Sean Beaufort
Siedlung der Gefahren Die Indianer hatten wie die Teufel gekämpft, und die Seewölfe begriffen, daß das L...
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Sean Beaufort
Siedlung der Gefahren Die Indianer hatten wie die Teufel gekämpft, und die Seewölfe begriffen, daß das Leben im verheißenen Paradies von Virginia alles andere als ungefährlich war. Philip Hasard Killigrew versucbte, durcb den dünnen Nebel die Galeonen und die rußgeschwärzten Häuser der Siedlung zu erkennen. »Wir haben die lange Reise überlebt«, grollte er und setzte einen unhörbaren, aber schauerlichen Flucb hinzu, »und kaum sind wir hier, geht es rund mit Kämpfen und Gefechten.« »Wir haben's gut«, widersprach Ben Brighton, der Erste. »Wir brauchen nicht Ackerbau und Viehzucht zu treiben.« »Wir werden wieder die meiste Arbeit haben«, schimpfte der Seewolf. »Wir haben auch die Ehre und Verantwortung«, entgegnete Ben Brighton. »Schöne Ehre«, schnappte Hasard.
Die Hauptpersonen des Romans: William Godfrey - als die fünf überlebenden Kerle von der Rabauken-Karavelle zu ihm und den beiden anderen adeligen Schnöseln stoßen, meint er, „zur Eroberung" des Landes schreiten zu können. Atkinson Grey - als Überlebender der Rabauken-Karavelle hat er mit seinen Kumpanen nur eines im Sinn: Gold! Batuti - der schwarze Mann aus Gambia zeigt einmal mehr, daß er ein guter Jäger ist. Frank Holroyd - der ehemalige Bauer aus Norfolk findet eine Frau, mit der er ein neues Leben anfangen will. Philip Hasard Killigrew - nach langem Suchen meint der Seewolf, einen guten Platz für die Siedler aus England gefunden zu haben.
1. Als erster der Seewölfecrew stand Kapitän Philip Hasard Killigrew an Deck und hoffte, daß sich der Alptraum des vergangenen Tages nicht wiederholen würde. Aber die Erfahrung aus vielen Kämpfen sagte ihm, daß der erste Sonnenstrahl die scheinbare Ruhe beenden würde. Seine Meinung war vielleicht nicht entscheidend. Aber vermutlich würde er schließlich recht behalten. Das gesamte Unternehmen, das Sir Walter Raleigh angefangen hatte, stand unter einem schlechten Stern. Der Nebel, der aus den Sümpfen aufgestiegen war und seit Mitternacht die Bucht ausfüllte, dämpfte alle Geräusche und versteckte gnädig die vielen Zeichen der Kämpfe, Brände und Zerstörungen. Ben Brighton, in dessen dunkelblondem Haar sich der Nebel in winzigen Tröpfchen niedergeschlagen hatte, blickte Hasard aus scharfen grauen Augen an. Die Fackeln und die Laternen, die zwischen Heck und Bug der Schebecke aufgehängt waren, ließen den Nebel etwa zwanzig Fuß weit durchscheinend werden. „Die Siedler haben die lange Reise
überlebt. Hier haben sie's auch nicht besser", sagte der Erste leise und fast mitleidig, „denn sie kämpfen gegen eine harte, widerspenstige Natur, gegen die Eingeborenen und eine lange Kette noch schlimmerer Gefahren." „Hätten sie in England bleiben sollen?" fragte der Seewolf voller Zweifel. „Ich glaube fast, daß sie es dort besser getroffen hätten. Wenigstens kannten sie auf der Insel, gegen was es zu kämpfen galt." „Ich weiß es auch nicht. Auf diese Frage gibt es wohl keine klare Antwort", murmelte Ben Brighton. Nachdem die Indianer verschwunden waren - sie schienen in der Nacht nicht kämpfen zu wollen, oder ihre Götter verboten es ihnen -, hatte Hasard klare Befehle gegeben. Die Schebecke war in tieferes Wasser verholt worden und lag ruhig in der Gezeitenströmung vor Anker. Alle Culverinen waren neu geladen. Die Drehbassen, noch in ihre Persennings eingehüllt, ruhten feuerbereit in ihren Aufhängungen. An Steuerbord und Backbord gingen je ein halbes Dutzend Seewölfe, schwer bewaffnet und mit weiteren geladenen Pistolen und Musketen im Griffbereich, lautlos auf und ab. Die
5 Ankerwache blieb mißtrauisch: keiner wollte sich überraschen lassen. Die entspannte Stimmung, die während der langsamen Fahrt gegen den Wind nach Süden an Bord geherrscht hatte, war vorbei. „Das Land schien uns allen, als wir hierher unterwegs waren", faßte der Seewolf seine Überlegungen zusammen, „leer und fruchtbar. In den Wäldern zeigte das Wild, daß es den Menschen nicht fürchtete. Das Wetter scheint so gut oder schlecht zu sein wie an jedem anderen Punkt in diesen Breiten. Ausgerechnet hier, wo Raleigh landete, tauchen plötzlich blutdürstige Indianer auf." „Ich habe mich mit ein paar Siedlern unterhalten. Viel konnte ich nicht erfahren", sagte Ben. „Kann es sein, daß sich die Eingeborenen haben reizen lassen? Gibt es für sie Gründe, zurückzuschlagen? Die Siedler scheinen nichts anders getan zu haben, als daß sie Felder anlegten, aussäten und das Wild jagten." „Wir werden es herausfinden", erwiderte Hasard und verfluchte wieder einmal den Auftrag, den ihm die Queen erteilt hatte. Befehl war Befehl, er mußte durchhalten und weitermachen. Überdies hatten die Seewölfe nicht die Absicht, sich dieser Verpflichtung durch feige Flucht zu entziehen. „Das sollte allerdings einigermaßen schnell vor sich gehen, Sir", mahnte der Erste. „Wenn wir der Kolonie, die den Namen nicht recht verdient, helfen wollen, muß ganz schnell etwas passieren. Du hast recht, Ben", erklärte Hasard. „Ich weiß allerdings nicht, was wir tun sollen. Stur auf jeden Indianer zu schießen, der sich sehen läßt, ist auch keine Lösung. Wir sind keine Schlächter." „Wir wissen nichts über die einge-
borenen Jäger", sagte Ben Brighton. „Sie kennen uns, jedenfalls die Siedler, besser als wir die Leute, die in diesem Land wohnen." „Stimmt. Das macht's nicht leichter", knurrte der Seewolf. Daß Old Donegal ein Boot voller wütender Indianer gesehen hatte, verwies Hasard ins Reich der Fabeln und Legenden. Da hatte der „Admiral" wieder einmal ein verschlungenes Seemannsgarn gesponnen. Aber die kleine Sarah sprach die Wahrheit. Ihr Bruder und sie selbst waren auf der Klippe von einem alten, weißhaarigen Indianer gerettet worden. Graham Lilley von der „Explorer" war ein zuverlässiger Zeuge. Es gibt also auch Indianer, die kleine Kinder retten und dann wieder verschwinden, als habe es sie nicht gegeben, sagte sich Hasard. Das ändert aber nichts an der bitteren Lage der Siedler. „Weißt du, wie viele Tote es gegeben hat?" fragte Hasard. „Nein. Ich habe mindestens eineinhalb Dutzend zählen können." „Das sind achtzehn Engländer zuviel." Hasard legte den Kopf in den Nacken und sog die feuchtkühle Luft tief ein. „Wie verhalten wir uns?" wollte Ben wissen. Es blieben noch einige Stunden bis zum neuen Tag. Der Nebel, der alle Laute dämpfte, verhinderte jeden Blick auf die Ufer der langgestreckten Bucht. Beim ersten warmen Sonnenstrahl, der den Dunst auflöste und zerriß, würde das Verhängnis wieder zu sehen sein. „Na, wie schon! Wie immer, wenn wir auf uns allein gestellt sind." „Aber - noch ankern irgendwo die beiden Galeonen. Mehr als die Hälfte der Siedler blieb an Bord", wandte Ben leise sein. „Ich sah die Boote. Viele gingen vor Angst in die Boote.
6 Vermutlich erreichten sie die Galeonen, bevor der Nebel zu dicht wurde." „Wenn sie noch blind durch die Bucht pullen würden, müßten wir es hören", sagte der Seewolf. „Also . . . ? " „Ruhe bewahren!" stieß Hasard hervor. „Warten. Ein gutes Frühstück, dann sehen wir weiter. Mit ein paar Fernschüssen lassen sich die tapferen Krieger zunächst einmal erschrecken und vertreiben - wenn sie wieder angreifen." Für die Arwenacks, die mit Pistolen, schweren Säbeln, Musketen und Bordgeschützen kämpften, war es schon fast eine Schande, sich gegen die Eingeborenen zu wehren. Pfeil und Bogen, Speere und Steinbeile, Schädelbrecher und einfache Steindolche konnten ihnen an Bord nicht wirklich gefährlich werden. Anders verhielt es sich bei den Siedlern, die einem solchen Angriff ziemlich wehrlos gegenüberstanden. „Sie werden wieder angreifen", versicherte Ben. Das Glasen der Schiffsglocken klang durch die Nebelsuppe. Die Töne schienen - mit einigem Abstand zwischen den einzelnen Schlägen aus allen Richtungen zugleich zu erklingen. „Darauf sind wir aber gut vorbereitet", antwortete der Seewolf. „Und die Kerle auf den Galeonen nicht weniger." „Und die Siedler in ihren abgebrannten Hütten schlafen unruhig oder gar nicht", schloß der Erste grimmig. „Wir dürfen sie nicht vergessen, Sir." „Ganz bestimmt nicht", sagte Hasard und zog den Kragen der Wetterjacke höher. Daß die zukünftigen Siedler erst den vermeintlich sicheren Schutz der
Schiffe gar nicht verlassen wollten, konnte er verstehen. Ob es sinnvoll war, daß diejenigen, die schon das Land bestellt und ihre Hütten gezimmert hatten, sich weiterer Todesgefahr aussetzten, stand dahin. Ging es nach ihm, würde er sie an Bord holen und an einer anderen, ungefährlicheren Stelle wieder an Land bringen. Aber: auch dieses Stück Land schien für lange Zeit einsam und unbewohnt zu sein. Irgendwann hatte ein streifender Jäger oder ein Fischer in seinem Boot - Canoe oder Kanu nannten es die Eingeborenen - die Blockhütten und den Rauch der Feuer entdeckt. Davor waren die Siedler auch an anderen Stellen nicht sicher. „Bleibst du an Deck, Ben?" fragte Hasard nach einer Weile, in der er alle Überlegungen und Möglichkeiten in seinem Kopf drehte und wendete, ohne zu einem klaren Schluß zu gelangen. „Aye, Sir. Kann nicht schlafen", entgegnete Ben und gähnte nicht einmal dabei. „Gut. Ich hau mich in die Koje. Alles klar, Mister Brighton?" „So klar wie der Nebel, Sir", erwiderte Ben und klopfte auf den Griff seiner Pistole. Mit leisen Schritten tappte Hasard über die feuchten Planken und zog sich in seine Kammer zurück. Hier hatte die kleine Flamme der Ölfunzel dafür gesorgt, daß es nicht mehr klamm und ungemütlich war. Der Chor von rund zwei Dutzend schlafender und schnarchender Männer störte Hasard nicht. Das gehörte zum Schiff wie das einlullende Plätschern der Wellen und das Knarren und Knacken des Geschirrs. Drei Stunden konnte Hasard schlafen, bis ihn das Klappern und Klirren der beiden Köche weckte.
7 Barfuß stieg er an Deck, schaute sich um und merkte, daß ein Landwind den Dunst zu vertreiben begann. Hasard wußte, daß wieder ein Tag voller Gefahren anfing.
Nur auf den ersten Blick wirkte das Panorama ruhig und ereignislos. Schaute man schärfer hin, dann zeigte sich, Szene um Szene, eine deutliche Spur der Verwüstung. Die Strömung hatte die Schebecke längs der Bucht ausgerichtet. Auch die „Pilgrim" und die „Explorer" waren um ihre Anker geschwoit und tauchten wie gespenstische Wracks aus dem Nebel auf. Am längsten hielten sich die Schichten, die dicht über dem stillen Wasser hingen. Neben Hasard und dem Profos stand David Fletcher. Er hielt wie jeder von ihnen einen großen Becher und das Brot in den Händen. Nachdem er den Bissen heruntergeschluckt hatte, sagte er zaghaft: „Sie sehen ein, Kapitän Killigrew, daß wir nicht gerade mit Begeisterung an Land schwimmen?" Hasard und seine Mannen hatten ihre halbwegs unfreiwilligen Schiffsgäste schätzen gelernt. Sie packten überall und immer genau dort an, wo eine Hand gebraucht wurde. David hatte dank des guten Essens seine Kraft behalten. Und Susan, seine Frau, würde man als meisterhafte Köchin vermissen, auch wenn der Kutscher und Mac Pellew behaupteten, daß sie alle ihre Kniffe abgeschaut und auswendig gelernt hatten. Seit gestern war ihr Lachen kaum zu hören gewesen. „Das sehen wir ein", antwortete der Seewolf. „Ich zermartere mir den Kopf, wie diese Frage zu lösen ist."
Die Fletcherfamilie hatte so gut wie alles verloren, was sie an Bord der „Discoverer" geschleppt hatte. Der schmerzlichste Verlust waren die Werkzeuge des jungen Schmiedes. Unter diesen Umständen fiel ihm ein neuer Anfang in Virginia besonders schwer. „Ich weiß es auch nicht. Ich bin Schmied, kein Soldat", brummte David und hob seine breiten Schultern. Auch er steckte in einer Jacke, die der Segelmacher ihm geschneidert hatte. „Es wird sich zeigen. Vielleicht finden wir eine Gegend, wo es diese rothäutigen Rübenschweine nicht gibt", sagte der Profos. „Vielleicht." Sie tranken, aßen und blickten schweigend auf die Einzelheiten, die sie an Land erkannten. Die Boote befanden sich längsseits der Bordwände. Im Wasser der Bucht trieben Baumstämme und angebrannte Bohlen, sonst nichts. Das trostlose Grau reichte bis zum Saum der Wälder. Schwarze Vögel flatterten mit klatschenden Flügelschlägen über dem Sumpf landeinwärts. Am Rand der auseinandergezogenen Siedlung wurden Gräber ausgehoben. Die Siedler bewegten sich langsam und traurig, kein lautes Wort ertönte vom Land. Hasard leerte seinen Becher und entschloß sich, einen ersten, sinnvollen Schritt zu tun. „Acht Mann ins Boot", sagte er zu Carberry. „Mit genügend Waffen. Wir pullen hinüber, aber erst, wenn sie ihre Toten unter die Erde gebracht haben. Dabei will ich sie nicht stören." „Aye, Sir." „Al Conroy soll seine Artillerie bereithalten. Wenn Eingeborene auftauchen und angreifen, soll er sie zurücktreiben. Noch etwas, und das gilt
8 für alle! Wir sind nicht hier, um Indianer massenhaft in Stücke zu schießen. Wenn wir sie zurücktreiben können, indem wir sie erschrecken, reicht das völlig aus. Klar?" „Verstanden, Sir. Aber wehren dürfen wir uns doch? Bevor ich einen Schädelbrecher auf meine Nuß kriege, würde ich gern etwas dagegen umternehmen, Sir." Hasard musterte Carberry mit einem halb mitleidigen und einem halb spöttischen Blick. „Hat jemand verboten, sich selbst zu verteidigen, Ed?" „Nein, Sir." Der Profos grinste breit und, wie deutlich zu erkennen war, voller Erleichterung. Hasard nickte. „Na also." Auch drüben an Deck der Galeonen regte sich die Crew. Fetzen von Toolans morgendlichem Gebet waren zu hören. Der Nebel lichtete sich mehr und mehr. Auch die Vorbereitungen an Deck der „Pilgrim" waren zu sehen. Hasard holte das Spektiv heraus und suchte jene Stellen ab, an denen gestern die Indianer aufgetaucht waren. Für ihn war es sicher, daß sie die Siedler beobachteten. Er hätte es nicht anders gehalten. Nacheinander enterte die kleine Crew ins Boot ab. Während Jack Finnegan die Lampen versorgte und die Fackeln ablöschte, ertönte plötzlich ein Ruf von der „Explorer" über das Wasser. Die Galeone ankerte hinter den anderen Schiffen und wandte ihr Heck dem offenen Meer zu. „Boot in Sicht! Ein Strich östlicher als Süd!" Der Ruf des Ausgucks war klar und deutlich zu verstehen. „Wie das?" murmelte Hasard und drehte sich ruckartig herum. Er plierte durch die Linsen. Dann sagte er voller Verblüffung: „Seht euch das an! Die Toten stehen wieder auf."
Wie die Insassen des Bootes im Nebel die Bucht gefunden hatten, war so schleierhaft wie der Dunst über dem Wasser. Vermutlich hatten sie ständig die Küste an Steuerbord gehalten und waren um das Kap gepullt und gesegelt. Eine Jolle, in die ein Dutzend Menschen bequem paßte, war von vier bis sechs Leuten besetzt. Von einem Notmast, dessen stehendes Gut ebenso liederlich aussah wie alles andere, hing schlaff ein ausgefranstes Segel. Carberry setzte das Spektiv ab und sagte erschüttert: „Das sind die Kerle von der Rabaukenkaravelle, Sir. Sie haben es überlebt." „Wie man sieht. Schöner sind sie nicht dadurch geworden", brummte der Seewolf. Er nahm das Spektiv und musterte die Kerle, die ziemlich kraftlos mit vier verschieden langen Riemen heranpullten. Es handelte sich um fünf Mann. Was zunächst wie ein sechster ausgesehen hatte, der zwischen den Duchten schlief, entpuppte sich als eine Wuhling aus Leinwand, Kleidungsstücken, Waffen und anderen, schwer zu identifizierenden Sachen. „Tatsächlich. Unglaublich. Aber sie leben", murmelte Hasard. Beinahe hätte er damals vier von ihnen an Bord genommen. Aber sie zogen es vor, auf die Seewölfe zu feuern. Den fünften hatten sie also noch lebend aus den Trümmern und dem Strudel gezogen. „Regenwasser hat sie am Leben gehalten", sagte David Fletcher. „Sie haben, wie wir auch, Fische gefangen." „Aber wir mußten sie nicht roh herunterwürgen, Ed", antwortete David dem Profos. „Pfui Teufel." Die Tatsache, daß fünf jener Möchtegern-Piraten bis hierher gesegelt waren und diese lange Fahrt überlebt
9 hatten, sprach für ihren starken Wil- ver trocken war. Aber achtern auf der len und, auch wenn es seltsam klang, Schebecke standen die drei Londoner auch für erstklassige Seemannschaft. Gentlemen und winkten aufgeregt. Alex Morris schrie mit überschlaSie pullten auf die freie Strecke zwischen der Galeone und der Schebecke gender Stimme: „Die wahren und wirklichen Abenteurer sind da! zu. Das Haar der Männer war lang und Welch eine Überraschung. Geht ihr verfilzt, ebenso wie ihre Bärte. Die an Land?" „Wohin sonst!" rief der Kerl zuKleidung zeigte, welche Strapazen sie hinter sich hatten. Aber die Kerls rück. „Ihr auch?" trugen Pistolen, hatten Säbel am „Killigrew wird uns zu den SiedDollbord angebändselt, und unter lern bringen. Sie werden es uns danden Lumpen ragten die Läufe einiger ken, denn sie brauchen bewaffneten Musketen hervor. Schutz." „Nichts dagegen", tönte es aus dem Wahrscheinlich hat jemand geistesgegenwärtig einige „lebenswichtige" Boot, das längsseits vorbeiglitt. „Wir Kisten und Fässer über Bord ge- brauchen erst mal was zwischen die kippt, ehe sich die Karavelle auflö- Zähne." ste, sagte sich der Seewolf. Oder sie „Verständlich. Bis gleich, Gentlehaben sie auch aus dem Wasser ge- men." fischt. Carberry faßte nach Hasards „Der Atlantik ist so ungerecht wie Schulter und fragte mit gefährlichem jeder Ozean", erklärte der Profos und Brummen in der Stimme: „Soll ich zog langsam seine Pistole aus dem ihm das Maul stopfen?" Gürtel. „Die Guten verschlingt er, „Nein", erwiderte Hasard sofort. und das Gesindel spuckt er wieder „Ich werde mit ihnen sprechen. Wenn aus. Man könnte verzweifeln, Sir." ich etwas Glück habe, ist es das letztemal in ihrem Leben. Aber du kommst „So ist es, Ed." An Deck der Galeonen drängten mit." sich Siedler und Seeleute. Sie beSie ließen den ebenso verdutzten trachteten das Boot und die Insassen, David stehen und beruhigten durch als wäre es ein Wunder. Die Kerle ris- wenige Gesten die anderen Seewölfe, sen sich zusammen und sahen die die nichts lieber getan hätten, als die drei Rauchsäulen morgendlicher unverschämten Landratten in die Feuer an Land. Sie strengten sich an Bucht zu kippen. und pullten eine knappe halbe FadenHasard baute sich vor den länge an Backbord der Schebecke Hochwohlgeborenen auf und erklärte vorbei. mit eisiger Stimme: „Die Gentlemen Der fünfte Mann mit einem verwil- wünschen, von Bord gebracht zu werderten Bart und braunem Haar bis den?" auf die Schultern richtete grinsend „Sie haben es gehört, Killi . . . äh, eine Pistole und eine Muskete auf das Kapitän", entgegnete Sir William Heck der Schebecke. Mit rauher Godfrey. Als er das eisige Licht in Stimme rief er: „Überrascht, Killi- Hasards Augen sah, erkannte er die grew?" Gefahr. „Wir planen schon lange, ins Hasard gab keine Antwort. Die Landesinnere vorzustoßen und die Hähne der Waffen waren nicht ge- Abenteuer einer Schatzsuche zu bespannt. Es war fraglich, ob das Pul- stehen."
10 „Ausgezeichnet. Holen Sie Ihre Bündel. In zehn Minuten legen wir ab." „Aber . . . " Hasards Blick ging von Godfrey zu Morris und blieb auf Frank Davenport ruhen. Sein drohendes Schweigen war schlimmer als jeder offene Wutausbruch. Hasards nächste Worte beseitigten auch den letzten Zweifel. „Sie bringen Ihr Gepäck, und zwar bis auf den letzten Rest, an Deck. Wir werden es im Beiboot verstauen. Sie, Davenport, haben immer wieder betont, den Siedlern beim Aufbau der neuen Heimat helfen zu wollen. Genau das können Sie ab sofort tun." Er legte eine Pause ein und fügte dann hinzu, halb über die Schulter an Carberry gewandt, der noch immer mit der gezogenen Pistole in der Pranke neben ihm auf die erste unbedachte Bewegung wartete: „Drei Mann von uns zurück an Deck. Die Gentlemen wollen sich körperlich betätigen - als Vorgeschmack auf Baumfällen und Ackerfurchen ziehen. Wir pullen an Land. Dort belieben die drei Gentlemen künftig zu wohnen. Noch Fragen, Sir William?" „Dieser Vorschlag ist unannehmbar", erklärte der Grauhaarige mit der Säufernase. „Wir sind nicht gewohnt, uns derart behandeln zu lassen, Sir." „Ich bin beeindruckt", sagte Hasard trocken. „Nach so langer Zeit als nicht zahlender Gast, als kräftiger Esser und gottbegnadeter Trinker an Bord ist es an der Zeit, wieder an die Muskeln zu denken. An Land werden Sie auf Dienerschaft verzichten müssen, Gentlernen. Los! Es sind nur noch neun Minuten." Er trat zur Seite und vollführte eine höfliche, aber unmißverständliche Handbewegung in die Richtung des Niederganges. Alec Morris warf dem
Boot der Karavelle-Kerle einen sehnsuchtsvollen Blick hinterher und setzte sich als letzter in Bewegung. „Helft ihnen", befahl Hasard. Seine Stimme war flach und heiser geworden - das Zeichen, daß er sich am Rand seiner Beherrschung befand. Unter Deck rumorte es. Die Seewölfe schafften die Bündel und Kisten an Deck. Nicht etwa, weil sie hilfsbereit gewesen wären, sondern weil jeder froh war, diese Typen endlich von Bord zu haben. Kurze Zeit danach war das Zeug zwischen den Duchten gestapelt. Als hätten sie niemals einen Riemen in den Händen gehabt, griffen die drei Gentlemen zu. Hasard stand am Ruder, als das Beiboot ablegte. Mit wenig höflichen Zurufen und etlichen Rippenstößen brachten die Seewölfe ihre ehrenwerten Gäste dazu, im Takt und möglichst kraftvoll zu pullen. Die Anstrengungen hielten sich in Grenzen, denn der roh gezimmerte Anlegesteg, den die Siedler für die Fischerboote errichtet hatten, lag nicht sehr weit entfernt. Die fünf Kerle der Karavelle waren über die geschwärzten Bohlen gewankt und hinter einer Hauswand verschwunden. Die mitleidigen Siedler, die von der Bestattung der Opfer zurückkehrten, würden ihnen sicherlich etwas von ihrem Essen abgeben. „Nach Ihnen", erklärte Hasard mit steinernem Gesicht, als das Boot gewendet worden war und die Belegleinen fest waren. Die Adeligen kletterten ächzend und schweißüberströmt auf den knarrenden und wankenden Steg. Die Seewölfe stapelten die Habseligkeiten auf dem Steg und schwangen sich auf Hasards Zeichen aus dem Boot. „Hierher", sagte er leise. Sie ließen die drei Gestalten stehen
11 und marschierten im Gänsemarsch auf den kleinen Dorfplatz zu. Dort waren sie mitten im fröhlichen Feiern aus dem Traum gerissen worden dem traurig zu Ende gegangenen Traum der Siedler vom paradiesischen Virginia. „Die guten Freunde sind wir fürs erste los", sagte Big Old Shane. „Bist du sicher?" fragte Hasard zurück. Seine Wut verflüchtigte sich so schnell wie der Nebel, durch den die Strahlen der ersten Morgensonne leuchteten. „Wenn sie mit den fünf anderen Halsabschneidern", grollte Batuti und nahm den Bogen von der Schulter, „den sagenhaften Goldschätzen nachrennen, werden sie wenig Freunde unter den rothäutigen Jägern finden." „Unkraut verdirbt nicht. Wie wir wissen, geht auch Gesindel nicht unter", schränkte der Seewolf mürrisch ein. „Hat jemand Michael Anderson gesehen?" „Ich nicht." Die Indianer hatten sich bisher nicht wieder gezeigt. Wenn an Bord der Schiffe jemand etwas Verdächtiges beobachten sollte, würde ein Signal gegeben werden. Im Mittelpunkt des Dörfchens stieß Hasard mit seiner kleinen Truppe auf Anderson. Sie begrüßten einander mit einem festen Händedruck. Bevor der Siedler seine Fragen stellen konnte, gab der Seewolf seine Erklärung ab. Die Siedler wußten welchen Rang er innerhalb der kleinen Flotte hatte. „Seht zu, daß die fünf Halunken, die vorhin verhungert und halbtot gelandet sind, schleunigst die Siedlung wieder verlassen. Die drei sogenannten Gentlemen, die wir mitgebracht haben, sollen sich mit ihnen fortscheren. Wir bleiben solange bei euch und helfen, diesen Standpunkt zu vertre-
ten. Je weiter sie weg sind, alle acht, desto besser für euch. Habe ich mich verständlich ausgedrückt, Mister Anderson?" Der Siedler, der einen sicheren und soliden Eindruck erweckte, nickte und wagte ein kurzes Grinsen. „Ich habe verstanden. Ich schlage ihnen vor, zu ,Far Seddlers Castle' zu gehen." „Klingt gut", fragte Don Juan heiter. „Was bedeutet es?" „Einige von uns, die am Holzfällen und Ackerbau keinen Spaß hatten, zogen flußaufwärts. Dann haben sie auf einem kleinen Hügel eine winzige Siedlung gebaut. Hohe Palisadenwände, Steinfundamente und so weiter. Sie wollen Fallen stellen und mit Fellen handeln. Das sind recht tüchtige Männer. Die lassen sich von Ihren besonderen Freunden, Kapitän, bestimmt nicht ärgern." „Klingt gut", sagte Hasard und ließ unentwegt seine Blicke umhergehen. „Ich habe ein paar Krüge Wein mitgebracht. Schwindender Bordvorrat. Wir sollten uns zusammensetzen, Michael." „Das wollte ich gerade vorschlagen", entgegnete Anderson. „Der Rat unseres Dorfes ist nicht groß, der Wein wird reichen. Es geht um unsere Siedlung, nicht wahr?" Roger Brighton sagte: „Um euer Leben geht's, guter Mann. Und um die Frauen und Kinder. Um alles, was ihr erreicht habt." „Ich weiß", antwortete Anderson und richtete seinen Blick auf die frischen Erdhügel und die Holzkreuze darauf. „Wir wissen es." „Also", sagte Hasard, „versammelt euch, holt die Krüge aus dem Boot, und wir werden uns in Ruhe einmal umsehen. Vielleicht fällt einem von uns etwas Gutes ein." Nach einigen langen Atemzügen
12 setzte er hinzu: „Ich habe nämlich bisher keine besonders hilfreiche oder narrensichere Idee gehabt." Anderson zeigte zu einem größeren, mit Schilf und Gras gedeckten Holzbau, der die wenigsten Schäden davongetragen hatte. Das große Haus diente also als Versammlungsraum und vielleicht auch als Kirche. „In einer Stunde dort drüben, Sir", sagte er eifig. „Ich rufe sie alle zusammen." „Einverstanden." Die Zwillinge, zwischen denen die Bordhündin schweifwedelnd herumsprang, blieben zusammen und gingen zwischen den kümmerlichen Feldern auf einen großen, abgestorbenen Baum zu, der sich aus einem Hügel hervorschob. Der Hügel war immerhin stolze drei oder vier Faden hoch. Der Rest der kleinen Crew zerstreute sich in alle Richtungen. Hasard blieb auf dem schmalen Pfad entlang des Wassers und hoffte, die Indianer wären so erschreckt worden, daß sie heute nicht anzugreifen wagten. Etwa eine Stunde später wußte er erleichtert, daß er wieder einmal richtig gedacht hatte. 2. Knapp zwei Dutzend Männer in jedem Alter saßen auf den Holzbänken und hielten sich unruhig an den gefüllten Bechern fest. Keiner war hier, der nicht einen unsicheren verzweifelten oder trotzigen Ausdruck zeigte. Viele hatten Brüder oder Söhne verloren. Hasard hob seinen Becher, nachdem er die liebevolle Schnitzerei bewundert hatte. „Auf die Lebenden", sagte er zurüqkhaltend. „Und weil es Tote gege-
ben hat, werden wir diese Unterhaltung ruhig und sachlich führen." Die Zwillinge und ein Junge standen auf dem höchsten Punkt des Daches und hielten nach möglichen Angreifern Ausschau. „Einverstanden", sagte ein Siedler. Ein anderer nahm einen gewaltigen Schluck und setzte fort: „Etwas anderes kommt nicht in Frage." Hasard lehnte sich an die wenig geglättete Wand aus Baumstämmen, in deren Ritzen Lehm und Moos steckten. „Zuerst müßt ihr darüber entscheiden, ob ihr fortziehen oder bleiben wollt. Alles andere richtet sich danach. Ich schlage vor, ihr stimmt ab. Euer Leben, Freunde, nicht unseres." Durch die kleinen, weit auf gestoßenen Fenster, die mit dünngeschabten Tierhäuten ausgefüllt waren, drangen gleißende Strahlenbündel in den Raum und ließen den Staub in ruhigen Wirbeln tanzen. „Darüber wurde heute nacht gesprochen", warf ein grauhaariger Siedler ein. „Mit welchem Ergebnis?" wollte Don Juan wissen. Voller Spannung zwirbelte er die Enden seines Bartes. „Die meisten wollen bleiben. Trotz allem. Aber sie sagen, daß die Zeit vorbei sei, ungeschützt zu leben. Wenn ihr uns ein wenig helfen könnt ..." „Später", sagte Hasard. „Ich habe nicht alle Zeit dieses Jahres, meine Freunde. Zuerst muß ich wissen, ob dieser Entschluß endgültig ist und auch bleibt." Michael Anderson hob die Hand und brachte einen vernünftigen Vorschlag. „Wir sammeln nachher die Stimmen aller Erwachsenen. Ich bin übrigens auch dafür, daß wir bleiben. Setzen wir also voraus, Sir, daß die
13 Mehrheit das, was wir erreicht haben, nicht aufgeben will. Was schlagen Sie vor, Sir?" Hasard brauchte in diesem Fall nicht lange zu überlegen. Er antwortete, die einzelnen Maßnahmen an den Fingern abzählend: „Wir fällen drüben am Buchtrand viele Bäume, flößen sie hierher und bauen Palisaden von guter Länge und Höhe. So groß, daß ihr euer Dorf verteidigen könnt. Palisaden auch auf der Wasserseite. Wir lassen auch einige Schußwaffen, Pulver und Blei hier. Viel mehr können wir nicht helfen. Aber es werden fast alle Seeleute von den Galeonen mit anpacken, ebenso die anderen Siedler. Zwei, drei Tage, und die Palisaden stehen." „Was können wir sonst noch tun?" „Für die arbeitenden Leute Essen kochen. Und derlei Dinge wie Beile schleifen und Sägen neu verschränken." „Kein Problem. Das übernehmen wir." Die nächsten zwei Stunden, während der Wein geleert wurde, vergingen schnell. Die trübe Stimmung der Siedler änderte sich. Neue Hoffnung regte sich. Eine Gruppe der erfahrenen Männer schritt die Grenze der Siedlung ab und markierte den Verlauf der Palisaden, wo sie am sinnvollsten in einen tiefen Graben versenkt werden konnten. Als sich Hasard zu den beiden Kapitänen hinüberpullen ließ, war es noch nicht einmal Mittag. Im Grund bewunderte er die Siedler, denn er hatte nicht damit gerechnet, daß sie hierbleiben wollten. Er konnte und wollte sie nicht zwingen, zumal er nicht wußte, ob diese Siedlung die nächsten Jahre und Jahrzehnte überdauern würde oder nicht.
Sollte jemand damit gerechnet haben, daß einer der fünf Überlebenden oder die drei adeligen Taugenichtse den Siedlern halfen, dann hatte er sich geirrt. Sie schienen sich nicht gerade gesucht, aber zum richtigen Zeitpunkt und an der einzig möglichen Stelle gefunden zu haben. Während sie aßen und tranken, schmiedeten sie schon Pläne. Aber immer wieder stellte Alec Morris, von der Leistung der fünf Kerle begeistert, seine Fragen. Schließlich rülpste Atkinson Grey laut, hielt sich den Bauch und sagte: „Gut. Ich protze nicht gern. Aber euch erzähle ich's. Es war eine verfluchte nasse Hölle. Ich glaube, Tim Robinson hatte verstanden, um was es ging. Er war es wohl, der einige Waffen und all das Zeug in die Jolle packte, noch bevor dieser verdammte Killigrew, der Teufel soll ihn holen, auf unsere Karavelle feuerte. Wir brauchen uns also nicht zu fürchten." „Ganz bemerkenswert tüchtig", sagte Sir William Godfrey.„Meinen Namen kennt wohl jedermann. Mit wem haben wir die Ehre?" Der hochgewachsene Seemann mit dem auffallend großen braunen Oberlippenbart nickte kurz. „Ich bin Grey, Atkinson Grey. War mal Takelmeister. Stamme vom Land, vom Bauernhof. Und hier will ich steinreich werden. Möglichst schnell, wenn's geht." Grey sprach ruhig und schien ein gemütlicher Mann zu sein. Aber das reichhaltige Waffenarsenal, das er mit sich schleppte, deutete darauf hin, daß er wenig Spaß verstand. „Das ist ein Gesichtspunkt, der niemanden stört", sagte Frank Davenport mit lautem Gelächter. „Ich fürchte indessen, daß das Gold nicht
14 in großen Klumpen auf der Straße liegt." „Ich bin Jameson Kidd", erklärte ein etwa fünfundzwanzigjähriger Kerl mit strähnigem blondem Haar und grünen Augen. „Hier gibt's keine Straßen, Mister . . . " Auch Davenport nannte seinen Namen. Dann fragte Sir William: „Uns alle wundert, daß ihr überlebt habt. Es muß eine furchtbare Marter gewesen sein, nicht wahr?" „War ganz hübsch hart", erwiderte ein kleiner, dicker Mann. „Frank Rosebery heiße ich. Mich haben die vier tapferen Seeleute aus dem großen Teich gezogen. War schon halb ersoffen. Mich hat wohl eine Planke im Genick oder mitten auf mein lockiges Köpfchen getroffen." Er fuhr mit der schmutzigen, von vielen Wunden bedeckten Hand über sein kurzes schwarzes Haar. Das Seewasser hatte jeden Schnitt, jeden Riß zu einem Geschwür werden lassen, und die Haut war entzündet. Wenn Rosebery den Mund auftat, sah man ungewöhnlich große, schadhafte Zähne. Er hatte etwas von einem Pferdeschädel, fand Alec Morris und grinste überheblich. „Aber Randy hier", Rosebery zeigte auf den ältesten ihrer wilden Gruppe, dessen Stirn haarlos bis in den Nacken war, „und Atkinson retteten mich. Das sind teuflisch gute Seeleute, sage ich euch. Als ich aus meinem Tiefschlaf aufgewacht war, hatten sie schon ein feines Segelschiff aus dem alten Kahn gezimmert." „Wir fanden alles, was wir brauchten im Wasser und ein Teil war schon im Boot, Rundhölzer, Tauwerk und Leinwand. Genug Leinwand, mit der wir auch den Regen auffingen", berichtete der Kerl mit dem langen Haar am Hinterkopf und über den
Ohren. Er hieß Randolf Gordon. Sein Alter schätzte jeder auf fünfzig Jahre, aber er sagte, daß er zehn Jahre jünger wäre. „Fast immer gab es genug Wasser für uns fünf. Das ist auf See das Wichtigste, und es war niemals verdorben." Ein paar Kinder aus der Siedlung hatten sich scheu, aber neugierig genähert. Grey winkte einen Jungen heran und fragte: „Wir brauchen ein warmes Bad, Junge. Und einen, der uns die Haare und den Bart stutzt." „Und einen, der uns etwas zum Trinken stiftet. Wein oder was Schärferes, ja?" sagte Frank Rosebery, der ein großer Schlucker vor dem Herrn war. Der fünfte im Bunde hieß Spencer Taffe. Die gelbe Haut verlieh dem etwa dreißigjährigen Mann, der bisher geschwiegen hatte, ein ungewöhnliches Aussehen. Vor dem linken Ohr sah man ein Muttermal, das der struppige Bart nur halb verdeckte. Wie bei den anderen Männern hatten die langen Tage und Nächte auf dem Ozean auch bei ihm ihre deutlichen Spuren hinterlassen. Der langgewachsene, hagere Mann wirkte jetzt fast verhungert. Im übrigen hatte er gepflegte Finger und saubere Nägel. „Das hat ihn hart getroffen, unseren Frank", sagte er. Seine Sprache verriet, daß er nicht unbeholfen, sondern einigermaßen gebildet war. „Daß er nichts zum Saufen hatte, meine ich." „Brandy werden wir in der Wildnis von Virginia ebenso schwer finden wie Goldklumpen, meine Freunde", sagte Sir William. „Wenn wir unserem Lebensziel nachjagen, dann müssen wir wohl eine ganze Menge Mutterwitz und Pfiffigkeit aufbringen." „Darüber verfüge ich in reichem
15 Maß", tönte der schnöselige Alec auftreten will, brauche ich Macht. Macht bedeutet Geld. Und Gold ist so Morris. „Wissen wir, wissen wir", stimmte gut wie Geld. Jedermann weiß das." „Stimmt." Kidd nickte und fuhr Godfrey sarkastisch zu. „Und wie ging es weiter auf der abenteuerli- mit dem Finger die Ränder seiner chen Seereise, meine lieben Freun- Narbe nach. Sie bildete unter dem rechten Auge einen eitrigen, roten de?" Er war sicher, daß seine falsche Schnitt. Kidd, ein kleiner und dürrer Höflichkeit bei den Männern der Ka- Mann, saß neben Grey und schien jedes Wort, das der ehemalige Takelravelle großen Eindruck hinterließ. „Langsam ging's weiter", sagte Ja- meister von sich gab, gierig aufzunehmeson Kidd und verzog das Gesicht. men und darüber nachzudenken. „Dann wären wir acht Leute." Seine grünlichen Augen waren blutunterlaufen und entzündet. „Gordon Greys Augen glitten schnell und und Grey segelten nach Sternen und wachsam über die Szenerie des DorSonne. Wir mußten fast immer len- fes. Nur hin und wieder schaute ein zen, weil jede große Welle überkam. Siedler zu ihnen. „Dieser verdammte Tag und Nacht. Wir hockten immer Killigrew will uns nicht hier haben. im Nassen. Und dann fingen wir, weil Euch liebt er auch nicht, wie?" der Stückmeistergehilfe einen guten Alle drei Gentlemen hoben gleichEinfall hatte, Fische." zeitig beide Hände zu einer abweh„Das ist den Seewölfen mit bemer- renden Geste. kenswertem Erfolg auch gelungen. Es „Wir lieben ihn auch nicht. Ganz im war gräßlich. Das ganze Schiff stank Gegenteil. Er hat uns soeben regeldanach." recht von Bord gejagt. Ein Mensch „Aber mit Braten oder Kochen war von hartem Charakter und ungebührnichts", sagte Grey und schüttelte lichen Manieren, besonders uns Edelsich. „Wir haben die verfluchten leuten gegenüber", faßte Sir William Fische roh heruntergewürgt. Aber die Meinung seiner Freunde und wir sind nicht verhungert." seine in Worte. „Ich hasse ihn!" Jameson Kidd trug ein Messer Er war bleich geworden. Die Farbe nicht nur - wie es an Bord üblich war der Nase wurde dunkler, und die - seitlich in der Gürtelscheide, son- Adern an der Schläfe schwollen an. dern zwei Messer steckten noch in Einen Moment sah er aus, als würde den Stiefeln und zwei weitere im Gür- er gleich aufspringen, um jemanden tel. Offensichtlich verstand er gut, zu erwürgen. mit Messern umzugehen. Dann faßte er sich wieder. Sir William meinte, daß er eine fa„Er wird dafür sorgen, daß wir mose Truppe sein eigen nannte. auch aus dem Dorf hier verschwin„Roher Fisch, bemerkenswert ekel- den. Ich fürchte, es gibt kein Gold bei haft", sagte er kichernd. „Nun, hier den Siedlern. Und auch nichts andeim Land werden wir köstlichere Bra- res, das wertvoll genug ist." ten schießen." „Wahr gesprochen, Sir", sagte „Soll das heißen, daß die drei Herr- Grey. „Hast du einen Bader aufgetrieschaften auch Gold suchen?" fragte ben, Junge?" Grey. „Ja. Kommt mit." „Selbstverständlich. Wenn ich als „Und mit dem Bad? Wie steht's daStatthalter in Roanoke oder sonstwo mit?"
16 „Im Badehaus heizen sie für euch. Aber ihr müßt das Holz selber zerhakken." „Auch das noch", brummte Spencer Taffe. Aber sie folgten dem Jungen zu einem niedrigen Haus, das ein wenig abseits stand. Als sie hintereinander durch das niedergetretene Gras gingen, sahen sie, daß sich nahezu alle Männer aus dem Dorf hinaus bewegten. Sie trugen Äxte und Sägen. Nur Frauen und Kinder blieben zurück. Die Frauen starrten die Fremden feindselig an und verschwanden in den Häusern. „Und in welche Richtung soll es gehen, William?" fragte Alec Morris. „Diese Frage stellt sich jetzt." „Erst einmal weit weg von den Schiffen. Ich weiß, daß man viel Gold aus dem Sand der Flüsse gewaschen hat. Also in die Richtung des nächsten Flusses." „Das kann weit oder näher sein", meinte Davenport zweifelnd. „Wir müssen die Siedler fragen. Ob sie uns die richtigen Antworten geben, halte ich für unwahrscheinlich." „Wir stellen die richtigen Fragen", sagte Morris auftrumpfend. „Mit dem nötigen Nachdruck." Als Sir William aufstand, den kleinen Hof verließ und zum Steg hinunterging, um einen Teil der Gepäckstücke zu holen, hatte er einen Wachtraum. Er war wie erstarrt und wußte ganz genau, daß dieser Traum die Wirklichkeit für ihn darstellte. Soviel man wußte, lag ihnen ein riesiges Land fast zu Füßen. Die wenigen eingeborenen Primitivlinge stellten für ihn und seine Truppe kein Hindernis dar. Er würde die schönsten Landstriche erobern, prächtige Siedlungen bauen und stolz seine Leibeigenen und Landsassen regieren. Reichtum, Dienerschaft und ein
sorgloses Leben warteten auf ihn. Der Weg bis zu diesem goldstarrenden Tag war kurz und beschwerlich, aber er würde sie alle mit sich reißen, durch alle Widrigkeiten und auf der Suche nach Gold und Reichtum. Natürlich waren diese fünf Seeleute echte Schurken, geradezu hinreißende Schurken erster Güte. Er würde sich ihrer bei passender Gelegenheit entledigen. Er bückte sich und hob seine Kiste auf. Sie war so schwer, daß er lautlos fluchte. Lange würde es nicht mehr dauern, dann hatte er Träger für seine Habseligkeiten. Aber endlich war er der Tyrannei dieses Killigrew entkommen - ein harter, wenig zugänglicher Mann, der nicht zu packen war und allerhöchste Protektion genoß. Er schüttelte sich unwillig und schleppte die Kiste zu ihrem Versammlungsort. „Natürlich werden wir später einheimische Träger haben", erklärte er und riß die Augen auf, als Spencer Taffe zurückkehrte. Er sah plötzlich völlig verändert aus. Erstens war er sauber gewaschen, zweitens lagen Salbenpflaster auf den entzündeten Stellen der Arme, und zuletzt hatte er sich noch sein Kopfhaar abrasieren lassen. Sein gelbhäutiger Schädel glänzte im Sonnenlicht. Auch das Muttermal vor dem Ohr war deutlich zu sehen und verlieh dem Gesicht des Mannes ein seltsam fremdartiges Aussehen. „Die Indianer werden sich fürchten", sagte Alec Morris zufrieden. „Und wohin ziehen wir, William?" Taffe hob die Hand und setzte zu einer Erklärung an. „Die Siedler sprechen von einem Vorposten. Für uns weniger als ein Tagesmarsch. Dort würden uns die Jäger und Fallensteller weiterhelfen."
17 „Das hören wir gern", sagte Alec ner Betonung, die jedem zeigte, wer hier der Anführer sein würde. „Beeilt Morris. „Wann geht's los?" Er zeigte keinerlei Anstalten, sich euch, Kameraden. Die Neue Welt in den Kampf mit der fremden Natur wartet mit allen Schätzen auf uns. zu stürzen. Seine wäßrigen Augen Wir sind die ersten Eroberer an diestarrten blasiert in die Gegend. Alles sen Küsten." „So ist es!" rief Rosebery mit neuer in allem wirkte er keineswegs so, als könne er mit seinen weichen Händ- Begeisterung. chen und seinem großen Maul die Sie waren dabei, ihren Besitz umzuEingeborenen in die Flucht schlagen packen, als Kapitän Killigrew und oder mühelos ihr Gold rauben. sein spanischer Freund um die Hausecke bogen. „Wenn wir alle fertig sind", erwiSie blieben stehen, stemmten die derte Taffe entschlossen und fing an, sein Bündel neu zu packen und den Fäuste in die Seiten und betrachteten mit leichter Überraschung die ZeiInhalt zu sortieren. chen des Aufbruchs. „Wann ist das?" „Ich sehe, daß die Gentlemen reiseDavenport beschattete seine Augen mit der flachen Hand und schielte fertig sind", sagte Don Juan mit kühlem Lächeln. „Es wird höchste Zeit. nach dem Sonnenstand. Die Siedler wollen euch nicht haben. „In einer Stunde oder so." Ihre Sorgen sind groß genug." „Einverstanden." „Sie sind wohl der neue BürgermeiDavenport und Taffe nickten einander zu. Dann holte auch Alec Mor- ster des Ortes, Mister?" fragte Sir ris seine Packen und Bündel vom William hämisch. Don Juan blieb gelassen. Steg und fragte sich, wie er sie einen „Wir sind noch in der Lage", sagte Tag lang durch die straßenlose Wildnis schleppen sollte. Es gab in diesem er ruhig, „Ihre Unverschämtheiten zu furchtbaren Land nicht einmal Esel, überhören. Wann soll die Eroberung geschweige denn Pferde oder Ochsen- des Kontinents anfangen?" „Wenn wir mit dem Umpacken ferkarren. Er sah ein, daß er sich von einem Teil seines Besitzes trennen tig sind", entgegnete Atkinson Grey. mußte. Nacheinander kehrten die an- „Es dauert nicht mehr lange." deren Kerle zurück und ließen erken„Andernfalls helfen wir euch, danen, daß sie ihre mühsame Reise mit es schneller geht", entgegnete der schon vergessen hatten. Seewolf. Ruhig beobachtete er die Be„Und euer kostbares Boot?" erkun- mühungen der acht ungleichen Mändigte sich Alec Morris. „Was habt ihr ner. Für ihn war der seinerzeitige Angriff der Karavelle, wenigstens vordamit vor?" „Wir lassen es hier. Die Siedler kön- erst, vergessen. Wenn er die sogenen's zum Fischen brauchen. Wenn nannten Piraten in Ketten legte, wäwir es brauchen, holen wir es uns ein- ren sie sowohl für ihn als auch für die fach. Sie haben gute Zimmerleute, Siedler eine schlimme Belastung. Er sagten sie. Also werden sie es ausbes- rechnete damit, daß die selbsternannsern. Das Geschäft dabei machen wir, ten Fürsten der Neuen Welt keinen überlebten. Immerhin nicht wahr, Sir?" erläuterte Atkinson Monat Grey und schnallte seinen Mantel zu schleppten sie genug Waffen mit sich, um sich eine Weile durchschlagen zu einer Rolle zusammen. „Gut so", sagte Sir William mit ei- können.
18 Sie schwangen die Hacken und hal„Wir brauchen Ihre Hilfe nicht mehr", versicherte Davenport von fen den Siedlerfrauen, den Graben oben herab. „Wir stehen jetzt auf ei- mitten durch einen steinigen Abschnitt des Bodens zu vertiefen. Über genen Füßen." „Wie schön", antwortete Hasard. das Wasser hallten die Axtschläge „Die Meinung der Siedler, ihres Ra- und die Geräusche der Sägen. Ein tes nämlich, und meine Meinung dek- erstes Floß wurde über die Bucht geken sich. In einer Stunde seid ihr alle pullt und angelandet. Die einzelnen im Westen verschwunden. Und zwar Seewölfe, die an erhöhten Stellen im ohne einen der Leute hier zu ärgern. Gelände standen und aufpaßten, gaKlar?" ben keine Zeichen. Das bedeutete, die „Aye, aye, Sir", erwiderte Rose- Indianer hatten sich so weit zurückbery. Grey warf ihm einen giftigen gezogen, daß sie so gut wie unsichtBlick zu, und Hasard mußte grinsen. bar blieben. Schon nach reichlich einer halben Hasard und Don Juan wanderten in der Siedlung herum und sahen zu, Stunde stellte Don Juan seine Schauwie ein Teil der Siedler sich bemühte, fel zur Seite und stieß den Seewolf den Graben für die Palisaden auszu- an. heben. Alle halfen mit. Von den Schif„Dort ziehen sie dahin", sagte er. fen setzten Seeleute und Siedler über, Die Siedler hörten ebenfalls mit sogar mit Werkzeugen. Auf der ande- der Arbeit auf und starrten. Ohne ren Seite der Bucht und auf der klei- sonderliche Eile, im Gänsemarsch nen Nebeninsel fielen die ersten Bäu- hinter dem selbstgewählten Anfühme. rer, verließen die Eroberer der Neuen „Die eine Stunde können wir auch Welt die Siedlung, ohne sich umzusenoch warten", sagte Don Juan und hen. Sie wirkten nicht im mindesten deutete mit dem Daumen über die kämpferisch, sondern schleppten sich Schulter. „Um mit deinem speziellen gebückt über den schmalen TramFreund, dem mit der Säufernase, zu pelpfad. sprechen: Augenscheinlich ganz be„Na denn", knurrte der Seewolf. Er merkenswerte kleine Gruppe von dachte sich sein Teil und spuckte in Glücksrittern." die Handflächen, ehe er wieder nach Hasard stieß ein böses Lachen aus. der Hacke griff und sie wütend tief „Ob diese sogenannten Ritter zwischen die Steinbrocken schlug. Glück haben werden, wird sich zeiDie acht „liebgewonnenen" Kerle gen. Ich meine, sie hatten schon zu- sah er am liebsten von hinten. Kurze viel davon." Zeit später waren sie überhaupt nicht „Früher oder später empfangen sie, mehr zu sehen. was ihnen zusteht." Hasard schaute ihn zweifelnd an und griff nach einer Spitzhacke. 3. „Leider gibt es immer einen Schurken mehr, als man glaubt. Irgendeine Am Abend stand die erste Palisade böse Ahnung sagt mir, daß wir mit auf einer Länge von fünf Faden. Gut ihnen noch einmal Ärger kriegen wer- neun Fuß hoch waren die einzelnen den, Juan." Stämme, als der Graben zugeschüttet Und wenn schon. Wir können uns und das Erdreich mit Wasser aufgewehren." schwemmt und festgestampft worden
19 war. Die Enden der dicken Pfähle ragten zugespitzt in den Abendhimmel. „Schluß für heute", sagte Michael Anderson zu seinen neuen Freunden. „Es sieht gut aus. Da steigt kein Indianer drüber." Die Äcker der Siedler sahen vielversprechend aus. Die Tiere, die vor Jahren hierher gebracht worden waren, hatten die Strapazen überlebt. Viele waren es indessen nicht, und es sah auch nicht danach aus, als würden sie zu großen Herden anwachsen. Kräuter und Gemüse wuchsen reichlich. Auch Fische und Wildhasen, Rotwild, Hühnervögel und anderes Getier gab es, dazu verschiedene Beeren, Pilze und Wildkräuter. Die Frauen hatten Blüten und Blätter junger Pflanzen gefunden, aus denen sich ein kräftig schmeckender Tee sieden ließ. „Brenzlig wird es", meinte Edwin Carberry gemütlich, „wenn die Affenärsche mit Brandpfeilen schießen. Entschuldigung, Madam", fuhr er fort und verbeugte sich vor einer breithüftigen Siedlerin. „War beeindruckend, wie alle zusammengeholfen haben, nicht wahr?" Er zeigte zur Bucht. Dort brachten die Beiboote die Helfer zurück zu den Schiffen. Die meisten neuen Siedler waren noch immer der festen Meinung, daß sie auf den Schiffen besser lebten als an Land. Hasard streckte seine Beine aus und lehnte sich gegen die rauhe Rinde der Balken, aus denen die Hauswand bestand. „Es dauert wohl noch seine Zeit, Ed, bis wir unsere Freunde im Süden treffen." Carberry hatte den ganzen langen Tag zusammen mit den anderen Seewölfen hart gearbeitet. Jetzt ließ er sich das Essen der Siedler schmek-
ken. Er hob den Löffel aus der Holzschale, roch daran und murmelte: „Das sehe ich nicht anders, Sir." Ein Teil der Seewölfe aß hier an Land. Mac Pellew probierte die getrockneten Teekräuter lieber auf der Schebecke aus. Viele gefällte Bäume lagen, mit langen Tampen gesichert, mitten in der Bucht. Drinkwater und Toolan hatten ihre besten Männer abgestellt. Sie hatten sich in den Wipfeln einiger Bäume und an jenen Punkten versteckt, an denen tagsüber die Seewölfe Posten gestanden hatten. „Hier ist noch verdammt viel zu tun", sagte auch Ferris Tucker und betrachtete nachdenklich eine große Blase an seinem Daumen. „Den ganzen Wald holzen wir dafür noch ab." „Nur jeden dritten Baum", schwächte Hasard ab. „Und nur die schwächeren. Die Enkel der Siedler brauchen auch noch Feuerholz." „Meinetwegen", sagte Batuti. „Die Indianer haben sich heute jedenfalls nicht gezeigt." „Sind eben keine Selbstmörder", meinte Don Juan. „Gegen die Geschütze von drei Schiffen richten sie nichts aus." „Das hat ihr Häuptling klar erkannt", sagte Dan O'Flynn sachlich. In den Fenstern einiger Häuser standen Tranfunzeln. Flammen aus einigen gemauerten Feuerstellen leuchteten und loderten flackernd. Aus drei Kaminen stieg dünner Rauch auf. Seewölfe und Siedler saßen, bunt gemischt und durcheinander, an den langen Tischen der Siedler. „Schmeckt gut, was eure Frauen kochen", sagte Big Old Shane und schnupperte am Brot, das einen Tag alt war. „So reich ist der Tisch bei uns nicht jeden Abend gedeckt", erwiderte An-
20 derson mit Bedauern. „Aber wenn ihr schon wie die Sklaven für uns schuftet, sollt ihr auch richtig essen." Selbst das Bier war kühl und frisch und schäumte, wie es sich gehörte. Im dunklen Wasser der Bucht spiegelten sich die Lichter der Schiffslaternen. Ab und zu ertönte der grelle Signalpfiff eines der Posten. David Fletcher nickte dem Seewolf zu und fragte: „Haben Sie etwas dagegen, Kapitän Killigrew, wenn sich mein Ältester mit Ihren Zwillingen morgen ein wenig umsieht? Hier oder drüben, auf der anderen Seite?" „Keineswegs", antwortete Hasard ruhig. „Vorausgesetzt, die Jungen lassen sich von erfahrenen Männern begleiten und wagen keine unvernünftigen oder leichtsinnigen Abenteuer." „Ich meine, damit wir wissen, wie die Neue Welt wirklich aussieht. Denn so wie hier und so gefährlich ist sie nicht überall, oder?" David Fletcher, der bisher alle Gefahren und eine erhebliche Menge eigener Not überlebt und durchgestanden hatte, gehörte auch zu jenen Engländern, die diesem Teil des neuen Landes nicht vertrauten. Seine drei Kinder und Susan, hatte er zu Don Juan gesagt, sollten ungefährdet aufwachsen. Aber er hatte auch erkannt, daß er hier einen Grad an Freiheit erreichen konnte, wie er und seinesgleichen ihn in England niemals erlangt hätten. „Nicht überall, nein", gab Hasard zu. „Die erste Bucht, in der wir vor Anker gingen - das war, meiner Meinung nach, ein ruhiges Plätzchen." „Das glaube ich auch." David und Hasard waren sich einig. Al Conroy saß am anderen Ende des Tisches und dachte darüber nach, ob sie nicht ihre älteste Drehbasse Und ein Fäßchen Pulver opfern sollten. Auf dem Eingangsturm der Palisa-
den, den sie morgen aufrichten wollten, würde dieses Geschütz einen ausgezeichneten Schutz für die Siedler abgeben. Er würde an Bord mit Hasard darüber sprechen. „Neuigkeiten von den Galeonen?" fragte Ben Brighton nach einer Weile. „Nichts Besonderes", erwiderte der Seewolf halblaut. „Toolan und Drinkwater beratschlagen noch. Vielleicht folgen sie uns, wenn wir weiter im Süden einen besseren Landeplatz suchen." Der Erste Offizier säuberte sein Messer und schob es in die Scheide zurück. „Soll das heißen, daß sie darauf hören, was ihre Passagiere fordern?" fragte er neugierig und ziemlich ungläubig. „Das soll es heißen", entgegnete Hasard. „Ich habe bei dieser Nachdenklichkeit ein wenig nachgeholfen." „Das habe ich mir gedacht!" rief Old Donegal und kicherte. Jeder Tag kostete für diese Masse einzelner Menschen eine riesige Menge an Wasser und Proviant. Frisches Wasser herbeizuschaffen, bedeutete nur etwas mehr Arbeit und ein paar Fahrten mit den Beibooten und den Fässern. Ein einigermaßen nahrhaftes Essen aber bestand aus Wildfleisch, Fisch und Brot. Auch die Vorräte der Siedler waren in der kurzen Zeit erheblich zusammengeschrumpft. Die Kapitäne standen vor der Notwendigkeit, wieder Jäger und Sammler loszuschicken. Die Wälder rund um die Siedlung waren, wie nicht anders zu erwarten, so gut wie leergejagt. Es hatte keinen Sinn, die Jäger in die Sümpfe und in den Wald zu treiben, denn sie würden dort kein Großwild mehr finden.
21 Das hieß: eine Jagdexpedition weit ins Land hinein - oder ein Verholen der Schiffe an einen anderen Ankerplatz, der menschenleer schien. Hasard hatte diese Fragen einige Stunden lang mit Toolan und Drinkwater besprochen, und sie waren sich so gut wie einig geworden. „Also, Freunde", sagte der Seewolf, als sie ihre Becher geleert hatten, „wenn die Palisaden fertig sind, verholen wir an einen anderen Ort." „Wenn nicht die Jungen herdenweise Wild finden", entgegnete David Fletcher. „Das wäre eine andere Möglichkeit", meinte Hasard. „Aber da müßten sie sehr viel Glück haben." „Morgen abend sind wir klüger", versicherte Fletcher und stand auf. Es war Zeit, die Kleinen in die Kojen zu bringen. Das Beiboot wurde zweimal zur Schebecke hinübergepullt. Dann befand sich die gesamte Crew wieder an Deck und in der gewohnten Umgebung ihres Schiffes.
Von den Blättern der Riemen tropfte Wasser. Fast lautlos trieb das Boot entlang des Ufers. Noch waren die Nebelschwaden über dem morastigen Gelände nicht verschwunden. Die Insassen des Bootes fröstelten, ihre Augen versuchten, Dunst und Gebüsch zu durchdringen. An den Stellen, an denen das Land trittsicher schien, gab es keine Spuren der Indianer. „Still, Plymmie", flüsterte Hasard junior und packte die Bordhündin am Halsband. Big Old Shane und Batuti, die beiden Bogenschützen, saßen an den Riemen. Die Zwillinge kauerten im Bug des Bootes, und Little John, der
sich bemühte, seine Aufregung nicht zu zeigen, saß an der Pinne. Hasard junior hielt die Pistole in der Rechten. Es war jene Waffe, die ihm von den Brighton-Brüdern in London geschenkt worden war. Jeder Seewolf hatte eine Waffe im Gürtel. Drei schußbereite Musketen lagen zwischen den Duchten. Die Laute, die aus dem undeutlich sichtbaren Wald hervordrangen, reizten niemanden, dort einzudringen und ein großes Beutetier zu suchen. „Weiter nach Südost?" fragte Philip junior und verfolgte den Flug der Wasservögel in die Richtung auf das offene Meer hinaus. „Das ist sicherer", meinte Batuti. „Für mich sind die Indianer noch irgendwo bei der Siedlung." In dem wenig bevölkerten Land gab es sicherlich nicht Tausende von möglichen Angreifern, sondern wahrscheinlich einige Hundert. Und die konnten nicht an allen Stellen gleichzeitig sein. „Seid nicht so laut." Batuti sagte sich allerdings, daß sie nichts sehen konnten, also sah man sie ebenso schlecht. Die Riemen tauchten wieder ein und wurden langsam und kraftvoll durchgezogen. Das Boot schob sich weiter entlang des Ufers. Die Seewölfe hatten die Jolle der Rabaukenkaravelle genommen, weil Hasard das Boot der Schebecke für seine Zwecke brauchte. Mittlerweile betrug die Entfernung zu den ankernden Schiffen mehr als zwei Seemeilen. Die Schiffe blieben im Nebel versteckt. „Ob wir hier Tiere sehen, die es in England nicht gibt?" fragte Little John. Der Gambiamann grinste breit und nickte. „Vielleicht ein Tier mit schaufelförmigem Geweih. Elch nennen sie es in
22 Schweden", erwiderte er halblaut. „Vermutlich gibt's auch Bären. Und eine Menge kleines Getier, denke ich. Aber ich habe auch eine Frage, mein Junge." „Ja?" „Du hast bestimmt mit deinem Dad gesprochen." „Na klar. Immer, wenn er Zeit hat", gab Little John zurück. Wenn man ihn genau anschaute, stellte jeder fest, daß er gewachsen war und kräftiger in den Schultern stand. Die Seeluft, die vielen Tage voller gesunder Arbeit, die vielen Erlebnisse, sie hatten ihn mächtig heranwachsen lassen. „Wollt ihr zurück nach England? Ihr auch?" fragte Batuti, ohne seinen Blick vom Ufer zu lassen. „Wie meinst du das? Zurück? Nach England? Ist dir nicht gut?" Little John blickte auf einmal ganz verstört drein. Er schüttelte energisch den Kopf. „Ein Teil deiner Leute auf den Galeonen will zurück auf die Insel", sagte Big Old Shane. Er schien es auch nicht recht glauben zu wollen. „Ich nicht." „Deine Leute auch nicht?" fragte der Gambiamann. „Auf keinen Fall. Aber eine Siedlung wie die dort drüben, ob sie nun Roanoke oder anders heißt, die gefällt mir auch nicht recht. Da fehlt es ganz erheblich, sagt Daddy. Mutter ist auch nicht überzeugt." „Darüber läßt sich reden", antwortete der Schiffsschmied. In der Ruhe des frühen, noch sonnenlosen Morgens hörten sie von ganz fern die Axthiebe und einige Kommandos. Die Tagesarbeit hatte für die Siedler angefangen. Vielleicht schafften sie es die Palisade fertigzustellen. Die Seewölfe glaubten, daß die Arbeit länger dauerte.
„Nein", sagte der junge Fletcher. „Von uns kann sich keiner vorstellen, zurück nach England zu segeln. Und noch einmal die Fahrt auf der Galeone? Nein. Ich nicht. Aber, mit euch zusammen - das ist etwas ganz anderes. Aber das wißt ihr selbst." Er lachte leise, aber unverkennbar fröhlich. Das Rascheln und Knacken am Ufer, das halb sumpfig war und halb aus dunklen Stämmen und noch dunkleren Kronen bestand, die auf festem Boden standen, wurde lauter. Jagende Schlangen wanden sich durch das milchige Wasser. „Weiter hinten, in der kleinen Bucht, habe ich bei der Ankunft Hügel und Wiesen gesehen", sagte Philip junior unterdrückt. „Dorthin sollten wir pullen." „Genau dorthin steuere ich unser gepflegtes Jägerboot." Es störte sie nicht, daß sie nur sieben Mann waren. Bei größerer Gefahr würden sie sich so schnell wie möglich zurückziehen. Sie suchten ein gutes Jagdgebiet, und wenn sie es gefunden hatten, konnten Drinkwaters und Toolans Leute selbst für neuen Proviant sorgen. Von den Siedlern wußten sie, welche Pilze genießbar waren, unter welchen Bäumen man gute Nüsse fand, und welche wildwachsenden Früchte eßbar waren. Zwischen den Duchten lagen etliche leere Segeltuchsäcke. „Nicht, daß ich etwas dagegen hätte", brummte Big Old Shane nach einer Weile, „hier durch die Natur zu stolpern. Aber wir können unmöglich das Essen für ein paar hundert Leute herbeischaffen." „Das haben wir auch gar nicht vor", antwortete Batuti und zog den Riemen durch, „und das würden wir niemals schaffen. Aber vielleicht finden
23 wir eine Stelle, an der sich viel Wild versammelt. Wir müssen vermutlich weit ins Land vordringen." „Abends werden wir wissen, wie es damit steht", sagte Smoky. Er und Jack Finnegan betrachteten schweigend die Umgebung. Der Nebel zog sich zurück, während das ramponierte Boot entlang des Ufers durch die winzigen Wellen der Strömung glitt und sich dem Punkt näherte, den die Seewölfe im Sinn gehabt hatten. Vorbei an den weißen Ästen von riesigen Bäumen, die ein Sturm in die Bucht gekippt hatte, steuerte Little John die Jolle auf einen Streifen schlammiges Land zu. Unzählige Spuren, die sich mit Wasser gefüllt hatten, zeigten an, daß sich hier große Tiere zur Tränke einfanden. „Das sieht vielversprechend aus", meldete sich schließlich Jack Finnegan, der sich herumgedreht hatte. Durch den Nebel drang erstes Sonnenlicht. Je weiter sich die Jolle vom Ankerplatz entfernte, desto stiller wurde es um die Männer. „Hier machen wir fest", entschied Philip junior. Plymmie war unruhig geworden, aber sie kläffte nicht. Hasard knotete eine zwanzig Fuß lange Leine in das Halsband der Hündin. „Damit du nicht im endlos großen Virginia verloren gehst", sagte er leise. Die Jolle fuhr in einem weiten Bogen bis zu einem weiteren, halb eingetauchten Baumriesen und glitt neben ihm auf sandiges , Geröll. Philip sprang an Land und zog die Vorleine straff. Plymmie folgte ihm, dann versammelten sich die Seewölfe am oberen Ende eines leidlich trockenen Hanges. „Wenn sich ein Indianer anpirscht
und uns die Jolle klaut, was dann?" fragte Jack Finnegan leise. „Dann müssen wir schwimmen", schnappte Batuti und grinste breit. „Ziemlich weit bis zur Schebecke." „Das möchte ich allerdings vermeiden", sagte Philip junior und schaute sich um. Sie standen an der engsten Stelle einer großen Lichtung, die sich als Dreieck weit ins Land hinein erstreckte und an beiden Seiten von Wald und Gebüsch gesäumt war. „Wie können wir uns dagegen sichern?" „Ich glaube, wir können es den Rothäuten etwas erschweren", sagte Little John nach kurzer Überlegung und eilte zurück zum Boot. Er zeigte, daß er gelernt hatte, einen einwandfreien Kreuzknoten zu schlingen, und verband zwei Enden miteinander. Er suchte einen Steinbrocken, befestigte ihn mit einigen Garnschlingen an der Vorleine, knotete das Ende los und gab dem Boot einen Stoß. Die Jolle trieb ungefähr dreißig, fünfunddreißig Fuß weit in die Bucht zurück, und das Ende versank langsam im milchigen Wasser. Unter einem Gewirr von Schlingpflanzen und nassen Blättern belegte Little John die Leine, schob das Grünzeug darüber und kehrte zurück zu seinen Freunden. „Besser so?" fragte er. Big Old Shane knurrte anerkennend. „Ich hätt's nicht besser hingekriegt", sagte Jack Finnegan. „Hoffen wir, daß die Kerle mit der roten Haut keine Seeleute sind. Mir hat ein Siedler erzählt, daß sie sich ,Algoniks' oder so ähnlich nennen." „Ich hab's auch gehört", erwiderte Little John und schulterte seine Muskete. „Mir wurde ein ähnlicher Name genannt: Algonkin." „Von mir aus. Ich will keinen von
24 ihnen sehen", sagte Philip. „Gehen wir los?" „Dorthin?" fragte Batuti und zeigte nach links. „Dann sieht uns niemand, meine ich." „Einverstanden", erwiderte Hasard. Die Hündin zerrte ihn schon in diese Richtung. Sie tappten und kletterten zwischen dornigen Ranken und hohem, ineinander verfilztem Gras und unzähligen abgebrochenen Ästen schräg aufwärts und bildeten eine auseinandergezogene Kette. Als sie den höchsten Punkt des Abhangs erreicht hatten, schauten sie sich schweigend um. Der Nebel zog aufs offene Meer ab. Aus der letzten Schicht des Dunstes tauchten die Masten und die Körper der Schiffe auf und waren von der Sonne grell angestrahlt. Die Boote waren schon unterwegs, besetzt mit Männern, die wieder an den Baumstämmen und den Palisaden arbeiteten. Die Geräusche waren fast nicht zu hören. Die Siedlung lag, für die sieben Seewölfe nicht mehr zu erkennen, hinter der weit vorgeschobenen Landzunge. „Weiter." Das Gebiet schien Ruhe und Frieden auszustrahlen, aber die Siedler und Seeleute hatten miterlebt, daß es ganz plötzlich voller tödlicher Gefahren sein konnte. Nach fünfhundert Schritten schoben sich die Seewölfe zwischen die großen Blätter des Buschwerks. Sie hatten drei deutlich markierte Pfade übersprungen, die aus dem Inneren des hügeligen Feldes führten und zum Wasser zusammenliefen. „Jetzt sehen wir nichts", sagte Batuti und spähte durch die Zweige. „Aber die Zeichen sind klar. Hier gibt es viele Tiere. Suchen wir also weiter, nicht wahr?"
„Deswegen sind wir so früh aufgestanden", bekräftigte Smoky und schüttelte braune Nadeln aus seinem Haarschopf. Er trug die leeren Säcke über seinen bulligen Schultern. Sie schoben sich durch die nassen, tropfenden Büsche. Der Tau war kalt und sickerte in die Kleidung und in die Schäfte der Stiefel. Kleine Nagetiere huschten mit leisen Pfeiflauten unter den Tritten der Eindringlinge davon. „Achtet auf den Boden. Wenn ihr Reh- und Hirschkot seht, dann sind wir auf dem richtigen Pfad", sagte der Gambiamann leise. Nacheinander verließen sie den breiten Streifen der Büsche und gelangten an den Rand des Waldes. Er ähnelte dem Waldgebiet rund um diejenige Bucht, die sie zuerst weiter nördlich nach ihrer Hungerfahrt angelaufen hatten. Zwischen den Laubbäumen gab es große Abstände, die mit niedrigen Büschen angefüllt waren. Die Seewölfe kontrollierten ihre Waffen, Batuti und der Schiffsschmied spannten die langen Bögen und zogen die ersten Pfeile aus den Köchern. „Gehen wir vom Wasser weg", schlug Smoky vor, „und weiter in den Wald hinein." „Das haben wir vor", sagte Hasard. „Da, unser kluges Hündchen zieht uns auch dorthin." Die Seewölfe blieben zunächst in einer Reihe hintereinander, dann bildeten sie eine Linie und schoben sich nebeneinander durch den Wald. Noch hatten sie nicht ein einziges Stück Wild gesichtet, aber die Spuren nahmen an Häufigkeit zu: abgefressene Sträucher, abgeschälte Rinde und feuchte Lehmpfade voller Schaleneindrücke. Die Jäger bemühten sich, so leise wie möglich vorzugehen und
25 pirschten etwa eine Stunde lang in die eingeschlagene Richtung. Der Boden war einigermaßen eben, aber das Gelände stieg an und wechselte zwischen kleinen Tälern und runden Hügeln. Das Sonnenlicht strahlte jetzt flach auf die Baumkronen und in einzelnen leuchtenden Bahnen durch Blätter und Äste. Es gab unzählige Vögel, die immer wieder in Scharen aufflatterten und mit ihrem Kreischen und Zwitschern die größeren Tiere warnten. Squirrels huschten die Baumstämme hinauf und hinunter und turnten raschelnd auf den Ästen herum. „Dort vorn wird es heller", flüsterte Philip junior nach einigen Minuten. „Der Waldrand." Auch die Laute und Schreie unsichtbarer Tiere waren seit kurzer Zeit lauter geworden. Den Jägern schien es, als ob in einiger Entfernung entweder eine größere Herde weidete oder einige starke Tiere miteinander kämpften. Sie beschleunigten ihre Schritte und traten noch leiser auf als bisher. Die Stämme wichen hier auf dem Scheitelpunkt eines langgezogenen Kammes weit auseinander und ließen Sonnenlicht hindurch. Fast gleichzeitig stießen die Seewölfe an sieben Stellen in das grelle Tageslicht hinaus. „Achtung!" rief Philip erschrocken. „Da ist etwas . . . " Sie entdeckten das wütende Tier nahezu im selben Augenblick. Es war ein riesiger, brauner Bär, der auf den Hinterläufen lief und die Vorderpranken weit ausgebreitet hatte. Er stürzte sich auf einen halbnackten Mann in langen, ledernen Hosen, der mit einem kurzen Speer zustieß. Das zottige, nasse Fell des Bären, der ein donnerndes Gebrüll ausstieß und fauchte wie die Bilgepumpe, war blutüberströmt
„Eine Rothaut", keuchte Jack Finnegan und nahm die Muskete blitzartig schnell von der Schulter. Batuti und Big Old Shane legten die Pfeile auf die Sehnen und sprangen aus dem Wald hervor. Nach drei riesigen Schritten sahen sie einen zweiten Indianer, der reglos im niedergetrampelten Gras lag. Auch er war blutüberströmt und sah aus, als habe ihn der Bär zu Boden geschmettert. Weder der angreifende Bär noch der Indianer, der mit dem Rücken zu den Seewölfen kämpfte und zurückwich, bemerkte die Jäger. Im Körper des brüllenden Tieres, das sich überraschend schnell bewegte, steckten abgebrochene Pfeile. Jack legte den Lauf der Muskete an die rissige Rinde des Baumes und visierte das Tier an. Der Lauf ging hin und her, Jack zögerte, den Schuß auszulösen, denn immer wieder sprang der verwundete Jäger vor die Mündung. Hasard löste den Knoten an Plymmies Halsband. Ohne zu bellen, sprang die graufarbene Wolfshündin vorwärts und griff den Bären an. Aber sie achtete darauf, nicht in den tödlichen Bereich der riesigen Pranken und Krallen zu geraten. Schon das erste, wütende Kläffen lenkte den Bären ab. Batuti schoß aus einer Entfernung von zwanzig Schritten seinen Pfeil ab. Zischend jagte das Geschoß durch die Luft und bohrte sich klatschend in den Hals des Tieres. Fast gleichzeitig hatte Hasard seine Pistole abgefeuert. Die Kugel zerschmetterte das Auge sowie die Hirnknochen und drang in den Schädel ein. Plymmie knurrte kurz, packte den Hinterlauf des Bären und schlug ihre Zähne hinein. Der Riese schüttelte sich und schwankte hin und her, wäh-
26 rend er brüllte. Mit einem Satz hatte der Brust zeigten sie die Reste von eisich der Indianer in Sicherheit ge- nem weißen und einem schwarzen bracht. Jetzt feuerte Jack die Mus- Streifen. Die Hose aus weichem Lekete ab. Das schwere Stück Blei riß der wurde von einem breiten, geflochden Bärenschädel fast in zwei Teile. tenen Gürtel gehalten, an ihren Näh„Zurück, Plymmie!" schrie Hasard ten sahen die Seewölfe fingerlange Fransen. und stürmte auf die Hündin zu. „Hoffentlich ist das dein Name", Der Bär hatte sie abgeschüttelt. Die Wucht der Bewegung schleuderte sagte Batuti ruhig. Der Indianer starrte den schwarzPlymmie zehn Fuß weit. Sie überschlug sich und landete auf jaulend in häutigen Mann ebenso mit offener einem Gebüsch. Neugierde an wie der Gambiamann Der Indianer drehte den Oberkör- ihn. Wogan Hanok, oder wie immer per hin und her, er wollte vor dem der Jäger hieß, war knapp einen Kopf Tier flüchten, gleichzeitig sah er die kleiner als Batuti. Fremden und begriff, daß sie ihm Plötzlich rief Little John: „Helft halbwegs das Leben gerettet hatten. mir bitte! Er lebt noch!" Die Zwillinge drehten sich um und Die Seewölfe umringten den Indianer. Das riesige Pelztier brach zusam- liefen zu dem zweiten Indianerjäger. men und blieb mit zuckenden GliedLittle John knotete sein Halstuch maßen liegen. auf, riß es herunter und tränkte es Hasard fing die Hündin ein und mit Wasser aus seiner Kupferflasche. hielt sie am Halsband fest. Little Dann setzte er die Flasche an die LipJohn lief quer über den Kampfplatz, pen des Indianers, während er den dessen Boden tief aufgerissen und Kopf vorsichtig hob. Der Mann, älter zerwühlt war. Er beugte sich über als der andere, schluckte, ohne es den Indianer, der wie tot dalag. selbst zu merken. Dann keuchte er Big Old Shane warf den Bogen langgezogen und murmelte etwas, als über seine Schulter, hob die Arme Little John sein Gesicht mit dem nasund kehrte dem jungen Indianer die sen Tuch abwischte. offenen Handflächen entgegen. Die Zwillinge waren heran, hoben Smoky näherte sich dem Bären mit den Bewußtlosen auf und trugen ihn aller Vorsicht, zog sein Messer und in den Schatten. Sie lehnten ihn mit schnitt ihm die Kehle durch. dem Rücken an den Stamm. Er öff„Ich Shane. Du bist - wer?" fragte nete die Augen und starrte an Little Big Old Shane und schaute sich den John vorbei ins Leere. jungen, groß gewachsenen Indianer „Gib ihm noch einen Schluck Wasgenauer an. ser", empfahl Philip. Der Indianer sprach zwei, drei „Natürlich." Worte oder Silben, dann zeigte er mit Der Indianer trank, zuckte zusamdem Finger auf seine Brust. Die Haut men und lehnte sich wieder zurück. war voller Schrammen und tiefer Er atmete tief durch und wirkte, als Schnitte. Das Blut war verwischt und sei er eingeschlafen. Die anderen Jätrocknete. ger waren noch immer bei Wogan „Wogan Hanok", wiederholte der und musterten ihn. Schließlich hatIndianer. ten sich seine Stammesgenossen mit Seine Haut war tatsächlich von ei- den Siedlern einen schweren Kampf nem stumpfen Rotbraun. Quer über geliefert.
27 Im Gras und zwischen den zerfetzten Ranken lagen die Waffen und die Ausrüstung der beiden Rothäute: einige zersplitterte Jagdspeere mit langen Steinspitzen, ein zerbrochener und ein intakter Bogen, zwei Köcher, einige Messer mit abgebrochenen steinernen Klingen, Sehnenschnüre und ein aufgeschlitzter Wassersack aus Leder. „Das war, alles in allem, für die beiden keine sonderlich erfolgreiche Jagd", erklärte Big Old Shane und lachte dröhnend. Smoky fuhr fort: „Aber abwechslungsreich, das war sie schon." „Weiß Gott. Das war sie." Auch Little John mußte lachen. „Und wir haben einen, der sich hier zurechtfindet. Ein Jäger. Er kennt wahrscheinlich jeden Hirsch im Wald." „Woganhanok", sagte der Indianer. Weil ihn alle, die ihn im Kreis umstanden, angrinsten, grinste er gezwungen zurück. Er schien keine Angst vor ihnen zu haben, aber er schielte immer wieder zu der abgefeuerten Pistole im Gürtel Hasards. Neugierig schnüffelte Plymmie an dem ledernen Beinschutz des Indianers. „Du bist ein Algonkin?" fragte Batuti langsam und betonte jedes Wort. „Algonkin." Der Indianer nickte. „Woganhanok." Little John gab ihm seine Wasserflasche. Woganhanok nahm sie, schüttelte sie prüfend und trank, nachdem er gesehen hatte, daß Wasser aus der Öffnung spritzte. „Schnell begriffen", brummte Smoky. „Kann man Bärenfleisch braten und essen?" „Das schon", erwiderte Hasard junior. „Aber man kann ihn, weil er so teuflisch schwer ist, nicht zum Lagerfeuer schleppen. Das ist einer der Nachteile von Bären."
„Stimmt", erwiderte Philip. „Außerdem ist es seine Beute." Little John schlug den Verschluß in die Flasche, dann versuchte er, mit möglichst einfachen Gesten etwas zu erklären. Der Indianer verfolgte jede Bewegung schweigend und voller Spannung. Die stumme Zwiesprache ging weiter, dann fing der Indianer zu gestikulieren an. Die beiden malten Hirsche in die Luft, schossen mit Pfeil und Bogen, zündeten Feuer an und drehten Bratspieße. Die anderen brachen immer wieder in schallendes Gelächter aus und merkten nicht, daß nach einer Weile der ältere Jäger ins Bewußtsein zurückkehrte, sich ächzend in die Höhe stemmmte und hinkend auf die Fremden zukeuchte. Er bückte sich, hob einen abgebrochenen Wurfspeer hoch und stützte sich darauf. Dann richtete sich der Indianer auf und sagte etwas. Philip zuckte zusammen, fuhr herum und starrte in die fast schwarzen Augen des Indianers. „Mich guter Indianer. Algonkin. Gut Jäger", hatte der Indianer gesagt. Nicht gerade in klarem, aber immerhin verständlichem Englisch. „Der kann unsere Sprache!" schrie Smoky begeistert. Der Jäger nickte, zeigte auf Big Old Shane und fuhr fort: „Nicht gut Sprache. Lernen von Far Seddlers Castle-Leuten." „Ich verstehe", murmelte Batuti, völlig fassungslos. „Das ist dieser Vorposten der Siedler. Dort muß er etwas gelernt haben." Die Seewölfe begriffen, daß wenigstens einzelne Rothäute von einem Stamm, der sich Algonkin nannte, mit einigen Siedlern sprachen und nicht gegen sie kämpften. Vielleicht hatten sich einige englische Jäger und Fallensteller mit den Indianern
28 angefreundet. Jedenfalls hatten sie Zeit und Ruhe gefunden, um einige Brocken der Sprache zu lernen. „Wir jagen. Für große BooteLeute", sagte Philip und überlegte sorgfältig welche Worte er gebrauchen konnte. „Wir zwei Jäger. Jagen helfen?" fragte der Ältere und unterhielt sich in seiner Sprache mit Woganhanok. Sie deuteten auf die Fremden, auf deren Bewaffnung und in alle Richtungen. Ebenso mühsam wie bisher versuchte Philip, die Indianer zu fragen, ob sie zuerst ihnen helfen würden, gute Beute zu finden, und ob sie dann auch eine viel größere Menge Jäger begleiten und ihnen die besten Plätze zeigen könnten. Die Antwort des Älteren überraschte die Seewölfe noch einmal. „Gut fett essen, dann groß Schiffe weg?" „Ja. Schiffe weg. Dorthin", erwiderte der Zwilling und deutete nach Süden. „Gut. Wir helfen." Sie erfuhren, nachdem die Indianer ihre Waffen eingesammelt hatten, daß es viele Stämme gab, größere und kleinere. Die einen waren gut, die anderen schlecht. „Feinde. Stehlen Weiber!" hieß es. Ein kleiner Stamm, der weder große Krieger hatte noch scharfe Waffen, lebte mit den Siedlern, ohne sich viel um sie zu kümmern. Die Jäger vom „Castle" hatten ihnen eine Axt und zwei Messer eingetauscht aus Eisen oder Bronze. Für die Rothäute eine Kostbarkeit. Deshalb ließen sie die wenigen Fallensteller auch in Ruhe. „Wir heute jagen. Hier?" fragte Little John. „Tier dort unser", wurde ihm geant-
wortet. Der junge Jäger zeigte auf den toten Bärern „Ja. Dein Bär", sagte Philip. Sie mußten mit dem Indianer wie mit einem begriffstutzigen Kind sprechen, aber sie erzielten langsam Fortschritte. Eine Stunde später pirschten sie sich alle, neun waren sie inzwischen, in ein anderes Gebiet am Ende der Lichtung. Woganhanok bedeutete ihnen, nicht mit den „Feuerrohren" zu schießen, sondern mit den lautlosen Waffen. Ein Rudel Rehe, die ein Fell wie Gazellen hatten, wurde aufgescheucht. Vier Tiere wurden tödlich getroffen, ehe das Rudel in alle Richtungen sprang und verschwand. Man band den Tieren die Vorderläufe zusammen und hängte sie, hoffentlich für jedes Raubwild unerreichbar, in das Geäst eines auffallenden Baumes am Rand der Lichtung. „Seid nicht zu vertrauensselig", warnte Jack Finnegan, als sie den ersten Hirsch sahen, der sein Geweih an einem Stamm schabte. „Sie verstehen mehr, als uns lieb sein kann." Mittlerweile hatten sie zwei Säcke mit Nüssen gefüllt und, als sie die Früchte in den Zweigen sahen, mit Steinen und Aststücken heruntergeschlagen. Auch die vollen Säcke wurden in eine Astgabel gehängt. Jack wischte den Schweiß von seinem schmalen Gesicht und schob sein dunkelblondes Haar in den Nacken zurück. „Sie haben gehörige Angst vor den Feuerrohren", sagte Batuti und tippte dem Jäger auf die Schulter. „Dort viel Hirsch?" frage er grinsend. Die Sprachkenntnis Woganhanoks reichte nicht aus, um zu fragen, warum Batutis Haut schwarz und sein Haar so stark gekräuselt war. „Viel Hirsch. Wir gehen. Wir jagen", erklärte der Ältere und nickte.
29 Er hinkte noch immer, aber nicht so stark und auffällig wie in der Nähe des toten Bären. „Verstanden." Unterwegs fanden sie ein ausgedehntes Feld von faustgroßen, dunkelbraunen Pilzen. Fragen und Gesten ergaben die Auskunft, daß man diese Pilze essen, am Feuer braten und kochen konnte. Smoky und Little John blieben da, um weitere Säcke zu füllen. Bis zum späten Nachmittag jagten die Seewölfe und ihre indianischen Begleiter. Dabei legten sie eine weite Strecke zurück. Zuletzt näherten sie sich wieder quer über die Lichtung der Stelle des Bärenkadavers. Auf diesem Weg scheuchten sie zwei Dutzend der schweren Hühnervögel auf, deren seltsames Geschrei sie trotz des hohen Grases verriet. Im Feuer der Pistolen und Musketen fielen mehr als ein Dutzend. Die schweren Vögel schafften es nicht, größere Höhe zu gewinnen. Die Seewölfe schleppten in drei Gängen ihre Beute an den Strand, während die Indianer mit den frisch geschliffenen Messern den Bären häuteten und die guten Fleischteile austrennten. Big Old Shane schenkte Woganhanok sein Messer. Der Jüngere verzog sein kantiges Gesicht unter dem breiten Haarstreifen zwischen Stirn und Nacken zu einem begeisterten Grinsen. „Er sagt", übersetzte der Ältere, „daß er sich freut und dankt. Dank auch für Schuß auf Bär. Gerettet Leben, immer Freund. Morgen, er Anführer von Jägern. Großes Boot viel Jäger, ja?" „Viel Jäger. Großes Feuer. Dann weg auf Großes Wasser", bestätigte Philip junior wahrheitsgemäß.
„Andere Siedler?" fragte Little John. „Wir nicht Kampf. Viel Land. Für alle." „Hoffentlich denken seine kriegerischen Kollegen ebenso", sagte Batuti nachdenklich und wuchtete den Hirsch vom Boden. Little John fand die Vorleine unter dem Gesträuch und zog die Jolle ans Ufer. „Vermutlich war das unsere letzte Jagd hier", meinte Big Old Shane. „Für wen ist eigentlich die Beute?" „Mein Vorschlag: je die Hälfte für die alten Siedler und für die Seewölfe", erklärte Smoky. „Jemand dagegen?" Die Arwenacks schüttelten ihre schweißnassen Köpfe. Niemand hatte etwas dagegen. Das Boot war schwer beladen und lag tief im Wasser. Die Sonne berührte mit ihrem unteren Rand die Kimm, die sich durch die Baumwipfel darstellte. Es wurde höchste Zeit, über die langgestreckte Bucht zurückzupullen. Die Algonkin halfen mit, das Wild und die vollen Säcke in der Jolle zu verstauen und schienen die Konstruktion des Bootes höchst seltsam und viel zu schwer zu finden. „Morgen hier? Wenn Sonne auf?" fragte Batuti und hielt den Rothäuten seine schwarze Pranke entgegen. Der Ältere schüttelte den Kopf und führte wieder eine Reihe seiner seltsam abgehackten Gesten aus. „Tag nach Morgen. Tiere viel Furcht. Viel Donner aus Feuerrohr." „Verstehe. Der Tag nach Morgen", bestätigte Big Old Shane. Die drei Jungen wateten durchs Wasser und setzten sich in den Bug der Jolle. „Ja, dann gute Jagd." Auch die Art des Händedruckes hatten die Indianer von den weißen
30 Siedlervorposten gelernt. Sie standen schweigend da und schauten dem Boot nach, bis die Jolle die Richtung änderte und um den nächsten Vorsprung bog. Philip junior drehte sich herum und rief nach achtern:„Heute abend haben wir eine Menge zu erzählen." „Und jeder wird's für echtes Seemannsgarn halten, fürchte ich", sagte Big Old Shane. Er saß an der Pinne, reichlich eng, denn zwischen den Duchten lagen die Hühnervögel. „Wohin? Zur Schebecke?" „Zur Siedlung. Sonst haben wir wieder den Abfall an Deck. Dann verfluchen uns die Köche", erwiderte Little John und fand es völlig gerecht, daß die Siedlerfrauen das Ausweiden und Fellabziehen übernahmen, wenn ihnen die Arwenacks schon die Hälfte der Beute abgaben. Das Boot erreichte den wackligen Steg, als das letzte Licht der kurzen Abenddämmerung über dem Land lag und die Fackeln und Funzeln angezündet werden mußten. Die Siedler liefen zusammen und halfen beim Entladen. Scharf gegen den flammenden Abendhimmel hoben sich die scharfen Spitzen der Palisaden ab. Mindestens zwei Drittel der Siedlung war durch die wuchtige Mauer aus Holz geschützt. Es roch nach frisch umgegrabenem Erdreich und nach dem Rauch vieler Herdfeuer. 4. Der Bauer Frank Holroyd hatte viel zuviel Zeit gehabt, um nachzudenken. So viele Tage und Nächte waren seit der Stunde des Ablegens in England verstrichen. Und so viel war auf dieser Fahrt geschehen, mit den ande-
ren Aussiedlern - und nicht weniger mit ihm selbst. Er hatte alles überlebt. Übelkeit und Krankheit, Dreck, Gestand und Ekel, Hunger, Durst und das ewige Schwanken, Kippen und Stampfen der „Explorer". Jetzt war er wieder in Ordnung. Selbst seinen Platz im Geschützdeck hatte er erfolgreich verteidigt, ebenso wie sein Bündel und die lange Kiste, in deren Deckel er mühsam seinen Namen hineingeschnitzt hatte. Neununddreißig Jahre war er alt, und jetzt stand er wieder an einem Punkt, an dem er sich entscheiden mußte. Diese Entscheidung nahm ihm keiner ab, niemand konnte ihm raten und helfen. Alles lief auf die Unmöglichkeit hinaus, in die Zukunft zu schauen. Es gab nicht einmal einen Wahrsager an Bord der Schiffe - Frank hatte sich genau umgesehen, durchgefragt und erkundigt. „Bleibe ich an Bord?" fragte er sich, während er sich schwer auf das Schanzkleid stützte und an der Schebecke vorbei auf die Lichter der kleinen Siedlung starrte. Hier gab es unendlich viel Land. Es war guter Boden. Als er die Palisaden geschleppt, behauen und aufgestellt hatte, sah er seine ersten Eindrücke bestätigt. „Oder gehe ich dorthin?" flüsterte er ratlos. Auf beiden Galeonen herrschte ein Maß an Ruhe und Ordnung, das es bisher nicht gegeben hatte. Es war sauberer, man hatte frisches Wasser und reichliches, wenn auch abwechslungsarmes Essen, aber es störte ihn nicht. Bedeutete es viel, daß die Indianer angegriffen hatten? Waren sie wirklich in der Lage, das Leben einer Siedlung zu bedrohen? Wenn das der Fall war, so galt diese Bedrohung auch ihm.
31 „Was soll ich also tun?" stellte sich der Bauer aus Norfolk die entscheidende Frage. Er kannte die möglichen Antworten, aber niemand konnte ihm dabei helfen, die richtige Antwort zu finden. Die Lichter an Land blinkten, Leute gingen hin und her, ebenso wie auf den Schiffen. Ein Windstoß kräuselte das Wasser und brachte den Geruch frisch geschlagenen Holzes und von Rinde mit sich, die im Wasser lag. Es gab viel gutes Land, es herrschte Freiheit, es würde von Jahr zu Jahr eine reichere Ernte geben. Blieb er so gesund, wie er war, konnte er arbeiten und würde einen Wohlstand erreichen, von dem er immer geträumt hatte. „Zusammen mit Robina?" murmelte er hinüber zu den Palisaden. Warum nicht mit Robina Towers, der schwarzhaarigen, jungen Witwe ohne Kinder? Ihr Mann war ein halbes Jahr, nachdem das Haus gedeckt war, an einer unbekannten Krankheit gestorben. Jetzt schlug sich Robina mehr schlecht als recht durchs. Leben. Sie mochte ihn. Sie hatten oft miteinander gesprochen, immer nur ein paar Worte, denn die anderen Baumfäller warteten nicht auf ihn. Er war auch allein. Sonst wäre er nicht an Bord gegangen und hätte seine letzten Pennies dem Kapitän gegeben. Und jetzt? Nach dem Kampf gegen die Indianer hatte Kapitän Killigrew, ein gerechter und kluger Mann, vorläufig alle „neuen" Siedler wieder auf die beiden Schiffe zurückbringen lassen. Crew und Passagiere arbeiteten tagsüber fleißig. Sie brachten das Schiff in Ordnung, sorgten für Sauberkeit und Frischwasser und errichteten die Palisaden um die Siedlung. Morgen abend waren sie damit fertig.
Am nächsten Tag, so hatten die Kapitäne entschieden, fand eine Treibjagd statt. Anschließend sollte darüber abgestimmt werden, ob man weiter nach Süden segelte. Wahrscheinlich würden Drinkwater und Toolan zunächst warten und dann der Schebecke folgen, die einen besseren Platz suchen und finden würde. Da konnte man sich auf Killigrew verlassen. „Ich muß mit Robin reden. Dann werde ich mich entscheiden", sagte sich Frank Holroyd. Er scheute keine Arbeit, keine Anstrengung, weder Schweiß noch Schwielen. In der riesigen Weite des Landes, das von Sir Walter Raleigh zu Ehren der Königin, der „jungfräulichen" Elisabeth, Virginia heißen sollte, würde er überleben. Aber er fürchtete die Indianer. Kampf war nicht seine Sache. Er war Bauer, und er war ein guter Bauer, wenn man ihn in Ruhe arbeiten ließ. Ja, er fürchtete die Indianer. Er wollte sich nicht töten lassen, und wenn er mit Robina Kinder hatte, dann sah alles ganz schlimm für ihn aus. Ja, morgen würde er mit Robina sprechen müssen. Lange und über alles, woran er dachte.
Mit dem letzten, mehr als fingerlangen Nagel wurde das Querholz befestigt und abgestützt. Die Palisade mit dem Tor und der kleinen Plattform waren fertig. Frank Holroyd stellte die langstielige Axt ab, senkte den Kopf und schlug nach den Stechmükken, die seinen schweißnassen Kopf umschwirrten. „Jetzt seid ihr sicher!" rief Graham Lilley, der Erste Offizier, der viele Arbeiten beaufsichtigt hatte. „Morgen erhaltet ihr die Drehbasse. Klar?" „Sie hätten uns nicht besser helfen
32 können, Sir", antwortete Michael lachend. „Die Indianer verfügen über keine Feuerwaffen. Sie haben ja gesehen, wie schnell sie sich zurückgezogen haben. Wir Siedler und ein eigenes Geschütz - das wird sie uns vom Leib halten, bis wir mehr Kämpfer unter uns haben." „Das war unsere Absicht", versicherte Graham. Holroyd zog das Tuch aus dem Gürtel und wischte sich den Schweiß von der Stirn und aus dem Nacken. Dann gab er einem Siedler mit schwieligen Pranken die Axt zurück und ging entlang eines halb zusammengebrochenen Zaunes auf das letzte Haus der rechten Seite zu. Auf der hölzernen Bank neben dem Eingang saß eine schlanke Frau mit schulterlangem, schwarzem Haar. Frank blieb vor ihr stehen und fragte: „Hast du Zeit, Robina? Ich möchte mit dir reden." Sie nickte und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich, während sie zur Seite rutschte. „Natürlich habe ich Zeit. Was sollte ich sonst tun?" Bis eben, etwa zwei Stunden vor Sonnenuntergang, hatte der Lärm der vielen Arbeiter geherrscht. Schrittweise wurde es jetzt ruhiger. Die ersten Boote mit Siedlern und Seeleuten wurden zu den Galeonen zurückgepullt. Am Rand des kleinen Platzes verteilte eine Siedlerin dünnen Wein, der von einem der drei Schiffe stammte. „Ich bin Bauer, weißt du", sagte Frank verlegen und setzte sich. „Es gibt viel gutes Land hier." Robina bewies, daß sie praktisch dachte. „Hast du auch Saat? Und Werkzeug? Was kannst du?" „Ich kann alles, was ein Bauer können muß", erwiderte er und ver-
scheuchte Mücken. „Sogar mit Holz kenne ich mich aus." „Das habe ich gesehen", sagte Robina und wies mit dem Daumen zu den Palisaden. „Wirst du mit den anderen weitersegeln? Wie viele seid ihr eigentlich?" „Alle zusammen etwa zweihundertzwanzig", entgegnete er und schaute ihr voll ins Gesicht. Sie hat traurige, große Augen, dachte er. „Ich weiß nicht, ob ich hierbleiben oder weiterfahren soll. Woanders ist es vielleicht einfacher. Weniger gefährlich. Aber . . . " „Ja?" „Nun", stotterte er, „ich bin allein, du hast niemanden, soviel ich weiß . . . Deswegen sitze ich hier, Robina." „Ich sitze auch allein hier", sagte sie leise und lächelte zum erstenmal, seit er sie gesehen hatte. „Du willst allen Ernstes hierbleiben?" „Ich kann es mir vorstellen", erwiderte er. „Hängt von dir ab. Du denkst vielleicht, ich bin scharf auf dein Haus, wie?" Robina stieß einen langen Seufzer aus, dann lachte sie kurz. „Frank Holroyd, du bist ein Narr. Dieses Haus ist nicht viel mehr als eine Bretterhütte mit einem Herd." „Ist ein schönes Haus", murmelte Frank. „Mit ein paar Balken, Lehmziegeln und Steinen ist da viel hinzukriegen." Sie ließ zu, daß er seine Hand auf ihre legte. „Dann kannst du bald anfangen, wenn du willst", antwortete Robina langsam. „Der Boden ist gut. Die Leute von den Schiffen würden viel Platz haben." Er atmete tief ein und aus. Dann fragte er, als könne er es nicht glauben: „Heißt das, du willst, daß ich hier in der Siedlung bleibe? An dei-
Keine Frage, daß uns mancher Leserbrief auch in Verlegenheit bringt, und zwar deshalb, weil von uns erwartet wird, was nicht im Bereich unserer Möglichkeiten liegt. Das bezog sich schon einige Male auf die Bitte, Pläne zum Modellbau der „Isabella IX." herauszubringen. Hier nun haben wir einen Brief von H S , E -Straße , 4630 Bochum. Er schreibt: Sehr geehrte Seewölfe-Redaktion! Ich lese zwar erst seit kurzem die Seewölfe, aber sie gefallen mir sehr gut. Besonders gefallen mir die Schiffsabbildungen in der Seemannskiste. Da habe ich eine Frage zu diesen schönen sauberen Bildern: Kann man von der Redaktion solche Zeichnungen auf Postergröße umändern? Denn unsere Geschichtslehrerin hat Interesse an solchen Bildern. Ihr Interesse bezieht sich auf die „Santa Maria", ,flina", ,J?inta". Mich persönlich interessiert besonders die ,JHMS Victory" und die „Great Republik. Könnte es zu machen sein, daß ich diese Bilder auf Postergröße bekomme? Dies wäre auch ein schönes Geburtstagsgeschenk für sie (die Geschichtslehrerin), weil sie bald Geburtstag hat. Wir mögen sie alle sehr. Oder, falls es doch nicht geht, woher bekommt man dann diese Zeichnungen dennoch? Ich wäre Ihnen allen dankbar, wenn Sie dies für mich machen würden. Ich bitte daher um baldige Nachricht von Ihnen. Zu den Romanen brauche ich nur einen Satz zu sagen: WEITER SO! Mit freundlichen Grvßen-H S O lieber H ! möchten wir da ausrufen. Wie gern würden wir dazu beitragen, den Geburtstag der Geschichtslehrerin mit einem Poster der gewünschten Bilder zu verschönen! Aber was werden wir überschätzt! Ganz sachlich: Wir sind eine Redaktion, deren Aufgabe darin besteht, jede Woche ein
SW-Heft herauszubringen - Inhalt: ein Roman, ein Forum, eine Seemannskiste plus Vorschautext für den nächsten Roman sowie Auswahl bzw. Festsetzung eines Titelbildes usw. usf. Wir stellen also ein Heft her. Aber für die Produktion von Postern sind wir nicht „gesattelt" - allenfalls bei eine Jubiläumsnummer. Poster von Segelschiffen erhalten Sie in größeren Buchhandlungen oder Schreibwarengeschäften, die auch Listen mit entsprechenden Angeboten haben. Meist handelt es sich jedoch um Schiffe, die heute noch in Fahrt sind (Oldtimer), oder um sportliche Motive. Die von Ihnen genannten Schiffe vergangener Jahrhunderte dürften nicht darunter sein - das wären Liebhaberstücke mit sehr beschränkter Auflage, was wiederum den Verkaufspreis belasten würde. Vermutlich hat sich aus diesem Grund noch kein Poster-Verlag entschließen können, solche Poster herauszubringen. Sie würden ein verlegerisches Risiko bedeuten. Und wer geht das in den heutigen Zeiten schon ein! Von der allgemeinen Verteuerung sprachen wir bereits im letzten Forum, als wir den Brief von Herrn M B beantworteten. Für unseren Verlag, der „Lesestoff produziert, wäre es unrentabel, nunmehr in die Produktion von Postern einzusteigen (oder Pläne für den Schiffsmodellbau herauszubringen). Es tut uns leid, in diesem Fall „passen" zu müssen. Bitte haben Sie, lieber H , dafür Verständnis. Unter dem berühmten Platzmangel leidet G H , Straße , 6092 Kelsterbach, der aus diesem Grund für einen Stückpreis von DM 0,50 die SW-Hefte 416-418, 422, 428-614 bis zu den laufenden Nummern verkaufen möchte. Es handelt sich um ca. 200 Stück. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern noch einen „Zwitter" aus der Zeit zwischen den reinen Segelschiffen und den Dampfschiffen vor. Hier handelt es sich um einen Viermaster mit zwei Schornsteinen, der in der Post- und Passagierfahrt vor der Jahrhundertwende Verwendung fand. An den beiden vorderen Masten war dieses Schiff vollgetakelt, an den beiden achteren Masten wurden Gaffelsegel gefahren, also von jedem etwas, aber eben leider nichts ganzes. Schade, daß wir über diesen Schiffstyp ansonsten wenig berichten können, aber er lebte wohl auch nicht lange, denn Dampfantrieb plus Segelantrieb (oder umgekehrt) war weiter nichts als ein Kompromiß, bis sich letztlich der Maschinenantrieb durchsetzte und die Segelschiffe von den Meeren verdrängte. Die Übergangszeit brachte solche „Blüten" hervor, wie wir sie umseitig zeigen. Die Nummern bedeuten: 1 Bug-Aufklotzung, 2 Promenadendeck, 3 Schornsteine, 4 Dampfabzugsrohre, 5 Ventilatoren, 6 Fockmast, 7 Großmast, 8 Besanmast, 9 Jiggermast, 10 Vorstenge, 11 Großstenge, 12 Besanstenge, 13 Jiggerstenge, 14 Vor-Bramstenge, 15 Groß-Bramstenge, 16 Besan-Bramstenge, 17 Jigger-Bramstenge, 18 Fockrah, 19 Vor-Untertoppsegelrah, 20 Vor-Obertoppsegelrah, 21 Vor-Bramrah, 22 Großrah, 23 Groß-Untertoppsegelrah, 24 Groß-Obertoppsegelrah, 25 Groß-Bramrah, 26 Vorbaum, 27 Vorgaffel, 28 Großbaum, 29 Großgaffel, 30 Besanbaum, 31 Besangaffel, 32 Jiggerbaum, 33 Jiggergaffel, 34 Vor-Bramstag, 35 Vor-Stengestag, 36 Fockstag, 37 Fockwant, 38 Vor-Stengepardunen, 39 Vor-Brampardunen, 40 Großstag, 41 GroßStengestag, 42 Groß-Bramstag, 43 Großwant, 44 Groß-Stengepardunen, 45 Groß-Brampardunen, 46 Besanstag, 47 Besan-Stengestag, 48 Besan-Bramstag, 49 Besanwant, 50 Besan-Stengepardunen, 51 BesanBrampardunen, 52 Jiggerstag, 53 Jigger-Stengestag, 54 Jigger-Bramstag, 55 Jiggerwant, 56 Jigger-Stengepardunen, 57 Jigger-Brampardunen, 58 Fockbrassen, 59 Vor-Untertoppsegelbrassen, 60 Vor-Obertoppsegelbrassen, 61 Vor-Brambrassen, 62 Großbrassen, 63 Groß-Untertoppsegelbrassen, 64 Groß-Obertoppsegelbrassen, 65 Groß-Brambrassen, 66 Vor-Gaffelhaltetaue, 67 Groß-Gaffelhaltetaue, 68 BesanGaffelhaltetaue und 69 Jigger-Gaffelhaltetaue.
37 nem Haus herumbaue? Meinst du das, Robina?" „Warum nicht? Du seist kein übler Mann, haben die anderen gesagt." Sie hatte also schon gefragt. Er hatte mit keinem Siedler gesprochen, wenigstens nicht über Robina. „Nein. Ich schlage keine Frauen", versuchte er einen schwachen Scherz. „Ich bin fleißig. Was sagen die anderen, die alten Siedler, wenn ich einfach hierbleibe?" Sie zog die Schultern hoch. „Es ist Land für hundert Familien", antwortete sie wahrheitsgemäß. „Warum sollte da für einen kein Platz sein? Im Haus ist Luft genug - wenn du erst den Anbau fertig hast." Frank nahm ihre Hand und drückte sie. Niemand schaute in ihre Richtung. Die Siedler und ein paar Leute vom Schiff, darunter eine Gruppe der Seewölfe, standen zusammen auf dem Dorfplatz und hoben ihre Becher. „Bedeutet das", fragte Frank in steigender Unruhe, „daß du mich hier behalten willst? Aber - zusammen könnten wir's schaffen, wie?" „Zusammen könnten wir viel schaffen", bestätigte Robina. „Lassen sie dich vom Schiff?" „Natürlich. Sie können mich nicht festhalten", erwiderte er und nickte. „Ich habe noch Gepäck drüben. Eine Kiste und ein dickes Bündel. Und einen Sack mit guten Saatkörnern. Gott sei Dank haben ihn die hungrigen Passagiere nicht gefunden." „Ich habe Hühner, Eier, zwei Schweine und den Kräutergarten. Wenn du Geld hast - hier brauchen wir keins." Sein Lachen war schon fröhlicher, als er antwortete: „Ich kann dich beruhigen, Robina. Ich habe nicht einen einzigen lausigen Sixpence. Ein paar Kupfermünzen, das ist alles."
Sie lehnte sich schwer an seine Schulter. „Es soll hier verschiedene Stämme oder Siedlungen der Rothäute geben. Gesehen hat sie noch keiner", erzählte Robina. „Aber unsere Jäger von ,Far Seddlers Castle' sagen, daß sie bei ein paar Indianern viel Gold gesehen haben. Es gibt also doch Gold hier." „Überall gibt's Gold", erwiderte Holroyd. „Man muß es nur suchen. Und vielleicht findet man welches." „Nicht in der Siedlung!" „Das Boot fährt gleich ab", sagte er. „Ich hole mein Zeug, ja?" Sie nickte und stand ebenfalls auf. „Kommst du heute noch herüber?" „Wahrscheinlich, wenn das Boot leer zurückfährt." „Ich spreche mit deinen Leuten", sagte sie, nahm seine Hand und zog ihn mit sich hinunter zum Steg. Er fand einen Platz, und nachdem sie eine knappe Stunde gewartet hatte, kehrte Holroyd wieder zurück. Zwischen den Duchten lagen ein prall gefüllter Sack, eine halb mannsgroße Kiste und ein Bündel, das in einen dicken Mantel eingeschlagen war. Michael Andersons Männer hoben die Lasten aus dem Boot und trugen sie zu Robinas Haus. „Jetzt kann ich nicht mehr zurück", sagte Frank leise. „Ich will nicht, daß du daran denkst", antwortete sie. „Alle nennen mich Robin, Frank." „Ich auch, Robin." Er hatte sich entschieden. Es war ihm gar nicht mehr schwergefallen. Sie paßten zusammen. Viel Arbeit gab es schon morgen. Genügend Leidenschaft hatte er mitgebracht. Er war sicher, daß sich die Liebe früher oder später auch einstellen würde.
38 Drei Stunden später. Die gesamte Besatzung der Schebecke befand sich an Deck. Nur Sarah und der kleine Roebuck schliefen schon, sie waren den ganzen Tag über in der Siedlung herumgetollt und hatten mit den wenigen Kindern der alten Siedler gespielt. Die Arwenacks hockten, saßen und lehnten so, daß sie alle Hasard und Dan O'Flynn sehen konnten, die auf leeren Fässern auf der Kuhl saßen. Der Seewolf stellte voller Zufriedenheit fest, daß jeder einen Becher oder eine Muck in den Fingern hielt. „Drinkwater, Toolan und ich haben lange über die Lage gesprochen. Wir sind sicher, daß es an einer anderen Stelle des Landes besser und ruhiger ist. Wir, die Arwenacks, sollen lossegeln und einen Platz für reichlich zweihundert Siedler finden. Was denkt ihr darüber, Freunde?" „Es soll ein Platz sein, an dem sich so viele Leute gut verteidigen können, wenn's hart auf hart geht", sagte Ben Brighton. „Richtig. Damit müssen sie immer rechnen", erklärte Carberry. „Auch wenn es gute und böse Rothäute gibt. Sie werden sich nicht für uns Engländer gegenseitig die Schädel einschlagen." Wieder war auch der Mittelpunkt der Bucht voller Lichter. An den Culverinen und Drehbassen standen die Wachen. Tagsüber hatte sich nicht ein einziger Indianer gezeigt. „Kutscher, Mac, - wie sieht es mit dem Speisezettel aus?" Die beiden Köche und Susan Fletcher brauchten nicht lange nachzudenken. „Genug Proviant für fünf Tage an Bord, Sir", sagte der Kutscher. Die junge Frau erklärte: „Unsere tüchtigen Jäger haben säckeweise
Pilze, Beeren und Nüsse gesammelt. Es reicht eher länger, Kapitän." Mac Pellew sagte mit grämlichem Gesicht: „Wasser haben wir übergenug. Nur mit dem Wein und dem Schnaps sieht's trübe aus. Wenn ihr auch alles aussauft, Kerle ...!" Lautes Gelächter hallte über das Wasser. Aber auch jetzt dachten viele an die Indianer und daran, daß unsichtbare Späher alles sehr genau beobachteten. „Dann sollten wir morgen ankerauf gehen", schlug Hasard vor. „Das bedeutet, daß die Kerls von den Galeonen ohne uns jagen?" erkundigte sich Ferris Tucker. „Es ist ja auch ihr Proviant", sagte Batuti. „Die beiden Algonkin-Indsmen warten schon." Der Seewolf hob den Arm. „Also. Ankerauf morgen nach Sonnenuntergang und einem guten Schlag Pilzsuppe, klar?" „Aye, Sir", sagte Dan O'Flynn. „Ist das ein Befehl?" „Natürlich." Hasard lachte kurz. „Oder seid ihr von mir unklare Vorschläge gewohnt?" „Wirklich nicht, Sir", brummte Roger Brighton. „Und wie verhalten sich die schwimmenden Festungen dort drüben?" „Sie folgen uns, nicht wahr?" erkundigte sich Big Old Shane. „Sie beenden die Jagd, kümmern sich um das Fleisch, und wenn alles klar ist, segeln sie hinter uns her, immer die südliche Richtung, das Land an Steuerbord.'' Don Juan hatte ebenfalls den Kapitän diesen Vorschlag unterbreitet. „Irgendwann stoßen sie auf uns." „Wir warten, wenn wir das Gelobte Land entdeckt haben", sagte Old Donegal. „Wir warten auf die ,Pilgrim' und die ,Explorer' und knapp zwanzig
39 Dutzend Siedler", verbesserte ihn Matt Davies. Al Conroy hatte etwas von seinem Pulver, einige Lunten und eine Kiste voller Hackblei und Metallsplitter den Siedlern für ihr einziges Geschütz gespendet. Die Drehbasse stammte von Drinkwaters Stückmeister, der sein schäbigstes Rohr hervorgekramt hatte. „Soll das Beiboot hochgehievt und wieder festgezurrt werden?" fragte Bob Grey halblaut. „Wird besser sein, es bleibt hinter dem Heck an der langen Vorleine", sagte Hasard. „Vorher aufklaren, ja?" „Aye, aye, Sir", tönte es von den Zwillingen. Wieder einmal hinterließen die Seewölfe, so gut das unter den herrschenden Verhältnissen überhaupt möglich war, Ordnung und Hoffnung für die Zurückgebliebenen. Viel mehr konnte für die Siedler nicht getan werden. Sie mußten zusehen, wie sie fertig wurden. „Da ist noch etwas", sagte Luke Morgan nach einer Weile und warf dem Kutscher seinen Becher zu. Der Kutscher schaute hinein und goß noch etwas Wein nach. „Ich meine unsere drei Hochgeborenen und die fünf Rabauken von der Karavelle. Sie sind zwar verschwunden, aber irgendwann tauchen sie wieder auf . . . " „... und sorgen für jede Menge Ärger", fügte Gary Andrews hinzu. „Die geben erst Ruhe, wenn ihnen die Rothäute die Schädel eingeschlagen haben." „Ich jedenfalls habe sie nicht vergessen", entgegnete Hasard grimmig. „Heute nacht überfallen sie uns sicher nicht. Oder seid ihr anderer Meinung?" Stenmark und Smoky, die der
ersten Wache zugeteilt waren, schüttelten die Köpfe. „Wir hören schon noch von ihnen", sagte Sam Roskill verdrossen. Mac O'Higgins, der den langen Tag über die Baumstämme über die Bucht gepullt hatte, dehnte seine Muskeln und straffte die Schultern. Er gähnte lange und sagte: „Ich verziehe mich in die Koje. Gute Nacht, allerseits." Er tappte zum Niedergang, und David Fletcher folgte ihm. Als auch Paddy und Jack die müde Runde verließen, rückten die anderen mehr zusammen. Blacky sorgte für Nachschub in den Bechern. „Glaubst du, Sir, daß die Siedler hier, die Roanoke-Leute, überleben?" fragte er. „Ich weiß es nicht", antwortete Hasard. „Glück gehört in jedem Fall dazu. Aber immer wieder gehen Aussiedlerschiffe hier vor Anker. Je größer die Siedlungen werden, desto leichter widerstehen sie." „Es muß milde Winter hier geben", schätzte Pete Ballie. „Wir sind schon recht weit im Süden." „Durchaus möglich. Jedenfalls finden sie guten, schweren Boden, aus dem alles wächst", sagte der Segelmacher Will Thorne. „Sie sind auch zufrieden mit der Ernte." „Wenn sie etwas gesät haben", meinte Sven Nyberg. „Wogende Kornfelder waren nicht zu sehen, oder?" „Ich habe keine entdeckt", erwiderte Nils Larsen. „Aber ich bin als Siedler auch schlecht zu gebrauchen." Die Flammen der Laternen brannten hell und ruhig. Über den Nachthimmel zogen helle Wolken. Das Mondlicht lag weiß und kraftvoll auf dem Wasser und hellte jetzt sogar die Ränder der Wasserfläche dort auf,
40 wo sie in die Ufer übergingen, in den Sumpf, den Wald oder die Grasflächen. Aus der Siedlung ertönten einzelne Wortfetzen und ab und zu ein Lachen. Jeff Bowie leerte seinen Becher und schob sich zum Niedergang. „Bis morgen. Bin verdammt müde. Der Holzfäller muß sich ausschlafen." „Ausgerechnet du mit deinem Haken!" rief ihm Bill nach, obwohl Jeff tatsächlich unermüdlich Stämme geschleppt hatte. „Hast du gute Karten von der Küste, Dan?" wollte Piet Straaten wissen. „Sie sind nicht besonders gut. Weiter im Süden, zur Karibik hin, da weiß ich fast alles", erwiderte Dan O'Flynn. „Wenn wir hier fertig sind, kann ich meine Zeichnungen verkaufen." „Du hast ja auch den ganzen Tag gezeichnet und gepinselt", sagte Jan Ranse. „Da müssen wahre Meisterwerke entstanden sein." „So ist es. Meisterwerke. Genau das", antwortete Dan O'Flynn. Hasard stand auf und blickte in die Sterne. „Schluß für heute", sagte er. „Wahrscheinlich haben wir die Stunde richtig gewählt. Morgen haben wir günstigen Wind. Um diese Jahreszeit steht er gewöhnlich nach Nord. Morgen weht er, wenn ich die Zeichen richtig verstehe, aus Nordwest bis West." „Was kann uns besseres passieren?" meinte Roger Brighton und schloß sich dem allgemeinen Gähnen an, dem ein geordneter Aufbruch folgte. Little John packte seine Decke und schob sich zum Heck. Auch er gehörte zur ersten Wache dieser Nacht.
5. Der Gischt der Brandungswellen brach sich am scharfen Bug der Schebecke, klatschte spritzend zur Seite und prasselte an Deck. Die Enden der Rahruten schienen zu summen, das Tauwerk stand straff und knarrte leise. Das schlanke Schiff lag weit nach Backbord über und arbeitete sich durch die Wogen des Atlantik. Die Seewölfe hatten mitten im aufsteigenden Nebel und mit ablandigem Wind aus der Bucht verholt. Ankerauf im Morgengrauen. Ihr erster Schlag hatte sie aus dem System der Flußmündungen, Buchten und Inseln geführt, ein paar Seemeilen weit hinaus auf den Atlantik. Das Fahrwasser schien gefährlich zu sein, vier Mann standen auf Ausguck. Das Land glitt langsam an Steuerbord vorbei. „Wie erwartet", meinte der Seewolf, der eine Stunde lang die Ufer durch sein Spektiv beobachtet hatte. Ihr Aussehen wechselte unerträglich langsam. Zunächst hatte sich entlang des Fahrwassers flaches Land erstreckt, das bei Ebbe weitflächig trockenfiel. Der Grund erstreckte sich sandig, voller Schwemmgut und stehengebliebener Tümpel weit ins Meer hinaus. Es roch nicht besonders frisch. Jenseits der Ufer standen einzelne Bäume, Baumgruppen, Buschwerk und geschlossener Wald. Riesige Vogelschwärme waren eingefallen und suchten ihr Fressen in den nassen Flächen. „Hier werden unsere Siedler nicht glücklich werden", pflichtete ihm Dan bei, der in die Karte seine meist sehr genau geschätzten Maße und Entfernungen eintrug und ständig auf den Kompaß schaute. „Schlechter als die kleine Siedlung,
41 die wir verlassen haben", sagte auch Hasard. Das Gebiet war eine Mischung zwischen ausgedehnten Mooren und Sümpfen, in denen einzelne Bäume standen, und festem Land, das sich meist als Hügel von geringer Höhe zeigte. Aus dem Schlick und dem Schlamm des trockengefallenen Vorlandes ragten einzelne Felsklippen auf, abgeschliffene riesige Steinbrokken oder spitze, riffähnliche Formationen. „Lauter schöne Fallen für gute Schiffe", bemerkte Ben Brighton und verzog mißbilligend sein Gesicht. „Tödliche, vernichtende Fallen." „Auch für schlechte Schiffe, Ben", sagte der Seewolf düster. Eine lange, niedrige Sandbank schob sich an Steuerbord ins Sichtfeld. Sie lag etwa drei Seemeilen vor der eigentlichen Küste, die hier aus einer Felsbank bestand. Zwischen beiden Barren betrug der wasserlose Raum etwa eineinhalb Seemeilen. Stieg die Flut, würde er sich wieder mit Wasser füllen und eine ruhige Zone bilden, deren Wellen nur bei Stürmen hochgepeitscht wurden. „Für Siedler ist es eine unfreundliche Küste", sagte Hasard und gab Befehl, den Schlag zurück nach Steuerbord vorzubereiten. „Für uns erst recht." Wenn die Luft klar war, konnte man weit im Westen, aber auch nur durch die scharfen Linsen erkennbar, einen Gebirgszug sehen. Vielleicht kannten die Indianer entlang der Küste seinen Namen oder die Namen einzelner Berge, die Siedler und die Seewölfe wußten ihn nicht. „Ich habe so eine bestimmte Ahnung, Sir", sagte Ben, nachdem die Schebecke auf den anderen Bug gegangen war und sich wieder der Küste näherte. „Daß nämlich das
Land von Woganhanok kein wahres Paradies ist. Aber das haben die Siedler schon gemerkt." „Wo gibt's schon wahre Paradiese", meinte Dan säuerlich. Weiter voraus schien sich das Gelände zu verändern. Im vagen Dunst, der am Ufer hochwaberte, zeigten sich Hügel und Täler, die stark bewaldet waren. Aber diese Szenerie war noch zu weit entfernt, als daß man Einzelheiten erkennen konnte. Eine halbe Stunde später, als sich die Sandbarriere landeinwärts krümmte, rief der Seewolf: „Ich sehe ein Feuer, Dan." Er ging zu Dan O'Flynn hinüber und gab ihm das Spektiv. „Einen Augenblick. Gleich wissen wir es", murmelte Dan und richtete das Spektiv auf die dünne Rauchsäule. Der kleinere Ausschnitt, stark vergrößert, zeigte dem scharfäugigen Dan O'Flynn, daß auf einer halbkreisförmigen Lichtung über einem felsigen Hang ein keineswegs kleines Feuer brannte. Es stammte aus trokkenem Holz, denn die Rauchsäule, die schräg aufs Meer hinausgeweht wurde, war ziemlich dünn. Aber sie war weithin sichtbar, auch für jedermann, der an einer weit entfernten Stelle des Ufers wartete. „Es müssen Indianer sein", sagte Dan schließlich. „Sie geben Signale, wenn ich das richtig sehe." „Signale?" Hasard, der Rudergänger und Ben Brighton blickten schärfer hin und hoben die Hände über die Augen. Sie sahen die winzigen Gestalten der Indianer nicht, aber die Rauchsäule veränderte sich. Sie wurde dunkler und deutlicher sichtbar. Dadurch, daß die Indianer den Rauch ablenkten oder aufhielten, stieg er in einzel-
42 nen Wolken auf. Aber dieses Signal dauerte nicht lange. Als die Schebecke etwa auf der Höhe des Feuers war, gab es nur noch dünnen, hellgrauen Rauch. „Habe ich es mir doch gedacht", sagte Hasard. „Wir werden voller Mißtrauen beäugt. Einer sagt's dem anderen: fremde Schiffe an den Küsten." Ben Brighton setzte hinzu: „Noch mehr Schiffe. Sie wissen schon, die Rothäute, daß die dickbäuchigen Galeonen Siedler mitbringen und an Land setzen." „Die ihnen dann das Land wegnehmen", brummte Jan Ranse, der an der Pinne stand. „Ist doch so, oder nicht?" „Das Land ist riesig", erwiderte der Seewolf, der seine Zweifel jetzt nicht laut aussprach, weil David Fletcher an Deck war, „und die wenigen Siedler nehmen den Indianern wirklich nichts weg. Etwas anderes mag es sein, wenn solche Strolche wie Godfrey und Konsorten versuchen, die Indianer zu bestehlen oder andere Schurkereien anzufangen." „Sie fangen nicht damit an", entgegnete Ben, „sondern dürften bereits am Werk sein. Wenn sie den ersten Klumpen Gold sehen, drehen sie durch." „Das ist sicher!" rief David. „Es sind wüste Kerle." Nach dem Ende der Sandbank und der felsigen Hügel, als der Rauch zu einem dünnen Faden geworden war, sprang die Küste wieder stark zurück und ließ ein Stück weniger unbrauchbares Land sehen. Eine Flußmündung schien es zu sein, in die jetzt die Schebecke segelte. Rechts und links gab es nur Felswände, die sich zu einer Schlucht verengten, unterschiedlich hoch, sehr stark zerklüftet und mit allerlei verkrüppelten Bäu-
men in den Klüften und Spalten bewachsen. Vom Bug her wurde gefragt: „Immer noch Ebbe, Sir. Willst du dort hinein?" „Weiß ich noch nicht!" rief Hasard zurück und betrachtete die waagerechten Linien des Flutwasserstandes. Aus dem Wasser der dreieckigen Bucht, in der der Landwind verwirbelte und seine Richtung verlor, ragten messerscharfe Klippen heraus. Nach einigen Minuten erkannte Hasard, daß sich hinter vorspringenden Felsen ein breiter, träge fließender Wasserfall in die Bucht ergoß. Er führte schlammiges Wasser. „Nicht in die Bucht!" schrie Hasard. „Kurs Südost!" „Aye, Sir." Die Segel killten, und die Schoten schlugen, bis die Schebecke wieder auf neuen Kurs gebracht war und aus dem bräunlichen Schleier hinaussegelte, den die Strömung zwischen den Felswänden bewegte. „Das war nichts", erklärte Hasard. „Aber der Tag ist ja erst halb vorbei." Die jenseitige Kante des felsigen Einschnittes war wie ein Kap geformt, das weit überhing und bei Flut von starken Brechern umspült wurde. Die Schebecke gierte nach Backbord und zog weniger als eine Fadenlänge von der Basis der steinernen Nase vorbei. Die Männer achtern legten die Köpfe in den Nacken und blickten auf die zerfurchte, triefende Wand. Als die Seewölfe weit genug entfernt waren und der Bugspriet wieder auf den offenen Ozean deutete, sagte Dan: „Woganhanoks Bruder." „Hä?" „Dort oben. Unbeweglicher Indianer. Gleich wird er uns mit Pfeilen begrüßen." „Zu weit weg. Roter Jäger gut zie-
43 len, aber schlecht treffen", sagte Jan Ranse lachend. Am äußersten Felsvorsprung, einen Fuß vor der Kante, stand ein einzelner Indianer, die Arme vor der Brust gekreuzt. Er war ähnlich gekleidet wie der Jäger, der beinahe vom Bären getötet worden wäre. Dieser Jäger trug eine hüftlange Jacke und einen Bogen. Er schaute ohne eine sichtbare Bewegung auf das Schiff hinunter und wirkte, als wäre er aus Holz geschnitzt und angemalt. Verblüfft starrten ihn die Seewölfe an, schließlich hob Hasard das Spektiv und betrachtete den regungslosen Indianer. Der Abstand zwischen Heck, nachgeschlepptem Beiboot und dem niedrigen Felsen vergrößerte sich. Mindestens zwei Pfeilschußweiten lagen dazwischen. Kopfschüttelnd senkte Hasard das Spektiv und wandte sich an seine Freunde. „Zweifellos gibt es hier weitaus mehr Indianer, als ich dachte", sagte er verdrossen. „Sie halten, wie es scheint, nach uns Ausschau. Oder war es ein Zufall?" „Keine Ahnung",, antwortete der Erste. „Wir werden es erfahren. Aber wir sollten allmählich einen guten, geschützten Ankerplatz suchen. Überdies ist die Tide bereits gekippt. Die Flut steigt." „Ich seh's", murmelte der Seewolf. Eine Stunde später öffnete sich an Steuerbord ein riesiger Sund. Auch an dieser Stelle waren zwei breite und hohe Dämme dem Festland vorgelagert. Sie waren so hoch, daß sie die normale Flut nicht überspülte, denn auf ihrem höchsten Punkt wuchsen Büsche und Bäume, die an den landnahen Rändern der fingerförmigen Sandwälle in den dunklen Uferwald übergingen. Auch von Hochfluten und während
der Stürme schienen die natürlichen Hafendämme nicht überschwemmt zu werden, denn der Wall aus Treibgut bildete weit unterhalb der Wurzeln und Stämme einen unregelmäßigen Saum auf dem ausgewaschenen Sand. Die Schebecke passierte mit dem nächsten Schlag die Passage, die mehr als zwei Seemeilen breit war. Die auflaufende Flut schob das Schiff mit sich. „Scheint auch eine Flußmündung zu sein", meinte Dan und begann eine neue Zeichnung. „Durchaus möglich", erwiderte Hasard. „Aber ich sehe nichts dergleichen." Die Bucht schien sich nach Nordwesten weit ins Land hinein fortzusetzen. An ihren Rändern zeigten sich alle gewohnten Geländeformen, vom sandigen Strand bis zu schroffen, schwarzen Felsbarrieren. Die Ufer waren stellenweise nicht mehr zu sehen, der Einschnitt gliederte sich in eine Vielzahl kleinerer Buchten. Nur ein Teil der Uferlinie war zu erkennen, zudem hing die Sonne des späten Nachmittags über dem Wald und blendete die Arwenacks. „Sieht recht gut aus", sagte Hasard nach einer Weile. „Hierher kehren wir zurück, wenn wir weiter im Süden nichts finden." Er nickte Ben zu. Der Erste brüllte über Deck: „Klar zur Wende!" „Aye, aye, Sir!" Die Schebecke führte die Wende in einem weiten Kreis aus. Jeder, der einen Moment Zeit fand, richtete seine Augen auf die Ufer und versuchte zu sehen, ob sich das dahinterliegende Land für eine Besiedlung eignete. Gegen die Strömung, aber mit steifem Wind aus Westen schob sich die Schebecke wieder auf den
44 Ozean hinaus und glitt nach Süden weiter. Eine Zeitlang segelten sie an Felsen, einem dunklen Strand aus Geröll und unzähligen Felsbrocken entlang, dann schob sich ihnen ein Vorsprung entgegen, den sie in achtungsvollem Abstand passierten. „Jetzt haben wir schon drei Stunden lang keine Indianer mehr gesehen", sagte Ben schließlich. „Stoßen wir vielleicht doch noch in ein leeres Gebiet vor?" „Erwartest du darauf eine vernünftige Antwort?" fragte Hasard grinsend. Ben schüttelte den Kopf. „Nein, Sir." Sie sahen ein, daß die Suche mühsam und langwierig sein würde, aber das hatten sie bereits geahnt. Schließlich hatte der Seewolf die Verantwortung für das Leben von rund zweihundertzwanzig Siedlern. Er hatte darüber hinaus die Absicht, diese Aufgabe so ernsthaft und genau wie möglich anzupacken. Gerade als sie sich darüber unterhielten, glitt das Schiff in guter Fahrt mit rauschender Bugwelle an einer Kette von Felsen vorbei, hinter denen sich wieder eine Bucht zeigte. Hasard hob den Arm, nachdem er lange hinübergeblickt hatte. „Wir verbringen hier die Nacht, also klar bei Fallen Anker." „Verstanden." Dieser Einschnitt der Küste schien so groß und ruhig zu sein wie die allererste Bucht. Kantig und langgezogen, fast ein Oval, breitete er sich zwischen den Felsen aus. Nur an beiden Seiten sah man Wald. Gegen Westen erstreckte sich trockenes Land, Büsche und wenige Bäume unterbrachen eine leicht wellige Fläche, die bis an die unsichtbaren Berge zu reichen schien.
„Morgen sehen wir weiter. Die Nacht bleiben wir hier von Anker, in ungefährlicher Entfernung von den Ufern", befahl Hasard. Er drehte sich zu Susan und David Fletcher um, die auf dem Grätingsdeck standen und sich ans Schanzkleid lehnten. „Zufrieden, Mister Fletcher? Diese Bucht könnte der natürliche Hafen eurer Siedlung werden." David antwortete ernst: „Das ist schon die dritte Bucht, die uns gefällt. Ich muß sagen, die allererste, wo Sarah und Roebuck den Indianer trafen, hat uns am besten gefallen. Aber hier steht weniger Wald." Hasard hob die Schultern und wußte selbst nicht recht, welche Meinung er haben sollte. „Wenn es sich hier um leeres Land handelt", entgegnete er schließlich ein wenig unbehaglich, „dann kann man laut darüber sprechen. Erst einmal warten wir ab, ob uns Indianer mit Geschenken besuchen oder mit gespannten Kriegsbögen. Ich denke, wir haben eine ruhige Nacht. Die Küste ist noch lang." „Und voll anderer Buchten?" fragte Susan mit einem zurückhaltenden Lächeln. Wieder mußte Hasard eine Geste der Unschlüssigkeit ausführen. „Wer weiß? Jedenfalls werfen wir Anker, ehe die Sonne ganz verschwunden ist." Ben Brighton brachte das Schiff bis in den Mittelpunkt der Bucht. Es war keine Bach- oder Flußmündung zu entdecken, aber auch keine Anzeichen, daß sich hier Indianer versteckten. Der Anker fiel, die Segel wurden aufgetucht, die Schoten aufgeschossen. Die erste Lotung ergab eine Tiefe von sieben Faden und weichen Grund. Hasard setzte sich auf die oberste
45 Stufe des Niederganges und ordnete seine Gedanken. Es gab an diesem Punkt der Suche mehrere Möglichkeiten für ihn und seine Arwenacks. Um völlige Gewißheit zu haben, ob die Siedler ausgeschifft werden konnten, mußte eine bewaffnete Expedition ins Landesinnere ausgeschickt werden. Nur so erfuhren sie, ob man die Indianer Virginias verstörte oder ihnen gar das Land wegnahm. In diesem Fall würden die Indianer angreifen und versuchen, die Siedlung auszulöschen, niederzubrennen und die Siedler zu töten. Ebensogut konnte es sein, und das galt als wahrscheinlicher, daß sich die eingeborenen Jäger vor den Seewölfen versteckten, weil die Rauchsignale sie gewarnt hatten. Dann war jede Suche sinnlos, denn man würde nichts finden. Im letzten Licht suchten Hasard und Ben jeden Fußbreit der Ufer ab, ohne auf verräterische Spuren zu stoßen. Die Wache zog auf, Al Conroy entfernte die Persennings von den Culverinen und bereitete die Geschütze vor. Die Schebecke verwandelte sich in eine kleine schwimmende Festung - gegenüber den Steinbeilen, Speeren und Pfeilen der indianischen Jäger. „Wenn ich was wüßte, wäre ich Hellseher", gestand sich Hasard schließlich ein und fühlte sich gar nicht wohl bei dieser Überlegung. Während die Flut langsam ihren höchsten Stand erreichte, lag die Schebecke sicher vor Anker. Die Jolle war beigeholt, aber in dieser Nacht würde das Beiboot nicht benutzt werden. Mac O'Higgins entzündete die Dochte der Laternen. Unter dem Achterdeck drangen Rauch und die vielversprechenden Gerüche des Essens
hervor. Die letzten Raubvögel kehrten mit der zappelnden Beute in den. Fängen von See zurück und verschwanden im Wald.
Es waren seltsame Gewächse, die nicht einmal Philip Hasard Killigrew kannte. Auch Old Donegal wußte nichts darüber: ins Riesenhafte gewachsene Bäume mit glatter, fahler Rinde, die mächtige Äste über das Wasser hinausragen ließen. Die Enden der Zweige waren umgebogen und hingen voller länglicher Blätter senkrecht hinunter bis ins Wasser der Bucht. Schlinggewächse umrankten spiralig die Stämme und hielten ihre Blüten jetzt, im Nebel der morgendlichen Kühle, noch geschlossen. Die Bäume verströmten einen Geruch, den einige der Seewölfe in der Jolle zwar erkannten, aber nicht richtig einzuordnen wußten. Sie kannten ihn aus anderen Gegenden der Welt. Er roch frisch und, so erstaunlich der Eindruck war, nach Gesundheit. Fast lautlos wurde das Beiboot entlang des Ufers gepullt. Im fast unbewegten Wasser dieser Bucht im ufernahen Bereich zeichneten sich scharf die Wellen der Kielspur und die zahllosen, ineinander verschwimmenden Ringe ab, die von den Blättern der acht Riemen herrührten. Auch die Männer, die ohne Anstrengung die Riemen handhabten, oder vorn und achtern saßen, verhielten sich ruhig. Sie versuchten, hinter dem geräuschvollen Treiben der vielen Wasservögel und der kleinen Tiere im bewachsenen Ufer etwas herauszuhören, das für sie Gefahr bedeutete. Im Bug der Jolle steckte die Gabel, in der die geladene Drehbasse ihre Mündung aufwärtsreckte.
46 Hasard, vorn am Bug, deutete, ohne sich umzudrehen, nach Steuerbord. Dan O'Flynn an der Pinne brummte die Bestätigung und brachte das Beiboot näher ans Ufer. Ein kleines Rudel Rotwild, das am Ende eines schmalen Einschnitts stand und das Wasser eines Baches soff, hob die Köpfe und beäugte die Fremden. „Keine Jäger in der Nähe", murmelte der Seewolf und senkte den Arm nach rechts voraus. Auf der See, zumindest in einem breiten Streifen entlang des Ufers, lag dichter Nebel, den die Sonne noch nicht durchdrungen und aufgelöst hatte. Noch war es zu früh. Auf der Schebecke drüben verloschen gerade die Bug- und Hecklaternen. Die Geschützwache beobachtete ruhig die Männer im Beiboot. Hin und wieder sprang ein großer Fisch aus dem Wasser. Die Echos verloren sich in der Weite der dunstigen Uferlandschaft. Das Boot beschrieb einen weiten Viertelkreis und glitt auf den nächsten Einschnitt zu, der weit ins Land führte. Der Abstand zwischen den Rändern des Einschnitts betrug zwei Kabellängen. Das Beiboot wurde ziemlich genau in der Mitte westwärts gepullt, etwa eine Seemeile weit. Unmerklich näherten sich die Ufer einander. Das Land bestand aus einer fruchtbaren, von fettem Gras bewachsenen Savanne. Es stieg nach den Seiten hin leicht an und gliederte sich in sanfte Hügel, die immer zahlreicher wurden, je mehr sich der Dunst hob. Der Himmel begann sich blau zu färben. Der Seewolf drehte sich um und sagte ruhig: „Wir pullen wieder zurück." Er tauchte den Finger ins Wasser und prüfte den Geschmack. „Salzwasser. Dort drinnen ist kein
Fluß. Aber das ist nicht so wichtig", sagte er leise. Die Jolle fuhr einen weiten Kreis, näherte sich dem südlichen Rand des Einschnitts und richtete dann den Bug wieder seewärts. Hinter dem Ende an Steuerbord dort mündete der breite Einschnitt in die ovale Bucht - flatterte ein Schwarm kleiner, schwarzer Vögel auf. In den Blick der Seewölfe trat augenblicklich etwas Wachsames, Mißtrauisches. Hasard lockerte den sechsschüssigen Drehling in seinem Gürtel. „Achtung!" Mehr brauchte er nicht zu sagen. Die Seewölfe waren blitzschnell, wenn es galt, ihre Haut zu verteidigen. Dan schätzte die Weite eines gut gezielten Bogenschusses ab und steuerte das Boot außerhalb dieser Entfernung im weiten Halbkreis in die Bucht zurück. Zwischen den fast mannshohen Halmen am Ufer rührte sich nichts. Aber der Vogelschwarm kehrte auch nicht wieder zu den Ästen zurück, sondern flatterte aufgeregt über drei einzeln stehenden Bäumen. „Was haben die Vögel gesehen?" fragte der rothaarige Schiffszimmermann leise. „Keine Ahnung. Ich denke, es sind Indianer in der Nähe", sagte Batuti. Hasard blies auf das glühende Ende der Lunte und wartete scheinbar ruhig und ungerührt. Die Riemen hoben sich im Gleichtakt aus dem Wasser, beschrieben bugwärts einen Bogen, tauchten ein und wurden durchgezogen. Das Boot wurde etwas schneller und fuhr auf die nächste Landzunge zu, ein paar Kabellängen weiter südlich. Hier begann hinter dem breiten Gürtel aus verfaulenden Bäumen, angeschwemmtem Wurzelwerk, triefen-
48 den Pflanzen und einer undurchdringlichen Mauer aus grünen, schilfähnlichen Pflanzen wieder ein riesiges Stück der leicht hügeligen Weidefläche. Die Sonnenstrahlen hatten sich jetzt Bahn gebrochen. Sie durchstießen den Dunst und verwandelten die graue Bucht in ein Feuerwerk von Farben. Die Helligkeit nahm binnen Minuten zu. Am Ufer, das wieder an Steuerbord lag, wurden sämtliche Dinge und Vorgänge klar erkennbar. Hinter einem halbkreisförmigen Gebilde, das einmal eine aus dem Boden gerissene Baumwurzel gewesen war, jetzt völlig zugewachsen von dikken Klumpen aus Gräsern und Pflanzen, bog sich das Schilf nach rechts und links zur Seite. „Schneller, Kurs Schebecke", sagte Hasard scharf und zog seine Waffe. Er spannte den Hahn und beugte sich vor. Das Boot änderte die Richtung um zwei Strich. Fast zwei Fadenlängen trennten die Seewölfe vom Ufer. Zwischen den Gewächsen tauchte der halbrund hochgezogene Bug eines leichten Bootes auf, in dem mindestens sieben Indianer saßen und mit Stechpaddeln hantierten. „Also doch Indianer", sagte Hasard laut und richtete sich etwas auf. Über die Köpfe der Seewölfe schaute er hinüber zu den Indianern. Das Boot verließ mit dem Heck das Versteck zwischen den binsenartigen Stengeln. Sieben Paddel wurden in rasender Schnelligkeit eingesetzt und durchgezogen. Binnen weniger Faden gewann das leichte Boot, das eine Haut aus Leder zu haben schien, an Geschwindigkeit. Die Indianer paddelten und hielten keine Waffen in den Händen, aber die Seewölfe bemerkten Speere und Bögen. „Zurück zum Schiff!" rief Hasard.
„Wir greifen nicht an. Wartet, bis der erste Pfeil fliegt." Es war keine Heldentat, mit der Drehbasse und der scharfgezackten Streuladung die Indianer und das Boot zu zerfetzen. Sie waren gegenüber dieser Waffe hilflos, und es bestand immerhin die Möglichkeit, daß sie keinen Angriff planten. Aber je schneller das schmale Boot ohne Rudergänger wurde, desto mehr schwand dieser Eindruck. Auch die Seewölfe pullten jetzt mit doppelter Schlagzahl. Al Conroy und Ben Brighton schrien und winkten von Backbord der Schebecke. „Nicht feuern!" donnerte Hasard übers Wasser. „Wartet noch!" Es wäre ein zweites Wunder, wenn einer der Indianer auch nur einen einzigen Brocken Englisch sprechen konnte. Die Gesichter der Indianer, mit Farbstreifen, Ringen um die Augen und Wellenlinien verziert, drückten Wut und Angriffslust aus. Von achtern ertönte Dans besorgte Stimme. Er griff nach einer Muskete, während die Arwenacks um die Wette pullten. „Sie sehen aus, als wollten sie uns roh auffressen, Sir." „Wir sind noch nicht gebraten!" rief Hasard zurück. Sie pullten auf das Heck der Schebecke zu. Die Indianer verfolgten sie mit steigender Geschwindigkeit. Das stoßweise Keuchen der Paddler war überraschend weit zu hören. Das Kanu glitt, obwohl es in sich federte und stark krängte, spielend leicht durch das Wasser. Als die Indianer aufgeholt hatten, hörten die ersten vier, die hintereinander in dem schmalen Kanu hockten, zu paddeln auf. Sie warfen die Paddel ins Boot und tauchten mit Bögen und Pfeilen wieder auf.
49 „Jetzt wird's ernst!" rief Sam Roskill. „Auf was wartest du, Sir?" Die Lage wurde brenzlig. Die drei Indianer, die achtern in ihrem zerbrechlich wirkenden Kanu hockten oder knieten, paddelten wie die Besessenen. Die vier vor ihnen hängten sich rechts und links über das einwärts gekrümmte Dollbord, legten Pfeile auf die Sehnen und zogen ihre Sehnen bis zu den Ohren aus. „Mister Conroy!" schrie Hasard scharf. „Verstanden, Sir!" Hasard hatte gesehen, daß sein Stückmeister die Culverine genau ausgerichtet und die Bewegung des Kanus verfolgt hatte. Über die unterschiedlichen Waffen dachte er nicht anders als Hasard und die Arwenacks. Als der Seewolf den Arm nach unten stieß, senkte Al Conroy die glühende Lunte auf das Zündloch. Die lange Feuerzunge aus der Mündung, der dröhnende Krach der Detonation, der aufsteigende Rauch des verbrannten Pulvers und das scharfe Heulen des Geschosses - das alles erschreckte die Indianer, noch bevor der erste Pfeil gezielt abgeschossen worden war. In ihre Schreckensschreie mischte sich das Poltern der Lafette über die Planken. Die Steinkugel hatte eine fast gerade Flugbahn. Sie schlug drei Fuß vor dem Bug des Kanus ein. Die Wirkung war zu berechnen gewesen, aber sie übertraf die Schätzungen der Seewölfe im Beiboot. Eine fünf Faden hohe, zungenförmige Fontäne schoß in die Höhe. Das Kanu wurde hochgehoben und brach in der Mitte auseinander, bevor die Wucht des Einschlags und die harte Stoßfront der Welle die Trümmer und die Körper umherwirbelte und in die Luft schleuderte. Ein Tropfenschauer prasselte nie-
der, und die Krieger gurgelten, keuchten und schlugen wild um sich. Paddel, Waffen und die Teile des leichten Bootes wirbelten durcheinander und trieben in verschiedene Richtungen davon. Hasard nahm die Hände von den Ohren und rief: „Sie haben es verstanden, unsere Freunde. Die greifen uns nicht mehr an, wie?" „Denke ich auch, Sir", erklärte Dan. Die Seewölfe hatten aufgehört zu pullen. Sie schauten hinüber zu dem Ort des Einschlags. Die Wuhling löste sich langsam auf, denn die sieben Insassen des Bootes versuchten, zum Ufer zu schwimmen. Keiner von ihnen schien ein besonders guter Schwimmer zu sein. „Weiter", sagte der Seewolf. „Noch eine Runde, dann zurück zum Schiff. Ihr habt gesehen, wie Al auf uns aufpaßt." „Aye, Sir." Das Beiboot bog wieder ab, bevor es die Schebecke erreichte. Immer wieder warfen die Seewölfe lange Blicke hinüber zu den Indianern. Sie hatten fast das Ufer erreicht und sahen gar nicht mehr angriffslustig aus. Der erste drehte sich um und schüttelte wütend die Fäuste in die Richtung des Bootes. Die Farbe war von seinem Gesicht und dem Oberkörper heruntergewaschen worden. Sie hatten auch die Köcher, Speere und Bögen verloren. Für die Krieger mußte es eine ganz besondere Art von Niederlage darstellen. „Wir sehen schon", sagte Sam Roskill, ohne mit dem Pullen innezuhalten, „daß die Siedler auch hier keine Ruhe haben würden. Also ein schlechter Platz, Sir." „Sieben Indianer sind noch kein Stamm", entgegnete Hasard. „Aber du hast recht. Sie hatten immerhin
50 ein Boot. Ob sie es hierhergeschleppt becke. Die Jakobsleiter klapperte oder im Schilf versteckt haben, ist über die Planken. „Gehen wir heute noch ankerauf?" gleich. Sie wollen, daß wir von hier fragte Ben Brighton, als die kleine verschwinden." „Trotzdem ist das Gelände hervor- Crew an Deck stand. „Nicht vor dem Essen", antwortete ragend", sagte Dan von der Pinne der Seewolf. „Und bis zum Ablegen her. „Die Siedler wären begeistert." „Mit einem zertrümmerten Schädel gehen wir weiterhin Wache bei den oder mit einem Pfeil im Bauch wer- Donnerrohren." den sie nicht mehr begeistert davon „Aye, Sir!" rief Al Conroy grimmig. sein", sagte Sven Nyberg gallig. Keiner an Deck wäre überrascht ge„Oder etwa nicht?" wesen, wenn plötzlich eine ganze Mit dem Boot suchten die Seewölfe Flotte von bunt bemalten Kriegskaden nächsten Bereich der Bucht ab. nus aus dem Ufergestrüpp aufgeDie sieben Indianer hatten inzwi- taucht wäre. Es blieb still, trotzdem schen das Ufer erreicht und standen benutzten die Seewölfe ihre Kieker zwischen den wippenden Gräsern. so häufig wie möglich, während sie Sie starrten hinüber zum Schiff und sich im hellen Sonnenschein mit zum Boot, stießen hin und wieder gel- nacktem Oberkörper und barfuß ihr lende, trillernde Schreie höchster Essen schmecken ließen. Die meisten Wut aus und drohten mit den Fäu- Zutaten stammten aus den Wäldern sten. Virginias. „Sie haben die Schnauze voll", Trotzdem wurden sie das Gefühl meinte Smoky. nicht los, von hundert scharfen Au„Da bin ich gar nicht sicher", ant- gen beobachtet zu werden. wortete Bill. Als sie sich wieder der Schebecke näherten und in den Sog der ablau6. fenden Ebbe gerieten, hatten sie genug gesehen. Bis zum Abend kreuzten sie bei Das Land hinter dieser Bucht war schwachem Wind aus drehenden für eine Ansiedlung von sehr vielen Richtungen südwärts. Menschen als fast ideal zu bezeichEine trostlose, morastige Wüste nen. Mindestens zwei breitere Bäche erstreckte sich an Steuerbord. Das mündeten in das Oval. Es gab viele steigende Salzwasser überflutete ein Anlegeplätze, Jagdgebiete und sehr riesiges Stück Land, über dem giganviel Platz für Weiden und Äcker, tische Schwärme von unangenehm wenn man es einmal schaffen würde, großen Mücken tanzten. Vögel jagten auch große Tiere - Rinder, Pferde, durch die schwarzgepunkteten WolSchafe, Ziegen - hierher zu brin- ken der Plagegeister und fraßen sich gen. im Fluge satt. „Trotzdem werde ich den KapitäEine Heimat für unzählbare Wasnen nicht raten können", sagte Ha- servögel aller Farben und Größen sard, „hier vor Anker zu gehen. Su- war dieses Sumpf gebiet, sonst taugte chen wir also eine neue Bucht. Oder es nichts. Die mühsam zurückgelegte einen Fjord, was weiß ich." Entfernung zwischen Mittag und Er fing die Wurfleine auf und be- Abend war gering. legte das Beiboot längsseits der Sche„Und schon wieder Rauchzeichen!"
51 rief Dan O'Flynn am Nachmittag. „Eine ganze Menge! Fast querab, Sir." „Verstanden", antwortete Hasard. Der Salzwassersumpf mit seinen charakteristischen weißen, abgestorbenen Bäumen, die wie Skeletthände nach den Wolken zu greifen schienen, blieb achteraus zurück. Wieder breitete sich der Anblick des gewohnten Uferwaldes aus, eingesäumt von dunklen, weiß geäderten Felsen. Inzwischen war die Crew dazu übergegangen, den einzelnen Landmarken Phantasienamen zu geben. Dan trug sie mit aller Vorsicht in seine behelfsmäßigen Karten ein. Die schräg davonwehenden Rauchfahnen wirbelten hinter dem Wald in die Höhe. „Das sind möglicherweise keine Zeichen, sondern richtige Feuer", meinte Ben Brighton. „Gleich sehen wir es genau." Die Schebecke stampfte in der Brandung an einer winzigen Bucht vorbei, die unmittelbar hinter dem Waldstreifen begann. Im Grunde war es keine geschützte Bucht, sondern ein Drittelkreis in der annähernd geraden Küstenlinie, voller gerundeter Felsbrocken, die wie kleine Inseln im bewegten Wasser auftauchten, von Brechern überspült wurden und wieder versanken. Direkt am Ufer, über einer Felsklippe, waren Bäume gefällt und eine Lichtung geschaffen worden. Dort brannten, sich deutlich gegen den dunklen Hintergrund abhebend, fünf Feuer. Der Rauch stieg bis zur Höhe der Wipfel fast gerade in die Höhe und wurde erst dort vom Wind erfaßt. Sofort richteten sich sämtliche Kieker auf den Lagerplatz. Je länger die Seewölfe auf das überraschende Bild starrten, desto deutlicher erkannten
sie mehr Einzelheiten. Über hohe Stangen waren lederne Zeltbahnen gespannt, mit kräftigen Farben verziert. Hunde liefen zwischen den Feuern herum. Kinder und einige Frauen mit langen Zöpfen aus schwarzblauem Haar waren zu sehen. An hölzernen Rahmen waren Felle mit Lederriemen zum Trocknen ausgespreizt. Ab und zu funkelte etwas im Widerschein der Flammen oder in einem verirrten Sonnenstrahl. Gold? Hasard bezweifelte es. Die Indianer hatten die Schebecke lange nicht bemerkt. Jetzt zeigte eine Frau auf das schlanke Schiff mit den dreieckigen Segeln, das in der Dünung weit außerhalb des Uferwassers nach Süden segelte. Fast augenblicklich eilten die Frauen zusammen, zogen die Kinder zu sich heran und starrten zum Schiff. Niemand winkte. Aus einigen Fellhütten sprangen halbnackte Krieger und stellten sich zu der Gruppe. Ben und Hasard zählten etwa zwei Dutzend Gestalten, aber sie waren nicht sicher, ob es nicht noch mehr waren, die sich im Wald aufhielten oder auf Jagd befanden. Das Lager wirkte, als wäre es für mehr Indianer errichtet worden. Seltsam geschnitzte Stämme tauchten aus dem Walddunkel auf. Unter der Felsklippe, am oberen Rand einer Geröllfläche, langen noch einige der leichten Kanus. An langen Schnüren hingen Fische und Fleischstreifen in der Sonne und im salzigen Wind zum Trocknen. Aus einem Feuer flog eine Funkengarbe in die Höhe. Man hörte nichts weiter als das schauerliche Heulen eines Hundes. Plymmie stellte die Nackenhaare auf, fletschte die Zähne, und aus ihrer Kehle drang ein dumpfes, langgezogenes Grollen.
52 „Schon gut, Alte", beschwichtigte sie der junge Hasard. „Ruhig. Es sind keine bösen Indianer." „Woher weißt du das?" wollte sein Zwillingsbruder wissen. „Fast nur Frauen und Kinder", erwiderte Hasard junior knapp. Aus dieser Entfernung ließ sich nicht deutlich genug erkennen, ob es eine dauernde Ansiedlung war oder das flüchtige Lager von wandernden. Jägern. Die Schreie der Seemöwen lenkten Ben Brighton und Hasard kurz ab, als sich die Vögel zwischen den Masten der Schebecke hindurchstürzten. „Ich habe gedacht, daß die Küste menschenleer sei", meinte Hasard und sah zu, wie die Indianersiedlung hinter dem nächsten Kap verschwand. „Aber es gibt doch viele Indianer." „Früher oder später finden wir die richtige Landungsstelle", versuchte ihn Ben aufzumuntern. „Wir müssen nur Geduld haben." „Daran soll es vorläufig nicht fehlen. Mich zieht es trotzdem mächtig in die Gewässer der warmen Winde." „Mich auch." Es wurde Zeit, einen Platz für die Nacht zu finden. An einer Küstenstrecke, die aus unzähligen Felsen im Wasser und über der Brandung bestand, segelten sie vorbei, kreuzten gegen den Wind aus Süden und gelangten nicht schnell voran. Fadenlänge um Fadenlänge glitt das Ufer an ihnen vorbei. Die Buchten, Fjorde und Einschnitte, die sie ins Auge faßten, taugten nichts: beim ersten Aufkommen eines Sturms würde die Schebecke wild umhergeworfen und auf den Klippen zerschlagen werden. Die Sonne versank als riesiger roter Ball hinter dem Wald, der sich schwarz zu färben gegann.
Als das Schiff wieder schwer nach Steuerbord überhing und nach Südwest stampfte, entdeckten die Seewölfe recht voraus abermals einen idealen Ort für die Siedler. Ein Fjord, dessen Ende noch nicht zu sehen war, öffnete sich zwischen Klippen, kleinen Kaps und Felseninseln, deren oberster Teil bewachsen und bewaldet war. „Alle herhören!" schrie Hasard übers Deck, nachdem er die Lage mit dem Spektiv erkundet hatte. „Hier gehen wir vor Anker. Wir suchen den besten Platz." „Verstanden, Sir!" Die Linien der Brandungswellen brachen sich an den Felsen der Einfahrt und schäumten weiß. Gut zwei Kabellängen breit war die freie Passage. Im Bug lotete Jeff Bowie und sang mehr als sichere Tiefe aus. Auch dieser Fjord erstreckte sich, ziemlich geradlinig, von Nordwesten nach Südosten. Als die Schebecke eindrang, sich gut von beiden Ufern freihaltend, stellten die Seewölfe fest, daß sich auf der Steuerbordseite eine schroffe Felsbarriere auftürmte. Sie trennte diesen Geländeeinschnitt von jener Bucht, in der sie das Indianerlager gesehen hatten, deutlich ab. „Das sieht schon sehr viel besser aus", sagte Dan O'Flynn zufrieden. „Von hier nach dort drüben scheint es keine Wege zu geben." „Von Deck aus läßt sich das nicht feststellen", schränkte Hasard ein. Er betrachtete die glatte Mauer aus Fels, auf der das volle rote Licht der untergehenden Sonne lag. Es gab nur wenige senkrechte Markierungen ein Beweis dafür, daß die Felswand ziemlich glatt, ohne tiefe Klüfte und Schrunde, vom Meer aus bis tief ins Land reichte. „Trotzdem. Ein gutes Zeichen'', beharrte Ben Brighton.
54 Auch dieser Fjord zeigte den Seewölfen den natürlichen Reichtum dieses Landes. Felsen wechselte sich mit Wald und Buschwerk mit großen Weideflächen ab. Hügel und Täler erstreckten sich an anderen Stellen bis zum Horizont. An drei Stellen in unmittelbarer Nähe der Fjordeinfahrt plätscherten breite Bäche über die Felsen. Das Rauschen der Brandung wurde leiser. „Klar zum Ankern!" rief Hasard, als die Segel angetoppt waren. Mit schwacher Fahrt, vom eigenen Schwung und vom Schub der auflaufenden Flut bewegt, lief die Schebecke in der Mitte des Einschnitts tiefer in die schluchtartige Fahrrinne ein. „Anker klar zum Fallen!" rief die Crew vom Bug. „Tiefe siebzig Fuß, immer gleich!" sang Jeff Bowie aus. Das Schiff schwankte leicht, als der Anker fiel. Die Ankertrosse rauschte aus und wurde belegt. Die Wolken über der See erhielten tiefrote Ränder. Der Himmel färbte sich dunkler. Hasard schaute sich prüfend um und stemmte die Fäuste in die Seiten. „Ein hervorragender Platz. Sollte er menschenleer sein, würde ich hier die Siedler ausschiffen. Hier und nirgendwo anders." Auf der Kuhl kicherte Old Donegal: „Fertigmachen, aufklaren und rasieren zum Landgang für alle." Nachdem sich das Gelächter gelegt hatte, riet Don Juan dem „Admiral": „Paß auf, daß du nicht auf Legerwall gerätst, wenn du den rassigen Indianerinnen nachstellst und Beerenschnaps trinkst." „Keine Sorge", beschied ihm Old Donegal. „Ich kann schließlich schwimmen."
Alle Karten, die Dan O'Flynn kannte oder selbst besaß, zeigten in diesen Breiten, daß die Landmasse der Neuen Welt nach Osten vorsprang und sich in einem schwer überschaubaren Wirrwarr langer, vielfach verzweigter Einschnitte aufsplitterte. Es wimmelte an der Küste von Buchten in allen Größen und Formen, von Verstecken, Flußmündungen und trockenfallenden Flächen. Es war nicht einfach, zu unterscheiden, ob die Schebecke noch im Bereich des Atlantiks segelte oder schon in einem Gewässer, das im Binnenland lag. Mit wenigen Ausnahmen herrschten sumpfige Wälder in dem Schwemmland an den Rändern vor. Saftige Weiden und zukünftiges Ackerland waren von wenigen Felswänden unterbrochen. „Für uns bedeutet der Umstand größere Verantwortung", sinnierte Hasard. „Drinkwater und Toolan werden tun, was wir ihnen empfehlen. Aber ist es auch das richtige Land für die Siedler? Diese Frage ist von uns kaum richtig und klar zu beantworten." „Auch dieser Fjord wäre ein denkbarer Platz für eine kleine Stadt", erklärte Ben Brighton. „Nicht gerade hier, weiter innen." „So sieht's aus", sagte Dan O'Flynn und verstaute Schreibzeug und Zeichengerät in seiner flachen Kiste. „Auf meine Meinung kommt's ja nicht an. Ich bin todmüde. Weckt mich, wenn die Indianer angreifen." „Da wirst du schon von selbst wach", versicherte ihm der Seewolf. „Ich meine, daß wir eine ruhige Nacht haben werden." „Mich stört es nicht", schloß Dan und enterte den Niedergang ab. Die Abenddämmerung war kurz. Riesige Wolkenberge türmten sich im Westen
55 auf und schienen in allen Farben zu brennen. Der Wind schlief ein, und das Rauschen der fernen Brandung wurde leiser. Die Ausläufer der Dünung erreichten die Mitte der Fjordeinfahrt. Sie hoben sanft und einschläfernd das Schiff und ließen es wieder zurückschwingen. Der Anker saß und hielt, ohne zu rucken. „Wir sollten morgen die Suche noch fortsetzen, Sir", meinte Ben. Ein Teil der Crew saß auf der Kühl und vertilgte das Abendessen. „Und nachts zurücksegeln?" fragte der Seewolf und nickte langsam. „Das klingt nicht schlecht. Sollten wir ernsthaft überlegen." Wenn sich die Struktur des Landes nicht entscheidend änderte, würde die Suche weiterhin die gleichen Bilder wiederholen: eine Bucht ähnelte der anderen. Auch das Aussehen des Landes, so weit das von Bord aus festgestellt werden konnte, würde nicht viel abwechslungsreicher werden. Noch einige Seemeilen weiter nach Süden, und dann in weitem Bogen mit dem Südwind zurück zu den Galeonen - das war wohl das Vernünftigste. Die Schiffsglocke schlug. Es gab in diesem weiträumigen, flachen Fjord kein Echo. „Vielleicht bedeutet die Felswand oder das kleine Gebirge eine Grenze. Was glaubst du?" wandte sich Hasard junior an seinen Vater. „Eine Grenze zwischen dem Land der Indianer und dem Land unserer Siedler?" fragte der Seewolf zurück. „Wenn ein Indianer die Felsen überklettern will, dann tut er es, ohne die Siedler zu fragen." Die Seewölfe waren einigermaßen sicher, daß die Indianer in diesem Teil des neuentdeckten Landes nicht in größeren Lagern auf die Dauer lebten. Die meisten waren Jäger, also zo-
gen sie mit ihrem Jagdwild durch Wälder und über die offenen Weideflächen. „Vielleicht regelt sich alles von selbst", sagte Don Juan. „Jäger und Siedler brauchen verschiedene Umgebung." „Aber den Indianern gehört das Land. Es sind ihre Jagdgründe", erklärte Old Donegal. „Ich hätte auch was dagegen, wenn fremde Kerle in meinem Vorgarten herumtrampeln." „Das haben uns die Boys im Kanu nachdrücklich zeigen wollen", sagte Big Old Shane grimmig. „Es hilft nichts, selbst wenn sie recht haben. Die Siedler werden in ein paar Tagen an Land gehen, und damit hat sich's", beendete der Seewolf die nutzlose Unterhaltung. Ohne Hast, mit der Übung langer Gewohnheit, klarten die Seewölfe die Schebecke auf. Die erste Wache zog auf, die Freiwache lungerte noch eine Weile herum oder verkroch sich in die Kojen. Wieder einmal waren die Lichter des Schiffes weit und breit die einzige Helligkeit. An diesem Abend und in der langen, schwarzen Nacht fühlten sich die Seewölfe unbeobachtet. Sie hielten es für ein gutes Zeichen.
Isaak Maine kreuzte die Beine und zog die Füße unter sich. Er packte die Stiefel an den Spitzen, ruckte hin und her und lehnte sich dann ächzend an die knisternde Rinde der Palisade. „Ich grüße dich, Schneller Hirsch", sagte er betont langsam. „Ich grüße auch dich, Weiter Wanderer." „Ich grüße dich,Bart-im-Zopf",antwortete der Indianer. „Lange Zeit haben wir uns nicht gesprochen. Jetzt müssen wir reden, wir und du." Die Männer gebrauchten eine selt-
56 same Sprache. Sie bestand aus vielen bedeutungsvollen Gesten und je zu einer Hälfte Englisch und der Sprache dieses Stammes. Isaaks Bart, der ihm fast bis zum Nabel reichte, war in zwei dicken Zöpfen geflochten. Es war besser und sicherer so, für einen Pelzjäger wie ihn. „Ich rede gern mit euch, Schneller Hirsch", antwortete er. Er ahnte, daß der Anlaß Grund zur Besorgnis geben würde, für ihn hauptsächlich, denn seine Kameraden kehrten erst abends wieder zurück. Er war allein auf dem Hügel von „Far Seddlers". „Wir haben Schiffe gesehen. Wir haben von euch viel gehört. Es hat Kampf gegeben, sagt man", erklärte Weiter Wanderer und führte eindeutige Gesten aus. „Schiffe? Kampf? Ich weiß nichts davon", entgegnete Maine. Seine Unruhe nahm zu. Was wollten die Indianer von ihm? „Siedlung", sagte Schneller Hirsch. Er war einer der ältesten Jäger, die Isaak kannte. Er brachte wertvolle Felle hierher und tauschte dagegen wenige eiserne Gebrauchsgegenstände ein. „Dort sind drei Schiffe gekommen." Isaak nickte, die Schiffe waren erwartet worden. Die Indianer sprachen nie direkt aus, was sie dachten und wollten, sondern schlichen sozusagen in wilden Drehungen um den heißen Brei herum. „Schiffe bringen neue Siedler", sagte er. „Tapfere Burschen. Mit vielen Werkzeugen aus gutem Eisen. Gut?" „Gut für uns", sagte Weiter Wanderer und nickte mehrmals. „Wir bringen viele Felle und kriegen Eisenmesser und Beile." „So halten wir es weiterhin", erklärte Isaak. „Was tun die Siedler?"
Die Indianer streiften auf uralten Wegen - es waren immer dieselben durch das Land. Ihre Lager standen stets dort, wo sich das Wild befand. Nur selten überdauerte ein Lager aus Zelten und hölzernen Unterständen eine längere Zeit. Auf ihren Wanderungen trafen die Großfamilien ständig auf andere Stämme oder Horden, die ihren Weg kreuzten. Auf diese Weise wurden Nachrichten ausgetauscht und weitergegeben. Das Jagdgebiet von Schneller Hirsch und Weiter Wanderer lag weit im Landesinneren, weit von der Siedlung entfernt. „Es hat Kampf gegeben", sagte Schneller Hirsch. „Meine Stammesbrüder haben nicht gekämpft. Wir kämpfen auch nicht gegen dich und deine Freunde. Gut?" „Richtig. Wer hat gekämpft? Gegen wen?" fragte Isaak. Es ging also um die Siedlung. Drei stramme Tagesmärsche war sie entfernt, und das auch nur für jemanden, der kräftig ausschritt und die Pfade kannte. „Und warum?" „Der Stamm von Großer Donner hat gekämpft. Die Siedler betreten seine Jagdgründe. Häuser aus Balken haben gebrannt, viele Tote." Der hochgewachsene, breitschultrige Engländer mit dem nackenlangen Haar hob die Schultern und blickte fassungslos von einem Indianer zum anderen. Die Gesichter der beiden hätten aus Holz geschnitzt sein können. Die Sorge um die kleine Kolonie packte Isaak. , „Kampf", sagte er düster. „Tote. Auch bei deinen Leuten?" „Sie sagen: viele Tote auf beiden Seiten. Was soll werden, Isa-aak?" Isaak Maine begriff schnell. Er hob die rechte Hand und kehrte seinen Gegenübern die Handfläche entgegen. „Ihr und ich, meine Freunde und
57 dein Stamm, Weiter Wanderer, wir werden jagen, Felle tauschen, uns gegenseitig helfen. Gut? Du erhältst Beile und Messer, ich kriege Felle, Nüsse, Beeren und andere Dinge aus dem Wald. Ich will nicht gegen dich und deine Leute kämpfen, basta." „Lange Rede. Gute Rede", sagte Weiter Wanderer zufrieden. „Aber deine Leute in der Siedlung. Sie haben mit Donnerrohren getötet. Die Leute von den Schiffen haben ihnen geholfen. Viele tote Algonkin. Keiner von meinem Stamm." „Hört zu, Freunde", sagte Isaak, nachdem er diese Nachricht verdaut hatte, „für uns ändert sich nichts. Die Schiffe lassen die Siedler an Land und segeln wieder davon. Die Siedler jagen kaum und bestellen Land. Sonst nichts." „Deine Rede ist gut. Wie immer", erwiderte Schneller Hirsch. „Aber Leute von Großer Donner sind grausam. Sie haben Rache geschworen. Sie wollen jeden Mann, jede Frau mit weißem Gesicht töten. Du verstehst?" „Jeden töten", flüsterte er er schrokken. „Das heißt - auch mich? Auch meine Freunde? Auch die Mädchen, die von deinem Stamm sind?" „Nicht auf einmal", antwortete der Indianer. Er und sein Stamm waren friedliche Leute, mit denen die Jäger von „Far Seddlers" niemals Ärger gehabt hatten. Weiter Wanderer und Schneller Hirsch hatten versprochen, den beiden jüngeren Jägern Frauen zu schicken, mit denen sie nach indianischem Recht zusammenleben konnten. „Also werden sie jeden, den sie erwischen, erschlagen. Irgendwo, an der Bucht, im Sumpf, im Wald oder im Schlaf, wenn sie ihn finden. Uns hier auf dem Hügel auch. Schlecht, Freunde." „Du sollst glauben, was wir sagen",
empfahl Weiter Wanderer trocken. „Es ist wahr." Isaak lachte hart. Ihm war wirklich nicht nach Freude und Fröhlichkeit zumute. Blut war geflossen, und sie waren nicht länger sicher, auch nicht hinter den Palisaden. Und schon gar nicht im Quellwald, wo seine Kameraden jagten. Isaak sprang auf die Füße und schüttelte sich. Er steckte in einem Anzug aus weichem Leder, dessen Nähte aus dünnen Lederstreifen bestanden. Jetzt trug Isaak keine Waffen außer einem Dolch an der Seite. Er stieß hervor: „Ich muß meine Freunde suchen und sie warnen. Sie sind im Quellwald. Ihr helft mir?" Beide Indianer blieben sitzen. Ihre Haut war heute nicht voller Farbstreifen. Ihre Waffen hatten sie hinter sich auf den weichen Boden neben der Palisadenwand gelegt. Fast gleichzeitig schüttelten sie die Köpfe. „Wir kämpfen nicht, Isa-aak." „Ihr sollt nicht kämpfen, verdammt, ihr sollt mir suchen helfen. Gut?" „Gut. Wir helfen. Du holst Waffen?" Isaak lief durch das offene Tor, hinüber zu dem Teil des Hauses, in dem er wohnte, vorbei an dem Lager, wo sich die Felle stapelten. Die meisten stammten aus der Beute der englischen Jäger, ein Drittel hatten sie, fein gegerbt, von den Indianern. Isaak schnallte den Säbel um, steckte die Pistolen in den handbreiten Gürtel, warf Köcher, Bogen und ein Bündel Speere auf den Rücken, und zuletzt goß er eine Kanne Wasser ins Herdfeuer. Sorgfältig verschloß er die schmalen Türen aus schweren Bohlen. Dann eilte er zum Ausgang und packte die Kante des Tores. Er zerrte die Balkenplatte über den Boden und zog sie in den schmalen Spalt
58 zwischen den Seiten der Balkenwände. „Es hilft nicht viel, aber es hält Plünderer auf", sagte er. „Wenn wir die Jäger gefunden haben, trinken wir einen, klar?" „Gut. Wir suchen, finden und trinken", erwiderten die Rothäute mitknappem Grinsen. „Jetzt suchen wir." Sie hoben ihre Waffen auf, hängten die Köcher über die Schultern und führten entschlossene Gesten aus. „Du bist sicher? Im Quellenwald? Dort jagen deine Leute?" „Sie haben es gesagt." „Dann dorthin", bestimmte Schneller Hirsch und zog in einem langsamen Trab los. Auf diese Weise konnte er stundenlang, ohne aufzuhören, durch den Wald laufen. Weiter Wanderer folgte ihm. Isaak hastete hinter ihnen her. Der Quellenwald, wie sie ihn nannten, lag zwischen der Siedlung an der Bucht und der Ebene, aus der die Leute von Großer Donner kamen. „Wann war der Kampf?" rief Isaak, hielt beim Laufen seine Ausrüstung fest. Die beiden Indianer waren älter als er, aber ihre sehnigen Körper hielten mehr aus und waren leistungsfähiger und genügsamer. Sie schlugen den Pfad ein, den auch er kannte, kaum zu sehen zwischen den wuchernden Gewächsen. „Drei Tage? Zwei Tage?" rief Schneller Hirsch. „Und wo sind die Krieger von Großer Donner?" wollte er wissen. Sie liefen am Sumpf entlang und in Richtung des kleinen Sees in der Mitte der Lichtung. „Überall zwischen ihrem Jagdgrund und der Bucht. Schlecht?" „Sehr schlecht." Die Indianer wurden eine Spur
langsamer, und Isaak holte auf. Sie kannten, alle drei, die besten Stellen für die Jagd. Die Indianer hatten sie den Männern von „Far Seddlers" vor langer Zeit gezeigt. Dort würden Isaaks Freunde zu finden sein. „Wenn wir Krieger von großer Donner sehen? Was dann?" keuchte Isaak. Bis jetzt waren sie auf keine Spur von Kriegern gestoßen, die ihre Verletzten und Toten mit sich schleppten und sich ins eigene Lager zurückzogen. An erster Stelle, dachte Isaak, standen seine Freunde, jene Männer, mit denen zusammen er die Siedlung verlassen und die Lager und Blockhäuser auf dem Hügel errichtet hatte. In ein paar Jahren würden sie ihre Felle verladen - so hatten sie beschlossen und sie daheim in England zu Höchstpreisen verkaufen. Aber da gab es noch etwas anderes - Gold. Nicht viel. Aber es würde für jeden von ihnen reichen. „Wenn du mit uns bist, sie werden nicht kämpfen", erklärte Schneller Hirsch selbstbewußt. Er schwitzte noch immer nicht. Sein Haarkamm wippte und schaukelte bei jedem Doppelschritt. „Wenigstens ein Trost", murmelte Isaak und hastete weiter. Jenseits der flachen Weide sah er den Waldrand und davor den breiten, dicht bewachsenen Streifen. Dreimal hatten sie im hohen Gras weidende Rudel Rotwild gesehen, zweimal kreuzten Spuren, die von Menschen stammten. Schneller Hirsch bückte sich, untersuchte die Spuren und verkündete: „Algonkin. Hat schwere Last getragen." „Dann weiß'ich ja, was uns im Wald erwartet", brummte Isaak. Vor einem oder zwei Indianern
59 fürchtete er sich nicht, aber die Rachsucht eines Stammes würde keiner überleben. Sie versteckten sich im Land und hatten alle Zeit dieses Jahres, um einen nach dem anderen mit ihren Feuersteinpfeilspitzen oder den Schädelbrechern zu töten. Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Der Ärmel der weichen Rehlederjacke wurde schwarz von der Feuchtigkeit. „Im Wald ist kein Lager", beruhigte ihn Weiter Wanderer und setzte sich wieder in Bewegung. Sie eilten entlang der übermannshohen Büsche und versuchten, in guter Deckung zu bleiben. Eine Stunde später, als Isaak nur noch taumelte und seine Muskeln brannten, hielten die Indianer an und lehnten sich gegen einen umgestürzten Baumstamm. „Du kannst nicht mehr?" Er hob die Schultern und schaute sich um. Die beiden Männer hatten ihn mit einer lautlosen Sicherheit, die ihn immer wieder erstaunte und ihm zeigte, wie schlecht er als Jäger war, an den Abhäuteplatz von Forster gebracht. Hinter einem Busch hingen die ausgelösten Fleischstücke. Auf einem Haufen daneben sah er Geweihe, Klauen und Knochen. Sorgfältig war ein Packen aus etwa zwei Dutzend verschiedener Felle geschnürt. Im Knoten des alten Seils steckte ein Ast mit drei Blättern - Forsters Zeichen. „Verdammt", ächzte Isaak. „Ihr seid wahre Teufelskerle. Und wo ist Forster?" „Dort. Du nicht gehört?" Schneller Hirsch deutete in die Richtung der Sonne. Isaak blinzelte und fühlte salzigen Schweiß in den Augen. Er war sicher, daß niemand sein tiefes Luftholen gehört hatte, und die Indianer bewegten sich fast
lautlos. Er sah ein, daß er besser seine Begleiter fragen sollte. „Sind Leute von Großer Donner hier in der Nähe?" „Nein." „Ganz sicher?" Er riß seine Jacke und das vielfach geflickte Hemd auf und schlug nach den Mücken. Sein Blick wurde klarer. Er schaute sich um und bemerkte in der angegebenen Richtung nichts anderes als eine Bewegung vor der hellen Sonne, die aber auch von einem Blatt stammen konnte. „Nicht hier." „Gut", brummte er, holte tief Luft und hob die zitternden Hände an den Mund. Dann stieß er drei Pfiffe aus und schrie hinterher: „Forster! Ich bin's, Isaak! Hierher, schnell!" Sekunden später ertönte ein Pfiff aus der bezeichneten Richtung. Die beiden Jäger grinsten sich nicht einmal an mit ihren breiten Gesichtern, die tiefe Kerben und glatte Haut, ohne Schweißtropfen, zeigten. „Ich komme!" rief Forster. Einige Minuten später trabte er heran, ein halbes Dutzend kleinerer Tiere in der Hand, die er in Schlingenfallen gefangen hatte. Er hob grüßend den Arm und starrte von einem zum anderen. Dann hörte er zu, was Isaak ihm berichtete. „Wir müssen die anderen finden. Dann zurück nach ,Far Seddlers'. Hinter den Palisaden sind wir sicher. Hier streunen die Krieger von Großer Donner herum", schloß Isaak. „Du hast recht. Und zwar noch vor heute nacht." Er wandte sich an Schneller Hirsch und Weiter Wanderer. Mit beschwörenden Gesten sagte er: „Ihr beide, wollt ihr die anderen finden und ihnen mitteilen, daß sie schnell zurückkehren sollen? Wir schleppen die
60 „Sehr gut. Wir werden da sein. Wie Felle zurück. Sie müssen am Abend du sagst", erwiderte Weiter Wanderer bei uns sein." Schneller Hirsch schüttelte den ebenso bedächtig. Vielleicht meinte Kopf und zeigte mit seinem schmutzi- er, was er sagte, aber meist ließen sie gen Finger auf die Pistole in Isaaks sich mit allem sehr viel Zeit. Die Männer nickten einander zu, Gürtel. „Dauert zu lange. Du schießt drei- hoben die Hände, und dann griffen mal mit Donnerrohr. Dann verstehen sich Forster und Isaak die schweren sie. Gut? Sie gehen immer auf demsel- Bündel und traten den langen Weg zu ben Weg. Dort warten wir und sagen." ihrem sicheren Heim an. Eineinhalb Stunden vor Isaak nahm einen Schluck Wasser aus seinem Ledersack und reichte den Abenddämmerung wuchteten sie mit prallen, schweren Beutel weiter. Als den Schultern die Bohlen des Einer ihn wieder zurückerhielt, wog er gangs auf. Niemand war eingedrunweitaus weniger. gen. Erleichtert ließen sie die stinken„Er hat recht", sagte er schließlich den Bündel fallen. „Wo sind die Felle sicherer?" fragte und zog die Waffe mit dem Doppellauf. Er brachte Pulver auf die Forster. „Hier oder bei der Bucht?" Pfanne, spannte die Hähne und war„Hier, auf jeden Fall", stöhnte tete, bis Forster mit seinem Rohr so- Isaak. „Ich kümmere mich um das weit war. Die Indianer grinsten und Feuer. Ob sie es alle fertigbringen, bis steckten sich die Finger in die Ohren, heute nacht?" an denen Pflöcke aus Steinchen und „Bisher haben sie überlebt", war Federn baumelten. die Antwort Forsters, der ebenso er„Hoffentlich scheuchen wir nicht schöpft war. den ganzen Stamm auf", meinte ForIn der nassen Asche brachte Isaak ster und richtete die Mündung in die nach kurzer Zeit ein Feuer zustande, Luft. schichtete Spanholz und Kloben auf Die schmetternden Entladungen er- und hängte den Kessel, nachdem er tönten in gleichen Abständen. Drei Frischwasser eingefüllt hatte, über helle Donnerschläge rollten durch die Flammen. den Wald und riefen Echos hervor. „Wenn erst einmal die Frauen da Für eine halbe Minute verwandelte sind, hört das auf mit dem Wasserhosich die Umgebung in ein Tollhaus len", sagte er leise. aus Vogelgeschrei, Rascheln und beForster sortierte die Felle auseinanwegte Zweige und Blätter. Tiere der und warf sie in den Wasserbotschimpften, Vögel flatterten halb- tich. In mühsamer Arbeit mußten sie blind vor Schrecken durchs Geäst. ausgebreitet, zurechtgeschnitten und Die Männer senkten die Pistolen und mehrmals abgeschabt werden, dann luden sie sorgfältig nach. erst gelangen sie in die Gerberlohe „Schneller Hirsch", sagte Isaak aus Eichenrinde. Die Bottiche befanfeierlich, „wenn unsere Freunde le- den sich im Osten der Palisade, weil bend bei uns sind, wenn ihr ihnen der Gestank sogar den Felljägern zu helft und heute zum Haus kommt, schlimm war. und wenn ihr endlich die Frauen mitTraurig musterte Isaak die verbringt, dann schenken wir eurem schlossenen Weinkrüge auf dem Sims Stamm das beste und längste Beil, der großen Küche. Heute nacht würde das wir haben. Gut?" der eine oder andere leer werden. Es
61 war mehr als an der Zeit, zur Siedlung zu gehen und dort Lebensmittel einzutauschen, frisches Brot zum Beispiel und Ziegenkäse. Er trug seine Jacke und die meisten Waffen zurück zu seinem Quartier und ließ nur die Pistole im Gürtel stecken. Von der Savanne her ertönte ein greller Doppelpfiff. „Gott sei Dank. Wieder einer", murmelte Isaak. Zum erstenmal nach langer Zeit freute er sich, daß ein anderer erschöpfter Jäger ins Lager zurückkehrte.
Um Mitternacht, bei vollem Mondschein, tauchte der letzte Mann dieses Außenpostens auf. Auch er war schwer mit Fellen beladen. Forster und Isaak schlossen hinter ihm das Tor in den Palisaden und stemmten die Querbalken ein. Abseits des Feuers, das zwischen den Häusern im Steinkreis loderte, saßen drei Indianerfrauen. Eine war hübscher, die beiden anderen waren weder schön noch häßlich. Sie lächelten nicht und blieben wie erstarrt, obwohl ihnen Forster auch Becher mit Wein in die Finger gedrückt hatte. Sie betrachteten die Szene, als ob sie nichts verstanden von dem, was vorging. Die Weißen bildeten einen großen Kreis und schauten in die Flammen. Zwischen ihnen saßen vier indianische Jäger. Der Hirsch, der Wanderer und zwei junge Jäger. „Die Frauen sind fleißig", erklärte Weiter Wanderer mit schwerer Zunge. „Sie sind gut mit den Fellen. Können alles." „Sie werden ein gutes Leben haben", versicherte Isaak zum fünftenmal.
Zwei kinderlosen Frauen waren die Männer gestorben. Die Jüngere kam von einem anderen Stamm und war den Indianern zugelaufen, wie sie sagten. „Wenn Frauen nicht fleißig, mit Stock schlagen", riet Schneller Hirsch. „Dann Friede im Lager." Immer wieder hob er das scharf geschliffene Beil hoch, prüfte mit dem Daumen die Schneide und ließ sie in den Flammen aufblitzen. Es war ein großer Unterschied, ob ein Baum in einer Stunde oder in zwei Tagen gefällt wurde. „Bei uns ist auch ohne Prügel Friede", sagte Forster und winkte zu den Frauen hinüber. Sie starrten mit großen, dunklen Augen zurück. In ihren Gesichtern regte sich kein Muskel. „Sie schlafen dort drüben", mischte sich Jeremiah ein. „Sage es ihnen." „Wissen sie schon." Isaak blieb abwartend. Arbeit gab es hier genug, mehr als reichlich. Das Essen würde reichen, auch an Wasser herrschte kein Mangel. Vielleicht verloren die Frauen etwas von ihrer Fremdheit. Dann konnte er daran denken, sich die Jüngere ein wenig genauer anzusehen. Eine Eule flog lautlos über die Palisaden hinweg. Aus weiter Entfernung ertönte ein langgezogener Schrei. Er klang schaurig. Dann krachte unverkennbar ein Musketenschuß, ein zweiter folgte unmittelbar. Mit einem Satz waren Forster und Isaak auf den Beinen und hielten die Hände an die Ohren. „Aus der Richtung der Siedlung", flüsterte Isaak. „Aber viel näher. Irgendwo dort, wo wir das Gold gefunden haben", wisperte der andere. In unregelmäßigen Abständen ertönten sieben weitere
62 Schüsse, teils aus Pistolen, teils aus Musketen. Darin wieder ein Schrei. Mit einem glücklichen Grinsen sagte Schneller Wanderer: „Wenn viele Männer mit Donnerrohren kommen, dann schießen Leute von Großer Donner auch in der Nacht. Gut, nicht?" Isaak stieß einen langen Fluch aus. Sie traten wieder zum Feuer und schauten einander an. Jetzt, mitten in der Nacht, konnten sie gar nichts tun. Was sich wirklich dort in der Finsternis abspielte, das konnten sie bestenfalls ahnen. Jeder wußte, daß es wieder Ärger geben würde. Großen Ärger. Vielleicht auch Kampf, Verwundungen und Tod. Forster senkte den Kopf und leerte seinen Becher. Er war sicher, daß es so sein würde. Er sollte sich nicht täuschen. 7. Die Männer der zweiten Wache spürten es. Es gehörte nicht viel dazu, die Veränderung festzustellen. Es fing an zu stinken, nicht das Schiff, sondern die Umgebung. Ein verdächtig warmer Wind wehte vom Land und trieb Nebelfetzen über das Wasser. „Wenn wir nichts sehen", sagte Don Juan ungerührt, „dann sind auch die Indianer blind." Die Schebecke war aufgeklart für die Rückreise. Als sie die Bucht gefunden hatten, entschlossen sie sich, über Nacht vor Anker liegenzubleiben. „Hier gibt es keine Indianer. Aber hier gehen Seejungfrauen an Land", brummte Old Donegal. „Obwohl ich könnte wetten, daß sie warten, bis der Gestank sich verzogen hat."
Jan Ranse lachte leise und klopfte dem „Admiral" auf die Schulter. „Seejungfrauen ohne Flossen und mit roter Haut. Und mit langen, pechschwarzen Haaren." „Genau. Auch die Seejungfrauen sehen so aus wie die Indianer. In Irland sind sie rothaarig. Stimmt's O'Higgins?" „Stimmt", der Ire gähnte. „Aber sie erscheinen nur, wenn man mit der halbleeren Schnapsbuddel winkt." Der Gestank kam in langen Wellen, in dichten Schwaden. Es roch nach verfaulendem Schlamm, nach totem Fisch und den Kadavern von Tieren. Der Geruch näherte sich von Westen, also vom Land. Nur wenige Bäume umstanden die kleine Bucht. Die Seewölfe rechneten damit, daß bei tiefster Ebbe das Schiff trockenfallen würde. Inzwischen war das Beiboot wieder sicher an Deck verzurrt worden. Noch eine Mahlzeit, und dann würden sie mit südlichem Wind zurück zu den Galeonen segeln. Unter den Planken gluckerte nur noch wenig Wasser. Schon zweimal hatte der Kiel Grund berührt. Wieder hüllte ein stinkender Nebelschwaden Schiff und Mannen ein. Aus den Flammen der Laternen und der Funzeln wurden gelbe Lichtkreise. Old Donegal hustete herausfordernd, aber niemand brachte ihm Schnaps für die Seejungfrauen. „Wandern deine Seejungfrauen auch über den Schlick der Bucht hier? Oder können sie nur schwimmen?" fragte Bob Grey leise. „Das kommt darauf an", antwortete Old Donegal und kicherte. „Auf was?" „Ob es junge oder erwachsene Jungfrauen sind", berichtete der Alte mit großer Sicherheit. Er tat so, als habe er sein Leben lang nichts ande-
63 res getan als sich mit den Fabelwesen zu beschäftigen. „Werden die eigentlich alt?" fragte Bob neugierig. „Uralt. Wenn sie jung sind, haben sie einen Fischschwanz. Dann leben sie nämlich nur im Wasser. Hin und wieder steigen sie nach oben und stellen lauter dumme Streiche an. Wie alle Kinder. Und wenn sie älter werden, dann verschwindet der Schwanz. Dann kann man mit ihnen in Vollmondnächten tanzen, auf solchem Schlick wie jetzt. Ich wundere mich, daß ihr das nicht wißt. Lausige Seeleute seid ihr." Der stinkende Dunst wurde vom nächsten Windhauch aufs Meer hinausgeweht. Plötzlich klärte sich die gesamte Umgebung. Mondlicht, Sterne und der Schein der Lampen zeigten die Umgebung. Der Boden der Bucht war nur noch zur Hälfte vom Wasser bedeckt. Ein paar Tümpel und nasser Schlick spiegelten das Licht wider. Auch am Ufer, wo unsichtbare Tiere bisher geschnattert, geschrien und viele andere Laute ausgestoßen hatten, war es totenstill geworden. Eine erste Unruhe ergriff die Seewölfe. „Die Liebe einer Seejungfrau bezahlt man mit dem Leben", sagte Don Juan. „So berichten es die Mönche aus unseren Universitäten." „Die müssen es ja wissen", fuhr Old Donegal auf. „Vielleicht möchten sie gern eine Seejungfrau lieben. Aber sie dürfen nicht, woher wissen sie's also?" „Das weiß ich auch nicht", mußte der Spanier zugeben. „Also! Nichts wißt ihr. Aber mir glaubt ihr nicht", erklärte Old Donegal. Plötzlich hob er den Kopf und bewegte fast abwehrend die. Hände.
„Dort! Dort drüben. Das ist eine verwunschene Bucht, sage ich euch." Sie standen auf, gingen nach Steuerbord hinüber und schirmten ihre Augen gegen die Laternen ab. Über dem Land schob sich, wie eine lautlose, gewaltige Mauer, eine fast weiße Fläche heran. Die Schebecke setzte im Schlamm auf und lag ruhig da, nachdem sie tief in den weichen Untergrund eingesunken war. Wie eine tote Schlange ringelte sich die Ankertrosse in die Dunkelheit. Der Anker ragte halb schräg aus einer Pfütze. „Nebel", murmelte Don Juan. „Verdammt dicker Nebel!" Die Nebelbank driftete lautlos heran. Sie war hoch und dicht wie ein Leichentuch. Sie schluckte alle Geräusche und reichte über zwei Drittel des Kreises. Nur ein Blick auf die Passage und das Meer blieb noch frei. Dann krümmten sich die Seiten der Nebelwand nach vorn. Während sich die Mitte der Schebecke näherte, begannen sich die Arme um das Schiff zu schließen. Dichter als der berüchtigte Themsenebel, stinkend wie die Hölle, so
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dicht, daß es einem den Atem nahm, umgab der Nebel nach wenigen Minuten die Schebecke und schien noch dichter zu werden. „Die Seejungfrauen finden den Weg zu uns nicht mehr", sagte Don Juan und ging leise zum Heck. Als er sich umdrehte, sah er den Bug nicht mehr. Der Nebel schien sich nicht einmal an der Haut und am Holz
niederzuschlagen, denn er blieb warm. Als die Flut einsetzte und stieg, verschwand der böse Geruch. Die Schebecke hob sich aus dem Grund. Es war nicht daran zu denken, den Anker zu lichten. Der Nebel hielt sie in der Bucht fest. Wie lange noch? Das wagte nicht einmal Old Donegal zu prophezeien .. .
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 633
Skrupellose Deserteure von Fred McMason »Bewegt euch nicht - oder nur ganz unauffällig, dann seht ihr das, was ich gerade sehe«, flüsterte der Seewolf. Luke Morgan, die Zwillinge und der Profos drehten wie beiläufig die Köpfe zur Seite. Carberrys Augen wurden groß und rund, und er schien plötzlich eine Qualle im Hals zu haben. Luke wurde ein bißchen blaß um die Nase. Vierzehn Indianer waren es, die unbeweglich wie Statuen links und rechts auf den Hängen standen. In ihren bronzefarbenen Gesichtern rührte sich kein Muskel. Ihre Blicke waren hart und undurchdringlich auf die weißen Männer gerichtet. In ihren Händen hatten sie Pfeil und Bogen, aber die Bogen waren nicht gespannt. Sie hielten sie jedoch so, daß sie sofort einsatzbereit waren. Hasard stieß ganz langsam die Luft aus. Er und seine Mannen saßen in der Falle. Nicht einmal Plymmie hatte die Indianer gewittert . . .
exlibris
KAPTAIN STELZBEIN 2010
Printed in Germany. Mai 1988