Robert B. Parker
Finale im Herbst
Action-Thriller
Übersetzt von Malte Krutzsch
Ullstein Krimi Lektorat: Georg Schm...
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Robert B. Parker
Finale im Herbst
Action-Thriller
Übersetzt von Malte Krutzsch
Ullstein Krimi Lektorat: Georg Schmidt Ullstein Buch Nr. 10399 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin Titel der amerikanischen Originalausgaben: Judas Goat / Looking For Rachel Wallace / Early Autumn
Neuauflage der Ullstein Krimis 10057,10103, 10142 Umschlaggestaltung: Hansbernd Lindemann Alle Rechte vorbehalten © 1978, 1980, 1981 by Robert Parker Übersetzung © 1980, 1981, 1982 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin Printed in Germany 1987 Druck und Verarbeitung: Ebner Ulm ISBN 3 548 10399 5 Januar 1988 Robert B. Parker Kopfpreis für neun Mörder Bodyguard für eine Bombe Finale im Herbst
Paul Giacomin ist verschwunden. Entführt, sagen seine Eltern. Aber Spenser kommt rasch hinter das rücksichtslose Intrigenspiel, mit dem sich Pauls Eltern auf Kosten ihres Sprößlings bekriegen. Spenser weiß, daß er nur eine Chance hat: Aus dem Jungen muß schleunigst ein Mann werden. Spätestens bis zum Herbst.
Für David Parker und Daniel Parker mit Achtung und Bewunderung von ihrem Vater, der mit ihnen herangereift ist.
1
Die Stadtsanierer hatten wieder zugeschlagen. Sie hatten mich, einen Wahrsager und einen Buchmacher von der Ecke Massachusetts Avenue und Boylston vertrieben, waren mit Sandgebläsen, gebleichter Eiche und Hängepflanzen angerückt, und als ich das letzte mal vorbeischaute, sah es aus, als wollten sie das Ganze in ein Marin-County-Freudenhaus verwandeln. Ich war weiter unten in die Boylston Street gezogen, zur Ecke Berkeley in den ersten Stock. Hier war ich einen halben Block von Brook Brothers entfernt und direkt über einer Bank. Ich fühlte mich zu Hause. In der Bank trieb man ungefähr das, was der Wahrsager und der Buchmacher auch getrieben hatten. Nur waren die Leute besser angezogen. Ich stand am Fenster meines Büros und sah hinaus auf einen milden, verregneten Januartag mit einer Temperatur weit über zehn Grad und ohne Anzeichen von Schnee. Auf der anderen Seite der Boylston konnte ich rechts Bonwit Teller sehen. Links das Polizeipräsidium. In den Schaufenstern im Bonwit lockten Puppen in enger Lederkleidung und in Ketten. Das Polizeipräsidium neigte eher zu Dacron. Im Eckfenster der Werbeagentur auf der anderen Straßenseite lehnte eine schwarzhaarige junge Frau in hochtaillierten grauen Hosen über einem Reißbrett. Ihr Rücken war dem Fenster zugekehrt. »Mein Kompliment Ihrem Schneider«, sagte ich laut. Meine Stimme klang seltsam in dem leeren Raum. Die Schwarzhaarige ging weg, und ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schaute auf das Bild von Susan Silverman. Es war die Vergrößerung eines Farbfotos aus dem vorigen Sommer. Wir hatten es in ihrem Garten aufgenommen. Ihr
gebräuntes Gesicht und die rosa Bluse strahlten lebhaft aus dem dunklen, stillen Grün der Bäume. Ich war noch in Susans Gesicht vertieft, als die Tür meines Büros aufging und eine Frau, den Popelinregenmantel mit Gürtel über dem Arm, hereinkam. »Mr. Spenser?« sagte sie. »Ich wußte doch, es würde aufwärtsgehen mit meiner Kundschaft, wenn ich über eine Bank ziehe«, sagte ich. Sie lächelte mich wundervoll an. Ihre blonden Haare standen in hübschem Kontrast zu ihren schwarzen Augen und den dunklen Brauen. Sie war zierlich und sehr schick und elegant. Sie trug einen geschneiderten, schwarzen Westenanzug, zum weißen Hemd eine schwarze Frackschleife mit langen Enden, wie einst Brett Maverick, und schwarze Stiefel mit sehr hohen, dünnen Absätzen. Das Gold, das sie an sich hatte, sah echt aus – goldene Ohrringe, goldene Uhr, goldene Ketten um den Hals, goldene Kettenarmbänder, ein breiter goldener Ehering und ein großer, in Gold gefaßter Diamant. Ich war optimistisch im Hinblick auf mein Honorar. Sie sagte: »Sind Sie Mr. Spenser?« Ich sagte: »Ja«, und stand auf, um ihr einen Stuhl heranzuziehen. Sie hatte einen sicheren Gang, eine sehr ausgewogene Figur, und als sie saß, hielt sie den Rücken gerade. Ich ging wieder hinter den Schreibtisch, setzte mich und lächelte. Früher hatten sie angefangen, sich auszuziehen, wenn ich lächelte, aber mein Lächeln muß wohl nachgelassen haben. Die schwarzen Augen musterten mich eingehend. Die Hände waren auf dem Schoß gefaltet. Die Beine übereinandergeschlagen, das Gesicht ernst. Sie musterte mein Gesicht, beide Schultern, meinen Brustkorb, und soviel von meinem Bauch, wie hinter dem Schreibtisch von ihm zu sehen war.
Ich sagte: »Ich habe eine verschwollene Narbe hinten auf dem rechten, ähm, Oberschenkel, wo mich vor drei Jahren jemand angeschossen hat.« Sie nickte. »Meine Augen sehen vielleicht etwas komisch aus, weil ich mal Boxer war. Das ist Narbengewebe.« »Anscheinend haben Sie auch schon oft eins auf die Nase gekriegt«, sagte sie. »Ja«, sagte ich. Sie musterte mich noch ein wenig. Meine Arme, meine Hände. Ob es voreilig wäre, wenn ich ihr anbieten würde, die Hose herunterzulassen. Wahrscheinlich. Ich sagte: »Hab’ aber noch alle Zähne. Hier.« Ich entblößte sie. »Mr. Spenser«, sagte sie. »Können Sie mir verraten, warum ich Sie engagieren sollte?« »Weil Sie sonst durch Ihr Bemühen, mich einzuschätzen, so gar nichts gewonnen hätten. Sie hätten die ganze Zeit damit vertan, mich mit Ihrer anspruchsvollen Eleganz und Ihrer vollendeten Beherrschung zu beeindrucken und würden leer ausgehen.« Sie musterte meine Stirn. »Und mit einem Jagdhut und einem Trenchcoat sehe ich sehr verwegen aus.« Sie sah mich direkt an und schüttelte leicht den Kopf. »Und ich habe einen Revolver«, sagte ich. Ich nahm ihn von meiner Hüfte und zeigte ihn. Sie drehte den Kopf weg und blickte zum Fenster hinaus, wo es dunkel geworden war und Lichter durch den Regen schimmerten. Ich steckte die Waffe ein und faltete die Hände, legte meine Ellbogen auf die Armlehnen des Sessels und stützte das Kinn
auf. Ich ließ den Sessel auf seiner Federung zurückkippen, saß da und wartete. »Mr. Spenser, können Sie derart die Zeit verschwenden?« »Ja, ich kann.« »Schön, aber ich nicht«, sagte sie, und ich formte den Satz mit den Lippen nach, während sie ihn aussprach. Das ärgerte sie. »Wollen Sie den Auftrag nicht haben?« »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was es für ein Auftrag ist.« »Nun, ich möchte einen Beweis für Ihre Fähigkeiten, bevor ich mit Ihnen darüber spreche.« »Werte Dame, ich habe Ihnen mein Narbengewebe und meine Kanone gezeigt. Was brauchen Sie denn noch?« »Der Auftrag erfordert Feingefühl. Mit Schußwaffen hat das nichts zu tun. Es geht um ein Kind.« »Vielleicht sollten Sie Dr. Spock engagieren.« Stille. Sie schaute auf meine Hände, die mein Kinn stützten. »Ihre Hände sehen sehr stark aus«, sagte sie. »Möchten Sie sehen, wie ich eine Nuß knacke?« sagte ich. »Sind Sie verheiratet?« »Nein.« Sie lächelte wieder. Es war ein gutes Lächeln. Hundert, hundertfünfzig Watt. Aber ich hatte schon bessere gesehen. Susan hätte sie glatt an die Wand lächeln können. Sie bewegte leicht ihren Körper auf dem Stuhl. Sie blieb dabei schön gerade, aber irgendwie kam eine schlängelnde Bewegung durch. Ich sagte: »Wenn Sie mir zuzwinkern, rufe ich eine Polizistin.« Sie schlängelte wieder, ohne sich zu rühren. Wie macht sie das nur?
»Ich muß Ihnen vertrauen«, sagte sie. »Sonst habe ich niemand. Ich muß mich an Sie wenden.« »Hart«, sagte ich. »Sicher hart für eine Frau, so allein.« Schlängeln. Lächeln. Seufzen. »Ja. Ich muß jemand finden, der mir hilft. Werden Sie es sein?« Sie beugte sich etwas vor. Sie befeuchtete ihre Unterlippe. »Werden Sie mir helfen?« »Sterne würd’ ich pflücken«, sagte ich, »vom blauen Himmelszelt.« »Verulken Sie mich nicht«, sagte sie. »Ich bin verzweifelt.« »Weswegen sind Sie verzweifelt?« »Wegen meines Sohns. Sein Vater hat ihn mitgenommen.« »Und was soll ich für Sie tun?« »Ihn zurückholen.« »Sind Sie geschieden?« »Ja.« »Haben Sie das Sorgerecht?« »Ja, natürlich. Ich bin seine Mutter.« »Hat sein Vater Anspruch auf Besuche?« »Schon, aber es handelt sich nicht um Besuch. Er hat Paul weggeholt und will ihn nicht zurückgeben.« »Und das Gericht?« »Es gibt eine Vernehmung, und Mel soll vorgeladen werden, aber sie können ihn nicht finden.« »Ist Mel Ihr Mann?« »Ja. Ich habe also mit der Polizei gesprochen, und da hieß es, wenn sie ihn finden könnten, würden sie ihm eine Vorladung ins Haus schicken. Aber ich weiß, daß sie nicht nach ihm suchen werden.« »Wahrscheinlich nicht. Die haben mitunter viel zu tun.« »Und deshalb möchte ich, daß Sie ihn suchen und mir Paul zurückbringen.« »Wie denkt der Junge denn über die ganze Sache?«
»Natürlich möchte er bei seiner Mutter sein, aber er ist erst fünfzehn. Er hat nichts zu sagen. Sein Vater hat ihn einfach mitgenommen und versteckt.« »Vermißt Mel denn Paul so sehr?« »Er vermißt ihn nicht. An Paul liegt ihm so oder so nichts. Er will mir auf diese Weise nur eins auswischen. Er gönnt mir Paul nicht.« »Also hat er ihn mitgenommen.« »Ja.« »Sehr rücksichtsvoll gegenüber dem Kind«, sagte ich. »Das ist Mel doch gleichgültig. Er will mir weh tun. Aber daraus wird nichts.« Es war keine schlängelnde Bewegung zu sehen, als sie den letzten Satz sprach. »Ich möchte, daß Sie den Jungen wieder zu mir bringen, weg von seinem Vater. Paul gehört von Rechts wegen mir.« Ich war still. »Ich kann jedes angemessene Honorar bezahlen«, sagte sie. »Ich habe eine ausgezeichnete Abfindung bekommen.« Sie war wieder ganz flott und geschäftsmäßig. Ich zog Luft ein und ließ sie durch die Nase heraus. Ich blickte sie an. Sie blickte zurück. »Was ist?« sagte sie. Ich schüttelte den Kopf. »Nach einem wahren Vergnügen hört sich das nicht an«, sagte ich. »Mr. Spenser«, die Unterlippe war wieder feucht, der Mund ein wenig offen, die Zungenspitze glitt am inneren Rand der Lippe entlang. »Bitte. Ich habe sonst niemand. Bitte.« »Es ist fraglich, ob Sie nicht jemand anders brauchen«, sagte ich, »aber ich werde mich an die Sache heranwagen unter einer Bedingung.« »Welcher?«
»Sie sagen mir Ihren Namen, damit ich weiß, wohin die Rechnung geht.« Sie lächelte. »Giacomin«, sagte sie. »Patty Giacomin.« »Wie der Schlußmann der alten Rangers.« »Bitte?« »Ein Herr gleichen Namens war früher mal Hockeyspieler.« »Oh. Ich kenne mich mit Sport leider nicht so aus.« »Keine Schande«, sagte ich. »Da hat’s an der Erziehung gehapert. Sie können überhaupt nichts dafür.« Sie lächelte wieder, wenn auch diesmal ein wenig unsicher, als wüßte sie jetzt, wo sie mich engagiert hatte, nicht genau, ob sie mich haben wollte. Ein Gesichtsausdruck, den ich schon oft gesehen habe. »Okay«, sagte ich. »Dann erzählen Sie mal, was Ihnen so durch den Kopf geht, wo der alte Mel sein könnte.« Ich zog einen linierten weißen Notizblock heran, ergriff einen Bleistift und hörte zu.
2
Nach 120000 Meilen hatte mein 68er Chevy mit Klappverdeck das Zeitliche gesegnet. Auch mit Isolierband ist nicht alles zu retten. Mit einem Teil von Huge Dixons Belohnung hatte ich Susan ihren kastanienbraunen MGB mit Weißwandreifen und verchromtem Gepäckständer auf dem Dach abgekauft, und um Viertel nach zehn am nächsten Morgen saß ich in diesem Wagen vor einem Apartmentgebäude am Hammond Pond Parkway in Chestnut Hill. Laut Patty Giacomin wohnte dort die Freundin ihres Mannes. Sie wußte das, weil sie einmal ihrem Mann dorthin gefolgt war und gesehen hatte, wie er hineinging und mit einer Frau aus seinem Büro wieder herauskam, die Elaine Brooks hieß. Ich hatte sie gefragt, woher sie wisse, daß es eine Freundin und nichts rein Geschäftliches sei, und Patty Giacomin hatte mir einen Blick von so vernichtender Verachtung zugeworfen, daß ich mich zufriedengab. Sie wußte nicht, wo ihr Mann wohnte. Über sein Büro konnte sie ihn nicht erreichen. Dort wußte niemand, wo er war. Die Freundin war das einzige, was uns einfiel. »Er wird da auftauchen«, hatte Patty gesagt, »sofern er nicht eine neue hat. Ein bißchen Honig braucht er immer.« Also saß ich da mit leerlaufendem Motor und eingeschalteter Heizung. Die Temperatur war seit gestern um 22 Grad gefallen, und der Januar in Boston war wieder normal. Ich drehte das Radio an. Ein Diskjockey mit einer Stimme wie ranziger Speck schilderte, wie sehr ihm die neue Platte von Neil Diamond gefiel. Dann begann Neil Diamond, seine neue Platte zu singen. Ich schaltete sie ab.
Eine Menge Autos fuhren vorüber, die unter der Route 9 dem Einkaufszentrum von Chestnut Hill zustrebten. Es gab zwei Bloomingdales in Chestnut Hill. Susan und ich waren vierzehn Tage vor Weihnachten mal zum Einkaufen hergefahren, aber sie hatte sich über Reizüberflutung beklagt, und wir mußten es abbrechen. Ein Jogger mit über die Ohren gezogener Strickmütze und der Aufschrift TENNESSEE TECH STAFF auf seiner blauen Jacke zog vorbei. Noch in der Kälte hatte sein Lauf etwas elastisch Leichtes. Etwa drei Stunden vorher war ich selber am Ufer des Charles entlanggelaufen, und der Wind vom Fluß her war streng gewesen wie der puritanische Gott. Ich sah auf meine Uhr. Viertel vor elf. Ich drehte wieder das Radio an und probierte herum, bis ich Tony Ennamos Jazzshow fand. Er brachte einen Beitrag über Sonny Rollins. Ich hörte zu. Um elf war die Sendung zu Ende, und ich stellte das Radio wieder ab. Ich öffnete meinen nüchtern braunen Schnellhefter und sah mir die anderthalb Seiten Notizen an. Mel Giacomin war vierzig. Er betrieb eine Versicherungsagentur in Reading, und bis zu seiner Scheidung hatte er in der Emerson Road in Lexington gewohnt. Seine Frau lebte dort weiterhin mit ihrem fünfzehnjährigen Sohn Paul. Soweit seine Frau wußte, lief die Agentur gut. Außerdem führte er vom selben Büro aus noch ein Immobiliengeschäft und besaß, hauptsächlich in Boston, mehrere Apartmenthäuser. Die Ehe war von Anfang an schwierig gewesen, seit fünf Jahren in der Auflösung, und vor anderthalb Jahren hatten Mann und Frau sich getrennt. Er war ausgezogen. Wohin, erfuhr sie nicht. Die Scheidungsverhandlungen wurden bitter, und erst vor drei Monaten war das Urteil rechtskräftig geworden. Giacomin war in den Worten seiner Frau »ein Hurenbock« und, wie sie meinte, sehr aktiv unter den jüngeren Frauen in seinem Büro und anderswo. Ich betrachtete sein Foto. Lange
Nase, kleine Augen, großer Hängeschnurrbart. Halblang getragenes Haar, über den Ohren. Auf der Rückseite las ich die Beschreibung von der Hand seiner Frau: Einsfünfundachtzig, 210 bis 225 Pfund (Gewicht schwankt, je nachdem, wieviel er trinkt, sich bewegt und Diät hält). Er war im Footballteam von Furman gewesen, und das merkte man noch. Ich hatte auch ein Bild von dem Jungen. Er hatte die Nase seines Vaters und kleine Augen. Sein Gesicht war schmal und mürrisch, die dunklen Haare lang. Sein Mund war klein und die Oberlippe geformt wie ein klassischer Bogen. Ich sah erneut auf meine Uhr. Halb zwölf. Er war wahrscheinlich nicht für Sex am Vormittag. Wie sie aussah, wußte ich nicht. Ein Foto stand nicht zur Verfügung, und Patty Giacomins Beschreibung war vage. Blondgelockte Dauerwelle, mittelgroß, gute Figur. »Kurvenstark«, hatte Patty gesagt. Um neun, halb zehn und zehn nach zehn hatte ich Giacomins Büro angerufen, und sie war noch nicht dort gewesen. Er selbst auch nicht. Und niemand wußte, wann mit ihnen zu rechnen war. Ich sah wieder auf die Uhr. Viertel vor zwölf. Ich war das Sitzen leid. Ich fuhr den MG um die Ecke auf die Heath Street, stellte ihn ab und ging zurück zu dem Apartmenthaus. Auf der Tafel hinter der Eingangstür war Elaine Brooks im dritten Stock aufgeführt, Apartment 315. Ich drückte auf den Summer. Nichts geschah. Ich drückte nochmals und hielt den Finger drauf. Nach fast einer Minute sagte eine belegte weibliche Stimme durch die Sprechanlage hallo. Die Stimme hatte eine Minute vorher noch geschlafen. Ich sagte: »Harry?« Sie sagte: »Was?« »Harry, ich bin’s, Herb!« »Hier gibt es keinen Harry, verdammt noch mal!« »Was?« »Du hast falsch geklingelt, du Arschloch!«
Ich sagte: »Oh, Entschuldigung.« Die Verbindung brach ab. Sie war da drin, und ich hatte sie aufgeweckt. Sie würde nicht gleich weggehen. Ich ging wieder zu meinem Wagen, fuhr die zwei- oder dreihundert Meter zu Bloomingsdale’s und kaufte einen großen silbernen Weinkühler für hundert Eier. So blieben mir zwei Dollar fürs Mittagessen. Falls ich zum Mittagessen kam. Ich hatte Hunger. Aber das war ich gewöhnt. Ich hatte immer Hunger. Ich ließ den Weinkühler als Geschenk einpacken und fuhr zurück zu dem Apartmenthaus. Diesmal parkte ich genau davor und ging ins Foyer und klingelte wieder bei Elaine Brooks. Sie meldete sich beim ersten Summen, und ihre Stimme war etwas frischer geworden. »Päckchen für Mrs. Brooks«, sagte ich. »Legen Sie es nur ins Foyer«, sagte sie. »Ich hol’s mir dann gleich.« »Mr. Giacomin wollte, daß es Ihnen persönlich übergeben wird, Madame. Er wollte es extra nicht in den Flur gelegt haben oder so was. Er wollte, daß Sie es direkt bekommen.« »Okay, bringen Sie es rauf.« Ich sagte: »Ja, Madam.« Die Tür summte, und ich ging hinein. Ich trug grauweiße Levi’s Cordjeans, Mokassins, ein blaues Wollhemd und eine beige Popelinjacke mit Schafsfellfutter und -kragen. Vielleicht ein bißchen schick für einen Taxifahrer, falls sie merkte, wie teuer das Hemd war, aber sie merkte es wahrscheinlich nicht. Ich nahm den Lift zum dritten Stock und zählte die Nummern bis 15. Ich klopfte. Eine Pause entstand, während sie wohl durch den kleinen Spion lugte. Dann öffnete sich die Tür an einer Sicherheitskette und ein schmaler Gesichtsausschnitt und ein Auge schauten zu mir raus. Damit hatte ich gerechnet. Deswegen hatte ich den Kühler gekauft. In der Verpackung war er viel zu groß, um durch den Türspalt, den die Kette ließ,
zu passen. Ich hielt den Karton hoch und schaute auf die kleine Öffnung. Sie sagte: »Okay, einen Moment«, und schloß die Tür. Ich hörte, wie die Kette herunterglitt; dann ging die Tür auf. Die Bloomingdale’s-Verpackung schafft es noch immer. Vielleicht sollte ich mehr auf sie bauen und weniger auf mein Lächeln. Die Tür war auf. Elaine sah aus wie beschrieben, nur besser. Und sie hatte Kurven. Die hat Dolly Parton auch. Sie hatte ihre Frisur und ihr Gesicht zurechtgemacht, war aber noch nicht angezogen. Sie trug einen langen braunen Morgenmantel mit weißem Schnurbesatz und schmalem, vorn zugezogenem Gürtel. Ihre Füße waren nackt, die Zehennägel lackiert. Es half nicht viel. Mir ist noch kein Zehennagel vorgekommen, den ich mochte. »Da wären wir, Madam«, sagte ich. Sie nahm das Paket. »Irgendeine Nachricht?« »Nicht an mich, Madam. Vielleicht innen. Mir sagte Mr. Giacomin nur, ich solle es Ihnen selbst aushändigen.« »Gut, vielen Dank«, sagte sie. »Okay.« Ich rührte mich nicht. Sie sah mich an. »Oh«, sagte sie. »Einen Augenblick bitte.« Sie schloß die Tür und verschwand für mehr oder weniger einen Augenblick, dann ging die Tür wieder auf und sie gab mir einen halben Dollar. Ich betrachtete ihn irgendwie verdrießlich. »Danke«, sagte ich. Sie schloß kommentarlos die Tür, und ich ging hinunter zum Wagen. Ich wendete auf dem Vorplatz und parkte ein Stück weiter oben an der Straße, so daß ich das Haus im Rückspiegel sehen konnte. Und ich wartete. Zwei Dinge hatte ich vielleicht erreicht. Das eine sicher – ich wußte, wie sie aussah, und so konnte ich ihr folgen, wenn sie fortging; sonst hätte ich darauf warten müssen, daß der alte
Mel aufkreuzte. Das zweite war vielleicht, daß sie ihn anrief, um sich für das Geschenk zu bedanken, und er ihr sagen würde, er hätte ihr doch gar keins geschickt. Das würde sie aufrütteln und den einen zum andern fuhren. Oder es würde sie besonders vorsichtig machen, und ich würde ihn nicht durch sie finden können. Die Chancen standen aber für mich. Und wenn seine Frau recht hatte, war er zu geil, um ihr auf ewig fernzubleiben. Mit den Jahren hatte ich erkannt, daß es besser ist, die Dinge aufzurühren, als es nicht zu tun. Wenn die Dinge in Bewegung kamen, erreichte ich mehr. Oder es schien mir so.
3
Als sie herauskam, verpaßte ich sie beinahe. Ich hatte die Haustür im Auge behalten und sah gerade noch, wie sie in einem schwarzen Buick Regal hinter dem Gebäude hervorkurvte. Ich ordnete mich, durch einen Wagen getrennt, hinter ihr ein, als sie auf Route 9 schwenkte und in westlicher Richtung fuhr. Sie hatte keinen Grund, nach Verfolgern Ausschau zu halten, und ich hatte keinen Grund, raffiniert vorzugehen. Ich blieb konstant einen oder zwei Wagen hinter ihr, bis zur 128 Nord und von dort weiter über Route 93, bis wir zur Route 125 in Andover kamen. Die 125 war schwieriger. Sie verlief durch den Harold Parker State Forest und war nahezu verlassen. Wenn ich hier zu dicht folgte, fiel es ihr vielleicht doch auf. Ich ließ mich weit zurückhängen und hätte sie um ein Haar wieder verpaßt, als sie kurz vor Route 114 abbog und in die Chestnut Street in Andover fuhr. Die rote Ampel war meine Rettung. Der Wagen, der vor ihr gewesen war, hatte an der Ampel gehalten, aber sie war nicht da. Sie mußte unmittelbar davor links abgebogen sein. Ich riß den MG herum und beschleunigte auf der Chestnut Street. Es war ein enger, gewundener Abschnitt der Straße, und der MG machte viel mehr Tempo als der Buick. Bald sah ich sie dann auch, ungefähr zweihundert Meter vor mir. Ich verlangsamte und ließ sie wieder vorziehen. Nach etwa einer Meile hielt sie auf der rechten Straßenseite. Ich bog einen Block hinter ihr rechts ein und hielt außer Sicht. Ich stieg aus und ging um die Ecke. Ihr Wagen war noch dort; Elaine verschwand rechts in einem großen weißen Haus.
Ich ging hin. Es war ein Zweifamilienhaus, Parterre und erster Stock. Die Haustür stand offen, dahinter kamen zwei weitere Türen. Die rechte führte offensichtlich zu der unteren Wohnung, die, vor der ich stand, nach oben. Ich horchte an der Tür zur Parterrewohnung. Ich konnte einen Fernseher und das Geschrei eines Babys hören. Das war wohl kaum Giacomin. Falls sie Giacomin besuchte. Genausogut konnte sie hier sein, um mit einer alten Tante Malefiz zu spielen. Ich probierte den Knauf an der Tür nach oben. Er drehte sich, aber die Tür ging nicht auf. Über dem Knauf war die runde Fassung eines Schnappschlosses. Sie waren leicht, wenn der Türpfosten nicht zu dicht abschloß. Ich holte einen dünnen Plastikkeil aus meiner Jackentasche und versuchte es. Der Türpfosten war nicht dicht. Ich stieß den Schnapper zurück und öffnete die Tür. Die Treppe führte geradeaus hoch zu einem Absatz, dann in einem Bogen nach rechts. Ich ging hinauf. Oben war noch eine Tür. Ich horchte daran. Außer einem Radio konnte ich gedämpfte Unterhaltung hören. Ich legte meine Hand auf den Knauf und drehte ihn sachte. Die Tür war nicht verschlossen. Ich öffnete sie leise und trat in einen großen Flur. Geradeaus war ein Eßzimmer. Rechts von mir ein Wohnzimmer, durch einen Türbogen. In dem Wohnzimmer saß, vornübergebeugt in einem roten Plüschsessel, Elaine Brooks und sprach mit einem großen Mann mit langer Nase und kleinen Augen und hängendem Schnurrbart. Elementar, mein lieber Watson, elementar. Sie konnte mich nicht sehen, da sie mir den Rücken zukehrte. Aber er sah mich. Er stand da mit einem Glas in der Hand, während sie zu ihm sprach, und als ich die Tür öffnete, schauten wir uns direkt an. Ich hatte mir nie überlegt, wie man einer solchen Situation begegnet – sollte ich heftig »Aha!« sagen oder einfach vorwurfsvoll starren? Er war schneller als ich. Er wußte genau die richtigen Worte.
Er sagte: »Was, zum Teufel, wollen Sie?« »Perfekt«, sagte ich. »So muß es heißen.« Elaine Brooks drehte sich um und sah mich an. Ihre Augen weiteten sich. »Das ist er, Mel«, sagte sie. »Das ist der Bursche, der mir das Päckchen von dir gebracht hat.« Giacomin trug ein goldenes Ban-Lon-Rollkragenhemd und eine grüne Polyesterhose, die einen grünen Knopfverschluß am Bund und keine Gürtelschlaufen hatte. Am kleinen Finger seiner rechten Hand steckte ein Silberring in der Form einer Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Am kleinen Finger der linken Hand steckte ein Silberring mit eingefaßtem Amethyst. Das Ban-Lon-Hemd schmeichelte seiner Figur nicht. Er war fett um die Mitte herum. Er sagte: »Ich habe Sie etwas gefragt. Ich möchte eine Antwort, und zwar gleich.« Ich sagte: »Sie sollten nicht so ein Ban-Lon-Hemd tragen, wenn Sie Leute einschüchtern wollen. Es haut nicht hin. Aber Cary Grant würde in Ban-Lon auch nicht gut aussehen, wissen Sie.« »Wozu haben Sie ihr das Geschenk gebracht? Wie kommen Sie dazu, in mein Haus einzudringen?« Ich bemerkte, daß er seinen Bauch etwas eingezogen hatte, aber viel ist bei Bierspeck nicht zu wollen. Ich sagte: »Mein Name ist Spenser. Ich weiß, es klingt abgedroschen, aber ich bin Privatdetektiv. Ihre Frau hat mich beauftragt, ihren Sohn zu suchen.« »Meine Exfrau«, sagte er. »Hat sie Ihnen schon angeboten, mit Ihnen zu pennen?« »Nein. Ich war überrascht. Die meisten Frauen zögern da nicht.« Ich blickte zu Elaine Brooks. »Ob man mir langsam meine Jahre ansieht, was meinen Sie? Ich bin heute schon zweimal abgeblitzt.«
Giacomin sagte: »Hören Sie, Jack, mir reicht’s mit Ihnen. Raus hier.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich muß bleiben und mich erst ein bißchen über Ihren Sohn unterhalten. Fangen wir noch mal neu an. Tun wir, als wäre ich nicht hier eingedrungen, als hätten Sie mich nicht angeschnauzt. Und auch, als hätte ich nicht herumgewitzelt. Es ist eine schlechte Angewohnheit, aber manchmal kann ich nicht widerstehen.« »Der Junge ist nicht hier. Jetzt sehen Sie zu, daß Sie verschwinden, sonst werfe ich Sie eigenhändig die Treppe runter.« »Ich sagte Ihnen doch, wir müssen miteinander reden. Ich bin sehr hartnäckig. Meinen Sex-Appeal mag ich verloren haben, aber stur bin ich immer noch. Ich finde den Jungen, und ich bin ziemlich sicher, daß Sie mir dabei helfen können.« Giacomin sah mich an. Er war ein großer Bursche, und er hatte Football gespielt, und wahrscheinlich war er rauhen Umgang gewohnt. Aber wahrscheinlich wußte er auch etwas über die Kraftreserven aus seiner alten Footballzeit, und ich glaube, ihm kam der Verdacht, daß er mich nicht die Treppe runterwerfen könnte. »Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte Giacomin. »Machen Sie sich überhaupt Gedanken darüber, daß seine Mutter es auch nicht weiß?« »Hat sie Ihnen das gesagt?« »Nicht direkt. Sie sagte mir, er wäre bei Ihnen.« »Aber ich habe Ihnen gesagt, daß er nicht hier ist. Also gehen Sie jetzt, oder muß ich die Polizei rufen?« »Sie müssen die Polizei rufen«, sagte ich. »Glauben Sie, ich bring das nicht?« »Ich glaube, Sie bringen das nicht«, sagte ich. »Meinen Sie, Sie könnten mich davon abhalten?«
»Das ist nicht nötig. Ich will es auch nicht. Ich treffe mich gern mit Polizisten. Wenn man brav ist, lassen sie einen manchmal mit ihren Handschellen spielen.« Er sah mich an. Elaine Brooks sah mich an. Wäre ein Spiegel dagewesen, hätte ich mich auch angesehen. Aber da war keiner. Also sah ich sie an. In der Stille hörte ich einen Fernseher laufen. Es schien nicht von unten zu kommen. »Schauen Sie, Jack, Sie gehen mir ziemlich auf die Nerven«, sagte Giacomin. »Was wollen Sie eigentlich?« »Ich will Ihren Sohn wieder zu seiner Mutter bringen. Das sagte ich Ihnen bereits.« »Und ich sagte Ihnen, er ist nicht hier.« »Vielleicht sollte ich mich mal umsehen und mich davon überzeugen.« »Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?« »Einen Durchsuchungsbefehl? Sie müssen aufhören, Starsky und Hutch anzusehen«, sagte ich. »Ich bin kein Bulle. Ich bekomme keine Durchsuchungsbefehle.« »Sie können nicht einfach hier hereinschneien und mein Haus durchsuchen.« »Warum nicht?« Wir sahen uns noch etwas länger an. Ich war ziemlich sicher, daß der Junge dort war. Weshalb hätten sie sonst nicht die Polizei rufen sollen? Ich brauchte nur dazubleiben. Sie würden nachgeben. Etwas anderes würde ihnen nicht einfallen. Giacomin hörte gerade so lange auf, mich anzusehen, daß er seine Freundin ansehen konnte. Sie hatte nichts zu bieten. Er sah wieder mich an. »Na schön«, sagte er. »Ich hab’ genug. Entweder Sie gehen jetzt, oder ich schmeiße Sie hochkant raus.« »Tun Sie das nicht«, sagte ich. »Sie sind nicht mehr in Form. Ich würde Ihnen weh tun.«
Giacomin blickte mich an und sah weg. Ich wußte, er würde es bleiben lassen. »Zum Teufel auch«, sagte er mit einer kurzen wegwerfenden Handbewegung. »Das ist keine Schlägerei wert. Nehmen Sie ihn mit. Er ist hinten im Flur.« Giacomin deutete mit dem Kopf. Er sah weder mich noch Elaine Brooks an. Aber der Junge war nicht hinten im Flur. Er war direkt um die Ecke im Eßzimmer. Jetzt kam er durch den Türbogen in Sicht. »Hast ja toll um mich gekämpft, Papachen«, sagte er. Es war ein kleiner dünner Junge. Seine Stimme klang weinerlich. Er trug ein kurzärmliges weißes Hemd mit Längsstreifen, das um den Nabel offenstand, kastanienbraune Cordhosen und Top-Siders, von denen nur noch einer den ledernen Schnürriemen hatte. Giacomin sagte: »Vergiß nicht, mit wem du sprichst, Kleiner.« Der Junge grinste ohne Humor. »Ich weiß. Ich weiß schon, mit wem ich spreche, Paps.« Giacomin wandte sich von ihm ab und schwieg. Ich sagte: »Mein Name ist Spenser. Deine Mutter schickt mich, damit ich dich zu ihr zurückbringe.« Der Junge zuckte ausdrucksvoll mit den Schultern. Ich bemerkte, daß die Hose ihm zu groß war. Sie hing im Schritt durch. »Möchtest du zurück?« sagte ich. Er zuckte wieder die Schultern. »Würdest du lieber hierbleiben?« »Bei ihm?« Die weinerliche Stimme des Jungen war voller Abneigung. »Bei ihm«, sagte ich. »Oder wäre es dir lieber, bei deiner Mutter zu wohnen?« »Ist mir egal.«
»Und Ihnen?« fragte ich Giacomin. »Auch egal?« »Das Biest hat doch sonst alles gekriegt«, sagte er. »Sie kann ihn auch noch haben. Vorläufig.« Ich sagte: »Okay, Paul. Hast du Sachen, die du packen mußt?« Er zuckte die Schultern. Die Allzweckgeste. Vielleicht sollte ich sie selber mehr üben. »Er hat nichts zu packen«, sagte Giacomin. »Alles, was hier ist, gehört mir. Sie kriegt nichts davon.« »Raffiniert«, sagte ich. »Gefällt mir, wenn ein Mann stilvoll aus einer Ehe aussteigt.« »Was soll das denn heißen?« »Würden Sie nicht verstehn«, sagte ich. »Hat der Junge einen Mantel? Es hat minus sieben Grad draußen. Ich sorge dafür, daß sie ihn zurückschickt, wenn Sie wollen.« Giacomin sagte zu seinem Sohn: »Hol deinen Mantel.« Der Junge ging zur Garderobe im Flur und holte eine blaue Matrosenjacke heraus. Sie war zerknittert, als hätte sie zusammengeknüllt auf dem Boden gelegen anstatt zu hängen. Er zog sie an, knöpfte sie aber nicht zu. Ich öffnete die Tür zur Treppe, und er ging hinaus und die Stufen hinunter. Ich sah Giacomin an. »Nur damit Sie’s wissen, Jack«, sagte er. »Sie haben sich damit eine Menge Ärger eingehandelt.« Ich sagte: »Spenser ist mein Name, mit S wie der Dichter. Ich stehe im Bostoner Telefonbuch.« Ich trat durch die Tür und zog sie zu. Dann öffnete ich sie noch mal und steckte meinen Kopf in den Flur. »Unter Zäh«, sagte ich. Und schloß die Tür und ging hinaus.
4
Der Junge saß neben mir auf dem Beifahrersitz und starrte aus dem Fenster. Seine Hände zappelten auf dem Schoß. Seine Fingernägel waren abgekaut. Er hatte Niednägel. Ich bog am Fuß der Chestnut Street rechts ab und fuhr südwärts, an der Akademie vorbei. Ich sagte: »Bei wem würdest du lieber wohnen, bei deiner Mutter oder bei deinem Vater?« Er zuckte die Schultern. »Heißt das, du weißt es nicht, oder es ist dir egal?« »Ich weiß es nicht.« »Heißt das, du weißt die Antwort auf meine Frage nicht, oder du weißt nicht, bei wem du lieber wohnen würdest?« Der Junge zuckte wieder die Schultern. »Kann ich das Radio anstellen?« sagte er. Ich sagte: »Nein. Wir unterhalten uns.« Er zuckte die Schultern. »Möchtest du lieber adoptiert werden?« Diesmal zuckte er die Schultern nicht. »Ein Mündel sein, unter Amtsvormundschaft?« Nichts. »Einer Bande von Taschendieben beitreten und in den Slums von London hausen?« Er sah mich an, als wäre ich verrückt. »Ausreißen und zum Zirkus gehen? Ein Floß bauen und den Mississippi hinuntertreiben? Als blinder Passagier auf einem Piratenschiff mitfahren?« »Sie sind nicht sehr komisch«, sagte er.
»Das höre ich von vielen Leuten«, sagte ich. »Bei wem würdest du lieber wohnen, deiner Mutter oder deinem Vater?« »Was wollen Sie machen, wenn ich’s Ihnen nicht sage?« fragte er. »Herumfahren und komisch zu dir sein, bis du um Gnade winselst.« Er sagte nichts. Aber er zuckte auch nicht die Schultern. Und er schaute mich an. Kurz. »Möchtest du, daß ich umkehre und dich wieder zu deinem Vater bringe?« »Wo ist da schon der Unterschied?« sagte der Junge. »Was kümmert Sie das? Es geht Sie doch nichts an. Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?« »Weil du im Moment in meiner Obhut bist, und ich versuche, mir darüber klarzuwerden, was am besten für dich ist.« »Ich denke, meine Mutter hat Sie engagiert. Warum tun Sie denn nicht, was sie Ihnen gesagt hat?« »Vielleicht bin ich mit dem nicht einverstanden, was sie von mir verlangt.« »Aber sie hat Sie doch engagiert«, sagte er. »Sie hat mir hundert Dollar gegeben, einen Tageslohn. Wenn du nicht willst, daß ich dich zu ihr bringe, schaffe ich dich wieder zu deinem Vater und gebe ihr den Hunderter zurück.« »Wetten, daß nicht«, sagte er. Er starrte dabei aus dem Fenster. »Überzeug mich davon, daß es besser wäre, du wärst bei ihm, dann tu’ ich es.« »Okay, ich wäre lieber bei ihm«, sagte der Junge. Sein Gesicht war noch dem Fenster zugekehrt. »Warum?« fragte ich. »Da. Ich hab’ ja gewußt, Sie würden’s nicht tun.« Er drehte sich um und sah mich an, als hätte er etwas gewonnen.
»Davon war nicht die Rede«, sagte ich. »Ich habe dich nach Gründen gefragt. Es ist nämlich wichtig, wonach man sich ein Elternteil aussucht. Das machst du mir nicht, um eine Wette zu gewinnen.« Er starrte wieder aus dem Fenster. Wir waren in North Reading und fuhren weiter nach Süden. »Sieh mal, Paul, mir geht’s darum, daß du entscheidest, was du am liebsten tun möchtest. Sind die Fragen zu schwer für dich? Willst du aufpassen, wie ich dabei die Lippen bewege?« Immer noch mit dem Gesicht zum Fenster sagte er: »Mir ist es egal, bei wem ich wohne. Sie sind beide blöd. Es kommt nicht darauf an. Sie sind beide gräßlich. Ich hasse sie.« Die quengelige Stimme war ein bißchen zittrig. Als könnte er anfangen zu heulen. »Mistkerl«, sagte ich. »Daran hatte ich nicht gedacht.« Wieder sah er mich so schräg triumphierend an. »Na, und was machen Sie jetzt?« Ich hatte Lust, die Schultern zu zucken und aus dem Fenster zu sehen. Ich sagte: »Wahrscheinlich bringe ich dich zu deiner Mutter zurück und behalte die hundert Dollar.« »Das habe ich mir gedacht«, sagte der Junge. »Soll ich lieber etwas anderes tun?« Er zuckte die Schultern. Wir waren über den Reading Square und fast auf der 128. »Kann ich jetzt das Radio anstellen?« fragte er. »Nein«, sagte ich. Ich wußte, daß das kleinlich war, aber der Junge ärgerte mich. In seiner quengeligen, sturen Verzweiflung raubte er mir den letzten Nerv. Immer herzlich bleiben. Böse Kinder gibt es gar nicht. Der Junge grinste fast. »Möchtest du wissen, warum ich dich zu deiner Mutter bringe?« sagte ich. »Um die hundert Dollar zu kriegen.«
»Klar. Aber es sind nicht die hundert Dollar allein. Es ist auch eine Art, sich zu orientieren.« Der Junge zuckte die Schultern. Machte er das oft genug, würde ich anhalten und seinen Kopf aufs Pflaster knallen. »Wenn alle Möglichkeiten, die man hat, mies sind«, sagte ich, »dann versucht man, die am wenigsten miese zu wählen. Anscheinend bist du mit deiner Mutter wie mit deinem Vater gleich schlecht dran. Es scheint dir egal zu sein, wo du unglücklich bist. Wenn ich dich zurück zu deinem Vater bringe, bist du unglücklich und ich bekomme nichts. Wenn ich dich wieder zu deiner Mutter bringe, bist du unglücklich und ich bekomme hundert Dollar. Also bringe ich dich zu deiner Mutter. Verstehst du?« »Klar, Sie wollen den Hunderter.« »Bei einem Cent wäre es auch nicht anders. Es ist eine Orientierungshilfe. Es ist eine Methode, sich von den Umständen nicht herumstoßen zu lassen.« »Und Mami gibt Ihnen Geld«, sagte er. »Vielleicht dürfen Sie sie auch ficken.« Er beobachtete mich genau, um zu sehen, wie schockiert ich sein würde. »Dein Vater hat das auch schon angedeutet«, sagte ich. »Deine Mama ist auf Sex aus, ja?« Der Junge sagte: »Weiß nich.« »Oder meinst du, ich bin so unwiderstehlich, daß kein Weg daran vorbeiführt?« Der Junge zuckte die Schultern. Mir war, als ob ich das noch genau zweimal vertragen könnte, bevor ich anhielt. »Ich will nicht darüber reden«, sagte er. »Dann hättest du es nicht aufbringen sollen.« Er war still. Ich bog von Route 28 ab und fuhr auf die 128 Süd in Richtung Lexington.
»Außerdem finde ich, es ist schlechtes Benehmen, so vor einem Fremden von deiner Mutter zu sprechen.« »Wieso?« »Es gehört sich nicht«, sagte ich. Der Junge zuckte die Schultern und starrte zum Fenster hinaus. Er hatte noch ein Schulterzucken gut. »Was hätten Sie gemacht, wenn mein Vater eine Schlägerei mit Ihnen angefangen hätte?« »Ich hätte ihn bezwungen.« »Und wie?« »Kommt darauf an, wie zäh er ist.« »Er war mal Footballspieler und hebt immer noch Gewichte im Sportzentrum.« Ich zuckte die Schultern. Es war ansteckend. »Meinen Sie, Sie könnten ihn verprügeln?« sagte er. »Schon«, sagte ich. »Er ist zwar ein großer Kerl und wahrscheinlich auch stark, aber ich verdiene mit so was mein Geld. Und ich bin besser in Form.« »Tolle Sache«, sagte er. »Ich hab’s nicht aufgebracht.« »Muskeln interessieren mich nicht.« »Na schön.« »Sie halten sich wohl für was Großes mit Ihren Muskeln?« sagte er. »Ich halte sie bei meiner Arbeit für nützlich«, sagte ich. »Also, ich finde sie fies.« Ich nahm kurz die Hände vom Steuer und drehte die Handflächen nach oben. »Wieso sind Sie Detektiv geworden?« fragte er. »Wie der eine Mann sagte: Weil ich nicht singen und tanzen kann.« »Für mich ist das ein furchtbar proletenhafter Beruf.«
Ich drehte nochmals die Handteller nach oben. Wir fuhren am Burlington Mall vorüber. »Welche Ausfahrt muß ich nehmen?« »Die Vier und die Zweifünfundzwanzig Richtung Bedford«, sagte er. »Was finden Sie denn an so ‘ner proletenhaften Arbeit?« »Sie erlaubt mir, ein ungebundenes Leben zu führen«, sagte ich. »Meinst du auch bestimmt Richtung Bedford?« »Ja. Ich zeige es Ihnen.« Und das tat er. Wir nahmen die Ausfahrt Bedford, bogen rechts ab, wieder rechts, und kamen über eine Überführung nach Lexington. Die Emerson Road lag nicht weit von der Landstraße; eine Gruppe gleichaltriger Häuser mit sehr viel Holz und Glas und wenig Stein und Ziegeln. Sie war neu, fügte sich aber gut in das Stadtbild. Ich parkte in der Einfahrt, und wir stiegen aus. Der Wind hatte jetzt, am späten Nachmittag, zugenommen. Wir kämpften uns gegen ihn durch zur Hintertür. Der Junge stieß sie auf und trat ins Haus, ohne anzuklopfen oder sich sonstwie anzukündigen.
5
Ich klingelte einmal lang und folgte ihm hinein. Auf der linken Seite waren zwei weiße Türen mit Einzelfüllung und rechts eine kurze Treppe. An der Wand vor der Treppe hing ein großer, chromgerahmter Druck von Mondrian. Als ich hinter dem Jungen die Stufen hinaufging, kam seine Mutter aus dem Wohnzimmer. Der Junge sagte: »Freu dich, ich bin wieder daheim.« Patty Giacomin sagte: »Oh, Paul, ich hatte dich so bald nicht erwartet.« Sie trug rosa Seide – spitz zulaufende Hosen und ein weites Oberteil. Das Oberteil fiel über die Hose und wurde um die Taille von einem goldenen Gürtel gehalten. Ich stand zwei Stufen hinter Paul. Einen Augenblick war es still. Dann sagte Patty Giacomin: »Nun, kommen Sie rauf, Mr. Spenser. Trinken Sie etwas. Paul, laß Mr. Spenser vorbei.« Ich trat ins Wohnzimmer. Zwei Gläser und eine Karaffe, in der Martini zu sein schien, standen auf dem niedrigen Glastisch vor der Couch. Im Kamin brannte Feuer. Zum Essen gab es Boursinkäse auf einem kleinen Tablett und einen Teller mit Gebäck, das wie Kekse aus Weizenschrot aussah. Und vor der Couch stand, höflich erhoben, der Inbegriff moderner Eleganz. Er hatte wahrscheinlich meine Größe und war schlank wie ein Wiesel. Graues Fischgrätjackett mit ebensolcher Weste, anthrazitfarbene Hosen, schmale rosa Krawatte unter spitzem Kragen und schwarze Schuhe von Gucci. Aus der Brusttasche des Jacketts quoll ein rosa und anthrazit gemustertes Tuch. Seine Haare waren kurz geschnitten, um die Ohren ausrasiert, und er trug einen
kurzgestutzten Kinn- und Schnurrbart. Außerdem hatte er eine Fliegerbrille mit rosa getönten Gläsern in einem sehr dünnen schwarzen Gestell auf, zum Sehen oder zum Gesehenwerden, konnte ich nicht beurteilen. Das Rosa der Krawatte glänzte. Patty Giacomin sagte: »Paul, du kennst Stephen ja. Stephen, das ist Mr. Spenser. Stephen Court.« Stephen streckte seine Hand aus. Sie war manikürt und gebräunt. Zweifellos St. Thomas. Sein Händedruck war fest, aber nicht kraftvoll. »Sehr erfreut«, sagte er. Paul grüßte er nicht, und Paul sah ihn nicht an. Patty sagte: »Trinken Sie ein Glas mit uns, Mr. Spenser?« »Sicher«, sagte ich. »Haben Sie Bier?« »Ach herrje, das weiß ich gar nicht. Paul, sieh doch mal im Kühlschrank nach, ob Bier da ist.« Paul hatte seinen Mantel nicht ausgezogen. Er ging zu dem Fernseher am Bücherschrank, schaltete ihn an, ohne einen Kanal zu wählen, und warf sich auf einen schwarzen Lehnstuhl von Naugahyde, während der Apparat warmlief. Eine Wiederholung aus der Serie Die Brady-Bande setzte ein. Sie war laut. Patty Giacomin sagte: »Paul, um Himmels willen«, und drehte den Apparat leiser. Unterdessen ging ich rechts durch in die Küche, wo ich im Kühlschrank eine Dose Schlitz fand. Es waren noch zwei drin, und kaum etwas anderes. Ich ging mit meinem Bier zurück ins Wohnzimmer. Stephen hatte sich gesetzt, die Beine so gelagert, daß die Bügelfalten seiner Hose keinen Schaden litten, und nippte an seinem Martini. Patty stand neben ihm, ihr Glas in der Hand. »Hatten Sie viel Mühe, Paul zu finden, Mr. Spenser?« »Nein«, sagte ich. »Es war leicht.« »Hatten Sie mit seinem Vater Schwierigkeiten?« »Nein.« »Nehmen Sie doch einen Kräcker und Käse«, sagte sie.
Ich bediente mich. Boursin und Kräcker ist zwar nicht mein Leibgericht, aber seit dem Frühstück war viel Zeit vergangen. Ich spülte ihn mit Bier herunter. Bis auf die jetzt leisere BradyBande war es still. Stephen nahm einen kleinen Schluck von seinem Martini, lehnte sich leicht zurück, bürstete ein Fusselchen unbestimmter Art von seinem linken Revers und sagte: »Sagen Sie, Mr. Spenser, was machen Sie eigentlich?« Ich hörte einen mißfälligen Unterton, aber wahrscheinlich bin ich zu empfindlich. »Ich bin Diskjockey bei Regine«, sagte ich. »Hab’ ich Sie da nicht schon gesehen?« Patty Giacomin ergriff schnell das Wort. »Mr. Spenser«, sagte sie, »dürfte ich Sie um einen wirklich großen Gefallen bitten?« Ich nickte. »Ich, also, ich weiß, es war schon so viel, daß Sie mir Paul zurückgebracht haben, aber, na ja, es ging eben viel schneller, als ich dachte, und Stephen und ich haben einen Tisch in einem Restaurant bestellt… Könnten Sie mit Paul vielleicht zu McDonald’s oder sonst irgendwohin gehen? Ich bezahle selbstverständlich.« Ich blickte zu Paul. Er saß immer noch in seinem Mantel da und starrte auf Die Brady-Bande. Stephen sagte: »Es gibt hier ein recht anständiges Chinarestaurant, Sezuan- und Mandarinküche.« Patty Giacomin hatte ihre Handtasche vom Kaminsims genommen und stöberte darin herum. »Ja«, sagte sie, »das Yangtze River. Paul kann es Ihnen zeigen. Das ist eine gute Idee. Paul ißt da immer gern.« Sie holte einen Zwanziger aus der Handtasche und reichte ihn mir. »Hier. Das müßte reichen. Es ist nicht sehr teuer.«
Ich nahm den Zwanziger nicht. Ich sagte zu Paul: »Hast du Lust, hinzugehen?« und dann zuckte ich zur gleichen Zeit die Schultern wie er. »Was soll das denn?« sagte er. »Ich übe mich im Timing. Dein Schulterzucken ist so ausdrucksstark, daß ich versuche, mir genauso eins zuzulegen. Möchtest du was essen gehen?« Er wollte die Schultern zucken, bremste sich und sagte: »Ist mir egal.« »Gut, aber mir nicht«, sagte ich. »Komm. Ich bin am Verhungern.« Patty Giacomin hielt mir immer noch den Zwanziger hin. Ich schüttelte den Kopf. »Sie baten mich um einen Gefallen, nicht um eine Dienstleistung. Geht auf meine Rechnung.« »Aber Spenser«, sagte sie. »Seien Sie doch nicht albern.« »Komm, Junge«, sagte ich zu Paul. »Gehen wir. Ich werde dich mit meiner Kenntnis des Orients berauschen.« Der Junge bewegte sich auf dem Stuhl. »Na los«, sagte ich. »Ich hab’ Hunger wie ein Löwe.« Er stand auf. »Wann kommst du spätestens nach Hause?« fragte er seine Mutter. »Ich bin vor zwölf wieder da«, sagte sie. Stephen sagte: »Nett, Sie kennengelernt zu haben, Spenser. War schön, dich zu sehen, Paul.« »Gleichfalls«, versicherte ich. Wir gingen hinaus. Als wir wieder im Wagen saßen, sagte Paul: »Warum tun Sie das?« »Was, dich zum Abendessen mitnehmen?« »Ja.« »Du hast mir leid getan«, sagte ich. »Wieso?« »Weil du weggewesen warst und sich über deine Rückkehr anscheinend niemand gefreut hat.«
»Ist mir egal.« »Das ist wahrscheinlich auch am klügsten so«, sagte ich. »Wenn du es fertigbringst.« Ich bog von der Emerson Road ab. »Wo lang?« fragte ich. »Links«, sagte er. »Ich glaube, ich brächte das nicht fertig.« »Was?« »Es mir egal sein zu lassen. Ich glaube, wenn ich am ersten Abend daheim weggeschickt würde, um mit einem Fremden zu essen, wäre ich ziemlich traurig.« »Aber ich bin’s nicht.« »Gut«, sagte ich. »Willst du bei diesem Chinesen essen?« »Ist mir egal.« Wir kamen zu einer Kreuzung. »Wo lang?« fragte ich. »Links«, sagte er. »Ist das der Weg zu dem Chinarestaurant?« »Ja.« »Gut, dann essen wir da.« Wir fuhren durch Lexington, durch dunkle, meist verlassene Straßen. Es war ein kalter Abend. Die Leute blieben drinnen. Lexington sieht aus, wie man es sich vorstellt. Eine Menge weißer Häuser im Kolonialstil, viele davon echt. Eine Menge grüne Fensterläden. Eine Menge Butzenscheiben und kleine Fensterchen. Wir kamen ins Stadtzentrum, den Park zu unserer Rechten. Das Denkmal des Unabhängigkeitssoldaten regungslos in der Kälte. Niemand knipste ein Bild von ihm. »Es ist da drüben«, sagte Paul, »um den Platz rum.« Im Restaurant fragte er: »Wieso wollten Sie nicht, daß sie es bezahlt?« »Es schien mir nicht richtig«, sagte ich. »Aber wieso nicht? Warum sollen Sie denn bezahlen? Sie hat massenhaft Geld.«
»Wenn wir vorsichtig bestellen«, sagte ich, »kann ich mir das hier schon leisten.« Der Kellner kam. Ich bestellte ein Beck’s Bier für mich und eine Coca für Paul. Wir schauten uns die Karte an. »Was kann ich nehmen?« fragte Paul. »Alles, was du willst«, sagte ich. »Ich bin dick im Geschäft.« Wir sahen uns die Karte näher an. Der Kellner brachte das Bier und die Coca. Er hielt Papier und Bleistift bereit. »Möchten Sie bestellen?« »Nein«, sagte ich. »Wir sind noch nicht fertig.« »Okay.« Er ließ uns allein. Paul sagte: »Ich weiß nicht, was ich nehmen soll.« Ich sagte: »Was schmeckt dir denn?« Er sagte: »Ich weiß nicht.« »Ah ja.« Ich nickte. »Irgendwie hatte ich so eine Ahnung, daß du das sagen würdest.« Er starrte auf die Karte. »Wie wär’s, wenn ich für uns beide bestelle?« sagte ich. »Und wenn Sie etwas bestellen, was ich nicht mag?« »Dann ißt du es eben nicht.« »Aber ich hab’ Hunger.« »Dann entscheide dich für etwas.« Er starrte noch ein bißchen auf die Speisekarte. Der Kellner kam wieder angeschlendert. »Möchten Sie bestellen?« Ich sagte: »Ja. Wir nehmen zweimal Peking-Ravioli, Ente in Pflaumensoße, das Mu-Schu-Fleisch und zwei Schalen weißen Reis. Und ich bekomme noch ein Bier dazu und er noch eine Coca.« Der Kellner sagte: »Okay.« Er nahm die Speisekarten und ging. Paul sagte: »Ich weiß nicht, ob das Zeug mir schmeckt.« »Das werden wir bald sehen«, sagte ich. »Schicken Sie meiner Mutter eine Rechnung?«
»Für das Essen?« »Ja.« »Nein.« »Ich versteh immer noch nicht, wieso Sie für mein Abendessen bezahlen wollen.« »Bin mir nicht sicher. Es hat mit Schicklichkeit zu tun.« Der Kellner kam und ließ die Ravioli und zwei Flaschen Würzöl auf den Tisch plumpsen. »Was ist denn Schicklichkeit?« fragte Paul. »Das Angemessene. Etwas richtig machen.« Er sah mich ausdruckslos an. »Möchtest du Ravioli?« sagte ich. »Nur eins«, sagte er. »Zum Probieren. Sie sehen mies aus.« »Ich dachte, du ißt gerne hier.« »Das hat meine Mutter nur so gesagt. Ich war noch nie hier.« »Tu ein bißchen von dem Öl drauf«, sagte ich. »Nicht viel. Es ist ziemlich scharf.« Er schnitt seinen Ravioli durch und aß ihn halb. Er sagte zwar nichts, aß die andere Hälfte aber auch. Der Kellner brachte das übrige Essen. Wir aßen jeder vier von den Ravioli. »Das Mu Schu legst du auf diese kleinen Pfannkuchen. So. Schau her. Dann rollst du es so auf. Und ißt es.« »Die Pfannkuchen sehen nicht aus, als ob sie gar sind«, sagte Paul. Ich aß von dem Mu-Schu-Fleisch. Er nahm sich einen Pfannkuchen und aß, wie ich es ihm gezeigt hatte. Ich sagte: »Willst du noch eine Coca?« Er schüttelte den Kopf. Ich bestellte noch ein Bier. »Trinken Sie viel?« »Nein«, sagte ich. »Nicht so viel, wie ich möchte.« Er spießte mit der Gabel ein Stück Ente auf und wollte es auf seinem Teller zerschneiden.
»Das wird mit den Fingern gegessen«, sagte ich. »Dazu brauchst du Messer und Gabel nicht.« Er blieb bei Messer und Gabel. Er schwieg. Ich schwieg. Um Viertel nach sieben waren wir mit Essen fertig. Um halb acht kamen wir bei ihm zu Hause an. Ich parkte und stieg mit ihm aus dem Wagen. »Ich hab’ keine Angst, alleine reinzugehen«, sagte er. »Hab’ ich auch nicht«, sagte ich. »Aber es macht nie Spaß, in ein leeres Haus zu kommen. Ich geh mit dir rein.« »Das brauchen Sie nicht«, sagte er. »Ich bin viel alleine.« »Ich auch«, sagte ich. Wir gingen zusammen zum Haus.
6
Es war Freitag abend, und Susan Silverman und ich waren im Garden und sahen den Celtics und den Phoenix Suns beim Basketballspiel zu. Ich aß Erdnüsse, trank Bier und erklärte Susan die Feinheiten des Spiels. Ich unterhielt mich ganz gut. Sie war gelangweilt. »Dafür mußt du mich entschädigen«, sagte sie. Sie hatte an dem Pappbecher mit Bier in ihrer Hand kaum genippt. Auf dem Rand war ein Halbmond aus Lippenstift. »Champagner in Pappbechern gibt es hier nicht«, sagte ich. »Auch keinen Graves?« »Willst du, daß ich mir Prügel einfange? Soll ich raufgehen und ein Fläschchen süffigen weißen Bordeaux verlangen?« »Warum jubeln die alle?« sagte sie. »Westphal hat den Ball gerade rückwärts über den Kopf ins Netz gebracht. Hast du’s nicht gesehen?« »Er ist nicht so gut wie die Celtics.« »Nein, aber die Fans geben Szenenapplaus. Außerdem war er’s früher.« »Ich finde das sehr langweilig«, sagte sie. Ich hielt ihr meine Erdnüsse hin. Sie nahm sich zwei. »Nachher darfst du mich küssen«, sagte ich. »Das Spiel gefällt mir schon besser«, meinte sie. Cowens landete einen Weitwurf. »Wie kommt es, daß die meisten Spieler schwarz sind?« fragte Susan. »Es ist ein Spiel für Schwarze«, sagte ich. »Hawk meint, es sei ererbt. Im Dschungel hätte es lauter Schulhöfe gegeben.«
Sie lächelte und nippte an dem Bier. Sie schnitt ein Gesicht. »Wie kannst du bloß so viel von dem Zeug trinken?« »Übung«, sagte ich. »Jahrelange Übung.« Walter Davis landete einen hohen Ball. »Was wolltest du vorhin von dem Jungen erzählen, den du am Mittwoch besucht hast. Wie hieß der?« »Paul Giacomin«, sagte ich. »Ja«, meinte Susan. »Du wolltest doch über ihn reden.« »Aber nicht, während ich mir das Spiel ansehe.« »Kannst du nicht gleichzeitig zuschauen und reden? Wenn du’s nicht kannst, dann kauf mir was zu lesen.« Ich schälte eine Erdnuß. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Er geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Er tut mir leid.« »Welche Überraschung.« »Daß er mir leid tut?« »Dir würde sogar der ›Große Böse Wolf‹ leid tun«, sagte Susan. Westphal hob mit links einen Ball rein. Die Celtics verloren an Boden. »Der Junge ist völlig verwahrlost«, sagte ich. »Er ist mager. Er hat anscheinend überhaupt kein Entscheidungsvermögen. Seine einzige feste Überzeugung ist, daß seine Eltern beide blöd sind.« »Die Meinung ist für einen Fünfzehnjährigen nicht grad so ungewöhnlich«, sagte Susan. Sie nahm sich noch eine Erdnuß. »Schon, aber in diesem Fall könnte der Junge recht haben.« »Das weißt du ja nun nicht. Du kennst sie nicht lange genug, um das wirklich zu beurteilen.« Die Suns holten sich acht Punkte nacheinander. Die Celtics unterbrachen. »Besser als du«, sagte ich. »Ich war mit dem Jungen zusammen. Seine Kleidung ist nicht richtig und sie paßt nicht.
In einem Restaurant ist er hilflos. Keiner hat ihm je was beigebracht.« »Also, wie wichtig ist es denn, ob einer weiß, wie man sich im Restaurant benimmt?« sagte Susan. »An sich ist es nicht wichtig«, sagte ich. »Es ist nur ein Beispiel, verstehst du? Ich meine, niemand hat sich für ihn mal Zeit genommen. Niemand hat ihm irgend etwas erklärt, selbst die einfachsten Dinge nicht, wie anziehen und essen gehen. Er ist vernachlässigt worden. Kein Mensch hat ihn erzogen.« Die Celtics brachten den Ball vom Innenkreis ins Spiel. Phoenix fing ihn und erzielte einen Korb. Ich schüttelte mit dem Kopf. Vielleicht, wenn Cousy wieder aus dem Ruhestand käme. Susan sagte: »Ich kenne zwar den Jungen nicht, aber ich kenne sehr viele Jugendliche. Das ist schließlich mein Fach. Du würdest staunen, wie sich Kinder in dem Alter gegen Belehrung durch die Eltern sträuben. Sie durchlaufen die ödipale Phase, was sich unter anderem oft darin äußert, daß sie aussehen und sich aufführen, als hätten sie keinen, der sich um sie kümmert, auch wenn sie jemand haben. Es ist eine Art Rebellion.« Die Celtics vergaben den Ball. Die Suns rafften Punkte. Ich sagte: »Kannst du dir etwas unter einer Abdankung vorstellen?« »Wie bei einem König oder einem Offizier?« »Nein, ich meine das Spiel. Was du hier siehst, ist eine Abdankung«, sagte ich. »Sind die Celtics am Verlieren?« »Ja.« »Möchtest du gehen?« »Nein. Es ist nicht nur, wer gewinnt. Ich sehe gerne zu, wie sie spielen.« Sie sagte: »Hmm.«
Ich holte mir noch eine Tüte Erdnüsse und ein Bier. Fünf Minuten vor Schluß, und das Spiel stand 114 zu 90. Ich blickte zu den Sparren hoch, wo die Namen der alten Spieler hingen. »Das hättest du sehen müssen«, erklärte ich Susan. »Was?« Sie wischte eine Erdnußschale von ihrem Schoß. Sie trug französische Bluejeans, die in schwarzen Stiefeln steckten. »Cousy und Sharman, und Heinsohn und Lostcotoff und Russell. Havlicek, Sanders, Ramsey, Sam Jones und K. C. Jones, Paul Silas und Don Nelson. Und den Krieg, den sie mit den Knicks hatten, mit Al McGuire gegen Cousy. Und Russell gegen Chamberlain. Bill Russell hättest du sehen müssen.« Sie sagte: »Gähn.« Die Ärmel ihres schwarzen Rollkragenpullovers waren halb hochgeschoben, und die Haut ihrer Arme war glatt und weiß im Kontrast. An der goldenen Kette um ihren Hals hing ein kleiner Diamant. Sie hatte ihren Verlobungsring abgelegt, als sie sich scheiden ließ, und den Stein neu fassen lassen. Ihre Haare waren zu einem Strauß sehr zeitgemäßer kleiner Afrolocken frisiert. Ihr Mund war breit, und ihre großen dunklen Augen ließen heimliches Gelächter ahnen. »Andererseits«, sagte ich, »hätte Russell dich sehen sollen.« »Gib mir ‘ne Erdnuß«, sagte sie. Der Endstand war 130 zu 101, und im Garden war es fast leer, als der Summer ertönte. Es war fünf vor halb zehn. Wir zogen unsere Mäntel an und strebten dem Ausgang zu. Es war leicht. Kein Geschiebe, kein Gedränge. Die meisten Leute waren längst gegangen. Genauer gesagt, die meisten waren gar nicht erst gekommen. »Es ist gut, daß Walter Brown das nicht mit anzusehen braucht«, sagte ich. »Zu Russells Zeiten mußte man kämpfen, um hier rein und raus zu kommen.«
»Das war bestimmt aufregend«, sagte Susan. »Schade, daß es mir entgangen ist.« In der Causeway Street, unter der Überführung, war es sehr kalt. Ich sagte: »Hast du noch Lust, zum Market zu gehen? Oder sollen wir nach Hause?« »Es ist kalt«, sagte Susan. »Fahren wir zu mir, und ich koch uns was Gutes.« Sie hatte den Kragen ihrer Waschbärjacke hochgeschlagen, so daß ihr Gesicht darin nur gerade noch zu sehen war. Die Heizung meines MG gewann auf Route 03 die Oberhand, und wir konnten uns aufknöpfen, bevor wir nach Medford kamen. »Die Sache mit dem Jungen ist die«, sagte ich, »er ist wie eine Geisel. Seine Mutter und sein Vater hassen sich und benutzen ihn, um miteinander abzurechnen.« Susan schüttelte den Kopf. »Gott, Spenser, wie alt bist du denn? Natürlich tun sie das. Sogar Eltern, die sich nicht hassen, tun das. Normalerweise überleben es die Kinder.« »Der Junge wird es nicht überstehen. Er ist zu allein.« Susan schwieg. »Er hat keinerlei Stärken«, sagte ich. »Er ist weder klug noch stark noch hübsch, nicht spaßig und nicht zäh. Das einzige, was er hat, ist eine Art bissiger Gemeinheit. Das reicht nicht.« »Und was gedenkst du, deswegen zu unternehmen?« sagte Susan. »Nun, adoptieren werde ich ihn nicht.« »Wie wär’s denn mit einer staatlichen Stelle? Dem Jugendamt zum Beispiel, oder etwas Ähnlichem?« »Die haben schon genügend Ärger damit, ihren Anteil vom Bundesetat herauszuschinden. Ich würd’ sie nicht mit einem Kind belasten wollen.« »Ich kenne Leute, die für den Staat in der Sozialhilfe arbeiten. Einige sind mit großem Ernst dabei.« »Und kompetent?«
»Einige.« »Würdest du den Prozentsatz nennen?« »Von denen, die mit Ernst dabei und kompetent sind?« »Ja.« »Du hast gewonnen«, sagte sie. Wir bogen auf Route 128. »Also was schlägst du vor?« fragte Susan. »Ich schlage vor, wir lassen ihn sausen«, sagte ich. »Mir fällt nichts ein, was man da ändern könnte.« »Aber es bedrückt dich.« »Klar, es bedrückt mich. Was ich wiederum auch gewohnt bin. Die Welt ist voll von Leuten, die ich nicht retten kann. Daran gewöhnt man sich. Ich hab’ mich bei der Polizei daran gewöhnt. Jeder Polizist lernt das. Man muß, sonst ist man selbst auch geliefert.« »Ich weiß«, sagte Susan. »Andererseits sehe ich den Jungen vielleicht noch mal wieder.« »Beruflich?« »Ja. Der alte Herr wird ihn sich wiederholen. Sie wird versuchen, ihn zurückzukriegen. Sie sind zu dumm und zu schäbig, als daß sie das sein ließen. Es würde mich nicht wundern, wenn sie noch mal anriefe.« »Dann wäre es klug von dir, nein zu sagen. Wenn du dich noch mal darauf einläßt, gibt es dir auch kein besseres Gefühl.« »Ich weiß«, sagte ich. Wir waren still. An der Ausfahrt Smithfield Center bog ich von Route 128 ab und fuhr zu Susans Haus. »Ich hab’ eine Flasche neuen Beaujolais«, sagte Susan in der Küche. »Wie wär’s, wenn ich uns ein paar Cheeseburger mache und wir sie essen und dazu den Beaujolais trinken?« »Kannst du mir mein Brötchen rösten?« sagte ich.
»Aber sicher kann ich«, sagte Susan. »Und wer weiß, vielleicht fache ich später noch dein Feuer an, Großer.« »O Honigmund«, sagte ich. »Du verstehst wirklich, mit einem Mann zu reden.« Sie gab mir die Flasche Wein. »Wo der Korkenzieher ist, weißt du. Mach sie auf und laß ihn ein bißchen atmen, bis ich die Cheeseburger fertig hab’.« Das tat ich.
7
Patty Giacomin rief mich im April an einem Dienstag nachmittag um vier an. Ich hatte seit drei Monaten nichts von ihr gehört. »Können Sie sofort zu mir kommen?« fragte sie. Ich hatte mit den Füßen auf dem Schreibtisch in meinem Büro gesessen, die Frühlingsluft geschnuppert und Ein ferner Spiegel von Barbara Tuchman gelesen. Ich ließ den Finger auf der Seite, während ich ins Telefon sprach. »Ich bin ziemlich beschäftigt«, sagte ich. »Sie müssen kommen«, sagte sie. »Bitte.« »Hat Ihr Mann wieder den Jungen geholt?« »Nein. Er ist nicht mehr mein Mann. Nein, aber Paul wäre beinahe verletzt worden. Bitte, die versuchen es vielleicht noch mal. Bitte kommen Sie jetzt.« »Sind Sie in Gefahr?« »Nein. Ich weiß es nicht – vielleicht doch. Sie müssen herkommen.« »Okay«, sagte ich. »Falls Gefahr droht, rufen Sie die Polizei. Ich bin in einer halben Stunde da.« Ich hängte ein, legte mein Buch weg und brach auf nach Lexington. Als ich ankam, erwartete Patty Giacomin mich an der Haustür. Sie trug ein weißes Stirnband, ein grünes Seidenhemd, einen beigen Plaidrock und gelbbraune Stiefel von Frye. Ihre Taille umschloß ein breiter brauner Gürtel, und ihr beinahe brauner Lippenstift glänzte. Wahrscheinlich hatte sie eben erst die Badewanne ausgeschrubbt. »Ist der Junge okay?« fragte ich.
Sie nickte. »Treten Sie ein. Vielen Dank, daß Sie gekommen sind.« Wir gingen durch den Flur und die drei Stufen hinauf ins Wohnzimmer. Vor dem großen Fenster auf der anderen Seite des Zimmers waren Blüten zu sehen. »Möchten Sie etwas trinken?« fragte sie. »Wie letztes Mal. Ein Bier, wenn Sie haben.« Sie ging in die Küche und brachte mir eine Dose Budweiser und einen Bierkrug. »Den Krug brauche ich nicht«, sagte ich. »Aus der Dose trinkt es sich auch gut.« Irgendwo im Haus lief ein Fernsehgerät. Das bedeutete, daß Paul wahrscheinlich da war. Patty goß sich ein Glas Sherry ein. »Setzen Sie sich doch«, sagte sie. Ich nahm die Couch. Sie setzte sich mir gegenüber in einen Sessel und arrangierte ihre Beine. Ich schaute auf ihre Knie. Sie nippte ihren Sherry. Ich trank einen Schluck Bier. Sie sagte: »War viel Verkehr?« Ich sagte: »Mrs. Giacomin, ich bin Ihnen, so schnell es ging, zu Hilfe geeilt. Jetzt reden Sie mir nicht von Verkehrsverhältnissen.« »Entschuldigen Sie. Es ist nur, weil ich mir jetzt, wo Sie hier sind, ein bißchen albern vorkomme. Vielleicht war meine Reaktion übertrieben.« Sie trank noch etwas von ihrem Sherry. »Aber trotzdem, verdammt auch, irgendwer hat versucht, mir Paul wieder wegzunehmen.« »Ihr Mann?« »Er selbst nicht, aber ich bin sicher, er steckt dahinter.« »Was ist passiert?« »Ein Fremder hielt Paul auf dem Heimweg von der Schule an und sagte ihm, daß sein Vater ihn sehen wolle. Paul wollte aber nicht mit ihm mitkommen, da stieg der Mann aus seinem
Wagen und lief ihm nach. Aber an der Kreuzung vor der Schule stand ein Polizist, und als Paul auf den zulief, setzte sich der Mann wieder ins Auto und fuhr weg.« »Und Paul kam nach Hause?« »Ja.« »Dem Polizisten hat er nichts gesagt?« »Nein.« »Hat er denn – ich weiß, es ist ein alter Hut, aber ich war früher bei der Polizei –, er hat sich nicht die Autonummer gemerkt, oder?« »Glaub ich nicht. Davon sagte er nichts.« »Und den Mann kannte er auch nicht?« »Nein.« Wir schwiegen. Ich trank das Bier aus. Sie schlürfte weiter Sherry. Ich sah auf ihre Knie. »Haben Sie die Polizei informiert?« sagte ich. »Nein.« »Glauben Sie, er hat einen Freund geschickt, um den Jungen abzuholen? Und der Freund war übereifrig?« »Ich weiß nicht«, sagte sie. Ein wenig Schenkel zeigte sich jetzt über den Knien. »Er kennt schreckliche Leute. Geschäftlich verkehrt er mit ein paar richtigen Schlägertypen. Ich bin sicher, daß es einer von denen war.« »Breite Revers? Dunkle Hemden? Weiße Schlipse? Große Hüte?« »Ich meine es ernst«, sagte sie. »Ich glaube, er war mit Leuten bekannt, die auf der falschen Seite des Gesetzes stehen. Vielleicht stand er manchmal selber auf der falschen Seite.« »Wie kommen Sie darauf?« »Ach, ich weiß nicht, nur so ein Gefühl. Mit was für Leuten er sich abgab. Wie verschlossen er manchmal war.« Sie breitete die Arme aus. »Ein Gefühl nur. Möchten Sie noch ein Bier?«
»Gern.« Sie ging in die Küche und holte mir eins, zog die Lasche für mich hoch und gab es mir. Dann schenkte sie sich ein zweites Glas Sherry ein. »Haben Sie einen Plan?« fragte ich. Sie stand vor mir, die Beine auseinander, die eine Hand auf der Hüfte, und sah mich an. Vogue Magazine. »Einen Plan?« »Für mich, Sie wissen schon. Was soll ich tun?« »Ich möchte, daß Sie hier bei uns bleiben«, sagte sie. »Alle Wetter«, sagte ich. »Sie sind die fünfte schöne Frau heute, die mich darum bittet.« »Ich möchte, daß Sie Paul beschützen, und ehrlich gesagt, auch mich. Ich weiß nicht, was Mel tun könnte.« »Wollen Sie andeuten, daß er zu allem fähig ist?« »Ja. Das ist er. Ich weiß, Sie lachen über mich, aber Sie kennen ihn ja nicht. Ich habe Angst.« Sie setzte sich auf die Kante des Sessels, die Knie aneinandergepreßt, die Hände, deren eine das Glas Sherry hielt, auf die Knie gepreßt. Sie beugte sich zu mir vor und befeuchtete ihre Unterlippe mit der Zungenspitze. Verwundbar. »Sie möchten, daß ich ganz herziehe und hier die Nacht verbringe und alles?« Sie schlug die Augen nieder. »Ja«, sagte sie. »Das ist ziemlich teuer. Das heißt, Sie müssen mich vierundzwanzig Stunden täglich bezahlen.« »Das geht schon, ich habe Geld. Es ist mir egal. Ich brauche hier jemand.« »Für wie lange?« sagte ich. Sie sah überrascht aus. »Ich weiß nicht. Darüber habe ich nicht nachgedacht.«
»Ich kann nicht hierbleiben, bis der Junge einundzwanzig ist. Bewachen ist eine vorübergehende Maßnahme, verstehen Sie. Auf lange Sicht müssen Sie eine bessere Lösung finden.« »Werde ich auch«, sagte sie. »Werde ich schon. Aber für eine kleine Weile eben. Ich habe Angst. Paul hat Angst. Wir müssen einen Mann hierhaben.« Ich blickte an ihr vorbei, und im Schatten am Ende der Treppe stand Paul und lauschte. Wir schauten uns an. Dann drehte er sich um und verschwand. Ich sah wieder auf seine Mutter. Sie hob den Blick. »Werden Sie bleiben?« fragte sie. »Natürlich. Ich muß nur nach Hause und eine Tasche packen.« »Dann kommen wir mit«, meinte sie. Sie lächelte. »Paul und ich fahren mit Ihnen. Ich würde sowieso gern mal sehen, wie Sie wohnen.« »Tja, ich habe einen Sportwagen. Da ist nur Platz für zwei.« »Wir nehmen meinen«, sagte sie. »Dann sind wir bei Ihnen in Sicherheit. Und auf dem Rückweg können wir irgendwo essen. Oder hätten Sie gerne etwas Selbstgekochtes? Sie Ärmster, wahrscheinlich essen Sie nur immer in Lokalen. Sind Sie verheiratet? Nein, sind Sie wohl nicht. Ich glaube, das weiß ich schon.« Sie rief die Treppe hinauf. »Paul. Paul, komm runter. Mr. Spenser bleibt bei uns.« Sie trank den Rest ihres Sherrys. »Wir können uns ruhig unterwegs ein Sandwich kaufen«, sagte ich. »Nein. Wenn wir zurückkommen, koche ich Ihnen etwas zu Abend. Keine Widerrede… Paul, los, wir wollen bei Mr. Spenser einige Sachen abholen, damit er bleiben kann.« Paul kam die paar Stufen von seinem Zimmer herunter ins Wohnzimmer. Er hatte ein langärmliges Hemd mit lauter pastellfarbenen Blumen an, eine schwarze Kordhose und die
Top-Sider-Mokassins. Allenfalls war er seit Januar noch dünner geworden. Ich nickte ihm zu. Er war still. Seine Mutter sagte: »Hol deinen Mantel, wir fahren zu Mr. Spenser, um seinen Koffer abzuholen.« Paul zog die Matrosenjacke an, die er auch im Januar getragen hatte. Zwei Knöpfe fehlten. Aber es war ohnehin zu warm, um sie zuzuknöpfen. Wir stiegen in Patty Giacomins handgeschalteten Audi Fox und fuhren nach Boston. Wir gingen in mein Apartment, wo Paul den Fernseher anwarf und sich mit den Händen in den Taschen seiner Seemannsjacke davorsetzte. Seine Mutter sagte mir, die Wohnung sei schön und bezeichnete sie als Junggesellenbude. Sie schaute sich Susans Bild auf dem Bücherregal an und fragte nach ihr. Sie bemerkte, daß die Küche fleckenlos sauber sei. Ich verstaute einiges zum Anziehen, Rasierzeug und eine Schachtel 38er Munition in meinem Koffer und sagte, ich sei fertig. Patty fragte, ob mir das Alleineleben nicht zu einsam wäre. Manchmal schon, sagte ich. Paul starrte auf eine Wiederholung von Meine drei Söhne. Sie meinte, für einen Mann sei es wohl einfacher, alleine zu leben. Ich sagte, dessen sei ich mir nicht sicher, aber ich hätte Freunde und oft viel zu tun. Das mit Susan versuchte ich nicht zu erklären. Auf dem Rückweg nach Lexington hielten wir bei einem Star Market, und Patty Giacomin löste an der Kreditkasse einen Scheck ein und kaufte verschiedene Lebensmittel. Dann fuhren wir zu ihr nach Hause, und sie kochte für uns zu Abend. Steak und Bratkartoffeln und Erbsen, dazu eine Flasche portugiesischen Rose. Erfindungsreich. Nach dem Essen guckte Paul wieder in die Röhre, und Patty Giacomin räumte den Tisch ab. Ich erbot mich, ihr zu helfen.
»Aber nein«, sagte sie. »Bleiben Sie nur ja sitzen. Es ist ein Vergnügen, wieder mal einen Mann zu bedienen.« Ich sah auf meine Uhr. Es war noch keine zehn.
8
Das Giacomin-Haus war in drei Ebenen angelegt. Ich hatte ein Zimmer im vorderen Teil. Gegenüber war ein kleines Bad mit Dusche. Nebenan war ein Hobbyraum, in dem ein Pingpongtisch stand, und neben dem Bad war ein Büro, das Mel Giacomin gelegentlich zur Arbeit benutzt hatte, als er noch hier wohnte. Im nächsten Teil befand sich das Wohnzimmer, mit Eßzimmer und Küche um die Ecke. Im dritten Teil gab es ein Bad und drei weitere Schlafzimmer. Dort schlief Patty Giacomin und ebenso Paul. Am nächsten Morgen fuhr ich Paul um fünf Minuten vor halb acht zur Schule. Er aß nichts zum Frühstück. Seine Mutter war hinter geschlossener Tür im Bad, als er ging. Ich brachte ihn direkt zum Eingang der Schule. Als er ausstieg, sagte ich: »Wann hört die Schule auf?« Er sagte: »Um fünf nach zwei wahrscheinlich. Ich weiß nicht genau.« »Wenn sie aus ist«, sagte ich, »warte ich hier am Eingang. Geh nicht woanders raus. Geh mit keinem irgendwohin außer mit mir.« Er nickte und schlurfte über den Schulhof. Ich bemerkte, daß er ungekämmt war. Ich saß im Wagen und schaute ihm nach, bis er außer Sicht war, dann wendete ich und fuhr zur Emerson Road zurück. Patty Giacomin war aus dem Bad heraus, gebadet und gepudert, und glänzte vor Make-up. Sie trug eine rote Schürze mit gelben Blumen und darunter eine kastanienbraune Bluse, weiße Karottenhosen und weiße Sandalen. Ihre Zehennägel waren lackiert. Kaffee lief durch eine Filtermaschine, Speck schmorte, und im Toaster steckte
Toast. Der Eßtisch war für zwei gedeckt und der Orangensaft schon in den Gläsern. Marmelade stand bereit, und ein Brettchen mit Butter. »Setzen Sie sich«, sagte sie. »Das Frühstück ist fast fertig.« »Paul weiß gar nicht, was er verpaßt, wenn er einfach so in die Schule abmarschiert«, sagte ich. »Oh, er frühstückt nie. Er haßt das. Bin eigentlich auch froh darüber. Er ist morgens immer so ein Muffel. Wie möchten Sie die Eier?« »Leicht überbacken.« »Hinsetzen«, sagte sie. »Es ist gleich soweit.« Ich setzte mich. »Trinken Sie Orangensaft«, sagte sie. »Warten Sie nicht erst. Ich setz mich auch gleich.« Ich trank meinen Orangensaft. Gekühlt. Der Toast sprang heraus. Patty Giacomin legte die vier Scheiben auf einen Teller, schob vier frische Scheiben nach und stellte den Teller auf den Tisch. Ich sagte: »Soll ich sie mit Butter bestreichen?« »Ja, danke.« Ich bestrich den Toast. Patty legte vier Streifen Speck und zwei leicht überbackene Eier auf meinen Teller und stellte ihn vor mich hin. Sie selbst nahm ein Ei und zwei Streifen Speck. Dann setzte sie sich und trank ihren Orangensaft. »Das ist sehr nett«, sagte ich. »Na, wo Sie doch hier schon eine Frau und einen Jungen am Hals haben, fand ich, Sie sollten wenigstens anständig bewirtet werden.« Ich schüttete Kaffee ein, erst in ihre Tasse, dann in meine. »Jetzt am Wochenende müßt ihr Männer euch allerdings behelfen«, sagte sie. Ich aß ein Stück Speck und einen Happen Ei. »Übers Wochenende werde ich weg sein«, sagte sie.
Ich nickte. »Ich möchte in New York Freunde besuchen.« Wieder nickte ich und aß weiter. »Ich fahre jeden Monat mal dahin, geh’ ins Theater, in eine Ausstellung. Es ist sehr anregend.« »Ja«, sagte ich. Ich aß den Rest meiner Eier. Sie schnitt ein Stückchen von ihrem Ei ab. »Kennen Sie New York, Mr. Spenser?« »Das, was jeder meint, wenn er das fragt. Ich kenne das Zentrum von Manhattan.« »Ja, das stimmt wohl. Das verstehen wir unter New York, wenn wir zum Besuch hinfahren.« Sie trank etwas Kaffee. »Wer ist denn sonst bei Paul geblieben, wenn Sie hingefahren sind? Jemand von Pinkerton?« Sie lächelte mich an. »Nein, ich habe eine Frau kommen lassen, Mrs. Travitz normalerweise; manchmal sprang auch Sally Washburn ein. Ich habe immer jemanden geholt.« »Glauben Sie, es macht Paul etwas aus, mit mir allein zu bleiben?« Sie sah mich ein wenig überrascht an, als hätte ich eine dumme Frage gestellt. »Aber nein. Paul mag Sie. Er versteht, daß ich schon mal hier raus muß. Daß ich mir eine Erfüllung suchen muß. Er begreift, daß ich nicht nur Mutter sein kann, wie ich auch nicht nur Ehefrau sein konnte.« »Natürlich«, sagte ich. »Es ist bemerkenswert, finde ich, wie lange die Frauen gebraucht haben, um den Wert und die Notwendigkeit der Selbstverwirklichung zu erkennen«, sagte sie. »Ist doch zu erstaunlich«, sagte ich. »Wie lange es gedauert hat.« »Ja. New York ist in gewisser Weise mein Sicherheitsventil.« »Man kommt auch mal zum Einkaufen, wenn man dort ist«, sagte ich.
Sie nickte. »Ja, normalerweise lasse ich mir einen Tag Zeit für die Fifth Avenue.« »Paul schon mal mitgenommen?« »Ach Gott, nein. Er hätte überhaupt keinen Spaß dabei und müßte sich zu allem zwingen. Nein, er würde es mir verderben. Sie haben keine Kinder, nicht?« »Nee.« Sie lachte schnaubend. »Da haben Sie Glück«, sagte sie. »Doppeltes Glück, Sie sind ein Mann, und Sie haben keine Kinder.« »Was ist mit der Selbstverwirklichung und dem?« »Das meine ich ernst. Ich kämpfe darum. Aber was nützt es einer alleinstehenden Frau?« »Wieso ist Verheiratetsein denn so wichtig?« sagte ich. »Weil es die Dollars bringt«, sagte sie. »Als ob Sie das nicht wüßten.« »Bin mir nicht sicher, ob ich es weiß, aber ich war nie verheiratet.« »Sie wissen, was ich meine. Männer haben Geld. Eine Frau braucht einen Mann, um dranzukommen.« »Ich frage mich, ob Gloria Steinern Nachhilfeunterricht gibt«, sagte ich. »Ach, so ein Krampf«, sagte Patty Giacomin. Sie war hochrot. »Wahrscheinlich klopfen Sie wie jeder hier liberale Sprüche, aber Sie wissen schon, wie es in Wirklichkeit aussieht. Die Männer haben das Geld und die Macht, und wenn eine Frau etwas davon will, schnappt sie sich am besten einen Mann.« Ich zuckte die Schultern. Mir dämmerte allmählich, wie Paul zu dieser Gewohnheit gekommen war. »Ich kenne einige Leute, die Ihnen vielleicht widersprechen würden«, sagte ich. »Aber ich gehöre nicht zu ihnen. Ich bin zu
sehr damit beschäftigt, mein Geld zu zählen und meine Machtstellung auszubauen.« Sie lächelte. »Sie sehen ziemlich kräftig aus«, sagte sie. »Heben Sie Gewichte?« »Manchmal«, sagte ich. »Das dachte ich mir. Mein Mann, mein früherer Mann, trainierte das auch.« »Nicht genug«, sagte ich. »Das stimmt, Sie haben ihn ja gesehen, nicht? Er ist dick geworden. Aber als wir uns kennenlernten, sah er wirklich gut aus.« »Glauben Sie wirklich, daß er noch mal die Finger nach Paul ausstrecken wird?« fragte ich. »Ganz bestimmt«, sagte sie. »Er ist, er ist…« Sie suchte nach Worten. »Ich weiß nicht, er ist eben so. Er muß abrechnen. Er verträgt es nicht, wenn er verliert.« »Die Eroberung der Fahne«, sagte ich. »Wie bitte?« Ich schüttelte den Kopf. »Nur so gedacht.« »Nein, bitte sagen Sie es mir. Sie hatten doch etwas. Sind Sie unzufrieden mit mir?« »Meine Aufgabe ist, dafür zu sorgen, daß Ihrem Jungen nichts passiert.« »Aber Sie sagten doch vorhin etwas. Bitte wiederholen Sie das.« »Ich sagte, die Eroberung der Fahne. Ihr Junge ist wie eine Trophäe, um die Sie beide kämpfen.« »Also, dieser Scheißkerl kriegt ihn jedenfalls nicht«, sagte sie. »Stimmt«, sagte ich. »Warum nehmen Sie Ihren Kaffee nicht mit ins Wohnzimmer und lesen die Zeitung?« sagte Patty. »Dann räume ich hier schon mal auf.«
Ich ging. Sie fuhrwerkte in ihrer geblümten Schürze herum, verstaute das Geschirr im Geschirrspüler und fegte den Boden. Als mein Frühstück sich gesetzt hatte und ich mit Zeitunglesen fertig war, zog ich mich in meinem Zimmer um und ging hinaus, um zu laufen. Der Winter war vorbei. Das Wetter war gut, und irgendwo hörte man wahrscheinlich den Ruf der Taube. Was ich hörte, waren vor allem Spatzen. Ich joggte in Richtung Innenstadt und fühlte die Frühlingssonne auf meinem Rücken. Die Luft war immer noch scharf. Es war nicht Sommer geworden, aber nach einer Meile lief mir angenehm der Schweiß, ich fühlte Kraft in meinen Beinen, und meine Muskeln waren locker. Noch andere Läufer waren draußen, zumeist Frauen um diese Tageszeit. Wahrscheinlich auf der Jagd nach einem Mann, um sich an dem Geld und der Macht zu beteiligen. Wahrscheinlich der Grund, warum Susan sich an mich gehängt hatte. Arme alte Patty. Sie hatte das ganze Zeug im Cosmopolitan gelesen und kannte das ganze Vokabular der Selbstverwirklichung, aber alles, was sie letztlich wollte, war ein Mann mit Geld und Macht. Vor mir joggte eine junge Frau. Sie trug das Oberteil eines beigeblauen Trainingsanzugs und knappe blaue Shorts. Ich verlangsamte, um hinter ihr zu bleiben und ihren Lauf in den knapp geschnittenen Shorts zu würdigen. Frauen sahen im Frühling wirklicher aus. So wie diese. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich im neuen Jahr Farbe zu holen, und ihre Beine waren weiß und sahen verwundbar aus. Gute Beine allerdings. Ich fragte mich, ob sie, wenn ich ihr Geld und Macht bot, mit mir joggen würde. Es war möglich. Es war aber auch möglich, daß sie dann beschleunigte und davonlief und es mir nicht gelingen würde, sie einzuholen. Das wäre demütigend. Ich nahm Tempo auf und zog an ihr vorbei. Sie
hatte große goldene Ohrringe an und schenkte mir ein Lächeln unter guten Kameraden, als ich überholte. Ich versuchte, mächtig und reich auszusehen, aber sie legte keinen Schritt zu, um mich noch zu erwischen. Ich lief hinunter durch Lexington Mitte, am Denkmal vorbei, und kehrte in einem weiten Bogen zur Emerson Road zurück. Es dauerte etwa eine und eine viertel Stunde, das hieß, ich hatte sieben oder acht Meilen zurückgelegt. Pattys Wagen war fort. Ich machte ein paar Dehnübungen, nahm eine Dusche und zog mich an. Ich hörte Pattys Wagen vorfahren. Und als ich hinausging, kam sie gerade mit ein paar Lebensmitteln in die Küche gefegt. »Hallo«, sagte sie. »Möchten Sie was zu Mittag?« »Sind Sie auf mein Geld und meine Macht aus?« fragte ich. Sie sah mich rasch von der Seite an. »Vielleicht«, meinte sie.
9
Am Wochenende verbesserte Paul seinen Fernsehdurchschnitt. Patty Giacomin war abgereist, um sich in New York selbstzuverwirklichen. Ich hatte das Wohnzimmer für mich, und Paul rührte sich aus seinem Zimmer nur, um hin und wieder einen Ausflug in die Küche zu unternehmen, wo er oft minutenlang in den Kühlschrank starrte. Er aß kaum etwas. Das Starren in den Kühlschrank war scheinbar nur ein Zeitvertreib. Ich mußte bei ihm bleiben, also konnte ich nicht laufen oder in Susans Haus Schränke einbauen, wie ich es versprochen hatte. Die meiste Zeit hindurch las ich, über Enguerrand de Coucy und das Leben im vierzehnten Jahrhundert. Am Samstag nachmittag sah ich mir am Bildschirm ein Baseballspiel an. Gegen sechs am Samstag nachmittag rief ich Paul von der Treppe aus. »Willst du was zu Abend essen?« Er antwortete nicht. Ich brüllte noch einmal. Er kam an seine Zimmertür und sagte: »Was?« »Ob du Abendbrot möchtest.« »Ist mir egal.« »Also, ich werd was machen«, sagte ich, »ich hab’ Hunger. Wenn du etwas haben willst, gib mir Bescheid.« Er ging in sein Zimmer zurück. Ich konnte das Geschnatter eines alten Spielfilms hören. Ich ging in die Küche und ermittelte. Ein paar Schweinekoteletts waren da. Ich sah in den Schrank. Reis war da. Ich fand Pignolien und eingemachte Ananas, Knoblauch und eine Dose Mandarinen. Nochmals inspizierte ich den
Kühlschrank. Auch Sahne war da. Rahm wäre besser gewesen, aber man behilft sich. Außerdem sah ich zwölf Dosen Schlitz, die Patty Giacomin hineingelegt hatte, bevor sie weggefahren war. Sie hatte nicht gefragt. Wenn sie gefragt hätte, würde ich Beck’s bestellt haben. Aber man behilft sich. Ich öffnete eine Dose. Ich trank etwas. Frisch und schön spritzig, keine Spur von Tannin. Ich löste Fleisch vom den Knochen und schnitt es zurecht. Die Reste warf ich weg. Einen Fleischklopfer schien Patty Giacomin nicht zu besitzen, also klopfte ich die Schweinsmedaillons mit dem Rücken eines Fleischmessers. Ich goß ein wenig Öl in die Bratpfanne, ließ es heiß werden und legte das Fleisch zum Bräunen hinein. Ich trank den Rest meines Schlitz’ und öffnete eine neue Dose. Als das Fleisch angebraten war, gab ich eine Knoblauchzehe dazu und, nachdem der Knoblauch aufgeweicht war, etwas Ananassaft und bedeckte die Pfanne. Ich setzte Reis mit Hühnerbrühe, Pignolien, Thymian, Petersilie und einem Lorbeerblatt an und schob das Ganze in den Ofen. Nach etwa fünf Minuten nahm ich den Deckel von der Bratpfanne, ließ den Ananassaft verkochen, goß Sahne hinzu und ließ auch diese kurz einkochen. Danach gab ich Ananasstücke und einige Mandarinenschnitze hinein, schaltete den Herd ab und legte den Deckel auf die Pfanne, damit sie warm blieb. Dann deckte ich den Küchentisch für zwei. Ich war bei meiner vierten Dose Schlitz, als der Reis fertig war. Der halbe Kopfsalat aus dem Kühlschrank war mit einer Soße aus Essig und Öl, die ich mit Senf und zwei kleingehackten Knoblauchzehen verfeinerte, schnell angemacht. Ich holte zwei Teller heraus, verteilte Reis und Fleisch auf beide, goß für Paul ein Glas Milch ein und ging mit meiner Dose Bier zum Fuß der Treppe.
»Dinner«, brüllte ich laut. Dann ging ich zurück und setzte mich zum Essen. Ich war halb damit fertig, als Paul erschien. Er sagte nichts. Er zog den Stuhl mir gegenüber heraus und setzte sich an den Platz, den ich gedeckt hatte. »Was ist das?« fragte er. »Schweinefleisch, Soße, Reis und Salat«, sagte ich. Ich nahm einen Bissen Fleisch und spülte ihn mit einem Schluck Bier herunter. »Und Milch.« Paul stupste das Schweinsmedaillon mit seiner Gabel an. Ich aß Reis. Er pickte mit den Fingern ein Salatblatt aus der Schüssel und aß es. Ich sagte: »Was hast du gesehen?« Er sagte: »Fernsehen.« Ich nickte. Er stupste das Schweinsmedaillon noch einmal. Dann nahm er eine kleine Gabel voll Reis und aß sie. Ich sagte: »Was hast du im Fernsehen angeschaut?« »Spielfilm.« Er schnitt ein Stück Fleisch ab und aß es. Ich sagte: »Was für einen Spielfilm?« »Charlie Chan in Panama.« »Mit Warner Oland oder Sidney Toler?« fragte ich. »Sidney Toler.« Er langte in die Salatschüssel und nahm eine Gabel voll Salat und stopfte sie sich in den Mund. Ich sagte nichts. Er aß etwas Fleisch und Reis. »Ha’m Sie das gekocht?« »Ja.« »Woher wissen Sie denn, wie das geht?« »Hab’s mir beigebracht.« »Und wo haben Sie das Rezept her?« »Ich hab’s erfunden.« Er sah mich verständnislos an. »Na, irgendwie halt ausgedacht. Ich hab’ schon eine Unmenge Sachen gegessen, und unter anderem auch in
Lokalen, wo es Essen mit Soße gibt. So bin ich irgendwie draufgekommen, wie Soßen gehen.« »Kriegt man das in einem Restaurant?« »Nein, ich hab’s mir ausgedacht.« »Ich versteh’ nicht, wie Sie das können.« »Es ist einfach, wenn man erst weiß, daß Soßen nur auf wenige verschiedene Arten zubereitet werden. Man kocht zum Beispiel eine Flüssigkeit auf, bis sie sirupartig dick ist, dann gibt man den Rahm dazu. Was dabei herauskommt, ist im Prinzip Rahm mit Ananasgeschmack, oder Rahm mit Weingeschmack, Rahm mit Biergeschmack, oder was du willst. Echt, das ginge sogar mit Cola, aber wer hätte da Appetit drauf?« »Mein Vater hat nie gekocht«, sagte Paul. »Meiner schon«, sagte ich. »Er meinte, Mädchen würden kochen.« »Halb hatte er recht«, sagte ich. »Hm?« »Mädchen kochen zwar, Jungen aber auch. Männer auch und Frauen auch, verstehst du? Er hatte recht.« »Ja, klar.« »Was hast du dir denn abends gemacht, wenn deine Mutter nicht daheim war?« »Die Frau, die nach mir sehen kam, hat für mich gekocht.« »Hat dein Vater auch mal nach dir gesehen?« »Nein.« Wir waren mit essen fertig. Ich räumte den Tisch ab und stellte das Geschirr in die Spülmaschine. Die Töpfe hatte ich schon gewaschen. »Gibt’s Nachtisch?« sagte Paul. »Nein. Möchtest du dir ein Eis holen oder so was?« »Okay.« »Wo kriegen wir eins her?« fragte ich.
»Baskin-Robbins«, sagte er. »Es ist in der Innenstadt. Nicht weit von da, wo wir mal essen waren.« »Okay«, sagte ich. »Gehen wir.« Paul kaufte sich eine große gemischte Portion mit Sahne. Ich verzichtete. Auf der Heimfahrt fragte er: »Wieso haben Sie sich denn kein Eis gekauft?« »Das ist ein Kompromiß von mir«, sagte ich. »Wenn ich Bier trinke, esse ich keinen Nachtisch.« »Tun Sie nie beides zusammen?« »Nein.« »Niemals?« Ich senkte meine Stimme und warf mich in die Brust, während ich fuhr. Ich sagte: »Ein Mann muß tun, was er zu tun hat, Junge.« Es war dunkel, und ich konnte nicht gut sehen. Mir schien, daß er beinahe lächelte.
10
Es war schon fast der erste Mai, und ich war immer noch da. Jeden Morgen servierte Patty Giacomin mir das Frühstück, jeden Mittag ein Lunch, jeden Abend ein Dinner. Anfangs hatte Paul abends mit uns gegessen, aber seit einer Woche nahm er ein Tablett mit auf sein Zimmer, und Patty und ich aßen alleine. Pattys Vorstellung von Delikatesse war, die Brokkoli mit Miracle Whip zu garnieren. Das störte mich nicht. Ich hatte sogar das Essen bei der Armee gemocht. Was mich störte, war das zunehmende Gefühl von Intimität. Neuerdings gab es zum Essen immer Wein. Der Wein war dem Essen entsprechend: Blue Nun; Riunite in Rot, Weiß und Rose; eine Flasche kalte Ente. Ich aß das Bratenfleisch und schlürfte den Lambrusco, und sie erzählte mir von ihrem Tagesablauf, sprach vom Fernsehen oder wiederholte einen Witz, den sie gehört hatte. Ich fing an, Paul zu beneiden. Es war so warm, daß ich das Verdeck herunterlassen konnte, als ich Paul an einem Donnerstagmorgen vor der Schule absetzte und zurück zur Emerson Road fuhr. Die Sonne war stark, der Wind sanft, ich ließ bei voller Lautstärke ein SarahVaughan-Band laufen. Sie sang Thanks for the Memories, und ich hätte mich fühlen müssen wie ein ganzes Blasorchester. Aber so war es nicht; ich fühlte mich wie eine Nachtigall ohne ein Lied. Es war kein Frühlingsfieber. Es war Gefangenschaft. Zwar konnte ich jeden Morgen meine Meilen einbringen, doch seit mehr als zwei Wochen war ich in keiner Halle gewesen. Ich hatte Susan in dieser Zeit nicht gesehen. Ich war keine zwölf Meter von einem Giacomin entfernt gewesen, seit ich nach Lexington gekommen war. Ich brauchte einen
Sandsack zum Boxen, ich brauchte Hanteltraining auf der Bank, ich mußte unbedingt Susan sehen. Ich fühlte mich verkrampft und reizbar und dünnhäutig vor Ärger, als ich in die Einfahrt einbog. Auf dem Küchentisch standen Blumen, und er war für zwei gedeckt, ein Glas Orangensaft jeweils schon eingeschenkt. Und auf der Anrichte lief die Küchenmaschine. Aber Patty Giacomin war nicht in der Küche. Es brieten keine Eier. Kein Speck. Gut. Mein Cholesterinspiegel war mittlerweile wohl schon in Lichtjahren bemessen. Ich nahm eins der Gläser mit Orangensaft und trank ihn. Das leere Glas stellte ich in die Spülmaschine. Patty Giacomin rief aus dem Wohnzimmer: »Sind Sie das?« »Ja, ich bin’s«, sagte ich. »Kommen Sie mal rein«, sagte sie. »Ich möchte Ihre Meinung zu etwas hören.« Ich ging ins Wohnzimmer. Sie stand am anderen Ende, vor dem großen Aussichtsfenster, das auf ihren Garten hinausging. Die Morgensonne drang herein und wirkte als ein fast dramatischer Beleuchtungseffekt. »Was halten Sie davon?« fragte sie. Sie trug einen metallisch blauen Frisiermantel und stand da in Mannequinpose, einen Fuß im rechten Winkel nach außen, die Knie leicht nach vorn, die Schultern zurück, so daß ihre Brüste vorragten. Das Sonnenlicht war hell genug und der Mantel dünn genug, um mehr als ahnen zu lassen, daß sie nichts darunter anhatte. Ich sagte: »Jesus Christus.« Sie sagte: »Schön?« Ich sagte: »Sie müßten eine Rose zwischen den Zähnen halten.« Sie krauste die Stirn. »Gefällt Ihnen mein Mantel nicht?« Ihre Unterlippe schob sich etwas vor. Sie drehte sich, während sie
sprach, und wandte sich mir zu, die Beine auseinander, die Hände auf den Hüften. Die helle Sonne zeichnete ihre Silhouette durch den Stoff. »Doch. Der Mantel ist hübsch«, sagte ich. Mir war ein bißchen fiebrig. Ich räusperte mich. »Warum kommen Sie nicht her und schauen sich’s von nahem an?« sagte sie. »Ich kann furchtbar viel sehen von hier aus«, sagte ich. »Aber möchten Sie nicht mehr sehen?« sagte sie. Ich schüttelte den Kopf. Sie lächelte behutsam und ließ den Mantel aufgehen. Er hing gerade herunter und rahmte ihren nackten Körper ein. Das Blau paßte hübsch zu ihrer Hautfarbe. »Möchten Sie es sich bestimmt nicht näher ansehen?« sagte sie. Ich sagte: »Jesus Christus, wer schreibt Ihren Dialog?« Ihr Gesicht erstarrte. »Was?« »So würde es in Das Partnerspiel zugehen, wenn es jemand verfilmen dürfte.« Sie wurde rot. Der offene Frisiermantel ließ sie weniger sexy als verwundbar erscheinen. »Sie wollen mich nicht«, stieß sie flüsternd hervor. »Natürlich will ich Sie. Ich will jede gutaussehende Frau, der ich begegne, und wenn sie mir ihr Schambein entgegenreckt, werde ich feuerheiß. Aber so geht das nicht, Kindchen.« Ihr Gesicht blieb rot. Ihre Stimme blieb ein Flüstern, wenn sie auch jetzt rauher und weniger bühnenhaft klang. »Warum?« sagte sie. »Warum geht es so nicht?« »Nun, zunächst einmal, es ist gestellt.« »Gestellt?« »Ja, als ob Sie Die verführerische Frau gelesen und sich Notizen gemacht hätten.«
Ihre Augen füllten sich. Sie ließ die Hände an den Seiten herunterhängen. »Und nicht nur das. Dazu kommt Paul, zum Beispiel. Und eine Frau, die ich kenne.« »Paul? Verdammt, was hat denn Paul damit zu tun?« Sie flüsterte jetzt nicht mehr. Ihre Stimme war scharf. »Brauche ich eine Erlaubnis von Paul, um zu bumsen?« »Von Erlaubnis ist nicht die Rede. Es würde Paul nicht gefallen, wenn er es herausfände.« »Was wissen Sie denn von meinem Sohn?« sagte sie. »Was glauben Sie, was ihn das kümmert? Meinen Sie, er würde dann weniger von mir halten als jetzt?« »Nein«, sagte ich. »Er würde weniger von mir halten.« Sie stand bewegungslos für vielleicht fünf Sekunden. Dann faßte sie bedächtig an ihren Mantel und streifte ihn über die Schultern zurück und ließ ihn zu Boden fallen. Sie war nackt bis auf ein Paar Sandaletten, die offenbar aus transparentem Kunststoff bestanden. »Das meiste haben Sie schon gesehen«, sagte sie. »Möchten Sie alles sehen?« Sie drehte sich langsam im Kreis, um 360 Grad, die Arme seitlich abgehoben. »Was gefällt Ihnen am besten?« Ihre Stimme war jetzt sehr rauh, und sie hatte Tränen auf den Wangen. »Wollen Sie mich bezahlen?« Sie kam zu mir herüber. »Sie halten mich für eine Hure, vielleicht wollen Sie mir Geld geben. Zwanzig Dollar, Mister? Ich mach es Ihnen gut.« »Hören Sie auf«, sagte ich. »Wer sollte Paul denn erzählen, daß Sie es mit seiner nuttigen Mutter getrieben haben? Wer würde denn erfahren, daß Sie säuisch gewesen sind?« Ihre Stimme zitterte und brach sich. Sie weinte.
»Sie würden es ihm sagen, wenn eine gute Gelegenheit käme. Oder Sie würden es seinem Vater sagen, und sein Vater ihm. Außerdem ist da auch diese Frau, die ich kenne.« Patty Giacomin drückte sich an mich. Ihre Schultern hoben und senkten sich, sie weinte heftig. »Bitte«, sagte sie. »Ich war doch immer gut. Ich habe gekocht. Ich bezahle Sie. Tun Sie das bitte nicht.« Ich legte meine Arme um sie und tätschelte ihren bloßen Rücken. Sie begrub ihr Gesicht an meiner Brust, während sie die Arme lang hängen ließ, und so, splitternackt bis auf die durchsichtigen Schuhe, schluchzte sie eine ganze Weile hemmungslos. Ich streichelte ihren Rücken und versuchte, an andere Dinge zu denken. Carl Hubbell warf in einer Starbegegnung Cronin, Ruth, Gehrig, Simmons und Jimmy Foxx aus dem Feld. War das 1934? Das Heulen nahm zu, es schien sich von sich selbst zu nähren. Ich legte mein Kinn auf ihren Kopf. Wer spielte mit Cousy im Holy Cross? Kaftan. Joe Mullaney? Dermie O’Connell. Frank Oftring. Ihr Körper preßte sich an mich. Ich überlegte schärfer: Die absolute Spitzenauswahl aller Stars, die ich gesehen hatte; Musial; Jackie Robinson; Reese; und Brooks Robinson. Williams; DiMaggio; Mays; Roy Campanella; Sandy Koufax, linker Werfer; Bob Gibson, rechter Werfer; Joe Page in der Reserve. Sie weinte jetzt weniger. »Kommen Sie«, sagte ich. »Sie ziehen sich an, ich nehme eine kalte Dusche, und dann frühstücken wir.« Sie rührte sich nicht, aber das Weinen hörte auf. Ich hörte auf zu streicheln. Sie trat weg und bückte sich anmutig, um den Frisiermantel aufzuheben. Sie zog ihn nicht über. Sie sah mich nicht an. Sie ging hinaus zu ihrem Zimmer. Ich ging in die Küche und stellte mich an die offene Hintertür und atmete eine Menge später Aprilluft ein. Dann goß ich
Kaffee in eine Tasse und trank davon und verbrühte mir ein bißchen die Zunge. Unübertroffen als Gegenmittel. Es vergingen vielleicht fünf Minuten, bis sie aus dem Schlafzimmer kam. In der Zwischenzeit durchstöberte ich die Küche und brachte ein Omelett mit Kartoffeln und Zwiebeln zusammen. Es brutzelte, als sie in die Küche kam. Ihr Make-up war gut und ihr Haar frisiert, aber ihr Gesicht hatte noch das häßlich gerötete Aussehen, das vom Weinen kommt. »Setzen Sie sich«, sagte ich. »Heute morgen werden Sie bedient.« Ich schüttete ihr Kaffee ein. Sie setzte sich und nippte an dem Kaffee. Ich sagte: »Das ist zwar peinlich jetzt, aber es muß nicht so peinlich sein. Ihr Angebot schmeichelt mir. Sie sollten es nicht als Zurückweisung auffassen, daß ich ablehnte.« Sie trank wieder Kaffee, schüttelte leicht den Kopf und schwieg. »Schauen Sie«, sagte ich. »Sie haben eine miese Scheidung hinter sich. Sechzehn Jahre hindurch oder länger sind Sie Hausfrau gewesen, und jetzt ist mit einemmal kein Mann im Haus. Sie fühlen sich etwas verloren. Und dann ziehe ich ein. Sie fangen an, für mich zu kochen. Stellen Blumen auf den Tisch. Ziemlich bald sind Sie wieder eine Hausfrau. Dieser Morgen mußte kommen. Sie mußten sich als die Frau im Haus beweisen, verstehen Sie? Es wäre eine Art Bestätigung gewesen. Und es hätte einen Zustand bestätigt, den ich nicht will und den Sie nicht wirklich wollen. Ich bin an eine andere Frau gebunden. Ich habe mich verpflichtet, Ihren Sohn zu schützen. Seine Mami bumsen, so angenehm das wäre, ist nicht produktiv.« »Warum nicht?« Sie blickte auf, als sie es sagte, und sah mich an.
»Zunächst mal könnte es irgendwann die Frage aufwerfen, ob ich dafür bezahlt werde, Paul zu schützen oder mit Ihnen zu schlafen, Ihr Ehemann-Ersatz zu sein.« »Mein Gigolo?« »Damit sollten Sie aufhören. Die Dinge unter irgendeinem schönen Kennwort zu fassen. Sie sind eine Hure, ich bin ein Gigolo, dergleichen mehr.« »Nun, was war ich denn, wenn ich keine Hure war?« »Eine gutaussehende Frau, die Liebe braucht und dieses Bedürfnis ausgedrückt hat. Es ist nicht Ihre Schuld, daß Sie sich damit an den Falschen gewandt haben.« »Nun, es tut mir leid. Es war peinlich. Ich war wie eine dumme Hilfsarbeiterin.« »Mir ist nicht bekannt, ob in den unteren Schichten dergleichen soviel öfter vorkommt als bei uns Bessergestellten. Aber es war nicht einfach peinlich. Es war auch in mancher Hinsicht sehr nett. Ich meine, es freut mich doch, Sie ohne Kleider gesehen zu haben. Das ist ein Vergnügen.« »Ich brauche Männer«, sagte sie. Ich nickte. »Die haben die Dollars«, sagte ich. »Das stimmt immer noch«, meinte sie. »Aber es ist nicht das einzige.« Ich nickte wieder. »Frauen sind so verdammt langweilig«, sagte sie. Sie zog das a in die Länge. »Irgendwann bringe ich Sie mal mit einer Bekannten von mir zusammen, einer Frau namens Rachel Wallace«, sagte ich. »Die Schriftstellerin?« »Ja.« »Die kennen Sie? Die feministische Autorin? Na ja, in der Theorie ist das gut und schön. Aber wir kennen doch beide die Wirklichkeit.« »Und die wäre?«
»Daß wir sehr viel weiter kommen, wenn wir schöne Augen machen und mit dem Hintern wackeln.« »Ja«, sagte ich. »Sehen Sie nur, wohin es Sie gebracht hat.« Mit einem raschen Schwung der rechten Hand fegte sie die halbvolle Kaffeetasse samt Untertasse vom Tisch und auf den Boden. In derselben Bewegung stand sie von ihrem Stuhl auf und verließ die Küche. Ich hörte, wie sie die kleine Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinaufging und die Tür zuschlug. Mein Omelett mit Zwiebeln und Kartoffeln hatte sie nicht mal probiert. Ich warf es weg.
11
Zwei Tage nach dem Friesiermantelintermezzo kamen sie wegen des Jungen. Es war am Abend. Nach dem Essen. Patty Giacomin öffnete die Tür, als es klingelte, und sie kamen rein und schubsten sie nach hinten durch. Paul sah in seinem Zimmer fern. Ich war bei der Lektüre von Ein ferner Spiegel, Kapitel sieben. Ich stand auf. Sie waren zu zweit, und keiner von beiden war Mel Giacomin. Der das Schubsen besorgte, war klein, plump und dickbäuchig. Er trug die häßlichste Perücke, die ich je gesehen habe. Sie sah aus wie eine dunkelbraune Dynel-Skimütze, die er sich über die Ohren gezogen hatte. Sein Partner war größer und nicht so füllig. Er hatte einen Bürstenschnitt und seine blaue Strickmütze so umgeschlagen, daß sie aussah wie ein schlampiges Schiffchen. Der Kleine sagte: »Wo ist der Junge?« Der Lange sah auf mich und sagte: »Spenser. Kein Mensch hat mir erzählt, daß du dabei bist.« Ich sagte: »Tag, Buddy.« Der Kleine fragte: »Wer ist das?« »Ein Privatschnüffler«, sagte Buddy. »Heißt Spenser. Bist du am Arbeiten, Spenser?« Ich sagte: »Ja.« »Mir hat keiner gesagt, daß du hier wärst.« »Mel wußte nichts davon, Buddy. Er kann nichts dafür.« »Von Mel hab’ ich nicht geredet«, sagte Buddy. »Ach, komm schon, Buddy, sei nicht blöd. Wer sonst sollte euch nach dem Jungen schicken?«
Der Kleine sagte: »Geht dich einen Dreck an. Laß das Bübchen aufmarschieren.« Ich sagte zu Buddy: »Wer ist denn dein Freund mit dem Kopf in der Tüte?« Buddy ließ ein winziges Lächeln sehen. Der Kleine sagte: »Wie ist die Bemerkung gemeint, Schlappsack?« »Sie soll besagen, daß du aussiehst, als hättest du dir eine Bademütze aus Kunstrasen übergestülpt. Die drolligste Zudecke, die mir je vorgekommen ist.« »Quassel nur weiter, Schlappsack, dann sehn wir mal, wie drollig du bist.« Buddy sagte: »Bleib auf dem Teppich, Harold.« Er wandte sich an mich. »Wir sind gekommen, um den Jungen wieder zu seinem alten Herrn zurückzubringen. Wir wußten zwar nicht, daß du hier bist, aber das ändert nichts an dem Plan.« Ich sagte: »Nein.« »Nein, wir können ihn nicht mitnehmen, oder nein, es ändert an dem Plan nichts?« fragte Buddy. »Nein, ihr könnt ihn nicht mitnehmen«, sagte ich. Harold zog einen schwarzledernen Totschläger aus seiner Hüfttasche und klopfte damit sanft an seine Handfläche. »Das wird mir gefallen«, sagte er. Und ich versetzte ihm eine kurze linke Gerade auf die Nase, mit einer seitlichen Drehung im Stoß, um alles hineinzulegen und weniger Angriffsfläche zu bieten. Das Blut schoß aus Harolds Nase, er wankte drei Schritte zurück und fuchtelte zum Ausgleich mit den Armen. Der Totschläger traf eine Tischlampe, die er zerschmetterte. Harold fand sein Gleichgewicht. Mit einer Hand drückte er das Blut ab, das ihm aus der Nase kam, und schüttelte kurz den Kopf, als hätte er eine Fliege im Ohr. Buddy hob ein wenig traurig die Schultern. Harold ging erneut auf mich los, und ich versetzte ihm den gleichen Schlag
am gleichen Punkt, ein bißchen fester. Er setzte sich hin. Sein Gesicht und sein Hemd waren voller Blut. »Jesus Maria, Buddy«, sagte er. »Beweg dich. Uns beide kann er nicht schaffen.« »Doch, er kann«, sagte Buddy. Harold wollte aufstehen. Seine Knie waren weich. Buddy sagte: »Laß es sein, Harold. Er bringt dich um, wenn du’s noch mal probierst.« Harold war auf den Beinen, versuchte das Bluten aus seiner Nase zu stoppen. Er hielt noch den Totschläger in der rechten Hand, schien sich aber nicht mehr daran zu erinnern. Er sah verwirrt aus. Ich sagte: »Den hast du als Muskelmann mitgebracht, Buddy?« Buddy zuckte mit den Achseln. »Für das Weib hätte er gelangt«, meinte er. »Auf Friseure und Autohändler, die mit der Schutzgebühr im Rückstand sind, versteht er sich gut.« Buddy breitete die Hände aus. »Wieso ist Mel nicht selbst gekommen?« »Ich kenne keinen Mel.« »Komm schon, Buddy. Willst du dich mit den Bullen von Lexington über Hausfriedensbruch und tätlichen Angriff unterhalten?« »Was dann aber wohl passiert? Ob die mich mit ihrem Knüppel windelweich hauen?« »Knast ist Knast, Junge. Spielt keine Rolle, wer dich reinbringt. Lange keinen Urlaub mehr in Walpole verbracht, du und Harold?« »Wie wär’s, wenn wir hier einfach verschwinden?« sagte Harold. Es hörte sich dumpf an. Er hatte seine Nase mit einem Taschentuch verstopft. Ich langte hinter mich und zog meinen Revolver aus dem Hüfthalfter. Ich zeigte ihn den beiden. Ich lächelte.
Buddy sagte: »Also, wir kennen Mel. Wir dachten, wir könnten ihm einen Gefallen tun. Er hatte gehört, daß seine alte Dame einen Schnüffler als Leibwache angestellt hatte. Wir dachten, wir könnten das Kind für ihn holen. Wir wußten nicht, daß du es warst. Wir dachten, es wäre irgendein Heuler, der früher Bankwächter war. Gott, wir haben nicht mal ‘ne Kanone mitgebracht.« »Woher kennst du Mel, Buddy?« Buddy zuckte wieder die Achseln. »Zufällig getroffen, weißt du. Wollten ihm nur einen Gefallen tun.« »Was hat er euch bezahlt?« »Hundert für jeden.« »Oberklasse«, kommentierte ich. »Bis ein andermal«, sagte Buddy. »Komm, Harold. Wir ziehen ab.« Harold blickte auf den Revolver. Er blickte auf Buddy. Buddy sagte: »Komm schon«, und wandte sich zur Tür. Harold sah noch einmal mich an. Dann schob er hinter Buddy her. Patty sagte: »Spenser.« Ich schüttelte den Kopf und steckte die Waffe weg. »Sagt Mel, wenn er weiterhin Leute herschickt, die uns belästigen, werde ich böse.« Buddy nickte und ging die drei Stufen zum Flur hinunter. Harold folgte ihm. »Die nächsten, die er schickt, werden nicht rausgehen«, sagte ich. Buddy blieb stehen und blickte zurück. »Du warst nie ein Schütze«, sagte er. »Das ist dein Fehler.« Dann ging er zur Haustür hinaus und Harold nach ihm. Ich hörte, wie sie sich hinter ihnen schloß. Patty Giacomin blieb stehen, wo sie die ganze Zeit über gestanden hatte. »Warum haben Sie sie gehen lassen?« fragte sie.
»Wir hatten ein Abkommen«, sagte ich. »Wenn sie meine Fragen beantworten, würde ich sie nicht ausliefern.« »Davon ist nicht gesprochen worden«, sagte sie. »Stimmt, aber Buddy und ich wußten es beide.« »Woher kennen Sie ihn? Wer sind die Leute?« »Harold kenne ich nicht. Buddy begegnet mir immer mal. Er arbeitet in den Docks, und er gaunert. Wenn es Arbeit gibt, entlädt er Schiffe. Gibt es keine, dann stiehlt er. Er ist ein Laufbursche. Sie hätten gerne die Versicherung für Ihr abgebranntes Lagerhaus, Sie geben Buddy ein paar Dollar und er steckt es an. Sie möchten eine Mercedes-Limousine, Sie bezahlen Buddy und er stiehlt eine für sie. Ein Lebensmittelhändler schuldet Ihnen Geld, will’s aber nicht bezahlen, und Buddy geht hin und kassiert. Nichts Schweres, nichts Kompliziertes.« »Er gehört ins Gefängnis«, sagte Patty. »Ja, wird wohl so sein. Er war schon mal drin. Er wird wieder reinkommen. Er ist kein so übler Kerl.« »Also ich finde ihn ziemlich übel«, sagte sie. »Er ist in mein Haus eingedrungen, hat mich grob behandelt, versucht meinen Sohn zu entführen. Ich finde ihn sehr übel.« »Klar, das kann ich mir denken. Aber das liegt nur daran, daß Sie keine Leute kennen, die tatsächlich sehr übel sind.« »Und Sie kennen welche?« »Allerdings«, sagte ich. »Nun, ich bin mal froh, daß ich keine kenne. Hoffentlich hat Paul das nicht mit angesehen.« »Doch, er hat«, sagte ich. Ich nickte zur Treppe hin. Im Dunkel des oberen Flurs, drei Stufen oberhalb des Wohnzimmers, stand Paul und schaute herunter. »Paul«, sagte sie. »Seit wann bist du da?« Er schwieg. Ich sagte: »Seit Buddy und Harold hereinkamen.«
»Hab’ keine Angst, Paul«, sagte sie. »Es ist in Ordnung, Mr. Spenser hat sie weggeschickt. Er läßt nicht zu, daß sie uns belästigen.« Paul kam die Stufen herunter und blieb auf der mittleren stehen. »Wieso haben Sie sie nicht erschossen?« fragte er. »Das brauchte ich nicht«, sagte ich. »Hatten Sie Angst, es zu tun?« Patty Giacomin sagte: »Paul.« »Hatten Sie Angst?« »Nein.« »Der Mann sagte, Sie hätten einen Fehler. Sie wären kein Schütze.« »Stimmt.« »Was meinte er damit?« Patty sagte: »Paul, das genügt. Wirklich. Du bist sehr unverschämt.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Das alles dreht sich doch um ihn. Er hat ein Recht, Fragen zu stellen.« »Was meinte er damit?« sagte Paul. »Er meinte, wenn ich schneller bereit wäre, Menschen zu töten, würde meine Drohung besser wirken.« »Und würde sie’s?« »Wahrscheinlich.« »Warum sind Sie nicht schneller bereit?« »Hat mit der Heiligkeit des Lebens zu tun. Solchen Sachen.« »Haben Sie schon mal jemand getötet?« Patty sagte: »Paul!« »Ja.« »Und?« »Ich mußte. Ich tu’s nicht, wenn ich es nicht muß. Nichts ist absolut.«
»Wie meinen Sie das?« Er kam hinunter zum Wohnzimmer ins Licht. »Ich meine, daß man Regeln für sich aufstellt und dabei weiß, daß man gegen sie verstoßen muß, weil sie nicht immer funktionieren.« Patty sagte: »Ich weiß nicht, was ihr beide daherredet, aber ich möchte, daß ihr damit aufhört. Ich will nichts mehr vom Töten hören, und ich will nicht mehr über diese beiden Männer sprechen. Es ist mein Ernst. Ich möchte, daß es aufhört.« Sie klatschte in die Hände, als sie den letzten Satz sprach. Paul sah sie an, als wäre sie eine Küchenschabe, und drehte sich um und ging zurück auf sein Zimmer. »Ich glaube, ich brauche einen Drink«, sagte Patty. »Könnten Sie mir etwas zurechtmixen?« »Sicher«, sagte ich. »Was soll es sein?«
12
Als sie es das nächstemal versuchten, war es gemeiner. Patty Giacomin war Lebensmittel einkaufen, als ich losfuhr, um Paul von der Schule abzuholen. Als ich mit Paul ins Haus zurückkam, klingelte das Telefon. Paul nahm den Hörer ab, dann hielt er ihn mir hin. »Es ist für Sie«, sagte er. Ich nahm den Hörer, und Paul blieb in der Tür zwischen Wohnzimmer und Küche, um aufzupassen, wer es war. Es war eine Stimme, die ich nicht kannte. Sie sagte: »Spenser?« Ich sagte: »Ja.« Sie sagte: »Hier ist jemand, der mit Ihnen sprechen möchte.« Ich sagte: »Okay.« Schlagfertigkeit heißt mein Spiel. Es gab ein Schlurfen am anderen Ende, dann kam die Stimme von Patty Giacomin. Sie klang zittrig. »Spenser. Dieser Buddy und ein paar andere Männer haben mich. Sie sagen, wenn Sie ihnen Paul nicht geben, lassen sie mich nicht weg.« Ich sagte: »Okay, geben Sie mir Buddy. Wir werden etwas aushandeln.« Sie sagte: »Spenser…«, und dann meldete sich Buddys Stimme. »Bist du das?« »Ja«, sagte ich. Buddy sagte: »Hier ist der Plan. Du bringst den Jungen zur Bostoner Seite der Mass. Avenue Bridge. Wir bringen Muttchen zur Cambridge-Seite. Wenn wir sehen, daß du den
Jungen losschickst, schicken wir Muttchen in die andere Richtung. Hast du begriffen?« »Ja. Machen wir’s gleich?« »In ‘ner Stunde. Wir sind in einer Stunde da.« »Okay.« »Spenser?« »Ja?« »Verpatz das nicht. Ich hab’ Leute bei mir, die keine Harolds sind, verstanden?« »Ja.« Buddy hängte ein. Ich brach die Verbindung ab und wählte die Auskunft. »Harbour-Health-Klub in Boston«, sagte ich dem Telefonisten. Ich sah auf meine Uhr. Fünf vor halb drei. Der Telefonist gab mir die Nummer. Ich drückte sie in die Tasten des Apparats. Es läutete. Eine Frau kam dran. Ich sagte: »Henry Cimoli bitte.« Die Frau sagte: »Ein Momentchen.« Es klang, als ob sie Kaugummi kaute. Henry sagte: »Hallo.« Ich sagte: »Spenser. Ich brauche Hawk. Weißt du, wo er steckt?« »Er steht vor mir.« Manchmal ist es besser, Glück zu haben, als tüchtig zu sein. Ich sagte: »Gib ihn mir.« Nach einer Sekunde sagte Hawk »Hmm« in den Apparat. »Kennst du Buddy Hartman?« fragte ich. Hawk sagte: »M-hmm.« Ich sagte: »Er und ein paar andere haben eine Frau. Sie wollen sie gegen einen Jungen austauschen, den ich habe. Um fünf vor halb vier werden sie auf der Cambridge-Seite der Mass. Avenue Bridge sein. Ich bin dann auf der Bostoner Seite. Wir werden sie gleichzeitig losschicken. Wenn sie sich
auf halbem Weg treffen, möchte ich, daß du Buddy und seine Freunde kurzhältst, während ich auf die Brücke fahre und sie beide aufgreife, den Jungen und die Frau.« Hawk sagte: »Das sind fünf Minuten Arbeit, aber ich muß hinfahren und auch wieder heim. Kostet dich zwei Scheine.« »Ja, ich hab’ keine Zeit, mit dir ums Honorar zu feilschen. Bin auf dem Weg.« »Ich werd’ da sein«, sagte Hawk. Wir hängten ein. Paul starrte mich an. Ich sagte: »Komm, wir müssen deine Mutter holen.« »Wollen Sie mich denen geben?« »Nein.« »Und wenn die versuchen, mich zu erschießen?« »Das werden sie nicht. Komm, wir reden im Auto.« Im Wagen fragte ich: »Hast du gehört, was ich am Telefon zu Hawk sagte?« »Wer ist denn Hawk?« »Freund von mir, spielt keine Rolle. Was ich sagte, hast du gehört?« »Ja.« »Okay. Ich kann nicht glauben, daß wir hier etwas furchtbar Gefährliches besprechen. Aber ich möchte, daß du folgendes tust. Wenn ich dich nachher rausschicke, gehst du über die Mass. Avenue Bridge in Richtung Cambridge los.« »Wo ist die Mass. Avenue Bridge?« »Führt am MIT über den Charles. Du wirst sehen. Wenn deine Mutter bei dir angelangt ist, sagst du ihr: ›Flach auf den Boden legen, Spenser kommt‹ und wirfst dich aufs Pflaster. Falls sie nicht runtergeht, befiehl es ihr. Ich werde auf die Brücke fahren und dann aus dem Auto steigen. Sag ihr, daß sie sich ans Steuer setzen soll. Du steigst auf der anderen Seite ein.« »Was ist mit diesem Buddy?«
»Um den kümmert sich Hawk, bis ich hinkomme.« »Aber wenn er’s nun nicht tut?« Ich lächelte. »Das sagst du, weil du Hawk nicht kennst. Hawk wird die Cambridge-Seite übernehmen.« Ich schrieb Susans Adresse auf ein Stück Papier. »Deine Mutter soll mit dir dorthin fahren.« Der Junge war nervös. Er gähnte wiederholt. Ich konnte hören, wie er schluckte. Sein Gesicht sah verkniffen und farblos aus. »Was, wenn sie nicht da ist?« sagte er. »Kein Grund, weswegen sie nicht da sein sollte«, sagte ich. »Was, wenn die Sache nicht klappt?« »Ich werde dafür sorgen, daß sie klappt«, sagte ich. »Darin bin ich gut. Vertrau mir.« »Was würden die machen, wenn die mich bekämen?« »Dich zu deinem Vater bringen. Du wärst nicht schlechter dran als jetzt. Beruhige dich. Du hast nichts zu verlieren. Dein Vater würde dir nicht weh tun.« »Vielleicht doch«, sagte Paul. »Er mag mich nicht. Er will nur mit meiner Mutter abrechnen.« Ich sagte: »Schau, Junge, es hat keinen Wert, endlos über Dinge nachzudenken, die man nicht steuern kann. Jetzt ist Zeit, damit aufzuhören. Du hast es schwer gehabt, und es sieht nicht so aus, als würde es sich bessern. Es ist Zeit, erwachsen zu werden. Es ist Zeit, mit dem Reden aufzuhören und bereit zu sein. Verstehst du?« »Bereit wofür?« »Für alles, was auf dich zukommt. Dein Ausweg aus einem miesen Familienleben besteht darin, daß du früh erwachsen wirst, und damit könntest du genausogut gleich anfangen.« »Was soll ich denn tun?« »Was ich dir sage. Und jammere dabei so wenig, wie du kannst. Das wäre mal ein Anfang.«
»Aber ich hab’ Angst«, sagte er. Empörung lag in seiner Stimme. »Das ist ein normaler Zustand«, sagte ich. »Er ändert aber gar nichts.« Er war still. Wir passierten die Mount-Auburn-Klinik und fuhren über den Charles auf die Soldier’s Field Road. Das Harvard-Stadion rechts sah aus, wie es aussehen sollte, rund und gewaltig, mit überwölbten Durchgängen und Efeu an den Wänden. Die Sportanlagen erstreckten sich über weite Flächen im Umkreis. Die Soldier’s Field Road wurde zum Storrow Drive, und an der BU verließ ich den Storrow und folgte der komplizierten Schleife, bis ich über die Commonwealth stadteinwärts kam. An der Mass. Avenue gab es eine Unterführung. Ich ließ sie links liegen und bog auf die Mass. Avenue, fuhr an der Auffahrt vom Storrow Drive vorbei und parkte mit eingeschalteter Warnblinkanlage auf der Brücke. Es war zwanzig nach drei. Neben mir grollte Pauls Magen. Er rülpste leise. »Sehen Sie sie?« fragte er. »Nein.« Ein Wagen hinter mir hupte drauflos, und der Fahrer sah böse drein, als er vorbeikam. Zwei Jugendliche in einem Buick fuhren um uns herum. Der auf dem Fahrersitz zeigte mir einen Vogel. Der Beifahrer nannte mich durch sein runtergedrehtes Fenster ein Arschloch. Ich ließ die Cambridge-Seite der Brücke nicht aus den Augen. Um fünf vor halb sagte ich zu Paul: »Okay. Es ist Zeit, daß du losgehst. Sag mir, was du tust.« »Ich gehe zur Mitte rüber, und wenn meine Mutter bei mir ankommt, sag’ ich ihr, daß sie sich hinlegen soll, Sie würden kommen, und dann leg’ ich mich auch hin.« »Und wenn sie sich nicht fallen läßt?« fragte ich. »Sag ichs ihr noch mal.«
»Und wenn ich auftauche, passiert was?« »Ich steig auf der einen Seite ein. Sie auf der anderen. Wir fahren zu der Adresse.« »Gut. Okay, lauf über die Straße. Sie werden sie auf ihrer Seite losschicken.« Er blieb einen Moment sitzen. Rülpste noch mal. Gähnte. Dann öffnete er die Tür des MG und trat hinaus auf den Gehsteig. Er überquerte die Straße und begann langsam auf das Cambridge-Ufer zuzugehen. Er ging ungefähr drei Schritte und blickte sich nach mir um. Ich grinste ihm zu und zeigte ein V mit den Fingern. Er ging weiter. Am anderen Ende der Brücke sah ich seine Mutter aus einem schwarzen Oldsmobile steigen und auf uns zukommen. Die Mass. Avenue Bridge ist offen. Sie ruht auf Bögen, die auf Sockeln ruhen. Es gibt keinen Oberbau. An Sommerabenden lädt sie zum Spazierengehen ein. Es heißt, daß ein paar MIT-Studenten sie einmal ausgemessen haben, indem sie wiederholt einen Kommilitonen namens Smoot auf den Boden legten und seine Körperlänge absteckten. Alle sechs Fuß ungefähr sieht man immer noch Reste der Angaben ein Smoot, zwei Smoots auf das Pflaster gepinselt. Ich habe mir nie merken können, wie viele Smoots die Brücke lang war. Er war fast bei seiner Mutter. Dann trafen sie sich. Auf der anderen Seite der Brücke setzte sich das Oldsmobile langsam in Bewegung. Der Junge warf sich aufs Pflaster. Seine Mutter zögerte erst, kauerte sich dann neben ihn und raffte ihren Rock. Flach, murmelte ich, Flach, verdammt noch mal. Ich warf den MG an und fuhr auf Paul und seine Mutter zu. Auf der anderen Seite beschleunigte das Oldsmobile. Ein Ford Kombi kam vom Memorial Drive her um die Ecke, schwenkte unter viel quietschendem Gummi und grellem Gehupe auf die falsche Fahrbahn und rammte den Olds von der Seite, schleuderte ihn gegen den hohen Bordstein und nagelte ihn
fest. Bevor die Wagen noch standen, rollte Hawk mit einer Kanone von der Größe eines Hockeyschlägers auf der Fahrerseite heraus und zielte über die Haube des Kombis hinweg. Ich durchschnitt den Verkehr und lenkte den MG zwischen den Olds und den beiden Giacomins an den Gehsteig. Von weiter unten hörte ich Schüsse. Ich riß die Handbremse hoch, schaltete auf Leerlauf und kletterte aus dem MG. »Patty, einsteigen, fahren Sie mit Paul nach Smithfield, er hat die Adresse. Erklären Sie, wer Sie sind, und warten Sie dort auf mich. Los.« Wieder krachte ein Schuß, aus etwa fünf Smoots Entfernung. Ich hatte meine Waffe draußen und lief auf den Olds zu, als ich den MG mit quietschenden Reifen abfahren hörte. Ich war fast bei dem Olds, als ich sah, wie Hawk über die Haube des Kombi sprang, auf der Fahrerseite in den Olds griff und mit der linken Hand jemand zum Fenster herauszog. Mit dem Lauf seiner Waffe stieß er dem anderen die Pistole aus der Hand, verlagerte leicht sein Gewicht, schob dem Mann die rechte Hand mitsamt der Kanone in den Unterleib und warf ihn über das Geländer in den Charles River. Ein großer Bursche mit einer Tweedmütze kletterte aus dem Rücksitz des Olds, als ich hinter dem Wagen herumkam. Ich drehte mich auf dem linken Fuß seitwärts und trat ihm mit dem rechten ins Kreuz. Er stürzte lang hin, und eine Waffe, die wie eine Beretta aussah, knallte aufs Pflaster, während er fiel. Sie schlitterte zwischen den Stangen des Geländers durch und in den Fluß. Ich schaute in den Wagen und sah Buddy auf der Fahrerseite am Fußboden hocken, zusammengekauert unterm Armaturenbrett. Hawk schaute zum anderen Fenster herein, die riesige Kanone im Anschlag. Hawk sagte: »Scheiße«, lang und gedehnt, wie es seine Art war. Von der Bostoner Seite der Brücke her hörte ich eine
Sirene. Hawk genauso. Er steckte die Panzerbüchse unter seine Jacke. »Laß uns abhauen«, sagte ich. Er nickte. Wir liefen die Mass. Avenue hinunter und in eines der MIT-Gebäude. Wir kamen in einen überfüllten Korridor, der mit Modellschiffen in Glaskästen gesäumt war. »Bemüh’ dich, wie ein geistig reger, neunzehn Jahre alter Wissenschaftler auszusehen«, sagte ich. »Bin doch einer, Chef. Bin ein Doktor der Rauferei.« Hawk trug hautenge, unverwaschene Jeans, die in schwarzen Stiefeln steckten. Sein schwarzes Seidenhemd war fast bis zur Taille aufgeknöpft, und die Kanone war unter einer weißen Lederweste mit breitem Kragen verborgen, den Hawk hochgeschlagen trug. Sein Kopf war geschoren und glänzte wie schwarzes Porzellan. Er war so groß wie ich, vielleicht um Haaresbreite größer, und an seinem Körper war kein Fleisch, nur Muskeln auf Knochen, in harten Paketen. Die schwarzen Augen über den hohen Backenknochen waren humorvoll und ohne Gnade. Wir gingen aus einer Seitentür am Ende des Korridors. Hinter uns waren immer noch Sirenen. Wir schlenderten über den MIT-Campus weiter weg von der Mass. Avenue. »Tut mir leid um deinen Wagen«, sagte ich. »Is’ nicht mein Wagen, Mann«, sagte Hawk. »Du hast in geklaut?« »‘türlich. Hau doch meine eigene Kiste nicht drauf, Mann.« »‘türlich nicht«, sagte ich. »Ob sie wohl den Burschen schon aus dem Charles gefischt haben?« Hawk grinste. »Verdammt«, sagte er. »Wünschte, die Bullen hätten sich nicht so beeilt. Ich wollte die alle reinschmeißen.«
13
Wir wanderten auf verschlungenen Pfaden durch den MITKomplex zum Kendali Square hinunter und erwischten die UBahn zur Park Street. Wir gingen über den Common hinauf zur Beacon, wo Hawks Wagen vor dem Rathaus parkte, an einem Schild mit der Aufschrift RESERVIERT FÜR MITGLIEDER DER GENERALVERSAMMLUNG. Es war ein silbergrauer Jaguar XJ 12. Hawk sagte: »Du schuldest mir zwei Scheine, Junge.« Ich sagte: »Nimm mich mit zu Susan.« »Nach Smithfield?« »Ja.« »Das ist im Wald, Mann. Das ist der hinterste, tiefste Urwald da draußen.« »Hawk, es ist dreizehn Meilen nördlich. In zwei Stunden wären wir hingelaufen.« »Dinner«, sagte Hawk. »Dinner und Champagner, ich kauf den Champagner. Gibt es Champagner in den Wäldern, Junge?« »Wir können am Handelsposten vorbeifahren«, sagte ich. »Kostet allerdings viele wampum.« Wir stiegen ein, Hawk setzte den Jaguar in Gang, und wir schnurrten nordwärts über die Mystic Bridge. Hawk legte ein Olatunji-Band auf, und der Wagen bebte vor Schlagzeug bis nach Saugus, wo Hawk von Route 1 abbog und in einem Marginett’s drei Flaschen Taittinger Blanc de Blancs kaufte. Zu fünfundvierzig Dollar die Flasche schmälerte das ziemlich den Gewinn an den zweihundert, die ich ihm zu bezahlen hatte. Er brachte auch zwei Sechserpacken Beck’s Bier mit.
»Zwecklos, an dich Champagner zu verschwenden«, meinte er. »Du bist mit Bier geboren, du stirbst mit Bier. Im Handschuhfach ist ein Öffner.« Hawk schälte die Folie vom Hals einer Flasche Taittinger und drehte mit einem Knall den Korken heraus. Ich öffnete eine Flasche Bier. Hawk trank vom Hals seiner 45-DollarChampagnerflasche, während er den Jaguar die Route 1 hinaufkutschierte. »Der Unterschied zwischen dir und mir, Junge«, meint er. »Hier hast du ihn.« Er trank noch einen Schluck Champagner. »Solange es einen gibt«, sagte ich, »genügt jeder Unterschied.« Er lachte leise und drehte sein Olatunji-Band lauter auf. Es war Viertel vor sechs, als wir in Susans Auffahrt einbogen. Mein MG war dort, neben dem Wagen, den Susan sich für den MG gekauft hatte. Es war ein großer roter Ford Bronco mit weißem Dach und Vierradantrieb, ein Hochleistungs-Drumund-Dran mit großen Reifen und weißer Reliefbeschriftung. Hawk sah ihn sich an und sagte: »Was ist das denn, Mann?« »Das ist Suzes neues Gefährt. Zu Weihnachten besorg ich ihr noch Fuchsschwänze und ein paar große Schaumgummiwürfel.« »Ein Riesenbrummer«, sagte Hawk. Wir gingen hinein. Susan war die einzige Person, die ich kenne, für die Hawk etwas zu empfinden schien. Er grinste, als er sie sah. Sie sagte »Hawk« und kam zu uns und küßte ihn. Er gab ihr die zwei ungeöffneten Flaschen Champagner. »Hab’ uns ein Geschenk mitgebracht«, sagte er. »Spenser hat ein Abendessen versprochen.« Sie schaute mich an. »Was bin ich – Howard Johnson’s Restaurant?« »Steht dir wirklich gut, wenn du dich ärgerst«, sagte ich.
Sie nahm den Champagner und ging murmelnd zur Küche hinüber. »Ich armer Wirt an der verdammten Landstraße.« »Du hast vergessen, mein Bier mitzunehmen«, sagte ich. Sie ging weiter. Hawk und ich traten ins Wohnzimmer. Paul sah sich im Fernsehen ein Kegelturnier an. Patty war etwas am Trinken, das nach Bourbon on the rocks aussah. »Das ist Hawk«, sagte ich. »Patty Giacomin und ihr Sohn Paul.« Paul blickte auf Hawk und dann wieder auf die Kegelrunde. Patty Giacomin lächelte und wollte aufstehen, überlegte es sich aber und blieb sitzen. »Sind Sie der andere?« fragte sie. Hawk sagte: »Ja.« Er trank etwas Champagner aus der Flasche. Susan kam herein. Sie brachte vier geriffelte Sektgläser auf einem Tablett und eine weitere Flasche Champagner in einem Kühler. »Vielleicht möchtest du es mal mit einem Glas versuchen«, sagte sie zu Hawk. »Könnt ich wohl mal, Missy Susan«, meine er. Sie fragte Patty: »Darf Paul auch ein Glas trinken?« Patty sagte: »Oh, sicher.« Susan sagte: »Hättest du gerne ein Glas, Paul?« Paul sagte: »Okay.« Patty Giacomin wandte sich an Hawk. »Ich möchte Ihnen danken für das, was Sie heute getan haben.« Paul sagte: »Keine Ursache.« »Ich meine es wirklich ernst. Es war so mutig von dir, ich hatte so schreckliche Angst. Es war wundervoll, daß Sie uns geholfen haben.« »Spenser gab mir zweihundert Dollar«, sagte Hawk. »Ich nehme an, sie werden auf seiner Spesenrechnung auftauchen.« »Sind Sie auch Detektiv?« fragte Patty.
Hawk lächelte. »Nein«, sagte er. »Nein, bin ich nicht.« Sein Gesicht strahlte vor Heiterkeit. Ich sagte: »Ich werde mal das Bier wegstellen«, und ging in die Küche. Susan kam mir nach. »Was glaubst du eigentlich, was wir diesen Leuten vorsetzen sollen?« fragte sie. »Hast du Kuchen da?« sagte ich. »Es ist mein Ernst. Ich habe nichts im Haus, um fünf Personen zu bewirten.« »Ich fahre etwas holen«, sagte ich. »Und läßt mich deine Gäste unterhalten?« »Das steht dir frei«, sagte ich. »Aber mir liegt nichts an einem Streit.« »Dann tu’ mir so was nicht an. Ich sitze ja hier nicht einfach herum und warte darauf, daß deine Probleme hereinschneien.« »Liebst du mich, liebst du meine Probleme«, sagte ich. »Manchmal frage ich mich, ob das eine lohnende Perspektive ist.« »Da haben wir’s«, sagte ich, »du redest schon wieder diesen Bildungsindustriejargon.« Sie schaute in den Kühlschrank. »Wenn ich Perspektive sagen will, dann, dann sage ich Perspektive. Ich hab’ noch diesen Williamsburg-Speck da. Wir könnten einen Schwung Sandwiches mit Speck, Tomaten und Salat machen.« »Und dazu noch ein paar von diesen Mixpickles, die wir letzten Herbst eingelegt haben.« »Und Schnittblumen in der Vase und das Meyer-DavisOrchester? Geh lieber wieder rein und hilf bei der Konversation mit. Hawk muß drauf und dran sein, aus der Haut zu fahren.« »Nicht Hawk«, sagte ich. »Ihn stört Schweigen nicht. Er will nicht reden – er wird nicht reden. Auf Geplauder läßt er sich selten ein.«
»Er läßt sich überhaupt auf wenig ein«, sagte Susan, »oder?« »Nein. Er ist völlig zu. Komm mit rein und wir reden ein bißchen, dann ziehen wir alle in die Küche und machen Sandwiches und essen. Käse ist auch da, ein paar Äpfel auch. Es wird ein Festmahl.« Ich klopfte ihr leicht auf den Hintern. »Außerdem brauchen wir deinen Rat.« »Dir geb ich den Rat, Großer, deine Finger bei dir zu lassen.« Ich öffnete noch eine Dose Bier, und wir gingen zurück ins Wohnzimmer. Hawk hatte sich in einem Ohrensessel am Kamin ausgestreckt, die Beine lang vor sich, den Körper lässig zurückgelehnt. Als wir hereinkamen, nahm er einen kleinen Schluck aus seinem Sektglas und stellte es auf den Tisch am Sofa zurück. Patty und Paul sahen sich die 6-Uhr-Nachrichten an. Niemand sprach. Ich setzte mich in einen Schaukelstuhl auf der anderen Seite des Kamins, Hawk gegenüber. Ich sagte: »Paul, du hast es gut gemacht heute.« Er nickte. »Patty«, sagte ich, »erzählen Sie mir, was passiert ist.« »Ich kam aus dem Supermarkt, und drei Männer mit Schußwaffen zwangen mich, in das Auto zu steigen. Der eine, der in unser Haus kam, war mit dabei.« »Buddy?« »Ja. Er setzte sich vorn neben den Fahrer, und der andere Mann setzte sich mit mir nach hinten und wir fuhren zu einer Telefonzelle in Boston. Dann fuhren wir zu der Brücke, und sie befahlen mir, auszusteigen und loszugehen. Ansonsten sprachen sie überhaupt nicht mit mir und sagten kein Wort.« »Hast du einen von ihnen erkannt, Hawk?« »Der Kerl, den ich in den Fluß warf, ist Richie Vega. Er hat früher Massagesalons ausgenommen.« Patty sagte: »Mein Gott, wo findet Mel solche Leute als Handlanger?«
Hawk hob den Kopf ein bißchen und sah mich an. Ich zuckte die Schultern. Er ließ sein Kinn wieder auf die Brust sinken. Patty Giacomin fragte Hawk: »Kennen Sie meinen Mann?« Hawk sagte: »Nein. Nicht wenn er sich Mel Giacomin nennt.« »Aber so heißt er.« Hawk nickte. Patty sagte: »Wissen Sie, worum es hier eigentlich geht?« Hawk sagte: »Nein.« »Sie haben gegen drei Männer gekämpft, die bewaffnet waren, und haben einen in den Fluß geworfen, und Sie wissen nicht mal, warum?« Hawk sagte: »Ja, stimmt.« »Und Sie sind kein Detektiv oder so was?« »Nee.« Paul sah herüber und lauschte. Wir hatten ihn von der Röhre abgelenkt. »Ein Schläger?« »Ja, so etwas Ähnliches«, sagte ich. Die Nachrichtensprecher scherzten gequält mit dem Wetteransager im Fernsehen. Ich sagte zu Susan: »Ich weiß nicht, wieviel Patty dir erzählt hat, seit sie ankam, aber dir und Hawk zuliebe geh ich es ganz schnell mal durch.« Ich tat es. Als ich fertig war, herrschte Schweigen. Hawk schien fast zu schlafen. Nur die Abendnachrichten quäkten in der Ecke. Susan sagte: »So kann es aber doch nicht weitergehen. Sie und Ihr Mann werden verhandeln müssen.« »Nach dem, was er sich heute geleistet hat?« meinte Patty. »Mit diesem Mann rede ich nicht.« »Und das Gesetz?« sagte Susan. »Das Gesetz hat mir bereits das Sorgerecht zugesprochen.«
»Aber Entführung«, sagte Susan. »Entführung ist rechtswidrig.« »Sie meinen, ihn bei der Polizei anzeigen?« »Sicher. Sie können wenigstens zwei der Männer identifizieren. Hawk und Spenser können bezeugen, daß Sie tatsächlich entführt wurden. Bestimmt könnte die Polizei es zu Ihrem Mann zurückverfolgen.« Susan sah mich an. Ich nickte. Hawk nahm einen Schluck Champagner und stellte das Glas behutsam auf den Tisch zurück. Er lag fast in dem Sessel, die ausgestreckten Füße über Kreuz. »Er würde mich umbringen«, sagte Patty. »Heißt das, Sie scheuen sich, die Polizei zu informieren, aus Angst davor, was Ihr Mann tun würde?« »Ja. Er wäre außer sich. Er würde… Ich kann das nicht.« »Aber er hat Sie doch schon entfuhren lassen. Haben Sie nicht schon Angst vor ihm?« »Er hätte mich aber nicht verletzen wollen. Wenn ich es verraten würde, wäre er… Ich kann nicht. Ich kann das nicht tun.« »Sie haben also vor, mich für die Dauer zu engagieren?« sagte ich. »Ich kann nicht. Ich kann Sie nicht immer weiter bezahlen. Mir… mir geht das Geld aus.« Hawk lächelte in sich hinein. Ich blickte zu Susan. Sie sagte: »Was ist mit Paul? Kann er so aufwachsen?« Patty Giacomin schüttelte den Kopf. Wir waren alle still. Paul sah wieder fern. Die Politiksendung lief jetzt. Setzte Maßstäbe. Patty sagte: »Er will ja nicht mich haben. Er will Paul. Wenn ich ihn verraten würde…« »Kämen Sie unter Beschuß«, sagte ich. »Anstatt Paul.« Susan sagte: »Das ist es, oder?«
Patty schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Was ändert das schon? Ich gehe nicht zur Polizei. Ich gehe nicht.« Ihre Stimme zitterte. »Noch habe ich Geld. Wir werden etwas unternehmen.« Ich sagte: »Was?« Sie sagte: »Sie nehmen Paul mit.« »Mit wohin?« sagte ich. »Weiß ich nicht. Irgendwohin. Ich bezahle Sie dafür«, sagte sie. »Ich halte Paul versteckt, damit Ihr Mann ihn nicht finden kann?« »Ja. Ich bezahle es.« »Könnten sie denn nicht denselben Trick noch mal versuchen, den sie heute versucht haben?« »Ich ziehe zu einem Bekannten. Mel wird mich nicht finden.« »Weshalb nehmen Sie Paul dann nicht gleich mit?« sagte ich. »Kostet viel weniger.« »Er wird nicht zulassen, daß ich Paul mitbringe.« »Ihr Bekannter?« »Ja.« »Das ist nicht zufällig der alte Disko-Stephen? Den ich traf, als ich damals Paul nach Hause brachte?« Sie nickte. Ich sagte: »Wahrscheinlich fürchtet er, seine Kaschmirpullover könnten verknautschen, wenn es zu voll wird.« »So ist er nicht. Sie kennen ihn nicht«, sagte sie. »Na ja, ein Freund in der Not…« »Nehmen Sie Paul zu sich?« fragte Patty. Ich schaute zu ihm hinüber. Er starrte angestrengt auf den Bildschirm. Seine Schultern waren steif und verspannt. Er konzentrierte sich darauf, uns nicht zu beachten.
»Klar«, sagte ich. »Es würde mich freuen.« Susan sah mich mit geweiteten Augen an. Hawk gab ein Geräusch von sich, das wie ein leiser Lockruf der Schweinezüchter klang. »Wir sind schließlich alle Brüder«, sagte ich aufs Geratewohl. »Wir müssen uns gegenseitig helfen.« Susan schüttelte ihren Kopf.
14
Wir aßen unsere Sandwiches und tranken den Champagner in der Küche, ohne viel zu reden. Für fünfzig Dollar extra, erklärte Hawk, würde er Paul und seine Mutter nach Hause bringen und dort bleiben, bis ich eintraf. Weder Mutter noch Sohn sahen darüber sehr glücklich aus, doch sie fuhren. »Nur keine Angst«, meinte Hawk, als sie aufbrachen. »Ein paar von meinen besten Freunden sind Weiße.« Patty Giacomin warf mir einen Blick zu. »Er ist okay«, sagte ich. »Er ist beinahe so gut wie ich. Im Dunkeln womöglich besser. Sie werden sicher sein.« Paul sah mich an. »Wann wollen Sie mich denn abholen?« fragte er. »Morgen. Ich komme heute nacht noch, und morgen packen wir und ziehen los.« »Der kommt, Junge«, sagte Hawk. »Soviel steht beim alten Spenser fest, er ist berechenbar. Er sagt, er will was machen – er macht es.« Hawk schüttelte den Kopf. »Blöd«, meinte er. Sie gingen hinaus. Susan und ich standen in der Tür und sahen zu. Dann kam Hawks Jaguar surrend in Gang, und sie waren fort. Ich schloß die Tür, drehte mich um und nahm Susan in die Arme. »Couch oder Bett, kleine Lady?« sagte ich. »Gott, du bist meisterhaft«, sagte sie. »Vielleicht könntest du ja mit den Füßchen um dich treten und mit deinen kleinen Fäusten mir lieb auf die Brust trommeln?«
»Sei froh, wenn ich dir nicht die Hacken in die Leiste stemme«, sagte sie, »nach dieser verflixten unangekündigten Gesellschaft.« »Du meinst, ich muß dir jetzt verstärkt meine Aufmerksamkeit zuwenden?« »Ja«, sagte sie. »Aber du kannst sie auch im Schlafzimmer verstärken. Da ist es bequemer.« Ich ging mit ihr ins Haus. »Du riechst gut«, sagte ich. »Weiß ich«, sagte sie. »Halston.« Die Schlafzimmertür war angelehnt. Ich stieß sie mit dem Fuß auf und ging hinein. »Du solltest mich küssen«, sagte sie. »Meine Schreie ersticken.« Ich setzte mich auf den Bettrand und küßte sie. Ich ließ die Augen offen. Im Licht aus dem Flur konnte ich sehen, daß sie ihre schloß. Sie nahm den Kopf zurück und schlug die Augen auf und sah in mein Gesicht. Ich sagte: »Deine Lippen haben’s immer noch in sich, Baby.« Ihr Gesicht war ernst und still, aber ihre Augen funkelten. »Du hast noch gar nichts gesehen«, sagte sie. Es war spät, als wir fertig waren. Unsere Kleidungsstücke waren überall verstreut und der Bettbezug arg verknittert. Ich lag mit klopfendem Herzen auf dem Rücken, und meine Brust hob und senkte sich. Susan lag neben mir. Sie hielt meine Hand. »Hast du dich überanstrengt?« sagte sie. »Dein Widerstand war heftig«, sagte ich. »Mmm«, sagte sie. Aus dem Wohnzimmer kam schwach das Geräusch des Fernsehers, den Paul angelassen hatte. Die Vorstellung, daß er in einem leeren Raum seine Show ablieferte, gefiel mir. »Was hast du eigentlich mit diesem Jungen vor, Süßer?« fragte Susan.
»Ich dachte mir, daß wir das mal durchsprechen sollten«, sagte ich. »Wir?« »Du kennst dich mit Jugendlichen aus.« »Ich kenne mich mit Erziehungsfragen aus«, sagte sie. »Da besteht ein Unterschied.« »Ich werde Hilfe brauchen.« »Du wirst mehr brauchen als das. Der Junge muß ja schwierig sein. Auch ohne ihn zu kennen, läßt sich das voraussagen. Mein Gott, er ist ein Möbelstück in einem Scheidungsvertrag. Was weißt du denn über die Bedürfnisse eines neurotischen Heranwachsenden?« »Ich dachte, ich könnte dich fragen.« »Ausgehend von meiner Erfahrung mit dir?« »Ich bin nicht neurotisch.« Susan wandte mir ihr Gesicht zu. Im Halbdunkel sah ich sie lächeln. Sie drückte meine Hand. »Nein«, sagte sie, »bist du nicht. Du bist kompliziert, aber du bist nicht mal ein bißchen neurotisch.« »Der Junge muß von seinen Eltern weg«, sagte ich. »Die herkömmliche Weisheit ist das aber nicht, außer in extremeren Fällen als diesem.« »Vielleicht stimmt die herkömmliche Weisheit, wenn die Alternative darin besteht, im Jugendfürsorge- und Pflegeheimsystem zu landen.« »Aber nicht, wenn er bei dir sein kann?« »Nicht, wenn er bei mir sein kann«, sagte ich. »Du meinst, du kannst das Leben für ihn verbessern?« »Ja.« »Wie lange hast du denn vor, ihn zu behalten?« »Ich weiß es nicht.« »Es ist schon schwer genug, Kinder aufzuziehen, die man liebt«, sagte Susan. »Ich habe das an den Mißerfolgen gesehen,
immer und immer wieder. Eltern, deren Kinder einfach furchtbar versaut sind. Eltern, die ihre Kinder lieben und trotzdem ihr Leben restlos verpfuscht haben. Ich glaube, in diesem Fall sind deine Augen größer als dein Magen, Herzblatt.« »Was ist mit diesem Grundstück in Maine?« sagte ich. Susan stützte sich auf einem Ellbogen auf. »Fryeburg?« fragte sie. »Ja. Ich sagte dir, daß ich ein Haus darauf bauen wollte.« »Wenn sich die Gelegenheit ergäbe.« »Das ist die Gelegenheit.« »Du und Paul?« »Ja.« Sie war still, lag nackt neben mir, auf ihrer rechten Seite, den Kopf auf den rechten Ellbogen gestützt. Ihr Lippenstift war verschmiert. Die Intelligenz in ihrem Gesicht war wie Energie, ein sichtbares Schimmern fast. Daß sie schön war, fiel nur als erstes auf. »Arbeitserleichterung«, sagte sie. »Der Junge ist nie zur Handlungsfähigkeit erzogen worden«, sagte ich. »Er weiß überhaupt nichts. Er hat keinen Stolz. Er hat nichts, worin er gut ist. Er hat nichts als die Röhre.« »Und du hast vor, ihn zu unterweisen?« »Ich werde ihm beibringen, was ich kann. Ich kann Zimmermannsarbeit. Ich kann kochen. Ich kann boxen. Ich kann handeln.« »Und in der Koje bist du auch nicht so schlecht, Großer.« Ich grinste. »Das zu lernen überlassen wir vielleicht ihm selbst.« Sie schüttelte den Kopf. »Du stellst das alles so einfach dar. Es ist nicht einfach. Man bringt niemandem etwas bei, der nicht lernen will. Es ist nicht bloß eine intellektuelle Übung. Es
ist eine Sache des Gefühls, der Psychologie. Ich meine, der Junge könnte wirklich krank sein.« »Er hat nichts zu verlieren«, sagte ich. »Verglichen mit einem Nachmittag voller Fernsehshows ist alles besser. Himmel noch mal, der Junge sieht sich Familienserien an.« »Das tu’ ich auch.« »Aber an deiner Degeneriertheit ist nicht mehr zu rütteln«, sagte ich. »Außerdem tust du noch andere Dinge.« »Nur mit dir, Schmuckstück.« »Willst du dich daran beteiligen?« sagte ich. »An der Errettung von Paul Giacomin?« »Ja.« »Beraten will ich gerne«, sagte sie. »Ich möchte aber nicht, daß du zuviel in die Sache investierst. Die Erfolgsaussichten sind gering. Was wird, wenn seiner Mutter nächste Woche das Geld ausgeht?« »Darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn es passiert.« »Es wird bald passieren«, sagte Susan. »Weibliche Intuition?« »Glaub mir«, sagte sie. »Es dauert nicht lange.« Ich zuckte die Schultern. »Du wirst ihn trotzdem behalten«, sagte sie. Ich schwieg. »Bestimmt wirst du’s«, sagte sie, »du großer, gottverdammter Trottel. Du weißt es genau.« »Er muß schleunigst erwachsen werden«, sagte ich. »Er muß selbständig werden. Das ist die einzige Hoffnung für ihn. Bei ihm muß mit fünfzehn die Kindheit aufhören. Seine Eltern sind Dreck. Er kann nicht mehr von ihnen abhängig sein. Er muß selbständig werden.« »Und du willst ihm zeigen, wie?« »Ja.«
»Also, besser wäre keiner dafür. Du bist der selbständigste Mensch, der mir je begegnet ist. Aber es sind grimmige Aussichten für einen fünfzehn Jahre alten Jungen.« »Was hältst du denn von seinen Aussichten, wenn er nicht schleunigst erwachsen wird?« Susan war still und schaute auf mich nieder. »Der Frühling wird dieses Jahr ein bißchen spät sein«, sagte sie. »Für Paul? Ja.« Ich lachte ohne Freude. »Der Frühling ist vorbei. Das Finale wird für Paul im Herbst sein. Wenn ich es schaffe.« »Und wenn er es schafft«, sagte Susan.
15
Es war Anfang Mai und die Sonne war prall und warm. Die Forsythien hatten zu blühen begonnen. Die Vögel waren da, und die Jogger waren raus aus den Trainingshosen, weiß glänzten ihre Beine in der Frühlingssonne. Paul Giacomin kam mit einem großen grünen Plaidkoffer und einem zugeschnürten weißen Wäschesack aus dem Haus. Er trug immer noch seine Matrosenjacke. Er brauchte einen Haarschnitt. Seine Kordhose war zu kurz. Er hatte mit den zwei Gepäckstücken zu kämpfen. Ich fuhr Susans Bronco. Ich stieg aus und nahm Paul den Koffer ab und verfrachtete ihn nach hinten. Er packte den Wäschesack daneben und ließ die Zugschnur über die Wagenklappe hinaushängen. Ich schnippte die Schnur rein und ließ mit dem Schlüssel das Fenster hoch. Patty Giacomin kam heraus zu dem Bronco. Hellgrüne Hose, lavendelgrünes Hemd, weißer Blazer. Große Sonnenbrille, leuchtender Lippenstift. Stephen war bei ihr. Er war ebenso schön wie sie – Jeans mit einem Pierre-Cardin-Aufnäher, Stiefel von Frye, ein halbgeknöpftes tailliertes Hemd ohne Kragen, blau in blau längsgestreift, offene graue Kammgarnweste. Sein dunkel kastanienbrauner Pontiac Firebird stand in der Auffahrt der Giacomins. »Der Firebird stimmt nicht«, sagte ich. »Er paßt nicht zum übrigen Stil.« »Ach wirklich«, sagte Stephen. »Und was würden Sie vorschlagen?« »Einen Z vielleicht, oder einen Porsche. Diesen sauberen, kultivierten Euro-Look ausbauen, verstehen Sie?« Stephen lächelte. »Möglich«, meinte er.
Patty sagte zu ihrem Sohn: »Ich schreib dir mal.« Er nickte. Sie machte Anstalten, ihn an sich zu drücken. Anscheinend wollte ihr das nicht recht gelingen, und es endete damit, daß sie ihm kurz einen Arm um die Schultern legte und ihm auf den Rücken klopfte. Er ließ es still geschehen. Dann stieg er in den Bronco. Der hohe Tritt zum Vordersitz war schwierig, und er hatte seine Mühe damit, bis er sich schließlich hinaufwand. Ich stieg auf der Fahrerseite ein. Patty sagte: »Wiedersehn.« Paul sagte: »Wiedersehn«, und wir fuhren davon. Als wir von der Emerson Road abbogen, sah ich, daß Paul Tränen in die Augen stiegen. Ich beobachtete die Straße. Er weinte nicht. Wir nahmen Route 3 zur 495, die 495 zur 95, und fuhren auf der 95 nordwärts zum Portsmouth Circle. Während dieser Zeit sprach Paul kein Wort. Er saß und starrte aus dem Fenster in die immer gleiche Landschaft entlang den Highways. Ich spielte über die Stereoanlage ein Band von Johnny Hartman, nach der Devise, daß es nie zu früh sei, ihm Bildung beizubringen. Er hörte nicht hin. Am Portsmouth Circle nahmen wir die Schnellstraße nach Spaulding und dann Route 16. Jetzt waren wir im ländlichen Neuengland. Eine Autostunde von Boston grasten Kühe. Es gab Scheunen und Futtersilos und Kleinstädte mit Mühlen, die nicht mehr mahlten, im Zentrum. Gegen halb zwei am Nachmittag erreichten wir North Conway in New Hampshire. Ich hielt an einem Restaurant namens Horsefeathers gegenüber dem Anger in der Ortsmitte. Auf dem Anger war ein Softballfeld, und ein paar Kinder spielten eine Runde ohne Schiedsrichter. Ich sagte: »Laß uns was essen.« Er sagte nichts, stieg aber mit aus, und wir gingen in das Restaurant. Wir waren im ländlichen Neuengland gewesen.
Jetzt umgab uns ländlicher Chic. North Conway ist im Winter ein vielbesuchtes Skigebiet, und ringsum in New Hampshire wimmelt es von Ferienhäusern, bis hin über die Grenze nach Maine. Das Horsefeathers hatte Messing und Hängepflanzen, es sah nicht anders aus als die Restaurants in San Franzisko. Das Essen war gut, und um zwanzig nach zwei saßen wir wieder im Wagen, unterwegs nach Fryeburg. Um Viertel nach drei parkten wir schon am Rand des Kimball Lake. Das Land, das Susan als Teil der Scheidungsabfindung von ihrem Mann erhalten hatte, umfaßte nahezu drei Hektar Boden, inmitten von Wäldern, am Ende einer unbefestigten Straße. Zwar gab es Häuser entlang dem See, die zu nahe waren, als daß man sich wie Henry Thoreau hätte fühlen können, doch abgeschieden war es schon. Susans Exehemann hatte hier gejagt und gefischt. An einem Ende des Grundstücks hatte er eine kleine Hütte gebaut, mit fließendem Seewasser zum Duschen, einem Trinkwasserbrunnen, elektrischem Strom und Wasserklosett, aber ohne Zentralheizung. Im Wohnzimmer gab es einen freistehenden Kamin, die kombüsenartige Küche war mit einem kleinen Elektroherd und einem alten Kühlschrank ausgestattet; daneben gab es zwei kleine Schlafzimmer mit Bettgestellen aus Metall und ohne Schränke. Susan und ich kamen gelegentlich hierher, um über einem Holzfeuer Steaks zu grillen, im See zu schwimmen und durch die Wälder zu bummeln, bis die Insekten einen Schlußpunkt setzten. »Hier bleiben wir?« sagte Paul. »Ja. Wir werden in dieser Hütte wohnen, und morgen fangen wir an, eine neue und bessere zu bauen.« Paul sagte: »Wie meinen Sie das?« Ich sagte: »Wir werden ein Haus bauen. Du und ich.« »Das können wir doch nicht.« »Doch, wir können. Ich weiß wie. Ich bringe es dir bei.« »Woher wissen Sie denn, wie man ein Haus baut?«
»Mein Vater war Zimmermann.« Der Junge sah mich bloß an. Ihm war nie in den Sinn gekommen, daß Häuser von Leuten gebaut wurden. Manchmal wurden sie von Bauunternehmen aufgestellt, und manchmal entstanden sie wohl einfach von selbst. »Komm, ausladen. Wir werden hier sehr beschäftigt sein. Es gibt eine Menge zu tun.« »Ich habe keine Lust, ein Haus zu bauen«, sagte Paul. »Ich werde Hilfe brauchen. Alleine kann ich es nicht. Es ist mal gut, mit den Händen zu arbeiten. Es wird dir gefallen.« »Wird es nicht.« Ich zuckte die Schultern. »Wir werden sehn«, sagte ich. »Hilf mir ausladen.« Der Rücksitz des Bronco war vorgeklappt, so daß eine Menge Laderaum blieb. Der Laderaum war voll. Er enthielt die große alte Werkzeugkiste, die meinem Vater gehört hatte. Auch eine Handkreissäge, die ich im Vorjahr gekauft und manchmal in Susans Keller gebraucht hatte, war dort. Außerdem ein Satz Hanteln, eine Drückerbank, ein Sandsack, ein Punchingball, mein Koffer, eine große grüne Kühlbox mit leicht verderblichen, ein großer Karton mit anderen Lebensmitteln, ein Ithaca-Jagdgewehr mit halbautomatischem Nachladeschloß, Munition, einiges Angelzeug, zwei Schlafsäcke, Stiefel, eine fünfzellige Taschenlampe, eine Axt, Bücher, eine Machete, ein Karton mit Schallplatten, zwei Schaufeln, eine Hacke und dreißig Meter Seil. Ich schloß die Hütte auf und öffnete alle Fenster. Wir fingen an, die Sachen hineinzutragen und zu verstauen. Vieles war zu schwer für Paul, und alles, was er trug, faßte er irgendwie verkehrt an. Er griff nur mit den Spitzen seiner Finger zu. Als ich ihn bat, das Gewehr hineinzubringen, nahm er es ungelenk beim Lauf, anstatt es im Gleichgewicht zu halten. Eine der Schaufeln packte er am Blatt. Als wir fertig waren, stand ihm
der Schweiß im Gesicht, und er sah rot und erhitzt aus. Er hatte immer noch seine Matrosenjacke an. Es war fünf durch, als wir aufhörten. Die Insekten waren draußen, und es wurde kühl. Im letzten Herbst hatten Susan und ich ein billiges Stereogerät für die Hütte gekauft. Ich legte das 1938er Jazzkonzert von Benny Goodman auf, während ich Feuer machte. Ich trank ein Bier, während ich das Abendbrot in Angriff nahm. Paul hatte sich den See lange genug angeschaut. Er kam herein und nahm sich eine Coca aus dem Kühlschrank und ging ins Wohnzimmer. Im nächsten Augenblick war er wieder bei mir. »Haben Sie keinen Fernseher mitgebracht?« sagte er. »Nein«, sagte ich. Er schnaubte böse und ging zurück ins Wohnzimmer. Ich stellte mir vor, daß er den Plattenspieler anstarrte. Alles in der Not. Ich öffnete eine große Dose Bohnen und gab sie zum Erhitzen in eine Pfanne. Während sie heiß wurden, legte ich saure Gurken und Roggenbrot, Ketchup, Teller und Besteck heraus. Dann briet ich zwei Steaks. Wir aßen an einem Tisch im Wohnzimmer, da die Küche zu klein war, hörten dabei die Goodman-Band, sahen dem flackernden Feuer zu, rochen den Holzrauch. Paul trug immer noch die Matrosenjacke, obwohl es im Zimmer gut warm war. Nach dem Essen nahm ich mein Buch heraus und fing an zu lesen. Paul griff sich die Plattenalben und schaute sie an und legte sie angewidert zurück. Er sah aus dem Fenster. Er ging hinaus, um sich dort umzuschauen, kam aber fast sofort wieder herein. Die Insekten waren draußen, da es dunkel wurde. »Sie hätten einen Fernseher mitbringen sollen«, sagte er irgendwann. »Lies«, sagte ich. »Es sind Bücher da.« »Ich lese nicht gerne.«
»Immer noch besser, als bis zum Schlafengehen auf die Lichtleitungen zu starren, oder?« »Nein.« Ich las weiter. Paul sagte: »Was ist das für ein Buch?« »Ein ferner Spiegel«, sagte ich. »Wovon handelt es?« »Vom vierzehnten Jahrhundert.« Er war still. Saft quoll aus dem Rand eines Holzscheites und tropfte auf die heiße Asche darunter. »Wozu lesen Sie denn etwas über die Vierzehnhunderter?« sagte Paul. »Dreizehnhunderter«, sagte ich. »Genau wie die Neunzehnhunderter das zwanzigste Jahrhundert sind.« Paul zuckte die Achseln. »Also, warum lesen Sie darüber was?« Ich legte das Buch hin. »Ich möchte wissen, wie das Leben damals war«, sagte ich. »Mir gefällt das Gefühl der Verbundenheit über sechshundert Jahre hinweg, das ich dabei bekommen kann.« »Ich finde, das ist langweilig«, sagte Paul. »Verglichen womit?« sagte ich. Er zuckte die Achseln. »Ich finde, es ist langweilig im Vergleich zu einer Parisreise mit Susan Silverman«, sagte ich. »Alles ist relativ.« Er schwieg. »Ich weiß mehr über das Menschsein, wenn ich mehr über das Leben damals weiß. Ich kann alles eher in einem richtigen Verhältnis sehen. Die Zeit war voll von Leuten, die für Dinge, die ihnen erstrebenswert schienen, getötet, gefoltert, gelitten, gekämpft und sich abgequält haben. Jetzt sind sie seit sechshundert Jahren tot. Worum geht es eigentlich, Ozymandias?«
»Hm?« »›Ozymandias‹? Das ist ein Gedicht. Hier, ich zeig’s dir.« Ich stand auf und suchte ein Buch aus dem Karton, den ich noch nicht ausgepackt hatte. »Hör zu«, sagte ich. Ich las ihm das Gedicht vor. Bewußt in dem vom Feuer erhellten Raum. Es war etwa auf seinem Niveau. Er sagte: »Is’ das Ihre Freundin?« Ich sagte: »Was?« Er sagte: »Susan Silverman. Das Ihre Freundin?« »Ja«, sagte ich. »Wollt ihr heiraten?« »Ich weiß nicht.« »Lieben Sie sie?« »Ja.« »Und was ist mit ihr?« sagte er. »Ob sie mich liebt?« Er nickte. »Ja«, sagte ich. »Warum heiratet ihr dann nicht?« »Weiß nicht genau. Hängt vor allem an der Frage, wie wir uns beeinflussen würden, nehme ich an. Würde ich sie in ihrer Arbeit behindern? Sie mich in meiner? Dergleichen Dinge.« »Würde sie denn nicht die Arbeit aufstecken?« »Nein.« »Warum nicht? Ich würd’s. Ich würde nicht arbeiten, wenn ich nicht müßte.« »Sie mag ihre Arbeit. Gibt ihr ein gutes Gefühl zu sich selbst. Mir auch. Wenn man sie nur des Geldes wegen täte, würde man sie natürlich aufgeben wollen. Aber wenn man arbeitet, weil’s einem gefällt…« Ich machte eine Handbewegung. »Was tust du denn gerne?«
Er zuckte die Schultern. »Dieser Typ Hawk, ist das Ihr Freund?« »Irgendwie.« »Mögen Sie ihn?« »Irgendwie. Ich kann auf ihn zählen.« »Mir kommt er unheimlich vor.« »Na, ist er auch. Er ist nicht gut. Aber er ist ein guter Mann. Kennst du den Unterschied?« »Nein.« »Wirst du aber«, sagte ich. »Es ist ein Unterschied, den ich dir helfen werde kennenzulernen.«
16
Am nächsten Morgen weckte ich Paul um sieben. »Warum muß ich aufstehen?« fragte er. »Ich hab keine Schule.« »Wir haben eine Menge zu tun«, sagte ich. »Ich will nicht aufstehen.« »Also, du mußt. Ich mache Frühstück. Möchtest du irgendwas Besonderes?« »Ich will gar keins.« »Okay«, sagte ich. »Aber bis zum Mittagessen gibt es nichts mehr.« Er starrte mich aus zusammengekniffenen Augen an, noch nicht ganz wach. Ich ging in die Küche und mischte etwas Teig für Maisbrot. Während das Brot im Backofen war und der Kaffee durchlief, nahm ich eine Dusche; nach dem Anziehen nahm ich das Brot heraus und ging in Pauls Zimmer. Er war wieder eingeschlafen. Ich rüttelte ihn wach. »Komm, Junge«, sagte ich. »Ich weiß, du willst nicht, aber du mußt. Du wirst dich an den Zeitplan gewöhnen. Schließlich wird er dir sogar gefallen.« Paul vergrub sich tiefer in den Schlafsack und schüttelte mit dem Kopf. »Doch«, sagte ich. »Du mußt. Wenn du erst mal aufgestanden und geduscht bist, geht’s dir gut. Laß mich nicht grob werden.« »Was machen Sie denn, wenn ich nicht aufsteh’?« brummelte Paul in den Schlafsack.
»Dich rausziehen«, sagte ich. »Dich unter die Dusche halten. Dich abtrocknen, dich anziehen. Und so weiter.« »Ich werde nicht aufstehen«, sagte er. Ich zerrte ihn raus, zog ihn aus und hielt ihn unter die Dusche. Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Es ist nicht leicht, jemand im Zaum zu halten, sei es auch ein Kind, wenn man ihm nicht weh tun will. Ich wusch ihm die Haare und hielt ihn unter den Strahl, um das Shampoo auszuspülen, dann zog ich ihn aus der Wanne und gab ihm ein Handtuch. »Willst du, daß ich dich anziehe?« sagte ich. Er schüttelte den Kopf, legte sich das Handtuch um und ging in sein Zimmer. Ich ging in die Küche und stellte das Maisbrot, Erdbeermarmelade und eine Schale gemischtes Obst auf den Tisch. Während ich auf ihn wartete, aß ich eine Apfelsine und eine Banane. Ich goß mir eine Tasse Kaffee ein. Ich trank ein wenig. Ich hatte ihn nicht davor gewarnt, wieder ins Bett zu gehen. Meinem Gefühl nach wäre das beleidigend gewesen. Ich wollte, daß er von selbst herauskam. Falls er nicht kam, hatte ich an Boden verloren. Ich trank ein wenig mehr Kaffee. Das Maisbrot kühlte ab. Ich blickte auf die Tür seines Zimmers. Ich mochte kein kaltes Maisbrot. Die Zimmertür ging auf, und er kam heraus. Er hatte Jeans an, die offensichtlich gekürzt und wieder herausgelassen worden waren, seine abgewetzten Top-Siders und ein grünes Polohemd mit einem Pinguin auf der linken Brust. »Willst du Milch oder Kaffee?« sagte ich. »Kaffee.« Ich schenkte ihm ein. »Was nimmst du dazu?« »Ich weiß nicht. Hab’ noch nie welchen getrunken.« »Dann kannst du eigentlich mit Sahne und Zucker anfangen«, sagte ich. »Kalorien sind nicht dein Problem.« »Finden Sie, daß ich mager bin?«
»Ja. Es gibt Maisbrot, Marmelade, Obst und Kaffee. Greif zu.« »Ich möchte nichts.« Ich sagte: »Okay«, und schnitt das Brot an. Paul nippte an dem Kaffee. Es sah nicht aus, als ob er ihm schmeckte. Nach dem Frühstück wusch ich das Geschirr ab und fragte Paul: »Hast du Turnschuhe?« »Nein.« »Okay, als erstes fahren wir mal rüber nach North Conway und kaufen dir welche.« »Ich brauche keine«, sagte er. »Doch«, sagte ich. »Eine Zeitung bringen wir auch mit.« »Woher wollen Sie denn wissen, ob’s da welche gibt?« »In North Conway? Da werden wahrscheinlich mehr schicke Turnschuhe als Aspirin verkauft. Wir finden schon welche.« Auf der Fahrt nach North Conway fragte Paul: »Weshalb haben Sie mich so zum Aufstehen gezwungen?« »Aus zwei Gründen«, sagte ich. »Erstens brauchst du eine Struktur, irgendeine Einteilung in deinem Leben, damit du einen Sinn für Ordnung bekommst. Zweitens hätte ich es irgendwann doch tun müssen. Da dachte ich, bringst es hinter dich, ist genausogut.« »Sie müßten es doch gar nicht, wenn Sie mich schlafen ließen.« »Von wegen. Du würdest mir so lange zusetzen, bis du raushättest, wie weit ich gehe. Du mußt mich testen, damit du mir trauen kannst.« »Was sind Sie, ein Kinderpsychologe?« »Nein. Susan sagte mir das.« »Na ja, sie spinnt.« »Ich weiß zwar, du kennst es nicht besser, aber das ist gegen die Regeln.« »Was?«
»Schlecht von der geliebten Person eines anderen zu sprechen, verstehst du? Ich möchte nicht, daß du über sie Schlechts sagst.« Wir waren im Zentrum von Fryeburg. »Entschuldigung.« »Okay.« Wir schwiegen, während wir durch die kleine gastliche Stadt mit ihren hübschen Häusern fuhren. Es war vielleicht eine Viertelstunde bis North Conway. Wir kauften Paul ein Paar Nike LDVs, genau wie meine, nur Größe 7, und ein Paar Trainingshosen. »Hast du ein Sportsuspensorium?« sagte ich. Paul schien verlegen. Er schüttelte den Kopf. Wir kauften eines, außerdem noch zwei Paar weiße Wollsocken. Ich bezahlte, und wir fuhren zurück nach Fryeburg. Es war zehn, als wir zur Hütte kamen. Ich gab ihm die Tüte mit seinen Sachen. »Geh, zieh dir das Zeug an, dann machen wir einen Lauf«, sagte ich. »Einen Lauf?« »ja.« »Ich kann nicht laufen«, sagte er. »Du kannst es lernen«, sagte ich. »Ich will aber nicht.« »Ich weiß, aber wir fangen es leicht an. Keine weite Strecke. Wir laufen ein bißchen, gehen ein bißchen. Jeden Tag ein Stück weiter. Es wird dir guttun.« »Sie wollen mich dazu zwingen?« »Ja.« Er ging sehr langsam in die Hütte. Ich ging mit ihm hinein. Er ging auf sein Zimmer. Ich ging in meines. Nach etwa zwanzig Minuten kam er heraus. Die neuen Laufschuhe sahen lächerlich gelb aus, die neue Trainingshose für seine dünnen Beine etwas zu weit, und sein dürrer Oberkörper in der
Frühlingssonne blaß und verzittert. Ich war ebenso gekleidet, nur waren meine Sachen nicht neu. »Strecken wir uns mal«, sagte ich. »Geh in die Knie, bis du mit beiden Händen leicht auf den Boden kommst. So. Gut. Jetzt versuch, ohne daß du die Hände vom Boden nimmst, deine Knie durchzustrecken. Nicht krampfhaft, nur gleichmäßiger Druck. So bleiben wir dreißig Sekunden.« »Wozu ist das gut?« sagte er. »Um den unteren Rücken und die Kniesehnenmuskeln an der Hinterseite der Schenkel zu lockern. Jetzt hinhocken, so, den Hintern durchhängen lassen, und bleib so auch wieder dreißig Sekunden. Es bewirkt ungefähr das gleiche.« Ich zeigte ihm, wie man die Wadenmuskeln dehnt und die Schenkelstrecker lockert. Er gab sich bei allem sehr ungeschickt und zaghaft, wie um zu beweisen, daß er es nicht konnte. Ich bemerkte nichts dazu. Ich war dabei, auszuknobeln, wie ich mit einer Waffe laufen könnte. Normalerweise lief ich ohne. Aber normalerweise hatte ich auf niemanden als mich selbst aufzupassen, wenn ich lief. »Okay«, sagte ich. »Wir sind klar für einen Dauerlauf. Laß mich noch etwas aus dem Haus holen.« Ich ging hinein und holte meine Waffe. Es war eine Smith & Wesson .38. Ich nahm sie aus dem Halfter, prüfte die Ladung und ging mit der Waffe in der Hand hinaus. »Wollen Sie damit laufen?« sagte Paul. »Das beste, was mir eingefallen ist«, sagte ich. »Werd’ sie einfach in der Hand behalten.« Ich hielt sie um Trommel und Abzugsbügel fest, nicht am Knauf. Sie war nicht auffällig. »Haben Sie Angst, daß die uns finden?« »Nein, aber es schadet nichts, sicherzugehen. Wenn man kann, rechnet man besser mit Möglichkeiten statt mit Wahrscheinlichkeiten.« »Hm?«
»Komm, laufen wir mal. Ich erklär dir’s unterwegs.« Wir fingen mit einem langsamen Tempo an. Paul sah aus, als wäre er vielleicht noch nie gelaufen. Seine Bewegungen wirkten unkoordiniert, und er nahm jeden Schritt, als müßte er erst darüber nachdenken. »Sag Bescheid, wenn du gehen mußt. Wir haben es nicht eilig.« Er nickte. Ich sagte: »Wenn du über etwas Wichtiges nachdenkst, zum Beispiel, ob dein Vater noch mal versuchen könnte, dich zu entführen, dann ist es besser, du überlegst dir, was du am ehesten unternehmen könntest, falls er es versucht, anstatt dir auszurechnen, wie wahrscheinlich es ist, daß er’s versucht. Du kannst dir nicht ausrechnen, ob er’s versucht, das liegt bei ihm. Du kannst entscheiden, was du unternimmst, falls er es tut. Das liegt bei dir. Verstanden?« Er nickte. Ich sah ihm an, daß er zum Sprechen schon zu sehr außer Atem war. »Ein Mittel, um besser zu leben, besteht darin, die Entscheidungen, die man treffen muß, auf das zu gründen, was man steuern kann. Wenn man es kann.« Wir liefen eine Erdstraße hinauf, die von der Hütte zu einer breiteren Erdstraße führte. Sie war vielleicht eine halbe Meile lang. Zu beiden Seiten gab es Hundsbeeren und kleine Ahornund Birkenschößlinge unter den großen weißen Kiefern und Ahornbäumen, die über uns schwankten. Einige Himbeersträucher fingen eben an zu knospen. Es war kühl unter dem scheckigen Laubdach der Bäume, aber nicht kalt. »Wir biegen hier mal rechts ab«, sagte ich, »und laufen ein Stück die Straße entlang. Kein Grund zur Hast. Halt an, wenn dir danach ist, und wir gehen ein Stück.« Er nickte wieder. Die Straße war breiter jetzt. Sie ging rund um den See, und alle hundert Meter zweigte ein Seitenweg zu einer Hütte ab. Die
Namen der Eigentümer waren auf kitschig rustikale Schilder gemalt und jeweils am Kopf der Abzweigung an einen Baum genagelt. Wir hatten vielleicht eine Meile hinter uns, als Paul aufhörte zu laufen. Er beugte sich vor und hielt sich die Seite. »Stechen?« Er nickte. »Nicht vorbeugen«, sagte ich. »Beug dich nach hinten. So weit zurück, wie du kannst. Das gleicht es aus.« Er befolgte meinen Rat, was ich nicht gedacht hätte. Ein alter Holzweg mündete links von uns. Wir lenkten hinein. Paul ging mit durchgebogenem Kreuz. »Wie weit sind wir gelaufen?« »Ungefähr eine Meile«, sagte ich. »Verdammt gut für das erstemal.« »Wie weit können Sie laufen?« »Zehn, fünfzehn Meilen. Ich weiß nicht genau.« Auf einem gefällten Baumstamm überquerten wir eine schmale Klamm, in der die Frühjahrsschmelze noch zum See hinunterbrauste. In einem Monat würde es hier trocken und staubig sein. »Kehren wir mal um«, sagte ich. »Vielleicht kannst du, wenn wir wieder auf die Straße kommen, noch ein bißchen laufen.« Paul sagte nichts. Neben uns behackte ein rotköpfiger Specht einen Baum. Als wir zurück zur Straße kamen, fiel ich wieder in einen langsamen Trab. Paul ging noch ein paar Meter, dann drehte er auf und kam in langsamen, eckigen Laufschritten hinter mir her. Wir machten etwa eine halbe Meile in Richtung auf den Weg zu unserer Hütte. Ich beendete den Lauf und fing an zu gehen. Paul hörte im selben Augenblick auf zu laufen wie ich. Als wir wieder in der Hütte waren, sagte ich: »Zieh dir einen Pulli an, eine dünne Jacke oder sowas. Dann bauen wir ein paar Geräte auf.«
Ich zog ein blaues Sweat-Shirt über, von dem die Ärmel abgetrennt waren. Paul zog ein graues, langärmeliges SweatShirt an, das ein Emblem der Patrioten Neuenglands vorne drauf hatte. Die Ärmel waren zu lang. Wir brachten die Drückerbank hinaus, den Sandsack, den Punchingball samt Schlagbrett und die Werkzeugkiste. Paul trug ein Ende des Werkzeugkastens und ein Ende der Drückerbank. »Den Sandsack hängen wir dort an dem Ast auf«, sagte ich. »Den Punchingball können wir am Stamm befestigen.« Paul nickte. »Und die Drückerbank stellen wir hier unter den Baum, wo sie dem Sandsack nicht im Weg ist. Wenn es regnet, werfen wir eine Plane drüber.« Paul nickte. »Und wenn wir sie aufgestellt haben, werde ich dir zeigen, wie man sie benutzt.« Paul nickte wieder. Ich wußte nicht, ob ich Fortschritte machte oder nicht. Anscheinend hatte ich seinen Willen gebrochen. »Was hältst du davon, Junge«, sagte ich. Er zuckte die Schultern. Vielleicht hatte ich seinen Willen doch nicht gebrochen.
17
Das Aufbauen dauerte etwa eine Stunde. Den größten Teil davon nahm das Aufhängen des Punchingballs in Anspruch. Schließlich nagelte ich das Schlagbrett an zwei dicke Äste, die sich in etwa der richtigen Höhe ausspreizten. Für mich. Paul würde sich auf eine Kiste stellen müssen. Ich mußte dreimal hin und her, um die Gewichte zu holen. Paul trug einige von den kleinen Hanteln. Ich transportierte erst die Langhantel mit so vielen Scheiben, wie ich konnte, an den Enden der Stange, und ging dann zurück und holte in zwei Touren die restlichen Scheiben. »Also, nach dem Lunch«, sagte ich, »werden wir zwei Stunden trainieren und dann ist Feierabend für heute. Normalerweise würden wir morgens trainieren und nachmittags an dem Haus bauen, aber heute sind wir spät dran, weil wir deine Sachen besorgen mußten, also fangen wir morgen nachmittag mit dem Haus an.« Zum Lunch aßen wir Schafskäse und Fladenbrot mit Pickles, Oliven, Zwergtomaten und Gurkenscheiben. Paul trank Milch. Ich trank Bier. Paul meinte, der Schafskäse röche schlecht. Vor der Hütte standen zwei Klappstühle, und so setzten wir uns nach dem Essen raus. Es war halb zwei. Ich stellte das Kofferradio an. Die Sox spielten gegen die Tigers. Paul sagte: »Ich mag kein Baseball.« »Hör nicht hin.« »Aber ich kann nicht anders, wenn es läuft.« »Okay, ein Handel. Ich mag das Spiel. Was magst du?« »Mir egal.«
»Okay. Ich hör mir die Spiele an, wenn sie kommen. Zu jeder anderen Zeit kannst du dir anhören, was du willst. Fair?« Paul zuckte die Schultern. Auf dem Wasser gab ein Seetaucher seine ulkigen Laute von sich. »Das ist ein Seetaucher«, sagte ich. Paul nickte. »Ich will keine Gewichte heben«, sagte er. »Ich will nicht lernen, an den Punchingbällen zu boxen. Der Kram gefällt mir nicht.« »Was würdest du lieber tun?« fragte ich. »Weiß ich nicht.« »Wir werden das nur wochentags machen. Samstag und Sonntag halten wir uns frei und tun was anderes.« »Was denn?« »Alles, was du willst. Wir werden uns die Gegend ansehen. Wir können fischen, jagen, ins Museum gehen, schwimmen, wenn es wärmer wird, uns ein Baseballspiel anschauen, falls du es doch schätzen lernst, ins Kino gehen, ins Theater, nach Boston fahren und herumlungern. Hab’ ich schon irgendwas getroffen, was dir gefällt?« Paul zuckte die Schultern. Ich nickte. Gegen halb drei hatten die Sox gegen Eckersley drei Läufe aufgeholt und unser Essen hatte sich gesetzt. »Gehen wir ran«, sagte ich. »Für den Anfang machen wir von jeder Übung mal drei Serien. Wir drücken auf der Bank, üben Drehungen, Schwünge, Räder, ein bißchen Reißen, ein bißchen Stoßen. Wir probieren Kombinationen am Sandsack, und ich zeig dir, wie man mit dem Punchingball umgeht.« Ich hängte eine große Feldflasche mit Wasser an einen der Baumäste. Sie war mit rotgestreiftem Deckenstoff bezogen, und ich kam mir immer wie Kit Carson vor, wenn ich aus ihr trank.
»Trink soviel Wasser, wie du möchtest. Ruh dich aus zwischendurch. Nur keine Hast. Wir haben noch den ganzen Tag.« »Ich weiß doch gar nicht, wie das alles geht.« »Ich weiß es. Ich werde es dir zeigen. Zuerst sehen wir mal, wieviel du verkraften kannst. Wir fangen mit der Drückerbank an.« Ich legte die große York-Hantelstange ohne Gewichte auf die Kraftständer. »Versuch das«, sagte ich. »Ganz ohne Gewichte?« »Sie ist schwer genug. Versuch es als Anfang. Wenn sie zu leicht ist, können wir Gewicht zulegen.« »Was soll ich tun?« »Ich zeig’s dir.« Ich legte mich mit dem Rücken auf die Bank, nahm die Hantelstange mittelbreit in den Griff, hob sie von den Ständern, senkte sie auf meine Brust und drückte sie senkrecht auf Armlänge hoch. Dann ließ ich sie auf meine Brust herunter und drückte sie nochmals hoch. »Ungefähr so«, sagte ich. »Versuch es zehnmal hintereinander, wenn du kannst.« Ich legte die Stange auf die Ablage zurück und stand auf. Paul legte sich auf die Bank. »Wo muß ich sie halten?« »Breite die Hände ein bißchen aus, so. Das ist gut. Laß die Daumen so nach innen, damit du dir, falls es zu schwer ist, nicht die Daumen brichst. Ich deck’ dich hier.« »Was ist decken?« »Ich halte zur Sicherheit eine Hand dran, damit du sie nicht auf dich fallen läßt.« Paul brachte die Stange mühsam von der Ablage herunter. Sie war zu schwer für ihn. Seine dünnen Arme zitterten vor
Anstrengung, als er sie auf seine schmale Brust sinken ließ. Ich hatte die eine Hand leicht auf dem Mittelpunkt der Stange. »Okay«, sagte ich. »Gut. Gut. Jetzt stoß sie hoch. Einatmen, jetzt aus und hoch mit der Stange, drücken, ausatmen, drücken.« Ich feuerte ihn an. Paul bog den Rücken durch und kämpfte. Seine Arme zitterten noch mehr. Ich legte ein wenig Druck unter die Stange und half ihm. Er bekam sie gestreckt. »Jetzt auf die Ablage rauf«, sagte ich. Ich half ihm, sie herüberzuführen und einzuhängen. Sein Gesicht war hochrot. »Gut«, sagte ich. »Das nächstemal machen wir zwei.« »Ich kann’s doch gar nicht«, sagte er. »Klar kannst du. Hast es doch gerade getan.« »Sie haben mir geholfen.« »Nur ein bißchen. Die eine Sache bei Gewichten ist, daß man am Anfang schnell Fortschritte erzielt. Das macht Mut.« »Ich kann sie noch nicht mal ohne Gewichte heben«, sagte er. »In ein paar Monaten stemmst du mehr als du selbst wiegst«, sagte ich. »Komm. Auf ein neues.« Er versuchte es noch einmal. Diesmal mußte ich ihm mehr helfen. »Ich werde schlechter«, sagte er. »Natürlich, weil du müde wirst. Der dritte Versuch wird noch schwerer sein. Das ist der springende Punkt dabei. Du beanspruchst den Muskel, wenn er ermüdet ist, und er versagt schneller, und neue Muskeln werden schneller aufgebaut.« Ich hörte mich allmählich an wie Arnold Schwarzenegger. Paul lag mit gerötetem Gesicht still auf der Bank. Feine blaue Adern verliefen unter der fast durchscheinenden Haut seiner Brust. Das Schlüsselbein, die Rippen und das Brustbein, alles zeichnete sich deutlich durch die straffe Haut ab. Er wog keine hundert Pfund.
»Letzter Versuch«, sagte ich. Er nahm die Stange von den Ablagesäulen, und diesmal mußte ich festhalten, damit sie nicht auf ihn fiel. »Hoch jetzt«, sagte ich. »Treib sie hoch. Das hier ist die, die am meisten zählt. Weiter, komm, hoch, hoch, hoch. Gut, gut.« Wir legten die Stange zurück auf die Ständer. Paul setzte sich auf. Seine Arme zitterten immer noch leicht. »Machen Sie mal«, sagte er. Ich nickte. Ich brachte an jedem Ende der Stange zwei 50Pfund-Scheiben an und legte mich auf die Bank. Ich hob die Hantel von der Ablage und brachte sie auf meine Brust. »Beobachte, welche Muskeln sich bewegen«, sagte ich zu Paul, »so lernst du, was eine Übung für dich tut.« Ich drückte das Gewicht hoch, ließ es herunter, drückte es hoch. Bei jedem mal atmete ich aus. Ich wiederholte es zehnmal und legte die Hantel auf die Ständer zurück. Dünner Schweiß hatte sich auf meiner Stirn gebildet. Über uns flatterte ein Kernbeißer mit rosaroter Brust in den Ahornbaum und ließ sich nieder. Ich machte eine zweite Serie. Der Schweiß überzog meinen Brustkorb. Der milde Wind kühlte ihn. Paul sagte: »Wieviel können Sie stemmen?« »Ich weiß es nicht genau. Es ist irgendwie gut, wenn man das nicht so wichtig nimmt. Man fährt besser, wenn man sich beim Training an das hält, womit man fertig wird, und nicht darauf sieht, wer mehr stemmen kann und wer nicht und wieviel man selbst hochbringt. Ich kann mehr stemmen als das.« »Wieviel ist das denn?« »Zweihundertfünfundvierzig Pfund.« »Trainiert Hawk mit Gewichten?« »Manchmal.« »Kann er so viel stemmen wie Sie?« »Wahrscheinlich.«
Ich machte eine dritte Serie. Als ich fertig war, ging mir etwas die Puste, und der Schweiß rieselte an meiner Brust herunter. »Jetzt schwingen wir ein bißchen«, sagte ich. Ich zeigte ihm wie. Wir fanden keine Hantel, die leicht genug war, daß er sie mit einer Hand hätte schwingen können, also nahm er beide Hände für eine. Nach zwei Stunden saß Paul mit hängendem Kopf auf der Stemmbank, die Unterarme auf den Schenkeln, und schnaufte, als wäre er eine weite Strecke gelaufen. Ich saß neben ihm. Wir waren mit den Gewichten fertig. Ich reichte Paul die Feldflasche. Er trank ein wenig und gab sie mir zurück. Ich trank und hängte sie wieder auf. »Wie fühlst du dich?« fragte ich. Paul schüttelte nur den Kopf ohne aufzublicken. »So gut, hm? Tja, morgen wirst du steif sein. Komm. Wir spielen ein bißchen mit den Boxbällen.« »Ich will nicht mehr.« »Ich weiß, aber eine halbe Stunde noch, dann hast du alles geschafft. Das macht Spaß jetzt. Dabei müssen wir nicht schwer arbeiten.« »Warum lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe?« Ich hockte mich wieder zu ihm. »Weil dich dein Leben lang jeder in Ruhe gelassen hat und du als Ergebnis davon jetzt im Schlamassel sitzt. Da werde ich dich rausholen.« »Wie meinen Sie das?« »Ich meine damit, daß du nichts hast, woran dir etwas liegt. Du hast nichts, worauf du stolz sein kannst. Du hast von nichts eine Ahnung. Du bist beinahe ein völliges Neutrum, weil niemand sich die Zeit genommen hat, dir etwas beizubringen oder zu zeigen, und weil du an den Menschen, die dich aufgezogen haben, nichts sehen konntest, woran du dich hättest orientieren wollen.«
»Es ist nicht meine Schuld.« »Nein, noch nicht. Aber wenn du dich hinlegst und dich dem Vergessen überläßt, dann wird es deine Schuld sein. Du bist jetzt alt genug, um eine Persönlichkeit zu entwickeln. Und du bist alt genug, daß du anfangen mußt, eine gewisse Verantwortung für dein Leben zu übernehmen. Und dabei werde ich dir helfen.« »Was hat Gewichtheben mit diesen Sachen zu tun?« »Worin du gut bist, ist weniger wichtig, als daß du in etwas gut bist. Du hast gar nichts. Dir liegt an nichts. Also werde ich dafür sorgen, daß du stark wirst, in Form kommst, zehn Meilen laufen kannst und in der Lage bist, mehr zu heben, als du wiegst, und in der Lage bist zu boxen. Ich werde dir beibringen, wie man zimmert und kocht, und wie man hart arbeitet und sich antreibt und sich beherrscht. Vielleicht können wir später auch zum Lesen kommen, zur Kunstbetrachtung und dahin, etwas anderes zu hören als Situationskomödien. Aber im Moment arbeite ich an deinem Körper, weil es leichter ist, dort anzufangen.« »Na und?« sagte Paul. »Bald geh ich wieder zurück. Was ändert das schon?« Ich schaute ihn mir an, weiß, schmal und verkrampft, beinahe vogelhaft mit seinem hängenden Kopf und den hochgezogenen Schultern. Er brauchte einen Haarschnitt. Er hatte Niednägel. Was für ein garstiger kleiner Bastard. »Das stimmt wahrscheinlich«, sagte ich. »Und deswegen, Junge, wirst du, bevor du zurückgehst, autonom werden müssen.« »Hm?« »Autonom werden. Auf dich selbst vertrauen. Von dem, was von außen kommt, nicht übermäßig beeinflußt werden. Du bist zwar dafür nicht alt genug – es ist verfrüht, von einem Jungen wie dir zu verlangen, daß er unabhängig wird. Aber du hast
keine Wahl. Deine Eltern sind dir keine Hilfe. Allenfalls schaden sie. Auf sie kannst du nicht vertrauen. Sie haben dich dahin gebracht, wo du stehst. Sie werden sich nicht bessern. Du mußt.« Seine Schultern fingen an zu zittern. »Du mußt, Junge«, sagte ich. Er weinte. »Wir können das schaffen. Du kannst dir Stolz aneignen, einige Dinge, die du an dir magst. Ich kann dir dabei helfen. Wir können es.« Er weinte mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern, diesen knorrigen Schultern, auf denen der Schweiß trocknete. Ich saß neben ihm, ohne noch sprechen zu wollen. Ich faßte ihn nicht an. »Weinen ist in Ordnung«, sagte ich. »Ich tu es manchmal auch.« Nach etwa fünf Minuten hörte er auf zu weinen. Ich stand auf. Oben auf dem Schlagbrett des leichten Boxballes lagen zwei Paar Ballhandschuhe. Ich ergriff sie und bot das eine Paar Paul an. »Komm«, sagte ich. »Zeit, auf den Sack zu hauen.« Er ließ den Kopf unten. »Komm, Junge«, sagte ich. »Mir dir kann es nur aufwärtsgehen. Laß mich dir zeigen, wie man boxt.« Ohne aufzuschauen nahm er die Handschuhe.
18
Wir gruben das letzte Loch für die Grundpfeiler. Es war heiß; durch Steine und das übliche Wurzelwerk ging es nur langsam voran. Ich arbeitete mit einer Hacke, Paul mit einer Schaufel. Wir hatten auch Verwendung für eine Axt, eine Brechstange und eine langstielige Baumsäge, die wir für einige der Wurzeln gebrauchten. Paul trug wie ich Jeans und Arbeitsschuhe. Meine Sachen waren größer. Der Schweiß glänzte auf seinem dünnen Körper, während er den Grund aushob, den ich lockerte. »Wofür sind diese Löcher noch mal?« »Siehst du die großen runden Papprohre da drüben? Die setzen wir in die Löcher hinein und bringen sie auf gleiche Höhe und füllen sie mit Eisenbeton. Dann legen wir Bodenträger darauf, und die Hütte ruht auf ihnen. Es ist leichter als ein Kellerloch auszuheben, obwohl ein Keller besser ist.« »Warum?« Er stach das Schaufelblatt in die Erde und hob es an. Er hielt die Schaufel zu weit oben am Stiel, und die Erde wippte, als er sie hochstemmte, und das meiste fiel wieder in das Loch zurück. »Der Keller gibt dir Platz für eine Heizung, macht die Böden wärmer, gibt dir Lagerraum. So steht das Haus auf Grund. Ist kälter im Winter. Aber viel weniger Mühe.« Paul verlagerte den Griff um die Schaufel etwas und stach wieder in die Erde. Diesmal nahm er das meiste mit. »Gibt es denn keine Maschinen für diese Arbeit?« »Doch.« Ich schwang erneut die Hacke. Sie drang mühelos in den Boden. Wir waren zu einer Schicht gelangt, wo Steine und
Wurzeln nicht mehr hinderten. »Aber das verschafft keine Befriedigung. Einen Kompressor herzunehmen und das ganze runterzurattern wie ein Bursche, der Heizungen baut. Benzindämpfe. Krach. Kein Gefühl dabei, daß man es selber macht.« »Könnte mir denken, daß es leichter wäre.« »Da magst du recht haben«, sagte ich. Wieder schwang ich die Hacke, das breite Blatt grub sich bis zum Schaft in die Erde. Ich stemmte es nach vorn, und die Erde brach los. Paul schaufelte sie heraus. Er hielt die Schaufel immer noch zu hoch am Stiel und ging immer noch zu zaghaft ran. Aber er bekam das Loch frei. »Später nehmen wir schon noch Maschinen hinzu. Kreissäge und solches Zeug. Aber ich wollte, daß wir mit unserem Rücken anfangen.« Paul sah mich an, als wäre ich komisch, und verzog den Mund zu einer stummen Geste. »Das ist nicht spinnert«, sagte ich. »Wir tun das hier nicht einfach, damit es fertig wird.« Er zuckte die Schultern, stützte sich auf die Schaufel. »Wir tun es, um die Freude am Machen zu erleben. Sonst könnten wir uns auch Handwerker bestellen. Das wäre der allereinfachste Weg.« »Aber so ist es billiger«, sagte Paul. »Ja, wir sparen Geld. Aber das ist bloß ein Punkt, durch den es sich von einer Freizeitbeschäftigung unterscheidet, wie etwa Flaschenschiffe basteln. Nur wenn Liebe und Notwendigkeit eins sind, weißt du?« »Was heißt denn das?« sagte er. »Es ist ein Gedicht, ich geb’s dir nach dem Abendbrot zu lesen.« Wir hoben das letzte Loch fertig aus und setzten die letzten Röhre hinein. In den Grund jedes Rohrs trieben wir
Eisenstangen zur Verstärkung und füllten dann die Löcher rings um die Röhren auf. Ich ging mit einer Wasserwaage herum, stellte die Röhren senkrecht und richtete sie auf eine Höhe aus, während Paul rundum die Erde hereinschaufelte. Dazu brauchten wir den Rest des Nachmittags. Als die letzte ausgerichtet und verpackt war, sagte ich: »Okay, Zeit, daß wir aufhören.« Es war noch warm, und die Sonne stand noch weit oben am westlichen Himmel, als ich ein Bier aus dem Kühlschrank holte und eine Coca für Paul. »Kann ich ein Bier haben?« sagte er. »Klar.« Ich stellte die Coca zurück und holte ein Bier. Wir saßen in den Klappstühlen und ließen den Schweiß auf unserem Rücken im warmen Wind trocknen. Wenn die Sonne unterging, würde es kalt werden, aber jetzt herrschte noch der gelbgrüne Frühling des fast verlassenen Waldes, in dem von Menschen nichts zu hören war außer uns selbst. »Im Sommer ist es hier viel lauter«, sagte ich. »Die anderen Hütten werden bewohnt, und man hört immer Leute.« »Gefällt es Ihnen hier oben?« »Nicht ganz«, sagte ich. »Nicht für lange. Ich mag Städte. Ich sehe gerne Menschen und Gebäude um mich.« »Sind denn Bäume und so was nicht hübscher?« »Ich weiß nicht. Ich mag Artefakte, Dinge, die von Menschen gemacht sind. Ich mag Architektur. Wenn ich nach Chikago komme, sehe ich mir immer gerne die Gebäude an. Es ist wie eine Geschichte der amerikanischen Architektur.« Paul zuckte die Achseln. »Hast du mal das Chrysler Building in New York gesehen?« fragte ich. »Oder das Woolworth Building im Geschäftsviertel?« »Ich war noch nie in New York.« »Gut, wir fahren irgendwann hin«, sagte ich.
Ein Eichhörnchen jagte ein anderes auf einen Baum hinauf, auf der anderen Seite wieder herunter und über ein Stück ebenen Boden hinweg auf den nächsten. »Rote Eichhörnchen«, sagte ich. »Normalerweise sieht man graue.« »Was ist der Unterschied?« »Neben der Farbe sind die grauen größer.« Paul schwieg. Irgendwo auf dem See sprang ein Fisch. Ein Chrysippusfalter tanzte auf uns zu und ließ sich auf dem Lauf des Gewehrs nieder, das an den Stufen zur Hütte lehnte. Paul sagte: »Ich hab’ darüber nachgedacht, was Sie neulich sagten, von wegen dem, ähm, Sie wissen schon, nicht von anderen Leuten abhängen.« »Autonom sein.« »Na gut, was hat das mit Häuserbauen und mit Gewichtheben zu tun? Ich meine, ich weiß, was Sie gesagt haben, aber…« Er zuckte die Achseln. »Nun, zum Teil«, sagte ich, »ist es das, was ich dir beibringen kann. Ich kann dir nicht beibringen, Gedichte zu schreiben oder Klavierspielen oder Malen oder wie man Differentialgleichungen löst.« Ich trank mein Bier aus und öffnete ein neues. Paul hatte seines noch. Wir tranken Heinekens in dunkelgrünen Dosen. Amstel hatte ich nicht kriegen können, und Beck’s war nur in Flaschen zu bekommen. Für eine Hütte in den Wäldern schienen Dosen zweckmäßiger. Paul trank sein Bier aus, stand auf und holte sich noch eins. Aus dem Augenwinkel sah er zu mir rüber, während er die neue Dose öffnete. »Was machen wir morgen?« sagte er. »Irgend etwas, wozu du Lust hättest. Es ist Samstag.« Er zuckte die Schultern. Wenn er genug Gewichtheben übte, schaffte ich es vielleicht, daß er zu starken Muskelkater dafür bekam. »Was denn zum Beispiel?« sagte er.
»Wenn du machen könntest, was du nur wolltest, was würde das sein?« »Ich weiß nicht.« »Wenn du mal fünfundzwanzig bist, was stellst du dir vor, was du dann tust?« »Ich weiß nicht.« »Gibt es irgend etwas, wo du schon immer mal hin wolltest? Wo niemand mit dir hingehen wollte oder du dich nicht getraut hast, darum zu bitten?« Er nippte an seinem Bier. »Der Film Die roten Schuhe hat mir gefallen«, sagte er. »Möchtest du ins Ballett gehen?« sagte ich. Er nippte noch mal an dem Bier. »Okay«, antwortete er.
19
Es war Samstag morgen. Ich zog einen blauen Anzug und ein weißes Baumwollhemd von Brooks Brothers mit geknöpftem Kragen an. Dazu hatte ich eine blaue Krawatte mit roten Streifen, und ich sah sehr stilvoll aus mit meinen schwarzen Schuhen und der hübschen Smith & Wesson in der rechten Hüfttasche. Der blaue Stahl des Laufs ging schön mit meinen dezenten Socken zusammen. Paul hatte eine gelbbraune Kordjacke, braune Hosen und ein kobaltblaues Polyesterhemd mit nachtblauen Taschenklappen ausgepackt. Er trug seine vergammelten Top-Siders und keine Krawatte. Seine Socken waren schwarz. »Das ist ungefähr die gräßlichste, himmelschreiendste Montur, die mir seit meiner Heimkehr aus Korea vor die Augen gekommen ist«, sagte ich. »Ich seh’ nicht gut aus?« »Du siehst aus wie der zweite Sieger in einem MortimerSnerd-Doppelgängerwettbewerb.« »Ich hab’ keine anderen Sachen.« »Okay, das wird heute nachmittag erledigt«, sagte ich. »Wir kaufen dir etwas zum Anziehen.« »Was mach’ ich mit den Klamotten?« »Anbehalten«, sagte ich. »Wenn wir die neuen haben, kannst du sie wegwerfen.« »Wer ist Mortimer Snerd?« »Eine berühmte Bauchrednerpuppe aus meiner Jugend«, sagte ich. »Von Edgar Bergen. Er ist tot.« »Ich hab’ ihn in einem alten Film im Fernsehen gesehen.«
Die Fahrt nach Boston dauerte dreieinhalb Stunden. Den größten Teil der Strecke fummelte Paul am Radio und schwenkte von einer Pop-Station zu der nächsten, während wir in die verschiedenen Sendebereiche hinein und wieder heraus fuhren. Ich ließ ihn. Vermutlich war ich ihm für die fast täglichen Baseballspiele, die er sich bei unserer Arbeit angehört hatte, etwas schuldig. Wir erreichten Boston gegen Viertel vor zwölf. Ich parkte Susans Bronco in der Boylston Street vor Louis’. »Hier gehen wir kaufen«, sagte ich. »Kleiden Sie sich hier auch ein?« fragte er. »Nein. Dafür bin ich nicht gebaut. Sie halten’s eher mit schlanken Wespentaillentypen.« »Sie sind doch nicht dick.« »Nein, aber ich bin irgendwie unförmig. Mein Oberkörper ist zu schwer. Bei denen sehe ich aus wie eine Bockwurst auf einem Brötchen. Die Revers sitzen nicht richtig. Die Ärmel sind zu eng. Einen hageren Burschen wie dich, den kleiden sie großartig.« »Sie meinen, dürr.« »Nein. Du warst dürr. Allmählich neigst du mehr zu einer hageren Figur. Komm.« Wir gingen in Louis’ Modehaus. Ein schlanker, eleganter Verkäufer empfing uns an der Tür. »Bitte, Sir?« Er trug einen hellen, grau-beigen Zweireiher mit aufgeknöpfter Jacke und hochgestelltem Kragen, ein am Hals offenes Hemd mit rundem Kragen, die blaue Paisleykrawatte sorgfältig gelockert, Schuhe von Gucci, und aus seiner Brusttasche schaute viel blaues Seidentuch hervor. Er hatte einen hübschen Spitzbart. Ich beschloß, ihn nicht zu küssen. »Ich hätte gerne einen Anzug für den Jungen«, sagte ich.
»Jawohl, Sir«, sagte er. »Kommen Sie bitte mit.« Wenn Louis’ ein New Yorker Restaurant wäre, würde es das Tavernon-the-Green sein. Wäre es eine Stadt, es würde Beverley Hills sein. Jede Menge Messing und Eiche, indirekte Beleuchtung, stilvolle Dekoration und dicker Teppichboden. Als wir in den Aufzug traten, sagte ich leise zu Paul: »Es drängt mich immer, in die Ecke zu pinkeln, wenn ich hier reinkomme. Aber ich tu’s nie.« Paul sah verblüfft drein. »Ich hab’ zuviel Klasse«, sagte ich. Wir kauften für Paul einen anthrazitfarbenen dreiteiligen Anzug von europäischem Schnitt, schwarze Mokassins mit Fransen, fast so hübsch wie meine, zwei weiße Hemden, eine rot und grau gestreifte Krawatte, ein Seidentuch in Grau und Rot, zwei Paar lange graue Socken und einen schwarzen Ledergürtel. Außerdem kauften wir noch eine hellgraue Hose, einen blauen Blazer mit Messingknöpfen, eine blaue Krawatte mit weißem Punktmuster und ein blau- und grauseidenes Taschentuch. Unter Druck erklärten sie sich bereit, die Hosen bis zum Abend zu kürzen. Die Jacken paßten Paul von der Stange weg ganz annehmbar. Ich bot dem eleganten Verkäufer einen Scheck über siebenhundertundfünfzig Dollar an. Er schüttelte den Kopf und brachte mich nach vorn zur Theke. Eine weit weniger elegante junge Frau befaßte sich mit dem Geld. Die Verkäufer waren zu würdevoll. »Um fünf werden die Hosen fertig sein, Sir.« Ich bedankte mich, und der Verkäufer überließ mich den finanziellen Transaktionen der jungen Frau. »Ich brauche zwei Ausweise«, sagte sie. Sie kaute Kaugummi. Juicy Fruit, nach dem Duft zu urteilen. Ich gab ihr meinen Führerschein und meine Schnüfflerlizenz. Die Schnüfflerlizenz las sie zweimal. Um zehn nach drei kamen wir aus dem Laden.
»Warst du schon mal im Museum der schönen Künste?« fragte ich. »Nein.« »Dann schauen wir’s uns mal an.« In dem Museum beleidigte ich eine Besuchergruppe, die sich einem Führer angeschlossen hatte. Ich erzählte Paul gerade etwas über ein Gemälde aus der Hudson River School, als eine Dame aus der Gruppe uns den Mund verbot. »Sie stören uns doch«, sagte sie. »Eigentlich stören Sie mich«, sagte ich. »Aber ich bin zu wohlerzogen, um mich zu beschweren.« Der Führer blickte verlegen drein. Ich sagte zu Paul: »Es ist wie ein Roman von Cooper. Die Wildnis ist rein und schön. Sie ist romantisch, verstehst du?« Die ganze Gesellschaft schoß wütende Blicke auf mich ab. Paul flüsterte: »Ich hab’ noch nie einen Roman von dem gelesen.« »Wirst du noch«, sagte ich. »Und wenn du ihn liest, wirst du an manche von diesen Bildern denken.« Er betrachtete das Gemälde noch einmal. »Komm«, sagte ich. »Hier drinnen kann ich mich nicht denken hören.« Um fünf Uhr holten wir Pauls Kleider bei Louis’ ab. Der elegante Verkäufer strich an uns vorbei, als wir dort waren, und nickte uns hoheitsvoll zu. Wir fuhren hinüber zu meiner Wohnung, damit Paul sich umziehen konnte. »Geh ins Schlafzimmer«, sagte ich. »Und wenn du fertig bist, bring den Mist mit raus.« »Meine alten Kleider?« »Ja.« »Welche Sachen soll ich anziehen?« »Deine Wahl.« »Ich weiß nicht, was davon zusammenpaßt.«
»Den Teufel weißt du nicht«, sagte ich. »Wir haben doch alles bei Louis’ ausgesucht.« »Aber ich hab’s vergessen.« »Geh da rein und zieh dich an. Das ist eine Entscheidung, die du treffen kannst. Ich nehme sie dir nicht ab.« Er ging hinein und brauchte zwanzig Minuten zum Umkleiden. Als er herauskam, trug er den grauen Anzug und ein weißes Hemd. In der Hand hielt er die rot und grau gestreifte Krawatte. »Ich kann sie nicht binden«, sagte er. »Dreh dich um. Ich muß es dir verkehrt herum zeigen.« Wir stellten uns vor den Spiegel in meinem Badezimmer, und ich band ihm die Krawatte. »In Ordnung«, sagte ich, als ich die Krawatte hochzog und ihm half, den Kragen zuzuknöpfen. »Du siehst gut aus. Vielleicht noch ein Haarschnitt, aber fürs Ballett ist die Länge wahrscheinlich richtig.« Er schaute sich im Spiegel an. Sein Gesicht war sonnen- und wettergebräunt und wirkte gegen das weiße Hemd noch farbiger. »Komm«, sagte ich. »Wir müssen Susan um sechs am Casa Romero treffen.« »Geht sie mit?« »Ja.« »Warum muß sie dabei sein?« »Weil ich sie liebe und sie zwei Wochen lang nicht gesehen habe.« Er nickte. Susan stand an der Ecke Gloucester und Newbury Street, als wir hinkamen. Sie trug einen hellgrauen Rock zu einem blauen Blazer mit Messingknöpfen, ein weißes, am Hals offenes Baumwollhemd und schwarze Stiefel mit sehr hohen Absätzen. Ich sah sie, bevor sie mich sah. Ihr Haar glänzte in der Nachmittagssonne. Sie hatte eine große Sonnenbrille auf. Ich
blieb stehen und betrachtete sie. Sie hielt auf der Newbury nach uns Ausschau, und wir waren auf der Gloucester. Paul sagte: »Weshalb bleiben wir stehen?« »Ich sehe sie mir gerne an. Manchmal gefällt es mir, sie zu betrachten, als ob wir Fremde wären, und sie zu beobachten, ehe sie mich sieht.« »Warum?« »Meine Vorfahren sind Iren«, sagte ich. Paul schüttelte mit dem Kopf. Ich pfiff durch die Zähne nach Susan. »He, Süße«, schrie ich. »Willst’ dich amüsieren?« Sie wandte sich uns zu. »Ich bevorzuge Seeleute«, sagte sie. Als wir die schmale Gasse hinunter zum Eingang gingen, gab ich Susan einen kleinen Klaps auf die Kehrseite. Sie lächelte, aber nur kurz. Es war früh. In dem Restaurant war reichlich Platz. Ich hielt Susans Stuhl, und sie setzte sich Paul und mir gegenüber. Der Raum war anziehend und aztekisch, mit lauter Kacheln und, soweit ich sehen konnte, überhaupt keinen Mexikanern. Wir aßen Bohnen und Reis, Hühnchen mole und cabrito, und Mehltortillas. Paul verzehrte eine erstaunliche Portion, wenn er auch jedes Stück zuerst vorsichtig mit den Gabelzinken anstach, wie um zu sehen, ob es tot war, und er kostete in ganz winzigen Häppchen, um sicherzugehen, daß es nicht giftig war. Susan trank eine Margarita und ich einige Bier vom Faß. Gesprochen wurde nicht viel. Paul aß in seinen Teller vertieft. Susan antwortete mir meist in knappen Worten, und wenn auch ihre Stimme keinen Ärger verriet, von Freude merkte ich auch nichts. »Suze«, sagte ich beim Kaffee, »da ich den Rest des Abends im Ballett verbringe, hatte ich mir hiervon den Höhepunkt erhofft.« »Wirklich?« sagte sie. »Darf ich daraus schließen, daß du enttäuscht bist?«
Paul aß Ananaseiskrem zum Nachtisch. Er starrte darauf, während er aß. Ich blickte auf ihn, dann auf Susan. »Nun, du wirktest ein bißchen still.« »Aha?« »Ich denke, wenn überhaupt, werde ich das Thema ein andermal weiterführen.« »Prima«, sagte sie. »Hättest du Lust, mit uns ins Ballett zu gehen?« »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Ich mag Ballett nicht besonders.« Der Kellner präsentierte die Rechnung. Ich zahlte. »Können wir dich irgendwo absetzen?« sagte ich. »Nein, danke. Mein Wagen steht gleich vorne in der Newbury Street.« Ich sah auf meine Uhr. »Tja, der Vorhang wartet auf uns. Nett, dich gesehen zu haben.« Susan nickte und schlürfte ihren Kaffee. Ich stand auf, Paul stand auf und wir gingen.
20
Ich war noch nie in einem Ballett gewesen, und obwohl ich die bemerkenswerten Dinge, die die Tänzer in ihrem Körper anstellen konnten, interessant fand, sah ich nicht erwartungsvoll dem nächsten Mal entgegen. Was Paul offensichtlich tat. Er saß die ganze Vorstellung hindurch bewegungslos und gebannt neben mir. Auf der Rückfahrt nach Maine fragte ich ihn: »Warst du vorher schon mal im Ballett?« »Nein. Mein Vater meinte, es sei was für Mädchen.« »Da hat er wieder halb recht«, sagte ich. »Wie mit dem Kochen.« Paul schwieg. »Würdest du gerne Ballett machen?« »Sie meinen, Tänzer sein?« »Ja.« »Das würden sie mir nie erlauben. Sie finden das… Sie würden’s mir nicht erlauben.« »Gut, aber wenn sie es zuließen, würdest du’s dann gerne?« »Unterricht nehmen und so etwas?« »Ja.« Er nickte. Kaum merklich. In dem dunklen Wagen, und da ich die Straße im Auge behalten mußte, bekam ich es nur gerade noch mit. Es war die erste eindeutige Festlegung, die ich bei ihm erlebte, und so schwach das Nicken auch sein mochte, es war ein Nicken. Es war kein Schulterzucken. Wir schwiegen. Er hatte beim Einsteigen nicht, wie sonst fast immer, das Radio angestellt. Also stellte ich es auch nicht an. Hinter dem Portsmouth Circle, auf der Schnellstraße nach
Spaulding, eine Stunde nördlich von Boston, sagte er, ohne mich anzusehen: »Es gibt viele Männer, die Ballett tanzen.« »Ja«, sagte ich. »Mein Vater behauptet, es sind Schwule.« »Was meint deine Mutter?« »Sie meint das auch.« »Also«, sagte ich, »über ihr Sexualleben bin ich nicht im Bilde. Was ich sagen kann, ist, daß sie ganz ausgezeichnete Athleten sind. Viel weiter kann ich nicht gehen, da ich vom Tanzen nicht genug verstehe, aber Leute, die sich auskennen, finden offenbar, daß es außerdem oft begabte Künstler sind. Das ist keine schlechte Kombination, glänzender Athlet, begabter Künstler. Damit sind sie den meisten Leuten um zwei Punkte voraus und um einen Punkt praktisch jedem außer Bernie Casey.« »Wer ist Bernie Casey?« »Früher war er Fänger bei den Rams. Jetzt ist er Maler und Schauspieler.« Es gab wenig Straßenbeleuchtung jetzt und nicht viele Orte. Der Bronco bewegte sich durch den Tunnel der Nacht, als wären wir allein. »Warum behaupten sie das?« sagte Paul. »Behaupten was?« »Das Tanzen Mädchensache ist. Daß Männer, die tanzen, Homos sind. Sie sagen das bei allem. Beim Kochen, bei Büchern, dauernd, bei Filmen auch. Warum sagen sie das?« »Deine Eltern?« »Ja.« Wir durchfuhren einen kleinen Ort mit Straßenlaternen. Vorbei an dem verlassenen Backsteinbau einer Schule, an einer Kanone, neben der pyramidenförmig Kanonenkugeln aufgebaut waren, vorbei an einem kleinen Laden mit einem
Pepsi-Schild davor. Dann umgab uns wieder die Dunkelheit der Landstraße. Ich ließ etwas Luft aus meinen Lungen. »Weil sie es nicht besser wissen«, sagte ich. »Weil sie nicht wissen, was sie sind und wie sie sich darüber klarwerden könnten oder was ein guter Mensch ist und wie sie das klären könnten. Also verlassen sie sich auf Schubladen.« »Was meinen Sie damit?« »Ich meine, daß dein Vater sich wahrscheinlich nicht sicher ist, ob er ein guter Mensch oder ein richtiger Mann ist, und er vermutet, daß er vielleicht keiner ist, und für den Fall will er nicht, daß es irgend jemand merkt. Er weiß aber im Grunde nicht, was gut und richtig ist, und so schwört er auf die einfachen Regeln, die jemand anders ihm vorgesagt hat. Das ist leichter als Denken und sicherer. Sonst mußt du von dir aus entscheiden. Du mußt sehen, ob dein eigenes Verhalten deiner Überzeugung entspricht, und dabei könntest du feststellen, daß du ihr nicht gerecht werden kannst. Warum also nicht den sicheren Weg gehen. Sich einfach an das genehmigte Schaltnetz anschließen.« »Da komme ich nicht mehr mit«, sagte Paul. »Verständlich«, sagte ich. »Laß mich’s mal anders versuchen. Wenn dein Vater herumläuft und erzählt, er mag Ballett oder daß du gerne Ballett magst, dann geht er das Risiko ein, daß jemand anders ihm sagt, Männer tun so was nicht. Wenn das geschieht, muß er überlegen, was einen Mann ausmacht, das heißt einen richtigen Mann, und das weiß er nicht. Davor hat er eine Heidenangst. Für deine Mutter gilt dasselbe. Deshalb halten sie sich an das Überkommene und Wahre, die Konventionen, die an der Frage vorbeiführen, und ob es sie nun glücklich macht, es zwingt sie nicht, über den Rand in den Abgrund zu sehen. Es ängstigt sie nicht zu Tode.« »Sie wirken nicht ängstlich. Sie wirken positiv.«
»Das ist ein Anhaltspunkt. Allzu positiv heißt entweder ängstlich oder dumm oder beides. Die Realität ist unsicher. Viele Leute brauchen Sicherheit. Sie sehen sich um, um sich Gewißheit darüber zu holen, wie es eigentlich sein soll. Sie bekommen ein Werbefernsehbild von der Welt. Geschäftsleute lernen, wie Geschäftsleute sein sollen. Professoren lernen, wie Professoren sein sollen. Bauarbeiter lernen, wie Bauarbeiter sein sollen. Sie verbringen ihr Leben mit dem Versuch, so zu sein, wie sie sein sollen, und in der Angst, nicht so zu sein. Stille Verzweiflung.« Wir kamen an einem weißen Bretterverschlag vorbei, einem Gemüsestand an der Landstraße, noch mit den Schildern der letzten Saison, die leeren Schautische grimmig in den aufleuchtenden Scheinwerfern. HEIMISCHER MAIS. BOHNEN. Danach Kiefernwald entlang der Straße, als der Lichtkegel uns vorauseilte. »So sind Sie aber nicht.« »Nein. Susan meint, daß ich manchmal sogar zu sehr in die andere Richtung schlage.« »Wie denn?« »Etwa, daß ich mir zuviel Mühe gebe, die Erwartungen der Leute zu enttäuschen.« »Versteh’ ich nicht«, sagte Paul. »Auch nicht schlimm«, sagte ich. »Das Entscheidende ist, daß man sich nicht damit aufhält, so sein zu wollen, wie es von einem erwartet wird. Wenn du kannst, ist es gut, das zu machen, was dir gefällt.« »Tun Sie das?« »Ja.« »Jetzt auch?« »Ja.«
21
Wir liefen fünf Meilen in der Wärme des späten Maitages und glänzten beide vor Schweiß, als wir wieder zur Hütte kamen. Das neue Haus war nahe daran, nach etwas auszusehen. Die Betonsockel waren getrocknet. Die Träger und Querbalken lagen. Die großen Spanplatten, die den Unterboden bildeten, waren zugeschnitten und verlegt. Die Komposttoilette war drinnen; das Becken stand schamlos auf dem schmucklosen Boden. »Heute kein Gewichtheben?« fragte Paul. Sein Atem ging leicht. »Nein«, sagte ich. Ich nahm zwei Paar Ballhandschuhe vom Schlagbrett des Boxballes herunter und gab Paul das eine. Zuerst gingen wir an den Sandsack. »Leg los«, sagte ich. Paul begann auf das Gerät zu boxen. Er drückte seine Schläge immer noch. »Nein. Zock den Schlag. Versuch durch den Sack durchzuboxen.« Paul schlug erneut. »Mehr Schulter«, sagte ich. »Dreh den Körper und leg mehr die Schulter rein. Drehen. Drehen. Doch nicht klammern. So triffst du mit der Innenseite der geballten Hand auf die oberen Fingerglieder. Schau her.« Ich boxte auf das Gerät. Kurze Gerade. Kurze Gerade. Haken. Kurze Gerade. Kurze Gerade. Haken. »Versuch, die Hand beim Schlag zu drehen. Siehst du, so, und strecken.« Das Gerät hüpfte und hopste unter meinen Treffern. »So etwa. Schlag. Strecken. Drehen. Strecken. Versuch mal.« Paul schlug wieder auf das Gerät. »Okay. Jetzt laß die Füße auseinander, wie ich’s dir sagte. Beweg dich um ihn herum. Scharren. Nicht gehen, scharren. Die Füße immer im gleichen
Abstand auseinander. Schlag. Links. Links. Rechts. Noch mal rechts. Links. Links. Links. Rechts.« Paul schnappte nach Luft. »Okay«, sagte ich. »Ruh dich aus.« Ich ging auf den Sandsack los und arbeitete fünf Minuten lang Kombinationen durch. Linke Gerade, linker Haken, Rechte von oben. Linke Gerade, linker Haken, rechter Haken. Dann dicht heran, und ich drang auf die Mitte des Gerätes ein. Ich kurzen Stößen, als wollte ich ein Loch durch den Sack treiben, die Schläge aus durchweg nicht mehr als fünfzehn Zentimetern. Als ich aufhörte, rang ich nach Luft, und mein Körper war naß vom Schweiß. Paul kam gerade wieder zu Atem. »Stell dir vor, wenn der Sack zurückschlagen würde«, sagte ich. »Oder ausweichen. Oder sich auf dich stützen. Stell dir vor, wie müde du dann erst wärst.« Paul nickte. »Der Punchingball«, sagte ich, »ist einfacher. Und protzig. Er läßt dich gut aussehen. Er ist nützlich. Aber die eigentliche Arbeit passiert am Sandsack.« Ich schlug auf den Boxball ein und ließ die Birne gegen das Rückbrett tanzen. Ich variierte den Rhythmus, so daß es sich anhörte wie Tanzschritte. Ich pfiff den »Garryowen« und schlug den Ball dazu im Takt. »Versuch mal«, sagte ich. »Hier. Du wirst die Kiste brauchen.« Ich stellte einen Holzkasten, in dem Nägel mitgekommen waren, umgekehrt unter den Ball. Paul stellte sich darauf. »Schlag ihn mit der Vorderseite der Faust, dann mit der Seite, dann der Spitze der anderen Faust, dann der Seite. So etwa. Ich zeig’s dir langsam.« Das tat ich. »Jetzt mach du es. Langsam.« Paul hatte wenig Erfolg. Er traf das Rückbrett und bog sich mit rotem Gesicht zurück und lutschte an den wunden Knöcheln. Die Kiste wackelte, als er sein Gewicht verlagerte, und er stieg runter und trat gegen sie, wobei er die Faust noch
am Mund hielt, so daß auf dem Handschuh ein nasser Fleck erschien. »Du wirst wahrscheinlich auch mindestens einmal den Drehring treffen«, sagte ich. »Das tut wirklich weh.« »Ich kann nicht damit boxen«, sagte er. »Das lernt sich leicht. In einer halben Stunde wirst du ihn schon ganz schön hüpfen lassen können.« Es dauerte länger als eine halbe Stunde, aber der Ball zeigte einen gewissen Rhythmus, als es Zeit zum Mittagessen war. Wir duschten erst. Und noch feucht setzten wir uns auf die Treppe zur Hütte und aßen Cheddarkäse mit Granny-SmithÄpfeln, Barlettbirnen, ein paar kernlose Trauben und ein nicht aufgeschnittenes Pumpernickelbrot. Ich trank Bier und Paul ebenfalls. Keiner von uns trug ein Hemd. Wir wurden beide allmählich braun, und auf Pauls Brust zeigten sich erste Ansätze von Muskeln. Er kam mir ein wenig größer vor. Wuchsen die so schnell? »Warst du ein guter Boxer?« fragte Paul. »Ja.« »Hättest du Champion werden können?« »Nein.« »Wieso nicht?« »Die gehören zu einer anderen Klasse. Ich war ein guter Boxer, so wie ich ein guter Denker bin. Aber ich bin kein Genie. Leute wie Marciano, Ali, das sind Genies. Es ist eine andere Kategorie.« »Hast du mal gegen sie geboxt?« »Nein. Der beste, mit dem ich mal kämpfte, war Joe Walcott.« »Hast du gewonnen?« »Nein.« »Hast du deswegen aufgehört?«
»Nein. Ich hörte auf, weil es kein Spaß mehr war. Zuviel Schiebung, zuviel Ausbeutung. Zu viele Typen wie Beau Jack, die durch Kämpfe Millionen verdienen und irgendwo als Schuhputzer enden.« »Könntest du Joe Walcott in einem richtigen Kampf besiegen?« »Du meinst, nicht im Ring?« »Ja.« »Vielleicht.« »Könntest du Hawk besiegen?« »Vielleicht.« Ich trank etwas Bier. Paul nahm sich noch ein Stück Käse und ein paar Trauben. »Die Sache ist die«, sagte ich, »in einem richtigen Kampf, einem Kampf ohne Regeln, kann jeder jeden besiegen. Es kommt nur darauf an, was man zu tun bereit ist. Ich hab’ eine Schußwaffe und Walcott keine und, peng. Kein Wettkampf. Es hat wenig Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wer wen besiegen kann. Hängt zu sehr von anderen Faktoren ab.« »Ich meine einen fairen Kampf«, sagte Paul. »Im Ring, mit Handschuhen und Regeln, war mein Kampf mit Walcott nicht fair. Er war viel besser. Er mußte mich einige Runden durchschleppen, damit das zahlende Publikum sich nicht betrogen fühlte.« »Du weißt, was ich meine«, sagte Paul. »Schon, aber ich versuche dir aufzuzeigen, daß das Konzept vom fairen Kampf sinnlos ist. Für einen fairen Kampf zwischen mir und Walcott hätte ich einen Baseballschläger kriegen müssen. In einem richtigen Kampf tut man, was man tun muß, um zu gewinnen. Ist man dazu nicht bereit, sollte man wahrscheinlich nicht kämpfen.« Paul trank sein Bier aus. Ich trank meines.
»Fangen wir mit dem Verzimmern an«, sagte ich. »Du kannst das Baseballspiel anstellen, wenn du willst«, sagte Paul.
22
»Die Balken müssen sechzehn Zoll Mittenabstand haben«, sagte ich, »damit die 4x8-Verkleidung und das alles richtig hält. Du wirst es sehen, wenn wir die Wände aufstellen.« Wir zimmerten die Wandgerüste auf dem Boden. »Wenn wir sie zusammengebaut haben, stellen wir sie auf der Plattform auf und verbinden sie miteinander«, sagte ich. »Woher weißt du, daß sie genau passen?« fragte Paul. »Ich hab’s ausgemessen.« »Wie kannst du sicher sein, ob deine Maße auch stimmen?« »Normalerweise tun sie’s. Man lernt, darauf zu vertrauen. Warum sollten sie nicht stimmen?« Paul zuckte die Schultern, eine Geste aus der Vergangenheit. Er begann, einen Nagel in einen 2x4-Balken zu treiben. Er hielt den Hammer in der Mitte der oberen Hälfte. Sein Zeigefinger lag zum Kopf hin auf dem Stiel. Er schlug zu kurz an. »Nicht so an den Griff hängen«, sagte ich. »Faß ihn unten. Streck nicht den Finger raus. Nimm mal vollen Schwung.« »Dann treffe ich den Nagel nicht«, sagte er. »Das lernst du schon. Genau wie mit dem Punchingball. Aber du lernst es nicht, wenn du es so weitermachst.« Er nahm vollen Schwung und verfehlte den Nagel komplett. »Siehst du«, sagte er. »Spielt keine Rolle. Nur dranbleiben. Nach einer Weile wird es einfach. So läßt du nämlich den Hammer für dich arbeiten.« Gegen Mitte des Nachmittags hatten wir drei Wandrahmen zusammengebaut. Ich hatte Paul gezeigt, wie man einen Balken auf die für sechzehn Zoll Mittenabstand erforderliche
Länge zuschneiden und ihn dann als Zollstock benutzen kann, damit er nicht jedesmal neu zu messen brauchte. »Was ist denn mit den Fenstern?« sagte er, als wir mit der vierten Wand anfingen. »Die bauen wir ein, wenn wir die Wände stehen haben und die Türen auch.« Wir gaben der vierten Wand gerade den letzten Schliff und bereiteten alles zum Aufstellen vor, als der Audi von Patty Giacomin von der Straße hereinholperte und neben dem Bronco hielt. Paul, der sie kommen sah, blieb stehen und starrte auf den Wagen. Er trug eine Hammerschlaufe am Gürtel und hatte eine Nagelschürze um die Taille gebunden. Sein nackter Oberkörper war verschwitzt und mit Sägemehl besprenkelt. Auch in seinen Haaren war Sägemehl. Als seine Mutter aus dem Wagen stieg, steckte er den Hammer in die Schlaufe. Patty Giacomin kam zu uns herüber. Sie tat sich schwer in ihren hochhackigen Sandaletten auf dem unzivilisierten Boden. »Paul«, sagte sie. »Es ist Zeit, nach Hause zu kommen.« Paul schaute mich an. Sein Gesicht war ausdruckslos. »Tag«, sagte sie zu mir. »Ich komme, um Paul heimzuholen«, und zu Paul gewandt: »Junge, du siehst aber erwachsen aus mit deinem Hammer und allem.« Ich sagte: »Sind Sie wieder im reinen miteinander, Sie und Ihr Mann?« »Ja«, meinte sie. »Ja, wir haben zu einem guten Kompromiß gefunden, glaube ich.« Paul nahm seinen Hammer aus der Schlaufe, drehte sich um, kniete neben der Wand nieder, die wir zusammenbauten, und fing an, einen Nagel in den nächsten Balken zu schlagen. »Paul«, sagte seine Mutter, »hol deine Sachen. Ich möchte wieder zurück. Spenser, wenn Sie mir die Rechnung schicken würden, Sie bekommen dann einen Scheck.«
Ich sagte: »Wie haben Sie sich denn geeinigt?« »Ach, ich habe mich damit einverstanden erklärt, daß Paul eine Zeitlang bei ihm wohnen kann.« Ich hob die Augenbrauen. Sie lächelte: »Ich weiß, das sieht so nach einem totalen Sinneswandel aus, nicht? Aber der Junge braucht einen Vater. Wenn es eine Tochter wäre, nun, das wär etwas anderes.« Paul hämmerte auf die Balken, er hielt vier oder fünf Nägel zwischen den Zähnen und konzentrierte sich anscheinend völlig auf die Arbeit. »Erstaunlich, daß Sie auf einmal daran denken«, sagte ich. »Wie mir scheint, bin ich selbstsüchtig gewesen.« Ich verschränkte meine Arme auf der Brust und schürzte die Lippen und sah ihr ins Gesicht. »Paul«, sagte sie, »hör um Himmels willen mit der verdammten Hämmerei auf und hol dein Zeug.« Paul blickte nicht auf. Ich sah ihr weiter ins Gesicht. »Paul.« Sie wurde ungeduldig. Ich sagte: »Patty. Das muß mal besprochen werden.« Ihr Kopf fuhr herum. »Jetzt aber langsam, Mister. Ich habe Sie engagiert, um auf Paul aufzupassen, dabei wollen wir’s belassen. Ich bin Ihnen keine Erklärung schuldig.« »Klug gereimt«, sagte ich. »Gereimt?« »Aufzupassen und belassen. Hübsch.« Sie schüttelte kurz den Kopf. Ich sah sie weiter mit verschränkten Armen an. Sie sagte: »Warum tun Sie das?« »Hier haben sich Zweifel ergeben. Ich versuche, ihnen auf den Grund zu gehen.« »Heißt das, Sie glauben mir nicht?« »Ganz recht«, sagte ich. »Leben Sie noch mit Stevie Elegant zusammen?«
»Ich wohne bei Stephen, ja.« »Geht Ihnen das Geld aus, um mich zu bezahlen?« »Ich bezahle Ihnen, was ich Ihnen schulde. Senden Sie mir nur die Rechnung.« »Aber Sie können es sich nicht leisten, mich weiterhin zu bezahlen?« »Nicht für ewig, natürlich nicht, wer könnte das?« »Würden Sie gerne bei dem Diskoprinzen wohnen bleiben?« »Ich sehe nicht ein, weshalb Sie über Stephen so reden müssen.« »Würden Sie gerne?« »Ich bin Stephen sehr zugetan, und er mag mich. Ja, ich würde gerne an seiner Seite leben.« Ich nickte. »Sie möchten auf bleibender Basis zu dem tollen Hecht ziehen. Aber er will den Jungen nicht dabei. Sie können mich fürs Babysitten nicht weiterhin bezahlen, also laden Sie ihn auf den alten Herrn ab.« »Wie Sie das hinstellen, ist es nicht.« »Ihr Exehemann wird also praktisch gebeten, Ihnen einen Gefallen zu tun. Weiß er das?« »Ich sehe nicht ein…« »Er weiß es nicht, oder? Er glaubt, Sie hätten sich doch noch unterkriegen lassen und hätten aufgegeben.« Sie zuckte die Achseln. »Was denken Sie wohl, was er macht, wenn er merkt, daß er Ihnen einen Gefallen tut?« »Wie meinen Sie das?« »Ich meine, daß er die letzten sechs Monate hindurch versucht hat, Ihnen den Jungen wegzunehmen, weil er dachte, Sie wollten ihn behalten; und Sie haben die letzten sechs Monate hindurch versucht zu verhindern, daß er den Jungen bekommt, weil Sie dachten, er wollte ihn. Wenn er merkt, daß Sie froh darüber sind, daß er den Jungen hat, wird er ihn
zurückerstatten wollen. Sie werden die nächsten sechs Monate hindurch versuchen, ihn sich gegenseitig zuzuschieben.« »Um Gottes willen, Spenser, reden Sie nicht so vor Paul.« »Warum nicht? Sie tun es vor Paul. Warum sollte ich nicht vor Paul darüber reden? Keiner von Ihnen ist an dem verdammten Jungen interessiert. Keiner von Ihnen will ihn haben. Und beide sind Sie derart voller Haß, daß Sie den Jungen in jeder nur denkbaren Weise benutzen werden, um den anderen zu verletzen.« »Das ist einfach nicht wahr«, sagte Patty. Ihre Stimme klang ein wenig zittrig. »Sie haben kein Recht, so mit mir zu reden. Paul ist mein Sohn, und ich entscheide, was für ihn das Beste ist. Er kommt jetzt mit mir nach Hause, und er wird bei seinem Vater wohnen.« Paul hatte aufgehört zu nageln. Er kniete am Boden, den Kopf zu uns gewandt, und hörte zu. Ich schaute ihn an. »Was meinst du, Junge?« sagte ich. Er schüttelte den Kopf. »Möchtest du mit?« sagte ich. »Nein.« Ich schaute wieder Patty Giacomin an. »Der Junge will nicht mit«, sagte ich. »Nun, er wird einfach müssen«, sagte sie. »Nein.« »Was meinen Sie damit?« »Nein«, sagte ich. »Er kommt nicht mit. Er bleibt hier.« Patty öffnete ihren Mund und schloß ihn. Eine große, laute gelb-schwarze Hummel zog einen trägen Kreis neben meinem Kopf und kurvte dann in weitem Bogen in Richtung See davon. »Das ist gesetzwidrig«, sagte Patty. Ich schwieg. »Sie können ein Kind nicht den Eltern wegnehmen.«
Die Hummel fand nichts Nahrhaftes am See und kam summend zurück, um Patty Giacomin zu umkreisen, auf deren Parfüm sie sich konzentrierte. Patty wich vor dem Tier zurück. Ich gab ihm einen leichten Schlag mit der offenen Hand, und es schnellte in die Luft, taumelte, fing sich und entschwirrte in die Bäume. »Ich werde ihn von der Polizei holen lassen.« »Es kommt zu einem Sorgerechtsverfahren, und es wird böse enden. Ich werde nachzuweisen versuchen, daß Sie beide untauglich sind«, sagte ich. »Und ich wette, ich kann.« »Das ist doch lächerlich.« Ich schwieg. Sie sah Paul an. »Kommst du mit?« sagte sie. Er schüttelte den Kopf. Sie blickte mich an. »Erwarten Sie nicht einen Cent Geld von mir.« Dann drehte sie sich um und marschierte zurück über den unebenen Laubboden, etwas wacklig auf ihren unpassenden Schuhen, und einmal stolperte sie, als ein Absatz in die weiche Erde sank. Sie stieg in den Wagen, startete, riß ihn herum und ließ die Räder auf dem Erdweg durchdrehen, als sie davonfuhr. Paul sagte: »Nur noch drei Balken, dann haben wir die letzte Wand fertig.« »Okay«, sagte ich. »Das machen wir noch. Danach ist Schluß und Zeit zum Abendessen.« Er nickte und fing an, einen Nagel in einen neuen weißen 2x4er zu schlagen. Das Geräusch des Wagens seiner Mutter verschwand. Unser Arbeitslärm war der einzige menschliche, der blieb. Als die letzte Wand zusammengebaut war, lehnten wir sie gegen das Fundament, holten uns zwei Bier und setzten uns auf die Treppe der alten Hütte, um zu trinken. Die Lichtung roch stark nach Sägemehl und frischem Bauholz mit einem Hauch von Wald und See hinter den schweren Gerüchen. Paul
nippte an seinem Bier. Einige Stare hüpften auf der Lichtung in der Nähe des neuen Fundaments. Zwei Eichhörnchen jagten in Spiralen am Stamm eines Baumes hoch, eins hinter dem anderen her. Der Abstand zwischen ihnen blieb gleich, als ob das eine nicht entkommen und das andere es nicht fangen wollte. ›»Immer wirst du lieben und sie schön sein‹«, sagte ich. »Was?« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist eine Zeile von Keats. Die zwei Eichhörnchen haben mich daran erinnert.« »Welche zwei Eichhörnchen?« »Schon gut. Es ist witzlos, wenn du die Eichhörnchen nicht gesehen hast.« Ich trank mein Bier aus. Paul holte mir ein neues. Für sich holte er keins. Er war noch bei seiner ersten Dose. Die Stare fanden an dem Fundament nichts außer Sägemehl. Sie flogen weg. Ein paar Trauertauben kamen und setzten sich auf den Ast direkt über dem Punchingball. Auf dem See plumpste etwas ins Wasser. Das Schrillen einer Heuschrecke war wie Hintergrundmusik. »Was wird passieren?« sagte Paul. »Ich weiß es nicht.« »Können sie mich zwingen, zurückzukommen?« »Sie können es versuchen.« »Könntest du Ärger bekommen?« »Ich habe mich geweigert, einen fünfzehnjährigen Jungen seiner Mutter und seinem Vater zurückzugeben. Es gibt Leute, die das als Entführung bezeichnen würden.« »Ich bin fast sechzehn.« Ich nickte. »Ich möchte bei dir bleiben«, sagte er. Ich nickte wieder. »Kann ich?« sagte er.
»Ja«, sagte ich. Ich stand von der Treppe auf und ging zum See hinunter. Der Wind hatte sich gelegt, als die Sonne unterging, und der See war nahezu bewegungslos. In seiner Mitte gab der Seetaucher wieder seine Töne von sich. Ich winkte ihm mit der Bierdose zu. »Weiter so, Kamerad«, sagte ich zu ihm.
23
»Nanu, Pater Flanagan«, sagte Susan, als sie ihre Tür öffnete. »Und wo ist der kleine Racker?« »Er ist bei Henry Cimoli«, sagte ich. »Ich muß reden.« »Oh, wirklich; ich dachte, du hättest vielleicht zu lange im Zölibat gelebt und wärst gekommen, um deine Asche abzuladen.« Ich schüttelte den Kopf. »Hör auf mit dem Unsinn, Suze. Ich muß reden.« »Tja, darauf kommt es schließlich an, was?« Sie trat von der Tür weg. »Kaffee?« fragte sie. »Einen Drink? Schnell mal befühlen? Ich weiß, wie beschäftigt du bist. Ich will dich nicht aufhalten.« »Kaffee«, sagte ich und setzte mich an ihren Küchentisch vor dem Erkerfenster, das hinaus auf den Hof ging. Susan stellte Wasser auf. Es war Samstag. Sie trug verwaschene Jeans, ein kariertes Hemd und keine Socken unter den Mokassins. »Ich habe ein paar Zimtkrapfen«, sagte sie. »Möchtest du welche?« »Ja.« Sie holte einen blau verzierten Teller heraus, nahm vier Zimtkrapfen aus der Schachtel und legte sie auf den Teller. Dann gab sie Instantkaffee in zwei blau verzierte Becher und goß kochendes Wasser darauf. Sie stellte eine Tasse vor mich und setzte sich auf die andere Seite des Tisches und schlürfte aus der anderen Tasse. »Du trinkst ihn immer zu früh«, sagte ich. »Pulverkaffee ist besser, wenn er ‘ne Minute zieht.«
Sie brach einen Krapfen durch und biß von der einen Hälfte ein Stück ab. »Nur zu«, sagte sie. »Rede.« Ich erzählte ihr von Paul und seiner Mutter. »Der Junge macht wirklich Fortschritte«, sagte ich. »Ich konnte nicht zulassen, daß sie ihn mitnahm.« Susan schüttelte langsam den Kopf. Ihr Mund war zu einer dünnen Linie der Mißbilligung verzogen. »Was für ein Schlamassel«, sagte sie. »Allerdings.« »Bist du bereit, ein Vater zu sein?« »Nein.« »Und was wird nun mit uns?« »Da bleibt alles beim alten.« »So? Das letztemal, als wir essen waren, war es lustig zu dritt.« »Es würde nicht die ganze Zeit so sein.« »Wirklich? Wer würde ihn denn bewachen, wenn wir zu zweit wären? Planst du, Hawk als Babysitter anzustellen?« Ich aß einen Krapfen. Ich trank Kaffee. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Wunderbar«, meinte Susan. »Das ist wirklich wunderbar. Also, was soll ich anfangen, solange du Käptn Courage spielst? Soll ich vielleicht einem Bridgeklub beitreten? Tanzstunden nehmen? Die vollkommene Frau durchackern?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was du tun solltest oder ich tun sollte. Ich weiß nur, was ich nicht tue. Ich werde ihnen nicht den Jungen zurückgeben, damit sie wieder nacheheliches Pingpong mit ihm spielen können. Soviel weiß ich. Der Rest muß noch geklärt werden. Darüber wollte ich eben mit dir sprechen.« »Oh, ich Glückliche«, sagte Susan.
»Ich wollte nicht darüber sprechen, was du für einen Schiß hast, weil ich ihm mehr Aufmerksamkeit zuwende als dir«, sagte ich. »Vielleicht ist es gar nicht so furchtbar wichtig, worüber du sprechen willst.« »Doch, ist es. Was wir einander zu sagen haben, ist immer wichtig, weil wir uns lieben und zueinander gehören. Und immer gehören werden.« »Einschließlich dem, was du als meinen ›Schiß‹ bezeichnest?« »Ja.« Sie schwieg. »Sei nicht gewöhnlich, Suze«, sagte ich. »Wir sind nicht gewöhnlich. Niemand ist wie wir.« Sie schaute auf ihre Hände, die sie auf dem Rand der Tischplatte gefaltet hatte. Ein schmaler Dampffaden trieb aus der Kaffeetasse an ihrem Gesicht vorbei, an ihrer Unterlippe klebte ein Krümel Zimtzucker nahe dem Mundwinkel. Die Küchenuhr tickte. Irgendwo draußen hörte ich einen Hund bellen. Susan streckte mir eine Hand entgegen und drehte langsam die Handfläche nach oben. Ich nahm sie und hielt sie fest. »So etwas wie einen bösen Jungen gibt es nicht«, sagte sie. »Wenn du auch die These einer Prüfung unterziehst.« Ich hielt ihre Hand still und sagte: »Zunächst mal, der Junge möchte Ballettänzer werden.« »Und?« »Und ich habe keine Ahnung, wie er das angehen soll.« »Und du glaubst, ich hätte?« »Nein, aber ich glaube, du kannst es herausfinden.« »Bist du denn nicht eigentlich der Detektiv?« »Doch, aber ich hab’ anderen Dingen nachzugehen. Kannst du die Tanzkunst für mich in die Hand nehmen?«
Sie sagte: »Wenn du meine Hand losläßt, koch’ ich noch mal Kaffee.« Ich ließ. Sie kochte. Ich sagte: »Kannst du?« Sie sagte: »Ja.« Ich hob meine Kaffeetasse und prostete ihr damit zu. »Viel Erfolg«, wünschte ich. Sie sagte: »Angenommen, du kannst ihn behalten, obwohl beide Eltern nach Kräften dagegen arbeiten und obwohl das Gesetz selten gegen den elterlichen Wunsch Fremden ein Kind zuspricht. Aber mal angenommen, daß du ihn behalten kannst – bist du bereit, ihn durch die Collegezeit zu unterstützen? Bist du bereit, mit ihm deine Wohnung zu teilen? In Elternversammlungen zu gehen? Vielleicht Pfadfinderführer zu werden?« »Nein.« »Nein wozu?« »Zu allen angeführten Punkten«, sagte ich. »Also?« »Also brauchen wir einen Plan.« »Das würde ich meinen«, sagte Susan. »Zunächst mal bin ich mir nicht sicher, wieviel den Eltern daran liegt, sich im Moment auf einen Rechtsstreit einzulassen. Keiner von beiden will den Jungen. Sie wollten ihn nur, um sich gegenseitig zu ärgern. Wenn sie vor Gericht müßten, um ihn mir abzunehmen, würde ich versuchen, ihnen Untauglichkeit nachzuweisen, und dabei könnte ich Dinge zutage fördern, die ihnen unangenehm wären. Ich weiß es nicht. Vielleicht gerät einer von ihnen, oder beide, so in Wut darüber, daß ich den Jungen nicht hergebe, daß sie doch vor Gericht gehen, oder vielleicht schickt der alte Herr noch mal seine Knochenbrecher los. Wenn ich mir auch denken könnte, daß ihnen nach den beiden ersten Debakeln die Lust vergangen ist.«
»Selbst Eltern, die ihre Kinder nicht mögen, hassen es, sie aufzugeben«, sagte Susan. »Die Kinder sind Besitz. In manchen Fällen der einzige Besitz der Eltern. Ich glaube nicht, daß sie ihn aufgeben.« »Sie wollen ihn nicht haben«, sagte ich. »Darum geht es nicht«, sagte Susan. »Es greift an die Wurzeln des menschlichen Selbstverständnisses. Das Gefühl, daß niemand mir sagen kann, was mit meinem Kind zu geschehen hat. Ich sehe das immer wieder an Eltern in der Schule. Kinder, die körperlich mißhandelt werden von Eltern, die körperlich mißhandelt wurden, als sie Kinder waren. Und trotzdem kämpfen die Eltern wie Tiere, damit ihnen das Kind nicht weggenommen wird. Es hat etwas mit Identität zu tun.« Ich nickte. »Du glaubst also, sie werden versuchen, ihn zurückzubekommen.« »Unbedingt.« »Das kompliziert die Sache.« »Und die Gerichte werden ihn zurückgeben. Sie mögen zwar keine guten Eltern sein, aber sie vergehen sich nicht körperlich. Du hast keine Argumente.« »Ich weiß«, sagte ich. »Falls sie vor Gericht gehen. Wie du sagst, hat der Vater ja anscheinend Zugang zu Knochenbrechern.« »Ja. Das geht mir durch den Kopf. Mich wundert, wieso.« »Wieso was?« »Wieso er Zugang zu Knochenbrechern hat. Ein durchschnittlicher Immobilienmakler aus der Vorstadt verkehrt nicht mit einem Burschen wie Buddy Hartman. Er wüßte nicht, unter welchem Stein er suchen sollte.« »Also?« »In welche Art von Geschäften war Mel Giacomin also verwickelt, daß er Buddy Hartman kennt?«
»Vielleicht hat er ihm ein Grundstück verkauft oder eine Versicherung.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts, wobei Buddy Hartman mitmischt, ist legitim. Buddy würde einen Weg finden, seine Versicherung zu stehlen.« »Was denkst du?« »Ich denke, wenn ich etwas über Mel finden kann und vielleicht auch etwas über Patty, dann hätte ich ein Mittel, um wegen dem Jungen zu verhandeln.« Zum erstenmal seit geraumer Zeit lächelte Susan mich an. »Mr. Chips«, sagte sie, »sprechen Sie von Erpressung?« »Das treffende Wort«, sagte ich.
24
Ich holte Paul im Harbour Health Club ab. »Er hat heute einsfünf auf der Universal gedrückt«, erklärte Henry. »Nicht schlecht«, sagte ich. Paul nickte. »Die Universal ist leichter«, meinte er. »Eins-fünf ist eins-fünf«, sagte ich. Wir gingen zu Fuß zur Faneuil-Hall-Einkaufszone und aßen im Quincy Market, nachdem wir uns aus den Vitrinen eine breite Auswahl von Speisen zusammengesucht und uns in die Rundhalle gesetzt hatten. »Ich habe einen Plan«, sagte ich. Paul aß ein Stück Taco. Er nickte. »Ich will versuchen, über deine Eltern Dinge herauszufinden, mit denen ich sie erpressen kann.« Paul schluckte. »Erpressen?« »Nicht um Geld zu kriegen. Jedenfalls nicht Geld für mich. Ich brauche irgendein Druckmittel, damit ich sie dir vom Hals halten kann, und mir auch, und dir vielleicht ihre Unterstützung für deine Wünsche verschaffen kann.« »Wie willst du das anfangen?« »Nun, dein Vater kennt ein paar üble Typen. Ich dachte, ich könnte mal nachprüfen, wie das kommt.« »Muß er dann ins Gefängnis?« »Würde dir das etwas ausmachen?« Paul schüttelte den Kopf. »Empfindest du irgend etwas für ihn?« sagte ich. »Ich mag ihn nicht.«
»Das ist nämlich nicht so einfach«, sagte ich. »Irgendwas liegt dir bestimmt an seinen Meinungen, seinen Erwartungen. Du könntest es nicht vermeiden.« »Ich mag ihn nicht«, sagte Paul. »Wir werden noch darüber reden müssen, wahrscheinlich mit Susan. Aber es muß nicht jetzt gleich sein.« Ich aß ein Avocado-und-Käse-Sandwich. Paul gab sich an ein Hummerbrötchen. »Willst du mir bei der Erkundigung helfen?« fragte ich. »Über meinen Vater?« »Ja. Und deine Mutter. Wir stoßen dabei vielleicht auf Dinge, die du nicht gerne erfahren wirst.« »Ist mir egal.« »Ob du mithilfst?« »Nein. Mir ist egal, ob ich über meine Mutter und meinen Vater etwas erfahre.« »Okay. Dann tun wir’s. Aber denk dran, wahrscheinlich wird es dir doch nicht egal sein. Es wird vermutlich weh tun. Das ist auch okay so. Es ist sogar sehr vernünftig, wenn es weh tut.« »Ich mag sie nicht«, sagte Paul. Er aß sein Hummerbrötchen auf. »In Ordnung«, sagte ich. »Packen wir’s an.« Ich hatte in einer Lücke hinter dem Hochbau des Zollamtes geparkt, an einem Schild mit der Aufschrift NUR FÜR ANGESTELLTE DER US-REGIERUNG. Als wir zum Wagen gingen, war Paul einige Schritte vor mir. Er war größer geworden, seit ich ihn hatte. Und langsam wurde er voller. Er trug Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt, auf dem ADIDAS stand. Seine Schuhe waren grüne Nikes mit blauer Kappe. Erste Konturen zeigten sich am Trizeps auf der Rückseite seiner Arme. Und auch an seinem Rücken meinte ich eine kleine Verbreiterung zu sehen, wo sich der latissimus dorsi entwickelte. Er ging gerader und mit einigem Schwung. Er
hatte eine Menge Farbe, eher rötlich als braun, da er hellhäutig war. »Du siehst gut aus«, sagte ich, als wir ins Auto stiegen. Er sagte nichts. Ich fuhr die Atlantic Avenue hinunter, über die Charlestown Bridge, und hielt in der Nähe einer Bar hinter dem City Square, nicht weit von der Marinewerft. Die Fassade der Bar bestand aus imitiertem Bruchstein. Links vom Eingang war ein Spiegelglasfenster. Eine Leuchtreklame darin verkündete PABST BLUE RIBBON. Auf der anderen Seite des Fensters, hinter dem Neon, hing ein schmutziger Chintzvorhang. Paul und ich gingen hinein. Theke entlang der Rechten, Tische und Stühle zur Linken. Ein Farbfernseher auf einem hohen, durch 2x4-Balken gestützten Bord. Das Match der Sox lief. Sie spielten gegen Milwaukee. Ich glitt auf einen Barhocker und nickte Paul zu, den neben mir zu nehmen. Der Barmann kam die Theke herunter. Er hatte weiße Haare und Tätowierungen an beiden Unterarmen. »Jugendliche sollen nicht an der Bar sitzen«, sagte er. »Er ist Liliputaner«, sagte ich, »und er möchte eine Coca. Für mich ein Glas Bier.« Der Barmann zuckte die Achseln und ging die Theke hinunter. Er goß Cola aus einer Literflasche in ein Glas, zapfte ein kleines Bier vom Hahn und stellte beides vor uns hin. »Mir liegt nichts dran«, sagte er. »Aber es ist ein Staatsgesetz, wissen Sie.« Ich legte einen Fünfdollarschein auf die Theke. »Buddy Hartman in der Gegend?« sagte ich. »Den kenne ich nicht«, sagte der Barmann. »Klar kennen Sie ihn. Er verkehrt hier. Er verkehrt hier, und er verkehrt bei Farrells in der Rutherford Avenue.« »Und?« »Und ich möchte ihm Arbeit geben.« Ich legte einen weiteren Fünfer auf den ersten drauf, ohne hinzuschauen. Wie ich es
mal von Bogie in einem Film gesehen hatte. Der Barmann nahm den oberen Fünfer, ließ ihn in der Kasse klingeln und brachte mir das Wechselgeld. Er legte es auf die Theke, oben auf den ersten Fünfer. »Vor drei kommt er normalerweise nicht rein«, sagte er. »Schläft lange. Dann kommt er her und ißt ein Sandwich mit Spiegeleiern, wissense.« Es war fünf vor halb drei. »Wir warten«, sagte ich. »Klar, aber der Junge kann nicht an der Theke sitzen. Warum nehmen Sie nicht den Tisch da drüben?« Ich nickte, und Paul und ich gingen zu einem Tisch im hinteren Teil der Bar, nahe der Tür zum Waschraum. Das Wechselgeld ließ ich auf der Theke. Der Barmann steckte es ein. Paul schenkte dem Baseballspiel keine Beachtung, aber den Schankraum sah er sich sorgfältig an. Um zehn vor drei kam Buddy Hartman hereingeschlendert, eine Zigarette im Mund und eine zusammengefaltete Zeitung im Arm. Er setzte sich auf einen Barhocker. Der Barmann kam die Theke herunter und sagte: »Ein Typ da drüben sucht dich. Sagt, er hätte Arbeit.« Hartman nickte. Er sagte: »Gib mir ‘n Spiegeleisandwich und ‘n Bier, Bernie, ja?« Dann sah er beiläufig zu mir herüber. Die Zigarette in seinem Mund kippte und trieb Rauch an seinem linken Auge vorbei. Er kniff das linke Auge abwehrend zusammen. Dann erkannte er mich. Er fuhr von dem Hocker hoch, peilte die Tür an. Ich sagte »Komm« zu Paul, und wir liefen aus dem Schankraum, hinter ihm her. Buddy rannte quer über die Auffahrtsrampen der Schnellstraße auf die Main Street zu. »Gib auf den Verkehr acht«, ermahnte ich Paul und legte einen Schritt zu, als wir die Rampen überquerten. Paul blieb hinter mir. Wir liefen beide mühelos. In Maine oben waren wir
auf fünf Meilen täglich gekommen, und ich wußte, wir würden Buddy schon kriegen. Er war vor uns, nicht weit von der pseudogotischen Kirche, und rannte ungleichmäßig. Er würde nicht lange durchhalten. Hielt er auch nicht. An der Kirchentreppe holte ich ihn ein, dicht gefolgt von Paul. Ich packte ihn am Kragen, riß ihn nach hinten und knallte ihn mit dem Gesicht zuerst an die Kirchenmauer links von der Treppe. Ich tastete ihn schnell ab. Wenn er eine Waffe trug, hatte er sie gut versteckt. Buddy keuchte. Ich ließ ihn los. Er drehte sich um, hustete und spuckte aus. Sein Brustkasten hob und senkte sich. »Bombenform, Buddy«, sagte ich. »Sieht man gern, wenn ein Mann sich fit hält.« Buddy spuckte nochmals. »Was willst du?« sagte er. »Bin vorbeigekommen, um mit dir zu trainieren, Bud. Etwas von den Geheimnissen deiner Kondition zu lernen.« Buddy steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. »Spar dir die Sprüche, Mann. Was willst du?« Er stand in dem Winkel zwischen der Kirchentreppe und der Kirchenmauer. Ich hatte ihn so eingekeilt, daß er nicht türmen konnte. Seine Augen wanderten nach beiden Seiten an mir vorbei. »Ich möchte wissen, woher du Mel Giacomin kennst«, sagte ich. »Wen?« Ich schlug ihm mit der linken Hand übers Gesicht. Die Zigarette flog ihm in einem Funkenregen aus dem Mund. Er sagte: »He, langsam.« Ich sagte: »Woher kennst du Mel Giacomin?« »Irgendwoher, verstehst du. Ich hab’ ihn bloß zufällig irgendwo mal getroffen.«
Ich schlug ihn mit der rechten Hand. Sein Kopf ruckte zurück gegen die Mauer. Buddy sagte: »Jesus Maria. Langsam. Hör auf damit.« »Woher kennst du Mel Giacomin?« sagte ich. »Er ist ein Freund von einem Typen, den ich kenne.« »Wer ist der Typ?« Buddy schüttelte den Kopf. »Ich mache eine Faust«, sagte ich. »Ich kann es dir nicht sagen. Er bringt mich um«, sagte Buddy. Ich versetzte ihm einen linken Haken in die Seite, unter der letzten Rippe. Er grunzte und krümmte sich. »Ihn später. Mich jetzt«, sagte ich. »Wessen Freund ist er?« »Laß mich gehn«, sagte Buddy. Ich täuschte einen zweiten linken Haken vor und schlug ihm in den Magen. Er sackte langsam an der Wand herunter. Ich fing ihn ab und stellte ihn aufrecht. Er schaute an mir vorbei, aber es war niemand da. Falls wir Zuschauer hatten, hielten sie sich raus. »Wer?« »Cotton.« »Harry Cotton?« Buddy nickte. »Woher kennt er Cotton?« sagte ich. »Weiß ich nicht. Harry erzählte mir nur, es wär ein Freund, der einen Gefallen getan haben wollte. Sonst weiß ich nichts, Ehrenwort nicht.« »Arbeitest du viel für Harry?« »Es geht.« »Brandstiftung?« Buddy schüttelte den Kopf und zuckte. »Nichts Schräges, Spenser, nur Botengänge.« Er deckte seinen Bauch mit den Armen.
»Ich verrate Harry nicht, daß du mir seinen Namen genannt hast«, sagte ich. »Könnte mir denken, daß du selber das auch nicht willst.« »Ich sag’ kein Wort«, sagte Buddy. »Wenn er dahinterkommt, läßt er mich abknallen. Mein Ehrenwort drauf. Du kennst Harry.« »Ja. Hat er den Autohof an der Commonwealth noch?« Buddy nickte. Ich wandte mich um und winkte Paul, mitzukommen. Wir gingen die Main Street hinunter zu unserem Wagen. Paul blickte einmal zurück, um zu sehen, wo Buddy war; ich sparte mir das. Im Wagen fragte ich Paul: »Wie denkst du über diesen Vorfall?« »Er hat mich erschreckt.« »Verständlich. Wenn man es nicht gewöhnt ist, geht es an die Nerven«, sagte ich. »Irgendwie geht es sogar an die Nerven, wenn man es gewöhnt ist.« Paul schaute aus dem Fenster. »Hast du’s dir anders überlegt?« sagte ich. »Möchtest du eine Zeitlang bei Susan bleiben, bis ich das in Ordnung gebracht habe?« »Nein. Ich will mit dir gehen.« »Susan hätte nichts dagegen«, sagte ich. »Hätte sie doch«, sagte Paul. Ich schwieg. Wir fuhren durch die Rutherford Avenue, über die Prison Point Bridge und stadtauswärts über den Memorial Drive auf der Cambridge-Seite des Flusses. Am Ufer waren Jogger, auf dem Fluß Rennboote, und eine bunte Gesellschaft von Studenten und alten Leuten spazierte entlang der Straße. Nach dem Hyatt Regency fuhr ich um den Kreisel herum und auf die BU Bridge. »Wohin fahren wir?« fragte Paul.
»Harry Cotton besuchen«, sagte ich. »Das ist der, den Buddy erwähnt hat.« »Ja. Ein übler Bursche.« »Ist er ein Gauner?« »Ja. Ein Gauner der ersten Garnitur. Wenn dein Vater ihn kennt, dann steckt dein Vater tief drin.« »Wirst du mit ihm dasselbe machen?« »Wie mit Buddy?« »Ja.« »Ich weiß nicht. Ich geh’ einfach hin und schaue, was passiert. Er ist ein viel härterer Brocken als Buddy. Willst du auch bestimmt mitkommen?« Er nickte. »Sonst gibt es niemand«, sagte er. »Du hast doch gehört – Susan…« »Sie kann mich nicht leiden«, sagte er. »Ich möchte bei dir bleiben.« Ich nickte. »Wir haben uns wirklich gegenseitig am Hals, wie mir scheint.«
25
Harry Cottons Autohof lag draußen an der Commonwealth Avenue, nicht weit von dem alten Braves Field, an einer alten Tankstelle, die kein Benzin mehr verkaufte. Farbige Lichter reihten sich um den Rand des Hofes und rings um die nutzlosen Tanksäulen. Das Tor zur Reparaturwerkstatt lag am Boden. Seine Glasscheiben waren in verschiedenen Farben bemalt worden. Es gab kein Schild mit einer Branchenbezeichnung, nur acht oder zehn heruntergekommene, auf dem Hof zusammengepferchte Wagen ohne Kennzeichen. Niemand war auf dem Hof. Aber die Tür zur Büroseite der Tankstelle stand offen. Ich ging hinein. Paul kam hinter mir. Das Büro enthielt einen alten Schreibtisch aus Nußbaum, einen hölzernen Drehstuhl, ein Telefon und eine Deckenlampe, in deren Glaskugel ein Dutzend toter Fliegen lagen. Ein Aschenbecher in der Form eines Gummireifens voller Zigarettenkippen stand auf dem Schreibtisch. In einer Ecke des Raumes hob ein Chow-Chow mit verfilztem Fell und grauer Schnauze den Kopf und sah mich an, als ich hereinkam. Am Schreibtisch sprach Harry Cotton ins Telefon. Harry paßte zu dem Büro. Er war knochig und spitzbäuchig, mit langen schmutzigen Fingernägeln und gelben Zähnen. Seine Haare hatten ungefähr die Farbe einer Norwegerratte und waren direkt über dem linken Ohr gescheitelt. Sie waren viel dünner als die einer Norwegerratte, und obwohl er versucht hatte, sie herauf- und herüberzuziehen, war das nicht besonders gelungen, und lauter helle Kopfhaut schien durch. Er rauchte eine Mentholzigarette, die er zwischen den Spitzen der ersten
beiden Finger hielt. Anscheinend hielt er seine Zigarette immer so, denn die beiden Finger waren am oberen Glied bis rauf zur Kuppe braun gefleckt. Rechts von dem Chow-Chow stand eine Tür zur Wartungshalle offen. Sie war leer bis auf ein Metallfaß und drei Klappstühle. Drei Männer saßen auf den Klappstühlen um das Faß herum und spielten Vingt-et-un. Sie tranken Four Roses aus Pappbechern. Harry hängte das Telefon ein und schaute auf mich. Er hatte eine Rasur nötig. Die Stoppeln, die sich zeigten, waren grau. Er trug ein rotes Flanellhemd und darüber ein langärmliges Sweat-Shirt, das in eine schwarze Kammgarnhose mit blankgewetzten Knien gestopft war. Sein Gürtel war zu lang, und ein gutes Stück davon hing aus der Gürtelschlaufe heraus wie eine schwarze Zunge. Er trug hohe schwarze Turnschuhe. So mit den Füßen auf dem Schreibtisch, den weiß über ausgeleierten Socken hervorschauenden Schienbeinen, sah er aus wie eine Spielfilmversion von Fagin dem Hehler, und er war vielleicht dreieinhalb Millionen Dollar schwer. »Was wollen Sie?« fragte er. Der Hund stand auf und knurrte. Paul stellte sich etwas mehr hinter mich. Ich sagte: »Ich habe Interesse an einer Rattenfarm. Man hat mich überall an Sie verwiesen.« »Wollen Sie mich verkohlen?« sagte er. Seine Stimme war schrill und ausdruckslos. »Ich? Sie verkohlen? Ein großes Tier wie Sie? Ich doch nicht. Der Junge hier fragte mich nach einer Definition für Klasse, und ich dachte mir, es wäre leichter, mal mit ihm vorbeizukommen und es ihm zu zeigen.« Die drei Kartenspieler in der Garage blickten hoch. Einer von ihnen stand auf und bewegte sich zur Bürotür. Ich war mir nicht sicher, ob er durchpassen würde.
»Sie wollen in den Arsch getreten werden«, sagte Harry, »dann sind Sie hier richtig. Stimmt’s, Shelley? Ist er da nicht an der richtigen Adresse?« Vom Eingang her meinte Shelley: »Das stimmt. Er ist an der richtigen Adresse.« Shelley wirkte ungefähr so wuchtig und massiv wie ein Nilpferd. Wahrscheinlich war er nicht so schlau, und ganz bestimmt nicht so gut aussehend. Seine Haare waren blond und büschelig und hingen ihm über die Ohren. Er trug ein geblümtes Hemd mit kurzen Ärmeln, und seine Arme waren glatt und völlig unbehaart. Er rülpste leise und sagte: »Scheiß Anchovis.« »Ich versuche, einen Burschen namens Mel Giacomin ausfindig zu machen«, sagte ich. »Sehen Sie ihn hier?« fragte Harry. »Nein.« »Dann zischen Sie ab.« »Ich hörte, daß Sie wüßten, wo er ist.« »Sie haben etwas Falsches gehört.« »Hör gut hin, Paul«, sagte ich. »Du willst doch Schlagfertigkeit lernen. Du befindest dich in Gegenwart eines Meisters.« Shelley runzelte die Stirn. Er sah Harry an. Harry sagte: »Kenne ich Sie?« »Mein Name ist Spenser«, sagte ich. Harry nickte. »Ja. Ich kenne Sie. Sie sind der, der vor ‘ner Weile Buddy Hartman und dieses Murmeltier, mit dem er unterwegs war, rausgeschmissen hat.« »Eben der«, sagte ich. »Und das Murmeltier hieß, glaube ich, Harold. Er hatte einen Totschläger.« Harry nickte. Er sah mich an, während er heftig an der kurzen Zigarette zog, so daß die lange glühende Asche fast seine Finger erreichte. Er warf die Kippe auf den Boden und ließ sie
schwelen. Langsam atmete er aus, wobei er den Rauch aus beiden Mundwinkeln entweichen ließ. »Ich bin auch einer von den beiden Burschen, die einen Ihrer Leute von der Mass. Avenue Bridge in den Fluß geworfen haben«, sagte ich. Shelley kaute jetzt Tabak. Er spie Tabaksaft auf den Boden hinter sich. »Wie kommen Sie darauf, daß es einer von mir war?« sagte Cotton. »Na, ich bitte Sie, Harry. Wir wissen doch beide, daß es Ihre waren. Wir wissen beide, daß Sie dick mit Mel Giacomin sind und ihm einen Gefallen tun wollten.« Harry schaute auf Paul. »Wer ist der Junge?« »Ein Hilfspolizist, verdeckte Fahndung«, sagte ich. »Ist das der Junge von Giacomin?« Ich schob die Hände in meine Hüfttaschen. »Welche Verbindung haben Sie zu Giacomin?« »Ich hab’ keine Verbindung zu Giacomin«, sagte Harry. »Und ich möchte nicht, daß Sie Ihre Nase in meine Angelegenheiten stecken. Haben Sie verstannen?« »Verstanden, Harry. Mit d. Ver-stan-den. Schauen Sie auf meine Lippen.« Harrys Stimme wurde etwas schriller. Sie klang wie Kreide auf einer Schiefertafel. »Halten Sie Ihr Scheißmaul«, sagte er. »Und lassen Sie Ihre Scheißschnüffelnase aus meinen Scheißangelegenheiten, oder Scheiße noch mal, ich begrab’ Sie gleich hier, direkt auf dem Scheißhof da draußen.« »Fünf«, sagte ich. »Fünfmal Scheiß in einem Satz, Paul. Das ist noch farbig. Soviel Farbe trifft man selten heutzutage.« Die anderen beiden Kartenspieler stellten sich hinter Shelley. Sie waren nicht Shelley, aber wie Touristen sahen sie auch nicht aus. Harry zog sein Taschentuch hervor und schneuzte
sich die Nase. Er untersuchte das Ergebnis, faltete das Taschentuch zusammen und stopfte es sich wieder in die rechte Hosentasche. Dann sah er mich an. »Shelley«, sagte er. »Wirf den Penner raus, Scheiße noch mal, und laß es weh tun.« Ein Hauch von Röte lag auf seinen Backen. Shelley spie noch einen Schub Tabaksaft auf den Zementboden hinter sich und machte einen Schritt auf mich zu. Ich zog meine Kanone aus dem Hüfthalfter und richtete sie auf ihn. »Bleib stehen, Shelley. Wenn ich ein Loch in dich puste, sickert die Kacke raus und du wiegst ungefähr noch achtundneunzig Pfund.« Hinter mir hörte ich Paul Luft holen. »Harry«, sagte ich. »Ich kann Sie aus dem Augenwinkel sehen. Wenn Ihre Hände außer Sicht unter den Schreibtisch gehen, schieße ich Sie in den Nasenrücken. Ich bin sehr gut mit dem Ding.« Niemand rührte sich. Ich sagte: »Also, welche Verbindung hatten Sie zu Giacomin, Harry?« »Lecken Sie mich«, sagte Harry. »Wie wär’s denn, wenn ich Ihnen ein Ohrläppchen abschieße?« »Na los.« »Oder eine von Ihren Kniescheiben?« »Na los.« Wir waren alle still. Der Chow hatte aufgehört zu knurren und saß mit hängenden Lefzen und herausgestreckter violetter Zunge auf seinen Lenden. Er keuchte leise. »Paul«, sagte ich. »Du siehst ein Beispiel für das Gesetz der Kompensation vor dir. Der kleine Schleicher ist häßlich und dumm und gemein, und er riecht schlecht. Aber er ist zäh.«
»Sie werden verdammt noch merken, wie zäh ich bin«, sagte Harry. »Sie können sich das Ding da genausogut in den Mund schieben und abdrücken. Denn Sie sind ein toter Mann. Haben Sie verstanden? Ich sehe auf einen scheißtoten Mann.« »Andererseits«, sagte ich zu Paul, »bin ich gutaussehend, anständig, intelligent und wohlriechend. Und viel zäher als Harry. Gehen wir.« Paul ging zur Tür hinaus. Ich ging rückwärts hinter ihm her. Der Bronco stand direkt vor der Tankstelle. »Lauf rüber«, sagte ich, »und lauf schnell. Steig drüben ein und duck dich hin.« Er tat, was ich ihm gesagt hatte, und ich folgte ihm, rückwärts, die Waffe unverwandt auf der offenen Tür. Dann waren wir im Wagen und aus dem Hof heraus und unterwegs nach Brighton auf der Commonwealth Avenue. Paul saß ganz weiß neben mir. Er schluckte mehrere Male hörbar. »Angst gekriegt?« sagte ich. Er nickte. »Ich hatte auch Angst«, sagte ich. »Wirklich?« »Sicher. Und hab’ sie noch. Aber dagegen kann man nicht an. Am besten, man zieht einfach sein Programm durch. Angst zu haben ist normal, es sollte aber nichts ändern.« »Du hast nicht ängstlich gewirkt.« »Es ist besser so«, sagte ich. »Wieso wollte er in Kauf nehmen, daß du auf ihn schießt? Wenn er mit meinem Vater etwas macht, dann muß ihm wirklich daran liegen, es geheimzuhalten.« »Vielleicht. Oder vielleicht ist er nur dickköpfig. Will sich nicht drängen lassen. Die große Nummer, die er in der Stadt darstellt, ist er nicht dadurch geworden, daß er wie Kuchen
zergeht. Auch Müll hat mitunter Stolz. Vielleicht braucht man sogar mehr davon, wenn man zum Müll gehört.« Ich wendete, wo die Commonwealth in Richtung BU abbiegt und nahm wieder Kurs auf die Innenstadt. »Was hast du aus der Sache gewonnen?« fragte Paul. »Einiges herausgefunden«, sagte ich. »Was denn?« »Daß die Verbindung deines Vaters zu Harry Cotton es wert ist, vertuscht zu werden.« »Vielleicht hat dieser andere Kerl gelogen«, sagte Paul. »Buddy? Nein. Wenn er gelogen hätte, dann nicht so. Wenn Cotton jemals erfahren würde, daß Buddy ihn verpfiffen hat, würde er Buddy umbringen lassen. Buddy würde zwar lügen, um aus einer Klemme herauszukommen, aber so nicht.« »Wenn dieser Cotton doch so reich ist und alles«, sagte Paul, »warum lebt er dann so im Dreck?« »Vermutlich glaubt er, das erregt keine Aufmerksamkeit«, sagte ich. »Vielleicht ist er bloß sparsam. Ich weiß es nicht. Aber laß dich davon nicht täuschen.« »Was fangen wir jetzt an?« »Hat dein Vater in seiner Wohnung ein Büro eingerichtet?« »Ja.« »Wir werden da einbrechen.«
26
Paul und ich verbrachten die Nacht in meinem Apartment in Boston. Und am nächsten Morgen gegen halb elf brachen wir in die Wohnung seines Vaters in Andover ein. Niemand war zu Hause. Wie alle guten Geschäftsleute, die die Vorstadt hervorbringt, war Mel Giacomin unterwegs und hielt sich ran. »Sein Büro ist hinten, wo ich geschlafen habe, als ich hier war«, sagte Paul. Am Ende eines kurzen Flurs, hinter dem Eßzimmer mit der rechts daran anschließenden Küche, lagen zwei Schlafzimmer und ein Bad. Mel war kein sauberer Bursche. Das Frühstücksgeschirr flog noch in der Küche herum. Kaffee für einen, bemerkte ich, und eine Schachtel Reiskrispies. Ein Reformkostsüchtiger. Mels Bett im rechten Schlafzimmer war ungemacht, und schmutzige Kleider lagen auf dem Boden. Auf dem Badezimmerboden lagen nasse Handtücher. Die andere Tür war abgesperrt und mit einem Vorhängeschloß verriegelt. Ich ging so weit zurück, wie der enge Flur es mir erlaubte, hob den rechten Fuß und trat voll mit der Unterseite gegen die Tür. Die Haspe des Vorhängeschlosses riß aus dem Holz. Wir gingen hinein. Das Büro war sauber. Es enthielt eine Doppelbettcouch. Einen Tisch, der früher in einer Küche fungiert hatte, einen geradlehnigen Stuhl und eine Ziehkartei aus Metall mit zwei Fächern und Schloß. Auf dem Tisch stand ein Telefon, eine Lampe, ein Bierkrug mit Stiften und Kulis und ein Karteikasten. Der Karteikasten war ebenfalls verschlossen. Auf dem Boden war ein kleiner Orientteppich, im einzigen Fenster des Zimmers eine Klimaanlage und weiter nichts.
»Nehmen wir die Akten so mit«, sagte ich. »Das ist einfacher, als die Kästen aufzubrechen und sie hier zu durchsuchen.« »Aber wird er das nicht merken?« »Er merkt sowieso, daß ich seine Tür eingetreten habe. Von mir aus kann er ruhig wissen, daß jemand seine Akten kassiert hat. Wenn er auf mich tippt, na schön. Sollten hier Dinge drin sein, die ihn nervös machen, dann regt er sich vielleicht. Wenn er das tut, kommt die Sache ins Rollen. Das ist ein Vorteil. Nimm du den Karteikasten.« Und wir marschierten hinaus. Paul mit dem Karteikasten und ich, kämpfend, mit der größeren Kartei. »Sie ist nicht schwer«, sagte ich. »Sie ist nur unhandlich.« »Klar«, meinte Paul. »Das sagt jeder.« Wir luden die Akten hinten in den Bronco und fuhren davon. Niemand schrie uns nach. Kein Polizist stieß in seine Trillerpfeife. Mit den Jahren hatte ich gelernt, daß man, wenn man keine Maske trägt, fast überall ein und aus gehen und fast alles mitnehmen kann, weil die Leute dann glauben, daß man dazu berechtigt ist. Ich parkte in der Gasse hinter meinem Büro, und Paul und ich brachten die Karteikästen hinauf. Es war eine Weile her, seit ich in meinem Büro gewesen war. Ein Schwung Post lag auf dem Boden unter dem Briefschlitz. Eine Spinne hatte in einer Ecke des Fensters ihr Netz gebaut. Da es meine Sicht auf die Werbeagentur gegenüber nicht beeinträchtigte, ließ ich es in Frieden. Ich stellte die große Kartei neben meinen Schreibtisch. Paul stellte den Karteikasten auf sie drauf. Ich öffnete das Fenster, hob meine Post auf und setzte mich an den Schreibtisch, um sie zu lesen. Der größte Teil wanderte gleich ungeöffnet in den Papierkorb. Was übrigblieb, war ein Buch mit dem Autogramm der Autorin, einer Frau, für die ich vor einiger Zeit
mal gearbeitet hatte, und eine Einladung zur Hochzeit von Brenda Loring mit jemandem namens Maurice Kerkorian. Empfang im Anschluß an die Zeremonie im Copley Plaza Hotel. Ich betrachtete die Einladung eine ganze Weile. »Was fangen wir mit den Karteien an?« sagte Paul. Ich legte die Post hin. »Wenn wir sie offen haben, werden wir nachsehen, was sich drin findet.« »Wonach suchen wir denn?« »Weiß nicht. Wir werden sehen, was sich findet.« »Wieso meinst du, es wäre gut, wenn mein Vater wüßte, daß du die Akten mitgenommen hast?« fragte Paul. Ich holte ein Stemmeisen aus dem Garderobenschrank in der Ecke des Büros und begann, die Ziehkartei aufzubrechen. »Es setzt ihn in Bewegung. Das Schlimmste, was passieren kann, wenn man Leuten auf die Schliche zu kommen sucht, ist, daß sie sich auf den Hintern setzen und still verhalten. Wenn sie einfach hocken bleiben, auf was auch immer, und nichts unternehmen, dann tut sich nichts. Sie legen sich nicht fest, geben dir keine Gelegenheit zum Gegenschlag, begehen keine Fehler, geben sich keine Blöße, wenn du verstehst.« »Was glaubst du, was mein Vater unternehmen könnte?« »Er könnte versuchen, die Akten zurückzubekommen.« »Und was ist, wenn er es versucht?« »Wir werden sehen.« »Aber du weißt es nicht?« Die letzte Schublade der Kartei sprang unter dem Druck des Eisens auf. »Nein, ich weiß es nicht. Aber, wenn du die Phrase entschuldigst, so ist das Leben nun mal. Man weiß nicht, was geschehen wird. Die Leute, deren Leben am besten funktioniert, das sind diejenigen, die sich darüber im klaren sind und die, nachdem sie getan haben, was sie können, bereit sind für das, was kommt. Wie der Mann gesagt hat: ›Bereit sein ist alles.‹«
»Welcher Mann?« »Hamlet.« »So hast du es mit Harry gehalten.« »Ja, zum Teil. Man geht von Klinke zu Klinke. Ich hab’s bei Buddy versucht, dann bei Harry und jetzt bei deinem Vater. Es ist wie ein Gang durch einen langen Korridor mit lauter Türen. Du probierst sie immer weiter, um zu sehen, welche aufgeht. Du weißt nicht, was hinter den Türen ist, aber wenn du keine öffnest, kommst du aus dem Korridor nicht heraus.« »In dem Karteikasten hier ist nichts, außer einem Haufen Namen«, sagte Paul. Ich nahm eine Karte und schaute sie mir an. Richard Tilson, stand darauf, 43 Concord Avenue, Waltham. Lebensvers. 16.9.73. Prudential No. 3750916. »Kundenkartei vermutlich.« Ich sah mir weitere Karten an. Der gleiche Aufbau. »Geh sie mal durch«, sagte ich. »Schreib alle Namen raus, die du kennst. Überzeug dich, ob es nur Kundeninformationen sind.« »Weshalb soll ich Leute, die ich kenne, aussortieren?« »Warum nicht? Könnte eine Rolle spielen. Und es ist doch etwas, was man mit der Kartei anfangen kann. Vielleicht tritt ein Muster zutage. Das weißt du nicht, bevor du es getan hast.« Ich gab Paul einen Block und einen Stift von meinem Schreibtisch, und er setzte sich auf meinen Kundenstuhl, die Kartei auf seiner Seite des Tisches, und fing an, sie durchzusehen. Ich stellte das Kofferradio wegen Paul auf einen Popmusiksender ein und begann mit der Durchsicht der großen Ziehkartei auf meiner Seite des Schreibtisches. Es ging langsam. Briefe mußten gelesen werden, und alle waren in dem verqueren, unkultivierten Jargon von Handel und Industrie abgefaßt. Nach zehn Minuten bekam ich intellektuelle Blähungen. Die Musik half auch nicht.
»Wenn Andy Warhol Musiker wäre, würde er sich so anhören«, sagte ich. Paul fragte: »Wer ist Andy Warhol?« »Es ist besser, wenn du das nicht weißt.« Um halb zwei stellte ich auf das Baseballspiel um. Erleichterung. Um zwei sagte ich zu Paul: »Hast du Hunger?« »Ja.« »Würdest du mal in diesen Sandwichladen in der Newbury sausen und uns was zu futtern holen?« »Wo ist das?« »Bloß einen Block weiter und um die Ecke. Direkt gegenüber Brooks Brothers.« »Okay.« Ich gab ihm Geld. »Bring mit, was gut aussieht«, sagte ich. »Was möchtest du denn?« »Verlaß dich auf deine Nase«, sagte ich. »Okay.« Er ging hinunter, und ich blieb bei den Akten. Paul kam mit Truthahnsandwiches auf Haferbrot und Roastbeefsandwiches auf Roggen, zwei Zitronentaschen und einer Tüte Milch zurück. Ich trank Kaffee aus der Kanne im Büro. Gegen drei war Paul mit seiner Kartei fertig. Er sagte: »Ich geh mal raus spazieren.« Ich sagte: »Brauchst du Geld?« Er sagte: »Nein. Ich hab’ noch welches von dem, was du mir vorhin gegeben hast.« Um fünf kam Paul zurück. Er hatte sich im Booksmith in der Boylston ein Buch über Ballett gekauft. Er las in seinem Buch, während ich die Akten durcharbeitete. Es wurde dunkel. Ich drehte das Licht im Büro an. Um Viertel nach acht sagte ich: »Das reicht. Komm, ich geb’ dir ein Abendessen aus.«
Wir gingen hinauf zum Café L’Ananas und aßen. Ich ließ eine Flasche Wein kommen, und Paul trank mit. Danach gingen wir zu Fuß zu meiner Wohnung. »Was ist mit deinem Wagen?« sagte Paul. »Den lassen wir stehen. Es ist nur ein Spaziergang von vier Blocks zu meinem Büro.« »Gehen wir da morgen wieder hin?« »Ja, ich bin noch nicht fertig.« »Ich fand nur drei Leute in der Kartei.« »Mehr, als ich bis jetzt gefunden habe.« Wir gingen nach oben und legten uns schlafen.
27
Es wurde fast Mittag am nächsten Tag, bis ich etwas fand. Es war kein blutiger Dolch oder auch nur ein aus Gold geschmiedeter ägyptischer Mistkäfer. Es war eine Liste von Adressen. Nicht viel zwar, aber sonst gab es nichts. Sie stand auf einem einzelnen Bogen Papier, in einem unbeschrifteten Aktendeckel, zuhinterst im unteren Fach der Ziehkartei. »Was ist denn daran wichtig?« sagte Paul. »Ich weiß es nicht, aber es ist das einzige, für das es keine simple Erklärung gibt.« Ich nahm ein Telefonbuch aus der unteren Schublade meines Schreibtisches und schlug die Namen der Leute unter den angegebenen Adressen nach. Die vierte, die ich nachschlug, war Elaine Brooks. »Ist Elaine Brooks nicht die Freundin deines Vaters?« »Ja.« »Sie wohnt doch gar nicht da.« Paul sagte: »Ich weiß nicht, wo sie wohnt.« »Ich aber. Ich bin ihr zu dir gefolgt, erinnerst du dich?« »Vielleicht hat sie früher da gewohnt.« »Vielleicht.« »Sie steht auch auf meiner Liste«, sagte er. »Aus der Kartothek?« »Ja.« »Zeig mir die Liste mal.« Er gab sie mir. Sie enthielt außer Elaine Brooks zwei weitere Namen. Ich schlug im Telefonbuch nach. Beide Namen waren im Ortsverzeichnis als Hauseigentümer unter derselben
Adresse wie auf der Liste aufgeführt. Elaine Brooks besaß zwei Adressen. »Ist die Kartei alphabetisch?« Paul sagte: »Ja.« »Okay. Ich les’ dir mal ein paar Namen vor. Du siehst nach, ob sie in deiner Kartei sind. Wenn ja, zieh die Karte raus und gib mir die Adresse.« Ich ging die ganze Liste der Adressen durch, schlug sie jeweils im Telefonbuch nach und nannte Paul die Namen, die ich fand. Alle waren in der Kartei. Nicht einer war auf den Karten unter der im Telefonbuch angegebenen Adresse verzeichnet. »Welche Art von Versicherung ist angegeben?« sagte ich, als wir durch waren und alle Karten aussortiert hatten. »Auf dieser steht Sachschaden.« »Ja?« »Auf dieser steht Gebäude.« »Ist eine Lebensversicherung dabei?« Paul blätterte schnell die Karten durch. »Nein«, sagte er. Ich nahm die Karteikarten und faßte in einer Übersicht die Namen mit den dazugehörigen beiden Adressen und den Versicherungsarten zusammen. Alle hatten Gebäudeversicherungen. Jeder war bei einer anderen Gesellschaft versichert. Als ich fertig war, sagte ich zu Paul: »Komm, sehen wir uns diese Grundstücke mal an.« Die erste Adresse war in der Chandler Street am Südende. Das Südende mit seinen roten Backsteinbauten war früher eine ziemlich elegante Wohngegend gewesen. Dann verfiel es zum Säuferslum. Jetzt hatte es ein Comeback. Eine Menge Leute aus dem gehobenen Mittelstand zogen ein und bliesen die Backsteine ab, kauften sich Dobermänner, installierten Alarmanlagen und hielten die Säufer auf Distanz. Es war eine interessante Mischung: schwarze Straßenkinder, Säufer vieler
Rassen, weiße Frauen mit Karottenhosen und spitzen Absätzen, schwarze und weiße Männer mittleren Alters in Hemden von Lacoste. Unsere Adresse lag zwischen einem Restaurant, aus dem man Südstaatenfutter mitnehmen konnte, und einem Schnapsladen. Sie war ausgebrannt. »›Bloße Chorruinen‹«, sagte ich, ›»wo zur Nacht die süßen Vögel sangen.‹« »Frost?« fragte Paul. »Shakespeare«, sagte ich. »Wieso dachtest du, es sei Frost?« »Weil du immer Frost oder Shakespeare zitierst.« »Manchmal zitiere ich auch Peter Gammons«, sagte ich. »Wer ist das?« »Der Baseball-Reporter vom Globe.« Wir fuhren zu der nächsten Adresse in die Symphony Road in der Back Bay. Die Symphony Road war Studentenrevier und das, was die Schulkommission »spanisch« nannte. Die Adresse war ein verkohlter Haufen Schutt. »Bloße Kirchruinen«, sagte Paul. »Chor«, sagte ich. »Sehen wir da ein Muster zutage kommen?« »Du meinst, sie sind alle abgebrannt?« »Die Auswahl ist ein bißchen knapp«, sagte ich. »Aber die Anzeichen sind stark.« Die dritte Adresse war in der Blue Hill Avenue in Mattapan. Sie lag zwischen einem mit Brettern vernagelten Laden und einem zweiten mit Brettern vernagelten Laden. Sie hatte gebrannt. »Wo sind wir?« fragte Paul. »Mattapan.« »Gott, eine furchtbare Gegend.« »Wie ein Stück von der Südbronx«, sagte ich. »Das Leben ist hart hier.« »Sie werden alle abgebrannt sein«, meinte Paul.
»Ja, klar, aber wir müssen nachsehen.« Und das taten wir. Wir sahen in Roxbury nach, in Dorchester und Allston und Charlestown. In Hyde Park und Jamaika Plain und Brighton. Die Adressen waren immer obskur, so daß wir mitunter auf den Spuren unserer Liste dieselbe Gegend mehrere Male durchkreuzten. Alle Adressen lagen in bescheidenen Wohnvierteln. Alle waren abgebrannt. Es war dunkel, als wir fertig wurden, und ein leichter Regen wischte über meine Bürofenster. Ich legte die Füße auf meinen Schreibtisch und rollte mit den Schultern, um meine Rückenmuskeln zu lockern, die durch acht Stunden Autofahrt in der Stadt verkrampft waren. »Dein Paps«, sagte ich, »scheint ein Brandstifter zu sein.« »Warum sollte er denn alle diese Gebäude niederbrennen?« »Ich weiß nicht, ob er sie in Brand gesteckt hat. Er kann sie auch nur versichert haben. Aber in jedem Fall ging es ums Geld. Kaufen, in Brand stecken, die Versicherung kassieren. Das ist seine Verbindung zu Cotton. Die Branche deines alten Herren waren Grundstücke und Versicherung. Cottons Branche ist Geld aus Gaunerei. Bring sie zusammen, und was kommt heraus?« »Bibbiti-bobbiti-buh«, sagte Paul. »Ach, du kennst das Lied? Wie kommst du denn dazu?« »Ich hatte es auf Schallplatte, als ich klein war.« »Nun, es paßt hier. Und als dein Vater dann ein paar billige Kräfte brauchte, um mit seiner Scheidungssituation fertig zu werden, schickte Cotton ihm Buddy Hartman, und Hartman brachte Harold und seinen Räuberknüppel mit.« »Was willst du jetzt machen?« sagte Paul. »Morgen werde ich alle diese Versicherungsgesellschaften anrufen und feststellen, ob dein Vater tatsächlich der Makler bei diesen Brandschäden war und ob sie gezahlt haben.« »Die Versicherungen aus der Kartei?«
»Ja.« »Woher willst du wissen, mit wem du sprechen mußt?« »Ich habe schon viel für Versicherungen gearbeitet. Ich kenne in den meisten Schadensabteilungen Leute.« »Was hast du danach vor?« »Danach werde ich alles, was ich weiß, erst mal zu den Akten legen und schauen, was ich über deine Mutter herausfinden kann.« Paul war still. »Wie fühlst du dich?« sagte ich. »Okay.« »Das Ganze ist furchtbar hart.« »Es ist okay.« »Du hilfst mir dabei, deinen Vater und deine Mutter unter Druck zu setzen.« »Ich weiß.« »Weißt du, daß es für dich ist?« »Ja.« »Bringst du es fertig?« »Dir zu helfen?« »Alles. Selbständig sein, von ihnen unabhängig sein, auf dich selbst zu vertrauen. Mit fünfzehn erwachsen zu werden.« »Ich werde im September sechzehn.« »Du wirst noch älter sein«, sagte ich. »Besorgen wir uns was zu essen und gehen schlafen.«
28
Es regnete stark, als Paul und ich am Morgen den Charles River entlangliefen. Es regnete den ganzen Tag. Ich saß in meinem Büro und rief Versicherungsfirmen an. Paul hatte sein Buch über das Ballett ausgelesen. Er ging hinaus und auf meinen Vorschlag hin zur Stadtbücherei Boston, um sich auf meine Karte eine Ausgabe von Der Fänger im Roggen zu leihen. Fünf Minuten nachdem er zurück war, rief Susan an. »Die Leitung ist seit einer Stunde besetzt«, sagte sie. »Frauen«, sagte ich. »Es hat sich herumgesprochen, daß ich wieder in der Stadt bin, und seit gestern klingeln mich die Frauen an.« »Ist Paul bei dir?« »Ja.« »Gib ihn mir bitte mal.« Ich streckte Paul den Hörer hin. »Für dich«, sagte ich. »Susan.« Paul nahm den Hörer und sagte: »Hallo.« Danach war er still. Dann sagte er: »Okay.« Danach war er still. Dann sagte er: »Okay« und legte auf. »Sie meint, es gibt eine Fachschule draußen in Grafton, die Lehrgänge in Schauspiel, Musik und Tanz anbietet«, sagte er. »Wenn ich Lust habe, will sie heute nachmittag mit mir hinfahren.« »Hast du Lust?« »Ich denke schon.« »Gut. Das solltest du auch. Ist es ein Internat?«
»Du meinst, zum dort wohnen?« »Ja.« »Davon sagte sie nichts. Würde ich dort wohnen müssen?« »Vielleicht.« »Willst du nicht, daß ich bei dir wohne?« »Irgendwann mußt du eigene Wege gehen. Autonomie heißt auf dich selbst vertrauen, nicht dein Vertrauen von deiner Mutter und deinem Vater auf mich verlegen. Ich bin das, was in der Politik als Übergangslösung bezeichnet wird.« »Ich glaube nicht, daß ich ganz auf die Schule möchte.« »Warte ab, schau dir den Verein mal an. Wir werden darüber reden. Ich werde dich zu nichts zwingen, was dich echt überfordert. Aber bleib offen. Denk daran, daß ich auch manchmal in unschöne Gegenden und Ecken muß und Leute auf mich schießen. Es hat seine Nachteile, wenn man bei mir wohnt.« »Das stört mich nicht.« »Einige Nachteile könnte es auch für mich haben«, sagte ich. »Oh.« »Mach daraus nicht mehr, als es ist. Wenn einer von uns erst anfängt zu befürchten, daß Aufrichtigkeit die Gefühle des anderen verletzt, haben wir einiges an Boden verloren. Ich versuche, das so hinzubiegen, wie es für uns alle am besten ist, für dich wie für mich. Auch für Susan.« Er nickte. »So weit habe ich dich mitgenommen. Ich werde dich nicht aus dem Nest stoßen, bis wir beide wissen, daß du fliegen kannst. Ist das klar?« »Ja.« »Du kannst dich darauf verlassen, daß ich tue, was ich sage. Weißt du das?« »Ja.«
»Okay. Bist du noch mal zu einem Ausflug in den Regen bereit?« »Ja.« »Ich bin ganz wild auf eingetunkte Krapfen«, sagte ich. »Wenn du oben in der Boylston Street welche kaufen würdest und gleich auch Kaffee dazu und schnell wieder zurückkämst, bevor der Kaffee kalt wird, schaff ich es vielleicht bis zum Nachmittag.« Er grinste. »Seit ich dich kenne, ernährst du dich immer gesünder.« Ich gab ihm fünf Dollar. Er zog den gelben Regenmantel über, den ich ihm gekauft hatte, und ging. Ich rief in Chicago einen Burschen namens Flaherty von der Colton Versicherungsgesellschaft von Illinois an. Er erzählte mir, daß sie ein Grundstück auf den Namen von Elaine Brooks versichert hatten, daß das Gebäude ein halbes Jahr später abbrannte und daß, obwohl allgemein Brandstiftung vermutet wurde, niemand den Beweis dafür erbringen konnte. Sie hatten gezahlt und stillschweigend vereinbart, Elaine nicht mehr zu versichern. »Die Sache ist die«, sagte Flaherty, »wenn es Brandstiftung war, dann war es auch Mord. Anscheinend hatten sich da zwei Säufer eingenistet und sind nicht mehr herausgekommen. Was man fand, waren hauptsächlich verkohlte Knochen und eine Muskatellerflasche, die halb geschmolzen war.« Ich sagte: »Danke, Jack« und trug die Information auf meiner Übersicht ein. Er sagte: »Haben Sie etwas in dieser Sache, was ich erfahren sollte, Spenser?« »Nein, ich bin mit was anderem befaßt; das läuft nur parallel, verstehen Sie?« »Also, daß Sie uns nichts vorenthalten. Ich schustere Ihnen eine Menge Ermittlungsarbeit zu.«
»Ja, und wirklich aufregende Sachen«, sagte ich. »Lästern Sie nicht, es bringt gutes Geld.« »Geld ist nicht alles, Jack.« »Vielleicht nicht, aber haben Sie schon mal versucht, Sex auszugeben?« »An dem Argument stimmt etwas nicht«, sagte ich, »aber im Moment seh’ ich da nicht durch. Vielleicht ruf ich Sie später noch mal an, wenn’s mir einfällt.« »Bleiben Sie in Kontakt«, sagte Flaherty. Wir hängten ein. Mord in zwei Fällen. Besser und besser. Oder schlechter und schlechter, je nachdem, wo man stand. Von meinem Standpunkt sah es aus, als wäre es genug, um Mel Giacomin in die Schranken zu weisen. Paul kam mit Kaffee und Krapfen zurück. Ungefüllte für mich. Zwei mit Boston-Butterkrem gefüllte für sich – ekelhaft. Ich erledigte noch zwei meiner Anrufe. Alles paßte zusammen. Giacomin war an einer Art Brandstiftung beteiligt, und es gab keinen Zweifel, wenn im Moment auch noch keinen Beweis, daß Harry Cotton ebenfalls dazugehörte. Susan erschien um halb drei mit dem MG. Sie trug einen weichen Filzhut mit breiter, schlapper Krempe und einem Messingring am Hutband. Dazu trug sie einen Trenchcoat aus hellem Leder und hochhackige Stiefel im gleichen Farbton. Ich hätte mir gewünscht, ich würde selbst mit ihr Ballettschulen besichtigen. »Das wird der entscheidende Test«, bemerkte ich. »Wenn das Lehrpersonal nicht in Scharen herbeistürmt, um dich zu verführen, beweist das, daß sie schwul sind.« Sie zog die Nase kraus. »Ich werde ihnen erzählen, wie groß und stark du bist«, meinte sie. »Vielleicht zaudern sie dann lange genug, daß wir entkommen können.« Paul sagte: »Was ist, wenn sie versuchen, mich zu verführen?« Ich grinste. »Das wäre wohl ein weiterer Beweis.«
Sie gingen, und ich beendete meine Telefongespräche. Es gab keine Überraschungen. Ich notierte die letzten Einzelheiten auf meiner Übersicht, nahm dann frisches Kanzleipapier und tippte alles sauber ab, ging hinunter in einen Kopierbetrieb, wo ich zwei Kopien anfertigen ließ, kam zurück und legte das Original in meinem Büro zu den Akten. Die ersten Kopie schickte ich als Brief an mich selbst in meine Wohnung, die zweite steckte ich in die Tasche, um sie zur Hand zu haben. Und auch, um Mel Giacomin vielleicht damit zu drohen. Ich schaute auf meine Uhr. Vier Uhr zwanzig. Ich mußte vom Schreibtisch weg. Ich schloß das Büro ab, setzte mich in den Bronco und fuhr hinunter ins Hafengebiet. Henry Cimoli saß in weißer Hose, Turnschuhen und weißem T-Shirt hinter dem Schreibtisch im Büro des Harbour Health Club. Er sah aus wie der zäheste Jockei der Welt. Tatsächlich war er einer der besten Leichtgewichtler im Land gewesen und hatte einmal fünfzehn Runden gegen Willie Pep gestanden, die er in einer knappen Entscheidung verlor. Seine Arme spannten gegen das T-Shirt, und sein gedrungener Körper bewegte sich wie eine zusammengepreßte Feder, eine Menge gezähmter Energie. »Kommst du, um zu retten, was zu retten ist, Junge?« sagte er. »Klar. Meinst du, es ist zu spät?« »Beinahe.« Ich ging zu meinem Spind und zog mich um. Im Konditionsraum waren Hebegeräte und Zugapparate, Langhanteln, Kurzhanteln, ein Sandsack, zwei Punchingbälle. Die Wände waren mit Spiegeln versehen. Zuerst arbeitete ich an der Drückerbank. Ich war mit meinem Training fast durch, als Hawk gegen sieben hereinkam. Er trug eine seidig glänzende Trainingshose, die Reißverschlüsse unten offen, hohe weiße Turnschuhe und
kein Hemd. Er hatte ein Paar Ballhandschuhe in der Hüfttasche und ein Springseil in der Hand. Die meisten Leute musterten ihn versteckt. Er nickte mir zu, machte ein paar Dehnübungen und fing an, seilzuspringen. Er sprang eine halbe Stunde lang, Schritt und Tempo variierend, kreuz und quer über das Seil. Als er aufhörte, fing ich mit dem Punchingball an. Er hängte das Seil weg und kam zu mir herüber und nahm sich den anderen Ball vor. Als ich langsam einen Rhythmus in den Ball brachte, begann er neben mir im Kontrapunkt zu boxen. Ich grinste und pfiff die Anfangstöne von »Sweet Georgia Brown«. Er nickte und nahm den Takt auf. Wir wechselten miteinander ab und steigerten allmählich das Tempo. Wie ein Kampf zweier Schlagzeuger aus den Vierzigern. Hawk legte Geschwindigkeit zu, ich legte ein bißchen mehr zu. Hawk gebrauchte seine Ellbogen und Fäuste. Ich nahm abwechselnd die eine, dann die andere Hand. Leute gruppierten sich um uns herum, und der Rhythmus des Balles und der Wettkampfgeist rissen mich mit. Ich konzentrierte mich, da der Ball im Takt mit dem von Hawk ein verschwommener weinroter Fleck war. Wir trommelten kleine Paraden und Wirbel, und einige der Männer im Konditionsraum unterstützten den einen oder anderen von uns mit anfeuernden Rufen. Dann fingen sie an, im Rhythmus zu den Bällen zu klatschen, und Hawk und ich rissen sie mit, bis die Halle in Aufruhr war und Henry aus dem Büro hereinkam und Hawk zuschrie: »Telefon!« Hawk schnitt und rasierte seinen Ball in einer kurzen Serie, die ich erwiderte, dann hörten wir auf, und Hawk ging breit grinsend zum Telefon. Der Rest der Halle jubelte und klatschte. Ich rief hinter ihm her. »He, Mann, mein Daddy hat ‘ne Scheune, vielleicht könnwer da ‘ne Schau aufziehn!«
Hawk verschwand um die Ecke, und ich ging an den Sandsack. Als er wiederkam, war sein Grinsen nicht ganz so breit, aber sein Gesicht hatte einen Ausdruck wirklichen Vergnügens. Er stützte sich auf die andere Seite des Sandsacks, während ich darauf einschlug. »Das wird dir gefallen, Alter«, sagte er. »Du bist eingezogen worden«, sagte ich. »Du hast dich mit Harry Cotton angelegt, was?« Ich grub einen Haken in den Sandsack. »Ich hab’ mit ihm gesprochen.« »Du hast aber so eine geschickte Art, weißt du, wie du den Leuten Honig ums Maul schmierst. Harry will einen Killer auf dich ansetzen.« »Er ist zu empfindlich«, sagte ich. »Bezeichne jemanden als Schleicher und sag ihm, er riecht schlecht, und schon gerät er völlig durcheinander.« »Er riecht wirklich schlecht, das ist eine Tatsache«, meinte Hawk. »Du kennst Harry?« »Aber ja. Er ist eine wichtige Persönlichkeit in unsrer Stadt.« »War er das am Telefon?« »Ja. Er will, daß ich dich umlege.« Hawks Lächeln wurde breiter. »Er fragte mich, ob ich weiß, wer du bist. Ich sagte, ja, ich denke schon.« Ich schlug einen linken Haken und eine Rechte von oben. »Wieviel bietet er?« fragte ich. »Fünf Riesen.« »Das ist beleidigend.« »Du wärst stolz auf mich gewesen«, meinte Hawk. »Das sagte ich ihm nämlich auch. Ich sagte, für weniger als zehn würde ich es nicht machen. Er meinte, eine Menge Leute würden es liebend gern für fünf erledigen. Ich sagte ihm, das
sei nicht das Problem; eine Menge Leute würden’s auch gerne umsonst tun, aber sie können es nicht, weil sie nicht gut genug sind. Ich sagte, es ist mindestens ein Zehntausend-Dollar-Job. Er sagte nein.« »Harry war schon immer geizig«, sagte ich. »Also lehnte ich ab. Bist du wohl wieder sicher.« »Vor dir zumindest.« Ich setzte ein paar tiefe Körperschläge in den Sack. Hawk hielt ihn still. »Harry wird billig kaufen«, sagte er. »Er wird irgendeinen Penner engagieren, weiß es nicht besser. Du wirst ihn beerdigen und…« Hawk breitete die Hände aus. »Bei mir läuft eine Zeitlang nichts. Vielleicht treibe ich mich erst mal mit dir rum.« »Wir hoch wäre denn der Abschußtarif für uns beide?« sagte ich. »So etwa einhundertundzweiunddreißig Billionen«, meinte Hawk. »Dafür ist Harry zu geizig«, sagte ich.
29
Um neun Uhr war ich am Haus der Giacomins in Lexington. Ich brach die Hintertür auf und ging hinein und schaltete das Licht an. In Patty Giacomins Schlafzimmer befand sich ein kleiner Sekretär mit schlanken, geschwungenen Beinen und goldenem Schablonenmuster. Ihr in Leder gerahmtes Bild stand darauf. Ich öffnete die Klappe und setzte mich auf den kleinen Binsenstuhl davor und fing an, den Inhalt zu durchsuchen. Während meines Aufenthalts hatte ich Patty hier ihre Rechnungen schreiben sehen, und viel mehr als Empfangsbescheinigungen und ungültige Schecks war auch nicht da. Der einzige Ansatzpunkt, den ich außer ihrem süßen Stephen hatte, waren ihre regelmäßigen Ausflüge nach New York. Nach einer halben Stunde fand ich, was ich wollte: American-Express-Quittungen vom New Yorker Hilton, die in etwa monatlichen Abständen datiert waren und über mehrere Jahre zurückgingen. Es waren durchweg Zimmerrechungen; sie hatte sie mit ihrer American-Express-Karte bezahlt und die Quittungen behalten. Anscheinend bewahrte sie alle Quittungen ohne Unterschied auf. Es war also nichts schrecklich Bedeutsames daran, daß sie diese aufhob. Sie wußte wahrscheinlich nicht, was wichtig war, und behielt deshalb alle. Ich durchsuchte alles andere im Haus, und sonst war nichts da, was sich anzuschauen lohnte. Ich nahm sämtliche American-Express-Quittungen und Pattys Bild mit, schaltete das Licht aus und schloß die Tür.
Der Frühlingsabend war ruhig in Lexington. Der Regen hatte aufgehört. In den Häusern brannte Licht, und Fenster waren offen. Gelegentlich drangen Stimmen und die Geräusche der Fernseher heraus. Es war spät, aber Essensgerüche lagen noch in der Luft. Als ich zu meinen Wagen ging, strich eine Katze an mir vorbei und in die Büsche im nächsten Garten. Ich dachte an Harry Cottons Mordauftrag. Ich berührte die Waffe an meiner Hüfte. Die Straße war leer, als ich zum Wagen kam. Im Kreis der Straßenbeleuchtung flogen Motten ohne ersichtliches Ziel. Die Katze tauchte aus dem Gebüsch auf und setzte sich unter der Laterne auf die Lenden und schaute hinauf zu den Motten. Es war eine gelbgestreifte mit weißer Brust und weißem Gesicht und Pfoten. Ich stieg in den Bronco und startete und ließ die Emerson Road hinter mir. Das Baseballspiel wurde aus Milwaukee übertragen, und die Geräuschkulisse war die gleiche wie immer – leises Publikumsgemurmel im Hintergrund, die Stimmen der Reporter in gewohntem Tonfall, gelegentlich der Klang des Schlägers, der den Ball traf, die metallisch gespreizte Stimme des Platzansagers, der den Nachnamen des Schlagenden wiederholte. Die Geräusche erschienen nahezu zeitlos. Es war fast Mitternacht, als ich zurück in meine Wohnung kam. Susan und Paul waren noch auf und schauten sich im Fernsehen einen Film an. Susan sagte: »Draußen steht ein Sandwich, falls du noch nicht gegessen hast.« Ich holte mir das Sandwich und ein Bier und ging wieder ins Wohnzimmer. Der Film war Ein Amerikaner in Paris. »Wie war es in der Tanzschule?« sagte ich. »Der Zulassungsmensch war ein Schwachkopf«, sagte Paul. Ich sah Susan an. Sie nickte. »Bedauerlich, aber wahr«, meinte sie. »Alles, wovon du gehofft hattest, er würde es nicht sein.«
»Weibisch?« »Weibisch, affektiert, hochnäsig«, sagte Susan. »Susan hat ihn angeschrien«, sagte Paul. Seine Augen strahlten. Ich schaute Susan an. »Er war eine aufgeblasene kleine Niete«, sagte sie. »Ist ihm das jetzt bewußt?« fragte ich. »Sie hat es ihm jedenfalls gesagt«, meinte Paul. »Hat er einen Schreck bekommen?« fragte ich. Susan sagte: »Ich denke schon.« »Nun«, sagte ich, »es kann ja nicht die einzige Schule auf der Welt sein.« Eine ausgedehnte Tanzszene lief auf dem Bildschirm. Paul verfolgte sie genau. Wir waren still, während ich das Sandwich aß und das Bier austrank. Ich ging in die Küche und verstaute die Dose im Mülleimer und den Teller in der Spülmaschine. Ich wusch mir das Gesicht und die Hände am Spülstein und kam zurück ins Wohnzimmer. Ein Werbespot lief. Ich fragte Paul: »Bist du schon mal in New York gewesen?« Er sagte: »Nein.« »Hättest du morgen Lust?« »Okay.« »Wie steht’s mit dir, Zuckerpflaume?« fragte ich Susan. »Ich war schon da«, sagte sie. »Ich weiß«, sagte ich. »Möchtest du noch mal hin?« »Ja.« Ich spürte die Erleichterung und die Freude wich in der Gegend meines Zwerchfells. »Wir nehmen den Pendelflug in aller Frühe.« »Frühe vielleicht«, sagte Susan, »aber nicht in aller. Ich muß mich krank melden, und ich muß packen.« »Wir fahren, wenn du fertig bist, meine Liebe«, sagte ich.
Und am nächsten Tag fuhren wir. Wir schafften den Einuhrflug vom Logan zum LaGuardia. Ich hatte meine und Pauls Sachen in einem Koffer. Susan hatte zwei. Als ich zum Flughafen fuhr, sah ich Hawks silbernen Jag vor meinem Haus stehen. Er folgte mir zur Flughafengarage, und als ich dort einbog, fuhr er vorbei und weiter in Richtung der Ausfahrt. Weder Susan noch Paul merkten es. Ich äußerte mich nicht dazu. Wir kamen gegen ein Uhr dreißig in New York an, und im New York Hilton gegen Viertel nach zwei. Wir erhielten benachbarte Zimmer. Paul und ich in einem, Susan in dem anderen. Das New York Hilton ist groß und liegt günstig an der Sixth Avenue. Es ist durchorganisiert, superschick und so bezaubernd wie ein Elektrorasierer. Paul stand am Fenster des Hotels und schaute hinaus auf die 54. Straße weit unter ihm. Ich mußte an meinen ersten Besuch in New York denken. Ich war mit meinem Vater gekommen, auch ungefähr in Pauls Alter. Mein Vater hatte mich mitgenommen, um Baseballspiele zu besuchen, das Rockefeller Center zu besichtigen und in einem italienischen Restaurant zu essen, von dem er wußte. Er hatte sich die Hälfte seiner Barschaft im Hotelzimmer an seinem Unterhemd festgesteckt und die andere Hälfte wieder in die Brieftasche gelegt. Ich erinnerte mich an sein Grinsen, als er das Geld an sein Unterhemd heftete. Daran erkennst du den Jungen vom Land, hatte er gesagt. Ich erinnerte mich an den Geruch der Stadt, an ihren Lärm und das Gefühl, daß sie zu allen Zeiten brodelte, und wie fast immer auch der Klang einer Sirene am Rand des Lärms zu hören war. Ich hatte dagestanden wie Paul und hinausgestarrt. Noch nie hatte ich etwas Ähnliches gesehen. Und seither habe ich es auch nicht. Ich ging durch die Verbindungstür in Susans Zimmer. Sie hängte gerade sorgfältig ihre Kleider auf.
Ich sagte: »Ist dir schon mal aufgefallen, was mir passiert, wenn ich ein Hotelzimmer betrete?« Sie sagte: »Ja. Eigentlich scheint es im Lift zu passieren, der zu dem Hotelzimmer hochgeht. Aber was sollen wir Paul erzählen?« »Vielleicht später«, sagte ich. »Der kleine Bursche muß ja irgendwann schlafen, nicht?« »Hoffen wir es«, sagte Susan. »Da wir nun hier sind, wozu sind wir hier?« »Ich will Patty Giacomin unter die Lupe nehmen. Sie kam etwa jeden Monat einmal hierher und blieb über Nacht. Das einzige, was ich finden konnte, das in irgendeiner Weise ungewöhnlich schien. Ich dachte, ich höre mich mal um.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Meinst du, Paul hätte Lust auf einen Rundgang durch die Radio City Music Hall?« »Das würde ich meinen«, sagte ich. »Bringst du es über dich, mit ihm da hinzugehen?« »Ja.« »Danke.« Sie lächelte. »Gern geschehen. Wenn er heute abend sehr müde ist, legt er sich vielleicht früh schlafen.« Ich nickte. »Glaubst du, die haben hier Champagner auf der Servicekarte?« sagte sie. »Sie bessern sich«, sagte ich. Ihre Kleider waren alle aufgehängt. Sie nahm sie sehr in acht. Sie prüfte sich im Spiegel, brachte eine nicht identifizierbare Änderung an ihrer Frisur an, ging in das andere Zimmer und sagte: »Komm, Paul. Wir machen einen Spaziergang ins Schwarze.« »Was ist das denn?« sagte Paul. »Wirst du merken.«
Paul öffnete die Tür. Susan blieb in ihr stehen und sagte zu mir: »Ich möchte ins Four Seasons.« »Heute nacht«, sagte ich, »oder nie.« Als sie fort waren, ließ ich uns die Plätze reservieren und nahm dann Pattys Bild und ging hinunter in die Halle. Der Schalter eines zweiten Geschäftsführers war in der Nähe der Fahrstühle. Der zweite Geschäftsführer saß dahinter, in einem dreiteiligen schwarzen Nadelstreifenanzug und rosa Hemd mit spitzem Kragen. Ich nahm meine Lizenz heraus und legte sie vor ihm auf den Tisch. Er las sie mit ausdrucksloser Miene. Dann sah er mich an. »Ja, bitte?« sagte er. »Wer ist Ihr Hausdetektiv und/oder Ihre Detektivin, je nachdem?« »Was können wir für Sie tun?« »Holla«, sagte ich. »Auf dem Schild steht zweiter Geschäftsführer.« »Ein harmloser Euphemismus«, sagte er. Er hatte zurückweichendes Haar und einen gepflegten Schnurrbart und gute Farbe. Ich bemerkte, daß seine Hände manikürt und seine Fingernägel poliert waren. »Euphemismus?« sagte ich. »Welcher Hausdetektiv sagt denn ›Euphemismus‹?« »Ich war zweiundzwanzig Jahre Polizist in dieser Stadt, Seemann. Wollen Sie mich testen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht doch«, sagte ich. »Ich muß etwas über diese Frau herausfinden.« Ich zeigte ihm Patty Giacomins Foto. »In welchem Zusammenhang?« sagte der zweite Geschäftsführer. Zu erklären, um was es mir ging, war zu kompliziert. »Sie wird vermißt«, sagte ich. »Der Ehemann ist beunruhigt. Bat mich, herzukommen und nachzusehen. Sie übernachtete hier ungefähr jeden Monat mal«, sagte ich. »Das letztemal vor ungefähr drei Wochen.«
»Jetzt ist sie nicht hier?« »Nein«, sagte ich. »Ich hab’s schon nachgeprüft.« Er sah mich einen Augenblick an. Sein Rasierwasser war stark und teuer. »Haben Sie jemanden, der für Sie bürgt?« fragte er. »Ich mag nicht mit jedem Blödmann, der hier reinkommt und mir eine Lizenz vor der Nase schwenkt, über Hotelinternes reden.« »Sie gefielen mir besser, als Sie Worte wie ›Euphemismus‹ gebrauchten«, sagte ich. »Ist mir gleich, was Ihnen gefällt. Haben Sie jemanden, der für Sie bürgt?« »Wie wär’s mit Nicky Hilton?« Er lächelte beinahe. »Das Beste, was Sie bieten können?« »Schauen Sie mich im Profil an. Könnte ich irgend etwas anderes als vertrauenswürdig sein?« Er stieß einen Seufzer aus. »Kommen Sie«, sagte er. Er kam um seinen Tisch herum, und wir gingen durch die Halle in eine Cocktailbar. Sie war jetzt, um drei am Nachmittag, fast leer. Der Barmann war ein zünftiger, hochgewachsener Schwarzer mit dichtem Kraushaar und großem Fahrradlenkerschnurrbart. Der zweite Geschäftsführer winkte ihn mit einer Kopfbewegung nach vor an die Theke. »Was darf es sein, Mr. Ritchie?« sagte der Barmann. Zweiter Geschäftsführer Ritchie sagte: »Jerry. Kennst du dieses Mädchen?« Ich hielt das Foto von Patty Giacomin hoch. Jerry betrachtete es sorgfältig, ohne Ausdruck in den nußbraunen Augen. Er sah Ritchie an. Ritchie meinte: »Sag’s ihm, Jerry. Er ist in Ordnung.« »Klar«, sagte Jerry, »die kenne ich. Sie kommt ungefähr einmal im Monat her, betrinkt sich mit Chablis, reißt einen Typen auf und geht mit ihm raus. Auf ihr Zimmer, nehme ich an.«
Ritchie nickte. »Ja, auf ihr Zimmer. Am nächsten Tag meldet sie sich ab, bezahlt ihre Rechnung, und wir sehen sie einen Monat lang nicht.« »Jedesmal ein anderer Typ?« sagte ich. »Ja. Ich denke schon«, sagte Jerry. »Könnte nicht beschwören, daß es nie zweimal derselbe war, aber wenn, dann war’s ein Zufall. Sie kam hierher, damit jemand sie umlegte. Wer, war ihr egal.« »Kennen Sie welche von den Typen?« fragte ich. Jerry sah Ritchie an. Ritchie sagte: »Nein.« »Und wenn Sie welche kennen würden?« fragte ich. »Würde ich es Ihnen nicht sagen«, antwortete Ritchie. »Es sei denn, ich käme mit jemandem von Ihrer alten Branche wieder«, sagte ich. »Kommen Sie mit einem New Yorker Polypen wieder, der in einer Vermißtensache ermittelt, und wir schütten unser Herz aus. Andernfalls haben Sie alles erfahren, was Sie erfahren werden.« »Vielleicht genug«, sagte ich.
30
Wir dinierten im Gastzimmer des Four Seasons, unter der hohen Decke an einem Fenster zur 53. Straße. Paul aß, unter anderem, Fasan und achtete auf alles, was Susan und ich taten, sehr genau. Wir tranken Wein, und die Rechnung belief sich auf 182,37 Dollar. Ich hatte schon Autos für weniger gekauft. Am nächsten Tag, nach Mittag, gingen wir ins Metropolitan Museum, und am Abend nahmen wir Paul mit zur Riverside Church, um Alvin Ailey und seine Tanzgruppe zu sehen. Im Taxi auf dem Rückweg zur Innenstadt meinte Paul: »Ballett ist das doch nicht direkt, oder?« »Im Programm steht moderner Tanz«, sagte ich. »Das gefällt mir auch.« »Es gibt sicher eine Menge Spielarten«, sagte Susan. »Steptanz ja auch.« Paul nickte. Er starrte aus dem Taxifenster, während wir den Westside Highway hinunterfuhren und an der 47. Straße abbogen. Im Hotellift nach oben waren wir drei unter uns, und Paul sagte: »Ich will es lernen. Ich werde lernen, wie das geht. Ob ich dafür woanders in eine Schule muß oder was auch immer. Ich will lernen, wie das geht.« Am Sonntag schliefen wir lange und gingen am frühen Nachmittag hinauf zum Asienhaus, wo wir uns Fotos aus dem China des 19. Jahrhunderts anschauten. Die Gesichter, die uns aus einer Zeit, die hundertunddreißig Jahre zurücklag, entgegenblickten, waren so fern und unergründlich wie die Oberflächenmuster eines anderen Planeten, und doch waren sie dort: menschlich und wirklich, hatten sie vielleicht in dem
Moment, als die Blende klickte, ein Grollen im Magen empfunden, eine Regung in den Lenden. Wir nahmen einen späten Nachmittagsflug nach Boston und fuhren Susan hinaus zu ihrem Haus. Es war nach sechs, als wir dort ankamen. Ich setzte den Bronco neben meinen MG, hielt und ließ mit dem Schalter am Armaturenbrett das Heckfenster herunter. Susan und Paul stiegen auf ihrer Seite aus, ich auf meiner. Als wir nach hinten gingen, um das Gepäck zu holen, hörte ich einen Wagenmotor anspringen. Ich blickte auf, und ein 68er Buick rollte durch die Straße auf uns zu. Der Lauf einer langen Kanone erschien am Fenster. Ich sprang Paul und Susan an und umklammerte sie beide mit den Armen, warf sie unter mir zu Boden und zappelte mich ab, um uns schnell genug hinter den Wagen zu bringen. Aus der langen Kanone kam das hastig blubbernde Geräusch, das eine Automatik macht, und Kugeln schlugen in das Metallblech des Bronco, dann daran vorbei, und der Buick war um die Ecke und fort, ehe ich noch meinen Revolver ziehen konnte. »Bleibt liegen«, sagte ich. »Sie könnten umdrehen.« Ich hatte den Revolver jetzt draußen und kauerte mich hinter den Motorblock. Der Wagen kam nicht zurück, und die Straße war wieder still. Die Nachbarn öffneten nicht einmal die Tür. Wahrscheinlich ahnten sie nicht, was sie gehört hatten. Schnellfeuer hört sich nicht an wie ein Schuß. »Okay«, sagte ich. »Packen wir aus.« Susan sagte: »Du lieber Gott«, als sie aufstand. Die Vorderseite ihres Kleides war von Grashalmen und kleinen Blättern übersät. Paul sagte kein Wort, aber er blieb dicht bei mir, als wir die Taschen ins Haus trugen. »Wofür war denn das?« fragte Susan in ihrer Küche. »Ich habe jemanden verärgert«, sagte ich. »Wahrscheinlich Harry Cotton, Paul.« Paul nickte.
»Wer ist Harry Cotton?« fragte Susan. Sie kochte Kaffee. »Einer, mit dem Mel Giacomin Geschäfte gemacht hat.« »Und warum schießt er auf dich und zufällig auch auf uns?« »Ich habe die Beziehung zwischen Harry und Mel Giacomin untersucht. Und Harry gefällt das nicht.« »Rufen wir die Polizei an?« »Nein.« »Warum nicht?« »Es würde die Sache, an der ich arbeite, verpatzen.« »Vielleicht solltest du mir besser mal etwas genauer erzählen, woran du arbeitest«, meinte Susan. »Denn schließlich wird auf mich geschossen.« »Okay«, sagte ich. »Du weißt, daß ich nach einer Handhabe gegen Pauls Eltern gesucht habe, damit ich sie ihm vom Hals schaffen könnte.« »Erpressung«, sagte Susan. »Ja. Also, ich habe sie gefunden. Ich kann eine Fülle von Beweisen dafür beibringen, daß Mel Giacomin in schwere Brandstiftung verwickelt und an einem Komplott beteiligt war, Gebäude der Versicherung wegen niederzubrennen. Er steckte zusammen mit Harry Cotton drin, der ein Obergangster in der Stadt ist. Harrys Beteiligung kann ich zwar nicht beweisen, wenn ich aber das, was ich habe, an Marty Quirk weitergebe, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Bullen es können. Ich habe also etwas recht Schwerwiegendes gegen Mel. Um daranzukommen, mußte ich einigen Leuten auf den Pelz rücken, einschließlich Harry Cotton, und er ist auf mich wütend. Er hat jemanden beauftragt.« »Dich umzubringen?« sagte Susan. »Ja, er hat Leute engagiert, die mich töten sollen.« »Woher weißt du das?« sagte Paul. »Er versuchte, Hawk zu kaufen«, sagte ich. »Hast du keine Angst?«
»Doch. Aber wie ich schon mal sagte, das ich nicht zu ändern, also verschwende ich nicht viel Zeit damit, darüber nachzudenken.« »Ich habe Angst«, sagte Susan. »Ich auch«, sagte Paul. »Okay, wir haben sie alle. Hinter euch sind sie nicht her. Ihr wart nur zufällig dabei.« Susan sagte: »Eines der Dinge, um die ich Angst habe, bist du.« Sie schnitt Sellerie in eine Schüssel aus rostfreiem Stahl, die schon weißen Thunfisch enthielt. Ich legte den Arm um sie und streichelte ihre Hüfte. »Was ich gegen Patty Giacomin brauchte, habe ich jetzt am Wochenende in New York bekommen.« Paul sagte: »Was war es denn?« Ich sagte: »Eine böse Sache. Sie ist jeden Monat nach New York gefahren, um in dem Hotel fremde Männer aufzugabeln.« Paul sagte: »Oh.« »Ich habe erst überlegt, ob ich dir das nicht erzählen soll. Aber was immer wir vorhaben, mit Lügen funktioniert es schlecht.« Paul nickte. Susan runzelte die Stirn. »Daran ist doch nichts Ungesetzliches.« »Nein, aber Patty wird sich beugen. Sie wird sich nicht in diesem Licht betrachten wollen. Bei künftigen Sorgerechtsoder Unterhaltsstreitigkeiten käme es ihr nicht zustatten. Wenn überhaupt. Für mich ist es genügend Munition.« Susan sagte: »Die arme Frau.« »Ja, es ist schon hart, wenn man bedenkt, wie verzweifelt sie das nötig hatte, was sie zu finden hoffte. Ich nehme nicht an, daß sie es auf diesem Wege gefunden hat.« »Promiskuität muß bei einer Frau kein Zeichen sein, daß sie unglücklich ist«, sagte Susan.
»Einmal im Monat, in einer entfernten Stadt, mit Fremden, in betrunkenem Zustand?« Susan blickte zu Paul. »Warum rufen denn wir nicht die Polizei wegen dieser Leute, die auf uns geschossen haben?« fragte sie. »Es würde schwierig zu erklären sein, ohne Mel und Harry und dergleichen hereinzubringen. Ich möchte Mel nicht im Gefängnis. Ich möchte ihn draußen, er soll Geld verdienen, damit er seinen Jungen unterstützen und für seine Ausbildung und ähnliches aufkommen kann.« »Ja, das leuchtet mir ein.« Susan mischte etwas Mayonnaise unter ihren Thunfischsalat. »Heute nacht bleibe ich bei euch, und morgen werde ich mal sehn, was ich tun kann, um diese Sache abzuschließen.« »Was willst du wegen dem Mordauftrag unternehmen?« fragte Paul. »Darüber muß ich wohl mit Harry mal reden«, sagte ich. Susan nickte. »Ich wußte, daß das kommen würde.« »Hast du eine bessere Idee?« »Nein, es ist nur, daß du so berechenbar bist. Du willst mit ihm reden, weil er auf uns geschossen hat. Wenn es sich nur um dich gehandelt hätte…« Sie zuckte die Achseln. »Nun, ich muß ihn mir aus dem Weg schaffen, wenn wir Paul in eine Tanzschule kriegen wollen.« Susan belegte Weizenbrote mit Thunfischsalat. Der Kaffee war durchgefiltert. Ihre Schultern waren steif und zornig. »Ich kann nicht zulassen, daß irgendein Gorilla auf dich schießt«, sagte ich. »Ich kann nicht. Es ist gegen die Regeln.« Paul sagte: »Was für Regeln?« Susan sagte: »Seine. Bitte ihn jetzt nicht, sie zu erklären. Ich ertrage es nicht.« Sie stellte den Teller mit den Sandwiches auf den Tisch und goß Kaffee ein. »Nimm wenigstens Hawk mit«, sagte sie. »Tust du das? Nimm wenigstens Hawk mit. Du mußt
auch an Paul denken.« Sie nahm eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank und goß Paul ein Glas ein. »Und an mich«, sagte sie. Ihre Hand zitterte leicht, als sie die Milch einschenkte. ›»Ich könnte dich, mein Lieb, nicht so sehr lieben‹«, sagte ich, ›»liebt ich die Ehre nicht noch mehr.‹« »Scheiße«, sagte Susan.
31
Susan nahm Paul mit zur Arbeit. »Er kann im Wartezimmer in meinem Büro lesen«, meinte sie. »Bis das geklärt ist, ist er alleine nicht sicher und bei dir wahrscheinlich auch nicht.« »Es wird schnell geklärt sein«, sagte ich. »Nächste Woche, Junge, werden wir wieder an der Hütte arbeiten.« Er nickte. Susan und Paul fuhren in ihrem Bronco, dessen linke Seite von Einschüssen zerlöchert war, zur Aufbauschule. Ich folgte in meinem MG. Als ich sie drinnen in Sicherheit wußte, fuhr ich zurück in die Stadt zu meinem Büro. Ich brauchte Zeit, um in Ruhe nachzudenken. Ich parkte in meiner Seitenstraße und ging die Hintertreppe hinauf. Als ich hochkam, war die Tür angelehnt. Ich zog meinen Revolver und trat sie auf. Eine Stimme sagte: »Schieß nicht, Mann, ich bin es, Hawk.« Er saß in meinem Besucherstuhl, den er aus der Schußlinie gegen die Wand zurückgekippt hatte. Hawk war nie unvorsichtig. Ich steckte die Kanone ein. »Wußte gar nicht, daß du einen Schlüssel hast«, sagte ich. Hawk machte: »Ha.« Ich ging um meinen Schreibtisch herum und setzte mich. »Hat Cotton den Einsatz erhöht?« »Nein, ich bin nur vorbeigekommen, um mit dir rumzuhängen, weißt du. Ich hab’ nichts zu tun, und davon werde ich unruhig. Du warst nicht in deiner Wohnung, da dachte ich mir, daß du hierherkommst.« Ich sagte: »Gestern abend bei Susan hat jemand versucht, mich abzuschießen.« »Ihr ist nichts passiert?« sagte er.
»Nein, aber das lag nicht an dem Schützen.« »Wir werden Cotton heute einen Besuch abstatten«, sagte Hawk. Sein Gesicht war unbewegt, aber die Linien um seinen Mund wirkten ein wenig tiefer und die Backenknochen etwas vorspringender. Ich betrachtete ihn eine Weile. »Ja«, sagte ich. »Das werden wir.« Hawk stand auf. »Gehen wir schon«, sagte er. Ich nickte. Ich nahm meinen Revolver heraus, drehte die Trommel so, daß eine Patrone unter dem Hahn war, schob eine frische Patrone in die Kammer, die ich normalerweise unter dem Hahn leer ließ, und steckte mir die Waffe wieder an die Hüfte. Wir gingen hinaus. Ich sperrte die Bürotür ab, und wir liefen die Hintertreppe hinunter. In der Seitenstraße fragte ich: »Wo hast du geparkt?« »Vorne vor dem Haus.« »Ich steh’ gleich hier. Wir nehmen meinen.« Wir stiegen in den MG. Hawk schob den Beifahrersitz weiter zurück. »Niedlich«, sagte er. Wir fuhren die Berkeley hinunter und bogen nach Westen auf die Commonwealth. Die Bäume schlugen aus, und Häuser aus braunem Sandstein wurden durch früh Blühendes belebt. Als wir über den Kenmore Square fuhren, sagte Hawk: »Du wirst ihn töten müssen.« »Harry?« »M-hm. Einschüchtern kannst du ihn nicht.« Ich nickte. »Er hätte Susan beinahe ein Loch verpaßt«, sagte Hawk. Ich nickte. Ungefähr einen Block vor Harrys Gebrauchtwagenhof hielt ich an und parkte in einer Ladezone. Wir stiegen aus. Hawk sagte: »Ich könnte wohl mal hintenrum wandern, für den Fall, daß sie dich kommen sehen.«
»Du kennst den Laden?« »Ich war schon mal drin«, sagte Hawk. Ich nickte. Hawk bog in eine Seitenstraße, schlug sich in eine Durchfahrt und verschwand. Ich ging geradewegs die Commonwealth hinauf und in Harrys Büro. Harry war an seinem Schreibtisch. Shelley und zwei andere waren in der Wartungshalle. Als ich zur Tür hereinkam, griff Harry in der Schreibtischschublade nach einer Kanone. Er hatte sie draußen und halb erhoben, als ich über den Schreibtisch langte und sie ihm aus der Hand schlug. Dann packte ich ihn an der Hemdbrust und riß ihn von seinem Stuhl und frontal über den Schreibtisch. Shelley brüllte irgendwo links von mir »He!«, und schon erblickte ich Hawk dunkel zwischen mir und dem Klang seiner Stimme. Ich zerrte Harry über den Schreibtisch hinweg und knallte ihn gegen die Schlackensteinwand des Büros. Er grunzte. Ich zog ihn von der Wand weg und schleuderte ihn nochmals dagegen. Er krallte und trat nach mir, aber ich merkte nicht viel. Ich bewegte meine rechte Hand von seinem Hemd zu seiner Kehle und drückte ihn gegen die Wand, wobei ich ihn am Hals hochhielt, so daß seine Füße über dem Boden waren. »Wer von euch hat gestern abend auf uns geschossen?« sagte ich. Harry schlug mir ins Gesicht. Ich ignorierte es und drückte ihm die Hand gegen die Luftröhre. »Wer von euch?« Er deutete auf Shelley. Ich ließ Harry los, und er rutschte an der Wand nieder und blieb keuchend auf dem Boden sitzen. Ich wandte mich Shelley zu. »Wenn du an mir vorbeikommst«, sagte ich, »wird Hawk nicht schießen. Du hast freien Austritt.« Shelley und die beiden anderen standen bewegungslos an der Wand der Werkstatt. Hawk stand mit ruhig und entspannt gehaltener Waffe vor ihnen. Drei Pistolen lagen auf dem Boden. Shelley sah Hawk an. Hawk zuckte die Schultern. »Bin
einverstanden, Shell. Du schaffst es sowieso nicht an ihm vorbei.« »Ah ja, und wenn ich gewinne, knallst du mich ab.« »Versuch es nicht, und ich knalle dich gleich ab«, sagte Hawk. Einer der beiden anderen Männer war Buddy Hartman. Ich sagte zu ihm: »Buddy, nimm deinen Kumpel und verschwinde. Solltest du mir oder einem, den ich kenne, je noch mal zu nahe kommen, bringe ich dich um.« Buddy nickte. Seine Genosse war ein hagerer, dunkler, gutaussehender Mann, der sich, wie ein blauschwarzer Schatten verriet, vor kurzem von einem Vollbart getrennt hatte. Der Genosse nickte ebenfalls, und sie gingen an mir vorbei, zur Tür hinaus und schnell, ohne sich umzuschauen, die Straße hinunter. Hawk schüttelte den Kopf. »Hätten sie erledigen sollen«, sagte er. Shelley starrte hinter den beiden Männern her, die hinausgekommen waren. Dann stürzte er auf mich los, um an die Tür zu gelangen. Er wog mehr als ich, und die Wucht seines Sprunges warf mich zurück gegen den Türpfosten. Ich setzte ihm einen Aufwärtshaken unter den Kiefer und bog ihn damit etwas zurecht. Hawk lehnte mit gekreuzten Armen an der hinteren Wand, in der rechten Hand noch den Revolver. Links von mir schob Harry Cotton sich auf seinen Schreibtisch zu. Ich schlug Shelley nochmals unter den Kiefer, und er trat zurück und holte nach mir aus. Ich zog die Schulter hoch und fing mit ihr den Hieb ab. Ich verpaßte Shelley vier Schläge, drei Linke und eine Rechte ins Gesicht. Er wankte zurück, Blut strömte aus seiner Nase. Ich ließ einen weiteren Hagel folgen. Er taumelte, schwenkte einen Arm nach mir und prallte rückwärts in Harrys Schreibtisch. Seine Hände sanken. Ich versetzte ihm einen schweren linken Haken, einen wilden rechten Schwinger, und er fiel rückwärts über den Schreibtisch
auf den Drehstuhl. Der krachte unter seinem Gewicht zusammen, und er lag reglos auf dem Boden, einen Fuß noch auf dem Schreibtisch. Harry versuchte, an die Kanone zu kommen, die ich ihm weggeschlagen hatte. Sie lag halb unter Shelleys Körper. Ich machte einen Schritt um den Schreibtisch und trat Harry ins Genick. Er fiel hintenüber und gab ein schmatzendes Geräusch von sich. Ich stellte mich über ihn. Ich sagte: »Kommen Sie nie irgendwem zu nahe, den ich kenne. Schicken Sie nie jemand anderen. Haben Sie mich verstanden?« Hawk sagte: »Das reicht nicht. Du mußt ihn umbringen.« »Stimmt das, Harry? Muß ich? Muß ich Sie umbringen?« Harry schüttelte den Kopf. Er machte ein krächzendes Geräusch. »Du mußt ihn töten«, sagte Hawk. Ich trat von Harry weg. »Denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe«, sagte ich. Hawk sagte: »Bist ein gottverdammter Idiot, Spenser.« »Ich kann keinen Mann töten, der so am Boden liegt«, sagte ich. Hawk schüttelte den Kopf, spuckte durch die offene Tür in die Wartungshalle und schoß Harry mitten in die Stirn. »Ich kann«, sagte er.
32
Mel Giacomins Büro lag in einer Seitenstraße direkt am Reading Square. Es war eine Privatwohnung, die man zu einem Büro umgestaltet hatte. Die Schreibkräfte saßen vorne in einem großen offenen Raum, und Mel und ein paar andere Männer hatten eigene Büros am Ende des Flurs. Hinter Mels Büro befand sich die Küche, die beibehalten worden war, und Tassen und eine Schachtel mit Krapfen, Pulverkaffee und Trockensahne standen auf dem Küchentisch. Mel war dort beim Kaffeetrinken, als ich erschien. »Was, zum Teufel, wollen Sie?« fragte er. »Sehr schlagfertig«, sagte ich. »Was?« »Ich möchte mit Ihnen über Feuerversicherungen reden«, sagte ich. »Ich möchte Ihnen keine verkaufen.« »Es handelt sich um Feuerversicherungen, die Sie schon verkauft haben, zum Beispiel an Elaine Brooks.« Mel sah mich an. Er öffnete den Mund und schloß ihn wieder. »Ich habe keine…«, fing er an. »Ich…« Eine Frau mit roten gekräuselten Haaren kam in die Küche. Sie trug einen limonellengrünen Sweater und eine weiße Hose, die eng gewesen waren, als sie zehn Pfund weniger gewogen hatte. »Unterhalten wir uns in Ihrem Büro«, sagte ich. Giacomin nickte, und ich folgte ihm nach nebenan. Wir traten ein. Er schloß die Tür. »Was wollen Sie?« sagte er, als er hinter seinem Schreibtisch saß. Er trug einen gelbbraun karierten dreiteiligen Anzug, eine blaugemusterte Krawatte und ein weißes Hemd mit hellen,
braunblauen Doppelstreifen. Die Weste klaffte an der Taille zwei Zoll breit auseinander und ließ Gürtelschnalle und Hemd sehen. »Ich werde mich kurz fassen«, sagte ich. »Ich weiß von dem Brandstiftungsbetrug. Und ich kann ihn beweisen.« »Wovon reden Sie denn?« Ich zog die Kopie meiner Aktennotiz zu den Brandstiftungen hervor und legte sie ihm auf den Schreibtisch. »Lesen Sie das«, sagte ich. Er überflog es schnell. Ich sah, daß seine Lippen sich beim Lesen leicht bewegten. Dann blieben die Lippen still. Er war fertig mit Lesen, starrte aber noch auf das Blatt nieder. Schließlich, ohne aufzuschauen, sagte er: »Und?« »Und damit habe ich Sie«, sagte ich. Er starrte weiter auf den Zettel. »Haben Sie die Polizei informiert?« »Noch nicht.« »Haben Sie es irgendwem erzählt?« »Denken Sie darüber gar nicht nach«, sagte ich. »Sie haben gegen mich keine Chance, und selbst wenn Sie eine hätten, beachten Sie, daß Ihnen eine Kopie vorliegt.« »Wollen Sie an dem Braten beteiligt werden?« Ich grinste. »Jetzt kapieren Sie langsam.« »Wieviel?« »Es wird unterschiedlich sein.« Er schaute auf. »Was soll das heißen?« »Es heißt, daß ich zweierlei möchte. Ich möchte, daß Sie sich von Ihrem Sohn fernhalten, und ich möchte, daß Sie für seinen Unterhalt aufkommen, seine Ausbildung, für alles, was er braucht.« »Fernhalten?«
»Ihn in Frieden lassen, auf ihn verzichten, ihm vom Hals bleiben, nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich möchte, daß er Sie los ist.« »Und Geld von mir geschickt bekommt?« »Ja.« »Das ist alles?« »Ja.« »Nichts für Sie selber?« »Nein.« »Wieviel soll ich ihm schicken?« »Schulgeld, Miete, Verpflegung, laufende Kosten.« »Wieviel wird das sein?« »Das teilen wir Ihnen mit.« »Ich meine, ein Geldesel bin ich ja auch nicht, verstehen Sie?« Ich stand auf und beugte mich über den Schreibtisch. »Hören Sie mal zu, Hundskopf, Sie reden, als ob Sie verhandeln könnten. Das können Sie nicht. Sie tun, was ich sage, oder es ist aus mit Ihnen. Bei einem dieser Brände kamen zwei Menschen um. Tötung in Tateinheit mit einem anderen Verbrechen ist Mord ersten Grades.« »Ich habe keine…« Ich schlug mit der Handfläche auf den Schreibtisch und beugte mich ein wenig näher, so daß mein Gesicht etwa drei Zoll vor seinem war. »Kommen Sie mir nicht blöd! Sagen Sie noch ein paarmal habe-keine zu mir, und Sie wandern ab nach Walpole und rennen für den Rest Ihres verdammten Lebens im Zuchthaus rund. Kein Habe-keine mehr, Sie Schweinehund.« Nicht schlecht, ich und Kirk Douglas. Ich fragte mich, ob der Schlag auf den Schreibtisch zu dick aufgetragen war. War er nicht. Giacomin klappte zusammen wie ein Feldstuhl. »Okay, okay. Klar. Ich bin dabei. Es ist ein guter Handel.«
»Darauf können Sie Ihren Arsch verwetten, daß das ein guter Handel ist«, sagte ich. »Und wenn Sie sich an Ihren Teil davon nicht halten, schwirren Sie schneller ab nach Walpole, als Sie Mord ersten Grades sagen können. Und vielleicht drücke ich Ihnen noch meinen Daumen ins Auge, bevor Sie Abschied nehmen.« »Okay«, sagte er. »Okay. Wieviel möchten Sie für den Anfang?« »Ich schicke Ihnen eine Rechnung«, sagte ich. »Und falls Sie denken, wenn ich gehe, könnten Sie Harry Cotton anrufen und mich aus dem Weg räumen lassen, werden Sie sich enttäuscht sehen.« »Daran hatte ich nicht gedacht«, sagte Giacomin. »Die Rechnungen sind sofort nach Erhalt zahlbar«, sagte ich. »Ja, sicher. Sofort nach Erhalt.« Ich richtete mich auf, drehte mich um und ging zur Tür hinaus. Ich schloß sie hinter mir. Ich wartete ungefähr dreißig Sekunden, dann öffnete ich sie wieder. Giacomin war am Telefon. Als ich hereinsah, legte er den Hörer prompt auf. Ich nickte. »Rattendreck wie Sie ist berechenbar.« Ich zeigte mit dem Finger auf ihn. »Verpatzen Sie das nicht, Melvin. Vielleicht wird auch kein Walpole draus. Die Todesstrafe erfreut sich wieder wachsender Beliebtheit.« Er saß da, sah mich an und sagte nichts. Diesmal ließ ich die Tür offen und ging fort, ohne mich umzuschauen. Ich fuhr nach Boston hinein. Disko-Stephen wohnte am Charles River Park, und ich mußte noch mit Patty Giacomin reden. Ich parkte in der Blossom Street und ging zu Fuß hinunter. Patty Giacomin ließ mich ein. Stephen war auch dort, in einem verblaßten Levi’s Hemd und Jeans und kunstvoll über den Knöcheln umgeschlagenen Mokassins mit starken
Ledernähten. Eine Lederschnur lag eng um seinen Hals. Er nippte gerade aus einem riesigen Kognakschwenker. »Was wollen Sie?« sagte Sie. Sie hielt ein Gegenstück zu Stephens Kognakschwenker in der Hand. »Gott, es muß in der Familie liegen«, sagte ich. »Was?« »Schlagfertigkeit.« »Nun, was wollen Sie denn?« »Wir müssen uns alleine unterhalten.« »Ich habe keine Geheimnisse vor Stephen.« »Ich wette, die haben Sie doch«, sagte ich. »Ich wette, daß Sie von Ihren Abenteuern im New York Hilton dem alten Disko nicht allzuviel erzählen.« Sie hob ein wenig den Kopf. »Wie bitte?« »Können wir fünf Minuten ungestört miteinander sprechen?« Sie zögerte eine ganze Weile, dann sagte sie: »Natürlich, wenn Sie darauf bestehen. Stephen, wärst du so nett?« »Natürlich«, sagte er. »Ich bin im Schlafzimmer, falls du mich brauchst.« Ich ließ das hingehen. Als er fort war, machte sie ein paar Schritte hinüber ans Fenster und schaute runter zum Fluß. Ich ging mit ihr. Als wir so weit wie möglich aus Stephens Hörweite waren, sagte sie leise: »Sie elender Bastard, was tun Sie mir an?« »Ich sage Ihnen, daß ich über Ihre Besuche in New York Bescheid weiß, wo Sie einmal monatlich ins Hilton gingen, um zu vögeln, was Ihnen gerade in den Weg lief.« »Sie fauler Dreckschwanz«, sagte sie leise. »Oh«, sagte ich. »Sie haben es gemerkt.« Sie antwortete nicht. Ihr Gesicht war sehr rot. Sie trank einen Schluck Brandy. Ich sagte: »Mit Ihrem Mann, dem ich ebenfalls etwas nachweisen kann, habe ich ein Abkommen getroffen. Er hält
sich von Paul fern und bezahlt seine Rechnungen, und ich halte dafür den Mund. Ihnen biete ich einen noch besseren Handel an. Sie bleiben dem Jungen fern, und ich halte meinen Mund. Sie brauchen nicht mal Geld aufzubringen.« »Was können Sie ihm denn nachweisen?« »Konzentrieren Sie sich auf das Wichtige, Mädchen.« »Na, was?« »Das ist nicht Ihr Problem. Ihr Problem ist, ob Sie tun, was ich verlange, oder ob ich hingehe und Leuten wie DiskoDarling hinten im Flur die Geschichte unter die Nase reibe.« »Nennen Sie ihn nicht so. Er heißt Stephen«, sagte sie. »Werden Sie sich von dem Jungen fernhalten?« »Meinem eigenen Sohn?« »Genau dem, Sie haben es erfaßt. Werden Sie?« »Was meinen Sie denn mit fernhalten?« »Ich meine damit, ihn anderswo auf eine Schule gehen lassen, ihn seine Ferien bei mir verbringen lassen oder wo immer er will, keinen Anspruch mehr auf Sorgerecht erheben und ihn nicht zwingen, bei Ihnen oder Ihrem Mann zu leben.« »Mein Gott, bloß damit Sie eine Unbesonnenheit nicht ausplaudern?« »Monatliche Unbesonnenheiten – wahllos, in bunter Folge. Wahrscheinlich sogar neurotisch. Wenn ich Sie wäre, würde ich mir Rat suchen. Außerdem bekommen Sie, wenn Sie nicht tun, was ich sage, von Ihrem Mann keinen Penny Unterhalt mehr, gar nichts.« »Wie können Sie…« »Rufen Sie ihn an«, sagte ich. »Hören Sie, was er dazu meint.« Sie blickte auf das Telefon. »Da stehen Sie dann«, sagte ich. »Verzweifelt und allein. Disko-Steve wird Sie abwägen wie eine Handvoll Kleingeld, wenn er glaubt, daß Sie schmutzig sind.«
»Es ist nicht neurotisch«, sagte sie. »Wenn ein Mann das täte, würden Sie es als normal bezeichnen.« »Würde ich nicht, aber das spielt für mich keine Rolle. Ich möchte den Jungen aus der Zwickmühle haben, und ich werde alles tun, was notwendig ist, um ihn herauszubekommen. Sie spielen mit, oder Sie sind hilflos und verlassen, wie es in den Familienserien heißt.« Sie schaute den Flur hinunter, wo Stephen verschwunden war. Sie schaute auf das Telefon. Sie schaute hinunter auf den Fluß. Und Sie nickte mit dem Kopf. »Höre ich ein Ja?« fragte ich. Sie nickte nochmals. »Ich möchte es hören«, sagte ich. »Ja«, sagte sie und starrte auf den Fluß. »Okay«, sagte ich. »Sie und Stephen können dann wieder aufpassen, wie seine Jeans verbleichen.« Ich peilte die Tür an. »Spenser?« »Ja?« »Was hat Mel getan?« Ich schüttelte den Kopf und ging hinaus und schloß die Tür.
33
Paul saß rittlings auf dem Firstbalken der Hütte und nagelte die letzte Reihe der Zedernschindeln vier Zoll nach der Wetterseite. Er war ohne Hemd und braun, und die Muskeln bewegten sich an seinem Torso, während er die breiten Dachnägel einen nach dem anderen aus dem Mund nahm und jeweils drei mit dem Hammer in die Schindeln schlug. Er trug eine Nagelschürze über seinen Jeans, und regelmäßig nahm er einige Nägel heraus und klemmte sie sich in den Mund. Ich setzte auf dem Boden die Firsthaube zusammen. Als er mit der letzten Reihe fertig war, stieg ich mit der Firsthaube die Leiter hinauf und wir nagelten sie von beiden Enden her zur Mitte des Firsts hin an ihren Platz. Die frühe Herbstsonne war warm auf unseren Rücken. In der Mitte sagte ich: »Schlag du einen auf der Seite rein, und ich einen auf dieser.« Er nickte, nahm einen Achtpennynagel heraus, klopfte ihn fest und schlug ihn mit drei Hammerschwüngen ein. Ich schlug meinen ein. Wir steckten die Hämmer in seine Hammerschlaufe und ich streckte meine Hand aus, die Handfläche nach oben. Mit ernstem Gesicht schlug er darauf. Ich grinste. Er grinste zurück. »Geschafft«, sagte ich. »Die Außenseite«, sagte er. »Okay, halb geschafft«, sagte ich. »Eingefaßt.« Wir kletterten die Leiter hinunter, ich zuerst, Paul nach mir, und setzten uns auf die Stufen der alten Hütte. Es war Spätnachmittag. Die Sonne stand schräg über der Oberfläche des Sees und ließ uns in formlose, schimmernde Flecken schauen.
»Ich hätte nie gedacht, daß wir es bauen würden«, sagte Paul. »Hättest auch nie gedacht, daß du fünf Meilen laufen würdest, hm?« »Nein.« »Oder anderthalb Zentner von der Bank stemmen?« »Oder zwanzig Pfund zunehmen?« Paul grinste mich an. »Okay«, sagte er. »Okay. Du hattest recht. Ich hatte unrecht. Möchtest du eine feierliche Dankzeremonie?« Ich schüttelte den Kopf. Es war kaum windig, und der Schweiß auf unseren Körpern trocknete langsam. Auf dem See fuhr jemand Wasserski hinter einem hundert Pferde starken Außenbordmotor. Vogelstimmen drangen aus dem nahen Wald. Die Gegend war überfüllt vom Geruch gesägten Holzes und dem leicht brenzligen Duft, den eine Motorsäge hervorbringt, wenn das Blatt abstumpft. Ich stand auf und ging in die Hütte, wo ich eine Flasche Moet & Chandon-Champagner aus dem Kühlschrank holte und zwei durchsichtige Plastikbecher aus dem Geschirrschrank. Ich füllte Wasser in einen Kochtopf, gab etwas Eis hinzu und stellte den Champagner hinein, damit er kühl blieb. Dann brachte ich die Sachen hinaus auf die Hintertreppe und setzte sie ab. »Was ist das?« sagte Paul. »Champagner«, sagte ich. »Elegant präsentiert.« Champagner habe ich noch nie getrunken, außer damals bei Susan. »Ist mal wieder Zeit«, sagte ich. Ich öffnete die Flasche und goß beide Becher voll. »Ich dachte, der Korken soll in die Luft spritzen.« »Muß nicht sein«, sagte ich. Paul probierte den Champagner. Er schaute auf das Glas. »Ich dachte, er wäre süßer«, sagte er.
»Ja, dachte ich auch, als ich ihn zum erstenmal versuchte. Man gewöhnt sich aber dran.« Wir waren still, schlürften den Champagner. Als Pauls Glas leer war, füllte er sich nach. Der Wasserskipilot hatte genug, und der See war ruhig. Ein paar Spatzen bewegten sich in dem Sägemehl um die neue Hütte, auf Futtersuche, daß die Köpfe nur so ruckten, und hier und da fanden sie auch welches. Stare mit bläulich schillernden Rücken gesellten sich dazu, viel größer und großspuriger als die Spatzen, mit einem komisch watschelnden Gang, aber friedlich. »Wann müssen wir morgen los?« fragte Paul. »Früh«, sagte ich. »Spätestens um halb neun. Wir holen Susan um elf ab.« »Wie lange dauert eine Fahrt zu der Schule?« »Vier Stunden.« »Wieso kommt Susan mit?« »Wenn wir dich abgesetzt haben, wollen wir zusammen ein paar Tage im Hudsontal verbringen.« Der letzte Wind hatte sich gelegt. Es war still, die Sonne fast untergegangen. Dunkel war es noch nicht, aber weniger grell, das Licht erschien indirekt. »Muß ich mein Zimmer mit jemand teilen?« »Im ersten Jahr«, sagte ich. »Wann kann ich nach Hause kommen? Hierher? Um dich zu besuchen?« »Jedes Wochenende«, sagte ich. »Aber ich würde erst mal eine Zeitlang da draußen bleiben. Du mußt dich daran gewöhnen, bevor du wiederkommst. Du wirst dort nicht heimisch, wenn es dein einziges Ziel ist, rauszukommen.« Paul nickte. Es wurde dunkler. Der Champagner war alle. »Es ist besser als diese Schule in Grafton.« »Ja.«
»Bestimmt kennen sich da alle untereinander und wissen schon, wie man tanzt.« »Nicht alle«, sagte ich. »Einige. Manche werden dir voraus sein. Du wirst sie einholen müssen. Aber du kannst es auch. Siehst doch, was du in einem Sommer geschafft hast.« »Außer, daß ich nichts und niemand dabei eingeholt habe.« »Doch, das hast du.« »Wen denn?« »Das Leben.« Die Wälder waren jetzt in der Dunkelheit geschmolzen. Man konnte nicht in sie hineinsehen. Und die Insekten hoben den Geräuschpegel. Rings um sie war ein dichter Mantel aus Wald. Wir waren allein in seiner Mitte. Die Hütte war gebaut und die Champagnerflasche war leer. Stechende Insekten sammelten sich in Schwärmen. Die Dunkelheit war kalt. »Gehen wir rein und essen«, sagte ich. »Okay«, sagte er. Seine Stimme zitterte ein wenig. Als ich die Tür zur Hütte öffnete, konnte ich im Licht aus der Küche sehen, daß er Tränen im Gesicht hatte. Er versuchte nicht, sie zu verbergen. Ich legte ihm den Arm um die Schulter. »Der Winter kommt«, sagte ich.