Jörg Michael Kastl Einführung in die Soziologie der Behinderung
Jörg Michael Kastl
Einführung in die Soziologie der ...
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Jörg Michael Kastl Einführung in die Soziologie der Behinderung
Jörg Michael Kastl
Einführung in die Soziologie der Behinderung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16042-9
Inhalt
Zur Einleitung ...................................................................................................... 11 1 Prolog: Von Kielkröpfen und Zwillingen ....................................................... 15 1.1 Interpretation einer Photographie ........................................................... 15 1.2 „Kielkröpfe“ – Extremreaktionen auf Behinderungen .......................... 20 1.3 Zwillinge und andere Schwellenwesen – Relativität kultureller Konstruktionen von Behinderung .......................................................... 27 1.4 Von der Elimination zur Inklusion – Relativität sozialer Reaktionen auf Behinderung ...................................................................................... 33 2 Soziologie der Behinderung zwischen Naturalismus und Sozial-Konstruktivismus ................................................................................ 37 2.1 Was zählt als Behinderung?.....................................................................37 2.2 Soziologie der Behinderung .................................................................... 41 2.3 Behinderung im Spannungsfeld von Medizin und Soziologie ............... 43 2.4 Schädigung/Behinderung und die Unterscheidung von medizinischem und sozialen Modell....................................................... 48 2.5 Kritik am sozialen Modell ...................................................................... 52 3 Die Körperlichkeit des Sozialen und die Sozialität des Körpers.................... 61 3.1 Offenheit..................................................................................................66 3.2 Kontingenz .............................................................................................. 74 3.3 Sozialität des Körpers ............................................................................. 85 3.4 Körperlichkeit des Sozialen .................................................................... 96 4 Was ist nun eigentlich Behinderung?............................................................ 107 4.1 De¿nition............................................................................................... 108 4.2 Behinderung – weder Krankheit noch Barriere ................................... 115 4.3 Vergleich mit anderen De¿nitionen (Cloerkes, ICF) ............................ 121 4.4 Wozu ist diese De¿nition nützlich? ...................................................... 125
6 5 Soziale Produktionen .................................................................................... 129 5.1 Ein Blick in die Ursachenstatistik des statistischen Bundesamts ........ 132 5.2 Die Rolle absoluter Deprivation – Morbidität und Mortalität im internationalen Vergleich von armen und reichen Ländern ................. 137 5.3 Die Rolle relativer Deprivation – Morbidität und Mortalität innerhalb entwickelter Länder .............................................................. 146 5.4 Soziale Ungleichheit und Behinderung ................................................ 152 5.5 Relative oder absolute Deprivation? ..................................................... 155 6 Soziale Reaktionen ........................................................................................ 165 6.1 Soziale Reaktionen auf Behinderung – drei Beispiele ......................... 165 6.2 Soziale Reaktionen zwischen Elimination und Inklusion – eine Typologie ............................................................................................... 173 6.3 Behinderung als abweichendes Verhalten – der „Reaktionsansatz“ .... 182 6.4 Grenzen der devianztheoretischen Argumentation – die Reaktion auf Behinderung als Ausdruck von Ambivalenz .................................. 195 7 Soziale Konstruktionen ................................................................................. 207 7.1 Zum Begriff „soziale Konstruktion“ .................................................... 207 7.2 „Wunder der Natur“ – Konstruktion von Behinderung in der Freakshow ................................................................................... 212 7.3 „Degeneration“ und „eiserner Wille“ – Konstruktion von Behinderung im Nationalsozialismus ................................................... 228 7.4 Zusammenfassung: Konstruktion und Kontingenz .............................. 247 8 Epilog: von der Soziologie der Behinderung zur Soziologie behinderter Menschen ................................................................................... 251 Literatur ............................................................................................................. 261
7 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Wladimir und Michail L. ...........................................................................16 Abbildung 2 Bedingungen der Gesundheit und Kontextfaktoren (ICF-Modell) .........123 Abbildung 3 Disability-Adjusted-Life-Years (DALY) pro 1000 Einwohner nach Erkrankungs- bzw. Schädigungsgruppen und Regionen mit hohem/ niedrigen Pro-Kopf-Einkommen (PKE) ..................................................140 Abbildung 4 Disability-Adjusted-Life-Years (DALY) pro 1000 Einwohner im Jahr 2004, aufgeschlüsselt nach Art der perinatalen Schädigung und Regionen mit hohem /niedrigen Pro-Kopf-Einkommen (PKE) .......144 Abbildung 5 Primäre und sekundäre Devianz ..............................................................186 Abbildung 6 Illustrationen aus dem Schulbuch „Der Mensch“ (1938).........................235 Abbildung 7 Illustrationen aus dem Schulbuch „Erbe und Schicksal“ (1943) .............237 Abbildung 8 Arno Breker – Bereitschaft (1939) ...........................................................241 Abbildung 9 Holzschnitte von Georg Sluyterman von Langeweyde (Propaganda-Postkarten 1939/1940?) ..................................................... 242
Tabellenverzeichnis Tabelle 1
Schwerbehinderte Menschen am 31.12.2007 nach Art der schwersten Behinderung ............................................................................38
Tabelle 2
Die Unterscheidung von individuellem (medizinischem) Modell und sozialem Modell der Behinderung ..................................................... 50
Tabelle 3
Das Konzept deklarativer und non-deklarativer Gedächtnissysteme (Langzeitgedächtnis) ................................................................................. 90
Tabelle 4
Schwerbehinderte Menschen am 31.12.2007 nach Ursache der schwersten Behinderung und Geschlecht in %........................................133
Tabelle 5
Schwerbehinderte Menschen am 31.12.2007 nach Art der schwersten Behinderung und Ursache der schwersten Behinderung (in %) .............134
Tabelle 6
Pathophysiologische Wirkungen anhaltender Stressbelastung ...............158
Tabelle 7
Typologie sozialer Reaktionen .................................................................174
„There’s no cure for life.“ Robert F. Murphy: The Body silent.
Zur Einleitung
Dieses Buch möchte in zentrale Probleme und Denkweisen der Soziologie der Behinderung einführen. Die zwei naheliegenden Fragen, die sich mit diesem Label aufdrängen, sind zugleich die schwierigsten, nämlich „was ist eigentlich unter Behinderung zu verstehen?“ und „was genau hat Soziologie damit zu tun?“. Sie werden das gesamte Buch durchziehen. Ich hoffe, es gelingt mir zu zeigen, dass Soziologie das Alltagsverständnis von Behinderung in Bewegung bringen kann, aber auch, dass Phänomene der Behinderung unserem Verständnis von Soziologie und ihrem Gegenstand, der Gesellschaft, neue Facetten und Dimensionen hinzu fügen können. Einführen kann man auf verschiedene Weise. Man kann eine Übersicht über den Stand des Wissens oder der Forschung geben, man kann versuchen so etwas wie „Grundwissen“ zu vermitteln oder sich auf das Gesicherte und Kanonische stützen. Ich habe mich für eine Vorgehensweise der exemplarischen Analyse entschieden und möchte die Leserinnen und Leser anhand selektiv ausgesuchter Materialien, empirischer Befunde und theoretischer ReÀexionen zum Nachdenken über die soziale Dimension von Behinderung einladen. Ich habe dabei nicht den Anspruch einer erschöpfenden und gerechten Darstellung. Aber ich habe den Anspruch, dass man nach der Lektüre des Buches zentrale soziologische Zugangsweisen zum Phänomen Behinderung verstehen und auf dieser Basis mit kritisch geschärftem Bewusstsein weiterlesen und -forschen kann. Jedes Thema und jeder wissenschaftliche Gegenstandsbereich erfordert die Einübung in eine ihm gemäße theoretische und empirische Perspektive. Darunter verstehe ich einen bestimmten Blickpunkt auf die Sache, eine Art Fragen zu stellen und auf die wichtigen (d. h. weitere Fragen generierende) Aspekte zu sehen, wichtige Kategorien und Fragestellungen eines Gegenstandsbereiches zu kennen. Diese soll hier eingeübt werden. Ich möchte dabei eine Einordnung des Themas Behinderung in den Zusammenhang vorschlagen, in denen es meiner Auffassung (und nach Auffassung vieler anderer, v. a. anglosächsischer Autoren) auch gehört – nämlich in den Kontext einer Soziologie des Körpers. Der Gegenstandsbereich Behinderung fordert wie andere „körpernahe“ Themen der sozialwissenschaftlichen Analyse eine besondere Balancierungskunst irgendwo zwischen der wohlfeilen Provokation, der Körper sei entgegen aller landläu¿gen Annahmen überhaupt nur eine „soziale Konstruktion“ und der m. E. ebenso irrigen Vorstellung, für Körperphänomene wären allenfalls soziale „Randbedingungen“ maßgeblich.
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Zur Einleitung
Ähnlich wie bei der Soziologie der Geschlechter bewegt man sich auch beim Thema Behinderung in einem Spannungsfeld zwischen verschiedenen wissenschaftlichen und politischen Diskursen, von denen jeder seine mehr oder weniger imperialistischen Ansprüche auf das Thema erhebt – Diskurse der Biologie und der Medizin, der (Heil-, Sonder-, Sozial-) Pädagogik, verschiedener sozialpolitischer Diskurse und nicht zuletzt verschiedene Emanzipationstheorien der Betroffenen selbst. Je nachdem, wie doktrinär die Vertreterinnen und Vertreter sind, werden einem mitunter Reduktionismen der unterschiedlichsten Art nahe gelegt. Sozialwissenschaftliche Diskurse haben sich in diesem Feld ganz unterschiedlich positioniert: so gibt es Ansätze zu eigenen „imperialen“ Ansprüchen, die insbesondere gegenüber der Biologie und der Medizin erhoben werden und wurden („soziales Modell der Behinderung“; Behinderung als „soziale Konstruktion“). Zum Teil identi¿zieren sich sozialwissenschaftliche Diskurse mit rehabilitationspolitischen oder pädagogischen Anliegen (Selbstbestimmung, Teilhabe für behinderte Menschen) oder mit der Emanzipationsbewegung der Betroffenen. „Nichts über uns ohne uns“ lautet beispielsweise der Titel eines Sammelbandes (Hermes/Rohrmann 2006). All dies soll hier nicht geschehen. Vielmehr geht es mir um eine in erster Linie empirisch orientierte Erschließung eines Themas, das auch, aber durchaus nicht nur selbst behinderte, sondern alle Menschen angeht, weil es sich um eine grundlegende Dimension menschlicher Wirklichkeit überhaupt handelt. Das schließt eine Sympathie für die Anliegen der politischen Behindertenbewegung nicht aus. Aber der Akzent des hier vorgelegten Buches liegt eindeutig auf der Erkenntnis und nicht der Verbesserung der Welt. Es geht mir in erster Linie darum ein möglichst realistisches Verständnis von Behinderung und der soziokulturellen Tragweite dieser Thematik zu vermitteln. Wenn das, wie mittelbar auch immer, zur Verbesserung der Situation behinderter Menschen beitragen kann, desto besser. Aber es ist nicht primäres Ziel dieses Buchs. Ausdrücklich möchte ich mich offen halten für Einsichten humanwissenschaftlicher Nachbardisziplinen wie der Biologie und Medizin, der Psychologie, den Neurowissenschaften, aber auch der Philosophie und der Ethnologie bzw. Kulturanthropologie (die aber in meinem Verständnis ebenfalls eine Sozial- und Kulturwissenschaft ist). Der neuerdings üblich gewordenen Bezeichnung „Disability Studies“ möchte ich dieses Buch allenfalls in einem anspruchslosen Sinn zuordnen. Ich persönlich bevorzuge das deutsche Wort „Behinderung“. Mit ihm kann man systematisch „mehr machen“, zum Beispiel eben ausdrücken, dass ein Mensch behindert ist und behindert wird. Allein durch die komplexe Syntax, die das Wort „behindert“ im Deutschen nach sich ziehen kann (man ist „durch“ etwas „bei“ etwas behindert), kann kommuniziert werden, wie wichtig bei Behinderungsphänomenen der Kontext ist. Das deutsche Wort bringt den „relationalen Charakter“ von Behinderung besser zum Ausdruck als das schlichtere und zudem eher die Person wertende englische „Disability“, das
Zur Einleitung
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ja nichts anderes bedeutet als „Unfähigkeit“ oder „Unvermögen“. Zudem handelt es sich bei den „Disability Studies“ durchaus nicht, wie manchmal unterstellt, um einen konzeptuell, empirisch oder gar politisch homogenen „Ansatz“ – sieht man von einer mehr oder weniger ausgeprägten kultursoziologischen Orientierung ab. Eine kultursoziologische Perspektive auf Behinderung (die auch in diesem Buch nicht nur in Kapitel 7 eine Rolle spielen wird) ist freilich zwingend, aber aus soziologischer Sicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Sie braucht aber keinen eigenen disziplinären Namen. Ich möchte weniger an den politischen „Flügel“ der Disability Studies anknüpfen, als vielmehr an deren pragmatistische und interaktionistische Traditionslinie (Albrecht 2003) und damit an deren deutsches Pendant, der Soziologie der Behinderten, für die Namen wie Christian von Ferber, Walter Thimm, Jürgen Hohmeier und Günther Cloerkes stehen. Die hier verwendete Bezeichnung „Soziologie der Behinderung“ steht dabei nicht in Widerspruch zu der in Deutschland üblicheren Bezeichnung „Soziologie der Behinderten“. Sie zielt vielmehr auf die Eingrenzung einer Teilfragestellung ab. Es geht nicht, wie in dem Lehrbuch von Günther Cloerkes um eine umfassende Bestandsaufnahme der „gesamten Lebensrealität“ von Menschen, denen das Attribut „behindert“ zugeschrieben wird (vgl. Cloerkes 2007: 3), sondern um die engere Frage der sozialen Dimension von Behinderung. Diese Frage wird hier vor dem Hintergrund aktueller körpersoziologischer Diskussionen gestellt und schlägt auch insofern wieder eine Brücke zu der aktuellen anglosächsischen Diskussion, die zunehmend auch eine Eigenlogik des Körperlichen in den Mittelpunkt stellt und den Anspruch hat auch den Gesichtspunkt körperlicher Schädigung in ihrer individuellen und sozialen Bedeutung ernst zu nehmen (vgl. Thomas 2007: Kap. 6). Danken möchte ich insbesondere meinen Kollegen Günther Cloerkes, Kai Felkendorff, Peter Jauch, Marianne Neuburger-Brosch sowie meinem Freund Harald Riedinger für viele Gespräche in Heidelberg, Zürich und Reutlingen und insbesondere Kai Felkendorff und Peter Jauch für viele wertvolle Hinweise auf wichtige Quellen. Mein besonderer Dank gilt meinen Studierenden in Reutlingen und in Heidelberg, die vieles von dem, was hier in die zumindest handfeste Ordnungsstruktur zweier Buchdeckel eingebettet ist, in sehr viel ungeordneterem Zustand entgegen nehmen mussten. Sie sind damit immer konstruktiv-kritisch umgegangen und haben mir viele inhaltliche Anregungen zukommen lassen. Davon habe ich sehr pro¿tiert und ich hoffe auch das Buch.
1 Prolog: Doppelgänger – von Kielkröpfen und Zwillingen
Anstelle einer Einleitung oder besser gesagt: als Einleitung in das Thema soll zunächst eine Photographie des niederländischen Photographen Robert Knoth interpretiert werden. Diese Interpretation wird unsere Aufmerksamkeit auf einige grundlegende Aspekte des Themas Behinderung lenken, die einen ersten Rahmen für die weiteren Fragestellungen und verschiedenen Kapitel dieses Buches abgeben und zu ersten kulturhistorischen und kulturanthropologischen Exkursen führen. 1.1 Interpretation einer Photographie Inbegriff der Behinderungserfahrung nicht selbst betroffener Menschen ist die Wahrnehmung körperlicher Abweichung eines Anderen. Sie ist oft verknüpft mit spontanen Reaktionen des Anstarrens und Wegsehens zugleich, von Unsicherheitsgefühlen oder sogar tiefgreifenden Affekten wie Erschrecken, Ekel, Ambivalenz begleitet. Fragen wie „was hat die Frau/der Mann?“ werden gestellt, „wie ist das passiert?“, „wie ist das erklärbar?“. Da es sich dabei um eine Art „Urszene“ der sozialen Alltagserfahrung von Behinderung handelt, möchte ich in die Thematik über eine phänomenologische Analyse eines Photos (Abb. 1) einsteigen, das zwei Menschen zeigt – davon einer mit einer deutlich sichtbaren körperlichen Behinderung. Es wurde von dem niederländischen Photographen Robert Knoth im Jahr 2005 aufgenommen und zeigt zwei Jugendliche, die wir Wladimir (links hinten) und Michail (rechts im Vordergrund) nennen wollen. Es sei zunächst auf weitere Kontextinformationen verzichtet. Die Photographie entfaltet ihre Wirkung durch eine Reihe von Relationen und Gegensätzen: das unterschiedliche Aussehen der beiden abgebildeten Personen, die Komposition ihrer körperlichen Haltung, und das Verhältnis der Personengruppe zu dem Raum, in dem sie sich aufhalten und seinem Interieur. Der Blick des Betrachters wird zunächst auf die Person im Vordergrund gelenkt. Wenn wir ihren Namen nicht wüssten, hätten wir möglicherweise Schwierigkeiten ihr Alter und ihr Geschlecht zu bestimmen. Michail hat offensichtlich eine bzw. mehrere Behinderungen, die ihn in einen unmittelbaren visuellen Gegensatz zu dem jungen Mann im Hintergrund bringen. Die Stirnpartie ist ballonförmig vergrößert, Brustkorb und Wirbelsäule sind offensichtlich deformiert. Er sitzt in einer leicht verkrümmt-asymmetrischen Stellung auf dem Schoß des jungen Mannes im
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Prolog: Doppelgänger – von Kielkröpfen und Zwillingen
Hintergrund und hält sich an dessen Arm. Michails Körperglieder sind ungewohnt dünn, fast ohne Muskeln. Wladimir nimmt eine lässig-entspannte jugendtypische Sitzhaltung ein: mit geöffneten Beinen, leicht zur Seite geneigt, bequem zurück gelehnt. Damit verschafft er zugleich Michail eine Halt gebende Sitzmöglichkeit. Mit der rechten Hand umgreift er Michails Bein, sie ist dabei aber ganz entspannt. Wladimir würden wir einen „ganz normalen“ Jugendlichen auf dem Weg zum „jungen Mann“ nennen. Seine körperliche Erscheinung ist im Gegensatz zu der von Michail von Symmetrie geprägt: ebenmäßige, landläu¿g als „schön“ geltende Gesichtszüge, ein ebenso symmetrischer Körperbau. Er wirkt sportlich, leicht athletisch, ein Eindruck, der durch das armlose Muscle-Shirt betont wird. Abbildung 1
Wladimir und Michail L. (mit freundlicher Genehmigung des Photographen, copyright Robert Knoth)
Interpretation einer Photographie
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Michails Mundwinkel sind gesenkt und suggerieren eine gewisse Betrübtheit, während die geradlinige Lippenstellung Wladimirs eine wiederum fast ausdrucksvolle Ausdrucksneutralität ausstrahlen. Der eigentliche Gegensatz im mimischen Ausdruck ergibt sich vor allem aus der Augen-Stirnpartie. Die Augen Michails sind weit aufgerissen, die weit hoch gehobenen Augenbrauen verleihen dem Gesicht auf den ersten Blick einen AnÀug von Dramatik, Panik oder Angst. Das Gesicht ist wie der Körper von einer Asymmetrie bestimmt: das linke Auge hat eine leichte Schielstellung. Dagegen ist der Blick Wladimirs ruhig, die Augenbrauen sind gesenkt, die Augen sind symmetrisch. Michail wie Wladimir blicken direkt in die Kamera und damit in das Auge des Betrachters. Die Photographie zwingt diesen seinerseits in die Position eines – imaginär – Angeblickten und inszeniert damit eine Struktur des gegenseitigen Angeblicktseins, wie sie Jean Paul Sartre in einer berühmten Analyse in „Das Sein und das Nichts“ (Sartre 1962: 338 ff.) heraus gearbeitet hat. Der andere, den ich anblicke, ist zwar immer auch Objekt meines Blicks, in diesem Falle sogar: meines Anstarrens, aber zugleich begegnet mir im Blick des Anderen die Erfahrung, dass auch der Andere die Möglichkeit hat, mich zum Objekt eines Blicks zu machen und damit etwas an mir wahrzunehmen, was mir selbst entgeht. Beide Seiten sind Objekte und Subjekte zugleich und insgesamt ist damit eine Situation entstanden, in der auf beiden Seiten ein Kosmos des wechselseitigen „Sich-Angehens“ möglich wird: der Scham (zum Beispiel auch der Scham über mein Starren auf Michail), der Herausforderung, der Befangenheit, der Begegnung oder Meidung. Unser Blick auf das Photo ist zunächst von der Behinderung Michails geführt, sie „zieht“ unseren Blick auf sich, wie man so sagt. Sie mag Erschrecken hervor rufen, verstärkt durch den leicht panisch wirkenden Gesichtsausdruck mit den aufgerissenen Augen, sie mag einen zumindest ersten Eindruck von Fremdartigem erzeugen. Dazu trägt auch bei, dass es schwer fällt, Michail in zwei elementaren und in der Regel mühelos angewendeten Dimensionen der Körperlichkeit, nämlich Alter und Geschlecht, zu verorten. Während wir keine Mühe haben Wladimir als jungen Mann zu typisieren, würde es uns bei Michail schwer fallen, Geschlecht und Alter mit Sicherheit zu benennen, wüssten wir nicht schon Namen und wäre nicht das Stichwort „Jugendlicher“ gefallen. Die Kopfform ähnelt in den Proportionen denen eines Kleinkindes, auch der bloße Umstand, dass er auf dem Schoß von Wladimir sitzt, legt die Assoziation von Kindlichkeit nahe. Der Haarschnitt könnte als Hinweis auf „männlich“ genommen werden. Wir könnten uns aber auch vorstellen, es mit einem Mädchen zu tun zu haben. Michails Gestalt dürfte für die meisten Betrachterinnen und Betrachter unmittelbar die Qualität eines „Stimulus“ in dem Sinn haben, dass sie als fremd- und andersartig wahrgenommen wird (vgl. Neubert/Cloerkes 2001: 52). Die Photographie inszeniert das durch den Umstand, dass sie Michail in den Vordergrund rückt und durch die Opposition zu dem offensichtlich „ganz normalen“ Anblick
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Prolog: Doppelgänger – von Kielkröpfen und Zwillingen
von Wladimir. Aber zugleich wird dadurch die visuelle Aufmerksamkeit augenblicklich auf die Konstellation des ungleichen Paares als solchem und damit auf die Frage der Bedeutung ihrer wechselseitigen Beziehung gelenkt. Die ruhige Sitzhaltung Wladimirs, die leicht verkrümmte Position Michails in seinem Schoß ruft in ihrer Gesamtkomposition die ikonographische Assoziation der „Pietà“ (also der Darstellung Mariens mit dem Leichnam Jesu Christi) auf. Die Analogie bleibt allerdings auf einer formalen Ebene: die Lässigkeit Michails, die aufgerissenen Augen Wladimirs und der offensichtliche Alltagskontext einer durch Tapete und Stoffmuster des Sofas etwas altmodisch wirkenden Wohnzimmeratmosphäre konterkarieren zugleich die Darstellungskonventionen der Pietà bzw. wandeln sie ab. Der Anblick des Paares vermittelt den Eindruck von Vertrautheit und selbstverständlicher Nähe. Auf den Betrachter wirkt Michails Aussehen zumindest auf den ersten Blick hin außergewöhnlich und alarmierend. Für Wladimir dagegen scheint Michails Anblick Normalität zu sein, und offensichtlich lebt Michail nicht in einem Heim oder einem klinischen Kontext, sondern ist einbezogen – in eine Beziehung zu Wladimir, aber auch in den privaten sozialen Raum, für den das Wohnzimmer steht. Auf den zweiten Blick kann man eine gewisse Ähnlichkeit der Gesichtszüge (vor allem im Bereich Nase, Mund, Kinn) der beiden Jugendlichen erkennen und könnte vermuten, es handle sich vielleicht um Geschwister. In der Tat sind die beiden Zwillinge. Wladimir und Michail L. sind zum Zeitpunkt des Entstehens der Photographie im Jahr 2005 sechzehn Jahre alt, Michail ist fünf Minuten älter als Wladimir. Die Brüder leben in der weißrussischen Stadt Minsk in der Wohnung ihrer Eltern. Die Eltern waren beide direkt betroffen von der Reaktorkatastrophe in Chernobyl im Jahr 1986: „The mother lived in Bragin, one of the worst effected places, their father worked as a liquidator, evacuating people from the area after the explosion of the Chernobyl plant. His genetic material was diagnoses as badly damaged after he had fallen ill.“ (persönliche Mitteilung Robert Knoth, 2009). Im Gegensatz zu dem visuellen Eindruck ist aber auch Wladimir von Geburt an behindert. Er ist gehörlos. Als Ursache der Behinderung beider Brüder kann eine Schädigung des Genoms der Eltern durch die bei der Reaktorkatastrophe frei gesetzte radioaktive Strahlung als gesichert gelten. ReÀektieren wir auf unsere ersten Eindrücke der Photographie, wird deutlich, in welch hohem Maße wir bei der Wahrnehmung des körperlichen Anblicks anderer Menschen auf Wahrnehmungsgewohnheiten, sowie -Konventionen und -Normen zurückgreifen. Hier handelt es sich zum einen um Alters- und Geschlechtsschemata. Darüber hinaus werden offenbar auch Normen wirksam, die uns einen Körper als „unnormal“ erscheinen lassen und uns Bewertungen nahe legen wie „krank“, „gesund“, „behindert“ oder „schön“/„hässlich“. Wladimir würde für die meisten Betrachter als hübscher junger Mann gelten, eine Bewertung, die Michail wohl bei den wenigsten Betrachtern provozieren würde. Sein von Asymmetrie, Deformation und ungewohnter Körperhaltung geprägtes Äußeres dürfte
Interpretation einer Photographie
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durchschnittlich spontane negative Bewertungen provozieren, auch wenn Urteile wie „hässlich“, „monströs“ nicht explizit formuliert werden, weil „man“ so etwas über behinderte Menschen nicht sagt (vgl. Cloerkes 1984). Das macht zugleich klar, dass es neben den Wahrnehmungsnormen selbst offensichtlich auch Normen der Artikulation von Wahrnehmungen von Behinderung bzw. der legitimen und illegitimen Reaktion auf Behinderung gibt. Verfügen wir über medizinisches Wissen, werden wir für Michails auffälligste Abweichung, die Form seines Kopfes, den Namen „Hydrocephalus“ („Wasserkopf“ im Volksmund) parat haben. Das zeigt, dass es sozial legitimiertes Expertenwissen über Behinderungen gibt, und könnte zudem die Frage aufwerfen, ob seine Gesichtsmimik wirklich die Bedeutung hat, die wir ihr spontan unterstellt haben. Offensichtlich bewirkt allein schon der vergrößerte Kopf, dass die Augen und die Augenbrauen so auseinander treten, wie sie das tun. Es könnte also einfach eine physische Wirkung der Entstellung sein, was wir im ersten Hinsehen als bedeutungsvoll interpretiert hatten. Das zeigt für sich genommen eine Diskrepanz zwischen unserer spontanen Reaktionen auf Behinderung und unserem evtl. Wissen über sie und wirft die Frage nach dem Verhältnis physiologischer Faktoren und deren sozialer Bedeutung auf (vgl. Kapitel 2 und 3). Mit der Photographie klingen aber noch viele andere tragende Themen und Motive dieses Buches an. Die Assoziationen, die sich im Laufe unserer Betrachtung des Photos ergeben hatten, zeigen, wie sehr der bloße körperliche Anblick von Behinderung und Nicht-Behinderung verknüpft ist mit kulturellen, ja kunsthistorischen Bezügen und sozialen Zuschreibungen. Die Frage nach sozialen und kulturellen Bedeutungen von Behinderung und ihrer Entstehungszusammenhänge wird Gegenstand dieses Buches sein (Kapitel 7). Unsere spontanen Assoziationen, die Einsicht in deren Determiniertheit durch Normen und Konventionen beim Betrachten des Bildes, aber auch das im Bild zum Ausdruck kommende Verhältnis der beiden Brüder wirft die Frage nach den Reaktionen der sozialen Umwelt und ihren Hintergründen auf (Kapitel 6). Auch die Frage der materiellen Verursachung von Behinderung, durch das Stichwort „Tschernobyl“ aufgerufen und der Rolle, die soziale Faktoren dabei spielen, wird zum Thema werden (Kapitel 5). Ich möchte im Folgenden, zum Teil im Vorgriff, zum Teil als materiale Vertiefung der Inhalte des Buches drei Aspekte heraus greifen, die in Anknüpfung an die Photographie Aufschluss über die gesellschaftliche Bedeutung von Behinderung geben können. Sie sind verknüpft mit dem Aussehen von Michail (Abschnitt 1.2), der Zwillingsbeziehung der beiden Brüder (Abschnitt 1.3) und den Lebensumständen der beiden (Abschnitt 1.4).
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Prolog: Doppelgänger – von Kielkröpfen und Zwillingen
1.2 „Kielkröpfe“ – Extremreaktionen auf Behinderungen Michails angeborene Behinderung, die wir unter Zuhilfenahme von medizinischem Wissen als „Hydrocephalus“ bezeichnen, hatte im deutschen Sprachraum, seit dem ausgehenden Mittelalter belegt, einen seltsamen Namen. Kinder wie Michail wurden als „Kielkröpfe“ bezeichnet. Der Ursprung dieses Wortes ist dem Etymologischen Wörterbuch von Kluge zufolge unklar.1 Berühmte Belege für das Wort ¿nden sich z. B. in dem „Deutschen Sagenbuch“ von Ludwig Bechstein aus dem Jahr 1853 und den Tischreden Martin Luthers. Eine Geschichte aus Bechsteins Sagenbuch Hier zunächst ein Auszug aus dem erstgenannten Werk. Es handelt sich um eine Geschichte aus einem längeren Abschnitt des Buches (Kapitel 180), das den Titel „Die Kielkröpfe“ trägt: „Im Dorfe Böken bei der Stadt Lauenburg war ein wunderthätiges Marienbild von Holz, das heilte viele Kranke. Nun hatte in einem nahen Nachbardorfe ein Bauer lange Zeit in kinderloser Ehe gelebt, und hielt deshalb seine Frau sehr übel. Endlich fühlte die Frau sich in Hoffnung, das machte den Bauer ganz glücklich, und er trug nun die Frau fast auf den Händen. Aber als sie geboren hatte, tauschten die Unterirdischen ihr Kind aus, und legten einen Kielkropf ein, der hatte einen Kopf wie eine Metze und spindeldürre Gliedmaaßen. Auch wuchs nichts an ihm, als nur der Kopf, der wurde größer als beim größten Menschen. Nach drei Jahren glich der Kopf des Jungen einem Riesenkürbis, und dabei konnte das Kind nicht stehen noch gehen, noch sprechen, aber quarren und plärren den ganzen Tag, das konnte es meisterlich. Eines Abends, als die Frau dieses Goldsöhnchen auf dem Schooße hatte und sich mit ihm abquälte, sprach sie zu ihrem Mann: du, mir fällt was ein, vielleicht kann uns noch geholfen werden; morgen ist Sonntag; nimm doch das Kind und die Wiege und geh damit nach Böken zur Mutter Maria, stelle die Wiege vor sie hin und wiege das Kind eine Zeitlang, vielleicht, daß es hilft. – Das will ich wohl tun, sagte der Bauer und ging am andern Tage mit dem in die Wiege wohlverpackten Kielkropf los. Als er auf die Brücke von Böken kam, rief drunten eine Stimme mitten aus dem Wasser heraus:
Statt „Kropf“ wird auch „Kopf“ verwendet, manchmal gibt es regionale Synonyme wie „Wasserkind“. Für „Kiel“ sind denkbar Ableitungen von frühneuhochdeutsch „kil“=Quelle, von „kaul“ (wie bei Kaulquappe) für „Kugel, klumpen“ (als Anspielung auf die Kopfform). Der Städtenamen „Kiel“ geht möglicherweise auf ein gleichlautendes skandinavisches Wort für eine enge Bucht (Herkunft aus dem Wasser?) zurück. Auch im Grimmschen Wörterbuch (Grimm, Grimm) ist das Wort belegt und auch dort wird eine mutmaßliche Beziehung zu Kaul(quappe)“ bzw. kiel/Quelle hergestellt. Aber alle diese Ableitungen sind wohl hochgradig spekulativ.
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„Kielkröpfe“ – Extremreaktionen auf Behinderungen
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Kielkropp, wo wullt du hen? und da antwortete das Kind in der Wiege: Ik wil my laten wegen, Dat ik sal gedegen (gedeihen). Da war der Bauer vor Verwunderung außer sich, daß sein Balg auf einmal sprach, besann sich aber gar nicht lange, sondern schmiß Kind und Wiege ins Wasser hinab und schrie hinterdrein: Kanstu nun spräken, du Undeert, Denn ga dorhen, wo du’t hast geleert! – Da erhob sich unter der Brücke groß Schreiens, als riefen eine Menge Leute; und die Kielkröpfe tummelten sich lustig im Wasser, der Bauer aber lief, was er laufen konnte, heim zu seiner Frau.“ (Bechstein 1853: 165)
„Kielkröpfe“ werden in dem Text also mit dem Wirken sogenannter „Unterirdischer“ in Zusammenhang gebracht. Auch dazu gibt Bechsteins Sagenbuch detaillierte Auskünfte: Die Unterirdischen „stehlen neugeborene Menschenkinder vor der Taufe, und legen ihre verschrumpelten Hutzelmännchen in die Wiegen“ (Bechstein 1853: 164).2 Sie werden – als sogenannte „Wechselbälger“ – mit Menschenkindern ausgetauscht. Zum Verhältnis von Wechselbälgern und Kielkröpfen hält eine hier nicht zitierte Textpassage fest: „Wechselbälger und Kielkropf ist so ziemlich Maus wie Mutter. Beide Sorten sind ausgetauschte Kinder ohne Gedeihen, von häßlichem Aussehen, die stets quengeln und weinen, und meist die Unterirdischen, wo nicht gar den Teufel zum Vater haben.“ (Bechstein 1853: 164). Auch für die Herkunft der „Unterirdischen“ hat die Überlieferung eine Geschichte parat. Eine Frau habe fünf schöne und fünf hässliche Kinder gehabt. Die letzteren habe die Frau, als der seinerzeit auf Erden wandelnde Christus sie eines Tages besucht habe, in den Keller gesperrt, weil sie sich schämte. Als Christus nach ihren anderen Kindern fragte, stritt sie ab, weitere Kinder zu haben. Da segnete der Herr die fünf schönen Kinder und sprach „Was drunten ist, soll drunten bleiben, was oben ist, soll oben bleiben.“ Als Christus ging, wollte die Frau ihre hässlichen Kinder aus dem Keller lassen, diese waren aber verschwunden. „Aus ihnen“, so der unbekannte Chronist, „ist das Geschlecht der Unterirdischen entstanden.“ (Bechstein 1853: 162). Man muss nicht allzu sehr zwischen Zeilen lesen, um zu verstehen, dass es in beiden Geschichten um behinderte Kinder geht. Die Beschreibung des „Kielkropfs“ entspricht bis in die Details dem Aussehen von Michail auf der Photographie von Robert Knoth. Es geht um Kinder mit einem angeborenen Hydrocephalus, dafür 2 Diese Vorstellung ¿ndet sich nicht nur im mitteleuropäischen Raum. Müller (1996: 47) berichtet von ähnlichen Überlieferungen aus Syrien. Dort wird der „Wechselbalg“ in einem Brunnen bis zum Wasserspiegel hinab gelassen, „in der Hoffnung, dass die ‚Wasserfrau‘, der man hier den Anschlag zuschrieb, den Tausch wieder rückgängig gemacht habe.“
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Prolog: Doppelgänger – von Kielkröpfen und Zwillingen
sprechen auch die in sichtlich gereizt-sarkastischem Tonfall berichteten Verhaltensweisen („Goldsöhnchen“, „aber quarren und plärren den ganzen Tag – das konnte es meisterlich.“). Eine mögliche Funktion der Geschichte liegt sicher darin, dass sie eine Erklärung für das Aussehen des „Kielkropfes“ gibt. Sie erklärt eine Kontingenz, das heißt eine Tatsache, die weder zwangsläu¿g noch Ergebnis einer menschlichen Handlung ist, mit der Handlung von geheimnisvollen Wesen: der „Kielkropf“ ist gar nicht das Kind der „Menscheneltern“, sondern er hat Unterirdische zu Eltern. Es handelt sich um ein unterschobenes Kind, gleichsam ein illegitimer Doppelgänger des „richtigen“ Kindes. Diese in unseren Augen phantastische, in den Augen der Zeitgenossen der mündlichen Überlieferung aber durchaus plausible „Konstruktion“ von Behinderung gewinnt ihre Überzeugungskraft aber vermutlich daraus, dass sie vom Wunsch diktierten Deutungen entgegen kommt. Sie greift auch aus heutigen Zeiten belegte Phantasien von Eltern eines behinderten Kindes auf, ihr behindertes Kind sei gar nicht ihr richtiges Kind.3 Der angebliche verschwundene Doppelgänger wäre dann nichts anderes als das Wunschbild eines „körperlich intakten“ Kindes. Zugleich werden damit Legitimationen für Reaktionen und Umgangsformen mit den solchermaßen als „Kielkröpfen“ denunzierten Kindern geliefert. Die in der Geschichte berichtete Reaktion des Vaters erscheint in einem legitimen Licht. Wenn dieser sein plötzlich sprechendes Kind wutentbrannt ins Wasser wirft, dann mit der Begründung, dass das Kind da auch hin gehöre: „Geh dort hin, wo du das Sprechen gelernt hast“ das heißt: wo deinesgleichen sind. Und das sind eben die „Unterirdischen“. Im selben Zug spricht der Vater dem Kind das Menschsein (aber genau genommen auch das „Tiersein“ ab), indem er sein Kind ein „undeert“=Untier nennt. Er folgt damit der Linie des über die Unterirdischen ausgesprochenen Verdikts: „was drunten ist, soll drunten bleiben“ – auf zynische Weise Christus selbst in den Mund gelegt. Dort unten, im Wasser, wird der „Kielkropf“ offensichtlich in eine Gemeinschaft von seinesgleichen aufgenommen. Die sich erhebenden Stimmen und Schreie der anderen Kielkröpfe, das lustige Getümmel im Wasser legen es nahe: unten zu unten, oben zu oben. Das klingt wie eine Rechtfertigung dessen, was wir heute „Segregation“ nennen, also die Ausgliederung des Lebens behinderter Menschen in eigens 3 Beispielsweise zitiert eine Studie über Kinder und Jugendliche mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte Aussagen von Müttern über ihre eigenen sehr ähnlich gelagerten ersten Reaktionen auf das Neugeborene: „Das war schrecklich, ganz schrecklich. Wir hatten uns doch ein echtes Kind gewünscht“; „Wenn ich aufgewacht bin, da hat die Schwester gesagt: Schauen Sie her, das haben sie jetzt. Was, habe ich gesagt, das ist er doch gar nicht. Das ist doch mein Kleiner nicht. Und dann war ich fort.“; „Ich hab im ersten Moment zu der Schwester gesagt, ich mag das Kind nicht haben. da möchte ich nicht Mutter sein.“, „Da hab ich gedacht: Oh Gott, warum hat das Kind nicht sterben könnt?“ (Uhlemann 1990: 77, vgl. unten Kapitel 6.1).
„Kielkröpfe“ – Extremreaktionen auf Behinderungen
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dafür geschaffene räumliche und institutionelle Zusammenhänge, wo sie in aller Regel in homogenen Gemeinschaften mit anderen behinderten Menschen leben. Aber die Geschichte lässt auch noch eine andere, weniger günstige Deutung zu. Bringt man die mythologischen Elemente einmal in Abzug und unterstellt, reale Eltern würden so handeln wie der Vater in der Geschichte, so haben wir es mit einer nur wenig verkleideten Rechtfertigung für die Tötung eines behinderten Kindes zu tun. Dafür spricht der zum Ausdruck gebrachte Hass des Vaters, sein „Außer-Sich-Sein“. Seine Handlung am Ende wird unverhüllt als gewalttätig beschrieben. Er „übergibt“ den Unterirdischen nicht etwa sorgsam ihr rechtmäßiges Kind, sondern „er schmeißt Kind und Wiege ins Wasser hinab“ und Àüchtet dann geradezu vom Ort des Geschehens wie nach einem Verbrechen („lief was er konnte“). Martin Luther und die Kielkröpfe Für diese Mordversion sprechen kulturhistorische Belege, aus denen auch hervorgeht, dass es sich bei dem Bechsteintext nicht nur um eine phantasievolle Geschichte handelt. Mindestens bis ins 16. und 17. Jahrhundert hinein glaubten Menschen in Mitteleuropa tatsächlich an die Existenz von Kielkröpfen und Wechselbälgern. Ein prominentes Zeugnis hierfür sind die Tischreden des Reformators Martin Luther.4 Dort werden Luther folgende Äußerungen in den Mund gelegt: „Man sagt, daß solche Wechselbälge und Kielkröpfe über achtzehn oder neunzehn jahre nicht alt werden. Dies geschieht nun oft, daß den Sechswöchnerinnen die Kinder verwechselt werden, und die Teufel sich an ihre Statt legen, und sich garstiger machen mit Scheißen, Fressen und Schreien, denn sonst zehn andere Kinder, daß die Eltern vor solchen UnÀäthern keine Ruhe haben, und die Mütter also ausgesogen werden, daß sie nicht mehr stillen können.“ (Luther 1983: 758)
An dieser Stelle fällt ein ganz ähnlich sarkastischer Tonfall wie in der Bechsteinsage auf. Auch die Vorstellung einer Zeugung von Kielkröpfen im Wasser ¿ndet sich in den Tischreden ( Luther 1983: 757). Bei deren unheimlicher Abstammung ist bei Luther allerdings stets der Teufel beteiligt. Für das Jahr 1541 wird nun folgende Ausführung Luthers überliefert: „Anno 1541 hat D. Luther dieser Historie auch über Tische gedacht, und daß er dem Fürsten von Anhalt gerathen hätte, man sollte den Wechselbalg oder den Kielkropf (welches man darum so heißet, daß es stets kielt im Kropf) ersäufen. Da ward er gefragt, In den Tischreden ¿ndet sich übrigens auch eine leicht modi¿zierte Version der von Bechstein berichteten Sage (Luther 1987: 757, Abschnitt 96). Sie spielt dort nicht bei Lauenburg, sondern in Hockstadt.
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Prolog: Doppelgänger – von Kielkröpfen und Zwillingen warum er solches gerathen hätte? Antwortete er darauf: Daß ers gänzlich dafür hielte, daß solche Wechselkinder nur ein Stück Fleisch, eine Massa carnis, sein, da keine Seele innen ist: denn solches könne der Teufel wohl machen, wie er sonst die Menschen, so Vernunft, ja Leib und Seele haben, verderbt, wenn er sie leiblich besitzet, daß sie weder hören, sehen, noch etwas fühlen, er machet sie stumm, taub, blind: da ist denn der Teufel in solchen Wechselbälgen als ihre Seele.“ (Luther 1983: 757, Abschnitt 95)
Damit legitimiert der Reformator ganz offen die Tötung behinderter Kinder. Die Behauptung, sie seien „nur eine Massa carnis“, eine „Masse von Fleisch“, nimmt Rede- und Denkweisen vorweg, die im 20. Jahrhundert als Rechtfertigung für die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ generell, auch von Erwachsenen, diente und die die Massenmorde der Nationalsozialisten an behinderten Menschen ideologisch vorbereitet hat.5 Wir stoßen damit auf einen engen Zusammenhang von sozialer Konstruktion von Behinderung und (der Legitimation) sozialer Reaktionen auf Behinderung und zugleich auf eine ernste ethische Problematik. Sie liegt in der Bewertung eines Menschen mit der Formulierung „nur ein Stück Fleisch“. Sie gibt der Vorstellung Raum, Leben könne einen höheren oder geringeren Wert besitzen, wertlos und wertvoll sein, „lebenswert“, „nicht mehr lebenswert“ oder sogar „lebensunwert“. Dieser Begriff ist aufs engste mit einem ganz anderen historischen Kontext verbunden, nämlich der Ermordung von vermutlich fast 200 000 behinderten Menschen unter dem nationalsozialistischen Regime im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Die bürokratisch-industrialisierte Form des Massenmords an behinderten Menschen im NS-Regime ist historisch singulär. Nicht singulär, sondern unter sehr unterschiedlichen soziokulturellen und historischen Bedingungen anzutreffen waren und sind dagegen gesellschaftlich institutionalisierte oder zumindest legitimierte „Extremreaktionen“ (Neubert/Cloerkes) gegenüber einzelnen Menschen mit Behinderungen. Die Sozialgeschichte von Behinderung war immer auch eine Geschichte von Mord und Aussetzung, von Ausgrenzung und Infragestellung (des Wertes) von menschlichem Leben und ist es zum Teil auch noch heute.
Diese berüchtigten Autoren haben die Formel von „geistig Toten“ geprägt. Auch der Begriff „Wechselbalg“ enthält eine solche Reduktion des behinderten Kindes auf eine unbeseelte „Àeischliche Hülle“. Ein Balg ist – laut dem Etymologischen Wörterbuch von Kluge – ein „Schlauch, Sack, abgezogene Tierhaut“, also etwas mit organischem Ursprung, aber ohne „Inhalt“, leer. Victor Turner weist darauf hin, dass die im Text weiter unten eingeführten „Schwellenwesen“ in gewissem Sinne als „strukturell tot“ betrachtet werden (Turner 1967: 96). 5
„Kielkröpfe“ – Extremreaktionen auf Behinderungen
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Soziale Extremreaktionen im Umgang mit Behinderungen Kinder, Neugeborene und noch nicht Geborene sind von solchen Extremrektionen in besonderer Weise betroffen. In sehr vielen Kulturen werden Neugeborene getötet (Infantizid), die sehr starke Abweichungen bzw. Deformationen im Körperbau bzw. Aussehen zeigen und/oder starken Funktionseinschränkungen unterliegen.6 Meistens geschieht der Säuglingsmord direkt nach der Geburt, jedenfalls vor dem Zeitpunkt, zu dem ein Kind zur sozialen Person wird, etwa durch die Namensgebung dokumentiert. Manchmal urteilt der Vater (wie bei den „Fang“ in Zentralafrika), manchmal die Ältesten über das Schicksal der Neugeborenen (Neubert/Cloerkes 2001: 57). Manchmal – wie von den alten Griechen (Athen) durch Platon berichtet – ist es Sache der Hebamme zu entscheiden, ob ein Neugeborenes als „echtes Kind“ oder als „Trugbild“, „Missgeburt“ zu gelten habe (Müller 1996: 49). Auch bei Aristoteles ¿ndet sich in dessen politischem Hauptwerk „Politeia“ die Anweisung „kein verkrüppeltes Kind aufzuziehen“ (Aristoteles 1990: 1335b, 20). Müller beschreibt drastisch, zu welchen Grausamkeiten manche Sozietäten fähig waren: „Man bestrich dazu etwa, wie bei den Apinayé in Nordostbrasilien, die Brustwarzen der Mutter mit einem giftigen Dekokt, erstickte, erwürgte oder ertränkte die Kleinen, begrub sie bei lebendigem Leib, verbrannte sie oder setzte sie irgendwo in der Wildnis aus. Die Mütter, die das gewöhnlich selbst besorgten, zeigten weder Schmerz noch Trauer. ‚Krüppel‘ waren des Teufels, sie konnten nur Unheil über die ihren bringen, also schied man sie aus, zertrat sie, machte ihnen vollends den Garaus – denn eine irgendwie formelle Bestattung, die ihnen ein Fortleben im Jenseits gewährt hätte, blieb ihnen versagt: man warf ihre Leichname in den Busch oder verscharrte sie dort Àüchtig.“ (Müller 1996: 48).
Noch für die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts sind für Deutschland entsprechende Überzeugungen und Handlungen bei der Landbevölkerung verbürgt (Müller 1996: 50). Auch von der Tötung geistig behinderter Kinder wird in der ethnologischen Literatur berichtet.7 In unserem Verständnis psychisch kranke Menschen oder/und soziale Außenseiter können ebenfalls von einem gesellschaftlichen Todesurteil Es kann aber auch eine in den Augen dieser Sozietäten „soziale Behinderung“ sein, die zur Kindstötung führen kann – eine als „illegitim“ aufgefasste Herkunft, wenn z. B. in einer Gesellschaft, die die Herkunft vom Vater ableitet, eine Mutter nicht verheiratet ist (Murphy/Murphy 1985: 127). 7 Bei Neubert/Cloerkes wird die Aussage eines Angehörigen der Pokot (eines Nomadenvolkes in Nord-Kenia) überliefert, der sein schwer geistig behindertes Kind – ähnlich wie der Vater in der Sage von den Kielkröpfen – offenbar durch Ertränken töten wollte: „Two years ago, I decided that she was useless. As you can see, she cannot do anything but sit there and eat dirt (feces) und laugh all the time. But when I took her to the river I couldn’t do it. So I took her home and there she is.“ (Neubert, Cloerkes 2001: 66) 6
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betroffen sein. Ein Beispiel dafür ist die ubiquitäre Verfolgung von Menschen, denen Züge von Hexen oder Hexern zugeschrieben werden – noch im aufgeklärten 18. Jahrhundert wurden in Mitteleuropa die letzten Hexen verbrannt. Mit Feuer bekämpften auch die ehemals an den Großen Seen Nordamerikas beheimateten Ojibwa und andere benachbarte (Algonkin-)Stammeskulturen eine in unserem Verständnis psychotische Erkrankung, im Verständnis der Ojibwa eine Art Besessenheit durch ein Monster namens Windigo oder Wiitiko. Von der Windigo-Psychose Betroffene zeigten – bei Vorhandensein von konventionellen Nahrungsmitteln – eine manisch-depressive Symptomatik, Appetitlosigkeit und anorektische Symptome, Starrezustände (Stupor), Ängste verhext bzw. besessen zu sein und zunehmende (von ihnen selbst kommunizierte) kannibalistische Impulse. Eine Heilungschance gab es nach Meinung der Ojibwa offenbar nicht, die einzige Möglichkeit sahen sie darin den Windigo zu verbrennen. Angeblich sollen Betroffene in kurzen Zwischenphasen vorübergehender geistiger Klarheit selbst darum gebeten haben (dazu Landes 1968: 13; Parker 1960; Brightman 1988: insbes. 347). Auch diese Beispiele zeigen nicht nur deutlich, wie eng verknüpft bestimmte soziale Konstruktionen mit der Legitimation bestimmter sozialer Reaktionen sind, sondern auch, dass das Phänomen Behinderung buchstäblich eine Frage von Leben und Tod sein kann, wohlgemerkt: aufgrund der Reaktionen der sozialen Umwelt, nicht aufgrund einer medizinischen Problematik. Das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ebenso viele Beispiele aus der ganzen Welt gibt, dass angeboren behinderte Kinder aufgezogen und mit Fürsorge behandelt werden, dass behinderte Menschen selbstverständlich in soziale Gemeinschaften und Gesellschaften einbezogen sind. Aber was wir „Behinderung“ nennen, hat sehr unterschiedliche Gesellschaften und Kulturen dazu verführt, über menschliches Leben zu verfügen wie über eine Sache und eine Dimension von Wert und Unwert ins Spiel zu bringen. Die Frage nach lebenswertem und nicht-lebenswertem Leben wirft das Kollektiv auf: meist für, anstelle und oft gegen die behinderten Menschen, manchmal aber auch die betroffenen Menschen selbst.8 Das ist durchaus nicht ein Problem fremdartiger, weit entfernter und größtenteils nicht mehr existierender Stammeskulturen. Die Massenmorde des NS-Regimes an behinderten Menschen sind Bestandteil unserer eigenen jüngeren Geschichte und damit der Geschichte der Moderne. Soziologie der Behinderung muss sich auch gegenüber dieser ernsten ethischen Dimension ihres Themas verhalten und dazu beitragen, dass eine kritische DauerreÀexion der gesellschaftlichen Praxis des Umgangs mit Behinderung und behinderten Menschen wach gehalten wird.
8 Besonders dann, wenn sie durch eine schwere Erkrankung oder einen Unfall im Laufe ihres Lebens behindert wurden (z. B. Murphy 1990: 65).
Zwillinge und andere Schwellenwesen
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1.3 Zwillinge und andere Schwellenwesen – Relativität kultureller Konstruktionen von Behinderung Unsere Photographie hat uns zu einem kulturhistorischen Exkurs veranlasst und zu einer daran anknüpfenden kulturvergleichenden Betrachtung von extremen Umgangsformen mit Behinderung. Sie enthält aber einen weiteren, möglicherweise überraschenden Ansatzpunkt für die soziologische und kulturwissenschaftliche Rekonstruktion von Behinderung. Dieser liegt in dem Umstand, dass es sich bei Michail und Wladimir um Zwillinge handelt. Zwillinge als Anomalie Dass Zwillinge auf die Welt kommen, gilt in den unterschiedlichsten soziokulturellen Kontexten auf der ganzen Welt als ähnlich „anormale Geburt“ (Turner 2005: 52) wie die von körperlich schwer deformierten Kindern. Der bloße Umstand der Geburt von mehr als einem Kind oder/und das identische Aussehen als solchem war in der Geschichte für viele Gesellschaften ein höchst negativ bewertetes Phänomen. Es wirft – genau wie schwere Körperbehinderungen von Neugeborenen – Fragen nach einem Verschulden der Eltern (etwa während der Schwangerschaft) auf und ist in hohem Ausmaß normalisierungsbedürftig, im Extremfall – sehr oft analog zur Behandlung von Kindern mit schweren körperlichen Behinderungen – durch die aktive oder passive Tötung beider oder von einem der beiden Kinder. Das wird beispielsweise in der Literatur ebenso für die Buschmänner der Kalahari berichtet wie für eine ganz Reihe zentralafrikanischer Stammeskulturen, darunter die schon erwähnten Fang, für Volksgruppen im nordöstlichen Südamerika (Guyana), im Amazonasgebiet und Mittelamerika, Indianerstämme im heutigen Kalifornien (North Pomo, Kato, Wailaki, Mohave u. a.), australische Stammeskulturen, für die Ureinwohner Japans (ainu). Auch in vereinzelten Überlieferungen der griechischen und römischen Mythologie sowie des mitteleuropäischen Mittelalters ¿nden sich Berichte über Zwillingstötungen (vgl. insgesamt Neubert/Cloerkes 2001: 90; Turner 2005: 49 ff.; Rathmayr 24 ff., 28 ff.; Murphy/Murphy 1985: 166; Ingstad/ White 1995; Caille 2008). Mancherorts erhielten Zwillinge oder einer der beiden Zwillinge einen positiven Sonderstatus. Beispielsweise gehören nach Rattray (1923) bei den Aschanti „gleichgeschlechtliche Zwillinge rechtmäßig dem Oberhaupt und werden, wenn es sich um Mädchen handelt, später seine Frauen, wenn es sich um Knaben handelt, Elefantenschweifträger bei Hof“ (zit. bei Turner 2005: 50). Wie man sieht, ist aber auch dieser Sonderstatus wiederum mit einer Ausgrenzung aus ihrer natürlichen sozialen Umwelt verbunden. In anderen Fällen kennen Gesellschaften ausgefeilte rituelle Heil- bzw. Reinigungsrituale, der sich die Zwillinge und ihre Angehörige,
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teilweise sogar die ganze Lokalgemeinschaft unterziehen müssen. Unter Umständen werden die Zwillinge jahrelang isoliert oder wie die Zwillinge Remus und Romulus, der Sage nach die Gründer Roms, in die Wildnis oder aufs Wasser (!) ausgesetzt. In manchen Berichten ist sogar die Rede davon, dass auch die Mütter der Zwillinge getötet oder ausgestoßen wurden.9 Im Südwesten Madagaskars sind solche Praktiken in der Ethnie der Antambahoaka noch heute aufzu¿ nden (vgl. Caille 2008). Vereinzelt wird eine früher verbreitete Form des „Gottesurteils“ praktiziert.10 Zwillinge werden auf eine Viehweide oder in einen Stall mit Zebus gelegt. Nur wenn sie nicht durch die Tritte der Tiere getötet werden, können sie weiterleben. In den meisten Fällen starben die Kinder aber oder wurden schwer verletzt. Ein Problem großen Stils ist heute noch die Aussetzung von Zwillingen, auf das mit der Gründung einer entsprechenden Initiative mit dem Namen CATJA (für Centre d’accueil et de transit des jumeaux abandonnés) reagiert wurde, die die verlassenen Zwillinge in ein Waisenhaus aufnimmt. In einer Reportage der französischen Journalistin Linda Caille (2008) wird die Äußerung eines älteren Angehörigen der Ethnie zitiert, in der die Entwertung, ja Verachtung zum Ausdruck kommt, die Zwillingen und ihren Eltern in dieser Kultur entgegen gebracht wird: „Il n’y a que les chiens pour avoir des portées multiples.“ (sinngemäß: „Nur Hunde haben Mehrlingswürfe.“). Die Autorin erwähnt im selben Artikel den Appell eines Zwillingspaars an den Präsident von Madagaskar, in dem es heißt: „On vous demande de nous aider … les petits jumeaux sont des êtres humains chez vous.“ („Wir bitten Sie uns zu helfen … kleine Zwillinge sind menschliche Wesen wie Sie auch.“) Für die Gruppe der Punan Bah in Nordmalaysia berichtet die Ethnologin Ida Nicolaisen für die 1970er und 1980er Jahre: „The birth of twins is a social disgrace and believed to pose physical danger to both mother and children. The birth of twins is generally explained as an indication of insatiable sexual urge, a sign that the couple did not refrain from intercourse during the woman’s pregnancy, as they ought to have, and hence they produced doublets. These
vgl. Rathmayr 2000: 28 Die Information darüber, dass diese Praxis noch heute existiert, verdanke ich Elena Zimmermann, die im Rahmen eines Praktikums im Land damit konfrontiert wurde (persönliche Mitteilung Herbst 2009; vgl. Caille 2008). Diese Praxis und die der Aussetzung von Zwillingen in der Region Mananjary in Südostmadagaskar wird in einer Reihe von Berichten der Vereinten Nationen zu den Kinderrechten erwähnt, z. B. im Länderbericht Madagaskar von 2003 zur Umsetzung der Kinderrechte (CRC/C/70/ Add.18, 25.3.2003). Im Dezember 2009 wurde in der Hauptstadt von Madagaskar im Centre Culturel Albert Camus eine Ausstellung mit Photos des malgassischen Photographen Pierrot Men und des marokkanischen Photographen Malik Nejmi zum Thema gezeigt (vgl. http://www.madamatin.com/ articles/culture/exposition-4-12.html). 9
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are given life, however, by the ancestors spirits, which ‚have decided to let themselves be reborn‘. At birth these spirits do not enter the bodies of the babies – that happens only later – but they take up residence at the bosom of the mother. To shelter two such powerful spirits, the Punan Bah explain, is dangerous for the woman. Today a family will arrange, if possible, for one twin to be given away in adoption … If they fail to do so, one of the twins withers away. There are no adult twins among the Punan Bah to the best of my knowledge.“ (Nicolaisen 1995: 43)
Im letzten Satz deutet die Ethnologin an, dass bis in die Gegenwart hinein einer der beiden Zwillinge so vernachlässigt werden kann, dass er das Erwachsenenalter nicht erreicht. Ähnliche Verhaltensweisen unterstellt die Ethnologin in der Vergangenheit auch bei ganz bestimmten Behinderungen (Nicolaisen 1995: 44, 54). Auch die „Theorie“, dass ein bestimmtes Fehlverhalten der Eltern während der Schwangerschaft mitursächlich sei für körperliche Anomalien, ¿ ndet sich als Deutungsmuster im Zusammenhang mit Zwillingen wie mit Behinderungen (ebd. 42 f.). Eingebettet sind diese Annahmen bei den Punan Bah in eine komplexe Konstruktion der Entwicklung und Personwerdung von Menschen. So haben Kinder nach der Geburt generell noch nicht den Status menschlicher Personen. Dieser hängt davon ab, dass der Geist eines Ahnen von dem Körper des Kindes Besitz ergreift. Dies geschieht in der Regel im Alter von einem halben Jahr, wenn das Kind Zähne bekommt und in der Lage ist, sich selbstständig herum zu drehen. Erst dann erhält es einen Namen. Vorher be¿ ndet sich das Kind in einem vorpersonalen Status und wird sogar als tendenziell schmutzig und unrein („polluting“) betrachtet. Schwellenwesen Diesen problematischen Status behalten Zwillinge ebenso wie Kinder mit schweren Behinderungen, vorausgesetzt sie bleiben am Leben, in vielen Kulturen dauerhaft. Ebenso wie Babies bei den Punan Bahs sind Zwillinge und schwer behinderte Kinder, um eine berühmte Formulierung von Victor Turner aufzugreifen: „betwixt und between“, d. h. sie fallen aus herkömmlichen gesellschaftlichen Klassi¿ kationen heraus. Viktor Turner hat mit diesen Worten eine Kategorie von Personen beschrieben, die sich in praktisch allen Kulturen meist für eine gewisse Zeit, manchmal aber auch dauerhaft in einem kollektiven Außenseiterstatus be¿nden. Turner nennt sie in Anknüpfung an die Ritualtheorie von Arnold van Gennep „Schwellenwesen“, „neophytes“, „Personen im Status der Liminalität“, um anzudeuten, dass sie „Grenzgänger“ sind. Sie werden als nicht ganz außerhalb, aber auch nicht innerhalb der menschlichen Gesellschaft verortet, sondern eben: auf der „Schwelle“, im „Niemandsland“, weil sie jenseits
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der gesellschaftlichen Klassi¿ kationssysteme stehen. Den als „Schwellenwesen“ behandelten Menschen wird misstraut, sie gelten als unberechenbar, potentiell gefährlich, unrein: „The unclear is the unclean“ (Turner 1967: 97). Der Umgang mit ihnen ist von hochgradigen Verhaltensunsicherheiten und -Ambivalenzen geprägt. Sie werden gesellschaftlich ausgegrenzt und leben sehr oft in besonderen eigenen Gemeinschaften, für die ganz eigene Strukturprinzipien gelten. Es handelt sich, im Gegensatz zur eigentlichen Sozietät, um eine Gemeinschaft von gleichartigen Individuen, deren Beziehungen untereinander egalitär, entdifferenziert und sehr oft entsexualisiert sind („communitas“), die aber insgesamt einer rigiden Kontrolle und Herrschaft durch die Mehrheitsgesellschaft vertretenden Autoritätspersonen unterworfen ist. Der Status der Liminalität wird in der kulturellen Repräsentation vielfach mit der Darstellung von Mischwesen (zwischen Tier, Mensch, PÀanze, z. T. Elemente der unbelebten Natur, zwischen verschiedenen Geschlechtern), Monstern verknüpft (Turner 1967: 104 ff., Turner 2005: 95).11 Die von Bechstein überlieferte Geschichte von den Kielkröpfen lässt sich auch als Zuweisung eines solchen Status der Liminalität lesen. „Kielkröpfe“ sind in der Perspektive der Sage „Schwellenwesen“. Sie werden als Wesen mit unklarem Status ausgewiesen, gehören den Unterirdischen an, die ja der Sage nach von Menschen abstammen, aber eben nicht unter Menschen, sondern unter der Erde leben. Am Ende wird der Kielkropf in die Gemeinschaft von seinesgleichen verstoßen. Nach dem Motto „was drunten ist, soll drunten bleiben“ kehrt er in die Gesellschaft der Unterirdischen zurück. Viele Kulturen haben, wie wir gesehen haben, eine Tendenz sowohl diejenigen Menschen in einem solchen Schwellenstatus zu sehen, die anders aussehen wie andere Menschen als auch die, bei denen das Problem eher die übergroße Ähnlichkeit zu einem anderen Menschen ist. Sie ertragen offenbar weder die perfekte Symmetrie zwischen Alter und Ego, noch die zu große Asymmetrie zwischen Alter und Ego. Die kulturellen Stereotypen des Monsters greifen nicht selten auf mögliche Aspekte körperlicher und psychischer Behinderung zurück wie Entstellung, Hinken, gekrümmte Körperhaltung, „schiefe“ Gesichtszüge, Unberechenbarkeit des Verhaltens. Das Gemeinsame dieser Merkmale liegt in Symmetriebrüchen. Nicht selten enthüllt sich das Erschrecken davor als ein Erschrecken vor einem komplementären Alter Ego, einem ungleichen Zwilling („evil twin“ sagt man im Englischen) oder einem illegitimen Geschwister: Mister Der amerikanische und selbst von einer schweren Behinderung betroffene Anthropologe Robert L. Murphy hat diese Kategorie der Liminalität auf den Status behinderter Menschen in der nordamerikanischen Gesellschaft angewendet und die These aufgestellt, dass diese von der Gesellschaft einen dauerhaften Status der Liminalität zugeschrieben bekommen. Besonders augenfällig wird diese Analyse, wenn er die Ambivalenz der Reaktion von Nicht-Behinderten sowie das Leben behinderter Menschen in Einrichtungen beschreibt (vgl. Murphy 1988 sowie ausführlich Kapitel 6.4). 11
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Jekyll und Dr. Hyde, Werwolf, Windigo, die fünf schönen und die fünf hässlichen Kinder, der Kielkropf und sein verschwundenes Gegenstück. Hieran ließe sich eine ganze kulturübergreifende Mythologie des Doppelgängertums anschließen, die ebenso den gleichen Anderen wie den ungleichen Anderen umfassen müsste.12 Symmetrie und Asymmetrie Der Ethnologe Klaus E. Müller zeigt in seinem Buch „Der Krüppel“, dass menschliche Gesellschaften weltweit eine Ideologie der „Maßgestalt“ und Symmetrie praktizieren (Müller 1996: 104 ff.). Die Kriterien dafür sind wie für „Schönheit“ schlechthin das Ergebnis einer Idealisierung: „Schönheit erwächst aus Idealisierung, die Störendes forttilgt und den Erscheinungen Ebenmaß verleiht“ (ebd.). Dabei spielt ein Distanzphänomen eine wichtige Rolle. Die Symmetrie der Krone eines Baumes zeigt sich erst, wenn ich von dem Chaos der „Verästelungen“ zurück trete. Erst aus der Ferne werden Unebenheiten nicht mehr wahrgenommen, gelingt eine Geometrisierung des Gesehenen. Symmetrie reduziert Komplexität, sie vereinfacht, sie ermöglicht Prognosen und sie ermöglicht Identi¿ kation, diese Eigenschaften sind mit anthropologischen, anatomischen und wahrnehmungspsychologischen Grundstrukturen verbunden. Der menschliche Körper ist von außen gesehen und in den für Wahrnehmung und Motorik entscheidenden Organen Augen, Ohren, Hände, Beine symmetrisch aufgebaut. Das mag die Anknüpfung kultureller Normsysteme erleichtern, die aber umgehend eine Eigendynamik gewinnt, die sich von den empirischen Gegebenheiten lösen. Weltweit ¿ nden sich Darstellungen des Bösen, unheimlichen, bedrohlichen, monsterhaften eingekleidet in eine Stilisierung des Symmetriebruchs, des Asymmetrischen, des Nicht-Zusammengehörigen und damit oft genug in Bilder gekleidet, die Elemente von Behinderung aufgreifen. Der Teufel hat ein Bocksbein und er hinkt, das Gesicht der Hexe ist von Warzen entstellt. Oft genug werden Monster von den grotesken Darstellungen des Hieronymus Bosch (sichtlich vom Anblick der bettelnden „Krüppel“ der mittelalterlichen Städte inspiriert) bis zum modernen Horror¿lm mit den Insignien von Behinderung versehen: Entstellung, Asymmetrie, Unförmigkeit, „Buckel“ und Hinken, eine fremdartige Stimme und Sprechweise, mit prothetischen Elementen, aber auch mit Kompetenzen, Begabungen und Charaktereigenschaften, die unheimlich sind, weil sie „normale“ Menschen nicht haben (vgl. Shildrick 2002). Das wirft die Frage auf, ob die massiven Reaktionen auf Behinderungen nicht auch damit etwas zu tun haben, dass wir die Behinderung des Anderen als Spiegel unser eigenen Möglichkeit
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Vgl. dazu Stiker 2005: 216 ff., vgl. auch unten Kapitel 6.4, sowie Rank 1925.
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behindert zu sein erfahren, wie viele sozialpsychologische Theorien unterstellen. Die anderen sollen sein wie wir, der andere soll mir ein durchschnittliches Bild der Unversehrtheit bieten, ein gemäßigtes Bild der Symmetrie zuspielen, das zur Identi¿ kation einlädt: du bist wie ich (sein will), ich bin wie du.13 Wird die Ähnlichkeit zu groß, die Symmetrie perfekt, entstehen neue Ängste: der Doppelgänger wird zugleich gesucht wie gefürchtet. Dass auf mystische Weise zwei identisch sind, dass für eine neu zu besetzende Position in der Familie und Geschwisterfolge plötzlich zwei da sind, wird als so unnormal erfahren, dass in jedem Fall Maßnahmen getroffen werden müssen (Turner 2005: 49). Die Zwillinge fallen ebenso aus der Kontinuität der sozialen Beziehungen heraus wie das schwer körperlich behinderte Kind. Menschliche Gesellschaften sind so gesehen von einer unbarmherzigen Spitz¿ndigkeit. Sie verfolgen sowohl die Abweichung von der Symmetrie der Doppelgängerschaft, als auch die zu perfekte Symmetrie. In beiden Fällen können sie zum Äußersten greifen: der physischen Tötung oder der sozialen Ausstoßung. Auf frappierende Weise zeigt aber der Fall der Zwillinge außerdem die kulturelle Relativität dessen, was wir „Behinderung“ nennen. Diese Bezeichnung und die damit verbundenen Klassi¿ kationen und Taxonomien (zum Beispiel die Aufgliederung nach körperlichen Behinderungen, Sinnesbehinderungen, geistigen Behinderungen und psychischen Behinderungen) sind alles andere als selbst verständlich. Jeder Kulturvergleich hat mit dem Problem zu kämpfen, dass vielfach in anderen Sprachen schon kein Wort existiert, das dasselbe semantische Feld wie „Behinderung“ oder auch das anglosächsische „Disability“ aufweisen würde. Oft gibt es nur konkrete Bezeichnungen für Abweichungen im Aussehen, in Funktionen oder im Verhalten von Menschen, aber keinen übergeordneten Begriff oder nur einen mit anderem Umfang (vgl. dazu Ingstad/Whyte 1995; Neubert/ Cloerkes 2001; Sagner 2001).14
Dafür spräche die kulturübergreifende Neigung Angehörigen anderer Rassen und Kulturen nach Maßgabe der „Symmetrie“ zum eigenen Aussehen und Gehabe schön zu ¿ nden: „Sie sind wie wir, sie sind schön.“ (Müller 1996: 79). „Gleichmaß erst, das Identi¿zierung erlaubt, macht Verständigung möglich, und wird eben daher gesucht.“ (Müller 1996: 105). 14 Beispielsweise kennt die Massai-Sprache wie die unsere eine große Anzahl von konkreten Bezeichnungen für Phänomene, die wir unter „Behinderung“ zusammenfassen (z. B. Lähmung, Einbeinigkeit, Blindheit, Deformation, Epilepsie). Allerdings existieren dafür andere Metaklassi¿ kationen. Laut Talle (1995) lautet das Wort, das unserer Kategorie „Behinderung“ am nächsten kommt „olmaima“. Damit wird zugleich eine Eidechsenart bezeichnet, die sich durch einen schwerfälligen Bewegungshabitus auszeichnet. Der Ausdruck betont eine physische Schädigung, die zu Schwierigkeiten in der Fortbewegung und Mobilität führt, ein für eine Nomadengesellschaft sehr wichtige Lebensdimension. Für Sinnesbeeinträchtigungen, geistige und psychische Einschränkungen und bestimmte Arten von Entstellungen, die bei uns ebenfalls als „Behinderungen“ bezeichnet werden können, haben die Massai andere Überbegriffe, die andere Konnotationen aufrufen als die der Einschränkung. (vgl. Talle 1995). 13
Von der Elimination zur Inklusion
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Wir müssen dann auf Außenkriterien zurückgreifen, wenn wir Vergleiche ziehen wollen: etwa, dass es sich um körpergebundene Anomalien handelt, die als auffällig gelten und zum Problem gemacht werden, die von den entsprechenden Kulturen als Ergebnis eines irgendwie als schädigend betrachteten Prozesses verstanden werden und ggf. mit emp¿ ndlichen Einschränkungen der sozialen Partizipation der betroffenen Menschen verknüpft sind.15 Im Rahmen einer so von außen heran getragenen Kategorie „nicht-normaler“ körperlicher Phänomene tauchen dann plötzlich Gemeinsamkeiten so unterschiedlicher Merkmale auf wie zum Beispiel Unfruchtbarkeit, Albinismus, Kleinwüchsigkeit, körperliche Entstellung, Illegiti mität der Abstammung oder sogar Rothaarigkeit auf (vgl. Ingstad/Whyte 1996: 272; Turner 2005: 52; Müller 1996: 9 ff.; Murphy/Murphy 1985: 166). Alle diese Merkmale können, unabhängig von den jeweils gültigen Bezeichnungen, objektiv zu sehr ähnlichen stigmatisierenden Verhaltensweisen führen. Ein frappierendes Beispiel für die kulturelle Relativität der Betrachtung solcher zugeschriebener „Andersartigkeiten“ (Neubert/Cloerkes) ist eben die Geburt von Zwillingen. Wir werden sehen, dass „Behinderung“ auch schon in unserer Kultur eine höchst unscharfe Bezeichnung ist, eine wirklich präzise De¿nition existiert nicht. Gemeinsam ist aber allen Kulturen das Thema als solches und seine Verknüpfung mit grundsätzlichen Deutungen dessen, was menschliches Leben ist und nicht ist, mit Grenzfällen und Grenzbereichen des menschlichen Lebens. Das reicht bis zu der Frage, ob es Bedingungen des Lebens gibt, die seinen Wert in Frage stellen. Die biologischen Eckpunkte des menschlichen Lebens: Geburt, die Entwicklung von Kindern, Sexualität, Ernährung, Gesundheit, Behinderung, Krankheit und schließlich der Tod – das sind offenbar universal ausdeutungsbedürftige Phänomene. Wie verschieden solche Ausdeutungen im Einzelnen auch sein mögen – sie beinhalten immer Vorstellungen über „normale“ und „anormale“ Körperzustände, -Merkmale und -Prozesse („Krankheiten“), aber auch über dauerhafte Anomalien des Körpers („Behinderungen“). Kulturen entwickeln im Einzelnen sehr unterschiedliche Erklärungen und Deutungen solcher Anomalien sowie Techniken und Strategien, um damit umzugehen (Sagner 2001; Ingstad, Whyte 1995; Neubert/Cloerkes 2001). 1.4 Von der Elimination zur Inklusion –Relativität sozialer Reaktionen auf Behinderung Kehren wir zurück in die Wohnstube von Wladimir und Michail. Die Photographie, von der wir ausgingen, erhält vor dem Hintergrund der kulturhistorischen
15
Vgl. auch die unten vorgeschlagene De¿nition von Behinderung (Kapitel 4).
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Prolog: Doppelgänger – von Kielkröpfen und Zwillingen
und kulturvergleichenden Bezüge die Bedeutung einer möglichen doppelten gesellschaftlichen Stigmatisierung der beiden Jugendlichen – der körperlichen Behinderung (Hydrocephalus, Gehörlosigkeit) und des Zwillingsseins. Aber die Photographie enthält, wenn wir uns nur an ihre Bildsprache halten, auch eine Art Utopie. Wladimir, nach landläu¿gen Maßstäben ein „schönes Kind“, hält seinen Zwillingsbruder, in der Bechstein-Sage ein „Kielkropf“ und „Abkömmling der Unterirdischen“, ein „hässliches Kind“, in den Armen. Fast ist man versucht die beiden imaginären Doppelgänger der Kielkropfsage: das angeblich „richtige“ Kind und seinen eingewechselten Doppelgänger vereint zu sehen. Die Handhaltungen der Brüder verraten Fürsorge und Lässigkeit zugleich, zeigen eine Pose der Selbstverständlichkeit, die auf Vertrautheit, Umgang und Gemeinschaft hindeutet. Spätestens, wenn man die Ähnlichkeiten der ungleichen Brüder zu registrieren beginnt – im Blick, in der Form der Lippen und der Nase – beginnt sich der Eindruck einer Beschämung über die eigene anfängliche Reaktion angesichts des Anblicks des Photos aufzudrängen. Es folgt möglicherweise die Einsicht, dass hinter den kulturellen Stereotypen des „Monströsen“ (Shildrick 2002) das steht, was wir vielleicht insgeheim am meisten befürchten – eine an einen Körper gebundene und von ihm getragene Subjektivität, die uns im Gegensatz zu dem ungewohnten äußeren Anblick nicht so fremd ist, wie wir annehmen wollen. Die Imago eines „ganz normalen“ Jungen, der einen behinderten Jungen in eine lässige, cool wirkende Sitzhaltung einbezieht, eine Lässigkeit, die ohne jeden Anklang eines demonstrativen oder sentimentalen Mitleids ist, ruft die Imago einer Einbeziehung, einer Inklusion behinderter Menschen hervor. Wir wissen nicht genau, wie sozial isoliert die beiden Geschwister sind. Immerhin leben die beiden bei ihren Eltern und nicht in der institutionell segregierten Umgebung eines Heimes. Aber die Grammatik des Bildes vermag dennoch eine Utopie von Integration und Inklusion, des selbstverständlichen Einbezogenseins und Dazugehören zu transportieren. Diese Utopie nimmt, je nach gesellschaftlichem, politischem oder theoretischen Kontext sehr unterschiedliche Bedeutungen an, der (menschen) rechtlichen Anerkennung, der umfassenden Sozialintegration, der Normalität und Normalisierung von Behinderung im Alltag, ja der AuÀösung von Behinderung in eine Pluralität von Heterogenitäten, in der es „normal ist, anders zu sein“. Diese Utopie wird anderen historischen und sozialen Möglichkeit gegenüber gestellt: der „Extinktion“ (Wocken 2009), der „Elimination“ (Ravaud/Stiker 2001), der aktiven und passiven Tötung (Neubert/Cloerkes 2001). „Elimination“ und „Inklusion“ bilden so die beiden äußersten Pole des gesellschaftlichen Umgangs mit einem Phänomen, das wir Behinderung nennen (vgl. unten Kapitel 6.2). *
Von der Elimination zur Inklusion
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Durch die Interpretation des Photos von Robert Knoth, die Vergegenwärtigung seines dokumentarischen Hintergrundes und das Aufrufen zweier kulturhistorischer und -vergleichender Assoziationen deutet sich bereits so etwas wie eine einfache Systematik einer soziologischen Zugangsweise zu Phänomenen der Behinderung an. Unsere eigenen Reaktionen auf das Photo, die Geschichte der Kielkröpfe und die Informationen zu den Zwillingen haben gezeigt, wie eng verknüpft bestimmte gesellschaftliche Deutungen und Konstruktionen (Kapitel 7) mit gesellschaftlichen Reaktionen, Umgangsformen, Be-Handlungen von Behinderung sind (Kapitel 6). Der Fall von Wladimir und Michail weist zugleich ganz direkt auf eine dritte soziologische Dimension von Behinderung. Sie liegt in der in den geisteswissenschaftlich geprägten Diskursen der soziologischen Theorie allzu gern vernachlässigten Dimension der materiellen sozialen Produktion von Behinderung (Kapitel 5) in Gestalt der menschengemachten Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Diese bildete den Ausgangspunkt des dokumentarischen Vorhabens des Photographen Robert Knoth (Knoth/de Jong 2006) und beinhaltet ebenso den Aspekt der Nutzung wie der mangelnden Kontrolle der gesellschaftlichen Produktivkräfte, aber auch die Frage der sozial ungleichen Exposition von Menschen gegenüber technischen Risiken. Die ReÀexion unserer eigenen Reaktionen angesichts des Photos von Robert Knoth hat uns gezeigt, wie abhängig von sozialen Erwartungen und Normen unsere Wahrnehmung und Deutung der Realität von Körperlichkeit (und ihrer Behinderung) ist. Dies wirft die Frage nach dem Verhältnis von Körperlichkeit und Sozialität (Kapitel 3) ebenso auf wie die Frage nach dem Verhältnis von Soziologie, Körper und Behinderung (Kapitel 2 und 3). Wir haben außerdem gesehen, wie hochgradig abhängig von soziokulturellen Deutungssystemen das ist, was wir als Behinderung bezeichnen. Diese Relativität des Phänomens Behinderung wirft die Frage auf, ob und wie man Behinderung eigentlich „de¿nieren“ kann (Kapitel 4).
2 Soziologie der Behinderung zwischen Naturalismus und Sozial-Konstruktivismus
2.1 Was zählt als Behinderung? Dass die eine der ganz zu Anfang gestellten Fragen „Was ist eigentlich unter Behinderung zu verstehen?“ nicht so ohne weiteres zu beantworten ist, ist uns in der Auseinandersetzung mit der Photographie von Robert Knoth und den daran anknüpfenden Exkursen deutlich geworden. Diese Schwierigkeit hängt aber mit der anderen Frage „Was genau hat Soziologie damit zu tun?“ aufs Engste zusammen. Sie entsteht, gerade weil offensichtlich „Behinderung“ so sehr mit kultur- und gesellschaftsabhängigen Konstruktionen und Reaktionen verknüpft ist. Die landläu¿ge Ansicht hält „Behinderung“ für eine Angelegenheit, für die das Fach Medizin zuständig ist und in der Regel sieht das Alltagsverständnis auch keine allzu großen Probleme darin zu entscheiden, ob jemand behindert ist oder nicht. Rollstuhlfahrer gehören de¿nitiv dazu, Zwillinge selbstverständlich nicht. Wir gehen in eine weitere Runde zur Beantwortung der Fragen der Einleitung und knüpfen dazu an dem in unserer eigenen Gesellschaft verbreiteten Verständnis von Behinderung an. Es ist dazu naheliegend einen Blick in die amtliche Statistik zu werfen. Statistiker müssen schließlich wissen, was sie zählen – sollte man meinen. Den differenziertesten Einblick bietet in Deutschland die alle zwei Jahre aktualisierte Statistik schwerbehinderter Menschen. Tabelle 1 zeigt die leicht bearbeiteten Daten mit Stand vom 31.12.2007. Hinter dem Begriff „schwerbehindert“ verbirgt sich eine juristische Kategorie. Als „behindert“ gelten laut dem § 1 des Neunten Sozialgesetzbuches Menschen, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ (§ 1 SGB IX). Diese Teilhabebeeinträchtigung wird als „Grad der Behinderung“ in einem nach Zehnergraden abgestuften System in der Regel durch ärztliche Gutachter festgestellt.16 Im Rahmen des sozialen Entschädigungsrechts (Unfallversicherung, Versorgungsrecht) wurde bis 2007 statt „Grad der Behinderung“ (GdB) die Bezeichnung „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ (MdE) verwendet, seit 2007 der Begriff „Grad der Schädigungsfolgen“ (GdS). Das Bemessungsverfahren ist in allen Fällen das gleiche, der GdS stellt aber aufgrund seiner Funktion im Entschädigungsrecht nur auf jeweils zur Rede stehende konkrete Schädigungsfolgen ab, während der GdB sich auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig von ihrer Ursache, bezieht.
16
38
Soziologie der Behinderung
Menschen gelten als schwerbehindert, wenn ihnen ein GdB von 50 oder mehr zuerkannt wurde. Liegen mehrere Behinderungen vor, so wird die „schwerste“ Behinderung ausgewiesen. Tabelle 1
Schwerbehinderte Menschen am 31.12.2007 nach Art der schwersten Behinderung (Statistisches Bundesamt 2009a: 10)
Art der schwersten Behinderung Verlust oder Teilverlust von Gliedmaßen
Anzahl
%
73 831
1,1
Funktionseinschränkung von Gliedmaßen
953 675
13,8
Funktionseinschränkung der Wirbelsäule und des Rumpfes, Deformierung des Brustkorbes
870 049
12,6
Blindheit und Sehbehinderung
348 442
5,0
Sprach- oder Sprechstörungen, Taubheit, Schwerhörigkeit, Gleichgewichtsstörungen • darunter Gehörlosigkeit • darunter Schwerhörigkeit
282 035
4,1
47 858 218 613
0,7 3,2
Entstellungen u. a., Verlust einer Brust oder beider Brüste, • darunter Kleinwuchs • darunter Verlust einer Brust oder beider Brüste
177 323 1 927 171 314
2,6 0,0 2,6
Beeinträchtigung der Funktion von inneren Organen bzw. Organsystemen • darunter Herz-Kreislauf
1 748 483 563 996
25,3 8,2
Querschnittlähmungen, zerebrale Störungen, geistig-seelische Behinderungen, Suchtkrankheiten • Querschnittlähmung • hirnorganische Anfälle und Syndrome • Störungen der geistigen Entwicklung (z. B. Lernbehinderung, geistige Behinderung • psychische Behinderungen (Psychosen, Neurosen-, Persönlichkeitsund Verhaltensstörungen) • Suchtkrankheiten
1 305 481
18,9
16 886 624 487 271 443
0,2 9,0 3,9
343 385
4,9
49 280
0,7
Sonstige und ungenügend bezeichnete Behinderungen
1 158 853
16,8
Insgesamt
6 918 172
100
Damit wird schon deutlich: Die Statistik zeigt nur einen Ausschnitt der von Behinderung betroffenen Menschen, eben die amtlich festgestellten Schwerbehinderten. Das waren am Ende des Jahres 2007 rund 6,9 Millionen Menschen. Das entspricht einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 8,4 %. Von diesen 6,9 Millionen Menschen weisen rund 2,7 Millionen (39 %) mindestens eine weitere zusätzliche Behinderung auf. Wie hoch die Zahl der „behinderten“ Menschen insgesamt ist, ist schwierig zu beurteilen. Nicht erfasst sind die Menschen mit einem geringeren Grad der Behinderung (< 50) sowie die, die sich überhaupt keiner amtlichen
Was zählt als Behinderung?
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Feststellung der Behinderung unterzogen haben. Das kann verschiedene Gründe haben: von Unwissen über Scham bis zur bewussten Entscheidung dagegen, um ggf. gefürchteten Stigmatisierungen zu entgehen. Wie viele behinderte Menschen es insgesamt gibt (wenn so eine Formulierung überhaupt Sinn macht), darüber lässt sich nur spekulieren. Es gibt Schätzungen, die für die Bundesrepublik einen Gesamtanteil von 10 % an der Bevölkerung unterstellen. In jedem Fall stellt sich das nahezu unlösbare Problem einer fehlenden einheitlichen De¿nition und damit zusammenhängend der Abgrenzung gegenüber leichteren, sozusagen „normalen“ Funktionsbeeinträchtigungen, beispielsweise einer durch eine rheumatoide Arthritis beeinträchtigten Hand, die „nicht mehr so richtig will“. Wie schwierig diese Sache ist, zeigt ein Blick in die Internationale Statistik. Die Statistikabteilung der Vereinten Nationen (UN) hat die Ergebnisse nationaler Erhebungen gesammelt und zusammen gestellt: die dort genannten Anteile behinderter Menschen an der Gesamtbevölkerung bewegen sich dabei zwischen 0,8 % in Syrien (1993) und 33 % (Stadt) bzw. 39 % (Land) in Norwegen (1991). Diese absurden Unterschiede hängen eindeutig mit den der Erhebung zugrunde gelegten Fragen zusammen und zeigen überdeutlich, dass sich jeder internationale Vergleich rundweg verbietet (vgl. insgesamt United Nations 2007).17 De¿nitions- und Klassi¿kationsprobleme Vergleicht man die der deutschen Schwerbehindertenstatistik zugrunde liegende De¿nition des SGB IX mit den Kategorien der Tabelle, legt sich zudem der Verdacht nahe, dass der im Gesetz genannte Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Teilhabe zumindest nicht primäres Beurteilungskriterium ist. Zwar sollte das Kriterium der Teilhabe in die Zuerkennung des Grades der Behinderung eingehen. Die entsprechenden Richtlinien zur Begutachtung geben aber nur eine sehr schematische Zuordnung vor. Die Verfahrensweise als solche wurde von dem Arzt Viktor von Weizsäcker schon in den frühen 1930er Jahren scharf kritisiert:
Die Unterschiede werden verständlicher, wenn man die Erhebungsmethoden einsieht. So wurde in Syrien im Rahmen einer repräsentativen Haushaltsbefragung auf die pauschale Frage beantwortet: „Does anyone in this household, including very young children and women, have any long term condition or health problem which prevents or limits his/her participation in activities normal for a person of his/her age?“, während in Norwegen sehr detaillierte Abfragen über eng umrissene funktionale Beeinträchtigungen zugrunde liegen (z. B. beim Treppensteigen, Anzeigen), die sich in einer Grauzone zwischen Behinderung, Beeinträchtigung des allgemeinen Gesundheitszustands, altersbedingten Einschränkungen und Be¿ ndlichkeitsbeeinträchtigung bewegen und der Beantwortung wie der Interpretation erhebliche Spielräume lassen.
17
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Soziologie der Behinderung „Welche intellektuellen Operationen führen den Arzt eigentlich von der Betrachtung eines Röntgenbildes zu der Aussage, es bestehe 0, 20, 40 oder 80 % Erwerbsminderung? Keine! Ein nebelhaftes Gefühlsurteil, ein Eindruck von der moralischen Willigkeit des Kranken, eine unbewusst zustande kommende Gewohnheit des Schätzens wirken zusammen.“ (Weizsäcker 1986: 38)
Dabei zeigen sich zum Teil Überlappungen mit dem Alltagssprachgebrauch von Behinderung, zum Teil aber nicht. Inbegriffe von Behinderung sind für den berühmten Mann und die berühmte Frau von der Straße beispielsweise die Querschnittslähmung, die zur Benutzung des Rollstuhls zwingt, der Verlust von Gliedmaßen, Blindheit und Gehörlosigkeit sowie geistige Behinderung, wenn sie – wie das Down-Syndrom – mit körperlichen Merkmalen einher geht oder das Verhalten in sehr auffälliger Weise prägt. Das „Master-Kriterium“ des Alltags ist eine hohe Visibilität (Wahrnehmbarkeit) der Behinderung im Aussehen oder im (kommunikativen) Verhalten. So würde man sicher auch im Alltagssprachgebrauch „Funktionseinschränkungen von Gliedmaßen“ (v. a. der Beine), „Blindheit“, „Gehörlosigkeit“, „Querschnittslähmung“, bestimmte Formen „geistiger Störungen“ oder durch Schädel-Hirntraumata verursachte dauerhafte Ausfallserscheinungen (z. B. in Sprache, Motorik) als Behinderung bezeichnen. Dass auch der Verlust einer Brust, chronische Herz-Kreislauferkrankungen oder psychische Erkrankungen Behinderungen sind, dürfte aber eher gewöhnungsbedürftig sein. Insbesondere überrascht in der Schwerbehinderungsstatistik der hohe Anteil an Behinderungen der Kategorie „Beeinträchtigung der Funktion von inneren Organen oder Organsystemen“. Darunter fallen insbesondere HerzKreislaufproblematiken (z. B. im Gefolge eines akuten Infarkts), aber auch der Atmungs- oder Verdauungsorgane oder des Stoffwechsels (z. B. Diabetes mellitus). Hier ergeben sich – sicher auch im Selbstverständnis der Betroffenen – Abgrenzungsprobleme zum Begriff der (chronischen) Erkrankung. Für die zitierte De¿nition des SGB IX ist es aber wohlgemerkt unerheblich, worauf eine Beeinträchtigung zurückzuführen ist. Entscheidend ist nur, dass sie über ein halbes Jahr andauert. Die soziologische Betrachtung von Behinderungsphänomenen lässt sich nicht vom gesellschaftlichen Sprachgebrauch abkoppeln, weder von dem des Alltagsmenschen, noch von juristisch, medizinisch oder sozialpolitisch wirksamen Verwendungen des Begriffs Behinderung, daher dieser Rückgriff auf die amtliche Statistik zu einer ersten Kennzeichnung des Gegenstandsbereichs. Mit „Behinderung“ werden wir also sehr heterogene Phänomene bezeichnen: körperliche Behinderungen im Sinne der Veränderung von Körperstrukturen und – Funktionen, Sinnesbehinderungen, aber eben auch dauerhafte psychische, kognitive und Verhaltensbeeinträchtigungen. Dabei werden wir, um dem ggf. sozial konstruierten Charakter gerecht zu werden, real und in Gedanken sehr oft eine Einklammerung
Soziologie der Behinderung
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mit dem Wort „zugeschrieben“ machen müssen und von „zugeschriebener Behinderung“ und „zugeschriebener Beeinträchtigung“ sprechen. Man kann mit Christian von Ferber argumentieren, der Terminus „Behinderung“ bzw. „behinderter Mensch“ selbst sei so gewählt, um genau diese Unbestimmtheit der Bedeutung zu ermöglichen. Er ist ursprünglich ein Versuch der Wahrung von political correctness und sollte ältere und meist wertende Zuschreibungen wie „Krüppel“, „Idiot“, „Irrer“ ersetzen. Er benennt im Hinblick vor allem auch auf eine sozialpolitische Intervention eine sehr allgemeine und abstrakte Gemeinsamkeit der Lebenssituation behinderter Menschen, nämlich eine Einschränkung der gesellschaftlichen Teilhabe, einen veränderten „Bezug zu den Formen des miteinander Handelns und miteinander Verkehrens oder – wie wir Soziologen sagen – zu den Formen der Kooperation und Kommunikation, in denen die gesellschaftliche Normalexistenz verläuft.“ (Ferber 1972: 31) Das ungefähr ist gemeint, wenn das SGB IX von Teilhabeeinschränkung spricht und es war letztlich auch ein Verdienst der Soziologie der Behinderten, dass wir diesen Begriff heutzutage in einem Gesetz ¿nden. 2.2 Soziologie der Behinderung Damit wären wir erneut bei der Frage, welche Rolle Soziologie eigentlich bei der wissenschaftlichen Erforschung von Behinderung spielen kann. Soziologie kann man mit Peter Paul Bahrdt als diejenige Disziplin de¿nieren, die versucht „typische soziale Verhaltensweisen und soziale Verhältnisse, so wie sie tatsächlich auftreten, zu beschreiben und zu erklären“ (Bahrdt 1996: 29). Unter Soziologie der Behinderung würde man dann im weitesten Sinne die wissenschaftliche Befassung mit Zusammenhängen zwischen Behinderung, sozialen Verhaltensweisen und sozialen Verhältnissen verstehen. Die Soziologie der Behinderten in Deutschland Wie bereits im Vorwort angedeutet, geht es in der im deutschsprachigen Raum gebräuchlichen „Soziologie der Behinderten“ um eine in Deutschland seit Anfang der 70er-Jahre etablierte Querschnittsdisziplin der Soziologie, institutionell meist angebunden an sonder- oder heilpädagogische bzw. rehabilitationswissenschaftlichen Fakultäten, deren Erkenntnisinteresse weiter gesteckt ist und grundsätzlich auf die Erforschung von Lebenslagen behinderter Menschen insgesamt abzielt. Walter Thimm, zunächst Lehrer an einer Blindenschule, promoviert 1971 mit einer Dissertation mit dem Titel „Blindheit als gesellschaftliche Kategorie – Untersuchungen zu einer Soziologie der Blindheit“. Er wird 1972 als Professor an die
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Soziologie der Behinderung
Pädagogische Hochschule Heidelberg für das Fach „Soziologie der Sehgeschädigten“ berufen, auf seinen eigenen Wunsch hin in „Soziologie der Behinderten“ erweitert. Die Veröffentlichung eines gleichnamigen Sammelbands im selben Jahr macht Walter Thimm zu einem der Gründerväter und zum deutschen Taufpaten dieses soziologischen Querschnittsfaches. In dem Sammelband ¿ nden sich wichtige Beiträge u. a. von Christian von Ferber, Walther Thimm selbst und Klaus Dörner. Von Jürgen Hohmeier wird zusammen mit Manfred Brusten 1975 ein auch für die Soziologie der Behinderten maßgeblicher zweibändiger Sammelband mit dem Titel „Stigmatisierung. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen“ heraus gegeben. Nach der Berufung von Walter Thimm an die Universität Münster tritt Günter Cloerkes seine Nachfolge auf der Heidelberger Professur an und trägt insbesondere durch sein Lehrbuch „Soziologie der Behinderten“, sein mit Dieter Neubert verfasstes Buch zur interkulturellen Realität von Behinderung und einer Reihe weiterer Veröffentlichungen zu einer Weiterentwicklung, Konsolidierung und Pro¿lierung des Faches bei. Der Titel des Sammelbandes von Brusten/Hohmeier verweist wiederum auf die wissenschaftlichen Wurzeln der in Deutschland 1970 in Gang gekommenen wissenschaftlichen Entwicklung. Chicago School, Symbolischer Interaktionismus und Disability Studies Diese liegen im Umfeld der Chicago School und des Symbolischen Interaktionismus in der vor allem von Erving Goffman angestoßenen Beschäftigung mit Fragen der Etikettierung, Stigmatisierung und der Soziologie des abweichenden Verhaltens. Goffman ist der einzige soziologische Klassiker, der sich überhaupt an zentraler Stelle mit Behinderungen auseinander gesetzt hat („Stigma“, „Asyle“). Daran knüpfen in der Folge eine ganze Reihe von Autoren im Kontext des Symbolischen Interaktionismus in den USA an, wie zum Beispiel die selbst von Behinderung betroffenen (Medizin-)Soziologen und Anthropologen Irving Zola, Gary Albrecht, Robert F. Murphy und in gewisser Weise auch jüngere Autoren wie Bryan Turner und Bill Hughes. Dabei ist der Übergang zu den sogenannten „Disability Studies“, denen sich ein Teil der Autoren selbst zuordnet, Àießend. Unter diesem Etikett wird ein in sich durchaus heterogener, sozial- und kulturwissenschaftlich orientierter Forschungs- und Theorieansatz verstanden, der sich zumindest in manchen seiner Fraktionen als Teil einer emanzipatorischen Behindertenbewegung versteht. Vor allem in der zuletzt genannten Hinsicht werden Disability Studies derzeit in Deutschland rezipiert: es ist aber wichtig sich klar zu machen, dass in der amerikanischen Diskussion Disability Studies viel enger als Fortentwicklung einer im Symbolischen Interaktionismus und Pragmatismus der Chicago School verankerten soziologischen und kulturwissenschaftlichen Forschungsdisziplin verstanden werden wie in Deutschland (dazu Albrecht 2003). Eine gewisse inhaltliche Gemeinsamkeit
Behinderung im Spannungsfeld von Medizin und Soziologie
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der Disability Studies liegt in der Betonung einer überwiegend kultur- bzw. wissenssoziologischen Perspektive: d. h. es geht im Schwerpunkt um kulturelle und soziale Deutungsmuster und Deutungsprozesse (Konstruktionen) von Behinderung. Insgesamt haben die Soziologie der Behinderten (im deutschen Sprachraum) und die Disability Studies (im anglosächsischen Sprachraum) eine in ihrer Stammdisziplin, der Soziologie, nahezu unbemerkte Erfolgsgeschichte hinter sich gebracht. Nicht nur, dass sie zu einer Verbreitung soziologischer Denkweisen in den Nachbardisziplinen geführt haben, sie haben auch die (sozial)politische und (sozial)pädagogische Diskussion und Praxis erheblich beeinÀusst. Es ist heute selbstverständlich in der Ausbildung von Sonder- und Heilpädagogen einen soziologischen Klassiker wie Goffman zu lesen und von einem „sozialen Modell“ oder der „sozialen Konstruktion“ von Behinderung zu sprechen. Auch in sozialpolitischen, -rechtlichen und -administrativen Kontexten wird „Behinderung“ mittlerweile selbstverständlich (auch) als ein Partizipationsproblem verstanden (ICF, SGB IX). Im Jahr 2009 wurde in der Bundesrepublik eine UN-Konvention zu den Rechten behinderter Menschen zum Gesetz erklärt. Ihr liegen Modelle und Denkweisen zugrunde, die ohne die in den 1970er Jahren nicht zuletzt von der Soziologie ausgelösten Diskussionen nicht möglich gewesen wären. Wenn man ein Beispiel für gesellschaftliche Auswirkungen soziologischer Forschung und Theoriebildung suchte, hier wäre eines. Dennoch hat diese Erfolgsgeschichte nicht dazu geführt, dass die Soziologie die primär maßgebliche Disziplin bei der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Behinderungsphänomenen geworden wäre. Möglicherweise aus gutem Grund, dazu aber gleich mehr. 2.3 Das Thema Behinderung im Spannungsfeld von Medizin und Soziologie Wer im Alltag etwas über Behinderungen wissen will, wendet sich in der Regel an einen Arzt. Niemand käme ohne weiteres auf die Idee eine Soziologin oder einen Soziologen zu bemühen. Behinderung als physische Realität Behinderung ist im Alltagsverständnis ein körperliches = physisches Phänomen und dafür hält man in unserer Gesellschaft normalerweise Ärzte für zuständig bzw. die Disziplin der Medizin und mittelbar die Biologie. Das Wort „physisch“, Substantiv „Physis“ (ijȪıȚȢ) ist abgeleitet von dem altgriechischen Verb ijȪİȚȞ = wachsen, entstehen, werden. Man könnte also unter Physischem alles verstehen, das
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Soziologie der Behinderung
einfach „gewachsen“, „geworden“, „entstanden“ ist und eben nicht „gemacht“ worden ist – also das aus sich Gewachsene, Gewordene, ohne menschliches Zutun oder Handeln so Gewordene. Ungefähr in dieser Bedeutung verwenden wir das Wort auch tatsächlich und aus dieser Bedeutung heraus entwickelte sich in der griechischen Philosophie die Gleichsetzung von Physis mit „Natur“ schlechthin, als dem Inbegriff des nicht vom Menschen Gemachten. Man könnte argumentieren: ebenso wenig wie Menschen gemacht haben, dass es Arme, Beine, Nasen und Geschlechtsorgane, Gehirnareale, Wirbelsäule und Bandscheiben, aber auch Gefühle, Wahrnehmungen, Gedanken usw. gibt, ist Behinderung menschengemacht. Behinderungen beruhten letztlich auf „brute facts“, also Fakten, die unabhängig davon gelten, ob und wie sie jemand feststellt oder bewertet. Beispielsweise wäre ein Tumor im Spinalkanal, der jede Bewegung der unteren Gliedmaßen verunmöglicht, ein solches „brute fact“ oder ein drittes 21. Chromosom (die Ursache für „Trisomie 21“, gemeinhin als Down-Syndrom bezeichnet), eine schizophrene Erkrankung (vgl. dazu Vehmas, Mäkelä 2009). Insofern bliebe „Behinderung“ eben das Problem letztlich einer Naturwissenschaft und nicht etwa einer Sozial- oder Kulturwissenschaft. Die Frage wäre natürlich: sind diese Sachverhalte mit „Behinderung“ gleich zu setzen? Nun steht der eingeÀeischten Alltagsüberzeugung, Behinderungen seien eine Angelegenheit der Naturwissenschaft „Medizin“, der überraschende Umstand gegenüber, dass „Behinderung“ ganz offensichtlich keine und schon gar keine präzise medizinische Kategorie ist. So etwas wie ein medizinisches Standardwerk oder eine Standardtheorie zum Thema „Behinderung“ gibt es schlichtweg nicht. Es gibt in der Medizin sehr wohl nosologische (also „krankheitskundliche“) Systematiken, aber nichts Entsprechendes für Behinderungen. Relationalität von Behinderung Woran liegt das? Möglicherweise daran, dass das Wort „Behinderung“ im Unterschied zu dem Wort „Krankheit“ schon rein sprachlich einen sehr engen Bezug zu außermedizinischen Lebenskontexten nahe legt, der eine solche Systematisierung erschwert. Wer sagt, dass er behindert wurde, wirft die Frage auf: „Behinderung wodurch?“ und „Behinderung wobei“. Man ist „durch etwas“ „bei etwas“ behindert. Behinderungen sind irgendwie relativ. „Wobei“ bzw. „worin“ ich behindert bin, hängt natürlich in erheblichem Ausmaß davon ab, was ich „vor habe“, welche Tätigkeit und welcher Zustand für mich „normal“ ist. Ein immer wieder bemühtes Beispiel hierfür ist ein Mensch, der aus welchen Gründen auch immer nicht in der Lage ist lesen und schreiben zu lernen bzw. es einfach faktisch nicht gelernt hat. In unserer Kultur kann ein solcher Mensch ggf. als (lern-)behindert eingestuft werden, in einer schriftlosen Kultur oder auch nur
Behinderung im Spannungsfeld von Medizin und Soziologie
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in einer Umgebung, in der Lesen und Schreiben keine große Rolle spielt, würde die Sache nicht weiter auffallen. Ein leichtes Hinken kann eine ganz nebensächliche Bedeutung haben, wenn ich in einer Anwaltskanzlei arbeite, aber die Bedeutung einer u. U. lebens- und statusentscheidenden Beeinträchtigung annehmen, wenn ich Angehöriger eines Nomadenvolkes in einer gebirgigen Umgebung bin. Gehörlosigkeit kann als eine schwerwiegende Behinderung aufgefasst werden – wenn ich mich in einem Umfeld bewege, für das die lautsprachliche Kommunikation oder die Wahrnehmung von akustischen Signalen von höchster Bedeutung ist. In einer sozialen Umgebung von gehörlosen und der Gebärdensprache mächtigen Menschen kann Gehörlosigkeit dagegen als Symbol einer privilegierten kulturellen Zugehörigkeit erscheinen. Gehörlosigkeit kann aber unter sehr günstigen Bedingungen auch als Merkmal gelten, das das gleiche Gewicht hat wie bei uns zum Beispiel eine lange Nase oder eine leichte Kurzsichtigkeit.18 Erwartungen über das, was „man“ können sollte und wie „man“ sein sollte, sind aber auch in ein und derselben Gesellschaft mannigfach sozial differenziert. Beispielsweise können Erwartungen an Männer andere sein als an Frauen. Sie sind nach Berufen differenziert – von einem Schneider erwarten wir andere körperliche Kompetenzen als von einem Schmied oder einem Informatikprofessor. Funktionsfähigkeit und Behinderung sind so zunächst einmal durch und durch kontextrelationale Begriffe. Das hat Viktor von Weizsäcker, selbst Arzt, schon in den 1930er Jahren dazu geführt, die sozialrechtliche Annahme einer generellen Arbeitsunfähigkeit (und damit die Kategorie „Behinderung“ als pauschale Zuschreibung an eine Person) zu kritisieren. Es gäbe, sagt Weizsäcker, nicht eine theoretische Arbeitsfähigkeit, sondern nur „viele praktische Arbeitsfähigkeiten für verschiedene Arten von Arbeiten“. Je nach Kontext könne ein „an beiden Beinen Gelähmter voll erwerbsfähig sein und ein Neurotischer ohne Organbefund kann voll erwerbsunfähig sein“ (Weizsäcker 1986: 36 f.). Weizsäcker schlug daher – in Vorwegnahme des sonderpädagogischen Prinzips der Kompetenzorientierung – vor, die bis heute der Sache nach im Sozialrecht wirksame Kategorie der „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ aufzugeben, nicht mehr zu fragen „was kann dieser Mensch nicht leisten …, sondern was kann er leisten“ (Weizsäcker 1986: 140). Wir haben bereits bei der Behinderungsde¿nition des SGB IX zudem gesehen, dass die Frage, was eine Behinderung ist und was nicht, die Anwendung eines Alterskriteriums erfordert. Ein bestimmtes Merkmal kann bei Menschen in mittlerem Alter als „Behinderung“ bezeichnet werden (und demzufolge zu einem Status als „behinderter Mensch“ führen), muss dagegen bei Kindern und alten Menschen durchaus nicht zwingend als „Behinderung“ aufgefasst werden. Kleine Kinder Vgl. dazu auch die in Kapitel 6.1 vorgestellte historische Studie zur Gehörlosigkeit auf der Insel Martha’s Vineyard (Groce 1985)
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Soziologie der Behinderung
können beispielsweise nicht oder nur unvollkommen gehen, sie sind inkontinent, ihre Fähigkeiten zu lesen und zu schreiben sind nicht oder sehr unvollkommen ausgeprägt, sie verhalten sich ungewöhnlich (schreien beispielsweise sehr oft, haben unverständliche Affektausbrüche, wälzen sich vor Wut auf dem Boden) – alles Merkmale, die bei Erwachsenen mittleren Alters zur Zuschreibung von Behinderung bzw. „psychischer Störung“ führen könnten. Trotzdem gelten Kinder nicht als behindert, wenn sie solche Merkmale zeigen. Wir unterstellen bei ihnen, dass sie die entsprechenden Kompetenzen erst ausbilden. Auch bei alten Menschen kann es zu motorischen, perzeptiven und kognitiven De¿ziten kommen, die wir bei Menschen mittleren Alters als Behinderung bezeichnen würden. Hier führt offenbar der Umstand, dass diese Menschen früher einmal voll leistungsfähig waren, dazu ihre Einschränkungen – jedenfalls in einem bestimmten Ausmaß – als „normal“ zu betrachten (vgl. Jenkins 1998: 3). Norm und Natur – sind Krankheit und Behinderung gesellschaftliche Er¿ndungen? Das Thema „Normen“ ist natürlich insgesamt von großer Bedeutung für die Soziologie: soziale Beziehungen, gesellschaftliche Verhältnisse sind strukturierte Realitäten und sie erhalten ihre Struktur, ihre Ordnung wesentlich von „Normen“ und damit verknüpften Wertesystemen. Soziologie ist u. a. damit befasst heraus zu ¿nden, welche verschiedenen Normen in je verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten herrschen und wie sie mit anderen Merkmalen von Gesellschaft (zum Beispiel Herrschaft) zusammen hängen. Normen werden in manchen Konzeptionen von Soziologie als das eigentliche Movens des Sozialen schlechthin angesehen und ausschließlich in einer sozialen Dimension verortet. Das veranlasst manche Autoren dazu zu sagen, die Natur kenne keine Normen. Sogar ein so offensichtlich biologisch-medizinisches Phänomen wie „Krankheit“ sei im Grunde genommen eine soziale Setzung. So behauptet der Psychiatriekritiker Peter Segdwick, wir seien es selbst, die Krankheiten erschaffen, durch unsere Werturteile: „Außerhalb der Bedeutungen, die Menschen bestimmten Zuständen freiwillig zuschreiben, gibt es keine Krankheiten in der Natur. […] Die Oberschenkelknochenfraktur einer Siebzigjährigen hat innerhalb der Natur keine größere Bedeutung als das Abbrechen eines Blatts von seinem Zweig: und ein mit Cholerakeimen befallener Organismus trägt genauso wenig den Stempel ‚Krankheit‘ mit sich wie Milch, die durch andere Bakterien schlecht geworden ist.“ (Segdwick 1973: 120 f.; zit. bei Schramme 2003).
Es ist klar, dass solche Positionen auch relevant für das Thema Behinderungen sind. Sie haben dazu geführt, dass in der Frage der fachlichen Zuständigkeit der Spieß
Behinderung im Spannungsfeld von Medizin und Soziologie
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mitunter geradezu herumgedreht wurde. In manchen Diskursen der Pädagogik bzw. Sonder- und Heilpädagogik (die andere Disziplin, die es nach landläu¿ger Ansicht mit Behinderungen zu tun hat) erscheinen Behinderungen als sogar ausschließlich soziale und kulturelle Phänomene. So behauptet der Erfurter Sonderpädagoge Winfried Palmowski (2003), dass Behinderungen und psychische Krankheiten nicht „entdeckt“, sondern „erfunden“ würden. Behinderung sei immer eine „Kategorie des Beobachters“. Ähnlich formulieren Lindemann/Vossler: „Die Behinderung liegt im Auge des Betrachters“, sei abhängig von soziokulturell geprägten „Modellen“ bzw. „Menschenbildern“. Die Einsicht in den normativen und damit relativen Aspekt jeder Verwendung des Wortes „Behinderung“ wird sehr oft in der Formulierung zusammen geführt, dass Behinderungen Ergebnisse sozialer Konstruktionen sind. Die dahinter stehende grundsätzliche wissenschaftliche Position wird Sozialkonstruktivismus (oder Konstruktionismus) genannt. Der amerikanische Körpersoziologe Bryan S. Turner erläutert dieses Position wie folgt: „Constructionism – the philosophical idea, that things are not discovered but socially produced – is a perspective that has been applied within both the natural and social sciences. …. Naturalistic empiricism claims that our senses are our best guide to knowledge about nature. Social constructionism raises serious criticisms about the reliability of such evidence of the senses, claiming that culture determines how we apprehend and comprehend the world. Our knowledge of the natural and social world is determined or constructed by background cultural assumptions.“ (Turner 2008: 11)
Auch die deutsche Soziologin Anne Waldschmidt greift eine sozialkonstruktivistische Position in diesem Sinne auf, wenn sie ein „kulturelles Modell“ der Behinderung fordert: „‚Behinderung‘ wird nicht als (natur-)gegebene, vermeintlich objektive, medizinischbiologisch de¿nierbare Schädigung oder Beeinträchtigung verstanden, sondern als ein kulturelles und gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal. Zentraler Ausgangspunkt ist die These, dass Behinderung nicht einfach ‚vorhanden‘ ist, sondern ‚hergestellt‘, produziert und konstruiert wird. […] Erst die gemeinsame Assoziation mit Unvermögen und Anormalität stellt die kollektive politische und gesellschaftliche Identität von Menschen mit höchst vielfältigen körperlichen Erfahrungen und Fähigkeiten her. ‚Behinderung‘ ist keine ¿xe Kategorie, sondern eher ein unscharfer Oberbegriff, der sich auf eine bunte Mischung von unterschiedlichen körperlichen und kognitiven Merkmalen bezieht, die oft nichts anderes gemeinsam haben als das soziale Stigma der Begrenzung, Abweichung und Unfähigkeit.“ (Anne Waldschmidt – Behinderung revisited – das Forschungsprogramm der Disability Studies aus soziologischer Sicht: VHN Vol. 73 (2004): 368)
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Soziologie der Behinderung
2.4 Schädigung/Behinderung und die Unterscheidung von medizinischem und sozialen Modell Die eben angedeutete Diskussion ist im Grunde genommen eine NeuauÀage einer Auseinandersetzung, die als KonÀikt zwischen einem „medizinischen“ und einem „sozialen Modell“ bekannt geworden ist. Sie hat in Slogans wie „Man ist nicht behindert, man wird behindert.“ ihren politischen Ausdruck gefunden. Eng damit verknüpft ist die Unterscheidung von „Impairment“ (Schädigung) und „Disability“ (Behinderung in engerem Sinne) insbesondere in der britischen Tradition der Disability Studies, die ihrerseits eng mit der politischen Behindertenbewegung verbunden ist. „Medizinisches Modell“ der Behinderung Ich habe schon darauf hingewiesen, dass es ein „medizinisches Modell“ der Behinderung eigentlich gar nicht gibt. Bei dieser Redeweise handelt es sich eher um einen (fach-)politischen Schachzug derer, die das „soziale Modell“ der Behinderung durchsetzen wollten und zu diesem Zweck einen möglichst leicht besiegbaren Gegner aufbauen mussten. Dass dieser Gegner in Teilen auch die Medizin bzw. deren professionelle Vertreter, die Ärzte waren, ergibt sich aus dem Ziel der politischen Behindertenbewegung sich aus professioneller Gängelung zu lösen, die Autorität der Ärzte zu hinterfragen und aufzuweichen, sich gegen die Abhängigkeit von einem als übermächtig empfundenen Rehabilitationssystem zu wehren. Als medizinisches Modell wurde insofern eine leicht polemische Außencharakterisierung einer vermeintlich für die Medizin(er) generell typischen Sichtweise auf Behinderungsphänomene ausgegeben. Darunter wurde/wird eine Denkweise verstanden, die Behinderung nur unter dem Gesichtspunkt einer naturwissenschaftlich fassbaren Schädigung oder Funktionseinschränkung betrachtet und den Status behinderter Menschen, ihre Lebensmöglichkeiten, aber auch die Interventionsmöglichkeiten von dieser Schädigung bzw. ihrer rehabilitativen Kompensation her versteht. Damit verbunden ist ein individualisiertes Verständnis von Behinderung. Ausschließlich das Individuum wird als persönlich betroffen von tragischen Umständen betrachtet, denen durch fachkundige „Behandlung“ und Rehabilitation begegnet werden muss (Oliver 1996: 32 ff.). Diese Version der Dinge wurde im Wesentlichen von dem britischen Soziologen Michael Oliver in den frühen 1980er Jahren „kanonisiert“. Allerdings muss er selbst die geringe Plausibilität der Bezeichnung „medizinisches Modell“ bemerkt haben. Er ersetzt sie deshalb durch den Ausdruck „individuelles Modell der Behinderung“, das er allerdings nach wie vor dominant im Feld der Medizin am Werk sieht und als Ausdruck einer „medicalisation of disability“ ansieht (Oliver 1996: 33).
Die Unterscheidung von medizinischem und sozialen Modell
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Soziales Modell der Behinderung und die Unterscheidung „impairment-disability“ Als eine wichtige Quelle des sozialen Modells führt Oliver die politische Diskussion in Großbritannien in den 1970er Jahre an. 1972 gründeten Paul Hunt, Vic Finkelstein und andere ebenfalls körperbehinderte Aktivisten die Union of Physically Impaired Against Segregation (UPIAS), eine in den Folgejahren maßgebliche politische Organisation körperbehinderter Menschen. Ziel der Organisation war die Herstellung gleichberechtigter Lebensmöglichkeiten für behinderte Menschen, die Abschaffung segregierender Einrichtungen und physischer wie sozialer Barrieren. In einer 1974 entstandenen Publikation werden die maßgeblichen Sätze formuliert. „In our view, it is society which disables physically impaired people. Disability is something imposed on top of our impairments, by the way we are unnecessarily isolated and excluded from full participation in society. Disabled people are therefore an opressed group in society. To understand this it is necessary to grasp the distinction between the physical impairment and the social situation, called disability, of people with such impairment. Thus we de¿ne impairment as lacking part of or all of a limb, or having a defective limb, organism or mechanism of the body; and disability as the disadvantage or restriction of activity caused by a contemporary social organisation which takes little or no account of people who have physical impairments and thus excludes them from participation in the mainstream of social activities.“ (UPIAS 1976: 3)
Wie das Zitat zeigt, bildet die Unterscheidung von „impairment“ und „disability“ den entscheidenden Punkt. Unter „impairment“ wurde die objektive Schädigung einer anatomischen Struktur oder eines körperlichen Prozesses verstanden, unter „disability“ dagegen eine bestimmte Aktivitätseinschränkung und ein damit verbundener generell nachteiliger gesellschaftlicher Status. Behinderung im Sinne von „disability“ hat im Verständnis Olivers nichts mit dem Körper zu tun, sondern ist ausschließlich eine Konsequenz sozialer Unterdrückung (Oliver 1996: 35). Das soziale Modell macht sich deswegen den Slogan „Disabled by society and not by our bodies!“ zu eigen. Ein Anfang der 90er Jahre von der damaligen Aktion Sorgenkind benutzter deutscher Slogan, der das der Sache nach aufgreift, lautet: „Man ist nicht behindert, man wird behindert.“ Barrieren als Zumutungsnormen Gemeint ist in beiden Fällen: erst gesellschaftliche Barrieren führen zu einer Beeinträchtigung von Aktivitäten und zu Ausgrenzungen. Bekanntlich können Randsteine bei Gehwegen eine physische Barriere für Rollstuhlfahrer darstellen
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(für blinde Menschen sind sie wiederum sehr wichtig zur räumlichen Orientierung). „Barrieren“, könnte man in Anknüpfung an den voran gegangenen Abschnitt sagen, sind verkleidete Normen der Gesellschaft darüber, womit Menschen aus eigener Kraft zurechtkommen müssen. Beispielsweise steht hinter der hohen Bürgersteigkante oder der Treppe im Rathaus die Erwartung, dass die Bewältigung der damit verbundenen Höhendifferenzen jedem zumutbar ist. Die Forderung nach Barrierefreiheit ist nichts anderes als eine Aufforderung diese Normen zugunsten behinderter Menschen zu verändern: grundsätzlich sollen alle Höhendifferenzen auch durch Rampen oder Aufzüge überbrückt werden können. Gemeint sind aber auch Barrieren im übertragenen Sinn, zum Beispiel in Form von unverständlichen Texten und Formularen (bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen), mangelnde optische Kommunikation (bei gehörlosen Menschen) und generell: Stigmatisierungen, Stereotypen, Vorurteile. Sowohl der Umgang mit Behinderung als auch diese selbst erhält auf diese Weise eine politische Dimension: diese Barrieren müssen abgebaut werden, behinderte Menschen sind eine unterdrückte und ausgegrenzte Minderheit. Es geht damit um die Herstellung gerechter Lebensverhältnisse. Michael Oliver fasst die Unterschiede zwischen dem von ihm so genannten individuellen (medizinischen) Modell und dem sozialen Modell von Behinderung in einer eingängigen und oft zitierten tabellarischen Gegenüberstellung zusammen (siehe Tabelle 2), die insbesondere den anti-professionalistischen Impuls und politischen Impetus dieser Betrachtungsweise verdeutlicht. Tabelle 2
Die Unterscheidung von individuellem (medizinischem) Modell und sozialem Modell der Behinderung (Oliver 1996: 34) The individual model
ļ
The social model
personal tragedy theory personal problem individual treatment medicalisation professional dominance expertise adjustment individual identity prejudice attitudes care control policy individual adaption
ļ ļ ļ ļ ļ ļ ļ ļ ļ ļ ļ ļ ļ ļ
social oppression theory social problem social action self-help individual and collective responsibility experience af¿ rmation collective identity discrimination behaviour rights choice politics social change
Die Unterscheidung von medizinischem und sozialen Modell
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Nicht-Geher und Nicht-Flieger Oliver geht in seiner Politisierung und Soziologisierung des Behinderungsbegriffs sehr weit. Beispielsweise formulierte er in einer seiner ersten Veröffentlichungen folgende These und greift sie in seinem Buch Understanding Disability wieder auf: „The aim of the research should not be to make the legless normal, whatever that may mean, but to create a social environment where to be legless is irrelevant.“ (zit. in Oliver 1996: 97)
In dieser Logik entwirft Oliver eine Soziologie des Gehens, die provokativ die Frage „What’s so wonderful about walking?“ in den Mittelpunkt stellt (Oliver 1996: 109). Er entlarvt darin eine „Normalitätsideologie“ („ideology of normality“), die Nicht-Geher langwierigen und demütigenden rehabilitativen Maßnahmen unterzieht, um ein unvollkommenes Fast-Gehen zu ermöglichen. Oliver kritisiert die Heilsversprechungen und Bemühungen der Medizin, einstmals durchtrennte Spinalnerven wieder heilen zu können und damit querschnittsgelähmten Menschen wieder das Gehen zu ermöglichen. Oliver sieht in allen diesen Phänomenen eine Form der Machtausübung gegenüber behinderten Menschen und ihrer Anpassung an eine Norm der „behindernden Gesellschaft“ (disablist society), letztlich eben die Unterdrückung einer abweichenden Minderheit: „the aim of rehabilitation is to encourage walking and nearly-walking, and to control through therapeutic interventions, non-walkers and nearly walkers both individually and as a group.“ (Oliver 1996: 106)
Oliver spitzt das in der Frage zu, warum die Gesellschaft Nicht-Geher dafür bestrafe, weil sie nicht gehen könnten, aber beispielsweise Nicht-Flieger nicht dafür bestrafe, dass sie nicht Àiegen können: „…we do not punish non-Àyers for not Àying. In fact we do exactly the opposite. We spend billions of dollars, yen, deutschmarks and pound every year providing non-Àyers with the most sphisticated monbility aids imaginable. They are called aeroplanes. An aeroplane is a mobility aid for non-Àyers in exactly the same way as a weelchair is a mobility aid for non-walkers.“ (Oliver 1996: 108)
Die politischen Forderungen, die sich daraus ergeben, sind insofern naheliegend: soziale Umwelt so gestalten, dass sie der Mobilität der Nicht-Geher keine Barrieren in den Weg legt und die kulturellen Deutungsmuster, die das „Gehen“ zu einer Normalität, zum Inbegriff von Selbstständigkeit, Autonomie, sexueller Potenz und Attraktivität, dekonstruieren.
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Soziologie der Behinderung
2.5 Kritik am sozialen Modell Dass Barrieren für behinderte Menschen nach Möglichkeit reduziert werden sollten, darüber dürfte es keinen Dissens geben. Über die Triftigkeit der Argumente von Oliver kann man dagegen sicher streiten. Sein Vergleich von Nicht-Gehern und Nicht-Fliegern geht von der wenig realistischen Unterstellung aus, man könne von der Anatomie des menschlichen Körperbaus abstrahieren. Oliver sieht es offenbar nicht als gegebene Tatsache an, dass Menschen per biologischer Ausstattung Beine haben und keine Flügel, mithin als Gattungswesen auf eine begehbare Umwelt hin angelegt sind (vgl. Schramme 2003: 67). Das anders zu sehen wie Oliver, spricht weder gegen eine technische Erschließung anderer Lebensräume wie Wasser und Luft, noch gegen eine technische Erschließung der üblicherweise begehbaren Umwelt für die vielen Menschen, die in ihrer Gehfähigkeit beeinträchtigt sind. Die Behauptung Olivers, Behinderung habe in keinem Fall etwas mit dem Körper zu tun, lässt sich so eigentlich nur aus der politischen Absicht der Provokation und Mobilisierung verstehen. Das „soziale Modell“ wird in dieser Zuspitzung mittlerweile zunehmend von sehr verschiedenen Seiten kritisiert: ƒ
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aus einer interaktionistischen bzw. kritisch-realistischen Perspektive (Tom Shakespeare 2002, 2006) mit dem Argument: Behinderung ist Resultat komplexer Wechselwirkungen, die bloße Differenz Impairment-Disability ist zu vereinfachend; aus phänomenologischer Perspektive (z. B. Bill Hughes/Kevin Paterson 1997: 334 f.) mit dem Argument: in der Erfahrung von Behinderung kann nicht scharf zwischen impairment und disability, zwischen einer physischen und sozialen Ebene getrennt werden;19 aus sozialkonstruktivistischer Perspektive (z. B. Anne Waldschmidt 2006: 88 f.) mit dem Argument: auch das Impairment (und generell: Körper) ist selbst eine soziale Konstruktion.20
„The body – be it impaired or not – is an experiencing agent, itself a subject and therefore a site of meaning and source of knowledge about the world. The impaired body is a lived body. Disabled people experience impairment, as well as disability, not in separate Cartesian compartments, but as an art of a complex interpenetration of oppression and afÀiction.“ (Hughes/Paterson 1997: 334 f.) 20 „Aus einer theoretisch differenzierten Sicht muss nicht nur die Behinderung, sondern auch die Schädigungsebene als gesellschaftlich hergestellt begriffen werden. Die medizinischen Kategorien, die für die körperlichen und verkörperten Merkmale von Auffälligkeit und Abweichung („impairments“) benutzt werden, sind nicht ahistorische und gesellschaftsneutrale Gegebenheiten, naturwissenschaftliche oder gar ‚natürlich‘ Tatsachen, sondern sie haben – wie Behinderung – ebenfalls ihre Geschichte, ihre kulturelle Bedeutung und ihre sozialen Konstruktionsmodi.“ (Waldschmidt 2006: 88 f.)
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Kritik am sozialen Modell
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Tom Shakespeares Kritik Exemplarisch soll hier die Kritik von Tom Shakespeare dargestellt werden. Shakespeare ist, wie Oliver, von einer körperlichen Behinderung betroffen und war nach eigener Darstellung ein Protagonist des sozialen Modells. Allerdings hat er mittlerweile eine kritisch-differenzierte Position entwickelt. Shakespeare will nach wie vor nicht die politischen Verdienste des „sozialen Modells“ bestreiten, aber er wirft Oliver letztlich auch (behinderungs-) politisch kontraproduktive Übertreibungen vor. So werden in seinen Augen die Interessen behinderter Menschen konterkariert, ƒ
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wenn im Zeichen des sozialen Modells Selbsthilfeorganisationen, die sich für behinderungs-(bzw. schädigungs-)spezi¿sche Belange einsetzen (z. B. Gehörlosigkeit, Sehbehinderung, geistige Behinderung, Multiple Sklerose) pauschal abgelehnt werden, mit dem Argument impairment spiele politisch keine Rolle; wenn medizinische Forschung oder medizinische Interventionen grundsätzlich verneint werden; wenn rehabilitationsbezogene statistische Erhebungen bekämpft werden (Shakespeare 2006: 32).
In allen diesen Punkten bis hin zur Frage der Pränataldiagnostik und Abtreibung plädiert Shakespeare für eine differenzierte Betrachtungsweise, aus seiner Sicht gerade im (politischen) Interesse behinderter Menschen. VerÀechtung von impairment und disability Shakespeare weist insbesondere auf den wechselweise vermittelten Charakter von körperlicher Schädigung (impairment) und funktionaler Beeinträchtigung (disability) hin. Weder lässt sich die Bedeutung von impairment von der soziokulturellen Realität abkoppeln, noch geht die funktionale Beeinträchtigung in dieser auf. Auch der physische Körper als solcher, auch die Spezi¿k der Schädigung macht im Einzelfall durchaus Vorgaben. So macht es einen Unterschied, ob ich Schmerzen habe oder nicht, ob eine Schädigung sichtbar ist oder nicht, ob Schädigungen statisch, wie bei der multiplen Sklerose auf unberechenbare Weise progredient oder wie bei schizophrenen Erkrankungen episodisch verfasst sind. Selbstverständlich kann – wie immer im Zusammenspiel mit sozialen Kontexten – eine Schädigung zur Ursache einer Behinderung werden. Ohne Hände kann ich nicht ohne weiteres mit einem Schraubenzieher oder einer Feile umgehen, Nicht-rechnen-können infolge einer Gehirnschädigung schließt mich von der Be-
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rufstätigkeit eines Statistikers oder eines Wirtschaftsmathematikers aus. Wer die Fähigkeit verloren hat, neue Gedächtnisinhalte zu bilden (anterograde Amnesie), kann nicht als Psychotherapeut oder Erzieherin arbeiten. Solche Ausschlüsse sind nicht per se Formen sozialer Diskriminierung. Mit ihnen ist es durchaus zu vereinbaren, quasi in Anwendung eines gemäßigten sozialen Modells, besser geeignete Formen der Beteiligung an gesellschaftlicher Arbeit zu suchen und zu ¿nden. Aber genau dazu muss sehr wohl die Spezi¿k der Schädigung berücksichtigt werden. Diese ist keineswegs neutral für die Frage der Handlungsmöglichkeiten einer Person. Genauso kann es aber auch sein, dass umgekehrt eine Schädigung durch gesellschaftlich bedingte Faktoren (Machtausübung, Diskriminierung, Deprivation) überhaupt erst hervor gerufen wird oder aber eine Mischung aus beidem eintritt. Auch in der subjektiven Erfahrung von Behinderung selbst lässt sich „Impairment“ und „disability“ nicht so fein auseinander dividieren, wie das soziale Modell es unterstellt. Gerade, wenn man der Erfahrung betroffener Menschen Rechnung tragen will, geht es darum ihren VerÀechtungscharakter zu betonen. Shakespeare spricht in diesem Zusammenhang von einer „inextricable interconnection of impairment and disability“ (Shakespeare 2006: 36) und setzt dem Slogan: „People are disabled by society, not by their bodies“ den eingestandermaßen weniger mobilisierungstauglichen Slogan entgegen: „People are disabled by society as well as by their bodies.“ (Shakespeare 2002: 11) Barrierefreie Welt – eine Illusion? Eine möglichst barrierefreie Welt hält auch er für eine anstrebenswerte politische Zielsetzung. Aber die vom radikalisierten sozialen Modell unterstellte Welt ohne Barrieren hält er für eine nicht einlösbare Ideologie. Beispielsweise ließen sich, so Shakespeare, Barrieren für mobilitätsbehinderte Menschen in einer städtischen Umgebung leichter abbauen. Möchte der betroffene Mensch sich aber im Hochgebirge, in einer Fjordlandschaft oder am Strand bewegen, wird dies eben schwerer oder gar nicht möglich sein. Barrieren sind nicht Ausdruck sozialer Normalitätserwartungen, sondern zugleich deutlich schädigungsbezogen. So können Randsteine oder Riffelungen für blinde Menschen eine wichtige Orientierungshilfe darstellen, für Rollstuhlfahrer sind sie eben Hindernisse.21 Die Bedürfnisse von sehbehinderten, geistig behinderten, autistischen oder gehörlosen Menschen können beispielsweise bei der Auswahl und Ausgestaltung akustischer und optischer Kommunikation(shilfen) in erheblichem Widerspruch
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Ein Argument, das ich einer mündlichen Mitteilung von Günther Cloerkes verdanke.
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stehen. Die ganz und gar für jede Gruppe von Menschen barrierefreie Umwelt würde in einer sterilen Totalumgestaltung gewachsener innerstädtischer Strukturen münden, die sich niemand wünschen kann. Die dadurch erzielte Teilhabe würde um den Preis der Elimination dessen, woran man teilhaben soll, erzielt. In Wirklichkeit also ist der Abbau von Barrieren ein mühsamer Kompromiss, in den schädigungsbedingte und mit der spezi¿schen sozialen Umwelt verknüpfte Erwartungen und Möglichkeiten eingehen. Dass hier sehr viel mehr möglich ist, als bisher getan wird, möchte ich ausdrücklich unterstreichen. Aber eine Totalelimination von Barrieren (übrigens auch für nicht-behinderte Menschen) ist wohl – Shakespeares Einschätzung folgend – in der Tat eine Illusion. Von symbolischen Barrieren wie Stigmatisierungen und Diskriminierungen haben wir dabei noch gar nicht gesprochen. Norm(alität), Statistik und Natur Unser Ausgangspunkt war die Frage nach der physischen oder sozialen Natur von Behinderungsphänomenen und die Frage nach der wissenschaftlichen Zuständigkeit zwischen Medizin und Soziologie. Unsere Auseinandersetzung mit der Kritik am sozialen Modell der Behinderung mündet diesbezüglich in einem deutlichen „unentschieden“. Gerade eine kritische, soziologische und letztlich auch eine politisch engagierte Betrachtungsweise kann an der Tatsache nicht vorbei, dass die „Physis“, (also der Körper, insofern er nicht menschengemacht ist), dem Individuum und seiner sozialen Umwelt sehr wohl Vorgaben machen kann, ebenso Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten schaffen wie auch einengen kann. Andererseits ändert auch die hier aufgenommene Kritik am sozialen Modell nichts daran, dass alle Funktionen, Kompetenzen sowie deren Einschränkungen immer in Relation zu einem soziokulturellen Kontext stehen und ohne dessen Normsetzungen gar nicht als solche erkennbar wären. Insofern also doch soziale Konstruktion? Dieses Dilemma ging von der impliziten Unterstellung aus, dass „Normen“, dass Normalität als Geltungsquelle immer eine soziokulturelle Realität haben. Wir hatten oben Sedgwick zitiert, der behauptet hatte, in der Natur gebe es keine Krankheiten, nur unsere Vorstellungen über Gesundheit und Krankheit würden Krankheiten erschaffen, eine unübersehbar konstruktivistische Position. Anne Waldschmidt zeigt in ihren Überlegungen zum Begriff der Normalität auf, dass es verschiedene Quellen von „Normalität“ und auch „Normativität“ gibt und greift damit auf soziologischen Common Sense zurück (Waldschmidt 2003: 85 ff.; vgl. auch Waldschmidt 2004b; vgl. z. B. Freidson 1965: 73). Der Rekurs auf eine statistische oder quasi-statistische Regelmäßigkeit, eine „statistische Normalität“ (wie sind die Dinge im Durchschnitt beschaffen? was kommt häu¿g vor?) ist dabei
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zu unterscheiden vom Rekurs auf eine soziale Regel (was soll getan werden, wie muss ich mich verhalten? welche Werte liegen dem zugrunde?), also einer sozial institutionalisierten Erwartung. Beide Aspekte können in Zusammenhang stehen, aber zu jeweils anderen „Normalitätsdispositiven“ führen, wie Waldschmidt das nennt. So können wertbezogene soziale Normierungen zu statistischen Regelmäßigkeiten im Verhalten bzw. den Merkmalen von Menschen führen, einfach, weil sich Menschen an die Normen halten (für Waldschmidt Normativität i. e. S.). Umgekehrt können aber statistische Regelmäßigkeiten (eine rein quantitative Häufung von Merkmalen oder Verhaltensweisen) dazu führen, dass sich eine Art von Norm ergibt, die Waldschmidt „normalistisch“ nennt: „Das machen doch alle (viele) so, das ist doch normal“ bzw. „So sehen doch alle (viele) aus, das ist doch normal“. Beide Prozesse können für die Frage von Behinderung relevant sein und Waldschmidt selbst würde prinzipiell beide Formen der Erzeugung von Normativität in einer soziokulturellen Dimension verorten und so im Endeffekt bei einer sozialkonstruktivistischen Sichtweise bleiben. Die Frage ist allerdings, ob diese Annahme zwingend ist. Biologisch vorgegebene Sachverhalte können im Zusammenspiel mit ebenfalls biologisch verankerten Wahrnehmungs- bzw. Gedächtnismechanismen (wie zum Beispiel der Gewöhnung, „Habituation“) am Zustandekommen einer statistischen „Normativität“ zumindest mit beteiligt sein. Nach Beispielen muss man nicht lange suchen: Rothaarigkeit, Linkshändigkeit, besondere Größe, Hautfarbe, die Länge von Nasen und Ohren, aber eben auch: Krankheiten und Behinderungen. Wie statistisch auffällige Merkmale ausgedeutet werden – rassistisch, medizinisch, explizit als „belanglos“, in positiv oder negativ diskriminierender Weise, als schön oder hässlich oder weder/noch, als funktional/nicht funktional – das ist empirisch offen und variabel. Aber eben nur bis zu einem gewissen Grad. Welche Relevanz und Bedeutung eine Abweichung von einer Verteilungsnorm in einem gegebenen Kontext haben kann, ist nicht nur eine reine Konstruktionsfrage, sondern lässt sich jedenfalls in manchen Fällen durch Erfahrung in the long run rational heraus ¿nden. Weißhäutige Menschen fallen in Umgebungen auf, in denen überwiegend schwarzhäutige Menschen leben und umgekehrt. Man kann aber durch Erfahrung heraus ¿nden, dass das allenfalls eine lokale Bedeutung hat, weil es anderswo eben anders ist. Und man kann durch Erfahrung heraus ¿nden, dass die Hautfarbe ebenso wie Linkshändigkeit, Rothaarigkeit und lange Ohren völlig belanglos für die Kompetenzen und Charaktereigenschaften ist, die Menschen entwickeln oder nicht entwickeln können – unter der Bedingung, dass die Gesellschaft keine Unterschiede macht, wo keine sind. Andere Merkmale – wie eben zum Beispiel Krankheiten, aber auch viele Behinderungen – sind in dieser Hinsicht durchaus nicht so belanglos. Hier
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würde eine soziale Gleichbehandlung äußerst schädliche Folgen für die betroffenen Menschen haben, manchmal sogar zum Tod führen. Statistik ist, anders gesagt, durchaus nicht nur eine Frage gesellschaftlicher Er¿ndungsgabe, sondern man kann mit ihr Erfahrungstatsachen belegen und widerlegen. Falsche Schlussfolgerungen aus vermeintlichen statistischen Verteilungen können korrigiert werden und zwar durchaus mit statistischen Mitteln. Ein Beispiel hierfür zitiert Richard Wilkinson. Zwischen den dreißiger Jahren des 19. und des 20. Jahrhunderts gab es unter Ärzten und Anatomen die Krankheitsdiagnose einer „idiopathischen Nebennierenatrophie“, einer unterstellten krankhaften Schrumpfung der Nebennieren. Diese Krankheit war darauf zurückzuführen, dass die Leichen, die die Anatomen der Londoner Medizinischen Schulen sezierten und aus denen sie ihr vermeintliches Wissen bezogen, alle aus Armenhäusern stammten. Sie wiesen im Gegensatz zu der ursprünglichen Annahme eine besonders große Nebenniere auf. Es wurde also eine statistische Norm, die nur für eine Gruppe galt, fälschlicherweise generalisiert. Die vergrößerten Neben nieren der Armenhäusler resultierten, wie mittlerweile gezeigt werden konnte, aus lebenslangem sozioökonomisch bedingtem Dauerstress. Die vermeintlich zu kleinen Nebennieren der Reicheren entsprachen in Wirklichkeit der statistischen Norm (Wilkinson 2001: 214 f.). Funktionelle Normalität Die ungerechte Behandlung der Statistik durch die Konstruktivisten ist die eine Sache. Zudem kann man die Frage stellen, ob man in diesem Zusammenhang nicht auch so etwas unterstellen muss wie eine Art funktionelle Normalität. In Anknüpfung an den amerikanischen Philosoph Christopher Boorse weist beispielsweise Thomas Schramme darauf hin, dass es so etwas gibt wie Funktionsnormen, die sich aus dem gattungstypischen Körperbau, aus anatomischen Strukturen und physiologischen Prozessen gleichsam ablesen lassen und damit so etwas wie Maßstäbe für „medizinische Normalität“ liefern (Schramme 2003: 68). Diese sind zwar nach wie vor kulturell formbar und variabel – aber innerhalb sehr klarer und empirisch belegbarer Grenzen. Ein Bein, mit dem man nicht gehen kann, ein Auge, mit dem man nicht sehen kann, eine Hand, die nicht greifen kann, ein Gehirn, das keinen Neuerwerb von Gedächtnisinhalten mehr gestattet – das alles lässt sich in seiner Bedeutung zwar kulturell relativieren und unterschiedlich ausdeuten. Wir können uns zudem vielfältigste Formen von Angeboten und sozialer Solidarität vorstellen, um die damit einhergehenden Funktionsde¿zite aufzufangen und zu kompensieren. Aber die Funktionszusammenhänge als solche können unabhängig von Beobachterüberzeugungen und -Zuschreibungen erforscht werden. Sie sind keine Er¿ndungen im Sinne der Konstruktivisten, sondern lassen sich als anspruchsvolle
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Spezialfälle normaler kausaler Erklärungen rekonstruieren und damit ohne jeden Rekurs auf soziale Deutungen empirisch belegen und widerlegen.22 Anders wären die nicht bestreitbaren Erfolge der modernen Medizin nicht erklärbar. Auch ein Konstruktivist wird die Nutzung eines lebensrettenden Antibiotikums im Fall einer schweren Lungenentzündung nicht mit dem Argument zurück weisen, es handle sich sowohl bei der vorgeblichen Erkrankung als auch bei den Mitteln ihrer Heilung um eine soziale Konstruktion. Aber das zeigt zugleich, dass die Physis vielleicht nicht Normen setzen, aber durchaus deutliche Vorgaben für das Setzen von Normen machen kann. Die Überzeugung, dass das so ist, nennt Schramme eine naturalistische Position. Und es ist klar, dass jedwedes medizinisches Wissen sich auf solche naturalistischen Kriterien beruft, um Funktionsbeeinträchtigungen nach Kriterien festzustellen, die – zumindest dem Anspruch nach – nicht primär für soziokulturelle Normierungen frei verfügbar sind. * Wir sind abermals im Spannungsfeld von Naturalismus und Konstruktivismus, Physis und Gesellschaft gelandet, nicht ohne eine Reihe weiterer inhaltlicher Facetten vertieft zu haben. Eines jedenfalls dürfte deutlich geworden sein. Entscheidend für unser Verständnis von Behinderung ist, ob und in welchem Sinne wir so etwas wie eine Normalitätsvorgabe des physischen Körpers für die Frage seiner gesellschaftlichen Einbettung und Deutung unterstellen oder ob wir das nicht tun. Das Problem der Deutung von Behinderung im Spannungsfeld von medizinischem und sozialem Modell wirft ebenso die Frage nach der „Normalität“ des Körpers wie seinem Verhältnis zur sozialen und kulturellen Wirklichkeit (Sozialität) auf. Ob 22 Das hatte der Wissenschaftstheoretiker Carl G. Hempel schon 1968 überzeugend dargelegt (vgl. dazu Esser 1993: 371 ff.). Ich schließe mich dieser Position in ausdrücklichem Widerspruch zu Vehmas, Mäkelä (2008: 95) an. Diese behaupten, die Feststellung „The function of the heart is to pump blood“ sei im Gegensatz zu der Feststellung „The hearts pumps blood“ beobachterabhängig. Ich würde argumentieren, beide Aussagen sind natürlich wie alle Propositionen beobachterabhängig. Aber das sagt nichts über die Geltungskriterien bzw. den ontologischen Status dieser Zusammenhänge aus. Wenn die Funktionsaussage zutrifft, muss gelten, dass die Herztätigkeit eine notwendige/ggf. hinreichende Bedingung für den Blutkreislauf (und weitergehend: für die Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen des Organismus) ist. M. a. W. ich muss ein reales Referenzsystem de¿nieren, das ich als (Teil-)Wirkung des in Rede stehenden Prozesses belegen muss. Funktionsaussagen müssen also, wenn man sie empirisch bewähren und belegen will, in komplexe Ursachen-Wirkungszusammenhänge (Herztätigkeit Ö Blutkreislauf Ö weitere Tätigkeiten des/im Organismus Ö Leben/Tod des Organismus) übersetzt werden. Die Einbeziehung von Rand- oder Zusatzbedingungen und funktionalen Äquivalenten ist dabei jederzeit möglich, manchmal unabdingbar (Luhmann). Aber die Grundlage für die empirische Validierung von Funktionsaussagen sind Beobachtungen und Theorien über Kausalzusammenhänge. Die Funktionsbehauptung enthält gegenüber kausalen Aussagen kein „Mehr“ an empirischer Information.
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Behinderung letztlich eine Frage der Physis ist oder etwas von Menschen (bzw. von der Gesellschaft) Gemachtes, hängt davon ab, wie wir den menschlichen Körper generell im Spannungsfeld von Natur und Sozialität verorten. Damit beschäftigt sich das folgende Kapitel.
3 Die Sozialität des Körpers und die Körperlichkeit des Sozialen
Die Probleme, die wir mit der Bestimmung des Phänomens der „Behinderung“ hatten, legten es nahe zu fragen, was eigentlich „Normalität“ des Körpers ausmacht und in welchem Verhältnis Körper und gesellschaftliche Wirklichkeit stehen. Spätestens seit den neunziger Jahren taucht der Körper zunehmend als eigenständiges soziologisches Thema auf (Schatzki 1996; Kastl 2001; Gugutzer 2004; Schroer 2005; Turner 2008), ohne dass dabei das Thema Behinderung eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. Dem Unterfangen zugleich auch eine neue sogenannte Bindestrichsoziologie (Sociology of the Body; Körpersoziologie) auszurufen, kann man durchaus skeptisch gegenüber stehen, spielte doch die Thematik immer wieder auch schon an systematisch grundlegender Stelle bei den sogenannten Klassikern des Faches Soziologie eine Rolle. Möglicherweise hat ja der Körper eine viel grundsätzlichere Bedeutung für die Soziologie als die eines möglichen Spezialgebiets unter anderen. Vier thematische Felder, die sich bereits bei „Klassikern“ ¿nden, seien beispielhaft benannt. Kulturelle Bedeutung der Körpertechniken Marcel Mauss, einer der wichtigsten Vertreter der kulturanthropologisch orientierten französischen Soziologie, hat in einem kurzen, aber einÀussreichen Aufsatz mit dem Titel „Die Techniken des Körpers“ schon 1935 Beobachtungen aus der ethnologischen Forschung zur kulturspezi¿schen Prägung körperlicher Handlungsformen zusammen getragen und systematisiert. Ihm ging es um elementare, auf den Körper als „Instrument“ der Alltagsbewältigung bezogene Verhaltensweisen: wie zum Beispiel Sitzen, Laufen, Trinken, Essen, Kämpfen, Schlafen, Ausruhen, Klettern, Jagen, Reiten, Werfen, ja: die „Technik“ des Sexualakts. Mauss interessiert sich für geschlechts-, alters- und natürlich vor allem kulturspezi¿sche Variationen dieser Verhaltensformen, die Frage, wie Kulturen ihren Mitgliedern diese Techniken beibringen und vermitteln und in welchem Verhältnis sie zu bestimmten übergreifenden kulturellen Vorstellungen und Handlungsmustern stehen. Dabei überraschen vor allem die feinen Verästelungen dieses Themas. Wie Menschen husten, welche Stellungen beim Sexualakt sie kennen und präferieren, auf welche Weise sie sich waschen, wie sie Dinge halten und tragen – all das ist soziokulturell geformt und „eintrainiert“. Damit werden aber auch – wie wir noch sehen werden –
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basale soziale Kompetenzen de¿niert und Maßstäbe dessen gesetzt, was Menschen in einer gegebenen sozialen Umwelt können müssen und was nicht. Zugleich wird damit mitde¿niert, worin und wobei man „behindert“ werden kann. Sozialhistorische Veränderungen körpergebundener Verhaltensweisen und des Verhältnisses der Menschen zu ihrem Körper Norbert Elias hat in seinen Untersuchungen zum Wandel der Mentalitäten vom europäischen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert gezeigt, wie sich in Abhängigkeit vom historischen Prozess der Differenzierung der abendländischen Gesellschaft eine zunehmende Veränderung der Muster der Kontrolle des körperlichen Verhaltens, der Ausdrucksformen von Affekten und der Selbstdisziplinierung ergibt. Dabei interessieren ihn durchaus auch Körpertechniken im Sinne von Marcel Mauss: beispielsweise, wenn Elias den Wandel der Tisch- und Esssitten vom Mittelalter bis zur Neuzeit skizziert, etwa, wie mit Messern und Gabeln bei Tische hantiert wird (Elias 1997: 255 ff.) oder die soziohistorische Entwicklung einer so profanen Handlung wie des Schneuzens. Elias zeigt, wie zunehmend Scham und Peinlichkeitsschranken aufgebaut werden, welche Muster der Handlungssteuerung und Affektkontrolle sich in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen ergeben. Dabei analysiert er auch spezi¿sche „soziophysische Mentalitäten“ wie beispielsweise den Typus des Ritters oder des HöÀings, die jeweils ganz andere Formen der Affektsteuerung, der Körperkontrolle und des Körpereinsatzes zeigen und kultivieren. Diese Analysen sind für ihn symptomatisch für eine globale Entwicklung der Gesellschaft, die er den „Prozess der Zivilisation“ nennt. Ich werde mir ein Teilstück seiner Analysen zur deutschen Kultur in Kapitel 7 zunutze machen. Auch Michel Foucault interessiert sich für Zusammenhänge zwischen der Veränderung gesellschaftlicher Machtausübung und der Ausbildung einer zunehmenden Körperkontrolle und -Disziplinierung, insbesondere aber auch (und hier geht er über Elias hinaus) für die dazu gehörigen „kulturellen Semantiken“, also wie Körper wahrgenommen, beschrieben und interpretiert werden. Foucault spricht dabei von „Diskursen“, später sogenannten „Dispositiven“, die für ihn historisch spezi¿sche Formen von Körperlichkeit und Körperwahrnehmung hervorbringen. Beide Begriffe sollen (ähnlich wie der Begriff Habitus bei Bourdieu) die Aufmerksamkeit auf den Umstand lenken, dass es nicht nur um die Beschreibung spezi¿scher soziohistorischer Deutungsmuster geht, sondern dass deren Erzeugung eine Systematik, eine Art offene Grammatik zugrunde liegt. Diese hat für Foucault immer etwas mit institutionalisierten gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu tun. Foucault geht hierin sehr weit. Er möchte zeigen, wie auch das naturwissenschaftlich-medizinische Verständnis von Körper bestimmt ist von Formen gesellschaftlicher Machtausübung und sowohl auf das Verständnis wie auf
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die Praxis von Körperlichkeit, Sexualität, von Normalität zurückwirkt. Schon in den 1970er Jahren befasst sich Foucault in einer Reihe von Vorlesungen über „Die Anormalen“ auch mit der Frage, welche Veränderungen in der Konstitution und Deutung von „Anormalität“ mit dem historischen Wandel gesellschaftlicher Machtausübung einher gehen. Leider geschieht dies unter weitgehender Ausblendung von Phänomenen der Behinderung. Dennoch hat das Werk Foucaults großen EinÀuss auf die moderne „Körpersoziologie“, wie auch auf Autorinnen und Autoren, die sich mit Behinderung befassen, ausgeübt. Foucault wird heute meistens im Rahmen sozialkonstruktivistisch orientierter Theorierichtungen aufgegriffen. Soziale Wahrnehmung von Körper und ihrer Bedeutung für Interaktion und Identität Goffmans Buch „Stigma“ (Goffman 1975) ist ohne jeden Zweifel der klassische Bezugstext der Soziologie der Behinderung (bzw. Behinderten) und der Disability Studies und hat weit darüber hinaus Gegenstandsbereiche wie die Soziologie abweichenden Verhaltens, die Soziologie der Vorurteile u. a. m. beeinÀusst. Goffman untersucht darin, wie – anknüpfend an bestimmte aus Sicht der sozialen Umwelt auffällige Personenmerkmale, insbesondere eben auch visible und weniger visible Behinderungen – Personen stigmatisiert werden können und welche Folgen das für ihre Interaktionen und ihre Identität hat, welche Techniken des „Stigmamanagements“ stigmatisierten Personen offen stehen und welchen Preis diese Techniken haben. Wir werden uns mit diesem Thema ausführlich in Kapitel 6.2 befassen. In seinen Interaktionsanalysen nimmt Goffman eingehend soziale Regulierungen der körperlichen Präsenz und Inszenierung unter die (mikro-)soziologische Lupe. Beispiele hierfür wären: Distanzverhalten, Bewegungskoordination in Interaktionen im öffentlichen Raum, die räumliche Verortung des Körpers, die Rolle von körperlichen Signalen und Bewegungen in Alltagsinteraktionen, der Stellenwert von unabsichtlichem (oder absichtlich unabsichtlichem) Einwirken körperlicher Vorgänge und Handlungen in die Interaktion (wie Rülpsen, Husten, Sich-Kratzen, Nase putzen), die soziale Inszenierung von Körperlichkeit durch Kleidung und Haltung, ihre Bedeutung für die personale und soziale Identität. Damit verknüpft sind bei ihm immer empirisch fundierte Überlegungen zur Konstitution von Normalität und Abweichung im Kommunikationsverhalten. Beispielsweise rekonstruiert Goffman Symptome psychotischer Erkrankungen als systematische Verletzungen von Verhaltensregeln im öffentlichen Raum.
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Leibliche Verankerung und Strukturiertheit sozial generierter Wahrnehmungsund Verhaltensressourcen (Habitus und Kapital) Es war insbesondere der französische Soziologe Pierre Bourdieu, der in seinen ethnographischen und soziologischen Arbeiten kulturelle Präferenzen (z. B. Geschmacksurteile, Essen, Musik, Wohnung), soziale Wahrnehmungsmuster, Geschlechtsstereotypen, soziale Selbst- und Fremdpositionierung im gesellschaftlichen Klassengefüge nach dem Muster des unbewussten oder vorbewussten Erwerbs motorischer und perzeptorischer Fertigkeiten, und ihren Erwerb als einen Prozess des „in Fleisch und Blut Übergehens“ gedeutet hatte. In seinem Konzept des Habitus schließt er an ein Verständnis von Körperlichkeit an, wie es in der Philosophie vor allem in der Phänomenologie und von Maurice Merleau-Ponty geprägt wurde (dazu Kastl 2004a, 2007). Erwerb wie Anwendung von Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten werden von Bourdieu nach dem Muster des Erwerbs und der Anwendung körperlicher (z. B. motorischer) Fertigkeiten analysiert. Den Begriff des Habitus verknüpft Pierre Bourdieu mit einem Konzept von (inkorporiertem) „Kapital“, das es ihm erlaubt, den Körper (bzw. den eingeÀeischten Habitus) als soziale Ressource zu verstehen. Ein bestimmter Habitus als Inbegriff von Wahrnehmungs-, Verhaltens-, Denk- und Kommunikationsgewohnheiten (einschließlich der körperlichen Haltung) ist innerhalb bestimmter sozialer Kontexte, Klassenlagen und soziohistorischer Gegebenheiten entstanden und auf sie bezogen. Er legt damit zugleich eine Art Passungsindex fest, der über Resonanz und Anschlussfähigkeit in anderen sozialen Feldern entscheidet. Wer in einem bildungsbürgerlichen Milieu aufgewachsen ist, wird in dazu homologen sozialen Kontexten (einschließlich der Universität) ohne weiteres Anschlussmöglichkeiten und Resonanz ¿nden, weil ihm z. B. die Strukturen der gebildeten Konversation in Fleisch und Blut übergegangen sind. * Soweit einige Bemerkungen zu den „Klassikern“. Man sieht, dass sie dem Konzept der Körperlichkeit eine grundlegende Bedeutung für die soziologische Analyse einräumen. Der Körper ist so etwas wie eine ständig mitlaufende Dimension des Sozialen und nicht ein abgestecktes Teilgebiet. Demgegenüber gewinnt man den Eindruck, dass die Spezialdisziplin „Körpersoziologie“ in der Frage, welchen Grundlagenstatus sie ihrem Thema geben soll, eher unentschieden bleibt (vgl. dazu Gugutzer 2004, Schroer 2005). Auffällig ist auch: Wie der Teufel das Weihwasser scheint die Soziologie dabei den Kontakt zu den Naturwissenschaften zu scheuen. Fast scheint es , als ob sie sich in einer feindlichen Übernahme erprobt und ähnlich wie bei dem KonÀikt zwischen medizinischem und sozialem Modell möglicherweise das Kind mit dem Bade ausschüttet, indem sie von einer prin-
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zipiellen Irrelevanz naturwissenschaftlicher Betrachtungsweisen ausgeht. Und eine weitere Auffälligkeit besteht darin: von der einzigen Ausnahme Goffmans abgesehen, befassen sich die großen Soziologen nicht mit Behinderung. Körpersoziologischer Konsens Ich knüpfe in diesem Buch für die sozialphilosophischen Fragen insbesondere an Merleau-Ponty und für die (behinderungs-)soziologischen Fragen insbesondere an Pierre Bourdieu, Heinrich Popitz, Theodore Schatzki, Bryan S. Turner, Bill Hughes sowie Talcott Parsons an, ohne das immer im Detail aufzuweisen. Zunächst möchte ich für die Zwecke dieser Arbeit so etwas wie einen körpersoziologischen Grund- und Minimalkonsens charakterisieren, von dem ich hoffe, dass er zumindest für eine Mehrheit der Autoren grundsätzlich unterschriftsfähig wäre. Er lässt sich durch drei Hauptgesichtspunkte charakterisieren. 1. Jeder Organismus, so auch der menschliche Körper, stabilisiert und grenzt eine Ordnung, eine Struktur gegenüber einer (physikalischen, biologischen, sozialen) Umwelt ab. Der Körper hat eine Grenze nach Außen. Zugleich aber besteht – bei aller Verschiedenheit der internen Prozesse und einer relativen Abgeschlossenheit durch die Grenze – eine materielle Kontinuität mit seiner physischen Umwelt. Hierauf könnten sich naturwissenschaftliche, systemtheoretische und phänomenologisch argumentierende Autoren sicher leicht einigen. Dabei gilt: Der Körper ist prinzipiell vom gleichen „Stoff“ wie seine (Um-) Welt. Sowohl stammesgeschichtlich als auch ontogenetisch ist der Mensch aus unbelebter Materie (was immer das ist) entstanden und er wird mit seinem Tod wieder in Materie zerfallen. Aber im Rahmen dieses materiellen Kontinuums mit der Umwelt grenzt er sich, jedenfalls so lange er lebt, als hochkomplexe Ordnung strukturell und funktionell ab. Diese Ordnung hat sich stammesgeschichtlich, aber auch im Laufe der individuellen Ontogenese aber in steter Interaktion mit dieser Umwelt heraus gebildet. Das beinhaltet ebenso Einwirkung und Wirkmöglichkeit dieses Körpers auf die Umwelt, als auch umgekehrt die Einwirkung und Wirkmöglichkeit dieser Umwelt auf den Körper und zwar auf allen Ebenen: physikalischmechanisch, chemisch, biologisch, sozial-kommunikativ. Das ermöglicht dem Körper einerseits Offenheit und Bezugnahme zu seiner Umwelt, auf der anderen Seite setzt es ihn aber einem Meer von Zufällen aus. Ihm kann buchstäblich alles Mögliche zufallen und zustoßen. Die Offenheit des Körpers gegenüber seiner Umwelt ist zugleich mit einer Offenheit gegenüber kontingenten EinÀüssen erkauft. 2. Der menschliche Körper ist in seinen Strukturen wesentlich mitgeprägt durch den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext (Sozialität des Körpers). Das gilt sowohl für körperliche Merkmale im engeren Sinn (wie zum Beispiel: Haltung, Aussehen, Belastungsfähigkeit, körperliche Geschicklichkeiten, Motorik) wie
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auch für alle Aspekte des sozialen Lernens, dessen körperliche Dimension, weil Bindung an bestimmte Gehirnstrukturen, aber auch andere Körperstrukturen heute unumstritten ist. Die Sozialität des Körpers ist natürlich ein Aspekt seiner Offenheit und Lernfähigkeit gegenüber seiner (Um-)Welt. 3. Wenn man den Blick von der Seite des Sozialen her einnimmt, lässt sich heute sagen, dass ein großer Teil der kulturellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit entweder ein körperliches Phänomen im Sinne von (2) ist, zumindest aber auf die Mitwirkung von Körperlichkeit angewiesen ist. Unsere kulturelle und gesellschaftliche Wirklichkeit besteht ja primär aus bestimmten Verhaltens-, Wahrnehmungs-, Handlungs- und Wissensroutinen und damit körpergebundenen Fertigkeiten. Darüber hinaus gibt es natürlich menschliche Artefakte – Architektur, Technik, Kultivierung der Landschaft, Kunstwerke, medial (in Schrift, Bild, digital) objektivierte Kommunikation. Aber auch diese objektivierten Formen von Kultur und Gesellschaft sind angewiesen auf entsprechend körperlich verankerte Fähigkeiten der Individuen damit umzugehen. Eine Schrift, die man nicht lesen, ein technisches Gerät, mit dem niemand umgehen kann, ist ein „totes“ kulturelles Phänomen, nutzlos wie ein verlassener Ameisenbau. Von daher entspricht also der (spezi¿schen) Sozialität des Körpers immer auch eine (spezi¿sche) Körperlichkeit des Sozialen. Diese vier Aspekte: ƒ ƒ ƒ ƒ
Offenheit des Körpers Kontingenz des Körpers Sozialität des Körpers Körperlichkeit des Sozialen
sollen in den folgenden Abschnitten mit Hilfe einer phänomenologischen Beschreibung näher beleuchtet werden. Zugleich soll eine körpersoziologische Auseinandersetzung mit Phänomenen der Behinderung teils angedeutet, teils vorbereitet werden. 3.1 Offenheit In der westlichen Tradition werden vielfach bis heute das „Physische“ und das, was den Menschen zum „Subjekt“ macht (seine „Seele“ oder sein „Geist“) als zwei völlig verschiedene Realitätssphären angesehen. Der prominenteste philosophische Vertreter dieser Betrachtungsweise ist bekanntlich der französische Philosoph René Descartes, der diesen Dualismus im 17. Jahrhundert mit den Bezeichnungen einer res cogitans (= denkender Substanz) und einer res extensa (= ausgedehnter Substanz) auf den Begriff gebracht hat. Auf die damit verbundenen komplizierten philosophischen und philosophiegeschichtlichen Fragen brauchen wir hier nicht
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einzugehen. Es genügt in unserem Zusammenhang sich zu verdeutlichen, dass wir immer schon einer Art Alltagsversion des philosophischen Dualismus folgen, wenn wir ganz selbstverständlich zwischen unserem Körper und „uns selbst“ unterscheiden. „Wir“ und „unser Körper“ Jeder prüfende Blick in den Spiegel, jede Besorgnis über ein leichtes Unwohlsein, jeder neidische Blick auf den vollkommeneren Körper der anderen bestätigt uns in dieser Unterscheidung. Unser Denken scheint uns zwar irgendwie in unserem Körper verortet zu sein, aber dieser selbst ist genau genommen nur Materie unter Materie. Er ist nie so, wie wir ihn uns vorstellen, hat vielleicht ein paar Pfund oder mehr zu viel Materie, und er wird sich mit größter Sicherheit, obwohl wir daran selten denken, irgendwann wieder in seine materiellen Bestandteile auÀösen. Aber immerhin können wir daran denken und weil das so ist und wir uns auf eine solche Weise von unserem Körper distanzieren können und weil schließlich ja nicht unser Körper „ich“ sagt, sondern eben ich!, gehen wir davon aus, dass wir irgendwie mehr oder etwas anderes sind als unser Körper. Unser Seelenleben scheint uns unmöglich auf das reduzierbar zu sein, was wir unseren Körper nennen. Schließlich steckt darin der ganze Reichtum unserer Wahrnehmungen von der Welt und den Anderen, unseres Wissens und unserer Gefühle. Schließlich bin ich „Zentrum“, Bezugspunkt einer Welt, Subjekt von Gedanken, Gefühlen und Handlungen und kann sogar noch meinen Körper als Objekt unter anderen behandeln, den ich von „mir“ unterscheide, ja sogar zum Gegenstand einer kritischen Betrachtung machen kann. Wir nähren so alle die insgeheime Überzeugung, irgendwie doch über (oder neben) dem zu stehen, was wir als unseren Körper bezeichnen. Irgendwie hat unser Ich, haben wir eine hartnäckige Neigung einem verführerischen und wie auch immer bescheidenen Triumph des „Geistes“ über die „bloße Materie“ etwas abzugewinnen. Das könnte freilich auch einfach eine Frage der Betrachtungsweise sein. Dass wir mehr sind, als unser Körper – das drängt sich irgendwie auf, aber letzten Endes: worin besteht dieses Mehr? In einer unsterblichen Seele? Aber spricht nicht gerade auch die christliche Überlieferung davon, dass wir Fleisch sind, ja sogar, dass das Wort „Fleisch ward“ (Joh. 1, 14)?23 Und verwenden wir bei der ganzen Sache nicht einen billigen Trick – nämlich den „Körper“ zunächst einmal in einem 23 „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort … Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ heißt es im ersten Kapitel des Johannesevangeliums. Angespielt wird damit auf die Menschwerdung Gottes in Gestalt von Christus. Der im Original verwendete griechische Begriff ıȐȡȟ (sarx) bedeutet (die Knochen verhüllendes) Fleisch, die Muskulatur, steht
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relativ schlechten Licht erscheinen zu lassen, ihn auf eine bloße Ansammlung von Materie zu reduzieren, um ihm dann wieder etwas hinzuzufügen, was wir Seele nennen, um seine belebten Qualitäten zu erklären? Ist dieser Körper aus der Außensicht nicht eine Abstraktion, der wir im Nachhinein dann wieder eine ebenso künstliche Abstraktion, das Subjekt, den Geist, die Seele hinzufügen müssen, damit wir annähernd bei dem landen, was wir als unsere Wirklichkeit bezeichnen? Jedenfalls hat die Philosophie des 20. Jahrhunderts und von der anderen Seite die Naturwissenschaften einen Gutteil ihrer Anstrengungen darauf verwendet, über den Dualismus zwischen einem körper- (und Àeisch-)losen Geist hier und einem geistlosen Körper dort hinweg zu kommen. Wenn man so will, werden hier nach wie vor Tunnel von zwei verschiedenen Seiten gegraben, die erkennbar aufeinander zulaufen und irgendwann einmal – so wäre zumindest die Hoffnung – auch zusammen treffen und sich verbinden. Jenseits des Dualismus Auf der Seite der Naturwissenschaft wird heute jedenfalls die enge Bindung sogenannter „geistiger“ Leistungen, von Identität und Selbstbewusstsein, aber auch von Gefühlen, Affekten, von Verhalten und Gewohnheiten vor allem an das Nervensystem und da speziell an das Gedächtnis betont, ohne dass die genauen Zusammenhänge als solche endgültig aufgeklärt wären. Darauf komme ich noch ausführlicher zu sprechen. Der Befund als solcher ist so unabweisbar, wie immer menschliche Erkenntnis unabweisbar sein kann – bei allen Unklarheiten und Meinungsverschiedenheiten über die Beschaffenheit und Tragweite der Zusammenhänge im Einzelnen. Angesichts dessen, was wir wissen, legt sich aber die Vermutung nahe, dass wir in unserem Alltagsdualismus schlicht und einfach die Feinheit und Raf¿ nesse der Materie unterschätzen. Wir sind zu sehr daran gewohnt, die „groben“, kompakten stofÀichen Massen, mit denen wir es in unserer visuellen Alltagswahrnehmung zu tun haben, mit Materie und Körperlichkeit gleich zu setzen. Diese Gleichsetzung lebender Organismen mit ihrem dem menschlichen Auge sichtbaren „Fleisch“, d. h. ihren Makrostrukturen, ist wahrscheinlich ebenso irrig wie die Theorie, dass der menschliche Körper ursprünglich aus Ton geformt wurde. Interessanterweise sind die verschiedenen Versuche auf Seiten der Philosophie den kartesianischen Dualismus zu durchbrechen (vgl. dazu etwa Hughes 1997: 331 ff.; Turner, B. 2001: 257 ff.) bei ganz ähnlichen Resultaten angelangt. Zu nennen wären hier beispielsweise a) die Phänomenologie Merleau-Pontys, die sich wiederum aus aber auch für „Leib, Körper“. Bei Paulus steht das Fleisch/sarx synonym für das „sündige“ Fleisch, für Triebe und „Gelüste“.
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den Quellen der Philosophie Edmund Husserls und Martin Heideggers speist, b) die philosophische Anthropologie von Helmuth Plessner sowie c) George Herbert Meads und John Deweys Programm eines pragmatistischen (und interaktionistischen) Naturalismus. Sie alle verlagern die Subjektstellung des Menschen in den Körper selbst zurück, indem sie dessen Eigenschaft einer zu ihrer (Um-) Welt hin geöffneten Struktur beschreiben. Der Körper selbst hat die Eigenschaft aus sich heraus orientiert zu sein, in Bezug zu einer (Um-)Welt gesetzt zu sein, und sich mit dieser Welt selbst in den Blick zu bekommen. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von Ek-Stase bzw. Transzendenz, Helmuth Plessner verwendet den Begriff einer exzentrischen Positionalität. In beiden BegrifÀichkeiten kann eine Doppellage des Körpers gedacht werden: ich habe meinen Körper (als Objekt, als Gegenüber, in einer Außenbetrachtung), aber zugleich bin ich mein Körper. Ich falle mit ihm, der durch ihn eröffneten Perspektive zusammen. Ich bin dieser Körper, der sich zugleich hat und für den in dieser Spannung zugleich die Welt erschlossen ist (ähnlich auch Sartre 1987: 425). Der Körper – unsere Verankerung in der Welt Besonders Maurice Merleau-Ponty betont, wie sehr das, was wir „Subjektivität“ nennen (unsere „geistigen“ Fähigkeiten, insbesondere die Fähigkeit der SelbstreÀexion) nicht in Opposition zum „Körper“ steht, sondern vielmehr von diesem getragen wird und ohne ihn nicht denkbar ist. „Ekstatik“, „Exzentrizität“ ist für Merleau-Ponty bereits in elementaren Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen angelegt, in der gleichsam vorreÀexiven ReÀexivität der Stimme (ich kann selbst hören, was auch für die anderen hörbar ist), ihrer Verknüpfbarkeit mit Sprache, der Selbstberührbarkeit der Hände, die gleichsam ein körperliches Modell von Subjektivität darstellt (einschließlich des Moments, dass die eine Hand die andere nie vollständig zu fassen bekommt).24 „Transzendenz“ im Sinne eines Bezogenseins auf Dinge und Andere, auf Welt, ist eine grundlegende Struktur unserer gelebten körperlichen Erfahrung, die bereits in jedem Wahrnehmungsvorgang zum Ausdruck kommt und jeder reÀexiven Bezugnahme Inhalt gibt.25 Der Körper „ist Ganz ähnlich Gedanken ¿nden sich in Bezug auf „vokale Gesten“ und Sprache bei den amerikanischen Philosophen George Herbert Mead und John Dewey. 25 „Die Intentionalität … ist nicht eine Verknüpfungstätigkeit des geistigen Subjekts, noch wird sie durch die bloßen Verknüpfungsbeziehungen des Objekts gebildet, sie ist der Übergang aus einer Phase der bewegung zur anderen, den ich als leibliches Subjekt vollziehe und der für mich prinzipiell immer möglich ist, weil ich jenes wahrnehmende und sich bewegende Lebewesen bin, das man einen Körper nennt.“ (Merleau-Ponty 1984a: 53) „Die von mir wahrgenommene Welt, die Dinge, die sich mir nicht ganz zeigen … haben ein Anrecht auf viele andere Zeugen als mich selbst. … Schon auf der 24
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unsere Verankerung in der Welt“, „ist unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben“ (Merleau-Ponty 1966: 174, 176). Dass dem so ist, hängt mit der Fähigkeit des menschlichen Körpers zusammen, Wahrnehmung, Motorik und Zeiterfahrung (Gedächtnisleistungen) zu verknüpfen. Der Körper ist nicht nur offen für spezi¿sche Sinneseindrücke, sondern er ist auch in der Lage sich dadurch verändern zu lassen. Aber er tut das nicht so wie ein Stein Moos ansetzt oder Eisen unter dem EinÀuss von Wasser rostet, sondern so, dass vergangene Wahrnehmungen/Erfahrungen in aktuelle und zukünftige in eigentümlicher Weise eingehen und zu einer Differenzierung des Verhaltens und der Verhaltensmöglichkeiten führen, beispielsweise wenn ein Kind lernt mit einem Ball umzugehen. Plötzlich „weiß“ das Kind wie es ihn anzufassen hat, damit er nicht wegrollt. Es ist vor allem diese Verknüpfung oder besser gesagt diese Verknüpftheit, die die spezi¿sche Leistungsfähigkeit bzw. wie Merleau-Ponty das nennt: die fungierende Intentionalität unseres Körpers in jedem Augenblick ausmacht (Merleau-Ponty 1966: 418, 478; Kastl 2001: 251 ff.). Der Körper vollzieht in jeder noch so unauffälligen „Emp¿ndung“ ständig erstaunliche Synthesen, auch ohne dabei schon explizite „Thesen“ zu machen (Merleau-Ponty 1984a: 49). Das gilt auch und gerade unter den Bedingungen von Behinderung.26 Diese körperliche, leiblich erfahrene und verankerte „Leistung“ kommt unmittelbar in jeder Bewegung und jeder Wahrnehmung zum Ausdruck, sie synthetisiert die einzelnen Elemente jeder Verhaltensweise und jeder Wahrnehmung in jedem Moment. Jeder Griff nach einem Glas, das Ausweichen vor einem Ball, die Betätigung einer Tastatur, die besondere Gestalt und Tönung eines optischen Eindrucks ist bereits von diesen zeitlichen Synthesen bestimmt, ohne die Denken und alle Manifestationen von Subjektivität i. e. S. nicht möglich wäre.
‚solipsistischen‘ Ebene ist also der andere Mensch nichts Unmögliches, weil die emp¿ ndbare Sache geöffnet ist. Er wird gegenwärtig, wenn ein anderes Verhalten und ein anderer Blick von meinen Sachen Besitz ergreifen – und eben das geschieht. Jene VerÀechtung meiner Welt mit einer anderen Leiblichkeit entsteht ohne Introjektion, weil die für mich emp¿ ndbaren Dinge durch ihr Aussehen, ihre Gestalt, ihre Leibliche Beschaffenheit schon das Wunder verwirklichen, Sachen zu sein und es deshalb zu sein, weil sie einem Leib dargeboten sind und weil sie meine Leiblichkeit zu einer Probe des Seins machen.“ (ebd.: 56) 26 Merleau-Ponty gehört zu den ganz wenigen Philosophen, der sich in einem maßgeblichen (und die Philosophiegeschichte prägenden) Hauptwerk ausführlich mit der Analyse von Behinderungserfahrungen befasst: der Agnosie, der Blindheit, der Aphasie, des Verlusts von Körpergliedern, der psychischen Erkrankung (Merleau-Ponty 1966).
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Körper und Gehirn sind sozial verfasst. Die bemerkenswerte Weltoffenheit des Körpers beinhaltet auch die soziale Erfahrung – unser Körper ist schon immer einer Geschichte der Begegnung mit den anderen Menschen unterworfen. Wir sind von unserer Geburt an und, wie die Ergebnisse der Säuglingsforschung zeigen, sogar schon vor unserer Geburt über Wahrnehmung und Bewegung auf Andere bezogen. Schon Neugeborene unterscheiden den Klang der Muttersprache von der Prosodie unbekannter Sprachen. Die Anderen und damit die Gesellschaft sind immer schon der Bezugspunkt von Wahrnehmungen und Bewegungen und ihre Reaktionen schreiben sich in deren Struktur ein und bestimmen sie mit. Spiegelneuronen Solche eher philosophisch anmutenden Überlegungen werden heute auch von ganz ungeahnter Seite bestätigt, nämlich durch die moderne Neurophysiologie. 1995 haben der italienische Neurophysiologe und seine Mitarbeiter bei Affen im Tierversuch eine Art neuronales Resonanzsystem entdeckt, dessen Einzelelemente aus spezialisierten Nervenzellen (Neuronen) bestehen, die sie Spiegelneuronen nannten. Von diesem Resonanzsystem konnte man zeigen, dass es genau dann aktiv wird, wenn Handlungen anderer Menschen wahrgenommen werden. Das Spiegelneuronensystem leistet dabei eine Verknüpfung der sozialen Wahrnehmung mit den motorischen Systemen (beim Beobachter wohlgemerkt!), die dazu nötig wären, um selbst eine beobachtete Handlung auszuführen und sogar Folgehandlungen zu antizipieren (also beispielsweise aus dem Griff nach einer Tasse, das zum Mundführen, Trinken, Wieder-weg-stellen zu extrapolieren). Die Handlungen des anderen werden dabei nicht faktisch ausgeführt, aber es werden dieselben Neuronenverbände aktiviert, die auch bei der faktischen Ausführung dieser Handlung beteiligt wären (Rizzolatti, Sinigaglia 2008: 130 ff.).27 Das gilt auch für die ungleich raf¿niertere Feinmotorik 27 „Der ‚Akt des Beobachters‘“, schreiben Rizzolatti und Sinigaglia, „ist ein potentieller Akt, hervorgerufen durch die Aktivierung der Spiegelneurone, die imstande sind, die sensorische Information motorisch zu kodieren und so jene ‚Wechselseitigkeit‘ von Akten und Intentionen zu ermöglichen, die unserem unmittelbaren Erkennen der Bedeutung der Gesten der anderen zugrunde liegt … Sobald wir jemanden sehen, der eine Handlung oder eine Handlungskette ausführt, nehmen seine Bewegungen, ob er will oder nicht, eine unmittelbare Bedeutung für uns an; umgekehrt gilt natürlich auch, dass jede unserer Handlungen eine unmittelbare Beduetung für den annimmt, der sie beobachtet. Auf diese Weise determinieren der Besitz des Spiegelneuronensystems und die Selektivität der Reaktionen einen gemeinsamen Handlungsraum, in den jede Handlung und jede Handlungskette von uns oder anderen unmittelbar einbeschrieben ist und verstanden wird, ohne daß es einer ausdrücklichen oder absichtlichen ‚kognitiven Operation‘ bedürfte.“ (dies., 137)
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der Hervorbringung von sprachlichen bzw. lautlichen Äußerungen (Rizzolatti/ Sinigaglia 2008: 170). Rizzolatti und seine Mitarbeiter verknüpfen diese Befunde mit einer funktionalen und phylogenetischen Theorie der Sprache, die diese nicht in vorhumanen Lautsystemen (Rufe, Warnsignale, emotionale Lautäußerungen) verortet, sondern in visomotorischen Fähigkeiten und ihrer Verknüpfung mit dem Spiegelneuronensystem (Rizzolatti/Sinigaglia 2008: 164 ff., 173).28 Sprache ist so gesehen ein besonders raf¿niertes Beispiel einer Verknüpfung und Integration von Wahrnehmung, Motorik und Sozialität. Sprache, Bewusstsein und Gesellschaft Ohne Sprache hätten wir vermutlich weder die Fähigkeit zu denken, noch uns und unseren Körper zu objektivieren. Alle Kulturleistungen wären unvorstellbar. Aber gerade in der Sprache und im sprachlichen Verhalten tritt die körperliche Verfasstheit unserer Existenz und zugleich deren Offenheit gegenüber der (Um-Welt) und damit auch der Gesellschaft mustergültig zutage. Sprache ist immer eine perzeptive und motorische Realität. Geschriebenes und Gesprochenes muss wahrgenommen werden, schreiben und sprechen heißt eine hochdifferenzierte und anspruchsvolle Motorik zu beherrschen. Zur Integration der perzeptiven und motorischen Aspekte und zu ihrer Verknüpfung zu bedeutsamen Einheiten sind alle Formen von Gedächtnis: implizite wie explizite erforderlich. Die Sprache schreibt sich so gesehen in den Körper ein, sie ist eine körperliche Gewohnheit, die des jahrelangen „Trainings“ bedarf. Sie spielt selbst zum Teil in einer Dimension des „PräreÀexiven“, der „fungierenden Intentionalität“. Zugleich ist aber die Sprache und damit der Körper das eigentliche Medium von ReÀexivität, Denken und Kommunikation (vgl. Merleau Ponty 1966: 474; Kastl 2001: 255 ff.), mit dem die Offenheit des Körpers, seine Fähigkeit in Interaktionen einzutreten differenziert wird. Sprechen und Sprache spielt so gesehen in einer körperlichen und körpergebundenen Dimension, ist ohne Wahrnehmung, Motorik und Gedächtnis nicht denkbar. Dabei ist die Sprache ebenso Medium unserer Individualität wie eine überindividuelle Realität. Die Sprache ist deshalb zugleich jenes Phänomen, das uns am ehesten dazu verführt, eine transzendente Realität jenseits unserer Körperlichkeit zu projizieren, die wir dann „geistig“ nennen. John Dewey bezeichnet in diesem Zusammenhang das, was wir als „Geist“ bezeichnen, aber schlicht „als jene zusätzliche Eigenschaft <…>, die ein fühlendes Geschöpf erwirbt, wenn es
28 Diese Theorie steht von der Sache her in Einklang zu den mit rein phänomenologischen und philosophischen Mitteln gefundenen Einsichten beispielweise von George Herbert Mead und Maurice Merleau-Ponty, die von Rizzolatti denn auch ausgiebig zitiert werden.
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jene organisierte Interaktion mit anderen lebenden Kreaturen erreicht, die Sprache, Kommunikation ist.“ (Dewey 1995: 249). Insbesondere durch den Erwerb von Sprache wird, wie G. H. Mead es ausdrückt, der gesellschaftliche Prozess ins Individuum genommen, inkorporiert, zur motorischen und perzeptiven Kompetenz. Die Unterscheidung zwischen physisch und geistig sei, so Dewey „eine Unterscheidung von Ebenen anwachsender Komplexität und Intimität der Interaktion zwischen natürlichen Ereignissen.“ (Dewey 1995: 252). An anderer Stelle formuliert er es so: „Körper-Geist bezeichnet einfach, was wirklich statt¿ ndet, wenn ein lebendiger Körper in Situationen von Diskurs, Kommunikation und Partizipation verwickelt ist. In dem Bindestrichausdruck Körper-Geist bezeichnet ‚Körper‘ das fortgesetzte und konservierte, das registrierte und allmähliche anwachsende Wirken der Faktoren, die mit dem Rest der Natur, der unbelebten, wie der belebten, kontinuierlich verbunden sind; während ‚Geist‘ die charakteristischen Eigenschaften und Konsequenzen bezeichnet, die Merkmale anzeigen, die erst dann erscheinen, wenn der Körper in eine weitere und komplexere Situation von größerer wechselseitiger Abhängigkeit verwickelt wird.“ (Dewey 1995: 272)
Man kann in einer eher systemtheoretischen Sprache sagen, dass der Körper – je komplexer er ist – sich durch immer komplexere Vermittlungen körperinterner Prozesse und Strukturen mit Prozessen und Strukturen in seiner Umwelt auszeichnet, nicht im Sinne einer Abbildung, sondern im Sinne einer „strukturellen Kopplung“, wie Niklas Luhmann das in Anknüpfung an die chilenischen Neurobiologen Maturana und Varela nennt. Es geht dabei um ein historisch sowohl im Verlauf der Gattungs- wie der individuellen Geschichte vermitteltes spezi¿sches Passungsverhältnis der Strukturen des Körpers zu Strukturen seiner Welt und damit um Resonanz- und Dissonanzverhältnisse.29 Behinderung als Resonanzphänomen Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt für das Thema Behinderung. Es liegt natürlich nahe zu sagen, bei Behinderung gehe es immer um Aspekte der Passung und Nicht-Passung von Körper und Umwelt (so Tössebro, zit. bei Shakespeare 2006: 25) und damit um eine Einschränkung von Resonanz oder wie es Ursula Stinkes im Anschluss an eine Kategorie von Goldstein sagt: von Responsivität 29 Allerdings unterstellt Luhmann hier eine Form der Geschlossenheit der Systeme, die vermutlich an der Sache vorbei zielt und so auch weder aus Sicht vieler philosophischer Ansätze noch aus naturwissenschaftlicher Sicht geteilt wird. Dazu Kastl 2001, Kap. III.
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(Stinkes 2008). Das leuchtet bei Sinnesbehinderungen unmittelbar ein, aber auch kognitive Behinderungen, etwa ein Gedächtnisverlust, oder eine motorische Beeinträchtigung können das Repertoire meiner kognitiven, symbolischen und praktischen Antwortmöglichkeiten in bestimmten Situationen einschränken. Ich kann mit einer Person plötzlich „nichts mehr anfangen“, weil ihr Namen und unsere gemeinsame Geschichte aus meinem Gedächtnis getilgt sind. Der Unterschied zwischen Zahlen hinter oder vor dem Komma sagt mir nichts, dieses Komma selbst ist mir ein schieres Rätsel – ich habe keine Antwort auf die Frage, ob die Nudelpackung mit dem Preis 1,29 € teurer oder billiger ist, wie die mit dem Preis von 0,98 €. Das Geländer dieser Treppe ist für mich keine Aufforderung mich daran zu halten – meine Antwort bleibt sozusagen aus, denn ich habe keine Arme. Allerdings ist es wichtig zu sehen, dass der von Merleau-Ponty beschriebene grundlegende Charakter der Weltoffenheit niemals vollständig und als solcher berührt ist. Offenheit ist ein Charakteristikum von Leben. Selbst bei schweren Amnesien sind noch erstaunliche Leistungen möglich. Und in vielen Fällen wird gerade durch Behinderung eine besondere Dimension und Qualität der Welterfahrung erst erzeugt. So wird durch die Anwendung der Gebärdensprache so etwas wie ein linguistischer Raum konstituiert, in dem beispielsweise Personalpronomina in Abhängigkeit vom Nullpunkt des Gebärdenden dreidimensionale Koordinaten haben, etwas, was für Hörende schlichtweg nicht nachvollziehbar ist. Diese Entwicklung zu Virtuosen der Raumwahrnehmung beinhaltet sogar die Veränderung der Funktionsaufteilung zwischen linker und rechter Gehirnhemisphäre (dazu Sacks 1999: 132 ff.). Der blinde Soziologe Siegfried Saerberg analysiert eindrucksvoll, wie sich bei blinden Menschen der physische Raum konstituiert. Dieser ergibt sich als Synthese von „taktuellen Wahrnehmungen von Händen und Füßen, <dem> Pendeln des Taststocks, akustischen Wahrnehmungen jeder Art, Geruchsemp¿ndungen, sensorischen Emp¿ndungen der Haut, Wärmeund Kälteeindrücken sowie <den> ständig sich verändernden sensomotorischen Emp¿ndungen des Auf und Ab der Wegstrecke“ (Saerberg 2006: 113). Die blinde Raumerfahrung hat ganz eigene Reichweiten- und Relevanzstrukturen und einen vom Sehenden ganz verschiedenen Wahrnehmungsstil. 3.2 Kontingenz Pierre Bourdieu schreibt in seinem philosophischen Spätwerk „Meditationen“ (Franz.: Méditations pascalienne): „Weil der Körper … exponiert ist, weil er in der Welt ins Spiel, in Gefahr gebracht wird, dem Risiko der Emp¿ndung, der Verletzung, des Leids, manchmal des Tods
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ausgesetzt, also gezwungen ist, die Welt ernst zu nehmen … ist er in der Lage, Dispositionen zu erwerben, die ihrerseits eine Öffnung zur Welt darstellen, das heißt zu den Strukturen der sozialen Welt, deren leibgewordene Gestalt sie sind. Die Beziehung zur Welt ist eine Beziehung der Präsenz in der Welt, des In-der-Welt-seins im Sinne des der Welt Angehörens, ja des von ihr Besessenseins.“ (Bourdieu 1997: 180)
Für ihn beinhaltet also die Intimität der Verbindung von Welt und Körper, der Umstand, dass der Körper vom gleichen „Stoff“ ist wie die Welt, materiell wie sie, die gleichzeitige Gefahr verletzt, traumatisiert, bedroht zu werden. Der Körper ist im Maße seiner Offenheit ihr gegenüber auch den Unwägbarkeiten, den Zufällen, den Kontingenzen seiner Umwelt ausgesetzt. Die Möglichkeit des Kontakts und der Einwirkung ist mit einem steten „Widerfahrnischarakter“ dieser Umwelt (Kamlah 1973: 34 ff.) erkauft. Vulnerabilität und Behinderung Einen etwas anderen Aspekt dieser strukturellen Verletzbarkeit betont der Soziologe Heinrich Popitz: „Der Mensch in vielfältiger und subtiler Weise verletzungsoffen. Allem, was lebt, kann das Leben genommen werden. Doch die Ausgesetztheit des menschlichen Körpers ist besonders sinnfällig. Ohne Fell und Panzer, in aufrechter Haltung, sind seine vitalen Organe offen für den Angriff von außen. … Zur kreatürlichen Verletzbarkeit kommt die ökonomische Verletzbarkeit, die zahlreichen Möglichkeiten des Entzugs von Subsistenzmitteln, von Raub und Zerstörung und von Beschränkungen des Zugangs zu Ressourcen… Dies ist die erste Wurzel der Macht: Menschen können über andere Macht ausüben, weil sie andere verletzen können. … Verletzungsmächtigkeit, Verletzungsoffenheit bestimmen wesentlich mit, was wir … ‚Vergesellschaftung‘ nennen. Die Sorge, Furcht, Angst voreinander ist als ein Modus des Vergesellschaftetseins niemals ganz wegzudenken. Zusammenleben heißt stets auch sich fürchten und sich schützen.“ (Popitz 1992: 24 f.)
Damit begründet Popitz in der irreduziblen Tatsache der körperlichen Vulnerabilität des Menschen die universale Präsenz bzw. Möglichkeit körperlicher Gewalt als letztliche Basis jeder Ausübung von Macht von Menschen über Menschen. Dies gilt gerade dann, wenn in vermittelteren Formen von Macht (z. B. „instrumentelle“, „autoritative“, „datensetzende“, „diskursive“ Macht) auf die unmittelbare Gewaltausübung verzichten kann. So ist etwa das Zusammenleben in unseren modernen staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen überwiegend befriedet. Wir müssen heute, jedenfalls in den entwickelten Ländern, nicht ständig und
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alltäglich mit der Anwendung körperlicher Gewalt rechnen. Dennoch kommt sie vor und vor allem gibt es einen legitimen Träger von Gewalt, nämlich den modernen Staat. Er darf notfalls Gewalt ausüben, d. h. Menschen körperlich einschränken, gefangen setzen, ihnen dabei ggf. Schmerzen zufügen und in Ausnahmefällen (wie Notwehr, Abwendung einer öffentlichen Gefahr, Krieg, Todesstrafe, wenn sie wie in den USA erlaubt ist) auch Menschen das Leben nehmen. Michel Foucault und Norbert Elias befassen sich in detaillierter Weise mit den sozialhistorischen Entwicklungsprozessen dieses Zusammenhangs von politischer und gesellschaftlicher Machtausübung und Körperlichkeit. Bryan Turner, einer der wichtigsten Vertreter der Soziologie des Körpers charakterisiert Vulnerabilität ganz ähnlich wie Bourdieu: „Its etymology signi¿es the human potential to be open to the world and hence to bewounded, that is to experience physical trauma. In modern usage, the idea of human vulnerability refers to both physical and psychological harm: it indicates human exposure to psychological harm or moral damage or spiritual threat. More generally it includes our ability to suffer psychologically, morally and spiritually rather than merely a physical capacity for pain from our exposure to the physical world. Our common human vulnerability is illustrated by our morbidity and mortality, and these in turn can be regarded as the basis for shared human rights, such as the right to life itself.“ (Turner 2008: 13 f.)
Turner weitet die Bedeutung von „Vulnerabilität“ zur grundsätzlichen Erfahrungsmöglichkeit von körperlichem oder geistigem Schmerz, des Leides und der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit aus. Er stimmt damit ein in das universale „Memento mori“ (= Bedenke, dass du sterblich bist) der Religionen ein. Wie Bourdieu weist auch Turner darauf hin, dass die Weltoffenheit des Menschen und seine Verletzbarkeit zusammen gehören: „Our vulnerability is also part of our capacity to draw sensual pleasures from our openness to experiences“ (Turner 2008: 244). Für ihn ist die allen Menschen gemeinsame Hinfälligkeit der Ansatzpunkt für eine Ethik der Solidarität, die Turner auch für eine Sozialethik der Behinderung für relevant hält (Turner 2008, 2006).30 Bill Hughes, ebenfalls ein Soziologe aus England, hat Turners Lamento und insbesondere seine Nutzung für eine Sozialethik des Umgangs mit Behinderung einer eher kritischen Betrachtung unterzogen. Die Anerkennung behinderter Menschen sollte seiner Ansicht nach nicht über den Umweg einer Art Universalisierung von Behinderung bzw. „Impairment“ begründet werden (Hughes 2007: 677; vgl. auch Hughes 2009). Zwar hat Hughes kein Problem mit der These, „that impair-
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Auch die englischen Soziologen Shakespeare und Watson argumentieren ähnlich.
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ment is ‚the normal condition of humanity‘“ (Hughes 2007: 678). Aber die daraus abgeleitete Behauptung, letztlich seien wir alle (irgendwie) behindert, hält Hughes für wenig überzeugend: „… because we are all impaired or will become impaired does not mean to say that disablement is or even will be the destiny of each and every one of us.“ (Hughes 2007: 678). Hinzu kommt für Hughes, dass viele behinderte Menschen ihre eigene Situation gar nicht in einem Deutungsschema von Verletzbarkeit (vulnerability) und Hinfälligkeit (frailty) wahrnehmen. In der Tat können für viele Formen der Behinderung diese Vokabeln bestenfalls eine rein metaphorische Bedeutung beanspruchen. Ein blinder oder gehörloser Mensch, ein Mann oder eine Frau mit Down-Syndrom, ein Mensch, der infolge einer chroni¿zierten Schizophrenie Stimmen hört, sind weder subjektiv noch objektiv mehr mit der Erfahrung von „Verletzbarkeit“ oder „Hinfälligkeit“ konfrontiert wie jede andere, nicht behinderte Person. Wenn Hughes als ein Fazit seiner Überlegungen formuliert: „if one argues that impairment is the rule … one also has to add… that normalcy is the fantasy“ (Hughes 2007: 678), wird deutlich, dass ihn bestenfalls Nuancen von seinen „Gegnern“ trennen. Sein zentrales Anliegen ist es, den behinderten Körper nicht nur unter dem bloßen Aspekt seiner Eingeschränktheit, als „limit without possibility“ zu betrachten. Ihm geht es vor allem um die Anerkennung des Umstandes, dass auch der behinderte Körper Fähigkeiten und Möglichkeiten hat und ebenso Zentrum von Erfahrung ist, Offenheit und Erschlossenheit einer Welt kennt, Subjektstatus hat. Genau das erfordert aber meines Erachtens die Einbeziehung körpersoziologischer und damit verbundener philosophischer Konzepte.31 Es wäre in der Tat künstlich und erfahrungsfern, Behinderung per se als Ausdruck einer grundsätzlichen „Verletzbarkeit“ des menschlichen Körpers und der menschlichen Situation anzusehen.32 Deswegen schlage ich hier ein allgemeineres Konzept vor und greife dazu einen Begriff auf, den Jean Paul Sartre und andere Philosophen in diesem Zusammenhang verwendet haben, nämlich den der Kontingenz (dazu Sartre 1987: 134 ff.).
31 Insbesondere die bereits skizzierten Argumente von Maurice Merleau-Ponty, an den Hughes übrigens ebenfalls in positiver Weise anknüpft. 32 Selbst dann, wenn wir annehmen, dass das, was wir mit „Behinderung“ bezeichnen immer irgendwie mit schädigenden physischen, psychischen oder sozialen Prozessen zu tun hat. Im Kapitel 4 werde ich beim Versuch der de¿nitorischen Abgrenzung von Behinderung der Kritik von Hughes Rechnung tragen. Behinderung soll dort auf eine Weise de¿niert werden, die sowohl dem Gedanken der „Vulnerabilität“ Rechnung trägt als auch dem Hinweis von Hughes, den „behinderten Körper“ als Lebensmöglichkeit zu sehen. Behinderung ist de¿nitiv keine Krankheit.
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Weder Naturgesetz noch freie Entscheidung – die Kontingenz des Körperlichen Der Begriff entstammt ursprünglich der Logik. Kontingenz war in der philosophischen Tradition bei Aristoteles (Metaphysik) und Leibniz (Monadologie) de¿niert als das, was zwar möglich, aber nicht notwendig/zwangsläu¿g ist. Das Kontingente kann man nicht durch bloße Analyse der Gegebenheiten logisch „ableiten“. Etwas Kontingentes können wir uns grundsätzlich auch anders vorstellen. Dabei kann es sowohl um Vergangenes gehen – zum Beispiel könnte es sein, dass ein Toter sich mit der Pistole, die da neben ihm liegt, selbst erschossen hat (ein Beispiel von Wilhelm Kamlah). Es könnte aber auch anders sein. Es kann auch um Gegenwärtiges gehen: ich habe nochmal Glück gehabt und den Zug gerade noch erwischt, es hätte aber auch anders kommen können. Und es kann um Zukünftiges gehen: es kann sein, dass der Wetterbericht für morgen zutrifft, es kann aber auch sein, dass es morgen regnet. Aus den Beispielen wird klar: kontingente Phänomene beinhalten ein Moment des Zufälligen, Akzidentiellen (Aristoteles). Zugleich ist Kontingenz abhängig von unserem Vorwissen und damit von der Instanz, für die etwas kontingent ist. Bei Sartre und in der Existenzphilosophie bekommt das Wort „Kontingenz“ eine weitere spezi¿sche Bedeutung. Dort wird damit eine irreduzible Faktizität der individuellen menschlichen Existenz bezeichnet, die als solche nicht weiter begründbar ist, weder auf ein allgemeines Gesetz, also eine Notwendigkeit zurück geht, noch aber auch Resultat einer freien Entscheidung, eines Willens, einer Handlung ist. Der Mensch ist, in der Terminologie der Existenzphilosophie, ein „Sein, das nicht sein eigener Grund“ ist und das damit anders sein könnte, als es ist. Wir können unsere Existenz und unser So-Sein letztlich nicht „erklären“ oder „ableiten“. Vielmehr ¿ndet jeder Mensch „sich“, „seine Situation“ und damit zugleich auch seinen Körper in bestimmter Hinsicht immer vor und erst vor dem Hintergrund dieser „Vorgabe“ kann er beginnen zu handeln, sich „zu machen“. Wenn ich die Formel von der Vulnerabilität des Körpers im Folgenden durch die der Kontingenz des Körpers ersetze, so will ich damit sagen, dass die erstere Bestandteil der letzteren ist. Gerade für das Verständnis von Behinderung ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, dass die Kontingenz des Körpers auch noch andere Aspekte als den der Verletzlichkeit hat. Sie zeigt sich auf ganz verschiedenen Ebenen. ƒ
Kontingent ist zunächst der menschliche Körper als „Gattungskörper“, also in Bezug auf das, was wir im Vergleich mit anderen Lebewesen an ihm für typisch halten. Es gibt keinerlei Naturgesetz oder einen Einblick in einen göttlichen Willen o. ä., aus dem wir ableiten können, dass Menschen so und nicht anders aussehen. Im Gegenteil: die einzige Theorie, die überzeugende Erklärungen für das Werden des Menschen als Gattungswesen anbietet, die
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Evolutionstheorie, zeigt gerade die große Rolle von Zufällen bei der Phylogenese eines bestimmten Körpertyps – Zufällen, die ebenso in der Umwelt wie in den Organismen (Mutationen) selbst liegen können. Im Rahmen dieser Theorie hätten Menschen auch durchaus ein völlig anderes Aussehen entwickeln können. Die „Entwicklung der Arten“ folgt keiner strengen Gesetzlichkeit. Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert wurden Menschen mit Behinderungen (z. B. besonders kleine oder große Menschen, Menschen mit fehlenden Körper teilen, besonders behaarte Menschen, Menschen mit Mikrocephalie u. a.) unter diesem Gesichtspunkt als „seltsame Spielarten der Natur“ in sogenannten „Freakshows“ präsentiert (vgl. unten Kapitel 7). Robert Bogdan hat gezeigt, dass dem eine soziale Konstruktion von körperlicher Abweichung zugrunde liegt, die in diametralem Widerspruch steht zu unserer schädigungsbezogenen und letztlich medizinischen Sichtweise von Behinderung. Man kann sagen, dass im Begaffen von „andersartigen“ Menschen ein solches Kontingenzbewusstsein zum Ausdruck kommt. In lichten Momenten können wir dieses Kontingenzbewusstsein auch gegen uns selbst kehren und die Skurrilität des eigenen Aussehens bemerken: die seltsamen Erhebungen und Löcher mitten im Gesicht, das im Vergleich z. B. mit dem Gang eines Panthers unschöne Schlenkern der Arme beim Gehen, die ganzen anderen Nachteile und Deformationen, die der aufrechte Gang mit sich bringt. Das ändert allerdings nichts daran, dass wir Nasen haben und auf zwei Beinen gehen, es handelt sich um eine durch nichts letztlich begründbare und nicht durch menschliches Handeln entstandene Kontingenz des Faktischen. Wir haben nicht gemacht, dass wir Nase und Ohren, Geschlechtsorgane und Haare haben. Kontingent ist unser Körper aber auch als individueller Körper in seinem So-Sein. Wir haben auch nicht unsere individuelle Gestalt und die unserer Organe gemacht. Daran ändern auch Theorien der Vererbung nichts, da deren Mechanismen keinerlei Determinismus aufweisen und in sich wiederum – auch und gerade in ihrer naturwissenschaftlichen Sicht – von unwägbaren Zufällen abhängig sind. Auch der Umstand, dass wir über Techniken der Manipulation des Körpers durch kosmetische, medizinische Eingriffe verfügen, die in praktisch allen menschlichen Kulturen bekannt und gebräuchlich sind, ist kein Gegenargument. Solche Manipulationen setzen ja immer erst an einer primären Kontingenz an – das menschliche Machen beruht immer auf einem Nicht-Gemachten. Ja, sogar die Formen und Möglichkeiten dieses Machens sind nicht selbst gemacht, sondern prinzipiell wiederum durch die Anatomie und biophysische Faktoren mit bestimmt. Selbst die Produktion von Cyborgs, wie in Science-Fiction-Filmen, setzte gerade eine genaue Kenntnis der Vorgaben der Natur voraus.
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Die Sozialität des Körpers und die Körperlichkeit des Sozialen Kontingent ist unser Körper in seiner Existenz als solcher, in seinem DassSein. Wir haben weder gemacht, dass wir geboren werden und in der Regel machen wir auch nicht, dass und wie wir sterben werden. Am Anfang unserer Existenz steht ein letztlich sehr kränkender und unwahrscheinlicher Zufall (nämlich das Zusammentreffen dieser Samen- mit jener Eizelle). Aber auch das Ende unserer Existenz ist in einem ebenso kränkenden Sinne von Zufällen bestimmt – meist sorgt dafür ein simpler mechanischer oder biochemischer Sachverhalt, der mit „uns“ nichts zu tun hat: ein Entzündungsherd, eine Metastase, eine Thrombose an einer „falschen“ Stelle, die Dysfunktion einer kleinen Herzklappe, die Entgleisung eines chemischen Prozesses. Kontingent ist unsere körperliche Wirklichkeit aber eben auch in dem Sinne, dass unser Körper fortwährend Kontingenzen ausgesetzt ist, weil er selbst eine stofÀich-materielle Wirklichkeit ist und dadurch jederzeit durch materielle Einwirkung von außen (sei es durch „natürliche“ Faktoren oder von Menschen gemachten, wie etwa Gewalt, Umweltverschmutzung, Unfälle) verletzbar, beeinÀussbar, manipulierbar , irritierbar ist. Die materielle Beschaffenheit unseres Körpers ist in dem Sinne kontingent, dass wir sie nicht „gemacht“ haben, sondern als natürliche Bedingung vor¿nden. Dazu gehört z. B., dass wir aus bestimmten chemischen Verbindungen bestehen, deren Stabilität von bestimmten Umweltbedingungen wie zum Beispiel Temperatur abhängt. Dazu gehört zugleich eine unüberschaubare Komplexität von ökologischen Anforderungen und Bedingungen, die für den Bestand bzw. die Aufrechterhaltung komplexerer Strukturen und Prozesse in unserem Körper notwendig sind. Beispielsweise kann unser Körpergewebe bis zu einem gewissen Grad die Einwirkung mechanischer Kräfte „abfangen“, ohne in seiner Struktur dauerhaft beeinträchtigt zu werden, ab einem bestimmten Punkt aber wird es (irreversibel) traumatisiert. Dabei gibt es Zonen und Organe größerer und geringerer Verletzbarkeit. Auch diese sind weder konstruiert noch menschengemacht. Die äußeren EinÀüsse, die auf unseren Körper einwirken, sind ebenfalls in dem Sinne kontingent, dass sie sehr oft nicht vorhersehbar sind, einem zustoßen, ohne dass dahinter eine bestimmte Notwendigkeit stünde. Sie haben vom Standpunkt des Betroffenen und der Integriertheit des Gesamtkörpers betrachtet immer den Charakter von Zufälligkeit, auch dann, wenn wir die Ursache kennen. „Warum ich?“ fragt sich der Mensch, wenn ihm etwas zustößt. Es gibt auch darauf letztlich keine wirklich befriedigende Antwort. Die menschliche Wirklichkeit ist in diesem Sinn grundsätzlich prekär (Dewey 1995, Turner 2006, 2008). Es sind aber auch rein endogene materielle Ursachen für Dysfunktionen denkbar, wie etwa eine fehlerhafte Genreduplikation, eine Stoffwechselproblematik o. ä. Auch solche Irritationen erscheinen aus der Perspektive der funktionalen Integration des Gesamtkörpers immer als zufällig/kontingent.
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Mit dem letzten Punkt sind wir wieder bei der eingangs erwähnten Kategorie der „Vulnerabilität“ (vulnus = Wunde). Dazu gehören auch Verletzungen im Sinne von Traumatisierung und Verwundung, Verlust von Körpergliedern, aber eben auch jede Störung von Körperprozessen (einschließlich psychischer und kognitiver Funktionen) durch die Einwirkung externer Faktoren (wie Gift, Radioaktivität, Infektion), Störungen von Prozessen durch psychophysische Überforderungs- oder Mangelsituationen (degenerative Prozesse, emotionale oder kognitive Deprivation, Traumatisierung oder Überforderung, Hunger/Durst, Kälte/Hitze usw.). Kontingenz und Behinderung Wie gesagt, ist aber diese Kontingenz nur eine Spielart der grundsätzlichen Kontingenz unserer körperlichen Existenz, die nicht nur ihre Verletzlichkeit, sondern überhaupt ihr So-Sein und Dass-Sein umfasst. Phänomene der Behinderung können mit allen Formen von Kontingenz zu tun haben. Man kann sagen, Behinderung führt uns die Kontingenz unserer körperlichen Existenz vor Augen. Das gilt sowohl für die von ihr direkt Betroffenen, wie für die nicht direkt Betroffenen. Robert F. Murphy beschreibt an einer Stelle der Selbstanalyse seiner Behinderungserfahrung eindrücklich, wie scheinbar „normale“ Funktionen und Alltagsvorgänge wie Gehen, Treppensteigen, Sich-Herum-Drehen, Atmen, das Spüren seiner Körperglieder, Zähneputzen ihre Selbstverständlichkeit verlieren und ihren kontingenten Charakter insofern offenbaren, als sie plötzlich als spezi¿sche Fähigkeiten erkannt werden (Murphy 1990: 55). Murphy vergleicht das mit der Präsenz der Kategorie Hautfarbe im Bewusstsein. In einer diesbezüglich homogenen Gemeinschaft ist es so „normal“ ein Schwarzer oder Weißer zu sein, dass das Merkmal als solches gar nicht zu Bewusstsein kommt: „I would no more have thought of myself as white than I would have thought of myself as walking on two legs.“ Hautfarbe, das Gehen auf zwei Beinen sind in diesem Fall „unmarked categories“ (Murphy 1990: 103). Anders verhält es sich, wenn man Angehöriger einer Minderheit ist, Schwarzer unter lauten Weißen – dann wird die Hautfarbe zu einer expliziten „marked“ Kategorie. Die Kontingenz dieses Merkmals wird bewusst. Die Kategorien „Fußgänger“ und „Rollstuhlfahrer“ werden relevant, wenn ich von einer Gehbehinderung betroffen werde oder andere davon betroffen sehe. Ähnlich offenbart Behinderung sowohl in der Innen- wie in der Außenerfahrung die grundsätzliche Kontingenz auch und vor allem des „normalen“ Körpers. Was vorher selbstverständlich war, gewinnt den Charakter einer anspruchsvollen, unwahrscheinlichen und voraussetzungsvollen Leistung. Andererseits erschließen (wie immer notgedrungen) behinderte Menschen wiederum Leistungsmöglichkeiten von Funktionsbereichen des Körpers, die wiederum das Normale als Nicht-
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Ausschöpfung von Leistungsmöglichkeiten erscheinen lassen: das Hören und Tasten bei blinden Menschen, das Sehen und Gebärden bei gehörlosen Menschen, Gedächtnisleistungen, imaginative Fähigkeiten oder sehr spezi¿sche motorische Kompetenzen bei körperbehinderten Menschen, etwa die Zur-Hilfenahme von Füßen anstatt Händen (Murphy 1990: 101). Die Verknüpfung von Behinderung mit einer generellen Kontingenzerfahrung wird besonders augenfällig, wenn man, wie Robert Murphy, durch eine Erkrankung oder einen Unfall behindert wird. Man muss dann lernen, dass es auf die Frage „Warum ich?“ keine Antwort gibt: „I feel that this a foolish question, that assumes some cosmic sense of purpose and direction in the universe, that simply does not exist.“ (Murphy 1990: 104) Diese Frage ist ebenso unbeantwortbar, wie die Frage, warum ich überhaupt in der Welt bin, oder wieso der Körper generell so beschaffen ist, wie er es eben ist. Die eigene Existenz ist so oder so von einer im Falle der Behinderung nur ungleich schroffer zu Bewusstsein kommenden Kontingenz gezeichnet: man muss sie akzeptieren, hinnehmen, ihr ins Auge sehen als Basis für jeden handelnden Umgang mit ihr. Für Murphy bedeutete der in seinem Fall zunehmende Übergang in die Quadriplegie eine Veränderung seiner gesamten Identität: „It is an identity, a dominant characteristic to which all social role must be adjusted.“ (ebd.: 106) und: „My identity has lost its stable moorings and has become contingent on a physical Àaw.“ (ebd.: 105) Das wirft auch noch einmal ein bezeichnendes Licht auf die Übertreibungen sozialkonstruktivistischer Positionen. Die Behinderungserfahrung verlangt den betroffenen Menschen primär die Anerkennung einer ebenso kontingenten wie in der Regel unabänderlichen Faktizität ab. Der Konstruktionscharakter von Behinderung spielt erst innerhalb eines durch diese Faktizität im Zusammenspiel mit den übrigen Lebensumständen gesetzten, mal kleineren, mal größeren Deutungsspielraums. Aber auch in die Erfahrung der Behinderung durch Außenstehende geht eine Kontingenzerfahrung ein. Die Vorbehalte und die unmittelbar affektiven Reaktionen Nicht-Behinderter (Cloerkes spricht hier von originären Reaktionen), wenn sie mit bestimmten schweren Körperbehinderungen konfrontiert werden, reichen von Anstarren, Angst, Erschrecken, bis zu einer Art von „Ekel“ (Cloerkes 1980: 411 ff.). Solche elementaren „psychophysischen Reaktionen“ zeugen von einer Involviertheit der Körperlichkeit der Betrachter, die eine empfundene und emp¿ndliche Bedrohung der eigenen körperlichen Integrität und Identität verraten. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass man in der Behinderung mit der Kontingenz des eigenen Körpers konfrontiert wird. Es war Jean Paul Sartre, der in seinem literarischen und philosophischen Werk die Erfahrung von Ekel grundsätzlich mit einer Kontingenzerfahrung in Zusammenhang bringt. In der Tat könnte man sagen, tritt eine Ekelerfahrung immer dann auf, wenn uns etwas die Wahrnehmung der stofÀichen Materialität und damit der Zufälligkeit unserer körperlichen Existenz aufdrängt, wenn wir registrieren,
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dass der Körper, auch unser eigener Körper letztlich geformte Materie ist. Ekel ist im Kern ein AbwehrreÀex, seine somatische Erscheinungsform ist die eines Herauswürgens einer schädlichen Substanz zum Schutz des eigenen Körpers. Wir wissen aber, dass sich Ekel sich symbolisch und assoziativ verschieben kann. Die Gegenstände des Ekels können sehr variabel sein und kulturell unterschiedlich konstituiert werden. Es gibt aber relativ universelle Gegenstände des Ekels. Dazu gehört die StofÀichkeit des menschlichen Körpers, die insbesondere in seinen materiellen Ausscheidungen (Spucke, Rotz, Samen, Blut) zum Ausdruck kommt, in der Abtrennung von Körperteilen vom Gesamtkörper, aber eben auch in Deformationen und körperlichen Anomalien (insgesamt Miller 1997). Die Existenz eines Buckels, das Fehlen eines Körperglieds, die Deformation einer Hand oder des Brustkorbs macht uns bewusst, dass wir Materie sind, unsere Existenz von labilen störungsanfälligen Prozessen (durchaus auch im biologischen Sinne) abhängt. Unser Aussehen, unsere (körperliche) Existenz, unsere damit verknüpfte Identität ist nichts Selbstverständliches und Unverbrüchliches. „Gesundheit“ und der „perfekte Körper“ als Fiktion Wenn an dieser These etwas dran ist, dann beinhalten Erfahrungen des Ekels und der Abscheu gegenüber körperlichen Anomalien nicht nur die Ablehnung der davon – kontingent! – Betroffenen, sondern zugleich, und das könnte das Affektive solcher Reaktionen erklären, die Wahrnehmung der Kontingenz der eigenen Körperlichkeit. Sie wird schlagartig bewusst, gerade im Anblick des Anderen wird uns bewusst, wir könnten selbst betroffen sein. Unsere eigene (relative) Unversehrtheit, ja unsere körperliche Gestalt als solche ist keine Notwendigkeit, aber auch nicht Resultat einer freien Entscheidung. Hier ereignet sich alltäglich etwas, was Bill Hughes beispielsweise von einer kritischen „sozialen Ontologie für die Disability Studies“ (Hughes 2007) fordert, nämlich die Kontingenz des (scheinbar) Normalen, die „pathologies of non-disablement“ sichtbar zu machen. Das gibt der Erfahrung Raum, dass der gleichsam unverletzliche, autonome und „intakte“ Normal-Körper ein normatives Schema, eine Konstruktion ist, die nicht nur theoretisch, sondern jederzeit real widerlegt werden kann (Hughes 2007: 681 f.), buchstäblich am eigenen Leib. Hughes geht es so gesehen eigentlich darum wirklich ernst zu machen mit der Einsicht in die „Vulnerabilität“, und zwar nicht (nur) des behinderten Körpers, sondern jedes Körpers schlecht hin, dessen scheinbare „Normalität“ zu unterlaufen. Ein in diesem Zusammenhang bislang kaum beachteter Autor, der dieses Anliegen teilt, ist Viktor von Weizsäcker. Weizsäcker stellt in seinem nachgelassenen Werk „Pathosophie“ die These auf, „Gesundheit“ sei eine Art Fiktion:
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Dass wir das in der Regel anders sehen, schuldet sich dem Umstand, dass diese Fiktion unbestreitbaren Nutzen für die Alltagsbewältigung hat. Mit ihr verbinden sich wichtige soziale Zuschreibungen, wie zum Beispiel die der „Arbeitsfähigkeit“. Wir brauchen diese Fiktion offenbar. Weizsäcker spricht an anderer Stelle von einem „notwendig unbelehrbaren“ Sekuritätswahn des alltäglichen Bewusstseins: wir erkennen „dass die Sekuritäten des menschlichen Daseins großenteils als-ob-Sekuritäten sind, d. h. wir leben so, als ob wir, weil wir Art und Zeit der künftigen Katastrophen nicht kennen, diese auch nicht in Rechnung zu stellen hätten“ (Weizsäcker 2005: 31) – darunter natürlich die „lebenswichtige“ Katastrophe des eigenen Todes. Weizsäckers Argumentation mündet in der paradox klingenden Forderung, Krankheit nicht vor dem Hintergrund von Gesundheit zu verstehen, sondern umgekehrt: „Man versteht das kranke Wesen am besten, wenn man sich das ganze Leben als einen unablässigen Krieg mit der Krankheit vorstellt. Gesunde Zeiten sind Fortsetzungen dieses Kriegs mit anderen Mitteln. Wer ein Sinnesorgan besäße, welches eigens fürs Krankhafte da wäre und welches stets so bereit und hell wie das Auge wäre, der begriffe dieses beständige Entstehung des Gesunden aus der Abwehr des Kranken am leichtesten. Wer sich für völlig gesund hält, der ist nur blind für das Pathologische. Und man kann das Kranke nicht aus dem Gesunden ableiten, sondern muss versuchen, die Entstehung des Gesunden aus dem Kranken zu begleiten. Man sieht, das ist eine optimistische Vorstellung, denn sie führt vom Schlechten zum Guten hin, nicht umgekehrt. Freilich, man muss mit dem Schlechten anfangen, und das will fast niemand.“ ( Weizsäcker 2005: 15)
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Natürlich lebt diese Argumentation ein Stück weit von der Provokation. In Wirklichkeit setzt auch Weizsäcker irgendwie geartete Kriterien voraus, um im Einzelfall zwischen pathologischen und nicht-pathologischen Prozessen unterscheiden zu können. Und das sind durchaus auch medizinisch-biologische Erkenntnisse über Abläufe und Funktionen physiologischer Prozesse. Aber interessant ist daran, dass Weizsäcker genau mit einem solchen Wissen zu dem Schluss kommt, den Körper eher als ein dynamisches Krankheits-/Gesundheitsgeschehen zu begreifen, denn als ¿ xe Entität, der als solcher das Prädikat Gesundheit entweder zukäme oder nicht. Die „Tücke des Objekts“ und der „Wahn der Materie“ (Weizsäcker) In Weizsäckers Schriften ¿ ndet sich denn auch eine besonders originelle Formel für das, was wir hier als einen Aspekt der Kontingenz des Körperlichen im Blick haben. Dass der Körper durch seine Materialität ständig – aus „seiner“ Sicht – Zufälligem ausgesetzt ist, bringt Weizsäcker auf die Formel der „Tücke des Objekts“ (Weizsäcker 2005: 25 ff.). Komplexe Organismen, anatomische Strukturen und physiologische Prozesse treten aufgrund ihrer Komplexität strukturell Interaktionen mit ebenso komplexen objektiven Gegebenheiten ein, daraus ergibt sich strukturell die ständige Möglichkeit unerwarteter und unberechenbarer Wechselwirkungen. Jeder Körper, jeder Organismus ist ständig mit einer gewissen „Tücke des Objekts“ konfrontiert, die immer das kontingente Ergebnis für sich kontingenter Interaktionen sind. Wir sind letztlich auf eine unheimliche, uns angesichts unseres Todes ebenso offensichtliche wie andererseits undurchsichtige Weise Materie, die mit Materie konfrontiert ist und sich genau darüber immer wieder täuschen muss. Auch in dieser Hinsicht spricht Weizsäcker vom „Wahn der Materie“ (Weizsäcker 2005: 38 f.). 3.3 Sozialität des Körpers Mit der Formel der Sozialität des Körpers ist gemeint, dass dieser wesentlich durch die Gesellschaft, die Eingebundenheit in soziale Beziehungen und ihre Geschichte geprägt ist, sein „So-Sein“, seine Struktur (Wahrnehmungs-, Verhaltensmuster, z. T. sein „Aussehen“) durch diesen Umstand mit bestimmt ist. Das ist nicht nur mehr oder weniger oder manchmal der Fall, sondern grundsätzlich so, weil Menschen soziale Wesen sind.
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„Soziobiologie“ Man kann – wie sich bereits unter 3.1 angedeutet hatte – diese Sozialität des menschlichen Körpers bereits auf einer soziobiologischen Ebene begründen, schon in seiner Anatomie verankern. Die Leistungsfähigkeit der menschlichen Wahrnehmungsorgane, der Kehlkopf, die Sexualorgane, schon die biologischen Eigenheiten seiner Ontogenese (zum Beispiel die langjährige HilÀosigkeit des Neugeborenen), die Differenziertheit seines zentralen Nervensystems (Gehirn als „soziales Organ“) – alle die damit bestehenden objektiven Verhaltensmöglichkeiten jedes Menschen weisen ihn per Zugehörigkeit zu einer biologischen Gattung als „zoon politikon“, als „animal sociale“ (Aristoteles 2001: 1253a2) aus. Stammesgeschichtlich haben sich diese Eigenschaften wiederum nur in der Auseinandersetzung mit einer sozialen Umwelt heraus gebildet. Das geht zum Teil bis in die Beschaffenheit der zellulären Strukturen. Die Spiegelneuronen im Gehirn (Rizzolati 2008) sind hierfür ebenso ein Beispiel wie das Weiße des Augapfels – der Mensch ist die einzige (Primaten-)Gattung, bei der die Sklera (Lederhaut) des Auges weiß ist. Biologen gehen davon aus, dass der auffällige farbliche Kontrast zwischen Pupille und Sklera etwas ermöglicht, was für menschliche Sozialität von grundlegender Bedeutung ist. Er ermöglicht und erleichtert es, dass man dem Blick des Anderen folgen kann. In den dadurch ermöglichten Wahrnehmungs- und Verhaltenskoordinationen liegt eine wichtige evolutionäre Errungenschaft (vgl. dazu Wilkinson 2005: 206). Die Sozialität des Körpers hat eine alltägliche, jederzeit an uns selbst oder an unserem Gegenüber phänomenologisch fassbare Realität, die uns so selbstverständlich ist, dass wir sie gar nicht eigens beachten. Am augenfälligsten wird diese Sozialität des Körpers natürlich in der Sprache. Eine Sprache zu sprechen setzt komplexe Vorgänge sozialen Lernens voraus, eine „Gewöhnung“ des ganzen Körpers an die jeweilige Sprachgemeinschaft. Wie jede Kompetenz, jeder Lernvorgang ist das Sprechen-Können eine Gedächtnisstruktur und zugleich eine motorische wie perzeptive Kompetenz. Das erfährt man dann besonders deutlich, wenn man eine Sprache nicht so gut beherrscht und z. B. Mühe hat die besondere Lautgestalt der Wörter wahrzunehmen oder einen bestimmten Laut auszusprechen, wie zum Beispiel ein englisches „r“. Hier ist eine höchst subtile feinmotorische Koordination der Lippen, der Zunge, des Gaumens, der Stimmbänder, des Kehlkopfes gefragt, die nichts grundsätzlich anderes beinhaltet als die Geschicklichkeit beispielsweise mit einem Ball umgehen zu können. Man hört sogar, ob ich diese Form der Geschicklichkeit als Kind erworben oder nachträglich erlernt habe. Aber mehr noch: meine Sprache beinhaltet Nuancen, zum Beispiel des Dialekts, der Ausdrucksweise, des Stiles, an denen noch mehr ablesbar ist als meine Einbezogenheit in eine Sprachgemeinschaft. Je nachdem verrät meine Sprache,
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mein Sprechen etwas über meine Herkunftsregion, meinen Bildungsstand und den meiner Umgebung, meine Klasse und mein Milieu, vielleicht sogar etwas über meine Familienangehörigen, meinen Freundeskreis. Durch meine Sprache und meinen Leib, sagt Merleau-Ponty, bin ich an die Anderen gewöhnt (Merleau-Ponty 1984b: 41). Bestandteil meiner kommunikativen Fertigkeiten – die Gedächtnis, Wahrnehmung und Motorik zugleich umfassen – ist eine bestimmte Mimik, eine Art der Gestikulation, der körperlichen Haltung und Reaktionsfähigkeit, die ich mir ohne genau zu wissen wie, in der langjährigen Geschichte meiner Kontakte mit Anderen angeeignet habe, die auf diese Anderen antwortet, auf sie bezogen ist und mal mehr, mal weniger Resonanzmöglichkeiten beinhaltet. Das lässt sich auf alle Fähigkeiten und Kompetenzen überhaupt ausdehnen. Sie haben immer eine soziale Geschichte. Meine Manieren, mein Bewegungsstil, die Art und Weise, wie ich gehe, wie ich esse, was ich esse, technische Fähigkeiten (wie zum Beispiel mit einer Computermaus umgehen zu können oder ein Fräsmaschine zu bedienen) habe ich in Interaktionen erworben. Alles das steht in einem Passungsverhältnis zu einer sozialen Umwelt (bzw. Umwelten) und einer sozialen Geschichte meines Körpers. Meine Geschicklichkeiten (und Ungeschicklichkeiten) bilden das Pendant der kommunikativ-instrumentellen Anforderungen, sie spiegeln die Geschichte meiner Auseinandersetzung mit diesen. Habitus Pierre Bourdieu hat den Umstand, dass sich Prozesse des sozialen Lernens in unserem Körper niederschlagen, dort „sichtbar“ sind und jederzeit in meinem Aussehen, meinem „Gehabe“, und „Verhalten“ zum Ausdruck kommen, mit einem alten philosophischen, schon von Aristoteles und Thomas von Aquino ausgearbeiteten Begriff bezeichnet: Habitus (vgl. dazu Kastl 2004a, 2007). Aristoteles hatte ursprünglich solche menschlichen Fähigkeiten (bzw. die Aspekte an ihnen) im Auge, die nicht durch Belehrung, sondern durch Gewöhnung erworben werden und die die Form einer „Habe“, eines körperlich gebundenen Vermögens, einer Eigenschaft annehmen. Auch Bourdieu betont, dass ein Habitus sich überwiegend durch latente und implizite Lernprozesse bildet und seinem Träger oft selbst nicht bewusst ist: die Gesamtheit der sozial erlernten und „eingeÀeischten“ Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensgewohnheiten eines Menschen, Kommunikationsstil, Auftreten, Gehabe, alle Kompetenzen, die auf einem „praktischen“, „impliziten“ Wissen beruhen. In der Regel entzieht sich der Habitus (gerade weil es sich um in Fleisch und Blut übergegangene, zur Selbstverständlichkeit gewordene Strukturen handelt) unserem expliziten Bewusstsein. Zugleich reagieren wir auf den Habitus anderer Menschen sehr sensibel, aber gleichfalls eher intuitiv: sie sind uns sympathisch
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oder nicht, wir „können“ mit jemandem, oder wir fangen im Gegenteil nichts mit ihm an. Der Habitus steht dabei in engem Zusammenhang mit unser sozialen Position. Die Art, wie wir reden, ist geprägt von sozial verteilten Ressourcen wie Bildung, sie hängt ab von den mannigfachen sozialen Beziehungen, in denen wir stehen und die uns bestimmte kommunikative Gewohnheiten nahe legen: der Gesprächsstil zwischen Montagearbeitern auf einer Baustelle bei Wurstbrot und Bildzeitung unterscheidet sich grundlegend von dem zweier Teilnehmerinnen eines Volkshochschulkurses über Sheng-Fui-gerechte Wohnungseinrichtung. Deswegen ist der Habitus aber selbst eine Ressource, er legt bestimmte potentielle Anknüpfungspunkte für soziale Beziehungen nahe und macht andere eher unwahrscheinlich. Vom Habitus einer Person spricht man insofern sowohl in Bezug auf ein äußerlich sichtbares körperlich materialisiertes Muster des Verhaltens und der „Haltung“ (so wie man zum Beispiel von einem athletischen Habitus spricht) als auch auf eine unterstellte „innere“ Disposition typische Verhaltens- und Wahr nehmungsweisen immer wieder hervor zubringen. Das kann man sich an historischen Beispielen verdeutlichen, zum Beispiel am Vergleich zwischen dem auf Affektentfesselung und Unerschrockenheit angelegten Kriegerhabitus des mittelalterlichen Ritters vs. dem auf Beherrschtheit und Raf¿ nierung von Haltung und Verhalten angelegten Habitus des HöÀings (Elias 1997, 1: 376 ff.). Man kann aber auch auf ganz alltägliche Beispiele aus unserem eigenen Alltag zurück greifen. Der auf sprachliche und körperliche Herausforderung und Konfrontation angelegte Habitus vieler benachteiligter Jugendlicher (in gewissem Sinn moderne kleine „Großstadtritter“) kann in einem maximalen Gegensatz zum an reÀektierte und gepÀegte Konversation optimal angepassten Bildungshabitus einer Lehrerin stehen. Nur leider vereitelt dieser Bildungshabitus praktisch jeden ihrer Versuche, von den Jugendlichen „respect“ zu erhalten oder diesen ihnen gegenüber zu vermitteln. Immer geht es um einen an die jeweilige soziohistorische Wirklichkeit gebundenen Zusammenhang von Wahrnehmung, Verhalten und Motivationalität. „Der Körper ist Teil der Sozialwelt – die Sozialwelt Teil des Körpers:“ (Bourdieu 1985: 69) Und immer steht das in unablösbarem Zusammenhang zum Körper als sichtbarer Physis: „Man denke etwa an die Modellierung der Gesichtsmuskulatur und damit des Gesichtsausdrucks durch den Lebensgang eines Menschen, schreibt Elias, man denke an die Ausbildung von Lese- und Schreibzentren im Gehirn.“ (Elias 1997, 1: 389) Damit schlägt Elias (ebenso wie übrigens auch Pierre Bourdieu 2001: 175) einen Bogen zu modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.
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Gedächtnis Spätestens seit Eric Kandels bahnbrechenden Untersuchungen zur Biologie des Gedächtnisses an Meeresschnecken hat sich in der heutigen Wissenschaft die Erkenntnis durchgesetzt, dass es keine Erfahrung gibt, die nicht eine Entsprechung in einer Veränderung der materiellen, ja molekularen Struktur unseres Gehirnund Nervensystems hätte. Verhalten und Wahrnehmung sind vollständig und ausschließlich an Hirntätigkeit gebunden (Birbaumer, Schmidt 2006: 7). Aber das beinhaltet keinerlei Determinismus oder Biologismus in herkömmlichem Sinne. Denn es ist heute durch eine Vielzahl von experimentellen, neurophysiologischen und klinischen Erkenntnissen ebenso unbestritten, dass sich das Gehirn unablässig durch Erfahrung verändert. Damit hängt der Sachverhalt zusammen, dass das Gehirn ein „soziales Organ“ ist: jedes Wort, jeder Satz eines anderen Menschen, den wir auf irgendeine Weise im Gedächtnis behalten, verändert uns nicht „nur“ symbolisch, sondern er verändert im gleichen Zug etwas in der materiell-molekularen Struktur unseres Gehirns (Kandel 2006: 102 f.).33 Die Klärung dieser physischen Mechanismen im Einzelnen ist bislang nur in Ansätzen gelungen, aber dass es so ist, daran kann nach heutigem Kenntnisstand kein Zweifel mehr bestehen. Alle hier beschriebenen sozialen Kompetenzen und Fertigkeiten, alles soziale Lernen und Wissen – ist aus naturwissenschaftlicher Sicht in den Leistungen und in der Struktur der im menschlichen Gehirn verankerten Langzeitgedächtnissysteme der Individuen zu verorten. In diesen Gedächtnissystemen sind alle sozialen Kompetenzen und alles soziale Wissen eines Menschen „lokalisiert“. Dabei werden in der neuropsychologischen Literatur sogenannte deklarative und nicht-deklarative Formen des Gedächtnisses unterschieden. Einen Überblick vermittelt Tabelle 3.
Vermutlich dauert es nicht mehr lange, bis wir dieses „nur“ in der Formulierung „nur symbolisch“ als bedeutungslos erkennen und nicht mehr in Opposition zu einer physiologischen bzw. materialistischen Perspektive sehen. Symbole sind selbst immer auch eine physische Realität, sie können und müssen wahrgenommen werden, um wirksam zu sein und diese Wirksamkeit bedeutet, dass bei ihrem Gebrauch im Gehirn des Rezipienten (aber auch des Sprechers) etwas verändert wird, funktionell und „materiell“, wie fein das auch immer sein mag. 33
90 Tabelle 3
Die Sozialität des Körpers und die Körperlichkeit des Sozialen Das Konzept deklarativer und non-deklarativer Gedächtnissysteme (Langzeitgedächtnis) deklaratives Gedächtnis
non-deklaratives Gedächtnis
synonyme Begriffe
explizites Gedächtnis; Wissensgedächtnis implizites Gedächtnis; prozedurales Gedächtnis; Verhaltensgedächtnis
Beispiele für Unterformen
episodisches bzw. autobiographisches z. B. „Priming“, Wahrnehmungslernen, Gedächtnis; semantisches Gedächtnis emotionales Gedächtnis, Fertigkeiten, Gewohnheiten, konditionierte Reaktionen
Hauptleistung
„Wissen, was“
„Wissen, wie“; „Können“
„Inhalte“
Ereignisse, Fakten, Gesichter; Wissen, das „deklariert“ = erklärt, kundgetan werden kann; bewusst gelernte Typen und Kategorien bzw. Schemata
Fertigkeiten, Gefühle, Gewohnheiten, konditionierte Reaktionen, motorische Fertigkeiten (einschließlich Sprache); Wahrnehmungsmuster; intuitive Kategorien und Typen bzw. Schemata
Erwerbsmodus
bewusste Zur-Kenntnisnahme, ggf. Konsolidierung („Einprägen“ durch Wiederholung); Alles-oder-NichtsLernen; Lernsituation und Lerninhalt ist bewusst; begünstigend für MerkenKönnen: emotionale oder persönliche Bedeutung; Verknüpfbarkeit
intuitives Lernen, auch durch Wiederholung, „Sich-Einspielen“; dass und was gelernt wird, ist nicht bewusst und nicht (vollständig) bewusstseinsfähig; Lernen ist graduell und kontinuierlich (besser oder schlechter, mehr oder weniger)
Abrufmodus
bewusster Abruf (Anstrengung), aktiver vor- bzw. unbewusster Abruf; selbstintentionaler Suchprozess; sehr oft auf verständliche, „mühelose“, „praktische“ Abrufreize hin Anwendung
Zeitdimension
subjektiv repräsentiert, bewusste Trennung und symbolisches Aufeinanderbeziehen von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
soziale Dimension
Erwerbs- wie Abrufsituation sind meist soziale, durch Kommunikation und Interaktion strukturierte Situationen; Inhalte sind sozial, kulturell geprägt. gesellschaftliches und symbolisch vermitteltes Wissen; Erinnerungen an Interaktionen; soziale Erzählschemata u. a. m.
Soziologische Konzepte
objektiv inkorporiert; Vergangenheit materialisiert sich körperlich und bestimmt Dispositionen (Gegenwart und Zukunft)
an Ressourcen bestimmter sozialer Milieus gebunden; über Emotio nen, Wahrnehmung, Identi¿kationsprozesse, Teilhabe an sozialen Prozessen inkorporierte Haltungen und Kompetenzen
(autobiographische) Identität, soziales Habitus Wissen (im Sinne der Wissenssoziologie)
Unter deklarativem Gedächtnis werden alle Formen des expliziten, intentionalen Merkens und Abrufens von Inhalten verstanden, mit deklarativ ist gemeint, dass etwas deklariert = erklärt, kundgetan wird. Es wird auch Wissensgedächtnis genannt. Sein Kennzeichen ist, dass sowohl der Erwerb als der Abruf bewusst,
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intentional-willentlich sind, auch subjektiv die Kennzeichen einer aktiven Leistung besitzen. Hier lassen sich wiederum zwei Formen unterscheiden: das episodische oder autobiographische Gedächtnis. Ein Beispiel hierfür ist, wenn ich mich an den AusÀug erinnern kann, den ich vor einem Jahr mit meinen Kindern nach Straßburg gemacht habe, bei dem wir von einem heftigen Gewitter überrascht wurden. Ich erinnere also Ort und Zeit eines Geschehens (Quellengedächtnis). Anders ist es beim sogenannten „semantischen Gedächtnis“ („Wissensgedächtnis“ i. e. S.). Hier wird zwar etwas gewusst (und es wird gewusst, dass es gewusst wird), aber die Erwerbssituation ist in der Regel nicht mehr präsent: zum Beispiel, dass Rom die Hauptstadt Italiens ist, der Satz des Pythagoras u. ä. Nicht-deklarative Gedächtnisformen haben gemeinsam, dass bei ihnen weder der Erwerb der Gedächtnisinhalte noch ihre Anwendung in einer gegenwärtigen Situation (zwingend) bewusst ist oder sein muss. Man könnte also sagen, es handelt sich um ein Gedächtnis, das gar nichts von sich weiß. Das klingt auf den ersten Blick paradox. Gemeint ist aber etwas sehr einfaches und alltägliches. Eine Unzahl von Fertigkeiten und Kompetenzen beruhen auf dieser Art von Gedächtnis. Wie man Klavier gespielt, wie man einen Dialekt spricht, einen Bleistift spitzt, welche Körperhaltung man einnimmt, wie man mit einem Basketball umgeht, wie man bestimmte Laute spricht (zum Beispiel ein deutsches „ch“ wie in lachen) – das alles haben wir ohne Zweifel in vielen vergangenen Situationen gelernt, das wurde von uns irgendwie „gespeichert“, „aufbewahrt“. Insofern handelt es sich um eine Form des Lernens und damit um Gedächtnis. Allerdings können wir uns weder daran erinnern, dass, noch wann wir das „gelernt“ haben – die Lernsituation und das Lernen selbst sind weitgehend unbewusst, noch sind wir uns darüber bewusst, dass wir etwas Gelerntes abrufen, wenn wir schwäbisch sprechen, einen Bleistift spitzen, Basketball spielen usw. .34 Diese Fertigkeiten sind einfach zu komplex für den linearen und eindimensionalen Modus des expliziten Lernens. Beispielsweise können wir uns gar nicht vollständig bewusst machen, wie genau wir ein „ch“ aussprechen oder was wir im Detail machen müssen, um einen glanzvollen Ton auf der Trompete hervor zu bringen. M. a. W. es gibt zwar beim Trompetespielen durchaus deklarative Wissensanteile und demgemäß erinnerbare Lernsituationen. Aber gerade das Entscheidende, eben all das was „geübt“ werden muss, ist weitgehend nicht-deklarativ. In der Anwendung dieses oft auch als „implizit“ bezeichneten Wissens ist ebenfalls Bewusstsein weder nötig noch erwünscht. Vielmehr ist es uns in Fleisch und Blut übergegangen, wir mobilisieren das Gelernte, ohne es zu merken. Natürlich könnte man einwenden, dass man sich bei einer gewissen Art dieser Fertigkeiten durchaus an die Erwerbssituationen erinnert: man hat vielleicht nicht „schwäbisch“, so aber doch „Basketballspielen“ oder „Trompete blasen“ geübt. Das ist aber etwas grundsätzlich anderes deswegen, weil das eigentlich entscheidende erlernt wird, ohne ins Bewusstsein zu treten, nämlich über eine Art körperlich ablaufendes trial und error Verfahren (vgl. Kastl 2004). 34
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Im letzten Jahrzehnt haben sich in der experimentellen Forschung eine ganze Reihe von Lernformen als „nicht-deklarativ“ heraus gestellt. Das gilt beispielsweise für die bereits beschriebenen Fertigkeiten ebenso wie in sehr weitem Ausmaß für den Erwerb der Primärsprache, es bezieht sich auf bestimmte Formen des Wahrnehmungs- und emotionalen Lernens ebenso wie für über Konditionierung laufende Lernprozesse und auf sogenannte „Gewohnheiten“. Es sind aber auch „abstraktere“ Fähigkeiten berührt wie zum Beispiel das Erlernen von komplexen Regeln, von Typen und von Kategorienwissen.35 In der Soziologie geht es immer auch um beide Formen von Gedächtnis, man hat diese Leistungen jeweils anders bezeichnet, aber es gibt hier Konvergenzpunkte. So ist in der Wissenssoziologie überwiegend von deklarativen Inhalten und Leistungen die Rede. Die spezi¿sche Qualität nicht-deklarativer Gedächtnisformen wurde von Pierre Bourdieu unter dem Begriff des Habitus gefasst.36 Gedächtnis, Sozialisation und der Status der Soziologie des Körpers Beides zusammen ermöglicht überhaupt erst so etwas wie Sozialisation und damit die Beteiligung und Einbeziehung von Individuen in soziale Zusammenhänge. Ohne Gedächtnisleistungen wären Individuen schlichtweg nicht in der Lage einen sinnvollen Beitrag zu einer sozialen Interaktion und Kommunikation zu machen, noch die Sinnstrukturiertheit einer sozialen Situation zu erfassen (vermutlich könnte man sogar so weit gehen zu sagen, dass diese Sinnstrukturiertheit des Sozialen letztlich nur in den Gedächtnissen der Menschen ihren eigentlichen Ort hat). Hinzu kommen aber noch weitere Gedächtnisformen, nämlich das Kurzzeitgedächtnis und insbesondere das, was die Neuropsychologen „Arbeitsgedächtnis“ nennen. In jeder Kommunikation und Interaktion müssen die Inhalte des deklarativen und nicht-deklarativen Gedächtnisses situativ realisiert und aktualisiert werden (z. B. Sprache, Emotionen, bestimmte Wissensbestände). Zugleich muss das, was aktuell in der Situation geschieht, kurzfristig im Bewusstsein gehalten werden. Eine Kommunikation wäre unmöglich, wenn die Beteiligten im selben Moment, in dem sie etwas sagen, dieses wieder vergessen würden oder keine Erwartungen über den Fortgang des Gesprächs aufbauen könnten. Wenn man diese Erkenntnisse der modernen Gedächtnisforschung auch soziologisch berücksichtigt, bekommt die Soziologie des Körpers die Bedeutung eines (empirisch fundierten und fundierbaren) Grundlagengebietes für die Soziologie generell. Die klassische Frage der Soziologie nach dem Zusammenhang von
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vgl. dazu zusammenfassend Squire, Kandel; Kastl 2007 vgl. dazu Kastl 2007
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Individuum und Gesellschaft muss in diesem Zusammenhang als Frage nach den Voraussetzungen von impliziten und expliziten Prozessen (sozialen) Lernens gestellt werden. Das Gedächtnis und damit das Gehirn als „soziales Organ“ nimmt dabei eine zentrale Rolle ein, insofern es erwiesenermaßen die entscheidende Instanz für „Lernen“ ist und damit direkt die motorischen und perzeptiven Strukturen und Strukturierungen gewährleistet, die jedes soziale Verhalten ausmachen. Wir werden uns im nächsten Abschnitt noch mit der weitergehenden These auseinandersetzen, dass soziale Praxen nichts anderes als koordinierte memoperzepto-motorische Strukturen sind. Das liegt daran, dass Verhalten nicht loslösbar ist von diesen Systemen; ein Verhalten ist eine bestimmte Art der Wahrnehmung, der Gedächtnisleistung und der damit verknüpften motorischen Aktivität. Aber ohne alle anderen Körpersysteme wie zum Beispiel das endokrine System, das Immunsystem, das Atmungssystem, das Verdauungssystem, das Blutkreislaufsystem usw. wären diese Leistungen nicht möglich. Eine empirisch und systematisch noch gar nicht angegangene Frage ist die nach der jeweiligen sozialen Dimension dieser Systeme und den jeweiligen biopsychosozialen Vermittlungsmechanismen. Zwar sind sie nicht so direkt in soziale Beziehungen und Verhaltensformen involviert, wie Gedächtnissysteme und perzeptiv-motorische Systeme und Strukturen. Sie unterhalten daneben in mehr oder weniger großem Ausmaß von sozialen Prozessen unabhängige Funktionskreisläufe. Offenheit aller Körpersysteme für soziale Prägungen Ausnahmslos alle Körpersysteme haben eine unspezi¿sche Offenheit für soziale Einwirkungen im Sinne einer spezi¿schen Vulnerabilität, d. h. sie können in bestimmter Weise in ihrem Funktionieren beeinträchtigt werden, bieten insofern ein organspezi¿sches Einfallstor für schädigende EinÀüsse, die in irgendeiner Weise mit sozialen Interaktionen in Verbindung stehen können, sei es unabsichtlich, sei es, wie bei körperlicher Gewalt, absichtlich. Das sind beispielsweise immer: Verletzungen im engeren Sinne, d. h. Rupturen durch Stoß, Penetration, Druck, Zerreißen (allerdings sind die schädigenden Effekte jeweils andere, es macht einen Unterschied, ob ich einen Messerstich in den Arm bekomme oder ins Herz), toxikologische EinÀüsse (Umweltgifte, Strahlung, Vergiftung), Vorenthalten notwendiger Umweltressourcen (wie zum Beispiel Sauerstoff für die Atmung, Verhungern u. a.). Darüber hinaus können aber eine große Zahl von Körpersystemen außerhalb des Gehirns durch erworbene, mit sozialer Praxis in Zusammenhang stehende Muster (teil-)strukturiert werden. In diesem Sinne lässt sich eine graduelle Abstufung verschiedener Organsysteme vornehmen: die größte Offenheit in diesem Sinn hat ohne jeden Zweifel das Gehirn, das deshalb ja auch als „soziales Organ“ apostrophiert wird. Aber auch der motorische und sensorische Apparat wird – da-
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mit in Zusammenhang stehend – sehr weitgehend durch erlernte soziale Muster strukturiert. Hinzu kommen aber Systeme, bei denen man das nicht ohne weiteres erwartet. Einige interessante Bereiche seien ohne Anspruch auf Vollständigkeit zur Verdeutlichung kurz erwähnt: ƒ
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Sehr wichtig ist in diesem Zusammenhang die von Niels Birbaumer und Robert F. Schmidt so genannte Psychoneuroendokrinologie, jener Bereich des Hormonsystems, der – wiederum vermittelt durch das zentrale Nervensystem – durch Entwicklungsprozesse und soziopsychologische Prozesse beeinÀusst wird und umgekehrt diese beeinÀussen kann. Beispielsweise spielen Hormone bei Wahrnehmungsprozessen, bei Stress und Stressbewältigung, bei Bindungsverhalten und Aggression, bei der Affektregulation eine wichtige Rolle. Das Immunsystem ist schon von seiner Funktion her bezogen auf Umwelt: es hat die „Aufgabe den Körper vor pathogenen Eindringlingen von außen (Bakterien, Viren, Pilzen, Parasiten) und vor Tumorzellen, also Zellen des Körpers, die unkontrolliert wachsen, zu schützen. Diese Schutzfunktion wird als Immunität bezeichnet.“ (Birbaumer, Schmidt 2006: 159). Ein Teil des Immunsystems ist angeboren und funktioniert nach biologisch universellen Mechanismen; ein Teil des Immunsystems ist aber erworben und basiert auf einer Art von funktionsspezi¿schem „Gedächtnis“, Immunreaktionen sind von UmwelteinÀüssen und damit von sozialen Faktoren – zum Teil vermittelt über das ZNS oder/und das Hormonsystem – irritierbar, aber auch trainierbar bzw. haben etwas mit Habitualisierung zu tun. Die Herz-Kreislauftätigkeit steht in engem Zusammenhang zu etwas, was wir gemeinhin als „Kondition“ (Ausdauer bei physischen Belastungen) bezeichnen. Dabei handelt es sich im Kern um eine Optimierung der Leistungsfähigkeit des Herzens durch Vergrößerung des Schlagvolumens und Absenken der Herzfrequenz. Man kann gezielt Ausdauertraining machen, darüber hinaus hängt die Ausdauer natürlich ab von sozial bedingten Lebensgewohnheiten. Die Atmungstätigkeit ist immerhin auf unspezi¿sche Weise durch psychische und situative EinÀüsse modulierbar: „die Luft anhalten“, „Hyperventilation“ bei Panikreaktionen usw. und steht mit der Herz-Kreislauftätigkeit in engem Zusammenhang. Das Ersticken ist neben der traumatischen Verletzung eine der voraussetzungslosesten und situativ universal verfügbaren Gewaltformen – das hat auch etwas mit einer organischen Spezi¿zität zu tun, dass nämlich der Sauerstoffaustausch in jedem Augenblick aufrechterhalten werden muss und praktisch nicht aufschiebbar ist, ohne augenblicklich zentrale Lebensfunktionen zu schädigen (vgl. dazu Weizsäcker 2005: 252). Die Temperaturregulation (durch Schweißsekretion, Körpertemperatur) weist bis zu einem gewissen Grad eine Adaptivität (an Hitze) auf und ist insofern durch sozial vermittelte Lebensgewohnheiten modulierbar.
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Verdauung bzw. Ernährung und die Ausbildung von Essensgewohnheiten unterliegt einschließlich damit verbundenen Präferenzsystemen deutlich sozialer Prägung; wiewohl man theoretisch natürlich mit Astronautennahrung überleben könnte. Hier gibt es aber jedenfalls deutliche Gewohnheits- und Gewöhnungsphänomene, bis zur Ausbildung von elementaren Ekelreaktionen. Allerdings ist die Versorgung und der ungefähre Grad der Versorgung mit bestimmten Mineralien und chemischen Verbindungen nicht soziokulturell disponibel, sondern allenfalls die Form, in der sie erfolgt. Schmerzemp¿nden ist offenbar ebenfalls sehr offen für Gewöhnungseffekte und kann durch soziale Deutungen bis zu einem gewissen Grad sowohl in Qualität und Intensität des Emp¿ndens soziokulturell moduliert werden („Der Indianer kennt keinen Schmerz.“), allerdings eben nur bis zu einem gewissen Grad. Sein aversiver Charakter sowie der Umstand, dass praktisch die gesamte KörperoberÀäche und darüber hinaus viele inneren Organe direkt für Schmerzerfahrung zugänglich ist, macht Schmerz zu einem universal eingesetzten Instrument sozialer Gewaltausübung , sei es legitimer oder illegitimer, politischer oder unpolitischer Gewalt, sei es zum Zweck der (Um-)Erziehung, der Demütigung anderer, der Ausübung von Zwang usw.
„Embodiment“ In Sozialisationsprozessen werden immer beide Komplexe wirksam – die spezi¿sche Offenheit der Organsysteme für soziale EinÀüsse wie auch die unspezi¿sche Vulnerabilität. Sozialisation ist so gesehen immer „embodiment“, ein Begriff, den Bryan Turner mitgeprägt hat und den man nur schwer ins Deutsche übersetzen kann, weil er Inkorporierung, Körperformung und Verkörperung zugleich meint. Turner erläutert diese Kategorie wie folgt: „First, embodiment is the effect or consequence of ongoing practices of ‚corporalization‘ . In this respect, embodiment is a life process that requires the learning of body techniques – walking, sitting, dancing, eating and so forth. Embodiment is the ensemble of these corporal practices that produces and gives a body its place in everyday life. Embodiment places particular bodies within a social habitus. Secondly, embodiment requires the production of a sensous and practical presence in the life-world. Embodiment is the lived experience of the sensual or subjective body and … involves the sensual, live body and its effects on social relations. It is the active shaping of the lived world by embodied practices. Thirdly embodiment is a collective project because it takes place in a life-world that is already social. Embodiment is not an isolated project of the individual; it is located within a social world of interconnected social actors. Finally while it is the process of making an becoming a
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Die Sozialität des Körpers und die Körperlichkeit des Sozialen body, it is also the project of making a self. Embodiment and enselfment are mutually dependent and reinforcing processes. The self involves a corporal project within a speci¿c social nexus where the continuous self depends on successful embodiment, a social habitus and memory … Thus, the sociological notion of a ‚body‘ involves three related processes: embodiment, enselfment and emplacement.“ (Turner 2001: 245)
Was Turner hier schreibt, kann als Zusammenfassung der Überlegungen dienen, die wir unter dem Stichwort der „Sozialität des Körpers“ versammelt haben. In dem Hinweis, dass Embodiment in einer „social world of interconnected social actors“ statt¿ndet, deutet Turner aber auch einen dazu komplementären Gesichtspunkt an, dem wir uns jetzt zuwenden müssen: die Körperlichkeit des Sozialen. 3.4 Körperlichkeit des Sozialen Die soziologische Theorie hat sich immer wieder auf sehr grundsätzliche Weise damit befasst, was eigentlich den spezi¿schen Gegenstandsbereich der Soziologie bezeichnet. Im Laufe der Theoriegeschichte des Faches wurden dafür bereits eine ganze Reihe von Vorschlägen ins Spiel gebracht: Handlungen, Kommunikationen, Diskurse, Sprache, Kultur, Lebenswelt, Bedeutungssysteme, Rollen. Wie immer man sich letztlich in dieser Frage entscheidet: man könnte für alle diese Begriffe zeigen, dass sie ohne „Körperlichkeit“ nicht gut denkbar sind. Soziale Praktiken als Gegenstand der Soziologie In der jüngsten soziologischen Grundlagendiskussion wird daraus die Konsequenz gezogen, einen Begriff ins Zentrum zu stellen, der dieser „Körperlichkeit“ des Sozialen von vorne herein Rechnung trägt, nämlich den der „sozialen Praktiken“ (social practices): „The social is a ¿eld of embodied, materially interwoven practices centrally organized around shared practical understandings. This conception contrasts with accounts that privilege individuals, (inter)actions, language, signi¿ying systems, the life world, institutions/roles, structures, or systems in de¿ning the social. These phenomena, say practice theorists, can only be analyzed via the ¿eld of practices.“ (T. R. Schatzki 2001: 3)37 In diesem Sinne schreibt beispielsweise Andreas Reckwitz, verschiedene soziologische Theorien „machen … das Soziale in den extramentalen Sequenzen von Zeichen, von Diskursformationen, von Symbolen, von kommunikativen Prozessen, insgesamt von ‚Texten‘ im weitesten Sinn aus.“ (Reckwitz 2004: 43) 37
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Dieser Ansatz, von seinen Vertretern auch „praxeologischer Ansatz“ genannt, betont unter anderem in Anknüpfung an Pierre Bourdieu die „Materialität der Körper und Artefakte“: „Die zentrale Bedeutung der Materialität unterscheidet die Praxistheorie schlagend von den anderen Formen der Kulturtheorien … und gibt zwei nur scheinbaren Banalitäten ihr grundsätzliches Recht: dass Praktiken sich aus Körperbewegungen zusammen setzen und dass Praktiken in der Regel Verhaltensweisen mit Dingen, mit Artefakten bilden, in deren Zusammenhang das praktische Wissen aktiviert wird. Die Körperlichkeit der Praktiken umfasst den Aspekt der Inkorporiertheit ebenso wie den der Performativität: Wissen ist nicht primär als ein mental Gewusstes/Bewusstes, sondern als ein durch körperliche Übung Inkorporiertes zu verstehen.“ (Reckwitz 2004: 43 f.)
Damit ist gesagt, dass sich das Spezi¿sche einer Kultur, einer Gesellschaft bzw. von spezi¿schen sozialen Zusammenhängen immer in einer gemeinsamen Praxis bzw. in den gemeinsamen Praktiken von lebenden Menschen zeigt. Jeder, der in einem fremden Land im Urlaub war und darüber berichten will, was dort „anders“ war, beginnt intuitiv mit der Aufzählung solcher sozialer Praktiken. Das beginnt bei der Sprache und bestimmten Sprechweisen und einer bestimmten Art und Weise zu essen, wie „Siesta“ gemacht wird oder wie man sich ältere Leuten gegenüber zu verhalten hat oder Begrüßungsrituale gehandhabt werden. Beispiele für soziale Praktiken sind ebenso unendlich wie nahezu beliebig: landwirtschaftliche Bodenbearbeitung, handwerkliche Arbeitsabläufe, Kommunikation über SMS, Handeln auf einem orientalischen Basar und dagegen der Einkauf in einem mitteleuropäischen Supermarkt, kollektive Jagd in einer Stammesgesellschaft, die Teilnahme am Straßenverkehr, Streichquartett spielen; der Ablauf einer pietistischen Bibelstunde; das Fällen eines Baumes und das anschließende „Holzmachen“, ein Stierkampf, die Art und Weise, wie das kleine und das große Geschäft erledigt wird und die Verhaltensabläufe und deren besonderer Stil beim „Abhängen“ oder „Rumhängen“ von Jugendlichen an einer Bushaltestelle (Jauch 2009). Körperlichkeit sozialer Praktiken Jeder noch so alltägliche soziale Verhaltens- oder Handlungsablauf beinhaltet ganz spezi¿sche körperlich verankerte Beiträge der Individuen in Form von Gedächtnisleistungen, in Form koordinierter Wahrnehmung und Motorik, in Form der Mobilisierung von Aufmerksamkeit, Affektivität, Motivation. Diese körperliche Dimension ist eine Art Voraussetzung dafür, dass diese Praxen überhaupt möglich sind. Aber es sind auch Anforderungen an die Personen, um in diese Praxen eingeschaltet zu sein und sich einschalten zu lassen.
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Wer in einem Streichquartett spielen will, benötigt vor allem jahrelanges Training am Instrument, darüber hinaus muss er in der Lage sein, Noten vom Blatt abzulesen und umzusetzen. Er muss jene sensible und gleichsam aus den Augenwinkeln erfolgende Wahrnehmung für die Einsätze der anderen haben, er muss geschulte Ohren haben, um ggf. die Intonation nachzujustieren, er muss „SitzÀeisch“ haben, er muss „die Musik lieben“ und an die Sinnhaftigkeit seines Tuns glauben. Aber auch die scheinbar völlig anspruchslose Tätigkeit des gemeinsamen „Abhängens“ von Jugendlichen an einem öffentlichen Platz erfordert eine Reihe von impliziten Kompetenzen. Man muss beispielsweise auf überzeugende Weise eine lässige Körperhaltung einnehmen können. Man muss die mimischen und sprachlichen Ausdrucksformen beherrschen, die so etwas wie Coolness zum Ausdruck bringen. Man muss die verschiedenen Register der Selbstdarstellung aufsässiger Männlichkeit beherrschen, eine ganz bestimmte Gestik, die im Einklang mit denen der anderen Jugendlichen ist, man braucht eine freischwebende und zugleich konzentrierte Sensorik für Störungen oder Herausforderungen durch Andere sowie die Unerschrockenheit diesen Herausforderungen nötigenfalls entgegnen zu treten u. a. m. (vgl. dazu Jauch 2009). Der Anforderungscharakter sozialer Praxen kann, muss aber nicht bewusst und thematisch sein. Er kann von einer ausgesprochenen Regel („In Situation x muss man y tun/können.“) bis zu völliger Unbewusstheit reichen. Er wird oft dann bewusst, wenn Individuen ihm gerade nicht gerecht werden. Der Jugendliche, der irgendwelche feinen Register der Coolness nicht völlig beherrscht, wird dann als irgendwie nicht richtig dazu gehörig wahrgenommen („komischer Typ“, „passt nicht zu unserer Clique“). Ähnlich wie Murphy das für Behinderung gezeigt hat, wird mitunter erst im Nachhinein bewusst, dass eine Anforderung, eine implizite Norm am Werk ist. Es kann aber auch sein, dass – wie zum Beispiel bei bestimmten beruÀichen Praxen – ein ausgefeiltes und formalisiertes Regelwerk existiert, beispielsweise, wie man eine Feile in die Hand nimmt, einen bestimmten Knoten in der Seefahrt macht, wie man mit Pfeil und Bogen hantiert.38 Der menschliche Körper ist jedenfalls in dieser Sichtweise nicht bloß eine mehr oder weniger bedeutsame „Infrastruktur“ der Gesellschaft. Vielmehr materialisiert und realisiert sie sich – als Praxis und Struktur (=Ordnung) primär in menschlichen Körper und seinen Kompetenzen, die natürlich wiederum im Verlauf von Sozialisationsprozessen, des Sich-Einspielens auf bestimmte soziale Prakti38 Gesellschaften de¿ nieren und institutionalisieren so eine Vielzahl solcher körperbezogenen Verhaltensanforderungen, Beispiele sind: Berufsarbeit und Arbeitstechniken (z. B. Zimmermann, Informatiker, Betriebswirt, Zirkusakrobat); Sprache und kommunikative Stile (kultur-, milieu-, gruppenbedingt! Beispiel: Rapper); soziale Körpertechniken (Marcel Mauss), z. B. Reiten, Sitzen, Schlafen, Essen, Schwimmen, Bedienen einer Maus; kontextspezi¿sche soziale Körperanforderungen: Kunstausübung, Sport, Schule (Stillsitzen!); mit bestimmten Lebensweisen verknüpfte allgemeine Anforderungen und spezi¿sche Belastungen (Beispiel: Nomadismus).
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ken, den Erwerb von Fertigkeiten, Geschicklichkeiten, expliziten und impliziten Wissens sukzessive entstehen. Jedes menschliche Individuum steht so gesehen in einem Verhältnis relativer Passung/Nicht-Passung zu bestimmten sozialen Praxen, die wiederum – je nach Betrachtungsweise und gesellschaftlicher Differenzierung auf Sprachgemeinschaften, Gesellschaften, Kulturen, soziale Milieus, Klassen, die Berufssphäre, auf besondere gesellschaftliche Subsysteme, Organisationen und Institutionen beziehbar sind. So gesehen ist der Körper immer auch eine soziale Ressource. Seine sozialen Fertigkeiten erleichtern oder erschweren den Zugang zu bestimmten sozialen Kontexten, bewirken, dass er dort etwas anfangen oder eben nicht anfangen kann. Der Körper ist eine Form von Kapital, eine Ressource, wie die Bourdieusche Soziologie immer wieder darlegt. Artefakte erfordern körperlich verankerte soziale Kompetenzen Darüber hinaus gibt es natürlich auch extrakorporale „Materialisierungen“ von Gesellschaft. Diese entsprechen sogar unserem alltäglichen Begriff von Kultur, gemeint sind solche Dinge wie medial aufgezeichnete Bedeutungen, Sprache und Schrift, „Artefakte“ = Kunst + Technik, Bauwerke, Besitz, symbolische Güter (Geld) usw. Man kann allerdings sagen, dass gegenüber diesen „Artefakten“ die primäre Dimension leiblich verankerter Fähigkeiten immer zumindest systematisch vorausgeht: Schrift muss gelesen, ein Medium gebraucht, eine Technik genutzt, ein Gebäude genutzt und Geld will eingesetzt werden. Dafür sind die lebendigen Fähigkeiten von Menschen und damit die Gedächtnisse eine Voraussetzung. Man übertreibt also nur wenig, wenn man die Behauptung aufstellt: Gesellschaft, Kultur seien im Kern körpergebundene Phänomene und hätten im Grunde keine selbstständige extrakorporale Wirklichkeit. Diese grundlegende Körperlichkeit des Sozialen würde dann auch erklären, warum die Frage nach dem Körper, seiner Beschaffenheit, den Bedrohungen, den er ausgesetzt sein kann und damit die Frage von Krankheit und Behinderung eine so zentrale und universelle Rolle im Bestand kultureller Deutungssysteme spielt. Körper ist nicht nur eine soziokulturelle Realität. Umgekehrt gilt das allerdings nicht. Der Körper ist eben nicht nur eine soziale Realität, sondern er ist in erster Linie eine kontingente materielle Struktur. Gewiss: jede soziale Praktik hat ihre eigene Weise des Einbezugs und des Aufeinanderbeziehens von Leistungen insbesondere des Gedächtnisses, der Sensorik (damit Aufmerksamkeit) und der Motorik. Sie ist immer auch eine Individuen ebenso einbeziehende wie übergreifende memo-perzepto-motorische Struktur. Und durch sie
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ist, wenn man sie als solche in den Blick nimmt („wie verhält sich man in Kontext x bei einem Verkaufsgespräch?“ „Wie läuft ein Baseballspiel ab?“) auf implizite oder explizite Weise eine spezi¿sche Kombination von typischen „Anforderungen“ an die Gedächtnissysteme (ZNS) sowie die perzeptiven und motorischen Systeme de¿niert. Die empirischen Individuen und ihr Körper werden nicht zuletzt durch die Einbindung in soziale Interaktionen, durch Sozialisation geprägt. Aber was da geprägt wird, sind nur die besonderen Strukturierungen der jeweils beteiligten körperlichen Systeme. Die grundlegenden Strukturmerkmale und Funktionsprinzipien, z. B. wie Gedächtnisbildung funktioniert, die Erfahrungsqualität von Affekten als solche, anatomische und physiologische Strukturen sind der Gesellschaft vorgegeben. Zum anderen haben wir nur diejenigen Körpersysteme genannt, die deswegen eine besondere soziale Bedeutung haben, weil sie am sichtbarsten und auffälligsten einer sozialen und kulturellen Strukturierung unterliegen und dafür eine hohe „Plastizität“ und Offenheit aufweisen. Aber wie bereits beschrieben, weisen auch andere Körpersysteme wie zum Beispiel Hormonsystem, Blutkreislauf, Atmung, Stoffwechsel eine mehr oder weniger ausgeprägte Offenheit für soziokulturell vermittelte EinÀüsse aus. In einer funktionalen Argumentation wäre zudem zu sagen, dass sie – über ihre jeweilige partielle Offenheit für soziale Strukturierungen hinaus – in jedem Fall eine Art „Infrastruktur“ sichern, von denen das Funktionieren der Gedächtnissysteme und der psychischen Funktionen, jede perzepto-motorische Aktivität direkt abhängt. Damit Menschen musizieren, Kriege führen, in einer Werkstatt arbeiten, mit anderen Menschen kommunizieren können, müssen sie atmen können, muss der physische Austausch mit der Umwelt in Form von Wasser und Nahrung und damit die physische Reproduktion gesichert sein, müssen die Gefäße und Organe mit Blut versorgt sein, muss der Mensch über ein Mindestmaß an „Kondition“ verfügen, müssen Infektionen und Entzündungen abgewehrt werden. Das Funktionieren dieser Systeme ist im Grenzfall entscheidend für Leben oder Tod und insofern macht ihre Funktionsweise auch wiederum zum Teil universelle Vorgaben für die soziale Praxis. Menschen brauchen eben Sauerstoff, Kohlenhydrate, Proteine, Sexualpartner zur Reproduktion und bestimmte soziale, kognitive und emotionale Ressourcen, um überhaupt handlungs- und überlebensfähig zu werden.39
39 Einer der wenigen soziologischen Autoren, der diesen an sich selbstverständlichen Umstand in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit gerückt hat, war übrigens Karl Marx: „Die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte … nämlich die Voraussetzung, dass die Menschen imstande sein müssen zu leben, um ‚Geschichte machen‘ zu können.“ (MEW 3,28). In einer Randbemerkung fügt Marx als Beispiele an: „Geologische, hydrographische etc. Verhältnisse. Die menschlichen Leiber.“, ähnlich an anderer Stelle: „Die Menschen haben Geschichte, weil sie ihr Leben produzieren müssen und zwar müssen auf bestimmte Weise: dies ist durch ihre physische Organisation gegeben; ebenso wie ihr Bewusstsein.“ (MEW 3,30)
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Vorgaben des Physischen für Kultur und Gesellschaft Die Gesellschaft muss bei aller möglichen Offenheit für soziokulturelle Strukturierungen basalen natürlichen Vorgaben Rechnung tragen. Es ist nicht gesagt, dass der Mensch von bestimmten Nahrungsmitteln, die auf eine bestimmte Weise zubereitet sind, leben muss. Aber es ist durch die nicht kulturell verfügbare Beschaffenheit seines Körpers vorgegeben, dass er überhaupt essen muss und welche Art von Substanzen sich dafür grundsätzlich eignen und welche nicht. Für die Beschaffung solcher Stoffe und ihre Verteilung (wie auch für die von Wasser) müssen gesellschaftliche Formen und Routinen entwickelt werden.40 Die Tätigkeit der Infrastruktursysteme verläuft sozial gesehen meistens unbemerkt. Solange die Einbeziehung der memo-perzepto-motorischen Systeme in die soziale Praxis gesichert ist bleiben sie ohne gesellschaftliche Relevanz. Aber es ist klar, sie ermöglichen dadurch die gesellschaftliche Praxis. Sobald sie auffällig werden, liegt meistens eine unwillkommene „Störung“ vor. Ein Schluckauf, ein Husten, ein starker Geruch, die Sekretion der Nasenschleimhäute, ein ungewöhnliches Aussehen wegen eines Pickels sind noch die harmlosesten Varianten. Ein Ohnmachtsanfall, eine plötzlich eintretender Atemstillstand, ein diabetisches Koma, aber auch Verhungern und Verdursten verhindern auf dramatische Weise eine weitere Beteiligung an sozialer Praxis. Der Körper soll die soziale Praxis ermöglichen oder/und sie zumindest nicht wahrnehmbar stören.41 Tut er es doch, sind die kleinen und großen Störungen umgehend normalisierungsbedürftig. Das beginnt bei dem Niesen, für das es Verhaltensanweisungen sowohl für davon Betroffene wie auch die Umstehenden gibt (Hand vorhalten, Gesundheit wünschen). Das geht bis zur Ausgliederung komplexer gesellschaftlicher Subsysteme zur Deutung und Behandlung von ungewöhnlichen Körperprozessen (Medizin). Jede soziale Praxis enthält so ihre eigenen funktionalen Maßstäbe über die Art und Weise des Einbezogenseins von Körper und Körperlichkeit und es sind diese funktionalen Maßstäbe, die jeweils – situationsbezogen – einen Menschen 40 Weitere solche Vorgaben sind beispielsweise: die Vorgabe von Sexualität als Mittel der Reproduktion als solcher; die Festlegung der grundsätzlichen Form dessen, was menschliche Nahrung sein kann; Vorgaben über für den Stoffwechsel nötige Aspekte des physiologischen Austauschs mit der Umwelt: Atemluft, Wasser, Nahrung (einschließlich bestimmter Materialien), damit verbunden Vorgaben über toxische Substanzen usw. Jedes „Organ“ hat buchstäblich seine spezi¿sche Weise der Wechselwirkung mit der Sozialdimension. 41 Norbert Elias und Erving Goffman haben insbesondere die Bedeutung von sozialen Normen über Manieren und Benehmen sowie die Auffälligkeit von körperlichen Abweichungen in diesem Zusammenhang gedeutet. Inkontinenz ist beispielsweise mit den meisten sozialen Praxen nicht verträglich und wird als ganz besonders peinlich wahrgenommen. Die „Normalannahme“ ist eine diesbezügliche Unauffälligkeit des Körpers. Trifft sie nicht zu, werden – sogar bei Kindern, bei denen man hierüber am ehesten Ausnahmen zulassen kann – umfangreiche Normalisierungsbemühungen notwendig.
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als kompetent oder inkompetent, als geschickt oder ungeschickt; als vorübergehend nicht kompetent (weil krank, betrunken, übermüdet) oder eben auch als in diesem Zusammenhang behindert oder unbehindert erscheinen lassen. Die Unversehrtheit dieser verschiedenen Ebenen des Körpers (und damit: Gesundheit!) ist eine funktionale Voraussetzung für die Beteiligung (Teilhabe, Partizipation) an sozialer Praxis). Der Körper ist deswegen immer normativer Bezugspunkt gesellschaftlicher Handlungsanforderungen und -Erwartungen, Erwartungen, die nicht selten erst dann artikuliert und bewusst werden, wenn sie durchbrochen werden. Nirgendwo steht geschrieben, dass man eine Treppe auf zwei Beinen gehend nehmen „muss“, aber wenn ein gehbehinderter Mensch sich mit seinen Armen am Geländer hochhangelt oder auf Knien hoch kriecht, muss er mit erheblichen Sanktionen rechnen (Goffman 1975: 150). Gesundheit als soziologisches Erfordernis (Parsons) Talcott Parsons hat in diesem Zusammenhang zwischen verschiedenen Ebenen sozialer Erwartungen unterschieden und zwischen der Erfüllung von „Rollen“ und „Aufgabe“ unterschieden. Unter einer Rolle versteht Parsons „das organisierte System der Beteiligung eines Individuums“ an einem spezi¿schen sozialen System (Parsons 2002: 328). Als Rollenträger erbringt das Individuum spezi¿sche und mehr oder weniger de¿nierte Beiträge zum Funktionieren eines solchen Systems, beispielsweise als Vater, als Schüler, als Lehrer, als Verkäufer und Käufer. Rollen sind immer integrierte, komplexe, an eine Person gerichtete Bündel von Erwartungen, die an Funktionen und Anforderungen zurück gebunden sind. Um die Rolle des Lehrers ausfüllen zu können, muss ich die Rollenassymmetrie gegenüber den Schülern wahrnehmen und ausfüllen und in der Lage sein, die spezi¿sche Handlungslogik umzusetzen, die die Lehrerrolle von der Schülerrolle unterscheidet: den Unterricht zu strukturieren, die erforderliche professionelle Distanz gegenüber den Schülern zu wahren, über ein bestimmtes Wissen zu verfügen und es auch verständlich machen zu können. Um das tun zu können, muss ich zugleich einer Reihe von Teilanforderungen gerecht werden, die zwar nicht spezi¿sch sind für die Lehrerrolle. Ohne sie wäre aber die Rollenausübung nicht möglich: Lesen und schreiben, mich aufrecht halten, einigermaßen realitätsadäquate Beurteilungen vorzunehmen, vier Stunden Unterricht durchzuhalten, lesbare Tafelanschriebe zu produzieren, die Beiträge der Schüler zu hören, den Weg ins Klassenzimmer zurück legen. Diese Anforderungen, die nicht unbedingt spezi¿sch für die Rollen sein müssen, nennt Parsons „Aufgaben“. Eine Rolle kann also wiederum in eine Vielzahl verschiedener Aufgaben zerlegt werden. Von da ausgehend versucht Parsons eine soziologische De¿nition von psychischer und körperlicher Gesundheit: psychische Gesundheit ist für ihn die Fähigkeit
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überhaupt Rollen wahrnehmen zu können, sich also in strukturierter Weise in soziale Systeme „einzubringen“ (Parsons 2002: 325) „und die mit derartigen Zugehörigkeiten verbundenen Erwartungen zu erfüllen“. Es geht hier also um eine Art „Metakompetenz“. Körperliche Gesundheit dagegen fasst Parsons als den Zustand „optimaler Fähigkeit zur effektiven Erfüllung positiv bewerteter Aufgaben“ (Parsons 2002: 329) auf. Parsons de¿niert – unter vollem Bewusstsein ihrer soziokulturellen Relativität – Gesundheit insgesamt als einen „Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben, für die es sozialisiert worden ist.“ (Parsons 2002: 344) und Krankheit als eine einem sozial institutionalisierten Rollentyp zugeordnete „verallgemeinerte Störung der Fähigkeit des Individuums zur normalerweise erwarteten Aufgaben und Rollenerfüllung, die nicht spezi¿sch ist für eine Bindung an irgendwelche besonderen Aufgaben, Rollen, kollektive, Normen und Werte.“ (Parsons 2002: 345). Sowohl auf der Ebene der Rollen als auch auf der Ebene der Aufgaben werden immer Anforderungen an körperliche oder körperlich verankerte Kompetenzen de¿niert, die Voraussetzung dafür sind, dass sich Individuen in soziale Praktiken einklinken können: von der Sprachbeherrschung bis zur Frage der angemessenen Körperhaltung. Allerdings bleibt dieser Anforderungscharakter meist implizit. Nicht selten wird er durch Krankheit und Behinderung überhaupt erst explizit. * Was haben nun diese philosophischen Überlegungen zum Verhältnis von Physis und Sozialität erbracht? Sie zeigen vor allem eines: deren wechselseitige Verschränktheit. Auf die leicht parteiliche Frage, ob der Körper Physis sei, natürliche Gegebenheit, oder menschen- und kultur-gemacht (soziale Konstruktion), müssen wir nun antworten: er ist immer beides zugleich und das geht in jede, schlechterdings jede menschliche Erfahrungsmöglichkeit ein, wenn man nur den richtigen Abstand hat, um diese Tatsache zu sehen. So gesehen muss man sagen: Gesellschaftliche Wirklichkeit ist eine körperliche Wirklichkeit, oder sie ist nicht wirklich. Und so gesehen haben wir in diesem Umstand eine Art Erklärung dafür, warum Phänomene der körperlichen Integrität und ihrer Bedrohung durch Krankheit, Gewalt, Alter oder Behinderung für alle historischen Gesellschaften so wichtig sind. Diese Wichtigkeit zeigt sich in ihrer universellen Ausdeutungsbedürftigkeit. In jeder Gesellschaft gibt es dazu ausdifferenzierte Symbolsysteme und Deutungsmuster und sie bilden überall einen zwingenden und zentralen Bestand dessen, was wir Kultur nennen. Zugleich ist die Frage von körperlicher Integrität und ihrer Bedrohung universell entscheidend für die Einbeziehung und Teilhabe konkreter Menschen an sozialer Praxis schlechthin. Die Spanne und Toleranzbreite der Antworten und Antwortmöglichkeiten darauf variiert von einem soziokulturellen Kontext zum anderen. Sie reicht von der un-
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barmherzigen Eliminierung von Menschen, denen ein Anderssein zugeschrieben wird bis zu ihrer vollständigen Einbeziehung (Inklusion). Deutungsbedürftig ist aber die spezi¿sche Körperlichkeit des Sozialen und die Sozialität des Körpers immer und unter allen Umständen. Die Physis macht dabei – das verkennt der Konstruktivismus – sehr wohl Vorgaben für die Kultur und die Gesellschaft und damit auch die Möglichkeiten der sozialen Konstruktion des Körpers, einschließlich seiner „Behinderungen“. Diese Vorgaben liegen einmal in der unreduzierbaren Kontingenz des Körperlichen. Menschen haben nicht die grundlegenden Strukturen ihres Körpers „gemacht“, nicht seine Anatomie, nicht seine Organe als solche, und nicht die Beschaffenheit seiner Prozesse und Verhaltensmöglichkeiten. Das geht bis in die Vorgänge hinein, die wir normalerweise als „geistig“ bezeichnen. Deren inhaltliche Strukturen sind immer zugleich soziokulturelle Realität, nur da, weil es diese Gesellschaft mit dieser spezi¿schen Geschichte gibt. Zugleich aber geht darin ein Naturhaftes ein. Was beispielsweise Affekte und Gefühle sind, eigentümliche und differenzierte mit Inhalt „auÀadbare“ Spannungs- und Entspannungsemp¿ndungen, dass und wie Denken und Wahrnehmen funktioniert, dass wir überhaupt über Sprache als Medium verfügen, ja selbst unsere Fähigkeit etwas zu „konstruieren“ – das alles ist zwar gesellschaftlich modulierbar, aber zugleich immer auch eine kontingente, physische Realität, die wir nicht im mindestens produziert oder konstruiert haben.42 Aber gerade unsere Offenheit, das kulturelle Konstruktionspotential unseres Körpers ist selbst eine physische Vorgabe, in allen ihren verschiedenen Facetten: ƒ ƒ ƒ ƒ
Der Körper ist von Natur aus auf seine (Um-)Welt bezogen, offen. Der Körper ist von Natur aus eine Kontingenz und Kontingenzen unterworfen, damit aber auch verletzungsoffen. Der Körper ist von Natur aus sozial, offen für soziale Einwirkungen und Strukturierungen (Sozialität des Körpers). Und es ist eine Naturtatsache, dass menschliche Gesellschaften körperlich (embodied) sind (Körperlichkeit des Sozialen).
Auch in Bezug auf Phänomene der Behinderung genügt es infolgedessen nicht zu sagen, sie seien auf ihren Charakter als soziale Konstruktionen oder als soziale Barrieren reduzierbar, durch und durch kulturelle Realität. Weil nichts ausschließ42 Das gilt gerade auch dann, wenn Menschen ihren Körper manipulieren, umgestalten (durch Training, durch Prothesen usw.) – die Voraussetzung von jeder Art von Technik und Manipulation ist auch hier: naturwissenschaftliches Wissen, anders gesagt: die Vergewisserung über natürliche Vorgaben, mit denen man erst dann „arbeiten“ kann, wenn man sie erkennt und akzeptiert. Das Verhältnis von Physis und Kultur/Sozialität kommt mit jeder Stufe der vermeintlichen Herrschaft über die Natur nur in eine neue Balance, sie ist immer zugleich „Herrschaft“ der Natur über die Kultur. Das würde sogar für Cyborgs und Nanocomputer gelten.
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lich kulturelle Realität ist, sondern immer zugleich Natur (Physis), trifft das auch auf Behinderung zu. Es ist in jedem Einzelfall eine offene Frage, wie sich bei Behinderungen physische Kontingenzen und soziokulturelle Dimension ineinander verschränken. Schädigungen bzw. Verletzungen der Physis sind niemals neutral gegenüber der soziokulturellen Realität der Menschen und umgekehrt deren soziokulturelle Realität ist niemals neutral gegenüber dem Körperlichen und auch nicht gegenüber der Bedeutung, die eine Schädigung oder/und Verletzung des Körpers hat – einfach deshalb, weil das Physische sozial ist und das Soziale physisch ist.
4 Was ist nun eigentlich Behinderung?
Ich gebe zu, dass ich diese Überschrift gewählt habe, um nach den vorstehenden und möglicherweise etwas langwierigen Ausführungen wieder etwas Aufmerksamkeit zu wecken. Aber streng genommen hätte da stehen müssen „Was soll das denn nun sein – Behinderung?,“ um damit zum Ausdruck zu bringen, dass es nicht darum gehen kann, eine universale Wesensbestimmung zu machen. De¿nitionen arbeiten eigentlich nach dem Muster „x soll heißen…“ oder „mit x wird bezeichnet…“. Das berühmteste Vorbild hierfür ist Max Webers De¿ nition „Soziologie soll heißen…“ in seinem Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“. De¿nitionen versuchen, im Alltag relativ vage und unpräzis eingesetzte Wörter so gut es geht ihrer Unklarheit zu entkleiden. Das geht immer nur bis zu einem gewissen Grade und um den Preis, dass man am Ende nicht mehr genau die Sache meint, wie die, von der im Sprachgebrauch des Alltags die Rede war, sondern auf eine gewisse Weise überspitzt, idealisiert, übertreibt. Aber der Gewinn liegt darin, dass man eine Art Maßstab dafür gewinnt, um zu beurteilen, wie wenig oder wie sehr ein Phänomen sich diesem Idealtyp annähert. Das heißt also nicht, dass man damit ein präzises absolutes Kriterium dafür in der Hand hätte, zu entscheiden, ob etwas eine Behinderung ist oder nicht. Eine De¿ nition kann und muss auch nicht alle Abgrenzungsprobleme lösen, schon gar nicht, wenn die zur Rede stehende Sache in sich kontinuierlich verfasst ist (ab wann wird ein von einer Arthrose beeinträchtigtes Hüft- oder Kniegelenk zu einer Behinderung?) und wenn sie in hohem Maße kontextrelational ist (ist der „lernbehinderte“ Nicht-Schreiber und Nicht-Leser in der schriftlosen Kultur noch behindert?). Barbara Altmann hat es auf den Punkt gebracht, wenn sie schreibt „that there is no neutral language with which to discuss disability and yet the tainted language itself and the categories used inÀuence the de¿nition of the problem“ (Altman 2001: 97). Wir kommen auf das Problem zurück. Zunächst soll eine wenig originelle, an Günther Cloerkes anknüpfende De¿nition vorgeschlagen werden, im zweiten Schritt soll sie erläutert und im dritten Schritt soll sie beispielhaft mit anderen Versuchen verglichen werden.
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Was ist nun eigentlich Behinderung?
4.1 De¿nition
Mit Behinderung wird bezeichnet eine • • •
nicht terminierbare negativ bewertete körpergebundene
Abweichung von • • •
situativ sachlich sozial generalisierten
Wahrnehmungs- und Verhaltensanforderungen, die das Ergebnis eines schädigenden (pathologischen) Prozesses bzw. schädigender Einwirkungen auf das Individuum und dessen/deren Interaktion mit sozialen und außersozialen Lebensbedingungen ist.
Schädigende Einwirkungen und Lebensbedingungen können soziale wie außersoziale Sachverhalte sein. Soziologisch gesehen ist Behinderung in diesem Sinne eine relationale Wirklichkeit und zwar in Hinsicht auf • • • • •
die individuelle und soziale Wahrnehmung als Abweichung und deren Ausdeutung die individuelle und soziale Bewertung der Abweichung die Reichweite, Gültigkeit und den sachlichen Gehalt der Anforderungsnormen die De¿nition dessen, was als schädigend bzw. pathologisch betrachtet wird (und natürlich von wem!) und die Zuschreibung der Abgeschlossenheit des pathologischen Prozesses bzw. der pathologischen Einwirkung.
Zunächst einige Bemerkungen zur Verwendung dieser De¿nition: Diese De¿ nition ist wie gesagt als Kennzeichnung eines Idealtypus zu verstehen. Es wird nicht postuliert, dass sich eindeutig entscheiden ließe, ob ein empirisches Phänomen eine Behinderung ist oder nicht. Sie hat aber den Anspruch den allgemeinen Sprachgebrauch und auch den allgemeinen fachlichen
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Sprachgebrauch der westlich geprägten modernen Gesellschaften einigermaßen gut zu treffen. Und sie hat zumindest den Anspruch Aussagen zu erlauben wie „Je mehr im konkreten Fall die genannten Merkmale als zutreffend erachtet werden, desto mehr sind wir geneigt, die in Rede stehende Sache als Behinderung zu bezeichnen.“ Es bleiben erhebliche Unschärfen. Diese hängen aber mit der Sache zusammen. Ein Beispiel dafür ist, wie wir noch sehen werden, die Abgrenzung von chronischen Erkrankungen. Diese De¿ nition ist sowohl für Soziologinnen und Soziologen geeignet, die sich einem konstruktivistischen als auch einem realistischen erkenntnistheoretischen „Lager“ zurechnen. Wer mag, kann damit formulieren „etwas ist eine Behinderung“. Aber in der Regel tut man als Soziologe besser daran, zu sagen, „etwas gilt als Behinderung, wird als Behinderung verstanden, zugerechnet, gedeutet“. Das muss keinerlei Wertung über den ontologischen Status enthalten. Ob etwas als Behinderung in dem hier vorgeschlagenen Sinne verstanden werden kann, hängt in vielfältiger Weise vom sozialen Kontext, von Wissens- und Deutungssystemen, von verschiedenen Beurteilungen ab. Das heißt aber nicht zwangsläu¿g, dass es Behinderung nicht gibt, sondern nur, dass im Einzelfall gute Gründe dafür geltend gemacht werden sollten, etwas als Behinderung zu bezeichnen oder nicht. Auch als Soziologe können mich diese Gründe überzeugen oder nicht überzeugen. Und auch wenn sie mich nicht überzeugen, ist es für mich allerdings von Belang zu sagen: x (zum Beispiel Zwillingsein) gilt in Gesellschaft y als etwas, das den Kriterien dieser De¿ nition von Behinderung entspricht. In der Tat sind die Merkmale der De¿ nition bis hin zu dem Umstand, dass Zwillingsgeburten als Ergebnis einer Art von schädlichem EinÀuss auf den Körper betrachtet werden, sehr oft gegeben. Die vorgeschlagene De¿nition ist in dem Sinne eurozentrisch, als sie eine abstrakte Kategorie de¿niert, von der nicht gesagt ist, dass sie in anderen Kulturen überhaupt existiert. Dennoch ist sie, wie wir gerade gesehen haben, auch für den interkulturellen Vergleich nutzbar. Wenn es andere Kategorien auf einer ähnlichen Abstraktionsebene gibt, können damit die unterschiedlichen Merkmale bzw. der unterschiedliche Umfang verglichen werden. Bei konkreten Phänomenen, die wir als Behinderung bezeichnen würden, ist eine Abschätzung möglich, ob und in welchem Grad in der fremden Gesellschaft verwendete kulturelle Deutungen den De¿nitionskriterien entsprechen. Ein Beispiel: bei den Punan Bah, einem Volksstamm in Malaysia, wird eine in unserem Sinne körperliche Behinderung (Spastik) als Ergebnis eines schädlichen EinÀusses auf das Kind angesehen. Dieser EinÀuss geht auf eine Tabuverletzung während der Schwangerschaft durch den Vater zurück. Er hatte einer Schildkröte den Kopf abgeschnitten. Wenn auch die anderen De¿nitionskriterien emisch der Sache nach zutreffen (negative Bewertung, Unterstellung der Micht-Terminierbarkeit usw.) – dann lässt sich sagen, dass das konkrete emische Verständnis der Spastik des Kindes sehr nahe an unserer etischen
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De¿nition von Behinderung liegt (vgl. Nicolaisen 1995: 43). Das gilt unabhängig davon, ob es in der Punan-Bah-Sprache nun eine allgemeine Kategorie „Behinderung“ gibt oder nicht. Erläuterung der De¿nitionskriterien Ich möchte nun eine Erläuterung der einzelnen Kriterien geben. (1) nicht terminiert (relative Dauerhaftigkeit): Behinderung ist kein vorübergehendes (akzidentielles) Merkmal, kein Ereignis und kein Prozess, keine Krise, keine Erkrankung oder kein Rauschzustand. Nicht terminiert soll nur heißen: man rechnet bei Behinderung prinzipiell mit einer relativ dauerhaften oder dauerhaften Betroffenheit, ohne deswegen auszuschließen, dass sich positive Veränderungen einstellen können. Ab wann diese Bedingung zutrifft, variiert beträchtlich, hängt vom konkreten Kontext ab (vgl. zum Beispiel das SGB IX: sechs Monate!). Gleich, woran man die Dauerhaftigkeit festmacht, ein erkennbar kurzfristiger und terminierter Zustand ist im Sinne der De¿nition keine Behinderung. (2) negative Bewertung: auch eine Hochbegabung, ein besonders schönes Gesicht kann eine dauerhafte Abweichung darstellen, ist aber deshalb keine Behinderung (obwohl die Konsequenzen manchmal ganz ähnlich sein können!). Damit ist übrigens nicht gesagt, dass auch die behinderten Menschen negativ bewertet würden,43 sondern es ist einfach gesagt, dass Behinderung per se eine negative Kategorie ist. Wer das, was manche für eine Behinderung halten mögen, für etwas Positives hält, sagt damit eben, dass es für ihn keine Behinderung ist. Beispielsweise kann Stimmenhören (oder auch: das Zungenreden, also Stammeln in einer unbekannten Sprache) in sibirischen Stammesgesellschaften als eine spezielle Befähigung der Kontaktnahme mit einer übersinnlichen Welt wahrgenommen werden. In diesem sozialen Kontext ist Stimmenhören dann aber eben nicht Anzeichen für eine psychische Krankheit oder Behinderung, sondern ein Quali¿kationskriterium für den Beruf eines Schamanen. Interessanterweise kann aber das Schamanentum dennoch Ergebnis eines „schädigenden Prozesses“ sein, der sogenannten „Schamanenkrankheit“, die bis zu einem symbolischen (im Traum erfahrenen) Tod durch Zerstückelung gehen kann, gefolgt von einer Wiedergeburt (dazu Kasten 2009: 26 f.; Soloveva 2009: 42).
vgl. dazu Cloerkes (2007: 8): „Die Bewertung von Behinderung und die Reaktion auf Behinderte sind also zweierlei und strikt voneinander zu trennen.“
43
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(3) Körpergebundenheit: dieses Kriterium ist, nachdem wir im Kapitel 3 praktisch alles, was Menschen tun und lassen, als irgendwie körpergebunden heraus gestellt haben, zugegeben nicht besonders trennscharf. Aber es grenzt Behinderung gegenüber sozialer Benachteiligung oder Ausgrenzung ab (und wird demzufolge den Anhänger des reinen sozialen Modells nicht besonders gefallen). Soziale Benachteiligung, Ausgrenzung oder ein diskriminierendes Verhalten, also ein Durch-andere-Behindert-werden, bezeichnen wir erst dann als Behinderung, wenn sie in irgendeiner Form inkorporiert wurde. Damit kann z. B. gemeint sein, dass sie in irgendeiner Weise Kompetenzen, Selbstbilder, psychische Funktionen oder gar die körperliche Konstitution oder Kompetenz einer Person beeinträchtigt. Wenn ich wegen meiner Hautfarbe, meiner Nationalität oder weil ich die falsche Religion habe, keinen Zutritt zu einer öffentlichen Bibliothek oder in eine Moschee erhalte, begründet diese Behinderung meiner Handlungsmöglichkeiten noch keine Behinderung im Sinne der hier verwendeten De¿nition. Wenn aber der systematische Ausschluss von Bildungsmöglichkeiten (angefangen vom Ausschluss aus dem Schulsystem) dazu führt, dass ich im Laufe meiner Sozialisation basale in einer Gesellschaft erwartete, kognitive Kompetenzen nicht erwerbe, dann könnte man von Behinderung sprechen. Erst die „inkorporierten“, verinnerlichten, zur körperlichen Struktur gewordenen sozialen Behinderungen konstituieren Behinderung in dem hier verwendeten Sinne (und auch im allgemeinen Sprachgebrauch).44 (4) Abweichungen von situativ, sachlich, sozial generalisierten Wahrnehmungs- und Verhaltensanforderungen: Mit dem Ausdruck „Wahrnehmungs- und Verhaltensanforderungen“ wurde bewusst ein allgemeiner Begriff gewählt. Der Verhaltensbegriff beinhaltet sowohl intentionales Verhalten (Handeln) als auch nicht-intentionales Verhalten (bzw. Verhaltensmöglichkeiten). Kennzeichen des Verhaltensbegriffs ist, dass man sich zu etwas verhält, das heißt, man ist auf eine (Um-)Welt bezogen (vgl. Kastl 2001: 311 ff.). Behinderung bezieht sich also im Gegensatz zu dem Begriff der Krankheit immer auf eine Umwelt und damit auf in dieser Umwelt entstehende Anforderungen. Diese Anforderungen müssen auch faktisch bestehen und an das Individuum oder die Individuen gerichtet sein. Solche Anforderungen sind interkulturell variabel, allerdings durchaus nicht unendlich variabel. Beispielsweise ist das Fliegen-Können keine solche Anforderung. Wohl aber stellen alle bekannten Gesellschaften an die Individuen eines bestimmten Alters die Anforderung aus eigener Kraft aufrecht gehen zu können. Und darüber hinaus z. B.: dass sie Kommunikationen und die physische Umwelt leidlich sehen/hören können, dass sie Hände für eine unbestimmte Anzahl von nicht an Spezialrollen gebundene Aktivitäten nutzen können, dass die Personen vergangene Situationen
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Das wird ganz ähnlich von den AutorInnen der ICF gesehen (DIMDI 2005: 13).
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erinnern, Interaktionspartner wieder erkennen, (soziale) Wissensinhalte reproduzieren können und über eine jeweils kulturell spezi¿zierte Form der Emotions- und Affektregulation verfügen. Vor allem in traditionalen Stammesgesellschaften gehört in aller Regel die Reproduktionsfähigkeit zu diesen Anforderungen. Wichtig ist dabei das Kriterium der situativen, sachlichen und sozialen Generalisiertheit. Je mehr eine Person systematisch von sehr spezi¿schen Anforderungen abweicht, desto weniger sind wir geneigt, von Behinderung zu sprechen. Je mehr „Aufgaben“ im Sinne Parsons’ betroffen sind, die sich über situative, soziale und sachliche Kontexte hinweg stellen, desto mehr sind wir geneigt, das Wort Behinderung anzuwenden. Es geht also nicht um spezielle Ungeschicklichkeiten oder Unbegabtheiten: ein unmusikalischer Mensch, ein schlechter Handwerker oder Ehemann, ein Mensch mit einem schwierigen Charakterzug ist deswegen nicht „behindert“. Es geht auch nicht um Anforderungen an speziell diese Person, sondern die Anforderungen sind sozial generalisiert, betreffen immer einen Personentypus (oft sogar tendenziell alle Menschen mit vollgültigem Personenstatus) und nicht konkrete Individuen. Zugleich ist damit gesagt, dass Behinderungen eine relationale Realität haben, es macht also keinen Sinn von Behinderung zu sprechen, wenn nicht eine faktische Anforderung besteht (bzw. von ihr abgewichen wird). In diesem Sinne ist ein gehörloser Mensch in einer Umwelt von anderen gehörlosen Menschen, mit denen er sich über Gebärden verständigen kann, nicht oder jedenfalls sehr viel weniger behindert als in einer durchschnittlichen Umgebung, die auf hörende Individuen abgestellt ist. Dies heißt aber keinesfalls, dass Behinderung deswegen einen irgendwie zweifelhaften, sozusagen gelockerten ontologischen Status hätte. „Relational“ ist weder zu verwechseln mit „konstruiert“ noch mit „disponibel“. Auch eine relationale Wirklichkeit ist wirklich und real, sie kann den Charakter eines „brute fact“ haben, „prekär“ (Dewey) sein wie alle Realität und alle erdenklichen Gefahren für Leib und Leben beinhalten, die man sich vorstellen kann. Manche Philosophen gehen so weit zu sagen: Realität ist prinzipiell relational. (5) Ergebnis eines pathologischen bzw. schädigenden Prozesses und seiner Interaktion mit Lebensbedingungen: Die Aufnahme dieser Bestimmung in die De¿nition von Behinderung trägt der Forderung u. a. von Hughes/Paterson (1997) nach einer Soziologie der Schädigung Rechnung. Dabei stellen sich zwei Probleme: Behinderung darf nicht aufgelöst werden in eine äußerliche soziale Benachteiligung. Darauf verweist schon das Kriterium der Körpergebundenheit und dessen Spezi¿ zierung durch den bekannten Begriff der „Schädigung“. Behinderung ist aber andererseits auch keine Krankheit, die geheilt werden kann oder geheilt werden müsste. Deshalb schlage ich vor zwischen dem Prozess der Schädigung (pathologischer Prozess), der Schädigung selbst und der Behinderung deutlicher zu unterscheiden. Der pathologische bzw. schädigende Prozess ist ein dynamischer
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Vorgang, als dessen Ergebnis man die Schädigung sehen kann. Deren Interaktion und Zusammenwirken mit Umweltbedingungen ergeben die eigentliche Behinderung. Ich möchte also den Ergebnischarakter der Schädigung betonen und den Umstand, dass die Schädigung ihrerseits in Interaktionen mit einer Fülle sozialer und außersozialer Faktoren tritt. Typologisch gesehen nimmt die Eindeutigkeit, mit der wir etwas als Behinderung bezeichnen, in dem Maße zu, wie der schädigende Prozess abgeschlossen ist, in der Vergangenheit liegt. Umgekehrt: je mehr der pathologische Prozess eine aktuelle Dynamik aufweist, desto mehr sind wir geneigt von einer Erkrankung, auch einer chronischen Erkrankung zu sprechen. Typpologisch unklar sind die Mischfälle von sehr lange währenden chronischen Erkrankungen, bei denen einerseits ein pathologischer Prozess anhält, bei denen es zugleich – quasi als Zwischenergebnisse – zu länger anhaltenden Funktionsbeeinträchtigungen kommt. Dennoch ist es auch hier wichtig, den pathologischen Prozess und seine medizinische Behandlung von der Behinderung und ihrer „Bewältigung“ bzw. Rehabilitation zu unterscheiden. Ich glaube persönlich, dass der vielfach unklare fachliche Sprachgebrauch von diesem Vorschlag pro¿tieren könnte. Wenn eine pathologische Prozessdynamik anhält und womöglich eine medizinische Behandlung erfordert, sprechen wir auch im Alltag meist von Erkrankung und nicht von Behinderung. Was ein schädigender Prozess sein kann, unterliegt wiederum sozialen De¿nitionen. Auch eine Verhexung oder die Besitzergreifung eines Körpers durch einen „non-human spirit“ (Nicolaisen 1995: 44) ist in diesem Sinne ein schädigender Prozess. Relativ willkürliche Beispiele für Schädigungsformen, die sich eher am Weltbild der westlichen Medizin orientieren, sind: ƒ
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Verletzung/Traumatisierung, d. h. eine durch grobe oder feinere mechanische Gewalteinwirkung eintretende Ruptur bzw. Eindringen von körperfremder Materie in den Körper und eine daraus resultierende Schädigung von Makrostrukturen des Körpers, die nicht mehr behebbar ist. Beispiele hierfür wären ausgeheilte Verletzungen, ggf. mit Verlust von Körpergliedern oder dauernder Beeinträchtigung anatomischer Strukturen (z. B. auch: Blindheit infolge eines Unfalls, bei dem die Augen betroffen sind), ein Schädel-Hirntrauma mit dauernder Funktionsbeeinträchtigung. Ein Missverhältnis von körpereigenen Strukturen und Anforderungen, die zu degenerativen Veränderungen als eine Art Anhäufung von lauter kleinen unmerklichen Verletzungen oder eine Anreicherung mit körperfremden Substanzen gelten, die körperliche Prozesse beeinÀussen und zu dauernden Schädigungen führen, Beispiele können degenerative Gelenks- und Wirbelsäulenprobleme sein oder auch bestimmte Herz-/Kreislaufsyndrome, sklerotische Phänomene.
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Was ist nun eigentlich Behinderung? Durch die Aufnahme von externen Stoffen, Infektionen durch Viren oder Bakterien, materielle EinÀüsse (z. B. Strahlung, Radioaktivität), die durch Menge oder/und Beschaffenheit toxisch wirken, entstehen Störungen interner (Mikro-)Funktionsabläufe (z. B. Genreproduktion und -Replikation, Stoffwechsel, Hormonhaushalt, Zellwachstum und Vermehrung, Immunreaktionen, Reizleitung der Nerven u. v. a.), die zu dauerhaften Schädigungen führen. Eine Störung von körperinternen Funktionen kann sich auch ohne solche äußeren Faktoren aufgrund einer aus dem Ruder laufenden internen Komplexität oder aufgrund von Zufällen ergeben. Durch umweltbedingte Mangelsituationen werden für die Entwicklung bzw. für die Funktionsfähigkeit des Körpers wichtige Ressourcen nicht gewährleistet und es kommt zu dauerhaften Schädigungen, die somit das Ergebnis einer Deprivation sind. Das kann den Mangel an Nahrung, Wasser, Mineralstoffen, aber ebenso auch einen Mangel an kognitiver Anregung und emotionaler Zuwendung beinhalten. Insbesondere im Zusammenhang mit den Ressourcen kann es durch umweltbedingte Gegebenheiten zu systematischer Überforderung, einem Missverhältnis von Ressourcen und Anforderungen kommen. Das kann körperliche Sachverhalte betreffen, insbesondere aber auch psychosoziale: Stress, psychische Traumatisierungen und die kognitive und emotionale Entwicklung maßgeblich bestimmen. Ein schädigender Prozess bzw. eine schädigende Einwirkung kann im Grenzfall auch eine soziale Stigmatisierung und damit verbundene Ausgrenzungsprozesse sein. Allerdings nur dann, wenn eine Ausgrenzungsdynamik in eine inkorporierte Struktur mündet, die als Abweichung von Anforderungsnormen interpretiert wird. Dabei kann es sich zum Beispiel um das Fehlen bzw. Ausbleiben basaler kultureller Kompetenzen handeln (Sprache, bestimmte kognitive Fähigkeiten), um psychische Problematiken, die sich im Verhalten, im Selbstbild, in der motivationalen Steuerung ausdrücken.
Die genannten Prozesse bzw. Einwirkungen können – im weiteren Zusammenspiel mit sozialen und außersozialen Lebensbedingungen – insgesamt zu jener physiopsycho-sozialen Situation führen, die wir Behinderung nennen. Die Schädigung ist – im Rahmen der hier vorgeschlagenen De¿nition eine notwendige Bedingung für Behinderung. Liegt kein Prozess oder keine Einwirkung vor, die wir mit welchen Begründungen auch immer als „schädigend“ oder „pathologisch“ (und zwar im Sinne einer relativ dauerhaften Veränderung) ansehen, würde man nicht von Behinderung sprechen. Das heißt aber nicht, dass die Behinderung als solche und in ihrer spezi¿schen Qualität eine Funktion des schädigenden Prozesses ist. Das ist sie schon deswegen nicht, weil Funktionsnormen bzw. -Anforderungen, wie wir gesehen haben, von ebenso großer Bedeutung sind und weil der schädigende
Behinderung – weder „Krankheit“ noch „Barriere“
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Prozess bzw. sein Ergebnis wiederum in Interaktion mit allen anderen sozialen und außersozialen Lebensbedingungen des Individuums tritt. Hier spielen psychologische Faktoren eine Rolle, hier spielt die Beschaffenheit der sozialen Anforderungen eine Rolle, die Lebensweise, soziale, kognitive, ökonomische Ressourcen, die es ermöglichen oder nicht ermöglichen funktionale Äquivalente auszubilden u. a. m. Insgesamt bleibt festzuhalten: der schädigende/pathologische Prozess ist eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für Behinderung. * Diese De¿nition grenzt Behinderung insbesondere ab bzw. spezi¿ziert sie gegenüber (a) allgemeinen Formen sozialer Benachteiligung (nicht schädigungsbezogen, nicht körpergebunden), (b) nicht schädigungsbedingten Formen von (zugeschriebener) Inkompetenz/Kompetenz, (c) gegen Krankheit, (d) gegen Formen des (zugeschriebenen) Andersseins (Heterogenität), die nicht schädigungsbedingt sind und damit verbundenen Stigmatisierungen (z. B. Hautfarbe, Nationalität, Herkunft, Geschlecht u. a.). Allerdings bestehen mit allen genannten psychosozialen Situationen Ähnlichkeiten und Àießende Übergänge. Wegen ihrer Bedeutung für die behinderungssoziologische Diskussion möchte ich im Folgenden die Abgrenzung von Behinderung gegenüber „bloßer“ sozialer Benachteiligung einerseits und Krankheit andererseits vertiefen. 4.2 Behinderung – weder „Krankheit“ noch „Barriere“ „Die Krankheit des zukünftigen Schamanen bedeutete, dass die Geister seine Seele zur Ausbildung und zur ‚Wiederherstellung‘ zu sich genommen hatten. Der Erzähltradition sibirischer Völker zufolge verlief diese Bewährungsprobe folgendermaßen: die Geister schnitten dem Schamanenanwärter den Kopf ab, zerstückelten seinen Körper und fütterten damit die Geister aller Welten. Danach wiederholte sich der Vorgang in umgekehrter Reihenfolge. Die Geister sammelten alle Körperteile wieder ein, klebten sie mit ihrem Speichel zusammen, fügten den Kopf hinzu und der Schamane erwachte wieder zum Leben.“ (Soloveva 2009: 42)
Die vorgeschlagene De¿nition versteht Behinderung weder als Barriere noch als Krankheit. Sie folgt insofern weder ausschließlich einem sozialen noch einem medizinischen Modell. Allerdings möchte ich noch einmal nachdrücklich betonen, dass ich für ein angemessenes Verständnis von Behinderungsphänomenen dezidiert für eine Verbindung sozialwissenschaftlicher wie medizinischer Sichtweisen
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Was ist nun eigentlich Behinderung?
mit der Erfahrungsperspektive der Betroffenen plädiere. Leider hat das soziale Modell der Behinderung und seine einseitig politische Akzentuierung bei allen unbestreitbaren Verdiensten einige Verwirrung erzeugt. Das Barrierenmodell von Behinderung ist unlogisch. Da wir das soziale Modell im Anschluss an Argumentationen von Tom Shakespeare bereits einer Kritik unterzogen haben, kann ich mich diesbezüglich kurz fassen. Das soziale Modell möchte aus begreiÀichen politischen Gründen Behinderung ausschließlich in der Umwelt der von ihr betroffenen Menschen verorten. Behinderung wird nach dem Modell einer gesellschaftlichen Barriere gedacht. Einmal abgesehen davon, dass dem sozialen Modell eine in den meisten Fällen übertriebene Intentionalisierung zugrunde liegt (Unterdrückung) und abgesehen davon, dass diese Vorstellung nichts mit dem üblichen Sprachgebrauch mehr gemeinsam hat: in der Denkweise des sozialen Modells steckt ein ziemlich grober Denkfehler. „Barriere“ ist nämlich ebenso ein relationaler Begriff wie der der Behinderung. Man muss also immer fragen: Barriere für wen? Die Antwort lautet natürlich: für den nicht behinderten Menschen besteht kein Barrierecharakter, sondern eben für den Menschen, der nicht sehen kann, der im Rollstuhl fährt, der nicht lesen kann. Deshalb ist die These von Oliver, Behinderung habe nichts mit dem Körper zu tun („Disablement is nothing to do with the body“ Oliver 1996: 35) nicht stichhaltig, um nicht zu sagen blanker Unsinn. Die Relationalität einer Sache ist weder in die eine noch in die andere Richtung auÀösbar. Es ist selbstverständlich auch ein Merkmal des von Behinderung betroffenen Menschen, das die Barriere zur Barriere macht, ebenso wie eine Behinderung nicht ohne eine Anforderungsnorm denkbar ist. Das spricht überhaupt nicht dagegen, Barrieren, wo immer sie sich für behinderte Menschen stellen, und so weit es immer realisierbar ist, zu reduzieren. Aber die Relation Barriere-Behinderung kann man als solche nicht ins Nichts auÀösen, indem man erklärt, in Wirklichkeit sei die Barriere die Behinderung. Eine Behinderung ist einfach nicht dasselbe wie ein Verkehrsstau, ein zu großer Treppenabsatz oder eine unleserliche Schrift, sondern sie hat in einem eminenten Sinn mit mir selbst zu tun, sie ist ein Bestandteil meines körperlichen So-Seins. Das heißt ganz und gar nicht, dass sie deswegen ontisch starr, kontext- und deutungsunabhängig ist – im Gegenteil sind alle vermeintlichen persönlichen Eigenschaften kontextbezogen und relational und zwar deswegen, weil Menschen niemals Eigenschaften haben wie Steine oder wie ein Auto eine Beule hat. Jede persönliche Eigenschaft ist ebenso körperlich verankert, Ausdruck eines realen und wie immer kontingenten So-Seins und zugleich relational und kontextoffen (vgl. dazu Kastl 2001: 317 ff.).
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Aber in einem anderen Punkt kommt die hier vorgeschlagene De¿ nition der Argumentation Olivers und des sozialen Modells entgegen: Behinderung ist keine Krankheit und demzufolge kein bloß oder auch nur dominant medizinisches Phänomen. Deswegen wurde in der De¿nition die Abgeschlossenheit des pathologischen Prozesses, der Ergebnischarakter der Behinderung hervor gehoben und eine Gleichsetzung der Behinderung mit dem schädigenden Prozess bzw. der schädigenden Einwirkung bewusst vermieden. Behinderungen sind Lebensmöglichkeiten. Diesen Punkt möchte ich etwas ausführlicher verdeutlichen. Eine Krankheit ist stets heilungsbedürftig, es handelt sich um ein pathologisches Geschehen, das in sich und als solches eine bestimmte Verlaufslogik aufweist (die zum Beispiel schubweise kommt und geht, einer Kulmination entgegen geht, progressiv ist, mit Prodromalsymptomen einsetzt und dann zum eigentlichen „Ausbruch“ kommt). Krankheiten (angefangen vom banalen grippalen Infekt) müssen ausheilen. Dafür muss man zum Beispiel Bettruhe einhalten oder man muss sich schonen. Wenn sie nicht selbst „ausheilen“, müssen sie durch einen menschlichen (medizinischen) Eingriff geheilt (behandelt) oder zumindest „aufgehalten“ werden. Unter Umständen muss man ansonsten sterben. In diesem sehr allgemeinen Sinne verstehen zumindest die meisten bekannten Kulturen Krankheit und praktizieren eine Art von Medizin, sowohl im Sinne einer physischen Einwirkung (sei es durch Substanzen oder mechanische Einwirkungen) als auch durch symbolische Einwirkungen (Zauber, Magie, Ritual, Psychotherapie). Die Behinderung ist nicht gleichzusetzen mit dem pathologischen Prozess selbst, sondern sie ist Ausdruck einer funktionellen Einschränkung infolge eines bestimmten Ergebnisses eines pathologischen Prozesses (bzw. seiner Interaktion mit Umweltbedingungen). Dieses Ergebnis ist unterm Strich positiv – man kann weiterleben, hat Lebensmöglichkeiten. So gesehen kann man Behinderungen – zumindest idealtypisch – nicht behandeln bzw. heilen. Sie sind in gewisser Hinsicht in sich selbst eine Art erfolgte Heilung, etablieren eine mal labilere, mal stabilere Form einer neuen funktionalen Balance. Besonders prägnant ist das beispielsweise bei dem unfallbedingten Verlust eines Körperteils, eines Beines zum Beispiel. Die pathologische Phase ist die Verletzung selbst, die offene Wunde. Es muss eine Amputation erfolgen, die Wunde muss vernäht und versorgt werden, es muss eine Infektion verhindert oder ggf. aufgehalten werden. Das Resultat mag eine Gehbehinderung sein, infolge des Fehlens eines oder gar beider Beine. Faktisch ist aber diese Behinderung Ausdruck einer Rückkehr des Organismus in einen Zustand des Leben-Könnens, also Ausdruck einer „Heilung“. Die Wunde ist zugewachsen, der pathologische Prozess (Bluten,
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Was ist nun eigentlich Behinderung?
Verbluten, Infektion usw.) ist überwunden. Auch bei anderen Erkrankungen ist die Behinderung Ausdruck einer relativen Rekonvaleszenz, einer Neuordnung, Umjustierung von Lebensfunktionen nach und manchmal auch im Gefolge eines pathologischen Prozess. Auch Behinderungen, die auf eine Störung der embryonalen Entwicklung zurück gehen, auf genetische Probleme (etwa einem „Fehler“ bei der Genreduplikation, einem „Stückverlust“ bei einem Gen) o. ä. lassen sich in dieser Logik deuten. Denn trotz dieser pathologischen Prozesse, die dann in den meisten Fällen abgeschlossen sind, entwickelt sich der Organismus. Er kann ohne Hilfe oder mit Hilfe (das ist nebensächlich) leben. Auch psychische Erkrankungen können in einen Zustand münden, bei dem dauerhaft Funktionen beeinträchtigt bleiben, ohne dass eine akute Behandlungsnotwendigkeit gesehen wird.45 Bei sogenannten geistigen Behinderungen gehen wir von einer Schädigung aus, die Lernvorgänge oder bestimmte kognitive Leistungsbereiche dauerhaft beeinträchtigt. Dabei kann es sich um materielle Schädigungen handeln (z. B. Deletion eines Genabschnitts), aber auch um Schädigungen in Form von deprivierenden Lebensbedingungen in einer sensiblen Phase der Sozialisation (vgl. Kapitel 5.5). An diesem Beispiel wird aber auch deutlich, dass die idealtypische Annahme der Abgeschlossenheit des pathologischen Prozesses nicht gleichbedeutend ist mit einer Unveränderlichkeit der Behinderung. Denn die Behinderung ist zwar auch, aber eben nicht ausschließlich eine Funktion der Schädigung. Sie tritt in Interaktion mit allen Lebensbedingungen und kann von daher eine zeitliche und biographische Dynamik beziehen. Behinderung wäre so gesehen im Unterschied zu Krankheit idealtypisch eine Kategorie des Leben-Könnens, nicht eine des Sterben-Müssens. Mit Behinderungen kann man leben, an Krankheiten muss man – letztlich – sterben.46 Natürlich ist das eine Übertreibung – in Wirklichkeit überleben wir ja die überwiegende Anzahl von Krankheiten. Dennoch: die meisten oder jedenfalls sehr viele Krankheiten wären tödlich, wenn sich die Krankheitsmechanismen als solche zuspitzen, generalisieren und auf den Gesamtkörper auswirken würden: wird aus dem grippalen Infekt eine Lungenentzündung, kann man sterben. Infektionen, die Sklerose von Arterien, allergische Reaktionen, Insulinmangel, Ateminsuf¿zienz usw. „verkraftet“ der Körper nur bis zu einem gewissen Punkt.
45 Eine Fallanalyse eines Menschen, bei dem ein sogenanntes „schizophrenes Residuum“ vorliegt, ¿ ndet sich in Kastl 2009. 46 Ich greife hier auf die sogenannten „pathischen Kategorien“ von Viktor von Weizsäcker zurück. Dieser hatte in seiner „Pathosophie“ fünf Modalitäten von Erleidens- bzw. „Mangel“-Dimension der menschlichen Situation unterschieden, die ihn als „konstitutiv unzulängliches, unfertiges, ergänzungsbedürftiges, indeterminiertes, defektes, ohnmächtiges“ Wesen (Weizsäcker 2005: 71), als endliche Existenz ausweisen: das Will, das Kann, das Darf, das Soll und das Muss (ebd.: 70).
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Robert Murphys Wiederherstellung Krankheit und Behinderung, Leben-Können und Sterben-Müssen wären in dieser Logik selbst im Grenzfall einer chronischen Erkrankung unterscheidbar (wie zum Beispiel multiple Sklerose). Ein prägnantes Beispiel dafür, dass Behinderung eine Ordnung des Lebens darstellt, bietet der Fall des Sozialanthropologen Robert Murphy. Murphys Erkrankung (also der schädigende Prozess, der zu seiner Behinderung führte), bestand in dem langsamen, aber unaufhaltsamen Wachstum eines inoperablen Tumors in seinem Spinalkanal in Höhe des oberen Brustkorbs, der schrittweise alle motorischen Fähigkeiten beeinträchtigte. Murphy schildert an einer wichtigen Stelle seines autobiographischen Buches „The body silent“, wie er, nach einem missglückten Operationsversuch de¿nitiv von einer Behinderung betroffen, nach monatelangen Krankenhausaufenthalten und Rehabilitationsmaßnahmen, in seiner Bewegungsfähigkeit schwer beeinträchtigt, nach Hause zurück kehrt. Es beginnt ein Prozess der Neujustierung seines Lebens. Bereits der Versuch, in sein eigenes Auto, mit dem ihn sein Sohn abholt, einzusteigen, verlangt ihm völlig neue motorische Leistungen ab: „I was faced with my ¿rst challenge in the outside world: how to get into a car. I grabbed the open door and pulled myself into a standing position, then made a quarter turn to the right and sat down heavily on the seat. I pulled my left leg into the car with my hands and swung my right one in after it on its own power. In the process, my body became unbalanced, and I began to fall to the left, a problem that recurred every time we turned a corner. I soon learnt to compensate for the weakness of my torso muscles by holding on to the armrest and leaning against the turns. It occurred to me then that if I had to learn how to be a passenger all over again, how would I be able to relearn driving?“ (Murphy 1990: 58)
Er erarbeitet sich, angefangen von diesem Versuch in sein Auto zu steigen, eine völlig veränderte Physik des Sitzens, des Aufstehens und Sich-Hinlegens, der Nutzung der Toilette, der Fortbewegung und privater und öffentlicher Kommunikation. Er schreibt an einer Stelle: „My body had changed radically, altering completely the ecology of the house and household.“ (Murphy 1990: 59 ff.).
Murphy beschreibt eine Umstellung seiner täglichen und beruÀichen Aktivitäten, seiner sozialen Beziehungen, ja – nach einer Phase der Depression, in der er an Selbstmord denkt – der Zeitstrukturen und biographischen Perspektivik seines Lebens, seiner Lebenseinstellung:
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Was ist nun eigentlich Behinderung? „My attitude toward life and living … had become altered … Since that time, I have lived in the present, each day a lifetime’s work, each birthday a miracle.“ (Murphy 1990: 66)
Selbst in diesem Grenzfall zwischen chronischer Erkrankung und Behinderung fällt also „Behinderung“ nicht mit dem schädigenden Prozess zusammen. Es geht einfach um verschiedene Sachverhalte. Die Behinderung liegt in der veränderten (und ganz sicher auch als de¿zitär erfahrenen) funktionalen Struktur, die dieser Prozess in einem gegebenen Zeitabschnitt irreversibel erzwungen hatte. Sie stellt sich als komplexe Gesamtstruktur einer – wie Murphy formuliert – Veränderung der „Ökologie des Hauses und des Haushalts“ im Verein mit der körperlichen Einschränkung dar. Der pathologische Primärprozess und seine Nebenfolgen als solcher ist und bleibt weiterhin Gegenstand medizinischer Bemühungen. Aber es macht keinen Sinn zu sagen, die Behinderung Murphys sei Gegenstand von Behandlungen und Therapien gewesen. Die Behinderung ist das an seinem Zustand, womit er bis auf weiteres leben kann, was eine Neu-Konstellation seiner Lebensordnung mit sich führt. Die Krankheit ist das, was man aufhalten muss, um nicht daran zu sterben bzw. weitere Schädigungen zu erfahren. „Ein Mensch“, schreibt Viktor von Weizsäcker, „lebt … nicht mit seinem Krankheitsherd, sondern mit seinen um diesen herum sich neu ordnenden Funktionen.“ (Weizsäcker 1986: 36). Diese Neuordnung ist die Behinderung. Behinderungen werden also nicht in einem medizinischen Sinne „geheilt“ und „behandelt“, allenfalls werden Menschen mit Behinderung gefördert, gestärkt, oder gepÀegt. Die professionelle Kernaufgabe bei Behinderung ist nicht Heilung bzw. Behandlung eines pathologischen Prozesses (in dem Sinne, dass man diesen stoppt, aufhält bzw. die Selbstheilungskräfte stärkt), sondern die Stärkung und Schulung und Entwicklung von Fähigkeiten oder nötigenfalls die stellvertretende Übernahme alltäglicher Funktionen. Es wird bei allen diesen Tätigkeiten im Idealfall immer eine funktionale Integration unterstützt und angeregt. Behinderung und ihre Rehabilitation erzwingt so gesehen geradezu eine Kompetenz- und nicht eine De¿zitorientierung. Allerdings beinhaltet das auch Ambivalenzen. Robert F. Murphy bringt die strukturelle Zwiespältigkeit von Rehabilitation zum Ausdruck, wenn er darauf hinweist, dass es in Rehabilitationsprozessen auf der einen Seite auf die Aktivität, Handlungsbereitschaft, auf Autonomiepotentiale und Innovationsfähigkeit des behinderten Menschen ankommt. Andererseits können aber Rehabilitationsprozesse, in denen in der Regel die Experten eine nicht zu unterschätzende Machtposition einnehmen, in eine Zwangsnormalisierung und einseitige Anpassung führen, deren Scheitern dann dem behinderten Menschen schuldhaft zugeschrieben wird und die ihm in aller Unbarmherzigkeit das Stigma eines beschädigten Selbst („damaged self“) aufzwängt (Murphy 1996: 51 ff.).
Vergleich mit anderen De¿nitionen
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4.3 Vergleich mit anderen De¿nitionen (Cloerkes, ICF) Abschließend möchte ich kurz auf das Verhältnis der hier vorgeschlagenen De¿nition zur Behinderungsde¿nition von Günther Cloerkes und zu dem sogenannten Behinderungsmodell der International Classi¿cation of Functioning, Health and Disability (ICF) und ihres Vorläufermodells eingehen. Vergleich mit Cloerkes’ De¿nition Günther Cloerkes de¿niert Behinderung so: „Eine Behinderung ist eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der allgemein ein entschieden negativer Wert zugeschrieben wird. ‚Dauerhaftigkeit‘ unterscheidet Behinderung von Krankheit. ‚Sichtbarkeit‘ ist im weitesten Sinne das „Wissen“ anderer Menschen um die Abweichung.“ (Cloerkes 2007: 8)
Wie leicht erkennbar ist, knüpft die hier vorgeschlagene De¿nition im Kern an den Vorschlag von Cloerkes an. Das Kriterium der Dauerhaftigkeit habe ich ebenso wie das Kriterium der Abweichung als solches übernommen. Was Cloerkes mit dem Ausdruck „im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich“ umschreibt, habe ich in dem Adjektiv „Körpergebundenheit“ zusammen gefasst. Das verdankt sich einem in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Bewusstsein, dass auch psychische und kognitive Aspekt nicht vom „Körper“ loslösbar sind. Damit ist – wie in der Cloerkeschen De¿nition auch – nur umschrieben, dass, wenn auf Behinderung Bezug genommen wird, zumindest unterstellt wird, es handle sich um ein Merkmal, das dem Individuum als psychophysischer Einheit zukommt. Die Unterschiede bestehen zum Einen in einer Differenzierung, zum Anderen in einer Erweiterung der De¿nition. Im Unterschied zu Cloerkes spreche ich nicht von „Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich“, sondern von Abweichungen von generalisierten Wahrnehmungs- und Verhaltensanforderungen, die im konkreten Fall dann auch ausbuchstabiert werden müssten. Das „Wobei“ bzw. „Worin“ einer Behinderung scheint mir eine wichtige Frage zu sein. Das zu explizieren, ist eine Voraussetzung gerade für eine kritische Auseinandersetzung mit empirisch vor¿ndlichen Behinderungsde¿nitionen. Es zwingt dazu die jeweils zur Anwendung kommenden meist impliziten Normen bewusst zu machen und die Frage zu stellen, ob und welches Handlungsproblem in einem gegebenen sozialen Kontext überhaupt besteht und wie dieses beschaffen ist. Aus demselben Grund schlage ich in Erweiterung der Cloerkeschen De¿nition vor, einen vorauszusetzenden schädigenden/pathologischen Prozess in die De¿nition
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Was ist nun eigentlich Behinderung?
von Behinderung mit aufzunehmen. Eine Abweichung, der nicht ein irgendwie als pathologisch gedachter Prozess zugrunde liegt, ist eben keine Behinderung bzw. wird nicht als solche bezeichnet. Beispielsweise könnte im Sinne der Cloerkeschen De¿nition (wie auch im Bezugsrahmen des sozialen Modells und aller Modelle, die den Aspekt der sozialen Teilhabe bzw. Stigmatisierung betonen) auch ein Mensch, der aufgrund seiner Hautfarbe (eindeutig eine Abweichung im körperlichen Bereich) diskriminiert wird oder der der deutschen Sprache nicht mächtig ist (eindeutig eine Abweichung im geistigen Bereich) als „behindert“ bezeichnet werden. Das ist weder empirisch noch analytisch sinnvoll und im Übrigen mit Sicherheit auch nicht die Intention des Cloerkeschen Vorschlags. Insgesamt sehe ich den hier gemachten Vorschlag als eine Anknüpfung an und Differenzierung von Cloerkes De¿nition. Vergleich mit der ICF-De¿nition Ähnlich lässt sich argumentieren in Bezug auf das in der Praxis der Rehabilitation derzeit vielleicht wirksamste, aber zugleich m. E. auch sehr missverstandene Konzept von Behinderung. Ich meine das Modell der „International Classi¿cation of Functioning, Disability and Health (ICF).“ Dabei handelt es sich um die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene Klassi¿kation zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der (Beeinträchtigung der) sozialen Teilhabe sowie der dafür relevanten, in der Umwelt und in der persönlichen Situation von Menschen liegenden Faktoren. Die ICF enthält nichts anderes als eine sehr umfangreiche und geordnete Auflistung biologisch-physischer, psychologischer und sozialer Funktionszusammenhänge und der auf diese Funktionszusammenhänge einwirkenden Faktoren. Beispielsweise sind in mehr oder weniger typisierter Weise Körperfunktionen von der Herztätigkeit bis zur Aufrechterhaltung des Elektrolythaushaltes aufgezählt, einbezogen sind dabei auch kognitive und psychologische Funktionen wie etwa: Bewusstsein, Orientierung, Antrieb, Aufmerksamkeit, Wahrnehmen. Unter der Überschrift „Körperstrukturen“ werden die diesen Funktionen korrespondierenden anatomischen Strukturen aufgeführt (z. B. Strukturen und Unterstrukturen des Gehirns und des Nervensystems ebenso wie die der Fingernägel). In einer weiteren Abteilung der ICF werden übergeordnete und komplexe Funktionen und entsprechende Handlungskontexte aufgelistet (Klassi¿kation der Aktivitäten und Partizipation). Die Spanne reicht hier von allgemeinen Kompetenzen wie „Kommunizieren“, „Routinen durchführen“ bis zu sehr spezi¿schen Handlungen wie „Wohnung und Möbel instand halten“, „Müll entsorgen“, „mit Autoritätspersonen umgehen“. Außerdem werden physische, institutionelle, soziale, technische, ökonomische
Vergleich mit anderen De¿nitionen
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Umweltfaktoren klassi¿ziert. Der Gesundheitszustand eines Menschen soll so nicht als eine inhärente, quasi-organische Qualität, sondern als Resultat einer komplexen Interaktion des Organismus mit seiner psychosozialen und materiellen Umwelt betrachtet werden. Mit Hilfe dieser Klassi¿ kation können der Gesundheitszustand und die Funktionsfähigkeit(en) eines Menschen ebenso wie dessen Beeinträchtigungen abgebildet werden. Dies geschieht in rein additiver Weise, indem man die Kategorien durchgeht und jeweils festhält, ob sich ein Problem stellt oder nicht. Der Sinn dieser Klassi¿kation ist es vor allem, eine weltweit einheitliche Sprache zur Verfügung zu stellen, mit der sich Angehörige verschiedener Professionen, aber auch verschiedener kultureller Zusammenhänge über Phänomene von Gesundheit und Behinderung verständigen können. Die der Systematik zugrunde liegende, bereits angedeutete interaktionistische Denkweise ist in der folgenden Abbildung zusammengefasst. Abbildung 2
Bedingungen der Gesundheit und Kontextfaktoren, ICF-Modell (DIMDI 2005:23)
Dieses Schema wird sehr oft als ein Modell von Gesundheit bzw. Behinderung bezeichnet. Das ist aber nicht richtig. In Wirklichkeit liefert es nur einen Überblick über mögliche „Bausteine“ für solche Modelle (DIMDI 2005: 23). Die Skizze selbst sagt auf abstrakte Weise zunächst nicht viel mehr aus als der Satz: „Denke daran, dass jede wie immer konkret zu fassende gesundheitliche Störung oder Erkrankung in Wechselwirkung mit zu spezi¿zierenden persönlichen und allgemeinen Kontextfaktoren stehen könnte.“ Diese wiederum vermitteln sich über Körperfunktionen und Strukturen (einschließlich des Gehirns und des Nervensystems), Aktivitäten
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Was ist nun eigentlich Behinderung?
bzw. Aktivitätsbereiche eines Menschen bzw. Partizipationskontexte. Die zuletzt genannten Aspekte, in der ICF als Komponenten bzw. Domänen bezeichnet werden, können wiederum untereinander in enger Wechselwirkung stehen. Beispielsweise können Körperfunktionen bzw. Strukturen Voraussetzungen für Aktivitäten sein und diese wiederum für die Teilhabe an bestimmten sozialen Kontexten. Aber auch umgekehrt: Erst die Teilnahme an sozialen Kontexten kann – vermittelt über bestimmte Aktivitäten – zur Ausbildung bestimmter körperlich verankerter Funktionen und Strukturen führen, z. B. beim Training eines Muskels oder beim Erwerb von bestimmten Kompetenzen, egal ob es sich dabei um den Gebrauch eines Hammers, um Multiplikation, Sprechen oder um das Erlernen von guten Manieren handelt. Das Schema kann sowohl positive funktionale Gegebenheiten als auch negative (und damit eben Behinderungen) abbilden. „Behinderung“, so die Autoren der ICF, „ist ein Oberbegriff für Schädigungen (Funktionsstörungen, Strukturschäden), Beeinträchtigungen der Aktivität und Beeinträchtigungen der Partizipation (Teilhabe). Er bezeichnet die negativen Aspekte der Interaktion zwischen einer Person (mit einem Gesundheitsproblem) und ihren Kontextfaktoren (Umwelt- und personenbezogenen Faktoren).“ (DIMDI 2005: 145 f.) Behinderung kann im Bezugssystem der ICF somit meinen: ƒ ƒ ƒ ƒ
die Schädigung einer Körperfunktion oder -struktur (z. B. der Verlust eines Beines, eine Spastik oder auch eine Störung der Kontrolle des Denkens, etwa ein Zwangssymptom), die Beeinträchtigung einer Aktivität (z. B. „Gehen“, „Hocken“ oder an komplexen Interaktionen teilnehmen) die Beeinträchtigung von Teilhabe (z. B. „eine Schule besuchen“, „Vereinsmitglied sein“) oder/und ein Zusammenhang von zweien oder allen drei Aspekten.
Das Behinderungsverständnis der ICF bleibt insgesamt unbestimmt. Die Formulierung, Behinderung sei ein „Oberbegriff“ für die angegebenen Phänomene, halte ich für sehr unglücklich gewählt. Denn das hieße ja streng genommen, dass bereits eine Schädigung als solche bereits als Behinderung betrachtet werden könnte, und genauso gut ein Teilhabeproblem für sich genommen. Daran ändert auch der Zusatz, dass es sich um eine Person mit einem Gesundheitsproblem handeln muss, nichts. Auch ein kranker Mensch hat immer ein Teilhabeproblem. Demgegenüber würde ich den Vorteil der hier vorgeschlagenen De¿nition darin sehen, dass sie spezi¿scher ist und eine klare Abgrenzung zu Krankheit auf der einen Seite, aber auch zu einer ausschließlichen Teilhabeproblematik (Außenseitertum, Diskriminierung, Exklusion) auf der anderen Seite vollzieht. Dennoch denke ich, dass die hier vorgeschlagene De¿nition nicht im Gegensatz
Wozu ist diese De¿nition nützlich?
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zum Anliegen der ICF insgesamt steht, sondern im Gegenteil deren Intentionen im Grunde genommen auch de¿nitorisch verdeutlicht. Das Anliegen der ICF, Behinderung als eine komplexe relationale Wirklichkeit, als Interaktionseffekt eines schädigenden Prozesses mit der Gesamtheit der sozialen, ökonomischen, psychologischen Lebensbedingungen zu sehen, teile ich ausdrücklich. Das Schema der ICF ermöglicht genau die Möglichkeit einer hier intendierten kritischen und analytisch unabhängigen soziologischen Betrachtungsweise von (wirklicher oder/und vermeintlicher) Behinderung. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Schädigung, Handlungskompetenz bzw. -Anforderung und der sozialen Teilhabe und generell auf die Überprüfung von komplexen Wechselwirkungen. So kann ein Problem im Bereich sozialer Teilhabe, z. B. der Ausschluss aus sozialen Gruppen, eine bestimmte schwierige Konstellation oder Vernachlässigung in der Familie zu einer Schädigung einer psychischen bzw. kognitiven Funktion (impairment) führen oder ein sozialer Ausschluss zur Einschränkung von Aktivitäten und dieser wiederum zu einer Muskelatrophie führen. Es kann aber auch der umgekehrte Zusammenhang – dass eine körperliche Schädigung zu einer Aktivitäts- und Teilhabeeinschränkung führt – abgebildet werden. Beispielsweise kann eine Querschnittslähmung zu einer Einschränkung in der Fähigkeit, ein Auto zu steuern, führen, und diese zu einem Verlust des Arbeitsplatzes als Busfahrer. 4.4 Wozu ist diese De¿nition nützlich? Die vorgeschlagene De¿nition zieht die Konsequenz aus der im zweiten Kapitel referierten und zunehmend lauter werdenden Kritik am sozialen Modell der Behinderung, einer einseitig (sozial)konstruktivistischen Fassung des Behinderungsbegriffs sowie der Forderung einer Einbeziehung der Schädigung (impairment) in die soziologische Analyse. Sowohl das soziale Modell als auch ein radikaler Sozialkonstruktivismus gehen an vielen Aspekten der objektiven Wirklichkeit von Behinderung und subjektiven Erfahrung betroffener Menschen zugleich vorbei. Demgegenüber möchte ich mich meinem britischen Kollegen Tom Shakespeare anschließen und vorschlagen, sich zu einer Position durchzuringen, die er als „kritischen Realismus“ bezeichnet (Shakespeare 2006: 54) und die eine Vermittlung naturalistischer und sozialkonstruktivistischer Sichtweisen anstrebt. Realistisch ist diese Position insofern, als die Schädigung selbst Gegenstand der soziologischen Analyse bleibt. Das kann eine kausale und eine funktionale Dimension betreffen. Wir benötigen eine fundierte soziologische Analyse der sozialen Ursachen von Schädigungen als Beitrag zu einer Theorie der Behinderung (vgl. dazu Abschnitt 5.1). Aber auch eine funktionale Fragestellung ist wichtig. Schädigungsbilder müssen auch soziologisch im Hinblick auf ihre Konsequenzen
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Was ist nun eigentlich Behinderung?
für die Handlungskompetenzen eines Individuums in gegebenen sozialen Kontexten hin befragt werden. Für welche soziale Praxis, für welche sozialen Praktiken ist eine bestimmte Beeinträchtigung/Schädigung überhaupt relevant? Welche funktionalen Äquivalente und sozialen/individuellen Entlastungs-, Kompensationsmechanismen sind denkbar? Welche Interaktionseffekte entstehen zwischen den schädigungsbedingten Beeinträchtigungen und dem Gesamt der soziokulturellen Lebensbedingungen eines Menschen? Anforderungen sind so real wie Kaffeemaschinen. Die Relationalität von Behinderung wird so gesehen nicht konstruktivistisch aufgelöst. Dass Behinderung nur vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Anforderungen zur Behinderung wird, heißt nicht, dass Behinderung irgendwie einen zweifelhaften ontologischen Status hätte, also eben „nur“ eine konstruierte Realität sei. Behinderungen können nicht einfach weg konstruiert werden. Anforderungen und Anforderungsdynamiken sind nicht mehr und nicht weniger real wie Steine, Hochhäuser oder Kaffeemaschinen. Auch hier ist eine sehr genaue soziologische Analyse der sozialen Praktiken und ihrer impliziten und expliziten Anforderungsstrukturen gefragt, in denen sich ein behinderter Mensch bewegt. Diese Anforderungsstrukturen müssen und können ihrerseits auf ihre soziale Bedeutung und Änderbarkeit hin befragt werden. Barrierefreiheit ist ein komplexer Kompromiss. Das geht aber sicher nicht nur mit der Position des sozialen Modells, dass Barrieren eben abgebaut werden müssen. Denn Barrieren sind wie gesagt selbst relational. Was für den einen eine Barriere ist, ist für den anderen eine Ermöglichung. Nicht nur, dass verschiedene Formen der Behinderung in ein und demselben Kontext völlig unverträgliche Anforderungen beinhalten können. Es geht auch um die Frage, welche Barrieren ggf. für nicht-behinderte Menschen errichtet werden. So kann sogenannte „einfache Sprache“ in bestimmten Situationen einen Barrierencharakter, die Einschränkung von Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten für die nicht von einer geistigen Behinderung betroffenen Menschen beinhalten. Der inklusive Umgang mit einer schweren motorischen oder psychischen Behinderung eines Gruppenmitglieds erzeugt objektiv neue Anforderungen an die nicht behinderten Menschen. Solche Dynamiken müssen in ihrer ganzen sozialen Komplexität und Dynamik ohne Verwendung rosa gefärbter Brillen analysiert werden und zwar gerade dann, wenn man das Interesse hat, größtmöglichste und zugleich realisierbare Teilhabechancen für behinderte Menschen umzusetzen.
Wozu ist diese De¿nition nützlich?
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Man ist durch etwas bei etwas behindert. Erst in einer solchen kritisch-realistischen Sichtweise wird die Relationalität von Behinderung ernst genommen: man ist durch etwas bei etwas behindert. Es muss im je konkreten Fall kontextsensitiv sowohl das „Wodurch“, als auch das „Wobei“ in den Blick kommen und es müssen die daraus entstehenden Wechselwirkungen sehr genau analysiert werden. Das ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, sich zu fragen, welche individuellen und gesellschaftlichen Handlungsoptionen es im Umgang mit Behinderung gibt und diese Analyse ist dann besonders wichtig, wenn gesellschaftliche Deutungen und Konstruktionen von Behinderung kritisch hinterfragt werden sollen. Voraussetzung für eine kritische Analyse von Behinderungszuschreibungen ist ein realistischer Behinderungsbegriff. Wir brauchen unabhängige Gesichtspunkte für die Analyse von Behinderung und zwar gerade dann, wenn wir ihren gesellschaftlichen Konstruktionscharakter zum Gegenstand machen. Nur dann können wir überhaupt geltend machen, dass die vermeintliche „Behinderung“ ausschließlich oder zum Teil auf Zuschreibungen beruht, die keinerlei funktionale Relevanz haben oder diese nur haben, weil die Zuschreibung existiert. Beispiele hierfür sind Merkmale wie Rothaarigkeit, Zwillingsein, die (vermeintliche) Lernbehinderung von Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, aber auch viele Zuschreibungen vermeintlicher Eigenschaften an Menschen mit realen körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen, die mit dieser gar nichts zu tun haben (zum Beispiel, dass Menschen mit Entstellungen bestimmte Charaktereigenschaften haben oder dass psychisch behinderte Menschen eine Neigung zur Gewalt haben). Wenn eine ¿ktive Gesellschaft behaupten würde, rothaarige Menschen seien grundsätzlich in ihren geistigen Fähigkeiten beschränkt, könnten beispielsweise niemals schreiben und lesen lernen, dann haben wir es eben nur mit einer konstruierten, wenn man so will: an den Haaren herbei gezogenen Behinderung zu tun. Das Gegenteil ist ebenso beweisbar, wie der Umstand, dass weder Hautfarbe noch ein Zwillingsstatus irgendwelche Teilhabekompetenzen von Menschen beeinträchtigen, wenn sie denn auf gleiche Weise wie alle anderen behandelt werden. Es könnte aber im Grenzfall sein, dass unsere ¿ktive Gesellschaft rothaarige Kinder diskriminiert und in der Folge kognitiv und emotional so vernachlässigt, dass sich im Ergebnis eine erhebliche und irreversible Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten und der emotionalen Entwicklung ergäbe. Dann wären die Kinder in der Tat behindert, aber nicht wegen der Rothaarigkeit, sondern wegen der damit verknüpften sozialen
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Was ist nun eigentlich Behinderung?
Deprivation, die ganz reale Auswirkungen auf den „Körper“ dieser Kinder hätte. Solche Zusammenhänge muss eine Soziologie der Behinderung analysieren können. Dazu muss sie aber das Korsett eines einseitig verstandenen sozialen Modells und eines in der Übertreibung falsch werdenden Sozialkonstruktivismus abwerfen. Eine Behinderung, die ontologisch mit ihrem bloßen sozialen Konstruktionscharakter zusammen fällt (also nicht wäre, wenn es die Konstruktion nicht gäbe) ist eben keine reale Behinderung. Behinderung ist zugleich physisch und soziale Konstruktion Die Alternative einer naturalistischen und einer sozialkonstruktivistischen Betrachtungsweise – Behinderung als Physis oder soziale Konstruktion? – ist eine Scheinalternative. Behinderung ist beides zugleich oder sie ist keine Behinderung. Die hier entwickelte körpersoziologische Perspektivik zeigt, dass Behinderung eine universelle und ubiquitäre soziale und soziokulturelle Problemstellung ist. Und zwar nicht, obwohl Behinderung ein physisches Problem ist, sondern weil Behinderung ein physisches Problem ist. Das liegt daran, dass wiederum Gesellschaft in weitem Umfang eine physische Realität ist. Insofern muss Behinderung immer auch als soziales Handlungsproblem (oder auch eines nicht bestehenden Handlungsproblems!) analysiert werden, in das soziale Konstruktionen, soziale Reaktionen, aber eben auch die Physis des Sozialen und die Sozialität der Physis gleichermaßen eingehen. Eine triftige und körpersoziologisch fundierte Analyse von Behinderungsphänomenen sollte m. E. versuchen mindestens drei Aspekte aufeinander zu beziehen: ƒ ƒ ƒ
die soziale Produktion von Behinderung/Behinderung als soziale Produktion soziale Reaktionen auf Behinderung/Behinderung als Interaktion soziale Konstruktionen von Behinderung/Behinderung als soziale Konstruktion.
Darum wird es in den folgenden Kapiteln gehen.
5 Soziale Produktionen
Als soziale Produktion von Behinderung bezeichne ich eine direkte oder indirekte (Mit-) Verursachung bzw. „Hervorbringung“47 eines zu einer Behinderung führenden schädigenden Prozesses durch soziale Faktoren und Lebensbedingungen – und zwar ohne, dass dabei zwingend die Mitwirkung einer sozialen bzw. kulturellen Deutung nötig ist. Damit möchte ich den Unterschied zu Stigmatisierungs- und Konstruktionsprozessen hervorheben, die zwar auch kausale Effekte haben können, aber nur in vermittelter (und vor allem symbolisch vermittelter) Weise (vgl. dazu die Abschnitte 4.2–4.4). Gemeint sind beispielsweise die gesellschaftliche Verursachung von Schädigungen bzw. Behinderungen durch folgende Faktoren: ƒ
47
Gewalteinwirkung (zivile Gewalt, kriegsbedingte und politisch induzierte Gewalt): Behinderung als Folge von Gewalt, sowohl illegitimer Gewalt als auch Gewalt im Krieg ist ein ubiquitäres Phänomen. Behinderung wurde in Deutschland insbesondere im Gefolge der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Wahrnehmung. Nach dem ersten Weltkrieg 1918 gab es allein in Deutschland rund 2,7 Millionen Menschen, die vom Krieg verletzt und psychisch traumatisiert waren. Menschen mit Entstellungen und Prothesen gehörten zum Alltag der Nachkriegszeit und zur kulturellen Ikonographie insbesondere der Weimarer Republik. Von bildenden Künstlern wie Otto Dix, Max Beckmann und George Grosz gibt es unzählige Gemälde und Skizzen, auf denen damals so genannte Kriegskrüppel abgebildet sind. Möglicherweise steht sogar die Entstehung und Verbreitung des Worts „Behinderung“ damit in Zusammenhang. Auch heute kommt es vor allem in Entwicklungsländern, aber auch in den entwickelten Ländern weltweit zu Behinderungen durch Kriegsfolgen. Über das Ausmaß existieren nur Schätzungen. Beispielsweise schätzte UNICEF, dass zwischen dem Ende des 2. Weltkriegs und 1990 weltweit 22 Millionen Menschen durch bewaffnete KonÀikte gestorben seien. Insbesondere in Entwicklungsländern bzw. KonÀiktregionen nehmen durch interpersonelle Gewalt und Krieg verursachte gesundheitliche Beeinträchtigungen und Behinderungen einen sehr hohen Stellenwert ein. Das betrifft insbesondere Afrika und den nahen
„Hervorbringung“ ist einfach die wörtliche Übersetzung des Begriffs „Produktion“.
130
ƒ
ƒ
Soziale Produktionen und mittleren Osten. Durch Landminen werden in aktuellen oder ehemaligen Kriegsgebieten wie Bosnien-Herzegowina, Kambodscha, Kroatien, Ägypten, Afghanistan, Angola, Irak, Ruanda nach Schätzungen der UNO 2000 Menschen im Monat (!) getötet oder verletzt, im letzteren Fall sind in der Regel lebenslange Schädigungen (Amputationen) die Folge. Jedes dritte Opfer ist ein Kind. gesellschaftlich produzierte technische Strukturen und Veränderungen der Umwelt (Straßenverkehr, Umweltverschmutzung), die zu Verletzungen, Traumatisierungen, akute oder schleichende Intoxikationen des Organismus führen können. Eine der einschneidensten technischen Entwicklungen und sozialhistorischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts lag in der Entwicklung des Automobils und damit eine umwälzende Veränderung des Straßenverkehrs seit den 1920er Jahren. Damit verbunden war eine Entfesselung der Gefährdungen der Menschen durch eben diesen Straßenverkehr. Die Weltgesundheitsorganisation gibt für das Jahr 2000 an, dass der Straßenverkehr mit einem Anteil von 25 % die Hauptursache aller Schädigungen von Menschen durch Verletzungen ist (WHO 2002: 9). Zugleich ist das zwanzigste Jahrhundert ein Jahrhundert der Entfesselung toxischer Stoffe in Àächenweitem Maßstab (z. B. durch chemische Kriegsführung oder in der Landwirtschaft). Eine weitere das 20. Jahrhundert prägende Erfahrung war die eklatante Zunahme angeborener Schädigungen, Behinderungen und chronischen Erkrankungen in Gebieten, in denen es zu einer Freisetzung von Radioaktivität gekommen war. Zu nennen sind hier natürlich insbesondere die beiden Atombombenabwürfe von Nagasaki und Hiroshima im Jahr 1945 sowie das Reaktorunglück in Tschernobyl 1986. Die Folgen der Schädigung des Erbguts der damals direkt betroffenen Menschen und der Helfer, die damals in das Strahlungsgebiet zur Evakuierung geschickt wurden, sind bis heute wirksam: Betroffene berichten, dass die Geburten behinderter Neugeborener in dramatischer Weise zugenommen haben. In manchen Gegenden sind drei von vier neugeborenen Kindern teilweise schwer geschädigt: es kommt zu Deformationen des Bewegungs- und Stützapparats, das Fehlen von Körperteilen, Spaltbildungen, Hydrozephalus, Krebs und Leukämie, Erkrankungen der Atemwege, chronischen Herz-Kreislauferkrankungen, geistige Behinderungen, Mikrocephalus, Minderwuchs, Sinnesbehinderungen, Epilepsie (vgl. dazu Knoth, de Jong 2006: 96 f.). armuts- bzw. ungleichheitsbedingte Mangel-, Risiko- und Belastungslagen, die sowohl materielle wie auch psychosoziale und kulturelle Ressourcen betreffen und wiederum mit den zuerst genannten Faktoren in Wechselwirkung stehen können. Eine ebenso universale und ubiquitäre Form der Produktion von Behinderung ist Behinderung durch Armut, sowohl durch sogenannte absolute Armut als auch durch relative Armut. Dabei spielen verschiedene Faktoren
Soziale Produktionen
131
eine Rolle. Dazu gehört der direkte Mangel an Ressourcen (wie Nahrung, Trinkwasser, nicht ausreichende medizinische Versorgung und Vorsorge) von Erwachsenen, insbesondere aber auch von Kindern und schwangeren Mütter. Hinzu kommen schädigende Umweltbedingungen durch schlechte Wohnungen und Wohnumgebungen, die toxische Risiken beinhalten (wie Straßenverkehr, Umweltgifte, Verschmutzungen, Infektionsgefahr), aber auch chronische Stresserfahrungen, die mit jeder Form sozioökonomischer Benachteiligung einher geht. Eine überwiegend sozialkonstruktivistische und kulturalistische Ausrichtung hat dazu geführt, dass dieser Gesichtspunkt einer materiellen Hervorbringung von Behinderung sowohl in der Soziologie der Behinderung/Behinderten als auch in den Disability Studies noch nicht einmal am Rand eine Rolle gespielt hat. Das Thema taucht nahezu nicht auf. Hier müssen sich die Sozial- und Kulturwissenschaften durchaus den Vorwurf gefallen lassen, dramatische gesellschaftliche Probleme zu ignorieren, stattdessen aber ein einseitiges, auf gewisse Weise luxurierendkulturalistisches Verständnis von Behinderung zu pÀegen und gepÀegt zu haben. Fragen der sozialen Deutung und kulturellen Konstruktion, sozusagen der „geistigen“ Dimension des Themas werden dramatisiert, die materiellen Faktoren und die damit verbundene weltweite gesellschaftliche Realität von Behinderung aber ausgeblendet. Damit einher geht nicht selten die Trivialisierung des Phänomens Behinderung zu einer bloßen Form soziokultureller „Heterogenität“. Dahinter mag ein konstitutiver Intellektualismus, eine Art strukturelle Nähe der Sozial- und Kulturwissenschaften zum Feuilleton stecken. Ganz sicher drückt sich darin auch die vergleichsweise privilegierte Situation der entwickelten westlichen Industrienationen aus. Bei uns entfallen viele armutsbedingte Faktoren der Produktion von Behinderung und im Vergleich zu den Entwicklungsländern ist in den entwickelten Ländern ein Leben mit Behinderung in der Regel unter wesentlich besseren materiellen und sozialen Verhältnissen möglich. Obwohl auch in entwickelten Industrienationen Zusammenhänge von Behinderung und sozialer Lage mit Händen zu greifen sind, stellen sich die beiden Probleme in den wenig und am wenigsten entwickelten Ländern in einer für uns schwer vorstellbaren Dramatik.48 Leider ist die ganze Thematik durch eine äußerst unbefriedigende Daten- und Forschungslage gekennzeichnet. Das hat vor allem zwei Gründe: zum Einen gehen in die amtliche Statistik Indikatoren für soziale Ungleichheit wenn überhaupt, dann höchst unbefriedigend und wenig transparent ein. Noch unbefriedigender ist die statistische Erfassung von Behinderung, was vor allem an der Heterogenität zugrunde liegender Behinderungsde¿ nitionen bzw. an den 48 In der Nomenklatur der Vereinten Nationen spricht man von sogenannten „Less developed Countries“ (LCD ) und „Least developed Countries“ (LLCD).
132
Soziale Produktionen
Schwierigkeiten der statistischen Operationalisierung von Behinderung liegt. Die World Health Organization (WHO) kündigte zunächst für Ende 2009, dann für 2010 erstmals einen Weltbehinderungsbericht an, auf den man gespannt sein darf. In Deutschland gibt es allenfalls punktuelle, rein deskriptive Befunde, die mit hohen Mängeln behaftet sind. Zum anderen aber besteht generell noch eine sehr offene Forschungslage bezüglich der Zusammenhänge von körperlicher Gesundheit und gesellschaftlichen Faktoren. Allerdings gibt es hier insbesondere aus der Stressforschung, der Entwicklungspsychologie und -Physiologie und den Neurowissenschaften vielversprechende Ansätze, die in der Lage sind die sozialepidemiologischen Befunde zunehmend auch mit entsprechenden pathophysiologischen Modellen zu verknüpfen. 5.1 Ein Blick in die Ursachenstatistik des statistischen Bundesamts Eine erste Annäherung an die Problemstellung ermöglicht wiederum die Schwerbehindertenstatistik des statistischen Bundesamts. Es gliedert in seinen zweijährigen Berichten die der Zuerkennung des Status der Schwerbehinderung zugrunde liegenden Schädigungsformen bzw. Behinderungen unter anderem auch nach „Ursachen“ auf und unterscheidet dabei folgende kausale Kategorien: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
„angeborene Behinderung“ „Arbeitsunfall (einschl. Wege- und Betriebswegeunfall)/Berufskrankheit drei weitere Unfallkategorien: Verkehrsunfall, häuslicher Unfall und sonstige Unfälle – diese Kategorien wurden in Tabelle 4 zusammen gefasst. anerkannte Kriegs-, Wehrdienst- oder Zivildienstbeschädigung allgemeine Krankheit (einschließlich Impfschaden) sonstige, mehrere oder ungenügend bezeichnete Ursachen
Tabelle 4 zeigt die Ursachen für Schwerbehinderung im Überblick und nach Frauen und Männern getrennt. Tabelle 5 gliedert – leicht zusammengefasst, einzelne Schädigungsformen nach Ursachen auf.
Ein Blick in die Ursachenstatistik des statistischen Bundesamts Tabelle 4
133
Schwerbehinderte Menschen am 31.12.2007 nach Ursache der Behinderung (höchster GdB) und Geschlecht in % (Statistisches Bundesamt 2009: 14 f.)
Ursache der Behinderung mit höchstem GdB
Frauen
Männer
gesamt
angeborene Behinderung
4,1
4,7
4,4
Arbeitsunfall (einschl. Wege- und Betriebswegeunfall)
0,3
1,8
1,1
Verkehrsunfall
0,3
0,8
0,6
häuslicher Unfall
0,1
0,1
0,1
sonstiger oder nicht näher bezeichneter Unfall
0,2
0,5
0,4
Anerkannte Kriegs-, Wehrdienst- oder Zivildienstbeschädigung
0,2
2,0
1,1
Allg. Krankheit (einschl. Impfschaden)
84,5
80,4
82,3
Sonstige, mehrere oder ungenügend bezeichnete Ursachen
10,3
9,6
9,9
100 (n = 3 330 922)
100 (n = 3 587 250)
100 (n = 6 918 172)
Ȉ
Die vom Bundesamt für Statistik ausgewählten Ursachen resultieren zum Teil aus juristischen Kategorien und damit verbundenen gesetzlichen Zuständigkeiten der Institutionen, die die entsprechenden Daten erheben. Das betrifft etwa die Zuständigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung bei der Kategorie „Arbeitsunfälle/ Berufskrankheit“ oder der Versorgungsverwaltung bei den „Kriegs-, Wehrdienstoder Zivildienstbeschädigungen“. Zum großen Teil sind die Kategorien in ihrer kausalen Bedeutung in sich ebenso unscharf wie wechselseitig nicht trennscharf. Die Kategorie „angeboren“ beispielsweise dürfte prä- und perinatale Schädigungen gleichermaßen enthalten. Eine genetische Schädigung kann ebenso dazu zählen wie eine während der Schwangerschaft durch schädliche Substanzen oder traumatische Einwirkungen entstandene Schädigung oder auch eine Geburtskomplikation. Bei der Kategorie Arbeitsunfall macht es (schon im Hinblick auf Präventionsfragen) einen Unterschied, ob jemand bei der Arbeit vom Gerüst fällt oder ob er eine durch langjährige Überlastung der Gelenke entstandene Schädigung hat. In der Statistik sind beide Fälle in einer Kategorie zusammen gefasst. Für eine Einschätzung der Bedeutung sozialer Faktoren gibt die Statistik zunächst nur sehr wenige Anhaltspunkte, da sich fast hinter jeder Kategorie sowohl außersoziale wie soziale Gegebenheiten (oder beide in einer Mischung) verbergen können. Dennoch lassen sich aus der Statistik einige hilfreiche Grundinformationen entnehmen.
134
Soziale Produktionen
Der größte Teil der anerkannten Schwerbehinderungen geht, bei Männern nur geringfügig erhöht, auf Schädigungen durch Krankheitsprozesse zurück (insgesamt 82,3 %). Der Anteil angeborener (prä- und perinatal entstandener) Behinderungen liegt entgegen landläu¿ger Annahmen insgesamt bei nur 4,4 % aller Schwerbehinderungen. Auch hier kommt es zu einem leichten Übergewicht von Männern (4,7 % ggü. 4,1 % bei den Frauen). Arbeitsunfälle sind in insgesamt 1,1 % der Fälle ursächlich. Hier bestehen erhebliche Geschlechterunterschiede – bei Männern wird diese Ursache sechs-mal so häu¿g genannt wie bei Frauen. Das dürfte sich aus der nach wie vor geringeren Einbindung von Frauen ins Erwerbsleben erklären und der insgesamt mit größeren Gesundheitsrisiken verknüpften Tätigkeitsfelder der Männer. Auch Verkehrsunfälle (insgesamt 0,6 %) werden bei Männern fast dreimal so häu¿g als Ursache angegeben wie bei Frauen. Kein Unterschied besteht dagegen bei häuslichen Unfällen. Dass sich bei den „Kriegs-, Wehr- und Zivildienstbeschädigungen“ (insgesamt ein Anteil von 1.1 %) ein starker Überhang von Männern ergibt, ist plausibel, da nach wie vor für Frauen keine DienstpÀicht besteht. Tabelle 5
Schwerbehinderte Menschen am 31.12.2007 nach Art der schwersten Behinderung und Ursache der schwersten Behinderung (in %) n = 6 918 172 (Statistisches Bundesamt 2009: 12 f.; eigene Berechnungen)
Art der schwersten Behinderung
angeboren
Arbeitsunfall, Berufskrankheit
Sonst. Unfall: Verkehr, Haus, u. a.
Kriegs-, Wehr-, Zivildienst
Allgemeine Krankheit*
Sonstiges
Verlust oder Teilverlust von Gliedmaßen
4,2 %
11,1 %
10,7 %
17,8 %
40,2 %
16,0 %
100
Funktionseinschränkung von Gliedmaßen
3,7 %
3,4 %
3,5 %
2,7 %
77,7 %
9,0 %
100
Funktionseinschränkung der Wirbelsäule und des Rumpfes, Deformierung des Brustkorbes
0,7 %
0,5 %
0,5 %
0,3 %
88,7 %
9,3 %
100
Blindheit und Sehbehinderung
3,8 %
0,8 %
0,9 %
1,1 %
84,2 %
9,2 %
100
Sprach-/Sprechstörungen, Taubheit, Schwerhörigkeit, Gleichgewichtsstörungen • darunter Gehörlosigkeit
9,6 %
0,5 %
0,2 %
0,4 %
81,5 %
7,8 %
100
39,7 %
0,1 %
0,3 %
0,4 %
54,2 %
5,2 %
Ein Blick in die Ursachenstatistik des statistischen Bundesamts Entstellungen u. a., Verlust einer Brust oder beider Brüste, • darunter Kleinwuchs
135 100
1,1 %
0,0 %
0,1 %
0,1 %
94,3 %
4,3 %
52,7 %
0,0 %
0,1 %
0,0 %
40,6 %
6,6 %
Beeinträchtigung der Funktion von inneren Organen bzw. Organsystemen
0,8 %
0,2 %
0,1 %
0,5 %
87,8 %
10,7 %
100
Querschnittlähmungen, zerebrale Störungen, geistig-seelische Behinderungen, Suchtkrankheiten • Querschnittlähmung • hirnorganische Anfälle • hirnorganisches Psychosyndrom • Störungen der geistigen Entwicklung (z. B. Lernbehinderung, geistige Behinderung) • psychische Behinderungen (Psychosen, Neurosen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen)
13,1 %
0,6 %
1,4 %
0,4 %
75,6 %
8,8 %
100
7,3 %
11,0 %
29,6 %
0,9 %
44,1 %
7,2 %
12,4 %
0,6 %
1,6 %
0,9 %
71,4 %
13,2 %
0,0 %
1,0 %
2,3 %
0,7 %
88,4 %
7,7 %
55,2 %
0,1 %
0,2 %
0,0 %
39,8 %
4,7 %
0,0 %
0,0 %
0,0 %
0,1 %
88,7 %
11,2 %
Sonstige und ungenügend bezeichnete Behinderungen
3,1 %
1,3 %
0,6 %
1,5 %
81,3 %
12,3 %
100
Insgesamt
4,4 %
1,1 %
1,1 %
1,1 %
82,3 %
9,9 %
100
* einschließlich Impfschaden
Welche Ursachen korrespondieren nun mit welchen Schädigungen? Logischerweise zeigen sich höhere Anteile für die Kategorie „Allgemeine Erkrankung“ bei „Beeinträchtigung der Funktion von inneren Organen bzw. Organsystemen“ (rd. 88 %) sowie bei psychischen Behinderungen (89 %). Sie gehen immer auf sogenannte psychische Krankheiten zurück. Das ist aber eigentlich eine Tautologie, weil diese Schädigungsformen eben Krankheit genannt werden. Bei der Schädigungsform „Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule“ dürften insbesondere degenerative Krankheitsbilder zu Buche schlagen. Hier liegt der Anteil ebenfalls
136
Soziale Produktionen
bei rund 89 %. Der hohe Wert von 94 % Erkrankungen bei der Schädigungskategorie „Entstellungen“ geht vor allem auf Brustkrebserkrankungen zurück. Kategorien mit sehr hohen Anteilen angeborener Schädigungen sind: geistige Behinderungen (55 %), Kleinwüchsigkeit (53 %), Gehörlosigkeit (40 %) sowie Anfallserkrankungen (mit immerhin noch 12,4 %). Bei den als typisch wahrgenommenen körperlichen Behinderungen wie Funktionseinschränkung bzw. Verlust von Gliedmaßen bewegen sich die Anteile „angeboren“ in etwa in der Größenordnung des Gesamtanteils (um die 4 %), etwas höher bei Querschnittslähmungen (7 %). Unfallbedingt (einschließlich Berufskrankheit) sind insgesamt 2,2 % aller Schwerbehinderungen. Dabei fallen insbesondere die Schädigungsbilder Querschnittslähmung (rd. 41 % unfallbedingt), Verlust oder Teilverlust von Gliedmaßen (rd. 22 % unfallbedingt) bzw. Funktionseinschränkungen von Gliedmaßen (rd. 7 % unfallbedingt) mit höheren Anteilen unfallbedingter Ursachen auf. Welche Schlussfolgerungen für die Frage der sozialen Verursachung von Behinderungen lässt nun diese Statistik zu? Die Antwort lautet: fast keine. Das Problem liegt darin, dass bei fast allen Kausalkategorien des Statistischen Bundesamts sowohl soziale wie außersoziale Ursachen eine Rolle spielen können. Selbst bei der Kategorie „angeboren“ können soziale Faktoren in erheblicher Weise wirksam sein, beispielsweise über den EinÀuss der sozioökonomischen Lebensbedingungen auf den Gesundheitszustand der Mutter, als Problem mangelhafter Geburtsvorsorge oder nicht vorhandener Strukturen der Geburtsbegleitung in armen Regionen bzw. bei benachteiligten Schichten der Bevölkerung. Unfälle können zwar auf Zufällen beruhen, sie können aber auch mit strukturellen sozialen Faktoren zusammen hängen: beispielsweise mangelnder technischer Sicherheit oder mangelndem Sicherheitsbewusstsein, mit körperlicher Ausbeutung von Menschen im Beruf, mit systematisch an die soziale Lage gebundenen Risikoformen. Das Auftreten und der Verlauf von vielen Krankheiten weist nach teilweise sehr gut belegten Erkenntnissen der Sozialepidemiologie deutliche Zusammenhänge mit Variablen der sozialen Ungleichheit auf. Das bedeutet, dass sich hinter der (Schein-)Kausalkategorie „Krankheit“ wiederum ganz verschiedene Kausalfaktoren verbergen können. Immerhin verdeutlichen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes gerade für diesen letzten Punkt die Relevanz soziaepidemiologischer Forschung. Den allergrößten Teil dauerhafter Schädigungen bzw. Behinderungen bilden Krankheitsfolgen. Insofern ist es auch innerhalb der Soziologie der Behinderung sinnvoll sich mit Fragen der sozialen Verteilung von Krankheitsrisiken zu befassen. Ein insgesamt offenes, aber vielversprechendes und sich zunehmend intensivierendes Forschungsfeld ist dabei die Frage der vermittelnden psychosozialen und biologischen Mechanismen. Eine auch nur halbwegs umfassende Darstellung sozialepidemiologischer Forschung sowie bislang existierender Erklärungsmodelle kann im Rahmen
Die Rolle absoluter Deprivation
137
dieses Buchs nicht geleistet werden. Ich begnüge mich daher damit, die Relevanz solcher Fragen für eine Soziologie der Behinderung festzuhalten, die Leserinnen und Leser zu ermutigen diese Fragestellungen in ihre Auseinandersetzung mit der Thematik einzubeziehen und mit einigen nun folgenden dünnen Skizzen von Befunden zum Thema soziale Ungleichheit. 5.2 Die Rolle absoluter Deprivation – Morbidität und Mortalität im internationalen Vergleich von armen und reichen Ländern Die Weltgesundheitsorganisation WHO versucht seit geraumer Zeit eine Bündelung von länder- und regionenspezi¿schen Gesundheitsdaten, auf deren Basis weltweite Vergleiche ermöglicht werden sollen. Man erhofft sich dadurch nationale, regionale und internationale gesundheitspolitische Strukturprobleme besser zu erkennen und entsprechende Planungsprozesse optimieren zu können. Das Problem, vor dem die WHO dabei generell steht, ist die Lückenhaftigkeit und zugleich NichtVergleichbarkeit unterschiedlicher Gesundheitsdaten. Das gilt bereits im nationalen Maßstab der Mitgliedsländer, und noch viel mehr im internationalen Vergleich. Die WHO versucht seit ihrem Bestehen eine Angleichung der nationalen Datenerhebungen ihrer Mitgliedstaaten herbei zu führen. 1990 erschien erstmals ein erster globaler Bericht mit dem Titel „Global Burden of Disease“, in dem versucht wurde, die gesundheitlichen Effekte einer großen Anzahl von Krankheiten und Schädigungen (Injuries) einheitlich zu erfassen, zu quanti¿zieren und international vergleichbar zu machen. DALY (Disability adjusted life years) Zugrunde gelegt wird dabei ein Maß, das mit der Abkürzung DALY (= Disability-adjusted life year) benannt ist. Es soll gesundheitliche Belastungen durch Todesfälle, Krankheiten, Verletzungen quanti¿zierbar machen. Die Datengrundlage für seine Berechnung sind je nach Land verschiedene Kombinationen der direkten Registrierung von Gesundheitsdaten zur Morbidität und Mortalität sowie Schätzungen bzw. Hochrechnungen der WHO. Der DALY ist eine Art negative „Währung“, mit dem die Belastung durch gesundheitliche Einschränkungen gemessen und vergleichbar gemacht werden soll. Das Maß geht aus von der Fiktion einer weltweiten (altersabhängigen) Durchschnittslebenserwartung und summiert die negativen Abweichungen von dieser idealen Lebensdauer auf. Dabei gehen sowohl durch vorzeitigen Tod verlorene Lebensjahre (Years of Life lost = YLL) ein, als auch mit Behinderung/Einschränkungen gelebte Lebensjahre (Years lived with Disability = YLD). Diese DALYs sind zum Beispiel für be-
138
Soziale Produktionen
stimmte Krankheits- oder Schädigungsgruppen oder auch Länder und Regionen errechenbar und ermöglichen dadurch Vergleiche.
BERECHNUNG DES DISABILITY-ADJUSTED-LIFE-YEARS FÜR EINE BESTIMMTE KATEGORIE: DALY X = YLL + YLD Dabei bedeutet • • •
YLL: Years of life lost (= durch vorzeitigen Tod verlorene Lebensjahre) YLD: Years lived with disability (= mit Behinderung bzw. gesundheitlicher Beeinträchtigung gelebte Lebensjahre) x kann u. a. sein: eine medizinische Kategorie (z. B. AIDS, Herz-KreislaufErkrankungen, verkehrsbedingte Verletzungen), eine regionale Kategorie (z. B. Afrika, arme Länder, reiche Länder) oder eine Bevölkerungskategorie (z. B. Männer, Frauen, Kinder) oder Kombinationen solcher Kategorien (z. B. AIDS bei Frauen in armen Ländern)
YLL ergibt sich aus dem Produkt der Anzahl der Todesfälle (n) und der verbliebenen Lebenserwartung im Sterbealter (in Jahren). YLD ergibt sich aus dem Produkt der Anzahl der Fälle (n), einem standardisierten Gewichtungsfaktor für die Schwere der Beeinträchtigung und ihrer durchschnittlichen Dauer bis zur Heilung (bei heilbaren Krankheiten) oder bis zum zugrunde gelegten Lebenserwartungswert (bei dauernden Schädigungen).
Probleme mit dem DALY-Index Bereits diese kurze Erläuterung zeigt, wie voraussetzungsvoll und angreifbar dieses Maß ist. In der Logik unserer obigen De¿nition läge der Einwand nahe, dass das Konzept der „verlorenen Jahre“ und die Gleichbehandlung von durch Tod verlorenen Jahren und mit Behinderung gelebten Jahren sachlich und ethisch zweifelhaft ist. Aus solchen und anderen Gründen ist der Index denn auch vielfach kritisiert worden (vgl. z. B. Ingstad 2001). Hinzu kommt, dass er – zumindest in Bezug auf
Die Rolle absoluter Deprivation
139
Behinderungsphänomene i. e. S. – eingestandenermaßen mit zweifelhaften Standardisierungen arbeitet. Beispielsweise wird einem Fall von Down Syndrom oder chronischer Schizophrenie pauschal eine bestimmte „Disability Class“ als Maß für die Schwere der Behinderung zugeordnet, die dann als Gewichtungsfaktor in die Berechnung eingeht. Das ist natürlich eine ähnlich unrealistische Annahme wie das System des deutschen GdB (Grad der Behinderung). Allerdings sind sich die Autoren und Autorinnen über diese Schwächen des Maßes bewusst und kündigen zukünftige Revisionen an (vgl. WHO 2008: 117 ff.). Im Übrigen gilt für solche Standardisierungen wie für alle statistischen Indices: sie haben für bestimmte Problemstellungen einen mehr oder weniger begrenzten Nutzen, solange keine besseren Daten vorliegen. Entworfen ist das Maß, um internationale Disparitäten in der gesundheitlichen Situation sichtbar und analysierbar zu machen. Das leistet es durchaus, wie wir gleich sehen werden. Es ist in sich vergleichsweise konsistent und scheint bei allen Unsicherheiten halbwegs durch die Realität gedeckte Anhaltspunkte für gesundheitliche Ungleichgewichte im internationalen Vergleich und daraus resultierende Handlungsnotwendigkeiten zu geben, unter anderem eben auch im Hinblick auf behinderungsrelevante Schädigungsformen.49 DALY-Werte und Armut Abbildung 3 zeigt für drei verschiedene Gruppen von Erkrankungen bzw. Schädigungen die DALY-Werte pro 1000 Einwohner. Dabei werden alle WHO-Länder mit hohem Prokopfeinkommen (> 10 066 US-$, wie z. B. Frankreich, Deutschland, Niederlande, Portugal, Vereinigte Staaten) und alle WHO-Länder mit niedrigem Prokopfeinkommen (< 825 US-$, wie z. B. Afghanistan, Kambodscha, Ghana, Indien, Mauretanien, Mongolei, Somalia, Usbekistan, Vietnam) verglichen. Als Beispiel für eine ganz besonders von Armut betroffene Region führe ich die WHO-Region „Afrika“ an. Sie umfasst die Länder Afrikas, aber ohne die Länder Ägypten, Libyen, Marokko, Somalia, Sudan und Tunesien. Diese gehören in der WHO-Verwaltungsaufteilung zur Region Eastern Mediterranian.
Alle folgenden Zahlenangaben wurden aus den Tabellen im Anhang des WHO-Berichts „The global burden of disease“ entnommen bzw. berechnet (WHO 2008: 54 ff.).
49
140
Soziale Produktionen
Abbildung 3
Disability-Adjusted-Life-Years (DALY) pro 1000 Einwohner nach Erkrankungs- bzw. Schädigungsgruppen und Regionen mit hohem/niedrigen Pro-Kopf-Einkommen (PKE) – Erläuterungen im Text (Quelle WHO 2008, eigene Berechnungen) 50
Gruppe 1 umfasst folgende Krankheiten bzw. Schädigungsbilder: ƒ ƒ
übertragbare Krankheiten (communicable diseases, darunter AIDS, Durchfallerkrankungen, Malaria, Lepra u. a.) sowie auf Parasitenbefall zurück gehende Erkrankungen. Schwangerschaftsproblematiken (maternal conditions), perinatale Probleme (wie Tot- und Frühgeburten und zu niedriges Geburtsgewicht, Geburtsasphyxie = Atemstillstand des Kindes bei der Geburt, Geburtstraumata, Infektionen des Neugeborenen)
50 Um die Darstellung nicht zu überfrachten, habe ich auf eine Darstellung der Länder mit mittleren Einkommen verzichtet. Interessanterweise rangieren sie bezüglich der DALY/1000 Einwohner nur bei der ersten und dritten Gruppe zwischen den reichen und armen Ländern (nämlich bei 41, 9 bzw. 29,6). In der zweiten Gruppe liegt ihr Wert sogar noch leicht höher als der der ärmeren Länder (bei 166,6). Wilkinson und Marmot würden dies möglicherweise auf in diesen „Schwellenländern“ besonders ausgeprägte relative soziale Ungleichheitsstrukturen zurück führen (vgl. unten!).
Die Rolle absoluter Deprivation ƒ
141
Mangelernährung wie Unterernährung (protein-energy-malnutrition), Jodmangel, Eisenanämien und andere Ernährungsstörungen.
Gruppe 2 umfasst nicht-übertragbare Erkrankungen, darunter beispielsweise ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
Neoplasmen, also Erkrankungen, die mit bösartigen Neubildungen von Zellen (Krebs) einhergehen Diabetes und Stoffwechselerkrankungen Neuropsychiatrische Störungen bzw. Erkrankungen Störungen der Sinnesorgane (insbesondere Seh- und Hörbehinderungen) Herz-Kreislauferkrankungen rheumatische Erkrankungen angeborene Schädigungen (Spaltbildungen, Down Syndrom, Spina bi¿da) u. a. m.
Gruppe 3 umfasst verletzungsbedingte Schädigungen, darunter beispielsweise ƒ ƒ ƒ
Verletzungen bzw. Schädigungen, die auf Verkehrsunfälle zurück gehen Stürze und nicht-intentionale Verletzungen Verletzungen und Schädigungen durch die Einwirkung von Gewalt oder Krieg u. a. m.
Zunächst ist auffällig, wie ausgeprägt der Zusammenhang zwischen Armut und gesundheitlicher Belastung ist. Die Länge der Balken ist dafür ein direktes Maß. In den Ländern mit hohem Prokopfeinkommen kommt es 2004 pro 1000 Einwohner zu 124 DALYs, in den Ländern mit niedrigem Prokopfeinkommen dagegen zu 343 DALYs, mehr als das 2,5 fache. In der WHO-Region Afrika liegt der Wert sogar bei 510 DALYs, also einem mehr als vierfach so hohem Wert wie bei den Ländern mit hohem Prokopfeinkommen. Es lässt sich also festhalten: höhere Armut geht im internationalen Vergleich mit einer größeren Belastung durch Morbidität, Mortalität und Behinderung (bzw. Schädigung) einher. Das Diagramm zeigt erhebliche Unterschiede in der Verteilung der Erkrankungen bzw. Schädigungen der Gruppe 1. Der DALY-Wert pro 1000 Einwohner liegt hier bei den armen Ländern um das 26 fache höher (!), in der Region Afrika steigt der Wert nochmals auf das 48-fache (!!). Hierzu trägt insbesondere die Verbreitung von HIV/AIDS bei. Die Gruppe 1 beinhaltet insgesamt Erkrankungs- und Schädigungsbilder, die in hohem Maße direkt von materiellen, medizinischen und sonstigen Lebensbedingungen abhängen. Demgegenüber liegen die Werte bei den nicht-übertragbaren Erkrankungen (Gruppe 2) vergleichsweise nahe beieinander. Hier weisen die armen Länder gegenüber den reichen Ländern nur einen leicht erhöhten Wert auf, nämlich 113 gegenüber 105. Dem entspricht zum Beispiel der geringe Unterschied bei Herz-,
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Soziale Produktionen
Kreislauferkrankungen, der sich der Feinaufgliederung der WHO entnehmen lässt. Hier haben die ärmeren Länder in 2004 einen Wert von 23,7 DALYs pro 1000 Einwohner gegenüber dem nicht sehr viel geringeren von 18,3 der reicheren Länder. Im Fall von Diabetes kommt es sogar zu einem niedrigeren Wert der ärmeren Länder (2,5 ggü. 3,7). Bei den verletzungsbedingten DALY-Werten, also den Schädigungen der Gruppe 3 liegen die armen Länder dagegen etwa um das Dreifache höher. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass 16 % aller Behinderungen weltweit auf Verletzungen zurückgehen, die durch Straßenverkehr, Gewalteinwirkung, Krieg, Brände und Stürze verursacht sind. Betroffen sind davon in besonderer Weise benachteiligte Bevölkerungsschichten: „In most societies, people with lower socioeconomic status are at higher risk of injury, suffer greater consequences and bene¿t less from prevention programmes.“51 Die hier gezeigten DALY/1000-Einwohner-Werte für die Gruppe 3-Schädigungen erhöhen sich nochmals, wenn man nur die Männer zwischen 15 und 59 Jahren betrachtet (nämlich auf 21 und 53). Zugleich sind für den Wert aller Verletzungen die Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern weniger ausgeprägt. Das liegt vor allem daran, dass die Männer sowohl in armen wie in reichen Ländern ungefähr in gleichem Ausmaß von Verkehrsunfällen betroffen sind. Dagegen ergeben sich sehr hohe Unterschiede bei den durch Kriege und gesellschaftliche KonÀikte verlorenen Lebensjahren. Der DALY-Wert pro 1000 für „War and ConÀict“ liegt in armen Ländern um das zwanzigfache höher (0,2 vs. 3,9/1000 Einw.). Allerdings zeigt der Wert von 3,9 auch, dass Kriege und KonÀikte innerhalb der armen Ländern durchaus nicht die große Rolle für die gesundheitliche Belastung spielen, die man aufgrund der täglichen Nachrichtenberichterstattung vielleicht erwartet. Zum Vergleich: allein der Wert für die perinatalen Schädigungen (die also vorwiegend Kinder treffen) liegt um das Zehnfache höher (bei rund 39)! Hohe Bedeutung perinataler Schädigungen in ärmeren Ländern Obwohl natürlich diese Daten nicht exakte epidemiologische Daten (die leider fehlen) über das Auftreten (spezi¿scher) Behinderungen ersetzen können, gestatten sie dennoch Rückschlüsse über die Armutsabhängigkeit von Behinderungen. Ein Teil der dargestellten Schädigungen steht ganz direkt mit der Entstehung von Behinderung in Zusammenhang und mit Fragen des sozioökonomischen Wohlstands, der medizinischen Versorgung und Vorsorge und unsicheren sozialen Verhältnissen. Das betrifft insbesondere die Erkrankungen und Schädigungen aus
51
Quelle: WHO, http://www.who.int/features/fact¿les/injuries/facts/en/index.html, abger. 28.09.09.
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der Gruppe 1. Infektionserkrankungen (insbesondere HIV) können zu lebenslangen Schädigungen und damit Behinderungen führen, bei in der Schwangerschaft betroffenen Frauen, insbesondere aber auch bei ihren Kindern. In ganz besonderer Weise bilden in den Entwicklungsländern perinatale Schädigungen die Ursache von Todesfällen, aber auch von teilweise lebenslangen Behinderungen. So hält der Weltgesundheitsbericht 2005 fest: „While the burden of neonatal deaths and stillbirths is very substantial, it is in many ways only part of the problem, as the same conditions that contribute to it also cause severe and often lifelong disability. For example, over a million children who survive birth asphyxia each year develop problems such as cerebral palsy, learning dif¿culties and other disabilities. For every newborn baby who dies, at least another 20 suffer birth injury, infection, complications of preterm birth and other neonatal conditions. Their families are usually unprepared for such tragedies and are profoundly affected. The health and survival of newborn children is closely linked to that of their mothers. First, because healthier mothers have healthier babies; second, because where a mother gets no or inadequate care during pregnancy, childbirth and the postpartum period, this is usually also the case for her newborn baby.“ (WHO 2005: 10 )
Nach Infektionserkrankungen der Atemwege, Durchfallerkrankungen, HIV und Malaria gehören perinatale Probleme wie Frühgeburten/niedriges Geburtsgewicht, Infektionserkrankungen von Neugeborenen sowie Geburtsasphyxie zu den zehn wichtigsten Schädigungsursachen in armen Ländern (WHO 2008: 44). Jede dieser Schädigungen kann erhebliche lebenslange Behinderungen nach sich ziehen. Frühgeborene Kinder können Beeinträchtigungen der kognitiven Entwicklung aufweisen. Niedriges Geburtsgewicht korreliert mit späterer Diabetes, HerzKreislauferkrankungen. Virusinfektionen während der Schwangerschaft können angeborene Schädigungen (Gehörlosigkeit, geistige Behinderung, Blindheit) verursachen (vgl. WHO 2005: 79 ff.) Beispielsweise werden jährlich in armen Ländern 100 000 Kinder mit einem angeborenen Rubella-Virus-Syndrom (Röteln) geboren, was durch eine einfache Impfung verhindert werden könnte (ebd.). „The greatest risks to life are in its beginning.“ Insgesamt entstand in den armen Ländern allein bei den perinatalen Problemen 2004 schätzungsweise ein „Verlust“ von 93,3 Millionen in Gesundheit verbrachte Jahre (!). Das entspricht über drei Vierteln des gesamten DALY-Werts aller Länder mit hohem Prokopfeinkommen (122,09 Mio.) (WHO 2008: 44, 87). Hiermit wird auf dramatische Weise auch die besondere Vulnerabilität der frühen Entwicklungs-
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phase von Menschen deutlich. „The greatest risks to life“, sagt die WHO,“ are in its beginning“ (WHO 2005: 79).52 Abbildung 4 zeigt die DALY/1000 Einwohner-Werte für die Einzelkategorien der perinatalen Problematiken. Sie sind wiederum zwischen armen und reichen Ländern aufgeschlüsselt, hinzu kommt als Beispiel für eine besonders betroffene Region die WHO-Region Afrika. Sie zeigt die relative Bedeutungslosigkeit des Problems in den Industrieländern und demgegenüber das dramatische Ausmaß in den armen Ländern. Die Werte für neonatale Infektionen und Asphyxien/Geburtstraumen sind beispielsweise in den armen Ländern insgesamt um das 25- bzw. 26-fache höher, in Afrika sogar um das 36-fache. Abbildung 4
Disability-Adjusted-Life-Years (DALY) pro 1000 Einwohner im Jahr 2004, aufgeschlüsselt nach Art der perinatalen Schädigung und Regionen mit hohem/niedrigen Pro-Kopf-Einkommen (PKE) – Erläuterungen im Text (Quelle WHO 2008, eigene Berechnungen)
52 Das dokumentiert sich auch in den Mortalitätsraten: Jedes Jahr sterben 4 Mio. Babies, bevor sie vier Wochen alt werden, 98 % davon werden in Entwicklungsländern geboren (WHO 2005: 9). Das Risiko ein Kind zu verlieren ist in Afrika 1 : 5, in entwickelten Ländern 1 : 125 (ebd.).
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Den WHO-Daten lässt sich zudem entnehmen, dass auch angeborene Schädigungen (wie zum Beispiel Spaltbildungen, Down Syndrom, Herzanomalien, Spina bi¿da) insgesamt in den Niedrigeinkommensländern eine größere Rolle spielen. Die DALY-Werte/1000 Einwohner liegen hier in den Ländern des unteren Prokopfeinkommens etwa 4 mal so hoch wie in den Hocheinkommensländern, in Afrika sind sie fünfmal so hoch. Die Ursachen könnten ähnlich gelagert sein wie bei den perinatalen Schädigungen, auch hier könnten Infektionskrankheiten sowie umweltbedingte Beeinträchtigungen der mütterlichen Gesundheit, möglicherweise auch Stress und durch Umweltbedingungen ausgelöste Gendefekte eine Rolle spielen. Insgesamt wird deutlich: Während bei uns in der großen Mehrheit erwachsene und ältere Menschen von Behinderung betroffen sind, trifft Behinderung in den weniger und am wenigsten entwickelten Ländern vor allem Kinder. Mangel- und Verletzungssituationen schädigen hier das menschliche Leben an seiner verwundbarsten Stelle. Auch die großen Unterschiede in Bezug auf Mangelerkrankungen, insbesondere Eisenmangelanämien (in Afrika rund 16 DALYs/1000 Einwohner, in den reichen Ländern 0,8 !!) sind dafür ein Indiz. Anämien können auf Mangelernährung, auf Infektionserkrankungen oder Parasitenbefall zurück gehen und sind insbesondere, wenn schwangere Mütter davon betroffen sind, weltweit eine der wichtigsten Ursachen für Behinderungen (WHO 2005: 45).53 Die Gründe für alle genannten Faktoren sind aus unserer heutigen Kenntnis der jeweils wirksamen pathophysiologischen Mechanismen eindeutig armutsbedingt. Sie hängen mit sehr schlechten sozioökonomischen und allgemeinen Lebensbedingungen zusammen: Mangelernährung, schlechte hygienische Bedingungen, schlechtes Trinkwasser, mangelhafte medizinische Versorgung und Vorsorge, fehlende Geburtshilfe. Auch in den Industrienationen gibt es aber deutliche Hinweise, dass perinatale Risiken, die sehr oft zu Behinderungen führen, abhängig sind vom ökonomischen Status der Eltern. Perinatale Todesfälle und Geburtskomplikationen sind bei Frauen mit niedrigem sozioökonomischem Status höher, in einer Studie wurde bei Mütter mit Sonderschulbildung eine ca. dreimal erhöhte Säuglingssterblichkeit belegt. In einer Studie von 1966 war die Mortalität der niedrigsten Statusgruppe um 2,4-mal so hoch wie in der höchsten Statusgruppe (insgesamt Mielck 2000: 83 f.). Die Daten der WHO geben, so unvollkommen sie auch sein mögen, deutliche Hinweise auf letztlich durch internationale gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen produzierte Formen der Behinderung. Hier spielt in erster Linie ein Mangel an Ressourcen (Versorgung, Nahrung, medizinische Infrastruktur, Medikamente, 53 Anämie heißt eigentlich „Blutarmut“, gemeint ist eine Verminderung der Sauerstoff-Transportkapazität des Blutes. Infolgedessen kann es in ausgeprägten Fällen zu einer Minderversorgung des Körpers mit Sauerstoff (Hypoxie) kommen. Neben Eisenmangel können hierfür Ursachen sein: Mangelernährung, Malaria, Parasitenbefall (Hakenwürmer, Schistosomiasis/Bilharziose).
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Impfstoffe) als solcher eine erhebliche Rolle. Allerdings ist das nicht bloß ein Problem der technischen Beschaffung dieser Ressourcen. Vielmehr geht die mangelhafte Verfügung über diese Ressourcen auf soziale Ungleichheitsstrukturen zurück, die auch innerhalb dieser Länder einem deutlichen Schichtgradienten folgt (Marmot 2005: 1100 f.). Nicht-übertragbare Erkrankungen und ihre Folgeschädigungen Armutsbedingte (absolute) Deprivation ist eine plausible Erklärung für die internationalen Ungleichheiten bezüglich übertragbarer Erkrankungen (und ihren Folgeschädigungen), perinataler Schädigungen und Mangelkrankheiten. Wie sieht es aber bei den nicht übertragbaren Erkrankungen aus? Hier sind die „Krankheitslasten“ (burden of disease) zwischen armen und reichen Ländern ungefähr gleich. Diese Erkrankungen lassen sich damit nicht als bloße Wohlstandskrankheiten deuten – dagegen spricht die Gleichverteilung als solche, sowie der Umstand, dass diese Erkrankungen/Schädigungen in den armen wie den reichen Ländern einem sozialen Gradienten folgen. Betrachtet man nur Länder oberhalb einer absoluten Armutsschwelle, so fällt auf: das durchschnittliche Prokopfeinkommen steht in keinem direkten Zusammenhang zur Lebenserwartung. So hat Costa Rica als ein Land mit einem Bruttonationaleinkommen pro Person von unter 10 000 US-$ eine um ein Jahr höhere Lebenserwartung als die USA mit einem Bruttonationaleinkommen von mehr als 34 000 US-$. (Marmot 2005: 1102). Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass bei der sozialen Produktion gesundheitlicher Belastungen offenbar auch relative soziale Unterschiede eine Rolle spielen. 5.3 Die Rolle relativer Deprivation – Morbidität und Mortalität innerhalb entwickelter Länder Bei der Gruppe der nicht übertragbaren Erkrankungen kommt es nur zu geringen Unterschieden zwischen Ländern mit hohem Prokopfeinkommen und niedrigem Prokopfeinkommen. In der Gruppe dieser Erkrankungen ¿nden sich denn auch überwiegend diejenigen Schädigungsformen, die beispielsweise die deutsche Schwerbehindertenstatistik mit 82,3 % als Hauptursache von Behinderungen nennt („organische Erkrankungen innerer Organe und Organsysteme“), insbesondere auch Herz-Kreislauferkrankungen. Dieser Befund könnte die Vermutung aufwerfen, dass die Erkrankungen in dieser Gruppe einer BeeinÀussung durch Faktoren der sozialen Ungleichheit nicht unterliegt, sondern unabhängig von Dimensionen der sozialen Ungleichheit rein „medizinischen“ Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Diese
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Vermutung wurde durch die Befunde der sozialepidemiologischen Forschung zur Morbidität und Mortalität in Industriestaaten aber eindrücklich zurück gewiesen. Auch innerhalb der reichen Länder, in denen es – jedenfalls im Vergleich zu den Entwicklungsländern – nicht zu ausgeprägten (absoluten) Armutslagen kommt, gibt es erhebliche gesundheitliche Ungleichheitsstrukturen.54 Der soziale Gradient bei den Erkrankungen/Schädigungen der Gruppe 2 Sowohl Morbidität als auch Mortalität der Erkrankungen der Gruppe 2 folgen auch innerhalb der Industriestaaten einem sozialen Gradienten. Je weiter Menschen in der sozialen Schichtungshierarchie unten stehen, desto höher ist das Risiko zu erkranken bzw. Schädigungen davon zu tragen und desto geringer ist die Lebenserwartung. Umgekehrt gilt: je höher Menschen in der sozialen Schichtungshierarchie stehen, desto geringer ist das Erkrankungsrisiko und desto höher ist die durchschnittliche Lebenserwartung. Dieser Zusammenhang ist über Jahrzehnte durch eine ganze Reihe von Studien immer wieder belegt worden. Vor allem ist er mittlerweile auch auf sehr differenzierte Weise belegt, d. h. es lässt sich zeigen, dass sowohl Morbidität als auch Mortalität abgestuft von oben nach unten zunehmen bzw. von unten nach oben abnehmen. Solche Zusammenhänge sind für eine Vielzahl von Erkrankungen nachgewiesen worden, wie etwa Herz- und Kreislauferkrankungen bzw. Herzinfarkte, Schlaganfälle, Diabetes, Magengeschwüre, aber auch bei psychischen Erkrankungen. Es ergeben sich in den meisten Fällen – je nach Studie, Erkrankung, und Operationalisierung der Schichten – knapp zweifach bis mxm. vierfach überhöhte Erkrankungs- bzw. Mortalitätsrisiken der untersten sozialen Gruppe gegenüber der obersten (Mielck: 75 ff., 101 ff.; Siegrist 69 f.; Steinkamp 104 ff.). Die Whitehall-Studien Eine wichtige Rolle in der internationalen Diskussion haben für diese ganze Forschungsrichtung die sogenannten Whitehall-Studien gespielt.55 Sie sollen deswegen kurz erläutert werden. Bei der ersten Whitehall-Studie waren seit 1967 rund 18 000 Staatsangestellte aus verschiedenen hierarchischen Ebenen, und bei der zweiten Das gilt natürlich auch für die Verhältnisse innerhalb von Entwicklungsländern. Dort ist die gesundheitliche Situation der Oberschichten natürlich ebenfalls besser als die der armen Bevölkerung. 55 Im Internet sind auf der Seite des University College of London Department of Epidemiology and Public Health eine Vielzahl von Informationen über die Whitehall Studie abrufbar: http://www.ucl. ac.uk/whitehallII (abgerufen am 30.9.2009) 54
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seit 1985 wiederum 10208 öffentliche Angestellte prospektiv beobachtet. Prospektiv heißt: es wurde über einen langen Zeitraum die Gesundheitsentwicklung und Sterblichkeit immer wieder erhoben und zwar, bevor die Menschen erkrankten bzw. starben. Auf diese Weise konnten vor Beginn der Studien vorliegende Erkrankungen sowie eine Vielzahl sonstiger medizinischer Bedingungen wie etwa das Gesundheits- und Risikoverhalten erfasst und methodisch kontrolliert werden. Der zweite Vorteil lag darin, dass die soziale Stellung der an den Studien Beteiligten besser kontrolliert werden konnte. Normalerweise haben sozialstatistische Daten mit sehr ungenauen und vagen Angaben zum Beruf und generell der sozialen Stellung zu kämpfen. Der Vorteil der Whitehall-Studie liegt darin, dass es sich um eine Stichprobe öffentlicher Angestellter handelte, deren Arbeitsbedingungen und beruÀiche Stellung sehr präzis nach einheitlichen Kriterien bestimmt und kontrolliert werden können. Das hatte u. a. zur Folge, dass man gegenüber herkömmlichen Statistiken zwischen den einzelnen Statusgruppen sehr viel höhere Unterschiede in Mortalität und Morbidität nachweisen konnte (Wilkinson 2001: 69 f.). Auch die Ergebnisse der Whitehall-Studie enthalten keine gesonderten Angaben zu Behinderungen. Dennoch sind sie für die Frage der sozialen Produktion von Behinderung aus mehreren Gründen von Relevanz. Die in der Studie behandelten Erkrankungs- und Mortalitätsursachen sind wichtige Ursachen von Behinderungen. Schon die Ergebnisse der ersten Whitehallstudien enthüllten eine erstaunliche Wirksamkeit des bereits erwähnten sozialen Gradienten in Bezug auf die gesundheitliche Belastung. Zentraler Befund ist, dass die altersbereinigten Todesraten in jeweils de¿nierten Alters- bzw. Zeitabschnitten bei den Büroangestellten der untersten Stufe dreimal so hoch sind wie bei den höchsten Regierungsbeamten. Bei Herzerkrankungen ergeben sich sogar viermal so hohe Werte. Wohlgemerkt: alle untersuchten Personen arbeiteten als Angestellte in Büros, so dass die Unterschiede jedenfalls nicht auf physische Belastungsfaktoren zurückgeführt werden konnten. Die Sterblichkeitsraten folgen mit wenigen Ausnahmen zudem exakt der Abstufung der beruÀichen Stellung. Ähnliche Befunde liegen auch aus Folgestudien vor. Während in der Whitehallstudie in der Regel vier Abstufungen verwendet wurden, konnte in einer US-amerikanischen Studie, in die Daten von 300 000 weißen Männern eingingen, ein solcher abgestufter Zusammenhang für 11 von 12 Einkommensklassen nachgewiesen werden (vgl. Wilkinson 2001: 89). In einer im Jahre 2000 veröffentlichten statistischen Untersuchung der Todesursachen der Teilnehmer der Whitehall I-Studie (Rossum u. a. 2000) wurden die Sterberaten bis 1994 nach unterschiedlichen Statusgruppen und spezi¿schen Todesursachen verglichen. Auch hier zeigte sich, dass es die höchsten Sterberaten in der untersten Statusgruppe und die niedrigsten in der obersten gab. Für die überwiegende Anzahl der Todesursachen ergab sich für die mittleren Gruppen ein abgestufter EinÀuss der sozialen Stellung. In der Regel ergaben sich 2–4-fach
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erhöhte Sterberisiken für die unterste Statusgruppe im Unterschied zur höchsten, in Einzelfällen auch erheblich höhere. Herz-Kreislauferkrankungen und Krebserkrankungen trugen am meisten zur Erklärung der Gesamtunterschiede bei. Die stärksten relativen Unterschiede wurden bei Erkrankungen der Atmungsorgane (chronische Bronchitis und Lungenkrebs) ermittelt. Diese Unterschiede zeigten sich – mit Ausnahme von Lungenkrebs – auch bei Nichtrauchern mit niedrigem Cholesterinspiegel und Blutdruck. Insgesamt tragen bekannte medizinische Hauptrisikofaktoren zur Aufklärung von etwa einem Drittel der unterschiedlichen Mortalität der Angestelltengruppen bei. Das heißt, die Unterschiede hängen damit zusammen, dass Angehörige der unteren Statusgruppen mehr rauchen, sich weniger bewegen oder/und ernährungsbedingt höhere Cholesterinwerte aufweisen.56 Die Unterschiede in den Sterberaten sind zwar bei den jüngeren Altersgruppen am höchsten. Sie bleiben grundsätzlich aber auch bei den in Rente übergegangenen Altersgruppen erhalten und sinken nur langsam mit fortschreitendem Alter. Am ausgeprägtesten sind sie bei chronischer Bronchitis, gastrointestinalen Erkrankungen und bei Erkrankungen des Urogenitalsystems als Todesursachen (Rossum u. a. 2000: 181 ff.). Das „Statussyndrom“ Diese und ähnlich bereits bei älteren Untersuchungen der Daten erzeugten Ergebnisse werfen aber buchstäblich die Frage auf, wie lebensgefährlich es ist, sich am unteren Ende gleich welcher sozialen Hierarchie zu be¿nden. Denn eines ist deutlich: die Teilnehmer der Whitehall-Studie aus den unteren Schichten waren nicht etwa höheren physischen Anforderungen oder materiellen Belastungen durch Staub oder toxischen Stoffen o. ä. ausgesetzt. Sie waren durchweg wie die statushöheren Angestellten in Büros tätig, also „white collars“. Überhaupt war im Fall der Whitehallstudie durch die Beschränkung auf staatliche Angestellte gewährleistet, dass die extremen Pole der englischen Klassengesellschaft, die „Ärmsten“ und die „Reichsten“, nicht vertreten waren. Dennoch zeigte sich selbst bei diesem Ausschnitt aus der Mitte der englischen Gesellschaft eine eindeutige soziale Verteilung der Mortalitätsrisiken und, wie die zweite Whitehall-Studie zeigte, auch der Morbiditätsrisiken. Diese Befunde wurden in ganz verschiedenen Ländern unabhängig voneinander bestätigt. Insgesamt kann man in den modernen Industriegesellschaften von der Wirksamkeit eines – wie Michael Marmot es in einem Buchtitel plakativ formulierte – „Statussyndroms“ ausgehen: „Je niedriger die be56 Bei der Whitehallstudie II wurde bezüglich der Morbidität eine noch geringere Erklärungskraft dieser lebensstilbezogenen Faktoren ermittelt, insgesamt gehen die Forscher davon aus, dass diese etwa ein Viertel der Unterschiede erklären (Ferrie 2004: 4).
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ruÀiche Stellung im hierarchischen Gefüge einer Organisation oder eines Betriebs, desto höher das Erkrankungs- und vorzeitige Sterberisiko.“ (Siegrist 2005: 68). Zur Erklärung dieser Zusammenhänge konnten unter anderem die Triftigkeit folgender dreier Modelle nachgewiesen werden: ƒ
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Anforderungs-/Kontrollmodell: Dieses Modell hat einen stresstheoretischen Ausgangspunkt. Es geht davon aus, dass bei einem Missverhältnis von hohen (insbesondere auch quantitativen) Handlungsanforderungen und geringer Kontrollmöglichkeiten der Handlungsbedingungen (Arbeitsablauf, Arbeitsinhalt) ein hohes Maß an Dauerstress entstehen kann, der nicht abgebaut werden kann und sich deshalb physiologisch schädlich auswirkt (vgl. Siegrist 2005: 70 f.). Die Whitehall II-Studie hat den Mythos widerlegt, dass Stress insbesondere in oberen Statuspositionen mit hohem Arbeitsanfall und großer Verantwortlichkeit z. B. zu Herz-Kreislauferkrankungen führt. Dies ist nicht der Fall. Vielmehr korreliert das erhöhte Auftreten solcher (und anderer) Erkrankungen mit Statuspositionen, die sich durch geringere Verantwortlichkeit, geringere Entscheidungsspielräume und geringere Kontrolle, aber höhere Arbeitsbelastungen auszeichnen. Dieser Zusammenhang besteht unabhängig von individuellen Eigenschaften der betroffenen Personen (Ferrie 2004: 6 f.). Modell des sozialen Rückhalts: Sozialer Rückhalt im Sinne von emotionaler Unterstützung (Wertschätzung, Zuneigung, Vertrauen), ausgesprochene Anerkennung, Information oder instrumenteller Hilfe (Geld, Ratschläge, Präsenz) kann als Protektivfaktor gegen Stresserfahrungen dienen. Das Fehlen solcher Formen des Rückhalts kann aber eigenständig das Stressrisiko erhöhen (Siegrist 2005: 74). In der Whitehall-Studie wurde sowohl das eine wie das andere nachgewiesen. Sozialer Rückhalt kann protektiv insbesondere gegen psychische Erkrankungen (insbesondere Depression) wirken und sogar das Herzinfarktrisiko herab setzen. Umgekehrt nahmen insbesondere bei Abnahme des sozialen Rückhaltes infolge struktureller Veränderungen der Arbeitssituation die Risiken für Depressionen, anderer psychischer Erkrankungen sowie von Angina zu (Ferrie 2004: 8 f.). Leistungs-/Grati¿kationsmodell (Modell sozialer Grati¿kationskrisen): Dieses Modell geht von einem Reziprozitätspostulat aus. Hohe (soziale) Leistung bzw. Anstrengung muss in einem angemessenen Verhältnis zu dadurch erlangten Grati¿ kationen (in Form von Geld, symbolischer Anerkennung, sozialem Aufstieg, Sicherheit) stehen. Ungleichgewichte in dieser Hinsicht provozieren ebenfalls anhaltende Stressreaktionen. Das Modell unterstellt zusätzlich die Einwirkung der intervenierenden Faktoren persönlicher oder sozialer Leistungs- und Belohnungserwartungen. In der Whitehallstudie II konnte ein unabhängiger (aber statusbezogener) EinÀuss solcher wahrgenommener Leistungs-Grati¿ kations-Ungleichgewichte auf den Gesundheitszustand
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(insbesondere: koronare Herzerkrankungen) nachgewiesen werden (vgl. insgesamt Siegrist 2005: 71 ff.; Ferrie 2004: 10). In einer ganzen Reihe weiterer Studien konnten solche Zusammenhänge belegt werden, auch für Diabetes, Depression und Alkoholabhängigkeit. Außerdem konnten in den Whitehallstudien weitere Faktoren der Erklärung des sozialen Gradienten ermittelt werden: z. B. geht chronische Unsicherheit des eigenen Arbeitsplatzes mit einem schlechteren subjektiven und objektiven Gesundheitszustand einher. Dazu tragen insbesondere auch organisatorische Transformationsprozesse wie etwa Privatisierungen bei. Auch der soziale Rückhalt außerhalb der Arbeitssphäre trägt ebenso zur Gesundheit bei wie KonÀikte und Disbalancen zwischen häuslicher und beruÀicher Sphäre zu ihrer Gefährdung.
Die Whitehallstudien zeigen insgesamt, dass Ursachen für die soziale Produktion von Gesundheitsbelastungen nicht nur mit materiellen Deprivationsfaktoren zusammen hängen können. Unter absoluten Armutsbedingungen gibt es vor allem in den wenig und am wenigsten entwickelten Ländern der Erde einen deutlichen Zusammenhang zwischen Prokopfeinkommen und dem Gesundheitszustand (gemessen zum Beispiel an der Lebenserwartung). Allerdings Àacht dieser Zusammenhang zunehmend ab, je höher die Prokopfeinkommen werden. Teilweise erhebliche Unterschiede der Durchschnittseinkommen im Ländervergleich innerhalb der Gruppe der reicheren Länder zeigen keinen oder wenig Zusammenhang mit der Gesundheitssituation bzw. Lebenserwartung (Wilkinson 2005: 68; einschränkend dagegen Lynch u. a. 2000: 1201). Die Rolle relativer sozialer Ungleichheit Richard Wilkinson führt – in der Logik der eben besprochenen Modelle – in seinem Buch „The Impact of inequality“ eine ganze Reihe von Belegen dafür an, dass auch relative soziale Ungleichheit (gemessen zum Beispiel an der Höhe der durchschnittlichen Einkommensunterschiede) in einem engen Zusammenhang zur Gesundheit steht. ƒ ƒ ƒ
So sind in US-Staaten und kanadischen Provinzen, in denen die Einkommensunterschiede geringer sind, auch niedrigere Sterberaten für Männer zwischen 25 und 64 Jahren zu ¿nden (Wilkinson 2005: 106); zwischen 1989 und 1995 führten zunehmende Einkommensunterschiede auch zu einer fallenden Lebenserwartung (ebd.: 118); im internationalen Maßstab zeigt sich bei den reichen Industrienationen ein klarer Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und dem Ausmaß der Ein-
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Wilkinson und Marmot schlagen aufgrund solcher Befunde vor, auch die Gesundheitssituation ganzer Gesellschaften aus einer stresstheoretischen Sichtweise heraus zu analysieren. Größere Ungleichheit (beispielsweise in bezug auf Einkommen) korreliert aus ihrer Sicht mit größerem Stress. Dieser Stress lässt sich fest machen an schwindendem sozialen Vertrauen sowohl in Institutionen als auch in Gemeinschaftsbeziehungen, an höherer Gewaltbereitschaft, größerer Neigung zur Diskriminierung von Minderheiten und genereller Ausgrenzungsneigung. Bei allen eben dargestellten Modellen geht es ja um relative Unterschiede, Disbalancen, die von jeweiligen sozialen und individuellen Erwartungsstandards abhängig sind (beispielsweise bei der Frage der „angemessenen“ Grati¿ kation). Marmot und Wilkinson gehen davon aus, dass relative Ungleichheiten und Ungleichgewichte als solche unabhängige Effekte auf den Gesundheitszustand haben: „If … you give every child access to a computer and every family a car, deal with air pollution, and provide a physically safe environment, is the problem solved? We believed not. The psychosocial effect of relative deprivation involving control over liefe, insecurity, anxiety, social isolation, socially hazardous environments, bullying, and depression remain untouched. Evidence shows that these factors inÀuence health and that their prevalence is affected by the socioeconomic structure and by people’s position within this.“ (Marmot, Wilkinson 2001: 1234)
5.4 Soziale Ungleichheit und Behinderung Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass die sozialepidemiologischen Daten nur indirekte Rückschlüsse auf die Frage der sozialen Produktion von Behinderung zulassen. Wir können zwar mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die beschriebenen Zusammenhänge grundsätzlich auch für die Frage der Produktion von Behinderung von Relevanz sind. Viele sozialepidemiologische Kategorien enthalten Behinderungen auf versteckte Weise. Wir hatten an der Schwerbehindertenstatistik gesehen, dass 82,3 % der Menschen mit Schwerbehinderungen in Deutschland diesen Status als Ergebnis der in vielen sozialepidemiologischen Morbiditäts- und Mortalitätsstudien behandelten Erkrankungen und Erkrankungsrisiken erlangt haben. Dennoch ersetzt das natürlich nicht eine eigenständige Untersuchung und
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sozialepidemiologische Operationalisierung von Behinderung. Das ist derzeit eine Wunschvorstellung. Dieses Unschärfeproblem nimmt noch mehr zu, wenn wir nach dem bloßen Zusammenhang von sozialer Schicht und Behinderung fragen. Es gibt eine Vielzahl verstreuter Hinweise und Zahlenmaterial aus den letzten vierzig Jahren Forschung, die einen solchen Zusammenhang generell belegen und zwar unabhängig von der Frage, ob es sich um sogenannte körperliche, psychische oder geistige Behinderungen handelt. Das ist insgesamt wenig verwunderlich, da die Sozialepidemiologie ja ebenfalls relativ unabhängig von der medizinischen Diagnose einen sozialen Gradienten der Gesundheit nahe legt. Das Problem ist allerdings, dass es einfach an wirklich präzisen und nachvollziehbaren Operationalisierungen von sozialer Ungleichheit gleichfalls fehlt. Wenn überhaupt, werden sehr grobschlächtige Schichtindikatoren verwendet, die der Differenziertheit der heutigen Ungleichheitsforschung bei weitem nicht gerecht werden. Wie man im Einzelnen zu der meist dreigliedrigen Einteilung in Ober-, Mittel- und Unterschicht gekommen ist, bleibt bei den meisten in der Literatur genannten Zahlen offen. Das Beispiel kognitiver Behinderungen Am Beispiel der sozialen Verteilung von kognitiven Behinderungen kann man sich das verdeutlichen. Wenig ergiebig sind in diesem Zusammenhang Befunde über den Zusammenhang sogenannter Lernbehinderung und sozialer Schichtung (Cloerkes 2007: 95; Wocken 2000). Diese Daten wurden vor allem an Schuluntersuchungen gewonnen. Behinderung wird in der Regel über den Besuch der entsprechenden Schulform operationalisiert. Mit Hans Wocken könnte man aber die Frage stellen, ob Schulen für Lernbehinderte (bzw. für Förderschwerpunkt Lernen) nicht aufgrund der Zuweisungspraktiken in Wirklichkeit Schulen für sozial ausgegrenzte Kinder und Jugendliche ist, so dass der ermittelte Zusammenhang im Grunde genommen tautologisch ist. Der Schulbesuch bzw. das Etikett „Lernbehinderung“ als solches wäre bereits eine Form sozialer Benachteiligung und eine greifbare Schädigung würde u. U. überhaupt nicht vorliegen. Ein ähnliches Argument könnte man im Zusammenhang mit leichteren Formen geistiger Behinderung ins Spiel bringen, da präzise Abgrenzungskriterien zwischen Lernbehinderung und „leichterer“ geistiger Behinderung fehlen. In der psychiatrischen Fachliteratur spielt in Bezug auf „geistige Behinderungen“ die sogenannte „Zweigruppentheorie“ nach wie vor eine wichtige Rolle für die Einschätzung von Entstehungsursachen. Etwa 80 % der geistig behinderten Menschen werden der Gruppe der „leichten geistigen Behinderung“ zugerechnet, 20 % der Gruppe der „schweren geistigen Behinderung“ (Neuhäuser, Steinhausen 2003: 26). Die Darstellung in dem einschlägigen Lehrbuch des Neuropädiaters
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Gerhard Neuhäuser und des Kinder- und Jugendpsychiaters Hans-Christoph Steinhausen zeigt freilich deutlich, dass es sich dabei um lediglich typologische Begriffe handelt, die sich auf ein Kontinuum von Merkmalen beziehen und offensichtlich eine hochgradig unscharfe Übergangszone aufweisen. Insgesamt geht die psychiatrisch-medizinische Fachliteratur davon aus, dass die Ätiologie bei den schweren geistigen Behinderung zugunsten organischer und genetischer Ursachen verschoben sind, während für die Ursachen leichterer geistiger Behinderungen Deprivationsphänomene und damit soziale Faktoren eine größere Rolle spielen. In welchem Ausmaß – darüber gehen je nach Studie die Meinungen weit auseinander. Die Diskussion krankt insgesamt sowohl an den ungenügenden und nicht kompatiblen Operationalisierungen geistiger Behinderung wie auch der berücksichtigten sozialen Faktoren. Sehr selten sind prospektive Studien, die sowohl medizinisch-biologische Faktoren wie soziale Faktoren berücksichtigen. Das gilt prinzipiell auch für immer wieder genannte Assoziationen zumindest der leichteren Formen von geistiger Behinderung (die wie gesagt aber 80 % der sog. geistigen Behinderungen ausmachen) mit einem Unterschichtsstatus der Herkunftsmilieus (Steinhausen 2006: 67). Die Aussagekraft solcher Studien ist aus den beschriebenen Gründen aber gering. Dennoch gibt es über die Überrepräsentanz von Unterschichtsangehörigen unter den geistig behinderten Menschen als solche bei den leichten geistigen Behinderungen einen grundsätzlichen Konsens. Die jeweiligen Zahlen variieren aber erheblich und sind aus den beschriebenen Gründen untereinander auch nicht vergleichbar (Neuhäuser, Steinhausen 2003: 30 ff.; Speck 2005: 61 ff.; Holtz 1994: 55). Hinzu kommt das Problem, dass nicht klar ist, wie schichtspezi¿sch Etikettierungspraktiken sind. Es ist durchaus denkbar, dass gerade bei leichteren geistigen Behinderungen, wenn keine eindeutige medizinische Indikation gegeben ist, Kinder und Jugendliche aus Unterschichtsmilieus leichter als geistig behindert etikettiert werden (Holtz 1994: 55). Einige Einzelbefunde Allenfalls von deskriptiver Bedeutung sind Einzelbefunde der amtlichen Statistik. Sie kranken wie gesagt an der undeutlichen Operationalisierung sowohl von Behinderung als auch von sozialer Ungleichheit. ƒ
Bei der Auswertung von Einschulungsuntersuchungen in Berlin zeigen sich deutliche Unterschiede von Kindern aus verschiedenen sozialen Schichten bezüglich einer Reihe von Variablen zum Gesundheitszustand und der motorischen und kognitiven Entwicklung. So sind 2006 rund zweimal so viel Kinder aus der unteren sozialen Schicht übergewichtig wie Kinder der
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Oberschicht, und sogar fast fünfmal soviel Kinder adipös. (Senatsverwaltung 2008-1: 39). Auffälligkeiten bei der Visuomotorik wurden bei 8 % der Kinder aus der oberen sozialen Schicht, aber bei 30 % der unteren sozialen Schicht registriert (ebd.: 44). Ein ähnliches Bild ergab sich bei sprachlichen Störungen, hier lagen dieAnteile in der unteren sozialen Schicht bezüglich verschiedener Indikatoren 3–4-mal so hoch (ebd.: 50). In Brandenburg wurden Daten von insgesamt 18500 Kindern bei der Einschulung auf den Zusammenhang von Gesundheitszustand und sozialer Lage hin untersucht. Hier ergaben sich bezüglich fast aller Störungsbilder dreifach abgestufte Schichtunterschiede. Besonders ausgeprägt waren diese zwischen einem hohen und einem niedrigen Sozialstatus bei Sprachstörungen (4,5 % der Kinder aus Elternhäusern mit hohem Sozialstatus ggü. 15, 8 % mit niedrigem Sozialstatus), Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung (0,8 % der Kinder aus Häusern mit hohem Sozialstatus gegenüber 11,9 % der Kinder mit niedrigem Sozialstatus). Insgesamt wurden 3,8 % der Einschüler als von Behinderung bedroht eingeschätzt. Von 514 dieser Kinder lagen Angaben zum Sozialstatus vor. Davon waren 9,3 % Kinder aus einem Elternhaus mit niedrigem Sozialstatus und nur 0,8 % aus einem Elternhaus mit hohem Sozialstatus. Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey erbrachte einen doppelt so hohen Anteil von Kindern mit ADHS (Aufmerksamkeitsde¿zit-/ Hyperaktivitätsstörung) in Familien mit niedrigem sozialen Status wie mit hohem sozialen Status (6,4 ggü. 3,2 %) (Schlack u. a. 2007: 830). Aus telefonischen Befragungsdaten des Robert Koch Instituts 2002/3 ergibt sich ein Zusammenhang zwischen sozialer Schicht (unterschieden nach Unter-, Mittel- und Oberschicht) und Schwerbehinderung. In der Unterschicht ist ein nicht ganz doppelt so hoher Anteil von Schwerbehinderten zu ¿nden wie in der Oberschicht (10,2 ggü. 5,8 bei den Männern und 9,1 ggü. 4,2 bei den Frauen).
5.5 Relative oder absolute Deprivation? Welche Theorien gibt es, mit deren Hilfe sich die ja zunächst nur statistischen Befunden über relative Unterschiede bei den Gesundheitsrisiken mit konkreten pathophysiologischen Mechanismen in Beziehung setzen lassen? Bei bestimmten Formen absoluter Deprivation wie Unterernährung, mangelnder medizinischer Versorgung, Infektionserkrankungen infolge katastrophaler hygienischer Verhältnisse, mangelndem Impfschutz usw. liegen solche Mechanismen in der Regel auf der Hand. Für die Phänomene relativer Deprivation hatte sich bereits eine Erklärung angedeutet, die sich auch Marmot und Wilkinson weitgehend zu eigen machen, nämlich eine stresstheoretische Sichtweise. Darauf und auf die
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Soziale Produktionen
grundsätzliche Einteilung von Erklärungen, die auf absolute und solchen, die auf relative Deprivation abheben, möchte ich nun nochmals eingehen.57 Wilkinson und Marmot heben sehr stark darauf ab, dass Einkommensungleichheit die Gesundheit über die Wahrnehmung der eigenen relativen Position in der sozialen Hierarchie als solche beeinÀusst. Sie knüpfen dabei auch an Befunde aus der Verhaltensforschung an, aus denen hervor geht, dass rangniedere Tiere prinzipiell unter höherem Stress stehen, insbesondere wenn ranghöhere Tiere anwesend sind. Dafür gibt es auch Indizien bei Menschen – wie zum Beispiel das bekannte Phänomen des höheren Blutdrucks bei ärztlichen Untersuchungen. Wilkinson und Marmot gehen davon aus, dass höhere soziale Ungleichheit eine ganze Reihe von stressauslösenden psychosozialen Aspekten beinhaltet: negative Emotionen wie Scham und Misstrauen, Aggression, Gewalt. Ungleichheit reduziert sozialen Zusammenhalt und Rückhalt und diese Wahrnehmungen führen insgesamt zu höherem Stress für die Individuen und auf diesem Wege auch zu einer BeeinÀussung des Gesundheitszustandes (Wilkinson 2005; vgl. Marmot/ Wilkinson 1999; Kap. 2). Was ist eigentlich Stress? Stress ist nichts anderes als ein Zustand erhöhter Aktivität des Hormonsystems und des vegetativen Nervensystems (also dem Teil vom Nervensystem, der vom Willen weitgehend unabhängig ist), die immer dann eintreten, wenn die Integrität des Organismus bedroht ist. Insbesondere werden dabei die Hormone Adrenalin und Noradrenalin sowie Cortisol ausgeschüttet. Das führt u. a. auch zu einer Anreicherung von Glukose im Blut (erhöhter Zucker unter Stress), damit Energie für Muskeltätigkeit zur Verfügung gestellt wird. Die biologische Funktion diese Reaktion liegt in der Herstellung von Handlungsbereitschaft bzw. -Fähigkeit („¿ght or Àight-response“, vgl. Marmot, Wilkinson 1999: 21 ff.). Die dafür notwendigen motorischen und perzeptiven Systeme werden sozusagen in Alarmbereitschaft versetzt. Das zeigt sich etwa in einer Zunahme des Blutdrucks und des Pulsschlags, in einer Erhöhung der physischen und psychischen Reagibilität (Angst, erhöhte Aufmerksamkeit), Erhöhung des Hautwiderstands, die Pupillenreaktionen verändert sich. Im Blut steigen die Anteile an Fibrinogenen (Faktoren, die die Blutgerinnung ermöglichen), dadurch bereitet sich der Körper auf denkbare Verwundungen vor. Das parasympathetische Nervensystem dagegen wird deaktiviert und biologische Funktionen wie Immunsystem, Wachstum, Verdau57 Der Unterschied lässt sich an einer Diskussion zwischen den britischen Sozialepidemiologen Michael Marmot und Richard Wilkinson auf der einen Seite und den amerikanischen Sozialepidemiologen John W. Lynch u. a. auf der anderen Seite verdeutlichen (Marmot, Wilkinson 2000; Lynch u. a. 2000).
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ung, reproduktive Prozesse werden „heruntergefahren“ (dazu Siegrist 2005: 84 ff.; Wilkinson 2005: 162 ff., 272 ff.). Stress hat so gesehen eine klar umgrenzte biologische Funktion und ist als solcher nicht „schädlich“. Gesundheitsschädlich wird er, wenn er anhaltend und dauerhaft wird, weil keine oder keine nachhaltige „Abreaktion“ bzw. situative Bewältigung („Coping“) der stressauslösenden Situation durch Handlungen möglich ist. In der medizinischen Forschung wurde ebenso eine Fülle spezi¿scher negativer Auswirkungen von anhaltendem Stress ohne Bewältigung belegt wie auch seine Wirkung als eine Art genereller psychophysischer Vulnerabilitätsfaktor (Wilkinson 2005). Die funktionalen Mechanismen der Stressreaktion kehren sich in diesem Fall in das Gegenteil um. Dabei kann man sehr grob sagen: wenn die Stressreaktion eher von einem aktiven Bewältigungsmuster geprägt ist, führt eine sozusagen zur Struktur gewordene Nicht-Bewältigung bei entsprechender Disposition bevorzugt zu Schäden des kardiovaskulären Systems oder Erkrankungen im Muskel- und Halteapparat (wegen des höheren Tonus). Überwiegt ein passives Bewältigungsmuster, wird eher das Immunsystem geschädigt und es kommt zu Organschäden wie Darmgeschwüren, Asthma u.ä. (Birbaumer/Schmidt 2006: 151). Belegt sind sowohl negative Auswirkungen von Dauerstress, aber auch von extremen traumatischen Stressreizen auf das Gehirn, die – vermittelt über verschiedene psychohormonale Mechanismen sogar zu einem Zellverlust im Gehirn führen können (Birbaumer/Schmidt 2006: 152). Das ist beispielsweise bei posttraumatischen Belastungsstörungen der Fall. Durch Stress freigesetzte Glukocortikoide führen über längere Zeit zur Zerstörung von Nervenzellen im Hippocampus. Dadurch kann das explizite Kurzzeitgedächtnis und die Einspeicherung neuer kontextbezogener (expliziter) Informationen beeinträchtigt werden. Früher eingespeicherte Stressreize dagegen können nicht vergessen werden. Dadurch kann es zur Aufrechterhaltung chronischer Angstzustände kommen. Insgesamt wird dadurch der Prozess des Alterns des Gedächtnisses beschleunigt (Birbaumer, Schmidt 2006: 154 f.; vgl. auch Kandel 2006: 150 ff., 219 ff.). Tabelle 6, die dem Standardwerk „Biologische Psychologie“ von Nils Birbaumer und Robert F. Schmidt entnommen ist, zeigt denkbare pathophysiologische Wirkungen im Überblick.
158 Tabelle 6
Soziale Produktionen Pathophysiologische Wirkungen anhaltender Stressbelastung (nach/aus: Birbaumer, Schmidt 2006: 155)
Belastungsreaktion (Stress)
Pathophysiologische Konsequenzen
Unterdrückung von Immunreaktivität und Entzündung
Ö
Reduzierte Resistenz gegenüber einer Vielzahl von Krankheiten
Erhöhung der Muskelspannung in spezi¿schen Muskelgruppen
Ö
Rücken-, Gesichts-, Kopfschmerzen, „Weichteilrheumatismus“
Erhöhter kardialer Output (höherer Blutdruck, höherer Puls)
Ö
Essenzielle Hypertonie (Bluthochdruck)
Mobilisierung von Energie bei Unterdrückung der Energiespeicherung
Ö
Diabetes, Muskelerkrankungen, Asthma
Unterdrückung der Verdauung
Ö
Geschwüre
Hemmung des Wachstums
Ö
Psychogener Zwergwuchs, Knochenentkalkung
Hemmung der Reproduktionsfunktionen
Ö
Unfruchtbarkeit, Anovulation (Ausbleiben des Eisprungs), Impotenz, Libidoverlust
Neuronale Reaktionen und Änderungen der Wahrnehmungsschwellen
Ö
Beschleunigtes Altern kognitiver Funktionen und des Gedächtnisses, einige Epilepsieformen
Periphere Vasokonstruktion oder Dilatation (d. h. Verengung oder Erweiterung von Blutgefäßen)
Ö
Essenzielle Hypertonie, Raynaud-Erkrankung (Durchblutungsstörungen), Migräne
Wilkinson und Marmot betonen unter Zuhilfenahme solcher stresstheoretischer Modelle insbesondere die negativen Auswirkungen von relativer sozialer Ungleichheit. Deprivationstheoretische Kritik – anhand des Leidens an InterkontinentalÀügen An dieser Position gibt es – wie immer in der Wissenschaft – auch Kritik. So stellen Lynch u. a. die Betonung relativer Ungleichheit in Frage. Sie führen im Gegenzug eine sogenannte „neo-material(istisch)e“ Sichtweise ins Feld. Gemeint ist damit, dass die gesundheitlichen Auswirkungen sozialer Ungleichheit sich ihrer Auffassung nach nicht in erster Linie über die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit vermitteln, sondern über einen objektiven Mangel an Ressourcen und negativen materialen Effekten als solchem:
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„…Health inequalities result from the differential accumulation of exposures and experiences that have their sources in the material world. Under a neo-material interpretation, the effort of income inequality on health reÀects a combination of negative exposures and lack of resources held by individuals, along with systematic underinvestment across a wide range of human, physical, health, and social infrastructure.“ (Lynch u. a. 2000: 1202)
Sie bemühen dabei den Vergleich eines Interkontinental-Fluges in der ersten Klasse und in der Economy-Klasse, um ihre Argumentation zu verdeutlichen: Die Passagiere der ersten Klasse erhalten solche Vorteile wie besseres Essen, mehr Platz und bequemere Sitze, die sich zu einem Bett verstellen lassen. Sie kommen ausgeruht und erfrischt am Bestimmungsort an, während die Passagiere der Economy-Class leicht gerädert, unausgeschlafen und mit Verspannungen ankommen. Die „psychosoziale Perspektive“ von Marmot und Wilkinson müsse nun diesen Sachverhalt so deuten, dass es den Passagieren der Economy-Class wegen ihrer Wahrnehmung der besseren Sitze der ersten Klasse und der damit einhergehenden negativen Emotionen wegen der relativen Benachteiligung schlechter ginge. Die Konsequenz wäre entweder die erste Klasse abzuschaffen oder die Wahrnehmung der EconomyClass-Passagiere zu korrigieren. Eine materialistische Perspektive würde dagegen argumentieren, ihnen gehe es primär schlechter wegen der unbequemen Sitze und der beengten Platzverhältnisse. Die Konsequenz wäre diese Bedingungen zu verbessern: „We argue, that interpretation of links between income equality and health must begin with the structural causes of inequalities, and not just focus on perceptions of that inequality.“ (Lynch u. a. 2000: 1202). Daran schließt ein Plädoyer der Autoren an, konkrete materielle Bedingungen und Auswirkungen von Statusdifferenzen ernst zu nehmen und objektiv fehlende Ressourcen wie zum Beispiel Bildung, Arbeitslosigkeit, gesundheitliche und soziale Absicherung, medizinische Ausgaben, öffentliche Einrichtungen, also die objektiven Auswirkungen unterschiedlicher Statuspositionen in der sozialen Hierarchie als Kausalfaktoren für Gesundheitsbeeinträchtigungen ernst zu nehmen. Nun zeigen eine Reihe von Formulierungen der Kontrahenten, dass es sich bei genauer Betrachtung um einen nicht ganz so grundsätzlichen Streit handelt, wie die Autoren glauben machen wollen. Die Auswahl des Flugzeugs als Beispiel ist natürlich von einer polemischen Absicht getragen. Schließlich setzt Wilkinson bei seinen Analysen ausdrücklich ein gewisses materielles Basisniveau voraus. Er weist selbst darauf hin, dass seine These vor allem bei den reicheren Gesellschaften an Plausibilität gewinnt. Bezogen auf das Beispiel des Flugzeugs kann man sich durchaus vorstellen, dass das Leiden an den unbequemen Sitzen durch das Wissen, dass es denen da oben sehr viel besser geht, noch verschärft wird. Man kann den einen Gesichtspunkt ernst nehmen, ohne den anderen außer Acht zu lassen.
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Soziale Produktionen
Überträgt man diese Kontroverse auf unsere Thematik (der sozialen Produktion von Behinderung durch soziale Ungleichheit) leuchtet eher ein, dass beide Gesichtspunkte gerade in ihrer Beziehung aufeinander von Bedeutung sein dürften. Die Frage, ob nun relative oder absolute Deprivation, die Wahrnehmung sozialer Bedingungen und die aus dieser Wahrnehmung resultierende Belastungserfahrung oder aber objektive materielle Auswirkungen gesellschaftlicher Ungleichheit eine größere Rolle spielen, stellt sich vermutlich je nach Kontext des erklärungsbedürftigen Phänomens. Vorschlag zur Güte: Verbindung stresstheoretischer und deprivationstheoretischer Modelle Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass bei den Erkrankungen der WHOGruppe 2 (nicht-übertragbare Erkrankungen innerer Organe bzw. Organsysteme), zugleich Hauptursache für behinderungsrelevante Schädigungen in den westlichen Industriestaaten, ziemlich sicher eine Form relativer Statusdeprivation eine Rolle spielen muss. Ohne diese Annahme wären jedenfalls die geringen Unterschiede zwischen den gesundheitlichen Belastungen der ärmsten und der reichsten Länder der Erde und zugleich der soziale Gradient der entsprechenden Erkrankungsrisiken innerhalb dieser Länder schwer erklärbar. Darauf deuten auch die Ergebnisse der Whitehall-Studie hin. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass hier auch direkte materielle Folgen deprivierender Lebensumstände mitwirken: die Sorge um den Arbeitsplatz und damit verbundene materielle Einschränkungen, Rauchen, die Möglichkeit von Ruhephasen, einschließlich der Rolle des sozialen Rückhalts, der sich ja auch in ganz realer Entlastung durch Hilfe, Geld, emotionaler Zuwendung auswirken kann. Bei den behinderungsrelevanten Schädigungen der WHO-Gruppe 1 und 3, also bei Infektionserkrankungen, perinatalen Problematiken, Mangelerkrankungen und Verletzungen geht es demgegenüber um Phänomene, bei denen absolute Deprivationslagen und objektiv und materielle Widrigkeiten und Schädigungen eine Rolle spielen. Beispiele dafür sind schlechte hygienische Bedingungen, Nahrungsmangel, Fehlernährung, fehlende Impfstoffe, schlechte medizinische Versorgung, schlechtes Trinkwasser, schlechte Sicherheitsstandards im Straßenverkehr oder bei technischen Einrichtungen (Tschernobyl!), die Ausübung von Gewalt oder direkte mechanische Einwirkung von außen, direkt schädigende Substanzen wie Umwelttoxine, Alkohol. Hierbei handelte es sich dann um soziale Produktionen von Behinderung, wenn gezeigt werden kann, dass diese Einwirkungen ursächlich mit strukturellen sozialen Gegebenheiten, insbesondere ungleicher Verteilung von Ressourcen zu tun haben. Aber auch hier muss man in Rechnung stellen, dass diese Bedingungen bzw. die sozialen Verhältnisse, in die sie eingebettet sind, zugleich
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psychosozialen Stress im Sinne von Wilkinson und Marmot erzeugen können. Es wäre verwunderlich, wenn das anders wäre. Tendenziell hat die materielle Perspektive auch dann eine hohe Plausibilität, wenn es um sehr frühe pränatale oder perinatale Schädigungen von Kindern geht, einfach weil Ungeborene, Neugeborene, aber auch Kinder strukturell verletzbarer und ressourcenabhängiger sind wie Erwachsene. Auch z. B. bei Infektionserkrankungen der Mutter und des Kindes, die zu körperlichen oder kognitiven Schädigungen führen können, wäre die Annahme einer primären kausalen Rolle relativer Deprivation nicht sehr plausibel. Auch wenn man nicht ausschließen kann, dass psychosozialer Stress die Immunreaktionen von Mutter oder Kind mit beeinÀussen und modulieren kann, ist bei vielen Infektions- und Mangelerkrankungen durchweg nachweisbar, dass bessere materielle Lebensbedingungen, sauberes Trinkwasser, Impfungen u. a. einen großen und größeren Teil der gesundheitlichen Belastungen erklären. Vergleichsweise unplausibel wäre eine These relativer Deprivation auch bei Schädigungen durch Umweltgifte (wie zum Beispiel Blei), radioaktiver Verseuchung, Verkehrsunfällen, alles Faktoren, die Behinderungen produzieren und mit sozialen Strukturfaktoren in Verbindung stehen können. Ähnliches gilt beispielsweise für schicht- und lebensstilspezi¿sche Merkmale des Essverhaltens. Die bekannte Tatsache eines höheren Fett- und Kohlehydratkonsums der unteren Klassen hat nicht direkt etwas mit der Wahrnehmung relativer Ungleichheit zu tun. Dennoch spricht in anderen Fällen vieles dafür, eine Verbindung der beiden Perspektiven anzustreben. Beispiel Alkoholembryopathie Beispielsweise kann es durch Alkoholkonsum der Mutter zu einer Alkoholembryopathie des Kindes kommen. Damit verbunden sein können Fehlbildungen, intrauteriner Minderwuchs, Mikrocephalus, geistige Beeinträchtigungen sowie ein charakteristisches Aussehen vor allem im Gesichtsschnitt (Augenlider, verkürzter Nasenrücken, schmales Lippenrot, fehlende Rinne der Oberlippe). Hier liegt zunächst eine ganz direkte materiell schädigende Einwirkung auf den Embryo vor. Der Alkoholkonsum der Mutter kann durchaus mit deprivierenden und deprimierenden sozialen Lebensbedingungen verknüpft sein (Ressourcenknappheit, soziale Isolierung, Gewalterfahrung). Aber diese lassen sich möglicherweise nicht trennen von der Erfahrung von psychosozialem Stress und von mit dem subalternen Status verknüpften Emotionen wie Scham, Resignation, vielleicht Aggression. Beide Faktoren könnten so wiederum ursächlich in den Alkoholkonsum eingehen und dieser wiederum zur Schädigung des Kindes führen.
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Soziale Produktionen
Beispiel kognitive Behinderungen Eine ähnliche Verknüpfung beider Perspektiven könnte bei der Analyse von auf soziale Deprivation zurück gehende kognitive Behinderungen sinnvoll sein. Neuere experimentelle Studien im Schnittbereich zwischen Soziologie und Neurowissenschaften belegen enge Zusammenhänge zwischen der kognitiven Entwicklung bzw. Entwicklungsde¿ziten, deren neurologischen Substraten und dem sozioökonomischen Status der Elternhäuser. So zeigen Farah u. a. (2006), dass bei von ihnen untersuchten Kindern in auffälliger Weise ein niedrigerer sozioökonomischer Status bzw. Armut der Elternhäuser mit Funktionseinbußen spezi¿scher kognitiv-neuronaler Systeme zusammen hängt (insbes. Sprache, Langzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis und allg. Aufmerksamkeitssteuerung bzw. kognitiver Kontrolle). Ihr zentrales Ergebnis lautet: „Our results indicate that childhood poverty does have reasonably speci¿c neurocorrelates“ und „Childhood poverty is associated with a particular pro¿le of neurocognitive strengths and weaknesses“ (Farah u. a. 2006: 169). Die beobachteten Effekte waren ausgeprägter, wenn eine Phase der Armutserfahrung länger war und wenn die frühkindliche Entwicklung in diese Phase ¿el. Es wurden dabei mögliche prä- oder perinatale Schädigungen kontrolliert, einschließlich eines denkbaren Drogen- oder Alkoholkonsums der Eltern während der Schwangerschaft. Farah diskutiert zwei in Frage kommende Grundtypen von Ursachen, die der hier aufgeworfenen Thematik relativer und absoluter Deprivation genau entsprechen. Auf der einen Seite geht es dabei um die Frage, ob die kindliche Umwelt unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen, bei niedrigem sozioökonomischen Status der Eltern in der Gefahr ist, unterkomplex und gleichsam zu anregungsarm zu sein. Es ist bekannt, dass eine an kognitiven, kommunikativen und sozioemotionalen Stimuli arme Umwelt zu einer eingeschränkteren Gehirnentwicklung führen, was sich beispielsweise in der Zahl der synaptischen Verknüpfungen zwischen Neuronen dokumentiert. Man könnte sagen: hier geht es um eine Frage des Vorhandenseins oder Nicht-Vorhandenseins von kognitiven, emotionalen, sprachlichen Ressourcen für die kindliche Entwicklung, die wiederum mit der Eingeschränktheit bestimmter materieller Ressourcen (oft auch über Generationen) einher gehen. Ihre andere Erklärung ist wiederum stresstheoretisch. Farah geht davon aus, dass die soziale Umwelt bei sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen durch größeren Stress geprägt ist, etwa durch KonÀikte, Aggression, Gewaltwahrnehmung, Statusinkonsistenz, materielle Sorgen. Stress kann, wie bereits erwähnt, die Gehirn- und Gedächtnisentwicklung bzw. Leistungsfähigkeit nachgewiesenermaßen beeinträchtigen. Eine prospektive Studie von Evans u. a. (2009) geht vor allem diesem stresstheoretischen Zusammenhang nach. Untersucht wurden 195 Jugendliche über einen Zeitraum von 17 Jahren mit unterschiedlichem sozioökonomischem Status.
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Dokumentiert wurde die sozioökonomische Situation ihrer Familien über den gesamten Untersuchungszeitraum. Im Alter von 9 und 13 Jahren wurden physiologische Stressindikatoren (Blutdruck, Konzentration von Stresshormonen wie Kortisol, Epinephrin u. a., body mass index) erhoben. Im Alter von 17 absolvierten die Jugendlichen einen Test zur Funktionsfähigkeit des Kurzzeitgedächtnisses. Die Studie konnte in der Tat einen engen Zusammenhang von Leistungsunterschieden des Arbeitsgedächtnisses, des sozioökonomischen Status bzw. der Dauer von Armutsexposition (child poverty) und damit verbundener Stresserfahrung nachweisen. Je länger die Armutsexposition in der Kindheit war, desto größer war der sogenannte „allostatic load“ (ein physiologischer Index für chronischen Stress), und desto größer waren die Funktionseinbußen in der Leistungsfähigkeit des Kurzzeitgedächtnisses im Alter von 17 Jahren. Beide Studien werfen viele wichtige Forschungsfragen bezüglich der sozialen Produktion insbesondere kognitiver Behinderungen auf und belegen, dass es ganz sicher sinnvoll ist, sowohl eine Ressourcenperspektive als auch eine stresstheoretische Perspektive zu verfolgen und damit sowohl absolute als auch relative Deprivationsphänomene als mögliche Kausalfaktoren bei der Entstehung von Schädigungen im Auge zu behalten (ähnlich schon Marmot/Wilkinson 1999: Kap. 3). * Wie gesagt: wirklich aussagekräftige empirische Studien spezi¿sch zur sozialen Produktion von Behinderungen existieren bislang praktisch nicht. Das ist leider eine Tatsache, die mindestens mit drei Faktoren zu tun hat: der ungenügenden Operationalisierung von Behinderung im Niemandsland zwischen Medizin und den Sozialwissenschaften, dem Desinteresse von Sozialwissenschaft und Medizin an dem Thema Behinderung und dessen geringes wissenschaftliches Prestige in beiden Disziplinen, aber auch die Unfähigkeit zur interdisziplinären Zusammenarbeit. Auf Seiten der Soziologie liegt das auch daran, dass die Soziologie medizinische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden aus einem disziplinspezi¿schen Konstruktivismus und Kulturalismus heraus geradezu verpönt. Ich halte das wie gesagt für eine Art von Snobismus, der m. E. dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht mehr entspricht. Festzuhalten bleibt die Notwendigkeit weiterer interdisziplinärer Forschung. Sie alleine könnte unser Wissen über den augenfälligsten Aspekt der sozialen Kontingenz des Körpers erweitern: seiner Verletzbarkeit durch Gewalt und Entbehrung, seiner Ausgeliefertheit an Zufälligkeiten der Einwirkungen der äußeren Welt und seine Abhängigkeit von Ressourcen und ihrer sozialen Verteilung. Und gerade in diesem Zusammenhang könnte Soziologie viel zur Humanisierung von Lebensverhältnissen beitragen.
6 Soziale Reaktionen
„Der Begriff ‚soziale Reaktion‘ beinhaltet neben formalen De¿nitionsvorgängen, z. B. durch Diagnostik, insbesondere die Gesamtheit der Einstellungen und Verhaltensweisen auf der informellen Ebene der zwischenmenschlichen Interaktionen“, schreibt Günther Cloerkes. Die Lebenswirklichkeit behinderter Menschen und das, was wir als ihre Behinderung bezeichnen von der „sozialen Reaktion“ her zu verstehen – diese Formel kann man als ein wichtiges Leitmotiv seiner Schriften ansehen. Zugleich war dieser „Reaktionsansatz“ das bestimmende und überaus erfolgreiche Paradigma der „Pionierzeit“ der Soziologie der Behinderten in Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren und ist es eigentlich immer noch. Denn Stigmatisierung, gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen ist nach wie vor ein zentrales gesellschaftliches Problem geblieben. Außerdem bildet die Auseinandersetzung mit sozialen Reaktionen auf Behinderung auch einen Ansatzpunkt für das soziale Modell der Behinderung. Es ist mittlerweile in Teilen politisch und rechtlich wirksam geworden – im Neunten Sozialgesetzbuch, in der International Classi¿cation of Functioning, Disability and Health der WHO (ICF), in der UN-Konvention zu den Rechten behinderter Menschen. Ich möchte den Begriff „soziale Reaktionen“ hier ebenfalls aufgreifen – er soll in Anknüpfung an Cloerkes sowohl für die institutionalisierte wie die nichtinstitutionalisierte gesellschaftliche Praxis im Umgang mit Behinderung stehen. Wir sind immer wieder auf den Umstand gestoßen, dass diese Praxis nicht in einem „unschuldigen“ Verhältnis zur Behinderung selbst steht. Behinderung, so hatten wir festgehalten, ist eine relationale Wirklichkeit. Die gesellschaftliche Reaktion ¿ndet Behinderung nicht einfach vor, Cloerkes formuliert sogar: erst die soziale Reaktion „‚schaffe‘“ (in Anführungszeichen!) in gewissem Sinne die Behinderung (Cloerkes 2007: 103). Andererseits beinhaltet der Begriff „Reaktion“, dass irgendeine Vorgabe, eine erste „Aktion“ da war, auf die „re-agiert“ wird. 6.1 Soziale Reaktionen auf Behinderung – drei Beispiele Bevor wir dieser Überlegung weiter nachgehen und dazu auch in die Begriffsgeschichte des Ausdrucks „soziale Reaktion“ gehen, möchte ich zunächst mit drei Beispielen einsetzen, um zu verdeutlichen, was gemeint ist. Diese drei Beispiele unterscheiden sich systematisch vor allem in zwei Hinsichten, die eng mit der
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Soziale Reaktionen
Systematik sozialer Reaktionen zu tun haben, so wie sie von Dieter Neubert und Günther Cloerkes ausgearbeitet wurde (vgl. Neubert/Cloerkes 2001: 50 ff.). Die erste Frage ist nämlich immer, ob und welche „Stimulusqualität“ das hat, worauf reagiert wird. Von dieser Frage hängt wesentlich ab, ob etwas als Behinderung erscheint oder nicht. Dass in einer gegebenen sozialen Umwelt etwas als Behinderung de¿niert wird, setzt – auch nach unserer De¿nition – voraus, dass (a) ein bestimmtes Merkmal überhaupt als in einem erwähnenswerten Sinne abweichend wahrgenommen wird (Neubert/Cloerkes sprechen von „Andersartigkeit“). Ist das der Fall, muss (b) eine negative Bewertung erfolgen. Erfolgt keine negative Bewertung oder sogar eine positive, wird das Merkmal im bestehenden Kontext eben nicht als Behinderung, sondern als etwas anderes behandelt. Wir haben uns verschiedentlich mit der soziokulturellen Relativität von Behinderung beschäftigt und wissen bereits, dass soziale Reaktionen je nach Kontext variieren können. Dies ist auch bei den folgenden drei Beispielen so: in allen drei Fällen geht es um angeborene Schädigungen, die bei uns i. d. R. als Behinderung interpretiert würden. In zwei Fällen ist das aber innerhalb des dortigen Kontextes nicht so. Im einen Beispiel (Gehörlosigkeit auf Martha’s Vineyard) entfällt die Stimulusqualität als „andersartig“, im anderen (Mädchen mit zwei Gesichtern) kommt es statt zu einer negativen zu einer positiven Bewertung. Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte – negative Reaktionen (Beispiel 1) Spaltbildungen im Gesichts- und Mundbereich gehören zu den häu¿gsten angeborenen Fehlbildungen. Sie entstehen intrauterin und können sehr unterschiedliche Ausprägungen erfahren, von einer leichten Einkerbung der Lippe (sogenannte „Hasenscharte“) bis zu einer Spaltbildung, die den gesamten Kiefer und Gaumen erfasst (sogenannter „Wolfsrachen“). Heute können Spaltbildungen weitgehend durch Operation behandelt werden. Präoperativ können je nach Ausmaß erhebliche Funktionsde¿zite bei der Nahrungsaufnahme, der Atmung, des Gebisses, des Gehörs u. a. bestehen. Postoperativ können kosmetische Beeinträchtigungen (Narbe, ggf. starre Gesichtsmimik) zurück bleiben, je nach Schädigungsausmaß und operativem Ergebnis kann es auch zu Sprach- oder Hörproblemen kommen. Thomas Uhlemann greift in seinem Buch „Stigma und Normalität“ auf zahlreiche Interviews mit Eltern von Betroffenen und diesen selbst zurück. Viele Mütter berichten von ihren eigenen vielfach sehr drastischen Reaktionen kurz nach der Geburt der Kinder. Hier einige beispielhafte Äußerungen: „Sie stellen sich ja immer so ein normales Gesicht vor, und jetzt, wenn das Kind schrei, ist da ein riesengroßes Loch. Und das war also ein Schock für mich […] Ich hab in
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dem Moment überhaupt nichts empfunden, als nur ganz eiskaltes Entsetzen und mir gedacht: Du kannst das Kind niemals herzeigen.“ (Uhlemann 1990: 76) „Also ich wollte es gar nicht sehen, Ich wollte das Kind nur weghaben, wegen meiner Nerven.“ (Uhlemann 1990: 77) „Das war schrecklich, ganz schrecklich. Wir hatten uns doch ein echtes Kind gewünscht.“ (ebd.) „Ich war wirklich so weit, dass ich mir das Leben nehmen wollte. Ich war körperlich ja total kaputt und nervlich … Die sehen ja wie die kleinen Monster aus, da erschreckt die eigene Mutter vor so einem Kind.“ (Uhlemann 1990: 70) „Also ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schockiert ich war. Ich hab immer nur gedacht, hoffentlich ist er geistig richtig, oder Gott weiß, was er noch alles hat. Wenn ich allein gewesen wäre, ich weiß nicht, was ich womöglich getan hätte.“ (Uhlemann 1990: 76) „Wenn ich aufgewacht bin, da hat die Schwester gesagt: Schauen Sie her, das haben sie jetzt. Was habe ich gesagt, das ist er doch gar nicht. Das ist doch mein Kleine nicht. Und dann war ich fort. Da war ich total verdreht.“ (Uhlemann 1990: 77)
Das anfängliche Erschrecken weicht bei den Eltern meistens einem zunehmendem Normalisierungsprozess (Annahme und Annäherung), ein Prozess, der nach der erfolgten Operation nochmals eine erhebliche Beschleunigung erfährt. Selbst betroffene Jugendliche berichten immer wieder von Angestarrtwerden, Hänseleien und Stigmatisierungen in der Schule, die sich an auch nach der Operation sichtbaren Aspekten der Schädigung festmachten, wie der Gesichtsnarbe, Atemwegsirritationen bzw. Sprachfehlern. „Schön war’s nicht gerade, Außenseiter. Die haben gesagt, naja, verseucht. Hat ne große Krankheit. Den kann man nicht anfassen und so.“ (Uhlemann 1990: 121) „In der Schule haben sie einen praktisch so verarscht. Da haben sie halt Ausdrücke wie Wackelzahn und Hexe gesagt und sie haben mich ausgelacht.“ (Uhlemann 1990: 127) „Am Anfang vor der dritten Klasse, da haben die mich immer verarscht und so. Die haben gesagt: Du Wildschwein, und ich meine, ich habe mich dann damit abgefunden.“ (Uhlemann 1990: 121). „Am schlimmsten war bei mir eigentlich Deutsch wegen dem Sprechen. Weil ich im Lesen nicht gut war, da habe ich immer so komische Wörter rausgebracht, die haben sich immer so komisch angehört, und die anderen haben immer gelacht. […] In den
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Soziale Reaktionen letzten Jahren hab ich dann selber über mich gelacht. Da war es mir dann irgendwie wurscht.“ (ebd.)
Was zunächst auffällt, ist die vergleichsweise dramatische Erstreaktion der Mütter. Die angeborene Schädigung betrifft ein „Organ“, das für die erste Interaktion und Kommunikation von zentraler Bedeutung ist, das Gesicht. In dem Sinne, dass es sich bei dem Erschrecken der Eltern um eine erste spontane, unwillkürliche und unmittelbar-affektive Reaktion handelt, kann man von einer „originären Reaktion“ sprechen (z. B. Cloerkes 1984). Man kann vermuten, dass in diese „originäre Reaktion“ grundlegende wahrnehmungspsychologische Strukturen einÀießen. Ein Gesicht mit einem „Loch“ ist alleine schon deswegen „unheimlich“, weil wir es in der Regel eben mit intakten Gesichtern zu tun haben. Es mag sein oder nicht sein, dass es beim Menschen angeborene biologische Programme der Gestalterkennung und Wahrnehmung von menschlichen Gesichtern gibt, wie manche (sozio)biologisch argumentierenden Autoren vertreten. Weniger spekulativ ist eine Art Gewöhnungsargument, das in jedem Fall plausibel sein dürfte. Ein Gesicht mit einem Loch bleibt einfach eine ungewohnte Ausnahme, die zudem die Kommunikation mit dem Kind erschwert, da der Affektausdruck im kindlichen Gesicht, aber auch das Essverhalten (insbesondere das Stillen) dadurch beeinträchtigt wird. Allerdings wäre es falsch zu sagen, dass diese ersten originären Reaktionen insofern rein psychologischen (oder sogar biologischen) Gesetzlichkeiten folgen. Die Interviewpassagen, auf die Uhlemann zurückgreift, zeigen ganz deutlich, wie wesentlich für die ersten Affekte der Eltern auch Erwartungshaltungen sind, die zugleich sozial vermittelt sind. Das wird besonders deutlich bei der zuerst zitierten Äußerung: „Du kannst das Kind doch niemals herzeigen“. Hier wird deutlich wie in die Affekte der ablehnenden Reaktion selbst die Antizipation der Reaktionen der sozialen Umwelt eingeht. Zu dem genannten Gewöhnungseffekt dürfte desweiteren hinzu kommen, dass lachende Babygesichter bei uns ein nahezu universell positiv besetztes kulturelles Stereotyp sind, das in hohem Maße Mutter-, Lebens- und Familienglück, also zentrale Werte unserer Gesellschaft symbolisiert. Insofern können diese so genannten originären Reaktionen zugleich auf sehr grundlegende soziokulturelle Werte und Inhalte zurückgreifen. Die originären Reaktionen, die zum Teil auch zu einer Isolierung des Kindes führen und in die sich die Sorge darüber mischt, wie sich denn die soziale Umwelt dem Kind gegenüber verhalten wird, weicht in der Beschreibung Uhlemanns allmählich einem Prozess der Annäherung, in dem die anfängliche Ablehnung überwunden wird. Das bedeutet, dass sich die originäre Reaktion mit der Zeit verändert. Mit Cloerkes könnte man sagen: es stellt sich eine „überformte“ soziale Reaktion (Cloerkes 1984) ein. Die Eltern „gewöhnen“ sich an den Anblick, reÀektieren weitere Wertbezüge, anerkennen, dass das Kind ebenso ein Recht auf elterliche Liebe und Zuwendung hat, sie entdecken liebenswerte Züge an dem Kind, die sie in den
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Vordergrund stellen (Uhlemann 1990: 98 ff.). Allerdings können die Eltern auch im Rückblick auf diese Phase ein weiter wirkendes Moment der Gebrochenheit der affektiven Zuwendung, einer Ambivalenz der Beziehung zu dem Kind in den meisten Fällen nicht verhehlen. Nach erfolgter Operation der Spaltbildung tritt übereinstimmend eine wesentliche Veränderung ein. Einige der interviewten Eltern gehen dabei so weit nach gelungener Operation von einer „zweiten Geburt“ des Kindes zu sprechen (Uhlemann 1990: 113). Gehörlosigkeit auf Martha’s Vineyard – Nicht-Reaktionen (Beispiel 2) Die amerikanische Kulturanthropologin Ellen A. Groce führte um 1980 im Rahmen einer ethnohistorischen Studie auf der Insel Martha’s Vineyard vor der Küste des US-amerikanischen Bundesstaats Massachusetts Interviews mit alten Menschen. Diese erinnerten sich z. T. noch selbst an den Kontakt mit gehörlosen Menschen in ihrer Jugend oder konnten Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern dazu wiedergeben (oral history). Damit hatte es folgende Bewandnis: Auf der Insel kam es bis Anfang des 20. Jahrhunderts infolge genetischer Isolation zu einem erhöhtem Auftreten angeborener Gehörlosigkeit. Das Verhältnis gehörloser zu hörenden Menschen lag im 19. Jahrhundert in manchen Ortschaften bei unter 1 : 50, in zwei sehr isolierten Ortschaften betrug es 1 : 25 und sogar 1 : 4 (Groce 1985: 42). Auf dem Festland der USA kam es im Vergleich zu einem Verhältnis von schätzungsweise 1 : 5730 (Groce 1985: 3). Die gehörlosen Menschen wurden auf Martha’s Vineyard aber als völlig gleichberechtigte Mitbürgerinnen und Mitbürger behandelt und als besondere Gruppe weder wahrgenommen noch so bezeichnet. Und sie wurden offenbar schon gar nicht als „behindert“ klassi¿ziert. Dafür sprechen nicht nur überlieferte schriftliche Quellen, sondern insbesondere die von Groce erhobenen Reaktionen und Äußerungen ihrer Gesprächspartner. Die Interviewten von Groce kannten in der Regel eine ganze Reihe gehörloser Menschen, allerdings wurde in den Äußerungen niemals auf die Gehörlosen als Gruppe Bezug genommen, die Erinnerungen knüpften sich durchweg an die einzelnen Menschen. Groce konnte mit Hilfe von verschiedenen Quellen eine relativ vollständige Liste mit gehörlosen Menschen der damaligen Zeit anfertigen und bemerkte daher in vielen Fällen, dass der Umstand der Gehörlosigkeit als solcher gar nicht erinnert wurde. Hier einige Beispiele von signi¿kanten Interviewäußerungen: ƒ
In einem Interview mit einer etwa neunzigjährigen Frau, stellte Groce zu zwei Männern, die auf der Liste standen, die Frage „Do you know anything similar about Isaiah and David?“ Die Antwort war: „Oh yes! They both were very good ¿shermen, very good indeed.“ Auf die Frage, ob sie denn nicht
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Soziale Reaktionen gehörlos waren, antwortete die alte Dame: „Yes, come to think of it, I guess they both were, I’d forgotten about that.“ (Groce 1985: 4) Aus vielen Einzelerzählungen wurde deutlich, dass die gehörlosen Menschen im Sinne des sozialen Modells nicht behindert wurden. Sie waren sozial einbezogen, heirateten, bekamen Kinder und gingen denselben Berufen nach wie die hörenden Nachbarn. Ein älterer Mann äußerte in diesem Zusammenhang: „I didn’t think about the deaf any more than you’d think about anybody with a different voice“. (Groce 1985: 5) Eine Frau Mitte achzig äußerte auf die Frage, ob sie Leute gekannt habe „who were handicapped by deafness when she was a girl“: „Oh… those people weren’t handicapped. They were just deaf.“ (Groce 1985: 5).
Ein sehr wichtiger Aspekt dieser weitgehenden Teilhabe der gehörlosen Menschen liegt in dem Umstand, dass auf Martha’s Vineyard ein großer Teil auch der hörenden und alle nicht-hörenden Inselbewohner die Gebärdensprache schon als Kinder selbstverständlich und eingebettet in Alltagsvollzüge erlernten und beherrschten. Die Gebärdensprache wurde sogar unter Hörenden benutzt. So kam es selbst in Gesprächen in Lautsprache immer wieder zu einer begleitenden Benutzung der Gebärden. Jugendliche (manchmal auch ältere Männer) erzählten sich während des Gottesdiensts oder in der Schule auf lautlose Weise lustige Geschichten, wenn es zu langweilig wurde. Die Gebärdensprache wurde zur Überbrückung großer Distanzen (manchmal sogar mit Fernglas!) eingesetzt oder von Fischern, um sich zwischen den Booten zu verständigen (Groce 1985: 64 ff.). Die Gehörlosigkeit spielte als Verständigungshemmnis also keine Rolle.58 Die Studie von Groce erregte weit über einen fachwissenschaftlichen Kontext hinaus Resonanz, schien sie doch die Implikationen des sozialen Modells und zugleich eine Utopie des Zusammenlebens von behinderten und nicht-behinderten Menschen in perfekter Weise zu belegen. In der Tat sind die Berichte ein beeindruckender Beleg dafür, dass unter bestimmten glücklichen Umständen von vorne herein eine soziale De¿nition als Behinderung nicht aufkommen kann, weil der Hindernischarakter der Behinderung weder für die eigentlich Betroffenen noch für deren soziale Umwelt im Vordergrund steht. Durch die gemeinsame Beherrschung der Gebärdensprache sind alle Parteien sozusagen optimal an die Gehörlosigkeit „angepasst“. Zudem hatte die hörende Partei von dieser Anpassung deutliche Vorteile. Dafür sprechen die vielfältigen Nutzungen der Gebärdensprache durch die Hörenden. Allerdings muss man dabei auch weitere, sehr spezi¿sche Bedingungen auf Martha’s Vineyard in Rechnung stellen. Dazu gehört sicher die relativ hohe 58 Offensichtlich sind also für die Frage, ob in einer Gesellschaft etwas als „Behinderung“ angesehen wird, Erwartungen über den „normalen Körper“ und seine Funktionsfähigkeit, ebenso entscheiden wie die Art und soziale Verteilung von (erwarteten) Kompetenzen (vgl. Jenkins 1998: 5 ff.).
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Zahl der gehörlosen Menschen. Als diese im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts durch den größeren Austausch mit dem Festland zurück ging, verschwand auch die Kenntnis der Gebärdensprache in den folgenden Generationen. Der unkomplizierte Erwerb der Gebärdensprache, eingebettet in familiäre und nachbarschaftliche Interaktionszusammenhänge ist gebunden an sehr kleinräumige und durch persönliche Bekanntschaft geprägte organische Sozialbezüge. Auch die auf der Insel vorherrschende Berufsstruktur mag zur Unauffälligkeit der Gehörlosigkeit beigetragen haben. Eine der Haupteinkommensquellen war offenbar der Fischfang. Diese Tätigkeit hat bezüglich der Gehörlosigkeit einen ganz anderen Indifferenzfaktor wie beispielsweise Berufe im (Fern-)Handel, bei denen man dann zwingend auf nicht gebärdende Kunden treffen würde. Medien wie das Ende des 19. Jahrhunderts sich verbreitende Telefon dürften neue Behinderungssituationen ebenso geschaffen haben wie die im 20. Jahrhundert zunehmende Mobilität der Einwohner von Martha’s Vineyard (vgl. Shakespeare 2006: 51). Aus den Ausführungen von Groce geht insgesamt auch nicht hervor, dass Gehörlosigkeit nicht bemerkt wurde. Es ist schlecht vorstellbar, dass es nicht auch auf Martha’s Vineyard zu Situationen kommen konnte, wo sich Nachteile darin zeigten, nicht zu hören. Beispiele wären: Nebelhörner bei Schiffen, Klopfen an der Türe, ggf. Nutzung von Telefonen oder auch die objektive Benachteiligung eben nur über ein Kommunikationsmedium statt über zwei Kommunikationsmedien (wie die gebärdenden Hörenden) zu verfügen. Die Gehörlosigkeit wurde durchaus registriert. Es fehlte aber der Stimuluscharakter, der Gehörlosigkeit als eine bedeutsame Abweichung, als Kennzeichen für eine Andersartigkeit ausgewiesen hätte, die einen Umbau zentraler soziale Rollen bzw. sogar eine eigene soziale Rolle erfordert hätte. Was eine generelle Übertragbarkeit des „Modells Martha’s Vineyard“ auf die Situation behinderter Menschen schlechthin betrifft, so darf man Zweifel haben. Bei anderen Behinderungen gibt es kein Äquivalent zur Gebärdensprache. So wäre es nicht vorstellbar, dass auch der nicht gehbehinderte Teil der Bevölkerung auf Rollstühle zurückgreift oder sich – mit Rücksicht auf geistig behinderte Menschen auch unter sich der sogenannten „einfachen Sprache“ bedient. Damit würde die große Mehrheit der Bevölkerung einschneidend in ihren Fortbewegungsmöglichkeiten bzw. Verständigungsmöglichkeiten eingeschränkt („behindert“). Noch nicht einmal für Gehörlosigkeit lässt sich das Modell etwa auf die Situation der modernen bundesrepublikanischen Gesellschaft übertragen. Denn durch die weit geringere Präsenz von gehörlosen Menschen wäre ein organischer Erwerb der Gebärdensprache wie auf der kleinen Insel ausgeschlossen. Das hieße aber, man müsste die Gebärdensprache in der Schule unterrichten und würde damit sofort die Rückfrage produzieren, wieso man stattdessen nicht besser Spanisch, Italienisch, Türkisch oder sogar Tschechisch, Dänisch oder Isländisch lernen sollte.
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Das Kind mit zwei Gesichtern – positive Reaktionen (Beispiel 3) Im März 2008 wurde – laut Agenturmeldungen und Presseberichten – in der indischen Region Uttar Pradesh ein Kind mit zwei Gesichtern geboren. Das Mädchen namens Lali hatte zwei frontal gegeneinander abgewinkelte Gesichter mit je einer Nase, einem Mund und einem Augenpaar, nur die Ohren waren paarweise. Die Gesichtsorgane waren offenbar funktionsfähig, das Kind konnte mit beiden Mündern trinken und am Daumen lutschen, alle vier Augen zur selben Zeit schließen und atmen. Die Geburt des Kindes verlief anscheinend ganz normal in einer Klinik. Das Mädchen und seine Eltern wurden von einem „ganzen Schwarm von Dorfbewohnern nach Hause eskortiert“. Weder die örtlichen Ärzte noch die Eltern sahen zunächst offenbar einen Grund zu einer Operation. Allerdings wird in einer Meldung die Äußerung eines Arztes überliefert, in der die Eltern kritisiert werden, weil sie nicht bereit waren das Angebot einer kostenlosen Computertomographie des Kindes anzunehmen. Der 23-jährige Vater hatte diese offenbar mit der Begründung abgelehnt „Wir brauchen das derzeit nicht, denn meine Tochter verhält sich wie ein normales Kind und macht keine Probleme“. Am Anfang habe er sich etwas gefürchtet. Die 19jährige Mutter habe angeblich geäußert , sie hätte „ihr Kind so akzeptiert, wie es ist: „Gott hat alle seine Geschöpfe geformt – wer sind wir, dass wir bestimmen, wie sie aussehen soll“. Aus der näheren und weiteren Umgebung, angeblich auch aus dem Ausland kamen täglich Besucher, um Lali zu sehen. Sie wurde offenbar als Reinkarnation verschiedener indischer Gottheiten angesehen und regelrecht verehrt. Ihre Füße wurden respektvoll berührt, die Leute legten Geldgeschenke an ihrem Bett nieder und erbaten seinen Segen. Der Bürgermeister des Ortes äußerte Freude darüber, dass das Kind den Ort berühmt gemacht habe und erläuterte den angereisten Journalisten seinen Plan, für die zur Göttin Durka inkarnierte Lali einen Tempel erbauen zu lassen, „dafür erwarte er die ¿nanzielle Unterstützung durch die Zentralregierung in Neu-Delhi“. Ein Artikel der „Welt“ hält fest, bei indischen Reportern sei es auf Unverständnis gestoßen, dass der Vater den Göttinnenkult akzeptiere. Der Vater sei gar kein Hindu, sondern gehöre der Religionsgemeinschaft der Sikhs an, die gar nicht an inkarnierte Gottheiten glaubten. Die Vermutung liegt nahe, dass die Familie ein gewisses Interesse an den nicht unbeträchtlichen Geldgeschenken der vielen Besucher habe. Bis zum Juni des Jahres sprach offenbar nichts für irgendeine gesundheitliche Beeinträchtigung des Kindes, bis es in diesem Monat zu Meldungen kam, dass das Kind gestorben sei.59 59 Quellen: www.sueddeutsche.de/panorama/857/438601/text; http://www.focus.de/gesundheit/news/ indien-baby-mit-zwei-gesichtern_aid_268546.html; http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/zukunftsmedizin/news/indien-maedchen-mit-zwei-gesichtern-gestorben_aid_307903.html; http://www.welt. de/wissenschaft/article2087109/Indisches_Maedchen_mit_zwei_Gesichtern_gestorben.html; http://
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Anders als im Fall von Martha’s Vineyard hat das angeborene Merkmal hier einen ganz deutlichen „Stimuluscharakter“ insofern, als die grundlegende „Andersartigkeit“ des Kindes für alle Beteiligten außer Frage steht. Das Kind hätte, wenn es überlebt hätte, eine völlig veränderte soziale Positionierung erfahren als jedes andere Kind, wenn die Pläne der Eltern und des örtlichen Bürgermeisters zum Bau eines Tempels hätten umgesetzt werden können. Aber anders als im ersten Beispiel, wo die Andersartigkeit als ein Makel betrachtet wird, waren sich die Beteiligten im Falle von Lali über den positiven Wert ihrer Abweichung, nämlich dass ihr Aussehen als ein Zeichen ihrer Göttlichkeit zu werten sei, einig. Im Ergebnis hätte diese Art von Reaktion zu einem ähnlich einschneidenden Ausschluss aus normalen sozialen Beziehungen und Kontexten geführt, wie wenn Lali als behindert angesehen worden wäre. In einem Tempel als Objekt der Anbetung der Mitmenschen zu leben, ist möglicherweise angenehmer als als Bettlerin das Leben zu fristen oder zum Objekt von Stigmatisierungen und Hänseleien zu werden. Aber von einem ganz normalen Leben wie bei den gehörlosen Bewohnerinnen und Bewohnern von Martha’s Vineyard wäre in diesem Fall keine Rede gewesen. Im Unterschied zum ersten Beispiel konnten die Betroffenen im Fall von Lali auf Deutungsmöglichkeiten der körperlichen Abweichung zurück greifen, die diese als Auszeichnung wertete und nicht als Einschränkung. Im hinduistischen Kontext gibt es eine Reihe von (positiv bewerteten) Göttern bzw. religiösen Wesenheiten, die sich durch ihre Abweichung von einer Norm des menschlichen Körperbilds auszeichnen: der vierköp¿ge Brahma, die vierarmige Göttin Lakshmi, die dreiäugige und vielarmige Göttin Durga, der elefantenköp¿ge Gott Ganesha oder der affenköp¿ge Gott Hanuman. 6.2 Soziale Reaktionen zwischen Elimination und Inklusion – eine Typologie Was zeigen die Beispiele? Ergänzt man sie um die bereits in Kapitel 1 vorgestellte Extremformen des Umgangs mit körperlicher Abweichung, so schält sich so etwas wie eine Typologie sozialer Reaktionen heraus. Sie könnte so oder so ähnlich aussehen wie die Typologie, die Dieter Neubert und Günther Cloerkes in ihrem Überblick über den Umgang mit Behinderung und Behinderten in verschiedenen Kulturen erstellt haben (Tabelle 7). Am einen Ende steht – wie im Fall der Gehörlosen auf Martha’s Vineyard – die Möglichkeit, dass aus der Perspektive der betroffenen Gemeinschaft keine Behinderung vorliegt. Das ist mit „emischer Normalität“ gemeint: www.welt.de/wissenschaft/article1877808/Baby_mit_zwei_Gesichtern_wird_als_Gott_verehrt.html; http://www.welt.de/wissenschaft/article1899135/Warum_ein_missgebildeter_Saeugling_fasziniert. html; alle abgerufen am 2.10.2009.
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eine körperliche Abweichung wird aus Sicht der Angehörigen der betreffenden Gemeinschaft gar nicht registriert. Nur aus der Außenperspektive (etisch) ist eine deutliche Abweichung gegeben.60 Extremreaktionen und Segregation Am anderen Ende stehen die sogenannten Extremreaktionen aktiver und passiver Tötung oder der Ausstoßung, des sozialen Todes. Mit diesen Formen gesellschaftlicher Reaktionen hatten wir bereits im Prolog zu tun. Sehr viel verbreiteter auch in unserer Gesellschaft sind allerdings Ausgrenzung, Isolation und Segregation von Menschen mit Behinderung. Im Mittelalter wurden Menschen mit Behinderung vielfach vor die Stadttore gejagt. Aber auch in unserer Gesellschaft ist die Segregation behinderter Menschen in besondere Einrichtungen (Schulen, Werkstätten, Wohnheime) nach wie vor keine Seltenheit. Tabelle 7
Soziale Reaktion
Typologie sozialer Reaktionen (nach Neubert/Cloerkes 2001: 55, um die Dimensionen Exklusion/Inklusion und Stigmatisierung ergänzt) aktive/ passive Tötung
Ausstoßung
Isolation
Einschränkung der Partizipation
Modi¿kation der Partizipation
Laisserfaire
keine Reaktion
Ø
Ø
Ø
Ø
Ø
Ø
Ø
Ø
Status des behinderten Menschen
physischer (und sozialer) Tod
sozialer Tod
NichtRolle
partieller Rollenverlust
Sonderrollen
QuasiNormalität
emische Normalität
Exklusion/ Inklusion
Exklusion
Stigmatisierung?
immer Stigmatisierung
ÖÖÖÖÖÖ (partielle) Inklusion kann mit Stigmatisierung verknüpft sein, muss aber nicht
keine Stigmatisierung
60 Das Begriffspaar emisch-etisch wird in der Ethnologie in Anlehnung an die Verwendung dieser Wortstämme in der Linguistik verwendet. Dort spricht man etwa von Phon-emik und Phon-etik. Phonemik (oder Phonologie) ist derjenige Bereich der Linguistik, der sich mit eine Bedeutung unterscheidenden Lauteinheiten einer Sprache, den Phonemen befasst (zum Beispiel: Kutter-Futter). Die Phonetik dagegen befasst sich mit dem abstrakten, nur aus der Außenperspektive erschlossenen System der in einer bestimmten Sprache vor¿ndlichen Laute, unabhängig von der Frage, ob diese Laute Bedeutungen haben oder nicht.
Soziale Reaktionen zwischen Elimination und Inklusion
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Partieller Rollenverlust Wenn die Einschränkung der Partizipation sich nur auf Teilbereiche bezieht, tritt ein partieller Rollenverlust auf. Menschen mit Behinderung sind möglicherweise in der Lage zu arbeiten, ¿nden allerdings keinen Partner oder keine Partnerin, bzw. unterliegen einem Heiratsverbot oder umgekehrt. Sie werden von Führungsrollen oder bestimmten Befugnissen (wie zum Beispiel politischen Mitspracherechten) ausgeschlossen oder erleiden einen Prestigeverlust. Modi¿kation der Partizipation Zu einer Modi¿kation der Teilhabe kommt es dann, wenn für behinderte Menschen Sonderrollen vorgesehen sind. Neubert/Cloerkes unterscheiden hier den Fall, dass diese Sonderrollen sich über einer Inkompetenz- oder einer Kompetenzzuschreibung konstituieren. Beispielsweise wird in unserer Gesellschaft die Rolle eines Mitarbeiters einer Werkstätte für behinderte Menschen (WfbM) eröffnet. Dabei handelt es sich um eine Rolle, die zwar gewisse Ähnlichkeiten mit einer Berufsrolle oder der Rolle eines Angestellten hat: es werden Sozialabgaben abgeführt, es wird um einen allerdings geringfügigen Lohn gearbeitet. Sie ist aber schon deswegen keine reguläre Berufsrolle, weil der Träger der WfbM vom Sozialamt dafür vergütet wird, dass er den Mitarbeiter beschäftigt. Außerdem sind damit bestimmte Schutz- und Fürsorgerechte verknüpft (Förderung, begleitende Betreuung). Dabei spielt eine in diesem Falle formalisierte Inkompetenzzuschreibung eine Rolle, denn in einer WfbM können nur Menschen beschäftigt werden, die „wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können.“ (§ 136 Abs. 1 SGB IX). Generell gehören auch alle Zuschreibungen einer besonderen Schutzbedürftigkeit behinderter Menschen in diese Kategorie, sie sind meistens mit einer dauerhaften Entlastung von bestimmten RollenverpÀichtungen (Arbeitsanforderungen, SteuerpÀichtigkeit) verknüpft, aber auch mit aktiven Ausschlüssen. Ein ganz anderes Beispiel liegt dann vor, wenn eine „Anomalie“ Ausgangspunkt für eine besondere Kompetenzzuschreibung wird. Ein schon mehrfach bemühtes Beispiel ist die Schamanenrolle in sibirischen und anderen Stammesgesellschaften. Grundlage der besonderen Erwähltheit für die Schamanenrolle konnten und können Verhaltensweisen sein, die in unserer Kultur zur Zurechnung psychischer Erkrankung führen können (Soloveva 2009: 42). Zum Teil wurde auch inter- und transsexuellen Menschen eine besondere Begabung für diese Funktion zugeschrieben (Neubert/Cloerkes 2001: 54; Kasten 2009a: 144, 146).
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Laisser-Faire-Reaktionen Unter „Laisser-Faire-Reaktionen“ verstehen Neubert/Cloerkes solche Reaktionen, die keine weiteren Sonderrollen des betroffenen Menschen zur Konsequenz haben. Als Beispiel führen sie eine unerwünschte Gesichtsentstellung oder Körperbehinderungen an, die die üblichen Rollenanforderungen unangetastet lassen. Allerdings kann es gleichwohl zu Unterschieden in der Behandlung kommen, ohne dass diese zu Grundlagen einer expliziten Rollenzuschreibung werden. Das drückt sich im Status einer Quasi-Normalität aus. Jeder bemerkt das abweichende Merkmal, es wird aber so getan, als ob alles „normal“ wäre. Beispielsweise zitieren Neubert/ Cloerkes einen Bericht über einen Mann aus dem Stamm der Orokaiva (Ozeanien) mit einer Gesichtsentstellung, der zum ersten Mal sein eigenes Gesicht auf einer von den Ethnologen erstellten Photogra¿e zu sehen bekam. Er reagierte darauf mit einer Mischung von Erstaunen, Kummer und Ungläubigkeit. Zum Gelächter seiner Genossen mündete diese Ratlosigkeit in der scherzhaften Bemerkung, dieses Bild zeige ja keinen Mensch, sondern einen Teufel (zit. bei Neubert/Cloerkes 2001: 60). Der Begriff der Quasi-Normalität stammt ursprünglich von Erving Goffman und wird im Zusammenhang mit seinem Stigmakonzept eingeführt, das an dieser Stelle von eminenter Wichtigkeit ist, weil es die gesamte Sichtweise, Behinderung von den sozialen Reaktionen her zu verstehen, maßgeblich beeinÀusst hat. Emische Normalität Der Begriff der „emischen Normalität“ beinhaltet dagegen, dass eine aus der Außensicht theoretisch registrierbare Anomalie nicht nur nicht beachtet, sondern als solche gar nicht bemerkt wird. Ein Merkmal hat, wie Neubert/Cloerkes sagen, keinen Stimuluswert, und ist insofern in gewisser Hinsicht kein Merkmal, jedenfalls nicht für Behinderung. Beispiel hierfür wären etwa der Analphabet in einer Gesellschaft, in der es nicht auf Lesen und Schreiben ankommt, die gehörlosen Menschen auf Martha’s Vineyard oder Zwillingsgeschwister in unserer Gesellschaft. Vergleich mit anderen Typologien Die Typologie von Neubert/Cloerkes ¿ndet sich so oder so ähnlich auch bei anderen Autoren. Beispielsweise sind die Typologien von Ravaud/Siker (2001) oder von Wocken (2009) sehr ähnlich gebaut.
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So arbeiten Ravaud/Stiker (2001) mit einem Begriffspaar Exklusion/Inklusion und unterscheiden folgende Typen: „exclusion through elimination“, „exclusion through abandonement“, „exclusion through segregation/differentiated inclusion“, „exclusion through assistance or conditional inclusion“, „exclusion through marginalization/inclusion through normalization“; „exclusion through discrimination/progressive inclusion“. Vollständige Einbeziehung (Inklusion) ist bei Ravaud/Stiker nicht vorgesehen. Wocken (2009) skizziert dem eigenen Anspruch nach eigentlich eine Stufenfolge der Logik der Behindertenpolitik und -Pädagogik. Allerdings legt sich bei genauer Betrachtung seiner Typologie der Verdacht nahe, dass er ebenfalls eine Typologie gesellschaftlicher Reaktionen und nicht nur des pädagogischen Umgangs mit Behinderung im Auge hat. Auch bei ihm steht – wie bei Neubert/Cloerkes und Ravaud/Stiker auf der einen Seite die Tötung (Extinktion), ganz sicher keine Form des (sonder-) pädagogischen Handelns. Dann folgen aufeinander logisch (nicht unbedingt historisch!) aufbauende Reaktionstypen, die mit von der Gesellschaft eingeräumten Rechtsansprüchen behinderter Menschen gekoppelt sind: Exklusion (Recht auf Leben), Separation (recht auf Bildung), Integration (Recht auf Gemeinsamkeit und Teilhabe) und Inklusion (Recht auf Selbstbestimmung und Gleichheit).
Es ist hier nicht der Ort die feinen Unterschiede dieser Typologien zu diskutieren. Im Großen und Ganzen lassen sie sich aufeinander projizieren, ohne dass die BegrifÀichkeiten immer vollständig kompatibel sind. Der Begriff der „Inklusion“ Eine Ergänzung verdient an dieser Stelle der Begriff der Inklusion. Er taucht bei Neubert/Cloerkes zwar nicht dem Wort, wohl aber der Sache nach auf. Dieser Begriff erfüllt in der aktuellen fachlichen und politischen Diskussion die Funktion eines Platzhalters für eine Art ideale Einbeziehung behinderter Menschen in die Gesellschaft. Insbesondere in der schulpädagogischen Debatte ist damit etwas gemeint, was Neubert/Cloerkes Begriff der emischen Normalität sehr nahe kommt. Kein Kind soll mehr als andersartig behandelt werden. Allerdings variieren die in den verschiedenen bildungs- und behindertenpolitischen Kontexten verwendeten Akzente. Mal ist eine Art Verschwinden der Differenz behindert/nicht behindert überhaupt in einer übergreifenden Kultur der Heterogenität gemeint. Mal bezieht sich wie bei Wocken Inklusion mehr auf eine rechtliche Ebene. Zum Teil wird dabei die These vertreten, Inklusion sei mehr als Integration und löse den Integrationsbegriff ab (Hinz). Dieser setze eine Zweigruppentheorie voraus, während eben bei Inklusion eine Anerkennung der prinzipiellen Heterogenität aller erfolge. Es
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werden dann aber, weil es „normal ist verschieden zu sein“, gar keine Gruppen mehr abgegrenzt (vgl. Wocken 2009: 3). Als Soziologe kann man sich gegenüber dieser reichlich individualistischen Sichtweise des Eindrucks einer gewissen Realitätsverkennung nicht ganz entschlagen. Aber da es hier eingestandenermaßen um politische Utopien geht, ist die Erörterung dieser Frage hier nicht sinnvoll. Allerdings ist es möglicherweise nützlich darauf hinzuweisen, dass der Begriff der Inklusion ebenso wie der der Exklusion und der Integration ursprünglich aus der Soziologischen Theorie stammt. Am deutlichsten wird er im Kontext der Parsons/Luhmannschen Systemtheorie pro¿liert. Bei beiden Autoren bezieht sich Inklusion auf die Frage struktureller und systematischer Einschließung (vgl. lateinisch inclusio = Einschließung, Enthaltensein) in soziale Systeme (Kommunikationen/Interaktionen, Organisationen, gesellschaftliche Subsysteme wie Wirtschaft, Recht, Bildung). Strukturell/systematisch meint, dass Inklusion/Exklusion binäre Alternativen sind, also nur ein Entweder/Oder kennen (Luhmann 1995: 241). Inklusion beinhaltet logisch die Möglichkeit von Exklusion und umgekehrt (vgl. Luhmann 1995: 241; Ravaud/Stiker 2001: 502). Typische soziale Strukturen der Exklusion/Inklusion sind beispielsweise Regeln der Stammeszugehörigkeit, Regeln über Zugehörigkeit und Mitgliedschaft in Familien, Verwandtschaft, Organisationen, formelle Sicherungen von sozialer Ungleichheit über Endogamie- bzw. Heiratsregeln, ständische Prinzipien, Regeln über bürgerschaftliche oder/und nationale Zugehörigkeiten und damit verbundene Zugangsrechte zu Ressourcen bzw. Rechten (z. B. Wahlrecht, Steuerrecht/-PÀicht) und schließlich universale Rechtsregeln wie die allgemeinen Bürger-, Menschenrechte.61 Nicht zufällig geht es in diesen Beispielen um formelle oder zumindest explizite soziale Regeln. Der strukturelle Charakter von Exklusion/Inklusion ist natürlich am prägnantesten, wenn explizite Normen (z. B. Rechtsregeln) bestehen. Es gibt aber auch andere strukturelle Mechanismen, die zu eindeutiger Ein- oder Ausschließung von Personen aus sozialen Systemen führen können. Ein Beispiel wären nicht vorhandene Sprachkenntnisse oder besondere Formen ökonomischer Ungleichheit. In jüngster Zeit werden in der Soziologie sozialer Ungleichheit zunehmend Exklusionsphänomene als eine Art qualitativer Sprung in der (quantitativen) Zuspitzung solcher Ungleichheitsformen analysiert. Bevölkerungsgruppen sind dann nicht mehr graduell, sondern strukturell und generell von der Verfügung 61 Ein prägnantes Beispiel für eine Exklusionsregel, die behinderte Menschen betrifft, ¿ ndet sich in der Bibel, im Alten Testament (3. Mose 21, Vers 17 ff.). Dort werden „behinderte“ Menschen vom Priestertum ausgeschlossen: „Keiner, an dem ein Fehl ist, soll herzutreten, er sei blind, lahm, mit einer seltsamen Nase, mit ungewöhnlichem Glied oder der an einem Fuß oder einer Hand gebrechlich ist oder höckerig ist oder ein Fell auf dem Auge hat oder schielt oder den Grind oder Flechten hat oder der gebrochen ist.“
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über bestimmte Ressourcen bzw. dem Zugang zu bestimmten sozialen Kontexten ausgeschlossen: „Wer keine Adresse hat“, schreibt Niklas Luhmann, „kann nicht zur Schule angemeldet werden (Indien). Wer nicht lesen und schreiben kann, hat kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt und man kann ernsthaft diskutieren (Brasilien) ihn vom politischen Wahlrecht auszuschließen. Wer keine andere Möglichkeit ¿ndet, unterzukommen, als auf dem illegal unbesetzten Land der favelas, genießt im Ernstfall keinen Rechtschutz“ (Luhmann 1997: 631). Integration ist graduell, für Inklusion gilt: entweder/oder Während sich Integration als graduell abgestuft denken lässt, also ein Mehr oder Weniger enthalten kann, sind die Begriffe Inklusion/Exklusion laut Luhmann nur binär zu gebrauchen, wenn sie wirklich auch für strukturelle Ausschlussund Einschlussprozesse und nicht für graduelle Beteiligung bzw. Ungleichheit gebraucht werden. Sie folgen also einer Entweder/oder-Logik. Man kann nicht mehr oder weniger exkludiert sein. Man kann aber sehr wohl mehr oder weniger arm bzw. reich sein. Beispielsweise ist der Arme so lange ins Wirtschaftssystem inkludiert, solange er überhaupt noch an wirtschaftlichen Transaktionen beteiligt ist. Phänomene der (graduellen) Ungleichheit sollten also begrifÀich nicht gleich gesetzt werden mit Exklusion, sonst werden alle diese Begriffe unscharf. Man kann inkludiert sein, aber schlecht integriert Bezogen auf Behinderung wäre insofern zu sagen: es gibt sehr wohl gute Gründe, die Situation behinderter Menschen und die sozialen Reaktionen auf Behinderung mit einer Exklusions/Inklusions-Semantik zu beschreiben. Diesen Begriff sollte man aber wirklich auch für strukturelle Einschließungen bzw. Ausschließungen reservieren. In diesem Sinne sind die aktive und passive Tötung von behinderten Menschen oder ihre Isolierung in der Tat Exklusionsphänomene, ebenso der systematische Ausschluss behinderter Menschen von Berufsrollen, Liebesbeziehungen, dem Bildungssystem oder bestimmten Institutionen und Teilbereichen des Bildungssystems. Umgekehrt kann man die rechtliche Gleichstellung, das Zugänglichmachen von Arbeits- und Wohnmöglichkeiten außerhalb von Einrichtungen usw. als Inklusionsphänomen ansehen. Allerdings heißt das eben gerade nicht, dass es nicht im Rahmen von Inklusionsverhältnissen zu entschiedenen Ungleichheiten in der Verfügung über soziale, kognitive, ökonomische, symbolische Ressourcen kommen könnte und in diesem Sinn eine höchst mangelhafte Integration des sozialen Gesamtsystems bzw. der Personen in das soziale System kommen könnte. Anders gesagt: man kann als
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behinderter Mensch ins allgemeine Schulsystem inkludiert, aber sehr schlecht integriert sein. In der Tat gibt es dafür im Hinblick auf integrative Beschulungsformen neuere empirische Belege (Huber 2009). Diese Redeweise setzt voraus, dass man die Begriffe Inklusion/Exklusion auf die angegebene Weise verwendet (nämlich nicht graduell, sondern im Sinne eines entweder/oder) und streng von Integrationsphänomenen und Phänomen relativer sozialer Ungleichheit innerhalb eines sozialen Bezugssystems unterscheidet. So gesehen ergibt sich zwar eine nüchternere und erwartungsgedämpftere Verwendung des Begriffs Inklusion. Aber dafür gewinnt man den Vorteil der Tauglichkeit für realitätsangemessenere Beschreibungen und Analysen. Stigmatisierung und Stigma Eine weitere analytisch zur Typologie von Neubert/Cloerkes quer stehende Kategorie, die sich auf soziale Reaktionen bezieht, ist die des Stigmas. Stigmatisierungen können prinzipiell mit fast allen Reaktionstypen im Neubert/Cloerkeschen Schema kombiniert sein, ausgenommen mit der emischen Normalität. Unter „Stigma“ versteht Erving Goffman die Verknüpfung eines irgendwie als auffällig oder abweichend betrachteten Attributs einer Person mit einer Kategorisierung als „diskreditiert“: „Im Extrem handelt es sich um eine Person, die durch und durch schlecht ist oder gefährlich oder schwach. In unserer Vorstellung wird sie so von einer ganzen und gewöhnlichen Person zu einer beÀeckten, beeinträchtigten herab gemindert. Ein solches Attribut ist ein Stigma, besonders dann, wenn seine diskreditierende Wirkung sehr extensiv ist; manchmal wird es auch ein Fehler genannt, eine Unzulänglichkeit, ein Handikap. Es konstituiert eine besondere Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität. Der Terminus Stigma wird also in bezug auf eine Eigenschaft gebraucht werden, die zutiefst diskreditierend ist, aber es sollte gesehen werden, daß es einer Begriffssprache von Relationen, nicht von Eigenschaften bedarf. Ein und dieselbe Eigenschaft vermag den einen Typus zu stigmatisieren, wäh rend sie die Normalität eines anderen bestätigt, und ist daher als ein Ding an sich weder kreditierend noch diskreditierend.“ (Goffman 1975: 10)
Das Wort „Kredit“ ist ja ursprünglich abgeleitet aus der lateinischen Wurzel credere = Vertrauen schenken, Glauben schenken. Wenn man jemanden Kredit gibt, heißt das, dass man ihm in einem grundsätzlichen Sinne Vertrauen entgegenbringt, ihn für glaubwürdig hält. In diesem Sinne ist ein Mindestmaß von „Kredit“ eine Voraussetzung für jede Art von Interaktion und Kommunikation (dazu Luhmann 1987: 179 ff.). Wenn eine Person diskreditiert ist, ist in einem grundsätzlichen Sinne ihre Vertrauens- bzw. Glaubwürdigkeit oder/und ihr Ruf, ihr Ansehen in
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Frage gestellt. Die Interaktion mit ihr ist dadurch problematisch und fragwürdig. Wichtig ist die zuletzt zitierte Bemerkung Goffmans, dass es dabei um Relationen, nicht um Eigenschaften geht. Zum Stigma wird ein bestimmtes Merkmal oder wie Goffman sagt: Attribut einer Person erst dadurch, dass es mit einem bestimmten Deutungsmuster, einem Stereotyp der Person verknüpft wird (Goffman 1975: 12). Dieses Stereotyp ist hochgradig kontextabhängig. In einer Gang von Straßenjugendlichen kann der Diebstahl von Markenjacken oder die Brutalität gegenüber Schwächeren eine Status und Prestige begründende Auszeichnung darstellen. Im Kontext eines wohlbehüteten bürgerlichen Milieus würden einen solche Handlungen zum kriminellen Schläger abstempeln und als vertrauenswürdigen Interaktionspartner insgesamt entwerten. Gehörlose Menschen galten und gelten in bestimmten Kontexten als „dumm“, auch in kognitiver Hinsicht als behindert. Das verrät noch der semantische Gleichklang mit taub im Sinne von unproduktiv, leer (taube Nuss) und die gemeinsame Wurzel mit dem Wort „doof“ zeigt (im Schwäbischen kann „taub“ noch heute genau in diesem Sinn verwendet werden). Diese Etikettierung ist auf Martha’s Vineyard, wie wir gesehen haben, völlig undenkbar, da schon das Merkmal selbst als vergleichsweise indifferent gewertet wird und keinen generalisierten Personenstatus begründet. Kriterium dafür, ob jemand stigmatisiert wird oder nicht, ist also eine generalisierte Diskreditierung, die sich an einem bestimmten Personenmerkmal festmacht. Diese bekommt, wie es Jürgen Hohmeier ausdrückt, einen „Masterstatus“: „Für Stigmata ist charakteristisch, dass einmal das vorhandene Merkmal in bestimmter negativer Weise de¿niert wird und dass zum anderen über das Merkmal hinaus dem Merkmalsträger weitere ebenfalls negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die mit dem tatsächlich gegebenen Merkmal objektiv nichts zu tun haben. Die Wahrnehmung des Merkmales ist dann mit Vermutungen über andere vorwiegend unvorteilhafte Eigenschaften der Person gekoppelt. Es ¿ndet eine Übertragung von einem Merkmal auf die gesamte Person, von den durch das Merkmal betroffenen Rollen auf andere Rollen der Person, den tatsächlich eingenommenen wie den potentiell einzunehmenden statt. Diese Zuschreibung weiterer Eigenschaften kennzeichnen Stigmatisierungen als Generalisierungen, die sich auf die Gesamtperson in allen ihren sozialen Bezügen erstrecken. Das Stigma wird zu einem Art ‚Master Status‘, der wie keine andere Tatsache die Stellung einer Person in der Gesellschaft sowie den Umgang anderer Menschen mit ihr bestimmt.“ (Hohmeier 1975: 7 f.)
Angewendet auf das Neubert/Cloerkesche Schema der sozialen Reaktionen auf (körperliche) Abweichung, kann man sagen: Die Extremreaktionen auf Behinderung sowie der Ausschluss und die Isolation beinhaltet in der Regel auch Stigmatisierungsprozesse – die Behinderung erscheint als Stigma. Bei Einschränkungen und Modi¿ kationen der Partizipation sowie bei der Laisser-Faire-Reaktion kann es zu Stigmatisierungen kommen. Es muss aber
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nicht so sein. Beispielsweise ist ja bei eingeschränkter Partizipation einer geistig behinderten Frau auch ein Deutungsmuster denkbar wie das folgende: „Sie kann nicht lesen und schreiben und muss in ihrer Wohnung betreut werden, aber sie ist eine ausgezeichnete Handwerkerin und man kann ihr kleine Kinder anvertrauen, mit denen sie sich liebevoll und verantwortungsbewusst beschäftigt“. Genauso gut könnte aber dieselbe Frau zum Dauerobjekt von Hänseleien und Anspielungen werden („Dorftrottel“). Mit anderen Worten: hier ist es eine empirische Frage, ob jemand wegen seiner Behinderung stigmatisiert wird oder nicht. Die bloße Etikettierung als „behindert“ und damit verbundene partielle Einschränkungen der Teilhabe sollte man noch nicht per se als „Stigmatisierung“ bezeichnen. Logisch ausgeschlossen ist dagegen Stigmatisierung, wenn keine Reaktion auf eine (dann nur etisch registrierte) Abweichung erfolgt. Der Stigmabegriff bei Goffman bezieht sich nicht nur auf Merkmale, die die Zuschreibung einer Behinderung beinhalten. Er hat vielmehr ein sehr weites Verständnis von Stigma. Stigmatisierungen können an sichtbare Attribute anknüpfen, wie zum Beispiel Haarfarbe, Hautfarbe oder Geschlecht, aber auch an „unsichtbare“ Attribute, die lediglich auf einer Information über die Person beruhen können, wie zum Beispiel, dass sie früher einmal im Gefängnis oder in einer psychiatrischen Einrichtung war, dass sie homosexuell ist, eine Straftat begangen hat oder eine bestimmte Religions-, Klassen- oder Gruppenzugehörigkeit aufweist. Entscheidend ist nur, dass ein irgendwie fassbares Merkmal vorliegt, das als Abweichung deutbar ist, und dass diese Abweichung verknüpft wird mit einem Deutungsmuster, das eine tiefgreifende Diskreditierung der Person nach sich zieht. Im Kern liegt also eine devianztheoretische Deutung von Behinderung vor, wenn man Behinderung, wie vorher formuliert wurde, „von der sozialen Reaktion her“ versteht. Das kann man kritisieren und wie wir sehen werden, wurde es auch kritisiert. Wir sollten in diesem Zusammenhang eine weitere theoretische ReÀexion einschalten, die den spezi¿schen Diskussionsstand der Soziologie der Behinderten der 1970er Jahre in Erinnerung rufen soll. 6.3 Behinderung als abweichendes Verhalten – der „Reaktionsansatz“ Ich hatte oben schon Günther Cloerkes Formulierung zitiert, erst die soziale Reaktion „schaffe“ die Behinderung. Cloerkes setzt dieses Verb allerdings in Anführungszeichen (Cloerkes 2007: 103). Hinter diesen unscheinbaren Anführungszeichen verbergen sich wichtige Debatten der Soziologie der Nachkriegsjahrzehnte und insbesondere der Soziologie abweichenden Verhaltens. Innerhalb dieser Richtung hatte der Begriff „soziale Reaktion“ einen Unterton, den man heute nicht mehr mit zu hören gewohnt ist. So war damals die Rede von einem „Reaktionsansatz“, ein Ausdruck, der synonym gebraucht wurde zu dem sogenannten „Labeling“-
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oder „Etikettierungsansatz.“ „Reaktionsansatz“ deutet an, dass eine Sache nicht in einer einlinigen Ursache-Wirkungssequenz (Reiz Ö Reaktion) zu verstehen ist, sondern gegenläu¿g zum zeitlichen Verlauf von der Reaktion, gleichsam „von hinten“ her verständlich wird.62 Deweys und Meads Kritik am behaviouristischen Verständnis von Reiz und Reaktion Maßgebliche Quelle dieser Denkweise ist der amerikanische Pragmatismus und der daraus hervor gegangene symbolische Interaktionismus (John Dewey, G. H. Mead). Berühmter Ausgangspunkt war ein Artikel von John Dewey, in dem dieser das sogenannte ReÀexbogenmodell (= Stimulus-Response-Modell) kritisierte (Dewey 1896). Etwas verkürzt lautet das entscheidende Argument: ein Reiz wird zu einem Reiz nur durch die Reaktion im Kontext eines bestehenden (und in sich zirkulär verfassten) Zusammenhangs von Reiz und Reaktion. Damit etwas ein Stimulus für eine bestimmte Reaktion ist oder wird, muss eine darauf bezogene (wie immer rudimentäre) Reaktionsbereitschaft immer schon voraus gesetzt sein. Reiz und Reaktion sind in Wahrheit Abstraktionen, künstlich isolierte Teile eines Handlungszusammenhangs, die als solche erst sichtbar werden, wenn sich in irgendeiner Hinsicht eine Desintegration eines Handlungsablaufes ergibt. Man könnte auch sagen: wenn eine „Krise“ eintritt. Diese Desintegration wird dann zum Anlass einer praktischen (ggf. bewusst-reÀektierten) Neu(re)konstruktion von Reiz und Reaktion. Mead überträgt dieses (schon bei Dewey auf Sozialität hin entworfene) Argument dezidiert auf kooperative, soziale Zusammenhänge und übernimmt dabei grundlegende pragmatistische Sichtweisen. Einstellungen, Haltungen, Handlungen, auch die „Identität“ eines Menschen (Self) sind nur verständlich vor dem Hintergrund sozialer Interaktionszusammenhänge („social act“), in dem „Reiz“/Stimulus (z. B. „Behinderung“) immer schon auf „Reaktion“/Response bezogen ist und von der faktischen oder erwarteten Reaktion seine Bedeutung erhält. Allerdings geht es in dieser Vorstellung nicht um eine Umkehrung der Kausalrichtung (Reiz Õ Reaktion), sondern um eine Interaktion, eine Wechselwirkung (Reiz Ù Reaktion). Diese Denkweise wurde insbesondere in der Soziologie des abweichenden Verhaltens (wo es um die „Erklärung“ zum Beispiel von Kriminalität, Delinquenz u. a. ging) geradezu schulbildend. Im Gegensatz zu Ansätzen, die eher in der 62 Ganz ähnlich nebenbei die Kommunikationstheorie von Niklas Luhmann (vgl. Luhmann 1988: 198). Für ihn wird Kommunikation nicht etwa von der Mitteilung(sabsicht) von Ego her gedacht, sondern vom Verstehen vom Alter. Darin ist er sich sehr einig zum Beispiel mit George Herbert Mead, einem in diesem Zusammenhang wichtigen Klassiker.
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Person des Abweichenden liegende Ursachen suchten, versuchte der sogenannte Etikettierungsansatz („Labeling Approach“) oder eben „Reaktionsansatz“ den Beitrag der sozialen Reaktion auf dieses Verhalten in den Vordergrund zu stellen. Kriminelles Verhalten ist beispielsweise demnach auch eine Funktion der Kriminalisierung einer Person. Verursacht die De¿nition einer Abweichung die Abweichung? Diese heute klassischen und nach wie vor insbesondere in der Kriminologie wichtigen Theorien entstanden v. a. in den 1960er und 1970er Jahren. Eine überspitzte Formulierung eines der Stammväter des Labeling-Ansatzes, Frank Tannenbaum, trug zu gewissen Missverständnissen bei: „The young delinquent becomes bad, because he is de¿ned as bad.“ (Tannenbaum 1953: 17). Was gemeint ist, wird verständlich, wenn man Tannenbaums Erläuterungen zur Kenntnis nimmt: „Der Prozess der Entwicklung des Kriminellen ist daher ein Prozess des Markierens, De¿nierens, Identi¿zierens, Absonderns, Beschreiben, Hervorhebens und Wachrufens eines entsprechenden Bewusstseins in ihm und in der Gesellschaft; er wird zu einer Art des Stimulierens, Suggerierens, des Hervorhebens und des Hervorrufens gerade der Charakterzüge, deren man den Kriminellen beschuldigt. Das Individuum übernimmt die ihm zugeschriebene Rolle. Dabei scheint es unwichtig zu sein, ob die Bewertung von Interaktionspartnern vorgenommen wird, die ihn bestrafen oder solchen, die ihn resozialisieren möchten.“ (Tannenbaum 1938: 20)
In diesen Formulierungen Tannenbaums kommt zwar eine differenziertere Sichtweise zum Ausdruck als in der zuvor zitierten Überspitzung. Immerhin setzt Tannenbaum hier „etwas“ voraus (etwas wird markiert, de¿ niert, identi¿ziert, abgesondert, beschrieben). Das Ergebnis ist nicht das abweichende Verhalten selbst, sondern die Übernahme einer Rolle, was natürlich ganz und gar nicht dasselbe ist. Denn in der Übernahme einer Rolle wird ein Individuum Verhaltenserwartungen gerecht, auch wenn es sich paradoxerweise um Verhaltenserwartungen über ein systematisches Muster der Durchbrechung von Verhaltenserwartungen handelt. Aber die plakative Überspitzung setzte sich wie so oft in der Wissenschaft in unzähligen Überpointierungen bis in die Gegenwart fort: psychiatrische Anstalten machen Menschen verrückt, Gefängnisse verwandeln Leute in Gewohnheitsverbrecher (Becker 1981: 161). Auch in der Soziologie der Behinderten werden ähnlich pauschale Formulierungen gebraucht. Beispielsweise formuliert Tröster:
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„Soziale Institutionen und Organisationen schaffen Behinderungen und Behinderte, indem sie festlegen, welche Merkmale und welche Verhaltensweisen in unerwünschter Weise von der sozialen Norm abweichen, die Betroffenen mit dem entsprechenden Etikett versehen und soziale Kontroll- und Reglementierungsmechanismen in Gang setzen, die zur sozialen Isolierung und gesellschaftlichen Ausgrenzung der Etikettierten führen.“ (Tröster 1990: 19)
Insbesondere in aktuellen Debatten um die Abschaffung von Sonderschulen für behinderte Kinder und Jugendliche und der sogenannten „Inklusionspädagogik“ spielt das Argument, dass Sonderschulen erst die Behinderung schafften, mit deren Folgen sie vermeintlich befasst sind, eine erhebliche Rolle. So spricht Justin Powell beispielsweise von einer „schulischen Behinderung“ und meint damit eine Dynamik von Ausgrenzung, systematischer Unterforderung und Vorenthalten von Bildungsmöglichkeiten, Reproduktion von Stigmatisierungen und Stereotypen, „die weitreichende negative Konsequenzen für diese Kinder und Jugendlichen nach Verlassen der Schule mit sich bringen, wie u. a. Marginalisierung auf dem Arbeitsmarkt und erhöhtes Armutsrisiko“ (Powell 2007: 323). Wie immer berechtigt solche Thesen im Einzelfall sein können, sie entsprechen jedenfalls dann nicht der Stoßrichtung des ursprünglichen Labelingansatzes, wenn sie Interaktionsbeschreibungen zu Ursachenzuschreibungen umdeuten. Sie werden dann in Thesen zur Produktion von Behinderung verwandelt und die Cloerkeschen Anführungszeichen übersehen. Die differenzierte Sichtweise der Klassiker: Primär Interaktions- statt Kausaltheorie In Wirklichkeit war es nicht die Absicht der Hauptvertreter des Etikettierungsansatzes abweichendes Verhalten ausschließlich als einen Effekt der sozialen Reaktion zu sehen. Howard Becker beispielsweise stellt in seinem berühmten Buch „Außenseiter“ fest, es sei Unsinn zu behaupten „erst nachdem man als abweichend bezeichnet worden sei, beginne man … abweichende Handlungen zu begehen und nicht vorher.“ (Becker 1981: 160). Becker selbst, der immer als ein Hauptvertreter des Etikettierungsansatzes dargestellt wird, lehnt diese Bezeichnung ab und schlägt stattdessen – ganz im Sinne der pragmatistischen Tradition von Dewey und Mead – den Begriff „Interaktionstheorie abweichenden Verhaltens“ vor. Becker stellt klar, dass es niemals Absicht der „Labelingtheoretiker“ war, eine reine Kausalerklärung für abweichendes Verhalten zu ¿nden: „Die ersten Befürworter der Theorie … verfolgten ein bescheiden(er)es Ziel. Sie suchten den beim Studium abweichenden Verhaltens beobachteten Bereich auszuweiten durch
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Soziale Reaktionen den Einschluss von anderen Handlungen als denen des vermeintlich abweichenden Täters … Es wäre lächerlich zu behaupten, dass Räuber andere Leute einfach deswegen überfallen, weil irgend jemand sie als Räuber bezeichnet hat, oder dass alles, was ein Homosexueller tut, aus der Tatsache resultiert, dass jemand ihn homosexuell genannt hat. Nichtsdestoweniger bestand einer der wichtigsten Beiträge dieser Methode darin, unsere Aufmerksamkeit (darauf) … zu lenken, wie das Bezeichnen den Täter in Umstände versetzt, die es ihm erschweren, die normalen Gewohnheiten des täglichen Lebens fort zusetzen, und ihn damit zu ‚anormalen‘ Handlungen veranlassen (so wie eine Vorstrafe es schwierig macht, den Lebensunterhalt mit einer konventionellen Beschäftigung zu verdienen , und somit den Betroffenen bewegt, sich illegalen Beschäftigungen zuzuwenden). Inwieweit Bezeichnen solche Wirkungen hat, ist … eine empirische Frage, die durch Beobachtung spezi¿scher Fälle und nicht durch ein theoretisches Machtwort entschieden werden sollte.“ (Becker 1981: 160 f.)
Damit formuliert Becker einen vergleichsweise bescheidenen Anspruch. Er möchte nämlich einfach untersuchen, inwieweit gesellschaftliche Reaktionen zur Stabilisierung und Verfestigung abweichender Verhaltensweisen beitragen. Auch Edwin M. Lemert, der andere wichtige Vertreter des Labeling-Ansatzes vertritt eine Sichtweise, die ziemlich nahe an den Ausführungen Beckers liegt (Abb. 5). Abbildung 5
verschiedene Ursachen
physiologische, psychologische, soziale, kulturelle Ursachen
Primäre und sekundäre Devianz (nach Edwin M. Lemert)
Ö
primäre Devianz
„normale Andersartigkeit“, „handhabbare Abweichung“; Referenz von Etikettierungsprozessen
Ù
soziale Reaktionen
Labeling, Definitionen und daraus resultierende Sanktionen, Stigmatisierungen, sonstige Reaktionen
Ù
sekundäre Devianz
Übernahme einer devianten Rolle, Reaktionen auf die Reaktionen im Sinne einer Abweichungsverstärkung
Lemert geht zunächst davon aus, dass es viele unterschiedliche Ursachen geben kann für Verhalten, das in irgendeinem Sinne gegen eine Norm verstößt („körperliche Mängel und Schwächen, Verbrechen, Prostitution, Alkoholismus, Rauschgiftsucht und geistige Krankheiten“). Dieses „entsteht aus einer Vielzahl von sozialen, kulturellen, psychologischen und physiologischen Faktoren“ (Lemert
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1975: 432). Zunächst führt das aber nur zu etwas, was Lemert „primäre Devianz“ nennt. Er schreibt dazu: „Die sich ergebenden Probleme werden wechselseitig im Rahmen der eingespielten Statusbezeichnungen gelöst. Dies geschieht entweder durch ‚Verharmlosung‘, indem man die Devianz als normale Andersartigkeit ansieht – das ist ein ganz alltägliches Problem – oder durch Steuerung und Kontrollen, die so geringfügig sind, das sie die grundlegenden Kompromisse des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht ernstlich stören.“ (Lemert 1975: 433)
„Ganz normale“ Andersartigkeit und „unnormale“ Andersartigkeit Der paradoxe Begriff einer „normalen Andersartigkeit“ lässt aber ganz gut ahnen, was Lemert vorschwebte. Wir alle brechen tagtäglich Normen und werden irgendwelchen Verhaltenserwartungen nicht gerecht, ohne dass aus diesen Fehlverhalten strukturierte Erwartungsmuster werden, die andere an mich richten und die mein eigenes Selbstverständnis bestimmen. Man bekommt eine Mahnung, einen Strafzettel oder eine sonstige Sanktion, es wird über eine gewisse Leistungsschwäche hinweg gesehen. Mein grundsätzlicher Status wird nicht in Frage gestellt. Ein gutes Beispiel wären die gehörlosen Menschen auf Martha’s Vineyard. Es ist jedem klar, dass sie gehörlos sind und von der Mehrheit der dort lebenden Bevölkerung abweichen; es ist auch klar, dass damit in bestimmten Situationen umschreibbare Funktionsbeeinträchtigungen verbunden sind. Aber diese Abweichung begründet nicht jenen „Masterstatus“, von dem Jürgen Hohmeier spricht. Sie bestimmt weder dominant die Wahrnehmung der Personen durch andere, noch die Eigenwahrnehmungen und Deutungen der betreffenden Personen selbst. Man könnte sich allerdings auch im Falle der Gehörlosen von Martha’s Vineyard einen hypothetischen Übergang in einen Zustand sekundärer Devianz ausdenken, wenn wir – mit Tom Shakespeare – unterstellen, ein gehörloser Bewohner der Insel Mensch hätte versucht Arbeit auf dem Festland zu bekommen und wäre dort erstmals mit den Zuschreibungen und Etikettierungen konfrontiert worden, die sich dort an das Merkmal Gehörlosigkeit hefteten. So gesehen könnte aber primäre Devianz mindestens zweierlei meinen: ƒ ƒ
einen eigenen Typus des Umgangs mit sozialer Abweichung bzw. abweichendem Verhalten eine Vorstufe im Prozess des Erzeugens einer sekundären Devianz, also eine zeitliche Phase.
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Sekundäre Devianz tritt dann ein, wenn primäre Devianz Gegenstand von Etikettierungsprozessen und entsprechenden aversiven sozialen Reaktionen wird. Lemert schreibt: „Die sekundäre Devianz bezieht sich auf eine besondere Klasse gesellschaftlich de¿nierter Verhaltensweisen, mit denen Menschen auf die Probleme reagieren, die durch die gesellschaftliche Reaktion auf ihre abweichendes Verhalten geschaffen werden. Dabei geht es im Wesentlichen um moralische Probleme, die mit Stigmatisierung, Bestrafung, Isolierung und sozialer Kontrolle zusammen hängen. Im Allgemeinen bewirken sie eine Veränderung der symbolischen und interaktionistischen Umgebung der betreffenden Person … Sie treten in den Mittelpunkt des Lebens dieser Menschen, denn sie verändern deren psychische Strukturen und gestalten die sozialen Rollen und Einstellungen gegenüber dem Ich in spezi¿scher Weise. … Gemessen an seinen Handlungen ist der sekundäre Abweichende ein Mensch, dessen Leben und Identität von der Realität der Devianz bestimmt ist.“ (Lemert 1975: 433 f.)
Bei der sekundären Devianz geht es also im Ergebnis um die Übernahme einer devianten Rolle und um deren Einbau in das eigene Identitätskonzept. Die Voraussetzung dafür sind Etikettierungs-(= labeling, Bezeichnungs-) Prozesse und damit verknüpfte gesellschaftliche Reaktionen. Diese Reaktionen können sowohl aversiv sein (Sanktionen, Strafen, Wegsperren, Einschränken) wie auch wohlmeinend (Betreuung, Behandlung, Fürsorge). Die Folge ist, was man in der Kybernetik eine Abweichungsverstärkung oder positives Feedback nennt (Watzlawick u. a. 1985: 32). Erst diese, durch die sozialen Reaktionen hervor gerufenen Abweichungen zweiter Ordnung nennt Lemert „sekundäre Devianz“. Beispiele für sekundäre Devianz Der gehörlose Inselbewohner macht erste Erfahrungen auf dem Festland und wird plötzlich mit einer Zuschreibung einer generalisierten Handlungsunfähigkeit konfrontiert, die dann auch in gewisser Weise eintritt und sein Selbstbild beeinÀusst. Der verurteilte Straftäter entwickelt in der Zeit seiner ersten Haft ein Selbstkonzept des Kriminellen, indem er die ihm dort vermittelten Fremdstereotypisierungen übernimmt. Ein Mensch, der möglicherweise eine vorüber gehende psychische Störung oder Erschöpfungszustand hatte, wird psychiatrischer Dauerpatient. Die dabei wirksamen Mechanismen wirken auf verschiedenen Ebenen. Der Status erschwert eine Rückkehr ins normale Leben, zugleich sozialisiert dieser Zustand den Betroffenen, indem er sich Handlungsformen, Selbstbeschreibungen angewöhnt, die die Devianz verfestigen.
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Ein ebenso häu¿g vorkommendes Beispiel ist ein aus Benachteiligungserfahrungen entstandener Dauerverdacht ungerecht behandelt zu werden, und eine damit zusammenhängende habituelle Identität der Selbstbehauptung und Herausforderung, der dann wiederum als deviant dekodiert wird: der „auffällige“ Jugendliche. In der Behindertenhilfe ¿nden sich viele Beispiele der Wirkungen permanenter Unterforderung, Unselbstständigkeit und Akzeptanz von Einschränkungen, die ein Mensch unter normalen Lebensumständen nicht akzeptieren würde. Ein solches Muster ist in der professionellen Diskussion als sogenannte „erlernte HilÀosigkeit“ bekannt. Wichtige Kompetenzen werden nur deswegen nicht erlernt, weil die damit verbundenen Handlungen infolge sozialer Zuschreibungen immer von anderen Menschen – wohlgemerkt in guter Absicht – stellvertretend erledigt wurden. Zugleich erzeugt das Leben in Institutionen aber auch Formen des subversiven Unterwanderns solcher Zwänge, die dann dann wiederum als Beleg für die Unfähigkeit eines Menschen für ein selbstständiges Leben verbucht werden. Erving Goffman hat solche Effekte von Aufenthalten in Institutionen in seinem berühmten Buch „Asyle“ beschrieben (Goffman 1973). Die Abgrenzung primärer und sekundärer Devianz ist allerdings schwieriger, wenn man nicht eine Art Phasenmodell zugrunde legen kann, beispielsweise die Situation eines Menschen mit angeborener Gehörlosigkeit, der nicht das Glück hatte auf Martha’s Vineyard im 19. Jahrhundert, sondern im 21. Jahrhundert in einer Kleinstadt der Bundesrepublik geboren zu sein oder Kinder mit angeborener Lippen- oder Gaumenspalte. Das Problem ist dann, dass Etikettierungsprozesse und damit verbundene aversive soziale Reaktionen so früh einsetzen, dass primäre und sekundäre Devianz gar nicht bzw. nur analytisch unterscheidbar ist. Primäre Devianz ist in diesem Fall nur eine logische Kategorie, im Sinne einer Referenz, des Etwas, auf das sich eine Etikettierung richtet. Sie verführt dazu, im Falle von Behinderungen primäre Devianz mit der Schädigung gleichzusetzen. Allerdings ist die Identi¿kation schon einer „Schädigung“ in der Regel nicht unabhängig von Zuschreibungen im Sinne der Etikettierungstheorie. Diese Zuschreibung tritt als solche augenblicklich in eine Interaktion mit den gesamten Lebensbedingungen ein. Mediziner und Soziologen können natürlich versuchen aus rein analytischem Interesse eine solche primäre Devianz zu konstruieren (die Vertreter des sozialen Modells tun es übrigens auch). Dies könnte zum Beispiel durch die Konstruktion einer rein funktionalen Ebene der Behinderung geschehen. Ob so eine Konstruktion freilich etwas aufschließt, muss sich im empirischen Einzelfall zeigen. Dass diese Verfahrensweise nicht so abwegig ist, wie man vielleicht denken könnte, zeigt das Beispiel eines Menschen mit einer Gaumenspalte, die sein Sprechen so schwer beeinträchtigt, dass er für andere Menschen nur sehr schwer verstehbar ist (siehe unten Kapitel 8). Es stammt aus einem meiner biographiebezogenen Forschungsprojekte. Ich persönlich halte diese Sprachbeeinträchtigung
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für die „primäre Devianz“. Zunächst führte der Betroffene trotz dieser Sprachbehinderung mit Hilfe und unter der „Schirmherrschaft“ des Vaters, der Schule und des Ausbildungsbetriebs ein „ganz normales“ Leben. Als der Vater stirbt, kommt es zu einer Zuspitzung der Lebenssituation. Sie mündet in der (m. E. fälschlichen) Zuschreibung einer psychotischen Erkrankung, was dazu führt, dass die Person ein jahrzehntelanges Leben in einer psychiatrischen Einrichtung mit der Diagnose einer sogenannten „latenten Psychose“ (!) lebt. Die primäre Devianz (Sprachproblematik) war bis zu einer bestimmten biographischen Phase in der Tat eine „normale Andersartigkeit“, d. h. eine, mit der seine soziale Umwelt im Großen und Ganzen zurechtkam. Er lebte in der Familie, hatte einen kleinen Freundeskreis und wurde für fähig gehalten einen anspruchsvollen handwerklichen Beruf auszuüben. Ab einem bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben brachen diese sozialen Systeme durch verschiedene Umstände zusammen. Als Folge stellte sich eine erhebliche soziale Entwurzelung ein. Er geriet in die Obdachlosigkeit und zunehmend in den Bannkreis psychiatrischer Einrichtungen. Hier ergab sich ein Aufschaukelungsprozess von Nicht-Verstehen und (aus Sicht der neuen sozialen Gegenüber) seltsamen Verhaltensweisen, die zur Diagnose einer psychischen Erkrankung beitrugen (sekundäre Devianz). Trifft diese Analyse zu, hätten zumindest in diesem speziellen Fall die Begriffe primäre und sekundäre Devianz nicht nur eine analytische Funktion, sondern auch eine empirisch-biographische Entsprechung. Für einen „kritisch-realistischen“ Devianzbegriff Ich halte es darüber hinaus gehend grundsätzlich für wichtig, daran festzuhalten, dass soziale Reaktionen auf etwas reagieren, also eine Referenz haben. Das gilt auch dann, wenn wir dieses „Etwas“ und das was die sozialen Reaktionen daraus gemacht haben, im Nachhinein nicht immer so klar trennen können wie in dem von mir erwähnten Beispiel. Lemert spricht an einer Stelle eben von einem „Aufschaukelungsprozess“, von dem wir immer nur die Ergebnisse vor¿nden. Dem Reaktions- bzw. Etikettierungsansatz wird die logische Paradoxie unterstellt, Verhaltensabweichungen würden als Folgen von Etikettierungen verstanden, die ja aber auf diese Verhaltensabweichungen eigentlich erst reagierten (Becker 1981: 176). Becker zeigt, dass die damit verbundenen methodischen und logischen Schwierigkeiten einfach ein Ergebnis des historischen Charakters von Handlungen sind (Becker 1981: 169). Sein Ratschlag liegt darin, im empirischen Einzelfall nach Hinweisen und Indizien dafür zu suchen, dass „Bezeichnen Wirkungen hat“. Das, so Becker, „ist … eine empirische Frage, die durch Beobachtung spezi¿scher Fälle und nicht durch ein theoretisches Machtwort entschieden werden sollte.“ (ebd.). Ich denke, daran sollte man sich auch in der Soziologie der Behinderung halten. Man muss sich allerdings
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darauf gefasst machen, dass so eine Analyse ungewöhnlich komplex ist, eine geduldige Beobachtung bzw. Rekonstruktion vieler kleiner Einzelheiten erfordert, auf die man sich einlassen muss wie ein Kriminalist auf eine verwirrende Fülle von Indizien und Spuren – geduldige empirische Kleinarbeit ist gefragt (vgl. dazu Kastl 2009). Becker schreibt dazu: „Insofern uns sowohl der gesunde Menschenverstand wie die Wissenschaft auferlegen, die Dinge genau zu beobachten, ehe wir anfangen, darüber zu theoretisieren, führt das Befolgen dieser Forderung zu einer komplexen Theorie, welche die Aktionen und Reaktionen eines jeden berücksichtigt, der an Vorgängen abweichenden Verhaltens beteiligt ist.“ (Becker 1981: 173)
Mir geht es an dieser Stelle darum zu sagen, dass das Begriffspaar primäre/sekundäre Devianz empirisch dann die höchste Plausibilität beanspruchen kann, wenn es um die Deutung von Prozessen geht und dass es von daher seinen Sinn gewinnt. Als Pauschaltheorie über das Zustandekommen von abweichendem Verhalten können diese Begriffe dagegen wie auch der des Labeling bzw. der Etikettierung als solchem in die Irre führen. Exkurs: Lernbehinderung – ein Anwendungsfall für die Entstehung sekundärer Devianz? In der Soziologie der Behinderung ist der Prozess der Entstehung sekundärer Devianz bevorzugt am Beispiel der sogenannten Lernbehinderung beschrieben worden. Walter Thimm hat in diesem Zusammenhang bereits 1975 versucht die zentrale Rolle der Schule für Lernbehinderte (heute: „Förderschule“ in Baden-Württemberg, sonst: Förderschule mit Förderschwerpunkt „Lernen“) zu beschreiben. Der Begriff Lernbehinderung existiert heute noch in der diagnostischen Fachliteratur und als juristische Kategorie im Arbeitsförderungsrecht (§ 19 SGB III). Thimm knüpft in seiner devianztheoretischen Analyse an dem bekannten Umstand an, dass die betreffenden Schüler zur Mehrheit aus benachteiligten Sozialmilieus stammen.63 Das geht – so Thimm – einher mit einer Reihe von potentiell stigmatisierenden Merkmalen wie überdurchschnittliche Kinderzahl in den Herkunftsfamilien, oftmals schwierige bis zerrüttete Familienverhältnisse, schlechte Wohnverhältnisse in „anrüchigen“ Vierteln, Familienproblematiken, kein Kindergartenbesuch. Erste Auffälligkeiten werden in der Regel im Zusammenhang 63 Thimm ging von einem Anteil von 77 % Anteil Unterschichtskinder aus, heute werden auch Zahlen in der Größenordnung von 80–90 % genannt. Wirklich verlässliche Daten mit präzisen und klar operationalisierten Lageparametern gibt es auch hier nicht (vgl. dazu Wocken 2000).
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mit dem Schulbesuch registriert: Zurückstellungen, schlechte Leistungen in der Regelschule, Klassenwiederholungen in der Grundschule.64 Eine entscheidende Bedeutung für die institutionelle Identi¿zierung und damit für einen Status sekundärer Devianz hat aber die Überweisung in eine Sonderschule für Lernbehinderte. Nicht nur Walter Thimm, auch viele anderen Autoren deuten diesen schulischen Status und seine Folgen nun genau nach dem Muster der Erzeugung sekundärer Devianz. Was vorher eine in einem bestehenden Kontext irgendwie handhabbare Abweichung war, wird zur devianten Rolle und Identität. An diesen Status knüpfen sich laut Thimm zum Einen stigmatisierende Zuschreibungen („frech, faul, streitsüchtig“; „geistesschwach“, „dumm unbegabt sozial unangepasst) an. Zum Anderen aber geht es, so Thimm, um eine Form der Selbsttypisierung („beschädigte Identität“): geringes Selbstwertgefühl, Typisierung als Versager, Rückzug aus sozialen Beziehungen die über das Herkunftsmilieu hinaus gehen, Ritualismus oder auch das „Abrutschen“ in andere Formen der Devianz wie zum Beispiel Obdachlosigkeit und Kriminalität. Dazu trägt wiederum die objektive Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt bei. Hinzu kommt das Argument, dass die Sonderschule die Leistungsabweichungen verstärke und den Kindern damit Bildungschancen vorenthalte. Dies geschehe einerseits durch Unterforderung über die Anwendung einer „reduktiven“ bzw. einer De¿zitdidaktik65 sowie durch die niveauhomogenen Lerngruppe, denen die „anregende Fruchtbarkeit des Bildungsgefälles“ fehle (Wocken 2005: 62). Justin Powell spricht in diesem Zusammenhang unumwunden von einer „Behinderung durch Schule“ und lässt zumindest offen, ob es für ihn überhaupt eine „primäre“ Devianz Eine ähnliche Beschreibung liefert Wocken: „Niedrigere Intelligenz, geringere Schulleistungen, niedrigerer Schul-, Ausbildungs- und Erwerbsstatus der Eltern, höhere Arbeitslosigkeit der Eltern, mehr Geschwister (bei weniger Wohnraum), häu¿ger alleinstehende Eltern, geringerer Bücherbestand, seltener Deutsch als Muttersprache, erheblich längerer Fernsehkonsum, dürftigerer Besitz an persönlichen Konsumgütern.“ (Wocken 2000: 16). Wocken bemerkt, dass sich an der Situation seit den 1970er Jahren bis ins Jahr 2000 nicht viel geändert habe „Die Untersuchungen haben also aufs ganze gesehen keine überraschend neuen Erkenntnisse geliefert. Da ist wenig zu vermerken, was man nicht schon immer wusste oder doch mindestens so geahnt hätte. Die Klientel von Schülern mit Lernbehinderungen hat sich allenthalben seit den 70er Jahren in zweierlei Hinsicht verändert: Zuvörderst ist der hohe und überhöhte Anteil ausländischer Kinder zu nennen, die bis in die 70er Jahre fast keine Rolle spielten. Zum anderen haben die gewandelten wirtschaftlichen Verhältnisse zu einem drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Elternschaft von Förderschulen geführt. Der hohe Anteil arbeitsloser Eltern kann als ein Indiz gewertet werden, dass im Vergleich zu den 70er Jahren die soziokulturellen und ökonomischen Benachteiligungen von Lernbehinderten keineswegs geringer geworden sind. Die gegenwärtige Soziallage der Förderschüler spiegelt das wachsende Auseinanderdriften in eine Zweidrittel-Gesellschaft wieder. Die erhebliche soziale Differenz zwischen Hauptschule und Sonderschule ist nichts weiter als ein ReÀex der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse und Disparitäten.“ (Wocken 2000: 19) 65 „weniger als normal“, „konkreter als normal“, „kleinschrittiger als normal“, „langsamer als normal“ und „intensiver als normal“ (zit. bei Wocken 2005: 62) 64
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bzw. Behinderung gibt (vgl. dazu Powell 2007, 2007, 2009). Tröster formuliert, Lernbehinderung sei aus etikettierungstheoretischer Sicht nicht eine Qualität oder Resultat der Eigenschaft einer Person, sondern eines erfolgreichen De¿nitions- und Zuschreibungsprozesses (Tröster 1990: 16, vgl. ganz ähnlich Hohmeier 1975: 6). Diese Thesen haben zwar eine hohe Plausibilität, ein wirklich empirisch überzeugender Nachweis oder auch nur der Versuch einen solchen differenzierten Nachweis zu führen, steht bislang aus. Die Diskussion krankt daran, dass die eine Seite Lernbehinderung nach dem Tannenbaummodell („Lernbehinderte sind lernbehindert, weil man sie so bezeichnet“) deutet. Es wird also eine Interaktionstheorie in eine Kausaltheorie übersetzt. Die andere Seite beteuert dagegen, dass sie nur eine real existierende Behinderung fördert, legt also, wie Wocken das formuliert, ein Rehabilitationsmodell zugrunde.66 Wir wissen einfach zu wenig, um das Verhältnis von primärer und sekundärer Devianz in diesem Zusammenhang empirisch begründet aufhellen zu können. Vielfach wird eher mit Glaubensüberzeugungen als mit stichhaltigen Argumenten operiert. Ein Beleg hierfür ist ein Detail aus einer Studie von Hans Wocken, das in politischen Diskussionen immer wieder als Beleg dafür verkauft wird, dass die Schule für Lernbehinderte sogar negative Wirkungen auf die Leistungen ihrer Schüler hat. Wocken hatte eine eher schwach negative Korrelation (í0.31) zwischen Rechtschreibeleistungen und der Verweildauer in der Förderschule gefunden, eine etwa ebenso hohe negative Korrelation zwischen Verweildauer in der Förderschule und dem Abschneiden in einem allgemeinen Intelligenztest und eine leicht positive Korrelation zwischen Intelligenz und Rechtschreibeleistung (0.27). Es handelt sich wohlgemerkt nicht um Längsschnittsdaten (also mit mehreren Messzeitpunkten), sondern nur um einen Vergleich verschiedener Schülergruppen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Als Erklärung für die Korrelation wäre ebenso denkbar: bei den Schülern, die später in die Förderschule überwiesen worden seien, handle es sich eben auch um objektiv lernschwächere Schüler „von Hause aus“. Wocken gibt das auch zu, bemerkt aber, es sei immerhin festzuhalten, dass die Daten die Nichteinlösung des Förderanspruchs der Schulen belegen könnten. Aber auch das ist ein recht schwaches und eher spekulatives Argument. Denn es 66 Letztlich handelt es sich bis hinein in die praktische Erfahrung um hochstrittige und sehr ambivalente Erfahrungstatbestände. Wer aus seiner Alltagserfahrung als Lehrer(in) mit der Fruchtlosigkeit jahrelanger Bemühungen konfrontiert ist, einem mittlerweile siebzehnjährigen, eigentlich ganz „coolen“ jungen Mann zum aberhundertsten Mal den Unterschied zwischen 9,0 und 0,9 vermitteln zu wollen, fällt es schwer zu glauben, „Lernbehinderung“ als solche gäbe es nicht, sie sei eigentlich nur ein Folge inkorrekter Beschulung. Man kann dann auf der anderen Seite wieder hören, das habe ja auch niemand behauptet. Wie immer: die These der schulischen Behinderung muss in empirisches Kleingeld gewechselt werden, ein Nachweis der stigmatisierenden Effekte des Schulbesuchs als solchem ist zwar ein wichtiger Aspekt, aber noch nicht der vollständige empirische Nachweis, dass es Lernbehinderung nicht gibt.
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wäre mit den Daten durchaus verträglich, dass die betreffenden Schüler – bezogen auf ihren Leistungstand – Fortschritte gemacht haben. Wocken gesteht insgesamt die methodisch unbefriedigende Sachlage ein, wenn er auf die Notwendigkeit prospektiver Längsschnittuntersuchungen verweist. Genau hier liegt der springende Punkt. Solche Studien gibt es leider nicht, weder solche mit experimentellen Designs noch qualitative Studien. Ebenso wenig gibt es bis jetzt valide Vergleichsstudien darüber, ob Schulformen, die auf Etikettierungen verzichten können, in der Tat Lernbehinderungen gewissermaßen zum Verschwinden bringen (vgl. Wocken 2005: 63 sowie Wocken 2009). Bei der Diskussion um die Lernbehinderung handelt es sich nur um ein Beispiel, wieviel Beweislast einer reaktions- bzw. etikettierungstheoretischen Argumentation aufgebürdet wird, wie wenig zugleich aber die bisherige Forschung ihr methodisch gewachsen ist. Wenn Lernbehinderung nur die Folge von Etikettierung wäre, dann müsste man die Konsequenz ziehen und sagen: es handelt sich nicht um eine Behinderung. Auch die alternative Variante, anzunehmen, es gäbe durchaus einen zugrunde liegenden schädigenden Prozess, er liege in einer Art schulindizierten kognitiven Deprivation, die möglicherweise eine soziale Deprivation fortsetzt, wäre denkbar. Aber weder die eine noch die andere These ist bislang wirklich stichhaltig bewiesen. Hier ist abermals festzustellen: wir haben auch im Bereich der sozialen Reaktionen nach wie vor erheblichen Forschungsbedarf. Wie Wocken betont, ist seit den 1970-er Jahren, aus denen diese Diskussionen stammen, empirisch nicht viel passiert. Das ist auch, aber nicht nur ein Ressourcenproblem, hat mit dem randständigen Charakter der Soziologie der Behinderung zu tun und mit dem Umstand, dass sie sozusagen permanent von moralisch und politisch motivierten Modeströmungen („Paradigmenwechsel“) überrollt wird (vgl. dazu Cloerkes 2007: 10 ff.). Nützlicher als solchen Moden zu folgen, wäre es jene Unabhängigkeit zu realisieren, die Howard Becker als unabdingbar für jede empirische Erforschung einer Interaktionstheorie sozialer Abweichung heraus gestellt hatte: „Wir untersuchen alle Beteiligten dieses moralischen Schauspieles, Ankläger wie Angeklagte, und bieten niemandem, unbeschadet seiner Ehrbarkeit oder seiner hohen Stellung, bei unseren beruÀichen Nachforschungen konventionelle Sonderrechte an: Wir beobachten sorgfältig die in Frage stehenden tatsächlichen Aktivitäten und versuchen die Handlungsbedingungen eines jeden Beteiligten zu verstehen. Wir akzeptieren keine Beschwörung mysteriöser Kräfte, die im Schauspiel der Verhaltensabweichung an der Arbeit sein sollen, und respektieren die Spielart des gesunden Menschenverstandes, die unsere Aufmerksamkeit sowohl auf das lenkt, was wir offen sehen können, wie auf jene Ereignisse und Interessen, die komplizierterer Datensammlung und theoretische Analyse bedürfen.“ (Becker 1981: 186 f.)
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6.4 Grenzen der devianztheoretischen Argumentation – die Reaktion auf Behinderung als Ausdruck von Ambivalenz Wir haben uns mit Spielarten der These auseinander gesetzt, Behinderung sei eine Resultante von Etikettierungsprozessen und sozialen Zuschreibungen und haben zunächst einmal offen gelassen, worin eigentlich die Berechtigung liegt von abweichendem Verhalten zu sprechen. Die klassische Etikettierungstheorie nahm ihren Ausgangspunkt von Phänomenen krimineller Delinquenz, also einem Übertreten von Normen, bei denen man in der Regel für verantwortlich gehalten und dafür bestraft wird. Aber das trifft für die sozialen Reaktionen auf Behinderung offensichtlich nur teilweise zu. Behinderungen können in den meisten Fällen nur bei einer sehr äußerlichen Betrachtungsweise als Verletzungen oder besser: als Außerachtlassen von Regeln betrachtet werde. Erving Goffman hat beispielsweise Symptome psychischer Erkrankungen als Abweichungen von ganz fundamentalen HöÀichkeitsnormen und Konventionen des Verhaltens im öffentlichen Raum analysiert (Goffman 1986: 151 ff.). Hier einige Beispiele für solche Abweichungen: ein gehörloser Mensch reagiert nicht auf Anrede, ein blinder Mensch nicht auf ein Winken; ein geistig behinderter Mensch übertritt das Gebot „höÀicher Indifferenz“, das normalerweise im öffentlichen Raum gilt, und spricht andere Leute auf vermeintlich „distanzlose“ Weise an; ein Mensch mit einer Spastik fällt auf und erzwingt damit eine Überaufmerksamkeit auf körperliche Vorgänge bzw. Merkmale, die mit den üblichen Konventionen in KonÀikt gerät (vgl. Davis 1961). Behinderungen sind keine sanktionierbaren Normverstöße. Sehr oft führen so Behinderungen in der Tat zu ungewöhnlichen, nicht „regelgemäßen“ Situationen. Dennoch sind Verhaltensweisen bzw. Merkmale behinderter Menschen nur sehr künstlich als Normverstoß interpretierbar. Zum einen, weil es in vielen Fällen solche Normen vermutlich gar nicht gibt. Es ist nicht im selben Sinne eine Norm, dass man seine Mitmenschen sehen oder hören können muss oder sich auf zwei Beinen bewegt, wie die Norm, dass man in einem Restaurant nicht das Besteck mitgehen lassen darf oder andere Menschen ausreden lassen sollte. In den erstgenannten Fällen werden eher Wahrnehmungs- und Verhaltensgewohnheiten, oder/und kognitive Erwartungen, Typisierungen durchbrochen. Es handelt sich um Routinen, die aber nicht unbedingt den Charakter von Normen in dem Sinne haben, dass man sie befolgen oder nicht befolgen kann (und demzufolge Befolgung sozial belohnt und Nicht-Befolgung sozial sanktioniert wird, was voraussetzt, dass Verantwortlichkeit unterstellt werden kann).
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Aber selbst bei Verhaltensweisen, die man ansonsten objektiv als „Normverstöße“ behandeln würde, wird bei behinderten Menschen, zumindest sobald die Behinderung bekannt ist, anders reagiert. Beispielsweise würde der Umstand, dass eine Person auf die Tischdecke Speichel fallen lässt, nur dann Sanktionen auslösen, wenn es sich um ein provokantes Verhalten (z. B. eines Kind oder Jugendlichen) handeln würde. Im Falle eines behinderten Menschen würde man damit vermutlich ähnlich umgehen, wie mit einem entsprechenden „Verstoß“ eines Kleinkindes und die Zumutung der Einhaltung der Norm im Hinblick auf das Nicht-Einhalten-Können suspendieren. Allerdings könnte auch in diesen letzteren Fällen durchaus bei manchen Interaktionspartnern ein Gefühl von „Peinlichkeit“ oder gar „Ekel“ entstehen. Der amerikanische Soziologe Eliot Freidson hat die Unterschiede von Abweichungen bei kriminellem Handeln, im Falle von Krankheit und bei Behinderung heraus gearbeitet (Freidson 1965). Sie liegen auf der Hand. Im Falle von kriminellem Verhalten wird Verantwortlichkeit unterstellt. Die Gesellschaft reagiert infolgedessen mit Bestrafung. Das geschieht mit dem Ziel, entweder die Person „moralisch zu bessern“ oder die Gesellschaft dauerhaft vor der Person zu schützen, z. B. im Falle der Todesstrafe oder lebenslanger Haft. Im Falle von Krankheit wird die Person als nicht verantwortlich betrachtet. Sie hat aber dann, wie von Talcott Parsons (1978a+b) analysiert, neben den Rechten der Krankenrolle (also vorübergehend von allen sonstigen RollenverpÀichtungen dispensiert zu sein) auch deren VerpÀichtungen zu übernehmen (nämlich alles zu tun, was der Heilung der Krankheit dient). Ist die Krankheit unheilbar, dann bleibt die Person legitimerweise von allen VerpÀichtungen dispensiert. Auch bei Behinderungen gilt für Freidson, dass für ggf. daraus resultierendes abweichendes Verhalten die Person nicht für verantwortlich gehalten wird. Insofern ähnelt sie der Krankenrolle. Allerdings gilt auch für viele Behinderungen: eine Renormalisierung ist nur in Ansätzen oder gar nicht möglich, weil die Behinderung irreversibel ist. In diesem Zusammenhang macht Freidson auf einen wichtigen Umstand aufmerksam. Trotz des Umstands, dass Personen für mit ihrer Behinderung in Zusammenhang stehende Verhaltensabweichungen in der Regel keine Verantwortlichkeit zugeschrieben wird, unterliegen sie in vielen Fällen dauerhafter Stigmatisierung. In diesem Zusammenhang sieht Freidson eine schwierige und zwiespältige Rolle von Rehabilitation: „while, by and large, the individual is not held responsible for his dif¿culties, they are nonetheless stigmatized and are considered essentially irremediable or incurable. What is at issue in rehabilitation is not that the blind should have functioning eyes, the amputee new living legs, but rather that the blind and the crippled should be able to perform some ‚normal‘ tasks without ‚normal‘ equipment. The handicapped remain deviant, and the task of rehabilitation is to shape the form of their deviance.“ (Freidson 1965: 95)
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Scheinakzeptanz und Scheinnormalität Der Status des behinderten Menschen bleibt in dieser Hinsicht prekär und widersprüchlich. Diesen Umstand hatte – Freidson zitiert ihn ausführlich – bereits Goffman in seinem Buch „Stigma“ vermerkt. Selbst bei gutem Willen aller Beteiligten, so war Goffmans Befund, wird allenfalls so etwas wie eine Scheinakzeptanz (phantom acceptance) und Scheinnormalität (phantom normalcy) erzeugt. Sie besteht in einer sozial erwünschten Anpassung des behinderten Menschen, die im wesentlichen den „Zumutungscharakter“ für die Nicht-Behinderten so niedrig wie möglich hält. In Goffmans Worten: „dass das stigmatisierte Individuum sich heiter und unbefangen als den Normalen wesentlich gleich akzeptiert, während es zur gleichen Zeit jene Situationen vermeidet, in denen es Normale schwierig ¿nden würden, das Lippenbekenntnis abzulegen, sie akzeptierten ihn gleichermaßen.“ (Goffman 1975: 150) bzw. „dass es mit vollkommener Spontanität und Natürlichkeit agiert, als ob seine bedingte Akzeptierung, die zu strapazieren es sich wohl hütet, volle Akzeptierung sei.“ (Goffman 1975: 152 f.). Das devianztheoretische Erklärungsproblem Freidsons bleibt aber die Frage der Gleichzeitigkeit von Stigmatisierung und der Nicht-Zurechnung von Verantwortlichkeit in der sozialen Reaktion der Nicht-Behinderten. Genau diesen Umstand haben nun eine Reihe von Autoren zum Ausgangspunkt genommen eine grundsätzliche Ambivalenz in den sozialen Reaktionen auf Behinderung heraus zu streichen und explizit oder implizit in Frage gestellt, ob ein Modell des abweichenden Verhaltens überhaupt ein angemessener Rahmen für die Analyse von Behinderungsphänomenen ist. Robert Murphys Theorie der Liminalität Robert F. Murphy und seine Mitarbeiter (1988) knüpfen eben an dem Punkt an, dass behinderte Menschen mit anderen sozial entwerteten Personen nicht erwünschte Eigenschaften und Identitäten gemeinsam haben, ihnen aber im Unterschied zu kriminellen Personen ihre Abweichung in den meisten Fällen nicht zugerechnet wird. Sie gehen davon aus, dass bei behinderten Menschen im Unterschied zu vielen anderen stigmatisierten Gruppen eine spezielle Ambivalenz und ein untergründiger WertekonÀikt wirksam ist (Murphy u. a. 1988: 236). Hervorstechend ist, dass behinderte Menschen einerseits oft Angst- und Ablehnungs-, ja AbscheuReaktionen auslösen, obwohl sie ja in keiner Weise bedrohlich sind. Murphy weist darauf hin, wie sehr behinderte Menschen auch in der modernen amerikanischen Gesellschaft ein segregiertes Leben führen: „most still dwell in twilight zones of social inde¿nition“ (Murphy u. a. 1988: 237). Diese Beobachtung und nicht zuletzt die Erfahrungen Murphys mit seiner eigenen Behinderung
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führten den Ethnologen dazu, auf ein berühmtes Konzept seiner Disziplin, das der „Liminalität“ zur Charakterisierung der sozialen Situation behinderter Menschen zurück zu greifen. Schwellenrituale und Schwellenphasen Dieser Begriff ist aus der Ritualtheorie von Arthur von Gennep und Victor Turner abgeleitet. Er knüpft an die Beobachtung an, dass sich viele Rituale in traditionalen Stammesgesellschaften, aber auch in komplexeren Gesellschaften dadurch kennzeichnen lassen, dass sie Übergänge gestalten und zugleich deuten. Arthur van Gennep hatte komplexe Übergangsrituale (z. B. Initiationsrituale als Übergangs vom Kind zum Erwachsenen) analysiert und dabei unterschieden zwischen Trennungsriten, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten und Angliederungs- bzw. Wiedereingliederungsriten (van Gennep 1999: 21). Sehr oft ist dabei insbesondere der Schwellenritus so ausgeprägt, dass man von einer Schwellenphase sprechen muss. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Verlobungszeit, in der die Gatten nicht mehr ledig sind, aber eben auch noch nicht verheiratet oder die Zeit, die insbesondere männliche Jugendliche außerhalb des Dorfes in eigenen Männerhäusern oder der sogenannten „Buschschule“ verbringen. Dieser Status kann Jahre andauern, in dieser Zeit sind die Jugendlichen keine Kinder mehr, ohne aber bereits den vollen Erwachsenenstatus zu haben. Ein anderes Beispiel ist die bereits erwähnte Schamanenwerdung einer entsprechend begabten Person. Während der „Schamanenkrankheit“ (oft von Trancezuständen und ernsthaften psychophysischen Krisenzuständen geprägt) ist die Person nicht mehr die, die sie einmal war. Aber sie be¿ndet sich eben auch noch nicht im Status des Schamanen, sondern in einer Art Vorstadium. Victor Turner hat nun diese Kategorie des Schwellenrituals bzw. der Schwellenphase zu einer Theorie der Liminalität ausgearbeitet, die er auch auf den vorübergehenden oder auch dauerhaften Status von ganzen Gruppen in einer Gesellschaft anwenden kann. Menschen im Status der Liminalität („neophytes“ oder „Schwellenwesen“, wie Turner sagt) sind zeitweise oder dauerhaft marginal ggü. der Gesellschaft, sozusagen auf dem Sprung in sie (wieder) einzutreten, aber noch außerhalb ihrer Grenzen. Mischwesen, Monster und Jugendliche Diese „Neophyten“ sind gesellschaftlich paradox klassi¿ziert. Sie werden gewissermaßen der Klasse der Nicht-(eindeutig)-Klassi¿zierbaren zugerechnet, sind, wie Victor Turner sagt „betwixt and between“ (Turner 1967: 93). Der Status der
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Liminalität wird in der kulturellen Repräsentation vielfach mit der Darstellung von Mischwesen (zwischen Tier, Mensch, PÀanze, z. T. Elemente der unbelebten Natur, zwischen verschiedenen Geschlechtern) oder Monstern verknüpft (Turner 1967: 104 ff., Turner 2005: 95). Nicht zufällig haben gerade Jugendliche kulturübergreifend eine besondere Af¿nität zu kulturellen Praxen, in denen die Symbolik von Schwellen- und Mischwesen eine wichtige Rolle spielt (Tragen von Masken, Bräuche wie Fasnacht, aber auch das jugendtypische Interesse an Horror¿lmen und -Videos). Man denke an den Schwellenstatus junger Männer in vielen Stammesgesellschaften, Jugendliche, die nicht mehr Kinder, aber auch noch nicht Erwachsene sind, die ihren alten Status verloren haben und noch keinen neuen erworben haben und deswegen von der Gesellschaft mit großem Misstrauen und hoher Ambivalenz betrachtet werden. Das ist in der modernen Gesellschaft nicht verschwunden, aber etwas verwässert, dagegen in Stammesgesellschaften sehr ausgeprägt. Es gibt aber auch Gruppen oder Personen, die einen dauerhaften Grenz- oder Außenseiterstatus in diesem Sinne haben. Im ersten Kapitel hatten wir Zwillinge, aber eben auch behinderte Menschen als Beispiele kennen gelernt. „The unclear is the unclean.“ Mit dem Schwellenstatus verbunden sind auf Seiten der Außenstehenden oft Haltungen der Angst, des Unbehagens und der Verhaltensunsicherheit. Die liminalen Personen werden gemieden, ihnen wird aus dem Weg gegangen, zum Teil gelten sie als unberechenbar oder sogar „schmutzig“ und „unrein“, ganz nach dem Ausspruch von Victor Turner „The unclear is the unclean.“ (Turner 1967: 97). Wie die männlichen Initianden sehr oft in Hütten außerhalb des Dorfes leben, so leben liminale Personen generell oder dauerhaft segregiert in eigenen Gemeinschaften, die sich durch eine Reihe von strukturellen Merkmalen auszeichnen. Es handelt sich im Gegensatz zur „normalen“ Gesellschaft um statushomogene und hierarchisch entdifferenzierte Gruppen. Unter den liminalen Personen herrscht Egalität und enge Gemeinschaft. Sie sind zugleich aber sehr oft der Einschränkung einer rigiden Entsexualisierung und zugleich einer Kontrolle und Herrschaft durch Autoritätspersonen der Mehrheitsgesellschaft unterworfen. Diese Struktur der Vergemeinschaftung nennt Turner „communitas“ und macht sie in sehr vielen Gesellschaften und in sehr vielen Formen aus. Man denkt nicht zufällig an Wohnheime für behinderte Menschen oder psychiatrische Einrichtungen.
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Behinderung als Status der Liminalität Murphy u. a. (1988) übertragen nun in der Tat dieses Konzept auf die Situation behinderter Menschen in der modernen Gesellschaft. Ihre These ist, dass die sozialen Reaktionen auf Behinderung einen quasi auf Dauer gestellten Status der Liminalität begründen. Sie sehen u. a. folgende Analogien: ƒ
ƒ
ƒ ƒ ƒ ƒ
ƒ
Behinderung ist eine Art dauerhafter „in-between state“ (betwixt and between), behinderte Menschen gelten als weder krank noch gesund, sie sind Personen, aber zugleich ist ihr Personenstatus auf eigentümliche Weise in Frage gestellt; im Unterschied zum Kranken kann das Problem aber nicht „temporalisiert“ werden im Sinne der Verknüpfung einer befristeten Entbindung von RollenverpÀichtungen mit einer gleichzeitigen HeilungsverpÀichtung, es bleibt bei einem Schwellenzustand, der mit Ambivalenz behaftet bleibt, weil er sozial unterde¿niert ist; diese Ambivalenz führt zu Meidung und physischer und sozialer Isolierung (segregation); ähnlich der Etikettierung der Schwellenpersonen als dirty/unclean besteht auch gegenüber Behinderungen eine insgeheime Wahrnehmungslogik der Verunreinigung; Murphy spricht in diesem Zusammenhang von „contamination of their status as culture-bearing creatures through a profoundly destructive invasion by the domain of bature“ (Murphy 1988: 239).67 die normative und soziale Invisibilisierung („don’t look“). Kinder werden zu einer „funktionalen Blindheit“ gegenüber Behinderung erzogen; auch institutionell kommt es zu einer Segregation der behinderten Menschen. Murphy vergleicht Sonderschulen, aber auch Rehazentren mit der „Buschschule“, in die in Stammesgesellschaften v. a. junge Männer „abgeschoben“ werden; auch andere Merkmale der von Turner sogenannten „Communitas“ lassen sich ¿nden: die Unterwerfung unter die absolute Autorität der medizinischen und
Er nennt u. a. als analoge Erfahrungen den Ekel bzw. die Scheu vieler Kulturen gegenüber Erfahrungsbereichen, die die Kontingenz des Körperlichen deutlich machen: von dem Ekel angesichts von KörperÀüssigkeiten, aber auch Vorgängen wie Geburt, Menstruation: „The physical impairment is an infringement by nature, an intrusion, that undercuts one’s status as a bearer of culture. This same process is at work in societies that isolate women during their menstrual periods or after childbirth. This, ¿ nally, is what makes disability so different from other kinds of ‚deviance‘. It is not just a departure from the moral code, but a distortion of convential classi¿cation and knowing. The contamination of the handicapped by nature joins with the logical anomaly posed by their bodies to compromise their very humanness.“ (Murphy 1990: 133) 67
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sonstigen professionellen Berufe; die Struktur der Egalität unter den behinderten Menschen selbst (beispielsweise als Rehabilitanden), die Aufhebung von Schamschwellen und Asexualität zugleich.68 Für Robert Murphy waren die Erfahrungen mit seiner eigenen Behinderung ausschlaggebend für die Idee der Anwendung dieses Konzeptes. Er hatte einen unheilbaren Tumor im Spinalkanal, der ihn zunehmend bewegungsunfähig machte, und insbesondere in der Zeit, die er in einer Rehabilitationseinrichtung nach einer Operation zubrachte, sammelte er Belege für seine These. In seiner Autobiographie „The body silent“ schreibt er dazu zusammenfassend: „The disabled person ¿ts into the mold of liminality far better than into the model of social deviance followed by sociologists. Writing about ritual process in primitive societies, Victor Turner says, ‚…. liminality is frequently likened to death, to bring in the womb, to invisibility, to darkness, to bisexuality, to the wilderness, and to an eclipse of the sun or moon.‘ How well this ¿ts everything we have discussed: the occasional rumor of my death, the social invisibility of the disabled, the attribution of asexuality in the popular mind, the unisex hospital room, and the blurring of sex roles within the community of the handicapped. The disabled are more than deviants. They are the antiphony of everyday life. Just as the bodies of the disabled are permanently impaired, so also is their standing as members of society. The lasting indeterminacy of their state of being produces a similar lack of de¿nition of their social roles, which are in any event superseded and obscured by submersion of their identities. Their persons are regarded as contaminated; eyes are averted and people take care not to approach wheelchairs too closely. My colleague Jessica Scheer refers to wheelchairs as ‚portable seclusion huts‘, for they are indeed isolation chambers of a sort.“ (Murphy 1990: 135)
Murphy bringt von vorne herein Behinderung gar nicht mit einer Sanktionierungsproblematik in Verbindung. So gesehen stellt sich das Freidsonsche Problem gar nicht mehr. Zwar spielen natürlich auch bei Murphy kulturelle Normen eine Rolle. Aber seine Theorie legt dennoch ganz andere und möglicherweise fruchtbarere Vergleichsmöglichkeiten nahe wie die devianztheoretischen Ansätze. Nicht der Kriminelle ist der Modellfall, sondern der Außenseiter, dem gegenüber gesell68 Beispielsweise berichtet Murphy von der alle herkömmlichen Distanzregeln außer Kraft setzenden Gemeinschaft der Rehabilitanden, in die er während seiner Klinikzeit einbezogen war: „The equality of the neophytes is also present. Hospitals strip people of their previous identities and reduce them to the amorphous status of the ‚patient‘, and anyone who has sent long spells in these establishments knows that the patients usually interact as equals, ignoring each other’s prior social distinctions…. Our shared identities as disabled people override the old hierarchies of age, education, and occupation, and they wash out many sex-role-barriers as well. … I have had informal conversations with paraplegic women that gravitated without direction to bowel and bladder problems.“ (Murphy 1990: 133 f.)
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schaftliche Klassi¿kationsroutinen nicht greifen, der gar nicht primär eindeutig Ablehnung oder eindeutig eine Zugehörigkeitswahrnehmung provoziert, sondern beides zugleich und damit vor allem: ambivalente Reaktionen hervorruft. Vergleich mit Günther Cloerkes Theorie der widersprüchlichen Normen Günther Cloerkes ist in seinem Modell der widersprüchlichen Normen in der sozialen Reaktion auf Behinderung (Cloerkes 1984) – wenngleich auf völlig anderen theoretischen Pfaden – zu letztlich sehr ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen bezüglich der sozialen Reaktion gekommen. Cloerkes unterscheidet zwischen sogenannten „originären Reaktionen“ auf Behinderung und „of¿ziell erwünschten Reaktionen“. Die ersteren beruhen auf sehr früh im Lauf der Sozialisation erworbenen, gleichsam elementaren soziokulturellen Mustern der Körperwahrnehmung, die Cloerkes zudem mit wahrnehmungs- und sozialpsychologischen Mechanismen (Abwehrmechanismen, Projektion, Angst vor Verlust der eigenen körperlichen Integrität, Angst vor Unbekanntem) in Verbindung bringt (Cloerkes 1984: 32). Den „originären Reaktionen“ stehen „of¿ziell erwünschte“ gegenüber, die von universalistischen, ethisch geprägten gesellschaftlichen Norm- und Wertekomplexen getragen werden. Auch diese sind wiederum mit sozialpsychologischen Mechanismen (etwa der Identi¿kation mit behinderten Menschen) verknüpft. Diese Spannung führt zu einer strukturellen Ambivalenz, die sich sowohl in Einstellungen wie im manifesten Verhalten ausdrückt und im Ergebnis zu ganz ähnlichen Phänomenen führt, wie sie Murphy anführt: „Es kommt zu Verhaltensunsicherheit, Unbehagen, Spannung und Stress; der Ablauf der Interaktion wird geprägt durch Starrheit, Angst, Peinlichkeit, gekünstelte krampfhafte Heiterkeit: alles Anzeichen für eine ‚pathologische‘ soziale Situation. Letzten Endes ist nur konsequent, wenn Nichtbehinderte solche höchst unangenehmen Erfahrungen von vorneherein, antizipatorisch also, zu vermeiden suchen, was durch den Weg der Scheinakzeptierung erleichtert wird. Die weitgehende Isolation Behinderter ist jedenfalls wiederum eine Folge davon.“ (Cloerkes 1984: 34)
In der Tat sind solche auf Ambivalenz abstellenden Versuche der Aufschlüsselung sozialer Reaktionen realitätsnäher als ein am Modell von Normverstoß und Sanktion orientiertes Devianzmodell. Das ändert möglicherweise nichts an der grundsätzlichen Triftigkeit des „Reaktionsansatzes“ als solchem. Aber es löst ihn aus einem eng verstandenen kriminologischen Kontext und spezi¿ziert die für Behinderung maßgeblichen Aspekte. Zudem muss man der Gerechtigkeit halber sagen, dass insbesondere Goffman in seiner Stigmatheorie keinen an einem Norm-/Sanktionsmodell orientierten Begriff von Abweichung verwendet hatte
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und auf Ambivalenzphänomene insbesondere bei Behinderungen selbst deutlich hingewiesen hatte. Seine eigenen Analysen der Interaktionsprobleme behinderter Menschen und solche, die von ihm inspiriert wurden (z. B. Davis 1961), zeigen deutlich, dass Behinderung sowohl die nicht-behinderten wie die behinderten Interaktionsteilnehmer gemeinsam in eine Interaktionsdynamik bringen kann, bei der gar nicht mehr klar ist, wer eigentlich genau eine Norm verletzt. Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist die von Davis (1961) genannte Regel der interaktiven und thematischen Orientierung an der Gesamtwahrnehmung einer Person. Diese Regel gebietet eine generalisierte und diffuse Wahrnehmung im Interesse der Aufrechterhaltung der übergeordneten Kooperationsziele. Beispielsweise ist es nicht statthaft, sich auf Einzelaspekte der Erscheinung oder des Verhaltens einer Person zu konzentrieren und diese womöglich zu thematisieren (etwa ihre Frisur oder ihre Nase), wenn es darum geht, eine Konversation über einen Theaterbesuch zu bestreiten, eine Dienstbesprechung zu absolvieren oder ein Galadinner hinter sich zu bringen. Behinderungen können die Einhaltung dieser Regel gefährden – beispielsweise durch Stottern, optische Eindringlichkeit eines körperlichen Merkmals, in der Situation entstehender Unterstützungsbedarf o. ä. Nehmen wir an, in einer Geschäftsbesprechung starrten nicht-behinderte Teilnehmer fortwährend auf die Gesichtsentstellung eines Geschäftspartners, etwa der berühmten fehlenden Nase, anstatt seinen Ausführungen zu folgen. In diesem Fall wird zwar auf Seiten des Nasenlosen eine bestimmte kognitive Erwartung seiner Umwelt nicht erfüllt. Aber die eigentliche Kommunikationsnorm wird in diesem Fall ja gerade vom starrenden Nicht-Behinderten verletzt. Aversive Reaktionen gegenüber behinderten Menschen können demnach nicht nach dem Muster von Sanktionen verstanden werden, sondern sollten eben als Ausdruck einer Ambivalenzproblematik gesehen werden. Das spricht aber dafür stigma- und devianztheoretische mit ambivalenztheoretischen Ansätze wie den von Murphy zu verknüpfen. Genau das legt Cloerkes an manchen Stellen seines Aufsatzes von 1984 denn auch nahe. Beispielsweise sieht er den Rückgriff auf Stereotypen als einen wie immer unbefriedigenden Versuch an, Ambivalenzen aufzulösen (Cloerkes 1984: 34). Das könnte nämlich zu einer funktionalen Analyse von Stigmata überleiten. Stigmata gewinnen demnach ihre Funktion genau aus der beschriebenen Ambivalenzproblematik. Entweder versuchen sie – wenn auf sehr einfache, aversive und grobschlächtige Stereotypen zurück gegriffen wird – die Ambivalenz aufzulösen. Das ist der Fall, wenn Menschen durch Stigmatisierungen pauschal diffamiert, ausgeschlossen, entwertet oder letztlich sogar getötet werden. Stigmata können aber, wie Goffman gezeigt hat, auch in sich subtiler gestrickt sein. Ein Beispiel hierfür ist eben das Stigma des „modernen Körperbehinderten“, dem man jene Struktur der Scheinnormalität ansinnt, von der Goffman spricht. Aber auch in diesem Fall bewirkt die Stigmatisierung sozusagen eine Reduktion der Komplexität. Das heißt nicht,
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dass sie begrüßenswert ist oder dass das Problem nicht anders lösbar wäre. So oder so bleibt Stigmatisierung Ausdruck eines paradoxen Klassi¿kationsaktes in dem Sinne, wie Murphy das heraus stellt. Durch sie werden ausgeschlossene Personen Gruppen in gewisser Weise wieder in den gesellschaftlichen Kosmos einbezogen, aus den legitimen gesellschaftlichen Klassi¿ kationskategorien heraus fallende Personen wiederum klassi¿ziert. Behinderung und das Unheimliche (Stiker) Eine sehr ähnliche gelagerte Deutung der sozialen Reaktionen auf Behinderung legt der französische Historiker Henri-Jacques Stiker in der 3. NeuauÀage seines Buches „Corps in¿rmes et sociétés“ von 2005 vor. Auch Stiker knüpft dabei an Murphys Theorie der Liminalität an und verknüpft sie mit Argumenten von Georg Simmel, Sigmund Freud („Das Unheimliche“) sowie der französischen Autorin Simone Korff-Sausse und Otto Ranks („Der Doppelgänger“). Stikers Argumentation lässt sich mit dem Ausgangspunkt dieses Buches in Verbindung bringen, dem Bild der beiden ungleichen Zwillinge Wladimir und Michail. Für Stiker ist – im Anschluss an Sigmund Freuds Theorie des Unheimlichen (Freud 1970) – die Ambivalenz in der sozialen Reaktion auf Behinderung Ergebnis einer fundamentalen intersubjektiven Struktur: der Identi¿ kation („Du bist wie ich/ich bin wie du“) und der Abwehr dieser Identi¿ kation zugleich („Du bist ganz anders/ich bin ganz anders.“). Die Konfrontation mit Behinderung ist „unheimlich“, von Ambivalenz geprägt, nicht nur weil der behinderte Mensch uns fremd ist, weil er anders ist oder wirkt, sondern, weil er darin zugleich unser Nächster, unser Alter Ego, unser „Doppelgänger“ ist. Der uns ebenso fremde wie vertraute Andere (der der behinderte Mensch ist) führt uns in seinem Anderssein grundlegende Strukturen, die mit unserer Körperlichkeit verbunden sind und die wir mit ihm teilen, leibhaftig vor Augen. Stiker sieht diese Strukturbedingungen vor allem in der „Prekarität“ und letztlich „Mortalität“ unserer (körperlichen) Existenz: „L’in¿ rmité est donc bien l’incarnation de notre précarité et ¿ nalement de notre mortalité.“ «Die Körperbehinderung/Gebrechlichkeit ist also die Inkarnation unserer Prekarität und Sterblichkeit.» (Stiker 2005: 222, Übersetzung jmk).
Die Ambivalenz ergibt sich für Stiker daraus, dass wir in der Erfahrung von Behinderung der Möglichkeit unserer eigenen De¿ zienz und Prekarität begegnen, aber am Körper des Anderen. Das konfrontiert uns einerseits mit der Möglichkeit unserer eigenen De¿ zienz und Prekarität, erleichtert aber zugleich Abwehr reaktionen, ja – in Anschluss an Freuds Theorie des Unheimlichen:
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Verdrängung. Auf der anderen Seite, sagt Stiker, kann man nicht ohne seinen „Schatten“ existieren, ist der Andere, insofern ja Ausgangspunkt der Abwehr die Identi¿ kation war, unser Alter Ego. Er ist zugleich für uns unentbehrlich (indispensable), sagt Stiker: „L’in¿rmité est un compagnon qui nous suit, qui nous conteste et nous approuve, qui nous désole et nous réconforte. Nous avons besoin d’elle, comme de ceux qui la portent … Ils sont, devant nous, notre mortalité, mais ils sont aussi notre espoir d’immortalité. Je suis comme eux et pourtant j’ échappe à leur triste condition; devant eux je me sens mal fait, défait mais aussi bien fait, fort, vivant.“ (Stiker 2005: 223) («Die Körperbehinderung/Gebrechlichkeit ist ein Begleiter, der uns folgt, den wir verleugnen und billigen, den wir beklagen und der uns stärkt. Wir benötigen sie ebenso wie ihre Träger … Sie verkörpern unsere Sterblichkeit, aber sie sind zugleich unsere Hoffnung auf Unsterblichkeit. Ich bin wie sie und dennoch entkomme ich ihren traurigen Lebensbedingungen; vor ihnen fühle ich mich schuldig und missgebildet, aber auch wohlgestaltet, stark, lebendig.» Übersetzung jmk)
Aus diesen und anderen Argumenten für die Erfahrungsambivalenz von Behinderung leitet Stiker dann die gesellschaftliche Praxis der Zuweisung eines liminalen Status ab: „La tentative est alors de mettre ‚le double ambivalent‘ entre parenthèses, ou, pour prendre une autre métaphore, de le laisser sur le seuil … Il me semble qu’ on comprend les raisons de la liminalité seulement si on fait l’hypothèse que l’in¿rmitè est construite, pour le collectif, comme double déstabilisateur et régulateur tout à la fois.« (Stiker 2005: 224 ). («Der Versuch besteht also darin ‚den ambivalenten Doppelgänger‘ einzuklammern oder, um eine andere Metapher zu benutzen, ihn auf der Schwelle zurück zu lassen … Es scheint mir, als ob man die Gründe der Liminalität nur dann richtig versteht, wenn man die Hypothese macht, dass Behinderung für das Kollektiv doppelt konstruiert ist: als etwas Destabilisierendes und Regulatives zugleich.» Übersetzung jmk)
Es wird nicht ganz klar, inwieweit Stiker die Kategorien der „Verletzlichkeit“ und der „Mortalität“ in Anführungszeichen gesetzt wissen will, die sie eben als Konstruktionen der nicht-behinderten Gesellschaft ausweisen könnten. Wäre dem nicht so, müsste man die bereits zitierte Kritik von Bill Hughes in Anschlag bringen, hier läge eine einseitige Auffassung von Behinderung als Ausdruck von Verletzlichkeit und Hinfälligkeit vor , „ontological Àagships of non-disabled people’s perceptions of disabled people’s embodiment“ (Hughes 2007: 680, vgl. auch Hughes 2009). Nicht zuletzt unsere Überlegungen in den Kapiteln 3 und 4 legen es nahe, auf die Kategorie der „Mortalität“ in diesem Zusammenhang zu verzichten. Behinderungen
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Soziale Reaktionen
sind, auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung, Lebensmöglichkeiten, nicht Krankheiten und werden demgemäß auch in der gesellschaftlichen Semantik sehr selten mit Sterblichkeit assoziiert. Soziale Reaktionen reagieren auch auf die Kontingenz von Körperlichkeit Aber auch ein diesbezüglich so aufmerksamer Autor wie Bill Hughes kommt nicht umhin im Zusammenhang mit den sozialen Reaktionen allgemeinere, bis zu einem gewissen Grad kultur- und gesellschaftsübergreifende Mechanismen am Werk zu sehen, die mit Gegebenheiten der „condition humaine“, mit anthropologischen Strukturen zu tun haben. Im Sinne von Hughes wäre Vulnerabilität als Spezialfall dessen anzusehen, was ich im zweiten Kapitel als die mit Körperlichkeit (und deren Behinderung) notwendig verknüpfte Kontingenzerfahrung ausgewiesen habe. Unsere Körperlichkeit und damit unsere Existenz insgesamt ist kontingent. Damit ist zwar auch gemeint, dass sie durch materielle Zufälle verletzbar ist. Aber diese Kontingenz geht weiter, sie erstreckt sich auf unser (körperliches) Dasein und Sosein als solches. Sie beinhaltet das ganze Rätsel unserer Existenz, die Einsicht, dass die Konstruktion und Konstruierbarkeit unserer selbst ihre harten Grenzen hat. Diese in sich sehr mehrfach gebrochene Dimension der Kontingenz kann uns das provozierend unähnliche Spiegelbild, das „ärgerliche“ Doppelgängertum der Behinderung vor Augen führen. Mit dem Hinweis auf anthropologische Strukturen soll dabei weder deren soziokulturelle Modulierbarkeit bestritten noch die Unabänderlichkeit der sozialen Reaktion auf Behinderung behauptet werden. Die individuelle, soziale und kulturanthropologische Erfahrung zeichnet ganz und gar nicht das Bild einer starren, angeborenen aversiven Reaktion. Dennoch zeigt sie deutlich die historische und kulturell übergreifende Persistenz eines allgemeinen Schemas – eben eines „Zurechtkommens“ mit Ambivalenz in welcher Form auch immer. Sie kann vielfältige Formen annehmen, wie die ethnologischen und kulturanthropologischen Befunde zeigen. In jeder Kultur gibt es neben Formen der Behinderung, die sie mit den meisten anderen teilt, auch idiosynkratische „Behinderungen“ (vgl. dazu Neubert/Cloerkes 2001). Gemeinsam ist allen Kulturen aber, dass sie in irgendeiner Weise Körperlichkeit und ihre Gefährdung als ausdeutungsbedürftiges Phänomen behandeln. Sie machen die mit damit verbundene Kontingenz zum Gegenstand von Konstruktionen. Wie seltsam diese Konstruktionen immer sein mögen, sie sind auf das gemeinsame Problem bezogen mit der ärgerlichen Kontingenz sowohl des behinderten wie des nicht behinderten Körpers irgendwie zurecht zu kommen und sie sich verständlich zu machen.
7 Soziale Konstruktionen
7.1 Zum Begriff der „sozialen Konstruktion“ Bereits im ersten Kapitel dieses Buchs, als wir uns mit der Geschichte der Kielkröpfe befasst hatten, und wieder im vorangegangenen Kapitel wurde deutlich, dass beobachtbare soziale Reaktionen auf Behinderung nicht aus heiterem Himmel erfolgen. Vielmehr müssen wir sehr komplexe Deutungen und Deutungssysteme voraussetzen, die einen impliziten oder expliziten Hintergrund für die sozialen Reaktionen abgeben, ja, sie überhaupt erst verstehbar machen. So setzt die Bereitschaft auf eine Zwillingsgeburt mit Abscheu zu reagieren, voraus, dass ein Deutungsmuster wirksam ist. Dieses kann in der Verknüpfung der Zwillingsgeburt mit der Assoziation von etwas „Tierischem“ liegen. Es kann sich aber auch um eine soziale Ordnung handeln, die jedem Menschen eine soziale Position mit Rechten und PÀichten zuweist, die mit einer eindeutigen Positionierung in einer Geschwisterhierarchie verknüpft ist. Im Rahmen dieser Ordnung muss die Geburt von Zwillingen als verhängnisvolle Durchbrechung einer Kontinuität der Generationenfolge angesehen werden. Solche Deutungen und Deutungssysteme können kognitives Wissen (wie Sachverhalte beschaffen ist), Bewertungen und Normen (wie Sachverhalte beschaffen sein sollten) oder genaue Handlungsanweisungen beinhalten. Sie können die Funktion haben, zu legitimieren, zu erklären, Zusammenhänge aufzuzeigen. Sie können, wie wir am Beispiel der Kielkropfsage gesehen haben, die Form von Geschichten und Mythen annehmen, von Alltags(halb)wissen, Aberglauben. Sie können aber auch in die Form (angeblich) wissenschaftlicher Erkenntnisse, religiöser Lehren oder philosophischer Theorien über nächste und fernste, über erste und letzte Dinge gekleidet sein. Je nachdem werden diese mannigfaltigen Formen des Wissens in einfachen Konversationen zwischen Müttern, Vätern und Kindern, beim Klatsch mit den Nachbarn, in der Schule oder bei der Initiation in die Welt der Erwachsenen, im Rahmen von wissenschaftlichen Ausbildungen, der beruÀichen Schulung, durch kulturelle Institutionen wie Theater, Massenmedien oder – wie wir sehen werden – notfalls auch im Zirkus vermittelt. Am wirksamsten ist dabei jene Urmaschine der „Konstruktion“ von sozialem Wissen, die täglichen Konversation mit unseren Mitmenschen, der wir unablässig unser ganzes Leben lang tagtäglich ausgesetzt sind und zu deren Betrieb wir ständig selbst beitragen.
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Soziale Konstruktionen
Das geschwätzige Tier oder die tägliche Konversationsmaschine Würden unsichtbare Außerirdische menschliche Verhaltensweisen beobachten und dokumentieren, wäre dies sicher eine der hervorstechensten Charakteristika der Gattung Mensch, die sie fest zu halten hätten: der Mensch ist als „animal sociale“ (zoon politikon) ein geschwätziges Wesen, ein Konversationstier. In dieser Alltagskonversation sehen die Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann in ihrem berühmten Buch „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ den entscheidenden Prozess der Konstruktion von Wirklichkeit und vor allem ihrer sozialen Aufrechterhaltung: „Das Alltagsleben des Menschen ist wie das Rattern einer Konversationsmaschine, die ihm unentwegt seine subjektive Wirklichkeit garantiert, modi¿ziert und rekonstruiert. Unterhaltung bedeutet in erster Linie, dass Menschen miteinander sprechen … Gesprächsgegenstände werden fallengelassen und aufgenommen, so dass einiges von dem, was noch gewiss erscheint, abgeschwächt und anderes bestärkt wird. … Die Konversationsmaschine schlägt in Wirklichkeit um, indem wir verschiedene Elemente der Erfahrung durchsprechen und sie an einen festen Platz in der wirklichen Welt stellen.“ (Berger, Luckmann 2004: 163 ff.)
Hierbei handelt es sich um einen elementaren Mechanismus der Produktion und Reproduktion gesellschaftlichen Wissens. Allerdings analysieren auch Berger und Luckmann die gleichsam auf die Sinnkonstruktion spezialisierten Kontexte der Gesellschaft, die Welt der Erzeugung „gepÀegter Semantik“ (Luhmann). Literatur, Kunst und Theater sind daran ebenso beteiligt wie die Massenmedien, die politische Propaganda und die verschiedenen Sphären und Sinnprovinzen der Erzeugung und Tradierung wissenschaftlichen Wissens. All das erzeugt jene mannigfachen Formen gesellschaftlichen Wissens in expliziter und impliziter Form, und die ihm eigenen Strukturen: seine Aufschichtung in Relevanzstrukturen, in Typen, in mehr oder weniger bestechende assoziative Zusammenhänge, nach Legitimität, in of¿zielles und inof¿zielles Wissen, in Laien- und Expertenwissen. Immer gilt dabei, was Berger/Luckmann festhalten: „Die fundamentale Rechtfertigung des Interesses der Soziologie an der Problematik von ‚Wirklichkeit‘ und ‚Wissen‘ ist die Tatsache der gesellschaftlichen Relativität: was für einen tibetanischen Mönch ‚wirklich‘ ist, braucht für einen amerikanischen Geschäftsmann nicht ‚wirklich‘ zu sein. Das ‚Wissen‘ eines Kriminellen ist anders als das eines Kriminologen. Daraus folgt, dass offenbar spezi¿sche Konglomerate von Wirklichkeit und Wissen und zu spezi¿schen gesellschaftlichen Gebilden gehören und dass diese Zugehörigkeit bei der soziologischen Analyse dieser Gebilde entsprechend berücksichtigt werden muss. Dass ‚Wissenssoziologie‘ vonnöten ist, zeigt sich also
Zum Begriff der „sozialen Konstruktion“
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bereits an den offenkundigen Unterschieden zwischen Gesellschaften hinsichtlich dessen, was Gewissheit ist. Darüber hinaus muss sich … Wissenssoziologie damit befassen, wieso und auf welche Weise ‚Wirklichkeit‘ in menschlichen Gesellschaften überhaupt ‚gewusst‘ wird. … sie muss untersuchen, auf Grund welcher Vorgänge ein bestimmter Vorrat von ‚Wissen‘ gesellschaftlich etablierte ‚Wirklichkeit‘ werden konnte. … Die Wissenssoziologie hat die Aufgabe, die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit zu analysieren.“ (Berger/Luckmann 2004: 3)
An dieses Programm, das einer Art von soziologischem Common Sense entspricht, möchte ich vor allem anknüpfen, wenn im Folgenden von Konstruktion von Behinderung die Rede sein soll. Es geht um den wissens- und kultursoziologischen Aspekt von Behinderung. Mit „Konstruktion“ kann dabei ebenso die soziale Praxis, der Prozess der Konstruktion gemeint sein wie dessen Ergebnis (also die Deutungsmuster von Behinderung). Disability Studies als Kultur- und Wissenssoziologie der Behinderung Das entspricht ziemlich genau einem immer wieder heraus gestellten Forschungsinteresse der sogenannten Disability Studies, die nichts anderes sind als eine Kultur- bzw. Wissenssoziologie der Behinderung. Wie jede gute Kultursoziologie sind sie interdisziplinär orientiert. Insbesondere geht es dabei um die Integration geschichtswissenschaftlicher, kulturanthropologischer, literatur- und generell kulturwissenschaftlicher Inhalte und Methoden. In dem Wikipediaeintrag zum Stichwort „Disability Studies“ wird diese Nähe zur Kultur- bzw. Wissenssoziologie der Behinderung deutlich: „Bei den Disability Studies (sinngemäß Studien zu oder über Behinderung) handelt es sich um eine interdisziplinäre Wissenschaft, die Behinderung als soziale, historische und kulturelle Konstruktion begreift und sich der sozial- und kulturwissenschaftlichen Erforschung des Phänomens Behinderung widmet. …. Aus Sicht der Disability Studies lässt sich am Beispiel von (Nicht-)Behinderung untersuchen, wie soziale Kategorien historisch entstehen, wie sich Wissensbestände um sie herum anordnen und Grenzziehungen entlang kultureller Bewertungen zum Ausgangspunkt von Machtverhältnissen werden, die den Lebensalltag und die Lebenschancen von Menschen bestimmen.“ (Stichwort Disability Studies in Wikipedia, abgerufen Nov. 2009)
Ähnliches gilt für Anne Waldschmidts programmatische Formulierungen zu einem „kulturellen Modell“ von Behinderung:
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Soziale Konstruktionen „Wagt man diesen Perspektivwechsel, so kann man überraschend neue Einsichten gewinnen, zum Beispiel in die Art und Weise, wie kulturelles Wissen über Körperlichkeit produziert wird und gesellschaftliche Praktiken der Ein- und Ausschließung gestaltet sind, wie Normalitäten und Abweichungen konstruiert, Differenzierungskategorien entlang körperlicher Merkmale etabliert, personale und soziale Identitäten geformt und neue Körperbilder und Subjektbegriffe geschaffen werden können.“ (Waldschmidt 2006a: 91 ff.)
Behinderung unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen Konstruiertheit heißt nichts anderes als die empirisch vor¿ ndlichen sozialen und kulturellen Modelle von Behinderungen einer wissens- und kultursoziologischen Analyse zu unterziehen, also beispielsweise die sozialen Praxen ihrer Entstehung und Tradierung, ihre inhärente Logik, ihre Sinnstrukturen und -Dimensionen, Zusammenhänge zum sozialen Standort ihrer Trägergruppen usw. heraus zu arbeiten. Allerdings kann man bezweifeln, dass daraus ein eigenes Modell von Behinderung entsteht. Vielmehr geht es in der Wissens- und Kultursoziologie immer um Modelle von Modellen, oder, wie Schütz sagt, um die Erzeugung von Konstruktionen zweiter Ordnung. Soziale Konstruktion ist nur ein Aspekt unter anderen. Der Wikipediaeintrag setzt sozialwissenschaftliche Forschung über Behinderung mit der Herausarbeitung des Konstruktionscharakters von Behinderung gleich. Es dürfte deutlich geworden sein, dass in dieser Arbeit eine andere Sichtweise vertreten wird. Die Erforschung sozialer Produktionen und Reaktionen kann mit der Erforschung von sozialen Konstruktionen in Zusammenhang stehen. Aber es handelt sich dabei um analytisch unterscheidbare Gesichtspunkte. Soziale Produktion von Behinderung kann vollständig unabhängig von sozialen Konstruktionen von oder von sozialen Reaktionen auf Behinderung erfolgen. Sie kann aber auch in engem Zusammenhang dazu stehen. In jedem Fall ist der Nachweis einer sozialen Kausalität schon methodisch etwas anderes als die Herausarbeitung eines sozialen Deutungsmusters. Soziale Konstruktionen können manchmal bloße ReÀexe und Legitimationen sozialer Reaktionen, sozialer Handlungspraxis sein. Soziale Konstruktionen können aber auch eine bestimmte soziale Praxis erst hervorrufen oder ihr Struktur geben. Jede empirisch gehaltvolle soziologische Rekonstruktion von Behinderungsphänomenen sollte daher diesen analytisch voneinander unabhängigen Gesichtspunkte der sozialen Produktion, sozialen Reaktion und sozialen Konstruktion und ihrer wechselseitigen Zusammenhänge Rechnung tragen und zwar: bezogen auf den konkreten Fall. Denn wie diese Gesichtspunkte zusammen hängen ist nicht
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a priori, theoretisch auszumachen. Mit konkretem Fall kann dabei ebenso ein jeweils zu spezi¿zierender soziokultureller Zusammenhang gemeint sein, aber auch eine soziologische Einzelfallrekonstruktion (vgl. als Beispiel Kastl 2009). Selbstverständlich kann man auch Spezialfragen der Produktion, Reaktion und Konstruktion je für sich zum Gegenstand machen, nur sollte man dann nicht mit dem Anspruch auftreten, ein soziologisches Modell von Behinderung schlechthin zu entwerfen. Kein Konstruktivismus „Konstruktion“ meint hier also nur einen bestimmten soziologischen Aspekt des Phänomens Behinderung unter anderen. Von daher verbietet es sich mit dem Begriff der „Konstruktion“ ein erkenntnistheoretisches Programm zu verknüpfen. Bestimmte soziale Deutungen von Behinderungen als solche zu analysieren und deren soziokulturelle Relativität zu erkennen, leistet keinerlei Beiträge zu der Frage, was denn Behinderungen nun wirklich sind oder nicht sind oder ob es Behinderungen wirklich gibt oder ob sie „nur“ soziale Konstruktionen sind. Das ist ein typischer ontologischer Fehlschluss einer Theorierichtung, die man als (radikalen) Konstruktivismus bezeichnen könnte. Demgegenüber ist deutlich festzuhalten: Die soziale Konstruiertheit einer Sache zu erkennen und deren Strukturen heraus zu arbeiten, sagt nichts über den ontologischen Status dieser Deutungen und ihrer Referenz in der Wirklichkeit aus. Dass eine Sache in dem Sinne sozial konstruiert ist, dass sie ohne diese Konstruktion gar nicht in der Welt wäre, kommt zwar vor, aber nur als relativ seltener Grenzfall. Will man im Rahmen einer empirischen Disziplin Aussagen über das Verhältnis von Konstruktion und dem machen, was da konstruiert wird, ihrer Referenz, braucht man andere Methoden und Zugänge als die einer Rekonstruktion der Konstruktionen. So könnte ich mit empirischen Mitteln durchaus belegen, dass die Konstruktion, Zwillinge würden über kurz oder lang das Leben ihrer Eltern gefährden, wenn sie am Leben gelassen werden, falsch ist. Dagegen trifft die Konstruktion der Fürsorgebedürftigkeit eines schwer gehbehinderten Erwachsenen in einer Nomadenkultur empirisch zu. Um zu solchen Schlüssen zu kommen, muss ich allerdings eine rein kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise verlassen. Mein Thema heißt dann zum Beispiel nicht mehr: „Soziale Konstruktion von Fürsorgebedürftigkeit gehbehinderter Erwachsener in einer Nomadengesellschaft“, sondern „Überlebensmöglichkeiten gehbehinderter Erwachsener in einer Nomadengesellschaft und soziokulturelle Praktiken ihrer Gewährleistung“. Im Folgenden möchte ich den Aspekt der sozialen Konstruktion von Behinderung wiederum exemplarisch angehen. Es sollen zwei nicht ganz willkürliche
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Soziale Konstruktionen
heraus gegriffene historische Phänomene behandelt werden, die, wie wir noch sehen werden, von sich aus eine Reihe von kontrastiven Vergleichsdimensionen nahe legen: ƒ ƒ
die Freakshow als historische Institution der öffentlichen Zurschaustellung von behinderten Menschen; Aspekte der Konstruktion von Behinderung im Kontext des deutschen Militarismus und Nationalsozialismus.
Zugleich sind diese Phänomene Gegenstand von zwei anerkannten und wichtigen Studien im Kontext der Disability Studies, die auf je verschiedene Weise die Fruchtbarkeit eines kultursoziologischen Zugangs demonstrieren können. Es handelt sich um die bereits 1988 erschienene Studie „Freak Show“ von Robert Bogdan sowie um die 2007 erschienenen Studie „Disability in Twentieth-Century German Culture“ von Carol Poore. Aus beiden Studien werde ich – auch im Hinblick auf den Vergleich – nur sehr selektive Gesichtspunkte einbringen und sie durch weitere eigene Recherchen bzw. im Fall von Poore mit Befunden von Norbert Elias zum deutschen Militarismus anreichern. 7.2 „Wunder der Natur“ – Konstruktion von Behinderung in der Freakshow Im Zentrum des semantischen Feldes des englischen Wortes „freak“ steht die Bedeutung von Abweichung und Außeralltäglichem. So nennt das Wörterbuch69 als Primärbedeutung für Freak: „etwas Außergewöhnliches“ und führt als Beispiel „a freak of nature“ = eine Laune der Natur an (vgl. auch Scheugl 1974: 4). Daraus leiten sich eine ganze Reihe substantivischer und verbaler Bedeutungen ab. Freak kann demzufolge auch heißen: Missgeburt, Monstrosität, Monster. Ein „cleanliness freak“ ist ein Sauberkeitsfanatiker. „Freak accident“ ist ein außergewöhnliches Missgeschick. Als Verb kann to freak heißen: ausÀippen, durchdrehen. Das Adjektiv „freakish“ bedeutet „sonderbar“. Mittlerweile ist das Wort als Anglizismus auch in den deutschen Sprachraum eingedrungen. Seit den 1970er-Jahren ist Freak eine (Selbst-)Bezeichnung von Anhängern von Lebensstilen und Lebensformen, die sich nicht in die Vorstellungen bürgerlichen Lebens einfügen, als „alternativ“ gelten. So wurden beispielsweise schon Hippies als Freaks bezeichnet. Zum anderen werden damit aber auch – wie in der Verwendung „cleanliness-freak“ – Personen etikettiert, die bestimmte, mehr oder weniger ausgefallene Hobbies, Tätigkeiten,
69
PONS Großwörterbuch für Experten und Universität, Stuttgart (Klett) 2002
„Wunder der Natur“
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Interessen mit außergewöhnlicher Energie und Konsequenz verfolgen (z. B. Computerfreaks, Modefreaks, Musikfreaks). Die negativ-pejorative Bedeutung hat sich insgesamt verloren, insbesondere weil „Freak“ auch als positive Selbstbezeichnung verwendet wird. Dass Freaks Menschen mit körperlichen Anomalien waren, die in sogenannten Freak-Shows zur Schau gestellt wurden bzw. dort auftraten, ist zumindest in der Alltagsverwendung dieses Wort aus dem Blickfeld verschwunden oder in den Hintergrund geraten. Freakshows in diesem Sinne kamen in den USA im 19. Jahrhundert auf, vereinzelt existieren sie bis heute. Aber auch in Deutschland und Mitteleuropa gab es bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein insbesondere auf Jahrmärkten Vorführungen und Präsentationen von Menschen mit außergewöhnlichen Merkmalen. In einer Dokumentation, die im Internet erhältlich ist, hat Stefan Nagel dazu detailliertes Material zusammen gestellt und erläutert (Nagel 2008, Kapitel 7 „Abnormitäten“ sowie Scheugl 1974, Bogdan 1988, Thomson 1996). Es ¿nden sich u. a.: ƒ
ƒ
ƒ ƒ ƒ ƒ
vermeintliche, als solche bezeichnete „Tiermenschen“, meist mit starker angeborener Behaarung, wie zum Beispiel Lionel, der Löwenmensch, Jojo, der Pudelmensch, Krao, das Affenweib sowie Menschen mit Knochenverkümmerungen bzw. Missbildungen, die je nachdem als Flügelmenschen, Frosch-, Kröten-, Pinguin-, Hummer- oder Kamelmenschen, bezeichnet wurden, als „Bärenweib“, „Hummerscherenmensch“, Krokodil- und Elefantenmenschen (mit einer wulstigen Beschaffenheit der Haut), „Kleopatra, das Krokodilmädchen“; „Vogelköpfe“ (Menschen mit Mikrocephalie); Menschen mit außergewöhnlichen Körperformaten: außergewöhnlich dünn („Skelettmenschen“, „lebende Gerippe“, „der lebende Mumienmensch“); außergewöhnlich schwer bzw. dick („Die dicke Emmy, der weibliche Koloss“, „Riesen- oder Kolossaldamen“); außergewöhnlich groß („Mariedl, die Riesin aus Tirol“, „der Riese Murphy“, „die drei ostpreussischen Kolossalgeschwister“); außergewöhnlich klein („Prinz Kolibri“, „Die Wanderliliputaner“, „Liliputaner-Variété“, „Theater der Heinzelmännchen“); Menschen mit unklaren Geschlechtsmerkmalen: Hermaphroditen („Raspania, die rätselhafte Zauberkünstlerin – halb Mann, halb Weib“), „Bartfrauen“; „Doppelmenschen“ (Siamesische Zwillinge; Menschen, denen Teile eines rudimentär ausgebildeter Zwillingskörpers angewachsen sind); Menschen mit fehlenden Körperteilen: „Dame ohne Unterleib“, „die lebende Schaufensterbüste“, „Halb- und Rumpfmenschen“; Menschen mit anderen außergewöhnlichen Eigenschaften, z. B. mit anderer Körperfarbe (Albinos) oder abnormer Beweglichkeit („Gummimenschen“).
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Aus Anzeigentexten, zitiert/abgebildet bei Nagel 2008: „Zum ersten Mal auf dem Arolser Viehmarkt! Ein Weltwunder! Die dicke Emmy, der weibliche Koloß. 530 Pfd. Seit Menschengedenken das schwerste Mädchen, das je gelebt hat! 5000 Goldmark Belohnung demjenigen, der mir ein ebenso schweres Mädchen nachweisen kann. Da Emmy durch keine Kuppétür der Eisenbahn kann, muß sie im Gepäckwagen verladen werden gegen doppelten Fahrpreis 3. Klasse und 12 Mk. Streckenzuschlag. Emmy ist nicht zu verwechseln mit anderen hier schon gezeigten Riesen- oder Kolossaldamen. --- Emmy, die witzige, die mollige, Emmy, die nette, Emmy, die fette, Emmy, die runde und ganz gesunde, zeigt sich der staunenden Welt in ganzer Größe für billiges Geld!“ (Anzeige von 1928, Nagel 2008: 126) „Kleopatra – das Krokodilmädchen Lebend! Halb Weib, halb Krokodil! Die größte Sensation des Jahrhunderts! Mensch oder Tier? Kleopatra hat am ganzen Körper einen 2 1/2cm dicken Krokodilpanzer. Kleopatra hat schief geschlitzte, fast senkrechte rote Augen und schließt dieselben von unten nach oben. Kleopatra ist das Rätsel aller Gelehrten, ärztlichen Autoritäten und der ganzen wissenschaftlichen Welt. Kleopatra mutet uns an wie ein Fabelwesen unserer früh zerzausten Kinderträume. Kleopatra muss ein jeder gesehen haben, denn ihr Anblick wird ihnen im Leben unvergesslich bleiben. Lebend! Kommen! Sehen! Staunen! Lebend!“ (Zeitungsannonce, vermutlich 1920er Jahre; Nagel 2008: 130) „Rob Roy, Albino und Verrenkungsmensch, ist ein doppeltes Wunder der Natur. Er ist einer der wenigen vollkommenen Albinos, die sich sehen lassen, und hat außerdem die Fähigkeit, ohne im Besitze von doppelten Gliedmassen oder irgend anderer physischer Missbildungen zu sein, jedes Glied seines Körpers sich auszurenken. Er kann nach Belieben und völlig schmerzlos jede Verrenkung, die in der ärztlichen Wissenschaft bekannt ist, herbeiführen.“ (Buch der Wunder 1901; Nagel 2008: 131) „Eine Mundkünstlerin. Die heurige Messe zeigt uns eine Dame, die etwas bisher Unerhörtes oder vielmehr ganz Ungesehenes leistet, indem sie weibliche Handarbeiten vermittels des Mundes fertigt. Der in Rede stehenden Mundkünstlerin, die seit gestern ihr Atelier bei uns aufgeschlagen hat (neben der Hauptwache), hat die Natur die Hände versagt, jedoch ein fester Wille, sich angemessen zu beschäftigen, hat diesen Mangel in einer Weise überwinden lassen, die in Erstaunen setzt. … Die zierlichsten Stickereien, Perlhäckelarbeiten, Woll- und Kunststeppereien entstehen vor unsern Augen mit überraschender Geschwindigkeit. Man muß es sehen, um an die Möglichkeit zu glauben, daß man die feinsten Nähnadeln mit dem Munde einzufädeln, einen festen Knoten an den Faden zu machen und die Schere für das Zuschneiden der Kleider mit Sicherheit zu führen vermag. Da der Aufenthalt nur bis kommenden Sonntag währt, ist ein beschleunigter Besuch nur zu empfehlen.“ (Nördlinger Anzeigenblatt 4.6.1869; Nagel 2008: 133)
Die Blütezeit der Freakshows kann man für die USA mit dem Jahrhundertintervall von 1840 bis 1940 angeben (Bogdan). Sie wurden auch als „Raree shows“ bezeichnet, als „Hall of Human curiosities“, als „Sideshow“, „odditorium“, „Congress of human wonders“. Es gab sie in unterschiedlichen Formen: sie hatten Ausstellungs- oder
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Vorführungscharakter, sie konnten in Zirkusvorstellungen integriert sein oder in Jahrmarktbuden auftreten bzw. präsentiert werden. Gemeinsam war folgendes De¿nitionskriterium: „By ‚freak show‘ I mean the formally organized exhibition of people with alleged and real physical, mental, or behavioural anomalies for amusement and pro¿t. The ‚formally organized‘ part of the de¿nition is important, for it distinguishes freak shows from early exhibitions of single attractions that were not attached to organizations such as circuses and carnivals“ (Bogdan 1988:10).
Die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts haben deswegen eine wichtige Bedeutung, weil ein gewisser Phineas Taylor Barnum 1841 das sogenannte „American Museum“ in New York, das vom Konkurs bedroht war, übernahm. Barnum, gelernter Kaufmann, versuchte seit den 30er Jahren sein Glück im Schaustellergewerbe. Unter anderen stellte er eine angeblich 161-jährige alte, blinde und gebrechliche schwarze Frau aus, die die Amme von George Washington gewesen sein soll und die das zahlende und staunende Publikum mit Anekdoten aus Washingtons Leben und dem Singen von Gospels unterhielt.70 Barnum folgte bei seiner Übernahme des American Museum einem damaligen Trend, Museen (die mit völkerkundlichen und naturkundlichen Exponate durchaus Bildungszwecke verfolgten) durch die Integration von Massenunterhaltung zu einem einträglicheren Geschäft werden zu lassen. Er baute das American Museum zu einer Ansammlung von spektakulären Sehenswürdigkeiten um, einer Art Unterhaltungszentrum, in denen Familien den ganzen Tag verbrachten und sogar Decken und Picknickmahlzeiten mitbrachten. „American Museum“ Es gab lärmende Musik, Wachs¿guren- und Kuriositätenkabinette (ausgestopfte Vögel, exotische Musikinstrumente, Rüstungen, die Gipsbüste eines „Kannibalenhäuptlings“, ein Modell der Niagarafälle, Mumien, Skelette). Es gab einen Hund, der eine Strickmaschine bediente, lebende Tiere, Bauchredner, Vorführungen und Showeinlagen, Dioramen und sonstige mediale Spektakel, einen Flohzirkus, Kartenleserinnen. Hauptattraktion wurden zunehmend die Präsentation von Menschen mit den unterschiedlichsten wirklichen oder vorgetäuschten körperlichen Anomalien. 1868 brannte das Museum bis zum Grund ab. Allerdings hatte P. T. Barnum mit seinem American Museum einen prominenten Prototyp für eine große Zahl
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Das berichtet Barnum selbst in seiner Autobiographie (Barnum 2001: 76).
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ähnlicher Unternehmungen in den ganzen USA geschaffen, die sich zum Teil bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts unter der Bezeichnung „dime museum“ halten konnten (von „dime“ = Zehncentstück, es handelte sich also gleichsam um eine Billigvariante für bildungsfernere Bevölkerungsschichten). Freak Shows blieben dabei immer ein wesentlicher Bestandteil. Zirkus und andere Vergnügungen Nach dem Abbrennen des American Museum verlegte sich Barnum schwergewichtig auf das Wanderzirkusgeschäft, in das er bereits in den Jahren zuvor immer wieder eingestiegen war. 1885 fusionierte Barnum mit dem Schausteller James A. Bailey zu „Barnum and Bailey: The Greatest Show on Earth.“ Vor allem als sogenannte „Sideshow“, als spektakuläres Beiprogramm des eigentlichen Zirkusprogramms, wurde die Freak Show integraler Bestandteil der Welt des Zirkus. Die Blütezeit des Zirkus als die Organisation populärer Unterhaltung vor allem auf dem Àachen Land reichte etwa von 1870 bis 1920. Später machte ihm die zunehmende Verbreitung von Vergnügungsparks, Kinos und des Radios zu schaffen. Andere wichtige Kontexte für Freak Shows waren insbesondere ƒ ƒ
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seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts internationale Industrie- und Handelsmessen und -Ausstellungen; sogenannte „Amusement Parks“, stationäre Vergnügungsparks (wie zum Beispiel Coney Island) mit sehr verschiedenen Unterhaltungs- und Zerstreuungsmöglichkeiten, von (ursprünglich) Bordellen über Fahrgeschäfte, Bars, Lotterie bis eben zu Shows, Vorführungen und Ausstellungen; Jahrmärkte und Volksfeste.
Mit dem Niedergang all dieser Institutionen spätestens seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts verschwand auch die Freakshow. Allerdings lagen die Gründe dafür auch in einer Veränderung gesellschaftlicher Deutungsmuster von Behinderung bzw. körperlicher Anomalie, wie wir noch erörtern werden. Zunächst soll aber eine kurze Skizze wichtiger struktureller Aspekte der soziokulturellen Praxis der Freakshow verdeutlichen, in welchem Sinn und auf welche Weise hier „Behinderung“ (bzw. das, was wir heute so bezeichnen würden) sozial konstruiert wurde.
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Rhetorik der Freakshows Einen Eindruck der wesentlichen Elemente konnten bereits die oben zitierten Zeitungsannoncen vermitteln. Die Freak-Show stellt körperliche Anomalie ganz offensichtlich nicht als Behinderung im Sinne unserer De¿nition dar. Die verwendeten Etikettierungen sprechen dagegen: in unserem Sinne behinderte Menschen wurden als „Weltwunder“ bezeichnet, als „größte Sensation“, als „Wunder der Natur“, „Unerhörtes und Ungesehenes“, „größte Abnormität der Welt“, „das armlose Wunder“, das „schwerste Mädchen, das je gelebt hat“, „das „eigenartigste und seltsamste Phänomen der Welt“ (vgl. die Materialien insbesondere in Scheugl 1974, Nagel 2008). Als adäquate „soziale Reaktion“ wird ausdrücklich das Staunen nahe gelegt („Kommen, sehen, staunen!“ „… zeigt sich der staunenden Welt“). Dieser Gestus der lärmenden Anpreisung einer absolut erstaunlichen und einmaligen Sache ist ein Grundprinzip der Freak-Show. Sie erfolgt in Zeitungsanzeigen, Plakaten, durch Ausrufer vor den Gebäuden bzw. Zelten, in denen die Freak-Show statt¿ndet und sie setzt sich fort im Darstellungsstil der Präsentation der Freaks in der Show selbst oder auch in käuÀich erwerbbaren Souvenirs mit Photographien und zum Teil regelrecht ausufernden Texten zur (angeblichen) Geschichte der präsentierten Freaks. Die Rhetorik der Superlative wird dabei gestützt durch Berufung auf die Autorität wissenschaftlicher Überprüfung (durch Professoren, Doktoren, Ärzte) oder der Empfehlung durch sonstige Institutionen oder Organisationen mit hohem Prestige (Bogdan 1996: 27). Die Wissenschaftsrhetorik ist kein Zufall: sie verdankt sich natürlich dem Entstehungskontext des naturkundlichen Museums. Zugleich liefert sie der Sensationsgier und dem Voyeurismus der Zuschauer ein legitimes Motiv. Aber sie hat auch einen kulturgeschichtlichen Hintergrund. Das akribische Interesse an den „Launen der Natur“ wurde im 19. Jahrhundert wesentlich durch das Bekanntwerden der Darwinschen Evolutionstheorie und die zunehmend erfolgreichen Naturwissenschaften kultiviert. Das Interesse für Abweichungen und Variationen in Körperbau und -Funktion, kurz: an der Kontingenz des Körperlichen, des Biologischen war gerade im Entdeckungs- und Entstehungskontext der Evolutionstheorie eine wichtige wissenschaftliche Haltung. Wenn man die Schriften Darwins liest, kann man durchaus den Eindruck bekommen, beim Er¿nder der Evolutionstheorie handle es sich selbst um einen „Freak“, der fanatisch und akribisch auf der Suche nach Anomalien und Variationen war und diese in unzähligen Sammel- und Fundstücken „einer staunenden Welt“ präsentiert. Der Kolonialismus bzw. der Imperialismus der damaligen Großmächte (der ja auch eine sozialstrukturelle Rahmenbedingung der Reisen Darwins war) tat ein Übriges, um das Interesse an fremdartigen Ländern und Welten auch und gerade im Bürgertum im wahrsten Sinne des Wortes „salonfähig“ zu machen. Von alledem stellt die Freakshow einen trivialisierten Abklatsch für kleine Leute her.
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Welche Rolle die Wissenschaft im Allgemeinen und die Evolutionstheorie im Besonderen spielt, zeigt sich, wenn man die Art und Weise der Präsentation der Freaks näher betrachtet. Bogdan unterscheidet hier zwei Grundtypen, die sich ihrerseits differenzieren und bis zu einem bestimmten Grad auch kombinieren lassen: ƒ ƒ
die exotische Präsentation/der exotische Modus („exotic presentation“/„exotic mode“) die Präsentation/der Modus der Statuserhöhung („aggrandized-status-mode“).
Exotischer Präsentationsmodus Im exotischen Präsentationsmodus erhält der Freak eine Identität, die seine kulturelle oder/und natürliche Differenz heraus stellt. Er wird als fremdartig, primitiv, tierähnlich, exotisch dargestellt. Seine Herkunft ist meistens ein mehr oder weniger geheimnisvoller Ort außerhalb der damals als zivilisiert geltenden Welt. Er stammt aus dem dunkelsten Afrika, den Urwäldern Borneos oder einem aztekischen Königreich. Er wird unter abenteuerlichsten Umständen in die westliche Welt gebracht, zum Beispiel werden Albinos durch Forscher angeblich in letzter Minute vor dem sicheren Opfertod in ihrer Heimat gerettet (Bogdan 1996: 28).71 Ausführlich wurden in kleinen Broschüren, den sogenannten Pitchbooks, solche (in der Regel natürlich frei erfundenen) Herkunftsgeschichten der Freaks dargelegt oder vom Promoter selbst erzählt. Die „Freaks“ selbst wurden angehalten, vor dem gemalten Hintergrund von üppiger Dschungelvegetation, Pappmachéfelsen und künstlichen PÀanzen, einen möglichst „wilden“ Eindruck zu machen, sich auf unheimliche Weise zu bewegen oder mysteriöse Lautäußerungen von sich zu geben. Sie wurden mitunter als „Wilde“ mit Lendenschurz und Knochenketten kostümiert oder ihnen wurden Ketten angelegt, angeblich um das Publikum vor ihnen zu schützen. Allerdings gab es auch durchaus friedfertigere Inszenierungen wie zum Beispiel „The Wild Australian Children.“ Dahinter verbarg sich ein Geschwisterpaar aus Ohio, von dem nur die Vornamen überliefert sind: Tom und Hettie. Beide waren nach heutigen Maßstäben geistig behindert. Ihr fremdartiges Aussehen ging auf eine Mikrocephalie zurück, also auf einen verkleinerten Kopf infolge einer 71 Das ist – nebenbei bemerkt – eine nicht ganz so abwegige Konstruktion. Bis heute sind in manchen Ländern Afrikas Menschen mit Albinismus Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt, weil sie entweder diskriminiert und verstoßen werden oder aber – wie in Tansania und Burundi – ihre Körperglieder als glücksbringend gelten. Es gab in jüngster Zeit mehrere Fälle, wo Albinos von skrupellosen Gangs verstümmelt oder/und getötet wurden, um Körperglieder, Haare oder Blut zu verkaufen. (Vgl. z. B. eine BBC-Meldung von 2008: http://news.bbc.co.uk/2/hi/africa/7681896.stm)
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Fehlentwicklung des Gehirns. An ihrem Beispiel lassen sich aber gut die beim exotischen Modus wirksamen Deutungsmuster belegen. In zeitgenössischen Broschüren wurden sie als Mitglieder eines fast ausgestorbenen Stammes aus Australien beschrieben, die durch einen Forscher nach Amerika gelangten. Ausdrücklich wurde unter Verweis auf anerkannte „Phrenologen“ und andere Wissenschaftler der Verdacht zurück gewiesen, es handle sich um „idiots, lusus naturae, (n)or any other abortion of humanity“. Sie gehörten vielmehr – angeblich wissenschaftlich bestätigt – „to a distinct race hitherto unknown to civilization“ (Bogdan 1988: 120). Das folgende Zitat Bogdans belegt die Bedeutung evolutionstheoretischer Argumentationsmuster (auch und gerade wenn sie natürlich „gefakt“ sind, „Humbug“, um ein von P. T. Barnum selbst verwendetes Wort zu verwenden): „Their small and ‚most curiously shaped heads of any human being ever seen‘ are described as adapting them ‚for creeping through the tall, rank grass of their native plains, and springing upon the sleeping game or unsuspecting foe‘“ (zit. bei Bogdan 1988: 120)
Eine ganz ähnliche Darstellungslogik wird in den Promotionunterlagen der „Wild Man of Borneo“ zugrunde gelegt. Dabei handelt es sich um die kleinwüchsigen, aus England stammenden Geschwister Hiram (1825–1905) und Barney (1827–1912) Davis. In ihrer Legende wird an semiwissenschaftliche Reiseberichte des 19. Jahrhunderts angeknüpft, in denen von einem auf Borneo lebenden Waldmenschen, halb Affe, halb Mensch die Rede ist. Eingebettet in Beschreibungen von Klima, Flora und Fauna wird behauptet, die beiden Brüder seien Angehörige einer bis dato unbekannten Rasse der Menschheit, die bisher nicht einmal mit „halbzivilisierten Stämmen“ in Kontakt getreten seien (Bogdan 1988: 124). Auch ihre körperlichen Abweichungen werden dem Publikum in der Logik einer plausiblen Anpassung an exotische Lebensbedingungen verständlich gemacht. Angeblich befähige sie ihre Kleinheit dazu, ganz besonders gut auf die Bäume ihrer Dschungelheimat zu klettern: „no ourang-outang could climb a tree with more agility than they displayed. If you examine their little ¿ngers you will ¿nd that conformation such as to afford them astonishing prehensile power, enabling them to grip an object and retain their hold. Either of them can lift his entire body by his little ¿nger, and so swing to and fro, in the manner of a Borneo gorilla.“ (zit. bei Bogdan 1988: 124)
In anderen Fällen wurden ähnliche Legenden geschaffen, sehr oft ergänzt um „wissenschaftliche“ Referenzen und „Gutachten“. Im Fall der sogenannten „Last of the Ancients Aztecs“, ebenfalls zwei Geschwistern mit Mikrozephalie, ¿el sogar der Name Alexander von Humboldts (Bogdan 1988: 131). Einer der berühmtes-
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ten Freaks, Wilhelm Henry Johnson (ca. 1840–1926), der als „Zip – what is it?“ auftrat, wurde als „Man-Monkey“ typisiert. Auch das wurde unter Berufung auf wissenschaftliche Autoritäten untermauert: „the formation of the head and face combines both that of the native African and of the Orang-Outang … he has been examined by some of the most scienti¿c men we have, and pronounced by them to be a CONNECTING LINK BETWEEN THE WILD NATIVE AFRICAN AND THE BRUTE CREATION.“ (Bogdan 1988: 136 f.)
Andere „Freaks“ wurden schon in der Ankündigung als „missing link“ oder sogar unter Anspielung auf den Er¿nder der Evolutionstheorie „Darwin’s Missing link“ bezeichnet – beispielsweise „Krao“ aus Laos (1876–1926), eine Frau mit Hypertrichose. Sie wurde übrigens wie viele andere Freak-Darsteller wirklich von wissenschaftlichen Autoritäten (darunter der berühmte deutsche Arzt Rudolf von Virchow) untersucht (Thomson 1996: 164) – allerdings in diesem Fall mit anderem Ergebnis, als in den „Humbug-Konstruktionen“ der Shows und der „literarischen Arbeiten“ in ihrem Umfeld verbreitet wurde. Freakshows – Evolutionstheorie als Spektakel Dennoch sind der evolutionstheoretische Kontext und der damit verknüpfte Heterogenitätsdiskurs nicht nur vorgetäuscht. Durchaus verbreitet waren damals Auffassungen, die die Anomalien vieler Freaks nach dem Muster von evolutionären Atavismen deuteten. Unter einem Atavismus versteht man in der Biologie ein Überbleibsel bzw. eine Reaktivierung früherer Phasen der Stammesentwicklung eines Organismus. Solche Atavismen existieren nach noch heute akzeptierter biologischer Ansicht im Körper jedes Menschen, beispielsweise in Gestalt des verlängerten Steißbeins, das keinerlei anatomische Funktion hat. Die menschliche Körperbehaarung lässt sich als Atavismus verstehen. Im Laufe der Embryonalentwicklung entwickelt jedes Menschenkind für eine kurze Zeit Kiemenbögen und eine Ganzkörperbehaarung. Eng damit verbunden ist die in der Biologie noch heute ernsthaft diskutierte Rekapitulationstheorie des deutschen Zoologen Ernst von Haeckel (auch „biogenetische Grundregel“ genannt). Sie besagt, dass die Ontogenese (einschließlich der Embryonalentwicklung) eine Art verkürzte Form der stammesgeschichtlichen Entwicklung, der Phylogenese durchlaufe. Der im 19. Jahrhundert bekannte und angesehene deutsch-schweizerischer Naturforscher Carl Vogt, Radikaldemokrat, Materialist und erster Rektor der Universität Genf, vertrat die Ansicht, dass das abweichende Aussehen von Menschen mit Mikrozephalie, die in den Freakshows auftraten, Ergebnis eines zumindest teilweisen Atavismus sei. Vogt versprach von dessen Studium Aufschluss über
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den gemeinsamen Vorfahren von Affen und Menschen (Rothfels in Thomson 1996: 167). Insofern lassen sich – zumindest in der frühen und mittleren Phase der Freakshows – die offenkundig frei erfundenen Legenden der Freaks durchaus als Trivialisierungen damaliger wissenschaftlicher Positionen auffassen. Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Konstruktionen körperlicher Anomalie einem grundsätzlich anderen Muster folgen, als die sich in dieser Zeit ebenfalls schon ankündigenden und später verbindlichen medizinisch-pathogenetischen Sichtweisen. Sie folgt trotz der Möglichkeit des Umkippens in einen Degenerationsdiskurs zunächst der Logik einer „Spielart/Laune der Natur“ und damit der Grundsemantik des Begriffs „Freak“. Ihr kultureller Hintergrund ist eine spezi¿sche Rezeption der Darwinschen Evolutionstheorie. Im Gegensatz zu den sozialdarwinistischen und rassistisch-eugenischen Lesarten handelt es sich bei dieser Deutungstradition eher um eine gleichsam liberal-pluralistische Lesart, nicht frei von imperialistisch-kolonialistischen Impulsen der Erforschung und Eroberung fremdartiger und faszinierender anderer Welten. Bogdan weist darauf hin, dass mit dieser von Naturwissenschaft und Teratologie72 geprägten Sichtweise körperlicher Anomalie als faszinierender „Spielart der Natur“, auch die sozialen Reaktionen auf die nach unserer Terminologie „behinderten“ Menschen aufs engste verknüpft sind. Mitleid als Haltung war vollständig unvereinbar mit dieser impliziten und expliziten Konstruktion von „Behinderung“ (Bogdan 1988: 277). Die ihr angemessene Reaktion war eben Staunen, wie immer mit Sensationslust und einer Art von genüsslichem Grusel vermischt. Es versteht sich von selbst, dass die Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen weit ab von der Logik dieser sozialen Konstruktion war. Die Frage der Lebenserfahrung der betroffenen Menschen bleibt ein Desiderat an die Forschung, ihr wäre erst noch zur Sprache zu verhelfen. Ein Teil, insbesondere der prominent gewordenen Freaks verstand sich durchaus als „Performer“, die ihren Teil dazu beitrugen, ein zum Teil durchaus gering geschätztes Publikum an der Nase herum zu führen. Für sie war die Arbeit als Freak paradoxerweise eine Art Berufstätigkeit, die eine Eintrittskarte in eine ansonsten unmögliche normale bürgerliche Existenz war. Prince Randian, die „menschliche Raupe“, hatte Familie und konnte sich ein großes Haus leisten. Die wegen ihrer Herkunft übrigens namensgebenden siamesischen Zwillinge Chang und Eng ließen sich in einer ländlichen Region der Südstaaten nieder und waren trotz ihrer rassischen, kulturellen und körperlichen Abweichung respektierte Bürger. Al Tomaini, ein ehemaliger „Riese“ und seine Frau Jeanie, „legless wonder“, stiegen in das Motelgeschäft in Florida ein (vgl. insgesamt Bogdan 1988: 269). Aber andere Freaks, und das war mit Sicherheit die Mehrheit, waren nicht so privilegiert und waren bloße Objekte einer skrupellosen Geschäftemacherei,
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Unter „Teratologie“ verstand man die Wissenschaft von der Ursache von Fehlbildungen.
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einer legitimierten und als öffentliches Spektakel zelebrierten Stigmatisierung (vgl. dazu Gerber in Thomson 1996: 93–54). Wie immer man die Empörung über die Ausbeutung behinderter Menschen als Freak vor dem Hintergrund der damaligen Lebensmöglichkeiten relativieren kann – ganz sicher handelt es sich dabei um eine Form der demonstrativen und ins Groteske getriebenen Institutionalisierung von Liminalität im Sinne von Robert Murphy (vgl. Kapitel 6.4). Präsentationsmodus der Statuserhöhung Das gilt in geringerem Maße für die Freaks, die in der Logik des anderen Grundtyps der Präsentation der Freakshow inszeniert wurden, im Modus der Statuserhöhung. Menschen mit Mikrozephalie bzw. mit – nach heutiger Ansicht – „geistigen Behinderungen“, mit ungewöhnlichem Haarwuchs, sowie kleinwüchsige Menschen, bei denen die Proportionen gegenüber normal großen Menschen ungewöhnlich verändert waren, wurden tendenziell eher im exotic mode dargestellt. Im Modus der Statuserhöhung wurden vor allem kleinwüchsige Menschen mit durchschnittlichen Proportionen, aber eben auch Menschen mit fehlenden Körpergliedern und sonstigen Fehl- oder Missbildungen, auch sogenannte „siamesische Zwillinge“ präsentiert. Hier lassen Bogdans Beschreibungen zwei Unterformen erkennen. Die eine Gruppe nennt er „high aggrandized“, die andere „respectable“. Insebsondere die Freaks der ersten Gruppe zeichneten sich dadurch aus, dass ihre Namen durch prestigeträchtige Titel wie Captain, Commodore, Major, General, Prince, King, Princess und Queen ergänzt wurden. Oftmals wurde ihnen eine in den USA angesehene europäische Herkunft, womöglich aus einer uralten Aristokratenfamilie angedichtet. Sie wurden als außergewöhnlich gebildet geschildert, sie sprachen verschiedene Sprachen und hatten erlesene Hobbies wie Gedichte schreiben oder Malen (Bogdan in Thomson 1996: 29 f.). Manchmal traf ein Teil der Legenden durchaus auch in der Realität zu. Beispielsweise war die Aura wohlhabender Bürgerlichkeit, in der Barnum die Legende von Charles Sherwood Stratton alias General Tom Thumb (1838–1883) spielen ließ, nicht ganz so weit entfernt von dessen wirklichem Leben wie bei den Freaks des exotic mode. Allerdings war das auch gerade eine Folge der Tätigkeit als „Freak“: Barnum beeinÀusste auch das wirkliche Leben von Stratton erheblich, indem er beispielsweise die (wirkliche) Hochzeit Strattons mit der ebenfalls kleinwüchsigen Lavinia Warren Bump öffentlichkeitswirksam ausschlachtete, wenn nicht sogar aktiv betrieben hatte. Stratton war zugleich ein Beispiel dafür, wie Menschen mit körperlichen Anomalien durch die Karriere als „Freak“ zu einem erheblichen Wohlstand und einem vergleichsweise „normalen“ und angesehenen bürgerlichen Leben kommen konnten, mit eigenem Haus, Pferden, einer Segeljacht, Frau und Kindern. Stratton verkehrte im Laufe seines Lebens als Folge seines Ruhmes wirk-
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lich, wie es seiner Legende entsprach, in Kreisen der europäischen Aristokratie. Das reichte bis zu einem von Barnum überlieferten Empfang bei der englischen Königin im Buckingham-Palast (Barnum 2001: 160 ff.). Auch der arm- und beinlose Prince Randian, durch seinen Auftritt in dem Film „Freaks“ (1932) von Tod Browning berühmt geworden (1871–1934), konnte sich ein bürgerliches Leben leisten. Er war verheiratet, hatte Kinder und besaß ein Haus. Das war zu dieser Zeit für Menschen mit vergleichbaren Behinderungen und seiner sozialen Herkunft eine völlig exzeptionelle soziale Existenzform. Der für den Modus der Statuserhöhung kennzeichnende Aspekt bürgerlicher Gebildetheit traf für ihn ebenfalls zu. Angeblich sprach er wirklich vier Sprachen Àießend. Auch Johnny Eck (1911–1991), der eigentlich John Eckhardt hieß, ist ebenfalls durch seinen Auftritt in dem Film „Freaks“ sowie in drei Tarzan¿lmen noch heute bekannt. Er schrieb, malte und photographierte sein Leben lang. Er leitete ein Orchester und wollte ursprünglich Prediger werden. Respectable Freaks Beide Künstler sind zugleich Beispiele für den anderen Untertyp des statuserhöhenden Darstellungsmodus. Insbesondere Freaks, die durch Fehl- oder Missbildungen charakterisiert waren, boten dem Publikum erstaunliche und respekteinÀössende Geschicklichkeiten dar. Ein Kunststück von Prince Randian, in dem erwähnten Film „Freaks“ verewigt, war es nur unter Einsatz seiner Lippen und Schultern eine Zigarette mit einem Streichholz anzuzünden und diese dann zu rauchen. In der entsprechenden Filmszene ruft er nach diesem Beweis seiner Geschicklichkeit einem physisch normalen Mann provozierend hinterher: „Can you do anything with your eyebrows?“. Johnny Eck war – übrigens als Zwilling eines völlig normal aussehenden Bruders – mit einem Unterleib geboren, der so unterentwickelt war, dass er als „half boy“ bzw. später „half man“ auftreten konnte. Der Film „Freaks“ dokumentiert bis heute seine beeindruckende Fähigkeit auf akrobatische Weise seine Hände zum Einsatz zu bringen, bei der Fortbewegung, beim Klettern, einer fast tänzerischen Form des „Bodenturnens“ (Übergang in den Einhandstand, Radschlagen u. a.), beim Umgang mit Gegenständen. Darüber hinaus war er ein beeindruckender Zauberer, Rennautofahrer, Schwimmer und Schauspieler u. a. m.73 Andere Beispiele für die Präsentation erstaunlicher Fähigkeiten sind etwa die oben erwähnten Häckel- und Handarbeiten einer armlosen Frau, die Mühelosigkeit, mit der Menschen ohne Arme (oft als „legless wonder“ tituliert) eine Mahlzeit 73 Im Internet gibt es ein digitales Museum, das an ihn und sein Leben erinnert. Siehe unter: http:// www.johnnyeckmuseum.com
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oder Kaffee und Kuchen mit den Füßen zu sich nahmen, Geige spielten oder sonstige motorisch komplexe Tätigkeiten vorführten. In diesen auf „performance“, das demonstrative Zur-Schau-Stellen von Geschicklichkeiten und Kompetenzen abzielenden, akrobatisch anmutenden Leistungen realisiert sich eine weitere Spielart öffentlicher Inszenierung von Behinderung. Sie unterscheidet sich sowohl vom exotischen Modus als auch von der des „high-aggrandized-mode“. Während dieser gewissermaßen eine bürgerliche (bzw. aristokratische) Existenzform auch als Möglichkeit für ganz anders aussehende Menschen inszeniert, folgt dieser Untertyp der Logik des „Handicap“ (dazu Stiker 2005: 196 ff.). Die Logik des Handicaps Das Wort Handicap entstammt eigentlich der Sphäre des Leistungssports, ursprünglich des Reit- und des Golfsports. Auch die Logik dieses Deutungsmuster ist – wie schon die teratologische Variante der Evolutionsbiologie – interessanterweise auf das Phänomen der Heterogenität bezogen. Handicaps machen nämlich Leistungen von Sportlern vergleichbar, die eigentlich nicht vergleichbar sind, weil sie sich auf ganz unterschiedlichen Leistungsniveaus be¿ nden. Beim Golf geht es bekanntlich darum mit so wenig wie möglichen Golfschlägen einen Ball in ein 10,8 cm großes, mehrere hundert Meter von einem sogenannten Abschlagplatz entferntes Loch im Rasen zu befördern. Das Handicap nun ist im Golf eine Zahl, die die Anzahl von Vorgabeschlägen de¿ niert, die ein Spieler von seiner faktisch erzielten Schlagzahl abziehen darf. Besonders gute Spieler müssen sogar Schläge hinzuzählen. In das Handicap geht insbesondere das Können des Spielers ein (gemessen am Durchschnitt früher benötigter Schläge), aber auch die Schwierigkeit des besonderen Golfplatzes. Die Zahl ist umso höher, je schlechter der Spieler ist. Diese Regel ermöglicht, dass auch Spieler mit unterschiedlichem Können gegeneinander antreten können und vergleichbar werden. Aus der Anwendung des Handicaps ergibt sich eine Nettozählweise, mit der der relativ beste Spieler ermittelt werden kann, also derjenige, der im Vergleich zu seiner (bisherigen) persönlichen Spielstärke am erfolgreichsten war. Zunächst kann man mit Striker prinzipiell festhalten, dass der Begriff „Handicap“ behinderte Menschen in spezi¿scher Weise in eine Welt der „performance“ einbezieht, aus der sie ansonsten ausgeschlossen wären. Das Wort „performance“ changiert im Englischen bemerkenswerterweise zwischen „Vorstellung“ und „Leistung“ bzw. „Leistungsfähigkeit“. Auch behinderte Leute können in dieser Logik Leistungen („performances“) erbringen und Erfolge erzielen, die Respekt verdienen:
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„Les personnes in¿ rmes, devenues handicapées, sont vues comme des citoyens à ‚per-former‘, pour employer un ancien mot français passé à l’anglais (to perform). Les handicapés sont posés comme des sujets qui, au moins en principe, peuvent et doivent réussir. La ¿gure du handicap est une manière de penser la non-conformité dans les limites de notre raison productiviste et technologique, donc aussi de nous la rendre admissible.“ «Behinderte Personen, zu ‚Gehandicapten‘ gemacht, werden als Bürger gesehen, die in der Lage sind zu ‚per-formen‘ (etwas hin zu bekommen? etwas zu leisten?), um ein altes französisches Wort zu benützen, das ins Englische gewandert ist. Die Menschen mit Handicap werden als Subjekte etabliert, die zumindest im Prinzip etwas erreichen können sollen und müssen. Die Figur des Handicaps ist eine Form Nonkonformität (der behinderten Menschen) in den Grenzen einer produktivistischen und technologischen Vernunft zu denken, sie uns in dieser Form zu erschließen.» (Stiker 2005: 197 f.; Übersetzung jmk)
Performance mit Handicap Die Freakshow ermöglicht einem Teil der Freaks die Rolle eines „Performers“ einzunehmen, der eine „Performance“ durchaus im doppeldeutigen Sinne einer „Vorstellung“ und einer „Leistung“ abliefert. Diese besteht darin, eigentlich ganz normale Tätigkeiten auszuführen, aber eben im Sinne einer Nachteilsvorgabe mit hohem Handicap: sich fort zu bewegen ohne Beine, zu häkeln oder eine Zigarette anzuzünden ohne Hände. Allerdings enthält die Gleichsetzung im heutigen Sprachgebrauch („Menschen mit Behinderung sind gehandicapt“), eine wohlmeinende, im Kern aber unlogische Umdeutung. Suggeriert wird eigentlich die Gleichsetzung von Behinderung mit einem Handicap. Das würde aber bei konsequenter Anwendung des Bildes eigentlich heißen, dass der behinderte Mensch in Wirklichkeit der „Leistungsfähigere“ sei. Ihm wird deswegen ein Handicap vorgegeben. Das ist natürlich eine ganz und gar imaginäre Überlegenheit, die dem Bestreben einer politisch korrekten Euphemisierung geschuldet ist. In Wirklichkeit müsste man ja in der Logik des Bildes dem Nicht-Behinderten ein Handicap verordnen, um die Vergleichbarkeit der Leistungen herzustellen. Genau daraus erwächst ja auch die Bewunderung der „performances“ der „respectable freaks“: sich als Nicht-Behinderter vorzustellen, mit den Füßen essen, auf den Händen laufen oder nur mit dem Mund ein Streichholz anzünden zu müssen. Die witzige Provokation von Prince Randian, den Nicht-Behinderten zum produktiven Gebrauch seiner Augenbrauen aufzufordern, liest sich wie ein ironischer Kommentar zur Semantik des Wortes ‚Handicap‘. Dennoch: diese wie auch immer brüchige Einbeziehung der behinderten Menschen in die performative Logik der modernen Gesellschaft wird in den wirklichen Performances der Freakshow auf eine gleichsam spielerische Weise vollzogen. Die legitimierte Stigmatisierung der Freakshows inszeniert auf paradoxe
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Weise, dass behinderte Menschen etwas hinbekommen und dafür Anerkennung und letztlich auch Geld verdienen und sei es eben über den Applaus eines „staunenden Publikums“, das für eine stigmatisierende Handlung, das Anstarren und Begaffen, bezahlt. Allerdings nehmen die Shows und die Präsentation mancher Freaks auf eine gewisse Weise auch eine Art Normalisierungsdiskurs vorweg. Ein Beispiel dafür sind die „Pitchbooks“ zu den Shows von Johnny Eck („the half man“), in denen nach dem Schema der heutigen „FAQs“ die antizipierten Fragen des neugierigen Publikums beantwortet werden. Johnny Eck wird als ausnehmend sympathischer, vielseitig begabter, hochgebildeter, eigentlich ganz normaler Zeitgenosse mit robuster Gesundheit und sportlicher Energie dargestellt.74 Freak Shows als soziale Konstruktion von Behinderung Es dürfte aus der Darstellung deutlich geworden sein, dass das Phänomen Freak-Show in mehrfachem Sinne einen Bezug zu der sozialen Konstruktion von Behinderung (in unserem heutigen Sinne) unterhält. Sie steht als Institution für eine ganz bestimmte Deutung körperlicher Abweichung. „Freak“ ist eine soziale Konstruktion in buchstäblichem Sinne. Wenn man so will, verkörpert der Freak in Reinform geradezu die radikal-konstruktivistische Idee einer „freischwebenden“, „reinen“ Konstruktion, die ihre Wirklichkeit nur vom Konstruktionsakt selbst bezieht. Die Konstruktionen, die die einzelnen Freaks ausmachen, sind frei erfundene Legenden und Geschichten, „Humbug“, wie P. T. Barnum das nannte. Dies ist – im weiteren Verlauf der Geschichte dieser sozialen Institution desto mehr – auch jedem der beteiligten Parteien bewusst. Bogdan bringt in diesem Zusammenhang gerne das Beispiel des Studenten Jack Earle, eines sehr großen Studenten der Texas Universität, der sich als Besucher die „Ringling Brothers Circus Sideshow“ anschaute und bei dieser Gelegenheit von deren Manager, Clyde Ingalls, angeblich „entdeckt“ wurde. Nach der Show sprach Ingalls den jungen Mann sinngemäß mit den Worten an: „Wie wär’s, wenn wir einen Riesen aus ihnen machen würden?“ (Bogdan 1988: 3). Jack Earle trat in der Folge in der Tat viele Jahre in berühmten Freakshows auf und spielte in zahllosen Stumm¿lmen mit. Der Ausspruch benennt in aphoristischer Verkürzung die Effekte der sozialen Konstruktion: aus einer wie immer operationalisierbaren primären Abweichung (Devianz) wird – qua Sinnzuschreibung und Rückgriff auf bestimmte kulturelle Deutungsmuster – eine sekundäre, signi¿kante, bedeutsame Abweichung, und damit eine – in diesem Zusammenhang ganz wörtlich zu verstehende – Rolle in einem kulturellen Skript. Bogdan schreibt in diesem Zusammenhang:
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siehe unter http://www.johnnyeckmuseum.com/photos/pitchBooks.html (abgerufen 4.1.2010)
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„being a freak is not a personal matter, a physical condition that some people have. The onstage freak is something else off stage. ‚Freak‘ is a frame of mind, a set of practices, a way of thinking about and presenting people. It is the enactment of a tradition, the performance of a stylized presentation.“ (Bogdan 1988: 3)
Wir haben zugleich gesehen, dass die OberÀächenkonstruktionen der einzelnen Freaks einer Art Grammatik folgen, die in Zusammenhang mit zeittypischen Deutungsmustern körperlicher Abweichung stehen. Sie wurzeln in wissenschaftlichen und politischen Diskursen der Zeit und erfahren in den Freakshow eine Trivialisierung und Transformation, die sie dennoch nicht unkenntlich macht und die sie zugleich auch erkennbar unterscheidet von spätestens mit dem Anfang des 20. Jahrhundert erwachenden konkurrierenden Paradigmen. Sowohl der Diskurs der „Laune der Natur“, der evolutionären Heterogenität, als auch der Diskurs des Handicaps ist durchaus unverträglich mit den ebenfalls in der Evolutionstheorie ihren Ausgang nehmenden Degenerations- und Eliminationsdiskursen, die im Regime des Nationalsozialismus ihren bestürzenden Höhepunkt und ihre Umsetzung in die gesellschaftliche Wirklichkeit einer nie da gewesenen politisch-sozialen „Extremreaktion“ auf Behinderung erfuhren. Die Voraussetzung für diese war eine medizinische und eugenische Umdeutung der körperlichen Abweichung, eine Denkweise, die der Welt der Freak-Show fremd war. Bogdan zeigt in diesem Zusammenhang, dass der Niedergang der Freak-Show als Institution begleitet war von einem Aufstieg eines medizinischen Herrschaftsanspruchs über körperliche Anomalie und einem veränderten Status der abweichenden Menschen: „While in the nineteenth century natural scientists, teratologists, and other doctors examined freaks, they were not patients. Professionals had not gained control over human deviation; people with physical and mental anomalies were still in the public domain. Into the twentieth century, the power of professions increased and the eugenics movement grew stronger. People with physical and mental anomalies came under control of professionals and were secluded from the public. … People with physical and mental differences became dangerous because they were alleged to have inferior genes that, if not controlled would weaken the breeding stock. They needed to be locked away and in other ways controlled to protect the gene pool. This was accompanied by the professionalization of organized charities and fund raising, the invention of the poster child. Pity combined with the medical model became the dominant mode of presenting human differences for money. It is through this lens that we look back on freak shows and ¿ nd them distasteful.“ (Bogdan 1996: 34)
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Ein ziemlich deutlicher historischer Beleg für diese These Bogdans ist der Umstand, dass es die Nationalsozialisten waren, die Freakshows, unter anderem unter Berufung auf eine Haltung des „Mitleids“ mit den „Freaks“ verboten. Dieses „Mitleid“ war bekanntlich tödlich. 7.3 „Degeneration“ und „eiserner Wille“ – Konstruktion von Behinderung im Nationalsozialismus Im Februar 1938 erließ Heinrich Himmler, Leiter der SS und der deutschen Polizei ein Dekret zum Verbot von Vorführungen von Menschen mit körperlichen Anomalien auf Jahrmärkten, von Freak-Shows. In einem darauf bezogenen Artikel des Berliner „8-Uhr-Blatt“ vom 3.2.1938 war unter der Schlagzeile „Menschliche Heufresser verschwinden aus Schaubuden. Keine Geschäfte mit Krüppeln/Polizei säubert Vergnügungsplätze“ folgendes zu lesen: „Man mag über die Plätze denken, wie man will. Aber gegen ihre Auswüchse wird sich jeder vernünftig denkende Mensch auf das energischste wenden. Und was ist es denn, wenn man die Frau, die halb Mensch, halb Tier ist, zur Schau stellt? Man spekuliert auf die Sensationslust der Rummelbesucher und versucht mit menschlichem Elend, mit bedauernswerten Mißgeburten Geschäfte zu machen. Und hier ist jetzt eingeschritten worden. Die Polizei hat Anweisung erhalten, gegen derartige Auswüchse im Schaustellungsgewerbe mit aller Schärfe vorzugehen. Diese Maßnahme ist durchaus zu begrüßen. Schaustellungen also, die das gesunde Volksemp¿nden verletzen oder den Bestrebungen des nationalsozialistischen Staates widersprechen, werden unterbunden. In dem an die Polizei gerichteten Runderlass ist im einzelnen genau aufgezeichnet, was künftig als unzulässig angesehen wird. Hierzu gehören einmal Schaustellungen von ekelerregenden menschlichen Abnormitäten und erbkranken Krüppeln, z. B. Fischmenschen, Krebsmenschen,Vogelmenschen, Starrmenschen, Tiermenschen (Heufresser) u. ä. Soweit es der geistige oder körperliche Gesundheitszustand erfordert, ist die Unterbringung der zur Schau gestellten Personen in Heil- oder PÀegeanstalten nach den hierfür geltenden Vorschriften vorgesehen.“ (der Originalartikel ist abgebildet in Scheugl 1974: 20; auch zit. bei Poore 2007: 97 in englischer Übersetzung)
Carol Poore, die Verfasserin der 2007 erschienenen Studie „Disability in TwentiethCentury German Culture“ (auf die ich mich im Folgenden wesentlich beziehen werde) bemerkt dazu: „What might have appeared on the surface as a humane effort to prevent the exploitation of helpless people was in fact evidence of a lethal intent. For in these state hospitals
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and nursing homes, Nazi ‚euthanasia‘ would begin the following year, undoubtedly claiming the lives of some disabled people removed from freak shows.“ (Poore 2007: 97)
Poore arbeitet nun in ihrer Studie heraus, dass sich auch die Nationalsozialisten drastischer Methoden der Zurschaustellung behinderter Menschen bedienten (Poore 2007: 98 ff.). Es ist aufschlussreich, sich die Unterschiede zu den Präsentationsformen und der Konstruktion von Behinderung in der Freak-Show zu verdeutlichen. Die „Schule der Anschauung“ der Nazis Eine nationalsozialistische Propagandaschrift mit dem Titel „Was muss der Nationalsozialist über Vererbung wissen?“, die bereits 1933 in der ersten AuÀage im Schulbuchverlag Moritz Diesterweg erschienen war (Friehe 1936), machte den Vorschlag, schwerere Fälle sogenannter „Minderwertiger“75 prinzipiell in „Asyle“ einzuweisen. Diese „Asyle“ sollten vor allem zwei Funktionen haben. Zum einen sollten sie ein „Mittel zur Reinigung und Gesundung der eigenen Art“ sein. Dahinter stand die unverblümte Absicht, die Menschen notfalls mit Zwangsmitteln (Sterilisation) daran zu hindern, Kinder zu bekommen. Zum anderen aber sollten diese Asyle dazu dienen, als „Schule der Anschauung“ für die sogenannten „Erbgesunden“ zu dienen. Friehe führt dazu aus: „Schließlich haben die Minderwertigen wie die Anstalten, die sie beherbergen, noch eine zweite Aufgabe: Sie müssen zu einer Schule der Anschauung werden für die Gesunden. Die Anonymität dieser Anstalten muss vorbei sein. Jeder junge Mensch, vor allem jeder heiratslustige Volksgenosse beiderlei Geschlechts muss einmal hindurchgeführt werden durch den Jammer und das namenlose Elend einer Irrenanstalt, einer Idiotenanstalt, eines Krüppelheims oder dergleichen. Hier soll er erkennen lernen, welch heiliges Vermächtnis er in seinem Erbgut mitbekommen hat. Hier soll ihm gezeigt werden, was für ein furchtbares Elend entstehen kann, wenn der Mensch verantwortungslos drauÀos lebt … Hier soll ihm die Verantwortlichkeit vor seinen Nachkommen, seiner Familie, seinem Volk und seinem Herrgott in Herz und Hirn hineingebrannt werden.“ (Friehe 1936: 53 f.; auch teilweise zitiert bei Poore 2006: 98)
Dieser Vorschlag wurde in großem Maßstab in die Praxis umgesetzt. Zehntausende von Schülerinnen und Schüler, Angehörigen von Nazi-Organisationen (SS, SA, Darunter verstand der Verfasser „alle erblichen Fälle von Schwachsinn, Schizophrenie, Fallsucht, manisch-depressives Irresein, Veitstanz, Blindheit, Taubheit, schwere körperliche Mißbildung und schweren Alkoholismus“ (Friehe 1936: 52)
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Hitlerjugend, Bund deutscher Mädchen, sonstige Frauen- und Berufsorganisationen u. a.) wurden durch Anstalten geführt. Behinderte Kinder und Erwachsene wurden in entwürdigender Weise vorgeführt. Schulkinder mussten darüber Aufsätze schreiben, Journalisten berichteten – wie politisch erwünscht – in infamster Weise von den Besuchen. Unterschiede zur Freakshow Die Unterschiede zur Freakshow kommen schon in den unterschiedlichen institutionellen Kontexten zum Ausdruck. Der Ursprungskontext der Freakshow ist ein zum Unterhaltungsmedium umfunktioniertes Museum, in dem aufsehenerregende, rätselhafte und interessante Naturphänomene („Wunder der Natur“) präsentiert werden. Der Kontext der Vorführung behinderter Menschen durch die Nazis ist eine Anstalt zur Verwahrung behinderter Menschen. Die Präsentatoren sind im einen Fall Entertainer und oft die behinderten Menschen selbst, im anderen Fall Professionelle, Ärzte, Lehrer, Anstaltsdirektoren. Die Freakshows sind öffentlich und jedermann zugänglich. Die Vorführung der Nazis war quasi halböffentlich, durch Mitgliedschaft in den jeweiligen Organisationen war die Teilnahme der „Zuschauer“ in gewisser Weise erzwungen. Die Präsentation zielte im einen Fall auf Unterhaltung, Befriedigung der Sensationsgier und vor allem natürlich ökonomischen Pro¿t, im anderen Fall auf Belehrung, Indoktrination, Verhaltensänderung sowie Legitimation und Verbreitung einer letztlich tödlichen politischen Ideologie. Die angestrebten und hervorgerufenen Reaktionen waren im Fall der Freakshow „Staunen“, Anstarren, Neugierde, Befriedigung von Sensationslust, Erzeugung von wie immer ambivalenter Faszination, manchmal eine joviale Herablassung, Verwunderung über die „Launen der Natur“. Denkbar war aber durchaus auch: Bewunderung, Anerkennung, eine wie immer verquere Form der Erzeugung eines Eindrucks von Normalität (insbesondere in den Darstellungen des bürgerlichen Lebens der statuserhöhten bzw. „respectable“ Freaks). Die provozierten Reaktionen der Nazinszenierungen beinhalteten dagegen eine ausgeklügelte Mischung von (scheinheiligem) Mitleid und des Hervorrufens hoch aversiver Reaktionen: Ekel, Aggression, Verachtung, Angewidertsein mit dem letztlich nur wenig verhüllten Ziel der Akzeptanz der Elimination der behinderten Menschen. Of¿ziell erklärte Absicht dieser Art von Veranstaltung war es vorgeblich die Zuschauer zu „Verantwortungsgefühl“ im Sinne der rassistischen und eugenischen Bioethik der Nazis zu erziehen.
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Behinderung als Degeneration, geschädigte Schädiger – die nationalsozialistische Konstruktion von Behinderung Hinter dieser Erziehungsabsicht steht eine Konstruktion von Behinderung, deren Schlüsselkategorie die Idee der Degeneration des Erbgutes ist. Damit aufs engste verknüpft war ein eugenisches Programm der Rassenhygiene. In der Propaganda wurde die Ideologie verbreitet, wonach (angeborene) Behinderungen Resultat einer Schädigung des Erbgutes sind, die sich durch entsprechendes Verhalten in der Bevölkerung ausbreiten und zu einer zunehmenden Gefahr für die Volksgesundheit werden würde. Unterschieden wurden in der Literatur (z. B. Schmeil 1938, Friehe 1936) vor allem zwischen folgenden Formen der (in ihrem Verständnis) ihrerseits vererbbaren „Schädigung des Erbguts“: ƒ
ƒ ƒ
ƒ
durch die sogenannten „Keimgifte“, darunter Alkohol und Nikotin (Schmeil 1938: 143; Friehe 1936: 65) bis hin zu der abstrusen Vorstellung, die Zeugung eines Kindes durch einen in der Hochzeitsnacht alkoholisierten Vater könne dessen – dann erblichen – „Schwachsinn“ hervorbringen (Alkoholismus selbst wird dann wiederum als eine Erbkrankheit angesehen);76 durch Syphilis und andere Geschlechtserkrankungen (Schmeil 1928: 143); durch sogenannte „Rassenmischung“ (Schmeil 1938: 144) und Gefährdung der „Rassenreinheit“, durch die Mischung von „wesensfremden“ „Rassen“ entstehe ein Bastard, z. B. wenn Menschen unterschiedlicher Hautfarbe ein Kind hätten: „Die Kinder etwa eines weißen Vaters und einer schwarzen Mutter sind weder den Lebensbedingungen der weißen noch denen der schwarzen Rasse angepasst“ (Schmeil 1938: 166). Der „Bastard“ sei „charakterlich in der Regel schlechter als diese (= die Elternrassen) infolge der ererbten, sich widerstrebenden Charaktereigenschaften der unterschiedlichen Elternrassen und der daraus folgenden inneren Haltlosigkeit“ (Friehe 1936: 28); durch sogenannte „Erbkrankheiten“ bzw. „Erbminderwertige“ (Schmeil 1938: 145), ein Begriff, der von den Nationalsozialisten als Sammelbegriff für eine Fülle von unerwünschten körperlichen Merkmalen oder als abweichend de¿nierten Verhaltensweisen verwendet wurde; dazu gehörten nach heutigem Begriffen geistige, körperliche oder psychische Behinderungen bzw. Erkrankungen ebenso wie von den Nazis als „verschiedenste Formen körperlicher,
So schreibt Friehe: „Da sah ich kürzlich ein Kind aus einer gesunden Familie, das man gar nicht mehr gewünscht hatte. Die Eltern, die bereits zwei gesunde Kinder besaßen, waren stark berauscht von einem Fest heim gekehrt, und die Folge eines unbedachten Augenblicks war ein schwachsinniges Kind. Untersuchungen bei Tausenden von Schwachsinnigen und Epileptikern haben ergeben, dass ein sehr großer Teil von ihnen in der Zeit des Faschings, wo der Alkoholverbrauch besonders hoch ist, gezeugt wurde. Etwa ein Drittel der Epileptiker und Idioten verdankt sein trauriges Dasein dem Alkohol.“ (Friehe 1936: 66) 76
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Soziale Konstruktionen geistiger und sittlicher Verkommenheit“ gewertete Phänomene: „unehelich Geborene (!), Trinker, Epileptiker, Verbrecher, sittlich Minderwertige“ (Sexualverbrecher), es werden Kategorien genannt wie: „sittlich Entgleiste“, „sittlich verkommene Mädchen“, „Verbrecher“.
Diese „Degenerationen des Erbgutes“ stellte die Nazipropaganda in drastischer Weise als ihrerseits vererbbar und als Gefahr für die Volksgesundheit dar. Die „leider zunehmende“ Degeneration des deutschen Volkes wurde als Folge der angeblich zunehmenden Verbreitung solcher Schädigungen infolge höherer Kinderzahlen der „Erbminderwertigen“ an die Wand gemalt: „Das Überwuchern der geistig, sittlich und körperlich Erbminderwertigen, das eine schwere rassische Volksentartung bedeutet, muss, wenn nichts gegen diese Gefahr geschieht, dazu führen, dass in wenigen Jahrhunderten der tüchtige, erbgesunde Bestandteil durch ‚Gegenauslese‘ so gut wie ausgestorben sein wird.“ (Schmeil 1938: 147)
„Zwei mißratene Söhne heiraten fünf entartete Töchter“ Das wurde mit zweifelhaften Statistiken zur „Vermehrungskraft der Minderwertigen“ (Friehe 1936: 46) „untermauert“. So hätten „männliche Verbrecher“ im Schnitt 4,9 Kinder, während die deutsche Familie der gebildeten Schicht nur 1,9 Kinder habe. Friehe greift in diesem Zusammenhang auf Belege für die erstaunliche Vitalität der „Minderwertigen“ zurück, die auf ihre Art nicht weniger freischwebende Konstruktionen waren wie die Legenden der Freaks. Die Darstellung könnte in ihrer bemühten Drastik („zwei mißratene Söhne heiraten fünf entartete Töchter“) eine fast komische Wirkung haben, wüssten wir nichts von den Folgen dieser Art von Propaganda: „Berüchtigt ist die amerikanische Verbrechersippe ‚Juke‘. ‚Juke‘ war der Spitzname eines 1720 bei Neuyork geborenen Landstreichers, dessen zwei mißratene Söhne fünf entartete Schwestern heirateten. Von den im Jahre 1877 nachgewiesenen 1200 Nachkommen gingen 440 an krankhafter Leichtfertigkeit zugrunde, 310 waren gewerbsmäßige Bettler, die zusammen 3200 Jahre in Armenhäuser verbrachten, 130 Verbrecher, unter ihnen 60 Diebe und 7 Mörder. Über die Hälfte der Frauen ver¿el der Prostitution. Nur 20 Personen lernten ein Gewerbe, davon 10 im Gefängnis. 1915 zählte man 2820 Nachkommen, von denen die Hälfte am Leben war. 600 waren damals schwachsinnig und fallsüchtig, aber nur drei von ihnen befanden sich in Sicherungsverwahrung.“ (Friehe 1936: 47)77 Dieses und andere Beispiele durchziehen die eugenische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, zum Teil variieren die dabei referierten Zahlen erheblich. Die Zahlen Friehes sind z. T. frei erfun-
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Behinderung wird also in den Diskursen der Nationalsozialisten als ein Degenerationsphänomen konstruiert. Dabei greifen auch die Nationalsozialisten auf eine hier allerdings durch einen eugenischen Diskurs überformte Variante der Darwinschen Evolutionstheorie zurück. Aber im Gegensatz zu dem an der Semantik des Naturkundemuseums der „Launen“ und Vielfalt der Natur orientierten pluralistischen Diskurs der Freakshow, arbeitet der Degenerationsdiskurs mit einer hochgradig wertenden, aus der medizinischen Vorstellung von Gesundheit und Krankheit abgeleiteten Dichotomie von „erbkrank“ bzw. „minderwertigen Leben“ und „erbgesund“ bzw. „wertvollem Leben“. Welche Verschiebung im Diskursgefüge damit verbunden ist, kann man sich an dem Unterschied zwischen den im Rahmen des „exotic mode“ der Freak-Show verbreiteten Topos des „Atavismus“ und dem eugenischen Topos der „Degeneration“ zur Erklärung von körperlicher Anomalie verdeutlichen. Der Atavismus ist im Rahmen der Freakshow ein Hinweis auf die stammesgeschichtliche Vergangenheit. In gewisser Weise ein Glücksfall für den Natur wissenschaftler, hat er keinen Krankheitscharakter, sondern steht nur für ein früheres Stadium der Stammesgeschichte. In den die Legenden der Freaks darstellenden Pitch-books wird viel argumentative Mühe darauf verwendet, um zu begründen, dass die Eigenschaften der Freaks ihrer angestammten Umwelt hervorragend angepasst sind. Dagegen arbeitet der Degenerationsdiskurs mit einer dezidierten Schädigungsvorstellung. Die Schädigung wird immer als (Erb-) Krankheit verstanden und mit einer angeborenen Behinderung gleich gesetzt. Anders als der moderne Schädigungsbegriff (wie er etwa in der ICF zum Ausdruck kommt) bezieht sich der Schädigungsbegriff der Nationalsozialisten ausschließlich auf das sogenannte Erbgut. Dieses „Erbe“ wird zudem nicht als individuelles, sondern als kollektives „Gut“ aufgefasst. Die Degeneration ist letztlich eine Degeneration der Gemeinschaft, gleichsam des „Volkskörpers“, des „nationalen Erbes“. Es geht um die Volksgesundheit, ja um die nationale Zukunft („das Schicksal“) der Deutschen schlechthin, die mit einem biologischen Überleben gleich gesetzt wird. Der behinderte Mensch ist deshalb nicht nur selbst geschädigt, sondern zugleich auch potentieller Schädiger der nationalen Gemeinschaft. Es liegt in der Logik dieser Ideologie es als eine ethische und politische VerpÀichtung zu betrachten ihn daran zu hindern.
den, wie ein Blick in die Quellen zeigt. Das Beispiel geht zurück auf Richard Dugdale, The Jukes: A Study in Crime, Pauperism and Heredity, New York 1874 sowie eine Nachfolgestudie von Arthur H. Estabrook aus dem Jahr 1915.
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Von der Degeneration zur Elimination Das sollte in der of¿ziellen Version der Politik und Gesetzgebung der Nazis in erster Linie als eine Verhinderung der Reproduktion der „Minderwertigen“ geschehen, notfalls durch Zwangssterilisation. In den hier verwendeten Quellen wird aber – wie in unzähligen anderen Propagandaschriften der Nazis – auf suggestive Weise immer wieder die Frage angeschnitten, ob es nicht besser wäre, die von „Degeneration“ Betroffenen wären nicht geboren. Es wird die Frage des grundsätzlichen Werts eines solchen Lebens aufgeworfen und mit den „volkswirtschaftlichen Kosten“ gegengerechnet oder sogar unverhüllt die Frage gestellt, ob eine „Tötung des minderwertigen Lebens“ nicht besser wäre (Friehe 1936: 52). Diese Frage wird auf eine Weise verneint, die deutlich macht, dass dem Verfasser letztlich nichts anderes vorschwebt als eben genau diese Tötung der von ihm so bezeichneten „Minderwertigen“. Als Gegenargumente fallen ihm nicht das Gebot der Menschenwürde ein, sondern Argumente wie diese: die „sittlichen Voraussetzung“ (zur Tötung) seien „heutzutage noch nicht wieder gegeben“ (!), man benötige die Minderwertigen als abschreckendes Beispiel, um das „Verantwortungsgefühl“ der Gesunden wach zu halten (Friehe 1936: 52). Oder es fällt der verräterische Satz: „ob in besonders tierhaften Fällen diese Frage (gemeint: die Frage der Tötung, jmk) nicht doch einmal akut werden könnte, bleibe jedoch dahin gestellt“ (ebd.). Der Degenerationsdiskurs geht, wie man sieht, mit logischer Konsequenz in einen Eliminationsdiskurs über (Poore 2006: 75–89). Aus alledem wird aber auch der Kontrast zur Logik der Freak-Show deutlich. Weder die faszinierte Sensationslust am Exotischen, noch gar die symbolische Aufwertung des Modus der Stauserhöhung und die Erzeugung von öffentlich kommunizierter, wie immer augenzwinkender Respektabilität für die Freaks ist mit der Degenerations-Semantik der Nazis vereinbar. Dichotomie von wertvollem und unwertem Leben Carol Poore beschreibt in ihrer Studie prägnant, wie in vielfältigsten kulturellen Praxen Objektivationen der Nazi-Zeit, in Schulbüchern, in Filmen, in Plakaten, in der Malerei und bildenden Kunst generell die Dichotomie von wertvollem und minderwertigem Leben buchstäblich immer wieder ins Bewusstsein der Bevölkerung gehämmert wurde. Dabei wird deutlich, dass dies mindestens ebenso sehr wie durch abwertende Darstellung des angeblich „minderwertigen“ durch Idealisierung des angeblich „wertvollen“ Lebens geschah.
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„the approach they took in all their propaganda was based on a binary aesthetics that contrasted the ugly with the beautiful, the weak with sthe strong, the abnormal with the normal, the chaotic with the orderly, the asocial with the respectable, the non-German with the German and so forth. Accordingly, the basic technique in their eugenic propaganda was to juxtapose images from these opposing spheres in order to sigmatize inferior disabled people – above all those with mental impairments – and promote superior Germans of full value to the national community.“ (Poore 2006: 99 f.)
Beispiele für diese von Poore beschriebenen Techniken ¿ nden sich bevorzugt in Schulbüchern. Ein Beispiel hierfür ist Abbildung 6, die dem Schulbuch „Der Mensch“ von Otto Schmeil von 1938 entnommen ist. Im unteren Bild werden junge Männer mit nackten, trainiert-muskulösen Oberkörpern und Sporthosen beim Lauftraining auf einer Art Deich o. ä. gezeigt. Sie sollen offensichtlich Kraft, Vitalität und Energie ausstrahlen. Abbildung 6
Illustrationen aus dem Schulbuch „Der Mensch“ (Schmeil 1938: 153)
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Die nahezu im Gleichschritt und in „Reih und Glied“ geordnete Laufbewegung der Gruppe vermittelt den Eindruck des Wohlkoordinierten, ja Militärischen. Durch die spezi¿sche Perspektive der Kamera wird der Eindruck einer ansteigenden Laufrichtung erweckt, die nach oben (vorne) führe. Die Assoziation, es gehe um und in die Zukunft Deutschlands, liegt zum Greifen nahe. Dagegen werden die Männer im oberen Bild in jeder genannten Hinsicht in kontrastierender Weise gezeigt. Sie zeigen nicht ihren Körper. Dieser ist vielmehr bedeckt mit zudem schmutzigen und wenig ansehnlichen langärmligen Hemden bzw. Sakkojacken und langen Hosen. Zum Teil wirkt diese wie Anstaltskleidung. Das wird verstärkt durch die wie in einer Haftanstalt oder in einem Konzentrationslager teilweise geschorenen bzw. glatt rasierten Schädel und lässt an eine hygienische Maßnahme denken. Die Haltung der jungen Männer wirkt linkisch, zumeist Kopf oder sogar der ganze Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, zudem werden von manchen die Arme nach vorne gehalten, was den Eindruck eines sehr ungeschickten Gehens, die Assoziation eines tierischen Gangs (Tapsens) produziert. Die Gesamtgruppe bewegt sich im Gegensatz zu der auf eine Linie gesetzten Bewegung der athletischen jungen Männer unkoordiniert und chaotisch. Sie folgt einem fast torkelnden Gesamtbewegungsimpuls. Die Perspektive ist so gewählt, dass der Eindruck entsteht, die Fläche, auf der die Gruppe sich bewegt, sei irgendwie abschüssig. Die Gruppe bewegt sich im Gegensatz zu der im unteren Bild gezeigten „arischen Jugend“ nach unten. Die suggestiv gestellte Frage „Deutschlands Nachwuchs – so? oder so?“ legt die Anschlussfrage nach geeigneten Maßnahmen zur Erreichung der wünschenswerten Alternative nahe. Die Assoziation von Militär und Soldatentum mit „wertvollem Leben“ ist nicht zufällig. In der nationalsozialistischen Ikonographie ¿nden sich insbesondere auch in der Schulbuchliteratur eine Vielzahl von Gegenüberstellungen gesunder, d. h. „wehr-“ und „arbeitsfähiger“ junger Männer bzw. Soldaten auf der einen Seite und behinderter Menschen auf der anderen Seite, unterlegt mit entsprechenden Kommentaren wie etwa folgenden: ƒ ƒ ƒ ƒ
„Jungmannen mit gesunden Gliedern verbringen ihre Freizeit bei Spiel und Kampf … während blöde Männer mit Spalthänden und Spaltfüßen untätig da sitzen“ (Tornow/Weinert 1943: 50) „Junger Mann mit Muskelschwund. Am Oberarm, am Rücken und an den Schultern sind die Muskeln schon fast verschwunden … Kraftvoll dagegen gebrauchen die Autobahnarbeiter ihre gesunden Muskeln“ (ebd.: 69) „Sinnlos ist Aussehen und Tun des Idioten … Sinnvoll dagegen beschäftigt sich der erbgesunde deutsche Junge“ (ebd.: 155) „Während Idioten noch als Erwachsene ihre Zeit sinnlos in einem Sandkasten verbringen … dienen die erbgesunden deutschen Männer in den Wehrmannschaften dem deutschen Volke.“ (ebd.: 156 f., vgl. Abbildung 7)
„Degeneration“ und „eiserner Wille“ Abbildung 7
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Illustrationen aus dem Schulbuch „Erbe und Schicksal“ (Tornow/Weinert 1943: 156 f.)78
Insbesondere in den ästhetischen Realisierungen des „Positivmodells“ wird die zugrunde liegende Dichotomie von lebenswert/lebensunwert unentwegt reproduziert. Sie ¿ndet ihre künstlerischen Kulmination in den von den Nationalsozialisten geschätzten Werken eines Arno Brekers (siehe unten Abbildung 8). Es ist allerdings wichtig, sich zu verdeutlichen, dass dessen Ästhetik wie auch die gesamte Semantik des mit einem Komplex des Militärischen verbundenen „wertvollen Lebens“ keine genuine Er¿ndung der Nationalsozialisten war. Vielmehr greifen die Nationalsozialisten – wie ja auch bei den eugenischen Diskursen – zeittypische Strömungen auf, spitzen sie aber auf spezi¿sche Weise zu. Schwächung des bürgerlichen Humanismus – der deutsche Militarismus als Hintergrund für die Vorstellung des werten/unwerten Lebens In Deutschland spielen in diesem Zusammenhang die seit dem Kaiserreich und insbesondere im Vorfeld des ersten Weltkriegs zunehmende reale, politische und kulturelle Militarisierung der Gesellschaft und die damit zusammen hängenden soziokulturellen Semantiken eine erhebliche Rolle für die soziale Konstruktion von Körperlichkeit und von Behinderung.
78 Angesichts der Folgen dieses Wehrdienstes ist man versucht zu sagen: wären die „erbgesunden deutschen Männer“ mal besser in den Sandkästen der deutschen Nation geblieben..
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Der Soziologe Norbert Elias zeigt in seinen „Studien über die Deutschen“, dass sich in der deutschen Gesellschaft nach der Reichseinigung 1871 insbesondere im Bürgertum ein „Kriegerkanon“, eine militärische Grundorientierung durchsetzt. Das steht in Deutschland in engem Zusammenhang mit den besonderen Umständen der nationalen Einigung. Diese ist nicht Ergebnis einer bürgerlichen Revolution, sondern einer im Wesentlichen von der herrschenden Aristokratie, insbesondere der preußischen Monarchie getragenen und ihr zugerechneten Kriegsführung (1864 deutsch-dänischer Krieg, 1866 Krieg zwischen Preußen und den von Öster reich angeführten Staaten des deutschen Bundes, 1871 deutsch-französischer Krieg). In der Folge kommt es im neugegründeten deutschen Kaiserreich zu einer entschiedenen Schwächung des politischen Stellenwerts und der soziokulturellen Bedeutung des humanistischen Bildungsbürgertums in Deutschland. Diese zeigt sich nach Elias nicht zuletzt in einer zunehmenden Orientierung weitgehender Teile des Bürgertums an aristokratischen Wertmustern. Insgesamt treten an die Stelle der deutschen bildungsbürgerlich-humanistischen Werte „in ‚manchen‘ Teilen des Bürgertums die Übernahme von Adelswerten, also von Werten einer Schicht mit einer starken kriegerischen, auf außenpolitische Verhältnisse konzentrierten Tradition.“ (Elias 1989: 235). Elias erläutert dies beispielsweise an der Rolle des Duells sowie – davon abgeleitet – des Fechtens, der Mensur in studentischen Verbindungen: „In Deutschland, … behielt … der Ehrenkanon der Krieger und so auch der Zwang zum privaten Zweikampf als Zeichen der Zugehörigkeit zu den Schichten, die ‚Ehre‘ besaßen, zu den etablierten Schichten, seine entscheidende Rolle bis ins 20. Jahrhundert hinein. … Umfunktionalisiert wurden … der Ehrenkanon und das Duell zu einem Zuchtmittel und zugleich einem, durch Schmisse sichtbaren Zugehörigkeitssymbol der Studenten, das ihre Anwartschaft auf Aufnahme in das Establishment … in der kaiserlichen-deutschen Gesellschaft proklamierte. … In der Gestalt des Duells erhielt sich bis in die Zeit der heutigen Großelterngenerationen der Kriegerkanon, der es dem physisch Stärkeren oder im Gebrauch der Gewaltmittel Geschickteren möglich machte, dem weniger Starken, weniger Waffentüchtigen seinen Willen aufzuzwingen.“ (Elias 1989: 68)
„Ham Se jedient?“ Auch für die Alltagskultur wurde in der wilhelminischen Gesellschaft ein militärischer Habitus maßgeblich, wie zahlreiche literarische Zeugnisse belegen („Der Untertan“ von Heinrich Mann, „Der Hauptmann von Köpenick“ von Carl Zuckmayer). Dies betrifft den Umgangston und die schnarrende Redeweise, die Wichtigkeit, die v. a. bei Männern der „Haltung“ (im körperlichen Sinne und im übertragenen Sinne)
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beigemessen wird, der Bedeutung von Werten wie „Disziplin“ und „Ehre“ selbst noch in Lebenszusammenhängen, die mit Militär nichts zu tun haben, etwa bei der Arbeitssuche. Die Beantwortung der Fragen „Ham Se jedient?“, „Wo ham Se jedient?“, „Wann ham Se jedient?“ (Zuckmayer 2008: 35, 119) wird zum alles entscheidenden Quali¿kationskriterium. Der Militärdienst wird zur Schule der Nation stilisiert. Ein „Kriegerkanon“ wird zur gesellschaftlich maßgeblichsten Quelle von Wertsetzungen. Elias zeigt, dass diese Militarisierung des deutschen Bürgertums bis hinein in die Philosophie reichte und dass sich zugleich der ehemals aristokratische Kanon im Zeichen seiner Verbürgerlichung verändert. Wo beim Adel Symbole wie „Mut, Gehorsam, Ehre, Disziplin, Verantwortung, Loyalität“ gewöhnlich Teil einer langen Familientradition, traditionsgebunden und Teile eines selbst nicht unbedingt reÀektierten Habitus waren (Elias 1989: 235), erhielt er im Aneignungsprozess durch die Bürgerlichen als bewusster Propaganda und ReÀexion den Charakter einer explizit formulierten Doktrin und Ideologie. „Selten zuvor“, schreibt Elias, „ist so viel zum Lob der Macht, selbst der gewalttätigen, gesprochen und geschrieben worden. Nietzsche … gab dieser Ideologie des wilhelminischen Bürgertums, ganz gewiss, ohne sich dessen bewusst zu sein, in seinem „Willen zur Macht“ ihre philosophische Fassung …“ (Elias 1989: 236 f.). „Eiserne Stärke“ Das transformierte sich im Laufe der Entwicklung zum ersten Weltkrieg hin zunehmend zum gesamtgesellschaftlich wirksamen Wertemuster. Haltungen wie Härte, Unerbittlichkeit wurden für etwas Gutes gehalten. In der Kriegsliteratur der Zeit wurden Kälte und Grausamkeit gegenüber „Feinden“ propagiert und geradezu zum Wert an sich erhoben. Ein Lieblingswort der Zeit war das Wort „eisern“, in Wortkombinationen wie „eiserner Wille“, „eisernes Durchhaltevermögen“, „eiserne Stärke“, „eisernes Zupacken“ (Elias 1989: 273). Damit verbunden war die Denunziation klassischer humanistischer Werte wie Mitleid, Solidarität als dekadent, verweichlicht und Zeichen von Schwäche: „Schwach zu sein oder auch nur Schwäche zu zeigen, ist … etwas ganz Schlimmes … Auch im Kriege muss man sich hart zeigen. Krieger dürfen sich nicht allzusehr mit den Feinden identi¿zieren, sonst können sie nicht auf sie einschlagen, können sie nicht töten und so nicht über sie siegen. Im Vokabular der Zeit tauchen Ausdrücke auf, die Mitgefühl mit anderen stigmatisieren. Man kann solche humanen Regungen einfach dadurch als schädlich abweisen, dass man sie als Gefühlsduselei bezeichnet. Wo ‚eiserner Wille‘ vorherrscht, ‚Schneid‘ und ‚zackiges Verhalten‘ gefordert werden, da ist ‚falsche Sentimentalität‘ nicht am rechten Platz. Auch ‚Moral‘ ist verdächtig.“ (Elias 1989: 273)
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Mit diesem militärischen Wertemuster vermischten sich bereits im Kaiserreich und insbesondere dann bei den Nationalsozialisten andere zeittypische ideologische Strömungen und Muster und führten insgesamt zu so etwas wie einem kollektiven Körperidealbild: ƒ
ƒ
Ins Spiel kommt hier jenes vom Sozialdarwinismus beeinÀusste eugenische und rassistische Gedankengut, auf das wir bereits gestoßen waren. In den Schriften von Autoren wie Arthur de Gobineau und Houston Chamberlain tauchte bereits Mitte des 19. Jahrhunderts der Begriff von der arischen (Herren-)Rasse auf. Übermensch und blonde Bestie (Nietzsche) traten hinzu. Im Zeichen der antimodernistischen Lebensreformbewegung (einschließlich der FKK-Bewegung, in Teilen auch in der Jugendbewegung) entstand ein Kult von Gesundheit und Schönheit, der bereits im Umfeld des ersten Weltkriegs unverhüllt militärisch instrumentalisiert wurde: „Der Krieg lasse den ‚Wert eines gesunden, widerstandsfähigen Körpers‘ klar vor Augen treten. Neue ‚sportliche‘ Übungen wie der Handgranatenwurf wurden in das Gymnastikprogramm aufgenommen.“ (Möhring 2007: 181).
„Das freie herrliche Raubtier“ Bei den Nazis wurde die Verbindung von Leibesertüchtigung, Verklärung des „gestählten“ Leibes und Kriegsvorbereitung zum Programm, insbesondere bei der Erziehung der Jugend (Hitlerjugend): „Hart wie Kruppstahl, Àink wie Windhunde und zäh wie Leder“ hieß der bekannte Nazi-Slogan. Hitler verfolgte – ganz im Sinne des von Nobert Elias heraus gestellten Kriegerkanons – eine Pädagogik der Härte und Abhärtung. Heraus kommen sollte dabei eine starke, athletische, kampfbereite und grausame Jugend.
Eine Adolf Hitler zugeschriebene Äußerung (1940): „Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muss weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muss das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. Ich werde sie in allen Leibesübungen ausbilden lassen. Ich will eine athletische Jugend. Das ist das erste und wichtigste. So merze ich die Tausende von Jahren der menschlichen Domestikation aus. So habe ich das reine, edle Material der Natur vor mir. So kann ich das Neue erschaffen.“ (Rauschning 1940: 237)
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Viele Werke nationalsozialistischer Künstler wie der des Bildhauers Arno Breker (1900–1991) oder des Gra¿kers Georg Sluyterman von Langeweyde (1903–1978) belegen die im Anschluss an Elias dargelegten Zusammenhänge ikonographisch in aller Deutlichkeit (vgl. Abb. 8 und 9). Es ¿nden sich: ƒ ƒ ƒ
Anklänge an die mittelalterliche Krieger¿gur des Ritters (Schwerter, Rüstungen, Helme, Reiterbilder); undurchdringliche harte Gesichtszüge, die Spannung der Backen und Lippen, die Willensanstrengung, Selbstüberwindung (Zähne zusammen beißen!) sowie Stärke und Aggressivität visualisieren; eine Körperästhetik, die sich aus einer Monumentalisierung antiker Statuen ergibt: perfekte, „gesunde“, muskulöse, starke Körper.79
Abbildung 8
Arno Breker – Bereitschaft 1939
Quelle: http://www.hausderdeutschenkunst.de/kuenstler/arno-breker/arno-breker-03.html
Diesem Körperidealbild des (arischen) Kriegers als Inbegriff des wertvollen Lebens stellt die nationalsozialistische Propaganda den durch einen Diskurs der
79 Auffallend ist: das Paradigma ist vor allem männlich. Allerdings ¿ nden sich auch immer wieder Darstellungen des „gesunden weiblichen Körpers“. Er wird in der nationalsozialistischen Propaganda als ein ebenfalls durch Kraft ausgezeichneter mütterlicher, d. h. gebärfähiger Körper repräsentiert.
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(genetischen) Degeneration gebrandmarkten behinderten Menschen gegenüber, als Inbegriff des wertlosen, unwerten Lebens. Abbildung 9
Holzschnitte von Georg Sluyterman von Langeweyde Propaganda-Postkarten (1939/1940?, Privatbesitz)
Die visuelle Propaganda, die wie gezeigt mit dem Gegensatz des gesunden athletischen aristokratischen Krieger und des „degenerierten“, als subhuman denunzierten „behinderten“ Körpers arbeitet, bereitet damit unmittelbar den von Carol Poore sogenannten eliminationistischen Diskurs über Behinderung und damit den Massenmord an behinderten Menschen vor. Der behinderte Krieger Ein besonders interessanter Anwendungsfall der Konstruktion/Dekonstruktion von Behinderungsbildern ist vor dem Hintergrund einer solchen Grammatik der behinderte „Krieger“. Dem sozialdarwinistischen Prinzip des Überlebens des Stärkeren und Nietzsches Prinzip folgend „Was fällt, das soll man auch noch
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stoßen“,80 hätte man ja auch hier die Formel der Minderwertigkeit des geschädigten Lebens in Anschlag bringen können. Selbstverständlich war das nicht der Fall. So weit ging die nationalsozialistische Vergötzung der Grausamkeit des Lebens und das „Weghämmern des Schwachen“ dann doch nicht. Vielmehr wurde – wiederum zeittypisch – die Grammatik der Stärke auf die Behinderungserfahrung übertragen und zwischen einer sozusagen legitimen Form der Behinderung und einer illegitimen unterschieden. Bereits der erste Weltkrieg hat wegen des erstmaligen Einsatzes von Massenvernichtungswaffen und der vorher nie da gewesenen Mobilisierung der männlichen Bevölkerung in einem grausamen Stellungskrieg eine ebenfalls nie da gewesene hohe Zahl von behinderten Menschen produziert.81 Mit rund 2,7 Millionen behinderten oder chronisch kranken Veteranen war die Nachkriegsgesellschaft konfrontiert. Von ihrer Allgegenwart in Alltag und Straßenbild der Weimarer Republik zeugen nicht zuletzt Darstellungen in der zeitgenössischen Malerei, insbesondere der gesellschafts- und kriegskritischen Gemälde und Zeichnungen von Max Beckmann, Otto Dix, George Grosz. Zensur und Kuvrieren (Goffman) der Kriegsbehinderung Mit welchen Mitteln v. a. dann auch im Umfeld des Nationalsozialismus versucht wurde, eine Differenz von gesellschaftlich akzeptierter bzw. positiv bewerteter Behinderung und negativ bewerteter, tendenziell mit Ächtung und Verachtung belegter Behinderung („Krüppeltum“) herzustellen, zeigt ein Abschnitt aus Carol Poores Studie. Generell wird am Schema des „Disabled Soldiers as Heroe“ fest gehalten. Einerseits lag den Nationalsozialisten daran, die „Kriegsversehrten“ (wie sie zunehmend genannt wurden, um den nach dem 1. Weltkrieg gebräuchlichen, stigmatisierten Titel „Kriegskrüppel“ zu umgehen) durchaus öffentlich im Sinne einer Opferpropaganda zu instrumentalisieren. Andererseits musste jede Ähnlichkeit zu den ansonsten als „minderwertig“ geschmähten Körperbehinderten vermieden werden. Wie groß diese Gefahr war, lässt sich an dem Umstand ersehen, dass in dem bereits zitierten Schulbuch von Otto Schmeil „Der Mensch“ ausdrücklich versichert werden musste, dass sich erworbene Verstümmelungen nicht im Erbgut ausdrücken würden. „Ebensowenig“, schreibt der Verfasser, „vererben sich Narben von Wunden oder gar der Verlust von Gliedmaßen auf die Kinder unserer Frontsoldaten“ (Schmeil 1938: 141).
Diese Formel ¿ ndet sich in Friedrich Nietzsche „Also sprach Zarathustra“, Teil III, Von alten und neuen Tafeln, 20. 81 Vgl. dazu eine historische Filmaufnahme im Internet: http://www.youtube.com/watch?v=quViSUiNHXY 80
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Allzu drastische Darstellungen von Kriegsverwundungen und -Behinderungen (wie sie etwa in der bildenden Kunst der Weimarer Republik und auch im Rahmen politischer Kundgebungen der Betroffenen selbst bewusst angestrebt wurden) wurden im nationalsozialistischen Deutschland vermieden bzw. ausdrücklich verboten und zensiert. In of¿ziellen Darstellungen, etwa Photographien und Wochenschauen, wurden die behinderten Soldaten gut gekleidet, in voller Uniform, in Reih und Glied präsentiert (Poore 2006: 71 f.). In einer in der Studie von Poore gezeigten zeitgenössischen Photographie bemerkt man erst bei zweitem Hinsehen, dass die behinderten Veteranen – händeschüttelnd mit Adolf Hitler abgebildet – im Rollstuhl sitzen. Die Nazis bedienten sich also einer gängigen Technik des Stigmamanagements: Goffman bezeichnet sie als „Kuvrieren“ (Goffman 1975: 128). Darunter versteht er eine Technik der Reduktion der mit einem Stigma verbundenen „Spannung“ (tension) dadurch, dass die mit einem bekannten und eingestandenen Stigma verbundenen Merkmale nach Möglichkeit der Aufmerksamkeit entzogen werden oder diese zumindest dadurch reduziert wird, dass man diese Merkmale nicht allzu aufdringlich in die Wahrnehmung treten lässt. Das geschieht durch geschicktes Bedecken der entsprechenden optischen Stimuli wie hier Rollstühle, fehlende Körperglieder, durch die Einnahme einer aufrechten Körperhaltung, das Tragen der Uniform, wie wenn die „Versehrten“ noch im Dienst des Vaterlandes wären, als sei nichts geschehen. „Der Wille siegt“ – Kriegsbehinderung als „Entkrüppelung“ Dieses optische „Haltung annehmen“ als eine Technik des Umgangs mit körperlicher Schwäche und Invalidität (ein Wort, das ja nicht anderes als „Minderwertigkeit“ bedeutet!) vermittelt auch ein Blick in die von Carol Poore zitierte Trivialliteratur des 3. Reiches, die sich – zum Beispiel autobiographisch – mit dem Problem der (Kriegs-)Behinderung befasst. Behinderung durfte nach dem Willen der Nazizensur bei Soldaten nur in ihren heroischen Facetten zur Darstellung kommen, als heldenhaft „überwundene“, von einem unbezwingbaren Lebenswillen besiegte Lebensphase, als freiwilliges, für das Vaterland erbrachtes Opfer. Poore erwähnt in diesem Zusammenhang den Roman „Der Vergessene“ von Kurt Ziesel, einem zu Recht vergessenen Nazi-Trivialautor. In der ersten AuÀage dieses Romans fand sich eine Szene mit einem so bezeichneten „Kriegskrüppel“, der bettelnd in einem Park einen Leierkasten bediente. Nach einer Beschwerde wurde die Stelle in der zweiten AuÀage entschärft. Die darauf bezogene Illustration wurde heraus genommen und der vordem „Kriegskrüppel“ Genannte nun als „Verwundeter des großen Krieges“ bezeichnet (Poore 2006: 73; Ziesel 1941: 66).
„Degeneration“ und „eiserner Wille“
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Sehr deutlich wird die von den Nazis präferierte Konstruktion und Dekonstruktion der Kriegsbehinderung in einer anderen literarischen Veröffentlichung, der Autobiographie eines gewissen Carlo von Kügelgen mit dem bezeichnenden Titel „Aus eigener Kraft. Gedanken und Erfahrungen eines Einarmigen“. Von Kügelgen beschreibt darin die Geschichte (der „Bewältigung“) seiner Behinderung, die in seinem Fall gar nicht auf eine Kriegsverletzung zurück ging. Er hatte bei einem Jagdunfall einen Arm verloren. Allerdings enthält die Schrift eine Art Philosophie der Behinderung, die den Nazis als Modell für „versehrte“ Soldaten vorschwebte. In dem Buch von Kügelgen wird das (negativ bewertete) „Krüppelmodell“ von Behinderung einer positiv bewerteten „Überwindung“ von Behinderung gegenüber gestellt. Dabei fungiert der in der Ikonographie der Weimarer Republik immer wieder auftauchende, auf der Straße bettelnde, behinderte Soldat als Negativfolie. Beispielsweise spricht von Kügelgen von der aus seiner Sicht berechtigten „Abscheu, wenn ein Bettler seinen Stumpf entblößt, um Mitleid zu erregen“ (Kügelgen 1943: 58). „Diese schamlose Schaustellung des Leidens“, bemerkt er, „ist noch viel weiter von dem erringenswerten Zustand entfernt als der ängstliche Hang es zu verbergen.“ (ebd.). In diesem Zusammenhang fällt der schon in den 1920er Jahren von den Behindertenpädagogen Hans Würtz und Konrad Biesalski geprägte Begriff der „Entkrüppelung“. Diese „Entkrüppelung“ folgt einem Muster des „Sieges des Willens“, des „Niederringens der Gebrechlichkeit“ (Biesalski 1926: 99). Solche Vorstellungen greift von Kügelgen auf, wenn er das Vorbild Götz von Berlichingens, der Protagonisten germanischer Heldenepen und anderer Heroen der deutschen Geschichte beschwört. Das Buch endet mit der folgenden Passage: „Nicht von deinem Körper – von dir selber, deinem Willen und deiner Kraft hängt es ab, ob du ein Geschwächter wirst und bleibst! Überwinde deinen Körper und du überwindest die Welt! Mach dich und andere deinen Verlust vergessen! Lade dir die volle Last des Lebens auf: dir wird doch nichts geschenkt, du kannst dann allen Reichtum des Daseins erringen! War die Mühe groß, um so stolzer wird der Genuß des Sieges sein. Laß das Geschick, das dich betroffen, dir Ansporn sein zu immer höherem Streben, und es wird dir zur unerschöpÀichen Quelle der Kraft. Du gelangst dahin, mit dem Weisen zu sprechen: ‚Nachdem ich einmal meinen Arm verloren habe, will ich es aus bewußtem freiem Willen auch nicht anders haben, denn was schwächender Verlust schien, hat mich reicher und stärker, hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Ich will mein Schicksal, ich liebe mein Schicksal, ich bin mein Schicksal.‘ Dann bist du Sieger, dann bleibst du Sieger.“ (Kügelgen 1943: 64)
An dieser Schlussapotheose lässt sich zweierlei zeigen. Zum einen bleibt die konstitutive Dichotomie (lebenswert-lebensunwert), von der Carol Poore spricht, im Kern erhalten. Der Behinderung haftet als solcher nach wie vor das Stigma der Minderwertigkeit an. Diese Minderwertigkeit, der eigene Körper, ja die Welt
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Soziale Konstruktionen
kann aber kompensativ „überwunden“ werden, nämlich durch eine desto stärkere Mobilisierung des Willens und der eigenen Kraft. Was immer das konkret auch heißen soll. Damit verbunden ist die bemerkenswerte Aufforderung nach dem Muster von Nietzsches „Amor fati“ den Verlust des Armes „zu wollen“. Dass dieses Schema nur die grundlegende lebenswert/lebensunwert-Dimension der Nazis bestätigt, zeigt sich in den beiden kurzen Vorworten, die dem mitten im zweiten Weltkrieg (1943) erschienenen Buch voran gestellt sind. Der sogenannte „Reichskriegerführer“ Reinhard, General der Infanterie, SS-Obergruppenführer, weist darin auf die Probleme hin, „die durch dauernde Körperbeschädigungen unserer Krieger aufgeworfen werden“ und emp¿ehlt dagegen das Vorbild Carlo von Kügelgens: „Was der einarmige Verfasser erzählt, ist soldatisch im besten Sinne. Er sieht der rauhen Wirklichkeit ins Auge und überzeugt durch sein eigenes Beispiel, was fester Wille vermag und wie eigene Kraft das Leben wieder vollwertig gestalten kann“ (Kügelgen 1943: 7).
Fast gleichlautend der Kommentar eines gewissen Dr. Rühe, „Oberstarzt im Oberkommando des Heeres“: „Aus den lebenswahren Schilderungen des Verfassers können und sollen aber die versehrten Soldaten lernen, dass nur ein starker Wille, eine eiserne Energie, die eigene Kraft alle Schicksalsschläge zu überwinden vermögen und daß dann das Leben trotz allem wieder lebenswert wird.“ (Kügelgen 1943: 8).
Auch hier ¿ ndet sich die Opposition von lebenswert/vollwertig und damit der Gegenbegriff eines lebensunwerten Lebens, auch hier die Vorstellung einer Überwindbarkeit der Behinderung und auch hier die Anknüpfung an die bereits herausgearbeitete Krieger/Körperethik mit allen von Norbert Elias genannten Schlüsselworten: „Stärke“, „Energie“, „Kraft“, „Festigkeit“, „Wille“, sogar das Stichwort „eisern“ fällt. Das Erbe des dritten Reiches Insgesamt zeigt die Analyse einen Sachverhalt, den auch die kulturanthropologische Behinderungsforschung immer wieder belegt: wie sehr nämlich die sozialen Konstruktionen von Behinderung mit zentralen soziohistorisch wirksamen Deutungssystemen, kulturellen und politischen Werten und der Geschichte eines bestimmten soziokulturellen Kontextes verknüpft sind. Die Einstellungen und Deutungen gegenüber dem „behinderten Körper“ sind systematisch verknüpft mit
Zusammenfassung: Konstruktion und Kontingenz
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denen dem als „nicht-behindert“ betrachteten Körper. Dieser Zusammenhang nimmt im Nationalsozialismus die Züge einer unbarmherzigen dichotomen Grammatik an. Sie hat den Terror des Massenmords an behinderten Menschen mit erzeugt. Aber sie hat auch zu hartnäckigen Konstruktionen des behinderten und nichtbehinderten Körpers geführt, die noch die Gehirne der Nachkriegsgeneration auf eigentümliche Weise beherrschten und sich bis in den Alltag der Bundesrepublik Deutschlands auswirkten. Noch in den 1970er Jahren konnte eine amerikanische Studierende mit Körperbehinderung in Deutschland die irritierensten Erfahrung öffentlicher Diskriminierung machen: „In the FRG … from the ¿rst day I found that many people of all ages, social classes, and educational levels engaged in staring and seemed to consider this perfectly acceptable rather than rude behaviour. The only group distinction I noticed was that more old people than young ones stared, which was very strange to me since I expected older people to be more polite … I walked past a construction site, and all the workers laid down their tools and stared at me while I passed bay. I walked past a sidewalk in Bohemian Schwabing, and most of the patrons stopped drinking their coffee to stare … These people aimed their long, absent-minded stares at my crutches, brace, and feet and generally did not make eye contact with me.“ (Poore 2006: 329)
Zur Dauerbelastung des Angestarrtwerdens kam die Erfahrung fortwährender Ausschlüsse aus der Öffentlichkeit in separate Räume hinzu, ein ständig präsenter impliziter und expliziter Vorwurf, der sozialen Umwelt und Öffentlichkeit die eigene Behinderung „zuzumuten“, und ein völliges Unverständnis über jeden implizit oder gar explizit geäußerten Partizipationsanspruch. Besonders irritierend war für die Studentin dabei der Umstand, dass das Verhalten männlichen behinderten Veteranen gegenüber ein ganz anderes war. Die ehemalige Studentin, die diese Wahrnehmungen berichtet, ist Carol Poore, heute Professorin für German Studies an der Brown University Providence in Rhode Island. Wir verdanken ihr einer der wichtigsten neueren Arbeiten im Kontext der Disability Studies (Poore 2006), die nicht zuletzt zur Aufklärung des hier vorliegenden Zusammenhangs zwischen spezi¿schen sozialen Reaktionen und der zugrunde liegenden Prozesse sozialer Konstruktion beigetragen hat. 7.4 Zusammenfassung: Konstruktion und Kontingenz Die Gegenüberstellung der Behinderungsdiskurse von Freak-Show und deutschem Militarismus und Nationalsozialismus haben zwei Konstruktionsmodelle von Behinderung erkennen lassen, die in mehreren Hinsichten maximal kontrastieren, obwohl sie eine gemeinsame kulturhistorische Wurzel haben, die Darwinsche
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Soziale Konstruktionen
Evolutionstheorie. Der gesellschaftlich-politische Kontext ist aber jeweils ein anderer und in entsprechender anderer Weise intervenieren – wie wir gesehen haben – unterschiedliche wissenschaftliche Diskurse und ihm entsprechende Trivialisierungen. Systematisch damit verknüpft sind auch die sozialen Reaktionen gegenüber Behinderung und den behinderten Menschen. Der Degenerationsdiskurs der Nationalsozialisten ist letztlich zwangsläu¿g eliminationistisch oder er erzwingt eine symbolische „Überwindung“ von Behinderung wie im Falle der behinderten Krieger. Diese Ideologie versucht noch die Kontingenz einer Verletzung durch einen Jagdunfall in einen Willensakt umzudeuten. Die in diesem Zusammenhang zitierte Stelle von Kügelgen ist ein schlagendes Beispiel dafür, dass das nationalsozialistische Deutungsmuster von Behinderung letztlich deren Kontingenz, damit aber die Kontingenz der Physis als irreduzible anthropologische Struktur insgesamt leugnet (siehe Kapitel 2). Die Degenerationsideologie versucht Behinderung auf der einen Seite zu einem zwangsläu¿gen (fatalen) geschichtlichen Geschehen des Niedergangs einer Rasse zu stilisieren, und auf der anderen Seite, den nichtbehinderten Körper in die Entwicklungslogik einer Art von biologischem Heilsgeschehen einzubinden. Die Evolution, auf die sich ja auch die Nazis berufen, bekommt damit eine teleologische Dimension, die sie bei Darwin und erst recht in der modernen Version der Theorie nicht hatte. Sie berauben die Evolutionstheorie um das Element des Zufalls, sie leugnen ebenso die Kontingenz des behinderten wie die des nicht-behinderten Körpers und verstehen deshalb schon gar nicht deren relationale Wirklichkeit. Der Diskurs der Freak-Show hat demgegenüber mehr Sinn für Kontingenz, ohne dass dies allerdings zu einer mehr als symbolischen Anerkennung der behinderten Menschen oder gar einer Normalisierung im Sinne einer „emischen Normalität“ führen würde. Dieser Diskurs übertreibt die Kontingenzwahrnehmung wiederum in die andere Richtung. Die Behinderung wird zu einem „Wunder der Natur“, zu etwas so Erstaunlichem, Fremden und Außeralltäglichen stilisiert, dass die Frage nach der Subjektivität der behinderten Menschen wiederum auf andere Weise wegde¿niert wird. Auch der „exotic mode“ objektiviert den behinderten Menschen und generalisiert seine Anomalie zu einem Stigma. Allerdings beinhaltet dieses Stigma – anders wie bei den Nationalsozialisten – ein Lebensrecht und auf dieser Basis eine Art von Integration der Freaks in die Gesellschaft oder sogar – wie bei den respectable freaks – in ein zumindest imaginiertes bürgerliches Leben. Eine Art emische Normalität erscheint insofern zumindest bei den „respectable freaks“ als eine Art tangentiale Möglichkeit. Strukturell schließt aber das Freak-Dasein das bürgerliche Leben dennoch aus – es bleibt immer das Anrüchige der Jahrmarktbuden und der Eindruck von Halbwelt und illegitimer Sensationslust und dem Pro¿t, der daraus geschlagen wird.
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Immerhin ermöglicht die Freak-Show eine Interaktionslogik des Humors, etwas, das dem Degenerationsdiskurs der Nazis vollständig abgeht. Und Tod Brownings Film von 1932 hält eine Einsicht fest, die für die historische Praxis der Freakshow schlechthin konstitutiv ist. Am Anfang des Films lässt er den Präsentator einer Freak-Ausstellung an das gaffende Publikum und damit auch den Zuschauern des Films gewendet sagen: „We didn’t lie to you folks. We told you we had living, breathing monstrosities. You laugh at them, shudder at them, and yet, but if not for the accident of birth, you might be even as they are. They did not ask to be brought into the world, but into the world they came.“
Der letzte Satz trifft für die Freaks genauso wie für die Nicht-Freaks zu. Es bleibt der Eindruck einer unvollständig verstandenen Einsicht. Und gewiss, der Freak-Diskurs institutionalisiert sicher in keinem Sinne eine wünschbare soziale Reaktion im Umgang mit Behinderung. Aber im Gegensatz zu dem Degenerationsdiskurs der Nazis ist von der Welt der Freakshow aus immerhin ein Übergang in eine humanere Version des Rätsels der Körperlichkeit und ihrer Kontingenz vorstellbar. Diese wird im Gegensatz zum Nazidiskurs nicht geleugnet und weg konstruiert, sondern auf eine wie immer verquere Weise beim Namen genannt.
8 Epilog: von der Soziologie der Behinderung zur Soziologie behinderter Menschen
Ludwig Straßburgers Geschichte
Hr. Straßburger: Ich war früher im Kinderheim von Geburt auf hab ich eine Hasenscharte, ?> klar? Ein Wolfsrachen hab ?loch??> ? rachen??> Interviewer: Am Rachen? Hr. Straßburger: Ah (=Ja)! Wolfsrachen! > und noch mal ein ?> und dann geht immer dann halt was so vom Essen in die Nase von mir und ??> Interviewer: Heut noch? Hr. Straßburger: Ah (=Ja)! ??> hab ich sechzig Jahr lang Interviewer: Wie? Hr. Straßburger: Ich bin jetzt sechzig Interviewer: Sechzig sind Sie. Hr. Straßburger: Sechzig Jahr, ich hab ?? ???> nix mehr ?> ich hab jetzt eine Prothese, Zahnprothese oben und da unten, bloß ich kann nich ?> reinmachen, gell. Ich kann nich > reinmache ??> Interviewer: Sind Sie da als Kind mal operiert worden? Hr. Straßburger: Ah (=Ja), als Neugeborenes. Von Geburt > und dann hat man ?>
So beginnt ein Interview, das ich im Rahmen eines Projekts zu Biographien behinderter Menschen mit einem Mann Anfang sechzig geführt habe. Die Fragezeichen markieren unverständliche Passagen. Das Zitat beginnt mit der Feststellung der Kontingenz einer körperlichen Schädigung, deren funktionaler Aspekt sich zugleich in dem Gesagten selbst ausdrückt. Ludwig Straßburger ist von einer ausgeprägten Spaltbildung der Lippen und des Gaumens betroffen, im Volksmund „Wolfsrachen“ und „Hasenscharte“ genannt. Sie wird zwar in früher Kindheit operiert, wie er gleich zu Beginn seiner Lebenserzählung berichtet. Aber er bleibt bis heute äußerst schwer verstehbar, die Kommunikation ist hochgradig missverstehensanfällig. Oft muss er Sätze mehrfach wiederholen, bis seine Gesprächspartner erraten, was er sagen will. Dennoch besucht Ludwig Straßburger auf Betreiben und mit Unterstützung seiner Eltern, bei denen es sich um ein aufstrebendes, gewerkschaftlich und politisch
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Epilog
aktives Facharbeitermilieu handelt, eine reguläre Schule und tritt eine Ausbildung in der Firma an, in der auch sein Vater arbeitet. Als er Mitte zwanzig ist, wird er mit der eintretenden PÀegebedürftigkeit und später dem Tod seiner Eltern konfrontiert. Ungefähr zeitgleich dazu verlässt oder verliert er seine Arbeit bzw. ¿ndet – nun ohne die Unterstützung des Vaters – nach einer Fortbildung keine Stelle mehr. Ludwig Straßburger „bewältigt“ diese Lebenskrise auf seine Art. Seine Reaktion besteht darin, dass er nach Frankreich geht. Dieses Land hatte sowohl für den Vater wie für den Sohn eine wichtige Bedeutung hat. Als Kind und Jugendlicher besuchte er mehrmals Paris, weil der Vater dort früher als Kriegsgefangener war. In einer ländlichen Region arbeitet er zunächst in der Landwirtschaft, später kommt in einem von ihm sogenannten hôpital, einer offenen psychiatrischen Einrichtung, unter, wo er eine „geschützte“ Arbeitsgelegenheit erhält. Er sei dort freiwillig gewesen und habe in der Hauswirtschaft und in der Arbeitstherapie mitgearbeitet, sagt er. Dort bringt er insgesamt sieben Jahre zu. Als er dort aus unbekannten Gründen nicht mehr arbeiten und leben kann, kehrt er nach Deutschland zurück. Er wird auf Betreiben der Geschwister zunächst in ein deutsches Heim eingewiesen, versucht daraufhin wieder nach Frankreich zurück zu gehen. Allerdings wird er an der Grenze aufgegriffen und zurück gebracht. Seit dieser Zeit, Anfang der achtziger Jahre, lebt er in einer Heimeinrichtung im Süden Deutschlands. Dass er in dieser Einrichtung zeitlebens bleibt, verdankt sich einerseits den Reaktionen seines unmittelbaren familiären Umfelds, das sich außerstande sieht, ihn bei sich aufzunehmen und andererseits den spezi¿schen Konstruktionen dessen, was seine Behinderung genannt wird. Weil er als „behindert“ gilt, wird die Heimaufnahme überhaupt möglich, denn sie ist Bedingung dafür, dass der Sozialhilfeträger den Aufenthalt dort über Jahrzehnte ¿nanziert. Die dafür maßgebliche Begründungskonstruktion lautet: Ludwig Straßburger „leide“ an einem „schizophrenen Residualzustand“. Die Geschichte dieser professionellen Konstruktion lässt sich zumindest fragmentarisch aus den Akten rekonstruieren. Dort wird unentwegt behauptet, er sei psychisch krank. Zugleich wird aber betont, es fehle dafür an klaren Hinweisen, gefolgt von der Klage, man könne Ludwig Straßburger nicht verstehen: „sehr verwaschenes Reden“, die Gespräche seien „nicht sehr ersprießlich“, er gäbe „spärliche Antworten“. Die Schwester, die die Heimaufnahme von Ludwig Straßburger betreibt, brachte ursprünglich einen Brief aus dem französischen hôpital ins Spiel, in dem von einer schizophrenen Psychose die Rede war. Wie in Frankreich eine solche Diagnose gestellt werden konnte, wo Ludwig Straßburger selbst in Deutschland nicht verstanden wird, bleibt unklar. Der deutsche Psychiater stellt denn auch in seinem ersten und in allen weiteren Gutachten fest, er habe keine direkten Anhaltspunkte über psychotische Symptome, es gäbe keine akute Symptomatik. Das hindert ihn nicht daran in der Akte festzuhalten:
Von der Soziologie der Behinderung zur Soziologie behinderter Menschen 253 „Bewusstseinsklar und hinreichend orientiert, kooperativ, aber spärliche Antworten – insgesamt unauffällig. Diagnose: ‚deutlicher schizophrener Defektzustand ohne Hinweise für eine aktuelle Symptomatik.‘“
Der angebliche „schizophrene Defektzustand“ zieht sich in der Folge wiederum durch die Atteste und Berichte für die Kostenträger in unterschiedlichen Formulierungsvarianten. Jedenfalls führt die in der entsprechenden Bewilligung eingetragene Formel „Residualzustand nach endogener Psychose“ zur Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft (MdE von 60). Von einer ähnlichen Logik der Schein-Unvoreingenommenheit geprägt, die aber hervorragend geeignet ist, einen Verdacht nahe zu legen, ist die folgende Formulierung: „Seine bereits mehrfach in Erscheinung getretene Tendenz zur Nichtsesshaftigkeit könnte mit etwaigen Wahnvorstellungen in Verbindung stehen. Andererseits zeigt sich Herr Straßburger von seiner Stimmungslage her meistens ausgeglichen und eher unauffällig“.
Ähnlich ein Akteneintrag drei Jahre nach dem Eingangsgutachten: es falle auf, dass Herr Straßburger „hochtrabende Ausdrücke“ verwende, „allerdings nicht im richtigen Sinn oder Kontext“. Die Schlussfolgerung lautet: „aufgrund dieses Sprachdurcheinanders lässt sich nicht sagen, ob vielleicht auch wahnhafte Vorstellungen bei ihm vorhanden sind“. Zehn Jahre später wird eine weitere Verlängerung der stationären Maßnahme mit den Worten begründet: „Aufgrund seiner verschrobenen und oftmals in sich gekehrten Wesensart ist bei Herrn Straßburger ein latentes psychotisches Erleben und Verarbeiten zu vermuten“. Fünf Jahre später: „besteht nach wie vor eine latente Psychose, die sich in der bereits genannten Verschrobenheit und Minussymptomatik äußert. Darüber hinaus besteht der Verdacht, dass Herr Straßburger aufgrund seiner Neigung zu Selbstgesprächen an akustischen und optischen Halluzinationen leidet.“ Alles das steht in eigenartigem Widerspruch zu vielen in den Akten auch vor¿ndlichen Beschreibungen: motorisch geschickt, sozial zugänglich und kompetent, einer der besten Werkstattmitarbeiter, er vertritt seine Wohngruppe im Heimbeirat. Drei Jahre nach seiner Aufnahme sucht Ludwig Straßburger das Gespräch mit dem Psychiater und konfrontiert diesen mit der direkt gestellten Frage, „ob er psychiatrisch krank wäre und ob das noch einmal in Ordnung käme.“ Er bekommt offenbar keine klare Antwort, zumindest ist keine überliefert. Eine Schlüsselszene ¿ndet sich dagegen in einem Hilfeplanungsgespräch kurz später, bei dem auch seine Schwester anwesend ist. Sie macht geltend, dass er nicht bei ihr wohnen könne, diese Verantwortung könne und wolle sie nicht übernehmen. Aus der in der Akte überlieferten Antwort von Ludwig Straßburger wird allerdings auch
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Epilog
deutlich, dass ihm eine Belastung der Schwester gar nicht vorschwebte, genauso wenig wie er sich mit dem Vorschlag einer „betreuten Werkstatt und beschützenden Wohngemeinschaft der Heimmitarbeiter anfreunden konnte. „An diesem Punkt des Gesprächs brachte Herr Straßburger einen ganz wichtigen Aspekt ein ‚Ja, in einer beschützten Wohngemeinschaft … aber ich will doch auch mal heiraten, ich will doch auch mal eine Frau und eine Familie.‘ Es wurde nicht deutlich, ob dies Herrn Straßburger ein echtes Bedürfnis nach Beziehung und Partnerschaft war, oder ob es einfach etwas ist, das für ihn zu einem normalen Leben gehört. Das zu bewerten steht uns nicht an.“
Auch hier das schon beschriebene Muster: unter dem Deckmantel einer zudringlichen Fürsorge, einer unverbindlichen Wertschätzung („ganz wichtiger Aspekt“), einer Scheinzurückhaltung des Urteils („das zu bewerten steht uns nicht an“) wird ein Verdacht installiert. Nämlich: es gehe ihm gar nicht um ein echtes Bedürfnis nach Partnerschaft, sondern „nur“ darum ein normales Leben zu führen. Er führt letztlich zu einer Entwertung des Lebensentwurfs von Ludwig Straßburger und zu einer Verewigung seines Heimaufenthalts. Konstruktionen und Reaktionen Die kurze Skizze der biographischen (Re-)Konstruktion einer Behinderung zeigt, dass von den sozialen Reaktionen und den sozialen Konstruktionen von Behinderungen Wirkungen ausgehen können, die über den Lebensweg eines Menschen entscheiden können. Sie zeigen zugleich unterschiedliche Ausdeutungsmöglichkeiten einer körperlichen Kontingenz und deren Wirkungen für die Lebensführung eines Menschen. Für die professionellen Akteure bietet sich schon aufgrund der Mühelosigkeit der Anschließbarkeit an eine frühere Diagnose und aufgrund institutioneller Gegebenheiten (es handelt sich um ein Heim vorwiegend für psychisch und geistig behinderte Menschen) die Konstruktion eines schizophrenen Residualzustands an. Darunter versteht man einen zur Behinderung gewordenen, gleichsam chroni¿zierten Zustand nach einer akuten schizophrenen Erkrankung. Allerdings wäre das biographische Wirksamwerden dieser Diagnose nicht möglich gewesen ohne die pragmatische (soziale) Reaktion der Familienangehörigen von Ludwig Straßburger nach seiner Rückkehr. Für diese Reaktion war nicht die Fürsorge wegen einer angeblichen Psychose kennzeichnend, sondern die Besorgnis angesichts einer befürchteten Belastung. Dieses Zusammenspiel von sozialer Reaktion der Verwandten und sozialer Konstruktion der Professionellen läuft auf eine Behinderung von Lebensmöglich-
Von der Soziologie der Behinderung zur Soziologie behinderter Menschen 255 keiten hinaus wie sie vom sozialen Modell der Behinderung beschrieben werden. Die Barriere ist in diesem Fall eine symbolische. Sie besteht in sachlich wenig haltbaren und verantwortungslosen Diagnosen, die ihrerseits auf einem ominösen Schreiben aus Frankreich beruhen, das eine schizophrene Psychose erwähnt, für die es aber ansonsten keinerlei Hinweise gibt. So ergibt sich in der Tat eine relativ freischwebende Konstruktion seiner Behinderung, die aber um so größere biographische Wirkungen entfaltet. Die eigentliche und für die biographische Dynamik ausschlaggebende Lebenskrise Ludwig Straßburgers in seinen Zwanzigern, taucht in den Akten nur als rätselhaftes und unmotiviertes Weggehen von zu Hause auf. Dass er in dieser Zeit seine Arbeit und zugleich die Personen verloren hat, die für ihn wichtige Übersetzer waren und damit wie immer ambivalente Garanten für seine soziale Integration, wird in den Aufschrieben der Pro¿s nicht einmal erwähnt. Ludwig Straßburger selbst erzählt seine Geschichte ganz anders. Er beginnt sie mit einer Ausdeutung der für ihn entscheidenden körperlichen Kontingenz – nämlich seiner angeborenen „Hasenscharte“ und seines „Wolfsrachens“, die ihn am deutlichen Sprechen hindern und zu einer Kommunikationsproblematik führen. Diese Kontingenz und ihre Folgen für seine Sprechfähigkeit produzieren für ihn die für die biographische Dynamik entscheidenden Reaktionen. Sie sind zunächst günstig für ihn – sein Vater ist der Garant für die Möglichkeit eines „normalen Lebens“, ein biographischer Entwurf, den Ludwig Straßburger später wieder ins Spiel bringen wird. Das verändert sich entscheidet in der späteren Konstellation, in der die soziale Resonanz ausbleibt, die Reaktionen vermutlich aversiver werden und sich kein Mentor, keine – in den Worten Goffmans – „weise Person“ ¿ndet (Goffman 1975: 40), die als „Grenzperson“ (ebd.), als Übersetzer hätte fungieren können. Seine Biographie (und damit zugleich: seine Konstruktion seiner Behinderung) ist die Geschichte einer Kommunikationsproblematik. Ludwig Straßburger erzählt die Geschichte eines Menschen, der sich nicht mehr verständlich machen konnte, der in ein fremdes Land geht, in dem er wenigstens aus einleuchtenden Gründen nicht verstanden wird und der in sein Land wieder zurück kommt, mit einer ebenso einleuchtenden Begründung, warum auch hier wieder die Kommunikation nicht gelingt. Niemand horcht offenbar auf, wenn Ludwig Straßburger auf die Frage, warum er seiner Meinung nach im Heim lebe, antwortet: dass er – ich zitiere aus den Akten – „dialektbehindert“ sei: „weil er nach seinem langjährigen Frankreich Aufenthalt die deutsche Sprache kaum mehr verstanden habe, sei er letztlich im Heim gelandet.“
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Epilog
Produktionen Im Fall von Ludwig Straßburgers Biographie überwiegt eine Interaktion, ein destruktives Zusammenspiel zwischen den Aspekten der sozialen Reaktionen seines unmittelbaren sozialen Umfelds und den sozialen Konstruktionen der beteiligten Professionellen. Das Moment einer sozialen Produktion tritt in seinem Fall in den Hintergrund, zumindest, wenn man unterstellt, dass in der Tat die ausschlaggebende Schädigung die Verständigungsproblematik infolge der Spaltbildung war. Eine soziale (Mit-)Verursachung dieser Spaltbildung ist zwar nicht ausgeschlossen, aber sehr unwahrscheinlich. Dennoch zeigt sein Fall, dass sowohl die Schädigung als auch die daran anknüpfenden Reaktionen und sozialen Konstruktionen je für sich Wirkungen zeigen, aber zugleich in einen in seinem Fall sehr ungünstigen Zusammenhang von Wechselwirkungen eintreten können. In anderen von uns analysierten Fällen spielt der Aspekt der sozialen Produktion eine gewichtigere Rolle. Im Fall von Rosemarie Müller zum Beispiel (Kastl, Neges 2009). Sie gilt als geistig behindert. Bei ihr steht am Anfang einer biographischen Dynamik, die einen ganz ähnlichen Verlauf wie bei Ludwig Straßburger nimmt (eine jahrzehntelange Verwahrung in einer Behindertenwohneinrichtung), eine von ihr nach fast 70 Jahren mit spürbarer emotionaler Beteiligung erzählte Situation familiärer Traumatisierung und Deprivation in der Kindheit. Der leibliche Vater stirbt, es ist unklar wann. Mit dem Einzug des neuen Manns ihrer Mutter, den sie Stiefvater nennt, beginnt für die Familie eine schwere Zeit: dieser trinkt, er schlägt Rosemarie Müller, der Alkoholismus führt zu einer Verschuldung der Familie. Sie müssen ihr „schönes Bauernhaus“ verkaufen. Die Situation eskaliert im Selbstmord des Stiefvaters, „Dann is er ins Wasser gegangen … hat sich’s Leben g’nommen, war furchtbar.“, erzählt sie mit sichtlicher emotionaler Beteiligung, das sich in einem tiefen Luftholen und der mehrmals wiederholten Beteuerung „es war furchtbar“ Ausdruck verschafft. Das Kind reagiert mit Flucht: es treibt sich auf der Straße herum, schwänzt immer wieder die Schule, kommt nicht mit und wird deshalb vom Bruder mit Schlägen bestraft. Nach vier Jahren wird Rosemarie aus der Schule genommen. Auf Betreiben des vermutlich selbst überforderten neun Jahre älteren Bruders wird das Mädchen später in ein Heim eingewiesen. In ihrem Fall führen Diagnosen wie „angeborener Schwachsinn erheblichen Grades mit Neigung zu Verstimmungszuständen“ zu einer lebenslangen Verwahrung in stationären Einrichtungen. Auch in ihrem Fall hätte diese Konstruktion keine solche Wirkung entfalten können ohne die sozialen Reaktionen der familiären und lebensweltlichen Umwelt, in der von Anfang an kein Platz für sie war. Dieser Umstand, im Zusammenspiel mit der ungünstigen familiären Konstellation in einer sensiblen Phase der Entwicklung führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer nachhaltigen Deprivationserfahrung des Kindes. Mögliche Elemente dieser Deprivation sind: die Traumatisierung durch
Von der Soziologie der Behinderung zur Soziologie behinderter Menschen 257 die Schläge – die ökonomische Situation der Familie – der geringe Rückhalt, den das Mädchen weder beim älteren Bruder, weder beim trinkenden Stiefvater noch der offenbar überforderten Mutter fand – die sich überstürzenden Ereignisse, die im Tod des Stiefvaters mündeten. Das sind prototypische Indikatoren für jene Art von chronischer Stresserfahrung, von der wir heute wissen, dass sie zu einer traumatischen Schädigung kognitiver und emotionaler Möglichkeiten führen können. Allein schon diese emotionale Belastung macht plausibel, dass das Mädchen kein übertriebenes Interesse für die Schule an den Tag legte. Nicht-Reduzierbarkeit von sozialer Produktion, Reaktion und Konstruktion Die beiden Skizzen zeigen für zwei empirische Einzelfälle, dass die in diesem Buch als grundlegend heraus gearbeiteten Aspekte der Produktion, der Reaktion und der Konstruktion zwar einerseits je für sich auf die anthropologische Grundstruktur der Kontingenz des Körpers bezogen sind. Sie zeigen aber auch ihren engen Zusammenhang. Methodisch und methodologisch sind diese drei Aspekte niemals aufeinander reduzierbar. So liegt der Schwerpunkt bei der Analyse der sozialen Produktion auf einer Art von Kausalanalyse und erfordert daher im Grunde genommen naturwissenschaftlich bewährbare empirische Erkenntnisse bzw. Theorien. Die Analyse sozialer Reaktionen bedarf aller sozialwissenschaftlicher Instrumentarien zur Untersuchung sozialer Praxis und die Analyse sozialer Konstruktionen bedient sich der kultursoziologischen und kulturwissenschaftlichen Methoden der Deutungsmusteranalyse. Keiner der drei Aspekte steht aus prinzipiellen Gründen am Anfang oder systematisch über den anderen, vielmehr ist von Fall zu Fall darzulegen, wo jeweils der Akzent liegt. Auch die drei voran gegangenen Kapitel stießen jeweils immer wieder auf das gemeinsames Bezugsproblem der Kontingenz des Körpers. Die soziale Produktion von Behinderung bedient sich ihrer, ohne es zu wissen, soziale Reaktionen und soziale Konstruktionen arbeiten sich handelnd und deutend an ihr ab und realisieren, je nachdem, die verschiedensten Formen ihrer praktischen und symbolischen Anerkennung oder Verleugnung. Von der Soziologie der Behinderung zur Soziologie behinderter Menschen Mit der Geschichte von Ludwig Straßburger will ich zum Schluss dieses Buches andeuten, dass für mich die Soziologie der Behinderung kein Selbstzweck ist, sondern letztlich ihre Bewährung in der Analyse der Lebenswirklichkeit behinderter Menschen zu ¿nden hat – insofern sich wieder in eine weiter gefasste Soziologie der Behinderten oder der behinderten Menschen (wie man heute politisch korrekter
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sagen würde) einzufügen hätte. Eine Möglichkeit dazu ist unter anderen ist die Analyse von biographischen Prozessen der Behinderung, die, wie schon die knappe Skizze andeutete, das gesamte systematische und methodische Instrumentarium benötigen, um das jeweilige Zusammenspiel von sozialer Produktion, sozialen Reaktionen und sozialen Konstruktionen zu verdeutlichen (vgl. Kastl 2009; Kastl/ Neges 2009). Auch die subjektive Erfahrung von Behinderung hat darin ihren Platz. Für sie gilt erst recht, dass die mit Körperlichkeit und ihrer Behinderung verbundene Kontingenzerfahrung niemals reduzierbar ist auf ihre sozialen und außersozialen Ursachen, auf die Reaktionen oder auf die Konstruktionen der Anderen (und meiner selbst). Aber auch die subjektive Erfahrung der von Behinderung Betroffenen hat ebenso wenig das letzte Wort wie die vorgeblich objektiven Konstruktionen der Wissenschaft. Die Wirklichkeit ist ihren wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Konstruktionen immer voraus – egal, wer da konstruiert. Der andere Grund liegt aber in der in diesem Buch so bezeichneten Körperlichkeit des Sozialen und der Sozialität des Körperlichen. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass der Körper und seine Behinderung immer eine soziale Dimension hat und damit sowohl die Perspektive Anderer und meine eigene, die von Alter und die von Ego, umgreift. Das heißt nicht, dass der Körper und seine Erfahrung darauf reduzierbar sind. Es heißt aber, dass keine Erfahrung des Körpers und seiner Behinderung von dieser Dimension abstrahieren kann. So gesehen ist sie, gleich, ob sie mich selbst oder den Anderen betrifft, auf je unterschiedliche Weise soziale Erfahrung und wie immer im Einzelfall konkretisiert, von jener Doppelgängerstruktur gezeichnet, wie sie sich ganz am Anfang unserer Überlegungen in der Analyse der Photographie von Wladimir und Michail ankündigte. Nochmals die Zwillinge… Diese Erfahrungsstruktur kann im Zusammenspiel mit bestimmten soziokulturellen Konstruktionen wie wir gesehen haben erbarmungslose, tödliche Konsequenzen haben. Zugleich ist aber niemals ausgeschlossen die reale Utopie einer gelassenen und lässigen Inklusion behinderter Menschen, wie sie in dem Photo von Robert Knoth (Abb. 1) zum Ausdruck kommt. Hier sitzt ein landläu¿g als gut aussehend geltender junger Mann mit seinem „realen“ Doppelgänger, seinem Zwillingsbruder, der ihm ähnlich sehen könnte (und bei genauer Betrachtung auch ähnlich sieht), den aber manche Außenstehende als „Monster“ oder als „Freak“ typisieren würden, in der Haltung einer unspektakulären, körperlich ausgedrückten Vertrautheit auf dem Sofa in einer biederen, alltäglichen Umgebung. Wladimir hält sein „Spiegelbild“ aus. Das vor-
Von der Soziologie der Behinderung zur Soziologie behinderter Menschen 259 gebliche „Monster“ ist sein Zwillingsbruder. Er heißt Michail und wenn wir uns nur ein bisschen an den Anblick gewöhnen, könnte es sein, dass wir verstehen, dass die aufgerissenen Augen nicht Panik ausdrücken und dass hinter dem ungewohnten Gesicht eine Erfahrung stehen könnte, die uns nicht nur fremd ist, sondern die auch die unsere sein könnte. Michail ist kein Monster. Er blickt uns an, so wie wir ihn. Hinter seinem Blick kann ebenso gut Unsicherheit stehen oder auch Freundlichkeit oder Humor oder sein Gefühl von Fremdheit. Es ist nie ausgeschlossen, dass sich Nähe herstellen kann, aber wir sind auch seine Zwillingsgeschwister, insofern er uns offensichtlich gerade in seiner Fremdheit „angeht“, je nachdem Erschrecken auslöst, eine Art von heuchlerischem und aggressivem Mitleid oder auch eine Form der Gelassenheit. Das Imaginäre der Spiegelbilder und Doppelgänger Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan hat die Dimension von Intersubjektivität, die sich davon ableitet, dass wir im Anblick des Anderen das Bild unserer selbst suchen, als ihre „imaginäre Dimension“ bezeichnet. Dabei geht es um eine Form der Idealisierung meiner selbst wie des Anderen. Jacques Lacan siedelt diese Dimension genetisch in einer frühen menschlichen Erfahrung an, die er „Spiegelstadium“ nennt. In einem Stadium, in dem das menschliche Subjekt objektiv einen behinderten Körper hat, in dem objektiv der Körper unkoordiniert, beeinträchtigt und ungeschickt ist, in dem massive Ängste vor der Bedrohung der körperlichen Integrität bestehen, in dem es seinen eigenen Körper als „zerstückelt“, als beschädigt wahrnimmt, entdeckt das Kind in seinem Spiegelbild und im Spiegel des Blickes der Anderen eine ¿ktive Integrität und Identität des Körpers. Diese Erfahrungsqualität geht ein in eine Dimension von Intersubjektivität, die von der Verhaftung an Idealbildern von Ego und Alter, von Identi¿kation, Anerkennung und Rivalität geprägt ist (Lacan 1986: 61–70, 1978: 211–224, 1994: 57 ff., 155–171). Sie lebt vom Phantasma eines nicht nur unbehinderten, sondern unbehinderbaren Körper. Dabei handelt es sich um eine Ideologie, einen Doppelgängerkomplex, der in anthropologischen Grundstrukturen der menschlichen Körperlichkeit wurzelt, ohne aber deswegen den Charakter einer unwandelbaren Naturtatsache zu haben. Das Symbolische Eine Art Gegengewicht zu dieser imaginären Verstrickung ist für Lacan das von ihm sogenannte „Symbolische“ (Lacan 1978: 300 ff.; Lacan 1986: 71 ff.). Darunter versteht Lacan das Sich-Einlassen auf intersubjektive kulturelle Ordnungen, in denen Symbole zwischen Menschen begründet und ausgetauscht werden. Sie
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sind von einer offenen, nicht still zu stellenden Prozessualität der Verdichtung und Verschiebung von Bedeutungen bestimmt. Sprache ist ein Beispiel dafür. Aber diese symbolische (und damit kulturelle) Realität kann ebenso in einem Kinderspiel zum Ausdruck kommen (Lacan 1986: 116),82 oder in der Differenz von Druckemp¿ndungen auf einer Hand (so bei der Kommunikation mit gehörlosblinden Menschen) oder in der Binarität von Blinzeln/Nicht-Blinzeln (so bei der Kommunikation mit Menschen mit locked-in-Syndrom, Bauby 1997). Das alles besagt nur: durch alle Verstrickungen der imaginären Intersubjektivität und der damit verbundenen Ambivalenzerfahrungen hindurch handelt es sich darum, dass behinderte Menschen und nicht behinderte Menschen einander in diesem Sinne Lacans ansprechen und sich wechselseitig ansprechen lassen. Das behebt vielleicht nicht jene grundsätzliche Ambivalenz der sozialen Reaktionen, jene „disease of social relations no less real than the paralysis of the body“, von der Robert Murphy spricht (1990: 4). Aber es löst sie aus der Statik der Spiegel heraus und versetzt sie in jenen Fluss symbolischer Auseinandersetzung und Anerkennung, den wir Kultur nennen. Es geht also um eine elementare Form von Kulturarbeit, die bei allen unbestreitbaren Fortschritten ein offenes und uneingelöstes Unternehmen bleibt, ein Unternehmen, das die Natur, die Physis, nicht als ihr Anderes begreift, sondern als ihr eigentliches Medium.
82 Sigmund Freud berichtet in seiner Schrift „Jenseits des Lustprinzips“ vom sogenannten Fort/Da-Spiel eines anderthalbjährigen Kindes, mit dem sich dieses – in unablässiger Wiederholung – Fortgehen und Wiederkommen der Mutter symbolisch zugänglich und damit irgendwie aushaltbar gemacht hatte. Das Kind warf eine mit einem Bindfaden umwickelte Holzspule über den Rand seines verhängten Bettchens. Bei ihrem Verschwinden sagte es ein langgezogenes „o-o-o-o“, dann zog es die Spule wieder hoch und begrüßte sie bei ihrem Wiedererscheinen mit einem freudigen „Da!“. Dieses einfache selbst erfundene Spiel und seine Koppelung mit den differentiellen Lautäußerungen behandelt Jacques Lacan als Paradigma des Symbolischen, eine Art Urszene der Emergenz von Kultur.
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