Berte Bratt Sonjas dritte Sternstunde
Urlaub in Europa! Sonja und Heiko freuen sich. Auch wenn sie schweren Herzens ihr...
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Berte Bratt Sonjas dritte Sternstunde
Urlaub in Europa! Sonja und Heiko freuen sich. Auch wenn sie schweren Herzens ihre zweite Heimat, Afrika verlassen. Doch in London warten ganz viele andere Pläne und Überraschungen auf sie: eine Expedition nach Australien, aber nur für Heiko. Und Sonja? War es nicht auch ihr Traum, Koalabären kennenzulernen…?
Aufbruch Vor mir auf dem Tisch, der seit drei Jahren unser Arbeits-, Bügel-, Schreib- und gelegentlich auch Eßtisch gewesen war, stand mein schon halb gefüllter Koffer. In meiner schmalen Koje, seit drei Jahren mein Nachtlager, lagen die Kleidungsstücke, die ich in all dieser Zeit kaum getragen hatte: ein warmer Pulli, eine Strickjacke, der alte Popelinemantel, Strumpfhosen, Unterwäsche. Den Mantel sah ich beinahe sentimental an. Den hatte ich bei meiner ersten Afrika-Reise vor vier Jahren angehabt. Ja, wenn ich damals gewußt hätte… Wenn ich geahnt hätte, daß Afrika meine zweite Heimat werden sollte! Daß ich mit meinem geliebten Mann in einem entlegenen Teil von Kenya wissenschaftlich arbeiten würde… nun ja, die Wissenschaft war ja eigentlich Heikos Sache, aber ich durfte ihm assistieren. Ich habe gute Augen, und manchmal entdeckte ich in der Abenddämmerung das Kleingetier, bevor Heikos kurzsichtige Augen es erfaßten. Wie oft hatten wir stundenlang dagesessen, in unserer „Tarnhütte“, und nur beobachtet – und ganz leise ins Mikrofon gesprochen, all unsere Entdeckungen und Beobachtungen. Dann war es meine Arbeit, am folgenden Tag das Gesprochene zu Papier zu bringen. Wenn es nicht meine Haushaltswoche war. Wir machten den Haushalt der Reihe nach, Peggy, Kerstin und ich. Wenn Peggy
kochte, gab es englische Puddings, die eigentlich nur sie selbst und ihr Mann, unser Biologe George, mochten, und wenn Kerstin – die Schwedin – sich in der Küche betätigte, wußten wir mit Sicherheit, daß es donnerstags Erbsensuppe mit Speck gab und als Nachtisch „Plättor med Sylt“ – kleine Eierkuchen mit Marmelade. Unser Botaniker Lennart war in dem Punkt hundertprozentig Patriot. „Ein Schwede, der donnerstags keine Erbsensuppe ißt, ist kein richtiger Schwede“, behauptete Lennart. Und so löffelten wir unsere Erbsen bei vierzig Grad Hitze, ohne zu protestieren. Dafür protestierten die anderen auch nicht, wenn ich deutsche Kartoffelpuffer oder norwegische Fischklöße aus der Dose auf den Tisch brachte. Drei Jahre hatten wir hier zusammen verbracht, wir sechs jungen Menschen. Drei Männer, die von der Mary-Green-Stiftung in England dazu ausgewählt waren, das Leben der Kleinnager und Schleichkatzen in dieser Gegend zu erforschen. Drei junge Frauen, die willig und bereit gewesen waren, auf Elektroherd und Waschmaschine, Friseur und schicke Kleidung, Fernsehen und Staubsauger zu verzichten, um ihren Männern zu folgen und mit ihnen zu arbeiten. Zugegeben, anfangs hatte es manchmal Schwierigkeiten gegeben. In vielen Punkten waren wir verschieden. Aber allmählich hatten wir „Ecken und Kanten“ gegeneinander abgerieben und abgeschliffen, wie Lennart sagte. Und zuletzt war eine dicke Freundschaft herangewachsen. Wir hatten ja alle sechs dieses große, schöne, gemeinsame, Interesse: die Liebe zu den Tieren und der Natur, den brennenden Wunsch, beides für die kommenden Generationen zu erhalten. Ich legte einen Stoß Unterwäsche in den Koffer. Es war Herbst, und in Europa war es kühl. Unglaublich – in drei Tagen würden wir in Europa sein! Zwischenlandung in Zürich und gleich weiter nach England, zu unserer Brötchengeberin, Lady Robinson. Eigentlich hätten wir erst einen Monat später fahren sollen. Es stand uns ein zweimonatiger Urlaub zu. Aber nun hatte Lady Robinson uns – Heiko und mich – gebeten, einen Monat eher zu kommen, Heiko möge einen Monat im Institut mit ihr zusammenarbeiten, nachher würden wir dann unseren Urlaub ungekürzt nehmen können. Was hatte sie wohl mit Heiko vor? Gedankenvoll legte ich einen warmen Schlafanzug in den Koffer. „Na, Sonja? Wie geht’s? Hast du Reisefieber?“
Es war Peggy, die aus der Küche kam, mit roten Backen und einem Mehlklecks auf der Nase. „Reisefieber? Ach nein, das kann ich nicht behaupten. Aber ich bin furchtbar neugierig. Was in aller Welt soll Heiko in England?“ „Bald werdet ihr es ja erfahren. Jedenfalls kommt ihr in drei Monaten zu uns zurück.“ „Ja, Gott sei Dank. Ich werde eine fürchterliche Sehnsucht haben.“ Peggy setzte sich auf die Bettkante, neben meinen alten Mantel. „Das kann ich verstehen. Ich werde mich auch immer zurücksehnen. Aber wir haben jedenfalls noch ein Jahr vor uns.“ „Ja, ist das nicht ein Glück? Dies ist ein merkwürdiges Land, Peggy. Schon bei meiner ersten Reise – einer kurzen Gruppenreise von vierzehn Tagen, du weißt, wir hatten sie in der Fernsehlotterie gewonnen – , schon bei diesem Besuch hier war ich besessen von diesem Land. Oh, wie habe ich mich zurückgesehnt! Ich saß in meinem Elternhaus in Norwegen und büffelte Suaheli, und später, als Heiko und ich geheiratet hatten – wenn du ahntest, wie sparsam wir waren, wie wir Pfennig zu Pfennig legten, damit wir wieder nach Afrika fahren konnten! Und damals, als Mylady uns dieses Angebot machte – ich habe dicke Tränen geheult, und Heiko…“, ich mußte plötzlich lachen, die ganze Szene war so lebendig in meiner Erinnerung – „Heiko hat sie einfach geküßt!“ „Sie ist ein wunderbarer Mensch. Mylady, meine ich.“ „Das ist sie. Für die könnte ich durchs Feuer gehen.“ „Feuer!“ rief Peggy. „Mein Kuchen!“ Sie rannte in die Küche, aber gleich darauf kam sie beruhigt zurück. Ihre Kuchenprozedur im Propangasherd verlief anscheinend programmgemäß. „Aber du freust dich bestimmt auf Norwegen“, nahm sie wieder das Gespräch auf. „Na klar. Auf meine Eltern und Geschwister. Und auf meinen Neffen, den ich noch nicht gesehen habe! Aber zur Taufe werde ich da sein, das arme Kind muß Heide bleiben, bis Tante Sonja aufkreuzt.“ Ich warf einen Blick auf das Bild über dem Bett. Rolf und Senta mit ihrem Erstgeborenen, damals drei Wochen alt. Bis ich ihn zu sehen bekam, würde er ein halbes Jahr alt sein. „Man könnte darauf schwören, daß du es bist“, meinte Peggy. „Es sind viele, die so geschworen haben“, lachte ich. Peggy
nickte. Sie kannte allmählich all die Verwechslungsgeschichten, wie Senta und ich umschichtig die Schularbeiten machten, wie ich einmal statt Senta den Po voll bekommen hatte – und später, als ich in Hamburg verheiratet war, in den Ruf kam, meinen Mann zu betrügen, weil jemand Senta mit Rolf auf dem Jahrmarkt gesehen hatte. „Dies ist das erste Mal, daß wir nicht im Takt gehen“, sagte ich. „Ich habe mir eigentlich immer vorgestellt, wir würden gleichzeitig Kinder kriegen.“ „Du hast nun Afrikas Tiere statt eigener Kinder gewählt“, erinnerte mich Peggy. „Nicht ,statt’, Peggy. Wenn wir wieder in Europa und sozusagen dort zur Ruhe gekommen sind, möchte ich wahnsinnig gern Kinder haben. Jetzt bin ich vierundzwanzig – wenn ich sechsundzwanzig bin, kann es losgehen!“ Ich packte zu Ende, und Peggy dekorierte ihren Kuchen. Er war zur Abschiedsfeier für Heiko und mich bestimmt. Natürlich freute ich mich auf die Eltern und Geschwister. Ich freute mich auch darauf, „Mylady“ wiederzusehen. – Wir nannten sie immer unter uns Mylady. – Oh, ich hatte so viel, worauf ich mich freuen konnte. Das sagte ich auch Heiko, als wir abends ins Bett gegangen waren. „Worauf freust du dich denn am meisten?“ fragte Heiko. „Auf den Tag, wo wir wieder zurück sind“, sagte ich und küßte meinen Mann.
Mylady Lennart und George luden unsere Koffer in das Kleinflugzeug, Kerstin und Peggy umarmten mich und versprachen, sich um all das zu kümmern, was eigentlich meine Arbeit war. Vor allem um Kito, meine zahme Gepardin. Mit ihr war es nun so eine Sache. Ich hatte sie bekommen, als sie etwa sechs Wochen alt war, ein ausgemergeltes, halb verdurstetes kleines Wesen, dessen Mutter in grausamster Weise in der Drahtschlinge eines Wilderers ums Leben gekommen war. Ich hatte Kito mit unsagbar viel Mühe hochgepäppelt, mit Dosenmilch und Babynahrung, später mit Hackfleisch und Kalkpräparaten. Sie wurde rührend anhänglich und so zahm wie ein Schoßhund. Ich nannte sie Kito, weil sie so schöne funkelnde Augen hat. „Kito“ ist Suaheli und bedeutet Edelstein. Dann wurde sie erwachsen, eine schöne junge Gepardendame, bestimmt sehr begehrenswert. Eines Tages folgte sie dem Ruf der Natur. Sie verschwand ganz einfach. Nach drei Wochen kam sie wieder, liebebedürftig wie eh und je, sehr froh darüber, zu Hause zu sein. Sie trank eine Menge Milch, lehnte aber festes Futter ab. War sie auf den richtigen Raubtiergeschmack gekommen? Hatte ihr ein Verehrer das Jagen beigebracht? Jedenfalls sah sie ganz gut genährt aus. Bald sah sie noch rundlicher aus, und es wurde uns klar, daß wir Gepardenfamilienzuwachs kriegen würden. Ich machte ihr ein schönes Wochenbett zurecht. Pustekuchen! Kito hatte ihre eigenen Begriffe und ihre eigene Meinung. Eines Morgens kam sie gertenschlank durch unseren kleinen Garten, miaute und strich den Kopf gegen meinen Arm. Ich gab ihr Milch, und sie trank eine ganze Menge. Dann verschwand sie wieder. Erst drei Tage später fand ich die Jungen. Zwei kleine gefleckte, mollige, blinde Katzenkinder krabbelten im Gebüsch hinter dem Haus, da, wo wir etwas Holz und Segeltuch zum Bauen von Beobachtungszelten gelagert hatten. Dahinter war es geschützt und halbdunkel, und da hatte Kito ihre Kinder zur Welt gebracht. Ich legte sie ins Körbchen. Kito leckte sie und leckte mich – und verschwand. Ich fing an, ängstlich zu werden. Hatte Kito ihre Mutterpflichten vergessen? Die Kleinen wurden unruhig, miauten und suchten. Dann kam Kito. Mit prallem Bauch und blutigem Mund. Sie
legte sich zu den Kleinen, seelenruhig und zufrieden. Als die Kinder sechs Wochen alt waren, kam Kito eines Tages mit dem Hinterteil einer erlegten Thomsongazelle nach Hause. Es war sonnenklar, daß sie jetzt ihren Sprößlingen das Fleischfressen beibringen wollte! Und nun war es so geworden, daß Kito öfters tagelang wegblieb. Die Kinder, die inzwischen ein dreiviertel Jahr alt geworden waren, sahen wir kaum. Aber Kito kam, um gestreichelt zu werden, mit uns zu spielen und ihre Milch zu trinken. Sie war dann dasselbe bezaubernde, liebebedürftige Haustier wie früher – aber wir wußten, daß sie ihr eigenes Leben führte und daß sie ein Kind der weiten Steppe war. Es war gut so. Denn wenn wir eines Tages nicht mehr da wären, müßte sie allein zurechtkommen. Kerstin und Peggy versprachen feierlich, Kito gut zu empfangen, wenn sie käme. Sie sollte ihre Büchsenmilch kriegen, und sie dürfte auch im Korb in meinem Zimmer schlafen, wenn sie Lust hätte. Heiko setzte sich an den Steuerknüppel, Lennart saß hinten im Flugzeug. Er wollte es zurückbringen, und außerdem hatte seine Angetraute ihm eine Einkaufsliste mitgegeben, die unsere Nairobier Lieferanten in einen Freudenrausch versetzen würde. Wie oft war ich wohl diese Strecke geflogen?. Auf Einkaufstouren – um Gäste abzuholen – vor einem Jahr waren Reni und Manfred bei uns gewesen, auf Hochzeitsreise. – Ich war die Strecke geflogen, als wir unseren schwerverletzten Freund, den Wildwart William, ins Krankenhaus bringen wollten – und dann war es zu spät. William starb im Flugzeug, mit seiner Hand in der meinen. Mir kamen die Tränen, als ich daran dachte. Er war von Wilderern angeschossen worden, als er versuchen wollte, einen Leoparden aus der Drahtschlinge zu befreien. Ja, hier mußte man auch Tragödien mit ansehen und Leiden und Qual – und man konnte unbeschreiblich schöne und glückliche Stunden erleben. Dann hatten wir unsere tages-, und oft nächtefüllende Arbeit, unsere stundenlangen Beobachtungen, das Berichteschreiben, die Laborarbeiten. Wir lebten so intensiv, wir lebten mitten in der reichen Natur, wo immer etwas geschah, wo es immer Überraschungen gab – wir lebten, ohne gestört zu werden. Alles, was man in der sogenannten zivilisierten Welt als Selbstverständlichkeiten betrachtet – Parties, Kino, Theater, Fernsehen, hübsche Kleidung – das alles war uns so fern, und wir
vermißten es nie. „Du bist so schweigsam“, sagte Heiko mit einem kleinen Lächeln. „Denkst du an Norwegen, an deine Familie?“ „Das auch“, antwortete ich. „Aber am meisten denke ich an das, was wir verlassen. Und ich sitze hier und bin so voll Dankbarkeit. Der liebe Gott hat es so gut mit uns gemeint – und das Schicksal – und Mylady. Gott segne sie! Und vor allem denke ich daran, daß wir hierher zurückkommen werden! Ich zähle schon die Tage!“ „Soll ich dir etwas beichten?“ lächelte Heiko. „Mir geht es genauso. Ich zähle auch!“ Dann rief er Wilson Airport in Nairobi und bat um Landeerlaubnis. „Schon wieder da?“ antwortete die Stimme von unten. „Was macht ihr denn heute in Nairobi? Was macht Kito?“ „Sie ist wahrscheinlich auf der Jagd, und uns wirst du für einige Zeit los, wir fliegen heute nach Europa.“ „Wohl nicht direkt mit eurer kleinen Mücke?“ „Nein, ganz brav mit dem Jumbo-Jet heute abend. Kriege ich nun endlich eine Landebahn? Wir sind gleich über dem Flugfeld.“ „Ja, ich sehe euch. Na, dann komm, Bahn zwo wartet auf euch.“ „Verstanden, Bahn zwo“, wiederholte Heiko und setzte zur Landung an. Drei Stunden später waren wir auf dem richtigen, großen Flugplatz und bestiegen den Jumbo-Jet. Ich fühlte mich ungeheuer elegant. Zum erstenmal seit zwei Jahren trug ich ein Kostüm und dazu eine feine Seidenbluse, die Kerstin für mich geplättet hatte – allerdings zähneknirschend und unterstützt von einer Auswahl schwedischer Kraftausdrücke. In der Flugtasche hatte ich eine Strumpfhose, eine Strickjacke und sogar eine Mütze und Handschuhe, und über dem Arm den guten alten Popelinemantel. Heiko hatte weniger Kleidung mit. Die meisten seiner erlaubten zwanzig Kilo waren von Filmmaterial, Fotos, Tonbändern und maschinegeschriebenen Berichten in Anspruch genommen. „Morgen lunchen wir mit Mylady“, sagte Heiko. „Eigentlich ist das Fliegen eine feine Sache.“ Er legte unser Kleingepäck in das verschließbare Fach über den Sitzen, setzte sich, schnallte sich fest – dann nahm er meine Hand. „Schatz“, flüsterte er. „Ja“, sagte ich. „Wieso ja?“
„Ich antworte nur auf das, was du dachtest. Daß es trotz allem schön sein wird, allein zu sein. Ich meine, für eine Zeit zwei Individuen zu sein und nicht immer ein Drittel eines Forschungsteams!“ „Du bist ein Gedankenleser. Und außerdem ein Schatz“, sagte Heiko. Dann heulten die Triebwerke ihre aufdringliche Melodie, und der Riesenvogel mit beinahe vierhundert Insassen hob sich in die Luft mit der Nase gen Norden gerichtet. Wir froren wie die Schneider. London zeigte sich von der unfreundlichsten Seite. Zähneklappernd gingen wir durch Paß- und Zollkontrolle. Es graute mir vor der Fahrt zum Bahnhof und vor den zwei Stunden im Zug. Da steuerte ein großer Mann in Chauffeurlivree auf Heiko zu. „Doktor Brunner, isn’t it? Lady Robinson hat mich geschickt, Sie abzuholen. Gestatten Sie, gnädige Frau…“, mein Koffer wurde mir abgenommen, und wir wurden durchs Menschengewühl geführt, auf einen Parkplatz, zu einer großen schwarzen Limousine. „Ich habe ein paar Mäntel mitgebracht, Mylady meinte, es würde Ihnen kalt sein. Erlauben Sie, gnädige Frau…“ Was ich erlauben sollte, war anscheinend, daß dieser Engel in Chauffeurgestalt mir eine weiche, mollige Decke über die Knie legte. „Heiko“, sagte ich, „dies ist zu schön, um wahr zu sein!“ Ich kuschelte mich zurecht in einem viel zu großen Mantel und in der schönen Decke. Ich legte den Kopf auf Heikos Schulter. Ich war müde nach der beinahe schlaflosen Nacht im Flugzeug. Das leise Brummen des Autos, das sichere Dahingleiten durch den Großstadtverkehr und nachher auf der Landstraße – das Gefühl molliger Geborgenheit – das alles lullte mich in Schlaf. Sie kam uns in der Halle entgegen, unsere „Mylady“ – unsere gute Fee, der Mensch, dem wir unser ganzes Glück zu verdanken hatten. In dem gealterten Gesicht strahlten ein Paar blaue Augen – und ich dachte an meine erste Begegnung mit ihr, als ich sie nur „die mit den Augen“ nannte. Ja, diese Augen! So voll Güte, so voll Klugheit – ein Paar Augen, die einen nicht losließen. Als ich sie das letzte Mal sah, besaß sie noch etwas AfrikaBräune. Jetzt war sie blaß und wirkte klein und mager in ihrem
schlichten, dunklen Kleid. Sie reichte Heiko beide Hände, und sie sprach ihn auf deutsch an. „Wie schön, Sie wiederzusehen, Heiko, ich bin so froh, daß Sie da sind! Und Sonjalein – nein, wie sind Sie herrlich braun, und richtig runde Backen haben Sie gekriegt – es sieht beinahe so aus, als ob Sie sich in Afrika wohl fühlen!“ „Wohl fühlen ist gar kein Ausdruck, Mylady“, sagte ich. „Wir genießen jede Stunde, und wir zählen schon die Tage, bis wir zurückfahren! Mylady, wie geht es Ihnen selbst?“ „Oh, es geht. Man wird ja nicht jünger mit den Jahren, aber ich kann nicht klagen. So, Kinder, wir kriegen gleich Lunch, – Betty, Sie zeigen bitte den Herrschaften das Zimmer – ach ja, Sie sind ja schon mal hiergewesen, das war aber so kurz, – können Sie in einer halben Stunde fertig sein? Wissen Sie noch, wo das Eßzimmer ist? Fein, also bis nachher!“ Betty, an die ich mich von unserem damaligen Besuch erinnerte, eine nette junge Dame, Sekretärin und Kammerkätzchen, Friseurin und Krankenpflegerin, Gesellschafterin und – wenn Not am Mann war – Köchin, führte uns eine Treppe hoch in ein schönes, großes Zimmer mit Bad und Balkon. In dieser feinen Umgebung kam ich mir beinahe schäbig vor in meinem alten Kostüm – und gestern, in Afrika, hatte ich gefunden, daß ich elegant war! Aber alles ist ja relativ, und wenn man drei Jahre lang nur alte Blusen, verschossene Jeans und geflickte Shorts getragen hat, verliert man jeglichen Maßstab. „Du mußt dir einen warmen Mantel kaufen“, unterbrach Heiko sein Rasieren. „Du kannst doch allein nach London fahren?“ „Ja, weißt du, das kann ich! Ich habe schließlich ein Jahr in England gewohnt – allerdings sind es acht Jahre her, aber trotzdem. Heiko, ich habe ja einen guten Mantel, nur hängt er bei deinen Eltern in Hamburg, hoffentlich haben ihn die Motten nicht aufgefressen.“ „Und deine warmen Kleider und Schuhe befinden sich wahrscheinlich in Norwegen bei deinen Eltern. Ja, du hast dich praktisch eingerichtet! Kauf dir den Mantel, mein Schatz, und ein Paar schöne, gefütterte Stiefel. Und ein Kleid, wenn du meinst.“ „Heiko, du bist aber großzügig!“ „Nicht wahr? Jetzt können wir es uns leisten, Liebling. Glaubst du, daß ich jemals vergessen werde, wie sparsam und genügsam du warst, als wir am Fliederweg wohnten? Und wie du…“ „Hör auf, Heiko! Falls ich genügsam war, dann hatte ich es von
dir gelernt. Aber ich sage nicht nein zu ein paar warmen Kleidungsstücken. Ich fahre morgen früh nach London. Du hast ganz bestimmt hier zu tun.“ „Sicher! Haufenweise zu besprechen, und außerdem muß ich Richtlinien für unsere weitere Arbeit erhalten! Mensch, da ist ja der Gong, das bedeutet bestimmt Lunch! Mach schnell!“ Zum Lunch erschien auch Mr. Morgan, Myladys Geschäftsführer und rechte Hand. Ein freundlicher, älterer Herr, der sehr gut Bescheid wußte über alles, was mit der Mary-Green-Stiftung zu tun hatte, auch über Heikos Arbeit. Es war unbeschreiblich schön zu hören, wie die beiden meinen Mann lobten, wegen seiner genauen Arbeit, seiner vorbildlichen Berichte und seiner ausgezeichneten Filme. „Es war wirklich ein Glück für uns, daß Mylady Sie damals bei der Sammelreise kennenlernte“, sagte Herr Morgan. Und Heiko errötete und war hilflos wie ein Schuljunge. „Ich… ich finde… es macht ja so viel Freude“, stammelte Heiko. „Wir freuen uns jeden Morgen auf den neuen Tag, wir sind immer gespannt darauf, was er uns bringen wird. Und übrigens, was die Genauigkeit der Berichte betrifft, müssen Sie sich bei meiner Frau bedanken, sie ist eine Expertin in Maschineschreiben geworden. Außerdem war sie es, die damals die jungen Genetten entdeckte, die uns soviel Aufschlüsse lieferten…“ „Was heißt hier danken?“ unterbrach ich. „Wir haben zu danken, daß wir eine solche Aufgabe bekommen haben – und wir sind ja so glücklich, weil wir noch ein Jahr vor uns haben… weiter möchten wir gar nicht denken!“ „Das werden Sie aber tun müssen“, lächelte Lady Robinson. „Wir haben allerlei mit Ihnen vor! Aber jetzt brauchen Sie einen ausgiebigen Schlaf, und ich brauche zwei ausgeruhte Mitarbeiter heute abend. Dann werde ich Ihnen in Ruhe, und wahrscheinlich bis tief in die Nacht, all unsere Pläne unterbreiten! – Und morgen werde ich Sie Herrn Morgan anvertrauen, Heiko – Sonja und ich machen uns selbständig!“ „Ich wollte eigentlich nach London und ein paar Einkäufe machen“, sagte ich. „Aber wenn Sie…“ „Paßt wunderbar! Ich muß auch nach London! Burns fährt uns in dem großen Wagen, wir werden uns einen schönen Tag machen. – Aber jetzt ins Heiabettchen! Wenn Sie wollen, können Sie um fünf
zum Tee runterkommen, sonst schlafen Sie bis halb acht – um acht gibt es Dinner! Und dann geht das Gequassel los!“ Das letzte kam auf deutsch – sonst hatten wir wegen Mr. Morgan englisch gesprochen. Aber er schien zu verstehen, denn er lachte mit über diesen nicht gerade ladyliken Ausdruck. „Eins ist mir klar“, sagte ich nachher, als ich mit Wohlbehagen ins Bett gekrochen war. „Was sie auch mit uns zu besprechen hat, es bedeutet was Gutes! Du hörtest, was sie sagte – wir müssen schon weiter in die Zukunft denken, sie hätte allerlei mit uns vor!“ „Ja, aber was? Eisbären am Nordpol, Pinguine im Südpol, Nebelparder in Indien, Ozelots und Jaguare in Südamerika, Koalabärchen in Australien?“ „Hoffentlich das letztere! Du weißt doch, daß ich mich in die süßen Koalas verliebt habe, als wir damals in Norwegen das Australien-Programm im Fernsehen sahen!“ „Du hast dich aber auch in die Pinguine verliebt, wenn ich mich nicht irre – und wie war es mit den kleinen Robbenkindern – und den Ozelotkindern…“ „Ja, aber Heiko, Robben und Pinguine und Ozelots kann ich in jedem europäischen oder afrikanischen Zoo sehen! Um Koalas zu sehen, muß ich schon nach Australien!“ „Da hast du allerdings recht“, gab Heiko zu. „Das heißt, du kannst sie auch im Zoo von San Diego sehen. Da haben sie nämlich genau die Eukalyptussorte, die diese wählerischen kleinen Biester zu essen geruhen! Ja, und in San Francisco gibt es auch welche.“ „Sie sind keine Biester, Heiko! Sie sind ganz wonnig, und ich bin, wie gesagt, verliebt in die Koalas.“ „Und ich in dich“, sagte Heiko und sank ins Bett. Er steckte den Arm unter meinen Nacken. „Du, einen Vorteil haben wir davon, in Europa zu sein! Wir können in richtigen Betten schlafen, nebeneinander, wie es sich für Eheleute gehört!“
Pläne und Überraschungen Ausgeruht und frisch gekämmt erschienen wir zum „Dinner“ Punkt zwanzig Uhr. In der Halle trafen wir Mylady, einen großen Neufundländer und zwei schöne, gestreifte Katzen. „Und die haben Sie uns bis jetzt unterschlagen!“ rief ich. Ich saß schon in der Hocke und streichelte den Hund, während die Katzen sich an Heikos Hosenbeinen rieben. Mylady lachte. „Ja, wissen Sie, die Viecher sind den ganzen Tag draußen und toben im Park, erst abends kommen sie rein. Also, darf ich bekannt machen, dies ist Wachhund Rafiki mit seinen zwei besten Freunden, Sita und Saba.“ Ich sprach seit zwei Jahren fließend Suaheli und wußte sofort, was die Namen bedeuteten. „Daß Sie Ihren Hund ,Freund’ nennen, finde ich logisch“, sagte ich. „Aber warum heißen die Katzen ,Sechs’ und ,Sieben’?“ „Weil sie Nummer sechs und sieben aus dieser Familie sind“, erklärte Mylady. „Früher hatte ich Siamkatzen, die hießen Un, Deux, Trois und so weiter – diese geströmten werden auf Suaheli numeriert.“ Die Tiere trotteten mit ins Eßzimmer, wo ihre Näpfchen auf einer Linoleumunterlage bereitstanden. „Ich esse ja gewöhnlich allein“, erklärte Mylady. „Das heißt, ich würde es tun, falls ich diese drei nicht hätte. Sie müssen es schon über sich ergehen lassen, daß sie hier ihr Futter kriegen!“ Wir mußten laut lachen. Ich erzählte von Kito, die immer verlangte, ihren Teller neben meinem Stuhl zu bekommen, und wie ich ihr, als sie klein war, oft am Tisch die Flasche gegeben hatte. Lady Robinson war eine erstklassige Gastgeberin. Sie paßte auf, daß wir alles hatten, was wir wünschten, sie plauderte munter und freundlich, fragte sehr interessiert nach unserem Alltagsleben da unten in unserer primitiven Hütte. Erst als der Nachtisch serviert war und das Stubenmädchen sich zurückgezogen hatte, fing sie an, von dem zu sprechen, worauf wir so wahnsinnig gespannt waren. Und der Anfang war für uns äußerst erfreulich. „Heiko, ich habe eine nette Nachricht für Sie“, fing sie an. „Aus Ihrem Filmmaterial, das Sie uns in diesen Jahren zuschickten, haben wir einen sehr schönen Film fürs Fernsehen zusammengestellt.
Erstens wird er in dieser Woche ausgestrahlt, so daß Sie ihn zu sehen bekommen…“ „Oh!“ rief ich. „Wie bin ich gespannt!“ „Und zweitens…“, sie griff in ihre kleine Abendtasche, „zweitens habe ich hiermit das Vergnügen, Ihnen das Honorar vom Fernsehen zu überreichen.“ Heiko nahm das kleine Stück Papier entgegen, und seine Augen wurden groß und rund. „Aber Mylady… das ist doch – ich meine – der Film gehört ja Ihnen, ich soll doch nicht…“ „Den Film haben Sie als Material für die Mary-Green-Stiftung gedreht, das stimmt“, sagte Mylady lächelnd. „Mit einem Fernsehhonorar haben wir nicht gerechnet, das gehört also Ihnen und nicht uns.“ Heiko reichte mir den Scheck. „Du fährst morgen nach London, Sonnie“, sagte er. „Jetzt kannst du jedenfalls mit gutem Gewissen deinen Mantel kaufen, und noch etwas dazu!“ – Er wandte sich zu Lady Robinson. „Mylady, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll…“ „Ist es Ihnen noch nicht klar, daß wir zu danken haben, Heiko? Ich mache gar keinen Hehl daraus, daß Sie unser bester Mitarbeiter sind. Deswegen möchte ich Sie mit allen Mitteln festhalten! Sie haben doch nichts, was in Deutschland auf Sie wartet? Dürfen wir mit Ihrer Mitarbeit rechnen, auch wenn Ihre Zeit in Ostafrika abgelaufen ist?“ Mein Herz schlug so intensiv vor Freude, daß ich es beinahe hören konnte. Heikos Augen strahlten. „Das ist das Schönste, was Sie mir sagen konnten, Mylady! Es gibt ja nichts auf der Welt, was ich lieber möchte! Ich bin nur sehr gespannt, wohin Sie uns das nächste Mal schicken werden!“ „Das werde ich Ihnen gleich erzählen. Wollen wir rübergehen? Wir kriegen den Kaffee im kleinen Eckzimmer.“ Die Tiere trotteten mit, der Hund legte sich vor den Kamin, die Katzen sprangen in einen Sessel, der mit einer gestrickten „Katzendecke“ ausgelegt war. Wie war es doch gemütlich und wohnlich hier! Lady Robinson bewohnte nur einen Flügel von dem großen Haus. Sie hatte diese drei Zimmer unten, und oben ein Schlafzimmer, zwei Fremdenzimmer und die Räume für die Mädchen und den Chauffeur. Also ziemlich bescheiden nach englischem Landsitz-Maßstab. Das ganze übrige Haus wurde für
Arbeitsräume, Labors und Büros der Stiftung genutzt. Wir bekamen unseren Kaffee. Dann holte Lady Robinson ein Spielzeugtier vom Kaminsims und reichte es Heiko. „Sehen Sie sich dies an“, sagte sie. Heiko sah, und ich auch. „Es ist ja ein Koalabärchen!“ rief ich. „Wie süß!“ „Süß ja, zugegeben“, sagte Mylady. „Aber aus welchem Material, glauben Sie, ist es gemacht worden?“ Ich strich über das weiche Fell. „Plüsch ist es nicht…“ „Und Koalafell kann es auch nicht sein“, meinte Heiko. „Die Koalas stehen ja unter strengem Naturschutz.“ „Stimmt. Dies ist Wallaby-Fell.“ „Wallaby? Die kleinen süßen Känguruhs?“ „Eben. Warten Sie mal – sehen Sie sich dieses Bild an.“ Sie reichte uns ein Foto. Es war ein Schaufenster von einem Andenkenladen. Koalas in allen Ausgaben, von der Größe einer Apfelsine bis zu der eines vierjährigen Kindes. Dann waren kleine Känguruhs, und außer den Spielzeugtieren, Unmengen Taschen, Pantoffeln, Jacken, Mützen und andere Pelzsachen da. „Wird das alles aus Wallaby-Fellen gemacht?“ fragte Heiko. „Ja. Tausende und abermals Tausende Wallabys werden erlegt wegen dieser Touristensouvenirs. Nun passen Sie mal auf: Ich habe einen guten Freund in Australien. Er war mit meinem Mann sehr befreundet und interessiert sich brennend für unsere Stiftung und unsere Arbeit. Er wohnt nun seit ein paar Jahren in Sydney. Neulich schickte er mir dieses Fell-Koalabärchen und das Foto. Er schreibt mir, daß so erschreckend viele Wallabys getötet werden, und meint, es wäre eine Aufgabe für uns, der Sache näher auf den Grund zu gehen und zu untersuchen, ob auch diese niedlichen Tierchen von einer völligen Ausrottung bedroht sind. Er fragt mich, ob ich nicht hinkommen könne, und fügt allerdings hinzu, falls ich die Kräfte dazu habe. Und nun kommt das Schlimme: Ich habe die Kräfte nicht! Mein strenger Arzt hat es mir kurzerhand verboten. Er behauptet, es wäre leichtsinnig von mir, ich sei nicht mehr jung – als ob ich das nicht wüßte! – und ich hätte mit meinen Kräften Raubbau getrieben, und wenn ich noch gesund bleiben wolle, müsse ich mich schonen. Nie mehr allein im Wagen kreuz und quer durch Afrika auf schlechten Straßen rumhopsen, und eine Reise in das Innere von Australien sei der reine Wahnsinn. Dazu brauche man einen jungen,
kräftigen Mann, es sei nichts für Frauen, sagte also das Biest. Wenn ich unbedingt reisen wolle, dann zu einem Badeort, wo ich gesundheitsfördernde Wässerchen aus marmoreingefaßten Brunnen trinken könne, und meinen Bedarf an wilden Tieren solle ich dadurch decken, daß ich die Eichhörnchen im Kurpark füttere! Ich wagte einfach nicht zu erzählen, daß ich schon zugesagt hatte! Und da sitze ich nun. Mein guter Freund in Australien sitzt da und macht Striche in den Kalender und freut sich auf mein Kommen. Er hat für mich alle möglichen Verbindungen geknüpft und mich angemeldet bei den hohen Herren, bei denen ich die Erlaubnis zu einer eventuellen aktiven Arbeit da unten erreichen müßte. Und dann steckt mir dieser olle Arzt einen Stock ins Rad.“ Heiko richtete den Blick voll auf Lady Robinson. „Ich verstehe“, sagte er. „Wie viele Striche sind noch in den Kalender zu machen, Mylady?“ „Neun“, antwortete sie. „Das bedeutet also, daß ich in neun Tagen nach Australien fliege?“ sagte Heiko mit einem ganz kleinen Lächeln im Mundwinkel. „Denn das ist wohl der Grund, warum wir einen Monat eher Afrika verlassen mußten?“ „Ach, Heiko, Ihnen gegenüber braucht man wirklich nur eine schwache Andeutung zu machen, dann verstehen Sie alles!“ lächelte Mylady. „Ja, das war der Grund. Wollen Sie es tun?“ „Brauchen Sie überhaupt zu fragen? Natürlich tu ich es, wahnsinnig gern sogar, wenn Sie mich bloß gründlichst orientieren!“ „Mr. Morgan wartet ab acht Uhr morgen früh nur auf Sie! Er wird Ihnen die geplante Route zeigen. Auf seinem Globus ist schon Australien verschlissen, so oft ist er mit dem Finger da durchgefahren! Und ich telegrafiere morgen Mr. Little in Sydney. – Lassen Sie sich nicht von seinem Namen irreführen, er mißt einsneunzig! Er muß heute meinen Brief bekommen haben, wo ich ihm sage, daß ich mich wahrscheinlich von einem kräftigen jungen Mann vertreten lasse. Was Sie hier nicht zu wissen bekommen, erfahren Sie von Mr. Little. Da kriegen Sie auch einen Wagen und einen jungen Begleiter, der überhaupt nichts von Zoologie weiß, aber er kennt das Land und soll ein wahrer Tausendsassa sein, wenn es um Autopannen oder vielmehr um Reparaturen geht. Die Reise wird, so wie sie geplant ist, sechs Wochen dauern. Am fünften Dezember werden Sie von Sydney die Rückreise antreten. Und dann kriegen Sie endlich Ihren wohlverdienten Urlaub.“
Ich saß still da, sagte nichts. Natürlich war es wunderbar für Heiko, einen solchen Auftrag zu bekommen – und daß Mylady von all ihren bestimmt sehr tüchtigen Mitarbeitern ausgerechnet meinen Mann für diese verantwortungsvolle Aufgabe ausgewählt hatte. Natürlich freute ich mich darüber, aber – aber – es fiel mir ein, was Heiko geantwortet hatte, als er damals, vor drei Jahren, gefragt wurde, ob er einen Job als Reiseleiter durch Ostafrika annehmen würde: „Ja, unter einer Bedingung: Daß ich meine Frau mitnehmen darf!“ Jetzt sagte er es nicht. Es kam überhaupt nicht zur Sprache. Ich nahm eine der Katzen auf den Schoß, sie krabbelte auf meine Schulter und genoß das Schmusen. Ich verbarg mein Gesicht in ihrem weichen Fell. Ich hatte das widerliche Gefühl, daß es um meinen Mund verräterisch zuckte, und ich gab mir die größte Mühe, einen scheußlichen Kloß im Hals runterzuschlucken. Die beiden sprachen weiter. Wäre es denn so ganz unmöglich, daß ich mitkäme? Ich war jung und kräftig und konnte viele Anstrengungen aushalten, das hatte ich doch hundertmal bewiesen. Aber natürlich – eine solche Reise kostete Geld – viel Geld. Ich konnte ja nicht verlangen, daß die Mary-Green-Stiftung etliche tausend Mark spendieren sollte, nur damit ich lebendige Koalas zu sehen bekäme! Der Kloß im Hals war runtergeschluckt, und meine Mundwinkel zitterten nicht mehr. Die Katze rollte sich schnurrend auf meinem Schoß zusammen. „Sehen Sie, Heiko, eine Vergnügungsreise wird es nicht“, sagte Lady Robinson. „Sie werden viel zu sehen bekommen, was Ihr tierliebendes Herz zum Bluten bringen wird. Sie fahren ins Innere des Landes, Sie werden die Jagdmethoden der Eingeborenen erleben, – und Sie müssen sich darauf gefaßt machen, äußerst primitiv zu leben. Im Wagen oder im Zelt zu schlafen, mit Insekten zu kämpfen, sich vor Schlangen in acht zu nehmen. Ja, Sie kriegen natürlich Schlangenserum mit – also, es wird eine anstrengende und nicht immer erfreuliche Expedition.“ „Dann bin ich doppelt froh, daß ich sie Ihnen abnehmen kann, Mylady“, sagte Heiko mit seinem ruhigen, freundlichen Lächeln. „Wenn es auch schade ist, daß Sie die Koalas nicht kennenlernen werden.“ „Ich habe die Hoffnung diesbezüglich nicht ganz aufgegeben“,
lächelte Lady Robinson. „Man braucht ja nicht gerade eine anstrengende Expedition in das Innere des Landes zu machen. Koalas gibt es in einer ganzen Reihe Zoos und Naturparks – und auch Wallabies und Flughörnchen, Springmäuse und Kuskus…“ „Und Vombats, Baumkänguruhs, Kasuare und Leierschwänze“, ergänzte Heiko. „Und nicht zu vergessen, den Platypus!“ „Was in aller Welt ist das?“ fragte ich. „Ein Schnabeltier. Davon habe ich dir doch erzählt, Sonnie!“ „Bestimmt hast du das! Das merkwürdige Tier, das im Wasser lebt, Eier legt und die Jungen säugt! Als ob der liebe Gott sich nicht hat entscheiden können, ob er bei der Gelegenheit einen Vogel, einen Fisch oder ein Säugetier schaffen sollte!“ Lady Robinson lachte. „Ja, das Tier möchte ich auch sehen! Vielleicht mache ich einmal eine ganz ruhige und friedliche Sammelreise mit, so wie damals in Afrika, als wir uns kennenlernten!“ „Gesegnet sei die Reise!“ sagten Heiko und ich gleichzeitig. „Die hat mich endgültig davon überzeugt, daß Sammelreisen viel für sich haben!“ fügte ich hinzu. Lady Robinson lächelte. „Wissen Sie noch, Sonja, wie unsere Blicke sich trafen, damals im Flughafen Wien, als die – wie hieß sie nun gleich – die Frau Heimann nach Leopardenmänteln fragte?“ „Und ob ich das weiß! Und wie Sie sie bekehrten! Und erinnern Sie sich an den verrückten Mann, der die Massais fotografierte, und Sie rissen ihm die Kamera aus der Hand…“ So rutschten wir rein in so ein „Erinnerungsgespräch“, das immer schrecklich nett ist für Menschen, die gemeinsam schöne und interessante Dinge erlebt haben. Ich fing langsam an, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß ich diesmal nicht mit Heiko mitfahren sollte. Kommt Zeit, kommt Rat, sagte ich mir selbst. Wenn Mylady mit ihren siebenundsechzig Jahren die Hoffnung nicht aufgegeben hat, ins Koalaland zu kommen, dann darf ich es erst recht nicht tun – ich mit meinen vierundzwanzig! Kopf hoch, Sonja, sagte ich zu mir selbst. Kommt Zeit, kommt Koala!
Eine Einkaufstour und ein Telegramm Gleich nach dem Frühstück fuhren wir los. Heiko hatte etliche Papiere unterschrieben. – Es ging um Visumanträge. – Und dann war er zu Mr. Morgan gewandert, um Afrikarapporte abzugeben und die Australienkarte zu studieren. „Was machen Sie nun, während Heiko in Australien ist, Sonja?“ fragte Lady Robinson, als wir im Wagen saßen. „Ich fahre zu meinen Eltern. Heiko kommt dann nach, wenn er von den Koalas zurück ist. Und dann werden wir sehen, wie wir es machen, ob wir Weihnachten und Neujahr in Norwegen oder bei seinen Eltern in Hamburg verbringen.“ „Aber Sie bleiben doch hier, bis Heiko losfährt?“ „Schrecklich gern – furchtbar, furchtbar gern, wenn Sie mich solange haben wollen!“ „Ja, denken Sie sich, das will ich! Außerdem brauche ich Sie. Wir kriegen wahrscheinlich in ein paar Tagen die Filme vom Labor, also die, die Heiko gestern mitbrachte. Ich dachte, Sie könnten uns bei der Vertonung helfen. Ja, ich weiß, Sie haben sehr genaue Angaben gemacht, aber wenn man die Filme sieht, ergeben sich doch Fragen.“ „Die ich hoffentlich beantworten kann! Oh, wie freue ich mich darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten!“ „Sehen Sie! Jetzt können Sie sich wieder freuen, nach der großen Enttäuschung gestern abend.“ Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Lady Robinson las in mir wie in einem offenen Buch. Es wäre sinnlos gewesen, zu leugnen. „Nicht wahr, Sonja, Sie waren sehr enttäuscht?“ „Ja, ich war es“, gab ich zu. „Denn ich möchte ja auch so wahnsinnig gern die Koalas sehen, und das Schnabeltier und all die anderen Tiere, die man zum Teil nur in Australien sieht.“ „Ich verstehe Sie gut, Kind. Aber Sie haben so viele Jahre vor sich…“ „Das habe ich mir auch selbst gesagt, und es ist wirklich wahr, wenn ich behaupte, daß ich die Enttäuschung jetzt überwunden habe!“ Lady Robinson lächelte, und sie hatte einen kleinen Schalk im Auge, als sie fragte: „Bestimmt, Sonja? Ganz und gar?“
„Na – sagen wir – zu fünfundsiebzig Prozent!“ Sie wurde wieder ernst. „Sehen Sie, Kind, es stimmt, wenn ich sage, daß diese Expedition nichts für eine Frau ist. Nachdem es mir klar wurde, daß nicht ich, sondern ein junger, gesunder und kräftiger Mann die Reise machen sollte, haben wir das Programm sozusagen ausgebaut. Wir werden Heiko Anstrengungen zumuten, die ich selbst nicht auf mich genommen hätte. Außerdem – er fährt, wie Sie wissen, mit einem einheimischen Begleiter. Wahrscheinlich müssen sie oft in ihren Schlafsäcken im Kombiwagen übernachten…“ „Ja, bei den Gelegenheiten wäre mein Typ wohl kaum gefragt“, gab ich zu. „Im Ernst, Lady Robinson: Ich sehe das ein, und ich bin nicht verbittert und nicht unglücklich! Ich freue mich auf Heikos Filme und Erzählungen, und darauf, ihn wieder bei mir zu haben – und ich freue mich auf den Tag, wo ich an der Reihe bin, diesen Wunschtraum erfüllt zu sehen.“ „Ist das wirklich Ihr Wunschtraum?“ „Ja. Mein erster war, nach Afrika zu kommen, und der Traum ist ja über alle Maßen erfüllt worden! Allmählich ist dann dieser zweite Traum in mir lebendig geworden. In diesen Jahren habe ich ja dauernd in Heikos Zoologiebüchern rumgestöbert, und alles, was ich über die australische Tierwelt gelesen habe, finde ich ungeheuer interessant. Und dann die Tatsache, daß man ein paar dieser Viecher wirklich nur in Australien zu sehen bekommt! Die kleinen Koalas, die sitzen da auf ihren kleinen runden Popos und kauen ihre Eukalyptusblätter und sagen: ,Ihr müßt euch schon hierher bemühen, ihr neugierigen Zweibeiner, bei uns gibt es Steaks und Mangofrüchte und Austern für euch, aber ihr habt kein einziges Eukalyptusblättchen für uns!’“ Lady Robinson lachte laut. „Das nennt man wohl eine populärwissenschaftliche Darstellung! Aber es stimmt schon, genauso ist es. Nun ja, Sonja, vielleicht wird sich für uns beide Koalabesessene ein Ausweg finden!“ Sie beugte sich nach vorne und gab Burns einen Bescheid. Kurz danach hielt er auf dem Parkplatz eines großen Warenhauses. „Wollen wir nun nach einem Mantel gucken, Sonja? Das ist augenblicklich das wichtigste! Sie kriegen eine Lungenentzündung, wenn Sie sich nicht wärmer anziehen!“ Ich fand ziemlich schnell, was ich brauchte. Einen warmen, vernünftigen Mantel mit einem molligen Kragen aus Synthetik-Pelz.
Und sogar zu einem ziemlich niedrigen Preis. Genau richtig – ich würde den Mantel ja nur drei Monate brauchen. Im Januar würde ich wieder in einer kurzärmeligen Baumwollbluse und geflickten Shorts durch die Gegend laufen und mich darin pudelwohl fühlen, dies nebenbei gesagt. Als ich dann auch ein Paar gefütterte Stiefel erstanden hatte, war es mir herrlich warm, und ich war sowohl für den Londoner Nebel als auch für den norwegischen Schnee gerüstet. „Kleid?“ sagte Lady Robinson. „Ach was, Sie haben doch das Kostüm und die beiden hübschen Pullis. Meinetwegen brauchen Sie sich nicht feinzumachen, nein, auch nicht zum Dinner. Und in Norwegen haben Sie doch bestimmt irgend etwas im Schrank?“ Das hatte ich. Also blieb es bei Mantel und Stiefeln. Dann fuhren wir zum australischen und amerikanischen Konsulat mit Heikos Paß und den unterschriebenen Anträgen. Er mußte sicherheitshalber auch ein amerikanisches Durchreisevisum haben, es war möglich, daß er über den Pazifik, Nordamerika und den Atlantik zurückkommen würde. Glückspilz – so mir nichts, dir nichts, einmal um die Erde! Alles mit der Ruhe, Sonja, sagte ich mir selbst. Kommt Zeit, kommt Weltreise! „Jetzt, wo wir in der Stadt sind“, sagte Lady Robinson – „überlegen Sie sich doch, ob Sie noch etwas zu besorgen haben. Mitbringsel für Ihre Familie vielleicht?“ „Ja, unbedingt!“ rief ich. „Ich muß irgendwo in eine Spielzeugabteilung, ich habe einen Bruder von elf und eine Schwester von sieben. Wenn ich für die beiden Räuber nichts mitbrächte, wären die Folgen nicht auszudenken! Und ich weiß, daß Mutti sich einmal hier in London in eine bestimmte Sorte Strickwolle verliebte. Sie hat oft genug bedauert, daß sie nicht gleich viel mehr davon kaufte!“ „Wissen Sie, dann bringe ich Sie zu einem Warenhaus, wo Sie seelenruhig alle Abteilungen durchpflügen können, und wir treffen uns – sagen wir im Restaurant im gleichen Haus? Da ist ein recht anständiges Dachrestaurant. Wenn Sie ein ganz liebes Mädchen sind, bestellen Sie gleich einen Tisch auf meinen Namen, sagen wir für vierzehn Uhr? Haben Sie dann Zeit genug? Fein, also treffen wir uns dann.“ Wir hielten vor einem Riesenwarenhaus, und ich nahm den Lift zum Restaurant, wo ein freundlicher Ober versprach, einen
Fenstertisch für Lady Robinson für vierzehn Uhr zu reservieren. Worauf ich mein Geld zählte, die Lage der Spielzeugabteilung ergründete und eine außerordentlich ausgiebige Einkaufsrunde startete. „Wir hätten natürlich zum Lunch nach Hause fahren können“, sagte Lady Robinson, als wir uns im Restaurant gegenübersaßen. „Aber ich wollte Burns nicht enttäuschen. Seine Tochter ist Verkäuferin in einem Juweliergeschäft hier in der Nähe. Und sie hat eine Stunde Lunchpause, die sie nur zu gern mit dem Vater verbringt. Ach, der liebe Burns, er ist eine gute Seele! Seit mehr als zwanzig Jahren ist er bei mir. Es war mein Mann, der ihn damals engagierte. Seine Frau war dann Wirtschafterin bei uns, sie starb vor acht Jahren – seitdem hängt Burns sehr an seiner Tochter.“ „Und an Ihnen“, meinte ich. „Nun ja, aber das beruht auf Gegenseitigkeit! Ich fahre ja auch gern selbst meinen kleinen Zweisitzer oder meinen Kombiwagen in Afrika. Aber wenn ich müde bin oder mich nicht ganz wohl fühle, oder, wenn ich wie jetzt, liebe Gäste habe, lasse ich lieber Burns fahren.“ „Meinen Sie wirklich, daß wir liebe Gäste sind, Lady Robinson?“ „Zweifeln Sie daran? So, nun sagen Sie, haben Sie alles gekriegt für die beiden anspruchsvollen Geschwister und Mutti und Vati?“ „Die beiden Geschwister?“ lächelte ich. „Für fünf Geschwister, Lady Robinson – und Eltern, und eine Schwägerin und einen Schwager und; nicht zu vergessen, für die Hauptperson der ganzen Familie, meinen Neffen! Ich freue mich doch so wahnsinnig auf ihn. Er wird getauft, wenn ich nach Hause gekommen bin, und ich soll ihn zur Taufe tragen.“ „Ist er der Sohn Ihrer Zwillingsschwester?“ „Ja! Denken Sie sich, zum ersten Mal sind wir sozusagen auseinandergegangen. Wir heirateten gleichzeitig, aber Senta bekam ein Kind, ohne zu fragen, ob ich einverstanden war!“ Lady Robinson sah mich an, irgendwie forschend. „Und Sie? Möchten Sie nicht Kinder haben?“ „Doch, ich möchte schon! Aber man kann nicht alles auf einmal haben. Mit den Kindern werde ich noch zwei Jahre warten.“ Der Ober brachte den Nachtisch, und leider Gottes entdeckte Lady Robinson eine Bekannte an einem Tisch in der Nähe. So wurde unser Gespräch unterbrochen, und über mein Kinderproblem sprachen wir vorläufig nicht mehr.
„Ich habe übrigens Heikos Flugkarte bestellt“, erzählte Lady Robinson auf dem Heimweg. „Mit Ihrer eilt es ja nicht, wir können das telefonisch tun, wenn der Abreisetag festliegt, nicht wahr? Ihre Familie erwartet Sie doch nicht zu einer bestimmten Zeit?“ „Nein, gar nicht! Wenn sie zu Hause am Tage vor meiner Ankunft Bescheid kriegen, haben sie immer noch Zeit, den roten Teppich auszurollen und die blumenstreuenden Jungfrauen zu mobilisieren!“ Als wir die Halle betraten, wo Betty gerade einen Teewagen Richtung Eckzimmer rollte, kam Mr. Morgan aus seinem Büro mit einem geöffneten Telegramm in der Hand. „Oh, Mylady, wie gut, daß Sie kommen – hier ist ein Telegramm aus Sydney, von Mr. Little…“ „Bitte, lesen Sie es mir vor!“ Mr. Morgan las: „Empfehle Dr. Brunner zusätzlich Neuguinea, kann fünftägige Fahrt arrangieren falls Ankunft Port Moresby zwanzigsten Oktober möglich stop erbitte umgehend Antwort stop Little.“ Lady Robinson blieb einen Augenblick mit offenem Mund stehen. Als sie sprach, kam es in ihrer Muttersprache. „Du heiliger Strohsack!“ sagte unsere Lady in unverkennbarem Hamburgisch. Heiko war willig. Natürlich wollte er auch Neuguinea mitnehmen. „Paradiesvögel und Leierschwänze!“ rief Heiko. „Opossums und Kuskus! Ich, mit meiner Schwäche für Kleingetier!“ „Und mit Menschenfressern“, ergänzte ich. „Paß bloß auf dich selbst auf, Heiko, ich möchte nicht, daß du dein Leben als Zoologenfrikassee beendest.“ „Oder als Doktorragout“, schlug Heiko vor. „Keine Angst, Liebling, der Kannibalismus ist ein zurückgelegtes Kapitel unter den Papuas.“ Lady Robinson wandte sich an Mr. Morgan. „Bitte, geben Sie gleich das Telegramm auf: ‚einverstanden’ genügt. Und lassen Sie Doktor Brunners Flugkarte umbuchen.“ „Wird sofort gemacht, Mylady.“ „So, Kinder, nun wollen wir aber Tee trinken! Es gibt warme Wecken mit Himbeermarmelade und Schlagsahne!“ Die Katzen und der Neufundländer erschienen gleichzeitig mit dem Tee. Im Kamin brannte ein schönes Feuer. Es war urgemütlich in dem netten kleinen Ecksalon.
„Nun, Heiko“, lächelte Lady Robinson und reichte ihm die Tasse. „Was sagten Sie, als das Telegramm kam?“ „Genau dasselbe wie Sie, Mylady“, schmunzelte Heiko. „Wörtlich.“ „Und bestimmt auch in Hamburger Dialekt“, fügte ich hinzu.
Die dritte Sternstunde Es folgten ein paar hektische Tage. Heiko hatte lange Gespräche mit Mr. Morgan, mit unserer geliebten Mylady und mit einem Australienexperten, den Lady Robinson mobilisierte. Ich mußte mich um die praktischen Sachen kümmern, das heißt, ich mußte für Heiko Hemden und Unterwäsche kaufen. Nach diesen drei Jahren war seine Garderobe genauso verschlissen wie meine eigene. Der gute Burns fuhr mich von Geschäft zu Geschäft, denn es war ein Problem, leichte Sommersachen zu kriegen. Wer verkauft schon im Oktober Shorts und kurzärmelige Hemden? Als gut gedrillte Arzttochter und erfahrene Tropenreisende konnte ich auch ein halbwegs vernünftiges Medizinkästchen zusammenstellen. Ich war es auch, die Heikos Koffer packte. Und ich war es, die ihn – mit Burns’ Hilfe – an einem grauen, regnerischen Oktobernachmittag zum Flughafen brachte. Es war nicht leicht, von ihm Abschied zu nehmen. Zum ersten Mal seit unserer Heirat mußten wir uns trennen. Es wäre eine Lüge, wenn ich behaupten würde, daß es ohne Tränen meinerseits verlief. Auf dem Heimweg setzte ich mich vorne neben Burns. Er hatte eine so nette, väterliche Art zu plaudern, er erzählte mir so allerlei vom täglichen Leben im Dienste der Mylady und auch von ihrem verstorbenen Mann. Er berichtete über ulkige kleine Episoden, von all den Haustieren, die Lady Robinson diese Jahre gehabt hatte, sprach von ausländischen Gästen – oft braune oder schwarze – , die er abgeholt und gefahren hatte. Durch all seine Erzählungen ging wie ein Unterton die Verehrung und Liebe zu seiner einmaligen Brotgeberin. „Ich bin so unsagbar glücklich und so dankbar, daß mein Mann und ich Mylady kennengelernt haben“, sagte ich. „Kein Mensch hat so viel für uns getan wie sie!“ „Mylady schätzt Sie und Ihren Gatten auch sehr hoch“, sagte Burns. „Sie ist immer froh, wenn Briefe von Ihnen kommen, und einmal sagte sie mir, ,Burns’ sagte sie, ,das Schicksal hat es gut mit mir gemeint, als es mir solche Mitarbeiter wie Doktor Brunner und seine junge Frau schickte.’“ „Ist es wahr, Burns? Hat Mylady das wirklich gesagt?“ „Auf Ehrenwort, Madam!“ Burns lächelte und fügte hinzu: „Es ist vielleicht ein bißchen indezent von mir, es zu erzählen, aber ich
dachte, es würde Ihnen Freude machen.“ „Und wie! Und wie!“ „Und gerade jetzt brauchten Sie vielleicht eine kleine Freude“, sagte Burns verschmitzt. Er schaltete den zweiten Gang ein und lenkte den großen Wagen zwischen die beiden wuchtigen Torpfosten – und dann ging es geradeaus durch den Park, wo der Neufundländer uns entdeckte und schwanzwedelnd neben dem Auto lief, bis es vor der großen, kunstfertig geschnitzten Eingangstür hielt. Heute waren Lady Robinson und ich allein beim Dinner. Sie sprach von unserer Arbeit, wir hatten alles aufschieben müssen wegen Heikos Abreise. Aber morgen früh würden wir anfangen, unsere noch unredigierten Filme anzusehen und zu kritisieren und unsere Notizen zu machen. Heiko hatte es gerade geschafft, den Fernsehfilm mitzukriegen. Er war am vorhergehenden Abend ausgestrahlt worden. „Menschenskind, haben wir einen guten Film gemacht!“ hatte ich gerufen. „Da siehst du, was ein tüchtiger Cutter und ein guter Sprecher ausrichten können“, schmunzelte Heiko. „Der Film ist ja unglaublich geschickt geschnitten und wieder zusammengestückt – und daß man aus unseren trockenen Berichten so lustige und nette Kommentare machen konnte!“ Lady Robinson war sehr zufrieden gewesen, und das spielte ja für uns die größte Rolle! Nun sprach sie also über unsere Arbeit in der kommenden Woche, und ich war zum Platzen stolz, weil ich aktiv mitarbeiten durfte und nicht nur als artige, kleine Assistentin meines allwissenden Mannes im Hintergrund zu bleiben hatte. Dann ging das ganze Gefolge – Katzen, Hund, Lady Robinson und ich – rüber in den kleinen Ecksalon zum Kaffeetrinken. „Übrigens“, sagte Mylady und reichte mir die Kaffeetasse – „während Sie Heiko zum Flughafen brachten, hatte ich Besuch von meinem strengen Onkel Doktor.“ „Nanu!“ sagte ich. „Was hat er Ihnen jetzt verboten?“ „Um es kurz auszudrücken: Allein weite Reisen zu machen.“ „Wollen Sie denn jetzt reisen?“ „Ach, Sie kennen mich doch, ich habe die Unruhe im Blut. Außerdem ist es mir hier zu kalt und ungemütlich. Ich sehne mich nach Sonne und tropischer Hitze.“ „Und schwarzen Gesichtern und schönen Tieren“, ergänzte ich. Lady Robinson lächelte. Plötzlich erinnerte ihr Lächeln und ihre
Stimme mich an eine andere Situation. Es war in ihren Augen dasselbe Leuchten wie damals, vor drei Jahren, als sie mit uns auf einer Hotelterrasse in Entebbe saß und uns fragte, ob wir auf eine wissenschaftliche Expedition nach Kenya mitwollten. Mein Herz machte einen Purzelbaum in meiner Brust. Plötzlich wußte ich, daß sie mir jetzt etwas Schönes erzählen wollte. Dieser Blick – gleichzeitig ernst und schelmisch, leuchtend und voll unsagbarer Güte… „Ja, und dann ist da noch was“, fuhr sie fort. „Sie wissen, dieses Reiseunternehmen, wo ich sozusagen engagiert bin – das heißt, ich habe einen Batzen Geld da hineingesteckt, als man anfing, Gruppenreisen nach Afrika zu arrangieren – also, diese Leutchen werden demnächst eine ganz neue Gruppenreise einführen. Nun wollen sie gern, daß ich mitfahre, ich soll meine Beobachtungen machen und nachher meinen Senf dazugeben. Ob ich das Programm gut finde, ob man vielleicht zuviel hineingepackt hat, ob die Hotels zu empfehlen sind, ob die arrangierten Ausflüge lohnend sind und so weiter. Und dann kommt also dieser unerbittliche Arzt und sagt, ja, wenn es sich wirklich um eine Gruppenreise handelt, also eine Reise, wo ich nicht tagelang auf holprigen Wegen am Steuer sitze und womöglich in einem irgendwo hingeschmissenen Schlafsack übernachte und mich nur mit Brot und Obst ernähre – also, wenn ich garantiere, daß ich in guten Betten in vernünftigen Hotels übernachte, und regelmäßig esse und kein schweres Gepäck trage und einen zuverlässigen Menschen bei mir habe – dann darf ich!“ „Oh, wie schön für Sie!“ sagte ich. Dann schwieg ich, denn jetzt ahnte ich, was kommen würde. Und es kam: „Also, Sonja, ich brauche einen jungen, gesunden, reisetrainierten Menschen – weiblichen Geschlechts! – , mit dem ich mich gut verstehe, eine junge Frau, die etwas Sprachen kann, die willig wäre, auf mich aufzupassen, meinen Koffer zu packen, mir ab und zu ein Pillchen oder Pulverchen zu geben, wenn ein Wehwehchen sich meldet – und vor allem: Eine, die eine solche Tiernärrin ist wie ich selbst, eine, die Museen links liegen läßt und auf Stadtrundfahrten verzichtet, wenn die Möglichkeit besteht, ein paar seltene Viecher zu sehen. Und eine, die ein paar Wochen Zeit hat. Ich werde voraussichtlich in drei Wochen fahren, werde weitere drei Wochen unterwegs und Anfang Dezember wieder hier sein, also ungefähr gleichzeitig mit Heiko.“ Ich antwortete nicht. Meine Augen waren unentwegt auf Lady
Robinson gerichtet. Sie hatte noch nicht gesagt, wo die Reise hingehen sollte. Sie legte ihre Hand auf die meine. Ihre klugen, lieben Augen waren schöner denn je. Ihre Stimme war warm und sanft: „Kommen Sie mit, Sonja? In drei Wochen? Kommen Sie mit – zu den Koalas – und zu Heiko?“ Es gibt Augenblicke und Situationen, die man gar nicht beschreiben kann. Augenblicke, die so atemberaubend schön sind, daß einem die Worte fehlen. Ich hatte zwei solche Augenblicke, solche Sternstunden erlebt. Fünf Jahre früher hatte ich mit Senta bis tief in die Nacht vor dem Fernseher gesessen und die Ziehung in der deutschen Fernsehlotterie gesehen. Es war in Kiel, im Hause von Sentas damaliger Brötchengeberin, Frau von Waldenburg. Wir hatten bis zum letzten Gewinn ausgehalten. Lauter fremde Namen wurden vorgelesen, und dabei hatte ich mir jedesmal die Daumen blau und grün gedrückt, wenn es um eine Ostafrikareise ging. Und dann, bei der allerletzten Verlosung – da wurde wieder die Reise geschildert, da wurde ein Bild von einer Löwin mit spielenden Jungen gezeigt – und nie, nie im Leben vergesse ich die Stimme der Ansagerin: „Und dorthin fährt – Entschuldigung, dorthin fahren demnächst Sonja und Senta Rywig aus Kiel.“ Die zweite Sternstunde hatte ich damals in Entebbe erlebt. Heiko und ich hatten uns als Reiseleiter für eine deutsche Sammelreise betätigt. Da hatten wir Lady Robinson kennengelernt. Am Ende der Reise hatten wir dagesessen, sie hatte uns von der Mary-GreenStiftung erzählt, von der Forschungsarbeit, von den jungen Wissenschaftlern, die sehr sorgfältig ausgewählt wurden. Und ich weiß noch heute genau, wie ihre Stimme geklungen hatte, als sie sagte: „Wollen Sie auf die nächste Expedition mit, Heiko? Es geht nach Kenya, Studienobjekt Kleinnager und Schleichkatzen.“ Bei diesen beiden Gelegenheiten hatte ich dicke Freudentränen geheult. Damals in Entebbe hatte Heiko ganz einfach Lady Robinson umarmt. Jetzt tat ich beides. Jetzt, in dieser dritten Sternstunde meines Lebens.
Tante Helene Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich imstande war, klar zu denken und praktisch zu planen. Lady Robinson gab mir Zeit. Liebevoll und lächelnd beantwortete sie mein fragendes Gestammel. Allmählich kam ich wieder zu mir, meine Worte kamen mehr in Zusammenhang, und zuletzt war ich fähig, Lady Robinson weiter zuzuhören. Sie holte den Reiseprospekt aus ihrer Tasche, dann kramte sie Heikos ganzen Expeditionsplan hervor, und wir schoben die Kaffeetassen beiseite und entdeckten erst nachher, daß die Sahnekanne umgekippt war und ihren Inhalt auf den Teppich ergossen hatte, zur großen Freude der beiden Katzen. „Also, Start am sechzehnten November, Zwischenlandung Frankfurt, Bahrein…“ „Was ist das?“ fragte ich. „Aber Sonja, haben Sie denn keinen Geographieunterricht in der Schule gehabt?“ „Doch, aber vielleicht war Senta an der Reihe, die Hausaufgaben zu machen, als wir etwas über diese – diese – wie hieß es nun gleich – hatten!“ „Bahrein. Eine Insel im Persischen Golf. Ja, und dann weiter nach Hongkong…“ „Was? Werden wir mit Stäbchen essen und in Rikschas fahren? Nach Asien fliegen?“ „Ja, so wollen es die Reisearrangeure. Dann geht es nach zwei Tagen nach Neuguinea…“ „Zu den Menschenfressern!“ „Haben Sie keine Angst, Sonja. Ihre dünnen Knochen geben doch keine gute Suppe ab. Wir stecken den Menschenfressern lieber einen Brühwürfel in die Hand, davon haben sie mehr.“ „Aber wann kommen wir zu den Koalas?“ „Gleich, gleich, nur ein bißchen Geduld.“ Lady Robinsons Zeigefinger glitt über das Wasser und blieb irgendwo an der Nordküste des australischen Festlands stehen. „Von Neuguinea geht es nach Cairns, von dort nach Alice Springs und Ayers Rock…“ „Wessen Rock?“ „Ayers. Und Rock auf englisch, nicht auf deutsch, Sie kleine Quasselliese. Ich gebe Ihnen ein Buch über Australien mit, als Bettlektüre, dann können Sie sich orientieren. Und nun, passen Sie
auf, jetzt kommt es: Von Alice Springs fliegen wir nach Adelaide. Da ist eine Stadtrundfahrt oder so was geplant, dann lassen wir die ganze Gruppe links liegen…“ „Links fahren, meinen Sie…“ „Das tut man sowieso in Australien, da ist Linksverkehr, genau wie hier und in Ostafrika. Also, wir lassen die Gruppe links fahren oder liegen, selbst gehen wir in den Zoo…“ „Zu den Koalas!“ rief ich. „Eben. Zu den Koalas!“ „Oh, Lady Robinson – ich werde heulen vor Freude! Und ich werde Sie bestimmt grün und blau kneifen!“ Lady Robinson lachte. „Geht es Ihnen auch so? Daß Sie einen Menschen neben sich haben müssen, dem Sie die Hand halten können oder die Arme blau kneifen oder den sie umarmen dürfen, wenn Sie etwas Schönes erleben?“ „Ja, genau! Wenn ich nicht damals Senta und Heiko gehabt hätte, als ich die ersten Löwen und Giraffen sah – ich wäre geplatzt!“ „So geht es mir auch. Übrigens, Sonja, was ich sagen wollte: Wir werden drei Wochen lang Tag und Nacht zusammen verbringen, im gleichen Zimmer schlafen, uns wahrscheinlich vor Freude umarmen vor etlichen Koalagehegen in verschiedenen Zoos. Entweder müssen wir dann immer englisch sprechen, oder wir müssen ab sofort mit dem Siezen aufhören. Könntest du mich als eine Art Tante betrachten? Als deine alte Tante Helene?“ Ich fühlte, daß meine Lippen zitterten. Ich war gerührt und überwältigt – und ganz schrecklich froh! „Tausend, tausend Dank My… – ich meine Lady – ich meine – Tante Helene!“ Sie streichelte schnell meine Wange und beugte sich wieder über die Karte. „Dann geht es nach Melbourne, da ist auch ein Zoo – dann Canberra mit einem Känguruh- und Koalareservat – und dann zwei Tage in Sydney. Ankunft dort am zweiten Dezember.“ Ich sperrte die Augen auf. „Zweiten – dann kommt ja…“ „Eben. Dann kommt ja. Aber erst abends, wir kommen morgens an.“ „Dann – dann kann ich ja…“ „Unbedingt. Das kannst du.“
„Ich meine…“ „Kind, ich weiß genau, was du meinst. Und damit nun alles klar wird, – nein halt, zuerst muß ich dir das restliche Programm erklären. Also, nach den beiden Tagen in Sydney…“ „… wo die ganze Gruppe uns gestohlen bleiben kann…“ Ich nickte eifrig. „Jedenfalls dir und Heiko gestohlen – also, nach diesen drei Tagen geht es nach Honolulu.“ „Was? Hono…“ „… lulu, ja genau. Damit du im Pazifik schwimmen kannst. Von dort nach San Francisco und in einem Rutsch quer über Nordamerika und den Atlantik zurück nach London.“ „Tante Helene“, – oh, wie war das schön, daß ich diesen lieben Menschen so nennen durfte – „Tante Helene, das ist ja eine Reise um den ganzen Erdball!“ „Stimmt, du kommst zu einer Reise um den Erdball, nur weil ich verrückt bin.“ „Wieso verrückt?“ „Ja, ist es nicht ein bißchen verrückt, daß ich das alles unternehme, nur weil ich mir in den Kopf gesetzt habe, daß ich dieses Leben nicht verlassen will, ohne Koalas und Schnabeltiere gesehen zu haben?“ „Ach, Tante Helene, ich wünschte, viele Menschen wären so verrückt. Weißt du, immer wenn ich in Afrika eine Gnuherde oder spielende Löwenkinder, oder einen Leoparden sehe, dann kommt mir derselbe Gedanke: Ist es nicht viel wichtiger, diese Schönheit zu erhalten, diesen unfaßbaren Reichtum – wichtiger als todbringende Waffen zu erfinden? Wie viele Schutzgebiete könnte man für das Geld errichten, das man für Menschenvernichtung verwendet? Oder, wie viele Menschen könnten sich für das Geld satt essen? Wenn sich die großen Politiker lieber um Natur und Tiere kümmern würden, statt Kriege in Gang zu bringen – wenn die Menschen sich für das Am-Leben-Halten einsetzen würden, statt für das Töten!“ „Ja, wenn sie das wollten“, seufzte Tante Helene. Dann lächelte sie. „Zurück zu uns. Es bleibt eine Sache zu klären: Wenn wir nach Sydney kommen, und dein Heiko auch auf der Bildfläche erschienen ist, habe ich die Absicht, ihm seine Rückflugkarte abzunehmen und ihm dafür meine zu geben. Dann kommt er mit dir und der Gruppe nach Honolulu, und ich setze mich in ein Flugzeug direkt nach
London.“ „Aber das geht doch nicht…“ versuchte ich zu antworten. „Und ob das geht! Das werde ich dir zeigen.“ „Ja, aber Honolulu…“ „Honolulu interessiert mich nicht! Da sind keine Koalas! Aber du und Heiko, ihr könnt euch da ein paar schöne ruhige Ferientage machen. Heiko wird es brauchen nach seiner anstrengenden Expedition und du, nachdem du drei Wochen mein Kindermädchen gewesen bist.“ „Tante Helene – ich weiß nicht, was ich sagen soll – ich bin so überwältigt und so glücklich und so dankbar – ich kann es weder auf deutsch noch auf englisch ausdrücken – nicht einmal auf norwegisch…“ „Versuch es auf Suaheli“, sagte Tante Helene.
Zum Fernen Osten Wenn wir nicht so furchtbar viel um die Ohren gehabt hätten, wäre ich wohl vor lauter Freude ganz unzurechnungsfähig geworden. Aber ich mußte schon meine fünf Sinne zusammenhalten, denn ich brauchte sie alle. Wir hatten ja einen ganzen Stoß Filmrollen durchzusehen. Wenn Tante Helene Fragen hatte, wurde der Film gestoppt, manchmal ein Stück zurückgerollt, ich mußte erklären, wo und wie die Aufnahmen entstanden waren, und Mr. Morgans Stenotypistin, die dabei war, stenographierte die Goldkörnchen, die aus meinem Munde purzelten. Dann waren es die Reisevorbereitungen. Ich rief Senta an. „Nanu, wo bist du denn? Schon in Oslo?“ klang ihre Stimme am anderen Ende der Leitung. „Nein, in London.“ „Wann kommst du?“ „Erst im Dezember. Aber dann ganz bestimmt.“ „Was in aller Welt machst du so lange in London?“ „Ich bleibe nicht hier. Ich fahre mit Lady Robinson nach Australien.“ „Nun mach mal einen Punkt!“ „Nein, wirklich, Senta. Ich bin außer Rand und Band vor Freude. Ich schreibe dir heute, und auch Papa und Beatemutti, aber vor allem muß ich dich um einen Gefallen bitten.“ „Hab ich mir gedacht. Aus lauter schwesterlicher Liebe rufst du bestimmt nicht an. Also, spuck es aus.“ „Du mußt mir Klädasche schicken, Senta! Zwei, drei anständige Sommerkleider, ein Paar bequeme Sandalen, ein Paar Schuhe, die ich abends in feinen Hotels tragen kann – und einen Hosenanzug und einen anständigen Badeanzug.“ „Ach, das muß ich. Und woher nehme ich das alles?“ „Ich dachte mir, aus deinem Kleiderschrank.“ „Ach so, das dachtest du!“ „Sentalein, im Ernst. Zu dieser Jahreszeit kann ich nirgends Sommergarderobe kriegen…“ „Ich dachte, wenn du etwas auf der Welt hättest, wäre es Sommergarderobe!“ „Ja, bekleckerte Jeans und geflickte Blusen und verschossene Kleider und ein paar Shorts voll Motorenöl – ja richtig, Shorts
brauche ich auch! Sentachen, im Ernst, es ist furchtbar wichtig, kannst du mir noch heut das Paket schicken? Als Eil, und per Luftpost?“ „Natürlich, Kleinigkeit. Ich habe ja nichts anderes zu tun, Rolf braucht kein Mittagessen und Junior keine frischen Windeln. Du bist mir vielleicht eine, so wie du meine Schwesterliebe ausnutzen kannst. Im Ernst, Sonnielein, natürlich mache ich das, ich klaue den Wagen und fahre zur Post – ja, ich habe alles, was du brauchst, außerdem ein todschickes weißes Trevirakostüm, – und einen Hosenanzug mit viel unten und wenig oben und nichts in der Mitte.“ „Du bist ein Engel, Sentalein. Du, nun wird es zu teuer, ich schreibe dir sofort – grüß alle schön, rufst du gleich Beatemutti an? Und gib Junior ein Küßchen, ich kaufe ihm was Schönes in Hongkong.“ „Du spinnst wohl. Hongkong liegt nicht in Australien.“ „Ich weiß es! Aber zuerst fliegen wir nach Hongkong – ich schreibe dir alles, Sentachen – Mensch, wir haben acht Minuten verquasselt, es wird ein Vermögen kosten!“ „Dafür sparst du das Garderobengeld“, sagte meine Schwester und legte den Hörer auf. Ich schrieb an meine Eltern und an die Schwiegereltern in Hamburg. Ich war in London und kaufte mir ein paar Garnituren ausgesucht hübscher Unterwäsche, und zwei Schlafanzüge, in denen ich mich fein genug fühlen würde, wenn ich mit einer Vertreterin der englischen Aristokratie im gleichen Zimmer schlafen sollte. Und in denen ich nachher Heiko betören konnte. Ich muß zugeben, daß es mir Spaß machte, wieder recht schöne Sachen zu kaufen. Also hatte ich noch meine normale weibliche Eitelkeit, sie war nicht ganz und gar von den Nashörnern zertreten, von den Leoparden aufgefressen oder von den Erdhörnchen zernagt worden! Vor allem aber war ich selbstverständlich in den beiden Konsulaten und bekam ein paar sehr feine, große Stempel in meinen Paß und besorgte auf der Bank amerikanische und australische Dollars. Einladung hin, Einladung her, etwas privates Taschengeld würde ich brauchen. Heiko war sehr großzügig gewesen. Er hatte mir sein ganzes Fernsehhonorar geschenkt. Als Tante Helenes strenger „Onkel Doktor“ kam, um ihr eine Choleraimpfung zu verpassen, ließ ich gleichzeitig meine eigene auffrischen, es war sowieso an der Zeit. Meine anderen Impfungen –
deren habe ich mehrere – waren noch wirksam. Überhaupt versuchte ich so zu handeln, wie es sich einer Arzttochter und Wissenschaftlersgattin geziemt! Das Kleiderpaket kam an, dicke Briefe aus Norwegen und Hamburg flatterten rein. Betty packte Tante Helenes Koffer und zeigte mir, wie Mylady es immer haben wollte. Toilettensachen und Medizin immer in der kleinen Tasche, ebenso leichte Pantoffeln für den weiten Flug – und die bequeme Kaschmirjacke. Unterwegs wurde dann die schmutzige Wäsche in diesem verschließbaren Plastikbeutel gesammelt. Ich blieb stehen und sah mir die kleine Reisetasche gerührt an. Eine kleine, viereckige, vielbenutzte Tasche mit den Initialen H. W. – Helene Weiß – , ein junges unbekanntes Hamburger Mädchen, aus dem eine Persönlichkeit geworden war, ein unsagbar guter, wertvoller, zielbewußter Mensch, der sich eine einzige große Aufgabe gestellt und sein ganzes Dasein darauf eingerichtet hatte. Wie gut konnte ich mich an den Augenblick erinnern, als ich diese Tasche zum ersten Mal gesehen hatte! Es war in dem schönen Manyara-Hotel in Tansania. Ich hatte gefragt, ob die Tasche Lady Robinson gehörte, und sie sagte ja, es sei eine alte Tasche aus ihrer Mädchenzeit, H. W. bedeute Helene Weiß. So bekam ich zu wissen, daß sie es war, die einmal einen sehr eindrucksvollen und packenden Zeitungsartikel über Afrikas Tierwelt geschrieben hatte, einen Artikel, den ich im Krankenhaus las, als ich mit einem Beinbruch dalag – es war der Artikel der mein brennendes Interesse für die Tiere, den Naturschutz und für Afrika geweckt hatte. Mit anderen Worten, es war Tante Helene, Helene Weiß, Helen White, Lady Robinson, der ich letzten Endes mein ganzes Glück und mein reiches, herrliches Dasein verdankte! Eines wußte ich: Wenn ich nun für unser Gepäck verantwortlich sein sollte, dann wäre es nicht unmöglich, daß dies oder jenes schiefgehen könnte. Ich hatte schon einmal eine Jacke in einem Flugzeug liegen lassen und einmal meinen Kulturbeutel im Toilettenraum vergessen. Aber diese kleine, schwarze Tasche mit den etwas abgeblätterten, matt gewordenen Buchstaben, die würde ich hüten, wie ein Staatsmann die allerwichtigsten Papiere über eine eben erfundene Atomwaffe hütet! Die erste, heißersehnte Karte aus Neuguinea kam an. Heiko sei gut gelandet, hätte Mr. Little getroffen, würde per Hubschrauber ins Innere des Landes fliegen. Er war bester Laune, voll Eifer und
Neugier und schickte tausend liebe Grüße. Ich gab Tante Helene die Karte zum Lesen. Es würde ihr nicht auffallen, daß das „H“ in „Heiko“ einen ganz kleinen extra Schnörkel hatte. Die Bedeutung verstand nur ich: Das war so eine Verabredung zwischen uns, aus unserer Verlobungszeit. So ein Schnörkelchen bedeutete: „Ich sehne mich nach dir, und ich liebe dich über alles auf der Welt.“ Bisher hatte ich nie einen Brief oder eine Karte ohne Schnörkelchen bekommen! Burns trug einen Gabardinemantel und einen gewöhnlichen Hut, als er uns zum Flughafen brachte. Tante Helene hatte mir erklärt, daß sie in keiner Weise auffallen möchte. Nix mit Chauffeur in Livree, nix mit „Mylady“ und so. Auf der Teilnehmerliste hieß sie kurz und einfach Mrs. Robinson, was ja in England ein sehr gewöhnlicher Name ist. Mich stellte sie als ihre Nichte vor. „Damit die Leutchen dich nicht für meine Zofe halten“, hatte sie schmunzelnd gesagt. Wir sprachen auch englisch miteinander. Sie war wie damals, als sie an der Sammelreise teilgenommen hatte, wo Heiko und ich die Reiseleitung gehabt hatten: einfach, freundlich, sehr schlicht und unauffällig angezogen. „Erstens hasse ich das blöde Katzbuckeln, zweitens möchte ich ganz im stillen meine Beobachtungen machen“, hatte sie mir erklärt. „Ich soll ja nachher Bericht erstatten und muß unter anderem feststellen, wie die Leute auf das ganze Reiseprogramm reagieren. Das tue ich am besten, wenn niemand sich besonders für mich interessiert.“ Das sah ich ein. Also kamen wir als zwei äußerst uninteressante Gruppenreisende im Flughafen an. Die Teilnehmer der Gruppe waren leicht erkennbar, sie trugen alle dieselben Flugtaschen, die sie zusammen mit ihren Teilnehmerkarten bekommen hatten. Ein freundlicher Herr kam uns entgegen und stellte sich als Reiseleiter vor. Wir sagten unsere Namen, und er kreuzte uns auf der Liste an. „Ich muß eben versuchen, so bald wie möglich meine Schützlinge kennenzulernen“, erklärte er. „Aber Sie müssen entschuldigen, falls ich Sie anfangs ein bißchen durcheinanderbringe! Also, Sie fahren zusammen? Dann wollen wir zusehen, daß Sie im Flugzeug Plätze nebeneinander bekommen – “, er kritzelte „Robinson“ neben „Brunner“ und umgekehrt. „Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, werde ich sie mit Vergnügen
beantworten, falls ich es kann. Ich wünsche Ihnen eine schöne Reise!“ Dann wandte er sich zu den nächsten, und ich spitzte die Ohren. Sie stellten sich als Mr. und Mrs. Stone vor. Mrs. Stone war bildschön. Schwarzhaarig, mit einem feinen, ovalen Gesicht, dunkle Augen unter wunderbar geschwungenen Augenbrauen, und ein Profil, das an eine antike Gemme erinnerte. Sie war gertenschlank und trug einen todschicken Hosenanzug. Der Ehemann war anscheinend viel älter, „mit dünnen Haaren und dickem Bauch“, wie mein Bruder Hans-Jörgen Männer einer gewissen Altersklasse zu beschreiben pflegt. Aber - sein Gesicht war offen und freundlich, während seine bildschöne Frau durchaus nicht besonders freundlich aussah. Sie war nur schön. Nun, dann kannte ich jedenfalls zwei der Teilnehmer. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich krampfhaft nach einem Menschen gesucht, mit dem ich Kontakt bekommen konnte. Aber jetzt – jetzt konnte es mir ja eigentlich gleichgültig sein. Ich war mit dem Menschen zusammen, der mir – abgesehen von Heiko, natürlich – die allerliebste Begleitung war! „Du siehst so gedankenvoll aus, Sonja“, lächelte Tante Helene. „Tue ich das? Ich sitze nur und denke daran, wie gut ich es habe. Daß ich diese Reise machen darf – und das mit einem Menschen, der mir so unsagbar lieb ist – mit einem Menschen, der genauso – so – so…“ „… töricht ist wie du selbst“, lächelte Tante Helene. „Ein Mensch, der um die ganze Erde fliegt, nur um so ein paar kleine schwarznasige Eukalyptusfresser zu sehen und zu streicheln!“ „Entschuldige, Tante Helene, der, an den ich grade dachte, den ich auch in Australien sehen werde, hat keine schwarze Nase, und er ißt auch keine Eukalyptusblätter, sondern Kartoffelpuffer!“ „Aber streicheln wirst du ihn bestimmt“, sagte Tante Helene. Sie stand auf und nahm ihre Handtasche. Der Reiseleiter hatte uns zur Paßkontrolle gebeten. Die Lichter von London, die durch die diesige Luft nur zu ahnen gewesen waren, verschwanden nun ganz. Vor uns erloschen die Leuchtbuchstaben, die uns ermahnt hatten, uns festzuschnallen und nicht zu rauchen. Wir hatten es wunderbar bequem. Von den drei Sitzen nebeneinander war einer frei, da hatten wir „Lebensraum“, wie Tante Helene sagte, und konnten Handtaschen und Fotoapparate schön hinlegen.
„Soll ich dir die Pantoffeln rausholen, Tante Helene?“ „Noch nicht, vielen Dank, wir werden ja gleich in Frankfurt sein, dann müssen wir wieder raus. Aber nachher ziehe ich sie schon an.“ „Sagst du es mir, bitte, wenn ich sonst etwas für dich tun kann?“ Tante Helene lachte. „Drücken dich deine Pflichten? Denk nur nicht, daß ich andauernd Betreuung brauche, ich bin es gewohnt, allein zurechtzukommen!“ „Das weiß ich, Tante Helene, aber jetzt hast du mich. Du brauchst nicht selbst deine Sachen rauszukramen.“ „Aus der Tasche auf meinen Schoß! Sag mal, ist es dir nicht klar, daß ich unzählige Male meinen Schlafsack und mein Kochgeschirr ausgepackt habe, wenn ich mutterseelenallein irgendwo in der afrikanischen Steppe war, damit ich überhaupt zum Schlafen und Essen kommen konnte? Daß ich aus dem Kanister habe tanken müssen…“ „… während vier Elefanten zuschauten und ihre Rüssel in den Tank steckten“, ergänzte ich. „Nein, das nicht, aber ich hatte einmal eine Reifenpanne weit weg vom nächsten Dorf, und ich mußte das Rad wechseln mit offener Autotür, so daß ich gegebenenfalls schnell reinschlüpfen konnte – weil nämlich ein Leopard irgendwo in der Gegend rumlungerte! Und eines Morgens, als ich aus dem Wagen guckte – ja, ich hatte im Wagen geschlafen – , spielten vier Löwenkinder teils unter, teils um das Auto! Es dauerte zwei Stunden, bis ich starten konnte!“ „Es muß merkwürdig für dich sein, so eine zahme Sammelreise mitzumachen“, sagte ich. „Für dich doch auch“, meinte Tante Helene. „Eigentlich nicht, jedenfalls nicht bei dieser Gelegenheit, wo wir sozusagen ins große Unbekannte fahren. Jetzt bin ich genauso gespannt wie bei meiner ersten Afrikareise. Nur das Fliegen beeindruckt mich nicht mehr – das heißt, beeindrucken schon, aber nicht so wie das erste Mal. Aber es wird mir immer ein Rätsel bleiben, wie so viele Tonnen Metall und Stahl und Treibstoff und Menschen in die Luft gehoben werden können und stundenlang da oben bleiben! Heiko hat versucht, mir das alles zu erklären, aber da bin ich hoffnungslos unbegabt.“ „Ich bin genauso unbegabt“, lächelte Tante Helene. „Ach du liebe Zeit, wir müssen uns schon wieder anschnallen, wir sind ja
gleich in Frankfurt!“ „Halt die Daumen, daß der Platz neben uns frei bleibt“, schlug ich vor. „Wenn du meinst“, antwortete Tante Helene. „Aber ich fürchte, es ist vergebliche Mühe.“ Das war es auch. Denn als wir nach einer Stunde Aufenthalt wieder das Flugzeug bestiegen – das taten wir übrigens nicht, wir wanderten bequem durch einen Tunnel vom Warteraum direkt ins Flugzeug –, waren etliche Fluggäste dazugekommen, und auf dem Sitz neben uns nahm eine nicht mehr ganz junge Dame Platz. Als sie ihr Handgepäck verstaute, sah ich, daß sie die graurote Flugtasche unserer Gruppe bei sich hatte. Sie lächelte und nickte, als sie gleichzeitig meine Tasche entdeckte, und sagte in etwas unbeholfenem Englisch: „Ach, Sie fliegen auch nach Australien!“ Wir bejahten es, und ich bot mich an, ihr beim Verstauen des Handgepäcks behilflich zu sein. „Ach, da oben kann man es hinlegen – ich wußte nicht – wissen Sie, es ist mein erster Flug.“ Ich hätte ihr so gern gesagt, daß sie ruhig deutsch sprechen durfte, aber Tante Helene hatte mich gebeten, beim Englischen zu bleiben. Aber jetzt sprach sie selbst deutsch: „Möchten Sie vielleicht hier am Fenster sitzen? Sehr viel zu sehen gibt es allerdings nicht…“ „Oh, Sie sprechen deutsch – wie herrlich! Sie auch?“ Sie sah mich fragend an. „Ja, das tu ich. Nicht fehlerfrei, aber es geht.“ Ich zwängte mich an der Dame vorbei, damit Tante Helene von ihrem Fensterplatz aufstehen und mit der Neuangekommenen tauschen konnte. „Es ist aber viel zu lieb von Ihnen…“ „Nicht der Rede wert! Außerdem sitze ich gern dicht am Gang, Sie werden es morgen früh verstehen, wenn die Leute vor den Toiletten Schlange stehen. Dann ist es praktisch, im geeigneten Augenblick sich schnell anschließen zu können. Übrigens, mein Name ist Robinson, und dies ist meine Nichte, Frau Brunner.“ Die neu Angekommene hieß Frau Werner. Als das Flugzeug sich in Bewegung setzte, drückte sie beinahe die Nase am Fenster platt. Und so blieb sie sitzen, während die mächtigen Triebwerke uns in die Lüfte hoben, bis wir über der Wolkendecke waren und nichts mehr von der Landschaft sahen.
Sie drehte sich zu mir um. „Wissen Sie, es ist so schrecklich aufregend, wenn man alles zum ersten Mal erlebt!“ sagte sie, als ob sie sich verpflichtet fühlte, sich zu erklären. „Wem sagen Sie das? So lange ist es auch nicht her, seit ich meinen ersten Flug erlebte“, antwortete ich. „Ich war bestimmt zehnmal aufgeregter, als Sie es jetzt sind!“ „Aber es ist ja nicht nur mein erster Flug – ich fliege zum ersten Mal in einen anderen Erdteil!“ „Ich war auch nicht in Australien – in Asien auch nicht“, gab ich zu. „So im tiefsten Innern bin ich wohl genauso aufgeregt wie Sie!“ „Sonja, jetzt möchte ich gern meine Pantoffeln“, jetzt sprach Tante Helene wieder englisch. Aha, ich begriff: Wenn wir unter uns eine andere Sprache gesprochen hätten, wären die Mitreisenden neugierig geworden, hätten vielleicht indezente Fragen gestellt. Tante Helene wollte doch eine kleine bescheidene, anonyme Gruppenreisende sein und nicht als die Verwalterin eines sehr bekannten wissenschaftlichen Instituts erkannt werden. „Weck mich, wenn es etwas zu essen gibt“, sagte sie, setzte sich bequem zurecht und schloß die Augen. Neben mir saß Frau Werner und las in einem deutschsprachigen Australienführer. Auf der anderen Seite des Mittelganges ließ sich Ehepaar Stone Drinks bringen. Mr. March, unser Reiseleiter, war aufgestanden, guckte nach seinen Schützlingen, beantwortete, Fragen und erzählte uns, daß wir in etwa einer Stunde Europa verlassen würden. Am späten Abend würden wir in Bahrein ankommen. Mir war es nicht nach Lesen und nicht nach Schlafen. Ich lehnte mich zurück und hing meinen eigenen Gedanken nach. In zwölf Tagen würde ich die ersten Koalas zu sehen bekommen. In sechzehn Tagen würde ich Heiko bei mir haben. Wo war er wohl jetzt – in diesem Augenblick? Wenn ich mich nicht irrte, war es jetzt frühmorgens in Australien. Was hatte er heute vor? War er irgendwo im Busch, in der Wüste, vielleicht in einem Eingeborenendorf? Lieber Gott, gib mir ihn gesund wieder. – Ich bewegte nicht die Lippen, ich dachte nur in meiner Muttersprache. Denn der liebe Gott versteht alle Sprachen.
Essen mit Stäbchen „Tante Helene! Tante Helene! Guck doch mal!“ Nach achtzehnstündigem Flug war Tante Helene so halb eingeschlafen. Jetzt faßte ich sie am Arm. „Tante Helene, du mußt rausgucken!“ Sie machte die Augen auf – gleich darauf sperrte sie sie auf! Das taten übrigens alle Fluggäste. Denn was da unten uns entgegenstrahlte, war so phantastisch, so märchenhaft, daß mir die Worte fehlten – und sie fehlen mir eigentlich noch. Ein Lichtermeer in Weiß, Gelb, Rot, Blau, Grün – Lichter, die sich im dunklen, blanken Wasser spiegelten, Lichter, die uns erzählten, daß hier eine große, bunte Stadt lag, eine Stadt voll Menschen und turbulenten Lebens. Wir waren über Hongkong. Meine Uhr, die ich seit der Abreise nicht weitergestellt hatte, zeigte zwölf. Zu Hause war es Mittag – hier war es neunzehn Uhr und ganz dunkel. Und aus dieser Dunkelheit blühen die Lichter wie bunte Blumen aus der schwarzen Erde. „Zwicke mich in den Arm, Tante Helene – aua! Nicht so doll – bitte nicht ein zweites Mal, es ist mir jetzt klar, daß ich wach bin und schon halb chinesisch – o Tante Helene, ist dies nicht ein Märchen?“ „Eine gute Eigenschaft hast du…“, sagte Tante Helene. „Eine? Heiko behauptet, ich habe mehrere!“ „Eine, die gerade jetzt auffällt“, verbesserte Tante Helene. „Du kannst dich so wunderbar freuen – du erlebst alles so bewußt!“ „Ja, wer würde das nicht tun in einem solchen Augenblick! Zu wissen, daß man auf der anderen Seite des Erdballs ist, daß man gleich Menschen sehen wird, die von einer ganz anderen Rasse sind, eine unverständliche Sprache sprechen – Menschen mit anderen Sitten und zum Teil anderen Begriffen – ist das nicht aufregend?“ „Natürlich ist es das. Aber alle fassen es nicht so auf wie du. Da hat das Schicksal dir was Schönes in die Wiege gelegt – die Fähigkeit, so intensiv zu erleben, so bewußt alles in dich aufzunehmen!“ „Hast du denn nicht dieselbe Eigenschaft, Tante Helene?“ „O doch, ich glaube schon.“ Nun war die Landebahn dicht unter uns. Wir hatten schon das Geräusch gehört, als das Fahrgestell aus dem riesigen Rumpf des
Flugzeugs runtergelassen wurde. Noch näher – noch näher – einen ganz kleinen Hopser – und wir waren in Hongkong gelandet. Eine feuchte, schwere Hitze schlug uns entgegen. Ich hatte etliche Kleidungsstücke unterwegs fallengelassen, jetzt wünschte ich, daß ich noch mehr ausgezogen hätte. Unser Reiseleiter nahm uns wie eine gewissenhafte Henne ihre Küken unter die Fittiche. „Alle bitte hierbleiben, während ich mich ums Gepäck kümmere“, ermahnte er uns. „Das ist eine der Annehmlichkeiten bei einer Sammelreise“, sagte Tante Helene. „Himmlisch, an gar nichts denken zu müssen! Weder Koffer noch Fahrkarte noch Hotel – das ist ja direkt eine Erholung!“ „Und keine Reifen zu flicken, während Leoparden auf einen lauern!“ sagte ich. „Das war nicht Flicken, es war Reifenwechsel!“ „Aber bei uns war es Flicken“, sagte ich. „Heiko flickte, und ich mußte immer auf zwei Löwinnen achten, die beunruhigend schlank waren und bestimmt einen gesunden Appetit hatten!“ Die Koffer waren da, sie und wir wurden in einen Bus gepackt, eine reizende junge Dame mit Mandelaugen und schwarzen Haaren und Schuhgröße 33 (schätze ich) ergriff ein Mikrofon und hieß uns willkommen und erklärte uns, durch welche Straßen wir fuhren und in welcher Gegend unser Hotel lag. Es war alles so verwirrend, daß ich nur einen Bruchteil von dem, was sie sagte, mitbekam. Es war mir nur klar, daß wir nicht auf der Insel Hongkong waren, sondern in dem Stadtteil Kowlon auf dem Festland. Morgen würden wir rüberfahren, heute ginge es direkt zum Hotel in einer der Hauptstraßen Kowlons. Große, bunte Schilder mit unbegreiflichen Schriftzeichen – Autos in Hülle und Fülle, und Menschen, Menschen überall! Ein bunter Ameisenhügel war es – ein heißer, schwüler Ameisenhügel: Ich war Hitze gewohnt, aber nicht diese feuchte, unfrische Hitze. Und so ein merkwürdiger Geruch überall! Auf den Straßen, im Bus, nachher auch im Hotel, ja sogar im klimatisierten Hotelzimmer. Ein fremder Geruch, ein aufdringlicher Geruch, und ganz undefinierbar. Dann waren wir in einer großen, roten Hotelhalle. Alles war rot, Tische, Stühle, Sofas – rotlackiertes Holz mit roten Bezügen. Rote Läufer und Teppiche, rote Wände – und sogar ein mächtiger Zerberus, der vor dem Eingang stand und nach dem Rechten sah, trug ein kosakenähnliches Kleidungsstück in flammend Rot.
Kleine, dienstbeflissene Hotelpagen in roten Uniformen – hinter einem roten Tresen ein höflicher schlitzäugiger Mann, der Mr. March ein ganzes Bündel Schlüssel aushändigte. „Mr. und Mrs. Connor – bitte, Nummer elfhundertvierzehn – “, ich warf schnell einen Blick auf das Ehepaar Connor. Brillenträger, Signetring am kleinen Finger – das war er. Blaue Tasche mit E. C. in Goldbuchstaben – das war sie. So hatte ich es gemacht, als ich Reiseleiterassistentin war, mir ein paar Einzelheiten bei jeder Person gemerkt, bis ich alle auseinanderhalten konnte. „Mrs. Werner und Mrs. Henderson“, – die eine kannte ich, die andere fiel durch ihre außergewöhnliche Länge und ihr mageres Gesicht auf. Die beiden begrüßten sich und zogen von dannen. Ach, wie schön hatte ich es, daß ich nicht mit irgendeinem wildfremden Menschen das Zimmer teilen mußte! Ich wußte, woran ich war! „Mr. und Mrs. Stone – “, er nahm den Schlüssel, sie saß auf einem roten Sofa und blätterte in einer Illustrierten. Ihr war jedenfalls nicht die Gabe in die Wiege gelegt, alles Neue bewußt zu erleben und sich darüber zu freuen! Die Ärmste! Sie war um ganz was Schönes betrogen worden. „Mrs. Robinson und Mrs. Brunner – “, Tante Helene nahm den Schlüssel in Empfang, und ich sammelte unser Handgepäck. Ein junges Mädchen in roter Uniform bediente den Fahrstuhl – sagte ich Stuhl? Der Lift war so groß, daß man eher „Fahrzimmer“ sagen müßte – und ließ uns in der elften Etage aussteigen. „So!“ sagte Tante Helene. „Da wären wir! Gar nicht übel, was meinst du?“ Das Zimmer war groß, die Betten sahen gut aus, da waren bequeme Sessel und reichlich Tischplatz. Ein großer eingebauter Schrank, und hinter einer kleinen Tür ein pieksauberes Badezimmer. „Wollen wir knobeln? Wer darf zuerst ins Bad?“ Jetzt sprach sie deutsch. Das war überhaupt so eine Sache mit uns und den Sprachen, manchmal plauderten wir auf englisch, oft deutsch. Jetzt mochte ich es gern, daß Tante Helene mit mir deutsch sprach – obwohl ich wohl Englisch ein bißchen besser konnte. Daß wir eine Sprache für uns hatten, gab mir ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Gefühl, daß wir uns gegenseitig gern mochten und es schön fanden, ab und zu allein, ohne Reisegruppe zu sein. „Geh zuerst, Tante Helene“, sagte ich. „Inzwischen packe ich das Notwendigste aus. Welches Kleid geruhen gnädige Frau heute abend
zu tragen?“ „Das dunkelgrüne, bitte, und die Wildlederschuhe dazu. Übrigens, wenn du so höflich bist, werde ich wohl dein Gehalt verdoppeln müssen!“ „Fang lieber an, mir einen Pfennig pro Monat zu geben“, schlug ich vor. „Von der Verdoppelung werden wir dann nachher öfters sprechen.“ Tante Helene nahm ihren Kulturbeutel und den Morgenrock, dann lächelte sie. „Du hast übrigens erhebliche Fortschritte im Deutschen gemacht“, meinte sie. „Kunststück! Ich bin doch auf deutsch verheiratet! Immer wenn Heiko und ich allein sind, sprechen wir deutsch. Sonst geht es ja den ganzen Tag auf englisch. Ja, und natürlich Suaheli, wenn unsere eingeborenen Freunde kommen.“ „Und was ist mit deiner Kollegin Kerstin?“ „Ja, mit der spreche ich eine sonderbare Mischung von Norwegisch und Schwedisch. Aber eines sage ich dir, Tante Helene, wenn du uns zusammen mit einem finnischen Ehepaar irgendwo hinschickst, dann streike ich! Finnisch hat fünfzehn Kasus – oder heißt es Kasi?“ „Es heißt jedenfalls Fälle“, sagte Tante Helene. „Gut, ich werde euch dann lieber ein paar eskimoische oder mesopotamische Mitarbeiter verschaffen!“ Mit diesem reizenden Versprechen verschwand sie ins Bad, und ich machte mich ans Auspacken. Unten im großen, schönen Speisesaal war ein langer Tisch für unsere Gruppe reserviert. „Reserved for Magellan Group“ stand auf einem Schild. Ja, unser Reiseunternehmen hieß „Magellan Ltd.“. Das Reiseunternehmen, wo Tante Helene wahrscheinlich Hauptaktionärin war. Sie hatte mir erklärt, daß das der Hauptgrund war, warum sie so wenig wie möglich auffallen möchte. Denn wenn jemand erführe, daß sie hier stark engagiert war, dann hätten wir den Salat! Dann würde sie alle Fragen und alle Beschwerden kriegen. Als eine ganz uninteressante Mrs. Robinson konnte sie ungestört ihre Beobachtungen machen und selbst eventuelle Änderungen vorschlagen – und ihre Ruhe haben! „Und ich?“ hatte ich gefragt. „Vergiß nicht, daß etliche Millionen Menschen mich vor ein paar Wochen auf dem Bildschirm gesehen haben – in einem Mary-Green-Team! Wenn sie mich nun wiedererkennen und fragen?“
„Ja, leugnen kannst du es ja nicht“, sagte Tante Helene. „Aber daraus brauchen die Leute ja nicht unbedingt zu schließen, daß ich die Verwalterin der Stiftung bin und Mitinhaberin des Magellans.“ Am Tisch lernten wir die restliche Gruppe kennen. Ich konnte ja nicht gleich alle auseinanderhalten – aber ich merkte mir einen lustigen jungen Mann mit munteren Sommersprossen und einem roten Vollbart – er entpuppte sich übrigens als Lehrer – , dann zwei Damen „reiferen Alters“ die ungeheuer reisetrainiert wirkten, sehr schlicht und praktisch angezogen waren und hin und wieder Worte fallen ließen wie „ach, in Ceylon war es doch viel wärmer“ oder „der Flug nach Kanada war längst nicht so ruhig wie dieser“ und ähnliches. Sie waren Schwestern, hörten auf den nicht grade ungewöhnlichen Namen Smith und waren, wie es sich im Laufe der Weiterreise zeigte, immer recht nett und hilfsbereit. Diese zwei und der Rotbärtige, Ehepaar Stone, Frau Werner und ihre Zimmergenossin und dann Tante Helene und ich saßen alle an dem einen Ende des Tisches. In der Mitte Mr. March, und am anderen Tischende die zweite Hälfte der Gruppe. Die Menükarten waren auf chinesisch und auf englisch gedruckt. Ich mußte plötzlich an eine Geschichte denken, von einer jungen Dame, die ein Kleid mit chinesischen Schriftzeichen von einer Speisekarte dekoriert hatte. Als sie zufällig einen Chinesen traf, bekam er einen Lachkrampf. Das, was auf dem Kleid stand, bedeutete nämlich: „Sehr wohlschmeckend und nicht zu teuer.“ Ich erzählte die Geschichte, alle lachten, und dieses Gelächter brachte uns einander näher. Es dauerte nicht lange, bis ein Gespräch im Gange war. „Daß man noch diese unmöglichen Schriftzeichen benutzt“, sagte Mrs. Henderson. „Und dann sage jemand, daß das neue China fortschrittlich ist!“ „Die Schriftzeichen sind ein wahrer Segen für China“, sagte der Rotbärtige, der übrigens auf den Namen Nicol hörte. „Aber Hongkong ist ja nicht China“, meinte Mr. Connor. „Hongkong ist ja eine britische Kronkolonie!“ „Ach du liebe Zeit!“ rief ich. „Daran habe ich nicht gedacht! Letzten Endes sind wir vielleicht gar nicht in Asien, sondern in Großbritannien!“ „Na, in Asien sind wir schon“, schmunzelte Tante Helene. „Jedenfalls ganz bestimmt hier in Kowlon, auf dem Festland. – Bitte, nur ein Stück Fisch und etwas Gemüse“, wandte sie sich an den
Kellner, der sich die Bestellungen notierte. Ich wählte ein chinesisches Gericht. Erstens bin ich wahnsinnig neugierig auf alle fremden Speisen, zweitens hat meine kochfreudige Schwester Senta so oft chinesisch gekocht – sie hat ein dickes chinesisches Kochbuch und ein Gewürzregal, um das jeder Meisterkoch sie beneiden konnte – , daß ich das größte Vertrauen zu der chinesischen Küche habe. Bei jedem Gedeck lagen sowohl ein europäisches Besteck als auch Stäbchen. Mrs. Connor betrachtete die letzteren und zuckte die Achseln. „Und damit ißt man im zwanzigsten Jahrhundert!“ äußerte sie. „Wie liegen die heute doch hier weit zurück!“ „Wenn wir es nicht sind, die zurückliegen“, sagte Mr. Nicol. „Wir, die wir so tolpatschig sind, daß wir das Essen mit vier Zinken in den Mund verfrachten müssen und nicht die elegante Kunst des Stäbchenessens beherrschen. Und es ist jedenfalls eine Tatsache, daß es viel mehr Menschen auf der Erde gibt, die mit Stäbchen essen und nicht mit Gabeln!“ Das Essen wurde gebracht, und dann hatte ich meinen großen Augenblick. Dank meiner energischen Schwester hatte ich nämlich das Stäbchenessen schon mit sechzehn Jahren gelernt! Als sie ihr chinesisches Kochbuch bekam, besorgte sie sich auch etliche Paare Eßstäbchen. Aber Vati hatte es zu eilig, Mutti fehlte der Mut, meine Geschwister waren zu hungrig – sie griffen alle zur Gabel, und Senta saß da und sah enttäuscht aus. Da tat sie mir leid, außerdem war es ja immer so bei uns, daß die eine dasselbe tat wie die andere. Also ergriffen wir beide unsere Stäbchen, trainierten eifrig nach den Anweisungen im Buch – und siehe da, es ging! Nachdem Senta geheiratet hatte, kochte sie sehr oft chinesisch, und jedesmal wenn Heiko und ich sie besucht haben, konnten wir weiter trainieren. Also ergriff ich jetzt die Stäbchen, sandte schnell ein Stoßgebet zu Konfuzius oder Brahma oder Buddha oder wie er nun hieß, er möge mich davor bewahren, daß die Fleischstückchen mir wieder in den Reis fielen. Der chinesische Gott der Eßkunst mußte mich gehört haben, denn es ging wirklich tadellos. „Sieh einer an!“ rief Mr. Stone. „Sie können es ja, Mrs. Brunner!“ Ich erzählte, wie ich es gelernt hatte, und die, die das chinesische Essen bestellt hatten, versuchten, es mir nachzumachen. Es gab viel
Gelächter und viele Kleckse auf dem Tisch. Am anderen Tischende fingen sie auch an zu versuchen, und zuletzt lachten alle – nur nicht Mrs. Stone. „Was ist es eigentlich, was Sie da essen?“ fragte sie. „Unter anderem Tintenfisch“, erklärte ich. „Und etwas Schweinefleisch ist auch dabei – und Sojabohnenkeimlinge – ja und Ingwer. Kosten Sie doch“, ich hielt ihr die Platte hin. „Es ist ja so reichlich hier.“ Sie lehnte es mit einem Schaudern ab. „Ich esse nur, was ich kenne“, sagte sie und nahm mit ihrer westlichen Gabel ein Stück Yorkshirepudding zu ihrem englischen Steak. „Ich bereue, daß ich das Gericht nicht bestellt habe“, sagte das eine Fräulein Smith. „Dabei versuche ich doch sonst immer, die Spezialitäten der verschiedenen Länder kennenzulernen! In Frankreich esse ich Bouillabaisse und in Deutschland Schlachtplatte, in Italien Minestrone und in der Schweiz Käsefondue. Morgen esse ich bestimmt Tintenfisch oder kantonesisches Huhn!“ „Was haben Sie in Kanada gegessen?“ fragte Tante Helene. „Dicke Eierkuchen mit Marple Syrup zum Frühstück!“ lachte Miß Smith. „Sie schmecken phantastisch gut!“ Von den kulinarischen Erfahrungen glitt das Gespräch auf andere Spezialitäten und Sitten in fremden Ländern, und es wurde allmählich eine sehr fröhliche Tischrunde. Nach dem Essen zog Tante Helene sich zurück. „Ich schenke mir den Kaffee“, erklärte sie. „Ich glaube, ich bin bettreif.“ „Soll ich mitkommen, Tante Helene?“ „I wo, trink du deinen Kaffee, komm wann du willst. Schlafen kann ich bestimmt lange nicht, mein Körper hat sich noch nicht auf die neue Uhrzeit eingerichtet. Er glaubt, daß es drei Uhr nachmittags ist! Aber ich freue mich auf die Waagerechte!“ So ging es auch ein paar anderen Gästen. Ich ging mit Frau Werner rüber in das schöne Nebenzimmer, wo der Kaffee serviert wurde. Sie hatte am Tisch sehr wenig gesagt, aber ich hatte das Gefühl, daß sie Englisch ganz gut verstand. Das sagte ich ihr auch. „Das stimmt“, gab sie zu. „Verstehen ist aber eins, sprechen ist was anderes!“ „Das kommt von selbst, wenn man es muß!“ tröstete ich. „Das weiß ich aus Erfahrung!“
Wir fanden einen freien Tisch, plauderten weiter auf deutsch. Sie erzählte, wie sie zu dieser Reise gekommen sei. In Australien wohnte ihre Schwester, die sie zwanzig Jahre nicht gesehen hatte. Als sie vor ein paar Monaten eine Erbschaft bekam, wollte sie das Geld dazu verwenden, die weite Reise zu der Schwester zu machen. „Aber es war furchtbar teuer“, erklärte sie. „Dann hat aber mein Reisebüro diese englische Gruppenreise ausfindig gemacht, so wird es viel, viel billiger, auch wenn ich den Weiterflug von Caims nach Melbourne zum Teil selbst zahlen muß. Dort schließe ich mich der Gruppe wieder an.“ Mr. Nicol tauchte neben unserem Tisch auf. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ fragte er auf deutsch. „Oh!“ rief Frau Werner. „Sie sprechen auch deutsch!“ „Es bleibt mir nichts anderes übrig“, lächelte er in seinen roten Bart. „Ich bin nämlich Sprachlehrer – Deutsch und Latein“, fügte er hinzu. „Dann bitte lieber Deutsch als Latein!“ bat ich. „Ja, wenn Sie deutsch sprechen, kann ich etwas fragen“, sagte Frau Werner eifrig. „Sie sagten doch am Tisch, daß die chinesischen Schriftzeichen ein Segen für das chinesische Volk sind. Wäre es nicht ein größerer Segen, wenn sie dieselben Buchstaben hätten wie in Europa und Amerika und Australien und…“ „Das Beste wäre natürlich, wenn sie beides könnten“, räumte Mr. Nicol ein. „Aber es ist eine Frage, ob es nicht noch besser für uns wäre, wenn wir ein ähnliches System wie das chinesische hätten. Sehen Sie, China hat eine ganze Unmenge Dialekte, so viele, daß z. B. ein Mann aus dem Norden kein Sterbenswort versteht, wenn ein Südchinese spricht. Aber schriftlich können sie sich immer verständigen! Sie wissen, die Schriftzeichen bedeuten nicht Buchstaben, sondern ganze Begriffe. Wenn wir etwas Ähnliches in der westlichen Welt hätten, wäre ich, zum Beispiel, so ziemlich überflüssig!“ Frau Werner nickte eifrig: „Ja, ich verstehe! Wenn wir alle dieselben Schriftzeichen hätten! Wenn ich dann einen Brief an einen Franzosen schriebe…“ „… würde er ihn verstehen, ohne ein Wort Deutsch zu kennen! Wenn Sie z. B. das Wort ,Kind’ aufs Papier brächten, würde der Franzose das Zeichen als ,enfant’ verstehen, der Italiener würde es als ,bambino’ lesen, der Engländer als ,child’…“
„… ein Norweger, Schwede oder Däne als ,barn’“, ergänzte ich. „Eben! Tatsache ist, daß man hier viel weiter gekommen ist als wir“, sagte Mr. Nicol. Da kam eine Stimme vom Nachbartisch: „Entschuldigen Sie, ich verstehe nicht viel Deutsch, aber ich habe das Gefühl, daß Sie über die Zeichenschrift sprechen?“ Es war Mr. Stone, der fragte. Mr. Nicol gab ihm auf englisch eine kurze Zusammenfassung von dem, was gesagt worden war. Mr. Stone nickte: „Ja, und wie wird die Schrift wohl entstanden sein? Bestimmt dadurch, daß die Leute vor etlichen tausend Jahren damit angefangen haben, den Begriff, den sie ausdrücken wollten, zu zeichnen! Dann wurden die Zeichnungen allmählich vereinfacht, dann kombiniert, dann stilisiert – bis sie also so aussahen, wie wir sie hier sehen!“ Die eine Schwester Smith stand auf und kam rüber zu uns. „Wissen Sie, daß ich mich so mit Menschen unterhalten kann, deren Sprache ich nicht kenne? Nicht mit Schriftzeichen, sondern mit den Händen!“ „Mit den Händen – denken Sic an die Taubstummensprache?“ „Genau! Ich war nämlich Taubstummen-Lehrerin. Ich bin zu Kongressen im Ausland gewesen, und wenn es mit den Sprachkenntnissen haperte, konnte ich mir oft mit der Zeichensprache helfen.“ Wir baten sie, uns eine Kostprobe zu zeigen. „Ja, zum Beispiel…“, sie führte die rechte Hand schnell zur Schläfe, wie ein Militärgruß, „das bedeutet Mann.“ Dann legte sie die Hand unter die rechte Brust. „Das ist ,Frau’ – und dies ist das Zeichen für ,Kind’.“ Sie hielt die rechte Hand in Hüfthöhe, mit der Handfläche nach unten. Mr. Stone nickte, lebhaft interessiert. „Aber es gibt doch wohl nicht Zeichen für alles? Nicht für ganz seltene Worte?“ „Nein, dann benutzen wir das Fingeralphabet.“ „Dann sind Sie also genauso weit, abhängig von der jeweiligen Sprache.“ „Stimmt. Aber es gibt jedenfalls so viele internationale Wortzeichen, daß ich in keinem Land zu verhungern brauchte, wenn ich nur jemanden fände, der die Taubstummensprache verstünde. Ich könnte ihm jedenfalls ,Wasser’ und ,Brot’ sagen.“
Mr. Stone lachte. „Das wäre allerdings ein etwas einseitiges Menü, aber immerhin, wenn man am Verhungern ist…!“ Dann wandte er sich zu seiner schönen Frau. „Ist das nicht interessant, Liebling?“ Sie zuckte die Schultern. „Wir brauchen uns ja nicht darum zu kümmern. Mit Englisch kommt man überall durch“, sagte sie und las dann weiter in ihrer Illustrierten. Ich warf einen kurzen, verstohlenen Blick auf sie. Sie sah gar nicht dumm aus, im Gegenteil. War sie vielleicht menschenscheu, oder war sie ganz einfach übermüdet von dem weiten Flug? Dann sollte sie lieber ins Bett gehen und nicht „wie ein versteinertes Gewitter“ wie mein Schwager Rolf sagt, hier herumsitzen! Es wurde viel zu spät, bevor ich endlich mit dem feinen Fahrstuhl nach oben fuhr. „Na, du Nachteule“, sagte Tante Helene. Sie lag im Bett und las. „Ihr habt euch wohl gut unterhalten da unten? Hast du was Interessantes zu wissen bekommen?“ „Ja“, sagte ich und zog Sentas Kleid über den Kopf. „Ich habe zu wissen bekommen, daß wir gar keine Sprachprobleme hätten, falls wir so vernünftig gewesen wären wie die Chinesen und die Taubstummen!“ Bevor ich ins Badezimmer verschwand, warf ich einen Blick auf Tante Helene. Sie sah aus wie ein lebendig gewordenes Fragezeichen.
Eine Packung Kekse Als ich am folgenden Morgen aufwachte, war es halb sieben. Ich guckte rüber zu Tante Helene. Ihr Bett war leer. Aber im Bad rührte sich was, und da kam sie. Mit einer Bakelittasse in jeder Hand. „Na, du bist wach, das ist fein! Bitte schön, hier ist dein Morgenkaffee! Und hier Sahne.“ Sie legte mir eine kleine Stannioltüte aufs Bett. „Geklaut im Flugzeug. Kekse auch, aber ich habe nur die paar hier, erinnere mich daran, daß ich heute welche kaufe!“ „Tante Helene, du bist zu gut für diese Welt! Wie hast du bloß Morgenkaffee hervorgezaubert? Ich dachte, ich müßte nun drei Wochen lang morgens Tee trinken, was nebenbei gesagt eine Strafe wäre!“ „Für mich auch“, gab Tante Helene zu. „Ich habe mich widerstrebend mit der englischen Küche versöhnt, aber ich werde nie so englisch, daß ich morgens Tee trinken kann! Deswegen habe ich immer meinen Mini-Spiritusapparat mit auf Reisen, wenn die Gefahr des Morgentees besteht. Und ein Glas Pulverkaffee und ein paar Kekse.“ „Was sagt denn dein böser Arzt zu deinem Kaffeetrinken? Darfst du das?“ „Was heißt hier darf? Ich soll! Ich muß!“ „Ich dachte nur, du hättest vielleicht einen zu hohen Blutdruck“, sprach die Arzttochter. „Nein, zu niedrig! Ich kann so viel Kaffee trinken, wie ich will, und morgens will ich unbedingt.“ „Aber Tante Helene, wie wirkt sich der niedrige Blutdruck sonst aus? Du mußt bestimmt Rücksicht darauf nehmen!“ „Ich nehme keine Rücksicht, ich nehme Tabletten! Wie es sich auswirkt – na ja, ab und zu ein bißchen Müdigkeit, ein klein wenig Schwindelgefühl – weißt du, es ist eben die alte Maschine, die Verschleißerscheinungen zeigt. Nicht der Rede wert!“ „So, das ist es nicht! Du sollst hübsch die alte Maschine pflegen und alles tun, was der Arzt sagt, und dich selbst schonen! Wir wollen dich lange, lange behalten, verstehst du das? Tante Helene, nun werde ich für einen Augenblick ganz ernst. Du weißt selbst, daß du unentbehrlich bist…“ „Kein Mensch ist unersetzlich, Sonjalein.“
„Doch!“ rief ich. „Du bist es! Und Heiko ist es! Und ich könnte noch ein paar Beispiele erwähnen! Wer sollte deine Arbeit übernehmen? Welcher Mensch hätte dein Herz und deinen Verstand, deine Einsicht, deine grenzenlose Tierliebe, dein Verantwortungsgefühl…“ „Hör auf, Sonja! Sonst wirst du gleich ,deine Brutalität’ hinzufügen können! Kind, die Frage, die du da in unsachlichen und sehr übertriebenen Worten stellst, werde ich dir bei Gelegenheit beantworten. Glaub nun nicht, daß ich mich nicht mit dem Problem der Nachfolge beschäftigt habe. Aber das werden wir besprechen, wenn wir mehr Zeit haben und wenn Heiko dabei ist. So, und nun mußt du aus den Federn, und das ein bißchen hoppla!“ „Federn dürfte etwas übertrieben sein“, meinte ich und schlug die dünne Wolldecke und das Laken beiseite. „In zehn Minuten bin ich zu allem Unfug bereit, Tante Helene! Übrigens, hast du deine Tabletten genommen?“ „Ja, du Quengelliese!“ „Wann sind die nächsten fällig?“ „Beim Mittagessen. Nun wasch dich endlich!“ „Stadtrundfahrt“ stand heute auf dem Programm. Wir wurden alle in einen großen Bus gepackt, unsere süße, kleine, schlitzäugige Miniatur-Fremdenführerin nahm wieder das Mikrofon, und es ging los. Natürlich kriegt man bei einer solchen Stadtrundfahrt viel zu sehen – aber es geht alles viel zu schnell! Ach, wie oft wünschte ich, daß wir hätten aussteigen können, um zu fotografieren oder nur zu gucken. Aber wir konnten nur durchs Autofenster schnell rechts und links blicken, und ausgestiegen wurde nur an den geplanten Stellen, da, wo alle Touristen immer ausstiegen, wo also Andenkenbuden und Bettler reichlich vorhanden waren. Wir fuhren durch einen großen, langen und ganz neugebauten Tunnel rüber zum eigentlichen Hongkong. Per Drahtseilbahn ging es dann weiter auf den berühmten Aussichtspunkt „Victoria Peak“. Unsere kleine unermüdliche Fremdenführerin erzählte uns, daß dieser Ausblick der schönste auf der Welt sei. Das konnte ich nun nicht finden! Da unten lagen Hochhäuser dicht zusammengedrängt, entsetzliche Mengen hoher, schmaler, rechteckiger Gebäude. Nun ja, der Hafen war imposant, und der breite Hang mit weißen, großen Villen, „der Hang der Reichen“ – , aber über dem Ganzen lag ein
Dunst, ein Schleier aus Feuchtigkeit und Dampf und Rauch, aus Autoabgasen und menschlichen Ausdünstungen – der hoffnungslose Nebel einer übervölkerten Großstadt. Wir durften diesen Anblick etwa eine Viertelstunde genießen, dann ging es wieder abwärts. „Der Blick vom Piz Nair auf St. Moritz ist trotz allem schöner“, flüsterte Tante Helene. „Und vom Flöyfjell in Bergen in meinem bescheidenen Vaterland“, ergänzte ich. Aber was wir dann zu sehen bekamen, war jedenfalls nicht zu vergleichen, weder mit der Schweiz noch mit Norwegen! Es hieß „Tiger Balm Garden“ und war eine höchst seltsame Anlage, gebaut von zwei Brüdern, die durch den Verkauf von einer Heilsalbe etliche Millionen verdient hatten. Und diese große, bunte Anlage an einem steilen Hang muß den Verdienst von einigen Millionen Salbentöpfen gekostet haben! Treppen und Grotten, künstliche Hügel, merkwürdige, bunte Tierfiguren und Blumen – Miniaturtempel und Pagoden, und gewundene Spazierwege dazwischen. Auf einem Vorsprung an einer vergoldeten Felswand stand plötzlich eine Wasserbüffelplastik, in der Nähe war ein künstlicher Wasserfall. Alles war bestimmt mit sehr viel Liebe und vor allem mit Hilfe einer blühenden Phantasie aufgebaut, und sogar mit Ehrfurcht – darauf deutete ein goldener Buddha hin, der der phantastischen Felswand gegenübersaß und sie mit einem wohlwollenden Lächeln betrachtete. Es wurde geknipst, geknipst, Schmalfilme gedreht – der Verkaufsstand am Fuße des Berges machte gute Geschäfte mit Dias und Postkarten. Eine kleine, alte, verkrüppelte Bettlerin hatte sich die strategisch richtige Stelle ausgesucht, direkt am Eingang zu dem Tigergarten. Sie hielt jedem Touristen eine Blechtasse hin, und ich hatte den Eindruck, daß sie allen Grund hatte, mit ihrem Tageseinkommen zufrieden zu sein. Was nachher folgte, war viel interessanter. Dann ging es nämlich um lebendige Menschen und deren Wohnverhältnisse und Daseinsform. Es ging nämlich nach Aberdeen. Ja, es heißt wirklich so! Aber, wenn ein Badestrand auf Sylt „Abessinien“ heißt und einer an der Ostsee „Brasilien“ – warum sollte dann nicht ein Fischerort in Hongkong Aberdeen heißen? Ja, denn ein Fischerort war es, und so malerisch, so fremdartig,
so ganz unglaublich merkwürdig! Unser dienstbeflissenes kleines Mandeläuglein erzählte, daß hier zehntausend Menschen leben, auf dem Wasser, in ihren Sampans und Dschunken. Auf denkbar kleinem Raum, nur von dem schmuddeligen Wasser umgeben, zusammengepfercht auf den Booten verbringen sie ihr ganzes Leben. Hier werden sie geboren, hier haben sie ihre Freude und ihren Kummer, hier leben und lieben sie, gründen neue Familien, und hier sterben sie. Aber Mandeläuglein betonte auch, daß es sich nicht um ein Elendsviertel handelte! Die Leute wären nicht unbedingt arm, man sollte sich bloß nicht von diesem eigenartigen Wohnen und Leben täuschen lassen! Wir gingen dann an den Kais entlang und schauten über die unwahrscheinliche Menge kleiner Fischerfahrzeuge. Da stand eine Frau und hängte Wäsche auf, dort hatte ein Mann sich im Boot zu einem Mittagsschläfchen zusammengekringelt. Da, auf einem denkbar engen Deckraum, spielten ein paar süße, schwarzhaarige Kinder, da saß eine alte Frau und löffelte – nein, was sage ich, sie „stäbte“ ihren Reis, während eine gescheckte Katze friedlich neben ihr schlief. Da klangen Frauenstimmen von Boot zu Boot, Männerrufe, Mädchenkichern, Babygeschrei. Und dort, in greifbarer Nähe, in einem Boot, das dicht am Kai lag, stand ein niedliches kleines Hündchen angekettet. Ich versuchte, ihm ein Stück Zucker zu geben – ich hatte noch meine Flugzeugzuckerwürfel in der Tasche, die muß ich für meinen Bruder Stefan immer sammeln – , aber das Hündchen wollte es nicht. Es hatte wichtigere Dinge vor: Es kratzte sich, kratzte und kratzte, bald mit dem rechten Hinterpfötchen, bald mit dem linken. Das arme Tier mußte voll Ungeziefer sein! Es war schrecklich, sowas mit anzusehen. „Oh, wer den kleinen Kerl bloß mitnehmen könnte!“ sagte ich. „Das widerliche, verflöhte Tier? Ich danke!“ Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer hinter mir gesprochen hatte. Ich wußte, daß es Mrs. Stone war. „Ja, gerade weil es so ungepflegt ist! Ich möchte es baden und ihm ein Wurmmittel geben, und es dann mit richtigem Hundefutter hochpäppeln – an sich ist ja das Tier entzückend! Sehen Sie sich bloß die klugen Augen an!“ „Das sind doch ganz gewöhnliche Hundeaugen. Übrigens
interessiere ich mich nicht für Tiere.“ Tante Helene und ich wechselten wortlos einen Blick. Mr. March kam zu uns. „Unfaßbar, nicht war?“ sagte er. „Daß die Menschen seit Generationen so leben. Und wahrscheinlich würden sie todunglücklich sein, falls man sie mit Gewalt in moderne Wohnungen auf dem Festland umsiedeln würde!“ „Da haben Sie bestimmt recht“, sagte Tante Helene. „Aber wissen Sie, es ist nicht die Enge und das Auf-dem-Wasser-Leben, was mich am meisten beeindruckt, sondern die hygienischen Verhältnisse – oder vielmehr die unhygienischen! Wie wird das Wasser beschaffen sein, das Abfälle und Ausscheidungen von mehreren tausend Menschen und etlichen Haustieren jeden Tag aufnehmen muß? Wenn hier ein Kind über Bord fällt, was sicher oft passiert, was verschluckt es dann an – ja, an reinem Gift!“ „Ich habe auch daran gedacht“, sagte Mr. March. „Und es graut auch mir bei dem Gedanken. Aber malerisch sieht es aus, das muß man zugeben!“ Allzuviel Zeit ließ man uns hier nicht. Überhaupt wurden wir ja immer weitergetrieben, Tante Helene sah aus, als wollte sie hier dem „Magellan Ltd.“ einen Änderungsvorschlag machen. Lieber den Victoria Peak auslassen und dafür eine Stunde mehr für die Fischersiedlung zugeben. Jedenfalls machte sie schnell eine Notiz in ein kleines Reisetagebuch. Das unerbittliche Programm hetzte uns weiter. Aber, zugegeben, die nächste Station war sehenswert und sehr gedankenweckend. Es ging zu den großen Häuserblocks, die von lauter Flüchtlingen bewohnt sind. Unterwegs orientierte uns Mandeläuglein. Vor einigen Jahren hatte das schon übervölkerte Hongkong ungefähr eine Million Flüchtlinge aufnehmen müssen. Wie sie in der ersten Zeit gewohnt hatten, ließe sich überhaupt nicht beschreiben. Dann fing man an, diese Häuser zu bauen, und es gäbe wohl nirgends auf der Welt Etagenhäuser, die pro Quadratmeter so viele Menschen hatten wie diese! Achtköpfige Familien mußten sich mit einem Zimmer und einer Küche begnügen, die meisten waren obendrein glücklich über ihre Wohnungen. Man brauchte nur einen Blick auf die Häuserfassaden zu werfen, um sich ein Bild von der Bevölkerungsdichte zu machen. Die
Fassaden waren buchstäblich mit Wäschestücken bedeckt! Überall, wo es möglich war, eine Leine zu spannen, war eine – ja sogar an Stellen, wo es unmöglich erschien! Tausende und abermals Tausende Wäschestücke hingen immer, Tag und Nacht, vor allen Fenstern, auf allen Balkons. Unten, auf einem sandigen, heißen Platz mit demselben undefinierbaren Geruch wie überall in Hongkong, spielten Kinder. Himmel, wie sahen die süß aus! Die kleinen breitbackigen Gesichtchen mit den strahlend schwarzen Augen, die zierlichen kleinen Körper, die schöne Hautfarbe, die schwarzen Haare, beinahe immer in Ponyfrisur geschnitten – sie waren einfach zum Fressen! Es ging mir wie den meisten in unserer Gruppe, ich knipste und knipste, bis der Film voll war, und ich grämte mich, daß ich keinen dritten Film mit hatte. Einen hatte ich schon bei den Fischern verknipst! „Weißt du“, sagte ich sinnend zu Tante Helene, „irgendwie finde ich dies bedrückender als die Wohnverhältnisse vorhin im Fischerdorf. Dieser menschliche Ameisenhaufen, dieser – dieser Notbehelf für Menschen, die in Panik geflüchtet sind – das ist viel schlimmer als bei den Fischern, die doch so leben, weil sie es wollen, weil es eine Familientradition ist! Und noch viel, viel schlimmer als die einfachste Lehmhütte in Afrika!“ Tante Helene nickte. „Ja, ich verstehe dich gut, ich empfinde es auch so. Ach, du liebe Zeit, jetzt müssen wir schon wieder einsteigen!“ Es war höchste Zeit. Wir mußten in Windeseile zurück zum Hotel. Da hatten wir knappe zwei Stunden fürs Essen und ein bißchen ausruhen, und vor allem sich waschen! Also, rein in den Bus und los! Ein paar der Teilnehmer ließen sich kurz vor dem Hotel absetzen. Sie wollten ein anderes Lokal aufsuchen, um einen Tapetenwechsel zu kriegen. Eigentlich hätte ich auch gern in irgendeinem netten chinesischen Restaurant gegessen, aber ich sah, daß Tante Helene müde war. Viel besser im Hotel zu essen, dann hatte sie ihr Heiabettchen in der Nähe! Übrigens war der Lunchtisch im Hotel so phantastisch gut, daß wir es bestimmt anderswo nicht besser bekommen hätten. „So“, sagte Tante Helene, „jetzt haben wir genau eine Stunde, bis es wieder losgeht!“ „Wird es dir nicht zuviel, Tante Helene?“ fragte ich besorgt.
„Vielleicht möchtest du den Nachmittagsausflug ausfallen lassen?“ „Unter keinen Umständen! Wenn ich ein einziges Mal im Leben die Gelegenheit habe, einen Blick nach China hinein zu werfen! Und Reisfelder zu sehen! Aber wenn wir zurückkommen, sinke ich ins Bett, das kann ich dir sagen!“ Gerade wollten wir in den Lift steigen, da fiel mir etwas ein: „Tante Helene – wir haben keine Kekse für unseren Kaffee morgen früh! Ich hole schnell welche, ich meine, so ein Geschäft ganz in der Nähe gesehen zu haben!“ „Gut, aber bleibe nicht so lange, daß ich Angst um dich kriege. Schreib den Hotelnamen auf einen Zettel und steck ihn in die Tasche, damit man weiß, wo man dich hinbringen soll, falls du überfahren wirst!“ „Gut, mache ich. Ich bin nur dankbar, solange du mir kein PappNamensschild um den Hals hängst! Laß die Zimmertür auf, ich bin gleich wieder da!“ Ich fand ein Lebensmittelgeschäft gleich um die Ecke, kaufte meine Kekse und ging zurück. Plötzlich blieb ich stehen. In einer kleinen Seitenstraße, an der ich vorbei mußte, sah ich einen Hund. Einen so elenden, ausgemergelten, schmutzigen Hund, wie ich ihn nie in meinem Leben gesehen hatte. – Und ich hatte viel gesehen! Ich hatte in Afrika die entsetzlich mageren Massaihunde gesehen, ich hatte die verwahrlosten Hunde gesehen, die an den Eisenbahnstationen rumlungerten und immer am Speisewagen bettelten. Aber dieses Tier hier – großer Gott, wie mußte es gehungert haben! Es war ein Wunder, daß es sich auf den Beinen halten konnte! Ich riß die Keksrolle auf, ging in die Hocke, versuchte das Tier anzulocken. Es schnüffelte im Rinnstein, es war deutlich, daß es etwas Freßbares suchte. Ich warf ihm einen Keks hin. Er ging einen Schritt, sah mich, traute sich nicht – ich zog mich etwas zurück, hockte mich wieder hin, ohne darauf zu achten, daß meine Kehrseite sich jetzt auf dem Bürgersteig der Hauptstraße befand. Ich hatte nur Augen für den Hund. Er kam einen Schritt näher. Herrgott, was für ein elendes Tier. Sein Hals war ganz zerkratzt, er war bestimmt voll Ungeziefer. Ich warf ihm noch einen Keks hin – noch einen. „Komm, Hündchen“, sagte ich leise. „Komm, heut sollst du satt werden, komm, heut wirst du gestreichelt, hat dich schon jemand gestreichelt, armes Hündchen?“
Ich warf vier, fünf Kekse auf einmal. Der Hund nahm sie von dem unsagbar dreckigen Rinnstein, wo sie leider hingerollt waren. Dann plötzlich schoß ein Kind raus aus einer Tür. Ein kleiner Junge in einer zerlumpten Hose. Er war wie der Blitz, riß ein paar Kekse an sich – aus dem Rinnstein – und stopfte sie in den Mund. Ich versuchte, das Kind an mich zu locken. Aber es blieb stehen – der Hund auch. Beide schauten sie mich an. Dann warf ich dem Kind eine Handvoll hin. Und während es die Kekse aufsammelte, konnte ich dem Hund etwas geben. Dann bekam ich einen Schubs von hinten. „Oh, I’m sorry – ach, Sie sind es, Mrs. Brunner, was in aller Welt machen Sie hier?“ Es war der Deutschlehrer, der rotbärtige Mr. Nicol. Er kam mit ein paar anderen vom Essen. „Ich füttere ein Kind und einen Hund“, sagte ich. „Mr. Nicol, tun Sie mir einen Gefallen? Zwei Häuser weiter ist ein Lebensmittelgeschäft, kaufen Sie mir bitte drei Keksrollen – ich muß hierbleiben und aufpassen, daß der Hund sich nun richtig satt ißt…“ „Das ist bestimmt das erste Mal in seinem Leben“, sagte Mr. Nicol. „Ich mache schnell, Frau Brunner!“ Er lief los. Dann kamen die Schwestern Smith und das Ehepaar Stone. „Nanu“, sagte Mr. Stone gutmütig, als er mich hockend auf dem Bürgersteig entdeckte. „Sie sind es, die hier Verkehrsbehinderung spielt!“ In diesem Augenblick kam der Hund zwei Schritte näher. Ob er wohl wagen würde, einen Keks aus meiner Hand zu nehmen? Ich lockte, hielt ihm den Keks hin. „Gott, jag doch das widerliche Vieh weg!“ klang hinter mir die Stimme, die ich von diesem Augenblick an haßte. „So was Dreckiges, wir kriegen ja alle Ungeziefer und Krankheiten… mach, daß du wegkommst!“ Der Hund scheute zurück. Er traute sich nicht mehr, näherzukommen. Das Kind hatte die harte, böse Stimme gehört und rannte davon, tiefer in die enge, schmutzige Seitenstraße. Hinter mir hörte ich das harte Klappern von Mrs. Stones Blockabsätzen auf dem Asphalt. Ich hätte sie erwürgen können. Als Mr. Nicol mir die Keksrollen brachte, war der Hund weg. Ich
öffnete zwei Rollen, streute die Kekse dorthin, wo der Hund sie vorhin gekriegt hatte und hoffte, daß er sie finden würde. Ich mußte mir die Tränen von den Augen wischen. Mr. Nicol legte tröstend den Arm um mich, und ich stammelte und erzählte mit zitternden Lippen von Frau Stone. „Das Wort Mitleid steht wohl nicht in ihrem Wörterbuch“, schloß ich. „Vielleicht nicht“, sagte Mr. Nicol. „Vielleicht liegt alles daran, daß niemand mit ihr Mitleid gehabt hat. Und dabei hätte man allen Grund dazu!“ Später – viel später – tauchten diese Worte von Mr. Nicol in meinem Gedächtnis auf. Aber in diesem Augenblick war ich nur wütend, enttäuscht und unglücklich. Ich hätte so gern den armen Hund gestreichelt, und den kleinen Jungen auch. Mr. Nicol lotste mich über die verkehrsreiche Straße zurück ins Hotel. Ich ging in den Lift, mit verheultem Gesicht und einer halb zerdrückten Keksrolle unter dem Arm.
Von Asien nach Australien „Wenn ich zu Hause in Norwegen so einen Touristenbus voll glotzender Menschen sehe, finde ich sie einfach lächerlich“, sagte ich. „Und jetzt sehen wir genauso lächerlich aus!“ „Ist dir das erst jetzt klargeworden?“ schmunzelte Tante Helene. „Zwanzig solche gaffende Gesichter müssen ja komisch aussehen, mit dem Gedanken müssen wir uns schon abfinden!“ Was blieb uns sonst übrig? Wir hatten auch allen Grund zum Gaffen. Wir fuhren auf einer schönen Landstraße aus dem Stadtgebiet raus, an der Küste entlang und durch Dörfer mit so seltsamen Namen wie Yuen Long und Kam Tin. Mir sprangen die Augen beinahe aus dem Kopf. Denn da sah ich Frauen, die mit breiten, chinesischen Strohhüten hinter primitiven Pflügen gingen – Pflügen, die von Wasserbüffeln gezogen wurden. Es war, als befände ich mich mitten in einem Pearl-S.-Buck-Buch! „Sieh, Tante Helene, Wasserbüffel! Das hätte ich mir nie träumen lassen, daß ich die zu sehen bekommen würde, außer im Zoo!“ Ich war so aufgeregt, daß ich auch andere Mitreisende auf diese Sensation aufmerksam machen mußte. Ich drehte mich um, hinter mir saßen die Schwestern Smith und auf der anderen Seite des Mittelganges Ehepaar Connor. „Haben Sie das gesehen – einen Pflug mit einem Wasserbüffel?“ „Ach, Wasserbüffel haben wir doch genug in Ostafrika gesehen“, sagte Frau Connor. Es blieb mir erspart, dieses Mißverständnis aufzuklären, das nahm die eine Schwester Smith mir ab. „Sie irren sich, Mrs. Connor“, sagte sie. Und man merkte ihrer Stimme die pensionierte Lehrerin an. „Was Sie in Ostafrika gesehen haben, sind Kaffernbüffel. Wasserbüffel gibt es nur in Asien.“ „So? Nun ja, ist ja auch egal, Büffel bleibt Büffel“, sagte Mrs. Connor unberührt. Aber ich wagte eine Frage an Miß Smith: „Kennen Sie Ostafrika, Miß Smith?“ „Ja, gewiß! Wir waren zweimal dort! Ein herrliches Land! Da sollten Sie mal hinfahren, Frau Brunner!“ Ich verkniff mir ein Lächeln. Ich wollte ja nichts erzählen, wollte nicht, daß bei jemandem sich eine Gedankenkette bildete: Afrika – Brunner – wie war es nun gleich, wurde der Name nicht im
Fernsehen erwähnt – ach, nun weiß ich es, es war ja Mrs. Brunner, die da in dem Film war, mit dem Gepard! Also schwieg ich. Und dann kam der Augenblick, wo wir auf einem Berg standen und über die Grenze blickten – rüber auf weite Reisfelder, auf ein paar Gehöfte – da hinten lagen Berge – und was lag wohl hinter den Bergen? Alles, was wir da sahen, gehörte zu China. China – etwas, was in meinem Bewußtsein so unendlich fremd und unerreichbar weit weg war. Chinesische Kunst, chinesische Weisheit, chinesische Mentalität – „das klingt chinesisch“ sagen wir, wenn wir etwas überhaupt nicht verstehen. „Du milder Chinese!“ sagen wir in Norwegen in Fällen, wo man in Deutschland „Du liebe Zeit“ oder „Heiliger Bimbam“ sagen würde. Nichts klang so fremd, so seltsam, so entfernt wie gerade China. China mit den vielen, vielen Millionen Menschen, mit alter Kultur und neuen Systemen, mit einer tausendjährigen Geschichte, mit Porzellan und Seide, und – bis vor wenigen Jahrzehnten – Frauen mit geschnürten, verkrüppelten Füßen, die zeigen sollten, wie fein sie waren, daß sie das Laufen nicht nötig hatten. Ein fernes, seltsames Land. Und es war chinesische Erde, die vor mir lag. Es waren chinesische Reisfelder, die kleinen weißen Häuser lagen im großen Reich der Mitte im östlichen Asien. Und ich, die vierundzwanzigjährige Sonja aus Norwegen, ich stand wirklich hier und schaute in China hinein. Es war direkt ein überwältigender Gedanke! Magellan Ltd. hatte uns zwei Tage und zwei Nächte in Hongkong vergönnt. Am zweiten Tag ließen wir die Gruppe links liegen, wünschten unseren ausflugsfreudigen Mitreisenden einen schönen Tag – und dann wanderten wir raus in die Stadt. „Weißt du“, sagte Tante Helene, „es gibt tausend Sachen, die man hier sehen sollte und sehen müßte, Dinge, die Wochen und Monate in Anspruch nehmen würden. Nun haben wir nur so viele Stunden, wie wir Monate gebraucht hätten. Dann erhebt sich die Frage: Wollen wir eine Pagode sehen und nichts mehr? Oder ein Museum, wo wir uns ganz sicher müde laufen würden? Ich bin dafür, daß wir weder das eine noch das andere tun. Sondern…“ „… nur so in der Stadt rumbummeln!“ rief ich. „Gerade das wollte ich sagen. Menschen ansehen,
Aushängeschilder und Läden, eben das angucken, was uns so zufällig vor die Augen kommt. Dann, glaube ich, werden wir nachher einen lebendigeren Eindruck von dieser Riesenstadt haben, als wenn wir irgendeine touristenüberfüllte Sehenswürdigkeit anguckten!“ „Du sprichst wie ein Buch, Tante Helene“, sagte ich. „Oder jedenfalls wie ein sehr kluger Mensch. Glaubst du, daß unser Bummel uns an einem Seidengeschäft vorbeiführt?“ „Nicht nur vorbei, sondern hinein“, versicherte mir Tante Helene. „Denkst du, daß ich Hongkong verlasse, ohne einen echten chinesischen Seidenstoff gekauft zu haben?“ „So geht es mir auch! Das heißt, ich möchte so gern einen Stoff für Senta kaufen, weil sie mir ihre ganze Sommergarderobe zur Verfügung gestellt hat!“ Dieses Gespräch führten wir frühmorgens. Tante Helene saß vor dem Spiegel und machte ihre Haare zurecht. Ich versuchte, ein bißchen Ordnung zu machen, bevor wir das Zimmer verließen. Ich blieb in einer Ecke stehen. „Nun will ich endlich wissen, was das für ein komischer Schrank ist!“ teilte ich mit. „Ach guck, da steht doch etwas auf einem Schild gedruckt – nein, Tante Helene! Weißt du, was es ist? Ein Getränkeautomat! Nein, so was! Und mir ist gerade nach einem Glas Orangensaft. Warte mal. Ja, hier steht es, Orange, Coca, Tonic – man braucht nur auf den richtigen Knopf zu drücken…“, ich drückte, und eine eiskalte Saftdose fiel mit Getöse in eine Art Rinne unten im Schrank. „Daß wir das nicht gleich entdeckt haben!“ rief ich. „Ich dachte immer, es hätte wohl mit Klimaanlage oder Rundfunk oder so etwas zu tun, wegen der vielen Knöpfe. Möchtest du was haben, Tante Helene? Du trinkst doch so gern Tonicwater“, schon hatte ich den Tonic-Knopf gedrückt, und die Dose polterte runter. „Meine Brüder wären außer sich vor Freude über einen solchen Apparat!“ sagte ich begeistert. „Wenn ich ihnen davon erzähle, werden sie sofort anfangen, für eine Hongkongreise zu sparen!“ Ich holte mir noch schnell eine Dose Coca-Cola raus, es war doch ein so schönes Spielzeug. „Sag einmal“, fragte Tante Helene, „steht da zufällig etwas über den Preis?“ „Preis? Ich dachte, dies sei inklusive, sozusagen Dienst am Kunden.“ Ich entdeckte etwas Kleingedrucktes auf den
verschiedenen Getränkeschildern, dann schrie ich! „Oh, Tante Helene – es ist schrecklich – weißt du, was ich getan habe?“ „Uns ruiniert“, meinte Tante Helene trocken. „Ich habe für zehn Dollar fünfzig Getränke rausgeholt! Das kommt auf die Rechnung! Oh, was bin ich für ein Schaf, aber natürlich zahle ich es, ich habe ja Geld…“ Tante Helene lachte und winkte ab. „Laß man, Kind. Laß dir die Getränke gut schmecken. Aber das Geld ziehe ich von deinem Gehalt ab!“ Bus – Spazieren – Taxe – ich konnte unmöglich nachher sagen, wo wir überall waren. Wenn ich zurückdenke, sehe ich vor meinen Augen Tausende von bunten, großen Schildern, unzähligen Autos, rotlackierten Rikschas – Zeitungsverkäufern, die auf dem Bürgersteig saßen, mit großen, breiten Strohhüten. Magere Hunde, winzig kleine Geschäfte, beinahe nur Buden, offen zur Straße. Dienstbeflissene, gelbe, schrägäugige Verkäufer. Juwelengeschäfte mit Perlen und kunstfertig geschnitzten Jadegegenständen. Seidenkimonos, gestickte Hosenanzüge – wie war das alles bunt und schillernd! Menschen, Menschen – überall ein Gedränge, überall Lärm und Geruch! Und dann plötzlich vornehme Leere, vereinzelte feine Villen, lange Badestrände, wo die Schwimmer durch solide Stahlnetze gegen die Haie geschützt waren. Gut, wir sahen keine Touristen-Sehenswürdigkeiten. Aber wir erlebten die fremde Atmosphäre, all das Bunte, Laute, Schillernde – und Duftende! In einem kleinen Seidengeschäft kauften wir unsere Stoffe – Senta würde hochspringen, so schön war die feste, schwere Rohseide, die ich für sie wählte. Nachher bekam ich einen Anfall von Geistesschwäche: Ich wurde ganz weich, als ich einen roten Kimono für ein Baby sah! Was mein Neffe damit anfangen könnte, ahnte ich nicht, aber das kleine Kleidungsstück war so niedlich, daß ich es kaufte! Ich fragte den Verkäufer, was die eingestickten Zeichen bedeuteten, und er übersetzte sie mit „Viel Glück“. „Hoffentlich stimmt’s“, sagte ich. „Vielleicht bedeutet es ,Du Erztrottel’ oder ,Hau ab, du Idiot’!“ Wir aßen Lunch auf chinesisch, und ich konnte schon wieder mit meinem Stäbchenessen angeben. Nachher fuhren wir zurück zum Hotel. Ich jagte Tante Helene ins Bett und übernahm das Packen.
Sie behauptete, daß sie gar nicht schlafen könne, aber es sei wunderbar, waagerecht zu liegen und sich zu entspannen. Sie sah mich lächelnd an, als ich Sentas hübsche Kleider zusammenlegte und in den Koffer packte. „Eigentlich muß es praktisch sein, eine Zwillingsschwester zu haben“, meinte sie. „Und ob! Wir haben es immer so gemacht, daß nur eine von uns zur Schneiderin zur Anprobe ging – und als ich das erste Mal ins Ausland fuhr, hatte ich ein Bild von Senta in meinem Paß!“ Tante Helene bat mich, den Nachmittagstee ins Zimmer zu bestellen, und ich ergriff das Telefon. „Tafadhali, nipe chai mbili…“, fing ich an. „Pardon, Madam?“ fragte eine Stimme. Und Tante Helene rief laut lachend: „Sonja! Du hast Suaheli gesprochen!“ Ich wiederholte meine Bitte auf englisch und fiel lachend auf die Bettkante. „Ich dachte wohl, ich sei in Nairobi! Aber ist es vielleicht ein Wunder, daß ich meine vier Sprachen durcheinanderbringe?“ „Nur vier? Kannst du kein Französisch?“ „Doch. Einen Satz. Nämlich ‚Je t’aime,’ ‚Ja’ und ,merci’.“ „Dann ist es also besser, daß ich euch nicht nach Westafrika schicke“, sagte Tante Helene und setzte sich im Bett auf, parat zum Empfang des Teetabletts. Es wurde Abend, und wir fuhren zum Flughafen. Morgen früh würden wir in einem anderen Erdteil sein. Bis jetzt war es nur eine Einleitung – morgen würde das Eigentliche anfangen, oder das Zweiteigentlichste. Ich freute mich auf die Tage in Neuguinea, aber das ganz große Eigentliche würden wir erst auf dem australischen Festland erleben. Wieder saßen wir nebeneinander im Flugzeug. Auf dem dritten Platz Frau Werner. Unser lieber, umsichtiger Mr. March sorgte dafür, daß sie mit uns Deutschsprechenden zusammenkam. Einen letzten Blick auf Hongkong, auf das Lichtermeer, auf diesen unruhigen, bunten Ameisenhaufen. Ich war froh, daß ich diese Tage erleben durfte. Aber ich würde mich nie nach Hongkong zurücksehnen. „Ein weiter Flug ist wie ein Krankenhausaufenthalt“, sagte ich, als wir die schönen Tabletts mit einem wunderbaren Abendessen bekommen hatten. „Ja, wirklich! Man liegt, beziehungsweise sitzt
da, kann nichts Vernünftiges unternehmen, man liest ein bißchen und nickt für ein paar Minuten ein und ist dankbar für jede Abwechslung. Ob es nun eine Krankenschwester ist, die einem ein Glas Wasser und eine Medizinflasche bringt, oder eine Stewardeß, die Getränke serviert oder am Ende der Reise die gesegneten nassen, heißen Frottierlappen! Und sowohl im Krankenhaus als im Flugzeug sind die Mahlzeiten die großen Ereignisse!“ „Ich dachte, das Lesen sei für dich im Krankenhaus die große Abwechslung gewesen“, schmunzelte Tante Helene. Ich lächelte nur, Worte waren überflüssig. Tante Helene war wohl der Mensch, der am besten wußte, daß ich gerade im Krankenhaus das gelesen hatte, was für meine ganze Zukunft bestimmend geworden war. Ich hob meinen Orangensaftbecher. „Prost, Tante Helene! Auf das Krankenhauslesen!“ Frau Werner sah desorientiert aus. Aber sie war ein dezenter Mensch und fragte nicht. Um uns war die Tropennacht, unter uns war irgendwann der Äquator, wir erfuhren nur nicht wann. Es war anders damals, als wir mit einem Charterflugzeug geflogen waren. Dort bekamen wir ein Glas Sekt, als wir den Äquator überquerten, und eine feine Urkunde von Aolus, dem Gott der Lüfte! Das Licht wurde ausgemacht, wir stellten die Rückenlehnen zurück, die, die es wünschten, bekamen leichte Decken. Das Plaudern rings herum verstummte. Tante Helene hatte die Augen geschlossen. Ich betrachtete ihr Gesicht – dieses liebe, harmonische Gesicht, das immer eine gesegnete Ruhe ausstrahlte. Ja, sie war gealtert. Man sah es am deutlichsten jetzt, wo sie mit geschlossenen Augen dasaß. Wenn sie wach war, vergaß man die Falten und alle sonstigen Alterserscheinungen, denn diese strahlenden Augen waren jung und wach geblieben. Wie hatte ich doch diesen Menschen lieb! Was würde geschehen, wenn sie einmal nicht mehr auf der Welt war? Wer würde das Institut leiten, wer würde die segensreiche Arbeit weiterführen können? Wer würde unser Brotgeber und Auftraggeber werden? Denn Tante Helene hatte doch gesagt, daß sie uns gern weiterhin als Mitarbeiter behalten möchte. Es stieg eine Angst in mir hoch. Ich dachte an Heiko, an das risikoreiche Leben das er führte und in der Zukunft führen würde. Ich dachte an Tante Helenes Alter und ihre geschwächte Gesundheit.
O Gott, erhalte uns Tante Helene noch lange – erhalte meinen Heiko – laß ihm nichts zustoßen – gib ihn mir gesund wieder… Dann zählte ich wieder die Tage, bis wir uns wiedersehen sollten, und ich stellte mir vor, wie es sich abspielen würde! Man müßte sich mit dem Empfangschef im Hotel in Sydney absprechen. Wenn Heiko spätabends ankäme, müßte man ihm den zweiten Zimmerschlüssel aushändigen, er sollte nichtsahnend rauffahren, er sollte in dem Zimmer Licht machen und staunend sehen, daß man ihm ein Doppelzimmer gegeben hatte. Und dann – dann – dann sollte er mich im Bett entdecken – oder wenn es noch nicht so spät am Tage war, würde ich mich vielleicht im Kleiderschrank verstecken, oder im Bad – was würde das für eine Überraschung geben! Er dachte, ich sei in Norwegen – und dann – dann… Mir wurde es schwindlig vor Glück, wenn ich an den Augenblick dachte. Ich zählte wieder die Tage an den Fingern ab. Nur noch elf Tage! Du lieber Himmel, wie sehnte ich den Augenblick herbei! Es wurde Tag, und wir landeten in Port Moresby. Nach einem schnellen Frühstück in einem Hotel ging es an die übliche Stadtrundfahrt. Schon unterwegs zum Hotel hatten wir die ersten Papuas gesehen. Ich war aus Afrika die „Oben-ohne-Frauen“ gewohnt, und trotzdem machte ich jetzt Augen! Der Begriff „oben“ war hier außerordentlich großzügig, mit oben verstand man hier „bis unterhalb des Nabels“. Mit anderen Worten, die Papuafrauen trugen einen kleinen Rock oder einen Lendenschurz, die Männer waren auch außerordentlich leicht angezogen! Fröhlich und unbefangen standen sie am Straßenrand, winkten uns mit lächelnden Gesichtern zu, zeigten uns stolz ihre süßen, kleinen braunen Babies. Wir machten Pause auf einem Markt. Unter schattenspendenden Bäumen saßen Frauen und Kinder, dort stillte eine junge Mutter ihr Kleines. Oh, wie gern möchte ich davon eine Aufnahme machen! Aber ich wußte aus Afrika, wie schwierig das sein konnte, wie die Leute oft wütend wurden, wenn man versuchte, sie zu knipsen. Jedenfalls mußte man immer dafür bezahlen. Aber da konnte ich jedenfalls mit ihnen sprechen. Hier war ich auf die Finger- und Zeichensprache angewiesen. Ich mußte versuchen, ob ich diese Aufnahme zustande kriegen könnte! Die junge Mutter war bildhübsch in ihrer schönen, unbefangenen Nacktheit, und das Baby war zum Fressen süß, wie es
da gierig trank, während eins seiner kleinen braunen Händchen an der vollen, reichen Mutterbrust krabbelte. Ich ging hin zu der jungen Frau, lächelte, zeigte auf das Baby und auf den Fotoapparat. Sie nickte eifrig, setzte sich unaufgefordert so hin, daß das Licht besser fiel. Ein junger Mann sah es, kam schnellstens dazu, hockte neben Frau und Kind, lächelte stolz und strahlend, direkt in den Apparat und schien ganz begeistert zu sein, als es „klick“ machte. Dies war zu schön, um wahr zu sein! Kein Mensch wollte Geld, niemand weigerte sich dagegen, fotografiert zu werden! Alle lächelten und zeigten ihre blendendweißen Zähne, alle guckten uns neugierig-wohlwollend an. Ein Paradies für einen Fotografen! Natürlich kauften wir auf dem Markt ein. Mango und Papayafrüchte waren für mich ja nichts Neues, für die meisten anderen Teilnehmer aber eine Sensation. „Und in Deutschland kosten sie drei, vier Mark!“ sagte Frau Werner. „Hier habe ich fünf Stück für fünfundzwanzig Cents bekommen!“ Sie guckte sich ihre fünf schönen, reifen Mangofrüchte ganz verliebt an. „Essen Sie sie bloß so bald wie möglich“, ermahnte Mr. March. „Nach Cairns dürfen Sie sie nicht mitnehmen – weder Obst noch andere Nahrungsmittel. So was wird bei der Zollkontrolle beschlagnahmt!“ Gut, dann wußten wir das! Bevor wir Port Moresby verließen, besuchten wir eine Fischersiedlung. Hier wohnten die Leute in Pfahlhäusern ganz dicht am Ufer. Unzählige kleine braune, schwarzhaarige Nackedeis kamen uns vertrauensvoll entgegen, nahmen mit Begeisterung die Bonbons, die wir ihnen gaben, und stritten sich beinahe darum, fotografiert zu werden! Ob sie verstanden, was es mit dem kleinen schwarzen Klickkasten auf sich hatte, bezweifle ich. Aber sie fanden es jedenfalls großartig, daß wir ihn immer auf sie richteten und ihnen nachher Bonbons schenkten. Es war ein schöner, fröhlicher Vormittag – und heiß! Brennend heiß! Aber es war gleichzeitig so frisch, so sauber, es war so schön, hier zu atmen, nach der stickigen Luft in Hongkong. Am Flughafen erwartete uns eine kleine Propellermaschine. Wie schön, dann würden wir bestimmt nicht zu hoch fliegen, wir würden
etwas von den unerschlossenen Gebieten da unten sehen können – die Eingeborenendörfer, die wir nicht besuchen konnten, die aber Heiko vielleicht kennengelernt hatte. Dörfer, wo die Menschen noch in der Steinzeit lebten. Wie gern wäre ich dorthingekommen! „Warte nur“, sagte ich mir selbst. „Ein andermal! Mit Heiko zusammen! Zu Fuß oder auf Eselsrücken, tief ins Innere des Landes, rauf in das wilde Gebirge – das wäre was!“ Ja, da unter uns wuchsen die grünen, buschbedeckten Berge auf. Da sahen wir die ersten kleinen Siedlungen, kleine, niedrige Lehmhütten. Schmale, gewundene Pfade, deren Ende nicht zu entdecken war, verliefen sich im Busch. Das kleine Flugzeug machte Hopser und Wackelbewegungen. Mich störte es nicht, ich war so oft mit Heiko in unserer winzigen Vier-Personen-Mücke geflogen. Ich war für immer den Begriff Luftkrankheit los. Aber auf der anderen Seite des schmalen Mittelganges saß Frau Stone zurückgelehnt mit geschlossenen Augen. Sie hatte Schweißperlen auf der Stirn und saß angespannt, die Hände krampfhaft um die Armlehnen gekrallt, die Füße gegen den Fußboden gepreßt. Tante Helene sah es auch. Sie kramte einen LuftkrankheitsPapierbeutel aus dem kleinen Netz vor dem Sitz, hielt ihn parat. Dann beugte sie sich hin zu Frau Stone. „Nicht so angespannt, Frau Stone“, sagte sie mit ihrer guten, ruhigen Stimme. „Locker lassen, die Bewegungen mitmachen, dann geht es besser.“ Sie wischte Frau Stone den kalten Schweiß von der Stirn. Dann tupfte sie mit einem Kölnischwassertuch vorsichtig nach. Dann geschah es. Es gelang Tante Helene gerade noch, den Papierbeutel in die strategisch richtige Lage zu bringen. Mit der rechten Hand hielt sie den Beutel, was bestimmt nicht leicht war, denn Frau Stone krallte sich fest in ihren rechten Arm. Mit der linken Hand stützte Tante Helene den Kopf der Kranken. Frau Stone war ein Biest. Ein ausgesprochenes Biest. Ich würde ihr nie verzeihen, daß sie mir in Hongkong den ausgehungerten Hund weggejagt hatte. Und trotzdem, jetzt tat sie mir leid. Als ich das erste Mal mit Heiko geflogen war, ging es mir auch so, es war schrecklich, und irgendwie so demütigend! Die Stewardeß balancierte mühsam durch das schaukelnde
Flugzeug mit einem Becher Wasser und einem neuen Beutel. Und gleich darauf setzten wir zur Landung an. Frau Stone machte die Augen auf und sah Tante Helene. „Oh, Sie sind es“, ich konnte die Worte kaum hören. Tante Helene mußte sich wieder hinsetzen und sich anschnallen. Mrs. Stone lehnte sich zurück, ihr Mann, der selbst etwas grünlich aussah, schnallte ihr den Gurt um. Als wir in Mount Hagen gelandet waren, wurde es mir klar, daß Mr. Stone einfach nicht imstande war, seiner Frau zu helfen. Er strebte dem Ausgang zu, auch ihm perlten die Schweißtropfen auf der Stirn. Ich stand Mrs. Stone am nächsten. Also war ich es, die das Biest stützte, während Mr. Connor ihr Handgepäck nahm. „So was Blödes!“ sagte Mrs. Stone. „Das kann jedem passieren“, tröstete ich. „Mir ist es auch passiert. Versuchen Sie es so, wie meine Tante es sagte: Lockerlassen, die Bewegungen mitmachen, bloß nicht verkrampft!“ Sie antwortete nicht. Erst als ich sie bequem in eine Ecke des wartenden Kleinbusses gebracht hatte, ihr die Handtasche gereicht und ihr ein Papiertaschentuch in die Hand gesteckt hatte, sagte sie ganz leise: „Thank you!“ Ein niedriges, leichtgebautes Häuschen, dahinter ein Gärtchen mit einem Paradiesfruchtspalier und ein paar Bäumen mit bunten, zwitschernden Vögeln, so war unser Hotel in Mount Hagen. Es sah einfach und anspruchslos aus und so sauber, so frisch, so gepflegt! „Oh, hier könnte ich Wochen verbringen!“ rief ich, als wir in unser Zimmer kamen. Es war nett und freundlich in all seiner Einfachheit. „Nein, guck doch, Tante Helene – du brauchst deinen Spiritusapparat gar nicht auszupacken, hier ist an alles gedacht worden!“ Auf einem großen Tablett stand ein Schnellkocher, da lagen kleine Tüten mit Pulverkaffee und Teebeuteln, Zucker und Kaffeesahne, und sogar eine Minipackung Kekse. Im Bad war eine Wäscheleine – ich freute mich schon darauf, all den Hongkongschweiß aus unseren Sachen auszuwaschen! Aber vorläufig hieß es nun, sich selbst zu waschen und dann durch den Garten zu wandern, rüber zu dem Nebengebäude, wo sich anscheinend der Speiseraum befand. Hier war kein langes, raffiniertes Menü, keine Auswahl an Getränken. Aber das, was wir bekamen, war gut und reichlich.
Einen Aufenthaltsraum gab es nicht. Entweder mußten wir im Freien sitzen oder uns in die Schlafzimmer zurückziehen. Letzteres war augenblicklich zweckmäßig. Wir hatten unsere Betten in Hongkong vor 36 Stunden verlassen. „Wenn dein Arzt das wüßte, Tante Helene!“ sagte ich. „Mein Arzt kann mir gestohlen bleiben“, antwortete Tante Helene und zog die Bettdecke bis unter ihre Nasenspitze. „Gute Nacht, Sonjalein, ich freue mich auf morgen!“ „Ich auch, Tante Helene! Und auf die Koalas, in fünf Tagen!“ „Und auf Heiko in zehn“, kam es aus Kissen und Decken an der anderen Zimmerwand.
Wir leben gefährlich Es war vielleicht die Vorfreude auf diesen Tag, die mich nicht länger schlafen ließ. Schon um halb sieben war ich hellwach. Heut würde ich Tante Helene mit Morgenkaffee wecken! Ich stand lautlos auf, schlich ins Bad, um mir die Hände zu waschen. Dann machte ich den Schnellkocher an. Ich schaute aus dem Fenster. Noch war der Himmel bedeckt, aber gestern abend hatten wir ein wunderbares Abendrot gehabt. Ich dachte an den alten Spruch: „Ist Abend rot und Morgen grau, dann wird nachher der Himmel blau.“ Und für unser heutiges Programm brauchten wir einen blauen Himmel! Wir wollten ins Gebirge fahren, wir würden Papuadörfer besuchen, uns mit den freundlichen Eingeborenen unterhalten (per Fingersprache und Dolmetscher) und einen Tierpark besuchen, wo wir Kuskus und Baumkänguruhs, Kasuare und Paradiesvögel zu sehen bekommen würden. Wir wollten irgendwo im Freien unseren mitgebrachten Lunch verzehren – ja, ich freute mich riesig auf diesen Tag! Das Wasser kochte, und ich machte den Kaffee zurecht. Tante Helene wurde wohl vom Kaffeeduft wach. Sie machte die Augen auf und lächelte. „O Sonja, wie schön, ich verdopple dein Gehalt!“ „Nur feste weiter, Tante Helene! Jetzt bin ich auf zwei Pfennig im Monat gekommen! Nun sag mir bloß, was ich heut anziehen soll. Sentas lange Hosen oder Sentas Leinenrock?“ „Lange Hosen wären wohl das beste“, meinte Tante Helene. „Aber nimm doch den Rock mit, du kannst dich ja unterwegs umziehen, falls es dir zu warm wird!“ „Ja, das tu ich! Ach, nichts geht über eine gute Zwillingsschwester mit hübscher Garderobe! Weißt du, das einzige was ich von Sentas Sachen nicht tragen kann, sind ihre Umstandskleider!“ Tante Helene sah mich an, halb fragend, halb sinnend. „Ich hoffe sehr, daß du die auch einmal brauchen wirst“, sagte sie zuletzt. „Ja, das hoffe ich auch. Aber wir müssen noch warten, Tante Helene!“ „Warum eigentlich?“ „Warum? Und das fragst du! Weil wir in einer Hütte in Afrika wohnen – weil wir für dein Institut arbeiten – weil ich alle Hände
voll zu tun habe…“ „Daß ihr in Afrika wohnt, wäre wohl kein Grund“, erwiderte Tante Helene. „Schließlich werden ja auch in Afrika Kinder geboren. Ich bin mir nicht sicher, wie du darüber denkst, Sonjalein. Wünschst du dir ein Kind, und bedeutet es dir ein Opfer, noch zu warten? Oder meinst du, daß es zu kompliziert für dich werden würde, daß es dir, um einen häßlichen Ausdruck zu benutzen, lästig sein könnte?“ Ich dachte nach, rührte in meiner Tasse um und wußte nicht so richtig, was ich antworten sollte. „Das Wort ,lästig’ trifft nicht zu, Tante Helene“, sagte ich zuletzt. „Aber, daß so ein kleines Wesen uns das Dasein komplizieren würde, das stimmt. Weißt du, ich habe ja von vornherein die Einstellung gehabt, daß wir mit dem Kind warten müssen, bis unsere vier Jahre in Afrika vorbei sind.“ „Aber Sonnie, falls ihr nun für die Mary-Green-Stiftung weiter arbeiten wollt, was ich ja so innig wünsche, glaubst du dann, daß es nachher einfacher wird? Ihr werdet sehr viel unterwegs sein, ich weiß noch nicht, ob ihr in eine andere Gegend von Afrika geschickt werdet oder nach Südamerika, oder vielleicht hierher. Jetzt habt ihr jedenfalls für ein Jahr noch eine feste Wohnung, wenn es auch nur eine primitive Hütte ist. Und du bist vierundzwanzig, Sonja. Allzulange sollst du nun auch nicht warten!“ „Aber Tante Helene!! Wer hat uns vor drei Jahren auf einer Hotelterrasse in Entebbe gesagt, daß die jungen Ehepaare, die für die Mary-Green-Stiftung arbeiten, kinderlos sein mußten? Du hast sogar gesagt ,leider Gottes kinderlos’.“ Tante Helene setzte sich jäh im Bett auf. „Aber Kind – ist es das, was dich daran hindert? Das ist ja ein Mißverständnis, Sonjalein, ein schreckliches Mißverständnis! Habe ich nicht gesagt ,vorerst kinderlos’? Doch nicht jahrelang! Ich meinte nur, daß die jungen Ehepaare nicht gerade mit Kleinkindern in einen fremden Erdteil ziehen sollen, daß sie anfangs genug damit zu tun haben, sich selbst einzuleben – ein anderes Klima, die neue Arbeit. Denk bloß, was für eine Umstellung das bedeutet – auch für euch war es eine Umstellung! Aber ich habe doch keine Sekunde gemeint, daß ihr kinderlos bleiben sollt! Ich werde dir was sagen, Sonnie: Du weißt, wie hoch ich Heiko schätze. Dir brauche ich nicht seine guten Eigenschaften aufzuzählen! Ich habe nie einen Mitarbeiter gehabt, der so zielbewußt arbeitet, so exakt, mit soviel Freude! Abgesehen von meinem Mann, habe ich auch niemanden
getroffen, der sich so hundertprozentig für unsere große gemeinsame Aufgabe eingesetzt hat wie dein Heiko.“ Ich nickte eifrig. Wie war es schön zu hören, wie Tante Helene meinen Mann schätzte! Sie fuhr fort: „Heiko ist sehr intelligent, das weißt du.“ (Nicken!) „Er ist ein durch und durch anständiger, ehrlicher Mensch.“ (Zweimal Nicken.) „Siehst du, es wäre eine Himmelssünde, wenn solche Eigenschaften nicht weitervererbt werden sollten! Ich sehe es so, daß du die – sagen wir Verpflichtung auf dich genommen hast, da du Heiko geheiratet hast, dafür zu sorgen, daß diese vielen guten Eigenschaften weitergeführt werden. Und noch eins, Sonja. Du darfst nicht vergessen, daß das Leben, das vor euch liegt, ein gefährliches Leben ist. Flugzeuge, wilde Tiere, riskante Expeditionen ins Unbekannte. – Es kann Heiko etwas zustoßen, gebe Gott, daß es nicht passiert, aber du weißt, daß sein Leben, und auch deines, riskanter ist, als wenn ihr brav und bürgerlich in irgendeiner deutschen Stadt lebtet, wo Heiko jeden Tag zu seiner Schule ginge und du nichts weiter wärest als eine gute Hausfrau. Wenn Heiko etwas zustoßen sollte, dann wäre es jedenfalls ein kleiner Trost, wenn er einen Sohn hinterließe!“ Ich hatte das Gefühl, daß ich blaß wurde. Tante Helene setzte das in Worte, was ich selbst nicht zu denken wagte. „Ja, Tante Helene“, flüsterte ich. „Ich weiß es schon, ich schiebe es immer weg, ganz tief ins Unterbewußte – aber es stimmt, du hast recht.“ „So“, sagte Tante Helene mit ihrem guten, warmen Lächeln. „Somit hätte ich gesagt, was ich auf dem Herzen habe. Wie spät haben wir es? Halb acht schon! Lauf schnell ins Bad, Kind, wenn ich wieder einnicken sollte, dann weck mich, wenn du fertig bist!“ Sie legte sich wieder waagerecht und machte die Augen zu. Ich ging unter die Brause, frottierte mich trocken, zog den Morgenrock an – und immer wieder klangen Tante Helenes Worte mir in den Ohren: Wir lebten gefährlich, es könnte uns jederzeit etwas zustoßen – Heiko könnte was zustoßen. Heiko war jetzt irgendwo in der Wüste oder im Gebirge – ich dachte an Schlangen, an steile, schmale Bergstraßen, an Flüge in kleinen Sportmaschinen – und das Herz krampfte sich zusammen in meiner Brust. Ich hängte das Handtuch auf und griff nach dem Kamm. Plötzlich rutschte er auf dem Glasbord entlang. Die Gläser klirrten gegeneinander, das Seifenstück fiel aus dem Napf und glitt über den
Fußboden. Alles bebte und zitterte. Einen Augenblick dachte ich an die große Wasserpumpe hinter dem Haus. Wäre es möglich, daß – nein, es war etwas anderes – ich klammerte mich an die Waschbeckenkante, konnte mich kaum auf den Beinen halten. Da sprang die Tür auf, und ich taumelte ins Zimmer. Tante Helene machte gerade die Augen auf und murmelte: „Ist dies eine Art, eine alte Tante zu wecken, laß doch das Rütteln…“ Dann sah sie mich am anderen Ende des Zimmers. Wie ein Blitz war sie aus dem Bett und griff nach dem Morgenrock. Im gleichen Augenblick hörten wir die Stimme von Mr. March draußen auf dem Korridor: „Alles raus, sofort! Schnell in den Garten! Erdbeben!“ Aus allen Zimmern strömten sie raus – Frauen mit Lockenwicklern, Männer mit einer rasierten Gesichtshälfte, ein paar kamen naß, direkt aus dem Bad. Die beiden Schwestern Smith waren schon ganz angezogen, mit Handtaschen und Paß unter den Arm geklemmt. Entsetzte, blasse Gesichter, verwirrte Fragen. Wir standen vor dem Haus, neben einem Schuppen! Wir warteten – worauf? Das Beben hatte aufgehört, warum standen wir dann noch hier? Jemand fragte leise und ängstlich. Es kam auch eine Antwort, eine sachliche, nüchterne Antwort. Und sie kam von der Person, von der ich es am allerwenigsten erwartet hatte. Es war Mrs. Stone, die sprach. „Erdbeben erfolgen immer in drei Stößen“, sagte sie, so ruhig und sachlich, als stünde sie auf einem Katheder und erteilte Unterricht in einer Schulklasse. „Der zweite Stoß ist immer der kräftigste. Es ist möglich, daß in diesem Fall der erste Stoß so schwach war, daß keiner von uns ihn gemerkt hat, und daß dies der zweite war. In dem Fall sind wir gut dran. Wenn dagegen die Erschütterung, die wir gerade erlebten, die erste war, müssen wir uns darauf gefaßt machen, innerhalb weniger Minuten einen viel stärkeren Stoß zu erleben. Es ist besser, daß wir im Freien bleiben, für den Fall, daß das Haus den Stößen nicht standhält.“ Meine Angst vor dem, was wir vielleicht noch zu erwarten hatten, vermischte sich mit Staunen. Wie in aller Welt kam diese Frau, die immer gelangweilt aussah, die Illustrierte las, wenn wir anderen die Augen aufsperrten – die den Mund nur aufmachte, um
etwas ganz Negatives zu äußern – wie kam sie plötzlich dazu, diejenige zu sein, die Bescheid wußte – und ausgerechnet über Erdbeben? „Es ist besser, nicht so dicht am Schuppen zu stehen“, fügte Mrs. Stone hinzu. „Man kann nicht wissen, ob er einen kräftigeren Stoß aushält.“ Wortlos und ziemlich blaß bewegten wir uns alle hin zur Mitte des freien Platzes. Mrs. Stone sah auf die Uhr. „Ich glaube, wir haben Glück“, sagte sie. „Es sind schon…“ Sie unterbrach sich selbst, blieb stehen. Ein leises Zittern im Erdboden war einen Augenblick lang zu spüren. Dann war alles ruhig. Wir sahen Mrs. Stone fragend an. „Dann wäre es vorüber“, kam es ganz ruhig von ihr. „Dies muß der letzte Stoß gewesen sein. Dann können wir uns wohl zum Frühstücken fertig machen.“ Worauf sie als erste durch die offene Tür ging, durch die Korridore und in ihr Zimmer, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Papuas und Spitzenhöschen Der schmale, sandige Weg schlängelte sich an der Felswand entlang. Auf unserer linken Seite wurde das Tal immer tiefer und die Bergseite immer steiler. Auf den kurzen, ebenen Strecken hielten wir ab und zu, wenn besonders gute Fotomotive auftauchten. Lachende, spielende kleine braune Nackedeis, die überhaupt nicht aufs Fotografieren reagierten, aber das größte Interesse an unseren bunten Bonbons zeigten. Frauen in ihrer Sonderausgabe von „oben ohne“ – fröhlich, unbefangen, zum Teil sehr hübsch. Viele von ihnen trugen ein enorm großes, grobgeflochtenes Netz, das mit einem Stirnband um den Kopf befestigt war. Wenn das Netz leer war, hing es als eine fast anmutig wirkende Dekoration – wenn es gefüllt wurde, sah es aus wie eine Last für zwei kräftige Männer und nicht für eine zarte Frau! Wir sahen Netze voll Holz, Gemüse, Wurzeln – wir sahen Frauen, die in dieser Weise lebendige oder tote Schweine trugen, oder sie verfrachteten ein springlebendiges Baby drin. Ja, die Babies! Daß die Frauen die Kleinen in einem Tuch auf dem Rücken tragen, das war mir ja aus Afrika bekannt. Und sollte ich selbst in Afrika ein Kind kriegen, würde ich ganz bestimmt dasselbe tun. Hier hatten sie sich was anderes einfallen lassen. Wenn das Kind aus dem ersten Babyalter und Tuchalter heraus war, wurde es in eine Art – ja, wie soll ich es nennen, eine Art Geschirr oder Schaukel, aus breiten, grobgewebten Bändern angefertigt, gesetzt. Das Ding wurde mit Hilfe von Schultergurten auf dem Rücken getragen, das Kind saß mit baumelnden Beinchen da und schien sich immer sehr wohl zu fühlen. So ein Ding müßte doch auch wahnsinnig praktisch für europäische Mütter sein, überlegte ich mir. Man kann nicht immer auf jeder Reise und auf jedem Sonntagsausflug einen Kinderwagen mitschleppen. Ob ich wohl versuchen sollte, einer Papuafrau so ein Geschirr für Senta abzukaufen? Oder vielleicht zwei? Vielleicht würde ich es auch selbst einmal brauchen? Einmal sahen wir am Straßenrand einen Mann mit einem großen, breiten Hut, die Form sah aus, als hätte er sie von einem NapoleonBild abgeguckt. Es war eine Art quergetragener Zweispitz. Anscheinend aus Pelz oder Haaren gemacht, das mußte ja schrecklich warm sein, bei dieser sengenden Sonne!
Unser Fahrer klärte uns auf. Er war selbst ein Papua und ein dienstbeflissener Dolmetscher. Der seltsame Zweispitz war aus Menschenhaaren gemacht, und zwar von den verstorbenen Verwandten des Trägers. Einmal sahen wir eine Frau, der an zwei Fingern das äußerste Glied fehlte. Unser David – der Fahrer – erklärte, wenn ein Kind stirbt, wird der Mutter ein Fingerglied abgehackt. Warum wohl? Vielleicht will sie damit ihre Trauer ausdrücken? Daß die Papuas ihre Frauen vom Schwiegervater kaufen mußten, hatten wir schon gehört. Wir fragten David, wieviel man für eine hübsche junge Frau zahlen müsse. Ja, selbst habe er drei Schweine und acht Hühner bezahlt, aber dafür hatte er auch eine wunderbare Frau gekriegt! Es wurden sehr viele Witze unter den Eheleuten im Auto ausgewechselt! „So viel hättest du nie für mich bezahlt!“ meinte Mrs. Connor. „Aber natürlich hätte ich das!“ versicherte ihr Mann. „Ich hätte sogar ein paar Hühnchen dazugelegt! Das ist doch alles eine einmalige Ausgabe. Für den Rest des Lebens brauchte ich mich dann nie um Garderobe für dich zu kümmern, keine einzige Schneiderrechnung zu zahlen!“ „Ein bißchen gehandelt hätte ich schon“, sagte ein anderer Ehemann. „Vielleicht hätte dein Vater sich mit zwei Schweinchen begnügt!“ „Ich hätte nie einen Mann gekriegt!“ lachte Mrs. Henderson. „Es war schwer genug ohne Schweine und Hühner!“ Ich werde gelegentlich Heiko fragen, wieviel er für mich hätte zahlen wollen! Das kleine Tierreservat oben im Gebirge war entzückend. In großen Volieren hielt man dort eine Menge bunter Vögel, vor allem Papageien. In geräumigen Gehegen lebten Baumkänguruhs, Wallabies und Kuskus, mollige kleine Wesen mit den großen, runden Augen der Nachttiere. Zum ersten und bis jetzt einzigen Mal im Leben sah ich auch Kasuare, diese großen, mächtigen Laufvögel, die nur in Neuguinea leben. Ganz frei und ohne Gitter saß ein großer Vogel, ein schwarzer Hornbill, mit einem imposanten, zitronengelben Schnabel, auf einem Baum dicht an dem Campingplatz. Er posierte in gekonnter Weise vor den Fotolinsen, nahm uns manierlich Leckerbissen aus der Hand und ließ sich durch nichts aus der Fassung bringen.
Auf dem Rückweg hielten wir in einem Papuadorf. Wir durften frei herumgehen, unterhielten uns, zum Teil per Dolmetscher, zum Teil mit ein paar englischen Worten, zum Teil per Fingersprache – mit den Kindern hauptsächlich per Bonbonsprache! David fragte ein paar Frauen nach „Tragegestellen“ für die Babies, und es entstand eine freudige Aufregung. Sie liefen in das „Frauenhaus“, sie schnatterten vergnügt, und zuletzt erschienen zwei Frauen – eine ganz junge, bildhübsch in ihrer braunen Nacktheit, und eine alte Oma, die irgendwie rührend wirkte. Ihr Körper war mager und voll Falten, ihr Busen war so klein und schlaff und verbraucht, ihre Arme so mager und lederartig. Sie lächelte aber vergnügt mit ihrem zahnlosen Mund und brachte mir ein Geschirr, die junge, hübsche reichte mir auch eins. Der Preis war äußerst bescheiden. Ich zahlte mehr als gern und gab meine ganzen restlichen Bonbons dazu. Wie ich die Dinger saubermachen sollte, wußte ich noch nicht. Aber eine Waschmaschine oder eine chemische Reinigung würde wohl dieses Problem lösen. Nicht nur sagenhaft schmutzig waren die Geschirre, sie stanken auch unbeschreiblich. Kein Wunder! David hatte uns gerade erzählt, daß die Männer in einem Haus für sich wohnten, in einem anderen wohnten die Frauen und die Schweine. Ich hatte den Verdacht, daß meine Neuerwerbungen in der Schweineecke gelegen hatten! Mr. Nicol hatte eifrig fotografiert, er durfte sogar ins Männerhaus und Blitzaufnahmen machen. Als er rauskam, zündete er sich eine Zigarette an. Der freundliche Papuamann, der ihm erlaubt hatte, ins Haus zu gehen, zeigte mit einem fragenden Finger auf die Streichholzschachtel. Mr. Nicol lächelte gutmütig und reichte sie ihm. Er nahm sie zögernd, drehte sie um, betrachtete sie von allen Seiten mit verwunderten Augen. Mr. Nicol zeigte ihm, wie er die Schachtel aufmachen sollte, nahm ein Streichholz raus und zündete es an. Da lächelte der Papua glücklich, drückte die Schachtel an seine nackte Brust, lief zu ein paar anderen Männern rüber, zeigte, erklärte, deutete mit dem Finger auf Mr. Nicol. Als wir in den Wagen steigen mußten, sahen die Männer beinahe ehrfurchtsvoll Mr. Nicol nach. Was war dies doch für ein reizendes Völkchen! So strahlend freundlich, so lächelnd, so aufgeschlossen, so zutraulich! „Ach, wenn ich doch die Eingeborenensprache könnte!“ seufzte ich. „Sie meinen wohl, wenn Sie eine der Eingeborenensprachen
könnten“, sagte eine der Schwestern Smith. „Dann blieben immer noch sechshundertneunundneunzig zu lernen. In Neuguinea soll es angeblich siebenhundert Sprachen geben!“ Ich dachte, ich hörte nicht richtig. „Sie… siebenhundert? Ja, aber dann – dann…“ „Eben. Genau was Sie sagen wollten. Es gibt Papuadörfer, die nur ein paar Kilometer voneinander entfernt liegen, und wenn einer aus Dorf A einen aus Dorf B trifft, können sie sich nicht unterhalten, weil sie ganz verschiedene Sprachen haben!“ Ein paar von den anderen Teilnehmern nickten bestätigend. Sie wußten anscheinend hier Bescheid. Ich schämte mich eigentlich, weil ich viel zu wenig wußte, aber dann tröstete ich mich bei dem Gedanken, daß ich – neben Tante Helene natürlich – wohl über die Tiere am besten informiert war. Und wir machten ja die Reise der Tiere wegen! Die Nachmittagssonne brannte, die Luft flimmerte vor Hitze. Ich hielt es nicht mehr aus in meiner langen Hose. Während die anderen sich von den Papuas verabschiedeten, ging ich hinter das Auto, kramte meinen leichten Rock aus der Tasche, zog ihn an und stieg dann aus der warmen Hose. Da hörte ich ein leises Kichern, und drehte den Kopf. „Bitte, noch eine Sekunde stehenbleiben!“ bat Mrs. Stone. Sie stand mit der Kamera vor dem Auge. Ich drehte den Kopf noch etwas. Hinter mir stand ein kleines braunes Mädchen. Es hatte meinen Rocksaum gefaßt, den Rock etwas hochgehoben und guckte sich voll Staunen meinen feinen weißen Spitzenslip an – er war mit lauter kleinen Perlonrüschen quer über den Po ausgestattet. Hinter dem mutigen kleinen Mädchen standen noch ein paar Kinder, eins davon mit dem Finger im Mund, eins nach vorne gebeugt mit dem Blick nach oben, direkt auf die Rüschenpracht. Es war so urkomisch, daß ich nicht böse werden konnte! Die Kinder waren unbezahlbar in ihrem ehrlichen, bewundernden Staunen. Dieses Fotomotiv durfte ich Mrs. Stone nicht vorenthalten! Daß noch ein paar Fotografen dazukamen, mußte ich über mich ergehen lassen. „Ich hätte allerdings nicht gedacht, daß meine feinen, teuren Höschen aus London fotografiert werden sollten“, sagte ich nachher, als ich wieder neben Tante Helene im Auto saß. Dann drehte ich mich zu Mrs. Stone um und fragte, ob sie mir wohl einen Abzug von dem Bild schicken würde.
„Natürlich, wenn Sie mir Ihre Anschrift geben“, antwortete sie mit einem – o Wunder! – freundlichen Lächeln! „Unser Schmerzenskind ist dabei, menschlich zu werden“, sagte Tante Helene, als wir allein im Zimmer waren. „Ich bin gespannt, ob es so bleibt!“ „Aber es gehört viel dazu, sie aufzutauen“, meinte ich. „Einmal Luftkrankheit, einmal Erdbeben und einmal Spitzenhöschen!“
Per Einbaum in die Steinzeit Unsere ganze Reisegesellschaft saß erwartungsvoll auf schmalen Holzbänken, die im Halbkreis aufgestellt waren. Vor uns lag ein großer, offener Platz. Ringsherum kleine Gruppen von Eingeborenen, von Kindern, von Hunden. Hier und da wurde eine Touristenkamera vors Auge gehoben, ein süßes braunes Kind, eine stillende Mutter, ein hübsches Mädchen wurde geknipst. Sonst ruhten die meisten Kameras mit frischgeputzten Linsen und neu eingelegten Filmen auf dem Schoß, einsatzbereit für das, was heute auf dem Programm stand: „Sie erleben einen echten, EingeborenenSingsing.“ Darauf warteten wir. Ein junger Hund spielte vergnügt mit einem Stück Holz. Er kam näher, so nah, daß ich ihn streicheln konnte. Er war Liebkosungen gewöhnt, er stellte sich sofort hin zum „Hinterm-Ohr-Kraulen“. Ich warf einen ganz schnellen Blick auf Mrs. Stone, die in meiner Nähe saß. Sie rückte etwas weg, als der Hund ihr bedenklich nahe kam, aber sie sagte nichts und versuchte nicht, das Tier wegzujagen. Nach all den mageren, ungeziefergeplagten Hunden in Hongkong war es eine wahre Wohltat, die zutraulichen, gut genährten Hunde hier bei den Papuas zu sehen. Es ist schon möglich, daß sie ein paar Flöhe mit sich führten, aber mehr nicht. Alle hatten ein gesundes Aussehen und ein schönes Fell. Die Sonne strahlte über freundlichen, zufriedenen Menschen und Tieren. Jetzt passierte etwas auf dem Platz vor uns. Durch eine Öffnung in einem hohen, dichten Holzzaun kam ein äußerst malerisches und buntes Gefolge: Etwa 30 bis 40 junge Männer, alle wunderbar gebaut – und alle so bemalt, daß man die Gesichtszüge gar nicht erkennen konnte. Weiße, grüne und rote Farben in dicken Schichten machten groteske Masken aus den Köpfen, die die schönen Körper krönten. Was dann wiederum die Köpfe – man könnte beinahe „Häupter“ sagen – krönte, war eine wallende, wogende Federpracht. Das herrliche Gefieder von bunten Papageien, schneeweißen Reihern und orangeroten Paradiesvögeln war von verschwenderischen Händen zu Kopfschmuck zusammengefügt. Ich gebe zu, daß es eine Augenweide war. Aber mein Herz krampfte sich zusammen, wenn
ich daran dachte, wie schrecklich viele von den wunderbaren einheimischen Vögeln getötet worden waren. Was die Männer sonst trugen, war auf dem Allerwertesten angebracht, nämlich große Bündel grüner Blätter, die an dem kleinen Lendenschurz festgebunden waren. Farbenprächtig sahen sie aus, wie sie da auf der „Bühne“ – dem großen freien Platz – in einer Reihe standen. Vor jedem Tanz wurde uns erklärt, was er darstellte. Es war eigentlich mehr Pantomime als Tanz. Ein junger Mann, der sich um ein Mädchen bewarb und sich mit dessen Vater über den Preis einigte. – Kampf zwischen zwei Stämmen wegen eines Diebstahls. – Ein junger Mann, der als Strafe vergiftet wurde und auf gekonnte Schauspielerart starb. Das alles und noch mehr wurde getanzt und gemimt. Dazwischen zeigten sie uns auch, wie sie Feuer machten. Ein kleiner Holzblock hatte eine Vertiefung in der Mitte. Darein wurde ein Holzstäbchen gesteckt und mit Hilfe einer geflochtenen Schnur blitzschnell hin und her bewegt. Nach wenigen Sekunden stieg Rauch auf, dann entstand eine Flamme. Flinke, geübte Hände steckten trockenes Gras und kleine Zweige an. Und in unglaublich kurzer Zeit hatten sie ein richtiges Feuer. „Wenn ich so ein Ding kaufen könnte“, sagte Tante Helene. „Das möchte ich Mr. Morgan schenken, erstens liebt er solche Spielereien, zweitens verlegt er immer sein Feuerzeug und ist auf der Suche nach Streichhölzern!“ Unser unermüdlicher David schaffte es. Er brachte Tante Helene das „Ewigkeitsfeuerzeug“, und sie bezahlte sowohl den bescheidenen Betrag, der verlangt worden war, als auch ein schönes Trinkgeld an David. Bevor wir zum Packen und ein bißchen Ausruhen ins Hotel zurückfuhren, machten wir einen letzten Ausflug auf dieser wunderbaren Insel. Unser Ziel hieß diesmal Minj. Es ging wieder aufwärts, in die herrlichen Berge. Man müßte blind oder stumpfsinnig sein, wenn man über diese Naturschönheit nicht laut jubelte! Mit Blick über ein tiefes, grünes, fruchtbares Tal lag das Hotel „Shangri-la“, wo wir einen schnellen und guten Lunch einnahmen, und nachher ging es ohne Pause nach Minj. Dort hatten wir Glück! Anscheinend wurde aus irgendeinem Anlaß ein großes Fest gefeiert. Männer und Frauen versammelten sich auf dem Dorfplatz, alle in ihrem allerfeinsten Schmuck. Wieder
sahen wir mit bewundernden Augen und blutenden Herzen den enormen Kopfschmuck aus den allerschönsten Federn. Hier trugen die Männer auch mörderisch aussehende Bogen, Pfeile und Speere, die wir fotografieren und anfassen durften. Bildschöne junge Mädchen trugen außer dem Kopfschmuck auch seidenweiche Tierfelle auf der Brust. Ich durfte über so ein Fell streichen – wie war es schön – und wie tat es mir leid! Das waren hauptsächlich Kuskusfelle – ach, ihr lieben Tierchen, wie hättet ihr es in irgendeinem Zoo besser gehabt! Ihr hättet keine unbegrenzte Freiheit gehabt, aber ihr hättet Pflege und Futter und Sicherheit – kein Pfeil wäre in eure kleinen weichen Körper eingedrungen, ihr hättet keinen Schmerz gehabt, ihr hättet am Leben bleiben können, und unzählige Menschen hätten sich über eure schönen Felle gefreut, lebendige Felle an kleinen lebendigen Körpern. Aber wer in dieser Welt könnte den Papuas begreiflich machen, daß sie dabei waren, schöne und seltene Tiere auszurotten, nur um sich zu schmücken? Daß man Tiere züchtet, um aus ihren Fellen warme Kleidungsstücke zu machen, das konnte ich verstehen und gutheißen. Im kalten Europa war das berechtigt. Aber seltene Tiere umzubringen nur des Schmuckes wegen – nein, nein, tausendmal nein! Man erzählte uns, daß Neuguinea bald selbständig werden sollte. Ob die neue Regierung mit sich reden lassen würde? Ob die Mary-Green-Stiftung etwas unternehmen und erreichen könnte?Ich sah Tante Helene an, unsere Blicke trafen sich. Ich wußte, daß wir genau denselben Gedanken hatten. „Dann geht es also per Flugzeug in die Steinzeit“, sagte Mr. Nicol. Wir saßen am Frühstückstisch. Unser Gepäck war schon in den Wagen verladen, in wenigen Minuten wollten wir zum Flughafen, dann nach Port Moresby fliegen und dort gleich in ein anderes Flugzeug umsteigen, das uns zu den Trobriandinseln bringen sollte. Und dort – versprach uns das gedruckte Programm – dort würden wir Menschen sehen, die noch in der Steinzeit lebten! Ich war riesig gespannt. Schon wieder legte ich einen neuen Film in den Apparat. Diese Tage hatte ich unglaublich viel geknipst. Es ging den anderen Teilnehmern nicht anders. Ich möchte wissen, wie viele Aufnahmen wir alle zusammen gemacht hatten – von Papuafrauen und Kindern, von Männern mit Federschmuck, von den
festgeschmückten Leuten in Minj? „Mrs. Stone“, sagte Tante Helene freundlich. „Möchten Sie vielleicht eine Tablette gegen Luftkrankheit?“ Mrs. Stone hatte einen Augenblick einen erstaunten Blick, als ob es ihr neu war, daß jemand ihr eine Freundlichkeit zeigte. „Ja, vielen Dank, wenn Sie eine entbehren können?“ „Ich brauche sie nicht – hoffentlich!“ antwortete Tante Helene mit ihrem guten, lieben Lächeln. „Ich weiß eigentlich nicht, warum ich sie mitgeschleppt habe. Und denken Sie daran, sich ganz zu entspannen, alle Bewegungen mitzumachen, als ob Sie in einer Schaukel säßen!“ „Ich werde daran denken“, sagte Mrs. Stone – kurz, aber nicht unfreundlich. „Thank you“, fügte sie hinzu. Ob es die Tablette oder die Entspannung war, weiß ich nicht. Aber diesmal schaffte Mrs. Stone den Flug, ohne zu der Tüte greifen zu müssen. Dann standen wir im Flughafen Port Moresby und warteten darauf, aufgerufen zu werden. Auf dem kleinen grünen, eingezäunten Platz zwischen dem Gebäude und dem Flugplatz durften wir uns frei bewegen. Tante Helene und ich betrachteten lächelnd ein paar kleine Kinder, die da herumspielten. Zwei süße, pummelige kleine Lockenköpfchen, ein weißer und ein brauner. Sie rannten einander nach, sie purzelten und standen wieder auf, sie lachten fröhlich, und zuletzt umarmten sie sich herzlich. Sie waren einfach zum Fressen! Tante Helene machte schnell eine Aufnahme, ein paar der anderen von unserer Gruppe ebenfalls. Alle lächelten den süßen Kleinen wohlwollend zu. Nein, nicht alle. Mrs. Stone stand ganz unberührt da. Ihr hübsches Gesicht war vollkommen leer, es drückte überhaupt keine Gefühle aus. „Sehen Sie sich doch die reizenden Kinder an!“ platzte es aus mir raus. „So gut vertragen sich braun und weiß – da gibt es keinen Rassenhaß und keine Rassenprobleme! Die Großen hätten viel zu lernen von den Kleinen!“ „Ich kann Kinder nicht ausstehen“, sagte Mrs. Stone. „ Was können Sie nicht?“ Ich dachte, ich höre nicht richtig. „Kinder sind häßlich, dumm und lästig“, sagte Mrs. Stone. Ihre Stimme war wie Eis. Ich hätte natürlich was sagen können, hätte protestieren müssen –
aber ich war so platt, daß ich keine Worte fand. Mrs. Stone ging ans andere Ende des Platzes, blieb stehen und schaute geradeaus, schaute ins Nichts. Ich sah Tante Helene entsetzt an. „Und ich dachte, sie war beim Auftauen!“ seufzte ich. „Dabei ist sie genauso ein Biest wie am ersten Tag!“ Tante Helene richtete den Blick auf die schöne, schlanke Gestalt, die da am Zaun stand. „Nein“, sagte Tante Helene langsam. „Sie ist kein Biest. Ich glaube, sie ist ein bodenlos unglücklicher Mensch!“ Dies war aber spannend! Es gab keinen Linienverkehr zu den Trobriandinseln. Für uns war ein Flugzeug gechartert worden, und was für eins! Es war ein Transportflugzeug, ohne jeglichen Komfort. Ein großer, leerer Raum mit zwei Sitzreihen in der Längsrichtung, das war alles. Aber eigentlich war es ganz angenehm. Wir konnten die Beine viel besser ausstrecken als in den gewöhnlichen Passagiermaschinen, und wir konnten – und durften – während des Fluges rumspazieren, bald links und bald rechts gucken. Plötzlich hatten wir alle – glaube ich – ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die, die sonst schweigsam waren, wurden gesprächig, es wurde gelacht, es wurden Erinnerungen aus diesen Tagen hervorgeholt. Eifrige Fragen kreuzten sich, die Reisetagebücher wurden rausgeholt. „Wie hieß noch der Aussichtspunkt in Hongkong?“ – „Mit welcher Maschine flogen wir nach Port Moresby?“ – „Ach, Frau Werner, wie hießen doch die bunten Vögel, die Sie knipsten da am – am – wo war es nun gleich…“ – „Mrs. Stone, was sagten Sie über das Erdbeben, wir hätten einen noch schlimmeren Stoß erleben können? Sie wußten ja so gut Bescheid – Sie haben wohl viel über Neuguinea gelesen?“ „Nein“, sagte Mrs. Stone. „Nicht besonders viel.“ „Meine Frau hat Geologie studiert“, sagte Mr. Stone. „Nicht, Darling, das ist doch kein Geheimnis?“ „Oh, bewahre, nein.“ Sie zuckte die Achseln. „Steine studieren, das paßt ja gut, wenn man Stone heißt“, lächelte Mrs. Henderson. Und wenn man hart wie ein Stein ist, dachte ich. Wir harten Lunchpakete mit und aßen im Flugzeug. Draußen strahlte die Sonne auf das blaue Wasser. Drinnen in unserem ulkigen, fliegenden Verkehrsmittel ging es lebhaft zu. Mr. Nicol erhielt die hartgekochten Eier aus Mrs. Connors Paket, dafür bekam sie seine Kekse. Tante Helene bekam meine Tomatenbrote und ich
ihr Schinkenbrot. Und ich kriegte von allen Seiten Salz- und PfefferPackungen und Zuckerstücke, nachdem ich erzählt hatte, daß ich sie für meinen kleinen Bruder sammelte. Er gab enorm an damit, wenn er bei Schulausflügen seinen Freßsack aufmachte. „Wie alt ist denn Ihr Bruder?“ fragte Miß Smith Nr. 1. „Elf. Und meine kleine Schwester ist sieben.“ „Ach, so junge Geschwister haben Sie?“ „Ich habe noch mehr! Wir sind sechs Geschwister. Die beiden jüngsten sind übrigens eigentlich meine Halbgeschwister und werden von uns älteren so sagenhaft verhätschelt, daß meine armen Eltern ihre liebe Not haben, den beiden ein Minimum an Vernunft und Benehmen beizubringen.“ „Dann haben Sie einen Stiefvater?“ Erstaunlicherweise kam die Frage von Mrs. Stone. „Nein, Stiefmutter. Sie ist nur zwölf Jahre älter als ich. Sie ist die liebste und beste Mutter auf der Welt!“ fügte ich hinzu. So wie ich immer sage, wenn von Beatemutti die Rede ist. „Wie schön, wenn man sich mit einer Stiefmutter gut versteht“, sagte Mrs. Connor. „Verstehen ist gar kein Wort!“ erklärte ich eifrig. „Wir lieben sie alle, und wir waren alle aus dem Häuschen vor Freude, als sie ihr erstes Kind bekam.“ „Aber…“, es war wieder Mrs. Stone, die sprach. Und ihre Stimme war gedämpft und sehr ruhig – beinahe hätte ich gesagt, angestrengt ruhig. „Ihre Stiefmutter wird doch wohl ihren eigenen Kindern anders gegenüber empfinden als…“ „… als uns großen Stiefkindern gegenüber? Nein, wir sind alle ganz gleich für sie, dafür lege ich meine Hand ins Feuer! Ich werde ihr übrigens einen kleinen Opalschmuck in Australien kaufen, da soll es doch so schöne Opale geben?“ Dann ging das Gespräch auf Opale über. Mrs. Stone saß still, sah mich schweigend an. Zuletzt sagte sie: „Ich glaube, ich verstehe etwas von Steinen, Mrs. Brunner. Ich könnte Ihnen vielleicht helfen, einen schönen Stein zu finden, wenn Sie wollen?“ „Das ist reizend von Ihnen“, sagte ich, als ich mein Staunen schnell runtergeschluckt hatte. „Natürlich nehme ich das mit Dank an!“ Ich packte meine Salz-, Zucker- und Pfeffer-Packungen zusammen und legte sie in die Handtasche. Mr. Connor, der mir gegenübersaß, lächelte: „Ich glaube, Sie sind ein glücklicher
Mensch, Mrs. Brunner!“ „Ja“, lächelte ich zurück. „Das bin ich. Ich weiß es selbst und bin immer dankbar dafür!“ „Es muß schwer für Sie gewesen sein, ein so glückliches Elternhaus zu verlassen“, meinte Frau Werner. „Es war eine Tatsache, die mir dabei sehr half,“ gestand ich. „Nämlich die, daß ich meinen Mann liebe!“ An der Wandtafel leuchteten die Buchstaben auf: „Fasten seat belt.“ Also schnallten wir uns fest, und es wurde nichts mehr über mein Glück gesprochen. Gleich darauf landeten wir auf der Insel Loswia in der Trobriand-Inselgruppe. Es war anscheinend nicht nur Neugier, die einen ganzen Haufen braune und halbnackte Jünglinge zu der kleinen Landungsbahn gelockt hatte. Buchstäblich bevor wir den Fuß auf Loswias Erde hatten – nämlich während wir noch auf der kleinen Treppe vom Flugzeug standen – wurden uns die ersten Andenken angeboten. „Warte!“ riet Tante Helene. „Diese Sachen hier sehen mir verdächtig nach Fabrikware aus.“ Da hatte sie recht. Die glatten, polierten Holzfiguren sahen unbedingt nach Massenanfertigung aus. Und falls hier wirklich Steinzeitmenschen wohnten, waren jedenfalls diese jungen Andenkenverkäufer ihrer Zeit weit voraus. Ein Bus brachte uns quer über die Insel. Mr. March zeigte uns die traurigen Reste von einem Hotel, das sehr schön gewesen sein sollte. Es hatte nur den kleinen Schönheitsfehler, daß es abgebrannt war. Deshalb also die Lunchpakete im Flugzeug! Wir stiegen in einer kleinen Pfahlhaussiedlung aus, wo braune Männer, buntberockte Frauen, nackte Kinder und kleine schwarze Schweine uns empfingen. Ja, und außerdem etliche gackernde Hühner. Ich hätte gern diese Siedlung näher angesehen, aber wir wurden schnell zum Strand getrieben mit dem Versprechen, daß wir recht bald eine viel interessantere Pfahlbausiedlung zu sehen bekommen würden. Aha, dachte ich. Jetzt geht es also zu den richtigen Steinzeitmenschen. Hier kam es mir nicht so steinzeitlich vor, hier, wo gerade ein paar Frauen in Plastikschüsseln ihre Synthetikröcke wuschen. Am Strande lagen unsere Wasserfahrzeuge parat, und die sahen unbedingt steinzeitlich aus. Es waren richtige Einbäume, die ich bis
jetzt nur auf Bildern und Filmen gesehen hatte. Jetzt fing es an, spannend zu werden! Das Einsteigen verursachte viel Gelächter, viel Frauengekreische und bei den Männern ein paar nicht mißzuverstehende Kraftausdrücke. Wir mußten nämlich Schuhe und Söckchen ausziehen und bis zum Knie im Wasser waten. Der Strand war voll spitzer Steine und schrecklich scharfer Muschelschalen. „Was mache ich bloß, ich kann doch meine Strumpfhose nicht ausziehen!“ rief Miß Smith Nr. 2. „Meine Hose ist zu eng! Ich kann sie nicht hochkrempeln!“ kreischte eine andere. Mr. Nicol trat als rettender Engel auf. Er trug die Enghosige durch das Wasser und setzte sie in einen Einbaum, der dabei enorm ins Schaukeln geriet. Mr. Connor half seiner Frau, und Mr. Stone kümmerte sich um Miß Smith. Mrs. Stone hatte schon ihre Sandalen ausgezogen und watete ruhig und vorsichtig zu ihrem Einbaum. Jedes Boot faßte drei Personen. Tante Helene und ich hatten Frau Werner in unserem Boot, und ganz hinten stand der „Kapitän“ – ein strahlend lächelnder junger Mann mit dunkelbraunen, intelligenten Augen und einem Körperbau wie ein dunkel bestrichener griechischer Gott! Dann segelten wir los. Ja wirklich, unsere Einbäume hatten Segel, und was für welche! An unserem Mast war ein alter, aufgeschnittener Sack befestigt. Der neben uns hatte ein arg mitgenommenes Frottierhandtuch. Einer wurde von einem blaukarierten Segel vorwärts bewegt, bei dem man deutlich den Ursprung erkennen konnte: Es war einmal eine Schürze gewesen! Unser hübscher Bootsführer reichte uns je eine halbe Kokosnußschale und machte uns begreiflich, daß wir schöpfen mußten, was wir ohnehin begriffen hätten. Durch etliche Risse sickerte immer Wasser rein, ein paarmal ergoß sich eine seitliche Welle in unser Fahrzeug und über unsere nackten Füße. Tante Helene saß mir gegenüber, mit hochgekrempelten Hosen, einer unbeschreiblichen Frisur, kohlschwarzen Nägeln und einen Schmutzstreifen quer über die Nase. Sie schöpfte wie ein Matrose in Lebensgefahr! „Jetzt hätte dein Arzt dich sehen sollen, Tante Helene“, sagte ich. „Du kannst mich ja fotografieren, dann zeige ich ihm das Bild!“ antwortete sie seelenruhig und schöpfte weiter. In der Hoffnung, daß eine Minute Schöpfpause nicht unseren
Untergang verursachen würde, ergriff ich die Kamera und machte die Aufnahme. Mit Hilfe von Sacksegel und Kokosnußschalen, unseren Muskelkräften und umsichtigem Steuern des griechischen Gottes erreichten wir unversehrt das Ufer auf der anderen Seite der Bucht. Es stimmte, was man uns gesagt hatte. Diese Siedlung war größer, es gab viel zu sehen! Die Pfahlhäuser waren auch etwas Merkwürdiges! Unten nur die Pfähle, dann eine kleine Treppe hinauf in das „Haus“ – also den Raum, in dem die Familie lebte. Er war so niedrig, daß man unmöglich darin stehen könnte. Das ganze Leben schien sich vor dem Haus, auf einer Art Veranda, abzuspielen. Veranda ist vielleicht zuviel gesagt. Eigentlich war es nur ein breites Bord auf der Vorderseite der Hütte. Da wurde gegessen, da wurde gewaschen, da saßen die Kinder und sahen uns komische Bleichgesichter an. Um die Hütten und unter den Hütten trotteten die kleinen schwarzen Schweine und suchten Abfälle. Auch hier wurden uns „Eingeborenentanze“ geboten. Diesmal von jungen Mädchen und Frauen mit Strohröcken, Knöchelringen und bunten Ketten und Gürteln. Steinzeit hin, Steinzeit her – der Schmuck sah verdächtig nach Plastik aus! Aber hübsch waren die jungen Tänzerinnen und anmutig in ihren Bewegungen. Nur war es mir unbegreiflich, daß sie überhaupt bei dieser Hitze tanzen konnten! Die meisten Dorfeinwohner hielten sich im Schatten auf. Hier saßen vier oder fünf Kinder um eine knallrote Plastikschüssel und aßen einen unbestimmbaren Brei mit den Fingern. Daneben hängte eine Frau Fische zum Trocknen auf. Überhaupt roch die ganze Siedlung nach Fischen! Auf einer Treppe saß ein Mann, ließ sich nicht von Schweinen, Tänzerinnen und Touristen stören und aß Ölsardinen aus einer Dose! „Eins ist mir klar“, sagte ich, als wir uns von dem Dorf verabschiedeten und in den Bus stiegen, der um die Bucht gefahren war und jetzt auf uns wartete. „Der Geschichtsunterricht in meinem Vaterland läßt viel zu wünschen übrig. Wir haben nicht in der Schule gelernt, daß die Steinzeitmenschen Schüsseln und Kochlöffel aus Kunststoff hatten oder daß sie schon Fischkonserven mit buntbedruckten Etiketts herstellten! Und Dosenöffner!“ „Oder Messer aus gutem deutschem Stahl“, fügte Mr. Nicol
hinzu. „Und daß sie so viel von Geld verstehen!“ sagte Mrs. Connor, die gerade mit einem jungen Mann eine lange Unterredung gehabt und eine geschnitzte Holzschale von drei auf zwei Dollar runtergehandelt hatte. Als wir im Bus saßen, machte Tante Helene wieder eine Notiz in das Büchlein, das ich respektlos „Das Meckerbuch“ nannte. Es wäre besser, wenn man das Wort „Steinzeit“ auslassen würde! Unterwegs zum Flugplatz machten wir eine Pause. Die Andenkenverkäufer standen wie eine dichte Mauer um den Wagen und reichten uns ihre selbstgemachten Holz- und Muschelsachen zum Fenster hinein. Es waren wirklich hübsche Dinge dabei. Und wir entdeckten keinen Ramsch, keine Massenartikel von einer Fabrik, sondern wirkliche Handarbeit. Ich kaufte zwei kleine Holzschalen mit fein geschnitzten Rändern. Eine für Heikos Eltern, eine für die meinen. „Ja, solche Andenken kaufe ich auch gern“, sagte Tante Helene. „Am allerliebsten Dinge, die vor meinen Augen angefertigt sind, so wie die Brieföffner in Mount Hagen oder die ulkigen PapierHeuschrecken aus Hongkong, weißt du noch…“ „Tante Helene!“ rief ich. „Weißt du, wie lange das her ist? Mir kommt es vor, als ob wir vor Monaten in Hongkong waren, und dabei sind es erst vier Tage!“ „Und noch sieben, bist du Heiko triffst“, sagte Tante Helene und steckte ihre Holzschale in die Flugtasche.
Wir ruhen uns aus „Dieser Tag hatte es wirklich in sich“, seufzte ich, als wir am späten Abend wieder in einem großen Flugzeug saßen. „Dies ist unser vierter Flug heute, und außerdem haben wir eine Einbaumfahrt und eine Busfahrt und einen Steinzeitbesuch hinter uns!“ „Eines sage ich dir“, kam es von Tante Helene. „Wenn morgen auch ein Ausflug in eine Diamantenmine mit gratis Selbstbedienung arrangiert wird, sage ich nein! Ich bleibe im Hotel, was es auch sein mag. Ich muß jetzt einen Ruhetag haben!“ „Tröste dich, ich habe nie von Diamantenminen in Australien gehört, und von Selbstbedienung erst recht nichts!“ antwortete ich. „Das einzige, was mich morgen bewegen könnte, wäre, wenn Heiko ein paar Busstunden weg wäre, oder wenn eine Koalakolonie…“ „Beides sehr unwahrscheinlich“, erklärte Tante Helene. „Dann bleibe ich in Cairns, leiste dir Gesellschaft und wasche meine Haare. Auch auf die Gefahr hin, daß das Wasser nachher eine Verstopfung des Ausgusses verursacht. Ich habe ein Pfund Schmutz auf der Kopfhaut. Und wenn ich die Gelegenheit zum Schwimmen bekommen würde, wäre ich selig!“ „Hoffen wir also, daß das Hotel ein Schwimmbecken hat“, sagte Tante Helene und hakte den kleinen Tisch in waagerechte Stellung. Die „Gulaschkanone“ – wie Heiko es immer nennt – wurde gerade in den Mittelgang geschoben, und unsere „Dinner“-Tabletts wurden verteilt. Ich hatte einen Mordshunger. Ich aß Vorspeise, Filet, Gemüse, Brötchen, Butter, Käse und Pudding. Das einzige, was auf meinem Tablett übrigblieb, war eine angebrochene Salzpackung! Endlich betrat ich australischen Boden! Es war dunkel, als wir ankamen. Alle waren wir todmüde, aber wir mußten viel durchmachen, bevor wir zum Hotel fahren konnten. Unser Gepäck wurde sehr genau untersucht. Da wurde eine Schokoladentafel beschlagnahmt – dort ein paar Äpfel – eine Bonbontüte – und von mir nahm ein höflicher, aber unerbittlicher Zöllner unsere Morgenkaffee-Kekse. „Es tut mir leid, Madam, aber so sind die Bestimmungen, und Sie kriegen bestimmt neue Kekse im Hotel!“ Wir hatten schon im Flugzeug ein langes Formular ausfüllen und auf Ehre und Gewissen erklären müssen, daß wir keine Tiere, keine
Sämereien, keine Pflanzen, kein Fleisch, keine Bakterienkulturen, keine Viren in unserem Gepäck hatten! Ja, und natürlich kein Obst, weder frisch, getrocknet, noch in Dosen! Die lieben Australier waren vorsichtig, das muß man sagen! Endlich, endlich waren wir mit unserem gekämmten und gefilterten Gepäck durch das Nadelöhr und konnten zum Hotel fahren. Nein, wie war das schön! Es war ein Motel mit vielen kleinen Appartements, die wir direkt von dem schönen Garten erreichten. Alle zu ebener Erde, himmlisch bequem. Ein großes, schönes Zimmer mit Klimaanlage und dem geliebten Schnellkocher mit Zubehör. Ein herrliches Bad – und alles so pieksauber und wunderbar gepflegt. „Nein, guck doch, Tante Helene – was ist das denn?“ Ich hatte eine Klappe an der Wand aufgemacht. Dahinter war ein Raum, ungefähr so groß wie ein großes Teetablett. Und hinter diesem Raum noch eine Klappe, die sich leicht aufschieben ließ, und dadurch guckte ich direkt in den Garten. „Entweder Briefkasten oder Sondereingang für Einbrecher“, schlug Tante Helene vor. Es zeigte sich aber, daß es eine Frühstücks-Durchreiche war. Vor dem Zubettgehen brauchten wir nur unsere Frühstücksbestellung abzugeben und die Uhrzeit anzugeben, wann wir es wünschten. Dann wurde die nicht abschließbare Klappe von außen aufgemacht und das Tablett hineingestellt, und wir brauchten nur die Innenklappe aufzuschließen und das Tablett zu holen. So was sollten alle Hotels haben! Dieses Frühstück im Zimmer war der Grund, warum wir am folgenden Morgen keinen der Gruppengenossen sahen. Sonst war ja der Frühstückstisch der Sammelpunkt. Wir hatten Bescheid gegeben, daß wir an diesem Tag keinen Ausflug mitmachen würden. Als wir nach unserem friedlichen Zimmerfrühstück frisch gebadet, mit fein gebürsteten Haaren und wohltuend sauber angezogen aus dem Zimmer ins Freie traten, war unsere Gesellschaft weg. Wir gingen ein paar Schritte und wollten uns ein bißchen umsehen; da stieß ich einen Freudenschrei aus: Vor uns lag ein großer, herrlicher, vorbildlich gepflegter Swimming-pool! Fünf Minuten später machte ich – trotz frisierten Haaren – einen Kopfsprung in das klare, beinahe lauwarme Wasser. Ich hatte das Becken ganz für mich. Wie habe ich das genossen! Dann kam auch
Tante Helene, sie schwamm ausgezeichnet, und ihr Körper war fest und schlank und muskulös wie bei einer Dreißigjährigen. „Ja“, seufzte Tante Helene, als ich mich dazu äußerte. „Ich sage, wie Adele Sandrock – kennst du den Namen? Sie war eine bekannte Filmschauspielerin der dreißiger Jahre. Eines Tages betrachtete sie ihr faltiges Gesicht im Spiegel und seufzte: ‚Wenn ich bloß begreifen könnte, warum all die Falten immer nur ins Gesicht kommen, wo doch überall sonst so viel Platz ist?’“ „Ich weiß nicht, Tante Helene…“, sagte ich sinnend. „Wenn man ein langes Leben hinter sich hat, wäre es so unnatürlich, wenn man nicht davon gezeichnet wäre. Eine Zwanzigjährige würde mit einem Babygesicht sehr unharmonisch aussehen, und eine alte Dame mit einem glatten Teenagergesicht wäre auch ein komischer Anblick. Ich mag dich genau so, wie du bist!“ „Das beruhigt mich ja sehr“, schmunzelte Tante Helene. „Eigentlich hast du ja auch recht. Glaubst du, daß du uns etwas zu trinken organisieren könntest? Passionsfruchtsaft zum Beispiel?“ Nichts war leichter. Kurz danach saßen wir unter schattenspendenden Palmen am Schwimmbecken, genossen unseren Saft und schrieben Kartengrüße und in unsere Reisetagebücher. Ich hatte zwei Tage lang nicht geschrieben und nun viel nachzuholen. „Ist es nicht komisch, Tante Helene“, philosophierte ich. „Wir haben in diesen Tagen so viel erlebt, daß es eigentlich Gesprächsstoff für Wochen wäre! Aber die Ereignisse häufen sich so, daß wir gerade noch Zeit haben, sie als geschehen zu registrieren, und schon sind wir mitten im nächsten Ereignis! Der Tag bei den Papuas, zum Beispiel – was haben wir da alles gesehen und erlebt. Kaum hatten wir die Eindrücke intus, da kam das Erdbeben. Unter anderen Umständen hätten wir tagelang davon gesprochen. Nun haben wir es erlebt, fertig; dann ging es zum erneuten Eindrucksammeln! Dann alles auf der Trobriandinsel – und dazwischen Mrs. Stone mit ihrem Kinderhaß – oder mit ihren plötzlichen Erdbebenkenntnissen. Sie allein gibt Stoff zum Nachdenken und Gesprächsstoff für lange Zeit ab!“ „Ja“, pflichtete Tante Helene mir bei. „Ich gebe zu, daß ich die Frau gern näher kennenlernen möchte. Sie ist bestimmt tief unglücklich – wenn man bloß dahinterkommen könnte, was sie so hart und so – ja, so abweisend gemacht hat! Vielleicht hat sie eine sehr schwere Kindheit gehabt, wer weiß. Jedenfalls bin ich ihr keine
Spur mehr böse. Sie tut mir nur schrecklich leid, und ich…“ „Ssss, Tante Helene…“, warnte ich. Denn aus Appartement Nummer fünfzehn kam eine schöne, schlanke Gestalt in einem blütenweißen Leinenkleid und mit frischgewaschenen Haaren und neu polierten Nägeln. Es war Mrs. Stone! Allgemeines Staunen. „Ach, sind Sie auch hiergeblieben? Ich dachte, alle wären heut weg.“ Dann bat Tante Helene sie, sich zu uns zu setzen, und ich erbot mich, ihr ein Getränk zu holen. Ob sie Passionsfruchtsaft haben wollte? „Kenne ich nicht“, wies sie ab. „Aber ein Glas Orangensaft, wenn Sie wirklich…“ Ich holte den Orangensaft von der Bar. „Schade, daß Sie nicht den anderen ausprobieren wollen“, sagte Tante Helene freundlich. „Er schmeckt ganz wunderbar.“ „Ach…“ Mrs. Stone trank einen Schluck von ihrem Orangensaft, stellte das Glas hin und sagte – dabei war ihre Stimme so sonderbar trocken und ausdruckslos – „Ich habe in meinem Leben so viele merkwürdige und angeblich wunderbare Dinge runterwürgen müssen, daß ich jetzt froh bin, wenn ich selbst wählen kann und keine Experimente machen muß.“ „Und ich bin unheilbar neugierig auf alles Neue!“ sagte ich. „Dann sind Sie als Kind bestimmt nicht gezwungen worden, fette Aale zu essen oder sogenannte exotische Gerichte mit brennendem Gewürz, oder Salate, die vor Öl nur so triefen. Und wenn Sie es nicht aufessen konnten, haben Sie ganz bestimmt nicht den Hintern voll gekriegt!“ „Um Gottes willen – haben Sie denn das?“ platzte es aus mir heraus. „Worauf Sie sich verlassen können. Ich hatte einen Stiefvater, der für alle möglichen ausgefallenen Sachen schwärmte. Und wenn ich das Zeug nicht essen konnte, hieß es, daß ich wählerisch und trotzig sei, und dann ging es mit dem Rohrstock los.“ Sie stand jäh auf, ging ein paar Schritte, beugte sich und steckte die Hand ins Wasser des Schwimmbeckens. „Schön warm“, sagte sie. „Sie waren schon drin? Ich glaube, ich ziehe schnell meinen Badeanzug an, ich schaffe es gerade noch vor dem Lunch.“ Sie leerte im Stehen ihr Saftglas. Als sie auf halbem Weg zum Appartement war, sah ich, daß sie ihren Schlüssel hatte liegen lassen.
Ich rannte ihr nach. „Oh, vielen Dank – übrigens, Mrs. Brunner – was ich noch sagen wollte… es tut mir leid, daß ich Ihnen den Hund in Hongkong wegjagte.“ Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging schnell die paar Schritte zu der Appartementreihe, und im nächsten Augenblick war sie hinter Tür Nr. 15 verschwunden. Nach dem Essen machten wir einen kleinen Stadtbummel. Die Straßen waren so breit, so hell, so sauber! Und beinahe leer! Was für ein Unterschied zu dem Ameisenhaufen Hongkong! „Sieh bloß, Tante Helene, da ist Ausverkauf! Mensch, Kleider für zwei Dollar! Du, so eins kaufe ich mir, das ist genau das richtige für Ayers Rock, dann schone ich Sentas gute Sachen – und für KoalaUmarmungen und so was wäre es ja goldrichtig! Und nachher zu Hause!“ „Was meinst du mit ,zu Hause’“, fragte Tante Helene lächelnd. „Norwegen, Deutschland oder Kenya?“ „Kenya, natürlich! Oder dachtest du, ich könnte in Norwegen ärmellose baumwollene Minikleider um Weihnachten herum tragen?“ Die beiden geblümten Zweidollarkleider, die ich kaufte, waren genau das richtige. Ich war selig. Endlich etwas, was anständig aussah und das ich nicht mit äußerster Vorsicht behandeln mußte! Es war ein gesegneter, erholsamer Tag. Aber leider ging es wieder ans Packen. Am Abend sollte es weitergehen, nach Alice Springs. „Siehst du“, sagte Tante Helene, als wir unsere Sachen zusammenklaubten, „alles mit Mrs. Stone hat seinen Ursprung in ihrer Kindheit, so wie ich es dachte.“ „Weißt du was“, sagte ich nachdenklich, „es kommt mir vor, daß sie sich irgendwie eine harte Schale oder einen Panzer zugelegt hat – damit nichts von außen sie treffen und verletzen kann und nichts von innen rauskommt!“ „Und doch…“, sagte Tante Helene und legte ihre Waschlappen in den Kulturbeutel, „ist heute ein ganz kleiner Riß in die Schale gekommen. Aus diesem Riß sickerte zuerst ihre Erzählung von dem Stiefvater. Er muß ja ein ganz Süßer gewesen sein! Und dann die Entschuldigung dir gegenüber, wegen des Hundes. Und noch etwas. Durch den Riß kam das Ende eines roten Fadens zum Vorschein. Das Ende möchte ich jetzt zu fassen kriegen und versuchen, das
ganze, verzweifelte Knäuel aufzuwickeln!“ Unser Flugzeug hatte Verspätung, und wir mußten eine Stunde im Flughafen warten. Es war ganz deutlich, daß Mrs. Stone Tante Helenes Gesellschaft suchte. Sie setzte sich zu uns und erzählte von Ayers Rock, diesem merkwürdigen Felsgebilde, einem roten Monolithen, der ganz einsam auf einem weiten Hochplateau aufragte. „Das wird ja für Sie als Geologin besonders interessant sein!“ meinte Tante Helene. „Ja, klar. Ehrlich gesagt ist Ayers Rock für mich der Hauptgrund für diese Reise. Ich freue mich auf übermorgen. Ich habe eigentlich immer gewünscht, diesen – diesen geologischen Leckerbissen zu sehen!“ „Und ich freue mich auf Adelaide“, sagte ich. „Da gibt es für uns einen Leckerbissen, den Zoo! Nicht wahr, Tante Helene, da lassen wir alles andere links liegen und sind am Zootor in dem Augenblick, wo aufgemacht wird!“ Auf meiner anderen Seite saß eine Reiseteilnehmerin, deren Namen ich heute noch nicht weiß. Sie war Offizierswitwe, und wir nannten sie immer nur „Die Majorin“. Sie drehte jetzt den Kopf und sah mich erstaunt an. „Gehen Sie in den Zoo? Du lieber Himmel, man fährt doch nicht nach Australien, um in Zoos zu gehen!“ „Doch“, antwortete ich. „Das heißt, ich bin gefahren, um einmal in meinem Leben Koalabärchen zu sehen!“ „Koalabärchen!“ Sie prustete förmlich, überlegen und mitleidig. „Die können Sie doch in einem europäischen Zoo sehen!“ Ihre überlegene Art brachte meine seelischen Igelstacheln zum Sträuben. „Leider nicht“, antwortete ich kühl. „Die gibt es dort nicht.“ „Natürlich! Ich habe sie selbst in Whipsnade gesehen!“ „Haben Sie? Das ist ja phantastisch. Wovon sollten sie denn leben? Man hat in Whipsnade keinen Eukalyptuswald, und Eukalyptusblätter sind die einzige Nahrung der Koalas.“ „So, und das meinen Sie so genau zu wissen?“ Ihre Stimme war noch die des Besserwissers. „Ja, und zwar so sicher, daß ich nicht einmal mit Ihnen wetten möchte, das wäre eine Gemeinheit von mir“, antwortete ich. „Was Sie in Whipsnade gesehen haben, waren wahrscheinlich Waschbären.“
„Sind Sie Zoologin, Mrs. Brunner?“ fragte Mrs. Stone. „Leider nicht, aber mein Mann ist Doktor der Zoologie.“ Tante Helene hatte sich nicht in das Gespräch gemischt. Sie hörte nur belustigt zu. Der Majorin waren anscheinend doch Zweifel an ihrem unfehlbaren Wissen gekommen, denn sie stand auf und fing an, einen Anschlag an der Wand zu studieren. Ja, ja, sie war genau der Typ, der nie zugibt, daß er sich irren kann. Dann drehte sie sich noch einmal zu mir um. „Well, ich werde die Sache untersuchen“, kam es kühl. „Ihr ist es bestimmt nicht recht, daß so ein Fratz wie du besser Bescheid weiß!“ flüsterte Tante Helene. Mrs. Stone mußte es gehört haben. Denn, es war kein Zweifel, ein wirkliches, echtes Lächeln erschien in ihrem Gesicht! Wunder über Wunder! Und wie stand es ihr! Es machte das schöne Gesicht noch schöner! Ja, wenn der „Fratz“ bei Mrs. Stone ein ehrliches Lächeln hervorrufen konnte, dann ließ ich auch gern diese respektlose Benennung über mich ergehen! Im roten Abendlicht flogen wir los. Ich drückte die Nase gegen die Fensterscheibe. Leider bekamen wir ja bei dieser Reise beinahe nur Städte zu sehen. Und ich hätte doch so wahnsinnig gern etwas von dem weiten, geheimnisvollen Land gesehen – Steppen, Wüsten, Gebirge und Buschlandschaft! Nun ja, Heiko würde schon erzählen – und vielleicht, vielleicht kämen wir noch einmal hierher – vielleicht würden wir einmal in einem solchen Mary-Green-Team in einer Hütte im australischen Busch arbeiten! Vom Flugzeug aus war leider wenig zu sehen, außerdem fing es an, dunkel zu werden. Aber morgen – morgen würden wir mit kleinen Sportmaschinen fliegen, die gingen nicht so hoch – und dann würden wir etwas von dem unberührten Land zu sehen bekommen. Wer weiß – vielleicht würden wir von der Luft Känguruhs sehen, wirkliche, wildlebende Känguruhs! Es war dunkel, als wir in Alice Springs ankamen. Nur im Scheinwerferlicht des Autos ahnten wir bunte Blumen und Bäume und goldgelbe Früchte im dunklen Laub. Wir wohnten wieder in einem Motel, sauber und gepflegt, aber leider ohne Schwimmbad. Das wurde gerade gebaut! Ein bißchen primitiv war es, unter anderem war alles auf Selbstverpflegung eingerichtet. Na, das machte ja nichts. Wir hatten
im Flugzeug Abendessen gehabt, für morgen früh war gesorgt, und Mittagessen würde es am Ayers Rock geben. Mit diesem beruhigenden Gedanken schliefen wir ein. „Wie freue ich mich auf morgen!“ war das letzte, was ich Tante Helene sagte, bevor sie das Licht ausmachte. Wie gut, daß ich nicht in die Zukunft sehen konnte!
Ein Schock am Ayers Rock Es war ein wahres Glück, daß Tante Helene und ich luftfest waren. Und ein Glück, daß Mrs. Stone in dem anderen, großen Flugzeug saß. Es waren für uns zwei Maschinen gechartert worden. Eine, die zwölf Plätze hatte, und dann ein kleiner Floh, wo sieben Personen sich reinzwängen konnten. Wir hatten uns freiwillig für den Floh entschieden, ebenso die Schwestern Smith, Mr. Nicol und Ehepaar Connor. Es wurde ein außerordentlich lebhafter Flug! Die kleine leichte Maschine hopste und wackelte, plumpste in „Luftlöcher“ und rüttelte. Mir machte es nichts aus, ich war ja Kummer gewohnt, und die anderen waren auch „alte Flughasen“. Da unten lag die eintönige, graurote Landschaft, eine trostlose Steppe mit sehr wenig Vegetation. Und weit und breit kein Leben. Ich hatte von Känguruhs geträumt, hatte mir vorgestellt, daß wir vom Flugzeug aus große, springende Herden sehen würden – Pustekuchen! Öde und trostlos war es da unten. Wir mußten uns eben auf morgen vertrösten. Das Programm versprach uns eine Stadtbesichtigung und einen Besuch in einem Naturpark, wo wir garantiert Känguruhs und Emus in jeder Menge zu sehen bekommen würden. Wir waren so ziemlich gerädert, als wir auf dem kleinen Flugplatz ausstiegen. Da schlug uns eine Hitze entgegen, wie ich sie kaum in Afrika erlebt hatte! Zweiundvierzig Grad, erzählte uns der Pilot. „Zweiundvierzig in dem nicht vorhandenen Schatten“, stöhnte Mr. Nicol und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Aber – da lag er, der rote Riesenstein, dieses seltsame Gebilde, das die Natur in einer bizarren Laune auf die endlose Hochebene hingelegt hatte. Und da stand auch schon der Bus parat, der uns um den ganzen Rock fahren sollte. Ich paßte auf, daß wir in Mrs. Stones Nähe kamen. Sie machte uns auf die Höhlen aufmerksam, auf die eigenartigen Formationen, erzählte uns die alte Volkssage, wie die Eingeborenen meinten, dieser merkwürdige Berg sei einmal ein Riesenkänguruh gewesen, das noch – obwohl im versteinerten Zustand – daliegt und Wache hält. Nun ja, etwas war bestimmt dran, denn am einen Ende des „Rocks“ war eine ganz überraschend seltsame Formation, sie heißt „der Känguruhschwanz“ und sieht tatsächlich auch so aus!
Ein paarmal durften wir aussteigen, um uns die Höhlen näher anzusehen, Fotos zu machen und die feuchten Streifen nach sickerndem Wasser zu bestaunen. Ja, das war auch eine Merkwürdigkeit. Mrs. Stone erzählte, daß dieser Bergklotz die Eigenschaft hat, Regenwasser speichern zu können, und ein harter Schlag gegen den Stein könnte das Wasser zum Sickern bringen. „Da haben wir die Erklärung von Moses’ Wunder in der Wüste!“ rief Mr. Nicol. „Er kannte bestimmt einen Stein, der genau dieselbe Eigenschaft hatte!“ Ich bückte mich und nahm einen kleinen roten Stein von dem heißen, trockenen Boden. Den wollte ich Papa bringen. Aus Hawaii sollte er ein Lavaklümpchen kriegen. Ich hatte ihm schon eine nette kleine Sammlung aus Afrika zusammengeklaubt, und im Koffer lagen auch Steine aus Neuguinea. Wenn meine kleinen Geschwister in punkto Reiseandenken nur so bescheiden wären wie mein guter Papa! Es war ein hochinteressanter Vormittag – aber wahnsinnig heiß. Das bißchen Zeug, das wir anhatten, klebte am Körper. Ob wir wohl da drüben im Lodge die Gelegenheit haben würden, uns zu waschen? Tante Helene hatte, vorsorglich wie immer, Waschlappen, Handtuch und Seife mitgebracht und hatte mich dazu gebracht, dasselbe zu tun. Wir waren halb verdurstet, als wir in den kleinen Speisesaal des Lodges traten und uns auf die taufeuchten Wasserkaraffen stürzten. Ich kann mich nicht erinnern, ein besseres Getränk bekommen zu haben! Eisgekühltes, sauberes, klares Regenwasser – anderes Wasser hatten sie hier nicht. Sie sammelten Regenwasser in großen Zisternen – oh, wie schmeckte es himmlisch! Unsere beiden Piloten saßen da, sie waren schon beim Kaffee. Für uns wurden nun die traditionellen enormen Steaks mit dem merkwürdigen Namen „T-bone-steaks“ aufgetragen. Pro Person ein Stück Fleisch von solchen Ausmaßen, daß eine gute deutsche Hausfrau ein Essen für vier Personen daraus gemacht hätte! Ich war bei dieser Hitze nicht imstande, viel zu essen. Ich mußte zwei Drittel des Fleisches liegen lassen und hoffte nur, daß man im Lodge einen Hund hatte, der sich darüber freuen würde. Dann saß ich da und wartete und benutzte die Zeit, um mich umzusehen. An dem einen Ende des Raums war ein kleiner Verkaufsstand, eigentlich könnte ich ein paar Karten kaufen und die Wartezeit zum Schreiben benutzen. Ich ging an einem unbesetzten Tisch vorbei, da lag eine Zeitung.
Mein Blick streifte eben die aufgeschlagene Seite, dann blieb ich stehen. Es war ein Bild von einem Auto, das sich überschlagen hatte und im Gebüsch auf einem Felsenabsatz hängengeblieben war. Es sah schrecklich aus – wie leicht hätte es in die Tiefe stürzen können! Ich las einige Zeilen – und es wurde mir schwarz vor den Augen. „Tante Helene – oh, Tante Helene!“ Ich weiß nicht, ob ich es flüsterte, ob ich schrie. Vielleicht hatte ich geschrien, denn die anderen hörten mit dem Essen auf und starrten mich an. „Tante Helene – Heiko – Heiko ist verunglückt…“ Sie ergriff die Zeitung, Mrs. Stone las, über ihre Schulter gebeugt, mit: „Aus ungeklärten Gründen verlor der Fahrer dieses Autos gestern in den australischen Alpen die Gewalt über seinen Wagen. Durch einen unwahrscheinlichen Zufall wurde das sich überschlagende Fahrzeug durch Steine und Gebüsch daran gehindert, die beinahe hundert Meter hohe Felswand herabzustürzen. Die Insassen, ein junger deutscher Zoologe, der für das bekannte englische MaryGreen-Institut arbeitet, und sein australischer Begleiter wurden mit schweren Verletzungen per Hubschrauber zum Krankenhaus in Adelaide gebracht.“ Tante Helene stand auf, drückte mich einen Augenblick an sich, dann ging sie, die Zeitung in der Hand, rüber zu den beiden Piloten. „Wissen Sie, wann das nächste Flugzeug von Alice Springs nach Adelaide startet?“ Unser Pilot guckte auf die Uhr. „In gut drei Stunden, Madam.“ „Können wir es schaffen? Wir müssen sofort nach Adelaide! Hier-, ich weiß nicht, ob Sie das gesehen haben. Der junge Zoologe ist der Mann meiner Nichte – Sie verstehen…“ Der Pilot verstand. Sein offenes, nettes Gesicht drückte Mitgefühl und praktische Entschlossenheit aus. Er ging in die Mitte des Zimmers, klatschte in die Hände und sprach die Gesellschaft an: „Meine Damen und Herren, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Es ist etwas passiert, was es dringend notwendig macht, mit der kleinen Maschine in einer Viertelstunde zurück nach Alice Springs zu fliegen. Sind unter den Herrschaften fünf Personen, die willig sind, gleich mitzufliegen? Wir haben im großen Flugzeug nur 12 Plätze, also müssen außer diesen beiden Damen noch fünf gleich mitkommen. Wer meldet sich?“
Die Teilnehmer wußten schon, worum es ging. Die beiden Schwestern Smith standen sofort auf, ebenso Mr. Nicol. Keiner mehr. Mrs. Stone guckte rechts und links. Als niemand mehr aufstand, tat sie es. „Nein, Mrs. Stone!“ rief Mrs. Henderson. „Sie sind Geologin, für Sie ist jede Minute hier kostbar. Ich fahre gleich zurück.“ Es fehlte noch einer. Mr. Connor sprang auf. „Ich komme mit, meine Frau fliegt in der anderen Gruppe.“ Die hat Tante Helene mir später erzählt. Ich sah und hörte alles, wie durch einen Nebel. Ich stand da, die Hände fest zusammengepreßt. Vielleicht habe ich gebetet, ich weiß nicht. „Ich werde gleich über Funk in Alice Springs nachfragen, ob noch Plätze im Flugzeug nach Adelaide frei sind“, kam nun die ruhige, freundliche Stimme des Piloten. „Wie ist Ihr Name, gnädige Frau?“ Tante Helene antwortete, sehr klar und deutlich, mit der Stimme, die nicht der netten Tante, sondern der Leiterin eines großen Unternehmens gehörte: „Ich bin Lady Helene Robinson, die Verwalterin der Mary-Green-Stiftung.“ Es hatte geklappt. Im Flugzeug nach Adelaide waren noch Plätze frei. Mr. March reichte Tante Helene unsere Flugscheinhefte. „Wenn Mr. Connor sich nicht gemeldet hätte, wäre ich mitgekommen, Mylady. Ich hätte Mrs. Brunner nicht im Stich gelassen. Aber andererseits kann ich schlecht die Gruppe verlassen. Geben Sie Ihre Karten in Alice Springs ab, Sie kriegen neue ausgestellt. Wir sehen uns dann übermorgen abend. Alles Gute, Mylady. Ich denke an Sie, Mrs. Brunner. Und glauben Sie mir, wenn es mit Ihrem Mann sehr ernst geworden wäre, hätten wir über Magellans Londonbüro Nachricht gekriegt.“ Wie waren sie alle nett und lieb zu uns! Im Bus zum Flugplatz legte Tante Helene ihre Hand auf die meine. „So, Sonjalein. Heute abend bist du bei Heiko. Mr. March hat recht, Kind. Wenn es ganz was Schlimmes gewesen wäre, hätte uns ein Telegramm erreicht! Und sieh doch, die Zeitung ist vier Tage alt. Der Unfall ist vor fünf Tagen geschehen, Mr. Morgan oder Magellan Ltd. hätten reichlich Zeit gehabt, uns ausfindig zu machen!“ Mrs. Henderson nickte.
„Ihre Tante hat recht, Mrs. Brunner! Ich bin schon mal mit einer Magellangruppe gefahren. Dann erreichte mich eine wichtige Nachricht auf einem Flugplatz in Indien! Ach, Lady Robinson, was ich noch sagen wollte, wenn Sie mir Ihre Kofferschlüssel anvertrauen wollen, packe ich für sie und sehe zu, daß Ihr Gepäck mitkommt, wenn wir übermorgen nach Adelaide fliegen.“ „Und falls Post für Sie da sein sollte, bringen wir sie mit“, versicherten die Schwestern Smith. Später, als ich sozusagen zu mir kam und an all diese Freundlichkeiten dachte, war es etwas, was mich mehr als alles andere beeindruckte: Der Abschiedshändedruck von Mrs. Stone und ihre Worte mit einer Stimme, die es nicht gewohnt war, Freundlichkeiten auszusprechen: „Ich werde sehr an Sie denken, Sonja!“ Im kleinen Flugzeug saß ich neben dem Piloten. So konnte ich hören, wenn er sich mit Alice Springs unterhielt. „Ja, gut, ich gebe es weiter, das ist ja fein, ja, sie sitzt neben mir…“ Dann zu mir gewendet: „Eine Beamtin wartet auf dem Flugplatz auf Sie, mit den neu ausgeschriebenen Karten. Sie werden direkt in die große Maschine steigen.“ „Es war furchtbar lieb von Ihnen, daß Sie gleich mit uns losgeflogen sind!“ „Na hören Sie mal, das wäre doch noch schöner! Sehen Sie, nun treffen Sie Ihren Mann schon heute, der wird vielleicht überrascht sein!“ „Ja, wenn er – wenn er bloß imstande sein wird, es zu kapieren. In der Zeitung steht, daß er schwer verletzt ist…“ Ich hörte, daß meine Stimme zitterte. „Ach, die Zeitung! Wenn jemand ein paar Bluttröpfchen gesehen hat, schreibt er gleich schwerverletzt. Gucken Sie nach unten, Mrs. Brunner. Sie befinden sich jetzt sozusagen im Herzen von Australien. Wenn Sie gute Augen haben, können Sie da vorne, rechts, vier Känguruhs sehen…“ Der Pilot gab sich wirklich alle Mühe, um mich zu trösten und abzulenken. Was nützte das alles? Meine Kehle war trocken, mein Herz klopfte. O Gott, mein Heiko – mein geliebter Heiko – was hatte Beatemutti damals, als ich mich verlobt hatte, gesagt? Ob ich nun wirklich Heiko liebe, oder ob es meine Sehnsucht nach Afrika wäre, die mich dazu gebracht hätte – oh, wenn ich selbst jemals gezweifelt hätte, würde ich es jetzt wissen. Alles auf der Welt könnte ich
verlieren, alles könnte mir gestohlen bleiben, nur Heiko nicht! Lieber mit Heiko für den Rest des Lebens in einer Zweizimmerwohnung in Hamburg, als ein reiches, interessantes Leben ohne ihn! Wenn ich auch nie Afrika wiedersehen sollte, nie mehr eine Reise machen sollte! Alles schrumpfte jetzt zu Nichtigkeiten ein, und das einzige, was übrigblieb, was meine Seele und mein Herz erfüllte, war das eine: meine Liebe zu Heiko. Es ging südwärts. Alles hatte geklappt, eine nette junge Dame vom Bodenpersonal hatte uns zum großen Flugzeug gebracht. Wir konnten uns nur schnell bei unseren fünf Gruppenmitgliedern bedanken, die ohne zu zögern ein paar der kostbaren Stunden am Ayers Rock geopfert hatten. Ich würde es ihnen nie, nie vergessen! Wir hatten keine Möglichkeit gehabt zu telefonieren, nur schnell, schnell los! Aber unser Pilot hatte gesagt, daß nur ein Krankenhaus in Adelaide in Frage käme. Alle Unfälle landeten auf der chirurgischen Station im Städtischen Krankenhaus. Zum ersten Mal lehnte ich das schöne Essen im Flugzeug ab. Ich trank eine Tasse Kaffee, das war alles. Dann saß ich still da, und die Gedanken liefen im Kreis in meinem Kopf. Ich dachte immer an das, was Tante Helene mir in Mount Hagen gesagt hatte. Wir führen ein gefährliches Leben – Heiko lebt gefährlich – Heiko könnte was zustoßen – großer Gott, etwas war ihm schon zugestoßen. Heiko sollte Kinder haben, ich hätte die Verpflichtung, ihm Kinder zu gebären – ja, ja, ich wollte ein Kind haben. Nicht hinausschieben, weil es für unsere Arbeit unpraktisch wäre, weil es unser Leben komplizieren würde. Ich wollte ein Kind haben, mit Heikos blauen Augen, mit Heikos klarem Verstand, mit Heikos feiner Gesinnung, mit Heikos gutem Herzen – Heiko sollte einen Erben haben. In diesen schrecklichen Stunden sah ich klarer denn je zuvor. Mein Leben bekam plötzlich einen neuen Sinn, ich hatte andere und größere Aufgaben als die, Tonbänder abzuhören und Berichte zu schreiben. So was könnte jede Sekretärin tun. Aber Heikos Kind auf die Welt zu bringen, das durfte nur eine Frau auf der Welt tun. Und die Frau war ich selbst. Was hatte ich denn Gutes in diesem Leben getan, daß das Schicksal mich dazu auserkoren hatte? Warum hatte ich, meine kleine unbedeutende Wenigkeit, eine so wunderbare Aufgabe gekriegt? O Gott – laß es so kommen – gib Heiko und mir ein Kind… Jetzt löste sich etwas in mir, jetzt kamen die Tränen, und es war
gut so. Eine liebevolle Hand wischte mir die Tränen weg, eine schmale, feste Hand drückte die meine. „Es ist gut so, Tante Helene“, flüsterte ich. „Laß mich weinen – es ist gut so…“
Heiko Der Himmel war leuchtend rot. Es war kurz vor SonnenuntergangIch hielt Tante Helenes Hand, als wir da nebeneinander in der Taxe saßen. Sie schwieg, versuchte nicht, mich abzulenken. Sie ließ mich in Ruhe und gab mir gleichzeitig das Gefühl, daß ich sie hatte, wenn ich sie brauchte. Dann hielt das Auto, der Taxifahrer zeigte uns den Eingang. Ja, schon entdeckten wir das Schild mit „Anmeldung – Auskunft“. In einer großen Halle war ein „Glaskäfig“ mit einem uniformierten Mann. Tante Helene ging hin zu ihm, erklärte, sprach. Dann zeigte sie ihren Paß. Da ging eine Krankenschwester durch die Halle. Da, in einer Ecke standen ein Tisch und ein paar Stühle. Auf einem Stuhl saß ein Mann und las Zeitung. Ich sah nur seine Beine, in einer gestreiften Krankenhaushose, über der Kante der Zeitung etwas von einem weißen Kopfverband. Die linke Hand war auch verbunden und lag auf der Stuhllehne. Er hielt die Zeitung mit der rechten… Mit der rechten – mit einer Hand, die einen Ring trug. Einen Ring mit einem dunklen Karneol. Einen Ring, den ich unter Tausenden wiedererkennen würde. Ein Karneol in einer feinen, altmodischen Fassung – Urgroßvaters Berlocke, die Papa mir geschenkt hatte, damit ich sie auf einen Ring für Heiko löten lassen konnte. Ich fühlte wie das Blut meine Wangen verließ, ich war ganz kalt im Gesicht – und wie klopfte mein Herz! Ich ging näher. Ganz leise. Dann stand ich vor dem lesenden Patienten. Ich wollte sprechen, aber plötzlich hatte ich keine Stimme. Ich versuchte – versuchte wieder – zuletzt brachte ich ein Flüstern zustande: „Heiko…“ Die Zeitung fiel auf den Boden. Ein Augenpaar war auf mich gerichtet – zwei klare, gesunde, wache Augen unter einem gewaltigen Stirnverband. „Sonnie!“ Er wollte aufstehen, aber schon lag ich auf den Knien vor ihm, mit dem Kopf an seiner Brust. „Sonnie, mein Mädchen, meine geliebte kleine Sonnie – nun haben also die Idioten doch telegrafiert!“
„Niemand hat telegrafiert, Heiko – Liebster, wie geht es dir? O Heiko, daß du aufbist und hier sitzt. Ich dachte…“ „Daß du mich in einem Sauerstoffzelt oder mit gegipsten Armen und Beinen vorfinden würdest! Nichts von alldem, mein Schatz, ich habe eine hübsche kleine Kunststickerei am Kopf und eine andere am Arm und bin sonst gelb und blau wie die schwedische Flagge… Sonnie, nun sage endlich, wie kommst du hierher? Ich denke, du läufst Schi in Norwegen?“ „Wir wollten dich ja in Sydney überraschen, Heiko – wir sind schon zwei Wochen unterwegs, und…“ „Wir? Wer ist der Rest von ,wir’?“ „Tante Helene, natürlich. Die war es doch, die…“ „Wer ist Tante Helene? Haben wir eine Tante Helene?“ Ich hatte die Schritte hinter mir nicht gehört. Aber die Stimme hörte ich – eine etwas unsichere, vor Freude und Erleichterung zitternde Stimme: „Ich bin Tante Helene, Heiko. Sonjas Tante Helene – und ab jetzt auch deine!“ Heiko wollte aufspringen, aber Tante Helene legte ihre Hand auf seine Schulter und machte ihm begreiflich, daß er sitzen bleiben sollte. Dann nahm sie seine gesunde Hand zwischen ihre beiden. „So“, kam es mit belegter Stimme, „jetzt ist es soweit mit mir! Jetzt sitze ich tatsächlich hier und heule!“ Heiko legte den gesunden Arm um sie. „Um meinetwillen, Myla – ich meine – Tante Helene?“ „Na klar, was dachtest du? Die Angst, die wir die letzten sechs Stunden durchgemacht haben, die hättest du erleben müssen! Du großer Gott, wie müssen wir dich eigentlich liebhaben, ja, vor allem deine Frau, das ist klar – aber auch ich, ich alte sentimentale Liese!“ Der Uniformierte aus dem Glaskäfig kam zu uns. „Herr Doktor kommt gleich, er bittet, daß Sie sich noch einen Augenblick gedulden, Mylady!“ „So lange wie Sie wollen. Sagen Sie, wo gibt es hier eine Toilette? Ich habe ein Pfund Staub vom Ayers Rock im Gesicht, und meine Haare…“ „Diesen Korridor rechts, Mylady, und die dritte Tür links.“ Ich hatte tausend Dinge zu fragen, Heiko bestimmt auch. Aber eigentlich war jetzt alles unwichtig. Das einzige, was eine Rolle spielte, war dies, daß Heiko glimpflich davongekommen war, daß ich bei ihm war, daß er trotz Verbände und Krankenhauskleidung munter und gesund aussah. Ich weiß nicht, ob ich jemals in meinem
Leben so glücklich gewesen war! Ich legte ihm die Arme um den Hals. „Heiko, ich weiß nicht, wie vorsichtig ich mit dir umgehen muß. – Ich weiß einfach nicht, ob ich dich küssen darf!“ „Und ob du das darfst!“ sagte Heiko. „Nanu“, klang eine Männerstimme hinter uns. Heiko löste seinen gesunden Arm von meinem Hals. Ein Mann in einem weißen Arztkittel stand da und sah uns belustigt an. „Sagen Sie, wer hat Ihnen diese Behandlung verordnet?“ fragte er mit einem Zwinkern. „Ich habe Ihnen erlaubt, heut bis 20 Uhr aufzubleiben. Es ist nebenbei gesagt fünf nach. – Aber von Küssen war nie die Rede gewesen!“ „Lieber Doktor, was denken Sie sich. Ich sitze hier und sehne mich nach meiner Frau und wähne sie als mein Antipode am anderen Ende des Erdballs, und dann steht sie plötzlich vor mir! Sollte ich sie dann nicht küssen?“ „Wenn ich Ihre Frau ansehe“, sagte der Arzt und reichte mir die Hand, „muß ich sagen, ich finde es verständlich. Ich werde übrigens von Ihrer Brötchengeberin hier erwartet, wo ist sie geblieben?“ „Sie wäscht sich. – Na, da kommt sie ja!“ Der nette Arzt führte uns alle drei in ein kleines Büro, holte ein paar extra Sessel, zauberte Limonade aus einem Kühlschrank und berichtete: Heiko war blutüberströmt aus dem Hubschrauber reingetragen worden. Aber als man ihm das Blut weggewischt hatte und eine Übersicht über die Verletzungen bekam, war es nicht ganz so schlimm, wie es aussah. Er hatte eine tiefe Schnittwunde über dem rechten Auge, und der linke Arm war voll Glassplitter. Er war genäht worden, hatte eine Bluttransfusion gekriegt und nur einen einzigen Satz gesagt: „Herr Doktor, versprechen Sie mir, daß Sie niemand benachrichtigen! Kein Telegramm oder so, denn meine Verletzungen sind doch nicht lebensgefährlich!“ Das waren sie nicht. Denn am folgenden Morgen hatte Heiko verlangt, aufzustehen! Man bliebe doch nicht wegen der paar lächerlichen Kratzer im Bett! Mit Mühe und Not hatte man ihn doch davon abgehalten. Aber am zweiten Tag fand man ihn am Bett seines Begleiters sitzend. „Der arme Charlie ist nicht so leicht davongekommen“, erzählte Heiko. „Er hat einen Arm und ein Bein gebrochen und hatte
außerdem eine handfeste Gehirnerschütterung.“ „Wir kriegen ihn schon wieder auf die Beine!“ tröstete der Arzt. „Wir brauchen nur etwas Zeit. Alles in allem haben Sie beide ein unwahrscheinliches Glück gehabt! Wenn man daran denkt, was geschehen wäre, wenn ‘…“ „Ich wage nicht daran zu denken! Ich habe das Bild in der Zeitung gesehen“, sagte ich mit zitternder Stimme. Dann mußten wir erzählen, von der vier Tage alten Zeitung im Lodge am Ayers Rock, von unserem Rückflug, und wie alle uns wunderbar geholfen hatten, so daß wir die Verkehrsmaschine gerade noch erreichten, allerdings ohne Gepäck! Aber was spielte das für eine Rolle? Übermorgen würden ja unsere Koffer kommen, und vielleicht gäbe es auch Zweidollarkleider in Adelaide. „Falls mein Koffer erreichbar ist, und falls er diesen Autopurzelbaum überstanden hat, liegen drin zwei saubere Schlafanzüge“, erklärte Heiko. „Damit kann ich euch aushelfen.“ Der Arzt verschaffte uns telefonisch ein Hotelzimmer. „Allerdings nur für zwei Nächte, ab übermorgen ist alles bestellt, und zwar kommt dann eine Reisegruppe von Magellan Ltd. in London“, berichtete er. „Dann ist es in Ordnung“, lächelte Tante Helene. „Magellan Ltd. das sind ja wir!“ Ich erzählte Heiko so kurz wie möglich, wie das alles gekommen war, daß Tante Helene mich zu der Reise eingeladen hatte, daß wir in Hongkong und Neuguinea gewesen seien und daß wir in Adelaide eigentlich Koalas und keine verunglückten Ehemänner besuchen wollten. „Neuguinea…“, wiederholte der Arzt. „Dann bin ich froh, daß Sie hier sind. Gerade lese ich, daß in Neuguinea vor wenigen Tagen ein Erdbeben gewesen ist!“ „Und wir bebten auch“, erzählte ich. „Das haben wir mitgemacht!“ „Gott sei Dank, daß ich das nicht wußte!“ rief Heiko. „Aber jetzt zu der eigentlichen Frage, zu dem akuten Problem“, sagte der Arzt. „Mrs. Brunner, dieser schreckliche Kerl, den Sie geheiratet haben, quengelt seit drei Tagen, er will entlassen werden. Bis jetzt habe ich es strikt abgelehnt. Man schickt nicht einen Mann mit Nähten und Verbänden und Bluttransfusion allein raus ins Ungewisse. Jetzt sieht natürlich die Sache anders aus. Ihr Mann erzählt, daß Sie in einer ganz einsamen Gegend in Afrika wohnen.
Dann haben Sie bestimmt manchmal Wehwehchen behandelt und Verbände anlegen müssen, wenn Not am Mann war?“ „Und ob ich das habe!“ rief ich. „Bei Menschen und Tieren, bei Schwarzen und Weißen, bei Kindern und Erwachsenen! Außerdem habe ich Erste Hilfe gelernt. Mein Vater ist Chirurg, ich habe sogar eine kurze Zeit in seiner Praxis als Helferin gearbeitet!“ „Dann würden Sie täglich die Verbände wechseln können? Und noch etwas: Auf Ihren Mann ist kein Verlaß…“ „Was???“ rief ich. „Kein Verlaß, wenn es um seine Gesundheit geht. Er ist bodenlos leichtsinnig. Sie sollen mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie höllisch auf ihn aufpassen, daß er bei der allergeringsten Unregelmäßigkeit einen Arzt aufsucht, daß er die ersten paar Wochen jede Anstrengung vermeidet…“ „… und daß Sie ihm seine Schnürsenkel binden, gnädige Frau, und seinen Gürtel zuschnallen und seine rechte Hand waschen, das sind nämlich die drei Dinge, die er selbst nicht kann“, ergänzte Heiko. „Ich verspreche es Ihnen, Herr Doktor!“ sprach ich feierlich. „Und ich kontrolliere es!“ beteuerte Tante Helene. „Gut. Dann werden wir morgen die abschließenden Untersuchungen machen, und Sie kommen morgen nachmittag gegen vier Uhr. Dann können Sie hier in meiner Anwesenheit einen Verbandwechsel machen, und ich nehme an, daß Sie dann Ihren Herrn und Gebieter mit ins Hotel nehmen können.“ „O Herr Doktor, ich könnte Sie umarmen!“ „Um Gottes willen, was würde Ihr Mann dazu sagen! Also, morgen um vier, eher möchte ich Sie nicht hier sehen!“ „Du liebe Zeit, was machen wir den ganzen Vormittag!“ „Und das fragst du?“ schmunzelte Tante Helene. „Morgen vormittag gehen wir zu den Koalas!“ „Ach ja – die Koalas!“ sagte ich. „Weißt du, Tante Helene, die hatte ich ganz vergessen!“
Mein erster Koala Nie in meinem Leben bin ich so frisch gewesen wie an diesem Morgen! Und das, obwohl ich sehr wenig geschlafen hatte. Ich hatte ein bißchen gedöst, wurde wieder wach, schlief eine Stunde, wachte wieder auf und war so glücklich, daß ich vor lauter Glück und Dankbarkeit nicht wieder einschlafen konnte! Immer wieder mußte ich mich wundern: Wie ist es möglich, daß ein Mensch innerhalb von sechs Stunden die größte Verzweiflung und das größte Glück seines Daseins erleben kann? Es fing an, hell zu werden. Ich guckte auf die Uhr. In den Krankenhäusern fängt immer der Tag früh an. Heiko war bestimmt längst wach und würde an mich denken, genauso wie ich an ihn. Er würde die Stunden bis vier Uhr nachmittags zählen – genau wie ich es jetzt tat! Ich stand lautlos auf und schlich ins Bad. Ich hatte gestern abend unsere Unterwäsche gewaschen. Ja, Gott sei Dank, es war alles trocken. Es leben die schnelltrocknenden, bügelfreien Synthetiks, dachte ich. Ich hörte ein leises Geräusch vor der Tür, zog Heikos Schlafanzug fester um meine für dieses Kleidungsstück erheblich zu klein geratene Figur und machte die Tür einen Spalt auf. Und was sah ich? Ein Tablett mit Kaffee in der Thermoskanne, mit Keksen und Zucker und Sahne und allem, was zu unserer „Morgenandacht“, wie Tante Helene sagte, gehörte! Deswegen hatte sie gestern abend so geheimnisvoll mit dem Portier gesprochen! Und wegen des zweiten Zimmers, das wir ab heute nachmittag brauchen würden. Sie lag hellwach im Bett und lächelte, als ich das Tablett reintrug. „Na, Sonjalein? Wie geht es?“ „Prima, wunderbar, himmlisch!“ versicherte ich. „Wie hast du bloß den Kaffee um sechs Uhr morgens organisiert?“ „Natürlich durch meinen unwiderstehlichen Charme, von einem passenden Trinkgeld unterstützt! Her mit den Keksen, ich habe einen Bärenhunger.“ „Tante Helene, hast du deine Tabletten genommen?“ „Um Gottes willen, das sollte ich auch noch tun? Der gestrige Tag hat bestimmt meinen Blutdruck so hoch gebracht, daß es für
eine Weile vorhält! Wann gibt es Frühstück? Halb acht? Schön, heut werde ich frühstücken wie ein Engländer! Würstchen und Speck und Eier und Toast und alles andere, was es gibt! Cornflakes und Shredded Wheat und Porridge…“ „Und eine Abmagerungstablette als Nachtisch“, schlug ich vor. „Tante Helene, ist es nicht himmlisch, daß wir heut nichts zu packen haben?“ „So kann man es natürlich auch sehen“, gab Tante Helene zu. „Übrigens, wir beide beweisen eigentlich jetzt, mit wie wenig man auskommen kann, wenn es sein muß. Warum schleppen wir eigentlich so viel mit auf Reisen?“ „Unter anderem, damit man nicht immer ein verschwitztes Kleid anziehen muß“, antwortete ich. „Koalas hin, Koalas her, ich muß gleich ein billiges Kleid kaufen! Und du wahrscheinlich auch!“ Vor neun Uhr waren wir in der Stadt, fanden ein paar Kleider, die nicht gerade nach Pariser Modeschöpfung aussahen, aber sie waren sauber. Das war das einzige, was für uns zählte! „Sieh da, Tante Helene“, ich zeigte auf ein Schaufenster. „Da haben wir das Unglück.“ Es war genau wie auf dem Bild, das Tante Helene uns in England gezeigt hatte: lauter Reiseandenken aus Wallabyfell. Daunenweich, wunderbar anzufassen – was hatten all diese Sachen an Leben gekostet! Warum konnte man nicht die Spielzeugtiere aus Velour oder Plüsch machen, oder aus Synthetik-Samt? Handtaschen, Brieftaschen, Schreibmappen, Pantoffeln, Handschuhe – alles aus Wallaby feilen. Und dies nur in einem einzigen Geschäft in Adelaide! Wie würde es dann in den wirklichen Großstädten aussehen? In Melbourne, Canberra und Sydney? „Ja, nun bin ich gespannt, was Heiko zu erzählen hat“, sagte Tante Helene. „Mir ist es schleierhaft, wie ein Land so einen Tierreichtum haben kann, einen Bestand, der ein solches Niederschlachten vertragen kann. Du weißt ja selbst, bis vor ein paar Jahren war es in Kenya genauso mit den Leoparden. Jetzt ist ja, Gott sei Dank, Exportverbot und weitgehend Abschießverbot. Ich habe irgendwie das Gefühl, daß man hier auch etwas unternehmen müßte. Nun ja, wie gesagt, warten wir ab, was Heiko zu berichten hat!“ Sie winkte einer Taxe und wir fuhren durch diese hübsche, saubere, helle Stadt. Es war warm, aber längst nicht so heiß wie in Cairns. Ich würde sagen, wie ein warmer, schöner Julitag in Norddeutschland.
Dann war es soweit. Ich empfand es direkt feierlich, als wir durch das schöne Tor zum Zoo gingen. Es war früh am Tage, es sah tatsächlich aus, als wären wir die ersten Besucher. Wir hatten einen Führer gekauft und gingen nach dem Plan, folgten den Pfeilen auf den Schildern. Schon nach wenigen Schritten blieb ich stehen. „O Tante Helene – nein, das kann nicht wahr sein!“ Auf einem runden Platz hopsten ein paar vergnügte, morgenfrische Wallabies rum, diese bezaubernden Minikänguruhs. – Da trottete ein dicker Vombat rum, hinter einem ganz niedrigen Zaun, so niedrig, daß man das Tier leicht streicheln konnte! Jetzt sah ich es. „Kinderzoo“ stand auf einem Schild. Ob man da reindurfte? Ich fragte Tante Helene, was sie meinte. Ein Tierwärter, der eine kleine Handkarre voll Gras vor sich schob, lächelte uns freundlich an. „Kommen Sie bloß rein“, sagte er auf deutsch und machte uns das kleine Tor auf. „Oh – Sie sind Deutscher?“ „Schweizer“, antwortete er. „Aber ich habe auch einen deutschen Kollegen hier. – Sie können ruhig die Tiere anfassen – he du, friß nicht den Damen die Kleider vom Leibe!“ Das letzte war an ein ganz junges Wallaby gerichtet. Es hatte sich hochgesetzt und wollte anscheinend wissen, wie die bunten Blumen an meinem neuen Ausverkaufskleid schmeckten. Ich hockte mich hin und streichelte das Tier, kraulte es am Hals. Es saß mucksmäuschenstill und genoß. Als ich aufhörte, machte er genau das, was ich von Kito kannte und von Bicky in Kiel: Mit seinem kleinen Pfötchen holte er meine Hand zurück, ich sollte schön weiterkraulen! Mit meiner freien Hand mußte ich schnell über die Augen wischen. „Ich bin so dumm“, sagte ich mit zitternden Lippen. „Aber es ist so schön, Tante Helene – es ist so unsagbar schön – es ist auch schön, mit einem Hund oder einer Katze zu spielen – aber dies – wirkliche, echte australische Wallabies – in Australien!“ „Wem sagst du das?“ sagte Tante Helene mit einem kleinen Lächeln. „Ich empfinde ja genau dasselbe!“ Sie hatte sich auf eine niedrige Steinbank gesetzt und streichelte zwei kleine daunenweiche Wallabyjunge gleichzeitig.
Da kam der Wärter wieder und brachte – ich traute kaum meinen eigenen Augen – ein ganzes Bündel junge Wallabies! Er trug sie an den Hinterbeinen, anscheinend war dies die richtige Art, solche Zwergkänguruhs zu verfrachten. Kaum hatte er das Bündel auf die Erde gelegt, sprangen die niedlichen Geschöpfe hoch, zupften etwas von dem bereitgelegten Futter und zeigten ein lebendiges Interesse für uns. Es war ein Glück, daß wir unsere Fotoapparate bei uns hatten, die hatten wir ja auf dem Flug nach Ayers Rock mitgehabt. Jetzt knipsten wir um die Wette, die niedlichen Tierchen waren zu drollig, und so wunderbar zutraulich! Als eins davon die kleine Schnauze in Tante Helenes Ausschnitt steckte, gelang mir eine blitzschnelle Aufnahme, und sie revanchierte sich, als so ein kleiner Frecher sich auf die langen Hinterbeine stellte und an meinen Haaren zupfte! Der Tierwärter sah uns lächelnd an. „Sie haben Glück, daß keine anderen Besucher hier sind“, sagte er. „Jetzt können Sie sich ungestört mit den Kleinen beschäftigen. Kennen Sie noch keine Wallabies?“ „Oh, doch“, antwortete Tante Helene. „Man sieht sie ja ab und zu in europäischen Zoos. Aber was wir nie gesehen haben und was uns also heut bevorsteht, sind die Koalas!“ „Ach ja, natürlich! Wir haben ein recht hübsches Pärchen – “, er beschrieb uns, wie wir gehen sollten, um das Koalagehege zu finden. „Aber leider sitzen sie gewöhnlich im Schatten, sie sind schwer zu fotografieren, das heißt, falls Sie heute nachmittag noch hier sind…“ „Wir können bis drei Uhr bleiben“, erklärte ich. „Ach, wissen Sie was, es wäre ja schade, wenn Sie die Viecher nicht richtig sehen und knipsen können. Ich habe um zwölf Mittagspause, wenn Sie dann bei den Koalas sein können, dann komme ich hin und bringe etwas Futter, da können wir sie vielleicht an die Sonne locken, vielleicht können Sie sie sogar streicheln!“ „Oh, wenn Sie wüßten, welche Freude Sie uns damit tun! Wissen Sie, wir sind ja beide solche Tiernarren, und wir sind von England hierhergeflogen, um diese kleinen Strolche zu sehen!“ „Donnerwetter!“ lächelte der Wärter. „Dann muß man ja etwas für Sie tun!“ Jetzt wurde es lebhaft. Eine ganze Schulklasse erschien auf dem Wege und hatte ganz deutlich den Kinderzoo zum Ziel. Wir verdrückten uns und wanderten nach Plan, Schildern und den
Erklärungen des Wärters. Und siehe da: Wir blieben stehen. Vor uns lag ein halbkreisförmiges Gehege, hinter einer weißgetünchten, niedrigen Mauer. Mitten im Gehege war ein Baumstamm mit etlichen dicken Ästen – und da, in einer Gabelung saß ein kleines, molliges graues Tier, ein weicher Knäuel, ein Bund Wärme und Weichheit und Ruhe. Ich ergriff Tante Helenes Hand. Dann standen wir da, wir beide allein, ohne zu sprechen. Standen hier, vor dem ersehnten Ziel unserer weiten Reise. Das Bündelchen drehte langsam den Kopf, jetzt sahen wir seine buschigen Ohren und die ulkige, lackschwarze Nase. Es blinzelte ein wenig, dann sah es sich bedächtig um, entdeckte einen Eukalyptuszweig etwas höher und entschloß sich, die grünen Blätter zu erwischen. Es faßte mit den langen, biegsamen Fingern um den Ast, hielt sich mit den gebogenen Krallen fest, zog den Körper in die Höhe, half mit den Hinterbeinen, und schon waren die grünen Blätter in Reichweite. Ich weiß nicht, wie lange wir da standen. Wir machten keine Bilder, das wäre zwecklos, denn bis jetzt hielt sich das Kerlchen im Schatten. Wir starrten nur, beobachteten jede Bewegung, jede Reaktion. Zuletzt sagte ich, ganz leise: „Wie ist es schön, Tante Helene!“ Sie lächelte und nickte. Dann löste sie ihre Hand von meiner. „Wie meinst du, Sonja? Wollen wir uns für ein Weilchen losreißen und sehen, was wir an anderen australischen Spezialitäten finden können? Und dann Punkt zwölf wieder hier sein?“ Ich war einverstanden. Wir hatten nur ein paar Schritte zurückgelegt als ich stehenblieb: „Oh, Tante Helene! Es sind ja Dingos! Richtige Dingos!“ Das waren sie auch. Die hübschen, goldbraunen australischen Wildhunde, die so scheu sind, daß man sie in der freien Natur kaum zu sehen bekommt, jedenfalls nur auf ganz große Entfernung. Hier waren sie zahm und liebebedürftig. Sie kamen ganz nahe an den Drahtzaun und sahen aus, als erwarteten sie, gekrault zu werden. Wir haben sie diesbezüglich nicht enttäuscht! Wir waren bei den Baumkänguruhs – ich hätte nie geahnt, daß es so viele Arten davon gibt – bei den Kuskus, dann natürlich bei dem herrlichen Leierschwanz und den Paradiesvögeln. Da hätte man auch stundenlang stehen können, um die ganze Schönheit so richtig in sich aufzunehmen.
Aber die Zeit verging. In einer Stunde hatten wir das Stelldichein mit dem netten Schweizer, und in fünf Stunden mit einem noch netteren Mann – mit Heiko! „Gott sei Dank, daß wir hierhergegangen sind, Tante Helene“, sagte ich. „Sonst hätte dieser Vormittag kein Ende genommen!“ Sie lächelte und streichelte mir schnell die Wange. „Wenn du wüßtest, wie schön es ist für eine alte Frau, einen so glücklichen jungen Menschen zu sehen!“ sagte sie mit ihrer sanften, warmen Stimme. „Bist du denn nicht glücklich, Tante Helene?“ fragte ich. „Doch, Kind, das bin ich. Aber du weißt, wenn man siebenundsechzig ist, hat das Glück eine andere Form, ein anderes Gesicht. Ich bin glücklich mit meiner Arbeit, glücklich, weil ich schöne Reisen machen kann, glücklich, weil ich gute Freunde habe – vor allem junge Freunde. Junge Menschen, die offen und zutraulich zu mir sind, junge Menschen, die es mir erlauben – mir alten Tunte – an ihren Problemen, ihren Freuden und Sorgen teilzunehmen.“ „Da hast du wohl einen Druckfehler gesprochen, Tante Helene. Es heißt Tante, nicht Tunte! Das mit Tunte will ich nicht gehört haben!“ „O doch, das stimmt schon. Eine alte Tunte mit Schwächen und Wehwehchen und Hausarzt und mit Falten im Gesicht. Aber siehst du, ich verstehe dein Glück. Ich habe ja dasselbe erlebt, als ich jung war. Ich hatte einen wunderbaren Mann, den ich sehr geliebt habe. Als ich ihn verlor, hatte ich nur einen Trost – ich konnte seine Arbeit weiterführen, seine Ideale hochhalten. Nur eins tat bitter weh, und es tut noch in meinem hohen Alter weh: Daß wir keine Kinder bekamen. Ach, wie gern hätte ich ein paar Söhne und Töchter gehabt und eine Schar springlebendige Enkelchen!“ „Tante Helene…“, sagte ich zögernd. „Ich kann dir keine Enkel verschaffen. Aber ich möchte dir sagen, daß ich sehr über all das nachgedacht habe, was du mir damals in Mount Hagen sagtest. Ich will ein Kind haben, Tante Helene. Ich hoffe und bete, daß ich imstande bin, Kinder zu kriegen. Ich glaube es auch. Senta und ich ähneln uns in allem, sie hat eine normale Schwangerschaft und eine normale Geburt gehabt und hat ein quietschgesundes Kind. Also, was ich sagen wollte – eine Enkelin kann ich dir nicht verschaffen, aber eine kleine Patentochter mit dem Namen Helene, das will ich dir schenken! Und sollte das erste Kind ein Sohn werden, dann bleibe ich feste beim Kinderkriegen, bis das kleine Helenchen da
ist!“ Tante Helene blieb stehen. Sie fischte das Taschentuch aus ihrer Handtasche. „Habe ich nicht gesagt, daß ich eine alte Tunte bin? Nun stehe ich wahrhaftig da und heule direkt vor den Augen eines erstaunten Baumkänguruhs!“ „Wische die Tränen weg, Tante Helene, damit du wieder klar sehen kannst. Und sei froh, daß niemand außer mir gehört hat, daß die Leiterin der Mary-Green-Stiftung den Unterschied zwischen Baumkänguruh und Bandicoot nicht sieht!“ „Was sagst du da? Bandicoot? Menschenskind, das Tier wollte ich ja schon immer sehen. Ja, bestimmt, das muß ein Bandicoot von der Unterart Perameles sein, wenn ich mich nicht irre – zu Deutsch Nasenbeutler.“ Das Tier saß im Schatten, hoch oben auf einem Ast. Ein Wunder, daß wir es überhaupt zu sehen bekamen. Die großen, runden Augen verrieten das Nachttier, klar, daß es dann den Sonnenschein mied. Es sah uns neugierig an mit seinen runden Augen. Dann kam es näher und bohrte die spitze Schnauze durch eine Masche des Drahtgeflechts. Mit einem Finger konnte ich es streicheln und ein bißchen kraulen, was es sichtlich genoß. „Ich fange an zu glauben, daß alle australischen Tiere Beuteltiere sind!“ meinte ich. „Nicht die Dingos“, lächelte Tante Helene. „Aber es stimmt schon, Australien hat einen wahren Reichtum an Beuteltieren! Koalas, Känguruhs und Wallabies – dann auch Vombats, Beutelmäuse, Beutelmarder, Beutelratten – alle mit unzähligen Unterarten.“ „Dann wird Heiko dich bekneten, bis du uns für zwei Jahre nach Australien schickst!“ sagte ich. „Du kennst doch seine Vorliebe fürs Kleingetier!“ „Das wäre ja nicht unmöglich“, antwortete Tante Helene. „Es ist sogar sehr wahrscheinlich. Aber jetzt ist es zehn vor zwölf – hast du genug Film im Apparat? Also, nichts wie los!“ Wir warteten nur ein paar Minuten vor dem Koalagehege, dann kam schon der liebe Wärter mit einem großen Bündel Eukalyptuszweige in den Händen. Und siehe da! Was Lockrufe und einschmeichelnde Worte auf deutsch, englisch und norwegisch nicht vermocht hatten, das schaffte der Anblick des Futters! Das schläfrige, vor-sich-hin-meditierende
Koalamännchen bewegte sich, kam näher, kam ans Sonnenlicht – und da, irgendwo aus dem Hintergrund, erschien auch seine bessere, und vor allem dickere Hälfte! Sie streckten ihre Händchen mit den fein geschwungenen Sichelkrallen aus, holten sich frische Blätter, kauten langsam und genießerisch. Ab und zu machten sie eine Pause, betrachteten uns irgendwie von oben herab, dann aßen sie weiter. Sie bewegten sich, kletterten etwas höher. Unsere Blicke klebten an den Tieren, und unsere Kameras sagten klick-klick um die Wette. Da kam auch ein deutscher Tierwärter hinzu. Die beiden amüsierten sich sichtlich über uns und wollten es kaum glauben, daß wir um den halben Erdball geflogen waren, um diese kleinen Kobolde zu sehen! „Es gibt doch so schöne Zoos in England und Deutschland“, meinten sie. „Mußten Sie denn unbedingt diese Knäuelchen hier sehen?“ „Ja!“ rief ich. „Gerade weil sie so schwierig, so wählerisch, so eigensinnig sind, daß man sie in Europa nicht halten kann! Wenn der Ochs nicht zum Berge geht, muß eben der Berg um die halbe Welt zum Ochsen fliegen!“ „Ja“, pflichtete Tante Helene mir lächelnd bei. „So ist es. Ich hatte mir nun einmal in den Kopf gesetzt, daß ich lebendige Koalas sehen wollte, bevor ich sterbe. Nicht nur Koalas, sondern eine ganze Menge australischer Tiere. Jetzt freue ich mich auf das merkwürdige Schnabeltier.“ „Ja, das haben wir nun leider nicht hier“, bedauerte der Schweizer. „Ich weiß“, nickte Tante Helene. „Aber wir werden in wenigen Tagen in Sydney sein, und dort…“ „O ja, dort kriegen Sie es zu sehen! Und vergessen Sie nicht das neue Nachttierhaus, das wird Sie interessieren!“ Wir plauderten noch lange mit den beiden Wärtern, während wir immer die Koalas betrachteten. „Wissen Sie was?“ schlug der deutsche Wärter vor. „Falls Sie in Sydney Zeit haben, dann fahren Sie doch zum Pennant Koalapark! Da dürfen Sie auch die Koalas streicheln – vielleicht sogar einen Augenblick auf dem Schoß halten! Hier dürfen Sie es leider nicht.“ Natürlich hätte Tante Helene nun sagen können, wer sie sei, sie hätte um eine Sondererlaubnis bitten können und sie wahrscheinlich auch gekriegt. Aber sie wollte die beiden netten Wärter, die einen Teil ihrer Mittagspause geopfert hatten, nicht weiter aufhalten.
Außerdem hatten wir viel vor. Wir mußten zurück zum Hotel, denn nach Wallabyspielen und Nasenbeuteltierkraulen und Dingostreicheln plus zwischendurch Eisessen waren unsere Kleider gelinde gesagt mitgenommen. Ich wollte schnell die anderen, verschwitzten Ayers-Rock-Fähnchen waschen, damit wir jedenfalls für morgen etwas Sauberes anzuziehen hatten. Wir aßen schnell eine Kleinigkeit im Zoorestaurant, und dann war ein märchenhaft schöner Vormittag zu Ende. Ein Vormittag, den ich nie in meinem Leben vergessen werde.
Das vollkommene Glück Endlich, endlich war es soweit! Wir hatten uns von dem Krankenhausarzt, von zwei Krankenschwestern und von dem armen schwerverletzten Charlie verabschiedet. Ich hatte einen Scheck von Tante Helene überreicht. Selbstverständlich bezahle das Institut die Krankenhausrechnung, hatte sie erklärt. Dann hatte sie mich allein losgeschickt, um Heiko abzuholen. Meine Proteste nützten überhaupt nichts. „Ich bin doch kein Untier!“ hatte sie erklärt. „Es wäre noch schöner, wenn ihr die paar ersten Stunden nicht allein sein solltet! Außerdem habe ich zu tun!“ „Was denn?“ wollte ich wissen. „Unter anderem umziehen. Ich habe ein neues Zimmer gekriegt und überlasse jetzt Heiko mein Bett, meinen Nachttisch, meine Hälfte von der Kommode – ja, und dich.“ „Der Umzug dauert höchstens fünf Minuten, Tante Helene!“ „Ich habe noch mehr zu tun, und ich komme nicht mit, hast du das endlich begriffen? Hast du Geld genug für das Taxi? Na, das ist ja gut. Mach nun endlich, daß du wegkommst!“ Es blieb mir nichts anderes übrig. Ich umarmte Tante Helene herzlich und zog los. Und jetzt hatte ich Heiko neben mir im Auto. Im Gepäckraum lag sein etwas mitgenommenes Gepäck oder vielmehr das, was nach dem Unfall übriggeblieben war. Ich hatte andächtig zugesehen, wie Heikos Verbände gewechselt wurden, und hoch und heilig versprochen, es jeden Tag zu tun. Ebenso hatte ich mein Ehrenwort gegeben, ihn in Melbourne zu einem Arzt zu zerren, damit die Fäden gezogen wurden. Dann hatte man mir ein dickes Paket Mull, Pflaster und Kompressen mitgegeben, tausend Ermahnungen und gute Ratschläge – und dann durften wir das Krankenhaus verlassen. Übrigens sah Heiko heute nicht ganz so schreckeinjagend aus wie gestern. Der dicke Kopfverband war weg, statt dessen hatte er auf der einen Stirnhälfte eine Kompresse, die mit Pflasterstreifen festgehalten wurde. Sein rechter Arm lag in einem Dreiecktuch. Es sei meine Sache, hatte der Arzt gesagt, aufzupassen, daß er auch dabliebe, jedenfalls bis die Fäden gezogen waren. „Was machen die Leute bloß für ein Theater!“ seufzte Heiko.
„Ich bin putzmunter, ich könnte Bäume ausreißen!“ „Das kannst du mir morgen im Botanischen Garten zeigen, da wirst du Bäume genug finden!“ Wir waren beide albern, lachten und sagten nur Dummheiten, ganz einfach weil wir nicht wußten, wo wir mit unseren Fragen und Erzählungen anfangen sollten! Das würde nach und nach kommen. Wir hatten ja so schrecklich viel zu berichten, wir hatten beide so viel erlebt! Zuerst mußten wir zur Ruhe kommen. Wir hatten ja jetzt Zeit! Wir waren ja wieder zusammen! Als wir in unser Hotelzimmer traten, blieb ich stehen. Nein, diese Tante Helene! Auf dem Tisch stand ein schöner Blumenstrauß, auf der Kommode eine Schale erlesenes Obst, und daneben lag ein Zettel: „Ich schlafe! Möchte nicht gestört werden! Habe für halb acht einen ruhigen Tisch in einer friedlichen Ecke des Speisesaals reservieren lassen. Wir treffen uns dann! Eure T. H.“ „Sie ist nicht wahr!“ sagte ich. Heiko lachte. „So kann man nicht sagen, Sonja, das ist kein Deutsch!“ „Ich weiß es, es ist direkt übersetzt von einer Wendung, die auch nicht Norwegisch ist, aber man sagt es doch. Du weißt genau, was ich meine. Es ist eine Kürzung von ,sie ist ein so guter Mensch, daß sie ein Phantasiegebilde sein muß, sie kann nicht wirklich sein’!“ „Nun ja, zugegeben, deine Fassung ist kürzer“, lachte Heiko. „Also schenken wir meiner Muttersprache diese Bereicherung und bleiben dabei: Sie ist nicht wahr!“ Es war ein sehr schönes Hotelzimmer. „Entschieden gemütlicher als das Krankenzimmer“, meinte Heiko. Tante Helenes Fotosachen, Reisetasche und der eine Schlafanzug von Heiko waren weg. Ebenso das gewaschene und bestimmt noch feuchte Ayers-Rock-Kleid. „Setz dich“, sagte ich. „Du bist noch Patient!“ „Heiliger Bimbam, jetzt fängst du auch an! Ich bin kein Patient, ich bin dein Herr und Gebieter und Tyrann, und meine Worte sind dir Gesetz, daß du es weißt! Nun läßt du das blöde Gepäck, das Auspacken eilt nicht. Jetzt kommst du sofort hierher, nur etwas ist jetzt wichtig, – den Kuß von gestern vor den Augen des Arztes rechne ich nicht mit…“ Plötzlich wurde seine Stimme anders, leise, warm, so wie ich sie von unseren schönsten Augenblicken kannte. „Mein Mädchen, mein Sonnielein, du kannst dir gar nicht vorstellen,
wie ich mich gesehnt habe!“ „Doch, Heiko, das kann ich. Glaubst du vielleicht, daß ich mich weniger sehnte?“ „Sonnielein – daß ich dich wiederhabe…“ „Und ich dich, Heiko…“ Es war halb acht abends, und wir hatten uns so fein gemacht, wie es mit unseren äußerst begrenzten Mitteln möglich war. Heiko besaß noch ein sauberes Hemd, mein Aysers-Rock-Zweidollar-kleid war gerade noch trocken geworden. Eine Blume von dem schönen Strauß war mein einziger Schmuck. Die mitgenommenen Sandalen hatte ich mit Klopapier saubergemacht. Dann hatte ich Heikos Hose mit seiner kleinen Taschenbürste notdürftig abgebürstet und seine Haare gekämmt und die Nägel seiner rechten Hand geschnitten. Mehr konnten wir nicht zur Feier des Abends tun. Tante Helene sah übrigens auch nicht viel besser aus. „Das Beste, was man über mich sagen kann, ist, daß ich frisch gebadet bin“, lachte sie. Ihr verwaschenes Kleid war aber sauber, und ihre Haare sorgfältig gekämmt. Außerdem spielte das alles keine Rolle. Tante Helene hat etwas an sich, was jedem Menschen Respekt einflößt; eine freundliche Sicherheit, eine durchaus nicht aufdringliche Autorität, es liegt etwas in ihrem Blick, ihrer Stimme und ihren Bewegungen, das so unbedingt die Lady verrät. „Sagt mal, Kinder“, fragte sie als wir die Vorspeise intus hatten, „seid ihr sehr müde?“ „Müde?“ lachte Heiko. „Nachdem diese Biester im Krankenhaus mich tagelang im Bett gehalten haben? Ich könnte…“ „… Bäume ausreißen, ich weiß“, unterbrach ich. „Tante Helene, was hast du mit uns vor? Etwas, wozu wir Muskelkräfte brauchen? Schieß nur los!“ „Nein“, sagte Tante Helene. „Ich möchte nur etwas mit euch besprechen. Aber zuerst will ich wissen, Heiko, wie passierte der Autounfall? Ich weiß ja nichts, nur das, was in der Zeitung stand!“ „Ich auch nicht!“ rief ich. „Glaubst du, daß dieses Scheusal mir ein Wort erzählt hat? Während er aus mir alles rausgeholt hat, vom Erdbeben bis zu den Koalas, von Hongkong bis Ayers Rock!“ „Also, Heiko“, sagte Tante Helene. „Was passierte? Wieso kam es zu dem Unfall?“ „Ein Reifen platzte – schlicht und ergreifend. Und das an einer Stelle, wo wir rechts eine steile Bergwand aufwärts und links eine genauso steile abwärts hatten. Ich war am Steuer, Charlie und ich
haben uns ja immer abgelöst. Ja, versucht ihr mal, mit einem geplatzten Reifen auf einer schmalen, sandigen und steinigen Straße zu bleiben. Ich gebe ehrlich zu, daß die nächsten Sekunden nicht besonders schön waren. Charlie wurde gleich bewußtlos, er ist mit dem Kopf gegen das Autodach gebumst, aber ich hatte das Vergnügen, alles bewußt mitzuerleben, und dabei war es mir ja ziemlich klar, daß dies mein letztes Erlebnis sein würde. Der Wagen purzelte einmal ganz rum – oder anderthalbmal. Denn als er liegenblieb, lag er auf der Seite und Charlie wie ein Häufchen Unglück auf einer kaputten Fensterscheibe und ich wie ein Knäuel hinter dem Steuer, das ich komischerweise noch festhielt. Ich war wohl mit dem Kopf durch das Frontglas gestoßen, denn das Blut lief und störte mich sehr, als ich rausgucken wollte, um die Lage zu peilen.“ Ich lauschte atemlos, und noch nachträglich kam mir der kalte Angstschweiß. „Es war mir klar, daß unsere Lage nicht allzu rosig war. Die erste Frage: Wann würde das Gebüsch nachgeben, war dies nur eine Pause vor dem endgültigen Absturz? Ich wagte mich kaum zu rühren. Und dann bestand die Gefahr, daß Charlie zu sich kommen und eine Bewegung machen würde. Außerdem fing ich an, mich ein bißchen schlapp zu fühlen. Ich hatte wohl zuviel Blut verloren. Sonja, du bist so blaß um die Schnute, soll ich aufhören?“ „Nein“, flüsterte ich und ergriff seine Hand. „Erzähl weiter.“ „Ja, und dann trat also unser Schutzengel auf und schickte ein Auto. Die Leute sahen ja, was passiert war. Unsere Habe lag so ziemlich verstreut in der Gegend. Und als ein entsetztes Gesicht da oben am Straßenrand zum Vorschein kam, versuchte ich, durch das Türfenster über meinem Kopf zu winken. Und dann rief jemand etwas von Hilfe holen und ruhig bleiben oder so was, und dann weiß ich einfach nichts mehr! Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis jemand mit Seilen und diesem und jenem runterkletterte. – Ich habe nur eine Ahnung davon, daß jemand mir irgendwelche Plünnen um den Kopf rumtüterte und daß man mir etwas zum Trinken einflößte. Alles war mir so ziemlich gleichgültig. Aber als ich in eine Art Fischnetz gestopft und in erprobter Mondkapsellandungsart in einen Hubschrauber hochgezogen wurde, da empfand ich wohl doch eine Erleichterung. Der Charlie kam erst im Hubschrauber zu sich, der arme Kerl. Er hatte scheußliche Schmerzen. – Ja, dann ging es ruckzuck zum Krankenhaus, das war’s!“
Wir sahen Heiko an, konnten anfangs keine Worte finden. Ich konnte nur Heikos Hand drücken. Zuletzt flüsterte Tante Helene: „Und daran bin ich schuld, Heiko. Ich hatte dich auf diese Expedition losgeschickt!“ „Aber du hast nicht den Reifen zum Platzen gebracht, Tante Helene“, tröstete Heiko. „Mach dir keine Vorwürfe und glaube bloß nicht, daß ich es jetzt mit der Angst bekommen habe. Wenn du mir einen neuen Auftrag gibst, sage ich sofort ja!“ „Paß bloß auf, daß ich dich nicht beim Wort nehme“, sagte Tante Helene. „Du ahnst ja nicht, welchen Auftrag ich für euch in petto habe!“ Der Ober brachte unser Fleischgericht, und ich schnitt alles hübsch in Stücke auf Heikos Teller. Solange der Ober uns dienstbeflissen umkreiste, wechselten wir nur belanglose Worte. Erst als der Nachtisch – übrigens Eis mit frischen Walderdbeeren, ein wahres Gedicht! – gekommen war, sprach Tante Helene weiter. „So, Kinder, und nun sollt ihr mir zuhören. Ich möchte heute mit euch sprechen, weil wir noch allein sind. Morgen kommt die ganze Magellanmeute, dann gibt es nur Programm und keine Ruhe. Aber ihr dürft mich nicht unterbrechen. Ich habe sehr viel auf dem Herzen. Und ich muß mit etwas anfangen, was bei euch, oder jedenfalls bei dir, Sonja, Proteste auslösen wird: nämlich mit meinem Alter. Mit der Tatsache, daß ich bald am Ende des Lebens stehe. Nein, Sonja, halt deinen Mund! – Ihr wißt auch, was für ein reiches, schönes Leben ich gehabt habe, wie diese Aufgabe, die auch die eure ist, die Arbeit für die Erhaltung der Natur und der Tiere, mich immer erfüllt hat und noch erfüllt. Noch ist mein Kopf klar, noch kann ich Entschlüsse fassen, Pläne machen, Arbeit organisieren. – Aber der Tag wird kommen, wo ich es nicht mehr kann. Sonja, erinnerst du dich an unser Gespräch gestern im Zoo? Ich erzählte dir, daß ich so gern Kinder gehabt hätte. Siehst du, jetzt habe ich keinen Sohn, keine Tochter, die meine Arbeit, weiterführen können. Mein Mann starb’ plötzlich, an einem Herzschlag. Wir hatten keine Entschlüsse über das weitere Schicksal der Mary-Green-Stiftung gefaßt. Ich kann euch gar nicht sagen, wie diese Frage mich seit Jahren beschäftigt: Wer kann unsere Arbeit weiterführen? Wo ist der junge, gesunde Mensch, der von unserer Aufgabe so erfüllt ist wie ich? Wo ist der Mensch, in dessen Hände ich alles legen kann, und dann ruhig sterben?“ „Ja, ja, ihr wißt beide, was ich jetzt fragen werde. Ich sitze ja
nicht hier und philosophiere ins Blaue hinein. Heiko, ich meine, den Menschen gefunden zu haben – oder die Menschen – den Mann, den ich brauche, und die Frau, die mit Leib und Seele dabei sein wird. Sonja und Heiko – wollt ihr, könnt ihr das Erbe auf euch nehmen? Seid ihr imstande dazu, die damit verbundenen Opfer zu bringen? Könnt ihr Deutschland verlassen und euch mit dem Gedanken versöhnen, euren festen Wohnsitz in England zu kriegen? Kannst du, Heiko – ja, daß du kannst, bezweifle ich nicht – , aber willst du die Verwaltung der Mary-Green-Stiftung übernehmen?“ Heiko sah Tante Helene an. Zum ersten Mal entdeckte ich einen verräterisch feuchten Glanz in seinen Augen. Er räusperte sich, schluckte – dann sprach er. „Tante Helene, wie könnte ich es ablehnen? Wie könnte ich dich enttäuschen? Aber andererseits – werde ich es schaffen? Was weiß ich über die Vielseitigkeit deiner Arbeit? Ich werde es versuchen, Tante Helene. Wenn du willst, kann ich ein Jahr oder ein halbes Jahr oder so lange wie du denkst, mit dir im Institut arbeiten. Wenn du nach dieser Probezeit siehst, daß es doch nicht geht, daß ich wohl Tierbeobachtungen machen und Berichte verfassen und Filme drehen kann, aber daß ich in puncto Organisation hoffnungslos unbegabt bin – dann sagst du es mir, und du suchst dir einen besseren Nachfolger aus!“ „Du vergißt etwas, Heiko. Was war ich, als ich diese gewaltige Arbeit auf mich nahm? Eine fünfundvierzigjährige Frau, ohne jegliche Ausbildung, nur mit sehr viel Liebe zur Natur und zu den Tieren ausgerüstet – und mit den Kenntnissen, die ich mir als Mitarbeiterin meines Mannes erworben hatte. Natürlich schaffst du es, Heiko, daran zweifle ich keine Sekunde. Und vergiß nicht, du kriegst gute und erfahrene Mitarbeiter. Mr. Morgan ist sein Gewicht in Gold wert. Nur, er ist nicht mehr der Jüngste. Ich habe auch mit ihm über diese Sache gesprochen, und komischerweise war er es, der zuerst deinen Namen erwähnte, als ich schon lange an dich als Nachfolger gedacht hatte. ,Ich wüßte nur einen, – Heiko Brunner’, sagte er. Ich war so froh darüber, daß dieser erfahrene Mann, der dreißig Jahre bei uns gearbeitet hat, zu demselben Resultat gekommen war wie ich. – Also Heiko, wenn du auf eine Probezeit bestehst, dann natürlich, wie du willst. Es ist nur eben zu bedenken, daß… daß wir eure Zeit in Afrika kürzen müßten. Siehst du, ich habe keine Ruhe, bis dies alles klar ist, bis ich meinen Rechtsanwalt eingeschaltet habe und alle Papiere unterschrieben sind. Dann weiß
ich, daß ich ruhig sterben kann. – Vor lauter Erleichterung darüber werde ich bestimmt leben, bis ich neunzig bin!“ „Wenn du das garantierst, Tante Helene“, sagte ich, „dann machen wir alles mit! Sogar Afrika verlassen!“ „Aber nicht für immer, Sonja, durchaus nicht für immer“, tröstete mich Tante Helene. „Wenn nun alles so läuft, wie ich es mir wünsche, dann kommt ihr – sagen wir für ein halbes Jahr, nach England, damit du, Heiko, mit uns im Institut arbeiten kannst. Und du auch, Sonja, denn ich weiß ja, daß du auch mit Leib und Seele dabei bist, und immer die Assistentin deines Mannes sein möchtest. Wenn dann alles geregelt ist, und vorausgesetzt, daß ich noch arbeitsfähig bin, dann könnt ihr seelenruhig zurück zu eurer Hütte und eurem Gepard und eurem primitiven Leben und zu den schleichenden Katzenviechern fahren. Wenn aber dann die Zeit um ist, dann möchte ich euch nach England haben! Dann sollst du, Heiko, dabei sein, wenn wir neue Expeditionen planen, du sollst mithelfen, die richtigen Leute auszuwählen, du sollst die Aufgaben exakt ausarbeiten. Du ahnst ja nicht, was alles zu arrangieren ist, bevor wir so eine Expedition losschicken können! Ihr werdet öfters weite Reisen machen müssen, Gespräche mit Regierungsmitgliedern und Verwaltungsoberhäuptern führen, und zwar so geschickt, daß wir die erwünschten Arbeitserlaubnisse kriegen. Ach, ich kann ja jetzt nicht alles aufzählen, dann würde ich die ganze Nacht sprechen müssen. Es muß alles nach und nach kommen, wenn wir in England sind.“ „Tante Helene“, sagte ich zögernd, „wie denkst du dir dann unser tägliches Leben? Ich meine, was die Wohnung betrifft und so was…“ „Wenn ich einmal nicht mehr da bin“, antwortete Tante Helene so ruhig, als spräche sie von einer Reise von Hamburg nach Kiel, „dann habt ihr ja meine Wohnung. Das Haus gehört der Stiftung, so wie beinahe alles. Aber die Wohnung, die ich mir damals in dem einen Flügel einrichten ließ, soll immer die Verwalterwohnung sein. Bis dahin werden wir es wohl auch schaffen. Habt ihr das kleine Haus am Eingang, dicht am Tor gesehen? Das war einmal eine Pförtnerwohnung. So was wie einen Pförtner haben wir ja nicht. Ich glaube schon, daß das Haus für euch zurechtgemacht werden könnte. Es ist ein gemütliches kleines Häuschen, gut gebaut und praktisch eingerichtet – aber es hat nur vier Zimmer…“ „Nur!“ riefen Heiko und ich gleichzeitig. „Nur! Tante Helene,
weißt du, was du da sagst? Vier Zimmer für zwei Personen, das ist ja direkt luxuriös!“ Auf Tante Helenes Gesicht erschien ein kleines Lächeln, und ihre Augen leuchteten. „Wenn du ,zwei Personen’ sagst, Sonja, darf ich dich an dein Versprechen erinnern? Das, was du gestern sagtest, als wir von dem Leierschwanz zum Bandicoot gingen!“ „Daran brauchst du mich nicht zu erinnern, Tante Helene. Das war ein heiliges Gelübde!“ „Nanu“, fragte Heiko. „Was hast du hinter meinem Rücken versprochen? Darf ich es wissen, oder soll es ein Geheimnis bleiben?“ „Du darfst es wissen“, lächelte Tante Helene. „Sonja wird es dir erzählen. – So, Kinder, nun wollen wir ein Gläschen Sekt trinken, und dann ist der Tag zu Ende. Wir brauchen alle etliche Stunden Schlaf, denn, wie gesagt, morgen geht’s los mit Programm und Gruppe und Ausflügen und Hetzerei. Herr Ober!“ Dann holten wir das Versäumte nach und tranken feierlich Brüderschaft mit Tante Helene. Wir sprachen nicht mehr von den Zukunftsplänen. Wir hatten zugesagt, und Tante Helene war schon lange an dich als Nachfolger gedacht hatte. ,Ich wüßte nur einen, – Heiko Brunner’, sagte er. Ich war so froh darüber, daß dieser erfahrene Mann, der dreißig Jahre bei uns gearbeitet hat, zu demselben Resultat gekommen war wie ich. – „Also Heiko, wenn du auf eine Probezeit bestehst, dann natürlich, wie du willst. Es ist nur eben zu bedenken, daß… daß wir eure Zeit in Afrika kürzen müßten. Siehst du, ich habe keine Ruhe, bis dies alles klar ist, bis ich meinen Rechtsanwalt eingeschaltet habe und alle Papiere unterschrieben sind. Dann weiß ich, daß ich ruhig sterben kann. – Vor lauter Erleichterung darüber werde ich bestimmt leben, bis ich neunzig bin!“ „Wenn du das garantierst, Tante Helene“, sagte ich, „dann machen wir alles mit! Sogar Afrika verlassen!“ „Aber nicht für immer, Sonja, durchaus nicht für immer“, tröstete mich Tante Helene. „Wenn nun alles so läuft, wie ich es mir wünsche, dann kommt ihr – sagen wir für ein halbes Jahr, nach England, damit du, Heiko, mit uns im Institut arbeiten kannst. Und du auch, Sonja, denn ich weiß ja, daß du auch mit Leib und Seele dabei bist, und immer die Assistentin deines Mannes sein möchtest. Wenn dann alles geregelt ist, und vorausgesetzt, daß ich noch
arbeitsfähig bin, dann könnt ihr seelenruhig zurück zu eurer Hütte und eurem Gepard und eurem primitiven Leben und zu den schleichenden Katzenviechern fahren. Wenn aber dann die Zeit um ist, dann möchte ich euch nach England haben! Dann sollst du, Heiko, dabei sein, wenn wir neue Expeditionen planen, du sollst mithelfen, die richtigen Leute auszuwählen, du sollst die Aufgaben exakt ausarbeiten. Du ahnst ja nicht, was alles zu arrangieren ist, bevor wir so eine Expedition losschicken können! Ihr werdet öfters weite Reisen machen müssen, Gespräche mit Regierungsmitgliedern und Verwaltungsoberhäuptern führen, und zwar so geschickt, daß wir die erwünschten Arbeitserlaubnisse kriegen. Ach, ich kann ja jetzt nicht alles aufzählen, dann würde ich die ganze Nacht sprechen müssen. Es muß alles nach und nach kommen, wenn wir in England sind.“ „Tante Helene“, sagte ich zögernd, „wie denkst du dir dann unser tägliches Leben? Ich meine, was die Wohnung betrifft und so was…“ „Wenn ich einmal nicht mehr da bin“, antwortete Tante Helene so ruhig, als spräche sie von einer Reise von Hamburg nach Kiel, „dann habt ihr ja meine Wohnung. Das Haus gehört der Stiftung, so wie beinahe alles. Aber die Wohnung, die ich mir damals in dem einen Flügel einrichten ließ, soll immer die Verwalterwohnung sein. Bis dahin werden wir es wohl auch schaffen. Habt ihr das kleine Haus am Eingang, dicht am Tor gesehen? Das war einmal eine Pförtnerwohnung. So was wie einen Pförtner haben wir ja nicht. Ich glaube schon, daß das Haus für euch zurechtgemacht werden könnte. Es ist ein gemütliches kleines Häuschen, gut gebaut und praktisch eingerichtet – aber es hat nur vier Zimmer…“ „Nur!“ riefen Heiko und ich gleichzeitig. „Nur! Tante Helene, weißt du, was du da sagst? Vier Zimmer für zwei Personen, das ist ja direkt luxuriös!“ Auf Tante Helenes Gesicht erschien ein kleines Lächeln, und ihre Augen leuchteten. „Wenn du ,zwei Personen’ sagst, Sonja, darf ich dich an dein Versprechen erinnern? Das, was du gestern sagtest, als wir von dem Leierschwanz zum Bandicoot gingen!“ „Daran brauchst du mich nicht zu erinnern, Tante Helene. Das war ein heiliges Gelübde!“ „Nanu“, fragte Heiko. „Was hast du hinter meinem Rücken versprochen? Darf ich es wissen, oder soll es ein Geheimnis
bleiben?“ „Du darfst es wissen“, lächelte Tante Helene. „Sonja wird es dir erzählen. – So, Kinder, nun wollen wir ein Gläschen Sekt trinken, und dann ist der Tag zu Ende. Wir brauchen alle etliche Stunden Schlaf, denn, wie gesagt, morgen geht’s los mit Programm und Gruppe und Ausflügen und Hetzerei. Herr Ober!“ Dann holten wir das Versäumte nach und tranken feierlich Brüderschaft mit Tante Helene. Wir sprachen nicht mehr von den Zukunftsplänen. Wir hatten zugesagt, und Tante Helene war glücklich darüber. Für Einzelheiten hatten wir immer noch Zeit. „Und dann…“, sagte Tante Helene zuletzt und hob ihr Glas, „dann möchte ich euch danken. Ihr habt mir heut meine größte Sorge genommen und mir meinen Seelenfrieden wiedergegeben. Ich danke euch!“
Schöne Tiere und nette Menschen Die Gruppe war da, und unser Gepäck war da. Tante Helene hatte ein kurzes Gespräch mit Mr. March gehabt und es so geregelt, daß Heiko mit der Gruppe weiterfahren konnte. Ihre engen Beziehungen zu Magellan Ltd. hatte sie ja verraten müssen, aber das spielte nunmehr keine große Rolle. Heiko war so unternehmungslustig, daß ich ihm damit drohte, ihn ins nächste Krankenhaus zu bringen! Aber er war immer strahlender Laune und wurde gleich beliebt in der Reisegruppe. Bei einer solchen Sammelreise bilden sich immer eine Art „Untergruppen“ – so wie unsere, die sich schon am ersten Abend in Hongkong durch die Tischordnung zusammengefunden hatte: Die Ehepaare Connor und Stone, die Schwestern Smith, Mr. Nicol, Mrs. Henderson und dann Tante Helene und ich. Frau Werner hatte uns ja in Cairns verlassen, aber bei unserem Abflug von Melbourne war sie wieder da. Heiko war nett und höflich zu den älteren Damen. Alle älteren Damen haben übrigens eine Schwäche für ihn – und den anderen gegenüber war er aufgeschlossen und munter, und willig zum Erzählen. Er hatte ja viel mehr gesehen als wir! Wir wurden ja immer von Stadt zu Stadt gehetzt, aber Heiko konnte von Wüsten und Bergen, von vielen Tieren und von den Eingeborenen erzählen. Alle zeigten auch ein rührendes Interesse für sein Befinden und halfen und stützten mich, wenn ich versuchte, seinen Unternehmungsgeist zu bremsen! In Melbourne ging er freiwillig zu dem Arzt, dessen Namen wir in Adelaide bekommen hatten. Die Fäden wurden entfernt, die Verbände schrumpften etwas ein, an der Stirn hatte er nur noch einen Pflasterstreifen, und der Arzt sagte, als er erfuhr, wann der Unfall passiert war: „Na, Sie haben aber eine gute Heilhaut!“ „So“, sagte Heiko, als wir vom Arzt kamen. „Jetzt hast du kleines Biest (das war ich) mich um den Ausflug nach Tasmanien betrogen. Dann muß ich in den Zoo, da gibt es etliche Dinge, die ich noch nicht in der freien Natur gesehen habe!“ „Was denn?“ fragte das Biest. „Vor allem haben sie da einen Tahr.“ „Ist das ein Vogel?“ „Den Vogel hast du selbst, und was für einen. Tahr ist eine
asiatische Wildziegenart.“ „Und die mußt du unbedingt in Australien sehen?“ „Ich muß sie da sehen, wo sie zu sehen ist. Ja, und dann haben sie ein paar sehr schöne Brolgas…“ „Sind das auch Ziegen?“ „Nein, das sind Vögel. Die Ziege bist du. – Ja, und dann haben sie viele Koalas und besonders schöne Baumkänguruhs.“ „Aber Heiko, was hast du eigentlich auf deiner Reise gesehen, wenn du jetzt in den Zoo rennst?“ „Känguruhs und Wallabies in jeder Menge. Koalas nur ein einziges Mal. Du ahnst ja nicht, wie gut die Viecher sich verstecken können, in den höchsten Baumwipfeln! Ich möchte doch die kleinen Kobolde aus nächster Nähe betrachten! Ich hätte ja auch einen Ausflug auf die Känguruhinsel machen sollen, da sind außer den Känguruhs Koalas in rauhen Mengen, und Schnabeltiere und unzählige Vögel – also, den Ausflug müssen wir unbedingt das nächste Mal machen!“ „Meinst du denn wirklich, daß wir hierher zurückkommen werden?“ „Das kann ich dir flüstern! Du lieber Himmel, so ein Land! So voll Schönheit, so voll Tiere, und was für Tiere – ein Land mit so vielen Möglichkeiten. Ein Traumland für einen Zoologen, der es auf Kleingetier abgesehen hat!“ „O Heiko – sich zu denken, hier kreuz und quer reisen zu können, mit dir – nicht nur mit einer Gruppe immer weitergehetzt zu werden. Übrigens, warum warst du nicht auf der Känguruhinsel?“ „Weil ich am Tage vor dem geplanten Ausflug diesen Purzelbaum mit dem Auto machte! Und nachher habt ihr alle, du und Tante Helene und der Arzt, mich daran gehindert, vernünftige Dinge zu unternehmen!“ „Heiko…“, sagte ich leise. „Hast du wirklich nichts Vernünftiges unternommen?“ Er sah mir ins Gesicht, seine Augen hatten Wärme und ein glückliches Leuchten. Er drückte meinen Arm an sich. „O doch. Das habe ich allerdings, Liebling!“ Im Zoo Melbourne hatten sie eine ganze Koalafamilie! Nun konnten wir die einzelnen Tiere vergleichen, und wir bekamen eins beim Laufen auf der Erde zu sehen, was wohl selten ist, denn sie hocken ja immer auf den Bäumen! Heiko und ich standen da und hielten Händchen und waren glücklich – wieder erlebten wir
zusammen die Erfüllung eines „Tiertraumes“. Der Tahrbock war sehr schön, die herrlichen Kraniche mit dem Namen Brolga waren ein Erlebnis! Als einer davon seinen langen silbergrauen Hals ausstreckte und zielbewußt seinen hübschen, roten Schnabel in Heikos Hosentasche steckte, mußte ich laut lachen! Ein Tierwärter kam herbeigeeilt und erklärte, dieser Vogel hätte es sich angewöhnt, die Taschen der Wärter nach Krümeln zu durchsuchen! Es war ein sehr, sehr schöner Vormittag! Ein Zoobesuch war in Heikos Begleitung noch mal so schön. Erstens, weil er Zoologe ist, zweitens, weil er – ja eben, weil er Heiko ist! Weil er mein Heiko ist! Nachmittags machten wir zusammen mit Tante Helene Besorgungen. Ich mußte meinen Brüdern unbedingt Bumerange kaufen, sonst hätte ich ihnen nicht unter die Augen treten können. Wieder sahen wir diese niederschmetternden Fensterauslagen – und hinter den Fenstern waren zum Teil sehr große Geschäfte, über und über mit Wallaby-Fellen gefüllt. Ich dachte an das, was Heiko erzählt hatte, daß die Koalas wegen ihres wunderbaren Felles beinahe ausgerottet worden waren, bis sie endlich, sozusagen fünf vor zwölf, unter Naturschutz gestellt und neu angesiedelt wurden, in Gebieten, wo sie schon restlos abgeschossen waren. „Wenn es so weitergeht, erlebt man wohl dasselbe mit den Wallabies“, sagte Heiko finster. „Warum zum Teufel – Entschuldigung! – ich meine, warum in aller Welt können sie nicht ihre Andenken aus Synthetikfell machen? Oder, wenn es unbedingt echt sein soll, aus Kaninchen- oder Lammfellen?“ „Ich glaube auch, Heiko, hier muß was geschehen“, sagte Tante Helene. „Ich muß zusehen, daß ich so lange am Leben bleibe, daß wir dich ein paar Jahre im Institut entbehren können, dann fährst du für ein halbes Jahr nach Australien…“ „Und dann nach Galapagos zu den Echsen, Tante Helene – und in die Arktis zu den Eisbären – und nach Südamerika zu den Huemulen.“ „Was ist das nun für ein…“, beinahe hätte ich Vieh gesagt, aber da ich seine lieblose Reaktion auf meine zoologischen Irrtümer kannte, wählte ich einen anderen Ausdruck, „… süßes Geschöpf?“ vollendete ich den Satz. „Ein Hirsch, der nur im südlichsten Andengebirge lebt“, klärte Heiko mich auf. „Ja, und dann müssen wir zu den Präriewölfen und Coyoten in Nordamerika, und zu den Nebelpardern in Indien, nicht zu reden von den großen Pandas in China…“
„Das kann ja gut werden“, schmunzelte Tante Helene. „Ich sehe ein, daß du erst als wackeliger Mummelgreis dazu kommst, mein Institut zu übernehmen! Und ich muß wirklich leben, bis ich neunzig bin!“ „Tu das, Tante Helene“, bat ich. „Ich werde mir alle Mühe geben“, versicherte Tante Helene. Nach unserem Gespräch an dem Abend in Adelaide war sie irgendwie lebhafter, freier, fröhlicher geworden. Es war wohl wirklich so, daß dieses Problem sie seit Jahren bedrückte und daß Heiko ihr durch sein Versprechen eine große Last abgenommen hatte. Dafür war aber eine andere durchaus nicht fröhlicher geworden, und das war Mrs. Stone. Sie war ja, bevor wir uns so jäh am Ayers Rock trennten, etwas zugänglicher geworden, ab und zu direkt freundlich. Jetzt war sie ganz verschlossen, wirkte verkrampft, sagte kaum ein Wort, und nie verschönte ein Lächeln ihr hübsches Gesicht. „Die arme Frau“, sagte Heiko, als ich über sie erzählt hatte. „Tante Helene hat ganz sicher recht, sie ist in ihrer Kindheit auf ein verkehrtes Gleis gekommen. Wenn man ihr bloß helfen könnte!“ Mrs. Connor hatte mir erzählt, daß Mrs. Stone in Alice Springs einen Brief bekommen hatte, und danach war sie vollkommen verschlossen gewesen, nahm nie an einem Gespräch teil, fragte nichts, zeigte sich vollkommen interesselos. Sie war mir ganz einfach ein Rätsel. In Canberra machten wir die obligate Stadtbesichtigung mit – es lohnte sich. Die Stadt hat eine prachtvolle Lage, ist hell und schön und sauber, wirkt neu und modern. Von dort machten wir einen Ausflug zu einem Naturpark. Das war aber schön! Da durften wir in die großen Gehege der zahmen Emus und Känguruhs, wir konnten sie streicheln, durften ihnen auch ein paar Leckerbissen zustecken. Als einer der Emus plötzlich entdeckte, daß ich eine Kekstüte bei mir hatte, verfolgte er mich regelrecht durch das ganze Gehege – ich rannte vorne, er hinten, mit langgestrecktem Hals und offenem Schnabel. Meine Gruppengenossen kringelten sich vor Lachen! – Die Känguruhs waren friedlicher. Ein Weibchen, das sich nur zu gern streicheln und krauein ließ, hatte ein Junges im Beutel. Es war entzückend, wie das süße kleine Köpfchen plötzlich rausguckte, mit zwei spitzen Ohren und zwei blanken, neugierigen und ein wenig ängstlichen Augen!
Ich wäre gern länger bei den Känguruhs geblieben und hätte auch gern diese schöne Stadt kennengelernt. Aber – Programm war Programm, wir waren keine freien Menschen, unser Flugzeug startete in aller Frühe am folgenden Tag. Ich war von dem Einflug über Hongkong mächtig beeindruckt gewesen. Als aber nun Sydney unter uns lag, mit der herrlichen Küste, mit grünen Inseln, mit wunderbaren Brücken und mit der ganzen hellen, strahlenden Sauberkeit – ja, ich weiß bis jetzt nicht, was mich am meisten beeindruckt hat! „Und dieses schöne Land müssen wir in zwei Tagen verlassen!“ seufzte ich. „Ihr werdet zurückkommen“, tröstete mich Tante Helene. „Diese Reise müßt ihr eben als Kladde betrachten, oder als ein Stenogramm, oder eine Reise ins Unreine – die wirkliche, ausführliche Reise kommt noch!“ „Wenn nun alles nach dem Plan gegangen wäre, Tante Helene“, sagte ich, „dann hätte ich jetzt hier gesessen mit einem Herzklopfen, daß du gedacht hättest, ein Flugmotor sei kaputt. So hätte ich mich darauf gefreut, Heiko zu überraschen!“ „Das war ja auch ein phantastischer Zufall, daß diese Reise so geplant war, daß wir uns gerade in Sydney getroffen hätten“, meinte Heiko. „Nun ja – Zufall…“, sagte Tante Helene. „Ein so unbedingter Zufall war es nun auch nicht.“ „Aber Tante Helene, du konntest ja nicht eine ganze Gruppenreise verschieben, so weit geht doch wohl nicht dein Einfluß auf Magellan Ltd.?“ „Nein – aber habt ihr denn vergessen, daß ich die Daten für Heikos Reise festgelegt hatte?“ „Tante Helene! Das heißt, daß du diesen Plan mit mir – also, daß wir beide zusammen losfahren sollten – daß du das alles schon lange im voraus ausgeheckt hast? Bevor wir nach London kamen?“ „Genauso war es.“ „Und dann bringst du mich dazu, in London lauter Geschenke für meine Familie zu kaufen, obwohl du wußtest, daß ich gar nicht nach Norwegen, sondern nach Australien fahren würde?“ „Ja, aber liebes Kind, es fiel mir an dem Tag nichts Besseres ein, und ich mußte dich los sein, ich mußte ja unbedingt zu Magellan Ltd.!“ „Und dann sitze ich da mit einer doppelten Garnitur von
Mitbringseln! Denn aus Australien muß ich ja was mitbringen!“ „Sehe ich ein. Aber dann hast du ja auch Weihnachtsgeschenke für die ganze Familie! Na, also. Habe ich vielleicht nicht gut vorgesorgt?“ Heiko sah Tante Helene lächelnd an: „Wenn wir noch per ,Sie’ und ,Mylady’ gewesen wären, hätte ich es nicht gewagt, meine Meinung so geradeaus zu äußern“, sagte er. „Aber einer lieben Tante gegenüber kann ich es tun: Du bist eine ganz Gerissene, Tante Helene!“ Kaum waren wir durch die Sperre im Flughafen Sydney, verschwand Tante Helene. Nämlich in der Bärenumarmung eines riesengroßen Mannes. Als sie endlich lachend und mit zerzausten Haaren und außer Atem zum Vorschein kam, machte sie bekannt. Der Riese war Mr. Little. „Sein Name wirkt direkt auf meine Humornerven“, flüsterte Heiko. Mr. Little ragte einen Kopf über die größten der Gruppe. „Nun sagen Sie bloß, was machen Sie hier, Doktor Brunner?“ fragte er erstaunt. „Und was für Kopfdekoration und Fechthandschuhe haben Sie sich zugelegt?“ „Ach, Sie wissen es nicht, das freut mich“, sagte Heiko lachend. „Ich fürchtete, daß auch die Sydneyer Zeitungen darüber schreiben würden. Ich habe eben mit dem von Ihnen freundlichst verschafften Wagen einen Purzelbaum gemacht. Meine arme Frau sah es in der Zeitung und wollte schon den Witwenschleier kaufen…“ „Heiko!“ rief ich. „Du kannst aber nachher was erleben!“ „Ja, und von Charlie soll ich grüßen, er liegt im Krankenhaus in Gips – ich meine, in Adelaide… also, in Adelaide und Gips. Aber er hat keine Schmerzen mehr, und es besteht keine Lebensgefahr. Nur der Wagen und ein Teil unseres Gepäcks sind im Eimer.“ „Ich pfeife auf den Wagen, der kann im Eimer bleiben“, sagte Mr. Little. „So, nun geben Sie Bescheid, daß Sie nicht mit dem Bus fahren, ich bringe Sie zum Hotel. Viele Grüße von meiner Frau, sie ist schon beim Kochen, Sie essen heute abend bei uns. – Heute vormittag fahren wir irgendwo raus, damit Sie etwas von Sydneys Umgebung zu sehen bekommen. Ach so, Sie wollen in den Zoo, gut, machen wir das, dann lunchen wir irgendwo, und dann eine schöne Fahrt, und dann Abkühlung in unserem Swimming-pool. – Ach, Helenchen, wie nett, dich wiederzusehen, Allana freut sich toll auf dich – laß dich mal ansehen, du bist ganz die alte…“ „Die älter gewordene, meinst du“, lächelte Tante Helene.
„Ach was – und du hast genau dieselben Guckerchen, so wach und so neugierig und so voll Schabernack wie damals. So, hier wären wir – geben Sie mir die Tasche da, Sonja, nein, Heiko, schonen Sie Ihren Arm…“ Ich mochte so furchtbar gern diese englische Sitte, sich mit Vornamen anzureden. Es hat nichts mit dem vertraulichen „Du“ zu tun. Man kann in England sehr gut die Vornamen gebrauchen und doch unbedingt das Gefühl haben, daß man per Sie ist. Bei längerer Bekanntschaft gleitet man dann allmählich und „stufenlos“ rüber in eine Du-Freundschaft, die erst dann zum Ausdruck kommt, wenn man eine andere Sprache benutzt. Wir hatten einen wunderbaren Tag. Einen so schönen Zoo wie Taronga in Sydney gibt es bestimmt kein zweites Mal. Vom Zoogelände aus hatten wir einen prachtvollen Blick auf den Hafen. Heiko machte eine Aufnahme mit Löwen und Schiffen auf einem Bild! Mr. Little hatte uns angemeldet, das heißt, die Direktion des Zoos wußte, daß das Oberhaupt der Mary-Green-Stiftung kommen würde. Wir wurden von einer netten und freundlichen Dame geführt, sie wußte, daß wir vor allem die einheimischen Tiere sehen wollten. So ging es zu allererst zu einem kleinen Haus, das extra für uns geöffnet wurde. Den teuren Schatz, der sich da drin befand, für den das ganze Haus gebaut worden war, konnte man sonst nur zwei Stunden am Tag ehrfurchtsvoll beobachten und bewundern. Der Schatz war ein Schnabeltier. In der Mitte des Hauses war ein Glasbecken gebaut, und da residierte Ihre Hoheit. Es war ein einsames Weibchen – ihr Partner sei gestorben, erzählte unsere liebenswürdige Führerin, und es sei noch nicht gelungen, einen neuen zu kriegen. Was für ein seltsames Tier! Es hatte einen Körper wie ein Otter, einen breiten Entenschnabel, es glitt wie ein Pinguin durchs Wasser. Auf einer Tafel war die Anlage des Baues veranschaulicht, da konnte man sehen, wie das Weibchen einen langen Gang tief in die Erde gräbt, da drin eine kleine Höhle anlegt, die mit weichem Laub ausgefüttert wird, und da legt sie ihre Eier. Die Jungen, die daraus schlüpfen, saugen dann bei der Mutter und kriegen mit der Zeit ein wunderbares, weiches Fell. „Das Tier hat wirklich von jedem etwas!“ meinte ich. „Vom Fisch, Säugetier und Vogel!“ „Und außerdem auch von Schlangen“, ergänzte unsere Führerin.
„Es ist nämlich giftig! Eine Verletzung von einem Schnabeltier ist gar nicht ungefährlich!“ Das war mit Abstand das merkwürdigste und interessanteste Tier, das ich jemals gesehen hatte. Ich segnete diesen Zoo und alle guten Zoos. Wie kämen wir bloß dazu, so viele und seltsame Tiere zu sehen, wenn wir sie immer in der freien Natur suchen müßten? Denselben Gedanken hatte ich in dem schönen, neu errichteten Nachttier-Haus. Wir gingen durch einen Gang, der allmählich dunkler wurde, so daß unsere Augen sich auf das sehr schwache Licht umstellen konnten. Und da drin, in der geheimnisvollen Dunkelheit, war eine ganze kleine Welt für sich. Die Welt der kleinen Tierchen, die nur in der Nacht wach sind – die in der Nacht laufen, springen, spielen, lieben und Nahrung suchen. Was gab es da für reizende Geschöpfe! Niedliche Springmäuse und gestreifte Hörnchen, kleine zarte Eulen, mollige Flughörnchen, die ganz still auf einem Ast saßen, bis sie plötzlich ihre breite, weiche „Flughaut“ zwischen Vorder- und Hinterbeinen spannten und elegant durch die Luft segelten! Ich dachte an unsere Zwergbilche Romeo und Julia, die übrigens noch bei bester Gesundheit bei meiner Schwiegereltern in Hamburg lebten. Damals hatten sie Heiko bei seiner Doktorarbeit geholfen. Ich hatte sie gepflegt, und wir hatten furchtbar viel Mühe gehabt, um sie von Nacht auf Tag umzustellen. So ein Nachttierhaus hätten wir damals haben müssen! Wir hätten gern den ganzen Tag in Taronga verbracht, aber Heiko sagte: „Giraffen und Löwen sehen wir zu Hause, Eisbären und Pinguine in jedem Zoo. Hier müssen wir uns auf die Australier konzentrieren!“ Also gingen wir noch schnell zu den Koalas, die auch ein eigenes Gebäude hatten, und zwar einen Rundbau, wo man immer an der Wand entlang in Spiralen nach oben gehen konnte. Mitten in der Spirale war der Baum, in dem die Koalas lebten. Es waren viele davon, sehr viele! Da kaute ein alter, dicker Genießer seine Blättchen, da schlief ein kleineres Tier, und da… Ich packte Heiko am Arm. „Heiko! Guck doch! Es hat ein Junges!“ Ja, tatsächlich! Ein kleines, molliges, weiches Junges mit Druckknopfnase und winzigen Händchen klammerte sich an den mütterlichen Rücken! „Was haben wir doch für Glück!“ flüsterte Tante Helene.
„Warte bis morgen“, sagte Douglas Little. „Vielleicht werdet ihr dann noch mehr Glück haben!“ Douglas fuhr uns durch die Stadt, aus der Stadt raus, an der herrlichen Küste entlang. Es war traumhaft schön! Wie gern wäre ich hier geschwommen, wie gern hätte ich es versucht, das Wellenreiten mitzumachen. Überall sahen wir junge Menschen, die diesen Sport betrieben, stehend auf kleinen Brettern, – dann fielen sie plumps in die Wellen, kamen wieder hoch, kletterten geschickt wieder aufs Brett – das müßte mir auch einen Heidenspaß machen! Überhaupt sehnte ich mich allmählich nach einem Bad. Es war glühend heiß. Das Klima war ja subtropisch, und es war jetzt – am ersten Dezember – Hochsommer. Nachmittags kamen wir dann bei der restlichen Familie Little an und wurden von einer entzückenden Frau, zwei jungen Töchtern und einer schwarzweißen Katze begrüßt. Sie bewohnten ein herrliches Haus mit einem großen Garten. Da waren Mangobäume, Papayabäume, Eukalyptus – und ein Zitronenbaum voll reifer Früchte. Und dann das Schwimmbecken! Heiko sah uns mit langen und neidischen Blicken zu. Er durfte ja mit seinem verbundenen Arm nicht baden. Er grollte leise vor sich hin und ließ sich erst trösten, als die jüngste Little-Tochter sich zu ihm setzte, zusammen mit der Katze und eisgekühlter Limonade. Überhaupt unterhielten wir uns hauptsächlich mit den beiden netten Mädchen. Tante Helene war ja mit Douglas und Allana seit Jahren befreundet und genoß sichtlich das Zusammensein mit ihnen. Es wurde spät, bis das Ehepaar uns zurück zum Hotel fuhr. „Und ihr werdet schon morgen abfliegen, Heiko? Das ist ja furchtbar, nur zwei Tage in Sydney. Aber du, Helenchen, du hast doch noch zwei Tage? Fein, dann ziehst du morgen mit deinen Klamotten zu uns, im Hotel hast du wirklich nichts verloren.“ Schon machte Douglas eine elegante Kurve und hielt vor dem Hotel. Wir waren so voller Eindrücke, wir hatten soviel Schönes erlebt – und waren redlich müde. Es war ein Genuß, sich in dem „airconditioned“ Hotelzimmer zwischen kühlen Laken auszustrecken. „Wie haben wir es gut, Sonnielein“, flüsterte Heiko. „Wie hat das Schicksal es gut mit uns gemeint!“ „Denkst du an die Koalas oder an das Schnabeltier oder die Flughörnchen?“ fragte ich. „Ich denke hauptsächlich an dich“, sagte Heiko. „Sonnie, ich
habe nur einen brauchbaren Arm, und der befindet sich zufällig unter deinem Nacken. Kannst du das Licht ausmachen?“
Auf Wiedersehen, Australien! Wir trafen unsere Gruppe am Frühstückstisch. Natürlich ging das gegenseitige Erzählen los, und wir wurden gefragt, wie wir den gestrigen Tag verbracht hatten. „Ich glaube, Ihre ganze Australienreise besteht aus Zoobesuchen“, sagte Mrs. Connor gutmütig lächelnd. „In Cairns haben Sie die Stadtrundfahrt nicht mitgemacht, in Alice Springs waren Sie nicht mit auf der Station der ,Fliegenden Arzte’…“ „Weil ich bei meinem kranken Mann war!“ rief ich. „Und gerade auf die fliegenden Arzte und auf den Schulunterricht per Funk hatte ich mich so gefreut.“ „Wissen Sie“, tröstete mich Mr. Nicol, „das wirklich Interessante dabei kriegt man doch nicht zu sehen, nämlich die Arzte im Einsatz oder die Schüler beim Unterricht. Es ist übrigens phantastisch, wie das aufgebaut ist! Die Farmen liegen ja unglaublich weit von einander entfernt, zum Teil ohne jegliche Verbindung mit der Umwelt. Ich begreife nicht, wie sie mit dem Leben fertig wurden, bevor sie die gesegnete Funkverbindung hatten! Jetzt haben sie auf jeder Farm eine Hausapotheke, und jedes Medikament ist numeriert. Wird jemand krank, ruft man die Station der fliegenden Ärzte. Oft begreift der Arzt, was los ist, wenn die Leute alle Symptome genau schildern, und kann gleich über Funk sagen, was sie machen sollen! Geben Sie zwanzig Tropfen von Nummer 87 – dreimal am Tag eine Tablette von Nr. 34 – rufen Sie morgen früh die Temperatur durch – geben Sie sofort und noch einmal heute abend einen Eßlöffel von Nr. 22! So vermeiden sie, daß die Durchfallpatienten Ohrentropfen kriegen oder die Grippekranken Magentabletten! Und im Ernstfall fliegen sie gleich los!“ „Und was ist mit dem Schulunterricht?“ fragte Heiko. „Ja, da sitzen die Kinder mit Kopfhörern und haben je ein Mikrofon. Sie werden examiniert wie in einer gewöhnlichen Schulklasse und kriegen neue Aufgaben auf. Sie werden aufgerufen und müssen sich mit einem ,Hier’ melden, und wenn ein Kind fehlt, muß Mutti oder Vati dran und erklären, warum. Die schriftlichen Arbeiten werden durch die Post zum Zensieren geschickt und kommen zurück mit roten Strichen und mit Noten.“ „Ob wohl so was auch bei uns existiert?“ wunderte ich mich. „Fliegende Arzte, ja“, sagte Heiko. „Aber das mit dem
Schulunterricht ist mir neu.“ „Bei Ihnen?“ wunderte sich das ältere Fräulein Smith. „Aber Sie wohnen doch in Deutschland?“ „Nein, seit drei Jahren in Kenya“, erzählte Heiko nichtsahnend. Miß Smith brach in ein lautes Lachen aus. „Lieber Himmel. Da habe ich mich aber blamiert! Ich habe doch Ihrer Frau freundlichst geraten, sie sollte mal nach Ostafrika eine Reise machen!“ „Tun Sie es doch noch einmal selbst, Miß Smith“, schlug ich vor. „Und geben Sie uns Bescheid, dann holen wir Sie mit unserem Kleinflugzeug in Nairobi ab und zeigen Ihnen ein kleines Stück Afrika, das die Touristen sonst nicht zu sehen bekommen.“ „Oh, wir kommen alle!“ rief Mr. Nicol. „Nicht wahr, nächstes Jahr?“ „Zu spät“, bedauerte Heiko. „Nächstes Jahr sind wir nicht da!“ „Wo kann man Sie dann besuchen?“ „Das wissen wir noch nicht – fragen Sie Lady Robinson!“ schlug Heiko vor. „Ich weiß es auch nicht“, sagte Tante Helene. „Aber zurück zu Ihrer Behauptung, Mrs. Connor. Es stimmt, daß unsere Reise eine Fahrt durch verschiedene Zoos gewesen ist. Aber sehen Sie: Die Tiere sind unser Arbeitsgebiet, unser größtes Interesse und unsere Liebe. Dann muß man sie eben suchen, wo sie zu finden sind, und wir haben eine ganze Menge von der hochinteressanten Tierwelt Australiens in denkbar kurzer Zeit gesehen! Tiere, die man wirklich nur hier zu sehen bekommt! Natürlich, Ihr Ausflug von Adelaide zum bekannten Weinbaugebiet war bestimmt interessant, aber Weinbaugebiete sieht man auch in Europa. Während Sie den Wein studierten, habe ich zum ersten Mal in meinem langen Leben einen Koala gesehen! In Cairns brauchten wir ganz einfach einen Ruhetag. Ich weiß, daß viele von Ihnen am Barrierenriff waren, aber solche Riffe haben wir öfters an der afrikanischen Küste gesehen. Sie waren im Orchideengarten, das werden Sie auch in Hawaii sehen. Sie besuchten vielleicht auch die Schlangenfarm…“ „Und Schlangenfarmen kennen wir auch!“ rief ich. „Nicht wahr, Heiko?“ „Uh, die schrecklichen, kriechenden Biester“, schauderte Mrs. Henderson. „So weit kann doch Ihre Tierliebe nicht gehen, daß Sie die mögen?“ Plötzlich suchte Heiko seine Brieftasche. Er konnte ja nur eine
Hand benutzen und mußte die Tasche flach aufgeschlagen auf den Tisch legen. Und siehe da, ein ganzer Stoß Bilder von meiner Wenigkeit kam zum Vorschein! Da fand er, was er suchte, und reichte es Mrs. Henderson. Es war eine Aufnahme von mir, mit einer Schlange um den Hals, von unserer ersten Afrikareise – damals, als wir uns kennenlernten! Das Bild machte die Runde und löste viele „Igitt“ und „Oh, wie schrecklich!“ aus. Ich verschwieg klugerweise, wieviel Überwindung es mich gekostet hatte, das Tier anzufassen – und was für eine Freude ich empfand, als ich entdeckte, daß es gar nicht eklig war! Aber ich stellte Heiko zur Rede, als wir allein waren. Warum in aller Welt er das alte Bild von mir mit rumschleppte, durch die halbe Welt? Und überhaupt, würde nicht ein Bild von mir in der Brieftasche genügen? „Ich trage so viele Bilder von dir bei mir, wie ich will, merk dir das“, sagte mein Herr und Gebieter. „Und was das Schlangenbild betrifft, pfeife ich auf die Schlange. Aber das war das erste Bild, das ich von dir bekam. Genauso sahst du aus, als wir uns kennenlernten!“ Wir wurden vom Ehepaar Little abgeholt. Nach einer Fahrt kreuz und quer durch die Stadt, wo wir wieder die niederschmetternden Schaufenster voll Fellandenken sahen, ging es raus in die wunderbare Natur. Diesmal hatten unsere lieben Gastgeber sich was Besonderes einfallen lassen: Nach einer herrlichen, weiten Fahrt landeten wir auf einem großen Picknickplatz. In regelmäßigen Zwischenräumen waren Tische und Bänke aufgestellt und primitive kleine Grills! Aus dem Gepäckraum holte Douglas Kleinholz und Grillrost, Allana packte Würstchen, Koteletts und viele verheißungsvolle Dosen aus. Das Grillen war Männerarbeit, das Tischdecken und Salatmachen besorgte Allana. Wie schmeckte das Essen herrlich, in dieser schönen Umgebung! Vor uns lag ein spiegelblanker kleiner See mit Ruderbooten und Kanus – dahinter erhob sich ein Berg mit leuchtend grünen Bäumen und Büschen. „Hier könnte ich den ganzen Tag bleiben!“ – Es war Tante Helene, die vor lauter Wohlbehagen dies seufzte. „Das geht aber nicht! Wir haben nämlich noch etwas mit euch vor, ihr dürft eben nur den Kaffee trinken, dann geht es wieder los!“ Nie werde ich das vergessen, was sie „noch mit uns vorhatten“. Das war – ein Koalapark. Es waren auch andere Tiere da, ich erinnere mich an ein
schneeweißes Känguruh und ein goldbraunes Wallabykind, das bei seiner Mutter saugte. Es waren viele bunte Vögel, es waren Baumkänguruhs und Kuskus und Vombats – aber vor allem Koalas. Wir wurden erwartet. Douglas Little hatte anscheinend eine gute Vorarbeit geleistet, denn wir wurden von einem freundlichen jungen Mann gleich mit Namen begrüßt, es sei ihm eine besondere Freude, die Leiterin und die geschätzten Mitarbeiter der Mary-GreenStiftung willkommen heißen zu dürfen! Dann führte er uns direkt zu einem Koalagehege, wechselte ein paar Worte mit einem Wärter – er machte ein Gittertor auf – und dann standen wir im Gehege, drin bei den kleinen grauen Kobolden. Der Wärter legte die Hände behutsam um eines der Tiere, lockerte den Krallengriff um den Zweig. Das Tier ließ es geschehen, es war anscheinend so was gewohnt. Es kuschelte sich zufrieden in die Arme des Wärters. Dieser sah uns an, es lag ein kleines Lächeln um seinen Mund. Sein Blick blieb an mir hängen. Er kam einen Schritt näher, lockerte den kleinen grauen Arm, der um seinen Hals lag – dann legte er das Tier in meine Arme. Ich habe mir sagen lassen, daß es Menschen gibt, die vor Glück und Bewegung weinen, wenn sie zum ersten Mal dem Matterhorn gegenüberstehen oder dem Petersdom, oder den Victoriafällen oder der Mona Lisa. Ob ein solcher Mensch mich in diesem Augenblick verstehen würde? In diesem Augenblick, als ein kleiner, warmer Tierkörper sich in meinen Armen zurechtkuschelte, als ein kleines schwarzes Schnäuzchen meinen Hals streifte – würde jemand verstehen, warum zwei Glückstränen über meine Wangen kullerten und in dem warmen, weichen Fell des Koalas verschwanden? Der schönste Augenblick von dieser Reise war die Sekunde, wo ich Heiko in Adelaide traf und begriff, daß er durchaus nicht in Lebensgefahr schwebte. Den zweitschönsten erlebte ich jetzt. Vielleicht gibt es ein paar Menschen, die mich verstehen würden. Und wenn nicht, ist es auch egal. Heiko verstand mich, Tante Helene verstand mich, und Douglas und Allana taten es auch! Ich mußte zuletzt das Tierchen weitergeben. Tante Helene wartete mit ausgestreckten Armen. Dann zog Heiko seinen verletzten Arm aus dem Dreiecktuch und nahm das Tierchen entgegen. Der blütenweiße Verband wurde dreckig, und es tat bestimmt dem Arm nicht gut, ein zehn Pfund schweres Tier zu halten. Aber in diesem Augenblick schimpfte ich nicht.
Einen schöneren Schlußakkord der Reise hätten wir nicht erleben können. Dann kam der Augenblick, wo wir uns im Flughafen von Tante Helene und den beiden Littles verabschiedeten. „Ich danke dir, daß du mitgekommen bist, Kind“, sagte Tante Helene und streichelte meine Wange. „Nun seid vorsichtig, paß gut auf meinen Nachfolger auf, Sonja! – Viel Spaß in Hawaii!“ „Tante Helene…“, sagte ich, „ich weiß nicht, womit ich anfangen soll. Ich kann nur danke sagen und nochmals und tausendmal und millionenmal danke. Und was ich weiter zu sagen habe, darf ich das in fünf Tagen sagen? In deinem Eckzimmer beim Tee, mit Rafiki und Sita und Saba?“ „Das darfst du, mein Kind! Ich freue mich darauf!“ „Und wir erst“, sagten Heiko und ich. „Passengers to Nandi and Honolulu, please to gate four…“ Wir drehten uns um und winkten so lange, wie wir Tante Helene sehen konnten.
Eine weiße Taube Es war Nacht. Die Stewardessen hatten unsere Eßtabletts weggeräumt und leichte Decken verteilt. Das Licht wurde ausgemacht. Die meisten Passagiere lehnten sich zurück und versuchten zu schlafen. Nur hier und da brannte eine Leselampe. Ein paar der Fluggäste hatten sich Kopfhörer geben lassen und wollten sich wohl von Musik in den Schlaf wiegen lassen. Ja, das war auch eine feine Sache: Die Anschlußbuchse und der Kanalwähler befanden sich in der Armlehne, und wir konnten zwischen sechs Programmen wählen. Die Wiedergabe war die beste, die ich jemals gehört habe. Eine Stereowirkung, daß man glaubte, im Konzertsaal zu sitzen! Heiko und ich schliefen nicht. Wir saßen im Dunkeln, von all den Ereignissen der letzten Tage erfüllt – und von den atemberaubenden Zukunftsplänen. Erst allmählich wurde es uns so richtig klar, was Tante Helenes Vorschlag für uns bedeutete. Wir durften unser Leben der Aufgabe widmen, für die wir am aller-, allerliebsten arbeiten wollten: für die Erhaltung der Natur. Wir würden immer unser festes Einkommen haben, außerdem eine freie Wohnung. Wir würden in einem fremden Land wohnen, aber was war die Entfernung England – Norwegen oder England – Deutschland in dem Zeitalter der Düsenflugzeuge? Wir würden unsere Familien oft besuchen können, wir würden sie zu uns einladen können. Wir konnten Hunde und Katzen halten, – Haustiere waren für uns beide, vielleicht besonders für Heiko – beinahe eine Lebensbedingung. Und – wir konnten Kinder haben. Kinder, die in schönen, harmonischen Umgebungen aufwachsen würden. War es vielleicht ein Wunder, daß wir in dieser Nacht kaum schlafen konnten? Daß wir still und glücklich dasaßen und uns leise flüsternd unterhielten? In Nandi, auf einer der Fidschiinseln, hatten wir eine Zwischenlandung. Mr. Nicol kam, etwas schlaftrunken und zerzaust, zu uns. „Mrs. Brunner, Sie haben wohl nicht zufällig heute Geburtstag?“ „Geburtstag? Nein, warum sollte ich heute Geburtstag haben?“ „Sie auch nicht?“ fragte er Heiko, der lachend mit dem Kopf
schüttelte. „Ich auch nicht. Wie schade! Dann hätte ich zwei Tage aufeinander feiern können! Zweimal Geschenke und zwei Geburtstagstorten!“ Da fiel bei mir der Groschen. „Ach so! Weil wir gleich die Datumsgrenze überfliegen werden!“ „Erraten! Das nächste Mal muß ich unbedingt die Reise so planen, daß ich zweimal Geburtstag habe!“ Daraufhin mußte ich ihm ja von Senta und mir erzählen, die mit einem Altersunterschied von fünfzehn Minuten auf die Welt kam – aber fünfzehn Minuten, innerhalb deren das alte Jahr zu Ende war und das neue anfing. „Ja, sehen Sie“, philosophierte Herr Nicol, „wenn Sie in einem Flugzeug hier, kurz vor der Datumsgrenze geboren worden wären, kurz vor Mitternacht, und Ihre Schwester eine Viertelstunde später, auf der anderen Seite, dann hätten Sie beide am 31. Dezember Geburtstag gehabt!“ „Und wir wären um einen Festtag betrogen worden“, meinte ich. „Sag mal“, schmunzelte Heiko, „diese Überlegungen könnte man wohl als höheren Blödsinn charakterisieren?“ „Sie können doch nichts Besseres von einem armen Mann verlangen, der mitten in der Nacht aufgeweckt und raus in die böse Welt gehetzt wird“, verteidigte sich Mr. Nicol. „Was für Währung werden sie wohl hier haben? Ob ich mir nicht ein Glas Bier einverleiben sollte, zwecks baldigen Wiedereinschlafens?“ Er schritt gähnend zur Bar, und wir machten eine Runde und sahen uns die zollfreien Waren an, die in den meisten Flughäfen zu haben sind. Nur stellten wir fest, daß sie etwas teurer waren als in den Geschäften in Australien! Vor einer Vitrine mit Jadeschmuck stand Ehepaar Stone. Sie war blaß und schmal und sah direkt elend aus. „Geht es Ihnen nicht gut, Mrs. Stone?“ fragte ich. „Sie sind so blaß!“ Sie murmelte etwas. Aber ihr Mann antwortete: „Olivia hat solche Kopfschmerzen, und zwar seit ein paar Tagen, die Ärmste. Sie schläft so schlecht!“ Ich bot ihr eine Tablette an. Mein vorsorglicher Vater hatte mir ein leichtes, ganz ungefährliches Einschlafmittel geschickt, für den Fall, daß der ständig wechselnde Tagesrhythmus mir zu schaffen machen würde. Ich hatte es nicht gebraucht, die Packung war noch
zu. Sie lehnte es ab, aber Mr. Stone nahm es doch dankbar an. „Was ist wohl mit ihr los?“ wunderte ich mich, als wir weitergingen. „Sie war wirklich aufgetaut, sie war direkt reizend zu mir, damals, als wir in aller Eile von Ayers Rock losfliegen mußten – und jetzt! Es wird vielleicht mit dem Brief zusammenhängen, den sie in Alice Springs bekam!“ Wir wurden aufgerufen, und der Flug ging weiter. Ich weiß selbst nicht, wie ich mir Hawaii vorgestellt hatte. Der erste Eindruck war eine ewiglange Schlange vor der Zollabfertigung und eine sehr genaue Untersuchung des Gepäcks. „Ja, wir sind jetzt in den USA“, sagte Heiko. „Da sind sie eben vorsichtig. Vielleicht sehen wir aus wie Atomspione oder Flugzeugentführer!“ „Oder du hast einen Colt in deinem Arm verband versteckt“, schlug ich vor. Der nächste Eindruck war aber netter. Als wir aus dem Flughafengebäude rauskamen und in die wartenden Busse steigen wollten, standen vier, fünf hübsche, braunhäutige Mädchen da und empfingen uns mit einem Küßchen und legten uns einen Blumenkranz um den Hals. Reizende, rosa Blüten, ganz echt, noch taufrisch! Es gab ein eifriges Knipsen, alle wollten sich selbst und die Mitreisenden in dieser Situation verewigt haben. Mr. Nicol, der jetzt anscheinend wach war, lief zurück und stellte sich noch einmal in die Schlange, um ein zweites Küßchen zu kriegen! Es gab viel Gelächter, und die etwas müde Stimmung wurde gleich erheblich besser. Da blieb ich plötzlich stehen, ich glaube sogar mit offenem Mund. Olivia Stone ging zu einem großen Abfallbehälter – ja, es stand mit deutlichen Buchstaben „Litter“ darauf. Sie nahm ihren Kranz ab, hielt ihn mit den Fingerspitzen über der Abfalltonne und ließ ihn reinfallen. Warum, warum in aller Welt machte sie das? Es war doch so nett und lustig mit diesen Blumenkränzen, so schön, daß man im Zeitalter der Düsenflugzeuge und des Touristenverkehrs und der Autos und Hochhäuser doch diese alte Tradition beibehalten hatte! Uns anderen machte es Spaß, wir wanderten stolz mit unseren schönen Kränzen durch die Gegend. Natürlich, es war eben ein bißchen Fremdenverkehrswerbung, etwas
kommerzialisiert – aber deswegen den Kranz, sogar direkt vor den Augen der netten braunen Mädchen, in den Abfalleimer zu werfen… Ich konnte es mir nicht erklären, aber gerade diese Geste von Olivia Stone fand ich am schlimmsten. Was in aller Welt war mit dieser Frau los? Und dies sollte Honolulu sein! Die wehenden Palmen, die man in Gedanken immer mit Honolulu verbindet, waren allerdings da. Ebenso die langen Badestrände und das weite, blaue Meer. Aber alles war umgrenzt von modernen Hochhäusern, die ganze Hauptstraße bestand beinahe nur aus Hotels mit zwanzig Stockwerken. Und dazwischen Andenkenläden mit fabrikblanken Massenartikeln. Rollende Autos, viele Verkehrsampeln – war dies Hawaii, war dies das poetische Land von Abrahams Operette und von Büchern und Erzählungen? „Was machen wir nun?“ fragte Heiko, als wir in unserem Zimmer im achtzehnten Stock eines Hotels die notwendigsten Sachen ausgepackt und uns umgezogen hatten. „Bist du müde? Möchtest du dich hinlegen?“ „Noch nicht. Lieber nach dem Lunch. Und du?“ „Nein, ich bin nicht schläfrig. Das kommt bestimmt später. Wollen wir einen Spaziergang machen und sehen, ob wir ein Stückchen Honolulu ohne Hochhäuser und Autos erspähen können?“ Ich hängte den Fotoapparat über die Schulter, gab Heiko ein frisches Pflaster auf die Stirn, und dann zogen wir los. Geschäfte, Geschäfte überall. Geschäfte mit Korallenschmuck – rosa Korallen sind hier anscheinend eine Spezialität. Es waren auch recht nette Sachen dabei. Geschäfte mit bunten Hemden, mit Sandalen, Sonnenschirmen, Luftanzügen, Baströckchen, Muschelketten, und die unvermeidlichen geschnitzten Holzsachen, aus denen man mit Hilfe der aufgemalten Worte „Aloha Hawaii“ „typische“ Hawaiiandenken gezaubert hatte. Wir wanderten von dem Stadtzentrum weg, bogen in eine breite, ruhige Straße ein. Hier war es schön, keine Hotels, wenig Verkehr. „Da geradeaus ist wohl ein Park, Heiko!“ sagte ich. „Dort, wo die weißen Tauben fliegen!“ Das stimmte. Es war ein Park. Und erst als wir vor dem Eingang standen, sahen wir das Schild mit dem Wort „ZOO“. Da mußte ich lachen. „Wir vermeiden es anscheinend nicht, auch hier in einem Zoo zu landen! Sage es bloß nicht der Gruppe, die Leute werden denken,
daß wir verrückt sind!“ „Sie können denken, was sie wollen, mich stört es nicht“, sagte Heiko und schob das metallene Torkreuz eine Stufe weiter. Hier konnte man also ganz einfach reingehen, kein Mensch verlangte Eintrittsgeld! Als Zoo war der Park nicht besonders interessant. Nun ja, die wenigen Gehege waren groß und schön und die Tiere gut gepflegt. Das einzige, was für uns neu war, sahen wir in einer sehr großen Umzäunung. Zusammen mit ein paar Lamas wanderte da ein braunes, mir unbekanntes Tier bedächtig durch die Gegend. „Was in aller Welt…“, fragte ich. „Es ähnelt einem Gnu, aber…“ „Die Ähnlichkeit liegt daran, daß es ein Gnu ist!“ schmunzelte Heiko. „Und zwar ein Weißschwanzgnu. Sie leben nur in einem einzigen Gebiet in Südafrika. Dieser Kerl hier hat eine weite Reise hinter sich.“ Das Tier war braun, nicht grau wie unsere afrikanischen Gnus, und hatte auf dem Rücken eine steife Mähne. Komisch, wir wohnten in Afrika und mußten ausgerechnet nach Honolulu, um dieses afrikanische Tier zu sehen! Wir gingen weiter, blieben aber stehen. Auf einem offenen Platz lief ein allerliebstes kleines japanisches Mädchen, es konnte so um die vier Jahre alt sein. Es streute Erbsen aus einer Tüte und jubelte, wenn unzählige bildschöne, schneeweiße Tauben angeflattert kamen und die Erbsen aufpickten. Ja, was waren doch hier für Tauben! Ich hatte niemals solche Mengen auf einmal gesehen! Viele wohlwollende Blicke folgten dem entzückenden Kind, viele Fotoapparate waren auf es gerichtet. Ich stutzte – traute meinen eigenen Augen nicht. Unter den Fotografen entdeckte ich eine schmale, weißgekleidete Gestalt, einen schönen Kopf mit glatten, schwarzen Haaren. „Heiko! Nun schlägt’s aber dreizehn! Da steht Olivia Stone und macht Bilder von einem Kind – und von Tauben!“ Ich hatte Heiko von Mrs. Stones Abneigung gegen Tiere und Kinder erzählt. Jetzt standen wir beide da und starrten sie fassungslos an. Sie entdeckte uns nicht. Sie steckte ihren Apparat ein und ging langsam weiter. Anscheinend war sie allein hier, ich konnte ihren Mann nicht entdecken. Etwas später sahen wir sie wieder. Sie hatte sich eine Tüte
Taubenfutter besorgt. Jetzt saß sie in der Hocke, hatte Futter auf die Hand gestreut und versuchte, eine Taube dazu zu bringen, sich darauf zu setzen. Jetzt entdeckte sie uns. Sie stand auf und grüßte kurz. „Na, können Sie auch nicht schlafen? Und wo haben Sie ihren Mann gelassen?“ fragte Heiko. „Mein Mann schläft. Ich konnte nicht. Ich ging hierher, weil ich weg von dem Lärm wollte. Ich sah all die Tauben…“ dann schwieg sie. „Ja, sie sind schön“, sagte ich. „Sie mögen auch Tauben?“ „Ja“ – mehr antwortete sie nicht. Dann geschah etwas. Ein Stück weg von uns stand ein Junge von etwa zehn, zwölf Jahren. Er hatte einen großen Beutel Futter im Arm, und um ihn ließen sich unzählige von den wunderbaren Vögeln das Fressen schmecken. Und dann, ganz plötzlich, warf sich der Junge flach hin, auf die Tauben, bekam blitzschnell eine zu fassen, und ehe wir etwas tun konnten, um ihn daran zu hindern, hatte er dem hübschen Vogel den Hals umgedreht und das tote Tier in den Beutel gesteckt. Da ertönte ein Schrei neben mir. Olivia Stone war hochgesprungen. In langen Sprüngen lief sie dem Jungen nach, holte ihn ein, faßte ihn um den Nacken – und dann prügelte sie auf ihn ein, sie schlug und schlug. Der Junge brüllte wie am Spieß. Das dünne kleine Baumwollhöschen, sein einziges Kleidungsstück, bot wenig Schutz gegen die harte, kräftige Hand, die unbarmherzig zuschlug. Was mußte die Frau doch für Muskeln haben, daß sie den Jungen festhalten und ihn so erbarmungslos verprügeln konnte! Einige Meter weg standen noch fünf, sechs Jungen, auch mit den verdächtig großen Futterbeuteln. Heiko und ich waren zu Olivia hingerannt und erreichten sie in dem Augenblick, wo sie, ganz erschöpft, den Jungen losließ. Laut heulend verschwand er, die Hände ans Hinterteil gedrückt. Olivia stand da, zitternd am ganzen Körper. Die Tränen strömten über ihre Wangen, sie weinte, weinte, wie ich nie einen Menschen habe weinen sehen! Ich legte den Arm um ihre Schultern. „Kommen Sie, Olivia – kommen Sie, setzen Sie sich…“ Sie ließ sich zu einer Bank führen, sie setzte sich, und immer noch rollten die Tränen.
Heiko war zu den anderen Jungen mit den Beuteln getreten. „Und ihr“, sagte er mit einer nicht gerade sanften Stimme, „ihr macht, daß ihr wegkommt! Ein Zoo ist dazu da, die Tiere zu schützen und pflegen, ein Zoo ist kein Jagdgrund! Also los, und wenn ihr euch wieder sehen laßt, passiert euch genau dasselbe wie eurem Kameraden! Es sind sehr viele Besucher hier, die so etwas nicht dulden. Also los!“ Die Jungen lösten sich in Luft auf, sie waren weg, bevor wir bis drei zählen konnten. Heiko bückte sich und nahm den Beutel des verprügelten Sünders auf. Er enthielt reichlich Futter und vier tote Tauben. Heiko setzte sich zu uns. Er legte seinen gesunden Arm um Olivias Schultern. So blieben wir eine Weile sitzen, bis all die neugierigen Besucher weg waren. Zum Glück nahte die Lunchzeit, der Hunger trieb die meisten zu den Hotels und Kaffeeshops. Allmählich versiegten die Tränen. Heiko wischte behutsam Olivias verweinte Augen mit seinem eigenen Taschentuch ab. Dann sprach er leise und milde: „So, Olivia. Jetzt sollten Sie sich aussprechen. Das, was Sie mit sich herumtragen, werden Sie nicht dadurch los, daß Sie ein Kind verprügeln. Sie müssen sich erleichtern, und Sonja und ich werden Sie verstehen und alles für uns behalten.“ Ich nahm ihre Hand und drückte sie, und sie beantwortete den Händedruck mit ihren schlanken, muskulösen Fingern. „Es war die weiße Taube“, flüsterte sie. „Ich hatte einmal eine weiße Taube…“ Dann schwieg sie, ihre verweinten Augen starrten geradeaus, starrten ins Nichts. Dann fing sie plötzlich an zu sprechen. Sie sprach hastig, oft unzusammenhängend, sie sprach leidenschaftlich, hin und wieder zitterte ihre Stimme, und sie ballte die Hände und biß auf die Lippe. Es war eine Tragödie, die sie uns erzählte. Die Tragödie eines Kindes. Sie hatte ihren Vater früh verloren, und bekam mit zehn Jahren einen Stiefvater. Anfangs ging es gut, er war ganz nett zu der Stieftochter, machte ihr Geschenke, ging gern mit ihr spazieren und war anscheinend stolz auf das hübsche Kind, das man gewöhnlich für seine Tochter hielt. Dann bekam sie eine kleine Schwester, und mit einem Schlag wurde alles ganz anders. Es hing vielleicht auch damit zusammen, daß sie selbst in das „Flegelalter“ kam. Aus dem hübschen Kind
wurde ein mageres, hochgeschossenes Mädchen mit schlechter Haltung und häßlichen Hautpickeln. Der Stiefvater liebte die Kleine, seine eigene Tochter, beinahe abgöttisch. Sie wurde verhätschelt, verzogen, maßlos verwöhnt. Die kleine Patricia machte die Bücher der großen Schwester kaputt, riß ihre kleinen Bastelarbeiten auseinander. Ihre Steinsammlung, sorgfältig geordnet und katalogisiert, wurde in einem unbewachten Augenblick von der Kleinen durcheinandergebracht, die schönsten Steine verschwanden, mit den übrigen spielte Patricia, bis sie es satt hatte und die Kostbarkeiten irgendwo liegen ließ. Als der Stiefvater auf so einen Stein trat, schmiß er diesen und die anderen, die rumlagen, ganz einfach weg. Olivia wurde einsam. Die Mutter durfte sie nicht streicheln, durfte sich nicht in einer netten Weise mit ihr unterhalten, wenn der Stiefvater in der Nähe war. Dann hieß es immer, sie untergrabe seine Autorität, sie verwöhne die Tochter, sie vergesse, daß sie auch ein kleines Töchterchen habe! Der Stiefvater war sehr stolz auf seinen Garten. Als Olivia einmal – ein einziges Mal – eine Rose abgebrochen hatte, bekam sie eine schallende Ohrfeige. Die kleine Patricia konnte alles abrupfen, was sie wollte, konnte die Blumen überall verstreuen. Das sei nur reizend und niedlich und brachte ihr den Kosenamen „mein kleines Blumenmädchen“ ein. So blieb Olivia in ihrem Zimmer, sie las, sie machte Schularbeiten, sie bastelte dies und jenes – und war einsam. „Dann…“, erzählte sie mit heiserer Stimme, „dann kam eines Tages die weiße Taube. Sie saß plötzlich vor meinem Fenster. Ich machte das Fenster auf und streute ihr Krümel hin. Sie kam jeden Tag und wurde immer zahmer. Zuletzt kam sie rein ins Zimmer. Sie saß auf meinem Tisch, während ich arbeitete, manchmal saß sie auf meiner Schulter und zupfte an meinem Ohrläppchen.“ Olivia machte eine Pause. Als sie weitersprach, war ihre Stimme so angestrengt und so leise, daß es schwer war, jedes Wort zu verstehen. Eines Tages war Patricia in ihr Zimmer gekommen, hatte die Taube gesehen und war mit einem Freudenschrei auf sie losgestürzt. Olivia hatte sie schnell am Arm gepackt, hatte ihr zugerufen: „Das ist meine Taube!“ Sie hatte wohl etwas hart zugepackt, denn das Kind schrie, und der Vater erschien. Was hier vor sich gehe, was mache Olivia bloß mit dem Schwesterchen?
„Dummer Vogel, häßlicher, böser Vogel!“ rief die Kleine. Da ergriff der Vater die Taube, drehte ihr den Hals um und sagte: „So! Tauben haben nichts in der Wohnung zu tun, wer hat dir überhaupt erlaubt, ein Tier zu halten?“ Olivia hatte nicht geschrien, nicht geweint. Sie stand steif da, steif und eiskalt, und es war ihr, als ob der Haß selbst ihr die Kräfte gab, ruhig zu bleiben. Von dem Augenblick an kämpfte sie gegen ihre eigenen Gefühle, kämpfte gegen jeden Anflug von Sentimentalität. Sie wollte hart sein und hart bleiben. Man müsse hart sein, um sich gegen Bosheit und Ungerechtigkeit wehren zu können. Nichts durfte sie mehr verletzen, nie mehr würde sie schwach werden. Der Stiefvater könne machen, was er wolle, es würde sie nie mehr stören! Die Ehe der Mutter mit diesem Mann wurde unglücklich. Sie litt unsagbar unter seiner Ungerechtigkeit und unter der Brutalität der Stieftochter gegenüber. Als Olivia siebzehn war, verlor sie ihre Mutter. Zum Begräbnis kam ein Freund ihres verstorbenen Vaters. Er hatte die kleine Olivia gekannt, als sie ein glückliches, süßes Kleinkind war. Daß sie jetzt blaß und todernst war, schrieb er auf die Rechnung der Trauer. Er fühlte sich angetan von dem schönen, edlen Gesicht, das soviel Ähnlichkeit mit dem seines verstorbenen Freundes hatte. Das „Pickelalter“ war überwunden, aus dem häßlichen Entlein war ein sehr hübscher Teenager geworden. Olivia kam in ein College, bestand ihr Examen mit Auszeichnung und wollte Geologie studieren. Dann traf sie wieder den netten Freund des Vaters. Beeindruckt von ihrer Schönheit, ihrer Intelligenz und voll Mitleid mit der einsamen jungen Frau heiratete er sie. Ihr Studium machte sie dann als junge verheiratete Frau. Den Stiefvater und die Halbschwester hatte sie nicht wieder gesehen, seit sie mit siebzehn Jahren das Haus verließ. „Mein Mann ist sehr gut zu mir“, sagte sie leise. „Er hat Geduld mit mir. Er weiß, wie meine Kindheit gewesen ist, und irgendwie – ja irgendwie ist er wie ein Vater für mich. Ehemann und Vater, ist das nicht ulkig?“ Ein kleines, schiefes, mattes Lächeln zeigte sich auf dem verweinten Gesicht. „Das ist durchaus nicht ulkig“, sagte Heiko ruhig. „Ich nehme an, daß gerade das Väterliche bei ihm Sie damals dazu brachte, ihn zu heiraten. Ihr Mann ist ja viel älter als Sie!“
„Ja. Zwanzig Jahre. Ja, vielleicht haben Sie recht. Vielleicht habe ich mich am allermeisten nach einem guten Vater gesehnt.“ Jetzt sah sie mich an, und ihre Stimme war fester und klarer, als sie weitersprach: „Ich meinte, ich sei unverwundbar. Seit dem Augenblick, als mein Stiefvater die weiße Taube tötete, hat nichts, gar nichts bei mir eine Träne hervorlocken können. Dann traf ich Sie, Sonja. Und Lady Robinson. Sie waren beide so – ja, so unbefangen nett und lieb. Und Sie erzählten so fröhlich von Ihrem Elternhaus und von Ihren Geschwistern. Und damals, an Ayers Rock, waren Sie so bodenlos verzweifelt, als Sie um Heikos Leben bangten. Das alles brachte meine mühsam erworbene Kälte und Härte ins Wackeln. Sie strahlten wohl die Sonne aus, der mein Eispanzer nicht standhalten konnte. Ich hatte eine Ahnung, daß der Mensch, der es gelernt hat, nie zu weinen, einen blutigen Preis dafür bezahlt. Er hat nämlich auch das Lachen verlernt. Wenn man die Sorgen des Lebens nicht hinnehmen will, bleiben einem auch die Freuden versagt. Mit anderen Worten, es schlich sich eine Unsicherheit in mein Leben. Und mit der Unsicherheit kamen tausend Fragen…“ „Sie hatten sich auch geändert“, sagte ich. „Sie waren viel netter geworden. Aber als wir uns in Adelaide wiedertrafen, waren Sie ganz anders, als ob Ihr Eispanzer wieder zugefroren wäre.“ „Ich hatte einen Brief bekommen“, sagte Olivia, und ihre Stimme war gequält und undeutlich. „Von Patricia. Mein Stiefvater ist tot. Patricia – sie ist jetzt fünfzehn – fragt, ob sie zu mir kommen darf.“ „Und – darf sie das?“ fragte ich. Ich empfand es selbst nicht als indiskret, so zu fragen. Wir waren jetzt soweit gekommen, daß eigentlich nichts als Indiskretion betrachtet werden konnte. „Ich weiß es nicht“, sagte Olivia. Sie starrte vor sich hin. Vor der Bank lagen noch ein paar weiße Taubenfedern. „Wie habe ich das Kind gehaßt – wie habe ich es gehaßt“, flüsterte sie. Dann stand sie jäh auf. „Ich vergesse ja die Zeit. Mein Mann weiß nicht, wo ich bin.“ Wir wanderten zusammen zurück zum Hotel. Sie wohnte in derselben Etage wie wir. „Kommen Sie einen Augenblick mit rein zu uns“, schlug Heiko vor. „Sie können sich bei uns ein bißchen zurechtmachen, Ihre Augen baden und so…“ Ich ging mit ihr ins Bad, gab ihr Handtuch und Waschlappen und was sie sonst brauchte.
Als sie die schlimmsten Spuren der Tränen und der Aufregung weggekriegt hatte, blieb sie einen Augenblick stehen. Sie ergriff meine Hände. „Danke, Sonja. Ich danke Ihnen – und Heiko.“ „Sie haben gar nichts zu danken, Olivia. Wissen Sie, ich bin froh, daß – ja, daß es so kam. Es mußte raus, nicht wahr?“ „Doch“, sagte sie leise. „Ich habe mich so viele Jahre beherrscht. Ich hätte es weiter getan, wenn das mit der Taube nicht geschehen wäre.“ „Dann ist das arme Tier nicht vergeblich gestorben“, sagte ich. Olivia umarmte mich schnell. Dann drückte sie Heikos Hand und ging rüber zu ihrem Mann. Heiko und ich aßen einen einfachen Lunch in einem Kaffeeshop, wo wir kaum riskieren würden, jemand aus der Gruppe zu treffen. „Tante Helene hatte recht“, sagte ich. „Olivia ist kein Biest. Sie ist nur ein unglücklicher Mensch.“ „Hoffentlich kannst du ,war’ und nicht ,ist’ sagen“, meinte Heiko. „Weißt du, jetzt ist mir alles klar, alles, was du über sie erzählt hast! Sie hat doch gesagt, daß sie keinen Konnex zu Tieren hat? Siehst du, diese Einstellung hat sie sich selbst aufgezwungen, weil sie sich gegen solche furchtbaren Erlebnisse wie das mit der Taube wehren wollte.“ „Und das mit den Kindern – daß sie Kinder nicht ausstehen könne – das war nicht gegen alle Kinder gerichtet, nur gegen eins – gegen Patricia.“ „Und der Junge, den sie so erbarmungslos verprügelte – es war der Stiefvater, den sie schlug, es war der Haß gegen ihn, der sie erfüllte…“ „Beides“, meinte ich. „Sie schlug auch den Jungen – sie schlug beide, sie gab all die Schläge, die sie seit Jahren nicht gegeben hat – alles, was sich an Wut und Haß und Bitterkeit in ihr gespeichert hatte, setzte sich in Schläge um, und der arme Popo des Jungen mußte dran glauben.“ „Na, er verdiente es auch“, sagte Heiko. „Weiß der Himmel, ob ich es nicht selbst getan hätte, wenn ich zwei Arme gehabt hätte! – So, darf ich nun die gnädige Frau bitten, mir das Essen aufzuschneiden, oder soll ich es vom Knochen knabbern?“ Ich lachte, schnitt das Kotelett klein und legte Gemüse und Kartoffeln dazu. „Es ist so schön, wenn du abhängig von mir bist, Heiko! Ich
genieße es direkt!“ „Als ob ich nicht immer von dir abhängig wäre, du Teufelsmädchen“, sprach mein Angetrauter und ging zum Angriff aufs Essen. Nachdem wir eine Stunde Nachmittagsruhe gehalten hatten, gingen wir an den Strand. Dort sahen wir Ehepaar Stone. Sie saßen nebeneinander auf einem ausgebreiteten Badetuch. „Wollen wir schwimmen, Sonja?“ rief Olivia. „Heiko darf nicht, das weiß ich, und Alec hat keine Lust…“ „Fein, dann können die sich unterhalten!“ sagte ich. „Klar, daß ich schwimmen will, ich habe schon den Badeanzug an!“ Ich ließ mein durchgeknöpftes Kleid fallen, dann sprangen wir in die blauen, lauwarmen Wellen. „Nur zu der Markierung!“ rief Heiko. „Mr. Stone und ich wollen nicht als Witwer weiterfahren! Denk an die Haie!“ Olivia war eine glänzende Schwimmerin. Ich hatte meine liebe Not, mit ihr mitzukommen, und war ganz außer Puste, als wir das Riff erreichten, welches eine natürliche Grenze zwischen uns und den Haien bildete. „Sonja, würde es Sie interessieren zu wissen, wozu ich mich jetzt entschlossen habe?“ fragte Olivia, als wir da draußen eine Verschnaufpause machten. „Und wie!“ „Alec hat mir etwas klargemacht. Es ist ja nicht Patricias Schuld, daß sie so maßlos verwöhnt ist. Da hat er ja recht. Und ich habe das Kind seit neun Jahren nicht gesehen. Alec ist bereit, sie bei uns aufzunehmen. Ich werde ihr schreiben und sie vorerst für einen Monat einladen. Vielleicht ist sie jetzt ganz anders, als ich es mir vorstelle. Vielleicht ist sie im Grund ein nettes Mädchen. Und sie ist meine Schwester. Wir hatten dieselbe Mutter. Wenn es gut geht, kann sie bei uns bleiben. Wenn es nicht geht, müssen wir irgendwie dafür sorgen, daß sie in eine gute Internatsschule kommt und nur die Ferien bei uns verbringt. Jedenfalls wollen wir alles tun, damit es reibungslos geht. Wir wollen unseren ganzen guten Willen mobilisieren.“ „Und den haben Sie jetzt, Olivia?“ „Ja. Jetzt habe ich ihn. Seit heute vormittag habe ich ihn.“ Sie richtete sich auf, stand parat, um wieder ins Wasser zu springen. Dann drehte sie den Kopf zu mir rum: „Ich glaube, ich habe mein bisheriges Leben heute mit all den Tränen weggewischt, ausradiert.
Ich werde jetzt versuchen, neu anzufangen!“ Dann streckte sie die Arme aus und machte einen Kopfsprung in das blaue Wasser des Pazifiks.
Bitte anschnallen! Wir mußten vor Sonnenaufgang aufstehen. Heute, am letzten Tag, hatten wir was ganz Besonderes vor. Wir wollten einen Tagesausflug – „Flug“ ist buchstäblich aufzufassen – rüber auf die Hauptinsel der Hawaii-Gruppe machen. Da erwartete uns erstens eine Orchideengärtnerei, und dann etwas, was für Olivia besonders interessant sein würde: das große Vulkangebiet, mit Lava, rauchenden Kratern und schwefeldampfenden Quellen. Um halb sechs saßen wir an einer Theke im Flughafenrestaurant bei einem schnellen Frühstück, um sechs flogen wir los. Das grünliche Wasser da unten war kristallklar, wir konnten den unterseeischen Teil der vielen Inseln sehen. Ganz klar und deutlich war zu erkennen, daß jede Insel ein Berg war, von dem nur der kleine obere Teil aus dem Wasser ragte. Die Sonne strahlte, und die allgemeine Stimmung war ausgezeichnet. Wie immer, warteten die Kleinbusse auf uns und brachten uns zuerst zu den Orchideen. Das war auch ein Erlebnis! Ich ahnte nicht, daß es so viele prachtvolle Orchideenarten gibt! Sie wuchsen aus Baumstämmen raus, gediehen in einer schwülen, feuchten Hitze, entfalteten ihre sagenhafte Pracht im warmen Schatten. Von goldgelb bis tieflila, von zartrosa bis dunkelrot. Da waren lange Rispen, an denen die Blüten dicht an dicht hingen. Solche hatte ich in Deutschland gesehen, jede Blüte kostete damals fünf Mark – eine ganze Rispe bis sechzig Mark! Es war ein Vermögen, das uns hier umgab. Olivia stand still und betrachtete ein besonders schönes Exemplar. Als sie mich an ihrer Seite entdeckte, lächelte sie. „Wissen Sie, ich stehe hier und versuche, mir selbst zu sagen, daß ich die Blumen eigentlich gar nicht hasse. Ich haßte nur die im Garten meines Stiefvaters. Ich haßte sie, weil sie mir eine Ohrfeige einbrachten. Bis gestern habe ich sie gehaßt…“ Deswegen hatte sie ihren Blumenkranz in die Abfalltonne geworfen. Deshalb hatte sie das höhnische Lächeln gehabt, als sie es tat. „Lassen Sie bloß nicht die Erinnerung an Ihren Stiefvater Ihre ganze Zukunft bestimmen“, sagte ich. „Genießen Sie doch alles was
schön ist, und genießen Sie, daß das schrecklichste Kapitel Ihres Lebens zu Ende ist!“ „Das ist es ja, was ich versuche“, sagte Olivia leise. Ihre Augen hatten Tiefe und Wärme gekriegt, und um Ihren Mund lag ein kleines, schüchternes Lächeln. Als wir in den großen, merkwürdigen Vulkanpark reinfuhren, hatte sie einen wachen, lebhaften, interessierten Ausdruck. Sie beantwortete willig alle Fragen, zeigte und erklärte. Ja, diese großen, weiten grauschwarzen Strecken bestanden aus der sogenannten Fladenlava, erklärte sie. Man könne sehr gut darauf laufen. Dann erzählte sie uns von der „Axtstelle“, wo das Gestein in der grauen Vorzeit Material für Äxte geliefert hatte. Sie zeigte uns die versteinerten Lavawellen rings um den großen Krater, wo vor wenigen Jahren ein Ausbruch gewesen sei. Ich gebe zu, daß ich wenig von Steinen, Bergen und Vulkanen verstehe. Ich gebe auch zu, daß ich nicht die alleraufmerksamste Zuhörerin war. Aber ich freute mich über Olivias eifrige, beinahe fröhliche Stimme, ich freute mich über den neuen Ausdruck im Gesicht ihres Mannes. Ja, wahrhaftig. Die weiße Taube war gestern nicht vergeblich gestorben. Mehr als die schwarze Vulkanlandschaft interessierte mich ein Stückchen echter, üppiger Urwald mit hängenden Lianen, großen, wuchernden Blattpflanzen, Bäumen und Büschen, die so dicht wuchsen, daß sie ein undurchdringliches Geflecht bildeten. Aber dann ertappte ich mich dabei, daß sich meine Gedanken weit weg von den heutigen Sehenswürdigkeiten bewegten. Ich war so erfüllt von dem Gedanken an unsere Zukunft, an die Tatsache, daß unser Leben jetzt seine bleibende Form bekommen hatte – ich dachte an Pflichten, Arbeit und Freuden, die wir vor uns hatten. Es gab ein schnelles Essen aus mitgebrachten Lunchpaketen. Erst am späten Nachmittag war unsere Expedition zu Ende. Wir hatten noch ein paar Stunden, die wir in einem großen schönen Hotel und in dessen Swimming-pool verbrachten. In der Nähe waren auch Geschäfte mit so vielen schönen Sachen, daß ich mein restliches Geld bis zum letzten Cent loswurde. Heiko machte sich für ein Weilchen selbständig. Den Grund erfuhr ich erst, als wir zurück in Honolulu waren und erschöpft von Vulkanen, Orchideen und Fliegen – von Kofferpacken nicht zu reden – in unsere Betten sanken.
Da wurde mir nämlich etwas in die Hand gesteckt. Heikos Stimme war die eines kleinen befangenen Buben, als er mir gestand: „Es sollte ja ein Weihnachtsgeschenk sein, Sonnie, aber warum so lange warten? Ich möchte es dir jetzt schenken…“ Es waren ein Paar Ohrringe, zwei fein geschnitzte rosa Korallen, – zwei zarte, kleine Röschen, eins für jedes Ohr. „O Heiko, Liebster, ich freue mich ganz schrecklich – wie sind sie doch reizend!“ Trotz Müdigkeit mußte ich aus dem Bett und vor den Spiegel. Ja, die kleinen, zarten Röschen waren hübsch zu meiner braungebrannten Haut. Ich mußte Heiko schnell einen Kuß geben. „Es sind aber zwei Ohrringe“, erinnerte er mich, und ich gab ihm einen zweiten Kuß. „Ich Schafskopf,“ sagte Heiko, „daß ich dir nicht lieber eine Korallenkette kaufte! Eine Kette aus fünfzig kleinen Korallen…“ „Wir können ja so tun, als hätte ich die bekommen“, flüsterte ich und küßte ihn wieder – und wieder – und wieder… Unsere Koffer waren zum letzten Mal gepackt worden. Wenn wir sie wieder aufmachten, würden wir in Europa sein. Um es ganz genau zu sagen, bei Tante Helene, in ihrem hübschen Fremdenzimmer. „Eigentlich ein merkwürdiger Gedanke“, philosophierte ich. „Morgen abend werden wir in England sein, ganz einfach, es fehlt uns nur eine lächerliche Kleinigkeit, eine Reise um den halben Erdball!“ „Ja, die gute alte Erde ist erheblich zusammengeschrumpft zu unseren Lebzeiten“, gab Heiko zu. Am frühen Vormittag starteten wir. Ich hatte schon eine Weile in der Abflughalle gestanden und zugesehen, wie unser großes Flugzeug mit Kisten und allerlei Behältern und großen Mengen Gepäck beladen wurde. Und dazu kam die vielköpfige Besatzung – und dann wir. Ich mußte immer wieder darüber staunen, wieviel so ein Flugzeug in die Luft heben konnte – kilometerhoch, zu einer Höhe, wo eine Temperatur von 60 Grad Kälte herrschte. Aber im Flugzeug war es schön warm, frisch und angenehm. Wir machten es uns bequem, paßten auf, daß wir die Sachen in Reichweite hatten, die wir unterwegs brauchen würden. Wir bereiteten uns auf einen sehr weiten Flug vor. Alles geschah so, wie wir es von vielen Flügen kannten. Die
netten Stewardessen zeigten uns, wie man die Rettungsweste anlegt und wie man die Sauerstoffmaske behandelt – im Falle eines Falles! Ich hörte nur mit einem halben Ohr – bis jetzt war bei meinen vielen Flügen kein „Fall“ eingetreten. Die Stimme des Piloten hieß uns willkommen an Bord und wünschte uns einen angenehmen Flug – und die vier Triebwerke zogen, jagten, preßten uns hoch, höher noch, bezwangen die Schwerkraft, brachten uns über die Wolken. Wir lösten die Gurte, streckten die Beine, zogen leichte Pantoffeln an. Es wurde gelesen, Reisetagebücher wurden aus Taschen geholt, es wurde gefragt, man half einander, die Erinnerungen richtig zu ordnen. Ich kramte meinen Schreibblock hervor. Es war an der Zeit, daß meine Eltern einen richtigen Brief bekamen. Bis jetzt hatten sie nur bunte Karten mit Koalas, Känguruhs und Leierschwänzen gekriegt und mit kurzen, begeisterten Grüßen. Jetzt hatte ich Zeit zum Schreiben! Morgen würde ich gleich nach der Ankunft den Brief in London einstecken. Ich schrieb und schrieb, ich hatte ja so überwältigend viel zu erzählen. „Wo in aller Welt bleibt bloß die Gulaschkanone?“ meckerte mein Angetrauter neben mir. „Ich habe einen Mordshunger!“ „Es ist doch erst halb zwölf,“ tröstete ich ihn. „Ich richte mich nach meinem Magen und nicht nach der Uhr“, grollte mein Auserkorener. Dann vertiefte er sich wieder in sein Buch, und ich schrieb weiter. Einmal merkte ich, daß Heiko eine plötzliche Bewegung machte. Er schaute durchs Fenster, dann stand er halb auf, setzte sich wieder. „Anschnallen, Sonnie!“ Ich sah auf. Ja, tatsächlich, die Buchstaben hatten aufgeleuchtet: „Fasten seat belt.“ „Was ist denn jetzt los?“ murmelte ich. „Na, da ist wohl ein Schlechtwettergebiet vor uns“, und ich schrieb weiter. Dann merkte ich aber eine leise Unruhe um mich. Es wurde gefragt, gesprochen, alle guckten hinaus. Zuletzt tat ich es auch und wurde stutzig. „Heiko – die Sonne kommt ja von der verkehrten Seite! Wir fliegen ja zurück!“ „Es scheint so“, sagte Heiko. Seine Stimme war sehr ruhig. So ruhig, daß ich wußte, daß etwas nicht stimmte. Ich kenne Heikos
unheimliche Ruhe, wenn eine Gefahr droht. Da erschien ein Purser mit – nein, nicht mit unserem Lunch, sondern mit einem großen Tablett voll gefüllter Sektgläser. Nanu? Sekt als Aperitif – seit wann gab es so was in der Touristenklasse? Jetzt wurde es mir mulmig. Ich ließ den Sekt stehen. Und die ganze Zeit leuchteten die Buchstaben, wir sollten angeschnallt bleiben… Endlich, endlich kam die Stimme im Lautsprecher: „Ladies and Gentlemen, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten! Wie Sie bemerkt haben, fliegen wir zurück. Der Grund ist, daß wir Schwierigkeiten mit der Benzinzufuhr haben. Ein Triebwerk ist ausgefallen, aber es besteht kein Grund zur Angst. Drei Triebwerke genügen vollkommen, um uns zurück nach Honolulu zu bringen. Der Flughafen dort ist benachrichtigt worden, und das Flugzeug wird gleich nach dem Landen repariert. Wir bedauern sehr diese Verspätung und bitten um Ihr Verständnis. Wir werden jetzt Lunch servieren und entschuldigen uns, daß Sie darauf haben warten müssen.“ Klick im Lautsprecher. Die Durchsage war zu Ende. Es war still um uns. Die Stewardessen rollten die „Gulaschkanone“ durch den Gang, verteilten mit gewohntem freundlichem Lächeln die Tabletts. „Heiko“, sagte ich leise. „Wenn nun die anderen Triebwerke auch kein Benzin bekommen?“ „Warum sollten sie das nicht?“ sagte Heiko beruhigend. „Du hörst doch, wie regelmäßig sie arbeiten.“ „Wenn aber noch ein Triebwerk ausfällt?“ „Wenn es auf der anderen Seite passieren sollte, nehme ich an, daß wir es auch mit zwei schaffen würden. Jedenfalls würde es für eine Notlandung reichen.“ Ich stocherte im Essen rum. Ich guckte raus. Es war ein strahlend schöner Tag. Unter uns kleine weiße Wölkchen, dazwischen konnten wir das blaue Meer sehen. Ich dachte an den Schutz gegen die Haie, den Schutz an allen Badestränden. Ja, es waren Haie im Pazifik, das wußte ich. Vielleicht hatte man von Honolulu aus schon Hubschrauber losgeschickt, die auf uns aufpassen sollten. Die uns auffischen konnten, falls wir aufs Wasser runtergehen müßten. Oder vielleicht auch nicht. Woher sollten sie so schnell so viele
Hubschrauber hernehmen? Ich steckte meine Hand in Heikos. Er sah mich an, lächelte sein liebevolles, gutes Lächeln. „Es ist doch gut, daß wir zusammen sind, Impala?“ Impala – mein alter Kosename – der Name, den Heiko mir gegeben hatte an dem Tag, als wir uns kennenlernten… „Ja, Heiko. Es ist gut.“ Wie war es doch still! Niemand schrie auf. Niemand verlor die Nerven. Alle saßen ruhig – so unglaublich ruhig. „Weißt du noch, Impala, wie wir damals in Nairobi den Sonnenaufgang sahen? An unserem ersten Morgen in Afrika, vor fünf Jahren?“ „Ja, Heiko. Weißt du, daß ich dich schon damals liebte?“ „Und ich dich. Sonnie, wie sind die fünf Jahre doch wunderbargewesen!“ Ich drückte seine Hand. Ja. Das Leben war ein schönes Märchen gewesen, seit ich Heiko kennenlernte. Und wenn jetzt das Flugzeug versagte, wenn wir runtergehen müßten – oder – oder, wenn wir abstürzten? Meinte der liebe Gott, daß wir genug Glück bekommen hatten? Genug für ein ganzes Leben? Ja, aber all die anderen? Olivia, die gerade ihr Leben neu anfangen wollte. Die kleine Patricia, sollte sie ihre Schwester verlieren, nachdem beide Eltern gestorben waren? Der junge Mr. Nicol, er war erst dreißig, sollte sein Leben ein jähes Ende haben? Vati und Beatemutti – meine Geschwister – und Tante Helene – Heikos Eltern – . Nein, es durfte nicht geschehen, sie durften uns nicht verlieren! Tante Helene, die alles auf Heiko gesetzt hatte, die ihre Seelenruhe gefunden hatte, weil Heiko ihr Nachfolger werden sollte! „Heiko“, flüsterte ich. „Ja, mein Schatz?“ „Heiko, ich habe Angst.“ Er legte den Arm um mich. „Wir haben vielleicht alle ein bißchen Angst. Mach nun die Augen zu, meine kleine Impala. Mach die Augen zu und denk an was Schönes. An all das, was wir vor uns haben.“
Vor uns – ja, wenn nur nichts passierte – wenn wir wieder heil landen würden… Ich wollte ja ein Kind haben. Vielleicht – vielleicht trug ich jetzt schon den allerersten Keim zu einem Kind in meinem Körper. Vielleicht trug ich ein ganz, ganz kleines Etwas, das wachsen und sich entwickeln sollte und ein Kind werden – Heikos und mein Kind… Es durfte nichts geschehen – es durfte nichts geschehen… Wie langsam verging doch die Zeit! Wieder entstand Unruhe. Diesmal eine freudige, eine erleichterte Unruhe. Unter uns tauchten die ersten Inseln auf. Dachten die anderen dasselbe wie ich? Wenn wir jetzt runtergehen müßten, könnten wir vielleicht schwimmend eine Insel erreichen… Verloren wir an Höhe, oder bereitete der Pilot schon die Landung vor? Die Wasserfläche war viel näher… Da kam die Durchsage. Die Landung wurde angekündigt. Noch waren wir über dem Wasser. Noch sahen wir keine Landebahn. Tiefer – tiefer – noch tiefer – da heulten die Triebwerke, da wurde das Brummen der Motoren zu einem ohrenbetäubenden Geräusch – und das Fahrwerk hatte festen Boden unter den Rädern. Wir waren in Honolulu gelandet. Erst später erfuhren wir, daß ein zweiter Motor kurz vor der Landung ausgesetzt hatte. Wir verbrachten zehn volle Stunden im Flughafen Honolulu. Ich bewunderte Mr. March. Er blieb ruhig. Er beantwortete alle Fragen, hatte ein kleines beruhigendes Lächeln – und dabei war die Situation gelinde gesagt kompliziert. Unser Flugzeug konnte nicht repariert werden. Und hier saßen wir, zwanzig Menschen die um die halbe Erde gebracht werden mußten, und zwar so bald wie möglich! Wir warteten geduldig. Wenn jemand mir gesagt hätte, ich müßte drei Tage und Nächte hier sitzen bleiben, es hätte mir nichts ausgemacht! Ich war bis zum Rand voll Glück und Dankbarkeit, und ich hätte beinahe den festen Boden unter meinen Füßen küssen können! Endlich, spät am Nachmittag, war die Sache in Ordnung. Wir würden gegen Mitternacht mit einem englischen Flugzeug fliegen können, in San Francisco ein paar Stunden ausruhen und dann mit einer japanischen Maschine weiter, über New York nach London. Olivia kam und setzte sich neben mich.
„Wissen Sie, was ich im Flugzeug gemacht habe, Sonja? Als wir zurückflogen?“ Gebetet, dachte ich, aber ich sagte es nicht laut. Ich sah sie nur fragend an. „Ich habe Patricia geschrieben. Ich stecke den Brief gleich ein, wenn wir in London sind.“ Sie sagte nichts mehr, aber sie lächelte. Ein freies, offenes, beinahe glückliches Lächeln. Die Stunden vergingen. Ich schlief eine Weile mit dem Kopf auf Heikos Schulter. Dann war es endlich soweit. Es ging heimwärts. Diesmal mit vier soliden Triebwerken, die keine Tücken hatten und uns sicher und schnell über den Pazifik brachten. Der Einflug über San Francisco bei Dunkelheit, mit dem erleuchteten „Golden Gate“ – das war noch atemberaubender als damals der Einflug über Hongkong. Wir überflogen die Rocky Mountains, den Michigansee und nickten einander wortlos zu, Heiko und ich. Wir dachten dasselbe: Vielleicht werden wir auch einmal hier hinkommen! Ich bin in New York gewesen. Genau dreißig Minuten. Und zwar bewacht in einem kleinen Warteraum im Flughafen. Nur so, dadurch, daß wir ganz isoliert gehalten wurden, vermieden wir langwierige und unangenehme Kontrollen und der Himmel weiß was für Untersuchungen. Es war spätabends, als wir in London ankamen. Es regnete und war kalt. Ob Burns wohl hier ist, zu dieser späten Stunde? wunderte ich mich. Wir sahen ihn nicht gleich. Aber dicht an der Sperre, mit ausgestreckten Armen und – ich traute meinen Augen nicht – mit deutlichen Spuren von Tränen, stand Tante Helene! Sie umarmte uns, sie lachte wie ein Kind vor Freude. „Ich habe solche Angst gehabt – o Kinder, daß ihr da seid! Meine Lieben, Lieben. Es war nicht möglich, einen exakten Bescheid zu kriegen wegen der Verspätung. Liebe Kinder, es ist so schön, daß ihr da seid – oh, da ist Bums – kommt, wir haben die Heizung im Wagen an und Decken und zwei warme Mäntel!“
Drei Monate später Seit einer Woche sind wir zurück in unserer Hütte in Kenya. Die Regenzeit ist vorüber. Überall ist es grün und frisch, alles wächst und blüht. Die Tiere der Steppe sind wohlgenährt und munter. Es war unsagbar schön, die Eltern und Geschwister in Norwegen wiederzusehen! Papa und Beatemutti hatten sich eine ganz besondere Überraschung für uns ausgedacht. Sie hatten Heikos Eltern zur Weihnachts- und Silvesterfeier nach Norwegen eingeladen. So halfen sie uns aus der Klemme, denn es wäre gar nicht so leicht gewesen, sich zu entschließen, wann wir bei wem feiern sollten! Die beiden Kleinen waren aus dem Häuschen vor Freude über Koalabärchen und Bumerang, und Beatemutti war sehr gerührt, als sie die Opalbrosche aus Australien auspackte. Annettchen erzählte weit und breit: „Ich habe ein Coca-ColaBärchen und Stefan hat einen Bungalow und Mutti hat eine Brosche aus Opalien!“ Stefan trainierte Bumerangwerfen im Garten. Bis wir wieder wegfuhren, hatte er nichts getroffen, außer einer Fensterscheibe und den Briefträger! In einem Vierteljahr müssen wir unsere geliebte Hütte verlassen. Dann geht es nach England, wo das Pförtnerhäuschen augenblicklich gestrichen und renoviert wird. Unser Kind wird in England geboren werden. Ich war noch in Norwegen, als mir klar wurde, daß unser Helenchen unterwegs ist. Zwei Tage vor unserer Abreise waren wir zum Abschiedsbesuch bei Senta und Rolf. Ich ging mit Senta ins Bad, als sie ihren Sohn wickelte. „Sentachen“, fing ich an. „Ich muß schon wieder Kleidung von dir borgen!“ „Nun mach mal einen Punkt!“ sagte Senta. „Du hast es wohl auf meinen Pelz abgesehen?“ Sie hatte von ihrem Mann einen Fohlenmantel zu Weihnachten gekriegt. „Nein“, erklärte ich. „Das nicht. Aber Senta, im letzten Sommer warst du doch schwanger. Borgst du mir zwei oder drei schlichte, leichte Umstandskleider?“
Da erschien ein strahlendes Lächeln auf Sentas Gesicht: „Ach, Schwesterherz – ich sage es ja immer: Alles machst du mir nach!“