womit ich sowohl Pol - als auch ihm - einen guten Dienst erwies, ohne mich besonders anzustrengen. Gleichzeitig versicherte ich mir selbst, daß dies eine notwendige Einmischung - meine erste - in die Angelegenheiten anderer war, um sicher zu stellen, daß die Dinge sich ungestört entwickelten und somit eine Anzahl rein intellektueller Bedürfnisse meinerseits befriedigten. Aber ich war mir dessen selbst nicht so sicher. Ich betrachtete das faszinierende Land einige zusätzliche Augenblicke lang, bevor ich wirbelnd die lange Rückreise antrat. Leuchtender Donner und laute Blitze, widersprüchlich -133-
über hufeisenförmigen Windungen. Als ich vorüberflog, flog ich in Negierung der Dinge zum Umkehrpunkt und zurück und fand diesmal Gedanken in Laricks Kopf über Avinconet und die, denen er diente. Und begann zu verstehen. Mit einer gewissen Befriedigung drehte ich mich um die eigene Achse und folgte ihnen dann zur nächsten Station. Dort beobachtete ich, wie auch Pols rechtes Bein ausgetauscht wurde. Es störte mich mehr als nur ein bißchen. Sein Bewußtsein war ebenso entrückt, wie das der anderen, was mich davon überzeugte, daß er ein hilfloses Opfer war. Nach dem Wenigen zu urteilen, das ich über Menschen wußte, schien Larick mir nicht sehr fair zu handeln, besonders nicht unter den gegebenen Umständen. Bei der nächsten Station geschahen noch einige Dinge zugleich mit der Veränderung von Pols Unterleib. Einer der Kandidaten fiel tot zu Boden. Er bedeutete mir natürlich nichts; aber ungefähr im selben Moment ertönte wieder das Wort »Faney«. Ich wartete auf Reaktionen von den anderen, aber vergeblich. Natürlich waren sie gerade mit dem Toten beschäftigt, was eine gewisse Ablenkung darstellte; trotzdem, es war sehr laut gewesen, und nach wenigen Augenblicken hörte ich es wieder. Und wieder. Es wurde zu einem stetigem Strom, erbarmungslos in seiner Endlosigkeit. Zuerst wehrte ich mich dagegen, aber dann hörte ich zu. Wie dumm von mir, zu glauben, daß die anderen es hören konnten, wenn so offensichtlich ich, und nur ich gemeint war. Ich hatte das Gefühl, daß ich auf irgendeiner Ebene zu verstehen begann. Und dann geschah etwas anderes. Die Leiche wurde weggeschafft, die Zeremonie ging weiter, Pols Körper veränderte sich. Aber nichts von alledem war im Moment besonders wichtig. Ich machte eine Veränderung durch, nicht physischer Art wie Pol, sondern es war ein Vorgang, der zu faszinierenden und vielschichtigen Überlegungen bezüglich -134-
des freien Willens und der Entscheidungsfreiheit Anlaß gab. Unglücklicherweise hatte ich gerade jetzt nicht die Zeit, mich ihnen hinzugeben, denn die Veränderang selbst nahm meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch: Ich hatte meine Meinung geändert. Solange ich zurück denken konnte, hatte ich eine unbestimmte, kaum durchdachte Haltung der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer eingenommen. Jezt plötzlich hielt ich sie mir vor Augen, begutachtete sie und beschloß, daß es an der Zeit war, eine Ausnahme zu machen. Mir gefiel nicht, was mit Pol geschah, aber ich verfügte nicht über das notwendige Wissen, um das Geschehene rückgängig zu machen. Trotzdem würde ich etwas unternehmen - was, das wußte ich nicht. Etwas, das ihm dabei half, wieder zu dem zu werden, was für ihn normal war, so daß er gegen seine Feinde vorgehen konnte, wie er es für richtig hielt. Ich dachte darüber nach, als wir zu der letzten Station hinabstiegen. Die Stimme, die das Wort »Faney« wiederholte, war verstummt. Wie vorauszusehen, verlor Pol seine Füße bei dem nächsten Halt. Ich erforschte Laricks Gedanken in den Augenblicken, in denen er keine magischen Handlungen vornahm. Ich sah, daß er beabsichtigte, Pol als Gefangenen nach Avinconet zu bringen, sobald die Zeremonien abgeschlossen waren. Als wir die letzte Station hinter uns ließen und in die große Höhle gelangten, sah ich zu, wie er Pol die Lähmung auferlegte und dann die anderen nach draußen begleitete. Meiner Ansicht nach konnte es mir vielleicht gelingen, Pol von dem Zauber zu befreien, der ihn dort in der Nische festhielt, aber ich war mir nicht sicher, wie ich ihm weiter helfen konnte. Ich folgte dem ersten der Eingeweihten nach draußen und beobachtete den letzten Teil der Zeremonien. Dann sah ich, daß eine Anzahl der Meister gekommen war, um ihre Schützlinge -135-
zurück in die Stadt zu begleiten. An einer vor Blicken geschützten Stelle saß Samtfinger und beobachtete den Höhleneingang. Natürlich. Noch während ich in die Höhle zurückkehrte, arbeitete ich an meinem Plan. Als ich aber den Zauberer entdeckte, der Pol damals zu mitternächtlicher Stunde besucht hatte, verhielt ich und wartete ab. Der Mann strömte große Macht aus. Er begann diese Macht zu benutzen. Ich sah, daß er sie benutzte, um die Verwandlung rückgängig zu machen. Sofort beteiligte ich mich daran, auf eine Art, die nicht bemerkt werden konnte. Von meiner Seite aus war es das reine Bedürfnis, solch gutes Material nicht verschwendet zu sehen. Den Kopf des Geschöpfes konnten seine Kameraden von mir aus auf einen Pfahl spießen. Ich machte Gebrauch von diesem Vorratsbeutel in Raum und Zeit, wie ich es Pol hatte tun sehen. Ich schaute zu, wie Pol wieder seine gewöhnliche Gestalt erhielt und dann erneut maskiert wurde. Es beeinflußte in keiner Weise meinen Plan, als ich erkannte, was er vorhatte. Er befand sich immer noch in großer Gefahr. Also suchte ich nach der Leiche Krendels, des rothaarigen Mannes, der kurz zuvor gestorben war. Da niemand ihn im Moment benutzte, drang ich in ihn ein und fing an zu erkunden, wie er funktionierte. Ich wollte ihn sobald als möglich im Griff haben, um Samtfinger, der draußen wartete, die Nachricht zu überbringen, die ich mir ausgedacht hatte.
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X
Der kleine Mann schlüpfte durch das goldene Loch in der Mitte des Raumes, und es begann sich hinter ihm zu schließen. Ein zusammen schrumpfender Lichtkreis, eine optische Täuschung, denn durch die Öffnung war nicht die andere Seite des luxuriösen Zimmers zu sehen. Statt dessen folgte das Auge der kleiner werdenden Gestalt des dunkel gekleideten Mannes, der diesen Weg genommen hatte, durch eine hohe, mit Gobelins ausgekleideten Halle zu einem Bogengang, an weißen und schwarzen Säulen vorbei. Dann schloß sich die schimmernde Öffnung, flackerte und war verschwunden. Ibal sank auf den Kissenstapel zurück, wo er kerzengerade gesessen hatte. Sein Atem ging plötzlich schnell und laut, Schweiß bedeckte seine Stirn. Vonnie, die neben ihm kniete, tupfte mit einem blauen Seidentuch über sein Gesicht. »Es gibt nicht viele«, sagte sie, »die den Türzauber so gut ausführen können.« Er lächelte. »Es ist anstrengend«, gab er zu, »und, um die Wahrheit zu sagen, ein Zauber, den ich eigentlich nie wieder benutzen wollte. Diesmal aber. . .« ». . . war es anders«, vollendete sie. Er nickte. »Was wirst du jetzt tun?« »Ausruhen«, antwortete er. »Du weißt, daß ich das nicht gemeint habe.« »Nun gut. Ausruhen und vergessen. Ich habe ihm geholfen. -137-
Meiner Ehre ist Genüge getan.« »Wirklich?« Er seufzte. »In meinem Alter ist das alles an Ehre, was ich mir leisten kann. Die Zeiten sind längst vorbei, in denen es mir Spaß gemacht hätte, in so etwas verwickelt zu werden.«Ihre Hände glitten durch sein Haar, sanken auf seine muskulösen Schultern herab, massierten sie eine Weile und dann half sie ihm, sich aufzusetzen. Sie hob einen kühlen Trank an seine Lippen. »Bist du sicher, die Angelegenheit richtig eingeschätzt zu haben?« erkundigte sie sich schließlich. »Die Götter wissen, was es sonst sein könnte!« sagte er. »Etwas ganz und gar Unnatürliches schickt Samtfinger zu mir, mit der Nachricht, daß der junge Mann, den ich unterstützte, der Sohn des alten Det ist und gerade von Ryle Merson entführt wurde. Die Ehre gebietet mir, etwas zu unternehmen, weil Ryle sich an dem Mann vergriff, den ich unterstützte. Ich habe etwas unternommen. Glücklicherweise war alles, was Samtfinger wollte, die Möglichkeit, schnell nach Rondoval zu gelangen - dabei habe ich ihm geholfen.« »Ist das wirklich genug?« »Schließlich ist er nicht mein Lehrling. Ich habe dem Mann nur einen Gefallen getan. Ich kannte ihn kaum.« »Aber. . .«, fing sie an. »Das ist alles«, erwiderte er. »Aber das meinte ich nicht.« »Was dann?« »Die Dinge, von denen du anfangs gesprochen hast - könnten sie wahr sein?« »Ich habe vergessen, was ich sagte.« »Du sagtest, dies sei eine Fortsetzung von etwas, das begann, -138-
ehe Pol geboren wurde. . .« »Ich vermute, daß es so ist.« ». . . die Vorgänge, die zu den Kriegen führten.« Er nahm den Pokal und leerte ihn. »Ja, das glaube ich«, sagte er dann. »Etwas, das die ganze Angelegenheit wieder aufleben lassen könnte?« Er zuckte die Schultern. »Oder beenden. Ja. Ich glaube, daß das der Fall sein könnte oder daß Ryle glaubt, daß es der Fall sein könnte. Kommt aufs selbe hinaus.« Er stellte den Pokal beiseite, hob die Hände und betrachtete sie. »Pol hat offensichtlich das Interesse von etwas Mächtigem und Übernatürlichem erregt«, sagte er, »und kann außerdem auf die Hilfe seines Freundes rechnen.« »Ich sprach nicht von Pol. Ich überdachte die ganze Situation, von der das nur ein Teil ist. Dieser Ort ist voll mit wichtigen Ausübenden der Kunst. Es ist die einzige Gelegenheit in vier Jahren, wo sie alle zusammen sind. Bist du nicht der Meinung, daß wir ihnen Mitteilung machen sollten?« Ibal fing an zu lachen. »Denk mal in Ruhe darüber nach«, sagte er endlich. »Ich glaube, das wäre das Schlimmste, was wir tun könnten. In diesem Zwist hatten beide Seiten Verlockendes zu bieten. Einige wollten daraus Nutzen ziehen, einige nicht. Glaubst du wirklich, wir würden eine Übereinstimmung erreichen? Wir können mit dem nächsten Krieg gleich hier anfangen, wenn du möchtest.« Sie hatte sich steif aufgerichtet, während er sprach, und ihre Augen weiteten sich. »Götter!« sagte sie. »Du könntest recht haben.« -139-
»Also warum vergißt du die ganze Sache nicht?« meinte er abschließend. Er griff nach ihrer Hand. »Und ich weiß auch, wie das am besten zu bewerkstelligen ist.« »Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen«, sagte sie. Samtfinger blickte nicht zurück. Er nahm die Zauberei, die ihn nach Rondoval gebracht hatte, als einen Teil des Lebens hin. Wenn Magie gegen ihn angewandt wurde, war das äußerst unangenehm. Wenn sie ihm nützte, war er dankbar. Bis er Pol getroffen hatte, hatte er es im allgemeinen vermieden, die Aufmerksamkeit von Magiern zu erregen, da er sie - nicht ganz zu Unrecht - als nicht eben vertrauenswürdige Gesellen betrachtete. Er bedachte Dwastir, den Gott der Diebe, mit einigen Dankesworten dafür, daß Ibal sich als hilfsbereit erwiesen hatte, während er die große Halle durcheilte und dann die Treppe hinunterlief. Er fand das Bündel Fackeln, die Pol für ihn vorbereitet hatte und sprach die notwendigen Worte darüber. Ohne weiter zu zögern, schritt er dann durch das Labyrinth der Gänge, in Richtung der Höhlen, wo er einen längeren Schlaf getan hatte, als er Menschen gewöhnlich zugestanden wird. Lange Zeit wanderte er durch die kühlen Gewölbe der tanzenden Schatten, bevor er das Tor erreichte, wo die Splitter der großen Steinplatte, die Pol umgestürzt hatte, den Boden bedeckten. Sich einen Weg zwischen dem Geröll suchend, betrat er eine Höhle, wo die Entfernung jeden Laut verschluckte und die Decke und Wände nicht mehr zu sehen waren. Eine Höhle, wo die Ausdünstungen der Tiere schwer in der Luft hingen und die Fackel in unstetem Luftzug flackerte. Auch hier kannte er den Weg und bewegte sich mit sehr viel weniger Unbehagen, als es noch vor einigen Monaten der Fall -140-
gewesen wäre. Die riesigen, bewegungslosen Hügel der schuppigen und pelzigen Leiber erhoben sich überall, viele tief in einem magischen Schlummer befangen, andere verschliefen ihre gewöhnliche, Tage, Wochen oder Monate dauernde Ruhezeit. Er fragte sich, während er zu der vertrauten Nische unterwegs war, ob er den, den er suchte, tatsächlich dort finden würde. Er konnte überall sein und seine Abwesenheit Samtfinger nötigen, einen der anderen zu wecken - ein Gedanke, der ihm nicht behagte. Da er zwanzig Jahre lang denselben Schlafzauber mit Mondvogel geteilt hatte, hatte sich zwischen ihm und dem riesigen Drachen eine eigenartige Beziehung entwickelt, die beinahe als Freundschaft zu bezeichnen war. Bei einem der anderen würde er komplizierte Erklärungen abgeben müssen, vielleicht beginnend bei seiner eigenen Person. Nein, der Gedanke gefiel ihm ganz und gar nicht. Als er sich der Stelle näherte, wo Mondvogel gewöhnlich schlief, stieß er mit der Schulter gegen einen unerwarteten Felsvorsprung. SAMTFINGER! ES IST LANGE HER! Er stolperte zurück. Es war die Schulter eines Drachen und kein Felsen, gegen die er gestoßen war. Er erholte sich rasch und legte die Hände auf die Haut des Tieres. »Ja, ich bin zurück gekommen«, erwiderte er. »Es gibt Schwierigkeiten. Wir brauchen deine Hilfe.« Der gewaltige Leib bewegte sich unter seinen Händen, sie glitten über die harten, glatten Schuppen. Mondvogel richtete sich auf. WAS IST ES? fragte er. »Wir müssen zum Amboßberg, Pols Szepter holen und es ihm bringen.« ER HAT ES IN DEN KRATER GEWORFEN. DAS HAT ER -141-
MIR GESAGT. »Mir auch, außerdem. . .« ABER ICH BIN DORT GEWESEN, UND DIE FEUER SIND ERLOSCHEN. ALLES IST JETZT GRAUER FELS. ICH WEISS NICHT, WIE TIEF ICH HINEINGRABEN KÖNNTE. BESORGE WERKZEUG. Samtfinger überlegte einen Moment. »Es gibt da einen Raum am Innenhof«, sagte er und übermittelte Mondvogel das Bild. »Ich werde zurückgehen und mir die Werkzeuge ansehen. Wir treffen uns im Hof.« ES GINGE SCHNELLER, WENN ICH DICH HINBRINGEN WÜRDE. »Nun. . .« STEIG AUF! Samtfinger krabbelte auf seinen Rücken. Minuten später schwebten sie durch die Dunkelheit.
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XI
Pol wurde von dem Licht geweckt, das auf sein Gesicht schien. Einige Male warf er den Kopf herum, um ihm auszuweichen, dann saß er plötzlich mit offenen Augen kerzengerade auf der Bank. Die Tür seiner Zelle stand weit offen. War jemand zu ihm gekommen und dann für einen Moment abgelenkt worden? Er lauschte. Auf dem Gang bewegte sich nichts. Vorsichtig stand er auf. Er ging durch den Raum zu der Stelle, wo er vorher mit brennenden Augen gestanden und vergeblich seine magischen Kräfte angestrengt hatte. War dies ein Trugbild, um ihn zu quälen? Er streckte die Hand durch die Öffnung, berührte die Tür. Sie bewegte sich etwas. In diesem Augenblick fühlte er die Essenz eines spöttischen Lachens, lautlos. Es schien, als amüsierte etwas vage Bedrohliches sich über seine Verwirrung, seine Furcht - etwas, das auf einer Ebene der Wirklichkeit existierte, die nicht mit der seinen übereinstimmte. Er stand bewegungslos, wartete, aber nichts geschah. Schließlich trat er auf den Gang hinaus. Er war leer. Was jetzt? dachte er. Sollte er den Weg einschlagen, auf dem er Larick beobachtet hatte? Sollte er losgehen und einen anderen Teil der Burg erkunden? Oder sollte er sich im Burghof eines der fliegenden Geschöpfe bemächtigen oder fliehen? Letzteres erschien ihm am vernünftigsten: Fliehen, sich verbergen und warten, bis seine magischen Kräfte wieder auflebten. Dann konnte er nach Rondoval zurück kehren, seine dämonischen Horden wecken und mit ihnen hierher kommen, -143-
wie er zum Amboßberg gekommen war - um den Ort zu zerstören. Das war sinnvoller, als machtlos und unterlegen in der Burg eines Feindes zu bleiben. Er wandte sich in die Richtung des Hofes mit den Käfigen. Dann blieb er stehen. Sein Weg wurde von einem Vorhang aus blassen Flammen versperrt. »Also habe ich doch nicht die Wahl«, sagte er leise. HATTEST DU SIE JE? meldete sich die vertraute, ironische Stimme in seinem Kopf. »Ich nehme an, das wird sich herausstellen.« WIE BEI FAST ALLEN DINGEN, kam die Antwort, begleitet von andeutungsweise versöhnlichen Schwingungen. »Ich konnte nie herausfinden, ob ihr Feinde seid oder Verbündete.« WIR SIND WERKZEUGE. WIR HABEN DIR EINMAL GEHOLFEN. »Und das nächste Mal. . . ?«WAS GIBT DIR GRUND, AN DENEN ZU ZWEIFELN, DIE DIR IN DER VERGANGENHEIT GEHOLFEN HABEN? »Das Gefühl, daß ich in etwas hineingestoßen wurde.« ICH WÜRDE EHER SAGEN, DASS WIR DICH HERAUSGEZOGEN HABEN. »Darüber ließe sich streiten. Aber ihr behauptet, Werkzeuge zu sein. Werkzeuge wessen?« DER VERÄNDERUNG. »Das ist ein zu umfassender Begriff. Könntest du dich genauer ausdrücken?« ZWEI DER MÄCHTE, DIE AUF DIESER WELT WIRKSAM SIND, SIND WISSENSCHAFT UND MAGIE. MANCHMAL STEHEN SIE SICH FEINDLICH -144-
GEGENÜBER. WIR SIND AUF DER SEITE DER MAGIE. »Diese Burg wirkt nicht gerade wie eine Festung der Technik.« DAS IST SIE AUCH NICHT. HIER FINDET KEINE DIREKTE KONFRONTATION STATT. »Gottverdammt! Aus euch eine klare Antwort herauszuholen ist ungefähr so schwierig, wie eine Wildkatze zu melken! Warum könnt ihr mir nicht einfach sagen, was hier stattfindet?« DIE WAHRHEIT IST EIN SO HEILIGES DING, DASS WIR SIE GUT BEWAHREN. »Ich glaube, daß ihr auf meine Mitarbeit aus seid.« DAS IST DER GRUND, AUS DEM WIR DIR JETZT WIEDER HELFEN. Pol versuchte auf die zweite Sichtebene über zu wechseln. Diesmal schien es keine Schwierigkeiten zu geben. Mit ihrer Hilfe entdeckte er die Umrisse einer menschlichen Gestalt in der Flamme - klein, männlich, den Kopf gebeugt, die Hände in den weiten Ärmeln verborgen. Ein orangefarbenes Band schwebte in der Nähe von Pols rechter Hand, das andere Ende verschwand in der Flamme. Er griff es mit den Fingerspitzen und wirbelte es einige Male herum. Das Drachenmal pulste an seinem Unterarm. »Jetzt wirst du mir sagen, was ich wissen will. . .«, begann er. Seine Hand fühlte sich an, als stünde sie in Flammen. Er unterdrückte einen Schrei und wurde von dem Schmerz in die Knie gezwungen. Die zweite Sicht entglitt ihm. Der ganze Arm tat ihm weh. WIR LASSEN UNS NICHT AUF DIESE ART ZWINGEN, kam die Antwort. »Ich werde die richtige Art noch finden«, sagte er zwischen -145-
zusammengebissenen Zähnen. ES WÄRE SEHR VIEL EINFACHER UND WÜRDE SEHR VIEL ZEIT SPAREN, WENN DU DIR VON UNS ZEIGEN LASSEN WÜRDEST, WIE DIE DINGE STEHEN, STATT DASS WIR DIE GANZE NACHT DAMIT VERBRINGEN, ES DIR ZU ERKLÄREN. Pol stand auf, mit der gesunden Hand hielt er seinen schmerzenden Arm. »Ich nehme an, das ist das beste Angebot, das ich heute nacht von euch bekommen kann.« ALLERDINGS. DREH DICH UM UND FOLGE DEM ANDEREN. Pol wandte sich um und erblickte eine zweite Flammenzunge. Sie war nur so groß wie seine Hand und hing ungefähr acht Schritte vor ihm in der Luft. Sofort nachdem er den Blick darauf gerichtet hatte, entfernte sie sich von ihm. Er folgte ihr. Sie führte ihn durch eine Halle voller grotesker, menschlicher und nichtmenschlicher Statuen, über denen ein mattes rotes Leuchten lag, ein weicher, beinahe atmender Schimmer, den vielleicht die Flamme verbreitete und der den Eindruck erweckte, daß all die steinernen Gestalten anfingen, sich zu bewegen. Die Luft war schal, und er hielt den Atem an, bis sie die Halle verlassen hatten. Das Leuchten zeigte sich auch in einigen der anderen Gemächer und Gänge, aber jetzt fehlte ihm der Anschein von Bedrohlichkeit, die er jenem Raum und jenen Steinbildern verliehen hatte. Sein Drachenmal hatte zu pulsieren begonnen, als sie die Halle betraten und hörte erst wieder auf, als sie sich ein gutes Stück davon entfernt hatten. Er stieg mehrere Treppen hinab, von denen jede schlechter war als die vorige, ging durch feuchte Zimmer und lange Gänge, die, nach der Anzahl der Treppen zu urteilen, tief unter der Burg -146-
liegen mußten und aus dem lebenden Fels herausgeschlagen waren. Gelegentlich wagte Pol einen Blick über die Schulter und bemerkte, daß die andere Flamme nirgends zu sehen war. Er bemerkte aber auch, daß die Schatten sich in seinem Rücken auf eine irgendwie flüssige, beinahe lebendig wirkende Art bewegten, was ihn mehr als nur ein bißchen aus der Fassung brachte. Er beeilte sich, mit seinem Führer Schritt zu halten. Die dicken Staubschichten in den Räumen und Gängen waren ein Beweis dafür, daß sie lange nicht benutzt waren, eine Tatsache, die er durchaus beruhigend fand, als sie durch einige Zimmer gingen, bei denen es sich nur um Folterkammern handeln konnte - bei dieser Sammlung von Ketten, Streckbänken, Zangen, Gewichten, Geißeln, Peitschen, Hämmern und einer großen Auswahl an eigenartig geformten Klingen. Alle hatten sie Flecken, Roststellen oder beides, unter dem erquickenden Mantel von Staub. Knochen lagen in den Ecken, schon vor langer Zeit von Ratten abgenagt und jetzt trocken, brüchig, rissig und verblaßt. Pol strich mit den Fingerspitzen über eine Wand und hörte den Widerhall längst verklungener Schreie. Als er in die zweite Sicht hinüberglitt, empfing er in seinem Unterbewußtsein Eindrücke von Grausamkeiten, die vor langer Zeit begangen wurden, aber das Entsetzen hatte die Mauern durchdrungen. Hastig wechselte er wieder auf die normale Sichtebene über. »Wer. . .«, flüsterte er, mehr zu sich selbst, »war verantwortlich für diese Dinge?« DER DERZEITIGE HERR, RYLE MERSON, kam die Antwort. »Er muß ein Ungeheuer sein!« FRÜHER EINMAL WAREN SOLCHE DINGE HIER ALLTÄGLICH. ABER SEIT FAST EINEM VIERTELJAHRHUNDERT ENTHÄLT ER SICH ALL SOLCHER BETÄTIGUNGEN UND BEHAUPTET, BEREUT -147-
ZU HABEN. MAN SAGT, DASS ER SEITHER EIN ZIEMLICH TADELLOSES, VIELLEICHT SOGAR TUGENDHAFTES LEBEN FÜHRT. »Ist es wahr?«WER KANN SAGEN, WAS IN DEM HERZEN EINES MENSCHEN VERBORGEN IST? VIELLEICHT WEISS ER ES SELBST NICHT EINMAL SICHER. »Du machst mir das alles hier noch unverständlicher. Ich gebe zu, daß ich voreingenommen bin, aber ich kann die Art, wie er mich behandelt, weder als tugendhaft noch tadellos bezeichnen und das gilt auch für seinen Lakeien, Larick.« MENSCHEN HABEN GRÜNDE FÜR DIE DINGE, DIE SIE TUN. MOTIV UND WIRKLICHKEIT SIND SELTEN VON DERSELBEN MORALISCHEN FARBE. »Und wie ist es mit dir, was immer du sein magst?« WIR SIND WEDER MORALISCH NOCH UNMORALISCH, DENN IN UNSEREN HANDLUNGEN HABEN WIR KEINE WAHL. »Aber irgendwas führte euch auf den Weg, dem ihr jetzt folgt. Es hat mit einer Entscheidung angefangen.« SO SIEHT ES AUS. Und Pol spürte eine Spur von Ironie in diesen Worten. »Es wird immer noch nichts verraten, nicht wahr?« NICHTS. Sie gingen an einer faulig riechenden Zisterne vorbei, in der etwas plätscherte. Der Boden einer Nische unter einem Luftschaft war dick mit den Exkrementen und zerbrechlichen Skeletten von Fledermäusen bedeckt. Mulden im Boden enthielten Wasser. Die Wände waren feucht, und Pol hatte das Gefühl, daß gewaltige Massen Fels und Erde unmittelbar über seinem Kopf hingen, durchdrungen von dem tiefen, lang gezogenen Stöhnen zeitloser Spannung. -148-
Er dachte über die kurze Unterhaltung nach und erinnerte sich an die Behauptungen der Sieben, nach der Schlacht auf dem Amboßberg, aus denen er entnommen hatte, daß sie ihr Handeln selbst bestimmten. Wenigstens waren sie konsequent in dem Wenigen, was sie preisgaben. Aber er hatte das Gefühl, daß es da noch etwas gab, an das er sich eigentlich erinnern sollte, etwas beinahe Traumähnliches. . . Der Versuch, sich zu entsinnen, endete, als er um eine Ecke bog und stehenblieb. Ob er sich an dem Eingang zu einem Gang oder Zimmer befand, vermochte er nicht zu sagen. Was vor ihm lag, war durch einen Dunstschleier kaum zu erkennen. Die Flamme hielt an, als er stehenblieb, und sie schien ihm viel näher zu sein, auch leuchtete sie heller und hatte eine grünliche Färbung angenommen. »Was zur Hölle«, fragte Pol, »ist das?« NUR EINE BEGRENZTE ÄTHERISCHE STÖRUNG. »Ich glaube nicht an den Äther.« DANN NENN ES WIE DU WILLST. VIELLEICHT WIRD DIR EIN ZUKÜNFTIGER LEXIKOGRAPH EINE FUSSNOTE WIDMEN. WIR WISSEN, DASS DU IN EINER WELT AUFGEWACHSEN BIST, WO ALLES ANDERS WAR. »Verdammt will ich sein. So nahe bin ich noch nie dran gewesen, einen von euch aus der Fassung zu bringen. Also kennt ihr meine Vergangenheit?« WIR WAREN ANWESEND, ALS DU DIESE WELT VERLASSEN HAST. WIR WAREN ANWESEND, ALS DU ZURÜCKKAMST. »Interessant. Deine Andeutungen bringen mich fast zu der Überzeugung, daß ihr nicht wißt, wie es auf der Welt aussah, wo ich aufwuchs.« RICHTIG, OBWOHL WIR IN DER LAGE SIND, AUS -149-
DEINEN HANDLUNGEN UND REAKTIONEN SCHLÜSSE ZU ZIEHEN. ZUM BEISPIEL, DEINE OFFENSICHTLICHE VERTRAUTHEIT MIT TECHNISCHEN DINGEN. . . Das Licht vor ihm erlosch. Pol stand bewegungslos im Halbdunkel und starrte in den schwach leuchtenden Nebel. Er lauschte seinem Herzschlag und überlegte, ob er sein Drachenlicht herbeirufen sollte. Einen Augenblick später erschien eine blaue Flamme vor ihm in der Luft, nahe der Stelle, wo sich die andere befunden hatte. KOMM JETZT! Die Stimme klang weiblich, ungeduldig. »Was wurde aus meinem anderen Führer?« fragte er. ER REDETE ZUVIEL. KOMM! Pol dachte darüber nach. Hatte er endlich eine schwache Stelle in ihrer Rüstung entdeckt?»Ich war wohl ziemlich nahe an etwas dran, von dem ihr nicht wollt, daß ich es erfahre, eh?« Es kam keine Antwort. Die blaue Flamme entfernte sich langsam von ihm. Pol machte keine Anstalten, ihr zu folgen. »Weißt du, was ich denke?« sagte er. »Ich denke, daß ihr mich braucht, weil ich der Sohr. meines Vaters bin, und er euch schuf. Zwischen euch und Rondoval besteht eine ganz besondere Bindung, und nur ich kann euch schützen.« DU IRRST DICH. »Ich glaube nicht, daß es euch gefällt«, fuhr er fort, ohne auf den Einwurf zu achten, »denn, trotz all eurem Gerede von der Unfreiheit des menschlichen Willens, wuchs ich in einer anderen Welt auf, von der ihr wenig oder gar nichts wißt, und meine Reaktionen könnt ihr nicht voraus berechnen, wie es bei jemandem möglich wäre, der sein ganzes Leben in dieser Welt verbracht hat. Ich bin für euch ein größerer Unsicherheitsfaktor, als euch lieb ist, aber trotzdem seid ihr gezwungen, euch an mich wieder zu halten. Heute nacht wollt ihr versuchen, mich -150-
auf irgendeine Weise zu beeindrucken, um mich euren Plänen geneigter zu machen. Ich sage euch jetzt gleich, daß ich Dinge gesehen habe, neben denen das Geschehen am Amboßberg ein Kinderspiel war. Ich bin entschlossen, mich von nichts beeindrucken zu lassen, was immer ihr euch ausgedacht haben mögt.« BIST DU FERTIG? »Für jetzt.« DANN LASS UNS WEITERGEHEN. Die Flamme schwebte langsam weiter. Pol folgte ihr. Sie schien sich nach links zu wenden, aber in seinem Blickfeld gab es nichts, das ihm ermöglicht hätte, Richtungen zu bestimmen. Er trottete weiter, und der schwach leuchtende Nebel wogte und brodelte um ihn herum. Unkenntliche Schatten begannen sich darin zu bewegen. Er wechselte ständig die Richtung. Seine Schritte klangen dumpf. Pol konnte mit Sicherheit sagen, ob er sich durch einen langen, gewundenen Gang bewegte oder ob er im Kreis durch einen großen Raum wanderte. Da er keine Wände ausmachen konnte, hielt er letzteres für wahrscheinlich, aber bestimmt wußte er es nicht. Die Schatten, die ihn verfolgten, wurden dunkler, Umrisse deutlicher. Einige waren unverkennbar menschlich, andere nicht. Die Silhouette eines Drachen tauchte für einen Augenblick über ihm auf, als flöge er in großer Höhe vorüber. Es kam ihm vor, als würde sich eine große Anzahl von Personen um ihn bewegen, lautlos, unterschiedlich weit von ihm entfernt. Er versuchte, in die zweite Sicht überzuwechseln, aber nichts änderte sich. Plötzlich ragte unmittelbar vor ihm eine Gestalt auf - groß, untersetzt, mit beginnender Glatze und mächtigen, geschickten Händen. Die Flamme hüpfte an ihr vorbei und wartete vielleicht irgendwo in der Nähe. -151-
»Paps!« sagte Pol und blieb stehen. Der Mund seines Stiefvaters verzog sich zu einem angedeuteten Grinsen. »Was, zum Teufel, treibst du eigentlich in dieser gottverlassenen Gegend?« sagte er. »Ich brauche dich zu Hause, im Geschäft. . .« »Du bist nicht wirklich. . .«, sagte Pol. Aber Michael Chain wirkte durchaus lebendig. Sein Gesichtsausdruck, die Art, wie er sprach, waren genau die eines Michael Chain mit ein paar Drinks im Leib und einer Menge angestaubtem Ärger, den er loswerden wollte. »Du bist eine Enttäuschung für mich. Immer gewesen.« »Paps. . . ?« »Mach ruhig weiter mit deinen albernen Spielen. Brich deiner Mutter das Herz.« Eine wegwerfende Bewegung. Der große Mann wandte sich ab. »Paps! Warte!« Er verschwand im Nebel. »Das ist eine Täuschung«, sagte Pol und starrte wütend auf die Flamme. »Ich weiß nicht, wie du es gemacht hast, noch, was es bedeuten soll, aber es ist eine Täuschung!« DAS LEBEN IST VOLLER TÄUSCHUNG. VIELLEICHT IST DAS LEBEN SELBST EINE TÄUSCHUNG. Er wandte sich ab. »Warum stehen wir hier im Dunkeln? Ich dachte, du wolltest mich an einen wichtigen Ort bringen?« DU BIST ES, DER STEHENBLIEB. »In Ordnung. Gehen wir.« Betty Lewis stand in einem engen, tiefausgeschnittenen Kleid mit gerunzelter Stirn links von ihm. Ihre Haut sah so echt aus. . . -152-
»Du hättest anrufen können«, sagte sie. »Vielleicht war unsere Beziehung nichts so Besonderes, aber du hättest wenigstens›Auf Wiedersehen‹sagen können.« »Ich konnte nicht«, wehrte er sich. »Es gab keine Gelegenheit.« »Genau wie all die anderen«, meinte sie, der Nebel schob sich zwischen sie und ihn, und sie war verschwunden. »Ich merke, was du vorhast«, sagte Pol zu der Flamme, »aber es wird nicht gelingen.« ES IST DIE EIGENART DIESES ORTES. DU TUST DIR DAS ALLES SELBER AN. Pol tat einen Schritt nach vorn. »Du hast mich hierhergebracht.« »Pol?« ertönte eine vertraute Stimme zu seiner Rechten und ließ ihn frösteln. »Zur Hölle mit dir!« sagte er, ohne sich umzuschauen. »Laß uns gehen, Flamme.« Gehorsam setzte das bläuliche Licht sich in Bewegung, und er folgte ihm. Der Schatten blieb an seiner rechten Seite, kam näher. »Pol!« Er sah nicht hin. Aber ein Arm streckte sich in sein Blickfeld muskulös, dicht mit rostfarbenem Haar bewachsen, ein breites Armband am Gelenk, das mit Tasten, Anzeigen und Lichtern besetzt war -, und selbst, als er ihn sah, glaubte er noch nicht, daß es Wirklichkeit war. Bis die Hand sich auf seinen Arm legte, ihn packte, festhielt, umdrehte. »Ich fühle deine Hand«, sagte er langsam. »Ich fühlte deinen Zorn«. erwiderte der andere. Pol hob den Blick um das einst hübsche, derbe Gesicht Mark -153-
Maraksons zu betrachten, verunstaltet durch das künstliche Auge auf der linken Seite, das tiefblau glitzerte. »Du hast mir keine Wahl gelassen«, erwiderte Pol. »Du hattest meinen Namen, meine Eltern. Du hast mir mein Mädchen genommen. . .« »Das kann nicht sein!« sagte Pol. ». . . und mein Leben«, vollendete Mark, und dann färbte das Auge sich schwarz, und sein Fleisch rötete sich und zerplatzte und begann sich abzulösen. Pol schrie. Die Hand, deren Knochen jetzt sichtbar wurden, glitt von seinem Arm. Die Gestalt schritt rückwärts in den Nebel - die schwarze Augenprothese war jetzt Teil eines Totenschädels -, und dann war sie verschwunden. Pol begann zu zittern. Er legte die Hände vor sein Gesicht und ließ sie wieder sinken. Nora stand, wo Mark gestanden hatte. Ihr Gesicht war ausdruckslos. »Es ist wahr«, sagte sie. »Du hast den Mann getötet, den ich liebte.« Sie drehte sich um und ging davon. »Warte!« Er rannte, streckte die Arme nach ihr aus, aber ihr Schatten verlor sich zwischen den anderen. Immer noch versuchte er sie zu erreichen, lief in diese Richtung, dann in die andere. »Komm zurück!« POL! BLEIB STEHEN! DU DARFST DICH HIER NICHT VERIRREN! Wieder drehte er sich um, und Mor stand vor ihm, auf seinen Stab gestützt. »Um der Dinge willen, die ich für dich voraussehe, wünschte -154-
ich, daß ich dich nie zurückgeholt hätte«, sagte der Zauberer. »Es wäre besser gewesen, Mark hätte überlebt, als daß du die Dinge tust, die du tun wirst.« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, meinte Pol. »Wenn es etwas gibt, das ich wissen sollte, sage es mir.« Mor verschwand in einer Wolke aus Feuer. BLEIB BEI MIR! ertönten die Worte aus der Flamme. DAS KÖNNTE AUSSER KONTROLLE GERATEN! »Wessen Kontrolle?« fragte Pol und wandte sich ab. Stel, der Kenatuer, blickte ihm in die Augen. »Du willst uns betrügen«, sagte sie, »obwohl du bei deinem Szepter geschworen hast, es nicht zu tun.« »Ich habe euch nicht betrogen«, antwortete er. »Verderbter Sohn eines verderbten Vaters!« Pol kehrte ihr den Rücken und ging davon. KOMM ZURÜCK! - beinahe ein Flehen. Die riesige, hundsköpfige Gestalt, die er in der Pyramide bekämpft hatte, erhob sich plötzlich vor ihm. DIEB! ZERSTÖRER DES DREIECKS VON INT! ertönte seine Gedankenbotschaft. »Ich habe nichts gestohlen. Ich nahm nur, was mir zustand.« ICH HABE FLÜCHE FÜR DIEBE, DIE SIE BIS ANS ENDE IHRER TAGE VERFOLGEN! »Scheiß auf deine Flüche!« erwiderte Pol. »Ich habe dich einmal geschlagen. Und auch jetzt habe ich keine Angst vor dir.« Er tat einen Schritt in Richtung der drohenden Gestalt. HALT! SIE GEWINNEN AN MACHT! ER KANN DICH WIRKLICH ANGREIFEN! kamen die Worte aus der Flamme, die in diesem Augenblick zwischen ihnen auftauchte. Der Hundsköpfige hob seinen rechten Arm. Pol wirbelte -155-
herum und lief. HALT! Ein kleines Geschöpf tauchte auf. Es war weiß, hatte lange Ohren und trug eine Weste. Seine Nase zuckte. »Wieder zu spät!« sagte es. »Das kostet mich den Kopf, so sicher wie die Hölle warm ist!« Es blickte an Pol hinauf. »Deinen auch«, fügte es hinzu, bevor es davonhüpfte. Pol lief weiter. BLEIB STEHEN! AN DIESEM ORT. . . Er rannte beinahe in den Mann hinein. Es war der namenlose Zauberer, mit dem er in Rondoval gekämpft hatte. Pol wich vor ihm zurück. Der Zauberer hob die rechte Hand, in der ein feuriges Messer auftauchte. Er schleuderte es auf Pols Brust. Pol warf sich zur Seite und überschlug sich am Boden. Er rollte weiter, bis er sich weit genug von ihm entfernt hatte. Einige Augenblicke blieb er schweratmend liegen, dann rappelte er sich auf. Ein anderer Mann erschien, kam schnell näher und blieb vor ihm stehen. Es war eine hochgewachsene, königliche Gestalt, mit einer einzelnen schwarzen Strähne in der Mähne weißer Haare. Pol bemerkte sofort, daß die Gesichtszüge seinen ähnelten. »Du bist. . .«, sagte Pol. »Det Morson, dein Vater«, kam die Antwort. »Na, dann verfluche mich und verschwinde«, meinte Pol. »So läuft das Spiel hier oder nicht?« »Ich bin kein Teil des Spiels hier. Ich ziehe nur meinen Nutzen daraus.« Seine rechte Hand hob sich und strich leicht über Pols Wange. »Welchen Weg du immer einschlägst, wie immer deine Entscheidung ausfällt, wie immer die Dinge sich entwickeln«, sagte er, »dein wirklicher Feind wird der Freistab -156-
sein.« »Welcher Freistab? Ich dachte, das sei ein Sammelbegriff für.. .« »Henry Späher ist der größte der Freistäbler und nur unter diesem Namen bekannt.« »Was ist das für ein Name, Henry Späher? In dieser Welt. . .« Die Flammenzunge sprang zwischen ihnen auf. ZURÜCK, DET! ZURÜCK IN DEINE UREIGENSTE HÖLLE! ertönte die Stimme aus dem Feuer. DEINE MACHT ÜBER UNS IST ERLOSCHEN! Det hob die Hände und kreuzte die Arme über der Brust. Wie eine plötzliche Krankheit zehrten Flammen an den Umrissen seiner Gestalt. Unvermittelt hob er jedoch den Kopf und sah Pol an. »Belphanior«, sagte er. »Erinnere dich deren in Zeiten der Not.« Pol öffnete den Mund, um ihn zu fragen, aber Det verschwand in einem Wirbel aus Feuer und Wind. Die Flamme, die vor ihm schwebte, begann zu schrumpfen, bis sie wieder ihre vorherige, kleinere Gestalt angenommen hatte. WAS MEINTE ER DAMIT? fragte sie. »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Pol. WAS HAT ER DIR NOCH ERZÄHLT? »Nichts. Es war nicht genug Zeit.« DU LÜGST. »Die Wahrheit ist ein so heiliges Ding, daß wir sie gut bewahren.« Die Flamme bewegte sich nicht. Er spürte die Andeutungen von Verwirrung und Ärger, die sich aber nicht in Worten ausdrückten. Einige Zeit verstrich. -157-
Endlich, mit einer Bewegung, die wie ein Schulterzucken wirkte, schwebte die Flamme nach links. Pol folgte ihr. Es gab immer noch Schatten im Nebel, aber sie kamen nicht näher. Die Flamme bewegte sich jetzt schneller, und Pol beschleunigte seinen Schritt. Der Nebel wurde dünner. Pol sah eine Wand an seiner linken Seite. Gleich darauf tauchte vor ihm ein Torbogen auf. Er folgte dem Licht hindurch und hatte das Gefühl, in die normale Welt zurück gekehrt zu sein. Auf dieser Seite gab es keinen Nebel, nur Zwielicht und den Geruch schimmelnder Wandbehänge. »In Wirklichkeit bewegten wir uns im Kreis durch einen einizigen Raum, nicht wahr?« fragte Pol. Keine Antwort. »Ein leicht abgewandeltes Rorschach-Experiment oder?« fuhr er fort. »Alles, was darin geschah, ging von mir selber aus. Ist es nicht so?« Wieder Schweigen. »Schon gut«, meinte er, als sie sich einer nach oben führenden Treppe näherten. »Wenn ihr, was immer ihr vorhabt, meine Hilfe braucht, denkt daran, daß ihr den Kunden nicht wie ein König behandelt habt.« Er begann die Treppe hinauf zu steigen. Ein Hauch von Belustigung glitt über ihn hinweg. Sein Drachenmal pochte unregelmäßig. Sie erreichten das Ende der Treppe und durchquerten einen besser möblierten, aber scheinbar lange nicht mehr benutzten Raum. Anschließend mußten sie wieder eine Treppe hinauf. Pol überlegte, daß sie sich jetzt wahrscheinlich in dem östlichen oder nordöstlichen Flügel der Burg befanden, in den er Larick zuvor gefolgt war. »Wir haben einen Umweg gemacht, stimmt das?« sagte er. ES WAR NÖTIG. »Warum?« -158-
UM DIE BEWOHNTEN BEREICHE ZU UMGEHEN. »Ist das der einzige Grund?« WELCHEN ANDEREN KÖNNTE ES GEBEN? »Den, mich weich zu machen oder zu beeindrucken.« DU SCHMEICHELST DIR. »Ach, macht doch, was ihr wollt.« DAS WERDEN WIR. Er bog nach links in einen schmalen Gang ein. Dann nach rechts in ein Zimmer, mit einem einzigen, großen Fenster, durch das über die Zinnen hinweg eine öde, von Sternen beleuchtete Landschaft sichtbar war. In dem Zimmer standen alte, beschädigte Möbelstücke, die nicht so aufgestellt waren, als wollte man sie benutzen. Durch eine Tür am anderen Ende gelangte Pol in einen Raum, der gleichfalls als Abstellkammer gebraucht wurde. Pol wischte sich Spinnweben aus dem Gesicht, während er weiterging. Eine Ratte huschte vor seinen Füßen vorbei und brachte sich unter einem Stuhl in Sicherheit. Zwei Räume weiter, in einem Zimmer mit mehreren Türen, überkam ihn ein Gefühl der Vertrautheit. Es gab kaum einen Zweifel, daß Larick hier vorbei gekommen war. Er spürte wieder seine Müdigkeit, als sie von einem Gang in den Tunnel gelangten und schließlich zu einer grob behauenen Treppe, die nach unten führte. Die Flamme bewegte sich schneller, verbreitete Licht. Er beschleunigte seinen Schritt und berührte im Vorbeigehen die Wände, die genauso feucht waren, wie sie aussahen. Ja, das war der Weg, den Larick genommen hatte. Er eilte um die Biegung, und da, endlich, erhob sich vor ihm die dunkle, felsige Erhebung, mit dem leuchtenden Ding darauf. Die Flamme schwebte darauf zu. Pol folgte ihr. »Was ist das?« fragte er leise. -159-
ETWAS, DAS WIR BRAUCHEN WERDEN. »Ihr seid so verdammt hilfreich.« SEHR VIEL MEHR, ALS DU ÜBERHAUPT BEMERKST. Wenig später sah er, daß es ein Sarg war, mit einem gewölbten, durchsichtigen Deckel. Und als er daneben stand, hielt er den Atem an, denn darin lag der makellos erhaltene Leichnam einer Frau. Ihre hohen Wangenknochen, das kleine Kinn und die Flut ihres Haares, das in dem Licht, das sein Führer ausstrahlte, hellbraun schimmerte, waren ihm nicht fremd. »Der Geist. . .«, flüsterte er. MAN SAGT, DASS IHR GEIST DURCH DIESE HALLEN WANDERT. ES IST UNWICHTIG. ÖFFNE DEN DECKEL. »Wie?« ES SIND RIEGEL AN DEN SEITEN UND AN JEDEM ENDE. Pol betrachtete die bleichen Züge. »Warum dieser Schneewittchen-Aufzug?« fragte er schließlich. BITTE? ICH VERSTEHE DEN ZUSAMMENHANG NICHT. »Warum wird sie zur Schau gestellt?« IHR VATER, RYLE MERSON, HAT GELEGENTLICH DEN WUNSCH, SIE ZU SEHEN. »Dieser morbide Hurensohn, der er ist! Ich nehme an, er hat sie mit einem Konservierungszauber belegt - wenn sie schon sehr lange tot ist.« ZIEMLICH LANGE. ÖFFNE DEN DECKEL! »Warum?« DAMIT DU SIE HERAUSNEHMEN KANNST. »Warum herausnehmen?« -160-
SIE WIRD WOANDERS BENÖTIGT. TU WAS WIR DIR SAGEN! »Schon gut. Es war aber ein ziemlich steiler Aufstieg.« DU WIRST DIESEN WEG NEHMEN. Die Flamme wurde heller, und Pol konnte hinter demSarg ein ebenes Felsband sehen, das in einen Tunnel führte. Er beugte sich vor und tastete nach den Riegeln. Einen nach dem anderen löste er sie. Dann packte er den Rand des Deckels und mühte sich, ihn zu heben. Eine Zeitlang widerstand er seinen Anstrengungen. Dann glitt er knarrend nach oben. Vorsichtig schob er den durchsichtigen Deckel nach hinten, bis er auf dem Boden lag. Erst dann nahm er sich Zeit, die Frau mit mehr als medizinischem Interesse zu betrachten. »Wie ist ihr Name?« fragte er. TAISA. HEB SIE AUF! BRING SIE HIERHER! Die Flamme tanzte den ebenen Pfad hinter dem Sarg entlang. Pol bückte sich und nahm die Frau auf die Arme. Der schwache, vertraute Duft eines köstlichen Parfüms hüllte ihn ein. »Warum starb sie?« fragte Pol, als er um den Katafalk herumging. EIN OPFER DER UMSTÄNDE IN EINEM LANGEN UND VERWORRENEN KAMPF. Hinter dem tanzenden Licht trat er in den Tunnel. Nach wenigen Schritten bog er unvermittelt nach links und stieg langsam an. Das Gefühl der Erwartung, das sein Begleiter gewesen war, seit er erwachte, steigerte sich noch. Er spürte, daß er sich dem Herzen eines Geheimnisses näherte, einem sehr persönlichen Geheimnis, einem Geheimnis, in dem er eine wichtige Rolle spielen würde. Noch eine Biegung, und er stand in einem großen, hohen, teilweise möblierten Raum, der in den Fels hinein gemeißelt -161-
worden war. Eine große rechteckige Öffnung in der linken Wand, ermöglichte einen Blick auf Sterne in einem jetzt bleichen Himmel und die oberen Flanken eines Gebirgszuges. Schwere Stühle und ein langer Tisch befanden sich im vorderen Teil des Raumes. An der Rückwand. . . Er blieb stehen, unfähig, die Augen abzuwenden. BRING SIE HIERHER! Langsam, fast mechanisch, setzte er sich in Bewegung. Er war sich dessen kaum bewußt, seine ganze Aufmerksamkeit galt der Entdeckung in der gegenüberliegenden Wand. LEG SIE HIN! NEIN! DEN KOPF AN DAS ANDERE ENDE! Pol legte Taisas Körper so auf einen schrägen Steinblock, daß die Füße sich auf dem höheren Ende befanden. Ihr Kopf kam in einer breiten Rinne zu liegen, die in die harte, graue Oberfläche gehauen war. Ohne es überhaupt zu bemerken, ordnete er ihr einfaches blaues Gewand. Während er das tat, entdeckte er ein großes, flaches Becken unter dem Ende der Rinne. Ein Dolch aus schwarzem Stein lag auf dem Rand. All diese Dinge nahm er wahr, ohne sie aber zu erfassen, denn seine Gedanken galten etwas anderem. Er starrte auf die Mauer vor ihm, auf die darin eingelassene große, doppelflüglige Tür. Ihm brach der Schweiß aus, und seine Hände zitterten, als er sich von der Frau und dem Stein entfernte und unverwandt auf die Tür blickte. Dort war das Tor aus all seinen vergessenen Träumen, die ihn jetzt wie schimmerde Mäntel umhüllten. Er trat näher. Die Türflügel waren fest, massiv, eisenbeschlagen und bestanden aus einem dunklen, metallisch aussehenden Holz. Es schien kein Schloß zu geben, keine Griffe, nur die in gewissen Abständen angebrachten Ringe. In vielfachen Windungen, vom unteren Rand bis zur Mitte der -162-
Türflügel reichend, waren die Umrisse einer gewaltigen Schlange in das Holz geschnitzt und gebrannt, die sich über stilisierte Wellen erhob. Drei schwere Nägel waren hinein geschlagen - einer am Hals, einer am Schwanz und einer durch den Leib. Dann, als er den Blick zum oberen Teil des Rahmens hob, entdeckte er die in den Fels gemeißelte, vertraute Gestalt eines großen, schwarzen, vogelähnlichen Geschöpfes mit ausgebreiteten Flügeln. Jede Schwinge war gleichfalls von einem Nagel durchbohrt. Pol tat noch einen Schritt und blieb schweratmend stehen. Wieder war er Prodromolu, Öffner des Weges, der durch den Himmel über Qod schwebte, während unter ihm Talkne, die Schlange, auf der Suche nach ihm aus der Tiefe stieg. Nyalith stieß einen Warnruf aus, der die Berge zerschmetterte und die Geheimnisse ihres Innern bloßlegte. In weiten Kreisen stieß er auf die ruhige Meeresoberfläche hinab. . . Er kam wieder zu sich selbst, erinnerte sich an die Schlüssel und das Versprechen des dunklen Gottes, das Volk aus diesem öden Land zu führen, diesen Ort mit einem anderen zu verschmelzen, indem er den Weg zwischen den Welten öffnete. Und die Schlüssel. . . Die Schlüssel! Die Statuetten waren die Schlüssel. Auf seltsame Art lebende Schlüssel. . . Und. . . Er senkte den Blick. Ja. . . Ein großes, unregelmäßiges Diagramm war in den Boden eingraviiert und mit verblassender gelber, roter und blauer Farbe ausgemalt. Ein Teil davon erstreckte sich in die Felskammer zurück und umfaßte den Stein, auf dem Taisa lag; ein anderer -163-
Teil verlief in die entgegengesetzte Richtung und berührte den linken Pfosten des schweren Türrahmens. Eine Anzahl von spitz zulaufenden, fast dreieckig geformten Abschnitten ragten wie Dornen aus dem Hauptteil des Diagramms. Pol, der plötzlich merkte, daß sein Drachenmal langsam und schwer pulsierte, zählte sie. ». . . fünf, sechs, sieben.« GENAU. Er beachtete die Flamme kaum, die jetzt über Taisa hing. HOLE DIE STATUETTEN, DIE VERKÖRPERUNG UNSERER EXISTENZ, AUF DIESE EBENE UND STELLE JEDEN VON UNS AUF EINE DER SPITZEN. DU KENNST DIE REIHENFOLGE. »Ja.« Pol wechselte in den anderen Sichtbereich, hob die rechte Hand und ergriff einen der sieben schwarzen Bänder über seiner rechten Schulter. Er wand den Faden um seine Hand, bis er einen Widerstand spürte. Die Macht zuckte von seinem Drachenmal das Band entlang, und er zog daran. Er hielt eine der Statuetten in der Hand - hochgewachsen, schlank, weiblich, mit scharfen Zügen und herrisch. Ihr Umhang war mit einem Überzug aus gewalztem Gold versehen, und sie war mit orangefarbenen, roten und gelben Steinen gegürtet. Ein einzelner grüner Edelstein leuchtete an ihrer Stirn. Sie fühlte sich warm an und wurde noch wärmer, als Pol sie festhielt und den Kopf wandte. Ja. . . Er ging nach rechts und setzte sie auf die Spitze des vorletzten Dreiecks, mit dem Gesicht zum Tor. Als er sich aufrichtete, sah er, daß die Sterne verblaßten und der Himmel heller wurde. Er hob die Hand, um wieder nach den Bändern zu greifen. -164-
Sie waren nicht da. Erst jetzt bemerkte er, daß er aus der zweiten Sichtebene hinaus geglitten war. Er versuchte es rückgängig zu machen, aber ohne Erfolg. Sein Drachenmal, bemerkte er, hatte aufgehört zu pulsieren. Er massierte seinen Unterarm. Er versuchte erneut, auf die andere Sichtebene hinüberzuwechseln. WAS IST? »Ich weiß es nicht. Ich kann nicht tun, was du verlangst.« WAS SOLL DAS HEISSEN - ICH KANN ES NICHT? GERADE HAST DU ES GETAN. »Ich weiß. Aber irgend etwas hat sich verändert. Seit ich Belken verließ, ist die Macht gekommen und gegangen. Jetzt ist sie fort.« Die Flamme bewegte sich auf ihn zu, hing unmittelbar vor seinen Augen. Er schloß die Lider vor der Helligkeit. ÖFFNE DEINE AUGEN! Er gehorchte blinzelnd. Er sah, wie die Flamme wuchs, zu einem riesigen Vorhang aus Feuer wurde, so groß wie er, größer. Sie kam näher, und er wich zurück. BLEIB STEHEN! WIR MÜSSEN NACHFORSCHEN. Sie hüllte ihn ein wie ein Mantel. Er spürte, wie sie seinen Körper durchdrang, bis in seinen innersten Kern. Hitze verströmte sie nicht, verursachte nur ein eigenartiges, zitterndes Gefühl, wie wenn man nach mehreren Tagen auf See wieder festes Land betritt. Es endete unvermittelt und eine kleiner werdende Flamme tanzte vor ihm. ES IST WAHR. DU BIST MOMENTAN NICHT IN DER LAGE, AUF MAGISCHER EBENE ZU OPERIEREN. ES IST NICHT MÖGLICH, FESTZUSTELLEN, WIE LANGE DAS ANHALTEN WIRD, UND DIE NACHT -165-
IST FAST VORBEI. RYLE MERSON KÖNNTE AM MORGEN NACH DIR SCHICKEN. WIR MÜSSEN UNSER VORHABEN FÜR DEN AUGENBLICK AUFGEBEN UND DICH WIEDER IN DEINE ZELLE BRINGEN. BRING DIE STATUETTE ZURÜCK UND. . . Pol schüttelte langsam den Kopf. NATÜRLICH. IN DEINEM ZUSTAND KANNST DU SIE NICHT ZURÜCKSCHAFFEN; UND UNS IST ES VERWEHRT, UNMITTELBAR AUF UNSERE EBENBILDER EINZUWIRKEN. HEB SIE AUF. AUF DEM WEG HIERHER KAMEN WIR AN EINER ANZAHL VON FELSEN UND NISCHEN VORBEI. DU WIRST SIE VERSTECKEN MÜSSEN. »Was ist mit Taisa?« LASS SIE HIER! »Und wenn jemand sie findet?« UNWICHTIG. KOMM! Die Flamme schwebte an ihm vorbei. Er hob die Statuette auf und folgte ihr. In dem Tunnel verbarg er sie in einem Riß der felsigen Wand. Unbehelligt gelangten sie aus der Höhle in die Burg. Nach einigen Biegungen bemerkte Pol, daß sie diesmal einen anderen Weg einschlugen. Sie kamen viel schneller voran und umgingen sowohl die von Nebel erfüllte Kammer als auch die dunklen Gänge. Wenig später befand er sich wieder in seiner Zelle und schloß die Tür hinter sich. »Auf dem Hinweg wolltet ihr nur Eindruck schinden oder?« sagte er. SCHLAF JETZT! -166-
Die Flamme erlosch. Er hörte, wie der Riegel vorgeschoben wurde. Plötzlich stolperte er, überwältigt von Erschöpfung, zu seiner Bank und fiel darauf nieder. Es blieb keine Zeit zum Nachdenken, bevor die dunklen Wogen ihn überrollten. . .
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XII
Henry Späher umgab sich mit einer neuen Verkleidung, als er die Höhlen Belkens verließ und in die verzauberte Stadt am Fuß des Berges zurückkehrte. Dort feierte er den Tag über mit seinen Magier-Genossen, von denen keiner seine wahre Identität kannte. Er genoß es, zwischen ihnen umher zu gehen und ein großes, dunkles Geheimnis zu hüten, an dem keiner von ihnen teilhatte. Er trank Wein, der mit exquisiten Drogen gewürzt war, vollbrachte Wunder und mied nur die größten seiner Kollegen. Er fürchtete niemanden als Gegner in einem Duell der Willenskraft, aber er wollte nicht die Aufmerksamkeit eines Meisters erregen, der mächtig genug war, um seine Vermummung zu durchschauen. Nein, diese Enthüllung käme zu früh. Er spazierte herum, verteilte Flüche und Unglück unter denen, die ihm mißfielen und warf gelegentlich auch einen magischen Gunstbeweis ein, für einen Zauberer, der seinen Respekt errungen hatte. Er fand unendliches Vergnügen an der heimlichen, gottähnlichen Rolle, die er spielte. Er hatte sich so lange zurück gehalten. Aber jetzt. . . Jetzt sah er die Zukunft wie eine reife Frucht an einem Ast über seiner ausgestreckten Hand. Er spürte eine seltsame, überwältigende Verwandtschaft mit denen, die von seinen Mühen profitieren würden, ohne es zu wissen. Die Stadt gewann an Pracht, als der Tag zu Ende ging. Seit Jahren hatte er sich nicht so gut gefühlt. Seine Fähigkeiten erreichten unglaubliche Höhen, aber er beschränkte sich darauf, nur einen Teil davon zu zeigen, als neue Freunde sich zu Spielen und Prüfungen um ihn sammelten. Er sang und tanzte, als die Nacht hereinbrach. Er arbeitete -168-
sich durch ein gewaltiges und kunstvolles Abendessen, das bis weit nach Mitternacht dauerte. Er streifte die Müdigkeit ab und erneuerte seine Kraft mit einem Zauber hohen Grades, den er rasch und leicht bewirkte. Er glitt in einer Barke über den kreisförmigen Kanal der Stadt. Mit sich nahm er eine Kurtisane, einen Lustknaben, einen Sukkubus, eine Schale mit glimmendem Traumkraut und einen Krug mit seinem bevorzugten Wein, der sich so schnell erneuerte wie sein Meister. Nach all dicsen Jahren der Zurückgezogenheit und Verstellung war jetzt die Zeit zu feiern, denn die Waagschalen würden sich bald neigen. Die Nacht rückte vor, und die Stadt wurde zu einem Traum aus Licht und Farben, Klängen und sinnen verwirrendem Zauber. Er ergab sich seinen Vergnügungen, bis der Himmel im Osten erbleichte und ein Augenblick des Schweigens wie eine geisterhafte Welle über die Stadt brandete und sich am Fuße Belkens brach. Gleich darauf wurden die Vergnügungen der Nacht wieder auf genommen, aber sie hatten ihren besonderen Glanz verloren. Den Staub der Träume und Leidenschaften von sich abschüttelnd, erhob er sich von seinen parfümierten Kissen und wandte sich ab von den sorglosen Genüssen der Nacht. Er schob alle Leichtfertigkeit beiseite und, an Gestalt und Miene einem König ähnlich, verließ die von Leben erfüllten Bezirke der Stadt in nördlicher Richtung. Als er den Rand des magischen Zirkels erreichte, ging er weiter, einen flachen Hügel hinauf. Oben angekommen, blieb er mit gesenktem Kopf stehen und blickte sich suchend um. Schließlich bückte er sich und hob einen Ast auf, an dem sich noch einige kleine Zweige befanden. Er streichelte ihn und sprach leise, während er sich mit ihm in alle vier Himmelsrichtungen wandte. Dann blickte er lange Zeit schweigend darauf nieder, während er ihn weiter streichelte. Der Morgen brach an, als er dies tat, und als er sich hinkniete, um -169-
den Ast auf den Boden zu legen, sah es aus, als hätte er seine Form verändert und gliche jetzt einem kleinen Tier. Er begann einen leisen Gesang. »Eohippus, Mesohippus, Protohippus, Hipparion. . .« Staub und Sand erhoben sich vom Boden, wirbelten in entgegen gesetztem Uhrzeigersinn um die kleine Figur und verhüllten sie vollständig. Als er weitersang, wuchs der sich drehende Turm zu einem Trichter, weit größer als er selbst, aus dem ein leises, stöhnendes Geräusch drang, das rasch zu einem Brüllen wurde. Gegenstände aus kleinerer und größerer Entfernung wurden hinein gesaugt - Büsche, Geröll, Knochen, Moos. Er wich zurück vor dem zerrenden Sog, die Hände in Schulterhöhe erhoben. Ein langer, auf- und abschwellender Schrei drang aus dem Zentrum des Wirbels, und er senkte die Hände. Das Brüllen verstummte. Der wirbelnde Vorhang senkte sich, enthüllte eine große, dunkle, vierfüßige Gestalt mit hocherhobenem Kopf. Er trat vor und legte seine Hand auf den Hals des Geschöpfes, das den Bewohnern dieser Welt fremd war. Es wieherte. Einen Augenblick später wurde es ruhig, und seine Hand glitt auf den Knauf des Sattels, mit dem es ausgestattet war. Er stieg auf und griff nach den Zügeln. Sie befanden sich im Mittelpunkt eines Kraters, der noch nicht vorhanden gewesen war, als er mit seinem Zauber begann. Er sprach zu dem sandfarbenen Tier, streichelte seinen Hals und seine Ohren. Dann schüttelte er sanft die Zügel. Es kletterte langsam aus der Vertiefung, und er lenkte es nach Norden. Er lächelte, als sie sich in diese Richtung in Bewegung setzten. Purpurne Finger griffen aus dem Osten nach ihnen, als sie ebenes Gelände erreichten und einen Pfad entdeckten. Er -170-
legte die Knie an und ruckte wieder an den Zügeln. »Heiho, Staub!« rief er. »Hinfort!« Sein unermüdliches Reittier sprang vorwärts durch die Morgendämmerung und erreichte schnell eine betäubende, unnatürliche Geschwindigkeit.
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XIII
Samtfinger und Mondvogel erreichten am Nachmittag ihr Ziel und kreisten über den Trümmern auf dem Gipfel des Amboßberges. Für Samtfinger, der so lange Zeit dort verbracht hatte, war es nicht leicht, die Plätze heraus zu finden, die er gekannt hatte. Aber er entdeckte den gewaltigen Krater, jetzt erloschen, neben den Trümmern eines großen Gebäudes. »Das muß sie sein«, stellte er fest, »die Stelle, wo Pol das Szepter weg geworfen hat.« ES IST DIE STELLE, erwiderte Mondvogel. »Man sagt, daß die Augen eines Drachen mehr sehen, als die Augen eines Menschen.« DAS SAGT MAN ZU RECHT. »Deutet da unten etwas auf Aktivitäten irgendwelcher Maschinen oder der Zwerge hin?« ICH KANN KEINE BEWEGUNG, GLEICH WELCHER ART, ENTDECKEN. »Dann können wir tiefer gehen.« ZUM KRATER? »Ja. Lande neben dem Kegel. Ich werde hinaufsteigen und mich umsehen.« ES RÜHRT SICH NICHTS DARINNEN. UND ICH SEHE KEINE ÜBERMÄSSIGE HITZE. »Du kannst Hitze sehen?« ICH REITE AUF TÜRMEN VON HITZE, WENN ICH FLIEGE. JA. ICH KANN SIE SEHEN. »Dann flieg mit mir hinein, wenn du weißt, daß es sicher ist.« Mondvogel senkte sich in stetigen Kreisen zu der -172-
überhängenden Öffnung hinab. Die Kreise wurden enger, je tiefer er kam, dann legte er die Schwingen an und breitete sie erst im letzten Augenblick wieder aus, um die Landung etwas sanfter zu machen. Mit zusammen gebissenen Zähnen hatte Samtfinger zugesehen, wie die zerklüfteten grauen Wände vorüber rasten. Er wurde nach vorn und zur Seite geschleudert, als sie auf der unebenen Oberfläche landeten. Sich an Mondvogel festklammernd, verwandelte er einen Sturz in einen einigermaßen würdevollen Abstieg, kam auf einen Schlackenhaufen zu stehen und lehnte sich an Mondvogels gewölbten Brustkasten. Allgegenwärtiges Schweigen umhüllte ihn, und Schatten verdeckten bereits den Abhang. Mondvogel wandte den Kopf von einer Seite zur anderen, blickte nach oben, blickte nach unten. ES KÖNNTE SEIN, DASS ICH MICH ETWAS VERRECHNET HABE, gestand der Drachen. »Was meinst du damit?« DIE AUSMASSE DIESES KRATERS. ICH HABE VIELLEICHT NICHT AUSREICHEND PLATZ, UM WIEDER AUFZUSTEIGEN. »Oh. Was können wir dann tun?« HINAUSKLETTERN, WENN DIE ZEIT GEKOMMEN IST. Samtfinger fluchte leise. DIE SACHE HAT AUCH IHR GUTES. »Sag's mir.« DAS SZEPTER IST WAHRHAFTIG HIER. Der gewaltige Kopf drehte sich. DORT DRÜBEN. »Woher weißt du das?« AUCH DRACHEN KÖNNEN DIE GEGENWART VON MAGIE SPÜREN, VON MAGISCHEN GEGENSTÄNDEN. ICH WEISS, DASS ES HIER UNTER DER ERDE LIEGT. -173-
DORT DRÜBEN. Samtfinger drehte sich um und suchte mit den Blicken den Boden ab. »Zeig mir die Stelle!« Mondvogel bewegte sich rutschend über die Unebenheiten, das Geröll. Schließlich hielt er inne, streckte seine linke Vordertatze aus und ritzte mit einer riesigen schwarzen Kralle ein X in die dunkle Oberfläche. HIER MUSST DU GRABEN. Samtfinger packte die Grabutensilien aus, nahm sich die Spitzhacke und machte sich ans Werk. Splitter flogen in alleRichtungen, und der Staub, den er aufwirbelte, reizte ihn zum Husten. Er legte erst seinen Umhang ab und dann auch sein Hemd, als er immer stärker ins Schwitzen kam. Nach einiger Zeit ähnelte er einer Statue, weil eine dicke Schicht aus grauem Staub auf seiner Haut klebte. Seine Schultern begannen zu schmerzen, und seine Handflächen wurden wund, als er eine ungefähr knietiefe Grube ausgehoben hatte. »Verrät dir dein Drachengespür auch«, erkundigte er sich, »wie tief es begraben ist?« ZWEI- BIS DREIMAL SO TIEF, WIE DU GROSS BIST. Es hallte laut durch den Krater, als Samtfinger die Spitzhacke hinwarf. »Warum hast du mir das nicht früher gesagt?« ICH WUSSTE NICHT, DASS ES WICHTIG WAR. Eine Pause. Dann, IST ES WICHIG? »Ja! Es ist unmöglich, daß ich in einer halbwegs vernünftigen Zeit so tief graben kann.« Er setzte sich auf einen Geröllhaufen und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. In seinem Mund hatte er den Geschmack von Asche. Alles roch nach Asche. -174-
Mondvogel kam näher und äugte in die flache Grube. KÖNNTEN HIER NICHT NOCH STARKE WERKZEUGE ZU FINDEN SEIN? ODER WAFFEN? AUS DER ZEIT, ALS DER ROTE MARK HIER HERRSCHTE? Samtfinger hob langsam den Blick, bis er senkrecht nach oben schaute. »Ich nehme an, ich könnte nach oben klettern und mich umsehen«, meinte er. »Aber angenommen, ich würde ein paar Granaten finden - oder einen dieser Werfer von Lichtstrahlen, die alles zerschneiden? Sie könnten zerstören, was ich suche.« Mondvogel schnaubte, und sein Speichel spritzte über die Steine. Wohin er traf, begann es zu brodeln und zu glimmen. Nach wenigen Sekunden brach an jeder feuchten Stelle ein Feuer aus. DAS SZEPTER WURDE EINST VERSTECKT, WEIL NIEMAND WUSSTE, WIE MAN ES ZERSTÖREN KÖNNTE. »Das ist wahr. . . Und auf diese Weise mache ich ganz sicher keine großen Fortschritte.« Er hob seinen Umhang auf und begann sich mit der Innenseite den Staub abzuwischen. Als er fertig war, streifte er sein Hemd wieder über. »In Ordnung. Ich glaube, ich kann mich erinnern, wo diese Dinge aufbewahrt wurden. Wenn ich mich noch zurecht finde in diesem Durcheinander.« Er ging zu der Seite des Kraters, die am vielversprechendsten aussah. Mondvogel folgte ihm unbeholfen. ICH SOLLTE BESSER AUCH MIT DEM AUFSTIEG BEGINNEN. »Es dürfte ziemlich steil sein, für jemanden mit deinem Umfang.« GEH DU NUR. ICH WERDE MIR ZEIT LASSEN. ICH -175-
MÖCHTE NICHT IN DER NÄHE DER EXPLOSIONEN SEIN. »Gute Idee. Dann gehe ich jetzt.« Samtfinger fand einen Halt für seine Hände, eine Stütze für die Füße, kletterte weiter. Später, als er sich am Rand ausruhte und hinunterblickte, sah er, daß Mondvogel bei seinem Versuch, die Wand zu erklimmen, kaum Fortschritte gemacht hatte. Er tastete langsam und sorgfältig nach einem sicheren Halt, dann schlug er seine mächtigen Krallen hinein und erweiterte jede Nische, jeden Vorsprung, bevor er sein Gewicht darauf verlagerte. Samtfinger wandte sich ab und musterte noch einmal seine Umgebung. Ja, beschloß er. Dort im Südosten. . . Eine der Stellen, wo ich mich versteckte, war unter dem schiefen Monolith. Und. . . Er warf einen Blick auf die untergehende Sonne, um abzuschätzen, wieviel Tageslicht ihm noch blieb. Dann bewegte er sich schnell und elegant, stieg hinunter, machte Umwege, jeden Schritt schon im voraus durchdacht. Er bewegte sich zwischen verbogenen Trägern und Steinblöcken hindurch, zwischen Kratern und zerschmetterten Kriegsmaschinen, Geröllhaufen, Glassplittern, den Gerippen von Drachen und Menschen. Die zerstörte Stadt war völlig ausgetrocknet. Nichts wuchs. Nichts bewegte sich, außer Schatten. Er erinnerte sich der Tage als Flüchtling in dieser Stadt, suchte immer noch gewohnheitsmäßig am Himmel nach den vogelähnlichen Flugmaschinen, glitt um Ecken und war auf der Hut vor Beobachtungsanlagen. Für ihn schritt immer noch die riesige Gestalt Mark Maraksons durch die verwüstete Stadt, mit seinem künstlichen Auge, das klickend und blitzend durch alle Farben des Regenbogens wechselte, während er aus der Dunkelheit ins Licht trat, in den Schatten und wieder in die Dunkelheit. -176-
Er überquerte das von Flammen zerfressene Pflaster neben einer der eingestürzten Brücken und ruckte sich durch einen verformten Türrahmen in das Innere eines Gebäudes, dem das Dach fehlte. Er ging an den verbrannten Leichen von einem halben Dutzend von Marks kleinwüchsigen Dienern vorbei. (Er lehnte den Ausdruck »Zwerg« ab, mit dem die meisten anderen sie bezeichneten, da er selbst nicht viel größer war. ) Er fragte sich im Vorübergehen, wie es wohl für etwaige Überlebende der Schlacht sein mochte - aus der Barbarei auf eine hochtechnisierte Existenzebene gehoben und dann wieder in das frühere Leben zurück gestoßen zu werden, zu erleben, daß alle Maschinen stillstanden. Vielleicht war es ein zu kurzes Zwischenspiel gewesen, sagte er sich selbst. Sie konnten ihre ursprünglichen Fähigkeiten noch nicht verloren haben. Das ganze Erlebnis würde für sie vielleicht eines Tages zur Legende werden. Aber von irgendwoher - er würde niemals erfahren, woher glaubte er das Geräusch von Hammerschlägen zu hören, und zweimal vernahm er ein Brummen, das sich nach Versuchen, eine der großen Maschinen wieder in Gang zu setzen, anhörte. Er fand die Treppe, die er gesucht hatte und brauchte zehn Minuten, um sie so weit frei zu räumen, daß er hinabsteigen konnte. Unten angekommen, folgte er einer Anzahl gewundener Gänge in das Innere des Berges. Jede Biegung war so sicher in seinem Gedächtnis, als wäre er den Weg gestern erst gegangen, obwohl er sich in absoluter Dunkelheit bewegte, denn die Generatoren, die für die spärliche Beleuchtung gesorgt hatten, waren längst ausgefallen. Er war auf alles vorbereitet und hielt die Pistole in der Hand. Aber es war nichts Bedrohliches zu entdecken. Die Tür zum Arsenal war verschlossen, aber es gelang ihm trotz der Dunkelheit, das Schloß zu knacken, seine Finger hantierten sicher mit den kleinen Metallhaken, die er immer mit sich führte. Sie hatten ihr eigenes Gedächtnis, seine Finger, und -177-
er hatte das Schloß schon einmal aufgebrochen. Dann hinein. Und er ging durch den Raum und suchte die Regale. Er bestückte einen Granatengurt und legte ihn um, nahm sich genug Zeit, um die Munitionsvorräte für seine Pistole auf zu füllen und war fertig. Als er den Raum verließ, blieb er stehen. Aus Gründen, die ihm selbst nicht ganz klar waren, verschloß er die Tür. Dann eilte er durch die Gänge zurück, die Pistole wieder schußbereit. Als er die Treppe hinaufstieg, überkam ihn ein Gefühl der Panik, das er augenblicklich unterdrückte, gefolgt von erhöhter Wachsamkeit. Was diese Reaktion bei ihm ausgelöst hatte, wußte er nicht, aber er vertraute völlig darauf, denn damit war er in der Vergangenheit immer gut gefahren. Er blieb stehen, drückte sich an die Wand und bewegte sich langsam die Treppe hinauf, wobei er die Füße so stellte, daß er kein Geräusch verursachte. Als er über den Rand des Treppenschachtes hinausblicken konnte, verharrte er nochmals und musterte das Innere des zerstörenden Raumes. Nichts bewegte sich. Nichts schien sich verändert zu haben. Er holte tief Atem, stieg rasch die restlichen Stufen hinauf und ging zur Tür. Rechts von ihm bewegte sich etwas. Er blieb stehen, als er sah, daß es sich um einen der kleinen, muskulösen ursprünglichen Bewohner dieses Ortes handelte, der hinter einem schrägstehenden Teil der niedergebrochenen Decke hervorkam und ihm den Weg versperrte. Der Mann hatte die zerfetzten Überreste der Uniform an, die von denen in Marks Diensten getragen worden war. Samtfinger hob die Pistole, zögerte aber. Der Zwerg war mit einer langen, gebogenen Klinge bewaffnet. Aber es war nicht -178-
die Ungleichheit der Waffen, die seinen Finger am Abzug lähmte. Der Mann schien allein zu sein, aber wenn sich noch andere in der Nähe befanden, konnten Schüsse sie herbeilocken. »Keine Aufregung«, meinte Samtfinger, senkte die Pistole und steckte sie weg. ››Ich wollte gerade gehen.« Noch bevor der Mund seines Gegenübers sich zu einem breiten Grinsen verzog, hatte er das Gefühl, daß er sich aus dieser Klemme nicht herausreden konnte. »Du warst einer von Ihnen«, sagte der Mann und kam näher. »Freund des Zauberers. . .« Samtfinger ging in die Hocke, seine rechte Hand senkte sich auf den Griff des Dolches, der aus seinem Stiefelschaft herausragte, mit dem Daumen löste er die kleine Halteschlaufe. Immer noch weit vorgebeugt, nahm er die Waffe in die Hand und bewegte sich langsam nach rechts. Der andere kam näher und hieb mit der gebogenen Klinge nach seinem Kopf. Samtfinger wich dem Angriff aus und ritzte mit seinem Dolch den Unterarm des Mannes. Er bewegte sich rascher, fintierte zweimal, duckte sich unter einem Stoß hinweg, von dem er wußte, daß er ihn nicht parieren konnte und brachte seinem Gegner mit der Parierstange des Messers eine Platzwunde über dem rechten Auge bei. Es hätte ein tiefer Schnitt werden sollen, aber er hatte die Schnelligkeit des Mannes unterschätzt. Der plötzliche Zusammenprall mit der knochigen Stirnpartie brachte ihn etwas aus dem Gleichgewicht, und er wich stolpernd zurück. Er fand sein Gleichgewicht wieder, behielt die geduckte Haltung aber bei, um eine Handvoll zerbröckeltes Mauerwerk aufzuheben. Sich aufrichtend schleuderte er dem anderen die Stücke ins Gesicht, tänzelte nach rechts und stieß zu. Er versuchte, die Klinge zu drehen, als sie in die Seite des Mannes drang, stellte aber fest, daß er sie nicht mehr herausziehen konnte. -179-
Der Mann drückte ihn von sich weg und hob sein Schwert. Samtfinger brachte sich durch einen Sprung außer Reichweite, hob ein weiteres Stück Mauerwerk auf, warf es und fehlte. Der Mann kam auf ihn zu, aus seiner Seite ragte der Dolch, sein Schwert war erhoben, das Gesicht ausdruckslos. Samtfinger konnte nicht beurteilen, über wieviel Kraft er noch verfügte. Noch ein Angriff, vielleicht. . . Auf jeden Fall war es zu gefährlich, ihm jetzt den Rücken zu zuwenden oder zu versuchen, an ihm vorbei zuschlüpfen - und er versperrte ihm immer noch den Weg zur Tür. Er beschloß, ihm einfach aus zu weichen, bis die Verwundung ihren Tribut forderte. Der Mann hatte nicht geschrien, und Samtfinger war immer noch entschlossen, die Pistole erst zu benutzen, wenn es gar keine andere Möglichkeit mehr gab. Der andere schien mit zusammengepreßten Lippen zu lächeln, und Samtfinger bemerkte, daß er immer näher an eine übermannshohe Steinplatte gedrängt wurde. »Ich werde leben«, sagte der Zwerg. »Ich werde mich davon erholen. Aber du. . .« Er stürmte vor, die Klinge hoch erhoben, ohne auf seine Deckung zu achten. Samtfinger packte den schweren Granatengurt, der über seiner Schulter hing, ging in die Hocke und schwang ihn mit aller Kraft gegen die Beine seines Gegners. Der Mann stürzte, und Samtfinger nutzte das aus. Er sprang nicht, denn dem anderen war es gelungen, sein Schwert zu heben. Aber er griff nach dem ausgestreckten Arm, warf sich mit seinem gesamten Gewicht darauf und drückte den Mann mit seinem Körper nieder. Mit der anderen Hand bekam er die andere Hälfte der Klinge zu fassen und drehte sie, bis die Schneide von ihm abgewandt war. Während er sie auf die Kehle des unter ihm Liegenden zwang, -180-
krallte die linke Hand des Mannes nach seinem Gesicht. Er zog den Kopf ein und beugte sich zurück, und sofort fühlte er sich von den Schenkeln des anderen umklammert. Gleichzeitig stießen die Finger nach seinen Augen. Er nahm die rechte Hand von der Schwertklinge, um sein Gesicht zu schützen. Augenblicklich stemmte sich der Arm seines Gegners gegen seinen Druck, und die Klinge begann sich langsam zu drehen. Die Umklammerung der Beine verstärkte sich noch, bis Samtfinger glaubte, sein Becken würde brechen. Und jetzt langsam, mit zusammen gebissenen Zähnen, hoben sich die breiten Schultern des Mannes vom Boden. Samtfinger senkte den schützenden rechten Arm und stieß mit dem Ellenbogen gegen den Griff seines Dolches, der aus der Seite des anderen ragte. Der Mann zitterte und sank zurück, der Druck seiner Beine lockerte sich. Samtfinger schlug noch einmal zu, und der Mann stöhnte. Samtfingers rechte Hand packte wieder die lange Klinge, als er sich losriß und dann nach vorne warf. Die Schneide berührte die Luftröhre des anderen und sank tiefer. Als das Blut zu fließen begann, zog er ihm die Klinge durch die Kehle und hielt sie krampfhaft fest, noch lange nachdem die krampfhaften Zuckungen des Mannes aufgehört hatten und ungeachtet der Tatsache, daß seine Hände, Arme und das Hemd naß von Blut wurden. Dann zog er das Schwert heraus und warf es beiseite. Er stand auf, stellte einen Fuß auf den Leichnam, nahm seinen Dolch an sich und wischte ihn an der Kleidung des Mannes sauber. Er steckte ihn ein, hob den Granatengurt auf, warf ihn sich über die Schulter, griff die Pistole und verließ das zerstörte Gebäude. Nichts versperrte ihm den Weg, als er die Richtung zum Krater einschlug, und er begann zu glauben, daß der Angreifer ein einsamer Überlebender gewesen war, der sich von -181-
irgendwelchen Resten ernährte und ein abgeschlossenes Leben zwischen den Ruinen führte. Aber dann hörte er Geräusche einen kollernden Stein, ein metallisches Knirschen, ein Rascheln -, die, jedes für sich, nichts weiter sein mochten als die Folge von Wind, Ratten oder Verfall. Zusammen genommen aber, und so unmittelbar nach seinem Kampf, wirkten sie nicht mehr harmlos. Samtfinger beeilte sich, und die Geräusche schienen ihm zu folgen. Er musterte jede Deckungsmöglichkeit an seinem Weg, entdeckte aber nichts Beunruhigendes. Die Geräusche allerdings wurden immer deutlicher. Er lief, als er den Fuß des Kegels erreichte, und er begann sofort mit dem Aufstieg, ohne sich auch nur umzusehen. Und obwohl er den Rand des Kraters absuchte, gab es kein Zeichen dafür, daß Mondvogel sich dort oben befand. Während er kletterte, hörte er die Schritte hinter sich. Ein Blick nach unten zeigte ihm sechs oder acht der kleinen Männer, die zwischen den Ruinen hervorkamen und ihn verfolgten. Sie trugen Keulen, Speere und Schwerter, und er war erleichtert, daß sie anscheinend keine von Marks überlegenen Waffen in ihrem Besitz hatten. Einige von ihnen, bemerkte er, trugen Metallstücke wie Amulette um den Hals. Bei dem Anblick fragte er sich, wieviel sie wirklich von der Technologie begriffen hatten, in die sie in so rascher Folge hinein- und wieder heraus geraten waren. Es war allerdings nur eine flüchtige Überlegung, begleitet von der Erkenntnis, daß primitive Waffen genauso den Tod verursachen, wie die ausgeklügelten Spielarten. Statt dessen dachte er über das geisterhafte Band nach, das es ihm erlaubte, mit Mondvogel Verbindung aufzunehmen. Der Schlafzauber, den sie in den Höhlen unter Burg Rondoval geteilt hatten, hatte diese Vertrautheit verursacht. Allerdings hatte er immer nur aus nächster Nähe mit dem Drachen »gesprochen «, obwohl ihm einfiel, daß es sich vielleicht nur um eine dünne Schicht Fels -182-
handelte, die sie trennte. MONDVOGEL! KANNST DU MICH HÖREN? rief er in Gedanken. JA! kam die Antwort aus scheinbar größerer Entfernung. WO BIST DU? ICH KLETTERE. IMMER NOCH. ICH BIN IN SCHWIERIGKEITEN. WAS FÜR SCHWIERIGKEITEN? ICH WERDE VERFOLGT, erklärte ihm Samtfinger, VON DEN MÄNNERN, DIE FÜR MARK GEARBEITET HABEN. WIE VIELE? SECHS, ACHT, VIELLEICHT MEHR. WIE UNANGENEHM. GIBT ES NICHTS, WAS DU TUN KANNST? NICHT VON HIER AUS. WAS SOLL ICH TUN? SCHNELL KLETTERN. Samtfinger fluchte und blickte zurück. Sämtliche Verfolger näherten sich dem Fuß des Kegels und ein muskelbepackter Mann hob den Speerarm zum Wurf. Samtfinger zog die Pistole und schoß auf ihn. Er fehlte, hinderte den anderen aber augenscheinlich daran, genau zu zielen. Der Speer flog weit neben ihm gegen die Felsen. Er schoß wieder, und diesmal ließ der ihm am nächsten befindliche Verfolger die Keule fallen und griff sich an die Schulter. WAS WAR DAS? ICH MUSSTE AUF EIN PAAR VON IHNEN SCHIESSEN, erwiderte Samtfinger und bewegte sich geduckt weiter den Abhang hinauf. HAST DU GEFUNDEN, WONACH DU GESUCHT HAST? -183-
JA. ICH HABE SPRENGKÖRPER. ABER MEINE VERFOLGER SIND ZU WEIT AUSEINANDER GEZOGEN, UM SIE WIRKSAM EINSETZEN ZU KÖNNEN. ABER DU KANNST SIE AUS EINIGER ENTFERNUNG WERFEN! JA. WENN DU DEN OBEREN RAND ERREICHT HAST, WIRF SIE AUF DIE STELLE, WO DU GEGRABEN HAST. WIE WEIT BIST DU NACH OBEN GEKOMMEN? DAS IST NICHT WICHTIG. ES WIRD EINE ZIEMLICHE EXPLOSION GEBEN. DAS DÜRFTE AMÜSANT SEIN. KEINE SORGE. Samtfinger schaute sich wieder um. Drei seiner Verfolger hatten den Kegel erreicht und mit dem Aufstieg begonnen. Stehenbleibend zielte er sorgfältig und feuerte auf den Vordersten. Der Mann fiel. Er nahm sich nicht die Zeit, um die Wirkung auf die anderen zu beobachten, sondern wandte sich um und verwandte alle Kraft auf die Kletterei. Seine Verfolger waren stark und wendig, er aber auch. Außerdem wog er weniger und war schneller, so daß er einen ziemlichen Vorsprung herausgeholt hatte. Schließlich erreichte er den Rand und begab sich sofort dahinter in Deckung. Erst dann blickte er nach unten. Mondvogel, der seinen massigen Leib die steile Wand hinaufwuchtete, hatte erst ein Viertel der Strecke bis zur Oberkante zurückgelegt. ICH KANN DIESE DINGER NICHT WERFEN, erklärte er dem Drachen. DU BIST ZU NAHE DABEI. ICH BIN DURCH GEWITTERSTÜRME GEFLOGEN, kam die Antwort, ALS UM MICH HERUM DER HIMMEL -184-
AUSEINANDERBRACH. ICH ÜBERLEBTE. WIRF SIE. ICH KANN NICHT. WIR STERBEN, WENN DU ES NICHT TUST. UND POL. . . Samtfinger dachte an seine Verfolger, machte eine der Granaten scharf und schleuderte sie hinab zu der jetzt im Dunkeln liegenden Stelle, an der er zuvor gegraben hatte. Er hielt sich die Ohren zu. Er hörte den Knall und spürte die Explosionswellen. Anschließend vernahm er die Geräusche von fallenden und sich verschiebenden Felsen. MONDVOGEL! BIST DU IN ORDNUNG? JA. WIRF DIE NÄCHSTE! BEEIL DICH! Samtfinger gehorchte und hielt sich wieder die Ohren zu. Nach der zweiten Explosion fragte er: MONDVOGEL? JA. NOCH EINE. Die Antwort hörte sich schwächer an, oder wurde sie nur durch das Dröhnen in seinem Kopf gedämpft? Er warf die dritte Granate und drückte sich dicht an die Felswand, bis sie detoniert und die Schockwellen verebbt waren. MONDVOGEL? Keine Antwort. Er lugte durch die Wolken aus Staub und Schatten nach unten. Die Stelle, wo Mondvogel sich befunden hatte, war ganz verdeckt. ANTWORTE MIR, MONDVOGEL! Nichts. Als das Rauschen in seinen Ohren nachließ, glaubte er von der Außenseite des Kegels die scharrenden Geräusche seiner Verfolger zu hören, obwohl es sich auch um herabfallende Steine gehandelt haben konnte. Er wagte nicht, eine Granate über den Kraterrand hinaus zu werfen, wegen der möglichen Auswirkungen für ihn selbst. Rasch begann er hinunterzusteigen. Der Staub peinigte seine -185-
Augen und Nase, wenn er es auch fertigbrachte, nicht zu niesen. Er schmeckte ihn zwischen den Lippen, und es knirschte, als er die Zähne zusammenbiß. Mehrmals spuckte er aus, konnte sich aber nicht völlig davon befreien. Je tiefer er kam, desto dunkler wurde es. Immer wieder wanderten seine Augen zu der Stelle, an der er Mondvogel zuletzt gesehen hatte, aber der Drachen war nirgends zu entdecken. Samtfinger stieg weiter hinab und wünschte sich, während er nach einem Halt für seinen Fuß tastete, daß es eine Möglichkeit gäbe, schneller voranzukommen. Denn der erste der kleinen Männer kletterte über den Rand, und zwei andere folgten ihm. Gerade als er den Blick abwenden wollte, sah er eine vierte Gestalt auftauchen und sich zu ihnen gesellen. Fluchend griff er nach dem nächsten Halt. Ehe seine Hand ihn gefunden hatte, spürte er mit dem Rest seines Körpers ein schwaches, allgemeines Beben in dem Fels, an dem er hing, Ein polterndes Geräusch folgte. Unter ihm, einmal schwächer, einmal stärker, aber erkennbar an Helligkeit zunehmend, breitete sich im Herzen des Kraters ein orangefarbenes Leuchten aus. Das grollende Geräusch ertönte wieder, begleitet von einer Hitzewelle. Über ihm schrie jemand. Seine Verfolger - fünf inzwischen hatten in ihrem Abstieg innegehalten. Während er zu ihnen hinauf schaute, begannen sie nach oben zu klettern, in beinahe panischer Hast. Meine Bomben haben irgend etwas in Bewegung gesetzt, dachte er. Ich kann nicht runter. Ich kann nicht rauf. Also warten und sterben. KOMM HERAB! DIR WIRD NICHTS GESCHEHEN. ER WIRD AUSBRECHEN! NEIN. KOMM HERAB! DU BIST SICHER. -186-
WAS - WAS GEHT DENN EIGENTLICH VOR? KANN NICHT SPRECHEN. KOMM! Samtfingers Hand beendete die lange unterbrochene Bewegung und packte einen felsigen Knauf, auf den er sein Gewicht verlagerte. Als er tiefer hinabstieg, wurde das Leuchten heller. Das Beben hielt an, aber es war sehr schwach, beinahe nur eine Folge der Echos, die seine Bewegungen begleiteten. Plötzlich, mit lautem Brüllen, schoß ein Gegenstand an ihm vorbei in die Höhe, beinahe sofort von einem zweiten gefolgt, beide zogen glühende Spuren in die Dunkelheit. BIST DU SICHER, DASS ALLES IN ORDNUNG IST? fragte er, dicht an die Felsen gepreßt. Aber es gab keine Antwort. Als er weiterkletterte, bemerkte er, daß die Temperatur nicht wesentlich gestiegen war, wie man es in solch unmittelbarer Nähe eines Vulkanausbruchs erwarten sollte. Spielte Mondvogel vielleicht mit seinem eigenen Feuer, um die Feinde zu verjagen? Nein, überlegte er, und blickte auf das Zentrum des Leuchtens hinab. Es erstreckt sich über einen zu großen Bereich und brennt zu gleichmäßig, als daß es sich um Drachenfeuer handeln könnte. Unverletzt erreichte er den Boden des Kraters. Feuerbälle stiegen in die Höhe, aber niemals in seiner Nähe. Wände und Säulen aus Feuer erhoben sich in großer Zahl, wenn er sich auch nicht erklären konnte, was sie speiste. Durch sie hindurch führte ein deutlich erkennbarer Pfad, der in die Richtung führte, die er einschlagen wollte. Er folgte ihm. Der Boden des Kraters war noch zernarbter, als er ihn in Erinnerung hatte, ein Ergebnis seines Bombardements. Er suchte sich einen Weg zwischen Geröll, als er sich der Stelle näherte, an der er gegraben hatte. Nach einigen weiteren Schritten -187-
bemerkte er, daß vor ihm ein gewaltiger Schatten aufragte. Er tat einen weiteren Schritt. MONDVOGEL. . . ? Er wandte sich in seine Richtung, und er sah den großen Kopf des Drachen, einen reichverzierten Stab zwischen den mächtigen Zähnen. DAS SZEPTER! DU HAST ES GEFUNDEN! Samtfinger streckte die Hand aus. STEIG AUF MEINEN RÜCKEN! ICH VERSTEHE NICHT. SPÄTER. STEIG AUF! Samtfinger kletterte auf Mondvogels Rücken und rutschte auf seine Schultern. Sofort bewegte sich der Drachen auf die nördliche Wand zu, fast genau der Stelle gegenüber, an der er zuerst den Aufstieg versucht hatte. Als sie die Kraterwand erreicht hatten, mußte Samtfinger sich festklammern, weil Mondvogel sich aufrichtete und zu klettern begann. MONDVOGEL! VON HIER AUS KOMMST DU NICHT NACH OBEN! NACH UNGEFÄHR DER HALBEN STRECKE GEHT ES BEINAHE SENKRECHT HINAUF. ICH WEISS. WARUM KLETTERST DU DANN? ES GEHT LEICHTER HIER. BIS DORTHIN. ABER. . . WARTE, BIS WIR DEN VORSPRUNG ERREICHT HABEN. Samtfinger erinnerte sich an das Felsband, das er meinte. Es hatte breit genug ausgesehen, um Mondvogel zu tragen, aber es war trotz allem eine Sackgasse. -188-
Mondvogel machte sehr viel raschere Fortschritte als an der anderen Wand. Die Wand war nicht so steil und der Fels griffiger. Während sie höherstiegen, blickte Samtfinger zurück in die Tiefe. Das Glühen der Feuers unten schien sich auszubreiten, zu verstärken. Er spürte eine Woge von Hitze auf seinem Gesicht, auf die sofort die nächste folgte, schon sehr viel heißer. Endlich erreichte Mondvogel den Felsvorsprung, zog sich hinauf, drehte sich um und blickte nach unten. Helligkeit und Wärme nahmen weiter zu. »Was ist eigentlich passiert?« fragte Samtfinger laut. DIE LETZTE EXPLOSION RISS MICH VON DER WAND, erwiderte Mondvogel. NACHDEM ICH GESTÜRZT WAR, SPÜRTE ICH DIE NÄHE DES STABES. »Und gleichzeitig flammten die Feuer auf?« DIE FEUER SIND MEIN WERK. UM DEINE VERFOLGER ZU VERJAGEN. »Wie hast du das gemacht?« ICH BENUTZTE DEN UNTEREN TEIL DES STABES. ER DIENT DEM FEUERZAUBER. »Du kannst den Stab benutzen? Ich hatte keine Ahnung. . .« NUR DEN UNTEREN TEIL. DRACHEN BEHERRSCHEN DIE GEHEIMNISSE DES FEUERS. »Nun, wir scheinen jetzt sicher zu sein, aber die Feuer breiten sich immer noch aus. Du könntest sie löschen - wenn es dir möglich ist.« NEIN. »Warum nicht?« ICH WERDE EINEN TURM AUS HITZE BRAUCHEN, UM DIESEN KRATER VERLASSEN ZU KÖNNEN. -189-
»Das verstehe ich nicht.« ICH WERDE VON HIER OBEN ZU DEN FEUERN HINABGLEITEN. ES IST LEICHTER, SICH VON DEN WARMEN LUFTSTRÖMEN IN DIE HÖHE TRAGEN ZU LASSEN. Schatten umtanzten sie. Samtfinger spürte einen neuen Schwall heißer Luft. »Es ist nicht besonders weit bis zum Boden. . .«, sagte er. »Bist du sicher, daß es reicht, um aufzufliegen?« DAS LEBEN IST EINE UNSICHERE ANGELEGENEHIT, erwiderte Mondvogel. HALTE DICH FEST! Er breitete die Schwingen aus und stürzte sich in den glühenden Krater.
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XIV
Je mehr ich von der Welt sehe, desto mehr vertiefen sich meine philosophischen Spekulationen über mein eigenes Selbst und das Universum. Und keine brauchbaren Antworten scheinen sich zu ergeben, weder praktischer Art noch auf einer mehr allgemeinen Ebene. Inzwischen frage ich mich, ob ein Zustand der Ungewißheit nicht das Los aller denkenden Wesen ist. Dennoch, es fällt mir auf, daß die Handlungen anderer, von Gründen bestimmt werden, die ich nicht völlig begreife. Ihre Taten scheinen darauf gerichtet, bestimmte Situationen herbei zuführen, während ich keine wirklichen Ziele habe. Ich beobachte. Ich sammle Informationen. Aber ich habe keine Ahnung, was das alles bedeutet. Ich habe kein Ziel, nur dessen geheimnisvollen Schatten - etwas, das mich mit der Ahnung verfolgt, daß ich mehr haben sollte. Trotz meiner Verwirrung im Angesicht der Probleme der Existenz, gehorchte ich weiter dem kleinen Imperativ, der mich begleitete, seit ich Rondoval verlassen hatte. Ich beobachtete Samtfinger, als er fortging, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, und dann Ibal, um mich zu vergewissern, daß er tatsächlich die Mittel besaß, Samtfinger schnell an seinen Bestimmungsort zu befördern - ganz zu schweigen von der Bereitschaft, es zu tun. Ich war Zeuge bei Samtfingers Abreise und kehrte dann zu der Stelle am Fuß Belkens zurück, wo ich meine ersten Versuche in der Übernahme eines Körpers durgeführt hatte. Ich versuchte es noch einmal, mit gutem Erfolg und erschreckte einen Trupp von jüngeren Lehrlingen. Dann verharrte ich unentschlossen. Sollte ich der immer noch fühlbaren Spur des fremden Zauberers in die Stadt folgen, um heraus zu finden, was er vorhatte? Oder sollte ich Pol und Larick nach Avinconet im Norden folgen? Beinahe sofort -191-
beendete der kleine Imperativ die Ungewißheit. Ich schwebte in die Höhe, nahm festere Gestalt an und schlug eine ungefähr nördliche Richtung ein. Ohne Mühe gelang es mir, sie zu überholen, und ich folgte ihnen den Rest des Tages. Dadurch erhielt ich keine der von mir ersehnten Antworten, aber das Drängen, das ich voher verspürte hatte, verschwand. Für den Augenblick war ich so zufrieden wie während der alten Tage, als ich mich ziellos durch die Ruinen Rondovals bewegte. Natürlich konnte es nicht andauern. Das stellte ich fest, als der Tag sich dem Ende entgegenneigte, alles Licht aus ihm herausgepreßt wurde und die gewaltige Burg, Avinconet, vor uns in der dunklen Ferne aufragte. In diesem Augenblick lernte ich das Gefühl der Angst kennen. Eine seltsame Ahnung überkam mich - eine düstere Vorwarnung, wenn man so will -, begleitet von der scheinbar gundlosen Erkenntnis, daß ich sterblich war, daß mein Leben beendet werden konnte, und daß dieses in der Burg geschehen mochte. Es war etwas, das mir nie zuvor in den Sinn gekommen war, und es war eine furchtbare Erkenntnis - denn schon, als ich sie mit dem, was ich von mir wußte, in Einklang zu bringen versuchte, merkte ich, daß sie sehr wohl der Wahrheit entsprechen konnte. Man könnte glauben, daß eine Existenz wie die meine, mehr von Fragen als allem anderen erfüllt, nicht viel wert wäre. Im selben Moment erkannte ich aber, daß dies nicht der Fall war. Mehr als alles andere, das fühlte ich, wollte ich sie fortsetzen, so sinnlos und verwirrend sie auch sein mochte. Ich schwebte näher an Pol heran. Ich hüllte mich in die Wärme seines Selbst. Warum mir während dieser Zeit nicht der Gedanke an Flucht kam, wußte ich nicht. Ich klammerte mich an ihn, wie ein Kind an seine Eltern, als wir uns der dunklen Zitadelle näherten. Ich blieb bei ihm, nachdem wir gelandet waren und begleitete ihn in die Zelle, wo er eingeschlossen wurde. -192-
Eine Zeitlang harrte ich bei ihm aus - bis sein Essen kam und ich merkte, daß für den Rest der Nacht wahrscheinlich nicht mehr gestört werden würde. Während meine früheren Befürchtungen nicht verschwunden waren, hatten sie inzwischen ausreichend nachgelassen, um vernüftigere Überlegungen möglich zu machen. Jetzt, während alles ruhig schien, war die beste Zeit für mich, die Burg zu durchforschen, heraus zu finden, wo etwaige Gefahren lauern mochten und zu erwägen, wie ich sie am besten unschädlich machen konnte. Also schwebte ich davon, und ließ Pol in seiner sicheren und uninteressanten Unterkunft zurück. Ich bewegte mich durch verschiedene Räume, beendete das Leben von Ratten und Mäusen, beobachtete Schläfer, suchte Anzeichen für schwarze Magie oder gefährliche Mächte. Ich bewegte mich sehr langsam, da ich nicht überrascht werden wollte. Die Nacht schritt vor, und ich hatte allmählich das Gefühl, daß meine Vorahnungen falsch gewesen waren. Nichts drohte, nichts erhob sich gegen mich. Es schien einfach nur ein weiterer Haufen Steine zu sein, der durch simple Konstruktionsprinzipien und Rohrleitungen für die menschliche Nutzung hergerichtet worden war, durch einige grobe Möbelstücke und grelle Vorhänge ohne jeden Sinn. Die einzigen Spuren magischer Betätigung waren beinahe schmerzhaft harmlos. Dennoch, im Bewußtsein dessen, was ich gefühlt hatte, war ich nicht so leicht zu entmutigen. Mitternacht kam heran und verging. Ich erkundete jeden hohen Turm. Ich. . . Ein unbeschreiblicher Schmerz durchfuhr mein Selbst. Er war mit nichts zu vergleichen, was ich zuvor gespürt hatte, außer vielleicht dem vergessenen Schock meiner Geburt. Etwas hatte sich plötzlich verändert, etwas, das mich bis in die Tiefen meiner Persönlichkeit erschütterte. Aber noch -193-
während dies geschah, zweifelte ich daran, daß es sich um die Gefahr handelte, nach der ich gesucht hatte. Keine Andeutung schwarzer Magie war darin enthalten. Das einzige Ergebnis war ein Gefühl, daß in meiner eigenen Sache etwas entschieden worden war. Wenn ich nur herausfinden könnte, was es war. Ich spürte, daß ein Teil meines persönlichen Geheimnisses gelöst werden würde. Ich verharrte lange Zeit in Meditation, ohne eine Erleuchtung zu haben, und ich konnte die Quelle von dem, was mich überkommen hatte, nicht herausfinden. Es war beinahe, als wäre irgendwo mein Name genannt worden, gerade außerhalb meiner Hörweite. Ich sank herab, von einem Stockwerk zum anderen. Ich hatte das meiste von dem, was über dem Boden lag, durchforscht und beschloß, meine Aufmerksamkeit nun dem Bereich unter der Burg zuzuwenden, im Innern des Berges. Es gab eine Reihe von Öffnungen, natürliche und künstliche, und ich erkundete eine nach der anderen. In einem dieser Winkel entdeckte ich die schlafende Frau. Sie lag regungslos in einem Behälter, ihr Geist wanderte umher, nur ein sehr bleiches Licht von Leben umgab sie noch. Ich näherte mich, um sie genauer zu untersuchen, und eine Falle schnappte zu. Es war ein raffinierter Zauber, dafür gedacht, jedes nicht körperliche Wesen, wie mich, zu fangen, sollte es der Dame zu nahe kommen - vermutlich, um sie gegen Inbesitznahme zu schützen. Also war ich gefangen, mehrere Meter von ihr entfernt, in etwas, das man am besten als ein riesiges, unsichtbares Spinnennetz beschreiben könnte. Ich kämpfte kurz dagegen an und bemerkte, daß es sinnlos war. Ich entspannte mich in meinen Fesseln und versuchte, meine Gestalt zu verändern. Auch das gelang nicht, ebensowenig wie meine Versuche, auf eine andere Ebene überzuwechseln. Das Netz der Macht hielt mich fest. Dort hing ich nun und versuchte, den Zauber zu analysieren. -194-
Seine Wirkung war von der Art, wie sie die Menschen bestimmten Weinen zuschreiben. Diese Wirkung war mir von manchem alten Zauber bekannt, den es in Rondoval noch gab. Die Guten, wie dieser, werden mit zunehmendem Alter unglücklicherweise immer besser, aufgrund der gegenläufigen Entropie auf der Ebene, wo Magie wirkt. Dieser Zauber, soweit ich es beurteilen konnte, reichte fünfzehn oder zwanzig Jahre zurück. Ich versuchte, kleine Teile von Energie hindurchzuschicken, in der Hoffnung, eine Schwachstelle zu finden, an der ich ansetzen konnte, von der aus ich den Zauber aufziehen konnte wie einen Strumpf. Alles ohne Erfolg. Er war aus einem Stück, und er hatte mich. Ich verblieb dort lange Zeit und rief mir alles ins Gedächtnis, was man vielleicht dagegen anwenden könnte. Als ich alles versuchte und nichts gelang, kam ich zu dem Schluß, daß es vielleicht an der Zeit war, meine philosophischen Überlegungen weiter auszubauen. Ich begann über Existenz und NichtExistenz nachzusinnen, ich überdachte meine Vorahnung, grübelte über meinen Schmerz. . . Ich hörte Schritte. Es ist im allgemeinen einfach, unentdeckt zu bleiben, wenn man unsichtbar und lautlos ist, aber ich machte zusätzliche Anstrengungen, um Stille auf allen Ebenen zu erreichen, eingeschlossen der geistigen, als ich Pol herankommen sah, geführt von einer eigenartigen Flamme, die ebenso immateriell wie ich selbst war. Es war etwas Vertrautes an diesem flammenähnlichen Ding, etwas, das mir gar nicht gefiel. Ich spürte, ohne zu wissen, warum, daß es die Macht hatte, mir zu schaden. Ich fühlte den Austausch von Gedanken zwischen Pol und der Helligkeit. Ich hörte nur Pols Teil davon, da ich nicht willens war, mich weiter hineinzumischen, aus Furcht, dadurch die Aufmerksamkeit des Feurigen zu erregen. -195-
Schließlich nahm Pol den Deckel von dem Behälter und legte ihn beiseite. Es gab eine weitere lange Unterbrechung, dann nahm er die Frau auf die Arme, ging über einen Felsvorsprung und folgte der Flamme in einen Gang. Plötzlich war ich frei. Der Zauber mußte sich auf die Frau bezogen haben, nicht den Ort, nicht den Behälter. Ich blieb in sicherer Entfernung. Ich wollte sehen, wohin sie gingen, aber nicht zu nahe an sie herankommen, damit ich nicht wieder gefangen wurde. Langsam schwebte ich hinter ihnen her, außerhalb der Reichweite des Zaubers, die ich jetzt kannte. Ich erkannte die große Höhle, sobald ich hineinkam. Das letzte Mal, als ich diesen Weg benutzt hatte, hatte ich mich mit übersinnlicher Geschwindigkeit bewegt und folgte einer magischen Spur, so daß keine Notwendigkeit bestanden hatte, auf die Umgebung zu achten. Deshalb hatte ich nicht gewußt, daß das Tor sich an diesem Ort befand. Das Tor. . . Genauso, wie ich es in Erinnerung hatte, aus Pols Träumen und von meinem eigenen, raschen Hindurchgleiten her, ragte das Tor vor mir auf, gewaltig, drohend und, glücklicherweise, geschlossen. Auf dieser Ebene war es niemals geöffnet gewesen, vermutete ich, obwohl sein geisterhaftes Abbild mehrmals offengestanden hatte, um den Austausch von Botschaften, Essenzen und Geistern möglich zu machen. Hätte es in Wirklichkeit offengestanden, wäre es wahrscheinlich nicht mehr möglich, es wieder zu schließen, denn ich konnte sehen, wie eine Vermischung der Welten begann, wie die fremdartig strukturierten, sehr viel älteren Lebensformen aus dieser anderen Welt mit ihrer weit stärkeren Magie hindurch strömten, um dieses jüngere, magisch schwächere Land zu beherrschen, es ihrem eigenen Bild anzugleichen, belebt durch das rohe, natürliche Leben dieser neueren Welt. Stärker an Magie, schwächer an Leben. Die Magie würde überwiegen, dessen war -196-
ich sicher. . . Pol legte seine Last auf den Stein, den eine Aura des Todes umgab. Seine Bewegungen waren träge, unbestimmt, als würde er schlafwandeln. Ich fühlte nach ihm, behutsamer als je zuvor, streifte nur gerade seine Oberflächengedanken. Er war bezaubert. Er wußte es nicht, aber die Flamme hielt ihn in ihrem Bann. Ich sah keine Möglichkeit, mich erfolgreich einzumischen. Ich wußte, ohne zu wissen, woher ich wußte, daß das Ding stärker war als ich. Ich fühlte mich vollkommen hilflos, als die Flamme Pol lenkte, ihn anwies, die Statuette herbei zu holen. Ich war mehr als nur ein bißchen erfreut, als die Macht Pol im Stich ließ, und das Vorhaben abgebrochen werden mußte. Die Enttäuschung der Flamme weckte in mir etwas, das einem Glücksgefühl ähnlicher war als alles, was ich bisher erlebt hatte. Ich sah sie fortgehen. Ich bezweifelte, daß Pol sich in irgendeiner unmittelbaren Gefahr befand und ich hatte vor, die Höhle genauer zu untersuchen. Ein großes, rechteckiges Stück Morgen schmückte die Wand zu meiner Linken. Ich verspürte eine neue Vorahnung, diesen Raum betreffend.
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XV Pol wurde von dem Geräusch der sich öffnenden Zellentür aus einem traumlosen Schlaf geweckt. Zuerst fühlte er sich bleischwer, verkatert und konnte keinen klaren Gedanken fassen, als hätte man ihn unter Drogen gesetzt. Aber dann, innerhalb von Augenblicken, noch bevor Larick einen Fuß in die Zelle gesetzt hatte, begann das Drachenmal so wild und hart zu pulsieren wie niemals zuvor, sandte einen adrenalingleichen Schock durch seinen ganzen Körper, machte seinen Kopf klar und erfüllte ihn mit einem Gefühl wilder Kraft, wie er es vorher nie gekannt hatte. »Steh auf!« sagte Larick und kam näher. Pol spürte, daß er den Mann mit einer einzigen Bewegung töten konnte. Statt dessen gehorchte er. »Komm mit mir!« Pol folgte ihm aus der Zelle hinaus und nahm die unbeholfene, schwerfällige Haltung an, die seiner Meinung nach für ein angebliches Ungeheuer passend war. Durch das erste Fenster, an dem sie vorbeikamen, sah Pol, daß jetzt helles Tageslicht über der Welt lag, wenn er auch den Stand der Sonne nicht erkennen konnte, um die Zeit danach zu bestimmen. Sie schlugen nicht den Weg ein, auf dem er Larick am vorigen Abend mit Hilfe der Magie gefolgt war - auch nicht den, den die Flamme ihn geführt hatte. »Wenn du zur Zusammenarbeit bereit bist«, bemerkte Larick nebenher, »ist es möglich, daß du unbeschadet wieder freigelassen wirst.« »Ich betrachte mich nicht als unbeschadet«, antwortete Pol und stieg eine Treppe hinauf. »Deinem gegenwärtigen Zustand könnte abgeholfen werden.« »Was springt für dich dabei heraus?« fragte er. -198-
Der andere schwieg lange Zeit. Dann: »Du würdest es nicht verstehen«, meinte Larick. »Versuch's.« »Nein. Es ist nicht meine Sache, dir etwas zu erklären«, antwortete er schließlich. »Du wirst deine Erklärungen in Kürze bekommen.« »Was ist der Preis dafür, das Vertrauen des Einweihungskomitees zu mißbrauchen?« »Manche Dinge sind wichtiger als andere. Du wirst es sehen.« Pol kicherte leise. Die Macht pulsierte immer noch in ihm. Es wunderte ihn, daß der andere nichts davon merkte. Er mußte sich beherrschen, um nicht damit zu zuschlagen. Sie gingen durch einen langen Korridor, eine Treppe hinauf, durchquerten eine große Halle. »Ich wäre dir gerne unter anderen Umständen begegnet, sagte Larick, als sie eine nach unten führende Treppe erreichten. »Ich habe das Gefühl, daß dies noch geschehen wird«, erwiderte Pol. Er erkannte einen Bereich, durch den er auch während der Nacht gekommen war. Gleichzeitig bemerkte er auch, daß sie in den Nordwestflügel der Burg gelangt waren. Sie näherten sich einer dunklen, reichgeschnitzten Tür. Larick ging voran und klopfte. »Herein«, ertönte eine Stimme, die etwas heller war, als Pol erwartet hatte. Larick öffnete die Tür und trat über die Schwelle. Er drehte sich um. »Komm mit!« Pol folgte ihm in das Zimmer. Es war eine Studie in grob behauenem Holz und Stein, mit vier rotschwarzen Teppichen auf dem Boden. Fenster gab es nicht. Ryle Merson saß an einem langen Tisch, vor sich die Reste seines Frühstücks. Er stand nicht auf. -199-
»Hier ist der Freistäbler, über den wir sprachen«, sagte Larick. »Er ist völlig willenlos in jeder Beziehung, bis auf den Verstand.« »Dann hast du das, was zählt«, antwortete Ryle. »Überlaß ihn mir.« »Ja.« »Ich meinte es wörtlich.« Pol bemerkte, wie Laricks Augen sich erstaunt weiteten und seine Lippen sich öffneten. »Du willst, daß ich gehe?« Ryles breites Gesicht war ausdruckslos. »Wenn du so liebenswürdig sein würdest.« Larick versteifte sich. »Also gut«, sagte er. Er wandte sich zur Tür. »Aber bleib in Rufweite.« Larick blickte zurück, nickte kurz und verließ das Zimmer, die Tür hinter sich schließend. Ryle musterte Pol. »Ich sah dich in Belken«, meinte er schließlich. »Und ich sah dich«, sagte Pol und erwiderte den Blick des alten Mannes. »Auf der Straße, mit Larick, vor dem Cafe, in dem ich saß.« »Du hast ein gutes Gedächtnis.« Pol schüttelte den Kopf. »Ich kann mich allerdings nicht erinnern, dir einen Grund gegeben zu haben, um mich zu entführen und zu mißhandeln.« »Ich nehme an, es muß für dich so aussehen.« »Ich nehme an, es würde für jeden so aussehen.« »Ich möchte unsere Bekanntschaft nicht mit einem falschen -200-
Ton beginnen. . .« »Ich wollte gar keine Bekanntschaft beginnen, ganz gleich mit welchem Ton. Was willst du von mir?« Ryle seufzte. »Also gut. Wenn es nicht anders geht. Du bist mein Gefangener. Ich habe dich in meiner Gewalt. Ich bin in der Lage, dir alle möglichen Unbequemlichkeiten zu bereiten, den Tod eingeschlossen.« Der dicke Zauberer stand auf, ging um den Tisch herum und stellte sich vor Pol. Er machte eine kurze Bewegung und noch eine, ähnlich denen, die Larick angewandt hatte. Pol spürte nichts, obwohl er wußte, was geschah und sich fragte, ob die Verkleidung in der Verkleidung halten würde. Sie tat es. »Vielleicht hast du deinen gegenwärtigen Zustand lieben gelernt?« »Eigentlich nicht.« »Dein Gesicht wird von deinern eigenen Zauber verborgen. Ich werde ihn unverändert lassen, da ich bereits weiß, wie du aussiehst. Ich glaube, das könnte ein Anfang sein.« »Deine Zuhörer sind gefesselt. Laß dich nicht aufhalten.« »Letztes Jahr hörte ich ein Gerücht, daß Rondoval wieder bewohnt sei. Wenig später erfuhr ich von der Schlacht auf dem Amboßberg. Mit Hilfe der Magie ließ ich dein Bildnis erscheinen. Dein Haar, dein Muttermal, deine Ähnlichkeit mit Det - es war offensichtlich, daß es sich bei dir um einen Sproß dieses Hauses handelte und um einen, von dem ich nie gehört hatte.« »Und natürlich mußtest du deswegen etwas unternehmen, da niemand Rondoval liebt.« Ryle drehte sich um, tappte durch das Zimmer, drehte sich -201-
wieder um. »Du führst mich in Versuchung, einfach zu zu stimmen und es dabei bewenden zu lassen«, sagte er. »Aber ich habe Gründe für das, was ich tue. Möchtest du sie hören?« »Natürlich.« »Es gab eine Zeit, da war Det ein guter Freund von mir. Er war dein Vater, nicht wahr?« »Ja.« »Wo hielt er dich versteckt?« Pol schüttelte den Kopf. »Er hielt mich nicht versteckt. Soviel ich von der Sache weiß, war ich bei der Eroberung Rondovals dabei. Um nicht einen Säugling töten zu müssen, brachte der alte Mor mich in eine andere Welt, wo ich aufwuchs.« »Ja, das kann ich mir vorstellen. Interessant. Gegen wen tauschte er dich aus?« »Mark Marakson, den Mann, den ich auf dem Amboßberg tötete.« »Faszinierend. Ein Wechselbalg. Wie bist du hierher zurück gekommen?« »Mor schickte mich zurück. Um mich um Mark zu kümmern. Also kanntest du meinen Vater?« »Ja. Wir waren gemeinsam an einigen Unternehmungen beteiligt. Er war ein äußerst fähiger Zauberer.« »Du sprichst, als gäbe es da einen Zeitpunkt, nach dem eure Freundschaft beendet war.« »Richtig. Wir konnten uns über einen sehr wichtigen Teil unseres letzten großen Projekts nicht einigen. AIso setzte ich einen Schlußpunkt unter unsere Zusammenarbeit und ließ ihn die Koffer packen. Es war zu dieser Zeit, als er die Vorgänge ins Rollen brachte, die zu dem Streit und dem Untergang Rondovals -202-
führten. Der dritte Partner unserer Unternehmungen verließ ihn, als die Dinge sich ungünstig zu entwickeln begannen.« »Wer war das?« »Ein fremder Freistäbler von großer Macht. Ich weiß nicht genau, wo Det ihn aufgelesen hat. Ein Mann mit Namen Henry Späher. Seltsamer Name, das.« »Willst du behaupten, daß, wenn ihr beide ihn nicht im Stich gelassen hättet, Rondoval noch stehen könnte?« »Ich bin sicher, es würde noch stehen, in einer grausam veränderten Welt. Ich ziehe es vor, zu glauben, daß Det und Späher mich im Stich ließen.« »Natürlich. Und jetzt gelüstet es dich nach einer kleinen zusätzlichen Rache an der Familie, um der alten Zeiten willen.« »Kaum. Aber jetzt bist du an der Reihe, ein paar Fragen zu beantworten. Du sagst, daß Mor dich zurückbrachte?« »Zurückschickte, sagte ich. Er begleitete mich nicht. Er schien krank zu sein. Ich vermute, daß er zu dem Ort zurückgegangen ist, wo ich gelebt hatte.« »Der Austausch. . . Ja. Wurdest du direkt nach Rondoval geschickt?« »Nein. Ich fand später selbst den Weg dorthin.« »Und dein Erbe? Alles, was du von der Kunst weißt? Wie bist du darauf gestoßen?« »Ich habe es nach und nach heraus gefunden.« »Das macht dich zu einem Freistäbler.« »So habe ich es gehört. Du hast mir immer noch nicht gesagt, was du willst.« »Die Stimme des Blutes läßt sich nicht verleugnen oder?« bemerkte Ryle scharf, Pol musterte das Gesicht des Mannes. Verschwunden war der nichtssagende Ausdruck, den er bis jetzt zur Schau getragen hatte. Pol erkannte die Drohung in dem -203-
Blick der eng zusammengekniffenen Augen, der sich auf ihn richtete, in der Rötung des Gesichts, dem harten Zug um den Mund. Er bemerkte auch, daß eine dickliche Hand so fest zusammen geballt war, daß die Ringe tief ins Fleisch schnitten. »Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte Pol. »Ich glaube doch«, gab Ryle zurück. »Dein Vater wollte das Gleichgewicht verändern, das diese Welt beherrscht, hatte aber keinen Erfolg mit seinem Versuch. Ich gebot ihm hier Einhalt, und Kleithes Streitmacht besiegte ihn in Rondoval. Früher oder später mußte es zu einer Reaktion kommen. Sie kam in Gestalt von Mark Marakson, der dir auf dem Amboßberg unterlag. Jetzt müssen die Waagschalen sich wieder nach der anderen Seite neigen - der deines Vaters -, was bedeutet, daß diese Welt von der Magie beherrscht würde. Sie können an diesem Punkt für immer angehalten werden oder sich ganz herabsenken, womit der Traum deines Vaters verwirklicht wäre. All die Jahre hindurch habe ich darauf gewartet, diese Bedrohung aufzuhalten, zu beenden, dafür zu sorgen, daß sie niemals wahr wird.« »Ich wiederhole. Ich weiß nicht, was. . .« Ryle trat an ihn heran und versetzte ihm eine Ohrfeige. Pol bekämpfte das Verlangen, zurück zuschlagen, als er spürte, wie einer der Ringe seine Wange aufriß. »Sohn eines schwarzen Magiers! Du bist selber einer!« schrie er. »Daran ist nichts zu ändern! Du hast es im Blut! Selbst. . .« Er verstummte, trat zurück. Dann: »Du willst das Tor öffnen«, sagte er. »Du würdest das große Werk deines Vaters für diese Welt vollenden.« Pol fühlte plötzlich, daß dies der Wahrheit entsprach. Das Tor. . . Natürlich. Er hatte vergessen. All die Träume. . . Sie sickerten jetzt in sein Bewußtsein. Gleichzeitig erfüllte ihn das Verlangen, Ryle ein bißchen in Verlegenheit zu bringen. -204-
»Du sagst, daß du anfangs an dem Vorhaben beteiligt gewesen bist?« fragte er behutsam. »Ja, das stimmt«, gab Ryle zu. »Und du erwähntest schwarze Magie. . .« Ryle wandte den Blick ab, ging zum Tisch zurück, zog den Stuhl vor und ließ sich darauf nieder. »Ja«, sagte er, die Augen auf die Reste seines Frühstücks gerichtet, »und in des Wortes doppelter Bedeutung sogar. Schwarz, weil sie für etwas eingesetzt wurde, das moralisch nicht vertretbar war und schwarz in einem tieferen Sinne - der Gebrauch von Mächten, die den Charakter des Magiers selbst zum Bösen verändern. Über das erstere könnte man noch diskutieren, über das zweite niemals. Ich gebe zu, daß ich ein schwarzer Magier war, aber ich bin es nicht mehr. Vor langer Zeit schon habe ich davon abgelassen.« »Larick zu benutzen, um die Zauber für dich zu wirken, scheint mir kaum der richtige Weg, schwarze Magie zu vermeiden. Wie in meinem Fall. . .« Er schwieg, als Ryle den Blick hob und ihn ansah. »In deinem Fall«, sagte er, »würde ich es - und werde es, sollte es nötig sein - selber tun. Schlimmstenfalls würde sich das um einen Rückfall in die schwarze Magie der ersteren Art handeln - sie benutzen, um größeres Unheil zu verhüten.« »Gemäß der allgemeingültigen Auslegung von Moral - daß immer nur die anderen ihrer bedürfen?« »Ich denke an mehr, als nur an uns beide. Ich denke daran, was du der ganzen Welt antun würdest.« »Indem ich das Tor öffne?« »Genau.« »Entschuldige meine Unwissenheit, aber was geschieht, wenn -205-
das Tor geöffnet wird?« »Diese Welt würde überflutet, überschwemmt, von den Mächten einer sehr viel älteren Welt - nach unseren Begriffen ist es eine schlechte Welt. Wir würden zu einem Teil von ihr. Ihre stärkere, uralte Magie würde die natürlichen Gesetze, die hier gelten, außer Kraft setzen. Unser Land würde zu einem Reich dunkler Mächte.« »Das Böse könnte sehr wohl relativ sein. Sag mir, welche Bedenken ein Zauberer gegen etwas haben kann, durch das Zauberei an Bedeutung gewinnen würde?« »Du benutzt das Argument, mit dem dein Vater mich anfangs überredete. Aber dann fand ich heraus, daß die freigesetzten Mächte so stark sein würden, daß kein gewöhnlicher Zauberer sie kontrollieren könnte. Wir wären alle der Gnade jener aus der anderen Welt hinter dem Tor ausgeliefert und den wenigen unserer eigenen Rasse, die sich mit ihnen verbünden würden.« »Und wer sind diese wenigen?« »Einer war dein Vater, Henry Späher ein weiterer; du selbst und andere deiner Art - alles Freistäbler.« Pol unterdrückte ein Lächeln. »Ich nehme an, daß du kein Freistäbler bist?« »Nein, ich mußte mir meine Fähigkeiten auf die harte Art erwerben.« »Ich fange an, deine Einstellung zu begreifen«, meinte Pol, bedauerte seine Worte aber sofort, als er sah, wie sich Ryles Gesichtsausdruck wieder veränderte. »Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte er steif, »da du keine Tochter hast, die von Henry Späher verflucht wurde.« »Der Geist dieser Burg«, sagte Pol. »Ihr Körper liegt an einem geheimen Ort, weder tot noch lebendig. Spähers Werk, als ich mich von ihm und Det trennte. Trotzdem war ich willens, sie zu bekämpfen.« -206-
Pol hatte das Bedürfnis, den Blick abzuwenden, sein Gewicht zu verlagern, sich zu bewegen, wegzugehen. Statt dessen fragte er: »Was meinst du genau mit dem Wort ›Freistäbler‹ ?« »Jene mit einer natürlichen Begabung für die Kunst«, sagte Ryle. »Jene, die eine engere, persönlichere Bindung zu ihren Kräften besitzen - Künstler eher als Techniker, könnte man sagen.« »Ich danke dir dafür, daß du mir all diese Dinge erklärst«, sagte Pol, »und da ich weiß, daß du mir nichts glauben würdest, was ich zu meiner Verteidigung zu sagen hätte, versuche ich es erst gar nicht. Warum sagst du mir nicht einfach, was du von mir willst?« »Du hast Träume gehabt«, meinte Ryle. »Nun, ja. . .« »Träume«, fuhr er fort, »die ich dir sandte, in denen dein Geist durch das Tor ging, um die Öde und Verlassenheit jener bösen Welt zu sehen; in denen du die Geschöpfe betrachten konntest, die dort ein lasterhaftes Leben führten.« Pol rief sich seine ersten Träume ins Gedächtnis, dachte aber auch an die späteren, die ihm die Städte hinter den Bergen gezeigt hatten, die weder verlassen noch öde waren, sondern Zentren einer so komplexen Kultur, daß sie sein Begriffsvermögen überstieg. »Das ist alles, was du mir gezeigt hast?« fragte er verwirrt. »Alles? Ist das nicht genug? Genug, um jeden anständigen Menschen zu überzeugen, daß das Tor nicht geöffnet werden darf?« »In dem Fall hast du gute Arbeit geleistet«, bemerkte Pol. »Aber verrate mir eins, waren es nur Träume, die du mir geschickt hast?« Ryle neigte stirnrunzelnd den Kopf zur Seite. Dann lächelte -207-
er. »Oh. Das«, sage er. »Keth. . .« »Keth? War das der Zauberer, der mich in meiner eigenen Bibliothek überfiel?« Ryle nickte. »Eben der. Ja, ich schickte ihn. Ein guter Mann. Ich hoffte, er würde dich besiegen und die Sache damit ein für allemal erledigen.« »Welche Sache? Trotz all deinem Gerede über das Tor und meinen Vater und Freistäbler und schwarze Magie weiß ich immer noch nicht, was du eigentlich von mir willst.« Der dicke Zauberer lachte. »Ich hoffte, daß es mir mit Hilfe der Träume - die dir die Gefahr verdeutlichten - und dadurch, daß ich dir alles genau erklärte, wie ich es gerade getan habe, gelingen könnte vielleicht gelingen könnte -, dich auf meine Seite zu bringen und zu überreden, mit mir zusammen zu arbeiten. Es würde die Angelegenheit sehr vereinfachen.« »Durch diese Vergewaltigung meiner Anatomie hast du dich nicht gerade beliebt bei mir gemacht.« »Es war notwendig, um dir klarzumachen, wie weit ich gehen würde, wenn du dich nicht entschließen würdest, mir zu helfen.« »Da bin ich mir immer noch nicht sicher. Was bleibt denn noch - außer dem Tod?« Ryle rieb sich die Hände und lächelte. »Dein Kopf natürlich«, sagte er. »Bis jetzt habe ich dir so wenig Unannehmlichkeiten wie nur eben möglich bereitet. Aber wenn du, nach gewissen schmerzhaften Einwirkungen auf den Körper, den du jetzt trägst, dich weigerst, mir zu geben, was ich haben will, werde ich den Austausch vervollständigen. Ich werde deinen Kopf zu deinen anderen Körperteilen ins Exil -208-
hinter dem Tor schicken. Dadurch gewinne ich einen leicht behinderten dämonischen Diener und du - du hast die Welt gesehen - wirst den Rest deiner Tage auf recht unangenehme Art und Weise verbringen.« »Das klingt sehr überzeugend«, bemerkte Pol, »und von was wäre das die Folge?« »Du weißt, wo die Schlüssel sind - die Schlüssel, die das Tor öffnen oder für immer verschließen können. Ich will sie haben.« »Vermutlich, um das letztere zu tun?« »Natürlich.« »Es tut mir leid, aber ich habe keine solchen Schlüssel. Ich wüßte nicht einmal, wo ich sie suchen sollte.« »Wie kannst du das behaupten, wenn ich sie mehrmals auf dem Tisch in deinem Zimmer gesehen habe - und sogar noch, während ich deinen Kampf mit Keth beobachtete?« Pols Gedanken wanderten zurück, sowohl zu dieser Begebenheit als auch zu einem seiner Träume. Er fühlte Widerstand in sich aufkommen. »Du wirst sie nicht bekommen«, sagte er. »Ich hatte das bestimmte Gefühl, daß es nicht einfach sein würde«, meinte Ryle und stand auf. »Wenn es dir so viel bedeutet, das Tor zu öffnen, beweist das nur, wie weit es mit dir schon gekommen ist.« »Es hat nichts mit dem Tor zu tun«, erwiderte Pol. »Es ist nur die Art und Weise, wie mir etwas weggenommen werden soll, die mir gegen den Strich geht. Du wirst arbeiten müssen - für jedes bißchen, das du aus mir herausholst.« Ryle hob die Hände. »Das könnte leichter sein, als du glaubst«, sagte er. »Schmerzlos sogar - wenn du Glück hast. Wir werden in einem Augenblick wissen, wie vorausschauend du gewesen -209-
bist.« Als Ryles Hände sich zu bewegen begannen, unterdrückte Pol das Verlangen, sich zur Wehr zu setzen. Eine leise Stimme schien zu sagen: »Noch nicht.« Vielleicht war er es selbst. Er glitt auf die zweite Sichtebene hinüber und sah eine gewaltige, orangefarbene Woge auf sich zurollen. Als sie ihn traf, verspürte er eine gewisse Verlangsamung und schließlich einen völligen Stillstand seiner Gedankenvorgänge. Sein Körper wurde ganz starr. Er wußte nicht mehr, was er wollte oder nicht wollte. Ryle sprach, und seine Stimme kam aus weiter Ferne, obwohl er unmittelbar vor ihm stand: »Wie lautet dein Name?« Mit eigenartiger Faszination spürte er, wie seine Lippen sich bewegten, hörte seine Stimme antworten: »Pol Detson.« »Unter welchem Namen warst du in jener anderen Welt bekannt?« »Daniel Chain.« »Befinden sich die sieben Statuetten in deinem Besitz, die die Schlüssel zu dem Tor sind?« Plötzlich hing ein Flammenschleier zwischen ihnen, Ryle schien sich dessen nicht bewußt zu sein. »Nein«, hörte Pol sich selbst erwidern. Der dicke Zauberer schien verwirrt, dann lächelte er. »Das war ungeschickt formuliert«, meinte er beinahe entschuldigend. »Kannst du mir sagen, wo sich die sieben magischen Statuetten befinden, die einst deinem Vater gehörten?« »Nein«, antwortete Pol. »Warum nicht?« fragte Ryle. »Ich weiß nicht, wo sie sind«, sagte Pol. »Aber du hast sie gesehen, in der Hand gehalten, in deinem Besitz gehabt?« -210-
»Ja.« »Was ist aus ihnen geworden?« »Sie wurden mir auf dem Weg nach Belken gestohlen.« »Das glaube ich nicht.« Pol schwieg. ». . . aber du bist zu beglück wünschen für deine Voraussicht «, fuhr Ryle fort. »Du hast dich mit einem sehr starken Zauber vor unfreiwilligem Verrat geschützt. Es würde mich viel Zeit kosten, seinen genauen Aufbau heraus zu finden und ihn aufzulösen. Zu deinem Pech habe ich weder die Zeit noch die Absicht, und du mußt zum Reden gezwungen werden. Ich habe die Mittel bereits erwähnt, die ich anwenden werde.« Der Mann begann mit einer anderen Folge von Handbewegungen, und Pol fühlte, wie er die Gewalt über seine Gedanken zurückgewann. In dem Maße, wie dieses Gefühl wuchs, verblaßte die Flamme. »Aus Gründen der Ästhetik habe ich auch dein Äußeres wieder hergestellt«, sagte Ryle. »Da du jetzt wieder du selbst bist, möchtest du deinen Worten etwas hin zu fügen?« »Nein.« »Ich rechnete auch nicht damit.« Der dicke Zauberer wandte sich ab, durchquerte den Raum. Öffnete die Tür. »Larick?« rief er. »Ja?« antwortete eine entfernte Stimme. »Bring den Mann in seine Zelle zurück«, sagte er. »Ich werde nach ihm schicken, sobald der Befragungsraum bereit ist.« »Du hast einen Wahrheitszauber versucht?« »Ja. Einen guten. Er ist geschützt. Wir müssen den anderen Weg nehmen.« »Bedauerlich.« -211-
»Ja.« Ryle drehte sich wieder um. »Pol, geh mit ihm!« Pol setzte sich in Bewegung, näherte sich langsam der Tür. Er überlegte. . . Er würde ziemlich nahe an Ryle vorbeikommen. Wenn er sich rasch umdrehte und angriff, glaubte er, ziemlich schnell mit ihm fertig werden zu können, noch bevor der andere seine magischen Kräfte ins Spiel brachte. Dann würde er es natürlich mit Larick zu tun bekommen, und er fragte sich, ob er Ryle ausschalten konnte, bevor der jüngere Zauberer sich einmischte. Was das betraf. . . Ein Bild der Flamme zuckte wieder vor ihm auf. »Noch nicht«, sagte eine Stimme in seinem Kopf. »Warte. Bald. Halte dich zurück.« In Gedanken nickend, ging er an Ryle vorbei und trat in den Gang, wo Larick wartete. »Komm schon«, sagte Larick und wandte sich in die entgegengesetzte Richtung zu dem Weg, auf dem sie gekommen waren. Pol hörte, wie die Tür zu dem Zimmer, das er gerade verlassen hatte, geschlossen wurde. Ein schneller Kaninchenschlag, dachte er, genau unterhalb des Tuches, das er immer trägt, und Larick ist aus dem Spiel. . . Wie vorauszusehen, erschien wieder die Flamme vor seinen Augen. »Hier entlang. . .« Er ging um die Biegung und meinte: »Das ist nicht der Weg, auf dem wir gekommen sind.« »Das weiß ich, du Sohn einer Hündin. Ich will dir zeigen, was einer deiner Sorte getan hat.« Plötzlich gelangten sie in eine vertraute Umgebung, und mit einem Gefühl der Panik erkannte Pol, wohin sie gingen und was -212-
es war, das Larick ihm zeigen wollte. Er verlangsamte seinen Schritt. »Weiter! Komm!« Ihm fiel kein Ausweg ein, aber der Pulsschlag der Macht pochte noch in seinem maskierten Arm. Er beschloß, sich auf die Führung der unsichtbaren Flamme zu verlassen. Irgendwie würde sich ihm die Möglichkeit bieten, sehr bald schon, fühlte er, die Möglichkeit, Larick niederzuschlagen und... Natürlich. Plötzlich konnte er genau voraussehen, was geschehen würde, wußte er genau, was er tun würde, wenn es soweit war. Sie betraten die Höhle. Larick rief ein magisches Licht, das vor ihnen herschwebte und ihren Weg erleuchtete. Pol hielt sich bereit, als sie sich der Stelle näherten, wo sich der geöffnete, leere Sarg befand. Nur noch wenige Schritte. . . Er hörte Larick aufschreien. Der Klang brach sich an den felsigen Wänden. Er wechselte in die zweite Sicht. Streifen aus hellem, farbigem Licht bewegten sich überall. Als er es versuchte, konnte er sie in Bänder auflösen, aber sobald seine Konzentration nachließ, verschmolzen sie wieder zu horizontalen Streifen verschiedener Breite, die nicht umherschwebten, sondern sich langsam aufwärts bewegten. Einen Augenblick später bemerkte er, daß sich dahinter ein Feld mit vertikalen Streifen befand und dahinter eines mit diagonalen. Die Welt hatte eine eigenartig kubistische Struktur angenommen. Er kam zu dem Schluß, daß er jetzt, auf eine andere Art, genau dasselbe sah, was ihm bisher in der Form von Bändern erschienen war - und er wußte, daß es noch andere Arten gab und daß er, irgendwie, in Zukunft die magische Welt immer so sehen würde, wie es seinen Bedürfnissen am angemessensten war und nicht mehr nur den kleinen Teil, den seine Macht ihm bisher zugänglich gemacht hatte. Er wußte auch, instinktiv, wie er diese Streifen hand haben mußte, genau -213-
wie er in der Vergangenheit gewußt hatte, welche Bedeutung die Bänder hatten. Es kostete ihn große Überwindung, nicht danach zu greifen, um sie gegen Larick einzusetzen, als dieser sich mit gefletschten Zähnen zu ihm umdrehte. »Sie ist weg!« sagte er. »Gestohlen! Wie. . . ?« Dann trat ein seltsamer Ausdruck in seine Augen, und er wandte den Kopf langsam nach rechts. Pol war sicher, daß auch er sich auf der zweiten Sichtebene befand und etwas in der Art, wie er sie erlebte, zeigte ihm die Richtung, in die Taisa fortgebracht worden war. Larick drehte sich unvermittelt um und schritt rasch das Felsband entlang. Das Licht, das sie begleitet hatte, hing irgendwo hinter Pol bewegungslos in der Luft und erfüllte den leeren Sarg mit bleicher Helligkeit. Pol folgte ihm, blieb auf der zweiten Sichtebene und war bereit, sein neugewonnenes Verständnis magischer Vorgänge nutzbringend anzuwenden. Er eilte auf den natürlichen Lichtschimmer am Ende des Tunnels zu, vorbei an der Stelle, wo er die Statuette verborgen hatte. Als er die Halle betrat, überschwemmte ein Chor von Stimmen sein Bewußtsein: »Jetzt! Jetzt! Jetzt! Jetzt! Jetzt! Jetzt!« Larick, der ihm den Rücken zuwandte, bewegte sich über Taisas leblose Gestalt auf dem Opferstein, vielleicht zehn Schritte von ihm entfernt. Pol streckte beide Hände aus und griff nach einem orangefarbenen Band, spürte seinen Willen durch das Drachenmal strömen. Einen Augenblick später lag es frei in seiner Hand wie ein langer, leuchtender Stab. Er schwang ihn in Laricks Richtung. Aber schon im Ansatz der Bewegung bemerkte Pol, wie Larick erstarrte und Anstalten machte, sich umzudrehen und wußte, daß der andere Zauberer seine Schritte gehört hatte. Er -214-
sah das Erstaunen auf seinem Gesicht, sogleich verdrängt von einem Ausdruck des Begreifens. Aber Larick konnte sich noch bewegen, und er bewegte sich schnell. Seine linke Hand fuhr mit gekreuzten Fingern in die Höhe. Er packte eine rote Diagonale und stieß sie Pol entgegen. Die Gewalt des Schlages warf ihn zu Boden, aber es war ihm gelungen, nicht getroffen zu werden. Pol hob den langen Stab, den er immer noch festhielt, und verkürzte ihn mit einem Hieb seiner linken Hand zu einem Wurfspeer. Larick schüttelte den Kopf und stemmte sich hoch. Er hielt Pols Blick fest, als Pol den rechten Arm zurücknahm, um den funkelnden Speer zu werfen. Larick hockte sich auf die Fersen und reckte beide Arme hoch über den Kopf. Pol schleuderte den Speer genau in seine Richtung, und Larick senkte die Arme. Die hellen Streifen, die sich vor ihm befanden, gerieten in Bewegung und schienen sich um ihre Längsachse zu drehen. Es war wie das plötzliche Zuschnappen einer Jalousie. Larick war für einen Augenblick unsichtbar hinter einer Regenbogenwand. Pols Lanze schlug dagegen, und beide, der Stab und die Mauer, zersprangen zu einer Funkenfontäne. Als sie zu Boden fielen, sah er Larick aufrecht stehen, die ausgestreckten Arme vor dem Leib gekreuzt. Gerade noch rechtzeitig erkannte er die Gefahr. Larick bewegte zwei nebeneinander liegende Diagonalen wie eine Schere. Pol hob beide Hände und sprang nach vorn. Er packte eine Senkrechte und stieß sie in die Kiefer des Lichtzaubers. Die Diagonalen schlossen sich darum, nur Zentimeter von seinen Hüften entfernt. Er bemerkte die ersten Spuren von Anstrengung auf Laricks Gesicht, als die Hände des Mannes sich noch weiter aufeinander zu bewegten. Die Diagonalen kamen ein weiteres Stück näher. Er stemmte -215-
sich noch kräftiger dagegen und hielt sie zurück. Larick beugte sich vor, kämpfte gegen den Druck. Unvermittelt warf Pol sich mit aller Kraft nach vorne, ließ sich dann rücklings auf den Boden fallen und rollte zur Seite, als Larick zurücktaumelte und die Diagonalen sich über ihm schlossen. Schnell kam er wieder auf die Füße, ohne Larick aus den Augen zu lassen. Er umkreiste ihn in einer Entfernung von vielleicht fünf Metern, und Larick machte die Drehung mit. Langsam begannen die Hände des Zauberers sich zu bewegen. Pol verfolgte die verwirrenden Gesten so genau, wie es ihm möglich war, konnte aber keine Veränderung der magischen Welt, wie er sie jetzt sah, feststellen. Plötzlich vollführte Larick mit dem Fuß eine weite, kreisförmige Bewegung, eines der knapp über dem Boden befindlichen Bänder schnellte gegen Pols Knöchel, und er fiel auf die Seite. Sich selbst verfluchend, weil er sich so leicht hatte ablenken lassen, bemühte er sich, wieder auf die Füße zu kommen. Aber der Boden schien Wellen zu schlagen und machte all seine Anstrengungen zunichte. Während er dagegen ankämpfte, bemerkte er, daß er sich gar nicht mehr auf festem Boden befand, sondern auf einer wogenden Matte aus Bändern, die mehrere Zentimeter darüber schwebte. Notgedrungen kam er zu der Einsicht, daß Technik in diesen Dingen wichtiger sein konnte als reine Energie. Es gelang ihm nicht, wieder auf die Füße zu kommen, sondern er mußte sich knieend auf die linke Hand stützen. Er sah, wie sich Laricks Fuß gleichmäßig auf und ab bewegte, als würde er ein Klavierpedal betätigen und damit den schwankenden Untergrund, auf dem er kauerte, Wellen schlagen lassen. Anscheinend waren Laricks Fähigkeiten so viel größer als die seinen, daß wirksame Gegenmaßnahmen für ihn nur Reflexhandlungen waren, -216-
während Pol über jeden Angriff und jede Verteidigung einige Augenblicke nachdenken mußte. Er fragte sich, ob Magie das geeignete Mittel war, um mit dem Mann fertig zu werden. Wenn er nur nahe genug heran kommen könnte, um einen Schlag an zu bringen, der Larick ablenkte. Er war sicher, daß seine eigenen Fähigkeiten als Boxer ausreichten, um ihn in einem Kampf Mann gegen Mann auszuschalten. Wenn nicht, mußte er sich eben damit abfinden, einem besseren Mann begegnet zu sein. . . Die Bänder! Offensichtlich trugen sie das Gewicht eines Mannes. Also. . . Mit ausgestreckten Armen griff er nach den über ihm befindlichen, aufsteigenden Bändern, zog sich daran in die Höhe und hielt fest, bis er über der wogenden Matte hing. Sofort bewegte sich Laricks Hand in Schulterhöhe zur Seite. Pol streckte weit die Hand aus, ergriff eine andere Horizontale und schwang sich in Laricks Richtung. Im letzten Augenblick gelang es ihm, seinen Körper aus dem Gefahrenbereich zu bringen, er löste seinen Griff und ließ sich fallen. Larick hatte ein fast zwei Meter langes Schwert aus grünem Licht bereitgehalten, um ihn zu durchbohren. Er fühlte wieder festen Boden unter sich und packte nach einem diagonalen Band aus gelbem Licht, formte es durch seinen Willen zu einem Schwert und hielt es en garde, während er noch um einen sicheren Stand kämpfte. Es war das erste Mal in dieser Welt, daß er so etwas wie eine Klinge in der Hand hielt - und auch das erstemal seit dem Ende der letzten Fechtsaison an der Universität. Er parierte einen Hieb und sprang zurück, da er noch nicht das nötige Gleichgewicht gefunden hatte, um eine Riposte zu wagen. Während er sich konzentrierte und Larick herankam, -217-
fielen ihm zwei Dinge gleichzeitig auf: Larick stand ihm frontal gegenüber, statt seitlich, und ein dunkles Rechteck von mehr als einem Meter Länge hatte an seinem linken Arm Gestalt angenommen. Er wich aus, als Larick sich weiter näherte. Der Kampf mit Schwert und Schild hatte nichts mit dem an den Universitäten gebräuchlichen Fechten zu tun. Beides war mittelalterlich langsamer, umständlicher und verlangte andere Fußarbeit. Er hatte nicht vor, sich auch mit einem Schild auszurüsten und Larick unter Bedingungen entgegen zu treten, mit denen der andere Mann besser vertraut sein mußte. Larick führte mit seinem Schwert einen Hieb nach seiner Bust, und Pol sprang zurück, jeden Schlagabtausch vermeidend. Larick drang weiter vor, Pol wich weiter zurück. Schnell rief er sich alles ins Gedächtnis, was er über die Technik des anderen wußte. Larick durfte kaum mit dem Ausfall vertraut sein, auch kam bei seiner Art der Klingenführung hauptsächlich die Schneide der Waffe zum Einsatz und nur selten die Spitze. Pol behielt die Position Säbel en garde bei, plante sein Vorgehen aber gemäß der Technik des Degenfechtens. Er bemerkte seine Ausweichtaktik und schlug eine Finte zur Brust. Larick hob seinen Schild leicht an und machte Anstalten für eine wuchtige Riposte. Pol machte die Aktion nicht mit und sah, daß Larick anfing zu lächeln. Er nahm eine geduckte Haltung an und touchierte einmal die Klinge seines Gegners. Der Angriff folgte. In dem Augenblick, als Laricks Klinge sich bewegte, zuckte Pol zurück und in die Höhe, seine Waffe beschrieb einen Halbkreis in Überhandposition, aus der er einen Stoß nach dem Unterarm des anderen führte. Larick gab einen kehligen Laut von sich, als Pol die Schlagfolge zu Ende führte, in der Hoffnung, am Rand des Schildes vorbei einen Treffer anbringen -218-
zu können. Aber das Schwert wirbelte aus Laricks Hand, und er trat zurück, wobei er sich mit dem Schild deckte. Pol lächelte, stampfte auf und griff an. Larick hob den rechten Arm, aber Pol achtete nicht darauf und führte einen Kopfschlag. Die grüne Klinge flog vom Boden zurück in Laricks Hand, und er parierte. Pol hatte zuviel Schwung, um noch ausweichen zu können, also warf er sich noch vorn, gegen Laricks Schild, bevor dieser Gelegenheit zu einer Riposte fand. Als Larick zurück stolperte, schlug Pol wuchtig auf sein Schwert und trat dann, so fest er konnte, gegen den Schild. Larick taumelte, Pol schlug noch einmal zu und prellte ihm wieder die Klinge aus der Hand. Der Schild schwang beiseite, und Pol befand sich nicht mehr in üblicher Fechtposition, sondern war nahe genug, um seinem Gegner die linke Faust in den Leib zu rammen. Der Schild fiel zu Boden, als er zuschlug, und er ließ seine eigene Waffe fallen, um Larick die Rechte ans Kinn zu setzen. Larick erholte sich und - die Fäuste vor dem Gesicht, die Ellenbogen über dem Leib zusammengelegt - stürmte gegen ihn an. Pol trat zur Seite und zielte mit der linken Faust nach seinem Kopf, ohne ihn aber zu treffen. Larick ließ sich fallen und umklammerte seine Beine. Pol verlor das Gleichgewicht, griff nach Laricks Schulter, bekam nur eine Handvoll Stoff zu fassen und stürzte rücklings zu Boden, das Geräusch des zerreißenden Hemdes in den Ohren. »Töte ihn! Rasch!« sagte eine Stimme in seinem Kopf. Als Pol stürzte, versuchte Larick, sich auf ihn zu werfen, erwischte aber einen Kreuzschlag, der ihn zur Seite schleuderte. In diesem Augenblick wußte Pol ganz genau, was er zu tun hatte. -219-
Er hob die rechte Hand in Schulterhöhe, die Handfläche nach oben, als er sich herumrollte, um sich rittlings auf Laricks lang ausgestreckten Körper zu setzen. Sein Drachenmal pulsierte, als die Schwärze, die die Bänder voneinander trennte, auf seine Hand flog und sich zu einem dunklen Ball der Vernichtung, der Auflösung, des Todes verdichtete. Als er den Ball nach unten, auf Laricks Gesicht drückte, zuckten seine Augen einmal, und er hatte gerade noch Zeit, sich herum zu werfen und die Todeskugel durch die Halle zu schleudern. Larick kämpfte gegen sein Gewicht, er versetzte ihm einen kurzen, trockenen Schlag gegen die Kinnspitze und spürte, wie er erschlaffte. Dann hockte er sich auf die Fersen, wischte sich die Haare aus den Augen und starrte hernieder auf das, was er gerade jetzt - und beinahe zu spät - entdeckt hatte. Langsam streckte er die Hand aus. Dort, wo er den Hemdärmel zerrissen hatte. . . war Laricks Arm unbedeckt. Seine Hand zitterte ein wenig, als er das Drachenmal über Laricks rechtem Handgelenk berührte.
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XVI
Ryle Mersons Stimme erfüllte die Felsenkammer. »Lebt er noch?« Pol achtete nicht darauf, beugte sich vor und nahm das Tuch von Laricks Kopf. Eine einzelne weiße Strähne zog sich durch das schwarze Haar, von der Stirn bis zum Nakken. Erst dann wandte Pol den Kopf und betrachtete die schwere Gestalt, die gerade die Halle betreten hatte. »Hast du ihn getötet?« fragte Ryle. Pol stand auf und tat einen Schritt auf den Mann zu. »Ich habe hier niemanden getötet, bis jetzt«, erwiderte er. »Wer ist Larick? Und was hat er mit dir zu tun?« »Wie hast du dich von dem Zauber befreit, der dich fesselte?« »Nein. Du antwortest mir. Ich will über Larick Bescheid wissen.« »Wie schnell du deine Lage vergißt«, meinte Ryle sanft. »Du magst dich von unmittelbarer Kontrolle befreit haben, aber deine Leine ist kurz.« Er sprach die Worte, die den Täuschungszauber auflösten, die menschliche Gestalt floß an Pol herab und enthüllte den Leib des Ungeheuers. »Der Zauber ist bereit für den letzten Austausch, von dem ich sprach«, bemerkte er. »Es fehlt nur das passende Wort.« »Das glaube ich nicht«, gab Pol zurück, und sein Wille strömte durch das Drachenmal, sprengte das Trugbild der widerwärtigen Gestalt, die ihn umhüllte; sein verändertes Gesicht wurde wieder zu seinem eigenen, und sein Haar wurde von einem unsichtbaren Windstoß aufgewirbelt, nahm wieder -221-
seine normale Farbe an, und die weiße Strähne tauchte wieder auf. Seine Kleider hingen in Lumpen um seine Glieder, und er atmete schwer, aber er lächelte. »Antworte mir jetzt«, sagte er. »Wer ist Larick?« Ryles Gesicht wurde blaß. »Zu der Zeit, als dein Vater und ich noch Freunde waren«, antwortete er, »gab er seinen jungen Sohn in meine Obhut, als meinen Lehrling.« »Larick ist mein Bruder?« Ryle nickte. »Er ist ungefähr fünf Jahre älter als du.« »Was hast du mit ihm gemacht?« »Ich lehrte ihn die Kunst und erzog ihn zu einem rechtschaffenen Mann, der das Gute liebt. . .« Pol rechnete schnell nach. »Er war auch eine perfekte Lebensversicherung - als du mit meinem Vater gebrochen hast oder etwa nicht? Du hattest eine Geisel, die dich vor dem Zorn deines ehemaligen Freundes schützte.« »Ich schäme mich nicht, es zu zu geben«, erwiderte Ryle. »Du hast deinen Vater nie gekannt. Der Mann war ein Teufel. Und er war einer der besten Zauberer hierzulande. Ich mußte mich schützen.« Ihn überkam eine plötzliche Erleuchtung, und Pol fragte: »Könnte es sein, daß Späher, der sich immer noch gut mit meinem Vater stand, deine Tochter mit einem Fluch belegte, um sicher zu gehen, daß Larick nichts geschah?« Ryles Gesicht bekam wieder Farbe. »Du denkst genau wie sie, bis in jede Einzelheit«, sagte er. »Ja. Selbst dein Vater konnte meine Verteidigung nicht -222-
durchbrechen, aber diesem Bastard gelang es, und er tat ihr das an. Larick hat sich sein ganzes Leben lang deswegen schuldig gefühlt.« »Nicht eben ohne einige Nachhilfe von deiner Seite, nehme ich an. Damit hältst du ihn bei der Stange, nicht? Die alte Sache mit dem Schuldkomplex?« »Etwas, was du nie gefühlt hast, da bin ich ganz sicher. Du bist fähig, einem hilflosen Mädchen die Kehle durch zu schneiden. Du hättest es schon getan, wenn ich nicht Laricks Schrei gehört hätte.« »Ich würde lieber deine durchschneiden«, meinte Pol und ging auf ihn zu. »Du bist ein verdammter Heuchler. Du bist nicht besser als mein Vater oder Späher. Vielleicht bist du sogar schlimmer. Du warst bereit, dich an ihrem Vorhaben zu beteiligen, solange du glaubtest, etwas dadurch zu gewinnen. Als du bemerktest, daß du etwas verlieren würdest, hast du dich schnell in einen weißen Magier und einen Kämper für Recht und Ordnung verwandelt. Nichts weiter als ein Haufen Stierscheiße! Du hast dich nicht verändert. Du läßt meinen Bruder deine schmutzige Arbeit tun, um selber eine weiße Weste zu behalten. Aber sie ist nicht weiß. Ein so großer Narr bist du wohl nicht, daß du das glaubst, oder?« Ryle bewegte abwehrend seine Hände, und Pol glitt sofort auf die zweite Sichtebene hinüber, sein Drachenmal pulsierte heftig. »Du hältst mir Vorträge über Moral, während du die Schlüssel zu dem Tor in deinem Besitz hast und meine Tochter auf dem Opferstein liegt? Wer ist der Heuchler, Detson?« Ein Halbkreis aus Feuer bildete sich zwischen den Fingerspitzen des Mannes, und Pol hielt Ausschau nach Streifen oder Bändern, vergeblich. -223-
Aber dann, plötzlich, schien es, als schwebten Wolken aus farbigem Nebel in die Halle. Pol streckte die Hand aus, und ein blauer Nebel war da, als er in brauchte. Er fühlte die kondensierende Feuchtigkeit auf seinen Fingern. Einen Augenblick später wechselte er eine tropfende Wasserkugel von annähernd der Größe eines Basketballs von einer Hand in die andere. Feuer. Wasser. Es schien, daß er das logische Gegenmittel bereit hatte, für was immer Ryle auch plante. Während er darauf wartete, daß der ältere Zauberer den ersten Zug machte, dachte er an seine Duelle mit Keth und Larick zurück und fragte sich, warum die Art, in der die magische Welt sich ihm darbot, sich jedesmal verändert hatte. Dann kam ihm der Gedanke, daß bei jeder Gelegenheit der Blickwinkel der anderen seine eigene Sicht getrübt haben konnte. Vielleicht war gerade jetzt Ryles Welt bewölkter als die meisten anderen. »Wir verändern jeder des anderen Art zu sehen, nicht wahr?« fragte er halblaut. »Ich bin hier, um dich zu töten, nicht um dich zu unterrichten«, erwiderte Ryle, und das Feuer in seinen Händen wurde zu einem gebogenen Dolch, den er nach Pol schleuderte. Pol befahl Kälte und fühlte sie durch seine Fingerspitzen strömen. Die Wasserkugel trübte sich, wurde hart und überzog sich mit Reif. Die Klinge schlug einige Eissplitter los, als sie dagegenprallte und dann zu Boden fiel. Pol warf den Eisball nach Ryle, aber der Zauberer trat zur Seite, und sie zerschellte an der Wand hinter ihm. Ryle hob beide Arme und senkte sie plötzlich. Das Zimmer verschwand. Sie befanden sich in einer Welt, die nur aus ihnen und den farbigen Wolken bestand. Pol tat einen weiteren Schritt nach vorn. Wie zuvor war er der Ansicht, daß, wenn er nur nahe genug herankam, um einen soliden Faustschlag anzubringen, er sehr gut auf Magie verzichten konnte und, natürlich, auf Ryle. -224-
Er hob den Fuß für den nächsten Schritt, und ihm wurde der Weg durch das plötzliche Auftauchen einer niedrigen Mauer versperrt. Er machte Anstalten, darüber hinwegzusteigen, und sie war am oberen Rand mit großen Glasscherben bestückt. Er wich zurück und prallte gegen ein Hindernis. Bei einem raschen Blick über die Schulter entdeckte er eine zweite Mauer. Und dann gab es eine zu seiner Rechten und auch zu seiner Linken. Beinahe in demselben Moment, als ihm ihre Existenz bewußt wurde, schoben sie sich näher. Ryle starrte angestrengt in seine Richtung, seine Handflächen bewegten sich langsam aufeinander zu. Aber hier gab es kein Oben und kein Unten. Er befahl dem Nebel, unter ihm aufzusteigen, ihn in die Höhe zu tragen, wie es die Bänder vorher getan hatten. Er wurde aus seinem Gefängnis gehoben und schwebte über die vordere Mauer zu Boden. Es war fast zu leicht. . . Als er Ryle ansah, bemerkte er den Ausdruck von Besorgnis in diesen forschenden Augen. Der Mann kannte weder seine Schwächen noch seine Stärken, konnte sich nur nach dem richten, was er bisher gezeigt hatte. Deshalb empfand er Furcht. Und führte den Kampf auf äußerst behutsame Weise, prüfte ihn, beobachtete ihn, hielt Abstand. Pols eigene Besorgnis wuchs. Ryle war zweifellos sehr gut in diesen Dingen. Binnen kurzer Zeit mußte er herausfinden, wie begrenzt Pols Erfahrungen waren und würde höchstwahrscheinlich einen vernichtenden Angriff entfesseln. Pol war sich ganz und gar sicher, daß er ihn überleben konnte. Folglich mußte er schnell und entschlossen handeln. Aber wie? Ihm wollte keine wirksame Offensive einfallen, in dieser lautlosen, traumähnlichen Umgebung aus todbringender Zuckerwatte. Außer. . . Vielleicht konnte er die Regeln ändern, die Umgebung. Es war ein Fehler gewesen, dem anderen Mann die Initiative zu überlassen. -225-
Es gab so vieles, was er immer noch nicht wußte. . . Er spürte, daß er mit Ryle so rasch als möglich zu Ende kommen mußte. Außer der Möglichkeit, daß Larick jeden Augenblick wieder zur Besinnung kommen und seinem Widersacher zur Hilfe eilen konnte, fürchtete Pol eine Wiederholung dessen, was ihm schon einige Male passiert war das unvorhersehbare, unregelmäßige Erlöschen seiner Kräfte. Mehrmals, seit seinem Zusammentreffen mit Keth, hatte er sich gefragt, ob all das symbolische Beiwerk in einem magischen Duell wirklich vonnöten war. Da Wille gegen Wille stand, Handhabung der Macht gegen Handhabung der Macht, und vielleicht persönliche Energie gegen persönliche Energie, mußte es doch möglich sein, die ganze Sache auf das Wesentliche zu reduzieren, und den letzten beißen die Hunde. Sofort wurde ihm klar, daß dies der Gedankengang eines Freistäblers war. Aber er fühlte sich jedesmal behindert, wenn er die Verfeinerungen nachzuahmen suchte, die die anderen sich in den langen Jahren ihrer Ausbildung angeeignet hatten, und er wußte, daß er sich im Nachteil befand, wenn er gezwungen war, ihre Spiele zu spielen. Es hatte ganz offensichtlich Vorteile, auf diese raffinierte Art vorzugehen, aber er hatte im Augenblick keine Zeit, es zu lernen. Also entschloß er sich, es mit der Alternative zu versuchen, während er versuchte, näher an Ryle heranzukommen. Mit einigem Unbehagen verließ er die zweite Sichtebene. Der Nebel verschwand. Der Raum nahm wieder sein normales Aussehen an, in der Nähe des Eingangs stand Ryle mit einem fernen Ausdruck in den Augen. Pol hob die rechte Hand, deutete auf Ryle und konzentrierte seinen Willen darauf, daß der andere niederfallen möge und sterben. Das Drachenmal fühlte sich plötzlich eiskalt an, und er spürte, wie die Kraft hinausströmte. Er spannte seinen Willen weiter an, und eine prickelnde Welle floß durch seinen Arm. -226-
Ryle schwankte für einen Augenblick und faßte sich wieder. Plötzlich fand Pol sich in unveränderter Haltung auf einer Landzunge wieder, auf beiden Seiten wirbelten gewaltige Wassermassen vorüber. Ryle stand auf einer kleinen Insel stromabwärts. Noch während er sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden mühte, wurde ein Teil von Ryles Inselchen weg geschwemmt, und der Mann war gezwungen, weiter zurück zu weichen. Aber Ryle hob beide Hände, einen Ausdruck tiefster Konzentration auf dem Gesicht. Das Vordringen des Wassers verlangsamte sich. Ein Zittern durchlief den Boden, auf dem Pol stand. Das Wasser schäumte noch für einige Augenblicke und beruhigte sich dann. Allerdings nicht für lange. Langsam geriet es wieder in Bewegung. Nur strömte es diesmal in Pols Richtung. Er beobachtete gebannt, wie die Wellen höherstiegen und das Land unterspülten. Er schüttelte den Kopf, um die Erstarrung loszuwerden. Ryle hatte ihn wieder in eine symbolische Situation gedrängt. Sofort richtete er all seine Anstrengungen darauf, die Kammer wieder erstehen zu lassen. Der Fluß verschwand. Sie befanden sich wieder in der Halle. Nichts hatte sich verändert. Nur verspürte Pol einen zunehmenden Druck gegen seinen gesamten Körper. Er steigerte sich mit jeder Sekunde. Er sammelte seine Kräfte. »Brenne, vergehe, stürze. . .« Der Druck hörte auf, und Ryle taumelte, wie von einem plötzlichen Schlag getroffen. Pol richtete den Druck jetzt gegen ihn und legte seinen ganzen Willen hinein. Ryle begann zu schwanken, als müsse er gegen einen Sturm ankämpfen. Dann, plötzlich, erhoben sich Flammen zwischen ihnen, von einem unsichtbaren Wind gegen Ryle getrieben. Sie stiegen aus einem weiten Abgrund, der die felsige Landschaft zwischen ihnen -227-
teilte. Noch während er das Schauspiel betrachtete, erstarb der Wind, und die Flammen loderten senkrecht in die Höhe. Dann spürte er einen warmen Luftzug auf dem Gesicht. Die Feuerzungen neigten sich in seine Richtung. . . »Nein!« schrie Pol, und die Felsenlandschaft verschwand. Der Luftzug und die Hitze blieben, bis er seine Kräfte wieder unter Kontrolle hatte. Dann verging auch das, und er schleuderte seine Energien mit aller Gewalt gegen den anderen. . . . Er stand auf einem Berggipfel, Ryle auf einem anderen. Ein Sturm tobte zwischen ihnen. Blitze zuckten auf die Bergflanken herab. . . »Nein«, sagte er leise, »diesmal nicht«, und er stand wieder in der Halle und verstärkte seinen Druck. . . . Sie standen auf einer Eisscholle, herumgeworfen von grauen, weißgekrönten Wellen. . . »Nein.« Sie befanden sich in der Halle, und Ryle starrte ihn wütend an. Sein Arm begann zu schmerzen, aber die Woge der Kraft strömte weiter. . . . Dunkelheit umgab sie, und der Meteorregen setzte ein. . . »Nein.« Er konzentrierte sich darauf, jeder neuen Ablenkung zu begegnen. Wille gegen Wille, so wollte er es haben. Der Raum begann sich aufzulösen, und er erschuf ihn wieder. »Nein.« Er lächelte. Für eine halbe Minute hielt er seinen Angriff aufrecht, und dann spürte er, wie der Druck auf ihn einwirkte. Er sammelte all seine Entschlossenheit, aber er stieg weiter an. -228-
Selbst auf diese Art, erkannte er, war Ryle im Vorteil. Der Mann hatte sein Spiel vorsichtig gespielt, aber eigentlich war es gar nicht nötig gewesen. Er wußte, daß er ihn nicht mehr lange zurück halten konnte. Ryle war tatsächlich stärker. Natürlich konnte er das nicht wissen. Pol tat wieder einen Schritt nach vorne. Wenn er nur an ihn heran kommen konnte, seine Fäuste gebrauchen. . . Aber bei dem nächsten Schritt wurde der Druck unüberwindlich. Er wußte, daß es ihm niemals gelingen würde, die Halle zu durchqueren. Und jetzt begann der dicke Zauberer zu lächeln. . . »Vater?« Ryle wandte den Kopf, und der Druck verschwand. Pol konnte sehen, daß Taisa sich auf dem Steinblock aufrichtete. »Taisa. . . ?« Der Mann machte einen Schritt in ihre Richtung. Pol sammelte seine Kräfte und schlug zu. Ryle stürzte wie ein gefällter Baum. »Vater!« Taisa sank wieder auf den Stein zurück. Larick, der sich bewegt hatte, erstarrte wieder. Ein ungeheures Gelächter erfüllte den Raum.
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XVII
Der Wolf schritt in der großen Höhle hin und her, unter dem Gesicht, vor den erstarrten Leibern der anderen Tiere und der Menschen. Er schlüpfte nur einmal kurz hinaus, um zu jagen, unfähig, sich allzuweit von der Höhle zu entfernen, und ein Teil seines Bewußtseins bewachte ständig den Eingang. Er erlegte seine Beute rasch und schleppte sie mit in die Grotte. Er lag vor den schattenhaften Gestalten der anderen Heerscharen und zermalmte Knochen. Sonst gab es nur Stille. Als er sich wieder erhob, waren seine Bewegungen weniger schnell und verlangsamten sich weiter, wie auch sein Herzschlag und seine Atmung. Schließlich regte er sich kaum noch und erstarrte endlich ganz. Seine Augen wurden glasig. Er stand völlig reglos. Langsam entrollte sich dann eine Schlange auf einem Felsvorsprung nahe dem Gesicht. Sie schlängelte sich an der rauhen, felsigen Wand hinunter, mit tastender Zunge und glitzernden Augen. Sie glitt über den Boden. Sie machte sich über die Reste her, die der Wolf übriggelassen hatte, und verspeiste sie. Sie glitt wieder die Wand empor, durchforschte jeden Vorsprung, jeden Riß und jeden Spalt, vertilgte alle Insekten, die sie fand. Mit der gespalteten Zunge prüfte sie jede Veränderung der Luft. Stunden vergingen, ihre Bewegungen wurden langsamer. Schließlich erstarrte sie in einer dunklen Nische. Die große Katze erwachte und streckte sich. Sie ging hin und betrachtete das stille, ausdruckslose Gesicht hoch oben an der Wand. Sie durchwanderte die Höhle. Sie ging kurz hinaus, um zu jagen, wie es der Wolf getan hatte, kehrte zurück und -230-
erstarrte, als sie sich den After leckte, ein Bein hoch über dem Kopf. Ein Mann erwachte. Er fluchte, zog sein Schwert, prüfte es und schob es wieder in die Hülle zurück. Er begann hin und herzugehen. Nach einiger Zeit sprach er zu dem Gesicht. Es antwortete nicht, aber er ließ sich nicht irreführen. Er konnte die Intelligenz, die Macht dahinter spüren. Die blicklosen Augen schienen ihn zu verfolgen, wohin er auch ging. Schließlich verstummten seine Worte, und er wurde Teil der Szenerie. Die Harpye erwachte, stieß einen Schrei aus und einen Fluch. Sie flatterte durch die Höhle, wobei sie sich reichlich und phantasievoll entleerte. Dann betrachtete sie das Gesicht und wurde still. Sie fraß, was die Katze übriggelassen hatte. Alle waren wie eins vor dem Gesicht.
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XVIII
Pol wandte sich zur Tür. Ein unnatürlich geformter Schatten fiel über die hohe Gestalt des Mannes, der dort stand. Sobald Pols Blick ihn traf, bewegte er sich und trat in die Halle. Pol starrte ihn an. Der Mann trug einen gelben Umhang über dunkler Kleidung. Er hatte blaue Augen und sandfarbenes Haar, das sich an den Schläfen weiß färbte. Sein Gesicht war grobgeschnitten, beinahe offen, beinahe ehrlich. Er lächelte. Er zeigte einen blinkenden überkronten Zahn. »Daraus kannst du was lernen, Junge«, sagte er, und Pol erkannte die Stimme. »Er hatte dich, aber er ließ sich ablenken. Ich hob einen alten Zauber, um dir eine Chance zu geben, um zu sehen, was du tun würdest.« Er schüttelte den Kopf. »Du hättest dich nicht auch ablenken lassen sollen. Du hättest gleich zuschlagen sollen, ohne erst mit offenem Mund herum zu stehen. Ein besserer Mann hätte dich in dieser Zeit töten können - hätte es getan.« »Aber die Ablenkung selbst hätte eine Bedrohung sein können«, wandte Pol ein. »Wenn über dir ein Gebäude einstürzt, kümmerst du dich nicht um die Hupe eines näher kommenden Autos. Du konzentrierst dich zuerst auf die größere Gefahr. Das ist Überleben. Du warst gut, aber du hast gezögert. Das kann tödlich sein.« »Auto? Wer, zum Teufel, bist du überhaupt?« »Du kennst meinen Namen.« »Henry Späher?« -232-
Der Mann lächelte wieder. »Womit die Vorstellung erledigt wäre.« Von irgendwoher brachte er eine schwarze Zigarettenspitze zum Vorschein, steckte eine Zigarette hinein und hob sie an die Lippen. Rauch stieg empor, bevor sie noch seinen Mund erreichte. Er zog daran und blickte sich in der Halle um. »Die Dinge scheinen sich genauso entwickelt zu haben, wie ich es gedacht hatte«, bemerkte er. Er griff in seinen Umhang und zog die Statuette hervor, die Pol in dem Gang versteckt hatte. »Du hast sie gefunden. . .« »Natürlich.« Henry Späher ging an ihm vorbei und stellte die Figur auf die zweite Spitze von rechts in dem Diagramm vor dem Tor. »Sechs fehlen noch«, meinte er, als er sich aufrichtete und umdrehte. »Das ist die erste Zigarette, die ich in dieser Welt gesehen habe«, sagte Pol. »Ein Mann mit Scharfblick kann sich seine Annehmlichkeiten aus vielen Welten wählen«, erwiderte Späher. »Es wird mir ein Vergnügen sein, dir später alles darüber beizubringen. Aber jetzt haben wir erst ein wichtiges Geschäft abzuschließen.« »Meine Träume«, sagte Pol. »In jener Nacht auf dem Weg nach Belken hast du mich von denen befreit, die man wohl als die erste Serie bezeichnen könnte. . .« Späher nickte. ». . . aber dafür kamen andere - in derselben Welt angesiedelt, aber sehr verschieden von den ersteren.« Wieder nickte Späher, und der Rauch kräuselte sich um seinen Kopf. -233-
»Da man dich mit den anfänglichen Träumen zu beeinflussen versuchte«, stellte er fest, »hielt ich es nur für gerecht, daß dir ein vollständigeres Bild geboten wurde, sobald sich der Opposition die Möglichkeit bot.« »Ich muß zugeben, daß das vollständigere Bild mir nicht ganz verständlich war.« »Das hätte mich auch überrascht«, meinte Späher, »da es eine fremde und sehr viel ältere Zivilisation war, die du gesehen hast. Eigentlich ist es auch sehr viel wichtiger, ob sie dir gefiel oder nicht.« Späher blickte Pol in die Augen, und der wandte den Blick ab. »Ich fand sie - faszinierend«, meinte er, und als er den Blick wieder hob, sah er, daß Späher lächelte. »Ausgezeichnet«, erwiderte der Mann. »Ich denke, diese Einschätzung bildet eine gute Grundlage für unsere weitere Unterhaltung. Wie wäre es, wenn du jetzt die anderen Schlüssel herbeiholen würdest und wir mit unserem Vorhaben anfingen?« Pol schaute sich in der Halle um. Er wies auf die reglosen Gestalten. »Du hast mich vor Unaufmerksamkeit und Ablenkung gewarnt. Was ist mit denen?« »Ich müßte den Strom meiner Macht unterbrechen, um diese drei aufzuwecken«, erklärte er. »Ein Nachlassen meines Willens wäre nötig und dadurch der Erfolg dessen, was ich vorhabe, in Frage gestellt.« Pol schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Er betrachtete die wie leblos daliegende Taisa auf dem schwarzen Steinblock. »Ich sehe, daß dein Blick deinen Gedanken folgt.« »Ist das Menschenopfer wirklich unumgänglich?« »Ja. Also freu dich, daß du jetzt die Wahl hast. Wir können das Mädchen für dein späteres Vergnügen aufsparen und uns an Ryle halten, der dich mit dem größten Vergnügen töten würde, -234-
wenn es ihm dienlich wäre.« »Was ist mit - meinem Bruder?« »Er würde sich uns nicht anschließen. Ryle hat sein Denken beeinflußt. Ich schlage vor, daß du mir erlaubst, ihn zu verbannen, vielleicht auf die Welt, wo du selbst aufgewachsen bist.« »Er ist ein Zauberer. Er könnte einen Weg zurück finden.« »Es wäre mehr als einfach, einen Gedächtnisschwund zu verursachen.« »Das könnte ziemlich schlimm für ihn sein.« »Die Art wie er dich behandelte, war auch nicht gerade beispielhaft.« »Aber wie du selbst gesagt hast, Ryle hat ihn beeinflußt.« »Wen interessiert es schon, was der Grund war? Ich bin ohnehin nur bereit, ihn zu schonen, weil er dein Bruder ist.« »Mal angenommmen, ich gebe dir, was du willst. WelcheSicherheit habe ich, daß ich nachher für dich noch von Nutzen bin?« »Es wird gewaltige Veränderungen geben, und ich kann nicht alleine eine ganze Welt kontrollieren. Es gibt nicht sehr viele Freistäbler. Grundlos würde ich auf keinen von ihnen verzichten. Und du wirst natürlich immer eine besondere Stellung einnehmen, auf Grund der Hilfe, die du mir geleistet hast.« »Ich verstehe«, sagte Pol. »Wirklich? Kannst du dir vorstellen, was mit dieser Welt geschehen wird, wenn das Tor sich öffnet?« »Ich denke schon. Zumindest habe ich meine Vermutungen.« »Sie wird uns gehören. Mit der Macht, die uns zur Verfügung steht, werden wir die Götter der neuen Welt.« Pols Augen wanderten zu dem Tor, wo sich in dem -235-
ungewissen Licht, der von Nägeln durchbohrte Vogel zu bewegen schien. »Angenommen, ich würde ›Nein‹ sagen?« Das könnte uns beiden beträchtliche Unannehmlichkeiten verursachen. Aber welchen vernünftigen Grund könntest du haben, um abzulehnen?« »Ich mag mich nicht zu etwas drängen lassen, weder von dir noch von Ryle oder den Statuetten. Ich bin hin und her geschoben worden, seit ich diese Welt betrat und habe es satt.« »Nun, wie bei allen wichtigen Dingen, gibt es nur eine begrenzte Anzahl von möglichen Entscheidungen. In diesem Fall bist du entweder mit mir, gegen mich oder willst dich von mir trennen. Zwei dieser Entscheidungen sind unannehmbar und würden mich zum Handeln zwingen.« »Das würde mir nicht gefallen«, bemerkte Pol. »Dir aber vielleicht auch nicht.« »Willst du mir drohen, Junge?« fragte Späher. »Ich stelle nur eine mögliche Konsequenz fest«, erwiderte Pol. Der große Mann seufzte. »Du bist stark, Pol«, sagte er, »heute stärker als jemals zuvor in deinem Leben. Du hast die Einweihungszeremonie durchlaufen, und all deine Lichter funkeln so hübsch wie nur irgend möglich - für den Augenblick. Wer weiß, wie lange es dauert. Aber das mag sein, wie es will, ich bin dennoch stärker. Zwischen uns würde es keinen wie auch immer gearteten Kampf geben. Du wirst wie eine Kerzenflamme sein, in dem Sturm meines Willens. Ich könnte dich zwingen, mir die Schlüssel zu geben. Aber weit lieber wäre es mir, wenn du es freiwillig tätest, denn ich möchte dich lebend haben und auf meiner Seite und nicht von einem Bann gefesselt.« »Warum?« -236-
»Ich habe meine Gründe. Ich werde sie dir später nennen, wenn ich deiner sicher bin.« »Du hast einen möglichen Streit zwischen uns voraus gesehen. Etwas, was du sagtest. . .« »Ja, das stimmt. Aber es muß nicht sein. Wenn du zu zart besaitet bist, werde ich selbst das Opfer übernehmen.« Pol lachte. »Daran liegt es nicht. Vor ganz kurzer Zeit hätte ich Ryle noch getötet, wenn es mir möglich gewesen wäre. Wie ich schon sagte, du drängst mich, du manipulierst mich.« »Ich habe keine Wahl.« »Den Teufel hast du.« Späher wandte sich ab, betrachtete das Tor. »Ich frage mich. . .«, setzte er an. »Nebenbei«, sagte Pol, »wenn du mich tötest, wie würdest du an die Schlüssel kommen?« »Nur unter großen Schwierigkeiten, wenn überhaupt«, antwortete Späher, »da du sie in etwas herumträgst, das praktisch dein privates Universum ist. Wenn du stirbst, wäre es eine verdammt harte Nuß, die ich zu knacken hätte.« »Dann ist dein Kerze-im-Wind-Spruch doch nicht ganz passend, oder. Du müßtest deine Schläge sorgfältig plazieren, wenn es dazu käme, daß welche ausgeteilt würden.« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich würde nicht darauf zählen. Das Tor kann nur mit einem Schlüssel geöffnet werden aber es würde mich mehrere Jahre und einen Haufen Ärger kosten. Gut, daß wir hier nur Hypothesen aufstellen, nicht wahr?«Pol durchquerte die Halle und berührte zum ersten Mal das Tor. Es fühlte sich kalt an. Die Augen, der von Nägeln durchbohrten Schlange, schienen sich auf ihn zu richten. -237-
»Was würde geschehen, wenn die Statuetten zerstört würden?« fragte er. »Das zu erreichen dürfte ziemlich schwierig sein«, erwiderte Späher, »selbst wenn man wüßte wie.« »Aber wir sprechen über Hypothesen oder nicht?« »Schon. Das Tor würde von dieser Ebene verschwinden, und du würdest vor einem Stück nackter Felswand stehen.« »Aber auf einer anderen Ebene ist es jetzt offen - oder kann ohne die Schlüssel geöffnet werden?« »Ja. Aber nur körperlose Dinge können diesen Weg benutzen, wie du in deinen Träumen.« »Wodurch kam es hierher?« »Dein Vater, Ryle, und ich bewirkten das - unter großen Mühen.« »Wie? Und in welcher Beziehung stehen die Figuren dazu?« »Das sind jetzt genug Hypothesen«, meinte Späher. »Es gab drei Entscheidungsmöglichkeiten - eine gute und zwei schlechte. Erinnerst du dich?« »Ja.« Pol drehte sich zu ihm um, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Tor und verschränkte die Arme vor der Brust. Sofort spürte er die Kälte an seiner Wirbelsäule, bewegte sich aber nicht. Die Kraft war noch da, strömte durch seinen rechten Unterarm. Spähers Augen weiteten sich, ein wenig, und nur für einen Augenblick. Er schaute nach oben und dann wieder auf Pol. »Ich kenne deine Antwort«, sagte er, »aber ich muß sie von dir hören.« »Du hast meinen Vater im Stich gelassen, und er mußte allein gegen eine Armee kämpfen.« Späher runzelte die Stirn. Er wirkte verblüfft. -238-
»Er handelte gegen meinen Rat«, meinte er. »Die Armee war eine Folge seiner Taten, nicht der meinen. Es ergab keinen Sinn, daß ich mit ihm starb. Aber was kann dir das bedeuten? Du hast ihn nie gekannt.« »Reine Neugier«, antwortete Pol. »Ich wollte deine Version hören.« »Sicherlich willst du das nicht als Grund anführen, weshalb du mein Angebot ausschlägst? Du warst nur ein Säugling.« Pol nickte. Er dachte an das Wesen, das vielleicht der Geist seines Vaters gewesen war und in der nebelerfüllten Kammer neben ihm ging. »Du hast recht. Aber gestatte mir noch eine weitere Frage. Hättet ihr beide euch schließlich bekämpft, wegen der Vorherrschaft in jenem neuen Reich?« Spähers Gesicht rötete sich. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Vielleicht. . .« »Hatte es schon angefangen? Standest du auf der Schwelle, und war dies dein Weg. . . ?« »Genug!« rief Späher. »Ich begreife, daß deine Antwort ›Nein‹ ist. Würdest du mir vielleicht sagen, welches der eigentliche Grund ist, aus dem du dich gegen mich stellst?« Pol zuckte die Schultern. »Such dir einen aus«, meinte er. »Vielleicht bin ich mir selbst nicht sicher. Aber ich weiß, daß es genügt.« Die Kälte hatte inzwischen seinen ganzen Körper durchdrungen, aber er machte keine Anstalten, sich von dem Schlangenbild, an dem er lehnte, zu lösen. Beinahe kam es ihm vor, als hätte sie ihn eingeladen, sich genau dorthin zu stellen. »Es ist eine Schande«, sagte Späher, »weil ich gerade anfing, dich zu mögen. . .« Pol schlug ihn. Er sammelte jedes bißchen Kraft, das ihm zur Verfügung stand, legte all seinen Willen hinein und schleuderte -239-
sie gegen den Mann. Sehr langsam nahm Späher die Zigarette aus der Spitze, ließ sie zu Boden fallen und trat darauf. Er steckte die Spitze in eine verborgene Tasche seines Umhangs. Es war die reinste Show. Pol wußte, daß der Mann die Gewalt seines Angriffs gespürt haben mußte. Aber der Auftritt war wirkungsvoll. Pol spürte ein Zittern der Furcht bei dem Gedanken an Spähers Macht, aber er hielt den Angriff aufrecht und rang um noch mehr Kraft, um ihn zu verstärken. Er war jetzt verurteilt und fühlte sich, als glitte er einen langen Tunnel hinab, der im Nichts endete. Späher hob die Augen, und ihre Blicke verkrallten sich ineinander. Pol fühlte Widerstand aufkommen. Späher tat einen Schritt auf ihn zu. Es war, als erlebte er einen plötzlichen Hitzerückprall, als stünde das Ziel seiner Anstrengungen unmittelbar vor ihm und nicht ein ganzes Stück entfernt. Hastig wechselte er auf die zweite Sichtebene. Sein Blick richtete sich auf Späher, der sich ihm mit erhobenen Fäusten näherte. Das Bild von Späher, der sich noch in einiger Entfernung befand, verblaßte. Das Gesicht des Mannes war zu einem überheblichen Lächeln verzogen, und Schweiß stand auf seiner Stirn. Seine Faust bewegte sich bereits. Pols Konzentration brach. Er duckte sich und hob die Hände, um sein Gesicht zu schützen. Er hörte einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem kurzen Aufschrei und begriff sofort, daß Spähers Hieb das Tor getroffen hatte. Er ließ die Hände sinken und rammte Späher die linke und gleich darauf die rechte Faust in den Leib. Die Schläge zeigten überraschend wenig Wirkung. Der Mann war stabil. Noch während er einen linken Haken anbrachte, bemerkte er, daß der hauptsächliche Schmerz, den der Mann empfand, von -240-
den blutigen Knöcheln seiner rechten Hand ausging, die er jetzt in einer unnatürlichen Stellung hielt. Pol bediente ihn sofort mit einer Rechten zum Gesicht, aber der Schlag wurde blockiert. Dann stürmte Späher auf ihn los. Spähers Gewicht warf ihn gegen das Tor zurück. Pol war benommen, als sein Kopf dagegen schlug. Dann trat Späher zurück, und ihre Blicke trafen sich wieder. Er versuchte, mit Hilfe des Drachenmals eine Verteidigung zu errichten, als ein Schock seinen gesamten Körper durchzuckte, wie von einem elektrischen Schlag. Er schlug mit der Macht zu, mit der er vorher schon gekämpft hatte, aber sie schien ihn kaum vor den Kräften zu schützen, die der andere gegen ihn ins Feld führte. Er spürte, wie sich ein Druck aufbaute, nicht unähnlich dem, den Ryle gegen ihn angewandt hatte. Beide, er und Späher, standen jetzt völlig unbeweglich und obwohl er alles, was ihm zur Verfügung stand, zu seinem Schutz einsetzte, steigerte der Druck sich weiter. Seine Schläfen begannen zu pochen, und sein Atem ging mühsam. Ihm brach der Schweiß aus, obwohl ihm immer noch unnatürlich kalt war. Eine Welle der Benommenheit überkam ihn, verschwand, kam wieder. Er wurde sich bewußt, daß er Späher nur noch wenige Sekunden zurückhalten konnte. Seine Verteidigung würde zusammenbrechen, der Mann würde ihn mit einem Bann belegen, ihn zwingen, die Statuetten herbei zu schaffen, und ihn dann wahrscheinlich für das Menschenopfer aus ersehen. Wo war die Flamme, die ihn geführt, beschützt hatte? Er glaubte, fernes, spöttisches Lachen zu hören. In diesem Augenblick begriff er, daß dies das Ziel war, zu dem sie ihn geführt hatten. Sie wollten das Tor geöffnet sehen. Wenn er sich weigerte, würden sie ihn vor dem schützen, der ihren Wünschen entgegen kam. Sein Blick trübte sich, als das Schwindelgefühl wieder kehrte. -241-
Wenn das das Ende war, sollte er wenigstens versuchen, seinem Feind noch einen letzten Schmerz zuzufügen. Er stemmte den rechten Fuß flach gegen die Tür in seinem Rücken, warf sich gegen Späher und schlug mit beiden Fäusten gleichzeitig auf ihn ein. Es überraschte ihn, daß die Schläge tatsächlich trafen. Das letzte, was er sah, bevor er stürzte, war die Verwunderung auf Spähers Gesicht, als dieser hinterrücks zu Boden fiel. Eine Woge aus Dunkelheit brach über Pol herein. Er spürte nichts, als er auf dem Boden aufschlug.
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XIX Schweben. Er schwebte durch Dunkelheit und Stille. Seine einzige, andere Empfindung war ein Gefühl durchdringender Kälte, aber nach einiger Zeit verschwand es. Wie lange er schwebte, vermochte er nicht zu sagen Augenblicke, Jahrhunderte. . . Das Gefühl war nicht unangenehm, jetzt, da die Kälte vorüber war. Erinnerung war zu anstrengend. Er wußte nur, daß es gut war, Ruhe zu kennen, ein Ende aller Mühlsal. Eine sanfte, schaukelnde Bewegung setzte ein. Dennoch. . . Es störte kaum. Aber dann führte die Bewegung in eine bestimmte Richtung. Er ließ sich davontragen. Er nahm einen schwachen Lichtschein wahr. Es schien aus allen Richtungen zu kommen, aber er machte sich keine Gedanken über den Wahrnehmungssinn, den diese Erscheinung erforderlich machte. Sein Bewußtsein öffnete sich, aber Teile davon waren taub. Das Licht wurde heller, und die Bewegung dauerte an. Was immer sich unter ihm befand schien hellgelb zu sein, mit nebelhaften Flecken. Jetzt wurde das Bild deutlicher, aber sein Sinn für Perspektive war verzerrt. Die Lichtwerte waren ungewohnt, er hatte keine Möglichkeit, seine Entfernung von den langsam Gestalt annehmenden Dingen unter ihm zu bestimmen. Es war ein zerklüftetes Land, felsig, sandig, überschattet, vom Wind umhergetriebene Staubwolken, tiefe schlangenähnliche Nebelstreifen. Aber nichts war zu entdecken, an dem er Größenverhältnisse oder Entfernungen hätte messen können. Dennoch war der Ort vertraut. Wo? Wann? -243-
Er sank tiefer. Waren es Berggipfel oder niedrige Hügel, über die er hinwegglitt? Und was war sein Ziel? War er Herr seiner Bewegungen, schwebte er nur oder beides? Oder keins von beiden? Fast schien es. . . Er glitt längsseits an einer der größeren Felserhebungen entlang. Plötzlich kam er um eine Biegung, und das Problem der relativen Größenverhältnisse war gelöst. Ungefähr fünf Meter unter ihm steckte auf einer langen Stange ein Dämonenschädel. Etwas, das man als Grinsen bezeichnen konnte, verzog das dunkle, schuppige Gesicht. Die Augen waren weit geöffnet, sehr schwarz und schienen direkt auf ihn gerichtet zu sein. Er verspürte etwas wie ein Frösteln, als er an dem grausigen Ding vorüberschwebte und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es ihm zugeblinzelt hatte. Die Wüstenei versank unter ihm, als er in das Zwielicht bleicher Sterne an einem bleichen Himmel hinaufstieg, hoch über den wirbelnden Staub. Hier wehte der Wind kalt, klagend, leer. Tief unten zog die Landschaft vorüber. Eine Funkenfontäne stieg auf, wie um ihm den Weg zu versperren, aber er wich ihr in weitem Bogen aus. Kurz darauf erfüllte ein dröhnender, metallischer Klang die Luft, als hätte jemand einen großen Gong geschlagen. Ein leuchtender Meteor hinterließ eine lange Spur vor und über ihm, und er hörte ein Geräusch wie Donner, obwohl keine Wolken am Himmel standen. Seine Geschwindigkeit schien sich zu steigern, und das Klagen des Windes wurde greller. Weit unter ihm bewegten sich die hellen und dunklen Flecken der Landschaft in einem Meer aus verzerrten Bildern, formten sich zu rasch wieder zerfließenden Gesichtern - länglich, verzerrt, schön, fremdartig, zornig, gelassen, leer. Eine zerstörte Stadt tauchte auf, über der schwarze Wesen schwebten und kreisten. Kleine blaue Lichter bewegten sich zwischen den Ruinen. -244-
Hin und wieder stürzten sich die schwarzen Geschöpfe auf eines und löschten es aus. Er flog über einen schwarzen Turm hinweg, aus dem ein lieblicher, zarter Gesang ertönte. Ein mächtiges, vielbeiniges Geschöpf mit öliger, zerfurchter Haut lag auf dem Turm wie eine verfaulte Pflaume. Ein bronzener Wagen bewegte sich lautlos durch die Luft, gelenkt von einem totenbleichen Wesen in einem safrangelben Umhang, gezogen von langschwänzigen Kreaturen, deren wolkiger Atem sich zu Kristallen verdichtete, die von dem Wind davon getragen wurden. Innerhalb eines Augenblickes war die Erscheinung verschwunden, und er begann zu zweifeln, ob er sie tatsächlich gesehen hatte. Ein Klimpern, wie von Hunderten kleiner Glocken, begleitete seinen Flug über eine graue Ebene, wo Heere von Menschen und Dämonen sich in Schlachtordnung gegenüber standen, erstarrt unter einem uralten Zauber, dessen äußeren Rand er gestreift hatte. Vor ihm war der Horizont in seiner gesamten Länge unterbrochen - eine dünne, unregelmäßige Kante der Welt, die vor ihm in die Höhe wuchs. Er richtete seine Aufmerksamkeit darauf. Die Linie wurde zu einem gezähmten Band und dann zu einem Wall - mächtig, ragend, schwarz. Lange Zeit sah es so aus, als könnte er jeden Augenblick gegen diesen gewaltigen Gebirgszug geschmettert werden. Dann erhielt das Ganze durch einen Wechsel des Lichts eine neue Perspektive, und er erkannte, daß das Gebirge unglaublich weit entfernt war, unglaublich riesig. Etwas verkrampfte sich innerhalb des wolkenhaften Gebildes, als das er jetzt existierte, erfaßte instinktiv, daß er es über queren mußte. Von der Gegend unter ihm erkannte er nur bruchstückhafte Ausschnitte. Was hinter ihm vorging, blieb ihm verborgen, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, daß etwas ihm folgte. Einen flüchtigen Moment lang attackierte er den erstarrten Teil seines Bewußtseins mit der Frage, wer er war und woher er kam. Keine -245-
Antwort, der kurze Aufruhr verging, und er vergaß, was ihn verursacht hatte. Er dachte weiter über die sich vor ihm ausbreitende Welt nach, erinnerte sich daran, schon einmal diesen Weg eingeschlagen zu haben, wußte, daß es diesmal anders war, daß er eine Mission zu erfüllen hatte. Die Berge ragten immer höher empor, und er wußte, daß ganz gleich in welcher Gestalt - ihre Überquerung nicht leicht sein würde. Er begann ihre Umrisse zu studieren, auf der Suche nach einer Senke, einer Lücke - etwas, das ihm die Überquerung erleichtern konnte. Er glaubte, eine solche Stelle zu seiner Linken entdeckt zu haben, und er machte den Versuch, diese Richtung einzuschlagen. Er war überrascht, als es tatsächlich gelang. Es war seine erste willentliche Handlung, an die er sich erinnern konnte, seit er das Bewußtsein wiedererlangt hatte, und es gefiel ihm, daß sie erfolgreich war. Gleich darauf fragte er sich allerdings, was ihn bis jetzt gelenkt hatte. Dann wurde er sich dieses Zerrens bewußt, des Gefühls, von etwas gezogen zu werden, das sich hinter den Bergen befand, etwas, das willens war, ihm ein wenig Beistand zu leisten, damit er schnell und sicher in dieses andere Land gelangte. Er strengte sich noch einmal an, und seine Geschwindigkeit nahm zu. Je näher er den Bergen kam, desto mehr schien er an Substanz zu gewinnen. Denn jetzt begann er Widerstand zu spüren, den Anprall der Winde. Die Berge ragten vor ihm empor, ihre Gipfel verschwanden in der Dunkelheit hoch oben. Er stieg in noch größere Höhe als zuvor und näherte sich dem Einschnitt. Die Winde packten ihn und warfen ihn zurück, ihr Heulen verfolgte ihn. Er gewann die Kontrolle über sich zurück und schwebte wieder in die Höhe, wobei er sich noch dichter an der Felswand hielt. Diesmal kam er weiter, bis die kreischenden Winde ihn wieder zurück zwangen. Bei seinem dritten Versuch, bewegte er sich schneller, -246-
schwang sich mit aller Kraft hinauf, so daß der Berghang vor ihm zu einem dunklen Klecks verschwamm. Als die Winde ihn schließlich packten, kämpfte er gegen sie an, und er erreichte beinahe den Rand des Felsspalts, bevor er wieder nach unten gedrängt wurde. Beim vierten Mal versuchte er es mit einem anderen Aufstiegswinkel und wurde beinahe sofort zurück geschlagen. Er zog sich zu einem tiefergelegenen Teil des Bergmassivs zurück, bemühte sich um Orientierung und Stabilität, raffte neuen Mut zusammen. Er sammelte noch einmal seine Kräfte. Dann begann er auf zu steigen. Diesmal wählte er den besten der Wege, die er vorher ausprobiert hatte, dicht an der Flanke des Berges. Er schleuderte sich selbst in die Höhe, versuchte schneller zu sein als jemals zuvor. Der Wind umschlang ihn und spielte auf ihm, wie auf der Saite eines Musikinstrumentes. Er pulsierte im Rhythmus dieser Vibrationen, während er gegen ihn ankämpfte. Trotz des Widerstandes stieg er weiter empor, aber er spürte die rasche Auflösung der Energien, aus denen seine jetzige Gestalt bestand. Ihn überkam das Gefühl, daß er, wenn es ihm diesmal nicht gelang, den Einschnitt zu erreichen, davongewirbelt werden würde und vielleicht ein halbes Jahrhundert warten mußte, bis er wieder genügend Kraft gesammelt hatte, um es erneut zu versuchen. Als das Peitschen des Windes zunahm und seine Fortschritte geringer wurden, legte er all seine verbleibende Kraft in den Versuch, die Aufwärtsbewegung bei zu behalten. Eine sekundenlange Flaute half ihm ein großes Stück weiter, aber der Angriff begann von neuem, als er sich gerade dem Einschnitt näherte. »Wer immer du bist, der mich ruft«, rief er lautlos durch den Felsspalt, »wenn du mich wirklich willst, dann hilf mir!« Beinahe sofort spürte er das Ziehen, und diesmal war es eine -247-
körperliche Empfindung und nicht mehr nur eine geistige Führung. Er fügte seine eigenen Energien hinzu und bewegte sich wieder schneller. Er schwebte an dem höchsten Punkt vorbei, den er bei seinen früheren Versuchen erreicht hatte. Der Einschnitt lag vor ihm, wenn er nur seine Richtung ändern und sich hinein flüchten konnte. Er strengte sich noch einmal an, und der stetige Zug - jetzt von vorne kommend - unterstützte ihn. Er schwebte in die Offnung hinein. Er hatte auf etwas Schutz vor den Winden gerechnet, wenn er sich erst einmal in dem Einschnitt befand, aber jetzt sah er sich einem Sturm ausgesetzt, der dort tobte. Nachdem er sich den Weg in den Schutz einer Nische in der rechten Wand erkämpft hatte, sammelte er seine Kräfte und überdachte den vor ihm liegenden Weg. Er hatte Vorsprünge entdeckt und andere Öffnungen in den Felsen. Sich den Winden zum Kampf stellend, mühte er sich weiter und fand Zuflucht an der Leerseite einer Felsrippe. Der Wind pfiff an ihm vorüber, und lange Streifen von Eiskristallen glitzerten in den Rillen der Wand. Er unternahm eine weitere Anstrengung, kam ein kleines Stück voran, suchte wieder Unterschlupf. Das Ziehen hatte nachgelassen - oder sich vielmehr auf die geistige Ebene verlagert, als Ruf. Als er glaubte, wieder ausreichend bei Kräften zu sein, wagte er sich wieder in den Sturm und kämpfte sich ein Stück voran. Auf diese Weise arbeitete er sich durch den Einschnitt und erreichte schließlich den letzten Zufluchtsort, genau gegenüber der Eingangsöffnung. Während er dort ausharrte, plante er sein weiteres Vorgehen. Er beschloß, sich möglichst dicht an der zunächst liegenden Wand zu halten - der linken -, wenn er den Einschnitt verließ, um nicht wieder zurück geworfen zu werden. Als er dieses letzte Stück zurücklegte, erhaschte er einen Blick auf ein dunkles und altes Meer, weit voraus, bevor er zur -248-
Seite glitt, von den Winden erfaßt und gen Himmel geschleudert wurde. Er stieg ungeheuer schnell, und die Welt wirbelte in buntem Durcheinander durch seine Sinne, welche das auch immer sein mochten. Er wurde nach oben geworfen und weg von den Bergen, und dann stürzte er, wurde wieder aufgefangen und durch einen waschbrettartigen Trog von Turbulenzen gezerrt. Als das vorbei war, fiel er wieder, all seine Sinne in völliger Verwirrung. Nach einiger Zeit wurde er langsamer und wurde sich wieder des Ziehens bewußt. Er verließ das Gebiet der Höhenwinde und verlor weiter an Höhe. Allmählich kehrte das, was man als Gesichtssinn bezeichnen konnte, wieder zurück. Unter ihm erstreckte sich bis zum Ufer des stillen Meeres und anscheinend auch noch unter seiner Oberfläche eine phantastische, stufenformige Stadt aus asymmetrischen Gebäuden, von denen viele aus einem dunklen, glänzenden Metall bestanden. Sie breitete sich nach allen Richtungen aus, bis sie am Horizont verschwand. Er wurde näher an diesen Ort heran gezogen. Farbige Rauchsäulen, die schweren Parfümduft verströmten, trieben an ihm vorbei. Seine Sicht wurde beeinträchtigt durch die ungewöhnlichen Perspektiven, das matte Licht. Er sank tiefer und sah, wie Dämonen mit ihren menschlichen Geliebten umherspazierten; er hörte die fremdartige, langsame Musik aus den sich drehenden Fünfecken. Er schwebte über einer von grotesken Statuen begrenzten Straße, die sich alle in einem Jahrhunderte dauernden Tanz drehten. Ein riesiges Wesen, das zwischen zwei braunen Säulen angekettet war, weinte unaufhörlich in ein Steinbecken, aus dem die Vorübergehenden grüne Kelche füllten.
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XX Matte Blitze, wie von einem Hitzegewitter, färbten den düsteren Himmel über dem Meer. Der Anblick machte ihn benommen; es bot sich ihm etwas Neues und weitgehend Unbegreifliches, in welche Richtung er auch blickte. Wie dieser hohe, gelbe Turm am Meeresufer, mit der Statue eines schwarzen, frauenähnlichen Vogelgeschöpfes. . . Dann bewegte es sich, und er wußte, daß es keine Statue war. Nyaliths Stimme hallte wie Trompetenklang über das Land und das Meer. Unter ihm erstarrte jede Bewegung für einen Augenblick. Und er wußte. Er schwebte über die Wasserfläche, seine Geschwindigkeit steigerte sich unaufhörlich, die Welt verwandelte sich in einen dunklen, verschwommenen Tunnel. Er bewegte sich entlang dem Band der Macht, das ihn bis hierher geführt hatte. Er spürte, zum ersten Mal, die Gegenwart des Wesens, das das Ziel seines Fluges war. Vor ihm erschien etwas Dunkles am Ende des Tunnels. Dann, für einen flüchtigen Augenblick, sah er die riesige schwarzgefiederte Gestalt vor einem violetten Himmel, umrahmt von zuckenden Blitzen. Nur einen Augenblick, und er wurde emporgetragen zu diesem Zusammentreffen, das seit Jahrtausenden vorher bestimmt war. Sein kürzlich erwachtes Bewußtsein veränderte, öffnete sich, verschmolz. Er öffnete seinen Schnabel und sandte seinen Schrei als Antwort über die stillen Wasser, einen Schrei des Triumphes, daß er, Henry Späher, eins war mit dem uralten Bewußtsein von Prodromolu, Öffner des Weges. Er ließ sich von den Winden hoch hinauf tragen und stieß -250-
dann hinab, um sein Spiegelbild im Wasser zu betrachten schattenhafte Vogelgestalt, eingehüllt in unheilverkündendes Licht. Er wußte, hier war die Macht. Er würde sein Volk sammeln und es über das Land zum Tor führen. Dort würde er seinen menschlichen Körper erwecken, der auf der anderen Seite lag. Es war ohne Bedeutung, daß nur ein Schlüssel vorhanden war. Er würde genügen, mit dem Öffner des Weges als Helfer, wenn erst das Blut irgendeines der Gefallenen dem Zauber hinzu gefügt worden war. Jetzt gab es nichts mehr, das den Einiger der Ebenen aufhalten konnte, den Retter dieser Welt. Er schlug einmal mit den Flügeln, spürte ihre Kraft, streifte die Wasseroberfläche, unter der sich leuchtende Geschöpfe bewegten. Dann erhob sie sich vor ihm, wie ein das Meer zerreißender Turm aus Schuppen und Schlamm, die roten Augen starr, die Gewächse der Tiefe an den Hörnern, auf deren Rücken die steingepanzerten Aasfresser zwischen Schiffsgerippen und den Knochen der Toten tanzten. Und noch während sie sich in die Höhe reckte, bog sie sich zurück, die Hemmerin-desAufstiegs-aus-dem-Schlamm der Urschöpfung, Talkne, Schlange der Stillen Wasser, die seit jahrtausenden seine Ankunft erwartete und die Erneuerung ihres ewigen Zwistes. Prodromolu breitete die Schwingen aus, peitschte die Luft, verlangsamte seinen Flug. In diesem Augenblick, bevor er sich gefangen hatte, schlug Talkne zu. Wie ein Hammer schnellte der Schlangenkopf gegen den flatternden Vogel, schleuderte ihn in einer Wolke von Federn zwischen die Wellen. Talkne stürzte sich auf ihn. Prodromolus Klauen stießen vor wie Krummdolche und rissen lange Furchen in die Flanken der Schlange. Sein Schnabel hackte, als Talkne eine Schlinge über seinen Rücken warf. Dann drehten sie sich wieder und wieder in den gischtenden Wellen, ihr Blut färbte den Schaum, als es sich nach allen Richtungen ausbreitete. Seine Krallen schlugen weiter nach den Flanken der Schlange, suchten dort Halt, während sich die -251-
Schlinge um seinen Rücken zusammenzog. Talknes Kopf zuckte von einer Seite zur anderen, vor und zurück, auf der Suche nach einer Öffnung für einen tödlichen Biß. Über ihm verdunkelte sich der Himmel und erhellte sich wieder. In weiter Ferne wiederholte Nylath ihren Ruf. »Das ist ein Ruf, dem du niemals antworten wirst, Vogel«, zischte Talkne. »Diese Unterhaltung ist nicht neu, Schlange«, antwortete Prodromolu. Zum erstenmal trafen sich ihre Augen, und beide verharrten für einen langen, ungewissen Moment. »Pol?« krächzte der Vogel. »Henry. . . ?« Und dann schlug Prodromolu zu, verdrängte die langsamere, menschliche Persönlichkeit in ihm. Talkne wand sich in dem plötzlichen Zugriff seiner Krallen, aber die dunklen Schwingen peitschten bereits die Wasseroberfläche, mit einem Geräusch wie von nassen, schweren Segeln. Die Schlange wurde auf den Rücken geworfen, als Prodromolu in die Lüfte stieg und sich mühte, den Feind in sein eigenes Element zu heben. Talkne wehrte sich gegen ihn, wuchtete eine Schlinge nach der anderen zu dem Vogel hinauf. Aber Prodromolu wich ihnen aus oder hackte mit seinem Schnabel zu, ohne einen Flügelschlag zu verpassen, als er sich langsam in Richtung Land bewegte und die Schlange mit sich zerrte, halb in, halb aus dem Wasser. Der Vogel stieß einen triumphierenden Schrei aus, als er an Höhe gewann und mehr und mehr von Talknes Leib aus dem Wasser tauchte. Nach einer Weile kamen die Berge in Sicht und die Weltenstadt auf ihren Flanken. In diesem Augenblick schlug die Schlange wieder zu. Talknes Kopf zuckte nach oben mit weit geöffnetem Rachen. -252-
Aber die Fänge senkten sich nur in Federn. Der Schmerz bewegte sich wie eine gewaltige Keule und peitschte auf den Vogel ein. Prodromolu taumelte und schwankte unter dem Schlag, verlor aber nicht an Höhe. Dreimal versuchte die Schlange, ihn in einer Schlinge zu fesseln und hatte dreimal keinen Erfolg. Wieder hob sich der Kopf, aber Pol wehrte den Stoß mit dem Schnabel ab und mühte sich immer weiter empor. Sie stiegen höher in die von Streifen durchzogene Luft. Das Land kam näher, und Talknes Gewicht hing schlaff und schwer in den Klauen des schwarzen Vogels. »Außerhalb des Wassers«, sagte Prodromolu, »bist du nichts als ausgestopfte Haut, eine Wurst.« Talkne erwiderte nichts. »Ich bin der Öffner des Weges«, sagte er nach einiger Zeit. »Ich werde das Tor weit öffnen, um den Atem neuen Lebens hindurch zu lassen.« Du wirst diese Welt nicht verlassen«, zischte Talkne. Prodromolu schwebte der Küste entgegen, Musik und der Duft von Weihrauch drangen über das Wasser zu ihm, eine Gruppe der in Orange gewandeten Bewohner erwartete am Strand ihren Tod, sie sangen und tanzten, als sein Schatten über sie fiel. Als er das feste Land erreichte, wählte er mit Umsicht eine geeigente Stelle, flog über die unteren Stufen und öffnete seine Klauen, als er einen weiten Kreis beschrieb. Der Schlangenleib wand sich, zuckte, als er auf die Stadt fiel. Gebäude stürzten ein, Menschen und Dämonen wurden zermalmt, Brunnen zerschellten, und Flammen sprangen aus dem Geröll. Prodromolu senkte den Kopf, und seine Flügel bogen sich zurück. Er stieß auf seinen Feind herab. Als er mit den Krallen zuschlug, bewegte sich Talknes -253-
lebloser Körper plötzlich wie eine aufschnellende Feder. Eine Schlinge legte sich über seinen Rücken und zog sich augenblicklich zusammen. Aus dem Gleichgewicht gebracht, einen Flügel an den Leib gepreßt, mit stiebenden Federn wurde Prodromolu auf eine Seite gezerrt und überschlug sich wieder und wieder. Weitere Gebäude stürzten ein, Statuen kippten von den Sockeln, als sie sich drehten, rollten, fielen. Sie glitten die Stufen hinunter, unter ihnen bebte die Erde. Das Singen wurde lauter, als sie die unterste Terrasse erreichten. Als Talknes Schlingen sich immer fester um ihn legten, verstärkte Prodromolu den Druck seiner Klauen, schlug und hackte mit seinem Schnabel. Ihr Blut vermischte sich und bildete kleine Teiche. Orangegekleidete Leichen lagen um sie herum, als der Vogel weiter auf die schuppige Gestalt einhieb, die ihn in ihren würgenden Schlingen gefangen hielt. Endlich lockerten sich die Windungen ein wenig, und der Vogel hackte mit erneuter Kraft zu, riß Fleischstücke heraus und warf sie beiseite in einen kleinen Ziergarten mit silberblättrigen Sträuchern. Er fühlte die Schlange erschlaffen. Er befreite sich aus ihrem Zugriff, warf den Kopf zurück und stieß einen durchdringenden Schrei aus. Dann breitete er langsam, schmerzerfüllt seine Flügel aus und erhob sich in die Luft. Der Kopf der Schlange zuckte empor, und die Fänge schlossen sich um sein rechtes Bein. Mit einer peitschenden Bewegung schleuderte Talkne Prodromolu durch die Luft und in das Wasser, ohne das Bein loszulassen, und sie glitt sofort hinter ihm her, um den schwarzen Vogel zu umschlingen. »Du wirst diese Welt nicht verlassen«, wiederholte Talkne und zerrte ihn in das tiefere Wasser. »Pol!« sagte der andere plötzlich. »Du weißt nicht, was du tust. . .« Geraume Zeit erhielt er keine Antwort, während die Schlange -254-
sich mit ihm noch weiter vom Ufer entfernte. Dann: »Ich weiß es.« Talkne tauchte, zog Prodromolu mit sich. Für einen Moment gelang es dem Vogel, sich teilweise zu befreien, und sein Schnabel stieß auf den Hinterkopf der Schlange herab, den Bruchteil einer Sekunde, bevor die Fänge seinen Hals packten und nicht mehr losließen. Als das Wasser um ihn schäumte und der Hieb des gewaltigen Schnabels den Kopf der Schlange traf, fühlte Pol, wie ihm das Bewußtsein entglitt, und alles schien weit entfernt. Noch während sein Rachen sich fester um den Hals des Gegners schloß, fühlte er sich ausgeschlossen von diesen Vorgängen, als wären eigentlich zwei andere Wesen daran beteiligt. . . Verzweifelt mit den Flügeln schlagend, konnte er sich nicht von dem Druck an seinem Hals befreien. Als er noch tiefer unter die Wasseroberfläche gezogen wurde, fühlte Henry Späher, wie die Schwärze aufstieg und ihn einhüllte. Er wollte schreien. Er hob einen Arm, um seine Kräfte zu rufen, aber sein Bewußtsein erlosch, bevor er die erforderliche Geste der Macht vollenden konnte. Er ging. Der Nebel wallte um ihn herum, und die Gestalten kamen und gingen. Eine davon war ihm vertraut, sie hatte eine Botschaft. . . Es war kalt, sehr kalt. Er wünschte sich eine Decke, aber etwas anderes wurde in seine Hand geschoben. Aber auch davon schien Wärme in ihn einzuströmen, und das war gut. Das Stöhnen verstummte. Bis zu diesem Augenblick war es ihm gar nicht aufgefallen. Er umklammerte den Gegenstand, den er hielt, und ein wenig Stärke ging davon auf ihn über. »Pol! Komm schon! Wach auf! Schnell!« Die Botschaft. . . Er merkte, daß jemand in sein Gesicht schlug. Gesicht? -255-
Ja, er hatte ein Gesicht. »Wach auf!« »Nein«, sein Griff festigte sich um den Stab. Stab? Er öffnete die Augen. Das Gesicht vor ihm war verschwommen, kam ihm aber trotzdem bekannt vor. Es senkte sich tiefer, und die Züge wurden deutlicher. »Samtfinger. . .« »Steh auf! Beeil dich!« drängte ihn der kleine Mann. »Die anderen bewegen sich!« »Andere? Ich kann nicht. . . Oh!« Pol versuchte sich aufzusetzen, und Samtfinger unterstützte ihn. Als er saß, bemerkte er, daß es das Szepter seines Vaters war, das er in den Händen hielt. »Woher hast du das?« fragte er. »Später! Nimm es, und gebrauche es!« Pol blickte durch die Halle. Larick hatte sich auf die Seite gerollt und wandte ihm das Gesicht zu. Seine Augen waren offen, aber verständnislos. An der anderen Seite des Raumes, in der Nähe der Tür, stöhnte Ryle Merson und begann sich zu regen. Aus dem Augenwinkel sah Pol, daß Taisa dem Arm hob. Er erinnerte sich an Spähers Worte über ein Nachlassen seines Willens, und er richtete den Blick auf den Mann, als Späher sich gerade aufsetzte. »Sind das alles Feinde?« fragte Samtfinger. »Gegen die, die es sind, solltest du besser etwas unternehmen, und zwar schnell.« »Verschwinde hier«, antwortete Pol. »Rasch!« »Ich werde dich nicht im Stich lassen.« »Du mußt! Wie du auch immer herein gekommen bist. . .« »Durch das Fenster.« -256-
»Also wieder hinaus. Geh!« Pol kniete sich hin, hob das Szepter vors Gesicht und blickte Henry Späher an. Samtfinger verschwand aus seinem Blickfeld, aber Pol konnte nicht sagen, ob er geflohen war oder sich nur zurück gezogen hatte. Von irgendwoher erreichte der Geruch von Drachen seine Nase. Sein Arm pulsierte, und er war dankbar, daß die Macht ihn nicht wieder verlassen hatte. Die Statuette stand immer noch auf dem Diagramm, dem Tod zugewandt. Er stand auf und ließ seinen Willen in das Szepter strömen. Seine Handflächen prickelten. Eine Empfindung wie das Schwingen eines langgezogenen, unhörbaren Orgelklanges durchlief ihn. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, daß Späher sterben mußte. Wenn er ihn am Leben ließ, lud er sich eine größere Schuld auf, als wenn er ihn tötete, denn dann war er verantwortlich für alles Böse, was der Mann tun würde. Mit einem Geräusch wie ein Donnerschlag sprang ein Tuch aus beinahe flüssigem Feuer aus der Spitze des Szepters und senkte sich über Henry Späher. Die Halle war hell erleuchtet, und Schatten liefen über die unebenen Wände. Dann teilte sich die Flamme wie eine gespaltene Zunge und enthüllte Späher, der in der Gabelung stand, den rechten Arm erhoben. »Wie ist es dir gelungen das Ding in die Hand zu bekommen?« fragte er durch das Toben der Flammen. Pol antwortete nicht, sondern richtete all seine Bemühungen darauf, die Lücke zu schließen. Wie eine blutige Schere in einer zitternden Hand, näherten sich die feurigen Mauern dem Mann in der Mitte, entfernten sich wieder. Pol fühlte den Gegendruck wachsen und nachlassen, als Späher seine Kräfte sammelte. »Dein Drachen vor dem Fenster, wie?« sagte Späher. -257-
»Mußt ihn gut abgerichtet haben. Ich selbst kann Drachen nicht ausstehen. Riechen wie schales Bier und verfaulte Eier.« Die Flammen wichen plötzlich weit auseinander, wie ein Y, dann ein T. Sie wandten sich in Pols Richtung, der obere Balken des T krümmte sich langsam zurück. Pol biß die Zähne zusammen, und die Flammen hielten an. Ihn überfiel die niederschmetternde Erkenntnis, daß selbst jetzt, wo seine Kräfte durch das Szepter verstärkt wurden, Späher ihm überlegen war. Und Spähers Macht wurde in dem Maße, wie er sich erholte, während seine eigene die Grenze erreicht zu haben schien. Die Flammen schwankten wieder, aber sie krochen weiter auf ihn zu. Er wußte, daß es zu spät war, um eine andere Art des Angriffs zu versuchen, und er wußte auch, daß es keinen Unterschied machen würde, auch wenn es Ihm gelang. »Das ist ein mächtiges Werkzeug, das du da hast«, bemerkte Späher langsam, als könnte er seine Gedanken lesen. »Aber ein Werkzeug ist natürlich nur so gut, wie der Mann, der es benutzt. Du bist jung und hast erst vor kurzem deine Kraft entdeckt. Du bist nicht groß genug für die Aufgabe, die du dir gestellt hast.« Er tat einen Schritt nach vorne, und die Falmmen brausten unheilverkündend. »Allerdings bezweifle ich, daß irgendein Mann auf dieser Welt es ist.« »Halt den Mund!« schrie Pol, und er versuchte, die Flammen verschwinden zu lassen, aber sie blieben. Späher tat einen weiteren Schritt und blieb stehen, als eine Woge der Anstrengung als Folge von Pols Wut sie wieder in seine Nähe drängte. »Die Sache kann nur einen Ausgang haben, wenn du darauf bestehtst«, fuhr Späher fort, »und das entspricht gar nicht meinen Wünschen. Hör mir zu, Junge. Wenn du gut genug bist, um mir so viel Ärger zu bereiten, wie du mir tatsächlich bereitet hast, bist du sehr gut. Ich würde es sehr bedauern, wenn ich -258-
gezwungen wäre, dich zu töten, besonders, da es keinen Grund dafür gibt.« Ein Schuß ertönte vom Fenster her, und die Kugel flog als Querschläger durch die Halle. Pol und Späher blickten gleichzeitig in dieselbe Richtung. Samtfinger, der vor dem Fenster stand, hatte die Ellenbogen auf den breiten, steinernen Sims gestützt. Die Pistole, deren Mündung auf Späher zeigte, rauchte noch. Er schien zu erstarren und rutschte nach unten, bis er nicht mehr zu sehen war, die Waffe klapperte auf die Steine, als er fiel. Pol sah, wie Späher eine fast beiläufige Bewegung zu Ende führte. »Hätte ich einen Augenblick mehr Zeit gehabt, hätte ich ihn dazu gezwungen, die Waffe gegen sich selbst zu richten «, meinte er. »Aber das kann ich nachher noch tun. Schußwaffen sind solche barbarischen Fremdkörper in dieser idyllischen Welt, findest du nicht? Was du auf dem Amboßberg getan hast, findet übrigens meinen Beifall. Das Gleichgewicht muß sich zu der Seite der Magie neigen, wo wir die Herren sein werden.« Keuchend wehrte Pol sich gegen das Näherkommen des Feuers, sein Drachenmal fühlte sich an, als stünde es selbst in Flammen. Er wußte, daß er ohne das Szepter diesen Angriff nicht lebend überstanden hätte. Selbst Spähers Gestalt schien zu wachsen, als er sich erholte, er wirkte königlich und befehlsgewohnt. »Wie ich schon sagte, es gibt keinen Grund für diesen Streit«, fuhr Späher fort. »Ich bin bereit unseren urtümlichen Kampf hinter dem Tor zu vergessen und das, was vorher zwischen uns geschehen ist. Ich glaube, daß du immer noch nicht verstehst. Gleichfalls bin ich mehr denn je davon überzeugt, daß du ein nützlicher Verbündeter sein könntest.« Er trat einen Schritt zurück, und der Druck ließ nach. »Zum Zeichen meiner -259-
ehrlichen Absichten«, sagte er, »habe ich den ersten Schritt dazu getan, daß wir uns nach und nach aus dieser unerquicklichen Situation lösen können. Laß uns aufhören und zu unserem gemeinsamen Nutzen zusammen arbeiten. Ich werde dich außerdem noch einige ungewöhnliche Dinge über den Stab lehren, den du da in der Hand hältst. Ich. . .« Pol schrie und sank auf die Knie, als seine ganze linke Seite von furchtbaren Krämpfen gepackt wurde. Er hatte ein Gefühl, als würden seine Rippen zermalmt. Mit einer gewaltigen Anstrengung schleuderte er all seine verbliebene Kraft wie einen gewaltigen Keil gegen Späher, angespornt von Furcht, Haß, dem Gefühl, betrogen worden zu sein, Scham über seine eigene Gutgläubigkeit. . . »Das war ich nicht!« rief Späher - halb wütend, halb überrascht - als er stolpernd gegen die Wand gedrängt wurde. »Larick! Hör auf. . .«, sagte von rechts eine schwache Stimme, als Ryle Merson sich auf die Füße mühte. Augenblicklich hörten die Krämpfe auf, aber die Nachwirkungen hielten Pol zitternd gepeinigt auf den Knien. »Hilf ihm! Verdammt!« schrie Ryle. »Das ist Späher, den er da in der Klemme hat!« Der dicke Mann bewegte sich überraschend schnell und umfaßte das Szepter unterhalb von Pols Hand. Sofort fühlte Pol ein teilweises Nachlassen der Spannung, die ihn so lange in ihrem Griff gehalten hatte. Spähers Augen, die weit geöffnet gewesen waren, verengten sich plötzlich. Larick näherte sich Pol von links, seine Hand legte sich gleichfalls um das Szepter. »Du hast behauptet, daß ich dich benutzen würde«, sagte Späher, »und es stimmt. Aber sie haben sich derselben Sache schuldig gemacht.« -260-
Pol sandte seinen Willen aus, unterstützt von den anderen. Die Flammen rückten wieder vor und hielten an, als hätten sie eine unsichtbare Mauer erreicht. Er mühte sich, seine Anstrengungen zu verdoppeln und spürte, wie auch die anderen sich verausgabten, aber alles blieb unverändert. Und Späher lächelte - ein mattes, beinahe trauriges Lächeln. »Was ist los?« fragte Pol heiser. »Er hat uns im Griff«, erwiderte Ryle. »Uns alle drei?« meinte Pol. »Vorhin wäre ich fast allein mit ihm fertig geworden.« »Meine kleine Schlange«, bemerkte Späher von der gegenüberliegenden Seite der Halle aus. »Obwohl du mich einige Male überrascht hast, prüfte ich nur deine Kraft und zögerte eine Entscheidung hinaus, um mit dir reden zu können. Jetzt sehe ich, daß es sinnlos ist, und ich muß die Dinge zu einem Ende bringen, wenn es mir auch aufrichtig leid tut, auf dich verzichten zu müssen. Auf Wiedersehen - in einem angenehmeren Leben, vielleicht.« Er ging auf sie zu. Augenblicklich wurde das Szepter in Pols Hand glühend heiß. Trotzdem hielt er es fest und richtete all seine Energien darauf, den Mann aufzuhalten, der jetzt die Verkörperung von Stärke und Selbstsicherheit zu sein schien. Er spürte etwas Widerstand, aber Späher blieb nicht stehen, und der Geruch von verbranntem Fleisch breitete sich aus. Sein Bewußtsein trübte sich, und für einen Moment schien Nebel um ihn zu wogen, und die Gestalt zu seiner Rechten war nicht mehr Ryle Merson. Was sagte er? Späher krümmte sich, als hätte ihn ein Schlag in den Magen getroffen. Mit beiden Händen zeichnete er hastig Kreise in die Luft, die rechte unmittelbar vor seinem Körper, die linke weit zur Seite ausgestreckt. -261-
Nach einem Moment richtete er sich auf, seine Handbewegungen wurden ruhiger, die Kreise größer. Er blickte nach vorn und dann nach links. »Damit hatte ich nicht gerechnet«, sagte er reuevoll. Pol, der längst nicht mehr beurteilen konnte, ob das Szepter heiß, kalt oder lauwarm war, wandte den Kopf zum Eingang der Halle. Ibal und Vonnie standen dort. Er trug einen weißen Stab. Sie hielt einen Gegenstand, der wie ein Handspiegel aus Messing aussah, vor der Brust. »Du hast die Türen des Altersheims geöffnet«, meinte Späher, der sich schon wieder erholt zu haben schien. »Wir werden sie schließen müssen.« Seine linke Hand zeichnete ein anderes Muster in die Luft, veränderte den Rhythmus. Der Metallspiegel blitzte, als Vonnie taumelte. Ibal legte ihr eine Hand auf die Schulter und hob den Stab wie ein Dirigent bei der Eröffnung von Brahms' Zweiter Symphonie. »Es gab eine Zeit, als du sehr gut warst, alter Mann«, sagte Späher. »Aber du hättest im Ruhestand bleiben sollen.« Er bewegte plötzlich die rechte Hand, Ryle Merson schrie auf und stürzte. »Eine kleine Umleitung schadet niemals«, meinte er. »Und dann waren's nur noch vier. . .« Aber in seinem Gesicht waren Spuren von Erschöpfung zu erkennen, und der Spiegel blitzte wieder. »Verdammte Hexe!« murmelte er und wich einen Schritt zurück. Ein nadelfeiner Streifen weißen Lichts zuckte aus Ibals Stab und durchbohrte Spähers rechte Schulter. Späher brüllte auf, als sein Arm kraftlos herabsank und eine Woge aus Feuer und Macht aus dem Szepter ihn überschwemmte. -262-
Seine Kleidung schwelte, er bewegte rasch die Hände, das Szepter entwand sich Pols und Laricks griff, wirbelte durch die Halle und traf Ibal an Brust und Schultern. Der weiße Stab fiel zu Boden, als der Zauberer stürzte, sein Gesicht war schon zwanzig Jahre älter. Der Spiegel blitzte, und Späher schien das Licht mit der linken Hand aufzufangen, die es auf Pol und Larick reflektierte. Pol empfand es wie einen Schlag und war sekundenlang geblendet. Taumelnd fiel er gegen Larick, der nicht die Kraft hatte, ihn zu halten. Sie stürzten beide, als Späher sich der Frau zuwandte. Von seinem Arm tropfte Blut, Haar und Augenbrauen waren versengt, sein Gesicht war stark gerötet, und sein Umhang qualmte. Er murmelte - ob Flüche oder den Anfang eines Zaubers konnte sie nicht sagen. »Werte Dame«, meinte Späher, als er sich ihr näherte, »es ist alles vorbei.« Aus weiter Ferne hörte Pol sie antworten: »In diesem Fall nimm dich in acht.« Er hörte Spähers Aufschrei und glaubte, daß sie ihn besiegt hatte. Aber dann, aus noch weiterer Ferne, hörte er die leise Antwort des Mannes: »Gut. Aber nicht gut genug.« Aber Pol wanderte schon durch den von Nebelschwaden erfüllten Raum, die ihm so ähnliche Gestalt eines Mannes zur Seite und hörte ihn etwas sagen, etvvas, an das er sich erinnern sollte, etwas Wichtiges. . . »Belphanior!« sagte er laut, den Kopf halb erhoben. Und dann sank er vornüber, und die Nebel umhüllten ihn.
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XXI
Meine Welt wurde in einem Augenblick auseinandergerissen und wieder zusammengesetzt. Vielleicht geschah mir dasselbe. Alle Fragen meine Existenz betreffend wurden neu gestellt und beantwortet durch dieses einzige Wort. Der Aufruhr in meinem Geist legte sich. Alle Unklarheiten zum ersten Mal während meines Daseins - waren beseitigt. Ich genoß den Augenblick. »Belphanior!« Balphanior. Ja, Belphanior. Er paßte so ausgezeichnet, wie ein elegantes Kleidungsstück, für mich allein gefertigt. Ich drehte mich vor den Spiegeln meines Bewußtseins, bewunderte den Schnitt und das Tuch. In großer Eile war ich von dem Zauberer Det Morson aus dem rohen Stoff der Schöpfung in dieser Welt geschaffen worden. Am Tage seines Todes - sogar nur wenige Minuten vorher. Das ungewöhnlich schnelle Auftauchen seiner Feinde ließ ihm so wenig Zeit, daß es ihm nicht möglich war, seine Arbeit zu beenden, mich mit allen notwendigen Einschränkungen, Handlungsmustern und Trieben auszustatten. Er eilte hinaus, in seinen Tod, ohne seinen Zauber richtig zu vollenden und all die Reflexe in Gang zu setzen, mit denen er mich versehen hatte. Oder mir zu sagen, wer ich war. Mit außerordentlicher Gewissenhaftigkeit, merkte ich jetzt, hatte ich versucht, diese Dinge selbst herauszufinden. Es ist sehr erfreulich, seine eigene Wichtigkeit zu entdecken. Und es ist etwas sehr Gutes, sich aus eigener Kraft in der Welt zurechtgefunden zu haben, anders als die, die komplett versehen mit einem Vorrat an intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten -264-
sich ein bequemes Plätzchen im Leben suchen können und sich über nichts Gedanken zu machen brauchen. Man bedenke. . . Det eilte davon. Ich begreife jetzt, warum er mich nicht freisetzte. Nicht nur war ich unvollständig, ohne meinen Namen, sondern meine unentwickelte Kraft konnte ihm kaum nützen gegen das Heer der Belagerer, und ihr Magier hätte mich zweifellos einfach beiseite gefegt, mich wahrscheinlich für meine wahre Bestimmung unbrauchbar gemacht. Wie lange Zeit ich nach dem Sturz von Rondoval noch durch die Überbleibsel des Zaubers gefangengehalten wurde, weiß ich nicht. Jahre vielleicht, bis die Zeit die Zeichen löschte, die mir das Verlassen des Raumes verwehrten. Eine unerträgliche Härte war es nicht, denn zu dieser Zeit war meine Art der Existenz eher pflanzenähnlich und nicht zu vergleichen mit der wißbegierigen und intellektuellen Bewußtseinsstufe, auf der ich mich jetzt befinde. In den folgenden Jahren durchforschte ich die Burg, ohne mir jemals Gedanken über die Natur der Kraft zu machen, die mich dort festhielt - selbst dann nicht, als ich herausfand, daß meine bescheidenen Ausflüge in die Umgebung unweigerlich von einem Mißbehagen begleitet wurden, das erst verschwand, wenn ich in die Mauern der Burg zurückkehrte. Aber ich war jung und naiv. Es gab so viele Fragen, die ich mir noch nicht stellte. Ich glitt an Balken entlang. Ich tanzte im Mondlicht. Das Leben war eine Idylle. Erst durch Pols Ankunft und all die Geschehnisse, die darauf folgten, wurde so etwas wie echte Neugier in mir geweckt. Abgesehen von Insekten und einigen damals völlig unbegreiflichen Bewohnern anderer Ebenen, beschränkten sich meine Erfahrungen mit Gefühlen auf das, was ich aus den Gehirnen der schlafenden Drachen und ihrer Genossen bezog kaum eine besonders anregende intellektuelle Nahrung. Jetzt wurde ich plötzlich überschwemmt mit Gedanken und Worten und den Überlegungen die dahinter standen. -265-
Zu diesem Zeitpunkt entwickelte ich ein eigenes Bewußtsein und begann, die Geheimnisse meiner Existenz zu erforschen. Ich weiß jetzt, daß ich mich wegen seines Drachenmals zu Pol hingezogen fühlte und wegen der Menge anderer Hinweise, die mir dabei halfen, ihn mit meinem ersten verflixten Meister in Verbindung zu bringen. Ich wusste, allerdings nicht, daß dies im Aufbauplan meiner Existenz vorgesehen war. In diesem Licht besehen wurden einige meiner Handlungen verständlicher. Wie zum Beispiel meine Wiederbelebung des Leichnams, um Samtfinger eine Botschaft zu übermitteln. Wie mein Entschluß, Rondoval zu verlassen und Pol zu folgen. »Belphanior.« Herrliches Wort. Während Pol halb bewußtlos, keuchend, gepeinigt von Brandwunden, Knochenbrüchen, Prellungen, Abschürfungen, Platzwunden und zu Tode erschöpft auf dem Boden lag, erkannte ich, daß meine Mission im Leben zum großen Teil darin bestand, ihn zu schützen, und es freute mich, daß ich damit so viel Erfolg gehabt hatte, in Anbetracht der Schwierigkeiten, unter denen ich arbeiten mußte. Es machte mich froh, daß ich ihm manchmal den Druck seiner quälenden Träume erleichtert hatte, ganz zu schweigen davon, daß ich Samtfinger auf die Suche nach seinem Szepter geschickt hatte, ohne das er höchstwahrscheinlich jetzt schon tot gewesen wäre. Ja, es befriedigte mich, dass, ich die richtigen Dinge getan hatten, dass, ich aus eigener Überlegung heraus so viele richtige Schlussfolgerungen, getroffen hatte und nicht aufgrund irgendeines Befehls, dem ich nur zu folgen hatte. Während ich die reglose Gestalt Laricks betrachtete - der gleichfalls unter meinem Schutz stand -, wie auch die von Ryle, Ibal und der rasch schwächer werdenden Lady Vonnie, war ich froh zu wissen, daß auch sie meine Schützlinge waren. Die philosophischen Aussichten, die sich mir eröffneten, schienen unerschöpflich. -266-
Ja. Durch die Nennung meines Namens wußte ich sofort, wer und was ich war: Ich bin der Fluch von Rondoval (ein Fachausdruck) und existiere, um sowohl die Burg, als auch die Mitglieder des Hauses zu schützen und, sollte das nicht gelingen, sie zu rächen. Ich betrachte das als eine reizvolle, aufregende und wunderbare Aufgabe. Es erfüllt mich mit größter Dankbarkeit, daß Det Morson, so hart bedrängt er am Ende auch war, doch die Zeit fand, einen guten Fluch zu erschaffen. Während ich beobachtete, wie Henry Späher und Vonnie vor und zurück taumelten und mit verschlungenen und irreführenden Gesten ihre verbliebenen Kräfte gegeneinander schleuderten, in einem Zweikampf, dessen Ausgang über das Schicksal meiner Schützlinge entscheiden würde, ganz zu schweigen von dem der Welt, bemerkte ich, daß trotz der Kräfte, die gegen ihn eingesetzt worden waren, der Mann die Oberhand hatte und aus diesem Duell als Sieger hervorgehen würde. Es war lehrreich, seine Handhabung der Magie zu verfolgen. Er war ein künstlerisches Genie. Der Mann war immerhin ein enger Freund meines verflixten Meisters gewesen und ihm ebenbürtig. In diesem Sinne war es schade, daß er zu einem Feind Rondovals und damit zum Gegenstand meines Zorns geworden war. Was mich zu einer anderen, wichtigen Folge von Überlegungen führte: Da Det Morson seit zwei Jahrzehnten tot war und zwei Erben von Rondoval vor mir auf dem Boden lagen, wer war sein richtiger Nachfolger als mein verflixter Meister? Larick war älter als Pol, aber er hatte Rondoval verlassen, um auf Avinconet zu leben. Pol andererseits hatte sich auf dem Familiensitz niedergelassen und war deshalb empfänglicher für die Bedürfnisse Rondovals. Beweise: sein weitreichender Plan für den Wiederaufbau und die Renovierung der Burg. Die Sache konnte mit den Jahren -267-
sehr bedeutsam werden, wenn es dazu kam, auf der Liste meiner Pflichten Schwerpunkte zu setzen. Ich löste das Problem schließlich zu Gunsten Pols. Möglicherweise war es letztlich eine rein sentimentale Wahl. Während ich meine Entscheidung auf das Argument des Wohnsitzes stützte, war ich mir sehr wohl der Tatsache bewußt, daß sie durchaus davon beeinflußt sein mochte, daß ich Pol besser kannte als seinen Bruder und daß Laricks früheres Verhalten ihm gegenüber nicht meinen Beifall gefunden hatte. Oder, um es einfacher auszudrücken, Pol war mir sympathischer. Ich schwebte an seine zitternde, zusammengekrümmte Gestalt heran und versuchte erstmals, direkten Kontakt mit ihm aufzunehmen. ALLES IST IN ORDNUNG JETZT, VERFLIXTER MEISTER, teilte ich ihm mit, BIS AUF EIN PAAR KLEINIGKEITEN. Er hustete, gerade als Vonnie aufschrie und konnte nichts erwidern. Ich betrachtete noch einmal Henry Späher, dessen Gesicht schwarz und verzerrt war, als er die letzten Knoten seines Zaubers schlang. Ich bemerkte auch, daß Ryle Merson bei Bewußtsein war und sich mühte, den Arm zu heben. Larick und Ibal würden voraussichtlich noch einige Zeit ohne Besinnung sein. Taisa hatte sich aufgesetzt und blickte verständnislos umher. Ich überdachte eine Anzahl möglicher Aktionen, die ich gegen Späher unternehmen konnte und verwarf viele - sogar die, durch Umleitung eines nahe gelegenen unterirdischen Stromes die Kammer zu überfluten, die für mich einen großen künstlerischen Reiz hatte. Schließlich verringerten sich die Möglichkeiten bis auf eine, und als letztes Detail fehlte nur noch meine Entscheidung -268-
betreffs der passenden Farbe. Avocado bis hellgrün, beschloß ich endlich.
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XXII
Als Pol die Stimme in seinem Kopf hörte, drehte er sich auf die Seite und öffnete die Augen. Zu allem anderen fehlte ihm die Kraft. Die Lage der Dinge hatte sich nicht wesentlich verändert, soweit er es beurteilen konnte. Vonnie wirkte nicht mehr wie eine junge Frau, sondern ältlich und müde. Späher sah ebenfalls erschöpft aus, aber in seinen Bewegungen lag noch etwas Kraft. Einen Moment noch, und der Mann mußte siegen. Aus dem hinteren Teil der Halle ertönte ein lautes Zischen. Späher blickte in diese Richtung, und sein Gesicht erstarrte. Seine Hände hielten mitten in der Bewegung inne. Vonnie folgte seinem Blick mit ähnlichem Ergebnis. Pol mühte sich, den Kopf zu drehen, und als es ihm gelang, war er Zeuge einer besonders scheußlichen Materialisation. Es schien der Dämonenkörper zu sein, den er selbst kurze Zeit getragen hatte, der da neben dem Tisch Gestalt annahm allerdings ohne Kopf. Anstelle des Kopfes trug er eine Krone aus Flammen - von Avocado bis Hellgrün. Pol hörte Taisa schreien. Und nach ihrem Gesichtsausdruck, machten Späher und Vonnie jeweils den anderen für diese Erscheinung verantwortlich. In diesem Augenblick zuckte ein Lichtfunke zwischen Ryle Mersons schalenförmig zusammengelegten Händen hervor und fiel auf Spähers Brust. Späher taumelte zurück, suchte es abzuwischen und warf einen raschen Blick auf Ryle. Pol hob die Hand und bewegte sie, als wollte er einen Zauber aufbauen, obwohl die Macht ihn verlassen hatte, das Drachenmal wieder tot war. Späher machte eine abwehrende Bewegung, als eine Stimme erdröhnte: »Der Fluch von Rondoval ist über dir, Henry Späher!« -270-
Die flammengekrönte Dämonengestalt sprang vor, und Späher - alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen drehte sich um und packte die Statuette, die er schützend vor sich hielt. »Ich habe euch gedient!« schrie er. »Jetzt seid ihr an der Reihe. Jetzt oder nie!« Ein Blitz zuckte aus Vonnies Spiegel, zugleich mit einem polternden Geräusch aus der Richtung, wo der Tisch stand. Das Licht aus dem Spiegel erreichte Späher nicht. Irgendwo im Umfeld der Statuette - eine Armeslänge von ihm entfernt - schien es aufgesaugt zu werden. Die Juwelen in der Figur leuchteten wie kleine, bunte Flammen. Ein dunkler Gegenstand setzte sich in Bewegung, verfolgte die Dämonengestalt. Er flog an dem Geschöpf vorbei - ein schwerer, hölzerner Armsessel, der neben dem Tisch gestanden hatte -, passierte auch Späher, drehte sich in der Luft, senkte sich herab und stieß Späher in die Kniekehlen. Der Zauberer fiel in den Stuhl, die glühende Ikone immer noch fest umklammert. Der Stuhl neigte sich zurück und gewann rasch an Höhe, gerade als der Fluch von Rondoval darauf zusprang. Er schwang in einem weiten Bogen durch den Raum, und der flammengekrönte Rächer stürmte hinterher. Der Sessel flog auf die Wand zu, hielt plötzlich an und schoß in Richtung Fenster. Belphanior gewann das Gleichgewicht zurück, drehte sich um und verfolgte ihn mit ausgestreckten Klauen. Er bekam den Saum von Spähers Umhang zu fassen, der hinter ihm herflatterte. Der Stuhl ruckte, Späher gab einen würgenden Laut von sich und tastete nach seinem Hals. Dann riß die Spange ab, und der Umhang fiel zu Boden. Der Stuhl nahm seine Vorwärtsbewegung wieder auf, wurde schneller und flog durch -271-
das Fenster. Pol hörte einen überraschten Ruf, gefolgt von dem Brüllen eines Drachen. Einen Augenblick später ertönten Schüsse. Dann hörte er Samtfinger fluchen. Er stützte sich auf einen Arm und begann zu schwanken. Er fühlte Ryles Hand auf der Schulter, die ihn stützte. »Immer mit der Ruhe. . .«, sagte Ryle. »Für den Augenblick ist er unschädlich gemacht. Wir sind sicher.«Ryle half ihm, sich aufzusetzen und blickte dann zu Taisa, Larick, Vonnie. Die alte Frau saß auf dem Boden, der Spiegel lag neben ihr. Sie hielt Ibals Kopf im Schoß und sprach leise zu ihm. Als sie Ryles Blick auf sich ruhen fühlte, hob sie schnell eine Hand vor ihr Gesicht. Ryle schaute rasch beiseite. Larick rührte sich wieder. Ryle erhob sich langsam und umständlich und ging zu seiner Tochter. Pol erhaschte nur einen kurzen Blick auf sein Gesicht. »Verflixter Meister«, sagte Belphanior und warf sich ihm zu Füßen. »Ich bin Eurem Ruf gefolgt. Ich entschuldige mich dafür, daß der Mann meinem Zorn entkommen ist.« »Was - Wer bist du?« fragte Pol und zog seinen plötzlich warmen Fuß von dem geneigten, aus avocado- bis hellgrünen Flammen bestehenden Kopf zurück. »Und bitte, steh auf.« »Belphanior, der Fluch von Rondoval, Euer Diener«, sagte er und kniete sich hin. »Wirklich?« »Ja. Ihr habt gerufen, und ich bin gekommen. Ich hätte ihn für Euch in Stücke gerissen, bis auf diesen unfairen Trick.« »Vielleicht hast du ein andermal die Möglichkeit«, meinte Pol. »Aber ich danke dir für den mir geleisteten Dienst. Er kam zur rechten Zeit und war gut ausgeführt.« Belphanior reichte ihm den gelben Umhang. »Eure eigene Kleidung ist nicht im besten Zustand. Vielleicht -272-
nehmt Ihr den Mantel des Zauberers. . .« »Danke.« Pol nahm ihn entgegen. Das leichte Gewebe fühlte sich seltsam an und doch wieder vertraut. Da war ein kleiner weißer Fleck auf der Innenseite, unter dem Kragen. Er hob ihn hoch und schaute genauer hin. MADE IN HONGKONG stand darauf. Er ließ den Umhang beinahe fallen, als ein kaltes Frösteln ihn überlief. »Darf ich Euch behilflich sein, verflixter Meister?« »Nein. Es geht schon.« Er legte sich den Umhang um die Schultern und schloß ihn am Hals. Unter beträchtlichen Schmerzen streckte er seine Beine und stand auf. Die Pein in seiner linken Seite wuchs. Auch Larick versuchte aufzustehen. Er streckte die Hand aus. Larick betrachtete sie einen Moment lang, ergriff sie und zog sich hoch. Er hielt sie einen Augenblick fest und starrte auf das Drachenmal. Dann musterte er Pols Haar. »Das wußte ich nicht«, sagte er schließlich. »Ich habe es selbst erst im letzten Augenblick bemerkt«, erwiderte Pol. Mit einem Blick über die Schulter sah Pol, daß Samtfinger auf dem Fenstersims hockte. Einen Moment später rief der kleine Mann etwas aus dem Fenster und sprang zu Boden. »Mondvogel konnte dem Stuhl nicht folgen«, berichtete er. »Er bewegte sich zu schnell.« Pol nickte. Als Samtfinger sich ihm näherte, sah er, daß auch Ryle und Taisa herankamen. Larick wandte sich lächelnd zu der Frau um. Sie ging an ihm vorbei, legte Pol die Arme um den Hals und küßte ihn. »Ich danke dir«, sagte sie dann. »Ich glaubte, dieser Tag -273-
würde niemals kommen, bis ich sah, wie du hierher gebracht wurdest. Irgendwie wußte ich, daß du mich befreien würdest.« Als er an ihr vorbeischaute, bemerkte Pol den eigenartigen Ausdruck auf Laricks Gesicht. Schnell löste er sich von ihr, schob sie sanft zurück und verneigte sich trotz seiner schmerzenden Seite. »Es macht mich glücklich, daß ich helfen konnte«, sagte er, »aber es ist kaum alleine mein Verdienst. Es waren einfach - die Umstände.« »Du bist sehr bescheiden.« Pol wandte sich ab. »Wir sollten uns um Ibal und Vonnie kümmern.« Der alte Zauberer sah wieder jung aus, war aber immer noch besinnungslos. Vonnies Schönheit war größtenteils zurückgekehrt und nahm noch zu, als Pol sie ansah. Sie lächelte ihn an. »Er wird gleich wieder bei sich sein«, erklärte sie. »Ich wollte nur nicht, daß er aufwacht, bevor der kosmetische Zauber wiederhergestellt war. Die Verjüngungszauber können wir später hinzufügen.« Sie hob den magischen Spiegel auf und betrachtete sich darin. Sie lächelte. »Eitelkeit, ich weiß«, sagte sie. »Herrliche Sache.« »Laßt uns«, meinte Ryle und trat neben sie, »etwas behaglichere Räumlichkeiten aufsuchen. Vielleicht kann dein Diener, Pol, Ibal tragen.« »Das wird nicht nötig sein«, antwortete Vonnie und hielt den Spiegel vor Ibals Gesicht. Ibals Augen öffneten sich. Er musterte sein Spiegelbild und erhob sich. »Geht voraus«, sagte sie. »Wir kommen nach.« -274-
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XXIII
Die Nacht war hereingebrochen. In der großen Halle von Avinconet standen sechs juwelenbesetzte Statuetten inmitten konzentrischer Kreise, die auf den Boden gemalt waren. Zwischen den Kreisen und um sie herum waren außerdem noch verschiedene Zeichen und Worte eingezeichnet. Es hatte einen ganzen Tag gedauert, sie so zu gruppieren, denn alles, was nur schief gehen konnte - von verschütteter Farbe, falsch ausgesprochenen Worten, ungenau gemalten Symbolen und einer ganzen Serie von Erdbeben, bis zu Heerscharen gefräßiger Insekten, die das Muster durcheinander brachten -, war schiefgegangen. Aber dann endlich war der letzte Zauber gesprochen, der letzte Strich gezogen, die letzte Bewegung ausgeführt. Sofort hatten die Zwischenfälle aufgehört. Die Schlüssel waren gefangen. Jetzt befanden sich Pol, Larick, Ibal, Vonnie, Ryle, Taisa, Samtfinger und Belphanior im hinteren Teil des Raumes; saßen, lagen, standen, gingen hin und her, schwebten als unsichtbare Wolke in der Luft, nahmen Erfrischungen zu sich, erholten sich und berieten. ». . . dann verstehe ich nicht, warum sie Späher nicht geholfen haben«, sagte Samtfinger gerade. »Ich glaube, daß sie Späher die ganze Zeit schon unterstützten «, erwiderte Ryle, »aber schließlich waren auch sie erschöpft, kurze Zeit wenigstens, beinahe.« »Du sagst, daß er - theoretisch - das Tor auch mit einem Schlüssel öffnen könnte?« fragte Samtfinger weiter. »Er behauptete es Pol gegenüber, und ich halte es für möglich. Allerdings würde es ihn viel Mühe kosten. Mit -276-
Sicherheit kann ich es nicht sagen. Er ist die größte lebende Autorität.« »Was jetzt?« erkundigte sich Larick, der neben Taisa saß, die Pol anschaute, der auf das Buch sah, das er im Schoß hielt. »Sie sind jetzt neutralisiert, aber ich werde nicht ruhen, bis alle sieben Schlüssel vernichtet sind«, sagte Ryle. »Sie könnten immer noch gestohlen oder befreit werden, irgendwie, und die ganze Sache würde von vorne losgehen.« »Ich kann sie eine Zeitlang vor sterblichen Dieben beschützen«, bot Samtfinger an. . . . UND ICH VOR DENEN DER ANDEREN ART, sagte Belphanior von irgendwoher. »Aber KÖNNEN sie vernichtet werden?« fragte Taisa. »Nach allem, was wir schon früher versucht haben. . .« »Alles, was existiert, hat irgendeine Schwäche«, meinte Ibal und senkte seinen Weinpokal. »Wir müssen nur sorgfältige Nachforschungen betreiben.« »Es steht hier drin«, meldete sich Pol. »Weiter vorne und an verschiedenen Stellen, aber unser Vater hat einige Aufschlüsse hinterlassen. Ich habe inzwischen schon einige gefunden, die mir neu waren. Ich werde das ganze Buch noch einmal durchlesen und sie zusammenfassen müssen. Es wird eine Zeitlang dauern. . .« »Es muß getan werden«, sagte Larick. »Ja.« »Ich kann mir nicht helfen, aber ich bewundere ihre Vorstellungskraft «, warf Ibal ein. »Wißt ihr, wenn ich ein Freistäbler wäre und nicht ein traditionell geschulter Meister der Kunst, glaube ich nicht, daß ich hier bei euch sitzen würde.«Ryle bedachte ihn mit einem durchbohrenden Blick. Ibal kicherte. -277-
»Schau mich nicht so an«, sagte er. »Du warst anfangs dabei, bis du die eine entscheidende Tatsache erfahren hast. Und wenn du Freistäbler gewesen wärest, Ryle, was dann?« Ryle blickte zur Seite. »Ich kann es nicht leugnen«, gab er zu. »Es ist falsch, aber ich hasse sie ebenso sehr, weil sie diesen Wunschtraum zerstört haben, wie für alles andere.« »Ich sagte das nicht nur, um dich zu ärgern«, fuhr Ibal fort, »sondern auch als Warnung: Traut keinen Freistäblern, bis auf die hier anwesenden - außer sie haben bewiesen, daß sie über jeden Zweifel erhaben sind.« »Du glaubst, daß Späher jetzt nach Verbündeten sucht?« »Würdest du das nicht?« »Ich glaube, ich habe etwas gefunden«, meinte Pol und schlug eine Seite um. »Ich denke nicht, daß es einfach sein wird. . .« Ein Gefühl der Anspannung breitete sich in dem Raum aus, als wäre der Luftdruck plötzlich angestiegen. Sie wuchs noch einige Sekunden lang und verschwand dann wieder. »Was war das?« fragte Samtfinger. DIE SCHLÜSSEL VERSUCHTEN, IHR GEFÄNGNIS ZU SPRENGEN, verkündete Belphanior. ABER ES GELANG IHNEN NICHT. EURE ZAUBER ERWIESEN SICH ALS MEHR DENN AUSREICHEND. »Sehr vielversprechend«, bemerkte Larick. »Lies weiter, Bruder. Und kennzeichne diesen Absatz.« Später, unsichtbar und schwebend, war ich bis auf einen schläfrigen Drachen der einzige Zuhörer, als Pol auf den Zinnen Avinconets saß und langsam, mit verbundenen Händen, auf seiner Gitarre spielte. Ich betrachtete mich selbst als ein glückliches Wesen, weil ich an diesem Tag meinen Namen und meine Bestimmung gefunden hatte. Als ich seinem Lied lauschte, kam ich zu dem Schluß, dass er -278-
so übel nicht sein konnte - wie verflixte Meister eben so sind. Ich mochte seine Musik. Dann geschah etwas Seltsames, denn meine Sinne sind nicht wie die ihren, und ich glaube, daß sie viel weniger leicht zu täuschen sind. Der Mond kam hinter einer Wolke hindurch und überschwemmte das Land mit seinem bleichen Licht, und in diesem Augenblick schien Pols Haar weiß zu sein, mit einer schwarzen Strähne in der Mitte, statt andersherum. Ich rief mir den Anblick meines Schöpfers ins Gedächtnis zurück, und mir kam es vor, als blickte ich wieder in das Gesicht von Det, das wie eine Maske Pols Züge überlagerte. Das Bild machte einen mehr als starken Eindruck auf mich, und die Erinnerung, die es hervorrief war irgendwie unbehaglich. Aber nach einem Moment war alles vorüber, und die Musik ertönte weiter. Ist das Leben eine schnelle Illusion oder ein langes Lied? fragte ich mich selbst, da ich ein Bedürfnis nach neuen philosophischen Überlegungen verspürte.
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ENDE
FANTASY Eine außergewöhnliche Reihe für die Freunde heroischer Epen. Fantasy-Romane entführen Sie in mythische Welteit. Niveauvolle, pralle Erzählungen aus dem Reich phantastischer Sagengestalten. Band 20 055 Jörg Weigand (Hg. ) Vergiß nicht den Wind Neue deutsche Fantasy-Geschichten Daß es in Deutschland eine neue, eigene Richtung der Fantasy-Literatur gibt. Die sich neben der angelsächsischen Fantasy auf die lange Tradition der deutschen Phantastik berufen kann, beweist Jörg Weigand mit dieser Anthologie. Bizarre, märchenhafte, verträumte, unheimliche und immer sehr phantastische Geschichten von Wolfgang Holbein Thomas Ziegler Jörg Weigand Ulrich Weise Andreas Brandhorst Lothar Streblow Ulrich Harbecke und andere.
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